Joachim Spies
Das RosenkranzKomplott
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Das Schicksal in Form einer Autopanne hat drei...
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Joachim Spies
Das RosenkranzKomplott
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Das Schicksal in Form einer Autopanne hat drei Freunde in einem kleinen Dorf stranden lassen und fesselt sie dort auf ganz unterschiedliche Weise. Der Rosenkranz eines Geistlichen, nach dessen Unfalltod am Straßenrand gefunden, ist der Ausgangspunkt zu vielfältigen Verwicklungen, derer sich die drei immer wieder erwehren müssen. ISBN: 3-936622-45-0 Verlag: Verlag Michaela Naumann Erscheinungsjahr: 1.Auflage 2004 Umschlaggestaltung: Hermann Matthes, Darmstadt
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Der tragische Unfalltod des Ortspfarrers Andreas Heusinger und die Ereignisse vor seiner Beisetzung in einem kleinen Weinort in Franken überschatten die Autopanne dreier Freunde. Unfreiwillig verbringen Peter »Pietro« Bläser, Jakob »Jaco« Werners und Moritz »Morris« Schwab einige Tage in der ländlichen Gegend und lernen so fränkische Eigenarten und Charaktere kennen. Der Roman beleuchtet dörfliches Leben, die große und kleine Politik, schwelgt in den Genüssen, die Küche und Weinkeller bieten, und geht auf religiöse Traditionen der Gegend ein. Lust und Frust spätpubertärer Jugendlicher schildert Joachim Spies mit erzählerischer Leichtigkeit aus verschiedenen Sichtwinkeln. Die Webschnur seines Romans ist der Rosenkranz des verunglückten Pfarrers, an dem sich die unterschiedlichen Erlebnisse von Leidenschaft, jugendlicher Neugier und Männerfreundschaft bis hin zum Verdacht einer blutigen Straftat immer wieder zusammenfinden. Motivanleihen nimmt der Roman bei Clemens Brentano, aus dessen ›Romanzen vom Rosenkranz‹.
Autor
Joachim Spies, Jahrgang 1960, arbeitet seit über zwanzig Jahren bei der in Würzburg erscheinenden Main-Post. Elf Jahre war er davon im Ressort Franken/Bayern tätig. Heute ist er Redaktionsleiter im bayerischen Landkreis Main-Spessart. ›Das Rosenkranz-Komplott‹ ist seine erste Buchveröffentlichung. Der gebürtige Mainfranke lebt mit Frau und zwei Söhnen in einem Weinort im Main-Spessart-Kreis.
Gewidmet RUDOLF LEIPOLD und HANS SPIES, meinen Großvätern.
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KAPITEL 1 Die Gestrandeten DER PFARRER HATTE EINEN MERKWÜRDIGEN, fast schwerelos wirkenden Gang. Der Oberkörper war leicht nach vorne gebeugt, der Hintern dagegen ragte, an einen Entenpürzel erinnernd, in die Höhe. Dazu kam die beim Laufen nach innen geneigte Fußstellung, die seinem Vorwärtsstreben den Eindruck beachtlicher Dynamik verlieh. Oft schien es, als wollte Hochwürden gleich vornüber auf den Weg stürzen. Aber die Erdanziehung hatte das Nachsehen. Es war, als würde ein geheimnisvoller Gegenwind die Brust des Geistlichen stützen. Die nach vorne rudernden Arme taten ein übriges zur Balance des Körpers. Andreas Heusinger wäre ein glänzender Skispringer geworden, hätte man seine Talente frühzeitig erkannt. Mit dem Laufstil ihres Pfarrers hatten die Leute im Dorf zunächst gewisse Probleme. So gilt es als unschicklich, dem Geistlichen bei Flurprozessionen den Baldachin grinsend nebenher zu tragen. Solches zu vermeiden verlangte von den Himmelträgern außergewöhnliche Nervenstärke, zu der sich nur wenige Männer in der Lage sahen. Nicht viel fehlte, dass besorgte Eltern dem Pfarrer ängstlich zur Seite sprangen, wenn Heusinger Säuglinge zum Taufbecken trug und es den Anschein hatte, als würde der Pfarrer mitsamt Kind das Gleichgewicht verlieren. Doch wer konnte nein sagen? Das Kind werde mit dieser Geste, so begründete Hochwürden sein Handeln, auch symbolisch in die Arme der Kirche aufgenommen. Widerspruch wagte da niemand. Für viele Kinder, die mit Heusinger groß geworden waren, gehörte die Bewegungsmotorik des Geistlichen mit zum kirchlichen Zeremoniell, und für manches der Kleinen war es eine Überraschung und eine Nachfrage bei 6
Mutter oder Vater wert, erstmals einen anderen und im Gottesdienst ganz normal dahinschreitenden Pfarrer zu erleben. Heusinger war gerade siebenundvierzig Jahre alt geworden und begann, trotz aller Märsche um die Pfarrei herum, etwas Speck um die Leibesmitte anzusetzen, als in ihm eine innere Unzufriedenheit aufstieg, wie er es vorher nicht gekannt hatte. Aus kleinen Anfängen wuchs dieselbe efeuartig und fortschreitend ihre Triebe aus, nestelte und wurzelte sich durchs Gehirn, um mit der Zeit Heusingers ganzes Denken zu überwuchern. Was den Pfarrer verwirrte, war die Tatsache, dass es für diesen Zustand nicht den geringsten Anlass gab. Die Jahre, in denen andere normalerweise von der Krise der Lebensmitte geplagt werden, hatte Andreas Heusinger mühelos gemeistert, ja, er hatte sogar einigen dieser Armen in bewundernswerter Ausgeglichenheit Seelentrost spenden und etliche gebeugte Männer moralisch wieder aufrichten können. Die Spaziergänge des Geistlichen wurden mit wachsender Unzufriedenheit immer häufiger und waren bald unverzichtbarer Bestandteil des Tagesprogramms. Anderes musste halt zurückstehen. Auffällig war, dass der Pfarrer für seine Route jene Feldwege und Pfade wählte, auf denen er am sichersten sein konnte, niemandem anzutreffen. Hinzu kam, dass Heusinger nicht nur an den unwirtlichsten Feldrainen entlang stolperte, sondern dies mit besonderer Begeisterung bei schlechtem Wetter tat. Ein Regen gepeitschter Nachmittag, ein Nebel verhangener Morgen wurden ihm die Lieblingszeiten für seinen Ausgang. Er musste mit seiner Unzufriedenheit alleine sein. Die Absonderheiten Heusingers blieben den Menschen im Dorf nicht verborgen. Dass der Pfarrer, wie es früher häufig der Fall gewesen war, gerne der Einladung zu Kaffee und Kuchen in eine Familie folgte, kam so gut wie nicht mehr vor. Dass er, so man ihn überhaupt bei seinen Spaziergängen noch antraf, stehen blieb, um mit den Leuten ein Pläuschchen zu halten, war nicht 7
mehr der Fall. Heusingers offenkundige Abneigung gegen das Plaudern wurde von Monat zu Monat deutlicher. Angesichts solcher Veränderungen sah sich der Pfarrgemeinderat schließlich zum Handeln gezwungen. In einer Geheimsitzung im Wohnzimmer des Vorsitzenden kam das Gremium nach kurzer, heftiger Beratung zu dem Entschluss, Heusinger direkt auf den Sachverhalt anzusprechen. Ihn zu befragen, ob er nach elf Jahren in der Pfarrei seiner Gemeinde überdrüssig werde, ob er vielleicht nach einer neuen Aufgabe strebe oder – auch das wurde in Erwägung gezogen – ob er, nach all den Jahren fern seiner schwäbischen Heimat, vielleicht Sehnsucht nach dem Ries bekommen habe und dem fränkischen Land den Rücken kehren möchte. Der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates, Rüdiger Spohr, erklärte sich nach einigem Zureden der anderen Ratsmitglieder bereit, die undankbare Aufgabe des Befragens zu übernehmen. Zwei Tage später erstattete Spohr sichtlich beruhigt und voller Stolz über seine eigene Courage Bericht. Der Pfarrer sei wie immer guter Dinge und habe auch die Liebe zu seiner Gemeinde nicht verloren, verkündete der Vorsitzende seinem gespannt lauschenden Gremium. Der Pfarrer tue sich, womöglich altersbedingt, aber in letzter Zeit mit der Vorbereitung seiner Predigten viel schwerer als in der Vergangenheit und brauche, nein, wünsche deswegen die Ruhe und Einsamkeit des Flurrundgangs, um die Gedanken zu sammeln und Zwiesprache mit dem Herrn halten zu können. Das erkläre, so Spohr weiter, auch seine unfreundlichen Reaktionen, wenn er unterwegs angesprochen werde. Dem Pfarrer werde dadurch der freie Gedankenlauf und die kluge Formulierung unterbrochen. Der Pfarrgemeinderat nahm die Nachricht verwundert, was seine weiblichen Mitglieder anging, auch etwas enttäuscht und zweifelnd zur Kenntnis. Insgesamt aber überwog Erleichterung. Die Spaziergangsallüren des Pfarrers wurden fortan toleriert. Das Gremium war sich allerdings einig, bei weiteren 8
Merkwürdigkeiten Heusingers, ohne, dass diese im Detail definiert wurden, ein vertrauliches Gespräch mit dem Bischöflichen Ordinariat in Würzburg zu suchen. Als der Sommer nahte, nagte die Unzufriedenheit schmerzhaft in Heusingers Gedärmen. Er ging nicht zum Arzt, denn er wusste, dass dieser nichts finden würde. Nicht dieser Arzt und kein anderer, auch kein Spezialist. Sein Körper verfiel zusehends. Heusingers Gang glich längst einem in rauer See gebeutelten Schiff. Zum gequälten Dahinwanken kam der Umstand, dass Heusinger gelegentlich die Orientierung verlor, unnötige Wegstrecken lief und eine ganze Weile brauchte, um wieder auf den rechten Pfad zurückzufinden. Anfang August reichte es den Zuschauern. Vorsitzender Spohr berief eine Sondersitzung des Pfarrgemeinderates ein. Man machte sich ernsthaft Sorgen. Doch ein dramatisches Ereignis gab Anlass für die kurzfristige Änderung der Tagesordnung. Am Dienstagvormittag wurde Andreas Heusinger vom Rundgang durch die Fluren ins Dorf heimkehrend, beim Überqueren der Straße zum Pfarrhaus von einem Lastzug erfasst. Sein Körper wurde mit großer Gewalt auf die Straße geschleudert, sein Kopf von den rechten hinteren Zwillingsreifen des Fahrzeugs überrollt. Heusinger starb unzufrieden, doch in diesem Zustand unerkannt. Der Klang der Martinshörner und die in der Luft liegende, spürbare Aufgeregtheit des Dorfes veranlassten Jakob Werners, auf dem Weg zum Bäcker einen Umweg zu machen. Dem Lärm nachforschend, kam er zur Hauptstraße, wo sich bereits eine größere Zahl Schaulustiger eingefunden hatte. »Der Pfarrer«, schnappte Werners aus den Unterhaltungen auf, auch ein »Jesus und Maria!« und dahingewisperte Fragen, was denn überhaupt geschehen sei und wie jenes, was sich da ereignet hatte, denn eigentlich habe passieren können. Schreckliches war geschehen. 9
Nur wenige Meter von Werners entfernt auf der Fahrbahn lag die Leiche eines Menschen, wie die Form einer über den Körper gebreiteten weißen Plastikfolie erahnen ließen. Zehn Meter weiter am Straßenrand stand ein großer Lastzug. Er hatte, wie die Aufschrift auf der Deckplane verriet, Baumaterialien geladen. Wiederum etwa zehn Meter vom Unfallopfer, in die andere Richtung geblickt, versperrte ein Kleinbus der Polizei die Straße. Zwei Männer, möglicherweise Fahrer und Beifahrer des Lastzuges, sowie ein Polizeibeamter saßen an einem kleinen Tisch hinten im Bus. Durch die geöffnete Schiebetüre an der Seite sah man sie über Papieren brüten und gelegentlich mit den Händen hilflose Gesten in die Luft werfen. Ein weiterer Polizeibeamter markierte mit weißen Kreidestrichen Bremsspuren auf der Fahrbahn. Anschließend zog er etwas unbeholfen und mit etwa einer Handbreite Abstand um die weiße Folie herum die Körperumrisse auf den schwarzen Teer. Dann trat der Beamte zur Seite, um den eintreffenden Leichenwagen einzuweisen. Die Zuschauer am Straßenrand, inzwischen in ein schweigendes Starren verfallen, wichen etwas zurück, wobei die Älteren die ganz vorne lauernden Kinder an den Schultern nach hinten zogen. Es musste ein relativ großer Mensch sein, der da lag. Doch Werners’ Neugierde war verflogen, kaum dass die Bestatter sich anschickten, ans Werk zu gehen. Er mochte lieber nicht mit ansehen, wie der tote, womöglich entstellte Körper aufgehoben und in den Metallsarg gebettet wurde. Jakob Werners wandte sich ab. Für kurze Zeit fand eine Madonnenfigur an einem Haus auf der gegenüber liegenden Straßenseite seine Aufmerksamkeit. Die Frau im blauen Umhang hatte ihren Blick betrübt in die Ferne gerichtet, das Gesicht im Schmerz verzogen. Trauerte sie um Jesus, ihren Sohn, oder um diesen einen seiner Nachfolger, der sein Leben unter ihren Augen ausgehaucht hatte? Die Türe des Leichenwagens patschte zu. Der Bestatter und 10
der Polizist nickten freundlich, erinnerten sich dann des schaulustigen Volkes und nahmen mit ernster Miene Abschied. Der Leichenwagen stieß eine schwarze Dieselwolke aus. Beim Rangieren überfuhr das schwarze Fahrzeug die weißen Kreidestriche auf dem Boden, hustete Wasser aus dem Auspuff über den dunklen, feuchten Fleck, der auf dem Teer zurückgeblieben war. Blut und einiges mehr, dachte Werners. Er riss sich los. Die Hände in den Hosentaschen schlurfte der junge Mann zum Bäckerladen. Die Türschelle klingelte. Es roch herrlich nach frischen Brötchen und süßem Gebäck. Im Laden knisterte nervöse Aufgeregtheit. Eine ältere Frau, die Henkel einer dunkelbraunen Ledertasche über dem linken Unterarm, und die Verkäuferin standen sich im schreckensbleichen Disput gegenüber. »Entsetzlich« sei die ganze Sache, schüttelte die Bäckersfrau das pausbäckige Haupt. Die Alte mit dem Einkaufskorb keuchte ein weinerliches »unser Pfarrer!« und rieb sich mit der rechten Hand über Wange und Stirn. Dann spürte sie Werners’ Nähe und wandte sich, über die Schulter blickend, dem Neuling im Raum zu. Der nickte, freundlich und zustimmend zugleich, um zu zeigen, dass er ins Thema eingeweiht war. Die Alte erwiderte den Gruß misstrauisch. Als sie ansetzte, den möglichen Hergang des Unfalls zu schildern, hob die Verkäuferin leicht die Hand und bremste ihren Redefluss. »Was dürft’s sein?« fragte sie den jungen Mann. Der würde ihre Unterhaltung nur stören. Eine Einsicht, zu der nun auch die zunächst irritierte Alte gelangte. Sanft schob sie, Werners an der Schulter berührend, den Fremdling an die Ladentheke. »Geh nur mich vor. Mir hömm Zeit.« Was blieb ihm übrig? Es stand ihm nicht zu, die Alte zum Reden aufzufordern, auch wenn es ihn noch so interessierte, 11
etwas über den Unfall zu erfahren. »Zehn Brötchen, bitte.« In wenigen Augenblicken hatte die Bäckersfrau das Gewünschte in eine Papiertüte geworfen, auf die Theke gelegt, den Preis genannt und abkassiert. Ungeduldig warteten beide Frauen, bis der junge Mann die Ladentüre zum Gehen geöffnet hatte. Kein Einheimischer war er, keiner, den die Sache mit dem Pfarrer etwas anging. »Genau vor den Lkw«, hörte Werners noch, untermalt vom Klingeln, das das Schließen der Türe begleitete. Dann stand er draußen. Werners nahm nicht den direkten Weg zurück zur Wohnung, sondern strich mit dem Brötchenbeutel in der Hand zunächst eine Weile durch die Gassen des Ortes. Er wählte den Umweg ganz bewusst. Sicher käme es den Dörflern sensationslüstern vor, wenn er innerhalb kürzester Zeit zweimal an der Unfallstelle auftauchte. Eigentlich brauchte es ihn ja nicht zu scheren, was die Leute hier dachten. Er war schließlich nur auf der Durchreise. Ein blöder Zufall hatte sie in dieses Nest verschlagen, und lange würde ihr Aufenthalt nicht dauern. Aber Fremde gerieten in so kleinen Dörfern schnell ins Blickfeld, und das Geglotze am Abend in der Kneipe wäre so schon groß genug. Also trödelte Werners durch die Gegend, machte an den letzten Häusern des Ortes noch einen Schwenk in Richtung Weinberge und freute sich am grün-braun gesprenkelten Laub und an den saftigen Trauben, die wohl in Kürze geerntet würden. Zwanzig Minuten später war er zurück. Der Lastzug stand nach wie vor am alten Platz, aber das Fahrzeug der Polizei war verschwunden. Auch von den Lastwagenfahrern keine Spur. Vielleicht hatten sie für weitergehende Ermittlungen mit auf die Wache gemusst. Allerdings war einer der Polizeibeamten zurückgeblieben. Unter dem Madonnenhaus, bei dem es sich vermutlich um das 12
Pfarramt handelte, stand der Uniformierte und sprach mit einigen Passanten, wobei eine ältere Frau immer wieder verzweifelt die Hände rang und ein auffallend gerötetes, regelrecht verheultes Gesicht hatte. Es mochte sich um die Pfarrhaushälterin oder sonst eine dem Geistlichen nahestehende Person handeln. Hoffentlich nicht dessen Mutter, dachte Werners in seiner plötzlichen Anwandlung von Rührung. Doch das war unwahrscheinlich. Dafür erschien ihm die Grauhaarige zu rüstig, hatte er doch vorhin aus dem Stimmengewirr am Straßenrand das Alter des Pfarrers – siebenundvierzig Jahre – aufgeschnappt. Werners hatte sein Schritttempo deutlich verlangsamt, weil ihn die dunklen Flecke auf der Fahrbahn in Bann schlugen. Zweifellos Blut. Vielleicht gar Gehirnflüssigkeit. Es schüttelte ihn. Jakbo Werners wollte gerade in Richtung Wohnung schwenken, um die Freunde, die längst auf die Frühstücksbrötchen hofften, nicht noch länger warten zu lassen, da stockte er. Unmittelbar am Bordstein funkelte ein Gegenstand in der Sonne. Der Blick zum Polizisten und dessen Gesprächsrunde zeigte, dass die kleine Gruppe ihre Gedanken anderen Dingen widmete als dem jungen Spaziergänger. Werners ging langsam weiter, blieb dann auf Höhe des Funkelns stehen und bückte sich, so als wollte er sich den Schuh neu binden. Nochmals ein kurzer Blick zu den vieren am Pfarrhaus, dann ein rascher Griff. Ein Rosenkranz! Aufstehen. Weitergehen, als sei nichts gewesen. Der Polizist blickte jetzt doch her. Ein freundliches Nicken Werners, das der andere kurz erwiderte. Aber schon wandte sich dieser wieder der bleichen Alten zu, die mittlerweile von einer an ihrer Seite stehenden jüngeren Frau gestützt wurde. Werners marschierte weiter, spürte, dass er komisch zu laufen begann, eben weil er harmlos und natürlich wirken wollte. Die Beine waren plötzlich schwer und fremd geworden. Er riss sich zusammen, ging die Straße hoch, ließ die Leute auf der anderen 13
Straßenseite hinter sich und bog in die Nebenstraße, die zu ihrem Haus führte, ein. Jetzt musste er aus ihren Augen sein. Werners blieb mit klopfendem Herzen stehen und öffnete seine Faust. Der Rosenkranz war aus schwarzen Perlen, dazwischen Silber, auch das Kreuzchen war aus Silber. Es war wohl dieses kleine Silberkreuz gewesen, das in der Sonne geblitzt hatte. Der Finder zweifelte keine Sekunde: der Rosenkranz des Pfarrers. Beim Aufprall aus der Jackentasche geschleudert? Oder hatte ihn der Geistliche, versunken im Gebet, in der Hand getragen, als ihm das Kettchen von der tödlichen Wucht des Zusammenstoßes aus den Fingern gerissen wurde? Jakob Werners erschrak: Was hatte er da getan? Er hatte den Rosenkranz des verunglückten Pfarrers an sich genommen! Er war ein Idiot! Er schaute auf die Perlen, das Silber, auf seine Hände, als fürchtete er, an all dem hafte Blut, als könne er auf seiner Haut Flecken gleich jenen auf der Straße entdecken. Doch es war nichts. Er hatte den Rosenkranz genommen. Einfach zugegriffen, das Ding einfach in seine Faust gesteckt. Fertig. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Warum, verdammt, hatte er das blöde Ding nicht einfach liegen gelassen? Werners überlegte kurz, war sich aber rasch im Klaren darüber, dass er das Fundstück jetzt nicht zurückbringen konnte. Wie sollte er erklären, warum er den Rosenkranz erst eingesteckt und ihn durchs halbe Dorf getragen hatte, bevor er ihn dem Polizisten oder sonst einer zuständigen Person aushändigte? Unmöglich. Jeder würde meinen, dass das schlechte Gewissen einen Dieb zurückgetrieben habe. Welch peinliche Vorstellung! Werners ließ das Kettchen in die Hosentasche gleiten und beruhigte sich mit dem Gedanken, er könne das Ding auch noch am nächsten Tag abgeben und sagen, er habe es eben erst am Straßenrand gefunden. Auf sein Klingeln hin – die drei hatten für die kleine Wohnung nur einen Schlüssel erhalten – öffnete ein sehr ungeduldig wirkender Moritz Schwab, barfuß, eine brennende Zigarette in 14
der Hand, die Türe. Drinnen roch es nach Kaffee. Seinem »Wo bleibst du denn?« schickte Schwab beim Anblick Werners’ sogleich ein »Was’n los?« hinterher. Einen Unfall habe es gegeben, erklärte Werners seinen Gesichtsausdruck, der auf den Freund scheinbar beunruhigend wirkte. Berichtete, dass es den Dorfgeistlichen erwischt habe. Erzählte von den Zwillingsreifen des Lastzugs, von den dunklen Flecken auf der Straße. Aus der Küche grunzte Bläser, offenbar eben erst aus bleischwerer Bierseligkeit erwacht. Die tapsenden Schritte eines Bären kündigten sein Erscheinen an. »Gibt’s Kaffee?« fragte er, in hellgrüner Unterhose im Türrahmen stehend. Dann fiel sein Blick auf Werners. »Was is’n los?« Schwab nahm Werners freundlicherweise das Erzählen ab, wobei er den Unfall etwas dramatisierte und den Brötchenholer quasi zum Augenzeugen des schrecklichen Ereignisses erklärte. Werners widersprach nur matt. Er wollte das Thema abhaken und war zu aufgewühlt für große Diskussionen. Dieser dämliche Rosenkranz. Schwab schenkte Kaffee ein, während Bläser die Brötchentüte aufriss. Beim Frühstück war Wichtigeres zu bereden als das traurige Schicksal eines Dorfpfarrers. Sie waren schließlich nicht freiwillig hier in diesem Nest in Franken. Eigentlich sollten sie längst am Walchensee sein, wo sie im Ferienhaus von Bläsers Eltern erwartet wurden. Erneut spürte Werners Zorn aufsteigen, als er an Bläsers saudumme Idee dachte, zum Mittagessen von der Autobahn abzufahren und sich ein gemütliches kleines Landgasthaus zu suchen. »So viel Zeit ist auf jeden Fall«, hatte Peter Bläser, den Familie wie Freunde wegen seines schwarzen Lockenkopfes und seines dunklen Teints nur »Pietro« nannten, gemeint und den Wagen der Mutter an Weinbergen, grünen Wiesen und großen 15
Äckern vorbei bis zu einem Gasthaus namens ›Krone‹ gelenkt. Dort gab es Jägerschnitzel und Pommes, dazu Pils. Saugünstig. Alles schien perfekt, und Bläser ließ sich für seine Idee loben. Doch beim Ausfahren aus dem Parkplatz der ›Krone‹ gab es ein Malheur: Bläser blieb mit dem rechten Kotflügel an einem Mauerpfosten der Einfahrt hängen. Das Kreischen ging durch Mark und Bein. Jammernd schürfte das Blech am Sandstein entlang. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Wagen wieder frei kam. Mit zittrigen Beinen stiegen die drei aus, um sich den Schaden zu besehen. Zwischen dem Rot des Lacks traten hellgraue Streifen und schimmerndes Blech hervor. Pietro bekam ein aschfahles Gesicht und stammelte viermal hintereinander »Oh Scheiße!«. Werners meinte Tränen in den Augen des Freundes zu sehen. Ein seltener Anblick, ein deutliches Zeichen für die Schwere der Misere. Lange hatten sie beraten. Es lief darauf hinaus, dass Bläser sich weigerte, mit dem Auto, das ihnen die Mutter geliehen hatte, so bei den Eltern am Walchensee vorzufahren, weil ihn das den Kopf kosten würde bei all den Scherereien, die die Alten eh schon mit dem Neunzehnjährigen hatten. Der Schaden musste irgendwie behoben werden. »Wir brauchen eine Werkstatt«, beschloss Bläser. So war das Trio ziellos über Land gefahren, bis es am Eingang eines Dorfes das Gesuchte entdeckte. Der Besitzer des Schuppens, offenbar zugleich sein einziger Angestellter, hatte die öligen Hände am Blaumann abgestreift, den Schaden ausgiebig begutachtet und schließlich versprochen, das Ganze günstig und flott zu beheben. Zwei Tage würde das aber schon dauern. Günstig, das hieß für den Kerl im Blaumann drei- bis vierhundert Mark. »Awer gschätzt«, gab der Meister zu bedenken. »Es könnt auch teurer werd.« Erleichterung machte sich breit, zumal, was die Reparaturkosten anbelangte, sich bei einem Unter-vier-Augen16
Gespräch zwischen Pietro und dem Werkstattmeister eine ganz erfreuliche Perspektive eröffnete, von der Bläser den Freunden sogleich glückstrahlend berichtete. Dem Blaukittel sei es völlig egal, was er auf die Rechnung schreibe, juchzte der Unglücksfahrer, von ihm aus auch den Austausch eines defekten Getriebes, wenn dies gewünscht werde, und was von den Kosten her auch so in etwa hinkäme. So etwas würden seine Alten anstandslos bezahlen, meinte Bläser. Das könne ja immer mal passieren. Und das bedeute, so Bläser weiter, dass eigentlich gar keine Kosten entstünden, abgesehen von denen, die ihnen der Aufenthalt selbst bereite. Und ob tatsächlich ein neues Getriebe in der Karre sei, das würde die Eltern einen Dreck interessieren, weil sie überhaupt nicht wüssten, was ein Getriebe sei. »Technisch null Ahnung«, freute sich der Sohn. Nur dem Werkstattmeister müsse man wohl ein kleines Trinkgeld zuschieben, räumte Bläser ein, halt dafür, dass er sich ein wenig verschreibe. »Aber das ist meine Sache«, gab sich Bläser großzügig. Lediglich eines war nun noch zu meistern, doch auch das gelang. Bläsers Eltern zeigten sich im Telefonat mit ihrem Sohn zwar verwundert über das ärgerliche Missgeschick mit dem Wagen, auch darüber, dass er trotz defekten Getriebes – was auch immer das sei – die Autobahn verlassen und die Werkstatt eines kleinen Dorfes angefahren hatten, aber Pietro konnte ins Feld führen, dass man für die Dauer der Reparatur eine kostengünstige Unterkunft benötige und diese auf dem Land eher zu finden sei als an der teuren Autobahn. Zwei Tage werde es wohl brauchen, weil das Ersatzteil erst geliefert werden müsse, hatte Bläser geheuchelt, und die Freunde waren mit roten Köpfen daneben gestanden und hatten sich ziemlich unwohl gefühlt. Aber schließlich war das Gespräch zu Ende. Die Eltern wirkten beruhigt, nicht zuletzt wegen der beiden Mitreisenden des Sohnes, die in Elternkreisen als ausgesprochen zuverlässig und anständig galten. 17
Dann war Zimmersuche angesagt. Die Auswahl in der Ortschaft war höchst bescheiden. Zwar gab es eine Dorfkneipe namens ›Stern‹, doch dort keine Fremdenzimmer. Doch das Glück blieb dem Trio weiter hold. Vielleicht gebe es eine Möglichkeit, sinnierte der Gastwirt. Sein Schwager könne eventuell behilflich sein. Der vermiete zwar eigentlich keine Fremdenzimmer, doch sei die kleine möblierte Wohnung im Erdgeschoss des Hauses seit etwa einem Vierteljahr frei, nachdem die dort eingemietete Familie das zweite Kind bekommen und aus Platzgründen ausgezogen war. Noch sei sich der Schwager im unklaren, ob er die zwei Zimmer, Küche, Bad überhaupt noch einmal weitervermieten oder selbst nutzen wolle. »Frach’ kost’ nix«, meinte der Gastronom, und so waren die drei losmarschiert, versehen mit den besten Empfehlungen des verschwägerten Wirtes. Das Haus war nichts Besonderes. Zwei Etagen, recht flaches Satteldach. Der Besitzer mochte so um die fünfzig Jahre alt sein und brauchte ziemliche Bedenkzeit, bis er dann letztendlich doch einwilligte, weil es der Schwager erbeten hatte und es nur für zwei Nächte sei und die Gäste nicht mehr brauchten als drei Tassen, drei Teller und Besteck. Aber Ruhe bitte er sich aus, bei Rabatz flögen sie gleich wieder raus, mahnte der Schwager. Die drei Freunde nickten dankbar. Die Kostenfrage war rasch geklärt. Zwanzig Mark pro Übernachtung für alle drei zusammen. Die Gäste strahlten. Ein Klacks! Erleichtert liefen sie durchs Dorf und holten das Gepäck aus dem Wagen – der noch gerade so auf dem Hof der Werkstatt stand, wie sie ihn dort abgestellt hatten – und bezogen Quartier. Werners und Schwab würden sich wohl oder übel das staubige Ehebett teilen, Bläser machte es sich auf der recht ausgesessenen Couch in der Küche bequem. Nun galt es bloß noch, die Zeit bis übermorgen sinnvoll herumzubringen. Für Moritz Schwab das geringste Problem. Der Streber hatte sich für den zweiwöchigen Urlaub vorgenommen, 18
seine Facharbeit in Deutsch gründlich nachzuarbeiten. Die lumpigen vier Punkte, die ihm die blöde König für seine umfassende Arbeit über das Streben der Romantiker, beispielhaft dargestellt an Clemens Brentanos Werken, gegeben hatte, hätten ihm beinahe die Abiturnote versaut. Er, der Musterschüler, war an seiner eigenen Überheblichkeit gescheitert. »Mir ist jedes Thema recht«, hatte er herumposaunt und war von der König frech mit den Romantikern beehrt worden. Das Desaster folgte. Romantik war nicht seins. »Vergiss es«, hatte ihn Mit-Abiturient Werners empfohlen. Doch Schwab war in diesen Dingen eigen. Vier Punkte! Ein solcher Ausrutscher schmerzte ihn, saß wie ein Stachel im Fleisch. Sehr zum Gespött der Freunde schleppte Schwab nun im Urlaubsgepäck eine Gesamtausgabe der Werke Brentanos mit sich herum, um die entgangenen Punkte zu suchen. Eines der Bücher lag auch jetzt wieder aufgeschlagen auf dem Frühstückstisch an Schwabs Platz und leistete dort einer Dose Hausmacherwurst Gesellschaft. Die Dose hatten sie am Abend beim Gastwirt im ›Stern‹ erstanden, und dieser hatte ihnen dazu noch ein Glas Marmelade, »selber eingekocht«, aus Mitleid geschenkt. Nicht nur der Hunger hatte sie in den ›Stern‹ zurückkehren lassen. Schließlich galt es auch, dem Wirt ihre Dankbarkeit zu zeigen, hatte dieser ihnen doch so freundlich zu einer Unterkunft verholfen. Sie aßen reichlich Wurst und Brot und tranken aus lauter Dankbarkeit eine Flasche Pils nach der anderen, was den Magen, zumindest den Jakobs, überschäumen ließ. Es sei schade um die Brotzeit und das Geld, kommentierten Pietro und Moritz auf dem Heimweg lallend, während Werners seiner Übelkeit an einem Baum Tribut zollte. »Also, wie geht’s weiter?« fragte Bläser in die Runde und belegte ein Brötchen mit dicken Scheiben Dosenwurst, um dann mit weit aufgesperrtem Maul zuzubeißen. Die Frage war natürlich rein rhetorisch. Pietro war der Boss in dieser Runde, nicht nur Kraft seines Amtes als Chauffeur des 19
Trios, sondern auch aufgrund der größten Lebenserfahrung. Während Schwab und Werners eben mal das Abitur gemeistert hatten und nun dem Studium beziehungsweise dem Wehrdienst entgegensahen, hatte Bläser eine Lehre als Bankkaufmann abgeschlossen und war auf dem besten Weg, irgendwann einmal seinen Vater als Chef der Bankfiliale in ihrer Heimatstadt zu beerben. Bläser hatte ziemlich viel Geld, die anderen wenig. Bläser sprühte vor Ideen, die anderen hatten bislang nur ihre Schule im Kopf gehabt. Sogar jetzt, nach dem Abi, konnte Schwab die Büffelei nicht sein lassen. Bläser hatte das schon mehrfach beanstandet. Er, verkündete Pietro mit halbvollem Mund, müsse zunächst dem Werkstattmeister einen Besuch abstatten, um sich vom Fortgang der Reparaturarbeiten zu überzeugen. Dann schlage er einen Dorfrundgang mit Erkundung vor. Schließlich gelte es herauszubekommen, ob es außer dem ›Stern‹ noch weitere Lokalitäten am Ort gebe – man sei dem Sternswirt ja nicht auf alle Ewigkeit verpflichtet –, und außerdem sollte Ausschau nach Einkaufsmöglichkeiten gehalten werden, denn die Vorratslage sei bedenklich. Alles Weitere werde man dann schon sehen. Da gab es nichts mehr zu besprechen. Die drei Jünglinge saßen rauchend um den Küchentisch herum, schlürften die letzten Reste aus den Kaffeetassen und schwiegen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Bis Moritz Schwab schließlich meinte, dass ihm nicht nach Latscherei sei. »Ich bleib’ da und les’ lieber. In Walchensee komm’ ich sowieso nicht mehr dazu.« Bläser seufzte. Er hatte von diesem Streber nichts anderes erwartet. War kaum noch etwas anzufangen mit »Morris«, seit der sich mit seiner Facharbeit blamiert hatte. Gut, sagte Bläser, dann würden er und Werners eben alleine losziehen. Das sei auch kein Problem. »Aber abkassiert wird trotzdem.« Bläser ließ sich von Morris zehn Mark geben, trottete dann 20
nach nebenan und schlüpfte in Hose und Hemd, um sich für die Tour fertig zu machen. Werners trat schon mal an die Haustüre. Im Türrahmen lehnend, paffte er seine Zigarette fertig und ließ, als Bläser erschien, abmarschbereit die Kippe fallen, um die Glut mit dem Schuh auszutreten. Bläsers Reaktion erschreckte ihn. »Heb das auf, Mann!« fuhr ihn Pietro an und fuchtelte herum. »Oder willste Ärger mit dem Alten?« Sie beschlossen, das Dorf systematisch zu erforschen und erst zum Schluss die Werkstatt anzusteuern. Das war keine große Expedition, denn das Kaff entpuppte sich als nicht gerade ausladend. Von ihrem Quartier aus liefen sie zunächst durch eine Neubausiedlung, waren wenig später bereits am Ortsende, querten dann die Hauptstraße und gingen wieder zurück. Als sie ein Brücklein über einen Bach entdeckten, wichen sie von der Hauptstraße ab und folgten einem Trampelpfad am Ufer entlang. Schließlich gelangten sie zum Dorfbrunnen, der gemeinsam mit dem ein Stück oberhalb gelegenen Kirchplatz den Mittelpunkt der Ortschaft bildete. Das Beeindruckendste war ein riesiger Lindenbaum, der den Brunnen überragte und mit seinen weitverzweigten Ästen eine vielleicht tennisplatzgroße Fläche überschattete. Rings um den Baum zog sich eine Holzbank, an der sich vermutlich zur Abendstunde die Dorfjugend traf. Das werde man dann später noch rauskriegen, meinte Bläser und nickte zufrieden. Gesäumt wurde der Platz von einer kleinen Bankfiliale, einigen Häuschen und dem Metzgerladen. Nicht weit davon, ein wenig seitwärts in einer Nebenstraße, war der Bäcker, wo »Jaco« am Morgen eingekauft hatte. »Alles da«, bilanzierte Bläser. »Wenn’s hier auch Getränke gibt, ist ›alles Roger‹.« Dass der Bäcker keine Flaschen oder Dosen führte, wusste Jaco, denn so viel hatte er vorhin sehen können. Aber im Metzgerladen stand eine große Kühltruhe, deren Inhalt auch 21
Limonaden und sogar Bier umfasste. Das würde genügen, meinte Pietro und nickte zufrieden. Wegen der zwei Tage wolle man mal nicht wählerisch sein. Ihr Streifzug führte sie weiter zum Kirchplatz. Schräg gegenüber stand das Rathaus, leicht erkennbar am Wappen über der Eingangstüre. Eine schmale, steile Treppe verband den Kirchplatz mit der Hauptstraße, und hinabgestiegen standen Werners und Bläser da, wo sich kaum zwei Stunden zuvor der Unfall ereignet hatte. Die Treppe endete unmittelbar vor dem Pfarrhaus. Werners erschrak ein wenig, als so plötzlich die Unfallstelle vor ihnen lag. Unwillkürlich flog sein Blick dorthin, wo er den Rosenkranz aufgehoben hatte. Es war still geworden hier. Von dem Polizisten, der heulenden Alten und den anderen Passanten keine Spur mehr. Auch der Lastzug war verschwunden. Nur noch einige weiße Kreidestriche über den Bremsspuren und der weiß gezeichnete Umriss des toten Pfarrers auf dem Teer erinnerten an das schreckliche Ereignis. Die Hitze stand schwer zwischen der Häuserzeile. Bläser stolzierte ein wenig auf und ab, um sich den Ort näher zu beschauen, und ließ sich dabei von Jaco den vermutlichen Hergang des Unfalls erläutern. Dann gingen sie langsamen Schrittes, einen Bogen um die dunklen Flecke und die Kreidestriche machend, quer über die Straße in Richtung Weinberge. In herrlichster Mittagssonne schlenderten sie über einen geschotterten Weg zum anderen Ortsende. Auf dem Gelände der Autowerkstatt war kein Mensch zu sehen, das Auto schon gar nicht. Bläser deutete das als gutes Zeichen. Mit der Reparatur war offenbar schon begonnen worden. Vergebens rüttelte Pietro an dem mächtigen Garagentor. »Scheiße, Mittagszeit«, ärgerte er sich. »Kein Schwein da.« Der Kerl sei sicher heim zu Muttern zum Essen gefahren, erläuterte Bläser dem ziemlich uninteressiert herumstehenden Werners, dem die Hitze zu schaffen machte und dessen 22
Gedanken keineswegs beim Auto waren. Während des ganzen Rundgangs hatte er mit der Hand in der Hosentasche am Rosenkranz gespielt, die Perlen durch die Finger geschoben, das Kreuzchen ertastet. Ihn drückte das schlechte Gewissen. Durch die dicken Glasscheiben der Werkstattüre konnten sie das Auto sehen, nicht aber, ob daran schon irgendetwas gemacht worden war. Was tun? Die beiden beschlossen, sich im Schatten der Werkstatt niederzulassen und auf den Meister zu warten. Pietro holte Tabak und Papierchen hervor, und beide begannen, sich eine Zigarette zu drehen und zu schmauchen. Ihre Augen studierten das Inventar des Platzes: zwei angerostete, demolierte Kadett, die blaue Motorhaube eines Käfers, ein Stapel alter Felgen, Schrott, ein halbwegs passabel dastehender R4. »Was machst’n jetzt eigentlich nach dem Bund«? Die Frage Pietros kam für den Freund, der zum 1. Oktober seine Einberufung nach Kassel erhalten hatte, ganz überraschend. Dann kicherte Bläser laut. Es klang ein wenig nach dem Meckern eines Ziegenbockes. »Du wollt’st doch früher immer Pfarrer werden, was ist’n jetzt damit?« Jaco blickte verdutzt. Das war ein Thema, das in diesem Moment so gar nicht in Zeit und Raum passte. »Es muss ja nicht gleich so enden wie mit dem Pfarrer hier«, grinste Pietro. Werners war angewidert, aber von Bläsers Frage auch angeregt. Ja, was sollte aus ihm werden? Er wusste es nicht. Während sich der Freund die nächste Zigarette drehte und den Blick in Richtung Weinberge schweifen ließ, gingen Werners’ Gedanken zurück zu Pater Heribert. Der hatte einen grauschwarzen Bart und ein großes Herz für Jugendliche, die, von den Wirrnissen der Pubertät gebeutelt, auf 23
der Suche nach dem Sinn des Lebens waren. »Gott hat dich auserwählt, so wie du bist«, meinte Pater Heribert und nahm Werners in der katholischen Jugendgruppe unter seine schützenden Fittiche. Frühschichtgebete, Exerzitien, Wallfahrten – das ganze Programm. »Der Herr liebt euch alle, jeden einzelnen«, lautete Heriberts Botschaft. Das stieß auf offene Ohren. Auch Jakob wollte geliebt werden. Ganz arg sogar. Dann kam diese Nacht im Mai. Etwa fünfzehn Jahre alt war er damals. Werners war schlaftrunken ins Bett gekrochen – man hatte auf Samstag in einem Jugendheim viel gebetet, gesungen und schließlich auch dem dunklen Klosterbier zugesprochen –, da träumte er ganz plötzlich, von Engeln an die Himmelsleiter geführt zu werden. Drei-, viermal wiederholte sich das: Engel führten ihn an die Himmelsleiter. Mehr nicht. Weiter konnte es nicht geträumt werden. Doch von da an war Werners klar, wozu ihn Gott berufen hatte, und sein Herz juchzte voller Liebe zum Herrn: Priester sein – das war’s! Besseres konnte es nicht geben. In Gedanken sah er sich schon sonntags in vollem Ornat vorne am Ambo stehen und über die Liebe des Herrn, die Nächstenliebe und das Gebrauchtwerden predigen. Dann kam Erika. Erika hatte eine große Nase. Ein echtes Phänomen. Mit dieser Nase vermochte Erika die auf dem Pausenhof zusammenstehenden Gruppen von männlichen Schülern zu spalten wie ein scharfer Eisenkeil junges Holz. Diese Nase zog die Blicke magisch auf sich, und diese Nase war trotz ihrer Größe von einer unvergleichlichen Anmut. Erikas Figur war eher knabenhaft, doch das war bei den jungen Herren eher von Vorteil. Zwar standen diese Burschen allesamt auf ausgeprägte weibliche Rundungen, doch hingen die Trauben hoch und war die Furcht vor einer Blamage groß. Deshalb war Erika beliebt. Mit ihr konnte man, trotz ihres anderen Geschlechts, wie unter Knaben beisammenstehen und vergnügte Unterhaltungen pflegen, ohne dass einem gleich nachgesagt wurde, man habe Absichten und wolle eine Frau aufreißen. 24
Auch Werners mochte Erika. Natürlich nur als Mensch. Erika war nett, Erika war gescheit, und Erika ging in die Parallelklasse. Das war’s dann auch. Fürs erste. Erika hatte echt was. Das hatte Werners an jenem Tag bemerkt, als sie sich offenbar ganz bewusst zwischen ihn und Schwab auf dem Pausenhof drängte und nicht etwa den aufgeschlossenen, im Umgang mit dem anderen Geschlecht bereits erfahrenen Freund um eine Zigarette bat, sondern ihn, Jakob. Wieder war diese große Nase in sein Gesichtsfeld geraten, hatte dieses freigeräumt von allen Nebensächlichkeiten. Aber diesmal war etwas anders. Diesmal entdeckte Werners unter dieser beeindruckenden Nase einen roten, vollen Mund, der sich bei dem Satz »Kannst du mir eine drehen, bitte?« so merkwürdig, so wunderbar kräuselte und rollte und wellte, der sich ihm wie ein Kuschelkissen darbot und zugleich einen Pfeil ins Herz abfeuerte, dass Werners für einen kleinen Moment ganz elend, ganz schwach wurde. Er brachte damals nur ein »Ich, äh …« heraus, und Morris musste ihm beispringen, weil seine Arme plötzlich bleischwer und bewegungslos am Oberkörper hingen. Schwab drehte dann Erika eine Zigarette, den Freund dabei seltsam musternd. »Mir ist nicht gut«, stammelte Werners und war, ganz rot im Gesicht, davongeeilt. Seit jener Stunde im Pausenhof wusste Werners, dass es neben dem Erklimmen der Himmelsleiter und dem herrlichen Gefühl des Gebrauchtwerdens noch etwas anderes gab. Das heißt, Werners wusste es nicht, aber er ahnte es. Diese Nase, dieser Mund. Er wachte am Morgen mit diesem Bild auf, er schlief am Abend mit diesem Bild ein. Er suchte, nein, er gierte jeden Tag nach diesem Anblick. Lauerte hinter Wänden, Türen, zwischen anderen Schülern, hinter Büchern, um diese Nase und diesen Mund aus der Nachbarklasse zu erspähen. Dieses Lippenmeer, diese Wellen, diesen Sog, dieses Auf und Ab der Brandung – das immer wieder zu sehen war - sein einziges Begehren. Doch zugleich wurde er von panischer Angst ergriffen, wenn Erika 25
auch nur andeutungsweise seine Richtung einschlug. Er sehnte sich, und er fürchtete sich. Er betete viel, aber Gott lächelte nur und erklärte sich für derartige Fälle nicht zuständig. Und sich Pater Heribert anzuvertrauen, das wagte Werners nicht. Wie hätte er auch? Diese Enttäuschung, dieses Versagen! Für Heribert war er als Novize verloren. Jaco wusste es. Es gab kein Zurück mehr. Dass Erika damals keinerlei verschärfte Anstalten machte, in seine Nähe zu gelangen, das fiel dem Leidenden erst viel später auf. Auch, dass sie weder nach ihm spähte noch durch ihre Freundinnen seine Freunde und Bekannten aushorchen ließ, wie dies in jenen Tagen altersbedingt aufkeimender Gelüste durchaus üblich war und wodurch sich – ganz peripher – so manche Affäre zwischen Spioninnen und Befragten ergab. Als ihm dann doch etwas ins Auge stach, war es bereits zu spät. Es war an jenem Tag, als er die Krone der Selbstverleugnung gewann. Auf Lebenszeit. Er hatte in dem kleinen Kaffeehaus gesessen, in dem sich die Schüler in Freistunden zu treffen pflegten, und schlürfte an seinem Milchkaffee mit Doppelzucker, als Erika erschien. Werners blieb das Herz stehen. Nur kurz. Dann raste es. Erika war nicht allein. Da war noch dieser Paul. Der konnte jede haben, war die Sportskanone aus der letztjährigen Abiturklasse, studierte bereits, da natürlich bundeswehruntauglich, und hatte das weißeste Lächeln, das ein falscher Hund nur haben konnte. Er hatte Erika am Händchen. Ein vergnügtes Paar, das ausgerechnet auf Werners Platz zusteuerte, um dort zwei freie Stühle einzunehmen. Für Werners war es Stalingrad. Eisig und brutal. Die Tiefflieger jagten über ihn hinweg, links und rechts schlugen die Bomben ein, der Schneesturm umtoste ihn, doch er, waidwund geschossen, ließ alles mit sich geschehen. Jakob lächelte sogar, war die Höflichkeit in Person. Ja, natürlich konnten sie hier sitzen und würden auch nicht stören. Ja, natürlich sei die Physikarbeit schwer gewesen, und natürlich würde seine Klasse 26
auch wieder beim Basketballturnier der Oberstufe mitmischen. Logo. Die 6. Armee der Liebe war ein erniedrigtes und zum Tode verurteiltes Geschöpf, aber sie lächelte. Lächelte vielleicht zehn Minuten lang. Solange es halt braucht, um einen Cappuccino mit Anstand und ohne auffällige Hast zu trinken. »Tschüss dann.« »Ja, tschüss.« Jakob Werners wankte in die Gefangenschaft, in den Kerker seiner Seele, dessen Eisengitter er selbst von innen verriegelte. Was hatte er noch auf dieser Erde verloren? »Der kommt nicht bei, der Depp!« Pietros Fluchen holte Jakob Werners aus den Albträumen der Vergangenheit zurück. Bläser hatte sich erhoben und stolzierte mit steifen Beinen über das Gelände, wobei er mit der Schuhspitze gegen alles trat, was ihm in den Weg kam. Die Nase fest gegen die Scheiben der Werkstatt gepresst, versuchte er schließlich im Innern der Halle irgend etwas auszumachen. Doch Bläser entdeckte nichts. Es war schon weit nach Mittag. Pietro hatte Hunger und dazu dieses merkwürdige Gefühl im Bauch, wenn etwas nicht richtig klappen wollte und auch keine Aussicht auf Besserung bestand. Auch Werners raffte sich jetzt auf, mit ganz rotem Kopf, heiß von den Erinnerungen und gerötet von der Sonne, die in der Zwischenzeit den Schatten des Gebäudes vor sich her an die andere Ecke des Hauses getrieben hatte. Sie beschlossen, den Heimweg anzutreten. Jetzt war erst einmal Kaffee angesagt, entschied Bläser, ein Freund von heißen Getränken und süßem Gebäck. Die zwei steuerten deshalb auf dem Rückweg zur Wohnung die Bäckerei an, wo man ihnen in Sachen Werkstattbesitzer zwar nicht weiterhelfen konnte, ihre entsprechende Anfrage aber mit großer Neugier registriert wurde. Zumindest aber konnten im Laden ihre Bedürfnisse an Süßteilen und Kaffee befriedigt werden. 27
Beim Metzger deutete Bläser auf eine rote Wurst, die ihnen die Verkäuferin mit den Worten »ein Ring Fleischwurscht« einpackte, dazu kaufte man sechs Flaschen Bier. »Bei Hitze soll man viel trinken«, begründete Bläser. Moritz Schwab hatte die beiden Kundschafter noch gar nicht vermisst. Erst beim Anblick der Tüten in ihren Händen merkte er, wie hungrig er doch war. Morris hatte ganz feucht schimmernde Augen, die ihn auszeichneten, wenn etwas ganz prächtig am Gelingen war, und er hatte – wie er auf Befragen stolz zur Antwort gab – »mindestens acht Seiten« romantischer Notizen gemacht. Während Schwab nun die Papiere zur Seite schob, um auf dem Küchentisch Platz für die Kaffeetafel zu schaffen, und Werners Wasser aufsetzte, griff sich Bläser gelangweilt eines der Schwab’schen Bücher vom Tisch, um nach kurzem Blättern sogleich ein ungebührliches »Ach du Scheiße!« auszustoßen. Die Freunde drehten die Köpfe. Pietro begann zu lesen: »Pumpelirio Holzebock! Sage mir doch, Wann die Jungfer Fanferlieschen Schönefüßchen Sterben wird? Wann ich komme nach Besserdich?« Bläser schüttelte grinsend den Kopf. »Der Mann hat doch voll einen an der Erbse, oder?« Er blickte Morris an. Wie man sich mit so einem Schwachsinn die Zeit versauen könne, fragten die braunen Pupillen. »Holzebock und Schönefüßchen – so ein Käse«, brummte er, griff zur Tüte mit den Backwaren und wählte ein Stück Streuselkuchen. Staubrieselnd fielen ihm Puderzucker und Streusel von den Wangen, nachdem er herzhaft hineingebissen hatte. Nochmals ein Kopfschütteln, dann flog das Buch auf den Tisch zurück. Schwab zuckte mit den Schultern. Werners goss Kaffee in die Tassen. Das Dringendste war – darüber herrschte Einmütigkeit in der Runde –, die Sache mit dem Auto abzuklären. Bläsers Eltern 28
erwarteten am Abend eine Meldung, ob alles geklappt habe und das Getriebe wieder am laufen sei. Die drei Freunde waren sich jedoch mittlerweile fast sicher, dass sie den Bläser’schen Alten an diesem Tag wohl keine Erfolgsmeldung mehr würden machen können. Der Meister war verschwunden, und selbst wenn er kurz nach Werners’ und Bläsers Abmarsch doch noch in der Werkstatt aufgetaucht wäre, so waren die Reparaturarbeiten doch bestenfalls im Anfangsstadium. »Der muss erst abschleifen und dann grundieren, bevor er den Lack draufmacht«, erklärte Schwab und brachte ob seines Sachverstandes die Freunde zum Staunen. »Und die Farbe vom Lack, die muss er auch erst noch besorgen. Das mischt sich nicht so leicht.« Da sprach der passionierte Modellflugzeugbauer. Eine Bierflasche wurde geöffnet. Natürlich Pietro. Bläsers Magen nahm hin wie eine Mülltonne. Wer sonst hätte nach zwei Stück Streuselkuchen und zwei Tassen Kaffee ohne Klagelaute ein kühles Bier vertragen? Für Bläser kein Problem. Außerdem: Das Bier brauchte er jetzt. Morris’ fachkundiger Einwand ließ ihm keine Ruhe. Die Sache mit dem Auto war bis übermorgen nur abzuwickeln, wenn gehörig Dampf gemacht wurde, verstand er. Natürlich mit Vorsicht, um den Meister nicht zu verärgern. »Wir marschieren da jetzt gleich noch einmal hin«, befahl Pietro und machte damit für alle deutlich, dass die energische Vorsprache in der Werkstatt keinen Aufschub mehr duldete. Morris hatte nichts gegen ein wenig Bewegung. Er hatte die ganze Zeit in der stickigen, warmen Wohnung über seinen Büchern gesessen. Doch Jaco winkte ab. Er würde hier auf die anderen warten. Er sei schon beim Brötchenholen gewesen und dann nochmals mit Bläser herumgeschlappt. Jetzt habe er keinen Bock mehr auf weitere Spaziergänge. »Bleib anständig«, grinste Bläser zum Abschied und klopfte ihm auf die Schulter. 29
»Blödmann«, gab Werners zurück. Ja, er hatte Heimliches vor, aber nicht, was Bläser dachte. In aller Ruhe wollte er sich einmal das Fundstück genauer betrachten, das er seit dem Vormittag in der Hosentasche herumtrug. Großartig in Augenschein genommen hatte er den Rosenkranz des Pfarrers nämlich noch nicht. Und vielleicht könnte er danach unbeobachtet zur Hauptstraße zurücklaufen. Dann würde er das Ding heimlich wieder in den Rinnstein legen, und alles wäre vergessen. Durch den Vorhang des Fensters blickte Werners Pietro und Morris hinterher. Er wollte sicher sein, dass die Freunde nicht doch noch einmal umkehren würden. Blöde Fragen, die wollte er auf jeden Fall vermeiden. Das mit dem Rosenkranz ging niemanden etwas an. Ja, Werners schämte sich für seine Untat und sehnte die Stunde herbei, da er sie würde wieder bereinigen können. Jaco griff in die Hosentasche, holte ein Stofftaschentuch heraus, sauber gefaltet, unbenutzt. Werners legte es auf dem Küchentisch aus und strich den Stoff glatt. Auf dem Tuch breitete er den Rosenkranz aus. Das kleine silberne Kreuzchen unten, das Kettchen zum Kreis geformt darüber. Sein Fund war nichts Besonderes. Ein Rosenkranz eben. Er dachte an Oma, die alten Frauen und das Rosenkranzgebet in der Kirche. An das »Gegrüßet seist du, Maria« als wesentlichen Bestandteil konnte er sich noch gut erinnern. Es schellte an der Türe. Erschrocken fuhr Werners zusammen und sprang zum Fenster, konnte aber draußen nichts erkennen. Waren Morris und Pietro schon zurück? Das war kaum möglich. »He, hallo!« hörte er jetzt und war erleichtert. Er erkannte die Stimme ihres Vermieters. Was der wohl wollte? Jaco eilte, dem Alten die Türe zu öffnen. »Wie siehtn des jetzt aus mit euch, ich mein, wann fahrtn ihr widder?« Während der Sternwirt-Schwager die Frage stellte, drängte er 30
sich durch die geöffnete Türe in die Wohnung und ließ dabei seine Luchsaugen schweifen. Werners hatte sich überrumpeln lassen und erkannte sofort, dass es dem Schwager gar nicht um die Beantwortung seiner Frage ging. Das hier war ein Stubenappell. Der Alte war ungebremst in die Küche geeilt, und Werners, der hinterherstolperte, hörte sein durch die Zähne gezogenes Pfeifen. »Ja, guck emol, en Rosekranz.« Der Alte schaute Werners an und grinste. Dass er es mit so frommen Gesellen zu tun hätte, das habe er nicht geahnt, stellte der Vermieter beeindruckt fest. Dann meinte er, ganz umgänglich, nachdem Jakob Werners mit einem »Also, äh, Herr …« die Sache vergebens zu bereinigen versucht hatte: »Kannst Egon zu mir sach.« Das Sie sei ihm nämlich nicht so wichtig, man sei ja nicht unter studierten Leuten, gell? Werners blieb chancenlos. Egon saß mittlerweile auf einem Stuhl am Küchentisch und hatte mit einem Grunzen zu verstehen gegeben, dass ihn der Zustand der Wohnung zufriedenstellte. Er hatte offenbar erwartet, dass Haschischduft im Raum hing oder Unterwäsche auf dem Boden herumlag, vielleicht auch, dass etwas mutwillig demoliert war. Doch hier war alles in Ordnung. »Mer muss vorsichtig sei«, sagte er, als habe er Werners Gedanken erraten. Der wiederum beeilte sich, den Rosenkranz vom Tisch zu räumen und in seiner Hose verschwinden zu lassen. »Ich stör doch nit, oder?« fragte der Alte und blickte dem Mieter fest in die Augen. Nein, versicherte Werners, er sei nicht gestört worden. Er habe sich aber – Jaco nahm für diesen Satz seinen ganzen Mut zusammen – eigentlich jetzt für eine Weile hinlegen wollen. »Fast nichts geschlafen heut nacht«, sagte er. Der Versuch scheiterte. Egon war anscheinend einsam und 31
wollte etwas Unterhaltung. Ob sie denn schon gehört hätten, das mit dem Pfarrer seinem Unfall? Werners nickte. Sagte, dass er kurz nach dem schrecklichen Ereignis am Ort des Geschehens vorbeigekommen sei und die Leiche des Pfarrers noch auf der Straße gelegen habe, allerdings abgedeckt. Egon spitzte die Ohren. Ja, der Heusinger, das sei schon eine arme Sau gewesen, meinte der Vermieter nach einer kurzen Pause. Der habe wenig vom Leben gehabt. »Fast nie in Urlaub gfahrn, und Weiwergschichten sowieso nit«, meinte der Schwager. »Früher war des anders bei de Pfarrer, ganz früher, mein ich. Da hamm se aufm Land noch die Jungfernschaft kontrolliert«, grinste Egon. Ein wenig Neid huschte über sein Gesicht. Aber jetzt sei er tot, der Heusinger, und er könne nicht mal sicher sein, dass er das kriege, wovon er immer gepredigt habe: das ewige Leben und das göttliche Manna. Der Gast streckte die Beine weit unter den Küchentisch und seufzte. Er gehe schon lange nicht mehr in die Kirche. Das bringe doch nichts. Werners bemühte sich, deutliche Zeichen von Unbehagen zu verbreiten, in der Hoffnung, der andere möge sich das zu Herzen nehmen und verduften. Egon aber interessierte das nicht. »Darf ich?« fragte er und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, zum Herd, neben dem eine Packung Zigaretten lag und wo der Aschenbecher stand. Mit beidem kam Egon an den Küchentisch zurück, nahm wieder Platz, zündete sich eine Zigarette an und ließ Rauchkringel aufsteigen. Jetzt sei er bestimmt schon beim Leichenbestatter und fein herausgeputzt worden, der Heusinger, meinte der SternwirtsSchwager. Vielleicht gar schon im weißen Linnen in den Sarg gelegt. Aber das ewige Leben? »So wie beim Brandners Kasper 32
is’ des sicher nit«, schüttelte Egon den Kopf, deutete mit einer Aufwärtsbewegung der Kinnspitze auf den Platz am Tisch, an dem vorhin noch der ausgebreitete Rosenkranz gelegen hatte. Dann fragte er, Aug’ in Aug’ mit Jaco, was dieser denn so vom ewigen Leben halte, also, ob er dran glaube oder nicht. Werners war verblüfft und kam zunächst gar nicht mit der Sprache heraus. Naja, schon, sagte er dann vorsichtig. Schließlich sei er gläubig, setzte er hinzu. Es klang wie eine Entschuldigung. Egon machte eine Handbewegung, die Mitleid ausdrückte. Für ihn sei mit dem Sterben Schluss, versicherte er. Wie zur Bekräftigung inhalierte er bis in die letzte Lungenspitze und stieß eine mächtige Rauchfahne aus. Der Heusinger, fuhr der Besucher fort, der habe vielleicht noch den Schlag vom Auto gespürt, allenfalls noch den Schmerz, als ihm der Laster über den Schädel geleiert sei, mehr aber nicht. »Dann war Feierabend, Sense und vorbei.« Der Alte am Küchentisch brachte diese Worte hervor, als spalte er Holzscheite auf einem Hackstock. »Und überhaupt«, ergänzte er, »wär des doch schrecklich, wenn’s ewich so weiterging und mer nie sei Ruh hätt, oder?« Werners nahm Platz auf einem der Küchenstühle. In absehbarer Zeit würde er den Kerl nicht loskriegen, dessen war er sich nun sicher, und außerdem hatte diese Diskussion etwas, was er in den durchredeten Nächten mit Pater Heribert oft vermisst hatte: eine Bodenständigkeit, fern von wissenschaftlicher oder theologischer Gelehrsamkeit. Egon nahm Werners ernst, obwohl dieser fast der Enkel des Alten hätte sein können. Das schmeichelte ihm. Was, bitte, solle man denn überhaupt eine Ewigkeit lang im Himmel machen? fuhr der Vermieter fort. Des Hosianna-Singens sei man sicher bald überdrüssig. Das auf Erden zuweilen freudenspendende körperliche Wohlbefinden sei im Jenseits mangels Körper gestrichen. Und überhaupt, wer könne denn wirklich sagen, ob 33
es dort drüben so sei, wie es die Pfarrer erzählten – mit den Engeln, den Heiligen und den ganzen Seraphinen? Als Bub habe er, Egon, sich beispielsweise einen Jux daraus gemacht, den Weberknechten – »die langbeinichen Spinnen, weißt« – die Beine einzeln herauszureißen und die Köpfe dann mit dem Daumennagel von der Fingerspitze wegzuschnicken. Werners schüttelte sich vor Grausen, als er sich dies bildlich vorstellte. Egon bemerkte es und grinste. Dann wurde der Alte ernst. Viele Jahre später dann sei ihm plötzlich in einer schwülen, einsamen Nacht im Traum der Gedanke gekommen, dass er nach seinem Tod in einem Spinnenhimmel landen könne, »voll lauter Spinnen, alles voll«. Egons Augen wirkten nun leicht glasig. »Vielleicht hamm die Spinnen ja auch so einen Glauben wie wir«, murmelte Egon. Werners blickte ratlos. Er verstand nicht. »Hamm auch so einen Glauben, und wir«, hier wurde die Stimme des Redners krächzend heiser, »wir sind die wirklichen Spinnen für die Spinnen um uns herum.« Jetzt war es für einen Moment so still, dass außer einem fernen Traktorengeräusch nichts zu hören war. Werners brauchte eine ganze Weile, bis er diesen Satz durchdrang. Mein Gott, war das abartig! Gottlob nahm sich Egon selbst zurück. »Is natürlich Quatsch«, schmunzelte der Mittfünfziger mit dem schütteren Haar. »Alles Quatsch, weil hinterher Schluss is, absolut.« Und das sei ihm auch am allerliebsten, meinte der Vermieter trocken, während er die Zigarettenkippe ganz energisch im Aschenbecher ausdrückte. Werners blickte den Narren fragend an. Ob er denn nicht auch sehnlichst wünsche, einige der von ihm geliebten Menschen 34
nach dem Tode wiederzusehen? Und darauf dürfe der Christ bauen, zweifellos, war ihm die frohe Botschaft doch gegeben, bot Werners Paroli. Der andere wiegte nun nachdenklich den Kopf, klopfte sich eine neue Zigarette aus der Packung und ließ das Feuerzeug aufflammen. »Nein«, enttäuschte Egon nach einer Schweigeminute alle Hoffnungen Werners. Darauf könne er verzichten. Seine Mutter, ja, das sei eine herzensgute Frau gewesen, aber das wisse die, und das brauche er ihr nicht eine ganze Ewigkeit lang zu sagen. Und schließlich seien wir – so wisse er es noch aus dem Religionsunterricht von früher – nicht zum persönlichen Ergötzen und Erheitern im Himmel, sondern zum Lobgesang des Herrn, und dabei müsse der zwischenmenschliche Kontakt zweifelsohne in den Hintergrund treten. Dem Herrn auf alle Tage zu lobsingen und das auch noch als erfüllendes Ein und Alles empfinden zu müssen, das halte er für wenig erstrebenswert. »Des kann der Heusinger mach, wenn er will. Ich mach des nit«, stellte Egon klar und erhob sich. Er lief quer durchs Zimmer in den Flur und ging, während ihm Werners in missionarischem Eifer hartnäckig folgte, ins Bad. Egon hob den Klodeckel. Das runde Brett war mit einem langhaarigen orangefarbenen Bezug geschmückt, den der frühere Mieter wohl beim Auszug vergessen hatte. Der Alte wollte schon loslegen, als er sich Werners Gegenwart bewusst wurde. »Ich kann des scho allein«, stellte Egon über die Schulter blickend fest. Werners spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und verdrückte sich zurück in die Küche. Er musste den Kerl irgendwie loswerden. Dieses Gespräch über das Leben und das Hinterher war nicht das, was er momentan brauchen konnte. Er spürte, wie es ihn erschöpfte und ihm die Antworten fehlten. Außerdem war das Gespräch nicht halb so interessant verlaufen, wie er sich das eingangs gedacht hatte. Das war nicht 35
Bodenständigkeit, sondern Bodensatz, was ihn da in die Tiefe zu ziehen versuchte. Damit musste jetzt Schluss sein. Doch Werners brauchte keine Strategie. Egon kam aus dem Bad und marschierte durch die Küche geradewegs in den Flur. »Ihr sagt mir halt morgen Bescheid, ob ihr noch eine Nacht bleibt oder nit«, brummte er und klopfte dem neben ihn getretenen Jaco schier freundschaftlich auf die Schulter. Auf eine Nacht mehr oder weniger komme es nicht an, meinte er wohlwollend. Zum Abschied gab der Alte noch den Rat, falls sie am Abend wieder beim Schwager, dem Wirt, einkehren sollten, dann empfehle er ihnen den Hauswein, einen trockenen Silvaner. Das sei ein ganz bekömmlicher. Morris und Pietro waren stinksauer, als sie zwei Stunden später wieder in die Wohnung zurückkehrten. Der »Sack« sei nicht mehr aufgetaucht, fluchte Bläser, und griff zum Trost nach einer Flasche Bier, die er so hastig ansetzte, dass er den ersten Schluck als breite Fontäne gleich wieder von sich gab, weil er des Überdrucks hinter den Backen nicht Herr wurde. Auch Schwab sah angegriffen aus. Er fürchte, dass sich die Angelegenheit mit dem Wagen hinziehe. Für ganz besonders gefährlich halte er den Sachverhalt, dass das Fahrzeug nun in der Werkstatt eingeschlossen sei und man nicht einmal an die Karre herankomme, wenn man – »meinetwegen mit Schramme« – an den Walchensee weiterfahren wolle. Bläsers Einwurf, er werde nie mit dem demolierten Auto seiner Mutter am Walchensee vorfahren, ignorierte Morris. »Stellt euch vor, der Typ liegt mit Schlaganfall im Krankenhaus«, zeichnete er das düsterste Bild, das ihm einzufallen vermochte, in den Raum. Das sei dann nämlich der absolute Hammer, greinte Schwab weiter und malte ihnen aus, wie sie alle drei »wie die letzten Deppen« bei der Polizei aufmarschieren müssten, um an ihr Auto zu kommen und dann die ganze Wahrheit auf den Tisch legen müssten, mit Schramme 36
und angeknackstem Wirtshaus-Sandsteinpfeiler und dem allem. Bläser blickte gereizt. Das Tempo, in dem er die Flasche Bier in seinen Rachen leerte, war beängstigend. Nein, das stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, das hier war nicht das, was er hören wollte. Schon explodierte der Vulkan und drohte Schwab Haue an, wenn er nicht gleich sein »blödes Maul« halte. Sie hätten, das heiße, er, Morris, habe ja leicht reden, denn er müsse am Abend nicht die Eltern anrufen und ihnen Rapport erstatten. Keine Ahnung, was er denen sagen sollte, fluchte Pietro. Da helfe Schwabs dummes Dahergerede nicht weiter. Und die verdammte Romantik, mit der er sein Hirn zudröhne, sei ihm, Bläser, da auch keine Hilfe, denn er glaube nicht, dass seine Alten auf Brentano stünden. Die Lage war wirklich etwas verfahren, erkannte auch Werners. Das Auto eingeschlossen in eine Werkstatt, deren Meister wie vom Erdboden verschluckt schien. Eine Bude, die zwar durch die bunten Pril-Aufkleber an der Küchenspüle freundlich, insgesamt aber doch nicht das war, worin man seinen Urlaub zu verbringen wünschte. Und über allem als Damoklesschwert schwebend Bläsers Eltern und der unausweichlich erscheinende Ärger – entweder weil sie ewig nicht beikamen, oder weil sie als Betrüger mit demoliertem Auto vorfahren mussten. Letzteres unter der Voraussetzung, dass ihnen die Polizei nach ihrer Fahrerflucht am Wirtshaus ›Krone‹ überhaupt freies Geleit gewähren würde. Und das schien mehr als fraglich. Wahrscheinlich würde man sie als potentielle RAF-Sympathisanten erstmal ordentlich durch die Mangel drehen. Die Situation war – hier pflichtete ein besorgt dreinblickender Werners dem von Schwab entworfenen Schreckensszenario bei – »echt beschissen«. »Essen fassen!« kommandierte Jaco deshalb, um die Freunde auf andere Gedanken zu bringen. Bläser seufzte erleichtert auf. »Jawohl. Essen fassen. Gute Idee.« Jetzt sei die Kneipe dran. »Ein leerer Bauch denkt nicht 37
gern.« Pietro strich sich mit beiden Händen die Wampe herunter, deren zarte Speckansätze schon jetzt den Bierbauch des gereiften Mannesalters ahnen ließen. Während das Trio in Richtung ›Stern‹ marschierte, berichtete Jaco von der Visite ihres Vermieters und davon, dass es diesem ziemlich egal sei, ob sie noch einen Tag länger blieben oder nicht. Von daher seien also keine Probleme zu erwarten. Von der Unterhaltung selbst erzählte Werners kein Wort. Das Gespräch, es war kaum mehr als eine dreiviertel Stunde her, kam ihm mittlerweile so unwirklich vor, dass er sich fragte, ob es tatsächlich stattgefunden hatte.
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KAPITEL 2 Spätlese im Kabinett DER ›STERN‹ WAR EINE GASTSTÄTTE, wie man sie in ihrer Heimat nicht fand. Das Ambiente hatte Jaco schon am Abend zuvor fasziniert, doch, so stellte er nun fest, hatte er vieles bei ihrem ersten Besuch nicht so genau zur Kenntnis genommen, weil die Gedanken durch die Sache mit dem Auto, wegen der besorgten Bläser’schen Eltern am Walchensee und aufgrund der schwierigen Suche nach einer Herberge blockiert waren. Nun aber hatte er Muße, sich genauer umzuschauen. Von der Straße ging es mehrere Stufen eine schmale Treppe aus Buntsandstein hoch zur schweren, hölzernen Eingangstüre. Die Treppe selbst war mit einem schmiedeeisernen Geländer gesichert, das ziemlich verrostet war und Jahrhunderte alt schien. Es stand leicht schräg von der Treppe ab. Werners deutete es als ein Zeichen dafür, dass es schon vielen Kneipengästen, die trunken aus der Wirtshaustüre gestolpert waren, als Fangzaun gedient haben musste. Sicher hatte das dünne Eisen, das dem hochgewachsenen Jaco gerade mal bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, nicht in jedem Fall den Schwung abfangen können. Möglicherweise hatte es bei dem einen oder anderen Betrunkenen sogar mehr geschadet als geholfen. Werners schauderte ein wenig bei dem Gedanken, welch böses Ende ein Sturz über das Geländer hinweg haben musste, ging es doch von der Treppe eineinhalb Meter tief in den gepflasterten Hof. War man durch die Türe in den ›Stern‹ eingetreten, so stand man nicht gleich im Gastraum, sondern in einem L-förmig abgewinkelten Flur. Die Türe gleich links – das verrieten auch die dunklen Männerstimmen und der durch die Türschlitze dringende süßlich-verrauchte Geruch – führte in den 39
Schankraum. Der kurze Flur nach rechts – auch dies war durch entsprechende Düfte unverkennbar – endete an der Toilette. Dort gab es nur eine Türe, was Jaco schon gestern aufgefallen war, und er ging nun neugierig nachschauen, ob er etwas übersehen hatte. Nein, hatte er nicht. »Was ist’n los?« Bläser war aufmerksam geworden. »Da gibt’s nur ein Klo für alle«, sagte Werners, ergänzte vorsichtshalber aber: »Wenn mich nicht alles täuscht.« Frauen würden sich in die Kneipe eh nie verirren, meinte Bläser grinsend. Morris drängte. Das Klappern aus der Küche, in die offensichtlich gelangte, wer den Flur geradeaus weiterging, hatte ihn hungrig gemacht. Ein leichter Schleier von Rauch lag über dem Raum, in den vier große Tischgruppen gestellt waren, die jeweils acht bis zehn Sitzplätze boten. Besetzt war nur der Tisch nahe dem Tresen. Pietro, Jaco und Morris plazierten sich in die Ecke am Fenster zur Straße, um möglichst ungestört zu sein, und in der Hoffnung, vielleicht per Zufall durch das Fenster den zu seiner Werkstatt fahrenden Kfz-Meister zu erspähen. Während sich Morris auf einem Stuhl niederließ, rutschten Bläser und Werners auf die hölzerne Eckbank, die an drei Wänden um den Schankraum herumlief. Die Wände selbst waren bis in Schulterhöhe holzvertäfelt, mit einer kantig vorspringenden Leiste zum Abschluss, die Jaco im Laufe des Abends verfluchte, weil er sich beim Zurücklehnen nicht nur einmal den Hinterkopf daran anschlug. Der Wirt eilte herbei. Werners fragte sich bei seinem Anblick, wie sich das mit dem Schwager wohl verhalten mochte. Ihr Vermieter dürfte wenig über fünfzig Jahre alt sein, der Wirt aber, obgleich ungemein rüstig, mochte schon fünfundsiebzig Jahre auf dem leicht gekrümmten Buckel haben. Das konnte doch nur gehen, wenn entweder der Wirt eine wesentlich 40
jüngere Frau geehelicht hatte, oder wenn der Schwager der absolute Nachzügler in der Kinderschar gewesen war. Wie es auch sein mochte, es konnte ihnen gleich sein. Der eine hatte ihnen eine Unterkunft gegeben, der andere würde ihnen bald etwas Ordentliches zu essen auftischen. Das allein zählte. Nach einigen Höflichkeiten war es Morris, der darauf drängte, mit dem Wirt die Vielseitigkeit der Speisekarte zu erkunden. Sie wurden ziemlich enttäuscht. Eigentlich, so der Wirt, könne er ihnen heute nur kalte Küche bieten, weil seine Frau ausgeflogen sei mit der Landfrauenbewegung. »Die Walldürn-Wallfoahrt wie alli Joahr«, hob er entschuldigend die Schultern. Von der pflegten »die Weiwer« kaum vor dem frühen Morgen heimzukehren. Deshalb empfehle er hausgemachte Weiße oder Blunsenwurst, auch Leberwürste oder Salami, dazu die besten »Kipf« weit und breit – die leckersten Brötchen, wie der Wirt auf ihre fragenden Blicke hin übersetzte. Aber weil sie es seien, junge Leute »mit langen Seiten«, könne er ihnen ausnahmsweise auch »Bratwürscht mit Kraut« machen. Das sei aber das Äußerste, gab der Gastronom zu verstehen. Was blieb übrig? Man war einverstanden. Für den Wechsel in ein anderes Lokal fehlte ihnen sowohl der Mut wie auch die Alternative. Das »Was zu trinken?« war rasch beantwortet. Jaco hatte noch gut die Empfehlung ihres Vermieters im Ohr, beim Schwager den Hauswein zu ordern, einen trockenen Silvaner, noch dazu billig, und der Wirt schmunzelte, als er die Bestellung hörte und vermutete sogleich: »Gell, der Egon hat euch berate?« Dann eilte das kaum einssechzig große Männchen davon, um sich Kraut und Würsten zu widmen, zwischendurch aber den bestellten Hauswein in einem grautönernen Krug auf den Tisch zu stellen. »Wohl bekomm’s!« Unverzüglich füllte Peter Bläser die Gläser mit der 41
goldgelbgrün schimmernden Flüssigkeit, wünschte »Prost allerseits!« und leerte sein Glas in einem Zug bis weit über die Hälfte. »Aaah«, kommentierte er zufrieden. Das trinke sich gut, ja, ausgezeichnet, stellte er fest, und Morris und Jaco, die es gemütlicher angingen, pflichteten bei. Zum Biertrinken war daheim noch genug Gelegenheit. Wenn es einen schon in einen Weinort verschlage, dann sollte man auch das einheimische Getränk kosten. Da waren sie sich stillschweigend einig. »Zum Wohlsein!« tönte es jetzt vom Stammtisch herüber, und ein Alter mit einer von grauem Haarkranz eingerahmten Glatze und tiefrot leuchtenden Wangen schwenkte sein Weinglas in ihre Richtung. »Zum Wohlsein!« antworteten die drei artig. Der Alte lächelte freundlich und wandte sich dann wieder seinem Tischgenossen, einer Person von bemerkenswerter Erscheinung, zu. Der Kopf war riesengroß und rund und offenbar so schwer, dass er von einer auf den Tisch aufgestützten Hand vor dem Umkippen bewahrt werden musste. Das Gesicht erschien irgendwie unförmig, fast breiig, dachte Werners. In der Mitte desselben saß eine riesige Knollennase, darunter hatten sich zwei Lippenwülste ausgebreitet, die jedem vertrimmten Boxer zur Ehre gereicht hätten. Die Visage war faszinierend hässlich. Jaco schien es, als würden die beiden Augen tränen, doch konnte er dies auf die Entfernung nicht mit Sicherheit erkennen. Nach einer Weile des Beobachtens fiel Werners auf, dass der Riesenkopf nie redete, sondern bestenfalls brummelte und gelegentlich nickte, während der andere, der ihnen so freundlich zugeprostet hatte, immer wieder mal eine Wortkaskade sprudeln ließ, um danach für ein oder zwei Minuten zu schweigen und versonnen dem Rauch seiner Zigarre hinterherzublicken. Das Essen kam. »Sogar mit Soß«, wie der Wirt sich zu betonen beeilte. Auf den drei Tellern lagen jeweils ein Paar 42
braune, an den Enden bis ins Schwärzliche gebratene Würste. Das Wurstpaar bildete auf dem Teller ein leichtes Oval, zwischen dem ein mit brauner Soße übergossener Haufen Kraut saß. Jaco fühlte sich an einen der Misthaufen erinnert, die er am Nachmittag beim Rundgang im Dorf entdeckt hatte. Nur die Hühner fehlen, dachte er und musste grinsen. Das freute den Wirt, der dieses Lächeln als Geste der Zufriedenheit mit dem Essen missverstand. Man solle es sich nur recht gut schmecken lassen, strahlte der Alte. Das sei fürwahr ein Leibgericht, verkündete er, ein »echt fränkisches Essen«, hausgeschlachtete Würste und »schön durchgekochtes Kraut«. Letzteres für den Magen bekömmlich und – hier grinste der Kleine schelmisch – später den Körper auf sanfte Weise entspannend. »Der Hunger treibt’s rein«, munterte Bläser die beiden anderen auf, weil ihm nun genug geredet war. Ohne weiteres Zögern machte er sich daran, kleine Stücke von der Wurst zu schneiden, auf die Gabel aufzuspießen und den verbliebenen Laderaum auf der Forke mit braun tropfendem Kraut zu füllen. Dann schob er die erste Fuhre ins weit aufgesperrte Maul. »Gar nicht schlecht«, befand er, laut schmatzend. Auch Morris und Jaco mussten sich eingestehen, dass das Essen besser mundete, als es rein optisch wirkte. Das Besteck klapperte, munter schaufelten die drei jungen Leute ihre Portionen hinein und räumten nebenbei auch noch den Brotkorb leer, den ihnen der Wirt in die Mitte des Tisches gestellt hatte. Dazu immer wieder ein Schluck Wein. So langsam sah die Situation nicht mehr so zerfahren, nicht mehr so aussichtslos aus. Mit vollem Magen, zwei Gläsern Hauswein intus und an der Nachtisch-Zigarette paffend, beschloss Bläser, es sei nun an der Zeit, die Lage zu überdenken und sich etwas zu überlegen, was 43
später, wenn er so in einer halben, vielleicht auch erst in einer Stunde mit den Eltern telefonieren würde, diese überzeugen konnte. Morris schlug vor, bei der Werkstatt-Problematik anzusetzen, weil ihm dies als das zentrale Hindernis erschien. Doch zunächst geschah Unerwartetes für die beiden Freunde Schwabs. Mit einem selten beobachteten Elan erhob sich Morris vom Tisch, sagte »Wartet mal!« und marschierte mutig quer durch das Gastzimmer auf die beiden Alten zu, den Breiigen und den mit der Stirnglatze. Von ihrem Platz aus konnten Pietro und Jaco das nun folgende Gespräch ohne Mühe verfolgen. Sie möchten entschuldigen, »die Herren«, begann Morris, dass er so ungefragt in ihre gemütliche Runde platze, doch hätten sie – hier deutete er hinüber zu Bläser und Werners, die nun freundlich lächelten und die Köpfe neigten – ein gewisses Problem, das zu lösen die Herren möglicherweise beizutragen vermöchten. Die Alten glotzten ob der gestelzten Rede neugierig. »Es ist nämlich so«, begann Schwab und erzählte in knappen Worten, dass sie durch ein Malheur mit dem Auto in dieses Dorf gelangt seien, wo sie hofften, in der Werkstatt Hilfe zu finden, sie aber nun von dem wohl nicht ganz zuverlässigen Werkstattmeister offenbar versetzt wurden und jetzt gerne wüssten, wie man an diesen Menschen herankommen könnte, von dem jede Spur fehle. »Wissen Sie eventuell, wo der wohnt?« beendete Schwab seinen Monolog, dem der Breiige kaum interessiert, der andere Alte dagegen willig, aber zunehmend verwirrt gefolgt war. Anstatt auf Schwabs Frage direkt zu antworten, wandte sich der Befragte an die beiden Freunde drüben am Tisch. »Hockt euch her«, rief die Stirnglatze Jaco und Pietro zu und winkte sie mit einladender Geste heran, an ihrem Tisch Platz zu 44
nehmen. »Und brängt euer Gläser mit rü.« Die Freunde folgten. Der leere Silvaner-Hausweinkrug blieb zurück. Bläser nahm deshalb Blickkontakt mit dem soeben wieder aus der Küche kommenden Wirt auf, deutete auf den Krug und lud den Breiigen und die offenbar hilfsbereite Stirnglatze mit einem »Sie trinken doch einen mit, einen Hauswein?« zum Schoppen ein. »Scho«, meinte der graue Haarkranz, winkte zur Verwunderung Werners’ jedoch ab, was den vom Schwager empfohlenen Silvaner anbelangte. »Zu sauer.« Der schlage ihm nur auf den Magen, begründete er und ignorierte die sich verdüsternde Miene des Wirts, die sich aber rasch wieder aufhellte, als die Stirnglatze »Brängst uns e Flasche Müller, awer die Goldmedaille!« befahl. Der bekomme weit besser, meinte er, und der Wirt und der Breiige lächelten dazu. Bläser war das recht. Silvaner hin, Müller – was immer das auch sein mochte – her. Hauptsache, man käme ins Gespräch und in Sachen Werkstattmeister irgendwie voran. Die Freunde machten es sich am Tisch bequem. Der Kurt, so hieß der Werkstattmeister, der sei tatsächlich ein Fall für sich, räumte der Alte mit dem hausweinunverträglichen Magen ein, um sogleich eine Pause zu machen, da der Wirt nun mit einer kleinen braunen, bauchigen Flasche kam. »Ah, der Müller«, hieß ihn der Alte mit strahlenden Augen willkommen. Das schien schon ein besonderes Getränk zu sein, weil nun auch der Breiige, immer noch wie eine traurige Unke auf der Sitzbank dahingelagert, etwas in Bewegung kam und seine Masse zurechtschob. Dem Riesenschädel entfuhr ein fröhliches Grunzen. Das Staunen der Fremdlinge bemerkend, erläuterte der Alte: »Des is ’n Bocksbeutl, des geit’s nur in Frangn.« Er hatte die braune Flasche vom Wirt übernommen und führte sie nun, flach 45
auf seine rechte Hand gelegt, dem neugierigen Publikum vor. Das Etikett zeigte ein idyllisches Bild mit Kirchlein und Weinbergen und einen Schriftzug, dem Jaco allerdings wenig Interesse schenkte. Über dem Etikett, etwas seitlich versetzt, klebte ein goldenes Siegel, offenbar eine Auszeichnung. Man hatte es bei dem Alten zweifellos mit einem Weinkenner zu tun. »Bocksbeutel?« fragte Werners und entlockte damit der Stirnglatze, dem Wirt und sogar dem Breiigen ein breites Grinsen. Ja, Bocksbeutel, bestätigte der kleine Wirt, »wie der Beutel beim Bock« und griff sich – die Freunde waren richtig erschrocken – ganz ordinär zwischen die Beine. Wenn sie das vor den Bratwürsten geahnt hätten! Die Stirnglatze half, den Sachverhalt zu erläutern. Es sei landläufig so, sagte er, dass der Franke die Form des Bocksbeutels auf die Form des Hodensacks, »der Eier« des Ziegenbocks zurückführe. Ob das tatsächlich so stimme, das wisse er nicht, und mancher erzähle auch anderes; das sei aber auch egal, solange der Inhalt der Flasche keinen Grund zur Beanstandung gebe. Das fanden die Burschen auch. Keine weiteren Fragen. Mit einem erwartungsfrohen Reiben der Handinnenflächen gab der Stirnglatzige das Signal für das Öffnen der Flasche, was mit einer gewissen Feierlichkeit geschah. »Passt scho«, befand der Alte, nachdem der Korken gezogen war und er an dessen feuchter Rückseite geschnuppert hatte. Er goss sich einen kleinen Schwapp ein – der Wirt hatte in der Zwischenzeit putzig anzuschauende, kleine Römergläser mit grünem und braunem Fuß geholt und sich selbst dabei nicht vergessen – und füllte dann die Gläser reihum mit dem goldgelben Saft, beginnend beim Wirt und zu allerletzt sein eigenes Glas bedenkend. Der Inhalt der Flasche, wie er sich nun so verteilte, war für sechs kleine Gläschen gerade ausreichend. 46
Ein »Zum Wohl!« beschloss die Zeremonie, und während die drei Freunde die Gläser ansetzten und gierig einen großen Schluck des angenehm milden Weines nahmen, begannen die drei Alten ein Schnuppern und Schnaufen und Schlürfen und Gurgeln, dass es eine wahre Pracht war. Jaco kam sich vor wie an einem Suppentisch zahnloser Senioren im Altenheim. »En schöne Wei«, japste die Stirnglatze voller Vergnügen, runzelte dann jedoch finster die Stirn. »Nä, den dürft ihr nit so neischütt«, schüttelte der Weinkenner den Kopf und rügte die jungen Leute für ihr hastiges Saufen. »Mit Ehrfurcht un Ostand« müsse dieser Wein genossen werden, mahnte er. Schließlich habe der Winzer, der übrigens ein Bruder des Wirts sei, für diesen Tropfen, »fei eine Spätlese«, viel Schweiß vergossen und seine ganze Kunst zusammengenommen. »Erst wird geroche, dann gekost und dann erst getrunke«, gab die Stirnglatze den Laien Anweisung. »Der Apostel hat recht«, pflichtete der Wirt bei und hatte damit nicht etwa den Bogen zur Hochzeit von Kanaan geschlagen, wie Jaco es für einen Augenblick glaubte, sondern mit seiner Bemerkung den Spitznamen des Weinkenners preisgegeben, wie sich gleich bestätigen sollte. Der Alte erhob nun nämlich sein Glas, führte es über die Mitte des Tisches, womit er alle anderen zum Anstoßen aufforderte, und verkündete: »Mir Weitrinker sin alle Freund’.« Und das, so sagte er weiter, heiße nichts anderes, als dass man nun per du sei, und er selbst sei der Otto, aber so nenne ihn niemand hier im Dorf, sondern hier sei er nur »der Apostel«, und das sei er jetzt auch für die drei jungen Burschen, die sich artig als Moritz, Jakob und Peter vorstellten. Der Wirt nickte zustimmend. Er sei der Josef, aber bitte nicht der Sepp – ein Einwand, den zumindest Bläser als Walchenseeerprobter Urlauber verstand. Der da – nun sprach wieder der Apostel, weil der 47
Riesenschädel offenbar des Sprechens nicht mächtig war, und deutete auf seinen Kumpel –, das sei »der Baatsch«. Bewusst ließ er den Namen für einen Moment wirken, hielt den Blicken der neugierigen Buben stand. Das sei einfach so, erklärte er dann, das übertrage sich vom Großvater auf den Vater und vom Vater auf den Sohn und so weiter und sei seit Alterszeiten nicht anders gewesen. Seinen richtigen Namen, den kenne der Baatsch schon selber nimmer, grinste der Apostel. Der Baatsch, sichtlich geschmeichelt, zeigte einen Anflug von Lächeln. »Und was ist mit dem Kurt?« Morris drängte sich unfreundlich in das Idyll. Die Freunde in die traurige Realität zurückholend, mahnte er die Runde, bei der Lösung ihres Problems doch bitte voranzukommen. Der Apostel nickte, fragte zunächst aber »Trink mer noch eene?« Sein Blick schweifte fragend umher, sein Zeigefinger zeigte auf die leere Weinflasche. Pietro, der keine weitere Verzögerung wünschte, sagte schnell »Ja, ja«, und der Wirt eilte davon. Der Kurt – jetzt hatte der Alte wieder den Faden aufgegriffen – sei schon ein Problem. Es werde keiner so recht schlau aus dem Kerl, der erst vor etwa zehn Jahren in den Ort zugezogen sei, weil er eingeheiratet habe. Die Ehe aber sei seit drei, vier Jahren dahin, die Frau wohne samt Kind wieder bei den Eltern, und der Kurt sei öfters mal tagelang weg. So ganz genau wisse keiner, wo er sich herumtreibe, doch hätte ihn der »Stift«, der gelegentlich in Frankfurt geschäftlich zu tun habe, dort einmal in Begleitung einiger Südländer gesehen. Wahrscheinlich Italienern, vielleicht sogar Sizilianern. Seither halte sich hartnäckig das Gerücht, der Kurt habe mit der Mafia zu tun, vielleicht mit Drogenhandel oder gar Waffenschmuggel, vielleicht auch mit Zuhälterei – alles Dinge, die er, der Apostel, zumindest aber, was das Letztere anbelange, nicht glaube. »Dafür is der zu blöd«, begründete der Alte, dessen rote Wangen noch eine Spur röter wurden. 48
Was ihr spezielles Problem betreffe, sprach er nun die Sorgen der jungen Freunde an, so sei es durchaus möglich, dass der Kurt vielleicht eben jetzt gerade mal nach Frankfurt gefahren sei. Das könne dann möglicherweise schon ein paar Tage dauern, bis er wieder im Dorf auftauche. Freilich, so ließ sich jetzt der aus dem Keller zurückgekehrte Wirt vernehmen, der die letzten Sätze mitbekommen hatte, gehe es manchmal auch ganz schnell. »Da is der Kurt am Abend wieder da«, tröstete er die erschrockenen jungen Weinbrüder. Der Apostel setzte den Korkenzieher an. Ganz genau beobachtete Werners nun das Zeremoniell: Nach dem Plopp wieder das Schnuppern am Korken, ein zufriedenes Grunzen. Die Flasche wurde wie vorhin reihum in die Römer geleert, man prostete sich zu, dann folgten Schnuppern und Schlürfen, Schmatzen und Stöhnen. Schwab, Bläser und Werners bemühten sich nach besten Kräften, das Ritual mitzumachen, allerdings verschluckte sich Morris dabei übel, weil er den Wein beim Schlürfen in die Luftröhre zog. Mit rotem Kopf und tränenden Augen japste er herum. Die beiden Freunde klopften ihm mächtig den Rücken, doch es half wenig. Schwab hustete wie ein schwindsüchtiger Hund, feine Wasserschleier um sich werfend. »Da hilft nur Schnaps«, kommandierte Josef, »mer muss ’n Teufel mitm Beizebub austreib.« Der Wirt eilte zum Tresen und holte unter der Spüle eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, aber ohne Etikett, hervor. Aus dieser füllte er ein kleines Gläschen und setzte es dem immer noch keuchenden Morris vor. »Nei damit«, munterte der Apostel die Jammergestalt auf, und dem verzweifelt um Atem ringenden Schwab erschien es trotz gewisser Zweifel überlebenswichtig, die Arznei zu nehmen. Kurz schien es, als müsse Moritz Schwab sterben. Dann erweckte ein durch Rachen, Speiseröhre und Magen fauchendes Flammenbündel den Röchelnden wieder zum Leben. Nochmals 49
ein krachendes Husten. Der Schnaps half offenbar, was alle freute und sie – mit Ausnahme des Apostels, der mahnend von einer »Versündigung gegen den Müller« sprach – dazu veranlasste, ebenfalls einen Kurzen zu nehmen. Es war nach Angaben des Wirts ein Zwetschgenschnaps – ein fürchterlich scharfes Zeug, das die Innereien verätzte und der Bläser gleich wieder Hunger machte. Nach einem kurzen Sondierungsgespräch mit Josef orderte er einen Kipf mit Hausmacherwurst. Jaco schloss sich an, und siehe da, sogar der Apostel machte mit. Eine kleine Vesper, ja, das passe eher zum Wein. Es blieb nicht aus: Auch der Baatsch nickte und lächelte sanft in froher Erwartung. Josef erhob sich und eilte einem weißen Monstrum von Kühlschrank zu, das rechts von der Theke an der Wand stand. »Jetzt steicht er nei«, grinste der Apostel, und tatsächlich sah es so aus, als würde der kleine Wirt mit seinem ganzen Körper durch die Kühlschranktüre treten. Man hörte ihn krutschen. Nach wenigen Sekunden tauchte der Kleine mit einer Büchse Wurst in der Hand auf. Morris, inzwischen wieder klaren Blicks, kam es so vor, als schimmere die Nase des Wirts ein wenig blasser als vorher. Vermutlich der Einfluss der Kälte, dachte er. Josef stellte die Dose auf den Tisch und schlurfte dann in die Küche, von wo er mit einem Dosenöffner, mehreren Brötchen und Messern, aber ohne Teller zurückkam. Man werde schon klarkommen, meinte der Wirt und ergänzte, vielleicht um das Fehlen von Tellern zu entschuldigen – es war offensichtlich, dass er einfach zu faul war, Geschirr zu spülen –, er werde die Brotzeit nicht in Rechnung stellen, da seien sie jetzt alle mal Gäste des Hauses. Beifall brandete auf, sogar der Baatsch patschte mit der flachen Hand zweimal zufrieden auf den Tisch. Morris war das allerdings ein wenig zu viel Sonnenschein und eitel Freude. »Was wird denn jetzt mit dem Auto?« versuchte er 50
die Runde zu ernüchtern und für die wirklich wichtigen Dinge zu interessieren. Der Apostel winkte mit einer großen Armbewegung ab. Er schnitt seinen Kipf der Länge nach auf, stach dann mit dem Messer in die geöffnete Wurstdose hinein, holte sich eine dicke Scheibe rosa-weiß gesprenkelter Hausmacher heraus und bettete sie auf die untere Hälfte des Brötchens. Dann bohrte er nochmals. Nun kam das Messer dick mit weißem Fett und etwas Sülze zurück. Das schmierte sich der Alte auf die andere Hälfte des Kipfs. Anschließend klappte er beides zusammen und biss herzhaft hinein. Nun erst war er geneigt, auf das Gejammere der Jugend einzugehen. Mit halbvollem Mund murmelte er in Richtung Morris, er solle sich mal keine Sorgen machen. Auch wenn der Kurt so bald nicht wieder auftauche, sei das keine Tragödie, nichts, weshalb man sich die gute Stimmung verderben lassen müsse. Schließlich wohne die Ex-Frau vom Kurt, die Selma, wie gesagt, bei den Eltern im Ort, und die sei seines Wissens noch im Besitz eines Werkstattschlüssels, so dass man ohne weiteres wieder an das Auto gelange. Gleich morgen früh sollten sie der Selma einen Besuch abstatten, riet der Apostel, der »guten Seele« ihr Schicksal schildern und sich dann die Karre holen. Selma habe bestimmt Verständnis für die jungen Burschen, weil sie kaum, also höchstens zehn oder fünfzehn Jahre älter wäre als sie und sie es außerdem gewohnt sei, die von Kurt eingebrockte Suppe auszulöffeln. Den alten Ganoven, den Kurt, hätte sie eben nicht heiraten sollen. Den Kurt hatte Selma zwar jetzt los, dafür aber den kleinen Bankert am Hals. Jedenfalls könnten sie – und der Apostel meinte nun wieder die drei Freunde – morgen mit dem Wagen in die übernächste Ortschaft fahren, kaum fünfzehn Kilometer weit weg. Da gebe es noch eine Werkstatt, eine zuverlässige. »Alles kee Problem«, versicherte der Apostel, sah dann aber traurig auf den Tisch und beklagte: »Awer do hömm mir eens«, womit er die erneut geleerte Bocksbeutelflasche 51
meinte. Bläser, nach so viel erfreulichen Nachrichten über Selma und das Auto wieder aufgemuntert, schickte den Wirt unverzüglich in den Weinkeller. Josef tischte der Runde diesmal aber keinen Bocksbeutel, sondern Literflaschen Wein auf, allerdings gleich drei davon. »Des is ein Silvaner Kabinett«, informierte er, »fei ein ganz guds Tröpfle.« Der sei fast grad so gut wie der gebocksbeutelte Müller, von dem er leider nur noch wenige Flaschen habe, und von diesen müsse er leider für die Beerdigung des Pfarrers, das heiße, den der Beisetzung nachfolgenden Leichenschmaus, dringlichst einige zurückhalten. »Leider«, meinte der Josef, »awer mer wess ja nit, wer do alles kümmt. Am End gar der Bischof.« Werners blickte zum Apostel. Wie würde der Experte auf den neuen Wein reagieren? Es gab keine Kritik. Der Apostel war freundlich, lächelte gar ein wenig und lobte den klugen Entschluss des Wirts, gleich mehrere Flaschen mitgebracht zu haben. »Do spoarst de dir viel Rännerei.« Bekömmlich sei der Kabinett-Silvaner, »fast wie der Müller«, und gehaltvoll, das könne man sogar als Laie riechen, ließ der Apostel die Nordlichter wissen. Der Wirt schenkte ein, und die Nasen tauchten tief ins Glas. Jene von Bläser sogar ein wenig zu tief, so dass an ihrer Spitze ein Tropfen glänzte, als Pietro sie aus dem Römerglas zurückzog. Ein schönes Bukett, stellte der Apostel fest. Mit einem Grunzen pflichtete ihm der Baatsch bei. Die Gläser klangen, und ein Schlürfen und Schmatzen begann, dass es eine wahre Lust war. Einzig Morris hielt sich mit der Schlürferei zurück. Er hatte immer noch ein unangenehmes Brennen in der Luftröhre. Wein, Weib und Gesang, so stellte der Apostel nun fest, das seien die drei Anker des Lebens. Das würden die drei jungen 52
Kerle schon noch lernen, predigte er und widmete sich, als Pietro, Jaco und Morris auf seine Frage nach ihrem Wissen und Können in Bezug auf die holde Weiblichkeit eher ausweichend reagierten, zunächst dem Thema Gesang. Die drei Freunde, die aus seinem weinseligen Munde eigentlich Sauf- und Rauflieder erwartet hatten, staunten, als der Apostel seine kräftige Stimme erhob und mit dem »Brunnen vor dem Tore« begann, um anschließend ein Lied zu singen, das Jaco besonders anrührte. Es galt einem Rehlein, das von der Kugel eines Waidmanns niedergestreckt wurde. Ein Epos mit viel Herzeleid. Besondere Verwunderung bei den Freunden aber löste der Baatsch aus, der beim Rehlein-Lied mit einer wunderbaren Bassstimme einstieg, etwas verwaschen zwar, aber trotzdem von tragender Schönheit und zugleich so mächtig, dass das bemühte Gekrächze des Wirts kaum mehr auffiel. Der Abend neigte sich über das Land und warf Dämmer in den Wirtsraum, wo der Apostel, der Baatsch und die drei Freunde mit dem Wirt alleine blieben, weil – so vermutete der Wirt – die Generalversammlung der Feuerwehr im Gerätehaus weitere Kundschaft abhielt. Seine Gäste störte das nicht. »Der Wein ist Leben«, philosophierte der Apostel, als sie die dritte Flasche Kabinett-Silvaner öffneten und Jaco mächtig gegen eine in ihm aufsteigende Müdigkeit ankämpfen musste, um den Worten des Glatzköpfigen folgen zu können. Er fand es in diesem Moment trotzdem sehr unhöflich von Morris, dass dieser sich nun zunehmend unleidlich zeigte, mit schwerer Zunge zum Gehen aufforderte und mehrfach auf die fortgeschrittene Zeit und die am nächsten Tag anstehenden, das Auto betreffenden Aufgaben hinwies. Er wolle, nein: müsse ins Bett, weil es schon spät sei und er morgen außerdem weitermachen müsse mit seinem Brentano und es doch sowieso wenig Zweck habe, was hier so ablaufe, greinte der Freund. Sein Gejammer konnte einem die gute Laune verderben. Die älteren Herren schienen tatsächlich ein 53
wenig gekränkt, als Morris sich ohne jedes Gefühl für die Situation erhob und zum Gehen anschickte. Die emotionale Diffusität veranlasste Jaco, der sich eigentlich schon entschieden hatte, gemeinsam mit Schwab den Heimweg anzutreten, doch noch etwas zu bleiben, zumal auch Bläser keinerlei Anstalten machte, sich zu erheben. Dem grauste wohl vor dem für später vorgesehenen Telefonat mit dem Walchensee, hatte möglicherweise dasselbe aber auch schon zu den Akten gelegt und wünschte einfach nur noch, etwas mehr über den fränkischen Wein zu erfahren. Moritz Schwab aber blieb hart und beharrte zickig auf seinem Entschluss. Den Haustürschlüssel, so lallte er, werde er draußen am Küchenfenster unter den Geranientopf legen, dann kämen sie schon rein. Der Blumentopf, der sei ihnen doch aufgefallen? Bläser und Werners nickten. Zwar hatten sie nie einen Geranientopf gesehen, doch durfte man das Gespräch jetzt nicht verkomplizieren und die angespannte Situation eskalieren lassen. Der Apostel wie auch der Baatsch warfen schon eine ganze Weile irritierte Blicke durch den Raum, die wunderbare Gemütlichkeit am Stammtisch und der sanfte Ausdruck auf ihren Gesichtern drohten sich zu verflüchtigen. »Also, Servus«, motzte Bläser, Morris quasi hinauskomplimentierend. Mit leichter Schlagseite tappte Schwab aus der Stube. Am Quietschen der entsprechenden Türe konnten die zurückbleibenden fünf hören, dass der Scheidende erst noch einem drängenden menschlichen Bedürfnis nachging, bevor er sich ganz aus dem ›Stern‹ verabschiedete. Alles schwieg und wartete ab. Dann knarzte die Haupteingangstüre. Schwab war endgültig abgetreten. Die Männer am Tisch blickten sich unschlüssig an. Die Atmosphäre war zweifellos etwas verkrampft. 54
Bläser fühlte, dass er handeln musste, um zu retten, was zu retten war. »Herr Josef, sei so gut und hol noch einen Wein«, bat er den Wirt, und es war, als habe er mit diesen Worten den Bann gebrochen. Der angespannt nach vorne gerichtete Oberkörper des Baatsch fiel gelöst gegen die Holzvertäfelung zurück, das zuvor kartoffellige Gesicht entspannte sich wieder zu altbekannter Breiigkeit. »Ja, Schoppen her«, freute sich nun auch der Apostel und setzte seinen Vortrag über das Leben und den Wein fort, wobei er ausdrücklich betonte, dass er mit Wein den Frankenwein und nicht etwa »so e süeß Gelumb« von der Mosel oder »des Zeuch« aus Italien meinte. Aus einem guten Wein, sang der Apostel mit verklärter Stimme und ermunterte die anderen zugleich durch seine Gestik, die mittlerweile wieder gefüllten Gläser zu ergreifen, könne man das ganze Land herausschmecken, Wind und Wetter, Sonne und Regen, Männer und Frauen. In bester Eintracht wurden nun schleunigst zwei Flaschen geleert. Schlürfen, Schmatzen, Gläserklang – da war jetzt schon etwas Routine dahinter, auch bei den Neuen. »Moacht emol die Aache zu«, befahl der Apostel plötzlich. Die anderen folgten artig. Jacos Lider waren bleischwer. Er bezweifelte, sie später wieder öffnen zu können. Kaum hatte er die Augen geschlossen, überkam ihn ein leichter Schwindel, eine gewisse Orientierungslosigkeit. In Werners Ohren brummten Schiffsmotoren, dazwischen Schlürfen und Schmatzen. Sie sollten, so war der Apostel nun durch das Dröhnen zu vernehmen, den nächsten Schluck auf der Zunge stehen lassen und hören, was dieser Wein ihnen zu erzählen habe. Werners hatte Mühen, durch das Motorengeräusch hindurch etwas zu verstehen. Schwer sei der Boden unter dem Muschelkalk, tiefgründig, sprach Weingott Bacchus mit des Apostels Zunge. Schwer sei die Arbeit des Winzers, das Hacken und Gipfeln, das 55
Ausbrechen und Lesen, das Einfahren und Keltern. Hier kapitulierte Jaco. Er musste das Maulvoll Wein hinunterschlucken, um das saure Aufstoßen von Kraut mit brauner Soße zu verhindern. Drehschwindelnd und, wie er meinte, lautlos ließ sich Werners an die Holztäfelung zurückgleiten. Es war ein Rammstoß. Wo kam nur dieser Schwung her? Der beim Aufschlag an die Holzkante eintretende Schmerz am Hinterkopf ernüchterte ihn für einen Augenblick. Automatisch riss er die Augenlider auf. Ihm gegenüber saß der Apostel, schlürfend und schmatzend mit geschlossenen Augen, dann aufs Neue vor sich hin plaudernd von Heimat und Vesper, von der Mühsal der Arbeit im Weinberg und der Wollust des abendlichen Schäkerns im angezwitscherten Zustand. Rechts von Gott Bacchus lehnte Bläser mit hochrotem Kopf und ebenfalls geschlossenen Augen. Ein seliges Lächeln umspielte seine Lippen. Der Wirt war verschwunden, hatte sich, den Geräuschen nach zu urteilen, in die Küche zurückgezogen, um dort etwas für Ordnung zu sorgen. Das breiige Gesicht des Baatsch ruhte auf den auf dem Tisch verschränkten Armen. Tiefes, blubberndes Schnaufen war zu hören. Der Riese war scheinbar eingenickt. Da öffnete der Apostel seine Lider und schenkte Jaco den liebevollen Blick eines Vaters, der sich über die gesunden roten Bäckchen seines Sohnes freut. Wer mit solch einem Wein aufwachse, so meinte der Alte mit eindringlichen Worten, der könne dem Ort, wo diese Reben wachsen, nie den Rücken kehren, ohne dem Herzen eine ewig schmerzende Wunde zu schlagen. Dieser Wein sei Frankens Lebenselixier, den Verstand schärfend und Gefühle weckend. »Fei auch ein guter Messwein«, hauchte der Apostel und schlürfte wieder, um dann bedauernd nachzusetzen: »Nur hat unser Pfarr nix mehr davon.« Jaco erschrak und musste unwillkürlich in die Tasche nach dem Rosenkranz greifen. Er war noch da. Gott sei Dank. Das Adrenalin, das der kleine Schreck in ihm freigesetzt hatte, ließ 56
seinen Puls rasen. Ihn übelte. Er musste dieses Ding morgen wieder loswerden, und heute, heute musste er schnellstens hier weg, denn er fühlte, von Panik ergriffen, wie sich sein Zustand aufgrund des erheblichen Alkoholkonsums dramatisch verschlechterte. Werners stieß Bläser an, der immer noch mit geschlossenen Augen dasaß und seiner Mimik nach in Weinseligkeit mit Phantasieweibern herumknutschte. Erschrocken kletterte Bläser aus dem Weinfass seiner Träume. »Was’n los?« keuchte er. »Komm heim«, flehte Werners unruhig. Sein Scharren und Drängen machte den Wirt aufmerksam, der hereineilte, um die Gäste zu verabschieden und abzukassieren. Der Baatsch schlief unbeirrt weiter, während der Apostel die letzte, noch halbvolle Flasche Wein an sein Glas heranzog. Er war nun ganz still geworden und in sich gekehrt. »Geht nur«, sagte er zum Abschied freundlich. Noch aber war es nicht soweit. Bläser hatte nicht ausreichend Geld dabei, um dreimal Bratwürste mit Kraut und Soße, einen Krug Hauswein, einen herrlichen Müller-Bocksbeutel und sechs Flaschen Silvaner Kabinett bezahlen zu können. Jaco half hastig, weil er hier weg musste. Er brauchte dringend frische Luft. Mit gläsernem Blick blätterte er zu dem von Bläser auf den Tisch hingebreiteten Geld eilig noch mehrere Scheine hinzu, bis der Wirt nickte und sich überschwänglich für ihre Großzügigkeit bedankte. Nur raus hier, dachte Jaco, keinen Gedanken an die Summe verschwendend, die er gerade auf dem Opfertisch der Gemütlichkeit dargebracht hatte. Frische Luft. Sonst zählte nichts. »Ja, dieser Wein, so muss er sein«, sang Bläser plärrend und zog sich mühsam hoch. Schwankend klammerte er sich an Werners fest. Dem Apostel und dem Wirt winkte er beim Hinaustaumeln artig zum Abschied. Die beiden jungen Gäste stolperten der Eingangstüre zu, die 57
unter ihrem Ansturm knallend aufflog. Im letzten Moment blitzte die Erinnerung durch Werners Gehirn: das Wissen um das gefährliche und nur unzureichend durch das schiefe Geländer gesicherte Podest und dessen Höhe über dem Hof. Jaco zog Bläser unter dem Türrahmen schwungvoll nach rechts herum. Angenehm kühle Nachtluft nahm sie in Empfang. Es war zuviel Schwung. Sie verfehlten die oberste Treppenstufe, stolperten, schlugen übereinanderkullernd hinunter und kamen am Treppenfuß zum Liegen. Für einige Augenblicke herrschte Stille. »Alles bestens«, quoll es dann aus Pietros weinseligem Mund. Bläser war weich auf Werners gelandet. Der Untenliegende allerdings war mit dem Kreuz auf einer der Treppenkanten aufgeschlagen und japste nach Luft. Schließlich – es mochten drei Minuten, aber auch eine Viertelstunde vergangen sein – gelang es Jaco, sich aufzusetzen, nachdem er den bewegungslosen Bläser von sich herabgerollt hatte. Auf allen Vieren kroch Werners zum Treppengeländer und zog sich hoch. Pumpte die Lungen voller Luft, keuchte sauren Geschmack. Er stöhnte vor Schmerzen. Bläser hatte das alles nicht beeindruckt. »Fiesta, Fiesta Mexicana«, grölte er, auf die Stufen hingebreitet. Nur widerwillig ließ er sich auf die Beine zerren. Weiterhin plärrend, stakste er steif neben Jaco her, der in Richtung Heimat stolperte. Nur einmal hatte Werners Bläser bisher so erlebt. Es mochte zwei Jahre her sein, da dieser sich bei einer Fete völlig mit Martini zugepumpt hatte. Gerade noch putzmunter bei den Freunden auf der Bude sitzend, war er an der Haustüre von der frischen Luft niedergestreckt worden und konnte schließlich, unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen, nur noch nach Hause getragen werden. Hier nun war es kaum besser: Bläser schleppte sich, den Arm über Jacos Schulter geworfen, mühsam dahin. Längst hatte er das Singen eingestellt und greinte, mit seinem Schicksal hadernd, vor sich hin. Er schien, soweit Jaco 58
die Wortfetzen richtig deutete, das Auto seiner Mutter und das versäumte Telefongespräch mit den Eltern zu beweinen. Da gab es freilich nichts mehr zu ändern. Für einen Anruf war es viel zu spät, für eine vernünftige Unterhaltung am Telefon ohnehin. Jaco war selbst überrascht, dass er den Geranientopf gleich fand und schließlich auch den Schlüssel darunter. Steckte ihn kurz ein, weil Bläser während seiner Sucherei an der Türe zu Boden gesunken war und er beide Hände brauchte, um den Freund wieder auf die Beine zu stellen. Bläser mit der Linken stützend, kramte Werners mit der Rechten den Schlüssel hervor. Überall in der Wohnung brannte Licht. Morris lag wie erschlagen im Bett. Er zeigte keinerlei Reaktion. Im vollen Ornat, in Klamotten und Schuhen, stürzte Bläser auf die andere Hälfte des Ehebettes hin und war sofort weggetreten. Jaco hangelte sich an den Möbeln entlang ins Bad, wo er sich erst mal erleichterte. Wie war das schön! Die Hose schließend, wackelte er in die Küche, um sich auf die Couch zu werfen. Der Wein hatte ihn fertiggemacht. Doch sein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis meldete sich selbst noch in diesem Zustand zu Wort. Schon im Niedersinken begriffen, fiel Jaco im letzten Moment ein, dass es wohl besser sei, die Wohnungstüre abzuschließen, um den Schwager von einem allzu frühen Eindringen abzuhalten. Der Schlüssel steckte nicht. Natürlich nicht, er hatte ihn ja eingesteckt, als er Bläser ins Schlafzimmer bugsierte. Jaco griff in die Hose, zog den Schlüssel hervor und wurde beim Herausziehen desselben bleich vor Entsetzen. Drei-, viermal griff er in die Hosentasche, kramte herum, schleuderte das Taschentuch aus – nichts. Der Rosenkranz war weg. Er hatte ihn verloren. Der Sturz. Natürlich. Er musste das Ding an der Wirtshaustreppe verloren haben. Jaco überlegte nicht, handelte instinktiv. Er schloß die Türe hinter sich und eilte, durch die Nacht taumelnd, zum ›Stern‹ zurück. Lautlos schwirrten mehrere Fledermäuse um die 59
Straßenlaterne am Rathaus. Hoffentlich hatte in der Zwischenzeit niemand den Rosenkranz entdeckt. Vielleicht der Apostel oder der Baatsch beim Fortgehen? Es war fast Vollmond, in dessen Licht das silberne Kreuzchen hell schimmern würde. Endlich war er am Ziel. Werners Herz klopfte nach dem anstrengenden Gerenne bis zum Hals. Frankenwein und Kraut schwappten in süßsaurer Mischung durch die Gedärme. Er ließ Gärgase fahren und schlich an eines der Fenster der Wirtsstube. Vorsichtig spähte Jaco nach drinnen. Der Wirtsraum schwankte leicht vor seinen Augen. Dem Herrn sei Dank. Der Apostel saß noch immer am Stammtisch, hob soeben die Weinflasche und ließ den letzten Rest, kaum ein Achtel, ins Glas rinnen. Der Baatsch lag wie zuvor auf dem Tisch und machte keinen Mucks. Vom Wirt selbst war nichts zu sehen. Schnell machte sich Werners auf die Suche. Der Rosenkranz konnte ja eigentlich nur am Fuß der Treppe liegen, wo ihr Sturz sein Ende gefunden hatte. Irgendwo da musste er das Ding verloren haben. Es zu finden dürfte nicht schwierig sein. Auf allen vieren krabbelnd, suchte er die untersten Stufen ab. Nichts. Dann den Teer des Gehweges. Auch nichts. Mochte sein, dass die Kette über die Stufen hinab in den gepflasterten Hof gerutscht war. Werners tastete nun fieberhaft herum, weil ihn die Angst trieb, der Apostel könnte seinen Wein ausgetrunken haben und aus der Türe treten. Mit seinen Fingern strich er die Nische, die Treppenfuß und Hofpflaster bildeten, entlang, ertastete etwas weiches, schmieriges. Dann machte sein Herz einen Luftsprung. Seine Fingerspitzen fühlten Metall. Doch es war nur ein Kronkorken. Jacos Herz klopfte bis zum Hals, und durch dieses Klopfen hindurch drang nun ein Brummen, das zunehmend lauter wurde. Auf den Knien ruhend, den Oberkörper aufgerichtet wie ein Murmeltier, lauschte er mit spitzen Ohren. Kurz wurde Werners erstarrter Körper von zwei Lichtkegeln erfasst. Unmittelbar, 60
nachdem die Scheinwerfer über ihn hinweg gehuscht waren, und gerade noch rechtzeitig krabbelte er hinter die Treppe und quetschte sich, so gut es ging, in das Versteck, den eine an der Hauswand stehende Regentonne bot. Der Bus hielt mit laufendem Motor genau vor der Gaststätte. Im Schein der Innenbeleuchtung, die nun den Fahrgastraum erhellte, konnte Werners zehn, vielleicht zwölf ältere Frauen erkennen. Laute Weiberstimmen schwappten, kaum dass sich die beiden Türen des Omnibusses geöffnet hatten, auf den Gehsteig, »Hoaste die Hippel?« hörte Jaco eine der Frauen rufen. »Freili«, lautete die Antwort. Zweifellos waren das hier die Reste der Frauenwallfahrt. Werners erinnerte sich: Nach Walldürn, hatte der Wirt gesagt. Der Busfahrer schloss nach einem Gruß die Türen, der Motor brummte, die Damen winkten artig hinterher. »Etzt awer nix wie hämm«, ließ sich eine dunkle Frauenstimme vernehmen. »Es is scho halwer zwä.« Es gab noch ein wenig Lachen, etwas Kichern, dann verzogen sich die Wallfahrerinnen in kleinen Grüppchen in verschiedene Richtungen, ihrer jeweiligen Heimstatt zu. Nur zwei Alte blieben am Fuß der Treppe stehen, scheinbar die Wirtsfrau und eine, die wohl mit der Organisation der Fahrt betraut gewesen war. Werners kombinierte dies aus der Tatsache, dass sich die beiden über die Kosten des Ausflugs unterhielten und nicht ganz schlüssig waren, ob die von den Teilnehmerinnen eingesammelten Fahrtkosten auch tatsächlich reichen würden, um das Busunternehmen zu bezahlen. »Awer noch emol abkassier, des könne mer fei a nit«, gab die Kleinere zu bedenken. Verpisst euch! fluchte Werners lautlos. Sein Versteck war höchst unbequem, und außerdem schrie seine Blase immer dringender nach Erleichterung. Dieser Frankenwein trieb! Es 61
konnte doch keine halbe Stunde her sein, dass er gepinkelt hatte, und nun drückte es ihn schon wieder. Doch es kam noch schlimmer. Die beiden Frauen verstummten, als über der Türe des ›Stern‹ eine Lampe aufflammte. Man hörte Männerstimmen. Die Türe öffnete sich knarzend. Das werde schon gehen, war nun des Apostels Stimme herauszuhören, dann die des Wirts, der zu bedenken gab, »der is fei schwer«. Schritte polterten. Oben auf der Treppe, über dem Geländer und fast genau über Jacos Versteck, tauchte für einen kurzen Moment der Kopf des Baatsch auf, der widerwillig brummelte. Dann verschwand der Schädel wieder. »No, ihr höbbt’s awer lang ausghalte«, meckerte nun die Wirtsfrau, die Treppe erklimmend. Das werde schon gehen, wiederholte der Apostel. Und außerdem – jetzt hatte der Alte scheinbar die andere, noch am Treppenfuß wartende Frau erkannt – könne ihm die Erna ein wenig behilflich sein, die habe doch fast den gleichen Weg. Mehrere Hufe klapperten nun die Treppe hinunter, ein »Hei, is der schwer« erklang, das tiefe Schnaufen des Baatsch folgte. Nun würden sie gleich abmarschieren, jubilierte Jaco. Der Schmerz seiner vollen Blase war kaum noch zum Aushalten. Doch der Wirt machte ihm mit einem lauten »Jesses!« einen Strich durch die Rechnung. Sie wüssten ja noch gar nicht, was heute im Dorf passiert sei, sprach er die beiden Frauen an. »Der Pfarr is tot!« Ein kleiner Moment absoluter Stille folgte. Dann ließ die Frau des Wirts ein lautes »Jesses, Maria!« hören, fast ein Schrei. Jetzt gab es kein Halten mehr. Ein aufgeregtes Hin und Her begann. Die Frauen überschlugen sich mit Fragen, der Wirt und der Apostel versuchten sich mit knappen Antworten, der Baatsch röchelte leicht, offenbar nicht an der Thematik interessiert und auf diese Weise deutlich machend, dass er lieber nach Hause wollte. 62
Natürlich. Die Frauenwallfahrt war mit Sicherheit schon am frühen Morgen aufgebrochen, wohl einige Stunden vor dem schrecklichen Unfall des Pfarrers. Die Frauen wussten somit von nichts und saugten jetzt aus den Mündern der Männer jede Kleinigkeit an Information wie herrlichsten Nektar. Werners wollte verzweifeln. Nein, wann die Beerdigung sei, das wisse er nicht, sagte der Wirt, vielleicht am Freitag. Auch über den genauen Hergang könne man noch nichts sagen. Der Heusinger sei scheinbar geradewegs in einen Lastzug hineingelaufen. Nein, kein Selbstmord. – »Wie kümmste denn dodruff, Rosalinde? Also, sach emol!« – Beim Überqueren der Hauptstraße in Höhe des Pfarrhauses sei es passiert, der Lkw-Fahrer habe nicht mehr bremsen können. »Der hat den Schlach ghört und dann nix mehr«, meinte der Wirt. Gleich würde Werners schreien müssen. Die Unterhaltung vorne an der Treppe wollte einfach kein Ende finden. Die Aufregung der Weiber war zu groß, ständig forderten sie Antworten auf neue Fragen, ihre Neugierde war offenbar nicht zu befriedigen. Jaco überlegte fieberhaft. Die Blase stand kurz vor dem Zerbersten. Nun war ihm alles egal. Jaco ließ sich auf Händen und Füßen nieder und krabbelte so leise wie möglich rückwärts die Hauswand entlang in den Hof hinein. Niemand schien etwas zu bemerken. Die Unterhaltung vorne wurde unbeirrt fortgesetzt. Nach wenigen Metern fanden Werners Zehenspitzen Widerstand. Ein Blick über die Schulter. Er war an einer Scheune angelangt. Das große Schiebetor – das konnten seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erkennen – stand leicht offen. Jetzt ging Jaco aufs Ganze. Vorsichtig versuchte er, den riesigen hölzernen Flügel so weit zu öffnen, bis er sich durch den Spalt würde quetschen können. Verdammt! Das Mistding quietschte. Das Herz hämmerte bis unter die Schädeldecke. Werners lauschte, doch die Alten unterhielten sich so laut, dass sie das Geräusch offenbar nicht 63
bemerkt hatten. Mit den Beinen voran rutschte Jaco hinein. Hier war nichts zu erkennen. Werners musste sich fast ausschließlich auf seinen Tastsinn verlassen, immer in der Angst, er könne vielleicht in eine Sense, einen Rechen oder in eine Mausefalle greifen. Nach zwei, drei Metern fühlten seine Hände, was die Nase schon die ganze Zeit gerochen hatte: weiches, trockenes Heu. Jaco ging auf die Knie, riss sich den Hosenschlitz auf und ließ es laufen. Es war herrlich, den Schmerz abfließen zu lassen. Aufgefangen vom Heu, verursachte das Pinkeln nicht mehr Lärm als ein sanftes Knistern. Nur die Hosenknie wurden feucht, aber das machte ihm nichts. Minutenlang verharrte er so und genoss. Anschließend kroch er ans Tor zurück. Durch den Spalt hatte Jaco nun einen besseren Blick auf die Gruppe als von seinem früheren Versteck aus. Die Frau des Wirts stand inzwischen auf der Treppenmitte, ihr Mann noch weiter oben, alle beide mit dem Gesicht zur Straße hin gewandt. Unten hatten die andere, die Erna hieß, und der Apostel den riesig wirkenden Baatsch zwischen sich genommen. Der Apostel hatte sich den Arm des Betrunkenen ums Genick und die Schulter gelegt, wobei die Dreiergruppe eine leichte Schieflage hatte, weil die deutlich kleinere Erna den Baatsch nicht ganz so hoch stemmen konnte wie ihr Gegenüber. Noch eine Weile, dann schleiften der Apostel und die Erna den Baatsch davon, und die Wirtsleute verzogen sich ins Haus. Die Treppenbeleuchtung erlosch. Werners zwängte sich aus dem Scheunentor und ging vorsichtig mit wackeligen Schritten zur Treppe, um weiter nach dem Rosenkranz zu suchen. Doch die Suche blieb erfolglos. Das beste Mondlicht nutzte nichts. Werners würde am Morgen weitersuchen müssen. So früh wie möglich, mit den ersten Sonnenstrahlen am besten, noch bevor das Dorf erwacht wäre und er jemandem begegnen konnte. Er beschloss, sich bis zum Morgengrauen, das ja nicht mehr fern sein konnte, in das Heu der Scheune zurückzuziehen – ein 64
trockenes Plätzchen würde es da schon noch geben – und die Suche nach dem verlorenen Kettchen dann wieder aufzunehmen. Spätestens um halb fünf würde er in der Wohnung sein. Da schliefen die Freunde mit Sicherheit noch. Mit dem Gesicht zum leicht geöffneten Scheunentor, bettete sich Jaco ins Heu und harrte der ersten Sonnenstrahlen.
