Patrick Cave
Das Saint Netzwerk
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In einer fernen Zukunft tobt der Kampf um die Macht … U...
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Patrick Cave
Das Saint Netzwerk
scanned 04/2008 corrected -dw
In einer fernen Zukunft tobt der Kampf um die Macht … Und Mira muss sich ihm stellen … In Miras Dorf im eisigen Norden wird vor ihren Augen eine fremde Frau umgebracht. Sie trägt einen Zettel bei sich, auf dem Miras Name steht und der eines »Wächters« – der ihres Freundes Gil. Mira ahnt: Sie ist in Gefahr. Von da an ist sie auf der Flucht. Sie schlägt sich durch bis zur Hauptstadt des Reichs. Dort, in einer Gesellschaft, in der die Medien alles sind und Informationen der Schlüssel zur Macht, findet Mira sich unerwartet inmitten der Fehde zwischen den herrschenden Familien des Landes wieder. Als sie Clarissa Saint gegenübersteht, der Tochter der Familie, die die Medien kontrolliert, wird ihr klar, warum: Clarissa und Mira sehen identisch aus … ISBN: 3-570-12946-2 Original: Sharp North Alexandra Ernst Verlag: cbj Erscheinungsjahr: 2005 Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld
Autor
Patrick Cave ist Engländer, hat aber in Europa schon fast überall gewohnt und seinen Lebensunterhalt zumeist mit Englischunterricht verdient. Mittlerweile lebt er mit der Frau, in die er schon zu Schulzeiten verliebt war, und seinen zwei Kindern als Autor in Frankreich. »Das Saint-Netzwerk« ist sein erster Jugendroman, der in Deutschland veröffentlicht wird.
Patrick Cave
Das Saint Netzwerk Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House www.cbj-verlag.de Der Abdruck des Zitats auf Seite 327 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags, Zürich. Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform 1.Auflage 2005 © 2004 by Patrick Cave Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Sharp North« bei Simon & Schuster, London © 2005 der deutschsprachigen Ausgaben cbj, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Alexandra Ernst Lektorat: Burkhard Heiland Umschlagbild und -konzeption: init.büro für gestaltung, Bielefeld Herstellung:WM Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-570-12946-2 Printed in Germany
ICH WIDME dieses Buch meiner wunderschönen Frau, die mir versicherte, dass dies eine Geschichte sei, die man nicht so leicht vergisst, und die an all den richtigen Stellen geweint hat. DANKEN möchte ich auch Caradoc King und Vicky Longley von A. P. Watt, die mich mit ihrem Wissen und ihrer Unterstützung einem mühevollen, aber segensreichen Lernprozess unterzogen haben. SCHLIESSLICH geht mein Dank an Venetia, meine Verlegerin. Sie hat mir mit ihrem Scharfsinn und ihrem umfassenden Verständnis beigebracht, wie man es besser machen kann.
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TEIL 1
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1 Beinahe hätte sie nie herausgefunden, wer sie war. Was sie war. Das Haus war düster, feucht und bleiern schwer von dem Atem der Nacht und den Dünsten des Abendessens. Mira war begierig, nach draußen zu kommen, voller Vorfreude auf das Gefühl, das sich dann einstellen würde. Ihre schlanken, elfenbeinbleichen Finger banden die Schnürsenkel mit fließenden, sicheren Bewegungen, sodass die Schuhe sich passgenau um ihre Füße schlossen. Irgendwo in der Dunkelheit stand Cobb gerade auf und schlurfte zur Kochnische, um der alten Sarah etwas zu trinken zu holen. Bevor sie die Tür öffnete, hielt Mira einen Moment lang inne, schloss ihre Augen, spürte die Hitze, den Atem in ihrem Körper. Dann war sie draußen, mit tanzendem Herzen. Die Kälte traf hart auf ihren Körper und streichelte sie zugleich. Der Duft von sauberem, frischem Schnee und kraftvollen, aromatischen Kiefern drang in ihre Nase; sie konnte den Geruch fast schmecken. Die Lichtung war leer, wie sie es erhofft hatte. Ein erster Morgenschimmer erhob sich hinter der östlichen Linie der Berge, zeichnete ihre vernarbten und wettergegerbten Konturen nach. Schon bald würde sie da oben in diesem Licht sein, 8
würde auf dem Grat entlangrennen und den frisch gefallenen Schnee durchbrechen. Mit leichten Schritten ging sie zu einem der frei stehenden Bäume, hob ihren Fuß und setzte ihn auf einen der unteren Zweige. Weißer Pulverschnee rieselte auf den Boden. Die Muskeln an der Rückseite ihres Oberschenkels spannten sich, und langsam drückte sie das Bein nach unten, streckte sich, dehnte sich bis in die Hüfte, wärmte sich auf. Während sie zu ihrem anderen Bein wechselte, glitten ein paar Haarsträhnen unter ihrer Mütze hervor und fielen ihr über das Gesicht. Sie ruckte mit dem Kopf, um sie beiseite zu schleudern. Und ihr Blick traf auf Augen. Eine Frau, die zwischen den Baumschatten auf der anderen Seite der Lichtung stand. Eine Frau, die sie beobachtete. Mira sah, dass die Frau nicht mehr jung war, aber ihre Körperhaltung zeugte von Anmut und Selbstvertrauen. Vielleicht war sie ein Traum, gesandt von den Schatten, den Kiefern und dem Schnee. Sie sah nicht so aus, als würde sie zu den Plünderern gehören. Jetzt rannte die Frau auf sie zu und plötzlich war die Welt mit Geräuschen erfüllt. Zwei große Gestalten bewegten sich hinter ihr durch die Bäume. Mira hörte das Klatschen von schneeschweren Zweigen auf Stoff und tiefe, drängende Männerstimmen. Sie zog ihren Fuß von dem Ast und holte Luft, um eine Warnung zu rufen. Für alle Fälle.
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Doch dann bemerkte sie Gil und sie atmete tonlos aus. In demselben Moment, in dem die Frau auf sie zugelaufen kam und die Gestalten aus den Schatten auftauchten – riesige Männer in Hellgrau, die sich vom Schnee kaum abhoben –, sah Mira ihn aus seinem Haus kommen und vorwärts gehen, um die Fremden abzufangen. Er wirkte gelassen. Er würde wissen, ob sie Alarm geben und kämpfen mussten. Die Frau hatte sie fast erreicht. Ihr Haar war kurz, doch die Farbe war dieselbe wie von Miras Haar: ein dunkles, rötliches Kastanienbraun. Die Bewegungen der Flüchtenden wirkten müde. Sie streckte die Hand aus, öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Und dann stürzte sie und rollte haltlos durch den Schnee. Hinter ihr ließ einer der hellgrauen Riesen etwas neben sich fallen, vielleicht eine Waffe. Beide Männer näherten sich, mit schweren, aber unbeirrten Schritten. Sie rannten an Gil vorbei, der sie nicht aufhielt, sondern einfach nur dastand und zuschaute. Mira begriff nicht. Die Frau rappelte sich taumelnd auf die Füße. Ihre Anmut war verschwunden. Mira wollte ihr helfen, doch die beiden Fremden waren zuerst bei ihr und streckten sie nieder. Mira stieß einen Schrei aus und warf sich auf einen der hellgrauen Schatten, griff ihn von der Seite an und hängte sich mit ihrem schlanken, leichten Körper an seinen Hals.
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Es war vergeblich. Sie spürte einen Hieb zwischen ihren Schulterblättern, der ihr die Luft aus den Lungen presste. Sie fiel. Jetzt war Gil da. Sie hörte den scharfen Ton seiner Stimme und einer der grauen Riesen torkelte rückwärts. Gil half ihr auf. Er wirkte verstört. Der Schnee war rot, und die Frau, die sie vor einer Minute noch von den Bäumen aus beobachtet hatte, lag bewegungslos über einer grauen Schulter, wie der Kadaver eines Rehs. Mira nahm verschwommen wahr, dass Gil leise mit einem der Männer redete, mit einem der Eindringlinge. Dann waren sie weg, zurückgekehrt in die Schatten unter den Bäumen, während der dunkle kastanienfarbene Kopf sanft gegen einen hellgrauen Rücken wippte. Sie wandte sich Gil zu. Er wirkte wieder völlig normal. Sorglos, drahtig und mit den letzten, allmählich verblassenden Hinweisen des Knabenalters auf seinem männlich werdenden, gut aussehenden Gesicht. Es war möglicherweise das Gesicht ihres Partners, wenn die Zeit gekommen war. »Hast du sie gekannt? Warum haben wir der Frau nicht geholfen? Warum hast du zugelassen, dass …?« Sie spürte Tränen des Schocks und der Wut auf ihren Wangen. Seine Augen waren sanft, bekümmert. »Du weißt doch über die Polizei Bescheid. Ich habe dir von ihnen erzählt.« »Das waren Polizisten, diese …?« Mira benutzte ein
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Wort, das sie auch schon aus Gils Mund gehört hatte. Ein schlimmes Wort. »Ja. Die Frau – sie ist vor ihnen geflohen. Ich glaube, sie war eine Verbrecherin.« »Du glaubst es. Aber du hast mit ihnen geredet.« Er berührte sie an der Schulter und lächelte leicht. »Ich hätte nie geduldet, dass sie dir wehtun, kleine Närrin.« Mira schaute sich auf der Lichtung um. Der Schnee und der nahende Morgen verliehen der Luft nach wie vor diese andere, singende Atmosphäre. Niemand sonst hatte sich gerührt. In den Häusern war es still geblieben. Niemand sonst schien etwas bemerkt zu haben. »Ich gehe jetzt laufen.« Gil war darüber nicht erfreut, wollte, dass sie mit zu ihm kam und etwas Heißes trank. »Wenn du schon gehen musst«, sagte er schließlich kurz angebunden, »dann meide den Weg, den die Fremden genommen haben. Pass auf dich auf.« Sie ging zu ihrem Baum zurück, streckte und dehnte die Muskeln erneut und lief dann leichtfüßig hinauf, durch den Wald zu den höher gelegenen Abhängen. Als die Sonne über den Gipfeln aufging, war sie schon nahe am ersten Bergkamm, so wie sie es sich gewünscht hatte. Die Jacke aus dickem Fleece ließ sich leicht in ihrer Gürteltasche verstauen, und sie stand da, nur mit ihrer Weste bekleidet, während der Schweiß über ihren Nacken und zwischen ihren Schultern nach un-
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ten rann. Sie schaute hinab zur Siedlung auf der Lichtung, streifte dann mit ihrem Blick die lange, hügelige Kette der schneebedeckten Generatoren, die neben dem Fluss von den Bergen aus bis hinunter zum farblosen Ozean hinter dem Gebirge verlief. Nachdem sie sich glücklich gerannt und ihren Körper so weit getrieben hatte, dass ihre Muskeln zitterten, ging sie mit wiegenden Schritten weiter, vorsichtig, lief wieder nach unten und spürte, wie die Luft dicker wurde und sich mit Harzgeruch füllte. Auf der Lichtung spielten alle sieben Kinder der Siedlung ein Schlitterspiel mit Plastiksäcken und einem Seil. Mira ließ sich überreden, sich ein paar Minuten zu ihnen zu gesellen, übernahm eine Seite des Seils, feuerte sie lauthals an und lachte mit ihnen, als sie ausrutschten und der Länge nach in einem wirbelnden Haufen aus Armen und Beinen hinfielen. Hier genau war es, dachte sie. Hier war die Frau gefangen und niedergeschossen worden. Sie zog sich von dem Spiel zurück und schaute sich um, doch das Rot war verschwunden. Vielleicht hatte Gil es mit Schnee bedeckt, um den Kindern den Schreck zu ersparen. Sie bückte sich, grub ein wenig mit den Händen, sah auf. War es nur ein Traum gewesen? Hatte die Frau wirklich hier gelegen, hatte sie dort drüben tatsächlich still zwischen den rötlichen Stämmen und den Wolken aus Kiefernnadeln gestanden und sie beobachtet? Gil war nirgends zu sehen. Vielleicht saß er in sei-
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nem Haus und frühstückte oder erledigte irgendwelche Arbeiten. Sie ging zu dem Baum, an dem sie sich gedehnt hatte, und schaute zu der Stelle, wo die Fremde gestanden hatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch einmal, wie die Frau mit ausgestreckter Hand auf sie zugeflogen kam. Ihre Lippen hatten sich bewegt. Ein Junge kam auf sie zu, Pat Cassidy, hängte sich an ihren Ärmel und sagte: »Spiel weiter! Bitte, Mira.« Sie gab keine Antwort. Auf der Schneedecke, da unten in der kleinen Bodenwelle zwischen den Wurzeln, lag etwas Winziges. Eine kleine Kugel aus Papier. Schnell bückte sie sich und hob sie auf. »Mira?«, fragte der Junge noch einmal. »Aye, Pat, später«, sagte sie zerstreut und wandte sich ihrem Haus zu, »nachher … wenn ich mein Porridge gegessen habe.«
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2 Selbstverständlich konnte sie lesen. Besser, viel besser als Cobb – beinahe so gut wie Gil. Die Worte auf dem Papier verstand sie, die Bedeutung nicht. Aber da stand ihr Name, wie ein scharfer Hieb in den Magen, und auch Gils Name war da. Angesichts dieser Tatsache war die Ruhe, die ihr das Laufen geschenkt hatte, verflogen. Einen Moment lang drohten ihre Gedanken in wilder Panik davonzustürzen, wilden Pferden gleich. Sie wusste, dass der Zettel von der Frau stammte, von der Verbrecherin, einer Person, die von der Polizei gejagt und zur Strecke gebracht worden war. Eine Person, die sie nicht kannte und die Miras Namen auf einem Stück Papier bei sich trug – mehr noch als den Namen, denn da stand auch ihr Geburtsdatum, der Name ihrer Siedlung. Und Gils Name. Eigentlich befanden sich vier Namen auf der linken Seite des Zettels. Die anderen drei waren ihr unbekannt; ihr Name war der dritte, und sie erkannte, dass sie auch die Drittälteste war. Der erste Name, Annie Tallis, gehörte zu einer zweiundvierzigjährigen Frau. Die zweite Person, Siân Latimer, war achtundzwanzig Jahre alt. Ihr Name war mit einer Reihe ebenmäßiger Kreuze übermalt worden, ausgelöscht. Dann ihr Name, Mira, fünfzehn Jahre alt. Und der 15
letzte Name gehörte zu einem kleinen, dreijährigen Mädchen, Adeline Beguin. Vier Namen. Einer davon durch diese schrecklich gleichmäßige Linie aus Kreuzen entstellt. Dann die Alter, die Orte – drei von ihnen ihr völlig fremd –, und auf der rechten Seite des Zettels, neben den Namen und den dazugehörenden Angaben, das Wort Wächter und jeweils ein weiterer Name. Gil war der Wächter in ihrer Zeile. Sie nahm den Zettel mit in den Duschraum und verriegelte die Tür. Lange Zeit stand sie unter dem fast kochend heißen Wasser, das ihre Muskeln lockerte und ihre Haut zum Glühen und Singen brachte. Der süße Dampf hüllte ihren Körper ein und liebkoste ihn, und sie summte sanft vor sich hin, während sie den Schweiß abwusch. Irgendwie hatte sich die Welt gerade völlig verändert, war ein Stück zur Seite gerückt. Mira sollte eigentlich immer noch in ihrem Mittelpunkt stehen und versuchen, die Veränderung zu erfassen. Doch sie konnte es nicht. Nackt stand sie vor dem Spiegel. »Was also sagt mir dieses Stück Papier?«, fragte sie die verschwommene rosafarbene Gestalt im Wasserdampf vor ihr. »Nur dass Gil ein Wächter ist. Nur das.« Doch als sie so dastand, frisch gereinigt, spürte sie erneut das wilde Stampfen der Panik, und weitere, schattengleiche Vorstellungen krochen in ihren Sinn. Der Name der Frau zwischen den Bäumen zum Beispiel. Die Bedeutung der gleichmäßigen Kreuze.
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Und eine Last von Fragen, auf die sie keine Antwort hatte. »Ach, schau dich an«, fuhr sie ihr Spiegelbild stirnrunzelnd an. »Dir geht’s prima, und du stehst da und machst dir Sorgen um ein Rätsel, das sicher irgendwann gelöst wird. Ganz bestimmt. Wenn es nötig ist.« Außerdem konnte sie immer noch Gil fragen, ihren Freund. Nichts leichter als das. Die alte Sarah war dick in Decken und Tücher gehüllt und erwartete die erste freie Sendung des Tages. Auf einem Teller neben ihr lagen Haferkekse und Stücke von geräuchertem Fisch, an denen sie während der zwei Stunden zufrieden knabbern würde. Sie nickte missbilligend, grüßte Mira mit verkniffenen Lippen und murmelte wie ein Mantra: »QuizShows, Spiel-Shows, Wettkämpfe, Nachrichten, Sport, Kochen, Mode und Garten.« »Brauchst du irgendetwas, Sarah?« »Nein, Liebes, nichts.« Da war eine kleine Warnung, ein kaum merkliches Zähnefletschen: Verdirb mir nicht die ersten Sekunden der Sendung. Mira zuckte mit den Schultern. Es war lange her, seit ihre Mutter es geschafft hatte, sie tief zu verletzen. Sie ging hinaus und über die Lichtung zu dem Weg, der zu den Generatoren führte. Wie immer genoss sie die prickelnde Kälte auf ihrem Gesicht. Die Schatten und die Geheimnisse des Morgens waren
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nun Vergangenheit. Grelles Licht ergoss sich über die Gipfel und tauchte das Land in strahlende Farben: die feucht glänzenden tiefgrünen Nadelwolken, die ihre Last aus Schnee trugen, leicht dampften und den Wald rastlos erscheinen ließen; stumpfrote Stämme und orangefarbene Flechten, eine Zigarettenschachtel, dunkelblau leuchtend auf dem Weg zu den Generatoren. Welche Welt war wirklich? Mira dachte, dass die Sonne nur einige Dinge beleuchtete und andere verbarg. Was war das für eine Sache, die heute Morgen passiert war – in der singenden Luft, in ihrer Welt? Was würde sie dadurch verlieren? Cobb war ganz oben am Ende der Generatoren. Er hatte den Schnee von dem düsteren schwarzen Gehäuse gefegt und balancierte auf der Hängebrücke zwischen einer Maschine und der nächsten, während er versuchte, vereiste Bolzen zu lösen. Unter ihm brodelte das eisige Wasser des Flusses. Mira achtete darauf, dass er sie beim Näherkommen sehen konnte. Es wäre gefährlich, den alten Mann zu überraschen, denn mit seiner dreißigjährigen Erfahrung an den Generatoren hielt er nichts von Sicherheitsleinen. Nur in der Nacht oder bei Unwetter ließ er sich dazu überreden, eine zu benutzen, und manchmal nicht einmal dann. Als er sie sah, schob er sich vorsichtig zum Ufer und holte seine Thermoskanne heraus. Sie teilten sich etwas zu essen und zu trinken – die erste Mahlzeit,
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die Mira heute zu sich nahm. Es war ihre eigene Schuld: Sie hätte nicht so lange duschen sollen. Und sie hatte keine Lust gehabt, im Haus zu bleiben, um sich Porridge zu machen, nicht wenn Sarah vor dem Fernseher saß. Während sie kauten, legte Cobb plötzlich seine Hand auf ihren Arm und sagte: »Ich vermute, dass du nicht ohne Grund hier raufgekommen bist. Oder wolltest du nur deinen Pa besuchen?« »Ich wollte meinen Pa besuchen«, lächelte Mira und bemühte sich, ihrer Stimme einen gelassenen Klang zu geben, »aber ich wollte auch eine Frage stellen.« Sie nahm einen Bissen, kaute ihn gründlich durch und schluckte. »Die Frage ist, wie ich zu dir und der alten Sarah kam.« Cobbs blasse blaue Augen trafen ihre. Sie stellten eine Gegenfrage. Er fuhr sich mit seinem rundlichen, schwieligen Daumen über die Lippen und wischte sich die Krümel ab. »Mira, du weißt doch, wie das war.« Sie sprach langsam und bedächtig. »Ihr habt euch ein Kind gewünscht, konntet aber keins bekommen. Ihr hattet kein Geld für Medikamente, die euch geholfen hätten, und so habt ihr euch um eine Adoption beworben. Und mich bekommen. Ihr wart überrascht über so viel Glück.« »Aye. So war’s.« Der Mann nahm eine Hand voll Schnee und wischte sein Messer damit ab.
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»Warum überrascht?«, fragte sie. »Ach. Der Ort, wo wir leben, Mädchen – schau dich doch um! Und wir waren arm. Und du warst so ein prächtiges Baby.« Mira dachte darüber nach. Sie begriff nicht, warum jemand annehmen sollte, dass Cobb kein guter Vater sein würde oder dieser Ort kein gutes Zuhause. Und die Armut – kümmerte sich ein Baby darum? Außerdem wurde Cobb zum Manager der Generatorenstation gemacht, kurz nachdem sie hierher gekommen war. Sie fragte: »Woher kam ich? Wo war ich vorher? An was für einem Ort?« »Von unten, aus dem Süden«, sagte der alte Mann mit einem Kichern, »und das kann so gut wie alles heißen, Kind. Da unten liegt die ganze weite Welt.« Unbestimmt wedelte er mit dem Arm. »Man sagt dir nichts, wenn du ein Kind adoptierst.« »Nichts?« »Nichts.« Mit Kribbeln im Bauch fragte sie: »Es hatte nichts mit der Polizei zu tun? Die Adoption, meine ich.« Cobb blickte sie befremdet an und stand auf, wobei er sich die Hände an seinem Overall abwischte. Er ging zur Hängebrücke und fing wieder an, das tosende schwarze Wasser zu überqueren, dessen Brüllen sie während ihrer Unterhaltung begleitet hatte, wie es das während der Arbeit hier oben auf Schritt und Tritt tat. »Polizei?«, rief er über die Schulter zurück. »Was weißt du denn über die Polizei, Mira?«
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Auch sie musste ihre Stimme erheben. »Nur das, was Gil mir erzählt hat. Es ist nichts, ich habe nur darüber nachgedacht.« »Nay – nein«, rief er. »Es hatte nichts mit der Polizei zu tun.« Und erneut widmete er sich den in Eis gehüllten Bolzen. Pat bekam seinen Willen: Zuerst wurde weitergespielt, dann gelernt. Mira unterrichtete die Kinder gemeinsam mit Hannah, der jüngsten und klügsten der Frauen in der Siedlung. Seit ihr Mann vor sechs Monaten unachtsam gewesen und in den Fluss gefallen war, lebte sie mit ihrem Baby allein. Manchmal fragte sich Mira, ohne den geringsten Anflug von Eifersucht, ob Gil ihr Hannah vorziehen würde. Es gab keinen Beweis dafür. Es war nur ihr unausgereifter Instinkt, die Beobachtung des weichen, verstohlenen Gesichts der Frau, wenn Gil in der Nähe war. Der Unterricht war Miras Idee gewesen – und warum auch nicht? Die Aufsicht über die Kinder oblag sowieso meist ihr und Hannah. Niemand störte sich daran. Sie benutzten das Gerätehaus, räumten jedes Mal ausrangierte Ausrüstungen und Geräte weg und zerrten und rückten splittrige Sperrholzkisten als Tische und Stühle herbei, in denen sich einstmals Ersatzteile für die Generatoren befunden hatten. Der düstere Schuppen war kalt und Mira drehte sowohl Licht als auch Heizkörper voll auf. Sollte sich
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doch der Rechnungsprüfer beschweren, wenn er das nächste Mal kam; sie weigerte sich, menschliche Eisblöcke zu unterrichten, jedenfalls nicht solange der Fluss seine Energie freigebig zur Verfügung stellte. Hannah nahm die drei Kleinsten beiseite und half ihnen mit der rechten Hand, die Zahlen richtig zu malen, während sie ihr Baby mit der linken eng an ihren wärmenden Körper presste. Den anderen vier Kindern erzählte Mira wie jedes Mal von Dingen, die sie in der uralten Ausgabe eines Kinderlexikons gefunden hatte, das Cobb ihr einmal geschenkt hatte. Es war das einzige Buch in ihrem Haus. Das einzige in der ganzen Siedlung. Heute hatte sie eine Seite über Insekten aufgeschlagen. Es gab so viel zu lernen, so viele Dinge, über die man etwas erfahren konnte. »Alle Insekten tragen ihre Knochen außen«, erklärte sie den Kindern. Pat Cassidy, zwölf Jahre alt, klein und mit großen Sommersprossen übersät, fing an herumzukaspern und tat so, als sei er ein wandelndes Skelett. »Das stimmt, Pat: Es ist, als hätte man eine harte knochige Haut – ein Exoskelett heißt das, glaube ich. Alles Weiche ist im Innern.« Sie schrieb »Exoskelett« mit Kreide an die Wand, falls die Kinder es sich aufschreiben wollten, und zeichnete dann unbeholfen das Bild eines Käfers, der schreckliche, klickende Töne von sich geben konnte, indem er seine noch schreckenerregenderen Kiefer aneinander schlug. »Käfer sind die größte Gruppe von Insekten. Sie
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haben sogar knochige Exoskelett-Teile, die über ihre Flügel ragen und sie schützen. Das sind so genannte Deckflügel.« Die verträumte Joan murmelte: »Wie die Abdekkung vom Motorschlitten«, und heftete ihre Augen auf das staubige Fenster. Dann forderte Mira die Kinder auf, Pats Beispiel zu folgen und herumzulaufen oder zu kriechen wie Käfer. »Wie fühlt ihr euch dabei?«, fragte sie. »Was könnt ihr da unten sehen? Wovor habt ihr Angst? Was macht euer Insektenherz glücklich?« Es war ein großes, lautes, fröhliches Durcheinander, doch irgendwann drangen die plumpen Käferkinder in die andere Klasse ein paar Meter weiter ein und brachten die Kleinen mit ihren steifen Bewegungen und ihrem klickenden Zungenschnalzen zum Heulen. Der Unterricht wurde wie so oft abgeblasen. »Meinst du, dass wir beim Unterrichten alles richtig machen?«, fragte Mira und wuchtete eine Kiste zurück an die Wand. Und Hannah erwiderte scharf, wie üblich: »Woher soll ich das wissen? Aye, es wird schon gut genug sein. Frag doch Gil, wenn du’s genau wissen willst.« Aber Gil machte sich über ihren Unterricht lustig, obwohl er derjenige gewesen war, der ihr zuerst über die Schule erzählt hatte. Wie oft machte er ihr mit seinen Geschichten den Mund wässrig und stieß sie dann sanft zurück, weil sie zu dumm war oder zu gierig … oder zu … was? Und jetzt bezweifelte sie,
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dass sie ihn jemals wieder um Hilfe bitten konnte. Jedenfalls nicht, bis sich ihr Hirn irgendeinen Reim auf das Wort Wächter machen konnte. Oder bis sie ihn direkt danach gefragt hatte – was sie zu tun beabsichtigte. Ihr fiel auf, dass sein Haus den ganzen Tag lang dunkel und leer geblieben war. Und das war es auch noch spät in der Nacht, lange nachdem Sarahs letzte Sendung geendet hatte, als Mira friedlich und allein auf der Lichtung unter den Sternen stand. Wahrscheinlich arbeitete er hoch oben, am anderen Ende der Generatorenkette, oder unten an der Gezeitensperre. Er hatte keine festen Arbeitszeiten, genauso wenig wie Mira selbst. Alles war so, wie es sein sollte. Sie verfluchte den unerwünschten Krampf in ihrem Magen und ging zu Bett.
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3 Plünderer waren wieder in den Bergen aufgetaucht! Raymie hatte etwas gesehen – hatte jemanden gesehen –, während er draußen war und seine Fallen überprüft hatte. In Windeseile verbreiteten sich die Gerüchte und im Kochhaus sprach man von nichts anderem. Als Mira leise eintrat, war eine zänkische, erregte Diskussion im Gange über die Frage, was genau Raymie gesehen und wem er zuerst davon erzählt hatte, wie nah die Plünderer waren, welche Gefahr ihnen, den Bewohnern der Siedlung, drohte … »… Spuren im Schnee; mindestens fünfzehn Männer …« »… ein Angriff, heute oder morgen …« »… Raymie hat mit ihnen gesprochen, hat ihnen Vorräte angeboten und gesagt, wir hätten nichts anderes …« »… eine Falle war ausgelöst, aber kein Tier war drin …« »… ein Lager voller Schurken im übernächsten Tal …« »… ermorden uns im Schlaf, ihr werdet’s schon sehen …« »… Rauch von ihren Lagerfeuern …« »… Riesen in Grau …« »… so hat es auch Hannahs Mann erwischt, das 25
sage ich euch. Aye, der ist in keinen Fluss gefallen …« Die Augen der Frauen leuchteten vor Schrecken und heimlicher Erregung, aber Evelyn, die kleinste von ihnen, feurig und mit stechenden blauen Augen, schlug mit ihrem großen Kochlöffel auf die Arbeitsplatte und rief: »Genug!« Sie stand da, die Hand in die Hüfte gestemmt, und funkelte die anderen Frauen an. »Also gut. Hat eine von euch aus Raymies eigenem Mund gehört, was dieser betrunkene Narr angeblich gesehen haben will?« Ihr blitzender Blick flog zornig zwischen ihnen hin und her. »Du, Dawn? Oder du, Muriel, mit deinem Gerede von Vorräten und grauen Riesen?« Sie erhielt nur Schweigen als Antwort. »Na also!« Das Stirnrunzeln verwandelte sich in ein Lächeln, doch das Feuer in ihren Augen blieb. »Das Mittagsmahl besteht heute aus Eintopf, Erdäpfeln und Käse. Und ich glaube, ihr wisst über diese wichtigen und guten Dinge, dieses Mittagessen, besser Bescheid als Raymie über Plünderer. Er könnte ja nicht einmal einen Plünderer in einem leeren Zimmer finden, betrunken oder nüchtern.« – Lächeln belohnte ihre Worte. – »Und weil das so ist, sollten wir jetzt tun, wozu wir hergekommen sind, anstatt solchen Unsinn zu reden.« Während die Frauen, immer noch flüsternd und murmelnd, an ihre Arbeit gingen, flog Dawns Stim-
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me laut und deutlich aus der Ecke vom Spülbecken her durch den Raum: »Mir würde es nichts ausmachen, wenn sich mal ein großes Monster nachts an mich ranschleichen täte. Meinen Pete könnte so schnell nichts wecken, so wie der schnarcht.« Kichern und Prusten brachen angesichts dieser Vorstellung aus, begleitet von anzüglichen Witzen. Mira lächelte gemeinsam mit den anderen, nahm sich eine Schürze aus dem Regal und ging in den dunklen, trockenen und staubigen Vorratsraum, um Kartoffeln zu holen. Die Erdäpfel waren faltig und eingefallen, hatten ihre beste Zeit schon hinter sich, doch sie schmeckten süß und rauchig, wenn man sie auf der Holzkohle röstete. Sie bezweifelte, dass sich irgendein Plünderer mit Evelyn messen konnte, und es stimmte ja, was sie sagte: Raymie trank dreimal so viel wie jeder andere Mann und verschwand oft für Tage, um sich um seine Fallen zu kümmern, wenn er eigentlich den anderen bei der Arbeit helfen sollte … Aber andererseits: Vielleicht hatte er ausnahmsweise einmal wirklich etwas gesehen. Sie würde mit ihm darüber reden – wenn sie ihn nüchtern erwischen konnte. Vielleicht beim Mittagsmahl. Aber für den Moment sollte sie wohl eher die ganze Sache vergessen. Wenn sie das konnte. Es war am besten, sich auf die Arbeit zu konzentrieren … Riesen in Grau. Sie schob den Gedanken beiseite und fing an, die Kartoffeln zu schälen.
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Die Kinder kamen zuerst zum Essen, stürzten in Begleitung von Hannah herein, mit Schnee in ihren Haaren und an ihren Handschuhen und mit tropfenden Nasen. Vor der weit geöffneten Tür, durch die Kälte eindrang, stand ihr Atem in kleinen Rauchwölkchen. Irgendwie schaffte es Hannah, mit dem Baby auf der Hüfte die Kinder zur Ordnung zu rufen und sie auf ihre Plätze am Tisch zu scheuchen, wo sie heiße Kartoffeln von einer Hand in die andere warfen und lautstark von den morgendlichen Spielen erzählten. Die Männer kamen stiller und ernsthafter herein, meist allein oder zu zweit. Sie stampften ihre Stiefel auf und besprachen technische Probleme – welches der älteren Geräte wohl demnächst ausfallen und wie lange es dauern würde, bis die neuen Teile mit dem Schiff hier sein würden. Sie setzten sich an den größeren Tisch, wobei sie Platz für die Frauen ließen, und schenkten sich Bier aus Krügen ein. Schon bald dampfte das niedrige Holzhaus und war mit Gerede und Gelächter erfüllt. Das Mittagsmahl war immer eine laute, fröhliche Angelegenheit, der Mittelpunkt des Tages. Jeglicher Streit war längst beigelegt – oder wenn nicht, gehörte er dem Vormittag an. Dreiundzwanzig Menschen waren eine zu kleine Gemeinschaft, als dass man Zeit mit Zank oder Missverständnissen vergeudet hätte. Raymie war zwar gekommen, doch an diesem Tag war die Gelegenheit für Mira, ihm irgendwelche Fragen zu stellen, schon lange vorbei. Er hatte bereits
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ordentlich getrunken. Außerdem waren Fragen gar nicht nötig. Nichts konnte ihn davon abhalten, seine Geschichten von den Plünderern zum Besten zu geben, während seine wässrigen Augen unstet rund um den Tisch wanderten und jeden Zweifler herausforderten. »… runde Häuser aus Stoff, wenn ich’s euch doch sag; weiß und irgendwie mit Punkten, damit man se nich so leicht sehen kann – außer man is gewöhnt, alles zu sehen … außer man hat die Augen von ’nem Fährtensucher.« »Oh ja, du bist gewöhnt, alles zu sehen, schon klar! Nicht wahr, Raymie, alter Junge?« Inmitten des Gelächters schlug Raymie die Tasse auf den Tisch und streckte seinen zittrigen Finger aus. »Schon recht, Pete. Schon recht. Un mein schöner Hirsch, den ich von da mit runtergebracht hab, direkt unter ihrer Nase weg, un der in deinem Bauch landet, den hab ich mir wohl auch nur eingebildet, was?« Mira stand im Türrahmen zum Kochhaus, aß ein Stück sauren und salzigen Ziegenkäse und schaute zu. Mit fünfzehn durfte sie sich zu den Männern und Frauen auf die Bank setzen, wenn sie nicht losgeschickt wurde, um irgendetwas zu holen oder wegzubringen. Heute war da ein Platz für sie, direkt neben Gil – was Hannah bemerkt hatte und soeben mit einem düsteren Blick in Richtung Mira quittierte. Doch Mira reagierte nicht, denn in diesem Moment beugte sich Cobb vor, um über die Lücke hinweg et-
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was zu dem jüngeren Mann zu sagen, dessen Kopf lauschend geneigt war. Keiner der beiden schien jetzt auch nur im Geringsten auf Raymies Vorstellung zu achten und Gil nickte zustimmend als Antwort auf die Frage des Älteren. Und doch: Während er sprach und zuhörte, schien es Mira, als würde er den Betrunkenen keine Sekunde aus den Augen lassen. Schon komisch, wie ihre Gedanken wanderten. Sie war genauso schlimm wie Raymie. Als ob er ihre Überlegungen gehört hätte, nickte Gil noch einmal Cobb zu, und dann war sein Blick plötzlich auf ihr, samt seinem neckenden, freundlichen Lächeln. Er erhob sich und ging zum Kücheneingang. »Willst du uns nicht Gesellschaft leisten, Mira?« Unbeschwert erwiderte sie sein Lächeln und schüttelte ihren Kopf. »Ich kann nicht. Ich muss den Sirup im Auge behalten.« Sie trat zurück, damit er die süße Flüssigkeit sehen konnte, die gerade auf dem Herd erwärmt wurde. Doch er neigte sich zu ihr, kam ganz nah und murmelte: »Aber du wirst mir einen Tanz reservieren, am Geburtstag von Klein-Joan, aye, Mira?« Errötend schob sie ihn weg und bemerkte Hannahs Blick, die die kleine Szene beobachtet hatte. »Aye, na schön, na schön. Aber jetzt, der Sirup …« Er nickte leicht, zufrieden, und begab sich wieder zurück zum Tisch.
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Auf ihrem stillen Platz in der Ecke zupfte sich die alte Sarah ein Stück Kartoffelschale zwischen den Zähnen heraus und bedachte Mira mit einem Blick, der schwerer zu deuten war als Hannahs. Doch er wirkte so sauer wie der Käse, den Mira vorhin gegessen hatte. Schon komisch, wie Gedanken wandern, doch genau das taten sie, egal ob sie wach war oder – schlimmer noch – schlief. Fünf Mal in fünf Nächten sah Mira das Gesicht der Frau unter den Bäumen, sah den roten Fleck, der sich auf dem Schnee ausbreitete, und erwachte schweißgebadet, verängstigt und wütend. Erwachte mit einem Zorn, von dem sie nicht gedacht hätte, dass er möglich, dass er in ihr war. Er wuchs, anstatt zu verschwinden, und er richtete sich gegen sie. Warum hatte sie nur zugeschaut, bis es zu spät war? Warum hatte sie nicht wenigstens verlangt, dass die Frau versorgt wurde, bevor die Fremden sie mit sich in den Wald nahmen? Warum hatte sie Gil nicht aufgefordert, mehr zu tun? Gil. Ihr Wächter. Worüber wachte er? Zu all dem konnte sie niemanden fragen außer Gil selbst – wie süß wäre das Vergessen. Wenn sie es doch ausschwitzen könnte, da oben in den Bergen; oder mit ihm tanzen, an Klein-Joans Geburtstagsfest, und alle Zweifel hinter sich lassen. Und wahrhaftig – was konnte sie anderes tun? Raymie mochte etwas
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wissen, war vielleicht in der Lage zu sagen, was die Männer, die er gesehen hatte, für Kleidung trugen. Doch er war weg, am Tag nach seiner Erzählung über die runden Häuser, die man nicht sehen konnte. Als sie am Morgen nach seinem Verschwinden vom Berg hinuntergerannt kam, hielt sie aus einem Impuls heraus bei seiner kleinen Hütte an. Sie war kalt und leer, ein wenig einladendes, muffiges Durcheinander aus ungewaschenen Betttüchern, Stücken von Tierhaut, die er aus unerfindlichen Gründen behalten hatte, und toter Asche, die aus dem Herd auf den Boden gefallen war. Sie warf sogar einen Blick in sein kleines Kühlhaus, fand aber nichts außer dem trübäugigen Kadaver des erlegten Hirsches, der an einem Haken von der Decke herabhing. Kein Zweifel, Raymie hatte sich bestimmt wieder mit Whiskey voll laufen lassen und war zu seinen Fallen und seinen Gespenstern zurückgekehrt, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine Tür abzuschließen und zu verriegeln, als er loszog. Und es lag ihm offenbar auch nichts daran, das Fleisch des Hirsches regelmäßig zu überprüfen, wann es genug abgehangen war, um es zuzubereiten. Der Mann schien am glücklichsten, wenn er allein war, und Mira konnte es ihm nachfühlen. Natürlich war kein Angriff erfolgt und das Gerede im Kochhaus war schnell zu den üblichen, bodenständigeren Themen zurückgekehrt. Alles, was Cobb über die Plünderer zu Mira gesagt hatte, war: »Wenn
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sie hier wären, so nah, und irgendwas von uns wollten, Mädchen, dann wären sie jetzt schon längst bei uns gewesen. Mach dir keine Sorgen.« Aber Gil hatte nachdenklich geschaut und erklärt: »Wir sollten trotzdem vorsichtig sein, aye? Nur für den Fall, dass Raymies Plünderer doch keine Einbildung waren. Du solltest eine Weile das Laufen sein lassen, denke ich.« Sie ließ das Laufen nicht sein. Schließlich wusste sie, dass die Plünderer meistens nur auf die Vorräte im Lagerhaus scharf waren, schlimmstenfalls noch auf den Motorschlitten. Sie hatten nicht den Wunsch, Blut zu vergießen, es sei denn, man hinderte sie an ihren Absichten. Mit der schrecklichen Menschenjagd, der die Frau unter den Bäumen zum Opfer gefallen war – mit dem nackten, gewaltsamen Ende, jenem wippenden Kopf, eine Gestalt, so leblos wie ein totes Reh –, hatte das Vorhaben von Plünderern nichts gemein. Und sie hatte es akzeptiert, weil er, Gil, es so wollte. Gil mit seinem Arm warm um ihren Körper, mit seinem raschen, strahlenden Lächeln. Gil, der alles wusste und jetzt nicht mehr derselbe Mensch war. Der Wunsch nach Vergessen war verführerisch, doch sie gab ihm nicht nach, konnte es nicht, wollte es nicht. Jemand hatte ihren Namen auf dieses Stück Papier geschrieben, eine Person, so schien es, die sie, Mira, kannte oder etwas über sie wusste. Vielleicht jemand aus dem Süden, wo sie geboren worden war und wo die Polizei herkam. Und nun legte sich, be-
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ginnend mit dem Moment, an dem ihr Leben seinen Anfang genommen hatte, der Zweifel über alles, woran sie sich erinnerte, was sie kannte, ein Zweifel, so dick wie Schnee, Schicht für Schicht. Wie konnte sie, wieder zu ihrem vertrauten Dasein zurückfinden? Es schien keinen Weg für sie zu geben. Ohne es zu wollen, begann sie, sich wie eine Außenseiterin in ihrem eigenen Zuhause zu fühlen, betrachtete die Menschen, die sie liebte, wie durch eine dicke Glasscheibe – eine fremde, neue Mira, die vorsichtig war, verschlossen und misstrauisch. Bereits am zweiten Tag, der jenem Tag folgte, spürte sie die Veränderung. Gil hatte sie gesehen, während er unterwegs war, um einige Dinge zu erledigen. Er hatte sie zu sich gerufen: »Und wie geht es meiner Kleinen heute, an diesem herrlichen Morgen? Keine Idioten, die auf unserer wohlverdienten Nachtruhe herumtrampeln?« Dann ein zärtliches Lächeln. »Im Ernst, Mira, geht es dir gut? Es war eine unschöne Szene; du hättest so etwas nie sehen dürfen. Es macht mich wütend, wenn ich daran denke.« Und so hatte er weitergeredet, frisch und fröhlich, mit Worten, die nur von Sorge zeugten, hatte sie mit Gesten und Blicken aufgefordert, ihren Schrecken und ihre Angst mit ihm zu teilen. Ihr Gil, wütend über die grobschlächtigen, brutalen Methoden der Polizei. Was wäre in diesem Moment natürlicher gewesen, als ihm von dem Zettel zu erzählen und sich seine beruhigende und vernünftige Erklärung anzuhören?
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Doch sie konnte nicht. Die Worte wollten nicht aus ihr heraus. Denn er war der Wächter und hatte es ihr nie gesagt. Und die Frau, die dieses Mysterium hätte aufklären können, war erschossen worden. Nichts in Miras Universum konnte diese Tatsache verändern oder abschwächen. Heute, eine Woche und ein ganzes Leben nach dem Fund des Zettels, wusste sie instinktiv, dass sich der Himmel und der gefrorene Nebel, ein unendliches, milchig weißes Meer, bis zur Abenddämmerung nicht verändern würden. Solche Tage waren nicht selten, Tage, an denen man in einer weichen, eisigen Tasche aus Dunst existierte und die kleinen Geräusche des Waldes ins Riesenhafte wuchsen. Es war ein guter Tag für die Verschlossenen und Misstrauischen. Der Weg hinunter zur Gezeitensperre war menschenleer, aber Mira bewegte sich trotzdem vorsichtig und spähte voraus in den weißen Dunst, jederzeit bereit, zwischen die Bäume zu gleiten, falls eine Gestalt auftauchen sollte. Sie wünschte sich, dass ein Schiff da wäre und sie lärmend und spielend mit den Kindern den Pfad entlanglaufen würde, um neue Gesichter zu sehen und beim Ausladen der Vorräte zu helfen. Das letzte Mal – vor einigen Monaten – war es ein anderes Schiff gewesen als sonst, kleiner, mit einem spitzeren Bug und einem neuen, kiefergrünen Anstrich. Der junge Mann, der das Ausladen über-
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wacht hatte, hatte dichte, dunkle Locken und große rote Hände. Er hatte ihr zugezwinkert und sie »Liebchen« genannt, ein Wort, das sie nicht kannte. Schiffsnächte waren Feiernächte. Aber das nächste Schiff würde erst in einigen Wochen eintreffen und jetzt war der Weg still und verlassen. Ihr Herz hüpfte – was es nicht tun sollte – bei jedem leisen Geräusch. Doch sie erreichte das Meer ohne Zwischenfall. Die kohlschwarze Wasserfläche war ungewöhnlich zahm, rollte lustlos ans Ufer, gegen die Hafenmole und die große Gezeitensperre und zog sich mit saugenden Geräuschen wieder zurück. Die Gezeitensperre erzeugte Strom aus den Bewegungen der Wellen, so wie die Generatoren aus dem Schmelzwasser, das von den Bergen hinab zum Meer floss. Immerhin war dies der Grund, warum sie alle hier waren – fünfzehn Erwachsene, sieben Kinder und sie selbst, gefangen zwischen den vereisten Bergen und der eisigen See –, und es gab nur einen einzigen Weg, Nachrichten in den Süden zu schicken, um sicherzustellen, dass die Schiffe die richtige Lieferung mitbrachten: den Computer. Mira ging an der Gezeitensperre und der einsamen Hafenmole vorbei und erreichte das dunkle steinerne Lagerhaus, wo die Dinge, von den Schiffen ausgeladen, aufbewahrt wurden, bis man sie brauchte. Waren es große Geräte oder Kisten, fuhr jemand mit dem wertvollen Motorschlitten und einem Anhänger hier-
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her, den er voll lud; brauchte man nur Kleinigkeiten, dann ging man zu Fuß. Noch kostbarer als der Schlitten war das Benzin, das er verbrauchte. Sie trug Cobbs flachen, schweren Schlüssel bei sich, um die niedrige, metallbeschlagene Tür des Lagerhauses zu öffnen, und als sie sich ihren Weg durch die Dunkelheit zu den Lichtschaltern ertastet hatte, schloss sie mit einem weiteren, kleineren Schlüssel die Abdeckung des Computers auf. Im Gemeinschaftssaal, oben in der Siedlung, einen halbstündigen Fußmarsch weit entfernt, fand gerade ein weiteres geräuschvolles Mittagsmahl statt. Gesalzener Fisch – ihre Hände stanken immer noch danach – und Reis. Doch der Lärm war heute nicht ganz so groß, denn Gil und zwei andere Männer waren zu den hoch gelegenen Generatoren unterwegs, um die Turbinen des Generators Nr. 28 zu überprüfen und eventuell auszutauschen. So hatte es an der Tafel gestanden, wo bekannt gegeben wurde, zu welcher Arbeit die Männer eingeteilt waren. Und sie hatte die Gelegenheit ergriffen und sich davongeschlichen, sobald sie mit der Zubereitung des Essens fertig gewesen war – wobei sie auf Evelyns Frage, wohin sie wolle, ihre Monatsblutung vorgetäuscht hatte. Nur zur Sicherheit hatte sie eine Liste mit darauf verzeichneten Materialien und Ersatzteilen eingesteckt, die gebraucht wurden. Wenn jemand sie hier fand, würde sie diese Liste vorzeigen – zusammen mit Cobbs Schlüsseln, der sich sicherlich schützend
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vor sie stellen und bestätigen würde, dass er sie gebeten hatte, all die Dinge zu bestellen, obwohl das eine glatte Lüge war. Miras Finger glitten forschend und suchend über die Tastatur, obwohl sie schon unzählige Male zugeschaut hatte, wie man mit dieser fremdartigen Maschine reden musste. Einschalten. Auswahl: Saintlink. Das Passwort eingeben … Diese Verbindung ist autorisiert zur Materialanforderung für Generatorenstation Q17. Möchten Sie Material bestellen? Antworten – Ja – und dann würde die Verbindung hergestellt werden. Die Verbindung wurde hergestellt. Auf dem Monitor blinkte ihr eine Begrüßung entgegen, und sie fing an, die Bestellnummern der gelisteten Dinge einzugeben, damit die Maschine merkte, dass sie den Saintlink für den erlaubten Zweck benutzte – sie hatte keine Ahnung, ob dem Computer so etwas auffiel. Sie verbrachte zwanzig langsame Minuten mit dieser Eingabe; das Mittagsmahl war inzwischen wohl vorüber. Der Computer fragte: Verbindung beenden? Und Mira tippte Nein. Diese Verbindung ist autorisiert zur Materialanforderung für Generatorenstation Q17. Möchten Sie Material bestellen? Nein. Ein neues Fenster öffnete sich auf dem Bildschirm. Bitte Stichwort für neue Anfrage eingeben. Sie überlegte, biss sich auf die Nägel und tippte dann Annie Tallis ein.
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Begriff nicht gefunden. Bitte geben Sie das Passwort für Saintsearch ein. Mit zwei Fingern gab sie unbeholfen erneut das Passwort der Siedlung ein und bestätigte ihre Eingabe … doch schon in der nächsten Sekunde schaltete sie den Computer aus, sodass der Monitor sirrend erstarb. Sie lehnte sich zurück, weg von dem Bildschirm, und atmete ein paar Mal tief durch, füllte ihre Lungen mit der friedlichen Luft und schaute dabei auf ihre Finger, die zitterten. Ehrwürdige Väter! Wenn sie nach Antworten suchte, wenn sie darauf bestand, diesen unvernünftigen, zweifelhaften Weg weiterzugehen, dann musste sie mehr Selbstbeherrschung erlernen. Diesmal lief sie entschlossen durch den Nebel, rannte sich ganz bewusst die Angst und die Verwirrung aus dem Leib. Ihre Füße küssten den Schnee. Ihre Haare flatterten wie eine Fahne. Auf ihrem Gesicht sammelten sich eisige Wassertropfen. Hinter einer Kurve tauchte direkt vor ihr unvermittelt ein dunkler Schemen auf, sodass sie fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Kräftige Arme schossen vor, um sie aufzufangen. »Du haust den stärksten Mann um, Mädchen, pass doch auf!« Der Mann grinste sie unbekümmert an und trottete weiter. Es war Finlay, Pats fröhlicher rothaariger Pa, auf seinem Weg zur Gezeitensperre, um irgendetwas zu holen. Nicht die grau gekleidete Polizei. Nicht Gil.
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Als sie sich ein spätes Mittagessen aus der Küche holte, war sie wieder ruhig und sie selbst. Niemand würde sich darüber wundern, dass sie ihre Mahlzeit still und allein einnahm, denn das tat sie oft.
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4 Klein-Joan, die Träumerin, wurde neun. An diesem Tag beendeten sie den Unterricht noch früher als üblich, weil jeder voller Vorfreude dem Abend entgegenfieberte – dem langen Aufbleiben, dem großen Festessen (das die Mittagsmahlzeit schmälerte), dem anschließenden Tanz und der Tatsache, dass niemand ans Zubettgehen dachte. Mira schickte die Kinder zum Spielen nach draußen, schloss das Gerätehaus ab und ging nach Hause. Die alte Sarah hockte in ihrer ganzen schäbigen Pracht auf dem Sofa und schaute sich die letzten Minuten der freien Sendungen an, wobei sie an etwas nagte, das wie ein Hammelknochen aussah. Sie grunzte kurz, als Mira hereinkam, ohne ihre Augen vom Bildschirm zu nehmen. »Und nun«, sagte eine fremde, schwärmerische Stimme aus dem Verstärker, »wird Ihnen Gabby ein paar großartige Tricks verraten, wie Sie Ihr Make-up noch wirkungsvoller einsetzen können – oder wie wäre es mit ein bisschen plastischer Chirurgie, meine Damen? –, um Sie mindestens zehn Jahre jünger aussehen zu lassen.« Aus irgendeinem Grund ließ sich Mira heute ausnahmsweise auf einem Stuhl nieder und schaute auf den staubigen Bildschirm. Der trübe Blick der alten 41
Sarah glitt mit einer Mischung aus leichter Überraschung und Verärgerung zu ihr. Es war viele Jahre her, seit das Mädchen sich eng an die unförmige alte Frau gekuschelt und sich mit ihr zusammen die Bilder aus der Anderen Welt angeschaut hatte. Schon seit langer Zeit bekam Mira in diesem Zimmer – dem zentralen Raum ihres Hauses – Platzangst. Es müsste einmal gelüftet und ausgefegt und vielleicht auch neu gestrichen werden, wenn Sarah es zuließe oder sich dazu entschließen könnte, das Zimmer lange genug zu verlassen. Das kleine Mädchen damals hatte es als gemütlich empfunden, warm an die Seite ihrer Mutter gedrückt und beschützt von ihrem großen, fleischigen Arm. »Ich nehme an, Sie kennen mittlerweile die grundlegenden Schritte zur Schönheit des Gesichts«, zwitscherte jene Gabby fröhlich, blechern. »Natürlich, die kennt ja jeder: vollere Lippen, einen breiteren Mund, erhöhte Wangenknochen, größere Augen …« Wieder gingen ihr Gedanken durch den Kopf, auf die sie keine Antworten hatte. Wer war diese Gabby?, fragte sich Mira. An was für einem Ort lebte sie? War dies wirklich ein Abbild des Lebens im Süden? Die Sendungen hatten nichts mit dem zu tun, was sie kannte oder fühlte. Sie zeigten eine Welt, in der zwei Dinge so übermächtig groß waren, dass sie alles andere erdrückten: wie man aussah und wie man leicht zu Geld kam. War dies die Welt, aus der Annie Talus gekommen war? Und auch Gil, bevor er hier auf-
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tauchte und das Haus von Roy übernahm? War dies die Welt, in die sie selbst hineingeboren worden war? »Also, ich bin heute hier, um Ihnen ein ZehnPunkte-Programm vorzustellen, das aus Ihnen mit Sicherheit eine Ideale machen wird.« Blechernes, klirrendes Lachen von Gabby, wobei Mira nicht begriff, was so komisch daran sein sollte. »Und hier haben wir Kate, die heute für uns Modell stehen wird.« Seufzend erhob sich Mira von ihrem Stuhl und verschwand hinter dem Vorhang, wo sich die Kochnische befand. Jemand musste sich um Brot und Käse für das Mittagsmahl kümmern; Cobb würde bald da sein, hungrig von der Arbeit … Aber nachdem sie den kleinen, wackeligen Tisch gedeckt hatte, war es Sarah, die zuerst erschien. Sie schlurfte in ihren Pantoffeln herein und zog eine schmutzige Decke hinter sich her. Vielleicht wollte die alte Frau freundlich sein, als Gegenleistung für die wenigen Momente, die Mira ihr Gesellschaft geleistet hatte. Das Gefühl einer vertrauten, dumpfen Sehnsucht überkam Mira. Sie deutete auf die Dinge, die sie auf den Tisch gestellt hatte. »Bier, Mutter? Soll ich dir etwas Brot aufschneiden?« Aber Sarah schlurfte näher und streckte einen aufgedunsenen Arm aus, um die Hand zu umklammern, die nach dem Brot griff. Aber ihr Gesicht war nicht freundlich, sondern hart und grimmig. Sie sagte: »Du glaubst, ich bin blöd im Kopf, was? Du machst dich lustig über mich, Mädchen, was?«
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Mira schaute sie fragend an. Was war los? Was hatte sie getan? »Aye, ich kenne deine Gedanken, Tochter. Mach dir keine Mühe, mir zu antworten, ich hab sowieso Recht. Die arme alte Sarah – liegt stundenlang in diesem miefigen Zimmer, lebt im Träumeland.« Die Umklammerung ihres Arms schmerzte Mira. »Willst wohl was Besseres sein als wir anderen. Hoffst vielleicht, du wärst was Besseres – machst dich selbst zur Lehrerin, fragst deinen Pa, wo wir dich herhaben, schnüffelst rum …« »Nein, Mutter, natürlich nicht …« Mira war überrascht von diesem Ausbruch. Sie wusste, dass es besser war, den Blick zu Boden zu richten und ihr Gesicht schlaff und ausdruckslos erscheinen zu lassen, dann würde der Zorn ihrer Mutter schneller verrauchen. »Na«, knurrte die alte Frau, beugte sich näher zu ihrer Tochter und spuckte die nächsten Worte aus: »Du bist nicht besser. Kein Prinz wird dich auf seinem weißen Pferd mitnehmen. Keinen kümmert’s, was aus dir wird. Nicht einmal den hübschen Gil, den du so gerne für dich hättest, mit all deinen Blikken und deinen roten Backen … Hach, ich weiß alles über dich. Ich weiß, verstehst du? Die Bilder da, die haben’s mir erzählt, schon vor langer Zeit … Die blöde Sarah, die Augen hat, um damit zu sehen, und einen Kopf, um zu denken. Ich kenne dich. Du bist nicht halb so viel wert wie wir, aye? So ist es.«
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Miras Gedanken wirbelten umher. Neue Panik schoss in ihr hoch. Gab es ein Geheimnis, in das alle eingeweiht waren, alle außer sie selbst? »Was?«, flüsterte sie. -»Was ist es? Was weißt du? Was habe ich getan? Bitte sag’s mir, damit ich es wieder gutmachen kann. Du hast mir nie etwas davon gesagt, darum sag es mir bitte jetzt, Mutter. Bitte.« Aber die Frau schien sie nicht zu hören. Ihr Blick war jetzt nach innen gekehrt, der Sturm war so schnell vorübergegangen, wie er gekommen war. Sie stöhnte leise, stieß ein Gurgeln hervor wie das eines Tieres, tief hinten in der Kehle. Dann flüsterte sie rau: »Ein Mädchen. Ein kleines, strampelndes Ding, das wir aufziehen wollten. Ein Kind wie jedes andere. Das war alles, was ich wollte … Und der Narr von einem Vater kommt herein und sagt: ›Wir sind auserwählt worden.‹« Sarah schloss die Augen. »Und ich war so glücklich, das war ich wirklich.« Etwa eine Minute standen sie schweigend, die alte Frau, in ihren Träumen verloren, das Mädchen bemüht, die Bedeutung der Worte zu begreifen, die richtige Frage zu finden. Und eine dritte Gestalt war da, als sie sich umschaute, Cobb, sie konnte nicht sagen, wie lange er schon dastand. »Also gut«, sagte er ernst, »wenn ihr fertig seid, wollen wir jetzt essen.« Mira schnitt noch mehr Brot und still fingen sie an zu essen. Doch gleich nach der Mahlzeit, nachdem Cobb seine Stiefel wieder angezogen und schon das
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Haus verlassen hatte, um weiterzuarbeiten, lief sie ihm ein paar Schritte hinterher, und er zeigte sich nicht überrascht davon. »Nun denn, Mira, meine Tochter?« »Pa, bitte verzeih. Aber ich muss dich noch einmal fragen. Woher komme ich? Was weißt du?« Und er schaute sie direkt an, mit Augen, die ihres Wissens noch nie gelogen hatten. »Wirklich, ich weiß es nicht. Und es ist mir auch egal. Sei damit zufrieden, Mädchen.« Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, da brach es aus ihr heraus: »Ich hab deine Schlüssel genommen, Pa. Für das Lagerhaus. Ich habe die Liste eingegeben … und … und ich wollte die Maschine befragen.« Sie hatte es so aussehen lassen wollen, als ob sie ihm einen Gefallen tat, eine für ihn unliebsame Pflicht erledigte, und als wollte sie nur einmal versuchen, allein mit der Maschine zurechtzukommen … Jedoch hatte sie die Schlüssel ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung an sich genommen, und was sollte sie antworten, wenn er sie nach dem Grund dafür fragte? Anders als die Scheu vor dem Wächter, vor Gil, und der Frage nach dem Zettel, hatte sie das Gefühl, dass sie diesem Mann gegenüber, den sie liebte, offen sein musste. Er betrachtete sie aufmerksam und fragte sanft: »Du wolltest die Maschine nach deiner Herkunft fragen? Ist das richtig?«
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»Aye. Aber sie sagte mir, dass ich nur Ersatzteile und Vorräte und solche Sachen eingeben kann. Und dann habe ich sie abgestellt. Ich habe Angst bekommen und bin nach Hause gerannt.« Er seufzte. »Dann lass uns hoffen, dass dadurch kein Unheil geschehen ist.« »Unheil?« Ihre Stimme war schärfer, als sie es beabsichtigt hatte. »Unheil? Was für ein Unheil könnte ich heraufbeschwören, weil ich diese Dinge wissen will, Pa? Warum soll ich sie nicht wissen?« Er schüttelte seinen Kopf und zuckte mit den Schultern. »Die Eigenarten und Gründe der Leute da unten im Süden sind nicht leicht zu begreifen, jedenfalls nicht für uns, Mira. Es ist besser, sie einfach in Ruhe zu lassen und zu hoffen, dass sie es auch uns gegenüber tun. Du solltest Ärger nicht absichtlich provozieren.« Doch sie ließ nicht nach. »Was ist es, was Mutter glaubt, über mich zu wissen? Warum ist sie wütend?« »Ach … Sarah!« Er lächelte traurig. »Wer kann schon sagen, was sie sich einbildet, Mädchen. Und jetzt wartet die Arbeit auf mich.« Erneut drehte er sich um, und sie rief ihm nach: »Pa, du sagst es doch keinem … das mit dem Lagerhaus, oder?« »Wem sollte ich es denn sagen?«, rief er über die Schulter zurück. Sie schaute zu, wie sein breiter, kompakter Rücken
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zwischen den Bäumen verschwand, und wünschte sich, dass sie einander umarmt hätten. Auch ihrem Pa, sogar ihm, war sie nun entfremdet, abgetrennt durch jene dicke Glasscheibe, als ob an ihrer Stelle eine andere Mira ihr bisheriges Leben gelebt hätte. Im Haus wartete das schmutzige Geschirr auf sie, so wie sie es verlassen hatte. Sarah schnarchte mit offenem Mund auf dem Sofa. Mira wickelte die Dekke enger um die alte Frau. Die langen Tische aus derbem Kiefernholz waren an die Wände geschoben worden, um Platz für die Feier zu machen. Kerzen flackerten und in einer Ecke spielten die Musiker der Siedlung: Pats Pa mit seiner Fiedel, Dawns Mann, Pete mit der Gitarre und Cobb am Schlagzeug. Klein-Joan war schon schläfrig, obwohl ihre Augen weit offen standen und sie ihre Füße im Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche hin und her schob, wobei sie von Evelyn an den Händen gehalten wurde. Im Augenblick waren sie die einzigen Tänzer. Die anderen, größeren Kinder sausten durch den Saal, jagten einander, tauchten unter die Tische und schrien ausgelassen, und jedes Mal hallten ihnen Flüche nach, wenn sie das eine oder andere Glas zum Wanken brachten. Die Männer und Frauen tranken und unterhielten sich am Rande der Tanzfläche. Wie immer kümmerte sich Mira mit Hannah um die Kleinsten. Die junge Witwe trug ein zartes, netzartiges schwarzes Kleid, das fast bis zum Boden fiel. Ihre
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Augen glitten immer wieder zu Gil, der auf einem Tisch hockte und sich mit ein paar Männern unterhielt. Sein Fuß wippte lässig zur Musik. Mira fühlte sich ruhelos, ungeduldig und von allen Menschen genervt. Ehrwürdige Väter! Wenn Hannah unbedingt mit Gil reden wollte, warum ging sie nicht einfach zu ihm? Sie sprach aus, was sie dachte. »Ich passe auf die Kinder auf, wenn du zu ihm gehen möchtest.« Hannah wurde rot. »Aye. Vielleicht mache ich das.« »Aber bring mir bitte etwas zu trinken mit, wenn du zurückkommst, ja?« Hannah brachte ihr sofort etwas. Es war ein großer Krug Bier. Spöttisch sagte sie: »Pass auf, Mira, heute ist es besonders stark. Sieh zu, dass es dir nicht zu Kopf steigt.« Mira hatte eigentlich auf ein Glas warmen, würzigen Punsch gehofft oder wenigstens auf Wasser, doch da ihr nichts anderes übrig blieb, fing sie an, an dem Bier zu nippen. Sie beobachtete, wie Hannah zu Gil ging, ihn leicht am Ellbogen berührte und ihm etwas zuflüsterte. Sein Kopf ruckte herum und auf seinem Gesicht lag jenes schnelle Lächeln. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Im selben Moment suchten seine Augen nach Mira und hielten sie fest. Sie schaute weg und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen; der eingebildete Narr sollte nicht glauben, dass er sie auch in seinem Netz gefangen hatte.
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Dann bemerkte Rory, Hannahs Baby, plötzlich, dass es dunkel und laut war und fing an zu schreien. Sie brachte ihn zusammen mit den beiden anderen Kleinsten in eine stille Ecke des Küchenhauses und machte es ihnen dort gemütlich. Danach wurde das Essen aufgetragen. Gebackener Fisch mit einer Haferkruste, die letzten Pastinaken aus dem Lagerhaus (das Regal war nun leer und eine neue Lieferung würde erst mit dem nächsten Schiff kommen) und eine große Platte mit einem Kümmelkuchen, auf dem Joans neun Kerzen brannten. Mira fiel etwas ein, und sie fragte Muriel, die die Kerzen arrangierte: »Was ist mit Raymies Hirsch? Ich dachte, wir würden heute Wild essen …« Aber die Frau schaute sie nur seltsam an und sagte: »Hirsch? Raymie hat uns keinen Hirsch gebracht. Vielleicht hat er ja geglaubt, es gäbe einen – aber du kennst doch den Mann! Nichtsnutzig wie ein Kiefernzapfen! Total durch den Wind. Wie war das denn mit seinen berühmten Plünderern, he?« Mira murmelte: »Aye, ich kenne ihn …« Doch dabei dachte sie an den Kadaver, der in Raymies kleinem Kühlhaus hing. Sie hatte das erlegte Tier gesehen. Sie verteilten die Mahlzeit auf die Tische, damit sich die Leute davon nehmen konnten, wenn sie Lust dazu hatten, und brachten auch noch mehr Krüge mit Bier herein. Danach musste im Küchenhaus aufgeräumt und das Geschirr abgewaschen werden.
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Schließlich schaute Mira noch einmal nach den schlafenden Babys. Als sie wieder zurück in den Saal kam, war der Tanz schon in vollem Gange – zehn oder zwölf Paar Schuhe klapperten auf den Holzdielen und ließen sie erzittern. Da fiel ihr auf, in all dem Lärm, der Bewegung und der warmen, feuchten Luft, die über sie hinfuhr, dass sie ihren anfangs verschmähten Krug Bier doch geleert hatte. Ihr Kopf schwamm leicht, als sie sich etwas anderes zu trinken holen wollte. »Hier, Mädchen.« Emilys gerötetes Gesicht tauchte vor ihr auf, sie brachte Mira einen neuen Krug. »Probier mal! Nach all der Arbeit, die du heute geschafft hast.« Sie lächelte. »Und unsere kleine Joan amüsiert sich prächtig, nicht wahr?« Und Mira merkte, dass sie wieder einen Krug Bier in der Hand hielt. Das ungewohnte Getränk gab ihr noch stärker das Gefühl, abseits zu stehen, nur eine Zuschauerin zu sein, als es bereits vorher der Fall gewesen war. Die Bilder wirbelten um sie her, alles in ihrem Kopf drehte sich, während sie sich den atemlos Tanzenden anschloss. Sie schwatzte mit den Menschen, die sie umgaben, meistens mit Pat, da die anderen Kinder eins nach dem anderen auf ihren Stühlen einschliefen – selbst das Geburtstagskind … Doch irgendwo in ihrem Innern schaute ein winziges, eiskaltes Ding zu, wie hinter einer Glasscheibe sitzend,
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und betrachtete ihr Leben wie etwas mit einem Mal völlig Fremdes. Sie sah, wie Hannah vortrat, um ein paar Lieder in ihrem klagenden, süßen Sopran zum Besten zu geben, wobei ihre dunklen, verschleierten Augen unentwegt auf Gil ruhten. Sie sah Cobb, der den krausen Kopf gebeugt und die Augen zu Boden gerichtet hatte, weil er sich auf die Musik konzentrierte. Sie sah Finlay mit Gil lachen, als die Musiker eine Pause machten, sah, wie er in ihre Richtung gestikulierte. Vielleicht hatte er einen Scherz gemacht. Sie sah Pats erregtes, junges Gesicht vor sich, während er auf sie einredete: »Geht’s dir gut, Mira? Du bist heute Abend so schrecklich still, ehrlich!« Irgendwann kam Gil zu ihr und forderte den versprochenen Tanz ein. Sie nahm seine Hand, wirbelte auf der Tanzfläche herum, atmete den Geruch ein, der von ihm ausging, obwohl sie ihn ignorieren wollte, spürte seine harten Hände. Und – zwischen zwei Tänzen – fragte er dasselbe wie Pat: »Mira, wo bist du in letzter Zeit mit deinen Gedanken? Du scheinst nicht du selbst zu sein. Finlay sagt, du hättest ihn letztens beinahe umgerannt, vor ein oder zwei Tagen, als du wie ein tollwütiger Hund durch den Nebel gerannt bist.« Das war zu viel. Wurde sie neuerdings von allen überwacht? Halfen sie Gil bei seiner Aufgabe, sogar der grundehrliche, freundliche Finlay? Der Saal
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schien um sie zu kreisen, in ihrem Kopf breitete sich Nebel aus. Gils freundliches, leicht spöttisches Gesicht schwebte dicht vor ihrem. Oder bildete sie sich nur ein, dass er sie verspottete? Übelkeit drohte in ihr hochzukochen, doch sie rang sie nieder. Bitte, lass die Musik enden, dachte sie. Lass die Musik enden, damit ich wegkann von ihm und nachdenken. Sobald die letzten Takte des Tanzes verklungen waren, entschuldigte sie sich und steuerte auf die Tür zu, überließ Gil einer neuen Tanzpartnerin. Draußen war die Welt rein und weiß, eiskalt und ernüchternd, so wie es sein sollte. Auf wackeligen Beinen stapfte Mira zum Rand der Lichtung, weg von den gedämpften Geräuschen der Feier. Dort lehnte sie ihren Rücken gegen eine Kiefer und sank langsam hinab in den Schnee. Ihr gingen so viele Gedanken durch den Kopf. So viele Ängste. Seit diese Frau – Annie Tallis? – vor ihren Augen niedergeschossen worden war, waren Furcht und Fragen in ihr gewachsen, hatten Blüten ausgetrieben und erstreckten sich nun bis zum Horizont, sodass sie das Gefühl hatte, sie würden ihr Innerstes sprengen. Fragen! Wer war Gil? Was war ein Wächter? Waren die Männer in Hellgrau wirklich von der Polizei, so wie Gil behauptet hatte, oder waren sie Raymies Plünderer, oder waren sie etwas ganz anderes? Warum hatte Raymie ihnen den Hirsch heute zur Feier nicht gege-
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ben oder ihnen gesagt, dass sie ihn abnehmen sollten, bevor er sich wieder davonmachte? Was wussten die alte Sarah oder Cobb oder die anderen? Und es gab noch mehr Dinge, über die sie begonnen hatte nachzudenken, winzige Würmer aus Zweifel, die sich durch ihre Gedanken fraßen und alles beschmutzten, was sie berührten. Hannahs Mann, Martin, und Roy, in dessen Haus jetzt Gil wohnte – was war mit ihnen geschehen? War der eine wirklich in den Fluss gefallen, wie alle sagten? Und war der andere wirklich weitergewandert, weil ihm anderswo eine Arbeit angeboten worden war? Wenn Gil ihr Wächter war, wer hatte sie vorher bewacht? Roy? Nein, nicht Roy, der freundlich zu ihr gewesen war und ihr Geschichten über Berggeister und die großen alten Helden ihres Landes erzählt hatte, als sie klein war. Nein, bitte nicht er. Und dann hatte Gil heute Abend diesen Scherz gemacht über den Tag, an dem sie zum Lagerhaus gegangen war. Als ob er sie wirklich beobachten würde, alles wüsste, was sie tat, und die Augen und Ohren der Siedlung für seine Zwecke benutzte. Wie gewann man Vertrauen zurück, wenn es verloren gegangen war? Wo musste man danach suchen? Betäubend schlich die Kälte jetzt in ihre Knochen, doch sie merkte es nicht. Fast eine Stunde lang saß das Mädchen bewegungslos unter dem Baum, starrte mit blicklosen Augen geradeaus und ließ ihre bleichen Hände schlaff auf der Schneedecke ruhen.
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Auf der anderen Seite der Lichtung verließen der Älteste und der Jüngste die Feier und gingen zu Bett, ohne jedoch die Gestalt in den Schatten des Waldrands zu bemerken. Rund um die Lichtung standen die Häuser schweigend da. Gils kleine Hütte war so dunkel wie alle anderen. Vielleicht war es das Bier, vielleicht auch das Bedürfnis, sich zu bewegen und sich zu wärmen, oder aber einfach nur Verzweiflung – nach einer Stunde stand Mira auf, ging hinüber zu jener Hütte und trat durch die unverschlossene Tür ein. Sie kannte alles in diesem Ort, jeden Baum, der am Rande der Lichtung stand, und jedes Haus. Sie wusste, wie Gil eingerichtet war, wusste, wo seine Arbeitsstiefel standen, wo er sein Werkzeug aufbewahrte, seine Spielkarten, seinen Eispickel. Alles war einfach, geordnet und gemütlich. Sie wusste auch, dass er eine Taschenlampe neben der Tür hängen hatte, für den Fall dass er nachts arbeiten musste. Sie tastete danach, nahm sie ab und schaltete sie ein. Sie zitterte. Also gut. Sie war verrückt, zweifellos, doch immerhin unternahm sie etwas, um die Angst zu vertreiben. Und wenn Gil – trotz allem – wirklich und wahrhaftig ihr Freund war, würde er ihr bestimmt vergeben. Vielleicht würden sie irgendwann einmal gemeinsam darüber lachen, wenn herauskommen würde, wie dumm sie sich benommen hatte. Sie schwenkte den Lichtstrahl durch den Raum.
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Alles war genau so, wie sie es kannte, und Gils Geruch lag wie ein Hauch in der Luft, tröstlich und auch beängstigend. Nun, irgendwo musste sie anfangen – warum also nicht in der Kochnische? Sie schlug den schweren Vorhang zur Seite und suchte überall, hinter dem Geschirr, zwischen den Vorräten, in Pfannen und Töpfen, versuchte, die Dinge mit neuen Augen zu sehen, und bettelte, sie mögen ihr ihre Geheimnisse enthüllen, flehte diese einfachen und soliden Gegenstände förmlich an. Da hing die hübsche Tasse, aus der sie trank, wenn sie Gil besuchte. Dort stand Gils zerbeulte Kaffeekanne, eingehüllt in einen gestrickten Kaffeewärmer. Dort in der Ecke auf dem Regal war der kleine Krug mit Kräutern, die er für den dicken, würzigen Eintopf brauchte, den er in dem größten Eisentopf schmorte, den er besaß. Von der Küche wandte sich Mira zu dem kleinen Schlafplatz. Sie fühlte sich nun doppelt als Eindringling, während sie das Bett aus harten Holzplanken untersuchte, unter der Matratze herumtastete und nebenan die Truhe nach Männerkleidung durchsah – was alles nichts erbrachte außer der Röte ihrer Wangen, die in der Dunkelheit niemand bemerken würde. Jetzt verlor sie beinahe die Nerven. Was für eine Närrin sie doch gewesen war, sich einzubilden, dass Gil nur lachen würde, wenn er sie hier fand – bis zu den Ellbogen in seinen privaten Sachen. Ihr Atem kam zu schnell und zu laut. Wie lange war sie schon hier? Nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten,
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schätzte sie. Schwach drang unverändert der Lärm der Geburtstagsfeier an ihr Ohr. In der Nähe lachte eine Frau. Entschlossen wappnete sie sich, um mit ihrer Durchsuchung fortzufahren. Jetzt fiel Mira ihr Atem ein, der verräterisch nach Bier stank und die unschuldige Luft dieses Hauses spürbar verpestete. Aber nun war es ohnehin zu spät. Für das Wohnzimmer brauchte sie länger, denn es war dreimal so groß wie der Schlafplatz. Sie ging an den Wänden entlang, spähte in die Regale, hob jeden noch so vertrauten Gegenstand an und stellte ihn vorsichtig wieder an seinen Platz. Dann fühlte sie unter die Teppiche und tastete an den Stühlen entlang, kramte in den sauberen und geordneten Werkzeugen in dem kleinen Schrank. Da lagen Schraubenschlüssel, Schraubenzieher, Werkzeuggürtel, Hammer, eine kleine Kiste mit Seilen, Schnüren und Klebeband, Schrauben, Bolzen und Muttern, ein Taschenmesser, eine Schutzbrille, eine ältere Leuchtpistole und eine Trillerpfeife. Die letzten beiden Gegenstände trug jeder Mann bei sich, für den Fall dass es einen Unfall gab oder ein Unwetter hereinbrach. Die Ausrüstung hätte Cobb gehören können oder einem anderen Mann in der Siedlung, wo jeder an den Generatoren arbeitete, alle außer Raymie, die Frauen und die Kinder. Schließlich hatte sie alles gesehen. Und sie hatte nichts gefunden. Nichts, was ihr Süden ins Gesicht
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schrie oder Fremde oder Wächter. Nichts, was sie nicht schon tausendmal gesehen hatte. Erleichtert und enttäuscht zugleich, hängte sie die Taschenlampe wieder an den schweren Haken und trat hinaus in die Nacht. Als sie hinüber zum Festsaal lief und unbemerkt hineinging, sah sie mit einem Blick, dass Gil und Hannah nicht mehr da waren. Die Musik hatte aufgehört – seit wann? Sie hatte sie doch deutlich von Gils Hütte aus gehört. Nur noch das Murmeln leiser Gespräche empfing sie, vermischt mit dem Geklapper von Tellern und dem Klirren von Gläsern, als die Frauen die Tische abräumten. Hinten im Küchenhaus schlief Rory immer noch friedlich, doch er war nun allein. Die anderen beiden Kinder waren von ihren Eltern mit nach Hause genommen worden. Vorsichtig hob sie das warme, süß duftende Kind auf und flüsterte Muriel, die Küchendienst hatte, zu: »Wenn Hannah fragen sollte: Ich nehme den kleinen Rory heute Nacht mit zu mir.« »Aye, in Ordnung. Schlaf gut, Mädchen.« Und Muriel, die ihr nachschaute, dachte: Das ist schon ein komischer Vogel, keine Frage. Aber mit einem guten Herzen.
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5 Zwei Tage später, als sie morgens auf dem großen Rücken des Berges die eisige Luft einsog und ihren Geist ausruhte, traf es sie wie ein Schlag -jene Sache, die in Gils Haus falsch gewesen war. Nun, als das Licht über die Gipfel wanderte, die sich gen Süden und Osten erstreckten, stahl sich ein stilles, kleines Bild in ihre Gedanken, ließ ihren Atem in der Kehle stocken und fesselte ihre Glieder, machte sie starr, bewegungslos. Ein Messer. Das Klappmesser eines Jägers. Die meisten Männer hatten eins. Der Griff war aus Holz oder Horn und schwarz vom täglichen Gebrauch. Auch Gil besaß sicher ein solches Messer, daran zweifelte sie nicht. Sie hatte ihn sogar schon damit gesehen. Und doch war ihr, als ob die Hand, die sie zuletzt dieses Messer hatte halten sehen – das nun in Gils Werkzeugkiste lag –, die schmutzige Hand eines betrunkenen, plappernden Jägers gewesen war, der damit seine schwarz geränderten Fingernägel säuberte, während er eines seiner verrückten Lieder sang. Es war wohl vor einem Jahr gewesen, oder etwas mehr, als er in der Mittagssonne auf den Holzstufen gesessen hatte. »Und dir einen guten Morgen, meine Hübsche«, 59
hatte er ihr zugerufen, als sie vorbeigegangen war, und seine braunen Zähne zu einem Lächeln gefletscht. Reichte das aus? War sie sicher – war dies eine Erinnerung, der sie trauen konnte? Warum stand Raymies Hütte nun leer? Warum hing der erlegte Hirsch unbeachtet an seinem Haken? Sie zwang sich weiterzuatmen, schaute in die aufgehende Sonne und dachte schließlich, mit einer Art Erleichterung, dass es in der Tat ausreichte. Ja, das Messer des Mannes in Gils Haus. Der fixierende Blick ihres Wächters auf den Betrunkenen. – Ja, es reichte aus, um zu handeln. Und sie dachte außerdem, dass sie verrückt würde, wenn sie jetzt nichts unternahm. Ohne ihren dicken Pullover anzuziehen, sauste sie vom Berg hinab, schneller, als sie jemals gelaufen war, stürzte sich mit voller Absicht in den Pulverschnee, schlitterte und machte Lärm, wo sie normalerweise leise gerannt wäre. All ihre Gedanken waren darauf gerichtet, was sie jetzt tun musste, auf die Möglichkeit, eine Wahrheit herauszufinden, die bereits in ihrem Innern Gestalt angenommen hatte. Als sie sich der Lichtung näherte, verlangsamte sie ihre Schritte und wunderte sich, warum sie sich so ruhig und stark fühlte. Die Luft sang noch immer, sie war erfüllt mit der Andersartigkeit der schwindenden Nacht. Und in dem zerbrechlichen Sonnenlicht hoch oben sprangen die Gipfelreihen empor, die in alle Richtungen führen konnten – oder alles verstecken.
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6 Sie würde ihn zwingen. Zum Sprechen zwingen. Es fiel ihr leicht, die drei Nächte, die sie abwarten musste, geduldig zu überstehen, viel leichter als die Tage zuvor. Sie hatte sowieso keine Wahl -jene drei Nächte waren so voller dichtem Nebel, dass sogar sie sich in den Bergen verlaufen hätte. Und die Tage dazwischen … drei Tage, in denen sie sich völlig normal verhalten musste, besonders gegenüber Gil. Daher suchte sie ihn absichtlich auf, spielte mit ihm Karten, neckte ihn ausgiebig für die Tatsache, dass er sich nach dem Tanz mit Hannah davongestohlen hatte, gab sich voller Verdächtigungen und Zweifel – ganz das eifersüchtige Mädchen. Vielleicht war an der Eifersucht sogar etwas Wahres – wenn das der Fall war, nutzte sie dieses Gefühl schamlos aus. »Nein, mach mir nichts vor«, sagte sie und wandte ihr Gesicht bewusst von ihm ab, »welcher Mann würde auf ein halbwüchsiges Mädchen warten, wenn solch eine Frau ihre großen dunklen Augen auf ihn richtet. Du musst dir keine Vorwürfe machen. Es ist besser so.« Und Gil schaute zunächst zornig, dann verwirrt. »Mira, du weißt nicht, was du sagst. Du verstehst nicht …« »Ach, ich glaube schon. Ich denke, ich verstehe 61
besser, als du dir vorstellen kannst.« Und damit ging sie, leise vor sich hin lachend, während die Anspannung von ihr abfiel. Auch die anderen mussten getäuscht werden. Sie demütigte sich vor den säuerlichen Blicken der alten Sarah, starrte auf den Boden, als wäre sie eine Schwachsinnige. Am schwierigsten war es, wenn Cobbs fragende Augen auf sie fielen. Dann hielt sie seinem Blick unbeirrt stand und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Pa. Ich werde nichts Dummes mehr anstellen. Wie du sagst, was macht es aus, was ich früher war oder an welchem Ort ich in diese Welt geboren wurde?« Doch in ihren Worten lag keine Freude, kein Scherz, und sie erstickte beinahe daran. Dann, in der vierten Nacht, war ihr der Mond gewogen. Der Nebel hatte sich verzogen und sie stand allein im Schatten der Bäume. Von hier aus schaute sie auf den Ort ihres Lebens: die vereinzelt stehenden Holzhütten, das Gerätehaus, die kastenförmige Abdeckung für den Motorschlitten, die drei einsamen Bäume, die etwas abseits des Kiefernwäldchens standen, als würden sie auf die Häuser zulaufen. Alles war lebendig und im milchig blauen Licht deutlich zu erkennen. Dies war alles, was sie kannte. Dieser Ort. Diese Hand voll Leute. Es war ihr immer genug gewesen, ein Platz, von dem sie glaubte, dass er von den Göttern gemacht sei. Ein Platz, der all ihre Wünsche erfüllte. Sie hatte sich nie vorgestellt, irgendwo anders hinzugehen.
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Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen, ging in Gedanken noch einmal durch, was sie sagen würde, und durchmaß dann mit leisen Schritten die dreißig Meter zwischen dem Waldrand und Gils Haustür. Bedächtig hob sie ihre Hand und klopfte leicht an das Holz. Gil war wohl noch wach gewesen, trotz der späten Stunde, denn er erschien fast sofort, ohne ein Zeichen des Schlafs in seinem Gesicht. Als die Tür aufschwang, atmete sie schwer und schnell und stieß keuchend hervor: »Cobb braucht dich. Ganz oben. Nummer 61.« Der Schweiß auf ihrem Körper und die Röte in ihrem Gesicht waren echt. Dafür hatte sie gesorgt, war bereits den Weg zu diesem Generator – und noch weiter – abgelaufen. Gil schenkte ihr kaum einen Blick, sondern nahm seine dicke Jacke und seinen Werkzeuggürtel zur Hand. Seine Bewegungen waren schnell und kontrolliert, weil er begriff, dass Eile geboten war. »Was ist los mit Nummer 61?« »Ein Tier. Ein Hirsch, der sich im Wasserlauf verfangen hat. Die Maschine ist beschädigt und immer noch blockiert. Auch das Schütz an der Seite. Cobb hat Angst um den Generator, wegen des enormen Wasserdrucks.« Sie gestattete sich jetzt, wieder etwas ruhiger zu atmen, ging neben ihm her auf dem Weg hinauf in die Berge, während er im Laufen seine Jacke zu-
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knöpfte und sich Handschuhe anzog. Ihre Atemwölkchen vereinigten sich, während sie Seite an Seite marschierten. »Geh ins Bett, Mira. Ich werde Cobb helfen. Alles wird gut werden.« »Nein«, widersprach sie. »Vielleicht kann ich auch helfen. Wenn ich mein Leben in einer Generatorenstation verbringen soll, wird es Zeit, dass ich die Arbeit kennen lerne.« Beiläufig fügte sie hinzu: »Außerdem kann ich nach Plünderern Ausschau halten. Bei diesem Mond …« Er warf ihr ein leichtes Grinsen zu. Der Schnee knirschte unter seinen schweren Stiefeln. »So dickköpfig wie eh und je. Und ich dachte, du wärst böse mit mir! Dann wollen wir uns mal beeilen.« Sie fingen an zu laufen, ein leichter, rhythmischer Trab, hinein in die Schatten der Bäume und wieder heraus, den steiler werdenden Weg hinauf – er mit schweren, sicheren und munteren Schritten, sie leichtfüßig und geschmeidig, während sie in Gedanken bereits vor sich sah, was als Nächstes geschehen würde. Der Generator Nr. 61 lag in einer leichten Kurve des Flusses, an einer Stelle, wo ein Fels aus massivem Eruptionsgestein an der Außenseite der Kurve das Wässer in einen engen Kanal zwang. Ein guter Ort, um Strom zu erzeugen, aber schlecht für einen technischen Defekt an der Maschine: Eine Blockierung würde das Wasser um das Doppelte ansteigen lassen.
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Das Bild, das sich ihnen bot, als sie aus dem Wald ans Ufer traten, sprach für sich: Ein gelber Werkzeuggürtel, so wie Gil ihn auch trug, lag aufgerollt neben der Hängebrücke, und die Werkzeuge waren wild durcheinander geworfen worden, als ob Cobb in aller Eile nach dem richtigen Handwerkszeug gesucht hatte. Die Abdeckung des Generators war nach hinten gefaltet und deutete als schmales schwarzes Dreieck in den Himmel. Das tosende Wasser – zu hoch, gefährlich hoch! – schoss durch die Maschine nach unten. Und der formlose, schlaffe Kadaver eines jungen Hirsches ruhte halb am Ufer, während die Hinterbeine immer noch vom Wasser hin und her geworfen wurden. »Ehrwürdige Väter!«, sagte Gil düster. »Bleib hier, Mira, komm nicht näher.« Sie schluchzte auf, als sie sah, was er gesehen hatte: Cobbs Sicherungsleine, die straff in die Strömung und hinunter in die kreisenden, glitzernden Turbinen gezogen worden war. Ohne auf seinen Befehl zu achten, stürzte sie zum Rand des Wassers und half ihm, eine zweite Leine fertig zu machen, hakte sie mit ungeschickten, verängstigten Händen an seinem Gürtel fest. »Bitte, Gil! Bitte beeil dich!« »Mira, er ist … Er kann unmöglich …« Er sprach es nicht aus, aber was er sagen wollte, war offensichtlich. Gil schüttelte seine Jacke ab und betrat vorsichtig die Hängebrücke. Aufmerksam spähte er hinab,
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während er sich Zentimeter für Zentimeter auf dem schlüpfrig nassen Stahl vorwärts bewegte. Etwa nach einem Drittel der Strecke leuchtete er den weißen Strahl seiner Taschenlampe nach unten in den Strudel. Mira konnte Flecken von Schweiß auf seinem angespannten, hübschen Gesicht erkennen. Während er weiterging und nach der straffen Sicherungsleine griff, die in der Mitte des Strudels auf und ab hüpfte und mit dem Gewicht an ihrem Ende zu spielen schien, rollte Mira Gils eigene Leine ordentlich auf der gefederten Trommel auf, die neben ihr auf der Plattform stand. Eigentlich hätte die Sicherungsleine Cobb vor einem Unfall bewahren sollen. Wenn ein Ingenieur zur Arbeit an diesem oder einem anderen Generator erschien, wartete die Sicherungsleine bereits auf ihn. Sie führte von der Trommel bis in die Mitte der Brükke, durch einen Flaschenzug und zurück zu einem Haken am Ufer. Der Arbeiter musste nur das Ende aushaken und an der Rückseite seines eigenen Gürtels befestigen. Dann, während er über die Hängebrücke ging, wurde das schlaffe Seil automatisch auf die Trommel aufgerollt. War mehr Seil nötig, gab es die Trommel nur langsam frei; jeder plötzliche Ruck – ein Körper, der in den Strom fiel, zum Beispiel – würde die Blockierung der Trommel auslösen und den Mann festhalten. Cobb, störrisch wie er war, benutzte die Leine nur bei Nacht.
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Gil hatte jetzt die Mitte der Brücke erreicht, wo die andere Leine, die aus unerfindlichen Gründen versagt hatte, in den Fluss niederging, und fing an, das mit Nylon umwickelte Seil einzuholen. Mit einem Fuß stemmte er sich gegen die Seitenwand des Generators, arbeitete langsam und konzentriert, eine Hand nach der anderen, während die Sehnen an seinem Hals vor Anstrengung hervortraten. Vom Ufer aus verneigte sich Mira im Stillen vor seiner Hingabe und seinem Mut. Auch vor der Stärke, der es bedurfte, um das Ding überhaupt hochzuwuchten, während unten das Wasser mit aller Macht daran zerrte. Nichtsdestotrotz musste sie tun, was getan werden musste. Neben dem toten Hirsch lag ein armlanger, durchnässter Ast, den sie mit der linken Hand nahm, während sie mit der rechten in ihrer Gürteltasche nach dem schweren Drahtschneider tastete, den sie vor einigen Stunden aus dem Gerätehaus genommen hatte. Ein Teil von ihr fragte sich, ob sie völlig den Verstand verloren hatte, doch ein anderer, fremder, neu erweckter Teil betrachtete zufrieden und interessiert, wie sie mit sicherer Hand die Klingen des Drahtschneiders an Gils Leine führte. Von dort aus, wo ihr Freund sich im Dunkeln abmühte, war das Gerät in ihrer Hand kaum zu erkennen. Jetzt hatte er das Ding. Mit einem Schrei, der sogar das Tosen des Wassers übertönte, zog er es aus dem Strom und wuchtete es auf die Hängebrücke. Im hellen Mondlicht war deutlich zu sehen, dass es sich
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nicht um einen Mann handelte, nicht um einen ertrunkenen, verstümmelten Menschen, sondern um ein nass glänzendes, schweres Kiefernscheit, das von den Klingen der Turbinen und von den Felsen am Grund des Flusses tief zerfurcht und zerklüftet worden war. Gil betrachtete das Scheit einen Moment lang. Seine Brust hob und senkte sich. Dann fuhr sein Kopf herum. Seine Augen bohrten sich fragend in Miras: Was soll das? Was beabsichtigst du damit? Es war Zeit. Mira trat mit dem erhobenen Ast rasch an die Kante der Brücke und rief: »Was ist ein Wächter, Gil?« Seine Augen zuckten über sie hinweg, über den Ast und das Werkzeug, das an der Sicherungsleine klemmte. Auf seinem Gesicht lag Verwirrung. Entgeistert rief er aus: »Mira …« Wieder rief sie, als hätte er nichts gesagt: »Was ist ein Wächter, Gil? Du bist mein Wächter, also sag mir, was das bedeutet.« Er bewegte sich jetzt langsam auf sie zu. Sein Gesicht war fassungslos. »Ich begreife nicht«, rief er. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Wer hat das Scheit an die Leine gebunden? Du, Mira? Aus welchem Grund?« Der scharmante, kluge Gil. Er war vertrauensvoll hier hinaufgekommen, um ihr und ihrem Pa zu helfen. Sie schaute ihm entgegen und hob ihre Stimme er-
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neut, rief: »Wer ist Annie Taliis? Adeline Beguin? Siân Latimer? Was ist ein Wächter? Wer bin ich, Gil? Wer bist du? Bist du von der Polizei?« Der Schweiß lief ihren Rücken hinunter, doch ihre Hand am Drahtschneider war ruhig. Er war jetzt nur noch drei Meter von ihr entfernt. Die Sicherungsleine rollte sich weich auf die Trommel auf, während er dem Ufer näher rückte. Seine Hände, mit denen er sich eigentlich am Geländer festhalten sollte, waren in einem Achselzucken erhoben. »Polizei?!« Sein Gesicht hellte sich auf. »Es geht um die Frau, die verhaftet wurde, nicht wahr? Ist es das?« Der Anflug eines Lächelns überzog sein Gesicht, ein Ausdruck der Erleichterung, dass dieses Missverständnis so unbedeutend, so einfach zu erklären war. Immer noch rührte sich Mira nicht. Der Ast senkte sich und hielt ihn davon ab, sich ihr weiter zu nähern. »Du hast an diesem Tag mit den Polizisten gesprochen. Was hast du gesagt? Was hast du zu ihnen gesagt? Ich habe einen Zettel, den sie bei sich trug, Gil. Lüg mich nicht an. Ich weiß, dass du ein Wächter bist.« Er war jetzt dicht genug, dass sie nicht mehr schreien musste, dicht genug, damit beide deutlich das Gesicht ihres Gegenübers erkennen konnten. Sein Lächeln blieb unsicher. Er machte keinen Versuch, weiter auf sie zuzugehen. Er wirkte erregt, verletzt. Seine sanfte Stimme zeugte von dieser Kränkung: »Ich weiß von keinem Zettel, närrische Mira.
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Was ich zu diesem Tier von einem Polizisten gesagt habe? Ich sagte ihm, dass ich ihm ein Verfahren anhängen, ihn aus dem Dienst weisen lassen würde, wenn er es wagen sollte, dich anzurühren. Und dass ich es nicht zulassen würde, dass er dich verletzt.« Er schaute in ihre Augen, suchend, ohne sich zu rühren, antwortete einfach auf ihre Fragen … und so stand Mira ihm gegenüber, Auge in Auge, bemüht, in dem vertrauten Gesicht die Wahrheit zu lesen. Schließlich dachte sie, während schamvolle Erleichterung sie durchzog: Aye. Es ist genug. Ich habe mich wie eine Närrin benommen. Und sie senkte den Ast, machte ihm Platz, um ihn vorbeizulassen. Was muss ich tun, dachte sie erschöpft, um hiernach sein Vertrauen zurückzugewinnen? Doch in dieser Sekunde, als er sich auf sie zubewegte, fast den Fuß der Brücke erreicht hatte, schauten sie einander noch einmal an, und sie sah etwas Neues in diesen grün gefleckten, zauberischen Augen. Ein winziger Moment des Triumphs, der Verachtung und noch irgendetwas anderes … Und ohne einen bewussten Gedanken spannten sich die Muskeln in ihrem rechten Unterarm an, und sie spürte, wie die rasiermesserscharfen Zähne des Drahtschneiders in die Sicherungsleine bissen, dann den scharfen Ruck, als sie durchtrennt wurde. Und in demselben Moment ließ sie den Ast niedersausen und schlug ihn mit einem kraftvollen Bogen gegen Gils Füße.
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Einen Augenblick lang stand er schwankend auf dem nassen Stahl, dann war er weg. Das abgeschnittene Stück Sicherungsleine glitt durch den Flaschenzug und folgte ihm hinab in den tosenden Strudel. Als das, was sie am meisten gefürchtet hatte, getan war, hatte sie sich fast verloren. Mit einem Mal war nichts mehr sicher, nichts mehr klar. Neue Wellen des Zweifels schlugen über ihr zusammen und all die sorgfältig zusammengetragenen Beweise für ihren Verdacht schrumpften zu einem jämmerlichen Häuflein kindischer Fantasie zusammen. Was bin ich?, fragte sie sich, während sie sich taumelnd und mit weichen Knien von dem tosenden Wasser zurückzog. Habe ich diese schreckliche Tat begangen, nur weil auf einem Stück Papier ein paar Buchstaben geschrieben stehen? Weil ich das Vertrauen verloren habe? Aus Eifersucht? Es war Wahnsinn. Die Antwort war zu übermächtig, egal wie die Frage lautete. Es war Mord. Dies war einmal ihr Freund gewesen, den sie gerade den gnadenlosen Turbinen übereignet hatte. Bei diesem Gedanken kehrte sich ihr Innerstes nach außen. Sie dachte an die Furchen und Narben auf der Oberfläche des Holzscheits und erbrach ihr Abendessen in den Schnee. In welchem Albtraum hatte sie in den letzten Tagen gelebt, der sie so völlig jeglicher Kontrolle beraubt hatte? In was für einer kindischen, absurden Vorstellung? Das Rauschen des Bluts in ihren
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Ohren und das Rauschen des schwarzen Strudels vereinigten sich, sodass sie sich, einer Ohnmacht nahe, auf die eiskalte Metallplattform sinken ließ. Gleich … bald … wenn ihre Stärke wieder zurückkehrte, dachte sie vage, würde sie langsam wieder zur Siedlung zurückgehen und Cobb erklären, was sie getan hatte. Dann konnten sie nach der grau gekleideten Polizei schicken, die kommen und sie holen würde. Denn nun verdiente sie dieses Schicksal selbst, hatte das, was sie am meisten fürchtete, durch eigenes Verschulden über sich gebracht. Entweder würde sie still zu Hause sitzen, bis sie kamen, oder sie würde auf der Flucht erschossen werden. Doch ungerufen tauchte ein Bild durch ihre wirbelnden Gedanken an die Oberfläche: das Bild der Frau – Annie Tallis –, die vornüber in den Schnee fiel, während ein Mann hinter ihr seine Waffe sinken ließ … und Gil, der dastand, ohne einen Ausdruck auf dem Gesicht. Bewegungslos. In ihrem Kopf meldete sich eine nüchterne Stimme, ruhig, vernünftig, die Stimme ihres fremden, neuen Selbst. Es gibt noch mehr zu tun. Dies ist erst der Anfang. So bald werde ich diesen Weg nicht mehr verlassen. Und so verging der schwarze Moment. Mira stand auf und spürte, wie sie ihre Fassung wiedergewann. Etwa eine halbe Stunde hatte sie verloren, seit Gil in den Fluss gefallen war. Kostbare Zeit, die durch Schwäche, Selbstmitleid und nutzlose Tränen vergeudet worden war.
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Schnell durchsuchte sie die Werkzeuge am Ufer und nahm heraus, was sie gebrauchen konnte. Dann schob sie sich vorsichtig, wie Gil es getan hatte, in die Mitte der Brücke. Es gab bei jedem Generator nur zwei Sicherungsleinen; andererseits wäre es vielleicht nur gerecht, wenn das schwarze Wasser und die kreisenden Klingen der Turbinen auch sie, Mira, verschlingen würden. In der Mitte der Brücke löste sie zunächst die Sicherungsleine von dem schweren Kiefernscheit, das Cobbs Körper dargestellt hatte, und ließ das Stück Holz in die Strömung fallen, wo es einen Moment lang plump auf und ab wippte, bevor es unter die Maschine gezogen wurde. Ein protestierendes Kreischen des Generators ertönte, als das Holz zermahlen wurde. Wahrscheinlich würde diese Einheit bald repariert oder ausgetauscht werden müssen. Ein Grund mehr, heute Nacht gründliche Arbeit zu leisten. Dann klinkte Mira die freie Leine an ihren eigenen Gürtel und fühlte sich gleich wohler. Sie streckte sich und beugte sich dann nach vorn, griff mit tauben, kalten Fingern nach der Kante der Abdeckung des Generators. Als sie den Deckel wieder darüber gelegt hatte, musste sie noch die acht schweren Bolzen befestigen, die in gleichmäßigen Abständen an der unteren Kante des Generators angebracht waren. Als sie fertig war, war ihr wieder warm. Am Ufer erwartete sie eine weitere Aufgabe. Sie musste den geraubten Körper des Hirsches dem Unrat nachfolgen lassen, der den Generator Nr. 61 be-
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reits passiert hatte, und dann wieder das Werkzeug zusammenräumen. Beinahe hätte sie den Werkzeuggürtel ebenfalls in den Strom geworfen, hinter dem Kadaver des Hirsches her … aber dann dachte sie, dass um Gils Körper, wenn er gefunden wurde – woran sie keinen Moment lang zweifelte –, bereits ein Werkzeuggürtel geschlungen war, falls ihn die Klingen nicht abgeschnitten hatten. Der Fund eines zweiten würde nicht ins Bild passen. Sie unterließ auch den Zeit raubenden Versuch, einen Karabinerhaken an das abgeschnittene Ende von Gils Leine anzubringen, denn wenn sie sein Stück der Sicherungsleine an seinem Körper fanden, würden sie bei der Trommel nach dem fehlenden Stück suchen. Stattdessen franste sie das Ende aus, um es mehr wie ein Reißen oder einen Schnitt der Turbinenklingen wirken zu lassen, verursacht, als der Körper unterging. Hoffentlich würde der mörderische Strudel dafür sorgen, dass Gils Seilende genauso aussah. Gils Jacke stellte das größte Problem dar, denn wenn man das Kleidungsstück im Wasser entdeckte, nicht an seinem Körper, würde das unlogisch erscheinen, aber wenn sie die Jacke hier am Ufer liegen ließe, würde jemand sie sicher morgen früh auf dem Weg zu den höher gelegenen Generatoren entdecken, und man würde schneller, als sie es wünschte, nach dem Vermissten suchen. Schließlich wickelte sie den Werkzeuggürtel eng in die Jacke ein und nahm beides mit, ließ den Generator Nr. 61 erleichtert hinter
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sich und machte sich auf den Weg zu den Generatoren weiter oben. Instinktiv wollte sie tiefer in den Wald hineingehen, weg von dem donnernden Wasser, doch von hier an verlief der Pfad entlang des Waldrands. Ihn zu verlassen, würde bedeuten, den jungfräulichen Schnee zu durchbrechen. Bereits jetzt musste sie darauf vertrauen, dass alle Hinweise auf das, was heute Nacht geschehen war – einschließlich der vom Schnee unberührten Generatorabdeckung –, nicht bemerkt wurden. Nur ein weiteres Gerät, an dem in jüngster Zeit gearbeitet worden war … Was Cobb sich denken würde, war etwas anderes. Das Alter hatte seiner schnellen Auffassungsgabe nichts anhaben können. Er würde sich sicher an die Fragen erinnern, die sie ihm kürzlich gestellt hatte, und an den Diebstahl des Schlüssels zum Lagerhaus. Außerdem verdankte sie ihm ihr ganzes Leben, bis zum heutigen Tage, und noch viel mehr. Aus diesem Grund hatte sie, allein für seine Augen bestimmt, eine kurze Nachricht hinterlassen. Wenn ich kann – werde ich erklären, was ich getan habe. Wann auch immer. Deine M. Der Zettel steckte in seiner Mütze, in dem Band auf der Innenseite, wo er ihn fühlen würde, wenn er die Mütze aufsetzte. Was er damit zu tun entschied, blieb ihm überlassen. Das Glück war Mira hold. Und sie brauchte Glück, denn nachdem sie die Sachen geholt hatte, die sie vor-
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her in der Nähe des am höchsten gelegenen Generators versteckt hatte (ein einfaches Bündel, etwas Proviant und ein zweites Paar Schuhe, fester als die, die sie trug), und sich zum höchsten Berggrat vorgekämpft hatte, zitterten ihre Glieder vor Müdigkeit, und jeder Gedanke war mit ungeheurer Anstrengung verbunden. Auch heute hatte sie ihren täglichen Lauf absolviert, es wäre aufgefallen, wenn sie ihn hätte ausfallen lassen, und man hätte sich später daran erinnert. Pat hätte es auf jeden Fall bemerkt. Er wartete oft auf sie, um sie zu begrüßen, wenn sie zurückkam. Das Wetter spielte mit. Die ganze Nacht war es klar geblieben, ruhig und mit guter Sicht, perfekt für ihr Vorhaben. Selbst jetzt, als sie sich auf Gils Jacke niedersinken ließ und ein letztes Mal auf die Siedlung hinabblickte, schienen die Abhänge unter ihr fast taghell. Das Rund der zusammengewürfelten Gebäude war, von hier aus gesehen, nicht größer als ihr Fingernagel, doch es stach scharf gegen das Weiß hervor, sodass sie jedes Haus erkennen konnte. Sie richtete ihre Augen auf Gils Hütte, ein wenig abseits von den anderen und nun leer. Unwillkürlich dachte sie, dass die Gegenstände im Innern jetzt ihre Bedeutung verloren hatten. Kleider, die er nicht mehr tragen würde und an denen immer noch sein Geruch haftete; die schmutzigen Pfannen und Töpfe, stehen geblieben nach dem Abendessen, bevor er ihr auf den Berg gefolgt war, um dort zu sterben; Luft, die nun nicht mehr durch
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seine Bewegung oder den Klang seiner Stimme zum Schwingen gebracht wurde. Ihr eigenes Haus wurde halb von einer Baumreihe verdeckt, an deren Ende der Baum stand, an dem sie immer ihre Muskeln gedehnt und aufgewärmt hatte. Auch er hatte nun keine Bedeutung mehr. Sie folgte mit ihrem Blick der Waldlinie nach unten und dann dem Pfad, der zum Lagerhaus führte, bis zur Gezeitensperre. Sie schritt mit ihren Augen diesen Weg ab, und plötzlich schwammen sie in stillen, schweren Tränen, Tränen des Schocks und der Trauer, die sich unmöglich unterdrücken ließen. Ihr verschwommener Blick nahm die Gebäude und die See dahinter, die normalerweise großartig im Mondlicht glänzte und sanft hin und her wogte, nur undeutlich wahr. Es ist Zeit zu gehen, sagte ihr die innere Stimme. Doch als sie aufstand und sich bereitmachte, ihre Welt hinter sich zu lassen, schaute sie noch einmal auf die weit entfernte Küstenlinie. Tränen? Nein, trotz ihrer Tränen hatten ihre Sinne sie nicht getäuscht. Da war etwas Diffuses, eine große graue Decke, die langsam über das Meer auf das Land zuschlich und Meter für Meter alles verhüllte, was Mira kannte. Schnee? Sie wandte sich nach Süden und begann den Abstieg in ein neues Tal, weiter entfernt, als sie jemals vorher gegangen war. Die Schwerkraft verlockte ihre bleiernen Glieder zu einem leichten Trab, und trotz
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allem, was in den letzten paar Tagen geschehen war – und in dieser langen, schweren Nacht –, fühlte sie, wie sich ihr Herz erhob und jubilierte, wie es das jedes Mal tat, wenn sie allein hinaus in die singende Morgendämmerung trat. Sie war stark. Mächtig pulsierte das Leben in ihr. Sie war nicht gemacht für Sorge und Verzweiflung. Und tatsächlich, das Glück blieb ihr gewogen: Noch bevor sie die Baumgrenze des neuen Tals erreichte, fielen die ersten, schweren, schwebenden, unirdischen Flocken des jungen Schnees. Mit dem Gefühl kleiner, kalter Küsse auf ihrem Gesicht, schleuderte Mira die unförmige Jacke und die Werkzeuge beiseite, um sich von dem gesegneten Weiß einhüllen zu lassen, sich selbst und auch ihre Fußspuren, die Abdeckung des Generators dort oben am Fluss und alles andere, was sie zu verbergen wünschte. Solch ein Wetter war die Garantie, dass man morgen früh keinen kostbaren Treibstoff verschwenden würde, um nach ihr zu suchen. Ohne das Gewicht der Jacke und des Werkzeuggürtels schritt sie schneller aus, tauchte hinunter und hinein in die wolkigen Kiefern, atmete ihre vertraute Würze ein, schlängelte sich zwischen den Stämmen hindurch. Der Schnee fiel jetzt dicht und schnell, wirbelte ihr ins Gesicht und blieb in ihrem Haar und an ihrer Kleidung hängen. Sie genoss das Gefühl und wusste, dass sie nun wieder Mira war.
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7 Drei Tage lang fiel der Schnee in dichten, nicht enden wollenden Wehen. Die Temperaturen blieben mild. Die weiße Decke würde jeden blenden, der ihr folgen mochte. Sie blendete auch Mira. Sie wusste genau, dass sie nach Süden aufgebrochen war, jedenfalls grob in diese Richtung, doch ohne die Sonne, die Sterne oder die Küstenlinie als Anhaltspunkt konnte sie nur hoffen, dass sie den Kurs hielt. Oftmals blieb sie stehen und hielt den Atem an, um nach etwaigen Verfolgern zu lauschen, doch sie hätte gut und gerne allein auf der Welt sein können, denn außer ein paar Tieren, die sie im Schneesturm aufschreckte – meist stilles Wild, ein paar Rehe und huschende rote Eichhörnchen –, war nichts zu sehen und zu hören. Die Tiere hätten ihr als Nahrung dienen können, zusätzlich zu den Vorräten, die sie bei sich trug, wenn sie nur eine Waffe gehabt hätte oder den Willen, sich abzumühen und eine Falle zu bauen. Aber das Wild war scheu und flink, und selbst ohne ein Anzeichen von Verfolgern verspürte sie das drängende Verlangen, so schnell wie möglich voranzukommen. Denn wenn sie gezwungen war, ihr Tempo zu verlangsamen oder für eine Mahlzeit oder eine Rast anzuhalten, spiegelte ihr ihre Einbildung vor, dass sich 79
hinter dem Schneesturm zahlreiche Feinde verbargen. Jäger aus der Siedlung, grau gekleidete Polizisten; selbst Gil, auferstanden von seinem Tod im Fluss und auf schreckliche Rache aus. Am zweiten Nachmittag, während sie, gegen einen Baumstamm gelehnt, dasaß, sich ausruhte und zuschaute, wie das dämmrige Licht schwächer wurde, vernahm sie in rascher Folge eine Reihe von dumpfen, rauen Tönen aus den nahe gelegenen Bäumen, sodass sie überzeugt war, von vielen Menschen eingekreist worden zu sein, Männern, die näher rückten und sie schließlich stellen würden, so wie sie Annie Tallis gestellt hatten. Sie ließ das Essen fallen, an dem sie gerade genagt hatte, und rannte fort … und stieß beinahe mit ihren »Verfolgern« zusammen: eine Gruppe von Wildschweinen, die eilig in einer Reihe hintereinander durch den weißen Schleier trabten und sich dabei gegenseitig angrunzten. Der schwere Eber an der Spitze torkelte kurzsichtig auf sie zu und grummelte eine halbherzige Warnung. Dann waren die Tiere wieder verschwunden. In diesen ersten drei Tagen trieb sie sich selbst voran, schlief so wenig wie möglich und nutzte jede Minute des Tageslichts aus, und war es auch noch so schwach. Nachts behalf sie sich mit einer gestohlenen Taschenlampe – und vertraute darüber hinaus auf ihr Glück –, um nicht in einen Abgrund oder eine Felsspalte zu stürzen. Berg folgte auf Berg, Tal auf Tal, sodass ihr Weg sie aus Waldgebieten hinauf in kahle
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Höhen führte, die unter schier unüberwindlichen Wehen frisch gefallenen Schnees fast zu ersticken drohten, und dann wieder hinab in den Wald. Irgendwann sah sie sich in der Talsohle, unterhalb des dichten Baumbestandes, einem schmalen, ausgedehnten weißen Oval gegenüber, das sich flach in die Ferne erstreckte, weiter als sie bei dem fallenden Schnee erkennen konnte. Am Rand des Ovals räumte sie eine kleine Stelle vom Schnee frei und stieß nach einem halben Meter auf schwarzes Eis. Wie ein kleiner, gefrorener Ozean, dachte sie. Da sie nicht sicher war, inwieweit sie der schneebedeckten Kruste trauen konnte, lief sie am Rand entlang, verschwendete kostbare Energie und Zeit. Doch im nächsten Tal erwartete sie der gleiche Anblick. Und auch in dem danach. Und danach. Jeder Abstieg endete vor einer schneebedeckten, gefrorenen Wasserfläche. Als sie das dritte Mal anhielt, um zu schlafen, und sich fest in ihren Schlafsack hüllte – Teil der Ausrüstung für unvorhergesehene Nachtschichten bei den Generatoren –, befielen sie Zweifel, dass sie überhaupt irgendwo ankommen würde. Sie glaubte plötzlich, dass sie nichts mehr zu erwarten hatte außer einem einsamen Tod durch Erschöpfung und Hunger. Ehrwürdige Väter, sie musste verrückt gewesen sein, sich auf ein solches Unterfangen einzulassen. Ohne eine Ahnung, wie weit das Gebirge reichte oder was sie an seinem Ende erwarten mochte. Mit Klei-
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dung, die vor Schweiß und Schnee niemals richtig trocken wurde. Und ihr Körper war voller Schmerz von der Anstrengung, die sie ihm abverlangte. Schlimmer noch: Als sie schließlich in einen feuchten, kalten Schlaf fiel, sah sie Gil wieder und wieder in den angeschwollenen Fluss stürzen … und erwachte mit rasselndem Atem und eisern geballten Fäusten. Was immer für wilde Fantasien sie heimgesucht hatten über Raymies und Martins und Roys Schicksal – sie kamen ihr nun in der stillen Dunkelheit ringsum völlig absurd vor, schienen sie zu verspotten. Völliger Irrsinn, dass sie sich von ihrem Zuhause, von Cobb, Pat und den anderen hatte davontreiben lassen. Und dennoch – in dem ersten geisterhaften Glimmen des Morgens, eingepackt in das weiche Weiß, tastete sie mit tauben Händen in ihrem Rucksack umher und nahm das feuchte Stück Papier heraus, las wieder Gils Namen neben ihrem eigenen. Die neue Mira half ihr, tröstete sie, flüsterte ihr Wahrheiten zu. Sie hatte sich die wilde Jagd auf jene Frau, die den Zettel zu ihr gebracht hatte, nicht eingebildet. Sie beschwor die unbekannte Gefahr oder die Geheimnisse, die Gil mit ins Grab genommen hatte, nicht aus heißer Luft hervor. Sie war nicht verrückt. Es reichte aus, um sie vorwärts zu treiben. Selbst in einen einsamen, eisigen Tod, wenn es das war, was auf sie wartete. Als sie am vierten Tag erwachte, konnte sie ihren linken Arm nicht mehr spüren. Irgendwie hatte er
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sich nachts aus dem Schlafsack gedrängt und lag nun gefühllos im Schnee, wie ein totes Ding. Panikerfüllt, mit klopfendem Herzen, befreite sie sich aus dem Schlafsack und fing hektisch an, das kalte Fleisch zu reiben, und presste den nun nutzlosen Körperteil eng an sich. Zwanzig Minuten lang rieb und massierte sie, tanzte herum und beschwor ihre Finger, sich zu öffnen und zu schließen. Die nächsten zwanzig Minuten schluchzte sie vor Schmerz, als das Blut endlich wieder zu zirkulieren begann und der Arm wieder zu ihrem Körper gehörte. Die Gefahr ließ sich nicht leugnen. Die Temperatur war nun, da der Schneesturm vorüber war, drastisch gefallen. Mira schätzte, dass es mindestens fünfzehn Grad kälter war als zuvor. Sie würde sich zu noch größerer Anstrengung antreiben müssen, wenn sie verhindern wollte, dass sie erfror. Und sie musste zusehen, dass sie schließlich irgendwo ankam. Wenigstens konnte sie nun, da es aufgeklart hatte, weiter sehen und war vielleicht in der Lage, einen stetigen Kurs einzuschlagen, der sie über die Gipfel oder darum herum führte. Mit diesem Ziel vor Augen zerkaute sie ein Stück gesalzenen Fisch zum Frühstück und entschied sich dann für den höheren der beiden Gipfel, die zur Wahl standen. Gleichmäßig trabte sie über die Schneedecke, um ihre Muskeln zu erwärmen und geschmeidig zu machen. Als der Pfad steiler wurde und ein frischer, beißender Wind von rechts ihr die
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Tränen in die Augen trieb, verlangsamte sie ihre Schritte. Die Böen wirbelten den Pulverschnee empor und wehten ihn in jede noch so kleine Spalte zwischen ihrer Kleidung und ihrer Haut. Nach drei Vierteln des Weges kauerte sie sich in die Höhlung eines blanken, überhängenden Felssimses und wandte sich um. Zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen war, konnte Mira den Weg, der hinter ihr lag, deutlich ausmachen. Wenn sie sich zuvor bereits als das einzige menschliche Wesen auf der Welt gefühlt hatte, so empfand sie dies nun doppelt. So weit sie blicken konnte, im Norden und Osten, war keine Bewegung zu erkennen, keine Straße, kein Gebäude. Nur ein oder zwei Vögel kreisten träge über der Gratlinie, die sie überschritten hatte; Raubvögel, die darauf warteten, dass sich ein mutiges – und hungriges – Kaninchen unter dem schützenden Dach des Waldes hervorwagte. Mira fiel auf, dass die Gipfel gen Norden, woher sie gekommen war, höher wurden. Wenn sie, dicht bei ihrer Siedlung, hoch auf dem Berg gestanden hatte, war sie immer nur in der Lage gewesen, den nächsten schneebedeckten Granitgipfel – so alt wie die Erde selbst – zu sehen, während ihr der Schweiß im frühen Morgenlicht in die Augen lief. Jetzt sah sie eine Bergkette nach der anderen, die sich, so schien es, von Südwesten nach Nordosten zogen, eine höher als die andere. Dieses Muster jedoch mochte den Gipfel, der vor
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ihr lag, ausnehmen, denn er erschien ihr als der höchste von allen. Vielleicht, dachte sie mit einem Hoffnungsschimmer im Herzen, ist dies der letzte. Vielleicht liegt hinter diesem Berg der Süden. Sie wusste von Gil und aus den freien Sendungen, dass es im Süden ganz anders aussah als in ihrer Welt. Es gab viel weniger Schnee oder gar keinen – wie seltsam! – und viele Gebiete, wo eisfreies Wasser das Land überflutet hatte. Im Süden fanden sich keine Berge, hatte Gil erklärt, doch stattdessen erschufen die vielen tausend Menschen, die sich in Städten zusammengefunden hatten, hohe, viereckige Gebäude, in denen sie lebten und arbeiteten. Vielleicht, so dachte sie, wird der Schnee verschwunden sein, wenn ich über diesen Berg gegangen bin, und eine Stadt wird mir zu Füßen liegen. Doch als sie über den Rücken des Berges stieg, sah sie wieder nur Wald vor sich und dann ein breites, langes weißes Band, von dem sie nun wusste, dass es gefrorenes Wasser war, das sich meilenweit durch das nächste Tal erstreckte … und dahinter: noch mehr Berge. Allein die Ausdehnung jener neuen steinernen Barriere beraubte sie jeglicher Kraft, und nun, da sie deutlicher sehen konnte, war die Versuchung, den gefrorenen See zu überqueren, noch größer. Aber war das Vernunft – oder nur Verzweiflung? Während sie an der Südseite des Berges abstieg, war sich Mira be-
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wusst, dass das Meer irgendwo zu ihrer Rechten liegen musste, aber sie hatte keine Ahnung, wie weit das war. In ihrer schneeblinden Wanderung war sie möglicherweise weit ins Landesinnere gekommen; außerdem wölbte sich die Küstenlinie hier vielleicht weiter ins Meer hinein als an der Gezeitensperre bei der Siedlung. Wenn sie sich nach Westen wandte und versuchte, das Band aus Eis in dieser Richtung zu umlaufen, riskierte sie, dass es sie zu einer Mündung ins Meer führte, wo kein Überqueren möglich war. Der östliche Weg, links von ihr, war klar und deutlich zu erkennen, da sich das Tal in dieser Richtung erstreckte, und dort war kein Ende des gefrorenen Sees auszumachen. Außerdem führte dieses Tal, das breiter war als alle Täler, die hinter ihr lagen, nicht nur gen Osten, sondern auch leicht nach Norden, sodass sie in die falsche Richtung ging, wenn sie sich nach links wandte. Angesichts der Tatsache, dass sie nur noch für zwei Tage Proviant hatte, schien es der reinste Irrsinn, auch nur einen Schritt nach Norden zu gehen. In Wahrheit musste sie sich eingestehen, dass sie von diesem Landstrich nichts wusste. Sie hatte keine Ahnung von seiner Ausdehnung, seinen Gefahren, oder wo sie menschliche Siedlungen finden konnte, ein freundliches Gesicht und eine Mahlzeit. Ihre Unwissenheit erschreckte sie. Von Anfang an hatte ihr einziger Gedanke nur dem gegolten, was sie an Geheimnissen zu enträtseln gedachte, im Augenblick
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aber musste sie ihre Kräfte benutzen, allein um sich den unmittelbaren Weg zu ertasten, musste sich bei ihren Entscheidungen auf ihren Instinkt verlassen und ihren gesunden Menschenverstand – und auf ihr Glück. Während sie noch grübelte, fiel ihr Blick auf einen kräftigen Kiefernast. Sie hob ihn auf und fing an, sich sehr vorsichtig auf das schneebedeckte Eis zu schieben, wobei sie mindestens bei jedem zweiten Schritt vor sich auf das Eis klopfte. Wenn es das Gewicht des Schnees halten kann, kann es auch meins tragen, hoffte sie. Doch mit Schrecken wurde ihr bewusst, dass dieser – bisher größte – See nicht wie die anderen mit einer etwa drei Spannen mächtigen Eisdecke bedeckt war; wenn überhaupt völlig zugefroren, dann mit nicht mehr als vielleicht zehn Zentimetern. Nach einem Drittel des Wegs über den See bekam Mira die Antwort, die sie befürchtet hatte. Mit einem leise platschenden, aber Angst erregenden Geräusch versank das tastende Ende des Kiefernastes plötzlich in einem kleinen Loch, von dem sich in Windeseile ringförmig ein Netz aus Rissen ausbreitete, durch die erschreckend schnell das Wasser nach oben drang. Im selben Moment schien sich der gefrorene Grund unter ihren Füßen zu bewegen und abzusenken. Mira kämpfte verbissen das Verlangen nieder, mit großen Schritten ans Ufer zu eilen. Stattdessen zwang sie sich, sich so langsam wie ein Puma auf der Jagd zu bewegen. Sie bückte sich hinunter aufs Eis und ver-
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teilte ihr Gewicht auf der zerbrechlichen Fläche. Sie bemühte sich um absolute Ruhe und dachte sich selbst leicht. Ihre Hände und Füße, ihre Knie wurden von dem eisigen Wasser umspült, aber noch hielt das dünne Eis ihren Körper und sie wagte wieder zu atmen. Dann, quälend langsam, kroch sie, schwitzend vor Konzentration, auf allen vieren zum Ufer zurück und ließ sich schließlich zitternd in den Schnee fallen. Aye, also gut, dachte sie. Dann auf nach Westen. Vielleicht waren die guten Geister auf ihrer Seite, denn knapp eine halbe Stunde später, als sie locker im verlöschenden Tageslicht am Rand des Sees entlanglief, direkt an einer Stelle, wo die Baumgrenze nah ans Ufer rückte, fand sie etwas, was ihr Herz auf eine Art und Weise schneller schlagen ließ, wie kein brechendes Eis es vermocht hätte. Etwas, was ihr lebhaft all jene Tage des Zweifels in Erinnerung rief, bevor sie Gil hinauf auf den Berg gelockt hatte. Es war eine Gruppe von großen, kompakten Kreisflächen im Schnee, fünf an der Zahl, um einen Bereich herum gruppiert, der von vielen Füßen flach getreten worden war, und in der Mitte eine tiefe Grube, gefüllt mit Asche und verkohlten Holzresten. Einsam stand sie am Ufer des gefrorenen Sees und betrachtete den Ort, an dem die Menschen gewesen waren, und in ihrem Kopf hörte sie Raymies whiskeygeschwängerte, listige Stimme: »Runde Häuser aus Stoff, wenn ich’s euch doch sage …« Vorsichtig, als wollte sie die Wahrheit verleugnen,
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antwortete sie der Stimme: »Aber du hast gesagt, es waren Häuser, die durch ihre Farbe kaum sichtbar waren. Diese Leute hier können nicht dieselben sein, die du gesehen hast. Sie haben Feuer gemacht. Es war ihnen egal, ob sie gesehen werden oder nicht.« Die Antwort klang bissig: »Denk nach, Mädchen! Wenn sie hier im Schneesturm gelagert ham, warum dann kein Feuer anzünden? Wer hätt schon den Rauch gesehen? Keiner, glaub’s mir. Und schau dich doch um, Mädchen! Wer kommt hier schon vorbei, selbst bei gutem Wetter, he?« Das war richtig; die Stimme sagte die Wahrheit. Es konnten durchaus Raymies Plünderer gewesen sein, die hier während des Schneesturms Schutz gesucht hatten. Wenn sie vor Ende des Sturms aufgebrochen wären, hätte der Schnee ihre Spuren längst verwischt. Was bedeutete, dass sie nicht mehr als einen Tag Vorsprung hatten. Oder vielleicht ein paar Stunden mehr, falls sie ihr Lager sofort abgebrochen hatten, als das Wetter sich besserte. Mira schaute sich um und entdeckte halb verwehte Spuren im Schnee, die in dieselbe Richtung führten, der sie gefolgt war – Südwesten –, doch nach etwa fünfzig Metern brachen sie plötzlich abrupt am Ufer des Sees ab. Was nun? Hatte frischer Schnee die restlichen Spuren verdeckt? Hatte sich ein einzelner Mensch vielleicht nur in der Nacht ein paar Schritte vom Lager entfernt, um sich zu erleichtern? Ihr müdes Gehirn
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antwortete mit Raymies Stimme: »Schlaf, Wärme, ein Bissen zwischen die Zähne und was zu trinken … Der Morgen ist klüger als der Abend, Mädchen.« Noch während sie das dachte, merkte Mira, dass sie der Erschöpfung nahe war. Irgendwie hatte der Gedanke, dass jemand – Menschen – hier gewesen war, vielleicht erst vor einem Tag, sie jeglicher Energie beraubt. Es war das, worauf sie gehofft hatte –, aber auch das, was sie fürchtete. Während sie zum Lagerplatz zurücktaumelte, versuchte sich Mira ihre Gesichter vorzustellen. Riesen in Grau? Rücksichtslose, sorglose Plünderer? Polizisten? Sie konnte förmlich die Hitze ihres großen Lagerfeuers vor sich sehen und das Licht, das über die Behausungen aus gepunktetem Stoff und die im Schatten liegenden Gesichter tanzte. Die wirbelnden Schneeflocken hatten in den Flammen gezischt. Ein paar Schritte hinter der Baumgrenze fand sie abgeschnittene Äste und zerbrochene Stöcke, gegen einen dicken Stamm gestapelt, vor, Feuerholz, das nicht gebraucht worden war. Mit der letzten Kraft, die sie an diesem Tag mobilisieren konnte, schleppte Mira das Holz hinunter zur Aschegrube und zündete ihr eigenes Feuer an. Heute Nacht war es ihr egal, ob sie entdeckt wurde oder nicht. Als das Feuer hell brannte, zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus, hängte ihre Kleider und ihre Schuhe über Stöcke, damit sie trocknen konnten, und schmolz ein bisschen Schnee, um sich zu waschen.