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KAPITEL 3 Doppeltes Erschrecken DER VATER SCHLIEF NOCH. Das kam nicht oft vor. Annemarie war ein wenig stolz auf sich, dass sie es so früh aus den Federn geschafft hatte. Nicht lange, und der Vater würde auch wach sein. Der brauchte keinen Wecker. Wenn die ersten Sonnenstrahlen am Morgen durch die gardinenlosen Fenster in die Schlafstube fanden und seine Nase kitzelten, dann war der Vater munter. Gestern aber war es ein anstrengender Tag für den Frühpensionär gewesen, der, seit er im Ruhestand war, das Mesneramt in der Josefskirche übernommen hatte. Der Tod des Pfarrers hatte alle entsetzt, die Pfarrgemeinderäte ebenso wie den Kirchenpfleger, die Ministranten wie auch Kilian. Lange hatte der engste Kreis der Kirchengemeinde im Pfarrhaus debattiert, bis weit in die Nacht hinein organisatorische Fragen bezüglich der bevorstehenden Beerdigung besprochen. Der Dekan würde kommen, hatte der Spohr gesagt, und wohl auch die Pfarrer aus der Nachbarschaft und diejenigen, die mit dem Heusinger damals gemeinsam die Priesterweihe im Dom empfangen hatten. »So ein Pfarr macht tot mehr Arbeit wie lebendig«, hatte der Spohr einen Scherz versucht und war etwas verwundert, als die Runde seiner Feststellung mit schweigendem, ernstem Kopfnicken beipflichtete. Annemarie hatte längst im Bett gelegen, als der Vater schließlich nach Hause gekommen war. Im Dunkeln war er ins Bad geschlichen und hatte die Türe ganz leise geschlossen, bevor er den Lichtschalter betätigte. Gewaschen und im Schlafanzug schlich er im Dunkeln in die Schlafkammer. Tausend Gedanken beschäftigten den Mesner, und lange hatte Kilian keinen Schlaf finden können. So viel war zu erledigen, so 66
viel zu besorgen. Gut nur, dass Annemarie jetzt in der Ferienzeit da war und nicht im Internat. Er würde ihre Hilfe dringend brauchen. Auch Annemarie ahnte dies in dieser frühen Morgenstunde und säumte deshalb nicht, den Kaffee aufzustellen und den Frühstückstisch in der Küche zu richten. Noch benötigte sie Licht, um die Sachen zu finden. Der Tag kam gerade erst über die Weinberge gekrochen. Schon standen die beiden Tassen und Teller auf dem Tisch, der kleine Korb mit den drei Scheiben Brot – zwei für den Vater, der früh am Tag tüchtig Appetit zeigte, und eine für sich –, daneben Butter und Himbeermarmelade. Ein kleiner Blumenstrauß auf dem Tisch, das wäre schön, dachte sich Annemarie und war ganz entzückt von dieser Idee, weil die Blumen den Vater sicher freuen und ein klein wenig von den Sorgen des Tages ablenken würden. Noch hatte sie sich nicht angekleidet, trug nur das weiße Nachthemd, das sie so liebte und für das sie auch manchen Spott ihrer Mitschülerinnen im Internat ertrug. Aber das schrillbunte Zeug, diese frottierten gelben, hellblauen oder rosafarbenen, fast fleischig wirkenden Hosen und Hemden, die die anderen Mädchen des Nachts im Bett trugen, lehnte Annemarie konsequent ab. Weigerte sich sogar, wie gelegentlich angeboten, die Schlafanzüge ihrer Freundinnen auch nur auszuprobieren. Dem Vater erzählte sie von derlei Dingen nichts. Der würde nur erschrecken, wie es im Internat zuging. Nein, ein Bollwerk gegen die oberflächlichen, modernen Spinnereien, das war diese Klosterschule wahrlich nicht. Das blondgelockte Mädchen überlegte kurz, ob es den Bademantel über das Nachthemd streifen sollte, ließ es dann aber. Es war kaum vier Uhr am Morgen. Wer sollte da schon unterwegs sein? Bestenfalls Magda, die Zeitungsfrau, und die würde nichts dabei finden, wenn Annemarie mal schnell im Nachthemd im Garten ein paar Blumen pflückte. Die paar 67
Minuten. Wie schnell wäre sie hinausgehuscht und wieder zurück. Die Sechzehnjährige kramte in der Küchenschublade nach der Haushaltsschere und eilte hinaus. Vom Eingang des kleinen, etwas versteckt hinter der großen Linde gelegenen Hauses, führte ein Pfad die Hauswand entlang zum Gärtchen, das nur wenige Beete aufwies. Um diese herum aber, und das machte Garten samt Haus zu einer kleinen Idylle, zog sich ein Pflanzstreifen mit Blumen, vielleicht einen halben Meter breit. Annemarie blieb verzückt stehen. Die ersten Sonnenstrahlen bissen sich soeben durch den Morgennebel und leckten am Farbentau der Blumen. Die Rosenstöcke im hinteren Teil des Gartens funkelten wie Diamanten. Annemaries Entscheidung war deshalb schnell getroffen: Ein Rosensträußchen sollte es sein, zwei rote und zwei gelbe Röslein und – sie wusste, dass Sträuße wegen der schöneren Anordnung immer eine ungerade Anzahl an Blumen haben sollten – mit einer weißen Rose in der Mitte. Sie zählte zu ihren Lieblingsblumen. Das Mädchen ging in die Hocke und setzte die Schere an. Zwei rote, zwei gelbe Rosen (sie erhob sich nicht, sondern rutschte in der Hocke die zwei Schritte zu dem weißen Rosenstock weiter) und eine weiße Rose. Annemarie ordnete die Blümchen auf dem Pfad, streckte ihre Hand danach, führte den aus dem Arm kommenden Schwung, der das Sträußchen greifen und ihren Körper gleichzeitig wieder auf die Beine bringen sollte, aber nicht aus, sondern blieb unten, blieb hinter den Rosenstöcken versteckt. Da waren Schritte. Ohne Zweifel. Annemarie wollte nicht gesehen werden. Nun war es ihr doch ein wenig peinlich, wie sie in ihrem dünnen Hemd zwischen den Beeten und der Blumenrabatte kuschte. Rasch strich sie das über die Knie gerutschte Nachthemd nach unten. Sicher war es nur Magda, die die Zeitung gleich vorne am Haus in den Lattenzaun stecken würde. Wenn sie noch eine halbe Minute hier in Deckung bliebe, wäre die Frau weg, und sie könnte ungesehen 68
ins Haus zurück. Und könnte dem Vater neben den Blümchen auch gleich die Morgenlektüre mitbringen, die dieser so liebte. Vielleicht würde es schon etwas über Heusingers Unfall zu lesen geben, möglicherweise sogar mit Bild. Der Vater war sicher gespannt darauf. Das Mädchen erschrak. Aus dem Nebel tauchte die Gestalt eines Mannes auf. Ein kräftiger Kerl, soweit sie erkennen konnte. Maria, hilf! dachte sich Annemarie und duckte sich, so tief es ging, hinter die Blumen. Wenn er sie bloß nicht entdeckte! Der Mann wurde, je näher er an das Mesnerhaus und den Garten gelangte, umso jünger und größer. Das war keiner aus dem Dorf, stellte Annemarie fest und wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder es als das größere Übel ansehen sollte. Peinlich wäre es allemal, wenn er sie entdeckte. Er war kaum älter als sie, höchstens drei oder vier Jahre, keinesfalls mehr, kam allerdings daher, als habe er schon mehrere Jahrzehnte harter körperlicher Arbeit auf dem Buckel. Zwei offenbar wackelige Beine trugen den nach vorne gebeugten Oberkörper, der seltsam zuckte. Der Fremde wusste offenbar nicht, wohin. Unentschlossen schwankte er die Straße herunter. Ein Betrunkener? Ein Räuber? Ein Gestörter? Annemarie fröstelte, nicht nur wegen der Morgenkühle, die sich in den wenigen Minuten, die sie nun draußen war, in ihrem Nachthemd gefangen hatte. Das Mädchen drückte die Knie fest in den feuchten Grund, presste das Gesäß auf Waden und Fersen und die Brust eng an die Oberschenkel, hockte da wie ein zusammengerollter Igel und machte sich so klein wie möglich. »Gegrüßest seist Du, Maria! Lass den Kerl verschwinden, bitte, sei gnädig, verzeih mir meine Sünden«, flehte die Tochter des Mesners. Verbunden war die Fürbitte mit dem Versprechen, eine Kerze an der Pietà in der Kirche zu entzünden, wenn ihr Wunsch in Erfüllung ginge und der Unbekannte vorüberging, ohne sie zu bemerken. 69
Werners weinte. Die Enttäuschung brach sich in salzigen, aus den Augen rinnenden Tropfen ihre Bahn. Die Straße entlangstolpernd, unschlüssig, wohin ihn seine Beine tragen sollten, blieb er auf halber Länge eines braunen Lattenzaunes stehen und ließ sich, mit der linken Schulter an eines der Bretter gelehnt, hinunter auf die Straße gleiten. Die an der Latte streifende Stirn scheuerte sich ein wenig auf, als er in hemmungsloses Schluchzen ausbrach. Warum waren sie nur in dieser Gott verfluchten Gegend von der Autobahn abgefahren? Dieses heimtückische Land mit seinen so verträumt herumliegenden kleinen Flecken, den sanften Weinbergen und den Stoppelfeldern hielt doch nur Unglück bereit. Erst das Auto demoliert, dann die Karre weggeschlossen von einem Ganoven, der gar nicht daran dachte, sie zu reparieren, dann ein geistesgestörter Vermieter, der von einem Spinnenhimmel faselte und dann, was das Schlimmste war, der zweifellos verfluchte Rosenkranz dieses Pfarrers. Werners schüttelte sich. Ja, verflucht! Der Gedanke war gar nicht so abwegig: Erst hatte das Ding seinen Pfarrer in den Tod geschickt, und nun war es auf dem besten Weg, gleiches mit ihm, seinem neuen Besitzer, zu tun. Die ganze Sucherei am ›Stern‹ hatte nichts genutzt. Nicht in der Nacht, auch nicht im ersten Morgenlicht. Der Rosenkranz blieb verschwunden. Warum ihn das Mistding nervlich so fertigmachte, das konnte Jaco nicht recht begreifen. Was sollte das denn eigentlich? Was musste es ihn scheren, wenn der Rosenkranz weg war? Niemand wusste, dass er ihn hatte, niemand würde ihn vermissen. Im Grunde genommen, brauchte er doch nur zu den Freunden zu gehen, sich aufs Ohr zu hauen und auszuschlafen. Kein Mensch würde an die Türe klopfen und von ihm den Rosenkranz zurückfordern. Und doch hielt ihn irgend etwas davon ab, seinem Verstand zu gehorchen. Sein Kreuz schmerzte, seine Gedärme waren weinverseucht, stechend suchte sich eine Blähung ihren Weg durchs 70
Werner’sche Labyrinth. Er hatte schon diese Filme gesehen. Filme mit toten Menschen. Leichen, die regungslos aufgebahrt den Mittelpunkt einer Trauermesse bildeten. Alle hatten sie so ein Ding gehabt. Herumgeschlungen um die bleichen, weißen, knochigen Leichenhände, das Kreuzchen irgendwie obenauf und deutlich zu erkennen. Die Bestatter würden den Rosenkranz vermissen, wenn der Pfarrer zurechtgemacht wurde. Sicher könnten sie einen anderen nehmen, aber konnte das der Pfarrer auch? Würde er sich hinüberwagen ohne das ihm liebgewonnene Kettchen, das er offenbar ständig bei sich getragen hatte, das auch in seiner Todesstunde bei ihm gewesen war? Wieder quälte es ihn im Gedärm. Wenn er’s nur wüsste! Keuchend kam es aus Werners: »Findest deinen Weg ins Jenseits auch ohne das Mistding?« Ein kleiner Schrei, aus dem Entsetzen sprach, ließ ihn herumfahren. Vor Schreck schoss ihm saurer Magensaft in die Mundhöhle. Eine Tote? Ein Engel? Blondgelockt, im weißen Gewand, mit ganz bleichem Gesicht, kauerte ein Geschöpf hinter den Rosenstöcken und starrte ihn mit schreckensweiten Augen an. »Nein, nein!« schnaufte das Wesen als Antwort auf Werners laut an sich selbst gestellte Frage. Es hatte die weißen Arme weit von sich gestreckt, die Hände wie zur Abwehr erhoben. Jaco kniete nun auch, starrte durch Latten und Blumen hindurch den Engel an. Es musste ein Engel sein. Tot war das Wesen jedenfalls nicht, auch wenn es ganz bleich war. Natürlich hatte er viel gesoffen am Abend mit dem Apostel und dem Baatsch, aber so viel war es doch nicht gewesen. Das konnte keine Halluzination sein. Werners bekreuzigte sich. Hatte der Pfarrer einen Engel geschickt, um von ihm, dem Dieb, den Rosenkranz zurückzufordern? Um des heiligen Seelenfriedens willen? Kalter Schweiß stieg Werners auf die Stirn. Hustend gab er Magensaft von sich. Wie der Rachen brannte! 71
Was hatte das Geschöpf da neben sich auf dem Boden liegen? Rosen – gelbe, weiße, rote – zu einem Kreis gruppiert, wie ein Kranz auf der Erde ausgelegt. »Ein Rosenkranz!« schrie Werners, und der Engel schrie auch. Die Erkenntnis sprang ihn an wie eine Raubkatze. Werners klammerte sich mit beiden Händen an den Lattenzaun, stieß sich nach einem Augenblick völligen Gelähmtseins dann davon ab und schlug mit einem wehklagenden »Du kriegst es zurück« die Hände vors tränennasse Gesicht. Er schluchzte hemmungslos. Sein ganzes Elend brach sich Bahn. »Oh Erde, tu dich auf und verschlinge mich«, heulte er. Doch nichts dergleichen geschah. Er blieb Teil dieser Welt, und diese Welt drehte sich weiter mit ihm fort. »Ja, was hast denn?« Werners spürte eine schwere Hand auf der Schulter, rieb sich mit den Handflächen über die Augen und Wangen und blickte hoch in das Gesicht einer alten Frau, dann vor sich auf ein mit Zeitungen beladenes blaues Wägelchen. »Is ebbs passiert?« Jaco schickte einen gehetzten Blick ins Rund, aber der Engel war weg. Hatte sich in Nichts aufgelöst. Nur die Rosen lagen noch auf dem Pfad im Garten. Zwei rote, zwei gelbe und eine weiße im Kreis. »Er ist weg«, flüsterte Werners und erhob sich auf wackeligen Beinen. Die Zeitungsträgerin blickte ihn ratlos an. Doch Werners eilte, immer wieder suchend um sich blickend, davon. Fast flog er dahin. Du musst diesen Rosenkranz wiederfinden, hämmerte es bei jedem seiner Schritte dumpf im schmerzenden Schädel. Er musste. Aber wie und wo? Verzweifelt stürmte er nach Hause. Der Schlüssel steckte noch in der Wohnungstüre. Drinnen schlug ihm eine Wolke aus Maische und Schweißfüßen entgegen. Bläser und Schwab schnarchten. Es war kaum fünf. 72
Werners beneidete die beiden Freunde. Die schliefen den Schlaf der Gerechten, ihm aber wohnte die Unruhe und Angst der Verfolgten inne. An Schlaf war nicht zu denken. Werners ging ins Bad, formte die Hände unter dem Wasserhahn immer wieder zur Schale und klatschte sich das Nass ins Gesicht. Sollte er ein Bad nehmen? Nein, nicht die anderen wecken. Jaco zog Schuhe und Strümpfe aus und wusch sich die Füße im Waschbecken. Das musste genügen. Noch zwei Stunden, dann würde der Bäcker öffnen, und er könnte die Freunde mit einem Frühstück überraschen. Sich hinzulegen und zu schlafen, das brachte es nun nicht mehr. Nur kurz hatte er in der Scheune geschlummert. Ein weiteres kurzes Nickerchen würde ihn körperlich vernichten. Bis der Bäcker öffnete, würde er Kaffee kochen und die schwarze Brühe literweise trinken. Vielleicht brachte ihn das wieder auf die Beine. Vor allem aber brauchte er einen klaren Kopf. Er musste mit seinen Erlebnissen fertig werden, eine Lösung finden. Je länger er in der Küche saß, desto verrückter erschien ihm alles, desto unwahrscheinlicher war das Geschehene. Erst der Wirtsschwager mit seinem blöden Geschmarre und jetzt auch noch dieser Engel, vermutlich eine Ausgeburt seines versoffenen und übernächtigten Gehirns. Was war wahr, was Fiktion? Der Kaffee würde ihm die Birne säubern. Blutrot waren Annemaries Wangen, zittrig ihre Knie. Als der andere heulend zusammengebrochen war, war sie in Panik ins Haus gehuscht. Nur weg. Nun lehnte sie mit dem Rücken an der geschlossenen Türe, als wollte sie mit ihrem Körpergewicht verhindern, dass dieser Fremde ihr ins Haus folgen könnte. Das Mädchen keuchte vor Angst. Minutenlang stand sie so, einer Bewegung unfähig. So fand sie Kilian, der bei ihrem Anblick sofort erkannte, dass Außergewöhnliches geschehen sein musste. »Kind, was ist?« Der Mesner trat an Annemarie heran und fasste sie zärtlich, aber bestimmt an den Schultern. Er hatte 73
gesehen, dass die Kleine ihm liebevoll den Frühstückstisch gedeckt hatte, der Duft frischen Kaffees hatte ihn aus dem Bett geholt, aber ihren Zustand konnte sich der Vater nicht erklären. Noch einmal seine eindringliche Frage: »Kind, was ist?« Stockend begann da Annemarie zu berichten, von ihrer Absicht, den Vater mit einem Rosensträußchen erfreuen zu wollen. Von ihrer Nachlässigkeit, nur mit dem Nachthemd bekleidet in den Garten hinausgegangen zu sein. Schon blickte der Vater erschrocken auf den zarten Leib der Tochter, fürchtete das Schlimmste, konnte aber keine Spuren von Gewalt erkennen. Dann plötzlich, sie habe gerade die weiße Rose niedergelegt, um alle fünf Blumen gemeinsam im Bund aufzunehmen, sei »der Bote« erschienen. Annemarie sagte wie selbstverständlich »Bote«, weil es aus ihrer Sicht kein anderes Wort für diesen heulenden Mann gab. Aus dem Nebel sei er gekommen und habe sich an ihrem Lattenzaun niedergelassen, sich offenbar in Höllenqualen windend. »Und dann«, Annemaries Stimme zitterte, als sie diesen Satz nun sagte, »hat er mich angsprochen. Obwohl er mich nit hat sehen können. Awer mich angsprochen.« Der Vater blickte der Tochter in die vor Angst geweiteten Augen. »Wie ›angsprochen‹?« fragte er streng, die ekligsten und abartigsten Männerzoten erwartend. Der Bote habe, so Annemarie, die nun ganz ruhig wurde, der Bote habe sie gefragt: »Findest deinen Weg ins Jenseits auch ohne das Mistding?« Kilian schüttelte das dunkelgraue Haupt, als höre er nicht recht. »Was gsagt?« Annemarie wiederholte den Satz. »Findest deinen Weg ins Jenseits auch ohne das Mistding?« Kilian wurde ungeduldig: »Und weiter?« 74
Sie habe dann, fuhr das Mädchen fort, in ihrem Schrecken »Nein, nein!« geschrien, dann sei es eine Weile ruhig gewesen, dann habe der andere wieder geheult und »Du kriegst es zurück« gesagt. Daraufhin sei der Bote zusammengesunken, sie glaube gar, im Erdreich verschwunden, und sie habe die Gelegenheit genutzt, um ins Haus zu rennen. Nur noch weg habe sie gewollt. Wieder schüttelte Kilian den Kopf, schob Annemarie zur Seite und öffnete die Haustüre. Trat hinaus. Ging ein paar Schritte draußen herum, sah die Rosen im Garten liegen, hob sie auf und kam wieder herein. »Da is kein Mensch«, sagte er. »Er war da!« antwortete das Kind in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte. Er müsse nachdenken, meinte Kilian und setzte sich an den Küchentisch. Sie, Annemarie, solle sich erst einmal anziehen. Die Tochter gehorchte. »Findest deinen Weg ins Jenseits auch ohne das Mistding?« brummelte der Mesner vor sich hin. Das ergab keinen Sinn, und das war gefährlich. Weshalb sollte ein normaler Mensch sein Kind mit einem solchen Satz erschrecken? Die Kleine war gerade einmal sechzehn Jahre alt. Bis zum Jenseits würde sie noch viel Zeit haben, würde noch heiraten und Kinder gebären, und diese würden wieder heiraten und sie zur Großmutter machen. Nein, dieser Satz ergab keinen Sinn. Er ergab nur einen Sinn, und in Kilian kamen Ahnungen hoch, nur einen Sinn, wenn sich der Satz auf ihn, auf den Mesner, bezogen hätte. Dieser »Bote«, wie Annemarie gesagt hatte, hatte ihr ja den Rücken zugewandt, als er seinen Satz sagte. Vielleicht hatte er ja nur ein Geräusch gehört und ihn, Kilian, dort im Garten vermutet? Nein, Unsinn. Wenn es wirklich ein Himmelsbote gewesen wäre, dann hätte er natürlich gewusst, wer hinter ihm im Garten war. Aber womöglich war Annemarie als Übermittlerin der Botschaft auserkoren worden! Wie war der zweite Satz gewesen? »Du kriegst es zurück.« Der alte Kilian 75
dachte an alte Zeiten und reimte sich eine Lösung zusammen. Annemarie kam, inzwischen ordentlich gekleidet, in die Küche. »Was meinst, Papa?« Der Vater meinte nichts. Nichts jedenfalls, was er seiner Tochter zum jetzigen Zeitpunkt hätte sagen können und müssen. Das hätte das Kind nur beunruhigt. Das sei sicher bloß irgend so ein Spinner gewesen, meinte der Mesner. Ein betrunkener Kerl. Vielleicht aus dem Nachbarort. Einer, der Selbstgespräche führte. Ein Irrer halt. Nichts von Bedeutung. Annemarie schwieg. Sie wusste, dass dies nicht dem entsprach, was der Vater wirklich dachte und was ihn bewegte. Sie spürte, dass etwas den Vater beunruhigte und ihm den Appetit raubte, denn die beiden Brotscheiben lagen noch unberührt da. Auch Annemarie war der Appetit vergangen. So saßen die beiden eine Weile schweigend herum und tranken ihren Kaffee. Dann sah der Mesner auf die Uhr. Ging zur Schublade des Küchenschrankes, um Zettel und Stift herauszuholen. Es gab viel zu tun. Während er in der Kirche und im Pfarrhaus heute jede Menge Arbeit haben würde, sollte die Tochter das für die Trauerfeierlichkeiten Notwendige in der Stadt besorgen sowie im dortigen Dekanatsbüro Rücksprache halten und Anweisungen einholen. Die Zeit drängte. In einer halben Stunde würde der Frühbus fahren, der die Arbeiter aus den Dörfern einsammelte und in die Fabrik brachte. Die Liste erforderte alle Aufmerksamkeit. Es galt schließlich, die größte Beerdigung vorzubereiten, die dem Dorf seit dem Tod des letzten Bürgermeisters, Anton Seeberger selig, zu Grabe getragen vor nunmehr zwölf Jahren, bevorstand. Diese besoffenen Schweine! Morris war echt sauer. Beim Aufwachen hatte er neben sich im Ehebett einen schnarchenden, abartig stinkenden Bläser vorgefunden, der in voller Montur auf der Zudecke lag und mit den Schuhen das Bettlaken dreckig trat. 76
Wenn das der Hausherr sehen würde! Noch mehr ärgerte Morris aber der Anblick von Jaco, den er bislang doch für einen vernünftigen Kerl gehalten hatte. Der hatte es nicht einmal bis zur Couch geschafft, sondern hing, auf einem Stuhl sitzend, den Kopf auf den verschränkten Armen ruhend, am Küchentisch. Das Härteste aber war, dass der Blödmann offenbar noch in der Nacht versucht hatte, Kaffee zu kochen. Auf einer rotglühenden Herdplatte stand ein vor Hitze singender, leerer Topf, in dem Werners wohl Wasser hatte heiß machen wollen. Neben dem Herd wartete auf der Porzellankanne der bereits mit Pulver gefüllte Filter auf das Aufbrühen. Da fehlte nicht viel zum Wohnungsbrand. Morris drehte den Herd ab. Jetzt kaltes Wasser in den Topf zu gießen hätte einen Geysir zum Ausbruch gebracht. Er war nicht lebensmüde. Schwab beschloss, erst die Tour zum Bäcker zu machen und den Kaffee später zu kochen. Von der Herdplatte her drohte seiner Ansicht nach keine weitere Gefahr. Die würde langsam abkühlen und wäre doch immer noch schneller kalt als seine Freunde ausgenüchtert. Morris streifte die Kleider über, rutschte in die Sandalen und machte sich auf den Weg. Ärgerte sich nochmals, als er die Wohnungstüre noch leicht geöffnet und mit außen steckendem Schlüssel vorfand. Diese Penner! Gut, dass der Vermieter noch nichts gemerkt hatte. Man musste die Unterkunft ja nicht unnötig aufs Spiel setzen. Der Morgen war schon in voller Blüte, als Moritz Schwab auf die Straße trat und sich auf den Weg zum Bäcker machte. Doch Morris wählte nicht den direkten Weg. Dieses Herumgehocke in dem Kaff ging ihm allmählich auf die Nerven. Und Bläser, der Schiss vor seinen Eltern hatte, zugleich aber eine alkoholbedingte Labilität zeigte, ließ es am notwendigen Einsatz mangeln. Handeln war angesagt, Eigeninitiative angebracht. Und wenn die anderen zu feige oder zu faul wären, dann würde er es eben selbst in die Hand nehmen. Morris lief bis zum Ortsende, wo Kurts Autoreparaturwerkstatt lag. Er war nicht 77
sonderlich enttäuscht, den Ganoven dort nicht anzutreffen. Morris hatte nichts anderes erwartet. Er drehte um in Richtung Ortsmitte, zauderte und hirnte auf dem Weg und hatte schließlich, fast schon an der Bäckerei angekommen, doch mutig den Entschluss gefasst, es mit Selma zu versuchen. Tapfer ging er nun zu jenem Haus, das der Apostel am Abend in der Kneipe als das Wohnhaus von Selmas Eltern, also Kurts früheren Schwiegereltern, beschrieben hatte. Selma müsste, das hatte der Alte gesagt, noch einen Schlüssel zur Werkstatt besitzen. Nach Schwabs Meinung mussten sie – komme, was wolle – das Auto heute kriegen und noch am gleichen Tag – Beulen hin, Ärger her – weiter zum Walchensee zu Bläsers Eltern fahren. Alles andere war Quatsch, kostete nur Geld und Zeit und Nerven und würde monatelang Scherereien zu Hause heraufbeschwören, denn Bläsers Eltern und die seinen waren gut bekannt. Und herauskommen würde ihr Missgeschick über kurz oder lang ja doch. Da konnten sie noch so heilige Blutsbrüdereide schwören. Irgendwann sang einer, sei es aus Angst oder aus Dummheit. Und selbst, wenn nicht, so war spätestens beim nächsten Werkstatttermin das Finale für den großen Beschiss, weil Bläsers Eltern dann erfuhren, dass kein Getriebe ausgetauscht, sondern ein Kotflügel gespachtelt und lackiert worden war. Das Haus, das er als Selmas Domizil ausmachte, hatte im Erdgeschoss und im ersten Stock jeweils ein großes Flügelfenster, daneben zwei kleinere und einen von Glasbausteinen gesäumten Hauseingang, durch den just bei Schwabs Näherkommen eine ältere Frau trat, ein Kind an der Hand. Morris beeilte sich, die Frau anzusprechen, bevor diese weiterging. Nein, sie sei nicht Selma, sagte die Alte auf Morris’ höfliche Frage. Sie sei die Mutter. »Die Selma is douwe«, sagte sie und setzte hinzu, dass sie nur den Kleinen in den Kindergarten brächte. 78
Er brauche den Schlüssel für die Werkstatt, erklärte Morris und erzählte andeutungsweise ihr Unglück und wie sie sich von Kurt im Stich gelassen fühlten. Die zunächst skeptisch wirkende Alte wurde zusehends freundlicher und nickte. Sie schickte das Kind voraus, und dann erfuhr Morris, dass Kurt ein Mistkerl sei und wohl wieder mal abgetaucht, und keiner wisse, wo, und dass der »Hallodri« nichts als Scherereien mache. Was er denn nur jetzt schon wieder im Schilde führe, der Schlawack? Die Frage war rhetorisch. Morris versuchte zu erklären, wie dringend sie das Auto brauchten, weil sie unbedingt am Walchensee erwartet wurden, und wollte noch weiter auf die Tränendrüsen drücken. Aber die Frau winkte ab. Sie habe keine Zeit, der Kleine sei eh spät dran, meinte sie und schloss Morris die Haustüre auf, ihn zugleich ermunternd hineinzugehen. »Die Selma is douwe«, sagte sie nochmals, und er solle ruhig hoch in den ersten Stock, die Wohnung links. Sie müsse jetzt aber wirklich los, weil der Kleine sonst zu spät in den Kindergarten komme. Und eilte davon, um den Buben einzuholen. Über eine gelb-schwarz gemaserte Marmortreppe gelangte Morris in den ersten Stock, wo auf der rechten Seite die Treppe weiter ins Dachgeschoss führte, auf der linken Seite aber eine Zimmertüre mit Spion war. Morris fand keine Klingel und kein Namensschild. Aber es musste hier sein. Zaghaft klopfte Schwab gegen die Tür, um Selma auf sich aufmerksam zu machen. Nichts rührte sich. Morris klopfte heftiger. Es tat sich noch immer nichts. Aber Selma musste da sein, das hatte die Alte doch gesagt. Sollte er unverrichteter Dinge den Rückzug antreten? Nein, er war nicht hierher gekommen, um im letzten Moment zu kneifen. Er griff zur Türklinke. Die Türe ging auf. Morris zögerte einzutreten. War das nun schon Hausfriedensbruch? überlegte er. Aber wie sollte er die Misere, in die sie geraten waren, beheben, wenn ihn jetzt der Mut 79
verließ? Schwab stieß die Türe halb auf. Er hörte Wasser rauschen. »Hallo!« Seine Stimme klang ein wenig zittrig, was ihn ärgerte, denn dazu bestand eigentlich kein Anlass. Er hatte sich der Alten vorgestellt, die hatte ihn fast schon ins Haus gedrängt, und nun war er hier, und er wollte ja nichts weiter als den Schlüssel für die Werkstatt. Er war schließlich kein Verbrecher. »Hallo, ist da jemand?« Seine Stimme war nun resoluter und kräftiger. Und nochmals, jetzt schon richtig energisch: »Hallo, ist wer da?« Er hörte Wasser schwappen, ein Platschen, als ob sich jemand aus einer gefüllten Badewanne erhob, dazu eine Stimme, die fast wie Fluchen klang. Eine kleine Weile war es ganz still. Dann ging eine der Türen auf. Nur einen Spalt breit. Sogleich quoll Wasserdampf durch die Ritze in den Flur heraus. »Was söll’n des?« fragte Selma, und wer ihn, verdammt nochmal, denn ins Haus gelassen habe, und was er überhaupt wolle. Das klang nicht freundlich. Dass er besser jetzt wieder verschwände und später oder gar nicht mehr käme, meinte Selma im Befehlston. Die Unterhaltung war, so man das vorsichtige Anfragen und die derbe Antwort denn als solche bezeichnen konnte, eher schwierig. Morris fühlte, dass er all seinen Hemmungen zum Trotz nun die Offensive ergreifen musste, wenn er nicht unverrichteter Dinge aus dem Haus geworfen werden wollte, und sprudelte los wie ein Wasserfall. Erst von der Mutter und dem Kleinen und dem Kindergarten und der offenen Türe und dem »Geh ruhig nauf zur Selma«, und dann von dem Kurt, der ein Mistkerl sei, wie die Mutter gesagt habe, und was wohl stimme, weil das Auto in der Werkstatt oder sonst wo sei, und dass sie, also er und seine Freunde, der Pietro und der Jaco, in diesem fremden Dorf ohne Hilfe dastünden und eh nur auf der Durchreise seien, und die Eltern wären auch schon in Sorge, und was solle denn nur werden, wenn sie, Selma, jetzt nicht den 80
Schlüssel herausgebe und ihnen auch nicht unter die Arme greife, und er könne ja auch nichts dafür, und es tue ihm leid wegen dem gestörten Morgenbad, und er sei ja gleich wieder fort, wenn sie ihm nur den Schlüssel gebe, und schon gar nicht wolle er ihr zur Last fallen, aber die Mutter habe … Nie zuvor hatte Schwab so viel und dumm zugleich dahergeredet. Einmal höchstens, als ihn die Mutter mit einem ›Playboy‹ erwischt hatte, da hatte er ähnliches herumgefaselt, aber das war verdammt lang her. Er dachte nicht gerne daran. Es hatte damals mächtig Stunk gegeben. Morris merkte, wie Selma mit sich rang, wie sie leise fluchte. Dann hörte er ein »Geh nei die Küch und wart e weng«. Er gehorchte, während sich die Türe des Badezimmers wieder schloss. Morris schritt vorsichtig den Flur entlang, bis er die Küche entdeckte. Er war kaum dort angelangt, da war Selma auch schon da. Morris bekam einen Kloß im Hals. Selma trug einen knallgelben Bademantel und hohe Hausschuhe im Blümchendesign, die ihn an die Pril-Aufkleber im Badezimmer ihres Wirtsschwagers erinnerten. Sonst trug Selma offenbar nichts. Morris hatte eine Zimtzicke erwartet, einen Besen, der Kurt aus dem Haus und regelmäßig ins ferne Frankfurt gefegt hatte, doch diese Selma war ein Hammer. Ein Superweib, das Morris sofort in seinen Bann schlug. Sein betörendes Gegenüber war von dunkelbrauner Hautfarbe, hatte lange schwarze Haare und große dunkle Augen. Morris’ Zunge quoll über rauhem, brottrockenem Rachengrund. Selma hatte eine kräftige, aber nicht zu große Nase, die vorne in einem Stups endete. Hatte einen großen, schönen Mund mit perlweißen Zähnen. Sie mochte Ende zwanzig, Anfang dreißig sein, schätzte Schwab. »Hat der Kurt sich ausm Staub gemacht«? fragte Selma jetzt. Ihre Frage blieb unbeantwortet. Morris stand wie gelähmt am Küchenschrank und konnte nicht antworten, obwohl sein Mund 81
sperrangelweit offenstand. Selma registrierte Schwabs Hilflosigkeit, lächelte geschmeichelt, vergaß ihren Ärger und wurde sanft. Ein betörendes Lächeln. »Den Schlüssel wollt ihr also?« Wieder keine Antwort von Morris, doch zumindest ein Kopfnicken. Seine Arme und Beine waren schwer wie Blei, sein Herz raste. Selma grinste, ging zur Spüle, ließ Wasser in einen blauen Topf laufen, setzte diesen auf den Herd und kramte dann im Küchenschrank herum, bis sie Filter und Pulver fand. Tat das Papier in einen weißen Filter aus Porzellan, häufte sechs Löffel Kaffeepulver hinein. Ob er schon einen getrunken habe, wollte Selma wissen. Morris schüttelte den Kopf und räusperte sich unter Qualen den rauhen Hals, aus dem er sodann seltsam quietschend hervorstieß, dass sie sich keine Umstände machen müsse. Er sei nur wegen des Schlüssels gekommen und gleich wieder fort. Es hörte sich an wie ein Rückfall in die Stimmbruchzeit. Amüsiert wies ihm Selma mit einer Kopfbewegung einen Stuhl an. Eine Geste, die keinen Widerspruch duldete. Morris folgte nur allzu willig. Für diese Frau hätte er alles getan. Im Topf sprudelte es. Selma brühte auf. Während der Kaffee durchlief, deckte sie den Tisch und stellte Brot und Marmelade bereit, dabei mehrmals zwischen Küchenschrank und Tisch hinund hergehend. Das nackte Fleisch der braunen Beine zog Morris’ Augen magisch an. Der Bademantel war kurz, sehr kurz. Wenn Selma einen Schritt nach vorne machte, schob sich der Mantelsaum bis über die Hälfte des Oberschenkels hoch, erlaubte sogar noch tiefere Einblicke. Zwar jeweils nur ganz kurz, aber Morris hechelte. Selmas samtene Haut war noch leicht feucht vom Badewasser und schimmerte. Moritz Schwab spürte, wie sich etwas in seiner Hose aufbäumte, konnte aber nichts dagegen tun. 82
Er trank den heißen Kaffee in großen Zügen, wobei er seinen Gaumen verbrühte, was aber gegen seine Geilheit nichts half, starrte, um sich abzulenken, aus dem Fenster hinaus zu den Weinbergen, die von Selmas Küche aus gut zu sehen waren, und versuchte vergeblich an das kaputte Auto zu denken, um wieder die Kontrolle über sich zu erlangen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Frau frühstückte, als sei nichts. Als habe sie nichts bemerkt. Doch ihre Augen, das Zucken der Grübchen auf ihren Wangen, verrieten sie. Sie spielte mit Schwab, kostete ihre Macht mit vollen Zügen aus. Ob er denn die Marmelade nicht einmal probieren wolle? Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Selma leicht von ihrem Platz, griff das Glas und schob es Morris über den Tisch zu, wobei sich beim Vornüberbeugen ihr Bademantel weit öffnete und den Blick auf den Busen freigab. Es war mehr als ein Augenblick, es war eine berechnete Ewigkeit, bevor sich Selma wieder auf ihren Stuhl zurücksinken ließ. Die braune, pralle Fülle des Ausschnitts sog Morris’ Kopf regelrecht hinein und ließ ihn schmerzhaft die Enge seiner Jeanshose spüren. Seine Lüsternheit kannte keine Grenzen mehr. Seufzend resignierte Morris. Ja, sollte sie doch sehen, was sie angerichtet hatte. Ja, er war bereit. Seine zittrigen Hände umfassten die Tischkante, bereit, sich emporzuziehen, bereit, die wenigen Schritte um den Tisch herum zu stürmen. Er würde über sie herfallen wie ein hungriger Wolf. Sie müsste nur mit den Lidern zwinkern, müsste nur schmachtend seufzen oder, besser noch, nur ein »komm ins Bett« hauchen. Es war kaum noch zum Aushalten. Plötzlich stand Selma auf. Atemstillstand. Er wartete auf das Signal. Seine Wagen glühten, sein Herz schlug bis zum Hals. Ihr Lächeln war sanft, doch irgendwie irritierend. Selma erklärte ihr Frühstück für beendet und bat Morris um etwas Geduld. Sie müsse sich – das Grinsen der Spielerin umspielte ihre vollen 83
Lippen – rasch zurechtmachen. Dann werde sie mit ihm zu Kurts Werkstatt gehen. Sie müsse eh ins Dorf, um etwas zu besorgen. »Wart e weng«, sagte Selma und ging aus der Küche, deren Türe sie offen ließ, hinüber ins Schlafzimmer, das auf der anderen Flurseite lag. Kaum war die Frau aus dem Raum, griff sich Morris in die Hose und rückte ›ihn‹ zurecht. Der Schmerz ließ etwas nach. Er fühlte sich ratlos, war schrecklich erschöpft. Was sollte er tun? Diese wildfremde Frau hatte ihm den Kopf verdreht. Wie er sie begehrte! Doch was wollte Selma? Wo blieb das eindeutige Signal? Morris stand auf. Immer noch schwer schnaufend, ging er in der Küche herum, trat schließlich an die offene Türe, um dort zu lauschen. Vielleicht würde sie ja gleich rufen. Warum hatte sie nichts gesagt? Wartete sie vielleicht auf ihn? War es Zufall, dass Selma es versäumt hatte, die Türe zu ihrem Schlafzimmer zu schließen? Zufall, dass sie fröhlich ein Liedlein vor sich hin summte? Die offene Türe jedenfalls erlaubte Schwab einen Blick in den Raum, der seinen Puls erneut zum Jagen brachte. Schwab sah eine Ecke des Bettes – scheinbar ein aufgeklapptes Bettsofa –, ein helles Holzregal, in dem Pullover und andere Kleidungsstücke lagen, und – das war das Erregendste – einen alten schwarzen Schrank mit ovalem Spiegel, in dem sich jetzt ein nackter weiblicher Körper von hinten spiegelte. Kein knabenhafter Mädchenkörper, wie von Charlotte, die Bläser und er voriges Jahr in der Umkleide des Freibades durch ein Astloch begafft hatten – nein, an dieser Frau war alles wohlproportioniert. Eine Figur, wie er sie aus den Heften kannte, die sein Freund Bläser zu Hause unter dem Bettkasten versteckte und in die er ihm, wenn die Eltern nicht da waren, manchmal großzügig Einblick gewährte. Selma stieg in einen weißen Slip, rüstete sich mit einem ebenfalls weißen Büstenhalter und streifte sich eine ockerfarbene Bluse sowie einen geblümten Rock über. Als sie 84
sich dann plötzlich umwandte, scheinbar direkt in den Spiegel blickend, huschte Morris erschrocken und mit glühenden Wangen zurück in die Küche. Sein Herz klopfte bis zum Hals. War es nicht, als habe er auf Selmas Gesicht beim Blick in den Spiegel wieder dieses geheimnisvolle Lächeln bemerken können? Sollte er vielleicht doch jetzt schnell hinübereilen, das Weib auf die Matratze stoßen? Er zögerte. Dann war’s vorbei. Die Göttliche kam auf zwei ungemein hohen Korksandalen in den Raum zurück. Nackte Zehen. »Packe mer’s«, verkündete Selma, den jungen Mann schmunzelnd musternd, was Schwabs Verlegenheit nur noch verschlimmerte. Sie angelte sich beim Hinausgehen im Flur einen Schlüssel von der Wand. Offenbar der Ersatzschlüssel zu Kurts Werkstatt. Nach nur wenigen Sekunden Fußmarsch waren sie dort angelangt. Jedenfalls erschien Morris der Zeitraum nicht länger. Von ihm aus hätten sie stundenlang laufen können. Es drängte ihn nicht, sich von seiner Begleiterin zu verabschieden. Der Blick in die Werkstatt ernüchterte Schwab. Selma brauchte die große stählerne Flügeltüre nicht mehr aufzuschließen. Die Bläser’sche Karre war weg! Was war geschehen? Es gab nur eine Erklärung: Offenbar waren die Freunde in der Zwischenzeit hier gewesen und hatten Kurt angetroffen. Warteten sie etwa daheim abfahrtbereit auf ihn? Schwab war hin- und hergerissen. Fast entsetzt. Hier standen er und Selma. Was scherten ihn die Freunde und was das blöde Auto? Morris konnte sich selbst nicht erklären, welcher Teufel ihn ritt, als er Selma seine Vermutungen bezüglich Auto und Freunden schilderte, dann kurz tief Luft holte und anschließend mit zittriger Stimme geradeheraus fragte, ob er sie noch einmal wiedersehen dürfe. Er werde, haspelte Schwab vor sich hin, bald ein eigenes Auto haben und dann sicher viele Ausflüge machen 85
und käme dann gewiss, ja, ganz bestimmt auch einmal, natürlich schon bald, wieder hier in das schöne Frankendorf, und ob er dann vielleicht zum Kaffee oder so? Selma lachte schallend. Schwab schoss das Blut in die Wangen, zugleich ergriff ihn Angst und Pein. Lachte sie über seine Blödheit? Dann seufzte er Erleichterung. »Freilich«, lachte sie, »dann guckste halt vorbei. Awer bringst mir Praline mit, gell?« Morris’ Herz machte einen Luftsprung. Das gehe klar, das sei versprochen, jubelte er. Nie war die Welt schöner gewesen als in diesem Augenblick! Er wollte nicht gehen, wusste aber, dass es sein musste, weil sich auch Selma dazu anschickte. Er ließ einen letzten, traurigen und doch zugleich hoffnungsfrohen Blick über Selmas Figur gleiten. Dann hastete er mit einem »Tschüss« davon, den Freunden zu, die ihn sicher schon suchten. Etwa auf halber Strecke zwischen dem Bäckerladen und der Wohnung lief Morris Bläser in die Arme. Beide waren gleichermaßen erstaunt, begrüßten sich mit abgehackt hingeworfenen Satzfetzen, »Ja, was« und »Wo kommst« und »Wo willst«, bevor sich der Nüchternere von beiden, Morris, der sich selbst zur Vermeidung peinlicher Nachfragen unter Zugzwang sah, zuerst offenbarte. Ihm sei ganz unwohl gewesen von der schlechten Luft auf der Bude, und er habe deshalb einen morgendlichen Spaziergang gemacht, habe auch – hier stockte er, denn der Bäcker lag ja (Mist!) bereits hinter ihm, und er stand mit leeren Händen da – einen Abstecher (jetzt hatte er die Kurve gekriegt) zur Autowerkstatt gemacht. »Wollt ihr gleich fahren?« fragte er Bläser, der sich während Schwabs Vortrag müde eine Zigarette angezündet hatte. Die wundersamen Worte des Freundes weckten in Bläser erstaunliche Kräfte. Eben noch ein vom Suff der Nacht gebeugter Greis, stand er jetzt mit geröteten Wangen und voller 86
Tatendrang vor Schwab. »Ja, ist die Karre denn fertig?« Nun stutzte Schwab, seltsam verwirrt. Seine Worte waren Frage und Antwort im gleichen Atemzug: »Habt ihr’s denn nicht abgeholt? Ich dachte, weil es …« Es dauerte bloß zwei, drei Sätze, dann war sowohl Pietro wie auch Morris klar, dass sich ihre Situation nicht etwa geklärt, sondern dramatisch verschärft hatte. Das Auto stand nicht mehr nur unrepariert in Kurts Werkstatt herum, sondern war darüber hinaus schlichtweg verschwunden. Bläser musste es selbst sehen und rannte in Richtung Werkstatt davon. Morris heftete sich an seine Fersen, weil er die Hoffnung hegte, Selma noch in der Nähe des Gebäudes anzutreffen. Vielleicht hatte sie, da sie nun schon mal den Schlüssel dabei hatte, ein wenig in Kurts Sachen herumgestöbert – in alter Verbundenheit oder einfach aus Neugierde. Da war rasch ein Viertelstündchen vertrödelt. Aber von Selma war rings um die Werkstatt und auch durch die verglasten Tore nichts zu sehen. Genausowenig vom Bläser’schen Fahrzeug. »Der Drecksack!« brüllte der Freund und schlug mit den Fäusten wütend gegen die Tore. Keuchte, ganz außer Atem, dann weinerlich: »Das Schwein!« Der vor wenigen Minuten noch vor Kraft strotzende, quasi von der Sehne geschnellte Jüngling sank ins Greisenstadium zurück. Schwab selbst spürte ob der neuen Entwicklung eine seltsame Erleichterung. Selma! Du Göttliche! Nein, heute würden die drei Freunde sicher nicht mehr abreisen, fuhr es ihm durch den Kopf. Wenn Kurt die Karre mit nach Frankfurt genommen hatte, um sie dort an die Mafia zu verscheuern, dann war der Tag gelaufen. Womöglich nicht nur der eine. Von ihm aus konnten sie die ganzen zwei Urlaubswochen hier bleiben. Dieses Kaff war ein ganz herrlicher Platz zum Erholen, das spürte er: Er strotzte vor Leben und – Morris’ Herz machte einen Luftsprung – vor Liebe. Was scherte ihn jetzt noch seine Facharbeit, die 87
vermaledeite? Das Studium würde auch so laufen, ganz ohne Brentano. Bläser hatte völlig recht, es gab viel Wichtigeres im Leben. Für ihn bestand daran kein Zweifel mehr – seit der Begegnung vom Morgen. Oh, Selma! Diese Beine, diese Titten! »Verdammter Scheißdreck, den mach’ ich fertig!« Derbe Worte rissen Morris aus seinen lieblichen Träumen. Bläser hatte sich offenbar, vor die Wahl zwischen Resignation und Kampf gestellt, für Letzteres entschieden. Mit einem Fußtritt gegen die Werkstattüre nahm er nun Abschied von diesem unglückseligen Ort. Gemeinsam gingen sie zur Wohnung zurück. »Erst wird gefrühstückt, dann machen wir einen Plan. Den Hund kriegen wir.« Jetzt, wo Bläser so sprach, war er der wahre Sohn seines Vaters. Energisch, zielsicher, gnadenlos und in gereiztem Zustand höchst gefährlich. Irgendwie nötigte das Bläser’sche Aufbegehren Schwab Respekt ab. Wäre ihm selbst die Geschichte mit dem Auto der Eltern passiert, hätte er seine Alten am Telefon angelogen, sich dann trotz Zusage nicht mehr bei ihnen gemeldet, und stünde er nun vor dem Fiasko, jetzt auch noch den Verlust der Karre erklären zu müssen – er wäre zusammengebrochen. Nicht so Bläser. Auferstanden aus Ruinen, war dieser bereit zum Amoklauf. Er blies zum Gegenangriff. Mit einem leeren Magen konnte nichts gelingen, hatte Bläser im Bäckerladen beschlossen und dort neben Brötchen und Streuselkuchen auch ein Glas Honig gekauft. Beim Metzger kamen noch Butter und eine feine Leberwurst hinzu. Den Griff zur Bierflasche verkniff sich Pietro im letzten Moment. Er musste einen klaren Kopf behalten. Der Mief in der Wohnung war brutal. Der polternde Lärm des Versorgungstrupps schreckte den immer noch am Küchentisch liegenden Werners hoch. Desorientiert und offenbar sehr verängstigt starrte er die beiden Freunde an. 88
»Du verträgst ja gar nichts«, schimpfte Bläser mit dem abgelaschten Freund, während er das Küchenfenster aufriss, um den Morgen und frische Luft in die Wohnung zu lassen. Ohne sich weiter um Werners zu kümmern, unterrichtete Bläser in knappen Worten Morris, der sich inzwischen ans Aufsetzen des Kaffeewassers gemacht hatte, vom weiteren Verlauf des Abends im ›Stern‹, den der frühzeitig verschwundene Schwab ja nicht mehr mitbekommen hatte. »Ein guter Wein, ich hab’ überhaupt keinen Kopf«, bilanzierte Pietro. An den Heimweg könne er sich freilich nicht mehr erinnern. Bloß noch – hier lachte er hustend –, dass sie, er und Werners, die Wirtshaustreppe hinuntergekracht seien. Aber Werners – nochmals erklang ein meckerndes Lachen – habe ihn freundlicherweise mit seinem Körper vor einem harten Aufprall bewahrt. Mein Gott, was seien sie doch besoffen gewesen! Blöde guckend stand Werners im Zimmer herum. Bläser winkte ab. Wurde wieder ernst und auch ein klein wenig traurig. Erzählte Werners sodann, dass das Auto weg sei und es nun einen Kriegsrat abzuhalten gelte, wie man »dieses Schwein« zur Rechenschaft ziehen könne. Doch Jaco schien nichts zu kapieren. Seine Augen blickten leer, das dahintersitzende Gehirn schien abgeschaltet. Ohne weitere Worte schleppte sich der Abgeschlaffte unter den verdutzten Blicken von Schwab und Bläser ins Bad. Wenig später war von dort ein Plätschern zu hören. Dann ging die Klospülung. Dann erneutes Wasserplätschern und Geräusche, als würde es Ohrfeigen setzen. Schließlich stand Werners, halbwegs eingerichtet, wieder in der Küche. Seine Arme begannen zu fuchteln, zu gestikulieren. Ein Räuspern signalisierte, dass Werners etwas sagen wollte. »Da war dieser Engel«, sagte er leise. Morris musste unwillkürlich an Selma denken. »Was für’n Engel?«, fluchte Bläser. Er hockte am Küchentisch und schmierte sich ein Honigbrötchen. 89
»Weiß und blond«, sagte Werners, besann sich dann jedoch, schüttelte den Kopf und meinte: »Ach, nichts.« Bläser wollte erst grob werden, ließ es beim jämmerlichen Anblick des Freundes aber sein und kommentierte nur, dass. er, Werners, so überhaupt gar keinen Wein vertrage; das habe er nicht erwartet. Während heißer Kaffee in ihren Tassen dampfte und sie Leberwurst-, Marmeladen- und Honigbrötchen kauten, wurde Kriegsrat gehalten. Morris meinte, es wäre am besten, Bläsers Eltern die Wahrheit einzuschenken und einfach abzuwarten, bis der Kurt mit dem Auto wieder auftauchte. Denn mit dem Walchensee telefonieren, das müssten sie heute auf jeden Fall, würden sie doch im Laufe des Tages dort mitsamt repariertem Auto erwartet. »Die geben sonst eine Vermisstenmeldung auf«, meinte Schwab. Werners hielt sich mit Vorschlägen zurück, fand aber Morris’ Idee des weiteren Zuwartens hier am Ort ganz gut, nicht zuletzt deshalb – das aber verschwieg er freilich –, weil er nach dem verlorenen Rosenkranz suchen musste. Er konnte unmöglich abreisen, ohne das Ding wieder dem toten Pfarrer zurückgegeben zu haben. Und die Begegnung mit dem Engel – war es Wahrheit oder Suff? Die Geschichte musste geklärt werden. Das Rosenbeet an der Linde im Dorf, das konnte er sich nicht eingebildet haben. Zumindest das würde sich nachprüfen lassen. Und den auf dem Pfad liegenden Kranz aus Rosen hatte er auch ganz deutlich gesehen. Bläser jedoch wischte den Vorschlag Schwabs mit einer Handbewegung vom Tisch. Natürlich werde er noch am Vormittag mit den Eltern am Walchensee telefonieren. Aber denen die Wahrheit sagen? Dass er das Auto erst demoliert hatte und sie nun in diesem Kaff herumsaßen und von so einem fiesen Kerl namens Kurt gelinkt worden seien? Dass das Auto zudem spurlos verschwunden sei, möglicherweise bereits zur Verladung am Hafen von Neapel herumstehe? 90
»Niemals.« Bläser sagte dies mit einer Entschiedenheit, die keinen Zweifel daran ließ, wer hier der Boss war. Das Auto war verbeult, das Auto war nicht repariert, das Auto war weg, fasste Bläser die Situation zusammen. Alles war Scheiße. Doch während seiner Bestandsaufnahme kam Bläser zu einer Lösung, die er einfach »genial« fand. »Dem Kurt schenken wir eine ein«, beschloss er mit triumphierender Stimme und erläuterte den Freunden seinen Plan. Er würde das Auto bei der Polizei als gestohlen melden, sagte Bläser, und die Kameraden glotzten verständnislos. »Das ist genial«, freute er sich gleich nochmal über seine Idee. Ja, er werde das Auto als gestohlen melden. Er werde der Polizei sagen, dass sie das Auto gestern bei Kurt abgegeben hätten. Der habe einen Getriebeschaden attestiert und versprochen, die Sache bis heute wieder in die Reihe zu bringen. Nun aber sei Kurt samt Auto verschwunden, was nur bedeuten könne, dass die Karre gestohlen sei. Das klinge sogar vernünftig, denn im ganzen Dorf sei die Unzuverlässigkeit Kurts bekannt, und seine wiederholten Frankfurt-Geschichten ließen gar keinen anderen Schluss zu, als dass Kurt Beziehungen zur kriminellen Szene unterhalte. »Vielleicht steckt er tatsächlich mit der Mafia unter einem Hut?« Bläser schnaufte nun sogar vor innerer Erregung über seinen guten, über seinen genialen Plan. »Aber das Auto ist doch an der Seite angeschrammt«, warf Morris ein. Es sei doch auch kein Getriebe kaputt, sondern Blech und Lack demoliert. Wie wolle er das denn der Polizei erklären, wenn diese das Auto inspiziere – vorausgesetzt, es würde jemals wieder gefunden. »Ist doch kein Problem«, meinte Bläser. »Das war der Kurt.« Was wüssten sie denn, wo der Kerl bei seinen Fahrten zur Mafia oder ins Bordell überall herumgondele, und ob er bei einer rasanten Verfolgungsfahrt mit Zivilfahndern im Nacken nicht irgendwo entlanggeschrammt sei? Und dem Kurt werde die Polizei nicht glauben, dass die Dellen schon älter seien. Der 91
habe sicher mit seiner Frankfurt-Connection irgendeinen Dreck am Stecken. Außerdem seien sie schließlich zu dritt und könnten bezeugen, dass an dem Auto bei der Ablieferung in Kurts Werkstatt schlimmstenfalls das Getriebe defekt gewesen sei. »Und genau so erzähl ich’s nachher auch meinen Alten«, schloss Bläser und lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück. Werners Einwand, dass Kurt oder dessen Freunde ihnen die Eier abschneiden würden, ignorierte Bläser. Wenn Kurt sich nämlich tatsächlich mit der Mafia abgebe, dann hieße das Blutrache. Die Mafia gebe sich mit solchen Kinkerlitzchen nicht ab, meinte Bläser dagegen. Wen von denen interessiere schon so ein kleines Licht wie Kurt, der doch bestenfalls Hehlergeschäfte oder Kurierdienste für die Ganoven erledige, und außerdem seien sie nach ihrer Abreise aus diesem Kaff in Sicherheit. Kurt habe eh ein paar Jahre abzusitzen bei dem, was er alles so auf dem Kerbholz habe. »Da hab mal keine Angst«, sagte Bläser, stand auf und ging ins Bad, um sich für das Telefonat mit dem Walchensee und den Besuch bei der Polizei zurechtzumachen. Es hatte nun keinen Sinn mehr, Widerrede zu führen, wusste Morris. Insgeheim gab er Werners recht. Maximal drei Tage, und die Mafia würde an der Haustüre klingeln. Schwab hatte ein verdammt mulmiges Gefühl. Aber Pietro war so Feuer und Flamme für seine Idee, dass ihn nun nichts mehr bremsen konnte.
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KAPITEL 4 Unterwegs SEINE URSPRÜNGLICHE IDEE, in die Stadt zu trampen, hatte Pietro aufgegeben, als er auf seinem Weg ans Ortsende an der Bushaltestelle vorbeikam. Eine Dunkelhaarige in hautengen Jeans und weißer Sommerbluse erregte seine Aufmerksamkeit. Donnerwetter, dachte Bläser und ging schnurstracks auf das Mädchen zu, die beiden alten Damen ignorierend, die ebenfalls auf den Bus warteten und bei seinem Anblick ihr angeregtes Gespräch einstellten. »Geht demnächst ein Bus in die Stadt?« Eine freilich dümmliche Frage, das wusste er, aber ihm fiel nichts Besseres ein, um die Konversation in die Wege zu leiten. »Hmmm«, bestätigte die Dunkle nur und deutete ein Nicken an. Sturer Käfer, aber hübsch. Jedenfalls ein Anbaggern wert. Das würde er auf der Fahrt schon hinkriegen. Die paar Pfennige für den Bus wären jedenfalls gut investiert. »Wie lange dauert’s in die Stadt?« Pietro bemühte sich, den Zunder zum Glimmen zu bringen, bevor der Bus auftauchte. »E halwe Stund vielleicht«, gab ihm eine der Alten zur Antwort. Bläser schaute ärgerlich. Was mussten sich denn die Omas einmischen? Das ging sie doch überhaupt nichts an. Er drehte sich zur Seite und tat, als ob er den Busfahrplan studierte. Der hing an einem gelben Mast, und zwar so, dass Bläser die Wartenden im Blick hatte, wenn er von den Zeilen und Zahlen aufsah. So konnte er am Fahrplan vorbei die Dunkelhaarige in aller Ruhe mustern. Das Mädchen war wirklich gut gebaut. Nicht so ein weit 93
ausladendes Landei, wie er sie hier eigentlich eher erwartet hätte, sondern eine süße Maus, die beim Beatabend sicher nicht lange auf Verehrer warten musste. Ihre Füße waren nackt, was Bläser ungemein anziehend fand, und steckten in blauen Clogs, die an der Seite von einem Band silberner Nieten geziert wurden. Die hellblau ausgewaschenen Jeans deuteten lange, schlanke Beine an, die oben in einen wunderbar geformten Po übergingen, wie ihn Bläser selten so knackig erblickt hatte. Die Bluse war eher luftig und gab im Licht der Morgensonne ebenfalls vielversprechende Konturen preis. Das schwarze Haar, die weiße Bluse, die hellblauen Jeans – für Bläser hatte diese Farbenzusammenstellung nicht zum ersten Mal eine magnetische Anziehungskraft. Die Kleine erinnerte ihn an Gaby, ein frühreifes Luder, mit dem er neulich im hintersten Eck des Freibads heftig geknutscht hatte. Weit war er dabei nicht gekommen, denn Gabys älterer Bruder hatte sie ausfindig gemacht und eine mächtige Schreierei begonnen. Am liebsten hätte er dem Störenfried eine aufs Maul gegeben, ließ es aber wegen all der Leute um sie herum. Mit Gaby war dann auch nichts mehr, weil sie von der Mutter abgeholt wurde. Er hatte ihr beim Einsteigen ins Auto nachgesehen – weißes T-Shirt, Jeans und schwarze Haare. Naja, eh zu jung. Hätte nur Ärger gegeben. – Der Bus kam. Der Fahrer ließ ihn aus der Kurve schießen, als ob er die Hauswand, vor der seine Fahrgäste warteten, mit seinem Gefährt schrammen wollte. Der Außenspiegel rauschte kaum zehn Zentimeter an Bläsers Gesicht vorbei. Das Mädchen gab den beiden Alten den Vortritt, Pietro rückte von hinten dicht an die Süße heran, stieg hinter ihr in den Bus ein. Sie hatte ein frisches, blumiges Parfüm. Und dieser Po! »Na, Conny?« lachte der Busfahrer seinen Fahrgast an. »Eisdiele?« Conny grinste, und Bläser spürte einen heftigen Stich von Eifersucht durch die Brust jagen. 94
»Nä, heut nit«, sagte die Dunkle. Damit war die Unterhaltung auch schon zu Ende. Konnte also nichts Ernstes sein mit dem Busfahrer, dachte Bläser zufrieden. Conny – das klang gut, irgendwie nach Pony, und passte zu ihrem herrlichen Hintern. Conny ging bis etwa in die Mitte des Busses und warf sich auf einen Sitz an der linken Seite. Bläser überlegte einen Augenblick, ob er sich ganz frech neben sie setzen sollte, nahm dann aber auf gleicher Höhe auf der rechten Seite Platz. Der Bus war fast leer. Außer den beiden alten Damen, Conny und ihm vielleicht noch drei, vier Passagiere. Es ging bereits auf elf Uhr zu. Keine Uhrzeit für Berufspendler. Der Bus fuhr die gewundene Landstraße hinunter ins Maintal. Conny hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und blickte zum Fenster hinaus. Bläser interessierte die Landschaft nicht. Seine Augen ruhten auf Connys Bluse. Da fehlte nichts. Die Bluse, obwohl weit geschnitten, war ordentlich gefüllt. Jetzt oder nie! Er hatte ja nicht alle Zeit der Welt, musste schließlich auf die Polizeistation, und zudem stand noch das schwierige Telefonat mit den Eltern an. Das würde noch was geben … Aber Conny würde ihn heute Abend trösten, egal, wie sauer ihm die Alten kommen mochten. Nun galt’s, das Stelldichein in die Wege zu leiten. »Schöne Gegend«, sagte Pietro und deutete aus dem Seitenfenster. Dann lächelte er Conny sehnsüchtig an. Die zeigte kaum Reaktion. Wieder nur ein »Hmm«, ohne dass sie sich ihm zugewandt hätte. »Hier gibt’s sicher guten Wein?« Wieder so eine dämliche Frage, aber was sollte er denn machen? Die Zeit drängte. Bläser musste es irgendwie gelingen, die Maus zum Reden bringen. »Hmm, scho.« Landschaft und Wein – das brachte ihn also nicht weiter. Wenn sein Gehirn nur nicht so leer wäre. Wie sollte er das Gespräch in Gang bringen, wenn ihm nichts einfiel oder nur 95
Dinge, die ungesagt wertvoller waren als ausgesprochen? »Heut ist’s schon schön warm«, sagte er und verfluchte sogleich diesen Satz. Dümmer ging es nun wirklich nimmer. Zumindest brachte ihm seine Feststellung einen verwunderten Blick Connys ein. Ein bißchen rümpfte sie dabei die Nase. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie offenbar an seinem Verstand zu zweifeln begann. Jetzt hatte er’s endlich. Den Dreh. Soeben war ihm eingefallen, wie er sie ködern könnte: »Ich will zur Polizei. Weißt du, wo die ist in der Stadt?« Conny drehte sich ein wenig herum, musterte Bläser von oben bis unten und wiederholte: »Zur Bollizei?« Na also, angebissen! Ja, kurbelte der Angler weiter, zur Polizei, denn er wolle einen Diebstahl melden. Jemand habe sein Auto geklaut. Er sei eigentlich nur auf der Durchreise, hänge aber wegen eines Ganoven hier fest. Vielleicht sogar für längere Zeit, beeilte er sich zu ergänzen. »Es Auto geklaut?« Wieder dieser Blick, nun ein bißchen forschender. Bläser versuchte Zug auf die Leine zu bekommen, wusste die Kleine nun am Haken und leitete Phase zwei seines Eroberungsplanes ein. Er streckte der Süßen geradewegs seine Hand entgegen. Die war so erschrocken, dass ihr gar nichts blieb, als die Hand zu ergreifen und sie ein wenig zu schütteln. »Bläser, Peter. Aber alle nennen mich Pietro«, sagte er mit dem freundlichsten Lächeln, das er im Repertoire hatte. Eigentlich hätte Conny jetzt sagen müssen, dass sie Conny hieß, und vielleicht auch noch ihren Nachnamen nennen sollen, zumindest aber hätte sie genauso freundlich lächeln müssen wie er. Tat sie aber nicht. Sie sagte ihr »Hmm«, so wie sie es schon ein paar Mal getan hatte. Fast emotionslos. Also einen neuen Anlauf gewagt. »Der Weg zur Polizei?« 96
fragte Bläser. Conny schien sich an seine Bitte zu erinnern. »Ich zeich dir’s, wenn mir in der Stadt sin.« Es war ihr bislang längster Satz. Bläser war recht zufrieden. Nach einigen weiteren Wortwechseln sollte es doch möglich sein, für den Abend etwas auszumachen, zumal er und Conny doch jetzt sozusagen Landsleute waren, in demselben Kaff zu Hause – zumindest vorübergehend. Aber die Kleine hatte sich schon wieder abgewandt und starrte zum Fenster hinaus. Da gab es gerade ein wenig was zu sehen, weil sie durch eine Ortschaft fuhren und ein paar Leute auf der Straße waren. Bläser gab nicht auf. »Das ist nett«, sagte er. »Vielleicht hast du ja denselben Weg?« Eine klasse Frage. Pietro war stolz auf sich. Eine Frage, auf die eine Antwort kommen musste, die sie nicht einfach so abtun konnte. Doch Conny konnte. »Nää«, kam vom Sitz gegenüber. Und dann, nach einer ganzen Weile und wohl nur, weil es Conny selbst ein wenig unfreundlich vorkam: »Is awer nit weit zur Bollizei vom Busbarkblatz.« »Zur Bollizei?« fragte eine der beiden Damen, die mit ihnen eingestiegen waren und zwei Sitzreihen vor ihnen Platz genommen hatten. Die blöde Oma! Was musste die sich einmischen? Mistkrähe, dachte Bläser, nickte aber anstandshalber. Natürlich wollte die Alte jetzt wissen, weshalb er zur Polizei müsse, hatte sich neugierig im Sitz so weit wie möglich herumgedreht, und auch die andere Frau wandte sich, aufmerksam geworden, Bläser zu. »Nur so«, entgegnete er. Das musste reichen. Doch Bläser hatte nicht mit Conny gerechnet. Der bislang stumme Fisch fiel ihm nun geradewegs in den 97
Rücken. »Dem hömm se ’s Auto geklaut«, informierte die Dunkelhaarige die alten Damen, und die waren ganz entzückt, dass ihre Busfahrt diesmal nicht so langweilig war wie sonst. »Ja, wie des denn?« rief die eine, und die andere, weil Bläser zauderte, hechelte mit einem »Ja, jetzt erzähle Se halt emol!« hinterher. Pietro wusste in diesem Augenblick, dass etwas hier im Bus verdammt schief lief. Nein, so hatte er es überhaupt nicht haben wollen. Noch aber hegte er einen Funken Hoffnung, das Blatt wenden zu können. Diese Conny! Der Kleinen würde er ihre freche Bemerkung, wenn er sie nur erst herumgekriegt hätte, schon heimzahlen. Erst die Stumme markieren und dann das Singvögelchen – sie würde schön zwitschern, wenn er ihr erst an die Wäsche ging! Vorerst aber fügte sich Bläser in sein Schicksal. Es war vielleicht ganz gut, wenn ein paar Leute mehr aus dem Dorf ihre Geschichte mit dem Auto verbreiten würden. Das konnte nützlich sein, falls die Polizei herumrecherchierte, dachte er. Und Bläser begann von ihrem defekten Auto zu erzählen, und dass sie bei einem freundlichen Herrn eine Bleibe gefunden hätten, und dass das Auto in Kurts Garage gestanden habe und jetzt nicht mehr da sei, weil er es geklaut habe, um seinen dunklen Geschäften in Frankfurt nachzugehen. »Vielleicht Mafia oder gar die RAF«, ergänzte Bläser und grinste, die Spannung auskostend und zugleich die dunklen Rehaugen Connys fixierend, die seiner Rede aufmerksam gefolgt war. Auch die beiden Alten hatten gebannt gelauscht. Doch die von Bläser erwartete Wirkung, etwa entsetzte Zustimmung oder sprachlose Entrüstung über die heimatörtliche Kriminalität, waren nicht eingetreten. Ganz im Gegenteil. »Der Kurt klaut doch kee Auto«, meinte jetzt eine der Alten. Das habe er doch gar nicht nötig, wo sein Hof doch voller Autos 98
stand. »Der hat doch selwer eins«, mischte sich auch Conny in das Gespräch ein, »der hat en BMW 2002, in Weiß.« Blödes Geschmarre! Bläser fegte die Argumente mit einer Handbewegung weg. Und weshalb, bitte schön, meinte er inzwischen etwas verärgert, sei dann sein Auto aus der Werkstatt weg? Schließlich seien Kurts Umtriebe in Frankfurt und seine Beziehungen zur kriminellen Szene doch bekannt. »Wer sacht denn so was?« forschte die Alte mit klapperndem Gebiss nach. Soweit sie wisse, fahre der Kurt doch nur nach Frankfurt zum Kauf und Verkauf von Gebrauchtfahrzeugen. »Da sagt der Apostel aber was ganz anderes. Und der Baatsch auch«, trotzte Bläser und war stolz, dass er den Alten mit Ortsgrößen als Zeugen für seine Aussage dienen konnte. Der Einwurf entpuppte sich allerdings als böser Fehlgriff. Den beiden neidischen Hammeln, so keifte nun die andere Oma, könne kein Mensch auch nur irgend etwas glauben. Die hätten doch nur ihre Schoppen im Kopf, »die zwä Suffköpf«. Die Worte kamen spontan, und kaum waren sie ausgesprochen, da hätte die Alte – so zeigte jedenfalls ihre gequälte Reaktion – sie am liebsten ungesagt gemacht. Es gehörte sich einfach nicht, einen Ortsbürger vor einem Fremden mieszumachen. Das war Gesetz des Dorfes seit der Jungsteinzeit. Ein roter Schimmer überzog die Wangen der Sünderin, die ihren Blick verlegen senkte. Bläser war sichtlich getroffen. Er ließ einen leidenden Blick zwischen den alten Damen und Conny hin- und herwandern. Die Geschichte hier lief ihm aus dem Ruder. »Jedenfalls ist das Auto weg, und der Kurt auch, und wenn es nicht gestohlen ist, wo soll es denn dann sein?« Bläser hatte seine Bankschaltersprache aus der Schublade geholt, nicht willens, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Wenn die alten Weiber den Apostel und den Baatsch nicht mochten, weil 99
die sie in ihrer Jugend verschmäht hatten oder aus sonst einem Grund – bitte schön! Aber an den Fakten ließ sich nichts deuteln. Das Auto war weg – und basta! Wie, bitte, solle man sich das erklären können? »Paul«, blökte die klappergebissige Alte nach vorne zum Busfahrer. »Hoast du dan Schmieds Kurt die letzte Dach emol gsehn?« Und dann erklärte sie Bläser, dass der Busfahrer Paul und der Schmieds Kurt, der Werkstattmeister, zusammen im Schützenverein seien. Die Antwort des Busfahrers entzog Bläsers Argumentationen allen Boden. Natürlich habe er den Kurt gesehen, rief Paul, ohne sich umzudrehen, nach hinten. Erst gestern abend seien sie zusammen im Schützenhaus beisammen gehockt und hätten Schafkopf gespielt mit dem Klaus und dem Schorsch. »Werüm?« wollte der Gefragte wissen. »Der Bursch sacht, der Kurt hätt sei Audo geklaut!« schrie die Alte quer durch den Bus. Bläser konnte das Weiß in Pauls Augen sehen, als dieser ihn im Rückspiegel zu fixieren versuchte. »Der Kurt klaut kee Auto«, rief Paul über die Schulter zurück. Und dann kam es ganz dick: »Der hat gestern awer erzählt, dass so e paar Blödmänner es Auto von ihre Eltern demoliert hamm und er es jetzt rieht söll, awer er den Lack nit hat«, brüllte der Paul, woraufhin alle Busfahrgäste den fremden Jüngling grinsend ins Visier nahmen. Bläser fühlte sich höchst unwohl. Sollte er das kleine rote Hämmerchen nehmen, das dort über dem Fenster hing, die Scheibe einschlagen und quer über die Äcker fliehen, bevor Paul weiterquatschte? Oder sollte er nach vorne gehen und Paul einen Zehner als Schweigegeld in die Brusttasche stecken? Conny, das Miststück, das erst gar nichts von ihm wissen wollte, hatte sich inzwischen zu Pietro gedreht, beugte sich hochinteressiert herüber und lächelte nun sogar ein wenig. 100
Ja, sie hatte wirklich eine schöne Oberweite, dachte Bläser, und wurde unendlich traurig. Er würde die Prachtäpfel nie greifen dürfen. Das war ihm längst klar. Wieder ließ sich die laute Stimme Pauls vernehmen, und Bläser zuckte zusammen. »Der Kurt is bestimmt mit dem Auto nach Würzburch nei zum Lackiern, des kann er drauße in seiner Werkstatt doch nit.« Alle Augen waren auf Bläser gerichtet. »Das könnte vielleicht sein«, kratzte es aus Bläsers Hals. Er grinste verlegen. Verzweifelt entzog er sich den Blicken der anderen und sah zum Fenster hinaus; sie waren schon mitten in der Stadt. Bloß raus hier! Der Bus bog in den Busbahnhof ein. Alles marschierte durch den Gang nach vorn. Warum war das nur so dumm gelaufen? dachte Pietro, während er hinter Conny her starrte. Ihr Hintern war echt phantastisch. Bläser malte sich für einen Moment aus, wie er Connys nackten Po zur Strafe mit einer Gerte bearbeitete. Ach, wäre die Rache doch sein! Doch Conny war verschwunden. Als er sich von seinem Sitz erhob, sah er die Schnalle draußen. Sie warf sich gerade einem Langhaarigen um den Hals, der mit seinem blonden Vollbart aussah wie ein Wikinger. Völkerkunde, achtes Semester, vermutete Bläser. »He, du!« Pauls Stimme hielt Bläser vom Aussteigen zurück. Der Fahrgast erwartete – das schien ihm nach den Vorkommnissen jetzt das Natürlichste auf der Welt – von Kurts Freund nun ein paar deftige Ohrfeigen zu bekommen. Doch Paul war gnädig. »Mer muss erst üwerlech, vor mer was sacht, junger Mann«, belehrte er den Gebeugten. Er solle es einmal in der Autowerkstatt unten am Main probieren. »Da is der Kurt öfters, wenn er was zum Lackiere hoat.« 101
Bläser hauchte ein »Danke« und stieg aus. Die beiden alten Damen waren schon gut fünfzig Meter voraus in Richtung Stadtmitte davongeeilt, doch Pietro glaubte deutlich hören zu können, wie sie weiter über ihn herzogen. Er konnte sich ausrechnen, dass schon bald das ganze Dorf über ihn und seine zusammengereimte Diebstahlstory Bescheid wissen würde. Es war höchste Zeit, aus diesem Kaff zu verschwinden. Sein schöner Plan war im Eimer. Er musste Kurt und das Auto ausfindig machen, bevor dieser abends im Schützenverein oder sonstwo von den gegen ihn im Bus erhobenen Anschuldigungen erfuhr. Das wäre ihr Untergang. Kurt würde nicht so viel Nachsicht üben wie Paul. Bläser hatte daran keinen Zweifel. Nicht nur, dass es Senge setzte; vermutlich würde die Reparatur auch erheblich teurer werden. Der Walchensee konnte ihretwegen austrocknen. Was scherte sie das? Hier in diesem Winzernest waren sie in Ketten geschlagen. Morris wegen Selma und Jaco wegen des verhexten Rosenkranzes. Doch beiden war unmöglich, sich gegenseitig ihre Seelenpein zu offenbaren. So schwiegen sie, tranken die starke schwarze Brühe aus ihren Kaffeetassen und qualmten in einem fort, bis sich Werners mit dem Hinweis, er brauche dringend frische Luft, nach draußen verabschiedete. Er sah wirklich schlecht aus, stellte Morris besorgt fest und pflichtete im Stillen Bläsers Auffassung bei, dass Werners für den Genuss von Frankenwein wohl nicht geschaffen war. Morris genoss die Einsamkeit, lehnte sich im Stuhl zurück, schloss die Augen und ließ den Morgen noch einmal im Geiste Revue passieren. Immer wieder tauchte vor seinem Auge das Bild von Selmas vom Badewasser noch feucht schimmernden Beinen auf. Natürlich würde er sie heiraten. Vielleicht nächstes Jahr. Mit den Eltern würde es einen Riesenärger geben und in der ganzen Stadt ein großes Geschrei, aber all dies vermochte Morris, der bei seinen Gedanken an Selma schon wieder einen Anflug von Geilheit verspürte, nicht von seinen Plänen abzuhalten. 102
Natürlich war Selma älter als er, aber es konnten höchstens fünfzehn, möglicherweise gar nur zwölf Jahre sein. Und das Kind? Er würde nicht der erste Mann sein, der einen Bankert mit heiratete. Was waren diese Lappalien gegen Selmas Schenkel und ihren süßen Mund! Dass sie ihn heiraten würde, daran bestand kein Zweifel. Das Kind brauchte einen Vater, und zwar einen zuverlässigeren als diesen Kurt. Und Selma brauchte einen Mann. Dringend. Das hatte sie ihm klar zu verstehen gegeben. Pralinen wollte sie. Das ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Morris seufzte. Wieso musste er ausgerechnet jetzt an seine Facharbeit denken? Brentano. Unglückliche Weibergeschichten, trauriges Ende, hohe Lobgesänge, herrliche Liebeslieder. Deshalb wahrscheinlich. Schwab holte sich die Bücher aus der Reisetasche. Er hatte sie eigentlich nicht mehr in die Hand nehmen wollen. Aber vielleicht war bei Selma ein wenig Romantik angesagt. Mit Brentanos Hilfe. Dieser unglückliche Moment an der Autowerkstatt, dieser überhastete und zugleich doch so zärtliche Abschied – es schmerzte ihn. Der Schmerz schnürte ihm das Herz in der Brust ab. Sie hatte sich Pralinen gewünscht. Und er wünschte sich die ihren. Eile war geboten, denn Bläser forderte mit Gewalt den Aufbruch aus diesem idyllischen Fleck. Gerade jetzt konnte er schon auf der Polizeistation stehen und seine Mär zum besten geben. Nun durfte kein Zaudern und Zögern mehr sein. Schwab zog ein Blatt Papier hervor und griff zur Feder. Liebe Selma, gedachte er zu schreiben, spürte jedoch, dass er den Brief an seine Liebste so plump nicht würde beginnen können, und suchte in Brentanos Werken nach einem Einstieg. Er fand ihn unter den Liebesgedichten an Sophie Mereau, war zwar nicht ganz glücklich damit, weil fast Verzweiflung aus den Versen sprach, doch musste er ja nicht jede Zeile nehmen. Selma würde weder Sophie Mereau noch Brentano ein Begriff sein, würde Auslassungen nicht bemerken. Mit schwungvollem Federstrich 103
schrieb Morris: Laß um des Lichtes Quelle Die trunkne Fliege schwirren, Laß, wird es ihr zu helle, Sie in die Flamme irren. Aus deines Herzens Raume Möcht’ ich nur einmal trinken, Und dann zum kühnsten Traume Im Götterrausche sinken. Das würde Selma schmeicheln, sie anrühren. Besonders die Passage mit dem »Herzens Räume« und dem daraus trinken gefiel Morris, erinnerte sie ihn doch sehr an das morgendliche Erlebnis, da Selma ihm Einblick in ihren Bademantel gewährt hatte. Morris sah sich schon mit gestreckter Zunge ihrem von Wassertropfen glitzernden Busen nähern. Die Hose spannte schon wieder. Wie weiter? Natürlich würde Selma nach diesen Zeilen wissen, wie sie mit ihm dran war, aber sein Brief konnte so noch nicht zu Ende sein. Was sollte er schreiben? Zuversicht, Hoffnung musste Selma aus seinen Sätzen lesen, das ganze Glück einer gemeinsamen Zukunft. Aber auch nicht mit der Türe ins Haus fallen, dachte er sich. Vielleicht würde sie sich erst mit dem Gedanken an eine Heirat anfreunden müssen. Sicher hatte sie auch Sorgen wegen des Kindes. Auf jeden Fall musste er, wenn er nicht verzweifeln wollte, demnächst mit ihr ins Bett gehen. Möglichst noch heute Nacht. Würden sie dann noch hier sein? Morris war zuversichtlich, dass er dies irgendwie schon würde einrichten können und sei es durch Vortäuschen einer schweren Erkrankung, die ihn transportunfähig machte. Der Walchensee konnte ihm gestohlen bleiben, Bläser samt Eltern auch. Ob er dem Freund einfach sagen sollte, was Sache war? Die ganze Geschichte mit Selma? Eigentlich müsste er seine Nöte und Begierden doch verstehen können. Bläser war trotz seiner 104
jungen neunzehn Jahre diesbezüglich ein alter Sack, hatte bestimmt schon fünf, sechs oder mehr Frauen auf die Matratze in seiner Bude oder auf den umlegbaren Beifahrersitz von Mutters Auto gebettet und ihnen die große Liebe vorgeheuchelt, nur um seine Triebe an ihnen befriedigen zu können. Nein, dem Mistkerl würde er das mit Selma niemals sagen. Was verstand Bläser schon von Liebe? Er würde ihn nur vor Jaco zum Gespött machen und seinen Schabernack mit ihm treiben. Morris griff wieder zum Füller und schrieb: O Selma! (Dieser dramatische Einstieg mit »O« würde ihr einerseits die Ernsthaftigkeit seines Begehrens deutlich machen, und andererseits konnte er damit auf diesen Allerweltseinstieg mit »Liebe Sowieso« verzichten.) Dieser Morgen hat mein Leben verändert. Als ich aus dem Haus ging, kaum dass die Sonne über den Bergen emporgezogen war, (dies würde ihre Seele zum Klingen bringen) waren meine Gedanken noch auf nichts anderes gerichtet als auf das Bemühen, diesen Ort schnellstmöglich wieder verlassen zu können. Die Begegnung mit Dir hat alles auf den Kopf gestellt, ja, ihn mir gleichsam verdreht. (Das klang flott und würde ihr schmeicheln.) Nun zieht mich nichts mehr fort von hier, nun bin ich, wie die Fliege ans Licht, magisch gebunden an Deine herrliche Erscheinung, die mir an diesem Morgen erschien. (Das doppelte »Erscheinen« missfiel ihm, doch kam ihm trotz krampfhaften Nachdenkens kein anderes Wort in den Sinn. Aber wie jetzt die Wende finden und sich für den Abend einladen? Wie war das mit dem Kind? Würden sie sich überhaupt zu Hause treffen können, oder mussten sie sich eine Alternative überlegen? Morris beschloss, eingedenk der Abschiedsszene vom Morgen und getreu dem Motto ›Angriff ist die beste Verteidigung‹ vorzugehen und hatte eine, wie er fand, tolle Idee.) Darf ich Dir den Abend versüßen und die Pralinen schon heute Nacht vorbeibringen? Ich lege meinem Brief eine Rose bei. 105
Wenn ja, so stell sie in Dein Küchenfenster. Die Sehnsucht schmerzt. Erhöre mein Flehen. Nur Dein, auf ewig … Moritz Es war vollbracht. Drei-, viermal flog Morris über den Text. Seine Wangen brannten. Dann nahm er das Blatt, zerknüllte es und warf es zu Boden. Tränen schossen ihm in die Augen. Nein, er würde es nie fertigbringen, Selma einen solchen Brief zu überreichen. Wenn sie seine Gefühle nicht teilte – es wäre sein Tod. Ein schriftliches Dokument von solcher Brisanz in Selmas Händen? Unmöglich! Natürlich würde Selma nicht damit hausieren gehen oder ihn der Lächerlichkeit Preis geben. Aber wer wusste, ob nicht Selmas Mutter regelmäßig in der Wohnung ihrer Tochter stöberte? Schwab bückte sich und hob das zerknüllte Papier auf. Es war auch nicht für die Freunde bestimmt. Mit dem Feuerzeug setzte er den ersten Liebesbrief seines Lebens in Brand. Er musste andere Mittel und Wege finden, um Selma zu sehen. Er würde sie heiraten, er würde aus ihrem Herzensgrund trinken, seine Hände würden mit der Herrlichkeit ihres Körpers spielen. Aber ein Brief war dafür nicht der richtige Schlüssel. Das Papier war im Aschenbecher zu einem hauchzarten, zerbrechlichen schwarzen Gebilde geschrumpft, das Morris nun mit klopfendem Zeigefinger in kleinste Bruchstücke zerschlug. Es war warm geworden im Zimmer. Zur innerlichen Glut gesellte sich die Mittagshitze. Schwab dampfte. Die Sonne stand hoch über Franken.