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Ehrwürdige Väter! Das warme Wasser fühlte sich köstlich auf ihrer Haut an. Zehn Minuten später schlief sie, tief eingekuschelt in ihren dampfenden Schlafsack. Ihr Gesicht im Licht der Flammen war friedvoll. Der Morgen war tatsächlich klüger als der Abend. Im neuen Licht eines weiteren klaren, strahlenden und eiskalten Tages entdeckte Mira auf Anhieb das dünne, schimmernde Seil, das sich in großer Höhe über den See erstreckte. Auf dieser Seite war es irgendwo in den Baumkronen befestigt, und obwohl es in der Mitte nach unten durchhing, glaubte sie nicht, dass sie es selbst dort mit den Händen erreichen konnte. Wie die Männer damit den See überquert hatten – wenn es so gewesen war –, blieb allerdings ein Rätsel. Doch das machte nichts. Angesichts der Sonne, die ihre Strahlen gerade über die Gipfel der Berge warf, mit trocknen Kleidern und der deutlichen Spur vor ihren Augen, kümmerte es Mira nicht, dass sie dieses Geheimnis nicht lüften konnte. Selbst wenn sie keinen Erfolg mit ihrer Suche hätte, wenn sie niemanden finden würde – na und? Zum ersten Mal seit jener hässlichen Szene (die Frau, Annie Tallis, die niedergestreckt vor ihr in den Schnee fiel) fühlte sie sich wieder wohl, fühlte sich als Teil dieses Landes und war in der Lage, sein Lied zu vernehmen. Sie würde einen Weg finden – oder vielleicht auch
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nicht. Aber wie auch immer: Es würde keinesfalls der Weg der Angst sein. Während das Wasser für ihr Porridge über den Resten des gestrigen Feuers köchelte, machte sie den Baum ausfindig, an dem das nördliche Ende des Seils befestigt war, und begutachtete es. Jemand war, so hoch es nur ging, auf den Baum geklettert, um das Ding festzubinden, und sie vermutete, dass dasselbe am anderen Ende, auf der anderen Seite des Sees geschehen war. Selbst wenn es ihr gelang, dieses Seilende zu lösen und niedrig genug wieder anzubringen, um damit sicher über den See zu gelangen, würde das andere Ende immer noch hoch über ihren Kopf ragen, lange bevor sie die Sicherheit des gegenüberliegenden Ufers erreicht hatte. Vielleicht musste sie sich mit beiden Händen über Kopf an dem Seil entlanghangeln bis zur anderen Seite. Aye, wenn es dicker wäre und aus einem weicheren Material gemacht, könnte ihr ein solches Unterfangen wohl gelingen … doch dieses Seil sah aus wie die Sicherungsleinen an den Generatoren: stark, hart und Händen gegenüber gnadenlos, dünn genug, um tief ins Fleisch zu schneiden. Und zudem – Mira stellte sich vor, wie es wohl sein würde, wenn man gezwungen war loszulassen und aus einer Höhe von etwa zehn Metern auf die Eiskruste stürzte. Sie erschauerte. Schließlich fand sie, eine Schale Porridge in sich hineinschaufelnd, die Lösung. Es war die einzige
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Möglichkeit, wenn sie den Versuch wagen und hier übers Eis gehen und der Spur folgen wollte, die jene Menschen ihr gelegt hatten. Und folgen musste sie. Das Seil – sie musste es losbinden … Mit gefülltem Magen und neuer Hoffnung kletterte sie langsam und mühevoll in das Dach des Baums empor, um sich die Sache näher anzuschauen. Was sie schließlich vor sich sah, war eine einfache Schlinge rund um den Stamm der Kiefer, die mit einem Haken befestigt war. Durch sein eigenes Gewicht und das Gewicht derjenigen, die mit seiner Hilfe die Distanz bis zum anderen Ufer überwunden hatten – egal wie das gehen mochte –, hatte sich das Drahtseil tief in das weiche, feuchte Holz gebissen. Doch mithilfe ihres Messers schaffte es Mira schließlich, das Ding zu lösen und den Haken zu öffnen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, wie sich das Seil verhalten würde – mit einem scharfen Ruck sprang es weg und sauste wie ein Lebewesen nach unten, sodass sie sich bei dem Versuch, es festzuhalten, durch den Handschuh hindurch verbrannte. Doch nachdem sie mit schmerzender Hand nach unten geklettert war, sah sie erleichtert, dass das Seilende, nur ein paar Schritte vom Ufer entfernt, auf dem Eis gelandet war. Also gut, aufgepasst. Was nun kam, musste mit Sorgfalt getan werden. Sie rollte ihren Schlafsack auf, breitete ihn mit der Plastikseite nach unten auf dem Eis aus, legte sich
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rücklings darauf und verteilte ihr Gewicht. Sie wagte kaum zu atmen. Ihr Rucksack lag unter ihren Knien eingeklemmt, und die Kapuze des Schlafsacks war über ihrem Kopf, sodass der »Bug« ihres behelfsmäßigen Schlittens nirgendwo hängen bleiben konnte. Pat würde es gefallen, dachte sie lächelnd. Sie griff nach hinten, tastete auf dem Eis und fand schließlich das Seil. Und dann, während sie tief in sich selbst hinabtauchte, um Mut zu schöpfen, dachte sie sich erneut leicht genug, damit die gefrorene Schicht sie tragen würde. Dann nahm sie das Stahlseil in ihre Hand und zog vorsichtig daran. Bewegung. Wieder zog sie. Und wieder. Eine Hand nach der anderen, Zentimeter für Zentimeter, zog Mira sich selbst hinaus auf die weiße Kruste. Der Morgen war schon fast vorbei und der Himmel hoch über ihren Augen wolkenlos. Der Schweiß durchfeuchtete erneut ihre Kleidung. Sie dachte: Wenn das Eis mich nicht trägt, habe ich immer noch eine Chance, vorausgesetzt ich kann das Seil festhalten. War das Wahrheit oder Einbildung? Ein Drittel des Wegs war nun geschafft, vielleicht sogar schon die Hälfte. Durch die Kapuze lag ihr Kopf etwas erhöht, und sie konnte die sonnenüberfluteten Kanten des Gipfels sehen, den sie am Vortag überschritten hatte. Um ihre Gedanken von dem eisigen Wasser unter ihr abzulenken, versuchte Mira,
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den Pfad auszumachen, den sie genommen hatte. Sie konnte nicht erkennen, an welcher Stelle sie den See erreicht hatte, jedenfalls nicht, ohne den Kopf zu heben und nach rechts zu drehen, doch da oben war deutlich der stumpfe Sporn jenes Felsens zu sehen, direkt oberhalb der Baumgrenze, den sie auf ihrem Weg umgangen hatte. Und das da – sie glitt mit ihren Augen höher – musste die Stelle sein, eine kurze Horizontale auf der Silhouette des Grats, direkt unter dem fast senkrechten Anstieg zur Spitze, wo sie gestanden und zum ersten Mal in das neue Tal hinabgeschaut hatte – in der närrischen Hoffnung, eine Stadt würde vor ihr liegen. Ja, das war die Stelle. Sie sah so aus, als hätte ein Riese ein Stück aus der Bergspitze herausgebrochen. Und dann standen ihre Hände, stand ihr Herz still. Ehrwürdige Väter … Einen kurzen Moment lang glaubte sie, dort oben, wo sie gestanden hatte, ein winziges Aufblitzen zu sehen. Und da – da war es wieder. Mira rührte sich nicht. Flach lag sie auf dem verräterischen Eis und unterdrückte das Verlangen, sich weiterzubewegen. Sie wartete und schaute, doch da war nichts mehr. Ihre Augen klammerten sich an jenen Punkt, bohrten sich beinahe in den Fels hinein, bis sie in Tränen schwammen. Doch sie sahen nichts. Ein Stück Eis, dachte sie. Vielleicht ein Eiszapfen, der sich in der Sonne spiegelte. Oder die Reflexion einer nassen Felsplatte. Keine Verfolger aus der Sied-
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lung hätten ihr so schnell so weit folgen können, nicht durch den frischen Schnee – so viel war sicher. Trotzdem bewegten sich ihre Hände während der restlichen Rutschpartie auf dem Eis ein bisschen schneller. Und als sie sich schließlich halb rollend, halb kriechend auf das feste Ufer zog und, zitternd vor Anstrengung, ihren Rucksack und Schlafsack nach oben wuchtete, sah sie plötzlich auf der anderen Seite des Sees deutlich eine bleistiftdünne blaue Rauchsäule – offenbar die Überreste ihres Feuers. Sie hatte geglaubt, dass es erloschen war, doch ein verdeckter Rest von Glut musste noch einmal Nahrung gefunden haben … Kein Feuer mehr, schwor sie sich. Ich darf mich nicht auf das Glück verlassen. Ich muss mein Glück selbst in die Hand nehmen. Mit beiden Händen fing sie an, das schlaffe Stahlseil einzuholen. Wer immer ihr folgen wollte, musste nun um den See herumlaufen.
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8 Man konnte nie sicher sein, wie lange das gute Wetter halten würde, aber im Augenblick war die Spur derjenigen, die mit ihren Stoffhäusern Kreise im Schnee hinterlassen und das Stahlseil über den See gespannt hatten, frisch und leicht zu erkennen. Im Gegensatz zu Mira schienen sie ihrem Glück nach wie vor zu vertrauen. Außerdem machte es den Eindruck, als ob sie dieses Land so gut kannten wie Mira die Berge ihrer Heimat. Leichtfüßig machte sie sich an die Verfolgung, in ständiger Erwartung neuer Hindernisse oder Rätsel. Doch da war nichts. Der Pfad, den die Menschen genommen hatten, mied sowohl die höchsten Gipfel als auch die tiefsten Täler, führte stattdessen über Bergsättel und enge Spalten, die Mira als gefährlich eingestuft und umgangen hätte. Meistens verlief die Spur am Rande oder kurz innerhalb der Baumgrenze, vielleicht weil der Wald jederzeit eine gute Deckung bot. Selbst als die Fährte abfiel und die Täler, die von Nordosten nach Südwesten verliefen, kreuzte, kam Mira nichts in den Weg, was sich mit dem großen See, den sie mit dem Stahlseil überquert hatte, vergleichen ließ. Und die Menschen, denen sie folgte, wählten entweder Pfade, die um gefährliche Eisflä97
chen herumliefen, oder aber sie überquerten sie einfach, wohl wissend, dass auf diesen kleineren Flecken das Eis dick genug war, um ihr Gewicht zu tragen. Mira vertraute auf deren Wissen und ging dort, wo sie gegangen waren. Es wäre dumm, dachte sie, sich diese Chance entgehen zu lassen, nur weil sie Angst hatte. Und falls sie den Menschen zu nahe kam – was dann? Auf diese Frage hatte sie noch keine Antwort. Irgendwie war die Gewissheit, dass sie wenigstens nicht erfrieren oder verhungern musste, so tröstlich, dass ihre anderen Befürchtungen schrumpften. Vielleicht wussten die Leute vor ihr, wonach sie suchte, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht waren es dieselben, die in der Siedlung gewesen waren, vielleicht nicht. Aber sie waren wenigstens da, andere menschliche Wesen in der Wildnis, die aßen, schliefen, überlebten und ihr den Weg nach Süden zeigten. Die Route war um viele Meilen länger als jede andere, die sie gewählt hätte, aber – das musste sie zugeben – um vieles schneller. Die ganze Zeit machte sie keine Menschenseele aus. Vielleicht schliefen diese Leute nicht, wenn ihnen das Wetter hold war … Zwei Tage lang eilte das Mädchen voran, allein, aber entschlossen, ja regelrecht zufrieden. Sie spürte mit Genugtuung die neu gewachsene Härte ihres Körpers, die Leichtigkeit, mit der ihre Muskeln sie über das schneeüberhäufte Land trugen. Doch andererseits begannen ihre Rippen, deutlich aus ih-
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rem Rumpf hervorzutreten, und sie wusste, dass sie sich bald neue Vorräte besorgen musste. Am zweiten Tag ihrer Verfolgung verspeiste sie den letzten Rest Haferflocken zum Frühstück. Wenn nötig, musste sie anhalten und irgendwie versuchen, etwas Essbares zu fangen – einen Vogel, einen Fisch oder ein Reh. Am Nachmittag desselben Tages trat ein, was sie insgeheim befürchtet hatte: Der Himmel verblasste zu einem schmutzigen Weiß und die Luft wurde still und ruhig. Der Wetterumschwung veränderte die Lage völlig. Am nächsten Morgen würde die Spur, der sie folgte, wahrscheinlich verschwunden sein. Sie dachte gerade über diese trostlose Aussicht nach, fragte sich, ob sie ihre Anstrengung, dem Pfad der Menschen zu folgen, noch einmal verdoppeln sollte – und erkannte erst im letzten Moment, als sie aus einem schneebepuderten Fichtenwäldchen trat, was vor ihr lag. Eine Brücke. Eine echte Brücke aus Metall, von menschlichen Händen erschaffen, die sich über einen kurzen, aber steil in die Tiefe fallenden Abgrund erstreckte, wo weit unter ihr das Wasser toste und auf Eisschollen aufschlug. Eine Brücke, die zwar gerade breit genug war, dass nur eine Person sie jeweils betreten konnte, aber immerhin ein deutliches Zeichen, dass hier, in dieser entlegenen Gegend, Menschen waren. Nicht Raymies Plünderer, die sich in Schatten und Nebel versteckten, sondern echte Menschen,
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normale Menschen, wie die, die sie aus der Siedlung kannte. Vielleicht gab es hier sogar eine weitere Generatorenstation, die Strom aus der Wasserkraft des verborgenen Flusses erzeugte. Sie zögerte, stand tief atmend da und legte ihre Hände auf das eiserne Geländer an der Kante der Brücke. Einen Moment lang vergaß sie, dass sie die Jägerin war, die eine Spur – eine Beute – verfolgte, und dachte schwach und sehnsüchtig an eine heiße Mahlzeit, ein richtiges Bett, menschliche Stimmen und Gelächter … Vielleicht war dieses kleine Ding, diese Brücke, der Anfang des Südens, wo all die Menschen lebten. Wo die Städte waren. Im nächsten Tal oder im Tal dahinter. Die Menschen, denen sie folgte, gingen vielleicht dorthin; es waren wahrscheinlich gar keine Plünderer aus der Wildnis, sondern Männer, die man mit einer Aufgabe aus der Stadt losgeschickt hatte. Aber was für eine Aufgabe? Nun, vielleicht war sie den Antworten jetzt ganz nahe, stand dicht davor herauszufinden, was es mit Annie Tallis auf sich hatte – und wer sie selbst war. Mit einem von Finlays Liedern auf den Lippen beschritt Mira die Brücke, ließ ihre Hände wie ein Kind auf dem Geländer entlanggleiten und schob dabei den glänzenden Pulverschnee beiseite, der still nach unten fiel. Sie würde den Spuren folgen, bis der Neuschnee sie verdeckte, beschloss sie, und dann – wenn erforderlich – nach einer Unterkunft suchen, wo man
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sie freundlich aufnahm. Wenn jemand es für nötig gehalten hatte, hier eine Brücke zu bauen, musste es auch Menschen geben. Allerdings war das Metall unter dem dicken Anstrich rau und blasig vor Rost. Sie konnte es mit ihren Fingerspitzen fühlen. Als ob sie schon vor langer, langer Zeit erbaut worden war. Vielleicht … Und dann, als ob sie eine Ohrfeige bekommen hätte, stolperte sie aus ihrer Träumerei, brach ihr Lied mitten im Ton ab. Vor ihr, am anderen Ende der Brücke, stand eine massige Gestalt: ein Mann mit einem Bart, der einen schweren weißen Parka trug. Er lächelte nicht. Instinktiv drehte sie sich um, bereit loszurennen, den Weg zurückzulaufen, den sie gekommen war, in den Wald einzutauchen und durch die engen Zwischenräume der Stämme zu huschen, wo dieser Bär von einem Mann ihr nie folgen konnte. Doch da stand eine zweite Gestalt und verstellte ihr den Fluchtweg. Und dieser Mann lächelte, doch es war eine hässliche, klaffende Grimasse. Die Grimasse sagte: »Evan lässt dich grüßen und bittet dich, zu ihm zu kommen, damit er dich kennen lernen kann, kleines Fräulein.« Der Akzent des Mannes war Mira fremd, die lang gezogenen Vokale klangen flach und leblos, und die höflichen Worte trieften vor Hohn, denn sie fesselten Miras Handgelenke hinter ihrem Rücken und ließen sie zwischen sich hergehen. Es gelang ihr nicht ein-
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mal, sich so weit zu wehren, dass sie ihnen ein bisschen wehgetan hätte. Verlass dich nie auf dein Glück, dachte sie. »Ich bin beeindruckt, ganz ehrlich – sehr beeindruckt. Ich schätze, du hast etwa zwanzig Meilen am Tag zurückgelegt. Und das über ziemlich schwieriges Gelände. Diese großen Tiere hier schaffen nicht viel mehr … nicht wahr, Tiere?« Ein feixendes Kichern ertönte aus der Meute, die sie umringt hatte. »So. Es gibt da etwas, was ich dich unbedingt fragen muss, und zwar geht es um den See. Um den großen. Wie hast du den überquert, he?« Evan schien tief in Gedanken versunken zu sein, hatte einen Finger an seine Stirn gelegt und schaute auf Miras Füße. Dann hellte sich sein Gesicht auf und sein Grinsen kehrte zurück. »Ich weiß! Du hast unser Scheißseil runtergenommen und dich auf deinem Scheißschlafsack übers Eis gezogen. Hab ich Recht? Hab ich?« Es fiel ihr schwer, ihre Überraschung zu verbergen, aber Mira hatte schnell begriffen, dass es das Beste war, einfach zu schweigen. Sollte dieser Evan seine Vorstellung doch als Ein-Mann-Show geben; irgendwann würde ihm langweilig werden. Und genau das geschah. Er schaute sie eine Weile an und wartete auf eine Reaktion. Still erwiderte Mira seinen Blick und beobachtete die weißen Flocken, die auf
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sein Gesicht fielen und sofort schmolzen. Und plötzlich war das Grinsen verschwunden und Evan gab Befehle. »Noch drei Minuten, Herrschaften. Perky und Green: Ihr geht an die Flanken. Hopkins: Spitze. Randy, du folgst uns auf dreißig Schritt. Ich will heute noch zehn Meilen schaffen; mal sehen, ob wir das nette Fleckchen im Wald da vorne erreichen. Das große Wasser heben wir uns für morgen auf, okay, Freunde?« Was immer auch diese Worte bedeuten mochten – Flanke, Spitze und der ganze Rest –, die weiß gekleideten Männer schienen zu verstehen und rappelten sich auf die Füße, drückten die Zigaretten aus und schulterten ihr Gepäck. Mira mied ihre Augen. Sie hatte Angst vor dem, was sie da zu sehen bekam: eine Rauheit, einen gefährlichen Hunger. Dass sie sich noch niemals einem Mann hingegeben hatte, würde keine Rolle spielen, dachte sie. Denn diese Männer waren Plünderer. Sie waren gewohnt, sich zu nehmen, was sie wollten, ohne zu fragen. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte Evan: »Und du, geheimnisvolle Dame? Wer wird sich um dich kümmern?« Wieder tat er so, als würde er angestrengt nachdenken. »Nun, ich denke, das übernehme ich am besten selbst. Mmm?« Und so war er es, der an ihrer Seite marschierte, als sie aufbrachen. Drei Männer verschwanden zwischen den Bäumen vor ihnen und an den Seiten, ein weiterer ging hinter
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ihnen – das musste derjenige sein, der Randy genannt wurde. Er war es gewesen, der sie auf der Brücke angesprochen hatte. Obwohl die Gruppe noch aus sieben oder acht weiteren Männern bestand, gingen sie alle weit voneinander entfernt und waren nur dann und wann zwischen den Baumstämmen zu sehen. Das erschien ihr nicht richtig, doch sie wollte keine Fragen stellen, wagte es nicht. Es war besser, so wenig wie möglich zu sprechen. Stattdessen ging sie stumm neben diesem Evan her, verfluchte ihre Dummheit und versuchte, nicht daran zu denken, was als Nächstes geschehen würde. Sie bemühte sich, ihre Selbstkontrolle zu bewahren, um nicht zu betteln oder zu schluchzen, ihre Wächter mit Fragen zu bestürmen oder wegzulaufen, nur um nach ein paar Schritten wie ein ungezogenes Kind wieder eingefangen zu werden. Nun, sie hatte inzwischen einiges gelernt, nicht wahr? Nicht zuletzt durch Gil … Verbirg deine Gedanken. Beobachte und höre zu. Handle nicht, ohne nachzudenken. Und unterdrücke deine Furcht. Wenigstens war das Laufen nicht anstrengend. Ihre Sachen waren durchsucht und dann von den Männern weggeworfen worden, alles außer ihrem Schlafsack, den Evan auf seinen eigenen Rucksack geschnallt hatte. So musste sie nichts tragen. Selbst mit gefesselten Händen hatte Mira keine Schwierigkeiten, dem Tempo der Männer zu folgen. Es machte ihr Mut, dass sich diese Ungeheuer so langsam vorwärts
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bewegten. Wenn die Zeit und die Gelegenheit zur Flucht kamen, brauchte sie nur ein paar Minuten Vorsprung … Es war jetzt dunkel und es schneite immer noch. Doch der Schneefall war nichts im Vergleich zu dem schweren, wirbelnden Sturm vor ein paar Tagen, sondern glich mehr einem schweigenden Bestäuben mit weißem Puder. Mira fühlte, wie ihr Magen knurrte, und fragte sich, ob sie etwas zu essen bekommen würde. Bislang hatte man ihr nur kaltes Wasser aus einer Feldflasche gegeben. Wenn Evan ihren Schlafsack behalten hatte, konnte das nur bedeuten, dass man für sie sorgen würde, was hieß, dass sie auch Nahrung erhalten musste. Aber andererseits – warum behielten die Männer sie überhaupt bei sich? Warum die Falle auf der Brücke? Hatten sie gewusst, dass sie, Mira, ihnen folgte? Und woher wussten sie, dass sie den See mit ihrem Schlafsack überquert hatte? Den »großen« See, hatte Evan gesagt. Besonders eine Sache gab Anlass zur Hoffnung: Diese Männer waren weiß gekleidet, nicht grau, und sie hätte schwören können, dass keiner von ihnen dabei war, als Annie Tallis vor ihren Augen niedergeschossen worden war. Im Übrigen hätten sie sie wohl kaum mitgenommen, wenn sie Böses gegen sie im Schilde führten. Ein kurzer Stoß über das Brückengeländer hätte genügt. In diesem Moment brach der Mann mit Namen
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Evan das Schweigen: »Sehr beeindruckend«, sagte er leise, als würde er nahtlos an seine früheren Worte anknüpfen. »Die junge Dame kann sich sehr gut beherrschen, nicht wahr? Da müssen Unmengen von Fragen in diesem Köpfchen herumschwirren und sie hat sicher eine Scheißangst. Doch sie bleibt ganz cool. Zuckt nicht mit der Wimper.« Er warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Aber das war ja zu erwarten, nicht wahr?« Sie befanden sich außer Hörweite der anderen. Evan schien seine Schauspielerei und sein närrisches Gehabe für seine Männer zu reservieren. Wo vorher der aufgesetzte Hohn den Ton angegeben hatte, spürte Mira nun die Klugheit und den Scharfsinn des Mannes. Sie hob ihr Kinn. »Aye? Und warum war das zu erwarten? Dass ich … cool bleibe? Und was wollen Sie von mir? Vielleicht bin ich nicht diejenige, die Sie vor sich glauben. Vielleicht haben Sie einen Fehler gemacht.« Der Mann kicherte und schüttelte seinen Kopf. »Keine Zeit, Prinzessin. Deine Fragen werden warten müssen. Hübscher Akzent übrigens und ein hübsches Gesicht noch dazu. Ich glaube, du hast dir das hier verdient. Pass auf …« Mira sah das Aufblitzen eines Messers und spürte, wie die Schnur um ihre Handgelenke plötzlich abfiel. »Na, was sagst du dazu?« »Aye, das tut gut«, erklärte sie und rieb ihre Haut, wo die Schnur sich eingeschnitten hatte. »Danke.«
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»Schon gut, Prinzessin. Das ist wirklich gern geschehen.« Er hielt das Messer warnend in die Höhe. »Aber bitte versuche, daran zu denken: Diese Idioten können sich viel schneller bewegen als im Augenblick, besonders wenn sie etwas so Hübsches und Leckeres jagen. Am besten bleibst du immer in Evans Nähe,Tag und Nacht, okay?« Schweigend gingen sie weiter. Als sie aufwachte, roch Mira Fleisch. Sie roch es, schmeckte es und sie hörte es. Ein Stück Fleisch, das in einer Pfanne brutzelte und all ihre Sinne erregte. Ehrwürdige Väter, ihr Magen fühlte sich an, als wäre er zu einer winzigen, leeren Hülse geschrumpft. Ohne die Augen zu öffnen, spürte sie, dass dies ihre Zeit war, die singende Zeit kurz vor der Morgendämmerung, in der die Geister der Nacht bald dem Tage weichen würden. Und doch briet jemand Fleisch. Schneehase, so roch es jedenfalls. Sie rollte sich auf die Seite, steif von der Nacht auf dem kalten Boden, und öffnete die Augen. Zehn Meter neben ihr stand ein Riese von einem Mann, gekleidet in Weiß, über eine Pfanne gebeugt. Die Flamme darunter war von einem reinen Blau und kam überraschenderweise aus einem glänzenden silbernen Zylinder, nicht größer als eine Faust. Um ihn herum standen andere Männer, die genauso gekleidet waren. Einige hatten dampfende Plastikbecher in der Hand, einer oder zwei hatten sich hingesetzt oder
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hockten auf den Fersen und rieben ihre Stiefel mithilfe eines schmutzigen Lappens mit Öl ein. Sie erinnerte sich: Evans Männer. Und sie war eine Gefangene. Etwas, jemandes Stiefel, stieß sie in den Rücken und eine Stimme sagte: »Ich vermute, du willst was davon haben, nicht wahr, Prinzessin?« Evan selbst stand da, aß geräuschvoll und deutete mit seinem Messer auf die Pfanne. »Ja. Bitte. Ich habe Hunger.« »Das dachte ich mir. Wir können dich doch nicht verhungern lassen, nicht wahr? Was für ein Glück, dass meine Jungs so gut mit der Armbrust umgehen können, he?« Armbrust. Sie kannte das Wort aus ihrem Buch. Eine sehr alte Waffe, dachte sie. Und der Waffe, die der Mann in Grau gegen Annie Tallis benutzt hatte, nicht im Mindesten ähnlich. Wieder beruhigte sie dieser kleine Unterschied. Evan sagte: »Hübsch und leise, so eine Armbrust. Und todsicher tödlich.« Dann rief er: »He, Gatt! Schieb mal was für unsere Prinzessin rüber!« Der Mann mit der Pfanne kam schweigend zu ihnen und ließ etwas in ihre Hand fallen – ein Stück knorpeliges Fleisch, teils verbrannt und teils roh und blutig. Und zu heiß, um es festzuhalten. Mira warf es von einer Hand in die andere. »Das war’s, Prinzessin. Wir haben heute einen langen Weg vor uns.«
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Mira fragte, während sie ihren ersten Bissen kaute: »Warum nennen Sie mich so?« Aber Evan war schon wieder weg, schlenderte weiter und unterhielt sich mit seinen Leuten. Sie hatte kaum ihr Essen hinuntergeschlungen, da hörte sie seine Stimme wie gestern rufen: »Fünf Minuten, Herrschaften!« Sie zog ihre Schuhe an und ging zu ihm. »Ich muss mal pinkeln.« Er unterbrach sich bei dem, was er gerade zu einem anderen Mann sagte – Hopkins? Perky? … Sie war sich nicht sicher – und schaute sie gereizt an. »Bettzeug zusammengerollt?« »Was?« »Ist – dein – Bettzeug – zusammengerollt?!« »Oh … nein.« »Dann mach es jetzt. Danach kannst du pinkeln. Wenn wir dich schon durchfüttern, kannst du dich wenigstens ein bisschen bemühen.« Wie er sich veränderte – von freundlich zu wütend zu scherzend und wieder zurück, ohne Vorwarnung. Errötend ging sie und rollte ihren Schlafsack zusammen. Als sie damit fertig war und ihn fest zusammengepackt hatte, ging sie noch einmal zu ihm, in dem Bewusstsein der gierigen Blicke, die ihr folgten. »Nun?« »Ich habe den Schlafsack zusammengerollt. Bitte. Ich muss pinkeln.« »Na, dann mal los!« Sie schaute sich um, musterte die Augen um sich
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herum und kehrte zu Evans kaltem Blick zurück. »Nun?«, fragte er. »Muss ich dir auch noch deine Scheißhosen runterziehen?« Urplötzlich veränderte sich die Stimmung. Die Anspannung wuchs. Mira hatte den Eindruck, dass die Männer hinter ihr ein Stück näher gerückt waren, doch sie wollte sich nicht umschauen, um ihren Eindruck bestätigt zu finden. Es war Gemurmel zu hören, Knurren und Kichern aus dem Schatten der Bäume, als ob wilde Bestien ihr auflauern würden, wie der Eber im Schneesturm. Doch dieser Eber hatte ihr kein Leid antun wollen – das hier aber waren keine scheuen Tiere, sondern wilde Männer. Auch Evan schien die Veränderung zu spüren. Sie sah, wie sein Blick umherzuckte. Und dann, ohne Warnung, brach er in Gelächter aus und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Dein Gesicht, Prinzessin! Bitte, Sir, ich muss mal pinkeln, Sir! Scheißprinzessin! Du darfst dich entfernen. Da – geh hinter die kleinen Bäume da drüben, da wo du geschlafen hast. Aber keine Tricks, klar? Du hast eine Minute.« Und dann, als sie sich mit gesenktem Kopf zum Gehen wandte: »Und ihr, ihr hässlicher Haufen Drückeberger … Jetzt wisst ihr, was sich gehört, klar? Ab heute erwarte ich Manieren von euch, verstanden?« Sie hörte das Lachen, spürte, wie sich die Anspannung löste, und plötzlich begriff sie. Weder Evans Wut noch sein Gelächter waren echt. Sie erschauerte
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bei der Vorstellung, was die anderen mit ihr anstellen würden, wenn er sie nicht in Schach hielte. Vielleicht … vielleicht hatte er ihr genau das klar machen wollen. Er wollte sie ängstlich, gehorsam. Ich werde sein, was er von mir erwartet, dachte sie. Ein gefährliches Spiel, aber ich werde es mitspielen, so wie ich es bei Gil getan habe. Der tote Gil. Wenn er sich mit Männern wie diesen eingelassen haben sollte, mit ihrer rauen fremdartigen Sprache, Scheiß und Herrschaften und Drückeberger und Flanken … dann hatte sie ihn wahrhaftig nicht gekannt. Evan rief: »Also gut. Wir ziehen los. Nach dem nächsten See nehmen alle die gewohnten Positionen ein.« Mira fürchtete, dass ihre Hoffnung, eine Stadt sei in der Nähe, sich nicht erfüllen würde. Zwar sagte niemand etwas direkt zu ihr, doch sie spürte anhand der Stimmung dieser Männer in Weiß, dass diese noch einen langen Weg vom Ende ihrer Reise entfernt waren. Sie schienen mit voller Konzentration bei der Sache zu sein, arbeiteten effizient und entschlossen. Nichts deutete auf eine baldige Freudenfeier hin. Doch direkt darauf ansprechen würde sie die Männer nicht. Vielleicht würde sie die eine oder andere Frage stellen, doch nichts, was ihnen signalisierte, wie wenig sie wusste, wie ahnungslos sie von der Welt und dem Leben im Süden war. Der vor ihnen liegende See, so stellte sich bei näherer Betrachtung heraus, verlief genauso wie die anderen, kreuzte ihren Weg von Nordosten nach Südwe-
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sten. Doch er war drei- oder viermal so groß wie derjenige, den Mira, auf dem Rücken rutschend, überquert hatte – eine massive, majestätische offene Fläche, deren flache weiße Tafel von Bergen gesäumt war, die ihr wiederum niedriger vorkamen als jene, die sie hinter sich gelassen hatten, obwohl die Gipfel von einer Reihe tief hängender Schneewolken verhüllt wurden. Sie und die zwölf Männer standen schweigend in den Ausläufern des Wäldchens, hoch über der eisigen Fläche, während Evan den Feldstecher aus seinem Rucksack nahm und das gegenüberliegende Ufer absuchte. Hinter ihnen befand sich das Ende eines Stahlseils, etwas dicker als das letzte und diesmal fest in einem schneebedeckten Stück harten Granits verankert, das rechtwinklig aus dem Abhang zwischen den Bäumen herausragte. Auch heute musste Mira kein Gepäck tragen und bislang waren ihre Hände ungebunden geblieben. Dank des Stücks Fleisch in ihrem Bauch war die Kraft in ihren Körper zurückgeströmt, obwohl sie darauf achtete, dass dieser Umstand weder in ihren Schritten noch sonst wie sichtbar wurde. Evan senkte den Feldstecher und sagte leise: »Okay. Los geht’s.« Die Männer fingen an, Gegenstände aus ihren Rucksäcken zu nehmen. Weiße Riemen, die aus irgendeinem fremdartigen Material gemacht waren, und kurze Stahlseile, dazu kleine Metallstücke, an
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denen ein glänzendes Rädchen und eine Art Handgriff angebracht waren. »Gatt: Du zuerst.« Der Bär, der das Fleisch hatte anbrennen lassen, trat vor. Er hatte sich die Riemen um seine Taille und um die Hüfte geschnallt und sie mit dem Stück Drahtseil verbunden, an dessen Ende die Metallvorrichtung mit dem Rädchen saß. Er griff nach oben an das gespannte Seil, legte Rädchen und Handgriff darüber und hakte etwas klickend ein. Dann beugte er seine Knie, prüfte, ob das Seil sein Gewicht hielt, wobei er frei an dem Seil schwang. Evan zwinkerte ihr humorlos zu. »Wenn es Gatt nicht trägt, überlegen wir uns eine andere Möglichkeit rüberzukommen, verstehst du?« Dann griff der Mann, den sie Gatt nannten, mit beiden Händen über seinen Kopf und fing an, den Handgriff zu kurbeln. Still und leicht schwebte er hinaus aus dem Wald und auf den großen See zu. Evan beobachtete sein Vorwärtskommen mit dem Feldstecher. Mit bloßen Augen und vor dem Hintergrund des Schnees, der das Weiß der Kleidung des schwebenden Mannes verschluckte, konnte Mira nur schemenhaft den Körper erkennen, der langsam übers Eis schwang. Schließlich sagte Evan: »Mann übergesetzt. Und er zeigt an, dass alles in Ordnung ist. Perky, hoch mit dir. Du bist der Nächste.« Und wieder schwebte ein Mann still und leise davon. Einer nach dem anderen durchliefen die Männer dieselbe Proze-
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dur und verschwanden über den gefrorenen Talboden hinweg am anderen Ufer des Sees. »Was ist mit mir?«, wagte Mira zu fragen. »Für mich haben Sie doch keinen solchen … Hänger, nicht wahr?« »Nein, Prinzessin, haben wir nicht. Kein Platz für überflüssiges Zeug. Du gehst mit mir. Wir binden dich hübsch eng an.« Er sah ihren Gesichtsausdruck. »Es sei denn, du ziehst einen der anderen vor. Das juckt mich nicht die Bohne. Ganz wie du willst.« Er lacht mich aus, lacht jeden aus, dachte Mira. Er ist zu selbstsicher. Überraschenderweise genoss sie das langsame Gleiten an dem Stahlseil, obwohl sie eng an Evan geschnallt war, Evan mit seinem stinkenden Atem und seinen scharfen Augen. Doch von hier aus konnte man das ganze Tal sehen und die endlose Ausdehnung des Sees, der sich sanft um die Kurven am Fuß der Berge entlangzog. Es fühlte sich an, als ob man auf einer Insel aus weichen weißen Wolken schweben würde. Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, murmelte Evan: »Wenn ich ein bisschen Spaß mit dir haben wollte, Prinzessin, wäre jetzt der richtige Moment, nicht wahr?« Des Augenblicks voll Frieden beraubt, schaute Mira ihm in die Augen und sagte: »Wenn Sie mich … anrühren, dann hake ich uns beide aus, und wir schlagen durch das Eis.« Im Innern ihrer dicken Jacke hämmerte ihr Herz und ihre Muskeln spannten sich
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an. Sie hoffte, dass er nicht bemerkte, wie viel Angst ihr seine Worte machten. Evan schien darüber nachzudenken. »Nun, dann vielleicht ein andermal.« Auf der anderen Seite des Sees angekommen, gingen wie üblich drei Männer ein Stück voraus, und einer blieb zurück, um in einigem Abstand nachzufolgen. Die anderen liefen in ihrer üblichen lockeren Formation erst etwa eine Meile am Ufer des Sees entlang, dann erklommen sie, sich wieder nach Süden wendend, die Seite des nächstgelegenen Berges. »Haltet die Augen nach diesen dämlichen Wäldlern auf«, wies Evan seine Männer an. Und jetzt, als sie wieder hinauf ins Dickicht marschierten, fiel Mira auf, dass die Bäume hier in einem Muster aus halbwegs gleichmäßigen diagonalen Reihen wuchsen. Die »dämlichen Wäldler« mussten Menschen sein. Menschen, die vielleicht diese Bäume gepflanzt hatten, so wie ihre eigenen Leute Strom erzeugten. Wäldler. Es stimmte sie fröhlich – zu denken, dass sie in der Nähe waren, wer immer sie auch sein mochten. Soll ich versuchen zu fliehen?, fragte sich Mira. Vielleicht wenn sie mir mehr Fleisch zu essen gegeben haben. Oder wenn ich etwas davon stehlen kann. Widerstrebend gestand sie sich ein, dass es gute Gründe gab, nicht wegzulaufen, zumindest jetzt noch nicht. Im Augenblick brachten diese Männer sie nach Süden, und zwar auf Wegen, die sie aus eigener Kraft nie gefunden hätte. Es schien, als würden sie sie ver-
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sorgen und sie beschützen, auf ihre eigene Art jedenfalls. Und das Tempo fiel ihr leicht, gestattete ihrem Körper die Ruhe, die er dringend nötig hatte. Es wäre sinnlos zu fliehen, wenn sie nicht die Kraft hatte, auch frei zu bleiben. Sie dachte an Evans Drohung: »Diese Idioten können sich viel schneller bewegen als im Augenblick, besonders wenn sie etwas so Hübsches und Leckeres jagen.« Außerdem hatte sie immer noch die Hoffnung – und mehr als das … fast schon die Gewissheit –, dass diese Leute etwas von Annie Tallis wussten oder von Adeline Beguin … oder von ihr selbst. Auch wenn sie nicht zur Polizei gehörten oder zu Raymies Plünderern, auch wenn sie möglicherweise nicht einmal in der Nähe ihrer Siedlung gewesen waren, hatte Evan mehr als einmal durchblicken lassen, dass er etwas wusste, vielleicht sogar wusste, wer sie war. Und mit diesem Eindruck kam neuer Mut, denn wenn das tatsächlich der Fall war, hatte sie nun den Beweis, abgesehen von jenem Stück Papier, dass sie in diesen letzten Wochen nicht dem Wahnsinn anheim gefallen war. Sie konnte über die vagen Beschuldigungen der alten Sarah hinwegsehen, und selbst wenn sie bei der Sache mit Raymies Messer einen Fehler begangen haben sollte, so konnte sie doch die Tatsache nicht verleugnen, dass sie in eine Falle gelockt und gefangen genommen worden war, und zwar von Fremden, die etwas über sie wussten und
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sogar genau beschreiben konnten, auf welche Weise sie ihnen gefolgt war. In der vergangenen Nacht war sie ausnahmsweise nicht von Gils Geist heimgesucht worden und dafür war sie dankbar. Jetzt wurde sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen, erkannte, dass sie einmal mehr nach oben gestiegen waren und sich nun hoch über den Seen befanden, und bemerkte, dass er – Evan – etwas zu ihr gesagt hatte. Sie schaute zu ihm hinüber. »Wie bitte?« »Ich sagte: ›Ich geb dir einen Penny.‹« »Ich verstehe nicht. Was ist ein Penny?« Evan seufzte. »Und ich dachte, du hättest die Intelligenz eines zweiten Einstein. Ein Penny war eine Art Geld, früher einmal.« Und als er sah, dass sie noch immer nicht begriff, fügte er hinzu: ›»Ein Penny für deine Gedanken‹ bedeutete so viel wie ›Was denkst du?‹. Hast du’s jetzt kapiert?« Sie nickte. »Ach, aye. Tut mir Leid, aber ich habe gerade an eigentlich gar nichts gedacht.« »Ja, klar, und da vorne fliegt ein Schwein durch die Luft. Ich sag dir was: Warum stellst du mir nicht all die Fragen, die dir in der Kehle stecken und die du kaum für dich behalten kannst? Dann haben wir das wenigstens hinter uns, nicht wahr?« Sein Ton war scherzend, doch seine Augen veränderten sich nicht. Sie blieben klein, hart und bohrend. Und wenn ich es täte?, fragte sie sich. Dann dürfte ich nichts fragen, was ihm zeigt, dass ich nichts über
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diese Welt weiß. Und auch nichts über meine Absichten. »Aye, also gut. Dann sagen Sie mir doch bitte: Benutzen Sie manchmal runde Häuser, in denen Sie nachts schlafen können?« Er warf ihr einen Blick zu. »Was noch?« »Wer spannt die Seile über die Seen?« »Was noch?« »Warum halten Sie mich gefangen? Ich bedeute Ihnen doch nichts. Was wollen Sie eigentlich?« »Was noch?« Diesmal klang es wie eine Drohung. »Nichts mehr.« »Aha.« Sie gingen weiter, und Mira zweifelte schon daran, dass Evan jemals die Absicht gehabt hatte, ihr irgendetwas zu antworten, doch dann fing er an zu sprechen: »Okay, die Antwort auf die erste Frage ist Ja. Ja, wir haben ›runde Häuser‹. Wenn das Wetter wirklich schlecht ist und wir nicht weitergehen können.« Er kicherte. »Aber unsere Häuser, wie du es nennst, sind verzaubert und können fliegen, kapiert?« Sie kapierte zwar nicht, fragte aber: »Wie sehen sie aus? Sind sie aus Metall … oder aus Plastik?« »Aus Stoff. Seide. Weiß und grau gesprenkelt. Woher weißt du davon? Ist nur gerecht, wenn du mir auch eine Frage gestattest.« »Ich habe die Kreisflächen im Schnee gesehen, wo Sie gelagert haben.« »Kluges Mädchen.«
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»Und die Seile?« Sie wollte vermeiden, dass er das Interesse verlor und ihr nichts mehr verriet. »Die Seile?«, erwiderte er. »Warum denkst du nicht nach und kommst selbst drauf? Wie also haben wir die Seile da angebracht, he?« Spiel das Spiel. »Auf Ihrem Weg nach Norden. Sie haben ein Ende angebunden und dann ist jemand über den See gegangen oder vielleicht darum herum.« »Beides falsch. Du denkst nicht nach.« Er schien zornig zu sein. »Stell dir doch mal vor, wie viel von dem Scheißseil man bräuchte, um damit um einen See herumzulaufen. Scheiße, zig Meilen davon! Und außerdem haben wir diese Strecke seit ewigen Zeiten nicht mehr genommen.« Der Weg hatte über die niedriger gelegenen Hänge geführt, und als Mira nun zurückschaute, konnte sie das Muster der Bäume noch deutlicher erkennen, die sich in langen Linien vom Ufer des Sees in die Höhe zogen. Warum standen die Bäume weiter im Norden nicht auch in dieser Ordnung?, fragte sie sich. Doch dies waren immerhin auch andere Bäume, obwohl es sich ebenfalls um Kiefern handelte. Die Wolkenbäume auf ihrem Berg hatten Äste, die bis hinab auf den Boden wuchsen, und eine rötlichere Rinde, hellere Nadeln und eine größere Anzahl davon. Diese Kiefern hier waren höher, dunkler, dicker, wuchsen kerzengerade nach oben und hatten bis zu ihrer halben Höhe keine Zweige.
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Sie wurden wegen ihres Holzes gepflanzt, erkannte sie. Und die »Wäldler« kümmern sich darum. Irgendwo über ihr sang ein Vogel. Nur ein gedämpftes Lied, das aus zwei Tönen bestand, die immer wieder halbherzig wiederholt wurden. Es war der erste Vogel, den sie seit Tagen vernahm. Evan hielt mitten im Schritt an und zischte: »Hinlegen! Sei still!« Und er deutete auf den Fuß eines Baumstamms. Mira flüsterte zurück: »Aber Sie haben meine dritte Frage noch nicht beantwortet.« Umgehend lag seine Hand wie ein Schraubstock um ihren Nacken und zwang sie zu Boden, stieß ihr Gesicht grob in den Schnee. Er zog seinen Rucksack ab, legte sich neben sie und sie spürte die Klinge eines Messers an der weichen Haut ihrer Kehle. Wilde Gedanken an Vergewaltigung rasten durch ihren Kopf, doch Evan machte keine weiteren Anstalten, sich ihr zu nähern, lag nur da und beobachtete den Weg vor ihnen zwischen den Bäumen. In diesem Moment begriff sie. Stimmen näherten sich und dann kamen drei Männer in dicken knallroten Jacken in ihr Blickfeld. Einer von ihnen hielt ein großes, gefaltetes Stück Papier in der Hand, auf dem viele kräftig gezeichnete Linien und unterschiedliche Farben zu sehen waren. Als sie sprachen, erkannte Mira, dass ihre Stimmen, ihre Worte ähnlich klangen wie die ihrer eigenen Leute, und nicht wie die von Evans Männern.
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Einer sagte: »Das ganze Gebiet, Mann. Von 23J bis 18J. Es wäre kein Problem, die Sache bis zum Michaelistag zu erledigen. Nicht bei so einer leichten Steigung. Und denk an den Bonus!« »Aye«, erwiderte der zweite Mann mit einem schiefen Lächeln. »Wenn wir das machen und nichts anderes. Aye, dann könnte es gehen. Meiner Meg würde das sicher nicht gefallen.« Sie waren jetzt unweit der Stelle, wo Evan und Mira lagen, beugten sich über ihr Stück Papier, während sie weitergingen, und das Mädchen spürte, wie sich die Klinge in ihre Haut bohrte. Dann waren sie vorbei und verschwanden auf dem Abhang, der hinunter zum See führte. Nach ein paar Minuten – es hätte auch eine Stunde sein können, Mira hatte jegliches Zeitgefühl verloren – stand Evan leise auf, legte energisch seinen Finger an die Lippen und ging ein Stück hinter den Fremden her, den Feldstecher in der Hand. Als er zurückkam, schürzte er seine Lippen und stieß einen Pfiff aus – denselben Pfiff, den Mira vorhin für Vogelgesang gehalten hatte, allerdings diesmal ein Lied mit drei Tönen. Schon bald glitten weiß gekleidete Gestalten zwischen den Bäumen hindurch. Alle Männer der Gruppe versammelten sich, bis auf Randy, der immer ein Stück hinter ihnen ging. Steif rappelte sich Mira auf die Füße. Die Finger, mit denen sie ihren Hals berührte, waren blutig, als sie sie wieder wegzog. Sie fühlte sich schwach und
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elend. Ein Mann fing an zu reden, hektisch und nervös: »Ich war’s nicht, Evan. Es war Green. Sie kamen von links, aus den Bäumen. Ich hätte sie unmöglich entdecken können. Ich habe sie erst gesehen, als sie hinter mir waren.« Er verstummte mit besorgter Miene. Evan schwieg, ließ die Männer warten, strich mit den Augen über ihre Gesichter. Schließlich sagte er mit seidenweicher Stimme: »Eins nach dem anderen.« Und ohne Vorwarnung zuckte seine Hand vor und schlug Mira mitten ins Gesicht, sodass sie zurückgeschleudert wurde und dort zu Boden fiel, wo sie eben noch mit Evan gekauert hatte. »Wenn ich sage: ›Still!‹, dann bist du still. Wenn ich sage, ›Spring!‹, dann springst du. Sofort. Verstanden?« Sein Gesicht war verkniffen und todernst, jeglicher Scherz war daraus verschwunden. Am Boden liegend, nickte Mira, schwindelig und mit schmerzendem Kopf. Erleichtert sah sie, wie er seine Aufmerksamkeit nun dem Mann zuwandte, der nervös auf ihn eingesprochen hatte. »Und was dich angeht, Hopkins, du plappernder Wurm – du bist der Beste. Das ist der Grund, warum man dir diesen prima Job gegeben hat. Du hast Scheiße gebaut und das kostet dich den Lohn für fünfzehn Tage. Außerdem kriegst du noch einen entsprechenden Vermerk in deine Akte. Das gilt auch für dich, Green.« Dankbar, dass sie miteinander beschäftigt waren,
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doch immer noch benommen von dem Hieb, merkte Mira jetzt, dass sie auf Evans Rucksack gelandet war, der noch an der Stelle lag, wo Evan ihn vorhin abgelegt hatte. Es war ein riesiges Gepäckstück mit einem Metallrahmen, weiß wie die Kleidung der Männer und mit einer Unmenge an Reißverschlüssen versehen. Die harten Gegenstände im Innern drückten ihr schmerzhaft in den Bauch. Mira schmeckte Blut und sah verschwommen, wie scharlachrote Tropfen auf das weiße Material fielen. Sie rückte etwas zur Seite und blieb mit ihrer Hand an einem Reißverschluss hängen. Einem plötzlichen Impuls folgend und im Vertrauen darauf, dass die Stimmen, die sie hörte, signalisierten, dass Evan immer noch mit seinen Männern beschäftigt war, ließ sie zu, dass ihre Fingerspitzen den Reißverschluss umklammerten und den Nippel daran nach unten zogen, wobei sie das, was sie tat, so gut es ging mit ihrem Körper verdeckte. Evan sprach wieder, verkündete nach einer kurzen Diskussion ein Urteil: »Die Strafe bleibt bestehen, Herrschaften. Die sind zwar nicht hinter uns her, aber ihr habt uns trotzdem mit eurer Schlamperei alle in Gefahr gebracht. Aber wenn ihr zwischen euch beiden ausmachen wollt, wen die Schuld trifft – privat, versteht sich –, dann könnt ihr das heute Abend tun, wenn wir unser Lager aufschlagen.« Johlen und Pfiffe und Gelächter folgten. Miras Finger schlängelten sich in das Loch und zogen an
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dem ersten Gegenstand, den sie berührten. Es war nur ein Saum, ein Fetzen Stoff, der ans Tageslicht kam. Grau. Hellgrau. »Komm schon, Prinzessin. Genug geschmollt. Und mach meinen Rucksack nicht blutig. Hoch mit dir! Wir müssen weiter.« Sie hatte nicht gehört, dass er näher gekommen war. Mit einem Gebet auf den Lippen, er möge nichts bemerkt haben, stopfte sie im Aufstehen das Stück Stoff wieder in den Rucksack und machte großes Aufhebens davon, ihre eigenen Kleider zurechtzurücken und abzuklopfen. Spiel das Spiel. »Ich bin bereit«, sagte sie und hielt ihre Augen auf den Schnee zwischen ihren Füßen gerichtet, bot das Bild einer hinreichend gezüchtigten Gefangenen. »Nimm’s mir nicht übel«, sagte Evan fröhlich. Und sie brachen auf.
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9 Evan forderte Mira nicht auf, noch mehr Fragen zu stellen, und sie machte auch keine Anstalten dazu. Der Fetzen hellgrauen Stoffs war genug – genug, um sie daran zu erinnern, warum sie überhaupt weggelaufen war, warum sie Gil in seinen messerscharfen, eisigen Tod geschickt hatte, genug, um all ihre Energie darauf zu konzentrieren, in den Augen dieser Männer unwissend, verloren und hilflos zu wirken. Natürlich barg gerade die Hilflosigkeit ihre eigenen Gefahren. Als Hopkins und Green, die beiden Männer, denen Evan die Schuld daran gab, dass die Gruppe fast mit den Wäldlern zusammengestoßen wäre, sich am Abend gegenüberstanden, um »es auszutragen«, sagte Green: »Wie wär’s, wenn wir um sie kämpfen, Evan? Vergessen wir die andere Sache.« Seine Augen in dem breiten gelblichen Gesicht schimmerten düster und unfreundlich. »Sie? Green, die verspeist dich zum Frühstück, alter Junge. So hart wie Stahl ist die, egal wie sie aussieht. Nein, niemand rührt sie an, bis ich es sage.« Wieder entlockte Evan seinen Männern jenes höhnische Gelächter, doch den säuerlichen, hasserfüllten und hungrigen Blick, den Green Mira zuwarf, schien er nicht zu bemerken. Die Männer johlten ihm zu und 125
sie erzitterte. Evan hatte ihr gerade einen Todfeind beschert. Der Anführer ließ seine Hand mit einer Hackbewegung nach unten sausen und verkündete so den Beginn des Kampfes. (»Zwanzig Minuten, Herrschaften, und ich werde den Gewinner bestimmen. Und macht nicht zu viel Lärm, wenn ich bitten darf.«) Green senkte seinen Kopf und stürzte sich rücksichtslos auf Hopkins. Dabei knurrte er vor Zorn. Hopkins, der kleiner war, wich geschickt zur Seite aus und schickte den größeren Mann mit einem Tritt in die Kniekehlen bäuchlings zu Boden. Doch während er noch selbstgefällig in die Runde blickte, kam Green auf die Füße, und gleichzeitig stieß er seine fleischige Faust vor, die den anderen an der Wange streifte und eine tiefe Fleischwunde unter dem Auge riss. Jetzt kämpften sie erbittert: Sie duckten sich, täuschten an, schlugen, umkreisten einander, wobei sie nie den Blick voneinander ließen, und zeigten kein Gefühl außer den deutlichen Anzeichen der körperlichen Anstrengung. Ungeachtet ihrer Angst, schaute Mira fasziniert zu. Sie hatte noch nie zuvor Männer auf diese Art kämpfen sehen. Zu Hause hatte sie den einen oder anderen halbherzigen Fausthieb nach einem feuchtfröhlichen Gelage erlebt, aber niemals dieses brutale, enge Umkreisen, dieses Suchen nach Schwächen, um den anderen so schwer wie möglich zu verletzen, das Bemühen, die Bewegungen des Gegners im Voraus zu
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ahnen und ihn im Unklaren zu lassen, wo man selbst als Nächstes zuschlagen würde. Der Gleichgewichtssinn, das erkannte sie, war lebenswichtig; das und körperliche Fitness, Schnelligkeit … Und doch war all dies nicht zu vergleichen mit der Fähigkeit und dem Willen, jemandem wehzutun, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr wurde übel, und sie dachte: So etwas könnte ich nie tun. Niemand, den ich kenne, ist so. Nicht einmal Gil. Besonders Gil nicht. Doch jene, die Annie Tallis niedergeschossen haben, waren so gewesen – kalte, mordende Bestien ohne Gewissen und ohne Respekt vor dem Leben. Und doch: Hatte sie selbst nicht auch einen Mann getötet? Die beiden blutüberströmten Kämpfer grunzten und knurrten und schlugen sich und rollten im Schnee, während ihre Kameraden zuschauten, grinsend und rauchend. Und dann gelang Hopkins plötzlich ein Hieb unterhalb von Greens Brustkorb und alles war vorbei. Der größere der beiden Männer blieb am Boden, keuchte und hielt sich den Bauch. »Wir haben einen Gewinner«, verkündete Evan sachlich. »Green, es sieht ganz so aus, als sei es deine Schuld gewesen, als hättest du besser aufpassen müssen. Wie auch immer, die Strafe trifft euch beide, so wie ich es gesagt habe.« Um die Demütigung auf die Spitze zu treiben,
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wurde Green die erste Lagerwache zugeteilt. Zwei oder drei weitere Männer postierten sich in einiger Entfernung des Lagers. Mira fühlte Greens Augen auf sich, während sie bewegungslos in ihrem Schlafsack neben dem tief atmenden Evan lag. Als Green sich eine Zigarette anzündete, schloss sie hastig die Augen, aus Angst, er könnte im Schein der Flamme erkennen, dass sie noch wach war, und würde zu ihr kommen. Vielleicht, flüsterte ihr die kleine, leidenschaftslose Stimme in ihrem Hinterkopf zu. Vielleicht war aber Green … derjenige, der helfen konnte … wenn die Zeit zur Flucht gekommen war. Sie erschauerte bei dem Gedanken, was das im Einzelnen bedeuten würde, und zwang sich stattdessen, über den grauen Stoff nachzudenken – obwohl das noch schlimmer war. Wenn es sich bei diesen Männern tatsächlich um Raymies »Plünderer« handelt und auch um jene, die die Frau gejagt haben, wo sind dann die beiden, die ich damals aus den Bäumen habe kommen sehen? Wurden sie vorausgeschickt, um die Seile zu befestigen, mit denen man die Seen überquert? Oder um ihr Opfer irgendwohin zu bringen? Oder … damit ich ihre Gesichter nicht sehe? Die letzte Möglichkeit würde bedeuten, dass die Männer tatsächlich wussten, wer sie war und auch, warum sie die Siedlung verlassen hatte. Das erschien ihr unmöglich. Wie konnten sie so viel wissen? Hatte jemand sie die ganze Zeit über beobachtet? Sie hätte
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schwören können, dass dem nicht so war, besonders nicht während des Schneesturms. Doch dann fiel Mira wieder jenes kurze Aufblitzen auf dem Berggipfel ein – und dann noch etwas anderes, etwas, was sie seit Tagen innerlich in Unruhe versetzt hatte, ohne dass sie hätte sagen können, warum: Die Spuren, denen sie von dem großen See aus gefolgt war – sie waren alle eng beieinander verlaufen und hatten den Schnee derart aufgewühlt, dass sie unmöglich übersehen werden konnten. Doch seit man sie gefangen genommen hatte, war die Gruppe weit auseinander gezogen vorwärts marschiert, wobei sie so wenig Spuren wie möglich hinterließen, Spuren, die bereits ein leichter Schneefall verdecken würde. Diese Art zu laufen schien ihnen in Fleisch und Blut übergegangen zu sein und war offensichtlich eine bewährte Taktik. Warum also die deutliche Fährte? Es schien keinen Zweifel mehr zu geben: Sie hatten beabsichtigt, dass Mira ihnen folgte. Sie hatten ihr ganz bewusst eine Falle gestellt. Ein paar Meter weit entfernt, spiegelten Greens Augen die glimmende Zigarettenspitze wider, als er den Rauch in die Lungen sog. Offenbar gelang es ihr tatsächlich, ihren neuen Verdacht und ihre Ängste zu verbergen, denn in den nächsten drei Tagen blieb alles so wie zuvor. Evan benahm sich fast freundlich, während sie nebenei-
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nander gingen. Fast. Wieder und wieder gemahnte sie sich, wie schnell er sich verändern und wie raffiniert er Leute manipulieren konnte. Von all den Männern fürchtete sie ihn am meisten. »Hat die Katze deine Zunge abgebissen?«, scherzte er von Zeit zu Zeit, während sie durch den erfrorenen Wald und über die Pässe gingen und die endlosen, winzigen weißen Flocken um sie herumwirbelten. Doch es war besser, die Zunge der Katze zu überlassen, als sie nicht zügeln zu können. Wenigstens gab es mehr Fleisch. Viel mehr, denn einer der Männer, Roach, erlegte mit seiner Armbrust einen Eber, ein schlankes, sehniges junges Tier, dessen Fleisch sie in Streifen schnitten und einsalzten, damit es später über dem magischen silbernen Zylinder gekocht werden konnte. Die Armbrüste, erkannte Mira, waren leichte Metallrahmen, die so klein zusammengelegt werden konnten, dass sie in eine Seitentasche des Rucksacks passten. Doch wenn sie aufgeklappt waren – was in Sekundenschnelle geschah – und das kurze Stück Seil, das den Bolzen abfeuerte, so straff und fest wie Stahl wurde, war die Armbrust eine tödliche Waffe. Roachs Bolzen war mit voller Wucht in den Hals des Ebers eingedrungen, sodass seine blutige Spitze am anderen Ende wieder herausragte. Ohne mit der Wimper zu zucken, schnitt der Mann ihn mit seinem Messer heraus, wusch Blut und Fleischfetzen ab und steckte ihn wieder zurück, bereit für den nächsten tödlichen Schuss.
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»Ich kann doch kochen«, sagte Mira zu Evan und deutete auf den magischen Silberzylinder. »Wenn Sie mich brauchen können. Zu Hause habe ich auch für die Männer das Essen zubereitet.« Doch er schaute sie nur mit seinem flüchtigen, neckenden und lieblosen Lächeln an und sagte: »Gatt macht das schon.« »Vertrauen Sie mir nicht? Glauben Sie, ich würde Ihre Männer vergiften? Dieser Gatt lässt das Fleisch verbrennen – ich kann es zart und saftig machen.« »Gatt ist unser Koch. Sei dankbar, dass du deine Hände frei hast, Prinzessin.« Bei alldem spürte sie, dass etwas Entscheidendes näher rückte. Die Männer wurden unruhig und ihr Schritt beschleunigte sich. Die Berge waren nur noch halb so hoch wie bei ihr zu Hause, und von Zeit zu Zeit stießen sie auf Stellen, wo der Wald in einer breiten Schneise abgerodet worden war und zwischen den rauen, schneebedeckten Baumstümpfen junge Bäume in einem Mantel aus Plastik gepflanzt worden waren – in demselben diagonalen Muster, das sie bemerkt hatte, kurz bevor sie den Wäldlern begegnet waren. Menschen sah sie nicht mehr, obwohl sie am zweiten Tag etwas hörte, was ein Motor sein mochte – meilenweit entfernt. In der Nacht beobachtete sie, wie Evan manchmal das Lager für zehn Minuten oder noch länger verließ. Am Anfang dachte sie, dass er die Männer der Wache kontrollierte, doch nach seiner Rückkehr ging er oft
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zu Randy, der sein Stellvertreter zu sein schien, und unterhielt sich mit ihm – zu leise, als dass Mira die Worte hätte verstehen können. Randy war derjenige, der sie stets im Auge behielt, wenn Evan einmal nicht in der Nähe war. In einem der seltenen Momente, in denen sie sich dennoch unbeobachtet fühlte, versuchte sie, den großen Bären, Gatt, auszuhorchen: »Wohin geht er denn?« Doch der Riese schaute sie nur an, als ob er ihre Frage nicht verstanden hätte, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Am nächsten Morgen wurden ihre Hände wieder gefesselt, ohne dass eine Erklärung abgegeben wurde oder sie nach einer verlangt hätte. Am Ende des Tagesmarschs schmerzten ihre Arme von der erzwungenen, unnatürlichen Haltung, und sie erkannte verzweifelt, dass Evan offenbar nicht die Absicht hatte, ihr die Fesseln für die Nacht abzunehmen. »Ich habe Ihnen keinen Grund gegeben, mich zu fesseln«, sagte sie bitter. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, erwiderte Evan. »Aber fesseln müssen wir dich trotzdem, Prinzessin. Wir müssen dich doch sicher abliefern, nicht wahr? Ansonsten werden gewisse Leute ziemlich sauer auf den guten alten Evan werden.« »Wer? Wer hat Ihnen den Befehl gegeben, mich zu fangen?« Sie konnte sich nicht helfen; die Frage brach einfach aus ihr heraus. Evan beugte sich vor und tätschelte leicht ihre Wan-
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ge, während sie gereizt vor ihm zurückzuckte. »Dazu ist in Lomond noch Zeit genug, was? Für all deine Fragen. Bis dahin wirst du brav sein, nicht wahr?« Lomond. Eine Stadt? Ihr Ziel? Irgendwo im Süden? Eine Sache war jedenfalls so klar wie das Wasser des Flusses bei ihr zu Hause: Selbst wenn ihre weiß gekleideten Wächter ihr nichts antun würden, konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass, wer auch an jenem Ort namens Lomond auf sie wartete, genauso gnädig mit ihr umspringen würde. Die beiden anderen, dachte sie. Es sind bestimmt die beiden, die die Frau niedergeschossen haben. Die beiden, die laut Gil zur Polizei gehörten. Doch immer noch konnte sie sich den Grund dafür nicht vorstellen – wenn sie erschossen werden sollte, warum hatte man das nicht längst getan? Evans Männer waren sich für diese Aufgabe sicher nicht zu schade. Sie musste fliehen, dachte sie, bevor sie Lomond erreichten, wenn es irgendwie möglich war. Egal wie. Sie hatte von diesen Männern erfahren, was sie erfahren konnte – was wenig genug war. Doch es schien, als hätte sie zu lange gezögert und ihre Chance verpasst. Selbst wenn ihre Hände frei waren, damit sie ihr Bedürfnis erledigen konnte, war immer jemand in der Nähe, der ein wachsames Auge auf den Baum hatte, hinter dem sie sich verbarg. Und dann, am vierten Abend seit dem Kampf, sah sie Perky mit Roach über etwas lachen und mit dem Kopf in
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ihre Richtung nicken. »Morgen kriegen wir wenigstens was zu trinken«, murmelte Roach zustimmend. Als ob ein Spiel gespielt wurde, bei dem die Züge im Voraus festgelegt waren, nahm Mira ohne Überraschung zur Kenntnis, dass Evan, als er die erste Wache festlegte, Green ein paar hundert Meter weiter nach oben auf den Hügel schickte, auf einen Grat, den sie am Morgen überqueren wollten. »Der Wind frischt auf«, murrte Green. »Ich werde verdammt noch mal durchgeblasen werden.« Und wie zur Bestätigung seiner Worte fegte eine schelmische Brise durch das Lager und wehte den Pulverschnee hoch. »Nichts könnte einen Klumpen wie dich durchdringen«, erwiderte Evan gleichgültig. »Und jetzt hoch mit dir. Und Augen und Ohren offen halten.« Also muss es heute Nacht passieren, dachte Mira grimmig, sie würde den Schritt tun. Es würde Green sein. Es ließ sich nicht ändern; irgendwie musste sie die schneidenden Handfesseln loswerden, wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte. Aus dem Kokon ihres Schlafsacks heraus beobachtete sie die Männer, die im Lager herumliefen, miteinander redeten, rauchten und sich schließlich zum Schlafen niederlegten. Während der ganzen Zeit war der Wind, über den sich Green beklagt hatte, stärker geworden, hatte an Schärfe gewonnen. Mira, die hinauf zu den Baumkronen sah, erkannte, dass die Wolken über ihr schnell dahinzogen, hier und da aufbrachen
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und Stücke eines tiefen, öligen Schwarz freilegten, das mit glitzernden Sternen gespickt war. Vielleicht war besseres Wetter im Anzug, obwohl sie das im Moment nicht gebrauchen konnte. Ein erneuter Schneesturm wäre ihr lieber gewesen. Steif lag sie in der Dunkelheit und dachte an Cobb und die anderen und an ihr eigenes niedriges Bett, das unter dem Dach am Fenster stand, bei ihr zu Hause. Wie konnte es so weit kommen?, fragte sie sich. Wie war es möglich, dass mein Leben einfach weggewischt wurde innerhalb von … Wie lange war es her? Ein Monat? Etwas mehr? Es war schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie ihre Tage vorher ausgesehen hatten. Nachts waren immer vier Leute aus Evans Gruppe wach und acht schliefen, Mira nicht eingerechnet. Sie teilten sich auf. Drei, die sich in einigem Abstand um das Lager gruppierten, und der eine, der in der Nähe des Feuers saß. Zweimal während der Nacht wurden sie abgelöst, wobei Evan immer die letzte Wache am Feuer übernahm. Somit umfasste jede Wache zweieinhalb Stunden, rechnete Mira aus. Zweieinhalb Stunden für Hopkins – der im Lager Wache hielt – und irgendwann während dieser Zeit würde er pinkeln müssen oder sich die Beine vertreten wollen. Als es schließlich passierte, hätte Mira den Moment beinahe verpasst. Sie war in der Wärme ihres Schlafsacks schläfrig geworden, trotz ihrer gebundenen Hände, die steif auf ihrem Rücken lagen, und
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trotz des schneidenden Windes auf dem Teil ihres Gesichts, der nicht von der Kapuze verdeckt wurde. Vielleicht hatte sie sogar etwas geschlafen, obwohl sie das unbedingt hatte vermeiden wollen. Doch irgendetwas in ihrem Innern musste wohl Wache gehalten haben, denn plötzlich schreckte sie auf und merkte zu ihrem Entsetzen, dass Hopkins nicht mehr zu sehen war. Wie lang er schon fort war, wusste sie nicht, auch nicht, wie spät es sein mochte, doch bald schon würde die Wache abgelöst werden und Green würde vom Grat herunterkommen und ins Lager zurückkehren. Es musste sofort geschehen. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, dass Hopkins ein zweites Mal verschwand. Leise, zwar gefesselt, aber doch mit entschlossenen Bewegungen, schlängelte sie sich aus ihrem Schlafsack, beugte sich vor und packte ihre Jacke mit den Zähnen, presste sie in die Höhlung, in der sie selbst eben noch gelegen hatte, drückte sie mit ihrem Gesicht nach unten und hielt den Schlafsack dabei mit ihrem Knie fest. Es war nicht die perfekte Andeutung eines schlafenden Menschen, doch es war alles, was sie im Augenblick zustande brachte. Noch ein rascher Blick dorthin, wo Evan, ihr zugewandt, lag – zwei Meter weit weg mit geschlossenen Augen –, und dann schob sie die Füße in ihre Schuhe, die Schnürsenkel offen, und kroch weg vom Lager, zwischen die hohen, dunklen Baumstämme. Eigentlich gab es keinen Grund, besonders leise zu
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sein, denn der Wind heulte laut durch die Baumkronen. Es war nur zu hoffen, dass Hopkins nicht ausgerechnet diesen Weg genommen hatte, um seine Blase zu erleichtern – sie sah keine Spur von ihm –, und sie musste all ihre Konzentration zusammennehmen, um ihre Füße in die Fußstapfen zu setzen, die Green auf seinem Weg zum Grat hinterlassen hatte. Sie betete, dass die Dunkelheit ihr half, Evan und die anderen an der Nase herumzuführen. Sie zwang sich, an diese Kleinigkeiten zu denken und nicht an jene andere Sache, die vor ihr lag. Dafür hatte sie nicht einmal einen Plan, nur eine vage Vorstellung, dass sie Green vielleicht dazu überreden konnte, ihr die Handfesseln durchzuschneiden … Die Versuchung, es einfach so zu versuchen, den Mann zu umlaufen, zu rennen, so wie sie war – mit offenen Schuhen und mit Armen, die hinter ihrem Körper zusammengebunden waren, ohne Jacke oder Vorräte, ohne Schlafsack –, durchflutete ihre Kehle und ließ beinahe eine blendende, taumelnde Hoffnung über ihr zusammenschlagen. Doch zornig schob sie das Gefühl von sich. Ihr blieb nur diese eine Chance. Die Freiheit war nichts wert, wenn sie sie nicht behalten konnte. Mit gefesselten Händen konnte sie im Rennen nicht einmal das Gleichgewicht halten und würde höchstwahrscheinlich mausetot am Fuß eines eisglatten Abhangs landen oder in einer Gletscherspalte. Bitte, mach es mir leicht, ihn zu überreden … Bitte …
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Sie hatte die Bäume nun hinter sich gelassen und der böige Wind schob sie seitwärts. Der rasende Flug der Wolken hatte zur Folge, dass das Licht ständig wechselte. In einem Augenblick war es pechschwarz, im nächsten glomm ein Mondstrahl auf dem weißen Abhang. In diesen helleren Momenten wirkte der Grat vor ihr wie eine scharfe Linie. Wo ist er?, dachte Mira, während sie auf dem letzten, steilen Stück Anstieg ihr Gleichgewicht zu halten versuchte. Schläft er? Oh, bitte, lass ihn schlafen! Hopkins war mittlerweile sicher wieder im Lager; jeden Moment erwartete sie, das Geräusch von schweren, rennenden Stiefeln hinter sich zu hören und Evans Messer an ihrer Kehle zu spüren. Und dann, plötzlich, war Green da. Er trat aus dem Nirgendwo und tauchte geräuschlos vor ihr auf, sodass sie beinahe mit ihm zusammenstieß. Er packte ihren Oberarm. Die toten, seelenlosen Augen betrachteten sie schweigend. Sie hörte ein schluchzendes Würgen, und ihr wurde klar – verdammt sei ihre Schwäche! –, dass es aus ihrer eigenen Kehle geglitten war. Ganz schlecht. Wenn ihr Vorhaben gelingen sollte, durfte Green auf keinen Fall ihre wahre Angst sehen. »Ein kleiner Spaziergang?« »Aye«, zwang sie sich zu antworten, »nur ein bisschen die Beine vertreten, hoch auf den Grat.« Seine Augen strichen über sie. »Ein Spaziergang«, wiederholte er.
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»Ja, nur ein Spaziergang.« »Und hat jemand gesehen, wie du weggegangen bist?« »Kann ich nicht sagen.« Er blickte an ihr vorbei zum Waldrand. Dann hakte er seinen Feldstecher von seinem Gürtel los, um genauer hinzuschauen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie er in der Nacht damit etwas erkennen konnte. »Soso. Evan wird nachlässig.« »Das ist doch in Ordnung, oder? Ich gehe auch gleich wieder zurück. Er muss doch nichts davon wissen, nicht wahr? Er … macht mir Angst.« »Das sollte er auch.« »Er muss es nicht wissen, oder?«, wiederholte sie, um sicherzugehen, dass dieser Gedanke fest im Kopf des Ungeheuers verankert war. Eine volle Minute lang standen sie so da. Seine Finger krallten sich in ihren Arm, während er ihr Gesicht fixierte, dann wieder zum Wald hinschaute und dann wieder zu ihrem Gesicht zurückkehrte. Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt, dachte sie panikerfüllt. Vielleicht würde er sie zu Evan zurückbringen. Wenn er das tat, gäbe es keine zweite Chance, so viel war sicher. Am schlimmsten aber war die Vorstellung, die sich wie ein schwarzer Abgrund in ihren Gedanken auftat: Er konnte sich einfach auf sie stürzen, gefesselt wie sie war.
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Und doch: Evan hatte gesagt, dass niemand sie anrühren dürfte. Wenn er sie mit Gewalt nahm, musste er noch einen Schritt weitergehen, um sie zum Schweigen zu bringen. Und selbst dann riskierte er, dass die Tat entdeckt wurde. Auch er fürchtete Evan … Wenn er das nur nicht vergessen hatte! Wenn nur nicht … Wer konnte schon sagen, was ein Mann wie er dachte oder fühlte? Auch Green schien über die Möglichkeiten nachzudenken, die sich ihm angesichts der Anwesenheit der Gefangenen – allein – eröffneten. Seine langsamen, echsengleichen Augen krochen immer wieder über sie, und sie glaubte zu spüren, wie seine Hand auf ihrem Arm zitterte. Aber wahrscheinlich war sie das nur selbst. Nun, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor, es dauerte wahrscheinlich keine halbe Stunde mehr, bis die Wachablösung erfolgte. Wenn nicht bald etwas passierte, wurde ihnen die Entscheidung abgenommen. »Green«, sagte sie lächelnd und mit lauter Stimme, um den Wind zu übertönen, »wirst du mich verraten?« Langsam hob er seine zweite Hand und legte sie auf ihre Wange. Die Hand war kalt und feucht, aber Mira vermied es zurückzuzucken. Instinktiv wusste sie, dass Schrecken die letzte Reaktion war, die sie zeigen sollte. »Das kommt darauf an«, erwiderte er bedächtig. »Einen Kuss sollte es dir schon wert sein. Mindestens.
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Bevor ich dich wieder nach unten bringe. Wenn niemand davon erfahren soll.« »Aye«, presste sie hervor. »Also ein Kuss. Und dann schleiche ich zurück, bevor mich jemand vermisst.« Sein Mund auf ihrem war schlaff, sauer, nass. Sie betete, dass sie sich nicht auf dieses Ungeheuer übergeben würde. Dann trat er zurück und schaute sie noch einmal an. Sie hatte vorausgesehen, dass er das tun würde. Er war nur ein kranker, berechenbarer Bengel, viel mehr noch ein Kind als sie. »Ein Kuss und ein bisschen schmusen«, verlangte er. Sein Gesicht glänzte feucht, selbst in diesem kalten Wind. Sie sah es, als die Wolken die schmale Mondsichel freilegten. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich keinen Fehler machen darf, dachte sie. Fast wünschte sie sich, Evan würde tatsächlich zwischen den Bäumen hervortreten. Vielleicht konnte er sie da unten im Lager hören, wenn sie jetzt schrie. Aye, sie würde es versuchen, wenn alles andere fehlschlug. Ihr Puls hämmerte, als sie nun beiläufig sagte: »Dann mach meine Hände los, nur für eine Minute. Aber nur eine Umarmung. Ich muss wieder unten sein, bevor man uns entdeckt.« Seine trüben Augen hielten ihre fest, und sie erwiderte seinen Blick, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. »Zum Schmusen brauchst du deine Hände nicht«, sagte er gierig.
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»Doch, wenn ich es richtig machen soll. Es sei denn, du hast Angst vor mir, Green, wie Evan es gesagt hat.« Einen Augenblick lang befürchtete Mira, dass ihre Worte unklug gewesen waren, denn ein ärgerlicher Blitz zuckte über sein Gesicht. Wut würde ihn rücksichtslos machen, und das war es genau, was sie am meisten fürchtete. Doch dann sagte er grob: »Dreh dich um.« Sie gehorchte und fühlte, wie die Fesseln gelöst wurden, sodass das Blut schreiend in ihre gefühllosen Hände schoss. Im nächsten Moment waren seine großen fleischigen Pfoten überall auf ihrem Körper, grabschten herum, würgten sie. »Sieh zu, dass es Spaß macht«, verlangte er grunzend. »Du Schwein!«, spuckte sie aus und zog mit einer Drehung ihr Knie hart nach oben und stieß es ihm zwischen die Beine. Er brach zusammen und wand sich auf dem Schnee. Da sie nun wieder mit ihren Händen das Gleichgewicht halten konnte, war sie in Sekundenschnelle oben auf dem Berggrat und geriet dort in einen Wind, der mit spitzen Nadeln durch ihre Kleidung stach und ihr langes Haar in ihre Augen peitschte. Wie lange würde es dauern, bis sich Green wieder erholt hatte? Nur so viel Zeit blieb ihr nämlich, um seinen Rucksack zu finden. Alle Männer der Wache nahmen ihr Gepäck mit, und sie hatte gesehen, wie Green den Rucksack geschultert hatte, bevor er das Lager ver-
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ließ. Er musste hier irgendwo liegen. Wenn sie ihn nicht fand, war sie tot – oder noch Schlimmeres. Sie rannte ein paar Schritte auf dem Grat entlang und suchte mit ihren Augen angestrengt nach dem einen geisterhaft weißen Gegenstand in dem ebenso weißen Schnee. »Miststück!«, hörte sie Green brüllen und sah seine bullige Gestalt den Abhang hinter ihr emporkraxeln. Ehrwürdige Väter! Der Rucksack war nirgends zu sehen. Denk nach! Er konnte nicht weit entfernt liegen, denn Green war sofort bei ihr gewesen, als sie seinen Wachplatz erreichte. Wahrscheinlich hatte er sie aus der Nähe beobachtet. Wahrscheinlich … Green hatte den Grat nun ebenfalls erreicht, war noch etwa zwanzig Schritte von ihr entfernt, doch nahe genug, dass sie sein verzerrtes Gesicht und seine gefletschten Zähne erkennen und seine keuchenden Flüche hören konnte. Jetzt würde er sie sicher töten – oder tun, was immer er zu tun wünschte. Nichts konnte ihn mehr aufhalten, nicht einmal seine Angst vor Evan. Das konnte Mira deutlich erkennen. Sie hatte ihn zu weit getrieben. Ihre Schnürsenkel waren immer noch offen, keine Chance, dass sie ihm davonlaufen konnte. Mit einem Mal schienen alle Muskeln in ihrem Körper in sich zusammenzufallen, blind und taub für die Befehle, die ihr Gehirn ihnen gab. Und dann sah sie ihn. Er lag direkt unter der Lippe des Grats, auf der Nordseite: Greens rechteckiger
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weißer Rucksack, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, für den Bruchteil einer Sekunde deutlich erkennbar, als die Wolkendecke aufriss. Keuchend warf sie sich auf den Rucksack und strich mit ihren Händen über den Stoff, suchte die richtige Tasche, hektisch und schluchzend. Sie hatte Green ihren Rücken zugewandt … jede Sekunde konnte er sie erreicht haben … schon hörte sie die gedämpften Schläge seiner Stiefel auf dem festen Schnee. Da – sie hatte es! Ihre Finger ertasteten die gesuchte Form und zogen den Reißverschluss auf. Heraus schlüpfte der kalte, leichte, tödliche Metallrahmen. Green war noch drei Schritte weit entfernt, noch zwei, noch einen … Irgendetwas in ihr erinnerte sich – irgendwie, sie wusste selbst nicht genau zu sagen, wie es geschah. Doch sie spürte, wie die Streben in ihrer Hand einrasteten. Am Griff waren immer zwei Bolzen befestigt, das wusste sie genau. Einen fand sie und riss sich die Handfläche an der Spitze auf. Dann schob sie ihn in den Abzug. »Du verdammte kleine Schlampe!« Fauchend packte Green sie an den Haaren und riss sie auf die Füße und um ihre eigene Achse, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Überrascht grunzte er auf, als sich die Armbrust in seinen Bauch bohrte. Jetzt, schrie es in ihr, schieß jetzt! Doch ihre Finger gehorchten nicht. »So? Du hast doch nicht den Mut dazu!«, kreischte Green. Sein Speichel benetzte ihr Gesicht. Dann
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krachte er seine offene Hand mit voller Wucht gegen ihre Wange, so wie Evan es getan hatte, nur viel, viel fester. Mit explodierendem Kopf spürte Mira mehr als sie es sah – dass sie ausrutschte und rückwärts den Abhang hinunterrollte, in Richtung der Bäume glitt, wo die anderen Männer schliefen. Schlitternd kam sie zum Halten, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Denk nach! Doch die Gedanken wollten nicht kommen. Ihr Geist wanderte auf anderen Pfaden. (Wie herrlich wäre es, ihn einfach davonschweben zu lassen!) Über ihr erklang ein Geräusch. Ein lautes Geräusch. Sie hielt sich daran fest und versuchte, sich zu erinnern, was es war. Es war wichtig, dass sie darauf kam … ungemein wichtig. Es war ein Mann, er schrie und rannte auf sie zu. Sie konnte jetzt zwischen halb geöffneten Lidern seine Gestalt erkennen. Green. Es war Green. Er war gekommen, um ihr den Rest zu geben, um zu beenden, was er angefangen hatte. Um sie zu töten. Das war es. Aber sie besaß etwas – dieses Ding, das ihre Hände umklammert hielten, dieses kalte und glatte Ding. Mit wirrem Blick schaute sie hinunter auf die Armbrust, blinzelte durch das Blut, das ihr von Greens Schlag übers Gesicht lief. Sinnlos. Sinnlos! Der Bolzen war weg. Heruntergefallen. Verloren. Der zweite Bolzen, rügte sie die kalte Stimme in ihrem Innern. Nimm den zweiten Bolzen.
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Green kam wie ein Donner über sie und ihre Finger fanden und lösten den zweiten Bolzen. Er hatte gesehen, was sie vorhatte. Die letzten zehn Meter legte er in einem Sprint zurück, warf seine ganze massige Gestalt vorwärts, um sie zu vernichten. Seine Hände waren erhoben, auf die Waffe gerichtet. Sein Mund war zu einer höhnischen Grimasse verzogen. In seinen Augen stand ein Fieber. Aus zwei Schritten Entfernung drang der Bolzen geräuschlos in seine Brust und genauso geräuschlos gaben seine Beine unter ihm nach. Er schlug der Länge nach hin, mit dem Gesicht in den Schnee, und rührte sich nicht mehr. Mira weinte. Die Männer konnten jeden Moment auftauchen. Daran gab es keinen Zweifel. Der ganze Lärm … Doch sie kamen nicht. Schließlich taumelte sie auf die Füße, fühlte sich wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper. Sie band ihre Schnürsenkel fest zu, hievte Green auf den Rücken, für den Fall, dass noch Leben in ihm war und er atmen wollte. Oben auf dem Grat lag der Rucksack noch auf derselben Stelle. Darin befanden sich noch mehr Bolzen und eine dickere Jacke, die so groß war, dass sie ihr bis zu den Knien reichte. Irgendwo da drin war sicher auch Nahrung sowie andere nützliche Dinge, wenn sie nur darauf kommen würde, was nützliche Dinge für sie bedeuteten. Doch
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sie konnte nicht denken, wollte nicht denken. Und allein die Vorstellung von Essen drehte ihr den Magen um. Sie band sich die Jacke um die Schultern, wischte sich das Blut vom Gesicht, schob sich eine Hand voll Schnee in den staubtrockenen Mund und hob die Armbrust und die Bolzen auf. Und dann erstieg sie den Grat erneut und machte sich auf den Weg nach Süden.
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10 Im ersten Licht erblickte Mira ein Wunder. Etwas für sie völlig Neues. Eine Wasserfläche, teilweise gefroren, die so groß war, dass es der Ozean hätte sein können, und darüber eine niedrige, flache Brücke, die in der Ferne, im Süden, verschwand, dort wo sich ein weiteres Stück Land erahnen ließ, nicht mehr als ein schattenhafter Umriss. Ein paar Figuren bewegten sich auf der Brücke, einige mit Lasten, die von Tieren gezogen wurden, und zwei Schiffe bahnten sich durch die schwarzen Wasserfurchen im Eis ihren Weg. Entlang der Küstenlinie, dort wo die Brücke an ihrem nördlichen Ende auf Land traf und wo weitere Schiffe – sieben oder acht – unbeweglich an ihrem Liegeplatz festgemacht waren, da lag eine Siedlung. Eine Ortschaft – eine Stadt … sie wusste es nicht. Doch die Siedlung wirkte groß genug, dass hunderte (vielleicht tausende, vielleicht noch mehr?) Menschen dort Platz finden konnten, obwohl sie sich nicht in den Himmel erhob wie die Städte, die sie aus den freien Sendungen und aus Gils Erzählungen kannte. Doch das war nicht wichtig. Die Gebäude waren massiv und aus Stein, Metall und sogar Glas erbaut und gruppierten sich in einem Halbkreis um die Schiffe und die Brücke, überragt von den letzten der nördlichen Berge. 148
Mit fiebernden Gedanken, ohne sich bewusst zu sein, wer und was sie war, mit blutüberkrusteten Haaren und Lippen und mit Beinen, die von der Anstrengung der Flucht zitterten – ein Knöchel war geschwollen und schwarz, seit sie auf einem versteckten Ast umgeknickt war –, so schleppte sich Mira vorwärts, an der Küste entlang und auf die Siedlung zu. Bei ihr zu Hause wüssten jetzt bereits alle Bescheid und kämen aus den Hütten geströmt. Hier schien kaum jemand draußen zu sein, außer jenen, die sie die schier endlose Brücke hatte überqueren sehen. Sie hielt sich nah am Wasser und lief gegen einen eisigen Wind an, der stetig aus Westen blies. Schließlich erreichte sie die Gebäude und den Fuß der Brücke, taumelte weiter, in Richtung der Schiffe. Jetzt war der Weg nicht mehr so beschwerlich. Ihre Füße traten auf eine harte schwarze Oberfläche, geräumt von Eis und Schnee. Sie musste unbedingt einen Ort finden, an dem sie sich ausruhen konnte, vielleicht etwas Medizin, Essen … In ihrer Vorstellung bewahrten diese Menschen ihre Vorräte dort auf, wo sie ausgeladen wurden. Etwa wie in dem Lagerhaus an der Gezeitensperre. Wie sie in ein solches Gebäude hineingelangen konnte, wenn sie es gefunden hatte, wusste sie nicht. Verschwommen bemerkte sie, dass hier, nahe bei den Schiffen, Menschen unterwegs waren und dass sie ihre Tätigkeit unterbrachen und sie anstarrten. Gar nicht gut, dachte sie. Ich falle zu sehr auf. Sie
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werden es Evan sagen, wenn er kommt. Dass Evan und die anderen ihr folgen würden, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Es war nur eine Frage der Zeit, obwohl sie gerannt war wie eine gejagte Beute – die sie ja war –, um ihren Vorsprung zu vergrößern. Sie lief immer weiter, humpelte mit ihrem schmerzenden Fuß, fand keinen Ort, der nach einer Zuflucht aussah, weigerte sich jedoch, anzuhalten und noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Die Siedlung war vielleicht doch nicht so groß, wie es den Anschein gehabt hatte, denn sie hatte bereits fast das Ende des Hafens erreicht. Dahinter lag nur die leere Küstenlinie, die sich um den letzten Berg herumzog und dann wieder gen Norden verlief. Es gab hier keine Lagerhäuser. Wenn sie sich Vorräte beschaffen wollte, musste sie zurückgehen, hinein in die Stadt, und um Nahrung bitten. Aber was dann? Hinaus auf das offene Eis, aufs Wasser, wo jeder sie sehen konnte? War das der Weg nach Süden? In ihrem Herzen wusste Mira, dass Evans Männer sie auf dieser Strecke bald eingeholt haben würden. Also blieb nur noch die Stadt und die Hoffnung auf etwas zu essen und dann ein Versteck, wenn sie eins finden konnte. Sie blieb stehen, drehte sich um und stand leicht schwankend da, versuchte, Energie zu mobilisieren, um zu der großen, dunklen und Furcht erregenden Ansammlung von Gebäuden zurückzugehen. Abwesend wanderten ihre Augen zu dem Schiff, das neben ihr im Wasser lag, das letzte in der Reihe. Ein hüb-
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sches kleines Gefährt mit grün bemaltem Rumpf. Ein Mann lehnte an der Reling und beobachtete sie aufmerksam, wie die anderen es vor ihm getan hatten. Bitter fragte sie sich, warum die Menschen hier sie nicht einfach ignorieren konnten oder ihr Hilfe anboten oder irgendetwas taten. Sie war sicher, dass bei sich zu Hause ein Fremder herzlich willkommen geheißen würde und eine Mahlzeit vorgesetzt bekäme. Der Mann auf dem Schiff war jung, sah gut aus und wirkte ruhig und selbstsicher. Ihr fielen seine großen wettergegerbten Hände auf, die auf der Reling lagen. Dann sprach er sie an: »Willst du jemanden mit dem Ding da erschießen oder hast du den Mord schon begangen und bist jetzt auf der Flucht?« Sein Akzent war nicht wie der ihre und doch nicht unähnlich. Verwirrt schaute sie an sich herab und erkannte, dass sie die Armbrust immer noch in den Händen hielt, sie fest mit ihren Fingern umklammerte. Kein Wunder, dass die Leute sie angestarrt hatten – die Waffe und ihr blutiges Gesicht! Sie machte Anstalten, die Armbrust wegzuwerfen, doch der Mann hob rasch einen Finger. »Nein, Mädchen, nicht hier, wo man sie finden wird.« »Wer?«, fragte Mira. »Wo wer sie finden wird?« Sie sprach zornig, bot seiner Einmischung mit hoch erhobenem Kopf die Stirn, wo er doch nichts weiter wollte, als ihr zu helfen. Doch in dem Moment, als ihr das in den Sinn kam, erschien ihr der Mann auf einmal vertraut.
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»Diejenigen, die dir Übles wollen«, erklärte er sachlich. Schweigend betrachteten sie einander einen Moment lang, dann sagte Mira: »Ich kenne Sie. Sie sind der Mann, der uns das letzte Mal Vorräte mit dem Schiff gebracht hat.« »Und du bist das hübsche Mädchen, das die Meute von jungen Rüpeln angeführt hat, die beim Ausladen ständig im Weg herumstanden. Obwohl deine Schönheit gerade etwas gelitten hat.« Plötzlich grinste er. »Komm an Bord, damit du dich waschen und etwas essen kannst. Dafür ist noch Zeit, so bald werden sie nicht kommen.« Woher wusste er, dass sie verfolgt wurde? Doch in dem Moment, in dem sie sich diese Frage stellte, schob sie sie auch schon zur Seite. Dieser Mann war anders als Evan und Green und jetzt bot er ihr sogar seine Hilfe an. Niemand sonst hatte das getan. Und sie brauchte Hilfe – sie war am Ende. Erleichtert lief Mira zum stählernen Rumpf des Schiffes und kletterte mühsam die Leiter hinauf, reichte dem Mann die Armbrust über die Reling und ließ es zu, dass er ihr aufhalf, als sie wimmernd zu Boden fiel. Unter Deck, in den Räumen im Innern des Schiffes, führte er sie zu heißem Wasser, gab ihr Seife und ließ sie dann allein, um »etwas Fisch und Porridge zu kochen«. »Was ist mit den anderen?«, fragte sie. Und er erwiderte: »Meine Mannschaft? Ach, die treiben sich
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gerade in der Stadt herum. Wir segeln um die Mittagszeit;jetzt ist die letzte Möglichkeit für einen Landgang. Sie werden ziemlich schlecht gelaunt sein, wenn sie zurückkommen.« Das Porridge war heiß und unglaublich süß, was ihr eine Gänsehaut verursachte. Doch der Mann – Sean – schaute sie nur an. Sein Grinsen war vergangen. »Und was machen wir jetzt mit dir? Um dich vor den Bluthunden zu bewahren, meine ich, denn sie werden bald da sein.« Im warmen Bauch des Schiffs, mit vor Müdigkeit geschlossenen Augen, fiel es Mira schwer, sich vorzustellen, dass Evan sie hier finden würde. Sie fühlte sich sicher, schläfrig, sogar ein bisschen schwindelig. In einem richtigen Bett zu schlafen, nach all den Nächten im kalten, harten Schnee … Doch die Antwort lag auf der Hand. Sie sagte: »Ich werde mit Ihnen segeln, wenn Sie am Mittag den Anker lichten. Wenn Sie es mir gestatten.« Sean runzelte die Stirn. »Nae, nein. Das wird nicht gehen. Zweifellos wurdest du gesehen, als du an Bord gekommen bist. Du musst nicht glauben, dass dies hier ein sicheres Versteck für dich ist. Einige der Männer in der Siedlung und auf den Schiffen würden selbst ihre Mutter für ein paar Kredite verkaufen. Und so wie du aussiehst, hast du dir einen ziemlichen Auftritt geleistet, einen, den man nicht so schnell vergisst.«
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Mira lachte ihn an. »Aber wenn wir fort sind, auf dem Wasser? Ich glaube nicht, dass meine Jäger über die Wellen laufen können.« »Nein. Aber wenn sie wissen, dass du auf meinem Schiff bist, werden sie dich einholen. Ob zu Wasser oder zu Land, für sie macht das keinen Unterschied.« Klappernd legte sie ihren Löffel auf den Tisch. Der Mann ging ihr plötzlich auf die Nerven. Ehrwürdige Väter! Sie war Evans Männern zu Fuß entkommen, hatte Hilfe von diesem Sean hier auf seinem hübschen Schiff bekommen und jetzt kriegte der es doch noch mit der Angst zu tun. Es war Balsam für ihre Seele gewesen, einen Menschen gefunden zu haben, der ihr helfen wollte und dem sie vertrauen konnte. Sie wollte nicht so bald wieder ohne Freund sein. Doch alles, was sie sagte, war: »Woher wissen Sie das alles?« Er deutete auf einen unscheinbaren Metallkasten in der Ecke, auf dessen Vorderseite drei oder vier zarte grüne Lichter glommen. »Ich habe deine Verfolger belauscht.« Sie begriff nicht. »Sie kennen sie? Sie wissen, was sie von mir wollen?« »Nein. Sie sagen nur wenig und noch weniger davon habe ich aufgeschnappt. Aber ich weiß genug von ihnen, um zu wissen, dass mein Schiff für dich keine Zuflucht ist. Und Mädchen: Mein Schiff und meine Mannschaft stehen für mich immer an erster Stelle. Verstanden?«
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Sie schwieg und hielt den Kopf gesenkt. Schließlich sagte sie: »Dann wäre es besser gewesen, ich wäre gar nicht an Bord gekommen.« Er kam zu ihr und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Sanft sagte er: »Da bin ich anderer Meinung. Du musstest etwas essen und dich ausruhen. Und außerdem – ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht helfen werde, nur dass du nicht bei Tageslicht mit uns fortsegeln kannst, wenn die ganze Stadt dabei zuschaut. Wie auch immer. Wenn ich jedoch dazu in der Lage bin, ohne mein Schiff oder meine Mannschaft zu riskieren, dann werde ich mit Freuden verhindern, dass jene Männer ihre Beute einfangen.« »Und nun? Was soll ich tun?« Fast entschuldigend sah er sie an, sah lange in ihre Augen, als wollte er herausfinden, was dort drin verborgen lag. »Und nun«, sagte er sanft, »musst du noch ein bisschen weiterlaufen, wenn du kannst.« »Aye?«, fragte sie tonlos. »Und wohin?« »Hinaus auf die Pfahlbrücke, über das Eis und das Wasser. Hinaus, wo jedermann dich sehen und den anderen deine Spuren zeigen kann, wenn sie kommen.« »Wie ein Schneehase auf offenem Feld, wenn der Falke schon über ihm lauert«, sagte sie mit bitterer Stimme. »Ja, genauso. Doch auch so schnell wie der Schneehase, damit du dem Falken entkommen kannst, zumindest bis die Pfahlbrücke sich nach
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Osten wendet, an der Flanke des nächsten Hügels. Etwa fünfzehn Meilen von hier entfernt.« »Fünfzehn Meilen. Und dann?« »Und dann, Mädchen, bist du ganz nah an der offenen See, und ich werde ein Boot ans Ufer schicken, um dich zu holen. Wenn du es geschafft hast, dem Falken davonzulaufen, wird es mittlerweile dunkel genug sein, und die Hügel werden dir Deckung geben, sodass sie dich selbst mit ihren Nachtsichtgeräten nicht sehen können. Sie werden glauben, dass du schon weiter gekommen bist, als sie erwartet hatten.« Mira spürte ihr Fußgelenk pochen und den steifen Schmerz in ihren Oberschenkeln und Hüften. »Fünfzehn Meilen?« »Ja«, sagte er. »Kannst du das schaffen? Hast du die Kraft dazu?« Sie bezweifelte es, doch sie zuckte nur mit den Schultern. »Ich werde es versuchen. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt …« »Es gibt keine andere Möglichkeit. Vertrau mir.« Vertrauen, dachte sie wehmütig. Vertrauen war etwas, was sie erst wieder lernen musste. Und es würde lange dauern. Als sie ging, nahm sie ihre Armbrust mit, falls es zum Äußersten kam. Sie ging denselben Weg zurück, an den anderen Schiffen vorbei, wo sie wieder angestarrt wurde, wo man ihr sogar nachrief und Pfiffe hinterherschickte. Doch sie weigerte sich, diese Menschen zu beachten, die sie an Evan verraten würden,
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wenn sie die Gelegenheit dazu bekamen. Die Brücke – die Pfahlbrücke, wie Sean sie genannt hatte – lag wie zuvor fast menschenleer da. Nur ein oder zwei Gestalten waren zu sehen, die sich tapfer dem beißenden Westwind entgegenstemmten. Bevor sie die Brücke betrat, hob sie ihre Füße, als ob sie an einem singenden Morgen vors Haus treten würde, bereit, den Bergpfad emporzurennen. Als ob alles in Ordnung und ihr altes Leben zu ihr zurückgekehrt wäre. Hinter ihr stapelten sich die Häuser der Siedlung – laut Sean also doch keine Stadt – hoch hinauf, und in ihrer Vorstellung wurde sie von unzähligen Augen beobachtet. Keine Sorge, sagte sie still zu ihren Wächtern, ihr werdet klar und deutlich sehen, wie ich weggehe. Ihr könnt ruhigen Gewissens antworten, wenn ihr gefragt werdet. Und dann fiel sie in einen Trott, forderte ihren erschöpften Gliedern einmal mehr die nötige Kraft ab und spürte das Stechen in ihrem geschwollenen Fußgelenk, trotz der lindernden Salbe, die Sean aufgetragen hatte. Ehrwürdige Väter. Diese Wanderung war schlimmer als alles, was sie erlebt hatte seit der Nacht, in der sie Gil hatte fallen sehen. Schnell wurde daraus ein pochender, unwirklicher Albtraum, ein endloser stolpernder und taumelnder Lauf über einen geraden, eisenharten Steg, der ihr bei jedem Schritt die Knochen erschütterte. Sie hatte weder die Zeit, sich auszuruhen, noch
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fand sie unter dem offenen Himmel einen geeigneten Ort dafür. Sie wusste nicht, ob es Wirklichkeit oder Einbildung war, doch schon bald hörte sie die Geräusche ihrer Verfolger hinter sich, Fußgetrappel, das sich ihren eigenen Schritten anpasste, doch als sie sich umwandte, konnte sie niemanden sehen. Allerdings war selbst die Siedlung innerhalb kürzester Zeit im trüben Licht verschwunden und der Berg dahinter nur noch als ein bleicher Schatten seiner selbst zu erkennen. Die Dämmerung wuchs und verschwand dann völlig. Der Tag war zu Ende, und sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gekommen war. Es mochten vier Meilen sein oder vierzig. Alles, was sie wusste, mit einer düsteren, hoffnungslosen Gewissheit, war, dass Evans Männer sie bald eingeholt haben würden. So musste es kommen; sie lief nur deshalb, weil sie ganz sicher nicht sitzen bleiben und wie ein schwaches Kind auf das Unvermeidliche warten würde. Und wenn sie gekommen waren, würde sie ihre Armbrust noch ein paarmal singen lassen, vielleicht … Mit diesen Gedanken glitt sie in ein Fieber hinüber, zitternd und schwitzend, rannte weiter, blieb zweimal stehen, um sich zu übergeben, klammerte sich fest an das Geländer der Brücke, während ihre Eingeweide nach oben kamen und die Welt sich in ein kaltes, wirbelndes Grau verwandelte. Den verletzten Fuß, der auf die grausame, unnatürliche Oberfläche trommelte, spürte sie nicht mehr, genauso wenig wie
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alles andere, was ihr Sorgen bereitete. Sie spürte nur noch Erschöpfung und Mutlosigkeit. Lass sie bald kommen, lass es bald sein, lass es bald sein, lass es bald sein … Das Mantra kreiselte durch ihre Gedanken. Oder vielleicht murmelte sie es laut? »Lass es bald sein.« Und ihr Wunsch wurde erfüllt. Sie erkannte, dass sie tatsächlich gekommen waren, ohne dass sie die Kraft besaß, auch nur einen einzigen Bolzen abzufeuern. Schwach griff sie nach der Armbrust, in dem verschwommenen Bewusstsein, dass sie auf dem schneebedeckten Boden der Brücke lag. Zu spät. Es war alles zu spät. Jemand hielt ihren Arm fest und verhinderte, dass sie den Bolzen einlegte. »Ganz ruhig, Mädchen«, sagte Sean. »Ganz ruhig. Wir sind nicht die die dich jagen. Du hast es gut gemacht. Lieg jetzt still.« Und sie fühlte, wie sie aufgehoben wurde. Dann war sie in einem Boot und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Und dann … nichts mehr. Am Fuß der Pfahlbrücke stand eine kleine Gruppe von Männern schweigend in der Dunkelheit; sie rauchten und aßen etwas. Zwei von ihnen hatten sich etwas abseits gegen das Geländer gelehnt. Einer der beiden sagte: »Scheiße, fast hätten wir sie erwischt, wenn wir nur eine Stunde schneller gewesen wären. Na ja, nicht mehr lange, dann haben wir sie, schlimmstenfalls morgen früh.«
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Der andere Mann starrte still die dunkle Brücke entlang. »Ich bin mir nicht sicher. Sie hätte gar nicht so weit kommen dürfen. Jedenfalls nicht, wenn diese Idioten Recht hatten und sie verletzt ist.« »Oh, unsere kleine Prinzessin ist ein hartnäckiges Wild. Sie kann doch tatsächlich ausgewachsene Männer zum Heulen bringen, das kannst du mir glauben. Scheiße, frag doch Green. Ach ja, das geht ja nicht mehr, nicht wahr?« Evans Kamerad warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Vielleicht hast du Recht«, sagte er. »Aber warum sollte sie sich ausgerechnet diesen Weg aussuchen, sich der offenen Weite ausliefern? Sag mir das.« »Erschöpfung. Das blinde Verlangen weiterzulaufen. Wie ein Tier …« »Vielleicht.« In dem heißen, hellen und lärmenden Raum unter Deck des hübschen grünen Schiffs schlüpfte Mira von einem Albtraum in den nächsten und durchnässte mit ihrem Schweiß die sauberen weißen Laken, in die man sie gewickelt hatte. Aber irgendwann, mitten in einem der bösen Träume, sah sie undeutlich, dass die Männer einen Empfänger für die freien Sendungen hier in der Kajüte stehen hatten. Sein gedämpfter Schimmer beleuchtete die fremden Gesichter, die sie umgaben. Noch überraschender war der Anblick jener Frau, die in ihrer Siedlung vor ihren Augen nie-
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dergeschossen worden war. Nur für einen kurzen Moment flackerte ihr Gesicht über den Bildschirm. »Tilly Saint«, sagte die Stimme aus dem Empfänger, »kehrte kürzlich von den Weltmeisterschaften im Abfahrtslauf aus Kanada zurück.« Nein, dachte sie. Das stimmt nicht. Sie meinen Annie Tallis. Und wieder trudelte sie hinab in einen fiebergeschüttelten Schlaf.
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TEIL 2
Gesegnete Kinder, euch wurde diese schlafende Schlange geschenkt. Lange Jahre hat sie überdauert mit ihren starken, glänzenden Windungen tief in den Sümpfen und Fluten verborgen. Ihr Maul umschlingt ihren Schwanz. Und wenn die Schlange erwacht, gewachsen ist und voller Kraft, wenn sich der Kopf erhebt – schön und schlank und weise –, wenn die zwei Augen, eins braun und eins grün, sich öffnen, dann, gesegnete Kinder, mögt ihr auf ihrem Rücken reiten zu Frieden und Liebe. Denn diese Schlange verführt euch nicht zum Übel, sondern ist euer wahrer Freund. (Aus: »Lied der Wahrheit« oder »Träume, 7«)
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11 Kay hatte sich verloren. Seine Hände glitten über die dunklen Membranen, die ihn in einem Halbkreis umgaben, liebkosten sie, flogen hierhin und dorthin und wieder zurück, wie ruhelose Vögel. Aus einer verborgenen Stelle im Boden drangen Töne und Rhythmen, die sich vervielfältigten, sich ineinander verwoben, Paläste und Meere aus Klang errichteten, die tief in ihn eindrangen, dorthin wo er lebendig war. Er berauschte sich daran; mit geschlossenen Augen schwankte er in der erstikkenden, schweißgeladenen Atmosphäre. Er musste nicht hinschauen, seine empfindsamen Finger kannten die Position jeder einzelnen Membran. Unter ihm und um ihn herum wanden sich Körper dicht gedrängt zu jenen drängenden, sinnlichen Klängen. Einige befanden sich in Trance; einige – bleich und durchscheinend wie Geister – hatten Drogen genommen, um leichter an den Ort zu gelangen, an den die Musik sie führte. Doch alle waren aneinander gefesselt, miteinander verbunden. Hier gab es keine Furcht, nur Musik. Nur die Herrlichkeit. Die Furcht wurde draußen gelassen. Während sich der Klang zu einem Crescendo hinaufschraubte, eine Welle nach der anderen heranbrandete und die Musiker einander mit Tönen und 163
Rhythmen begegneten – fast da, fast … – öffnete Kay einen Moment lang die Augen, wollte die Szene in sich aufsaugen, den Augenblick mit den anderen Spielern und den Tänzern teilen, sich mit ihnen verständigen in diesen bittersüßen letzten Sekunden … Und nahm sofort die pure Hässlichkeit wahr, einen Missklang. Hedge, sein Leibwächter, stand bewegungslos in all der Bewegung, mit vor der Brust verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht. Wie ein großer, massiver Felsblock, der nicht zu den schwingenden Wellen passte. Kay spürte, wie seine Hände zögerten. Verdammt sei der Mann für seine Anwesenheit, dafür, dass er Zeuge dieses ganz privaten Vergnügens wurde, dass er an ihm hing wie ein schwarzer Schatten und diese Freude seines Lebens ertränkte. Verdammt sei seine Familie. Nun würde er niemals hierher zurückkehren können; er würde einen neuen Ort finden müssen. Und das nächste Mal sorgfältiger darauf achten, dass Hedge ihm nicht folgte. Auch gut. Auf jeden Fall würde er sich nicht wie ein ungezogenes Kind an der Hand nach Hause schleppen lassen, mochte Hedge ihn hier auch gefunden haben. Jeden Moment konnten nun die letzten tiefen Basstöne hervorströmen und inmitten einer sprudelnden Spirale aus Melodie ersterben – und mit ihnen die dämmrigen, kreisenden Scheinwerfer, nur für kurze Zeit, bis die Musik von neuem begann. Dies war der richtige Zeitpunkt …
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Fünf Minuten später stand Kay draußen auf der Straße. Er wusste nicht genau, wie er hierher gekommen war, kauerte sich unerkannt in seine Jacke und stemmte sich gegen den brüllenden Wind, der Schneeregen vor sich hertrieb. Es war kaum jemand zu sehen. Es war spät. Wahrscheinlich dauerte es keine Stunde mehr, bis die Nachtmenschen auf die schlammigen Straßen hinaustaumelten, um sich nach Hause zu schleppen. Im Moment genoss er die Einsamkeit, die er sich wünschte, und die Hitze, die die Musik in seinem Bauch hinterlassen hatte. Hedge und Tomas und Tilly – sie alle konnten warten. Wenn er wollte, konnte er Hedge sogar austauschen lassen, weil der heute, als Kay sich aus dem Haus geschlichen hatte, seinen Schützling wieder aus den Augen verloren hatte, und zwar direkt vor dem SaintGebäude. Nun, dachte er gleichmütig, jeder, der hier versuchen würde, ihn auszurauben, unbewacht, wie er war, hatte wohl alles, was sich in seinen Taschen befand, bitter nötig. Eine Hand voll Kredite war dabei, vielleicht würde man ihm sogar die ganze Jacke wegnehmen. Nicht dass er unbewaffnet war. Innerlich lächelte Kay, unberührbar in dieser Stimmung, und bog ab, um die Docks zu umlaufen. Er war überrascht, wie weit er in der kurzen Zeit gekommen war, seit die Musik geendet hatte. Unter ihm schimmerte saugend das Wasser. Er mochte die-
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sen Weg. Die plumpen, schweren Silhouetten der Schiffe – hunderte, die sich im Wind knarrend auf und ab bewegten – erinnerten ihn daran, dass die Flucht möglich war, eines Tages, irgendwann. Selbst jetzt, heute Nacht! Er musste nur die Zeit bestimmen und irgendeinen rostigen, schmuddeligen Kahn finden, der weiter fuhr als nur die Küste hinauf. Für einen Saint war alles möglich. Im Augenblick genügte ihm die Gewissheit, dass er es tun konnte, wenn er wollte, und er verzichtete auf die Tat selbst. Ein paar Schritte weiter – kurz bevor er die wilden Feuer und die Messer der verlassenen alten Docks erreichte – wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem eigentlichen Ziel zu, dem Grund, warum er hierher gekommen war. Die Straße führte steil bergauf, am Turm des Hafenmeisters und an den Büros der Zoll- und Einwanderungsbehörden vorbei, um dann am Ende der Steigung in einer Art weit verzweigten Markt zu münden, einem Komplex, der aus vielen kleinen Plätzen bestand. Hier tobte das Leben, das Kay einen freudigen Schauer über den Rücken jagte. Imbissbuden spuckten gedämpftes gelbes Licht aus, bereit, die Nachtmenschen herbeizulocken, nachdem sie die Clubs verlassen hatten. Und überall dazwischen: Hausierer, Prostituierte, Bettler, Dealer, Liebende, Verlierer jeder Art. Hedge würde einen Anfall bekommen. In der Nacht wurden die engen Straßen, die die Marktplätze miteinander verbanden, zu einer eige-
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nen kleinen Stadt, Portable Road – die tragbare Straße – genannt, weil am Tage alles verschwunden war. Nur ein paar Räudige und Junkies, Aussteiger und Geisteskranke hockten dann noch eng beieinander, hofften auf ein paar Essensreste, eine Zigarette oder ein paar Münzen von den abziehenden reichen Nachtschwärmern. Und falls ihnen das verwehrt blieb, hofften sie einfach darauf, dass sie in ihren Unterständen aus Stoff, Kunstharz und Plastik vor dem Wetter geschützt blieben. Kay schlenderte über den Platz, während ihm das Eiswasser von der Nase tropfte, und schob sich in eine der Arterien hinein, die den Markt netzartig durchzogen. Er fühlte sich hier wie zu Hause. Er wechselte ein paar Worte, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, verteilte ein paar Nahrungskredite, blieb eine Minute lang stehen und hörte einem halb nackten Fluter zu, manövrierte dann geschickt um die Kranken herum, die Irrsinnigen, die auf ihn zukrochen, Unsinn plapperten, ihn dabei hochleben ließen und zugleich drohten, ihm die Kehle durchzuschneiden. Keiner von ihnen kannte ihn. Keiner wusste, wer er war. Andernfalls hätten sie ihn in Stücke gerissen. Aber andererseits, so schön war er auch wieder nicht. Er war keiner der selektierten Idealen. Unvollkommen genug, um hier an diesem Ort am Leben gelassen zu werden. Unglücklicherweise fing sein Kopf an zu schmerzen, und er dachte nun missmutig daran, wie lange er
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noch laufen musste, bevor er in sein Bett kam. Das Vergnügen über diesen Ort hatte ihn plötzlich verlassen. Am besten erledigte er schnellstmöglich das, weswegen er gekommen war, und ging dann nach Hause. Er bog ab und betrat eine noch engere Gasse. Aus dem Schutz seiner Kapuze heraus ließ er seinen Blick über die jungen alten Gesichter gleiten, die trüben Augen, die ausgestreckten Hände, über die schniefenden, Mitleid erregenden Kinder. Er war sorgfältig darauf bedacht, nie zu lange hinzuschauen, aber irgendwo, irgendwo … Ja, da war sie. Da stand der wahre Grund, warum er in einer solchen Nacht einen derart seltsamen und umständlichen Kurs steuerte, bevor er sich auf den Weg in den sicheren Hafen machte: ein Mädchen, das sich durch nichts von den anderen unterschied. Sie saß allein unter einer Platte aus gewelltem Kunstharz. Ihre Augen waren leer, ihr Haar war zu unansehnlichen scharlachroten Spitzen gezwirbelt. Ihr Gesicht schimmerte weiß, bis auf die schwarze Umrandung ihrer Augen. Neben ihr hockte eine Frau und sang tonlos dieses neue Lied über eine Schlange. Kay näherte sich dem Mädchen, ging langsamer und blieb fast stehen. Die scharfkantige Harzplatte schlug ihr im Wind immer wieder auf den Kopf. Träge krochen ihre Augen zu seinem Gesicht, und eine Hand streckte sich – wie bei den anderen auch – ohne Begeisterung und Hoffnung nach dem aus, was er bereit war zu geben.