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KAPITEL 5 Geheimnisse und Mären OBWOHL IHM BEWUSST WAR, dass nicht die geringste Chance bestand, den Rosenkranz im Hof des ›Stern‹ wiederzufinden, schlug Werners den direkten Weg zum Gasthaus ein. Jaco nahm von seiner Umgebung nichts wahr, trottete ganz in sich versunken dahin. In seinem Schädel fand eine Südtiroler Bergkirchweih statt, wie er sie vor kurzem im Fernsehen bewundert hatte. Kräftige Männer richteten schwere, klobige Holzkegel am Ende einer Bahn auf, die sich an eine Almhütte anschmiegte. Die Kugel rollte über die Bretter, die Kegel fielen, es donnerte und klapperte in einem fort. Er seufzte. Nein, so hatte sich Werners die gemütlichen Ferientage mit Pietro und Morris nicht vorgestellt. Aber was hatte er überhaupt erwartet? Im Grunde genommen doch nicht mehr als eine Aneinanderreihung zünftiger Saufereien, die tagsüber von ausnüchternden Spaziergängen unterbrochen wurden, dazwischengestreut lukullische Genüsse. Welch närrische Vorstellung, wo doch Bläsers Eltern den Wachtturm am Walchensee besetzt hielten und jede Übertretung von Sitte und Moral sofort gerügt hätten. Werners war es inzwischen völlig egal, ob sie jemals an den Walchensee kämen oder nicht. Er war gesundheitlich derart angeschlagen, dass er – so nicht baldige Rettung eintraf – kollabieren würde. Trockener Silvanerschweiß presste sich durch die Haut auf Werners’ Stirn. Die hochstehende Sonne warf Schatten in den Hof des ›Stern‹, der jetzt rechter Hand aufgetaucht war. Jaco eilte den schwarzen, Kühle versprechenden Flecken zu. Ihm schwindelte. Aus seinen Innereien drängte möpselnde Traubenfrucht empor. Er hatte so gut wie nicht geschlafen, hatte die Gedärme voller 107
Kraut und Frankenwein und den Kopf voller Sorgen. An der Treppe aus Buntsandstein blieb er stehen, lehnte die Schulter gegen das windschiefe Geländer, das auch sogleich ein wenig nachgab. Er musste sich jetzt zusammenreißen. Werners versuchte trotzig, sich gegen das Begehren des Rosenkranzes aufzulehnen. Versuchte, allerdings halbherzig, sich einzureden, dass ihm das Mistding gestohlen bleiben könne, der tote Pfarrer obendrein und dass weder Leiche noch Perlenkranz ihn etwas angingen. Doch die Worte, die die Lippen lautlos formten, waren Lufthauch, mehr nicht. Er wusste das. Es gab kein Ausweichen, kein Davonschleichen. Werners’ müde Augen wanderten über den Hof. Suchend glitten seine Blicke über den Boden, doch der Rosenkranz war nicht da. Die Gewissheit erschreckte ihn nicht. Der Hof des ›Stern‹ war der falsche Platz. Eindeutig. Werners wusste nicht, warum dies so war, er spürte nur, dass es so war. Ein paar Atemzüge verharrte er ratlos. Für entfernte Beobachter schwebte er wie ein halber Mensch durch den Hof der Schenke – der Unterkörper in den pechschwarzen Schatten der Treppe versteckt, der Oberkörper in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Der Oberkörper schwankte ein wenig, dann verschwand der Körper komplett im Häuserschatten, um kurz darauf, quasi aus dem Nichts, in die sonnenumflutete Arena des Straßenraums zu treten. Ein Entschluss war gefasst. Oben in der Einsamkeit der Weinberge würden er und sein geschundener Leib für eine Weile Ruhe finden. Der geschotterte Weg am Ortsende stieg steil zwischen den Rebenzeilen an. Es war heiß geworden. Das unter seinen Füßen zerberstende leere Haus einer Weinbergschnecke ließ ihn zusammenfahren. Gänsehaut bei mindestens dreißig Grad. Er spürte, wie ihm kalter Schweiß über den Rücken rann. Während Jaco schnaufend bergan schritt und ihm mit jedem Schritt sein körperlichen Verfall bewusster wurde, da keimte plötzlich in ihm die Hoffnung auf, der weiße 108
Engel der Morgenröte, das liebliche Rosengeschöpf, würde ihn am Gipfel in Empfang nehmen und ihn, wie weiland den Herrn, gnädig himmelwärts entschweben lassen. Wie ein mit Helium gefüllter Ballon in die Lüfte zu steigen, die Erdenschwere und mit ihr alle Sorgen und Nöte hinter sich zu lassen – welch wunderbare Vorstellung! Als der Weg flacher wurde – Jaco hatte nun fast schon den Rücken des Berges erklommen –, musste er stehenbleiben. Pumpte heiße Luft in seine Lungen, entließ Krautmaische aus den Gedärmen. Seine Augen suchten ein schattiges Plätzchen, sein verschwitzter Leib sehnte sich nach Abkühlung. Er entdeckte, scharf gegen das Sonnenlicht abgegrenzt, die Krone eines großen Kastanienbaums, der über die Bergkuppe spähte. Der Pfad zur Linken führte offenbar geradewegs darauf zu. Es war ein mächtiger Baum mit einem Stamm, den er mit beiden Armen nicht hätte umfangen können. Eine Bank darunter. Dunkelgrünes Plastik. Werners eilte, ließ sich stöhnend darauffallen. Endlich Schatten! Sein Hemd war von Schweiß völlig verklebt, die Füße brannten in den Turnschuhen, die er seit zwei Tagen nicht mehr ausgezogen hatte. Er breitete die Arme aus. Links und rechts über die Lehne der Bank schob er seine Anker hinaus, der Kopf fiel in den Nacken, die Augen blinzelten durch das Blätterdach des Baumes. An den nassen Achseln wurde es schön frisch. Es dauerte keine fünf Minuten, und Werners war weggeschnarcht. Aus dem Bäckerladen hatte sich Kilian zwei Kipf mitgenommen, dazu einen Kissinger und eine dick mit Zuckerguss überzogene Schnecke. Aus der blauen Emailkanne goß er Wasser nach. Kaffeeduft zog durch die Küche. Vor dem späten Nachmittag würde Annemarie nicht zurückkommen. Sie hatte einiges zu besorgen, und so oft fuhren die Busse ja nicht. Für sich allein brauchte es kein Aufhebens. Kilian verzichtete deshalb darauf, etwas Warmes zu kochen. Schon beim Heimweg aus dem Pfarrhaus, wo er sich mit Spohr und den anderen wegen 109
der bevorstehenden Beerdigung Heusingers besprochen hatte, war sein Entschluss gefallen: Die Küche blieb heute kalt. Er würde es sich bei einer Tasse Kaffee zu Hause gemütlich machen, sich mit einem süßen Teilchen aus der Bäckerei verwöhnen. Das war sonst gar nicht seine Art, doch diesmal gelüstete ihn unbändig nach fett und süß. Seelenbalsam eben, das er angesichts der sich überschlagenden Ereignisse bitter nötig hatte. Kilian öffnete ein Glas Hausmacherwurst. Heute griff er zu den Kipf, nicht zum Schwarzbrot, schnitt einen auf und schmierte die untere Hälfte dick mit dem weißen Fett aus dem Glas ein. Dann drückte er eine große Portion der goldbraun glänzenden Sülze darüber. Abschließend belegte er den Weck mit zwei fast zentimeterdicken Scheiben Wurst. Herzhaft biss er zu. Das schmeckte. Dazu der stark gesüßte, von Milch ganz helle Kaffee. Wohlig schnurrte seine Seele. Die leckere Brotzeit und die damit verbundene Entspannung würden ihm helfen, die Gedanken zu ordnen. Was Heusingers Beerdigung anbelangte, die für den nächsten Nachmittag, drei Uhr, angesetzt war, hatte Kilian ein gutes Gefühl. Der Bischof kam nicht, das hatte Spohr mittlerweile erfahren, wohl aber dieser Domkapitular, mit dem Heusinger eng befreundet war. Vier andere Priester aus seinem Weihejahrgang und einer der Karmeliterbrüder aus dem Reurerkloster hatten sich angemeldet. Und natürlich der Dekan. Aber das alles war Spohrs Sache. Er, Kilian, würde die Kirche richten, alles aufs Beste schmücken, mit dem Leichengräber die Sache auf dem Friedhof arrangieren. Es würde alles ein wenig größer sein als sonst, aber kein wirkliches Problem. Das Offizielle zu organisieren war Spohrs Sache, nicht die seine. Der Zug durch das Dorf mit Fahnenabordnungen aller Vereine, die Bewirtung der hohen Gäste beim anschließenden Leichenschmaus, die Reden am offenen Grabe. Spohr schien – so hatte Kilian bei der morgendlichen Unterredung im Pfarrhaus 110
den Eindruck gehabt – voller Vorfreude auf das Großereignis. Tunlichst bedacht darauf, nur ja keinen Fehler zu machen, waren der gesamte Pfarrgemeinderat und die Kirchenverwaltung von Spohr mit in die Vorbereitung einbezogen worden. Was sollte da groß schiefgehen? Insgeheim – das hatte Kilian von Marliese aus dem Kindergottesdienstteam in einer kleinen Pause am Rande der Besprechung erfahren – hoffte Spohr, über den Domkapitular bereits die Fühler nach einem potenziellen Nachfolger Heusingers ausstrecken zu können. Sicher wurde der Posten des Pfarrers irgendwo ganz offiziell ausgeschrieben, doch Kilian wusste, dass an den Wünschen der Pfarrei vorbei bisher kaum eine Besetzung erfolgt war. Wer mochte wohl nachkommen? Und sollte er, Kilian, sich noch einmal darauf einlassen, einem neuen Herrn zu dienen, oder aber die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen und das Mesneramt in jüngere Hände legen? In Bruchstücken, dick wie Eierschalen, bröckelte der Zuckerguß vom Kissinger. Süßes Marmeladenaroma drängte an Kilians Gaumen. Ja, das hatte der Bäcker drauf. Seine Kissinger waren berühmt. Viele, die mit dem Auto durch den Ort kamen, machten eigens dafür Halt. Doch nicht lange schwebten seine Gedanken frei. Kilian schnaufte tief, als er an das morgendliche Erlebnis mit Annemarie denken musste. Die Kleine war ganz verängstigt gewesen. Die Stunden, die seitdem vergangen waren, hatten für etwas Abstand gesorgt. Man musste das hirngespinstige Zeug beiseite schieben und mit Vernunft die Sache überdenken. Was war tatsächlich geschehen? Sie hatte ihm Rosen für den Frühstückstisch im Garten pflücken wollen, als ihr plötzlich dieser »Bote« erschienen war. Angeblich aus dem Nichts, aber das konnte ja nicht sein. Tatsache war, dass es sich bei dem Jüngling nicht um einen Ortsansässigen handelte. Das Dorf war nicht so groß, als dass Annemarie die Einwohner nicht allesamt gekannt hätte. Das Mädchen war im Nachthemd gewesen. Trug sonst nichts. 111
Wieder wurde Kilian mit Schaudern bewusst, in welcher Gefahr sich das Kind befunden hatte: Was, wenn der andere ein Triebtäter gewesen und über Annemarie hergefallen wäre? Nicht auszudenken! Das Kind, in solch einer Situation zweifellos ganz erschrocken und verstört, wäre vermutlich gar nicht in der Lage gewesen, um Hilfe zu rufen. Kilian sandte ein Stoßgebet des Dankes an die Himmlische Mutter und bekreuzigte sich. Ein junger Mann. Offenbar ein anständiger Kerl. Ohne böse Absichten. Fremd. Was hatte ihn hierhergeführt? Was, wenn er tatsächlich nur die Aufgabe hatte, eine Botschaft zu überbringen? Eine Nachricht, die nicht Annemarie galt, weil diese die Worte überhaupt nicht zu deuten verstand, sondern ihm? Ungeachtet des genauen Wortlauts, den Annemarie vielleicht gar nicht richtig wiedergegeben hatte, enthielt die Nachricht zwei wichtige Aussagen. Es ging um den Weg ins Jenseits und um ein »Ding«, ohne das der Weg dorthin gar nicht oder nur unter erschwerten Umständen möglich wäre. Ans Sterben gedacht hatte Kilian schon oft, aber nie so konkret, dass er das Gefühl gehabt hätte, dass morgen schon der Letzte sein könnte. Aber wer wusste das schon? Auch der Heusinger, so seltsam er die letzten Monate auch gewesen sein mochte, hatte den Lastzug nicht auf seiner Rechnung gehabt. Ob der Pfarrer seine letzten Dinge gerichtet hatte? Sicher besser als er, Kilian. Denn schwer lastete eine Schuld auf ihm. Eine Schuld, die sein Geheimnis war, eines, das er bisher nicht einmal gewagt hatte, seinem Beichtvater anzuvertrauen. Schon gar nicht seiner Maria, die ihm den Weg alles Irdischen vor elf Jahren vorausgegangen war. Kilian erhob sich und schritt zur Schlafstube. Sie lag hinter einer weiß lackierten Türe mit kleinem Oberlicht, das von einer gelblich-weißen Gardine geziert wurde. Die Kammer war klein, aber hell. Zwei Schritte über den knarrenden Holzdielenboden, und der Mesner stand vor einem Schrank, der die ganze Wandbreite des Zimmers einnahm. So weiß die Türe zur 112
Kammer war, so schwarz war dieses dreigliedrige Möbelstück. Ein edles Exemplar. Jahrhundertwende. Kilian hatte es von den Eltern geerbt. Ein großer Spiegel auf der mittleren Türe, in länglichem Oval geschwungen, von einer hervortretenden Holzleiste gehalten. Die beiden Türen rechts und links davon leicht gewellt. Das Schönste an diesem Schrank jedoch – so hatte es der alte Mann seit frühester Kindheit empfunden – waren die beiden rubinroten Zierbommeln an den beiden Schrankschlüsseln. Unter einem dicken Knoten liefen sie in vielleicht zwanzig Schnüre aus, die durch die eingewirkten dünnen Goldfäden leicht glänzten. Die Bommeln konnte man sich mit unbeschreiblicher, kitzelnder Zärtlichkeit über die Handfläche ziehen. Von klein auf liebte er dieses Gefühl. Kilian öffnete die linke Türe und ging auf die Knie. Was er suchte, befand sich im untersten Fach, in der hintersten Ecke. Das kleine Holzkästchen, das er zu Marias Lebzeiten auf dem Dachboden versteckt gehalten hatte, ruhte seit dem Tod seiner Ehefrau an diesem geheimen Platz unter Bettlaken. Annemarie würde nie auf die Idee kommen, hier herumzustöbern. Das Zimmer betrat sie selten, denn Kilian richtete sein Bett selbst und hielt so gut Ordnung, wie Annemarie es nicht besser machen könnte. Zuoberst im Kästchen lag sein alter Wehrpass. Kilian hatte sich nicht durchringen können, das vergammelte Ding wegzuwerfen, obwohl es ihm eigentlich gar nicht viel bedeutete. Vielleicht aber stellte es auch die Klammer dar, die die im Kästchen darunter liegenden Sachen festhielt, zu Boden drückte, als könnte die Gefahr bestehen, sie überwänden die Schwerkraft und flögen davon. Es waren kleine, teils schmutzige Zettel mit einer schönen, schwungvollen Frauenhandschrift. Marlene! Kilian stiegen unwillkürlich Tränen in die Augen. Ihm wurde weh ums Herz. »Ach, Marlene!« Leise, fast unhörbar hauchte er diesen Namen, wobei er ihn »Marian« aussprach. Er hatte die 113
kleine hübsche Französin während der Besatzungszeit kennenund lieben gelernt. Heimlich hatten sie sich treffen müssen – er, der junge Kradmelder, und die dunkelhaarige Siebzehnjährige. Marlenes Eltern hätten das Mädchen erschlagen, wenn etwas herausgekommen wäre. Ihr Kind mit einem Deutschen, einem boche! Das wäre das Todesurteil gewesen. Zum vielleicht tausendsten Mal zog Kilian die schwarze Haarlocke aus dem vergilbten Briefumschlag. Ne m’oublie pas, hatte sie ihn gebeten, als sie ihm die Locke zum Abschied in die Hand drückte. Vergiss mich nicht! Sie hatte geweint. Über ihre zarten Wangen waren ihre Tränen in seine rauhen Soldatenhände geronnen. Nein, Tod und Teufel hatte er geschworen, dass er sie nie vergessen würde. Dass er nach Kriegsende bei der erstbesten Gelegenheit zurückkäme, dass sie beide heiraten würden. Marlene war so traumhaft schön. Kilian nahm die kleinen zerknitterten Zettel zur Hand. Meist nur zwei, drei Worte standen darauf. Selten ein ganzer Satz. Saule 11 – um elf am Weidenbaum. Signiert mit einem Herz. Keine Namen. Keine großen Erklärungen. Das wäre zu gefährlich gewesen. Zettelchen, die sie sich heimlich zugesteckt hatten. Draußen im Hühnerhof, wenn er Eier geholt hatte, oder vor dem Stall, wohin er zum Milchbesorgen kam. Er weinte. Wie oft hatte er schon wegen ihr, wegen Marlene, geweint. Heimlich. Aber es war Krieg. Die Invasion scherte sich nicht um ihre Liebe, hatte ihn nach dem Abmarsch aus dem Dorf nicht mehr zu Atem kommen lassen, bis er sich schließlich in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager am Rhein wiederfand. Die Ruhr hätte ihn fast das Leben gekostet. Er war nur noch ein Haufen Elend, als er zu Hause ankam. Natürlich mit Marlene im Kopf, wie jeden Tag seit ihrem Abschied, als er ihr zum Andenken und zum Zeichen, dass er wiederkommen würde, das Halskettchen mit dem silbernen Kruzifix geschenkt hatte. Die Mutter hatte es ihm als Amulett um den Hals gelegt, als er in den Krieg gezogen war. Es war ihr eigenes gewesen, 114
und doch hatte er keinen Moment gezögert, es Marlene zu schenken. Es war Liebe, nichts Geringeres. Die Mutter hatte nach dem Krieg nur kurz gestutzt, dann gelächelt, als er sie mit der Ausrede angelogen hatte, es sei ihm im Gefecht wohl abgerissen und verlorengegangen. »Des mecht nix«, hatte sie gemeint, »es hoat dich ja gsund widder hämgebroacht.« Und damit habe es seinen Zweck erfüllt. Seit diesem Morgen allerdings, seit Annemaries Begegnung mit dem unbekannten jungen Mann, lag ihm das Kettchen wieder bleischwer um den Hals, zog ihn zu Boden. »Findest deinen Weg ins Jenseits auch ohne das Mistding?« hatte der Kerl gefragt und dabei, wie Annemarie beteuert hatte, die Botschaft in Richtung Mesnerhaus gesprochen. Er habe sie dabei ganz sicher nicht sehen können, hatte die Tochter betont. Kilian hatte keine Zweifel mehr: Der Bursche hatte ihn gemeint. Das »Mistding« konnte nur das Halskettchen sein, das er Marlene damals gegeben hatte. Und der abfällige Ausdruck machte für ihn, Kilian, auch klar, dass da wohl keine Engelszunge gesprochen hatte, sondern ein Bote von der anderen Seite. Es schauderte ihn ein wenig, als er an den Sensenmann dachte. Aber er hatte keine Angst vor dem Tod. Seit Maria nach schwerer Krankheit gegangen war, hatte er sich oft damit auseinandergesetzt, war nach vielen Zweifeln immer zuversichtlicher geworden und hatte schließlich die Gewissheit erlangt, dass es da noch etwas gab, hinterher, und dass es schön sein musste – zumindest für jene, die frei von Schuld dorthin gelangten. Das aber war sein Unglück. Er war nicht unbeladen, ganz im Gegenteil. Er musste sich von seiner Lebenslüge befreien, von dieser schweren Schuld, die er auf sich geladen hatte. »Du kriegst es zurück«, hatte der Bote gesagt. Doch bedeutete dies, dass er – auf welche Weise auch immer – wieder an das Kettchen gelangen sollte, oder war dieser Satz mehr in dem Sinne zu verstehen, dass man es ihm heimzahlen werde, mit 115
Zins und Zinseszins? Kilian räumte das Kästchen wieder sorgfältig in den geheimen Stauraum und ging in die Küche zurück. Während er sich noch eine Tasse Kaffee eingoss, dachte er an Marlene. Unten am Bach mit dem Weidenbaum, im dichten, hohen Gras hinter einem Gestrüpp hatten sie sich geliebt, und es war für beide das erste Mal gewesen. Es sollte nicht das einzige Mal sein. Ihr Haar war so schwarz wie der dampfende Kaffee in seiner Tasse. Er hatte sich zunächst nicht zurückgetraut nach Frankreich nach dem Krieg. Es war unmöglich. Nie hätten ihre Eltern die Beziehung geduldet. Als ehemaliger deutscher Besatzungssoldat um die Hand einer Französin anhalten, sie auch noch in das zerstörte Land mitnehmen wollen? Und sie? Wäre Marlene mit ihm nach Deutschland gegangen? Die Sehnsucht nach ihr war groß gewesen, doch die Zeit dafür noch nicht reif. So dachte er jedenfalls. Erst musste er sich eine Basis schaffen, eine gesicherte Existenz, etwas, was auch ihre Eltern anerkennen würden, dann wollte er sie holen. Doch dann kam Maria. Das Mädchen aus dem Dorf. Hübsch, aber nichts Besonderes. Sie hatte ihn immer geliebt, behauptete sie später, schon von klein auf. Habe nur Augen für ihn, den großen, starken Burschen gehabt. Nur so war zu erklären, weshalb sich dieses anständige Mädchen ihm, dem besoffenen Kerl, damals bei der Kirchweih in der Scheune am Dreschplatz hingegeben hatte. Er selbst konnte sich kaum mehr daran erinnern, so blau war er gewesen. Die Folge der (Liebes-)Trunkenheit war Annegrete gewesen, Annemaries deutlich ältere Schwester, die nun in Freiburg verheiratet war. Er und Maria hatten heiraten müssen. Es gab keine andere Möglichkeit. Und es musste schnell geschehen, um das Gerede möglichst gering zu halten. Aber Kilian galt als solider Kerl und Maria als brave Frau, und so hatte es nie großen Tratsch gegeben, nie Zweifel an seiner Redlichkeit. Marlene hatte er natürlich nicht vergessen. Aber die Zeitabstände, da er sehnsüchtig an sie dachte, wurden immer 116
größer. Die Kinder wuchsen heran; er musste schauen, dass es daheim reichte, dass ein wenig Wohlstand in das kleine Häuschen einkehrte. Kilian tröstete sich in späteren Jahren mit dem Gedanken, dass auch Marlene inzwischen sicher geheiratet hatte und eigene Kinder heranwachsen sah. Nein, vergessen konnte er sie nie, aber der Schmerz und das schlechte Gewissen schwanden von Jahr zu Jahr. Nun aber schien die Zeit gekommen, dieses Kapitel seines Lebens noch einmal aufzuschlagen und zu Ende zu bringen. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich seiner Antwort: Ja, er würde nicht aus dem Leben scheiden wollen, ohne etwas über das Schicksal Marlenes erfahren zu haben. Er würde das »Mistding« – und der Ausdruck verletzte ihn tief in der Seele – zurückerbitten, und er war zuversichtlich, dass er es zurückbekommen würde, denn nur so wollte er den zweiten Satz des Boten verstehen. Sicher hatte auch Marlene geheiratet und Kinder bekommen. Und auch wenn sie ihn nicht verstehen und das ihr widerfahrene Unrecht vielleicht nie vergessen würde, so dachte sich Kilian doch, dass die Zeit viele Wunden heilt und möglicherweise bei Marlene auch die der unerfüllten Liebe. Gleich nach Heusingers Beerdigung, wenn ihm wieder etwas mehr Zeit bliebe, wollte er sich darum kümmern und versuchen, Marlenes Spur aufzunehmen. Er nahm einen letzten Schluck Kaffee. Die Entscheidung hatte ihm gut getan. Er fühlte sich gleich viel besser. Er würde seine Dinge in Ordnung bringen. Nur eine kleine Notlüge würde es irgendwann noch brauchen. Seine Töchter sollten nie etwas von Marlene erfahren. Die kleinen Zettel und die Haarlocke würde er mit nach Frankreich nehmen und sie der einstigen Geliebten zurückgeben oder – und er erschrak bei dem Gedanken – sie verbrennen, falls Marlene nicht mehr leben würde. Und eine Fahrt zu den Soldatenfriedhöfen in Nordfrankreich, über die er früher gelegentlich schon mit Maria auch im Beisein der Kinder gesprochen hatte, die er dann aber doch nie unternahm, gäbe 117
einen schönen Rahmen für seine Reise und eine unverfängliche Ausrede für Annemarie und Annegrete ab. Kinderstimmen. Er musste eingeschlafen sein. Bleischwer lag Werners ausgestreckt auf der Bank unter dem Kastanienbaum. Unfähig, sich zu regen. Wie Finger in einem klebrigem Kuchenteig hingen seine Gedanken noch in Träumen fest. Er hatte in seinem Traum im Boden gewühlt. Weshalb, wusste er nicht mehr. Aber er hatte noch dieses Gefühl von schwerer, feuchter Erde auf seinen Handflächen, den Geruch von Regenwürmern in der Nase. Doch mehr als dieses Fühlen, als dieses Bild vom Wühlen hatte ihn nicht mit in die Wachwelt begleitet. Was sein Traum nur zu bedeuten hatte? Jaco war noch viel zu müde und erschlagen, um seine Lider gleich zu öffnen. Erst einmal zu Bewusstsein kommen. Wie lange er wohl geschlafen hatte? Die Kinder kicherten. Es mochten zwei, vielleicht drei sein. Mädchenstimmen wahrscheinlich. Nein, er ließ die Augen zu. Werners konnte nicht verhindern, dass sich seine gärenden Gedärme mit einem lauten Geräusch entlüfteten. Ein Mädchen lachte schallend, dann riefen sich die Gören prustend etwas zu. Ganz wenig, für die Umstehenden nicht bemerkbar, öffnete der vermeintliche Schläfer nun seine Lider. Es war noch immer gleißend hell, vermutlich Nachmittag, so gegen zwei oder drei Uhr, dachte er. Nachdem sich Werners’ Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er eine vielleicht zehn Jahre alte Dunkelhaarige mit Pferdeschwanz nicht weit vor sich stehen. Ein langbeiniges, dürres Gestell in abgerutschter blauer Stoffhose und grünem T-Shirt. Sie musste die Chefin der Gruppe sein, denn sie plapperte gerade wieder drauflos, und wenn sie sprach, herrschte ansonsten Schweigen. Erst wenn die Chefin ausgeredet hatte, gaben die anderen Antwort. Die beiden – Werners war sich aufgrund der Stimmen jetzt sicher, dass es noch zwei andere waren – konnte er nicht sehen. Die standen am Ende der Bank, wo seine Füße ruhten. 118
Die Kinder waren gerade dabei zu diskutieren, ob er ein besoffenes Schwein sei, und kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass dem so nicht sein könne, weil um die Bank herum keine leeren Flaschen lägen und das Weinfest auch erst am übernächsten Wochenende stattfände. »Vielleicht isser kroank?« fragte nun ein Mädchen außerhalb von Werners Blickfeld. Nein, meinte die Chefin, denn es sei ja »nix vollgekotzt«. Schlaue Biester, dachte Werners. Er überlegte, ob er die Augen ganz öffnen sollte, ließ es aber, weil die Kinder schon das Interesse an ihm verlieren würden, wenn er einfach weiter so tat, als ob er schliefe. Allem Anschein nach waren die Gören allein unterwegs, sonst hätte man schon längst Erwachsene gehört. Werners schloss die Augen wieder, denn er hatte genug gesehen und wollte nicht, dass das Mädchen, das sich direkt vor ihm aufgebaut hatte, am Ende doch noch sein Blinzeln bemerkte. Eine kleine Weile war es ruhig. Dann marschierte eines der Kinder, der Stimme nach ein Junge – es war also auch ein Junge dabei –, einmal um die Bank herum, um ihn gründlicher zu inspizieren. »Schnaufen tut er noch«, stellte der Bub nach dem Rundgang fest. Er stand nun direkt vor seinem Kopf, und Werners glaubte, eine Lederhose riechen zu können. Ein Geruch, den man nie vergisst. Gleich zwei Lederhosen hatte ihm die Mutter in seiner Kindheit verpasst, und er hatte sie im Laufe zweier Sommer ordentlich abgewetzt und die nackten Knie unterhalb des Saumes gründlich aufgeschlagen. »Den kenn ich«, behauptete nun der Bub, und Werners war sich sicher, dass der Junge unmittelbar vor ihm stand, weil ihm während dessen Worte ein feiner Nieselregen aufs Gesicht niederging. Er musste sich beherrschen, um nicht aufzuspringen, weil es ihn ein wenig ekelte. Zugleich aber spürte er, wie 119
festgenagelt sein Körper auf dieser Bank lag und dass seine Energien nicht ausreichten, um mehr als die Lider zu bewegen. »Die wohne beim Echon drüwe.« Wieder regnete es fein. Komische Kerle seien das, nämlich drei, erklärte der Kleine seinen Freundinnen. Die Mutter habe gestern beim Abendbrot zum Vater gesagt, da stimme bestimmt etwas nicht mit den drei Typen, die beim Egon Quartier bezogen hätten. »Haschbrüder« habe die Mutter gesagt. »Wisst ihr, was des is?« wollte der Junge von den Freundinnen wissen. Werners musste sich ein Lachen verkneifen, als eines der Mädchen – es war nicht die Chefin – fragend meinte: »So was wie Pfarrer?« »Quatsch!« Die Chefin ergriff energisch das Wort. »Des sin Gangster«, stellte sie in einem Ton fest, der keinen Zweifel erlaubte. Die Mutter habe – jetzt war die Reihe wieder an dem Jungen – gemeint, dass die bestimmt ein krummes Ding mit dem Kurt, dem Mann von der Werkstatt, drehten, denn dort habe man sie schon öfters gesehen. Und die Mutter habe auch gewusst, dass der Kurt »was am Stecken« hat. Aber der Papa hätte gemeint, das sei alles bloß Gerede und dass sie vor uns – hier waren wohl die Kinder der Familie gemeint, wie Werners enträtselte – nicht mehr weiter über das Thema reden sollten. An den Geräuschen, dem Vibrieren des Bodens und dem Luftzug bemerkte Werners, dass die Chefin jetzt auf und ab hüpfte. »Ich wäss was«, kicherte sie und rannte ein Stück weit davon, die anderen beiden hinterher. Na also, das geduldige Warten hatte sich gelohnt. Die Bande zog ab. Jaco hörte ihr Lachen und Johlen leiser werden. Er war einerseits enttäuscht, dass er nun nicht mehr darüber erfahren sollte, was so im Dorf über sie geredet wurde, andererseits aber auch froh, die drei Neugierigen loszuwerden, denn es war sicher an der Zeit, sich auf den Rückweg zum Haus zu machen. 120
Inzwischen müsste ja feststehen, was Pietro in der Stadt erreicht hatte und wie es weitergehen würde. Noch aber zögerte er, sich aufzurichten. Die Kinder waren dem Rascheln nach noch nicht allzu weit entfernt. Jetzt kamen sie sogar wieder näher an ihn heran, wobei sie beständig kicherten und sich Worte zuflüsterten, die er nicht verstehen konnte. Werners überlegte, ob sie wohl etwas gegen ihn im Schilde führten, und öffnete die Lider wieder leicht, um gewappnet zu sein. Er konnte aber niemanden sehen, weil die drei hinter der Bank in seinem Rücken standen. Erleichtert bemerkte er, wie es an seinem Bein, dort, wo die nackte Haut zwischen Jeans und Strümpfen herausschaute, leise kitzelte. Albernes Kinderspiel. Jaco stellte sich vor, wie die beiden Mädchen und der Junge mit langen Grashalmen über seine nackte Haut strichen und überlegte, wann er anfangen sollte, sich zu räuspern und so zu tun, als ob er aufwache. Das hatte noch etwas Zeit. Das Kitzeln gefiel ihm. Er spürte, wie eine Gänsehaut über seinen Rücken lief. Am liebsten hätte er katzenartig geschnurrt, so wohl war ihm. Was ihn allerdings irritierte, war, dass die Chefin plötzlich mit juchzender Summe »Los, weg!« schrie. Mit lautem Poltern trampelten die Kinder davon, jubelnd vor Freude. Auf Lärmvermeidung kam es ihnen jetzt offenbar nicht mehr an. Verwundert stellte Werners fest, dass ihn das Gras immer noch kitzelte, obwohl die Gören doch längst das Weite gesucht hatten. Gerade als er seine schläfrigen Gedanken zu beschleunigen versuchte, da biss das Gras nach ihm. Dann kitzelte es auch schon oben am Knie und biss noch einmal und war jetzt am ganzen Bein. Werners fuhr hoch, riss die Augen auf und schlug mit der flachen Hand nach dem vermeintlichen Gras, das sich als goldfarbene Schar von winzigen Ameisen entpuppte. Die kleinen Mistdinger setzten jetzt, da er sich ihrer zu erwehren versuchte, zum Angriff an. Mit kleinen giftigen Nadeln stachen sie ihm ins Bein – ja, mehr noch, die Vorhut war gar schon 121
dabei, in seine Unterhose vorzudringen. Jaco hatte keine Zeit, große Gedanken an das freudige Gejohle zu verschwenden, das nun zwischen den nahen Zeilen der Weinstöcke zu hören war. Die Anführer der Goldenen waren inzwischen an seinem besten Stück angelangt, und »Scheiße! Scheiße!« fluchend, blieb Jakob Werners nichts anderes übrig, als das Beinkleid samt Unterhose herunterzustreifen. Freudiges Juchzen aus den Weinbergen begleitete seine Verzweiflungstat. Die Biester entpuppten sich als ausgesprochen zäh. Werners brauchte mehrere Minuten, bis er die quirligen Tiere von Unterund Oberschenkel abgestreift und die beiden Frechsten aus den Haaren gezupft hatte. Da nichts anderes half, mussten schließlich auch Schuhe und Strümpfe ausgezogen werden, um das Viehzeug loszuwerden. Wild schüttelte Werners die Jeans aus und stülpte vorsichtshalber das Innere nach außen, um auch die letzten dieser Quälgeister zu erwischen. Energisch schleuderte er danach die Unterhose herum, dabei völlig vergessend, welchen Anblick er den kleinen Mädchen bot, untenherum so ganz entblößt. Als er endlich wieder alles bedeckt und auch Strümpfe und Schuhe wieder angezogen hatte, er also soweit war, nach den kleinen Verbrechern Ausschau zu halten und Rache zu üben, da waren die Gören verschwunden. Jaco ließ sich auf die Bank fallen, weil ihm durch die plötzliche Hektik ganz schlecht geworden war. Vor seinen Augen flimmerte es. Er verzichtete darauf, den kleinen Kröten irgendwelche Schimpfworte hinterherzurufen. Die waren längst über alle Berge. Vielleicht würde er sie ja erwischen, wenn er zurück ins Dorf ging, dachte er. Es drängte ihn in die Wohnung. Das wilde Drunter und Drüber hatte seine Verdauung in Gang gebracht, und es war höchste Zeit, eine Toilette aufzusuchen. Hier im Weinberg wollte er sein Geschäft nicht verrichten nach den Erfahrungen mit dem Ungeziefer. Außerdem hatte er kein Papier dabei. Und ohne? Igitt! Und weil ihm auch ein Kaffee jetzt sicher gut täte, marschierte Jaco voran, bei jedem dritten, 122
vierten Schritt ein kurzes Darmgeräusch als Marschmusik von sich gebend. Den Ärger mit den Kindern und den Ameisen hatte er verdrängt, weil ihm beim Abstieg aus dem Weinberg das Dörfchen so lieblich zu Füßen lag. Schon ging es ihm ein wenig besser. Ein Lüftchen kühlte seine heiße Stirn. Während er den Schotterweg hinabstolperte, schlug die Kirchturmuhr. Erst vier helle, dann ein dunkler, schwerer Schlag. Der Glockenschlag rief ihm Schlimmes in Erinnerung. Fast hatte er schon seinen Diebstahl am toten Pfarrer vergessen gehabt. Doch das Läuten mahnte ihn. Zweiter Stundenschlag. In dieser Kirche dort drunten, so dachte er, würde bald die Totenmesse für den Pfarrer gelesen. Dritter Stundenschlag. Ohne Rosenkranz in den gefalteten Händen wartete der Tote im offenen Sarg darauf, dass ihm das silberne Kettchen gebracht würde. Vierter Stundenschlag. Wo konnte es nur sein? Bei jedem Glockenschlag wurden Werners die Beine schwerer und schwerer, und als er die Teerstraße am Ortsrand erreicht hatte, da stampften die Füße so fest auf den Asphalt, dass Jaco einem Dressurpferd Ehre gemacht hätte. Der Schatten des Lindenbaums war eine nachtschwarze Wolke, an der Werners vorbeitrottete, ohne ihr Beachtung zu schenken. Es drängte ihn heim. Hier irgendwo musste doch das Rosengärtchen sein und auch der Lattenzaun! Er überlegte für einen Moment, danach Ausschau zu halten, doch Kummer und Darmgischte trieben ihn voran. Andere Geschäfte waren jetzt vorrangig. »He, holla!« Eine Stimme warf ihm einen Wurfanker ins Kreuz und brachte seinen Gang leicht aus dem Rhythmus. Einen Moment zauderte Jaco, ohne dabei seinen Schritt zu verlangsamen. Dann marschierte er weiter in der Gewissheit, als Ortsfremder wohl nicht gemeint zu sein. Wer sollte schon etwas von ihm wollen? »Ja, hörst nix? Meister Jakob, jetzt wart halt emol!« 123
Werners Beine stampften noch zwei, drei Meter weiter. Dann blieb er stehen, unsicher, ob er sich umwenden sollte. Die Stimme kannte ihn, kannte seinen Namen. Wer aber mochte das sein? Er wandte den Kopf. Werners’ ans helle Sonnenlicht gewöhnten Augen brauchten eine Weile, bis sie im Schatten des mächtigen Baumes zwei Gestalten, auf eine Holzbank hingelümmelt, ausmachen konnten. Vorsichtig trat er näher, und kaum, dass er in das Schattenbad eingetaucht, war, identifizierte er den Apostel als den Rufer und den Baatsch, der wie ein mächtiger Schoßhund daneben ruhte. Werners musste an schläfrige Löwen denken, die unter schattigen Savannenbäumen ihre Antilope verdauten. Gemütlich, aber nicht ungefährlich. »Wu mechste denn rüm?« Der Apostel musterte Werners von schräg unten und verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. Auch der Baatsch grunzte, gelassene Neugierde signalisierend. Irgendwie hatte Werners das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Er habe einen kleinen Spaziergang in die Weinberge gemacht und sich die Gegend angeschaut und sei nun auf dem Heimweg, fasste er das Wesentliche zusammen, ohne das Wichtige zu verraten. Die beiden Alten nickten sich gegenseitig an, bevor es eine Antwort gab. »Bei uns is schö, gell?« Ein verliebtes Seufzen begleitete diese Worte. So eine schöne Landschaft, das finde man nicht überall in Deutschland, versicherte ihm der Apostel, das sei einfach traumhaft, diese Kombination sanfter Hügeligkeit mit hingeschmiegten Orten und dem vielen Grün. Wieder setzte ein »gell«, das zwar wie eine Frage klang, in Wirklichkeit aber ein Amen bedeutete, den Schlusspunkt. Sonderlich zum Plaudern aufgelegt war Werners eigentlich nicht. Ihn drängte es in die Wohnung, genauer gesagt, auf die Klobrille, wo er sich endlich Erleichterung verschaffen musste. Doch nun stand er da, die Saufkumpane des Abends vor sich hingebettet, freundliche Menschen, die man nicht einfach vor den Kopf stoßen durfte. Um nicht unhöflich zu erscheinen, 124
nickte er lächelnd und versuchte, mit einem bestätigenden »hmmm« die Diskussion zu beenden. Jetzt fehlte nur noch das »Tschüss«, das er schon auf den Lippen hatte. Doch Jaco hatte die Rechnung ohne den Apostel gemacht. »Komm, setz dich e weng her«, lud der Alte den jungen Mann auf die Bank ein und rückte sogleich ein wenig zur Seite. Da auch der hingeworfene Baatsch sich einsammelte und ans Ende der Bank schob – eine angesichts seiner Masse und Behäbigkeit nicht zu unterschätzende Geste der Gastfreundschaft –, musste Werners zwangsläufig nachgeben. Unglücklich nahm er neben dem Apostel Platz. »Ich hab aber nicht so lang Zeit«, räumte er gleich ein, um die Gastgeber auf seine baldige Flucht vorzubereiten. Ein Fehler. Natürlich forderte der Apostel, dem die Freude über einen im Gegensatz zum wortkargen Baatsch interessanten Gesprächspartner ins Gesicht geschrieben war, sogleich Auskunft. »Ja, was drängt denn?« Ob etwa das Auto wieder da sei, und ob es mit Selma geklappt habe, beziehungsweise ob gar der Kurt wieder aufgetaucht sei und lauter solche Fragen. Sie prasselten nur so nieder auf Werners. Was half’s? Er gab bereitwillig Auskunft über den Stand der Dinge, soweit sie sich ihm überhaupt erschlossen, und soweit er es für angebracht hielt. Jaco merkte, wie die beiden Alten jedes Wort von ihm aufsogen wie ausgetrocknete Schwämme, über denen sich eine Regenwolke erbarmt hatte. Das konnte nicht lange gut gehen. Er würde die Sache auf den Kopf stellen müssen, beschloss Werners. Nicht die Alten fragen lassen, auf dass diese ihm seine letzten Lebensenergien aussaugten, sondern selbst die Initiative ergreifen. Er musste die Alten zum Reden bringen. Vielleicht würden diese ihn dann genervt ziehen lassen. Ob denn der Beerdigungstermin vom Ortspfarrer schon feststehe? Werners fiel wirklich nichts anderes ein. Aber das 125
Thema schien ihm auch nicht schlecht, denn es musste hier im Dorf doch heiß diskutiert werden. Die Reaktion seiner Gesprächspartner, die ihn völlig befremdet anschauten, machte deutlich, dass diese alles, aber nicht dieses Thema erwartet hatten. Der Apostel musste sich vor lauter Verwunderung erst einmal räuspern, bevor er zu einer Antwort fähig war. »Morche halt«, sagte er dann knapp und musterte Jaco mit fragender Miene. Auch der Baatsch glotzte ziemlich irritiert zwischen dem Apostel und Werners hin und her. Nun herrschte Schweigen. Seltsam, wie kühl es im Schatten des Baumes doch war. Das kleine Brünnlein auf der – anderen Seite des mächtigen Stammes plätscherte. Der im Trog auftreffende Wasserstrahl war der einzige, der in diesem Moment etwas zu sagen hatte. Ein mit lautem Knattern aus seinen Gedärmen abgehender Wind rettete die Situation. Werners brachte nur ein peinlichberührtes »Oh« hervor und bekam ganz rote Backen, doch der Apostel, wie erlöst aus der Bleischwere der Sprachlosigkeit, lachte schallend, und der Baatsch, der noch einen Augenblick länger gezögert hatte, fiel schmatzend mit ein. »Ja, Broatwürscht mit Kraut und Frankewei, des bringt den Darm in Bewechung«, stellte der Apostel fest. Das klang nicht spöttisch, nicht sarkastisch, sondern war von Stolz getragen, geradeso, als ob sich ein Apotheker über die gute Wirkung einer von ihm erstellten Mixtur freute. Dabei grinste er von einem Ohr zum anderen. »Sabberlodd!« kommentierte der sonst so schweigsame Baatsch schnüffelnd voller Respekt. Eine kräftig schwefelige Duftwolke stand über der Bank. Werners blickte beschämt zu Boden, während der Apostel mit der rechten Hand ein wenig wedelte, um den schlimmsten Dampf zu vertreiben. Verdauung sei das Wichtigste überhaupt, setzte jetzt der 126
Apostel zu einem längeren Exkurs über sinnvolle Speisefolgen an. Besonders Blumenkohl und Bohnengemüse seien die reinsten Arzneien, schwärmte der Alte. Beides reinige aufs Vortrefflichste. Während sich zum Blumenkohlgemüse ein falscher Hase, ein leckerer Hackbraten mit Kartoffeln, empfehle, sei beim Bohnengemüse eher Rindfleisch angesagt. Auch Schwarzwurzeln seien nicht zu verachten, meinte der Gourmet und fragte, ob er, Werners, überhaupt Schwarzwurzel kenne. »Was ganz was Feins«, fand der Apostel. Werners nickte und schaute den Küchenmeister aus traurigen Augen an. In seinen Gedärmen begann ein schreckliches Reißen und Machen. Das Thema war nicht dazu angetan, ihm Linderung zu verschaffen. Er musste weg hier. Irgendwie. Aber rasch. Der Apostel geduldete sich, bis sich das noch immer in der Luft hängende Aroma verflüchtigt hatte. Als Werners sie fast vergessen hatte, kam der Apostel urplötzlich auf dessen Frage zurück. »Werüm interessiert’n dich des üwerhaupt, dem Pfarrer sei Beerdichung?« Eine gefährliche Frage, die giftig auf eine Antwort lauerte. Doch der junge Mann hatte, obwohl erst wenige Stunden in diesem Landstrich, von den Einheimischen bereits gelernt. »Halt«, meinte Werners bloß. Mehr nicht. Ein anerkennendes Nicken des Baatsch zeigte, dass Ausreichendes gesagt war. Die Mundwinkel des Apostel zuckten ein wenig. Der junge Kerl schien schlauer, als er gedacht hatte. Ja, der Tod habe viele Gesichter, philosophierte der Apostel in die entstandene Leere. Und der Baatsch, sich scheinbar seiner Kirchgänge auf sonntags erinnernd, ergänzte in einem Anflug von Redseligkeit: »Du kennst nicht Tag noch Stunde, wann der Herr dich ruft.« Der Apostel wie Werners glotzten gleichermaßen überrascht. Das war nicht nur verdammt hochdeutsch gewesen, sondern für 127
den Baatsch auch von unerwarteter Länge. Dieser schlaue und zugleich schwere orakelhafte Satz verlieh der hingeworfenen Masse etwas sphinxenhaftes. Wieder rumorte es tief drinnen. Werners wollte gerade einen erneuten Anlauf wagen, um seine quälenden Gedärme endlich auf die Schüssel zu bringen, als der Apostel fortfuhr. Der Heusinger, der habe sicher auch nicht damit gerechnet, mal unter dem Zwillingsreifen eines Lasters zu enden, meinte er. Einfach so, aus heiterem Himmel. »Rums! Aus und vorbei!« Im Ort habe man schon eine Zeitlang gemunkelt, dass es der Pfarrer wohl nicht mehr lange mache. »Krebs wahrscheinlich«, sagte der Apostel, dabei mit schraubenden Handbewegungen unterstreichend, dass Zweifel angebracht waren. Seltsam sei der Kerl die letzten Monate gewesen, was man so höre. Genaueres wisse er nicht, denn mit der Kirche habe er es nicht so. Der Baatsch – nun klopfte er dem Hingeworfenen auf die feisten Schultern – sei da ein anderer Kerl. Jeden Sonntag zur Predigt. »Ob er was mitkriecht dort, ist e annere Frach«, lachte der Redner. Der Baatsch, so erzählte der Apostel schmunzelnd, während der Gemeinte zunehmend missmutiger wurde, treffe sich in der Kirche sowieso nur mit dem Poste Schorsch oben auf der Empore, damit man einen gemeinsamen Ausgangspunkt für den Frühschoppen habe. Hinter der Orgel säßen sie, da wo sie vom Gottesdienst sowieso nichts mitbekämen. Und weil beide schwerhörig seien, habe es auch schon Klagen vom Organisten gegeben wegen dem lauten Gequatsche der alten Männer, die den Orgelspieler damit aus dem Takt zu bringen drohten. Scheiße, dachte Werners. Wenn der Apostel ins Plaudern kam, dann war kein Ende in Sicht. Dabei war es höchste Zeit für ihn. Aber wie die Flucht ergreifen? »Des mit dem Sterben«, hub nun der Apostel redselig an, das sei die eigentlich schlimme Sache. »Wenn der Gevatter Tod emol in der Tür steht, dann isses Schlimmste vorbei«, verkündete er und blickte in das Gewirbel aus Schatten und 128
Sonnenlicht in der Krone des Lindenbaumes. Werners stöhnte leise in sich hinein. Ein Dorf voller morbider Philosophen! Erst dieser Wirtsschwager mit seinen Spinnen, jetzt dieser Apostel. Woher das nur kam? War der Wein daran schuld? Trotz seiner inneren Leiden wurde sein Wunsch aufzubrechen von einem gespannten Warten überlagert. Waren nach den Spinnen nun die Mäuse an der Reihe, oder was stand an? »Ertrinken is fei schlimm«, sagte nun der Alte. Er räusperte sich, als ob ihm das Wasser schon am Halse stünde. »Verbrenn fei a«, ergänzte der Baatsch, offenbar vom Thema hochgerüttelt und hellwach. Hier hatten sich zwei Experten für menschliches Dahinscheiden gefunden, stellte Werners fest. Rasch waren zehn, fünfzehn schreckliche Todesarten aufgezählt: von lebendig begraben über in den Silo gefallen bis – ein solcher Fall schien sich erst vor wenigen Jahrzehnten im Ort ereignet zu haben – zum Gehäckseltwerden in der Dreschmaschine. Ja, das Sterben sei das eigentlich Schlimme. Nicht der Tod. Die beiden Alten waren sich einig. »Wenn’s vorbei is, is vorbei – egal, was kümmt«, meinte der Philosoph. Jaco musste ihm Recht geben. Vorbei war vorbei, daran gab es keinen Zweifel. Werners dachte an den Heusinger und dessen Rosenkranz, und seine Beine zitterten ein wenig. Das konnte Angst sein, wahrscheinlicher aber übergangener Stuhldrang. Die Gifte waren offenbar schon in den Blutkreislauf ausgeschwemmt. »Aber ist tot auch tot?« fragte er laut und dachte an die Unterhaltung mit Egon, die, wie ihm schien, schon eine Ewigkeit zurücklag. Vor Anerkennung ob dieses Satzes schob der Apostel den Unterkiefer nach vorn und legte eine Reihe gelblicher Zähne zwischen den Lippen frei. »Wenn mer’s wüsst«, sagte er dann. 129
Schweigen. Wahrscheinlich nicht, meinte er schließlich. Und dann begannen der Baatsch und der Apostel die ganzen Dorfmären herunterzuleiern: von feurigen Männern, weißen Teichfrauen und buckligen Aufhockern, die allesamt aus dem Schattenreich herübergekommen waren, um mit den Lebendigen ihre Späße zu treiben und möglichst den einen oder anderen mit hinüber ins Jenseits zu nehmen. »Wie den ›Katzeleo‹«, grunzte der Baatsch und bekam dabei ein so merkwürdiges Leuchten in den Augen und so einen fahlen Schimmer auf der Haut, dass es Werners trotz der Sommerhitze fröstelte. Der Katzeleo, der eigentlichen Katzen-Leo heißen müsste, hatte sich irgendwann während der Napoleonischen Kriege draußen, außerhalb des Dorfes, an einem Kohlenmeiler eingerichtet. Der Apostel übernahm das Erzählen, nachdem der Baatsch, der doch den Anstoß gegeben hatte, danach erschöpft wieder in sich zusammengefallen war. Zu seinem Namen sei der Katzeleo gekommen, weil – zumindest wurde das behauptet und von Generation zu Generation weitergetragen – der Leo sich in der Not der damaligen Zeit nicht nur von Kartoffeln und Brot ernährte, sondern mangels eigenem Vieh, mangels Vermögen und mangels Wild im leer gejagten Wald auch Katzen und Hunde nicht verschmähte. Zwar sei niemand dabeigewesen, doch sei wahrscheinlich, dass der Katzeleo die Viecher abzog, ausnahm und in seinen Kohlenmeiler eingrub und erst wieder in garem Zustand hervorholte. Dafür spreche auch, so berichtete der Apostel, dass der Katzeleo des Winters einen Mantel von Katzen- und Hundefell getragen habe. Eines Abends aber, als der Katzeleo gerade wieder ein jämmerlich miauendes Viech auf dem Rücken nach Hause in seine Hütte habe tragen wollen und dabei an der sogenannten blutigen Eiche vorbeigekommen sei, da sei ihm eine riesige rote Katze in den Weg gesprungen, begleitet von drei Gesellen – katzenköpfigen, aber auf zwei 130
Beinen aufrecht gehende Wesen –, die den Katzeleo gebunden und zu seinem rauchenden Kohlenmeiler geschleppt hätten. »Da hamm se’n neigetan«, fuhr der Apostel mit rauher Stimme fort. Eigentlich, so sollte man meinen und hatte es Werners nun auch erwartet, sollte die Geschichte damit enden, dass sich die Katzenbiester an dem durchgegarten Leo genüsslich getan hätten. Doch der Katzeleo habe in seinem feurigen Grab in seiner Not den Teufel zur Hilfe gerufen und ihm seine Seele verkauft. Das Geschäft sei auch klar gegangen, freilich nur zu des Teufels Bedingungen: An der blutigen Eiche lauere der Katzeleo seit jener Zeit auf einsame Spaziergänger, die er mit jämmerlichem Katzenmiauen anlocke, um sie dann zu erschlagen und in des Teufels ewigen Kohlenmeiler zu bringen. »Grauslich, gell?« ächzte der Baatsch, bemüht um ein Lächeln, aus dem aber ängstliche Zweifel sprachen. Es war offensichtlich, dass der Baatsch keinen Wert auf einsame Spaziergänge zur Bluteiche legte. Alle drei Männer unter dem Lindenbaum waren nach dieser langen Geschichte erschöpft und hatten glühendrote Wangen – der Apostel, weil er so eifrig geredet hatte, der Baatsch, weil ihm der hohe Blutdruck zu schaffen machte, und Werners, weil ihm der Stoffwechsel aus den Fugen geriet. Es herrschte Stille. Zwei, drei Minuten lang. Dann ließ sich der Apostel in die Lehne zurückfallen und inspizierte Werners gründlich. »Jetzt emol e annere Frach«, schloss er die ausgiebige Musterung ab, und der Alte bekam dabei so viel Ernst in die Stimme, dass Werners stutzte. »Ihr seid doch Adomkraftgechner, gell«? Fast schneidend scharf hatte der Apostel die Frage gestellt. Sie war in Werners Augen noch viel befremdlicher als seine Frage nach der Beerdigung vorhin, hatte jedoch eine Qualität, die sogar den Baatsch veranlasste, sich aus seiner lethargischen Schräglage etwas in die Senkrechte zu begeben. Große, feuchte und rot unterlaufene Augen blickten Jaco an. »Fahrt ihr als zum Demonstriere?« 131
wollte der Alte wissen. Nachdem Werners ratlos guckte, weil er mit dem fränkischen »als« augenscheinlich nichts anzufangen wusste, fügte der Apostel hinzu: »Ich mein: alsemol, halt gelechendlich.« Erst Bohnengemüse, dann gedreschte Leichen und Katzenleo und jetzt Atomkraft. Jaco war perplex. Was sollte er auf diese Frage antworten? Die Alten lauerten gierig. Atomkraft. Als sie im vorletzten Jahr in Chemie beim Thema Kernspaltung länger verweilt hatten, da war ihm mal kurz mulmig geworden. Aber der Gitarrenverstärker brauchte Saft und sein Diaprojektor auch. Also, was sollte er sich Gedanken machen? Der Morris war eher ein Atomkraftgegner, dachte sich Werners, aber er wusste es auch nicht so genau. Schwab hatte zumindest einen dieser »Atomkraft? Nein, danke!« -Aufkleber mit dem boxenden Strahlemännchen auf der Gitarre kleben. Das konnte dafür stehen, dass er sich immerhin mit dem Thema befasst hatte. Und Bläser? Dem war das Thema sicher völlig Wurscht. Hauptsache, die Stereoanlage funktionierte. Die Denkerei erschöpfte Werners. Der fehlende Schlaf der Nacht kroch ihm wieder in die Glieder und löste seinen Geist vom Körper. Plötzlich schien es ihm, als säße er in einem der Äste des Baumes und blickte auf die drei Gestalten auf der Bank herunter. Die zwei Alten lauerten, was der junge Kerl wohl sagen würde. Der junge Kerl, das war er. Werners spürte, dass er zurück in seinen Körper musste. Dass er etwas sagen musste, jetzt gleich, wenn er nicht schuld werden wollte daran, dass falsche Rückschlüsse gezogen wurden. Doch der Apostel, dessen Geduld zu Ende war, kam ihm zuvor. »So hamm mir’s uns gedacht.« Mehr sagte er nicht. Dann blickte er den Baatsch an, dann nahmen beide wieder Werners ins Visier. »Dazu weiß ich nichts. Ich mein’, mit Atomkraft hab’ ich 132
eigentlich nichts zu tun«, haspelte der jetzt rasch hervor. Aber da war es schon zu spät. Er, sagte der Apostel, wolle ihm jetzt mal was zeigen. Er ruckelte etwas herum und holte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Die Finger kramten in den Fächern, zogen ein Foto heraus. Werners erwartete ein Familienbild. Vielleicht eine Aufnahme des Sohnes, der, gehüllt in einen weißen Schutzanzug, sich als Beschäftigter eines Kernkraftwerkes zu erkennen ab. Oder eine Kleinfamilie mit des Apostels Tochter und deren drei Söhnen, gezeugt vom strahlenden Geschäftsführer eines Elektrizitätskonzerns. War es nicht. Werners erkannte das Vollmondgesicht auf dem Foto sogleich und stöhnte. Nicht, weil es eine Aufnahme von Franz Josef Strauß war. Mit dem hatte er keine Probleme. Er interessierte ihn einfach nicht. Werners stöhnte vielmehr, weil er ein völlig unpolitischer Mensch war, dessen Darminhalt nach draußen drängte und dem der Angstschweiß auf der Stirn stand, weil er fürchtete, nun weitere, lange Diskussionen bestehen und sich dabei parteipolitisch erklären zu müssen. Die Frage war rein rhetorisch: »Kennst den?« Der Zeigefinger des Apostels klopfte auf das Foto, das er mit liebevollem Blick schmeichelte. Werners war schlecht. Er räusperte sich, um eine Antwort zu geben. Er hatte sie allerdings noch nicht parat, da kam ihm der Alte zuvor. »Der richt’s scho.« Pochend klopfte der Zeigefinger auf das Bild. »Ohne den läfft fei nix. Do koaste jeden froach im Dorf. Gell?« Der Baatsch schmatzte eher traurig als zustimmend. Zärtlich räumte der Apostel sein Foto wieder in den Geldbeutel weg, verstaute diesen in der Hosentasche und ließ sich an die Banklehne zurücksinken. 133
Werners war verzweifelt. Er hatte das Gefühl, schon in die Hose gemacht zu haben. So wie damals, als er vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen war und auf dem Spielplatz beim Herumtoben mit den Freunden vor lauter Eifer das Abtopfen vergessen hatte. Auf dem Heimweg war es dann passiert. Nur zwei-, dreihundert Meter wohnten sie vom Spielplatz entfernt, sonst hätte ihn die Mutter ja auch nicht alleine dorthin gelassen, aber die Strecke hatte er nicht einmal zur Hälfte geschafft, da war ihm der warme Geselle auch schon in der Unterhose gesessen. War das ein Geschrei daheim! Werners musste beim Gedanken an damals sogar ein wenig kichern. Der Apostel wie auch der Baatsch horchten auf. Sie sahen Werners groß an, wussten das leise Lachen nicht recht einzuordnen. »Du, wennst über den Franz Josef lachst, dann …«, drohte der Apostel und schob den Oberkörper kampfbereit nach vorn. Da aber hatte Werners, zum ersten Mal an diesem Tag, eine gute, eine glorreiche Idee. »Ich lach’, weil die anderen aufs Essen warten und ich da herumsitz’ und eigentlich einkaufen soll. Die wer’n schön sauer sein.« Die gestrengen Blicke der beiden Alten wurden wieder sanft. »Aahhh«, ächzte der Baatsch, erleichtert, dass es zu keiner politischen Auseinandersetzung kam. »Ja, so«, meinte der Apostel, zwar nicht ganz überzeugt, aber willens, den Burschen gnädig zu entlassen. Er pflichtete Werners bei, dass dieser jetzt wohl los müsse, denn es sei ja bald schon wieder Zeit fürs Abendbrot. Als sich Werners erhob, furzte es gewaltig. Und wieder sorgte der Wind gleich mehrfach für Erleichterung. »No, do drängt’s awer«, grinste der Apostel ganz entspannt und gab mit wedelnder Hand das Zeichen, dass der andere sich entfernen dürfe.
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Jaco eilte aus dem Schatten des Baumes davon. Es drängte wirklich. Zum würdevollen Gehen war nun keine Zeit mehr. Er flog dahin.