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Wieder veränderte sich seine Stimmung – das war normal, wenn er sich auf einem Trip befand –, und wie früher packte es ihn auch diesmal mit voller Macht. Er lächelte sie an und sie tat nichts. Es kümmerte ihn nicht. Er fragte sich, was sie sagen oder tun würde, wenn er sich einfach neben sie in den nassen Schmutz setzte. Rasch, bevor der Rest der Hoffnungslosen ihn bemerkte und angekrochen kam und sich an seinen Körper klammerte, zog Kay den Reißverschluss seiner Jacke auf und holte ein kleines Päckchen hervor. Er warf es so, dass es direkt im Schoß des Mädchens landen würde, wo es mit einem Griff von ihr gepackt und versteckt werden konnte. Doch im entscheidenden Augenblick fegte der Wind heftig durch die Gasse – oder vielleicht war es auch ein schlechter Wurf – und das Päckchen fiel zu Boden, gut sichtbar für alle. Sofort erhob sich Tumult. »Mister, Mister, Mister, Mister, Mister …« »Geben Sie mir, bitte, geben Sie mir, bitte …« »Eine Kippe, einen Bissen …« »Sie ist doch nicht hübsch, ich bin hübsch … Ich kann alles für Sie tun, was immer es ist. Ich bin sehr gut. Nehmen Sie mich!« Die singende Frau hielt mitten im Lied inne und zog zwei winzige Gestalten unter einer völlig durchnässten und zerrissenen Plastikplane hervor: »Meine Kinder«, sagte sie. »Meine armen Kinder! Schauen Sie
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sie an. Schauen sie die da an. Das Miststück hat keine Kinder!« Schnell ging Kay weiter in die Gasse hinein, entfernte sich von dem Mädchen. Eine Wöge menschlicher Wesen kam auf ihn zu, sie humpelten heran, riefen ihn an und flehten um Hilfe. Wie hatte er nur vor wenigen Minuten glauben können, diese Gegend hier sei sein Zuhause? All dieser Schmerz und dieser Schmutz. Er nahm seine letzten Kredite aus der Tasche und versuchte, sie gerecht zu verteilen, fummelte hastig damit herum und hoffte, dass das Mädchen das Paket hatte greifen und an sich ziehen können. Sie wirkte allerdings so, als ob ihr sowohl die Intelligenz als auch die Kraft dazu fehlten, doch wenn sie zu dieser einen, unbedeutenden Leistung fähig war, würde sie Essen in dem Päckchen vorfinden, Salbe für die wunden Stellen an ihrem Mund, Vitamine, ja sogar Schuhe aus wasserabweisendem Stoff. »Nein, das ist alles. Das ist alles, was ich habe. Lasst mich in Ruhe.« Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren, hoch und schrill. Ein paar von diesen hässlichen Exemplaren der menschlichen Rasse klammerten sich an ihn. Vielleicht Zuhälter, die glaubten, sein Interesse an dem Mädchen sei physischer Natur, oder Aasgeier mit verborgenen Klauen, jederzeit zum Zuschlagen bereit. Ekel und Angst waren jetzt in ihm, und er wandte sich ab, stieg über eine Gestalt hinweg, die aus den Schatten gekrochen kam und murmelnd und
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spuckend nach seinem Bein griff. Schnell lief er zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Er schaffte es nur mit äußerster Selbstkontrolle, nicht in panische Hast auszubrechen, und er vermied glücklicherweise auch den Griff zu der verborgenen Waffe an seiner Seite. Von dem Päckchen war keine Spur mehr zu sehen, doch das Mädchen zeigte auch keinerlei Anzeichen des Wiedererkennens, als er an ihr vorüberhastete. Vielleicht hatte die singende Frau tatsächlich die Sachen ergattert, für ihre Babys. Er konnte einfach nur hoffen, dass es nicht so wäre … Verdammt noch mal, selbst wenn das Mädchen das Paket genommen hatte, würde es wahrscheinlich die Heilsalbe essen und die Vitamine wegwerfen. Oder den ganzen Kram verkaufen, um sich einen Schuss zu setzen … Wie sehr er sich wünschte, hier bleiben zu können, um sie zu trösten. Um sie zu beschützen. In weniger als fünf Minuten befand er sich mitten in der stürmischen Dunkelheit des Bankenviertels mit seinen Monstrositäten aus Stahl und Glas, die er von seinem eigenen Apartment aus sehen konnte. Die Gebäude versperrten ihm die Sicht und versteckten das Licht und das Menschengewirr der Portable Road. Hier war es wahrscheinlich gefährlicher als dort, trotz der vielen Kameras. Aber er wirkte auf niemanden wie eine lohnende Beute – er sah eher selbst wie ein Räudiger aus, der auf einen Raubzug aus war. Vermutlich würde man sich eher Hedge mit
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seinen glitzernden Ringen und seinem ebenmäßigen, vollkommenen Gesicht vorknöpfen als ihn. Allerdings wären dazu mindestens drei oder vier Männer nötig, selbst wenn die Angreifer Glück und das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hätten. Seine Gedanken stolperten übereinander. Wieder kam ihm das Mädchen in den Sinn, und er lächelte, tanzte ein paar Schritte, wedelte mit den Armen und schlitterte im Schneematsch herum. Na also: Jetzt wussten die Kameras, dass er tatsächlich nur ein Räudiger war, idiotischer Abschaum, ohne Ziel und Plan. Noch ein weiterer langer, steiler Aufstieg und Kay stand auf dem Gipfel der Stadt. Auf dem Gipfel der Hauptstadt. Auf dem Gipfel von Britannien. Der Ort, an dem seine Familie lebte, überblickte wie die Paläste der römischen Kaiser das Elend des Pöbels. So zumindest empfand es Kay. Glücklicherweise stand vor der Tür kein Leibwächter und ruinierte diese letztlich doch gelungene Nacht mit verdrießlichen Fragen und Streit. Ungestört gelangte Kay in sein Apartment hoch oben im südöstlichen Flügel, wobei er sich bei den Sicherheitschecks mit seinem Daumenabdruck identifizierte. Seine eigene Festung innerhalb der Festung. »Abschließen«, sagte er zu Jane, und sie murmelte bestätigend: »Abgeschlossen, Kay.« Im nächsten Moment fühlte er sich unglaublich müde.
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Er schleuderte die durchnässten Stiefel von sich, zog sich aus und legte sich in die Badewanne. Ein Schauer kroch seinen Rücken empor, als er sich in die Wärme gleiten ließ, und er schloss die Augen. Hinter den Augenlidern tanzte inmitten anderer Bilder dasjenige des Mädchens. Mit ausdruckslosem Blick schaute sie ihn an, auf dem dreckigen, nassen Boden hockend, und hielt ihre Hand ausgestreckt. Wenn nur ein Anflug von Leben in diesen Augen aufflackern würde. Sie war so hübsch, so vertraut. Starke Gefühle schlugen in seinem Innern einen Salto nach dem anderen und in seinem Kopf drehte sich alles. Er ließ es zu, ohne darüber nachzugrübeln. Doch nach dem Bad würde er vielleicht ein wenig die Datenbank der Familie durchforschen. Nicht mit Janes Hilfe, sondern mit einer Tastatur – auf die altmodische Art. Scheiße, schlafen konnte er schließlich jederzeit … Er glitt tiefer ins Wasser hinein, sodass es seine Lippen kitzelte, und befahl seinen Geist zurück zu den Ereignissen des frühen Abends, zurück in den Club. Was für eine herrliche Nacht. Heute war er wahrhaftig zur Musik, zu diesen himmlischen Klängen, ausgeflippt. Hedge konnte von ihm aus Stunden dort gestanden haben, es war ihm egal. Hedge war ein Nichts. Nur die Musik war wichtig, die Musik und die Freude – und der Ort in seinem Innern, den seine Familie nie erreichen konnte. Draußen vor dem Saint-Gebäude, etwas unterhalb
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des Gipfels, mitten im Bankenviertel, stand das Mädchen mit den abstehenden scharlachroten Haaren unbeweglich an der Ecke einer kostspieligen Wohnanlage aus Stahl und Glas. Ihr Kopf war zurückgeneigt, und ihre Augen waren fest auf die Lichter gerichtet, die hoch oben die Fenster erleuchteten, wo Kay sein Apartment betreten hatte. Sie blieb lange dort stehen – eine Stunde, zwei Stunden … Das Wetter verschlechterte sich, doch sie störte sich kaum daran. Außerdem steckten ihre Füße trocken in neuen Schuhen. Und das Essen und die Vitamine hatten ihren Bauch gewärmt. Wie süß von ihm. Nach einer Weile kam Hedge den Hügel hinaufgeschlendert. Er bewegte sich wie eine große Raubkatze, und das Mädchen zog sich tiefer in den Schatten zurück, sodass er sie nicht bemerkte, als er an ihr vorbeiging. Am Eingang des Saint-Gebäudes legte er – wie Kay, aber mit einer weit wütenderen Bewegung – seinen Daumen auf die Maschine vor der Tür und wurde eingelassen. Schließlich, nach einer schier endlosen Wartezeit und mit der Dämmerung im Nacken, die versuchte, gegen den Sturm anzukämpfen, wandte sich das Mädchen ab und ging den Hügel hinab, bog in die Portable Road ein, wo das Treiben vorüber war und die ersten Händler des Tages das Regenwasser und den Schmutz in den Rinnstein fegten. Nach einer oder zwei weiteren Meilen am Wasser entlang er-
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reichte sie den Keller, der nach Fisch von den Docks und nach schlammigem Sickerwasser stank. Dies war der Ort, an dem sie schlief. »Hier«, sagte sie zu dem alten Ehepaar, das schon vor ihr angekommen war und wie ein Doppelklumpen auf einer Pritsche unter einer schützenden Schicht aus Teppichen lag, und gab ihm, was von Kays Essen übrig geblieben war. Still lag sie auf ihrer eigenen Pritsche und dachte über Kay nach, so wie er über sie nachdachte. Vielleicht ist er genau das, was ich brauche, dachte sie. Doch ich warte lieber noch eine Weile ab. »Wenn ich Jan nächsten Monat schlage, bin ich das erste Mädchen, das die Spitzenposition in der Liga übernimmt. Hast du das gewusst, großer Bruder? Wahrscheinlich bin ich sogar das einzige Mädchen überhaupt.« »Toll. Großartig. Prima. Gut gemacht. Was auch immer.« Seine Schwester schwatzte und schwatzte. Kay schaute sich an, was auf dem Tisch angerichtet war, und winkte dann Hedge zu sich. »Kann ich bitte etwas Toast haben, Hedge?« Die dunklen Augen des Leibwächters suchten ebenfalls die Gerichte auf dem Tisch ab: Fleisch, Fisch, exquisite Salate und Gemüse aus Frankreich oder von noch weiter her, sogar Reis. »Toast«, wiederholte er knurrend. »Ja, bitte.«
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Schweigend drehte sich der Mann um und verließ den Raum. »Warum machst du das, Kay?« Clarissa blickte ihn mit einer tadelnden Miene an, die sie ihrer Mutter abgeschaut hatte. Ich liebe dich trotz deiner Schwächen, schien sie zu sagen, aber versuch doch bitte, dich zu bessern. »Warum mache ich was?« »Warum treibst du den Mann in den Wahnsinn? Du willst ihn doch sicher auf deiner Seite haben, für alle Fälle …« »Aber er ist nicht ›auf meiner Seite‹. Er ist auf Tomas’ Seite, nicht wahr? Ich habe nicht um ihn gebeten.« Selbst in seinen Ohren klangen seine Worte wie die eines bockigen Kindes. »Oh, werde erwachsen, großer Bruder.« Clarissa lächelte ihn blitzend an und warf ihr Haar mit einer einstudierten Bewegung zurück. Dann nahm sie sich eine Portion grüne Bohnen. Sie konnten nicht im selben Zimmer sein, ohne sich zu zanken. Es war unvermeidlich. In diesem Augenblick betrat ihr Großvater mit Copper, seinem eigenen Leibwächter, den Raum. Mit seinen dreiundachtzig Jahren war Tomas noch agil und beweglich. Er besaß noch die meisten seiner eigenen Haare, die in silbernen Flügeln eng an den Seiten seines Kopfs lagen. Er kam zum Tisch und ließ seinen massigen Körper seufzend in einen Stuhl sinken. Copper, dessen kurzer Wuchs und scheinbar
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fröhliches Gesicht einen Gegner leicht täuschen konnten, stellte sich neben die Tür, wo Hedge und mit ihm Sebestova, Clarissas Beschützer, gewöhnlich standen. Die drei nebeneinander wirkten auf Kay immer wie ein Trio aus Komödianten, wie er sie von alten Videobändern her kannte. Tomas rieb seine Hände, wie er es immer tat, und sagte: »Nun, das sieht ja hervorragend aus. Hervorragend. Die Küche hat sich selbst übertroffen. Was nimmst du, Kay? Ein bisschen Salat?« Clarissa erwiderte mit vollem Mund: »Kay will Toast haben. Er hat Hedge geschickt, um welchen zu holen.« »Aha. Toast. Hmm. Was ist los, mein Junge? Hast du letzte Nacht zu viel gefeiert? Ist wohl hoch hergegangen, was? Und heute Morgen zwickt der Magen, nicht wahr?« Hierauf gab es keine Antwort. Der alte Mann hatte sicher nur die Absicht, einen Scherz zu machen, deshalb schwieg Kay. Andererseits machte Tomas niemals Witze, jedenfalls keine wirklichen. Wenn Hedge mit dem Toast zurückkam, würde Kay ihn vielleicht etwas anderes holen lassen. Vielleicht die Schwanzflossen eines Kugelfischs, mariniert in australischem Wein. Auf jeden Fall irgendetwas Gemeines, um es ihm heimzuzahlen, dass er so eine Petze und ein Spielverderber war. Wenn Hedge seinem Großvater von seinem nächtlichen Trip – ohne seinen Leibwächter – erzählt hat-
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te, konnte sich Kay auf eine Standpauke von dem alten Herrn gefasst machen. Aber nein, er würde sich weder von Tomas noch von Hedge reizen lassen. Er würde sich weigern, ihre Spielchen zu spielen. Denk dran, sagte er zu sich selbst, du bist der einzig Normale hier. Die anderen können ja nichts dafür. Und es dauert auch nicht mehr lange. Schon bald würde er ein Schiff finden und dann nichts wie weg. Selbst wenn er bliebe, würden sie es nicht verhindern, dass er irgendwo abtauchte. Oder sie würden ihm eine Aufgabe im Netzwerk der Saints geben, wo man ihn schon bald aus den Augen verlieren konnte. Wenn nicht Tilly mit einer ungewöhnlichen und altmodischen Liebe an ihm hinge, wäre er schon längst nicht mehr hier. Der ganze alte Groll schob sich in ihm hoch und verursachte ihm Bauchschmerzen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wer sein Vater war. Hoffentlich nicht jemand wie dieser schreckliche Grieche, mit dem Tilly im Moment zusammen war. Clarissa plapperte wieder über ihren Wettkampf. »Ich bin das erste Mädchen, das so etwas schafft, wenn ich Jan besiege«, sagte sie erneut. »Wenn ich ihn besiege.« »Ah, ja!«, antwortete Tomas. »Das wäre schon eine feine Sache, nicht wahr? Und dieser Jan ist auch ein gut aussehender junger Mann, meine Liebe.« Clarissa errötete – auch das war sorgfältig einstudiert. Wie schaffte sie das nur?
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»Aber wird er das immer noch sein, wenn meine Schwester mit ihm fertig ist?«, murmelte Kay säuerlich zu niemand Bestimmtem. »Nun, wir werden es ja sehen, an dem großen Tag. Nicht wahr, mein Junge? Und egal wer gewinnt und wer verliert – ich bin mir sicher, dass es aufregend werden wird. Und deine Mutter wird so stolz sein!« Sobald er seinen Toast gegessen hatte, entschuldigte sich Kay und kehrte in sein eigenes Apartment zurück. Als Jane die Tür abschloss, seufzte er vor Erleichterung auf und ließ sich mit dem Rücken zur Tür zu Boden sinken. Er fühlte sich völlig fertig. Die Nacht forderte ihren Tribut; er hätte gar nicht aufstehen sollen, doch dann hätte Tomas ihm wieder Ärger gemacht, weil er die Mahlzeiten verpasste. Die langen, trüben Stunden bis zur nächsten Abenddämmerung lagen vor ihm wie eine endlose Reihe von Grabsteinen. Aus der Innentasche seiner Jacke flüsterte ihm das kleine Silberröhrchen lockend zu, doch er war kein Narr. Er wusste, dass er sparsam damit umgehen musste. Den freien Fall hatte noch niemand überlebt. Er bemühte sich, an nichts anderes zu denken als an das Mädchen. Letzte Nacht hatte er mit seiner Suche in den Datenbanken kein Glück gehabt, doch das bedeutete nicht, dass nichts da war. Es musste vorsichtig geschehen, behutsam, sorgfältig, als würde man musizieren. Andernfalls würde der alte Tomas herausfinden, was er tat, und ihm wieder Ärger machen. Nun, »Ärger« war in diesem Fall wohl nicht
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das richtige Wort. Viel wahrscheinlicher war, dass Tomas ihn auf einer einsamen Insel aussetzen lassen würde, weil er die Sicherheit der Familie gefährdet hatte. Die Tour des lieben alten Großvaters mochte vielleicht Clarissa täuschen, ihn jedoch nicht. Schließlich waren sie eigentlich gar keine richtige Familie. Eine Insel wäre vielleicht gar keine schlechte Idee, wenn die Berge darum herum hoch genug waren. Während Frust, Wut und Trauer ihn schüttelten, merkte er, dass er aufgestanden war und dass ihn seine Schritte nicht an den Computer, sondern in die Stille und Leere seines Musikraums geführt hatten. Dies war der einzig wirklich sichere Ort. Nur hier konnte er sich völlig fallen lassen. Auf der anderen Seite dieses Ovals aus Plexiglas, schalldicht und kugelsicher zugleich, gab ein Fenster den Blick frei auf die windgepeitschte Stadt. Es war jetzt trocken. Regen und Schnee hatten aufgehört. Im Innern herrschte völlige Stille. Vollkommene Stille. Nirgends sonst in der Stadt konnte es so still sein. Nur das leise Flüstern der versteckten Lampen war zu vernehmen, deren Schein hier und da von der schimmernden Ansammlung von alten Trommeln und Klangmembranen reflektiert wurde. Geistesabwesend zog Kay die schwere Tür hinter sich zu, nahm einen Trommelstock in die Hand und ließ die abgerundete Spitze leicht auf der kleinen Trommel tanzen. Tschak. Der lebendige Klang sprang durch den Raum.
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Er nahm einen zweiten Stock und glitt auf seinen Schemel. Die zwei Stockspitzen wirbelten in rasenden Kaskaden von rechts nach links, als ob sie gar nicht zu ihm gehörten, sausten wie von selbst über die straffe Bespannung. Er beugte sich vor, um die Position des dritten Beckentellers zu korrigieren. Wieder hatte er sich verloren. Hierfür lohnte es sich, ein Saint zu sein. Für dieses winzige, tönende Paradies. Für diese wunderbaren Antiquitäten. Auf Knopfdruck stahl sich aus scheinbar weiter Ferne eine wirbelnde, süße Melodie in den Raum. Kay saß einen Moment lang nachdenklich da und gestattete dann seinen Händen, sich den Klängen anzuschließen, leicht und tänzelnd am Anfang, dann drängender, dynamischer. Wenn es jemand geschafft hätte, zwanzig Minuten später den Musikraum zu betreten, wäre er in dieser stillen Umgebung Zeuge eines ohrenbetäubenden Spektakels geworden, das ein ekstatischer, schweißgebadeter Kay mit geschlossenen Augen veranstaltete, während eine animalische Rhythmuswelle nach der anderen seinen Händen entströmte. Doch niemand konnte diesen Raum betreten. Dafür hatte er gesorgt. Nicht einmal Janes Augen reichten bis in sein Inneres. Und draußen vor der Tür war lediglich das allgegenwärtige Summen des Computersystems zu hören. Er hätte gut und gern das einzige lebende Wesen auf Erden sein können.
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12 Es war beschämend, wie schnell man sich daran gewöhnte, dachte Mira. An den Hunger, den Schmutz und das Elend, die Hässlichkeit jenes Ortes, den man Hauptstadt nannte. All die Träume von glitzernden Städten, Menschentrauben und dem Süden überhaupt! Oh, Geister im Himmel! Wie sehr sie sich nach ihren Bergen sehnte, nach den Wolkenkiefern, nach jener fließenden, singenden Andersartigkeit, bevor der Tag anbrach. Wenn diese Andersartigkeit hier jemals existiert hatte, war sie schon vor sehr langer Zeit vertrieben worden. Hier war alles hart, laut, greifbar und offensichtlich. Für diese Menschen schien nur die Klarheit eine Rolle zu spielen. Dem Mädchen kam es so vor, als ob sie nur halb lebendig waren. »Was erwartste denn?«, fragte Jazz, halb neckend, halb verärgert, wie üblich. »Wenn de geistiges Zeug ham willst oder himmlisches und meditadingsbums Geschwafel, dann geh zu den Schlangenleuten. Oder noch besser: Lass dir’s Gesicht verhübschen. Werd ’ne Ideale. Werd eine von den Saints. Wer sonst hat Zeit für so ’n Quatsch?« »Ja, klar, sicher. Un wo soll ich die Kredite dafür herkriegen?«, fragte sie ihn in demselben Akzent und mit demselben bitteren Ton. Die Art, wie die Men182
schen hier sprachen, war auch ihr zur Gewohnheit geworden. »Is ja auch egal, Schätzchen. Für uns biste hübsch genug. So hübsch wie ’ne Räudige grad noch sein darf. Un wer will sich schon seine Knochen wegschneiden und absäbeln lassen un so ’n Mist? Da muss man schon ganz schön bescheuert sein.« Sie standen vor dem Hintereingang eines Restaurants, »Crimson« genannt, strolchten von einer Mülltonne zur anderen und kramten durch die Reste exotischer Nahrungsmittel – durch einen Haufen aus geronnenen Cremesoßen mit Zitronen- und KokosnussGeschmack, angenagten Knochen, Resten von wildem Reis, großen, flachen Blättern irgendeines Krauts, die über Nacht schwarz geworden waren, abgerissenen Krabbenscheren … Der Tag war kaum angebrochen – sie waren die Ersten. Eine nach der anderen füllten sich die Plastikdosen, die Jazz mitgebracht hatte, mit Essensresten. Mira hätte Jazz fast mögen können. Er war wirklich lustig, voller verrückter Energie, wenn ihm danach war, und sehr freundlich zu jenen, denen er sich zugehörig fühlte. Aber er war ebenso bitter, bissig und voller Groll. Mit einem Wimpernschlag konnte das Grinsen auf seinem Gesicht einer knurrenden Fratze weichen. Manchmal schien er einfach nur wütend darüber zu sein, dass er überhaupt am Leben war. »Okay. Das war’s. Lass uns abhaun«, sagte er und
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verstaute die letzte Plastikdose in seiner Jacke. »Sokkel! He, Sockel!« Der Welpe kehrte von seinem eigenen Jagdzug zurück und gesellte sich zu ihnen. Jazz spuckte auf die Tür des Restaurants, während sie daran vorbeigingen, voller Verachtung für die Quelle ihrer Nahrung, und lachte, als der dicke Speichelklumpen auf der polierten Oberfläche kleben blieb. Nicht zum ersten Mal dachte Mira, dass er selbst es war, der die Welt, die er durch diese herausfordernden Augen betrachtete, für sich vergiftet hatte, nicht die verhassten Idealen oder der Zufall, der dafür verantwortlich war, dass der falsche Samen auf das falsche Ei traf. Gemeinsam mit dem Hund gingen die beiden die breiten, ebenen Alleen entlang, die sich so grundlegend von der Innenstadt mit ihrer sprunghaft ansteigenden Ansammlung aus grauen und silbrigen Gebäuden unterschied. Doch auch hier jagte der stürmische Wind durch die Straßen und trieb Schneeregen vor sich her. Das Wetter machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Von Zeit zu Zeit hielten die orangefarbenen Wagen einer Straßenbahn am Bordstein an und Menschen traten aus dem warmen, stillen Innern hinaus in den ruhelosen und zerrenden Wind. Natürlich waren die meisten von ihnen Ideale, doch es gab auch ein paar Räudige, die auf dem Weg zur Arbeit waren – in den Lagerhallen der Geschäfte oder in einer Restaurantküche. Es waren meist diese Arbeiter, diese Räudigen, die Mira und Jazz zornige
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oder angewiderte Blicke zuwarfen und dann schnell wieder wegschauten. Sie waren die Schlimmsten von allen, schämten sich für das, was sie waren. »Ja, Kumpel? Was haste für’n Problem?«, fragte Jazz ein- oder zweimal aggressiv als Antwort auf solche Blicke. »Du hast’s grad nötig, so blöd zu gucken.« Es war sinnlos, aber Mira konnte ihn trotzdem gut verstehen. Am Rande des wohlhabenden Stadtviertels, dort wo der Abstieg in Richtung des Wassers und der Armut begann, bemerkte Mira einen Polizeitransporter, der vor ihnen anhielt, und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Vier kräftige Gestalten in Grau standen neben dem Wagen und schlürften heiße Getränke aus Plastikbechern, während sie träge einer Sendung auf einem der Straßenmonitore zuschauten. Eine zehnminütige freie Level-EinsSendung, ein Geschenk der Saints – nichts Ungewöhnliches. Später würden die Bildschirme hier in der Stadt die regulären freien Sendungen zeigen, wie hoch im Norden, wo die alte Sarah sie sah, wenn sie zu ihrem Sofa schlurfte … Jedes Mal wenn Mira Polizisten begegnete, musste sie unwillkürlich an Green und Evan denken. »Mach keinen Ärger, okay, Jazz?«, murmelte sie zu dem Jungen. »Lass uns einfach mit dem Essen zurückgehen. Martha wartet bestimmt schon darauf. Bitte.« »Solang sie uns mit Respekt behandeln, Silber-
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schein«, murmelte er zurück. »Das is alles, was ich will. Respekt.« Es hatte keinen Sinn, die Straßenseite zu wechseln oder umzudrehen und einen anderen Weg einzuschlagen. Das würde die Sache nur noch schlimmer machen, denn dann würden sie auffallen. Das Beste war, gleichmütig und doch zielstrebig zu wirken, sodass die Polizisten glauben mussten, sie seien die Mühe nicht wert. Wie zu erwarten war, lösten die vier Männer ihre Blicke von dem Monitor, als Mira und Jazz näher kamen, traten ihnen in den Weg und blockierten ihr Weiterkommen mit ihren massigen Körpern. Sie witterten eine Abwechslung, die ihnen möglicherweise ein bisschen Spaß bringen konnte. »Oho. Was für ein feines Paar, das hier seinen Hund ausführt. Guten Morgen, Miss. Guten Morgen, Sir. Möchten Sie sich nicht vorstellen?« »Guten Morgen, Wachtmeister«, erwiderte Jazz mit einem Grinsen und einer Schärfe in seiner Stimme, von der Mira wusste, dass sie dem Polizisten nicht entgehen würde. »Ich bin Jazz, das hier is Silberschein. Und wer sin Sie?« »Hübsche Namen. Sehr … passend.« Der Mann, ein Sergeant, gab einem der anderen Männer mit dem Finger ein Zeichen, woraufhin der zu dem Transporter ging und in ein Funkgerät sprach. »Also gut. Du da, Silberschein. Kannst du mir deinen richtigen Namen nennen? Und was macht ihr so früh am Morgen hier oben?«
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Jazz lächelte nun nicht mehr, sondern sagte grob: »Silberschein is ein richtiger Name. Sie muss Ihnen gar nix sagen. Warum fragen Sie nich irgendeinen von den anderen Idioten, he, Kumpel? Von denen in der Straßenbahn oder so. Oder darf man die nich belästigen? Sin die zu vornehm?« Ehrwürdige Väter!, dachte Mira. Warum machte er sich bloß ständig selbst zur Zielscheibe? Legte er es denn auf Ärger an? Aber natürlich kannte sie längst die Antwort auf diese Frage. Ohne große Überraschung sah sie zu, wie zwei der Polizisten Jazz mitnahmen, ihn durch die offene Seitentür in den Transporter stießen und anfingen, ihn zu durchsuchen. Sie nahmen ihm die Plastikdosen mit den Essensresten ab, ließen einige zu Boden fallen, bombardierten ihn mit Fragen und Schmähungen und hofften, er würde sich zu einem Angriff hinreißen lassen. Dann könnten sie die Verhaftung durchführen und in die Wärme der Polizeistation zurückkehren. Jazz wand und wehrte sich, aber in Maßen, und bedachte sie mit einer Reihe von Schimpfworten. Irgendwann schließlich schauten die wenigen Menschen, die so früh unterwegs waren, nicht mehr weg; jetzt glotzten sie ganz offen und genossen das Schauspiel, während sie sich fragten, was für ein Verbrechen dieses arme Würstchen von einem Räudigen wohl begangen hatte. Der Sergeant, der bei Mira geblieben war, sagte zu ihr: »Wenn du bitte einfach
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meine Fragen beantworten würdest, Mädchen. Fangen wir mit deinem Namen an.« Mit trübem, blödem Blick, der sich dennoch von den leeren Augen der Drogenabhängigen unterschied, die sich in der Portable Road und bei den alten Docks herumtrieben, sagte sie: »Sie wolln meinen anderen Namen? So wie meine Mama mich ruft?« Der Mann schaute zu seinem Kollegen im Transporter und rollte mit den Augen. »Ja. Den meine ich. Wie ruft dich deine Mama denn?« Sie schien nachzudenken und sagte dann: »Lizzie. Lizzie Hepton.« »Also gut. So ist’s besser.Tja, Lizzie Hepton, es ist ziemlich früh, um bei so einem Wind unterwegs zu sein. Ich frage mich, was du und dein Freund wohl vorhattet.« »Wir ham Essen gesucht«, sagte Mira mit nervöser Stimme und schaute auf ihre Füße. Dort auf den Beton hatte jemand eine grüne Schlange gesprüht. Die Farbe war schon verblasst. Man sah die Schlange seit kurzem überall. »Aus den Mülleimern«, sprach sie weiter. »Weil meine Mama doch krank is. Darum.« Bleib nah an der Wahrheit. Sag das, was am einfachsten ist. Was sie glauben können. Nur nicht den Eindruck machen, dass du etwas verbirgst. Der Sergeant schaute sie an, betrachtete die Lumpen aus Stoff und Plastik, die sie am Körper trug und die mit alten Kordelstücken zusammengehalten wurden. Er blickte in ihr schmutziges, müdes Gesicht
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und ihre leblosen Augen, und sie dachte: Es wird gut gehen. Dieser Mann ist nicht Evan. Vielleicht hat er selbst Kinder. Nachdem sie Evan begegnet war, wusste sie immer, wann jemand eine Bedrohung für sie war und wann nicht. »Aus welchen Mülleimern? Weißt du, wo ihr wart, Lizzie?« Die Spucke auf der Tür des »Crimson« fiel ihr ein – konnten sie schon etwas darüber wissen? Die Tat war den Kameras entgangen, aber sicher durfte man nie sein; alles war möglich. Sie schüttelte den Kopf und sagte dann: »Es war überall orange un grün un weiß vorne, oder?«, als erwartete sie, dass er genau wusste, wo sie gewesen waren. »Aha, du meinst wahrscheinlich das ›Dolce Vita‹. Stimmt’s, Lizzie?« Sie zuckte mit den Schultern und nickte dann einmal dümmlich mit dem Kopf, wobei sie immer noch auf ihre Füße schaute. Am Rande ihres Blickfelds sah sie, dass die anderen Polizisten im Transporter mit der Durchsuchung von Jazz’ Sachen fertig waren. Sein Mund bewegte sich immer noch rasend schnell, ohne dass ihn jemand zum Schweigen brachte. Vielleicht kamen sie doch noch ungeschoren davon. »Nur Schachteln mit ekligen Essensresten, Sergeant«, sagte einer der Männer angewidert. »Also gut«, erwiderte der Sergeant. »Nehmt zur Sicherheit seine Fingerabdrücke und … überprüft mal den Namen von der da. Lizzie Hepton.«
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Mira spürte, wie sich ihre Muskulatur entspannte. Die Namensüberprüfung war kein Problem; Fingerabdrücke wären es sehr wohl. Möglicherweise fand sich in der Datenbank nichts über Lizzie, aber sicher konnte sie nicht sein. Wenn sie auch ihren Fingerabdruck nehmen wollten, müsste sie Fersengeld geben. Dem Himmel sei Dank für die Dummheit. Seine. Und ihre gespielte eigene. Jazz konnte ihr nicht zustimmen. »Warum haste das gemacht, Silberschein?«, fragte er wütend mit verkniffenem und missbilligendem Gesicht, nachdem die Polizisten sie hatten ziehen lassen und sich wieder ihrem Kaffee zuwandten. Sie hatte ihm erzählt, wie ihr Gespräch verlaufen war. »Das ganze Gebrabbel, als wärste erst fünf, das Gebrummel un auf die Füße gucken … Wo is dein Stolz? Willste, dass sie so von uns denken, von uns Räudigen?« »Ich will, dass sie gar nicht an mich denken, Jazz«, erwiderte sie. »Ich wollte nur nach Hause.« »Nach Hause! Is das alles, woran de denkst? Hübsch warm sein un kuschlig un kein Ärger ham mit der netten Polizei? Häh? Ich hab gedacht, du hättst mehr Mumm. Früher war das so, als de zu uns gekommen bist. Wo is das hin? Wo isses geblieben? Scheiße, du hast denen sogar Lizzies Namen gegeben. Was soll das denn?« Mira hätte ihm beinahe ins Gesicht gelacht. Warm und kuschelig! Nae, so hatte sie sich seit langem nicht mehr gefühlt. Doch sie sagte nur: »Lizzie ist das egal.
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Aber trotzdem – ich glaube, du hast Recht. Es ist nicht gut für mich, wenn ich mich so benehme. Es ist nicht gut für Räudige. Aber immerhin war ich es, die ihn an der Nase herumgeführt hat, nicht wahr?« Ihm zu widersprechen – selbst auf so sanfte Weise –, war ein Fehler. Jazz, der Reibereien und Auseinandersetzungen liebte, wollte ihren Standpunkt nicht akzeptieren und hielt ihr Vortrag über Vortrag, den ganzen Weg durch die Stadt und hinunter zum Wasser, bis sie schließlich Kopfschmerzen hatte. Wenn sie den Jungen anschaute – seine zerlumpte Kleidung und sein schmales Gesicht – und seine aggressive Stimme hörte, fühlte sie sich, als ob ständig der scharfe Schnabel eines knochigen Vogels auf sie einpicken würde, der neben ihr herflatterte. Doch irgendwann hatte sich seine selbstgerechte schlechte Laune ausgetobt, und wie immer ohne Übergang grinste er sie plötzlich an und sagte: »Wie wär’s, wenn du jetzt zu Martha gehst un anfängst, den Kram hier zu kochen? Mal sehen, wie viel hungrige Mäuler heut da sin.« »Gut«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln. Jazz war in Ordnung. Wenigstens konnte er denken und hatte Leben in sich. Er war um ein Vielfaches menschlicher als die Gestalten, denen sie in der Nacht begegnete. Kay wachte mit einem Ruck auf. Immer noch hielt er einen Trommelstock umklammert, und vor seinem geistigen Auge stand noch lebhaft das Bild des Mäd-
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chens, das seine Träume heimgesucht hatte. Er war steif, lag verrenkt da, und das Bein, das er unter sich begraben hatte, war eingeschlafen. Sein Gehirn verweigerte ihm den Dienst. Er versuchte, sich zu konzentrieren und herauszufinden, wo um alle Welt er war. Dann sah er die Instrumente, die ihn umringten, erkannte ihre vertrauten Formen. Oh Gott, ja. Er hatte sich, nachdem er gespielt hatte, gegen die Wand des Musikzimmers gelehnt. Er hatte nur für einen Moment die Augen geschlossen, erschöpft durch die Musik. Und natürlich durch letzte Nacht. Heißes Wasser, das war es, was er jetzt brauchte. Und etwas zu trinken. Unsicher rappelte er sich auf die Füße und erkannte, dass auf der anderen Seite des Glasovals bereits die Nacht in die Stadt zurückgekehrt war. Er musste stundenlang geschlafen haben. Schade, dass er sich trotzdem nicht besser fühlte. Sobald er das Türsiegel gelöst hatte, hieß ihn Jane auf ihre ruhige Art willkommen. »Tilly Saint ist während des Nachmittags dreimal in deinem Apartment gewesen. Das dritte Mal wurde sie von Tobias Hedge begleitet, der versuchte, die Tür zum Musikraum zu öffnen, aber damit keinen Erfolg hatte. Ich habe ihm gleich gesagt, dass es nicht funktionieren würde. Du hast Nachrichten von Tomas Saint, Tilly Saint und Clarissa Saint. Soll ich sie für dich abspielen?« »Nein. Lass mir ein Bad ein.« Während des Auskleidens stellte er sich vor, wie Hedge versucht hatte, in den Musikraum einzubre-
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chen und dabei immer wütender und zorniger geworden war und in Anwesenheit seiner Mutter das Gesicht verloren hatte. Es war ein anregender Gedanke. Scheinbar gab es doch so etwas wie Gerechtigkeit. Schließlich hatten sie offenbar die äußeren Schlösser außer Betrieb gesetzt, um überhaupt in sein Apartment eindringen zu können. Er glitt in das Wasser und sagte: »Monitor, bitte.« Jane schaltete ihn ein und fragte: »Wünschst du Computer- oder Empfangsfunktion?« »Empfang.« Auf dem Bildschirm erwachten die letzten Bilder einer freien Sendung zum Leben. Irgendjemand legte gerade zum letzten Mal Hand an einen exquisiten Garten im italienischen Stil, eingebettet in einen geschützten Innenhof mit einem Springbrunnen und Weinranken. Ein Witz. Wer kümmerte sich schon um Gärten? Wer konnte sie während der langen Winter am Leben erhalten, selbst jetzt, da die Temperaturen wieder stiegen? Diese ganze Scharade war bestimmt irgendwo in einem unterirdischen Studio gefilmt oder aber am Computer generiert worden. »Level eins«, sagte er. Auf Level Eins lief eine alte Komödie. Ein reiches, wunderhübsches Ehepaar mit zwei netten Söhnen stritt sich die ganze Zeit miteinander und mit ihren Nachbarn, doch am Schluss fanden sie alle wieder zueinander und erkannten, dass sie letztendlich doch eine Familie waren. Welch eine erlösende Botschaft
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für die Massen! Etwas, worauf man hinarbeiten konnte. »Scheiße. Level zwei.« Eine Tiersendung. Eine Ameisenautobahn, auf der die Insekten kleine Blattstückchen über den Waldboden und zurück zu ihrem Hügel schleppten. Dieses Programm war für die meisten schon unbezahlbar. Nur wenige Räudige konnten sich so etwas leisten. »Level drei.« Sport. Ein Prügelwettkampf irgendwo in der Neuen Welt. »Ohh, das war aber übel«, erklärte der Moderator schadenfroh. »Das müsste er wohl gleich behandeln lassen.« »Vier.« Eine Reportage. Der »Verbrannte Gürtel« in Nordafrika und die Frage, wie man ihn wieder fruchtbar machen könnte, vorausgesetzt man besaß die galaktische Geldsumme, die der Sprecher nannte, und außerdem viel, viel Geduld. Hübsche Luftschlösser. Streicheltherapie für die reichen Idealen. Und zu weit entfernt, als dass in ihnen wirklich das Gefühl erwachsen könnte, sie müssten etwas unternehmen. Gereizt schlug Kay mit der flachen Hand in das dampfende Wasser. »Level fünf.« Nachrichten. »Dreizehn ›Umstürzler‹ wurden heute verhaftet«, erklärte die Frau auf dem Bildschirm, »nachdem sie versucht hatten, das StoneywallFruchtbarkeitszentrum in Wales zu betreten und zu
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beschädigen. Ein Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung erklärte, dass die Motive noch unbekannt seien und dass sich der Schaden in Grenzen hielte. Die dreizehn Verhafteten werden morgen der Justizkommission vorgeführt.« Kein Motiv. Das war ein guter Witz. Typisch für die Saints. Kay zappte sich weiter durch die Levels bis hinein in Bereiche, die kein Räudiger unter normalen Umständen jemals zu sehen bekam. Hier hatten sogar nur die wohlhabendsten Idealen Zugang. Auf Level zehn wurde über eine Reihe von Neuerungen in der Pax, dem Allgemeinen Sicherheitssystem, berichtet. »Die Aktionäre werden heute darüber abstimmen, ob sie den Vorschlag des Vorstands, Jan Barbieri zum Nachwuchsoffizier im Range eines Leutnants zu ernennen, zustimmen wollen. Mr Barbieri, der im nächsten Monat siebzehn Jahre alt wird, hat die PaxAkademie mit Auszeichnung bestanden, und man geht davon aus, dass er mit einem erdrutschartigen Wahlsieg zum jüngsten Leutnant überhaupt gewählt wird. In den letzten viereinhalb Jahren, seit dem Tod von Mr Barbieris Eltern durch die Hände einer Umstürzlergruppe, die sich selbst ›Evolution‹ nennt, hatte die Führungsmacht über die Pax bei einem Komitee aus Aktionären und Vorstandsmitgliedern gelegen, die einander ständig abwechselten.« Ein Bild von Jans gummiartigen Gesichtszügen, eingerahmt von blonden Haaren, wurde gezeigt. Er
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lächelte kaum und zeigte sich unbeeindruckt von all der Aufregung. Die hellgrüne Pax-Kadettenuniform trug er mit elegantem Selbstverständnis. Frustriert schnippte Kay Seifenblasen in Richtung des verhassten wächsernen Gesichts. Sofort erklang Janes gelassene Stimme. »Kay, ich empfehle, den Bildschirm nicht mit Feuchtigkeit in Berührung zu bringen.« Und dann fügte sie übergangslos hinzu: »Tilly Saint steht draußen. Ich habe ihr gesagt, dass du in der Badewanne liegst. Sie bittet, eintreten zu dürfen.« Kann sie mich nicht in Ruhe lassen, nicht einmal für ein oder zwei Stunden?, dachte Kay. Kann ich nicht einmal ungestört ein Bad nehmen? Aber sofort fühlte er sich schuldig. Er hatte immer Schuldgefühle im Hinblick auf seine Mutter. Aus irgendeinem Grund konnte er sie nicht so leicht hassen wie die anderen. Er blieb noch ein paar Minuten im heißen Wasser und wartete, bis sich seine Muskeln entspannt hatten, ließ seine Mutter warten. Doch dann ging er zu ihr. »Kay, mein Schatz«, sagte Tilly und zog ihn, kaum dass er den Raum betreten hatte, in eine weiche, duftende Umarmung. Er hatte sich gerade seinen Bademantel angezogen und rubbelte seine Haare. »Wolltest du mir etwa aus dem Weg gehen? Es ist nicht nett, uns alle so auszugrenzen, weißt du?« In den wenigen Minuten, die er sie hatte warten lassen, hatte der ganze Raum ihren frischen, berauschenden Geruch angenommen.
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»Nur wenn ich spiele«, sagte er und versuchte, sich aus der Umarmung herauszuschlängeln. »Das weißt du doch. Ich grenze niemanden aus. Außerdem hat Jane gesagt, dass du reingekommen bist, als die Schlösser aktiviert waren. Was ist mit meiner Privatsphäre? Ich breche ja auch nicht in dein Apartment ein, oder?« Wieder hörte er selbst, dass er wie ein nörgelndes Kind klang. »Ach, Liebling«, zwitscherte sie. »Einbrechen ist wohl ein bisschen melodramatisch, findest du nicht? Ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen, wo ich doch kürzlich so viel unterwegs war … Du glaubst doch nicht, dass mich ein paar Schlösser von meinem Lieblingssohn fern halten können, oder?« »Oh nein! Du bist gut, Mutter, sehr gut. Ich denke nicht, dass irgendein Schloss dich aufhalten könnte – außer du hättest etwas Respekt vor meinem Privatleben.« Ein kurzer, gekränkter Blick huschte über ihr Gesicht und er fühlte ihren Schmerz. Typisch – sie war so schön wie eh und je, selbst als ihr Mund jetzt zuckte, um deutlich zu machen, dass sie verletzt war. Was davon war echt?, fragte sich Kay. Wie gut kannten sich diese großen, wissenden Augen überhaupt selbst? »Lass uns nicht streiten«, sagte sie. »Erzähl mir, was du so getrieben hast. Ich höre, du bist dem armen Hedge schon wieder weggelaufen, hast dich
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wahrscheinlich mit irgendwelchem Unsinn abgegeben …« Und dann, als er nichts erwiderte: »Nun, ich kann es dir nicht verübeln. Ich würde an deiner Stelle wahrscheinlich dasselbe tun. Was ist es? Die Musik?« Widerstrebend nickte er, überrascht über ihr Verständnis. Er wunderte sich jetzt, dass Tomas kein Wort über seinen einsamen Ausflug verloren hatte. War es möglich, dass Hedge lediglich seine Mutter darüber informiert hatte? »Ja. Bei mir sind es das Skilaufen, die Berge, meine Reisen …« (Und deine Männer, dachte Kay.) »… bei dir ist es eben die Musik. Wir beide geben ziemlich armselige Saints ab, nicht wahr, Liebling? Deine Schwester dagegen scheint wie aus der echten Form gegossen zu sein. Gott segne sie, sie macht keinerlei Anstalten, sich irgendwo hinzuflüchten.« Stimmte das? Waren er und seine Mutter sich so ähnlich? Dafür gab es eigentlich keinen Grund – er war der wahre Außenseiter hier im Haus, nicht sie. Was sie auch sagte, ihre Worte hinterließen ständig das Gefühl der Verwirrung in ihm. Bitter fragte er: »Und warum nimmst du mich dann nicht mit? Wenn du wieder wegfährst?« »Ach, Schatz. Du weißt, das kann ich nicht. Noch nicht. Nicht mitten in deiner Ausbildung. Tomas würde einen Aufstand proben. Er verlässt sich völlig auf deine Zauberkünste in Sachen Elektronik. Er prophezeit dir eine große Zukunft.« Kay ging zu einer Kiste und holte sich saubere
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Kleidung heraus. »Wie das?«, fragte er, während er ihr den Rücken zuwandte. »Wie kann er mir eine große Zukunft voraussagen. Wo ich doch …« »Wo du doch was, Liebling?« Er drehte sich um und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Na, schau mich doch an. Ich bin nicht aus dieser Form gegossen, nicht wahr?« Sie kam zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern – wieder hüllte ihn die Wolke aus frisch duftender Haut und Parfüm ein – und sagte tadelnd: »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst. Alles, was ich sehe, ist ein gut aussehender, kluger junger Mann. Wahrscheinlich spielen deine Hormone im Moment ein bisschen verrückt. Das ist alles. Mach dir keine Sorgen, Liebling, das geht vorbei.« Wie sehr er sich wünschte, ihr glauben zu können. Wie plausibel ihre Worte klangen. Er könnte jetzt einfach ihre Umarmung erwidern, könnte sie »Mama« nennen und hart arbeiten, um seine Ausbildung zu beenden und mit ihr auf Reisen gehen zu können. Die beiden Saints, die die Flucht liebten. »Soll ich uns etwas zu essen heraufbringen lassen?«, fragte er. »Es ist bestimmt schon Abendbrotzeit.« Doch noch bevor sie antwortete, wusste er, was sie sagen würde. »Oh, Kay. Das würde ich wirklich gerne tun, aber Christo erwartet mich. Ich komme ohnehin schon zu spät. Ich bin nur geblieben, weil ich dich sehen wollte. Wir müssen heute zu dem Empfang des Botschaf-
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ters der chinesischen Sendeanstalten gehen. Es wäre nicht ratsam, den armen Mann zu kränken. Du siehst also, selbst dieses Mitglied der Saint-Familie kann nicht tun und lassen, was es will. Wir sind niemals Herr über unsere Zeit. Du solltest deine nächtlichen Streifzüge durch die Stadt genießen, solange du sie dir noch leisten kannst.« Sie lachte ihr hübsches, glockenhelles Lachen, und Kay fragte: »Haben sie dort auch Dissidenten? Abweichler von der offiziellen Meinung? In China, meine ich. Und ist dieser chinesische Botschafter genauso verhasst wie wir hier?« Wieder schaute sie gekränkt drein, enttäuscht von ihm, sodass er schamrot wurde. »Wirklich, Kay! Du kannst einem schon auf die Nerven gehen. Er ist ein vollkommen charmanter Mann. Und jetzt muss ich gehen.« Was davon war echt? Woran konnte er sich halten? »Es gibt weitere Nachrichten von Tomas Saint«, sagte Jane in ihrer beruhigenden, entspannten Art, sobald sich die Tür geschlossen hatte. »Soll ich sie abspielen?« »Ja, in Ordnung, lass hören. Und bitte schließ die Tür wieder ab.« »Tür ist abgeschlossen. Nachricht von Tomas Saint, empfangen 19.42 Uhr: ›Bist du da? Deine Ausbilder haben mich darüber informiert, dass du mit dem Unterricht
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mehr als dreißig Stunden im Rückstand bist.‹ (Hier folgte eine Pause, während der alte Mann sich lautstark räusperte.) ›Einunddreißig Stunden und zweiundzwanzig Minuten, wenn du es genau wissen willst. Jetzt komm schon, mein Junge. Lass mich nicht hängen. Ich erwarte, dass du den Rückstand in den nächsten zehn Tagen aufholst. Und ich erwarte auch, dass du dich mindestens einmal am Tag bei Tisch blicken lässt und mir erzählst, wie du vorankommst. Du kannst es dir nicht leisten, ausgerechnet jetzt schlampig zu werden. Nächstes Jahr wartet auf dich eine Stelle in der Abteilung Systemdesign, wenn du mir beweist, dass du es in dir hast.‹« Oh Gott. »Jane, bitte kontaktiere Terry und sage ihm, dass ich heute Abend für drei Stunden Unterricht vorbeikomme.« »Selbstverständlich, Kay.« Mit einem trostlosen Gefühl im Magen zog er sich an, machte sich eine Kleinigkeit zu essen und verließ das Gebäude. Noch bevor sich der Haupteingang hinter ihm geschlossen hatte, war sein unvermeidlicher Schatten hinter ihm her. Harte Hagelkörner trommelten und klapperten auf den dunklen Boden. Wie viel von dieser ganzen Scheiße war echt?, fragte er sich. Eine Stellung bei den Systemdesignern? Das schien unwahrscheinlich. Viel zu viel Macht und Verantwortung für eine Missgeburt wie ihn, der keinen Grund hatte, das Netzwerk zu lieben. Während
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er die kurze Strecke den Hügel hinab zum Systemkomplex lief, schlug ihm der Hagel ins Gesicht, und der Gedanke drängte sich auf, dass dies alles kein Zufall war – Tillys Besuch zur selben Zeit, als Tomas ihm diese Nachricht hinterließ. Spielten die beiden – seine Mutter und der alte Mann – bloß mit ihm? Zogen sie alle Register, um ihn auszutricksen? Lebhaft erinnerte er sich daran, wie sehr er seiner Mutter heute Abend hatte glauben wollen, und zuckte bei dem Gedanken zusammen. Okay, na schön. Aber er hatte etwas, was echt war. Etwas, was nichts damit zu tun hatte, dass er ein Saint war. Etwas, woran kein Zweifel bestehen konnte … »Na, wie geht’s uns denn, Hedge?«, rief er zornig über seine Schulter zurück, obwohl er den Mann nicht sehen konnte. Es war gegen die Regeln, seinen Schatten anzusprechen, und Hedge würde ihm nicht antworten. Später, nach drei Stunden mit Terry, würde er sich einen neuen Club suchen, irgendwo am anderen Ende der Stadt. Und danach würde er durch die Portable Road gehen und das Mädchen wieder sehen. Der arme Hedge. Das würde ihm sicher nicht gefallen. Kay dachte daran, wie seine Schwester ihn gefragt hatte: »Warum machst du das?«, und er grinste in sich hinein. Seine Laune besserte sich zusehends. Er konnte ja nichts dafür, schließlich war er nicht »aus der Form gegossen«, nicht wahr?
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13 »Ich weiß deinen richtigen Namen nicht und ich will ihn auch gar nicht wissen«, hatte Sean gesagt. »Aber du solltest dir einen neuen zulegen, den du in der Stadt benutzen kannst.« »Was für einen Namen?«, hatte sie erstaunt gefragt. »Ach, du wirst merken, dass die meisten Räudigen dort unten bei den Docks sich irgendwelche Fantasienamen zugelegt haben, Mädchen. Da ist alles Mögliche dabei, wirst schon sehen. Fleischkloß oder Sonnenaufgang oder Muschel oder Kotze. Was du willst. In die Hauptstadt kommen so viele, die nicht erkannt werden wollen, egal aus welchem Grund. Und es werden immer mehr, denn das Wasser steigt weiter.« Sie kicherte. »Da möchte ich doch lieber Muschel als Kotze heißen, so viel ist sicher.« »Aye. Du bist keine Kotze. Aber du musst dir den Namen aussuchen. Einen, mit dem du dich wohl fühlst. Und gewöhne dich schon jetzt daran, hier auf dem Schiff. Dann verplapperst du dich nicht, wenn man dich dort nach deinem Namen fragt. Sonst nennst du womöglich noch den richtigen.« Und so wurde sie zu Silberschein. Die Entscheidung fiel an einem Tag, an dem plötzlich ein Sonnen203
strahl die Wolken durchdrang und die endlosen Wasser zum Glänzen brachte. Die ganze Mannschaft nannte sie nun so, bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie von den Männern überhaupt angesprochen wurde. »Aber denk dran«, hatte Sean sie gewarnt, »ein neuer Name ist nicht genug. Du musst auch dein Aussehen verändern – das ist sehr wichtig – und die Art, wie du redest. Und selbst dann können sie Mittel und Wege finden, um dich aufzuspüren. Sie können deinen Fingerabdruck scannen, deine DNA und Gott weiß was noch, wenn sie es drauf anlegen.« »Wer sind sie?« »Diejenigen, die dich gejagt haben.« »Aye, aber wer sind sie?« Er seufzte. Er hatte sich von ihr abgewandt und war über eine Tafel voller Lichter und Anzeigen gebeugt, prüfte mit seinen Instrumenten den Kurs des Schiffs. »Das weiß ich nicht genau.« »Aber warum hilfst du mir dann?« Das förmliche »Sie« hatte sie nach ihrer Rettung an der Pfahlbrücke fallen gelassen. »Ich mag sie einfach nicht, Mädchen, wer immer sie auch sind. Lassen wir’s dabei bewenden.« Er weiß es genau, dachte sie. Er weiß genau, wer sie sind, will es mir aber nicht sagen. Es schien fast so, als ob er, trotz seiner Freundlichkeit, trotz der Tatsache, dass er den Jägern ihre Beute entrissen hatte, nicht in der Lage war, ihr zu vertrau-
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en. Er saß da mit einem verschlossenen Gesicht und hörte sich geduldig und mitfühlend ihre Geschichte an. Selbst die Ereignisse mit Gil und Green, die sie zu einer zweifachen Mörderin machten. Und am Ende – nichts. Keine Verurteilung, kein Kommentar. Kein Rat, wie sie sich in der Hauptstadt verhalten oder zurechtfinden sollte, außer dem Hinweis, ihren Namen, ihr Aussehen und ihre Sprache zu verändern … »Sieht ganz so aus, als ob du eine Kämpfernatur wärst«, sagte er mit einem Augenzwinkern und einem knappen Lächeln. »Kein Zweifel, du wirst deinen Weg machen, wenn du da bist. Alles, was du brauchst, findest du in dir selbst. So wie wir alle.« Sie hatte es nicht begriffen. Vielleicht hatte er ihrer Geschichte überhaupt keinen Glauben geschenkt und verspottete sie nun, bereute es schon, dass er sich hatte hinreißen lassen, diese verrückte Ausreißerin an Bord seines Schiffes zu holen. Sie sagte: »Dann sag mir wenigstens dies: Wer ist die Frau, die ich auf dem Bildschirm gesehen habe?« »Welche Frau meinst du, Mädchen?« »Als du mich an Bord getragen hast, oder kurz danach, da sendeten sie einen Bericht über eine Frau. Sie lächelte. War glücklich. Sie sagten, sie hieße Tilly Saint.« Er neigte einen Moment lang schweigend den Kopf. Wieder hatte sie das Gefühl, als überlegte er genau, wie viel er ihr anvertrauen konnte. Dann sagte
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er: »Sie gehört zur Saint-Familie. Das sind die, die die Sendeanstalten kontrollieren, und natürlich auch die Computer. Das Saint-Netzwerk, kommt dir das bekannt vor? Allerdings sieht man sie nur äußerst selten in den Sendungen, die wir hier uns leisten können, das kann ich dir sagen. Nur die eine, Tilly, von Zeit zu Zeit. Die ist ständig auf Reisen, mal hier, mal da.« Und dann, mit einem schiefen Grinsen: »So ein hübsches Gesicht kriegen wir armen Räudigen nicht alle Tage zu sehen.« Und mehr konnte oder wollte er nicht über Tilly Saint sagen. »Dann erzähle mir etwas über die Räudigen«, beharrte sie. »Bist du einer von den Räudigen, Sean?« Da hatte er sie offen und ohne Scheu angelacht. »Aye, kein Zweifel, das bin ich, gesegnet sei meine gute alte Mutter! Sie hat alles dem gütigen Gott im Himmel überlassen und mich geboren.« Doch mehr war nicht aus ihm herauszubekommen, bis zu dem Tag, an dem sie schließlich an ihrem Anlegeplatz am windgepeitschten Ufer der Hauptstadt ankerten. Sie waren nur eins von hunderten von Schiffen, so schien es jedenfalls, die neben dem dunklen Massiv aus Gebäuden und Menschen lagen, das sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Jetzt da der Abschied gekommen war, hätte Mira ewig auf dem grünen Schiff bleiben können – sie spürte kein Verlangen, die Stadt zu betreten. Doch das Schiff wurde ausgeladen und neue Fracht wurde aufgenommen und noch vor
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der Abenddämmerung wollte Sean wieder die Segel setzen. »Du wirst es schon schaffen«, sagte er freundlich zu ihr und stellte sich neben sie an die Reling. »Denk einfach daran, was ich dir gesagt habe. Verändere alles an dir. Verrate nichts über dich. Und wenn man dich fragt, erzähle eine falsche Geschichte. Du bist einem Vater weggelaufen, der dich geschlagen hat. Du kommst von einem Bergbauernhof, wo die Schafe erfroren sind. Und vergiss nicht: Auch die Fragen, die du stellst, können zu viel verraten. Sei vorsichtig, Mädchen.« »Silberschein.« »Aye, Silberschein.« Während der zwei Stunden, die das Umladen dauerte, blieb sie auf dem stürmischen Deck, zögerte das Unausweichliche hinaus und schaute zu, wie zusammengebundene, roh behauene Holzplanken und Körbe voller Fische aus dem Laderaum ausgeladen und stattdessen Maschinenteile und Saatgut dort verstaut wurden. Die Männer arbeiteten schnell, ohne viel zu reden, hielten sich durch die Bewegung warm und waren offensichtlich darauf erpicht, so schnell wie möglich wieder aufs Meer hinauszufahren. Als der letzte Sack an Bord war, ging sie mit ihren wenigen Habseligkeiten über die Planke hinüber zum Kai und schaute ihrem einzigen Freund nach, der sein Schiff davonsteuerte, während er scharfe Kommandos durch die offene Tür des Steuerhauses rief.
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Auf einem anderen Schiff, irgendwo in dem Gewühl aus Seglern auf dem unruhigen Wasser, fing eine dünne Frauenstimme an zu singen. Seht die Schlange, sie erwacht. Ihre Augen blicken euch an, gesegnete Kinder: Es ist Liebe. »Hör auf mit dem blöden Quatsch und halt die Klappe!«, rief eine andere Stimme verärgert. Tomas Saint saß wie so oft allein an seinem Arbeitstisch – eine blanke Oberfläche aus Teak, leicht geriffelt durch die Maserung des Holzes. Ein Glas mit dunklem, zähflüssigem Brandy stand in Reichweite seiner rechten Hand, doch der alte Mann saß unbeweglich da und hatte die Augen halb geschlossen. Eine Reihe kleiner Bildschirme flackerte vor ihm und über ihm. Die Monitore über seinem Kopf waren an der Decke befestigt und nach unten geneigt. Hinter ihm fiel die Stadt – seine Stadt – steil ab bis zu den Docks, wie immer geprügelt und gepeitscht von Sturm und Schauern. Ein hassenswerter Ort, angefüllt bis oben hin mit undankbaren Kreaturen, die keine Ahnung von der Last hatten, die er tragen musste. Auf den Bildschirmen bewegten sich etliche Mitglieder seines Personals durch das Gebäude, bereiteten Mahlzeiten vor, führten Sicherheitsüberprü-
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fungen durch und arbeiteten an den Sendungen. Das Gebäude war groß – ein Bienenstock voller Aktivität, zwanzig Stockwerke oberhalb der Erde und acht darunter. Auf einem der winzigen Monitore betrat gerade Clarissa einen großen, leeren Raum und begann mit ihrer Trainingsstunde für den Wettkampf. Tomas bemerkte sie sofort und murmelte: »Dreiundzwanzig: vergrößern.« Lautlos wuchs das Bild vor ihm. Tomas mochte es nicht, wenn die Computer in seinen Räumen sprachen, außer es war unbedingt nötig. Clarissa wärmte sich auf und stürzte sich dann in die Trainingssimulation. Dabei trug sie einen Helm und wirbelte herum, stieß und schlug nach Gegnern, die nur sie sehen konnte, ließ sich urplötzlich mit vor der Brust gekreuzten Armen fallen, um einem Haltegriff zu entgehen, rollte sich rückwärts ab und sprang auf die Füße, während sie ihren Siegschlag ausführte. Keine Sekunde lang verlor sie ihr Gleichgewicht oder ihre Grazie … Sie bewegte sich leichtfüßig, geschmeidig und selbstsicher, hatte ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf den Kampf ausgerichtet. Eine würdige Partnerin für den Barbieri-Jungen, in mehr als einer Beziehung, dachte er. Und doch … Schweigend brütete Tomas über all die Möglichkeiten nach, über die unterschiedlichen Resultate von Ursache und Wirkung. Selbst wenn er es nicht wahrhaben wollte, er spürte die Erschöpfung seines Körpers. Für ihn gab es keine Rast. Niemals.
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Auf dem Bildschirm Nr. 23 beendete Clarissa schwer atmend ihre Übung, zog mit einem raschen Griff den Helm ab und schleuderte ihn zur Seite. Sie schaute auf ihre rechte Hand, deren Finger abgespreizt waren, und wandte sich dann der kleinen Kamera zu. »Hast du das gesehen, Großvater? Bist du beeindruckt?« Sie kicherte, dann änderte sich ihre Stimmung so schnell, wie sich ein Wetterfähnchen dreht, und sie sagte gereizt: »Aber ich habe mir einen Nagel abgebrochen.« Sie wedelte mit der Hand vor der Kamera herum, damit er es sehen konnte. »Dreiundzwanzig: verkleinern«, sagte Tomas seufzend. Er hob den Brandy an seine Lippen und schloss die Augen nun ganz, um den Geschmack zu genießen. »Du bist neu hier, nich wahr?« Ein Mädchen, etwa in Miras Alter – vielleicht ein Jahr jünger – stand ein bisschen abseits am Kai, als Mira das Schiff verlassen hatte, und schaute jetzt verwirrt drein, als würde sie versuchen, sich an etwas zu erinnern. Sie trug eine übergroße Jacke aus zusammengeflickten Fetzen und an den Beinen schwarze, spinnenwebartige Strümpfe. Ihr Gesicht war mit Schmutz und Öl verschmiert und ihre Augen schauten leer und desinteressiert. Mira hatte nur genickt – Seans Worte über die Art, wie die Menschen hier sprachen, klangen ihr noch in
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den Ohren. Sie konnte kaum leugnen, dass sie neu hier war: Das Mädchen hatte sie ja von Bord kommen sehen. »Haste Hunger? Ich kenn jemand, der dir was zu essen geben kann un so ’n Zeug. Un auch ’nen Platz zum Schlafen, wo’s nich windig is.« Mira nickte wieder und fragte sich, was mit den Augen des Mädchens los war. »Du redest wohl nich viel, was?«, fragte das Mädchen mit trüber Stimme. »Na, komm schon. Ed kümmert sich schon um dich.« Widerstandslos war Mira hinter ihr hergetrottet. Der Akzent des Mädchens klang so ähnlich wie Evans. Vielleicht hatte sie richtig vermutet und die Plünderer kamen tatsächlich aus der Stadt. Aber sie hatte Evan gut zugehört; mit ein bisschen Übung würde sie bald genauso sprechen können. »Du da, wie is dein Name?«, fragte das Mädchen lustlos und kletterte über ein paar Metallstangen, die, von irgendwo kommend, hierher führten und die schon teilweise im Boden eingesunken waren. »Silberschein«, antwortete sie und suchte in ihrer Erinnerung nach Evans Stimme, gab ihrer eigenen einen nachlässigen, schlurfenden Klang, verschwommener und unklarer als sie zu Hause gesprochen hätte und mit einem tieferen Ton. Plötzlich erklang ein schrilles Quietschen und eine schmale Reihe von Metallkästen auf Rädern kam in hoher Geschwindigkeit auf den Stangen entlangge-
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rast. Mira sprang erschrocken zur Seite. Das schmutzige Mädchen lachte – ein pfeifender, unwirklich klingender Lärm aus einer rauen Kehle – und sagte: »Ich würd an deiner Stelle nich auf den Schienen stehen bleiben, Silberschein. Komm weiter.« Eine Minute später wandten sie sich vom Wasser weg und bogen in eine enge Gasse zwischen zwei Lagerhäusern ein. Ein Junge mit scharfen Augen und einem ebenso scharfen Gesicht unter kurzem, abstehendem gelben Haar, der auf einem Poller saß, beobachtete sie und schüttelte langsam seinen Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich würd da nich reingehen«, rief er. Zu seinen Füßen kläffte ein kleiner, zerzauster Köter, als wollte er den Worten Nachdruck verleihen. Ed, der »sich um sie kümmern« würde, entpuppte sich als ein riesiger, schwer atmender Turm von einem Fettkloß mit einem Babygesicht. Das winzige, offene und windschiefe Haus, in dem er hockte, war nicht größer als der Unterstand für den Motorschlitten daheim in den Bergen und lehnte sich an die Seitenwand eines der Lagerhäuser. In der dämmrigen Gasse hielten sich weitere Mädchen und auch Jungen auf, die Miras Führerin frappierend ähnelten: Sie kauerten auf dem Boden, schliefen unter Plastikplanen oder standen still und mit geschlossenen Augen da. Es war, als hätte eine Krankheit sie befallen. Mira fragte sich, ob dieselbe Krankheit über dem ganzen dunklen Massiv lag, das man Stadt nannte. Hier bei
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diesen seltsamen, beängstigenden Träumern würde sie ganz sicher nicht bleiben. »Tut mir Leid«, sagte sie zu Ed, als er sich keuchend aus seinem Stuhl erhob. »Ich glaube, es liegt ein Missverständnis vor. Trotzdem vielen Dank.« Und sie wandte sich zum Gehen. Aber Ed hatte bereits eine kleine Handglocke genommen – von einem Tisch, der im Vergleich zu seiner Hand zwergenhaft wirkte – und damit geläutet. Sogleich tauchten direkt hinter Mira zwei große Schatten auf, zwei Männer. »Eine Sekunde, Herzchen. Renn doch nicht gleich wieder weg, wo du gerade erst angekommen bist«, sagte er. Dann wandte er sich zu dem Mädchen, das Mira hergebracht hatte und nun gleichgültig danebenstand und zu Boden schaute: »’ne Neue, was?« »Ja, Ed«, murmelte das Mädchen tonlos. »Sprich lauter und heb den Kopf hoch! Wie heißt sie?« »Nennt sich Silberschein«, sagte sie, nun etwas lebhafter. »Auf welchem Schiff is sie angekommen?« »Eins aus dem Norden, Ed. Die Helicon.« »Liegt die noch im Hafen?« »Nein, Ed.« »Hmm. Is ’n hübsches Ding, was? Un guckt euch die Klamotten an: echte Wolle un so. Die könnt glatt ’ne Ideale sein, was, Lizzie?« Der fette Mann hob seine Wurstfinger hoch, nahm
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eine Locke von Miras Haar und ließ sie wieder fallen, wobei er anerkennend grunzte. Sie trat einen Schritt zurück und sagte so ruhig sie nur konnte: »Bitte fassen Sie mich nicht an.« »Schon gut, Mädchen, reg dich nich gleich auf. Ich wollt dir nich zu nahe treten. Nun, was können wir für dich tun? Du brauchst bestimmt ’ne Menge Sachen. Information. Ein Platz zum Schlafen. Arbeit. Identität.« Er warf ihr einen raschen, listigen Blick zu. »Identität is besonders begehrt bei euch Neuankömmlingen. Kein Wunder, was? Un wir bieten den besten Service hier am Hafen, genau hier. Der Preis is Verhandlungssache. Wer weiß, für’n bisschen was extra machen wir aus dir ’ne waschechte Ideale. Wenn du willst. Mit ’nem Stammbaum un allem Drum un Dran. Ham wir schon früher hingekriegt. Nich oft, aber dann un wann – un du hast das richtige Gesicht dafür. Was sachste dazu, he? Aber«, und jetzt veränderte sich sein Ton, »eins nach dem anderen: Wie willste uns bezahlen, Herzchen?« Sie stellte sich vor, dass die Worte direkt aus Evans Mund kämen, und sagte: »Ich hab nix, womit ich euch bezahlen könnt, un ich hab auch nix von euch gewollt. Ich muss jetzt gehn. Wirklich, muss ich. Lizzie hier hat wohl, was mich betrifft, ’nen Fehler gemacht.« Sofort ruckte der Kopf des anderen Mädchens nach oben. Erstmals zeigte sie ein Gefühl: Angst. »Wirklich nich, Ed«, brabbelte sie. »Echt nich. Ich hab
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gesehn, wie sie vom Schiff gekommen is, un hab gefragt, ob sie neu hier is un ob sie wüsst, wo sie hinsoll un alles, so wie du’s gesagt hast. Die isses, die lügt.« Mit käsebleichem Gesicht fing sie an zu schluchzen. »Halt’s Maul, Lizzie«, sagte Ed abschätzig. »Ich sag dir, wenn du den Wasserhahn anstellen sollst, Mädchen.« Dann wandte er sich zu Mira: »Soso, du scheinst ja Mumm in den Knochen zu haben. Hast ’ne rasche Auffassungsgabe un all das. Das gefällt mir. Aber denk dran: Du bist zu mir gekommen, klar? Un ich hab schon kostbare Zeit an dich vergeudet. Hab dir ’nen Platz hier in der großen Stadt angeboten, stimmt doch, oder? Also schuldest du mir bereits was. Das is ja wohl das Mindeste. Aber was soll’s – vergessen wir das einfach un überlegen uns ’ne hübsche neue Identität für dich. Du wirst’s nich bereuen. Ich mag dich nämlich, weißte.« »Ich hab’s doch schon gesagt. Ich hab nix.« Zwischen den dicken Hautfalten glitzerten die winzigen Äuglein. »Na, du hast Glück, Herzchen. Das kriegen wir schon hin. Du erledigst einfach ’nen kleinen Job für mich, bis deine Schulden bei mir erledigt sin, kapiert? Un danach machen wir den Preis für die andere Sache aus. Siehste, ich bin ein gerechter Mann.« Er war wieder einen Schritt näher gekommen. Einer der wulstigen Finger stieß gegen ihre Gürteltasche. »Aber erst lässte mich mal ’nen Blick da reinwerfen. Was ham wir denn da drin, he?
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Man kann nie wissen, vielleicht isses ja schon genug.« Doch der Blick seiner Augen strafte seine Worte Lügen. Mira bekam langsam eine Ahnung davon, wie das Leben für die Jungen und Mädchen aussah, die das Pech hatten,Ed etwas »zu schulden«. Sie konnte fühlen, wie die beiden schweigenden Riesen hinter ihr gegen ihren Nacken atmeten. Im Schatten stand das Mädchen namens Lizzie und schaute wieder auf ihre Füße. Sie sperrte die Welt aus. Von dieser Seite konnte Mira wohl nicht mit Hilfe rechnen – und auch von keiner anderen Seite. »Zier dich doch nich so«, sagte Ed gierig. Mira zog den Reißverschluss auf und zeigte es ihm. »Was is ’n das, wenn’s fertig is?«, keuchte der fette Mann enttäuscht. »Is doch nur Schrott, oder?« »Man setzt es so zusammen, sehen Sie?« Sie hatte auf dem Schiff geübt, unzählige Male, während sie an Deck gesessen, aufs graue Meer hinausgeschaut hatte und von der Gischt durchnässt worden war. Jetzt fanden ihre Hände den Weg im Schlaf. In weniger als zwei Sekunden rasteten die Streben nun ein, bei Tag oder bei Nacht. »Immer langsam«, sagte Ed. »Wir wollen doch nix überstürzen, was? Ich bin sicher, wir werden uns einig, Herzchen, ohne dass einer dem andern was übel nimmt.« »Bitte sagen Sie den beiden, dass sie den Ausgang
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frei machen«, erklärte sie knapp und deutete auf die zwei Gestalten hinter ihr. »Und dann begleiten Sie mich bis zum Ende der Gasse. Dann verschwinde ich. Und keiner nimmt dem anderen was übel, wie Sie gesagt haben.« Zum zweiten Mal erwachte das andere Mädchen, Lizzie, zum Leben und zeigte ihre Furcht. Sie schaute mit runden Augen und geöffnetem Mund zu. »Oh, tu ihm nich weh, Silberschein. Er bringt mich sonst um! Oder die andern tun’s. Weil ich dich hergebracht hab un so.« »Du kannst mitkommen, wenn du willst.« Allein die Vorstellung stürzte das Mädchen in tiefe Verwirrung. »Aber ich kann nich. Ich kann nich.« Mira ließ sie, die immer wieder dieselben Worte – »Ich kann nich!« – wiederholte, stehen. Lizzie trat von einem Fuß auf den anderen und hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen, während Mira und Ed das windschiefe Haus verließen. Sie gingen die Gasse entlang, Ed lief voraus und sie stieß ihn von Zeit zu Zeit mit der Spitze ihrer Armbrust an. »Na, na«, keuchte Ed unbeholfen über seine Schulter, »sei vorsichtig mit dem Abzug da. Kein Grund, Blut zu vergießen.« »Gehen Sie einfach weiter.« Am Ende der Gasse beobachtete sie der blonde Junge mit scharfen Augen. Ein plötzliches Grinsen zuckte über sein Gesicht und er entblößte zwei Reihen krummer Zähne. Die losen Enden seiner zer-
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lumpten Kleidung flatterten im Wind und umwehten ihn, sodass sie aussahen wie das Gefieder eines zerzausten Vogels. »Okay«, sagte Mira zu ihrem Gefangenen, »drehen Sie sich jetzt um. Gehen Sie wieder in Ihr Haus. Und schauen Sie nicht zurück.« Und Ed gehorchte grummelnd. Der Junge hatte seinen langen, schlaksigen Körper auseinandergefaltet und kam zu ihr. Der Hund folgte ihm auf dem Fuße. »Zeit, sich davonzumachen, aber dalli, neues Mädchen. Die Sache eben hat Ed sicher nich gefallen. Un es is nich gut, sich in dieser Gegend Ärger einzuhandeln, noch dazu, wo du grad erst angekommen bist. Das wirste schon noch lernen.« Noch bevor er geendet hatte, ertönte aus der dunklen Gasse ein Wutschrei, gefolgt von einem ängstlichen Kreischen, und Lizzie stolperte hinaus in das graue Nachmittagslicht, blinzelte und rannte auf sie zu. Hinter ihr hallte das Geräusch von schweren und schnellen Schritten wider. »Schnell! Komm schon, beweg dich!«, sagte der Vogeljunge entschlossen. »Nimm ihre Hand, neues Mädchen – sonst schafft sie’s nich – und dann lauf!« Er selbst packte Lizzies andere Hand und jagte mit seinen schlaksigen, knochigen Gliedern über den Kai und dann links hinauf auf den Hügel, durch enge, steile Straßen auf das Herz des dunklen Stadtmassivs zu. Der Hund hüpfte verspielt neben ihnen her, bellte und sprang an seinem Herrn empor, der ihn mit den
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Worten »Jetzt nich, Sockel!« beiseite schob. Als sie schließlich stehen blieben, schweißnass in dem scharfen Wind, befanden sie sich auf einer Allee inmitten von unzähligen Menschen. Der Junge hustete dreioder viermal rasselnd, verzerrte sein bleiches Gesicht und spuckte ausgiebig auf den Asphalt aus. Dann grinste er Mira an. »Ich bin Jazz«, sagte er, »un für deinen ersten Tag in der Stadt haste schon mächtige Scheiße gebaut, was?« Der Hund bellte zustimmend. Das Mädchen, Lizzie, sagte kein Wort. Sie sah aus, als ob sie darauf wartete, aus einem Traum zu erwachen, den sie nicht verstand. Mira beneidete sie fast.
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14 Der Trick war, nicht direkt danach zu suchen – niemand würde einfach alles dokumentieren, sodass jeder Idiot mit dem richtigen Passwort Zugang dazu hätte. Stattdessen musste man auf versteckte Spuren achten, die das Gesuchte im Netzwerk hinterlassen hatte. Außergewöhnliche Kreditbewegungen, Personalakten und Beschäftigungsfluktuationen der winzigen Trabantensiedlungen, die auf den vereinzelten Inseln in dem überfluteten Land verteilt waren, auffällige Genehmigungen der Geburtenkommission. Letzteres war besonders interessant, wobei zu bedenken war, dass es eine solche Genehmigung womöglich nicht gab. Es war eine schier unlösbare Aufgabe, aber Kay war gut – dessen war er sich bewusst. Er konnte sich beinahe selbst in den Stromkreisen verlieren, ähnlich wie in seiner Musik. Und deshalb war er auf beiden Gebieten fast unübertroffen. Eine Möglichkeit, sein Ziel zu erreichen – der leichte Weg –, war, dem Computergehirn einzugeben, welche Informationen er benötigte: Er musste nur die einzelnen Daten und Statistiken abfragen und konnte sich dann zurücklehnen und abwarten, bis das Suchergebnis vorlag. Es war nicht nötig, sich quer durchs Netzwerk zu schlängeln. Normalerweise hätte er diesen Weg ein220
geschlagen, den Weg, den Terry ihm beigebracht hatte. »Betrachte das System als ein Werkzeug«, bläute Terry Kay immer wieder ein. Seine Augen hinter den Brillengläsern, die er eigentlich gar nicht brauchte, waren groß und ernst. »Ein Werkzeug, das in der Lage ist, jede Aufgabe zu lösen … wenn du in der Lage bist, ihm die Aufgabe zu erklären.« Es war allgemein bekannt – obwohl niemand darüber sprach –, dass auf diese Weise (unter anderem) die Saints, Pax und die Vorsitzenden der Geburtenkommission ihre Machtposition behaupteten. Ein Netzwerk, das mit stimmengesteuerten Systemen bedient wurde, tat alles, was man von ihm verlangte. Tastaturen waren überflüssig. Doch die Stimmeneingabe war nicht sicher, hinterließ im Computer deutlichere und leichter zu erkennende Spuren der Schritte, die man durchlaufen hatte. Deshalb hatte Terry ihm erstens beigebracht, wie man die Computer dazu bewegte, ihr eigenes Datenpotenzial zu durchsuchen und zu ordnen, ohne dass der Benutzer die eigenen Absichten klar zum Ausdruck brachte, und zweitens – eine Lektion für Fortgeschrittene –, wie man sich in das Netzwerk einschleichen konnte, ohne dabei auch nur den kleinsten Fingerabdruck zu hinterlassen. Diese überraschende Unterweisung hatte in jener Nacht begonnen, in der er seinen neuen Club gefunden hatte, nach Tomas’ Vorwurf, er würde seine Ausbildung vernachlässigen. Kay war überrascht
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über das Maß an Vertrauen. Vielleicht hatte niemand seinen Lehrer darüber informiert, dass er eine Fälschung war, keine echte Ausgabe, kein richtiger Saint. Doch über dieses Sahnehäubchen auf dem Kuchen würde er, Kay, sich ganz sicher nicht beschweren … und besonders jetzt nicht, wo er das Wissen gut gebrauchen konnte. Es war unwahrscheinlich, dass niemand in der Lage war zu erkennen, dass er im System herumgewühlt hatte – er war zwar gut, aber noch nicht perfekt –, doch mit etwas Glück würden die schwachen Spuren, die er zurückließ, nicht verraten, wonach er gesucht hatte. Bislang übrigens ohne Erfolg. Er hatte außerdem einen neuen Ort gefunden, an den er sich zurückziehen konnte, um seinen Geist auszuruhen, seine Musik zu spielen und alle Probleme zu vergessen. Vor drei Nächten hatte er den Club entdeckt, hatte Hedge, der lautstark fluchend zwischen dem Marmor und den Stahlsäulen des riesenhaften Komplexes am Indigoplatz herumirrte, hinter sich gelassen und war in einen Teil der Stadt eingetaucht, den er bislang noch nicht kannte, ein Viertel, das fast an den westlichen, landeinwärts gerichteten Rand der Stadt anstieß, eng an die hohen Mauern gekauert. Der eue Club, »Movies«, war kleiner, weniger gut ausgestattet, und auch die Atmosphäre ließ zu wünschen übrig – dort gab es keine wirbelnden Nebeleffekte –, doch die Leute, die dorthin gingen, liebten die Musik über alles. Und während man dort
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war, war die Musik das Einzige, was zählte, für jeden, egal ob Räudiger oder Idealer. Wie eine gigantische Schlange wand sich der Rhythmus in die Herzen der Tänzer. Danach, nach der großen Feier, hatte er in der Nähe eine Straßenbahn entdeckt, die ihn hinunter zur Portable Road bringen würde, wenn er es wünschte. Die Linie verkehrte jede halbe Stunde während der ganzen Nacht – doch in einer Straßenbahn gab es unweigerlich Kameras. Natürlich fanden die sich auch entlang der Straßen, doch dort konnte man sie leichter umgehen, und niemand, der die Monitore überwachte, schaute zweimal hin, wenn eine schützend gegen das nasskalte Wetter vermummte Gestalt vorüberging. Im Übrigen empfand er ein beinahe perverses Vergnügen daran, in der dunkelsten Stunde und im schlimmsten Regen unterwegs zu sein. Er verließ den Club mit dem Gefühl, dass er tun konnte, was er wollte. An sein Leben im Haus der Saints dachte er kaum. Das Mistwetter wiegte ihn in Sicherheit. Hier war es besser als dort. Und was war schon eine halbe Stunde Fußmarsch? Kay dachte immer daran, ein paar Sachen für das Mädchen einzupacken. Essen, Medizin, Kleidung – alles, was er in ein Bündel wickeln konnte, das klein genug war, damit er es ihr unbemerkt zustecken konnte. Meistens war sie da, immer auf demselben Fleck, unter jenem klappernden und sie kaum schützenden Dach aus Kunstharz. Der Regen klatschte ihre
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gezwirbelten scharlachroten Haare an den Kopf und lief über ihr weißes Gesicht. Meistens schaffte er es, ihr die Geschenke zu geben, ohne dass die anderen es sahen und ihn belagerten, wie neulich. Doch sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, niemals. Nicht das geringste Anzeichen von Wiedererkennen oder Dankbarkeit. »Wie heißt du?«, versuchte er, in sie zu dringen. »Weißt du, wie alt du bist? Bist du in der Stadt geboren?« Doch die Person, die in seinen täglichen Gedanken herumspukte, schaute ihn nur mit leeren Augen an. In anderen Nächten, in jenen dunklen, verträumten Stunden, erschienen ihm diese Fragen nicht mehr so wichtig. Er wurde einfach von ihr angezogen. Die wunden Stellen an ihrem Mund heilten nicht und sie schien auch nicht an Gewicht zuzunehmen. Vielleicht war sie nicht einmal der Mensch, für den er sie hielt. Vielleicht war sie nicht der Mühe wert. Doch andererseits empfand er es nicht als Mühe: Das vertraute, leere Gesicht erfreute ihn geradezu. Er konnte sich in diesen großen ausdruckslosen Augen verlieren. Er wusste, dass es da eine Verbindung gab. Irgendwo. Bei Tageslicht erlangten andere Dinge wieder Priorität. Dann steuerte er – mit schmerzendem Kopf von den Exzessen der Nacht – seinen behutsamen, stillen Kurs durch die Millionen von Informationsfetzen, mit denen das Netzwerk voll gestopft war. Er arbeitete
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niemals lange an einem Stück. Auch das wäre aufgefallen. Nur ab und zu eine halbe Stunde oder zwanzig Minuten, während er unten im Computerraum war und versuchte, seine rückständigen Lektionen aufzuholen, damit Tomas ihm vom Hals blieb. Was diesen Quatsch über eine Stellung in der Abteilung Systemdesign anging – nun, darauf würde er nicht hereinfallen. Der alte Mann spielte nur mit ihm, versuchte, ihn davon abzuhalten, dass er Ärger machte, versuchte, ihn von Räudigen fern zu halten. Selbst das Wort war bei den Saints verboten. Es gab weder Räudige noch Ideale. Nur »anständige Bürger« und ein paar – sehr wenige – »Umstürzler«, wie Demonstranten und Außenstehende, Dissidenten jeglicher Art genannt wurden. »Warum lassen sie sich das gefallen?«, hatte er seine Mutter gefragt. »Warum lässt sich wer was gefallen?«, hatte sie geistesabwesend zurückgefragt, während sie abwechselnd zwei elegante Hosenanzüge vor sich hielt und sich dabei im Spiegel betrachtete. »Die Menschen. Das Volk. Unser Volk. Die Leute, die in dieser Stadt leben und in den vier anderen. Das britische Volk. Warum lassen sie es sich gefallen, dass die Dinge so sind, und warum verändern sie nichts? Du weißt schon, was ich meine.« Selbst ihr gegenüber konnte er die Worte, die jeder in der Stadt tagtäglich im Mund führte, nicht aussprechen. Sie schaute ihn an und seufzte, als ob er etwas zu-
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rückgeblieben wäre, sie aber bereit wäre, Geduld aufzubringen und ihn nicht aufzugeben. »Dies ist eine Demokratie, Kay. Das weißt du. Die Menschen haben die Möglichkeit, die Dinge auf regulärem Weg zu verändern, wenn sie nicht glücklich damit sind. Das System funktioniert; die Regeln und die Vorgehensweisen haben sich bewährt. Vielleicht werden die Menschen eines Tages tatsächlich etwas Neues bewirken.« Sie warf ihm ein unerwartetes Lächeln zu und kam zu ihm, um ihm einen Kuss auf den Scheitel zu geben. »Ich hoffe, dass es so weit kommt. Wirklich.« In diesem Augenblick wirkte sie verändert jünger, sanfter – und er glaubte ihr. Dann, später, dachte er wieder, dass sie nur mit ihm gespielt hatte, wie sie alle es taten. »Die Dinge auf regulärem Weg zu verändern.« Nichts änderte sich! Man brauchte Informationen, um Veränderungen zu bewirken, nicht wahr? Echte Informationen, die Art, die den Reichen vorbehalten war, die es sich leisten konnten, sich Zugang zu den höheren Levels des Saint-Netzwerks und der SaintSendeanstalt zu verschaffen. Abgesehen von den Großen Familien waren die Mitglieder dieser exklusiven Gemeinschaft ausschließlich Familien von Idealen, die ebenfalls in der Lage waren, sich mittels der kostspieligen, so genannten »Wachstumslizenz« der Geburtenkommission ihren Fortbestand zu erkaufen. Ihre Anzahl stieg langsam im Vergleich zu den Räudigen, für die eine »Zweitkind-Genehmigung«
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schlichtweg unerschwinglich war. Britannien musste sich in Sachen Volksmanagement an die IKSVKonvention halten – das war die Begründung für diese Vorgehensweise. Und so sank langsam, aber sicher der Anteil jener Bevölkerungsschicht, die überhaupt etwas ändern wollte. Und welche Aussichten hätten sie denn gegen ihre schöneren, strahlenderen und klügeren »Mitmenschen«? Natürlich gab es unter den Räudigen keinen Mangel an »Unruhestiftern«. Fluter, Demonstranten, Schlangenprediger, Revoluzzer – die unteren Viertel der Stadt waren voll von ihnen. Man hatte die freie Wahl. Doch alles, was sie hatten, war die Macht des Wortes, die Möglichkeit, ein paar Minuten lang von einem behelfsmäßigen Podest aus einer umgedrehten Holzkiste aus herabzuschreien, bevor man sie abführte. Wer sollte schon ihre Ideen und Ideale in den Programmen der Sendeanstalten übertragen? Von Zeit zu Zeit kamen diese »Unruhestifter« sogar in den Hafen hinein oder durch die Tore, die dem Sumpfland zugewandt waren, und brachten Nachrichten von Gleichgesinnten in anderen Städten, anderen Ländern, und schürten den Hass, der in Massendemonstrationen und auch in Gewalt gipfeln konnte. Doch Pax war überall, unüberwindlich und stark, wartete nur darauf, mit solchen Gestalten und ihren Anhängern schnell und effizient – und für die Betroffenen höchst unerfreulich – abzurechnen. Selbst die jämmerlichen, abgerissenen Prediger und Mysti-
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ker, die auf verschlungenen Pfaden ihren Weg in die Stadt hinein fanden und von irgendeinem Messias oder dem Ende der Welt brabbelten, wurden eingesperrt oder aus der Stadt gewiesen, wenn sich die Menschen zu sehr für ihre Geschichten und Lieder zu interessieren begannen. »Die Dinge auf regulärem Weg zu verändern«, hatte seine Mutter gesagt. Aber wer wusste schon, wo die Macht jetzt wirklich lag? Pax, die Geburtenkommission, das Saint-Netzwerk – sie alle waren vertraglich dem Staat verpflichtet, grundlegende Dienstleistungen zu erbringen. Sie mussten sich vor (zufriedenen) Aktionären verantworten. Wo aber blieb der Staat bei all dem? Die Verträge waren jahrhundertealt. Alles bestand aus Monopolen. Es gab keine staatliche Macht, die in der Lage war, neue Verträge und neue Monopole zu initiieren. Manchmal konnte Kay diesen Sachverhalt deutlich erkennen, nahm die ganze Stadt, die sich unter seinem Fenster ergoss, wie ein Drama wahr, war sich all ihrer Schichten und Tragödien bewusst. Er sah die Fäden im Hintergrund, die die Dinge an ihrem Platz hielten. Er sah die Spannungen, das Elend. Aber was konnte er dagegen tun? Er, der doch selbst nur ein Räudiger war. Zugegeben, falls man nicht durch das System schlüpfte, fand jeder das wusste Kay, in Britannien einen Ort zum Leben, fand Nahrung, Arbeit und Vergnügen, egal ob man ein Räudiger oder ein Idea-
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ler war. Sein Land war nicht arm, selbst jetzt nicht. Sie hatten den großen Winter überlebt und bald schon würde das höher gelegene Land wieder mehr Ertrag erbringen. Es ging ihnen besser als vielen Staaten, die weiter im Süden lagen. Waren diese Umstände der Anreiz, die Dinge auf ewig so zu belassen, wie sie waren? Kay wusste es nicht. Er wusste nur, dass die Stadt kein glücklicher Ort war. Man musste nur durch die Straßen laufen, um diese Tatsache zu erkennen. Kay war kein Narr. Selbst in den wilden Nächten, während er durch die Gassen schlenderte, voller Leben, erfüllt von der sich windenden Schlange der Musik in seinem Bauch, voller Wärme, weil seine Familie fern war, selbst dann konnte er sehen, dass die Orte, die ihm Frieden schenkten, in Leid und Elend ertranken. Wenn er ein besserer Mensch gewesen wäre, hätte er sich davon betroffener gezeigt, hätte einen Weg gefunden, dieses Leid zu lindern. Wenn er ein besserer Mensch wäre. Und Tomas? Der alte Ziegenbock kannte alle Antworten, verdammt sollte er sein! Vielleicht traf das auch auf seine Mutter zu, und Clarissa würde dieses Wissen ebenfalls eines Tages mit ihnen teilen, wenn sie es nicht jetzt schon tat. (Sie sprach nie über ihre eigene Ausbildung in der Sendeanstalt.) Es war höchst unwahrscheinlich, dass Kay jemals eingeweiht wurde, wenn man seine Herkunft bedachte. Was auch der Grund war, warum die in Aussicht
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gestellte Position in der Abteilung Systemdesign für ihn überhaupt nicht infrage kam. Der junge Mann, der sich gerade am Rand der neuen Docks durch die Menschenmenge schlängelte, die ihre Mittagspause genoss, hätte Kays Ansichten über die Stadt wahrscheinlich zugestimmt. Der Mann, der sich selbst Moore nannte, war als Junge häufig in den Straßen unterwegs gewesen, hatte die Zufriedenen und auch die Unzufriedenen beobachtet. Es gab keine Ecke der Stadt, die er nicht kannte; seine Ausbildung war streng und umfassend gewesen und hatte geendet, als er erst acht Jahre alt war. So betrat er nun unbekümmert jeden Winkel, den er sich aussuchte, ohne irgendwo Anstoß zu erregen. Er blieb unerkannt, war vergessen, war ein Nichts. Ein paar Narben besaß er, die ihn zeichneten, ja, doch die waren nicht zu sehen, waren unter seiner ausgebleichten Kleidung verborgen. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln, als er zwischen den Gruppen von bulligen Hafenarbeitern hindurchging, die mit schweren Schritten und lachend und grölend dorthin schlenderten, wo sie in ihrer Pause einen Happen zu essen, etwas zu trinken oder ein paar Zigaretten besorgen konnten. Den Hafenarbeitern wäre ein Mann, den man zum Spaß ein bisschen herumschubsen konnte, gerade recht gekommen, doch Moore war nicht dieser Mann. Moore war ein Mann für alle Fälle, der jedes Problem löste, ein Sammler von Informationen, ein Ratgeber, ein Beschützer, ein
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Jäger – ein Killer, wenn nötig. Er war das Produkt der teuersten und umfangreichsten medizinischen Screening-Methoden von Ei und Samen vor der Befruchtung, die die Geburtenkommission vorzuweisen hatte. Er hätte dem jungen Mr Saint zwar zugestimmt, was seine Ansichten über die Stadt betraf, doch es hätte ihn nicht weiter gekümmert. Er war nicht dafür angestellt worden, um sich Sorgen zu machen, außer bei besonderen Gelegenheiten. Von ihm aus konnten sie alle verrotten. In dem Lokal, in das er ging und sich unauffällig in eine Ecke setzte, war es laut, verräuchert, bevölkert mit Seeleuten, deren Schiffe gerade eingelaufen waren, Abschaum von den Docks, Dealern und ihren Kunden, Zuhältern und anderem wertlosen Gesindel. Hier schlug das Herz der Stadt, hier am Hafen, an den Wassertoren nach draußen. Hier fand man auch das größte Elend, die meiste Wut und Spannung, die sich kaum im Zaum hielten. Eine schweigende, verkrampft und müde wirkende Räudige von etwa achtzehn Jahren mit den leeren Augen, die man hier so häufig sah, brachte ihm sein Getränk und nahm seine Bezahlung und auch den Zettel mit der Nachricht entgegen. Auf ihrem Weg zurück zur Theke wurde sie angelacht, geschubst und begrabscht. Ein paar Augenblicke später schob sich ein fetter, schwitzender Mann mit Mühe durch eine Seitentür herein, spähte durch den Raum und kämpfte sich mit seinen Ellbogen den Weg hinüber zu Moore, wobei er den
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engen Pfad, den sich das Mädchen gebahnt hatte, um ein Vielfaches erweiterte. »Moore«, sagte er rau und nickte knapp. »Das Geschäft geht offenbar gut«, erwiderte der schlankere Mann gleichmütig und deutete kurz mit seinem Finger auf das Gewühl aus Trinkenden, ohne dabei die Hand vom Tisch zu nehmen. Der andere verzerrte sein Gesicht in einer Mischung aus Vergnügen und Nervosität. »Ja, nicht wahr?« »Du hast etwas für mich?« »Tja, vielleicht.« Moore wartete. Er lächelte immer noch und ließ seine Hände friedlich und entspannt auf der Tischplatte liegen. Der Fette wusste, dass hier für ihn nichts zu holen war, außer Moore bei guter Laune zu halten, was ihn, Ed, betraf. Schließlich räusperte er sich und sprach: »Ich hab gehört, da wär ’n Mädchen. Aus ’m Norden. Das jemand ham will.« »Ach ja? Und wo hört man heutzutage so etwas? Das würde mich interessieren.« Die Frage war in einem freundlichen Ton gestellt, doch der fette Mann zuckte zusammen. Er kannte Moore, zumindest kannte er seinen Ruf. »Da war so ’n Gerücht. Das is alles. Sie wissen ja, wie sich so was rumspricht hier unten am Wasser.« Schweigen. »Ein Gerücht. Ich verstehe. Lassen wir es dabei,
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zumindest für den Moment. Was ist mit dem Mädchen. Hast du die Kleine gesehen?« »Ja«, erklärte Ed erleichtert. »Eine von meinen eigenen Bälgern hat so jemand mitgebracht. Is allerdings schon ’ne Weile her.« »Und sie ist dir wieder abhanden gekommen?« »Na ja …« »Wie unvorsichtig.« Die Stimme klang immer noch liebenswürdig. Mild. »Das waren die Umstände un das alles. Un ich wusst ja nich, dass Sie un Ihre Leute das Gör suchen.« Ein feuchter Film überzog das Babygesicht. »Aber ich kann Ihnen den Namen sagen. Silberschein. Un den Namen von dem Schiff, auf dem se reinkam. Die Helicon.« »Ist das alles? Wirklich alles?« Mit einer flehentlichen Geste hatte Ed seine Hand ausgestreckt. »Un die Bälger, mit denen sie zusammen war. Ein Junge. Ein verlumpter Nichtsnutz, der nur Ärger macht. Nennt sich selbst Jazz. Sieht aus wie ’n Geist. Die andere hatse mir weggenommen, das Miststück. Lizzie Hepton. Ein süßes Ding. Hat mir gutes Geld eingebracht. Das is alles, Moore. Ehrlich.« Moore erhob sich zum Gehen und beugte sich zu Ed hinab. Sein Mund war dicht am Ohr des fetten Mannes. »Du hast doch sicher selbst nach ihr gesucht, nicht wahr? Besonders wenn du nicht nur die Neue, sondern auch diese Lizzie Hepton verloren hast.«
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Der Fette nickte und schluckte. »Nix«, krächzte er. »Den Jungen hab ich ein paarmal gesehn, aber die andern nich. Der kauft seinen Stoff irgendwo hinter den alten Ostdocks, glaub ich. Das is alles. Ich schwör’s.« Moore legte eine Hand auf Eds Schulter, so leicht wie Seide. »Unsere Unterhaltung war ein Vergnügen, alter Freund. Halte mich auf dem Laufenden. Du wirst mich schon finden, wenn es etwas gibt, was ich wissen sollte.« Er ließ offen, ob die letzte Bemerkung ein Befehl oder eine Prophezeiung war. Einen Moment später war er verschwunden, ein schlanker, unauffälliger Mann. Ed atmete ein paarmal tief durch, um das Hämmern seines Herzens zu beruhigen, und bellte dann rau durch den Schankraum: »Stellaaa! Heb deinen faulen Arsch hier rüber!« Einen Drink konnte er jetzt gut gebrauchen. Jemand sollte diesen Moore und seine Bande ein für alle Mal erledigen, dachte er zitternd, und sie ins Wasser schmeißen, damit sie von den Fischen gefressen werden oder verrotten konnten. Die wilden und gewalttätigen Anwandlungen seines Informanten hätten Moore weder überrascht noch sonderlich gekümmert. Jedenfalls nicht mehr, als ihn Kays Gedanken über die Stadt gekümmert hätten. Die Information, die er gerade auf dem Bildschirm seines Handcomputers las, während er in einem zerstörten Hauseingang, ein paar Blocks von Eds
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Kneipe entfernt, stand, war dagegen viel interessanter. Lizzie Hepton. Offensichtlich angehalten und routinemäßig befragt, erst kürzlich. In Begleitung eines gewissen Marcel Allen, ein bekannter Stadtstreicher, der aus einer überfluteten Gemeinde stammte und sich selbst Jazz nannte. Eine mögliche Neigung zum Unruhestifter, aber bislang noch keine nennenswerten Delikte. Gut. Jetzt konnte er seine Fallstricke auslegen. Es dürfte nicht lange dauern. Im Augenblick hustete sich jener Marcel Allen die Lunge aus dem Leib. Das tat er in letzter Zeit oft; er schien den Husten nicht loswerden zu können. Die drei rostigen Kohlenbecken, die in Marthas schmalem Innenhof standen, verströmten einen dünnen, öligen blauen Qualm, der in der Kehle kleben blieb, aber Jazz’ Husten war anderer Natur. Sein Essen lag noch zur Hälfte auf dem Teller und sein knochiges Gesicht war bleich und schmerzverzerrt. Draußen in der Gasse fing jemand an zu heulen und gegen die Eisentür zu hämmern. Den ganzen Tag schon hatte der Tumult getobt. »Bei der Liebe der Schlange«, schluchzte eine Stimme, »macht mir auf! Sie kommen … sie kommen!« Eine zweite Stimme auf der anderen Seite der Mauer lachte und hörte abrupt wieder auf. Etwas – vielleicht ein Stück Holz – wurde langsam über die Backsteinmauer geschabt. Die wenigen Männer,
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Frauen und Kinder, die im Hof saßen oder standen, blieben still, beachteten den Lärm und das Geschrei nicht, sondern vertrauten auf ihre sichere Zuflucht. Einige löffelten den Eintopf in sich hinein, schoben jeden Mund voll sorgsam mit ihrer Zunge hin und her, um den Geschmack herauszusaugen. Andere hatten ihre Augen geschlossen oder die Hände vors Gesicht gelegt. Die drei Jüngsten spielten Fangen, hüpften herum und traten mutwillig gegen die Backsteine, die zwischen dem Unkraut lagen. Ihr Anblick erinnerte Mira an Pat und Joan und die anderen Kinder zu Hause. Marthas untersetzte Gestalt war über einen Wasserbottich gebeugt und sie schrubbte mit einem scharfen Stück Draht an einem Kochtopf herum. »Wir müssen den Doktor holen, Jazz«, sagte sie freundlich. »Wegen dem Husten. Er hätt sich schon längst lösen solln. Den haste jetzt schon seit Wochen.« »Nee«, erwiderte der Junge scharf. »Keine Quacksalber. Denen kann man nich trauen.« Martha schaute auf, als ob sie sich auf eine Diskussion einlassen wollte, doch dann zuckte sie mit den Schultern und fuhr fort, den Topf zu säubern. Sie wusste, wie dickköpfig Jazz sein konnte. Zu dieser Tageszeit war der Innenhof fast leer. Martha bestand darauf, dass die Leute entweder aßen oder schliefen – oder beides –, wenn sie hier waren. Danach wurde von ihnen erwartet, dass sie den Hof wieder verließen. Was sie draußen taten, war ihre
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Angelegenheit. Es wurden keine Fragen gestellt, vorausgesetzt dass sie bei ihrer Rückkehr keinen Ärger mitbrachten. Das war die goldene Regel. Wenn Martha gestatten würde, dass die Leute Tag und Nacht hinter ihrer Mauer herumlungerten, wäre es vorbei mit ihrer »drogenfreien« Zone. Der Hof wäre nicht länger sicher, würde bemerkt werden, entweder von den Ordnungskräften oder dem Abschaum aus dem Hafen, von Aasgeiern wie Ed, die gierig darauf warteten, die verletzlichen Heimatlosen und Neuankömmlinge für ihre Zwecke zu missbrauchen, sie zu korrumpieren und auszubeuten. Das wusste Martha aus Erfahrung. Jazz war anders. Er war eine Ausnahme. Sie sorgte schon lange Zeit für ihn. Er war ihre Familie, jedenfalls so eine Art. Für ihn konnte sie die Regeln ein wenig beugen. In diesem Moment rief ein Mann barsch: »Wir gehn raus, Martha. Wir drei.« »Okay, Root. Ihr drei also.« Sie stand auf, wischte sich die Hände an dem dicken Stoff ihres Rocks ab und ging zur Tür, wo das Hämmern wieder angefangen hatte. Dort nahm sie schweigend ein langes, gebogenes Rohr, das an seinem Ende einen Spiegel besaß, und hob es hoch, sodass das Ende die Mauer überragte. Dann schwenkte sie es zuerst nach rechts, dann nach links, wobei sie durch das andere Ende hineinspähte. Schließlich hängte sie das Gerät ebenso schweigend, wie sie es abgenommen hatte, wieder an
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seinen Platz, nickte den drei wartenden Männern zu und hob die etwa einen Meter lange Eisenstange an, die als Riegeln diente. Mühelos packte sie die Stange mit beiden Händen. Der Mann namens Root öffnete einen zweiten, kleineren Riegel, und mit einer schnellen Bewegung schwang Martha die Tür auf, trat hinaus auf die Gasse und schrie: »Zurückbleiben, ihr da! Benehmt euch, wenn ihr wisst, was gut für euch is!« Dabei ließ sie die Eisenstange bedrohlich vor ihrem Körper durch die Luft sausen. Drinnen im Hof hörte Mira das Geräusch von rennenden Schritten in der Gasse, dann Marthas wütendes Knurren und die Stimme, die vorher um Einlass gefleht hatte, jetzt ängstlich ausrufen: »Schlag mich nicht, ich bitte dich! Sie sagten, dass die Schlange böse werden würde. Sie sagten, dass sie mich melden würden.« Zur selben Zeit tauchte oben auf der Mauer, am hintersten Winkel des Innenhofs, unter viel Scharren und Kratzen ein grinsendes, wieselgleiches Gesicht auf, dann eine Hand, die nach oben griff und direkt in den Glassplittern landete, die auf dem Mauersims ausgestreut worden waren. Der Mund in dem Gesicht öffnete sich und fluchte ausgiebig. Die tastende Hand fegte das Glas zornig zur Seite und der Oberkörper des Mannes erschien. Er zog sich selbst über die Mauer und sprang auf den Boden, landete plump neben den drei spielenden Kindern. Kurz darauf erschien oben auf der Mauer eine zweite Visage mit
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groben Zügen und einem dümmlichen Ausdruck. Der Mund öffnete sich und sprach: »Wart auf mich, Nasher. Ich komm ja, aber ich hab keinen, der mich hochhebt.« Martha kam durch die Hoftür zurück. Ihre Augen funkelten noch von der Auseinandersetzung in der Gasse. Sie sah die Neuankömmlinge und fing an zu brüllen: »Wagt es ja nicht!« Aber es war zu spät. Der Mann, den sein Kumpan Nasher genannt hatte, packte eins der Kinder. Einige der Anwesenden reagierten mit ungehaltenem Gemurmel. Ein paar von ihnen rührten sich sogar, standen auf und näherten sich drohend dem Eindringling. Jazz war der Erste, der sich vor dem Fremden aufbaute. »Mach, dass du wegkommst!«, sagte er. »Du bist hier nich willkommen. Siehste das nich?« Mit gestrafften Schultern und aggressiv vorgestrecktem Kinn ging er auf den zweiten Mann zu, der nun von der Mauer sprang. Doch er wurde wie eine Fliege zur Seite gefegt. »Nasher, die wolln uns nich. Warum will uns keiner? Das is nich fair.« Der Mann tanzte von einem Fuß auf den anderen. Dabei rollte er unruhig mit den Augen, als ob er pinkeln müsste. Nasher schnaubte über seine Schulter hinweg. »Halt die Klappe, Fish. Nich wir müssen gehen, sondern die, un zwar alle.« Er wandte sich der kleinen Gruppe Menschen zu, die ihn anschaute. »Habt ihr gehört? Mein Kumpel un ich ham Lust auf ’ne schöne
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Portion Suppe un dann ein kleines Nickerchen. Wenn ihr ’s genau wissen wollt: Wir werden hier einziehen, so auf Dauer, kapiert? Wir übernehmen den Laden, wenn ihr so wollt. Also bewegt euch! Das Balg hier schmeiß ich zum Schluss raus.« Martha stand ihm nun gegenüber, bullig und prächtig anzuschauen, aber alle konnten klar und deutlich die Schrotflinte sehen, die der Kerl lässig auf das Kind gerichtet hatte. Sie war selbst zusammengebastelt und ungenau, die bevorzugte Waffe der Hafengangs, doch auf diese Entfernung zweifellos tödlich. Schweigend ging Mira zu einem der Kohlenbecken und schaufelte sich noch eine Portion dampfenden Eintopf in ihre Schüssel. Dann trat sie mit unsicheren Schritten vor. Ihre Augen waren groß und scheu und ihre Bewegungen wirkten alles andere als bedrohlich. »Hier is die Suppe«, sagte sie. »Bitte tut uns nix. Die Suppe is gut. Ich hab geholfen, sie zu kochen.« Schüchtern streckte sie ihre Hand mit der Suppe nach vorn und der Mann grunzte mit hungrigem Blick: »Stell sie da hin un hol noch was für meinen Kumpel. Un ihr da: Raus mit euch, hab ich gesagt! Na los!« Er wedelte wild mit der Waffe in die Richtung der anderen – und Mira leerte die Schüssel mit dem kochenden Eintopf über seiner Hand aus, während sie gleichzeitig das Kind zu sich und weg von dem Eindringling zog. Den Rest überließ sie Martha, die die Angelegen-
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heit schnell erledigte. Zunächst wurde Nasher mit einem eisenharten Griff gepackt, rasch zur Eisentür geführt und auf die Gasse geschleudert, wo er von der Hausherrin eine Lektion in Manieren und vor allem im Benehmen kleinen Kindern gegenüber erhielt. Fish durchlief dieselbe Prozedur. Die Waffe wurde mit einem einzigen, verächtlichen Schlag der Eisenstange unschädlich gemacht und zersprang in harmlose Stücke, die Martha den Kerlen nachwarf. »Und lasst euch hier nicht wieder blicken!«, schrie sie. »Das nächste Mal kommt ihr nich so leicht davon!« Ein paar Minuten später war die Tür wieder sicher verriegelt und alles war wieder ruhig, bis auf Jazz’ Husten. Als ob nichts passiert wäre, kehrte Martha zu ihren Töpfen und Pfannen zurück und sagte: »Ich kenne ’nen Doktor. Einen, dem man vertrauen kann. Wir könnten morgen zu ihm gehen, bevor’s dunkel wird.« »Kann nich.« Jazz schüttelte seinen Kopf, bemühte sich, nicht zu husten, und begutachtet einen Kratzer auf seinem spitzen Ellbogen, den er sich zugezogen hatte, als er von Fish zu Boden geschleudert worden war. »Ich muss zu ’nem Treffen, weißte doch.« Er warf ihr einen scheuen Blick zu. »Jazz!«, sagte sie streng. »Kein Wort mehr. Ich will es nicht wissen.« Das war die zweite Regel. Keine Politik im Innen-
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hof. Keine Proteste. Keine Intrigen. Auch keine Religion. Ansonsten hätte sie gleich ein Freudenfeuer anzünden und schreien können: »Hier sind wir!« Dann wäre sie ihren Innenhof endgültig losgeworden. Der Hof gehörte Martha nämlich gar nicht. Es war nur ein verlassenes Stück Niemandsland neben den alten Docks, ein mit Unkraut übersätes Rechteck aus Beton hinter hohen Mauern, den Elementen schutzlos ausgeliefert – außer an einem Ende, wo Martha auf hochgebogenen Schienen ein Blechdach angebracht hatte. Sie war es auch gewesen, die die schwere Tür samt Verriegelung angebracht und Nägel und Glasscherben oben auf die Mauer gestreut, den schlimmsten Unrat beseitigt und die Regeln aufgestellt hatte. Jetzt war es Marthas Hof, er gehörte ihr nicht, aber sie beherrschte den Ort mit ihrer Energie, mit der Kraft ihres Charakters und durch das gegenseitige Einvernehmen mit den »Mitbewohnern«. Diese Menschen brauchten den Hafen, den sie ihnen bot. Sie wussten, dass die Regeln sinnvoll waren. Jeder, der sie brach oder es sich mit Martha verscherzte, wurde unsanft vor die Tür gesetzt, entweder von Martha selbst oder von einem der anderen. Nicht dass sie Schutz und Hilfe nötig hatte. Sie war lange Jahre auf See gewesen und so stark wie ein Bär, trotz der grauen Strähnen in ihrem Haar. Während all der Aufregung hatte Lizzie Hepton still dagesessen und ihr Gesicht in den Händen vergraben. Jetzt stellte sie klappernd ihre Blechschüssel
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ab und sagte leise: »Ich geh jetzt. Raus.« Ruckartig nickte sie mit dem Kopf, als ob sie sich selbst diesen Entschluss bestätigen würde. Sie war nicht mehr dasselbe Mädchen, das Mira an ihrem ersten Tag in der Hauptstadt an den Docks getroffen hatte, war nicht länger abwesend, unbestimmt und ängstlich. Jetzt wirkte sie ständig nervös, reizbar und mürrisch. Sie konnte immer noch niemandem in die Augen sehen, und sie steuerte auch nie etwas zu essen bei, machte sich nicht die Mühe, sich mit irgendjemandem anzufreunden, außer mit einem oder zwei von den Männern. Mira hatte fast den Eindruck, als ob Lizzie ihr vorwarf, sie von Ed weggeholt zu haben. Doch sie war nicht mehr so dünn wie vorher und ihre Wangen hatten etwas Farbe angenommen. Immerhin etwas. Martha, die Lizzie nicht besonders mochte, nickte abweisend. »Lass sie raus, Silberschein, sei so gut. Jetzt dürfte es da draußen wieder ruhig sein, wenigstens für ’ne Weile.« Mira sagte: »Ich gehe auch. Danke für das Frühstück.« »Dank dir für die Sachen, die du mitgebracht hast, Liebes. Du bist uns eine große Hilfe. Und auch für deine Unterstützung bei den beiden Pennern. Also, raus mit euch. Jazz wird hinter euch abschließen.« Die beiden Mädchen traten gemeinsam hinaus auf die Gasse. Ohne ein Wort des Abschieds oder auch nur einen kurzen Blick senkte Lizzie ihren Kopf und eilte schnell auf das Herz der Stadt zu, um ihren ei-
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genen »Geschäften« nachzugehen. Sie schaute nicht zurück. Mira folgte ihr mit langsameren, müden Schritten. Sie war sich der Gefahren bewusst, die in diesen engen, verwahrlosten Sträßchen lauern konnten. Doch sie kam kaum bis zum Ende der Gasse, als sie hinter sich Jazz’ unverwechselbare, klatschende Laufschritte hörte und dann seine Hand auf ihrem Arm spürte. »Ich dachte, dass … dass du vielleicht mitkommen willst. Zu dem Treffen, meine ich«, sagte er ungeschickt. »Nein. Ich bin todmüde, Jazz.« Er wich ein wenig zurück und schaute sie herausfordernd an. Der selbstgerechte Zorn brodelte immer unter der Oberfläche, stets bereit auszubrechen. »Es gibt verdammt noch mal mehr im Leben, als sich durch Mülltonnen wühlen, weißte? Okay, du kannst auf dich selbst aufpassen, das wissen wir ja. Aber warum willste dann nich was machen? Warum willste es den Scheißkerlen nich zeigen?« »Was machen? Ihnen was zeigen?« Schon diese einfachen Fragen waren ein Fehler. Sie bedauerte es in dem Moment, in dem sie die Worte aussprach. Jetzt kam er richtig in Fahrt. »Verdammt noch mal, Mädchen! Ihnen zeigen, dass wir wissen, was sie tun! Ihnen zeigen, dass wir genauso gut sin wie die un dass wir nie schweigen werden, wie sie’s gerne hätten.« Seine Augen blitzten, und sein dünnes Gesicht
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wirkte hart und entschlossen, so wie immer, wenn er von diesen Dingen sprach. Doch Jazz’ Erklärungen hörten sich in ihren Ohren meistens konfus und verworren an. Wem wollte er es denn zeigen? Denjenigen, die man »Ideale« nannte? Denjenigen, die wie Kröten auf den Reichtümern der Stadt hockten und steif auf die andere Straßenseite gingen, wenn man ihnen zu nahe kam? Denjenigen, die sauber und lebendig und schön waren und sich jeden Abend ihren schuldfreien Träumen überließen? Trotz all des Hasses hatte Mira den Eindruck, dass die Hälfte der Räudigen, die sie kannte, liebend gerne in den Rang der Idealen aufgestiegen wären (wenigstens insgeheim). Dieser Wunsch war ihr allerdings ein Rätsel, denn ihrer Meinung nach mangelte es den so genannten »Idealen« mehr als allen anderen Menschen dieser Stadt an jener Andersartigkeit, die Mira so schätzte. Etwas Unmenschliches umgab sie, etwas, was grundlegend falsch war. Sie schienen in ihrer Welt so gefangen zu sein wie die alte Sarah bei ihr zu Hause. Jazz war zehnmal mehr wert als jeder von ihnen, allein schon wegen seiner Wildheit, seines guten Herzens und seines natürlichen Empfindens für alle Dinge. Aber vielleicht waren es diejenigen an der Spitze, die Großen Familien, denen er es »zeigen« wollte. Eine nette Vorstellung, doch Mira wusste ganz genau, dass sich diese Gelegenheit vermutlich niemals bieten würde. Diese Familien verbrachten ihr Leben in ihren kargen und düsteren Türmen, hinter Wacht-
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posten und Stahltüren oder sausten in Transportern durch die Stadt, die zehnmal so viel Energie verbrauchten wie ein Motorschlitten, und selbst dann waren sie hinter Stahl und geschwärztem Glas verborgen. In all den Wochen ihrer behutsamen Suche nach Antworten hatte sie nur einen einzigen Menschen gefunden, einen Jungen aus einer der vornehmen Familien, der sich öffentlich blicken ließ und sich frei inmitten der Menschen bewegte. Und was war er? Ein Drogenabhängiger, tief in Selbstmitleid vergraben, der sich verkleidete, so tat, als wäre er jemand anderes, und sich dann wieder in seinen Unterschlupf verkroch und sich hinter seinen Wächtern versteckte, wenn er Ruhe brauchte. Außerdem hatten die Familien sehr wohl die Möglichkeit zu erfahren, wie es in der Stadt aussah – wenn sie es wollten. Überall gab es Kameras, die Polizei, die Spitzel. Aye, irgendjemand überwachte all das, kein Zweifel, wie eine Spinne im Mittelpunkt ihres Netzes. Glaubte Jazz etwa, dass seine Treffen unbeobachtet blieben? Dann war er ein Narr. Martha hatte Recht damit, sich von diesen Dingen fern zu halten, und auch Mira würde weder ihr eigenes Leben noch das anderer riskieren, um mit Jazz mitzugehen. »Tut mir Leid, Jazz«, sagte sie noch einmal, diesmal sanft. »Heute nicht. Wir sehen uns morgen an der üblichen Stelle, einverstanden?« Sie ging weiter und hörte seine Stimme hinter sich.
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Sie klang verzweifelt. »Silberschein! Es sin nich nur Demos un so ’n Zeuch. Es wird was Großes passieren, was Wichtiges. Die Zeiten ändern sich.« »Tut mir Leid«, rief sie ihm über die Schulter zu und winkte. »Bis morgen.« Er schaute ihr nach, wie sie leichtfüßig, mit hoch erhobenem Kopf und wachsamem Blick davonging, ganz anders als Lizzie, die immer verstohlen an der Hauswand entlangschlich. Irgendwas störte ihn an Silberschein. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Manchmal hatte er fast Angst vor ihr. Er konnte es nicht greifen, doch er wusste, es war da. Aber wunderhübsch, dachte er, unter all dem Dreck, den sie auf ihr Gesicht schmierte. Gereizt stapfte er die Gasse entlang zurück zu Marthas Hof und hämmerte an das Eisentor, um eingelassen zu werden. Martha fegte gerade den offenen Schlafplatz sauber und die Perlen in ihrem Haar klickten bei ihren regelmäßigen Bewegungen rhythmisch aneinander. »Sag schon: Ist es Liebe?«, neckte sie ihn und schaute ihn an. »Wohl kaum«, erwiderte er säuerlich. Draußen in der Stadt, begierig, eine kleine, kostbare Weile für sich allein zu sein, durchlebte Mira noch einmal die Bedrohung des Kindes in Marthas Hof und fühlte sich tief betroffen. Das war etwas, woran sie sich nicht gewöhnen konnte – die gleichgültige Gewalt dieses Ortes, die Tatsache, dass sich Menschen für Gemeinheit und Hässlichkeit entschieden.
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Woher kam das alles? War es das herzlose Verhalten der Großen Familien, das bis in die unteren Schichten drang und ein schlechtes Beispiel gab? Lag es an den Drogen? An der Angst vor der Flut? Auch nach den vielen Wochen, die sie mittlerweile hier verbracht hatte, wusste sie es immer noch nicht, wusste ebenfalls nicht, wie sie es geschafft hatte, ein Teil davon zu werden, Tag für Tag, und ihre wahren Gefühle zu verbergen, bis ihr davon fast übel wurde. Sie fragte sich, welchen Preis sie einmal dafür bezahlen würde. Erschöpft zwang sie sich, die selbst auferlegte Prozedur zu durchlaufen, bevor sie sich in ihre Zuflucht wagte. Jedes Mal nahm sie eine andere Route, ging niemals den verführerisch direkten Weg am Wasser entlang. Oftmals stieg sie hinauf in die geschäftigen inneren Viertel der Stadt und dann wieder eine schmale, verlassene Gasse hinunter zu einem Distrikt, der nach der Flut vor einigen Jahren nicht aufgegeben worden war. Heute achtete sie kaum darauf, wohin sie ging, mied aber die Einkaufsmeilen und die Galerien, lief durch Wohngegenden, in denen ausschließlich Ideale lebten. Solide Wohnblocks, drei oder vier Stockwerke hoch, erstreckten sich entlang öder, rechtwinkliger Straßenzüge, die von zahlreichen Straßenbahnhaltestellen gesäumt wurden. Streifenwagen patrouillierten regelmäßig und überall gab es Freizeitzentren und Sportanlagen. Dieser Stadtteil war so ganz anders als das bunte Durcheinander der niedriger gele-
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genen Viertel, wo alte, rußgeschwärzte Backsteinhäuser Meter für Meter im Wasser versanken und Menschen einem versprachen, dass der Erlöser nahe sei – während sie dir all deine Habseligkeiten stahlen. Beim Durchqueren des Idealen-Wohnviertels zog sie ihre Kapuze hoch und verbannte jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht, hielt ihre Augen gesenkt. Doch sie war nicht die einzige Räudige hier: Bettler und Aasgeier durchstreiften die wohlhabenderen Gegenden der Hauptstadt; hier und da waren Reparatur- oder Baumannschaften bei der Arbeit, beaufsichtigt von Idealen. Es war ruhig, ein ziemlich ungefährlicher Weg. Wenn man sich unten am Wasser aufhielt, konnte man leicht glauben, dass Jazz Recht hatte. Etwas Großes würde geschehen, etwas Wichtiges. Die Fluten stiegen höher, die hoffnungslosen Flüchtlinge kamen in Scharen in die Stadt, brauchten Nahrung und einen Platz zum Schlafen,jemanden, dem sie ihre Geschichte erzählen konnten. Die Spannung wuchs stetig. Die Menschen behaupteten, dass das Ende der Stadt nahe sei, dass die Großen Familien von der Schlange verschlungen würden, dass Wissenschaftler im Osten eine Möglichkeit gefunden hätten, wie sich Menschen zurückentwickeln könnten, um wieder im Wasser zu leben. Hunderte von Schreckensgeschichten kursierten und ebenso viele Prophezeiungen. Überall konnte man das Anschwellen von Hunger, Protest und Gewalt spüren.
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Hier oben, weit weg von alledem, schien es so, als würde sich niemals irgendetwas verändern. Mira hörte junge Stimmen lachen und sah, dass sie an einem der Orte gelandet war, wo die Kinder von Idealen unterrichtet wurden. Es war die Zeit zwischen ihren Lektionen, und etwa zwanzig oder dreißig Kinder hatten sich auf einem Spielplatz versammelt, der ringsum von einem hohen Zaun umgeben war, und schwatzten. Sie blieb einen Moment stehen, um zuzuschauen, und erkannte, dass sie selbst für diese scharfen jungen Augen unsichtbar war. Jedes Kind war vollauf mit seinem Spiel oder einer Unterhaltung beschäftigt; was hinter dem Zaun lag, war unbedeutend. Wie die Erwachsenen, so auch die Kinder. Aber nein, das stimmte nicht. Ein Junge schaute sie durch den Maschenzaun an, starrte schweigend auf sie. Seine kleinen Finger hielten den Draht umklammert. Sie lächelte ihn an, aber er erwiderte ihr Lächeln nicht. Er starrte nur. Und dann sagte er: »Ich hab dich gesehen.« Sie lachte in sein aufmerksames kleines Gesicht. »Und ich hab dich gesehen.« »Nein!«, rief er zornig. »Nicht hier, Dummkopf. Ich meine, ich hab dich gesehen. In deinen schönen, normalen Kleidern. Du weißt schon, auf dem Bildschirm, mit Mama und Papa.« Ernsthaft und mit dem Selbstvertrauen der Kindheit schaute er ihr ins Gesicht. Er nahm eine Hand vom Zaun, um sich in der
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Nase zu bohren, und streckte dann die Finger wieder durch den Draht. »Ach«, erwiderte sie, »wen immer du gesehen hast, ich glaube nicht, dass ich es war. Wahrscheinlich jemand, der mir ein bisschen ähnlich sieht.« »Ich weiß, was ich gesehen hab«, beharrte er. Und dann: »Pass auf.« Jemand packte Mira am Handgelenk und verdrehte ihren Arm schmerzhaft auf den Rücken, sodass die Muskeln überdehnt wurden. »Erinnerste dich an mich?«, fragte eine Stimme dicht neben ihrem Ohr. Oh ja, sie erinnerte sich. Nasher, es war ja nur ein paar Minuten her. Sie war wohl erschöpfter, als sie gedacht hatte. Und wütend auf sich selbst. Er hätte genauso gut ein Polizist sein können. »Was machste hier?«, fragte er. »Was haste denn vor, Marthas Mädchen? Der alte Nasher hat dich beobachtet, seit du aus’m Hof gekommen bist. Du hast’s nich auf Futter abgesehen un auch nich auf ’n Bruch. Also: Was machste hier?« Selbst jetzt schenkte ihnen niemand außer dem kleinen Jungen Beachtung. Er allerdings sah voller Interesse zu. Mira sagte: »Ich geh nur spazieren.« »Na, is das nich nett?« Nasher zog ihren Arm noch höher. »Un jetzt, Marthas Mädchen, kannste mit mir ›spazieren gehen‹.« Eine Pfeife ertönte und sofort strömten die Kinder wieder in das Gebäude zurück. Die Zeit zum Spielen
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war vorbei. Der Junge, der Mira angesprochen hatte, schälte sich vom Zaun und begab sich wortlos zu seinen Kameraden. Zwei Erwachsene zählten die Kinder durch, verschwanden ebenfalls im Innern des Hauses und zogen die schweren Türen sorgsam hinter sich zu. »Wohin gehen wir?«, fragte Mira in ihrer Kleinmädchenstimme, während sie von dem Zaun weggezerrt und in die Richtung geschoben wurde, aus der sie gekommen war. »Das wird nich verraten. Wir ham noch ’ne Rechnung offen, wir zwei. Aber diesmal versuch keine Tricks. Oder ich brech dir den Arm.« Sie wollte ausloten, wie weit sie gehen konnte. »Ich schreie. Ich hetz dir die Polizei auf ’n Hals.« Aber er lachte nur. »Na los, mach schon. Wie oft haste erlebt, dass die Bullen so jemand wie dir helfen, he, Marthas Mädchen? Wie oft hat ein Räudiger einem andern geholfen? Oder irgendjemand? Nee, von mir aus kannste schreien, so viel de willst. Ich sach einfach, du wärst mein Mädchen, wärst weggerannt un ich hol dich wieder nach Haus.« Sie seufzte. Er hatte Recht, das wusste sie. Die Polizei kümmerte sich nicht um Räudige. Und auch von niemand anderem hier in der Gegend durfte sie Hilfe erwarten. Außerdem lag ihr nichts daran, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie musste diesen Nasher schnell und unauffällig loswerden. Und das nächste Mal besser aufpassen, egal wie müde sie war.
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Sie wartete, bis sie an einer Treppe vorbeikamen, die vor einem der düsteren Wohnblocks zur U-BahnStation führte. Mit einem unerwarteten, schmerzhaften Ruck drehte sie sich so, dass Nasher mit dem Rücken zu den Stufen zum Stehen kam. Dann stieß sie, aus der Hocke kommend, mit voller Wucht gegen ihn und rammte ihm gleichzeitig ihren freien Ellbogen in den Magen. Mit einem Fluch polterte er die Treppe hinab, fiel hin und sie mit ihm, wobei sie mit ihrem ganzen Gewicht auf ihm landete. Durch den Aufprall lockerte sich sein Griff um ihren Arm, so wie sie es erhofft hatte, und sie konnte sich umdrehen und sich losreißen. Als er sich schließlich aufgerappelt und die Stufen wieder emporgeklettert war, wobei er sich die Beule an seinem Hinterkopf rieb, war Mira schon über alle Berge und hatte ein Netz von Straßen zwischen sich und ihren Verfolger gebracht. Erst viele Stunden später, als sie unruhig in dem dunklen und feuchten Keller erwachte, erinnerte sie sich wieder an den kleinen Idealen-Jungen. »Ich hab dich gesehen.« Diese einfachen Worte hakten sich in ihrem Kopf fest, noch bevor sie überhaupt wusste, dass sie wach war. Trotz der hier herrschenden Unbequemlichkeit fühlte sich Mira in dem Keller zu Hause. Es war eine
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Art Verbindung zu ihrem alten Leben mit Cobb (und Sarah), besonders durch die Anwesenheit der beiden alten Leute, die ihren Lebensraum mit ihr teilten, wie vertrauensvolle Kinder. Und sie dachte, dass die wenigen Dinge, die sie den Alten geben konnte – die meisten Geschenke von Kay landeten hier –, etwas von der Schuld wieder gutmachen würde, die sie zweifellos an anderer Stelle angerichtet hatte. Niemand wusste, wo sie schlief. Nicht einmal Jazz oder Martha oder einer von den anderen. Es war der einzige Ort, an dem sie sich erlaubte, Mira zu sein, wie Mira zu sprechen, mit ihrer wahren Stimme. Sich voller Erleichterung auf ihre Pritsche zu werfen und die rohen, betäubenden Tage der Stadt auszublenden. Und verglichen mit den Dingen, die sie da draußen erlebte, und den Leuten, die sie in dem grellbunten menschlichen Zoo in der Portable Road und – schlimmer noch – während ihrer heimlichen Wache vor dem Turm auf dem Hügel zu sehen bekam, waren die sanften, umherwandernden Augen des alten Ehepaars eine wahre Wohltat. Sie erinnerten sie an eine Zeit, als sie die Worte »Idealer« und »Räudiger« noch nicht gekannt und noch nie etwas von Pax, der Geburtenkommission, gehört oder den Saint-Jungen gesehen hatte. Sie sehnte sich nach der Zeit in den Bergen. Und trotzdem … noch wollte sie nicht gehen. Noch nicht. Nicht ohne die Antwort, nach der sie suchte. Wenn sie sie gefunden hatte, konnte sie sich vielleicht wie-
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der auf Seans Helicon einschiffen. Er laufe häufig die Hauptstadt an, hatte er ihr erklärt, auf seinem Handelsweg der Küste entlang, von Süden nach Norden. Wenn sie die Wahrheit wusste über Annie Tallis und Tilly Saint und die Wahrheit über Mira, konnte sie vielleicht mit ihm zurück nach Hause segeln oder zu einem Ort, wo sie niemals gefunden würde. Obwohl sie Augen und Ohren offen gehalten hatte, war ihr nicht mehr gelungen, als jenes dünne Band mit dem Jungen, Kay, zu knüpfen, und das auch nur, weil ihr bevorzugtes Ziel – die Frau aus der Sendung auf Seans Schiff – bislang unsichtbar geblieben war. »Saints?«, hatte Jazz abwertend gegrollt, als sie ihn beiläufig nach dieser Tilly befragt hatte. »Mit denen willste bestimmt nix zu tun ham. Das sin die Schlimmsten von allen, oder fast jedenfalls. Diese ganzen Scheißbildschirme an jeder Ecke, die ganzen Computer-Terminals, glaubste vielleicht, das is ’n Segen’? Scheißunterhaltung für das Fußvolk? Ich sach dir, was es is – es is ’ne Betäubung. Es is Müll, nix als ’n Haufen Mist. Es macht deinen Kopf leer un saugt dir’s Blut aus. Zehnmal schlimmer als die armen alten Fluter, un die sin schlimm genug. Der Krampf schläfert dich ein, Scheiße!« Wer hatte ihn gelehrt, das zu sagen?, fragte sich Mira. Es hörte sich an, als hätte er die Worte auswendig gelernt. Eine Lektion, die er immer wieder aufgesagt hatte. »Nee, halt dich bloß von den aufgetakelten Gockeln fern, von den so genannten ›Großen Familien‹. Die sin noch viel übler
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als die Idealen, das sag ich dir, denn die sind’s, die alles am Laufen halten. Un die schießen dich glatt nieder, wenn du denen in die Quere kommst, bevor du noch blinzeln kannst. Oh ja, du hast diese Tilly bestimmt auf ’m Bildschirm gesehen. Das tun wir alle, oder? Sieht verdammt lecker aus, kein Zweifel, wie sie wie ’n Schwan durch die Gegend schwebt. Aber lass dich bloß nich davon täuschen, Silberschein.« Doch als sie zu dem großen, in Glas gekleideten Gebäude auf dem Hügel gegangen und in den Schatten der Nachbarhäuser geschlichen war, um von dort aus Wache zu halten, hatte sie nicht Tilly gesehen und auch nicht den alten Saint-Mann, Tomas, von dem Jazz ihr erzählt hatte, sondern den Jungen, Tillys Sohn, der verstohlen und unglücklich wirkte und sich der Nacht überließ, mit der großen Katze, seinem Beschützer, auf den Fersen. Nacht für Nacht spielte sich dasselbe ab. Er war scheinbar der Einzige aus der Familie, der sich auf den Straßen blicken ließ. Nach und nach fand sie heraus, dass er ein bisschen älter war als sie, das schwarze Schaf der Familie. Er besaß eine kluge Schwester, die von seinem Großvater vergöttert wurde. Man erzählte sich, dass sie jemanden von Pax heiraten würde und dass sie hartherzig und gemein sei. Sie kam niemals heraus, nur der Junge ging nachts andere Wege, gab sich dem Vergessen anheim. Nachdem er seinem Bewacher entschlüpft war,
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machte er sich jedes Mal zu diesen Orten auf, den Clubs, wo die seltsame Musik gespielt wurde und die Menschen wie von Sinnen ihre Glieder verrenkten. Manchmal folgte sie ihm dorthin. Dann, viel später, wanderte er ziellos an den Schiffen im Hafen entlang, suchte Nischen und Plätze auf, wo sich die Heimatund Hoffnungslosen versammelten – als ob er spürte, dass dort sein Zuhause war. Nachdem sie sich mit seinen Gewohnheiten vertraut gemacht und erkannt hatte, dass sie sich niemand anderem aus der Familie nähern konnte, hatte sie sich zu der Meute in der Portable Road geschlagen. Ihr Plan war, dass er sie oft genug in dieser Umgebung zu sehen bekam, damit sie unauffällig einen Kontakt herstellen konnte. Der Club wäre ein besseres Terrain dafür gewesen, doch manchmal schlich dort auch die große Katze herum, von Kay unbemerkt, und hatte ein Auge auf ihn. Und dann, zu ihrem großen Unverständnis, war der Junge es gewesen, der sie bemerkt hatte, der stehen geblieben war und sie angestarrt hatte, der wiederkam, sie suchte und ihr Geschenke mitbrachte. Beim ersten Mal hatte sie Angst, dass seine überraschende Aufmerksamkeit Gefahr bedeuten könnte, doch er hatte keine Waffe gezückt und niemandem zugerufen, sie solle gefangen genommen werden. Allmählich war sie in die entspannte Rolle eines vagabundierenden, geistesabwesenden Straßenmädchens geglitten, schenkte ihm kaum Beachtung, obwohl er sie zuverlässig immer an derselben Stelle
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wiederfand, Nacht für Nacht. Sie hatte nichts tun müssen, außer ihre Rolle zu spielen und darauf zu warten, dass sich das seltsame Band zwischen ihnen festigte. Er schien sogar die Tatsache zu begrüßen, dass sie dumm und sprachlos war. Hinter seiner Besessenheit um ihre Person steckte allerdings mehr als reine Freundlichkeit. Sie beobachtete ihn, wie er diesen neuen Club, »Movies«, betrat, wo er jetzt seine Trommeln schlug. Sie sah, wie er sich dort eine eigene Welt errichtete, so weit entfernt von seiner Familie und seinem Zuhause wie möglich. Wie sie war auch er auf der Suche nach etwas: nach einer Identität. Die Freude strahlte förmlich aus seinen Poren, wenn er glaubte, dass er die große, hässliche Katze abgeschüttelt hatte und er sich auf den Weg zu seiner Musik machen konnte. Wenn er dann die Stadt durchquerte und mit seinen Geschenken zu ihr kam, hatte er seinen Frieden gefunden. Unabänderlich, jedes Mal. Und was trieb die Katze, während der Junge sie besuchte? Wohin ging Kays Beschützer? Mira konnte mit Sicherheit sagen, dass er sie nicht beobachtete, wenn sie sich in der schmutzigen Straße trafen, doch für gewöhnlich kehrte er erst nach Kay zu dem Glashaus auf dem Hügel zurück. Wem spielte der Mann etwas vor, wenn der Junge wegrannte und er selbst fluchend dastand und so tat, als seien seine Pläne durchkreuzt worden, obwohl er genau im Bilde war, wohin Kay ging? Tat er es für die Kameras? Sie wus-
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ste mittlerweile, dass ein Mensch ihr gläsernes Auge benutzen konnte, um etwas vorzutäuschen, was nicht der Wahrheit entsprach. Noch wichtiger war: Wohin ging der Mann danach? Warum ließ die Katze ihren Schützling allein? Die Fragen kreisten in ihrem Kopf wie Raubvögel, webten verwickelte Fäden durch ihre Träume, doch Antworten gab es nicht. Noch nicht. Und dann, beim Aufwachen, schweißgebadet und eng eingerollt, dachte sie erneut daran, wie der Idealen-Junge zu ihr gesagt hatte: »Ich hab dich gesehen.« Und sie dachte an den Moment auf Seans Schiff, als sie auf dem Bildschirm Annie Tallis Gesicht gesehen und einen fremden Namen gehört hatte. Diese Gedanken erfüllten sie mit Angst. Was hatte das zu bedeuten?
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15 Während sich die singenden Minuten kurz vor der Dämmerung ihren Weg zwischen den Wolkenkiefern und über die kristallweißen Abhänge von Miras altem Leben bahnten; während die stürmischen Böen über die halb überfluteten Äcker und Windparks und die verrottenden, bald schon völlig überschwemmten Pfahlstraßen des Tieflands im Süden strichen und langsam wärmer wurden, weil der kurze Sommer bevorstand; während Jazz allein auf einem Hügel der Hauptstadt stand, auf seinem Weg zu einem Treffen mit den Umstürzlern, in dem starken Wind aussehend wie ein hagerer, zerzauster Vogel, der weinte vor Trauer über das, was er in den kurzen siebzehn Jahren seines Lebens bereits verloren hatte; während Mira nach einem Achtzehn-Stunden-Tag in den Keller kroch und die Unbarmherzigkeit der Stadt verwünschte – da schnitt ein grünes Schiff mit Namen Helicon durch die gefährlichen Wasser vor der felsigen Küste von Wales. An Bord befanden sich Kisten für die Fischereiund Wetterstation im walisischen Menai und andere für eine Reihe von Windparks in der Gegend von Preston, im Nordwesten Britanniens. Auf der Rückfahrt würden reparaturbedürftige Ausrüstungsge260
genstände den Lagerraum füllen, Fische und vielleicht Holz. Das Schiff war blind den Elementen ausgeliefert. Dichter, eisiger Regen hämmerte gegen die Glasscheiben des Steuerhauses, und die geschwollene schwarze See erbrach sich wieder und wieder über das Deck und rutschte wie nasse Folienstücke unter dem Schandeck wieder ins Meer. Unbeeindruckt von dem Wetter, las Sean seine Instrumente ab und ließ das Steuerrad sanft durch seine Hände gleiten, spürte, wie ihm das Schiff vertrauensvoll gehorchte. Wenn er wollte, könnte er den Computer das Schiff fuhren lassen, ohne seine Hilfe, doch wo lag da die Kunst? Wo blieb das Vergnügen? Die Helicon schenkte ihm Freiheit, und er wäre ein Narr, wenn er sie verschmähen würde, indem er seine Arbeit einer Maschine überließ. Obwohl er ein Räudiger war, besaß er Geschick und Können, und in seinen Genen lag die tief verwurzelte Erinnerung an die Gefahren dieser Erde und die Wege, sich ihnen zu stellen und sie zu meistern. Warum sollte er diese Fähigkeit verkümmern lassen? Doch seine Gedanken waren sorgenvoll. Seit langem hatte er das Gefühl, dass er mehr für das tapfere, fremde und schöne Mädchen hätte tun sollen, das er aus der Bedrohung im Norden gerettet und mitten in einer noch größeren Bedrohung am Hafen der Hauptstadt ausgesetzt hatte. Seitdem hatte er zwei weitere Fahrten unternommen, einschließlich dieser.
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Wie Martha, so hatte auch er es sich zur Pflicht gemacht, niemals aufzufallen. Niemals auffallen, sonst nehmen sie dir dein Schiff und deine Freiheit. Niemals auffallen, sonst besuchen sie deine Frau und das Kind, das schließlich doch geboren wurde, der Geburtenkommission zum Trotz. – Aber dennoch: Sein Instinkt, dem gejagten Mädchen in Lomond zu helfen, war richtig gewesen. Und er hätte sicher noch mehr für sie tun können. Er hätte ihr das Wissen vermitteln können, das ihr geholfen hätte, in der Stadt zu überleben, oder die Namen der Menschen, denen sie vertrauen konnte. Einige davon hatte er selbst in die Stadt gebracht, Menschen mit schmalen Lippen und wachsamen Augen, die die Saat der Revolution säten. Wenigstens hätte er ihr sagen können, welche Vermutungen er über sie anstellte. Aber zu spät. Die Sache war erledigt. Wieder blickte Sean auf seine Anzeige und runzelte die Stirn. Sein Instinkt, jene Erinnerung in seinen Genen, sagte ihm, dass es Zeit war, von der Küste wegzusteuern. Es war nötig, einen weiten Bogen um überschwemmtes Land zu fahren, das weit im Westen ins Meer hinausragte, bevor das Schiff sich wieder der Küste nähern konnte und sie es wagen durften, den nächsten Handelsplatz anzufahren. Doch die Anzeigen auf den Instrumenten hatten sich nicht verändert. Sie rieten ihm, den Kurs beizubehalten. »Mick«, sagte er über seine Schulter, »Papier,
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Mann, und was zu schreiben, sei so gut. Und die Karte. Mach schnell.« Als er das Gewünschte in Händen hielt, übergab er das Steuerrad an Mick – »ganz ruhig jetzt, halbe Kraft, Kurs beibehalten« – und notierte sich Geschwindigkeiten, Positionen, geschätzte Windrichtungen und -stärken. Er brauchte nur wenige Minuten, um eine Antwort auf seine Frage zu erhalten, doch das Ergebnis ließ ihn seine Kalkulationen noch einmal überprüfen. Auch diesmal hätte er den Computer benutzen können, der speziell für solche Probleme programmiert war, aber … aber … »Mick, hart Backbord. Halte sie vor dem Wind, klar nach Westen. Raus aufs offene Meer, Mann!« Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen, doch widerspruchslos gehorchend, kreiselte der Maat das Steuerrad herum, und das kleine Schiff legte sich scharf in den neuen Kurs hinein. Sean nahm seine Wetterjacke vom Haken, griff sich sein Fernglas und drückte die Tür auf, die an Deck führte. »Kurs halten. Und aufgepasst.« Draußen im Sturm klinkte er seine Sicherungsleine an der Reling fest, um beide Hände für das Hochleistungsfernglas frei zu haben, das er von Horizont zu Horizont schwenkte. Ja, da war es, ganz sicher – der unscharfe Flecken Land, jetzt hinter ihnen, an Steuerbord, der wie eine riesige Rutsche ins Wasser abfiel und nur darauf wartete, die Unachtsamen zu Fall zu bringen. Er schaute durch das Fernglas hinaus auf die
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verborgene Gefahr – wo eigentlich ein Licht sein sollte. Selbst bei diesem Wetter müsste der Schein klar und deutlich zu sehen sein, mit einem pulsierenden Blinken in jeweils drei Sekunden Abstand. Doch da war nichts. Seine Finger, die das Fernglas umklammerten, wurden weiß. »Oh geheiligte Mutter!«, murmelte er. »Sie haben das Leuchtfeuer abgestellt. Was für ein Idiot ich gewesen bin.« Er spürte den Druck der Angst in seiner Brust, stieß zornig die für zum Steuerhaus auf, stürzte hinein und warf die triefnasse Wetterjacke über den Haken. Mit einem schnellen Handgriff betätigte er den Aus-Schalter des Computers. »Wir fahren ohne Instrumente, bis ich etwas anderes befehle, Mick, mein Junge.« Dann drückte er einen weiteren Knopf an seiner eigenen, selbst gebastelten Trickkiste und schickte rasche Klangwellen aus, über und unter Wasser und sogar hoch hinauf in den dunklen Himmel, nach Gefahren suchend. Und da war es – ein Piepen. Ein anderes Schiff, nur eine oder zwei Meilen hinter ihnen. »Skipper?« Mick betrachtete das Gesicht seines Kapitäns, suchte nach Zuversicht. Der Mann war kein Narr. »Aye. Es gibt Ärger. Hier, ich übernehme das Steuer. Geh und hole die anderen Jungs hoch, Mann. Und zwar bewaffnet.« Während Mick nach unten lief und die Schlafen-
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den weckte, ging Sean in Gedanken hastig die wenigen Auswege durch, die ihm blieben, die Häfen, die sie von hier aus anlaufen konnten. Die irische Hauptstadt lag nahe genug, doch dort würden sie kaum sicher sein, würden es wahrscheinlich nicht einmal bis zum Anlegeplatz schaffen. Außerdem mussten sie auf diesem Kurs den Weg des sie verfolgenden Schiffes kreuzen. Also wohin? Nach Mourne? Snaefell? Snaefell! Er konnte sich keinen Ort vorstellen, an dem sie sicherer waren, wenn sie es nur bis dorthin schaffen würden! Er war noch eine ganze Strecke entfernt. Aber falls es ihnen gelang, würden sie ihren Verfolgern damit ein nettes Schnippchen schlagen und ihnen womöglich noch Probleme bereiten. Der Kreis der Dissidenten dort schuldete ihm einiges. Dort hatte er Freunde auf dem Meer. Wenn. Er errechnete ihren neuen Kurs, immer mit einem Auge das Piepen ihrer Verfolger im Blick behaltend, forderte den Motoren ihre volle Kraft ab, verbrauchte wertvolles Benzin, das er nicht würde ersetzen können, selbst wenn er wie durch ein Wunder seine Lizenz retten – oder eine neue fälschen – konnte. Der Tag war nun angebrochen, ein wildes, hungriges graues Biest von einem Tag. Sean dachte an Rebekah und an die kleine Kitty, die nun beim Frühstück saßen und sich Geschichten erzählten, während sie von ihrem Haus auf den Klippen auf den Sturm hinausblickten. Die Furcht war wieder verschwun-
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den, so schnell wie sie gekommen war. Er fühlte sich ruhig. Das Schiff sauste wie der Wind über die grünen Hügel des Wassers, doch das Piepen schloss hinter ihnen auf. Langsam aber sicher.
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16 »Freunde, Aktionäre, Kameraden von Pax, geschätzte Kollegen der Geburtenkommission und Mitglieder der Großen Familien unserer Nation, ich stelle mich in Ihren Dienst, schwöre, hart zu arbeiten und die Tradition von Recht und Gesetz, Fairness und Verantwortungsbewusstsein aufrecht zu erhalten, die Sie alle in vielen mühevollen Jahren geschaffen haben. Ich fühle mich zutiefst geehrt, dass Sie mich trotz meiner jungen Jahre eines solchen Postens für würdig erachten.« Kay saß am Familientisch und ließ die verbindlichen, offiziellen Worte dieser Feier mit leicht gerunzelter Stirn an sich vorüberziehen. Jan Barbieris Antrittsrede war wie der Junge selbst: ohne jegliche Originalität und Individualität. Nur eine Demonstration von perfekter, polierter Konformität. In Kay stieg ein Gefühl der Übelkeit auf. Jan trug eine steife schwarze Tunika, gesäumt mit dem typischen Pax-Grau. Sein blondes Haar lag makellos, die weißen Zähne glänzten, die blauen Augen strahlten, die Haut schimmerte wachsweich. Er war intelligent und gefährlich. Seine Haltung, die Art, wie er sein Publikum ansprach, zeugte von Selbstsicherheit, von Gelassenheit. Er war ein Großer, ein Überflieger, ein Meister der Selbstdarstellung, auch wenn er unter Druck stand. Er war al267
les, was Kay nicht war. Er – Jan – war außerdem ein Scheißkerl. »Er ist ein Scheißkerl, dein Nachwuchsoffizier im Range eines Leutnants«, flüsterte Kay seiner Schwester zu. Sie kicherte und flüsterte zurück: »Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Aber ein ziemlich gut aussehender Scheißkerl. Außerdem ist er nicht mein Leutnant.« »Noch nicht. Aber er wird es sein, nicht wahr?« Sie schaute ihn einen Moment lang ernst an. »Vielleicht. Aber nur wenn ich es will. Ich habe mich noch nicht entschieden.« Ja, nur wenn sie will. Sie haben die Wahl, Jan und sie. Sie wurden dafür geboren. Auf der anderen Seite des Tisches hob Tomas warnend den Zeigefinger und bedeutete ihnen, still zu sein. Unerbittlich spulte Jan seine Rede ab und Kays Gedanken wandten sich wieder einmal dem Mädchen zu. Seinem Mädchen. Er hatte schon eine vage Ahnung von dem Ort, wo sie herstammen könnte. Er hatte sich Bilder aus der Datenbank aufgerufen und sprachlos die raue, schöne Landschaft betrachtet. In Gedanken hatte er das Mädchen mit den scharlachroten Haaren bereits in diese Landschaft eingepasst – obwohl es ihm bisweilen seltsam schien, dass sie dort überlebt haben sollte und hier mit dem ungleich einfacheren Leben in der Stadt nicht zurechtkam. Doch ihre Schönheit sprach für seine Theorie. Diese Schönheit passte zu der Umgebung, aus der sie kam.
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Unruhig warf Kay seiner Schwester einen Blick zu. Ihre Augen hingen konzentriert an der blökenden blonden Gestalt. Ihr dichtes Haar schimmerte schwarz. »… und schließlich möchte ich mich für die freundliche Unterstützung bedanken, die Sie alle mir nach dem Tod meiner Eltern vor etwas mehr als vier Jahren durch die Hand von feigen und böswilligen Umstürzlern haben angedeihen lassen. Vor allem danke ich Magnus Stein und Pieter Budd, beides Vorsitzende der Geburtenkommission, die sich trotz ihrer zahlreichen, aufreibenden Verantwortlichkeiten in diesen vier Jahren immer Zeit für mich genommen haben. Meine Damen und Herren, ich erhebe mein Glas: auf meine geliebten Eltern, Matteus und Olive Barbieri, und auf meine guten Freunde, Magnus und Pieter.« Am Tisch der Geburtenkommission standen nun zwei schmale silberhaarige Männer auf und nickten kurz in die Runde, wie ältliche Marionetten, und setzten sich wieder hin. Eine Minute lang wogte der Applaus hin und her und dann waren endlich alle Worte gesagt. Auf Tomas’ Zeichen erhoben sich die vier Saints aus ihren Stühlen, nahmen ihre Gläser und mischten sich unter die anderen Gäste. Überall im Saal taten die anderen Großen Familien dasselbe, beeilten sich, die stählernen Bande dieses paranoiden Herrschaftsvereins in Zement zu gießen und etwaige Risse mit Beton zu kitten. An den Glaswänden des
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achteckigen Saals standen die Reihen der Leibwächter und versperrten den grandiosen Blick auf die Stadt. Hedge befand sich unter ihnen, schaute ausdruckslos vor sich hin und achtete doch stets darauf, wo Kay war, mit wem er sprach, ohne jemals die katzengleichen Sprungfedern seiner Muskeln zu entspannen. Ein großer, ein gefährlicher Mann. »Eine ziemlich tolle Sache, nicht wahr? Der junge Barbieri – Leutnant in seinem Alter.« Das war der übliche, nichts sagende Kommentar. Oder: »Was dürfen wir von unserem jungen Freund erwarten, Kay, was meinst du? Ich muss schon sagen, er hat uns alle beeindruckt.« Oder: »Ein Star wurde geboren. Haha …« – ein Zwinkern – »… darin sind wir ja gut, was?« »Und was ist mit dir, mein Junge?«, fragte ein großes Walross, ein Mitglied der Becker-Familie (Nahrungstechnologie). »Ich höre, man erhofft sich Großes von dir in der Abteilung Systemdesign. Ziemlich verantwortungsvolle Arbeit, stimmt’s?« Eine gelangweilt wirkende Frau, von der er sich nicht erinnern konnte, sie schon jemals getroffen zu haben, fügte hinzu: »Ich muss schon sagen, die Energie deiner Mutter ist bemerkenswert. Sie scheint niemals müde zu werden. Sie ist uns allen ein Beispiel, ein leuchtendes Vorbild und tut so viel für unser Image … da draußen.« Sie erschauerte bei der Vorstellung, selbst da draußen zu sein. »Und wie ich sehe, ist unsere kleine Clarissa auch erwachsen geworden …«
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»Ja. Aha. Natürlich. Mmm.« Kay gab immer dieselben liebenswürdigen, unverbindlichen Kommentare zu dem Strom von sinnlosen Fragen ab, auf die er keine Antworten hatte, und ging weiter, baute Brücken, pflegte Kontakte, verhielt sich, wie es von ihm erwartet wurde. Wieder und wieder gab er die richtigen Kommentare von sich, lachte in den richtigen Momenten, blieb in seinen Äußerungen zu seiner eigenen (für ihn im Schatten liegenden) Zukunft vage und zweideutig, schlenderte von einem verhassten Gesicht zum anderen und fing jedes Mal von vorne an. Allerdings: Die Großen Familien schienen nicht in Stimmung zu sein, wirkten kühler als das letzte Mal, als sie sich bei einer ähnlich wichtigen Gelegenheit versammelt hatten. Doch vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Vielleicht rührte sein Frösteln von dem Bild der schneebedeckten Landschaft her, die ihm im Kopf herumschwirrte, die Landschaft des Mädchens. Er stellte sie sich dort vor und die Vorstellung reizte ihn. Erfolglos versuchte er, sich selbst in das Bild einzufügen. Fiel denn niemandem auf, dass er anders war? Dass er nicht hierher passte? Merkten sie denn nicht, wie sehr er sie hasste? »Na, freust du dich auch auf die wärmeren Tage?« »Oh ja. Sehr sogar. Mmm. Schön.« Oh Gott. Verzweifelt taumelte er in eine Toilette, nahm das silberne Röhrchen heraus, warm von der Hitze seines
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Körpers, und ließ eine kleine Portion des Puders auf seiner Zunge zergehen. Dann wusch er sich langsam und ausgiebig, zog seine Kleidung zurecht und trank ein wenig Wasser. So, jetzt würde es gehen. Nun konnte er da draußen bestehen. Es war ja nur dies eine Mal. Er würde es nicht wieder tun. Er schwor es sich selbst – ein Versprechen, das leicht fiel. Ausgerechnet in dem Moment, in dem Kay den Waschraum verließ, stieß er auf Jan. Und ausgerechnet in diesem Augenblick kam auch noch Clarissa hinzu. Die drei begrüßten sich und standen steif in einigem Abstand beieinander – die beiden Jungen ernst blickend, das Mädchen lächelnd ob der ungemütlichen Situation, mit vor der Brust verschränkten Armen. Ihre ganze Haltung drückte aus, dass sie einen Streit erwartete, der seine Wurzeln in lange gehegter Gewohnheit hatte. Alle drei hatten zusammen als Kinder gespielt, waren zeitweise gemeinsam unterrichtet worden, bis Jans Eltern getötet worden waren. Doch es war immer eine zwiespältige Kameradschaft gewesen. Von Anfang an hatten sie sich endlos gestritten. Drei war keine gute Zahl. Mit der Zeit hatte Clarissa gelernt, die Diplomatin zu spielen und zu bekommen, was sie wollte, ohne darum zu kämpfen. Sie schloss Bündnisse, mal mit dem einen, mal mit dem anderen, wie es ihr gerade passte. Die Jungen hatten einander das Spielzeug weggenommen, hatten sich wie Tiger bekämpft und darum gerungen, Clarissa auf ihre Seite zu ziehen. Schnell hat-
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te sie erkannt, welche Macht sie über die beiden hatte, und ihren Vorteil gnadenlos ausgespielt. In all dieser Zeit fanden die beiden Jungen nie eine gemeinsame Basis für eine Freundschaft – oder nur ein Abkommen. Wie konnten sie auch, wenn sich doch ihre Wege in die Zukunft so grundlegend voneinander unterschieden? »Herr Leutnant.« »Kay.« »Eine ziemlich große Sache, was?« Kay spürte mehr, als er hörte, dass seine Worte ungewohnt schleppend klangen. »Was können wir von unserem jungen Freund wohl erwarten, he?« Die blauen Augen blitzten eisig. »Willst du das wirklich wissen?« »Na, kommt schon, Jungs«, murmelte Clarissa liebenswürdig. »Seid nett zueinander. Zieh ihn nicht auf, Kay.« Kay ignorierte seine Schwester und sagte kampflustig: »Ja, warum nicht? Ja, ich würde es wirklich gerne wissen.« »Nun, ich denke, ich kann mein Anliegen für dich kurz zusammenfassen. Meiner Meinung nach müssen wir in puncto Sicherheit und allgemeine Stabilität rasch in eine neue Phase eintreten. Wenn man nach draußen geht – was du, Kay, ja offenbar ziemlich häufig tust –, hinaus in unsere großartige Hauptstadt, wenn man sich umschaut, durch die Straßen läuft, den Hafen besucht, wird man bemerken, dass eine
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ungeheure Flut von … Treibgut … Unrat – nenne es, wie du willst – unser System verstopft.« Kay merkte, wie Zorn in ihm emporkroch. Er wusste, dass der andere ihn ganz gezielt provozierte, doch das war ihm egal. »Du sprichst von den Räudigen, den Obdachlosen. Den Arbeitslosen. Von denjenigen, die vor der Flut fliehen. Von denjenigen, um die wir uns nicht kümmern. Von Menschen, Jan.« Neben ihm zog Clarissa bei der Erwähnung des gefährlichen Worts hörbar den Atem ein und schaute sich um, ob jemand in der Nähe war, aber Jan ließ sich nichts anmerken. Unmerklich rückte er näher und sagte bestimmt: »Wie ich schon sagte, nenne es, wie du willst. Der Punkt ist, dass diese …« – hier neigte er seinen Blondschopf dicht an Kays Ohr, um ihm das Wort einzuhauchen – »… diese Verunreinigungen nicht schnell genug beseitigt werden. Daher rührt der Ärger, den wir in letzter Zeit haben. Aber hier scheint das ja niemanden zu kümmern.« Ungeduldig wies er auf seine Gäste. »Oh ja, die Geburtengenehmigungen haben geholfen – helfen immer noch, aber wir müssen handeln. Wir müssen die Dinge, die jetzt am Laufen sind, schneller vorantreiben. Wir können uns nicht immer mit diesem Mittelweg zufrieden geben. Nimm nur einmal die Portable Road, wie man sie nennt. Scheußlich! Du musst zugeben, dass zumindest dies eine Wunde ist, die dringend gereinigt werden muss, ausgebrannt sozusagen. Und ich könnte dir noch mehr Beispiele nennen …«
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»Verunreinigungen!« Kay war sich bewusst, dass sich seine Stimme erhoben hatte, dass Clarissa ihn ermahnte, leiser zu reden. Er sah, dass seine Hand das makellose grauschwarze Revers des anderen Jungen gepackt hatte. »Und ich, Jan? Schau mich an! Schau mir ins Gesicht! Bin ich eine Verunreinigung, die durch deine Pax-Arschlöcher weggewischt werden muss? Bin ich das? Wo ist die Grenze?« Jan schlug seine Hand weg. Seine glitzernden Augen sprühten vor Hass und Wut. »Vielleicht, Kay. Wenn du dich so wenig unter Kontrolle hast. Da kann man sich schon fragen …« Dann glitt sein Blick über Kays Schulter auf jemanden, der hinter ihm stand. Er richtete sich auf, riss sich merklich zusammen, verbeugte sich leicht und verschwand in der Menge. »Ach Gott«, sagte Tilly, die mit der ihr eigenen leichten, süß duftenden Grazie neben Kay aufgetaucht war und einen Arm unter den seinen schob, »du scheinst wieder eine ziemliche Szene gemacht zu haben, mein Lieber. Was glaubst du, wird dein Großvater dazu sagen?« Kays Fäuste waren eng gegen seine Hüften gepresst. Er betrachtete den verhassten grauen Rücken, der sich von ihnen entfernte. »Es ist mir egal, was er sagt. Jan Barbieri ist ein Tier. Ihm Macht zu geben, ist Irrsinn.« »Ich bin sicher, du hast Recht, Lieber«, murmelte seine Mutter beruhigend. Auf ihrem Gesicht klebte
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ihr Party-Lächeln, und sie nickte und winkte nach rechts und links und in alle Ecken des Raums, um die Wogen wieder zu glätten. Kay betrachtete sie forschend, schaute beide an, Mutter und Schwester, wie sie dastanden: frisch und atemberaubend, unerschüttert durch seinen Ausbruch, bezaubernd und betörend. Sie waren sich ähnlich und für ihn völlig unbegreiflich. Clarissa, die nun Bemerkungen fallen ließ, dass sie sich nicht sicher war, ob sie Jan als ihren Partner wählen sollte; Tilly, die völlig unerwartet scheinbar seiner Ansicht über Jans neue Verantwortung zustimmte. Oder war das nur so dahingesagt? Wollte sie ihn nur besänftigen, ihn manipulieren, wie sie es immer tat? Er wusste es nicht. In seinem Kopf drehte sich alles. Er hätte den Glücksstaub nicht nehmen sollen. Hier war nicht der richtige Ort dafür. Irgendwie schaffte er es, weitere vierzig düstere Minuten lang seine Sinne für Nicken, Grinsen und Smalltalk zusammenzuhalten. Es geschah nicht oft, dass alle zwölf Großen Familien in einem Raum versammelt waren, mussten doch sieben von ihnen durch die Fluten aus anderen Städten anreisen. Aber nun, da sie beisammen waren, erschien ihm alles so sinnlos. Nichts als leere Beweihräucherung und nostalgisches Schwelgen in Erinnerungen. Keiner von denen da war zum Herrschen geboren. Vielleicht war Jan der Einzige der Anwesenden, der sah, was da draußen in den Straßen passierte – die Unzufrieden-
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heit, die Unruhe –, und Jan war derjenige, der all das wegfegen wollte. Die gute alte Pax, die den Familien den Rücken frei hielt. Während er in dem offiziellen Familientransporter, umgeben von den schweigenden Leibwächtern, nach Hause fuhr, schenkten ihm die Gedanken an das Mädchen wieder seine innere Ruhe. Er grübelte darüber nach, was er bereits wusste, was er vermutete und was er mit seinem Wissen anfangen wollte. Ihm gegenüber, auf einem Eckplatz, saß der alte Mann und betrachtete ihn kalt. Seine wässrigen Augen schimmerten in den Schatten. Nach einer Weile sagte Tomas: »Ich erwarte von dir, dass du dich in Zukunft mehr unter Kontrolle hast. Hast du so wenig über die Kunst der Politik gelernt? Wurdest du so schlecht ausgebildet? Es gibt immer einen größeren Zusammenhang, den man bedenken muss. Unbekannte Faktoren. Immer. Wir befinden uns in einer für die Familie schwierigen Zeit. Wir dürfen es uns mit unseren Verbündeten nicht verscherzen.« »Kontrolle!« Kay wollte sich einen solchen Tadel vor seiner Schwester und seiner Mutter nicht widerspruchslos gefallen lassen. Er war ja nur ihretwegen zu dieser verdammten Veranstaltung mitgefahren. Zitternd beugte er sich vor. »Kontrolle. Weißt du, Großvater, das ist genau das, was Jan gesagt hat. Ihr seid besessen von der Kontrolle, nicht wahr? Ihr alle. Scheiß darauf! Ich will leben. Hast du vielleicht was
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dagegen? Ja?« Drei Saint-Augenpaare schauten ihn ernst an, und ihm wurde klar, dass er in die Falle seiner eigenen Stimmung geraten war. Wieder einmal hatte er sich ungewollt in die Rolle des rebellischen, schmollenden Kindes drängen lassen. Diese Vorstellung in seinem Kopf kitzelte seine folgenden Worte förmlich hervor: »Wie steht’s denn mit deiner Kontrolle, Großvater? Warst du in letzter Zeit nicht etwas nachlässig? Hast du nicht irgendetwas verloren? Irgendetwas entwischen lassen?« Als der alte Mann antwortete, klang seine Stimme eisig. »Nein, Kay. Ich verliere nie etwas. Ich entledige mich nur wertloser Dinge.« Die Drohung war unmissverständlich. Sofort bereute Kay seine Worte und sein Schmollen war vergessen. Was tat er da? Er musste verrückt sein! Nach all den Stunden behutsamer, mühevoller Recherche. Ein falsches Wort von ihm und das Mädchen wurde gefunden und vernichtet. Sie hatten Recht, verdammt sollten sie sein. Er musste sich tatsächlich mehr unter Kontrolle halten. Vielleicht nicht ihre Art von Kontrolle. Nicht die Kontrolle über Menschen, Städte, Nationen. Nur die Fähigkeit, sein Temperament zu beherrschen und seine Gefühle zu verbergen. Genügend Kontrolle, um einen Raum zu finden, in dem er ungestört existieren konnte. Er wollte nur noch allein sein, hinter seinen dicken Türen. Das war alles. Tillys warme, mütterliche Hand legte sich auf seine. »Ich habe eine Idee«, sagte sie fröhlich. »Ich wer-
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de Christo sagen, dass ich heute Abend zu Hause bleibe, und wenn wir heimkommen, lassen wir uns alle eine heiße Schokolade mit Sahne heraufbringen. Wir können etwas zusammen spielen. Tomas kann sein Mahjong-Spiel herausholen und wir können zusammensitzen wie früher. Nur wir. Nur die Familie. Was haltet ihr davon? Kay? Clarissa?« Kay dachte an die Musik, die er verpassen würde. An das Mädchen, das einsam dasaß und mit ihren leblosen und unwissenden Augen auf seine Geschenke wartete. Er dachte daran, was Jan über die Portable Road gesagt hatte. Die Worte ließen ihn nicht los. Hatte Jan – oder Pax – ihm nachspioniert? »Das wäre großartig, Mama«, presste er unter Anstrengung hervor. »Mein Ausbruch tut mir Leid, Großvater. Ich möchte mich bei euch allen entschuldigen.« »Das wäre großartig, Mama«, äffte ihn Clarissa aus ihrer Ecke nach. Doch sie tat es leise, und falls die anderen sie gehört hatten, ließen sie es sich nicht anmerken. In seinem eigenen offiziellen Transporter, kaum eine Meile entfernt, hatte Jan Barbieri seine Antrittsrede und den ermüdenden Abend, der darauf folgte, bereits aus seinem Gedächtnis verbannt. Das war etwas, was im Augenblick nötig war – diesen wandelnden Fossilien der Großen Familien in den Hintern kriechen und lächelnd zusehen, wie sie ihm stolz und selbstzufrieden den Kopf tätschelten, als ob sie
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irgendetwas mit seinem Aufstieg zu tun hätten. Dabei hatten sie keine Ahnung. Er zog an den Fäden. Er war die Zukunft. Er konnte es an dem Kribbeln in seinen Fingerspitzen fühlen. Und jetzt noch diese Neuigkeit von Hunter – ein Geschenk der Götter. Er konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu grinsen, konnte kaum noch auf seinem Ledersitz still sitzen. »Also hat der alte Narr einen Ersatz verloren!«, sagte er und schlug mit seinen Handflächen auf beide Knie. Hunter, sein persönlicher Leibwächter und Strategieberater, sagte: »Es scheint so. Allerdings ist es noch nicht bestätigt.« »Ein Ersatz, der sich hier in der Stadt aufhält und diesen Idioten, Copper, an der Nase herumgeführt hat, Copper und alle anderen, die der Alte losgeschickt hat.« Hunter runzelte die Stirn. »Copper ist kein Idiot, Mr Barbieri. Außerdem, wie ich bereits sagte, es ist noch nichts bestätigt. Es handelt sich lediglich um begründete Vermutungen. Ich muss mir die Daten und Einsatzpläne des Saint-Geheimdienstes noch einmal genauer anschauen. Vielleicht auch einen Mann in den Norden schicken, zu der Siedlung der Schläfer.« »Ach«, sagte Jan Barbieri unbekümmert, »es ist wahr. Ich kann es fühlen. Und es passt zu dem, was wir bereits wissen. Machen Sie sich doch nichts vor, Hunter: Sie haben ihren Biss verloren, die noblen
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Saints. Sie sind schon längst Vergangenheit. Wer braucht schon ihre armseligen Sendungen – oder irgendein Programm? Unterschwellige Botschaften, Falschinformation, Drogen … Früher einmal war das nützlich, während der Eiszeit, aber jetzt nicht mehr, nicht in der Gegenwart. Jetzt ist unsere Zeit gekommen, Hunter. Die Dinge verändern sich.« Der größere Mann schwieg mit düsterer Miene. Jan wandte sich an Magnus und Pieter, die angesichts von Hunters Behauptung keinerlei Überraschung gezeigt hatten. Andererseits war »Überraschung« für die beiden generell ein Fremdwort – wie überhaupt jede Form von echter Emotion. »Das ist doch zum Lachen, nicht wahr? Die großen und mächtigen Saints, vorgeführt wie kleine Kinder! Sie sind nicht einmal in der Lage, einen Ersatz unter Kontrolle zu halten. Habt ihr schon davon gewusst? Ihr habt …? Tatsächlich? Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?« Pieter neigte mit einer knappen Bewegung seinen Kopf und das kurz geschorene silberne Haar schimmerte leicht im Licht. »Wir hatten … einen Verdacht.« »Ihr hattet einen Verdacht? Das ist alles?« Ihr Götter, konnten die beiden nicht einmal ein kleines bisschen … aufgeregt sein? Sich gehen lassen? Jan spürte, wie ihn ein Anflug von Gereiztheit überkam, und wandte abrupt seinen Kopf ab, um aus dem Fenster in die Nacht hinauszuschauen und seinen Ärger zu verbergen. Sie waren so gut zu ihm,
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hatten ihm so viel beigebracht. Sie glaubten an dasselbe, an das auch er glaubte, an eine saubere Stadt, an eine leistungsstarke Bevölkerung. Und jetzt – endlich – hatte er wirkliche Macht, so wie sie auch. Was für eine Kombination! Gemeinsam würden sie einen Weg finden, die Dinge zurechtzurücken. Die wundervollen Ideen, die sie hatten. Wahrhaftig wundervolle Ideen! Und hier saß er nun, sprudelte über vor Energie und guter Laune und Vorfreude auf die Zukunft. Dies war seine Nacht. Alles, was er wollte, war, sich über einen harmlosen Scherz auf Kosten der Saints zu amüsieren. Das war doch keine große Sache. Vielleicht waren die beiden zu alt geworden, zu vorsichtig … Er wandte sich wieder zu ihnen um und sagte: »Schaut, wir müssen uns über den Ersatz keine Sorgen machen, wenn es das ist, was euch beunruhigt. Tomas wird sie irgendwann kriegen, wenn sie tatsächlich hier ist und wenn sie eine Bedrohung darstellt. Wir könnten ihm sogar anbieten, ihm die Arbeit abzunehmen. Was meint ihr?« In dem weichen Innenlicht erwiderten die zwei Männer ausdruckslos seinen Blick. Beide hatten eine elfenbeinfarbene Haut, die ihre Schädel fast skelettartig wirken ließ, und beide betrachteten ihn aus verwaschenen blauen Augen. Langsam sagte Magnus: »Es ist richtig, dass die unerwünschte Anwesenheit eines Ersatzes in dieser Stadt etliche Folgen für die Großen Familien haben
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könnte, und auch für uns. Wir können ein anderes Mal darüber sprechen. Aber du musst entschuldigen, wenn unsere Stimmung nicht so euphorisch ist, wie der Anlass es gebührt. Abgesehen von dem, was Hunter uns erzählt hat, gibt es noch andere Neuigkeiten. Neuigkeiten, die du erfahren musst und die dir zweifellos nicht unerheblichen Kummer bereiten werden.« Stille. Jan spürte, wie sich seine gute Laune und seine Erregung verflüchtigten wie Wasserdampf an einem kalten Tag. Sein Magen zog sich angesichts des sanften, besorgten Ausdrucks auf den Gesichtern der beiden Männer zusammen. Mit demselben Ausdruck hatten sie ihm vor vier langen Jahren die Nachricht vom »Tod« seiner Eltern überbracht. »Ein Angriff«, hatten sie traurig gesagt. »Ein feiger Hinterhalt, dem der Transporter, mit dem sie von ihrem offiziellen Besuch in ihre Wohnung zurückkehrten, zum Opfer fiel.« Sie hatten es zugelassen, dass er sein Gesicht in dem dünnen, kratzigen Stoff der Tuniken an ihren Schultern vergrub und sich ausweinte. Es war das einzige Mal, dass sie ihn berührt hatten, und das letzte Mal, dass er geweint hatte. Und nach jenen ersten dunklen Monaten hatten sie ihm geholfen, wieder stark zu werden. So stark, wie er jetzt war. Er sammelte sich, bemüht um einen unbeschwerten Ton: »Und was gibt es für schreckliche Nachrichten? Es gibt doch niemanden mehr, den ich verlieren
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könnte, niemanden, um den ich trauern würde. Alle, die mir etwas bedeuten, sind hier anwesend.« Mit einer Geste deutete er auf die drei Männer im Transporter. Es war wieder Magnus, der die nächsten Worte aussprach. »Kein Zweifel, du hast bestimmt in den Sendungen und aus dem Mund unseres guten und fähigen Hunter gehört, dass es kürzlich einige Angriffe auf die Stoneywall-Forschungsanstalt gegeben hat. Vandalismus, Öko-Demonstrationen, so etwas in der Art. Ermüdend und sinnlos.« »Ja, natürlich habe ich davon gehört.« »Ja. Nun, die letzte Attacke dieser Art war besser organisiert. Etwas völlig anderes. Sogar clever.« »Und?« »Und sie schafften es, das Sicherheitssystem zu knacken.« Magnus lächelte entschuldigend und hob die dünnhäutigen Handflächen nach oben. »Das Sicherheitssystem dort ist nicht besonders hoch entwickelt, wie du weißt. Warum sollte es auch? Der Standort und die Art des Gebäudes reichen normalerweise aus, um die meisten … Übeltäter zu entmutigen. Aber diesmal ist jemand eingedrungen. Mit Sprengstoff. Und irgendwie – es tut mir so Leid, Jan, wir wissen noch nicht, wie es überhaupt möglich war –, irgendwie gelang es ihnen, Zugang zu den Tresoren zu erlangen, zu einigen der Tresore, und das Material, das dort lagerte, zu zerstören.« Jetzt wusste Jan, wohin diese Ansprache führen
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würde. Er fing an zu schwitzen, zu zittern. »Es ist nicht leicht für mich, dir das zu sagen. Einer der Tresore, die vernichtet wurden, war der deiner Familie.« »NEIN.« In diesem Moment, als ob sein Aufschrei es befohlen hätte, kam das Gefährt mit einem Ruck zum Stehen; von draußen erscholl wütendes Gebrüll und ein schwerer Schlag traf dumpf die Seite des Transporters. Dann noch einer. Altes Gemüse, faule Eier und Fisch glitten über das Fenster. Köpfe tauchten auf, schrien und gaben Obszönitäten von sich. Ein Junge mit gelbem Haar drückte sein schmales, bitteres Gesicht kurz gegen das Glas und schaute zu der Stelle hin, wo Jan Barbieri saß, obwohl er durch die verdunkelte Scheibe nichts erkennen konnte. Sein Mund formte ein einzelnes, bösartiges Schimpfwort und dann war das Gesicht wieder weg. Jemand anderes da draußen hieb mit einer Metallstange gegen die Karosserie des Transporters. Jan konnte das Schwingen der Arme erkennen und den scharfen Ruck, als die Stange abprallte. Auf der Glasscheibe neben den beiden sanften alten Männern erschien das Bild einer Schlange, die von einer Schattenhand aufgesprüht wurde. Pieter zuckte von dem Fenster zurück, als ob er dem Tod ins Auge geblickt hätte. »Unruhestifter!«, murmelte er. »Was sollen wir tun? Sind wir sicher?« Der Junge schaute ihn mitleidig an. Diese alten
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Knacker fingen bei jeder Kleinigkeit an zu jammern! Er spürte, wie sich der Zorn und die Trauer, die er noch vor ein paar Augenblicken empfunden hatte, zu einem Ball aus feuriger Energie in seinem Innern zusammenzogen. Dies war immer noch seine Nacht – nichts konnte ihm etwas anhaben. Kühl sagte er: »Macht euch keine Sorgen. Ihr bleibt hier. Es wird euch nichts geschehen. Nichts kann die Haut dieses Dings durchdringen. Wir werden uns diese Idioten mal vorknöpfen, nicht wahr, Hunter?« Mittels Computer gab er eine Botschaft an die Sicherheitsabteilung weiter, nahm eine Waffe aus einem Fach, aktivierte die Tür und stieß eine Gestalt zur Seite, die in der Türöffnung auftauchte. Widerstrebend folgte der Mann, den man Hunter nannte, dem Jungen aus dem Transporter. Er konnte in der Aktion keinen Sinn erkennen. Wie Jan gesagt hatte: Niemand und nichts konnte in das Gefährt eindringen, jedenfalls nicht ohne Feuerkraft, die diese Meute offenbar nicht besaß. Die Tür zu öffnen, hieß, die Gefahr zu vergrößern, nicht sie zu vermindern. Der Junge schien mit seiner Wut zu denken und nicht mit seinem Gehirn. Und irgendwie kam es ihm so vor, als ob diese beiden alten Maulwürfe von der Geburtenkommission ihn auch noch dazu ermutigen würden. Warum merkte Jan nicht, wie sie mit ihm spielten, ihn beeinflussten? Der alte Herr, Matteus, hätte sie durchschaut und sich von ihnen fern gehalten. Olive ebenfalls. Ihr Götter, dieser ganze Quatsch über nicht
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besonders hoch entwickelte Sicherheitssysteme in Stoneywall! Es fehlte nicht mehr viel und Hunter hätte die harmlosen Eier-und-Fisch-Werfer in den Wagen gelassen. Ach, was soll’s. Es war besser, sich auf den Job zu konzentrieren, der vor ihm lag, und den anderen das Denken zu überlassen, dachte er grimmig. Der Junge mit dem gelben Haar stand vor ihm und grölte und schrie, als er in die Nacht hinaustrat, und rannte dann, wie ein Wahnsinniger lachend, die Gasse entlang. Nur irgendein armer Räudiger. Lauf, du Bastard, dachte Hunter mit einem Anflug von Mitgefühl. Lauf, bevor die tödliche neue Welle dich und deinesgleichen für immer wegschwemmen wird. Neben ihm schlug der neu ernannte junge Leutnant der Pax nach rechts und links auf die letzten paar Demonstranten ein. Er zog seine Fäuste der Waffe vor. Und er lachte, während er seine Hiebe austeilte.
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17 Ein neuer Tag war über der Stadt erwacht und zum ersten Mal seit vielen Wochen war Lizzie Hepton zufrieden. Dieser Tag trug ein tröstliches, heimeliges Glühen in sich. Die Konturen der Gegenstände stachen in einem Sepiagelb oder einem zarten Violett hervor, so wie es sein sollte. Die Sturmwinde waren so weit weg und so unbedeutend wie das kleine Leben in ihrem Bauch, das sich rührte und einfach nicht seine gehässige, entschlossene Umklammerung lösen wollte. Lizzie kramte in ein paar Mülltonnen herum, achtete nicht darauf, ob sie etwas fand oder nicht, bewegte sich instinktiv von dem feinen Viertel weg, in das ihr neuer, hübscher Freund sie gebracht hatte, und strolchte wieder in den Osten der Stadt zurück. Sie war nicht wie Jazz, war nicht mit elf Jahren ohne Eltern aus dem öden, morastigen Sumpfland und den verlassenen Feldern in ein anderes Universum gekommen. Sie war nicht wie Silberschein, die aus dem Norden in die Stadt gezogen war. Die Hauptstadt war alles, was sie kannte oder kennen wollte. Die beiden würden wahrscheinlich wütend auf sie werden, rasend vor Zorn. So wie die sich immer aufspielten. Genauso wie Martha. Und doch war ihr auch das egal. Ihrer Erfahrung nach wurden die Leu288
te sowieso ständig wütend. Na und? Sie hatte etwas Frieden gefunden – das stand doch wohl selbst ihr zu, oder? – und musste nicht einmal besonders viel dafür tun. Nur ein bisschen reden, ein bisschen lächeln. Sie wusste, was sie wollten. Zumindest hatte sie gedacht, sie wüsste es. Alles war so … überraschend. Das war es, was sie nicht erkannten, ihre lieben Freunde, trotz all ihrer Cleverness. Sie war gesegnet. Jeder war gesegnet. Mit ihren Gedanken bei dem herrlichen Wort, summte sie, ohne es zu merken, die neue Melodie: Seht die Schlange, sie erwacht Ihre Augen blicken euch an, gesegnete Kinder: Es ist Liebe. »Gesegnete Kinder. Es ist Liebe.« Das war wunderschön. Wenigstens war da jemand, der sie verstand, der wusste, was sie fühlte. Seit sie von Ed frei war, gab es nicht mehr viel, worüber sie sich Sorgen machen musste. Das kleine Leben? Diese fremde, ungewollte Kreatur würde ihr von den Leuten, die in ihrem großen weißen Haus über solche Dinge entschieden, sowieso nicht gelassen werden. Oder vielleicht war nur das Genehmigungsverfahren zu kompliziert; sie konnte sich nicht mehr erinnern. Wie auch immer, das Leben würde weichen müssen, irgendwie. Diese Art von Segnung war ärgerlich und
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unbequem. Sie hatte bereits alles, was sie wollte. Und sie wollte keine Mutter sein. Es gab immer Möglichkeiten, selbst wenn sie kein Geld für eine Erlaubnis zusammenkratzen konnte. Oder wenn sie das Geld zu schnell wieder ausgab. Natürlich gab es diese Möglichkeiten; schließlich konnten sich einige Ideale ein Screening erst nach der Befruchtung leisten. Sie musste sich nur mit einem der netten Portiers bei den Müllhalden anfreunden. Sich Freunde machen war etwas, das sie gut konnte. Lizzie zitterte. Sie stand auf einem kleinen Marktplatz. Hier gab es Fische, Getreide und solche Sachen. Sie befand sich mittendrin. Ein Ort, den sie gut kannte, an den sie sich jetzt aber nur schwer erinnern konnte. Menschen hatten sie auf diesem Platz angelächelt, mit ihr gesprochen. Meistens Männer – Raubeine, nicht wie der nette Kerl von vorhin, der sie vor den Polizisten bewahrt hatte. Auch er hatte mit ihr geredet, aber worüber? Sie wusste es nicht mehr. Was spielte es auch für eine Rolle, wenn er ihr solche Geschenke machte, die alles so leicht werden ließen, ringsum und in ihrem Kopf. Und der so nette Sachen zu ihr sagte. Hatte er denn nette Sachen gesagt? Vielleicht hatte er ihr Angst gemacht und ihr gedroht, so wie die anderen. Oder vielleicht hatte er nur den Polizisten gedroht, damit sie sie freiließen? Wie auch immer, was die Geschenke betraf, war sie sich sicher. Und sie hatte nichts dafür tun müssen, nur reden und lächeln. Sie war gesegnet.
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Geistesabwesend öffnete Lizzie ihre Tasche und legte ein oder zwei Dinge hinein. Wahrscheinlich Essen. Ein zusammengesunkener, kleiner Mann kam herbei, schüttelte seinen Kopf und nahm ihr die Dinge wieder ab. Sie schaute ihm dabei zu. Dann ging sie weiter. Die Straßen verliefen abwärts – der Weg war nicht beschwerlich – und sie spürte eine Bewegung in ihrem Bauch. Wie war das möglich? Wie konnte es leben? Warum war es so stark, stark genug, um mit seinen scharfen kleinen Fingern gegen ihr Herz zu stoßen? Sie war zu jung für ein Kind. Ihr Leben hatte doch gerade erst begonnen. Selbst in dem großen, von Mauern umgebenen Hof mit seinen sprießenden Pilzen aus rostigem Metall und zerbrochenen Kisten bahnten sich die Blumen ihren Weg an die Oberfläche und tanzten im Wind. Martha kochte bereits das Abendessen für all jene, die etwas essen wollten. Der Geruch war scharf, salzig, würzig, und er stach in Lizzies Augen. Martha lächelte sie an, als sie durch das Eisentor trat. Doch dann verging ihr Lächeln. Zorn lag auf ihrem Gesicht, wie Lizzie es geahnt hatte. Aber das war nicht von Dauer. Zorn dauerte nie lange. Schon bald würde sie das heiße, salzige Essen genießen und sich dann neben den tanzenden Blumen zum Schlafen niederlegen. Nur sie und das unerwünschte kleine Leben, das sich in ihr zusammengerollt hatte. Martha war nicht allein mit ihrem Zorn. Auch die anderen waren wütend. Warum hatte jeder so
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schlechte Laune? Und dann, gleich nach ihr, kamen fremde Menschen herein, und die waren auch wütend, schrien jeden an und sahen sehr elegant aus in ihren grauen Jacken mit dem gelben Rand. Warum regten sie sich so auf?, fragte sich Lizzie. Ein paar Leute legten sich hin. Einige rannten. Lizzie lächelte. Das Leben war schon interessant. Aber jetzt wollte sie essen und dann schlafen. Genug der Aufregung. Genug. Alles aufhören! Und dann legte auch sie sich hin. Jazz, zappelig und nervös wie ein streunender Hund, wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, obwohl er noch nichts sehen konnte. Er roch es förmlich. Der Zugang zum Hof war noch nie so leer gewesen, so still. Blitzschnell ließ er die Tüte mit Essensresten, die er aus Mülltonnen geklaubt hatte, fallen, bog unvermittelt in eine Seitengasse ein und verlor sich geschickt zwischen Kränen, Tauwerk und Containern. Sein Hündchen Sockel folgte ihm auf dem Fuße und fragte sich, warum sie nicht zu dem Ort gingen, wo es Futter gab. Als Jazz weit genug weg war, blieb er stehen, hob ein Stück Holz auf und hieb es gegen die rostige Strebe eines Krans, zornig, bitter, wieder und wieder. Zack. So lange, bis nur noch ein paar kleine Stücke in seiner Hand übrig waren und Splitter unter der Hornhaut auf seinen Handflächen. Bitte lass Martha nichts passiert sein. Das ist die Hauptsache. Oder Silberschein.
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Er würde es den Bastarden heimzahlen, wenn sie verletzt waren. Er hatte nun endgültig genug. Diese Bastarde! Coppers Mann sah zu und tat nichts, wie befohlen. Tomas saß an seinem Schreibtisch und betrachtete die beiden Männer vor sich. »Nun, meine Herren, wo stehen wir jetzt in dieser Situation? Alles ist unter Kontrolle, nehme ich an, oder?« Copper war der Sprecher und berichtete die Tatsachen ohne jede Gefühlsregung. »Wie wir vermutet haben, befindet sich der Ersatz, diese Mira, in der Hauptstadt. Sie kam mit der Helicon aus Lomond, vor mehr als zwei Monaten. Seitdem benutzt sie einen neuen Namen und hat ihr Äußeres verändert. Sie wurde sogar ein- oder zweimal routinemäßig von Sicherheitsleuten überprüft, jedoch anstandslos wieder gehen gelassen, weil die Beamten keinen Grund sahen, sie festzuhalten. Wie zu erwarten war, hat sie sich sehr schnell an die Bedingungen hier angepasst, und es war uns daher bislang nicht möglich, sie aufzuspüren und zu verhaften.« Der größere Mann lächelte leicht und nickte. »Aye«, sagte er spöttisch. »Wie zu erwarten war.« Copper blinzelte kurz und fuhr dann in unverändertem Ton fort. »Wie auch immer – kürzlich hat unser Freund Moore hier Informationen über ihre Ankunft, ihre derzeitigen Freunde und ihre Identität er-
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halten. Als Ergebnis dieser neuen Erkenntnisse konnte die Helicon … nun sagen wir: auf unbestimmte Zeit festgesetzt und die nachweislichen Kumpane des Mädchens Mira festgenommen und befragt werden. Es handelt sich hauptsächlich um Obdachlose, aber nicht um Anhänger irgendeiner uns bekannten Umstürzler-Organisation, auch wenn Pax das Gegenteil behauptet. Unglücklicherweise haben uns diese Maßnahmen dem Mädchen bisher keinen Schritt näher gebracht.« Copper schwieg und dachte nach. »Wir haben allerdings einen ihr nahe stehenden Gefährten vorläufig auf freiem Fuß belassen. Ein Junge, der sich selbst Jazz nennt, ein Flüchtling aus einer überfluteten Bauernsiedlung. Wir sind guter Dinge, dass er uns früher oder später zu dem Ersatz führen wird, besonders jetzt, da ihm seine bisherige Zuflucht genommen wurde. Wir haben Hinweise darauf, dass die beiden bei früheren Gelegenheiten zusammen unterwegs waren. Man könnte daraus schließen, dass sie Freunde sind.« Tomas gestikulierte ungeduldig. »Freunde! Und warum sollten mir ihre Freunde irgendetwas bedeuten? Noch dazu irgendein Bauernjunge! Nun kommen Sie schon. Sagen Sie mir, was Sie denken. Werden wir sie ebenfalls eliminieren müssen? Wird sie uns Ärger bereiten? Zweifellos kann sie uns ganz nach ihren Wünschen an der Nase herumführen. Wir können sie nicht ewig frei herumlaufen lassen, noch dazu
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hier, direkt vor unserer Haustür. Und doch …« Er warf einen grüblerischen Blick aus dem Fenster nach draußen auf die graue Wolkenbank. »Und doch … es wäre eine Schande, ein solches Werkzeug nicht auf die eine oder andere Art und Weise zu benutzen.« Copper sagte: »Ich denke, dass wir sie bald aufgreifen werden, Sir. Ihr Tod ist möglicherweise im Augenblick nicht erforderlich, wenn das Ihr Wunsch ist. Aber wir dürfen auch die Sache mit dem jungen Herrn Kay nicht außer Acht lassen.« »Oh ja, der junge Herr Kay. Sie haben etwas über ihn in Ihrem Bericht erwähnt, ist es nicht so?« »Ja, Sir. Und meine Vermutungen wurden jetzt bestätigt. Es hat sich herausgestellt, dass Kay seinen privilegierten Status innerhalb des Netzwerkes für eine Recherche benutzt hat, die darauf hindeutet, dass er von dem Ersatz Kenntnis hat. Welcher Art ihr Kontakt ist, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden. Sein Leibwächter behauptet, dass es in der Vergangenheit keinerlei Verbindung zwischen ihnen gab.« »Das passt«, knurrte Tomas. »Jawohl, das passt alles zusammen. Kay weiß von ihr, Copper, da können Sie sicher sein. Er hat es mir fast ins Gesicht gesagt, der Hitzkopf. Was noch?« »Wir haben durch unsere Verbindungsleute innerhalb von Pax auch in Erfahrung gebracht, dass die Anwesenheit des Mädchens in der Stadt offensichtlich von Pax registriert wurde und einige Aufmerk-
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samkeit erregt hat, obwohl wir die Gründe dafür nicht wissen. Doch Jan Barbieris Ansichten und Absichten sind wohl bekannt und finden in den Reihen von Pax und der Geburtenkommission breite Unterstützung …« »Diese Narren!«, murmelte der alte Mann. »… aber auch hier wissen wir nicht, ob das Interesse an dem Mädchen mit diesen Absichten in irgendeiner Weise verbunden ist oder nicht. Es ist unstrittig, dass sie versuchen werden, uns Schwierigkeiten zu bereiten, egal wie, insbesondere im Hinblick auf unsere verbleibenden Verbündeten. Bislang haben sie noch nichts unternommen, aber wir rechnen schon bald mit irgendeiner Entwicklung. Meine derzeitige Vermutung ist, dass die Leute um Barbieri die Existenz des Ersatzes als Druckmittel verwenden könnten. Als ein Druckmittel, um Mitglieder der SaintGruppe dazu zu bewegen, ihnen in ihren Bestrebungen freie Hand zu lassen. Wie das funktionieren könnte, ist noch unklar, zumal sie die Existenz dieser Mira nicht an die Öffentlichkeit bringen können. Es steht zu viel auf dem Spiel für sie. Könnte es sein, dass sie sich auf eine bestimmte Person innerhalb der Saint-Familie konzentrieren? Auf Kay vielleicht oder auf seine Mutter, aufgrund ihrer unverhohlenen Schwäche für den Jungen und seine angebliche Herkunft?« Es folgte Stille, während die drei Männer diese letzte Möglichkeit bedachten. Dann nickte Tomas seinem
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Leibwächter zu. »Vielen Dank, Copper. Ich werde gründlich über die Angelegenheit nachdenken. Fürs Erste bleibt das Mädchen am Leben, und wir lassen uns alle Möglichkeiten offen. Informieren Sie mich, sobald wir sie haben. Sie können jetzt gehen.« »Sir.« Die automatische Tür schloss sich hinter dem unauffälligen Rücken und Tomas gestattete sich ein breites Grinsen. »Sie haben das alles so geplant?«, fragte der andere Mann, Moore, ungläubig. »Sie haben erwartet, dass sich die Dinge so entwickeln?« Der alte Mann lachte kurz und humorlos. »Nein! Denken Sie doch nach, Mann! Was ist mit Pax? Was ist mit meinem Enkel, der mit seinen Maschinen herumspielt, während wir glaubten, er sei zu rein gar nichts nütze? Hätte ich das vorhersehen oder gar planen können? Trotzdem«, er grinste erneut, »kann sie uns auch nützlich sein … Mit dem richtigen Rohstoff lassen sich zweifellos sehr interessante Szenarien schaffen. Im Augenblick würde ich mir wünschen, dass uns das Mädchen als augenscheinlich großartiges Reservematerial erhalten bleibt. Unter Umständen – im schlimmsten Fall – als Waffe gegen Barbieri, wenn die Zeit kommt. Vielleicht als Köder für eine Falle oder als Attentäterin … wer weiß? Bestenfalls – und das ist nur eine vage Hoffnung, Moore – als eine ebenbürtige Partnerin für ihn. Denn jetzt wissen wir, wie gut sie ist. Die Gene der Saints mit einem klarer
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denkenden und härteren Kopf auf den Schultern, als Clarissa ihn je besitzen wird. Sie müsste natürlich ausgebildet werden.« »Ich verstehe. Und was für eine Rolle haben Sie mir nun bestimmt?« »Ihre Rolle, ja. Eine kleine Zusatzversicherung, mein Freund. Versuchen Sie, Copper nicht auf die Zehen zu treten – ich glaube, der Mann kann Sie nicht leiden. Immerhin ist dies hier sein Revier, trotz Ihrer umfassenden Kenntnis der Angelegenheit. Aber tragen Sie mir zusätzlich Sorge dafür, dass er sie mir wiederbringt, verstanden? Und was noch wichtiger ist: Sehen Sie zu, dass sie nicht in die falschen Hände gerät. Dann wäre sie besser tot. Tun Sie ihr nichts – wenn es möglich ist. Dann werden wir weitersehen. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass ihr Tod am Ende unvermeidlich ist. Sie ist ein unbekannter Faktor und dazu noch außergewöhnlich unberechenbar. Wenn es zum Äußersten kommt, werde ich mich ganz auf Ihr Urteil verlassen. Aber setzen Sie Ihre eigenen Sicherheitsleute für jedwede Operation ein, seien Sie so gut, und stecken Sie sie in die PaxUniform. Es sei denn, Sie oder Copper können das persönlich übernehmen.« Ein Summen ertönte und Clarissas Stimme rauschte durch das Zimmer. »Großvater? Kommst du zum Mittagessen? Ich bin im Moment allein hier und mir ist langweilig. Ich habe keine Ahnung, wo die anderen stecken.«
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Tomas seufzte und erhob sich. »Ich hatte große Hoffnungen für die da, aber ich habe sie verwöhnt. Verdorben. Sie ist sehr eitel und seit neuestem erkenne ich auch die ersten Zeichen von Widerstand in ihr. Eine große Plage für einen alten Mann! Ich gehe jetzt besser. Ich erwarte in Kürze Ihren Bericht. Finden Sie das Mädchen!« Der andere Mann murmelte: »Aye. Ich werde sie finden. Daran gibt es keinen Zweifel. Vor mir kann sie sich nicht verstecken. Aber was ist mit dem jungen Herrn Kay?« Schwerfällig stellte sich Tomas auf die Füße und geleitete Moore zur Tür. »Ich denke«, sagte er langsam, »es ist am besten, wenn wir Kay vorläufig sein Spielchen ungehindert weiterspielen lassen. Wer weiß – wenn der Bauerntölpel, den Copper hat entkommen lassen, seine Aufgabe nicht erfüllt, könnte er uns vielleicht zu dem Ersatz führen. Ich frage mich … was Kay über die ganze Sache denkt. Stellen Sie sich vor: Wenn er tatsächlich in Kontakt mit ihr getreten ist, dann muss er doch völlig verwirrt sein – und das ist vermutlich noch gnadenlos untertrieben! Ich meine, wenn man bedenkt …« Die letzten Worte verklangen ungehört, während die beiden Männer das Zimmer verließen und sich die Tür hinter ihnen schloss. »Playback anhalten«, sagte Tilly, und die Bilder auf ihrem Handcomputer verschwanden, hinterließen
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eine hallende Stille in ihrem Quartier. An dem stets geöffneten Fenster tanzten Streifen von Rohseide in Pink und Orange in der kühlen Brise. Ihr Anblick wirkte beruhigend. Sie legte sich flach auf den Teppich, rieb sanft ihre Schläfen und versuchte, klar zu denken. Wohin mochte dies alles führen? Sie musste sich bemühen, ihren Zorn zu kontrollieren. Die Arroganz, die der alte Mann an den Tag legte! Wie er, ohne mit der Wimper zu zucken, Gott spielte mit dem Leben des Mädchens Mira … und auch mit ihrem Sohn und Clarissa. Und doch fragte sich Tilly beschämt, ob sie etwa besser war als er. Es war ihr zu verdanken, dass Kay glaubte, er sei nicht mehr – und auch nicht weniger – als ihr leiblicher Sohn, geboren aus ihrem Körper nach der neunmonatigen Schwangerschaft. (Sie glühte immer noch vor Freude bei dem Gedanken, dieses winzige Leben in sich getragen zu haben.) Und nun, trotz all der Liebe, die sie ihm geben konnte, war der Junge bitter geworden, war verschlossen und der Situation nicht gewachsen. Ihr Fehler. Selbst seine Schwester hatte offenbar durch Tillys Entscheidung Schaden genommen. Sie, die sich nie als wahre Tochter betrachtet hatte, sprühte vor Eifersucht, versuchte verzweifelt zu gefallen, wollte anerkannt werden. Die gute Meinung ihres Großvaters war ihr am wichtigsten. Was für ein Schlamassel. Spielte es eine Rolle, dass das, was Tilly getan hatte, nicht aus Eigennutz geschehen war? Wahrscheinlich nicht.
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Und jetzt – sie zwang ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurück, was erhoffte sich Tomas? Wollte er das erfindungsreiche Mädchen, den »Ersatz« – wie Tilly dieses Wort verabscheute! – benutzen, um die Familie wieder erstarken zu lassen und sie den Kräften entgegensetzen, die anderswo erwachsen waren? Wollte er Clarissa in letzter Minute gegen diese Mira austauschen und ein Bündnis schließen mit diesem verabscheuungswürdigen Jan Barbieri? Wenn das der Fall war, machte er sich selbst etwas vor. Das Mädchen war in Politik völlig unbewandert. Sie war rein, unbefleckt, einfühlsam und stark. Sie war die Beste von ihnen, ihnen allen gegenüber im Vorteil, weil sie halb wild in den eisigen Bergen aufgewachsen war. Tilly freute sich, dass sie es Kay ermöglicht hatte, die Verbindung mit dem Mädchen herzustellen: Sie würde ihm gut tun, was immer Tomas denken mochte. Und wenn der alte Mann vorhatte, Kay als Köder zu benutzen, wie er es Moore vorgeschlagen hatte, konnte sie immer noch einschreiten – falls es nötig war. Tilly lächelte. Ihre Ruhe war zurückgekehrt. Sie sollte sich nicht mit etwas belasten, was noch nicht geschehen war. Die Dinge entwickelten sich – ob mit ihr oder ohne sie. So viel war sicher. Tomas hatte noch nicht begriffen, wie schnell sich die Welt veränderte. Die alte Ordnung hatte ausgespielt, kam ins Wanken, löste sich auf. Fast drei Jahrhunderte hatten die Großen Familien geherrscht! Es war genug.
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Überall in den fünf Städten und auf dem Land waren die Menschen bereit für das Neue, hungerten förmlich danach, ertasteten sich ihren Weg dorthin wie Neugeborene. Die Schlange erwachte. Eine größere Macht als ihre – Tillys – war am Werk. Vielleicht war Miras Ankunft zu dieser Zeit kein Zufall. Sie rollte sich auf die Seite und stand auf, streckte sich, nahm ein Bad und wählte anschließend ihre Garderobe für den heutigen Abend aus. Während sie die Sachen auf dem Bett ausbreitete, spürte sie, wie tief in ihrem Herzen die Erregung wuchs. Die Veränderung zu sehen, sie zu fühlen, doch nicht zu wissen, wie es enden würde … zuzuschauen, wie der überschäumende See menschlicher Gene sich erneuern und weiterentwickeln würde … die Spannung zu erleben, die sich auftürmte und schließlich explodierte. Es war herrlich. Es war aufregend. Und gefährlich. Der Plan war nicht in ihrem Kopf entstanden – das war zwar richtig, doch sie war mittendrin in seiner Realisierung, und es gab noch so viel zu tun. Heute Abend musste sie die neuen Berichte mit Christo besprechen. Etwaige Beobachtungen von ungewöhnlichen Aktivitäten in diversen Siedlungen der Schläfer. Irgendeinen Angriff auf Stoneywall, ohne dass Einzelheiten bekannt geworden waren, und eine anhaltende, unerklärliche Funkstille ihrer eigenen Operation dort. Eine Reihe von heimlichen Treffen dieser widerwärtigen alten Mumien der Ge-
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burtenkommission und einigen Mitgliedern der anderen Familien. Was immer Tomas dachte: Die Zeit, an den alten Verhältnissen, dem Status quo, festzuhalten, war unwiderruflich vorbei. Wenigstens waren sie sich in ihrer Ablehnung des jungen Barbieri einig. Sie musste noch mehr Gruppen von Umstürzlern und Flutern aktivieren. Sie musste jemanden finden, der Hedge seine undankbare, verzweifelte Aufgabe erklärte. Und vor allem musste sie Kontakt mit Frankreich aufnehmen, mit Marie und ihrem Team, sich davon überzeugen, dass dort alles in Ordnung war und dass sich die Jüngste von ihnen nach wie vor in Sicherheit befand, nur für den Fall, dass … Nun, für den Fall. Wie gesagt, der Plan war nicht der ihre. Wer ihn erdacht hatte, wusste sie nicht.
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18 Mira riss die Augen auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie lag lang ausgestreckt auf ihrer Pritsche und rührte sich nicht. Zunächst durchzuckte sie ein Stich der Überraschung und Verwirrung angesichts ihrer Umgebung, wie immer wenn sie in ihrer kalten Zuflucht erwachte. Dann ein brennendes, blendendes Gefühl der Trauer, kaum zu ertragen … Normalerweise versuchte sie, die letzten Momente des Schlafes mit aller Kraft festzuhalten, hielt ihre Augen fest geschlossen und stellte sich vor, wie draußen sanft der Schnee fiel, wie die Geister durch die Bäume strichen, den Duft des Harzes, die Stille, die erfüllt war von Klängen. Es war der einzige Augenblick, in dem sie sich gestattete, wieder Kind zu sein, ein paar Sekunden, in denen die Welt fleckenlos und schön war. Aber jetzt, bei diesem Erwachen hatte sie dafür keine Zeit. Etwas geschah, was ihre ganze Aufmerksamkeit forderte, doch sie hatte keine Ahnung, was es war. Sie lag still, bis sie sicher war, dass die Bedrohung noch nicht nahe war, noch nicht in diesem Raum. Dann rollte sie sich leise auf die Seite und schaute hinüber zu dem alten Paar. Deren Augen blickten scheu zu ihr; ihre Körper waren unter Stoff304
fetzen und Müll verborgen, um sie warm zu halten. Mira lächelte sie an, damit sie sich nicht erschreckten, und legte einen Finger an ihre Lippen. Sie hatten verstanden. Sie nickten. Sie wussten, wie es war, wenn man nicht gefunden werden wollte. Mira stand auf, tastete nach ihren Schuhen und zog sie an. Sie hatte kein Bündel, das sie schnüren müsste, wenn die Zeit zur Flucht sie tatsächlich wieder eingeholt hatte. Sie brauchte nur die Kleider, die sie am Leibe trug, und die Armbrust, die wohl verwahrt in ihrer Gürteltasche lag. Während sie die Schnürsenkel band, spürte sie es erneut. Das Ding, das sie geweckt hatte. Vor dem Hintergrund der weit entfernten Geräusche der Stadt, der tiefen Klänge der Nebelhörner draußen auf dem Wasser und dem immer währenden Geheul des Windes vernahm sie eine Stimme, ziemlich nahe, die ihren angenommenen Namen rief. Jazz’ Stimme. Sie wartete und nach einer oder zwei Minuten erklang die Stimme wieder. Und dann, nach einer Weile, ein drittes Mal. Jazz wanderte scheinbar in diesem heruntergekommenen Viertel herum und hoffte, dass sie sein Rufen hören würde. Mira entspannte sich. Sie musste nur still bleiben, sich versteckt halten, und früher oder später würde er das Interesse verlieren und weggehen. Es gab zu viele Ruinen, die man hätte durchsuchen müssen, zu viele Orte, an denen man sich verbergen konnte. Er würde es bei seinen Rufen belassen. Später, wenn sie
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ihm an einem ihrer Treffpunkte begegnete, würde sie ihn vielleicht schelten, weil er sie in Gefahr gebracht hatte. Vielleicht tat sie es auch nicht. Er wusste schließlich nicht, was sie bedrohte. Er hatte keine Ahnung von der Gefahr, die ihr aus dem Norden gefolgt war. Er glaubte, dass sie einfach nur unter Verfolgungswahn litt, dass sie einen Spleen hatte und den Ort, wo sie schlief, unbedingt geheim halten wollte. Manchmal neckte er sie deswegen. Doch der Zweifel blieb, nagte an ihr. Warum suchte er sie? Warum war er hier? Die Antwort war unausweichlich. Er hätte sich nicht auf diese schier aussichtslose Mühe eingelassen, wenn nicht etwas passiert wäre. Etwas Schlimmes. Jazz war hier, weil er Unterstützung brauchte, Freundschaft, Hilfe … oder vielleicht auch, um sie zu warnen. Eis kroch ihren Rücken hinauf. Ach, der Narr! Wenn diese schlimme Sache – was immer es auch war – ihretwegen geschehen war, dann hatte er sie möglicherweise zu ihrer Türschwelle gelockt, die Männer in Grau. In diesem Moment jagten möglicherweise Transporter mit Polizisten durch die Stadt, um jede zerbrochene Tür aus den Angeln zu heben und jede Ruine dieses elenden, vergessenen, halb überfluteten Viertels dem Erdboden gleichzumachen, bis sie sie gefunden hatten. Die blinzelnden, scheuen, vertrauensvollen Augen der beiden Alten beobachteten sie. »Ich werde gehen«, flüsterte sie. »Ich werde gehen
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und dann werdet ihr sicher sein. Bleibt ganz ruhig jetzt, bis sich der Lärm verzogen hat.« Wieder nickten sie. Eine uralte, zarte Hand, so klein wie die eines Kindes, tauchte unter den wärmenden Schichten auf. Mira nahm sie, drückte sie und lächelte. Wieder erklang Jazz’ Stimme, wieder ein Stück näher: »Silberschein! Antworte mir! Wo bist du? Silberschein!« Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt, ließ das blasse Spätnachmittagslicht herein, schlüpfte hindurch und schlich sich die gespaltenen Stufen hinauf auf die Straße. Jazz stand für jedermann gut sichtbar an einer Straßenkreuzung zwei kurze Blocks entfernt, schaute sich suchend um, rief immer wieder ihren Namen und trat wütend gegen den Müll auf der Straße. Seine gelben Haare standen zerzauster von seinem Kopf ab als je zuvor. Der schmale pelzige Schatten, der aufgeregt durch den Abfall sauste, war Sockel, der nach Ratten schnüffelte. Wenn sie Jazz gefolgt waren, wo hielten sie sich dann versteckt? Auf den Dächern? In Hauseingängen? Irgendwie musste es ihr gelingen, sich so weit wie möglich von der Kellertreppe zu entfernen, bevor sie gesehen wurde. Und dann … dann würde sie sie von den kindlich alten Leuten weglocken, so gut sie konnte, den Leuten, die sich da unten zwischen ihren Lumpen versteckten. Das heißt, wenn es tatsächlich einen verborgenen Feind gab. Das würde sie schon bald herausfinden.
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An der Kreuzung hatte Jazz genug von der Warterei, er bewegte sich Schritt für Schritt weiter, spähte dann in Fenster, stieß gegen Türen, fluchte und rief immer noch in Abständen ihren Namen. Sie hielt sich so geduckt, wie sie nur konnte, umarmte die Schatten der Gebäude hier auf der Südseite der Straße. Dann richtete sie sich auf und rannte leise in die entgegengesetzte Richtung, auf das dunkle Herz der Stadt zu. Ein Block. Zwei. Alles schien in Ordnung zu sein. Ein oder zwei eiskalte Regentropfen stachen gegen ihre Wange, doch im Moment war das alles. Der Wind rüttelte an ihren Kleidern. Auf halbem Weg den dritten Block hinunter ertönte ein Ruf und im Umdrehen sah sie einen Schatten auf den Dächern zu ihrer Linken. Von irgendwo vor ihr, von der rechten Seite, erklang eine Antwort, und dann eine weitere, hinter ihr. Da waren sie. Sie bewegte sich jetzt schnell, ließ alle Heimlichkeit zugunsten der lebensrettenden Geschwindigkeit fahren, kämpfte sich durch Müll und kletterte über größere Schuttberge hinweg. In ihren Händen war die Armbrust erblüht. Sie versuchte, ihre Schritte zu kontrollieren, während sie den Männern, die sie sehen konnte, Bolzen entgegenschickte. Nicht um sie zu verletzen, sondern um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um sie aus ihren Unterschlüpfen zu locken, damit auch Jazz erkannte, dass er fliehen musste. Wenn er überhaupt noch in der Nähe war. In diesem Augenblick knackte
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ein morsches Stück Beton unter ihr und zerbrach. Es splitterte, Brocken wurden durch die Gegend geschleudert. Ihr Plan funktionierte – nur zu gut: Die Männer erwiderten ihr Feuer, zeigten sich nun ganz offen, riefen einander zu und sprachen in ihre Kommunikatoren. Hinter sich konnte sie jetzt Jazz’ wütende Schreie hören. Sie schickte ihm eine stille Nachricht: Lauf, Jazz! Lauf weg! Mach dich klein. Überlebe. Adrenalin schoss durch ihre Adern und sie sprintete auf den Dschungel der Docks zu, wünschte sich Bäume und Schnee, Eis und Schatten herbei anstelle von Beton und Überwachungskameras. Es sind vier, dachte sie, vielleicht auch fünf. Es war unmöglich, sich darüber Gewissheit zu verschaffen, ohne sich umzudrehen. Einer tauchte aus einer Straße links von ihr auf – im gleichen Moment, als sie daran vorbeirannte –, stürzte sich auf sie, stolperte über zerbrochene Steine und fiel schwer hin, während sie auswich. Weitere Schüsse schlugen in den Asphalt um sie herum. Fünf Männer, dachte sie, alle mit Kommunikatoren ausgerüstet, die einander informierten, wo sie war, wohin sie lief und die um Verstärkung baten. Das Wasser kam in Sicht, schwappte am Fuße eines sanften, mit Geröll und Schutt bedeckten Abhangs auf die Straße. Und dort unten standen noch mehr graue Gestalten, warteten bereits auf sie. Sie hatten vorausgeahnt, dass sie diesen Weg wählen würde. Die Docks waren die Zuflucht der illegalen Einwanderer,
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das Zuhause der heimatlosen Räudigen und der Unterschlupf der Bösewichter. Ein dunkles, gefährliches Labyrinth aus Gassen, wo alles und jeder verloren gehen konnte. Sie würden es nicht zulassen, dass sie dort untertauchte. Ohne ihr Tempo zu verlangsamen, wechselte Mira die Richtung, rannte eine kurze Straße entlang, die parallel zum Wasser verlief, und dann wieder die steilen Gassen hinauf- eine Strecke, die ihr hoffentlich einen Vorsprung gegenüber ihren Verfolgern verschaffte, die mit schwerer Ausrüstung angetan waren. Sie hatte nur noch eine Chance. Sich verstecken war unmöglich geworden; ihre Verfolger waren lediglich zwanzig oder dreißig Meter hinter ihr. Und sie konnte diese wilde Jagd auch nicht bis in alle Ewigkeiten anführen. Schließlich verfügten die Männer über die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Kommunikatoren auszutauschen, und kannten sich bestens in der Stadt aus. Und so bog sie in eine der größeren Durchgangsstraßen ein, die von Osten nach Westen führte, dort wo eine Straßenbahn fuhr, und schaute sich hektisch um, in der Hoffnung, irgendwo die orangefarbenen Wagen zu entdecken. Nichts. Sie wirbelte herum und löste zwei weitere ihrer kostbaren Bolzen aus, erkaufte sich ein wenig Zeit, während ihre Verfolger in Deckung tauchten. Dann waren sie wieder da, hetzten auf sie zu. Sie rannte
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weiter, folgte den Schienen – ahnten sie, was sie vorhatte? – und hoffte, das vertraute Zischen zu hören. Noch ein Bolzen, ein prüfender Blick. Ihr Herz wurde schwer: Zwei weitere graue Figuren waren aufgetaucht, versperrten ihr den Weg. Die Jagd verlagerte sich nun in einen belebteren Teil der Stadt, was bedeutete, dass mehr Kameras ihren Schritten folgten und sich lautlos auf ihren Streben nach ihr umwandten. Es war eine ärmliche, aber geschäftige Gegend. Hauptsächlich lebten Räudige hier, kaum Ideale. Die meisten waren zu Hause beim Essen, doch ein paar Menschen befanden sich auf der Straße. »Helft mir!«, schrie sie ihnen zu und sah, wie sich die Köpfe ruckartig abwandten und die Leute wider besseres Wissen so taten, als hätten sie nichts gesehen. Man half sich an diesem gottverlassenen Fleck Erde nicht gegenseitig. Alle hatten zu viel Angst, waren im Herzen tot. Ein weiterer Grund, warum ihr die Männer in Grau keine Gelegenheit geben wollten, die Docks zu erreichen. Sie schob sich zwischen die Menschen, machte es ihren Verfolgern unmöglich, ihre Waffen zu benutzen, doch schon bald leerte sich der Bürgersteig, weil die Passanten zurückwichen, um nicht als menschliche Schilde benutzt zu werden. Niemand wollte sich den Zorn der grauen Männer zuziehen. Eine der Gestalten vor ihr bewegte sich nun auf sie zu, wollte ihr den Weg abschneiden. Es war eine Frau. Mira legte einen Bolzen ein, und die Frau zog sich zurück, blieb
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aber in der Nähe und wartete darauf, dass die Aufmerksamkeit ihrer Beute nachließ. Mit voller Absicht rannte Mira direkt auf sie zu, die Armbrust im Anschlag, und stieß die Frau, die zurückweichen wollte, zu Boden. Aber es waren zu viele. Sie wurde langsam müde. Mit einem Blick zurück sah sie, dass ihr mittlerweile zehn Männer auf den Fersen waren. Sie konnten zwar den Abstand nicht verkürzen, doch Mira war es auch nicht gelungen, ihren Vorsprung auszubauen. Schon bald, dachte sie, würden Transporter auftauchen, herbeigerufen mit den Kommunikatoren, die sie problemlos fangen würden. Und in demselben Moment, in dem sie dies dachte, vernahm sie auch schon die Sirenen in der Ferne. Der verbleibende Mann vor ihr – er war schon sehr nahe, doch er hielt sich wachsam zurück – grinste sie bösartig an. »Gib auf!«, rief er. »Spar deine Kräfte, Räudige. Es gibt keinen Ausweg.« Doch es gab einen. Es gab einen Ausweg. Hinter dem Mann tauchte zischend eine Reihe von orangefarbenen Wagen auf und hielt an. Endlich. Auf der anderen Seite der Wagen öffneten sich die Türen. Mira hörte die sanfte automatische Stimme aus dem Innern, die verkündete, an welcher Haltestelle sie sich befanden, und die Passagiere ermahnte, dass sie nur dreißig Sekunden zum Ein- und Aussteigen hätten. Mira versammelte ihre letzten Reserven, spornte ihre Beine zu einem Sprint an, verlangte ihrem Her-
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zen noch eine Extraportion an Kraft ab und stürmte auf den orangefarbenen sicheren Hafen zu, wobei sie versuchte, den Mann vor ihr zu umlaufen. »Oh nein, das wirst du nicht tun!« Der Mann sprang auf sie zu. Wieder hob sie die Armbrust, doch er kümmerte sich nicht darum, und sie wollte nicht schießen – nicht bevor ihr keine andere Wahl mehr blieb. Sie hatte genug vom Blutvergießen. In der Straßenbahn erklang ein Summen als Zeichen dafür, dass sich die Türen schlossen, doch sie hatte es fast geschafft. Zehn Meter, nicht mehr. Mit letzter Anstrengung warf sie sich nach vorn und stellte ihren Fuß zwischen die orangefarbenen Türflügel. »Achtung!«, sagte die freundliche Automatenstimme, »diese Bahn ist bereit zur Abfahrt. Bitte von den Türen zurückbleiben.« Die Schiebetüren glitten einladend zurück, doch als sie einsteigen wollte, packte eine grobe Hand ihren Arm und zog daran. Wieder schlossen sich die Türen; sie konnte das schabende Geräusch hören, während sie versuchte, sich freizukämpfen. Mit einem Ruck streckte sie ihre Hand aus und griff mit ihren Fingern in die Lücke zwischen den Türen. »Achtung! Diese Bahn ist bereit zur Abfahrt. Mutwillige Behinderung des Schließmechanismus wird als Ordnungswidrigkeit betrachtet und mit einem Bußgeld geahndet. Bitte bleiben Sie zurück.« Noch einmal glitten die Türflügel zur Seite. Der Mann war so stark wie ein Bär. Sie spürte, wie ihre eigenen Kräfte sie verließen, während sie mit ihrem
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Gegner rang. Verzweifelt riss sie den Metallrahmen der Armbrust mit ihrer freien Hand quer über sein Gesicht und sah, wie eine scharlachrote Linie auf seiner Wange erschien. Der Mann brüllte vor Wut und Schmerz auf und für einen Sekundenbruchteil lockerte sich sein Griff. Das reichte aus. Mit einem Schrei entwand sie sich seiner Hand und stürzte sich mit ihrem ganzen Körper nach vorn, zwischen die sich schließenden Türen. Als sie hart auf dem Boden des Gefährts aufschlug, wurde sie sich plötzlich eines brennenden Feuers in ihrem Arm bewusst, das sengend heiß durch ihre Nerven in alle Bereiche ihres Seins schoss. Ehrwürdige Väter! Benommen durch den Schmerz, bemerkte sie, dass sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte und langsam, mit dem typischen Zischen der Motoren, Fahrt aufnahm. Sie schaute an ihrem Arm hinab und sah Blut. Neben ihr kauerten ein oder zwei Fahrgäste, unschlüssig, was zu tun war. »Bleiben Sie zurück!«, warnte sie atemlos und schluchzend vor Pein. »Bleiben Sie weg!« Sie zerrte die Armbrust unter ihrem Körper hervor und versuchte, taumelnd auf die Füße zu kommen. »Aber Sie sind angeschossen worden! Die haben auf Sie geschossen!«, sagte eine Frau. Ihr Gesicht war blass. Oh, ihr lieben Geister! Mira erkannte, dass die Frau Recht hatte. Das Blut, der Schmerz …
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Sie zog sich auf die Knie hoch und schaute durch das Rauchglas nach draußen. Hinter dem Wagen rannten ein paar Männer her, andere standen nur da und schauten zu, als die Straßenbahn vorbeifuhr, wieder andere sprachen in ihre kleinen Kästen. Die Bahn wurde jetzt schneller, sauste die Schienen entlang, aber die nächste Haltestelle war nur etwa eine Meile weit entfernt, vielleicht weniger. Die kleinen Sprechkästen würden mehr Männer herbeirufen, die sie zur Strecke bringen würden, wenn sich die Türen des Wagens erneut öffneten. Fieberhaft schaute sie sich im Innern der Bahn um. Die Automatenstimme sagte: »Alle Passagiere, die den Service der Straßenbahn in Anspruch nehmen, sind verpflichtet, sich einem Netzhautscan oder einer Überprüfung des Daumenabdrucks zu unterziehen oder aber ihre Sicherheitskarte von den dafür vorgesehenen Automaten ablesen zu lassen. Eine Verweigerung stellt eine Ordnungswidrigkeit dar und wird mit einem Bußgeld geahndet.« Die entsprechenden Apparaturen, kleine Rechtecke, waren überall im Wagen verteilt. Abgesehen davon gab es nichts. Nur Sitze und Haltegriffe für die Fahrgäste und an beiden Enden des Wagens fest verschlossene Türen. Nichts war beweglich, nichts war offen, weder Türen noch Fenster, gegen die sie fest drückte. Das ganze Ding war wie versiegelt, ein ein- und ausbruchssicheres Gefährt, so ausgerüstet, um Demonstranten und Umstürzlern standzuhalten. Es gab nicht einmal einen
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Fahrer oder einen Kontrolleur der Betreiberfirma, die sicherstellten, dass alles in Ordnung war. »Wir haben nun das Vergnügen«, erklärte die automatische Stimme, »Sie mit einigen Auszügen von Uttleys Tongedicht ›Die Große Schmelze‹ unterhalten zu dürfen.« Ein sanftes, schimmerndes, pochendes Geräusch erfüllte das Innere der Bahn. Von Miras Arm tropfte Blut. Der orangefarbene Raum um sie herum fing an, sich zu drehen. Immer noch kniete die Frau, eine Ideale, neben ihr und schaute sie besorgt an. »Wir müssen etwas tun!«, sagte sie, und dann lauter: »Ich sagte, wir müssen etwas tun! Dieses Mädchen wurde angeschossen!« Niemand sonst schenkte ihnen Beachtung. Die Idealen übersahen in der Regel Räudige und ihr Schicksal. So war es nun einmal. Das ist nicht nötig, dachte Mira. Es ist nicht nötig, irgendetwas zu tun. In ein paar Sekunden erledigen das die anderen. Und dann sah sie den Knopf. Einen einsamen roten Knopf, der hinter einer Glasscheibe angebracht war. Darunter stand ein kleines Schild: Notausstieg. Zerbrechen Sie die Scheibe und drücken Sie den Knopf. Widerrechtliche Benutzung stellt eine Ordnungswidrigkeit dar. Mit einem Schrei hob sie die Armbrust und schlug auf die Scheibe ein. Die Wirkung war die reinste Magie. Zischend stoppte die Bahn, verlangsamte ruckend ihr Tempo, wobei die Fahrgäste nach vorn geworfen wurden, und stand dann still. Sobald die
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Bahn zum Halt gekommen war, sprangen die Türen auf beiden Seiten des Wagens auf. Die Automatenstimme unterbrach »Die Große Schmelze« und sagte: »Achtung! Notfallmaßnahmen wurden eingeleitet. Wenn es Ihnen möglich ist, verlassen Sie diese Bahn und warten Sie. Hilfe ist bereits unterwegs.« Die Passagiere in Miras Wagen waren wütend. Jetzt schenkten sie ihr Beachtung. Wie konnte sie es wagen, ihre Fahrt auf diese Weise zu unterbrechen? Wer war sie überhaupt? Was hatte sie getan? Man würde dafür sorgen, dass sie die Hand des Gesetzes mit voller Wucht zu spüren bekam, sobald die Polizei eintraf. »Aber das arme Ding ist verletzt«, zwitscherte die Frau noch immer. Niemand hörte ihr zu. Trotz ihrer Wut versuchte keiner der Fahrgäste, Mira aufzuhalten, als sie, halb fallend, halb laufend, den orangefarbenen Wagen verließ und unbeholfen in eine der Querstraßen davonrannte. Erst als sie eine Meile oder noch weiter weg war und sich, vom Geheul der Sirenen umgeben, zitternd und mit grauem Gesicht in einen Hauseingang kauerte, fiel ihr auf, dass sie die Armbrust in der Straßenbahn zurückgelassen hatte. Was die dreiundzwanzig Männer und Frauen betraf, die sie fast zwei Meilen weit über Niemandsland und in die Randbezirke des Wohnviertels gehetzt hatten – sie hatten sich in Luft aufgelöst, als die Sirenen der Pax näher kamen.
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Copper fragte sich, was Tomas wohl dazu sagen würde. Vielleicht hätte er auf Moore warten sollen. Die Hitze in Jan Barbieris Entspannungsraum war fast unerträglich. Von der Oberfläche des Teichs mit seinem kühlen, dunklen Wasser stieg ein wenig Dampf auf und waberte um die überhängenden Farnwedel. Rings um die kleine Oase gab es nichts außer einer blassgelben Wüste, die mehr und mehr an Farbe verlor, je weiter sie sich in den weißen Horizont zurückzog, bis sie mit dem glimmenden, schimmernden Himmel verschmolz. »Es muss dort sehr sauber sein«, sagte Jan träge und deutete mit der Hand, in der er ein Glas hielt, über den Teich hinweg in die Ferne. »In der Wüste. Im Sand.« »Sehr sauber. Sehr leer. Sehr öde.« »Nicht leer. Dort gibt es Leben. Tiere und Pflanzen, die sich angepasst haben. Und sie führen kein schlechtes Leben.« Clarissa seufzte. »Oh Jan, du bist so ein Freak. Lass uns schwimmen gehen.« Er sah ihr zu, als sie zum Rand des Teichs lief, sich mit einer fließenden Bewegung streckte und flach eintauchte. Ihr Götter, sie war vollkommen! Ein graziöser, schlanker Körper, der mehr und mehr frauliche Formen annahm. Das Wasser schien sie willkommen zu heißen. Mit dem silbrigen Aufblitzen ihres Badeanzugs hätte sie genauso gut ein Fisch sein
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können, ein Aal. Sie blieb unter Wasser, schwamm lautlos und tauchte erst auf der anderen Seite wieder nach oben. Sie lachte ihn an, winkte mit den Armen und hopste im Wasser auf und nieder. Verbissen rang er sich ein Lächeln ab und winkte zurück. Er musste sie haben. Er würde sie haben, denn sie war ihm versprochen. Es war Teil des Plans. »Freak!«, rief sie ihm zu und kicherte. Er ging hinunter zum Wasser und sprang hinein. Er war stolz auf seine physische Erscheinung, auf die kraftvollen, schnellen Schwimmzüge, die er eine Stunde oder länger durchhalten konnte. Er kam zu ihr, ergriff ihre Hand und sagte: »Wenn ich dich nächste Woche im Wettkampf besiegt habe, wirst du lernen, mir Respekt zu erweisen.« Sie lächelte. »Wenn ich dich besiegt habe, wirst du es mir übel nehmen und mich wahrscheinlich tagelang, wochenlang, ja monatelang nicht sehen wollen …« Er zog sie näher zu sich heran. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Wassertropfen rannen aus ihrem dunklen Haaransatz über ihre helle Haut. Sie schaute ihn aus ihren großen, unendlich tiefen Augen an. Sanft küsste er sie auf den Mund. Ihre Lippen unter den seinen blieben still, bewegungslos, taten nichts. Wieder flutete der Ärger in ihm hoch. Das kleine Miststück. Er bewegte sich ein Stück zurück und verstärkte
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zugleich den Druck um ihre Hand. »Hör mir zu. Wir sind dafür bestimmt, ein Paar zu werden. Es gibt Dinge, die du nicht begreifst. Dinge, die ich dir nicht sagen kann. Noch nicht, jedenfalls. Aber eins ist sicher: Wir werden zusammenkommen, Clarissa. Und wir werden ein schönes Paar abgeben. Ein starkes Bündnis schmieden. Die Menschen werden uns anbeten.« »Dein Pieper«, sagte sie unvermittelt. »Was?« Er schaute sie verständnislos an. Sie spritzte ihm mit ihrer freien Hand Wasser ins Gesicht, direkt in die Augen, die sofort anfingen zu brennen. »Dein Pieper. Er ruft nach dir. Auf deinem Handtuch.« Mit einer schnellen Bewegung löste sie sich von ihm. »Mach schon. Sei ein braver Junge und geh ran.« Sie lächelte nun nicht mehr. Wütend sah er sie an, schwamm dann mit kräftigen Zügen durch das grüne Wasser und kletterte aus dem Teich. Sie hatte Recht, das kleine Gerät auf seinem Handtuch schickte ein Signal aus. »Ja, Hunter?« »Es tut mir Leid, Sie in Ihrem Entspannungraum zu stören, Sir. Es gab einen Zwischenfall in G2. Ich denke, wir sollten uns das mal anschauen. Es könnte Sie interessieren.« »Okay, Hunter. In fünf Minuten.« Er verspürte Erleichterung bei dem Gedanken, die kleine Kratzbürste sich selbst überlassen zu können. Für den Augenblick.
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»Alles klar.« Er hob sein Handtuch auf und sagte: »Hologramm beenden.« Es amüsierte ihn, Clarissa plötzlich in einem kahlen Wasserbecken in einem ebenso kahlen Raum zu sehen. Immerhin, die Hitze würde er ihr lassen. »Bleib, so lange du willst«, sagte er höflich. »Wenn du etwas brauchst, wird sich jemand um dich kümmern. Ich werde dafür sorgen, dass du auf den Bildschirmen zu sehen bist.« So. Damit hatte er es ihr gründlich gezeigt. Sie würde lernen müssen, ihn nicht zu verärgern. Unten in der Tiefgarage saß Hunter bereits im Transporter. Jan schob sich auf den Sitz neben ihm und die Schiebetür glitt zu. »Nun?« »Es hat eine Art Verfolgung stattgefunden, drüben in G2, die sich dann nach E2 und E3 ausgebreitet hat. In der Ecke gibt es nicht viele Überwachungskameras und so ist uns das meiste von dem Spaß entgangen. Bis auf den Schluss. Die Zielperson hat sich in die Straßenbahn geflüchtet. Ich dachte, wir sollten uns den Wagen mal vornehmen und uns die Aufnahmen anschauen.« »Warum?« »Nur so eine Ahnung.« Jan beließ es dabei. Hunters Ahnungen hatten sich in der Vergangenheit meist als begründet erwiesen. Neben der leeren Reihe orangefarbener Wagen
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stand ein Sicherheitskordon. Schweigend machten die Männer Jan den Weg frei. Seine Augen glitten über die Beschädigung an der Tür, auf die Hunter deutete, und über die Spuren und Spritzer getrockneten Bluts im Innern. Das dunkle Geschmier war auch auf dem Griff der verbogenen Armbrust zu sehen, die neben dem zerbrochenen Glas des Notausgangsknopfes lag. Jan rief den Dienst habenden Sergeanten der Sicherheit zu sich. »Analysiert die DNA. Findet heraus, wer solche Armbrüste benutzt, wo sie hergestellt werden. Überprüft den Schaden. Ich will einen genauen Bericht, und zwar in vierundzwanzig Stunden.« »Sir!« Wenn es dem Mann zuwider war, Befehle von einem Siebzehnjährigen entgegenzunehmen, dann war ihm seine Haut teuer genug, um es sich nicht offen anmerken zu lassen. »Jetzt die Videoaufnahmen.« Hunter drückte ein paar Tasten auf seinem Handcomputer. »Sie werden gerade eingespielt, Sir.« Die beiden Männer standen Seite an Seite und schauten sich Miras Kampf mit ihrem Verfolger an und ihren erfolgreichen Rückzug in die Straßenbahn. Sie sahen, wie die Gestalt in Grau durch die sich schließenden Türen schoss, sahen, wie das Mädchen zusammenbrach und sich den Arm hielt. Sie wurden Zeuge, wie schnell sie sich mit der Situation zurechtfand und schließlich die Notfallmaßnahmen einleite-
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te. Sie sahen sie aus dem Wagen stolpern, während die anderen Fahrgäste ihr hinterherschauten. »Wo sind die Passagiere jetzt?«, fragte Jan und deutete auf das eingefrorene Bild. »Da drin.« Hunter wies zu einem größeren Transporter, mit dem die Männer des Leutnants angerückt waren. »Gut. Jeder Einzelne wird befragt. Die Befragung wird aufgezeichnet, Hunter. Ich will alles wissen. Alles, was sie gesehen haben. Und wenn Blutproben und Fingerabdrücke genommen wurden, sollten wir sicherheitshalber auch den Wagen unter Verschluss nehmen.« »Aye, Sir«, sagte Hunter knapp. Möglicherweise hörten die Kerle von Pax draußen zu. Doch als sie wieder allein waren, gemeinsam zum schmucklosen, düsteren Pax-Hauptquartier zurückfuhren, hob er fragend die Augenbrauen. »Warum geben wir uns so viel Mühe?«, wollte er wissen. »Es ist der Ersatz. Darüber gibt es keinen Zweifel, selbst wenn sie ihr Äußeres verändert hat. Und ich nehme an, diejenigen, die sie gejagt haben, waren Coppers Leute.« »Ja. Coppers Leute, die unsere Uniformen getragen haben, Hunter. Warum?« Das war nun offensichtlich. »Es ist ihnen peinlich, dass sich so eine … nun, ›unerlaubt von der Truppe entfernt‹, sozusagen. Sie haben herausgefunden, wo sie sich versteckt, und wollten sie aus ihrem Loch holen, aber dabei nicht riskieren, in Saint-Uniformen
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durch die Straßen zu rennen. Für sie – und für uns alle – war es am besten, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf das Geschehen zu ziehen.« Was auch der Grund war, weshalb es Hunter für idiotisch hielt, die Zeugen so ausführlich zu befragen und ihnen damit das Ereignis unauslöschlich einzuprägen, sie zu zwingen, ihre Begegnung mit dem Ersatz noch einmal zu durchleben. Nicht dass er vorhatte, irgendetwas in dieser Richtung zu sagen. Jan grinste. »Aber sie haben sie nicht erwischt.« Hunter zuckte mit den Schultern. »Sie ist verwundet. Müde. Ich nehme an, dass Copper sie früher oder später aufsammeln wird. Dann wird sie verschwinden, das arme Ding.« »Ja, ich nehme an, es ist nur eine Frage der Zeit. Immerhin ist sie nur ein fünfzehnjähriges Mädchen. Wie schwer kann das schon sein? Aber … und jetzt hör mir gut zu, Hunter: Ich will nicht, dass sie verschwindet. Ich will sie zuerst finden. Ich will sie ins Rampenlicht stellen. Ich will, dass sie allen erzählt, was …« »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!« Hunter fragte sich verzweifelt, ob dieses kindische, anmaßende Jüngelchen von einem Barbieri absichtlich alles ruinieren wollte. Konnte man ihm tatsächlich die Macht anvertrauen, die er jetzt in Händen hielt? Oder wurden nun andere Schritte notwendig? Das wäre nicht wünschenswert, aber kaum das erste Mal. Die jungen Augen des anderen blitzten gefährlich
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auf. »Ja, Hunter. Ich meine es völlig ernst. Nein, ich bin nicht verrückt. Und nein, es wird nicht nötig sein, mich zu eliminieren, wenn Ihnen das gerade durch Ihr krankes Gehirn geht. Hören Sie mir zu: Es wurde beschlossen, sich mit den Inspektoren der IKSV in Verbindung zu setzen, der Internationalen KrisenStrategie-Vereinbarung, und eine Abordnung einzuladen. Wenn wir die Kleine finden, werden wir sie präsentieren und sie dazu benutzen, die Saints in Misskredit zu bringen und sie aus dem Machtgefüge zu verdrängen.« »Beschlossen?«, knurrte Hunter. »Wer hat was beschlossen?« Als ob das nicht klar auf der Hand läge. Jan beachtete ihn nicht. »Bis dahin werden Maßnahmen ergriffen sein, die sicherstellen, dass wir selbst über keinen Ersatz mehr verfügen, ebenso wenig wie die Mitglieder der Geburtenkommission oder die anderen Großen Familien, vorausgesetzt sie stellen sich auf unsere Seite. Das ist alles beschlossene Sache. Alle Dokumente darüber werden zerstört. Schließlich wurden unsere eigenen Banken mit genetischem Material vernichtet. Sie haben gehört, was Magnus und Pieter gesagt haben. Verstehen Sie denn nicht? Das ist wundervoll!« Seine jungenhaften Augen glänzten vor Begeisterung. Nicht einmal im Entferntesten konnte er sich vorstellen, dass Hunter ihm nicht zustimmen würde. Er glaubte, dass der größere Mann nur etwas langsamer war, den geschickten Plan noch nicht ganz begriffen hatte.