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Kapitel 6 Familienbande DORT, WO SIE NACH AUSKUNFT DES BUSFAHRERS hätte sein müssen, fand Peter Bläser keine Kfz-Werkstatt. Nicht weit vom Mainufer entfernt, gerade mal über die am Kai entlang führende Straße hinweg, erregten jedoch die Schaufenster einer kleinen Bar seine Aufmerksamkeit. Entweder wurde hier ›oben ohne‹ bedient oder gar Striptease gezeigt; jedenfalls waren mehrere Fotos von dürftig bekleideten Damen in der Auslage zu sehen. Bläser studierte die einladenden Angebote gründlich. Der Anblick half ein wenig, die Scherereien mit den alten Weibern und den Verzicht auf Connys knackigen Po zu vergessen. Mehrere Minuten stand er in Sehnsüchten versunken so da. Seufzend riss sich Bläser schließlich los und begann, das eigentliche Objekt seiner Begierde, die Autolackiererei, zu suchen. Fast eine halbe Stunde streifte er an der Mainuferstraße entlang und in die Seitengassen hinein. Ohne Erfolg. Von einer Werkstatt weit und breit keine Spur. Zuckende Schultern, wenn er Passanten danach fragte. Pietro war sich zunehmend sicher, dass auch der Busfahrer in die kriminellen Machenschaften Kurts verwickelt war. Vermutlich hatte der Typ den anderen Ganoven bereits angerufen und Kurt gewarnt, dass die drei Jungs die Absicht hatten, die Polizei einzuschalten. Der Gedanke machte Bläser unwohl. Und die alten Weiber, die nichts auf den Meister hatten kommen lassen? Vielleicht hatte der Kurt ihnen etwas aus Frankfurt mitgebracht, wofür sie ihm dankbar sein mussten. Eher aber steckte abgrundtiefer Hass in den alten Schachteln. Das hatte sicher mit dem Baatsch und dem Apostel zu tun. Vom Auto jedenfalls war weit und breit nichts zu sehen. Bläser war unschlüssig, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. 136
Natürlich konnte er zur Polizei, doch das Gespräch während der Busfahrt hatte ihn unsicher gemacht. Was, wenn die anderen doch recht hätten und er jetzt nur zu blöde war, um die Werkstatt zu finden? Drei Zigaretten lang saß er im Sonnenschein auf einer Parkbank am Mainkai, dann stromerte er in die Stadt, wo es viele Kirchen und noch mehr Lokale hatte. »Dasselbe«, sagte er, als er sich am Marktplatz eine Bratwurst kaufte, nachdem er die Leute in der ewigen Schlange vor ihm lange genug hatte beobachten können. Sie hatten allesamt gegenüber dem wie mechanisch vor sich hin schuftenden Verkaufspersonal – Blick ins Gesicht des Kunden, Griff zur Wurst, Reinknacken ins Brötchen, Blick zum Kunden, »Senf?«, Serviette rum, Geld auf die Hand, Wurst raus, Geld raus – ihren Wunsch mit den Worten »Eine Geknickte mit!« formuliert. Schon war er zur Seite gedrängt. Hinter ihm knickte und klimperte es weiter wie am Fließband. Aber es schmeckte. Der Senf quoll ihm beim Biss ins Brötchen auf die Wangen, wurde in der prallen Sonne bald hart. Er musste schließlich auf die Serviette spucken, um mit dem angefeuchteten Papier die gelbe Kruste von den Wangen wischen zu können. Die meisten Gaststätten und Cafes hatten vor ihren Lokalen Stühle und Tische aufgebaut. Einladend sah das aus. Bläser, der immer noch nicht so recht wusste, wie es weitergehen sollte, setzte sich und orderte einen Schoppen Silvaner. Er blieb ungestört, denn außer ihm mochte niemand in der prallen Sonne sitzen. Weiter hinten saßen einige Gäste unter einem Sonnenschirm, sonst hatten alle die Kühle des Gastraumes gesucht. Die Bedienung lächelte über seinen Mut. Naja, ihm war es egal. Der Schoppen schmeckte. Bläser wurde müde. Trank einen Kaffee dagegen, aß ein Hörnchen. Die Sonne brannte schon arg, musste er gestehen. Wenn er mit seinen Fingern durchs Haar fuhr, musste er aufpassen, sich nicht zu verbrennen. Endlich fiel 137
sein Entschluss, dann gleich mal mit den Eltern am Walchensee zu telefonieren und, weil das sicher ein schweres Stück Arbeit werden würde, zuvor noch einen Schoppen Silvaner zu trinken. Der war so schön kühl und beruhigte. Es war nun brüllend heiß. Der Silvaner stieg ihm zu Kopf. Die Wangen glühten. Da half auch die Cola nicht. Weg hier, raus aus dem Flutlicht, dachte er, weil ihm im Glanz des weißen Plastiktischtuches die Augen tränten. Bläser zahlte, suchte die Toilette. Erst mal erleichtern. Er stolperte ins Dunkel des Lokals, trat fast auf einen schlummernden Hund und wurde von der aufmerksam gewordenen Kellnerin zum WC gelotst. Der Sitz war kühl an seinem nackten Hintern. Bläser versuchte sich zu erinnern, was er den Eltern schon alles wegen dem Auto erzählt hatte, damit er sich im Gespräch nachher nicht selbst ein Bein stellte. Eine neue Strategie musste her. Ah, tat das gut. Bläser blieb sitzen, auch nachdem seine Blase längst entleert war. Das Schattige, Gemütliche tat ihm wohl. Eine weitere Verspätung ihrer Abreise konnte er gegenüber den Eltern nicht mehr entschuldigen. So dämlich waren die nicht. Er musste also entweder Kurt zum Ganoven erklären oder die Wahrheit beichten. Beides war irgendwie Mist. Würde er Kurt anschwärzen, dann würde sein Alter mit Sicherheit vom Walchensee aus die hiesige Polizei anrufen und den ganzen Behördenapparat in Bewegung setzen. Er, Pietro, würde damit die Kontrolle über das weitere Geschehen verlieren. Die Polizei würde sie alle drei in die Mangel nehmen, den Kurt auch, und schließlich käme alles heraus mit der selbstverschuldeten Schramme. Der Einsturz des Lügengebäudes wäre so unvermeidlich. Also doch lieber gleich beichten? Der Alte konnte verdammt unangenehm werden, und seine Mutter, wenn sie bemerkte, dass sie angeschwindelt wurde, auch. Bläser stöhnte. Er war unendlich müde. Waren die Alten schon da? Irgend etwas hämmerte. Eine Frau, dann ein Mann sagten etwas, schließlich riefen beide 138
durcheinander »Hallo!« und »Was is’n los?« und »Is Ihne schlecht?« Das waren nicht die Stimmen seiner Eltern. Dann knirschte etwas, und es wurde ein wenig heller vor seinen Lidern. Bläser öffnete die Augen. Ein Mann und eine Kellnerin standen in der Toilettentüre, blickten auf seine nackten Beine und die heruntergelassene Hose und sagten »Pardon«. Während sich die Kellnerin zurückzog, blieb der andere stehen. »Geht’s gut? Mir dachte, Ihne geht’s schlecht.« Der Mann schien nicht recht zu wissen, ob er verärgert oder amüsiert sein sollte, entschied sich dann für einen Mittelweg. »Annere Leut wölle a uffs Klo«, bemerkte er und ergänzte, man könne seinen Rausch ja auch zu Hause ausschlafen. Sein Blick signalisierte Bläser, dass dieser nun handeln musste. Er brauchte eine ganze Weile, um sich zu orientieren, räusperte ein wenig verlegen herum und blickte den Eindringling aus trüben Augen an. Der machte erstmal keine Anstalten, sich zurückziehen zu wollen. Bläser schob das Hemd vorsichtshalber ein wenig weiter über die nackten Schenkel. Jetzt erst ging der Besucher hinaus, lehnte die Türe aber nur an. Bläser konnte unter dem breiten Türspalt hindurch sehen, dass der andere stehengeblieben war und wartete. Er musste eingeschlafen sein. Verdammt! Dieser Silvaner! Die Hitze! Als er aufstand, schwindelte ihm. Mit der Schulter musste er sich an die Wand lehnen, schloss Reißverschluss und Gürtel. Die Beine schmerzten teuflisch. Schliefen noch. Mit einem zerknirschten »’tschuldigung« schob sich Bläser an dem Kerl vorbei. Hatte im Lokal den Eindruck, als ob ihn alle angrinsten. Insbesondere eine der Kellnerinnen blickte ihm ganz erwartungsvoll entgegen und hatte einen besonders frechen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Täuschte er sich, oder kam ihm der Tag weitaus schummeriger vor als noch vorhin? Die Schatten waren irgendwie größer geworden. Das Flimmern draußen auf dem Platz wirkte sanfter. Verdammt! Ein Blick auf die Uhr bestätigte, dass er fast zwei Stunden im Klo verpennt hatte. 139
Jetzt aber schnell heim. Während Bläser zum Bahnhof eilte, um einen Bus in das Dorf zu erwischen, packte ihn die Panik. Alles schien so aussichtslos. Wie hatten sie auch nur so bescheuert sein können? Selbst vom Kurs abgewichen, selbst die Bodenplanken des Bootes zerschlagen und dann an dieses traurige Eiland gerudert, das sich als Piratennest entpuppte. Die Verzweiflung packte den durch die Straßen stolpernden Bläser, schüttelte ihn, ließ seine Augen feucht werden. Passanten glotzten ihn verwundert an. Er war eine verdammte Heulsuse. War er das? Verdammt, nein! Er war Peter Bläser, seines Vaters Sohn. Der Sohn vom Alten, sozusagen. Trotz stieg in ihm auf, Ärger kam hinzu. Das Laufen erschöpfte ihn. Warum ließ man ihn nicht einfach schlafen? Musste er sich wie ein Landstreicher behandeln lassen? Wut fing an zu brodeln. Was hatten die überhaupt in seiner Toilette zu suchen? Musste man sich das denn gefallen lassen? Schon überlegte er zurückzueilen und den Deppen den Marsch zu blasen. Da fiel ihm ein, dass er eigentlich mit den Alten hatte telefonieren wollen. Das kam ihm jetzt gerade recht. Bei seiner Laune war ihm die Strategie völlig egal. Bläser steuerte die nächste Telefonzelle an. Wählte die Nummer des Ferienhauses am Walchensee. Er dauerte neunmal Läuten, bis sich die Mutter meldete. Die Mutter – das war gut! »Hallo, Mama, ich bin es, der Peter.« Der erste Schwung war damit dahin. Austausch von Höflichkeiten. Dann die Mutter: »Ja, wo steckt ihr denn? Wir warten seit Stunden auf euch!« Scheiße, warum hatte er angerufen? Bläser spürte richtig, wie in seinem Gehirn eine Weiche festhing, jeder Gedankenfluss blockiert war. Dann plötzlich war die Strecke frei. Was dann kam, kam alles automatisch, ohne dass er sich richtig bewusst wurde, was er da überhaupt plauderte. Es schien, als seien diese 140
Sätze schon seit seiner Geburt im Gehirn gespeichert gewesen, um jetzt, durch eine Silvaner-bedingte Hormonausschüttung oder auch nur angestoßen durch ein Farbsignal, das in dieser Telefonzelle auf ihn gelauert hatte, abgerufen zu werden. Alles sei in Ordnung, sagte Bläser, und dass das Auto wieder fahrtüchtig sei. Da müssten sie sich keine Sorgen machen. Und sagte weiter, dass sie aber noch nicht losgefahren seien, weil es hier in Franken so schön sei und sie ein so billiges Quartier hätten und nette Leute kennengelernt hätten und gerne bis zum Wochenende noch bleiben wollten. Das hätten sie jetzt so abgestimmt. Und der Schwab und der Werners, die seien ganz begeistert. »Es ist echt Klasse hier!« juchzte es aus Pietro heraus, und er musste sich selbst wundern, mit welcher Freude er diesen Satz herausgebracht hatte. »Ja, aber«, versuchte die Mutter einzuwenden. Doch Bläser setzte den Parforceritt fort und gab keinen Zentimeter mehr nach, weil er wusste, dass die Alte gleich den Vater ans Telefon holen würde. Das aber würde alles zunichte machen. »Ihr braucht das Auto doch nicht«, wandte er ein und wiederholte, dass die beiden Freunde, der Martin und der Jakob, so begeistert von der fränkischen Landschaft seien, und dann setzte er schon das »Danke, Mama, du bist echt lieb« hinterher, was der Alten die Stimme raubte, und setzte noch eins drauf, damit sie endgültig Ruhe gäbe: »Wir melden uns dann am Freitag wieder, und spätestens am Samstag sind wir da.« Noch einmal begehrte es ganz verwirrt auf am anderen Ende der Leitung. Nein, nein, sie hätten nichts angestellt, beruhigte er die Mutter, und nein, das Geld reiche schon, und ja, er habe sie ganz lieb, und er wollte ja eigentlich auch mal gerne wieder ein paar Tage mit den Eltern Urlaub machen, aber es sei doch »ganz Klasse hier«, und schließlich reichte ihm das Geheuchle selber, und er schnaufte ein »Danke also, bis dann« in den Hörer hinein. Da 141
juckte es ihn dann schon nicht mehr, dass er zuletzt den Alten aus dem Hintergrund ein »Was ist denn los?« hatte rufen hören und dessen näherkommenden Schritte. Zack. Der Hörer hing wieder in der Gabel. Aus das Gespräch. Er war genial. Seine Hände zitterten. Bebten vor Erschöpfung und vor Freude. Keine lang ausgearbeitete Strategie hätte ein besseres Resultat erzielen können als dieser weinselige Husarenstreich. Sie hatten drei Tage gewonnen! Drei Tage – das musste wohl auch dem lahmarschigsten Automechaniker reichen, um die Karre wieder flott zu kriegen. Vielleicht war es nicht einfach, mit dem Schwager des Wirts noch zwei Übernachtungen auszuhandeln, aber das wäre auf jeden Fall einfacher als das Gezerre mit den Eltern. Warum war er nicht eher auf die glorreiche Franken-ist-schön-Idee gekommen? Dem Silvaner sei Dank! Der machte zwar den Körper müde, den Geist aber wach. Bläser wurde von schrecklicher Ungeduld ergriffen. Das musste er gleich den Freunden erzählen, wie er’s den Eltern gezeigt hatte und dabei ganz ohne die Hilfe der Polizei ausgekommen war. Ohne Polizei, das war das Allerbeste! Jetzt nichts wie raus zu Morris und Jaco und ein wenig gefeiert! Rasch eilte er zum Busbahnhof. Doch halt! Ein paar Mark würde er in den nächsten Tagen noch brauchen. Der Bus, das konnte er vom Fahrplan ablesen, ging erst in einer dreiviertel Stunde. Genug Zeit für einen Gang zur Bank. Sicher, die beiden ändern würden ein wenig meckern, dass sie in dem stinklangweiligen Kaff noch länger bleiben sollten, aber dort waren sie wenigstens unbeobachtet von seinen Alten und konnten es sich gut gehen lassen. Und im ›Stern‹ war es doch richtig nett. Das würden Morris und Jaco einsehen, da war er sich sicher. Er würde ihnen zur Feier des Tages heute abend das Essen spendieren, beschloss Bläser. Ein voller Magen stimmt friedlich, das wusste er. Die Schwüle des Tages war inzwischen so penetrant in die Wohnung gelangt, dass Morris es in der Enge nicht mehr 142
aushielt. Die großen Ornamente der Tapeten schienen immer größer, der Abstand zwischen den Wänden dagegen schien immer kleiner zu werden. Das Herzeleid um Selma, diese quälende Ungewissheit, schnürte ihm den Brustkorb ein. Morris beschloss, dem Bunker zu entfliehen. Hier konnte er nur versauern. Bläser würde vor dem späten Nachmittag nicht zurückkehren, und was Werners umtrieb, das war Schwab ein Rätsel. Gleichgültig war ihm das Wohlbefinden des Freundes zwar nicht, doch hatte er seine eigenen Sorgen. Und die waren drängender, als das spätpubertäre Benehmen Jacos zu hinterfragen, den es offenbar in die Einsamkeit trieb, aus welchen Gründen auch immer. Er, Moritz Schwab, hatte Wichtigeres zu tun. Er musste die entscheidenden Weichen für seine Zukunft stellen, eine der wichtigsten Aufgaben angehen, die einem Mann überhaupt auferlegt werden konnte: die Gründung einer eigenen Familie. Wie er dieses komplizierte Unterfangen anpacken würde, das war ihm zwar noch unklar, doch wusste er immerhin schon, mit wem. Jedenfalls würde er die Probleme nicht in dieser miefigen Bude lösen können. Er musste raus, er musste streifen. Vielleicht würde ihm Jaco ja in die Arme laufen. Das wäre dann gut so. Dann konnte man reden. Wenn nicht, was sollte es? Früher oder später würde es Werners schon zurück zu den Freunden treiben. Spätestens zum Abendessen. Das Dorf war wie ausgestorben. Ein schweres Flimmern lag über dem Asphalt der Straße dort, wo sie in der prallen Sonne lag. Der Teer hatte seinen Sommergeruch angenommen. Lauerte wie schlafende Lava, die darauf wartet, die harte Kruste der Erde zu durchbrechen. An machen Stellen schimmerte es schon schwarz-feucht durch die ansonsten eher graue Oberfläche. Hinter einzelnen Fenstern hörte Morris Porzellan klappern. Hier wurde offenbar Geschirr für das Essen aufgetragen, vielleicht aber auch schon wieder abgeräumt. Das Zeitgefühl war ihm ein wenig abhanden gekommen. Nichts, was ihm Sorgen machte. 143
Ein Gefühl von Freiheit, vom Losgelöstsein von den Ketten des Alltags erfüllte sein Gemüt. Die meisten Fensterläden und Rolläden, an denen er vorbeiwanderte, waren geschlossen, um die Hitze des Tages auszusperren. Sogar der mächtige Schäferhund, dessen Anblick Morris für einen Moment erschreckte, weil er mit einem lauten Anschlagen des Tieres rechnete, schenkte dem Passanten nur einen gelangweilten Blick. Hingebreitet in den Schatten eines Hofes, hob er nicht einmal den Kopf, als der Fremde an der Einfahrt vorbeiging. Vermutlich spürte das Tier den Respekt des Furchtsamen, der keiner weiteren Einschüchterung bedurfte. Schwabs Füße fanden ohne großes Nachdenken ihres Besitzers den Weg in das Wohnviertel, wo Selmas Haus stand. Obwohl es ihn wie magnetisch direkt zur Haustüre zog, zwang sich der junge Liebhaber an dem Gebäude vorbei. Ein wenig Stolz, ein wenig Liebesschmerz durchfluteten ihn, als er sich diesen Verzicht abrang. Die farbigen Glasbausteine am Eingang leuchteten im Sonnenlicht in fröhlichen, kräftigen Farben wie ein senkrecht aufgestellter Kasten Wasserfarben, dessen kleine Farbtöpfchen eben erst ein Pinsel befeuchtet hatte. Im ersten Stock, wo Selmas Wohnung lag, waren die Rolläden fast bis auf den Fenstersims herab geschlossen. Natürlich, der Kleine, dachte sich Schwab. Der Junge würde nach dem Kindergarten seinen Mittagsschlaf halten. Morris wurde fast ein bißchen eifersüchtig, als er sich vorstellte, wie der Bub womöglich an seine Mutter gekuschelt auf dem Bett lag. Doch er schämte sich sogleich für diesen Gedanken. Es war ihr Sohn. Und würde bald der seine sein. Schon bald würden sie aber auch eigene Kinder haben. Da war sich Morris sicher. Er, Selma und das Kind, Kurts Kind – das war selbstverständlich schon eine Familie, doch so richtig würden sie erst zusammengehören, wenn sie ein, zwei eigene Kinder noch dazu hätten. Früchte seines Samens. Vielleicht zwei Mädchen? Plötzlich sprangen Morris Sorgen an. Er würde diese Familie 144
ernähren müssen. Aber wie? Beim Studieren war nicht viel verdient. Besser gleich in den Beruf. Am besten etwas, was gleich richtig Kohle brachte. Morris dachte an Bläser. Der verdiente als Bankkaufmann doch gar nicht so schlecht. Das könnte auch etwas für ihn sein, vielleicht mit ein wenig Versicherungen nebenher, als Zubrot sozusagen. Bläsers Alter könnte ihm bestimmt behilflich sein, dachte Schwab. Eine Welle brüderlicher Liebe zu Bläser durchströmte ihn. Pietro könnte für seine berufliche Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Sozusagen als Tutor, der ihn wie ein großer Bruder in die Geheimnisse des Geldscheffelns einführte. Man würde sehen. Wenn gar nichts ging, nicht mal in der Bank, dann würde er auf dem Bau arbeiten. Das hatte er schon zweimal in den Ferien getan. Knochenarbeit, ganz klar. Nichts für Seichte. Aber man konnte ordentlich Geld machen, mit Schlechtwetter, Schmutzzulage und Überstunden und was es da sonst noch gab. Maurer? Kein schlechter Beruf. Da ließe sich schwarz nebenher noch ganz schön Knete machen. Die Entscheidung würde er nicht alleine treffen. Er würde mit Selma reden, was ihr lieber wäre – ein Kerl mit Anzug und Krawatte hinter einem Banktresen, freundlich lächelnd, oder ein Mann mit breiter Brust, großen Muskelpaketen, hemdsärmelig und verschwitzt, ein wenig Kalkstaub auf der Stirn verschmiert. Morris ahnte schon, was Selma bevorzugte. Er lächelte. Nein, er würde Bläsers Vermittlung nicht brauchen. Der junge Verehrer und zukünftige Vater und Familienvorstand war gedankenverloren weitergelaufen. Er hatte die Siedlung verlassen und ging nun in die Flur hinaus. Die Hitze dröhnte. Mit dem Hemdsärmel wischte sich Morris den Schweiß von der Stirn. Mit hohlen Schlägen meldete sich die Glocke der Kirchturmuhr zu Wort. Zu spät begann Schwab mitzuzählen, bekam nur die letzten drei Schläge mit. Dem Stand der Sonne nach mochte es zwölf Uhr sein. Was spielte Zeit für eine Rolle? dachte er, während er so da stand und auf das Dorf 145
zurückblickte. Und doch: Man durfte die Stunden nicht einfach so verrinnen lassen. Zu kostbar war die Zeit, vor allem wenn es galt, Herzensangelegenheiten voranzubringen. L’amour! Der Gedanke und Schwabs Herumschwenken waren eins. Morris hatte sich, von einer plötzlichen Eingebung erfasst, dafür entschieden, Selma unverzüglich aufzusuchen und ihr die Wahlmöglichkeiten für ihr künftiges Leben zu offenbaren. Eine Entscheidung, die nur eine Antwort zuließ: ja. Und was ja bedeutete, das ließ sein Herz juchzten, dachte er doch an Selmas Bademantel und die darunter verborgenen Kostbarkeiten. Hurtig folgte er einem Flurweg, der ein wenig ums Dorf herumführte. Hoffte dadurch, sich von der Bevölkerung weitgehend unbemerkt dem Haus der Geliebten nähern zu können. Gerede würde es noch früh genug geben, da war Vorsicht in der ersten Zeit angebracht. Der Schotterweg ging in Asphalt über und führte nun an einer Buntsandsteinmauer entlang, die gerade hoch genug war, um seinen Blick auf das Dahinter zu versperren. Männerstimmen. Motorengeräusch, dann Stille. Dann ein Eingang, gut zweieinhalb Meter breit. Ein zweiflügeliges eisernes Gittertor, hinter dem sich der Friedhof öffnete. Einer der Gitterflügel stand offen, und – er wusste nicht, warum – Morris ging hinein. Gräberreihen. Die Grabsteine entweder schwarzer Marmor oder Buntsandstein. Was wollte er hier? Ein kleiner am Boden liegender Marmorblock mit einem ovalen Foto zog seinen Blick an. Morris erwartete auf der Inschrift den Namen eines Kindes zu lesen, doch auf dem Block haftete das graue Passbild eines Marinesoldaten. Wie ein Medaillon klebte es auf dem pechschwarzen Stein. Schwab rechnete. Dreiundzwanzig Jahre – der Matrose war kaum älter als er geworden. Ob er auch hier beerdigt war? Wohl nicht, wenn sein Pott gesunken war. Männerlachen. Zwanzig, fünfundzwanzig Meter weiter türmte sich ein Erdhaufen auf. Dahinter ein kleiner Bagger. Die Klumpen, mit Steinbrocken durchsetzt, waren noch feucht. Was 146
trieb ihn dorthin? Morris zuckte zusammen. Zu spät! Die beiden Typen in dreckiger Arbeitskluft, die im Schatten einer großen Grabtafel saßen, hatten ihn bemerkt. Da Schwab in der prallen Sonne stand, die anderen aber im Dunkeln lagerten, konnte er ihre Gesichter kaum erkennen. Der Anstand gebot einen Gruß, hier auf dem Land sowieso. Morris nickte ein zaghaftes »Tag« heraus und bekam ein »Grüß Gott« zur Antwort. »Mir hamm’s bald«, ergänzte eine Stimme aus dem Schatten fast ein wenig entschuldigend mit einer Armbewegung zum frischen Grab. Die große Tafel aus Granit dahinter war viel größer als die anderen Grabsteine auf dem Friedhof. Und gestorben war, soweit Schwab das hatte mitbekommen können, in den letzen Tagen nur einer: der Pfarrer. »Hmm«, kommentierte er vorsichtig. Die beiden Arbeiter mussten natürlich meinen, dass er mit der Beerdigung irgend etwas zu tun hatte. Was sonst sollte einen jungen Kerl wie ihn um die Mittagszeit hierher auf den Friedhof locken? »Verwandtschaft?« fragte nun der ältere der beiden Männer und blickte ihn freundlich an. Sollte er lügen oder sollte er nein sagen und sich damit der Notwendigkeit aussetzen, eine andere Erklärung für sein, Erscheinen bieten zu müssen? Schwab starrte sprachlos in die tiefe Grube. Etwa drei Meter, schätzte er. Den Arbeitern dauerte sein Schweigen offenbar zu lange. Keine Antwort war ihnen auch eine Antwort, und so hatten sie sich scheinbar entschlossen, Schwab zur Verwandtschaft des Pfarrers zu rechnen, wohl auch deshalb, weil der Jüngling gar so betroffen dreinschaute. Trauernden setzt man nicht weiter zu. Erneut meldete sich der Ältere zu Wort. »Warn viel Stein dabei«, erklärte er. »Muschelkalk.« Er wisse ja nicht, wo der. Neffe des Pfarrers herstamme, aber hier in der Gegend stoße man jedenfalls gleich auf Muschelkalk. »So gut des für unsern 147
Wein is, so schlecht is des, wenn mer e Loch grab muss.« Nun grinsten beide, der Jüngere wie der Ältere. Schwab nickte. War dankbar, dass er nicht weiter mit Fragen unter Druck gesetzt wurde. Das mit dem Neffen störte ihn nicht. Sollten sie denken, was sie wollten. Morris trat ein wenig zur Seite und konnte die Männer nun ganz gut erkennen. Der Ältere mochte um die fünfzig sein, trug eine blaue Arbeitshose und ein kariertes Hemd. Seinen Arbeitskittel, ebenfalls blau, hatte er über einen Grabstein gelegt. Der Jüngere konnte kaum älter sein als er, Morris. Schuhe und schwarze Kordhose waren völlig verdreckt, das ebenfalls karierte Hemd war um die Achselhöhlen, auf Brust und Rücken dunkel vor Schweiß. Der Alte hatte seinen Lehrling allem Anschein nach die Hauptarbeit machen lassen. Den Muschelkalk zu knacken, das war Knochenarbeit, zweifellos. Ganz wohl schienen sich beide, trotz aller Freundlichkeit Morris gegenüber, aufgrund der Anwesenheit des Fremden jedoch nicht zu fühlen. Morris hatte bemerkt, dass sie die neben ihnen stehenden Bierflaschen näher an den Körper gerückt hatten und sie unbeholfen vor ihm zu verbergen suchten. Der Jüngere hielt eine Stulle in der Hand und kaute recht verlegen, ihn ein wenig misstrauisch beäugend. »Zigarette?« fragte der Alte, und Schwabs »Gerne!« löste die verkrampfte Situation. Der Alte lächelte. Der Neffe des Pfarrers war wohl doch nicht so ein Trauerkloß, mochte er denken. Der Raucher holte eine Packung ›Eckstein‹ aus der Brusttasche, und während er mit der einen Hand Morris die grüne Schachtel entgegenreckte, lud er den Besucher mit der anderen Hand ein, im Schatten der Grabtafel bei ihnen Platz zu nehmen. Schwab zögerte. Eigentlich wollte er längst bei Selma sein. Wichtiges war zu besprechen. Doch auf ein paar Minuten würde es nicht ankommen. Morris setzte sich neben den jungen Kerl. Der Geruch von Schweiß und muffigen Klamotten empfing ihn, 148
bedrängte ihn penetrant, bis der Alte seine Zigarette angezündet hatte und der Duft des Tabakrauches den Mief überdeckte. Morris inhalierte tief, blickte zum Erdhaufen und studierte die Schollen und Kalkbrocken. Die Augen des Alten folgten seinem Blick. »Mir hamm’s gleich raussortiert«, sagte der Arbeiter. Morris verstand erst, als der Alte ergänzte: »Es is scho erstaunli, wie wenich üwrigbleit, wenn se lang genuch drin lieche.« Schwab hatte gar nicht nach menschlichen Überresten geschaut, sondern einfach so. Er schämte sich trotzdem ein wenig. Den letzten Pfarrer, so erklärte der Alte zwischen zwei Lungenzügen, habe man vor zwanzig Jahren hier beerdigt. »E paar Knöchli, mehr nit« hätten sie gefunden und dazu den Beschlag eines Sarges. »Kommt alles wieder nei. Logisch«, versicherte er mit ernster Miene auf Schwabs fragenden Gesichtsausdruck reagierend. Der Mittfünfziger nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. »Naja, was bleit scho?« stellte er die Frage übers offene Grab und fuhr sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. »So gut wie nix«, beantwortete er seine Frage gleich selbst. Von den Pfarrern, von denen könne man später noch in den Chroniken lesen, das sei freilich schon was, beeilte er sich, die vermeintliche Verwandtschaft Heusingers zu trösten, die ihn aufmerksam musterte. Der Name des Pfarrers bleibe ganz gewiss der Nachwelt erhalten. »Manchmal wird gar e Pfarrheim nach dene benannt.« Aber von den normalen Leuten, »so wie unsereens«, da werde weder im Leben noch im Tod viel Aufhebens gemacht. »Wozu ach?« Morris räusperte sich ratlos, weshalb der andere das Thema schnell wechselte. »Der hat nimmer viel gspürt«, meinte der Arbeiter nun. »Woahrscheinli erscht mit’m Kopf geche die Modorhauwe, dann unnersch Audo gstoße worn, und dann noch 149
die Zwillingsräffe drüwer. Des hat fei Gewicht, so en Lkw.« Der Alte grinste ein wenig, verzog sein Grinsen aber unter dem Blick Schwabs zu einer verlegenen Grimasse. War er zu weit gegangen, und hatte die Gefühle des Heusinger’schen Neffen verletzt? »Eichendlich en schöner Dod«, bemerkte er schnell. Er sei übrigens der Lutze Hans, stellte er sich nun vor. Und um die Situation zu entspannen, betonte er, er wünsche sich genau so einen Tod wie der Heusinger. »Zack un wech. Was söllste dehemm lang im Bett rumliech und die Verwandtschaft ärcher?« Da quäle man nur sich und die anderen Leute mit. Das müsse doch nicht sein. »Zack und wech«, das sei am sinnvollsten. So ein Hirnschlag beispielsweise, das sei was Feines. »Natürlich musste gleich hie sein«, betonte der Hans. Wenn es kein ordentlicher Hirnschlag sei, dann sei’s weniger schön. Dann sei man nämlich ein lebenslanger Pflegefall, der nur Verdruss schaffe. Und das komme in der Verwandtschaft gar nicht gut an. Allein schon wegen des Geldes. »Für en selwer isses awer ja a nix«, meinte der Lutz. Am besten sei noch der Blitzschlag. Da habe man nicht nur einen schnellen, sauberen Abgang, sondern auch noch Schlagzeilen dabei, und bleibe jahrelang Ortsgespräch. In den zwanziger Jahren beispielsweise habe es einen Schäfer draußen am Morlesberg direkt neben seinem Schäferwagen erwischt. »Am Kopf war e kleins schwarz Loch und am rechte Fuß noch eins«, berichtete der Alte. Und vor gar nicht langer Zeit, Anfang der sechziger, habe es eine Frau erwischt. Der Erzähler kratzte sich eine Weile am Schädel, bevor er weiterredete, gerade so, als suche er dort ein kleines, angesengtes Loch. »Die Bauer’sch Käthe war des, draußen aufm Fußballplatz.« Das sei ganz groß in der Zeitung gestanden. Die Käthe habe dem Fußballspiel zugeschaut, wie vielleicht fünfzig andere auch, als aus heiterem Himmel ein Gewitter hereingebrochen sei. Mit Blitz und jede Menge Regen. Alle 150
seien schnell ins Sportheim geflüchtet. »Awer die blöde Käthe«, der Alte stockte und hüstelte verlegen, weil ihm das »blöde« jetzt offenbar leid tat, die Käthe jedenfalls habe erst noch ihren Schirm aufspannen müssen, weil gar so große Tropfen vom Himmel gefallen seien. Und der Schirm sei kaum auf gewesen, da habe es schon einen fürchterlichen Schlag gegeben, und die Bauer’sch Käthe habe es mit einem riesigen Satz in den Dreck geschmissen. »Kein Mucks hat die mehr getan. Die hömm nit emol mehr en Notarzt ruf müss, weil jeder gleich gsehn hoat, dass do neass mehr geat.« Der Alte nahm wieder einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche. Morris hatte seine Zigarette fertig geraucht und drückte sie in den Erdhaufen hinein, wobei ihm der Alte wohlwollend zunickte. Das kommt auch mit in die Grube und stört nicht weiter, sagte sein Blick. Das Schöne, so fuhr der Lutze Hans jetzt fort, das Schöne für den Pfarrer sei ja, dass er direkt in den Himmel komme und sich nicht mehr lange, »so wie unsereens«, im Fegefeuer herumplagen müsse. Obwohl man natürlich nie wisse. Der Alte grinste wieder, diesmal ohne einen Gedanken an die Verwandtschaft Heusingers zu verschwenden. Die Turmuhr schlug. »Heilichs Blech, mir müsse weitermach«, verkündete der Alte, der erstaunlich behende aufsprang. »Auf, Heiner, schloaf koaste heut awend«, herrschte er seinen müden Kollegen an. Morris rappelte sich auf, klopfte sich den Hosenboden sauber und verabschiedete sich mit einem »Nochmals danke für die Zigarette!« von den beiden Totengräbern, die ihm freundlich zunickten, um dann ihre Schaufeln zu packen. Schwab schwindelte es. Das rasche Aufstehen, der Schlafmangel und die Hitze – alles kam zusammen. Drüben, nahe dem Leichenhaus, erspähte er eine Wasserstelle. Neben einer Art Brunnentrog standen mehrere grüne und gelbe Plastikgießkannen herum. Morris beugte seinen Kopf unter den Wasserhahn und ließ das 151
eiskalte Nass über seinen Hinterkopf laufen. Der Schädel knackte regelrecht unter dem kalten Guss. Eine Wohltat! Immer wieder schaufelte er Wasser ins Gesicht, bis er sich erfrischt genug fühlte, um seinen Weg fortzusetzen. Selma hieß sein Ziel. Vielleicht, ach was, ganz sicher, gab es bei ihr auch eine Tasse Kaffee. Und über die dampfende Kaffeetasse hinweg würde er ihr in die rehbraunen Augen schauen – in die Augen seiner zukünftigen Frau. Ach, Selma, Selma, Selma. Je mehr Schwab an seine Geliebte dachte, umso beflügelter wurde sein Schritt. Er eilte dahin. Fast war es ein Schweben, ein beseeltes Dahingleiten. Erst als Morris Selmas Haus im Blick hatte, verlangsamte sich sein Schritt etwas. In seinem Hirn versuchte er zaubrische Worte der Liebe, der Tiefe, zugleich aber auch der unbeschwerten Fröhlichkeit zu einem Begrüßungssatz zu komponieren, eine Ouvertüre, die Selma gleichermaßen betören wie anrühren und letztendlich – und darauf musste alles hinauslaufen – in seine Arme treiben würde. Doch noch war Schwab viel zu aufgeregt. Nichts, was ihm einfiel, war wirklich befriedigend. In seinem Gehirn purzelten die Gedanken wild durcheinander, hinzu kam ein steigender Adrenalinpegel, der seinen Herzschlag beschleunigte und, je näher er dem Haus kam, seinen Körper zusehends taumeln machte. Der Kastenwagen vor dem Haus irritierte ihn etwas, störte den romantischen Fluss seiner Formulierungsbemühungen. Auch die Tatsache, dass die Haustüre trotz der brütenden Hitze nicht geschlossen war, kam ihm seltsam vor. Er glaubte fast, die verrinnende Kühle des Treppenhauses erkennen zu können, wie sie sich unter dem Türrahmen, zunächst stahlblau, dann ins Bräunliche gehend, mit der flirrend heißen Luft vermengte und stickig wurde. »Wasser- und Heizungsinstallation Beckmann« las Schwab auf dem Fahrzeug, in dessen Innern Metallrohre, Werkzeug und Bierflaschen wild durcheinander lagen. Am bunten Farbenspiel der Glasbausteine vorbei, die ihn 152
einmal mehr faszinierten, betrat Schwab das Haus. Die Kühle des Treppenaufgangs überraschte ihn. Noch hatte sich die Hitze von draußen nicht gänzlich durchsetzen können. Stufe für Stufe, die er hinanstieg, beschleunigte sich der Rhythmus seines Herzens, schlug den Takt von Verzehrung und ängstlichem Zweifel. Schon wartete die nächste Überraschung. Die Wohnungstüre war nur angelehnt. Wie eine Einladung, wie eine aus jahrelangem Vertrauen erwachsene Geste wirkte das auf ihn. Ließ nicht auch die Mutter zu Hause die Haustüre meist nur angelehnt, wenn sie wusste, dass er jeden Augenblick heimkommen würde? Hatte ihn Selma auf der Straße erkannt, ihm Tür und Tor geöffnet, harrte seiner gar schmachtend auf die Kante des Bettes, erwartungsfroh im Bademantel? Schwab hörte ein Lachen. Glockenhell. Selma! Die Geliebte. Ein eiskalter Schauer der Lust rann ihm über den Rücken. Dann eine Männerstimme. Wie das? Seine Hand, die den Türgriff schon fast ergriffen hatte, zuckte zurück. Morris versuchte, seinen vorwärtsdrängenden Körper zu beruhigen, und beschloss zu klopfen. Zwei-, dreimal pochten seine Fingerknöchel an das Holz der Türe. Nichts. Er hämmerte lauter und wurde gehört. »Toni, schaust mal«, hörte Schwab Selma sagen. Dann kamen kleine Trippelschritte über das Parkett des Flures auf die Türe zu. Eine kleine Hand erschien unterhalb der Klinke an der Türkante, und dann sah er den Kleinen. Toni also hieß der Bub. Wahrscheinlich Anton. Das Kind schaute an ihm hoch, drehte den Kopf in Richtung Küche. »Einer is da«, rief das Kind, wohl unschlüssig, wie es den fremden Mann bezeichnen sollte. Toni trug ein graublau kariertes Hemd, eine braune, abgewetzte Lederhose und war ansonsten barfuß. »Wer isses denn?« war nun Selmas unzufriedene, beinahe genervte Stimme aus der Küche zu hören, aber der Satz war noch nicht ganz ausgesprochen, da erschien auch schon ihr Kopf hinter dem Türholm, wohl wissend, dass der kleine Toni ihr auf 153
diese Frage keine Antwort würde geben können. Schwabs Herz machte einen Satz, als sich ihre Augen trafen. »Ach, du«, sagte sie. Es klang weder begeistert, noch enttäuscht. Es klang eigentlich nach gar nichts. Schwabs strahlendes Lächeln wurde unsicher. Morris hatte irgendwie eine andere Begrüßung erwartet, war ob dieses Empfangs verwirrt, versuchte sich eine Antwort zurechtzulegen. Besorgt überlegte er, ob sie ihn wegen der versprochenen, aber augenscheinlich nicht mitgebrachten Pralinen so kühl empfing oder ob wohl das Kind, das nun zwischen beiden, Nase bohrend, hin und her blickte, etwas damit zu tun hatte. Noch bevor er sich schlüssig wurde, gab Selma aber die Erklärung. »Ich hab Handwercher do«, sagte sie und setzte nach: »Was geit’s?« Handwerker! Morris fiel ein Stein vom Herzen. Ihre Reserviertheit hatte also nichts mit ihm zu tun, sondern war nur eine Folge der äußeren Umstände. Natürlich. Schwab schlug sich im Geiste mit der Hand vor die Stirn. Sie hatte Handwerker im Haus. Was sonst hätte das Auto unten auf der Straße zu suchen gehabt? Weshalb sonst hätte sie so zurückhaltend auf sein Erscheinen reagieren sollen? Handwerker – in Schwab meldete sich der künftige treusorgende Vater und Familienvorstand. »Was passiert?« hauchte er und schnappte nach Luft, weil Selma nun in voller Schönheit im Flur stand. Der Anblick war atemberaubend. Selma trug so etwas wie ein Kleid, das aber mehr eine Kittelschürze war, die recht altmodisch wirkte. Aber gerade dieser Gegensatz von abgenutzt erscheinendem Textil und erregender Frische seiner Trägerin entfaltete eine hocherotische Wirkung, die Schwab sofort gefangennahm. Unbemerkt gingen seine Hände in Pfötchenstellung. Das Ding war blau-grün gemustert und vorne geknöpft und hatte einen kleinen Kragen, auf den links und rechts Selmas 154
lange Haare herabfielen. Haare und Kragen bildeten den Rahmen um ein engelsgleiches Gesicht, um ein bezauberndes Kehlgrübchen und einen Busen, der sich aufgrund des geöffneten obersten Knopfes des zudem recht engen Schürzenkleides großzügig präsentierte. Selma geizte nicht mit nackter Haut. Diese Freizügigkeit setzte sich unterhalb des Kleides fort. Dessen Saum endete etwa zehn Zentimeter über den Knien und brachte ihre langen braunen Beine voll zur Geltung. Auch dort unten am Kleid war der erste Knopf geöffnet, so dass sich Schwabs gierigen Augen reichlich Fleisch bot, als Selma nun etwas auf ihn zuging und sich die Oberschenkel mal links, mal rechts aus dem Kleid hervor schoben. Erst der Bademantel, dann die Schürze. Selma liebte es offenbar luftig. Na ja, verständlich bei dieser Hitze. Die Beine erschienen ihm ungemein lang – länger, als er es vom Morgen her in Erinnerung hatte, was wohl an den hohen Clogs lag, die Selma an den nackten Füßen trug. Der Abfluss sei verreckt, beantwortete die Geliebte nun Morris’ Frage. Sie musterte den Gast mit einem neugierigen, zunächst sogar ein wenig verärgert erscheinenden Blick, der sich jedoch plötzlich aufhellte, da Selma von einem Geistesblitz getroffen schien. »Haste e weng Zeit?« fragte sie. Schwab war begeistert. Natürlich hatte er Zeit. Wie konnte sie so etwas überhaupt fragen? Er lächelte und nickte überglücklich. In Gedanken glitten seine Hände an Selmas Schenkeln aufwärts, drangen frech unter den Arbeitskittel vor. Doch die von ihm so heiß Begehrte verstand es, den Lüsternen rasch zu ernüchtern. »Du könntst ’n Klenne nei die Kinnerschual breng!« sagte sie und fügte erklärend hinzu, dass ihre Mutter, die das sonst übernehme, nach Würzburg gefahren sei. Sie selbst aber, so fuhr sie fort, könne unmöglich weg, solange der Handwerker im Haus sei. Der Bub, das sei schon wichtig, solle jedoch in den Kindergarten. »Der will ja unbedingt«, fügte sie hinzu, und gegen ihr Lächeln gab es kein Nein. 155
Ohne die zustimmende Antwort Schwabs abzuwarten, wandte sich die Mutter ihrem Sohn zu und wies ihn an, die Sandalen aus der Küche zu holen und sich fertigzumachen. Selma folgte dem Buben, der prompt in die Küche sauste. Schwab stolperte hintendrein, die Augen gebettet auf das Wogen von Selmas Hintern und das braun glänzende Schimmern ihrer Schenkel. Sein erster Blick in die Küche fiel auf zwei ausgestreckte Beine, die mitten in den Raum ragten. Sie gehörten zu einem Blaumann, der unter der Küchenspüle in einem Rotschopf endete. Das Gesicht des Monteurs war nicht weniger rot als die Haare. Das lag sicher daran, dass der auf dem Rücken liegende Kerl mit dem Gesicht nach oben an dem über ihm hängenden Siphon der Spüle herumschraubte, der – dem Wasserstand im Becken nach zu urteilen – verstopft sein musste. Rot wurde aber auch Schwabs Gesicht, als er bemerkte, dass sich der Blick des etwa Dreißigjährigen weniger den Verschlüssen, die zu öffnen waren, widmete als vielmehr den Beinen der Wohnungsinhaberin, die jetzt neben dem Monteur zu stehen kamen, um eine kleine gelbe Plastikflasche mit Limonade zu füllen. Das Getränk war offenbar für Klein-Anton bestimmt. Eine Woge der Eifersucht durchtobte Schwab. Die Vorstellung dessen, was dieses Schwein da unter der Küchenspüle gerade zu sehen bekam – Selma stand in ihrer kurzen Schürze und auf ihren hohen Clogs unmittelbar vor dem Monteur –, das brachte Morris beinahe zum Rasen. Oh, einfältige Selma! dachte Schwab mit einer Mischung aus Schreck und Zorn, als diese nun gar noch ihr linkes Bein etwas anhob, um sich an der Innenseite ihres Oberschenkels mit rotlackierten Fingernägeln zu kratzen. Da juckte es wohl mächtig, denn die aufreizend gemütliche Kratzerei nahm eine ganze Weile in Anspruch – eine Zeitspanne, in der sich unter der Spüle überhaupt nichts tat, weil der Handwerker völlig fasziniert nach oben starrte. »Der Bub muss nei’n Kinnergarde«, sagte Selma nach unten zu dem Kerl, und Schwab fragte sich, was das den Monteur 156
überhaupt angehe, und noch dazu, warum Selma ergänzte, dass »er«, also Schwab, ihn hinbringen werde. Warum überhaupt sagte sie »er«, wobei sie mit einer Kopfbewegung zu ihm hin deutete? Schwab stutzte. Sollte sie etwa seinen Namen gar nicht kennen? Hatte er seinen Namen heute morgen nicht erwähnt, sich nicht als Moritz Schwab vorgestellt? Wie konnte das möglich sein? Während Morris sich zu erinnern versuchte, streifte sein Blick den Blaumann des Monteurs, der auf Bauchhöhe scheinbar durch einen in der Hosentasche steckenden Schraubenschlüssel seltsam nach oben ausgebeult war. Fast hätte man meinen können … Aber nein, er täuschte sich sicher und konnte sich auch nicht weiter darum sorgen, da ihm Selma den Buben zuschob. »Macht, es is scho spöat«, sagte sie und schob Schwab und Toni aus der Küche in den Flur und dann weiter ins Treppenhaus. »Bis gleich«, konnte Schwab gerade noch sagen, da war die Wohnungstüre auch schon hinter ihnen ins Schloss gefallen. Morris wusste nicht recht, ob er sich samt Pflegesohn aus dem Haus gewiesen fühlen oder mehr über die ihm zugedachte Verantwortung freuen sollte. Er entschied sich beim Blick auf den Buben, der ihm neugierig in die Augen schaute, aber für das Letztere. Er würde bei seiner Rückkehr allerdings mit Selma reden müssen. Die Art, wie sie ihre Reize an dahergelaufene Monteure verschleuderte, diesen in ihrer Naivität Einblicke gewährte, die bislang sogar ihm vorenthalten geblieben waren, und in diesen Dreckskerlen, aus denen die Welt zum überwiegenden Teil bestand, Hoffnungen und Begehrlichkeiten weckte, das bereitete ihm doch große Sorge. Selma war – ein anderer Begriff fiel ihm nicht ein – offenbar ›die Unschuld vom Lande‹, die sich nicht vorstellen konnte, welche Phantasien manche Männer Umtrieben und welche Gefahren sie mit ihrer Naivität auf sich heraufbeschwor. Morris blieb stehen. Ob er 157
gleich zurücklaufen und Selma auf die möglichen Risiken hinweisen sollte? Doch Toni sagte: »Da lang.« Sein Ärmchen zeigte die Straße hinab. Der Kleine hatte recht. Eins nach dem anderen. Zwei, drei Schritte vor ihm hüpfte Toni fröhlich ins Dorf. Das freute ihn. Erst jetzt wurde Schwab bewusst, dass er als Begleiter des Buben nun offenkundig für alle Dorfbewohner auch als Beschützer Selmas ins Licht der Öffentlichkeit trat. Das war ihm, ehrlich gesagt, gar nicht so unangenehm. Nein, er fühlte sogar ein wenig Stolz. Irgendwann würde es ohnehin publik, das mit ihm und Selma. Also gut. Dann eben hier und heute. Er stand schließlich zu seiner Verantwortung und auch zu dem Balg. Es war schon ein süßer Lauser, ohne Zweifel, dachte Schwab, als er den Buben so in seiner Lederhose und mit dem Täschchen um den Hals herumhopsen sah. Toni verschwand plötzlich von der Straße und sprang seitlich einen kleinen Pfad hinunter, der zum Bach führte. Schwabs Einwand, wo er denn hin wolle und dass sie doch schleunigst zum Kindergarten müssten, zumal er doch gleich wieder heim zur Mama zurückkehren wolle, beantwortete der Kleine mit dem Ruf »Kürzung«. Morris folgte dem Buben über den Trampelpfad und schloss zu ihm auf. Warum sollte er nicht die Gelegenheit benutzen, um seinen Ziehsohn etwas näher kennenzulernen? »Wie alt bist du eigentlich?« fragte er in den Rücken des Kleinen. Der hüpfte weiter, ohne sich umzudrehen. »Fünf, aber bald sechs. Im Winter.« Schwab musste lange Schritte machen, um Anschluss zu halten. »Und gehst du gern in den Kindergarten?« Die Antwort kam wieder, ohne dass sich Toni umwandte. »Scho.« 158
»Was macht denn eigentlich der Papa?« Kaum war ihm die Frage aus dem Mund gerutscht, da hätte sich Morris am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie konnte er das Kind so belasten? Der Kleine hatte Kummer genug, dass er ohne väterlichen Beistand aufwachsen musste. Morris, du bist ein Idiot! »Der is foart.« Der Kleine gab die Antwort unbekümmert, den Pfad am Bachufer weitertrabend. Da war kein Zaudern, keine belegte Stimme, kein ärgerliches Wort. »Kommt der heut abend heim?« Wieder war es passiert. Einfach so, ohne Nachdenken. Was ritt ihn? Hatte er sich nicht eben fürchterlich über seine idiotische Fragerei geärgert? Hatte er nicht eben beschlossen gehabt, das Kind mit diesen Dingen nicht zu belasten? Und jetzt setzte er auch noch eins drauf! Er war ein Vollidiot! Das Kind hopste nicht mehr. Toni war stehengeblieben und hatte sich zu ihm umgedreht. Der offene Blick der blauen Augen traf Schwab mitten ins Herz. Ja, er war ein Verbrecher. Er hatte das Kind verletzt, ohne Zweifel. »Der wohnt in die Werkschdadd«, sagte Toni munter und ergänzte: »Der schoafft fei viel.« Der Bub stand und blickte ihn an. In seinen Augen die offene Anklage: Weitere Fragen, der Herr? Schwab nickte. Das genügte, war schlimm genug. Er würde auf solche Fragen jetzt verzichten, schwor er sich beim Weitergehen. Toni wandte sich wieder um und beschleunigte den Schritt. Kindergeschrei, das lauter wurde. Plötzlich tauchten Kinder hinter einem Zaun auf, die freudig »Toni, Toni« riefen, dann aber verstummten, als sie ihn, Schwab, sahen. Ein Mädchen kam zum Zaun gerannt, blieb stehen, glotzte erst Toni, der nun wieder hüpfend weiterlief, dann Morris an, der stehengeblieben war. »Wär issn des?« blökte sie Toni hinterher, der, ohne sich 159
umzudrehen, über die Schulter zurückschrie: »Wäß nit. Der hoat mich nur härgebroacht.« Morris spürte, wie seine Wangen rot wurden. Blöde Göre, dachte er. Er überlegte kurz, ob er weiter hinter Toni her gehen oder sich besser gleich aus dem Staub machen sollte, als eine junge Frau, vielleicht ein bisschen älter als er selbst, am Zaun erschien. »Grüß Gott«, meinte sie. Sie nickte freundlich. »Du hast’n Toni gebracht?« Nun war die Reihe an Morris. Er brummte ein »Hmmm«. Die Kindergärtnerin nickte nochmals und strich nun Toni, der inzwischen auf der anderen Seite des Zauns aufgetaucht war, über die Haare. »Hängst dei Sachen noch drin auf, dann kommst raus zum Spielen«, sagte sie zu dem Buben und fragte, wieder zu Morris gewandt: »Holt’n heut Abend die Oma ab?« Woher sollte er, Schwab, das wissen? »Schon«, sagte er. Und: »Tschüss.« Dann drehte er sich auf den Hacken um und lief den Weg am Bach entlang zurück. Selma! Schon war das belastende Gespräch mit dem Kleinen vergessen, die blöde Antwort Tonis auf die Frage der Göre. Na gut, da würde es noch einiges zu reden geben. Für Toni war es sicher nicht leicht, einen neuen Papa zu akzeptieren. Aber das hatte Zeit. Erst einmal gab es andere Dinge zu klären. Selma! Er freute sich auf sie, freute sich auch auf den Kaffee, den es gleich geben würde. Etwas im Magen, das wäre nicht schlecht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es heute noch nicht allzuviel zu essen gegeben hatte. Ein Stück Kuchen zum Kaffee, das wäre fein. Ob Selma etwas zu Hause hatte? Vielleicht sollte er sicherheitshalber beim Bäcker vorbei? Nein, ganz sicher sollte er das. Etwas Süßes für die Süße, dachte er und grinste dabei. Selma würde sich über eine kleine Aufmerksamkeit freuen, zumal er vorhin schon keine Pralinen dabei hatte. Die Straße, die Schwab nun ging, stieß etwas unterhalb des 160
Kirchenhügels auf die Hauptstraße, die dort eine langgezogene Kurve machte. Dann sah er die Kreidestriche auf der Fahrbahn. Hier musste der Unfall passiert sein, der das Dorf bewegte. Seine Augen wanderten von rechts nach links und wieder zurück, in seinem Kopf versuchte er sich die letzten Meter im Leben des Pfarrers vorzustellen, bevor dieser vom Lastwagen erfasst worden war. Schwab dachte auch an das Gespräch auf dem Friedhof und die anstehende Beerdigung, die wohl morgen sein würde. Als er, noch ganz in Gedanken versunken, aus der prallen Sonne in das Schwarz der Häuserschatten eintauchte, kam es zum Zusammenprall. Stöhnen und Furzen waren eins. Werners, der Schwab mit gesenktem Kopf über den Haufen gerannt hatte, war so unglücklich gefallen, dass er mit dem Rücken auf der Kante des Bordsteins zum Liegen kam. Wieder dieser entsetzliche Schmerz, den er noch von seinem nächtlichen Sturz am ›Stern‹ gut in Erinnerung hatte. Auch Schwab hatte es zu Boden geworfen, allerdings nur auf den Hintern. Schnell war er wieder auf den Beinen, rieb sich fluchend den Steiß. Werners dagegen war ein einziges Stöhnen, ein halb ins Sonnenlicht, halb in den Schatten hingeworfenes Elend, über dem eine übel riechende Wolke stand. »Mein Kreuz«, jammerte Jaco. Und nochmals, nun grauslich wimmernd: »Mein Kreuz.« Dann rollte sich der Verletzte auf den Bauch, bettete das Gesicht nach unten auf dem linken Unterarm. Schwab griff sich das Elend, ignorierte das Sich-Wehren des Freundes gegen seine Umklammerung und zog den jaulenden Werners auf den Gehsteig. »Komm weg da von der Straße«, keuchte er. Mit beachtlicher Kraftanstrengung gelang es ihm tatsächlich, den anderen auf die Beine zu stellen und in der Senkrechten zu halten. »Tief durchschnaufen«, kommandierte er, wollte es dem Verletzten vormachen und ließ dabei ein erschrockenes »Uuh, du Sau« hören, nachdem er einen vollen 161
Lungenzug von Werners Ausdünstungen in sich gesogen hatte. Er stellte den Freund mit dem Rücken an der Hauswand ab. Jaco schnaufte wie ein Walross. Sein Gesicht war kreidebleich, Schweißperlen rannen über die Stirn. »Wie geht’s, wo kommst’n her?« Zwei Fragen Schwabs, auf die Werners nur mit Kopfschütteln reagierte. Ihm stand nicht nach Gesprächen. »Heim, schnell heim«, stammelte er. Schwab verzichtete auf weitere Nachfragen. Der Freund sah wirklich schlimm aus. Äußerlich wirkte er total versifft, das Hemd verschwitzt und verdreckt, die Haare verschmiert, das Gesicht eine einzige Leidensmiene, das eine Stück Bein, das nackt aus der Kleidung hervorsah, wie von der Sonne verbrannt. Dazu kam dieser fürchterliche Gestank. »Aufs Klo«, japste Werners und taumelte über die Fahrbahn davon. Schwab war hin- und hergerissen. Würde Jaco alleine zurechtkommen? »Ich geh noch zum Bäcker, komm gleich nach«, rief Morris dem Davoneilenden hinterher. Er war besorgt um den Freund, doch erst musste er zu Selma. Das war drängender. Selma würde vermutlich schon sehnlichst mit dem Kaffee warten. Der Handwerker müsste längst fort sein. Vielleicht hatte sie es sich auch bereits auf dem Bett bequem gemacht, und Haus- und Wohnungstüre waren nur angelehnt? Welch herrlicher Gedanke! Er beschloss, zwei Streuselteilchen und irgend etwas mit Schokolade zu nehmen. Jedenfalls etwas Süßes für seine Süße, dachte er noch einmal und hatte sogleich wieder so ein wunderbar warmes Gefühl in der Brust, gerade so, wie er es am Morgen verspürt hatte, als er nach dem Abschied von Selma beseelt von Kurts Werkstatt zurück in die Wohnung gelaufen war. 162
Die Auswahl im Bäckerladen war leider arg begrenzt. Sie war regelrecht enttäuschend. Mit zwei Amerikanern – Kuchenteilchen, die in ihrer Form an Ufos erinnerten und an der flachen Unterseite dick mit Zuckerguss versehen waren – und zwei Schnecken, ebenfalls reichlich mit Zuckerguss beschmiert, trat er den Weg zu Selmas Haus an. Mit Schokolade sei in der Hitze nicht viel Staat zu machen, hatte ihn die Bäckersfrau von der Packung Pralinen abgeraten. Da werde selbst der Granatzipfel schlapp, hatte sie kichernd bemerkt, sich dann vor Erschrecken über ihr Wortspiel die Hand vor den Mund geschlagen, um sie gleich wieder wegzunehmen und schallend zu lachen. Ihr Gesicht schlug rote Flammen. Blöde Kuh, dachte Morris und lächelte anstandshalber. Jetzt aber flott zurück zu Selma! Der Mechaniker aus dem Haus, die Mutter in Würzburg, der Kleine im Kindergarten – vielleicht würden Kaffee und Gebäck erst mal eine Weile warten müssen, grinste Morris in Gedanken an die Arbeitsschürze, die er Selma in wenigen Minuten abstreifen würde. Morris hörte ein Fahrzeug beschleunigen, Frauenstimmen. Dann kam ihm ein Omnibus entgegen. Noch einige Schritte, und Schwab waren alle feuchten Träume genommen. Der Bus aus Würzburg hatte soeben seine Fuhre an der Hauptstraße ausgespien. Ein blondes Mädchen, die an einer großen Tasche schleppte (er konnte nur ihren Rücken sehen, weil sie in die andere Richtung davonging), drei ältere Frauen, die noch an der Bushaltestelle beisammenstanden und ratschten. Eine davon kannte er, identifizierte sie nach einem kurzen Moment des Nachdenkens als Selmas Mutter. Zwischen den Lippen zischte er ein »Verdammt!« hervor. Ein ungebetener Kaffeegast, der ihm das Schäferstündchen vermieste. Doch es kam noch schlimmer. Der Typ, der auf der anderen Straßenseite in seine Richtung lief, hatte ihn soeben erspäht. Für 163
die Flucht in eine der schattendunklen Seitengassen war es jetzt zu spät. Bläser hatte ihn bereits erkannt, rief ein lautes »He, Morris!« und kam, die Straßenseite wechselnd, auf ihn zu marschiert. Ade, Selma! Lebt wohl, ihr herrlichen Beine! Vergiss mich nicht, du schweres, süßes Busen-Ruhekissen, ihr herrlich blinkenden weißen Zähne! Schwabs letzte Hoffnung, ein Blitzschlag möge Bläser von der Straße fegen, blieb unerfüllt. Er resignierte. Welch ein Gegensatz zu Morris’ Leichenbittermiene war da Pietros glückseliges Antlitz! Fast väterlich legte Pietro den Arm um die hängenden Schultern des Freundes. »Na, was läuft?« fragte Bläser strahlend, wartete aber keine Antwort ab, sondern setzte gleich nach: »Good News!« Bläser schob Morris über die Straße. »Warst beim Bäcker?« Nun löste er die Klammer von Schwabs Schulter, doch nur, um ihm einen weiteren Liebesbeweis in Form eines kräftigen Handschlags auf den Rücken zu erweisen. »Klasse!« sagte Bläser. »Kaffee, das brauch’ ich jetzt.« Blieb dann kurz stehen, sah Morris musternd an und fragte: »Probleme? Du bist so ruhig.« Schwab räusperte sich die Enttäuschung aus dem Hals. Sollte er sein Elend aus sich herausschreien? Nein, es hätte viel zu vieler Worte bedurft. »Es gab nichts mit Schoklade beim Bäcker.« Bläser stutzte kurz, dann lachte er brüllend. »Das sind Sorgen!« prustete er. Dann griff er sich die Schwab’sche Tüte und warf einen Blick hinein. »Amerikaner, Schnecken – ist doch fein«, stellte Pietro fest. Seine Augen zählten den Inhalt. »Vier?« fragte er. Schwab spürte den Erklärungsbedarf. Um etwas Zeit zu gewinnen, erwiderte er: »Zweimal zwei.« Pietro fuhr sich mit der rechten Hand über den feuchten Nacken. »Ist der Jaco nicht da? Wo steckt’n der Kerl?« 164
Das wohl schon, meinte Morris; der sei in der Wohnung. Aber – und nun war ihm endlich eine plausible Antwort gekommen – sie hätten nicht so bald mit Bläsers Rückkehr gerechnet. »Wir dachten, du kommst erst am Abend«, sagte er. Und überhaupt, so fuhr Schwab fort, mittlerweile etwas gefasster, solle er, Bläser, doch jetzt mal erzählen, wie es ihm in der Stadt und auf der Polizei ergangen sei. Da sei er ganz gespannt – und das war Morris tatsächlich, war das Resultat doch ausschlaggebend dafür, wie lange er noch in Selmas Nähe würde bleiben können. Der Angesprochene winkte ab. »War nicht dort«, berichtete er und fasste in knappen Worten seine Stadtvisite zusammen, die ärgerliche Busfahrt und die kleine Episode im Café allerdings aussparend: wie ihn der Busfahrer zu einer sich später als nicht vorhanden erweisenden Autowerkstatt geschickt hatte ( »der gehört sicher auch zur Frankfurt-Connection vom Kurt, der Sack« ); dann, wie er sich entschieden hatte, die Eltern am Walchensee anzurufen, und welch erfreuliches Ergebnis das Telefonat für sie alle gehabt habe; dass ihm auf der Heimfahrt bewusst geworden war, auf welch dünnem Eis er sich bewegte – einerseits länger in diesem Kaff zu bleiben, andererseits die Konfrontation mit Kurt durch sein gefährliches Gerede im Bus heraufbeschworen zu haben – das blieb sein Geheimnis. Vielleicht hatte er ja Glück, und die Tratschweiber, inklusive Conny und Paul, hatten das Gespräch bis zum Abend vergessen. Schwabs skeptischen Blick bemerkend, meinte er, es sei ihm sowieso aufgestoßen, dass sie sich »wie kindische Waschlappen« benommen hätten. Was sei denn dabei, wenn sie, statt mit den Alten durch die Berge zu schlappen oder am See herumzuliegen, so unter sich ein paar Tage in Franken verbrächten? Das sei eine prima Landschaft, meinte Bläser, die Leute seien ganz in Ordnung, und überhaupt … Morris staunte mit offenem Mund. Hatte er etwas verpasst? Was hatte Bläsers Sinneswandel herbeigeführt? »Auf, heim zum Kaffee«, befahl der andere nun und machte 165
deutlich, dass es aus seiner Sicht nichts weiter zu sagen gab. Seufzend trottete Morris neben ihm her, Selmas Mutter beim Vorbeigehen aus traurigen Augen eine sehnsüchtige Botschaft mit auf den Weg gebend. Sollte er schnell zu seiner Schwiegermutter laufen, damit sie Selma ausrichte, dass mit dem Kindergarten alles klar sei? Aber Bläsers Anwesenheit machte es unmöglich. Das erste, was ihnen am Haus auffiel, war das kleine, offen stehende Toilettenfenster, an dem man vorbei musste, um an die im Hof gelegene Haustüre zu gelangen. Die Freunde machten die Beobachtungen gleichzeitig und wussten nicht, was sie mehr sorgen sollte: das aufgeregte Brummen der dicken, schwarz und grün schillernden Fliegen, die im Dutzend durch das offene Fenster hinein- und heraustobten, oder der entsetzlichen Gestank, der durch die kleine Fensteröffnung waberte und von der schwülwarmen Luft des Sommernachmittags wohl aufgrund seiner chemischen Schwere am Entweichen gehindert wurde. Bläser glaubte beim Durchdringen des Schleiers aus Fäkaliendüften sogar eine gewisse gelbbräunliche Färbung der Luft erkennen zu können. Viel hatte er aus dem Schulunterricht ja nicht behalten, vor allem Bilder waren es, und an eines dieser Bilder fühlte er sich nun erinnert: an das in einem Glas lauernde braungelbe Gas – war es Bor, war es Brom? Auf jeden Fall ein dickes, großes B –, das wie ein Flaschengeist unter der Last der Atmosphäre in diesem klaren Behältnis gefangen war und seine Schleierfäden zog. Der Gestank vor dem Fenster war brutal. »Uuuh«, stöhnte Schwab neben ihm und beschleunigte seinen Schritt. Die Haustüre stand offen. Zeitgleich mit dieser Feststellung bemerkte Bläser den Hausherrn. Der saß auf einer weißen Plastikbank im Schatten des Hofes und paffte. »Na, Männer«, grinste er dreckig, »da is was gebote, gell?« Zweifellos bezog sich die Andeutung auf den Mief, der selbst 166
auf dieser Seite des Hauses noch zu schmecken war. Bläser hatte eigentlich keinen Bock auf eine Unterhaltung mit dem Vermieter, wurde aber von dem reaktionsschnelleren Schwab ausgebootet. »Ich stell schon mal Kaffee auf«, sagte der und huschte an Bläser vorbei ins Haus, dabei Egon freundlich grüßend. Schwab war angenehm überrascht, als er die Wohnung betrat. Er hatte sich den Gestank viel schlimmer vorgestellt, doch hier war kaum etwas zu bemerken. Werners hatte die Türe zum Badezimmer geschlossen. Der Dampf zog somit fast vollständig durchs Klofenster nach draußen ab. Der Verursacher der Düfte selbst lag zusammengekauert auf der Couch und schlief. Morris bekam fast Mitleid, als er das dahingeraffte Elend musterte. Was ihm ins Auge stach, da ihm Werners den Rücken zukehrte, war die nackte Rückenpartie des Freundes. Zwischen Hemd und Hose war ein breiter unbedeckter Bereich, der von Oberkante Nieren bis etwa Mitte Hintern reichte und somit auch den Ansatz der von den Pobacken gebildeten Kerbe umfasste. Auf Nierenhöhe war die Haut stark gerötet, was Morris auf die Folgen des Sturzes zurückführte. Er würde den armen Kerl noch etwas schlummern lassen, beschloss Schwab. Ihn störte der halbnackte Hintern nicht, und es war warm genug, so dass man keine Sorgen haben musste, dass sich Jaco verkühlte. Schwab suchte sich die zum Kaffeekochen notwendigen Sachen zusammen, während von draußen die Wortfetzen der Bläser-Egon’schen Unterhaltung zu vernehmen, ihr Inhalt aber nicht zu verstehen war. Bläser hatte es sich auf der Treppe bequem gemacht. Die kleine Parkbank schien ihm nicht einladend genug, und außerdem hatte er nicht vor, dem Schwager des Wirts länger als eine Zigarettenpause Gesellschaft zu leisten. Andererseits war ein gewisses Entgegenkommen angebracht, hatte der Alte ihnen doch Gastfreundschaft gewährt, und auf diese war das Trio auch 167
noch zwei, drei Tage angewiesen. Ein kleiner Plausch war da hilfreich, dachte sich Bläser, eben wie ein Kundengespräch am Bankschalter. Wie geht’s? Danke, gut. Und selber? Es geht so. Schönes Wetter. Ja, aber heiß. Nicht gut für die Pflanzen. Es dürfte mal regnen. Na ja, die Jugend freut’s. Ist halt Schwimmbadwetter. Aber die alten Leut. Kreislauf und so weiter. Ach ja, man merkt’s selber. Ist halt nicht mehr der Jüngste. Früher, ja da. Aber jetzt? Das übliche Programm, dachte sich Bläser, innerlich auf Small-Talk eingerichtet. Er wurde prächtig überrascht. »Die Welt dreht sich heut langsamer«, sagte Egon und zog kräftig an seiner Zigarette – so kräftig, dass seine Wangen regelrecht in die Mundhöhle hineingesogen wurden. Bläser war verwundert. Ein Generationengespräch hatte er eigentlich nicht erwartet. »Das find ich nicht«, gab er zur Antwort, »der ganze Verkehr, die Luft- und Raumfahrt, das war doch früher nicht.« Egon blickte weiter geradeaus und schien einen Punkt über dem großen Kirschenbaum, der in dem an den Hof angrenzenden Garten stand, zu fixieren. Erst die Antwort des Alten machte Bläser klar, dass er den Hausherrn gründlich missverstanden hatte. »Vorhin, so üm drei, woar die Sunn noch links üwerm Albrecht seim Haus gstande. Ungefähr do, wu der Blitzableiter nuffgeaht.« Die Nase zuckte kurz in die angesprochene Richtung. Egon machte eine Pause, um erneut einen tiefen Zug zu inhalieren. »Etz is die Sunn vielleicht zwä Meta weider. Gechenüwer gestern goar nix. Da warn’s mindestens dreiehalb, ja vier Meta.« Egon sinnierte noch einen kleinen Moment über das Nachbarhaus hinweg, dann wandte er sein Gesicht dem jungen Burschen am Hauseingang zu: Ob er, Bläser, sich schon einmal Gedanken darüber gemacht habe, was es heiße, wenn die Erde 168
sozusagen abgebremst werde? Wenn sie also, durch welche Einflüsse auch immer, sich plötzlich darauf besinne, sich von jetzt auf nachher nicht mehr zu drehen? Bläser konterte geschickt. »Kommt drauf an, wo wir gerade sind. Wenn wir Glück haben, dann bleibt’s bei uns ewig hell, wenn wir Pech haben, ewig dunkel.« Egon nickte anerkennend. Schien nachzudenken, grinste dabei ein wenig als Zeichen dafür, dass er offenbar ganz angenehm überrascht war. Dann hob er den rechten Arm ein wenig und bewegte die gelbfingrige Hand hin und her, mit seiner Zigarette einen leichten Rauchwirbel erzeugend. »Nit schlächt«, lobte er die Antwort des Jungen, »awer des hab ich nit gemeent.« Und fuhr dann, Bläser musternd, mit einer orakelhaften Summe fort: »Wenn die Ärde stehebleit, flieche mir all devoo.« Egon ließ den Satz ganz bewusst zehn, zwanzig Sekunden im Raum stehen, dabei weiter mit seiner rechten Hand winkend, sozusagen als Signal für Bläser, dass eine Kommentierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht gewünscht sei. Für den Menschen scheine die Welt wie ein Haus, meinte Egon. Er schreite darin herum, und alles sei am rechten Platz. Er schaue zum Fenster hinaus. Alles am rechten Platz. Nichts bewege sich, außer dem, der sich selbst bewege, sei es Vogel oder Auto. Abends lösche der Herr das Licht. Alles dunkel, alles gut, und weiter stehe alles an seinem Platz. Bläser steckte sich eine neue Zigarette an der noch glühenden Kippe an und drückte den Stummel in die Erde neben der Treppe. Was war mit dem Alten los? War er meschugge? »In Wärchlichkeit awer«, so hörte Bläser den Alten jetzt, »in Wärchlichkeit awer fliecht alles immer im Kreis rüm.« Jetzt wechselte die Zigarette in die linke Hand, damit Egon den Zeigefinger der Rechten freibekam, um ihn bedeutungsschwanger nach oben zu recken. »Und nur, weil alles mit uns fliecht, merge mir nix devoo.« Wieder eine Pause. 169
Auf was für Gedanken alte Leute doch kamen, wenn sie die Hitze nicht vertrugen, wunderte sich Bläser. »Wenn awer die Ärde blötzlich stehebleit«, so predigte der Vermieter weiter, »dann scheaße mir, wie von der Kanone gschosse, dehiee. Un nit nur mir. Alles, sogar die Bämm. Die Autos sowieso, einfach alles. Egal, ob’s festgebunne is oder nit.« Wieder eine Pause. Egon wandte seinen Kopf von Bläser ab und blickte an den Horizont, der von der Linie des Hausdachs des Nachbarn gebildet wurde. Starrte dahin, als ob er sich vorstelle, wie es sei, von der ihn ausbremsenden Erde gerissen und ins Nichts geschleudert zu werden. Meschugge, dachte sich Bläser aufs neue. »Wie, wohin?« fragte er ungeduldig, als ihm die Pause zu lang wurde und sich auch seine zweite Zigarette zu Ende neigte. Außerdem drang verlockender Kaffeeduft aus der Wohnung. »Na, neis All, alles neis All, nei die Ewichkeit des Universums«, tönte Egon. Wieder schaute der Wirtsschwager herüber, jetzt mit dem Kopf nickend, offenbar erneut zu einer Predigt ansetzend. Doch in die erste Silbe aus dem halb geöffneten Mund warf Bläser – gerade eben war ihm dies eingefallen – einen Satz, der Egon zu erschüttern schien: »Ja, aber wenn wir hier heroben davonfliegen, was ist dann mit denen auf der anderen Seite der Erdkugel? Bohrt’s die dann in den Boden rein?« Nur ein »wäh« war zu hören, als habe Egon seinen Satz mit einem Wenn beginnen wollen. Der Rest blieb ihm im Halse stecken. Bläser sah den Adamsapfel seines Gesprächspartners zwei-, dreimal auf- und abhüpfen. Es herrschte atemlose Stille. »Ich hab’s, des is«, hob Egon zu einer Antwort an, schnippte seine Zigarettenkippe in den Hof und legte die gelbe Handfläche vor Mund und Nase, ganz nachdenklich. »Kaffee ist fertig.« Schwab stand in der Haustüre, blickte erst 170
auf Bläser herab, dann zu Egon hinüber, der irgendwie komisch wirkte. »Is was?« fragte er. »Nein, nix.« Bläser stand auf. »Kaffeezeit«, sagte er zum Hausherrn gewandt, ohne diesen aber in die Wohnung zu bitten. »Dann also«, sagte Pietro noch, weil er das Gefühl hatte, dem Alten noch irgend etwas sagen zu müssen. »Hmm«, antwortete der, ganz in Gedanken versunken. Bläser schloss die Wohnungstüre. Weniger, weil er Egon aussperren wollte oder ihm nicht eine Tasse Kaffee gönnte, sondern weil der Hausherr nicht hören sollte, wenn sie über sein dummes Gerede lästerten. Doch das Gesprächsthema bestimmten andere als Bläser. Rasch war der Wirtsschwager vergessen. Werners war inzwischen aus seinem kurzen Schlaf gelärmt worden und saß aufrecht auf der Couch. Schwabs Frage, ob er denn keinen Amerikaner oder wenigstens eine Schnecke wolle, wies der Freund mit verzerrtem Gesicht und sanftem Kopfschütteln ab. Werners war verdammt bleich um die Nase. Bläser erschrak. »Junge, bis du krank? Hast du gekotzt? Ist dir schlecht?« Das Fragenbombardement ließ Jaco aufblicken. Bläser sah in ein Mensch gewordenes Stück Käsekuchen, in dem eine spitze Nase zwischen zwei riesigen dunklen Augenhöhlen befestigt war. Die Pupillen lagen wie zwei gesunkene Schiffe am Grunde des Meeres. »Junge, Junge«, zollte Pietro dem Freund mit dem ihm eigenen Sarkasmus Respekt, »du siehst gut aus.« Werners seufzte nur und streckte seine zittrigen Hände der dampfenden Tasse Kaffee entgegen, die ihm Schwab reichte. Hier war Aufmunterung angesagt, beschloss Bläser und setzte nun auch Werners von seinem erfreulichen Telefonat mit Muttern in Kenntnis und von der durch seine Geschicklichkeit zusätzlich gewonnenen Zeit. Nun würde alles gut werden, war sich Bläser sicher. »Zur Feier des Tages«, verkündete er stolz, 171
denn »Feste müssen fallen, wie sie kommen«, lade er die Freunde zum Abendessen ein. Schwab nickte, erklärte aber sogleich: »So versifft geh ich nicht.« Er werde erst mal duschen, verkündete er, blickte zu Werners und meinte, das könne auch diesem nicht schaden und bringe ihn vielleicht auf die Beine. Bläser schien zu überlegen, ob es Schwab war, der da gesprochen hatte, oder Schwabs Mutter, fand es aber »eine prima Idee«, vielleicht auch deshalb, weil es ihm just ein wenig am Hintern juckte, was bei der Witterung und dem vielen Herumgehocke in Bussen und Cafes auch gar nicht verwunderlich war, wie er fand. »Alles duscht«, zog Bläser das Kommando wieder an sich, »dann wird noch eine halbe Stunde gepennt, und dann geht’s in den ›Stern‹.« Werners enthielt sich jeden Kommentars. Was geschehen musste, würde ohnehin geschehen. Wie gering sein Einfluss auf den Lauf der Dinge war, hatte er ja gesehen.
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KAPITEL 7 Fränkische Spezialitäten ZWEI STUNDEN SPÄTER konnte die Ortsbevölkerung – die einen hinter Gardinen und halb verschlossenen Rolläden hervorschauend, andere vor dem Haus auf Bänkchen sitzend oder in Grüppchen in Hofeinfahrten im Gespräch vereint – drei männliche Wesen, in der Blüte ihrer Jugend stehend, durch das Dorf dem Gasthaus ›Stern‹ zumarschieren sehen. Alle drei trugen Jeans in unterschiedlicher Blauschattierung, die von abgewetzt hell bis ungewaschen dunkel reichte. Dazu hatten sie Hemden mit Flügelkrägelchen gewählt. Bläser in kräftigem Blau, Schwab kleinkariert graublau und Werners in fast hautfarbenem Orange. Das Auffälligste an den dreien war jedoch die Marschordnung. Vorneweg, fast im Gleichschritt und mit einem Elan, der Vorfreude auf das Abendessen und jugendliche Lebenslust verriet, Peter Bläser und Moritz Schwab, in angeregte Unterhaltung vertieft. Ihre Gesichter strahlten, ihre Arme fuchtelten, ihre Augen blitzten. Mehrere Schritte dahinter folgte Jakob Werners. Welch Unterschied zu den fröhlichen Springinsfeld, die ihm voraushopsten! Werners hängende Schulterpartie war nicht das einzige Zeichen dafür, dass ihn schwerer Kummer oder körperliche Gebrechen plagten und er mit der Kraft der Freunde an diesem Abend nicht mithalten konnte. Seine Arme schwangen schimpansenartig links und rechts vom Körper, das Kinn fiel beinahe auf die Brust, die Beine aber knickten bei jedem Schritt in den Knien so dramatisch ein, dass es sich einer der Dorfbewohner nicht verkneifen konnte, dem Vorbeischlingernden ein fröhliches »Hoho, stürmische See heute, Käptn!« hinterherzurufen. Werners stakste unbeirrt weiter. 173
Während Schwab und Bläser die kleine, zum Eingang des ›Stern‹ hinaufführende Sandsteintreppe mit zwei hurtigen Schritten, ja beinahe Sprüngen nahmen, wurde Werners schlingernder Gang beim Anblick von Treppe, Hof und Scheune noch zäher. Wirr huschten seine Augen über Asphalt und Pflaster, die Oberfläche nach silbrig glänzenden Objekten erforschend, zugleich aber in dem Wissen, doch nicht auf mehr als einen Kronenkorken stoßen zu können. Seufzend trat Werners an die Treppe heran, zittrig griffen die Finger nach dem wackeligen Handlaut, mühsam zog sich der Körper Stufe für Stufe die Treppe hinauf zur Türe, durch die Bläser und Schwab längst verschwunden waren. Drinnen gab’s einen überaus freundlichen Empfang. »Ja, die jungen Herren«, hörte Werners, lange bevor er in die Gaststube trat, des Apostels Stimme. In das gegenseitige »Guten Abend«, zwischen die fröhlichen Stimmen der beiden Freunde, fiel auch das sonore Grunzen des Baatsch. Kaum hatte er die Türe aufgestoßen, wurde auch Werners in die Begrüßung mit einbezogen, ließ sich der Apostel gar zu einem angedeuteten Winken hinreißen, und der neue Gast dankte mit einem freundlichen, ein wenig aber doch gequälten Nicken. »Na, hat’s noch geklappt mit’m Essen?« wollte der Apostel wissen und blickte Werners neugierig an, merkte dann aber an dessen verlegenem Blick und den fragend gerunzelten Augenbrauen Bläsers, dass diese Thematik nur die Harmonie des Abends beeinträchtigen würde. Mit einem Brummen machte er deutlich, dass er keine Antwort erwartete. »Dem Jaco geht’s nicht so gut«, versuchte Bläser etwa im Raum stehende Missverständnisse zu beseitigen. »Wohl ein Virus eingefangen«, ergänzte er, was den Apostel zu der Bemerkung veranlasste, dass die drei Freunde mit dem Weg ins Gasthaus dann genau das Richtige getan hätten. Die Beschwerden würden sich nach wenigen Schoppen Frankenwein 174
zweifellos legen, prophezeite der Alte voller Zuversicht. »Frankenwein ist Krankenwein«, dozierte der Rotbäckige und erntete dafür ein zustimmendes Matschen aus dem Munde des Baatsch. Und weil Werners ob dieser Worte und in Erinnerung des Vorabends zweifelnd das Gesicht verzog, ergänzte der Apostel mit erhobenem Zeigefinger, es müsse freilich der richtige Wein sein. »Der kranke Moo braucht erst e Medizin«, erklärte er und wies den immer noch herumstehenden Freunden schon etwas ungeduldig ihre Sitzplätze am Stammtisch an. Habe sich der kranke Magen erst einmal mit einem edlen Tröpfchen entspannt, so fuhr der Weise fort, dann sei der weiteren Verabreichung von Wein gebräuchlichen Standards kein Riegel mehr vorgeschoben. Während sonst ganz falsch sei, so der Apostel, dass nämlich viel nicht viel helfe, treffe das auf den Frankenwein nach seinen ganz persönlichen Erfahrungen nicht zu. »En Schoppe mehr hat noch kemm gschad«, betonte der Alte, und wieder zuckte der Zeigefinger zur Bestätigung nach oben. Erneut grunzte der Baatsch beipflichtend, während es der mit am Tische stehende und die Bestellungen erwartende Sternwirt Josef bei einem freundlichen, keineswegs widersprechenden Schmunzeln beließ. Das treffe sich wohl, befand Bläser. Schließlich wolle man sich heute etwas gönnen, verriet er voller Vergnügen. Sprachs und blickte liebevoll auf Schwab und Werners. »Josef«, sprach nun der Apostel den Wirt an – und Werners glaubte, dabei ein leichtes Zwinkern der Augenlider des Rotgesichts bemerkt zu haben –, »was für’n Krankenwein koaste uns denn empfehl?« Es müsse schon was Feines sein, ergänzte der Apostel, deutete mit einem Kopfnicken auf den ermattet am Tische kauernden Werners, und es dürfe den Magen nicht überfordern. Lange grübeln musste der Wirt nicht. Immer gut verträglich, 175
ja, »aufs beste bekömmlich«, sei eine Silvaner-Spätlese, erklärte Josef. Und da habe er noch einen schönen ›Ölspiel‹ im Keller. Den habe er sich vor Jahren eigens aus Sommerhausen für »ganz besondere Anlass« geholt. Aber, so gab der Wirt jetzt den drei jungen Herren, vor allem aber dem aufmerksam lauschenden Bläser zu bedenken, der sei nicht ganz billig. Bei diesem Ölspiel handele es sich weder um einen der günstigen Kabinett-Silvaner, von denen sie am Vorabend doch recht gerne getrunken hätten, noch um einen Spätlese-Schoppen vom Schwager, den er aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen schon günstiger einkaufen und dementsprechend an die Gäste weitergeben könne. »Awer es is auch e Tröpfle!« schloss der Wirt seine Ausführungen und wartete geduldig auf weitere Anweisungen der Kundschaft. Bläser schien für einen Moment zu überlegen, hatte ihm doch bei der gestrigen Rechnung Werners finanziell unter die Arme greifen müssen. Was hieß schon, der Wein sei nicht ganz billig? Das konnte viel und wenig bedeuten. Doch Bläser wollte weder als Knauserer noch als Sprücheklopfer dastehen. Den Freunden hatte er ein gescheites Abendessen versprochen, und da gehörte auch ein anständiges Getränk dazu. Das hatten sie sich verdient. Und schließlich galt es, Werners aus seiner Lethargie und aus seinen Beschwernissen zu reißen. Wenn sich das Ölspiel wirklich als die richtige Medizin erweisen sollte, dann konnte man dafür schon mal ein paar Mark mehr ausgeben. »Geht klar«, beschied Bläser, und der Wirt eilte davon. Keiner schien sich mehr über diesen Entschluss zu freuen als der Apostel, der sogar kurz in die Hände patschte und mit verklärter Stimme verkündete: »Eine Silvaner-Spätlese, Ölspiel – vorzüchliche Entscheidung.« Und als gar der Baatsch seinen wulstigen Arm leicht hob, die wurstigen Finger zur Faust ballte und mit fettgepolsterten 176
Knöcheln auf der Tischplatte Beifall klopfte, da war sich auch Bläser sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wenn diese alten Profis schon so verzückt reagierten, dann konnte an seiner Bestellung kaum etwas verkehrt sein. Der Wein kam, natürlich im Bocksbeutel. »Ihr wisst noch?« kommentierte der Apostel mit dreckigem Grinsen das Erscheinen der Flaschenform und machte mit seiner offenen Hand eine Bewegung, als würde er das Gewicht eines Geldsäckels abschätzen, wobei er ein freches Meckern hören ließ. Da fiel auch bei den jungen Freunden der Groschen. Der Wirt lachte, das breiige Gesicht des Baatsch ließ ein Schmunzeln erahnen, Schwab musste an Selma denken. Der Gedanke machte ihn traurig und durstig zugleich. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Wirt den Bocksbeutel an den Apostel aushändigte, unabhängig davon, dass Bläser den Wein geordert hatte und schließlich auch bezahlen würde. Aber hier war Fachwissen gefragt, hier waren Handgriffe vonnöten, die den jungen Herren bislang nicht eigen waren. Dass hier und jetzt etwas ganz Besonderes vor sich ging, wurde Werners, Schwab und Bläser auch durch das umständliche Getue deutlich, mit dem der Wirt den Wein an den Apostel überreichte. Zunächst aber herrschte bei Bläser Enttäuschung vor. Die Flasche machte einen leicht versifften Eindruck; fast schien es Bläser, als hätte sich Moder auf den Schultern des Bocksbeutels abgesetzt. Wie konnte der Wirt es wagen, aus dem hintersten, dreckigsten Winkel seines Kellers eine offenbar unverkäufliche Flasche ans Tageslicht zu zerren und als göttliches Ölspiel anzupreisen? Dachte der Sack etwa, er könne die jungen, unerfahrenen Gäste übers Ohr hauen? Ärgerlich rutsche Bläser auf dem Hosenboden hin und her. Er verkniff sich seinen wütenden Protest letztlich nur, weil ihn der Anblick des Apostels irritierte. Sanft ruhten dessen Augen auf dem Grün des Bocksbeutels, schienen gar feucht vor Glückseligkeit. 177
Die Flasche war nach wie vor verschlossen, und Gläser waren auch keine in Sicht. Was ging hier vor sich? Bläsers Augen wanderten zwischen den alten und jungen Freunden hin und her. Selbst Werners schien trotz aller Leiden, die ihn beutelten, interessiert zu sein. Als der Wirt den Bocksbeutel über den Tisch reichte, wobei das bunte Etikett nach oben wies, fühlte sich Bläser fast an eine religiöse Handlung erinnert oder an jenen herrlichen Film über König Artus, da dieser dem vor ihm knienden Ritter Gawein das Schwert als Zeichen der Zugehörigkeit zur illustren Tafelrunde in die offenen Arme legte. Der Apostel schnalzte mit der Zunge. Studierte das Etikett, einmal, zweimal, dreimal. Schien zufrieden. Strich zärtlich über den Moder auf der Flaschenschulter. Untersuchte vorsichtig die Versiegelung des Korkens. War’s wieder zufrieden. Sprach, nein: hauchte dann »Ein schöner Wein« und reichte die Flasche an den Wirt zurück. Ganz vorsichtig, möglichst jede Erschütterung vermeidend. Josef verschwand für kurze Zeit hinter dem Tresen. Augenblicke später standen kleine Römer auf dem Tisch und hatte der Wirt den Korkenzieher in den geschlossenen Schoß der inzwischen mit einem Tuch gesäuberten Flasche eindringen lassen. Nun wieder am Stammtisch stehend, klemmte sich Josef den Bocksbeutel zwischen die Oberschenkel und spannte den Unterarm an. Nicht mit einem kräftigen Ruck, wie es Bläser erwartet hatte, sondern mit einem sich kontinuierlich steigernden Ziehen lockte der Wirt den ächzenden, sich sträubenden Korken aus seinem Gehäuse. Nur Handgelenk und Unterarm schafften, dazu noch die sich erst aufblasenden und dann pressend durch schmale Lippen entleerenden Backen, sonst nichts. Schließlich fügte sich der Korken mit einem resignierenden Plopp in sein Schicksal. Weit hatte der Wirt das gedrillte Instrument in die portugiesische Rinde dringen lassen. Vielleicht zu weit, wie der 178
skeptische Blick des Apostels andeutete. Wie die Freunde jetzt – da der Wirt den (immer noch auf seinen stählernen Bezwinger aufgespießt) Korken an die Nase führte – sehen konnten, ragte die Spitze des Korkenziehers wohl zwei Windungen weit aus der Unterseite des Naturverschlusses. Ein schlechtes Omen? Wie der Apostel und der Baatsch starrten die jungen Leute ins Gesicht des Wirts, verfolgten gespannt sein Mienenspiel, das Blähen der Nüstern. Kurz und knapp erscholl schließlich das »Ja« des Wirts, trotz seiner einsilbigen Kürze dessen Erleichterung verratend. Ein Lächeln stand ihm im Gesicht. Von neuem Elan beseelt, drehte Josef den Korken vom Metall und bot ihn dem Apostel dar. Auch dieser schnupperte. »Passt«, befand der Experte, nickte zufrieden und deutete auf einen der Römer, in den der Wirt nun einen winzigen Schluck des goldgelben Rebensaftes rinnen ließ – so wenig, dass die Flasche gerade zweimal zum Glucksen kam. Bläser und Schwab grinsten sich an. Das Mysterienspiel, ob inszeniert oder tatsächlich von Notwendigkeit, machte ihnen Spaß. Ganz unten am Stiel griff sich der Apostel das Glas mit der güldenen Kostprobe, nicht den Hals des Gefäßes umfassend, sondern den flachen Boden des Ständers zwischen Daumen und Zeigefinger nehmend. Mit geschlossenen Augen schnupperte er, seine Nase in den Römer tauchend. Dann öffnete er die Lider und schwenkte den Inhalt mehrmals herum, führte sodann das Glas bei erneut geschlossenen Augen an die Nase, rückte abschließend wieder offenen Blicks das Glas von seinem Gesicht ab und musterte die Farbe des Weins im Licht der Abendsonne, das durch die Gasthausfenster hereinbrach. Freudiger Glanz lag auf dem Antlitz des Alten. Dann endlich – Bläser schien es nun fast schon zu lange mit dem ganzen Getue, denn es zehrte ihn selbst danach, einen Schluck nehmen zu können – führte der Apostel das Glas zum Mund. Der Wein 179
verschwand. Kurz herrschte Schweigen und Reglosigkeit. Nur das Schnorcheln der Atmungsorgane des Baatsch war zu hören, dazwischen das Surren einer lästigen Fliege. Dann hob ein Schlürfen und Schmatzen an, dass es eine wahre Pracht war. Endlich, endlich – aller Augen waren in höchster Anspannung auf den Apostel gerichtet – fand die Kostprobe ihren Weg durch die Kehle des Meisters. Der Mund des Genießers öffnete sich, auf den Pupillen des Alten sammelte sich verträumter Schimmer. »Silvaner, Spätlese, Ölspiel«, betete der Apostel vor, wippte dabei mit dem Oberkörper bestätigend mehrmals vor und zurück und umfasste das Römerglas mit beiden Händen, »e ganz e feins Dröpfle.« Entspanntes, freudiges Gestöhne und Geseufze ringsum quittierten diese Worte. »Gell?« freute sich ein sichtlich erleichterter Wirt, der nun in hektischer Betriebsamkeit den Bocksbeutelinhalt in die bereitgestellten fünf Gläschen verteilte. Kurz blickte er zum Tresen, wo ein weiteres Römerglas stand, zögerte, stellte dann aber die Flasche ab und verschloss sie wieder mit dem Korken. Deutlich stand ihm die Lust nach einer Kostprobe ins Gesicht geschrieben, doch der Preis des Bocksbeutels ließ solches offenbar nicht zu. Das wäre zu dreist gewesen. Diesmal blieb der Wirt außen vor. »Zum Wohle«, seufzte er und sah zu, wie die drei jungen Burschen und der Baatsch die Gläser zum Mund führten, während der Apostel zunächst noch einmal den goldgelben Glanz des Weines studierte, dabei die anderen ermahnend: »Dankt dran: Des is e feins Dröpfle. Des will umkoost sei wie e jungs Madle.« Nein, wahrlich nicht. Nie konnte hinter der Fassade dieser beiden treuen Gesellen und wahren Weinkenner, wie es der Apostel in seiner offenen, freundschaftlichen Art und der Baatsch auf seine eher introvertierte, von Gelassenheit geprägte Weise waren, nie konnte sich dahinter jenes Böse verbergen, das die Alte im Bus angedeutet hatte. Diese Pissnelke! dachte sich 180
Bläser. Er würde sich weiter auf seine Menschenkenntnis verlassen. »Im Wein liegt die Wahrheit«, verkündete der Apostel nun der Weisheit letzten Schluss, just in dem Moment, da ähnliches nach Bläsers Ansicht gesagt werden musste. Welch göttliche Eingebung! Wie dieser Wein es sogar verstand, die Gedankengänge der Menschen zu harmonisieren! Oh, und wie gut roch dieser Wein! Bläser tat es dem selig schmatzenden, schlürfenden Baatsch nach, dessen Gesicht sich verklärte und in dessen Mienenspiel bislang unbekannte Schönheit trat, nachdem er den ersten Schluck des Spätlese-Silvaners auf der Zunge hatte. Ein herrlicher Wein, dachte sich dann auch Bläser, als er den Rebensaft um seinen Gaumen spülte. Sicher seinen Preis wert. Mild und fast süß erschien er ihm. Nach diesem mickrigen Gläschen würde er allerdings erst einmal ein Bier trinken müssen. Er hatte schrecklichen Durst, weit mehr, als so ein kleines Quantum Spätlese zu löschen vermochte. Werners hatte lange gezaudert, überhaupt einen Schluck aus dem Glas zu nehmen. Er fühlte sich, seitdem er in der Badewanne gesessen und sich mit eiskaltem Wasser abgebraust hatte, zwar um einiges besser als noch am Vormittag, doch war er im Zweifel, ob er seinem angegriffenen Magen schon wieder diesen sauren Wein zumuten durfte. Eigentlich hatte er von gestern noch genug. Andererseits, der Duft aus dem Gläschen war freundlich, die Menge ganz bescheiden, und so nippte er denn doch ein wenig, was der Apostel auch sogleich registrierte. Mit einem nochmaligen »Frankenwein is Krankenwein« sprach er dem Patienten Mut zu. Ja, durchaus. Der Wein schmeckte gar nicht schlecht, war regelrecht mild zu nennen und würde im Magen wohl keinen wesentlichen Schaden anrichten können. Nickend pflichtete Werners dem Weinexperten bei. »Scheint ganz bekömmlich«, fand er, und der Apostel zwinkerte freundlich. 181
»Das Ölspiel läuft mir wie Öl die Kehle hinunter«, glaubte nun auch Schwab einen gewitzten Beitrag leisten zu müssen. Er wurde allgemein freundlich aufgenommen. Ein leichtes Räuspern des Wirts erinnerte Bläser ans Abendessen. »Jetzt wird bestellt, Herr Wirt«, verkündete er freudig. Jener trat sogleich heran und informierte vollmundig und in überschäumendem Stolz, dass er den jungen Herrn am heutigen Abend gar eine rechte Freude machen könne. Diesmal sei nicht Schmalhans Küchenmeister, kicherte er, da seine Rosalinde ja nun wieder aus Walldürn zurückgekehrt sei. Zu den sicher noch in bester Erinnerung der jungen Gäste befindlichen leckeren Bratwürsten samt dazugehörigem Kraut sowie diversen Büchsen Wurst »von weiß bis dunkelrot« könne er dank Köchin nun anbieten (hier machte der Wirt eine gekonnte Redepause, um die Spannung zu steigern): »panierte Schnitzel mit Soß und Brot, Leberkäs mit Spiegelei, blaue Zipfel und« – und das sei sein Geheimtipp, den er nur empfehlen könne – »gebackene Leberwürscht mit Geröschte«. Dann, kaum dass er geendet hatte, breitete der Wirt seine Arme aus und strahlte, als habe er mit seinem im Geiste angerichteten Büfett das Publikum in unausweichliche Verzückung versetzt und sei bereit, die Ovationen entgegenzunehmen. Scheiße! dachte Bläser eben noch und blickte Schwab und Werners an, die den Vortrag des Wirts über die Vielfalt der abendlichen Speisekarte auch zunehmend skeptisch und enttäuscht verfolgt hatten, wurde dann aber von der Tatsache irritiert, dass in den träge hingebreiteten Baatsch plötzlich eine verblüffende Lebendigkeit schoss, sich der Unkerich gar ein wenig in Richtung Wirt aufbäumte und sich seine ansonsten eher wie geschlagenes Mus klingende Stimme beinahe eunuchenhaft veränderte. »Lebawürscht un Gäröschde«, fiepte der Breiige voll kindlicher Freude, und hatte der Apostel den herrlichen Wein 182
mit seinen Händen beklatscht, so patschte nun der Baatsch seine riesigen Pranken zusammen, auf ein neues »Gäröschde« fiepend. Bläser stockte verwundert, und auch die beiden Freunde Schwab und Werners zeigten sich verblüfft. Der Baatsch wirkte ob der vorübergehend an den Tag gelegten aufgeregten Betriebsamkeit nun sehr erschöpft, ja, er hatte sogar mächtig zu kämpfen, um seine Atmung wieder in einen normalen Rhythmus zu bringen. Da von dieser Seite fürs erste keine weiteren Erläuterungen zu erwarten waren, sprang der Apostel in die Bresche. Leberwürste und Geröstete, so meinte der Gastronomie-Fachmann, das sei fürwahr die hohe Kunst der fränkischen Küche. Eine Kunst, wie man sie höchst selten vorfinde, und wenn, dann nur in den Gaststuben kleiner Dörfer. Selig dürfe sich der Tourist nennen, dem dieses Geheimnis offenbart werde. Das Menü, so erläuterte der Apostel, bestehe aus eher kleinen Leberwürsten, die aber oft eine ansehnliche Dicke hätten und die in heißer Pfanne im eigenen Fett ausgebacken würden. Das Ganze werde serviert mit den sogenannten Gerösteten, unter welchen man wiederum zarte Scheibchen vorher gekochter Kartoffeln verstehe, die ebenfalls in der Pfanne geschwenkt würden, bis sie knusprig braun seien. Leberwürste mit Gerösteten, so fuhr der Apostel fort, sei ein gleichermaßen schmackhaftes wie satt machendes Essen zu jeder Gelegenheit, außer vielleicht am Morgen; da eher nicht, weshalb er – und hier verblüffte der Weltmann die Runde – die Iren kaum verstehen könne, welche sich die gebackenen allerdings mickrigen Leberwürste schon zum Frühstück würden munden lassen. Und schließlich – das sagte der Redner nun zu Werners gewandt, weil dieser bei seinen Sätzen die Mundwinkel immer weiter nach unten verzogen hatte – schließlich sei »Lebawürscht und Gäröschde« ein wunderbares Krankenessen, das den Patienten rasch zu neuen Kräften kommen lasse, zugleich seinen Magen schonend. 183
Was gab es da noch zu zaudern? »Also, dreimal Leberwürscht und Geröstete«, beschloss Bläser, mögliche andere Wünsche der Freunde ignorierend. Der Wirt nickte dankbar und eilte davon, um aber auf halbem Weg von Bläser zurückgerufen zu werden. Den hatte der traurige Baatsch gerührt, der offenbar ein armer Hund war und – das war ihm erst jetzt in den Sinn gekommen – sich seiner Beobachtung nach noch nie selbst etwas bestellt hatte. Scheinbar war er auf die Almosen seiner Zechkumpane angewiesen. »Viermal Leberwürscht und Geröstete«, bestellte Bläser, wobei er bei seinen Worten die Visage des Breiigen im Auge behielt, die mit einem Mal einen ganz besonderen Glanz bekam. Schimmerten die Pupillen nicht vor Dankbarkeit feucht? Stolz und Beifall heischend über seine Großzügigkeit, wanderte Bläsers Blick zu Werners, zu Schwab und zum Apostel. Verdammt aber auch! Musste Letzterer ihn gar so kritisch anstarren? War das der Lohn dafür, dass er dem Baatsch die Riesenfreude machte? Also gut. »Fünfmal Leberwürscht mit Geröstete«, blaffte Bläser, und das klang nun fast schon ein wenig ärgerlich. »Zum Wohle«, sagte der Apostel und hob das Glas. Das war das Richtige. Das helle Klingen der fünf Römer beim Anstoßen ließ Bläsers Anflug von Zorn in einem Nu verschwinden, gerade so, als habe das Engelsglöckchen das Eintreffen des Weihnachtsmannes verkündet. »Zum Wohl« schallte es aus zwei jungen fröhlichen Kehlen, die Bläser und Schwab gehörten, zurück. Und so etwas Ähnliches wie »Wohl« gaben auch der nach wie vor ermattete Werners und der phonetisch vom Quieken zum Matschen zurückgekehrte Baatsch zu Gehör. Erstaunlich schnell hatte die kleine Runde trotz sorgfältigen Vorgehens und mehrfacher Ermahnung des Apostels, man dürfe eine Spätlese dieses Kalibers nicht in den Rachen schütten, 184
sondern müsse sie quasi auf der Zunge verdunsten lassen, den Bocksbeutel aus Sommerhausen geleert. Noch war das Essen nicht da. Der Wirt stand gelangweilt hinter dem Tresen, drinnen in der Küche hörte man das heiße Zischen von Fett, in dem Rosalinde nun sicher die Leberwürschte und die Gerösteten schwenkte. Mit einem Schrei des Entsetzens – und dem Alten stand die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben – verurteilte der Meister am Stammtisch den von Bläser nach dem letzten Schluck Wein naiv geäußerten Wunsch nach einem Bier. Das sei »Gottesfrevel«. Ermahnend tat der Apostel den jungen Freunden kund, dass alles erlaubt sei, nicht aber, dass »wie narrisch durchennaner getrunge« werde. »Mir moache e Weiprob«, lautete die Entscheidung des Meisters, »demit ihr a woas mitnämmt.« Und weil Bläser ganz erschrocken reagierte, fügte der Alte beruhigend hinzu, dass er nur gedenke, ihnen verschiedene Rebsorten zu erklären, wozu es die einfache Schlegelflasche auch tue und es nicht unbedingt Bocksbeutel und Spätlesen brauche. »Obwohl des schö wär«, gestand der Weinexperte ein. »Josef«, rief er den Wirt herbei, »was hast’n alles da?« Und schränkte selber ein: »Den Silvaner hamm mer schon ghabt.« Der Wirt warf seine Stirn in Falten und ging in Gedanken seinen Keller durch, der scheinbar doch nicht so gut sortiert war, wie Josef gerne den Anschein zu erwecken versuchte. »Na ja, Müller halt«, sagte der kleine Alte, »und e weng Riesling.« Und schließlich – der Wirt hatte sich eine Weile am Kopf gekratzt – wurden es inklusive Silvaner sogar deren fünf, denn auch noch Scheurebe und Rieslaner glaubte Josef »irgendwo« zu haben. Er müsse halt mal richtig gut suchen gehen. »Recht so«, beschied der Apostel. Die Auswahl sei ausreichend. 185
Weil derweil alle vor leeren Gläsern saßen, das Essen noch immer dauerte und der Wirt in den Keller eilte, um Nachschub zu holen, kam in der Verlegenheit das Gespräch auf Kurt und Selma, und ob das mit dem Schlüssel geklappt habe, und was das Auto denn jetzt mache. Die Freunde musterten sich gegenseitig, und Schwab und Bläser, die sich von den Zechgenossen ins Visier genommen fühlten, wurden ein wenig verlegen. Gar viel war geschehen seit dem gestrigen Abend, doch nichts, was sie in Sachen Auto wirklich voran gebracht hätte. Und das, was geschehen war, das ging die beiden Alten nichts an. Schließlich ergriff Schwab das Wort, bemüht, das Thema Selma hier am Wirtshaustisch nicht zerfleddern zu lassen. Würgte die Frage des Alten mutig mit der Bemerkung ab, es sei alles Notwendige in die Wege geleitet, und einer Abreise stehe insofern nichts mehr im Wege. Es eile aber auch nicht damit, ergänzte er zum Schluss, weil er des Apostels nächste Frage nach dem Zeitpunkt ihrer Abfahrt schon erahnen konnte. »Schön«, sagte der schmunzelnde Alte nur kurz, nickte zum Zeichen, dass er es dabei belassen wollte, und griff sich die leere Silvanerflasche. Den Bocksbeutel habe man ja gerade erst getrunken und also in bester Erinnerung, weshalb er nun die Weinprobe zu eröffnen gedenke und zwei Sätze zum Silvaner sagen wolle, wobei es unerlässlich sei, dabei auch den Müller zu erwähnen. »Für mich ist der Müller e Müllerin«, hörten die Freunde zu ihrem Erstaunen aus des Apostels Mund. »Weils mit’m Frankewei wie in ennere Familie is, mit Vadder, Mudder un Kin«, fuhr der Experte fort. Und wer anders könne der Vater sein als der Silvaner, wer anders die Mutter als der MüllerThurgau? Bläser und Werners kapierten gar nichts. Schwab dachte an Selma und die Kinder, die sie gemeinsam noch haben würden. »Der Silvaner hoat nämlich e Podänz«, erklärte der Glatzköpfige, dessen Wangen vor Eifer zu glühen begannen, 186
»an die wu der Müller nit hiekümmt.« Noch immer war für die jungen Leute alles Bahnhof. Fast überall habe sich der Same des Silvaners als fruchtbar erwiesen, erzählte der Weinkenner, zwei seiner Kinder mit Namen Rieslaner und Scheurebe würde ihnen der Josef dann noch auf den Tisch stellen. »Anneri Nachkömmling von dem Silvaner senn Bacchus und Albalonga, und auch sunst stäckt der üwerall mit drinn«, ließ der Experte wissen. Bläser nickte aufmerksam. Wenn er recht verstand, dann gingen hierzulande die verschiedenen Weinsorten allesamt auf einen Stammvater zurück, den Silvaner. Die sexuelle Potenz dieses Zeus unter den Weinen imponierte ihm. »Ganz interessant«, signalisierte er dem Apostel seine Neugierde. Auch Schwab schien ein aufmerksamer Zuhörer zu sein, weniger dagegen Werners, der leidend auf seinem Stuhl hing und sich den Bauch rieb. Offenbar hatte die Wirkung des ersten Quantums Medizin schon wieder nachgelassen. Vielleicht war es aber auch der Hunger, der den Freund leiden ließ, dachte Bläser. Es wurde aber auch Zeit für die Leberwürste. Nun ließ sich wieder der Alte vernehmen. »Ihr höt’s gemarkt: Der Wei hoat was. Der Silvaner is e Wucht, kräftich un fruchtbar – ich meen: fruchtig.« Und der Apostel liebkoste den leeren Bocksbeutel mit seinen feuchten Händen, schnupperte am Flaschenhals, schien aus der leeren Flasche noch den letzten Aromarest saugen zu wollen. »Der Müller, also die Müllerin quasi«, begann er dann, wurde in seinem Redefluss jedoch unterbrochen, da sich die Türe zur Küche knarzend öffnete und der Wirt mit zwei Tellern in den Händen erschien, von denen es fein dampfte und fein roch. »Die Leberwürscht«, jodelte Josef voller Freude, »mit Geröschte, die Herren.« »Aaahhh.« In den matschigen Körper des Baatsch, der den Ausführungen des Apostels bislang eher gelangweilt gelauscht 187
hatte, kam Leben. Freudig strahlte er dem Wirt entgegen, und freudig war auch Bläsers Blick, der den Baatsch ganz genau beobachtet hatte und nun wusste, dass er seine Spendierlaune nicht bereuen würde. Nochmals ein »Aaahhh«, als der Wirt den ersten Teller vor Bläser absetzte, den zweiten vor dem Apostel. Die Rangordnung war offensichtlich. Bläser als Gastgeber und späterer Begleicher der Rechnung stand ganz oben auf dem Treppchen, unmittelbar danach folgte der Apostel als unbestrittene Autorität, als Experte für Speis’ und Trank. Bläser war gespannt. Wieder tauchte der Wirt in der Küchentüre auf, wieder hatten seine Servierfähigkeiten nur zu zwei Tellern gereicht. Wen würde er in der Hackordnung auf Platz drei setzen? Etwa den Baatsch, der zweifellos zu den Stammgästen zählte und dessen schlapprige Masse sozusagen süchtig-hungrig nach den Leberwürsten schrie, der aber andererseits gewisse soziale Defizite zu haben schien, gesellschaftliche Mängel, die ihn zwangen, als trauriger Schmarotzer sein Kneipendasein zu fristen? Oder vielleicht doch eher Schwab, weil er der Freund des Brötchengebers war und zu seiner Rechten saß? Werners schied als Nummer drei aus, das hatte Bläser mit einem kurzen Blick registriert: So wie der auf seinem Stuhl hing, war es sowieso zweifelhaft, ob er zum Essen überhaupt in der Lage sein würde. Andererseits wäre Werners die sichere Vier, wenn der Wirt Schwab zur Drei erkor, überlegte Bläser. Denn es war undenkbar, dass er die Freunde in der Hierarchie auseinander riss, um den Baatsch als Vierten zwischen sie zu schieben. Der Apostel machte Bläser jedoch einen Strich durch die Rechnung. »Do, du kannst es doch scho nimmer abwart«, sagte er zum Baatsch und schob diesem seinen Teller zu. Der Matschkopf strahlte vor Dankbarkeit. Der Wirt, nun aller Rangfolge-Probleme enthoben, stellte den dritten Teller vor Schwab, den vierten vor Werners, und noch bevor dieser seinen Teller über den Tisch dem Apostel 188
zuschieben konnte, weil es ihm selber mit dem Essen nicht so eilig war, tauchte auch schon des Wirts Ehefrau, Rosalinde, mit der fünften Portion auf, die nun des Apostels seine wurde. »Lässt’s euch schmegg! Gudn Abbedid«, wünschte die Dicke in die Runde und stemmte die Arme in die kräftigen Hüften, abwartend, bis einer der Gäste den ersten Bissen zu sich nähme und wie diesem das Essen wohl munden würde. Doch wieder machte jemand hoffnungsfrohe Erwartungen zunichte. Das Essen begann nämlich mit einem Missgeschick, das der Wirt vergebens noch mit dem Ruf »Langsam!« zu verhindern suchte. Schwab rammte mit von Heißhunger getriebenem Elan sein Messer so derb in die von Fett und Hitze aufgeblasene Wurst, dass es gleich mächtig um ihn herum spritzte. Lautes Fluchen und ein eingesautes Hemd waren die Folge. »Langsam«, bat der Wirt ein zweites Mal, nun mit entschuldigendem Unterton. Der Apostel grinste, hob die Gabel, stieß sie dann seitlich mit nur einem Zinken vorsichtig in die knusprige Haut, die hitzig ausblies und sofort ein klein wenig zusammensackte. Dann sägte er die Leberwurst mit seinem Messer in zwei Teile, drückte danach den braunen fetten Inhalt mit dem flachen Messer heraus und schob ihn mit des Messers Schneide auf die Gabel. Die solcher Art mit Leberwurst gefüllte Forke stieß er schließlich in eine der braun-schwarz gebackenen Kartoffelscheiben. Kaum war alles beisammen, führte er die Gabel zum Mund. »So geht’s«, erklärte er, bevor er sich den Happen in den Schlund schob. Nun gab es kein Halten mehr. Alles legte los. »Köstlich«, urteilte Bläser zur Freude der Wirtin, die aber nicht eher vom Tisch wich, bevor nicht der Baatsch, offenbar das Maß aller Dinge im Verkosten und in der Beurteilung von gebackener Leberwurst und gerösteten Kartoffeln, zufrieden grunzte. Der einzige, der ratlos auf seinen Teller sah, war Werners. 189
»Probier’s emol, des tut dir gut«, forderte ihn der Apostel auf, nachdem er das Herumgestochere offenbar nicht mehr länger mit ansehen konnte. Das klang freundlich, aber bestimmt. Mit skeptischer Grimasse folgte Werners dem Befehl. Es schmeckte fett, scharf und deftig. Das war eigentlich nichts für seinen Magen. Andererseits hatten diese Leberwürste und ihre Kompagnons, die gebackenen Kartoffeln, eine phänomenale Eigenart. Werners hatte den ersten Bissen Leberwurst noch nicht ganz hinuntergeschluckt, da verlangte es ihn nach einer Kartoffelscheibe. Und kaum hatte er sich diese auf die Zunge gelegt, da wollte das knusprig braune Schnitzchen auch schon in Gesellschaft von etwas Leberwurst sein. So ging es eins nach dem anderen, und Werners stellte zu seiner Freude fest, dass das fette Essen seinen geschundenen Eingeweiden und seiner gärenden Magenschleimhaut recht wohl tat. Auch Bläser und Schwab schaufelten kräftig hinein, ja, schlangen beinahe und hatten schon den halben Teller leer, als ein seliges »Aaahh« des vor einem spiegelblank gekratzten Teller sitzenden Baatsch signalisierte, dass dieser das Abendessen bereits zu seiner Zufriedenheit beendet hatte. »Josef, Wein!« rief nun der Apostel und fragte fordernd, wo denn der Müller bleibe, den es als nächstes zu verkosten gelte. »Ja, Wein her«, bat auch Bläser. Die Leberwürste waren verdammt scharf. Er musste dringend die Kehle spülen. Der Müller – oder, mit des Apostels Worten gesagt, die Müllerin – eilte herbei. Rasch wurde die Schlegelflasche entkorkt. Schon floss der Wein in die kleinen Römergläser. Gierig griffen die Jungs, selbst Werners, zu den Pokalen, zauderten dann jedoch ein wenig, unsicher, ob es der Apostel dulden würde, wenn sie erst einmal ohne großes Schnuppern und Schlürfen den Durst löschten. Der Alte gab seinen Segen mit einem sanften Senken der Augenlider. Der Wein war kühl und trank sich angenehm. Allzu schnell 190
waren die Gläschen leer. Wieder kreiste die Flasche, die nun ihre letzten Tropfen hergab. Diesmal machte ein ausgiebiges Beschnuppern des Glasinhalts durch den Regisseur der Weinprobe deutlich, dass das Durstlöschen ein Ende haben musste und für die weitere Wissensvermittlung das Schlürfen angesagt war. »Den Müller hat’s fast üwerall. Ich glebb, die Hälft von dene Weinberch in Frangn is Müller«, dozierte der Apostel, schnupperte nochmals am Glasinhalt und meinte dann: »Es is e Frau. So zart und mild mit e weng Muskat.« Sodann sog er sich schlürfend ein Maulvoll hinein, schwenkte es genussvoll von einer Backe in die andere, ließ es um die rotierende Zunge spülen, um den Müller letztendlich den Gaumen entlang in den Schlund rinnen zu lassen. Ein anerkennendes Nicken des Baatsch machte allen klar, dass der Leberwurstexperte den Apostel auf dem Sektor Wein als Herrn und Meister uneingeschränkt akzeptierte. Eifrig taten es nun die Jungen dem Meister nach. Moritz Schwab, von des Apostels Ausführungen, man habe sozusagen eine Frau im Glase, seltsam berührt, tauchte beim Schnuppern gar die Nasenspitze in den Müller, und es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte eine Kostprobe des Weines durch sein Saugrohr hoch in die Nebenhöhlen gezogen. Morris schloss die Augen. Der Apostel hatte recht. Dieser Wein war zart und mild wie eine Frau. Schwab schlürfte und schluckte, schnupperte dann wieder, nochmals die Augen schließend. Selma! Seine Nase näherte sich ihrem noch badefeuchten Haaransatz im Nacken, nahm ihr betörendes, lockendes Aroma auf. Fast spürte er das Kitzeln ihrer Haare an der Nasenspitze. Unwillkürlich fuhr seine Zunge aus dem Mund, gierig danach, ihren Hals zu lecken. Das Eintauchen seines Geschmacksorgans in den kühlen Wein und das lachende Zurückweisen des Apostels, der laut »So doch nit!« dröhnte, waren eins. »Du bist doch kenn Hund«, schimpfte 191
er unter dem Gelächter der anderen freundlich, und es war eine wahre Pracht, wie des Baatsch’ Körper voller Freude wie Wackelpudding vibrierte. Schwab spürte, wie seine Wangen glühten, und kippte das Glas in einem Zuge weg. »Tu noch e Flasche her davon«, winkte der Meister den Wirt herbei, der eine zweite Schlegelflasche des köstlichen Müllers auf den Tisch stellte. Wieder machte die Flasche die Runde, wurden die Gläser gefüllt und geleert. Es mochte das vierte oder fünfte Gläschen des Abends gewesen sein, als Werners plötzlich diesen Backstein in seinem Innern spürte. Er hatte gerade getrunken, der Wein floss ihm die Kehle hinunter, rann dann aber nicht wie gewohnt einfach geradeaus weiter ins Gedärm, sondern schien sich in zwei Ströme zu teilen, die sich links und rechts um einen im Oberbauch feststeckenden Backstein zwängen mussten; aus dem Nichts kommend, hatte der sich in seinem Leibe breit gemacht. Das merkwürdige Gefühl nahm Werners die Luft, machte ihm Angst. Er stockte, räusperte sich. Blickte in die Runde, ob den Zechkumpanen sein merkwürdiges Befinden aufgefallen war. Doch dem war offenbar nicht so. Jetzt war das komische Gefühl wieder weg. Hatte er sich getäuscht? Werners nahm vorsichtig noch einen Schluck. Doch! Wieder floss der Müller beschwerdefrei die Kehle hinunter, um dann, wohl am Ende der Speiseröhre, von einem quer liegenden Backstein den Zugang zum Magen verwehrt zu bekommen. Mühsam suchte sich der Müller seinen Weg um das Hindernis, überlegte gar für einen Moment, ob er nicht lieber den Rückweg einschlagen sollte. Werners stieß es weinsauer auf. Dem Apostel war der bekümmerte Blick des jungen Tischgenossen nicht verborgen geblieben. »Was hast?« fragte er den Zechkumpan und lenkte mit seiner Frage die Blicke der anderen zu Werners hin. 192
»Ach, nichts«, wiegelte der nun im Mittelpunkt Stehende ab, ob dieser Aufmerksamkeit unangenehm berührt. »Wohl zu schwer gegessen.« Da helfe nur ein Schnaps, gab der Alte zur Antwort, und obwohl Jaco verzweifelt abwinkte – nicht zuletzt, weil ihm die Schnaps-Misere seines Freundes Morris vom vergangenen Abend noch gut im Gedächtnis war –, wurde schon der Wirt herbeizitiert. »Der Bub braucht en Moachebidder«, befahl der Apostel und ergänzte: »Un mir dörfste a en bring.« Schaute in die Runde, zwinkerte mit dem linken Auge und befahl schließlich: »E Runde Moachebidder uff mei Rechnung!« Während sich Josef trollte, meinte der Apostel, das sei nun zwar ganz gewiss ein Frevel am fränkischen Wein, weil der Schnaps die Geschmäcker garstig irritiere, doch lägen die Leberwürste noch »schäps« in den Mägen herum und sehnten sich nach etwas Handfestem, das sie in die richtige Position für den Weitertransport bringe. Das sei mit Schoppen nicht zu schaffen. Da brauche es schon Hochprozentiges. Der Schnaps kam. Fünf Stamperl voll mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit. »Ex und hopp!« regte Bläser an und munterte Werners, der erst gar nicht nach seinem Glas greifen wollte, mit einem »Komm, das hilft« auf. Vielleicht hatte Pietro ja recht, dachte sich der Leidende schließlich. Die Gläser klangen zackig-kurz beim Anstoßen, dem Baatsch schwappten einige Tropfen über die dicken Wurstfinger, dann kippten alle das Zeug weg. »Brrrr«, meinte Schwab, der Apostel schnalzte mit der Zunge, und wieder guckten alle nach Werners, dem der Magenbitter die Kehle hinunterbrannte; der Schnaps schwappte frontal auf den Backstein, ließ sich von diesem jedoch nicht wie zuvor der leichte Wein zur Seite abweisen, sondern bohrte sich in das 193
Gestein hinein, fraß sich hindurch und kam schließlich, im Magen wohltuende Wärme verbreitend, am anderen Ende der Blockade wieder heraus. Ja, das half. Das zarte Lächeln auf Werners Lippen beruhigte die anderen. Fröhlich schüttelte sich Bläser, den der Schnaps wohlige Schauer durch den Körper jagte. Nachdem inzwischen auch die zweite Müller-Flasche geleert war, war die Zeit für den Riesling gekommen, den der Apostel mit der Frage »Gell, Bacchus hoast kenn?« am Tisch willkommen hieß. Ihm war aufgefallen, dass Josef diesen Tropfen bei seiner Aufzählung unterschlagen hatte. Nein, gab der Wirt zur Antwort, der sei wohl aus. Man habe gestern die letzte Flasche geleert. »Na ja, mecht nix«, sagte der Fachmann, »is eh en Weiwerwei.« Der Riesling kam im Bocksbeutel. Anders habe er ihn nicht, zuckte der Wirt die Schultern. »Der hat immer gut Öchsle«, begründete er, und die drei jungen Burschen sahen sich wegen dieses für sie neuen Begriffs ratlos an. »Des passt zum«, lobte der Apostel. Sein Blick forderte Aufmerksamkeit. »Der Riesling is en Landedelmann«, erklärte er den Jungen, »sozusachen der reiche Onkel von der Verwandtschaft. Alter Adel.« Während Silvaner und Müller bodenständige Kerle seien, die eigentlich immer was zuwege brächten, komme der Riesling auf hohem Ross daher. »Der will nit überall«, fuhr der Alte fort. Der Riesling wachse nur in besten Lagen. »Awer mer schmeckt’s a«, lobte der Kenner. Der Korkenzieher ging ans Werk. Plopp. Der Apostel beschnupperte den Korken, war’s zufrieden. Goss sich ein wenig ins Glas. Schnuppern und Schwenken, Schwenken und Schnuppern. Dann das große Schlürfen unter den neugierigen Augen der Jugend, unter dem liebevoll-sanften Blick des Baatsch. »Ah, frech«, meinte der Apostel und schenkte den 194
Freunden mit den Worten »fruchdich, rassich, elegant, awer arch jung« die Gläser voll. »Der könnt noch e weng lächern«, beschied er dann dem Wirt, der verlegen nickte, zugleich aber mit ausholenden Armen die Runde am Tisch bezeichnend, quasi als Entschuldigung, dass diese doch den Wein gefordert habe. »Arch munder« sei der Riesling noch. Was der Apostel damit meinte, hatten selbst die weinunkundigen Fremdlinge beim ersten Schluck heraus: Quirlig kam der Riesling daher, stürmte forsch an die Geschmacksnerven, sprudelte ungezähmt hinab. »Frisch«, meinte Bläser zufrieden. »Zu frisch«, fand Werners. Ihm schoss der Riesling gar zu eifrig an der vom Magenbitter beseitigten Barriere vorbei in die Verdauungsorgane. Die dort versammelte gemütliche Runde von Silvaner-Spätlese, Müller, Leberwurst und Gerösteten, die sich unter dem Einfluss des Magenbitters nach anfänglichem Gezerre zusammengerauft hatte und eben dabei war, Harmonie zu verbreiten, wurde mächtig aufgeschreckt. Der Landedelmann haute mit seiner Reitpeitsche dazwischen, dass alle im Magen eingekehrte Gemütlichkeit dahin war, die Leberwürste erschreckt auffuhren und zu den Gerösteten auf die Bänke sprangen. Werners glaubte, das gemeine Lachen des neuen Gastes ganz deutlich vernehmen zu können. Als ihm der Degen schmerzhaft in den Darm fuhr, blitzte vor seinen Augen das silbrige Funkeln des Rosenkranzes auf. Werners Gedärm rumorte so mächtig, dass selbst der Baatsch einen erstaunten Gesichtsausdruck bekam. Wieder schlug der adelige Herr mit der Peitsche drein, wieder und wieder. Dann wurde es, so fühlte es sich für Werners jedenfalls an, den Leberwürsten zu bunt. »Raus hier!« riefen sie verzweifelt und drängten dem Ausgang zu. Verzweifelt pfetzte Jaco den Schließmuskel zusammen. Werners Körper entwich heiße Luft. Und während er soeben noch glücklich darüber war, dass ihm diesmal die Winde ganz sanft und ohne furzendes Geräusch, somit also offenbar unbemerkt von der Stammtischgesellschaft 195
abgingen, drang auch schon ein so abartig widerlicher Geruch in seine Nase, dass er sich ganz erschrocken schütteln musste. Sein blasses Gesicht wurde rot vor Verlegenheit. »Boaah«, stöhnte Schwab, der direkt neben Werners saß. »Du Sau.« Entsetzen stand in den Gesichtern am Tisch. Aufgeschreckt schnüffelte die Nasenrunde. Selbst dem Baatsch war alle Gemütlichkeit abhanden gekommen. Unruhig rollte er mit seinem Hintern auf der Bank herum, wohl noch zweifelnd, ob vielleicht nicht er selbst, ganz unbemerkt, der Urheber dieser Grausamkeit sein mochte. Wie hätte er das bei seiner Leibesfülle und der Unkontrollierbarkeit seines Dahingebreitetseins auch so rasch überreißen sollen? Dankbar und erleichtert war die Unke deshalb, als sich Werners mit einem gestöhnten »Ich glaub, ich muss mal« erhob und sich somit freiwillig zum Urheber des Übels erklärte. Blanke Angst war dem jungen Kerl ins käsige Gesicht geschrieben. »Riecht so«, bestätigte Bläser dem Freund und wedelte Nase rümpfend mit der Hand vor dem Gesicht. Werners eilte hinaus, dabei das schreckliche Gefühl zwischen den Hinterbacken, dass sich die Vorhut der Leberwürste schon am Ziel wähnte. Schlug die Türe zum Klo auf, wo ihn der Geruch von Urin und WC-Steinen in Empfang nahm. Wieder zischten Winde ab. Schon Land oder noch Luft? Das Öffnen der Türe zur Toilette und das Herabstreifen der Hose waren eins. Werners schwang herum, ließ sich auf den Klositz fallen, dessen Hygiene ihn unter normalen Umständen sehr beschäftigt und wahrscheinlich abgeschreckt hätte, ihm im gegenwärtigen Zustand jedoch völlig gleich war, und hörte unter sich nur noch ein pfulberndes Rauschen, als der gemeine Landadelige mit hellem Johlen und Peitschenknallen die Darmgesellschaft hinaustrieb. Kalter Schweiß rann Werners über die Stirn, floss unter den Achselhöhlen hervor und rann die auf den zitternden 196
Oberschenkeln ruhenden Arme hinab. Das hier war des Pfarrers Zorn, war sein Fluch, war seine bittere Rache für Werners Sünden und seine Säumigkeit. »Bitte, bitte verzeih«, wimmerte Werners, dessen Darm unaufhörlich in Schüben vor sich hin krampfte. Wie hatte er sich in seinem Zustand auch auf diese Kneipenrunde einlassen können? fragte sich Jaco, während der Landedelmann weiter die Peitsche ins Gedärm trieb. An allen Übeln – da war sich der junge Mann gewiss – war nur die Sache mit dem Kettchen schuld. Der tote Pfarrer wollte seinen Rosenkranz zurück, den er, Werners, ihm geraubt hatte, und er würde ihm nicht eher seine Ruhe lassen, bis er das Kreuzchen in seinen kalten, bleichen Händen hielte. Was, fragte sich Werners, was würde wohl passieren, wenn der Pfarrer ohne das Ding unter die Erde käme? Ob er ihm nachts erschiene, mit einer Flasche unreifen Rieslings unter dem Arm? Werners benötigte fast eine komplette Rolle Klopapier, bis er sich wieder vom Lokus lösen konnte. Er war sich nicht sicher, ob der Riesling den Rest des Abends Ruhe geben würde, fühlte sich fürs erste jedoch sicher genug, um die Toilette zu verlassen. Schleier schwefeligen Geruchs hingen in seinen verschwitzten Kleidern. Drinnen im Gastraum klangen Gläser, war Bläsers fröhliche Stimme zu hören. Jaco zögerte, sah dann aber davon ab, seinen Kopf durch die Türe zu stecken. Er fühlte sich einfach zu schwach. Jetzt musste er erst einmal frische Luft schöpfen, sich erholen. Werners trat hinaus auf die Treppe vor dem Gasthaus, bettete sich erschöpft auf die Stufen. Über ihrer Sauferei war es fast dunkel geworden. Doch der Abend war warm, und der Stein gab wohlige Wärme ab, Wärme, die seinen frierenden Gliedmaßen jetzt guttat.