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»Hören Sie zu, mein Freund«, sagte er mit übertriebener Geduld, »es stimmt, dass mich die Nachricht von dem Angriff auf unsere Genbank zunächst tief getroffen hat. Das ist nur natürlich. Glauben Sie vielleicht, dass ich nicht darunter gelitten habe, nach dem, was mit meinen Eltern passiert ist? Ich habe mir geschworen, dass diese Bastarde von Umstürzlern dafür mit dem Leben bezahlen sollen. Mehr als alles auf der Welt habe ich mir gewünscht, eines Tages meine Eltern zu ersetzen, das wissen Sie so gut wie jeder andere. Clarissa und ich brauchen Kinder, irgendwann einmal, verstehen Sie?« Er schluckte. »Aber dann, nach einer Weile, hat Pieter mit mir geredet. Er sagte, dass sie eine Möglichkeit gefunden hätten, diese Sache, die Zerstörung des genetischen Materials meiner Familie, zu unserem Vorteil zu nutzen. Stellen Sie sich vor. Keine Genbank soll bestehen bleiben. Kein Ersatz mehr, für niemanden. Der einzige Beweis wird gegen Tomas und seine Bande sprechen. Sie sind damit die Einzigen, die unwiderlegbar gegen die IKSV verstoßen haben. Dann sind sie erledigt. Die anderen Großen Familien haben meinem Plan fast ausnahmslos zugestimmt. Da die meisten ihrer Genbanken von den Umstürzlern ebenfalls zerstört wurden, erscheint es ihnen nur logisch. Und die Unvorsichtigkeit der Saints, die es zugelassen haben, dass dieses Mädchen hierher in die Stadt gelangen konnte, hat sie noch mehr von der Notwendigkeit meines Vorhabens überzeugt. Sie wird unsere
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Trumpfkarte sein, die wir den Inspektoren präsentieren.« »Dann dokumentieren wir die heutigen Ereignisse also für die anderen Familien und für die IKSV?« »Ja. Ja, natürlich.« Endlich begriff der Mann. Hunter schaute aus dem Fenster in den dunkler werdenden Nachmittag. Die Wolken spuckten frischen Regen in schweren Tropfen gegen das Glas. Der Welpe war erst in diesem Monat an die Macht gekommen, und schon wandte er sich gegen einige der Menschen, die ihm diese Macht verliehen hatten … »So«, sagte er. »Sie wollen also den Ersatz verwenden, um die Saints in Verruf zu bringen. Und was dann?« »Aha. Sie glauben, ich will die Instrumente wegwerfen, die wir brauchen, um unsere Herrschaft aufrechtzuerhalten. Sie sind für mich ein offenes Buch, Mann. Aber das ist sowieso Schnee von gestern, genauso wie die Sendungen. Seien wir doch ehrlich: Wir haben es gerade mal so geschafft, unsere Nase vorn zu halten, vor den Massen von Idealen … Und die Räudigen« – er sprach das Wort voller Abscheu aus – »sind der unberechenbare Abschaum, der sie schon immer waren, und ruinieren alles. Was wir brauchen, ist etwas völlig Neues – und nun, mein Freund, werden wir es auch durchsetzen können!« »Etwas Neues. Und was wäre das?« »Ein völlig neues Screening-Verfahren der Geburtenkommission. Ein neues Verfahren. Nicht nur ein
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Update. Nicht nur die Wahrscheinlichkeit – wie hoch sie auch sein mag – von einem bestimmten Aussehen, Intelligenz und all dem, gepaart mit einem gewissen Maß an Konformität und Gehorsam. Nicht nur das Ausmerzen von schlechten Samenzellen, schlechten Eizellen. Ein totales Screening, Hunter. Begreifen Sie? Ein exaktes Maß an Begabung in jedem Bereich. Exakt vorausberechnete Charakterzüge, Schwächen, Stärken. Exakt angelegte Lebenserwartungen. Sogar eine 98%ige Sicherheit für die Ansichten und Meinungen, die diese Person sich bilden wird. Alles, Hunter. Nichts wird dem Zufall überlassen. Stellen Sie sich das vor.« Hunter stellte es sich vor. Sein Kopf schmerzte. Plötzlich fühlte er sich schrecklich alt. »Und die IKSV-Leute? Glauben Sie etwa, dass sie diese neue Technologie absegnen werden?«, fragte er sarkastisch. Der junge Leutnant lächelte. »Niemand weiß bisher davon. Wenn sie es herausfinden, wird es schon auf den Weg gebracht sein. Und wir werden eine perfekte Gesellschaft haben. Vollkommen, in jeder Beziehung. Jeder wird es uns gleichtun wollen. Perfekte Herrscher, perfekte Bürger. Ausgestattet mit allem, was nötig ist, um der Welt die Stirn zu bieten, wenn hier das Wasser steigt und die andere Hälfte der Erde vor Trockenheit verbrennt.« Der Transporter bog scharf nach links ab und näherte sich dem Pax-Gebäude. Sie preschten an einer
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einsamen Gestalt vorbei, die an der Ecke stand, draußen im Regen, barfuß tanzend, unbeobachtet, ungestört. Die Gestalt trug einen plump nachgemachten Schlangenkopf, wand und schlängelte sich wie ein Wahnsinniger. Auf das Pflaster hatte er mit farbiger Kreide, wie sie Kinder benutzen, seine Botschaft geschrieben, die rasch von dem Regen in einem regenbogenfarbenen Rinnsal weggewaschen wurde: DER RETTER IST NAH – BEREITET EUCH AUF EURE ERLÖSUNG VOR. Wahrscheinlich völlig ausgeflippt, dachte Hunter, durch staatlich subventionierte Drogen. Was für eine Welt haben wir nur geschaffen! Müde und ohne großen Wert auf eine Antwort zu legen, fragte er: »Was ist mit Kay Saint? Er ist ein besonderer Fall, nicht wahr? Er wird durch Ihren Plan nicht in Misskredit gebracht werden.« »Ach ja, der arme Kay! Nun, er stellt nicht wirklich eine Bedrohung dar. Schauen Sie ihn nur an, treibt sich mit allem Abschaum herum, den man sich nur vorstellen kann, läuft herum wie im Nebel. Uns wird schon etwas Passendes für ihn einfallen. Niemandem wird überhaupt auffallen, dass er weg ist.« »Ich verstehe. Und seine Schwester?« »Die wunderschöne Clarissa? Möglicherweise wird ihr gestattet, eine Rolle in der neuen Ordnung zu spielen. So schlecht ist sie gar nicht. Für sie besteht Hoffnung. Solange sie begreift, wie der Hase läuft. Immerhin glauben Magnus und Pieter, dass es uns bei den anderen Großen Familien – und bei der IKSV
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– helfen wird, wenn ich sie zur Partnerin nehme. Sie wissen schon, danach – wenn alle anderen Saints eliminiert wurden.« Magnus und Pieter schienen zu allem eine Meinung zu haben, dachte Hunter grimmig. Hatten Magnus und Pieter die Sache mit dieser neuen Screening-Technologie eingefädelt und vorbereitet? Das war vielleicht etwas zu schön, um wahr zu sein. Ein zu großer Zufall. Nicht dass der kleine Junge, der da vor ihm saß, auf ihn hören würde. Nicht auf ihn. Er war ihr Spielzeug. Vielleicht war es Zeit, sich nach einem neuen Job umzusehen.
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19 Kay hatte jetzt alles, aber es war zu spät. Er musste sich mit den Tatsachen abfinden: Sie war weg und wahrscheinlich war er dafür verantwortlich. Seine kindische Herausforderung Tomas gegenüber war schuld daran. Ein falsches Wort zur falschen Zeit, ganz wie er befürchtet hatte. »Türen verschließen.« »Die Türen sind verschlossen, Kay.« »Ich hätte gerne etwas Tee, bitte.« »Sicher, Kay.« Als er sein Getränk hatte, nahm er die Tasse mit in seine Zuflucht. Er nippte daran und verbrannte sich die Lippen. Dies war das dritte Mal gewesen, die dritte Nacht in Folge, in der er sich aus dem Club gestohlen hatte und sie treffen wollte, die dritte Nacht, in der sie nicht da gewesen war. Sein Kopf hämmerte. Er fühlte sich erschöpft, desillusioniert, allein. Wenn er doch noch einmal acht oder neun Jahre alt sein könnte, immer noch beinahe unwissend darüber, was er war und was er nicht war, glücklich über die Liebe seiner Mutter, zufrieden damit, so zu tun, als ob er mit seiner Schwester spielen würde, dazugehören zu dürfen. Der Blick nach draußen durch das dicke Oval aus Plexiglas zeigte ihm die Nacht über der Stadt: Ströme von Wasser rannen still über die Außenseite des Fen331
sters; weit entfernte Blitze kündeten von dem ersten Donnergrollen. Im Innern, auf den geliebten Trommeln und Klangmembranen ausgebreitet, beleuchtet durch winzige Spots, lagen Bilder, Datenlisten, Karten, Berichte der Geburtenkommission. Oh ja, er hatte jetzt, was er wollte, hatte alles mühevoll dem Netzwerk entlockt. Nicht nur Informationen über das Mädchen, das auf den Namen Mira hörte, sondern auch über andere. Es waren vier. Vier aus der gegenwärtigen Generation – abgesehen von seiner Familie natürlich – und jede Menge anderer, eine Linie, die sich weit in die Vergangenheit erstreckte, fast bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Von den vier Personen aus dem Hier und Heute waren zwei mit Sicherheit eliminiert worden. Was nichts anderes bedeutete als Mord. Die Bilder der Ältesten von ihnen, Annie Tallis, ließen sein Herz einen Schlag lang aussetzen, als er sie ausdruckte. Wie sollte man mit so einer Sache zurechtkommen? Wie sollte man sich verhalten? Zwei tot, eine immer noch ein kleines, unschuldiges Kind in irgendeinem Kaff in Frankreich und seine Mira, die verschwunden war, wahrscheinlich seinetwegen. Sein erster Impuls war es, Tomas aufzusuchen, den alten Teufel zur Rede zu stellen, ihn dazu zu bringen, zu gestehen … ihm seinen verdammten Schädel einzuschlagen. Aber das würde nichts nützen, nicht wahr? Jedenfalls nicht viel, dachte er niedergeschlagen.
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Wieder schaute er hinunter auf die großen, glänzenden Fotografien von Mira, wie sie als kleines Kind gewesen war und wie sie jetzt aussah, mit fünfzehn Jahren, Fotografien aus der Zeit, bevor sie nach Süden gekommen war, bevor sie hier, wie er fürchtete, ihren Verstand gelassen hatte – und vielleicht auch ihr Leben … Er beugte sich vor und berührte das wunderschöne, fremd-vertraute Gesicht. Wie sollte man mit so etwas klarkommen? Abrupt fasste er einen Entschluss, schob alle Papiere und Fotos zusammen und steckte sie in die Innentasche seiner Jacke, strich sie glatt, sodass weder Jane noch andere Augen im Gebäude etwas bemerken würden. »Bitte sag meiner Schwester, dass ich zu ihr komme und mit ihr reden möchte«, sagte er, nachdem er den Musikraum verlassen hatte. »Deine Schwester schläft, Kay. Möchtest du trotzdem mit deinem Anliegen fortfahren?« »Ja, ich möchte immer noch mit meinem Anliegen fortfahren.« »Mein Gegenstück in Clarissa Saints Apartment weckt sie nun auf.« »Danke. Verschließ alle Türen, wenn ich weg bin.« »Sehr wohl.« Clarissa blickte ihm zerzaust, grummelig und verwirrt entgegen, als sie öffnete. Sie hatte sich in ihre Bettdecke gewickelt und setzte sich auf eines der Sofas, blinzelte ihn im unwillkommenen Licht an. »Also ehrlich, Kay, konnte es nicht warten?«
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»Nein, tut mir Leid, konnte es nicht.« »Also?« Es gab keinen schonenden Weg. Nachdem er vorübergehend ihren Computer mit ein paar Tastendrucken ausgeschaltet hatte – was ihm ein überraschtes Heben ihrer Augenbrauen einbrachte –, legte er still seine Sammlung auf den Boden. Sie beugte sich vor, schaute hin, immer noch in ihre Decke eingewikkelt. Er beobachtete ihre Reaktion, sah, wie sie den Atem anhielt beim Anblick der Frau, Annie Taliis, und wie ihr Blick gefror, als sie Mira sah. Mira, bevor sie ihre Haare zu scharlachroten Spitzen gezwirbelt hatte, Mira ohne wunde Stellen an ihrem Mund. Da war keine Überraschung in ihrem Blick, nicht einmal unterschwellig, bemerkte Kay. Aber natürlich musste sie von alledem gewusst haben, selbst wenn die direkte Konfrontation ein Schock für sie war. Sie war immerhin ein Teil davon. Er als Außenseiter fragte sich, wie er sich an ihrer Stelle fühlen würde. Zum ersten Mal beneidete er sie nicht. Vielleicht war es doch besser, nicht dazuzugehören, so wie er. Seine Schwester schaute zu ihm hoch, starrte ihm direkt in die Augen. Sie war jetzt hellwach. »Willst du, dass ich mich jetzt schlecht fühle? Schuldig vielleicht?« »Natürlich nicht, du Dummkopf.« »Was dann?« »Ich wollte nur … musste … mit dir reden. Ich wollte jemandem zeigen, was ich gefunden habe.«
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»Großartig«, sagte sie sarkastisch. »Außerdem …« Er holte tief Atem. »Sie ist hier.« »Wer ist hier?« »Die da.« Er deutete mit dem Finger auf das Bild. »Mira.« Sie schaute ihn mit offenem Mund an. »Wo hier? Und woher weißt du das?« »Hier in der Stadt. Ich habe sie gesehen. Habe mit ihr geredet.« »Du – hast – mit – ihr – geredet?« »Ja.« »Warum?« »Ich wollte helfen. Die Wahrheit herausfinden.« Clarissa seufzte und vermittelte ihm das Gefühl, dass er der Jüngere von ihnen beiden war, als ob sie ihm alles ganz langsam und ausführlich erklären müsste. Sie erinnerte ihn an seine Mutter – wo war die schmollende, eitle, witzige und kindische Schwester geblieben, die er zu kennen glaubte? Andererseits war nie etwas Eitles oder Kindisches an ihr, wenn es darauf ankam, wenn sie im Ring stand. Dann war sie zornig, kalt, gefährlich. »Oh Kay«, sagte sie mit der Stimme einer Erwachsenen. »Und was jetzt?« »Ich weiß nicht. Sie ist verschwunden. Ich glaube, Tomas weiß auch, dass sie hier ist, und hat etwas … arrangiert. Ich wollte … ich wollte ihr helfen«, endete er lahm. »Ihr helfen! Wobei helfen? High zu werden, so wie du?«
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Er wurde rot und schaute zur Seite, ohne ihr zu antworten. Sie betrachtete sein Gesicht und sagte: »Scheiße, was für ein Schlamassel. Ich glaube, du weißt selbst nicht, was du eigentlich willst. Und ich nehme an, du verlangst von mir, dass ich darüber Stillschweigen bewahre, ist es nicht so?« Schüchtern schaute er hoch. »Ja. Natürlich.« »Aha. Nun, ich werde darüber nachdenken. Wir können morgen früh darüber sprechen.« Da es nichts weiter zu sagen gab, fing er an, die Papiere und Fotos zusammenzuschieben. Clarissa deutete auf das Bild von Mira. »Kann ich das behalten?« Zögernd willigte er ein. Er konnte sich jederzeit ein neues Bild ausdrucken. Außerdem hatte sie wohl das Recht dazu. Als er sich zum Gehen wandte, nahm sie seinen Arm und fragte wieder: »Bist du sicher, dass du mich nicht nur erschrecken wolltest? Mich auf den Boden der Tatsachen holen? Wegen … allem?« Er schüttelte seinen Kopf. »Ich glaube nicht. Ich weiß nicht.« Sie schauten einander an, Bruder und Schwester. »Es ist erschreckend«, sagte sie. »Selbst wenn man darauf vorbereitet ist.« Während Kay in sein Apartment zurückging und erneut die Papiere vor sich ausbreitete und sich, ver-
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folgt von der Schönheit des Mädchens, unglücklich fragte, wie er seinen Fehler wieder gutmachen konnte, saß Hedge im hellen weißen Licht und wartete darauf, dass man ihm seine Aufgabe nannte. Er war direkt hierher gekommen, nachdem er den Jungen sicher im Club wusste, verloren in seiner Musik. Dies war seine übliche Routine. Im Club bestand für Kay keine Gefahr; außerdem wachten andere über den Jungen, während er seinen Posten verließ. So war es vereinbart worden. Heute Abend hatten sie ihn lange Zeit warten lassen. Mehr als vier Stunden hatte er in der Dunkelheit gesessen, nicht dass ihm dies etwas ausmachte. Als es so weit war – es begann, nachdem abrupt das Licht angeknipst worden war –, hörte er eine liebliche, sanfte Stimme zu sich sprechen, die Stimme einer Frau. Eine Stimme wie Honig, eine, die er glaubte, schon sein ganzes Leben lang zu kennen. Dachten sie, dass das irgendeinen Unterschied machte?, fragte er sich. Dachten sie, dass er sich von Schönheit oder Verlangen oder von Überzeugungskraft beeinflussen ließ? Der Pfad, den er gewählt hatte, war sein eigener, nicht der von jemand anderem. Er hatte seine eigenen Gründe, warum er hier war. Ihm war es recht, wenn sie dankbar waren und seine Dienste so effizient wie möglich nutzten. Dabei sollten sie es belassen. Irgendwelche Tricks, um sich seiner Treue zu versichern, waren überflüssig. Er war ein Leibwächter der Saints, das Beste, was der Scree-
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ning-Prozess hervorbringen konnte, nicht irgendein zugedröhntes Kind. »Die Zeit ist gekommen«, murmelte die Stimme. »Wir möchten, dass Sie eine Aufgabe erfüllen, eine einzige nur, von der wir glauben, dass sie für unsere Sache lebenswichtig ist. Werden Sie das für uns tun, Tobias Hedge?« »Kommen Sie zur Sache«, erwiderte er knapp. »Und keine Namen, wenn ich bitten darf.« Jedermann nannte ihn nur Hedge. Eine Pause folgte. »Also gut«, schnurrte die Stimme schließlich. »In genau einer Woche findet ein Wettkampf statt. Die Endrunde der Juniorenliga. Außergewöhnlich daran ist, dass zwei aufgehende Sterne aus den Großen Familien gegeneinander kämpfen.« Hedge nickte. »Clarissa Saint und Jan Barbieri. Was ist damit?« »Dieser Wettstreit bietet uns eine einzigartige Gelegenheit. Der Austragungsort gilt als sicher. Der junge Barbieri wird sich beinahe völlig allein auf einem offenen Gebiet aufhalten, weit weg von seinen zahlreichen Wachhunden, und zwar etwa fünfzehn Minuten lang.« Wieder nickte Hedge. Sein Mund war plötzlich trocken. »Ihre Aufgabe«, erklärte die seidige, streichelnde Stimme, »ist es, den Jungen zu eliminieren.« Ihr Götter! »Den Jungen töten. Und dann?«
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»Und dann versuchen Sie zu fliehen, wenn es möglich ist.« Flucht. Das war lachhaft. Er hatte Glück, wenn er zwei Sekunden, nachdem er den Jungen niedergestreckt hatte, noch in der Lage war, Atem zu holen. Für den Moment konzentrierte er sich auf die Durchführbarkeit des Plans. »Dort sind keine Waffen erlaubt; das sollten Sie wissen. Dafür wird Copper sorgen, und zwar gründlich.« »Sie können es nicht tun?« Die Stimme klang verwirrt, enttäuscht. »Verdammt noch mal! Natürlich kann ich es tun.« Er glühte vor Zorn auf die verborgene Stimme hinter dem Licht, die so beiläufig von ihm verlangte, sein Leben herzugeben. »Warum kommen Sie nicht hervor und versuchen, es selbst herauszufinden?« »Wir nahmen an, dass Sie den Wunsch haben, unserer Sache zu dienen. Wenn die Aufgabe für Sie nicht zu bewältigen ist, werden wir Sie von Ihren Pflichten entbinden.« Hedge war in Versuchung. Ein Ausweg, eine Möglichkeit, weiterzuleben. Doch er wusste, dass er, sollte er sich weigern, vermutlich ohnehin ein toter Mann war, jetzt da er ihren Plan kannte. »Warum Barbieri?«, fragte er nach einer Weile. »Zunächst einmal«,liebkoste ihn die Stimme, »weil Jan Barbieri und diejenigen, die hinter ihm stehen, eine Welt erschaffen wollen, die ausschließlich aus Idealen besteht. Er ist die ausführende Macht für die-
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sen Plan. Diese Idee muss bereits im Keim erstickt werden. Zweitens: Es ist wahrscheinlich, dass er zum Werkzeug der Geburtenkommission geworden ist, deren Mitglieder ihn dazu benutzen, um sich mehr Macht zu sichern. Sein Tod wird das Gleichgewicht wiederherstellen.« Er kannte den Grund natürlich. Er war ja kein Narr. Er schaute in das Licht, versuchte hindurchzusehen. »Wenn ich zustimme, geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie sich um den anderen Jungen kümmern? Kay Saint?« »Soweit wir das können, ja.« Hedge schloss einen Moment lang die Augen und seufzte. »Es ist getan.« Als seine Augenlider sich wieder öffneten, war er allein. In der Dunkelheit. Mira lag weit draußen im Sumpf und schwitzte wie ein Fuchs, der fast zu Tode gehetzt worden war. Ihr Atem ging flach und schnell. Es war gefährlich gewesen, die Stadt zu verlassen. Sie hatte begriffen, dass man auf offenem Gebiet aus weiter Entfernung gesehen werden konnte, selbst bei Nacht – die Menschen, die sie jagten, hatten Maschinen, um allerlei Unmöglichkeiten möglich zu machen. Aber sie brauchte Zeit, musste weg von dem Schmutz und der Angst und den Menschen. Überall Menschen, wo sie auch hinging, die sie einkreisten und ihr den Frieden raubten. Eine Million Menschen, hatte Jazz ihr gesagt. Es kam ihr unfassbar vor. Eine Million in jeder der
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fünf Städte, tausende mehr überall im Land verteilt, auf den Farmen, in den Fischzuchten, auf den Müllhalden und den Generatorenstationen, wie ihre eigene kleine Siedlung. Sie musste allein sein, musste gesunden. Sie brauchte Ruhe. Ihr Arm, kurz über dem Ellbogen, war eine einzige Pein. Die Haut spannte sich, war geschwollen und schwarz. Sie hatte die Wunde, so gut sie konnte, gereinigt und mit einem Stück Stoff verbunden, aber sie spürte, wie das Fieber sie umklammerte, sich von der Wunde her ausbreitete, ihre Stärke und ihre Willenskraft aus ihr herauspresste. Sie spürte den Schwindel in ihrem Kopf. In ihrer Gürteltasche lagen Essen und etwas zu trinken. Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie die Sachen gestohlen hatte. Und sie hatte keinen Appetit. Im Augenblick wollte sie nur schlafen. Sich in den dornigen Büschen verkriechen, sich in schwappendes Wasser und den saugenden Matsch kauern und einfach nur schlafen. Sie spürte, wie sich dieses Verlangen auf ihr niederließ, unwiderstehlich, wie eine schwere Decke, die ihre Glieder einfror. Und sie träumte. In ihrem Traum stand sie vor dem langen weißen Gebäude, das man Geburtenarchiv nannte, genauso wie sie tatsächlich in ihrer ersten Woche in der Stadt davor gestanden hatte. Selbst für einen Neuankömmling wie sie war es nicht schwer gewesen, den Bau, der ihr freundlich und einladend vorkam, zu finden.
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Er stand in einem scharfen Kontrast zu den Häusern, die ihn umgaben. Die weißen Stufen, die zu der ordentlichen Reihe von Glastüren emporführten, waren sauber und glänzend poliert. Respektvolle Menschen, Männer und Frauen in Uniform, standen oben auf der Treppe, öffneten den Besuchern die Türen und erklärten ihnen, wo sie fanden, was sie suchten. Kameras waren nicht zu sehen. Viele Leute gingen die Stufen hinauf und wieder hinab. Ob dies Ideale oder Räudige waren, konnte sie damals noch nicht sagen. Einige wirkten gelangweilt, andere gehetzt, wieder andere gänzlich zufrieden, bereit für ein Schwätzchen mit den Portiers. Keiner von ihnen machte im Geringsten den Eindruck, sich zu ängstigen. Am Fuß der Treppe befanden sich rechteckige Flecken dunkler Erde, wo man hübsche Dinge wachsen ließ. Dort arbeitete gerade ein Mann, grub kleine Löcher und setzte neue Pflanzen ein, deren dünne Blätter im Wind hüpften und wild flatterten. Wenn ihre Geburt legal verlaufen war, dann würde man hier darüber Bescheid wissen. Sean hatte ihr das gesagt. Sie musste nur die Stufen erklimmen und fragen. Jede genehmigte Geburt in Britannien war hier in den Computern gespeichert. »Und wenn sie nicht ›legal‹ war?« Sie hatte die Bedeutung des Wortes nicht ganz verstanden. »Wenn keine Erlaubnis vorlag, wird man dich aus der Stadt weisen, Mädchen, oder dich einsperren. Selbst die natürlich Geborenen brauchen eine Ge-
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nehmigung. Und deine Eltern erwartet ein Bußgeld oder Schlimmeres, oder aber dich selbst, falls sie tot sind.« Im wirklichen Leben hatte sie die Prüfung bestanden. Sie war der Versuchung nicht erlegen und hatte sich mit einem langen Blick auf das Gebäude zufrieden gegeben. Sie konnte sich noch gut an den Computer im Lagerhaus in der Siedlung erinnern und die plötzliche, instinktive Panik, die über sie gekommen war. Nein, welche Geheimnisse auch immer in diesen Mauern gehütet wurden, diesen Fehler würde sie kein zweites Mal begehen! Aber jetzt, hilflos ihrem Fiebertraum ausgeliefert, nahmen die Dinge einen anderen Lauf. Sie stand wie damals am Fuß der Stufen, und die Gestalten oben auf der Treppe riefen nach ihr, lockten sie an. Und langsam stieg sie nach oben. Die Türen wurden für sie geöffnet; die Portiers wiesen ihr die Richtung. Sie trat ein und kam in einen langen, einen endlos langen Korridor. Am Anfang war er weit, hoch und luftig, belebt durch viele Menschen, die ihr entgegenkamen, und andere, die die gleiche Richtung eingeschlagen hatten wie sie selbst. Doch allmählich schien sich der Flur zu verengen und dunkler zu werden und immer weniger Menschen begegneten ihr. Nach einer Weile überkamen sie Zweifel, ob sie sich auf dem richtigen Weg befand. Es musste sich um ein Missverständnis handeln. Rechts und links trafen Abzweigungen auf den Korridor, durch den sie ging, und Türen führten
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in Räume, die sie gerne näher untersucht hätte, in der Hoffnung, wieder in die helleren und belebteren Bereiche des Gebäudes zu gelangen. Aber jedes Mal wenn sie Anstalten machte, abzubiegen und ihren Weg zu verlassen, trat ein uniformierter Wachmann hervor und bedeutete ihr, weiter in die Dämmerung hineinzuwandern. Ihre Füße tapsten weiter, als hätten sie ihren eigenen Willen. Schließlich, nach langer Zeit, merkte sie, dass sie allein war und dass es keine Türen mehr gab, keine anderen Gänge, nichts außer dem Weg, der vor ihr lag. In der Dunkelheit streckte sie die Arme aus und ihre Finger berührten die Wände zu beiden Seiten. Sie bekam es jetzt mit der Angst zu tun und sehnte sich danach, umkehren zu können und den Weg, den sie gekommen war, wieder zurücklaufen zu dürfen. Aber sie konnte nicht. Und dann erreichte sie eine Tür. Eine letzte Tür am Ende des Korridors. Mit tauben Fingern tastete sie nach dem Türgriff und sah, dass sowohl Griff als auch Tür genauso aussahen wie bei ihr zu Hause in der Siedlung. Halb erwartete sie, dass sich die Tür öffnen und Cobbs altes, ehrliches Gesicht sie anblicken würde. Mit einem schmerzhaften Stich der Sehnsucht nach ihrem Vater stieß sie die Tür auf und trat ein. Endlich werde ich erfahren, wer ich bin. Die Computer werden es mir sagen. Bestimmt war es die Mühe und die Anstrengung des
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langen Weges wert. Doch dann erkannte sie voller Verzweiflung, dass hier gar keine Computer standen. Und kein Mensch war da, um ihr zu helfen. Sie stand in einem völlig leeren Raum. Der einzige Gegenstand, der zu sehen war, war ein Spiegel an der Wand. Tränen der Enttäuschung sprangen in ihre Augen, und sie spürte, wie sie jegliche Energie verließ. Es war hoffnungslos. Sie hatte den ganzen Weg umsonst gemacht und jetzt konnte sie nie mehr zurückkehren. Man hatte sie über den Sinn und Zweck dieses Gebäudes angelogen. Sie war immer belogen worden, ihr ganzes Leben lang. Hier gab es keine Geheimnisse. Und niemals würde sie diese verfluchte Stadt verlassen können. Durch die Tränen erhaschte sie einen Blick auf sich selbst im Spiegel. Schmutzig, erschöpft, verletzt, verängstigt – kaum noch wiederzuerkennen. »Wer bin ich?«, fragte sie ihr Spiegelbild. »Sag mir, wer ich bin.« Doch sie erhielt keine Antwort.
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20 Jazz war es egal, zumindest redete er sich das ein. Ihm war alles egal, alles und jeder. Besonders die blauen Flecken und die Prellungen, die ihm diese Bastarde von der Pax verpasst hatten, als er sich den protzigen Transporter vorgeknöpft hatte, und die dazu führten, dass er sich am ganzen Körper steif fühlte. Das war eine tolle Sache gewesen. Das war das bisschen Schmerz wert. Er zitterte, obwohl es mittlerweile Frühsommer geworden war und die Winde warm wehten. Ein bunt gemischter Haufen Kinder kam aus ihren Löchern und aus Hauseingängen gelaufen, sie zerrten an seinen zerlumpten Kleidern und bettelten um Essen. Sie erinnerten ihn an seine Schwester und an seine Brüder – natürlich illegal, illegale kleine Räudige, Gott segne sie, ohne jegliche Geburtserlaubnis –, die er im Gloster-Flutgebiet zurückgelassen hatte. Vielleicht hätte er bleiben und seinem Dad helfen sollen, neues, höher gelegenes Land zu finden, das man pflügen und wo man neues Getreide pflanzen konnte, das dem Wind und den kurzen Intervallen zwischen den Regenzeiten standhielt. Der kleine Jody war jetzt nicht mehr klein. Er war schon fast elf, dachte Jazz. Fast das Alter, wo er sich selbst – irgendwie – zur Hauptstadt gekämpft hatte, wo ihn Martha unter 346
ihre Fittiche genommen hatte. Er konnte es kaum ertragen, sich auszumalen, was ihnen widerfahren sein könnte, seit er sie verlassen hatte. »Ich schick euch Geld«, hatte er gesagt, »und ich komme sofort zurück, wenn du mich brauchst, Dad.« Er hatte geglaubt, er würde ihnen damit helfen – ein Maul weniger zu stopfen, die Chance, in der Stadt etwas zu verdienen. Doch jetzt wusste er, dass sie ihn nur weggestoßen, ihm einen Rettungsring zugeworfen hatten, bevor das Schiff unterging. Es war kein brauchbares Land übrig geblieben. Die Wasser stiegen immer noch. Sie bewirtschafteten keine staatlich geförderte Farm. – Sein Dad musste gewusst haben, dass das Ende in Sicht war. Warum nicht dem Ältesten eine Chance mit auf den Weg geben? Er war das legale Kind, gerade alt genug, um die Reise zu überstehen, wenn das Wetter ihm gesonnen blieb und er sich nicht verlief. Er war der Einzige, der gerettet werden konnte. »Ich schick euch Geld«, hatte er wichtigtuerisch mit seiner hohen Kinderstimme gesagt, während er im Türrahmen stand, und sie hatten geantwortet: »Ja, natürlich. Und jetzt mach dich auf den Weg. Wir werden dich wissen lassen, wohin es uns verschlägt. Wir geben dir unsere neue Adresse, damit du das Geld dorthin schicken kannst.« Sanft schüttelte er jetzt die Kinder, die ihn umringten, ab und zeigte ihnen seine leeren Handflächen.
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»Seh ich so aus, als ob ich was für euch hätte?« Dann machte er sich auf den Heimweg, um etwas zu schlafen. Sockel trottete hinter ihm her. Der Ort, wo er Zuflucht gefunden hatte, war mit Marthas Hof nicht zu vergleichen. Es war eine Adresse für Penner, Verlierer, alte Säcke, Diebe und Fixer. Frei für jedermann. Eine große, leere Hülle aus Beton, ein ehemaliges Lagerhaus, das vor Pisse stank, wo man niemandem vertraute, nichts von sich preisgab und jeden Krümel für sich behielt. Ständig gab es Prügeleien, manchmal auch Messerstechereien. Man musste unauffällig bleiben. Bald schon würde er etwas Neues finden, etwas, was dem ähnlich war, was Martha ihm geboten hatte. Er fand eine Lücke zwischen all dem Abschaum, nahm die alte Decke aus seinem Beutel und legte sich hin. Er betrachtete den dunklen, lärmenden, aufgewühlten Himmel, wo eigentlich das Dach sein sollte. Bald schon kamen die Tränen. Er konnte nichts dagegen tun. In letzter Zeit weinte er häufig. Vielleicht war er krank, verlor den Verstand. Selbst im Schlaf weinte er manchmal. »Alles klar, Kumpel?« Jemand legte sich neben ihm zum Schlafen nieder, ein junger Mann mit einem Pferdeschwanz. Er konnte das Gesicht des anderen nicht sehen, aber der Mann atmete schwer, schnaufte sogar ein wenig. Seine Stimme war die eines echten Räudigen, klang so, wie er sich selbst angewöhnt hatte zu reden.
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»Alles klar, Kumpel? Isses okay, wenn ich mich hier ableg? Ich tret doch keinem auf die Zehen, was?« »Nein.« Jazz wischte die Nässe auf seinen Wangen ab und hoffte, dass die Dunkelheit sein Gesicht verbergen würde. »Nein, Kumpel, das geht klar. Da is noch frei.« Der Mann rollte seine Decke aus und machte es sich gemütlich. Jazz kehrte zu seinen eigenen Gedanken zurück, doch wieder vernahm er das Flüstern der Stimme. »Das is ’n Scheißloch, was?« »Ja.« »Kann schon verstehn, wenn man hier das Heulen kriegt. Könnt glatt selbst anfangen damit.« Jazz schwieg. Der Mann hätte seine Schwäche nicht erwähnen sollen, selbst wenn er es bemerkt hatte. »Ich komm aus ’m Westen, jawoll. Hatte ein paar Freunde hier. Dann sin sie gekommen un ham meine Freunde abgeholt. Scheiße, einfach so. Als ich weg war un die Mülltonnen durchsucht hab. Das verdammte Haus war nich mehr sicher, also bin ich hierher gegangen, hab dieses Scheißloch gefunden.« Unwillkürlich fragte Jazz: »Wer is gekommen? Wer hat deine Kumpel mitgenommen?« »Was glaubste wohl, he? Die Scheiß-Pax, Mann! Bastarde!« Nicht reden. Vertraue niemandem. Behalte deine Geheimnisse für dich. Aber dann sagte Jazz: »Ja, das is mir auch passiert.
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Erst vor ’n paar Tagen. Alle guten Leute, die ich kannte, hamse mitgenommen.« Es sprudelte aus ihm heraus. »Echt? Dir auch? Armer Kerl.« Der Mann fragte nicht weiter, sondern wälzte sich herum und versuchte, es sich bequem zu machen. Dabei murmelte er leise vor sich hin. Jazz war erschrocken über sich selbst, er hatte gerade sein wichtigstes Gesetz zum Überleben gebrochen, doch dann entspannte er sich ein bisschen. Er hatte ja nichts von Bedeutung preisgegeben. Der Mann war nur ein Unglücksrabe, genau wie er. Ein Niemand. Ein weiteres Opfer der Pax-Bastarde. Er musste das Wort bloß denken, und schon wallte der Zorn in seinem Herzen hoch wie ein schwarzes Ungeheuer, drohte ihn zu ersticken. Diese verdammten Bastarde! Was hatten sie vor? Warum wurden so viele Räudige verhaftet?, fragte er sich. Warum – und das beschäftigte ihn am meisten – waren sie plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, als er nach Silberschein gesucht hatte? Und warum hatten sie sie gehetzt, als sie ihren Schlupfwinkel verließ, und sogar auf sie geschossen? Aber es hatte ganz den Anschein, als wäre sie darauf vorbereitet gewesen. Sie hatte diese Waffe immer bei sich getragen, seit jenem ersten Tag unten am Hafen, sie aber seitdem nicht mehr benutzt. Und wie sie rennen konnte! Er grinste kurz in die Dunkelheit. Gott, er hätte sich nie träumen lassen, dass sie sich so schnell bewegen konnte, sein kleiner Silberschein. Er
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hatte fast vergessen, selbst wegzurennen, während er beobachtete, wie sie förmlich davonflog und zwischen den Schuttbergen hindurchsauste. Silberschein war ihm ein Rätsel, aber er war kein Idiot. Beschämt erkannte er, dass er es gewesen war, der die Typen von der Sicherheit auf ihre Fährte gelockt hatte, als er nach ihr suchte. Was bedeutete, dass wahrscheinlich sie das Ziel gewesen war, als man Marthas Hof überrannt hatte. Jetzt wo er darüber nachdachte, ergab das einen Sinn. Seit sie jenes grüne Schiff verlassen hatte, vom ersten Augenblick an, hatte sie sich seltsam benommen. Die meiste Zeit war sie scheinbar starr vor Angst gewesen, aber auch nicht so verängstigt, dass sie nicht gleich an ihrem ersten Tag mit dieser Kröte Ed fertig geworden wäre. Oder vor kurzem mit dem Kerl auf dem Hof. Oder jetzt mit den Typen von Pax – wie ein Hase rennend und einen Schuss nach dem anderen aus ihrer Waffe abfeuernd. Und was war mit ihrem Akzent? Sie hatte niemandem verraten, woher sie kam, doch in der Stadt war sie ganz sicher nicht aufgewachsen. Und doch sprach sie bereits bei ihrer Ankunft so, als ob sie hier geboren wäre. Die einzige Antwort, die Jazz auf all diese Fragen einfiel, war, dass sie eine von ihnen war. Eine von den echten Umstürzlern, von denen er schon gehört hatte, die in Stoneywall eingebrochen waren und der Geburtenkommission das Leben zur Hölle machten. Keine von den Leichtgewichten, den Maulhelden, mit
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denen er herumhing, die lediglich ihre verdammten Eier durch die Gegend schmissen. Warum sonst würden die Kerle von der Sicherheit solch einen Aufwand betreiben, um sie einzufangen? Bitte, lass sie davongekommen sein, flehte er im Stillen und starrte hinauf zu dem eingestürzten Dach. Doch in seinem Herzen bezweifelte er es. Immerhin waren sie zu dritt gewesen, möglicherweise hatten noch mehr im Hinterhalt gelegen – und keiner von ihnen war hinter ihm hergerannt. Warum das so war, wusste er nicht. Wahrscheinlich war er einfach zu unwichtig. Aber das würde sich verdammt noch mal ändern. Wenn sie es tatsächlich geschafft hatte zu entkommen, dann würde er sie finden und sie bitten – es fordern! –, in die Gruppe aufgenommen zu werden. Und wenn nicht, würde er seine Helden trotzdem aufsuchen, selbst wenn er durch das ganze verdammte, überflutete Land laufen müsste, um sie ausfindig zu machen. Er würde es für den armen Jody und all die anderen tun. Er würde es für sich selbst tun. Es war Zeit, dass die Bastarde endlich zur Kasse gebeten wurden! Neben Jazz rutschte der Mann mit dem Pferdeschwanz hin und her, murmelte und hustete so überzeugend wie die echten Räudigen hier und dachte: So. Der hier wird mich zu ihr führen, früher oder später. Und diesmal werde ich die Sache persönlich in die Hand nehmen.
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Clarissa stand mitten in der Arena, die für den Wettkampf vorbereitet worden war, und schaute sich zufrieden um. Der Boden des Veranstaltungssaals der Saints bestand aus echtem Holz, goldgelb wie Honig und für das Ereignis auf Hochglanz poliert. Die Stühle, die zwischen den Säulen für die Barbieris, die Saints und den Rest aufgestellt worden waren, hatten rote Samtbezüge mit goldenen Borten. Von der Decke hingen Kristallleuchter herab und schwankten leicht in der warmen Luft, die von der Fußbodenheizung nach oben stieg. Abgesehen von den schlanken Stativen für die Netzwerk-Kameras – der Kampf würde live in den höheren Levels übertragen werden –, hätte sie genauso gut auf eine Szenerie aus der Vergangenheit blicken können, als man noch so seltsame Dinge tat, wie das Haar weiß zu pudern oder sogar mit Insekten verseuchte Perücken zu tragen. Die Arena selbst war neu und makellos, bestand lediglich aus einer grünen Filzmatte, auf der die Startpositionen markiert waren, und einem einfachen weißen Seil, das um die Kante herum gelegt war und das die Kämpfenden nicht übertreten durften. Clarissa schlüpfte aus ihren Schuhen und fühlte die weiche Griffigkeit der Matte, die ganz leicht ihrem Gewicht nachgab, unter ihren Füßen. Versuchsweise kauerte sie sich in ihre Angriffsposition und ging ein paar Übungsbewegungen durch, wirbelte herum, duckte sich, parierte, schlug zu, zog sich wieder in ihre Kauerstellung zurück. Sie stellte sich vor,
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wie es sein würde, wenn alle Sitzplätze besetzt waren. Würde sie sich bewähren? Würde sie den armen Jan besiegen? Ja, daran bestand kein Zweifel. Es sei denn, irgendetwas würde grundlegend schief laufen. Eine Bewegung am Seiteneingang des Saals erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah, dass Hedge dort stand und sie beobachtete. Der Mann war ihr unheimlich. Was hatte er hier zu suchen? »Hedge«, sagte sie knapp. »Miss Clarissa«, erwiderte er. »Es tut mir Leid, Ihre Übungen zu stören, Miss. Ich will mir nur einmal die Sicherheitsvorkehrungen ansehen.« Eine glaubwürdige Ausrede, dachte sie sarkastisch. Ausnahmsweise schien sich der große Mann einmal nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Vielleicht hatte er Ärger mit Großvater bekommen, weil er Kay einmal zu oft aus den Augen verloren hatte. »Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen«, sagte sie und zog ihre Schuhe wieder an. »Jan bringt seine eigene Armee an Sicherheitsleuten mit. Sie wissen ja, wie die sind.« »Ja, Miss, ich weiß. Ich wollte mich nur vergewissern.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Saal so abrupt und lautlos, wie er gekommen war. Sie waren wie füreinander geschaffen, dieser Schleicher, dieser komische Kauz, und ihr noch komischerer Bruder, der ständig irgendwelche Proble-
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me wälzte und nichts richtig genießen konnte, außer seiner Musik. Jetzt allerdings, gemahnte sie sich selbst, hatte er tatsächlich an etwas anderem Interesse – an diesem Mädchen, Mira. Nein, er war nicht nur interessiert, er war wie besessen. Und was, bitte schön, sollte sie davon halten? Sie erschauerte, halb angewidert, halb neidisch. Er hielt sich von ihr, Clarissa, fern, glaubte aber, dieser Mira – dem Ersatz – irgendetwas schuldig zu sein. Er hatte Kontakt zu ihr aufgenommen, Himmel noch mal! Das Problem war, dass er sie nun auch angesteckt hatte. Ausgerechnet jetzt, da sie sich ausschließlich auf den Endkampf konzentrieren müsste, der in zwei Tagen stattfand, ging ihr diese andere Sache nicht mehr aus dem Kopf – die seltsame, andersartige Existenz des Mädchens, die Art und Weise, wie sie hierher gekommen war, wie sie gejagt wurde. Wo war sie jetzt? Was widerfuhr ihr – in genau dieser Minute? Zu viele Fragen. Vergiss die Sache bis nach dem Wettkampf. Dann ist immer noch Zeit genug. Doch sie wusste, dass sie sich, sobald sie in ihr Apartment zurückkehrte, wieder dieses Bild anschauen würde. Wie konnte es auch anders sein! Endlich hatten sich die Träume ausgetobt. Zumindest vorläufig. Mira rappelte sich langsam auf die Füße und hielt sich an den Zweigen des Dornbuschs fest. Sie fühlte sich so wackelig und ungeschickt wie ein Baby. Müh-
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sam reckte sie ihre Fingerspitzen in den grauen, stürmischen Himmel, lockerte ihre Wirbelsäule und ihre Schultern und schwang ihre Glieder ungelenk hin und her, um sie neu zu beleben. Der Arm, der von dem Feuerstoß gestreift worden war, pochte immer noch schmerzhaft, doch die Schwellung war zurückgegangen, und sie glaubte nun nicht mehr, dass sich die Wunde entzünden würde. Und erstmals seit Tagen verspürte sie einen nagenden Hunger – ein gutes Zeichen. Das Fieber lockerte seine Umklammerung. Sie musste schnell wieder zu Kräften kommen, musste ihren Muskeln ihre alte Beweglichkeit zurückgeben. Drei oder vier Meilen weit weg, hinter weitläufigen, öden Wasserflächen und tiefen schwarzen Sümpfen, hinter Weiden mit windgepeitschtem gelbem Gras, hinter plätschernden, gurgelnden Rinnsalen, stieg das Land allmählich wieder zu festerem Boden an, der mit Geröll durchsetzt war. Hier endete die Stadt mit ihren Ausläufern, deutlich erkennbar durch einen Ring aus aufgeschütteten Verteidigungsanlagen, die die Menschen schützen sollten. Meile für Meile erhoben sich die Dämme aus Beton, jeder einzelne mit einer dicken Stahlschicht ummantelt, neigten sich weit nach vorn, um aufzuhalten und zurückzutreiben, was die Bewohner der Stadt für die Zukunft befürchteten – seien es Wasser- oder Menschenmassen.
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Während ihrer wilden Flucht aus der Stadt, halb blind vor Schmerz, hatte sie die wahre Beschaffenheit des Damms nicht gleich erkannt. Sie war hinaufgeklettert, hatte sich von der Kante einer jener Stahlplatten auf die andere Seite, in den Abgrund, fallen lassen, war auf weichem, schwammigem Boden aufgeschlagen, mit angezogenen Knien, um den Fall abzufangen. Hereinzukommen würde viel schwieriger werden, dafür hatten die Erbauer der Mauer gesorgt. Entweder musste sie sich eine Möglichkeit ausdenken, wie sie, einer Fliege gleich, kopfüber an blankem Stahl hängend, hinaufklettern konnte, oder sie musste die Stadt umlaufen, bis sie eine Brücke und ein Stadttor erreichte, von dem aus ein Pfahlweg ins Zentrum führte. Doch diese Eingänge waren sicherlich alle bewacht. Eine weitere Möglichkeit war, so weit an dem Damm entlangzulaufen, bis sie die südliche, die Hafenseite der Hauptstadt, erreicht hatte. Ja, das war wohl das Beste. Der Hafen war die durchlässigste Stelle in den Verteidigungsanlagen der Stadt. Es war kein Zufall, dass die Docks von all jenen heimgesucht wurden, die den Fluten entkommen waren und die keine Aufenthaltsgenehmigung hatten, und von solchen, die aus den unterschiedlichsten Gründen die Stadt heimlich verlassen wollten. Doch sie wusste, dass es auch dort einen Wall gab, der im Hafenbecken errichtet worden war und den die Schiffe passieren mussten, um Zugang zu den Docks zu erhalten. Diesen Wall hatte sie von ihrem Versteck
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auf der Helicon aus sehen können. Es schien tatsächlich so, als ob die ganze Stadt von Mauern umgeben war, so wie eines der Anwesen vor unzähligen Jahrhunderten, dessen Bild sie einmal in Cobbs Buch zu Hause betrachtet hatte. Wenn sie wirklich zurückwollte, war der Hafenwall sicher ihre beste Chance, sie musste nur die Kraft finden, ihn zu überwinden. Warum soll ich überhaupt zurückkehren, dachte sie müde, jetzt wo ich draußen bin und sie all meine Freunde aufgerieben und meine Verstecke ausfindig gemacht haben? Ich könnte alles hinter mir lassen. Nach Hause gehen. Irgendwohin. Es musste einen Ort geben ohne Pax, ohne die Saints und ohne den ganzen Rest. Aber sie hatte keine Wahl. Nicht wirklich. Ihr Schicksal war immer noch mit dieser Stadt verbunden, zumindest für eine Weile. Mit ihr – und mit Jazz, mit Kay Saint und auch mit seiner Mutter, die sie nur dieses eine Mal auf dem Bildschirm gesehen hatte. »Tilly Saint kehrte kürzlich von den Weltmeisterschaften im Abfahrtslauf aus Kanada zurück«, hatte es da geheißen. Nicht etwa: »Tilly Saint kehrte aus dem eisigen, weit entfernten Norden zurück – wo sie gejagt und in einer kleinen Generatorenstation niedergeschossen wurde.« Mittlerweile hatte sie eine Ahnung, eine Ahnung, die sie nicht verstand – aber Ahnungen waren ihr nicht genug. Sie musste wissen, warum sie für jene anderen so wichtig war und was für ein Geheimnis
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ihre Geburt umgab. Nur mit dieser Erkenntnis war es ihr vielleicht möglich, der ungleichen Jagd den Rücken zu kehren, wenn ihr diese Gelegenheit überhaupt geboten wurde. Nur mit dieser Erkenntnis konnte sie Frieden finden. Und das neue Leben, das sie sich erschaffen hatte? Das Leben in der Stadt? Die neuen Freunde? Es stimmte: Sie hatte sich verändert. Wenn sie ihre Antworten gefunden und den ersehnten Ort jenseits von Pax und den Saints erreicht haben würde, war es ihr dann noch möglich, zu dem Menschen zurückzukehren, der sie einst gewesen war? Das würde sie erst wissen, wenn es so weit war. Ich muss warten, bis es Nacht wird, dachte sie, und mir einen Weg zurück in die Stadt suchen. Kay Saint finden. Er war vermutlich im »Movies« oder in der Portable Road. Schließlich verließ er sein Gefängnis oft genug. Das Risiko war enorm, nachdem sie nur mit Mühe und Not ihren Häschern entkommen war. Aber sie war es gewohnt, sich unsichtbar zu machen, hatte alle Tricks gelernt. Wenn sie durch die Straßen ging, wurde sie von niemandem – weder von Idealen noch von Räudigen -je beachtet. Niemand schaute sie an. Trotzdem würde sie wieder ihr Haar verändern müssen und auch ihre Kleidung wechseln. Sie konnte es sich nicht leisten, auch nur ein einziges Mal angehalten oder befragt zu werden. Und irgendwie musste es ihr gelingen, wieder in die Portable Road zu gelan-
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gen, in ihre alte Rolle zu schlüpfen und sich mit dem Saint-Jungen zu treffen, nachdem er seine Musik gespielt hatte. Der Zeitpunkt war so gut wie jeder andere. Er wusste etwas und sie würde ihm dieses Wissen entlocken. Immerhin war er ein Saint und der Sohn dieser Tilly. Für den Moment konzentrierte sie sich allerdings auf die beiden wichtigsten Dinge: etwas zu essen zu finden und dann zu schlafen. Schlafen. Einen herrlichen, vergessenden Schlaf unter dem Dornbusch, nur ein paar Stunden lang. Sie würde die Ruhe brauchen, wenn sie gegen die Strömung anschwimmen wollte, die beim Herunterlassen des Hafenwalls entstand, wenn ein Schiff ihn passierte. Der Mann mit dem Pferdeschwanz aus dem nach Urin stinkenden Armenhaus hatte sich an Jazz gehängt. Bei Tageslicht betrachtet, stellte sich heraus, dass er kaum älter war als Jazz selbst. Er humpelte und Narben überzogen seine Wange, und er sagte, sein Name sei Moore. Er schlug vor, dass sie gemeinsam auf Nahrungssuche gingen. »Nur für ’nen Tag oder zwei, was meinste? Du kannst mich ’n bisschen rumführen un mir zeigen, wo man was findet. Ich hab nämlich immer drüben im Westen gehockt, weißte?« Jazz war damit einverstanden, doch er blieb ungewöhnlich still, während sie Mülltonnen durchkämmten und auf der Straße hinter den Geschäften nach Essensresten suchten. Er hatte im Augenblick
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eigentlich keine Lust auf Gesellschaft, und der Typ quatschte ohne Punkt und Komma, redete über seine Kumpels, die verhaftet worden waren, und fragte Jazz über sein Leben aus. Wenn es doch nur Silberschein gewesen wäre, die neben ihm lief. Er hatte früher immer geglaubt, dass sie ein bisschen zu zimperlich sei. Er hatte ihr das Leben schwer gemacht, hatte sie immer wegen ihrer komischen Ideen aufgezogen, hatte gedacht, sie sei ganz nett, aber ein bisschen dumm im Kopf. Was für ein Idiot er gewesen war. Er sehnte sich nach ihr und wollte ihr zu gerne sagen, dass er wusste, wie blöd er sich benommen hatte. Ob sie ihm verzeihen würde? – Besonders die Tatsache, dass er es gewesen war, der den Feind vor ihre Tür gelockt hatte …? Bitte, lass es ihr gut gehen. Bitte. Moores Geplapper drang durch seine Gedanken. »Klar komm ich von draußen, aber ich kann mich kaum dran erinnern, wie’s da war. Bin mit meinem Opa reingekommen, weißte. Von unsrer Farm unten bei Kent. Is jetzt alles unter Wasser, nehm ich an. Ich war erst acht.« Ich muss sie wiederfinden, dachte Jazz wohl zum hundertsten Mal. Irgendjemand hat bestimmt irgendwas gehört. Vielleicht braucht sie Hilfe. Vielleicht haben sie sie nicht erwischt. Sie hatte es immer meisterhaft verstanden, dem Ärger aus dem Weg zu gehen, ganz anders als Jazz. Er genoss es förmlich, die Polizisten zu reizen und
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ihnen klar und deutlich zu sagen, was er dachte, hatte keine Hemmungen, jedem Scheißidealen und – wenn’s not tat – jedem Räudigen ins Gesicht zu brüllen, was er von ihnen hielt, von denen, die sich immer duckten und immer ihre Papiere in Ordnung hielten und ihn nicht einmal beachteten. Sie hatten genauso viel Schuld wie alle anderen, und er fühlte sich besser, wenn er sie anschreien und erschrecken konnte, sodass sie sich wie verängstigte Mäuse in ihre Löcher verkrochen. Bei den Aktionen mit den Demonstranten ging es ihm genauso – wie in jener Nacht, als sie den Pax-Transporter zerbeult und mit faulem Gemüse beworfen hatten. Dafür hatte er gern ein paar blaue Flecke in Kauf genommen. Es war ein sauberer, harmloser Spaß, und man konnte sich einreden, dass man irgendetwas tun konnte, um den anderen zu zeigen, wie man sich fühlte. Wenigstens konnte man mit erhobenem Haupt durch die Straße gehen. Silberschein, dachte er, hat sich immer geduckt. Bis zum Boden. War so fromm wie ein Lamm gewesen, wenn sie angehalten wurden. Ja, Sir. Nein, Sir. Drei Taschen voll, Sir. Er hatte gedacht, sie hätte einfach nur Angst gehabt. Was für ein Depp war er doch! Moore sagte jetzt: »Mein Opa hat’s nur sechs Monate gemacht. Das war ’n echt kalter Winter, weißte?« »Tja«, sagte Jazz zerstreut, »so was passiert.« Irgendwo tief in ihm drin ging eine Alarmglocke los.
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Hatte der Mann nicht erwähnt, er käme von einer Farm, so wie Jazz selbst? Das passte irgendwie nicht. Er schien nicht der Typ dafür zu sein. »In was für ’nem Winter war das denn?«, fragte er scharf. »Als dein Opa gestorben is, meine ich.« Moore schaute von der Mülltonne, die er gerade durchwühlte, zu ihm hoch und lächelte unbekümmert. »Vor zehn oder elf Jahren, würd ich sagen. Is schwer, sich zu erinnern, nich wahr? Wenn man in dem Scheißloch hier hockt. Ich war ja bloß ’n Rotzbengel.« Jazz grunzte und fing an, seine Funde in seinen großen ausgebeulten Taschen zu verstauen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie der Winter vor elf Jahren gewesen war. Er wusste nur, dass es irgendwann einen besonders kalten gegeben hatte, eine Rückkehr zur Eiszeit sozusagen. Aber er wusste nicht mehr, wann genau das gewesen war. Wahrscheinlich war Moore harmlos, bloß ein verdammtes Großmaul, das sich selbst gerne reden hörte. Aber es war sicher ratsam, ihn im Auge zu behalten. Sobald sich die Möglichkeit bot, würde er ihn loswerden und sich an den Orten umschauen, an denen Silberschein am wahrscheinlichsten wieder auftauchen würde – wenn sie es konnte. Irgendjemand hatte bestimmt etwas gesehen. Wusste etwas. Er würde einen guten Umstürzler abgeben, wenn man ihn nur ließe. Er würde den ganzen verdammten
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Haufen zu Brei schlagen, wenn sie es von ihm verlangten. Während Tilly kalt aus dem Fenster schaute und ihre Ungeduld niederkämpfte, las Tomas die eintreffenden Nachrichten und löschte sie dann von dem winzigen Bildschirm neben sich. »Unsere Nachforschungen haben eine neue Spur ergeben«, sagte er. »Ich erwarte schon bald Informationen über den Ersatz.« Kay, sein weiteres Eisen im Feuer, erwähnte er nicht. Tilly hatte höchst seltsame Vorstellungen, wie man mit ihrem Sohn umgehen sollte und wie nicht. Es war völlig ausreichend, dass er sie überhaupt von der Sache in Kenntnis gesetzt hatte. Sie schaute sich nicht einmal nach Tomas um. Der Tag war ungewöhnlich klar. Das Kommen und Gehen der Schiffe an dem niedrigsten Wallabschnitt der Stadt wurde heute von einer scharfkantigen, klaren Schönheit begleitet. Tilly wusste, in allen Teilen der Metropole ging das Leben seinen gewohnten Gang. Die Bildschirme an den Straßenecken und auf den Plätzen verkündeten die frohe und verführerische Botschaft, wie ein Mensch sich ein kleines, gezähmtes Stück Leben erwerben und es so nah vor seine Augen halten konnte, dass er die Dinge, die dahinter lagen und die ihn ängstigten, nicht mehr erkannte. Die orangefarbenen Würmer der Straßenbahn tanzten ihren automatisierten Tanz, bahnten sich lautlos ih-
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ren Weg durch die Stadt. Tausende von Idealen saßen in ihren Wohnzimmern, in den Büros, den Geschäften, Restaurants und Parks und gratulierten sich gegenseitig zu ihrer unverdienten Vormachtstellung. Und die Räudigen bejubelten in ihren Häusern und Fabriken, wie gut sie ihre Vorbilder, die Idealen, zu imitieren vermochten, und schwitzten für die Hoffnung, dass ihr einziges Kind oder das Kind ihres Kindes selbst einmal ein Idealer sein konnte, kleine, hübsche Fische, geschickt gefangen im Netz der Geburtenkommission. Das Leben dort veränderte sich nicht. Und trotzdem schien es Tilly, als stünde eine Veränderung kurz bevor; als wäre der Ruf aus der dunkelsten Ecke der Stadt lauter geworden, wilder, volltönender; als hätten die Fluter und die Priester und Gott-weiß-wasnoch etwas losgetreten, eine tief verwurzelte Wildheit oder eine Hoffnung; als ob die Million Seelen an diesem Ort im Begriff war … etwas zu erschaffen. »Du bist nicht damit einverstanden«, murmelte der alte Mann. Tilly rief sich in die Gegenwart zurück, zurück zu der uralten Gestalt, die der Vergangenheit angehörte. »Stimmt, Tomas. Ich bin nicht einverstanden. Auch wenn das keine Rolle spielt.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich gestatte nur … nein, ich ermutige das Potenzial, das sich mir bietet, stärker hervorzutreten. Und dann werden wir sehen, was für einen Nutzen wir daraus ziehen können.«
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»Das Kind hatte bereits ein Leben. Vielleicht will es deins gar nicht.« »Vielleicht. Und vielleicht werden wir eines Tages, wenn wir hier herumsitzen und weich und alt geworden sind, herausfinden, dass die Macht an schlechtere Menschen, als wir es sind, übergegangen ist.« Wieder herrschte Stille. In jüngster Zeit hatte es nur noch wenig gegeben, worin sie und der alte Mann, den sie Vater genannt hatte, übereinstimmten. Eine Art von Pflichtgefühl nagte an ihr, sie sollte ihn warnen, ihm die wahre Bedrohung klar machen. Aber er würde es nicht erkennen, hatte nur seine eigenen Pläne im Visier und die Rolle, die diese Mira darin spielen sollte. Sie würde ihren Atem verschwenden. Er sah nicht weiter als bis zu dem Augenblick, in dem er den Barbieri-Jungen in seine Schranken weisen und damit die Herrlichkeit der Saints bewahren konnte. Nach einer Weile fragte sie: »Tomas, was ist, wenn das Mädchen getötet wird? Was, wenn ihr Potenzial nicht ausreicht?« Er schaute sie gleichgültig an. »Tja, das ist das Risiko in solchen Situationen, nicht wahr?« Kay fühlte sich beschissen. Er stand vor dem Spiegel in seinem Badezimmer, spritzte sich warmes Wasser ins Gesicht, versuchte, klar zu sehen. Er konnte weder schlafen noch essen.
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Ständig war ihm kalt. Er fühlte sich rastlos, gereizt wie ein Tier in seinem Käfig. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, nicht einmal auf seine Trommeln. Am schlimmsten auszuhalten war, dass die Lösung für seine Probleme in Reichweite war: in seiner Jacke, neben der Tür. Er hatte es nicht über sich gebracht, das verdammte Zeug wegzuwerfen, obwohl er es versucht hatte. Mit zitternden Fingern strich er sich übers Gesicht. Nur ein oder zwei Tage länger, redete er sich ein, dann würde er etwas davon nehmen. Es wäre sinnlos, vorher nachzugeben. Sinnlos. Es würde sein Vorhaben verderben, die einzig wahre Entscheidung, die er jemals in seinem Leben getroffen hatte. Er würde es niemals schaffen, diesen Ort zu verlassen, wenn sein Gehirn sich anfühlte, als wäre es in Watte gepackt. Er musste einen klaren Kopf behalten. Von ihnen allen bin ich der Einzige, der wirklich frei ist. Frei, sich zu entscheiden. Frei, um zu handeln. Diese Tatsache durfte er nie vergessen. Sie musste ihm Kraft geben. Tomas, seine Mutter, selbst Clarissa – sie alle führten ein Leben, das von dem Moment ihrer Geburt an bereits vorherbestimmt war. Nur er war anders. Man denke nur an seine Schwester, die entschlossen war, sich mit diesem Jan zu verbinden, nur damit die Öffentlichkeit in halbherzigen Jubel über die feineren Leute ausbrechen würde und die selbstzufriedenen Großen Familien noch enger zusammenrücken konnten. Was für ein Leben erwarte-
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te sie als Mutter einer Bande von Barbieri-Freaks? Und jetzt? Jetzt saß sie da und starrte unentwegt auf das glänzende Foto, das er ihr überlassen hatte, zweifellos so schlaflos wie er selbst. Das war eine Realität, die er seinem ärgsten Feind nicht wünschte; nicht um alles in der Welt würde er mit ihr tauschen wollen. Es war verblüffend, wenn er darüber nachdachte. Clarissa war ihm immer so vollkommen erschienen, so fähig, so sehr die Tochter ihrer Mutter. Sie war immer in der Lage gewesen, die besten Chancen zu erkennen, die das Leben ihr bot, war geboren worden, um ihr unbeschwertes Dasein zu genießen. Auf dem Höhepunkt einer Flutkatastrophe, die das Land zum Absaufen brachte. Wie er sie beneidet hatte! Wie sie sich gestritten und gepiesackt hatten ob ihrer unterschiedlichen Ansichten! Aber nun keimte zögernd der Gedanke in ihm auf, dass seine Mutter ihm in Wahrheit mit seiner Andersartigkeit ein Geschenk gemacht hatte. Anders zu sein, ausgeschlossen zu bleiben. Er hatte es immer als Fluch betrachtet, aber das war es nicht. Warum hatte sich diese Erkenntnis so lange vor ihm verborgen? War es, weil er von jenen umgeben war, die nicht frei waren? War es einfach nur Angst? Ich werde sie wiederfinden, wenn ich kann: Mira, den »Ersatz«. Ich werde sie mit mir nehmen, wenn ich weggehe. Aber selbst wenn ich das nicht vermag, werde ich eine andere Art zu leben finden. Einen an-
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deren Ort. Ich werde die Reise auf den Schiffen antreten, von der ich immer geträumt habe. Ja, noch ein oder zwei Tage. Das würde er durchstehen, nicht wahr? Das Gesicht im Spiegel – das Gesicht eines Räudigen – grinste ihn unsicher an.
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21 Gesegnete Kinder, euch wurde diese schlafende Schlange geschenkt. Lange Jahre hat sie überdauert, mit ihren starken, glänzenden Windungen, tief in den Sümpfen und Fluten verborgen. Ihr Maul umschlingt ihren Schwanz. Und wenn die Schlange erwacht, gewachsen ist und voller Kraft, wenn sich der Kopf erhebt – schön und schlank und weise –, wenn die zwei Augen, eins braun und eins grün, sich öffnen, dann, gesegnete Kinder, mögt ihr auf ihrem Rücken reiten zu Frieden und Liebe. Denn diese Schlange verführt euch nicht zum Übel, sondern ist euer wahrer Freund. Mira lehnte ihren Rücken gegen eine dreckige alte Säule oder einen Poller oder was immer das auch war und beobachtete die Schiffe, während sie an einem harten Brotkanten knabberte, den sie von einer freundlichen Seele eines gerade vor Anker gegangenen Schiffs bekommen hatte. Sie mochte diesen Ort, mitten im Herzen der alten Docks. Trotz des Drecks 370
und der Gefahr und des Wassers, das die Stege überspülte, herrschte hier ein gewisser Friede, ja sogar ein Hauch jener Andersartigkeit. Kein Wunder, dass die fremden Priester – Männer und Frauen – hierher kamen, um ihre Botschaft in die Menge zu brüllen. Da, da war schon wieder eine von diesen Predigerinnen, eine schlanke Frau, ganz in grünes Tuch gewickelt, die sich scheu näherte. »Einen guten Abend wünsche ich, Schwester«, sagte die Frau leise. »Ich will hier stehen und zu allen sprechen, die mich anhören wollen, wenn ich wieder zu Atem gekommen bin. Ich hoffe, ich werde dich nicht beim Essen stören.« Mira schüttelte ihren Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich gehe gleich.« Ihr blieben noch viele Stunden, bevor sie sich ins Innere der Stadt aufmachen konnte, um den Jungen zu treffen. Daher suchte sie sich einen anderen Platz, wo sie sich hinsetzen konnte, und lehnte sich gegen einen umgestürzten Waggon. Dann aß sie weiter. Sie beobachtete die Frau und fragte sich, wie viele Menschen sie wohl davon überzeugen konnte, anzuhalten und zuzuhören. Die Predigerin hatte von »sprechen« geredet, doch als sie ihren Mund öffnete – sie hatte ganz plötzlich ihren Kopf gehoben und blickte nun ruhig geradeaus –, kamen die Worte als Gesang zwischen ihren Lippen hervor. Hoch und klar, sich hebend und senkend in sanften Hügeln und Tälern aus Klang. Die Frau sang die Worte, die Mira sofort er-
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kannte, denn es waren die Worte, die in die Säule geritzt waren, die Worte über die Schlange. Jazz hatte ihr die Säule an einem ihrer ersten Tage in der Stadt gezeigt. Er hatte auf das seltsame, verrottete Stück grünes Metall gedeutet, das sich wie eine Schlange um den Stein wand, darin eingebettet war, und die Worte trug, die die Frau jetzt sang. »Es braucht nich viel, damit so ’n paar Verrückte in Schwung kommen«, hatte Jazz gespottet. »Nur ’n paar alte Worte hier und da un schon werden sie völlig irre. Nächstes Jahr isses was anderes, irgendso ’n anderes altes Gedicht. Wart’s nur ab.« Der Gesang der Frau war süß und besänftigend. Als sie bei der letzten Zeile ankam – sondern ist euer wahrer Freund –, hörte sie nicht auf zu singen, um nunmehr zu sprechen, wie Mira es erwartete, sondern hub von neuem an mit ihrem Lied, sang die Worte wieder von Anfang an. Wieder und wieder wanden sich die melodischen Zeilen um die singende Gestalt, auf diesem kleinen Flecken blanker Erde. Niemand schien sie zu hören, sich darum zu kümmern. Niemand hielt an – niemand war zu sehen. Doch die Predigerin fuhr unbeirrt fort, und Mira selbst, die nur die Wahl hatte, ihr zu lauschen oder fortzugehen, empfand das Lied zu Beginn als unheimlich und schön zugleich, dann als verstörend und aufdringlich – und schließlich als nichts von alledem, denn sie war, in ihrer Erschöpfung, wieder in einen heilsamen Schlaf gesunken.
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Wie lange das Lied andauerte, wusste Mira nicht. Als sie mitten in der Nacht aufwachte, lag die Säule verlassen da, doch die seltsame Musik klang noch in ihren Ohren, als ob die Frau gerade erst geendet hätte. Mira fühlte sich schwer und verträumt, doch gleichzeitig erfrischt. Aber ihr war sehr wohl bewusst, dass jetzt andere Gestalten durch das Herz der Docks strichen. Sie sah zwar nicht aus, als wäre bei ihr etwas zu holen – selbst der armseligste Dieb konnte das erkennen –, doch es war auch nicht ratsam, hier zu bleiben. Diebe waren nicht die einzige Gefahr, die hier lauerte. Und so wanderte das Mädchen die dritte Nacht, seit sie durch das Seetor geschwommen war, durch die Stadt, den Hügel hinauf, weg vom Wasser und zum Saint-Gebäude. Wie in den Nächten zuvor wählte sie die engsten Gassen und die tiefsten Schatten, die sie finden konnte, und ging den stets wachsamen Kameras aus dem Weg. Zum dritten Mal hintereinander kauerte sie sich geduldig hin und beobachtete das hohe Gebäude mit den glatten Mauern. Und auch diesmal schien es, als ob der Junge nicht auftauchen würde. Die dunkelsten Stunden kamen und gingen, und sie dachte bei sich: Dies ist das letzte Mal. Wenn er heute nicht kommt, werde ich einen anderen Weg finden, um die Wahrheit herauszubekommen. Auch wenn ich dafür ins Archiv der Geburtenkommission gehen muss. Sie war überrascht, dass sich Kay bisher nicht hatte
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blicken lassen. Aber vielleicht hatten sie auch ihn erwischt, irgendwie, oder ihn eingeschüchtert, jetzt da die Jagd begonnen und sie ihnen beinahe in die Netze gegangen war. Oder vielleicht war er krank oder hatte das Interesse verloren an ihr und an seiner nächtlichen Musik. Das allerdings erschien ihr nicht sehr wahrscheinlich – wie er leuchtete, wenn er spielte! –, doch sie hatte in seinen Augen die ersten Zeichen einer ernsten Drogenabhängigkeit erkannt und wusste auch, wie sehr sich Menschen in dieser Situation veränderten, wie ihnen alles egal wurde. Man musste sich nur Lizzie anschauen. Es war die Stadt. Dieser schreckliche Ort. Sie hatte den vertrauten Gestank wahrgenommen, sobald sie aus dem Wasser gekrochen war – den Beton, die Angst und das Elend, das die Atmosphäre vergiftete. Sie hätte sich beinahe wieder umgewandt, wäre am liebsten ins Wasser zurückgekehrt und davongeschwommen. Ihre Wunde machte ihr immer noch zu schaffen. Sie hatte keinen sicheren Platz zum Schlafen, und jeden Freund, den sie um Hilfe bitten würde, brächte sie damit unweigerlich in Schwierigkeiten. Mithilfe eines alten Lumpens, gefunden auf einem Müllhaufen bei den Docks, hatte sie ihr auffällig gefärbtes Haar verhüllt. Trotzdem musste sie sich von den Kameras fern halten, von den Menschenmengen und den Polizeitransportern. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, überhaupt zurückzukommen. Aber sie war schon so weit gegangen, um die Wahrheit
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über die Geheimnisse herauszufinden, die eines Tages den Tod in ihr Leben im Norden gebracht hatten. Wie konnte sie da jetzt aufgeben? Urplötzlich wurde sie aus diesen kreisenden, sich immer wieder jagenden Gedanken gerissen. Aus den Schatten eines Seiteneingangs des Saint-Gebäudes, dort wo sie es am wenigsten erwartet hatte, war eine Gestalt getreten. Mit einer Gänsehaut erkannte sie sofort, dass er es war, Kay. Er hatte zwar sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen und sein Beschützer war ausnahmsweise nirgendwo zu sehen, doch sie erkannte ihn sofort an der Art, wie er sich bewegte. Sein Schritt hatte eine unsichere und zögernde Entschlossenheit an sich und war so unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. Sie zog sich dicht an die dunkle Wand zurück und wartete darauf, dass er den Weg zu seinem Club einschlagen würde. Stattdessen wählte er die Straße, die ihn direkt an ihr vorbei und hinunter zur Portable Road führen würde. Der Junge war nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie hätte ihn problemlos anrufen oder ihm ein kurzes Stück den Hügel hinab folgen und ihn an einer geeigneteren Stelle abfangen können, dort wo es weniger Kameras gab, weit genug von dem seltsamen Glasturm entfernt, der sein Zuhause war. Sie fühlte, wie sich die Worte in ihrer Kehle formten. »Kay. Kay Saint«, würde sie leise rufen. »Wenn du das Mädchen mit den roten Haaren suchst – hier bin ich.« Er würde
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erstaunt sein über ihre Worte, nachdem er sie wochenlang für dumm und stumpfsinnig gehalten hatte. Sie freute sich auf diesen Augenblick und lächelte leicht. Aber die Worte kamen nicht, und sie blieb in den Schatten, während er an ihr vorüberging. Die Vorsicht hatte sich zu tief in ihr Wesen eingegraben. Selbst jetzt, dachte sie, konnte sie sich seiner nicht völlig sicher sein. Wer wollte wirklich wissen, ob er es nicht gewesen war, der die grauen Jäger von der Leine gelassen hatte – auf die eine oder andere Art? Oder jemand, der ihn beobachtete oder ihn benutzte? Nein, es war besser, sich so zu treffen wie früher, ihn im grellen Licht und dem Tumult der Portable Road zu betrachten, wo sie in seinem Gesicht lesen und leicht entkommen, sich im Gewirr der Menge verlieren konnte, wenn er verfolgt wurde oder die blauen Augen sie getäuscht hatten. Während sie diesen Entschluss fasste, bog Mira rasch in eine kleine Gasse zwischen den unwirklich scheinenden, hohen Gebäuden ein und fing an zu rennen. Im Zickzack sauste sie durch die Straßen, begierig, vor ihm anzukommen und ihm so gegenüberzutreten, wie er es von ihr erwartete. Während sie rannte, setzte der unausweichliche, vertraute Regen ein, vom Wind in großen, nassen Güssen durch die Stadt getrieben. Er durchnässte die alte Wolljacke, die sie trug, und klatschte mit dicken Tropfen gegen die leeren Wagen einer Straßenbahn, die lautlos vor ihr über eine Kreuzung glitt.
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Das wilde Wetter war ihr Freund. Es schenkte ihr Zuversicht. Die Elemente konnten sie nicht ausschließen oder einsperren, nicht einmal hier in ihrer Hauptstadt. Sie erreichte das vertraute Labyrinth aus spärlich beleuchteten Bürgersteigen, angefüllt mit sich windenden und hastenden Exemplaren der Spezies Mensch. Die würzigen Gerüche aus den Läden, die die ganze Nacht geöffnet hatten, vermischten sich mit dem Gestank nach Schmutz, Schweiß und Urin. Die Menschen zerrten ihre Plastikplanen hin und her, um sich den besten Platz gegen den Regen zu sichern, bedeckten damit ihre Kinder, schoben sich näher an die Hauswände und Eingänge heran. Andere standen einfach mit trüben Augen und einem zerfahrenen Lächeln da. Sie spürten nicht, was Wind und Regen mit ihnen anrichteten, oder es kümmerte sie nicht. Mira schob sich mit einem ziellosen, schlendernden Gang in die Menge, verbannte jede Spur von Gefühl oder Nachdenklichkeit aus ihren Augen und ließ ihr Gesicht erschlaffen, als ob es jegliche Form von Leben verloren hätte. So gelangte sie schließlich durch all den Schmutz und das Elend zu ihrem angestammten Platz. Sie schätzte, dass sie etwa zwei bis drei Minuten Zeit hatte, bevor der Junge auftauchte. Sie fühlte sich aufgeregt, ängstlich. Wenn ihr die Geister gewogen waren, würde sie bald erfahren, was sie wissen wollte, und sich entsprechend verhalten, egal was es auch war. Sie war sich sicher, zum ersten
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Mal hatte Kay seinen Turm nur deshalb verlassen, weil er sie finden wollte, hatte sich bewusst von seinen Bewachern und seiner Familie gelöst, einzig zu diesem Zweck. Das deutete darauf hin, dass er etwas anderes vorhatte, als nur Essen und Medizin zu bringen. Was wollte er? Würde er der Freund sein, auf den sie hoffte? Würde er ihr helfen? Aber wie konnte er das? – Schließlich war er ein Saint. Ihr Herz hämmerte, und in ihrem Innern meldete sich eine Stimme: Bald schon für immer fort von hier, bald fort, mit Antworten oder ohne … Sie war so eingehüllt in ihren Hunger nach dem Augenblick, in dem die Gewissheit ihr die Freiheit verleihen würde, diesem Ort den Rücken zu kehren, dass sie den ersten Ruf gar nicht hörte. »Silberschein!« Da war er wieder, riss sie abrupt auf den Boden der Tatsachen zurück, sandte Kältewellen durch ihren Körper. »Silberschein! Warte!« Ehrwürdige Väter! Jazz. Wieder hatte er sie gefunden, als sie nicht gefunden werden wollte. Langsam wandte sie sich um, wahrte sorgfältig den Anschein von einer hoffnungslosen Räudigen, ließ ihre Augen lethargisch durch die Gasse wandern und zitterte innerlich bei dem Gedanken, welche Gefahr Jazz diesmal mitgebracht haben könnte. Der gelbhaarige Junge hastete ihr entgegen. Seine zerfledderte Kleidung flatterte wie nasse Federn. Er hat-
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te ein geschwollenes Auge, das in allen Farben des Regenbogens schillerte, und sie sah einen Schnitt in seinem Mundwinkel. Von den grauen Männern? Hatte er Prügel bezogen, damit sie sicher sein konnten, dass er ihnen half, sie aufzuspüren? Es gab keine Möglichkeit, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie würde mit ihm reden müssen. Sie würde ihn bitten, sich später mit ihr zu treffen. Sie würde ihm alles sagen, in diesem Augenblick, nur um ihn loszuwerden … Und wenn er jene Männer wieder über sie brachte? Sie erschauerte. Sie konnte das nicht noch einmal durchstehen, konnte nicht ein weiteres Mal so viele Verfolger und ihre Waffen abschütteln. Nicht jetzt. Nicht heute Nacht. Sie hatte einfach nicht die Kraft dazu. Jetzt wusste sie, wie sich Annie Tallis an jenem schneeverwehten Morgen gefühlt haben musste. Jazz grinste über sein ganzes angespanntes, schmales Gesicht. Geschäftig wedelte er mit den Armen und sagte: »Silberschein! Du lebst! Ich wusste doch, dass du’s warst!« Und noch während er das sagte, sah sie, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, hörte ihn schreien: »Nein! Pass auf! Du Mistkerl!«, und spürte einen schweren Hieb zwischen ihren Schulterblättern, der sie zu Boden warf, wo sie sich trotz ihrer Benommenheit instinktiv zur Seite rollte. Dolche aus purem Schmerz zuckten erneut von ihrem verletzten Arm durch ihren ganzen Körper. Sie keuchte auf. Noch im Rollen hörte sie hinter sich Geräusche, als wäre dort ein Kampf im Gange, dann et-
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was, was wie ein Schluchzen oder ein Seufzer klang. So schnell sie vermochte, kam sie auf die Füße und schaute sich um. In der regennassen Gasse, nah bei ihren Füßen, lag Jazz mit weißem Gesicht, bewegungslos. Die wilden Federn klebten an seinem Körper, nass von Regen und Blut. Er sah aus wie ein Kind, wie ein einsames Kind. Neben ihm stand aufrecht eine Gestalt, schwer atmend, beobachtend, wartend. Ihre Welt drehte sich. Der Atem stockte ihr in der Kehle. »Du!« Oh, ihr lieben Geister im Himmel. Zitternd, ohne auch nur einmal ihre Augen von der Gestalt abzuwenden, beugte sie sich über Jazz, legte ihre Hand auf seine Wange und suchte nach einem Lebenszeichen. Doch sie sah, dass da nichts war. Sie richtete sich wieder auf, voller wildem, kaltem Zorn, und trat einen Schritt auf den Mörder zu. Auch er kam ihr entgegen, als wollte er sie willkommen heißen, mit zum Sprechen geöffnetem Mund. Doch dann, ohne Vorwarnung, grinste er sie auf die alte, vertraute Art an, zuckte leicht mit den Schultern – fast entschuldigend –, drehte sich um und rannte schnell und leichtfüßig davon. Einen Moment lang war sie gefangen zwischen dem Bedürfnis, zu bleiben und für Jazz zu tun, was sie tun konnte – eine kurze Weile in Gedanken seinen
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Geist zu ehren, der seinen Körper verlassen hatte –, und dem Wunsch, die fliehende Gestalt zu verfolgen und jetzt und hier zu Ende zu bringen, was sie einmal begonnen hatte. Doch eine murmelnde, plappernde und schubsende Menge hatte sich um sie versammelt. Zahlreiche Hände deuteten auf den bemitleidenswerten Körper, einige betasteten ihn. Wütendes Geschrei war zu hören, als ob sie die Tat begangen hätte. Dann erklangen die ersten Sirenen und die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Sie neigte sich vor und küsste das kalte Gesicht des Jungen, glättete sein nasses Haar und sprach noch einmal seinen Namen aus. Dann schlängelte sie sich durch die Menge und nahm die Verfolgung des Mörders auf. Kay hatte nur wenig Hoffnung. Es gab keinen Grund, warum der Ersatz – sein Ersatz – plötzlich heute Nacht wieder auftauchen sollte. Aber er konnte sowieso nicht schlafen. Sein Körper war an die nächtliche Routine gewöhnt, und er würde verrückt werden, wenn er noch länger wie ein gefangener Tiger hin und her lief und ständig die ausgedruckten Bilder betrachtete. Nichts konnte ihn ablenken. Gegen elf Uhr piepte Hedge ihn an. Auch seine Stimme klang ungewöhnlich beunruhigt. »Gehen wir heute aus, Sir?« – »Nein«, antwortete Kay, »nicht heute Nacht, Hedge. Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung. Ich werde zu Hause bleiben.« Hedge räusperte sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und beendete die
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Verbindung. Als Kay aus dem Haus schlüpfte, war sein Bewacher nirgends zu sehen, obwohl ihn das automatische Türöffnungssystem hätte aufschrecken sollen. Der Mann blieb ein Rätsel. Der böige graue und warme Regen war fast angenehm nach den Monaten voll eisiger und schneebringender Stürme. Sobald Kay draußen war, verließen ihn seine guten Vorsätze, und er wäre fast der Versuchung erlegen, in den Club zu gehen und eine oder zwei Stunden seine Musik zu spielen, sich vielleicht ein bisschen Pulver einzuwerfen. Nur ein paar Krümel – das würde doch nicht schaden, oder? Aber nein, morgen früh fand ja dieser dämliche Wettkampf statt, der große Tag seiner Schwester. Es wurde von ihm verlangt, anwesend zu sein – ausgeruht, selbstverständlich –, und eine Stütze seiner Familie. Noch einmal musste er sich zusammenreißen, musste grinsen wie ein Affe und so tun, als ob die Großen Familien tatsächlich groß wären. Es würde das letzte Mal sein. Schon bald würde er sein verheißenes Schiff finden und davonsegeln. Wenn Mira heute Nacht nicht da ist, weiß ich, dass ich sie verloren habe. Dann gebe ich auf … Am Anfang der Portable Road verspürte er ein stechendes Hungergefühl, zum ersten Mal seit zwei Tagen, und blieb stehen, um sich etwas zu essen zu kaufen – ein würzig gefülltes Fladenbrot, aus dem heiße, dunkle Soße tropfte. Während er aß, schlenderte er durch die Gassen, die ihm ein Gefühl von Heimat
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vermittelten, und ließ seinen Blick über unzählige nasse Gesichter gleiten, für den Fall, dass Mira sich einen neuen Standort gesucht hatte. Wie immer war es herrlich, draußen zu sein, ein Gesicht unter vielen, anonym inmitten von Räudigen, seinen Gefährten, frei zu sein, seine eigene Identität zu formen oder auch nicht, genauso wie sie. Wieder schwor er sich, dass die Zeit, die Stadt zu verlassen, gekommen war, und wieder erschauerte er bei diesem erregenden Gedanken. Er würde einen Ort finden, an dem es keine Grenzen, keine Unterschiede gab, vielleicht einen Ort, wo nur die Musik zählte. Er schlenderte weiter und genoss die scharfe, heiße Soße auf seiner Zunge, den Regen auf seinem Gesicht. Seine Sinne waren geschärft, seit er keinen Glücksstaub mehr zu sich nahm. Ein Stück vor ihm, dort wo zwei enge Gassen aufeinander trafen, bemerkte er, dass eine gewisse Unruhe ausgebrochen war. Er hörte erhobene Stimmen und sah zwei Gestalten kurz miteinander ringen. Das war nichts Ungewöhnliches in dieser Gegend. Vielleicht eine Rangelei wegen ein paar Essensresten oder einem Mädchen oder jemand war beim Stehlen erwischt worden. Einer der beiden war zu Boden gestürzt. Das sah schlimm aus. Begleitet von einer Welle der Enttäuschung, dachte er, dass er sich schnell davonmachen musste, falls jemand den Sicherheitsdienst alarmierte. Tomas würde ihn umbringen, wenn er hier erwischt und erkannt wurde.
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Doch dann fiel sein Blick auf eine dritte Gestalt, die ihr Gegenüber von den tiefen Schatten auf dem Boden aus anstarrte. Die Gestalt hockte mit dem Rücken zu ihm und hatte ein Tuch über ihr Haar gebunden. Das Tuch hatte sich etwas gelöst und eine einzelne Strähne knallrotes Haar war herausgerutscht. Jetzt sagte sie etwas zu dem Mann, der vor ihr stand. Es klang zornig. Sie beugte sich erneut nach unten, zu dem am Boden Liegenden, hielt einen Moment inne, dann richtete sie sich auf und stieg über den Körper hinweg. Ihre Absicht lag auf der Hand. Kay begriff nichts. Was tat sie da? Stand sie unter dem Einfluss von Drogen? Sie konnte doch nicht auf diesen Mann losgehen, den sie jetzt mit ihrem Blick fixierte. Das wäre ihr Untergang. Hatte er einen Liebhaber zu Boden geschlagen, der ihr zu nahe getreten war? Vielleicht war es ein Zuhälter. Bei der Vorstellung überkam ihn ein aufflackerndes Gefühl von Eifersucht, das ihn selbst überraschte. Warum empfand er so etwas? Dies Mädchen zog ihn irgendwie an – aber bedeutete sie ihm etwas, sie, der Ersatz, mit ihren toten Augen? Die Hälfte der Mädchen hier würden sich selbst für einen Trip oder ein bisschen Geld an den Nächstbesten verschachern. Und doch fühlte er sich, als hätte man sein Vertrauen missbraucht. Er trat näher, noch immer im Rücken des Mädchens mit der roten Haarsträhne. Er wusste nicht, was er tun sollte. Seine Hand fummelte ungeschickt nach der kleinen Waffe, die an seiner Hüfte verbor-
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gen war. Dann fiel der Blick des Mannes, der das Gesicht dem Mädchen zugewandt hatte, auf ihn. Er schaute ihn direkt an, grinste breit, drehte sich um und rannte davon. Das ergab einfach keinen Sinn. Der Mann war ihm völlig unbekannt, obwohl er weder ein Räudiger noch ein Obdachloser war, so viel war sicher. Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Während er noch dastand, hörte er die Sirenen und sah, dass die Kreaturen der Portable Road das Mädchen eingekreist hatten. Er musste hier weg. Aber was war mit Mira. Würde sie es verstehen? Immer noch mit der stechenden Eifersucht im Herzen, machte er ein paar Schritte vorwärts. Er würde ihre Hand nehmen. Sie wegbringen. Die Wahrheit herausfinden. Sie für sich gewinnen. Sie würden die Vergangenheit hinter sich lassen. Sie sah ihn immer noch nicht. Sie hatte sich wieder hingekniet. Was machte sie da? Küsste sie das Gesicht ihres Geliebten? Weinte um ihn mit diesen leeren Augen? Jetzt stand sie wieder aufrecht da. Die Sirenen waren nicht mehr weit entfernt. Offensichtlich besaß sie genug Grips, um zu wissen, dass sie sich besser aus dem Staub machte. Ohne sich umzuschauen, setzte sie zu einem leichtfüßigen Lauf an und rannte in Richtung Wasser. Kay stürzte vorwärts, teilte die kleine Menge und erkannte jetzt, dass der Körper auf dem nassen und dreckigen Asphalt zu einem Jungen
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gehörte, der etwa so alt war wie er selbst oder etwas älter. Sein schlaffes gelbes Haar klebte an seinem Kopf. Der Anblick änderte nichts an seiner Eifersucht. Ohne sich Zeit zu nehmen, seine Gefühle zu erkunden, warf er das halb aufgegessene Fladenbrot zur Seite und rannte Mira nach. Ihm war übel und schwindelig, obwohl er nicht sagen konnte, ob das Essen der Grund dafür war, der leblose Körper am Boden oder etwas ganz anderes. Der erste Eindruck hatte getrogen – sie lief viel schneller, als er erwartet hatte, und schon bald war er außer Atem. Er rannte ihr in immer kürzer werdendem Abstand nach, durch die Portable Road, dann hinaus auf den offenen Platz oberhalb der Zollgebäude und dann wieder steil hinunter. Doch bevor sie bei den schwankenden, dunklen Schiffen waren, bog die Gestalt vor ihm scharf nach links in eine Gasse ein, die parallel zum Ufer verlief. Als er die Einbuchtung erreichte, wobei er sein körperliches Unvermögen verfluchte, war von Mira nichts mehr zu sehen. Langsam ging Kay die Straße entlang, spähte in alle Hauseingänge und durch die schwarzen, hohlen Fensterlöcher. Die Häuser waren uralt, windschief und lehnten sich mit ihren durch die Jahrhunderte geschwärzten Steinwänden aneinander. Vielleicht hatte sie hier eine Art Zuflucht, vielleicht einen Freund, der ihr Unterschlupf gewährte. Doch das erschien ihm nicht sehr wahrscheinlich. In den meisten
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dieser Gebäude befanden sich Büros von irgendwelchen Firmen, die mit dem Kommen und Gehen der Schiffe zu tun hatten: Handelsvertretungen, Versicherungen, Schiffsausstatter, Ämter … Die Menschen richteten ihr Zuhause nicht mehr so nah am Wasser ein – das wäre Wahnsinn. Nur die Heimatlosen fand man direkt bei den Docks oder entlang der Kais in verfallenen, halb überschwemmten Häusern weiter im Osten, wo ein Teil der Stadt bereits den Fluten zum Opfer gefallen war, bevor man die Seebarriere gebaut hatte. Er kam an das Ende der Straße und stand auf der Kreuzung, fragte sich, ob er weiter hinabsteigen und die Docks absuchen sollte. Keine Menschenseele war in Sicht, und es überkam ihn die starke Versuchung, nach Hause zu gehen, in die Sicherheit seines Apartments, und es ein andermal erneut zu versuchen, jetzt da er wusste, dass sich das Mädchen immer noch in diesem Viertel aufhielt. Die Freude, die er vorhin verspürt hatte, als er durch die regengepeitschte Stadt gelaufen war, um nach ihr zu suchen, war gewichen. Die seltsame Szene vor ein paar Minuten, die Leiche auf dem Boden, die unerwartete Woge von Eifersucht – all dies hatte ihm seine gute Laune geraubt. Die Vorstellung, am Ufer herumzuschnüffeln, erschien ihm wenig erstrebenswert. Doch dann überkam ihn Selbstverachtung und er dachte: Kann man mich so leicht entmutigen? Bin ich tatsächlich so ein Feigling?
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Jetzt, jetzt ganz besonders, war er möglicherweise in der Lage, dem Mädchen zu helfen, wenn er sie nur finden konnte. Sie war wie er ein Opfer der Umstände, die andere geschaffen hatten. Wenn der Schock des gewaltsamen Todes, dessen Zeuge sie geworden war, in ihr nachließ, ihre vernebelten Gedanken sich wieder klärten, vielleicht würde sie ihn dann anhören … Er straffte sich und bog nach rechts ab, auf das schwarze Wasser zu. Doch bereits nach dem ersten Schritt rammte ihn etwas -jemand – in die Seite und warf ihn mit voller Wucht auf den nassen Stein. Der dumpfe Aufprall nahm ihm den Atem. Sie war es! Diese Gewissheit taumelte durch sein Gehirn, noch während er fiel. Sie atmete schwer und drückte ihn mit ihrem Knie über seinem Hals zu Boden. Ihre Augen blitzten, obwohl sie noch voller Tränen standen, und der Blick, den sie ihm zuwarf, war Welten von jener Leere entfernt, an die er sich gewöhnt hatte. »Also warst du es?«, fragte sie bitter. »Warst du es, der ihnen gesagt hat, wo sie mich finden? Warst du es, die ganze Zeit? Warst du es, der die Männer in Grau nach mir ausgeschickt hat? Warst du es, SaintJunge, der den armen Jazz seinem Mörder zugeführt hat?« Ihr Akzent war merkwürdig, und sie machte den Eindruck eines wilden Tiers, wie sie ihn so am Boden festnagelte. Kay spürte ihre Wut und ihre Trauer. In seinem Kopf drehte es sich angesichts der Verände-
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rung, die mit ihr vorgegangen war. Er konnte keine Stimme finden, um ihre Fragen zu beantworten. Wortlos schüttelte er den Kopf. Sie schaute ihn mit ihrem ganzen Wesen an, studierte sein Gesicht, starrte ihm in die Augen, bis er sie schließen musste, um einem solchen Blick zu entkommen. Schließlich, unvermittelt, stand sie auf und ließ ihn los. »Ach, du bist es nicht wert, Kay Saint. Du kannst in deinen Wohnturm zurückkehren. Du kannst deine Stadt behalten. Ich mach mich auf den Weg.« Und sie wandte sich ab, begann, in der Dunkelheit zu verschwinden, ließ ihn im Regen liegen, wie der Körper des Jungen mit den gelben Haaren gelegen hatte. Denk nach! Sag etwas! Steif rappelte er sich hoch und rief ihr nach: »Bitte … Mira!« Die verschwindende Gestalt zögerte beim Klang ihres Namens. Seine Stimme war flehentlich. Er musste sie dazu bringen, dass sie ihm zuhörte. »Mira. Nein. Ich war es nicht. Ich bin dein Freund. Wirklich. Denk an das Essen, an die anderen Sachen …« Sie drehte sich um und kam zurück, schaute zu ihm hinab, immer noch misstrauisch, zornig, verletzt. Aus jedem Wort sprach Argwohn: »Mein Freund willst du sein? Und was weißt du denn von mir, Kay Saint?« Er holte tief Atem. »Ich weiß, wer du bist. Und was du bist.«
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Ihre Augen hielten seine fest, klar und ohne Zögern. Er dachte an Clarissas Haltung und an ihre Grazie und hätte fast gelacht. »… und ich kann dir helfen. Ich will dir helfen.« Sie betrachtete ihn nachdenklich. Er spürte die Erregung in ihr. Sie wollte es wissen. Das war der Grund, warum sie hier war. Endlich begann er zu verstehen. Was für ein Narr er gewesen war! »So. Mir helfen«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang jetzt sanfter, nicht mehr ganz so bedrohlich. Oben in der Portable Road fuhren die Sicherheitstransporter der Pax vor. Die Sirenen verklangen mit einem tiefen Jaulen. Zweifellos hatte man die Leiche gefunden und die Zeugen, wenn es welche gab, befragt. Die Überwachungskameras drehten sich auf ihren Streben und spähten in die düstere Nacht. Einem Impuls folgend, deutete Kay in Richtung des Tumults und grinste unsicher von seinem Platz auf dem nassen Asphalt zu ihr hoch. »Nun, für den Anfang könnte ich dich vor der Meute da verstecken. Wenigstens für ein oder zwei Tage.« Der Mann mit dem Pferdeschwanz saß allein in seinem leeren, gemieteten Zimmer und dachte nach. Er fragte sich, wie groß der Schaden war, der angerichtet worden war. Die Dinge hatten sich nicht ganz so entwickelt, wie er erwartet hatte. Ihr so nah zu sein, mit ihr zu sprechen und dann weglaufen zu müssen – nach all der
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sorgfältigen Vorbereitung! Aber er hatte seinen Entschluss schnell fassen müssen und dachte, dass dem alten Bock, Tomas, möglicherweise an einem ungestörten Kontakt zwischen dem Jungen und Mira gelegen war. Der Mann hatte immerhin vorausgesagt, dass der Junge ihre Trumpfkarte war, nicht wahr? Aye, es war gut, dass er, Moore, heute Nacht nichts getan hatte, was in den beiden den Verdacht erwekken würde, dass sie manipuliert wurden. Was den anderen Jungen anging – Jazz –, nun, niemand konnte sagen, warum solche Dinge geschahen. Der kleine Idiot hatte den Helden spielen wollen. Unter den gegebenen Umständen war keine andere Wahl geblieben, als ihn daran zu hindern, dass er erzählte, was er gesehen hatte. Im Zweifelsfall war es am besten, nur Schweigen zurückzulassen – das war die goldene Regel für Erfolg und fürs Überleben. Nein … alles in allem hatte er seine Arbeit so gut getan, wie es die Situation erlaubte. Er tippte einen kurzen Bericht für Tomas und schickte ihn ab. Dann gestattete er sich ein kurzes, zufriedenes Nicken und schenkte sich einen Whiskey ein. Er hatte ihn sich verdient. Mira stand staunend da und blinzelte im hellen Licht. »All das gehört dir? Das ist nur für dich allein?« »Ja. Gefällt es dir?« Sie ging durch die Zimmer wie ein Kind, berührte Gegenstände vorsichtig mit ihren Fingerspitzen, öff-
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nete Türen, betrachtete eine volle Minute lang das Badezimmer. Kay schaute ihr zu. Schließlich sagte sie kopfschüttelnd: »Es ist zu viel für einen allein, finde ich.« »Ja. Wahrscheinlich hast du Recht. Aber ich habe es mir nicht ausgesucht.« Sie schoss ihm einen Blick zu. »Nein, damals hast du es dir nicht ausgesucht. Aber wie steht es mit jetzt? Suchst du es dir jetzt aus?« Er überging ihre Frage. »Mira, hör zu, normalerweise gibt es hier eine Art Computer – du weißt doch, was Computer sind, oder? –, nun, der Computer heißt Jane … Sie beobachtet mich hier und tut Dinge für mich, die ich erledigt haben möchte. Wie auch immer, ich habe sie für eine kleine Weile abgeschaltet, aber der Sicherheitsdienst wird misstrauisch werden, wenn es zu lange dauert. Möglicherweise schicken sie jemanden, der nach mir sieht, um sicher zu gehen, dass hier alles in Ordnung ist. Oder meine Familie, die könnte auch auftauchen. Jeder beobachtet jeden hier drin … Das ist völlig normal …« Er verstummte. Sie schaute ihn an, erwiderte aber kein Wort. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn verstand oder nicht. Er hatte sich immer noch nicht an die Verwandlung der leeren Augen und des schlaffen Mundes gewöhnt. Wie hatte sie das bloß gemacht? Jetzt war ihr Gesicht voller Leben. Und voller Schmerz. Sie war wunderschön. Er fühlte sich wie ein einfältiger Narr neben ihr.
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»Na ja«, fuhr er fort, »es gibt einen Raum, wo man dich nicht finden wird, selbst wenn ich Jane wieder aktiviere. Wenn es dir nichts ausmacht. Und niemand sonst außer mir kann den Raum betreten – er hat spezielle Schlösser. Wir können eine Matratze reinlegen oder so etwas Ähnliches. Ins Gebäude zu kommen, war der schwierigste Teil. Jetzt, nachdem wir das geschafft haben, ohne dass uns Hedge erwischt hat …« »Aye«, murmelte sie, »deine große Katze.« »Ja«, sagte er verblüfft, »man könnte tatsächlich sagen, dass er Ähnlichkeit mit einer Katze hat. Aber woher weißt du …? Ach, egal. Das ist nicht wichtig. Sag mir nur, ob du verstanden hast, was ich dir über den sicheren Raum gesagt habe.« Mira lächelte ihn an, fast ein wenig spöttisch, so wie Clarissa. »Ja, Kay Saint, ich habe verstanden. Aber eins möchte ich noch wissen: Bleibt mir noch Zeit, mich in deinem Badezimmer zu säubern, bevor ich in diesem Gefängnis eingesperrt werde?« »Aber … was ist mit dir? Willst du nicht wissen …? Deswegen bist du doch da, oder?« »Aye«, sagte sie sanft, »deswegen bin ich da, schon richtig. Und ich möchte gerne etwas menschlicher sein, wenn ich höre, was du mir zu sagen hast. Hättest du ein Handtuch und saubere Kleidung für mich?« Während sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Bad nahm, das köstlich heiße Wasser auf ihrem schmerzenden Körper genoss und die Monate des
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Schmutzes hinwegwusch, trauerte sie erneut um Jazz. Sie wagte nicht, daran zu denken, was sie nun erwartete. Kay mixte sich einen Drink und nahm einen Abzug von Miras Bild hervor, dasselbe, von dem er Clarissa eine Kopie überlassen hatte. Er setzte sich hin, legte das Bild auf seine Knie und versuchte, sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn er erfuhr, was er diesem fremd-vertrauten Mädchen gleich eröffnen würde. Doch es war ihm nicht möglich. Er besaß seine Identität, wusste, wer er war, wurde sich seiner selbst mit jedem Tag sicherer. Es war jenseits seiner Vorstellungskraft, all dies über sich und sein Leben nicht zu wissen. Was würde sie tun, wenn sie es erfuhr? Würde sie zurückgehen und versuchen, ihr altes Leben wieder aufzunehmen, ihre alten Freundschaften wieder zu knüpfen? Würde sie wütend sein? Würde sie alle Saints hassen, wie so viele es taten? Würde sie aus diesem Apartment stürzen, ungeachtet der Gefahr? Irgendwie kam sie ihm nicht wie der Typ vor, der so etwas tat. Sie schien so selbstbeherrscht, so klug. Und sie hatte diese unglaubliche Reise überstanden, ganz allein … Er beneidete sie um die Dinge, die sie gesehen hatte, die Kontrolle, die sie über sich besaß. Während er so dasaß und sich versuchte vorzustellen, wie es gewesen sein mochte, aus jenem eisigen Reich hierher in die riesige, windgebeutelte Stadt zu kommen, hörte er plötzlich ein lautes Hämmern ge-
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gen die Außentür und Clarissas Stimme, die gedämpft durch die Sicherheitsstahlplatte drang. »Kay, du Idiot. Warum öffnet mir Jane die Tür nicht? Komm schon, lass mich rein. Ich weiß, dass du da bist. Ich habe mir die Eingangsdaten angeschaut. Ich werde hier nicht weggehen, bis du aufgemacht hast.« Er blieb wie eingefroren in schweigendem Schrekken sitzen, obwohl er genau wusste, dass seine starrköpfige Schwester ihr Versprechen wahr machen würde. Aber er hatte keine Ahnung, was er ihr sagen sollte, um sie davon abzuhalten, in sein Apartment zu kommen. Vielleicht die Lüge über eine angebliche Erkältung, die er auch Hedge erzählt hatte? Das war nicht sehr glaubwürdig. »Kay! Lass mich gefälligst rein, oder ich rufe die Sicherheit, damit sie deine Tür öffnen!« Mira erschien im Türrahmen zum Badezimmer. Sie trug seinen Bademantel. Das grelle ›Make-up‹ in ihrem Gesicht war verschwunden, und sie hatte es geschafft, die rote Farbe aus dem Haar zu waschen und es so zu kämmen, dass es in üppigen, dunklen rotbraunen Strähnen über ihre Schultern fiel. Das Straßenmädchen gab es nicht mehr. »Droht Gefahr?«, fragte sie und lauschte wachsam auf den Lärm vor der Tür. Er zuckte mit den Schultern. »Meine Schwester.« Wieder ertönte Clarissas wütende Stimme: »Laut den Dokumentationen der Sicherheit habe ich das Gebäude um drei Uhr sechzehn gemeinsam mit dir
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betreten, Kay. Aber ich war den ganzen Abend lang zu Hause. Soll ich hinuntergehen und ihnen das sagen? Lass mich rein! Das ist deine letzte Chance, Bruder!« Wieder zuckte Kay mit den Schultern. Ihm gefiel der Gedanke, an das, was nun kommen musste, ganz und gar nicht. »Wir müssen sie reinlassen. Die Kameras in den Fluren … Sie wird das ganze Stockwerk rebellisch machen.« Mira dachte nach. »Ach, lass sie rein. Mir ist’s egal. Wenn sie deine Schwester ist, wird sie schon nichts verraten, nehme ich an. Sie muss die Geheimnisse ihres Bruders bewahren.« Oh Gott, dachte er verzweifelt, hoffnungslos – muss es auf diese Art geschehen? Muss sie es so herausfinden? Er spürte kaum den Boden unter seinen Füßen, während er durch den Raum ging, die manuellen Schlösser öffnete und Clarissa einließ.
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22 Es war ein Albtraum. Ein Augenblick, herausgerissen aus Zeit und Raum. Das Seltsamste, was Kay jemals erlebt hatte. Die beiden Mädchen standen einander schweigend gegenüber, und man hätte glauben können, dass ein Spiegel zwischen ihnen stand. Es gab Unterschiede – Mira war ein bisschen schlanker, gestreckter, schien ausdauernder und gleichzeitig erschöpfter; Clarissa wirkte in jeder Beziehung mädchenhafter, hatte immer noch einen Anflug von Babyspeck, und ihre Haut war glatt und weich. Ihr Haar war für den Wettkampf kurz geschnitten. Doch die Unterschiede spielten keine Rolle. Sie waren ein und dieselbe Person. Dasselbe helle, drängende Leben strahlte aus den beiden Augenpaaren. Kay dachte, das Schweigen würde kein Ende nehmen. Sie umkreisten einander, langsam, sprachlos. Selbst Clarissa, die davon gewusst hatte, die unten in ihrem Zimmer das Bild aufbewahrte … selbst sie war durch die Konfrontation ihrer Sprache beraubt. Schließlich war es Mira, die zuerst ihre Stimme wiederfand. »Was bedeutet das?«, flüsterte sie. Jenes winzige Zeichen von Unsicherheit reichte aus. Das spöttische Leuchten kehrte in Clarissas Au397
gen zurück und sie trat einen Schritt zurück. Der Moment der Andacht war vorbei. »Du willst sagen, mein großer Bruder hat dich nicht informiert?«, fragte sie erstaunt. »Du weißt immer noch nicht, was du bist? Ich bin enttäuscht. Ich hätte mehr von dir erwartet.« Mira schaute Kay an, sprach seinen Namen aus, unsicher und fragend, doch Clarissa hatte sich wieder unter Kontrolle und genoss ihren Vorteil. »Kümmer dich nicht um ihn. Ich bin diejenige, die dich aufklären wird. Das ist nur angemessen. Du, geliebte Schwester, bist eine Kopie von mir, ein Ersatz.« Das andere Mädchen schaute sie an, mit großen und verwirrten Augen, und sagte nichts. Clarissa sprach weiter, zog sich dabei noch ein paar Schritte zurück, als ob sie sich von der Wirklichkeit ihrer eigenen Worte lösen wollte, umkreiste Mira und zwang sie, sich in ihrem Tempo und Rhythmus zu bewegen, wenn sie den Augenkontakt aufrechterhalten wollte. »Okay. Eine kurze Lektion für die unerwartet Dämlichen unter uns. Weißt du, Schwester, Große Familien wie die meine werden und bleiben nicht groß nur durch bloßen Zufall. Sie brauchen große, bedeutende Leute. Ich meine, stell dir vor, was geschehen würde, wenn wir nur hin und wieder das eine oder andere Baby produzieren würden, und zwar auf die langweilige, alte Art und Weise!« Sie schaute Kay an und lächelte lieblich. »Kannst du dir das vorstellen? Dann bekämen wir nur ganz gewöhn-
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liche, langweilige Menschen. Und das wäre nun gar nicht gut, nicht wahr? Nicht wenn man groß bleiben will. Und daher beschloss irgendein alter, verstaubter Knacker in unserem Stammbaum, sicherzustellen, dass wir immer die Besten sein würden. Ich, Schwester, ich bin die Beste. Ich bin das Sahnehäubchen auf dem Guss, das die Saints an der Spitze halten wird. Und du bist ein Ersatz. Eine Kopie von mir.« Nun sprach Kay. Seine Stimme war rau. »Das stimmt nicht ganz, nicht wahr? Ihr seid beide Kopien.« Und dann, zu Mira gewandt: »Klone. Genaue Kopien einer anderen Person, die vor langer Zeit gelebt hat. Eine ganz besondere und wunderbare Person. Es gibt keinen wirklichen genetischen Unterschied zwischen dir und meiner Schwester. Sie kann nicht für sich in Anspruch nehmen, das Original zu sein.« Als Mira mit bleichem Gesicht antwortete, schaute sie nicht ihn an, sondern Clarissa. »Wenn wir dieselbe Person sind, warum haben wir dann nicht dieselben Gedanken? Warum fürchtet sich deine Schwester vor mir, wenn ich doch bloß verstehen möchte?« Ja!, dachte er, sie hat Recht. – Und sie ist so wunderschön. Ihr Blick ist so klar. Ein Teil von ihm, tief in seinem Innern, ein Teil, an dem eine namenlose Furcht genagt hatte, wurde ruhig. Als er Clarissas Stimme hörte, kam sie ihm grob und misstönend vor, verglichen mit Miras sanftem nördlichen Akzent. »Fürchten? Nein, Schwester, ich fürchte dich nicht.