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KAPITEL 8 Erleichtert und beschwert BESOFFEN HATTEN SIE GESTERN, vielmehr heute ganz früh, den ›Stern‹ verlassen. Waren hier am Treppenabgang gestürzt. Werners war sich zunächst sicher gewesen, dass ihm bei diesem Sturz der Rosenkranz aus der Hosentasche gefallen war. Aber nun wusste er es besser. Zum ersten, weil er Treppe und Hof mehrmals gründlich abgesucht hatte, zum zweiten, weil es höchst unwahrscheinlich war, dass jemand während der äußerst kurzen Zeitspanne zwischen dem Sturz und seiner Rückkehr von der Wohnung, wo er den Verlust bemerkt hatte, das Kettchen gefunden und an sich hätte nehmen können. Und ein Wirt Josef als Finder hätte den Rosenkranz heute längst zum Kneipenthema gemacht. Und noch ein drittes machte Werners sicher, dass er das Kettchen nicht hier verloren hatte: dieses seltsame Gefühl vom Vormittag, das ihn dann weg aus dem Dorf getrieben hatte, als ob er da draußen finden könnte, was er herinnen vergeblich suchte. Gänsehaut überlief ihn, als er an die Goldameisen denken musste. Wieder stach der Landedelmann zu. Vor Schmerz gekrümmt, die Hände auf den Bauch gepresst, versuchte Werners den Riesling zu besänftigen. Unter Ach und Weh zwang er sich zur Konzentration. Wo aber sollte der Rosenkranz sein? Er hatte den Verlust in der Wohnung bemerkt, war sich zugleich aber sicher, dass er das Kettchen beim Verlassen des ›Stern‹ noch bei sich getragen hatte. Wenn er den Rosenkranz also nicht hier vor dem Gasthaus verloren hatte, dann blieb nur der Weg zur Wohnung, wo er mit dem auf wackeligen Beinen taumelnden Bläser seine Mühen hatte. Natürlich! Bläsers Niedergang an der Haustüre! Die Erkenntnis durchschoss ihn wie ein Kraftstrom, machte ihn seine körperliche Armseligkeit vergessen: Er musste das 198
Kettchen verloren habe, als er sich, Bläser mühselig an der Haustüre im Lot haltend, den Schlüssel aus der Hosentasche gezogen hatte! Zweifellos war das Kettchen dabei mit herausgerutscht. Das war’s. Nur so passte es zusammen. Vorsichtig, die Unsicherheit des Gestänges kennend, zog sich Werners am Treppengeländer hoch. Nichts wie heim! Er überlegte kurz, sich noch bei den Freunden abzumelden, verwarf den Gedanken jedoch. Erst das Kettchen. Dann würde er alle Zeit der Welt haben. Auch die Zeit, die Freunde zu unterrichten. Außerdem war es besser, sich in der Wohnung etwas frisch zu machen, am besten, gleich die Kleidung zu wechseln. Er konnte sich selbst kaum riechen, verschwitzt und versifft, wie er war. Werners taumelte davon. Jubelnde Vorfreude erfüllte sein Herz. Dem Motorengeknatter an der Hauptstraße schenkte er keine Beachtung. Er hatte den Rosenkranz in der rechten Hosentasche gehabt, also würde das Kettchen auf der entsprechenden Seite am Hauseingang, wahrscheinlich in der Blumenrabatte rechts liegen. Irgendwo da in der feuchten Erde. Es würde nicht schwer sein, das Ding zu finden. Sein Herz juchzte. Nochmals beschleunigte er seine Schritte. Da, ganz unerwartet, wurde er aus seinem Eifer gerissen. »He, nit so eilich«, bellte ihm jemand entgegen. Verdammt, was sollte das? Erst jetzt bemerkte Werners seine Umwelt. Er war aus der Seitengasse, wo der ›Stern‹ lag, in die Hauptstraße gelangt und fast an der Bushaltestelle angekommen. Nochmals ein »He, Mäster!« Werners stoppte. Unmittelbar vor ihm, mitten auf dem Gehweg, hatte sich ein junger Kerl aufgebaut, vielleicht sein Alter, eher aber noch jünger. Die Arme in die Seiten gestemmt, den Brustkorb wie ein Rammbock nach vorne gereckt. Einige Meter weiter, am Mast einer Straßenlaterne, hielt sich ein zweiter Junge mit der linken Hand fest, während die Rechte den Lenker des knatternden Mofas umklammerte, auf dem er saß. 199
Daher das Motorengeräusch, dachte Werners. Der Mofamotor schepperte, heulte jetzt kurz auf, weil der Junge am Gashebel drehte. Als der Lärm nachließ, hörte Werners Kichern. Die drei Mädchen, die unten am Bordstein nur wenig hinter dem Mofa an der Straße saßen und denen die Abgase des Gefährts scheinbar nichts auszumachen schienen, hatte Werners vorhin übersehen. Soweit er im Schein der Straßenlaterne erkennen konnte, waren es noch sehr junge Dinger. Eine – das war auffällig – trug einen verdammt kurzen Rock, der ihr wegen der extrem niedrigen Sitzposition fast bis in die Leistenbeuge hochgerutscht war. Von vorne, dachte sich Werners, müsste man eigentlich ihren Slip sehen können. »Nit so eilich.« Wieder meldete sich der Kerl zu Wort, der Werners den Weg versperrte. Es war ein hoch aufgeschossener Typ, zwischen dessen Lippen eine Zigarette klebte. »Haste mal Feuer?« Werners schüttelte den Kopf. Ganz automatisch. Er wusste nicht, ob er ein Feuerzeug einstecken hatte oder nicht. Was er wusste, war, dass er keine Zeit zu verlieren hatte und nicht die geringste Lust auf Gespräche mit der Dorfjugend. »Hat er?« rief jetzt der zweite Jüngling vom Mofa her. »Is nit sehr gsprächig«, gab der erste zurück. Werners beschloss, sich nicht weiter auf die Situation ein zulassen. Doch als er versuchte, seitlich an dem Kerl vorbeizukommen, legte sich dessen Hand mit ganz erstaunlicher Kraft auf seinen Arm und hinderte ihn am Weitergehen. »Haste echt kein Feuer?« Werners konnte das Kichern der drei Gören, das die Frage begleitete, jetzt ganz deutlich hören, denn der Mofafahrer hatte sein Gefährt ausgemacht. Er war abgestiegen und lehnte das Zweirad an den Mast, um seinem Freund bei etwa auftauchenden Problemen zur Seite zu stehen. 200
Scheiße, so etwas hatte ihm gerade noch gefehlt! Werners zweifelte keinen Augenblick daran, dass die beiden Gesellen nur auf den nichtigsten Anlass hofften, um ihm in die Eier zu treten, seine Visage zu polieren und ihm sein Geld zu klauen, um damit ihren Verehrerinnen zu imponieren und den Weibern eine Whisky-Cola spendieren zu können. So mies, wie er sich körperlich fühlte, war an Widerstand nicht zu denken, und so wackelig er auf den Beinen war, auch nicht an Flucht. Werners versuchte ein Lächeln und kramte in seinen Hosentaschen. Tatsächlich. Er hatte sein Feuerzeug einstecken, obwohl seine Zigaretten, wie ihm jetzt einfiel, noch auf dem Tisch im ›Stern‹ lagen. »Ich hab doch eins«, sagte er, versuchte ein Grinsen und entzündete die Flamme, um sie in der hohlen Hand dem Straßenräuber für seine Zigarette anzubieten. Der andere paffte, legte aber, anstatt ihn in Ruhe zu lassen, Werners den Arm um die Schulter. »Na siehste, geht doch.« Dann bot er Werners eine Zigarette an. Jaco war gar nicht nach Rauchen zumute. Er war sich ziemlich sicher, dass der Landedelmann in seinem Bauch keinen Zigarettenrauch vertragen würde. Andererseits konnte er es sich, wenn er denn möglichst rasch der Dorfjugend entrinnen wollte, nicht leisten, dem Kerl einen Korb zu geben. Werners griff, Dankbarkeit heuchelnd, nach dem Glimmstengel. Der Straßenräuber hatte noch immer seinen Arm um ihn gelegt und zog Werners mit zur Bushaltestelle, wo sie vor den drei Gören stehenblieben. Die Weiber inspizierten, weiterhin auf dem Bordstein kauernd, den Neuling neugierig von unten. Die Große, die ihm vorhin gleich aufgefallen war, hatte bei ihrem Näherkommen zwar die Beine geschlossen, doch, wie Werners richtig vermutet hatte, bot das kurze Röckchen wenig Sichtschutz. Das weiße Höschen, mit dem sie auf der Bordsteinkante saß, war deutlich auszumachen. »Carola, Petra, Moni«, stellte der Bandenchef die Mädchen 201
der Reihe nach vor und setzte, wohlwollend auf die langen Beine der Großen herabblickend »mei Moni« hinzu, um alle Zweifel auszuräumen. Moni grinste, Carola und Petra kicherten. Carola hatte eine grüne Schlaghose an und einen quergestreifen Sommerpullover, der noch kaum Konturen abzeichnete. Sie mochte vielleicht dreizehn Jahre alt sein, Moni war sicher schon zwei Jahre älter. Was Petra anging, wollte sich Werners nicht festlegen. Die war zeitlos fett. Ihr mächtiger Oberkörper wurde von einem viel zu engen grünen Westchen zusammengehalten, darüber prangte ein Vollmondgesicht mit abgehängtem Doppelkinn. Die Fette trug eine Art Jeans, hohe Clogs und rosa Söckchen. Bei den Jeans musste es sich um eine Sonderanfertigung handeln. Für dieses Kaliber Beine war von der Stange sicher nichts zu bekommen. Der Oberräuber redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Die Petra wär noch frei«, sagte er. Carola und Moni kicherten, der Chef und der Mofafahrer grinsten. Werners war von so viel Offenheit überrascht. Mehr noch verwunderte ihn aber die Reaktion des Mädchens: Petra senkte nicht etwa, wie Werners es nach diesen Worten erwartet hatte, verlegen den Kopf, sondern hob ihn im Gegenteil frech nach oben und blickte ihn direkt an. Armes Vollmondgesicht, dachte sich Werners, da muss die Mitgift schon ordentlich sein, wenn das jemals was werden soll. Kein Wunder, dass da keiner anbiss. »Und?« fragte der Boss und klatschte ihm die flache Hand aufs Schulterblatt. Werners wurde bewusst, dass er irgendwie in eine heikle Lage geraten war. Hier drohte Gefahr. Es musste dringend etwas geschehen. Werners fühlte, wie der Riesling in seinen Innereien begann, Beschwerde gegen das Rauchen zu führen. »Ich hab echt wenig Zeit«, versuchte Jaco die Dorfjugend von der Notwendigkeit seines raschen Aufbruchs zu überzeugen. Und weil die fünf kaum Reaktion zeigten oder die Tragweite 202
seiner Misere nicht abzuschätzen wussten, ergänzte er – verdammt, was stach der Landedelmann nun wieder mit seinem Degen zu! – ein leicht weinerliches »Ich muss dringend heim.« »Äärrr muss dringäänd heim, Paul«, verarschte ihn prompt der Mofafahrer und grinste hämisch in Richtung Chef. Werners befürchtete, dass der nun gleich noch eine Gemeinheit draufsetzen würde, doch er wurde angenehm überrascht. »No problem«, beschloss Paul, der Boss. Machte eine kurze Pause, zog unter den neugierig auf seine Antwort lauernden Blicken der Mädchen kräftig an der Kippe und meinte dann: »Wir gehen mit.« Die Gören waren begeistert, der Mofafahrer juchzte ein »Au ja!« Schon sprangen die Hühner auf, das heißt, Moni und Carola sprangen, Petra wälzte sich erst auf die rechte Seite und robbte sich dann irgendwie in die Höhe, bevor sie schnaubend vor Werners in Positur ging. In Werners Kopf arbeitete es fieberhaft, aber alles, was ihm einfiel, waren der peitschende Riesling, der schon wieder eine Ansammlung Leberwurst und Geröstete dem Ausgang zutrieb. Das werde nicht gehen, japste er. Paul und die Damen guckten irritiert. Das werde nicht gehen, wiederholte Werners, weil … (Na los! Was könnte ihm auf die Schnelle einfallen? Mach schon, blödes Gehirn!) … weil das dem Hausherrn gar nicht passen werde. Der wolle nämlich seine Ruhe. »Hat er extra gesagt!« schmollte Jaco hervor. Und flehte in seinem Innern: Bitte, bitte, lasst mich gehen! Der Riesling drängte nun gar zu garstig. Der Räuberhauptmann grinste. »Der Egon, der hat da nix dagechen«, meinte Paul bloß, und Werners wurde klar, was für ein Idiot er war. Hier im Dorf kannte natürlich jeder jeden, und dass die drei Fremdlinge bei Egon hausten, das hatte sich längst überall herumgesprochen. 203
Der Landedelmann wurde sauer. Werners Gedärm rumpelte. Peitschenknall und ein heißer Wind. Er stöhnte. Ehrlich währt am längsten, hatte seine Oma immer gesagt. Da musste er nun durch. Schon drang Schweiß auf seine Stirn. »Verdammt, ich muss dringend. Ich mach gleich in die Hose«, presste Werners hervor und presste die Hände vor den Bauch. Schallendes Gelächter. »Also, schnell zu Egon«, befahl der Commandante und wandte sich zum Gehen. Der Mofamotor heulte auf. Leberwürste und Geröstete schoben. »Ich schaff’s nicht. Ich muss gleich«, keuchte Werners, und wieder zischte es heiß hinter ihm. Die Wolke, die er ausstieß, verursachte eine gewisse Ratlosigkeit bei den Jugendlichen, die nun erst erkannten, wie sehr es brannte. Das Vollmondgesicht hatte als erste eine Idee. »Beim Hafner seiner Scheuer«, schlug die Dicke vor, und Paul nickte. »Also los, da nüber«, wies er Jaco mit dem Kopf die Richtung. Dem war nun alles egal. Sie hasteten in eine Seitengasse, das Mofa vorneweg, die Mädchen kichernd hinterher. Jaco stieß wieder eine heiße Wolke aus. »Ääh, des is ja bestialisch«, meckerte Moni, die unmittelbar hinter Werners lief. Nochmals in eine Gasse, dann waren sie offenbar ein wenig außerhalb des Dorfes, denn hier gab es weder erleuchtete Fenster noch Straßenlaternen. »Da nei, gleich da«, zeigte Paul auf eine Fläche zwischen zwei großen Scheunen, die, soweit Werners in der Dunkelheit erkennen konnte, mit hohem Gras bewachsen war. Er eilte so tief hinein, möglichst nahe an der Wand der rechten Scheune bleibend, bis er sich vor den Blicken der Mädchen sicher wähnte, und streifte die Hose herab. Wütend rauschten Leberwürste, Geröstete und der Landedelmann mit wässrigem Plätschern ins Gras. Au, das tat wohl! Au, das tat weh! Werners 204
hatte seinen nackten Hintern mitten in eine Ansammlung der feurigsten Brennesseln gestreckt. Die rächten sich nun grimmig dafür, dass er ihre Wiese versaute. Jaco musste weinen. Nicht, weil ihm der Hintern so brannte, die Beine von dem Niederkuschen schmerzten oder das Gedärm gar nicht aufhören wollte, sich all seiner Plagen zu entledigen. Er war die ärmste Sau auf Erden. »Warum, o Herr, strafst du mich so?« heulte er leise vor sich hin. Wäre alles ganz anders gekommen, wenn er dereinst Pater Heribert gefolgt und der schönen Erika, die er doch nur in Gedanken vernascht hatte, den Laufpass gegeben hätte? War dieser vermaledeite Rosenkranz ein Zeichen, dieses engelsgleiche Geschöpf am Morgen der ihm gesandte, mahnende Engel gewesen, der ihn zurückführen sollte auf die richtige Lebensbahn? »He, lebst noch?« hörte Werners Paul rufen, der nun dem Mofafahrer Befehl gab, »das blöde Ding« abzustellen, weil er sonst kaum hören könne, wenn »der annere verduftet«. Die fünf Köpfe reckten sich ihm entgegen in die Nacht. Jaco räusperte sich, denn er wollte nicht, dass die anderen sein Weinen aus der Stimme hörten. »Es dauert noch ein wenig«, gab er zurück. Lange würde er es auf seinen schmerzenden Beinen allerdings nicht mehr aushalten. Gottlob, das Gedärm schien sich beruhigt zu haben. »Ich brauchte aber Papier«, rief Werners hinaus. So konnte er unmöglich wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückkehren. Die fünfe draußen tuschelten, dann startete der Mofafahrer und brauste davon. Ein Feuerzeug ging an. Werners sah Pauls Gesicht im Licht der Flamme, wie er sich eine Zigarette ansteckte, dann auch kurz Moni und Petra, die ebenfalls qualmten. Drei rotgelbe Pünktchen, etwa sieben, acht Meter vor ihm, die heller wurden, wenn die Raucher an ihren Kippen zogen, und dann die Gesichter für kurze Zeit mit einem schwachen rötlichen Glanz überzogen. Da standen sie und harrten seiner. 205
Werners verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere, bewegte sich dabei wie im Entenschritt einen halben Meter nach vorne. Verdammte Brennesseln! Nun hatten sie auch noch sein edelstes Teil gestreift. Als Werners nach unten griff, um die Hose etwas nach oben zu ziehen und sich damit besser gegen das feurige Kraut zu schützen, erschrak er. Er hatte in etwas Schmierig-Feuchtes gegriffen. Werners blickte nach unten, konnte in der Dunkelheit aber wenig erkennen. Die Hand tastete herum. »Verdammte Scheiße!« Die Tränen schossen ihm erneut in die Augen bei der Erkenntnis, dass der verfluchte Landedelmann mit seiner quirligen Schar offenbar so wild aus seinem Inneren herausgefahren war, dass sich die Sauerei nicht nur auf Gras und Brennesseln, sondern auch über seine Hose verteilt hatte. Er weinte lautlos. »He, was bist’n so ruich?« forschte Paul. »Ich, äh …« In Jacos Versuch einer Antwort klang das Knattern des Mofas. Pauls Komplize rief ein »Ich hab eine« durch den Motorenlärm, dann verstummte das Knattern, das Fahrzeug rollte aus. »He, wo hockst’n?« fragte Paul nun, und Werners gab ein zaghaftes »Hier!« zurück. Der andere ging ein paar Schritte auf ihn zu, fragte nochmals »Wo?«, erhielt erneut Antwort. Dann waren sie einander nahe genug, dass Werners die Klorolle aus der ausgestreckten Hand Pauls greifen konnte. Paul wollte sich schon wieder schleichen, da zischte ihn Werners zurück. Was hatte er sonst für eine Chance? Er war auf Gedeih und Verderb diesem Kerl ausgeliefert. »Ich brauchte auch eine Hose.« Es war ein Winseln, ganz leise. Mehr wagte Werners nicht, wollte auch nicht, dass ihn die Weiber draußen hörten und von seinem Missgeschick erführen. »Hä?« herrschte Paul, sich wieder der Summe zuwendend, zurück. 206
»Eine Hose«, bettelte Werners nun etwas lauter. »Oh, nää.« Paul hatte ihn verstanden. »Ich gläb’s nit.« Der Boss kehrte zu seiner Meute zurück. Ohne eine Spur von Mitleid setzte er die anderen von Werners Misere in Kenntnis: »Der Schwachkopf hat nei die Hosä gschisse.« Moni musste prustend lachen. »Lass’n hock!« Der Mofafahrer hatte sein Urteil binnen Sekundenfrist gefällt. Werners konnte sehen, wie Paul, der gerade kräftig an der Kippe saugte, den Kopf in seine Richtung drehte. »Komm, mir haun ab.« Das musste Carola gewesen sein. In ihrer Stimme klang Erleichterung mit, so als hätte die Gruppe für ihre Begriffe eh schon lange genug in der Dunkelheit herumgestanden. »Und was sachst du, Petra?« Jaco konnte die Antwort der kleinen Tonne nur in Bruchstücken verstehen, weil ihre Stimme ziemlich leise war. Doch aus den Antworten der restlichen Bandenmitglieder und ihrem »Bis nachher auf der Tenne« sowie aus der Tatsache, dass die Silhouette der Tonne als einzige übrig blieb und sich die anderen vier mit ratterndem Mofa entfernten, schloss er, dass sich Petra seiner erbarmt hatte. »Ich kumm gleich, hol nur ebbs von meim Bruder«, hörte Jaco Petra sagen, und dann verschwand auch sie. Gesegnet seist du, Vollmondgesicht, dankte Werners und pries die gute Seele der Dicken. Werners verarbeitete reichlich Papier und richtete sich dann unter Schmerzen auf. Wie Feuer brannte es in den eingeschlafenen Beinen, mit tausend Nadelstichen kehrte das Leben in die Gliedmaßen zurück. Er suchte Halt an der Scheunenwand. Nachdem er eine Weile verschnauft hatte – die Schmerzen in den Beinen ließen nun ein wenig nach – und er seine von den Brennesseln juckenden Körperpartien mit der sauberen Hand ausgiebig gerieben hatte, stieg Werners aus den 207
Hosen. Er rollte sie zusammen und legte das Päckchen am Fuß der Scheunenwand ab. Er würde das versiffte Zeug morgen früh holen und daheim in der Wanne auswaschen. Mit dem restlichen Klopapier säuberte er, soweit es in der Dunkelheit ging, seine Beine und die Hände, wischte über die Schuhe, die sicher auch etwas abbekommen hatten. Er musste schnellstmöglich eine Wasserstelle finden. Er musste in die Wohnung. Er wollte nur noch heim. Noch immer lehnte er an der Scheunenwand, hatte die Augen geschlossen. Es war ein Traum, ganz sicher. Noch ein kleiner Moment des Schlummerns, und dann würde er wieder daheim in seinem Zimmer auf dem Bett liegen und die Stimme seiner Mutter hören, die ihn weckte. »Jakob, Frühstück.« Doch der erneute Stich einer Brennessel, die ihn erwischte, als er das rechte Bein ein wenig bewegte, rief ihn in die grausame Realität zurück. Wenn ihn einer seiner Bekannten, wenn ihn Erika oder Pater Heribert so sehen könnten! Werners erschauderte. Beschuht, aber ohne Unterkleider, darüber nur ein kurzes Hemd, so stand er da. Gepeinigt, innerlich mit Geißeln geschlagen, seiner Kleider beraubt, erniedrigt und ein ungewisses Schicksal vor Augen. Im Büßerhemd, dachte er unwillkürlich. Kurz zuckte der Gedanke an den Rosenkranz durch seinen Kopf. Das Ding harrte seiner irgendwo an Egons Haustüre. Schritte näherten sich. Werners ging erschrocken in die Hocke. Wieder bissen ihn die Brennesseln in Gesäß und Gemacht. Lauernd blickte Jaco in Richtung Weg. Gott sei Dank, es war die Dicke. »He, hallo, bist noch da?« Petra fuchtelte mit Klamotten. Ja, hier sei er, gab Jaco zurück.Doch die Tonne rührte sich keinen Meter auf ihn zu. Im Gegenteil. Sie winkte ihn heran. »Na, dann komm halt!« rief sie und legte sich die Sachen über den Arm. 208
Wie stellte sich dieses Miststück das vor? Sollte er hin zu ihr und sich die Kleider holen? Musste er sich wirklich vor ihr erniedrigen? Was blieb ihm übrig? Die Hände vor seine Männlichkeit geschlagen, näherte sich Werners dem Mädchen. Es war verdammt dunkel. Sie würde nichts sehen können, tröstete er sich, als er die Sachen aus ihren Händen entgegennahm. Das Fass kannte keinen Anstand und drehte sich noch nicht einmal um, als er in die Kleider schlüpfte. Werners zog die riesige Unterhose über das Gesäß. Dann streifte er die Hose über, die an den Beinen viel zu kurz, am Bund aber so weit war, dass er sie mit den Händen oben festhalten musste, damit sie ihm nicht wieder hinabrutschte. »Von meim Bruder«, sagte die Dicke entschuldigend. Nun entstand eine kritische Pause. Werners war hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und dem Wunsch nach Einsamkeit, Sauberkeit und frischen Klamotten. Sicher, die Dicke hatte ihn gerettet, hatte ihn aus der Brennesselhölle befreit, hatte ihm erspart, mit versifften, stinkenden Klamotten durch das Dorf nach Hause eilen zu müssen. Aber die Bande der Dicken war zugleich schuld daran, dass es soweit gekommen war, dass der Landedelmann in seinen Gedärmen gereizt wurde und er es schließlich nicht bis in die Wohnung geschafft hatte. Eigentlich konnte ihm das Vollmondgesicht gestohlen bleiben. Wenn sie wenigsten halbwegs attraktiv wäre. »Du willst dich sicher e weng wasch«, sagte die Tonne jetzt. Werners brummte ein »Hmmm«. Die Dicke führte ihn vielleicht hundert Meter weiter auf dem Weg entlang. Dann quietschte eine Gartentüre, und die Dicke sagte: »Da.« Werners Augen, die sich weitgehend an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten einen Wasserhahn ausmachen. In seltsamer 209
Verrenkung, damit ihm die viel zu weite Hose nicht herunterglitt, wusch er sich die Hände. Wie gerne hätte er sich mit dem kühlen Wasser die Schmerzen seiner Brennnesselblasen gelindert! Doch die Tonne blieb unmittelbar neben ihm stehen. Unwillig, ein wenig zur Seite zu treten, und ganz und gar unwillig, die Blicke von ihm zu nehmen. – Die Atmosphäre im ›Stern‹ war zweifellos etwas angespannt. Der Apostel hatte den Wirt bei Werners Hinauseilen mit bösen Blicken gestraft, unter denen dieser sogleich schuldbewusst die Augen senkte. Dass etwas aus der Bahn gelaufen war, fiel auch Bläser auf. Der Baatsch, dieses Urgestein, erwies sich keineswegs als der große Müllschlucker, für den ihn Pietro gehalten hatte. Von wegen: nur hinein damit! Nur ganz kurz hatte der Matschige am Riesling genippt, dann das Getränk mit einem verächtlichen Blick zurück auf den Tisch geschoben. Selbst des Apostels Schlappern und Gurgeln hielt sich in Grenzen. Kein Vergleich zu dem orgiastischen Geschlürfe bei Silvaner und Müllerin! »Zu jung, viel zu jung«, schimpfte der Alte verärgert. Schwab und Bläser, die jungen Laien, konnten die Aufregung nicht so ganz verstehen. Sicher, das Weinchen war etwas säuerlich, quirlig und ungestüm, aber die scharfen Leberwürste gierten nach Flüssigkeit, und im Vergleich zu Werners’ angeschlagenen Innereien steckten ihre Mägen das Dargebotene robust weg. So kam es schließlich, dass die beiden jungen Herren dem Landedelmann in seinem Bocksbeutel weitgehend alleine den Garaus machten, während die beiden Alten geduldig, der Meister allerdings auch etwas skeptischen Blicks, dem Gelage zusahen. »Wenn ihr’s vertraachd«, hatte der Apostel gemeint und die Durstigen gewähren lassen. Der Wirt trug derweil, scheinbar von schlechtem Gewissen geplagt, den Stammgästen neue Gläschen herbei und die halbvollen Römer der beiden Alten mit dem Riesling hinfort. 210
Als Draufgabe, sozusagen als Geste der Wiedergutmachung, servierte er ihnen einen Birnenschnaps, den der Apostel ärgerlich, aber letztlich doch dankbar akzeptierte. Der Baatsch sowieso. Grunzend signalisierte er, dass seiner Rehabilitation Genüge getan sei. Der Apostel dagegen nahm noch einen zweiten Birnenschnaps zur Besänftigung. Als der Rieslaner zu Tische zog, fand es Schwab an der Zeit, sich Gedanken über den verschwundenen Freund zu machen. »Wo der Jaco bloß bleibt?« fragte er in die Runde und erhielt vom Apostel schmunzelnd die Antwort, dass »so e Gschäft« schon eine Weile Zeit in Anspruch nehme und man unbesorgt sein könne. »Bei uns im Dorf geht kenner verlore.« Auch Bläser demonstrierte innere Gelassenheit und warf ein, womöglich laufe sich der Jaco »die Gase aus dem Leib« und drehe eine kleine Dorfrunde. »Der kommt schon wieder«, beruhigte er Schwab, der sich damit schließlich zufrieden gab und sich, inzwischen von der Weinverkostung leicht angeschlagen und ermüdet, wie die anderen den Ausführungen des Apostels zum Thema Rieslaner zuwandte. Der Meister hatte zunächst jedoch erhebliche Probleme, sein »Familien-Modell« für den fränkischen Wein nachvollziehbar aufrecht zu erhalten. »Der Silvaner is der Vadder, der Müller die Mudder, der Riesling der edelreiche Onkel und« – hier stockte der Alte und kramte im Gehirn nach einer Lösung – »und der Rieslaner e unehelichs Kind.« Oha, das klang interessant! Bläser war ganz Ohr. Auffallend für die beiden jungen Herren war, dass sich auf des Baatsch schwammigem, ansonsten doch meist unbeteiligtem Gesicht eine Andeutung von einem Stirnrunzeln abzeichnete und in seinen großen Boxeraugen zwei Fragezeichen standen. Die Spannung knisterte, als der noch am Tisch stehende Wirt, der vorsorglich gleich zwei Rieslaner-Flaschen mitgebracht hatte, dem Apostel schmunzelnd zu bedenken gab, dass »des 211
awer en schöne Balg« sei, der Rieslaner. Dann hielt es ihn nicht mehr: »Vom Vadder un Onkel!« Prustend schlug sich Josef die Hand vor den Mund, versteckte sich jedoch sogleich, vom Apostel mit feuriger Strenge ins Visier genommen, hinter dem vor ihm sitzenden Bläser, was aufgrund der Größe des Wirts kein Problem war. »Des hat’s in Franken oft«, maulte der Apostel, womit er die unehelichen Kinder meinte. Das habe früher sogar in besseren Kreisen zum guten Ton gehört. »Nit awer zwische’m Vadder un Onkel«, kicherte es wieder hinter Bläser hervor. Des Apostels Augen schleuderten einen Blitz hinter die Bläser’sche Deckung. Der Wirt räusperte sich verlegen, trippelte von dannen, ein »Muss emol in die Küche guck« murmelnd. Ihn fürchtete wohl um den weiteren Absatz seiner Weine. Die Männer am Stammtisch waren wieder einmal seine einzigen Gäste. Allerdings trat Josef seinen Rückzug nicht wie ein geschlagener Hund an, sondern, einem Triumphator gleich, mit stolz geschwellter Brust. Der kleine Gnom, verstand Bläser, hatte gegen den alten Fuchs einen Sieg errungen. Die Argumentationskette des Alten haperte. Das verriet auch die Miene des Baatsch, während sich der Apostel mit ärgerlicher Stimme weiter dem Rieslaner widmete, das leidige Thema der weinbaulichen Fortpflanzung nun aber unterschlug. Bläser überlegte kurz, ob er nachsetzen sollte. Schließlich bestand eindeutig Klärungsbedarf. Wenn es Vater und Onkel trieben (Welch kurioser, abscheulicher Gedanke! Aber was gab es nicht alles auf der Welt!), wie sollte dann ein Kind dabei herauskommen? Aber des Apostels Visage zeigte, dass weitere Anfragen zu dieser Thematik höchst unerwünscht waren und ein Nachbohren nur die gemütliche Runde gesprengt hätte. Allgemeines Räuspern, ein Grunzen des Baatsch, fast einem Seufzen gleich. Der Kopf des Apostels rot wie ein 212
Löschhydrant. Man schritt fort im Programm. Der Rieslaner erwies sich trotz seiner zweifelhaften Herkunft als feiner Kerl. Kein frecher Landedelmann, sondern ein ungeheuer gehaltvoller, fruchtiger Geselle, gerade so, wie ihn der Alte seinen Schülern vorstellte. »Der hat ’s richtige Alter«, stellte der Apostel schnuppernd und schlürfend fest. Schwer lag der Rieslaner auf Schwabs Zunge; die reinste Medizin im Gegensatz zum vorangegangenen Tausendsassa. Die Stimmung stieg sogleich. »Hell die Gläser klingen«, sang nun der Apostel, und der Baatsch summte beim Anstoßen mit. Bald fühlte sich Schwab so wohl wie daheim auf dem Wohnzimmersofa, mit schweren Gliedern, aber aufgehoben in einer ihm friedlich gesonnenen Welt. Wie gerne würde er sich jetzt zu Selma kuscheln, die sicher traurig in ihrem einsamen Doppelbett lag und in ihrem Gutenachtgebet den Herrn um einen treuen, fürsorglichen Lebensgefährten anflehte, der sie und ihren Sohn liebte und den sie mit ihrer Liebes- und Kochkunst verwöhnen dürfte. »Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus«, jodelten nun der Apostel und der zurückgekehrte und begnadigte Wirt im Duett. Die zweite Flasche Rieslaner wurde eingeschenkt. Nun tauchte auch des Wirts Gemahlin, Rosalinde, am Tisch auf und schenkte den Buben ein freundliches Lächeln. Wie sie so neben ihrem Gemahl stand, nicht größer als der, aber doppelt so breit, da schien sie Morris die Göttin der Fruchtbarkeit höchstselbst zu sein. Mutter Erde hatte eine Tüte Salzletten dabei. Freudig und dankbar glänzten die Augen über dieses Geschenk. Ach, wie einfach, wie gemütlich war dieses Landleben doch, dachte Schwab, und freute sich darauf, durch seine Einheirat bald ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu werden. Er nahm einen kräftigen Schluck. Herrlich. Doch während der Wirt – aus welchem Anlass auch immer – gerade die Beerdigung des Pfarrers Heusinger thematisierte und Klage darüber führte, dass der geplante Leichenschmaus nicht in 213
seiner Lokalität, sondern im Pfarrheim abgehalten würde, stutzte Schwab. Er hatte soeben das dritte Glas Rieslaner getrunken, als ihn ein seltsames Gefühl irritierte. Ihm schien, als hätte ihm jemand eine Art Käseglocke über den Kopf gestülpt. Die Stimmen der anderen, des Wirts und des Apostels, schienen plötzlich aus einem anderen Raum zu kommen und waren für ihn zwar nach der Stimmlage noch den Personen zuzuordnen, doch nicht mehr verständlich. Nur einzelne Wortfetzen wie »Heusinger« oder »Dekan«, dann so etwas Ähnliches wie »alter Depp« und, als Reaktion darauf und aufgrund der höheren Stimme etwas besser herauszuhören, ein »versündicht euch nit« der Wirtin, drangen noch durch die Watte in seine Ohren. Schwab schüttelte den Kopf, aber es besserte sich nicht. Die Ohrenpropfen steckten fest. Schwab überlegte einen Moment, ob er seinen Kopf an des Baatsch weiche Schulter betten sollte, weil ihm gar so müde war, entschied sich dann jedoch für etwas frische Luft und griff mit beiden Händen zur Tischkante, um sich mit einem gemurmelten »Muss mal pinkeln« hochzuziehen. Bläser sah ihn seltsam an. »Pinkeln«, wiederholte Schwab und schob sich hinter dem Tisch hervor. Der Rest der Gesellschaft, der weiter in eifrige Unterhaltung vertieft war – noch immer ging es um »Heusinger« und um »vierzehn Käste Bier, des musste dir emol vorstell« –, schien keine weitere Notiz von ihm zu nehmen. Ein flüchtiger Blick des Baatsch, mehr nicht. Auch Bläser wandte sich nun wieder den anderen zu, scheinbar beruhigt. Auf saublöden Stelzen, die ihm jemand umgebunden haben musste, während er sich am Rieslaner gelabt hatte, stakste Schwab zur Tür. Das »Pinkeln« war keineswegs eine Ausrede gewesen. Es drängte ihn durchaus. Weil er sich vor dem Urinal auf seinen Stelzen unmöglich gerade halten konnte, stützte sich Schwab zusätzlich mit der Stirn an der gefliesten Wand ab. Das war schön kühl. Auch stand er so stabiler. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass der dreibeinige Hocker fast nicht zu kippen 214
sei. Auch er hielt Balance. Deutlich erleichtert schloss Schwab den Reißverschluss. Die blöde Käseglocke war noch immer da, unnötigerweise kam nun noch ein Ohrensausen hinzu. Frische Luft, erinnerte sich Schwab und eierte auf seinen Stelzen hinaus. Ah, das tat gut. Tief pumpte Morris die kühle Abendluft in seine Lungen. Ein paar Schritte durchs Dorf würden ihm guttun. Bläser würde nicht weglaufen, und Werners, der offenbar auch Luft holen war, lief ihm vielleicht unterwegs über den Weg. Dann könnten sie gemeinsam Bläser abholen, denn eigentlich reichte es für heute. Silvaner, Müller, Riesling und Rieslaner, das waren schon einer mehr als sie drei zusammen. Das Laufen erwies sich als problematischer als gedacht. Der Gehsteig wies hässliche Unregelmäßigkeiten auf, kleine Hügel und schiefe Ebenen, die Schwab mehrfach gegen die Wände der angrenzenden Häuser schwanken ließen. Einmal schürfte er sich am Hausputz schmerzhaft den nackten Unterarm auf. Ganz kurz, der Schmerz. Dann hatte die Käseglocke das Gefühl verschluckt. Urplötzlich war dieser Abgrund da. Schwab konnte es gar nicht verstehen. Der Gehsteig hatte doch ganz eben gewirkt, die Bordsteinkante gar nicht gefährlich, aber dann war er irgendwie auf seinen Stelzen quergeschossen und über die Kante gerutscht. Morris kam es vor, als stürzte er mindestens einen Meter in die Tiefe. Mit einem für seinen Zustand erstaunlichen Reflex konnte er einen Sturz gerade noch verhindern. Durch das Abfangmanöver beschleunigte er jedoch nach vorne, sein taumelnder Körper setzte den vertikalen Schwung in ein horizontales Höllentempo um, und Schwab rannte mit solcher Wucht gegen einen sich ihm in den Weg stellenden Maschendrahtzaun, dass dieser unter dem Aufprall des Oberkörpers geschmeidig nachgab, um dann seinen Unterkörper fast katapultartig hinterherzuschleudern. Nach einem beinahe formvollendeten Salto landete Schwab, überrascht von den Wundern der Physik und der Gelenkigkeit 215
seines Körpers, wuchtig auf einem Zwiebelbeet. Morris fiel so garstig auf seine linke Schulter, dass sich der Schmerz durch alle Silvaner, Müller und Rieslaner der Welt hindurch in sein Gehirn bohrte. Schwab schrie sein Leid hinaus in die Nacht. Doch ächzendes Japsen war alles, was aus der Käseglocke drang. Schmerzsignale tobten durch die Nervenbahnen, klopften mit einem kleinen Hämmerchen die Käseglocke mürbe, bis sie schließlich zerbrach. Der Kopf wurde frei. Er stöhnte. Nachdem er hechelnd die Wehen weggeatmet hatte, rollte sich Schwab von seiner kaputten Schulter auf die andere Seite. Vorsichtig tastete seine rechte Hand das linke Schulterblatt ab, dann den daran befestigten Arm. Gott sei Dank, es schien nichts gebrochen. Sicher konnte er nicht sein, denn die Schulter schmerzte immer noch fürchterlich, doch fühlte es sich eher nach einer brutalen Prellung an. Summen. Schwab erschrak. Er war mit sich und seinem Unglück so beschäftigt gewesen, dass er die beiden Männer nicht hatte nahen hören. Nun blieben sie, kaum drei Meter von ihm entfernt, stehen. Mucksmäuschenstill lag Morris da und lauschte. »Des haste schöö gemacht, Spohr«, sagte der eine. »Da hamm mir dann alle zamm.« Er klopfte dem anderen auf die Schulter, sagte dann »Wart emol« und ging zwei Schritte auf Schwab zu. Der verharrte regungslos. Ganz flach atmete er. Ohne sich zu rühren, sah Schwab zu, wie der Urinstrahl des Mannes so nah bei ihm auf den Boden prasselte, dass feinste Tröpfchen sein Gesicht benetzten. Die Sau! dachte sich Morris, wagte aber nicht zu protestieren. Endlich war der andere, der während der ganzen Zeit des Wasserlassens seinem Begleiter den Kopf zugewandt und nochmals betont hatte, wie gut es dieser, Spohr, doch arrangiert habe, mit seinem Geschäft am Ende. Nun schüttelte er die letzten Tropfen ab, dann hörte Schwab, wie sich der 216
Reißverschluss der Hose schloss. Der Pinkler ging zu Spohr zurück. »Was mir noch brauchte, Bürchemäster«, gab Spohr zu bedenken, »wär vielleicht e Gemeindefoahne ans offene Grab.« Der Bürgermeister brummte beeindruckt. »Guade Idee«, lobte er. Das lasse sich machen. Er werde dem Gemeindediener entsprechende Anweisung geben. »Mal was annersch«, wechselte das Ortsoberhaupt das Thema. Er habe vom Lutze Hans gehört, dass sich offenbar Verwandte des Heusinger im Dorf befänden. »Angeblich en Neffe. Wäßt du do was?« Spohr verneinte. Von einem Neffen wisse er nichts. Der Pfarrer habe zwar eine Schwester, die er, Spohr, auch habe erreichen können und die wegen der Trauerfeierlichkeiten heute im Dorf eingetroffen sei, doch sei die alleine unterwegs. »Die is doch Pfarrhaushälterin düwe im Bamberchische. Die hat kee Kinn.« Dann gebe es noch von Heusingers früh verstorbenem Bruder gewisse Nachkommenschaft, doch habe diese noch nicht auf sein Schreiben reagiert. Ja, da könnten Neffen dabei sein, meinte er. Aber noch habe sich niemand bei ihm gemeldet. Der Bürgermeister kratzte sich am Kopf. »Komisch«, sagte er. Schwieg dann. Allerdings, so warf der Pfarrgemeinderatsvorsitzende in die Sülle, allerdings hätten sich vor wenigen Tagen beim Egon »unte am Häg« drei junge Männer einquartiert. Die hätten angeblich eine Motorpanne und das Auto beim Kurt zur Reparatur. »Mit dem Heusinger hömm die nix zu tun.« Der Bürgermeister brummelte etwas in seinen Bart, das Schwab nicht verstehen konnte. Morris fühlte sich unbehaglich. Jeder im Dorf wusste also Bescheid über sie. Selma! Ob sie auch über ihn und Selma Bescheid wussten? »Ich muass weiter, höi no viel zu duan«, sagte jetzt Spohr, und der Bürgermeister bestätigte dies mit einem »Freili«. Schwab wartete, bis der Hall der Schritte verklungen war. 217
Mühsam rappelte er sich auf. Die Schulter brannte wie Feuer. Daran, wieder über den Maschendraht zurück auf die Straße klettern zu können, war nicht zu denken. Glücklicherweise war die Gartentüre nicht verschlossen. Quietschend öffnete sie sich. Schwab überlegte kurz. In seinem Zustand wollte er weder zurück in die Kneipe noch im Dorf nach Werners suchen. Er würde sich schleunigst nach Hause machen und seine Schulter untersuchen. Vielleicht war ja doch etwas gebrochen. Er fühlte sich total platt. Mit der rechten Hand die linke Schulter haltend, schlich Morris durch die Straßen. Nicht nur die Käseglocke war weg. Auch die Stelzen hatte er beim Sturz verloren. Wenigstens etwas.
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KAPITEL 9 Ins Land der Franken fahren IN DER WIRTSSTUBE DES ›STERN‹ hatte sich warme Gemütlichkeit breitgemacht. Bläser wollte sich gerade über die vom Apostel spöttisch angemerkte »Blasenschwäche« seiner Freunde ärgern und war schon im Begriff aufzustehen und den beiden offenbar auf dem Klo Eingeschlafenen die Meinung zu geigen, da kam ihm der Wirt dazwischen. Zum ScheurebeBocksbeutel servierte er eine Runde Zigarren. Es war ein Genuss zuzusehen, wie der Baatsch seine Krötenzunge immer wieder um das Ende der braunen Tabaksrolle kreisen ließ und er dann die tief im Mund steckende Zigarre sehnsüchtig dem von Bläser gereichten Feuer entgegenstreckte. Ein gepflegtes Paffen begann am Tisch. Selbst der Wirt machte mit, die ärgerlichen Blicke seiner Rosalinde ignorierend. Als er es gar wagte, sich zu den drei verbliebenen Gästen zu setzen, trollte sich die Ehefrau beleidigt mit wiegenden Hüften in die Küche davon. Vier Lokomotiven stießen ihren Rauch genüsslich gen Stubendecke. Rasch war der ›Stern‹ in Qualm gehüllt. Besonders edle Stumpen waren es freilich nicht, die Josef da spendiert hatte. Aber die köstlichen Weine hatten die Gemüter gnädig gestimmt. Bläser lehnte sich gemütlich in seinem Stuhl zurück. Als er die Beine weit unter den Tisch schob, stieg in ihm beim Mustern der Getreuen, des Apostels, des Baatsch und des Wirts, ein Gefühl von Frieden und Bonanza auf, wie er es selten zuvor erlebt hatte. War nicht der Apostel ein väterlicher Freund, ein weiser Lenker der Geschicke auf dieser Ponderosa der Weinseligkeit, ein zweiter Ben Cartwright? Und der Baatsch? Freilich hatte sein Fleisch nicht diese Straffheit, wie sie der gute Hoss über seinem 219
Hosenbund zu präsentieren verstand, doch stand sein freundliches Lächeln dem des dicken Cowboys in keiner Weise nach. Und der kleine Chinesenwirt war ein Muster an Eifer und gleichzeitiger Zurückhaltung. Plopp! machte der Korken. Schnüffelprobe. Der Apostel füllte die Gläser, schob Pietro das seinige zu. »Riech emol«, forderte der Alte auf, und Bläser tat, wie ihm geheißen. »Riechst d’es?« Bläser schnüffelte. Der Wein roch wie Wein. Der Alte wartete gespannt auf eine Antwort. »Ja, hmm«, versuchte Bläser Zeit zu gewinnen, fühlte sich unsicher und meinte schließlich, damit etwas gesagt zu haben, wohlwissend aber, dass seine Antwort nicht die erhoffte war, weshalb sie mehr nach einer Gegenfrage klang: »Weinig?« Graue Trauer überzog die Miene des Experten. Das Seufzen kam aus tiefsten Tiefen des in zahllosen Weinproben geläuterten Körpers. Der Apostel und der Baatsch schauten sich an. Wortloses, von hängenden Backen begleitetes Resignieren. Seufzen. Der Wirt kicherte. »Kanzeträuweli«, sagte der Alte schließlich, »ganz unverwäxelboar.« Übersetzte es dem jungen Versager: »Schwoarzi Johannisbeern.« Bestätigend schnüffelten der Wirt und der Baatsch an ihren Gläsern, gaben nickend Zustimmung. Auch Bläser steckte die Nase ins Glas, das Aroma schwarzer Johannisbeeren suchend. Vergeblich. »Ahh, ja, jetzt riech ich’s«, pflichtete er den anderen bei, nichts riechend als Wein, wenn überhaupt, aber sich sicher, dass man ihm eine andere Antwort nie verziehen hätte. »E schöns Schöpple«, freute sich der schlürfende Apostel, »mer muss se halt möch, die Scheurebe.« Und fuhr fort, nun habe man sozusagen die Cousine des Rieslaners im Glas. Stockte dann und schien sich der Misere zu erinnern, die ihm 220
seine fränkische Wein-Familienbande kurz zuvor eingebrockt hatte. Selbst Bläser grinste, als er an den kichernden Wirt und seine Bemerkung »vom Vadder un Onkel« und den herausgekommenen Balg denken musste. »Schö frisch un fruchtig«, begnügte sich der Meister deshalb und ließ die Gläser klingen. Der goldene Wein floss in die Kehlen, dann wurden die Römer auf dem Tisch abgestellt. Es waberte Stille. Noch ein wenig Schlürfen, dicker Zigarrenrauch, Schläfrigkeit. Doch an diesem Scheidepunkt des Abends offenbarte Wirt Josef seinem jungen Gast die Qualitäten eines echten Gastronomen. Ließ die Gesellschaft nicht abtauchen in jenen gefährlichen Strudel gelangweilter Zufriedenheit, die in Gaststuben rasch in schlimmste Depression umschlagen kann. Ein Lied, das war das beste Rezept dagegen, ein heilsames Medikament, so denn die richtige Auswahl getroffen wurde. Und Wirt Josef lag allem Anschein nach goldrichtig, als er nun anstimmte: »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein. Wer lange sitzt, muss rosten. Den allersonnigsten Sonnenschein lässt uns der Himmel kosten.« In der Stube, inmitten der dunkelsten Nacht, ging die Morgensonne auf. Breitete ihren goldenen Glanz über die Gesichter, ließ des Apostels rote Wangen leuchten und warf Schatten zwischen die matschigen Furchen um des Baatsch’ Kinnpartie. »Drum reicht mir Stab und Ordenskleid«, grölten nun die beiden Stammtischbrüder voller Inbrunst mit und schwangen gemeinsam mit dem Wirt jubilierend ihre Gläser. »Ich will zur schönen Sommerszeit / ins Land der Franken fahren«, hörte Bläser das Trio trällern und war auf einmal von einer Woge der Seligkeit umhüllt, wie sie – da war er sich ganz sicher – auf einer Ponderosa niemals zu verspüren sein würde. 221
»Valleri, vallera, valleri, vallera, / ins Land der Franken fahren.« Was war dies für ein Lied, und vor allem, was vermochte es auszulösen? Täuschte sich Bläser, oder hatte sich der Baatsch tatsächlich in eine halbwegs aufrechte Position gebracht, riss das Maul in einem fort auf, als wollte er nach Fliegen schnappen, und sang, einem röhrenden Hirsche gleich, die Augen feucht schimmernd? Und der Apostel! Eben noch von drohender Melancholie umfangen, eben noch in der Gefahr, wegen der Schwulitäten zweier Rebsorten und der von ihnen gezeugten Nachkömmlinge einen unerfreulichen, derben Verlust an Ansehen zu erleiden – strahlte er nun nicht vor Glückseligkeit? Lag da nicht Liebe und Wärme in den Blicken, die der Alte dem Retter des Abends, dem Wirt Josef, schenkte? Und dieser? Ganz Diener seiner Herren, wie er so klein und doch so drahtig stark auf seinem Stuhle saß, innerlich zufrieden nickend, äußerlich in einem fort trällernd und den Text vorantreibend. »Schwer ist das Korn geraten«, sang er jetzt, »sie können auf des Maines Flut die Schiffe kaum verladen.« Fast gierig trank Bläser die Ambrosia, die solches zuwege brachte. Dieses Zaubergetränk, das wie ein Streicher die Saiten der Gefühle zum Klingen bringen konnte. »Die Kelter harrt des Wei-hei-nes, / der Winzer Schutzherr Kili-an beschert uns etwas Feines.« Aufmunternd nickte nun der Apostel seinem Ziehsohn zu. Strahlend, beim Singen kleine Spucketröpfchen über den Tisch schleudernd, saß der Baatsch ihm gegenüber, und so vereinten sich denn jung und alt, Weisheit und Neugier und die Körperdüfte der Generationen im Juchzen des Refrains: »Valleri, vallera, valleri, vallera, / ins Land der Franken fahren.« Himmlisches und zugleich Erdverwurzeltes ging um ihn vor, Unbekanntes, Ungeahntes. Ein wohliger Schauer lief Bläser über den Rücken. Als nach der dritten Strophe eine kurze Pause entstand und der Apostel das Glas hob zum gemeinsamen Trunke, da kippte 222
Bläser den Rest der Scheurebe in einem Zuge hinein und juchzte mit sich vor Rührung überschlagender Stimme und sich als einer der Dazugehörenden die Freiheit herausnehmend und alle Altersschranken niederreißend: »Josef, mehr Wein.« Ein freundliches Schmunzeln des Apostels segnete diese freche Annäherung ab. Auch der Wirt grinste, eilte zum Tresen, brachte neuen Wein, brachte wieder eine Schlegelflasche dieses köstlichen Müllers, brachte den Wein mit den Worten: »Des is die letzte Runde. Die geht uff mich.« Bläser, der wegen der Endgültigkeit dieses Satzes erschrocken zusammenzuckte, der nicht lassen wollte von dieser Seligkeit, fand keine Zeit zum Trauern. Schon ging es weiter im Text: »Zum heiligen Veit von Staf-fel-stein bin ich emporgestiegen und seh die Lande um den Main zu meinen Füßen liegen. Von Bamberg bis zum Grabfeldgau umrahmen Berg und Hügel die weite, stromdurchglänzte Au. Ich wollt, mir wüchsen Flügel!« Und Bläser wuchsen Flügel, während sie nun wieder im Quartett »Valleri, vallera …« anstimmten und den Refrain gemeinsam grölten. Ja, ins Land der Franken fahren – das war’s! Bläser schwebte, bekam Übermut. Was war los? Weshalb zögerten der Wirt und der Apostel so lange, die Flasche Wein zu öffnen? Her mit dem Korkenzieher, dachte sich Bläser, griff nach dem auf dem Tisch liegenden Instrument und drehte es bis zum Anschlag in den Kork. Klemmte die Flasche zwischen die Beine. Plopp! Schnüffelte nach Apostel-Manier und roch feuchte Modrigkeit, nickte fröhlich und schenkte die leeren Gläser wieder voll. Heißa, war das ein Leben, war das eine Pracht! Diese treuen Gesellen! Immerzu singen. »Doch wer bei schöner Schnitterin steht, / dem mag man lange winken. / Valleri, vallera …« Wieder ein Refrain, dann endlich Pause. Anstoßen. Dieser Wein, dieser herrliche Wein, dieses herrliche Land! »Die 223
Pforten brech’ ich ein / und trinke, was ich finde«, sang das Seniorentrio jetzt, und Bläser jodelte ein überschwängliches »Jawohl!« dazwischen, das Glas weit über den Kopf emporstoßend, dabei ein wenig Wein vergeudend, dann wieder eingehend in den Refrain, ins Valleri und Vallera, diese Synonyme für Lebenslust und Lebensfreude. Dann war das Lied zu Ende. Erschöpfte Mattigkeit beherrschte nun die Szenerie. Alle hatten sich in ihre Sitze zurücksinken lassen. Der Apostel war bemüht, seine fast erloschene Zigarre wieder zum Leben zu erwecken. Der Baatsch schien von Schweiß nass gebadet, deutlich gezeichnet von der Anstrengung, die ihm der Gesang abgefordert hatte. Bläser, überwältigt von Gefühlen und zugleich bleischwer im Kopf, verspürte nur noch eine ganz tiefe Dankbarkeit. Einzig der Wirt schien keiner Erholung zu bedürfen. Eifrig begann er, mit den leeren Flaschen zu klappern und den Tisch abzuräumen. Schenkte den Rest des Müllers in die Gläser. Es war nicht mehr viel. Es reichte nicht einmal mehr zum Halbvollen. Schlurfte dann hinter den Tresen, klapperte und räumte und kam endlich wieder herbeigeschlichen, ein schmales Blöckchen und einen Kugelschreiber in der Hand. »Des warn fünfmal Leberwürscht mit Geröste«, begann er und schrieb, nachdem er eine Weile mit dem Kugelschreiber seine Kopfhaut massiert hatte, eine Summe aufs Papier. »Dann die Ölspiel-Spätlese«, fuhr Josef fort. Wieder notierte er eine Zahl, die Bläser, der von der Seite einen Blick aufs Papier werfen konnte, im Vergleich zur Summe der Essensrechnung recht hoch vorkam. »Zweimal Müller, der Riesling, die Rieslaner«, sagte der Wirt, »und dann noch die Scheurebe. Ein Müller geht auf mich.« Josef notierte, zog einen Strich. Rechnete. Rechnete ein zweites Mal. Sagte eine Summe. Der Apostel paffte, den Blick zur Decke gewandt. Der Baatsch hatte aus seiner Hosentasche ein großes Taschentuch geholt, 224
wischte sich mit diesem übers breite verschwitzte Gesicht. Dankbarkeit. Bläser nickte, ohne die Zahl verstanden zu haben, die der Wirt genannt hatte. Alles in ihm war Dankbarkeit. Keinen einzigen Schnaps hatte Josef auf die Liste genommen; das war Bläser aufgefallen. Ein feiner Kerl. Diese Menschen, dieser Wein, diese Leberwürste! Bläser griff in die Jeans und zog die Scheine hervor, die er sich beim Weggehen eingesteckt hatte. Legte zwei große Scheine auf den Tisch, signalisierte Josef mit einer Kopfbewegung, dass dieser sich nehmen könne, was ihm zustehe. Der ließ nicht viel. Legte zu den beiden kleinen Scheinen, die übrig blieben, noch ein paar Münzen dazu. Den Rest des Geldes steckte er weg, ging zurück zum Tresen, klapperte wieder ein wenig. »Mir mache dann Schluss«, sagte er schließlich, nun wieder ganz Geschäftsmann. Am Stammtisch hob Ächzen und Knarzen an. Der Apostel stand als Erster. »Schöne Weine«, lobte er den Wirt. »Awer der Riesling – viel zu jung.« Josef senkte beschämt den Kopf. Und wie zur Bestätigung seines Urteils ließ der Apostel einen mächtigen Wind fahren, der vom Geräusch her jedem Zweitakter zur Ehre gereicht hätte. Bläser, der sich gerade noch von Engelsflügeln getragen fühlte, spürte plötzlich die Schwere seines Körpers. Spürte auch eine gewisse Melancholie in sich aufsteigen. Scheiden tat weh. Und ein wenig teuer war’s schon auch. Als seine traurigen Augen jene des Apostels trafen, spürte dieser offenbar das Herzeleid seines jungen Freundes. »Bei mir gibt’s noch en Schnaps«, sagte der Apostel, fasste den Jüngeren um die Schulter und zog ihn hinaus in die Nacht, den Baatsch, der offenbar das Gasthaus heute nicht verließ, und den Wirt hinter sich lassend. »En schöne Williams un en guade Quetsche«, kündigte der Apostel an, und Bläser fühlte eine solche Liebe zu dem alten Mann, wie er sie seinem Vater 225
gegenüber niemals verspürt hatte. Mehr noch: Hier hatten sich zwei Seelen gefunden, deren Zuneigung zueinander das Maß jeder verwandtschaftlichen Bande sprengte, einer Liebe, wie sie nach Bläsers Ansicht nur unter Männern möglich war. Eine für beide Seiten unangenehme Situation war entstanden, nachdem sich Werners die Hände gewaschen und sie notdürftig an seiner Leihhose trockengestreift hatte. Die Dicke stand einfach da. Hatte ja auch keinen Zwang zum Handeln. Es war an Jaco, den gordischen Knoten zu lösen. »Ja, dann«, sagte Werners, um die Sache irgendwie voranzubringen. Keine Antwort. Er überlegte, ob er jetzt einfach so gehen sollte, vielleicht mit einem »Servus, bis demnächst« zum Abschied, traute sich jedoch nicht. Immerhin hatte ihm das Vollmondgesicht eine Hose besorgt, hatte sich als einzige aus der Dorf-Gang auch dann noch um ihn gekümmert, als er schon ganz vom Elend gezeichnet und für keinen Räuber mehr interessant war. »Zigarette?« fragte jetzt das Mädchen. Werners dachte an das Malheur nach der ersten Kippe, dachte aber auch an die Chance dieser kleinen Annäherung, die ihm den Abschied möglicherweise erleichtern würde. »Hmm«, stimmte er zu. Sie waren mittlerweile wieder aus dem Garten heraus und draußen auf dem Weg, und die Dicke deutete ein Stück weiter, wo Werners im Aschgrau der Nacht einen großen Baum erahnen konnte. Erst als sie fast dort waren, sah er die Bank darunter. Sie nahmen Platz. Goldameisen würde es in der Nacht nicht geben. Werners fühlte sich ausgelutscht. Die Dicke neben ihm schlug die Beine übereinander, so dass über dem in Clogs steckenden rosa bestrumpften Fuß der Ansatz einer mächtigen Wade hell durch die Nacht schimmerte. Er blickte Petra an. »Was machen die ändern jetzt?« fragte er. 226
»Sind auf der Tenne«, gab das Vollmondgesicht zur Antwort. »Tenne?« fragte Werners und erfuhr, dass es sich bei diesem Treffpunkt um den Dachboden einer Scheune handelte, der zumindest teilweise mit Stroh bedeckt sein musste. »Die knutschen im Stroh«, berichtete das Fass unter leichtem Seufzen und zuckte dabei ein wenig mit den Schultern. Halli-Galli im Stroh, dachte Werners und malte sich aus, wie es mehrere junge Pärchen gleichzeitig unbekleidet auf der Tenne treiben würden. Verdammt. So schlecht war das Leben auf dem Dorf nun allem Anschein nach auch wieder nicht. Werners musste an Moni und Carola denken, von denen die eine doch höchstens vierzehn Jahre alt war. Das weiße Höschen würde längst an einem Nagel im Dachbalken baumeln. Die Dicke hatte offenbar seine Gedanken erraten. Sie rückte ein wenig näher und starrte ihn unverblümt an. »Männer wollen immer nur das eine«, warnte Jaco die Tonne. Seine Stimme klang heiser, weil ihm trotz seiner angeschlagenen Gesundheit die Lust überkam, es mit Moni auf der Tenne zu treiben. Er sah sie beide ins raschelnde Stroh fallen. Wieder ein Seufzen. Diesmal nicht aus seinem Mund. »Ich auch«, sagte die Tonne. Werners war verwirrt, fragte »Hä?« Er hatte sich soeben in Gedanken an Monis Büstenhalter zu schaffen gemacht. »Männer wollen nur das eine«, flüsterte das Vollmondgesicht erläuternd und rückte noch ein klein wenig näher, um ihrem irritierten Nachbarn auf der Bank Klarheit zu verschaffen. »Ich auch.« Der Glanz auf ihren breiten Wangen, die nun unmittelbar vor seinem Gesicht hingen und ihn an einen Orang-Utan erinnerten, stand für ungezügeltes Verlangen. Verlegen lächelnd zog Werners eine Grimasse. Die Tenne und Moni fielen von ihm ab. Der Landedelmann gab mit einem 227
kleinen Stich seines Degens das Wecksignal. Werners war wieder da. Das war kein schönes Gespräch, zumindest ging es überhaupt nicht in die Richtung, die er sich eigentlich erhofft hatte – ein paar schnelle freundliche Worte wechseln, und dann ab durch die Mitte. Er fühlte sich mit einem Mal unangenehm bedrängt, sozusagen unter Zugzwang. »Die Petra wär’ noch frei.« So ähnlich hatte es der Räuberhauptmann doch vorhin gesagt, und der Fettkloß hatte ihn, Jaco, den Unschuldigen, bei diesen Worten mit ihren Augen ausgezogen. Nun saß er mit diesem, in ein grünes Westchen und eine Sondergrößen-Jeans gezwängten Trampeltier da. Einsam und allein, auf sich gestellt. Werners sah sich in einer Art und Weise mit weiblicher Begehrlichkeit konfrontiert, wie er sie sich immer gewünscht, immer erträumt hatte – bloß nicht von diesem Geschöpf. Das gierige Frauenzimmer war weder sein Typ noch in irgendeiner Weise attraktiv. Es sei recht warm für eine Sommernacht, versuchte Werners abzulenken. Doch Petra hatte nun das Messer gezogen und war bereit zum Gefecht. Sie gierte nach ihm, wabbelte vor Ungeduld. Nein, eine tänzelnde Florettfechterin, die sich kunstreich und langsam auf ihren Gegner einstellt, die mit Finte und Täuschung, mit Reizen und Locken ihr Opfer bearbeitet, das war die Dicke nicht. Sie schien es eher mit der Landsknechtmethode zu halten: Waffe raus und drauf. »Ich hab’ noch nie«, verriet die Dicke und setzte, weil Werners auf der Leitung stand, hinzu: »Ich bin noch Jungfrau.« Verdammt. Das war er auch. Zu mehr als Petting hatte es nie gereicht, auch wenn seine Freunde anderes von ihm glauben mochten. Aber er war im Gegensatz zu Petra nicht willens, sich hier und jetzt entjungfern zu lassen. Das erste Mal, das sollte etwas Besonderes sein und die Frau dann, bitte schön, eine Göttin. Petras elefantöser Oberschenkel rieb nun an dem seinen. Es war zum Verzweifeln, und es war verrückt: Welcher Kerl in seinem Alter würde nicht von einer solchen Situation träumen – 228
von einer Frau, die sich an einen heranschmiss, bedingungslos, ohne Auflagen, ohne Hindernisse? Eine Situation wie im Pornofilm. Sie wollte die Seine sein, ohne langes Herumgerede. Werners überlegte. Blickte in das Vollmondgesicht, an ihrem Körper herunter. Nein, es war unmöglich! Petra war potthässlich, war nicht einmal eine Muttergottheit, in deren Fülle man mit geschlossenen Augen hätte schwelgen können, sie war einfach – Werners fiel es schwer, aber kein anderes Wort traf es wie dieses – Petra war einfach nur abstoßend. Immerhin hatte sie ein großes Herz. Hatte ihn nicht nur mit Kleidung versorgt, sondern saß ihm auch zur Seite, obwohl er sicher furchtbar stank. Er konnte das Monster nicht so einfach abfertigen. Das war ihm klar. Ein wenig nett musste er schon sein. Das hatte sie verdient. Nun wühlte sie gar unter großem Geächze aus der engsten aller Hosentaschen zwei kleine Fläschchen Magenbitter hervor. »Hab ich vom Vadder geklaut«, strahlte sie und bot Werners eines der Fläschchen an. Würde er sich vollends verkaufen, wenn er jetzt Zugriff? Dem Riesling und Konsorten würde es allerdings guttun, wenn sie etwas Medizin bekämen. Werners nickte. Gleichzeitig entfernten sie die Schraubverschlüsse. Als die kleinen Fläschchen gegeneinander schepperten, als sozusagen Brüderschaft besiegelt war, wobei das obligatorische Küsschen allerdings unterblieb, leuchteten Petras Augen voller Seligkeit. Gab es jetzt noch ein Zurück? »Ich, äh«, keuchte Werners und überlegte fieberhaft, wie er sich aus dieser verfahrenen Situation herausreden sollte. Vielleicht mit einer Krankheit? Dass er einfach nicht so könnte, wie sie gerne wollte? »Lass uns ein wenig reden«, versuchte er Zeit zu gewinnen. »Erzähl was von dir!« Petra offenbarte sich ihrem Gespielen ohne Scheu. Sie war fünfzehn Jahre alt und besuchte die Abschlussklasse der 229
Hauptschule. Hatte eine »todsichere Zusage« als Bäckereiverkäuferin. Hatte zwei Brüder und alle Hände voll zu tun, der Mutter auf dem Bauernhof zur Hand zu gehen. Viel Dreckwäsche von der Arbeit, ständig Dreck im Haus von den Arbeitsschuhen der Männer. Mochte Disco-Parties, hatte aber kaum Gelegenheit dazu. Moni und Carola waren ihre Freundinnen; das hieß, sie, Petra, glaubte, dass die anderen sie nur mitnahmen, weil Carola ihre Cousine war und die anderen darum bat. »Ich bin nit schö, ich wäss«, sagte Petra, senkte jedoch nicht resignierend den Kopf mit dem Pagenschnitt, sondern warf ihn selbstbewusst zurück in den Nacken. Verdammt, wie recht sie hatte, dachte Werners. An diesem Abend wollte sie es wissen. Das spürte er. Sie wollte heute, um jeden Preis. Nein, dachte er voller Angst. Nicht das erste Mal. Später vielleicht einmal, wenn er schon ein Dutzend andere Frauen vernascht hatte. Vielleicht. Aber nicht die erste. Bitte nicht. Fünfzehn sei aber noch recht jung, gab Werners zu bedenken. Die Dicke nickte zustimmend, gab aber gleich Kontra. Moni und Carola hätten auch schon und seien nicht älter, Carola sogar jünger. »Aber das ist doch nicht die Regel«, stieß Werners hervor, sich an die Mädchen in seiner Schule erinnernd. Sicher, man redete auch am Gymnasium nicht über solche Sachen, spekulierte höchstens im Freundeskreis. Aber von den neun Weibern in seiner alten Klasse hatten es zwei ganz gewiss noch nicht getan; da war sich Werners sicher. Und beide waren um einiges ansehnlicher als dieses fette Monstrum, das die Parkbank mit ihm teilte. Jeder der beiden hätte er jetzt und hier ein »Ja« gesagt. Aber doch nicht diesem Fass! »Man muss doch auf den Richtigen warten können«, hörte Jaco seine Mutter aus seinem Mund reden. Die Dicke schüttelte den Kopf. Holte etwas Luft. »Ich will, 230
und ich muss«, presste sie sodann zwischen den Lippen hervor. Sie musste? Oha, daher wehte der Wind! In Werners Kopf wurde addiert und subtrahiert, bis das Ergebnis auf der Hand lag. Die Clique hatte das Mädchen offenbar unter Druck gesetzt, hatte ihr den Jakob Werners zum Fraße vorgeworfen. Petra sollte ihn vernaschen und der Clique anschließend die Vollzugsmeldung liefern. Von wegen! Werners bekam ein wenig Oberwind, fühlte, wie sich ein Tor zu seiner Rettung öffnete. Jetzt nur nicht holterdiepolter, sondern mitfühlend, kumpelhaft die Sache angehen. Ein Muss in solchen Dingen gebe es nicht, versuchte Jaco der Dicken zu erklären. Niemand könne sie zu einem solch folgenschweren Schritt zwingen, niemand Derartiges von ihr verlangen, gab er zu bedenken. »Die Unschuld verliert man nur einmal«, sagte Werners, und die sei ein kostbares Gut. Gerade für Mädchen, ergänzte er. Das Vollmondgesicht zeigte Spuren von Verärgerung. Das war offenbar nicht das, was die Dicke hören wollte. »Ich verpetz’ dich nicht«, wechselte Werners deshalb die Strategie. Von ihm aus könne sie ruhig den anderen sagen, es mit ihm gemacht zu haben. Er habe da kein Problem damit, sei sowieso in wenigen Tagen wieder weg. »Null Problem«, versicherte er Petra. »Ich sag’ alles, was du willst.« Die Tonne schwieg. Werners glaubte ihre Zähne knirschen zu hören. Von der Kirchturmuhr schlug es eins. Ein Uhr! So ein Scheißdreck! dachte sich Werners. Längst könnte er daheim im Bett liegen. Vor allem aber könnte er längst diesen verfluchten Rosenkranz gefunden haben, der ihn von einer Misere in die nächste trieb. Würde er erst einmal die Dicke vom Hals haben, den Rosenkranz gefunden und diesen dem Pfarrer wieder zugeschustert, dann hätte auch das Elend ein Ende. Da war er sich ganz sicher. 231
»Die warte awer«, hallte es aus dem Fass. Werners blickte Petra fragend an. »In der Tenne«, ergänzte die Dicke. Hatte er das richtig verstanden? Die Meute wartete auf ihn und die Dicke in ihrem Treff, dem strohbedeckten Scheunenboden, und wollte dort von ihnen gemeinsam den Vollzug gemeldet haben? Das musste doch nicht sein! Verdammt, ihm reichte es jetzt! Nachts um eins, am Ende seiner körperlichen Kräfte, seelisch ein Wrack, und dann auch noch Ansprüche erfüllen müssen? Oh, nein. Bei aller Dankbarkeit – er würde Petra jetzt hier sitzen lassen und sich aus dem Staube machen. Die Hose ihres Bruders konnte sie auch noch am nächsten Tag zurückhaben. Das eilte sicher nicht. Er musste jetzt – Mitleid hin oder her – dem Grausen ein Ende bereiten. »Also dann«, sagte Werners und signalisierte seiner Meinung nach damit deutlich, dass er nun zu gehen gedenke. Er erhob sich. Die Dicke raffte sich erstaunlich schnell hoch. Werners wandte sich in die Richtung, in der er ihre Wohnung vermutete, und machte zwei Schritte vorwärts. »Des is falsch, da geht’s lang«, sagte Petra. Ihr Arm zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Werners wollte gerade Widerspruch anmelden, als er ganz in der Nähe plötzlich das Knattern eines Mofamotors hörte. Der Ursprung des Geräusches konnte kaum fünfzig Meter weit weg sein. Er zögerte. Sicher gab es im Dorf mehrere Mofas als das eine, das der Typ von der Räuberbande fuhr. Und selbst wenn es der Kerl sein sollte – was musste ihn das scheren? Er würde jedenfalls nicht mit Petra zur Tenne kommen. Das konnte sich Pauls Bande abschminken. Werners überlegte nicht lange. Griff mit beiden Händen nach dem Hosenbund und fing an zu rennen. »Feigling«, hörte er Petra kreischen, »blöder Feigling!« Ihre Stimme hatte ein Feuer, wie er es nie vermutet hätte. Das klang giftig. Kurze Pause. »Drecksau! Arschloch!« Petras Stimme 232
klang nun verzweifelter, überschlug sich. »Blöder Wichser!« Das war derb, klang nach Wut und Hass. Der Mofamotor heulte auf. »Hilfe, er wollt mich vergewaltich!« Petra war ein Miststück. Ihre Stimme jaulte wie eine Flugzeugturbine. Jacos Dahingaloppieren hatte den Riesling aus seinem leichten Dämmerschlaf geweckt. Schon spürte Werners, wie der Landedelmann zu seiner Peitsche greifen wollte, wurde aber abgelenkt, denn nun konnte er das Mofa sehen. Der Lichtkegel des Scheinwerfers hüpfte auf dem unebenen Schotterweg hinter ihm auf und ab und kam rasch näher. »Bleib stehn, du Sack«, hörte er den Fahrer brüllen. Werners hatte eine Seitengasse erreicht und schlug einen Haken, jagte ins Dorf, das Mofa auf den Fersen. Ganz plötzlich war er auf der Hauptstraße, die von Straßenlampen erhellt wurde. Direkt vor ihm der Kirchenhügel, zu dem eine lange Treppe hinaufführte. Schon war der Mofafahrer fast neben ihm. Es war zweifellos der Kerl aus Pauls Bande. Werners erkannte die Stimme, die erneut »Bleib stehn!« brüllte. Mit zwei Sprüngen war er an der Treppe, sprang mit einem dritten Satz mehrere Stufen auf einmal hinauf, knickte mit dem Fuß um, rappelte sich wieder auf. Das tat weh. Werners rieb sich den Knöchel. Das Mofa knatterte unten am Treppenfuß. Der Fahrer schien nicht willens, ihm zu folgen. Vielleicht aber wartete er auch nur auf Verstärkung. Und tatsächlich: »Mach den Bock aus!« herrschte Paul den Mofafahrer an. Das Motorengeräusch erstarb. »Is er nuff die Kirch?« fragte der Räuberhauptmann. Dann wurde die Stimme leiser, nuschelnder, so dass Werners nicht mehr verstehen konnte, was geredet wurde. Im Licht der Laternen konnte der Flüchtling drei, vier Burschen ausmachen, die sich um das Mofa gruppierten. Gleich würde die Hatz auf ihn weitergehen. 233
An die Kirchenmauer gepresst, schlich sich Jaco Stufe um Stufe nach oben, bis er auf dem kleinen Vorplatz vor dem Kirchenportal angelangt war. Werners drückte die große Klinke des Hauptportals herunter. Geschlossen. Das war zu befürchten. Er tastete sich einige Meter weiter, bis die Mauer auf eine andere stieß. Offenbar ein Vorbau, wohl die Sakristei, mutmaßte Werners nach dem, was er im Mondlicht erkennen konnte. Als er um den Vorbau herumschlich, hörte er die ihn verfolgende Meute die Treppe heraufjagen. Wieder eine Türe. Leben oder Tod? Leben! Die Tür gab nach, Werners zwängte sich hinein, schloss die Türe, so leise es ging. Die Bluthunde draußen waren auf dem kleinen Vorplatz angelangt. Jaco war sich sicher, dass Paul nicht so schnell aufgeben würde. Der Kerl war ein gewiefter Hund, erinnerte nicht umsonst vom dunklen Haar und Gesicht her an einen Indianer. Er musste weiter in die Kirche, dort ein Versteck finden. Als er mit dem Kopf gegen die Schelle stieß, die rechts von der Türe an der Wand hing, um zu Beginn des Gottesdienstes geläutet zu werden, fuhr es Werners eiskalt den Rücken hinunter. Natürlich war das Bimmeln auch draußen zu hören gewesen. Nun war höchste Eile geboten. Werners starrte in das dunkle Kirchenschiff. Ganz vorne im Altarraum war ein rötlicher Kerzenschimmer, das Ewige Licht. Ein Lichtschein, der kaum eine Handbreit maß. Sollte er sich auf gut Glück zwischen die Kirchenbänke werfen, die links und rechts vom Hauptgang angeordnet waren? Werners eilte ein Stück nach vorne, dann entdeckte er in der Mitte des Kirchenschiffs auf der linken Seite einen Beichtstuhl. Die Türe zur Sakristei quietschte. Die Stimmen seiner Verfolger. Der Beichtstuhl war offen. Werners sank auf den Stuhl des Priesters und zog die Türe mit zittrigen Händen geräuschlos zu. »Komm raus, mir krieche dich sowieso!« hörte er in seinem Versteck die Stimme des Mofafahrers. Sie klang seltsam ängstlich. Offenbar war es der Dorfjugend nicht allzu wohl 234
dabei, zu nächtlicher Stunde durch die Kirche zu streifen. »Guckt die Reihen durch!« kommandierte Paul. Das klang schon energischer, doch auch Pauls Stimme schien irgendwie belegt. Werners hörte Schritte näherkommen, stehenbleiben, weitergehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Da is nix, Paul.« Diese Jungenstimme war dem Flüchtling fremd. Aber die Bande würde ja kaum aus drei Mädels und zwei Kerlen bestehen. Vermutlich machte das halbe Dorf mit. Schließlich schien die Tenne ihre Reize zu haben. »Schaut einer emol nauf die Empore nauf«, ließ sich nun wieder Paul vernehmen. »Am Altar rum is nix.« Das schien Moni zu sein. »Komm, mir gehn widder, lass doch den Blödmann«, schlug das Mädchen vor. Werners rann der Schweiß den Rücken hinunter. Es war warm, vor allem aber stickig im Beichtstuhl. Sein Herz raste, er bekam kaum Luft und musste zudem aufpassen, dass sein Hecheln draußen nicht gehört wurde. Ja, er hatte wirklich Angst, entdeckt zu werden. Diesen perversen Typen war alles zuzutrauen. Was ihm wohl drohte, wenn sie ihn erwischten? Vermutlich musste er es dann auf der Tenne vor aller Augen mit dem Walross treiben, vom rhythmischen Klatschen der Meute angefeuert. Wie oft? Petra war sicher unersättlich. Werners hörte das Knarzen einer Holztreppe, Schritte auf einem Dielenboden, dann das Poltern von Schritten. »Owe uff der Empore is a nix«, meldete der Mofafahrer. »Vielleicht is er ja doch hinnerüm abghaut?« »Quatsch!« bellte Paul. Schließlich habe man die Sakristeibimmel gehört, herrschte er den anderen an. »Der muass do rei sei.« Für eine kurze Weile war gar nichts zu hören. 235
»Komm, Paul, mir geahn. Der Kerl kann uns doch gstohle bleib«, säuselte Moni. »Mir finde schon noch en für die Petra. Etz trinke mer erseht emol en Eierlikör, komm«, ergänzte sie. Das Locken schien zu wirken. »Mir krieche dich, Bürschle! Glebb nit, dass du uns devookümmst!« fauchte Paul. »Also auf«, kommandierte er dann, und die Meute trampelte davon. Türen gingen. Dann Grabesstille. Er hörte nur noch sein Herz rasen. Erschöpft ließ Werners den Kopf zur Seite sinken. Wartete noch eine ganze Weile. Dann stöhnte er ein erlösendes »Aah« und schnaufte erst einmal richtig durch. Die schlimmste Gefahr schien gebannt. Natürlich würde er noch einige Zeit hier ausharren müssen. Man konnte nie wissen, welche Tricks der Indianer drauf hatte. Vielleicht hatte er den Abzug nur vortäuscht, die anderen weggeschickt und war selbst in der Sakristei geblieben, auf einer Bank sitzend und darauf wartend, dass der Gesuchte aus seinem Versteck hervorgekrochen käme. Vielleicht hatte Paul auch einen Wachposten vor der Türe draußen postiert, möglicherweise sogar eine Wache eingeteilt, die ihm bis zum Morgengrauen den Fluchtweg versperren sollte. Er wischte sich mit der flachen Hand über das schweißnasse Gesicht. Werners hasste dieses Dorf, er hasste diese Leute, er verfluchte diesen Fluch, der auf ihm lastete. Seit ihrem kleinen Unfall auf dem Parkplatz der Kneipe, jener verhängnisvollen Karambolage, die ihnen den Kotflügel gekostet hatte, war für ihn eigentlich alles schiefgelaufen. Immer wieder kam er zum selben Resultat, nur dass die Liste der Desaster mit der Zeit immer umfangreicher wurde. Die mickrige Wohnung mit dem geistesgestörten Vermieter; der Werkstattbesitzer, der sich als Verbrecher erwies; die alkoholkranken Stammtischbrüder, denen es nur darauf ankam, Saufkumpane zu finden, die sie aushielten; der zwergenhafte Wirt, der ihnen den teuersten Wein kredenzte; die rotzfrechen Kinder, die ihn gepiesackt hatten; die brutal-geile Jugend, die ihn verfolgte und ihn zu grauslichen Sexspielen zwingen wollte – es war der blanke Wahnsinn! Und 236
dann noch diese blöde Rosenkranz-Geschichte! Werners seufzte. Wenn es ihm wenigstens körperlich gut ginge. Aber seit Tagen hatte er nur noch andeutungsweise geschlafen, hatte nur noch blähende Speisen und quirligen Alkohol zu sich genommen, hatte Halluzinationen. War diese seltsame Erscheinung auch eine gewesen? Dieses engelsgleiche Wesen, das ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass der Pfarrer ohne seinen Rosenkranz nicht aus dieser Welt ins Jenseits könnte? Vielleicht hätte er im ›Stern‹ ausharren und sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen sollen? Oder – und dazu bestand gewiss noch die Gelegenheit – sollte er sich doch noch dem Vollmond-Monster zum Opfer darbieten? Das wäre wenigstens eine klare Entscheidung, würde für die Dicke den herrlichsten, einzigartigsten Tag ihres Lebens bedeuten. Anschließend könnte er unter dem Beifall der Räuberbande eine Flasche Eierlikör saufen und sich von der Tenne auf die Straße in den Tod stürzen. Sollte er? Nein! Er konnte sich unmöglich stellen: Sie würden ihn leben lassen, die ganze Nacht foltern, ihn immer wieder zwingen, den Vollmond zum Leuchten zu bringen, und ihn dann wie ein gebrauchtes Handtuch wegwerfen, ihn erniedrigt und gedemütigt auf der Tenne liegenlassen. Vom Eierlikör bekäme er gewiss nichts ab, und ohne volltrunken zu sein, würde er den Selbstmord nicht wagen. Werners fühlte sich sehr, sehr müde. Des Lebens müde. Was war das für ein Leben, das er bislang gelebt hatte? Eine behütete Kindheit ohne Höhen und Tiefen, eine von religiöser Verklärung geprägte Jugend, eine von sexuellen Wünschen geschüttelte Pubertät, schlechte Noten, Langeweile. In geordneten Bahnen arrangierte Abenteuer, wenig Reibereien. Schule bäh! Die wilden Achtundsechziger, die als geläuterte Junglehrer über die Flure huschten, waren in ihrer Geduld grenzenlos und schienen immer wieder aufs neue freudig überrascht, wie genügsam und sanft die ihnen anvertrauten Schäfchen waren. So ganz anders 237
als sie selbst. Die alten Gymnasialprofessoren dagegen, die sich zehn Jahre zuvor an den Widerspenstigen noch die Zähne ausgebissen und ihre Magengeschwüre gesammelt hatten, witterten nun Morgenluft. Sie gaben der Nachfolgegeneration Saures. Späte Rache an neuen Opfern oder einfach nur Rückkehr zu den alten Zeiten? Werners ruckelte ein wenig auf dem Stuhl herum, weil ihm der Hintern einzuschlafen drohte. Hatte er nicht einmal Pfarrer werden wollen, dem forschen, zielgerichteten Pater Heribert nachfolgend das Heil der Welt verkündend? Noch war dies möglich. In kaum zehn Jahren könnte er wieder hier sitzen und den armen Sündern die Beichte abnehmen. »Meine letzte Beichte war vor zehn Wochen. Ich habe meinen Eltern nicht gefolgt. Ich habe genascht. Ich habe den Gottesdienst geschwänzt. Ich bin geil auf Erika.« Nein, so einen Satz wie den letzten hatte er nie gesagt. Doch nicht im Beichtstuhl! Er hatte sowieso nicht eingesehen, dem alten Pfarrer in St. Matthäus alles auf die Nase zu binden. Auch er würde als Pfarrer nichts dergleichen zu hören bekommen wie »Ich habe beim Kartenspielen beschissen. Ich habe am Sonntag im Keller Schlitze für Stromkabel geklopft. Ich habe die Bäckereiverkäuferin mit meinen Augen ausgezogen und in Gedanken vernascht. Ich habe meinem Nachbarn, dem Drecksack, die Krätze auf den Hals gewünscht. Ich würde es gerne mal mit einer Asiatin treiben.« Nein, das würden sie auch ihm, dem jungen Pfarrer, nicht beichten. Werners sah sich im feierlichen Ornat am Ambo stehen, die Hände darumgeklammert, den Text seiner Predigt vor sich liegen, die Augen aber in einem fort auf Erika gerichtet, die vor ihm in der Bank saß und verliebt zu ihm emporlächelte. Es war ein schönes Gefühl – ein Gefühl von Macht und Friede, von Liebe und Sehnsucht. Er fühlte sich bleischwer und doch federleicht. Ganz sachte entschwebte Werners im Beichtstuhl ins Reich der Träume. Schwab zuckte vor Schmerz zusammen, als er versuchte, den 238
Wohnungsschlüssel herumzudrehen und dabei, um die Türe öffnen zu können, mit seinem kaputten linken Arm den Türgriff ein wenig zu sich herziehen musste. In der Küche streifte er sich mühsam aus dem Hemd, ging dann ins Badezimmer und wusch sich die Hände, bevor er sich daran machte, den Schaden an seiner Schulter näher zu begutachten. Äußerlich war so gut wie nichts zu sehen. Keine quer aus dem Fleisch herausstehenden Knochen, keine akuten Blutansammlungen unter der Haut, die auf böse Verletzungen hinweisen könnten. Es gelang ihm, den Arm, wenn auch unter Schmerzen, über den Kopf zu heben und zu strecken. Es gelang ihm auch, die Schulter leicht nach hinten zu drehen und dann wieder nach vorne, wobei er den lädierten Arm so weit wie möglich um den Brustkorb schwang. Nichts gebrochen, atmete Morris erleichtert auf. Es war nur eine fürchterliche Prellung, die er sich beim Sturz über den Zaun geholt hatte. Schwab kniete sich vor die Badewanne, beugte den Oberkörper so weit vor wie möglich und ließ dann aus der Handbrause kaltes Wasser über die kaputte Schulter rinnen. Das tat gut. Er trocknete sich ab, beschloss dann, sich aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und seines kaputten Zustandes gleich bettfertig zu machen, und schrubbte die Zähne. Setzte sich auf den Topf, ging dann hinüber ins Schlafzimmer und kramte unter der Zudecke den Schlafanzug hervor. Er hatte als einziger bisher einen gebraucht. Bläser war stets zu besoffen gewesen, um sich umzuziehen, und wie Werners die letzte Nacht verbracht hatte, das war Schwab ein Rätsel. Sollte er die ganze Zeit am Küchentisch sitzend gepennt haben? Stöhnend rollte er sich ins Bett, machte es sich, so gut es eben ging, auf der rechten Schulter bequem. So auf der Seite liegend, fiel sein Blick im Licht der Nachttischlampe auf die BrentanoBücher. Er hatte sie nach dem später wieder verworfenen Brief an Selma dort abgelegt. Schwab zog sich, obwohl er todmüde war und eigentlich hatte schlafen wollen, das Erstbeste heran. »Gockel, Hinkel, Gackeleia«, las Schwab. Ein 239
Schwachsinnstitel, dachte er. Schwab fing zu blättern an, ließ es aber rasch wieder sein. Der Arm schmerzte zu sehr. Die beiden gerade aufgeschlagenen Seiten schienen Prosa und Lyrik zu vereinen. »Wie rosicht blüht das Röslein aller Rosen und lacht mit solcher Herzempfindlichkeit, dass selbst die Lilie ihr zu Dienst sich weiht«, las Morris. Das »Röslein aller Rosen.« Schon musste er an Selma denken. Sicher hatte sie am Nachmittag auf ihn mit dem Kaffee gewartet, sich schon auf das süße Gebäck gefreut. Sie war bestimmt bitter enttäuscht, dass er nicht mehr aufgetaucht war. Nach all dem Ärger mit dem verstopften Siphon, dann noch diesen frechen Monteur im Haus, da hätte ihr ein wenig Trost schon gut getan. Schwab seufzte. Er musste seinen Besuch morgen nachholen, musste dann alles klarmachen. Er würde seinem Schatz einen Strauß Rosen mitbringen. Wenigstens für diese Idee war das Rosen-Röslein gut gewesen. Schwab schlug das Buch zu und legte es auf den Nachttisch zurück. Schwül-sanfte Dunkelheit hüllte ihn ein, nachdem er das Licht gelöscht hatte. Ach, dieser Brentano! Soweit er wusste, ein Kerl, der ständig wild den Weibern hinterhergehechelt war, sie mit seinen Zeilen umgarnte. Seines Wissens mit einem gewissen Faible für ganz junge Dinger. Wie leicht es Schriftsteller doch hatten! Ein paar schmalzige Zeilen, ein Tralala in Form eines Liebesgedichts, und schon schmolz die ganze Frauenwelt dahin, danach nichts sehnsüchtiger mehr erwartend, als dass der große Poet ihnen mit seinem Federkiel ein Autogramm auf die nackte Haut malte. Er, Moritz Schwab, war für solche geistigen Höhenflüge nicht geboren. Musste er aber auch nicht sein. Selma stand sowieso eher auf Handfestes, auf Männer, die zupacken konnten. Oh, ja! Schon morgen würde er ihr seine Fähigkeiten unter Beweis stellen.
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KAPITEL 10 Maria und Franz-Josef EIN SELTSAMES PAAR SCHWANKTE, die ganze Breite der Dorfstraße ausnutzend und sich gegenseitig stützend, durch die Nacht: Ein alter Kerl mit Glatze auf der einen, ein junger, etwa einen Kopf größerer und schlanker Bursche auf der anderen Seite. Einträchtig zogen sie ihre elliptischen Bahnen, hie und da ein gemeinsames »Valleri, vallera« jubelnd. Fest hatten sie sich um die Schultern gepackt, fest stampften ihre Füße auf den Asphalt. Bläsers Seele schwebte. Nie hatte er einen schöneren Abend erlebt, freilich auch selten einen teureren. Aber was scherte ihn das Geld? Freundschaft und Liebe, das war’s, was zählte. Er versuchte seinen Kopf an die Schulter des weit Kleineren zu lehnen, doch es misslang. Der Apostel war einfach nicht groß genug. So bettete der Jüngere ganz einfach seine Schläfe auf die Glatze des Freundes. Dieser Duft! Hatte er bislang gedacht, der leicht parfümierte Busen einer jungen Frau sei die Krone dessen, was seine Geruchsorgane kosten konnten, so wurde er nun eines viel Besseren belehrt. Was gab es Herrlicheres als das Aroma, das der Apostel verströmte: kalter Schweiß, vermischt mit dem Duft von zu reichlich verwendetem Waschmittel, das aus dem Hemd des Pflegevaters ausdünstete, dazu kalter Zigarrenrauch, säuerlichmöpselnder Atem, dem eine feurige Leberwurstnote anhaftete, garniert mit jenem, dem Herbst des Lebens eigenem Odem. Bläser hätte den Alten am liebsten geküsst, ihn Vati genannt. Der Weinkenner wohnte in einem kleinen Häuschen, das, soweit es sein betrunkener Begleiter überreißen konnte, inmitten des Altortes stand, allerdings nicht an der Hauptstraße. Das Kuriose und für Bläser zugleich Anheimelnde an diesem 241
Gebäude war seine verkehrstechnische Lage. Sie waren in eine Gasse eingebogen, die leicht bergan stieg. Nach knapp fünfzig Schritten, die kreuz und queren mitgezählt, hatten sie das kleine Gartentürchen erreicht, durch das sie mussten. Die Straße aber schlängelte sich so zärtlich geschwungen um das kleine Fachwerkgebäude, dass Bläser sogleich an ein Bächlein denken musste, das auf seinem Weg zum Meer einen Felsen liebevoll umspült. Über einen betonierten Pfad, kaum drei Meter lang, gelangten sie an die Treppe, die zur Haustüre führte. Bläser stutzte. Diese Treppe hatte einen eineiigen Zwilling, der sein Dasein vor dem Gasthaus ›Stern‹ fristete. Wie die Treppe zur Kneipe bestanden die Stufen zu des Apostels Haus aus Buntsandstein, und wie vor dem ›Stern‹ gewährte ein wackeliger eiserner Handlauf dem Treppensteiger trügerische Sicherheit. Kein Wunder, dass sich der alte Mann im ›Stern‹ so wohl fühlte, das Gasthaus zu seiner zweiten Heimat auserkoren hatte. Ein großer Schlüssel fuhr in das alte Schloss, rastete zweimal durch. Dann ging es in den Flur, der ebenso wie die links liegende gute Stube mit Holzdielen belegt war. Es muffelte nach alten feuchten Zeitungen und ungewaschenen Spüllappen. Der Apostel machte Licht. Inmitten der guten Stube ein alter Holztisch mit Fußlauf, vier Stühle. Auf einem saßen etwa einen halben Meter hoch Illustrierte und Zeitungen. Links ein uralter Schrank (Bläser tippte auf Dreißigjährigen Krieg oder wenig später), rechts eine Art Sofa, ebenfalls über und über mit Altpapier beladen. Das Sensationellste für Bläser jedoch war, dass die Wände ebenso wie im ›Stern‹ bis zur halben Höhe mit Holz verkleidet waren. Rechts neben dem Sofa eine offen stehende Türe, die in die Schlafkammer führte. Er konnte das Bett drinnen sehen. Es war nicht gemacht. Auf der der Schlafstube gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers war die Wand mit alten Fotografien gespickt. Es mochten vielleicht fünfzehn, zwanzig Schwarzweißfotos sein, die in hölzernen 242
Rahmen steckten. Zumeist ältere Herren, zwei, drei Hochzeitsfotos, soweit Bläser erkennen konnte. Hinten in der Ecke stand eine kleine Kommode, auf der der Fernseher thronte. Darüber ein Herrgottswinkel mit einem Kruzifix, das sich auf einem kleinen, genau für diese Ecke zugeschnittenen, dreieckigen Brettchen abstützte. Darauf stehend, links vom Schaft des Kreuzes eine Madonna, rechts das in einem Holzrähmchen steckende Bild eines Mannes, der Bläser bekannt vorkam, dessen Name ihm allerdings nicht einfallen wollte. Während der Apostel ins Zimmer getreten war und den Tisch abräumte, dann aus der Fernsehkommode zwei Flaschen und zwei Gläschen holte, wobei er die Gläser an seinem Hemd entstaubte, war Bläser in der Türe stehengeblieben und hatte sich an den Rahmen gelehnt. Von hier wanderten seine Augen fasziniert über das Inventar der Stube und sandten Signale der Rührung ans Gemüt. Ganz wehmütig wurde ihm. Bläser war es unmöglich, einen Schritt weiter in den Raum hineinzugehen. Hatte er früher schon einmal gelebt, traumhafte Jahre hier verbracht? Alles kam ihm so bekannt, so heimelig vor. »Willst nit reigeh, Bub?« rief ihn die Stimme des Apostels aus den Träumen. Der Alte zeigte auf einen Stuhl und auf den Tisch, wo die Schnäpse schon eingeschenkt waren. »En ›Willi‹ tut uns jetzt gut«, meinte der Apostel, nahm Bläsers Glas auf und reichte es ihm. Im Stehen prosteten sie sich zu, kippten den Birnenschnaps in die Kehle. Ja, der Apostel hatte recht. Der tat gut. Sein Feuer löste die Starre des Körpers. Nun saßen sie. »Schön hast du’s hier«, sagte Bläser und ließ seine Augen voller Liebe eine Runde durchs Zimmer kreisen. »Scho«, sagte der Alte, und damit war alles gesagt. Nun schwiegen sie ein wenig und tranken noch einen Williams Christ. »Gfällts euch bei uns?«, fragte der Apostel schließlich. Bläser brauchte erst eine Weile, bis er kapierte, dass dieses 243
»euch« nicht für ihn allein und das »uns« nicht für des Apostels Domizil stand, obwohl er das durchaus für angebracht gehalten hätte, sondern dass der Meister wissen wollte, ob die Freunde insgesamt am Dorf und seinen Leuten Gefallen fänden. »Klasse, echt klasse«, schwärmte Bläser und rülpste, ganz unbeabsichtigt, ein wenig Riesling mit Leberwurst durch die Stube. »Ja, Franken is schö«, bestätigte der Alte und sah zur Wand, die Augen offenbar auf etwas gerichtet, was sich nicht in diesem Raum, sondern hinter den Mauern befand. »Zu jeder Jahreszeit«, ergänzte er. Der Apostel holte eine zweite Flasche herbei. Nun tranken sie einen Zwetschgenschnaps. Einen bissigen Hund, der Bläser in den Magen kniff und ihn schüttelte. »Der ›Willi‹ passt besser«, urteilte der Apostel, und Bläser konnte ihm da nur beipflichten. Sie steckten sich eine Zigarette an, pafften an die gelbe Zimmerdecke. Wenn der Alte an seiner Zigarette zog, führte er seine Hand in einer Weise zum Mund, wie es Bläser bislang nie gesehen hatte. Die Kippe steckte zwischen Zeige- und Mittelfmger, aber die Hand blieb flach, so dass der Apostel bei jedem Zug mit der Handfläche seine komplette Mund- und Kinnpartie bedeckte. Einmal, als ihm der Rauch beißend durchs Gesicht strich, schloß der Alte wie verträumt die Augen. Danach wieder dieser verklärte Blick. Am schönsten gefalle es ihm im späten Frühjahr, erzählte der Apostel nun. Denn da seien die Getreidefelder von »sanftigem« Grün bedeckt. Die Wiesen jedoch seien schon einmal gemäht und voller Kleeböcke. Er liebe den Geruch von frisch gemachtem Heu, sagte der Philosoph. Seine Nüstern blähten sich, als schnuppere er. Ihm gefalle das schön Hügelige hier, warf Bläser ein, weil ihm nun auch danach war, etwas zu sagen und seiner Liebe zu Land und Leuten Ausdruck zu verleihen. 244
Der Apostel nickte. »Du muasst dich emol auf’n Berg nauf stell, egal, ob am Würzburcher Haus oder im Steicherwald, oder naufs Edelweiß bei Karscht«, riet ihm der väterliche Freund, »und dann emol übers Land guck.« Seine Augen glänzten, sein Mund wurde ganz breit vor Grinsen: »Die Hügel sehn aus wie Weiwerbrüst.« Nun kicherte der Alte gar, wohl auch, weil Bläsers Miene deutlich machte, dass er nicht recht verstand, was ihn der Meister zu lehren versuchte. »Hast du noch kee Frau aufm Rücke lieche sehn?« fragte der Apostel. Bläser nickte eifrig. »Doch, doch.« Freilich kannte er das. Mehr sagte der Alte jetzt nicht mehr, denn auch Bläser grinste. Das Bild hatte sich ihm erschlossen. Ja, der Experte hatte durchaus recht mit seinem Vergleich. Er musste an Gerdis Brüste denken. Große, zarte Exemplare. Hügel und Tal. Er stellte sich vor, sie seien grün bemalt und mit einigen Kleeböcken verziert. Eine schöne Vorstellung. Die beiden Männer schwiegen, hingen ihren Gedanken nach. Die Nase des Hausherrn leuchtete purpurrot. »Noch en?« fragte er und schenkte Bläser, ohne dessen Antwort abzuwarten, den nächsten Birnenschnaps ein. Birnenschnaps, dachte Bläser. Das passte zum Thema. Wieder musste er grinsen. Kaum hatten sie ihren ›Willi‹ weggestemmt, da wechselte der Apostel so abrupt den Gesprächsstoff, dass Bläser regelrecht aus den Angeln gehoben wurde. »Ihr seid doch Linke, gell?« wollte der Meister plötzlich wissen. Pietro musste noch immer an Gerdi denken und war nicht in der Lage, auf diese unerwartete Frage spontan zu antworten. Dem Apostel drängte die Antwort und dauerte das Schweigen zu lang. »Hab ich’s mir gedacht«, deutete der Fragende das Schweigen des Gastes. »Linke.« 245
Nun trat eine Pause ein. Bläser räusperte sich, weil in seiner Kehle noch etwas Birnenschnaps klebte, der seinen Gaumen kitzelte und ihm das Sprechen erschwerte. »Raff?« fragte der Apostel nun, wobei seine Stimme seltsam keuchte. Die vorher noch so liebevollen Augen des Alten bekamen eine stählerne Strenge. Bläser wummerte es im Hirn. Besoffen, wie er war, schaffte er es einfach nicht, von der hügeligen fränkischen Landschaft auf die nüchterne Politik umzustellen. Eine Unterhaltung über die einfachsten Dinge des Lebens wie Verdauung, Essen und Trinken, vielleicht noch Sex – ja, aber doch bitte des Nachts keine ernsten Themen mehr. »Alles falsch«, sagte Bläser, weil er nicht länger schweigen durfte, wollte er verhindern, dass dieser herrliche Abend ein unerfreuliches Ende nahm. Er musste handeln. »Was: ›falsch‹ – RAF oder Linke?« bohrte der strenge Vater nach. Bläser versuchte sich zu konzentrieren. Vergeblich. Der viele Wein, die Birnenschnäpse, Gerdi – da war so viel anderes in seinem Hirn. War der Apostel etwa ein geheimer Agent des Staatsschutzes, der ihn erst abfüllte, um ihm dann seine Geheimnisse zu entlocken? »Maoiste, Kommuniste, Langhoarige«, reimte der andere. Dabei klopfte er unangenehm den Takt mit seinem leeren Schnapsgläschen auf den Holztisch. »Wir sind nicht politisch!« schimpfte Bläser genervt und enttäuscht zugleich. Warum konnte man sich nicht länger über die fruchtbare fränkische Landschaft, warum nicht über Rieslaner und Scheuraner unterhalten, warum nicht, verdammt, wenn’s sein musste, über Fußball oder Geldverdienen? Aber Politik? Was ritt den Apostel, dass er mit einem Mal auf dieses Pferd gesprungen war? Wieder schenkte der Alte Schnaps ein, bestrafte Bläser aber, 246
indem er ihn einfach überging, nur sein eigenes Glas füllte und den Inhalt mit großem Schwung hinunterstürzte. »Was jetzt: Linke, Bachwahn, Atomkraftgechner?« Die Tonlage des Alten wurde zunehmend unangenehm. Der Apostel redete sich in Eifer, seine ursprünglich freundlichsonore Stimme gewann einen drohenden Unterton. Bläser wusste nicht, wie ihm geschah. Was war passiert? Hatten sie nicht eben noch gemeinsam gekichert, sich auf dem Rücken liegende Frauen vorgestellt, über deren Brüsten sich Getreideähren im Wind beugten und um deren Nabel sich Kleeböcke voller Heu gruppierten? Und nun plötzlich diese Unterhaltung über RAF und Politik. »Irrsinn«, sagte der Jüngere, »alles Quatsch! Was soll denn des?« Der Alte nickte, als würde er durch diese Äußerung in seiner Meinung vollends bestätigt, als habe er es von Anfang an gewusst. »Ich hab schon heut Mittach gemercht, dass mit euch was nit stimmt«, verkündete er triumphierend. »Schon wie ich mit dem annern geredt hab, dem Dings.« Griff dann an seine Gesäßtasche und holte sein Portemonnaie heraus. Zog daraus das Foto eines Mannes, der Bläser bekannt vorkam. Natürlich – das Bild im Herrgottswinkel! Zärtlich nahm der alte Mann mit dem feuerroten Kopf das Bild in die Hand, betrachtete es ausgiebig und hielt es dann Bläser vors Gesicht, als wolle er mit einer Knoblauchzehe einen Vampir bannen. »Kennst den?« triumphierte der Apostel. Pietro zuckte erschrocken zusammen. Mama, dachte Bläser. Mama, hilf! Der Typ auf dem Foto hatte ein breites, volles, freundlich lächelndes Gesicht. Kleine Wülste schützten die Augen. Ein Landwirt? Ein Mönch? Ein Politiker? Natürlich: Strauß. Franz-Josef Strauß. »Strauß!« schrie Bläser und erschrak selber darüber, wie quietschend und entsetzt ihm dieser Name aus der Kehle schoss. »Das ist der Strauß«, krächzte er 247
nochmals und blickte den Apostel freudig an, in der Hoffnung, dieser möge nach dem erfolgreichen Personenraten doch bitte Nachsicht walten und im trauten Gespräch wieder Schnaps und Wein fließen lassen. Das Gesicht des Mannes, bei dem Bläser zu Gast war, hatte sich jedoch völlig verändert. Zwar glänzten die Wangen nach wie vor rot, schimmerte die Glatze feucht, doch hatte seine schwarze Seele unter die Augen graue Schatten gezaubert, wirkte das zuvor so weiche Kinn nun sehr markant und kantig. Ernst nickte der Alte. »Ja, der Franz-Josef«, sagte er, und alle Zärtlichkeit für Bläser war aus seiner Stimme gewichen. Mit leuchtenden Augen streichelte er das Foto in seiner Hand. »Der zeicht’s euch noch!« Wieder war eine Pause entstanden. Längst waberte nicht mehr Glückseligkeit durch den Raum, keine Spur mehr von männlicher Zuneigung. Bläser schien es mit einem Mal im Zimmer kälter geworden zu sein. Die alten Männer auf den Fotografien an der Wand schauten ganz anders, hatten Abscheu im Blick. Selbst das Lächeln der Madonna war nun seltsam gequält. Der Apostel legte Franz-Josef auf dem Tisch ab, schützte das Bild mit der flachen Hand. »Gehst jetzt«, befahl die Stimme des Staatsschützers. Bläser war irritiert. Lächelte, wischte sich mit der Hand über die Augen, versuchte den bösen Traum abzustreifen. »Aber die Hügel«, greinte er und wusste zugleich um die Vergeblichkeit seines Flehens. Der andere war gnadenlos. »Es is scho spät«, befahl der Alte. Das ließ keinen Widerspruch mehr zu. Bläser stellte sich auf seine steifen Beine, starrte den Apostel mit Tränen in den Augen an. »Aber ich …«, begann er, versuchte ein letztes Mal die vergangenen fünf Minuten zurückzudrehen, wieder die Stunden der Glückseligkeit 248
zurückzuholen, die ihm so viel bedeutet hatten. Doch der Apostel hatte sich schon abgewandt, räumte nun umständlich seine Fotografie in den Geldbeutel und diesen in die Hosentasche zurück. Bläser rannen Tränen übers Gesicht, er fühlte sich wie der verstoßene Sohn. Was scherte ihn dieser Strauß? Er kannte nicht mehr als den Namen und das Gesicht. Aber er würde ihn herzen, wäre Feuer und Flamme für diesen Herrn, wenn er nur die Liebe des Meisters zurückgewinnen könnte. Doch Bläser spürte, dass alle Bekenntnisse und Schwüre nun nichts mehr retten konnten. Das Band zwischen den beiden war zerschnitten, durchtrennt von einer Fotografie und seiner eigenen besoffenen Langsamkeit, die ihm zu spät die Bedeutung dieses Bildchens für den alten Mann offenbart hatte. »Also dann«, schluchzte er in den Rücken des einstigen Freundes, der ihn keines Blickes mehr würdigte und seine Augen stur auf den Herrgottswinkel richtete. Ein letzter Blick auf das mit ›Bayernkurier‹ überladene Sofa, dann torkelte Bläser die Türe hinaus und die Treppe hinab auf die Straße. Dort heulte er wie ein Schlosshund. Schluchzen schüttelte seinen Körper, Verzweiflung und Elend schnürten ihm die Kehle zu, griffen eiskalt nach seinem Herzen. Wo waren die Freunde? Weg hier, weg, nur weg hier! Gleich morgen würden sie an den Walchensee fahren. In diesem Kaff hatten sie nichts mehr verloren. Und wenn es sein musste, würden sie mit einem gestohlenen Auto fahren. Hauptsache: weg! Hier konnte er keine Stunde länger bleiben. Den Weg zur Wohnung legte Bläser wie in Trance zurück. Wie aus einem unerschöpflichen Quell flossen seine Tränen dahin; ein träger, silbrig glänzender Fluss. Nun stand er an der Haustüre, stützte sich mit beiden Armen an der Wand ab und schnaufte seinen Kummer anklagend gegen den grauweißen Putz. Die guten Freunde! Die Türe war nur angelehnt, wohl um dem Spätheimkehrer das Hineinschlüpfen zu ermöglichen. 249
Zuerst hatte Bläser hineinstürmen, den Freunden seine ganze Verzweiflung ins Gesicht schreien wollen. Doch seinen wütenden Vorwurf, dass sie ihn im ›Stern‹ ganz gemein und heimlich im Stich gelassen und dem Apostel ausgeliefert hatten, sah er bei etwas Nachdenken als nicht berechtigt an. Das hatten Jaco und Morris nicht verdient. Werners hatte wirklich krank ausgesehen, als er die Runde – ganz offensichtlich gezwungenermaßen – verließ. Auch Schwab schien bei seinem Abgang körperlich angeschlagen. Seine harte Kritik wäre unberechtigt. Auch würden die Freunde die Vorwürfe gar nicht verstehen, wo es doch eine in ihren Augen so wunderbare Stimmung im Wirtshaus gewesen war. Sie hatten ja nicht mitbekommen, wie hinter der freundlichen, weinseligen Maske des Apostels plötzlich die schreckliche Fratze des LinkenHassers erschien. Dabei waren sie doch überhaupt keine Linken. Keiner von ihnen. Peter Bläser musste wieder weinen, hemmungslos. Seine Arme wurden schwach. Er ließ sich erschöpft auf dem Treppeneingang niedersinken, zog die Beine an, verschränkte die Arme darüber und ließ seinen Kopf auf den klammen Stoff der Hemdsärmel sinken. Sanft schmiegte sich die Baumwolle an seine aufgequollenen Augenlider. Wie konnte der Apostel sie nur so falsch einschätzen? Werners war doch eher konservativ, wollte ursprünglich sogar mal Pfarrer werden. Politisch hatte der doch überhaupt nichts am Hut. Freilich, wenn einer über seinen Jesus lästerte, dann konnte er ganz empört aus sich herausgehen. Aber irgendwie politisch, Parteien, Gewerkschaft oder so? Da war nichts. Werners war in dieser Hinsicht unbeleckt. Ein Mann, der Halt brauchte, ein Konservativer eben. Und Schwab? Der war viel zu bequem und zu angepasst, als dass er sich für eine Partei engagiert hätte, geschweige denn für so etwas wie eine Opposition. Macht, was ihr wollt, aber lasst mir meine Ruhe, so lautete Schwabs Devise. Schwab war höchstens liberal, zumindest zu sich selbst. 250
Bläser schluchzte. Wie konnte der Apostel nur so ungerecht sein? Er, Peter Bläser, Sohn des Bankdirektors, hatte mit den ganzen Politikern selbst gleich gar nichts am Hut. Halt – einmal, da hatte er sich ein Autogramm geben lassen. Da war dieser … wie hieß er? … jedenfalls einer von der FDP auf dem Marktplatz gestanden, umringt von drei anderen. Mischnick? Ja, so wird’s gewesen sein. Aber der sah nicht so aus, als würde er jemandem etwas zu Leide tun. Und vertrugen die sich nicht mit den Schwarzen? Oder steckten die mit den Roten in der Regierung? Ach, er wusste es nicht mehr, und es interessierte ihn auch nicht. Wie hatte der Apostel nur so von ihnen denken können? Bläser ärgerte sich über sich selbst. Schon beim ersten Anlauf des Alten hätte er mit Nachdruck sagen sollen: »Wir hamm mit Politik nix am Hut, die kann uns gestohlen bleiben.« Vielleicht auch einfach: »Wir sind anständige Kerle.« Aber der abrupte Themenwechsel hatte ihn einfach überfordert. Eben noch sanft an die liebevolle Brust des Vaters geschmiegt, dann urplötzlich mit dem Rohrstöckchen konfrontiert – wie hätte er das meistern sollen? Nun hatte er es vergeigt. Bläser öffnete die Augen. Leer starrte er auf den Boden vor der Haustüre. Alles war schwarzgrau. Der Schädel brummte, das Herz wummerte. Was war das? Da schimmerte etwas im fahlen Mondlicht. Zwischen den Blumen der Rabatte neben ihm glänzte es silbrig. Bläser beugte sich hinüber. Ein silbernes Kettchen mit dunklen Perlen und einem silbernen Kruzifix. Es war bestimmt dem Hausherrn aus der Hosentasche gefallen. Ein komischer Kauz, dieser Egon, dachte Bläser. Ein Typ, zu dem es passte, mit einem Rosenkranz durch die Gegend zu laufen. Er steckte das Fundstück in die Hosentasche. In der kleinen Küche brannte noch Licht. Erst jetzt, als ihn die Geborgenheit der gemieteten Heimat umgab, fiel Bläser auf, wie besoffen er war und wie dringend er seine Blase entleeren musste. Nach dem kleinen Geschäft, bei dem sein schwankender 251
Körper eine ziemliche Sauerei auf dem gefliesten Boden hinterließ (aber das zu beseitigen hatte Zeit bis morgen), wankte der müde Krieger zur Schlafzimmertüre. An den Türpfosten gelehnt, kurz die Luft anhaltend, lauschte er nach dem Schnarchen, das mal wie ein Sägen, dann wieder wie ein Röcheln klang. Die Freunde. Er spürte große Liebe in seiner Brust. Die Jungs hatten solche Gefühle eher verdient als dieser alte Sack. Wie hatte er nur so blind dem Apostel vertrauen können? Er würde die Freunde schlafen lassen, beschloss Bläser, knipste das Licht in der Küche aus und machte es sich in voller Montur auf der Couch bequem.
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KAPITEL 11 Das Grauen am Morgen VON NEBENAN KAM KAFFEEDUFT. Noch ein wenig räkelte sich Annemarie in ihrem warmen, kuscheligen Bett. Lächelte, die Augen noch geschlossen, voller Dankbarkeit über die Zuverlässigkeit des Vaters. Heute war Kilian besonders früh aufgestanden. Zwar zwitscherten die Vögel draußen schon eifrig ihr Lied, doch war das Licht noch grau, hatte die Nacht noch das Regiment. Noch einen kurzen Moment des Lauschens, draußen klapperte nun leise Geschirr, dann sprang Annemarie auf, das heißt, sie schwang sich in einer in jahrelanger Praxis vervollkommneten Bewegung aus dem Bett direkt auf den Fußboden auf die Knie und verrichtete mit dem Gesicht zur Muttergottes an der Wand ihr Morgengebet. Kein Tag begann ohne Dank und die Bitte um den Beistand Mariens. Dann huschte das Mädchen mit einem fröhlichen »Gudn Morche« in die Küche, küsste Kilian auf die Wange und verschwand im Bad, um sich frisch zu machen und in die dort schon am Abend bereitgelegten Kleider zu schlüpfen. Mit einem liebevollen Lächeln empfing der Mesner sie am Küchentisch. Sie tranken Kaffee und aßen Butterbrot mit Himbeermarmelade. Viel geredet wurde nicht. Es würde heute reichlich Arbeit geben. Doch alles war in die Wege geleitet, damit die Beerdigung des Pfarrers reibungslos und würdig über die Bühne gehen konnte. Annemarie musste schmunzeln, als sie ›über die Bühne gehen‹ dachte, denn das klang etwas nach Theater, aber viel anders verhielt es sich mit des Heusingers Beisetzung ja auch nicht. Was hatten der Spohr und der Bürgermeister doch alles inszeniert und ausgeheckt, damit Pfarrgemeinde und Dorf im besten Licht dastanden! Noch aber gab es einiges zu tun. Drecksarbeit im wahrsten 253
Sinn des Wortes. Für sechs Uhr hatte Kilian die Putzfrauen zur Kirche bestellt, um acht Uhr schon sollte mit dem Arrangieren des Blumenschmucks begonnen werden. Annemarie hatte dazu in der Stadt reichlich Nelken geordert, die der Florist gemeinsam mit allem anderen Notwendigen um diese Uhrzeit zur Kirche und zum Friedhof bringen würde. Es war selbstverständlich, dass die Tochter des Mesners dem Vater bei all den Vorbereitungen zur Hand gehen und auch den Putzfrauen beim Wischen des Marmorbodens und beim Reinigen der Kirchenbänke helfen würde. Annemarie schauderte es ein wenig, erinnerte sie sich doch an einen denkwürdigen Putzeinsatz im Gotteshaus, als sie beim Polieren des Holzes aus der Nische einer Sitzbank eine riesige schwarze Spinne aufgescheucht hatte. Wie hatte sie geschrien! Ein wahres Monstrum war das gewesen. Von den älteren Frauen hatte sich auch niemand getraut, das haarige Tier ins Freie zu befördern. Andererseits wagte auch niemand, dem Vieh an diesem heiligen Ort mit dem Schlag einer Schuhsohle den Garaus zu machen. Aus der prekären Situation gerettet wurden sie schließlich vom Ehemann einer Putzfrau, der überraschend aufgetaucht war, um seine Gattin abzuholen. Ohne das geringste Anzeichen von Scheu hatte dieser das Tier mit der hohlen Hand in einen Putzeimer gestoßen und diesen dann vor dem Kirchenportal ausgeleert. Annemarie lief eine Gänsehaut über die Arme. Auf so ein Erlebnis konnte sie heute gut verzichten. Es war merklich heller geworden, als Kilian und seine Tochter zur Kirche marschierten. Nun fehlte nicht mehr viel, und die Sonne würde hinter den Weinbergen hervorblinzeln. Am Fuße der Treppe, die von der Hauptstraße zum Kirchenportal hinaufführte, wartete schon die erste der Helferinnen. Gemeinsam gingen sie in den Lagerraum, der sich im Keller der Kirche befand und der nur von der Hauptstraße aus zugänglich war. Mit Putzeimern, Schrubbern und Staubtüchern beladen, machten sich Kilian, Annemarie und Rosa – so hieß die Frau – 254
dann die Treppe hinauf, am Hauptportal vorbei zur Sakristei. »Verflixt, wer hat denn do scho widder die Tür nit abgschberrt!« schimpfte Kilian, als er die unverschlossene Türe zur Sakristei bemerkte, räusperte sich aber sogleich, weil er sich seines Fluches bewusst wurde. Sie gingen durch die Sakristei ins Kirchenschiff, das in mattem Dämmerlicht lag. Alle drei machten einen Knicks und ein Kreuzzeichen, bevor sie nach vorne zum Altar liefen, um dort die Putzsachen abzustellen. Kilian verzichtete darauf, das Licht anzuschalten. In wenigen Minuten würde ausreichend Tageslicht vorhanden sein. Schon legte sich ein sanfter goldener Hauch über das Fenster im Osten. Das Licht genügte für die ersten Arbeiten wie etwa das Entfernen des alten Blumenschmucks, das Auswechseln abgebrannter Kerzen oder das grobe Durchkehren des Kirchenschiffes mit den großen Besen. Unterdessen waren vier weitere Putzfrauen erschienen. Schon begann ein eifriges Plappern und Klappern, vor dem Kilian schließlich die Flucht ergriff. Er zog sich in die Sakristei zurück, um die Gewänder für die Messdiener und für die Geistlichkeit zurechtzumachen. Im Gegensatz zu ihrem Vater liebte Annemarie diese Frauenrunden, bei denen fleißig gearbeitet, aber auch nett geplaudert wurde. Würde ihre Mutter noch leben, so wäre sie jetzt sicher auch dabei; die Putzfrauen waren allesamt etwa in Mutters Alter. Vier der fünf Frauen waren auf der Fahrt zum Heiligen Blut nach Walldürn dabei gewesen und hatten noch einiges nachzubesprechen. Vor allem aber hatten sie Rosa und Annemarie, die nicht mit von der Partie gewesen waren, vieles zu erzählen. An Gesprächsstoff bestand nach solchen Fahrten kein Mangel. Diesmal ging es beispielsweise darum, dass dem Busfahrer, Konrad mit Namen und offenbar ein überaus lustiger und charmanter Mann, eine Affäre mit einer Ingrid aus Würzburg nachgesagt wurde, wegen der ihn seine Frau, deren Namen allerdings keine der Putzfrauen wusste, verlassen habe. 255
Oder es wurde das Gerücht beleuchtet, wonach es in der vergangenen Woche in Kitzingen einen Lotto-Sechser gegeben habe. Niemand wisse etwas Genaues, es habe auch seltsamerweise keine Zeile davon in der Zeitung gestanden. Doch müsse etwas Wahres daran sein, weil die Frau des Metzgers eine Cousine in Kitzingen habe, die wiederum genau Bescheid wisse. »Ein Loddogewinn«, seufzte Rosa, »des war’s.« Besonders viel Zeit nahm in der Putzbesprechung das Rekapitulieren der Speisenfolge der Walldürnfahrt in Anspruch, weil im Gegensatz zu den Vorjahren den Teilnehmerinnen heuer das Bestellen à la carte gestattet gewesen war. Es hatte, wie Annemarie nun erfuhr, zwar diesmal wesentlich länger gedauert, bis das Essen auf den Tisch kam, aber die Vielfalt lieferte nun auch wesentlich mehr Themen als der vorjährige Braten, über den man entweder Gutes oder Schlechtes hatte sagen können. Jetzt aber ging es im Fachgespräch der Hausfrauen von Jägerschnitzel über Sauerbraten bis zu Hirschragout, von Klößen über Pommes Frites bis zu Nudeln und nach den gemischten Salaten noch über den Nachtisch her, der in Walldürn wahlweise aus Schokoladenpudding, Birnenkompott und Eis bestand. Die Zeit flog nur so dahin, die Arbeit im Kirchenschiff lief nebenher und kam trotzdem zügig voran. Noch eine halbe Stunde, und der Blumenlieferant würde kommen. Jetzt nur noch schnell einmal durchgewischt, und fertig wäre die Putzerei. Es war Rosa, der das Missgeschick mit dem Putzeimer passierte. Die eigentliche Schuld trug allerdings Erna. Diese hatte den Blecheimer auf der unteren der beiden Stufen, die zur Altarebene führten, abgestellt. Während Rosa rückwärts kriechend den Absatz wischte, stieß sie den Eimer um, der scheppernd die Stufe hinabfiel. Rosa schrie erschrocken auf. Das dreckige Putzwasser schoss braungrau unter die ersten – drei Bankreihen. »Nit so schlimm, des hömm mir gleich«, tröstete Erna, und 256
schon gingen alle gemeinsam – denn auch die anderen Damen waren hilfsbereit herbeigeeilt – ans Aufwischen. Nur Annemarie, die dabei war, die Kerzenständer auf dem Altar zu polieren, setzte ihre Arbeit fort, nachdem sie erkannt hatte, dass ihre Hilfe nicht erforderlich war … »Ihr sollt nicht Schafe treten. Wer Schafe tritt oder beleidigt, wird den Ablass nie gewinnen …« Pfarrer Werners wippte in seinen schwarzlackierten Schuhen hin und her, sich fest an den Ambo klammernd. Erika strahlte vor Begeisterung. Das war eine Predigt! »… Auch sollt ihr die Lämmer scheren, denn ihrer ist das Himmelreich.« Erika strahlte unvermindert fort. Fast schien es dem Geistlichen, dessen Augen liebevoll ihre Wangen streichelten, als habe die Angebetete ihm aufmunternd keck zugezwinkert … Plötzlich dieser Lärm, dieses Krachen und Poltern, das Werners aus dem Schlaf riss. Hatte er etwa den mächtigen Kelch, der neben ihm am Ambo stand und aus dem er während seiner Predigt gelegentlich einen Schluck Landedelmann-Wein genommen hatte, heruntergestoßen? Nur mühsam fand Jakob Werners die Orientierung wieder. Der schläfrige Beichtvater, dessen Stirn die Nacht über an der Seitenwand gelehnt hatte, versuchte sich aufzurichten. Das tat verdammt weh. So langsam dämmerte es ihm wieder: Petra, er auf der Flucht, die Bande, Pauls Stimme, Stille. Dann musste er wohl in seinem Versteck eingeschlafen sein. Ein Scheppern hatte ihn geweckt. Hatte der lauernde Paul draußen im Kirchenschiff mit der Eisenkette gerasselt? Stöhnend brachte Jaco den Kopf in die Senkrechte, indem er ihn an der Wand des Beichtstuhls Zentimeter um Zentimeter nach oben schob. Wie gut das dem Nacken tat, als der Schädel wieder senkrecht auf dem Hals ruhte! Nun war auch Zeit, sich um den Rest des Körpers zu kümmern. Seine Beine fühlten sich 257
an wie abgestorben. Mit steifen Armen strich sich Werners über die tauben Oberschenkel. Waren das nicht Frauenstimmen, die er hörte? Sofort stellten sich ihm wie elektrisiert die Nackenhaare auf. Die Dorf-Gang hatte offenbar seine Fährte wieder aufgenommen. Moni? Carola? Petra? Oder ganz andere? Er lauschte gespannt. Draußen klapperte es wie von Schwertern und Schildern. Hatten sie sich etwa bewaffnet und heckten, vor dem Beichtstuhl in Stellung gegangen, eine fiese Gemeinheit gegen ihn aus? Werners fühlte sich ängstlich. Er hatte so gut wie keine Chance, das wusste er. Eines der Mädchen schien schon älter zu sein. Ihre Stimme klang wie die einer alten Frau, nicht nach Petra, Moni oder Carola. Ob sie ihre Stimmen verstellten, um ihn zu narren? Werners überlegte, wie er sich verhalten sollte. Die Chance, dass sie ihn nicht entdeckten, falls nicht schon längst geschehen, war gering. Draußen war es offenbar hell geworden. Das Licht, das den kleinen Vorhang durchdrang und feinsten Holzstaub zum Schimmern brachte, war ausreichend, so dass die Bande jetzt ohne Scheu jeden Winkel der Kirche durchstöbern konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch am Beichtstuhl stünden und die Türe öffneten. Wenn es für ihn noch eine Chance gab, dann nur die Flucht. Aber sicher hatte Paul am Kirchenportal und an der Türe zur Sakristei seine Wachtposten aufgestellt. Diesen würde er zweifellos in die Arme laufen. Ha, laufen – es war fraglich, ob er mit seinen steifen Beinen überhaupt zum Rennen in der Lage war. Die Frauenstimmen ließen Werners stutzen. Irgend etwas passte da nicht. »Lang mir emol den Lumbe rü, sei sou guat.« Den Lumpen? Was wollten sie mit einem Lumpen? Ihn knebeln? Durchaus möglich. So ließen sich seine Schreie unterdrücken, wenn ihn Pauls Faust in die Magengrube und der 258
Weiber Fußtritte in die Nieren trafen. »Ich gläb, mir hömm’s.« Das hier war zweifellos eine junge, ihm bekannte Stimme. Die hatte er schon einmal gehört. Nicht Petra, aber vielleicht Moni. Werners fröstelte vor Anspannung. Nun hatten sie ihn. Nun standen sie draußen vor dem Beichtstuhl, vermutlich zu beiden Seiten der Türe aufgebaut, die Eisen in der Hand, und der Mofafahrer mit dem Knebel-Lumpen bereit, ihm das Maul zu stopfen. Gleich würde jemand »Komm raus, du Sack!« schreien und Petra ihr schreckliches »Feigling!« kreischen. Werners überlegte, ob er durch den Vorhang hinausspähen sollte, um zu sehen, was ihn erwartete. Nein, besser nicht. Wenn jetzt noch etwas helfen konnte, dann der Überraschungseffekt. Hinaus, Kampfschrei – und ab durch die Mitte! Er konnte nur hoffen, dass Paul und seine Meute lange genug verdutzt wären, damit er ein paar Meter Vorsprung gewann. Werners trat mit dem rechten, wie verbrannt schmerzenden Bein die Türe des Beichtstuhls auf, die krachend zur Seite flog. Er stürzte nach vorne, merkte, wie tausend Messer in seine Oberschenkel stachen, taumelte drei, vier Schritte hinaus und brüllte aus den Untiefen seines Leibes ein infernalisches »Haawaaiiii!« heraus, weil ihm in diesem Moment nur dies in den Sinn kam. Stolperte weiter, noch hatte ihn keiner der Feinde zu fassen bekommen, und hatte humpelnd fast den Mittelgang erreicht, als ihm die viel zu weiten Hosen herunterrutschten. Zweimal stakste er noch, dann hatten sich seine Beine in der Unterhose verfangen, und er verlor das Gleichgewicht. Im Sturz glaubte er aus dem Augenwinkel heraus den Engel erkennen zu können. Der wollte den Rosenkranz! »Aaahhh!« schrie Werners. Das Hinstürzen auf die kalten Steine und das Hochrappeln auf die Knie waren eins. »Aaaah!« kam es mehrstimmig aus Frauenkehlen zurück. 259
Irgendwer rannte herum. Dort vorne am Altar stand der Engel, umstrahlt vom Sonnenlicht, das durch die Fenster des Chores fiel. Wie ins Scheinwerferlicht getaucht, hatte er die bebenden Arme nach oben gerissen, die Handflächen nach vorne gewandt. Das war der Engel von gestern früh. Der aus dem Rosengarten. »Ich hab’s noch nicht!« schrie der Verfolgte, von Panik gepackt. Rief, weil darauf keine Antwort kam und der Engel nur entsetzlich mit den Armen ruderte, allem Anschein mit vorwurfsvoller Verzweiflung im Gesicht, noch als Versprechen hinterher: »Er kriegt ihn, heut noch.« Dann bemerkte Werners die teuflischen Wesen, die jetzt wie Furien auf Schrubbern und Besen auf ihn herniederfuhren. »Ja, so ein Lumb!« schrie eine der vier, vielleicht fünf Hexen, die sich wutentbrannt auf ihn stürzten. »Ja, so eine Sau!« schrie eine zweite, während Werners mühsam seine Blöße zu bedecken versuchte. »Ein Sextäter!« hörte er eine der Furien blöken, dann krachte ein feuchter Schrubber auf seinen Schädel. »Himmel und Hölle!« brüllte Werners, zerrte sich die Hosen um den Leib und flüchtete, ungeschützt zwei weitere Schläge hinnehmend, vor der schrecklichen Schar in Richtung Sakristei. Er hatte diese noch nicht erreicht, als aus der Türe ein böser alter Mann mit leichenblassem Antlitz trat. »Aaahhh!« brüllte Werners. Das war der tote Pfarrer, der sich ihm da in den Weg stellte. »Halt en uff!« kreischten die Hexen, und der Tote machte die Arme breit. Mit beiden Händen den Hosenbund haltend und deshalb schwer mit den Ellbogen rudernd, drehte Werners ab. Hexen und Pfarrer nahmen die Verfolgung auf. Nun war, Werners fast am Altar. Dort stand noch immer der Engel, starr wie eine Statue, inzwischen mit hängenden Flügeln, die bei seinem 260
Näherkommen erneut nach vorne schnellten. »Geh weg!« schrie das Himmelswesen. Werners stoppte, sein gehetzter Blick raste durchs Kirchenschiff. Von hinten kam das Hexenvolk, im linken Seitengang rannte der tote Pfarrer. Vorne stand der Engel. Er wusste nicht wie, aber mit einem Mal war Werners ein Känguruh. Mit einem großen Satz sprang er auf die vorderste Kirchenbank, hüpfte dann von dort über zwei, drei Bänke hinweg und sprang hinter den Hexen gerade noch rechtzeitig in den Mittelgang zurück, bevor er das Gleichgewicht verlor. Sofort war er wieder auf den Beinen. Der Gehetzte raste auf die Sakristei zu, die Hexen schrien »Haltet ihn!«, er aber war schon durch die erste Türe hindurch, dann durch die zweite und hatte den Kirchenvorplatz erreicht. Nie in seinem Leben war Werners so schnell gerannt. Die Kirchentreppe hinunter, das dauerte kaum fünf Sekunden, und dann ging es mit Riesenschritten durch das Dorf, wo er sogleich in eine Seitengasse schlüpfte und schließlich in jene Gegend kam, wo er in der Nacht mit dem Vollmond gewandelt war. Erst da fühlte Werners die Panik schwinden und sich sicher genug, um, an einen Baumstamm gestützt, mit zittrigen Beinen kurz zu verschnaufen. Vergeblich versuchte er sich zu beruhigen. War er verrückt geworden? Hatte ihm Petra in der Nacht Drogen in den Magenbitter gegeben, um ihn gefügig zu machen? »Geh weg!« hatte der Engel gesagt, umtanzt von kreischenden Furien und dem toten Pfarrer. Werners Herz raste. Seine Beine waren eiskalt. Er setzte sich ins feuchte Gras. Nein, sie würden ihn nicht verfolgen. Wozu auch. »Geh weg!« hatte der Engel befohlen. Aber wo sollte er hin? Der Rosenkranz! Nichts anderes half jetzt mehr. Und der, so erinnerte sich Werners jetzt, während ihm von all der Aufregung übelte, lag irgendwo am Eingang zur Wohnung. Werners eilte nach Hause. In der Kirche herrschten Aufruhr und blankes Entsetzen. Kilian war mit seinen Bemühungen, die Gemüter zu beruhigen, 261
chancenlos. Die Putzweiber hatten sich vor dem Altar versammelt und zeterten wild durcheinander, allesamt aber sprachen sie in Richtung der noch am Altar stehenden Annemarie. Sie hatten das arme Mädchen einhellig als Opfer dieses Sex-Angriffs ausgemacht. Für Erna jedenfalls stand zweifellos fest, dass »die Sau, die dreckige« ganz gezielt ihre Hose vor Annemarie heruntergerissen hatte und mit dem Kind, wenn sie und die anderen nicht so beherzt dazwischengegangen wären, »wer wäss noch, was gemacht« hätte. Rosa wiederum zweifelte keine Sekunde daran, dass der gemeingefährliche Verbrecher diesen Anschlag seit längerem geplant hatte, schließlich war er schon vor der Putzkolonne in die Kirche eingedrungen und hatte sich hier versteckt, wohl in der Hoffnung, der Tochter des Mesners alleine auflauern zu können. Mathilde, die Schmächtigste von allen, bebte immer noch am ganzen Körper. »Du muasst die Bollizei ruf«, wies sie Kilian an, der nervös die Stirne runzelte. »Mir wolle emol nix überstürz«, fand der und bewegte beschwichtigend die Hände. »Nix üwerstürz?« schrie Erna. Mit ihren feuerroten Wangen und dem Schrubber, den sie wie ein Gewehr in beiden Händen schussbereit hielt, schien sie zur Wolfsjagd bereit. »Der Sausack hoat doch on die Annemarie gewollt«, keuchte sie und war auch nicht durch das strafende Augenrollen Kilians zu beruhigen. Dem waren die deftigen Flüche in der Kirche nun doch zuviel. »Awer, er hat doch goar nix gemacht.« Alle Köpfe schossen herum und starrten Annemarie an. »Vielleicht isses ja en Geistesgschtörter, en arme Kerl, wu nix defür kann«, sagte der blonde Engel. Die anfangs noch zittrige Stimme des Mädchens klang zunehmend fester. 262
»Herr«, keuchte Erna, wobei ihre Miene blankes Entsetzen verriet. Rosa fuhr sich mit beiden Händen durchs verschwitzte Haar, dabei ein besorgtes »Madle, Madle« wimmernd. Die Situation war höchst unglücklich. Während die Schar der Putzfrauen auf eine rasche Fahndung nach dem Sextäter und seine Exekution drang, versuchte Kilian, die Sache nicht ausufern zu lassen, um nicht durch unnötige Aufregung die Feierlichkeiten der Beisetzung Heusingers zu gefährden. Öffentlichen Wirbel konnte man heute überhaupt nicht gebrauchen. Annemarie wiederum, so machte sie jedenfalls auf die Weiberleute wie auch auf Kilian den Eindruck, hatte von der Brisanz des Geschehenen offenbar eine völlig falsche Einschätzung. Sie stand da mit großen fragenden Augen, die Hände unschuldig gefaltet und ganz in sich ruhend. Naiver ging’s nun wirklich nicht – die Gesichter der Putzfrauen sprachen Bände –, und Kilian musste sich strenge Blicke der Damen gefallen lassen, in denen deutlich der Vorwurf stand, dass unverzeihliche Mängel in der Erziehung, vor allem aber in der Aufklärung Annemaries offenkundig waren. Die Rettung aus der verfahrenen Situation, zumindest fürs erste, kam in Gestalt des Blumenmannes. »Ich bin e weng spät. Habt ihr scho gwart? Guade Morche!« rief er aus der Türe der Sakristei lugend ins Kirchenschiff. Man möge ihm bitte helfen, setzte er hinzu, denn das Auto stehe unten an der Kirchentreppe und sei »rammelvoll«. Geschlossen folgten die Damen, natürlich auch Kilian und Annemarie, dem Floristen aus der Kirche die Treppe hinunter zur Hauptstraße. »Ich geh dann emol zum Echon. Der hoat drei jungi Bursche einquartiert. Ich gläb, des is enner von dene«, wisperte am Treppenabgang die weiterhin echauffierte Erna ihrer Freundin 263
Rosa zu. So leicht könne man nicht zur Tagesordnung übergehen, wie sich der Kilian das denke. Jede der um den Lieferwagen stehenden Personen bekam einen Armvoll Blumen oder ein Gesteck aufgeladen, dann ging es wieder die Treppe hinauf. »Des arme Kind«, flüsterte Rosa beim Zurückgehen und deutete mit der Nasenspitze auf Annemarie, die ein Stück voraus war. »Die hoat ja kee Ahnung von nix.« Erna nickte, dachte an Annemaries Mutter und beschloss, dass hier eine gestandene Frau gefordert war. Es war höchste Zeit, die Kleine – sie musste ja bald sechzehn Jahre alt sein – in gewisse Dinge des Lebens einzuweisen. Mit dem alten Kilian war diesbezüglich nichts anzufangen. Dabei war das so ein fescher Kerl gewesen, als er aus dem Krieg zurückkam. Erna wusste drei, vier Mädchen aus dem Dorf, sie inbegriffen, die die Maria damals um ihren Fang beneidet hatten. Mit gesenktem Kopf hastete Werners durchs Dorf, wich den neugierigen Blicken der wenigen Leute aus, die auf dem Weg zum Bäcker oder Metzger waren. Wenn er nur niemandem von Pauls Bande in die Arme lief! Nichts durfte ihn jetzt mehr aufhalten. Mit Glück und ohne die Hose ein weiteres Mal zu verlieren, gelangte Werners ans Haus. Die Türe stand sperrangelweit offen, was ihn zunächst stutzen ließ, doch beim Näherkommen hörte er Lärm aus der Scheune im Hof. Der Hausherr war also schon auf und kramte herum. Werners begann, die Blumenrabatte, die Stufen und das Gras abzusuchen. »Ja, Morche«, plärrte es quer über den Hof. Werners schaute auf und sah Egon aus dem Scheunentor schlurfen. »Widder früh uff, Donnerwädder«, lobte der Alte. Unter seinem rechten Arm hatte er eine mächtige Holzleiter geklemmt, deren Ende noch im Dunkel der Scheune verborgen war und die er hinter sich her schleifte. »Koste mir emol helf?« fragte der Hausherr. 264
Das hatte Werners gerade noch gefehlt. Den Rosenkranz zu finden war sein erstes und einziges Anliegen, und wenn noch ein zweites hinzukam, dann das, sich einen Hosenträger oder Gürtel zu besorgen. Nach Leitern schleppen stand Werners überhaupt nicht der Sinn. Schon mehrmals hatte er seit seinem verhängnisvollen Diebstahl die Zügel schleifen lassen und den Rosenkranz aus den Gedanken verloren. Was dabei herauskam, hatte er gerade in der Kirche erlebt. Nein, er hatte jetzt keine Zeit für Egon und dessen Wünsche, beschloss Werners und suchte weiter den Boden ab, ohne auf die Bitte des Alten zu reagieren. »Süchste was? Was süchst’n?« plärrte der nun wieder und legte die Leiter auf dem betonierten Hof ab, um näherzukommen. »Nichts weiter«, rief Werners und eilte ihm entgegen. Verdammt, dann würde er dem Kerl halt kurz helfen, wenn es sein musste. Aber dessen Schnüffelei konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. »Hoast was verlöre?« empfing ihn Egon, der stehengeblieben war. Nein, er habe nur gerade ins Haus gewollt, gab Werners zurück. Der Alte grinste breit. Dann zollte er Werners mit einem »Sapperlot« Hochachtung für sein äußeres Erscheinungsbild. »Was hoaste denn do für e Hose o?« Verlegen hielt Werners den Bund fest. »So koaste ja goar nit hielang!« stellte Egon fest und deutete auf die am Boden liegende Leiter. Dann kramte er, mit einem »Woart emol« in seinen riesigen Hosentaschen. Schließlich zog er aus den Tiefen einen dünnen Strick heraus, den er Werners mit dem Satz »Der Säubennel duad’s fürs erschte« überreichte. Jaco griff dankbar nach dem Ersatzgürtel, flocht ihn durch die 265
Schleifen des Hosenbundes und zurrte den dünnen Strick vorne mit einem Knoten zusammen. Welch herrliches Gefühl es doch war, die Hände frei zu haben. Er sagte ein aufrichtiges »Danke«. Egon griff wieder nach der Leiter, wies Werners mit einer Kinnbewegung ans hintere Ende, und, nachdem dieser dort angepackt hatte, marschierten beide zu dem am Rande des Hofes stehenden Kirschenbaum. »Do muasse nei«, keuchte der Alte und blickte hinauf ins Geäst, das voll der schönsten roten Kirschen hing. Gemeinsam plagten sie sich eine ganze Weile, bis die schwere Holzleiter in die Höhe geschoben und an einem Ast angelehnt war. Während der Hausherr wieder in die Scheune schlurfte, um Eimer, Haken und noch ein paar Stricke zu holen, eilte Werners zum Hauseingang und suchte weiter. Keine Spur vom Rosenkranz. Wo mochte das Ding nur hingefallen sein? Sicher war jedenfalls, dass Egon das silbrige Kreuzchen nicht hatte. Sonst hätte der gleich gesagt, dass er Werners Rosenkranz gefunden habe, nachdem er das Ding doch tags zuvor auf dem Küchentisch hatte liegen sehen. Egon tauchte wieder aus der Scheune auf und Werners stellte rasch die Suche ein, bevor es neue Fragen geben würde. »Koaste noch emol halt?« bat der Alte ihn. Er wolle die wackelige Leiter mit einem Strick am Ast festzurren, erklärte Egon, und da wäre es schön, wenn jemand unten den sicheren Stand der Leiter garantiere. Werners nickte. Wenn der Vermieter erst einmal im Baum verschwunden und mit der Kirschenernte beschäftigt wäre, bestand kaum noch Gefahr, dass er Werners Sucherei bemerkte. Der Alte stieg hoch, Werners hielt die Leiter. Das hieß, er lehnte sich mehr dagegen, als dass er sie hielt. Sein Körper war saftund kraftlos. Beim Tragen war ihm die Leiter tonnenschwer erschienen. Die Sonne stieg mit ganzer Kraft aus den Weinbergen übers 266
Dorf. Es mochte vielleicht acht, vielleicht auch halb neun Uhr sein. »Vorsicht emol«, rief der Alte, und Werners sah beim Emporschauen ein Bündel Schnüre aus Egons Hosentasche rutschen und nach unten fallen, dicht an seinem Gesicht vorbei. Einen Strick hielt der Hausherr in der Hand. Diesen schlang er nun um den Ast, an dem die Leiter lehnte, zog ihn dann durch eine Sprosse und zurrte ihn fest. Der Ast rutschte dabei etwas nach unten. Egon wackelte bedenklich. »Holla!« rief er. »Beinah.« Werners nickte. Grinsend blickte der Alte nach unten, dann machte er einen festen Knoten in den Strick. Das hielt. Die Leiter konnte nicht mehr aus. »Mir hömm’s«, kommentierte Egon. Was nun geschah, passierte rasend schnell und doch unendlich langsam. Wie im Zeitlupentempo registrierte Werners das Schreckliche. Egon wollte die Leiter herabsteigen, um den zu Werners Füßen stehenden Eimer samt Fleischerhaken zu holen, drückte im Absteigen mit der linken Hand einen ihn im Rücken störenden Ast zur Seite, fand derweil mit dem Fuß die nächste Sprosse nicht richtig, blieb, Halt suchend, dummerweise mit der linken Hand weiter an dem ihn behindernden Ast und hing, als dieser nachgab, plötzlich mit den Füßen frei in der Luft. Die rechte Hand alleine konnte seinen baumelnden Körper nur für den Bruchteil einer Sekunde an der Leiter halten. Der Alte schrie »Heeee!« Dann kam er im freien Fall die drei, vier Meter herunter. Werners duckte sich reflexartig. Ein kurzes Klopfen an der Leiter, ein dumpfer Schlag, dann absolute Stille. Werners stand wie angewurzelt. Starrte auf Egon. Der Alte lag mit aufgerissenen Augen im Gras. Nun ein Stöhnen. Doch der Frührentner bewegte sich nicht. Er konnte unmöglich tot sein. Egon war kaum vier Meter tief gestürzt und auf die weiche Wiese gefallen. Jaco riss sich aus seiner Lähmung, warf sich neben dem Verunglückten auf die Knie. Griff dem Alten an den Hals, um den Puls zu fühlen. Klar, 267
der lebte noch. Schloss jetzt sogar schmerzverzerrt die Augen, stöhnte dabei. Erleichtert atmete Werners auf. Schaute sich die Beine und Arme an, die nicht verdreht waren und an denen alles heil schien. Dann fiel ihm zu seinem Entsetzen auf, wie sich das Gras unter Egons Kopf rot färbte. Blut! Blut, immer mehr Blut! Sollte er wegrennen? Werners überwand sich, fasste vorsichtig den Kopf des Verletzten und hob ihn leicht an. In seiner rechten Hand fühlte es sich warm und feucht an. Dickes, rotes Blut rann ihm in die Handfläche. Wo, zum Teufel, sollte sich der Alte den Kopf aufgeschlagen haben? Werners linke Hand tastete im feuchten Gras unter Egons Kopf herum. Da lag kein Stein, kein Werkzeug, nichts Hartes. Auch rings herum war nichts dergleichen in der Wiese zu sehen. Dann fiel ihm wieder dieses kurze Klopfen an der Leiter ein, das er gehört hatte, bevor der Obstpflücker mit dumpfem Schlag auf den Boden gekracht war. Egon musste sich im Sturz den Schädel an einer Sprosse aufgeschlagen haben, kombinierte Werners. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. »Ich glebb, ich starb«, wimmerte der Verletzte. Jakob Werners lief es eiskalt den Rücken hinunter. Nein, das war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. »Verfluchter Rosenkranz«, zischte er zwischen seinen Lippen hervor und spürte eine unbändige Aggression in sich hochsteigen. »Oh ja, bäd en.« Egon hatte ein klägliches Sümmchen bekommen. »Ich muss starb. Bäd en Rosegranz.« Werners schüttelte den Kopf: »So schnell stirbt man nicht.« Er versuchte, sich an den Kurs zu erinnern, den er vor einem halben Jahr gemacht hatte. ›Lebensrettende Sofortmaßnahmen am Unfallort‹ oder so ähnlich. Jedenfalls war es Pflicht gewesen, um den Führerschein kriegen zu können. Wieder wimmerte der Alte. »Ich hoab Angst«, jammerte er. Seine Augen standen voller Wasser. »Das braucht’s nicht«, tröstete Werners. Es sei schon nicht so 268
schlimm mit der Verletzung, versicherte er. »Die warte scho«, stöhnte Egon. Dem Alten fielen die Augen zu, dann sank der Kopf zur Seite. Scheiße, Scheiße, Scheiße! War der Wirtsschwager tot? Etwa unterwegs in seinen Spinnenhimmel? Werners legte Egons Kopf vorsichtig ins Gras und sprang auf. Er rannte zur Haustüre, brüllte »Hilfe, Hilfe!« hinein, sprang die Treppe hoch zu Egons Wohnung. Gott sei Dank, die Türe war unverschlossen. Werners stieß sie auf, suchte nach einem Telefon, fand aber keines. Polterte die Treppe hinab, sprang in die Küche ihrer Wohnung, wo es unbändig stank und jemand auf dem Sofa röchelte, brüllte wieder »Hilfe, Hilfe!«, rannte hinaus und wollte zu Egon, als gerade am Nachbarhaus ein Fenster aufging und eine Frau herausschaute. Er eilte einige Schritte auf sie zu, brüllte: »Schnell! Unfall! Rettungswagen! Der Egon!« Die Frau bewegte sich keinen Millimeter, starrte nur auf seine Hände. »Jetzt mach endlich!« schrie Werners. Da löste sich die Dunkelhaarige aus ihrer Starre und verschwand vom Fenster. Als Werners zu Egon zurück eilte, sah er eine weitere Frau die Straße hochkommen. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Wenn sie erst zu zweit, zu dritt waren, dann konnten sie den Alten versorgen, bis der Rettungswagen kam. Werners beugte sich wieder über Egon, brachte das Ohr ganz dicht an dessen Mund. Der Alte schnaufte noch. Er blickte nochmals an dem auf dem Rücken liegenden Körper hinunter, konnte daran aber nichts Auffälliges bemerken, entdeckte aber einen Fleischerhaken, der nur wenige Zentimeter neben Egons Hüfte lag. Er war wohl beim Sturz mitsamt dem Eimer auf die Wiese gekippt. Hier lag das spitze Ding gefährlich. Er würde ihn sicherheitshalber zur Seite legen, bevor sich Egon noch hineinrollte. Erna blieb, als sie am Gartenzaun von Egons Anwesen angelangt war und die sich ihr bietende Szene sah, gar nichts 269
anderes übrig, als den entsetzlichsten Schrei ihres Lebens auszustoßen. Ein Schrei, der lauter und durchdringender war als jeder Schrei, der ihre Wehen bei drei Geburten begleitet hatte. »Uuaahiii!« Das ganze Dorf, alle Vögel des Himmels, alle Tiere des Waldes, alle Traktormotoren standen für den Bruchteil einer Sekunde still. Alles war ein einziger Schrei. »Uuaahiii!« Unten im Gras lag Egon. Über ihn gebeugt der Sextäter, der Annemarie in der Kirche vergewaltigen wollte. Aus seinen blutverschmierten Händen ragte ein Fleischerhaken. Erna starrte Werners an, Werners starrte Erna an. Die Frau hielt sich mit beiden Händen am Lattenzaun fest. Ihre Arme bebten, ihr Körper schwankte. Dann brach es in hysterischen Kaskaden aus ihr hervor: »Der Echon! Er hat den Echon erstoche, der Sextäter hat den Echon erstoche! Hilfe, Hilfe! Mörder, Möörrrdäääärrr!« Das Putzweib war nicht zu bremsen. Schrie in einem fort, war von Sinnen. Was sollte das? Was hatte die Alte? Werners Augen lösten sich von ihrem verzerrten Gesicht, sahen über den Zaun hinweg jetzt Leute die Straße heraufeilen, er wandte sich zum Haus, sah Bläser aus der Türe taumeln, blickte wieder zurück. »Mörrrrdääärrrrr!« Erna brüllte in einem fort, hatte nun aber ihre rechte Hand vom Zaun gelöst und wies mit ausgestreckter Hand den Herbeieilenden den Weg in Richtung Werners. Schon waren die ersten beiden Männer bei Erna am Gartenzaun angelangt, wo sie kurz innehielten und auf die Szene starrten, die sich ihnen bot. Ein junger Mann mit blutverschmierten Händen, einen Fleischerhaken in der Hand, gebeugt über eine Leiche, die sie alle kannten – Egon. Werners war sofort klar, dass sie ihn lynchen würden. Dass er keine Chance hätte, ihnen zu erklären, was hier wirklich passiert war, und dass das heute morgen in der Kirche ein ganz unglückliches Versehen war, an dem nur Paul und seine Meute 270
… Er sprang auf, warf den Fleischerhaken zur Seite und begann zu rennen. Er flüchtete, Bläsers verschlafenes »He, was is’n?« ignorierend, quer über den Hof, sprang mit einem Satz über den Zaun am anderen Hofende und stürzte davon. Wandte sich erst der offenen Flur zu, schlug dann jedoch einen Haken in Richtung Dorf, weil sie ihn dort am wenigsten vermuten würden. Durchs Dorf hindurch und drüben in die Weinberge und dann immer weiter geradeaus, schoss es ihm durch den Kopf. Unter seinen Füßen flog die Straße dahin. An eine Verfolgung Werners dachte zunächst niemand. Die Männer und Frauen, die auf Ernas Schreien hin herbeigeeilt waren, mussten sich die grausige Bluttat erst einmal näher begucken. Ein Mord! Das hatte es im Dorf noch nie gegeben, höchstens mal einen Jagdunfall. Und dann kannten sie das Opfer auch noch. Mehrere Sekunden standen sie reglos um die Leiche herum und glotzten sich das käseweiße Gesicht und die blutverschmierten Haare des Ermordeten an. Bis dieser mit den Mundwinkeln zuckte und stöhnte. »Jesses, er lebt noch!« stieß Erna hervor und bekreuzigte sich. Einer der Männer kniete nieder, drückte sein Ohr auf Egons Brustkorb. »Es Herz schlächt noch«, bestätigte er und kommandierte dann: »Schnell, en Sankra!« Da drang auch schon der Klang eines Martinshorns an ihre Ohren. Immer lauter juchzte die Sirene, immer näher kam das Geräusch, bis der Rettungswagen schließlich in die Straße preschte und mit quietschenden Reifen vor dem Gartenzaun stehenblieb. Aus dem Nachbarhaus kam eine Frau gestürzt, rief den aus dem Wagen heraus springenden Männern ein »Ich hatt ogerufe. Do düwe isses« zu. Doch war dieser Hinweis nicht nötig. Die Helfer hatten den Schauplatz des Unfalls schon ausgemacht und stürmten nun an dem immer noch wie verdattert in der Türe stehenden Bläser vorbei in den Hof und zu der kleinen 271
Rasenfläche, auf der der Verletzte lag. »Vorsicht, bitte«, verlangte einer der Weißkittel, und die Schaulustigen traten etwas zur Seite. Der neben Egon kniende Mann stand auf. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete der Sanitäter in Egons Augen, fasste dann vorsichtig um den Schädel, fuhr mit der Hand in den Nacken. Offenbar war es die Berührung, die Egon aus seiner Ohnmacht wieder zurückbrachte. »Bin ich doad?« fragte er mit schwacher Stimme, und seine Augen wanderten ängstlich über die Herumstehenden. Die beiden Weißkittel knöpften das Hemd auf, tasteten an den Rippen herum, befingerten Arme und Beine. »Nä, du lebst noch«, antwortete Erna, und es klang fast ein bisschen enttäuscht. »Sieht gut aus«, meinte nun der eine Sanitäter und bat Egon, Hände und Füße zu bewegen. Das tat, dem Stöhnen des Alten nach zu urteilen, verdammt weh, aber es ging. Während der eine Mann beim Verletzten blieb, machte sich der zweite zurück auf den Weg zum Rettungswagen. »Helfen Sie mal kurz?« fragte er Bläser, der immer noch wie in Trance am Eingang stand. Was hier ablief, war ihm für seinen Zustand an diesem Morgen einfach viel zu schnell gegangen. Bläser nickte und half dem Weißkittel, die Trage aus dem Wagen zu holen und zur Unfallstelle zu bringen. »Von der Leiter gestürzt?« wollte der Sanitäter, der inzwischen auch in Egons Ohren, Hals und Nase geleuchtet hatte, wissen. »Ich wollt Kirsche ra mach«, stöhnte der Verletzte bestätigend. Über sein Gesicht zog ein Schimmer von Verlegenheit. Es war Egon zweifellos ein wenig peinlich, was ihm da passiert war. Die fragenden Blicke der Dörfler wandten sich nun Erna zu, deren Verzweiflungsschreie noch in bester Erinnerung. 272
»Awer der Fleischerhake«, greinte die und setzte trotzig, allerdings eher flüsternd, hinzu: »Awer en Sextäter isses trotzdem.« Wieder kam ein Stöhnen aus dem feuchten Gras. »Wo is denn der Bub?« fragte Egon. Die Umstehenden zuckten ratlos mit den Schultern. Schließlich entdeckte der Alte Bläser, der, die Hände in den Hosentaschen, hinter den Leuten aus dem Dorf stand. »Hör«, bat der Hausherr, »tust ihn schö grüß, den annern. Er hoat sich doch nit weh gedoan, oder?« Bläser schüttelte den Kopf. Der Verletzte wurde nun auf die Bahre gehoben und festgeschnallt. Geröntgt werden müsse er auf jeden Fall, hatte einer der Weißkittel gesagt, und ein paar Tage im Krankenhaus zur Beobachtung wären wegen der Platzwunde am Kopf wohl auch besser. Egon widersprach nicht. Der Schädel schmerzte fürchterlich. »Sacht der Rosalinde, sie söll nach em Haus guck«, bat der Alte, bevor ihn die Sanitäter über den Hof zum Rettungswagen trugen. Die Gruppe blickte hinter ihnen her. Die beiden Weißkittel hatten Egon schon fast in den Wagen geschoben, als Bläser plötzlich »Halt, Moment!« rief und auf steifen Beinen gerannt kam. Er trat an die Trage, zog aus der Hosentasche den Rosenkranz, mit dem er beim Herumstehen mit seinen Fingern gespielt hatte, und drückte ihn Egon in die Hand. »Der lag neben der Haustür im Dreck. Hamm Se wohl verloren«, sagte er. Der Alte blickte hinunter auf seine Hand, doch bevor er noch etwas antworten konnten, hatten ihn die beiden Sanitäter mit dem Kopf voran in den Wagen geschoben. Einer der beiden kletterte hinten mit ins Fahrzeug, die Türen fielen ins Schloss. 273
Dann brauste der Kleinbus davon und bahnte sich mit dem Martinshorn lautstark seinen Weg durch die Gassen und hinaus aus dem Dorf. »Dann geh ich mal zur Rosalinde«, sagte die Nachbarsfrau in die plötzlich entstandene Stille und trottete davon. Die Männer räusperten sich, warfen sich und Erna Blicke zu. »Woas mache mer’n jetzt mit dem junge Kaarle?« fragte der eine. Den habe man ja schön erschreckt, gab er zu bedenken. »Woas muasste dann a glei so e Gschrei mach?« wandte er sich an Erna, aber nicht wirklich böse, sondern eher ratlos. »Der künnt scho widder hemm«, zeigte sich ein zweiter sicher. Die Gruppe guckte wie auf ein Kommando in die Richtung, in die Werners verschwunden war. Natürlich war da nichts zu sehen. Da es auch an der Unfallstelle außer ein wenig rotbraunen Blutes auf grünem Gras nichts mehr zu gucken gab, trat alles den Rückzug an. »Des war e Versehe«, sprach einer der Männer Bläser an. Der schien zu träumen, weshalb der Mann nochmals, weil er sich nicht sicher war, ob ihn der andere verstanden hatte, auf Hochdeutsch sagte: »Das war ein Versehen. Des sagst ihm.« Bläser schloss zur Bestätigung kurz die Augenlider. Die Putzfrau Erna und die Männer rückten ab, Bläser blieb alleine zurück und sah den Abziehenden hinterher, bis diese aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Noch immer konnte er sich aus eigenem Antrieb nicht zu irgend etwas aufraffen. Schließlich fischte er, an den Türrahmen gelehnt, eine Zigarette aus der Packung in der Brusttasche und zündete sie an. Aus dem Dunkel der Wohnung kamen schlurfende Schritte. Morris erschien im Schlafanzug in der Türe. »Was ist denn hier los?« fragte er. Schwab sah reichlich verschlafen aus, wirkte aber trotzdem erholter als der rauchende Freund. Bläser drehte sich um, fasste Morris an der Schulter. 274
»Komm rein, ich brauch’ jetzt erstmal ’nen Kaffee«, sagte er. Der Freund verzichtete auf weitere Fragen, ließ den Blick über den Hof, die Straße und den Garten schweifen, ohne dass ihm dabei etwas Besonderes aufgefallen wäre. Dann verschwanden die beiden, die Türe hinter sich schließend, im Haus. – Im Dorf gärte Unruhe. Nicht nur, dass heute des Heusingers Beisetzung mit großem Pomp stattfinden würde – ein Ereignis, in das fast sämtliche Ehrenamtlichen aller Vereine eingebunden waren. Nicht nur, dass schon frühmorgens die Hitze schwer über den Ziegeldächern lag und die Wärme die Menschen einerseits erschöpfte, andererseits rauflustig stimmte. Nun lag schon wieder der Klang von Martinshörnern über dem Ort, zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Damit war auch jenen, die von Egons Unfall nichts mitbekommen hatten, klar, dass sich etwas Ungewöhnliches im Dorf zugetragen haben musste. Die Sinne waren geschärft. Wer auf der Straße war, hatte die Ohren aufgestellt und Luchsaugen. Und diesen Aufmerksamen bot sich ein Anblick, wie ihn vielleicht die Vorfahren im Franzosenkrieg letztmals erlebt hatten: Ein junger Mann in viel zu weiten Hosen, die von einer Art Strick am Bund gehalten wurden, hastete vorbei. Das Hemd halboffen, die Haare zerzaust, der Blick irre, die Hände aber – und das war das eigentlich aufsehenerregende – blutverschmiert bis über das Handgelenk. Zwei Frauen mit kleinen Mädchen, unterwegs zum Kindergarten, traten entsetzt zur Seite. Ein Greis, dessen Oberkörper vom Unterleib abgebrochen schien, beides bildete beinahe einen Neunzig-Grad-Winkel, schaute beim Trommeln von Werners Schritten auf dem Asphalt mühsam hoch und blickte dem Laufenden verdutzt hinterher. Niemand aber trat ihm in den Weg, versuchte den Flüchtenden aufzuhalten. Wer kannte ihn schon? Und was lag gegen ihn vor? So erreichte Werners ungehindert den Lindenplatz, wo drei Straßen zusammentrafen und von wo aus er sich bergan in die Weinberge verdrücken wollte. Der Puls raste, der Schweiß rann 275
über Schläfen und Wangen. Fast hatte Jakob Werners schon den Schatten der Linde durcheilt, als er des leibhaftigen Pfarrers und seiner Hexenbrut gewärtig wurde. In breiter Phalanx kamen der in schwarzes Tuch gekleidete Tote und drei Weiber in bunten Schürzen genau auf den Lindenplatz zu. Noch hatten sie Werners, der bei ihrem Anblick wie vom Blitz getroffen stehengeblieben war, nicht entdeckt. Aber ihm blieb keine Zeit. In Werners Hirn knirschte es. Für wenige Sekunden war er mit Blödheit geschlagen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur Bilder und Schreie jagten durch sein Hirn: wie sie ihn durch die Kirche gescheucht hatten, wie Egons Blut seine Finger rot verschmiert hatte, wie die alte Hexe am Gartenzaun ihre Flüche ausgestoßen hatte. Dann sprang Werners – mehr instinktiv, als von einer Idee getrieben – einige Meter auf der Straße zurück, seine Augen flogen durch die Gegend, nach einer Rettung, einem Ausweg spähend. Er sah die offene Tür, er hörte das Hexenvolk laut palavernd nahen, er wollte nur noch weg, weg, weg! Dann stand er in einer kleinen Küche, hörte nebenan Wasser plätschern, sah eine angelehnte Zimmertüre, stürzte hinein: ein Bett, ein Schrank – eine einzige Falle. Ihm blieb nur das Bett. Werners warf sich darunter, drückte sich an die Wand, zog die Beine an den Körper und machte sich so klein, wie es nur irgendwie ging. Seine Lungen pumpten wie Dampfmaschinen, sein Herz raste. Zu laut! Viel zu laut! Er versuchte, seine Atmung zu kontrollieren, ruhiger zu werden, seinen Körper wieder in den Griff zu bekommen. Ich bin klein, mein Herz ist rein, will unsichtbar sein, flehte er zum Himmel. Die Freunde hatten die Fenster aufgerissen, um den Mief entweichen zu lassen, hatten Kaffee gekocht und saßen sich nun gegenüber, die Tassen mit beiden Händen umfasst, als ob sie sich daran wärmen wollten. Beide schwiegen. Sahen sich mal an, blickten dann wieder in den Dampf, der von der Tasse aufstieg. Nach ein paar Schluck Kaffee begann Bläsers Darm zu 276
rumoren. Er verschwand. Schwab nutzte die Abwesenheit, um sich anzuziehen, machte das Bett, setzte sich wieder an den Küchentisch. Obwohl er sich reichlich Zeit dafür gelassen hatte, war Bläser immer noch im Klo. Schwab schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein, hörte die Toilettenspülung, doch Bläser kam nicht. Nippte an der Tasse und versuchte, sich zusammenzureimen, was geschehen war. Er hatte den Rettungswagen gehört, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, und ihm war Bläsers trauriger Blick aufgefallen. Und er vermisste Jaco. Er hatte ein verdammt ungutes Gefühl. War etwa Werners etwas passiert? Schwab stand auf, weil es ihm nach Gewissheit verlangte, und wollte an die Badezimmertüre klopfen, als wieder die Toilettenspülung ging. Unmittelbar darauf öffnete sich die Türe. Bläser hatte Schweißperlen auf der Stirn und sah nicht gut aus. An ihm vorbei versuchte sich eine stinkende Wolke in die Küche zu drängen. Bläser zog die Türe zu. »Was ist eigentlich hier los?« fragte Schwab energisch, und Bläser entgegnete: »Das frag’ ich mich auch.« Dann setzte er sich an den Küchentisch zurück, griff zu seiner Tasse, tat, als wolle er sie an die Lippen setzen, überlegte es sich jedoch im letzten Moment und stellte sie mit einem Seufzen wieder auf den Küchentisch ab. Morris Augen schrien nach einer Antwort. In dürren Worten berichtete Bläser, was er wusste. Viel war es ohnehin nicht. Dass ihr Vermieter offenbar beim Obstpflücken von der Leiter gestürzt war und eben jetzt ins Krankenhaus gebracht wurde. Dass Werners, aus welchen Gründen auch immer, bei dem Unglück zugegen gewesen sein musste und wohl Hilfe geleistet hatte, dass dies jedoch von einer »blöden Alten« aus dem Dorf missverstanden worden war, weil sie angesichts von Werners blutverschmierten Händen nur »Mörder, Mörder!« geplärrt habe, woraufhin Jaco geflüchtet sei. Die glückliche Aufklärung des Falles wenig später, als Egon wieder zu sich gekommen sei, habe der Freund nicht mehr 277
mitbekommen. »Der is’ völlig kopflos quer Beet abgehauen.« Bläser schüttelte den Kopf. »Voller Blackout«, schloss er. Die Freunde sahen sich an, und weil Schwab Pietro ungewöhnlich ausgiebig musterte, stand Bläser auf, ging ins Bad zurück und blickte in den Spiegel. Er nickte erschöpft. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so kaputt gefühlt, so ausgelaugt und ohne Energie. Dann kam ihm der Apostel wieder in den Sinn und die schrecklichen Ereignisse im Haus des Alten. Er kehrte zurück zu Morris in die Küche. Nun stand sein Entschluss fest. »Okay«, keuchte er, »ich zieh mich um, und dann machen wir uns auf die Suche.« Es dauerte allerdings dann doch länger, bis sie endlich aufbrachen. Bläser musste nochmals aufs Örtchen, weil er, wie er meinte, »wohl den Wein gestern abend nicht vertragen« hatte. Danach stellte er sich zum Abbrausen in die Badewanne. Schwab machte derweil rein Schiff in der Wohnung und ging, weil der andere immer noch nicht fertig war, zum Bäcker. »Prima«, lobte Bläser, der bei seiner Rückkehr mit feuchten Haaren auf der Couch saß und rauchte. Offenbar ging es ihm wieder besser. Gierig griff er nach einem Hörnchen und schlang es mit wenigen Bissen in sich hinein. »Mit leerem Magen ist schlecht suchen«, kommentierte er dabei und schob noch einen Kissinger hinterher, den Schwab eigentlich für den Nachmittagskaffee vorgesehen hatte, wenn sie Werners gefunden hätten und alle wieder vereint wären. Sie beschlossen, jeder für sich nach Werners zu suchen. »Da ist die Chance größer, dass wir ihn finden«, meinte Bläser. Lange überlegten sie, wo sie überhaupt mit der Suche nach dem Freund beginnen sollten, und Schwab stellte zur Diskussion, ob es nicht besser wäre, noch jemand anderen um Hilfe zu bitten. Doch Bläser winkte ab. Er hatte ein für allemal genug von diesem Kaff und seinen Leuten. Sie würden alleine 278
zurechtkommen, und sie würden auch alleine von hier wegkommen, das stand für ihn fest. Schließlich einigten sich die Freunde, dass Schwab die Flur westlich des Dorfes absuchen, dann zum Ort zurückschwenken und am Metzger auf Bläser warten sollte, der wiederum die östliche Hälfte, den Bereich um die Kirche und um den Kindergarten samt vorgelagerter Gartenkolonie übernahm. »Der kann nicht weit sein«, war sich Bläser sicher, »der weiß doch gar nicht, wohin.« Morris untersuchte die Stelle, wo nach Bläsers Beschreibung Jaco bei seiner Flucht den Hofzaun übersprungen hatte. Lange spähte er nach Spuren, nach Tropfen von Blut oder dem Abrieb eines Schuhs, um wenigstens halbwegs eine Richtung zu haben, wo es sich nach dem Freund zu suchen lohnte. Doch nicht das geringste Zeichen. Schließlich versuchte er sich in Werners’ Gedanken zu versetzen und kam zu dem Ergebnis, dass dieser entweder auf schnellstem Weg ins dickste Dickicht gestürmt war, um sich darin zu verstecken, oder aber die breiteste Straße nahm, um möglichst rasch von hier zu verschwinden. Traf Letzteres zu, so würden sie ihn heute nicht mehr finden und konnten nur hoffen, dass Werners vielleicht bei Dunkelheit, wenn er sich sicher fühlte, zur Wohnung zurückkam. Ziellos lief Schwab über die in der Sonne dampfenden, feuchten Wiesen am Ortsrand, schaute hinter die Kleeböcke, deren Heugeruch ihm angenehm in die Nase stieg. Es war sinnlos. Morris wurde klar: Sie würden Werners nicht finden, wenn Werners nicht gefunden werden wollte. Aber wenn Jaco überhaupt gefunden werden wollte, dann natürlich nur von ihnen, seinen Freunden. Und dafür musste er sie sehen können, überlegte Schwab. Also beschloss er, einfach durch die Gegend zu laufen und dabei zu pfeifen. So würde er am ehesten Werners Aufmerksamkeit erregen. Überall im Dorf wurde gekehrt. Alte Männer, junge Burschen, 279
dicke Frauen, alles schwang den Besen über die Gehsteige und klopfte den Staub aus dem Teer, damit der Pfarrer ein sauberes letztes Geleit bekam. Großer Kehraus, dachte Bläser, und voll Bitternis: Hat’s auch nötig. Heuchlerische Bande, die! Auf dem Weg ins Dorf hatte er wieder und wieder über den gestrigen Abend nachgedacht. Auch jetzt spulte er die einzelnen Szenen, die sich im Haus des Apostels ereignet hatten, vor seinem geistigen Auge vor und zurück, und je länger er darüber nachdachte, umso mehr wandelte sich seine Enttäuschung in Zorn. Erst die Hand zur Freundschaft gereicht, dann auf die Finger geklopft. Dieses Landvolk akzeptierte doch nur seinesgleichen, wenn überhaupt jemanden. Ausgenommen hatten sie ihn, jawohl, und das war das einzige gewesen, worauf sie spekuliert hatten, diese Ganoven. Nur seine Kohle hatten sie gewollt. Kopf- und Magenschmerzen, das war das einzige, was sie ihm gönnten. Dieser Apostel – ha, allein der Name: ein schöner Heiliger war das, kein Paulus, sondern ein Saulus – und dieser heimtückische Wirt, dieser Josef. Wollte nur die teuersten Tropfen loskriegen, sonst nichts. Und seine Leberwürste mit den schwarz angebrannten Kartoffeln, die er so über den grünen Klee gelobt hatte, die könnte er sich da hinschmeißen, wo er, Bläser, sie heute Morgen hingeknallt hatte: in die Kloschüssel! Alte Säcke, Verbrecher! dachte Bläser und latschte durch die Hitze, an den Hauswänden Schatten suchend. Aber der Baatsch? Beim Gedanken an diesen feinen Kerl überkam Bläser Wehmut. Es konnte nicht sein, dass solch ein edler Mensch mit dieser Ganovenbande irgend etwas zu tun hatte. Wie liebevoll des Baatsch Augen geschimmert hatten, als er am Abend beim Wurstspendieren seine Großzügigkeit erkannte, wie gerührt sein Blick auf den Spender, auf ihn, Peter Bläser, fiel. Nein, der Baatsch war zweifellos eine gute Seele und trotz seiner Bauernschläue halt einfach zu einfaltig, um die Gemeinheit seines Zechkumpans und dieses Wirts erkennen zu können. Ein 280
wunderbarer Mensch! Zither sollte er spielen können, dachte Bläser mit einem Male. Zither, jawohl. Und dann stellte er sich vor, wie die Masse des Baatsch über einer großen, schmalen Zither hing und dieser den ›Dritten Mann‹ entlockte. Freilich, nun kam es ihm: Dieser Baatsch erinnerte ihn ein wenig an diesen alten Kerl am Walchensee, den er von Kindheit an aus den Ferien kannte. Ein Schrank von einem Kerl, eigentlich ein Österreicher, genauer gesagt, ein Wiener. Ein Fremder, der wie sie eine Ferienwohnung am See besaß. Erst jetzt fiel Bläser auf, dass hier eine gewisse Ungereimtheit vorhanden war: Was brachte einen Österreicher, der selbst genug Berge und Seen daheim hatte, eigentlich dazu, sich eine Ferienwohnung an einem bayerischen Bergsee zu kaufen? Einzig und allein, um des Abends vor der Wohnung auf einem Stuhl zu sitzen, den Holztisch mit der Zither vor sich, und traurige Weisen anzustimmen? Das war ein wenig seltsam. Er würde seine Eltern nach dem Österreicher fragen, sobald er … Oh, ja, die Eltern! Bläser kam nun am Kindergarten vorbei. Drinnen auf dem Spielplatz war Juchzen und Toben. Er grüßte einige der vor dem Gebäude ratschend beieinander stehenden jungen Mütter, die ihn freundlich angelächelt hatten, mit einem »Hallo« zurück. Wieder musste er an den See und die Eltern denken. Die Alten würden in der Zwischenzeit mit Sicherheit Amok laufen. Seit drei Tagen sollten sie am Walchensee sein. Nur mit Lug und Trug hatte er es bis jetzt geschafft, die Eltern über die wahren Ereignisse zu täuschen. Jetzt aber ging nicht mehr viel. Nun stand der Rapport an. Hier patschte Bläser die geballte rechte Faust in die offene linke Hand. Heute noch würden sie hier die Kurve kratzen und weiter gen Süden fahren. Das hatte er beschlossen, und was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das tat er auch. Ihm reichte es hier. Der durchgedrehte Werners, so sie ihn fänden, hatte mit Sicherheit auch nichts dagegen, so schnell wie möglich wegzukommen, selbst wenn er vor dem 281
ganzen Dorf reingewaschen und von seiner Anklägerin in Unschuld gebadet würde. Und Schwab? Der wäre auch froh, mal wieder ein Pils zischen zu können, wo er den Wein doch offenbar nicht vertrug und stets frühzeitig die Segel strich.
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KAPITEL 12 Hinter den Glasbausteinen BLÄSER HATTE DEN KINDERGARTEN und das Geschrei nun hinter sich gelassen und lief lustlos in Richtung Kirche weiter, als er etwa zwanzig Meter vor sich den wiegenden Schritt einer atemberaubenden Frau fixierte. Für eine Mutter, die ihr Kleines gerade zum Hort gebracht hatte, eine verdammt scharfe Rakete, fand Bläser. Von hinten jedenfalls ein Traum und durchaus wert, den Schritt etwas zu beschleunigen und zu der netten Dame aufzuschließen. Eine überraschende Erscheinung, wie er sie in so einem Kaff nie erwartet hätte. Bläser fiel es schwer, die Augen von diesem herrlichen Po zu nehmen, der in denkbar knappe Hotpants gepresst war. Die Beine der Schönheit waren dunkelbraun und makellos. Über der weißen Bluse wischten lange, ebenholzschwarze Haare bei jedem Schritt hin und her. Bläser war kaum noch drei Meter entfernt, als die Frau stehenblieb, sich etwas zur Seite drehte und – hier stockte ihrem Verfolger der Atem – etwas umständlich, doch ungemein verführerisch, eine im Bund der Hosen steckende Packung Zigaretten herauszog und eine Kippe an die roten Lippen führte. Mit einem Satz war Bläser zur Stelle. »Feuer?« keuchte er und ließ den Daumen über den Zündstein fahren. Die Schöne schien überrascht. Sagte »oh«, zögerte dann etwas – wie abgrundtief ihre Augen waren! –, um schließlich »danke« zu sagen und den zwischen den Lippen steckenden Glimmstängel zur Flamme zu führen. »Danke«, sagte die Dunkelhaarige nochmals, inhalierte tief, nahm die Zigarette zwischen die rot lackierten Finger, warf den Kopf in den Nacken, um die langen Haare nach hinten zu schleudern, und stieß den Rauch in die schwülwarme Luft. 283
Sie war nicht mehr die Jüngste, stellte Bläser fest, und tippte auf um die Dreißig, hatte aber eine tolle Figur und ein schönes südländisches Gesicht. Aus der halb geöffneten Bluse lachten ihn zwei herrliche braune Äpfel an. Sie war zweifellos eine Sünde und einen kleinen Umweg bei der Suche nach Werners wert. Bläser begann zu graben. »Ich suche jemanden«, sagte er. »Sie hamm ihn nicht gesehen, hm?« Die Schöne lachte glucksend und enthüllte zwei Reihen blütenweißer Zähne. »Wen?« fragte sie. Bläser schlug sich mit der Hand vor den Kopf. »Ah, natürlich«, hechelte er. »Achtzehn Jahre, so groß wie ich, eher schlaksig, blond, Brille.« Brille? Werners hatte die letzten Tage gar keine Brille getragen, oder? »Blond?« fragte die Schwarzhaarige. Mit einem dunklen Lockenkopf so in dem Alter könne sie dienen, mit einem Blonden nicht. »Morris?« fragte Bläser. Sollte der auf dem Weg zum Friedhof schon hier durchgekommen sein? Unmöglich! Er hätte ihn doch sehen müssen. »Sucht e Audo«, meinte die Schöne jetzt. Aber einen Blonden kenne sie nicht. Dann wandte sie sich zum Gehen. Bläser kombinierte blitzschnell, kramte nach dem Namen. »Selma?« rief er fragend. Die Schöne drehte sich um und schaute ihn interessiert an. In wenigen Minuten hatten sie sich bekannt gemacht. Selma war auf dem Weg nach Hause, hatte den kleinen Toni gerade zum Kindergarten gebracht. Bläser entschloss sich, sie zu begleiten, weil er seine Prioritäten neu gesetzt hatte. Ganz oben auf der Liste stand nun nicht mehr die Suche nach Werners, sondern der Schlüssel zu Kurts Werkstatt, der in Selmas Wohnung hing. Er würde es noch einmal versuchen. Vielleicht 284
war die Karre ja jetzt da. Vielleicht hatte sie Kurt zurückgebracht, nachdem er sie für seine Drogenfahrten nicht mehr benötigte. Selma sah kein Problem, ihm den Schlüssel auszuhändigen, hatte sie ihm gesagt. Er müsse ihn nur zurückbringen, forderte sie, und Bläser willigte nur zu gerne ein. Man könnte sicher dann noch ein bisschen miteinander plaudern, dachte er. Vielleicht auch mehr. Es war schon wieder verdammt heiß geworden, obwohl es noch ein ganzes Stück weit bis Mittag hatte. Bläser ließ Selma zwei Schritte vorausgehen, um unterwegs ihren eng verpackten Po bewundern zu können. Eine tolle Frau. Ein wenig erinnerte ihn Selmas Hintern an Conny, das Mädchen aus dem Bus. Blöde Zicke, dachte er, aber tolle Backen. Selma aber, das war ein anderes Kaliber. Eine reife, erfahrene Frau. Keine dieser aufgeregten Lehrlinge, die mit sehnsüchtigängstlichen Augen »Bitte, pass auf« flehten und denen, auch wenn sie es natürlich nicht zu sagen wagten, die Frage »Wann heiraten wir?« in großen Lettern auf der Stirn stand. Auch keine dieser Abiturientinnen, die ›Emma‹ lasen, oben sitzen wollten und ihn hinterher so verächtlich ansahen, als hätten sie ihn nur benutzt, um ihre Sammlung zu erweitern. Und Selma war auch nicht Tante Agathe, die Mutter ihre »kleine, freche Schwester« nannte, allerdings ohne zu wissen, dass ihr dieser Titel wirklich zustand. Ständig versuchte sie ihn auf Familienfesten in ein Gespräch zu verwickeln, zog ihn in irgendwelche Ecken und wollte an ihm herumfummeln. Agathe hatte ihn bestimmt schon zehnmal gefragt, ob er nicht den Film ›Reifeprüfung‹ mit Mrs. Robinson und Dustin Hoffmann kenne. Der habe nicht nur schöne Musik, hatte sie gemeint. Aber »Peterchen«, so musste sich Peter Bläser von Tante Agathe anreden lassen, mochte nicht. Agathe war fett und roch grausam. »So, Bankkaufmann«, sagte Selma, die begonnen hatte, ihren Begleiter auszufragen, über die Schulter hinweg. »Erst neunzehn?« 285
Bläser spürte, wie seine Wangen rot wurden. Die Art, wie sie das sagte, hatte etwas ganz Besonderes. Diese Selma, das war eine Frau, eine richtige Frau. Schon war er ihr verfallen. Sie brauchte nur mit dem Finger zu schnippen. Bläser hatte wieder zu der Schönen aufgeschlossen, ging neben Selma her und weidete sich am Anblick ihrer halboffenen Bluse. Er fühlte sich stark und spürte sich stark, stark genug für diese Frau, die jetzt mit einem amüsierten Lächeln seine erhitzten Wangen musterte. »Heiß heut, gell?« fragte sie. Doch Bläser brachte nicht mehr als ein geräuspertes »Hmm« hervor. Als sie sich dem Haus näherten, war Selma wieder zwei, drei Schritte voraus. Bläser schien es, als hätte sich das Wiegen ihrer Hüften verstärkt, als würde das Weib fast absichtlich ihre Qualitäten in seinen Blick rücken. Selma klapperte den Schlüssel heraus, schob ihn ins Schloss und öffnete die Haustüre. Kühle presste sich an ihnen vorbei ins Freie. Das Sonnenlicht warf durch die bunten Farben der Glasbausteine Regenbogenflecken ins Treppenhaus. Selma ließ ihn vorbei, um die Türe hinter ihnen wieder zu schließen. Wie zufällig streiften ihre nackten Oberschenkel seine Lende. Für Bläser war es wie ein elektrischer Schlag. Die Frau drückte die Türe zu, setzte an, die Treppe hochzugehen, da hielt es Bläser nicht mehr aus. »Ich, äh«, keuchte er. Etwas knisterte im Treppenhaus. Selma verharrte, drehte sich ganz langsam um. Da sie schon auf der zweiten Stufe stand, lag nun die ganze Pracht ihrer prallen Brüste wie serviert vor Bläsers Gesicht Pietro schnappte nach Luft, suchte nach Worten. Brachte aber nur ein »Du hast tolle Dinger« hervor. Sogleich erschrak er über seine Frechheit, blickte Selma ängstlich ins Gesicht und erwartete die Ohrfeige, die jeden Moment seine Wange treffen würde. Er hatte sie verdient. Einer Frau, die man kaum kannte, als erstes Zeichen der Zuneigung zu bescheinigen, dass sie »tolle Dinger« hatte. 286
Wie plump! Als Selma die Hand hob, schloss Bläser die Augen. Doch nicht etwa ein klatschender Schlag traf seine Wange, sondern eine zärtliche Berührung seine Lippen. Bläser riss die Lider hoch. Selma lächelte. Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand fuhren ganz zart über seine Lippen. »Du frecher Bub«, sagte sie und zeigte ihre leuchtenden Zähne. Bläser war auf einmal ganz klein und hilflos, fühlte sich wie ein Schuljunge, den die Lehrerin beim Spicken entdeckt hatte. Er spürte, wie ihm das Blut in die Ohren schoss. Selma hatte seinen Kopf nun mit beiden Händen umfasst. Ihre Fingernägel kraulten seine Nackenhaare. Bläser fühlte, wie ihm feucht wurde. »Du bist herrlich«, stammelte er. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ihm schwindelte. »Du hoast Glück«, schmunzelte Selma, »die Mutter is nit dehemm.« Dann ging alles sehr schnell. Beide fanden keine Zeit für einen Kuss. Die blanke Gier trieb sie. Selma öffnete mit ein, zwei Handgriffen ihre Bluse und bot ihrem jungen Liebhaber die darin verborgenen, von keinem Büstenhalter behinderten Schätze an, auf die dieser sich so ungestüm stürzte, dass beide auf den Treppenstufen schwankten und Selma beinahe hintenübergefallen wäre. Bläser küsste, leckte, biss und knabberte. Selma stöhnte freundlich. Nichts konnte ihn jetzt noch bremsen. Bläser beugte sich ein wenig tiefer, stieß seine Zungenspitze in Selmas Bauchnabel. Wieder stöhnte Selma, und diesmal klang es aufrichtiger. Schneller, schneller. Bläsers Hand fuhr nach unten. Der Bund der Hotpants war verdammt eng. Es kostete ihn unheimlich Zeit und einige Mühen, bis er den Knopf geöffnet hatte. Als seine flache Hand den Bauch hinunterfuhr und die Fingerspitzen soeben in den Hosenbund eintauchten, ging die 287
Türklingel. Bläser wie Selma zuckten fürchterlich zusammen. Beide starrten zur Türe. Nun raste auch Selmas Herz. Durch die Glasbausteine war eine Gestalt zu erkennen. Selmas Mutter oder gar Kurt? In Bläsers Brust fuhren die Gefühle Karussell. Nicht jetzt, wo er so nah dran war. Warum nicht in einer Viertelstunde? Wieder klingelte es. Verpiss dich, dachte er. Nicht jetzt! Der Türsteher drückte seine Nase hinter einem der Glasbausteine platt, in der Hoffnung, im Treppenhaus etwas erkennen zu können. Bläser kannte das Gesicht. Das war Schwab, die alte Trantüte, keine Mutter und kein Kurt. Bläser seufzte erleichtert auf. Ausgerechnet jetzt! Was hatte der Typ bloß jetzt hier zu suchen? Klar, den Werkstattschlüssel. Die gute Seele, ein echter Freund! Vermutlich war Werners wieder aufgetaucht, und nun wollte Schwab auch noch die Sache mit dem Auto klären. Er konnte ihm nicht böse sein. Er würde ihn mit einem Augenzwinkern davonjagen, und Morris, der alte Freund, würde sich schmunzelnd trollen und irgendwo auf ihn warten, um die Geschichte dieser beneidenswerten Eroberung zu erfahren. »Das ist Morris. Kein Problem«, flüsterte Bläser seiner Angebeteten zu. »Der ist gleich wieder weg.« Zwei Schritte, und er hatte die Türe geöffnet, wobei er vorsichtshalber die Hand an der Türklinke ließ und dem Besucher so den Eintritt verwehrte. »Du kommst unpassend«, grinste er, deutete erst mit einer Kopfbewegung auf Selma und gab Schwab dann mit einer auffordernden Kinnbewegung das Zeichen, sich wieder aus dem Staub zu machen. Während er Bläsers »Wir seh’n uns dann in der Wohnung« wie durch Wattebäuschchen vernahm, starrte Schwab an seinem Freund vorbei ins Treppenhaus. Da stand Selma auf der Treppe. Selma hielt ihre geöffnete Bluse notdürftig vor den Brüsten zusammen. Selmas Hose stand leicht offen. Schwab konnte den Ansatz eines weißen Höschens erkennen. Selma sagte »Hallo!«. 288
Dieses Hallo war so einfach und so nüchtern, als habe jemand »Mahlzeit« gesagt. Es klang fast ein wenig ärgerlich, als würde der Gast stören. Und da war Bläser. Mit glühend roten Wangen stand er hinter der Türe, unvermindert freundlich grinsend, und meinte: »Bis dann.« Versuchte, die Türe zu schließen, was nicht gelang, weil ein Schuh von Morris dies verhinderte und der Freund unverrückbar dastand wie eine versteinerte Säule. Bläser hatte keinen Blick für die Dramatik dieses Momentes, weil ihm seine Geilheit alles vernebelte. Im Gesicht des Freundes stand die Gewissheit, dass dieses Leben nicht mehr lebenswert war. In dieses aschgraue Gesicht waren mit einem Mal alle Sünden dieser Welt geschrieben: Lüge, Betrug, Heuchelei, Folter, Mord. Selma war im Gegensatz zu Bläser noch bei Verstand. Alles Lüsterne, alles Vergnügte, alle Spielsucht war bei Schwabs Anblick allmählich aus ihrem Antlitz gewichen. Sie fühlte, wie statt der schwülwarmen Luft plötzlich Eiseskälte durch die Türe drang, so dass ihr fröstelte. Selma war eine erfahrene Frau. Beim Blick in Schwabs Augen ahnte sie, was geschehen war. Sie erkannte grenzenlose Enttäuschung. Selma zog die Bluse enger um ihren Leib, schenkte Moritz Schwab einen verlegenen Blick und ging die Treppe empor. Noch bevor Bläser irgendwie reagieren konnte, war Selma in der Wohnung verschwunden. Der Geile glotze ungläubig. Fühlte eine Woge von Zorn in sich aufsteigen und knallte Schwab so kräftig eine hin, dass es laut im Treppenhaus patschte. Der Schlag brachte Morris wieder zu sich. Leere Augenhöhlen nahmen Bläser ins Visier. Schwabs Stimme war ganz leise und schwach, als er »Du Schwein!« sagte. Dann drehte er sich wie im Zeitlupentempo um und ging ganz steif und langsamen Schrittes davon. Der andere schüttelte irritiert den Kopf, scherte sich nicht weiter um den Freund, sondern hetzte seiner Chance hinterher. 289
Minutenlang pochte er an Selmas Wohnungstüre, flehte sie an, ihm zu öffnen, heuchelte ihr Liebe, wollte schier weinen, fluchte dann und trat gegen die Türe, warb dann wieder mit säuselnden Liebesschwüren. Doch nichts half. Die Wohnungstüre blieb geschlossen. Ein kurzes, vergebliches Frohlocken, als sich Schritte näherten. Doch die Türe blieb zu. Ein kratzendes Geräusch, dann sah Bläser, wie ein Schlüssel unter der Türe hindurch geschoben wurde. Aus dem Wohnungsflur hörte Bläser Selmas Stimme. »Wirfst ihn dann in’n Briefkaste.« Eine Stimme, frei von jeder Erotik. Die Stimme eines Ansagedienstes. Für Bläser das Zeichen zum Gehen. Hier gab es für ihn nichts mehr zu ernten. Verdammt, dachte er. Verdammt, verdammt! Schwab hatte ihm alles vermasselt. Das Abenteuer mit Selma hätte ihn entschädigt für alles Unheil und alle Verletzungen der vergangenen Nacht. Doch es war zwischen seinen Fingern zerronnen. Schwab, dieser Blödmann! Warum hatte er ihm auch die Türe geöffnet? Frustriert machte er sich auf den Weg zur Autowerkstatt.