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Aber ich bin eine Saint. Du nicht.« Da bemerkte Kay, dass ihre kreisende Wanderung sie in die Nähe der kleinen, stählernen Kontrolltafel gebracht hatte, die seinen Zimmercomputer steuerte. Und in diesem Moment sah er, dass sich ihre Hand fast unmerklich nach oben bewegte. Das würde sie doch nicht tun!, dachte er erschrocken. Sie würde ihren Zwilling doch nicht verraten … Doch, das würde sie. Mira hatte sie durchschaut. Clarissa fürchtete sich. Ohne zu zögern, stürzte er durch das Zimmer, packte die erhobene Hand und stieß seine Schwester heftig fort, weg von dem Knopf, der die Sicherheitsbeamten alarmieren und Fragen und möglicherweise Blutvergießen über sie bringen würde. Doch das war alles, wozu sie ihm Gelegenheit gab. Mit einem Ton, der irgendwo zwischen Schluchzen und wütendem Stöhnen lag, ließ Clarissa ihre andere Hand emporsausen, löste sich aus seinem Griff und warf ihn hart auf einen Beistelltisch. »Mira«, keuchte er im Fallen, »halte sie auf!« Die Augen der beiden Mädchen trafen sich erneut. In einem Augenpaar lagen Zorn, Stolz, Angst, Bedrohung, in dem anderen nur eine Frage: Warum? Warum müssen wir das tun? Schweigend und voller Trauer stellte sich Mira zwischen Clarissa und die Kontrolltafel. Das andere Mädchen wurde zornesrot und knurrte: »Das war keine gute Idee, Schwester.« Dann kam
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sie näher, leichtfüßig und zum Angriff gebückt. Kann ich das tun?, fragte sich Mira. Warum darf ich mich nicht einfach ausruhen? Wer ist diese Person, die mich verletzen will, obwohl ich ihr nichts getan habe? Sie stand ganz still, sah, wie Clarissas Fuß in die Höhe schoss, fühlte den Tritt in ihrem Rippenbogen und rang nach Atem. Mit Mühe gelang es ihr, auf den Füßen zu bleiben. Langsam richtete sie sich auf und schaute ihr Double an, wobei sie dankbar die herrliche Luft wieder in ihre Lungen sog. »Bitte. Nicht«, sagte sie leise. Clarissa behielt ihre Angriffsposition bei. Auf ihrem Gesicht zeigte sich kurz ein Anflug von Verwirrung ob der fehlenden Gegenwehr. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie um Verzeihung bitten und gerade wieder mit dem Fuß zustoßen, doch bevor sie ihr Ziel traf, sackte sie lautlos auf den Teppich und blieb als schlaffer Haufen aus Gliedmaßen und dem weißen Stoff ihres Pyjamas liegen. Hinter ihr stand Kay, zitternd, und hielt einen glänzend schwarzen metallischen Gegenstand in der Hand. Ein reumütiges Lächeln überzog sein Gesicht. »Meine Schwester ist eigentlich ganz in Ordnung. Wenn man sie erst näher kennt.« Mira beugte sich ängstlich vor. »Geht es ihr gut? Du hast sie doch nicht …« »Nein, mach dir keine Sorgen. Sie kommt schon wieder auf die Beine. Ich habe sie nur für ein paar Minuten schlafen gelegt. Großvater besteht darauf,
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dass wir diese Waffen mitnehmen, wenn wir das Gebäude verlassen. Aber wir sollten sie jetzt besser in den Musikraum schaffen. Wenn sie aufwacht, wird sie nicht besonders gut auf mich zu sprechen sein.« Er packte die leblosen Schultern, hielt jedoch inne und legte seine Hand leicht auf Miras Arm. »Bitte. Du darfst sie nicht hassen.« »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich hasse sie ganz sicher nicht. Wie könnte ich?« ’ Wie könnte ich? Kay hatte Recht. Als seine Schwester in dem schalldichten Refugium ihres Bruders erwachte und merkte, dass ihre Hand- und Fußgelenke gefesselt waren, fing sie an zu zappeln und sich wie eine Wahnsinnige zu winden. »Kay! Mach mich sofort los! Das kannst du nicht machen! Das kannst du nicht!« Auf ihrem Gesicht glänzten Tränen der Wut, und sie wirkte nun nicht mehr wie eine selbstbewusste Raubkatze mit scharfen Zähnen und Klauen, sondern nur wie ein fünfzehnjähriges, ziemlich verwöhntes Mädchen, das im Moment unglücklich und unsicher war. Ihr Anblick löste in Kay eine Welle der Zuneigung und des Mitgefühls aus. Er versuchte, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte, doch sie wollte nichts davon hören. Wieder einmal dankte er seinem Schicksal, dass er sich vom Rest seiner Familie unterschied. Er war nur ein normaler Junge, nicht das Re-
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sultat irgendeines Screenings der Geburtenkommission. Er war die Frucht einer leidenschaftlichen körperlichen Vereinigung zwischen seiner Mutter und einem unbekannten Mann. Eine zufällige Mischung aus allen möglichen Genen. Und er hatte so lange mit dieser Tatsache gehadert, hatte sich geweigert, sie zu akzeptieren. Er musste verrückt gewesen sein. Mira stand neben ihm, verlangte seine Aufmerksamkeit. »Ich werde gehen«, sagte sie, »wenn du mir nur noch ein wenig mehr erzählst, damit ich es verstehen kann. Ich gehe, und du und deine Schwester, ihr könnt mich vergessen und mit eurem Leben weitermachen. Es ist schon genug Schlimmes geschehen.« Clarissa lachte aus ihrer Ecke ein hartes, unschönes Lachen. »Glaubst du etwa, dass man dir erlauben wird, einfach davonzumarschieren, Schwester? Dass du einfach das Gebäude verlassen und aus der Stadt segeln kannst? Wieder falsch, Schwesterchen, wieder falsch.« Mira schaute ihren Zwilling an und dann Kay. »Warum müssen sie mich jagen? Warum? Ich will nur nach Hause, zurück in mein schönes Land, will in Frieden leben, mit meinen eigenen Leuten. All das …«, sie gestikulierte in Richtung der dunklen Stadt, die durch das gläserne Oval sichtbar war, »… bedeutet mir gar nichts. Ich habe mit diesem Ort nichts zu schaffen.«
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Wieder war es Clarissa, die antwortete: »Oh, das ist leicht zu erklären, Schwester. Klonen. Ist. Illegal. Auf der ganzen Welt. Du bist ein lebender Beweis. Großvater wird nicht erlauben, dass dieser Beweis existiert. Es sei denn, der Beweis ist irgendwo in einer gottverlassenen Einöde verborgen. Es sei denn, der Beweis hat keine Ahnung, wer oder was er ist. Es sei denn, der Beweis kann niemals, unter keinen Umständen, gefunden werden – nur von den Saints selbst … Aber der Moment, als du zum ersten Mal einen Verdacht hattest, als du das erste Puzzleteilchen deiner Identität entdeckt hast – das war der Moment, in dem du als Ersatz unbrauchbar wurdest. Es war dein eigenes Todesurteil.« Mira runzelte die Stirn. »Ist das wahr?«, fragte sie Kay. »Mehr oder weniger.« Er wich ihrem Blick aus. »Wenn ich also ein Ersatz bin, wann hätte man mich … benutzt? Und zu welchem Zweck? Um deine Schwester zu ersetzen?« »Ja. Möglicherweise. Wenn sie einen Unfall gehabt hätte oder krank geworden wäre. Damit die Menschen und die anderen Großen Familien nichts davon erfahren. Um die Stabilität zu bewahren.« Wieder erhob Clarissa ihre Stimme, ruhig und kalt: »Oder einfach nur, um Teile von mir zu ersetzen, wenn das nötig geworden wäre. Deine Passform ist perfekt.« »Teile …«, flüsterte Mira. Sie sank gegen die Wand
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und glitt daran hinab, das Gesicht in den Händen verborgen. Ihre Stimme schien von sehr weit her zu kommen. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es solch ein Übel in der Welt gibt.« Kay und Clarissa sahen einander an. Trotz der Wut und der Angst konnte er eine tiefe Scham in ihr erkennen, eine Scham, die er selbst empfand. All diese Dinge waren nicht ihrer beider Entscheidung gewesen, aber sie hatten davon gewusst, hatten sie zugelassen. Kein Wunder, dass alle Welt die Saints verachtete. In ihren Augen lag gegenseitiges Verständnis. Clarissa zuckte leicht mit den Schultern, als wollte sie sagen: Das ist es, was ich bin. Wozu ich geboren wurde. Was hätte ich tun sollen? Mira regte sich. »Ich werde gehen«, murmelte sie. »Ich will weg von hier.« Und Kay hörte sich sagen: »Ich werde dich begleiten. Wenn du mich lässt.« Sie schaute zu ihm hoch. »Warum solltest du das wollen, Kay Saint?« Achselzuckend sagte er: »Ich verabscheue die Stadt ebenfalls. Durch dich ist mir klar geworden, wie sehr ich sie verabscheue. Ich möchte einen anderen Weg finden, ein anderes Leben.« »Sehr eindrucksvoll! Sehr süß!«, spottete Clarissa. »Aber immer noch unmöglich. Ihr würdet nicht einmal bis zur Stadtgrenze kommen.« »Doch, doch, wir würden. Ich werde Sebestova, deinem Leibwächter, eine Nachricht von dir zukommen lassen, ihm sagen, dass du krank bist und nicht
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gestört werden willst. Ich kann deinen Zimmercomputer so manipulieren, dass er dieselbe Nachricht alle paar Stunden absendet. Auch eine an Großvater.« Er fing an, aufgeregt hin und her zu laufen. »Wir finden ein Schiff, lassen uns durch die Seebarriere schmuggeln. Wir können überall hingehen. Überall, wohin wir wollen! Ich habe so oft darüber nachgedacht!« Mira sagte: »Ich habe einen Freund, der behauptet, dass man nicht einmal auf einem Schiff sicher ist, wenn sie wissen, dass du an Bord bist.« Clarissa schaute mit deutlich sichtbarem Unglauben von einem zum anderen. »Seid ihr beide jetzt völlig verrückt geworden? Natürlich ist ein Schiff nicht sicher. Nichts ist sicher. Aber das ist nicht der Punkt. In etwa …« – sie kämpfte sich zur Seite, um auf das Display an der Wand über sich schauen zu können, das die Zeit anzeigte – »… in etwa sieben Stunden werde ich zum Endkampf der Juniorenliga erwartet, unten im Saal. Schon vergessen, Bruder? Du kannst so viele Nachrichten verschicken, wie du willst. Wenn ich nicht pünktlich erscheine, um mit dem lieben Jan den Fußboden aufzuwischen, werden sie wie die Fliegen ausschwärmen und mich suchen. Und selbst deine Anwesenheit, Kay, wird vorausgesetzt, als Teil des Familienclans. Tomas wird in Sekundenschnelle die Tür eintreten lassen, wenn er glaubt, dass du hier drin hockst und über deinen Trommeln schmollst.« Kay schaute Mira zerknirscht an. »Das stimmt. Ich hatte den Wettkampf völlig vergessen …«
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»Wenn du nicht mitkommen kannst, muss ich alleine gehen.« Miras Stimme war fest. »Es ist besser so, denke ich.« Doch Clarissa schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Schwesterchen, du hast trotzdem nur sieben Stunden. Wahrscheinlich weniger, bis sie anfangen, nach mir zu suchen.« »Und wenn du nichts verrätst?« Das andere Mädchen, Clarissa Saint, schaute zu Boden. »Das kann ich nicht tun.« Sie gibt mir eine Chance, dachte Mira, auch wenn sie nicht aus ihrer Haut kann. Doch indem sie mir ihre Gedanken verrät, gibt sie mir absichtlich eine Chance. Hofft sie tief in ihrem Herzen, dass ich entkommen kann? Sie ist offensichtlich nicht das, was sie zu sein vorgibt. Kay schaute ausdruckslos vor sich hin, klopfte gedankenverloren mit seinem Finger auf eine Trommel. Mira stand auf und ging zu ihm. »Was ist das für ein Wettkampf? Was muss deine Schwester tun?« Aus seiner Grübelei gerissen, schaute er sie an. »Der Wettkampf? Es ist eine Art Duell, Slam genannt. Ein Duell zwischen zwei Kämpfenden. Alle sind total verrückt danach. Hast du so was noch nicht auf den Bildschirmen in der Stadt gesehen? Ach nein, tut mir Leid, das zeigen sie ja dort nicht. Das wird nur ab Level drei gesendet. Zu viel Aufregung und zu viel Gewalt für die Augen des Pöbels.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Nae, nein, ich habe noch
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nie davon gehört. Werden viele Menschen kommen und zuschauen?« »Ziemlich viele, ja. Ich kenne die genaue Zahl nicht, aber viele von den Großen Familien und von der Geburtenkommission werden da sein, mindestens hundert, plus ihre ganzen Leute, Sicherheitsbeamte, Leibwächter und so weiter. Und dann jeder, der sich die Übertragung auf den Bildschirmen anschaut, natürlich. Etwa eine oder zwei Millionen Menschen.« »Ich verstehe. Und was trägt deine Schwester, wenn sie kämpft?« »Oh, sie hat dafür besondere Kleidung. Einen schwarzen Anzug. Einen Helm. Sonst nichts, auch keine Schuhe.« Nun war es Mira, die aus dem Fenster schaute, über die große, weitläufige Stadt hinweg. Kay fiel wieder in sein Schweigen zurück und zermarterte sich das Gehirn nach einem Ausweg. Er spürte, wenn er Mira nicht begleiten konnte, wäre es, als stürbe ein Teil von ihm. Es war schwer begreiflich, doch er konnte sich der Gewissheit nicht verschließen: Nur sie konnte ihm helfen, sich von dem armseligen Etwas, das er geworden war, zu lösen und ein neues Leben zu beginnen. Clarissas Stimme drang klar und eisig durch das Schweigen. »Nein, Schwester, das würde nicht funktionieren. Versuch es erst gar nicht. Es wäre dein sicherer Tod, selbst wenn sie dich nicht sofort entlarven.«
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Ihr Bruder schaute sie fragend an. »Der arme Kay«, sagte sie liebenswürdig, »immer einen Schritt langsamer. Mein Ersatz hier glaubt, dass sie sich im Kampf für mich ausgeben könnte. Was hältst du davon?« Er hätte fast gelacht. »Mira? Das meinst du nicht ernst, oder?« »Aye«, murmelte sie. »Doch, ich habe daran gedacht, warum nicht? Wenn es keine andere Möglichkeit gibt?« »Aber Clarissa hat Recht. Es wäre dein Tod!« Sie seufzte. »Ach, vielleicht. Aber hast du nicht selbst gesagt, dass man mich auch umbringt, wenn ich versuche, die Stadt zu verlassen? Was also sollen wir tun? Deine Schwester entkommen lassen? Ihr etwas antun? Keins von beiden scheint mir möglich zu sein – ihr etwas antun schon gar nicht! Aber ich habe nachgedacht: In diesem Wettkampf, von dem ihr gesprochen habt, wird, so nehme ich an, niemand getötet, also macht es doch zunächst einmal nichts aus, ob ich gewinne oder verliere, nicht wahr? Sie dürfen nur nicht merken, wer ich bin, und es muss zum Schluss noch genug von mir übrig sein, damit ich weglaufen kann. Das ist alles, was zählt.« Mit ihrer beleidigten, bockigen Stimme fiel ihr Clarissa fast ins Wort. »Nun, tja, für mich zählt etwas anderes. Das ist mein Tag. Der Tag, an dem ich gewinnen werde. Wag es ja nicht, mir das wegzunehmen. Wag es ja nicht!«
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Mira ging darüber hinweg. »Erzähl mir mehr über diese Art zu kämpfen«, bat sie Kay. »Wie lange müsste ich mich auf den Beinen halten? Und hast du eine Schere, einen Kamm und sichere Hände? Dann könntest du mir die Haare schneiden, während du redest. Es schadet ja nichts, wenn ich aussehe wie deine Schwester, egal wofür wir uns entscheiden, nicht wahr? Und wenn dir ein anderer, besserer Plan einfällt, werde ich bestimmt nicht mit dir darüber streiten …« Vielleicht gelang es ihr, nicht an Jazz zu denken, wenn sie sich auf das konzentrierte, was vor ihr lag. Nicht an Jazz und nicht an alle anderen Seelen, die Schaden genommen hatten aufgrund dieser seltsamen, schrecklichen ›Sache‹, die sie war, wenn man den Saint-Geschwistern glauben wollte. Und besonders nicht an den Mann, den sie vor kurzem in die Docks gejagt und dann aus den Augen verloren hatte. Als sich das graue Licht durch die überdimensionale Glaswölbung des Raums stahl und draußen die ersten gierigen Vögel auf Nahrungssuche aus dem Himmel hinab zu den Docks tauchten, betrachtete Mira ihr Abbild in dem Spiegel, den Kay ihr gebracht hatte. Und sie sah Clarissa. Kays geschickte Finger hatten mit ihrem Haar erstaunlich gute Arbeit geleistet. Er hatte den schwarzen Anzug geholt, der makellos sauber und gebügelt war für den großen Auftritt, die dazugehörende Tunika, die Schminke, die seine Schwester normalerweise trug, und ein Bild von
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ihr in dem Slam-Anzug, das sie als Grundlage für Miras Verkleidung nahmen. »Glaub ja nicht, dass du gegen mich bestehen kannst, Jan Barbieri«, sagte Mira mit Clarissas Stimme, kalt und verächtlich, zu ihrem Spiegelbild. »Haha«, murmelte die echte Clarissa, die bleich und verängstigt in ihrer Ecke kauerte. »Jetzt musst du nur noch lernen, wie ich zu kämpfen und den Arm, der dir so viel Schmerz bereitet, gar nicht zu beachten. Das sollte keine Schwierigkeit darstellen, immerhin bleiben dir noch vier Stunden.« »Kay?« »Ja, ich habe darüber nachgedacht. Ich werde einen Handbildschirm holen. Irgendwo muss es Aufnahmen von Clarissas Kämpfen geben. Alles, was wir gegen den Schmerz tun können, ist, ihn mit Medikamenten zu betäuben und den Arm fest zu verbinden.« Besorgt betrachtete er sich die Wunde. »Mira, das sieht schrecklich aus. Hör zu, vielleicht finden wir noch eine andere Möglichkeit. Du musst das nicht tun.« »Doch, ich muss. Und der Arm wird keine Probleme machen, mit deiner Medizin.« Kay holte den winzigen Monitor sowie zwei Aufnahmen von Kämpfen jüngeren Datums herbei, und Mira setzte sich friedlich in Clarissas schwarzem Anzug hin, aß Obst, das von Jane besorgt worden war – Obst! –, und sah sich die Aufnahmen in der nächsten Stunde wieder und wieder an. Kay, der keine Ahnung
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hatte, wie er ihr helfen sollte, der aber auch keine Ruhe finden konnte, erklärte, er würde zum Familienfrühstück gehen und versuchen, Tomas ein wenig zu zerstreuen, falls er anwesend war. Er wollte dafür sorgen, dass im Saint-Gebäude keine Alarmglocken losgingen. Clarissa war endlich in einen leichten Schlaf gefallen und hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt. So allein gelassen, hoch oben im Turm der Saints, wo das Licht schien, das sie so oft von unten betrachtet hatte, fühlte sich Mira merkwürdig beschwingt. Sie wusste instinktiv, dass sie Zeit brauchte – viel Zeit, irgendwo in Sicherheit –, um die Wunden heilen zu lassen, um ungestört an Jazz und die anderen denken zu können, um zu betrauern, dass es sie nicht mehr gab, und um dem, was sie war, einen Sinn zu geben … Ehrwürdige Väter, was sie war! Aber im Augenblick blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von der Strömung der Ereignisse mitreißen zu lassen, losgelöst von jedem Gefühl von Eigenständigkeit. Während sie im Geiste noch einmal durchging, was sie tun musste, sich Stimme, Bewegung und Ausdruck einprägte, war es fast so, als würde sie den neuen Schnee durchbrechen, hoch oben auf dem in der Dämmerung badenden Grat … Irgendwann schaltete sie den Monitor aus, trat zu ihrem schlafenden Zwilling, kniete sich neben sie und legte eine Hand auf das füllige, weiche Haar. Im selben Moment verschwand der Ausdruck von Wut und Angst aus dem Gesicht der Schlafenden.
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Und Mira wusste plötzlich tief in ihrem Herzen, was sie tun musste, wenn es ihr gelang, der Umklammerung der Stadt zu entfliehen. Etwas, was so gut und richtig war, dass sie sich fragte, warum sie es nicht früher begriffen hatte. »Annie Tallis«, murmelte sie, »hattest du dieselbe Idee? Bist du zu mir in den Norden gekommen, um mich zu beschützen und zu retten, und sie haben dich verfolgt bis zu dem Tag, an dem sie dich erschossen?« Sie erzählte Kay, als er, fertig bekleidet mit der offiziellen blaugoldenen Uniform der Saints, wieder den Musikraum betrat, von dem Zettel in der Hand von Annie Tallis, damals in ihrem Dorf. Und sie teilte ihm ihren Entschluss mit. »Auf dem Zettel standen vier Namen. Vier Namen, die Annie bei sich trug, als sie zu uns kam. Ich will die Kleine finden, Adeline. Das ist es, was mein Herz mir befiehlt. Sie ist doch ein Ersatz wie ich, nicht wahr?« »Ja«, nickte er verwirrt, »die Letzte aus eurer … du weißt schon, aus eurer Serie. Aber sie ist in Frankreich. Man versteckt sie immer irgendwo weit abgelegen, wo man sie nicht finden kann.« Er nahm den Stapel Ausdrucke und Bilder, blätterte sie durch, bis er das richtige Foto gefunden hatte. »Hier, so sieht sie aus. Sie wohnt in irgendeinem Dorf direkt unterhalb der südlichen Berge.« Mira nahm das Bild des Mädchens, betrachtete es mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht und steck-
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te es dann in ihre Tunika. »Berge? Dann kann ja nichts mehr schief gehen.« Sie lächelte ihn unvermittelt an, mit strahlenden Augen, und er merkte, wie er ihr Lächeln erwiderte. »Dann kann ja nichts mehr schief gehen«, wiederholte er und versuchte dabei, ihren Akzent nachzuahmen. Und dann beugte er sich vor und presste kurz seine Lippen auf die ihren. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. »Na, was sollte das denn, Kay Saint?« Er errötete, drehte sich weg, fühlte sich wie ein Idiot. »Bitte entschuldige, ich hatte nur …« Dann straffte er sich. »Ach, egal. Ich habe meinem Großvater Nachrichten zukommen lassen, von Clarissa, damit sie beim Frühstück und auch sonst nicht vermisst wird. Wie ist es dir hier ergangen? Hast du dir die Bänder angeschaut? Glaubst du immer noch, dass es funktionieren kann?« »Vielleicht. Wenn ich es vermeide, den Leuten, die deine Schwester gut kennen, zu nahe zu kommen, und wenn ich den Kopfschutz die ganze Zeit über aufbehalte.« »Und was ist mit dem Kampf?« Sie seufzte leicht. »Ich weiß nicht. Ich bin sicher nicht in der Lage, so zu kämpfen wie deine Schwester, und wahrscheinlich werde ich sehr schnell unterliegen, aber vielleicht könnte man das meiner … Krankheit zuschreiben, oder dem Zyklus, ich könnte gerade die Periode haben … Aber du musst mir un-
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bedingt noch einmal die Regeln erklären. Keiner der Zuschauer – keiner aus den ›Großen Familien‹ – darf mich die Fehler einer Anfängerin machen sehen.« Und so gingen sie noch einmal die Regeln und die Rituale durch, die zum Kampf gehörten, bis Mira sie auswendig kannte und die Bereiche des Körpers benennen konnte, wo ein Treffer Punkte erzielte, und solche, wie zum Beispiel die Kehle, die verboten waren. Währenddessen erwachte Clarissa, immer noch mit schlechter Laune, die sich durch Kays Bemerkung nicht verbesserte. »Schau! Mira könnte wirklich du sein. Was denkst du?« Beschwichtigend schüttelte Mira ihren Kopf. »Wir sind zwei unterschiedliche Menschen. Das lässt sich nicht ändern.« »Das will ich wohl meinen, Ersatz«, fauchte Clarissa. »Ich bin eine Saint!« »Und ich bin zufrieden, es nicht zu sein. Wir wollen es dabei bewenden lassen, wir könnten Freundinnen werden.« Mit sarkastischer Süße in ihrer Stimme sagte Clarissa: »Nun denn, Freundin, dann binde mich bitte los.« Mira schüttelte ihren Kopf. »Das kann ich nicht.« Und zu Kay gewandt: »Wie lange noch?« »Etwas mehr als zwei Stunden, dann wirst du im großen Saal erwartet. Bis zum Kampf dauert es noch ein wenig länger.« Sie dachte nach. »Zwei Stunden … Ich werde noch
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ein bisschen schlafen. Vielleicht sollte ich in das Quartier deiner Schwester gehen, für den Fall, dass jemand nach ihr sieht. Das wäre doch sicher zu erwarten, oder?« »Ja, eigentlich schon … aber sie hat einen Zimmercomputer wie meinen, wie Jane. Ich könnte ihn für eine Zeit lang abstellen, nehme ich an.« Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Wenn ich mich einem Computer gegenüber nicht für Clarissa ausgeben kann, dann wird es bei ihrer Familie und ihren Freunden erst recht nicht klappen.« »Aber was ist mit Sebestova? Ihrem Leibwächter. Er könnte in der Nähe sein.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist das Risiko, das wir auf uns genommen haben, nicht wahr? Also lass es uns wagen. Komm, du begleitest mich. Du musst mir den Weg zeigen, und du musst auch dafür sorgen, dass ich rechtzeitig aufwache. Und dann, später, nach dem Wettkampf, ist es an dir, zu entscheiden, welchen Weg wir wählen, wenn alles gut geht. Um …« Sie zögerte und warf Clarissa einen Blick zu. »Um dorthin zu gelangen, worüber wir gesprochen haben. Wenn du immer noch mitkommen willst, Saint-Junge.« Er schaute sie ruhig an. »Ich möchte immer noch mitkommen.« In seinem Innern stieß er die Frage beiseite, wie sich seine Mutter wohl fühlen würde, wenn er sie verließ.
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Noch heftiger verbannte er den Gedanken, dass dieses seltsame, kluge und sanfte Mädchen, dem er sich anschließen wollte, nicht nur eine Kopie seiner Schwester, sondern auch seiner Mutter war. Ließe er diese Gedanken zu, würden sie nirgends enden, außer im Wahnsinn.
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23 Wahnsinn war ein gutes Wort für das, was Mira vorhatte – zumindest dachte sie das, als sie den großen Saal betrat, die weite, auf Hochglanz polierte Fläche überquerte und sich auf einen der leeren Stühle setzte, die ein wenig abseits der Kampfarena für die beiden Wettstreiter aufgestellt worden waren. Der Saal summte vor menschlichen Geräuschen. Da saßen Männer und Frauen mit harten Augen und grauen oder schwarzen Anzügen; Leibwächter standen, in ihre Kommunikatoren flüsternd und sich aufmerksam umschauend, vor Wänden und Säulen; die Saints traten ein, in ihren farbenprächtigen Gewändern, lachten über irgendeine Bemerkung und besetzten ihre Plätze in der Mitte, wobei sie zwischen ihren Gästen wie bunte Bonbons wirkten und nach rechts und links grüßend nickten. Den weich gepolsterten, eng anliegenden Helm auf dem Kopf, drang die Welt nur gedämpft zu ihr. Mira betrachtete den großen Saal voller Menschen, achtete gleichzeitig darauf, dass ihre Körperhaltung eher gelangweilt und ungeduldig wirkte als neugierig. Erst jetzt, nach den langen Wochen in dieser hassenswerten Stadt, waren ihre Augen in der Lage, die Unterschiede zwischen jenen beiden fremdartig benannten 418
Menschengruppen wahrzunehmen, die sie bevölkerten. Jazz hatte es immer auf Anhieb erkannt, wer ein Idealer war oder ein Räudiger – sie alle konnten das, außer den Neuankömmlingen. Und jetzt schien es so, als ob diese hier anwesenden Großen Familien – und auch sie selbst – einer dritten Gruppe angehörten. Das alles ergab keinen Sinn. Waren Menschen nicht einfach nur Menschen? Ein Ruck durchfuhr sie, als sie die Frau aus der Sendung erblickte, die Frau, die Annie Tallis sein könnte. Die Frau, die sie selbst – Mira – war, nur älter. Diese Frau schaute zu ihr hinüber und lächelte leicht. In ihren Gedanken sah Mira einen Körper leblos in den Schnee fallen. Dann versuchte sie, alles um sich herum auszuschalten, richtete ihren Geist auf das, was jetzt kommen musste. »Sie werden erwarten, dass du dich konzentrierst«, hatte Kay gesagt. »Niemand wird dich ansprechen oder überrascht sein, dass du mit niemandem redest. Clarissa ist nämlich immer schlecht gelaunt vor einem Kampf. Danach wird es viel schwieriger werden.« Wenn es ein Danach geben wird, dachte Mira. Jetzt löste sich ein großer blonder Junge, der ebenfalls einen Kampfanzug trug, von zwei ihr unbekannten älteren Männern, die ganz in Weiß gekleidet waren, und schlenderte hinüber zu dem zweiten Stuhl. Er hatte seinen Helm noch nicht aufgesetzt und er grinste Mira zu. Offenbar war er in Hochstimmung. »Meine hübsche kleine Gegnerin«, sagte er. »Hast du
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mir vergeben, dass ich dich gestern allein gelassen habe? Wirst du fair kämpfen?« »Und du?«, schoss Mira in Clarissas Stimme zurück, und der Junge warf seinen Kopf zurück und lachte. »Ein Kuss soll mein Siegespreis sein«, sagte er und setzte sich den Helm auf. Der da ist ziemlich selbstsicher. Zu ihrer eigenen Überraschung hoffte Mira, dass sich Clarissa diesen arroganten Schnösel nicht zum Partner erwählen würde. Kay hatte ihr erzählt, dass seine Familie eine Verbindung zwischen den beiden wünschte. Er würde versuchen, dich zu beherrschen, Schwester. Hinter diesem Lachen liegt keine Güte, glaube ich. Mit hämmerndem Herzen bemerkte sie jetzt, wie die gedämpften Hintergrundgeräusche im Saal verebbten und alle, außer den Leibwächtern, Platz nahmen. Ein kleiner grauhaariger Mann in demselben Grün wie der Boden der Arena trat in die Mitte des Kampfplatzes. Von den Aufzeichnungen der früheren Kämpfe her wusste sie, dass er eine Art Segen sprechen und dann als Schiedsrichter agieren würde, sobald der Kampf begonnen hatte. Ein weiterer Schiedsrichter würde über eine Kamera zuschauen, die den Wettkampf von oben, von der Saaldecke aus beobachtete, für den Fall dass etwaige Punkte strittig waren. Überall standen weitere Kameras auf Stativen, schickten jede Bewegung, die sie machte, auf direktem Weg zu tausenden von Augen vor den Bild-
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schirmen, zu all den ›höheren‹ Levels, wie Kay es genannt hatte. Verrückt. Trotz der Medizin, die Kay aufgetragen hatte, pochte ihre Wunde, und die Hände in ihrem Schoß wollten nicht still liegen. Die kalten blauen Augen des Barbieri-Jungen betrachteten sie, ihre Hände und dann ihre Augen und weiteten sich fragend. »Meine sehr verehrten Damen und Herren«, ertönte eine tiefe, raue Stimme über einen verborgenen Lautsprecher. Mira sah einen alten Mann mit langem, zerzaustem Haar und einem übergroßen Bauch, ein Mikrofon in der Hand. »Sehr verehrte Damen und Herren. Herzlich willkommen in unserem Heim, in dem Hauptquartier des Saint-Netzwerkes. Willkommen zu einem Ereignis, das uns eine wahrhaft königliche Unterhaltung bieten wird: der Endkampf der nationalen Junioren-Slam-Liga. Für alle, die nach dem Wettkampf noch bleiben möchten, wird ein Mittagessen hier im Saal serviert. Bitte erweisen Sie uns die Ehre und seien Sie unsere Gäste. Doch jetzt möchte ich nur so viel sagen: Möge der … oder die Beste gewinnen! Und sei vorsichtig, mein Freund, was du mit meiner Enkelin anstellst!« Ein höfliches, gelangweiltes Lachen plätscherte durch den Saal. Mira sah den alten Mann das Mikrofon an einen Assistenten zurückgeben. Dann ließ er sich neben der Tilly-Annie-Frau in seinen Sitz sinken. Der Großvater, dachte sie.
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Nun zeigte der Schiedsrichter an, dass sie und der Junge sich von ihren Stühlen erheben und auf den Kampfplatz treten sollten, um ihre Positionen einzunehmen. Was war mit dem Segen? Fing der Kampf schon an? Plötzliche Panik schwappte in ihr hoch. Beinahe hätte sie einfach ihren Kopf gesenkt und wäre weggerannt, hätte sich wie ein Stier ihren Weg ins Freie gebahnt und es auf eine Verfolgung durch die Straßen der Stadt ankommen lassen. Doch sie stand wie erstarrt da, hatte schon einen Schritt in Richtung der Matte gemacht. Der Schiedsrichter kam zu ihr und fragte leise: »Alles in Ordnung, meine Liebe?« Denk an das Kind. Denk an Adeline und die südlichen Berge in dem Land namens Frankreich. »Ja. Natürlich. Alles in Ordnung, danke.« Sie ging zu ihrer Position und wandte sich dem Jungen zu, der jetzt verwirrt aussah. Gar nicht gut. Er vor allen anderen musste glauben, dass er mit Clarissa kämpfte. Sie schaute ihn mit so viel Verachtung an, wie sie auf ihrem Gesicht versammeln konnte, und entspannte ihren Körper in der Stellung, die sie Clarissa auf den Aufzeichnungen immer hatte einnehmen sehen. Sie wippte leicht auf den Zehenspitzen auf und ab, um ihre Muskulatur zu erwärmen. Der Schiedsrichter sagte etwas zum Publikum und dann ein paar Worte zu den beiden Kämpfern – sie hatte keine Ahnung, was es war, nickte nur, wenn
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der Junge nickte –, und dann, wie in einem Traum, wurde der Kampf mit einem Piepen aus dem Kästchen in der Hand des Schiedsrichters eingeläutet. Sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass sie sich verbeugen musste, bevor sie das abgesteckte Quadrat betrat. Danach wurde erwartet, dass sie ihre Hände locker erhob, zum Schutz vor Angriffen, sich duckte und den Gegner umkreiste, immer in Bewegung und immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Verteidigung des anderen zu durchbrechen. Ihr Geister im Himmel … Der Junge explodierte förmlich, schoss über den Kampfplatz, stieß ihre Hände beiseite, und sie sah, wie sein Fuß hinterhältig nach ihren Fußgelenken trat, während er mit seiner linken Hand ihre schmerzende Schulter in einen eisenharten Griff nahm. Sie schrie auf, schaffte es, über den Fußtritt hinwegzuspringen und ihr Gleichgewicht zu halten, konnte aber seiner Hand, die ihre Schulter losließ und ihr einen harten Schlag gegen den Helm versetzte, nicht mehr ausweichen. Sie taumelte zurück. Die Uhr an der Seite des Wettkampfplatzes tickte quälend langsam die Sekunden ab: 15, 16, 17 … Fünfzehn Minuten würde sie das niemals durchhalten. Sie konnte froh sein, wenn sie eine einzige überstand. Und schon attackierte er erneut, trat seitlich unter ihre Verteidigung in die weiche Stelle oberhalb ihrer Hüfte. Sie spürte die Zehen, die ihren Körper streif-
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ten, als sie zurücksprang, und dachte gerade noch rechtzeitig daran, dass sie nicht über das weiße Seil treten durfte, sonst würden ihm zwei Punkte gutgeschrieben. Wieder und wieder rannte er gegen sie an, durchbrach ihre Abwehr, und sie konnte ihm nichts entgegensetzen, duckte sich nur weg, beobachtete seine Hände und Füße und versuchte, ihm auszuweichen, bevor er sie zu fest traf. Und trotzdem spürte sie bereits jetzt die blauen Flecken und Schrammen. Sie musste kontern, ihn zurückdrängen, doch sie konnte keine Schwäche in seiner Haltung erkennen. Eine Minute und fünfundzwanzig Sekunden. Sechsundzwanzig. Siebenundzwanzig. Die Menge summte und brodelte. Laute Zurufe ertönten, Ermutigungen, Johlen – sie hörte die Stimmen, trotz des Helms und trotz der Keuchlaute, die sie und der Junge von sich gaben –, und sie wusste, dass sie nicht überzeugend kämpfte. Ihre Vorstellung konnte niemanden zum Narren halten. Die ganze Sache war zum Scheitern verurteilt. In dem Moment, in dem sie dies dachte, gelang es dem Jungen, sie an beiden Schultern zu packen und zu Boden zu werfen, was ihm einen ganzen Punkt einbrachte. Atemlos und benommen lag sie da, sah ihn wieder auf sich zukommen und wusste, dass sie aufstehen, wieder auf die Füße kommen musste, bevor er ihr den Rest gab. Wenn der Schiedsrichter den Eindruck hatte, dass sich einer der Kämpfer in
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ernsthafter Gefahr befand, von seinem Gegner verletzt zu werden, oder sich nicht verteidigte, würde er den Kampf abbrechen und den Sieger verkünden. Beinahe wünschte sie sich, dass dies geschehen würde – dann konnte sie wenigstens ausruhen … Für immer. Das Gesicht des Jungen, der sie angriff, war jetzt verzogen, und sie nahm alle ihre Kräfte zusammen, um sich zur Seite zu rollen. Er weiß es, dachte sie verzweifelt. Der hässliche, zornige Ausdruck in seinem Gesicht, der ihr zu verstehen gab, dass er ihr wehtun wollte, erinnerte sie an den Kampf im Schnee zwischen Hopkins und Green. Wie ein Blitz durchzuckte sie diese Erinnerung. Und sie erinnerte sich daran, dass sie gedacht hatte, sie könnte so etwas niemals tun. Der vorsätzliche Wille, jemand anderen zu verletzen, wirklichen Schmerz zu verursachen. Sie war fit und stark und beweglich, selbst mit der Wunde an ihrem Arm, doch diesen Instinkt besaß sie einfach nicht. Knirsch. Wieder ein Hieb gegen ihren Helm, der ihre Ohren klingeln ließ, während sie aufstehen wollte. Der ältere Schiedsrichter kauerte in ihrer Nähe. Er betrachtete sie aufmerksam und sein Finger zuckte. Er musste diesen Finger nur erheben und alles wäre vorbei. Vielleicht kann ich mir diesen Instinkt für eine Weile ausleihen, dachte sie seltsam entrückt, wie in einem Traum. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Viel-
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leicht kann ich aus mir selbst einen zweiten Green machen, einen Hopkins oder einen Evan, nur für kurze Zeit. Wie die Kinder, die im Werkzeughaus so taten, als seien sie Käfer. Etwas von dem Blut, das in ihrem Kopf pochte, floss metallisch über ihre Zunge. »Was ist los?«, zischte der Junge und kam wieder näher. »Alles vergessen, was? Heute ist wohl nicht dein Tag – oder hast du deine Tage? Vielleicht bist du auch ein Auslaufmodell.« Da war sie, die Ausrede, an die auch sie gedacht hatte – jene Tage, die allen Frauen Probleme bereiteten. Aber es würde nichts nutzen. Nichts würde etwas nutzen – außer zu kämpfen. »Lass uns dieses Spektakel schnell hinter uns bringen. Dann können wir zu Mittag essen und uns ein bisschen mit Tomas unterhalten«, sagte der Junge. Sein Fuß senkte sich mit einem Ruck nach unten, in Richtung ihrer Schulter, und sie rollte sich unter Schmerzen zur Seite. Dann werde ich eben ein Green sein. Nur für eine Weile. Sie nutzte den Schwung ihres Rollens, um auf die Füße zu springen, und stellte sich noch einmal dem Jungen entgegen. Einige Zuschauer hatten sich von ihren Plätzen erhoben, machten sie mit lauten Stimmen zur Zielscheibe ihres Spotts. Der zitternde Finger hatte sich schon beinahe erhoben. Doch sie sah und hörte nichts davon. Ihre Welt wurde mit einem Mal nach innen gesaugt, verengte sich zu einem Korridor,
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der sie zu der Person führte, die ihr gegenüber auf der Matte stand. Ein Feind. Ein Tier. Ein tollwütiger Hund. Ein Übel, das man schlagen musste, verletzen, ausrotten. »Jetzt bist du dran, Kleiner«, sagte sie mit Clarissas Stimme. Er grinste und trat nach vorn, stieß mit seiner linken Hand vor, und sie duckte sich, hakte ihren Fuß hart und brutal hinter seinem Knie ein, sodass sein Bein unter ihm nachgab. Noch während er fiel, mit den Armen ruderte, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, stieß sie ihr Knie hoch und rammte es ihm mit einem widerlichen Knirschen gegen den Kopf. Ein Keuchen war aus dem Publikum zu hören, ein paar Jubelrufe, und für den Moment entspannte sich der Finger des Schiedsrichters. Immer noch war ihr nichts davon bewusst. Dass das Biest am Boden lag, bedeutete nicht, dass sie es nicht auch erledigen konnte. Ein tiefes Knurren, wie das eines wilden Tiers, drang aus ihrer Kehle. Sie sprang vor, packte einen wedelnden Arm und drehte ihn mit aller Kraft um, sodass der Junge, der auf den Knien hockte, sich umdrehen und nach vorne beugen musste, um dem höllischen Schmerz zu entgehen. Mit einem weiteren Ruck des Arms und einem Stoß beförderte sie ihn mit dem Gesicht nach unten auf die Matte. Ein Punkt für sie. Und noch ein halber Punkt für das Einhaken und den Schlag. Wie aus weiter Ferne sah sie die Punkte an der Anzeigetafel aufleuchten
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und war einen Moment lang versucht, die Oberfläche zu durchdringen und wieder zu Mira zu werden. Gar nicht gut. Der Barbieri-Junge rappelte sich auf, was bedeutete, dass sie wieder angreifen durfte. Jetzt waren auch sein Mund und seine Nase blutverschmiert. Sie musste sich dazu bringen, diesen Anblick zu genießen. Wenn ihr das nicht gelang, würde es ihr Blut sein. Dann wäre die kleine Adeline unweigerlich ihrem traurigen Schicksal überlassen. »So … das Spiel kann weitergehen, Ersatz«, sagte der Junge kaum hörbar. »Richtig«, nickte sie. »Das Spiel kann weitergehen.« Hatte der Schiedsrichter die Worte verstanden? Sie glaubte nicht. Aber was war mit den Kameras. Nun, sie würde dafür sorgen, dass er sich nicht wiederholte. Der Feind kam erneut auf sie zu, etwas vorsichtiger diesmal, und sie wippte locker auf den Füßen, sprang nach links und nach rechts, veränderte ihre Position, stets in Bewegung, wie sie es in der Aufzeichnung gesehen hatte. Er griff mit einem angetäuschten Boxhieb an, der sich in einen Tritt in Richtung ihres Kopfes verwandelte, doch sie sah es kommen, lachte ihn aus, packte den Fuß und stieß ihn rückwärts. Auf einem Bein hopste er hilflos auf den Rand der Matte zu, entwand sich ihrem Griff gerade noch zur rechten Zeit, bevor er das weiße Seil übertrat. Zorn stand in seinem Gesicht, doch sie brachte ihn erneut zu Fall und presste ihr Knie fest auf die Seite seines Kopfes.
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Wieder ein Punkt. Sie holte auf. Noch einmal lachte sie, ein Geschöpf der Wildnis aus den eisigen Bergen des Nordens. Er kämpfte sich wieder auf die Füße, hatte keinen Atem mehr, um zu sprechen, und schaute sie voller Hass an. Er ist geschlagen, dachte sie. Jetzt kann ich es wahrhaftig beenden. Doch in dem Moment, in dem ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, senkte sich die Maske, die sie aufgesetzt hatte, und der vorgetäuschte Killerinstinkt verließ ihren Geist. Sie war nun einmal kein Green. Sie wollte niemandem Schaden zufügen, keinem Mann und keiner Frau. So war es nun einmal. »Gib auf«, sagte sie zu ihm. »Bitte gib auf.« Sie sah, wie in seinem geschwollenen und zerschlagenen Gesicht langsam eine Erkenntnis aufblühte, die Erkenntnis, dass es ihr nicht leicht fallen würde, ihn noch mehr zu verletzen. Seine Augen verengten sich. Es war still im Saal, als er mit erhobenen Händen wieder nach vorne kam. Mira versuchte, sich in der Welt der Greens und Evans zu verlieren, wieder zum Tier zu werden, aber das Gefühl wollte nicht kommen. Sie fühlte sich nur unsagbar müde. Warum durfte sie sich nicht einfach ausruhen? Sie waren einander nun sehr nah. Beide atmeten schwer, taumelten leicht. Barbieris arroganter Blick bohrte sich in ihre Augen. Sie verstand die wortlose Botschaft: Vergiss es. Wir tragen es aus, hier und jetzt, bis zum Ende. Seine linke Faust kam vor, um sie am Kinn zu tref-
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fen, und der rechte Fuß glitt in die Höhe, um es der Faust gleichzutun. Sie erkannte das Muster, erkannte die Gefahr – doch würde sie die Kraft zum Reagieren haben? Sie bezweifelte es. Sie sah, wie der Fuß sich auf die Höhe ihres Kopfes erhob, sah, wie er sich nach innen drehte … Und dann sah sie den Jungen fallen. Mit einem Schrei landete er auf der Matte. Etwas Komisches war an seiner Schulter aufgetaucht, etwas, was eigentlich nicht dort sein sollte. Im selben Moment spürte sie, wie eine Gestalt sich schnell von hinten näherte, quer durch den Saal auf die Matte zurannte. Und sie spürte in dieser sich nähernden Gestalt den Willen zu töten. Rufe wurden laut, im Saal brach Chaos aus. Ohne nachzudenken, wartete sie, bis der Läufer fast bei ihnen war, dann ließ sie sich fallen, warf sich zur Seite, keuchte, als das Gewicht des anderen auf ihren Rücken krachte und über sie hinwegfiel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte sie, sich unter dem Fleischberg herauszuwinden. Ihr war bewusst, dass auch der Angreifer sich erheben wollte. Er fluchte, brüllte laut vor Zorn. Mit einer halben Drehung konnte sie ihm ins Gesicht blicken. Die große Katze, Kays Leibwächter. Und in seiner Hand hielt er ein zweites Messer. Mit einem kraftvollen Sprung katapultierte er sich nahe an den Körper des Jungen heran, der immer noch auf der Matte lag, und hob seine Waffe, um zuzustoßen.
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Doch es war zu spät. Das Überraschungsmoment war dahin. Eine zweite Gestalt sprang auf die Matte. Ein kleiner, freundlich wirkender Mann, halb so groß wie der andere. Zielsicher trat er der großen Katze das Messer aus der Hand, zog seine eigene Waffe, stieß kraftvoll schräg nach oben zu, direkt ins Herz. Der große Mann gurgelte und sank zu Boden. »Alles in Ordnung, Miss?«, fragte der kleine Mann. »Das war eine gute Reaktion. Ganz hervorragend.« Das ist jemand, den ich kennen sollte, dachte sie unbestimmt. Dann lächelte sie, als ob nichts von dem, was eben geschehen war, eine Rolle spielte, als ob sie, eine Saint, sich über alle Unbill erheben konnte. »Natürlich bin ich in Ordnung. Danke.« Und dann waren Arzte da, die den Jungen versorgten, Menschen, die sich um sie scharten, Wachen, die sie zurückdrängten … und Kay, mit weißem Gesicht, der ihre Hand nahm, die weichen Schuhe aufhob, die sie aus Clarissas Apartment genommen hatte. Er führte sie weg von der Matte. »Wir gehen jetzt«, murmelte er. »Es ist wie im Irrenhaus hier und das wird noch eine Weile so bleiben. Doch dann werden sie anfangen, Fragen zu stellen. Mein Gott … Hedge. Sie werden mich dafür verantwortlich machen. Er ist mein Leibwächter. Sie werden es dem Räudigen in die Schuhe schieben.« Sie hasteten an den glühenden Gesichtern vorbei – Mira erblickte die Tilly-Annie-Frau, die ausdruckslos den Aufruhr neben der Matte betrachtete – und liefen
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dann hinaus aus dem Saal, durch den langen, niedrigen Korridor, der zu den Aufzügen führte, die sie ins Erdgeschoss bringen würden. Mira spürte, wie sie taumelte. Kays Arm stützte sie. »Du bist doch nicht verletzt, oder?«, fragte er. »Was für ein Kampf!« »Nein, nicht verletzt. Nicht wirklich. Nur müde und zerschlagen.« Sie erreichten das Ende des Korridors. Die Geräusche aus dem Saal entfernten sich und erstarben. Doch bevor sie den Aufzug herbeirufen konnten, hörten sie leise Schritte hinter sich. Mira schaute zurück und sah den kleinen Mann, der sie zu ihrer »schnellen Reaktion« beglückwünscht hatte. »Entschuldigen Sie, Sir, Miss«, sagte er sachlich. »Mr Tomas bittet Sie beide, kurz in sein Arbeitszimmer zu kommen. Nicht für lange. Dann können Sie sich ausruhen, Miss.« Kay fragte: »War das eine Bitte oder ein Befehl, Copper?« Der Mann schien nachzudenken und sagte dann: »Ich glaube, Sie sollten hingehen, Sir. Es wird nicht lange dauern.« Das »Arbeitszimmer« lag noch höher als Kays Apartment. Es kauerte direkt unter dem Dach des Gebäudes, auf halbem Weg in die Wolken, so schien es Mira jedenfalls. Auf drei Seiten befanden sich Fenster, und doch war es nicht hell hier drin, weil fast überall die Vorhänge geschlossen waren.
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Sie stand neben Kay vor dem ausladenden Schreibtisch und ergab sich in ihr Schicksal. Sie hatte nichts mehr zu bieten. Keinen Trumpf, den sie ausspielen konnte. Wenigstens würde sie jetzt, da sie eingefangen worden war, schlafen können. Sie schwankte und spürte Kays warmen, tröstenden Arm, der sie festhielt, obwohl auch er am Ende seiner Kräfte zu sein schien. Der alte Mann, den sie beim Kampf gesehen hatte, kam schwer atmend herein und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er schwieg, schaute sie an, betrachtete ihre Gesichter. Hinter ihm stand auf einer Seite der Mann, der sie hierher gebracht hatte – Copper. Und auf der anderen Seite, weiter hinten, fast im Schatten, der Mann, den sie Moore nannten. Ihr Gil, zurückgekehrt von den Toten. Entweder das oder es war sein Geist. Sie schaute ihn nicht an, obwohl sie spürte, dass seine Augen auf ihr ruhten. Aber sie hatte es ja schon gewusst, hatte es schon gewusst … Ihr Geister, helft mir … Als Tomas Saint sprach, klang auch seine Stimme müde. »Es tut mir Leid, dass ich euch hier herauf bitten musste. Du bist bestimmt erschöpft, meine Liebe, nach dem Kampf und dem unschönen Ereignis, das dann folgte. Ja, du bist müde, ich merke es.« Er schwieg einen Moment lang, schaute auf die Papiere auf seinem Schreibtisch, als ob er seine Gedanken sammeln müsste, dann sprach er weiter. »Was aus diesem Ereignis erwächst, kann im Augenblick noch
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niemand abschätzen. Es ist möglich, dass die SaintFamilie unter Druck gerät. Der versuchte Mord an unserem Gast und die Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, könnten Jan Barbieri zu einer überstürzten Tat verleiten. Der Junge ist sehr eigensinnig – wer kann schon voraussagen, was er tun wird? Daher erscheint mir dies der richtige Zeitpunkt, um ein oder zwei heikle Punkte anzusprechen … Punkte, die im Besonderen dich betreffen, meine Liebe.« Mira wünschte sich, er würde sie beim Namen nennen. Er wusste doch sicher, dass sie nicht Clarissa war. Und doch ließ er keine Sekunde lang erkennen, dass sie sich gerade zum ersten Mal in ihrem Leben begegneten. Ach, warum nicht? Sie würde das Spiel noch ein bisschen länger mitspielen. Ich werde ihm nicht das Stichwort liefern. »Wie du ja weißt – und ich glaube, du auch, Kay, obwohl wir nie darüber gesprochen haben –, bedient sich die Saint-Familie, wie auch alle anderen Großen Familien, gewisser Technologien, um … nun, sagen wir, um den Fortbestand der Dienste, die wir unseren Mitmenschen angedeihen lassen, zu gewährleisten, ja, um die Qualität dieser Dienste noch zu steigern. Und wie bei allen Technologien halten wir Ersatzmaterial in der Hinterhand, denn nichts ist vollkommen. Könnt ihr mir folgen?« Beide nickten. Kay sagte: »Ja, Großvater«, und Mira tat es ihm nach.
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»Gut. Ausgezeichnet. Nun … wir bewahren diese einzelnen Materialeinheiten an ganz verschiedenen Orten auf, aber kürzlich ist eines davon verloren gegangen, unter etwas merkwürdigen Umständen. Man könnte sozusagen behaupten, dass sie unabsichtlich aktiviert wurde. Seitdem hat dieses Ersatzteil sein Potenzial außerordentlich gesteigert. In der Tat bereitete es mir großes Vergnügen, zu beobachten, wie schnell es sich entwickelte. Und jetzt ist es hier, bei uns.« Die wässrig blauen Augen hielten Miras Augen fest und blinzelten. »Wie ich bereits sagte, meine Liebe, wirst du wahrscheinlich ein besonderes Interesse an dem Verlauf dieser Ereignisse haben. Nun, es ist offensichtlich, dass es Verschwendung wäre, zwei Teile dieselbe Arbeit leisten zu lassen. Und doch … und doch ist es durchaus möglich, dass dieses Ersatzteil sich in einem solchen Maß … gemausert hat, dass es nicht mehr so einfach entsorgt werden kann. Es könnte sein, dass wir nach Möglichkeiten suchen sollten, dieses so nützliche Teil einzusetzen. Besonders wenn die Familie tatsächlich ins Kreuzfeuer gerät, wie ich vorhin ausgeführt habe.« Tomas schwieg und das Schweigen breitete sich im Raum aus. Ich muss Fragen stellen, dachte Mira. Das ist die Reaktion, die man von mir erwartet. Mit Clarissas hochmütiger Stimme fragte sie: »Wie
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ist es zu diesem Unfall gekommen, Großvater? Wie konnte dieses Ersatzteil aktiviert werden?« Von gegenüber fuhren Gils Augen mit der unbarmherzigen Musterung fort. »Nun, nun, mein Kind. Von einem Unfall habe ich nichts gesagt, nicht wahr? In unserem Blut liegen viele Optionen und Möglichkeiten verborgen. Aber nur Erfahrungen können uns wahrhaftig formen. Ist es nicht so? Und die Ereignisse, aus denen solche Erfahrungen erwachsen, können initiiert werden, mit einem kleinen Schubs hier und da.« Sie sagte nichts mehr. Ihre Gedanken kreisten um seine Worte. »Was ist mit dir, mein Junge. Keine Fragen? Tja, ich glaube fast, du weißt bereits eine ganze Menge über diese Sache. Dir ist es wahrscheinlich zu verdanken, dass wir nun die Möglichkeit haben zu wählen. Habe ich nicht Recht? Das ist das beste Beispiel dafür, dass Ereignisse und Erfahrungen unseren Weg bestimmen.« Gekränkt sagte Kay: »Das Teil, von dem du redest, ist ein menschliches Wesen. Willst du Gott spielen, Großvater?« »Nur wenn ich es muss, Kay«, sagte der alte Mann sanft. »Nur im äußersten Notfall. Es gibt andere, die noch viel weiter gehen würden als ich. Es wäre schön, wenn du mir glauben würdest, dass ich mir nur wünsche, die zerbrechliche Balance zu bewahren, die uns allen Sicherheit schenkt und uns auf bessere
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Zeiten hoffen lässt, wenn sie denn jemals kommen wollen.« »Die kostbaren Saints! Die müssen gerettet werden, um jeden Preis!« Tomas schüttelte seinen Kopf. »Nicht nur die Saints. Oh nein, nicht nur sie. Obwohl du vielleicht nicht so voreilig sein solltest, die ›kostbaren Saints‹ zu verdammen. Du bist immerhin einer von uns, Kay. Ich denke, es ist jetzt Zeit, erwachsen zu werden und für deine Familie zu kämpfen – und für das, woran sie glaubt.« Kay errötete. Er trat einen Schritt näher an den Schreibtisch heran. Es machte ihm Mühe, die bitteren Worte hervorzupressen. »Meine Familie? Meine perfekte Familie’? Die großartigen, die einzigartigen Saints? Nun, ich gehöre nicht dazu, alter Mann, nicht wahr? Ich bin weder perfekt noch großartig. Oder hast du vergessen, dass die ganze Zeit ein Stockwerk unter dir ein Räudiger lebte? Ein Räudiger, der sich ständig fragte, was er tun müsste, um als einer von euch durchzugehen, als einer von diesen verdammt Perfekten!« »Bitte, Kay«, sagte der alte Mann tadelnd. »Bitte versuche, dich zu beherrschen.« Er schwieg nachdenklich, als ob er zu einer Entscheidung kommen müsste. »Ja, wenn man alles in Erwägung zieht, ist es wohl an der Zeit, dir zu sagen, dass du nicht anders bist als der Rest von uns. Sicher, aus einer Laune deiner Mutter heraus bist du – anders als wir anderen –
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in ihrem Körper gewachsen, obwohl du nicht ihre Gene hast. Dir wurde, ebenfalls auf ihren Wunsch hin, gestattet, als ganz ›normaler‹ Junge aufzuwachsen, was immer das bedeuten mag. Aber du bist kein … Räudiger.« Schaudernd stieß er das Wort hervor. »Warum, glaubst du, waren wir so versessen darauf, deine Talente im Netzwerk einzusetzen? Aus purer Nächstenliebe? Zum Vergnügen? Du solltest uns besser kennen, mein Junge.« Alle Farbe war aus Kays Gesicht gewichen. Er schien gelähmt zu sein, konnte nicht sprechen. Er gab ein Geräusch von sich, doch keine Worte drangen aus seinem Mund. »Finde dich damit ab!«, sagte sein Großvater grob. »Mach dich damit vertraut. Werde endlich erwachsen, Kay! Und wenn du mir nicht glaubst, frag deine Mutter.« Dann richtete er seinen Blick wieder auf Mira und schaute sie lange forschend an. Seine Augen waren wie Eis. »So, genug geredet. Wir haben unsere kleine Szene gespielt. Wir beide wissen, woran wir tatsächlich sind. Wenden wir uns also den drängenden Entscheidungen des Augenblicks zu. Was soll ich mit dir machen?« Schweigen war im Raum. Er wandte sich an den kleinen Mann. »Copper?« Der räusperte sich. »Sir, sie ist gut. Ausgezeichnet. Wir alle können das erkennen. Mit ein bisschen Zeit und dem entsprechenden Training könnten sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Aber diese Zeit ha-
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ben wir nicht. Der Wettkampf war zwar tapfer, aber unglaubwürdig. Barbieri wird sich sicher nicht zum Narren halten lassen; er wird sie genau unter die Lupe nehmen, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt. Und dann das Attentat … Das bindet uns die Hände, Sir. Nein, alles in allem kann ich nicht empfehlen, diese hier am Leben zu lassen.« Mira vernahm die Worte mit kaltem Schrecken, aber Kay schien keine Notiz davon zu nehmen. Vielleicht hatte er nicht begriffen. Der alte Mann nickte. »Ich verstehe. Moore? Haben Sie noch etwas dazu zu sagen?« »Aye. Nur so viel: Wenn Sie sie behalten, sollten Sie wissen, dass sie unglaublich starrsinnig ist. Ich glaube nicht, dass sie das Training beenden würde.« Plötzlich fingen die Instrumente, die in der Zimmerdecke eingelassen waren, an zu piepen, und eine Stimme sagte mit einem drängenden Unterton: »Es tut mir Leid, Sie stören zu müssen, Sir, aber hier unten ist Chaos ausgebrochen. Mr Barbieri ist wieder zu sich gekommen und äußert ziemlich lautstarke Anschuldigungen gegen die Familie. Viele Mitglieder der Geburtenkommission und der anderen Großen Familien hören auf ihn. Mr Barbieri und einige andere sind auf dem Weg nach oben, um Sie umgehend zu sprechen. Sie haben darauf bestanden, Sir. Angesichts der Umstände dachte ich nicht, dass Gewalt ratsam gewesen wäre …« »Der Umstand, dass sich eine große Anzahl Pax-
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Beamte als Gäste in unserem Haus befindet, richtig. Sehr klug, Sebestova, danke. Ich werde auf Mr Barbieri und seine Begleiter vorbereitet sein.« Der Mann namens Copper hatte sich vorgebeugt und flüsterte dem alten Mann etwas ins Ohr, aber Tomas wischte seine Worte beiseite: »Nein, Copper, wir werden nicht fliehen. Der Saint-Familie steht eine schwere Prüfung bevor, aber alles wird sich zum Guten wenden. Wir haben immer noch Verbündete. Und ich möchte mir zwar nicht schmeicheln, aber ich bin überzeugt davon, dass ich mit diesem Jungen fertig werde.« Er streckte die Hand aus und legte einen Schalter auf seinem Schreibtisch um. Seine Augen kehrten zu Mira zurück. »Also – die Dinge sind in Bewegung, wie immer, sie treiben uns voran. Das ist die Natur unseres Lebens. Ich muss Copper zustimmen, wenn auch widerstrebend. Welch eine Verschwendung. Es tut mir so Leid, meine Liebe.« Die Tür öffnete sich, und vier Männer, gekleidet in das Blau und Gold der Saints, traten ein. »Ah, Sergeant, hier ist die junge Dame, die Sie in Ihren Gewahrsam nehmen sollen. Ich denke, Sie wissen, was zu tun ist. Bitte seien Sie diskret. Kay! Du wirst mitgehen. Ich wünsche, dass du etwas aus dieser Lektion lernst. Dass du aufwachst, bevor es zu spät ist. Denk immer daran: Die Familie hat absoluten Vorrang. Immer.« Und dann, noch einmal zu den Wachen gewandt: »Achtet auf ihn. Er hat einen Schock erlitten.«
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Er schaute Kay und Mira ein letztes Mal an. »Kinder, ihr müsst mich jetzt entschuldigen. Die Zeit ist knapper, als ich gedacht habe. In diesen gefährlichen Stunden muss ich die Wogen glätten, das Gleichgewicht bewahren.« Immer noch sagte Kay kein Wort. Mira nahm seine Hand und führte ihn zur Tür. Die vier Wachen reihten sich hinter ihnen ein. Bevor sie hinaustrat, drehte sie sich um und schaute Gil in die Augen. »Du tust mir Leid, ja wirklich.« Als sie gegangen waren, schäumte der sonst so ruhige und kühle Moore vor Wut. »Es ist Wahnsinn, den Jungen mitgehen zu lassen«, sagte er. »Er wird ihr helfen. Ich muss ihnen nach. Ich muss sicher sein, dass die Tat vollbracht wird. Sie müssen mir das gestatten. Sie müssen.« Doch Tomas hob die Hand. »Genug. Nein, Sie werden nicht gehen. Ich brauche Sie hier, und meine Männer sind keine kleinen Jungen, die bei ihrer Arbeit ein Kindermädchen brauchen. Außerdem nehmen Sie anscheinend die Sache zu persönlich; ein großer Fehler, Moore. Selbst jetzt ärgern Sie sich über sie. Ich hätte mehr von Ihnen erwartet.« Vor der Tür brach ein Tumult aus, erhobene Stimmen waren zu hören, die sich gegenseitig überschrien. Sebestovas tiefer Bass war unter ihnen, protestierte lautstark. Tomas richtete sich auf. »Aha, die angekündigte Delegation scheint angekommen zu sein. Nun, meine Herren, dann wollen wir mal diese Anschuldigungen
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in Stücke reißen und uns den Barbieri-Welpen vorknöpfen. Copper, Sie können ihn hereinlassen.« Copper aktivierte die Türschlösser, und etwa zwanzig Menschen drängten ungestüm herein, allen voran Jan, der von seinen eigenen Leibwächtern flankiert wurde. Sie hatten Sebestovas Hände gefesselt und hielten ihn grob in ihrer Mitte fest, wo er vor Zorn über die würdelose Behandlung kochte. Hinter den Wachen standen Mitglieder von vier oder fünf anderen Großen Familien, meist jüngere Leute. Die Geburtenkommission, so bemerkte Tomas amüsiert, glänzte durch Abwesenheit. Wie typisch. Jan selbst war bleich, seine Schulter verbunden, doch seine Stimme klang laut und aggressiv. »So, hier ist er also!«, rief er. »Der alte Fuchs in seinem Bau. Nun, Tomas, ich wurde in Ihrem eigenen Haus von einem Ihrer Angestellten fast ermordet. Noch dazu von einem Leibwächter! Was haben Sie dazu zu sagen? Und mehr noch: Sie hatten die Stirn, einen Klon im Ring gegen mich kämpfen zu lassen! Machen Sie jetzt keinen Fehler, Tomas, wir alle waren dabei und haben es gesehen!« Der alte Mann lächelte höflich und deutete müde auf ein paar Stühle. »Bitte, meine Freunde, wollt ihr euch nicht setzen, während wir uns unterhalten?« Und er fragte sich – allerdings zu spät –, ob er die Angelegenheit nicht vielleicht doch unterschätzt hatte.
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Etwas stimmte nicht im Innern des Turms. Nicht hier oben, sondern in den tiefer gelegenen Stockwerken. Selbst durch die massiven Wände des Aufzugs, in den die Wachen sie geschoben hatten und der schnell und lautlos nach unten glitt, konnte Mira gedämpften Lärm hören, der auf chaotische Zustände hindeutete, vielleicht sogar auf Kämpfe. Manchmal wurde der Lärm etwas lauter, dann wieder leiser. Sie vermutete, dass es mit den Ausgängen zu tun hatte, an denen sie vorbeifuhren. Die vier Saint-Wachen hatten es ebenfalls bemerkt und wurden unruhig. Mit nervösen Blicken beobachteten sie die erleuchteten Zahlen, die die Abwärtsfahrt des Aufzugs begleiteten. Einer von ihnen räusperte sich. »Sergeant?« Der kommandierende Offizier schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß nicht, was los ist. Irgendwelcher Ärger. Alles, was ich weiß, ist, dass wir unsere Befehle haben. Bis ich etwas anderes höre, werden wir uns daran halten.« Mira war dankbar dafür, dass die Männer abgelenkt und beunruhigt waren. Das verbesserte ihre Chancen. Denn sie wollte ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen. Sie wünschte sich nur, Kay würde sie anschauen und ihr ein Zeichen geben, dass auch er nur auf eine günstige Gelegenheit wartete. Sie fragte sich, ob er immer noch diese schlanke Waffe bei sich trug, die er benutzt hatte, um seine Schwester ruhig zu stellen. Wenn er mitspielen würde, hätten sie sicher eine Chance. Aber vielleicht wollte er nicht
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mitspielen. Vielleicht würde er sie ihrem Schicksal überlassen. Er schien jegliche Willens- und Geisteskraft verloren zu haben, starrte nur mit glasigen Augen zu Boden. Die gedämpften Geräusche klangen nun deutlich näher. Sie waren als Rufe, Schreie und das Knattern von Waffen unterscheidbar geworden. Der Fahrstuhl näherte sich dem untersten Stockwerk des Gebäudes, und bei jeder Etage, die sie hinter sich ließen, wuchs der Lärm an und explodierte förmlich durch die metallene Haut der Kabine. Auf dem Gesicht des Sergeant standen nun Schweißtropfen. Er drückte einen Knopf und sprach in seinen Kommunikator am Handgelenk. »Hawkins? Hawkins? Ist der Transporter bereit? Wir sind in zwei Minuten da.« Der winzige Lautsprecher knisterte nur. »Hawkins? Hawkins? Wo zum Teufel sind Sie?« »Sergeant«, sagte einer der Männer drängend, »vielleicht ist es besser, wenn wir wieder nach oben fahren. Irgendetwas stimmt nicht mit Hawkins. Wir sollten erst herausfinden …« Doch statt darauf einzugehen, zog der Sergeant seine Waffe und hielt sie im Anschlag. »Wir werden uns das anschauen, klar? Und wenn es nicht anders geht, fahren wir noch weiter nach unten, zur Garage oder zum Wachraum. Macht euch bereit, die Türen auf mein Kommando wieder zu schließen.« 3, 2, 1. Die letzten Zahlen glitten vorbei. Mira stupste Kay mit dem Fuß an, doch er schaute sie immer
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noch nicht an. Der Wachmann, der sie festhielt, sagte nervös: »Lass das!« Sie versuchte, ihre Kräfte zu sammeln, stellte sich vor, wie sie sich dem Griff des Mannes entwinden würde, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Sie musste sich konzentrieren, musste sich entspannen. Wenn sie bloß nicht solche Schmerzen hätte … Kay! Wach auf! Der Fahrstuhl erreichte das Erdgeschoss und setzte sanft auf, eine Bewegung, die in harschem Kontrast zu dem Chaos stand, das von draußen zu ihnen drang. Die Türen glitten seidenweich zur Seite und unverzüglich nahm der Geräuschpegel zu. Mira sah, dass sie sich gegenüber einem der Eingänge in das Gebäude befanden. Es war nicht der Haupteingang, durch den sie gestern Nacht mit Kay hereingekommen war, sondern ein kleinerer, der nach Norden ging. Durch das Glas konnte sie einen kompakten Saint-Transporter sehen, der in Flammen stand, und zwei größere Transporter, die etwas weiter weg geparkt waren. Das Wort ›Pax‹ stand auf dem Wagen, der ihr am nächsten war. Graue Gestalten strömten heraus und reihten sich draußen auf, bereit, das Gebäude zu stürmen. Auch im Innern wimmelte es bereits von Männern in Grau. Fünf oder sechs grimmig dreinschauende, wie versteift wirkende Männer waren gegen die Wand gestoßen worden, wo sie in einer Reihe standen. Irgendwo zu ihrer Linken tobte ein Kampf, wenn man dem Getöse, das von dort herklang, glauben konnte.
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Die Pax-Männer hatten sie bereits bemerkt. Waffen schwangen in ihre Richtung. Mira machte sich zur Flucht bereit. Die Glastüren boten ihr keinen Ausweg; sie würde nach rechts laufen müssen, hinein in das Gebäude und weg von dem Lärm. »Okay,Tür zu!«, brüllte der Sergeant. »Wir fahren nach unten!« Er eröffnete das Feuer, als die Gestalten in Grau auf den Fahrstuhl zueilten, während einer der anderen Männer in der Kabine auf die Knöpfe einhämmerte, um die Tür zu schließen. Der Mann, der Mira festhielt, zog sie dicht vor seinen Körper, um sie als Schild zu benutzen, und schoss über ihre Schulter hinweg, während sie versuchte freizukommen. Allmählich wurde der Türspalt schmaler. Die Fahrstuhlinsassen zogen sich an die Seiten zurück, suchten Deckung, doch die Metallflügel hatten sich gerade mal zur Hälfte geschlossen, als sie erzitterten und stehen blieben. Rauch von einem Feuerstoß stieg auf. Der Sergeant fluchte ausgiebig. »Irgendwelche Vorschläge, Herrschaften?« Zur gleichen Zeit ließ sich eine Stimme vernehmen, sowohl im Innern des Fahrstuhls als auch draußen im Foyer. Die Stimme kam scheinbar aus dem Nichts, war übertrieben ruhig und gemessen, und sagte: »Achtung! Achtung! Es gibt nichts zu befürchten. Dieses Gebäude befindet sich vorübergehend unter der Kontrolle der Pax, gemäß der Verfügung, die bei einem möglichen Verstoß gegen die interna-
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tionalen Abkommen greift. Ich wiederhole. Es gibt nichts zu befürchten. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind und machen Sie es sich so bequem wie möglich. Das Pax-Personal wird sich umgehend um Sie bemühen. Bis dahin ist es niemandem gestattet, das Gebäude zu verlassen.« »Was für ’ne Scheiße!«, sagte der Sergeant. »Nichts zu befürchten? Okay, Jungs, rüber zur Treppe! Wir können es immer noch bis zum Wachraum schaffen. Achtet auf die Gefangene! Auf mein Zeichen: Drei, zwei, eins, los!« Er sprang durch die Tür, feuerte wild durch die Gegend, und die anderen folgten ihm, einschließlich des Mannes, der Mira vor sich hielt. Wie auf ein stilles Kommando schwärmten sie aus. Plötzlich sprühte es Funken von den Wänden und dem Boden und die Luft wurde von einem bitteren Gestank erfüllt. Nach drei Schritten wurde der Sergeant getroffen. Wie eine Marionette wirbelte er um die eigene Achse und sank gegen die geschwärzte Fahrstuhltür. Mira, die geschoben und gezerrt wurde, machte sich absichtlich schwer, schaffte es, sich ihrem Bewacher zu entwinden, ließ sich auf die Knie fallen, sodass der Mann sie entweder tragen oder loslassen musste. Er richtete seine Waffe auf sie und kläffte: »Hör auf mit den Spielchen! Beweg dich.« Und dann wurde auch er getroffen, rutschte lautlos auf den Boden neben ihr nieder. Hektisch schaute sie sich nach Kay um und be-
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merkte, dass er den Aufzug nicht verlassen hatte. Verunsichert stand er da und aus irgendeinem Grund hatte ihn noch keine Kugel getroffen. »Komm schon!«, schrie sie, doch er bewegte sich nicht. Ihre Wachmänner waren tot, bis auf einen, und der war schwer verwundet. Mit letzten Kräften versuchte er, sich in Richtung des Flurs zu ziehen. Eine grau gekleidete Frau trat auf Mira zu. In ihrer Armbeuge ruhte eine Waffe. »Miss Clarissa? Miss Clarissa, Sie haben nichts zu befürchten. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind und warten Sie weitere Befehle ab. Der Leutnant wurde bereits informiert. Er hat ausdrücklich Anweisung gegeben, dass Sie gut behandelt werden. Ich bitte Sie daher, keinen Widerstand zu leisten.« Mira beachtete die Frau nicht, sondern ging zurück in den Fahrstuhl und schlug Kay fest auf die Wange. »Deine Waffe! Wo ist sie?« Seine Augen wanderten zu ihrem Gesicht, und seine Hand erhob sich, um die gerötete Stelle zu berühren. Allmählich wurden seine Augen klar; er kehrte in die Gegenwart zurück. »Du hast mich geschlagen«, erklärte er fassungslos. »Miss Clarissa. Mr Kay. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Der Leutnant ist schon auf dem Weg.« Die Frau drängte sich dicht an sie. »Komm schon«, murmelte Mira. »Denk nach! Hast du deine Waffe dabei?« Es hatte keinen Sinn. Kay schien sich immer noch halb im Trancezustand zu befinden und die Frau zerrte sie jetzt am Arm. »Bitte, Miss Clarissa. Mr Kay.
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Bitte folgen Sie mir. Es geschieht Ihnen nichts, das versichere ich Ihnen.« Mira nahm Kays Hand. Mit der Stimme seiner Schwester sagte sie: »Na, komm schon. Wir tun besser, was sie sagt, Brüderchen. Jan wird sich schon um uns kümmern.« Doch als sich ihre Hand um seine Finger schloss, spürte sie dort eine schlanke, kalte Härte, die sich in seiner Handfläche verbarg. Sie blickte ihn fragend an und er nickte kaum merklich. Sie nahm ihm das Ding aus der Hand, tastete die Form ab und versuchte, sich daran zu erinnern, was Kay getan hatte, um es zu aktivieren. Wenn sie dazu gezwungen war, würde sie einfach bluffen … »Du da«, rief die Frau einem der Sicherheitsbeamten zu. »Bring zwei Stühle für Miss Clarissa und Mr Kay. Mach schnell.« Sie drehte sich um und sagte: »Wir werden Ihnen etwas zu trinken besorgen und …«, doch sie hielt inne, als sie die winzige silberne Mündung auf sich gerichtet sah. »Sagen Sie kein Wort«, murmelte Mira in der Hoffnung, dass die Waffe überzeugend genug aussah. »Führen Sie uns zu dem Korridor. Nach rechts.« Die Frau zögerte einen Moment, und Mira dachte schon, dass sie um Hilfe rufen würde, doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und sagte leise: »Das ist nicht klug, Miss Clarissa. Sie können nirgends hin. Aber ganz wie Sie wollen …« Sie drehte sich um und ging langsam auf die anderen Fahrstühle zu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Foyers tauchte der
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Mann auf, der die Stühle besorgen sollte, und schaute sie verblüfft an. »Madam?«, rief er fragend. Bei seinem Ruf schauten die anderen Soldaten, die damit beschäftigt waren, die Toten wegzuräumen und den Eingang zu sichern, auf. Wir schaffen es nicht, dachte Mira. Sie werden es merken. Der Mann rief noch einmal, diesmal drängender: »Madam? Werden die Gefangenen nicht hier auf den Leutnant warten?« »Antworten Sie ihm«, flüsterte Mira. »Sagen Sie ihm irgendwas.« Aber es war zwecklos. Weitere Gestalten tauchten auf, kamen auf sie zu und griffen im Laufen nach ihren Waffen. Einer der Männer sprach in sein Funkgerät, vielleicht um Verstärkung in den Korridor zu beordern, auf den sie sich zubewegten. Und dann, aus heiterem Himmel, ertönte ein scharfes, zischendes Krachen, und das gesamte Foyer füllte sich mit dichtem, undurchdringlichem Rauch, der einem den Atem raubte. Die Frau griff sich an die Kehle und hustete keuchend. Dann brach sie, von einem lautlosen Schlag getroffen, zusammen. Auch Mira hustete; es schien ihr unmöglich, Luft zu holen, und die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, machten sie blind. Sie ließ den schmalen Gegenstand, mit dem sie die Frau bedroht hatte, fallen, um sich die Augen zu reiben. Doch es half nichts. Dann spürte
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sie, wie ihr etwas auf den Mund und die Nase gepresst wurde. Eine Stimme sagte: »Versuche, das vor dein Gesicht zu halten und normal zu atmen. Und hör auf, deine Augen zu reiben. Wir müssen uns beeilen, bevor sich der Rauch verzieht. Hier. Komm hier rein.« Ein Arm schob sie auf eine Wand zu und in eine Kabine, scheinbar ein weiterer Fahrstuhl. Er war leer und die Tür stand offen. Kay torkelte ihr hinterher, obwohl er nicht so stark zu husten schien wie sie. Dann waren die Türen plötzlich zu und der Lärm klang nur noch gedämpft von draußen herein. »So«, sagte die Stimme, »das hätten wir geschafft. Ihr könnt die Beatmungsmasken jetzt abnehmen. Eure Augen werden noch eine Zeit lang brennen, aber das ist alles.« Die Stimme behielt Recht. Mira zog die Maske vom Gesicht und merkte, dass die Luft hier drin sauber und rauchfrei war. Aber immer noch konnte sie kaum etwas sehen. Trotzdem wusste sie jetzt, wer die Person war, die Kay und sie in den Fahrstuhl geschoben hatte: Kays Mutter, die Frau namens Tilly. Die verschwommene Kontur und die Stimme reichten aus, dass Mira sie wiedererkannte. In diesem Moment spürte sie erneut diese Empfindung, als würde sie fallen. Die Lichter flackerten, während sie abwärts fuhren, und gingen dann aus, doch der Fahrstuhl bewegte sich weiter. »Wir fahren nach unten«, sagte Tilly, »bis zur Ebe-
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ne, auf der sich die Garagen befinden. Sie haben zwar den Strom abgeschaltet, doch das Aufzugssystem ist davon nicht betroffen. Es hängt an einem anderen System.« Nach einer Weile hielt der Fahrstuhl an, und sie stiegen aus, immer noch im Dunkeln, und betraten eine scheinbar endlose Weite, in der jedes Geräusch widerhallte. Mira folgte der Frau, ging langsam vorwärts, unsicher, ob ihr Augenlicht bereits vollständig zurückgekehrt war. Hinter ihr stolperte Kay, schlurfte ihr hinterher wie im Traum. Sie fing ihn auf und stützte ihn. »Was fehlt meinem Sohn?«, fragte Tillys Stimme. »Ich glaube, es liegt an dem, was der alte Mann ihm gesagt hat«, erklärte Mira. »Dass er so ist wie Sie. Und ich. Ein künstlich erschaffenes Ding. Eine Kopie. Ich kann seinen Schock begreifen.« Nach ihren Worten herrschte Schweigen; nur das Echo ihrer Schritte war zu hören. Dann spürte Mira, dass die Frau stehen geblieben war, und plötzlich wurden sie in helles Licht getaucht. Sie sah, dass sie in einer riesigen Halle, einer Höhle aus blankem Beton angekommen waren, deren Ende im Schatten lag. Neben ihnen standen drei oder vier der eleganten Saint-Transporter, mit blauer und goldener Farbe bemalt. Den Geistern sei Dank, ihre Augen funktionierten wieder völlig normal. Die Frau schloss eine Klappe in der Wand. »Kommt schon!«, rief sie ihnen ungeduldig zu. »Wir
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haben nicht viel Zeit. Sie werden schon bald den Notstrom deaktivieren.« »Wir hatten überlegt, auf einem Schiff zu fliehen«, sagte Mira. »Wenn wir nur aus dem Gebäude herauskommen, schaffen wir es schon.« »Nein. Ein Schiff wird euch nichts nützen. Die Seebarriere ist bereits geschlossen. Der junge Barbieri hat schnell gehandelt.« Mira wollte Fragen stellen – warum hatte der junge Barbieri schnell gehandelt? was ging hier vor? –, doch sie konzentrierte sich stattdessen auf ihre Flucht. »Wenn nicht mit einem Schiff, wie sollen wir sonst wegkommen? Damit?« Sie deutete auf die sanft glänzenden Transporter. »Nein.« Die Frau führte sie in den hinteren Bereich der Betonhöhle, der im Dunkel lag. »Damit würdet ihr nicht weit kommen«, sagte sie, »denn sie laufen mit Elektrizität. Sie sind nur für die Stadt gedacht und ihre Reichweite ist begrenzt. Außerdem sind sie mit Peilsendern ausgestattet, damit die Sicherheitsbeamten sie jederzeit im Auge behalten können. Es würde zu lange dauern, den Sender funktionsuntüchtig zu machen.« Sicherheitsbeamte. Im Auge behalten. Beobachten, immer beobachten. Was für ein schrecklicher Ort, ein schreckliches Leben. Mira schaute hinauf zur niedrigen, dunklen Decke und da hingen sie, die glänzenden, stets wachsamen Augen der Kameras. Was
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dachten sie wohl von der seltsamen kleinen Gruppe, die durch die Dunkelheit schlich?, fragte sie sich. Waren Tilly, Kay und Mira für sie nur drei Saints, die durch ihr kaltes Heim liefen? Sie bogen um eine Ecke und gelangten in eine Art Nische. Mira machte Formen und Konturen aus, die völlig anders aussahen als alles, was sie bisher erblickt hatte. »Licht«, sagte Tilly, und wieder breitete sich gleißende Helligkeit aus. Mira musste trotz ihrer Erschöpfung lachen. »Und was soll das sein? Schlitten mit Rädern? Fallen die nicht um?« Kays Mutter erwiderte das Lachen nicht. »Motorräder – und nein, sie fallen nicht um. Es sei denn, man rutscht in einer Kurve aus. Als Kay noch jünger war, habe ich ihn und seine Schwester oft außerhalb der Stadt damit fahren lassen. Damals waren die Pfahlwege noch in einem besseren Zustand und es gab trockene Felder. Es ist schon eine Weile her, aber so etwas verlernt man nicht. Er wird sich daran erinnern.« Das bezweifelte Mira. Kay stand dicht neben ihr, verloren in seiner eigenen schwankenden Welt. »Aber zuerst sag mir: Wohin wollt ihr? Hast du darüber nachgedacht?« Wortlos nahm Mira das Bild der kleinen Adeline aus ihrer Tasche und zeigte es Tilly. Sie vertraute ihrem Instinkt, der ihr sagte, dass diese Frau weder ihr noch dem Kind Böses wollte. Die Frau nahm das Bild
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und betrachtete es. Dann schaute sie Mira lange und gründlich an, verschränkte ihren Blick in den Augen des Mädchens. »Eine Glanzleistung«, sagte sie schließlich. »Du bist wahrhaftig die Beste von uns. Ich will tun, was ich kann, um euch zu helfen. Wenn ihr das Gebäude verlasst …« Sie brach ab. Ein Ruf ertönte. Schnelle Schritte näherten sich. »Rasch! Wir haben zu lange gezögert. Ihr müsst gehen!« Sie griff mit einer Hand in ihre Tunika, zog einen winzigen goldenen, quadratischen Gegenstand hervor und gab ihn Mira. Ob er aus Plastik oder Metall bestand, hätte Mira nicht sagen können. »Nimm das. Achte gut darauf. Es enthält wichtige Informationen. Und es gehört uns allen. Allen in Britannien, wenn die Zeit gekommen ist.« Der erste Verfolger bog um die Ecke zu ihrer Nische. Er war in das Pax-Grau gekleidet und trug eine Waffe. Tilly war vorbereitet; schwungvoll trat sie ihm die Waffe aus der Hand und schlug den Mann bewusstlos. »Kay!«, rief sie und stellte sich dem zweiten Mann entgegen. »Das Motorrad! Du musst es fahren! Bring das Mädchen in Sicherheit. Ihr müsst über die alte Flutbrücke fahren, über die schwimmende Straße. Fahrt nach Frankreich, Kay!« Ihre Worte wurden in dem Widerhall von Schüssen erstickt. Funken sprühten von den Wänden. Tilly hatte dem zweiten Angreifer die Waffe abgenommen
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und ihn so sicher zu Boden geschickt wie den ersten. Jetzt feuerte sie quer durch die Garage. »Sorg dafür, dass er sich bewegt!«, rief sie Mira zu. »Erkläre ihm, dass alles, was passiert ist, aus Liebe geschah!« Dann verschwand sie um die Ecke, warf sich den Angreifern entgegen. Endlich schien Kay aufzuwachen. Verwirrt und unglücklich schaute er sich um. »Das Motorrad!«, schrie ihm Mira ins Ohr. Sie schüttelte ihn grob und versuchte, das fremdartige Wort richtig auszusprechen. »Wir sollen mit dem Motorrad über die alte Flutbrücke nach Frankreich fahren. Wir müssen jetzt hier weg!« Er gab keine Antwort, ging aber langsam auf die am nächsten stehende Maschine zu. Er schraubte eine Metallscheibe vor dem Sitz auf und schaute hinein. Was immer er da sah, schien ihn zufrieden zu stellen. Er wandte sich zu Mira um und wedelte schwach mit der Hand in Richtung der Wand hinter ihr. »Da. Die … Helme. Jacken.« Sie drehte sich um und sah sich einer Reihe von dunklen, kugelartigen Gegenständen gegenüber. Sie nahm zwei davon von ihren Halterungen und gab ihm einen. Als sie ihren Helm schließlich aufgesetzt hatte, erweckte Kay die alte Maschine mit einem dumpfen, brüllenden Tosen zum Leben. Mira warf Kay eine der schwarzen Jacken zu und schob ihre Arme in eine weitere.
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Ihr Geister im Himmel, dachte sie. Wird er es schaffen? Aber sie hatten keine andere Wahl. Sie griff sich die Waffe, die der erste Angreifer fallen gelassen hatte, und kletterte hinter Kay auf den Sitz. Kay wendete die Maschine mit einem Kreischen und einem scharfen Ruck. Vor ihnen, weiter vorn in der Garage, entwickelte sich dichter Rauch. Menschen rannten umher und feuerten und noch mehr Funken flogen. Kay machte eine Bewegung mit der Hand, und sie schossen vorwärts, rasten direkt durch den Tumult hindurch, fuhren Schlangenlinien, um dem Rauch und den Körpern auszuweichen, die bewegungslos auf dem Boden lagen. Am Ende der riesigen Halle bremste Kay und bog scharf nach rechts ab, fuhr dann eine kurze, steile Rampe empor. Vor ihnen war ein Stahltor zu sehen, doch noch während sie darauf zufuhren, kam Tilly in ihr Blickfeld, machte ihnen den Weg frei und öffnete das Tor. Hinter ihr rappelte sich ein Mann, der auf dem Boden lag, mühsam auf die Knie. Mit einem Blick über Kays Schulter erkannte Mira, dass der Mann nach einer Waffe griff. Sie hob ihr eigenes Gewehr, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob es funktionierte, und feuerte; wieder und wieder und noch einmal. Der Mann fiel vornüber, rollte einmal um die eigene Achse und lag dann still. Eine Bodenwelle im Beton versetzte der Maschine einen Stoß, sodass sie eine Sekunde lang durch die Luft sausten; dann erreichten sie den Ausgang und rasten hinaus in den grauen Nachmittag. Ein paar
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überraschte Gestalten drehten sich nach ihnen um, rannten herbei und versuchten, ihnen den Weg zu verstellen. Doch Mira richtete ihre Waffe auf sie, und mit einem Satz, der sie die wunderbare Geschwindigkeit der Maschine erahnen ließ, waren sie hindurch, schnellten den Hügel hinab und ließen das Saint-Gebäude in Sekundenschnelle hinter sich. Tilly Saint schaute ihnen nach. »Ihr habt Großes vollbracht, meine Kinder«, flüsterte sie, »an einem Tag, an dem die Taten der Vergangenheit unseren Untergang besiegeln.« Sie seufzte und schüttelte die bleierne Müdigkeit in ihrem Innern ab. Sie musste stark sein für das, was vor ihr lag. Sie schaltete ihr Funkgerät ein. »Christo, es ist so weit. Wir brauchen Ablenkungsmanöver.« Nur wenige Sekunden später erschütterten Explosionen in verschiedenen Vierteln die Stadt. Schreie erklangen. Überall war Rauch zu sehen. »Ich liebe dich«, sprach sie in das winzige Mikrofon. »Und ich dich, du verrückte Frau. Viel Glück. Im Geiste bin ich bei dir.« Doch sie hatten sich bereits voneinander verabschiedet. Während die Wachen sich dem Aufruhr in der Stadt zuwandten, schlüpfte Tilly durch den Ausgang und an ihnen vorbei. Rasch war sie zwischen den kleineren Häusern verschwunden. Jetzt war sie auf sich allein gestellt.
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24 Moore war klar, woher der Wind nun wehte. Als er die durch schöne Worte verschleierten, aber nichtsdestotrotz massiven Anschuldigungen des Jan Barbieri gegen die Saints vernahm und von der bevorstehenden Ankunft des IKSV-Teams hörte, und mehr noch, als er sah, wie der Junge und jene, die hinter ihm standen, sich so vollständig gegen ihre alten Verbündeten gewandt hatten – da wusste er bereits, wo seine Zukunft liegen musste. Moore war nicht dafür geschaffen, auf der Verliererseite zu stehen. Nachdem die Nachricht von Miras und Kays Flucht und dem Verschwinden von Tilly Saint bekannt geworden war, lächelte er vor Erleichterung. Das war ein Geschenk des Himmels. »Ich kenne das Mädchen«, sagte er. »Ich kenne sie, wie niemand sonst sie kennt. Ich war ihr Wächter. Sie hat mir sogar schöne Augen gemacht. Überlassen Sie mir die Verfolgung.« »Dir?!« Der blonde Welpe raste vor Zorn über die Schlampigkeit seiner Männer. Doch sein Kontingent war ausgeschöpft. Es gab Berichte über Explosionen, Brände, Straßenkämpfe, selbst das Pax-Gebäude war angeblich angegriffen worden. Der Welpe schritt zornig auf und ab, dachte nach, und Moore beobachtete ihn, ohne eine Regung zu zeigen. 459
Ausnahmsweise sah Tomas einmal wirklich wie der alte Mann aus, der er war. Er wirkte verloren. Moore bezweifelte, ob er überhaupt des Verrats gewahr war, den er selbst gerade an ihm, seinem Arbeitgeber, beging. Eine Vermutung, die auf Copper ganz und gar nicht zutraf. Mit kalten Augen schaute ihn der Mann an. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, sagten diese Augen, dann … Moore ignorierte ihn. »Okay«, sagte Jan Barbieri schließlich. »Von mir aus können Sie den Saint-Ersatz verfolgen. Aber vorher werden Sie mit einem Peilsender und einem Enforcer ausgestattet werden.« Damit konnte Moore sich abfinden. Er hatte noch eine Rechnung mit Mira zu begleichen. Und danach gab es Mittel und Wege, Enforcer-Ringe zu entfernen, wenn man die richtigen Leute kannte. Oder einfach den Sprengstoff, der sich darin befand, zu neutralisieren. Alles, was zählte, war, dass er seine Freiheit wiedererlangte. Aufrecht stand er da, während man ihn losband, und warf dann Copper eine Kusshand zu. Aber der Mann war zu gut ausgebildet, um sich von einer solchen Kleinigkeit provozieren zu lassen. Schade. Der Wind schüttelte Kay und Mira durch und sorgte dafür, dass ihre Maschine auf der Straße hin und her geschleudert wurde. Frischer Regen stieß wuchtig
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durch ihre Kleidung und sickerte unangenehm an der Innenseite herab. Manchmal lag das Wasser in tiefen Pfützen auf dem Pfahlweg, sodass Kay bis auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen musste, und trotzdem spritzte es auf, wenn sie hindurchfuhren. Am Anfang hatte Mira die Geschwindigkeit und das Donnern des Motors genossen. Sie hatten die Stadt wie in einem Schemen durchquert, erstaunte Menschen und die schneckenhaft langsamen Wagen der Straßenbahn hinter sich gelassen und waren aus dem westlichen Stadttor gerast, bevor die Polizeibeamten überhaupt auf die Füße kommen konnten. Es war ein Gefühl purer Freiheit. Ihre Flucht war gelungen, endlich. Doch während sie sich an Kays Taille klammerte, überkam sie Erschöpfung. Meile um Meile glitt unter ihnen dahin, und sie dachte an alles, was passiert war, dachte daran, was sie war und besonders an Tomas Saints Worte. Sie konnte nicht klar denken. Ihr Geist verweigerte ihr den Dienst. Hatte er alles, was sich ereignet hatte, von Anfang an geplant, angefangen mit Annie Tallis’ Exekution? Nein, ein einzelner Mensch konnte nicht so viel Kontrolle besitzen, oder? Und wenn doch – zu welchem Zweck das Ganze? Um sie zu formen? Um sie zu einem Werkzeug zu machen, das er benutzen konnte? Sie dachte daran, wie sie sich bewusst in ein anderes, wildes Geschöpf verwandelt hatte – war das erst heute gewesen, vor wenigen Stunden? –, und sie erschauerte. Doch selbst
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wenn es tatsächlich Tomas’ Hand gewesen war, die alles geleitet hatte, würde sie trotzdem nicht zu dem Werkzeug werden, das er sich von ihr erwartete. Sie würde die kleine Adeline retten, würde irgendwo in Frieden leben … Doch dann schob sich ein neuer Gedanke in ihren Kopf. Vielleicht war auch das geplant? Sie drückte ihr Gesicht gegen den durchnässten Stoff der Jacke an Kays Schultern und dachte: Ich werde es tun, weil ich mich dazu entschlossen habe. Weil es das Richtige ist. Weil es das ist, was Mira tun will. Was gab es sonst noch? Was konnte man sonst noch tun?
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TEIL 3
Mein Bild ist dein, deins ist mein Augenstern, Und treu das Herz, das in den Augen wohnt. Wo finden wir zwei bessere Hemisphärn, Von bitterem Nord und trübem West verschont? Was immer stirbt, es war ungleich gemischt: Sind unsere Lieben eins, liebst du und ich So gleich, dass keiner nachlässt, trifft der Tod uns nicht. John Donne (1572-1631, aus: »Der Gute Morgen«), Übersetzung von Werner von Koppenfels
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25 Adeline Beguin war sich sicher, dass es keinen schöneren Ort gab als Maries Garten. Nicht einmal in der Welt, wo immer das auch war. Sie hatte sich aus ihrer hübschen weißen Bluse geschält und sie um einen der großen, kugeligen erdfarbenen Blumenkübel gebunden. Jetzt lag sie auf dem Bauch und folgte den wellenförmigen Linien aus flachen Steinen, die in die Erde gesetzt worden waren. Manchmal war der Weg aus Sandstein unter ihrem Körper heiß, so heiß wie die Sonne, manchmal, wenn er im Schatten von Weinranken lag, kühl wie der Abend, ließ er sie erbeben und erschauern. Als sie sich im Januar kurz nach einem unerwarteten Monsun durch dieses Paradies geschlängelt hatte, war es vor Farben förmlich übergeschäumt, ein wahres Meer aus Lila, Gelb und Pink. Es war, als würde man die Augen schließen und die Fäuste fest gegen die Lider pressen, bis die Dunkelheit dort drinnen in bunten Farben schwamm, nur viel, viel schöner. Sie wusste, dass niemand sie in diesem Dschungel finden würde. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt und sich von den weichen Blättern und Ranken, die gen Himmel strebten, wiegen lassen. Jetzt war dieselbe Erde rechts und links von ihrem steinernen Pfad so bloß wie ihr Arm und roch nach Hitze. Doch immer 464
noch war es dasselbe Paradies, weil Maries Pflanzen aus den vielen Blumentöpfen und Kübeln quollen, die überall standen, zum Teil übereinander. Salbei und Koriander, Lavendel, Estragon und Rosmarin … Adeline kannte all ihre Namen. Ihr Duft war wie ein himmlisches Getränk. Adeline war so glücklich hier, sie dachte, sie würde vor lauter Freude platzen. Sie schloss ihre Augen, erfühlte sich ihren Weg mit ihren Fingerspitzen und mit ihrem Bauch und kroch auf den ausladendsten und geheimnisvollsten Wald aus Blumenkübeln zu. Sie glitt aus der Sonne hinein in den Schatten und wieder hinaus ins Licht, wand und verdrehte ihren Körper, um sich durch den Kübelwald zu schlängeln, als ob die Rundungen des Tons den Rundungen ihres Körpers entsprächen. Viele Stunden, oder viele Sekunden, später – sie wusste nur, dass eine lange Zeit vergangen war – erreichte sie ihren geheimen Ort am Rande des Paradieses und spähte über die niedrige Mauer, die sich dort befand. Tief unten, hinter dem Dorf, erstreckte sich der See, wie aus blauem Glas. Zunächst eine schmale Zunge, wuchs er schließlich zu einer unbeschreiblichen Weite. Am Anlegeplatz lag das Boot der Fremden auf der Seite, und Marie war jetzt dort unten, sprach mit ihnen und hatte ein Stück Papier flach auf den Boden gelegt. Vielleicht hatte sie eins von ihren Bildern gemalt und zeigte es nun den Fremden. Marie machte so
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schöne Bilder. »Alors, souriez!«, murmelte das kleine Mädchen. Also lächelt schon! Wenn Marie ihnen ein Bild zeigte, mussten sie glücklich aussehen und nicht so besorgt. Warum schauten sie sich nur ständig um, als ob sie Angst hätten, der Monsun würde jede Minute zurückkehren? Mamans Stimme schwebte durch den Garten. »Ma puce. Ma puce!« Mein Floh. Mein Floh! Adeline hörte das Geräusch von Mamans weichen Stoffschuhen auf der blanken Erde und den Steinen flap,flap,flap. Sie blieb flach liegen, machte sich am Fuß der Mauer ganz klein, halb versteckt von den großen Töpfen, doch schließlich kam das Unvermeidliche, und Mamans lächelndes, besorgtes Gesicht tauchte unter der Wolke aus hellem Haar vor ihr auf. Sanft wurde sie aus ihrer Zuflucht gezogen, liebevoll an Mamans Brust gedrückt und bekam ein Glas Traubensaft zu trinken. Maman murmelte: »Ach, was bist du schmutzig, mein Floh. Schau dich nur an! Schau dir deinen Bauch an!« Adeline schaute auf ihren Bauch. In ihren Augen sah er schön aus, gebräunt von der Sonne und mit rotgoldener Erde bepudert. Dann sagte Maman etwas Interessantes. »Mein armer Floh. Morgen werden wir hinauf in die Berge gehen. Nur du und ich und vielleicht einer oder zwei von den Männern, die letzte Nacht gekommen sind.« Adeline dachte nach. Die Berge waren so hart wie
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Drachenzähne und voller Magie. »Warum müssen die Männer mitkommen? Kann Marie nicht mitgehen?« »Marie wird uns auf unserem Weg begleiten. Doch sie muss dann wieder zurückkehren. Sie kommt später nach, ganz bestimmt.« »Warum gehen Männer mit, Maman?« »Um uns zu beschützen, mein Floh.«
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26 »Da. Halten Sie genau da an. Nein, ein paar Einstellungen früher.« Der Film aus der Überwachungskamera lief langsam rückwärts, in kleinen, deutlich erkennbaren Sprüngen. Mira, der Ersatz, nahm ihre Hand aus der Jacke und hielt einen Blitz aus Gold; dann griff Tilly Saint nach vorn und nahm ihr Geschenk wieder an sich. »Da ist es. Jetzt spielen Sie das ab und stellen Sie den Ton dazu an.« Der Techniker sagte: »Da gibt es nicht viel zu hören, Sir. Es sind zu viele Hintergrundgeräusche da. Zu diesem Zeitpunkt hatte man sie schon entdeckt.« »Geben Sie mir das, was da ist.« Der Mann war ein Idiot. Die Aufzeichnung lief erneut ab. Der goldene Blitz erschien und wechselte den Besitzer; die Münder bewegten sich, und alle Anwesenden spitzten die Ohren, um die Worte zu unterscheiden. »Informationen …« Der Rest war unverständlich, aber Jan war sich sicher, dieses eine Wort gehört zu haben. Er ließ die Aufnahme noch viermal abspielen, um ganz sicherzugehen, die Augen grau vor Zorn. Dann ließ er das Band weiterlaufen, hörte, wie Mira Kay anschrie, sie 468
müssten nach Frankreich fahren, sah, wie Tilly ihnen die Hindernisse aus dem Weg räumte und dann selbst entfloh. Die ganze Szene, aufgenommen von etlichen Kameras an unterschiedlichen Standpunkten, war notdürftig zusammengeschnitten worden, um ein Ganzes zu ergeben, betrachtet von verschiedenen Blickwinkeln. Selbst wenn keine anderen Beweggründe vorhanden gewesen wären, hätte Clarissa schwören können, dass diese letzte Vorführung besonders für ihre Augen bestimmt war. Der Kampf selbst. Das Treffen im Arbeitszimmer ihres Großvaters. Dann die Flucht. Sie hatte alle drei Abschnitte gesehen, hatte in einem dumpfen Schweigen zugeschaut, das ihre Niederlage förmlich herausschrie. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß und das Gift erfüllte seinen Zweck wie geplant. Der Moment ihres Triumphs war ihr genommen worden; ihr Großvater hatte angedeutet, dass er mit dem Gedanken spielte, sie durch den Ersatz auszutauschen, falls sie Jan nicht unter Kontrolle bekam; ihre Mutter … ihre Mutter, die sie selbst war, hatte Kay und dem Ersatz zur Flucht verholfen und ihre Tochter Clarissa zurückgelassen, gedemütigt und zu einem Paket verschnürt in Kays Musikraum liegend. Doch trotz alledem konnte sie noch klar denken. Sie begriff, was hier vorging, wusste, dass sie manipuliert werden sollte. Sie kannte Jan. Sie kannte ihn so gut, wie niemand sonst ihn kannte. Jetzt spulte er wieder zu dem Augenblick zurück,
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in dem Tilly Mira die goldene Comcard übergab. Er badete förmlich in seinem Versagen, erlaubte seiner Wut, sich ins Unermessliche zu steigern. Clarissa verachtete diese selbst verursachte Rage, umso mehr als sie ein winziges Echo davon in sich selbst verspürte. Oh ja, sie kannte Jan. Großvater befand sich im Irrtum, wenn er glaubte, dass sie mit diesem kaltherzigen Jungen nicht fertig werden würde. Ohne den Blick von den sich endlos wiederholenden Bildern zu nehmen, sagte Jan über seine Schulter hinweg und so beiläufig, als wäre es ihm gerade erst in den Sinn gekommen: »Miss Clarissa möchte vermutlich wieder in ihr Apartment zurückkehren. Ich bin sicher, sie ist sehr müde. Sorgt dafür, dass sie dort alles zu ihrer Bequemlichkeit vorfindet. Und zu ihrer Sicherheit.« Ja, dachte sie, nachdem vier Männer sie zu ihrem Apartment begleitet hatten. Jetzt soll ich hier allein hocken und über das nachgrübeln, was ich gesehen habe, soll in schwarzem Hass und gekränkter Eitelkeit schmoren, bis ich gebraucht werde. Das Problem war, dass sie nicht wusste, ob ihre klaren Gedanken ausreichten, um zu widerstehen. Es war durchaus möglich, dass die Schwärze obsiegen würde. Schon als sich die Türen hinter ihr schlossen und sie auf ihr Bett sank, spürte sie, wie es in ihrer Kehle hochstieg, schlimmer als in dem Moment, in dem sie von ihrem Bruder und seinem geliebten Ersatz gefesselt worden war.
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Im Strom ihrer Tränen konnte sie kaum glauben, wie sehr sich ihr Leben innerhalb einer Nacht und eines Tages verändert hatte. Sie wusste nicht, ob sie das, was Jan von ihr wollte, ablehnen würde, wenn er sie fragte. Warum sollte sie? In dem Raum, den Clarissa gerade verlassen hatte, sagte Pieter beruhigend: »Es ist ein unglücklicher Umstand, aber keine Katastrophe. Welche Informationen diese Saint auch immer dem Mädchen überlassen hat – sowohl sie als auch die Comcard werden bald wieder in unseren Händen sein. Das trifft übrigens auch auf die anderen Flüchtigen zu. Die IKSVBeauftragten werden nichts zu beanstanden haben, wenn sie morgen früh hier eintreffen. Denk nach: Schon allein die Tatsache, dass diese Frau die Informationen nicht anders weitergeleitet hat, sondern gezwungen war, sie per Hand zu übergeben, ist Beweis genug, dass sie von der Schnelligkeit deiner Reaktion überrumpelt wurde. Also: Alles wird gut werden. Hast du den Ersatz und den jungen Saint ausfindig gemacht?« Jan nickte, erfreut über den Erfolg. »Das war leicht, nachdem wir einmal wussten, welchen Weg sie eingeschlagen haben. Spiel es ab, Hunter.« Die Aufzeichnung der Überwachungskameras fror ein, verblasste und auf dem Bildschirm erschien stattdessen das Bild einer endlosen, sumpfartigen Landschaft, kahl und grau im dämmrigen Nachmit-
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tagslicht. Hunter drückte ein paar weitere Knöpfe und das Bild wurde schärfer, zoomte etwas heran. Jetzt war ein Schatten sichtbar, der sich über ein schwarzes Band bewegte. Wieder nahm Hunter ein paar Einstellungskorrekturen vor, und jetzt wuchs der Schatten zu dem körnigen Abbild eines zweirädrigen Gefährts, das in gleich bleibender Geschwindigkeit über den Pfahlweg fuhr. Das Bild wurde ausgeblendet und durch eine Karte mit einem großen Maßstab ersetzt, auf dem sich ein knallroter Punkt auf die Küstenlinie zuschob, die ebenfalls rot markiert war. Hunter sprach in den Kontrollraum hinein, wobei er seine Worte an niemand Bestimmten richtete: »Die Fotos waren reine Glückssache, geschossen, als die Wolkendecke aufriss. Das Bild hier verfolgt die Maschine mit einem Wärmesucher. Der Satellit ist in der Lage, sie in einem Umkreis von drei Metern zu finden, selbst bei diesem Wetter. Wir können sie unmöglich verlieren.« »Nichts über Tilly Saint?« »Nein. Sie könnte sich sogar noch in der Stadt befinden, Sir.« Sie betrachteten den kriechenden Punkt, der Kay und Mira bezeichnete. Schweigend legte Pieter seine zerbrechliche, elfenbeinfarbene Hand auf Jans Ärmel und führte ihn in eine Ecke des Raums. Der alte Mann wirkte nun nicht länger selbstsicher und beruhigend, sondern eher besorgt, mitfühlend. Er sprach
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zögernd, schaute Jan direkt in die Augen, als ob er Angst hätte vor der Reaktion, die seine Worte in dem Jungen hervorrufen könnten. »Die Frau. Tilly Saint. Ist es dir in den Sinn gekommen – nachdem du die Aufnahmen gesehen hast –, dass sie … dass sie möglicherweise … Kontakt zu den Umstürzlern hat?« Jan nickte ungeduldig. »Selbstverständlich. Die Explosionen und die Unruhen in der Stadt setzten auf ihr Kommando hin ein. Das kann man doch deutlich aus den Aufzeichnungen entnehmen. Sie hat Verrat geübt, an den Familien und an ihrer Klasse.« Pieter lächelte erleichtert, fast schüchtern. »Ganz recht. Ganz recht.« »Mach dir keine Sorgen«, versicherte ihm der Junge. »Sie wird gefasst werden, selbst wenn der Abschaum, diese Umstürzler, sie verstecken sollte. Die Stadt ist völlig abgeriegelt.« »Ja. Ich verstehe. Gut gemacht. Gut gemacht.« »Und Clarissa hat die Aufnahmen mit ihren eigenen Augen gesehen. Sie wird die erstbeste Gelegenheit beim Schopf packen, um sich von ihrer Familie zu distanzieren, wenn sie erst einmal ausgiebig darüber nachgedacht hat. So wie du es vorhergesagt hast.« »Ja. Sehr gut gemacht.« Der alte Mann schien nachzudenken. »Und wann wirst du den Jungen und das Mädchen ergreifen lassen? Es wäre ideal, wenn wenig-
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stens sie uns zur Verfügung stünde, wenn wir unseren Fall dem IKSV-Beamten vortragen. Ein lebender Beweis ist wohl am überzeugendsten.« »In Kürze wird ein Hubschrauber starten«, sagte Jan und lächelte kalt. »Keine Sorge. Das sind nur Kinder, zumindest er ist es. Sie haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Die Brücke ist unpassierbar. Ich hätte den Hubschrauber schon früher losgeschickt, aber …« »Natürlich.« Pieter nickte verständnisvoll. »Der Aufruhr in der Stadt.« »Ja.« »Nun, du leistest gute Arbeit, da bin ich mir ganz sicher. Ich denke, ich werde mich jetzt ein bisschen ausruhen. Bitte unterrichte uns, wenn es irgendwelche neuen Entwicklungen gibt.« »Natürlich.« Während er dem alten Mann nachblickte, spürte Jan Verwirrung in sich aufsteigen. Magnus und Pieter waren stets so undurchschaubar. Lag hinter Pieters mitfühlenden Worten die Vermutung, er sei unfähig, weil er nicht früher auf die Unruhen in der Stadt reagiert und noch keine Verfolger hinter dem Ersatz hergeschickt hatte? Sicher nicht. Besonders die Zustände in der Stadt waren ja nicht seine Schuld, nicht wahr? Was er heute alles hatte bewältigen müssen! Noch dazu mit einem Messerstich in der Schulter und schmerzenden Knochen von dem Wettkampf! Und was sollte dieser Hinweis auf Tilly und ihren Kontakt
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zu den Umstürzlern? Dieser Kontakt war schließlich für alle offensichtlich. Was sollte das? Warum hatte der alte Mann das so betont zur Sprache gebracht? Entging ihm da etwa irgendwas? Erneut brandete der Zorn in Jan auf. Sein Kopf tat ihm weh. Der alte Knacker hatte gut reden – mach dies, mach das, hast du jenes erledigt? – und dann einfach ins Bett zu gehen. Er hätte in seinem Loch in Wales bleiben sollen, bei seinen Experimenten oder Tests oder was immer er da veranstaltete. Er und Magnus sollten Sicherheitsangelegenheiten denen überlassen, die etwas davon verstanden. Aber wie immer war es schwer, den beiden Alten zu zürnen. Sie waren so freundlich zu ihm gewesen, als er niemanden mehr hatte. Seine Eltern waren ermordet worden und die gesamte Ersatzbrut, die sie gezüchtet hatten, erwies sich als fehlerhaft. Ohne den Schutz der Geburtenkommission wäre die Familie in dieser Zeit sehr verwundbar gewesen. »Nutze die Ungeheuerlichkeit des Mordes, um eine Allianz gegen die Umstürzler zu bilden«, hatten sie ihm geraten. »Mach dir keine Sorgen wegen der Brut; deine Eltern kannst du später noch zurückholen, mit Material aus dem Tresor der Familie. Dann kannst du sie aufziehen und sie ihren Vorgängern so ähnlich wie möglich erschaffen.« Wenn nur das Material in Stoneywall nicht zerstört worden wäre … Jan bemühte sich, seine Zweifel und Ängste beiseite zu schieben und sich auf das Wesentliche zu kon-
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zentrieren. Zuerst musste er sich um die beiden Kinder auf dieser antiken Maschine kümmern. Die Mutter kam später an die Reihe. »Ist das Helikopter-Team bereit, Hunter?« »Sie sind vor fünf Minuten losgeflogen, Sir.« Vor fünf Minuten. Na bitte. Das war wahre Effizienz. Der andere Mann, Moore, wurde gar nicht gebraucht. Außer vielleicht, um vor der IKSV auszusagen. »Gut. Spielen Sie das Band noch einmal ab. Ich will mir das Bild, das der Ersatz Tilly Saint zeigt, mal etwas näher anschauen.« Während Maman sich Luft zufächelte und über den kühlen Steinboden schlurfte, um mit hastigen und nervösen Handgriffen die wenigen Dinge zusammenzusuchen, die sie in den Bergen brauchen würden, getröstet und beruhigt von Maries sanfter Stimme, und während die erstaunlichen Augen der kleinen Adeline – friedlich und schützend ummantelt von ihren Lidern – von den Zähnen des Drachen träumten, erreichten Mira und Kay endlich das Meer. In ihrem erschöpften Zustand zwischen Schlafen und Wachen, eingelullt von dem stetigen Dröhnen des Motors, glaubte Mira zunächst, dass sich vor ihnen nur noch mehr überflutetes Land erstreckte. Dann war sie mit einem Schlag hellwach und sah die Wellen, die die Seiten des Pfahlwegs überspülten. Die Dunkelheit senkte sich herab, um diesen langen, end-
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los langen Tag zu beenden, doch das da vor ihnen waren echte, wirkliche Wellen, kein Zweifel – grüne Giganten, mit Weiß gekrönt. Kay brachte die Maschine zum Stehen. Er stellte den Motor ab und kletterte steif von seinem Sitz. Sein Gesicht war bleich und hatte einen bläulichen Schimmer. »Wir sollten etwas essen«, sagte er dumpf, »bevor wir einen Versuch wagen.« Er tastete seine Kleidung ab und schaute in die Satteltaschen des Motorrads. Doch da war nichts, nicht einmal etwas zu Trinken. Mira stand still da. Wenigstens waren sie aus der verfluchten Stadt heraus; allein das empfand sie schon als Segen. Sie richtete ihre Augen auf die Straße, die über das Meer führte. Die eiserne Umrandung an den Seiten des Pfahlwegs schienen in massive Mauern überzugehen, so hoch, dass sie das obere Ende vielleicht noch mit ihren Fingerspitzen erreichen konnte, vielleicht aber auch nicht. Doch die windgepeitschte See überrannte selbst diese Höhe; von Zeit zu Zeit schwappte eine Welle über die Seiten und stürzte in schaumigen Kaskaden aus Ablauflöchern in den Fundamenten der Mauer wieder ins Meer zurück. Aber irgendetwas stimmte mit dieser Straße nicht. Sie bewegte sich, wenn die Wellen gegen sie anbrandeten. Kay folgte ihrem Blick und sagte: »Sie haben es vermasselt, damals, vor vielen Jahren. Genauso wie bei den Straßen an Land. Die unfehlbaren Großen Familien!«
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Mira wartete eine Weile, ob er noch etwas hinzufügen würde, dann fragte sie: »Wieso haben sie es vermasselt?« Er schaute sie an und schnaubte. »Die Konstruktion hat so viel gekostet, dass sie beschlossen, ihr einen großen Spielraum zu lassen, damit die Straße auch wirklich hoch genug ist, um nicht vom Wasser überflutet zu werden. Daher ist die ganze Straße in Sektionen eingeteilt. Jeder Teil fußt auf Trägern, die in fünfzig Meter Tiefe mit Luftbehältern verbunden sind, die wiederum auf dem Meeresboden verankert wurden. Man glaubte, dass eine schwimmende Straße funktionieren könnte, wenn sie nur hoch genug über dem Meeresspiegel lag. Die Halterungen zwischen Luftbehälter und Meeresboden konnten bei Bedarf – wenn die See stieg – verlängert werden. Sie dachten, die Straße würde noch jahrzehntelang befahrbar sein. Diese Idioten!« »Eine schwimmende Straße«, sagte sie nachdenklich, dankbar, dass er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Und was ist dann passiert?« Er zuckte mit den Schultern. »Die Höhe der Verankerung wurde voll ausgeschöpft, aber die See stieg immer noch an. Alles hat seine Grenzen, verstehst du? Im Abstand von einem Kilometer gibt es feste Stützen, die direkt zum Meeresgrund führen, um die Seitwärtsbewegung im Rahmen zu halten und dem Ganzen Sicherheit und Festigkeit zu geben. Die Straße kann sich auf diesen Stützen zwar auf und ab be-
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wegen, doch schon vor Jahren wurde die Maximalhöhe erreicht. Jetzt steht sie halb unter Wasser. Schon bald wird die ganze Konstruktion weggeschwemmt werden, wenn niemand sie vorher abreißt.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Solange ich denken kann, hat sie niemand mehr benutzt.« Ohne Vorwarnung bestieg er wieder das Motorrad, zog den fremdartig anmutenden, ballonartigen Helm auf und fluchte, als er versuchte, ihn festzuschnallen, als ob er wütend über sich selbst wäre, weil er so viel geredet hatte. Sie stieg hinter ihm auf und schrie ihm ins Ohr: »Aber wohin führt sie, diese schwimmende Straße?« Durch ihren eigenen Helm vernahm sie gedämpft seine Antwort: »Nach Frankreich natürlich!« Langsam fuhren sie durch die letzten der nutzlos gewordenen, versumpften Felder, die düster und verlassen im schwächer werdenden Licht lagen, und bewegten sich hinaus auf das kurze Stück festen Untergrund, das wie eine Landungsbrücke Erde und Wasser trennte. Schon bald befand sich die Straße auf demselben Niveau wie das Meer und sie verlangsamten ihr Tempo zu einer gemächlichen Schrittgeschwindigkeit. Die Maschine schwankte leicht, während Kay versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Dann verspürte Mira einen Stoß, zunächst mit dem Vorder-, dann mit dem Hinterrad, als sie auf die schwimmende Straße rollten. Obwohl kaum etwas zu sehen war, vermutete sie, dass es sich um eine flexib-
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le, sich bewegende Konstruktion zwischen den einzelnen Sektionen handelte. Der Stoß hatte sie ruckartig nach oben katapultiert, dort wo die erste Sektion an ihrer Verankerung riss, hinaufgeschoben durch die unter der Wasseroberfläche verborgenen Luftbehälter und doch unfähig, sich über den Meeresspiegel zu erheben. Gleichzeitig stiegen die Seiten zu den Mauern auf, die Mira vom Ufer aus gesehen hatte, und hielten den scharfen Seitenwind ab. Es waren dunkle Metallwände, mit großen Blasen und Rostflächen übersät, die deutlich unter der dicken Farbschicht zu sehen waren. Die Wände bogen sich an ihrem oberen Ende leicht nach innen. Die ganze röhrenartige Struktur bebte und stöhnte beängstigend unter der Wucht der Wellen. Wir schaffen es nie, uns auf dem Motorrad zu halten, dachte Mira, und in demselben Moment krachte die erste Welle über die Mauer, strömte mit schweren Fluten auf den Asphalt und zwang die Maschine gefährlich nah an die andere Straßenkante. Kay korrigierte seinen Kurs, doch nach ein paar Sekunden passierte dasselbe noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Am Anfang krochen sie mühsam und quälend langsam voran, so wie sie es über weite Strecken in dem überfluteten Land hatten tun müssen. Wie betrunken schlingerte das Motorrad unter der Gewalt des Wassers, fuhr Slalom von einer Seite der Straße zur anderen und wieder zurück. Doch vielleicht er-
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kannte Kay, dass es schwieriger war, bei dieser niedrigen Geschwindigkeit die Balance zu halten, denn Mira spürte, wie die Maschine einen Satz nach vorne machte, als er mit einer heftigen Bewegung das Gas betätigte. Er beschleunigte und hielt die Geschwindigkeit, brachte das Motorrad auf eine Fahrrinne, die etwa vier Meter von der rechten Metallwand entfernt lag. Als er der Wand einmal zu nahe kam, ergoss sich das hinabstürzende Wasser direkt über sie und drückte sie nach rechts, und sie streiften bedrohlich die Barriere, bevor Kay die Maschine wieder in die gewünschte Position bringen konnte. Er musste voraussehen, in welche Richtung die Welle sie drücken würde, und brauchte einen Spielraum von acht oder neun Metern, um ausweichen zu können. Andernfalls mussten sie jederzeit mit einem Sturz rechnen. Mira schaute über Kays Schulter nach vorn und hörte ihn etwas Unverständliches brüllen. Dann sah sie im Lichtstrahl, der aus dem Vorderteil der Maschine kam, einen Augenblick lang die knarrende, nasse Röhre, die sich schier endlos vor ihnen erstreckte und in der Nacht verschwand. Die Räder schoben rechts und links zwei stetige Wasserbögen zur Seite, die im Lichtschein aussahen wie die Flügel eines Engels. Jedes Mal wenn eine neue Welle über die Seitenwand brach, brausten sie zur linken Straßenseite, und im Strahl des schwankenden Scheinwerfers rückten die Blasen und Rostspuren auf dem verrottenden Metall gefährlich nahe, bevor Kay die Maschine vor-
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sichtig wieder in ihre Fahrrinne zurücksteuerte. Mira drehte den Kopf und versuchte zu sehen, was sich hinter ihnen befand, doch da war nur der Weg über das Meer, unmittelbar hinter ihnen unheimlich beleuchtet durch das rote Rücklicht, und dahinter die schwarze Nacht. Das Land – Britannien – war verschwunden. Es war ein seltsames Gefühl, den Ozean zu überqueren und dabei nicht in einem Boot zu sitzen. Die Zeit verging, und wie mit allen Dingen, so gewöhnte sich Mira auch an die irrwitzige Fahrt über die schwimmende Straße. Trotz der Angst und den eisigen Wasserfällen, trotz des schwankenden Untergrunds spürte sie, wie sie wieder in einen Schlaf glitt, einen Dämmerzustand. Ihr Kopf rutschte nach vorn gegen Kays knochige Schulter. Ihr schmerzender, erschöpfter Körper kümmerte sich nicht um ihr Verlangen, wach zu bleiben. Sie rief sich alle Ereignisse ins Gedächtnis, die sich zugetragen hatten, seit sie das letzte Mal anständig geschlafen hatte – was eine Ewigkeit her war. Der arme Jazz, der still auf der Gasse lag; die plötzliche Übelkeit und das Entsetzen beim Anblick des tot geglaubten Gil; die Zeit, die sie mit ihrem merkwürdigen, zornigen und verängstigten Zwilling verbracht hatte; der riesige, prächtig beleuchtete Saal, wo sie sich dem Kampf stellen musste; der Schrecken erregende, listige alte Tomas, der alles von seinem Nest hoch hoben im Turm aus kontrollierte und ihren Tod anordnete, ohne mit der Wimper
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zu zucken … Doch jeder Gedanke floss unzusammenhängend in den nächsten, sodass all die Bilder nicht mehr Sinn ergaben als ein Märchen, irgendeine Geschichte, die sich an einem fernen Ort abgespielt und das Leben einer Person von Grund auf verändert hatte – war sie diese Person? Alle paar Sekunden wachte Mira mit einem Ruck auf, wenn die Gischt sie durchnässte. Dann klammerte sie sich fester an Kay und dachte an seinen unvermittelten Kuss. Wollte er um sie werben? Es bestand ohne Zweifel eine Verbindung zwischen ihnen, aber sie wusste nicht, ob dieses Band etwas mit Liebe zu tun hatte. Fühlte er etwas, was sie noch nicht begriffen hatte? Er kam ihr so jung vor. So verloren. Besonders jetzt, da er erfahren hatte, dass auch er dieses schreckliche … Ding war, wie sie selbst. Zum Glück hatte er jetzt eine Aufgabe, auf die er sich konzentrieren musste, diese wilde Fahrt auf dem Schlitten mit Rädern. RUMMS. Der nächste Abschnitt. Und der nächste. Zwischen Wachen und Schlafen verlor sie schnell den Überblick, wie viele Teilstrecken sie schon hinter sich gebracht hatten. Waren es dreiundzwanzig oder dreiunddreißig? Und wie viele von den massiven, rechteckigen Betonpfosten – wahrscheinlich der obere Teil der fest im Meeresboden verankerten Stützen – hatten sie schon passiert? Sie glaubte, dass es nicht mehr als acht gewesen waren. Aber was bedeutete das? Sie wusste es nicht, hatte keine Ahnung, wie lang
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die Straße über den Ozean war. Frankreich mochte zehn Meilen von Britannien entfernt sein oder fünfzig. Wenn sie es jemals gewusst hatte, konnte sie sich jedenfalls im Moment nicht mehr erinnern. Immer wieder merkte sie, wie sie in einen sanften Nebel glitt, wachte immer wieder nach einigen Sekunden auf und sah sich demselben beängstigenden, eiskalten Albtraum gegenüber, der kein Ende zu nehmen schien. Bitte. Lass uns das andere Land bald erreichen. Sie sprach dieses stille Gebet in einem jener kurzen Wachmomente, und das Nächste, was sie bemerkte, waren ein plötzlicher Lärm, Schmerz und Licht. Und dann nichts mehr. Als sie wieder klar denken konnte, merkte sie überrascht, dass sie nicht mehr auf dem Motorrad saß. Sie lag auf der Straße, während der Meerschaum um sie herumgurgelte und an ihrem Körper zerrte. Es war mitten in der Nacht, und die einzigen Geräusche, die sie vernahm, waren das Brüllen der Wellen und das Knirschen von uraltem Metall. »Kay?« Nach einer kurzen Stille hörte sie seine Stimme, ein paar Meter von sich entfernt. »Ja. Ja, ich bin hier.« »Was ist passiert.« Sie hörte ihn stöhnen; dann tauchte sein Schatten vor ihr auf. »Eine riesige Welle. Wir sind gegen die Mauer gefahren. Bist du verletzt?« »Nein, ich glaube nicht. Nur ein bisschen angeschlagen. Was ist mit der Maschine?«
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»Ich werde mal nachschauen.« Er verschwand wieder, und sie hörte ihn, wie er sich mit irgendetwas abmühte. Dann erklang das Geräusch des Motors, der immer wieder absoff. »Da ist Wasser eingedrungen«, rief er. Und dann: »Ich kann kaum etwas sehen.« Wieder und wieder versuchte er, den Motor zu starten, und Mira beschloss, dass es Zeit war, sich zu bewegen. Sie rollte sich auf ihre Hände und Knie, was mühsam war, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Langsam, ganz langsam, erhob sie sich zu ihrer vollen Größe, gerade in dem Moment, als sich ein neuer Wasserschwall über die Metallbarriere ergoss und ihr ins Gesicht spritzte, sodass ihr die Augen brannten. Sie wischte das Wasser weg, so gut sie konnte, und blinzelte. Das da vorne, das war irgendwie nicht richtig: Sie sah in einiger Entfernung kleine Lichter auf und ab tanzen. Sie blinzelte wieder, aber die Lichter wollten nicht verschwinden. Stattdessen wurden sie merklich größer. Und jetzt, trotz des Lärms des startenden Motors und des Tosens des Ozeans, vernahm sie einen neuen, tieferen Ton. Sie ging zu der Stelle, wo Kay sich über die Maschine beugte. »Komm schon, komm schon!«, rief er wütend. Sie legte leicht ihre Hand auf seinen Arm. »Kay?« Und ohne aufzuschauen, sagte er: »Ja, ich weiß. Ich hab’s gesehen. Ein Helikopter.« Helikopter.