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KAPITEL 13 Todesahnungen KAUM, DASS SICH WERNERS KEUCHENDER ATEM ein wenig beruhigte, da war dem Flüchtling klar, in welch ausweglose Situation er sich manövriert hatte. Werners lag in einem wildfremden Haus unter einem muffeligen Bett versteckt, unter das ihn die grenzenlose Panik getrieben hatte. Sein nächstbester Gedanke, schnell unter dem Bettrahmen hervorzuspringen und zu verduften, wurde hinfällig, als er Geräusche aus der Küche vernahm, dazu Schritte, die sich dem Haus näherten. Der Flüchtling hörte, wie sich die Türe schloss und ein wohl älterer Mann unter Seufzen und Stöhnen einen Stuhl in der Küche zurechtrückte und dann offenbar recht umständlich darauf Platz nahm. »Sou ebbs Verrückts, gell?« sagte der Mann, und dann klapperte Geschirr, lief Flüssigkeit aus einer Kanne in eine Tasse, und die Stimme eines Mädchens meinte: »Scho.« Diese eine Silbe genügte Werners. Er erkannte diese Stimme sofort, würde sie aus zigtausenden heraus hören. Es war die Stimme jenes Wesens, das ihm schon zweimal erschienen war: im Rosengarten und in der Kirche. Und um eben diese Begegnung in der Kirche – das hatte der im Staube Lauschende rasch heraus – drehte sich die Unterhaltung in der Küche. Die beiden Personen überlegten, was sein, Werners’, seltsames Erscheinen dort wohl zu bedeuten gehabt hatte. Der alte Mann schimpfte über eine Erna, protestierte gegen den vorschnellen Schluss, dass es sich bei dem Unbekannten um einen Sextäter gehandelt haben könnte. »Des war en Banner«, meinte die dunkle Stimme in der Küche. Halt einer, der die Nacht mit einem Dach über dem Kopf 291
habe verbringen wollen und deshalb in der Kirche Zuflucht suchte. »Eine arme Seele«, hörte Werners die glockenhelle Stimme des Engels zustimmen. Kilian und Annemarie tranken Kaffee. Der tat gut nach all der Aufregung. Annemarie hatte den jungen Mann in der Kirche ebenso wiedererkannt wie dieser sie. Es war der Bote gewesen. Zweifellos. Kurz überlegte sie, ob sie dem Vater diese Erkenntnis offenbaren sollte, ließ es jedoch dann sein. Sie wollte Kilian, der am heutigen Tag genug um die Ohren hatte, nicht zusätzlich belasten. Draußen im Flur schellte das Telefon. Die beiden blickten sich an, Annemarie wollte schon eilen, doch Kilian gab ihr ein Zeichen. »Ich geh hin«, sagte der Alte und erhob sich mühsam von seinem Stuhl. Annemaries Blick wanderte durchs Zimmer, blieb am Kruzifix hängen. Daneben im Holzrähmchen ein Marienbild. Das Mädchen erhob sich, ging ein paar Schritte auf Kreuz und Bild zu, warf sich davor auf die Knie. »Heilige Maria, hilf«, betete sie. »Hilf mir in meiner Not.« Sie hatte Angst vor diesem unheimlichen Unbekannten, der sie nun schon zweimal erschreckt hatte, und zugleich fühlte sie sich mutig und neugierig, fühlte sie so etwas wie Urvertrauen zu dieser Erscheinung. Wieder und wieder ließ sie das Erlebnis vom Morgen in der Kirche in Gedanken Revue passieren. Sie hatte sich nicht versteckt, hatte dem Gehetzten und seinen Blicken Stand gehalten. Der Fremde hatte sich entblößt. Das gab ihr zu denken. Aber sie konnte und wollte ihn nicht verurteilen wie die anderen Frauen. Waren nicht auch manche Propheten und Einsiedler nach wochenlanger Heuschreckenkost entblößt vor das Volk getreten, so wie Gott sie geschaffen und gesandt hatte? »Oh, himmlische Frau Königin, du aller Welten Herrscherin«, 292
summte Annemarie die ihr gerade einfallende Textzeile eines Marienliedes. Draußen im Flur hörte sie den Vater telefonieren. Sie brauchte nicht lange die Ohren zu spitzen, hatte sich schnell zusammengereimt, dass es sich am anderen Ende der Leitung um den Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, um Spohr, handeln musste. Der Vater sprach Uhrzeiten in die Muschel, brummte mehrfach bestätigend, gab zu bedenken, dass zwei Ministrantengruppen vonnöten sein würden. Ja, er würde es übernehmen, die Buben zu benachrichtigen, versicherte er nun dem anderen. Das Mädchen betete. Wie sollte sie sich dem Fremden gegenüber verhalten? Einerseits wirkte er gefährlich, war möglicherweise geisteskrank, andererseits hatte sie Mitleid mit seiner traurigen Gestalt, seinem Umherirren. Ob er tatsächlich auf der Suche war, und wenn ja, nach wem? »Du Herzogin von Franken bist, das Herzogtum dein eigen ist«, sang Annemarie und faltete die Hände, übersprang dann die folgenden Strophen und schloss ihr betend Lied mit »… tröstest du mit Mutterhand dein bittend Kind aus Frankenland.« Draußen legte der Vater den Telefonhörer auf. Schnell sprang das Mädchen auf die Beine. Das Stoßgebet zur Gottesmutter war ihr Geheimnis. Kilian sollte sich keine Sorgen machen, keine unnötigen Gedanken. Maria, hilf! dachte die Tochter nochmals. Dann saß sie auch schon am Küchentisch, als wäre nichts gewesen. »Ach, der Spohr«, sagte der Mesner, als er in die Küche zurückkam. »Rosenkranz um halb zwei, Eucharistie um zwei, dann geht’s naus zum Gottsacker, also grad, wie ich’s ausgemacht hab, als ob ich blöd wär.« Kilian war sauer. Alles musste mit Spohr drei-, viermal besprochen werden, obwohl doch längst alles geklärt war. »Die Fürständ sinn all dabei«, berichtete der Vater der Tochter 293
und listete sie dann mit Namen und Verein auf, vom Kirchenchor über die Feuerwehr bis zum Verschönerungsverein. Einige würden Fahnenabordnungen stellen. »Des gibt e schöne Beerdichung, des is gewiss«, schloss Kilian. »Zum Mergler musst noch«, fuhr er dann fort. Spohr habe ihm die Liedfolge für den Gottesdienst, wie sie der Dekan wünschte, durchgegeben. Nun musste nur noch Mergler, der Orgelspieler, informiert werden. »Is nix Bsonders dabei«, stellte Kilian fest, nachdem er den Zettel mit den Nummern studiert hatte. Da müsse der Mergler nicht mehr üben, das habe der alles intus. »Trach es trotzdem gleich nü«, bat der Vater. »Erledicht is erledicht und wird nimmer vergässe«, begründete er, drückte Annemarie den Liederzettel in die Hand und schickte sie durchs Dorf zum Organisten. Das Mädchen folgte brav. Natürlich war sich Kilian im klaren darüber, dass es sich bei dem jungen Mann in der Kirche nie und nimmer um einen Penner gehandelt hatte. Die sahen anders aus, waren alt und verbraucht, schleppten Plastiktüten voller Utensilien mit sich herum und jagten nicht wie Irrwische durchs Gotteshaus, wenn sie entdeckt wurden. Schon gar nicht mit heruntergelassenen Hosen. Vielleicht hatte Erna ja recht, und es war tatsächlich einer dieser Burschen, die derzeit beim Egon einquartiert waren. Dass sich der Egon auf so etwas überhaupt eingelassen hatte. Aber ein wenig verrückt war der schon immer gewesen, sogar schon als Bub, als er vor dem Jeep der Amerikaner her durchs Dorf gezogen war. Selbst miterlebt hatte er, Kilian, das ja nicht, aber die Mutter hatte es ihm wieder und wieder erzählt, und der Sternwirt, Egons Schwager, erzählte die Geschichte zu später Stunde am Stammtisch oft den Gästen, die der Anekdote immer wieder gerne lauschten. Das mit dem Penner hatte Kilian nur Annemarie zuliebe gesagt. Das Mädchen sollte sich nicht sorgen. So ganz abwegig war die Überlegung von Erna nicht gewesen; vielleicht hatte 294
tatsächlich ein Sextäter den Frauen aufgelauert. Ihm selber war der junge Kerl aber eher harmlos und verwirrt vorgekommen. Er hatte sich sogar gesorgt, ob dem Burschen nicht etwas zugestoßen war, nachdem er das Martinshorn im Dorf gehört hatte. Irgend etwas war da passiert. Der aufgeschreckte junge Mann würde sich doch nichts angetan haben? Verrückte Sachen passierten zur Zeit im Dorf. Der tragische Tod des Pfarrers, ein mysteriöser Bote, der seine Tochter erschreckte, nun ein junger Halbnackter, offenbar geisteskrank, und schließlich die Martinshörner, deren Ursache er noch nicht kannte. Was hatte all das zu bedeuten? Kilian suchte Halt und schlurfte ins Zimmer nebenan. Er beugte sich in den Schrank hinunter, kramte aus dem Versteck das Holzkästchen hervor und setzte sich aufs Bett, das Kästchen vor sich auf dem Schoß. Vorsichtig öffnete er es, musterte sich in dem im Deckel eingelassenen halbblinden Spiegel. Er war alt geworden. Seine Augen sahen müde aus. Kilian fühlte, dass er in Zukunft kürzer treten, dass er das Mesneramt in jüngere Hände geben musste. Er war diesen Belastungen und Aufregungen, dem ganzen organisatorischen Kram nicht mehr gewachsen. Sollten sich Jüngere um die Kirche kümmern, irgend jemand würde sich dafür schon finden. Noch bevor der neue Pfarrer käme, würde er seine Entscheidung Spohr mitteilen. Er würde sich künftig ganz auf Annemarie konzentrieren. Sie noch einige Jahre ins Leben zu begleiten, ihr gemeinsam mit Annegrete eine solide Basis zu schaffen, das war nun das Wichtigste. Alles andere musste nicht mehr sein. Zärtlich streichelten Kilians Finger über die Zettelchen, die Haarlocke. »Ach, Marlène«, seufzte er. Fast wäre Werners vor Angst gestorben, als der Mann das Zimmer betrat. Er presste sich, so gut es ging, lautlos ins hinterste Eck. Sein Herz begann zu beschleunigen, er fühlte seine Stirn feucht werden. Der Staub unterm Bett ließ ihn fast keine Luft. Die Schranktüre knarzte. Werners versuchte mit den 295
Ohren zu sehen, hörte das Schleifen von Holz auf Holz, dann ein paar Schritte. Er sah zwei Füße in schwarzen Socken und Schuhen, die sich unmittelbar vor dem Bett drehten. Dann ließ sich der Mann mit dem Hintern auf die Matratze plumpsen. Werners zuckte zusammen. Der Man saß vorne an der Bettkante. Hinten, wo Werners lag, blieb glücklicherweise ausreichend Platz. Offenbar hatte der Sitzende eine Schachtel auf dem Schoß, in der er nun kramte. Es raschelten Zettelchen, dann seufzte der Mann »Ach, Marlène.« Ob dies der Name des Engels, der Blonden war? Es wurde still. Nur das Schnaufen eines alten Mannes. Es war ein alter Mann, das wusste Werners. Die Schritte, das Keuchen der Lungen, die Stimme hatten es ihm verraten. Wieder raschelte es. »Warum, Marlène, warum?« Der Mann hörte sich traurig an. »Wenn ich nit so’n Feichling gwese wär. Wen ich’s der Mutter damals nur gsacht hätt. Vielleicht wär alles ganz anders komme.« Der Alte seufzte. Ein Holzdeckel klappte zu. Der Mann erhob sich, ging zum Schrank und verstaute das Kästchen wieder. Dann durchsuchte er den Schrank nach Kleidern, warf einiges davon auf das Bett. »Die Schuh muss ich noch putz«, stellte der Mann fest, pflanzte sich erneut aufs Bett und streifte die Schuhe ab. In Strümpfen entfernte er sich dann nach nebenan, wobei seine Socken auf den Holzdielen dunkle, feuchte Spuren hinterließen. Was war er doch für ein Idiot gewesen! Erst jetzt, in dieser verfahrenen Situation, wurde Werners klar, wie unsinnig er reagiert hatte. Er hätte bei Egon bleiben sollen. Die Geschichte mit dem Fleischerhaken hätte sich leicht lösen lassen. Zudem hätte die Chance bestanden, der alten Hexe seine ganze Misere offenzulegen, die Geschichte mit Petra und ihrer Bande, die Sache in der Kirche, die zu weite Hose. Längst könnte alles gelöst sein, längst könnte er frisch geduscht im Bett liegen und endlich einmal wieder ausschlafen. So aber war er vom Regen in die Traufe geraten. Warum war all dies passiert? Konnte es 296
wirklich sein, dass ein kleiner silbriger Rosenkranz all dies verursachte? Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken. Wieder lauschte er angestrengt. Kilian hatte die Schuhe poliert und ging wieder ins Schlafzimmer, wo der schwarze Anzug bereit lag, den er sich zu Marias Beerdigung gekauft hatte. Doch es war viel zu früh, um sich umzuziehen. Vor halb eins musste er nicht in der Kirche sein, und jetzt war es gerade mal elf Uhr. Er überlegte, in den Garten zu gehen, um die von der Sonne ausgehärtete Erde zwischen den Pflanzen zu lockern, ließ es jedoch sein. Sich jetzt noch einmal dreckig zu machen, das war unvernünftig. Kilian fühlte sich schrecklich unruhig. Lag es daran, dass heute die große Beerdigung anstand, oder daran, dass er hinsichtlich seiner Mesnertätigkeit endlich eine Entscheidung gefällt hatte? Oder lag es gar daran, dass seine Gedanken um Marlène kreisten und die herrlichen Stunden mit ihr, die schon so lange zurücklagen? Ob sie das Kettchen noch hatte? Er würde es sich zurückerbitten, das stand außer Frage. Dann hätte er die Lüge an seiner Mutter gesühnt, und das Kettchen könnte er später einmal Annemarie geben. Das würde seine Mutter selig sicher freuen. Doch die Bitte nach dem Kettchen wäre nicht das eigentliche Ziel seiner Reise. Er musste Marlène um Vergebung bitten für sein Versagen, für das nicht gehaltene Versprechen von seiner Rückkehr nach Kriegsende. Und natürlich musste er auch wissen, was aus ihr geworden war. Hatte sie geheiratet? Hatte sie Kinder, Enkelkinder? War sie gesund? Lebte sie überhaupt noch? Erst bitte ich um Verzeihung, dachte Kilian. Dann sag ich: »Gib mir bitte das Kettchen zurück.« Kilian sprach diesen Satz mit fester Stimme in die Stille des Raumes hinein. »Was?« Das klang dumpf, von ganz weit weg und doch so nah. Und es 297
kam so plötzlich, dass Kilian spontan erwiderte: »Ich will mein Kettchen zurück.« Zitternd wurde ihm bewusst: Jemand hatte ihn angesprochen. Hier aber war niemand. Wie konnte das möglich sein? »Ich hab’s aber nicht«, wimmerte es nun. Kilian fuhr voller Entsetzen herum. Niemand war im Zimmer. Er sprang zur Tür. Niemand war in der Küche. Er sprang zurück. Drehte sich mehrmals um sich selbst. »Heilige Maria, Muttergottes, hilf«, keuchte der Mesner und schlug ein Kreuzzeichen ums andere. Da begann sich vor seinen Augen das Bett zu bäumen, es begann zu tanzen und plötzlich fuhr darunter der Teufel hervor mit dreckigem Gesicht und blutigen Händen, sprang vor ihm in die Höhe und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Ich bring’s dir, ich bring’s dir! Heut noch kriegst du’s ins Grab.« Dann stob Luzifer in einer Wolke aus Staub und Fusseln zur Zimmertüre hinaus und aus dem Haus davon. Kilian wollte um Hilfe rufen, konnte aber nicht. Er taumelte zurück, rammte mit dem Rücken an den Schrank, der sein Geheimnis barg, und rutschte an diesem langsam herunter auf den Fußboden, bis er zu sitzen kam. Sein Blick war starr, sein Gesicht mit einem Mal weiß wie Schnee. In seiner Brust ein brennender Schmerz, der das Brustbein und den Hals hoch bis in die Kinnspitze reichte. Seine starren Pupillen registrierten, wie sein Kinn vibrierte, als wolle er gleich zu heulen beginnen. Aber nichts von alledem war ihm möglich. Er konnte nur sitzen, auf seine ausgestreckten Beine und die im Schoß ruhenden weißen Hände starren und sich seiner schrecklichen Angst hingeben. Es war Todesangst, die ihn packte. Sein Blick verschwamm. Er sah blutige Hände vor sich, den irren Blick dieses Satans, den er nun wiedererkannte: Er hatte ihm schon heute in der Kirche aufgelauert. Nicht den Frauen hatte der Auftritt im Gotteshaus am Morgen gegolten, sondern 298
ihm allein, ihm ganz allein. Bis ins Haus, bis in seine Kammer hatte ihn der Kerl verfolgt, und – daran gab es keinen Zweifel – er würde ihm weiter folgen, so hatte er es ja angekündigt, bis ins Grab, noch am heutigen Tag. Der Schmerz in der Brust ließ nach. Die Angst in Kilian schlug um in Trauer, scheiden zu müssen, ohne die gefassten Vorsätze noch erfüllen zu können. Das also war sein Todestag, dachte er. Der Alte sah durch Schleier, wie Annemarie ins Haus kam, fröhlich nach ihm rief, wie sie seiner kauernden Gestalt in der Stube angesichtig wurde und aufschrie. Wie ihre heißen Hände seine eiskalten Wangen umfingen, ihm ins Gesicht schlugen, ohne dass er die leiseste Berührung spürte. Sah Annemarie wieder davonstürzen, ins Telefon schreien, gleich darauf mit einem triefenden Waschlappen zurückkommen. Fühlte, wie sie sein Hemd öffnete. Stand da nicht Marlène in der Türe? Natürlich, das war sie. Zweifellos. »Bonjour«, sagte sie und lächelte sanft, und er fühlte wieder einen schrecklichen Schmerz in seiner Brust. Aber sie sah anders aus, als er sie in Erinnerung hatte. Die Haare hatte man ihr geschoren, in die Wange war blutrot ein Hakenkreuz geritzt. Ihre Kleider sahen zerrissen aus. »Comment ça va?« Kilian schien es auch, als habe Marlène einen dicken Bauch, als sei sie schwanger. Von mir? fragte sein Blick, und Marlène hatte seine wortlose Frage verstanden. »Oui, naturellement«, antwortete sie. Erst einer, dann ein zweiter Weißkittel rannten durch Marlène hindurch, als wäre sie Luft für die beiden. Kilian wollte sie dafür rügen, doch Marlène lächelte, drehte sich um und ging. Der Alte streckte den Arm nach ihr aus. Woher hatte er plötzlich die Kraft dazu? Er spürte die warmen Hände eines Sanitäters und dann ein Piksen. Er war jetzt ganz ruhig, hatte keine Angst mehr, fühlte nur noch diesen schrecklichen Schmerz, den ihm 299
Marlènes Anblick bereitet hatte. »Was is denn heut los bei euch im Dorf?« fragte einer der Weißkittel Annemarie. »Jetzt sind mir schon ’s zweite Mal da heut früh.« Annemaries Gesicht war tränenüberströmt. Sie fragte den einen der Männer, ob der Vater nun sterben müsse, und Kilian hörte zu seiner eigenen Verwunderung, dass es wohl nicht so arg schlimm sei und man ihn schon über den Berg bringen werde. »Jetzt geht’s erst emol ins Krankenhaus, dann sieht mer weiter«, erklärte der andere, der dem Mädchen vorschlug, mit in die Klinik zu fahren. Dann betteten sie Kilian auf die Trage, die der eine Weißkittel in der Zwischenzeit geholt hatte, schleppten ihn vors Haus und hievten ihn unter den Augen von vielleicht einem Dutzend Schaulustiger in den Krankenwagen. Als sie losfuhren, hörte Kilian auch die Martinshörner. Komisch. Als der Sanka gekommen war, hatte er nichts gehört. Nun jaulte es über seinem Kopf, als begäbe sich das wilde Heer auf die Jagd- – Zwei-, dreihundert Meter vielleicht war Werners durch das Dorf gejagt, weg vom Mesnerhaus, mit unbekanntem Ziel. Die Angst verdeckte alles: den Schmerz seiner Beine, seines Rückens, seine körperliche Schwäche, seine Hirnlosigkeit. Er flog nur so dahin. Dann blieb er stockend stehen. Schnaufte wie ein Walross. Was hatte diese Rennerei überhaupt für einen Sinn? Er konnte sich verstecken, wo er wollte, stets trieben ihn der tote Pfarrer und das Engel-Mädchen wieder auf. Er konnte machen, was er wollte, der Fluch des Rosenkranzes holte ihn stets aufs neue ein. Ein großes, ein einziges Komplott, aus dem es kein Entrinnen gab. Da stand er nun. Blickte an sich herunter. Die ehemals weißen Leinenturnschuhe waren dreckig verschmiert, von braunen Flecken gezeichnet. Wahrscheinlich stanken sie grauslich. Die riesige Hose von Petras Bruder schlabberte um seine mageren 300
Glieder, am Bund nur gehalten von dem Strick, den ihm der liebenswerte Egon vor seinem Unfall geliehen hatte. Das Hemd verschmiert von dreckigem Staub, verschwitzt und vorne offen. Die Hände mit rotbrauner Kruste überzogen. So wie er aussah, nach allem, was geschehen war, hätte es Werners jetzt kein bisschen gewundert, wenn ihn eine Schar dieser ansonsten so gemütlichen und gastfreundlichen Dörfler mit lautem »Steinigt ihn!« bedrängt und aus dem Kaff gejagt hätte, um ihn zu Füßen der Weinberge zu keupern. Aber niemand kam. Er würde es selbst zu Ende bringen müssen. Wollte er sich von seinem Fluch und diesem ganzen Wahnsinn erlösen, dann half nur der vermaledeite Rosenkranz. Wo aber konnte der sein? Langsam trottete Werners weiter. Bemerkte die staunenden Blicke nicht, mit denen ihn die Dorfbewohner musterten. Ignorierte die beiden kleinen Mädchen, die erschrocken vor ihm zurückwichen. Scherte sich nicht um den Buben, der ihm neugierig hinterherschlich. Erst als er am Ende der Gasse aus dem Schatten ins grelle Sonnenlicht trat, seine Augen für einen Moment tränten und er geblendet war, blieb Werners stehen. Just in diesem Augenblick, der Scheinwerfer des himmlischen Sonnenlichtes war auf genau diese Szene gerichtet, geschah es, dass ihm Pater Heribert erschien. Es war keine Überraschung. Werners nahm’s gleichgültig zur Kenntnis. Was hätte ihn auch noch schockieren können, nach all den Ereignissen der vergangenen Tage? Pater Heribert schien etwas kleiner und dicker geworden zu sein. Aber er trug seine Kutte, hatte seinen Vollbart und seine Brille. Vielleicht war seine Nase ein wenig knolliger geworden in den letzten drei Jahren, seit sie sich nicht mehr gesehen hatten. Pater Heribert! Werners musste unwillkürlich lächeln. Es war das Schmunzeln eines Mannes, den nichts mehr zu erschüttern vermochte, nur noch zu belustigen. Was dieser Rosenkranz doch alles fertigbrachte. Respekt! Werners sah den Priester an, 301
erwartete eine ganze Litanei von Vorwürfen. Warum er damals dieses und wieso er nicht jenes und dass alle so enttäuscht gewesen und dass besonders er, Heribert, und überhaupt. Aber nichts von alledem kam. Kein einziger Vorwurf. Statt dessen fragte Heribert, die rechte Hand auf Jakob Werners’ Schulter bettend, in breitestem fränkischen Dialekt, wo denn der Mesner der Josefspfarrei zu Hause sei, der gute Kilian, oder wo er denn alternativ den Herrn Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, den Herrn Spohr, finden könnte. Das machte Jaco nun doch etwas staunen. Was wollte Heribert von diesen beiden, und was, zum Teufel, wollte Heribert in diesem traurigen Nest, das ihm doch gänzlich unbekannt sein musste? »Ich bin’s, der Jakob«, sagte Werners, die Augen mit einer Hand vor der Stirn vor dem gleißenden Sonnenlicht etwas schützend. Was sollte die Fragerei nach Mesner und Pfarrgemeinderatsvorsitzeriden? Wen außer ihn selbst sollte Heribert suchen? Warum hatte er ihn nicht gleich erkannt? Wahrscheinlich sein Äußeres, dachte Werners. Natürlich. Heribert nickte freundlich und dankbar. Na also. »Der Jakob, gell?« sagte er mit sanfter Stimme und tätschelte Werners Schulter. »Is scho gut, Bub. Gehst e weng spaziern?« Welch merkwürdiges Verhalten. Fast schien es, als rede Heribert mit einem Behinderten, einem Dorftrottel. Werners’ Augen hatten sich nun etwas an das blendende Licht der Sonne gewöhnt. Was war mit dem Kerl geschehen? Er hatte Heribert als Meister der Inquisition in Erinnerung, als unerschütterlichen Verfechter des Glaubens, unbeirrbar und zuweilen von beeindruckender Strenge allem Schwachen, allen Versagern gegenüber. Und nun stand der Ordensoffizier da vor ihm, zusammengeschrumpft und eingedickt zu einem gemütlichen, lächelnden Bierbrauermönch, der kein weiteres 302
Begehr hatte, als den Weg zu diesem oder jenem zu erfragen. »Nein, nicht spazieren«, gab Werners trotzig zurück. Der blöde Hund, was dachte der sich denn? »Ich such’ den toten Pfarrer«, sagte Jaco, um das Gespräch abzukürzen, und beschloss, sich von Heribert nicht weiter täuschen zu lassen. »Ja, Bub, bist verwandt am End? Der licht doch drauß em Gottsacker.« Heriberts Blick wurde noch sanfter. Der Sarg stehe kühl in der Friedhofskapelle, fuhr der Pater fort, und die sei sicher noch verschlossen »bei der Hitz«. Aber er könne freilich mal nachsehen. Vielleicht habe er ja Glück, und der Leichengräber sei grad draußen. »Wäßt nit, wo der Spohr wohnt?« fragte Heribert dann nochmals, blickte in zwei blöde Augen, lächelte nachsichtig, tätschelte nochmals Werners’ Schulter und ließ diesen dann einfach stehen, nachdem er zehn Meter weiter einen alten Mann erspäht hatte, den zu fragen wohl lohnender sein würde. Werners blieb alleine zurück. Er wusste nicht so recht, was er von dieser Begegnung halten sollte. Wie hatte sich Pater Heribert doch verändert! War das überhaupt noch der Alte? Aber wozu sollte er sich weiter unnötige Gedanken machen? Immerhin hatte ihm Heribert den entscheidenden Hinweis gegeben. Er würde auf dem Friedhof nachschauen. Natürlich musste der tote Pfarrer dort sein, wenn er sich nicht länger im Dorf herumtrieb. Und wozu sollte er das, wo er Werners doch zur Genüge auf seine Versäumnisse hingewiesen hatte? Nun konnte er es sich im Sarg gemütlich machen und auf seinen Rosenkranz warten. Aber Werners hatte das Ding nicht. Und würde es auch nicht mehr finden. Und das würde er dem Quälgeist nun sagen, und dann sollte der machen, was er wollte – ihm die Gurgel umdrehen, ihn auf ewig verfluchen oder es einfach bleiben lassen. Werners war alles egal. Den einzigen Wunsch, den er hatte, war, dass bitte alles ein Ende nehmen sollte. Also, zum Friedhof. Er würde sich durchfragen. Verdammt nochmal! Bläser war immer noch stinksauer auf 303
diesen Deppen, diesen Schwab. Dass Morris ihm die Tour mit Selma versaut hatte, das würde er ihm nie verzeihen. Welcher Teufel hatte den Kerl geritten? Was Bläser am allerwenigsten vertragen konnte, war, dass Schwab ihn auch noch als Schwein tituliert hatte. Das klang fast, als habe er, Bläser, an Selma nichts zu suchen gehabt, als habe er geheiligtes Terrain betreten. Was aber hatte Morris damit zu tun? Doch je weiter er sich auf seinem Weg zur Werkstatt vom Ort des erotischen Missgeschicks entfernte, umso mehr besänftigte sich sein Gemüt. Er würde am Abend einen zweiten Anlauf wagen. Dass Selma zuletzt so abweisend war, war zweifellos auf den von Morris zugefügten Schock zurückzuführen. Die Selma, dieses Prachtweib, die wollte ja. Das lag doch offen auf der Hand. Die war ja ganz scharf auf ihn gewesen. Und an dieser knisternden Spannung, da hatte sich mit Sicherheit nichts geändert. Man müsste nur darauf achten, dass das Ambiente gefällig wäre und ärgerliche Störungen wie vorhin vermieden würden. Was sollte er klagen? Seine Zeit würde noch kommen. Nun aber galt es, das Nächstliegende zu tun. Bläser war unterwegs zur Werkstatt. Zwar durfte er nicht hoffen, dort den verschwundenen Wagen zu finden, doch die Rache war sein. Er würde sich auf jeden Fall ein Pfand aus der Werkstatt holen, das Kurt zum Handeln zwingen musste. Bläser dachte zunächst an einen Wagenheber, doch erschien ihm dieses Werkzeug dann doch zu schwer für den weiten Transport in die Wohnung. Besser war es, ein wichtiges, leichteres, teueres Werkzeug oder am besten die Kasse mit dem Wechselgeld als Pfand zu nehmen. Bläser drückte den Werkstattschlüssel fest in der Hand. Mein ist die Rache, spricht der Herr! frohlockte er. Die Sonne stand inzwischen hoch über dem Dorf. Bläser musste an den in Panik geflüchteten Werners denken. Ob er sich irgendwo zwischen den Rebzeilen versteckt hielt? Nein, vermutlich saß der Freund bereits wieder in der Wohnung. Die Hitze machte durstig. Was Bläser stutzen ließ, war der Lärm, der 304
aus der offenstehenden Werkstatt kam. Bläser wusste nicht so recht, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Allem Anschein nach war Kurt wieder da. Das war einerseits erfreulich, weil er ihn zur Rede stellen und etwas über den Verbleib seines Autos erfahren konnte, andererseits ärgerlich, weil ihm dadurch wahrscheinlich ein Racheakt versagt blieb. Es war schon komisch: Bis zu jenem Augenblick, da seine Zunge über Selmas herrliche Brüste geschleckt hatte, hatte ihn nichts anderes getrieben als der Gedanke, möglichst schnell wegzukommen aus diesem Kaff. Er hatte vergessen, er hatte flüchten wollen – zu tief hatte ihn der Apostel verletzt, zu sehr schmerzte ihn das missbrauchte Vertrauen, das er dem Alten und diesem Josef, seine weinkredenzende rechte Hand, geschenkt hatte. Nun aber, dank Selma, hatte sich sein Sinn gewandelt. Dieses Dorf und seine Menschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren herrlich. Er würde nicht eher abreisen, bevor er es mit Selma getrieben hatte. Diese Frau war nicht nur eine Sünde wert, sondern auch jeden Ärger, den es mit den Alten am Walchensee geben konnte. Eine herrliche Frau! Entsetzlich die Vorstellung, wie oft dieser Gauner von Kurt an ihrem Körper herumgeschraubt haben mochte, vermutlich in Gedanken bei irgendwelchen Zweilitermotoren, nicht aber wirklich bei Selma selbst. Noch bevor Bläser die offene Werkstatt und damit den kühlen Schatten des Gebäudes betrat, stieg ihm der Duft von schwerem Öl, leichtem Benzin und verbranntem Metall in die Nase. Dann riss er die Augen auf: Da stand es, das Auto seiner Mutter, und glänzte ihm freudig entgegen. Den an der Werkbank im hinteren Teil der Halle beschäftigten Kurt zunächst ignorierend, trat Bläser heran und umkreiste den VW Variant mit liebevollem Blick. Zärtlich strichen seine Hände über den grauen Lack, der an der Seite, dort, wo ihm sein Fahrfehler böse Wunden gerissen hatte, wieder wie neu, vielleicht sogar ein kleines bisschen heller erschien. Eine Farbnuance, die aber nur dem Eingeweihten mit 305
geschärftem Blick auffiel, nicht aber nichtsahnenden Müttern und alternden Bankiers. Die Karre war repariert, und – da mochte man rivalenmäßig zu Kurt stehen, wie man mochte – der Mechaniker hatte einwandfreie Arbeit geleistet. »Da guckste, gell?« Kurt war unbemerkt herangetreten und stand nun auf der anderen Seite des Autos, Bläser gegenüber. Pietro war sich nicht sicher, ob das Lächeln des anderen eher kalt oder eher selbstzufrieden war. »Hat e weng gedauert«, sagte Kurt nun. »Hab kein Platz zum Lackiere ghabt.« Der Meister kam um das Auto herum auf Bläsers Seite, wo der Kotflügel demoliert gewesen war. Er ging neben dem jungen Mann in die Hocke, fuhr mit seiner gespreizten, von Öl schwarzen Hand über den Lack und stellte selbstgefällig fest: »Saubere Arweit.« Dann erhob sich Kurt wieder. Sie waren etwa gleich groß, der Mechaniker allerdings in den Schultern fast doppelt so breit wie der Bankkaufmann. Kurts dunkle Augen stachen, als sie so, die Gesichter auf gleicher Höhe, dastanden und sich musterten. »Des war nit einfach in Würzburch, verstehst?« sagte Kurt jetzt mit einer Stimme, leise, aber scharf wie eine Rasierklinge. Den Lack beizukriegen habe schon genug Ärger gemacht. Aber dass er ihn im Bus mies gemacht habe, das sei nicht nötig gewesen, knirschte der Ölverschmierte zwischen den Zähnen hervor. »Des war nit fein, was ich da vom Paul ghört hab.« Kurts Kinn wies spitz nach oben, zielte wie eine Pistolenmündung auf die Nasenwurzel des Jüngeren. Bläser spürte, wie ihm mau wurde. Vergeblich versuchte er, sich seinen Brass auf Kurt in Erinnerung zu rufen: wie er sie hatte hängen lassen, was sie alles wegen seiner Unzuverlässigkeit hatten erleiden und bezahlen müssen, und was er ihm bei Selma voraus hatte. Doch keine Spur von Aufbäumen ergriff ihn. Nicht, dass er Angst vor diesem Kurt und dem großen Schraubenschlüssel gehabt hätte, den dieser in 306
der Hand hielt. Es war vielmehr eine große Erschöpfung und Sprachlosigkeit, die Bläser ergriff, als er so dastand, das reparierte Auto vor Augen, konfrontiert mit Kurts Vorhaltungen. Mit gesenktem Kopf stand er da, hörte sich Kurts Predigt an und guckte betreten drein. Nun, Kurt war kein Schwein. Beließ es bei einem Anschiss. Legte Bläser danach eine ölige Hand auf die Schulter, lächelte sogar und deutete mit dem ausgestreckten Schraubenschlüssel in der anderen Hand auf ein Schild aus grauem Pappkarton an der Seitenwand der Werkstatt. In großen schwarzen Lettern war darauf »Vor Gebrauch des Mundwerkzeugs Gehirn einschalten« zu lesen. Kurt grinste. Der Gedemütigte fing sich. »Kann ich’s mitnehmen?« fragte Blässer, auf das Auto deutend. »Scho«, sagte Kurt, »wennsdes Geld dabei hast.« Pietro überlegte kurz, zählte in Gedanken die paar Scheine zusammen, die er als eiserne Reserve noch zwischen den Hemden im Koffer versteckt hielt. »Was macht’s denn?« Kurts Antwort traf Bläser bis ins Mark: »Dreizehn.« »Dreizehn?« Bläsers Frage klang wie der krächzende Schrei eines Raben. Kurt nickte. »Dreizehn Blaue.« Ja, erläuterte er, die Reparatur sei schon etwas umfangreich gewesen – Ausdellen, Spachteln, Anschleifen, Grundieren, Lackieren. Am Preis gebe es aber nichts zu meckern, denn die Würzburger hätten allein schon fünfhundert gewollt, sagte Kurt mit stahlharter Stimme. Wieder herrschte für einen Moment Stille. Bläser stützte sich mit beiden Armen am Auto ab, hustete herum, schnaufte tief durch. Dreizehnhundert Mark, das war ein Schock. Er hatte vielleicht mit der Hälfte gerechnet, sich insgeheim aber was mit vierhundert Mark maximal gedacht, aber doch nicht dreizehnhundert. Dafür konnte man ja schon fast ein neues Auto kaufen. Mit Kurt würde freilich nicht zu verhandeln sein. 307
Wahrscheinlich war diese Einnahme sein gesamter Monatsverdienst, vielleicht musste er die Hälfte davon an die Frankfurter Mafiosi abgeben, die mit gezückter Klinge auf ihn warteten, hinzu kam noch das Geld für Selmas Kind. Bläser fragte nach einem Zettel, wollte sich die Kontonummer aufschreiben. »Ich überweis’ es dann.« Er hatte resigniert. Was blieb ihm auch übrig? Aber Kurt schüttelte den Kopf. »Bei mir gibt’s nur bar«, bestimmte er in einer Tonlage, die keinen Widerspruch zuließ. »Aber so viel hab ich …«, begann Bläser. »… nit dabei«, vollendete Kurt, nickte und ergänzte: »No Problem.« Er wolle ja sicher ohnehin eine Probefahrt machen, meinte Kurt. Und da seien sie auch mal schnell nach Würzburg reingerutscht, wo es Banken genug gebe. Dann könnten sie auch gleich bei der Werkstatt vorbeischauen, der Kurt die fünfhundert schulde. So viel Zeit nehme er sich gerne.
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Kapitel 14 Liebesgeschichten EINE AUSGESAUGTE FLIEGE IM SPINNENNETZ konnte sich nicht leerer fühlen als Moritz Schwab. Alles war hölzern an ihm. Sein Mund bestand aus zwei verstaubten Holzbrettern, einst Backen geheißen, zwischen denen ein modriger Holzscheit lag. Sein Kopf war eine einzige Holzkiste, sein Gehirn eine Aufschüttung von Sägemehl. Wie eine Marionette stolperte Schwab durchs Dorf dahin. Das einzige Lebendige an ihm, das er bewusst als solches wahrnahm, war das zu einem Scheiterhaufen gewordene Organ hinter seinem Brustbein. Gefräßige Flammen schlugen daraus hervor, gierig nach allem Hölzernen leckend, alles verbrennend. Der Schmerz tobte übermächtig, doch Morris freute jedes Stechen und Sengen. Sollte sein Herz doch seinen ganzen, hölzernen Körper verbrennen. Was scherte es ihn? Dieses Erdendasein kannte nur zwei Wesensarten: Sieger und Opfer, Glanz und Elend, Triumph und Asche. Für ihn blieb das Nichts. Schwabs hölzerne Glieder klapperten vor Entrüstung. Selma, dieser Regenbogen, über den Morris in eine fröhlichbunte Zukunft zu wandeln gehofft hatte, war ihm zur Todesgöttin geworden. Wie eine Tempelhure hatte sie sich dem besten Freund hingeworfen, und jener, eine Ausgeburt von Geilheit und Eigensucht, hatte seinen lüsternen Schädel skrupellos durch ihre wogenden Auen gewälzt. Sehnsüchtig flogen Schwabs Augen die Straße hinauf und hinab, auf einen daher donnernden Lastzug hoffend. Vergebens. Es waren nicht so sehr Zorn und Hass, was ihn durchbrauste. Es war Verzweiflung über sein eigenes Unvermögen. Er war ein romantischer Spinner, ein verträumter Idiot, der sich selbst im Wege stand. Warum konnte er nicht sein wie Bläser? 309
Geradeheraus, zielbewusst die Sucht befriedigend, jede Chance beim Schöpfe packend. Gestern morgen. Selma im Bademantel. Das wäre seine Zeit gewesen. Gleich hätte er sie packen sollen, aufs Ehebett werfen, seine und ihre Triebe befriedigen. Ja, sie hätte es gewollt, sie hatte doch regelrecht danach gegiert. Was aber tat er? Don Quichotte gleich, hatte er sich auf Windmühlen gestürzt, vom Eheleben geträumt, von seiner Vaterschaft gesponnen, während seine Dulcinea im kurzen Röckchen lüsterne Monteure empfing und sich im Treppenhaus dem einstigen Freunde, den sie doch gar nicht kannte, freimütig hingab. Noch immer war kein Schwertransporter in Sicht. Ein Schulbus hätte ihm auch gereicht. Schwab verfluchte dieses Dorf. Jedem daherlaufenden Pfarrer sprang unvermittelt unerwünscht ein zwillingsbereifter Lastzug in den Weg, während dem Verzweifelten, der dringend auf Erlösung hoffte, nur tumbe Passanten neugierige Blicke zuwarfen. Ihr Glotzen prallte wirkungslos an seiner hölzernen Fassade ab. War es nun Zufall oder schlicht der Gang der Füße, die unter ihm ziellos durch die Gegend irrten, jedenfalls war Schwab nach nicht einmal fünfzehn Minuten an jenem Haus angelangt, in dem sich die Freunde einquartiert hatten. Noch immer stand die Leiter im Kirschenbaum, lag der Eimer in der Wiese. Glücklicher Egon, dachte Schwab. Möglicherweise war er in der Zwischenzeit schon vom Elend des Irdischen erlöst, hatte er auf dem Operationstisch seine traurige, verwirrte Seele ausgehaucht. Armer Werners. Wo mochte er nur herumirren? Er war der einzige Freund, der ihm geblieben war. Bläser verdiente diesen Namen nicht mehr. Aber Schwab war zu sehr von Todessehnsucht getrieben, als dass er sich erneut auf die Suche nach Jaco hätte machen wollen. Zumindest tröstete ihn die Gewissheit, dass Werners ihm ein paar Tränen nachweinen würde, wenn sein Körper vollends in Asche übergegangen wäre. 310
Die Türe stand nach wie vor offen. Hatten sie vergessen, sie zu schließen, als sie sich auf die Suche nach Werners machten? Schwab war sich nicht mehr sicher. Aber es war ihm auch egal. Auf den letzten Metern zum Haus war seine Entscheidung gefallen, diesem Ort schleunigst den Rücken zu kehren. Seine Tasche wäre rasch gepackt. Für Werners würde er eine Nachricht hinterlassen. Sicher ging irgendwann am Nachmittag noch ein Bus nach Würzburg, von wo er mit dem Zug nach Hause käme. Und wenn kein Bus fuhr, dann würde er eben trampen oder notfalls zu Fuß gehen. Er hatte alle Zeit der Welt. Mit etwas Glück käme auch ein Lastzug daher, wenn er so am Straßenrand entlangliefe. Morris war so in Gedanken, dass er im Hausflur Rosalinde regelrecht über den Haufen rannte. »Hoppla!« rief die Wirtsfrau ganz erschrocken, dann torkelte sie rückwärts gegen die Türe der Parterrewohnung. Beide brauchten einen Moment, bis sie sich wieder gesammelt hatten. Rosalinde schnaufte schwer. »Nit so stürmisch, junger Mann«, stöhnte sie, dann überzog ein sanftes Grinsen ihr Gesicht. Schwab war’s nicht nach Grinsen zumute. »Tschuldigung«, bat er und versuchte, sich an der kleinen, dicken Person vorbei in die Wohnung zu zwängen. Rosalinde aber gab den Weg nicht frei. »Bist allein?« wollte die Sternwirtin wissen. Schwab nickte bloß. »Gut, dann rede halt mir zwei«, sagte die resolute Frau, und plötzlich saßen sie beide, obwohl Schwab alles andere als das gewollt hatte, auf den Stufen im Treppenhaus. Aber was hätte er machen sollen, nachdem ihn die Dicke am Arm gepackt und ihn, selbst schon im Niedersinken, mit sich auf den kalten Marmor der Treppe zog. Mit dem Egon gehe es schon viel besser, berichtete Rosalinde. Der blutige Kopf habe sich als Platzwunde erwiesen, und 311
ansonsten habe der Schwager wohl nur eine Gehirnerschütterung. Er habe auch gleich wieder nach Hause gewollt, der verrückte Kerl, lachte sie. Aber ein paar Tage werde er wohl im Krankenhaus bleiben müssen, hätten die Ärzte gesagt, und darum werde sie sich um ihres Bruders Angelegenheiten und das Haus kümmern. »Er hat gsacht, ihr könnt bleib, so lang wie ihr wollt, hat er gsacht«, versuchte Rosalinde eine eventuell aufkommende Besorgnis bei ihrem Gesprächspartner gleich im Keime zu ersticken. »Mir is des auch recht, wenn jemand im Haus is«, bekundete sie. »Also, so ein dumms Unglück.« Rosalinde kicherte in Gedanken an den Sturz Egons, den sie sich vor ihrem geistigen Auge ganz spannend ausmalte. Egon hatte ihr, den Schwestern, Pflegern und Ärzten erzählt, eine Windböe habe ihn von der Leiter geworfen; das schien ihm weniger peinlich als die Wahrheit. »Ach, was schwätz ich widder«, seufzte Rosalinde dann und musterte ihren Sitznachbarn aufmerksam. Irgend etwas stimmte mit dem Buben nicht. Das sah sie gleich. Er sah krank aus. Sehr krank. Die Pupillen des jungen Kerls lagen abgrundtief in den Augenhöhlen, die Lippen waren nicht mehr als zwei schmale Striche, blutleer. Das Haar zerzaust. »Hast Kummer?« fragte Rosalinde und merkte an dem leichten, unwilligen Aufbäumen des anderen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Schwab räusperte sich, mehr nicht. Nach Reden war ihm nicht zumute. Beide saßen sie da, die Hände vor sich auf dem Schoß gefaltet, die Augen auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, an der ein Luftbild des Egon’schen Hofes der einzige Schmuck war. Langes Schweigen. Der Bub war Unwillens, sich ihr anzuvertrauen. »Liebeskummer?« hakte die Wirtin nach. Das Gespräch gefiel Schwab überhaupt nicht. Längst wollte er mit seiner Tasche am Straßenrand entlangschlurfen und mit den 312
vorbeikommenden Lastzügen Russisches Roulette spielen. Statt dessen saß er auf den kühlen Treppenstufen und wurde von einer ihm im Grunde genommen völlig unbekannten Frau belabert. Nein, er war nicht willens, ihr auch nur eine Silbe seines Schicksals Preis zu geben. Sie gehörte zum gleichen Stamm wie Selma, war sicher genauso unzuverlässig und hinterlistig und hoffte nur auf ein Thema, das sie am Abend in der Küche des ›Stern‹ ihrem Josef ausbreiten konnte, damit dieser wiederum seine Gäste damit unterhielt. Schwab graute bei dem Gedanken, wie sich der Baatsch und der Apostel beim allabendlichen Schoppensaufen in der Kneipe über seine Misere unterhalten würden, hörte schon ihre dreckigen Bemerkungen über sein Versagen und ihre Beifall spendenden Zoten über Bläsers Erfolg. Nein, er würde schweigen. Und die Alte, die sollte sich aus dem Staub machen. Die kleine Dicke seufzte. »Ach, jaaa.« Ihr ganzer Oberkörper war ein sanftes Nicken, wogte walrossig hin und her. »Die Liebe.« Schwab konnte aus dem Augenwinkel verfolgen, wie sich Rosalindes Gesicht verklärte. Mit einem Mal wirkte sie wie entrückt, starrten ihre glänzenden Augen in ferne, vergangene Zeiten. »Ach, jaaa.« Schwab musste unwillkürlich an den Ruf eines verzweifelten Esels denken, an das aussichtslose »i-a« der Freunde des kleinen Pinocchio, nachdem sie ihre menschliche Gestalt verloren hatten. Bitte, schweig, alter Esel, flehte Schwab in seinem Innersten. Urplötzlich, viel schneller, als dass Morris darauf hätte reagieren können, fuhr die Wirtsfrau ihren Arm aus und legte ihn, so weit es seine begrenzte Länge zuließ, um Schwabs Schultern. Dieser wagte nicht, die Wurst abzustreifen. Gerade in den letzten Stunden des Lebens, in denen sich Schwab wähnte, wollte er niemanden kränken. Rosalinde schien in der Ferne, hinter dem Mauerwerk, 313
entdeckt zu haben, wonach ihre feuchten Augen gesucht hatten. »Summer sechsefuffzig war’s«, erinnerte sie sich. Und dann sprudelte aus ihrer Schnute eine ganz unerwartete Geschichte hervor. Sie war gerade aus der Schule gekommen, hatte ihren Job als Metzgereiverkäuferin angetreten (eine Lehre im heutigen Sinne war das nicht, denn was man lernte, war Putzen und auf die Kinder der Meistersfrau aufzupassen), da lernte sie Bruno kennen. Wie es der Zufall gewollt hatte – und was im Leben sei nicht vom Zufall gewollt und geschickt eingefädelt, selbst wenn’s ein Unglück sei (hier lächelte Rosalinden sanft) –, hatte Bruno damals den Laden betreten, als sie, Rosalinde, die Türe gerade auf Anweisung des Meisters abschließen wollte. Die Zeit der Mittagspause war gekommen. Die Meisterfamilie hatte sich bereits in den hinteren Teil des Gebäudes zurückgezogen, wo die Privatgemächer waren und das Mittagessen auf dem Tisch stand. Rosalinde sollte nach dem Auskehren des Verkaufsraumes sogleich folgen. »Mir hömm scho zu«, hatte das Lehrmädchen dem großen blonden, feschen Kerl gesagt und dann, allerdings eher halbherzig denn energisch, versucht, die Türe vor ihm zu schließen. Doch Bruno hatte seinen staubigen Schuh dazwischengestellt und sie mit seinen braunen Augen verschlungen. »Komm, nur e paar Wienerli«, hatte er gefleht, und Rosalinde war bei diesem Satz verloren gewesen, hatte ihm die Wienerli verkauft und dem Fremdling ihr Herz obendrein als kostenlose Zugabe mit eingepackt. Schwab gab seinen Widerstand auf. Freilich, was interessierte ihn dieser Bruno, was juckten ihn die Liebesabenteuer zwischen Fleischsalat und Krakauer? Doch auf eine Stunde mehr oder weniger kam es ihm jetzt nicht mehr an. Lastzüge fuhren den ganzen Tag, und wenn nicht, dann eine Eisenbahn am Abend. Bruno, so berichtete die Wirtsfrau weiter und nahm nun 314
endlich ihren Arm von Morris Schulter, um die feuchte Hand an der Seite ihres Rockes abzutrocknen, habe damals bei einer Baufirma gearbeitet, die quer durchs Dorf Kanalrohre verlegte. Nach ihrem ersten Treffen sei er dann täglich gekommen, jeweils einen Wimpernschlag vor Beginn der Mittagspause. Immer habe er ein paar Wienerli verlangt. Schon beim fünften Paar Wiener habe er ihren jungen Körper – »ich war e feschs Madie damals, gell?« – an sich gepresst und ihr den ersten und zugleich schönsten Kuss ihres Lebens gegeben. Dazu habe er ihr auch Anweisung gegeben, wo sie sich am frühen Abend einzufinden habe. So kam es schließlich, dass sich in den vier Wochen, da Brunos Firma die Dorfstraßen aufgrub, mit Rohren füllte und wieder zuschüttete, das junge Glück regelmäßig zur Mittagszeit bei einem Paar Wiener zum Kuss vereinte und am Abend an der Marienkapelle draußen in den Weinbergen ein zweites, längeres Mal zum Austausch von Zärtlichkeiten einfand. Immer neue Ausreden habe es gebraucht, so schmunzelte Rosalinde, um die Eltern hinters Licht zu führen, was aber nur anfänglich gelungen sei, weil dann eines von den Dorfweibern das verliebte Paar zufällig beobachtet und dem Vater das Geheimnis getratscht habe. Trotz des fürchterlichen Krachs und aller Verbote daheim fand Rosalinden weiter den Weg hinaus in die Weinberge in die Obhut der Gottesmutter, die sie im übrigen bei den Treffen in der ihr geweihten Kapelle in vielfacher Weise beschützt habe. Hier machte Rosalinde ein Kreuzzeichen über Stirn und Brust hinweg. Schon nach wenigen Tagen habe Bruno sie stürmisch bedrängt, mit ihr die Geheimnisse der Liebe zu erkunden, doch sei es ihr stets gelungen, das Schlimmste zu verhindern. Einmal, als sie schon fast zu schwach gewesen sei, seinen fordernden Händen weiteren Widerstand entgegenzusetzen, habe sie ganz deutlich gehört, wie sich die Marienfigur in der Kapelle räusperte. Ganz streng sei Mariens Blick geworden und 315
daraufhin ganz stark der abwehrende Arm Rosalindens, der Bruno dann doch noch in die Schranken weisen konnte. Während sich Morris noch über die Offenheit der kleinen Dicken wunderte, die ihm als Wildfremden ihre ersten Liebesabenteuer ausbreitete, hatte Bruno, besser gesagt, seine Firma auch schon das Dorf wieder verlassen. Man war im Streit geschieden, berichtete die Wirtsfrau, in deren Augen es nun arg feucht wurde. Bruno habe am letzten Abend »unbedingt gewollt« und sie mit Treueschwüren überhäuft. Sie aber war standhaft geblieben. Wenn er sie wirklich liebe, so hatte sie ihm ins Stammbuch geschrieben, dann würde er sich noch etwas gedulden können. Bruno hatte dann mit sanfter Gewalt sein Glück versucht, doch die Gottesmutter wusste den Frevel in ihrer Kapelle zu verhindern. Rosalinde gelang es, sich der starken Armen ihres Liebhabers zu entwinden. Heulend war sie ein Stück weit geflüchtet, war dann stehengeblieben und hatte, den Blick zurück auf den Geliebten gerichtet, auf einen Neuanfang gehofft, doch Brunos wetterbraune Wangen hatten sich ärgerlich rot verfärbt, und sein weicher Mund hatte »blöde Zicke!« gezischt. Da war das Mädchen tränenüberströmt nach Hause gelaufen. Von Bruno, der angeblich in Schweinfurt wohnte, sah und hörte sie zeitlebens nichts mehr. »Mer is wie dod«, sagte die kleine Frau und tätschelte wie zur Bestätigung Schwabs hölzerne Oberschenkel. »Awer es Lewe geht weider«, ergänzte sie, und ihr Josef sei eigentlich ein feiner Kerl, wenn auch nicht das, was sie gesucht habe. Schwab hatte, während Rosalinden in der Marienkapelle mit Bruno um ihre Unschuld rang, in Gedanken Selma besucht. Sie stand in einem halboffenen Bademantel, der ihre Brüste völlig freigab, in der Küche, umringt von Werkstattmeister Kurt, von einem Wasserinstallateur und von Bläser, dazu am Tische sitzend – jeweils ein Schoppenglas vor sich und lüstern grinsend – der Apostel und der Baatsch. Alle fünf waren bei seinem Eintreten in schallendes Gelächter ausgebrochen. Schwab 316
spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete, langsam die Kehle hochstieg, wie er am Kehlkopf vorbei weiter nach oben pullerte, um sich in den Augenhöhlen in Tränen aufzulösen. Er schlug die Hände vors Gesicht. »Aber ich hab sie doch so lieb«, schluchzte er, nun, da ihn nichts mehr hielt. Rosalinde nahm Abschied von Bruno und legte wieder den kurzen Arm um die Schultern des heulenden Geschöpfes an ihrer Seite. So verharrten sie eine ganze Weile. Schwab heulte, und Rosalinde wiegte ihn mütterlich in ihren Armen. »Au weh, jetzt muss ich awer los«, erschrak die Wirtsfrau plötzlich. Bis zur Beerdigung sei nicht mehr lang, sie müsse sich noch umziehen, und jetzt habe sie in all der Aufregung den Josef vergessen, der doch die Zulieferungen für den Leichenschmaus regeln müsse. »Gehst mit in die Kirch?« fragte sie Schwab, und weil dieser gar so unverständig glotzte, ergänzte sie: »Der Herrgott hat e Herz für die Leidenden und die Maria grad erst recht.« Sanft stieß ihre Hand an Schwabs Schulter. »Auf, komm, des hilft, des is grad des, was de jetzt brauchst.« Morris schüttelte den Kopf. Wie konnte eine Beerdigung gerade das sein, was er brauchte? So ein Unsinn. Dann aber dachte er, dass sicher auch Selma in der Kirche sein würde. Und er spürte mit einem Mal das unbändige Verlangen, dieser Schlange das ganze Leid vor Augen zu führen, das sie ihm angetan hatte. »Ja«, hustete er und dachte: Ja, sollte Selma ruhig sehen, wie sie ihn zugrunde gerichtet hatte. Die kleine Dicke freute sich unbändig. »Hast was zum Anziehn?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, denn sie wusste, dass Schwab nichts dergleichen in seinem Koffer haben würde, und trampelte die Stufen hoch in Egons Wohnung. Es rumorte droben, Schranktüren flogen, Schubladen klapperten. Es dauerte einige Minuten. Dann kam Rosalinde zurück, über den Arm eine schwarze Hose, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und schwarze Socken gelegt »Guck emol, ob’s passt«, 317
bat sie und entschuldigte sogleich, dass sie keine Schuhe anbieten könnte. »Der Egon lebt auf klenne Füß«, grinste sie, blickte zur Uhr und keuchte ein erschrockenes »Jetzt muss ich awer! Also, bis nachher.« Die Wirtsfrau eilte davon, die Klamotten in Schwabs Arme drückend. Schwarz! Ja, das war die richtige Farbe für ihn. Selma würde staunen. Annemarie hatte alles richtig gemacht. Ärzte und Pflegepersonal waren voll des Lobes für das umsichtige Handeln des Mädchens, das dem Vater dadurch höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte. »Mit Herzinfarkt ist nicht zu spaßen«, hatte der Stationsarzt gesagt, ein älterer Herr mit halbierten Brillengläsern, und sich dabei bemüht, ernst und freundlich zugleich zu schauen. Nun aber könne sie nichts weiter für den Patienten tun, versicherte der Arzt. Kilian sei vermutlich noch einmal davongekommen, doch endgültige Gewissheit könne man erst in ein paar Tagen haben. Nur ganz, ganz kurz hatte Annemarie dann nochmals ans Krankenbett des im Gesicht bleichen, fast wächsern wirkenden Vaters gedurft. Der graue Bart, der ansonsten so weiß auf dem braunen Gesicht schimmerte, wirkte im Kontrast zu den bleichen Wangen nahezu schwarz. »Du musst die Kirch mach, du«, hatte der Alte gestöhnt, und Annemarie merkte gleich, wie der Schwerkranke sich aufzuregen begann, weil den Mesner die Sorge um das Gelingen der Beerdigungsfeier umtrieb. Natürlich wäre Annemarie viel lieber beim Vater im Krankenhaus geblieben, doch das wurde ihr nicht erlaubt. Das war auch gut so, denn noch längeres Verweilen hätte für den Vater den sicheren Tod bedeutet. Seine Befehle, durch diesen leisen, dringenden Satz, mehr aber noch durch seine wilden Blicke unmissverständlich gegeben, waren klar: Annemarie sollte für ihn heute, an diesem ungemein wichtigen Tag, das Mesneramt übernehmen. Der Ruf der Familie stand auf dem Spiel. Würde das Mädchen noch lange 318
zaudern, dann stand ein zweiter Herzinfarkt zu befürchten. Brav und pflichtbewusst folgte die Tochter dem Auftrag des Vaters. Es waren glückliche Umstände, dass Kilians Tochter auf dem Flur des Krankenhauses die Ehefrau des Sternwirtes, Rosalinde, traf. Die gemütliche Dicke kam soeben aus dem Krankenzimmer Egons, ihres Bruders, und bot Annemarie ohne Zögern an, sie im Auto mit nach Hause zu nehmen. So war für reichlich Gesprächsstoff auf der Fahrt gesorgt, denn weder hatte Annemarie etwas von Egons Missgeschick mitbekommen noch Rosalinde Kenntnis von den schlimmen Malästen des Kilian erlangt. Das Jammern und gegenseitige Bemitleiden war groß, und wäre es nach Rosalinde gegangen, dann hätte die Fahrt ins Dorf an diesem Tag noch eine halbe Stunde länger dauern können. Andererseits hatte sie von Egon den Auftrag, noch rasch nach seinem Haus zu sehen, und bis zum Kirchgang blieb auch nicht mehr allzuviel Zeit. Auch Annemarie drängte es. In der Kirche gab es noch einiges zu tun, bevor die Feierlichkeiten beginnen konnten, und umziehen musste sich das Mädchen auch noch. So machten es die beiden Frauen mit dem Abschied kurz. Man würde sich ja gleich wiedersehen, eventuell sogar beim Leichenschmaus, denn dort würde es Helferinnen beim Auftragen der Speisen und Getränke brauchen, und solche Aufgaben konnten einem noch in letzter Minute zufallen. Da brauchte man nur dem Spohr über den Weg zu laufen. Es war schon seltsam. Weniger als eine Stunde zuvor war Moritz Schwab wie ein leerer, hölzerner, auf Stelzen montierter Vogelkasten durch das Dorf gestakst, willens, sich der nächstbesten Zwillingsbereifung anzuvertrauen, doch nun ging er hocherhobenen Hauptes, das Gesicht vor Eifer gerötet. Rache glühten die Wangen auf dem Weg zur Kirche. Oh ja, Selma sollte Anteil haben an seinem Leid, sollte in schlaflosen Nächten schweren Gewissens sich wälzen in verschwitzten Bettlaken, ohne dass der Verzweifelten dabei Erleichterung zuteil würde. 319
Was an Schwab noch auffiel, waren seine einstmals weißen, inzwischen graubraun gedunkelten Turnschuhe. Schwab hatte sich wegen des weißen Hemdes für sie entschieden, da die Alternative, seine noch im Koffer steckenden hellbraunen Lederschuhe, seiner Ansicht nach überhaupt nicht gepasst hätten. Obwohl die Turnschuhe relativ hoch reichten, blieben zwischen der Unterkante der schwarzen Hosenbeine und Oberkante Schuhe mindestens fünf Zentimeter frei. Die schwarze Hose war zwar kurz, trug sich am Bauch jedoch erstaunlich gut. Allerdings machte dort das weiße Hemd Probleme, da es kaum fingerbreit im Hosenbund steckte. Morris musste deshalb aufpassen, nicht zu engagiert mit den Armen zu schwingen, um das Hemd nicht aus der Hose zu ziehen. Überhaupt die Arme: Morris hatte sich schließlich entschieden, die Hemdsärmel bis hinter die Ellbogen zurückzukrempeln. Alles andere war sinnlos, reichten die Ärmel ausgerollt doch auch nicht viel weiter. Stolz war Schwab auf seinen Krawattenknoten. Dieser war ihm nach mehreren Anläufen ganz gut gelungen. Trotz der Hitze hatte sich Morris entschieden, die Krawatte bis zum Adamsapfel zuzuziehen. Schon sammelte sich der Schweiß an der Krageninnenseite, aber das scherte den jungen Mann nicht, hatte er in den letzten Stunden doch weitaus schlimmere Pein ertragen müssen. In der Kirche war es angenehm kühl. Bankreihen links und rechts, ein Mittelgang, außen jeweils ein schmaler Gang, links drüben ein Beichtstuhl, der Altar vorne in ein Blumenmeer getaucht. Viele waren noch nicht da. Ein paar alte Leute. Einige Kinder. Säuberlich getrennt vorne rechts die Buben, links, wo in einer kleinen Nische auch eine Marienfigur stand, wo kleine Kerzen flackerten, die Mädchen. Der eigentliche Gottesdienst schien noch nicht begonnen zu haben. Kein Pfarrer war zu sehen. Schwab ließ seine Augen mehrfach über die Bankreihen wandern. Von Selma noch keine Spur. Sie würde sicher später kommen. Erst musste ja der Balg noch in den Kindergarten 320
gebracht werden. »Gegrüßest seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern …«, hob plötzlich eine glockenhelle Mädchenstimme an. Das kam von ganz vorne. Sofort begann ein allgemeines Holzknarzen und Rascheln, von einzelnen Seufzern durchzogen. Alles arbeitete sich auf die Knie, stemmte sich in die Holzbänke. In die helle Mädchenstimme – Schwab vermutete, dass sie einer großgewachsenen Blonden gehörte, die vorne links in der ersten Reihe am Eck kniete – mischte sich der Singsang der Frauen. Ein, zwei alte Männer brummten scheinbar gelangweilt mit. Schwab wusste nicht so recht, für welchen Sitzplatz er sich entscheiden sollte. Einerseits wollte er sich nicht in den Vordergrund drängen, andererseits sollte Selma ihn auch während des Gottesdienstes sehen können, damit jeder Blickkontakt bei ihr einen neuen Schub an Schuldbewusstsein auslösen konnte. »… bitte für uns Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.« Morris erschrak über die plötzliche Stimme direkt neben ihm. Unhörbar war ein Mann, etwa mittleren Alters, im glänzenden schwarzen Anzug neben Schwab getreten. Er musterte Morris kritisch, überzog sein angestrengtes Gesicht jedoch mit einem bemüht freundlichen Lächeln, als sich ihre Blicke trafen. Schwabs rotgeweinte Augen beklagten für den Pfarrgemeinderatsvorsitzenden Rüdiger Spohr unzweifelhaft das Leid des Verwandten, und wie elend es dem Neffen Heusingers ging, zeigte die Kuriosität seines Anzuges, aus dem verwirrte Trauer sprach. Gerührt streckte Spohr dem Unbekannten die Hand entgegen. »Spohr«, zischte Spohr und zauberte so etwas wie ein Lächeln in seine Mundwinkel. Dann fügte er, nachdem der junge Mann nicht reagiert hatte, hinzu: »Pfarrgemeinderatsvorsitzender.« 321
Schwab nickte verwirrt. Die Sitte, dass jeder Gottesdienstbesucher zu Beerdigungsfeiern per Handschlag begrüßt wurde, war ihm neu, auch hatte er dergleichen beim Eintreffen der vor ihm im Kirchenschiff erschienenen Gläubigen nicht beobachtet. Er entschloss sich, der Angelegenheit keine weitere Bedeutung beizumessen. Möglicherweise fand diese Sitte nur bei Ortsfremden Anwendung. Schwab ließ Spohr Spohr sein und hielt erneut Ausschau nach Selma, die doch jeden Moment erscheinen musste. »… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat.« Der arme Junge. Spohr zauderte noch etwas, doch dann legte er mutig seine Linke auf die rechte Schulter des Leidenden und schob den Fremden nach vorne. Schwabs erschrockenem Blick setzte er ein liebevolles Augenblinzeln entgegen, dabei verstärkte er den Druck der linken Hand. Gemeinsam schritten die beiden nun den Mittelgang der Kirche nach vorne, immer weiter, an allem Gemurmel, an allen neugierigen Blicken vorbei, bis sie auf Höhe der ersten Reihe unmittelbar vor dem Altar zu stehen kamen. Links wie rechts waren die beiden vordersten Kirchenbänke frei, dahinter erst knieten die Mädchen und Buben, säuberlich getrennt. Nur ganz vorne links, da kniete das Mädchen mit dem engelsblonden Haar, das mit glockenheller Stimme vorbetete. »Der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit«, sagte sie jetzt, und Spohr wies Schwab in die gegenüberliegende, rechte Kirchenbank. Was blieb Morris übrig? Vorsichtig schaute er sich um, spürte die Blicke der versammelten Gemeinde auf sich ruhen. Also zwängte er sich in die Bank, vorbei an dem auf dem ersten Sitzplatz liegenden Zettel, auf dem in großen schwarzen Buchstaben »Reserviert« stand. »Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder.« Wieder erst die helle Stimme, dann das gemeinsame Echo der 322
Gläubigen. Schwab setzte sich. Das zu kurze Hemd rutschte ihm hinten aus der Hose. Besser, er kniete wie die anderen auch. Im Knien ließ sich das Hemd auch einfacher wieder in den Hosenbund schieben. Herrlich war der Altar geschmückt. Weiße und gelbe Nelken. Auch was Lilafarbenes war dabei. Wo nur Selma blieb? Erst jetzt, da er kniete, wurde Morris klar, dass er keinen ungünstigeren Platz hätte kriegen können. Nach hinten hatte er überhaupt keine Sicht. Wollte er die Neuankömmlinge im Gotteshaus sehen, so musste er sich mit dem ganzen Oberkörper umdrehen, was zur Folge hatte, dass ihm jedes Mal das Hemd aus der Hose rutschte. Vor ihm aber war nur der Altarraum – ein Bereich, in den Selma nie und nimmer vordringen würde, bestenfalls zur Kommunion, wobei fraglich war, ob es die Sünderin überhaupt wagen würde, die Hostie zu erbitten. Rechts von ihm war nur die Wand, an der ein Kreuzwegmotiv, ein Relief aus Holz, hing, und links, da konnte Morris, wenn er sich ungeniert hinüberdrehte, das Profil der Vorbeterin sehen, eines ausgesprochen hübschen Mädchens, das nun aber verdeckt wurde, weil sich ein Mensch in Mönchskutte zu ihm in die Bank schob, Schwab mit einem solch breiten Grinsen begrüßend, als gehe es hier nicht um einen Trauerfall, sondern darum, auf einem Volksfest mit Freunden Brauereibänke zu belagern. »… der für uns Blut geschwitzt hat«, murmelte die Gemeinde. Schwab wandte sich vom Neuling ab, richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne. Was nebenan geschah, blieb ihm freilich nicht verborgen, weil der Banknachbar keinen Wert auf Diskretion legte. Umständlich, hier und da die Kutte raufend, seufzend das Gewand an den Beinen hochziehend, dann wieder nach unten streichend, ging der Pater in die Knie. Ein kurzer Blick Schwabs genügte, und der Ordensmann legte wieder 323
dieses breite Grinsen auf, das seine dicken Backen in Richtung Ohren schob. »Gegrüßest seist du, Maria, voll der Gnade.« Der Mönch fiel mit tiefem Brummen in den Singsang ein, kramte aus der Kutte einen Rosenkranz mit dicken Holzperlen hervor und ließ ihn durch die Finger gleiten. Schwab dämmerte allmählich, dass er einen Fehler gemacht hatte. Zwar zweifelte er noch immer nicht daran, dass es richtig war, die Kirche aufzusuchen und sozusagen als Geißler in eigener Sache Selma die Widerwärtigkeit ihres Handelns einzupeitschen, doch ärgerte ihn, wie er sich von diesem Spohr hatte überrumpeln und in die vorderste Bank dirigieren lassen, wo ihm auch noch die unmöglichsten Banknachbarn zugewiesen wurden. »… in der Stunde unseres Todes. Amen.« Schwab war fast schon entschlossen, sich zu erheben und sich einen anderen Platz weiter hinten im Kirchenschiff zu suchen, als zwei schwarz-weiß gekleidete Ministranten links von ihm, ganz drüben im schmalen Durchgang zwischen Kirchenbänken und Wand, nach vorne liefen und seine Aufmerksamkeit erregten. Während der eine dicke Bücher in Händen trug, die er am Ambo ablegte, hatte der andere mehrere kleine sackartige Behältnisse in der Hand, die er seitlich vor dem Altar auf den Boden bettete. Drei, vier mochten es sein. Sie bestanden – das konnte Schwab von seinem herausragenden Platz gut erkennen – aus einem roten samtenen Stoff, der oben von einer Art goldenem Ring zusammengehalten wurde. Raffsäckchen, dachte Schwab unwillkürlich. Von diesem Ring wiederum standen zwei Griffe ab, beide vis-à-vis, die einstmals auch golden gewesen sein dürften, deren braun-hölzerner Kern jedoch, offenbar vom Schweiß der vergangenen Jahrzehnte, wieder deutlich an die Oberfläche gekommen war. »Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name …« 324
Die Kirche füllte sich. Schwab, der sich allen Gepflogenheiten der schüchternen Demut zum Trotz mutig umgedreht hatte, schaute in ein Meer von Schwarz-Weiß, hinter dem es nun allerdings bunt wurde. Ein heftiges Trippeln und Trappeln begann, ein wenig Geklappere dabei. Der Einzug der Fahnenabordnungen, vier an der Zahl, jeweils bestehend aus einem Fahnenträger und zwei Begleitern, war Ursache des Lärms. Schwab konnte die Delegationen ausgiebig mustern, da sich die zwölf Herren – Frauen waren keine darunter – links im Altarraum aufbauten, wo Morris jetzt auch zwei Bänke auffielen, die offenbar eigens als Rastplätze für die Fahnenträger dorthin geschafft worden waren. Die Spitze bildeten die drei Herren der Feuerwehr in blauer Uniform, reich mit goldenen Streifen bestickt, mit funkelnden Knöpfen an den Jacken und roten Helmen auf dem Kopf. Die Fahne, die der in der Mitte gehende Mann vor sich her trug, zeigte einen Römer, der aus einem Holzeimer Wasser auf ein brennendes Haus goss. Während der Fahnenträger und sein links von ihm marschierender Kollege mit stolz geschwellter Brust recht zackig ihre Plätze einnahmen, zeichnete sich der Dritte im Bunde, ein mächtig dicker Mensch, vor allem durch sein schweißnasses Gesicht aus. Der Helm. Sicher war das schwere Ding schuld daran, dachte Morris. Was brauchten sie auch mit dem Helm daherzukommen? Der Dicke würde in der nächsten Stunde vermutlich nicht nur einmal diesen Tag samt seiner Beerdigung und samt dem toten Pfarrer verfluchen. Schon jetzt griff er nach einem riesigen Taschentuch, das er sich, auf der Handfläche ausgebreitet wie eine Servierplatte, nun ins nasse Gesicht klatschte, um sich damit wild über Stirn und Wangen zu reiben. »… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns gegeißelt worden ist.« Neben der Feuerwehr bauten sich nun drei Männer in grünen Uniformen auf. Sie waren unter mächtigen Hüten 325
hereinmarschiert und schauten sich nun unsicher an, ob sie diese Zeichen ihrer Würde vor dem Altar ablegen oder doch besser, der Vollständigkeit ihrer Pracht zuliebe, auflassen sollten. Man entschied sich fürs Absetzen, wohl auch wegen der Wärme, die mit steigender Zahl der Kirchenbesucher in das anfangs noch kühle Gotteshaus eingezogen war. Auch wurde die Luft zunehmend stickiger. Schwab tippte auf Jäger, verbesserte sich dann aber auf Schützen, nachdem er auf dem Banner eine Zielscheibe mit schwarzen Kreisen hatte erkennen können. Das nächste Trio war einfach schwarz, ihre Fahne dagegen vorwiegend rot und golden. Für den Ortsfremden war beim besten Willen nicht auszumachen, wohin er die ernst blickenden Gestalten stecken sollte. Sicher etwas Kirchliches, meinte Schwab. Den Abschluss der Abordnungen bildete schließlich ein eher bunter Haufen. Nun, der Begriff bunt war vielleicht übertrieben, doch hatte es außer beim Fahnenträger selbst offenbar nicht zum dunklen Anzug gereicht. Während der eine Begleiter eine dunkelblaue Hose und ein weißes kurzärmeliges Hemd trug, auf ein Jackett gänzlich verzichtend, war der andere Mann in einen beigen Sommerblouson gekleidet, der einen deutlichen Kontrast zu seiner schwarzen Hose bildete. Die Truppe, fand Schwab, machte ihrem Verein alle Ehre. »Verschönerungsverein 1953« war auf der großen, grünblauen Fahne zu lesen, die ihr aufmerksamer Träger zur besseren Lesbarkeit weit von sich streckte, wodurch das Banner offen von der Fahnenstange fiel. »Gegrüßest seist du, Maria, voll der Gnaden …« Es kamen noch mehr. Schwab musste bis ans äußerste Ende seiner Bank hinausrutschen, wobei ihn der Pater, stets freundlich lächelnd, vor sich her trieb. Pfarrgemeinderatsvorsitzender Spohr hatte einer Frau um die fünfzig, die von zwei jungen Burschen begleitet wurde, die freien Plätze in der vordersten Kirchenbank angewiesen. Die Frau, in ein zu enges schwarzes Kostüm gezwängt, hatte ein recht verheultes Gesicht. Die beiden 326
Knaben im besten Pubertätsalter zeigten demonstrativ männliche Stärke und versuchten sich in betont lässiger Miene. Möglicherweise die Schwester des toten Pfarrers samt Söhnen, mutmaßte Schwab, während er sich das wieder einmal aus dem Bund herausgerutschte Hemd in Egons Hose stopfte. Der Pater neben ihm begann nun umständlich mit den Armen zu gestikulieren und sich hin und her zu beugen, wobei er ganz offensichtlich mit Schwab in Kontakt zu treten wünschte. Dem Mönch drängte es zweifellos danach, Morris den Platz links von ihm und somit neben der verheulten Frau anzuweisen. Offenkundig hielt er es für besser, wenn in der Bank Verwandtschaft neben Verwandtschaft zu sitzen käme. Und alles sprach ja dafür, dass hier familiäre Beziehungen bestanden, denn was hätte Schwab sonst in der ersten Reihe zu suchen gehabt? Diese Rochade war jedoch in keiner Weise in Schwabs Interesse, der deshalb sitzenblieb, als gehe ihn das alles nichts an. Schwabs Sturheit wiederum spornte den Pater noch an. Der Kuttenträger zwängte sich an Schwab vorbei aus der Kirchenbank, dabei diesen unablässig mit seinem freundlichen Lächeln segnend, machte dann sogleich die Kehre und drängte von außen so penetrant wieder in die Bank, dass Schwab schließlich gar nichts anderes übrig blieb, als nach innen zu rutschen und zur Trauerfamilie aufzuschließen. Während sich der Pater nach getaner Arbeit erleichtert auf dem Außenplatz niederkniete, schenkte die verheulte Frau Morris nur einen kurzen, verwirrten Blick. Die Söhne dagegen musterten den neuen Nachbarn kritisch, ja, fast feindlich, als fürchteten sie um die Erbschaft. Wo nur Selma blieb? Schwab drehte sich erneut herum, doch nun war nach hinten nichts mehr zu sehen als kniende Menschenreihen mit nach vorne gerichteten, gespannten Gesichtern. »Vater unser im Himmel, geheiligt …« 327
Annemarie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie sich über Spohrs Anschlag eher freuen oder eher ärgern sollte. Den Mesnerdienst, so hatte er ihr in der Sakristei verkündet, würde er nach Kilians unglücklichem Ausscheiden heute selbst übernehmen. Die Messgewänder lagen schon bereit, die Kerzen in der Kirche flackerten bereits, als das Mädchen ins Gotteshaus gekommen war. Auch das Messgeschirr hatten Spohr samt Ehefrau und zwei Töchtern schon auf Hochglanz poliert. Worum Spohr Annemarie allerdings bat, war, den Rosenkranz vorzubeten. Das sei zwar sonst unüblich, meinte der Pfarrgemeinderatsvorsitzende, dem heutigen Anlass jedoch angemessen. Das Mädchen willigte ein, wenn ihm auch nicht recht einleuchtete, weshalb die Gemeinde, die sonst in eigener Regie den Rosenkranz anstimmte und dann zweiflügelig, also im Kanon wechselnd zwischen linken und rechten Bankreihen das Gebet sprach, dies heute nicht auch könnte. Spohr hatte Kilians Tochter bewusst seinen Hintergedanken verschwiegen, nämlich dass der hohen Geistlichkeit und den Würdenträgern eine glockenhelle, gut verständliche Stimme sicher besser gefiele als der monotone Singsang der Gläubigen. »… der für uns mit Dornen gekrönt worden ist.« Annemarie musste beim Vorbeten nur darauf achten, dass sie das jeweils richtige Geheimnis zum richtigen Zeitpunkt erwischte. Der restliche Rosenkranz betete sich ohne jede Anstrengung, ja, ohne jedes Nachdenken darüber weg. Wie viele hundert, vielleicht tausend Male hatte sie das Rosenkranzgebet gesprochen! Nicht nur in der Kirche. Jeden Abend hatte es die Mutter früher in der Küche vor dem Kruzifix gebetet, bevor sie sich zu Bett begab. Annemarie, das eine Ohr am Kissen, das andere gespannt auf der Mutter Stimme gerichtet, hatte so schon von frühester Kindheit an die Texte gelernt. Je nachdem, welchen Rosenkranz die Mutter wählte – den freudenreichen, den schmerzhaften, den glorreichen –, konnte man ihre Stimmung herauslesen. Meist war es der schmerzhafte gewesen, 328
vor allem seit ihrer schweren Erkrankung. In ihren letzten Wochen aber, das sprach für ihre Jenseitshoffnung, hatte der glorreiche Rosenkranz dominiert. Ihn hatten der Vater und Annemarie auch an ihrem Totenbett gesprochen. »… der dich, o Jungfrau, in den Himmel aufgenommen hat.« Annemarie musste, von der Macht der Gefühle überwältigt, kurz aussetzen und ließ sich vom Singsang der Gemeinde treiben. Fast wäre sie abgekommen vom Text, wollte schon die glorreiche Version fortsetzen, merkte aber dann ihr Missgeschick noch rechtzeitig. Über alles durfte man nachdenken beim Rosenkranzgebet, nicht aber über die verschiedenen Texte. »Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder …« Nun waren sie wieder beieinander, Gemeinde und Annemarie. Wie es dem Vater jetzt wohl gehen mochte? Eigentlich hatte sie ein gutes Gefühl. Die Ärzte waren zuversichtlich gewesen, hatten nicht den Anschein erweckt, als könnte Kilians Leben in Frage gestellt sein. Annemarie war insgeheim froh, dass dem Vater dieser Gottesdienst erspart blieb. Wenn ihn schon die Aufregung der Vorbereitungen so mitnahm, ja, regelrecht umwarf, wie hätte er dann die große Feierlichkeit selbst und vor allem Spohrs Dreistigkeit, Mesneraufgaben für sich zu beanspruchen, weggesteckt? »Der Rüdiger«, so hatte sich der Vater einmal beim Abendessen versprochen, »is en aufgeblasener Pfau. Nur Schau und Angewerei, sonst nix.« Und dann hatte er in sein Hausmacherwurstbrot gebissen, dass es knirschte. Ja, der Vater schien recht zu haben, was den Spohr betraf. »… Dein Reich komme, Dein Wille geschehe.« Annemarie verlagerte die Last ihres Körpers vom linken auf das rechte Knie. Sie musste an den jungen Kerl denken, der in den vergangenen Tagen mehrmals ihren Weg gekreuzt hatte. Natürlich hatte sie das Gerede der Putzweiber in ihrem Busen 329
bewegt. Aber sie war sich letztlich sicher, dass es sich bei der traurigen Gestalt, die durch die Kirche geirrt war und der sie im Rosengarten erschreckt hatte, nicht um einen Sextäter handeln konnte. Ob der junge Mann etwas von ihr wollte? Das war unwahrscheinlich. Annemarie hatte zwar schon gelegentlich mitbekommen, wenn sich Männer oder junge Burschen nach ihr umdrehten. Doch diese hatten sich dabei stets in die Brust geworfen und versucht, wie Gockel herumzuspazieren und ihr zu imponieren. Dieser junge Fremde war ganz anders aufgetreten – irgendwie abgerissen, verwirrt, überhaupt nicht auf sein äußeres Erscheinungsbild bedacht. Was hatte sein Auftreten für einen Sinn? Handelte es sich um einen Irren, der aus einem Heim entflohen war, oder war er vielleicht doch ein Gesandter? Die Bibel kannte viele Beispiele, wie Boten des Herrn verkannt, verachtet, vertrieben wurden. »… Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat.« Annemaries Stimme, die anfangs glockenhell durch das Kirchenschiff geschwungen war, hatte es in der mittlerweile überfüllten Kirche schwer. Zwar konnte das Mädchen nach hinten nichts sehen, doch hatte sie Erfahrung genug, um aus der Geräuschkulisse, dem Quietschen der Portale, dem Getrampel und Geräuspere und dem Geflüstere schließen zu können, dass der letzte Sitzplatz im Gotteshaus längst besetzt war und sich hinter den letzten Bankreihen und an den Seitenwänden die Gottesdienstbesucher stauten. Auch die Plätze neben Annemarie in der anfangs freien Bank waren längst besetzt. »Gegrüßest seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Die kräftige Stimme neben ihr, die ihr nun schon längere Zeit beim Vorbeten Unterstützung leistete, gehörte Gabriele Schuhmann, der Lektorin. Sie würde nachher die Lesung übernehmen. Links neben der groß gewachsenen, dunkelhaarigen Frau saß eine bunte Mischung örtlicher 330
Honoratioren oder Vertreter bestimmter Gruppen, die Spohr davon überzeugt hatte, dass die Fürbitten an diesem besonderen Tag auch von besonderen Leuten vorgetragen werden sollten. Allesamt Menschen, die Kraft ihres Amtes irgend etwas mit Pfarrer Heusinger zu tun gehabt hatten. Deshalb knieten nun in der ersten Reihe in Erwartung ihres Auftritts der Bürgermeister, die Leiterin des katholischen Kindergartens, die Vorsitzende des St. Josefsvereins, eine Schwester der Sozialstation sowie Steffi Dornschang, eine Viertklässerin, in Vertretung der Grundschüler, die der Pfarrer in Religion unterrichtet hatte. Ganz außen hatte man einen Platz für Rüdiger Spohr, den Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, freigelassen. Auch dieser würde sich zu Wort melden. »Vater unser im Himmel …« Nun wurde die Luft aber allmählich richtig schlecht. Annemarie kam es vor, als seien die Wände der Kirche in den letzten zehn Minuten enger zusammengerückt, als habe sich das Dach des Gebäudes einige Meter nach unten gesenkt. Von der einstigen Kühle des Hauses war schon lange nichts mehr zu spüren. Hunderte von Menschen hatten die Hitze des Tages, hatten ihren Schweiß und ihre Atemnot mit in die Kirche gebracht. Ein heißer Schauer, gefolgt von Gänsehaut, überlief Annemarie. Nun knurrte auch noch der Magen. Er rief ihr in Erinnerung, dass er heute bislang nur ein Marmeladenbrot bekommen hatte. Bei all der Aufregung mit dem Vater war Annemarie nicht mehr zum Essen gekommen, hatte auch nichts mehr getrunken. Das rächte sich nun. Lag es am leeren Magen oder an der miefigen Luft – Annemarie schwindelte es ein wenig. »… du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist …« Annemarie musste kurz aussetzen, ließ Gabriele alleine weiterbeten, schnappte nach Luft und setzte dann wieder ein: »… der für uns gekreuzigt worden ist.« Nun waren es nur noch wenige Minuten, einige wenige 331
Gesetze. Ihr übelte. Annemarie versuchte, etwas aufs Tempo zu drücken, doch die Gemeinde ließ sich nicht aus dem Rhythmus bringen. Die Pedale des Singsangs drehten sich gleichmäßig weiter. Nicht nur die Luft war schlecht, auch Annemaries Befinden. Sie fühlte, wie sich Schweißperlen auf ihrer Stirn sammelten. Über ihre Unterarme lief Gänsehaut. Nur jetzt nicht auffallen, dachte sie. War der Rosenkranz erst gebetet, dann würde sie sich in die Sakristei zurückziehen; die restlichen Aufgaben – viele waren es ohnehin nicht – würde sie von dort aus bewerkstelligen können. Die letzten Perlen der Kette rannen durch ihre Finger, endlich war das Kreuz erreicht. Annemarie fuhr sich mit der kalten Hand über die nasse Stirn. Sie haderte mit sich. Warum hatte sie auch nichts mehr getrunken, nicht einen kleinen Happen gegessen, bevor sie in die Kirche ging? Nun war sie in Sorge, ob sie überhaupt noch aufstehen konnte. Andererseits brauchte sie nichts dringender als frische Luft. Sie würde sich ein, zwei Minuten zusammenreißen. Dann wäre sie gerettet. Kaum dass die letzten Worte gesprochen waren, hob ein großes Geknarze und Geseufze an. Die kniende Gemeinde schob sich rückwärts auf die Bänke. Hände rubbelten an Kniescheiben, strichen über Schienbeine, streiften Kleider zurecht, raschelten mit den Gesangbüchern. Ein Wispern und Flüstern lag in der Luft, ein gegenseitiges Aufmerksam-Machen, dass man auch diesen oder jenen entdeckt habe, dass jene dort wohl zur Verwandtschaft des Pfarrers, der Pater da wohl zu Heusingers Weihejahrgang gehören mochten. Annemarie war aufgestanden, hatte tief durchgeatmet, das Kreuzzeichen gemacht. Schnell blickte sie durchs Gotteshaus, entschied sich für den Seitengang rechts außen. Dort standen die wenigsten Leute, auf diesem Weg würde sie die Sakristei am schnellsten erreichen. Die Routine, der jahrelange Gleichgang der Dinge, ließen sie den verhängnisvollen Fehler machen: Anstatt sich auf 332
wackeligen Beinen geradewegs auf zur rettenden Sakristei zu machen, trat sie aus der Kirchenbank und machte den üblichen Knicks zum Altar hin. Eine Bewegung, die sie aufgrund ihres Befindens in großer Hast absolvierte. Annemarie kam auch wieder hoch, doch wurde ihr dabei ganz übel. Vergeblich versuchte die Mesnerstochter, sich trotz alledem auf den Weg zu machen. Zwei, drei, vier Schritte noch, dann zog es ihr die Beine weg. Unmittelbar vor der ersten Bank auf der rechten Seite, auf halber Strecke zum Seitengang, stürzte sie. Das letzte, was Annemarie sah, bevor ihr schwarz vor Augen wurde, war das bleiche, erschrockene Gesicht eines jungen Burschen, dessen viel zu kurze schwarze Krawatte seltsam schief über seinem weißen Hemd lag. In Schwab hatte es schon eine ganze Weile vor Ungeduld und Verärgerung gebrodelt. Die Schwester des Pfarrers neben ihm hatte ein entsetzlich aufdringliches Parfüm, der Pater rechts ruckelte mit seinem Hintern in einem fort auf der Bank herum, als bereiteten ihm Hämorrhoiden Schwierigkeiten, und ob Selma erschienen war, das konnte er von seinem Platz aus nicht sehen. Der ganze Kirchgang, zu dem ihn Rosalinde überredet hatte, war bislang eine einzige Enttäuschung, ja, mehr noch, er setzte der erlittenen seelischen Folter durch Selma noch die Dornenkrone auf. Schwab hatte, trotz des Altars vor ihm und des Paters neben ihm, kein schlechtes Gewissen, als er leise in sich hinein fluchte. Plötzlich war das blonde Mädchen, das die ganze Zeit über vorgebetet hatte, in seinem Blickfeld erschienen. Annemarie war leichenblass. Schwab hatte bemerkt, wie sie nach ihrem Knicks ins Taumeln geraten war, hatte gesehen, wie sie noch einige Schritte auf ihn zuging, offenbar, um an der ersten Bankreihe vorbei den Weg in den Seitengang einzuschlagen, und wie sie unmittelbar vor ihm ohnmächtig zu Boden sank. Glücklicherweise schlug ihr Kopf nicht direkt auf dem harten Fliesenboden auf, sondern auf ihrem linken Arm. Ihr letzter Blick, so hatte Schwab jedenfalls den Eindruck – nein, er hatte 333
die Gewissheit –, hatte ihm gegolten. Es war der flehentliche Ruf nach Hilfe. Morris war, wie auch des Pfarrers Schwester und der Pater, unmittelbar nach dem Sturz des Mädchens erschrocken aufgesprungen. Doch alle standen sie wie angewurzelt herum, festgehalten von dem plötzlichen Geschehen, auf das sie nicht vorbereitet waren. Zwei der Schützen reagierten als erste. Die beiden Männer kamen mit großen Schritten herbei und beugten sich über das bewusstlose Mädchen. Einer der beiden tätschelte die Wangen der Blonden, doch diese reagierte kaum. »Kreislauf«, hörte Schwab den einen sagen. »Bestimmt Kreislauf. Die is ja ganz blass.« Dann sahen sich die beiden ratlos um. Als die Männer die Köpfe hoben und in die Gesichter der Aufgeregten, Gespannten, Angewurzelten blickten, löste sich Schwabs Anspannung. Am Pater vorbei drängte er nach draußen. Mit wenigen Schritten war er bei der Ohnmächtigen. Was ritt ihn eigentlich, dass er den Schützen »Ich kümmer’ mich« sagte? Er war weder Arzt noch Sanitäter noch mit der Gestürzten bekannt oder gar verwandt. Er wusste nur, dass die Blonde ihn mit ihren großen Augen angefleht hatte, bevor sie ihren Geist aufgab. Dieser Blick hatte ihn durch seinen Zorn, durch seine Bitternis hindurch erreicht. Er war gerufen. Er musste handeln. Morris griff unter den Körper. Erwartete eigentlich, dass er das doch recht groß gewachsene Mädchen nur mit größter Kraftanstrengung würde heben können. Doch es war viel leichter, als er gedacht hatte. Ein-, zweimal rückte er sie auf seinen Unterarmen zurecht, dann hatte er sie sicher im Griff. Schwab nickte den beiden besorgten Schützen zu. Den Männern war die dankbare Freude anzusehen, dass ihre Pflicht und Schuldigkeit getan war und sie wieder auf die ursprünglichen Positionen zurückzukehren konnten, um ihrem Fahnenträger weiter zur Seite zu stehen. 334
Unter dem Gemurmel des Gottesvolkes trug Schwab das Mädchen durch den Seitengang nach hinten. Die zwischen Wand und Kirchenbänken stehenden Gläubigen machten Platz. Aber wohin sollte er die Ohnmächtige, die ihm bei jedem Schritt schwerer wurde, denn tragen? Der Weg zum Hauptportal stand voller Menschen. Dort hindurchzukommen war kaum zu schaffen. Unmittelbar vor ihm begann ein an der Wand befestigter Schellenbaum zu scheppern. Aus einer offenstehende Türe waberte eine Wolke von Weihrauch, gefolgt von einem Heer von Ministranten und schließlich einer ganze Schar von heiligen Männern in prächtigen Gewändern. Zugleich hob die Orgel an, begleitet von einem Geräusch, als streiften Wanderer durchs Herbstlaub. Es war das Blättern in den Gesangbüchern, in denen das Kirchenvolk nun nach der angestimmten Liednummer suchte. Während die Kirchenmänner unter dem Gesang des Volkes nach vorne zum Altar zogen, hielt Schwab, eingewiesen von den fuchtelnden Armen des Pfarrgemeinderatsvorsitzenden Rüdiger Spohr, Einzug in die Sakristei. »Oh, Gott, Annemarie«, jammerte Spohr. Er sah todunglücklich aus. Mehrmals huschte sein Blick zwischen dem blassen Gesicht des Mädchens und dem Kirchenraum hin und her. »Ach Gott«, seufzte er erneut und zappelte mit den Beinen. Schwab, immer noch das schwere Mädchen auf den Armen, sah Spohr fragend an. Dann erkannte er die missliche Lage des anderen. Spohr musste raus, hatte draußen in der Kirche seine Aufgaben. In seinem Gesicht stand geschrieben, was diese große Stunde für ihn bedeutete. Zugleich aber war auf dieser Stirn zu lesen, dass Spohr ein schlechtes Gewissen hatte, weil er jetzt eigentlich Annemarie helfen sollte und Heusingers Neffen von diesem Notfall entbinden und der Trauerfeier zurückgeben sollte. Morris nickte. »Ich kümmer’ mich«, wiederholte er und war mit einem Mal ganz erfüllt von Stolz und Freude. »Ich komm’ 335
schon klar. Kein Problem.« Spohr, zunächst ganz ungläubigen Blicks, dann erleichtert aufseufzend, strahlte über das ganze Gesicht, drückte Schwab väterlich und dankbar an der Schulter und huschte hinaus in den brodelnden Kirchenkessel voller Gesang, Weihrauch und juchzender Orgelpfeifen. Die Türe schloss sich. Nur noch gedämpft drangen die Geräusche in die Sakristei. Schwab blickte sich um. Es war höchste Zeit, Annemarie – Spohr hatte ihm den Namen des Mädchens in seinem Schreckensruf verraten – irgendwo abzulegen. Viele Möglichkeiten dazu gab es nicht. Das Mobiliar der Sakristei bestand im wesentlichen aus Schränken, einem Waschbecken, zwei Stühlen und einem Tisch. Von einer Couch oder gar einem Bett war natürlich nichts zu sehen. Schwab entschied sich für den Tisch. Vorsichtig legte er die Blonde auf der hölzernen Platte ab, wobei er seinen, ihren Oberkörper stützenden, linken Arm langsam nach oben zog, so dass der Kopf des Mädchens sanft auf seinem Unterarm gebettet war. Annemarie seufzte, hatte aber immer noch die Augen geschlossen und war ganz weiß im Gesicht. Ein Glas Wasser, dachte Schwab, während er aus einem Lautsprecher über der Türe eine quäkend klingende, männliche Stimme beten hörte. Ein Glas Wasser würde ihr sicher gut tun. Morris sah das Waschbecken, konnte sich aber noch nicht von Annemarie lösen. Er blickte an dem Mädchen herunter. Es mochte vielleicht zwei, drei Jahre jünger sein als er. Das dunkelblaue, fast schwarze Kleid war bei der Rettungsaktion über die Knie hochgerutscht und hatte zwei schmale Beine freigegeben. Oben war das Kleid zugeknöpft bis an den Hals. Kein Wunder, dachte Schwab, dass ihr schlecht geworden ist, traute sich aber nicht, den obersten Knopf aufzumachen. Annemarie war wunderschön. Die Blässe stand ihr, auch wenn die Lippen der Ohnmächtigen etwas zu matt, fast grau wirkten. 336
Ein Engel, schoss es Morris durch den Kopf. Dieses bezaubernde Wesen glich einem zarten, zerbrechlichen Engel. Ganz plötzlich, aus einem inneren Verlangen heraus, beugte sich Schwab über das Gesicht Annemaries, verharrte einen Augenblick, gab sich einen Ruck und drückte ihr ganz zärtlich – es war fast nur ein Hauch – einen Kuss auf die trockenen, kühlen Lippen. Dann schreckte er mit dem Oberkörper zurück in der Erwartung, dass Annemarie, wie weiland Dornröschen, nach dem erlösenden Kuss die Augen aufschlagen würde. Doch nichts geschah. Die rechte Hand zu Hilfe nehmend, löste er seinen linken Arm unter ihrem Nacken und setzte Annemaries Kopf vorsichtig auf der Tischplatte ab. Über einem der Stühle hing eine Art Ministranten-Untergewand, einem weißen, langen Kleid nicht unähnlich. Dieses rollte er zusammen und schob es dem Mädchen unter den Kopf. Er fand weder einen Becher noch ein Glas, wohl aber in einem der Unterschränke eine Art Weihwassergefäß, zu groß, um daraus zu trinken, doch für eine Erfrischung gerade recht. Schwab füllte es zur Hälfte, trat dann neben Annemarie an den Tisch und sprengte ihr, immer wieder die Fingerspitzen in den Behälter tauchend, Wasser ins Gesicht. Eine weibliche Stimme knarzte nun aus dem Lautsprecher. Die Lesung hatte begonnen. Dass Annemarie nicht reagierte, ängstigte ihn. Sollte es doch etwas Schlimmeres sein? Wie vorher die hilfreichen Schützen begann Schwab, die Wangen des Mädchens mit der flachen Hand zu tätscheln, sanft zu reiben. Wie schön sie war! Wieder konnte er dem Verlangen nicht Stand halten, da er gerade ihr Gesicht mit beiden Händen umfangen hielt, und küsste sie. Noch während des kurzen Augenblicks, da seine Lippen auf den ihren ruhten, spürte er, wie wieder Leben in Annemarie kam, wie ihre spröden, trockenen, kalten Lippen plötzlich begannen, weich und voll und ein wenig wärmer zu werden. Der Schreck und die Vernunft rissen ihn zurück. Er ließ ihre Lippen fahren, zog die 337
Hände von den Wangen, besann sich, befeuchtete die linke Hand am Wasser des Weihwassergefäßes und legte sie ihr so auf die Stirn. Sein Herz schlug bis zum Hals. Was hatte er getan? Wie hatte er diese Situation, da ihm das Mädchen willenlos ausgeliefert war, nur so ungeniert ausnutzen können? Hatte sie etwas von seinem ungebührlichen Benehmen mitbekommen? Es schien nicht so. Mit einem schwachen, langgezogenen »pschüüühhh« meldete sich Annemarie ins Leben zurück und schlug die Augen auf. Zu fragen brauchte Werners niemanden. Er war kaum hundert Meter weit gelaufen, als vor seiner Nase der Wagen eines Blumenhändlers einscherte und dann, wieder eher weg vom Dorf, in eine bergan führende Straße einbog. Als das Lieferfahrzeug an Jaco vorbeifuhr, konnte dieser in seinem Innern mehrere mit Schleifen verzierte Kränze sehen. Das Auto war zweifellos auf dem Weg zur Leichenhalle. Werners folgte. Zwar hatte er den Wagen rasch wieder aus den Augen verloren, doch gab es nur diese eine Straße hinaus aus dem Ort. Schon konnte er eine Gruppe von Birken und eine lange Buntsandsteinmauer sowie das über die Mauer hinwegspitzende Dach eines kleinen Gebäudes mit Glockentürmchen sehen. Werners folgte einem Trampelpfad über die Wiesen, der den großen Bogen der Straße abkürzte. Die Straße mündete in einen größeren Platz, um dahinter als Schotterpiste durch die Felder fortzuführen. Die Autos, die vor dem Gottesacker geparkt waren, bestätigten Werners, auf dem richtigen Weg zu sein, erschreckten ihn jedoch auch ein wenig. War die Beerdigung etwa schon im Gange? Dann aber dachte Jaco an den Blumenwagen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass die Kränze während der Trauerfeier geliefert wurden. Vermutlich hatten einige Trauergäste nur vorsorglich am Friedhof geparkt, um nach Ende der Feier möglichst rasch das Weite suchen zu können. 338
Als er den Eingang mit dem eisernen Gittertor erreichte, war der Blumenhändler am Abladen. Die beiden Flügel seines Lieferwagens standen weit offen. Der Mann musste mehrmals laufen und trug gerade ein Gesteck mit lila Schleifen zum Leichenhaus. Im Wagen warteten noch drei Kränze auf den Abtransport. Sie waren jeweils mit andersfarbigen Blumen geschmückt und trugen Schleifen in Weiß, Rot und Grün, eben zur Farbe der Blumen passend. Den Text der Schleife auf dem vorne liegenden Kranz konnte Werners gut lesen: »Deine Schwester Magda mit Familie«, stand da in goldener Schrift. Er ging näher an den Wagen heran, um mehr erkennen zu können. Eine rote Schleife war mit »In dankbarer Erinnerung« bedruckt, doch war die andere Hälfte von dem davorliegenden Kranz bedeckt, so dass Werners nicht lesen konnte, wer des Pfarrers da so liebevoll gedachte. »Vorsicht emol«, klang es nun angestrengt. Der Florist drückte ihn mit seinem Arm sanft, aber bestimmt zur Seite. Werners wich willig und machte dem Blumenhändler den Weg frei. Der griff sich den nächsten Kranz, schaute Werners im Vorbeigehen ein wenig schief an und rümpfte die Nase. »Da is fei gleich e Beerdichung«, gab er dem jungen Kerl zu bedenken. Es klang, als sei er der Ansicht, dass Werners, so wie er aussah, hier nichts zu suchen hatte. »Ja, ja«, sagte Werners bloß. Er überlegte. Dann blickte er an sich herab. Er hatte immer noch die versiffte Schlabberhose von Petras Bruder an, die am viel zu weiten Bund von dem Strick gehalten wurde, den ihm Egon geliehen hatte. Wie es dem Alten jetzt wohl ging? Sein orangenes Hemd – es schien ihm jetzt, als trüge er es schon seit Wochen – war auch keine Augenweide. Von dem Dampf, der von seiner Kleidung ausging, ganz zu schweigen. Kein Wunder, dass der Blumenmann skeptisch war. Aber es half alles nichts: Er musste den Pfarrer sehen – mochte kommen, was wollte. 339
Werners steckte die Hände mit den vom Blut rotbraunen Flecken in die Hosentaschen und betrat mutig den Friedhof. Weil er den Blumenhändler nicht noch einmal treffen wollte, drückte er sich seitlich durch die Grabreihen und gelangte nach einigen Umwegen schließlich von hinten an die Friedhofskapelle. Dann schlich er an der Wand des Gebäudes entlang, bis diese zu Ende war. Als Werners um die Ecke der Mauer herumlinste, hatte er die offene Leichenhalle sowie den Weg vom Friedhofseingang zur Halle im Blick. Da stand der Sarg. Mitten in dem nach vorne offenen, halbrunden Raum stand des Pfarrers Sarg. Ob er schon drinnen lag? Werners war sich nicht sicher, nach all den Geschehnissen der vergangenen Tage. Um den Sarg herum ein Meer von Blumen, Gestecken und Kränzen, die auf Ständern oder einfach am Fuß der Leichenhalle entlang arrangiert waren. Gerade schleppte der Blumenmann wieder einen Kranz heran, diesmal den mit der grünen Schleife. Unentschlossen blieb er vor dem Sarg stehen und schaute ins Rund. Er suchte offenbar nach einem freien Platz. »Wird eng heut.« Werners zuckte vor Schreck zusammen. Weniger die Stimme als vielmehr das Aussehen des Mannes hatte ihn entsetzt. Doch – das stellte er nun erleichtert fest – er hatte sich geirrt. Der Schwarzgekleidete, der scheinbar aus dem Nichts so überraschend neben den Sarg getreten war, war nicht der Pfarrer. Er sah diesem allerdings ein klein wenig ähnlich. Möglicherweise der Bestattungsunternehmer, dachte Werners. Der Unbekannte und der Blumenmann rückten nun gemeinsam Gestecke und Kränze herum, bis auch noch ein Platz für den Kranz mit der grünen Schleife geschaffen war. »Große Beerdichung«, zollte der Blumenhändler dem anderen Respekt. »Noja, en Pfarrer. Do geaht scho was«, bestätigte der Angesprochene, und sein strahlendes Gesicht gab sich keine 340
Mühe zu verheimlichen, dass er sich häufiger Geschäfte wie dieses wünschte. »Sei so guet«, bat nun der Bestatter den Blumenmann, »hilfst mer mit denne Buchs? Ich wäss nit, wu der Erich bleid.« Der Florist schaute unwillig, nickte aber. Gemeinsam trotteten die beiden zum Ausgang des Friedhofs. Als sie weit genug entfernt waren – sie kehrten Werners den Rücken zu und waren ins Gespräch vertieft –, sprang Jaco zum Sarg. Er probierte hier und da, doch nichts ging. Der Sarg war verschlossen. Hastig schaute sich Werners um, ob er nicht irgendeinen Gegenstand fände, der ihm beim Öffnen helfen könnte, doch er sah auf die Schnelle nichts. Schon hörte er die beiden Männer über den Kies zurückkommen. Zwischen sich trugen sie einen großen Topf mit einem Buchsbaum. Jaco beeilte sich, wieder in sein Versteck hinter die Mauerecke zu kommen. Er war ratlos. Wie sollte er den Sarg öffnen? Und wenn es ihm tatsächlich gelänge – was dann? So hatte das keinen Sinn. Werners setzte sich in den Kies am Fuß der Mauer und lehnte den Rücken an die Wand. Er musste nachdenken. Er durfte nicht noch einmal den Kopf verlieren, sich nicht wieder in eine so irrsinnige Situation treiben lassen, wie er sie in den vergangenen Tagen wiederholt erlebt hatte und aus der ihn dann nur noch eine Verzweiflungstat würde retten können. Und diesmal durfte es nicht beim bloßen Vorsatz bleiben. Diesmal musste reiner Tisch gemacht werden. Werner versuchte, sich zu konzentrieren. Also: Er würde den Sarg nicht aufbekommen, und er würde vermutlich nicht einmal eine zweite Chance haben, es zu versuchen. Und selbst wenn er eine solche bekäme, würde ihm dies kaum etwas nützen. Werners war sich nicht sicher, ob überhaupt jemand im Sarg lag. Jaco legte die Fingerspitzen beider Hände an seine schmierige, dreckige Stirn. Es galt, die Gedanken zu ordnen. Was war eigentlich geschehen? Und was davon war wahr und wirklich? Wie sollte er das wissen? Er hatte seit Tagen kaum 341
geschlafen, viel gesoffen und war ständig auf der Flucht. Es hieß, ein Laster habe den Pfarrer überfahren und getötet. Das war Tage her. Er selbst hatte den Pfarrer nie gesehen, nicht einmal seine Leiche. Natürlich war da unter dieser Plane auf der Straße irgend jemand gelegen, aber er selbst hatte sich nicht vergewissert, ob es tatsächlich der Pfarrer war. Auch hätte er ihn gar nicht erkannt, da er nicht wusste, wie dieser Heusinger aussah. Nicht einmal den Rosenkranz hatte er in jenem Moment, da er das silberne Ding das erste Mal in der Sonne blitzen sah, als solchen erkannt. Dieser verdammte Rosenkranz! Immer wieder kam ihm dieses Kettchen in den Sinn, immer wieder hatte er die dramatischen Ereignisse der letzten Tage mit seinem Diebstahl in Verbindung bringen müssen, da es für ihn keine andere Erklärung gab. Der Kopf schmerzte leicht vom vielen Nachdenken. Konnte er sicher sein, dass der Pfarrer überhaupt tot war? Wenn ja, wer hatte ihm dann in der Kirche aufgelauert, ihm dort versucht, den Weg zu versperren? Und wer hatte ihn in seinem Versteck unter dem Bett ausfindig gemacht? In seinem Gehirn knackte es. Werners kicherte. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Ein Komplott! Natürlich, nichts anderes! Es gab nur eine, es gab nur diese Erklärung: Dieser Pfarrer, dieser Heusinger, war nicht tot. Das stand fest. Wessen Leiche unter der Plane auf der Straße gelegen hatte, das war erst einmal egal. Möglicherweise hatte dieser Kurt damit zu tun, dieser Werkstattbesitzer. Der Mafia war es ein leichtes, eine oder zwei Leichen aus dem Hut zu zaubern, sicher auch eine, die auf Bestellung eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Pfarrer hatte. So besonders passen musste es ja gar nicht. Schließlich hatte man der Leiche die Zwillingsreifen eines Lasters über den Kopf rollen lassen. Da blieb nicht viel zu erkennen. Der echte Pfarrer aber, dieser Heusinger, der lebte weiter. Ganz klar: Der sollte lediglich für tot gelten. Was also hatten die Ganoven gemacht? Wieder musste Werners kichern. Nicht nur, dass sie den Heusinger hatten untertauchen lassen und dafür 342
einen armen Kerl lynchten, nein, sie hatten auch ganz geschickte Spuren gelegt. Werners musste unweigerlich an die EdgarWallace-Filme mit Kinski denken. Es war eine raffinierte Bande, mit der er es hier zu tun hatte, und eine gefährliche obendrein. Das stand nun fest. Nicht nur, dass sie den unbekannten Toten in Heusingers Klamotten verpackt hatten. Absichtlich hatten die Ganoven dazu noch den Rosenkranz des Geistlichen ein paar Meter von der Leiche weg auf die Straße geworfen. Jemand vom Dorf, vielleicht auch die Polizei, sollte ihn dort finden. »Oh, des Pfarrers Rosenkranz«, würde der Finder sagen und damit den entscheidenden Mosaikstein dazu beitragen, dass überhaupt keine Zweifel mehr an der Identität der Leiche bestanden. Und wenn der Finder selbst das Kettchen nicht erkannte, dann spätestens Heusingers Haushälterin oder die Familienangehörigen. Etwas anderes zur Identifizierung konnte man denen ja kaum anbieten: Der Anblick seines Kopfes war niemandem zuzumuten. Und Fingerabdrücke wurden seines Wissens bei der Priesterweihe nicht gemacht. Wer aber hatte die ausgelegte Falle entschärft? Er, Werners. Der Blöde aus dem Norden, der weder den Pfarrer noch seinen Rosenkranz kannte, der eben nicht »Oh, des Pfarrers Rosenkranz« schluchzte, sondern das Ding klammheimlich einsteckte und sich trollte. Ihm war nun auch klar, was das bedeutete: Er hatte den missing link, das unverzichtbare Kleinod. Nur deshalb hatte man ihn gejagt, hatte der echte Pfarrer mehrmals versucht, das Kettchen wiederzubekommen. Werners kicherte schon wieder. Dumm gelaufen, dachte er. Andererseits aber auch wieder schlau gemacht. Dass sie gleich drei, vier Ganovenbräute als Putzfrauen verkleidet hatten, um ihn zu täuschen, das war schon raffiniert. Und noch viel raffinierter war, dass sie dieses blonde Gift auf ihn angesetzt hatten. Erst als Lockvogel im Rosengarten, später dann in der Kirche. Werners war beeindruckt. Leise patschte er in die Hände. 343
Andererseits, so fand er, könnte man ihn allmählich in Ruhe lassen. Offenbar hatte doch kein Mensch Zweifel an der Identität der Leiche. Wenn erst ein Paar Schaufeln Erde auf dem Sarg lagen, dann war es doch völlig wurscht, ob der falsche Pfarrer seinen Rosenkranz hatte oder nicht. Freilich, ein wenig Skepsis würde zunächst noch bleiben, zumindest bei der Haushälterin und bei dieser Magda. Aber wenn der Pfarrer erst einmal unter der Erde lag, dann würden auch sie sich rasch beruhigen. Und die Ganoven brauchten sich keine weiteren Sorgen um die Schnüffelei der Polizei zu machen. War erst die Beerdigung vorbei, konnte der echte Pfarrer mit neuem Namen, neuem Pass und dem Geld aus seiner Lebensversicherung in aller Ruhe seinen Vergnügungen nachgehen, was immer das sein mochte. Vermutlich hatte er irgendwo eine Geliebte sitzen oder wollte sich endlich zu seiner bislang allein erziehenden Frau und ihren Kindern bekennen. Schon heute Nachmittag würden die Mafiabosse von ihm ihr Geld bekommen. Und das war’s dann. Werners grinste in sich hinein. Dann zitterte er. Er hatte Angst, wahnsinnig zu werden. Oder war er es gar schon? Dass aber auch ausgerechnet er in diesen Schlamassel hineinrutschen musste! Wo er doch eh so sensibel war, wie seine Mutter immer meinte. Hätte er doch jetzt nur einen oder zwei Bocksbeutel zur Hand! Ganz plötzlich sehnte sich Werners nach dem Apostel und dem Baatsch, vor allem nach dem Baatsch. Eine Seele von Mensch. An dessen Schulter gekuschelt, ein Glas Spätlese in der einen, ein Hausmacherwurstbrot in der anderen Hand. Das wäre ihm nun Trost. Könnte das Leben nicht so einfach, könnte es nicht herrlich sein? Vielleicht, ja, ganz sicher würde der Apostel zur Beerdigung kommen. Der Baatsch weniger, der war nicht so gut zu Fuß. Aber der Apostel bestimmt. Ihm würde er sich anvertrauen können. Der Alte kannte Land und Leute, der würde seine Situation richtig einzuschätzen wissen, und der würde ihm sagen 344
können, was weiter zu tun war. Ein weiser Mann, das war der Apostel. Ein wenig seltsam vielleicht, wenn es um die Politik ging. Aber der Alte hatte mit Sicherheit nichts mit Kurt und der Mafia am Hut, stand kritischdistanziert der Kirche gegenüber und hielt sich trotzdem an Recht und Glauben. Freilich, der Baatsch wäre besser. Aber der war halt nicht gut zu Fuß. Eine tiefe Ruhe durchströmte Werners mit einem Mal. Ganz friedlich wurde ihm zumute. Er stand auf, ging hinüber zum Brunnentrog und drehte den Wasserhahn auf. Ausgiebig wusch er sich die Hände, das Gesicht, fuhr sich mehrmals mit nassen Händen übers Haar. Wie gut das tat! Dann blieb er einfach auf der gemauerten Umrandung der Wasserstelle hocken und wartete ab.