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Vor ihrem geistigen Auge entstand das Bild einer Apparatur, die wie ein Insekt aussah, mit langen, spinnendünnen Armen, und die dazu gemacht war, sich in die Lüfte zu erheben. Wahrscheinlich hatte sie in dem Buch zu Hause ein Bild davon gesehen. Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, dass Evan von den weißen Zelten der Plünderer behauptet hatte, sie könnten fliegen. Gab es da eine Verbindung? Waren die Männer damals mit Helikoptern in ihre Siedlung gekommen? Die Lichter im Himmel waren schon sehr nah – die Geschwindigkeit dieser Maschine musste enorm sein –, und sie sah, dass sie von dort kamen, wo die Straße zurück nach Britannien führte. Es gab keinen Zweifel, wonach sie suchten. »Wird es funktionieren oder nicht?«, fragte sie Kay. Er hatte es aufgegeben, den Starter zu betätigen, und seine Hände tief im dunklen Schatten, im Herzen des Motorrads, vergraben. Sie sah, wie er etwas herauszog und es ihr zuwarf. »Hier! Trockne das ab, wenn du kannst. Schnell!« Es fühlte sich an wie ein Netz aus Metall, ein Zylinder, verklebt mit Salzwasser und Öl. Sie tastete nach einem Stück halbwegs trockener Kleidung, mit dem sie das Ding abwischen konnte. Kay tat dasselbe mit anderen Gegenständen und fluchte, als eins davon aus seinen Fingern glitt und auf die klatschnasse Fahrbahn fiel, sodass er noch einmal von vorn anfangen musste.
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Der Helikopter war jetzt fast über ihnen. Kay schaute auf und murmelte nur ein Wort: »Pax.« Dann, ungeduldig: »Was ist? Bist du fertig?« Mira gab ihm den Zylinder und plötzlich strahlte hartes weißes Licht auf sie nieder. Sie blickte hoch und sah undeutlich den Kreis, den die spinnenartigen Arme mit ihrer schnellen Rotation, die das Ding in der Luft hielt, gegen den dunklen Nachthimmel malte. Darunter, im Zentrum des Kreises, hing eine schwarze Masse. Ein Windstoß führte den Gestank von Benzin mit sich und der Lärm der unsichtbaren Motoren war ohrenbetäubend. Das Insekt senkte sich langsam und schien direkt auf ihren Köpfen landen zu wollen. Der Lichtstrahl, der sie erfasst hatte, hielt sie fest in seinem Bann. Und dann, noch während sie hinsah, halb blind und seltsam unbeteiligt, fiel ein Seil aus dem Licht hinab, dann noch eins und dann ein drittes. Eine grobe männliche Stimme übertönte den Lärm um sie herum: »Bleibt, wo ihr seid. Versucht nicht, aus dem Lichtkreis herauszutreten. Ich wiederhole: Bleibt im Licht oder wir eröffnen das Feuer.« Kay stieß die Motorteile an ihren Platz zurück. Im grellen Licht konnte sie erkennen, dass seine Hände zitterten, und Schweiß – oder vielleicht auch Meerwasser – glänzte auf seinem Gesicht. Über ihren Köpfen ließen sich nun etliche Gestalten an den Seilen hinab. Insgesamt waren es sechs Männer, die so mü-
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helos wie Spinnen an einem Faden in Richtung Boden glitten. Es überraschte sie nicht, dass die Männer in helles Grau gekleidet waren. Sie fragte sich, was sie tun konnte, tauchte in ihr Inneres, um herauszufinden, ob dort noch irgendwelche Energiereserven verborgen lagen. Kay betätigte nun wieder den Startknopf und trotz des donnernden Dröhnens des Helikopters über ihnen und der tosenden See unter ihnen vernahm sie das schwache Geräusch des Motors. Sie hatte keine Ahnung, ob er anspringen würde, aber sie wusste, dass sie ohne das Motorrad keine Chance hatten. Wenn nötig, musste sie Kay mehr Zeit verschaffen. Mit diesem Entschluss ging sie langsam zu dem zuckenden Ende des Seils, das ihr am nächsten war, und schaute hinauf. Aus der Nähe betrachtet, war das Seil gar kein Seil, sondern ein dünnes Kabel aus ineinander verdrehten Stahlsträngen, an dessen Ende ein rundes Gewicht hing. Es war dem Stahlseil, das Evan und seine Männer benutzt hatten, um den See zu überqueren, nicht unähnlich. Die erste bullige graue Gestalt hatte die Hälfte des Weges zum Boden schon hinter sich gebracht. Mira wünschte sich, sie hätte etwas zum Kämpfen, doch sie besaß nichts außer ihren Händen. Ohne nachzudenken, legte sie ihre Finger um das Kabel. Sie spürte, wie es unter dem Gewicht der beiden Männer, die daran hingen, hin und her ruckte. Versuchsweise zog sie fest an dem Seil und riss es zur Seite, doch die Bewegung zeigte
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keinerlei Wirkung, außer dass die Männer etwas mehr hin und her schwangen. Es musste doch etwas geben … Sie schaute sich, wie nach einer Eingebung suchend, um und bemerkte, dass entlang der Oberkante der Wand aus Metall, die die schwimmende Straße begrenzte, ein einzelnes Stahlrohr verlief. Der Schimmer einer Idee tauchte in ihrem Geist auf. Wenn es ihr gelingen würde, das Kabel trotz des Gewichts der Männer dorthin zu ziehen … Hinter ihr erwachte das Motorrad zu neuem Leben – den Geistern sei Dank! –, zunächst schwach, doch dann ertönte ein sattes Brummen. Sie schaute sich um, um ganz sicher zu sein, und sah zwei identische bleistiftdünne Streifen blauweißen Rauchs aus den glänzenden Rohren am hinteren Teil der Maschine kommen. Kay, ohne seinen Helm, winkte ihr zu und schrie etwas -jedenfalls konnte sie sehen, wie sich seine Lippen bewegten – und kletterte auf das Motorrad. Gut. Das Glück war auf ihrer Seite. Wenn das Motorrad funktionierte, war ihr Plan vielleicht tatsächlich einen Versuch wert. Schnell griff sie das Kabel und zerrte es einen oder zwei Meter auf die ihr am nächsten gelegene Seitenwand zu. Als sie nahe genug heran war, nahm sie das runde Gewicht am Ende des Seils und warf es hinauf in Richtung Stahlrohr. Der Ball schlug ein paar Zentimeter unterhalb des Rohrs gegen die Metallbarriere und fiel dann wieder zu Boden, wobei er ihre Schulter streifte.
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Sie versuchte es noch einmal. Wieder zerrte sie ein Stück Seil zur Wand, spürte, wie es durch die Körperkraft der sich stetig nähernden Männer an ihren Händen riss. Je weiter die Männer nach unten glitten, desto mehr setzte ihr Gewicht dem Seil zu; jeder weitere Versuch würde sie mehr Kraft kosten als der vorhergehende. Wieder warf sie das Kugelgewicht und diesmal sah sie, wie er in einem sanften Bogen hoch hinauf segelte und über das Stahlrohr flog. Als sie das Stück Seil, das sie in der Hand gehalten hatte, losließ, rutschte der Ball an der Metallwand herab. Sie musste jetzt noch einmal werfen, so schnell wie möglich. Vielleicht noch ein drittes Mal, wenn ihr die Zeit dazu blieb. Möglicherweise war all ihre Anstrengung umsonst. Wahrscheinlich konnten sie das Kabel vom Helikopter aus ausklinken. Hinter ihr jaulte das Motorrad wütend auf, und sie sah, dass ihr Kay immer noch etwas zubrüllte. Aber Mira war sich sicher, dass sie dieser fliegenden Maschine nicht davonfahren konnten. Das war schlichtweg unmöglich. Wenn sie nur … Ein dumpfer Schlag traf sie im Rücken. Als sie das Gewicht zum dritten Mal werfen wollte, war der Mann, der als Erster am Seil herabrutschte, die letzten fünf Meter zu Boden gesprungen. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, was Mira vorhatte. Seine Stiefel trafen Mira ins Kreuz. Zusammen mit dem Mann fiel sie auf die Straße, und sowohl sie als
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auch er versuchten verzweifelt, sich voneinander zu lösen und aufzustehen. Beide rangen sie nach Atem. Offensichtlich war er noch unglücklicher gefallen als sie – immerhin war er aus einer beträchtlichen Höhe gesprungen –, denn sein wuchtiger Körper lag halb über ihr, wie ein riesiger, sich windender Getreidesack, der nur aus schweren Stiefeln und dickem Stoff bestand. Mira gelang es einfach nicht, ihn von sich zu wälzen. Und dann war Kay da, ließ seinen schwarzen, ballonähnlichen Helm schwer niedersausen, und Mira spürte, wie der Mann schlaff wurde. Kay hievte ihn von ihrem Körper und half ihr auf die Füße. Gerade erreichten zwei weitere Männer das Ende ihres Seils und klinkten sich aus. »Noch ein Wurf!«, schrie sie Kay zu und deutete auf das Kabel. Er versuchte, sie zum Motorrad zu zerren. Warum begriff er nicht? »Nein!«, brüllte sie ihm ins Ohr. »Hilf mir!« Er schien mit den Schultern zu zucken, ging zu dem herabhängenden Ende des Stahlseils, griff es und schwang das dort befestigte Gewicht durch die Luft. Mira blieb nichts anderes übrig, als sich den beiden Männern entgegenzustellen, die ihre Gesichter mit dünnen, glänzenden Masken verhüllt hatten und jetzt ihre Waffen herauszogen. Hektisch schaute sich Mira nach etwas um, womit sie kämpfen konnte, packte den Helm, der auf dem Boden lag, und
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schleuderte ihn auf den ersten Mann, wobei sie brüllend auf ihn zurannte, wie es ihre Leute zu Hause taten, wenn sie ein Rudel Wölfe vertreiben wollten. Zu ihren Füßen blitzte etwas auf und dann erfüllte dichter, erstickender Rauch die Straße. Sie wusste mittlerweile, dass sie in einem solchen Fall die Luft anhalten musste, rannte durch den Nebel hindurch, überrumpelte den ersten Mann und stieß ihn zur Seite. In dem Moment, in dem er das Gleichgewicht verlor, krallten sich ihre Finger in der Maske fest und rissen sie ihm von Mund und Nase. Sofort krümmte sich der Mann vornüber, hustete keuchend und glitt dann bewusstlos zu Boden. Sie vergeudete wertvolle Sekunden, indem sie sich hektisch nach dem zweiten Mann umschaute. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, also drehte sie sich um, lief in Richtung Motorrad, heraus aus dem Rauch. Ihre Lungen standen kurz davor zu platzen – sie musste bald wieder Luft holen –, aber sie war sich nicht mehr sicher, ob sie in die richtige Richtung rannte. Bei all dem Rauch war es möglich, dass sie gegen das Motorrad stieß, bevor sie es sah. Ihre Augen tränten und brannten, allerdings nicht so schlimm wie beim letzten Mal. Sie dachte kurz an Kay. Was war mit ihm geschehen? Hatte er der giftigen Wolke entkommen können? Ein Schemen, vielleicht der zweite Mann oder ein anderer aus dem Helikopter, tauchte wie ein Geist vor ihr auf und griff nach ihr. Seine Hand packte ihren Unterarm, aber sie
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schüttelte ihn ab und zog sich in die weiße Wolke zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie musste atmen, und zwar schnell, ansonsten würde sie unweigerlich das Bewusstsein verlieren. Doch noch während sie das dachte, sah sie einen Riss in der dichten Wolke. Und dann noch einen. Aye, es gab keinen Zweifel: Der Rauch verzog sich, fortgeblasen von den Rotorblättern des Helikopters und dem wilden Seewind. Und als sie mit ausgestreckten Armen auf die Lücke in der Rauchwolke zuwankte, kam aus dem Nebel eine Gestalt, dann eine zweite und schließlich eine dritte. Drei oder vier Männer umringten sie, kreisten sie ein. Die Helligkeit von oben wurde in dem Maße stärker, in dem der Rauch verschwand. Sie konnte sich nirgends mehr verstekken. Und dann, plötzlich, mit einem lauten Dröhnen, war das Motorrad da, trieb die Männer einen Schritt zurück, das Vorderrad schlingerte auf der glitschigen Straße und drehte durch, während das Hinterrad eine Wasserfontäne aufspritzen ließ, die den maskierten Männern die Sicht nahm. Das Motorrad hielt auf sie zu, kam neben ihr fast zum Stehen und dankbar griff sie danach, zog sich mit letzter Kraft hinter Kay auf den Sitz. Er gab Gas, noch bevor sie ihr Bein übergeschwungen hatte, sodass sie fest seine Hüfte packen musste, um nicht herunterzufallen. Die Beschleunigung brachte die Räder erneut zum Tanzen; sie zuckten nach rechts und nach
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links, während sie die letzten Reste der Nebelwand durchbrachen. Und dann waren sie weg, sogen die liebliche Luft in tiefen, bebenden Atemzügen ein. Vor ihnen und zu ihren Seiten sprühten Funken, als die Geschosse der zurückbleibenden Männer auf die Metallwände trafen. Als sie ihre Schwäche überwunden hatte, schaute Mira hinter sich, blinzelte sich die scharfen Tränen aus den Augen. Den Männern am Boden waren sie entkommen, aber was war mit der Flugmaschine? Rasch glitt der Suchscheinwerfer die Straßenoberfläche entlang, nagelte sie fest wie Schmetterlinge in einem Schaukasten. Wieder sprach die Stimme von oben und dann lehnte sich das gedrungene Spinnenbiest nach vorn und flog auf sie zu … Es war so, wie sie befürchtet hatte. Die Crew im Cockpit hatte das Seil einfach gekappt. Der Kampf war vergebens gewesen. Doch dann, nachdem der Helikopter kaum fünf Meter weit geflogen war, kam er zu einem abrupten Halt, neigte sich mit einem Ruck nach vorn und fiel in Zeitlupe auf die Straße. Hinter der Maschine erstreckte sich das straff gespannte Stahlseil. Als die Rotorblätter die Metallbarrieren streiften, erglühten goldene Funken, und ein schreckliches Knirschen war zu hören. Das Rotieren hörte, wie von Geisterhand gestoppt, auf; die Blätter waren verklemmt und verbogen. Stattdessen drehte sich die Kabine, die unter den Rotorblättern verankert war, auf den Kufen um die
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eigene Achse, angetrieben von ihrer eigenen Motorkraft, sodass Schnauze und Schwanz gegen die sich gegenüberliegenden Metallwände geschleudert wurden. Dann lag das riesenhafte Insekt still. Und wieder folgte nur Dunkelheit den beiden Menschen auf dem Motorrad, lediglich durchbrochen von dem winzigen roten Rücklicht. »Können Sie es sehen?«, fragte Moore kurze Zeit später und schwenkte seine Kamera über den rauchenden Kadaver des Helikopters. Er konnte das Grinsen nicht unterdrücken, es schwang in seiner Stimme mit. Verdammt sollte er sein. »Ja, wir sehen es. Können Sie daran vorbeifahren?« »Aye, ich nehme es an. Mit ein bisschen Mühe.« »Dann machen Sie schon. Wir wollen das Mädchen so schnell wie möglich zurückhaben. Noch vor morgen früh, wenn es geht.« »Ich verstehe.« »Und lebend, Moore. Haben Sie gehört?« »Machen Sie sich keine Sorgen. Die IKSV wird keinen Anlass haben, sich über irgendetwas aufzuregen. Ende.« Jan kappte die Verbindung. »Der Mann ist das reinste Ärgernis. Was glauben Sie, Hunter? Können wir ihm vertrauen?« »Nein.« »Nicht einmal mit dem Enforcer-Ring?«
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»Nicht einmal damit. Seine Fehde mit dem Mädchen ist viel zu persönlich.« Hunter ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was er von Jans Entscheidung hielt. Der Junge rieb sich die Augen. Seine verbundene Schulter pochte. Dieser Tag hätte ein Höhepunkt seines Lebens werden sollen, der erste, mutige Schritt in Richtung eines besseren Lebens für ganz Britannien. Wie hatte sich alles in so kurzer Zeit in dieses unüberschaubare Chaos verwandeln können? Straßenkämpfe, Feuer, Tilly Saint verschwunden, genauso wie dieser verdammte Ersatz. Was immer er derzeit an Unterstützung und Rückendeckung von den anderen Großen Familien genoss, würde sich verziehen wie Rauch im Wind, falls er nicht bald etwas vorweisen konnte. Es fiel ihm schwer, klar zu denken. Jeder wartete nur darauf, dass er Fehler machte. Sogar Hunter, der ihm doch besonders zur Loyalität verpflichtet war. Selbst er hockte nur da, mit halb geschlossenen Augen, den grauhaarigen Kopf in die Hand gestützt, als könnte er den Schlamassel, der herrschte, nicht begreifen. Jan fasste einen Entschluss. »Schicken Sie ein zweites Helikopter-Team aus«, sagte er scharf. »Für den Fall, dass Moore sie nicht erreichen kann. Und für den Fall, dass ihm seine persönliche Rache wichtiger ist und er sich nicht beherrschen kann.« »Aber der Treibstoff! Und die Männer!« »Hunter. Die Abordnung der IKSV wird späte-
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stens in zehn Stunden hier sein. Glauben Sie nicht, dass es gut wäre, wenn wir ihnen etwas präsentieren können?« »Noch ein Helikopter …«, wiederholte der Mann säuerlich. »Ja. Noch ein Helikopter. Sofort. Lassen Sie ihn zum anderen Ende der Brücke fliegen, außerhalb der Gefahrenzone, einfach nur als Rückversicherung. Wenn es Moore gelingt, sie dort, wo die Straße geborsten ist, zu stellen, können wir sie mit dem Helikopter zurückbringen. Und wenn er versagt, werden unsere Männer die beiden aufgreifen.« Steif, aber ohne weitere Widerrede, tippte Hunter die Befehle in seinen Handcomputer, während der Junge gedankenverloren und sichtlich zufrieden mit seiner Entscheidung dasaß. Frankreich. Warum flohen sie nach Frankreich? Antwort: Scheinbar um einen weiteren Ersatz aufzuspüren oder zu retten. Sie war kaum mehr als ein Baby, dem Foto nach zu urteilen, das das Mädchen namens Mira bei sich trug. Aber warum in aller Welt sollten sie sich diese Mühe machen? Ein Kleinkind! Und so ganz offen, vor aller Augen, mit dieser riskanten Flucht über eine marode Brücke, ohne die Möglichkeit, sich zu verstecken. So handelten nur Narren. Sicher war doch wenigstens Kay klar, dass die Großen Familien Frankreichs bereitwillig ihre Einwilligung geben würden, damit die Jagd auf ihrem Territorium fortgeführt werden konnte, selbst wenn es
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einen Tag oder zwei dauern würde, um die Genehmigung zu bekommen. Immerhin war dies eine Angelegenheit der IKSV. Wäre er, Jan, auf der Flucht, würde er sich ins teilüberflutete Landesinnere schlagen und versuchen, sich auf einer der zahlreichen kleinen Inseln zu verbergen, wie es Tilly Saint zweifellos getan hatte. Jan fragte sich, ob Moore wusste, aus welchem Grund die beiden nach Frankreich fuhren. Doch das war ohne jede Bedeutung. Kay und der Ersatz würden das andere Ufer niemals erreichen. Moore würde sie abfangen, und wenn nicht er, dann der zweite Helikopter. Und der andere Ersatz, das Kind, wurde derzeit nicht benötigt. Man konnte es später töten oder in Frieden lassen, ganz wie es die Situation erforderte. Diese Mira war Beweis genug, zusammen mit den entsprechenden Unterlagen und den Zeugenaussagen – Beweis dafür, dass die Saints verbotenen Ersatz produziert hatten. Götter im Himmel, die Ärsche von der IKSV würden sowieso selig sein, dass man sie überhaupt in irgendeiner Angelegenheit konsultierte. Das kam nämlich nicht oft vor. Wahrscheinlich konnten sie gar nicht schnell genug die neue Ordnung absegnen, die er eingeführt hatte, wenn sie erst einmal Mira vorgeführt und außerdem von den Ereignissen in Stoneywall zu hören bekamen. »Sir!« Jan schüttelte sich. Er war wohl weggedämmert.
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Sein Mund war trocken. Wie sehr er sich danach sehnte zu schlafen, wenigstens die kurzen Stunden, die ihm von dieser Nacht noch geblieben waren. Er nahm eine Schmerztablette gegen das Pochen in seiner Schulter, spülte sie mit abgestandenem, faulig schmeckendem Wasser hinunter, das er sich schon vor Stunden eingegossen hatte. »Ja. Was ist los?« »Sir, wir haben ein Problem. Der Satellit ist ausgefallen.«
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27 Tilly ließ ihr Funkgerät in den schwarzen Sumpf fallen. Sie saß auf einem weichen Mooskissen in der Dunkelheit, gab einen kurzen Bericht mittels ihres Handcomputers durch, dann folgte auch dieser dem Funkgerät mit einem leisen Platschen. Sie schaute auf das Wasser und dachte über das nach, was sie getan hatte. Sie dachte an die klugen, wilden Menschen, die Pferde geliebt und einst auf diesem untergehenden Land gelebt hatten. Sie hatten die Sterne betrachtet, ihre offenen Steintempel errichtet und dem Leben wie auch dem Tod dieselbe Ehrerbietung entgegengebracht, hatten beides als ein Mysterium angesehen. Vielleicht schauten ihre Geister immer noch auf diese Welt und warteten darauf, dass Britannien erwachte und zu sich selbst fand. Nicht mehr viele waren es, die solche Dinge heutzutage noch wussten, Dinge wie die vor Leben sprühende Geschichte der Schlange auf dieser Insel, die bis zu den urzeitlichen Menschen zurückreichte – vielleicht noch weiter. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt über diese Dinge nach? Aus Angst, dass auch sie bald ein Geist sein und mit dem Wind singen würde? Sie war so müde wie niemals zuvor, doch gleichzeitig belebt und erregt durch die simple Tat, 500
die sie vollbracht hatte. Sie war allein in der Nacht, allein unter einem eisernen Himmel, mit einem Herzen, das scharlachrotes, heißes Blut durch ihren Körper pumpte, mit einem Verstand, der seine Fühler in alle Richtungen ausstreckte, um zu begreifen; ein listiges Tier, ein Geheimnis, bedeutungslos und winzig in dieser Welt, die für sie erschaffen worden war. So mussten sich die Pferdemenschen gefühlt haben. Es war vernünftig, dass sie Handcomputer und Funkgerät weggeworfen hatte. Falls – wenn – sie gefasst wurde, konnten diese Geräte benutzt werden, um Freunde ausfindig zu machen, die sie schützen wollte. Sie hatte gewusst, dass sie sich davon trennen musste. Aber die Satelliten … das war eine viel größere Sache. Es war das Ende der Geschichte der Menschheit im Weltraum, die der Bevölkerung knapp ein Jahrhundert lang aufregend und wichtig vorgekommen war – bis die Fluten gekommen, die Meere angestiegen waren und sich das Eis im Norden Europas ausgebreitet hatte. Wohl seit mehr als hundert Jahren – vielleicht waren es auch schon hundertfünfzig – war kein neuer Satellit mehr in seine Umlaufbahn um die Erde geschickt worden. Woher sollten heute der Treibstoff, die finanziellen Mittel, der Wille und die Organisation kommen, um sich mit solchen Dingen zu beschäftigen? Von den hunderten von Maschinen, die einst ausgesandt worden waren, um den Blauen Planeten zu umkreisen, war eine nach
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der anderen ausgefallen, bis nur noch drei Stück funktionierten, gespeist und umsorgt von der Erde aus, um ihre Aufgabe noch eine kleine Weile länger auszuführen. Hatte sie das Recht, diese Apparate zu zerstören? Für andere die Entscheidung zu treffen? Die einzige Antwort, die ihr darauf einfiel, war, dass ihr der Zeitpunkt richtig erschien. So wie sie jetzt allein und frei war, allein mit den singenden Geistern der Pferdemenschen, so war auch dieses Land nun befreit. Frei, um aufzuwachen. Frei, um … was? Die Antwort auf diese Frage kannte sie nicht. Sie war wie ein Kind, tastete sich vorwärts, nicht einmal wissend, worauf genau sie hoffte. Außer auf eine Veränderung und ein Ende der leeren Lust nach Macht und Kontrolle, die ihre Spezies so lange im Würgegriff gehalten hatte. Es war Zeit zu gehen. So wie sie die Symbole ihrer Sklaverei, ihrer Gebundenheit an das System abgeschüttelt und den Elementen überlassen hatte, so ließ sie auch die Tür zum Kommunikationsbunker offen stehen, in Wind und Wetter. Dann machte sich Tilly auf den Weg durch die Nacht, lief mit den Geistern und einem Lächeln auf den Lippen. Vielleicht hatte sie es ihrem genetischen Gedächtnis zu verdanken, dass ihr die Bedeutung wahrer Freiheit bewusst war.
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28 Mira war erleichtert, dass sie keine Anzeichen für eine weitere Verfolgung erkennen konnte. Die See war ihnen Feind genug. Unter dem Gewicht der jetzt haushohen Wellen wurden die Bewegungen der einzelnen Sektionen der Straße heftiger, sodass die ganze Konstruktion ratterte und bebte. Sie fuhren weiter, aber langsam, und mehr als einmal rutschte die schwere Maschine unter ihnen zur Seite. Irgendwann hielten sie an, und Mira sah, dass die Hälfte der flexiblen Verbindung zwischen dem Straßenstück, auf dem sie sich gerade befanden, und dem, das vor ihnen lag, fehlte. Unentwegt schoss das Meer wie eine Fontäne durch die Lücke nach oben und zog sich dann wieder glucksend zurück, wobei ein Wasserfilm von einem oder zwei Zentimetern auf der Straße zurückblieb. Kay fuhr ein paarmal im Kreis, bevor er sich dem Verbindungsstück näherte, passte den richtigen Zeitpunkt ab, um die Überquerung zu wagen, wartete, bis sich das Wasser zurückzog, und gab dann Gas. Mit einem Satz waren sie über das verbliebene Stück der beweglichen Verbindung hinweg. Schon bald danach veränderte sich die Straße. Das Vorderrad holperte über eine Erhebung und dann stieg der Weg vor ihnen an, hob sie weit über den Meeresspiegel empor. Noch besser war, 503
dass sich dieser Abschnitt nicht bewegte, sodass Kay das Tempo merklich erhöhen konnte. Der Wind fauchte durch die Röhre, beutelte sie von einer Seite zur anderen, aber der Straßenbelag war trocken. Mira bemerkte gewaltige Stahlbögen hinter den Metallwänden, die wie Blitze vorbeizuckten und mit ihnen aufwärts stiegen. Wie eine richtige Brücke, dachte sie. Aye, das machte Sinn. Man brauchte eine Stelle, wo die großen Schiffe unter der Straße hindurchfahren konnten. Schon bald erreichte die Straße ihren höchsten Punkt und fiel wieder ab, folgte der eleganten Linie eines flachen Bogens. Kay, der keinen Helm trug, wandte den Kopf. Der Wind zerrte an seinem Haar, und er schrie etwas, was bei dem Lärm des Motors ungehört verhallte. Seine Hand löste sich vom Lenker, und er deutete nach vorn in die Dunkelheit, doch Mira konnte dort nichts erkennen. Vielleicht wollte er ihr sagen, dass sie sich endlich dem Land näherten. Dann waren sie wieder unten, ließen den sicheren, trockenen Abschnitt der Straße hinter sich und fuhren erneut auf überschwemmtem, gefährlich glitschigem Asphalt. Das Land namens Frankreich war fast erreicht. Lass es bald in Sicht kommen, lass es bald da sein. Obwohl ein wenig windgeschützt durch Kays Körper, zitterte Mira auf dem Sitz des Motorrads am ganzen Leib. Ihr war so kalt wie noch nie zuvor in ihrem Leben, trotz der Erfahrungen in Eis und Schnee ihrer
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nördlichen Heimat. Nur die Geister konnten erahnen, wie sich Kay fühlen musste. Wenn wir uns nur bewegen, das Blut wieder zum Zirkulieren bringen könnten … In diesem Moment spürte sie, wie das Motorrad mit einem beängstigenden Ruck langsamer wurde. Ihr Körpergewicht wurde nach vorn gegen Kay geschleudert und ihr Kopf prallte heftig gegen seinen. Dann blockierten die Räder und rutschten ungebremst auf der tückischen Oberfläche davon. Wie in Zeitlupe verlor das Hinterrad die Haftung, das Motorrad neigte sich zur Seite und kippte um. Kay und Mira rollten in einem Gewirr aus Armen und Beinen über die Straße. Der Schwung ließ die Maschine noch ein Stück weiterrutschen; noch immer dröhnte der Motor. Dann herrschte plötzlich Stille. Mira musste nicht warten, bis ihr Kay erklärte, warum sie wieder auf dem Asphalt gelandet waren. Sie sah es mit eigenen Augen und ihr wurde übel. Keine acht Meter vor ihr, dort wo eine schwimmende Sektion der Straße mit der anderen verbunden sein sollte, klaffte eine endlos lange Lücke, ein Abgrund, angefüllt mit brodelnd weißem Meerschaum. Von dem Motorrad war keine Spur zu sehen; offenbar war es von den Fluten verschluckt worden. Das mochte auch der Grund dafür sein, dass das Motorgeräusch so abrupt verstummt war. Eine Sekunde später, und sie wären der Maschine nachgefolgt, dachte sie. Doch das Schlimmste – der Anblick, der ihr Schwindel ver-
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ursachte – kam hinter der Lücke: eine riesige, umgekippte Wand neigte sich ihnen mit dem Ende zu, schwankte auf und ab, geschoben von der ungebremsten Kraft der See. Schweigend standen sie auf und näherten sich dem Abgrund so weit, wie sie es eben wagten. Die halb versunkene Wand auf der rechten Seite war eigentlich die Oberfläche der Straße; die metallene hohe Seitenbarriere, die sie normalerweise flankierte, ragte wie ein Dach darüber auf. Auf der anderen, der linken Seite, ging ein Gewirr aus Stahlstreben in riesige Zylinder über, die weit ins Meer hinausragten, sich hoben und senkten und den Teil der Straße hin und her rollten, als besäße er überhaupt kein Gewicht. »Scheiße.« Endlich begriff Mira, was sie vor sich sah. »Die Streben müssen gebrochen sein«, murmelte sie. »Die Luftbehälter sind nach oben, zur Wasseroberfläche getrieben und haben alles andere auf die Seite geworfen.« Sie schaute Kay an. »Was machen wir jetzt? Zurückfahren?« Unentschlossen stand er da, gab keine Antwort auf ihre Frage. Sie merkte, dass auch er vor Kälte zitterte. Sein Gesicht war leichenblass und seine Zähne klapperten. Er wirkte, als würde er jeden Moment das Handtuch werfen. Sie trat näher an ihn heran und rieb ihm fest über den Rücken. »Wir sollten weitergehen.«
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Ausdruckslos sagte er: »Der Helikopter. Pax. Sie würden uns abfangen, wenn wir umkehren. Und was für eine Chance hätten wir jetzt- zu Fuß?« Sie schob sich noch etwas näher an den Abgrund heran, wo die bewegliche Verbindung weggerissen worden war. Mit Schrecken erregender Macht brüllte das Meer durch die Lücke, doch in den dunklen Wellen und dem brodelnden Schaum glaubte sie, etwas zu erkennen … Was war das? Sie legte sich flach auf den Bauch, ließ sich erneut von dem eisigen Salzwasser durchnässen und tastete mit ihrer vor Kälte halb gefühllosen Hand unterhalb der Kante herum. Die See kämpfte gegen sie an, versuchte, die Hand zu hindern, aber ja, da war es – ein dickes Seil, dicker noch als ihr Handgelenk. Nein, zwei Seile, merkte sie, als sie ihren Fund näher untersuchte, zwei Seile, die straff durch das Wasser schnitten. Vielleicht gab es noch mehr davon, an den Seiten, doch die waren wahrscheinlich gerissen. Diese beiden Stahlseile hier befanden sich in der Mitte, führten auf die Stelle zu, wo das gegenüberliegende Teil um seine eigene Achse schwankte. Sie vibrierten und sangen unter dem Ansturm des Wassers, doch ihre Seitwärtsbewegungen, wenn die Wellen sie trafen, hielten sich in Grenzen. Mira spuckte das Meerwasser aus, das ihr in den Mund geschossen war, und ging dorthin zurück, wo Kay stand und ihr zuschaute. Noch bevor sie ihn erreichte, fing er an, den Kopf zu schütteln. Zornig und
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ohne Hoffnung schaute er sie an. »Da rübergehen? Das schaffen wir nie.« »Aye. Wir können es schaffen.« Er bedachte sie mit einem scharfen Blick, immer noch verblüfft, wie wenig sie mit der verlorenen Seele der Portable Road gemein hatte. »Wie denn? Das Wasser ist eiskalt. Und stark genug, um diesen gesamten Straßenabschnitt endgültig zu zerstören. Welche Chance hätten dann wir?« »Eine bessere, als wenn wir umkehren, denke ich. Es ist nur das erste Stück, zehn Meter, ach, vielleicht sogar weniger. Danach können wir durch das Gewirr aus Streben und Seilen da drüben klettern. Das liegt weit über der Wasseroberfläche und ist noch dazu windgeschützt.« »Und deine ach so leichten zehn Meter? Wie sollen wir die bewerkstelligen?« Sie berührte seinen Jackenärmel. »Zieh die aus und ich zeig’s dir.« Sie zog den Reißverschluss ihrer eigenen, klatschnassen Jacke auf und führte Kay an den Rand der Lücke. Es war schon komisch, dachte sie. Sie konnte sich vor lauter Müdigkeit kaum bewegen, und in ihrem Kopf drehte sich alles – so sehr, dass die Erinnerung daran, wie sie hierher gekommen waren, nur undeutlich in ihr war. Auch, wie sie sich begegnet waren und warum sie fliehen mussten … Alles lag wie unter einem Nebel verborgen, angefüllt mit wirbelnden Bildern und Eindrücken. Und trotzdem. Und
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trotzdem hatte sie weder einen Zweifel daran, dass sie in der Lage waren, diese Aufgabe zu meistern, noch wie es getan werden musste. Die Gischt peitschte gegen ihre taube Wange, eiskalt, scharf, belebend. Wenn die Helikopter uns hier aufspüren, ist alles vorbei. Sie entledigte sich der steifen Lederjacke, streckte und dehnte ihre Glieder, um ihren Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen, und legte sich dann erneut auf die dunkle Straße. Ihr Gesicht wurde von den Wellen überspült, die durch die Lücke schossen. Sie fühlte unter der Kante das dicke, verdrehte Seil, spürte, wie es unter den Bewegungen des Wassers surrte, packte es fest und stieß ihre andere Hand, in der sie die Jacke hielt, hinab ins Wasser. Sofort riss die Strömung an dem Leder wie der Wind an einem Segel und zerrte ihr die Jacke fast aus dem Griff, doch mit größter Anstrengung zog sie sie zurück, bis das Leder fest über dem Seil lag. Mit ihrer freien Hand drückte sie ein Stück davon unter Wasser. Jetzt kam der schwierigste Teil. Sie schloss ihre Augen, um sich auf das zu konzentrieren, was ihre Finger taten, und zog vorsichtig die beiden Seiten der Jacke in dem wirbelnden Wasser zueinander, ließ ihre Hände suchen, bis sie den Reißverschluss fanden und die Stelle, wo er eingeklinkt werden musste. Durch die Kälte des Wassers waren ihre Arme völlig gefühllos geworden und standen kurz davor, sich in zwei nutzlose, tote Zweige zu verwandeln, die sich ihrer Kont-
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rolle entzogen. Wartet!, befahl sie ihnen. Haltet noch eine kleine Weile durch. Die beiden winzigen Metallstücke des Reißverschlusses rieben gegeneinander, tief unter ihr im Schaum der Gischt, und dann noch einmal. Als sie sich das dritte Mal trafen, schluchzte und zitterte Mira und versuchte, sich mit aller Macht zu konzentrieren. Und dann hakten sie ein. Irgendwo neben ihr sagte Kay etwas. Aber sie hörte es nicht. Ihr ganzes Leben lag in der Vereinigung der beiden Metallenden und in den Fingerspitzen, die dieses Kunststück zustande bringen mussten. Langsam, ganz langsam, so sanft, wie man ein Kätzchen streichelt, schob sie den Stift in seine Halterung und zog den Verschluss zu, klammerte die unzähligen winzigen Stahlzähne zusammen, unendlich langsam. Und dann war es geschafft. Sie konnte sich von dem Abgrund abwenden und wieder sie selbst sein. Kay fing sie wortlos auf und hielt sie fest gegen sich gepresst. Sein Körper war so kalt wie ihr eigener. Sie mussten in Bewegung bleiben. Das war das ungeschriebene Gesetz, das einem das Überleben im Eis sicherte. »Du bist dran, Kay Saint«, keuchte sie. »Versuch es hier. Da ist ein zweites Seil.« Sie sah ihm zu, wie er seine Jacke auszog und sich dann der Länge nach hinlegte, halb überschwemmt vom Salzwasser. Gestern noch, dachte sie, war er ein Prinz der Welt gewesen, geborgen in seinem Palast, in den Sälen aus Glas und Stahl des Saint-Gebäudes.
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Und jetzt … Sie hätte fast gelacht, tat es aber nicht. Denn er war kein glücklicher Prinz gewesen. Die Zeit verging. Irgendwann gingen ihr ein paar Momente verloren. Und dann sah sie, dass der Junge immer noch an der Kante lag. Wie lange schon? Vielleicht zu lange … Sie beugte sich über ihn und rüttelte ihn an der Schulter, doch er rührte sich nicht. Sie schlug ihm mit der Faust auf den Arm, rief seinen Namen, dann rollte sie ihn herum, weg von dem Abgrund. Sein Gesicht war weiß, die Augen hatte er geschlossen. Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange, legte ihn auf die Seite, und endlich krümmte sich der eben noch leblose Körper hustend und keuchend zusammen, während Meerwasser aus Mund und Nase quoll. Als Kay wieder sprechen konnte, fragte er schwach: »Und was jetzt?« Erleichtert grinste sie ihn an. »Jetzt stehst du erst mal auf. Wir müssen uns aufwärmen. Dann gehen wir rüber.« Sie half ihm auf und nahm seine Hand, zog ihn zurück, den Weg, den sie gekommen waren, trieb ihn zu einem leichten Dauerlauf an, auf die Steigung zu, jenen Teil der Straße, den sie vorhin trocken und sicher und voller Hoffnung hinter sich gebracht hatten. Kay hustete und rang nach Atem, doch sie hielt seine eisige Hand fest umklammert und zwang ihn, ihr zu folgen, während die Straße, begleitet von den schmalen schwarzen Stahlbögen, anzusteigen begann.
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»Kann … das … nicht … verdammt …«, keuchte er. »Aye. Du kannst«, keuchte sie zurück. Allmählich, während sie aufwärts liefen, kehrte ein wenig Leben, ein wenig Wärme in ihre Körper zurück. Auf halbem Weg nach oben fühlte Mira, dass sich ihre zerschlagenen, bleischweren Glieder nun leichter bewegten. Sie wirbelte Kay herum, um im Laufschritt zu dem Abgrund zurückzukehren. Und noch im Laufen vernahm sie etwas, was ihr das Blut wieder in den Adern gefrieren ließ – das schwache, sich nähernde Dröhnen von Motoren. Sie blieb stehen und lauschte. Was war es? Ein zweiter Helikopter? Kay ließ mit keiner Bewegung erkennen, dass auch er es gehört hatte, und es machte keinen Sinn zu warten, was hinter ihnen auftauchen würde. Bereits jetzt kroch ihnen die Kälte wieder in die Glieder. Wenn sie die Lücke in der Straße überqueren wollten, musste es jetzt geschehen, bevor sie jegliche Willenskraft zum Weitergehen verloren. Sie lief wieder los, Kay neben ihr, Hand in Hand stürmten sie den trockenen Abhang hinab und auf die nasse Ebene. Kay atmete schwer, sagte aber nichts, gefangen in seinen eigenen Gedanken. Als sie den Abgrund erreichten, kam es ihnen so vor, als würde das Wasser jetzt noch lauter brüllen. Wahrscheinlich war es ein Segen, dass die Dunkelheit der Nacht das Schlimmste vor ihren Augen verbarg.
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»Also gut«, sagte sie entschlossen zu Kay. Sie musste Stärke zeigen, für sich und für ihn. »Wir müssen es jetzt tun, ohne darüber nachzudenken und – wenn möglich – ohne wieder zu sehr auszukühlen. Es ist ganz einfach. Wir nehmen uns einen Jackenärmel – hörst du mir zu? –, einen Jackenärmel, strecken einen Arm hindurch und verdrehen den Ärmel, dass er nicht verrutschen kann. Dann benutzen wir die andere Hand, um uns am Seil entlangzuziehen, oder zu schwimmen, wenn das leichter geht. Es sind zehn Meter. Nur zehn Meter. Zähl sie auf dem Weg ab.« Sie drückte seine Hand und spürte eine schwache Erwiderung. Sein Gesicht war dem donnernden, zischenden Wasser zugewandt. »Nur zehn Meter. Wer geht zuerst?« »Du.« »Du kommandierst mich genauso herum wie meine Schwester. Ich dachte, du wärst anders …« Sie ging mit ihm bis zur Kante, half ihm, sich hinzulegen und unter Wasser nach dem Jackenärmel zu tasten. Eine halbe Minute verging, und dann, endlich, ließ er sich in die See gleiten … und war augenblicklich ihren Blicken entzogen, egal wie angestrengt sie die schwache Helligkeit des Schaums mit ihren Augen absuchte. Ob er vorwärts kam oder bei der ersten Bewegung von der See hinweggerissen worden war, konnte sie nicht sagen. Wie auch immer, er war nun auf sich allein gestellt. Und jetzt bin ich dran …
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Sie legte sich auf die nasse Straße und fand problemlos die festgezurrte Lederjacke, packte den Ärmel und schob ihre Hand hinein, kämpfte gegen das Wasser an, wie sie es zuvor getan hatte. Dann, um zu verhindern, dass die Angst sie doch noch übermannen könnte, sprang sie ins Meer. Ihr fehlte die Luft zum Atmen, sie hatte keine Kraft mehr und die saugende Strömung riss und schob sie ständig auf Kays Seil zu. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, aus dem Ärmel zu rutschen; das wogende Wasser hatte sie heftig herumgerissen, und selbst wenn sie es gewollt hätte – sie hätte sich nicht mehr lösen können. Mit ihrer freien Hand griff sie nach vorn und erreichte das Stahlseil, verlor es einen Moment lang wieder, packte es ein zweites Mal und hievte sich weiter. Sie spürte, wie die Jacke sich durch den Zug hinter ihr verhakte, und schüttelte sie frei. Dann ein erneutes Hieven und Ziehen. Sie machte eine Pause, kletterte halb auf das Seil, um dem andrängenden Wasser zu entkommen und erneut Luft zu holen. Dann wieder hinab und voran. Ein Meter. Zwei Meter. Drei? Nach einer Zeit, die ihr endlos erschien, war sie sich nicht mehr sicher, wie weit sie tatsächlich gekommen war. Es war am besten, einfach mit dem Hieven und Ziehen weiterzumachen, immer weiter, bis es nicht mehr ging. Bereits jetzt machte sich die Kälte bemerkbar, raubte ihren Fingern, die doch stets
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wissen mussten, wo das Seil war, die nicht aufhören durften zu ziehen, jedes Gefühl. Ihre Entschlusskraft, mit der sie gestartet war, verflüchtigte sich zusehends. Ehrwürdige Väter … Wie lang die Strecke war – es war ohne Bedeutung. Das Wissen darum entzog sich ihren Sinnen. Aber endlich, in einem anderen Leben, einer anderen Wirklichkeit, wurde ihr bewusst, dass sie Mira war, dass sie lebte, und dass sie mit ihren Händen die ersten Streben jenes Metallgerüsts umklammerte, das vor Urzeiten in das Fundament der Straße eingelassen worden war, um sie zu stabilisieren. Kay war auch da – seine Hand hatte ihr aus dem Wasser geholfen. »Alles klar?«, keuchte er. Sie nickte, zu erschöpft, um zu sprechen. Langsam kletterten sie weiter hinauf in das wankende, zitternde Netz aus Metall, dorthin, wo die Streben trocken waren und leichter zu greifen. Dann richteten sie ihren Blick wieder auf das vor ihnen liegende Ufer, nach Frankreich. Nachdem sie etwa fünfzig Meter weit gelaufen waren, schaute Mira zurück. Die klaffende Lücke war immer noch in Sicht, schwach beleuchtet durch einen wolkenverhangenen Mond. Sie glaubte, dort eine Gestalt stehen zu sehen und eine dunkle Masse ein paar Meter dahinter, groß genug, dass es ein Transporter hätte sein können. Und während sie noch hinschaute,
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schien sich die Gestalt vornüberzubeugen, direkt am Abgrund. Dann war sie verschwunden. Sie sagte Kay nichts davon. Atem war kostbar. Außerdem war es gut möglich, dass ihre Sinne ihr einen Streich gespielt hatten.
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29 Der frühe Morgen in den Bergen schmeckte würzig und kühl. Wenn man reisen musste, war dies die richtige Zeit zum Aufbruch. Um neun Uhr würde die Sonne wie mit einer Eisenstange auf sie einschlagen. Die kleine Prozession verließ Le Porge vor Sonnenaufgang. Marie, schlank und munter, übernahm die Führung, unterhielt sich mit Maman und half ihr mit den Körben. Ihnen folgten zwei der sechs Fremden, deren Boot noch immer am Ufer lag. Ihre Haut war dunkel gebrannt von unzähligen Tagen, die sie im Freien verbracht hatten, und beide trugen lange Schnurrbärte. Die kleine Adeline tanzte um sie herum, ein leuchtender Farbklecks in ländlichem Gelb und Rot, der sich von den verblichenen Tuniken und den hellen, breiten Hüten der Männer abhob. Sie stellte ihnen unentwegt Fragen. »Wie heißt ihr? Woher kennt ihr Marie? Warum geht ihr mit uns hinauf in die Berge? Werdet ihr das Essen kochen? Maman kocht nicht gerne! Warum antwortet ihr nicht?« Wie ein winziges Vögelchen zwischen zwei graufelligen Eseln flatterte sie zwischen ihnen hin und her. »Gib Ruhe, Kleine«, lachte Marie über ihre Schulter nach hinten. »Du musst nicht glauben, dass jeder 517
so gerne redet wie du. Vielleicht möchten Eric und sein Bruder ganz einfach ungestört wandern und sich umschauen. Das solltest du übrigens auch tun.« »Eric!« Wie ein Habicht stürzte sich Adeline auf dieses Stück Information. »Oh, was für ein hässlicher Name. Wer von euch ist Eric? Bist du es, Monsieur?« Sie zupfte den einen Mann an seinem Hosenbein, und er schaute mit einer langsamen Neigung seines Kopfes zu ihr hinab, wobei er zum Scherz die Zähne fletschte. Unsicher blickte sie ihn an und trat einen Schritt zurück. »Mein Bruder da drüben, das ist Eric. Er hat den hässlichen Namen, kleine Echse. Ich heiße zum Glück Serge.« »Ach, Monsieur«, sagte das Mädchen mit ernsthaftem Gesicht, »das tut mir aber Leid. Serge ist ja noch viel schlimmer.« Der Mann mit dem Namen Eric lachte laut, und Serge fiel mit ein, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. »Hört sie euch an!«, sagte Maman, halb stolz, halb ängstlich, dass ihre Tochter jemanden beleidigt haben könnte. »Mit ihrem Geplapper könnte sie selbst die Berge zum Reden bringen.« »Ja«, nickte Marie. »Eine wundervolle Gabe.« Sie stiegen stetig an, machten oft Rast, um Obst zu essen und Wasser zu trinken, wobei sie auf der schattigen Seite des Tals blieben, wann immer das möglich war. Schon bald lief ihnen der Schweiß über den
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Körper und das kleine Mädchen verstummte und wurde abwechselnd von den Erwachsenen getragen. Als der Morgen schon weit fortgeschritten war, erreichten sie den niedrigen Zwillingsgipfel, hinter dem sich die Hütte befand. Der Mann namens Serge blieb zurück. Mit Gegenständen aus seinem Rucksack fing er an, sich einen Unterstand aus festem Tuch zu bauen, der sich eng an den blanken Fels schmiegte und dieselbe graubraune Farbe aufwies, als wäre er mit dem Stein verwachsen. Sie verließen ihn, als er gerade Wasser für Kaffee kochte und sich niederkauerte, um das lang gestreckte, mit Büschen und Gestrüpp bewachsene Tal zu beobachten, durch das sie gekommen waren. »Aber warum gehst du nicht mit uns?«, fragte Adeline traurig und legte ihm ihre kleine Hand auf die Schulter. »Ich war schon mal in der Hütte. Dort ist es schön kühl und es gibt auch Wasser.« Er schenkte ihr ein schroffes Lächeln. »Ich bin der Torwächter und werde alle Gäste willkommen heißen, die auf der Suche nach dir hierher kommen, kleine Echse. Jetzt lauf. Deine Maman wartet.« Sie gingen weiter. Das Kind ritt auf Erics Schultern und umklammerte mit den Händchen seinen breitkrempigen Hut. Die Hitze machte ihren Weg nun doppelt beschwerlich. Man musste sich konzentrieren und auf jenes Schwindelgefühl achten, das die Füße stolpern und einen womöglich kopfüber den Schotterabhang hinabsegeln ließ. Mamans Kleid war
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feucht und hing schlaff an ihrem Körper herab, selbst Marie in ihren kurzen Hosen und der schmucken "Weste wirkte weniger spritzig als bei ihrem Aufbruch. Doch das kleine Mädchen kümmerte sich nicht um die Beschwernisse. Adeline schloss die Augen, saugte die Hitze in sich hinein, hörte sie zwischen den Felsen vibrieren und in dem niedrigen Gestrüpp rascheln. Es war nicht üblich, sich um diese Zeit draußen in der Sonne aufzuhalten, aber wenn es nicht zu vermeiden war, sollte man die Hitze als einen Freund begrüßen. So jedenfalls sah sie die Sache. Und dann, als sie die herrlich kühle Hütte erreichten, konnte sie den irdenen Boden riechen, lehnte ihren Rücken gegen die Steine und spielte in den Schatten der Hüttenwände Verstecken. »Werden sie wirklich kommen?«, fragte Maman Marie, nicht zum ersten Mal. »Ist mein kleiner Floh für sie so wichtig?« Und wie zuvor sagte Marie nur: »In der kalten Jahreszeit schließt man die Läden, selbst wenn der Monsun noch weit entfernt ist.« In ihrem Geiste ging sie die notdürftigen Maßnahmen durch, die sie für den Ernstfall treffen konnte, und hoffte inständig, dass der Monsun niemals kommen würde.
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30 Ärgerlich betrachtete Moore den schwarzen, keilförmigen Schemen des Helikopters, der am Ende der Brücke hockte, direkt zwischen den Pfählen, die die französische Grenze markierten. Sie waren einfach zu nichts zu gebrauchen! Das Pax-Team schwatzte mit den französischen Grenzbeamten. Zigarettenrauch stieg auf und unter einem Bogenlicht klickten schimmernde Würfel. Kein Zweifel – sie verspielten gerade Ausrüstung und Gehalt. Er war schon fast bei ihnen, als sie ihn endlich bemerkten, obwohl hinter der zerrissenen Wolkendecke das erste Licht des Tages schimmerte. Als sie seiner gewahr wurden, sprangen sie auf und griffen nach ihren Waffen. Aber irgendjemand hatte sie wohl informiert, denn sie zögerten und legten nicht auf ihn an. Dann, als er noch näher kam, sahen sie den Enforcer-Ring um seinen Hals, stießen sich gegenseitig an und kicherten. Er war von Herzen froh über die Tatsache, dass seine kleine Mira von diesem nutzlosen Haufen nicht erwischt worden war. Wenn er wollte, könnte er den Enforcer-Ring jederzeit entfernen, direkt unter ihren Augen, bevor sie noch Gelegenheit hätten, ihre Waffen zu zücken. »Sie haben wohl nichts gesehen, nehme ich an, oder?«, fragte er den Dienst habenden Korporal. 521
»Gar nix«, antwortete der Mann fröhlich. »Den Weg sind sie nicht gekommen. Sind wahrscheinlich über das abgebrochene Stück gespült worden. Direkt ins Meer hinein.« Moore lächelte nicht. Er schaute zum Helikopter und deutete darauf. »Sie führen ein Schlauchboot bei sich, nicht wahr?« »Klar«, erwiderte der Mann. »Falls wir mal im Bach landen.« »Gut. Ich brauche es. Und Vorräte für eine Woche. Und noch Treibstoff für den Motor.« »He, du machst wohl Witze, Kumpel! Das ist unsere Notfallausrüstung.« Moore bemerkte, dass die anderen Männer ihrem Gespräch lauschten, sich an den Kopf tippten und über seine Unverfrorenheit lachten. Ungerührt fuhr er fort: »Und wenn Sie mich dann mit den Sachen vor der Küste abgesetzt haben, können Sie alle nach Hause fliegen zu Ihren Mamis. Noch Fragen?« Bei seinen Worten sprangen sie auf die Füße, kreisten ihn ein. Vergnügt dachte er, wie viel Spaß es machen würde, ihre Köpfe ein wenig zu zerbeulen und ihre Egos zu stutzen. Doch stattdessen schaltete er den Kommunikator ein und nahm Verbindung mit dem Barbieri-Welpen auf. »Ja, Moore? Was haben Sie für mich?« Hunter. Soso. Nicht der Wunderknabe. Er erklärte, wo er war und was er brauchte. Es gab eine Pause, während am anderen Ende seine Forde-
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rung weitergeleitet wurde. Moore konnte sich gut vorstellen, dass Jan nicht mehr viel Entschlusskraft übrig hatte, zumindest für den Moment nicht, jetzt da die Satelliten ausgefallen waren, in der Stadt Aufruhr herrschte und sich die Flüchtlinge auf französischem Boden befanden. Er bezweifelte außerdem, dass Tilly Saint bereits gefasst worden war. Sie hatte Klasse. Ts, ts. Ein schöner Schlamassel, den die IKSV bei ihrer Ankunft vorfinden würde, auch wenn diese Idioten nicht die geringste Bedeutung hatten. Wahrscheinlich hockte der Junge gerade irgendwo in einer Ecke und schmollte, weil seine ganzen neuen Spielsachen kaputtgegangen waren. »Moore? Sind Sie noch dran?« »Check. Ich bin hier, Hunter.« »Okay. Sie haben die Genehmigung fortzufahren, wie Sie vorgeschlagen haben. Aber ich muss wohl nicht extra betonen, dass Sie nichts mit uns zu tun haben, falls die Franzosen Sie dabei erwischen, wie Sie irgendwelchen Unsinn anstellen. Nicht solange wir noch keine Erlaubnis für Operationen in ihrem Land haben. Die Anfrage läuft bereits.« »Verstanden. Wie wär’s, wenn Sie jetzt dieses Scheißteil deaktivieren, dass Sie mir verpasst haben? Immerhin bin ich jetzt die einzige Chance, die Sie noch haben.« »Wie wär’s, wenn ich einfach den Knopf drücke, damit ich Ihr dämliches Geschwätz nicht mehr hören muss?«
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Moore grinste den Kommunikator an. »Ich habe verstanden, Hunter. Soll ich Sie jetzt an Korporal Sonnenschein weiterreichen?« »Einen Moment noch. Wir glauben, dass Kay Saint und das Mädchen auf dem Weg zu einem weiteren Ersatz aus derselben genetischen Serie sind. Wissen Sie etwas darüber?« »Negativ. Es gibt mindestens eine SchläferGemeinschaft in Frankreich, aber ich weiß nicht wo. Wächter haben nie Kenntnis darüber, wo sich die anderen befinden; das sollten Sie wissen.« Pause. »Verstanden. Ich dachte nur, fragen schadet nichts. Haben Sie sonst noch was zu sagen?« »Nur dass es mich nicht überraschen würde. Mira – der Ersatz, den ich beaufsichtigen sollte – ist ganz der Typ dafür. Wenn die sich was in den Kopf gesetzt hat …« »Okay. Geben Sie mir jetzt den Korporal, und ich werde dafür sorgen, dass Sie bekommen, was Sie brauchen. Viel Glück.« Wortlos schnallte Moore den Kommunikator von seinem Handgelenk und reichte ihn dem Offizier. Genüsslich beobachtete er, wie sich das Gesicht des Mannes zu resignierter Wut verhärtete, während er Hunters Befehlen lauschte. Zwanzig Minuten später ließ er sich aus fünfzehn Metern Höhe – und in ausreichender Entfernung zum Land, damit ihn die französischen Beamten
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nicht sehen konnten – ins eiskalte Salzwasser fallen, zog die Leine, mit der das Schlauchboot automatisch aufgeblasen wurde, und wuchtete den Außenbordmotor aus der luftdichten Kiste, die neben dem Boot trieb. Das kleine Gefährt wurde hin und her geschleudert, bis er den Motor befestigt hatte, doch danach, als er mit dem Bug stur nach Südosten steuerte, war das Schaukeln halbwegs erträglich. Allmählich nahm die Küste Frankreichs Gestalt an. Felsen, Seegras, vereinzelte Bäume und ab und zu ein Haus waren jetzt deutlich sichtbar. Moore befestigte die kleine Pinne an dem dazugehörigen Gummiband, machte es sich im Heck bequem und riss eine der Nahrungsrationen auf. Stirnrunzelnd betrachtete er den wenig appetitlichen Inhalt. Unfreiwillig musste er an die Mahlzeiten in der Siedlung denken, wo Mira aufgewachsen war. Man kam aus der klaren Kälte hereingestapft, fand gutes Bier und Brot vor – und seine kleine Mira, die neben den anderen Frauen stand und mit ihnen die Männer bediente. Wie sie errötet war, wenn ihre Blicke sich trafen! Wie sie ihn herausgefordert hatte mit ihrem scharfen Verstand! Es war bedauerlich, dass die Stadt sie verdorben hatte. In einem anderen Leben hätten die Dinge vielleicht anders für sie laufen können. Sie wäre eine würdige Partnerin gewesen, oh ja, ganz sicher!
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Mira war warm. Warm. Es gab keinen Zweifel: Sie war schließlich doch zu den Geistern gegangen, und sie waren es, die sie wärmten, sie willkommen hießen. Licht hüllte sie ein. Es war ein Wunder. Unpassend wirkte nur die Tatsache, dass ganz in der Nähe ein scheinbar großes Insekt summte. Hatten auch Insekten Geister? Warum eigentlich nicht? Sie waren nicht besser und nicht schlechter als Menschen, nicht wahr? Die Wärme war überall, breitete sich in ihren Beinen, in ihrem Bauch, ihrem Nacken und ihrem Gesicht aus. Das Licht schien rosa durch ihre geschlossenen Augenlider, und sie spürte, wie ihr Körper sich daran labte. Hinter ihr, ganz in der Nähe, war etwas Tröstendes und Schützendes, von dem aus noch mehr Wärme in ihren Rücken strahlte. Das Ding atmete sanft, direkt gegen ihren Nacken. Sie kuschelte sich noch näher heran und das Ding seufzte im Schlaf auf. Eine Hand, von der sie nicht bemerkt hatte, dass sie auf ihrem Bauch lag, bewegte sich leicht und war dann wieder ruhig. Mira öffnete die Augen, blinzelte im gleißenden Licht. Vor ihr stieg ein kleiner Wald aus bleichen, zotteligen Gräsern auf und fiel dann sanft ab, ging in ein kahleres, gräulich gelbes Land über, das wiederum im Ozean mündete. Der Boden an ihrer Wange war rau und körnig. Über allem schien die Sonne und es
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regte sich kaum ein Lufthauch. Selbst das grüne Wasser schien Frieden zu geben. Frankreich. Dies ist Frankreich. Sie lächelte und schloss wieder die Augen, drückte sich fest in Kays schläfrige Umarmung. Später war immer noch Zeit zu handeln. Im Hintergrund brummte das Insekt, umkreiste sie hartnäckig und flog dann doch davon in Richtung Süden, auf die Sonne zu. Als sie das nächste Mal erwachte, hatte sich ihre Welt erneut verändert, sodass ihr beinahe Zweifel an dem Anblick gekommen wären, der sich ihr vorher geboten hatte. Es war fast dunkel. Die Sonne ging hinter einer dicken Wolke unter, die sich am Firmament aufgetürmt hatte und rasch näher kam. Zwei schwere Tropfen fielen auf ihre Wange und ihre Augenbraue. Widerstrebend setzte sie sich auf, lehnte sich gegen den Steinhaufen, der sie in ihrem Schlaf geschützt hatte. Ihr Herz klopfte, entwöhnt von so viel Ruhe nach den schlaflosen und erschöpfenden Tagen, die sie davor erlebt hatte. Kay war nirgends zu sehen. Die See war wieder schwarz und Mira hörte die saugende Brandung der schweren Wellen. Sie war hungrig und durstig, und ihre Haut juckte unter der Kruste aus Salzwasser, die über ihr lag und auch ihre Haare verklebte. Ein Bad wäre fein. Dann erinnerte sie sich vage, dass in der Nähe ein
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Bach verlief, ein kleines Rinnsal in einem Miniaturtal – es schlängelte sich irgendwo zu ihrer Rechten ins Meer. Sie hatte es wohl in der Nacht bemerkt, oder vielmehr an diesem Morgen. Waren sie tatsächlich erst heute Morgen hier angekommen? War es noch derselbe Tag? Das konnte doch nicht sein. Der Regen fiel nun dichter. Taumelnd rappelte sie sich auf die Füße und lief auf steifen, schmerzenden Beinen dorthin, wo das Band frischen Wassers im Sand lag, ganz wie sie es in Erinnerung hatte. Ihre Füße waren nackt und sie trug nur noch die obere Hälfte des fremdartigen schwarzen Kampfanzugs sowie ihre Unterwäsche. Die dicke, unbequeme Motorradjacke, ihre Schuhe und das Unterteil des Anzugs waren irgendwo auf der Strecke geblieben, zweifellos in Fetzen gerissen. Sie versuchte, sich zu erinnern, wo das gewesen war, während sie sich in dem Bächlein wusch. Aye. Da war die schier endlose Fahrt. Die Flucht vor dem Helikopter. Die schreckliche eisige Passage über den Abgrund. Und dann der Aufstieg, hinauf auf die frei liegenden Abschnitte der Straße. Doch dann, viel später, nachdem sie oben waren, waren sie auf ein weiteres zerstörtes Teilstück getroffen – natürlich! Erst da hatte Mira bemerkt, dass sie zuvor vergessen hatten, die Jacken mitzunehmen, und sie stattdessen am Seil hängen gelassen hatten. Aber das Glück war auf ihrer Seite: Ein schmaler, stabiler Teil der beweglichen Verbindung hatte der Wut der Ele-
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mente hartnäckig widerstanden, obwohl auch dieser Teil ziemlich ramponiert war. Aber es war ihnen möglich gewesen, darüber hinweg auf den intakten Teil der Straße zu kriechen, wobei sie sich ängstlich festklammerten, wenn die Wellen über sie hinwegschwappten. Danach waren sie nur noch gerannt. Mit schweren Beinen, hoffnungslos langsam in ihren durchnässten Kleidern. Es war wie ein Blindflug in schwarzer Nacht gewesen. Sie hatten sich an den Händen gehalten und ständig auf das Motorendröhnen des Helikopters gelauscht. In diesen Augenblicken hatte sie ihre Reise durch das Eis ein zweites Mal durchlebt. »Treibstoff«, hatte Kay gesagt. »Sie können nicht endlos Sprit verbrauchen, nur um nach uns zu suchen. Nicht einmal Pax ist dazu in der Lage. Es würde die Rationen von mehreren Monaten auffressen …« Aber sie hatte an Evan gedacht und an Seans Behauptung, nicht einmal ein Schiff sei ein sicherer Hafen. Wenn Treibstoff vonnöten war, würden sie ihn sich irgendwie besorgen. Und dann, als sich das erste zarte Licht im Osten zeigte, hatten sie endlich die Landmasse erblickt, niedrig und dunkel. Frankreich. Sicherheit. – Sicherheit? Vor ihnen, dort wo die Straße wieder auf festen Grund traf, liefen Gestalten hin und her … Sie hatten keine Wahl gehabt. So weit wie möglich waren sie auf der schwimmenden Straße geblieben, waren dicht an der dunklen Metallwand entlanggek-
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rochen und hatten dann den Helikopter gesehen, der bewegungslos ihren Weg blockierte. Sie hatten sich ihrer schweren Kleidungsstücke entledigt – wobei ihre Finger immer wieder von Knöpfen und Reißverschlüssen abgeglitten waren –, waren über die Metallbarriere geklettert und hatten sich ins Meer fallen lassen. Und irgendwie, irgendwie war es ihnen gelungen, ans Ufer zu kommen. Mira erinnerte sich dunkel daran, dass sie Kay ein Stück schleppen und dabei sein Gesicht über Wasser halten musste. Jetzt, in Erinnerung an diese höllische Reise, erschauerte Mira und sandte ein Dankgebet in den Äther für ihre glückliche Ankunft an diesem Ort – Frankreich. Tief tauchte sie die Hände in das klare fließende Nass des Baches, schöpfte sein Wasser, und dann, als sie die schlimmsten Salz- und Schweißflekken von Gesicht und Nacken abgewaschen hatte, beugte sie sich hinab, um zu trinken. Ganz in der Nähe erklang Kays Stimme. »Das würde ich nicht tun. Es ist nicht sauber.« Sie erhob sich und sah ihn näher kommen. Er lief vorsichtig und trug fremdartige, weit fallende Kleidung aus einem groben Stoff. Ein Bündel lag über seinem Arm. Darin befanden sich weitere Kleidungsstücke, die denen, die er trug, ähnelten, eine alte Plastikflasche mit Wasser und etwas, was wie Käse aussah. »Weiter oben weiden Tiere, Ziegen, glaube ich«, sagte er. »Ich nehme an, die pinkeln in den Bach.
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Hier, ich habe dir was zum Anziehen besorgt. Und sauberes Wasser.« Dankbar nahm sie die Flasche entgegen. »Woher?« »Da wohnt eine alte Frau. Ziemlich verrückt und völlig vereinsamt. Sie hat ewig geschwatzt. Ich konnte sie nicht unterbrechen. Sie hat mich gezwungen zuzuhören, hat mir alles über ihren Sohn erzählt, der sie dazu überreden will, in die Stadt zu ziehen, bevor es zu spät ist. Aber sie sagt, sie kann den Ort, an dem sie geboren wurde, nicht verlassen. So was in der Art jedenfalls. Mein Französisch ist nicht mehr besonders gut. Dann hat sie mir das Zeug hier gegeben. Sie wusste übrigens von dir. Sie muss uns gesehen haben, als wir schliefen.« »Also ist sie freundlich?« »Ja, sie war sehr freundlich.« »Deine Füße sind wund. Von der Brücke.« Er zuckte mit den Schultern. »Ja.« Sie standen da und betrachteten einander wortlos. Es regnete jetzt heftig, Wasserschnüre fielen auf die Oberfläche des Bachs, und der Himmel hatte eine dämmrige eisengraue Farbe angenommen. Wieder senkte sich eine Nacht blitzschnell über sie. Mira hatte Schwierigkeiten, klar zu denken. Immer ein Schritt nach dem anderen, nicht wahr? Sich waschen, etwas trinken, frische Kleider – das war für den Moment genug. Alles, was sie wusste, war, dass sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, die Portable Road, die Überwachungskameras, den Schmutz, die Geburten-
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genehmigungen. Sie war wieder frei, befand sich auf offenem Land, wirklichem Land. Es fühlte sich gut an, aber fremdartig. Sie musste es erst prüfen, wie einen gebrochenen Knochen, der wieder zusammengewachsen war und den man nach vielen Monaten erstmals bewegen konnte. Und dann stand da dieser Junge, praktisch ein Fremder, der sie begleitet hatte. Jetzt da sie endlich ein bisschen Zeit für sich hatten, fühlte sie sich befangen in seiner Gegenwart. Die vertrauten Rollen, die sie in der Stadt gespielt hatten, zählten nicht mehr. Seine Mutter – die sie selbst, Mira, war – hatte sie gebeten, ihm klar zu machen, dass alles, was passiert war, »aus Liebe geschah«, aber wer war sie denn, dass sie sich dazu erdreisten konnte, ihm etwas »klar zu machen«? Sie war sich vage dessen bewusst, was ihn bedrückte. Zunächst hatte er gegrollt, weil er kein gemachtes Ding war – kein Klon. Dann hatte er sich in diesem Bewusstsein gesonnt, und jetzt war er wütend, weil er herausgefunden hatte, dass er genau das war – ein Klon. Nae, das war viel zu kompliziert, viel zu verwirrend. Wie sollte sie das für ihn wieder zurechtbiegen? Sie war doch auf der Suche nach ihren eigenen Antworten. Es wäre schön, allein zu sein, dachte sie, schön, wenn sie ihren Körper ordentlich reinigen und in Ruhe wandern und nachdenken könnte. Nach der beängstigenden Lethargie, die Kay gestern an den Tag gelegt hatte, schien er heute voller
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nervöser Energie, zappelte hin und her, warf ihr kurze Blicke zu, rieb seine Nase und aß kleine Bröckchen Käse. »Wir können hier nicht bleiben«, sagte er. »Sie werden nicht aufgeben. Nicht Jan Barbieri. Die französischen Familien werden ihm ihre Unterstützung zusagen, wenn er darum bittet. Außerdem hasst er mich.« Sie seufzte – und dachte an Gil; auch er durfte nicht außer Acht gelassen werden. Die Erinnerung an jene Gestalt hinter dem schäumenden Meeresabgrund stieg wieder in ihr auf. Sie fragte sich, ob sie Kay davon erzählen sollte, aber sie sah keinen Sinn darin. Schließlich war es nur ein Verdacht. »So«, sagte sie schließlich. »Wir werden also weiterhin gejagt. Wohin müssen wir von hier aus gehen, um das Kind zu finden?« »Die Kleine lebt in einem Dorf unten im Süden. Meilen um Meilen um Meilen weit weg. Fast so weit, wie du von deiner Siedlung in die Stadt gegangen bist. Das Dorf heißt Le Porge.« Sie dachte nach. »Sollen wir uns ein Boot besorgen? Wir könnten doch an der Küste entlangfahren. So bin ich einen weiten Teil der Strecke in die Stadt gereist: mit einem Schiff um das Land herum.« »Vielleicht. Wenn wir ein Boot auftreiben. Und wenn wir herausfinden können, wie es dahin fährt, wohin wir wollen. Ich weiß nämlich nicht, wie man das anstellen muss. Aber vielleicht ist es besser, auf
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der Straße zu bleiben. Die Pfahlwege hier sind so ähnlich wie bei uns zu Hause fast völlig überspült, und es benutzt sie kaum noch jemand.« »Aber deine Füße. Wie willst du mit diesen Wunden laufen?« »Ach, das wird schon gehen. Ich werde einfach die Schuhe auspolstern, die ich von der alten Frau bekommen habe.« Mira betrachtete ihn und bemerkte, dass er all dies, ihr Unterwegssein, genoss, von Anfang an genossen hatte. Schon als er sie mit nach Hause in den gläsernen Turm genommen und von Flucht geredet hatte. Schon damals hatte er seine Flügel ausgebreitet. – Fast wären sie ihm gestutzt worden, aber nun da die unmittelbaren Gefahren fürs Erste überstanden waren, schien ihre Flucht für ihn wieder zu einem Spiel zu werden, zu einem Abenteuer. Doch Mira war sich nicht sicher, ob er die Kraft für eine solch weite Reise hatte. Und möglicherweise kämen wir allein -jeder für sich – besser voran. Solche Gedanken beschämten sie. Immerhin hatte er ihr geholfen, hatte ihr in der Stadt unzählige Geschenke – Nahrung – gebracht und sein Zuhause verlassen, um mit ihr zu kommen. »Wir könnten diese alte Dame fragen, meine ich«, sagte sie. »Vielleicht kennt sie den Weg.« Aber als sie den Hang hinauf zu dem Haufen rauer, aufeinander geschichteter Steine gestiegen waren, der sich als Behausung der Frau herausstellte, und als die winzige Kreatur, die die Tür öffnete und
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mit strahlenden Augen um die Ecke blickte, anfing zu sprechen, da konnte Mira kein Wort verstehen. »Onkor! Onkor!«, zwitscherte die Frau. »Schä la schons. Wrämon. La Schons. E la petit fie osie! Ontree. Ontree!« Die Tür wurde ihnen weit geöffnet und aus dem Innern des Hauses drang ein scharfer Geruch nach Ziege. »Was hat sie gesagt? Ich verstehe überhaupt nichts.« »Das ist Französisch. Man spricht hier Französisch. Sie freut sich, uns zu sehen, und bittet uns herein.« Französisch. Wie sollte sie das kleine Mädchen finden und es retten, wenn sie nicht einmal verstand, was die Leute hier sagten? Noch ein Umstand, der sie an Kay band. Sie standen auf einem Boden aus festgetretener Erde. Ziegen beschnüffelten sie und der Rauch des Feuers brannte in ihren Augen. Kay sagte: »Nu dewon allee o pirinee. Pur woar ünamie.« Die kleine Frau umklammerte sein Handgelenk und sagte mit großen Augen: »Lee pirinee? Lee pirinee? Me se loa. Tree, tree loa disi.« Kay erwiderte: »Ui. Sche se. Me kommor ess kon peri allee?« Da sie nicht in der Lage war, dem Gespräch in dieser seltsamen Sprache zu folgen, kraulte Mira die hügeligen Köpfe der Ziegen und schaute sich in dem Raum um. Die Wände hatten sich durch den Rauch gelb verfärbt. Sie fragte sich, was es war, das als
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Brennstoff diente, und warum die Frau nicht dafür sorgte, dass das Feuer besser brannte. Sie beugte sich zu dem kleinen, offenen Kamin hinab, neben dem das verblasste Bild eines kleinen, lächelnden Mannes mit einem Bart hing, und versuchte, in den Rauchabzug hinaufzuschauen. Sogleich fühlte sie die kleinen, harten Finger auf ihrem Arm und eine Stimme zwitscherte ihr ins Ohr: »C’est un nid. Là. En haut. Un nid. Les hirondelles. Ils reviennent chaque printemps.« »Sie sagt, da oben sei ein Nest. Irgendein Vogel, der jedes Jahr wiederkommt.« »Das ergibt doch keinen Sinn. Dann müsste der Vogel ja jetzt dort oben sein. Es ist doch Sommer.« Aber vielleicht war es schon ein sehr altes Nest und den Vogel gab es gar nicht mehr … Mira lächelte die alte Frau an und nickte, und die Greisin nickte begeistert zurück und sagte: »Oh, mais tu es jolie, mon alouette.« »Sie sagt, du bist hübsch.« »Was ist mit dem Weg in den Süden?« »Den Teil habe ich nicht verstanden. Sie scheint uns sagen zu wollen, dass wir die Straße benutzen sollen, aber da war auch irgendwas über ein Monster. Ich weiß nicht genau. Sie redet so schnell.« »Oui. Oui!«, krächzte die Alte. »Un monstre! Très, très grand, et lent, mais …« Sie zuckte mit den Schultern und schien das Interesse an dem Gespräch zu verlieren. Stattdessen ging sie in eine Ecke und kramte suchend herum.
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»Ist sie verrückt?«, fragte Mira. »Ich glaube nicht. Nicht wirklich. Nur einsam und alt.« »Aye. Aber auch glücklich. Und frei.« Sie gingen zur Tür und Kay sagte: »Merci. Merci pour tout.« Aber die kleine Gestalt eilte ihnen nach und hielt Mira fest, bevor sie die Türschwelle übertreten konnte. Sie hielt ihr etwas unter die Nase, ein altes, vergilbtes Bild eines Mädchens, das neben einer Ziege saß. »Moi!«, keuchte sie. »J’étais jolie aussi, n’estce pas?« Kay flüsterte: »Das ist sie. Sie will wissen, ob sie auch so hübsch war wie du. Sag einfach oui und joli und nicke.« Mira tat, wie ihr geheißen, und küsste das alte Gesicht. Auf ihren Wangen spürte sie Tränen. Dann machten sie sich auf die Suche nach der Straße. Als das Schiff der IKSV im Hafen anlegte – ein gepflegtes, blitzsauberes weißes Gefährt, das an seiner Seite den Ring aus ineinander verschränkten Händen trug, das Wahrzeichen der Internationalen Krisenstrategie-Vereinbarung –, wurde es von drei tadellosen Reihen von Pax-Offizieren sowie einer Abordnung von sechs der zwölf Großen Familien begrüßt. Jan hatte sich genauso schmuck und beeindruckend herausgeputzt wie bei seiner Antrittsrede. Der Tag war der schönste, den die Stadt seit Monaten gesehen hatte. Ein Hauch von wässrigem Sonnenschein
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glomm durch einen organzazarten Wolkenschleier. Ausnahmsweise schwiegen die Winde, sodass der leichte Schlag des Wassers gegen den weiß gestrichenen Rumpf ungewöhnlich laut klang. Trotz der Rückschläge in den letzten vierundzwanzig Stunden war Jan Barbieri gut gelaunt. Er hatte heute Morgen aus dem Fenster seines Quartiers geschaut und zu seiner Überraschung erkannt, dass die Stadt ihm gehörte. Ihm! Der alte Tomas hockte in seiner Zelle und würde dort bleiben, egal was die Abordnung der IKSV dachte oder sagte. Kay Saint und das Mädchen hatten zwar das Land verlassen, doch sie spielten keine Rolle mehr: Wenn es nach ihm ging, konnten sie in irgendein Loch kriechen und dort verrotten. Er schob den Gedanken an die Informationen, die sie bei sich trugen, beiseite. Bis sie diese nutzen konnten, saß er zu fest im Sattel, um sich davon beeindrucken zu lassen. Vielleicht würde Moore sie schließlich doch noch erwischen. Was seine Clarissa anging – sie würde so zahm wie ein Kätzchen sein und schnell begreifen, wo ihre Zukunft lag; andernfalls würde sie überflüssig werden. Nicht einmal die Frau – ihre Mutter – stellte eine echte Bedrohung dar. Sie hatte einen armseligen Aufruhr angezettelt, hatte ihre Verbündeten aus den Reihen der Umstürzler auf den Plan gerufen und die Satelliten funktionsunfähig gemacht. Es war ein tapferes Unterfangen gewesen – selbst Jan musste ihren Mut bewundern –, aber ziemlich unnütz. Vor allem im Hinb-
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lick auf die Satelliten: Die Nachrichten, die ihm vorschwebten, waren ohnehin nur für die Augen und Ohren seiner auserwählten Stadtbevölkerung gedacht. Dafür brauchte er keine Satelliten. Alles in allem erschienen ihm die Dinge an diesem Morgen in einem anderen Licht. Seine Energie und Willenskraft kehrten zurück. Er fühlte sich voller Tatendrang. Es war lediglich Müdigkeit gewesen, sagte er sich, weshalb er so niedergeschlagen gewesen war, die Sorge um unwichtige Kleinigkeiten. Heute ließ er sich nicht einmal von dem Pochen in seiner verwundeten Schulter stören. Ein schweres Tau wurde von dem weißen Schiff aus an Land geworfen; oben an der Gangway erschienen eine Reihe blütenweiß gekleideter Matrosen, und Jan trat schwungvoll vor, um die Abordnung willkommen zu heißen. »Willkommen, Exzellenz. Willkommen, Madam. Willkommen in Britannien. Herzlichen Dank, dass Sie hier sind. Willkommen, Sir. Willkommen. Seien Sie vorsichtig mit der letzten Stufe, Sir.« Nacheinander gingen sie von Bord, acht vertrocknete, uralte Relikte in teuren Gewändern, angeführt von einem weißhaarigen Afrikaner, der ihn musterte, als sei er ein Laufbursche. Er schüttelte ihre Hände, neigte respektvoll den Kopf und ließ sie dann weitergehen zu Magnus und Pieter, die mit ernsten Mienen neben ihm standen, und danach zu den Oberhäuptern der anwesenden Familien: das alte Walross Bek-
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ker (Nahrungsmittel), George Denny (Transportwesen), Julie Walsh (Handel und Steuern), Angela Steele (Energieerzeugung) und Gustavo Copper-Smyth (Erziehung und Kinderfürsorge). Jeder der Anwesenden wusste, dass in diesem Land nun Jan allein am Hebel saß. Und weil sie das wussten, ertrug er die arroganten Blicke seiner Gäste mit einem geduldigen Lächeln. Er konnte sie sogar genießen. Sie waren eine Offenbarung. Als die Begrüßung vorüber war, bedeutete er seinem Sergeanten, die Männer stramm stehen zu lassen, und führte die Gruppe durch das Spalier aus grau uniformierten Soldaten zu dem bereitstehenden Transporter. »Hier entlang, bitte. Wir haben Erfrischungen für Sie vorbereitet. Sie müssen müde sein nach der Reise.« Man hatte das neue Dock mit einem Sandstrahler gereinigt und sowohl von Räudigen als auch von Idealen gesäubert. Ganze Teams hatten die Nacht hindurch gearbeitet. Die Fahrt durch die Stadt zum Pax-Gebäude führte nirgends an Stellen vorbei, die gestern durch den Aufruhr in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die Route war sorgfältig geplant. Auch würden die abstoßendsten Exemplare der Räudigen so lange von der Straße fern gehalten, bis der Transporter vorbeigefahren war. Magnus und Pieter hatten nun einmal auf all diese Spielchen bestanden – und warum auch nicht? Es schadete ja nichts. Also konnte man es auch überzeugend inszenieren und so
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tun, als ob diese IKSV-Mumien von Bedeutung wären. Was die Familien anging, die sich schließlich entschlossen hatten, die Abordnung nicht zu begrüßen – wahrscheinlich um ihrer Besorgnis wegen der Unruhen und besonders wegen des Ausfalls der Satelliten Ausdruck zu verleihen –, nun, die würden die Strafe für ihren Stolz schon noch erhalten. Nicht dass Jan im Moment nicht selbst einen gewissen Stolz empfunden hätte: Beim Anblick der Hundertschaften von klugen, gründlich arbeitenden Männern und Frauen, die in seinen Uniformen am Straßenrand standen und diese Fahrt bewachten, spürte er wieder einmal Überraschung über das, was nun in seinen Händen lag. Auch seine Eltern wären sicher stolz auf ihn gewesen. Es war seine Zeit – ihre Zeit. Die Zeit der BarbieriFamilie, um diese ihr angestammte Position an der Spitze einzunehmen. Er, Jan Barbieri, würde eine neue Ara einläuten. Beginnen würde er mit einer Säuberungsaktion in dieser großartigen Stadt, dann kam die Rache für den Tod seiner Eltern. Schließlich würde er seinen Blick auf die Möglichkeiten richten, die ihm die neue Technologie der Geburtenkommission eröffnete, das totale Screening … Mit einem neuerlichen Schock wurde ihm bewusst, dass er, Jan Barbieri, der Letzte der ursprünglichen Zucht war. Jetzt da er Magnus’ und Pieters Rat gefolgt war und die verbotenen Klonversuche – und ihre Ergebnisse – der IKSV offen gelegt hatte, gab es
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keine Alternative mehr zu der viel versprechenden neuen Technologie, es sei denn, er entschloss sich, genau den Prozess insgeheim wiederzubeleben, den die Wichtigtuer von der IKSV heute untersuchen wollten – oder, noch schlimmer, Kinder zu zeugen, und zwar auf die Ekel erregende und unzuverlässige Art, die die Räudigen praktizierten … Er lächelte innerlich, weil seine Gedanken nun abschweiften. Und doch … und doch – ein Kind, von ihm und Clarissa Saint auf die altmodische Weise gemacht, wäre sicherlich ein kaum zu übertreffendes Geschöpf. Er errötete bei dem Gedanken an Clarissa, an all die vielen Male, die sie ihn geneckt und ihm den Kopf verdreht hatte, nur um ihn wieder wegzustoßen, genau in dem Moment, in dem er anfing zu glauben, dass sie seine Aufmerksamkeit genoss. Ja. Wenn ihm ein wenig Zeit bliebe, würde er in ihr Quartier gehen und nachsehen, ob sie zur Vernunft gekommen war. Sie würde schon spuren, dafür wollte er sorgen. Sie war es wert, gezähmt zu werden. Die drei Fahrzeuge rollten langsam vorwärts, erklommen die Steigung, die vom Wasser wegführte, flankiert von Soldaten. Die Bildschirme am Straßenrand blieben ohne die Nahrung der Satelliten stumm, und Jan fühlte sich regelrecht erleichtert, dass er das ständige Geplapper und den Bilderwechsel nicht länger ertragen musste. An die Menschen – all die alten Sarahs –, die sich nach ein wenig Licht, nach ein bisschen Leben sehnten, das ihnen die Sendungen ins
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Haus brachte, dachte er nicht. Sie waren ihm egal. Nein, die Saints hatten mit ihrem Netzwerk eine Schwäche verbreitet. Und er, Jan Barbieri, würde die Stärke und die Konzentration zurückbringen. Wenn er sich eines Tages dazu entschloss, die Sendungen wieder aufzunehmen und in der Stadt auszustrahlen, würden sie diese Werte untermauern. Dann würde es keine Schwachen mehr geben. Zerstreut blieb sein Blick auf einem Bild kleben, das frisch auf ein Schaufenster gepinselt worden war: eine Schlange, die sich aus einem See erhob und ihn direkt anschaute. Er fragte sich, warum seine Leute die Schmiererei übersehen hatten. Handelte es sich um Vandalismus oder hatte der Ladenbesitzer selbst sein Eigentum derart verunstaltet? Er würde einem der führenden Offiziere eine Aktennotiz zukommen lassen, damit man sich darum kümmerte. Dieser Schlangenquatsch! Alle waren sie ganz wild darauf: die Arbeitslosen, die Drogenabhängigen, die Schwachen. Denen konnte man jede x-beliebige Lüge verkaufen und in ihrer Verzweiflung klammerten sie sich daran. Seit fast fünf Jahrhunderten aber regierten Vernunft und Wissenschaft die Menschheit und lieferten die einzig sinnvollen Antworten. Waren die Räudigen also Wilde, genauso wertlos wie der Abschaum, der Britannien bevölkert hatte, bevor die Griechen, die Römer und die Araber Ordnung in die Welt brachten? Jan schüttelte es. Die Schwäche der Mystiker, die
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Schwäche des Netzwerkes – alles würde hinweggefegt werden. Er merkte, dass sie schon fast angekommen waren. In seiner Tagträumerei hatte er sich womöglich unhöflich verhalten. Auf der anderen Seite des Transporters unterhielt sich Magnus mit dem älteren Afrikaner, Doktor Amarfio. Magnus Stein sah aus wie ein Mönch oder ein Engel oder ein Chirurg in der silbrig weißen Uniform der Geburtenkommission. Sein Haar besaß dieselbe Farbe wie seine Kleidung. Er erklärte dem Doktor gerade, dass sie Stoneywall besichtigen würden, um dort mit der Beweisaufnahme zu beginnen. Denn als Hüter dieses Ortes war den Vertretern der IKSV zu Ohren gekommen, dass die SaintFamilie dort einen Tresor gemietet hatte, um illegales Material zu lagern. Ungeduldig wedelte Amarfio mit der Hand und sagte mit seiner tiefen Stimme: »Nicht jetzt, wenn es recht ist, Mr Stein. Die Untersuchung hat noch nicht begonnen. Sie mögen Ihre Beweise darlegen, wenn Sie darum gebeten werden. Und wenn es so weit ist, werden auch die anderen Parteien Gelegenheit haben, ihre Standpunkte vorzutragen und zu belegen. Die Abordnung ist zwar auf Ihre Einladung und Ihr Verlangen hier, aber nicht um sich zum Werkzeug Ihrer politischen Ambitionen machen zu lassen.« »Natürlich. Natürlich. Ich bitte um Vergebung.« Der Mann in Silberweiß senkte entschuldigend seine Augen, doch Jan entging nicht der Ärger, der
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den schmalen Körper steif werden ließ. Vielleicht war es doch unklug gewesen – und unnötig noch dazu –, die IKSV auf den Plan zu rufen. Aber es schadete Magnus und Pieter gar nicht, wenn auch sie sich einmal irrten. Um vom Thema abzulenken, sagte Jan: »Exzellenz, wir erreichen jetzt das Pax-Hauptquartier. Möchten Sie und Ihre Begleiter gemeinsam mit uns eine Erfrischung zu sich nehmen, nachdem man Ihnen Ihre Zimmer gezeigt hat?« Wieder dieser Blick aus den blutunterlaufenen Augen. Als ob er unter irgendeinem Stein hervorgekrochen war. »Ich werde mich mit meinen Kollegen beraten«, sagte er steif. »Was mich angeht, so ziehe ich derzeit eine Dusche und eine ungestörte Meditation Speisen und Getränken vor.« Das Ergebnis der Beratung war, dass alle anderen IKSV-Offiziellen sich der Meinung des Doktors anschlossen – wahrscheinlich hatten sie auf der Überfahrt wie die Schweine gefressen, dachte Jan –, daher sorgte er für die Unterbringung seiner vornehmen Gäste und kehrte dann wieder zu den Familien zurück, die während der Begrüßung im Hafen anwesend gewesen waren. Sie würden das exquisite Mittagessen sicherlich nicht zurückweisen. Außerdem schien dies eine gute Gelegenheit, denjenigen Familien zu gratulieren, die sich für die richtige Seite entschieden hatten. »Schau dir an, wie dieser junge Esel daherstolziert
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und sich brüstet und sein neues Königreich bewundert!«, murmelte Pieter. »Als ob es dabei um ihn ginge, um sein Schicksal!« »In der Tat. Er ist dumm genug, um sich so offen in seiner neu erreichten, zerbrechlichen Macht zu sonnen. Er wird sich diejenigen zum Feind machen, die er eigentlich als Verbündete gewinnen sollte.« »Amarfio merkt genau, wie wenig dieser Junge ihn braucht. Und so sehen es auch die Familien.« »Der Esel glaubt, dass er jetzt fest im Sattel sitzt und unverwundbar geworden ist. Heute denkt er an all seine bewaffneten Männer und Frauen und fürchtet nichts und niemanden.« Eine Weile schwiegen die beiden. Sie nickten und lächelten Copper-Smyth zu, der sich am Serviertisch, neben dem die beiden alten Männer saßen, Wein nachschenkte. Dann fragte Magnus behutsam: »Hast du die Aufnahmen von der Flucht des Mädchens gesehen?« »Das habe ich.« »Und ist dir irgendetwas aufgefallen?« »Das Bild?« »Das Bild. Ja.« In diesem Moment wurde ihnen klar, dass sie beide derselbe unbestimmte, kalte Zweifel überkommen hatte. Still sagte Pieter: »Ich war da, als sie sich das Band anschauten. Der Esel hat es bis zur stärksten Auflö-
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sung vergrößern lassen und konnte immer noch nichts erkennen.« »Richtig.« Und dann: »Also gibt es etwas zu erkennen, mein Freund? Bist du sicher?« »Du etwa nicht?« Schweigen. »Es ist … nicht möglich.« »Eigentlich nicht.« »Und doch muss an der Sache etwas dran sein, denn die Daten von dieser da sind gelöscht worden, so gründlich und spurlos wie nur möglich. Es gibt nicht den geringsten Hauch einer Fährte, keinen Fingerabdruck, nichts. Die Kleine muss wenigstens einen einflussreichen Anhänger haben.« »Den anderen Ersatz? Die Frau? Die Tochter? Oder jemand anderen, nicht aus dieser Serie?« »Ich würde auf die Frau tippen. Sie war weit mehr am Geschehen beteiligt, als wir ahnten, in jeder Beziehung. Und ich denke auch, dass die Frau die Antwort auf unsere Fragen ist.« Er unterbrach sich. »Schau her! Der Esel trabt herbei. Klapp, klapp, klapp. Wie er die Brust schwellt! Lass uns noch einmal den Ärger im Herzen unseres Spielzeugs entfachen. Er soll diese Saint-Linie hassen!« »Ja«, nickte Pieter. »Aber er muss sich ebenfalls auf seine Aufgabe bei der Untersuchung der IKSV konzentrieren. Wir dürfen über der Angelegenheit dieses kleinen Mädchens unsere anderen Ziele nicht aus den Augen verlieren.«
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Jan kam zu ihnen, gut aussehend und strahlend. In der Hand hielt er einen Teller. »Was meint ihr, meine Freunde?«, grinste er. »Ist das nicht ein guter Tag für uns? All unsere Hoffnungen werden wahr.« Sie lächelten zurück. »Ja. Ja, tatsächlich. Ein glücklicher Tag. Nur …« »Nur was?« Ihr Lächeln versiegte. Ihre Augen senkten sich. Da gab es noch eine Sache, die man besprechen musste. Keine angenehme Angelegenheit. Vielleicht … ja, vielleicht war es am besten, wenn er sich später, nach dem Mittagessen, allein mit ihnen traf. Und so fühlte sich der Junge einmal mehr in Unruhe versetzt, verunsichert und gereizt, im Unklaren gelassen von den beiden alten Männern. Während sie … während sie in einem schwarzen Teich aus Angst schwammen, Angst, deren Existenz sie nicht einmal sich selbst eingestehen wollten.
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31 Zumindest in der ersten Nacht sahen Mira und Kay keine Spur des Monsters, von dem die Ziegenfrau erzählt hatte. Nichts bewegte sich auf dem Pfahlweg, weder auf der Erde noch in der Luft. Am Anfang liefen sie entlang der versinkenden Küste dorthin, wo man sehen konnte, wie die schwimmende Straße in festes Land überging, doch selbst da war alles ruhig und friedlich. Der Helikopter war verschwunden. Nur der altertümliche Grenzpfosten stand noch auf seinem Platz. Jetzt wurde Kay durch wilden Optimismus beflügelt; er verwarf all seine früheren Befürchtungen. »Vielleicht haben sie aufgegeben. Vielleicht spielen wir jetzt, da wir in einem fremden Land sind, keine Rolle mehr. Sie müssten sich um die Genehmigung der Franzosen bemühen, um uns zu jagen. Und schau uns doch an: Wir stellen doch nun wahrhaftig keine ernst zu nehmende Bedrohung für sie dar, nicht wahr? Warum sollten sie sich die Mühe machen?« Instinktiv spürte Mira, dass er sich irrte. In Wahrheit hatten sich ihre Jäger unentwegt »die Mühe gemacht«, sie zu verfolgen, seit sie Gil in den reißenden Strom hatte fallen sehen, damals, vor vielen Monaten, als sie noch ein Kind gewesen war. Aber sie schwieg, wollte Kay die gute Laune nicht verderben. Da hatte 549
er angefangen, ihr lange, fragende Blicke zuzuwerfen, als ob er sich anstrengte, etwas zu begreifen, und schon bald verfiel er in eine brütende Stille. Sie trotteten über die nasse Pfahlstraße dahin, manchmal bis zu den Knöcheln oder bis zu den Knien in Wasser. Einmal stieg es ihnen sogar bis zu den Hüften. Sie fragte ihn nach französischen Wörtern, damit sie etwas zu Adeline, ihrer Schwester, sagen konnte, wenn sie ihr begegnete. Auf diese Art lernte sie Oui und Non, Comment ça va? und J’ai faim und verschiedene andere Worte und Sätze. Es war immerhin ein Anfang. Wenn es ihnen nicht gelang, schneller voranzukommen, würde sie perfekt Französisch sprechen, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten, dachte sie sarkastisch. Sie selbst wäre in ein oder zwei Tagen, wenn sie sich etwas ausgeruht hatte, wahrscheinlich in der Lage, mit schnellen Schritten durch die Nacht zu rennen und bei Tage zu rasten, aber sie glaubte nicht, dass Kay mithalten konnte. Schon jetzt schlurfte er müde dahin, weil ihn seine Füße schmerzten. Komme, was wolle, sie musste sich seinem Tempo anpassen. Die Reise würde Wochen dauern, nicht Tage. Der Himmel, der bei Miras Erwachen so klar und blau gewesen war, hatte sich hartnäckig mit Wolken verhangen, verweigerte ihnen Sterne und Mondlicht und behinderte so ihr Vorwärtskommen noch zusätzlich. Von Zeit zu Zeit stürzte ein schwerer Sommerregen auf sie nieder. Während einem dieser Güsse
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suchten sie auf einem mit halb verrotteten Bäumen bewachsenen Hügel neben der Straße Schutz. Sie teilten sich ein Stück des stinkenden Käses, den ihnen die Frau gegeben hatte. »Fromage«, sagte Kay plötzlich und wedelte mit seinem Stück Käse vor ihrer Nase herum. »Joli. C’est joli, n’est-ce pas?« Und sie lachte und sagte: »Non. Non joli.« Dann biss sie in die stechend riechende Rinde. Während sie aß, bemerkte sie, dass auf der zur Straße zugewandten Seite ihres Unterstands alle Zweige abgeschnitten oder abgebrochen waren. War dies das Werk des Monsters, von dem die alte Frau gesprochen hatte, oder einfach nur der Wind oder jemand, der auf der Suche nach Feuerholz gewesen war? Sie sagte nichts. Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie eine Weile schweigend weiter. Kay wurde schnell wieder ernst, wirkte nervös und zappelig. Er nahm ihre Hand, während sie liefen, als ob er sie damit herausfordern wollte, doch sie hatte nichts dagegen. Vorausgesetzt er wollte nicht mehr als das. Schließlich sagte sie seufzend: »Also. Du solltest mir jetzt alles über Klone erzählen. Ich muss wissen, wer ich bin.« Sie wollte ihn irgendwie beschäftigen. Erkläre ihm, dass alles, was passiert ist, aus Liebe geschah, hatte seine Mutter gesagt. Er schaute sie an; sein Gesichtsausdruck blieb in der Nacht verborgen. »Okay. Was willst du wissen?«
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»Alles. Ich denke, ich sollte alles wissen, meinst du nicht?« »Alles. In Ordnung …« Er dachte einen Moment lang nach, rief in seinem Gedächtnis ab, was er wusste. »Also: Klone sind genaue Kopien von Menschen oder natürlich auch Tieren. Wie eineiige Zwillinge. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich und besitzen dieselbe genetische Information, sodass sie gleich groß werden, dieselben Talente entwickeln und für dieselben Krankheiten anfällig sind … was du willst. Aber sie denken nicht dieselben Gedanken. Haben nicht dieselben Ideen. Nun ja, möglicherweise bis zu einem gewissen Grad, aber niemand hat bislang herausfinden können, wie weit das gehen kann. Und … nun, ich meine … du und Clarissa – mein Gott, das ist doch wohl völlig ausreichend, um zu beweisen, dass die Gedanken unterschiedlich sind, nicht wahr? Alles, was recht ist!« »Ja, glaubst du wirklich?«, fragte sie. »Vielleicht sind wir doch gar nicht so verschieden.« »Machst du Witze?«, fragte er hitzig. »Ihr beide! Du glaubst wirklich, dass du nur im Entferntesten …?« Er hielt inne und fuhr dann mit kalter Stimme mit seinem Bericht fort: »Nun, wie auch immer, man hat mit den ersten Klonversuchen vor langer, langer Zeit begonnen, etwa im zwanzigsten Jahrhundert.« »Warum?« »Warum was?« »Warum wollte man Klone machen?«
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»Oh, wahrscheinlich des Geldes wegen, nehme ich an. Wahrscheinlich zahlten die Bauern eine Menge, um stets die besten Tiere im Stall stehen zu haben. Die besten Bullen. Die fettesten, schmackhaftesten Schweine. Und so weiter. Und was die Menschen anging: Man verkaufte die Technologie an irgendwelche Verrückten, die zum Beispiel ihre toten Kinder zu neuem Leben erwecken wollten. Es gab selbst solche Irren, die glaubten, dass sie ihre toten Eltern zurückbringen könnten, als einen Sohn oder eine Tochter. Und natürlich gab es auch Leute, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, nicht auf die normale Art und Weise. Die ließen einen Haufen Geld springen, um sich selbst klonen zu lassen. Damals existierten eine Menge Firmen, die alle versuchten, die Genetik zu kontrollieren und ihren Profit daraus zu schlagen. Das war vor der Geburtenkommission oder irgendwelchen anderen Institutionen. Vor der Flut und dem ganzen Rest. Vor den Gesetzen, die die Geburten kontrollierten. Selbst in Britannien lebten … ich weiß nicht genau, aber ungefähr sechzig oder siebzig Millionen.« »Sechzig oder siebzig Millionen Menschen?« Die Vorstellung verursachte ihr Platzangst. Wohin waren sie gegangen, wenn sie Ruhe brauchten, all diese Menschen? Wo hatten sie die singenden Geister getroffen? Unbekümmert nickte er. »Ja, ungefähr. Ich weiß die genaue Zahl nicht mehr. Allein in der Stadt
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wohnten damals etwa zehn Millionen.« Er lächelte. »Irgendwann musste ich den ganzen Kram mal lernen. Aber die meisten Leute heutzutage wissen nichts mehr davon. Außer den Großen Familien. Auf diese Art und Weise bleiben sie an der Macht: Sie behalten ihre Geheimnisse für sich.« »Dein Großvater?« »Ja, Tomas. Aber nicht nur er. Alle Saints, seit Generationen. Und die anderen Familien. Fast alle sind Klone, genauso wie du und Clarissa und Mutter und Tomas und …« Er schwieg abrupt. »Und ich. Oh ihr Götter im Himmel! Wer bin ich, Mira? Wer, verdammt noch mal, bin ich? Eine Kopie – von wem? Von ihm? Tomas? Oh bitte nicht, bitte nicht das!« Er brüllte hinaus in die Nacht wie ein Tier voller Schmerzen. Sein Schrei verhallte über dem sumpfigen Land, und Mira fragte sich, wer ihn wohl gehört haben mochte. Kay blieb stehen. Er hatte ihr seine Hand entzogen. Auch sie blieb stehen, bis er bereit war weiterzugehen. Er murmelte etwas, fluchte heftig und fummelte im Dunkeln mit irgendetwas herum. Sie wartete geduldig. Aus jeder Wunde musste das Gift entweichen. Doch als er endlich wieder sprach, klang er so weit entfernt, dass ihr klar wurde, was er getan hatte. Sie hatte es schon viele Male gehört und gesehen, in der Stadt. Das war es nicht, was sie jetzt brauchten,
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ganz und gar nicht. Unglücklich sagte er, fast flüsternd: »Ich dachte, du wärst wie ich, Mira.« Sie lächelte seinen Schatten an: »Nun, es scheint doch, als wären wir uns ziemlich ähnlich.« »Nein! Nein, das meine ich nicht. Nicht das mit den Klonen. Das nicht! Nur … Ach, Scheiße. Ich weiß auch nicht.« »Was denn, Kay Saint? Zwei verlorene Seelen? Zwei arme kleine Opfer? Zwei … was?« Sie hörte ihn leise schluchzen und sagte: »Wir sind nun einmal zwei Klone. Beide werden wir herzlich geliebt von einigen, die zu uns gehören, aber nicht von allen. Beide haben wir unsere Chance. Beide treffen wir unsere eigene Entscheidung, heute, in dieser Nacht.« Er taumelte unkontrolliert auf sie zu, schlang seine Arme um sie, versuchte, sie zu küssen, sie anzufassen. Sie spürte Tränen auf seinen Wangen. »Oh Mira, Mira. Du bist so …« Sie hatte das Gefühl, als würde er sie erdrücken, und schob ihn von sich, zog sich gereizt zurück. Sein Verlangen im Rausch widerte sie an. Auch das hatte sie schon erlebt. Es war nicht wie bei den Männern zu Hause, wenn sie ein Glas Bier zu viel getrunken hatten und sich einen Kuss stahlen. Das war schlimmer. Würdelos. Ohne Schönheit. Kays Stimme durchschnitt wütend und belegt die Nacht: »Warum willst du mich nicht berühren? Kleine Miss Perfekt. Bist du zu gut für mich?« Sie spürte ihren Zorn aufflammen. »Nae, jetzt hör mir mal zu!«, sagte sie mit gefähr-
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lich blitzenden Augen. »Ich schulde dir viel für deine Freundlichkeit und deine Hilfe und werde mich mit Freuden revanchieren, wenn ich kann. Ich bin froh, dass du mich auf meiner Reise begleitest. Aber du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Wir können uns hier und jetzt trennen. Und wenn wir weiterhin zusammenbleiben, solltest du deinen weißen Staub wegwerfen, am besten jetzt gleich. Er bringt uns beide in Gefahr.« Dann, etwas sanfter: »Und hör auf zu denken, dass alle Welt dein Feind ist. Und respektiere mich, so wie ich dich respektiere, Kay. Aye?« Ein langes Schweigen folgte. Wieder fing es aus heiterem Himmel an zu regnen, eine Sintflut aus dikken Tropfen, die so laut auf die Fluten neben der Straße prasselten, dass ein normales Gespräch unmöglich war. Mira sah, wie Kay zum Geländer des Pfahlwegs ging, seinen Arm zurückschwang und dann mit einem kräftigen Ruck nach vorne schnellen ließ. Es war zu dunkel, als dass sie hätte erkennen können, ob er tatsächlich etwas ins Wasser geworfen hatte. Wenn Drogen im Spiel waren, vergaß man leicht jeden Anstand und jede Ehrlichkeit. Er kam zurück und schrie über das Geprassel des Regens hinweg: »Bitte sehr! Bist du nun zufrieden?« »Aye!«, schrie sie zurück und beschloss, ihm zu glauben. »Dann lass uns weitergehen und nicht mehr davon sprechen. Du hast mir etwas von Geheimnissen erzählt, von Klonen und von der Macht.«
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Fest nahm sie seine nasse Hand und setzte sich in Bewegung, zog ihn mit sich und versuchte, seinen Schritten einen Sinn zu verleihen. Es schien zu funktionieren. Er wehrte sich nicht, sondern setzte stammelnd seine Erklärung fort, wobei er immer noch fast schreien musste, damit sie ihn hören konnte. »Oh. Ja. Ich sagte gerade … Ich wollte sagen … Es ging nicht nur um Geld. Das Klonen wurde als eine neue Möglichkeit betrachtet. Um an der Macht zu bleiben, meine ich. Um die Spitze zu halten. Den Pöbel hinter sich zu lassen.« »Wie wurde entschieden, wen man kopiert?«, fragte sie ihn ermutigend. »Ach, das fing an, als sich die Welt veränderte. Die Fluten. Das Ende der Regierungen. All das. Auch die Kriege. Einige der Familien, die schon vorher reich und mächtig gewesen waren, schlossen sich zusammen. Ich weiß nicht, wie genau es passierte. Aber es gibt eine Art Bank oder einen Pool oder so etwas, irgendwelches genetisches Material, das meine Familie benutzt. In Stoneywall, wo die Geburtenkommission sitzt. Natürlich haben auch alle anderen Großen Familien so etwas. So waren sie in der Lage, Menschen zu reproduzieren, von denen sie wussten, dass sie gute Anführer oder Wissenschaftler oder was weiß ich was gewesen waren. Aber sie mussten es geheim halten! Klonen ist gegen internationales Recht. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie dich nicht einfach in Frieden lassen konnten, nachdem du dieser
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anderen Frau begegnet bist. Dieser Annie Irgendwas. Nur für den Fall, dass du vermuten könntest, wer du bist.« »Annie Tallis. Aye, und ich bin ihr nicht begegnet, ich habe gesehen, wie sie ermordet wurde. Vor meinem Haus.« Sie erwähnte nicht, wie ähnlich Annie Tallis Kays Mutter gesehen hatte. »Richtig. Annie Tallis. Aber verstehst du, all die Klone, die nicht benutzt werden …« Er zögerte und sie füllte die Lücke, schrie das Wort heraus. »Die Ersatzteile!« »Ja. Ersatzteile. All diese Leute müssen glauben, dass sie ganz normale Menschen sind. Sie werden so weit wie möglich im Dunkeln gelassen. Diese Adeline – in ihren Akten steht, dass ihre Adoptiveltern in einer Fischzucht arbeiten. Das Dorf besteht aus neunzehn Bewohnern. Da besteht wohl kaum die Gefahr, dass sie irgendetwas herausfindet, verstehst du?« »Aye, ich verstehe. Aber warum ist es eigentlich verboten? Das Klonen, meine ich.« »Weil es zu oft schief gegangen ist. Weil …« Der Wolkenbruch endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und Kay merkte, dass er nicht mehr zu schreien brauchte. »Weil«, wiederholte er leiser, »nun, wenn man … wenn man auf … du weißt schon: auf normalem Weg ein Baby macht, dann hat das Kind Erbgut sowohl vom Vater als auch von der Mutter; manches im Ei, manches im Samen.« Er hustete nervös. »Du weißt doch, wovon ich spreche, oder?«
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»Aye«, lachte sie ihn an. »Ich weiß, wo die Babys herkommen.« »Okay. Gut. Also auf diese Weise, mit der altmodischen Methode, kommen zwei Teile zusammen und erschaffen ein neues Lebewesen. Und während das Kind wächst und sich entwickelt, werden hunderte und aberhunderte von biologischen Befehlen gegeben, wie ein Schalter, der ständig umgelegt wird, je nachdem was die genetischen Anweisungen des befruchteten Eis besagen. Sie befehlen: ›Mache Knochen‹ oder ›Ersetze einen Zahn‹, oder was immer dem Kind im Wachstum widerfahren soll. Dieser Prozess passiert ein Leben lang. Das Erbgut sagt unseren Körpern, wann sie aufhören sollen zu wachsen, und fängt sogar an, die Funktionen abzuschalten, wenn es Zeit ist zum Sterben. Es ist wie eine komplette Betriebsanleitung für das Leben.« »Aber mit den Klonen stimmt etwas nicht?«, vermutete Mira, nun wieder mit ernster Miene. »Die Schaltungen funktionieren nicht?« »Manchmal funktionieren sie nicht, das stimmt. Oder sie funktionieren zur falschen Zeit. Beim Klonen nimmt man die genetische Information einer existierenden Person und steckt sie in ein Ei, aus dem alle eigenen Informationen entfernt wurden –, in ein leeres Ei. Dann versucht man, das Ganze wie ein Baby wachsen zu lassen. Ich weiß nicht genau, wie das gemacht wird. Mit Elektrizität oder etwas Ähnlichem, glaube ich. Aber weil die Sache von Anfang an mani-
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puliert wird, ist mit den Schaltungen nicht immer alles in Ordnung. Der Körper sagt beispielsweise ›Lass Knochen wachsen‹, wenn es schon genug Knochen gibt, oder ›Schalte das Herz ab‹, bevor die Zeit dafür gekommen ist. Man hat schon ganz am Anfang, damals, im zwanzigsten Jahrhundert, festgestellt, dass nur ein winziger Prozentsatz der Klone überhaupt lebensfähig ist, und bei den meisten, die tatsächlich überlebten, ging etwas schief. Blutgefäße waren so groß, dass das Herz damit nicht fertig wurde; Gelenke alterten so schnell, dass es den Eindruck machte, das Baby sei siebzig Jahre alt anstatt sieben Monate. Die gesamte erste Generation starb, bevor sie das Erwachsenenalter erreichte. Die Menschen waren entsetzt. Damals war Klonen kein Geheimnis. Daher wurde es natürlich verboten. Die UN – das waren die Vereinten Nationen, diejenigen, die vor der IKSV das Sagen hatten – verabschiedeten eine einstimmige Resolution. Kein Klonen mehr, nirgends auf der Welt.« Sie liefen. Ihre Füße patschten müde durch die Pfützen. Mira fühlte sich von Trauer überwältigt angesichts dessen, was Kay ihr erzählt hatte. Wieder dachte sie: Die Welt ist krank. Wer kann daran etwas ändern? Wer kann das Übel vertreiben, damit wir wieder klar sehen können? Und unter ihrer Trauer rührte sich ein weiteres, grundlegenderes Gefühl: Angst. Funktionierten die Schaltungen in ihrem eigenen Körper so, wie sie sollten? Die Frage war sinnlos,
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aber gleichzeitig war es unmöglich, sie nicht zu stellen. Schließlich fuhr Kay mit seiner Geschichte fort, berichtete ihr, was er in seiner Welt erfahren hatte, wiederholte sich, ohne es zu merken. Vielleicht versuchte er auch, irgendwie zu rechtfertigen, was damals, vor so langer Zeit, geschehen war. »Damals fingen die Dinge gerade an, sich zu verändern. Das Klima, jede Menge Menschen – es waren Millionen – wanderten umher und versuchten, einen sicheren Platz zum Leben zu finden. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was ich darüber gehört habe. Es gab auch Kriege, das weiß ich noch. Die Leute an der Macht – die Regierungen –, die sich um alles kümmern sollten, kamen mit den Zuständen einfach nicht mehr zurecht. Und kurz danach übernahmen die Großen Familien das Ruder. Und irgendjemand dachte wohl, dass Klone eine gute Möglichkeit wären, mit gezüchteten Eigenschaften an der Macht zu bleiben.« Er berührte ihren Arm. »Du bist die Beste, weißt du das? Das fast vollkommene menschliche Wesen. Jemand, bei dem man sich hundertprozentig darauf verlassen kann, dass er mit jeder Situation klarkommt.« »Ich bin Mira. Nur darauf kann man sich hundertprozentig verlassen. Was ist mit den Schaltungen? Hat man das zwischenzeitlich hingekriegt, oder werden immer noch Babys gemacht und dann weggeworfen, wenn etwas nicht richtig funktioniert?« Er gab keine Antwort.
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Mira atmete hörbar ein. »Also haben sie nie herausgefunden, wie der Fehler behoben werden kann. Und deshalb gibt es Menschen wie mich, nur für den Fall, dass … Aye, ein Ersatz. Das ist eine passende Bezeichnung. Wie viele Versuche braucht man, um etwas Vernünftiges herzustellen, das möchte ich gerne wissen.« Der neue Tag stahl sich langsam aus dem Osten herbei. Es war die zweite Morgendämmerung, seit sie aus der Stadt geflohen waren. Breite Streifen dunklen, schimmernden Wassers erstreckten sich in alle Richtungen, durchbrochen von sanft geschwungenen Hügeln und kleinen Inseln aus Land. Hilflos sagte Kay: »Ich habe mir nichts davon ausgesucht, Mira. Ich war es nicht. Glaubst du, ich würde irgendetwas davon wollen?« »Nae«, sagte sie. »Du warst es nicht. Du hast es dir nicht ausgesucht. Die Menschen, die darüber entschieden haben, sind schon lange tot, nicht wahr? So ist es, glaube ich, immer. Und doch bist du ein Saint.« Sie schloss ihre Augen, rief in ihrem Geiste nach all ihren Schwestern, den lebenden und den toten. Annie Tallis, Adeline Beguin, Tilly Saint, Clarissa … Wie ich euch bemitleide. Wie ich euch liebe. Dieses schreckliche, gemachte Ding zu sein, es zu wissen und dennoch eine Möglichkeit zu finden, damit zu leben …! Das ist wahrer Mut! Wie kann ich einen solchen Mut jemals aufbringen? Sie dachte an Clarissas Zorn und
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an ihre Angst und verstand. Oh ja, und wie sie es verstand! Und in Wahrheit konnte sie auch Kay verstehen. Der arme kleine Junge. Wenn er nur die Augen öffnen würde, könnte er erkennen, dass seine Mutter wirklich versucht hatte, ihm einen Dienst zu erweisen, der nur aus Liebe geschah. Die Ziegenfrau war entzückt über den dritten Besucher innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Drei in einem Monat wären schon ein Ereignis gewesen, obwohl sie früher oft Menschen gesehen hatte, bevor ihr Sohn mit seiner Familie in die Stadt gezogen war. Moore saß an dem altersschwachen Tisch, der auf der festgestampften Erde vor der Hütte stand, und trank die warme, gegorene Milch, die sie ihm als Frühstück angeboten hatte. Er spürte, wie sich seine Muskeln entspannten. Es gab keinen Grund zur Eile. Es war angenehm, sich eine Weile auszuruhen und der alten Vogelscheuche zuzuschauen, wie sie ihren morgendlichen Verrichtungen nachging. Sie humpelte hin und her, trieb die Ziegen zu frischerem Gras, fütterte die beiden mageren Hühner, schrubbte den Melkeimer aus, füllte das Regenwasser aus der Tonne in Plastikflaschen, die sie sorgfältig auf einem Regal im Ziegenstall verstaute. Und sie schnatterte unentwegt. Über die Ziegen, ihren toten Mann, über Mira, die so hübsch war. Moore verstand nur etwas von ihren Worten, wenn
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sie zwischendurch an ihm vorbeiging, und er kommentierte diese höflich in seinem ausgezeichneten Französisch. Aber er vermutete, dass das Wenigste davon wirklich an ihn gerichtet war. Sie würde sicherlich genauso viel schwatzen, wenn sie allein war. Das war nur verständlich, wenn man Tag für Tag in dieser Einsamkeit lebte. Aber es schadete ja nichts. »Ja«, hatte sie ihm aufgeregt erklärt, »ja, ja! Sie waren hier! Das hübsche Mädchen und der Junge. Ich habe ihnen Käse gegeben. Ich habe ihnen meine Sachen gezeigt!« »Das ist schön«, hatte Moore erwidert. »Das ist schön zu hören. Ich wollte sie auf ihrer Reise begleiten, aber ich wurde aufgehalten. Hoffentlich kann ich sie noch einholen.« »Sie einholen. Ja, vielleicht. Vielleicht. Sie besuchen auch Freunde in den Pyrenäen?« »Ja«, nickte Moore. »Wir wollten zusammen gehen. Vielleicht werden wir uns dort bei unseren Freunden niederlassen. Unsere Höfe in Britannien haben wir verloren.« Er fand seine Märchen richtig hübsch. Die Ziegenfrau schnalzte mit der Zunge, flatterte wie eine Krähe hin und her, sprach von der Zeit, als das Wasser noch viel niedriger war, und erklärte, wie viel Land zunächst ihr Vater und dann sie selbst an das Meer verloren hätten. Moore nickte ernst, schlürfte sein Getränk und vermittelte ihr das falsche Ge-
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fühl, einen Leidensgenossen gefunden zu haben. »Ich habe es ihnen gesagt«, krähte die alte Frau und kehrte unvermittelt wieder zu ihrem ursprünglichen Gesprächsthema zurück. »Ihren Freunden … ich habe es ihnen gesagt. Die Pyrenäen sind weit weg. Sehr weit. Ich habe sie auf die Straße geschickt, um die großen Monster zu finden, die nach Süden gehen. Vielleicht können Sie die beiden noch einholen. Vielleicht.« »Monster?«, lächelte Moore. »Es gibt Monster in diesem Land, Tantchen? Das wäre interessant zu sehen!« »Oh ja! Ja! Monster. Große Maschinen! Ich wollte selbst mal auf einer reiten, um meinen Sohn zu besuchen. Aber sie war zu riesig. Ich bin nach Hause gegangen. Heim in mein kleines Haus.« Dann hatte sie den Kopf geschüttelt und wieder von ihrem Sohn erzählt, der nie zurückgekommen war – »ein guter, guter Junge, wie Sie« –, und dann sagte sie: »Aber in Ihrem Boot, Monsieur, können Sie Ihre Freunde bestimmt einholen, jetzt wo die Wasser bis zur alten Straße reichen.« Moore trank die gegorene Milch aus und überlegte, ob er dem Welpen berichten sollte, was er erfahren hatte. Aber nein, das hatte noch Zeit. Der Junge sollte ruhig eine Weile schwitzen. Vielleicht würde er, Moore, stattdessen ein gemütliches Nickerchen in der herrlichen Morgenluft machen. Er war erschöpft von der langen nächtlichen Suche entlang der Küste. Eine Pause konnte nicht schaden.