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KAPITEL 15 Im Rausch der Gefühle DAS LEBEN WAR IN SIE ZURÜCKGEKEHRT. Langsam hob sich der bleierne Schleier, der sich über das Mädchen gelegt hatte. Annemarie spürte etwas Zartes, Weiches und Warmes auf ihren Lippen, das sich ganz plötzlich löste. Je schwächer das Druckgefühl auf ihren Lippen wurde, das sie als angenehm empfunden hatte, umso mehr entwand sich Annemarie ihrer Ohnmacht. Sie fühlte etwas Feuchtes auf der Stirn. Als sie die Augen aufschlug, blickte sie in das Gesicht eines jungen Burschen, von dessen Hals sich eine schwarze Krawatte senkrecht nach unten in ihr Herz bohrte. Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Sie erinnerte sich, es vorher schon einmal gesehen zu haben. Was war vorhin gewesen? Und wann war das? Annemarie fehlte die Orientierung. Der junge Kerl lächelte. Das Mädchen fühlte sich schwindelig und schwach. Ihre Hand versuchte die Unterlage zu ertasten, auf der sie lag. Als sie den kleinen grauen Lautsprecher seitlich über der Tür entdeckte, wusste sie, dass sie auf dem Tisch in der Sakristei lag. Welch ein Frevel, dachte sie kurz – sie hingebettet auf jenem Tisch, auf dem zuweilen Kelche, ja, Monstranzen poliert wurden. Aber an ein Aufspringen war gar nicht zu denken. Alles an ihr war schwach, alles schwer. Als sie bemerkte, dass sie mit dem Unbekannten allein im Raum war, erschrak sie. Draußen sang die Kirchengemeinde. Sie blickte, soweit es ging, an ihrem Körper hinunter, suchte den Saum des Kleides Der junge Mann hier schien ein anständiger Kerl zu sein. Sie konnte nicht feststellen, dass etwas Unanständiges mit ihr geschehen war. Allerdings hatte sie vorhin das Gefühl, als habe etwas Weiches und Warmes ihre Lippen berührt. Vorsichtig blickte sie in das Gesicht über ihr, suchte die blaugrauen Augen zu hinterfragen. 346
Der andere lächelte. Es war kein Lächeln, wie es Annemarie einem Verbrecher zurechnen würde. Die Berührung an ihren Lippen – nein, das war kein unangenehmes Gefühl gewesen. Ob er seine warmen Hände auf ihren Mund gelegt hatte? Hatte er sie gar geküsst? Noch nie war sie geküsst worden! Das heißt, Mutter, Vater und die Schwester hatten sie natürlich geküsst. Auch Paul, Annegretes Mann, als sie in den Weihnachtsferien in Freiburg zu Besuch war. Annemarie war das unangenehm gewesen. Paul hatte zur Weihnachtsgans Wein getrunken, danach zur Verdauung und, weil Weihnachten war, etwas Schnaps. Sein Kuss war nicht der flüchtige, verwandtschaftliche Kuss auf die Wange gewesen wie sonst, sondern fordernd und nass. Annemarie war zurückgeschreckt. Paul, der nachsetzen wollte, wurde jedoch von Tante Annegretes scharfem Räuspern zurückgerufen und ernüchtert. Und Susanne. Ja, auch Susanne hatte sie geküsst. Im Internat. Annemarie wusste gar nicht, wie ihr geschah, als Susanne eines Nachts aus ihrem Bett gekommen und sich zu ihr gelegt hatte. Das Gewitter vor dem Fenster war nicht schlimmer als sonst gewesen, aber Susanne meinte, sie habe die allergrößte Angst, und hatte sie angefleht, bei ihr schlafen zu dürfen. Kaum dass sie ein wenig zur Seite gerückt war, hatte sich Susanne auch schon ganz eng an sie gedrängt. Plötzlich hatte sie ihre Hand an ihrer Brust gespürt, Susanne hatte »Oh, Annemarie« gestöhnt und sie geküsst. Da war es ihr angst und bange geworden, auch weil sie erst jetzt, im Licht des nächsten Blitzes, Susannes Nacktheit entdeckte. Entsetzt war sie aufgesprungen: »Nein, Susanne, das nicht!« Zitternd und bebend war sie vor dem Bett gestanden, hatte entrüstet gewartet, bis die Freundin schluchzend in ihr eigenes Bett zurückgekehrt war. Beide hatten über diese Nacht nie mehr geredet, aber es war auch zwischen ihnen nie mehr so gewesen wie zuvor. Ob er sie geküsst hatte? Das war erstmal nicht so wichtig, fand Annemarie. Wichtiger war, wieder auf die Beine zu kommen. 347
»Hoch«, bat sie. Der junge Mann schob sogleich seinen Unterarm unter ihren Kopf und zog ganz vorsichtig und langsam ihren Oberkörper zu sich. Annemarie ließ die Beine vom Tisch rutschen. Schließlich saß sie da. Ihr Kleid hatte sich während des Manövers hochgeschoben, und auf dem linken Knie lag jetzt, weil es sich beim Aufrichten der noch schwachen jungen Frau so ergeben hatte und er ihr Stütze bieten wollte, Morris’ rechte Hand. Sie war schön warm, fand Annemarie. Aber es gehörte sich nicht. Schwabs Augen folgten Annemaries Blick, der immer noch auf seine Hand gerichtet war. Erschrocken zog er sie vom Knie zurück. Wie schön sie war! Aus dem Lautsprecher quäkte Spohrs unverwechselbare Stimme: »Erhöre uns!« Schwabs Lippen bewegten sich zur Antwort der Gemeinde: »Wir bitten Dich, erhöre uns!« Nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen. Jetzt, da das Blut in ihre Wangen zurückkehrte, ihre dunkelblauen Augen ihren Glanz zurückerhielten, ihre warme Haut das leichte Parfüm wieder zu verdunsten begann, jetzt deuchte es ihm mehr denn je, ein Engel sitze vor ihm auf dem Tisch. Unwillkürlich musste er nach ihren Händen greifen, besorgt, der Engel könnte ihm durch ein Oberlicht entschweben. Dass sie sein ungestümes Verlangen duldete, dass sie seine Hände nicht zurückwies, das machte Morris zum glücklichsten Menschen der Welt. Längst hatte er alle Lastzüge auf den Landstraßen vergessen, längst den eigentlichen Grund für seinen Kirchgang. Er war wie verzaubert. »Stehen, bitte«, hauchte sie und strich ihr Kleid nach vorne, über die Knie, bevor sie vom Tisch herunter auf die Füße rutschte. Sie schwankte ein wenig. Schwab hielt ihre Hände fest, spürte, dass dies nicht genügte, und griff mit der rechten Hand an ihre Schulter, um sie zu stützen. 348
Ein wenig ängstlich nahm sie dies zur Kenntnis, zugleich wissend, dass sie auf seinen Halt angewiesen war und seinen Arm nicht zurückweisen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Ratlos blickte sie zur Türe, die in den Kirchenraum führte, als überlegte sie, in den Gottesdienst zurückzukehren. Sie fühlte die Pflicht wie eine Last und seufzte, entschied sich aber anders. »Frische Luft, bitte.« Schwab gehorchte sofort. Fürsorglich führte er das Mädchen zur Türe und auf den kleinen Kirchenvorplatz hinaus. Drinnen wurde gesungen. Draußen schlug ihnen Wärme entgegen, aber gesunde Wärme, ohne den Dampf hunderter Menschen und ohne Schwaden von Weihrauch. Sie machten vorsichtig einige Schritte. Annemarie holte Luft, atmete fünf, sechsmal tief durch. Ein kleiner Ruck ging durch ihren Körper als Zeichen dafür, dass sie sich wieder etwas bei Kräften fühlte. Das Mädchen ließ, mehr dem anerzogenen Anstand denn der Vernunft Gehorsam leistend, Schwabs Hand fahren und machte zwei kleine Schritte, schwankte dabei aber gefährlich. Morris sprang herbei, und Annemarie duldete, dass sein Arm erneut ihre Schulter umfing und ihr Halt gab. »Kaffee«, beschloss sie, und Schwab war alles recht, wenn er nur bei ihr bleiben durfte. Annemarie dirigierte ihren Helfer durch das menschenleere Dorf. Es war ja nicht weit bis zu des Mesners Haus. Im Schatten der großen Linde saßen zwei Männer. Eine Entdeckung, die Annemarie nicht sonderlich angenehm war. Kurz überlegte sie, sich aus dem Arm ihres Begleiters freizumachen, aber sie war zu schwach für diesen Schritt. »He, hallo, junger Freund!« rief der Apostel. Weder er noch der Baatsch hatten den Gang in die Kirche heute für notwendig erachtet. Annemarie ignorierte die Rufe, ging zielstrebig weiter in Richtung Haus und zog Schwab mit sich, der nur mal kurz mit 349
der freien Hand den Freunden einen Gruß zuwarf. Für mehr war keine Zeit. Er hatte andere Pflichten. »Ja, ja, kaum is der Herr aus’m Haus …«, hörten sie beim Vorbeigehen den Apostel lachen, dann hatte Annemarie auch schon die Haustüre geöffnet. Sie standen im winzigen Flur, gingen in die Küche. Das Mädchen deutete auf einen Stuhl, und weil Schwab zögerte, von ihr zu lassen, lächelte sie sanft und sagte »Ins Bad«, woraufhin er nickte und Platz nahm, dabei kein Auge von Annemarie nehmend, die mit kleinen Schritten ins Badezimmer ging, um sich frisch zu machen. Das Mädchen im Spiegel war blass, doch seine Augen wanderten munter umher. Sollte sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie den Fremden mit ins Haus genommen hatte, während sonst niemand da war, ihr im Notfall beizuspringen oder die Aufsicht über ihr Miteinander zu führen? Ein wenig ärgerte sie, dass die beiden alten Suffköpfe sie beobachtet hatten, denn das waren arge Tratschen. Aber sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Es war ja nichts passiert, der junge Kerl benahm sich untadelig, und der Vater würde alles verstehen. Lange redeten sie nichts. Annemarie hangelte sich an den Küchenmöbeln entlang, wollte partout keine Hilfe von Schwab annehmen und kochte Kaffee, stellte auch Brot und Marmelade auf den Tisch. Erlaubte schließlich, dass der Gast ihr ein Brot schmierte, musste leise lachen und ihn zurückweisen, »Nit so viel!«, als er es gar zu gut mit der Marmelade meinte. Als sie dann so beieinander saßen, der heiße starke Kaffee durch ihre Kehle rann und sie den ersten Bissen Marmeladenbrot gekaut hatte, erst da wurde ihr das Versäumnis bewusst. Sie streckte rasch die Hand aus. »Annemarie. Ich bin die Annemarie«, sagte sie und schämte sich ein wenig, weil ihr nicht früher eingefallen war, sich vorzustellen. Auch der junge Mann war verlegen. »Morris«, beeilte er sich zu sagen, korrigierte sich rasch: »Äh, Moritz, Moritz Schwab.« 350
Fast entschuldigend erklärte er: »Meine Freunde nennen mich Morris.« Sie drückte seine Hand. »Moritz«, wiederholte sie. Schwab hatte nie jemanden seinen Vornamen so schön aussprechen hören. Dass sie nicht Morris sagte, das fühlte er, das stand nicht für Distanz, sondern ganz im Gegenteil. Sie hatte ihn akzeptiert als Menschen, nicht als Spielkameraden. Diese Erkenntnis machte ihm ganz komisch ums Herz. Schwab spürte, wie seine Wangen vor Freude glühten, trank hastig Kaffee, verbrannte sich den Mund, stopfte aufgeregt das schon wieder herausgerutschte Hemd in den Hosenbund. »Nur geliehen«, meinte er und schämte sich ein wenig für seinen Aufzug. Dass er so reagierte, amüsierte sie. Nie hatte sie so gefühlt wie heute, da sie mit diesem Jungen allein war. Es war etwas Unbekanntes, Neues, aber nichts Unangenehmes. Ihre Schwäche, ihre Ohnmacht waren wie weggeblasen. Moritz, dachte sie und musterte ihn. Er hatte sehr schöne Augen. Vor allem aber waren seine Hände zart, warm und doch zupackend. Ja, er gefiel ihr. Und jetzt erkannte sie auch das Gefühl, das ihr neu war und für das sie sich eigentlich schämen sollte, für das sie sich statt dessen aber mit einer zweiten, ebenso unchristlichen Regung belohnte: mit Stolz. Sie hatte Macht über ihn. Nie zuvor hatte sie ein solches Gefühl verspürt, und obwohl sie wusste, dass es eine Sünde war, hatte sie kein schlechtes Gewissen dabei. Da saß einer namens Moritz Schwab, ein fremder, gutaussehender Bursche – wenn auch in schrecklichem Aufzug – und himmelte sie an. Wie gut das tat! Sie war sich sicher: Ein Fingerzeig von ihr würde genügen, und er würde alles für sie tun. Ein herrliches Gefühl! Aber es waren nicht Macht und Stolz allein, die sie durchfluteten. Es war auch nicht nur Dankbarkeit, dass er ihr geholfen, ihr in ihrer Ohnmacht zur Seite gestanden war. Annemarie fühlte noch etwas ganz tief drinnen, das sie ganz stark an ihre liebe Mutter denken ließ: eine seltsame Mischung aus Sehnsucht und 351
Verlangen. Ihre Wangen glühten. Seine Wangen glühten. Wieder schwindelte ihr. »Ich will dann noch zum Friedhof mit«, sagte sie, und ihre Stimme war ihr mit einem Mal merkwürdig fremd und klang, als würde man Sand auf einem Blech reiben. Moritz krächzte zurück. Soweit Annemarie verstand, sollte es »Ja, klar« heißen. Eine Viertelstunde später standen die beiden an der Straße, durch die der Trauermarsch zum Friedhof führen sollte. Noch immer herrschte erstaunliche Ruhe. Außer einzelnen Autos und abgesehen von einem lärmenden Köter, der sich offenbar mit Katzen oder Fliegen herumärgerte, wobei sich sein Gebell schrill und angriffslustig überschlug, war Frieden im Dorf. Natürlich hatten die immer noch unter der Linde rastenden alten Männer neugierig die Hälse gereckt, als Annemarie und Moritz das Haus verließen. Doch der Apostel schwieg diesmal, der Baatsch sowieso. Hatten die beiden den Zauber gespürt, der mit einem Mal über dieser Verbindung lag? Sie an die Hand zu nehmen, wagte er nicht. Schwab war sich der Gefühle des Mädchens zu unsicher. Annemarie machte dazu auch keine Anstalten. Sie spürte, dass es sich nach den Geschehnissen, vor allem in Anbetracht des Zusammenbruchs Kilians und seines ungewissen Gesundheitszustandes, nicht ziemte, das Glück so offen durch die Gassen zu führen. Auch merkte sie instinktiv, obwohl sie von diesen Dingen keine Ahnung hatte, dass dieses Abstand-Bewahren ihr mehr Macht verlieh als jede Annäherung. Ihr Kreislauf schien wieder stabil. Die beiden jungen Leute schwebten dahin. Sie würde, so beschloss Annemarie, Moritz bei nächster Gelegenheit ins Gewissen reden müssen, was seinen Aufzug anbelangte. Schon wieder hing das geliehene Hemd über der Hose, die an den Beinen so kurz war, dass weiße Haut und dreckige Turnschuhe jedermann ins Auge stechen mussten. 352
Flirrende Mittagshitze lag über dem Talkessel. Während sie warteten, stupste sie ein warmer Windstoß an. Es war Schwab, als würde ihm eine Wolldecke übergeworfen. Für einen Augenblick hatte er Gänsehaut. Irgendwo hörte man einen Traktor fahren. Der Landwirt mochte evangelisch sein. Erst leise, dann immer lauter anschwellend kündigte ein Rumoren von der Kirche her, dass der Trauergottesdienst zu Ende war und die Menschen aus dem Gotteshaus kamen. Man hörte Klappern von Blech. Annemarie und Moritz sahen sich in die Augen, streichelten sich mit Blicken zärtlich die Wangen, hatten plötzlich beide gleichzeitig das Verlangen nach einer Berührung und fühlten, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Doch beide hielten stand. Er, weil er zu ängstlich war, sie, weil sie zu mächtig war. Auch war das Kirchenvolk schon zu nahe. Zu gefährlich waren die Schatten hinter den Jalousien und Gardinen. Es würden andere Stunden kommen. Beide lächelten unwillkürlich, von einem Schauder der Freude übermannt, als spürten sie, wie ähnlich sich ihre Gedanken in diesem Moment waren. Nun hob Blasmusik an. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die beiden Wartenden die Spitze des Zuges erkennen konnten. Drei Ministranten gingen vorneweg, der Bub in der Mitte ein Kruzifix tragend. Dahinter die Blaskapelle, mit Posaunen und Trompeten wehklagend, der schwere Schlag des Schlegels auf die Basspauke gab den Takt, in dem die Schritte gesetzt wurden. Der Anblick, den die Spitze des Zuges bot, war beeindruckend. Schwab glaubte schier, unter dem Glanz des Sonnenlichtes schlügen Flammen aus dem goldgelben Blech der Instrumente. Während sich der Zug näherte, erkannte er, dass die Formation zweigeteilt war, ohne aber die Hintergründe dafür, so es denn überhaupt welche gab, zu verstehen. Die exakte Mitte des Zuges zwischen dem Kruzifix an der Spitze und den letzten Nachzüglern am Ende bildete die prächtige Geistlichkeit. Vor und hinter dieser, der wichtigsten Gruppe, Kirchenvolk, nach 353
unergründlichen Gesetzen in zwei Hälften geordnet. Jetzt waren die Ministranten mit dem Kruzifix schon nahe heran, da tauchte hinter den Bläsern ein aufgeregter schwarzer Anzug auf, mal vor-, mal zurücklaufend, schließlich an den Ministranten vorbeihastend und im Umdrehen über diese hinweg die gesamte Zugformation musternd. Es war Spohr. Als er, vor lauter Aufregung ganz durcheinander, die beiden Wartenden erkannte, stutzte er kurz, zauderte, stürzte dann aber herbei. »Geht’s besser?« zischte er, Annemarie sanft an der Schulter berührend, doch schon wieder den Blick auf die Trauergemeinde gewandt und, noch ehe das »Ja« der Mesnerstochter recht ausgesprochen war, sich wieder davonmachend. Da die erste Abteilung des Kirchenvolkes nun die beiden Wartenden passierte und skeptische, musternde Blicke das junge Paar trafen, tat Annemarie, kaum dass das erste Drittel dieser Gruppe vorbeigezogen war, einige Schritte nach vorn und reihte sich in den Zug ein. Morris, den Blick auf die Geistlichkeit gerichtet, bemerkte diese fließende Bewegung fast zu spät, war ziemlich überrascht und musste drei, vier Schritte rennen, um wieder auf gleicher Höhe mit der Angebeteten zu sein und neben ihr her zum Friedhof zu gehen. Die Kapelle schwieg inzwischen, es wurde gebetet. Annemarie sprach mit fester Stimme mit. Sie war eine faszinierende Frau, eine milde, reine und sicher treue Seele, dachte Morris, und sein Herz war voller Stolz und Liebe. Und wie schön sie war! Längst hatte sich Annemarie von ihrer vorübergehenden Unpässlichkeit erholt. Fest waren ihre Schritte, weich und anmutig ihre Bewegungen. Ohne dass er es bemerkt hatte, war der Zug am Friedhof angelangt. Schwab hatte während des ganzen Weges nur Augen für seine Annemarie gehabt und spürte erst am Geräusch des unter seinen Schuhen knirschenden Kieses, dass sie das Ziel ihres Marsches erreichten. Die Zugspitze schwenkte in einem 354
möglichst großen Bogen im Friedhof herum, um ausreichend Platz für die Nachfolgenden zu schaffen. Die Ministranten zogen derweil geradewegs weiter und kamen schließlich vor dem Leichenhaus zu stehen. Schwab stutzte. Halt! War das nicht Werners? Für einen Augenblick glaubte Morris, den Freund gesehen zu haben, doch nun verdeckte die Blaskapelle die Stelle, wo er Jaco sitzen wähnte. Hatte er sich getäuscht? Wenn nicht, was wollte Werners am Friedhof? Schwab stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, zwischen den Trachten hindurch und über die Trompeten und Hörner hinweg etwas zu sehen. Offenbar hatte er sich tatsächlich geirrt. Der Platz, wo er Werners entdeckt zu haben glaubte, war leer. Immer mehr Leute drängten in den Gottesacker. »Domkapitular Schnorr«, wisperte eine weibliche Stimme hinter ihm, als die Geistlichkeit am Leichenhaus eintraf. »Dekan Sperber«, flüsterte eine andere Frau. Das geistliche Paar gab schon etwas her, fand Schwab. Hinter den mit Weihrauchfass, Weihwasserkessel und einer Art Funkgerät bewehrten Ministranten folgten jene, die Domkapitular Schnorr und Dekan Sperber sein mussten. Hinter diesen wiederum schritten drei andere Pfarrer sowie jener ständig lächelnde Kuttenmensch, der Schwab in der Kirchenbank Gesellschaft geleistet hatte. Morris musste unwillkürlich sein Hemd in die Hose stopfen. Dankbar schaute er den Pater an. Hätte dieser ihm nicht den Weg aus der Kirchenbank versperrt und ihn so zum Ausharren gezwungen, dann wären er und Annemarie womöglich nie zusammengekommen. Beeindruckt studierte Schwab auch das im Leichenhaus aufgebahrte Arrangement. Der Sarg schien in einem Meer von Blumen, Kränzen und Gestecken zu verschwinden, vor dem Sarg standen zwei große Buchsbäume wie englische 355
Wachsoldaten mit Bärenfellmützen, hinter diesen in Reih und Glied jeweils vier Kerzenständer. Die Kerzen flackerten im Windhauch. Während sich die Priester und Ministranten eher rechts vom Sarg versammelten, suchten sich der Pater, die Schwester des Verstorbenen und die zwei Neffen in der linken Hälfte der Aussegnungshalle einen Stehplatz. Die Schwester heulte und tupfte sich mit einem großen weißen Taschentuch die Tränen ab. Den Neffen war anzusehen, dass sie sich nicht wohl fühlten. Sie blickten nervös in der Gegend herum und bemühten sich vergeblich, gelangweilt zu wirken. Jetzt hüpfte auch wieder Spohr herbei, griff einer älteren Frau unter den Arm und führte die Widerstrebende der Familie zu. Die Alte war eine einzige Klage von Trauer und Leid. Fragend blickte Moritz Annemarie an, die seinen Blick bemerkte und kaum hörbar »Pfarrhaushälterin« flüsterte. Die Trauergemeinde schob sich nun überwiegend, weil selbst der große Bogen erschöpft war, hinter die bereits Stehenden in die einzelnen Grabreihen hinein. Gleich würde auch der Letzte seinen Platz gefunden haben. Schwab durchfuhr Entsetzen, als er seinen Blick vom Eingang des Friedhofs wieder zurück zum Mittelpunkt des Geschehens wandte. Da stand Werners! Auch Annemarie zuckte zusammen. Kein Wunder aber auch bei dem Anblick, den der junge Mann bot. Wie kam der Kerl überhaupt dazu, sich dort vorne hinzustellen? Seine nassen Haare lagen ganz platt am Kopf, das orangefarbene Hemd wies große Wasserflecken auf, bei denen es sich aber auch um Schweißflecken handeln konnte, und war obendrein nur zur Hälfte zugeknöpft. Die weite Hose aber hätte einem Sauhirten zur Ehre gereicht, zumal sie ganz offensichtlich nicht nur sehr verschmiert war, sondern am Bund auch noch von einer Art Strick zusammengehalten wurde, dessen Enden ein Stück weit herunterhingen. Was, zum Teufel, machte er da vorne? Schwab wurde nervös. 356
Werners hatte sich vor die Blaskapelle gestellt und stand somit in vorderster Front, kaum drei Meter von der gebeugten Pfarrhaushälterin entfernt in unmittelbarer Nähe des Zentrums der Betroffenheit, der Verwandtschaft des Toten. Glücklicherweise hatte der die Aussegnung leitende Domkapitular die seltsame Erscheinung noch nicht bemerkt, oder aber war er dank jahrzehntelanger Berufserfahrung souverän genug, die Missgestalt zu ignorieren. In der Trauergemeinde selbst aber hob unüberhörbar ein Wispern und Tuscheln an, wurde sogar vorsichtig mit Fingern dorthin gezeigt, wo Werners stand. Auch Annemarie schien seltsam aufgeregt und wippte, obwohl sich dieses für eine Dame und angesichts der traurigen Umstände der Versammlung eigentlich nicht ziemte, immer wieder auf die Zehenspitzen, um Jaco besser sehen zu können. Morris schämte sich: Wie konnte Werners nur so bescheuert sein? Wie peinlich! Da, nun schaute dieser ganz interessiert über die Gemeinschaft hinweg, als suche er jemanden. Sein Blick wanderte über die Köpfe, war fast bei Morris angelangt, der sich bereitmachte, dem Freund ein Zeichen zu geben, von da vorne zu verschwinden und sich in den hinteren Teil des Friedhofs zu begeben, da hob Domkapitular Schnorrs Stimme an. Aus zwei Lautsprechern, die links und rechts im Schatten der Halle standen, krachte ein Gebet. Werners’ Blick rückte wieder vom Kirchenvolk ab und konzentrierte sich auf den Geistlichen. Schwabs Nerven lagen blank. Herr, wie soll das enden? flehte er und stopfte aufgeregt das Hemd in die Hose. – - Das kühle Wasser hatte ihn erfrischt, hatte aber auch zwei Nachteile. Zum einen rann ihm aus den nassen Haaren ein dünnes Rinnsal über den Nacken den Rücken hinunter, um irgendwo auf Höhe der Nieren zu versickern, zum anderen hatte die Aussicht auf eine Erfrischung eine offenbar dürstende Wespe angelockt, die immer wieder im Sturzflug auf Werners’ Haaren zu landen 357
versuchte. Dieses Gebrumme und ständige Attackieren ging an die Nerven. Wie sollte man da einen klaren Gedanken fassen? Jaco versuchte sich vorzustellen, wie der Apostel mit der Gemeinde in den Friedhof kommen, wie er ihn zur Seite ziehen und ihm alles erklären würde, wie sein Beichtvater ihm väterlich tröstend die Hand auflegen und dann mit erhobenen Armen vor das Volk treten und Werners von aller Schuld freisprechen würde, wie er um Milde wegen des Rosenkranz-Diebstahls bäte und wie dann einzelne aus der Gemeinde ganz gerührt und voller Verständnis auf ihn, Werners, zugingen und ihn verzeihend in die Arme schlossen. Über die ganzen Hintergründe der Bluttat und die mafiosen Strukturen würde er natürlich gegenüber dem Apostel schweigen. Was brachte das jetzt noch, und weshalb sollte er neue Gefahren auf sich heraufbeschwören? Der Lieferwagen des Blumenmannes wurde gestartet. Dieselnd brummte das Fahrzeug in Richtung Dorf davon. Am Friedhofseingang stand der Bestatter, mit Blick zum Ort an die Mauer gelehnt und rauchte. Werners überkam ein unbändiges Verlangen nach einer Zigarette. Er selbst hatte seine Packung im ›Stern‹, das Feuerzeug aber in der verdorbenen Hose zurückgelassen, die irgendwo zu Füßen einer Scheune vor sich hin dampfte. Doch er zauderte, auf den Leichenmann zuzugehen, ihn anzusprechen. Ein wenig beunruhigte ihn auch der Gedanke, dass der schwarzgekleidete Typ von dem ganzen Ganovenspiel etwas wissen musste. Sicher hatte er Schweigegeld kassiert und würde misstrauisch auf jede unerwartete Annäherung reagieren. Ein weiterer giftiger Angriff der Wespe gab dann den Ausschlag für seine Entscheidung. Jaco wehrte das Vieh mit einer Armbewegung ab, sprang auf und marschierte über den Kies zum Friedhofsausgang. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, drehte sich der Bestatter um, vom Knirschen der Steine unter Werners’ Schuhen aufmerksam geworden, und 358
studierte den Herannahenden kritisch. Für Werners sprach sein Blick Bände. Der Kerl war eingeweiht. Hatte natürlich mithelfen müssen, die Ersatzleiche – wer mochte das eigentlich sein? – im Sarg zu verstauen. Hatte auch die Papiere so hintrimmen müssen, dass nichts auffiel. Würde es nicht zulassen, dass irgend jemand jetzt noch ihre Pläne durchkreuzte und die Beisetzung verhinderte. Doch jetzt gab es kein Ausweichen mehr für Werners. »Hamm Sie mal bitte eine Zigarette für mich?« kam Jaco direkt zur Sache. Was sollte er lange um den heißen Brei herum reden, was von heißem Sommer und lauer Luft lallen, wo er doch nur eine Kippe wollte? Außerdem durfte er sich nicht anmerken lassen, dass er die Verbrecherbande durchschaut hatte. Die Gesichtszüge des anderen wurden noch skeptischer, auf der von Schweißperlen feuchten Stirn runzelten sich Falten. »Wem ghörst denn du?« wollte er wissen und stellte klar, dass er Ausreden nicht akzeptieren würde: »Du bist doch nit aus’m Dorf, gell?« Werners schüttelte den Kopf und nickte dann zur Bestätigung. »Auf Durchreise«, sagte er spontan und war mit seiner Antwort sehr zufrieden, weil sie vieles bedeuten konnte und ihn zugleich nicht festlegte. Der Bestatter machte eine Grimasse und schien unwillig. »Tippelbruder?« fragte er. Das klang nicht gut. »Urlaub«, gab Werners kontra. Das kam besser. »Da, im Dorf?« Der Schwarze wurde zugänglicher. Werners nickte wieder. Noch etwas ärgerlich brummelnd griff sich der Bestatter in die Brusttasche seines weißen Hemdes und holte eine Zigarettenpackung heraus, die er dem Schnorrer schließlich anbot. Werners zog sich eine Zigarette heraus, nahm dankbar 359
das angebotene Feuer und paffte gierig. Eine Wohltat. »Da is fei gleich Beerdichung«, warnte der Bestatter, nachdem er sich ebenfalls bedient hatte und sie ein paar Züge gemeinsam gemacht hatten. Die Wespe, so stellte Werners nach einigen Rauchzeichen zufrieden fest, war offenbar in die Flucht geschlagen. Während er seine Mahnung aussprach, deutete die Hand des Totengräbers mit qualmender Kippe auf Werners Aufzug. »Da machst dich dann vom Acker«, befahl der Schwarze. Das Gesicht des Mannes ließ keine Zweifel daran, was er von Werners äußerem Erscheinungsbild hielt. Jaco deutete eine Reaktion nur an. Seine Kopfbewegung konnte Zustimmung genauso bedeuten wie »Ja, ja, red du nur.« Natürlich würde er sich nicht vom Acker machen, bevor hier alles geregelt wäre. Er konnte nicht sein Leben lang wegen einer Verkettung von Missverständnissen auf der Flucht bleiben. Gezerre mit dem Bestatter konnte er freilich auch nicht gebrauchen. »Wo kommst’n her?« wollte der nun wieder wissen, und Werners begann, die Fragerei auf den Nerv zu gehen. Er deutete zum Dorf hinüber. Der Fragesteller ließ sich nicht abwimmeln. »Scho, awer eigentlich«, setzte er bohrend nach. Am liebsten hätte Werners nun »Schönen Tag noch« gesagt, sich abgedreht und wieder an seinen Wassertrog gesetzt, doch der Gedanke an den Fluch des Rosenkranzes hielt ihn zurück. Nach allem, was ihm passiert war, hieß es nun aufzupassen. Vielleicht würde seine Unfreundlichkeit den Zorn des anderen heraufbeschwören. Wenn es saublöde lief und nicht rechtzeitig jemand auftauchte, konnte noch Schlimmeres geschehen. Ein Messer zwischen die Rippen möglicherweise. Wenn schon mal die Grube ausgehoben war, dann lagen auch schnell zwei darinnen. Und wer würde ihn jemals dort suchen? Außer dem Blumenhändler hatte doch 360
niemand mitbekommen, dass er zum Friedhof gegangen war, oder? Vielleicht noch dieser Pater im Dorf. Werners war sich längst sicher, dass es sich dabei nicht um Heribert gehandelt hatte. Freilich, da war diese Ähnlichkeit, aber möglicherweise war sie bewusst gewählt worden, um ihn zu täuschen. »Wer wird denn Pfarrer?« löste sich Werners aus seinen Gedanken und in der Absicht, die Frage des Schwarzen mit einer Gegenfrage zu kontern. Im nächsten Augenblick schon wollte er sich auf die Zunge beißen. Mann, wie blöd! Er hatte »Wer wird denn beerdigt?« fragen wollen, hatte aber im Wissen darum, wer beerdigt wird, Frage und Antwort zu einer neuen Frage verknüpft. »Wer wird denn Pfarrer?« war dabei herausgekommen. Der Bestatter runzelte die Stirn. Ihn schien die Frage zu irritieren. »Woher soll ich des wiss?« fragte er ein wenig ärgerlich zurück. »Irgend enner wird’s scho wem.« »Ich mein’ ja nur«, setzte Werners nun wieder an, kam aber in seinem Satz nicht weiter, denn vom Dorf herauf war nun deutlich Blasmusik zu hören. In den anderen kam Bewegung. Der Bestatter zog noch einmal an seiner Kippe, warf sie dann auf den Kies, trat das glimmende Ende aus und scharrte mit seinem Schuh Kies über die Reste der Zigarette, bis von dem Stummel nichts mehr zu sehen war. »Pack mersch«, stellte der Mann fest, ging auf die Leichenhalle zu, blieb stehen und wandte sich zurück. »Du verdünnisierst dich etzt am beste«, meinte er. Der Angesprochene schaute ihm nach, beobachtete, wie der Schwarze an den Kränzen die Schleifen zurechtzupfte, schließlich die Kerzen anbrannte, in einer Nische verschwand und mit einem Eisenständer zurückkam, den er direkt vor dem Sarg postierte. Der Form nach sollte das Gestänge wohl ein Weihwassergefäß aufnehmen. Die Blasmusik verstummte. Nur die Pauke war noch zu hören, 361
dann auch diese nicht mehr. Statt dessen drang ein brummendes Raunen und feines Rauschen vom Dorf her, aus dessen Brei sich allmählich Stimmen herauslösten, bis ein einheitlicher Gebetsrhythmus zu erkennen war. Schon konnte Werners die Spitze des Zuges, die Ministranten mit dem Kreuz, erkennen. Jaco beschloss, zu seinem Platz am Wassertrog zurückzukehren, jedoch nicht auf direktem Weg, um nicht dem Bestatter in die Arme zu laufen, sondern auf verschlungenen Pfaden zwischen den Grabreihen hindurch. Während der Chor der Betenden immer lauter wurde, der Trauermarsch schon fast den Friedhof erreicht hatte und er vor dem Zug in den Gottesacker zwischen die Grabsteine wich, sah Werners vorne am Leichenhaus den schwarzen Mann mit den Armen fuchteln. »Naus jetzt!« rief der und kam ärgerlich einige Meter auf ihn zu. Als er allerdings mit einem Blick zum Friedhofseingang, den die Ministranten mittlerweile schon durchschritten hatten, bemerkte, dass es für Strafexpeditionen zu spät war, fluchte der Schwarze und kehrte in die Leichenhalle zurück. Es war höchste Zeit, der Spitze des Zuges Regieanweisungen für den Aufmarsch zu geben. Vom Apostel keine Spur. Werners blickte angestrengt in die Reihen der Herannahenden, dann aber verdeckten ihm die Männer der Kapelle die Sicht, und, schlimmer noch, jetzt drängten ihn diese auch noch, da er nach vorne gelaufen war, um bessere Sicht zu haben, zur Seite und schoben ihn vor sich her. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, geriet Jaco zwischen die kreuztragenden Ministranten und die Trompeten, wurde begafft und geschoben und schließlich, nachdem die Gemeinde immer mehr von hinten nachgedrängt hatte, irgendwie zwischen den Blechinstrumenten nach oben geschwemmt, bis er unmittelbar vor der Kapelle strandete. Er fühlte sich mächtig unwohl. Hinter ihm die Füsiliere in Reih und Glied, die blechernen Waffen geschultert, vor ihm der Sarg mit der umstehenden Verwandtschaft und der hohen Geistlichkeit, weiter rechts die 362
Gemeinde, aus der viele Dutzend Augen auf ihn gerichtet waren, Kinnspitzen auf ihn deuteten und Münder über ihn Gericht tuschelten. Und rechts außen an der Wand der Leichenhalle der Bestatter, bleich vor Wut, die Hände zu Fäusten geballt, die ihn zerquetschen wollten. Das war kein guter Platz, das wusste auch Werners, aber was sollte er machen? Inzwischen war ihm jeder Fluchtweg abgeschnitten. Er hätte sich bestenfalls noch quer durch das gläubige Volk hindurch davonstehlen können. Das aber hätte mächtig Aufsehen gegeben, und womöglich hätte ein altes Weib zu allem Unglück auch noch »Des is der Möärdärrr!« gebrüllt. Werners versuchte, zwischen den vielen Köpfen den blanken Schädel des Apostels, vielleicht sogar die breite Visage des Baatsch auszumachen, wurde in seinem Herumspähen jedoch abgelenkt, da der Oberpriester nun zu einem Gebet ansetzte. Aus zwei Lautsprechern knarzten die Gebetssalven in die Reihen der Gläubigen. Was sollte er tun, wenn der Apostel nicht auftauchte? Wer würde sonst sein Fürsprecher sein? Schwer rollten die Gedanken durch Werners’ Schädel. Das Blech funkelte in der Sonne, polierte Lederschuhe quietschten, weiter hinten quengelte ein Kind, jemand pupste laut und deutlich. Wenige Schritte neben ihm standen zwei junge Burschen in schwarzem Tuch, die ihn verächtlich musterten. Auch die Ministranten hatten sich auf ihn konzentriert; das zeigte ihr freches Grinsen. Der Trauergottesdienst schritt voran, ohne dass Jaco ihm besondere Aufmerksamkeit schenkte. Vergeblich stierte er in die Reihen der Gläubigen, fixiert auf einen blanken Schädel. Doch es war kein Apostel zu sehen. Erst ab jenem Zeitpunkt, da sich aus der Gemeinde einzelne Glieder lösten, um nach vorne zu treten und in das vom Oberpriester gereichte Mikrofon zu sprechen, wandte sich Werners wieder dem Geschehen in seiner unmittelbaren Nähe zu. Bald war es schon der dritte im guten Anzug, der das segensreiche Wirken des Pfarrers lobte, die 363
Lücke, die sein Tod gerissen hatte, beklagte und ihm die Ruhe in Frieden wünschte. Die Banner der Fahnenabordnungen schwangen unter einem heißen Windstoß schwer und träge. »Er war ein gern gesehener Gast in unserer Vereinsfamilie«, sagte der Mann am Mikrofon, »offen für all unsere Belange, Sorgen und Nöte.« Wäre das seine Chance? Wieso sollte Werners nicht auch nach vorne gehen, sich das Mikrofon nehmen und der Gemeinde erklären, was es mit ihm und dem Pfarrer auf sich hatte? »Ich habe des Pfarrers Rosenkranz geraubt und damit große Schuld auf mich geladen«, könnte er doch sagen, »noch größere aber, weil ich das Ding verloren habe und nicht mehr finden kann.« Das wäre für einen Einstiegssatz nicht schlecht. Nun sprach eine Frau, die den Pfarrer im Kindergarten vermisste. Wie aber dann fortfahren? Erzählen, dass er zusammen mit seinen Freunden, mit dem Apostel und dem Baatsch, im Gasthaus ›Stern‹ dem Frankenwein erlegen war und so den Weg bereitet hatte für alle Missgeschicke? Wieder kam ihm die Mafia in den Sinn. Und wenn der Sarg leer wäre? Musste er das Volk der Trauernden nicht erst auf diese Möglichkeit hinweisen, musste er den Bestatter, der mit den Ganoven sicher unter einer Decke steckte, nicht dazu zwingen, unter aller Augen den Deckel des Geheimnisses zu lüften? Die Frau aus dem Kindergarten vergoss Tränen. Die Frau links vom Sarg, die in Begleitung der zwei hochnäsigen Halbwüchsigen war, schluchzte bei den Worten der Kindergartenfrau und angesichts des Leids, das der Pfarrer durch seinen Tod im Kindergarten angerichtet hatte, laut auf. Sollte er jetzt? Bevor Werners reagieren konnte, machte ihm der Bestatter einen Strich durch die Rechnung. Er sprang herbei, als die Kindergärtnerin, von ihrer Rede geschwächt und von der Sehnsucht getrieben, sich wieder unters Volk mischen zu 364
dürfen, verzweifelt nach einem Menschen Ausschau hielt, dem sie das Mikrofon in die Hand drücken konnte. Der schwarze Kerl würde Werners das Mikro nie geben. Der Klang der Hörner und Posaunen hinter ihm ließ Werners zusammenfahren. Ohne dass er es beabsichtigt hatte, weil aber selbst die Mauern Jerichos bei diesem Klang gewichen wären, schloss sich Werners den drei Ministranten an, die nun, das Kreuz in der Mitte, nach vorne flohen. In Höhe des Sarges verlangsamten die Buben, um vier Männer vorbeizulassen, die sich aus der Trauergemeinde gelöst hatten, um in die Leichenhalle hinüberzuwechseln. Während sich die vier Träger links und rechts vom Sarg aufbauten, zugriffen und den auf einem Gefährt stehenden Sarg mit einem Ruck in Bewegung setzten, schritten die Ministranten vorneweg und am Spalier der Trauernden entlang über den Kies, dann mit Rechtsschwenk in einen schmäleren Weg einbiegend, an dessen Anfang sogleich eine Menge Erde ausgehoben war und sich das Grab der Pfarrers befand. Werners, der eigentlich am Sarg und den Ministranten vorbei in eine Nische des Leichenhauses verschwinden wollte, dort aber den Bestatter entdeckte, der ihn zähneknirschend erwartete, wurde, vor der Gefahr zurückweichend, vom Trauerzug mitgerissen. Neben den Ministranten her stolpernd, entdeckte er Schwab in der Menge und winkte ihm zu. Ganz verwundert registrierte er, dass das Engelswesen neben diesem stand. Was hatte das zu bedeuten? Hatten die Ganoven die Blonde jetzt auf den Freund angesetzt, um auf diesem Wege doch noch seiner habhaft werden zu können? Werners wollte stehenbleiben und auf Morris zugehen, um diesen zu warnen, wurde aber, kaum dass er ein wenig verharrte, im Rücken vom Sarg getroffen und weggeschubst. »Mach dich weiter, Trottel!« fluchte einer der Sargträger und warf ihm einen Blick zu, der wie glühendes Eisen seine Haut versengte und Jaco keine andere Wahl ließ, als weiterzutaumeln. 365
Seitlich weg in die nächste Gräberreihe, dachte er noch, in der Hoffnung, sich zwischen die Trauernden und aus der Schussbahn seiner Verfolger bewegen zu können. Doch da blühte ihm schon das nächste Unheil. Mitten in dem als Fluchtweg auserkorenen Pfad, wie ein mächtiger Fels unverrückbar fest, versperrte ihm Petra den Weg. Fast hätte er sie in dem riesigen schwarzen Kleid nicht erkannt. Ihr Vollmondgesicht leuchtete rot vor Aufregung, zwei riesige, wütende Augen glotzen ihn an. Sie würde hoffentlich nicht ausgerechnet jetzt die Hose ihres Bruders zurückfordern, dachte Jaco, wich vor der Mächtigen zurück und tat zwei, drei schnelle Schritte, um wieder Anschluss an die Ministranten zu bekommen. In seinem Ungeschick rempelte er den Kreuzträger an, der schwankend Mühe hatte, den Herrgott in Balance zu halten. Ein Stöhnen ging durch das Volk der Gläubigen. Nun aber drängte die Geistlichkeit nach, irgendwie dazwischen der Bestatter, der Werners unsanft kratzend ins Hemd griff, ihn mit roher Gewalt zur Seite zerrte, wobei er dem Störenfried giftigen Geifer ins Ohr spuckte, »Verpiss dich!« zischend. Doch es wurde zu eng für solche Manöver. Der Schwarze hatte ihn in seiner Wut zur falschen Seite geschubst, wo jetzt die Verwandtschaft heranrempelte und sich insbesondere die beiden unfreundlichen Halbwüchsigen hervortaten, von denen der kleinere besonders spitze Ellenbogen hatte. Es nutzte alles nichts. Eingekeilt zwischen Grabhügel, Ministranten und Priestern, im Rücken die knochige Verwandtschaft und halb rechts von sich den Bestatter, war einfach kein Platz, ihn abzusondern. Da war auch der falsche Pater Heribert wieder. Wie ärgerlich er doch schaute. »Mann, stinkt der«, stöhnte jetzt einer der beiden Neffen Heusingers, und wieder wurde Werners zur Seite gestoßen, so dass er schließlich fast auf dem Fuß des Erdhügels zu stehen kam, die offene Grube unmittelbar vor sich. Wollten sie ihn 366
hineinschubsen? Mit blankem Entsetzen hatte Schwab aus der Trauergemeinde heraus beobachtet, wie sich Jakob Werners im Laufe der Trauerfeierlichkeiten mehr und mehr ins Rampenlicht spielte, ja, wie er sich schließlich gar den Sargträgern in den Weg gestellt hatte und von diesen zur Seite gestoßen werden musste. Frech aber hatte sich der Freund erneut aufgerappelt und war – sozusagen mit dem Zentrum des Leids verwoben – mit Ministranten, Geistlichkeit und Verwandtschaft ans offene Grab gespült worden. Auch Annemarie war angesichts der Ereignisse schon ganz aufgeregt und kaum mehr zu beruhigen. Des Vaters Blut rinnt durch ihre Adern, dachte sich Schwab. Der Mesner wäre längst einem Herzinfarkt erlegen. Gut, dass ihm dieses Desaster erspart blieb. Dass aber auch gar keine ordnende Hand vorhanden war, jemand, der beherzt eingriff und den Freund in ruhige Gewässer zog! Moritz Schwab versuchte, irgendwo in der Menge den Pfarrgemeinderatsvorsitzenden Spohr entdecken zu können. Der hätte doch längst einschreiten müssen! Schließlich fanden ihn seine Augen am Rande der Leichenhalle, blass vor Entsetzen und erschöpft an die Außenmauer gelehnt. Hatte er bisher alles richtig gemacht, so war Spohr bei der Auswahl seines Stehplatzes der entscheidende Fehler unterlaufen. Alles stand ihm im Weg. Von dieser Position ganz außen hatte er zwar freie Sicht auf Werners’ Auftritt gehabt, jedoch nicht die geringste Chance auf ein Einschreiten, wenn er nicht vor allen Leuten und quer über den Platz, dabei noch die Geistlichkeit tangierend, zupacken wollte. So hatte er auf den Zug zum Grab gehofft. Doch wieder konnte er nicht handeln, da diesmal die unselige Gestalt, von seiner Warte gesehen, hinter dem Sarg ging und er unmöglich darüberspringen oder unten durchschlüpfen konnte. Das kurze Glücksgefühl, als der Sarg den Landstreicher ins Kreuz traf, währte auch nicht lange. Der erhoffte Sturz trat nicht ein, der Getroffene schien auch nicht 367
weiter verletzt, von einer zu wünschenden Nierenquetschung ganz zu schweigen. Der Idiot wurde im Gegenteil durch diesen Sargrempler regelrecht angeschubst und lief nun, ohne dass ihn noch etwas hätte aufhalten können, auf die offene Grube zu. Wenn er in seinem Suff bloß nicht hineinfiel! Das hätte gerade noch gefehlt! Dabei hatte alles so gut begonnen, mehrfach hatte ihm der Domkapitular in der Kirche freundlich zugenickt, offensichtlich sehr zufrieden mit dem Verlauf der Feierlichkeiten. Wie aber würde es nun enden? Seinen Plan, sich durch die Menschenmenge hindurch nach vorne zu arbeiten, um den Freund aus der Schusslinie ziehen zu können, gab Morris rasch auf. Es war einfach kein Durchkommen, zumal nun auch alles nach vorne strebte, dem Grabe zu, um den Abschluss der Feier besser mitzubekommen. Wie peinlich ihm das war, und wie sehr er sich für seinen Freund vor Annemarie schämte! Die Mesnerstochter blickte ganz verzweifelt drein. Es war höchste Zeit für ein Wunder, fand Morris. Irgendeine dieser Überraschungen, wie sie jeder bessere Film vorzuweisen hatte. Ein Wolkenbruch hätte schon genügt, um die brenzlige Situation zu bereinigen. Natürlich wäre ein Tornado besser. Aber nichts geschah. Dass der Herrgott aber auch kein Einsehen hatte! Wieso sandte er nicht einen über die Köpfe der Gläubigen daherschwebenden Engel, der Jaco sanft hinforttrug? Nichts. Annemarie betete leise vor sich hin. »Heilige Maria, Muttergottes«, verstand Schwab. Ja, Annemarie hatte recht. Es blieb nur Beten. Das einzige, was erschien und Morris jetzt ganz und gar ungelegen kam, war Selma. Er hatte die bis vor kurzem von ihm abgöttisch Angebetete weder in der Kirche noch am Friedhof gesehen, hatte auch, zugegeben, zuletzt nicht mehr so darauf geachtet. Nun jedoch stand Selma etwas abseits von der großen Menge, zwei Pfadreihen von ihm entfernt, auf einer Grabumrandung. Die höhere Position hatte sie wohl weniger aus 368
der Überlegung heraus gewählt, selbst eine gute Sicht auf die Geschehnisse zu haben, als vielmehr in der Absicht, sich für die Augen der anderen optimal zu präsentieren, stellte Moritz Schwab verbittert fest. Trotz der Traurigkeit des Anlasses hatte Selma einen zwar schwarzen, aber doch recht kurzen Rock gewählt, der kaum bis an die Knie reichte. Ihre Beine waren mit schwarzen Strümpfen bedeckt, die den Reiz dieser Gliedmaßen besonders betonten. Kurios, nein, unbeschreiblich frech aber war die Bedeckung ihres wohlproportionierten Oberkörpers. Andersherum hätte man es sich ja noch angehen lassen, aber Selma trug nicht etwa eine schwarze Bluse mit weißem Büstenhalter darunter, den man in diesem Fall gar nicht bemerkt hätte, sondern umgekehrt. Kein Blinklicht hätte mehr Aufmerksamkeit erregt als der schwarze BH unter dem weißen Stoff. Schwab spürte einen Stich in seiner Brust. Nun hatte auch Selma den jungen Verehrer entdeckt, lockte ihn mit Blicken, die »Verzeih mir, ich mach alles wieder gut« versprachen. Und – Morris glaubte seinen Augen nicht zu trauen – bat sie ihn nicht mit einer sanften Kopfbewegung zu sich hinüber? Er scherte etwas aus dem Fluss der zum Grab strömenden Gemeinde, trat zwischen zwei Gräber, um stehenbleiben zu können. Selma lächelte. Zeigte alles, was sie hatte. Es war viel. Sollte er? Schwab war sich sicher, dass die Nymphomanin beim kleinsten Zwinkern seiner Augen mit ihm zum Ausgang des Friedhofes eilen und nach Hause stürmen würde. Sollte er? Das Angebot war eigentlich unwiderstehlich. Fast hätte er sich von seinen Trieben leiten lassen, da fiel sein Blick auf Annemarie. Auch sie war stehengeblieben, ein paar Meter weiter vorne. Natürlich, Annemarie. Ratlos sah sie ihn an. Er spürte, wie ihre Augen zwischen Selma und ihm hin und her wanderten und ihm Fragen über Fragen stellten. Für einen Moment hatte er das Mädchen vergessen. Nein, nicht wirklich. Nur verdrängt. Wie konnte er? Er war ein Schwein. Schämte 369
sich. Und war doch stolz, wie er Selma jetzt so einfach ignorieren, seine Vergangenheit hinter sich lassen und sich der Zukunft zuwenden konnte. Mit wenigen Schritten war er bei Annemarie. Und weil Annemaries Augen gar so traurig blickten, griff er, ungeachtet der Leute um sie herum, ihre Hand und drückte sie ganz fest. Das war ein Versprechen. Das Mädchen spürte es. Ihre Augen verziehen. Nur ein winzig kleines Fältchen an ihrem linken Mundwinkel, das erst in den letzten Minuten entstanden war, blieb als Brandmal seines Versagens zurück. Noch fiel es Moritz Schwab nicht auf, doch es würde wachsen und gedeihen, bis er alles gebeichtet hatte. Gemeinsam rückten die beiden jungen Leute noch etwas näher ans Grab. Es gelang ihnen schließlich, einen Platz zu ergattern, von dem aus sie wenigstens halbwegs den über der Grube abgesetzten Sarg, vor allem aber Werners im Blick hatten. Der stand unschlüssig am Fuß des aufgeschichteten Erdhaufens herum. Wirkte fast ein wenig ärgerlich, fand Schwab. Vielleicht, weil nun wieder gepredigt und gesungen wurde und die Feier eben ihren vorgesehenen Gang ging, ungeachtet all der persönlichen Schicksale, die zu dieser Stunde auf diesem Friedhof herumstanden, sich aber der Zeremonie unterordnen mussten. Ein Leuchten auf Werners’ Antlitz, ein Angstschauer auf Schwabs Rücken, als der Priester die Versammelten aufrief, für jenen im Kreise zu beten, der als nächstes dem Verstorbenen ins ewige Leben nachfolgen würde. Schwab blickte sich verunsichert um. Er fühlte sich jung und eigentlich fit. Da standen einige ältere Frauen, dort drüben ein alter Mann, der ihm vorhin schon durch sein krankes Husten aufgefallen war. Das tröstete, beruhigte aber nicht wirklich. Man konnte ja nie wissen. Sein Blick ging wieder nach vorne. Verdammt, wo war Werners? Für einen Augenblick glaubte Schwab, der Freund 370
hätte sich ins offene Grab gestürzt. Nein, Gott sei Dank, jetzt konnte er ihn wieder zwischen den Leuten hindurch erkennen. Ganz bleich im Gesicht war er. Hatte sich auf den Erdhaufen gesetzt. Heulte er etwa? Morris glaubte sehen zu können, wie sich der Pater zu ihm hinunterbeugte, ihn hochzuziehen versuchte, auf Werners einredete. Dann standen wieder zu viele Leute in seinem Blickfeld. Die offizielle Beerdigungsfeier schien vorbei. Ministranten und Geistlichkeit wühlten sich durch die Menge seitwärts ab. Die Leute selbst drängten weiter zum Grab, um, wie Morris sah, mit kleinen Schäufelchen Sand aus zwei Eimern ins Grab zu werfen. Schwab und Annemarie reihten sich ein. Annemarie, weil es ihr sicher etwas bedeutete, dem toten Pfarrer die letzte Ehre zu erweisen, Moritz, weil er von der Angebeteten nicht lassen wollte und es außerdem der beste Weg war, um möglichst rasch an den Freund heranzukommen. Da spürte Morris, eingereiht in die Schlange derer, die den Sandschäufelchen entgegenzogen, ein Zupfen an seinem Hemd. Das schmeichelte ihm. Selma war aber hartnäckig! Er musste sie zur Ordnung rufen. Sie hatte ihre Chancen gehabt und vertan. Nun galten andere Prioritäten als nackte Fleischeslust. Aber als er sich umwandte, war es Rosalinde, die dicke Wirtsfrau. Die Hitze hatte ihr zugesetzt. Schweißperlen auf der Stirn, der Kragen der Bluse ganz dunkel vor Feuchtigkeit. »Gell? Es Kirchgehn hilft«, flüsterte sie und strahlte von Glückseligkeit ergriffen erst Moritz, dann Annemarie an. »Der Herr wird’s richten. Mit Hilfe unserer lieben Gottesmutter. Es stimmt immer widder«, kicherte sie leise, die äußeren Umstände und den Ort der Begegnung völlig ignorierend. Schwab räusperte sich verlegen. Auch Annemarie, die das Gewispere mitbekommen hatte, war das Gerede sichtlich unwillkommen. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Hand noch 371
immer von Schwabs Fingern fest umschlossen war. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. Schnell war die Klammer gelöst. Morris war etwas verdutzt, ließ es aber geschehen. Nun rückte die Reihe der Kondolierenden drei Schritte vor. Schwab wollte sich abwenden, doch Rosalinde zupfte erneut am Hemd, das längst wieder aus dem Hosenbund heraus hing. »Wart emol«, flüsterte sie. Wühlte dann in ihrer Rocktasche herum und zog etwas silbrig Glänzendes heraus. Eine Art Kettchen, dachte Morris zunächst, bis er das kleine Kreuz entdeckte. Ein Rosenkranz. Wozu das? »Hat mir der Egon mitgewe. Ghört ihm nit, sacht er.« Sie habe das vorhin im Haus ganz vergessen gehabt, entschuldigte die Sternwirtin, denn den Rosenkranz trage sie schon, seit sie bei Egon im Krankenhaus war, mit sich herum. Schwab verstand nur Bahnhof. Nahm trotzdem das ihm entgegengestreckte Kettchen entgegen, damit es eine Ruhe gab. Die Leute guckten schon. Nun lag die Grabstätte freien Blicks vor ihnen. Noch zehn, zwölf Trauergäste, dann würden Annemarie und Moritz an der Reihe sein, zum Schäufelchen zu greifen. Dreimal stach man hinein in den Topf, dreimal wurde Sand in die Grube geworfen. Dann ging es an der trauernden Familie vorbei. Der kleinen Gruppe hatte sich, verdammt nochmal, der Pater hinzugesellt, der wiederum den lädierten Werners unter den Achseln gepackt und an sich gezogen hatte, um ihn so in der Senkrechten zu halten. Da dieses äußerst bedauernswürdige Duo in einer Reihe mit des Pfarrers Schwester und deren Söhnen stand, wurde auch Werners von den meisten der vorbeigehenden Menschen kondoliert. Skeptischen Blickes zwar, doch auch mit Mitleid und einer gewisser Genugtuung darüber, dass auch Pfarrersfamilien nicht vom Schicksal verschont blieben und zuweilen ein geistig behindertes Mitglied hervorbrachten. Dass man dem Buben aber nichts Besseres angezogen hatte, ja, es 372
nicht einmal für nötig empfunden hatte, ihm die Haare zu striegeln und die Nase zu putzen, das war schon eine Schande. »Mein Beileid«, flüsterte da eine männliche Stimme Schwab ins Ohr und eine feste Hand drückte die seine. »Danke«, antwortete der Angesprochene spontan und war zugleich irritiert. Die feste Hand gehörte dem Arbeiter, dem er beim Ausheben der Grube Gesellschaft geleistet hatte. Morris hatte nicht bemerkt, dass ihm der Alte schon eine ganze Weile auf den Fersen war. »Schlimmes Schicksal«, sagte der Lutze Hans und deutete zum Grab, meinte aber nicht etwa den im Sarg ruhenden Pfarrer, der inzwischen auf den Boden der Grube abgesenkt worden war, sondern Werners, das graue Schaf der Familie. Seine Miene sprach Bände. Kein Wunder, so mochte er sich denken, dass der Neffe Heusingers es vorgezogen hatte, etwas abseits zu bleiben vom Rest der Verwandtschaft. Es war ja unglaublich, was da geboten wurde.
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KAPITEL 16 Über den Gräbern ist Ruh HASCHBÜBLI SIND’S TROTZDEM«, sagte der Apostel in die Stille des Sommernachmittags. Nur ein leises Grunzen antwortete ihm. Selbst der Schatten unter der Linde war bleischwer. Angesichts der Temperaturen konnte man nur sitzen und warten, dazu höchstens eine Zigarette rauchen. Sich gelegentlich Gedanken machen. Aber auch die brauchten ihre Verschnaufpausen. Ein junger Vogel, der sich des Lebens freute und sich nicht um die Hitze scherte, zwitscherte über ihren Köpfen einen Stakkato, stürzte dann jubilierend davon ins grelle Sonnenlicht. »Glebbst, dass er die Annemarie scho gepackt hat?« wandte sich der Apostel an den Baatsch, der matt und ausgelaugt am Stamm der Linde lehnte. Wie ein gestrandeter Wal lag er da, wie ein Riesenfisch, der alle Hoffnung hatte fahren lassen und nun, den Tod vor Augen, die letzten Atemzüge machte. Der Schweiß rann dem Koloss in Strömen von der zerklüfteten Stirn. »Ich gläbb’s nit«, gab sich der Fragende selbst die Antwort. Vom Baatsch war angesichts seines Zustandes kein Kommentar zu erwarten. Nun herrschte wieder Schweigen und Röcheln. Müde zog der Apostel eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche, bot dem Freund eine an, der aber matt abwinkte, und steckte sich eine in Brand. Genüsslich sog er am Glimmstengel, verspielt blies er den Rauch zwischen seinen Kussmundlippen hervor. Der Kilian wisse bestimmt nicht, was so in seinem Haus geschehe, während er fort sei, meinte der Apostel mit zuckenden Mundwinkeln. Spuckte wie zur Bestätigung auf den Boden. Betriebsblind sei der alte Depp, habe ständig nur seine Kirche im Kopf. »Ich wäss nit, was die Maria an dem gfunde hoat«, seufzte er. 374
Der Baatsch, in den bei diesem Namen die Lebensgeister zurückgeflossen waren, grunzte. Ja, die Maria. Ein braves Mädchen war das gewesen. Sie hatten sich oft gesehen, damals, während des Krieges. Ihn hatten sie nicht eingezogen. Untauglich und unabkömmlich zugleich. Irgendwer musste das Brot ja backen nach des Vaters frühem Tod. Für Maria hatte er immer einen Milchweck extra. Sie hatte ihn in der kleinen Bäckerstube angestrahlt, er hatte sich nach ihr verzehrt und doch gewusst, dass sie nie würden zusammenkommen können. Sie war so blond gewesen wie heute Annemarie, ihre Jüngste. Und auch so schön. Der Baatsch konnte die jungen Burschen verstehen, dass sie dem Mädchen nachstellten. Alt genug war es ja auch. Die Maria war nicht viel älter gewesen, damals, im Krieg. »Der eene, der schwarze Lockekopf, des is en Verregger«, knüpfte der Apostel nun wieder ans alte Thema an. »En Hemlichtuer.« Tue so, als könne er kein Wässerlein trüben, und habe es doch faustdick hinter den Ohren. Der Baatsch vermutete, dass wohl dieser Peter gemeint war. Eigentlich kein unsympathischer Mensch, dachte er. »Geld hoat er«, schmatzte der Baatsch und erinnerte sich der Spendierfreudigkeit des jungen Mannes, der leckeren Schoppen im ›Stern‹ und der Leberwürste und rieb sich verträumt die Wampe. Der Apostel, ganz überrascht von der plötzlichen Redseligkeit des Freundes, ließ ein heiseres, verächtliches Lachen erklingen. »Bankkaufmann, der Vadder Bänker.« Das klang neidisch, und die abwertende Meinung wurde nun auch mit einem Rotzknäuel betont, das der Alte auf den Asphalt spuckte. »Un en Linker. Un nit nur der. Alle drei.« Der Baatsch ahnte, was nach diesen Worten kommen würde. Es kam auch. Der Apostel nestelte an seiner Hosentasche herum, holte sein abgewetztes braungraues Portemonnaie heraus und 375
fingerte so lange daran herum, bis er das Foto des Parteivorsitzenden in Händen hielt. Liebevoll ruhte sein Blick auf der Fotografie. So viel Liebe! Das kam von ganz tief drinnen. Der Baatsch schloss die Augen, öffnete seine verschwitzte Hand und stellte sich vor, eine Fotografie von Maria läge darauf. Ja, er hatte sie wirklich geliebt. Ein dicker Kloß machte sich in seinem Hals breit. Mit einem kräftigen Rülpsen schüttelte Baatsch die kleine Unpässlichkeit ab, öffnete die feucht gewordenen Augen wieder und sah ins strenge Gesicht des Apostels, der ihn mit feurigen Blitzen für sein Aufstoßen strafte, weil er es als abfällige Geste auf Franz-Josef bezog. »Der«, jetzt klopfte er mit den Fingerspitzen auf Strauß herum, der habe »des Bürschle« entlarvt, triumphierte der Apostel. Und schilderte dann in wenigen Sätzen, wie er in der vergangenen Nacht die politische Einstellung des »Bänker-Bübchens« hinterfragt hatte. Wie sich alles als wahr herausgestellt habe, was er von diesem schon immer geahnt hatte, und wie dieser Bläser politisch einzuordnen sei. »Kommunist, Kapitalist, Atomkraftgechner, RAF-Sympathisant, Haargrischna und Grubbesex«, listete der Apostel auf, und der Baatsch war sprachlos vor Staunen. Der Walfisch stellte sich vor, was in der Nacht in dem kleinen Häuschen seines Freundes, vermutlich in der Wohnstube, geschehen sein mochte. Da musste sich ja ein regelrechtes Verhör abgespielt haben. Ein wenig tat ihm der junge Mann leid. »Awer spändabl«, sagte er deshalb und um den Fremden ein wenig in Schutz zu nehmen. Der Apostel schnorchelte ärgerlich. »Scho«, räumte er ein. Aber, so kritisierte er schon wieder weiter, dem sei es doch nur ums Angeben gegangen. »Der wollt uns nur sei Pulver zeich«, meckerte der Nörgler. Dann aber überzog ein freundlicher Glanz seine sauertöpfische Miene. Immerhin, man habe ihn ordentlich ausgenommen, erinnerte er sich zufrieden. So eine Silvaner376
Spätlese komme schließlich nicht jeden Tag auf den Tisch. Beide, der Apostel wie auch der Baatsch, seufzten gleichzeitig in Erinnerung an das »gude Stöffle«, das letzte Nacht durch ihre Kehle gelaufen war. Dem Baatsch knurrte beim Gedanken an die Leberwürste wieder der Magen. »Gläbbst du, des stimmt mit dem Audo?« Der Apostel hatte noch nicht genug. Er habe große Zweifel an der Geschichte, die ihnen die jungen Leute aufgetischt hatten. Wer wirklich solche Probleme habe, der fahre doch »nach Würzburch nei« und nicht zu ihnen aufs Dorf. Und wie schnell sie beim Egon untergekommen waren, der doch ansonsten allen Fremden gegenüber äußerst skeptisch sei und lieber die Türe dreimal zuals einmal aufschlage. Das gebe doch auch zu denken. Ihm, sagte der Apostel, sei am Morgen beim Zeitunglesen auf dem Klo da so ein Gedanke gekommen. Egon, der ewige Junggeselle, ha! Er habe schon immer geahnt, dass mit dem irgendwas faul sei. »Haste dir den Blonde mal genauer angeguckt?« fragte er den Baatsch, wartete aber dessen Antwort gar nicht ab. »E gewisse Ähnlichkeit is da, gell?« Die Art, wie der Baatsch jetzt durch seine verschleimte Nase röchelte und zugleich den Atem pfeifend aus seiner Kehle entweichen ließ, zeigte dem Apostel, dass er einen Treffer gelandet hatte. Der Baatsch wippte fast aufgeregt ein wenig hin und her, rutschte mit dem Rücken am Stamm der Linde ein bißchen höher, bis er Luft genug hatte, um seinem Mund ein erstauntes »Meenste?« entfahren zu lassen. »Wäss nit, könnt sei«, lautete die Antwort. Das bedeutete nichts und zugleich viel. Nun hingen beide ihren Gedanken nach. Die Stirn des Baatsch schlug Runzeln, Wellen von Falten liefen wie Meeresbrandung darüber hinweg. Er schien fieberhaft zu überlegen, wie Egon wohl zu Nachkommenschaft gekommen sein könnte. Hatte er 377
nicht als Maurer jahrelang auf Montage gearbeitet und war dabei sogar bis ins Rheinland geraten? Oft hatte man wochenlang von dem Kerl nichts gesehen. Dann war er wieder einige Tage bei den Eltern daheim und hatte begonnen, sich auf dem Grundstück hinter dem Elternhaus ein eigenes Haus hinzustellen. »Erst wird gebaut, dann geheiert«, hatte der Egon einmal gesagt, als ihn der Baatsch gefragt hatte, für wen er das Riesenhaus denn eigentlich brauche. »Hoaste denn schon eene?« Ja, neugierig war er damals schon gewesen. Wie es halt so ist unter Junggesellen, die nicht recht zum Zuge kommen. Aber der Egon hatte nur geheimnisvoll gegrinst und seinen Schubkarren mit den Schwerbetonsteinen weitergefahren. Ob der Egon im Rheinland eine sitzen hatte? Aber der Dialekt des Buben kam ihm gar nicht rheinländisch vor. Der Baatsch sah den Apostel ganz nervös an. Gerne hätte er genauer nachgefragt. Sicher wusste der Freund mehr als diese bloßen Andeutungen. Doch der andere war in Gedanken weit fort. Da wollte ihn der Baatsch nicht stören. So träumten sie beide, bis Motorenlärm sie aufschreckte. Es war nicht das gelegentliche Vorbeirauschen des Verkehrs unten auf der Hauptstraße, das man mit der Zeit gar nicht mehr wirklich wahrnahm, sondern ein motorenheulendes Näherkommen, fast ein hornissenartiges Suchen. Bläser hatte sich noch immer nicht beruhigt und schimpfte wie ein Rohrspatz. »Dreckskaff!« Ein ums andere Mal rotzte er dieses Wort heraus, manchmal so rasch hintereinander, dass es sich wie »Drecksaffdrecksaffdrecksaff!« anhörte. Bläser raste vor Wut. Dreizehnhundert Mark in dreizehn Hundert-MarkScheinen hatte er am Bankschalter abheben müssen, während ihm Kurt dabei ungeniert über die Schulter geblickt hatte. Vor den Augen des Kassenangestellten – und Bläser wusste aus eigener Berufserfahrung, welche Gedanken diesem dabei gekommen sein mussten – hatte ihn Kurt erniedrigt. Der Verbrecher hätte ihm wenigstens, anstandshalber, erlauben 378
können, das Geld erst einzustecken, vor das Haus zu treten und das Geschäftliche dann im Auto zu erledigen. Aber Kurt war ein Sack. »Drecksackdrecksackdrecksack!« Bläser mochte sich kaum beruhigen, obwohl das Ganze nun schon eine Stunde zurücklag. Noch vor den Augen des Bankers hatte ihm Kurt die Scheine aus der Hand gezogen, mit lüsternem Grinsen nachgezählt, zwei Teile gemacht und die kleinere Hälfte dann vorne in die Hosentasche gesteckt, während er den Rest umständlich in seiner Brieftasche verstaute. Bläser blieben nur die leeren Hände und die Verachtung. Der Erniedrigung war damit nicht genug. Kurt hatte darauf bestanden, dass ihn Bläser anschließend zur Lackiererei fuhr, wo er fünfhundert Mark abzuliefern hatte, und ihn auch noch in die Werkstatt begleitete. So viel Zeit müsse schon sein, hatte der Kurt gemeint. Fast zwanzig Minuten hatten Kurt und der Werkstattmeister miteinander geflachst und noch dazu ihren Spott getrieben über junge Leute, die nach zehn Fahrstunden meinten, die großen Rennfahrer zu sein. »Awer Muffe vor der Mudder. Un mir solle’s dann richt.« Bläser hatte ihr hämisches Lachen immer noch in den Ohren. Er war heilfroh, als er Kurt endlich vor dessen Werkstatt aus dem Auto werfen konnte. Geredet hatte der andere im Auto genug, ja, fast ihm ein Ohr abgekaut. Da konnte er es schließlich kurz machen mit dem Abschied. Kein Wunder, dass Selma von diesem Laberer nichts mehr wissen wollte. Wieder ein Stich in der Brust. Verdammt, Selma! Dass ihm das Weib durch die Lappen gegangen war! Und wieder setzte Bläser zu einem dreifachen »Dreckskaff!« an. Doch sein Elend wollte kein Ende haben. Weder Schwab noch Werners waren in der Wohnung. Überhaupt schien das ganze Dorf wie ausgestorben. Bläser hatte gehofft, die Freunde in der Bude anzutreffen. Die Taschen ins Auto geworfen und ab zum 379
Walchensee gebraust, das wäre eins gewesen. Ein wenig Sorgen machte sich Bläser nun schon. Wenn Werners nach dem Vorfall vom Morgen immer noch auf der Flucht und bislang nicht zur Besinnung gekommen war? Bläser traute dem Freund zu, zu Fuß bis zur nächsten Autobahn zu marschieren und von dort aus nach Hause zu trampen. Werners war ein Amokläufer, wenn er seelisch angeschlagen war und niemand ihm Halt gab. Aber was war mit Schwab? Weshalb hatte sich der so saublöde benommen, ihm durch seinen Auftritt die Tour mit Selma vermasselt? Verdammt, er war so nahe dran gewesen! Wieder hatte er Selmas Brüste vor Augen, wieder fluchte er ein »Dreckskaff!« Ob sich Schwab selbst etwas bei Selma ausgerechnet hatte? So ganz abwegig schien das nicht, denn nun fiel Bläser ein, dass es ja Schwab gewesen war, der als erster Kontakt zu Kurts Ex aufgenommen hatte. Aber Schwab war doch viel zu dämlich, um bei irgendeiner Frau zu landen. Das war ein Träumer, ein Romantiker. Glaubte an das Schöne im Menschen und traute sich nicht an die Röcke heran. Meinte, man müsste die Weiber so lange im Honig baden, bis sie festklebten und nicht mehr flüchten könnten. So ein Quatsch! Mann, Schwab, dieser Penner! Er, Bläser, hatte mit seinen neunzehn Jahren schon einige gehabt. Ein Dutzend bestimmt, überschlug er und fühlte nicht wenig Stolz dabei. Es gab genug, die es wissen wollten. Andere freilich auch, so weibliche Schwabs, doch Bläser hatte sie rasch unterscheiden gelernt. Und so gab es kaum einen Beatabend, an dem er nicht landen konnte. Man spendierte ein paar Drinks, bis die Hühner angedüdelt waren, versprach ihnen, sie nach Hause zu fahren, und fuhr, immerzu auf sie einredend, einen Umweg über eine Waldlichtung. Manche Weiber zierten sich dann immer noch und wollten schleunigst nach Hause gefahren werden, doch meistens klappte es. Und hinterher blieb man gut Freund. Das reichte auch. Einige hatten es sogar lieber, wenn man später so tat, als ob man sich nicht kannte. Das war ihm am 380
allerliebsten. Bei zwei, drei, da hatte er sich sogar die Drinks vorneweg sparen können. Die wollten gleich das eine. Just for fun. Kein Problem. Große Sorgen um Schwab machte sich Bläser nicht. Schwab war ein Feigling. Lief immer herum mit hängender Miene und dem flehenden Blick: »Bitte tröstet mich.« Ein Depp. Andererseits ein feiner Kerl. Man konnte ihn gut gebrauchen, er war zuverlässig, nicht arbeitsscheu und ging selbst unbequemen Dingen nicht aus dem Weg. Im Grunde genommen schon in Ordnung, der Morris, aber halt ein Depp, was die Frauen anging. Werners war da anders. Ein Heimlichtuer. Ein tiefes Wasser. Redete nicht viel. Ein Genießer, der sicher seine Erfahrungen mit den Mädchen hatte, seine Abenteuer aber nicht an die große Glocke hing. Allerdings ein Kamikaze. Nach einem Ereignis wie dem am Morgen war Werners alles zuzutrauen. Jede Dummheit. Jaco suchte stets die Entscheidung. Verkroch sich nicht wie Schwab mit Schmollmund aufs Kämmerchen, sondern wollte hopp oder top. Wenn niemand bereitstand, ihn in die Arme zu nehmen und ihn wieder ins Leben einzuordnen, dann ließ er dem Leben selbst die Entscheidung. Das konnte leicht schiefgehen. Um ihn musste man sich wirklich Sorgen machen. Als er mit dem Wagen an Egons Haus startete, galt seine Suche deshalb mehr Werners als Schwab, mehr dem Amokläufer als der Heulsuse. Am besten natürlich, wenn er beide aufspürte. Denn Bläser wollte nur noch eines: weg aus diesem Kaff. Und ohne die Freunde ging das nicht. Würde er ohne Jaco und Morris bei den Alten am Walchensee auftauchen, dann war seine Geschichte wie eine Seifenblase geplatzt, hatte er keine meineidigen Zeugen mehr. Die Folgen konnten übel sein. Seine Eltern hatten viel Geduld, doch irgendwann riss auch ihnen der Geduldsfaden. Ziellos war Bläser zunächst durchs menschenleere Dorf gefahren. Was war nur los? Hatte eine kleine grüne Wolke alle ins Haus getrieben oder unsichtbar gemacht? Selbst der 381
Bäckerladen war zu, obwohl die Mittagszeit längst vorüber war. Bläser konnte beim Vorbeifahren einen Zettel an der Ladentüre erkennen, ihn allerdings auf die Entfernung nicht lesen. Möglicherweise war jemand erkrankt. Schließlich war er um den kleinen Kirchberg herum- und die Anhöhe hochgefahren, die auf den Dorfplatz führte, dessen Mitte von einer mächtigen Linde beschattet war. Voller Freude bemerkte der beinahe schon resignierende Späher, dass sich im Dunkel der Linde etwas tat. Die fast nur erahnte Bewegung ließ ihn den Wagen verlangsamen und auf den Baum zufahren. Zwei Männer. Zu spät registrierte Peter Bläser, an wen er da geraten war. Die beiden hatten ihm gerade noch gefehlt. Wieder stach es ihm schmerzhaft in der Brust. Wieder hatte er das Bild des Herrgottswinkels vor Augen, vor allem aber die Fotografie zu Füßen des Gekreuzigten. Für einen Augenblick überlegte Bläser durchzustarten und so zu tun, als habe er die alten Deppen nicht gesehen. Doch es gab zwei Gründe dafür, dass er schließlich doch das Auto an die Lauernden heranrollen ließ und stoppte: Möglicherweise wussten sie etwas über den Verbleib der Freunde, und außerdem würde er sich von dem Apostel nicht ein zweites Mal erniedrigen lassen. Im Gegenteil: Vielleicht konnte er ihm sogar was heimzahlen. Bläser stellte den Motor ab. Der Wagen stand nun so, dass er nur das Beifahrerfenster hätte herunterkurbeln müssen, um seine Frage zu stellen. Doch er stieg aus und lehnte sich in die geöffnete Fahrertüre, den Unterarm aufs heiße Blechdach gelegt. Vier neugierige Augen musterten ihn. Sein »Guten Morgen« wurde mit bedächtigem Nicken beantwortet. Bläser blieb die Frage nach den Freunden im Halse stecken, als er das Bildchen in der Hand des Apostels sah. Er konnte die Fotografie nicht wirklich erkennen, aber das brauchte er auch nicht. Die schemenhaften Umrisse genügten ihm. Er hatte diesen Kerl noch in bester Erinnerung. Wie ein Heiligenbildchen lag es 382
da auf der Hand und machte ihn sprachlos. Auch der Apostel bemerkte den Blick, spürte die plötzliche Schwäche Bläsers und grinste hämisch. »Gued gschlafe?« fragte der Alte, und Bläser kam es fast so vor, als drehe er die Hand ein wenig, um ihm einen besseren Blick auf die Fotografie zu erlauben. Der Anblick des Baatsch, der verwundert seine Augen zwischen Franz-Josef Strauß und Bläser wandern ließ, beruhigte Pietro. Ein feiner Kerl, der Baatsch. Kein so gemeiner Hund, wie es der Apostel war. Nun hatte er seine Stimme wieder. Ob sie einen der beiden, ob sie Werners oder Schwab gesehen hätten, fragte er. Der Apostel und der Baatsch schauten erst ihn, dann sich gegenseitig an. Beide grinsten. Ja, selbst die wulstigen Lippen des Baatsch formten so etwas wie ein süffisantes Lächeln. Den Schwab, ja, den hätten sie gesehen, bestätigte der Apostel und machte dann eine kunstvolle Pause, in der er sich widerlich mit der Zunge über die Unterlippe fuhr. »Der war bei der Annemarie«, tropfte es ihm dann aus dem Mund. »Annemarie? Ich denk’, bei Selma«, entfuhr es Bläser. Nun schauten alle drei ganz entgeistert. Der Baatsch wirkte richtig aufgeregt. Ein erschrockener Rülpser entfuhr seinen Eingeweiden. Sein Unterkiefer kaute, seine Backen bliesen sich auf. »Die Selma auch?« platzte es zur Verwunderung Bläsers, der den Unkerich nur als mächtigen Schweiger kannte, aus dem Baatsch heraus. Bläser war sich sicher, dass hier ein Missverständnis vorlag. Es musste ihn auch nicht interessieren, wie die Frau nun wirklich hieß, die hier im Dorf offenbar allen Männern und sämtlichen Durchreisenden den Kopf verdrehte – ob mal Annemarie, mal Selma, vielleicht morgen Helga, das war ihre Sache. Möglicherweise hatten es Nymphomaninnen so an sich, dass sie sich mehrere Künstlernamen zulegten, um sich über ihre 383
Triebhaftigkeit selbst hinwegzutäuschen. »Wo sind sie denn hin?« fragte er. Auch der Apostel wirkte etwas verwirrt. Nervös hatte er seinen Strauß mittlerweile wieder in der Brieftasche verstaut. »Zum Goddsacker wahrscheinli«, lautete seine Antwort. Dann aber zog wieder Häme in sein Gesicht, und er ergänzte: »Oder uff die Tenne.« Bläser beschloss, nicht weiter Zeit an die beiden Alten zu verschwenden. »Danke.« Mehr Worte brauchte es nicht, um hier Lebewohl zu sagen. Er schwang sich ins Fahrzeug zurück, startete den Motor. Dann fiel ihm ein, dass er den Weg zum Friedhof ja gar nicht kannte und kurbelte das Beifahrerfenster herunter. »Zum Friedhof?« fragte er. Der Apostel, ein wenig eingeschnappt wegen des plötzlichen Abgangs, reagierte nicht. Aus dem Körper des Baatsch kam die schwammige Andeutung einer Handbewegung. Es war ein müdes Schwingen, weil der Walfisch mit seinen Gedanken noch immer bei diesem Schwab war, dessen lasterhaftes Treiben scheinbar keine Grenzen kannte. Wenn das der Kilian erführe! Erst Selma, dann das unschuldige Kind. Man musste Annemarie warnen, dachte er. Das war er Maria schuldig. Pietro glaubte die Richtung erkannt zu haben, die ihm der Baatsch angedeutet hatte. Der Baatsch war eben doch ein feiner Kerl. Mit der Hand schenkte Bläser dem Riesen einen letzten Gruß, ein letztes Dankeschön, und brauste los. Das Gesicht des Apostels sah er nicht mehr. Entsetzt und triumphierend zugleich blickte der Alte hinter dem Auto her. Wie einen Speer streckte er seinen Arm dem Wagen hinterher, die Spitze des Zeigefingers auf einen Aufkleber am Heck des Fahrzeugs gerichtet. »Da, guck«, keuchte er und fuhr mit dem Ellbogen dem Baatsch in die Seite. Eine kleine, lachende Sonne reckte auf dem Aufkleber frech die 384
linke Faust. Eingerahmt wurde das Strahlemännchen vom Schriftzug »Atomkraft? Nein, danke!« Der Baatsch grunzte, verärgert über den Rempler. Was scherte ihn ein Aufkleber, der ihm ohnehin nichts sagte. Er hatte andere Sorgen. »Ich hoab’s gewisst.« Die Stimme des Apostels klang trocken. »Von Ofang o gewisst.« Als Werners seinen Freund Moritz Schwab und an dessen Seite das engelsgleiche Mädchen erkannte, wie sie da Seite an Seite ans offene Grab schritten, um in vollendeter Harmonie – der eine am Eimerchen links, die andere am Eimerchen rechts vom Grab – gleichzeitig zum Schäufelchen zu greifen und dem Pfarrer Sand nachzuwerfen, ging ein epileptisches Zittern durch seinen Körper. Der Pater, der den Anfall spürte, verstärkte seine Umklammerung, hatte aber Mühe, den scheinbar vom Teufel Besessenen zu halten. Werners wollte sich in Schwabs beschützende Arme werfen, ihn zugleich vor den Kriminellen warnen. Aber wie? Noch hatte ihn dieser Mönch am Wickel, sicher um ihm beim kleinsten Wort, das ihr Geheimnis lüften würde, die Kehle abzudrücken. Auch Annemarie hatte nun keine Zweifel mehr: Diese zerlumpte Gestalt, das war der Bote, der Sextäter, der Geisteskranke. Das war der junge Mann, der sie am Rosenbeet angesprochen, der mit rutschenden Hosen über die Kirchenbänke hinweg geflüchtet war, Was konnte er nur wollen? Aus seinen Augen sprach Verzweiflung. Das Mädchen steckte das in ihrer Hand zitternde Schäufelchen langsam in den Eimer zurück. Nun war auch Moritz an ihrer Seite. Er musste jetzt etwas tun. Er war doch ein Mann. »Heribert«, flüsterte Werners in seiner Not, weil er den falschen Mönch nicht anders anzureden wusste, und zerrte an der Kutte. »Heribert, ich bin nit schuld. Ich kann nix dafür. Das mit dem Rosenkranz merkt kein Mensch. Ich verrat auch nix.« 385
Ganz fest krallte sich Werners in das Gewand des Paters. So fest, dass dieser sich unter dem Griff aufbäumte, unter Einsatz seiner ganzen Kraft den jungen Mann an den Schultern packte, von sich stieß und ein ärgerliches »So beruhigen Sie sich doch!« bellte. Schon sprangen ihm die beiden Neffen zu Hilfe. Nun aber war auch Schwab heran, der sich an Annemarie vorbei zu dieser Laokoon-Gruppe stürzte. Ohne Zaudern und ungeachtet der Tatsache, dass Egons Hemd ihm dabei weit den Rücken hochrutschte, packte Schwab zu, griff Werners unter und führte, nein, schleppte ihn mit Bärenkräften aus dem Gefahrenbereich, ein lautes »Tschuldigung!« zischend. Nur zu gerne ließen der Pater und die Verwandtschaft den Störenfried fahren. »Annemarie, bitte«, flehte Schwab das unschlüssig herumstehende Mädchen an, das endlich seine Lähmung abschüttelte und beherzt mit Zugriff. Werners krächzte ein verzweifeltes »Ich hab ihn nit« über die Schulter zurück, doch das junge Paar ließ sich davon nicht beirren. Im Bogen um die verbliebene Trauergemeinde herum, die das närrische Treiben voller Entsetzen beobachtete, führten Annemarie und Moritz den Verzweifelten zur Wasserstelle. Irgend jemand keuchte »Der arme Bub«, wurde aber mit einem »Ach was, der steht doch unner Droche« zurechtgewiesen. Nun waren sie am Brunnentrog angelangt. »Mach an!« befahl Schwab seiner Angebeten. Annemarie gehorchte. Der kalte Wasserstrahl traf Werners’ Kopf. Der bäumte sich auf. »Ich hab’ vorhin erst«, protestierte er. Doch Morris und Annemarie zwangen ihn mit der eisernen Kraft der Verzweifelten hinunter. Schwab war in größter Sorge. War der Freund verrückt geworden? Was hatte ihn dazu gebracht, so durchzudrehen? Wie konnte da überhaupt noch geholfen werden? 386
Werners prustete, wollte sich freimachen. Doch Schwab und Annemarie hielten jeweils einen Arm fest umschlungen. »Noch ein wenig«, befahl Schwab und hielt den Freund unter dem Wasserstrahl. Just da aber geschah es, dass aus Schwabs Brusttasche der dort aufbewahrte Rosalinden-Rosenkranz rutschte. Über Werners’ Kopf glitt die Perlenschnur mit dem silbrigen Kreuzchen ins Waschbecken, rollte sich wie eine Schlange unter dessen Augen zusammen und rutschte dann in winzigen, ruckartigen Bewegungen zum Ausguss. Der Anblick des Rosenkranzes setzte in Jakob Werners solche Urgewalten frei, dass es Morris und Annemarie, die mit dergleichen nicht gerechnet hatten, fast zur Seite warf, als Werners seine Arme nach oben riss. »Da isser«, stammelte der Freund, griff dann mit zittrigen Fingern nach dem Kettchen, hielt es sekundenlang vor sein Gesicht und küsste es dann voller Inbrunst. »Da isser«, weinte er nochmals, und als er sich nun Schwab zuwandte, da glaubte dieser, noch nie ein glücklicheres Leuchten in Werners Augen beobachtet zu haben als in diesem Moment. Werners wandte sich auf die andere Seite. Da stand der Engel, der ihn gerettet hatte. Sie gehörte also doch nicht zu der Bande. Er hatte es ja gleich geahnt. Wo hatte sie nur das Kettchen gefunden? Es war egal. »Danke«, stammelte Werners. Von Rührung geschüttelt, griff Jaco nach Annemaries Händen und benetzte diese mit tausend Küssen, bis sie das Mädchen peinlich gerührt zurückzog. Werners stank, fand Schwab, als sich die beiden um den Hals fielen, als sich Schweiß und Wasser, Tränen und Glück vereinten. Als sich ihre Körper wieder lösten, schritt Werners zum Grab. Schwab erschrak. Doch der Freund wirkte mit einem Mal so ganz anders: ruhig, vernünftig, feierlich. Höchstens die Art, wie er den Rosenkranz in beiden Händen vor sich her trug, als würde er ein Opfer zum Altar bringen, war etwas auffällig. 387
Die Trauergemeinde hatte sich größtenteils verzogen. Am Friedhofseingang stand der Bestatter mit des Pfarrers Verwandtschaft im Gespräch und blickte vorsichtig herüber, als sich Werners dem Grab näherte. Draußen vor der Friedhofsmauer marschierten Spohr und Domkapitular Schnorr zu einem bereitstehenden Mercedes, wurden jetzt von Rosalinde eingeholt, die auf sie einredete. Am offenen Grab war nur noch der Pater, in ein Gebet vertieft. Er zuckte zusammen, als sich Werners neben ihn stellte. Der helle Sarg leuchtete aus der dunklen Erde, bedeckt von Blumen. »Ich hab’n wieder«, flüsterte Werners, ohne seinen Blick vom Sarg zu nehmen. Der falsche Pater seufzte. »Is scho recht«, sagte er. Verwundert beobachtete der Geistliche, wie aus den Händen des jungen Mannes ganz langsam ein silbrigschwarzgeperlter Rosenkranz glitt und dann in die Grube fiel. Geräuschlos landete das Kettchen auf einem Sandhäufchen mitten auf dem Sarg. »Es bleibt alles unter uns«, flüsterte Werners dem Pater zu. »Kein Wort«, versprach der. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Nie hatte Werners sich fröhlicher und freier gefühlt als in dem Moment, da der Pater ihm die Hand auf die Schulter legte und mit sanfter Stimme ein zweites Mal »Is scho recht« sagte. Dann wandte sich der Mönch kopfschüttelnd zum Gehen. »Verrückte Welt«, hörte ihn Werners noch sagen. Er hatte dem nichts hinzuzufügen. Morris und Annemarie, die die ganze Szenerie staunend beobachtet hatten, ohne das Gespräch der beiden Männer am Grab verstehen zu können, waren ein wenig ratlos. Und doch spürten sie, wie mit diesem Zeremoniell alles gut wurde. Denn auf Jacos Gesicht, der nun zu ihnen zurückkam, lag ein himmlisches Leuchten. Schweigend nahmen sie ihn in Empfang. 388
Es brauchte keine Worte, weil sie ahnten, dass es so gut war, wie es war. Eine ganze Weile blickten sie sich gegenseitig an, dann endlich gab Werners kopfnickend das Zeichen zum Aufbruch und ging erhobenen Hauptes über den Kies in Richtung Friedhofseingang, den Freund und dessen Verlobte im Gefolge. Jakob Werners war, trotz seines Aufzuges, ein stolzer Mann, eine beeindruckende Erscheinung. Zwei kamen ihnen entgegen. Es waren der Bestatter und offenbar ein Gehilfe. »Mei Lebdach hab ich so was nit erlebt, mei Lebdach nit!« fluchte der Schwarze, als die beiden Männer an den jungen Leuten vorbeigingen. Dass Werners ihm ein Augenzwinkern schenkte und den Daumen seiner geballten Faust nach oben reckte, nahm er verdutzt hin, es besänftigte ihn aber nicht. »Schmeißt der Dorftrottel fast die ganze Beerdichung! Noch nie hab ich so was erlebt! Nä!« Der Leichengräber schimpfte wie ein Rohrspatz, sah aber davon ab, Werners oder seine Begleiter direkt anzugehen. Er hatte nicht zu verantworten, welche Idioten sich auf dem Friedhof herumtrieben. Peinlich war es allemal, aber weder Spohr noch der Domkapitular hatten ihn deswegen kritisiert. Die beiden Männer zerrten die Sandeimer um und schütteten die Reste in die Grube. Dem Schwarzen schien es kurz, als habe er drunten am Sarg etwas im Sonnenlicht silbern blitzen gesehen, doch dann war das Glitzern weg. Er musste sich geirrt haben. Als die beiden Eimer leer waren, sah man nur noch Sand und Blumen auf dem Sarg. »Machst’s dann gleich zu mit dem Hans, wenn ihr umgezochen seid«, befahl der Schwarze seinem Gehilfen. »Lecht die grüne Matte rüm. Und vergässt die Kränz nit.« Der andere spuckte zur Bestätigung, dass er verstanden hatte, auf den Erdhaufen. 389
Vielleicht zum hundertsten Mal stopfte er Egons Hemd in den Hosenbund. Annemarie kicherte, und da musste auch Schwab grinsen. Er musste aussehen wie der letzte Depp. Ein Strom von Liebe erfasste ihn, als ihm bewusst wurde, dass Annemarie ihn trotz seines Erscheinungsbildes mochte. Am Friedhofsausgang befreite er sich von der Krawatte und steckte diese in die Hosentasche. »Schluss mit traurig«, stellte er fest und schaute seinen Engel mit verliebten Augen an. Er würde sie auf Händen tragen. Und Jakob Werners würde sein Trauzeuge sein – aber nur, wenn er zuvor geduscht und ein paar Stunden geschlafen hätte. Das würde den Durchgeknallten auch wieder zu Verstand bringen, hoffte der Freund. »Lass uns heimgehen«, sagte Schwab, und Jaco antwortete mit belegter Stimme: »Ja, heim.« Werners legte seine flache Hand auf die Brust. Es war ein schönes Bild. Annemarie musste an John Wayne und Richard Widmark denken, auch weil es so heiß war und die Hitze so auf dem Teer flirrte und das Auto, das vom Dorf heraufbrummte, so schemenhaft näher kam wie ein Trupp Kavallerie durch die Sierra Nevada. Dann quietschten Reifen, und ein schwarzer Lockenkopf schoss aus dem offenen Fenster der Fahrertüre. »Seid ihr bloß noch bescheuert?« fauchte Bläser und starrte seine Freunde an, als seien sie vom Mars. Er wirkte ziemlich wütend. »Treibt euch auf Beerdigungen herum! Ich glaub’, ihr spinnt!« Er klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Schwab spürte, wie Zorn in ihm empor kroch, wie ihm Mordgelüste kamen. Noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, musste er so an Selma denken, wie Männer an Selma denken, wenn sie sich Hoffnungen machen. Doch dann spürte er, wie Annemaries Hand nach der seinen suchte. Welch wunderbares Gespür sie hatte! Schwab drückte ihre Finger. Nun war kein 390
Zorn mehr da. »Es hat grad so gepasst«, gab er Bläser zur Antwort. Werners sagte gar nichts. Er hatte die Hände in die Hosentasche gesteckt und sah hinüber zum Dorf. Er lächelte, dachte vielleicht darüber nach, was der echte Pfarrer jetzt wohl treiben mochte. Einen Moment standen sie herum und ließen die Sommerhitze auf sich wirken. Es sei höchste Zeit, diesem Dreckskaff den Rücken zu kehren, gab Bläser Anweisung. »Von Frankenwein, alten Deppen und Bratwürsten hab ich genug«, schnaufte er, beugte sich hinüber zur Beifahrertüre und stieß sie auf. »Kommt, Taschen holen, und dann ab zum Walchensee!« Für Annemarie hatte er nur einen irritierten Blick. Doch Werners und Schwab regten sich nicht. Nach einer Weile – Bläser kam sie wie eine Ewigkeit vor – beschied ihm Schwab: »Das hat Zeit.« Jetzt würden sie sich erst einmal umziehen. Und dann würde er, Peter Bläser, ihn und Annemarie ins Krankenhaus fahren. Gucken, wie es Annemaries Vater geht und – auch dafür würde Zeit sein – gucken, was Egon macht. Und Werners würde so lange duschen und sich auf die Matratze hauen. »Und heute abend gehen wir essen. Richtig schön, zu viert«, schloss Schwab und schenkte seiner Verlobten einen liebevollen Blick. »Aber nach Würzburg.« Bläser verschlug es die Sprache. »Und meine Alten?« keuchte er. »Denen bringen wir einen Bocksbeutel mit«, sagte Schwab trocken. »Silvaner-Spätlese …« Und Werners lachte: »… und Leberwürst« und ergänzte, nun wieder ganz ernst: »Aber später. Übermorgen, vielleicht.«
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