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Die kleine Mira war so gut wie gefangen. Als die Sonne hoch am Himmel stand und sie eine Stelle erreichten, wo ein größeres Stück Land sich zu einer Hügelgruppe erhob, verließen Mira und Kay die Straße, um sich auszuruhen. Sie schliefen den ganzen restlichen Tag lang, verborgen in einem schmalen Tal, wo die Erde süß duftete und winzige goldene Blumen auf langen, trägen Stängeln einen zarten Tanz vor dem dunkler werdenden Himmel vollführten. Es war ein schöner, friedvoller Ort. Am späten Nachmittag wurden sie von Donnergrollen geweckt und waren schon bald wieder bis auf die Haut durchnässt, aber Mira störte das nicht. Sie fühlte sich erfrischt. Ihre Kräfte kehrten langsam zurück und ihr verletzter Arm war fast völlig geheilt. Der Regen war warm und reinigend – und nützlich, um eventuellen Verfolgern die Suche nach ihnen zu erschweren. Beide sprachen nicht viel, sie mit dem beglückenden Gefühl, dass ihre Lebensgeister wieder erwachten, er wiederum verloren in seinem inneren Aufruhr, noch mit dem Nebel der Droge im Kopf. Sie teilten sich das letzte Stück Käse und das restliche Wasser, bevor sie wieder auf die Straße zurückkehrten und sich erneut nach Süden wandten. Während sie gingen, zog ein Wetterleuchten über sie hinweg. Die Blitze reihten sich wie auf einer Perlenschnur aneinander, wanderten vom Horizont, wo das Meer liegen musste, landeinwärts. Endlose Minuten lang
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war es stockdunkel und dann plötzlich zuckten grelle Lichtzungen über den Himmel, beleuchteten das Wasser um sie herum meilenweit. Die Blitze beunruhigten Mira. Wenn irgendjemand nach ihnen suchte, dachte sie, waren sie in diesen hell erleuchteten Momenten leicht auszumachen. Doch das ließ sich nicht ändern, es sei denn, sie wollten noch mehr Zeit verlieren, indem sie sich irgendwo verkrochen, bis das Wetterleuchten vorüber war. Von Zeit zu Zeit erzählte Kay von seiner Kindheit. Er sprach über die verdrießlichen Schulstunden mit Jan und seiner Schwester und über die Ausbildung, die er begonnen hatte. Am meisten redete er über seine Mutter, die selten im Saint-Turm, dafür stets auf Reisen gewesen war, mit ihren ständig wechselnden Liebhabern. Die Öffentlichkeit war, um die hinter vorgehaltener Hand geführte Diskussion anzuheizen, im Unklaren darüber gelassen worden, wer von ihnen sein und seiner Schwester Vater war. Auch er hatte darüber nachgegrübelt, hatte sich Fantasieväter ausgedacht. Mal war es ein einfacher Räudiger, mal ein Mitglied einer Familie aus irgendeinem exotischen Land. Und jetzt wusste er, dass all das eine große Lüge gewesen war, eine vorsätzliche Täuschung; darin waren die Familien außerordentlich begabt. Er war so vaterlos wie jeder von ihnen. Je mehr sie hörte, desto dankbarer war Mira, dass ihr wenigstens Erinnerungen geblieben waren, die
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nicht durch Schrecken verschmutzt wurden, die die Menschheit in die Welt gesetzt hatte. Was immer sie war – oder nicht war: Niemand konnte ihr Cobb nehmen oder Pat und Raymie und die Sonnenaufgänge in den Bergen. All das lag geborgen in ihrem Herzen. Sie fing an, Kay besser zu verstehen. Ohne Berge, ohne Einsamkeit – ohne jene Andersartigkeit – hatte er sich seinen eigenen sicheren Hort geschaffen: seine Musik, seine geheimen nächtlichen Ausflüge. Das war genug. Nun … fast jedenfalls. Hätte es sie an seiner Stelle nach mehr verlangt? Sie hoffte inständig, dass sie den Drogen widerstanden hätte. Sie gab ihm wieder die Hand, während sie weitergingen, ohne ihm den Grund dafür zu nennen. Die Stunden vergingen und Kay fing an zu straucheln. Als sie genauer hinschaute, sah sie, dass sein rechter Fuß mit Blasen übersät war, und es schien, als litte er mehr unter dem Hunger als sie. Sie verband ihm den Fuß mit einem Stück Stoff, das sie aus dem Rest des Kampfanzugs riss. Dann gingen sie weiter, wobei Kay leise in der Dunkelheit vor sich hin fluchte. Immer noch war ihnen keine Menschenseele auf der Straße begegnet. Mira fragte sich, womit sie Lebensmittel und Wasser bezahlen könnten, falls sie jemanden trafen. Hier mussten doch Menschen leben, schließlich waren sie an goldenen Getreidefeldern vorbeigelaufen … Und sogar ein paar wild lebende Tiere waren in den Landstrichen zu sehen gewesen, wo sie sich am Tage ausgeruht hatten. Wenn sich
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keine andere Lösung bot, konnten sie sich immer noch von diesen Tieren ernähren. Wieder hielt sie an, damit Kay aufschließen konnte. Über ihren Köpfen grollte drohend der Donner; Sturm erhob sich, und in einiger Entfernung, überall um sie herum, gingen Blitze hernieder und erhellten die Fluten. Im Fauchen des Sturms war ein schwaches Jaulen zu hören. Wahrscheinlich trafen die jagenden Winde auf einen Felsen, der sich irgendwo in der Ferne über das Land erhob, oder sie verfingen sich singend im Geländer des Pfahlweges. »Alles in Ordnung?«, rief sie fröhlich dem Jungen entgegen, der auf sie zuhumpelte. »Du schaffst das schon. Wir gehen noch ein bisschen weiter, vielleicht noch fünf Meilen, und dann schaue ich mir deinen Fuß an, einverstanden?« Er sah sie nur an, und sie wünschte, sie hätte ihren Mund gehalten. Im selben Moment horchte sie auf. Nae, dieses Geräusch kommt nicht vom Wind … Abrupt konzentrierte sich ihr Geist ausschließlich auf diesen Gedanken, schob alles andere beiseite. Wenn nicht vom Wind, wovon dann? Mit hämmerndem Herzen dachte sie sofort an ihre Verfolger, an Helikopter oder andere Maschinen. Und doch schien das Geräusch kaum lauter zu werden, während sie weitergingen. Es schien ziemlich wahrscheinlich, dass etwaige Verfolger zwei Flüchtende wie sie, die zu Fuß unterwegs waren, innerhalb kürzester Zeit eingeholt haben würden. Das Geräusch gab Mira
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Rätsel auf. Selbst wenn es tatsächlich von Leuten verursacht wurde, die nach ihnen suchten, schien es dennoch nur sehr langsam näher zu kommen. Sie fragte Kay. Am Anfang hörte er gar nichts, obwohl er angestrengt lauschte. Dann, als er das Geräusch schließlich vernahm, fand auch er keine Erklärung dafür. Nur eines schien sicher zu sein: Es hatte irgendwo hinter ihnen seinen Ursprung, obwohl nicht klar war, ob direkt vom Pfahlweg oder vom überschwemmten Land rechts und links davon. Das Geräusch war jetzt deutlich zu hören und wurde, während sie eilig weiterliefen, zu ihrem ständigen Begleiter. Was bis vor kurzem nicht mehr als ein undeutliches geisterhaftes Jaulen und Wimmern gewesen war, steigerte sich allmählich zu einem hohen, an- und abschwellenden Knurren, das zwischendurch von einem tiefen, bedrohlich klingenden Schnauben unterbrochen wurde. Halb scherzend, halb angstvoll sagte Kay: »Das Monster der alten Frau.« »Aye. So wie es sich anhört, könnte es glatt ein Drache sein.« Das Ding – das konnten sie nun ausmachen – befand sich eindeutig auf der Straße und rückte näher, langsam, aber stetig. Alle paar Schritte drehten sich Mira und Kay um und blickten angestrengt in die Dunkelheit hinter sich, doch im Augenblick erhellte kein Blitz ihre nähere Umgebung, sodass sie das Untier noch nicht zu Gesicht bekamen. Es war schwer
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genug, den Weg direkt vor ihren Füßen zu erkennen. Nach zehn weiteren Minuten sagte Kay: »Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns ein Versteck suchen, bis dieses Ding – was immer es auch sein mag – an uns vorbei ist.« Mira zögerte. Sie hatte zwar nicht verstanden, was die alte Frau gesagt hatte, doch in den Worten hatte weder Schrecken noch eine Warnung gelegen. Jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Außerdem war es überaus gefährlich, die Straße in dieser sichtlosen Nacht zu verlassen. Auf beiden Seiten schwappte Wasser. »Wir sollten noch ein bisschen warten, bis wir irgendetwas sehen können.« Sie blieben stehen, drehten sich um und warteten. Kay rieb seine schmerzenden Füße, und beide spähten in die Nacht hinein, bis ihnen die Augen tränten. Das Wimmern und Knurren klang nun mechanisch, ähnlich wie der Klang der Turbinen am Strom, durch die das Wasser schießt, und nicht mehr so geisterhaft wie vorher. In das tiefe, seufzende Schnauben mischten sich metallisches Klappern und Klopfgeräusche. Die Entfernung zwischen den beiden Menschen auf der Straße und jenem seltsamen Monster täuschte – dessen Tempo war noch viel langsamer, als sie vermutet hatten. Jedenfalls standen sie so lange da, bis ihre Muskeln kalt geworden waren, und immer noch hatte sich das Monster nicht gezeigt. Allmählich wurden die Geräusche laut und ließen vermuten,
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dass das Untier riesengroß war. Mira sah förmlich vor sich, wie es mit schlenderndem Gang aus der Dunkelheit auf sie zuschlurfte. Es musste schon ganz nah sein; bestimmt würden sie es im nächsten Augenblick sehen können. Und doch schien es sie noch nicht bemerkt zu haben, jedenfalls konnte Mira nichts ausmachen, was darauf hindeutete. Sie glaubte weder, dass es ein Monster war, dem die Nase zur Witterung fehlte, noch, dass es sich um Verfolger, bewaffnet mit Nachtsichtgeräten und Fährtenlesern, handelte. Was immer es war, dieses Ding, es kümmerte sich jedenfalls nur um sich selbst. Und dann, als sie es am wenigsten erwarteten, zuckte eine gleißend weiße Blitzzunge hinab ins Meer, weit draußen im Westen, und – nur für einen Sekundenbruchteil – sahen sie das Ding, erkannten deutlich seine Kontur. Und sie begriffen. Es schien ein riesiger Transporter zu sein oder eine Schlange aus mehreren Transportern, die aneinander hingen wie die Wagen einer Straßenbahn, aber um ein Vielfaches größer. Es war fast so breit wie der ganze Pfahlweg und ragte mehrere Meter in die Höhe. Unten viereckig, dann jedoch sich nach oben hin verjüngend, bildete es dort, wo das Dach war, einen gewölbten Rücken, der mit riesigen Stacheln besetzt zu sein schien, wie eine große Echse. Und was Mira und Kay am meisten verblüffte, war der Anblick der vielen Menschen, die schweigend gegen diese Stacheln gelehnt saßen oder einfach auf dem Dach lagen, ein
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paar klammerten sich sogar seitlich an dem Ungetüm fest. Einige der Passagiere blickten zu ihnen beiden, wie sie da im Licht des Blitzes auf der Straße standen, andere nahmen keine Notiz von ihnen. Durch die Dunkelheit ihres Augenlichts beraubt, drückten sich Mira und Kay eng an das Geländer des Pfahlwegs, während das Monster näher kam und sie erreichte. Es war ein riesenhafter Schatten, jetzt nur noch einen knappen Meter von ihnen entfernt. Große schwarze Räder drehten sich und hielten dann an; die Maschine schnaubte und ruckte wieder vorwärts, seufzte und klapperte weiter auf ihrem Weg. Das Monster schien keine Eile zu haben. Es fuhr nicht gerade im Schritttempo, doch mit einer Geschwindigkeit, der Mira mit einem lockeren Lauf hätte folgen können. »Montez!«, rief eine dünne Stimme aus der Dunkelheit, übertönte gerade so den ohrenbetäubenden Lärm. »Montez! Vite! Entre les wagons!« Kay legte seinen Mund an Miras Ohr und brüllte: »Er sagt, wir sollen hochklettern – montez. Zwischen – entre. Es muss irgendwo eine Möglichkeit zwischen den Wagen geben, um aufs Dach zu kommen.« »Aye, gut. Aber wie sollen wir das im Dunkeln anstellen?«, schrie sie zurück. »Wir kommen niemals an den Rädern vorbei. Wir werden überrollt.« »Ich weiß nicht!« Immer noch kroch die Reihe der Transporter an ihnen vorbei. Mira schrie: »Wie wär’s, wenn wir warten, bis es vorbeigefahren ist und dann hinterherlau-
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fen? Vielleicht kommen noch ein paar Blitze. Oder es gibt ganz hinten irgendwo Leitern.« Er drückte ihre Hand und rief: »In Ordnung.« Sie schienen nicht Gefahr zu laufen, erdrückt zu werden. Vorsichtig streckte Mira ihre Hände aus, bis die Fingerspitzen eines der langsamen schwarzen Ballonräder berührten. Sie ließ die Hände ausgestreckt und spürte, wie die anderen Räder in gleichmäßigen Abständen an ihren Fingern vorbeiglitten. Dreiundzwanzig weitere Räder zählte sie, bevor die Maschine vorbeigefahren war. Schließlich kam der Lärm nicht mehr von hinten, sondern befand sich vor ihnen. Mira stürzte vor und fuhr mit den Händen über die Metallhaut, aus der der Rücken des Monsters bestand. »Das hat keinen Sinn«, schrie sie. »Hier ist es ganz glatt. Keine Leitern. Los! Wir müssen rennen!« »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Es ist zu schnell für mich, meine Füße … Jedenfalls geht es nicht für längere Zeit …« Sie packte seine Hand und zog fest daran. »Stell dir vor, wie es ist, da oben zu sitzen und nicht mehr laufen zu müssen! Komm schon!« Das Monster war inzwischen weitergefahren. Sie rannten los, halb blind in der Dunkelheit, immer den Geräuschen hinterher. In regelmäßigen Abständen ertönte ein Klappern und Klicken, während die Maschine aus unerfindlichen Gründen kurz anhielt, und
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dann das Schnauben, das anzeigte, dass es wieder weiterging. Wenn dies passierte, merkten sie, dass sie auf überfluteten Abschnitten des Pfahlwegs standen oder an Stellen, wo die Oberfläche der Straße verrottet war und bröckelte. Es weiß, wohin es tritt, dachte Mira nach einer Weile. Es fühlt sich seinen Weg vorwärts, irgendwie, achtet darauf, dass kein Hindernis die Straße versperrt. Sie passte sich mühelos dem Tempo an, selbst unter diesen schwierigen Bedingungen, während Kay neben ihr keuchend über den unebenen Pfahlweg stolperte. »Sicher wird es bald etwas heller werden«, rief Mira und versuchte, ihn zu ermutigen. »Dann können wir hinaufklettern und uns ausruhen. Konzentriere dich auf diesen Gedanken.« Doch im Augenblick zeigte sich noch kein Riss in der dichten Wolkendecke; Mond und Sterne waren verhüllt. Die Luft war feucht und schwer, kündete von weiterem Regen und Gewitter, doch sosehr sie sich nun das Unwetter mit seinen zuckenden Blitzen wünschten – während der Schweiß ihnen in Strömen über den Körper rann –, es wollte einfach nicht kommen. Während sich diese ersten, hoffnungsvollen Minuten in die Länge zogen und zu einer Stunde anwuchsen, dann zu zweien, verstummte Kay – er fluchte auch nicht mehr – und wurde still und bedrückt. Zweimal fiel er so schwer hin, dass Mira ihn im Dun-
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keln am Arm packen und hochziehen musste, wobei das Monster wieder an Boden gewann. »Gib nicht auf!«, drängte sie ihn wieder und wieder. »Komm weiter! Wir werden auf diesem Biest reiten! Wir werden es fangen und auf ihm reiten! Daran musst du denken, Kay Saint!« Er antwortete nicht, stöhnte nur und ließ sich taumelnd weiterzerren. Insgeheim fing sie an zu zweifeln, dass das Licht für sie noch rechtzeitig kommen würde, aber wenn sie es nicht bald schafften, auf das Monster zu klettern, war Kay erledigt. Mit seinen Wunden an den Füßen und ohne Nahrung war er verloren. Das Einzige, was ihnen dann noch bliebe, war, die Straße zu verlassen und zu hoffen, in dieser endlosen Weite auf Menschen zu treffen: Förster oder Bauern oder vielleicht eine Siedlung, in der Windgeneratoren betreut wurden. Irgendetwas. Ein Ort, an dem sie sich verstecken und ausruhen konnten. Obwohl sie ihre Jäger eine Zeit lang nicht gesehen hatten, waren sie immer noch hinter ihnen her. Früher oder später würden sie auftauchen. Tief im Herzen zweifelte Mira keine Sekunde daran. Wir könnten es im Dunkeln versuchen, überlegte sie. Wenn das Ding kurz anhält, bevor es in eine Pfütze fährt, können wir versuchen, zwischen die Räder zu kommen, können uns unseren Weg ertasten. Schwarze Ballonräder, so groß wie sie selbst, die sich langsam und unbeirrt drehten und tausende Tonnen Metall trugen. Wenn sie den falschen Zeit-
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punkt abpasste, wenn Kay fehltrat … Sie erschauerte bei der Vorstellung. Nein, sie würden keinen blinden Versuch wagen. Dann war es schon besser, einfach stehen zu bleiben. Plötzlich, ohne Ankündigung, spaltete sich die unsichtbare Wolkendecke, und ein schwaches Licht strich von oben über sie hinweg. Schwach, doch ausreichend für Mira, um den klappernden Drachen deutlich zu sehen. Sie schaute zur Seite, auf Kay, in sein bleiches, angestrengtes Gesicht. Sein Kopf hing herab, während er neben ihr herstolperte. Er schien die Chance, die sich ihnen bot, nicht einmal zu bemerken. »Komm schon!«, schrie sie ihm zu. »Jetzt oder nie! Jetzt!« Er hob leicht den Kopf und schaute sie verständnislos an. Sie zerrte ihn heftig mit sich, zwang ihn mit Gewalt auf gleiche Höhe mit dem rollenden Monster. »Hilf mir! Streng dich an!«, brüllte sie. Sie durften diese Chance nicht verschenken. Sie schleuderte ihn in den schmalen Korridor zwischen der Maschine und dem Geländer der Straße, dann neben die langsam gleitenden Ballonreifen, wobei sie ihn mit aller Kraft gegen das Geländer drückte, für den Fall, dass er wieder stürzte. Zentimeter für Zentimeter schoben sie sich an dem Monster entlang. Die Augen all jener, die oben auf dem Dach hockten und gerade nicht schliefen, folgten ihnen. Einer oder zwei der Fahrgäste deuteten zu ihnen hinab, riefen Worte in ihrer fremden Sprache, lachten sogar.
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»Helft uns!«, rief sie hinauf. Und dann zu Kay: »Wie heißt ›Hilfe‹ auf Französisch? ›Hilfe‹ – wie sagt man das? Denk nach, Kay!«, aber er gab keine Antwort. Und so schrie sie weiter in ihrer eigenen Sprache hinauf. Wieder hörte sie dieselben Worte wie vorhin: »Montez! Montez! Vite!« »Ich versuche es ja!«, schluchzte sie. »Ich versuche ja zu montez. Helfen Sie uns!« Sie befanden sich endlich auf gleicher Höhe mit der ersten Lücke zwischen zwei Wagen. Kay wankte und schwankte wie eine Puppe und sie musste ihn ziehen. Ihr Arm und ihre Schulter schmerzten unter seinem Gewicht. In dem Dämmerlicht erkannte sie, dass die Lücke zwischen den Rädern lediglich einen halben Meter betrug, gerade breit genug, um bequem dazwischen hindurch laufen zu können, wenn die Maschine still stand, die Straße eben und der Tag hell war. Aber es musste jetzt sein, ohne all diese günstigen Umstände. Ihre Kräfte ließen langsam nach. Sie konnte Kay nicht mehr viel länger mit sich schleppen. »Ich werde dich jetzt da reinstoßen!«, schrie sie ihm im Rennen zu. »Ich glaube, da gibt es eine Leiter. Du musst das alleine tun, hast du verstanden? Alleine – für dich selbst, Kay Saint!« Er gab keine Antwort, aber sie tat es trotzdem, stieß ihn vorwärts, hinein in die Lücke, und folgte dann schnell hinterher, um zu tun, was sie konnte. Der Riss in der Wolke schloss sich und das Licht ver-
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schwand wieder. Sie mussten jetzt unbedingt nach oben kommen oder sie würden zerquetscht wie zwei Käfer. Ja, sie hatte Recht gehabt – da war eine Leiter. Kay hatte wohl begriffen, worum es ging, denn er hielt sich mit einer Hand locker daran fest, doch in dem Moment, wo sie an seine Seite stolperte, verlor er das Gleichgewicht und fiel hin, wurde mitgezogen, konnte jeden Augenblick zu Boden fallen. »Helft uns!«, schrie sie wieder, versuchte, Kay aufzuheben und ihn auf die Leiter zu schieben, während sie weiterrannte. Und – unglaublich, aber wahr – da erschien endlich eine Gestalt auf der Leiter, dann eine zweite … eine Hand packte Kay unter den Achseln. Schluchzend vor Erleichterung, sah sie undeutlich, wie er mit baumelnden Beinen hinauf in die Schatten gezogen wurde. »Montez!«, erklang wieder die Stimme. Sie griff nach vorn und ertastete sich den Weg nach oben. Ihre Beine gaben unter ihr nach, wurden weich wie Butter und nutzlos. Komm schon! Wo ist das Ding bloß! Ehrwürdige Väter, helft mir! Da – ihre Finger fanden die erste Metallsprosse der Leiter und hielten sich daran fest. Dann die nächste darüber und die nächste … Sie hatte nun den festen Boden unter ihren Füßen verlassen, stand auf dem Rücken des Monsters. Jemand hatte Kay dort hingelegt, ihn einfach liegen gelassen, ausgestreckt neben der Leiter. Sie wusste, dass er es war, sie spürte den rauen Stoff der Kleidung, die
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ihnen die Frau geschenkt hatte, als sie sich über seinen Körper hinwegschob, weg von dem Abgrund. »Kay!«, schrie sie ihm ins Ohr. Er antwortete nicht. Sie tastete mit ihrer Hand nach vorn und zog ihn dabei ein wenig weiter von der Kante weg. Dann lehnte sie sich dankbar an etwas, was sich anfühlte wie eine der Stacheln, die in einer Reihe auf der Mitte des Buckels entlangliefen. Eine Stimme im Dunkeln – vielleicht dieselbe, die »Montez!« gerufen hatte – sagte: »Plus facile comme ça, n’est-ce pas?«, und lachte. Sie verstand kein Wort, antwortete aber trotzdem: »Oui. Oui. Danke. Merci. Merci.« Und dann schlief sie selig ein.
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32 Clarissa hatte beschlossen, alles zu sagen, was Jan hören wollte, wenn sie nur aus ihrem Apartment herauskam. Ja, Jan. Nein, Jan. Alles, was du sagst, Jan. Bitterkeit wollte er von ihr haben und Bitterkeit sollte er bekommen. Es fiel ihr nicht schwer. Sie war gefesselt und geknebelt liegen gelassen worden, hatte lange, qualvolle Stunden so verbracht, bevor Jans Männer schließlich die Tür zum Musikraum aufsprengten. Und zu dieser Zeit war schon alles vorbei gewesen. Aus und vorbei. Ihre Mutter, Kay und der Ersatz waren weg. Rauchwolken stiegen über der Stadt auf. Ihr Großvater war irgendwo eingesperrt. Sie selbst spielte keine Rolle, für niemanden, so schien es. Ihre Große Familie, die wichtigste unter den Großen Familien, lag in Trümmern. Plötzlich hatte sie keine Zukunft mehr. Jan besuchte sie in ihrer Gefangenschaft, flirtete, gurrte und heizte ihre Bitterkeit an, strich ihr übers Haar, stolzierte mit erhobenem Haupt umher. »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte er. »Du warst immer für mich bestimmt. Und ich werde dich aufnehmen.« Der Preis? Es war ein dreifacher Preis, den sie zahlen musste: Zunächst wurde von ihr ein ausgeprägter Hass auf 581
ihre Familie erwartet und auf das, was sie – Mutter und Bruder – ihr angetan hatte, zweitens eine beeidigte Aussage vor den IKSV-Inspektoren, dass nicht sie es war, die im Wettkampf gegen Jan angetreten war, und schließlich ein bisschen Blut aus ihrem Arm. Für eine Untersuchung. Die erste Forderung bedeutete ihr nichts; die dritte würde man einfordern, mit oder ohne ihre Einwilligung. Die zweite? Sie forschte in ihrer Seele und konnte nicht erkennen, inwieweit ihre Aussage Jan helfen oder – im Falle ihrer Weigerung – in seinem Entschluss behindern konnte, die Saints zu ruinieren. Schließlich und endlich hing die Bedeutung dieser Aussage davon ab, ob und wann Jan weitere Beweise für die Existenz von Ersatz-»Produktionen« herbeischaffen konnte. Wenn ihm dies gelänge, wäre ihr Eid sowieso unwichtig. Es war wie ein Balsam, diese Dinge immer und immer wieder sorgfältig und konzentriert in Gedanken durchzugehen, sie immer und immer wieder umzuwälzen, während sie auf ihrem Bett lag und hinaus auf die trost- und rastlose Stadt schaute. Es war wie in einem Wettkampf. Man war nicht emotional daran beteiligt, sondern überdachte nur die möglichen Schritte. Das Bewusstsein, dass sie die Fähigkeit, klar zu denken, nicht verloren hatte, vermittelte ihr eine Art grimmigen Vergnügens. Das unüberschaubare Gefühlschaos, das ihr Inneres regiert hatte, seit Kay in jener Nacht zu ihr gekommen war und ihr das
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Bild ihres Zwillings gezeigt hatte, wurde verdrängt von dem unmittelbaren Bedürfnis zu überleben, bessere Karten zugeteilt zu bekommen, sich Zeit zu erkaufen, bis sie wieder Oberwasser hatte. Es war ihr dabei auch bewusst, dass Mira möglicherweise genau dasselbe erlebt hatte, dass auch sie diesen Prozess durchlaufen hatte. Ein Leben, das plötzlich einfach hinweggefegt wurde; Feinde überall; die Notwendigkeit, sich in sich selbst zu vergraben und zu überleben. Wenn sie – die Kopie – das tun konnte, konnte Clarissa es auch. So viel war sicher. Und so nahm sie ein Bad, machte ihre Gymnastik und frischte ihr Äußeres auf, um Jans Interesse wach zu halten. Ja, Jan. Nein, Jan. Sie durfte ihn nicht unterschätzen. Trotz all seiner Eitelkeit – und trotz seines Selbstbewusstseins – würde er mit Argusaugen nach dem kleinsten Hinweis von Verrat Ausschau halten. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keine absolute Ergebenheit zeigen würde, also gab sie ihm, was er von ihr erwartete. »Fass mich nicht an«, sagte sie kalt zu ihm und wich ihm aus. »Warum sollte ausgerechnet ich deinen Inspektoren helfen?«, spuckte sie hervor. »Du bist nicht mein Freund. Ich hasse dich!«, schrie sie. Sie ließ ihr altes Ich für sich sprechen und lauschte diesem Ich, schämte sich ein bisschen für das, was sie gewesen war. Aber nun war es ihr nützlich.
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Wenn Jan nicht da war, nahm sie, den Kameras zuliebe, das Bild ihrer Mutter hervor, schaute es lange und sehnsüchtig an und kauerte sich auf ihr Bett. Sie weinte leise, wurde wütend, zerriss das Bild und warf es aus dem Fenster. Dann folgte ein Anfall ohnmächtigen Zorns. Alles, was ihr in die Hände kam, warf sie durch ihr Zimmer, alles, was mit den Saints – und besonders mit ihrer Mutter – zu tun hatte. Dann sank sie erschöpft aufs Bett und schluchzte, bis sie einschlief. Die Tränen und die Wut waren nicht gespielt. Trotzdem lag da ein winziges stilles Eiland ganz hinten in ihrem Bewusstsein, schaute zu und half ihr, ihre Gefühle zu benutzen, um nach außen hin jene Bitterkeit zu zeigen, die Jan und seine Freunde sich wünschten. Und dadurch fühlte sie sich seltsamerweise nicht nur dem Ersatz näher, sondern auch ihrer eigenen Mutter. Mit einer Demut, die ihr völlig neu war, dachte sie: Ich bin gezwungen, erwachsen zu werden. Ich werde gefordert. Jetzt werde ich endlich feststellen, ob dieses Modell hält, was es verspricht. Der Gedanke war überraschend, ja verstörend. Aber nicht unangenehm. Als Jan das dritte Mal in ihr Apartment kam, fragte er nach einem weiteren Ersatz aus ihrer Serie. Nach einem Kind in Frankreich. Wusste sie, wo man dieses Kind finden konnte? Was wusste sie überhaupt von dem Mädchen? Nichts? Er glaubte ihr nicht! Nachdem er wieder gegangen war, zerbrach sie
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sich den Kopf, versuchte, sich an die Bilder und Dokumente zu erinnern, die Kay vor ihr ausgebreitet hatte. War es dabei auch um ein Kleinkind gegangen? Ja, sie glaubte, sich zu entsinnen. Der Name, so dachte sie, war Adeline. Adeline, irgendwo in Frankreich, wie Jan gesagt hatte. Aber in dieser Nacht hatte sie nur Augen für Miras Bild gehabt. Sie konnte sich an keine weiteren Einzelheiten erinnern. Das übernächste Mal erschien Jan in sehr schlechter Stimmung. Er war zornig und aggressiv, von seiner kühlen Überlegenheit war nichts mehr geblieben. Sie hatte sogar die Befürchtung, er könnte ihr wehtun, und so nahm sie während ihrer Unterhaltung die entspannte Position ein, die einem Angriff im SlamWettkampf vorausging. Sie wollte vorbereitet sein. Sie hatte keine Ahnung, was diesen Stimmungsumschwung in ihm ausgelöst hatte. Er verlor die Beherrschung, brüllte sie an, sprach von seinen toten Eltern, über das Ende seiner Linie, über Satelliten, die für immer zerstört waren und Barbieri-Männer, die ohne Vorwarnung niedergeschossen worden waren. Über vieles von dem, was er sagte, würde sie später gründlich nachdenken. Ihrer Vermutung nach hatte jemand vorsätzlich seinen Zorn entfacht, ihn über etwas in Rage gebracht, was er nicht kontrollieren, mit dem er nicht fertig werden konnte. – Und genau dasselbe versuchte er bei ihr. Und dann rückte er ganz nah an sie heran und flüsterte mit Tränen auf seinem harten, hübschen Ge-
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sicht: »Auch deine Linie wird erlöschen, Clarissa Saint. Die Barbieri-Familie wird ihre Rache bekommen. Du wirst die letzte Saint sein und ich der Letzte der Barbieri. Das ist doch nur gerecht, oder?« Immer noch halb im Unklaren, wovon er eigentlich redete, nickte Clarissa bereitwillig. Wieder stimmte sie ihm zu, doch mit der unterschwelligen Präsenz der Angst, von der ihr Instinkt ihr sagte, dass sie im Augenblick angebracht war: Ihre Augen waren ein bisschen größer als sonst, ihr Mund war leicht geöffnet … nur so viel, um dem Jungen das Gefühl zu geben, er hätte sie im Griff. Er ließ von seinem Wüten und seinen Drohungen ab und stand da und schaute sie an. Dann beugte er sich hinab und küsste sie auf die Lippen, herausfordernd, hungrig. Sie hätte würgen mögen bei der Berührung seines Mundes. Er war abstoßend. Aber wieder einmal flüsterte ihr Instinkt ihr ein, dass sie es – dieses eine Mal – ertragen sollte. Als er das nächste Mal kam, ließ er sie frei. Stoneywall lag zu einem großen Teil unter der Erde. Was man von außen sehen konnte, bestand aus schwerem weißen Beton, wie Eisen an den blanken walisischen Fels geschmiedet. Die Wände waren sechs Meter dick. Man konnte glauben, dass die Anlage ausschließlich aufgrund des Wetters in dieser Weise gebaut worden war, schließlich stürzten sich endlose, tosende Stürme vom Atlantik her über diese hinterste Ecke des Landes. Doch das Fehlen von Fen-
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stern, die verschlungenen Stacheldrahtrollen auf den Mauern, die Wachhunde und das doppelte Sicherheitstor am Eingang straften diese Annahme Lügen. Dies war eine Festung. – Dass die hungrige See langsam, aber stetig auch hier herankroch, erhöhte nur den bollwerkartigen Charakter Stoneywalls; bald würde dieses Stück Land eine Insel sein und die Festung uneinnehmbar. In Tillys Augen war dieser Ort hässlich und trostlos. Darüber hinaus konnte sie nicht glauben, dass irgendein Attentäter oder Umstürzler jemals hineingelangen konnte, egal was man in den Nachrichten gehört und was die Geburtenkommission verbreitet hatte. Ein solcher Versuch hätte mit Sicherheit ein blutüberströmtes Schlachtfeld hinterlassen. Sie schaute von oben auf die Anlage, aß ein wenig und gönnte ihrem Körper etwas Ruhe. Es war, so dachte sie nachdenklich, nicht mehr derselbe Körper wie vor zwanzig Jahren. Was immer für unnatürliche Dinge seit Jahrzehnten unter diesem weißen Beton verborgen lagen, sie konnten nichts daran ändern, dass menschliche Zellen starben, dass sich der Stoffwechsel verlangsamte, die Reaktionsfähigkeit nachließ und man am Ende wieder zu Staub zerfiel und zur Erde zurückkehrte. So sollte es sein. Jedes Zeitalter hatte diese fundamentale Wahrheit gekannt und akzeptiert, außer vielleicht dem jetzigen. Der Hubschrauberlandeplatz war zu Tillys Erleichterung leer. Zweifellos befanden sich alle wichtigen
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Mitglieder der Geburtenkommission in der Hauptstadt bei der Untersuchung der IKSV Schon bald würde auch sie dort sein, bei ihrer Zwillingstochter, an die sie unentwegt dachte. Diese letzte, gehetzte Reise, diese wilde, unbändige Flucht über ihr angestammtes Land, so unendlich kostbar, neigte sich dem Ende zu. Tilly fragte sich, ob es maßlos gewesen war, die Dinge so zu arrangieren. Nur sie allein konnte tun, was hier, an diesem trübsinnigen Ort, getan werden musste, aber es hätte sicher einfachere Wege gegeben, hierher zu gelangen. Und trotzdem: Was war schwieriger, als eine einzelne Person aufzuspüren und zu verfolgen, die sich hauptsächlich in der Nacht vorwärts bewegte und sich zwischen den Fluten, in den Wäldern und auf den öden, vollautomatisch bestellten Feldern verlor? Hätte sie einen Transporter oder ein Boot gewählt, hätte man sie spätestens auf halbem Weg gestellt. Und noch eine Sache ging ihr durch den Kopf: Wenn dies die Zeit für die Menschheit war, sich ihren Weg zurück zu ihren Wurzeln zu ertasten, jene kindliche Weisheit wiederzuentdecken, die vor langer Zeit verloren gegangen war, welche bessere Möglichkeit dazu gab es, als zu Fuß durch die Wildnis zu wandern und nur von den Versteckten, Unbekannten und Ausgestoßenen des Landes Hilfe anzunehmen? Ein bisschen Essen hier, eine kurze Bootsfahrt da, vielleicht ein halber Tagesritt auf einem klapprigen
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Gaul. »Mach dir keine Sorgen, Liebes, der kommt von allein zurück. Er kennt den Weg über den Grat.« Tilly erkannte, dass sie viel zu wenig Zeit damit verbracht hatte, dieses geheimnisvolle, ertrinkende Land zu erforschen und kennen zu lernen. Sie schüttelte sich und verscheuchte diese Gedanken. Es war an der Zeit zu handeln, nicht zu träumen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie hierher nach Stoneywall kamen, um ihre kostbaren »Beweise« gegen ihre Familie einzusammeln. Aus ihrem kleinen Rucksack nahm sie vorsichtig ihre formelle Saint-Tunika heraus, weiche, saubere Schuhe, einen Kamm, einen Spiegel und etwas Make-up. Nach drei Tagen auf der Straße war ihre Erscheinung so derangiert, dass sie nicht erwarten konnte, in diesem Zustand in das Allerheiligste der Geburtenkommission zu gelangen. Möglicherweise hatten die Sicherheitsleute am Eingang Anweisung bekommen, sie nicht einzulassen, aber sie bezweifelte es. Die Kommission war so verschwiegen, dass sie ihre Informationen nicht einmal mit den Menschen teilte, die ihre Geheimnisse hüteten. Nach zwanzig Minuten war sie so weit. Zwanzig Minuten, und der Spiegel zeigte ihr wieder Tilly Saint, das mächtige und einflussreiche Mitglied einer gefürchteten Familie. Tilly Saint, jedermanns Liebling und attraktive Botschafterin für Britannien. Lebe wohl, Tilly Saint, wilde Reisende durch wildes Land. Lebe wohl, Tilly Saint, die du mit den Gei-
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stern der Pferdemenschen Zwiesprache gehalten hast. Was spielen Name, Erscheinung oder Auftreten für eine Rolle? Wir sind, was wir denken, was wir tun und was in unserer Seele verborgen liegt. Tilly stand auf und schritt königlich und eindrucksvoll über den steinigen Abhang hinab zu den schweren Stahltoren. Das Auge einer Überwachungskamera fing ihr Bild ein und verfolgte langsam ihre Bewegungen, während sie näher kam, zoomte sich an ihr Gesicht heran. Drinnen im Computer wurden ihre Züge bereits mit ihrer Akte in der Datenbank verglichen und ihre Identität wurde bestätigt. Nichtsdestotrotz fragte eine Automatenstimme am Eingang freundlich, ob sie sich ausweisen könnte. Natürlich konnte sie das. Sie tat es mit einem kurzen, ungeduldigen Lächeln für die Kameralinse. »Bitte warten Sie einen Moment«, sagte die Stimme liebenswürdig. »Sicher.« Die Verwirrung des Dienst habenden Dummkopfs über die Tatsache, dass sie ohne Transporter oder Eskorte erschienen war und keinen Termin vereinbart hatte, wurde schon bald zu einem höher gestellten Dummkopf weitergeleitet und schließlich zu der Frau, die über diesem Dummkopf stand. Das war schade. Es war nämlich diese Frau, ein Prachtexemplar von einer Idealen, die am Tor auftauchte, um sie
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in Empfang zu nehmen, flankiert von zwei Wachen. Mit einem Mann hätte Tilly leichteres Spiel gehabt. »Mrs Saint! Was für eine Überraschung! Wir hatten keine Ahnung, dass Sie uns heute mit Ihrem Besuch beehren.« Tilly kehrte ihr gewinnendstes Lächeln nach außen, ohne allzu süßlich zu wirken. »Nein. Ich wusste selbst nicht, dass ich … nun, hereinschauen würde. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie, Captain …?« »Hickory.« »Richtig. Captain Hickory.« Sie legte eine gehörige Portion Respekt in Namen und Titel, gab der Frau das Gefühl, dass sie beinahe gleichgestellt waren. »Normalerweise ist es üblich, dass nur Personen mit einem Termin eingelassen werden. Eine einfache Sicherheitsmaßnahme.« Die Frau merkte, was sie da gerade gesagt hatte, und sprach schnell weiter. »Nicht dass ich damit sagen will, dass Sie, Mrs Saint …« Das lief gut. Der weibliche Offizier befürchtete nun, gegenüber einer höher gestellten Person eine grobe Unhöflichkeit begangen zu haben. Tilly nährte dieses Gefühl, indem sie die Frau unterbrach: »Keineswegs. Ich verstehe sehr gut, was Sie damit sagen wollten. Die Vorschriften müssen beachtet werden.« Die Frau kam ins Schwanken. »Nun, ich denke, weil Sie es sind, Mrs Saint … Vorausgesetzt wir können Ihren Daumenabdruck nehmen und die ganze restliche Prozedur … Aber gestatten Sie mir die Fra-
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ge: Wie sind Sie hierher gekommen? Ich meine …« Sie deutete hinaus auf die wilde, ungastliche Landschaft. »Ja, das ist in der Tat etwas seltsam, nicht wahr? Ich kann mir nicht vorstellen, was Ihre Untergebenen« – wieder dieses verschleierte Kompliment, die Verneigung vor Hickorys überlegener Auffassungsgabe – »was Ihre Untergebenen gedacht haben mögen, als sie mich so plötzlich haben auftauchen sehen. Aber wegen der ganzen Probleme in der Stadt – den Unruhen, den Anschlägen, diesen verwünschten Umstürzlern – wurde mir geraten, mich eine kurze Zeit zur Erholung aufs Land zurückzuziehen. Wissen Sie, ich halte nicht viel von Sicherheitsvorkehrungen und Leibwächtern, jedenfalls nicht wenn es um meine Person geht. Daher entschied ich mich für einen einsitzigen Transporter, um in die Berge zu fahren und etwas zu wandern. Das ist sehr beruhigend und verhilft einem zu einem klaren Kopf. Und weil ich gerade in der Nähe war, dachte ich, ich könnte genauso gut unserem Tresor einen Besuch abstatten.« »Darf ich fragen, warum?« Tilly legte einen Hauch Strenge in ihr Lächeln. Es war an der Zeit, die Frau daran zu erinnern, dass der Status einer beinahe Gleichgestellten nicht von Dauer sein musste. »Nein, Captain, Sie dürfen nicht.« Nach ein paar weiteren Minuten voller sinnloser, pflichtbewusster Einwände des Offiziers wurde Tilly ins Gebäude gebeten. Einer Sache war sie sich von
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Anfang an sicher gewesen: Man hatte keinerlei Befehl gegeben, sie aufzuhalten. Daher hatte auch für sie von Anfang an kein Zweifel daran bestanden, dass sie ihr Ziel schließlich erreichen würde. Die Angst, die Reichen und Mächtigen zu brüskieren, war ein zuverlässiges Druckmittel gegen jede Form von Bürokratie. Egal wie bizarr die Handlungsweise der Reichen und Mächtigen auch scheinen mochte. Captain Hickory schleuste sie durch eine Reihe von Sicherheitsprozeduren und die Computer identifizierten sie emotionslos als Mathilda Saint, Unbedenklichkeitsstufe eins. Wie schön. Dann hinein in den Fahrstuhl und hinunter zur Ebene, wo sich die Tresorräume befanden. »Wie lange werden Sie ungefähr brauchen, Mrs Saint?« »Oh, nicht lange. Sagen wir, eine halbe Stunde, ja? Ich werde über Intercom Bescheid geben, wie üblich.« Captain Hickory verfügte im Gegensatz zu ihr nicht über die Unbedenklichkeitsstufe eins und durfte Tilly keinesfalls hinter die Tore zu den Tresoren begleiten. Nur den Großen Familien war gestattet, diesen Bereich zu betreten. Die Frau nickte. »Wie Sie wünschen, eine halbe Stunde.« Marsch, marsch, kleiner Captain, dachte Tilly. Zieh Leine. Beeil dich und ruf nun deine Vorgesetzten in der Stadt an. Frag nach, ob alles in Ordnung ist. Und du hast auch allen Grund dazu, denn eigentlich ist
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gar nichts in Ordnung. Aber wenn wir uns Wiedersehen, wird es schon längst zu spät sein. Sie aktivierte das Eingangsdisplay mit ihrem privaten Code und stellte sich vor den Retina-Scanner. »Mathilda Saint«, schnurrte eine Stimme aus dem Scanner. »Bitte treten Sie ein. Wie schön, dass Sie uns schon nach so kurzer Zeit wieder besuchen.« Die Worte überraschten sie nicht. Sie machten Sinn, obwohl sie selbst nicht mehr hier an diesem schrecklichen Ort gewesen war, seit das Material für das Ei, aus dem Clarissa entsprungen war – und natürlich auch das für Mira –, entnommen worden war. Damals schien es angebracht gewesen zu sein, bei der Schöpfung einer »Tochter« besondere Sorgfalt walten zu lassen. Normalerweise war Tomas derjenige, der das alles überwachte – auch das kleine Mädchen in Frankreich mit den unglaublichen Schlangenaugen. Nun, Magnus und Pieter waren schon zwei raffinierte Teufel. Irgendwie war es ihnen gelungen, die Sicherheitscomputer so zu manipulieren, dass es den Anschein hatte, als wäre Tilly erst kürzlich hier gewesen, und zweifellos würden Jan und die Familien diesen Umstand bereitwillig als Zeichen ihrer Schuld werten. Sie trat ein und sah – wiederum ohne große Überraschung –, dass von den zwölf glänzenden Tresorräumen, die sich in zwei Reihen zu je sechs durch die ansonsten leere Halle erstreckten, elf offen standen – was einer Ungeheuerlichkeit gleichkam. Sie bedauer-
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te lediglich, dass sie die Zusammenhänge erst so spät begriffen, das Puzzle nur sehr langsam zusammengesetzt hatte. Die Berichte von Angriffen auf Stoneywall; das Verschwinden von Klonen, die als Ersatz in Schläfer-Siedlungen untergebracht waren; die Mitteilung, die laut Nachrichtendienst vom PaxHauptquartier an die IKSV gegangen war … Und die unbestreitbare Tatsache, dass irgendetwas völlig Neues bei der Geburtenkommission stattfand, etwas, was dazu geführt hatte, dass ihre eigenen, sorgfältig eingeschleusten Spione entfernt worden waren. Sie ging langsam an den Tresoren vorbei – in der Ferne erklang jetzt gedämpftes Sirenengeheul; der Captain hatte offenbar tatsächlich zum Telefon gegriffen – und sah, dass an jedem dieser Bunker der Schließmechanismus einfach weggeschnitten worden war und an den entsprechenden Stellen der Stahl sich gewölbt hatte und versengt war. Glaubte der Barbieri-Junge tatsächlich, dass Umstürzler dazu in der Lage gewesen wären? Dass sie so weit in eine hermetisch abgeriegelte Anlage eingedrungen waren und diese Schlösser einfach weggebrannt hatten? Nein. Das sollte er auch gar nicht. Weder er noch die anderen Familien. Denn ein Tresor stand unversehrt und verschlossen da, hütete nach wie vor das Material im Innern. Das letzte aus der Serie. Das Erste, das abgefüllt worden war. Der Saint-Bunker. »Bitte begeben Sie sich zum Ausgang des Tresorraums, Mathilda Saint«, forderte die Computerstim-
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me munter auf. »Der Sicherheitsalarm wurde ausgelöst.« Zu spät, Captain Hickory. Ruhig führte Tilly die entsprechenden Handgriffe aus, um den Tresor zu öffnen. Hier überwachte ein separates Computersystem den Zugang, der sich um die Aufregung draußen nicht kümmerte und von außen auch nicht manipuliert werden konnte. Ja, es war ein Vergnügen, Mathilda Saint hier begrüßen zu dürfen. Ja, sie durfte eintreten. Bitte Vorsicht beim Öffnen der Tür. Sie trat einen kleinen Schritt zurück, zog ihre Tunika hoch und zog das winzige Kästchen heraus, das an ihrem Rücken, kurz oberhalb ihres Steißbeins, befestigt und für den Scanner am Eingang nicht zu entdecken gewesen war. Zwei harmlose Flüssigkeiten in einem kleinen Plastikbehälter mit einer dünnen Plastikscheibe dazwischen. Zwei Flüssigkeiten – zu einer vermischt – mit verheerenden Auswirkungen. Sie legte den Behälter mitten in den Tresor und zog die Scheibe heraus, sodass die beiden Flüssigkeiten ineinander fließen konnten. Dann verließ sie den Bunker und schloss die Tür. »Danke für Ihren Besuch, Mathilda Saint.« Außerhalb der dicken Stahlwände war nur ein leises Geräusch zu vernehmen. Durch die kaum wahrnehmbaren Ritzen in der Tür entfleuchte ein winziges, ätzendes Rauchfähnchen – der einzige sichtbare
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Beweis für die kurze, zehntausend Grad heiße Schmelze im Innern. Mit einem Gefühl des Friedens, des Verlusts und der schrecklichen Leere, entstanden durch die Endgültigkeit ihrer Tat, setzte sich Tilly auf den Boden und wartete, bis sie kamen. Clarissa blies Trübsal und schmollte, war nur noch ein erbärmlicher Schatten jener selbstbewussten jungen Dame, die alle kannten. Dennoch hätte sie am liebsten gelacht angesichts des monumentalen Schlamassels, den Jan angerichtet hatte. Ihr Platz war jetzt offenbar an seiner Seite, obwohl man ihr, als sie nach Kleidung gefragt hatte, die Auskunft gab, dass sie vorläufig weiter die Saint-Farben tragen müsse, bis man sie und Jan offiziell zusammengeführt habe. Ohne Zweifel war dies, ihre »Zusammenführung«, ein Teil der Show für die Inspektoren. Jans Verhalten ihr gegenüber war, wenn er nicht mit einem der vielen Probleme beschäftigt war, die ihn sonst noch in Atem hielten, eine Mischung aus Besitzanspruch, Lust und dem brennenden, tierischen Zorn, den er ihr gegenüber kürzlich schon einmal an den Tag gelegt hatte. Diese Elemente, so wurde ihr mit schleichender Furcht bewusst, machten ihn zu einem instabilen und explosiven Nervenbündel. Kays Worte kamen ihr in den Sinn. »Er ist ein Scheißkerl, dein Nachwuchsoffizier im Range eines Leutnants.« Es war die reine Wahrheit, wenn auch
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Kay andere Gründe für seine Behauptung gehabt hatte. Sie war sich jetzt sicher, dass seine Wut und seine Gewaltbereitschaft das Resultat von Magnus’ und Pieters Ränkespiel waren. Diese beiden alten Knacker von der Geburtenkommission, denen es gelungen war, sich zu seinen Vertrauten zu machen. Jans unbedachte Bemerkungen und sein Verhalten ihr gegenüber gaben Anlass zu der Vermutung, dass die beiden Scheintoten ihn glauben gemacht hatten, ihre Familie wäre für den Tod seiner Eltern verantwortlich. Warum er das denken sollte, wusste sie nicht. Offenbar hatte er dabei besonders ihre Mutter im Visier. Überhaupt: Ihre parfümierte, charmante, patente Mutter, die kaum jemals Interesse an dem gezeigt hatte, was ihre Tochter tat, stand auf Jans Liste als Verursacher seines Unglücks -jetzt und in der Vergangenheit – ganz oben. Nicht nur dass sie angeblich seine Eltern getötet hatte, sie hatte auch versucht, ihn selbst während des Wettkampfs umbringen zu lassen, hatte die drei europäischen Satelliten von einem Kommunikationsbunker aus außer Funktion gesetzt (mit einem eleganten kleinen Programm, das den Satelliten einfach befahl, die Verbindung zu den irdischen Solarstationen zu kappen), sie hatte dem Ersatz zur Flucht verholfen und sie hatte die Aktionen der Umstürzler geleitet, und zwar seit etwa zwanzig Jahren.
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Eine ziemlich beeindruckende Liste. Clarissa hoffte, dass wenigstens ein Teil davon der Wahrheit entsprach. Es gab noch andere Dinge, die Jan ganz offensichtlich nicht in ihrer Gegenwart aussprach. Es hatte mit dem Stoneywall Center zu tun. Sie vermutete, dass dies in Zusammenhang mit der IKSV-Untersuchung stand. Es war ihr auch nicht gestattet, bei den regelmäßigen Treffen, die Jan mit Pieter und Magnus in ihrem pompösen Gästequartier abhielt, zugegen zu sein. Im Endeffekt wusste sie nur mit Sicherheit, was er in ihrem Apartment zu ihr gesagt hatte, wobei ihr das Motiv nach wie vor unklar war: Jan Barbieri wollte, dass ihre Linie endete. Nicht nur das – er wollte sie so schnell wie es irgend ging zerstören. Jeden Einzelnen dieser Linie, außer ihr selbst, vorausgesetzt dass sie seine zwar unwillige, aber nichtsdestotrotz gefügige Marionette spielte. Anstelle des Jan, den sie kannte und von dem sie erwartet hätte, dass er vor Freude über seine allumfassende Macht – erreicht in so jungen Jahren – geradezu glühte, fand sie sich einem Menschen gegenüber, der von der Wut und dem Hass auf ihre Mutter, auf Mira und selbst auf das kleine Mädchen in Frankreich, über das er sie ausgefragt hatte – Adeline –, regelrecht besessen war. Er hatte die Franzosen um Erlaubnis gebeten, Truppen dorthin schicken zu dürfen. Dr. Amarfio und die anderen hatten – wenn auch etwas wider-
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strebend – zugestimmt, die Angelegenheit unter die Schirmherrschaft der IKSV zu stellen. Schließlich ging es darum, Beweise für das Klonen der Saints zu beschaffen, und zwar in Gestalt eines Klons selbst. Unter diesen Umständen war auch die Genehmigung der Franzosen nur noch eine Formsache, besonders nach der Zerstörung der weltweit unersetzlichen Satelliten durch die Hände eines Mitglieds der SaintFamilie. Wenn sich die Sache ein oder zwei Tage hinzog, dann nur weil man im Nachbarland den neuen Kopf der britannischen Pax ein wenig zurechtstutzen wollte. Es war seinen Taten zu verdanken, dass die Großen Familien überall in Europa in ihren Grundfesten erschüttert worden waren, weil man befürchtete, die Unruhen könnten in die Nachbarländer überschwappen. Amarfio setzte voraus, dass jeder Klon, der auf diese Art und Weise in Gewahrsam genommen wurde, nach den Anhörungen auf freien Fuß gesetzt und in sein ursprüngliches Leben entlassen werden würde. Das hatte er ausdrücklich geäußert, mit deutlich erhobener Stimme, als Clarissa unter Eid über die Umstände des Wettkampfs aussagte. »Ich möchte Sie daran erinnern, Leutnant Barbieri, dass keines dieser Kinder – auch nicht Miss Clarissa hier – für die Handlungsweise der Erwachsenen zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Kopie eines anderen menschlichen Wesens zu sein, macht nach den Verfügungen der IKSV aus den Betroffenen keine Verbre-
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cher. Wir erwarten, dass alle Personen, auf die dies zutrifft, nach Beendigung dieser Untersuchung in Frieden gelassen werden, wie auch immer die Resultate und unser abschließendes Urteil ausfallen werden.« Der alte Mann hatte anschließend alle Anwesenden, die nicht seinem Team angehörten, aus dem Raum verbannt – bis auf Clarissa. Kaum schloss sich die Tür wieder, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er blickte sie freundlich an, entschuldigte sich für den Umstand, dass ihre Anwesenheit im Augenblick noch erforderlich war, und fragte sie dann, ob sie gut behandelt würde. »Es ist bedauerlich«, hatte er zu ihr gesagt, ihr eine Tasse Tee eingeschenkt und sie über den Tisch zu ihr geschoben, »dass wir nicht in der Lage sind, mit mehr Verwaltungs- und Sicherheitsbeamten zu solchen Untersuchungen anzureisen. Aber ich versichere Ihnen, dass wir dennoch Möglichkeiten zu Ihrem Schutz haben, falls der Junge oder seine Kumpane Sie in irgendeiner Form belästigen.« Ihre Augen hatten plötzlich und unerwartet unter den Blicken der acht Inspektoren vor Tränen gebrannt. Die Freundlichkeit durchschnitt ihren inneren Schutzwall auf eine Art und Weise, wie es keine Drohung und keine Gewaltanwendung vermocht hätten. Sogar noch unerwarteter war für sie die Tatsache, dass sie sein Angebot und seine Hilfe ablehnte. »Das ist sehr nett von Ihnen, Sir. Aber ich versichere Ihnen, es geht mir gut.«
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Amarfio hatte sie lange und aufmerksam betrachtet. Was er in ihren Tränen las, konnte niemand sagen. »Unser Angebot bleibt bestehen, solange wir hier sind, meine Liebe. Danach …« Er zuckte mit den Schultern. Sowohl Clarissa als auch er selbst wussten, dass er nicht die Macht hatte, ihre Sicherheit auf Dauer zu garantieren. Als sie wieder zu Jan zurückkehrte, nachdem sie sich die Tränen sorgfältig weggewischt und das alte Schmollgesicht wieder aufgesetzt hatte, fragte er sie ungeduldig, was Amarfio von ihr gewollt hätte. »Oh, er hat gefragt, ob ich gut behandelt werde.« Jan funkelte sie an und seine Fingerknöchel wurden weiß. Sie ließ ihn eine Weile schmoren, dann sagte sie: »Also gut, mach dir nicht in die Hose. Ich habe ihm gesagt, dass alles in Ordnung ist.« Aber warum?, fragte sich Clarissa selbst. Warum entscheide ich mich, bei diesem unberechenbaren Wahnsinnigen zu bleiben, der mir jedes Mal eine Gänsehaut verursacht, wenn er mich berührt, obwohl mir ein solches Angebot unterbreitet wird – eine Möglichkeit, die mir Schutz bietet? Die einzige Erklärung, die sie finden konnte, war wenig schmeichelhaft. Es ist Stolz, dachte sie. Wenn all die anderen, und besonders ihre Mutter und diese Mira, überleben und Jan das Leben schwer machen konnten und dabei noch – zumindest in Miras Fall – anderen Menschen halfen, dann würde sie dasselbe
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tun. Sie war genauso gut wie sie. Verdammt nochmal, sie war sie! Es war mit einem Mal ein einsames und gleichzeitig erhebendes Gefühl, Clarissa Saint zu sein. Es war auch eine Last, immer gegenwärtig, doch bislang kaum bemerkt. Auf gewisse Weise konnte sie sogar allmählich ihre Mutter verstehen. Ihr Kopf drehte sich, weil sie plötzlich so vieles begriff. Und sie war sich nicht mehr sicher, ob das zickige, ewig jammernde, hübsche Mädchen, das sie gewesen war, wirklich ihr wahres Selbst darstellte. Vielleicht war sie denselben Weg gegangen wie Tilly. Vielleicht hatte sie sich entschlossen, sich hinter einer Maske zu verstecken, um sich zu schützen – selbst als sie noch viel zu jung gewesen war, um zu begreifen, dass sie einen solchen Schutz tatsächlich brauchte. Jan fasste nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf mit einem Ruck zu sich, um sie anzuschauen. Er quetschte ihre Wangen, bis sie schmerzten. »Was ist los?«, fragte er grob. »Woran denkst du? Bist du krank? Überlegst du gerade, ob du zu Amarfio laufen sollst?« Sie schlug seine Hand zur Seite. Ihre Augen blitzten. »Benimm dich anständig oder ich tue es tatsächlich«, sagte sie kalt. Sie hatte die richtigen Worte gewählt. Er lachte, zog mit einer betonten Bewegung seine Hand zurück, streichelte sie dabei, wie um seine Unschuld zu beteuern. »Na also. Ich dachte schon, meine kleine Wildkatze würde schlafen.«
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Gemeinsam gingen sie in den Kontrollraum, wo Hunter einen Bericht von einem Mann namens Moore erhalten hatte. Er schaute Jan fragend an, um sicherzugehen, dass er den Inhalt in Clarissas Anwesenheit wiederholen konnte. Jan nickte. »Moore glaubt, dass die beiden Zielpersonen auf einem Großtransporter, einer Drohne, in Richtung Süden unterwegs sind. Er meint, dass sie irgendeinen Ort in den Pyrenäen erreichen wollen. Wir haben die Strecke des Pfahlwegs überprüft und ihm eine Stelle durchgegeben, wo er sie abfangen kann, unter der Voraussetzung, wir bekommen vorher die Genehmigung der Franzosen.« »Gut. Aber Sie haben ihm nichts von den Franzosen gesagt, oder?« »Nein, aber er ist nicht dumm.« »Trotzdem sollten wir ihn in dem Glauben lassen, dass er derzeit unser einziger Trumpf ist.« »Da stimme ich zu.« Jan warf seiner zukünftigen Gefährtin einen Blick zu, möglicherweise um ihre Reaktion auf seine Worte zu beobachten. »Und haben Sie in diesen Bergen nach möglichen Schläfer-Siedlungen gesucht?« Hunter rollte mit den Augen. »Ja, natürlich. Aber ohne den Satelliten kann es Wochen dauern, irgendwelche Hinweise zu finden. Das müsste Ihnen doch klar sein. Wenn Sie so versessen darauf sind, das andere Mädchen, das Kind, zu finden, dann ist es wahrscheinlich am besten, wenn Moore Kay Saint und den
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Ersatz verfolgt. In solchen Dingen ist er sehr geschickt. Und wenn die Franzosen uns dann nicht mehr auf die Füße treten, können wir selbst auf der Bildfläche erscheinen und sie alle einsammeln.« Kay Saint. Den Ersatz. Das Kind. Clarissa dachte an den Moment, in dem sie Mira von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte, erst vor ein paar Tagen. Sie hatte genauso gedacht, hatte dieselben Worte benutzt. Aber dann hatte sie sich plötzlich durch das Mädchen aus dem Norden so bedroht gefühlt. Was ist, hatte eine leise Stimme in ihrem Kopf gefragt, wenn diese Person, die wie du ist, einfach besser ist als du selbst? Was ist, wenn sie ihre Fähigkeiten klüger nutzt und einsetzt? Was ist, wenn sie es verdient, eine Saint zu sein, und du selbst eigentlich der Ersatz sein solltest? Mira hatte sich gekränkt gefühlt durch die Zurückweisung. Und diese Wirkung war auch beabsichtigt gewesen. Als der Anruf aus Stoneywall kam, war Jan fast hysterisch vor Freude: Sie hatten Tilly Saint, gefangen im Familientresor! Endlich! Seine Obsession mit Tilly und ihrer Linie war viel zu weit fortgeschritten, als dass er sich gewundert hätte, warum die Frau sich entschlossen hatte, ausgerechnet an diesem Ort aufzutauchen, was sie dort wollte und was sie dazu gebracht haben könnte, den Bunker der Saints zu zerstören. Allein ihre Anwesenheit dort war für ihn schon der Beweis, dass sie für
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die Vernichtung des Materials in den anderen Tresoren verantwortlich war, so wie sie verantwortlich war für all sein Missgeschick bis zum heutigen Tage. Und natürlich, so redete er sich ein, wollte sie die Beweise gegen ihre eigene Familie zerstören, nachdem sie von der IKSV-Untersuchung erfahren hatte. An die Tatsache, dass sie selbst einen unschätzbaren Beweis in diesem Fall darstellte und obendrein zum Kreis der Beschuldigten zählte, verschwendete er keinen Gedanken, genauso wenig wie an den Umstand, dass sie es ganz offensichtlich darauf angelegt hatte, dass man sie erwischte. Was zählte, war, dass sich die Frau jetzt in seiner Gewalt befand und dass sie für ihre Verbrechen bezahlen würde. Er ging zu Clarissa, um sie zu wecken – noch bestand er nicht darauf, dass sie sein Bett teilte – und um ihr die Neuigkeit zu überbringen. Er klopfte nicht an, sondern trat geräuschvoll ein und aktivierte sämtliche Lampen. Seine dicke Pax-Tunika war bis zum Hals zugeknöpft. Seine Augen leuchteten vor Vergnügen. Er zog die Bettdecke von ihrem Körper und küsste sie, ein kurzes, schmerzvolles Aufeinandertreffen zweier Münder. Selbstverständlich wünschte er sich, dass seine auserwählte Partnerin zumindest ein bisschen unter der Nachricht leiden möge. »Meine Leute bringen sie jetzt her«, sprudelte er hervor. »Sie wird morgen früh hier sein. Und in Kürze werden uns auch die beiden anderen und dein närrischer Bruder Gesellschaft leisten. Ach übrigens –
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habe ich dir schon gesagt, dass die Franzosen sich endlich bequemt haben, uns die Entsendung einer begrenzten Anzahl von Truppen auf ihr Territorium zu gestatten?« Sein Wunsch ging in Erfüllung. Clarissa litt. Sie verspürte einen großen Schmerz angesichts von Tillys Gefangenschaft und eine unerwartete Furcht für die Sicherheit der anderen drei Menschen. Doch immer noch ließ die ruhige, beobachtende Stimme in ihrem Kopf sie nicht im Stich, schien unbeeindruckt von den Ereignissen. Sie riet ihr, Jan einen Hauch ihrer Qual merken zu lassen; ein paar echte Tränen, einen Augenblick wahrhaftiger Hoffnungslosigkeit. Und eine Anerkennung seiner absoluten Kontrolle. »Warum tust du das?«, fragte sie ihn. »Warum willst du unbedingt, dass diese Leute leiden? Kannst du nicht wenigstens meine Mutter gehen lassen?« Und mit unterwürfigem Flehen fügte sie hinzu: »Für mich, Jan?« Hatte sie es übertrieben? Scheinbar nicht. »Komm her«, sagte er mit sanfterem Ton und zog sie an sich. »Dieses Land – diese Stadt – ist krank gewesen. Das weißt du doch, nicht wahr? Es ist Zeit für eine Veränderung, Clarissa. Das Kranke muss ausgerottet werden, damit Heilung möglich ist. Dies mag mit Schmerzen und Opfern verbunden sein, selbst für die Familien, aber die Sache ist es wert. Vertrau mir. Und dann, danach, werden du und ich eine bessere Nation für unsere Leute aufbauen.«
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Kein Wort über Mord. Kein Wort, das erklärte, warum jeder ihrer Linie eingefangen und hierher gebracht werden musste. Wenn sie Tilly hatten, wozu brauchten sie dann noch die anderen? Sie hatte eine Blutprobe abgegeben. Das Ergebnis der Tests würde eindeutig sein. Möglicherweise war die Information, die Tilly Mira übergeben hatte, der Grund für sein Bestreben, das Mädchen gefangen zu nehmen. Vielleicht steckte darin eine Art Beweis, dass jede einzelne Familie am illegalen Klonen beteiligt war. Oder ging es gar um etwas Grundlegenderes? Wer konnte das sagen? Es schien so, als ob ihre Mutter nie halbe Sachen machte. Möglicherweise wusste sogar dieser übermächtige Junge, der vor ihr stand, nicht, was die Comcard enthielt. Aber das Kind, Adeline? Das war Irrsinn. Reichte der Abscheu vor Tillys angeblicher Fehde gegen die Barbieri-Familie als Begründung aus, auch das Kind hierher zu bringen? Sorgfältig zog Clarissa sich an. Sie wählte Kleidungsstücke, von denen sie wusste, dass Jan sie mochte. Dann begleitete sie ihn – mit gesenktem Kopf- zu ihrer Mutter. Auch die Abordnung der IKSV war anwesend, genauso aus den Betten geholt wie dieser geisterhafte Mann, Magnus. Sie sah, wie er sie aus seinen gütigen alten Augen anblickte, und wäre am liebsten hinübergegangen und hätte ihn geschüttelt, bis seine alten Knochen klapperten. Bis er ihr sagen würde, was er mit all dem beabsichtigte.
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Doch stattdessen wandte sie sich um und machte eine nichts sagende Bemerkung zu Jan. Dann rollte der alte, langsame StoneywallTransporter vor, und sie machte sich bereit, ihrer Mutter gegenüberzutreten.
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33 Magnus beobachtete den Klon Clarissa. Er studierte sie, wie er niemals zuvor ein menschliches Wesen studiert hatte. Er forschte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen der Veränderung, nach etwas Unerwartetem. Nach irgendetwas. Er wusste selbst nicht genau, wonach er suchte, und – wie erwartet – fand er nichts. Wir sind alte Narren geworden, dachte er. Wir, die wir Wissenschaftler sind und von der Reinheit der Vernunft – und durch sie – leben, sollten uns nicht um Geflüster über Magie und Götter und Mädchen mit Schlangenaugen kümmern. Wenn das Kind in Frankreich tatsächlich solche Augen hatte, dann gab es eine wissenschaftliche Erklärung dafür. Eine Variable in dem Prozess, die bis dato noch nicht in Erscheinung getreten war. Eine Ausnahme, die die Regel bestätigte. Er schaute Jan an, der aufrecht und Ehrfurcht gebietend in der kalten Morgenluft stand, und erkannte, dass er den Saint-Klon Clarissa wie einen Hund an der Kette hielt. Die Kette war nicht sichtbar. Sie war aus Angst und Gefahr und Unberechenbarkeit geschmiedet, damit sie katzbuckelte und schmollend um sein Wohlwollen buhlte. Die ganze Sache entbehrte jeglicher Würde, aber es war gut, dass wenig610
stens diese eine gezähmt worden war, denn Magnus bezweifelte, dass Jan sich ihrer entledigen würde. Seine Vorliebe für sie war unübersehbar. Wir sind zweifache Narren, dachte er grimmig. In unserer lächerlichen Furcht vor dem Unmöglichen haben wir unser Werkzeug zu weit getrieben. Jetzt hat der Junge möglicherweise einen Kurs eingeschlagen, den nicht einmal wir noch korrigieren können. Alles könnte verloren sein, wenn er keinen klaren Kopf behält. Irgendwie mussten sie dafür sorgen, dass Jan die Abordnung der IKSV mit einem weiteren Saint-Klon zufrieden stellte, bevor er seinen eigenen Blutdurst befriedigte. Und wenn möglich sollte das, was immer dann geschah, wie ein Unfall aussehen. Ja, das war der Weg, den sie beschreiten mussten. Sie mussten Jan beibringen, geduldig und vorsichtig zu sein. Angesichts der neuen Härte in Jan Barbieris Gesicht, der Art, wie er die Kieferknochen aufeinander presste und wie seine Augen zu Stein erstarrt waren, dachte Magnus, dass sie als Wissenschaftler diese Kreatur, die sie geholfen hatten zu formen, am meisten fürchten mussten. Und trotzdem hatte der alte Mann tief im Innern noch größere Angst vor dem Kind. Marie verließ die Felsenhütte, wo Mutter und Tochter friedlich schliefen. Sie wechselte ein paar leise Worte mit Eric, der im Türrahmen döste, und machte sich dann an den Abstieg über die engen Pfade. Sie freute
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sich, auf diesem Weg in der kühlen Nacht wieder allein sein zu können. Sie trat vorsichtig auf, ging mit leichtem Schritt, störte kaum einen Stein, aber trotzdem sprang Serge sie aus ihrem toten Winkel an, als sie sich seinem Posten näherte, und drückte ihr eine Klinge in den Rücken. Am Geräusch seines Atems erkannte sie, dass er es war, und so ließ sie davon ab, sich zu wehren. »Gut«, sagte sie. »Du hast also nicht geschlafen.« »Doch. Aber du hast so viel Lärm gemacht wie drei Ziegen zusammen.« Sie lachten beide. Er schenkte ihr Kaffee ein, ein dickes Gebräu und so schwarz wie der Ruß auf seinem kleinen Feldofen. Dann setzte sie ihren Abstieg fort. Als das erste Licht hinter den Gipfeln hervorkroch, erreichte sie Le Porge. Voll Trauer und Liebe schaute sie auf das Dorf, das für sie zur Heimat geworden war. Es klammerte sich an die ausgedörrten Wurzeln der Berge, ließ sich die Zehen vom See umspülen, und Marie dachte, dass dies alles war, was sich ein Mensch – ob Mann oder Frau – jemals wünschen konnte. Wie Moore war auch sie in der Stadt aufgewachsen, und wie er hatte auch sie sich ein wenig von dem Ort verzaubern lassen, an den man sie als Wächterin geschickt hatte. Wenn man es ihr gestattete, wollte sie hier heiraten, in der Fischzucht arbeiten, ihren Garten bestellen und hier sterben. Aber sofern – nein, wenn – der Sturm kam und ih-
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rer kleinen Adeline ins Gesicht brüllen wollte, dann würde sie sich ihm in den Weg stellen, falls sie es vermochte. Falls. Pierre, einer der Männer, die hier geblieben waren, saß am Ufer. Sein massiger Körper wirkte, als ob er keine Schwierigkeiten hätte, jedem Sturm standzuhalten, egal wie stark er wütete. »Salut!«, rief er fröhlich. »Ist alles erledigt? Ist das Mädchen sicher im Unterschlupf angekommen?« »Oui, Pierre. Es ist vollbracht. Wir haben die Karten neu gemischt. Jetzt können wir nur noch abwarten und hoffen.« Sie setzte sich neben ihn, zog ihre Schuhe aus und badete ihre Füße in dem warmen, flachen Wasser. »Ach, kleine Marie. Schau doch nicht so düster drein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das andere Mädchen bald eintreffen. Vielleicht schon heute … es wird ein herrlicher Tag werden! Dann wird sie das Kind mitnehmen und deine Aufgabe ist erledigt.« Marie lächelte zweifelnd. »Sicher. Das wäre schön, mein Freund. Aber ist das Leben jemals so einfach? Ich weiß nicht … Ich glaube, nicht einmal Tilly hatte eine klare Vorstellung von dem, was diese Mira vorhat, wenn sie erst einmal hier ist. Ich habe sie natürlich gefragt, und weißt du, was sie geantwortet hat? Nur, dass das große Spiel begonnen hat und wir keine Angst haben sollten, unsere Trümpfe zu ziehen, auch wenn wir nicht wüssten, was für ein Blatt die anderen in der Hand halten.«
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Pierre rieb nachdenklich seine Fingerspitzen gegeneinander. »Ich verstehe.« Dann erhellte sich sein Gesicht. »Also, kleine Marie, lass uns spielen!«
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34 Drei Tage und drei Nächte lang ritten Kay und Mira auf dem Rücken des Drachen, der sich seinen langsamen, blinden Weg nach Süden bahnte. Die meiste Zeit lag Kay im Fieber gefangen. Der Mann, der ihnen geholfen hatte, gab ihnen ein bisschen Wasser und Salz, das Mira in die offenen Blasen an Kays Füßen rieb. Die Haut des Mannes war so tiefdunkel wie die Augen der kleinen Joan zu Hause, und er war in blendend weiße Tücher gehüllt, die er viele Male um seinen Körper gewickelt hatte. Er half Mira auch, den Jungen zu stützen, wenn es Zeit war abzusteigen. Das geschah drei- oder viermal am Tag, wann immer das Monster plötzlich seinen Rhythmus veränderte. Das erste Mal passierte es nur ein oder zwei Stunden, nachdem sie hinauf in die Dunkelheit gestiegen waren. Mira wurde von dem schwarzen Mann geweckt, der sie an der Schulter rüttelte, sie mit seinen weißen Zähnen angrinste und sagte: »Descendez! Descendez!« Es war offensichtlich, was er meinte, denn er deutete mit raschen Bewegungen nach unten. Überall um sie herum sprangen und kletterten die Passagiere hastig zu Boden, reichten einander Beutel und Flaschen hinab und strömten zwischen den riesigen Rädern hindurch zur Seite. An den Ecken der Wagen blinkten orangefarbene Lichter und der Klang 615
einer dünnen Sirene erinnerte Mira an die Polizei in der Stadt. »Descendez! Descendez!« Der Mann nahm Kay am Arm und schaute sie erwartungsvoll an. »Vite! Vite!« Verschlafen kroch sie über das Dach, um ihm zu helfen. Sie konnte ihr Gehirn nicht einschalten; sie wollte sich einfach nur ausruhen. Die Jäger, dachte sie verschwommen, sie haben uns gefunden. Sie halten den Transport an, um uns in die Stadt zurückzubringen. Aber das Gefährt blieb nicht stehen, und die Sirenen, die Mira hörte, drangen aus seinem Innern. Außerdem konnte sie niemanden sehen außer der verstreuten Menge der Fahrgäste, die neben und hinter dem Monster herliefen und im ersten Licht des Tages ihre Habseligkeiten an sich pressten. Gemeinsam ließen der Mann und Mira Kay die Leiter hinab, wobei ihnen der Junge keine Hilfe war. Mira führte ihn zwischen den Rädern hindurch, wo er gegen eine rennende Frau prallte, die wütend in einer fremden Sprache fluchte und ihn gegen das Geländer des Pfahlwegs stieß. Mira schlängelte sich durch die Menge zu Kay und schützte ihn mit ihrem eigenen Körper, bis die Menschen und die Wagen sie passiert hatten. Wieder müssen wir laufen, dachte sie hoffnungslos und nun hellwach. Für wie lange? Wir können es nicht schaffen! Es war eine Katastrophe. Kay war weiß und schweißgebadet und konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Schon bald würden sie weit hinter den anderen zurückbleiben.
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Oben auf dem Monster verstummten die Sirenen und die blinkenden Lichter gingen aus. Dann sah sie, wie der dunkle Mann leichtfüßig über den Rücken des letzten Wagens lief und in einem Wirbel aus weißen Tüchern zu Boden sprang. Er sah sie an und grinste sein breites Grinsen. Dann deutete er auf den Drachen, der sich nun all seiner Reiter entledigt hatte. »Electricité! Ça pique!«, rief er. Der Mann kam zu Mira und Kay, sah, wie sie sich abmühten, und nahm wieder Kays Schulter, half ihm, langsam zu rennen. Unter den Tüchern schien sich viel Kraft zu verbergen. Derweil spielte sich über ihnen, auf den Dächern der Wagen, ein fast schön zu nennendes Schauspiel ab. Die riesigen, vertikalen Rücken gerieten in Bewegung, öffneten sich, und aus den Öffnungen wuchsen eine Reihe von grazilen, geschwungenen Tellern, die nach oben ragten. »Soleil! Soleil!«, keuchte der Mann und gestikulierte mit seiner Hand. Die Sonne, dachte sie, und sie verstand: Es waren Solarteller, aus denen das Monster seine Energie bezog. »Maintenant, c’est bon. On peut remonter.« Er deutete an, dass sie wieder aufsteigen konnten. Erleichterung durchflutete Mira. Und wie auf Kommando fingen die Menschen an, sich wieder an den Rädern vorbeizudrücken und die Leitern zum Dach hinauf zu erklimmen, wo sie ihre Sachen ausbreiteten und sich in den kleinen, schattigen Nischen unter den Solartellern niederließen. Zu
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zweit hätten sie den beinahe bewusstlosen Kay niemals nach oben gebracht, aber der Mann rief mit scharfer Stimme andere zu Hilfe, und diesmal wurde der Junge über den glatten Schwanz am Ende des letzten Wagens hochgezogen. Als Mira, die über eine Leiter aufs Dach geklettert war, zu ihm kam und es ihm so bequem wie möglich machen wollte, zitterte er am ganzen Körper und murmelte vor sich hin. Er schaute zu ihr auf. Seine Augenlider flatterten, und er sagte leise: »Rissa?« »Nein. Nicht Clarissa. Der Ersatz, erinnerst du dich?« »Mira«, murmelte er verwundert. »Mira.« Dann schlief er wieder ein. Wie in jenen ersten Stunden verlief auch der Rest ihrer Reise. Zäh und bleischwer schien die Zeit dahinzufließen, während Mira inmitten der anderen Passagiere saß oder lag und dabei zwischen Schlafen und Wachen hin und her glitt. Dann die plötzlichen Lichter und die Sirenen und die Hektik der Menschen, die nach unten hasteten, bevor das Monster wieder damit begann, seine Kräfte zu erneuern, Elektrizität in sein Inneres sog. Zunächst ergab dieses Schema für Mira keinen Sinn, aber schließlich kam sie zu dem Schluss, dass das Monster so sicherstellen wollte, dass sich niemand an dem Solarmechanismus zu schaffen machte, wenn sich der Rücken öffnete und schloss. Vielleicht wollte es auch verhindern, dass es sich die Menschen auf seinem Buckel zu ge-
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mütlich machten, wie ein Hund, der von Zeit zu Zeit seine Flöhe abschüttelt. Der Transporter schien automatisch zu funktionieren, war führerlos und wurde offenbar nur durch eine »Erinnerung« über die Strekke geleitet und durch die Fähigkeit, Hindernisse auf dem Weg aufspüren zu können. Mira fragte sich, was geschehen würde, wenn die Straße blockiert war. Am zweiten Tag bekam sie die Antwort. Ein gewaltiger Ast war von einem überhängenden Baum abgebrochen. Als der Drache den auf der Straße liegenden Ast erreichte, kam er klappernd zum Stehen … und schob sich dann wieder schnaubend vorwärts. Einen Zentimeter, dann noch einen. In winzig kleinen, kraftvollen Bewegungen rollte das Monster über das zerbrochene Holz hinweg und zersplitterte es dabei in unzählige Stücke. Es musste schon ein mächtiges Hindernis sein, das diese Maschine stoppen konnte. Ein anderes Mal stieg das Wasser für eine längere Strecke mehr als einen Meter über die Fahrbahn; wieder prüfte die Maschine die äußeren Umstände, schnaubte und fuhr weiter. Rechts und links wühlten und wirbelten die schwarzen Räder das Wasser auf. Mira hoffte, dass das Monster nicht darauf verfiel, einmal ausgerechnet in einem solchen Moment neue Elektrizität aufzunehmen; zwar konnten sie relativ schnell abspringen, aber wie sollten sie in einem so tiefen Wasser mit dem Drachen Schritt halten, um wieder aufsteigen zu können? Während sich die Stunden mühsam voranarbeite-
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ten, verwandelte sich zur Linken die fahle Landschaft aus Seen und mit Buschwerk übersäten Hügeln, hier und da gesprenkelt mit kleinen Siedlungen und Weizenfeldern, in ein stetig ansteigendes grünes Hochland; zur Rechten erstreckte sich nun fast ununterbrochen seichtes, schimmerndes Wasser bis weit in den Westen hinaus. Zur selben Zeit verzog sich die wankelmütige Wolkenbank nun endgültig, zerfiel in weiche weiße Wattewölkchen, die über einen tiefblauen Himmel hinwegschwebten. Zwischen diesen Wölkchen brannte eine Sonne herab, wie Mira sie noch nie erlebt hatte, ließ Land und Wasser erglühen und verwandelte die kühlen Nischen unter den Solartellern in kleine Heizöfen. »Soleil!«, grinste der Mann entzückt. »Mon ami le soleil!« »Oui. Oui. Bon. Soleil.« Allmählich schnappte Mira immer mehr Worte von dem dunklen Mann und von anderen Reisenden auf, bis sie auf Französisch um Wasser oder Nahrung bitten konnte oder um Hilfe, wenn sie hoch- oder runterklettern mussten. Manche der Passagiere beachteten sie gar nicht, einer spuckte sie sogar wütend an – »Chienne anglaise!« –, aber ihr neuer Freund schien so viel gute Laune in ihrer kleinen Enklave auf dem Wagendach zu verbreiten, dass so mancher einen Bissen oder einen Mund voll Wasser für den kranken Jungen übrig hatte. »Mon ami: le garçon malade.« Kay selbst lag in einem tiefen Schlaf, murmelte
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vor sich hin und wand sich im Fieber, doch langsam nahm sein Gesicht wieder eine normale Farbe an und die Schwellung in seinen Füßen ging zurück. Schließlich konnte es Mira vor sich selbst verantworten, ihn allein zu lassen, während sie nach unten sprang, sich eilig in den Fluten wusch und dann, als sie fertig war, erneut hinter dem Monster hersauste. Wieder auf dem Wagendach, legte sie die groben, nach Ziege stinkenden Kleider der alten Frau ab und behielt nur das Oberteil des schmutzigen und zerschlissenen Kampfanzugs an, von dem sie mit einem »Couteau«, das der dunkle Mann -Yusuf – ihr geliehen hatte, die Ärmel abschnitt. Yusuf lachte und sagte: »Pas chaud. Pas encore.« Sie verstand nur die Hälfte davon. Es war nicht wirklich heiß, wollte er sagen. Nun, vielleicht nicht für ihn unter seinen Lagen weißen Stoffs, aber sie hätte sich eine solche Sonne nicht in ihren kühnsten Träumen vorstellen können. Zehn Minuten nach ihrem köstlich kühlen Bad war sie bereits wieder schweißgebadet. Am Nachmittag des zweiten Tages fing die Landschaft an, belebter zu werden. Überall auf dem Land waren Menschen zu sehen. Nicht viele – ein Mann in einem Ruderboot draußen auf dem Wasser, zwei Mädchen, die von einer Anhöhe herüberwinkten, wo sie Pflanzen gossen, eine Frau, die in der Flut ihre Kleidung wusch –, aber es waren genug, um die grüne Gegend freundlich und lebendig erscheinen zu lassen. Gleichzeitig begann der Drache, in regelmäßi-
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gen Abständen Halt zu machen. Es erfolgte jedes Mal dieselbe Licht- und Sirenen-Warnung, um ihnen Zeit zu geben, sich aufzurappeln, doch dann kam zu Miras Überraschung der ganze Konvoi aus Wagen – es waren insgesamt acht Transporter – klappernd zum Stehen. »Électricité!«, sagte Yusuf fröhlich. »Touche pas. Livraison! Livraison! Regarde.« Bei dem Wort »regarde« deutete er auf ihre Augen, und sie schloss daraus, dass sie sich etwas anschauen sollte. Mira half Kay, herunterzusteigen, sich zu setzen, und lehnte ihn mit dem Rücken gegen das Geländer, dann schaute sie mit all den anderen Fahrgästen zu, wie ein alter grauhaariger Mann und zwei drahtige Jugendliche, die lässig am Geländer gestanden hatten, nach vorne traten und an dem Transporter entlang bis zum vierten Wagen liefen. Dann zog der Mann etwas aus seiner Tasche – vielleicht ein Stück Papier oder eine Karte – und schob es in die Seite des Wagens. Dort musste sich ein Loch oder ein Spalt befinden. Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann sprang mit einem Zischen ein Teil der Seitenwand des Wagens auf, und irgendein schweres, kompliziert aussehendes, rot gestrichenes Gerät schwang an einem kleinen Kran heraus und wurde sanft zu Füßen des Mannes und der beiden Jungen abgestellt. »Montez! Montez!« Die Seitentür schloss sich bereits wieder, und der
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Drache setzte sich erneut in Bewegung, erwachte mit einem Ruck zu neuem Leben, jaulte und keuchte vor Anstrengung. Hilfreiche Hände zogen Kay in sein Nest auf dem Dach zurück; die anderen stiegen die Leitern hinauf, und allseits stellte sich wieder Normalität ein. Hinter ihnen auf der glühend heißen Straße, an dieser Stelle frei von Überflutung, wuchteten der Mann und seine Söhne das rote Maschinenteil über das Geländer des Pfahlwegs, hin zu einem flachen, rechteckigen Boot, das sanft auf den Wellen auf und ab schwankte. Mira fragte sich, wie es ein solches Gewicht – und noch dazu das des Mannes und der Jungen – tragen sollte, ohne unterzugehen. Noch sechs weitere Male auf ihrer Reise fanden solche »livraisons« statt, was zu bedeuten schien, dass eine Lieferung abgeladen wurde. Doch die Gegenstände waren völlig unterschiedlich: eine große Rolle Metalldraht, eine schwere Holzkiste, ein Haufen Plastiksäcke und – beim letzten Halt – die eleganten weißen, gefalteten Segel eines Windgenerators. Auf diese Segel warteten sieben Menschen mit einem rostigen Metallkarren, der von zwei schäbigen Pferden gezogen wurde, doch selbst als sich der Drache schon ein gutes Stück Weg entfernt hatte und die sieben Menschen kaum mehr zu sehen waren, hatten sie es noch immer nicht geschafft, die schweren Segel aufzuladen. Mittlerweile fühlte Mira, wie ihre Kräfte, die sie während der erschöpfenden Flucht aus der Stadt auf-
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gebraucht hatte, wiederkehrten. Und auch Kays Zustand besserte sich deutlich. Er saß still neben ihr und schaute über das Land. Sie fragte sich, ob der Entzug von der Droge der Grund für sein Fieber gewesen sein mochte. Sie hatte Ähnliches schon oft in den alten Docks der Stadt erlebt. Mit einer geliehenen Flasche ging sie nach unten und holte Wasser für ihn, damit er seine Füße baden konnte. Als das Wasser mit seinen Wunden in Berührung kam, zuckte er zusammen. »Wie lange?«, fragte er. »Wie lange sind wir schon auf diesem Ding?« »Das ist jetzt das Ende des dritten Tages.« Sie schaute nach Westen, wo die Sonne gerade in das rot gefärbte Wasser versank. Sie genoss die Erleichterung der nachlassenden Hitze und atmete den Duft der Natur zu ihrer Linken ein. Die Teller über ihnen waren wieder im Rücken des Drachen versunken, und der Himmel lag offen und frei über ihnen, ein tiefes, bodenloses Blau zwischen Tag und Nacht. »Es ist ein schönes Land, findest du nicht? Aber heiß!« »Ja«, sagte er gleichgültig. »Der dritte Tag.« Und dann, drängender. »Also, wo sind wir? Hast du jemanden gefragt?« Sie zuckte mit den Schultern. Sie waren an einigen Kreuzungen im Pfahlweg vorbeigefahren, wo andere, kleinere Wege nach Osten abgingen, aber der Drache war unbeirrt weiter geradeaus gefahren. »Nae. Ich habe nicht gefragt. Wir fahren Richtung Süden, das
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ist alles, was ich weiß. Und können uns ausruhen, was wir beide gut gebrauchen können.« Er warf ihr einen fragenden Blick zu und schüttelte den Kopf, als ob er ihre Nachlässigkeit geradezu als Frevel empfände. Mira fiel auf, dass er jetzt häufig wütend auf sie war; er schmollte und zog sich zurück, benahm sich so ganz anders als vorher, bevor sie das Meer überquert hatten und in dieses Land gekommen waren. Sie versuchte, dem keine Beachtung zu schenken, und schrieb es seiner Krankheit und seiner Erschöpfung zu. »Frag doch Yusuf«, schlug sie vor. »Er weiß vermutlich, wo wir sind. Und bedanke dich auch bei ihm. Er hat dir viele Male in deinem Fieberwahn geholfen.« Er gab ihr keine Antwort, sondern wandte sich einfach zu dem schwarzen Mann um und verwickelte ihn in ein angeregtes Gespräch, wobei beide oft nickten und zum Himmel und nach vorn deuteten, in Richtung Süden. Schließlich, als die Nacht sie fast gänzlich einhüllte – eine angenehme, mit Sternen beleuchtete Dunkelheit, nicht die völlige Schwärze, die vor drei Nächten geherrscht hatte –, drehte er sich wieder um und sagte: »Wir haben Glück, dass es mir wieder gut geht: Der Pfahlweg biegt scharf nach Osten ab, irgendwann morgen früh. Offenbar transportiert dieses Ding Ladung von der Hauptstadt in die zweite französische Stadt, Ma-Seuil, direkt am Fuß des Zentralmassivs, in der Nähe des südlichen Ozeans. Wir müssen morgen in aller Frühe absteigen und eine andere
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Möglichkeit finden, in die Berge zu kommen. Hier ist alles überflutet. Yusuf sagt: ein riesiger See bis weit ins Landesinnere. Wir müssen entweder außen herum laufen oder aber uns ein Boot beschaffen.« »Dann ein Boot«, erwiderte sie. »Deine Füße stehen einen weiteren langen Marsch noch nicht durch.« »Du willst das Mädchen also immer noch finden?« Die Frage klang beiläufig. Sie lächelte. »Adeline? Natürlich. Natürlich will ich sie finden.« Er zögerte. »Ist dir klar, dass sie das wahrscheinlich vermuten werden? Sie haben wohl mittlerweile alle Daten im Netzwerk über die Schläfer-Siedlungen der Saints ausgewertet. Es ist möglich, dass sie schon auf uns warten. Die Pax und der ganze Rest.« »Aye. Ich weiß.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber wir sind trotz allem ziemlich schnell vorangekommen. Vielleicht haben wir noch einen Vorsprung, es sei denn, sie benutzen ihre Flugmaschinen. Und vielleicht«, sie lächelte, »vermuten sie es auch nicht. Wir müssen es versuchen, nicht wahr?« »Was ist mit dem Wächter?«, fragte er beharrlich. »Du weißt doch, dass sie einen Wächter hat. Sie könnten ihn mit Leichtigkeit kontaktieren.« »Es ist kein Mann. Es ist eine Frau. Marie Coutures, falls man das so ausspricht. Der Name steht auf meinem Zettel. Den, den Annie Tallis hatte.« Er grinste, und sie fragte: »Was ist so komisch daran?«
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»Dein Akzent. Aus deiner Heimat, dem Norden. Er wird wieder stärker.« Gekränkt fragte sie ihn: »Warum bist du in letzter Zeit so unfreundlich? Was habe ich dir getan?« Aber er schaute weg, blickte sie nicht mehr an. Kurze Zeit später unterhielt er sich wieder mit Yusuf. Aye, wie du willst, dachte Mira. Aber irgendwann wirst du es mir schon erzählen. Sie streckte sich der Länge nach auf dem Metalldach aus, um zu schlafen – endlich einmal tief und fest zu schlafen, ohne den Gedanken im Hinterkopf, auf Kay achten zu müssen. Sie sollte dankbar sein, dass der Junge endlich wieder allein für sich sorgen konnte. Sie stieß ihn mit ihrer Fußspitze an. »Weck mich, wenn die Sirene losgeht, ja?« Er schaute sich kurz um: »Sicher.« Dann wandte er sich sofort wieder in Französisch an Yusuf. In der Dunkelheit, draußen auf dem Wasser, schaute Moore auf seinen Kompass und auf seine Armbanduhr. Ja, wenn er seine Kalkulationen nicht völlig durcheinander gebracht hatte, war es nun Zeit. Er drückte das kleine Faltruder zur Seite und richtete die Nase seines Boots auf das Land. Dann gab er Gas. Zwanzig Minuten später befand er sich an einer Stelle, wo einstmals ein großer Fluss ins Meer gemündet war. Jetzt allerdings gab es keinen Unterschied mehr zwischen Strom und Ozean. Die Fluten hatten auf einer Breite von mehreren hundert Meilen
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die gesamte Küstenlinie verschlungen. Die einzige Veränderung, die ihm auffiel, war die Wassertiefe, doch die spielte in seinem kleinen Schlauchboot keine Rolle. Zwei weitere Stunden tuckerte er langsam über das schwarze, verlorene Land hinweg, unter einem Firmament, das mit glitzernden Sternen besetzt war. Dann drosselte Moore den Motor und holte das Nachtsichtgerät aus dem Etui. Während er die Dunkelheit vor ihm absuchte, lachte er leise und selbstzufrieden. Da war sie, die schmale Linie des Pfahlwegs, genau dort, wo er sie vermutet hatte. Langsam schwenkte er das Fernglas in beide Richtungen. Nichts. Noch nicht. Es blieb ihm immer noch genug Zeit, eine geeignete Stelle zu finden. Ich komme, kleine Mira. In der Dämmerung dieses Tages, dem fünften, seit sie Britannien verlassen hatten, bog der Pfahlweg mit einer scharfen Kurve nach Osten ab, genauso wie Yusuf es vorausgesagt hatte, doch auf der anderen Seite – zu ihrer Rechten – breitete sich das Wasser aus, flacher und weiter als je zuvor, klar und ungetrübt. Nicht der kleinste Windhauch störte die Oberfläche. Eine solche Stille der Natur hatte Mira nicht mehr erlebt seit damals, seit sie von ihrem Heim im Norden in die Stadt geflüchtet war. Es erinnerte sie an die Stille zwischen den roten Wolkenkiefern, wenn der Nebel durch die Bäume waberte. Doch dies hier war
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ein offenes Schweigen, das widerhallte, nicht die verschlossene, geheimnisvolle Ruhe ihrer Heimat. Nur ein einsamer Vogel ließ in regelmäßigen Abständen seinen Ruf über das schimmernde Blau schallen und stieß dann aus der Höhe hinab, auf der Jagd nach einem Fisch oder einem Insekt. Kay schlief, wie alle anderen Passagiere auch – bis auf sie und Yusuf. Mira sah die glänzenden Augen in dem Gesicht des Mannes, das dem Süden zugewandt war. Aus seinem Mund drang ein leises Murmeln – ein Lied oder ein Gebet. Sie begriff sofort: Es war Zeit, den Geistern zu danken, das Land in Liebe anzurufen. Sie wünschte, sie würde auch einen solchen Gesang kennen. Als er geendet hatte, lächelte sie und nickte ihm zu und er lächelte zurück. In kameradschaftlichem Schweigen saßen sie eine Zeit lang da, mit sich und der Welt zufrieden, doch schließlich sagte der seltsame, schwarzhäutige Mann mit leiser Trauer in der Stimme: »Bientôt. L’électricité. Le jour commence.« Er zuckte mit den Schultern. »Oui. Je comprends«, sagte sie und zeigte ihm, dass sie ihn verstanden hatte, indem sie das hektische Gedränge der Menschen imitierte und den Lärm der Sirenen, wenn sich die Solarteller wieder öffnen würden, um Elektrizität aufzunehmen. Auch sie war traurig, dass der Zauber dieser Stunde nun für eine Weile unterbrochen war. Sie wischte sich nicht vorhandene Tränen aus dem Gesicht, um ihr Bedauern
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über diesen Umstand auszudrücken, und wedelte mit dem Arm als Zeichen, dass die Welt, dass der Friede gestört war. Wieder nickte Yusuf, grinste und machte ihre Gesten nach. Sie deutete nach Südwesten, auf einen Flecken aus Braun und Grün, der wie ein Traum über dem Wasser schimmerte, und fragte in ihrem notdürftigen Französisch: »C’est là? Les Pyrénées? Les montagnes? Là?« »Oui«, nickte er. »Vous devez démonter bientôt. Les Pyrénées. Il faut traverser les eaux.« Sie beugte sich hinab und weckte Kay: »Wir müssen bald gehen. Yusuf sagt, dass wir fast an der Biegung angekommen sind.« Er setzte sich blinzelnd auf, war noch einige Sekunden verschlafen und verwirrt und lächelte sie an, bevor jener wachsame Ausdruck wieder auf sein Gesicht zurückkehrte. »Ich könnte vorher noch ein Frühstück vertragen, wenn wir ab heute wieder quer durchs Land rennen müssen.« Achselzuckend sagte sie: »Wir haben kein Essen. Vielleicht gibt dir jemand was, irgendwo auf einem anderen Wagen.« Er machte keine Anstalten aufzustehen, wandte jedoch, wie in letzter Zeit häufig, die Augen ab. Sie drehte sich um und schaute wieder auf die Berge, die ihr Ziel waren, und fragte sich, wie sie wohl beschaffen waren, ob es dort Schnee gab und Kiefern oder
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nur blanken Fels. Während sie sich in diesen Gedanken verlor, hörte sie ein lautes Jubeln und dann ein Getöse aus Rufen und Musik. Weiter vorn im Wasser, wie Perlen auf einer Schnur neben dem Pfahlweg aufgereiht, schaukelten kleine Boote. Die Insassen waren aufgesprungen, standen in den Booten, riefen den herbeikommenden Reisenden entgegen, wobei sie bunte Fahnen schwenkten und in Hörner bliesen. »Une boutique!«, rief Yusuf ihnen über den Lärm zu. »Une boutique sur les eaux.« Kurz bevor der Drache auf gleicher Höhe mit den Booten angekommen war, fingen viele der Reiter auf seinem Buckel an, den Bootsleuten etwas zuzuschreien. Einzelne Worte wurden oft wiederholt, Bezeichnungen für die Dinge, die gewünscht wurden. Wenn der eine oder andere Händler rief: »Oui. Oui. Ici, Monsieur!«, dann stieg der Reiter schnell hinab, nahm sich das, was er wollte, bezahlte und rannte zurück, um wieder auf den Wagen zu klettern. In der Hand hielt er eine Pastete, eine Flasche oder einen neuen Hut. Es war ein geräuschvolles und ziemlich ungeordnetes Geschäft. Menschen stolperten, rannten sich um oder ließen die erstandenen Güter fallen, während sie auf den Leitern nach oben stiegen. Einige Boote waren von Käufern umlagert, sodass keine Zeit blieb, alle Wünsche zufrieden zu stellen, wenn die Käufer nicht riskieren wollten, zurückgelassen zu werden. Die Gemüter erhitzten sich und es wurde viel geschoben und gerauft. Mitten in dem Tohuwa-
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bohu ertönten die Sirenen und zeigten an, dass die Solarteller wieder ausgefahren wurden. All diejenigen, die auf halbem Weg nach oben waren, mussten schnell kehrtmachen, um dem Exodus vom Dach zum Boden auszuweichen. In dem lärmenden Durcheinander zwischen den schwerfällig rumpelnden Wagen und dem schwimmenden Markt wurde Mira von Kay getrennt. Sie schaute sich um und glaubte, seinen Kopf zwischen vielen anderen ein Stück weiter hinten auszumachen. Sie sorgte sich nicht: Seine Füße waren so weit geheilt, dass er nun ohne Hilfe wieder auf den Transporter steigen konnte. Wenn der letzte Wagen an ihr vorbeigefahren wäre, so dachte sie, würde sie sich ans Ende des bienengleichen Schwarms setzen und ihn dort treffen, falls er aus irgendeinem Grund zurückgeblieben war. So würden sie einander nicht verlieren. In der Zwischenzeit nahm sie sich ein paar Minuten, um sich in aller Ruhe umzuschauen. Selbst ohne Geld waren die kleinen, zierlichen Boote mit all ihren Waren ein faszinierender Anblick, voller Farbenpracht und voller Düfte. In der Nähe entdeckte sie Yusuf. Er grinste wie immer und versuchte, eine Tüte mit kleinen Kuchen zu kaufen, bot allerdings nicht den Preis, den der Bootsmann dafür haben wollte. Noch als sie ihm zuschaute, sah sie, dass er in Richtung Transporter gestikulierte: Der letzte Wagen fuhr gerade an ihnen vorbei, und wenn der Händler das Geschäft abschließen
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wollte, musste er auf Yusufs Preis eingehen. Innerhalb einer Sekunde hatte Yusuf seine Kuchen und machte kehrt, um dem Strom von Menschen zu folgen, die auf den Rücken des Drachen zurückkletterten. Mira hatte es nicht eilig. Sie blieb stehen und wartete, bis der Drache vorbeigerumpelt und sie die Letzte war, die ihm folgte. Sie konnte Kay nirgends sehen. Er musste also schon wieder auf dem Dach der Maschine sein. Zu ihrer Rechten packten die Bootsleute ihre Waren ein und einige ruderten schon durch das glasige blaue Wasser davon. Zwischendurch rief der eine oder andere ihr zu, in der Hoffnung auf einen verspäteten Handel. »Mademoiselle, Mademoiselle? Du pain? Du vin? Un chapeau?« Sie lächelte, schüttelte ihren Kopf und streckte ihre leeren Hände aus, sah ihr Schulterzucken als Antwort. Ein junger Mann, die Haut von der Sonne zu dunkler Bronze gebrannt und mit schwarzem, lockigem Haar, lächelte aus seinem kleinen Boot schüchtern zu ihr hinauf. Er schien nicht viel zu verkaufen zu haben – Brot, Wein, ein paar Bekleidungsstücke –, doch er hielt ihr eine halbe Pastete hin, von der dickflüssige Soße zur Erde tropfte. »Ici. Mademoiselle. C’est un cadeau. Tu as faim. Tu as l’air.« Sie begriff, dass der junge Händler kein Geld verlangte. Die Pastete sah gut aus. Er hielt sie ihr mit ei-
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ner Hand entgegen und führte die andere zu seinem Mund, bedeutete ihr, zu essen. Sie lächelte ihn an, gerührt von seiner Freundlichkeit, und ihre Finger berührten einander, als sie die Pastete aus seiner Hand nahm. Mmm, das roch wirklich köstlich: frisch und würzig. Der letzte Wagen holperte jetzt etwa fünfundzwanzig Meter vor ihr; sie konnte ihn immer noch mit Leichtigkeit erreichen. Nur ein Bissen und dann würde sie rennen und den Rest mit Kay teilen. Der junge Mann schaute erwartungsvoll zu, als sie in die Pastete biss, und er lachte, während ihr die Soße über das Kinn lief. »C’est bon, ça? Ça te plaît?« Dann, aus irgendeinem Grund, lag die Pastete auf einmal auf dem Boden und die Füllung ergoss sich in den Schmutz. Und sie lag ausgestreckt daneben, während sich ihr der Kopf drehte. Über ihr, die Beine gespreizt, stand Gil. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Wort drang heraus, denn der junge Mann, der Mira die Pastete geschenkt hatte, war an Land gesprungen und stürzte sich nun auf Miras Angreifer. Er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, stieß Gil weg und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er schwer gegen das Geländer auf der gegenüberliegenden Seite des Pfahlwegs fiel. Der junge Mann sprang zu ihm hin, und sie taumelten wieder zurück, ineinander verkeilt, und sackten dann wie in Zeitlupe zu Boden, wurden zu einem sich windenden, ächzenden Haufen aus Armen und Bei-
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nen, rollten auf dem harten Asphalt der Straße hin und her. Benommen sah Mira zu. Es war jetzt schon klar, dass sich die Dinge für den tapferen jungen Pastetenmann nicht gut entwickelten. Das Blut lief ihm übers Gesicht, und Gil fing an, sich aus der Umklammerung des anderen zu befreien, wobei er harte, gezielte Schläge austeilte. Sie musste dem Jungen unbedingt helfen … Doch der Pastetenmann war nicht allein. Als sie sahen, dass einer der ihren angegriffen wurde, kletterten die anderen Bootsleute an Land. Zehn, fünfzehn, zwanzig von ihnen. Sie näherten sich Gil, der schwer atmend über seinem Angreifer stand, und griffen ihn sich, packten ihn an seiner Kleidung, seinen Armen und Beinen. Die Vordersten fielen umgehend unter Gils Hieben zu Boden. Danach konnte Mira nichts mehr sehen, außer einem zornigen Knäuel aus Menschen auf der Straße, das brüllend hin und her wogte. Irgendwo in der Mitte schrie Gil Flüche und Herausforderungen. Sie schüttelte sich, versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Der Drache war nun schon weit weg, nur noch ein dunkler Schatten in der Ferne, doch immer noch zu erreichen, wenn sie rannte wie der Wind. Kay würde bereits inmitten der Passagiere nach ihr suchen, sich fragen, wo sie abgeblieben war. Aber andererseits wäre es vielleicht besser, hier zu bleiben und die Sache mit Gil auszutragen … Denn er würde
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ihnen sicher noch viel Ärger bereiten, wenn sie ihn nicht hier und jetzt endgültig zur Strecke brachte. Es war eine schwere Entscheidung. Sie wollte nicht töten, heute nicht mehr als in jener Nacht, als sie Gil in den eisigen Strom gestoßen hatte. Diese Gewissheit hatte etwas Tröstliches, etwas Beruhigendes an sich. Vielleicht hatte sie sich doch nicht so sehr verändert. Sie beschloss, Gil den Bootsleuten zu überlassen. Wenn sie jetzt losrannte, zu dem Transporter zurückkehrte, würde er sie nicht so leicht einholen können. Und schon bald danach würden sie in die Berge gehen, würden von ihrem Pfad abweichen. Bis Gil das herausgefunden hatte, wären sie schon längst außerhalb seiner Reichweite, sie und auch das kleine Mädchen. Mit dieser Argumentation versuchte sie, sich die Entscheidung leicht zu machen. »Mademoiselle.« Neben ihr ertönte eine leise Stimme. Sie drehte sich um und sah sich dem jungen Pastetenverkäufer gegenüber. An seinem Mund war Blut und Blut rann ihm aus der Nase. Seine Kleidung war zerrissen, doch er erschien ihr völlig ruhig. »Mademoiselle. Tu viens maintenant. Viens avec moi. Dans le bateau.« Er gestikulierte zu seinem kleinen Boot, ging darauf zu und bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Viens. Viens! Marie m’a envoyé. Marie? Adeline? Tu viens!« Die Namen! Sie war erschüttert. Er kannte die Namen! Der junge Mann hatte ihr geholfen und er kannte Adelines Namen und den ihrer Wächterin.
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Mira wurde plötzlich klar, dass er auf sie gewartet hatte, gewartet, um sie zu Adeline zu bringen. Woher wusste er davon? Wer hatte es ihm gesagt? Es gab nur eine Antwort auf diese Frage: Tilly Saint, Kays Mutter. Es gab keine andere Möglichkeit. Kay würde seinen eigenen Weg finden müssen. Sie stieg hinter dem drahtigen jungen Mann ins Boot, und der legte sofort ab, steuerte sie geschickt zwischen den anderen Booten hindurch. Als sie zwanzig Meter weit draußen waren, wendete er und trieb sie mit kräftigen, regelmäßigen Ruderschlägen vorwärts, hinter einem anderen Gefährt her, das sich bereits weit draußen auf dem Wasser befand. Nach kurzer Zeit hielt er inne und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Couche-toi«, sagte er zu Mira. »Couche-toi là.« Er bedeutete ihr, sich hinzulegen, und zeigte auf den Boden des Boots, der mit Segeltuch und allerlei Krimskrams übersät war. Daneben stand eine Holzkiste mit drei Pasteten, wie die, die er ihr geschenkt hatte. Mira tat, wie ihr geheißen. Ihr war klar, dass sie nun, da sie unsichtbar war für jeden, der von der Küste aus aufs Meer schaute, nur ein weiteres Boot zwischen einem Dutzend anderer waren. Sie lächelte den Mann an. »Je comprends.« »Oui. Oui. C’est mieux comme ça.« Er hatte Recht: So war es wirklich am besten. Sie fragte sich, was wohl mit Gil geschehen war. Und
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sie fragte sich, ob Kay immer noch auf dem Buckel des Drachen saß, oder ob er abgestiegen war, um nach ihr zu suchen. Sie betrachtete die Bewegung der angespannten Armmuskeln des jungen Mannes, während er ruderte. Sie roch das Salz und die Pasteten und das Wasser und die Sonne auf dem geteerten Holz. Sie schloss ihre Augen. Es war schön, jemand anderen für sich entscheiden zu lassen, wenigstens einmal. Und außerdem war sie fast angekommen. Am Ende ihrer Reise. Nachdem die Bootsleute von ihm abgelassen hatten, lag Moore auf der Straße und taxierte den Schaden, den sie angerichtet hatten. Bauern! Sie hatten nicht gewusst, wie sie ihn wirklich verletzen konnten, aber trotzdem tat ihm jeder Knochen weh. Mehr als das: Er raste vor Wut, dass ihm das Mädchen wieder einmal entschlüpft war. Sie schien mit allen Teufeln im Bunde zu sein. Als er sich davon überzeugt hatte, dass es nichts gab, was eine ausgiebige Nachtruhe nicht kurieren konnte, stand er auf und schaute sich um. Die letzten Boote lösten sich von ihren Anlegestellen am Pfahlweg. Die Insassen drohten ihm mit den Fäusten und schrien ihm Schimpfworte zu, während sie davonfuhren. Lässig erwiderte er ihre Komplimente, wobei er Worte benutzte, die einige der Bootsleute noch nie gehört hatten. Dann nahm er seinen Feldstecher zur Hand und schaute aufs Wasser hi-
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naus, nahm jedes Boot genau unter die Lupe. Nichts. Wenn sie da draußen war, hatte sie sich versteckt. Aber er hatte ja sein eigenes Boot und noch ein wenig Treibstoff. Wenn der Sprit reichte, konnte er ihnen folgen und die Boote absuchen. Dann dachte er daran, wie sich der junge Narr, ohne zu zögern, in den Angriff gestürzt hatte. Moore hatte beobachtet, wie er Mira die Pastete angeboten und wie sie ihm schöne Augen gemacht hatte, das kleine Miststück. Darüber war er so wütend geworden, dass er sich zu einer sofortigen Attacke hatte hinreißen lassen. Das war ein Fehler gewesen. Wenn er nun darüber nachdachte, fragte sich Moore, ob der junge Galan möglicherweise auf das Mädchen gewartet hatte. Immerhin waren sie den Bergen jetzt schon ziemlich nahe gekommen. Konnte es sein, dass Mira erwartet wurde? Er zuckte mit den Schultern. Der Pastetenverkäufer war kein Kämpfer, trotz seines Muts. Wenn seine kleine Mira sich Dilettanten wie diesem anschloss, sollte es keine Probleme geben. Und jetzt – zum Boot. Er drehte sich um und lief langsam nach Norden, zurück zu der Kurve, wo sich der Pfahlweg gen Osten wandte. Nach etwa achtzig Metern verließ er die Straße, kletterte hinab ins seichte Wasser und schwamm unter die Stützpfeiler der Straße. Dort schaukelte das kleine Schlauchboot, wie er es verlassen hatte. Er zog sich über die Seite hinein, setzte sich ins Heck und be-
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trachtete die gefesselte und geknebelte Gestalt, die vor ihm lag. Kay erwiderte seinen Blick trotzig, aber furchtsam. Vielleicht, dachte Moore, musste er gar nicht die Boote der Händler durchsuchen. Er nahm sein Funkgerät aus der Tasche, um Hunter Bericht zu erstatten.
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35 Selbst die Familien, die Jan bei der Begrüßungszeremonie der IKSV-Inspektoren durch ihre Abwesenheit brüskiert hatten, entsandten einen oder zwei Vertreter anlässlich der Präsentation des Untersuchungsberichts. Der Junge nahm dies zur Kenntnis und stellte mit kalter Befriedigung fest, dass die Veränderungen, die er herbeigeführt hatte, akzeptiert wurden, freiwillig oder unfreiwillig. In der Stadt waren wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt; eine Ausgangssperre war verhängt worden. Tilly Saint war mit schuldbeladenen Händen in Stoneywall geschnappt worden. Es war allgemein bekannt – dafür hatte er gesorgt –, dass die Franzosen ihm die Genehmigung erteilt hatten, die Flüchtenden auf ihrem Territorium gefangen zu nehmen. Ja, all die losen Enden, die die besorgten, närrischen Greise beunruhigt hatten, waren sorgfältig verknüpft worden. Und heute würde der alte Amarfio den Zuckerguss auf den Kuchen streichen, auch wenn es vielleicht nicht seinem Wunsch entsprach. Jan drückte Clarissas schlaffe, fügsame Hand. Selbst sie würde die neue Ordnung annehmen. Es hatte nur wenige Tage gedauert, bis sie sich seinem Willen unterworfen hatte, trotz ihrer früheren Aufsässigkeit. Wenn alle Probleme aus dem Weg ge641
räumt waren, würde er eine öffentliche Zeremonie abhalten, während der sie beide miteinander verbunden werden würden. Dem Volk würde das gefallen. Das Volk brauchte ein hübsches Gesicht, zu dem es aufschauen konnte. Außerdem – was für ein Paar würden sie abgeben! Sie würden sich nicht in ihrem Wohnturm verstekken, wie die alten, ausgedienten Familien. Sie würden an der Spitze stehen und herrschen, für alle Augen sichtbar. Sie würden diese verschmutzte Stadt reinigen, sodass jeder andere zivilisierte Staat mit Neid auf sie schauen musste. Und schon bald konnte die Geburtenkommission ihre neue Technologie einführen und sie konnten diese neue Nation mit hart arbeitenden, gehorsamen, vollkommenen menschlichen Wesen bevölkern. Die Geschichte würde seine Regentschaft später einmal als den Beginn eines goldenen Zeitalters feiern. Dr. Amarfio, tadellos in die formellen weißen IKSV-Gewänder gekleidet, räusperte sich und schaute sich langsam in dem Kreis der Gesichter um, die ihn von den langen Tischen aus anstarrten. Zu seiner Linken, bewacht von Pax-Beamten, saßen jene, die beschuldigt wurden, die internationalen Vereinbarungen gebrochen zu haben. Tomas, der in sich zusammengesunken war und nur noch einen Schatten jenes Mannes darstellte, der er noch vor einer Woche gewesen war, zeigte kaum ein Interesse an der Prozedur, während Tilly, hoch gewachsen, ruhig, wür-
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devoll und ganz in sich ruhend, die Blicke ihrer früheren Freunde und Bundesgenossen unerschrocken erwiderte und sie gütig anlächelte. Bei ihnen befanden sich auch die Leibwächter der Saints: Copper und Sebestova, die beide mit elektronischen Fesseln versehen waren und wütend und mordlustig dreinschauten. Tilly hatte niemals einen Leibwächter besessen. Heute wusste Jan, warum das so war. »Meine Damen und Herren«, brach Amarfio die erwartungsvolle Stille, »wir haben diese Anhörung einberufen, um unsere Erkenntnisse bekannt zu geben. Wie Sie alle wissen, kamen wir hierher, um die Anschuldigung zu untersuchen, es seien von einer der Großen Familien Ihres Landes illegale menschliche Kopien geschaffen worden. Aber bevor ich Ihnen unsere Entscheidung in dieser Angelegenheit mitteile, möchte ich Ihnen die folgenden Bemerkungen zur Kenntnis geben. Sie mögen an dem, was folgen wird, nichts ändern, noch können sie das bestehende Gesetz außer Kraft setzen, an das wir gebunden sind, aber dennoch sehen wir keinen Grund, nicht auszusprechen, was wir als Wahrheit ansehen. Kommen wir zu unserer ersten Anmerkung: Die Anschuldigung und die Aufforderung zur Untersuchung dieses Falles ergingen gemeinschaftlich durch Ihre Geburtenkommission und durch Jan Barbieri. Diese Vorgehensweise folgte unmittelbar auf Mr Barbieris Aufstieg in eine Machtposition an höchster Stelle. Wir haben weiterhin festgestellt, dass gewisse
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Entscheidungen, die Britanniens gegenwärtige Situation und auch die Zukunft des Landes betreffen, derzeit wiederum ausschließlich von der Geburtenkommission und Mr Barbieri getroffen werden. Ich überlasse es Ihnen, hieraus Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, besonders im Hinblick auf die Frage, ob diese beiden Parteien in irgendeiner Form als Verbündete zu gelten haben.« Bei diesen Worten erhob sich erregtes Gemurmel. Jan, rot vor Zorn, sprang auf und rief: »Euer Exzellenz! Wir protestieren angesichts dieser ungeheuerlichen …«, aber Amarfio hob ruhig seine Hand, bis Stille eingekehrt war, und fuhr fort: »Bitte. Behalten Sie Platz. Wir werden diese Dinge aussprechen und unsere Berichte werden – wie immer – allen anderen IKSV-Mitgliedsstaaten zugänglich sein. Wenn nötig, werden wir den Saal räumen lassen und unsere Beobachtungen und Einschätzungen in einer geschlossenen Runde zu Protokoll geben und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Unterbrechungen jeglicher Art führen zu nichts.« Er wartete, bis Jan langsam wieder auf seinen Stuhl gesunken war. »Gut. Vielen Dank. Nun zu unserer nächsten Anmerkung. Dies betrifft die Beweise, die uns nach unserer Ankunft vorgelegt wurden. Uns wurde gesagt, dass allein und ausschließlich die Saint-Familie ein Programm zur systematischen Herstellung von Klonen benutzt hat, um die Erhaltung ihrer privilegierten Position zu sichern. Ich darf
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wohl sagen, dass die erste Reaktion auf diese Aussage bei allen acht Mitgliedern dieses Untersuchungsausschusses identisch war. Wir halten das Klonen aus den genannten Gründen nicht für eine Seltenheit, sondern für eine häufig praktizierte Vorgehensweise der herrschenden Klasse, sowohl in Britannien als auch anderswo. Leider kommt es in solchen Fällen nur selten zu einer Inspektion durch die IKSV, doch wenn wir mit derartigen Anschuldigungen konfrontiert wurden – was bislang vier Mal geschah –, dann stand dies stets in Verbindung mit dem Wunsch einer regierenden Partei, die andere regierende Partei in Misskredit zu bringen beziehungsweise sich ihrer zu entledigen.« Amarfios nüchterner Blick schwenkte durch den Raum und blieb an Jans Gesicht hängen. »Ich frage mich, ob ich mich Ihnen allen verständlich mache. Ich denke, ja … Nun, im vorliegenden Fall waren meine sieben Kollegen und ich an den Hintergründen der Situation ebenso interessiert wie an den harten Fakten des Klonens selbst.« Er machte eine kurze Pause und ordnete die Papiere, die vor ihm lagen. »Als wir hier ankamen, meine Damen und Herren, herrschte in der Stadt ein ziemliches Ausmaß an Chaos. Eine Große Familie hatte ihre Macht dazu benutzt, um eine andere zu Fall zu bringen. Doch damit nicht genug. Anarchisten oder Umstürzler hatten, die Situation ausnutzend, offenbar ganze Straßenzüge in ihre Gewalt gebracht. Zwei Mitglieder der gestürzten Familie befanden sich auf der Flucht, eines
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davon sogar auf dem Weg ins Ausland. Und dann wurden alle drei der von Europa aus kontrollierten Satelliten funktionsuntüchtig gemacht. Kurz gesagt, wir sahen uns neben diesem besagten Machtwechsel auch allen Anzeichen eines beträchtlichen politischen Aufstands gegenüber – ganz wie wir erwartet hatten – sowie Versuchen, uns, die Inspektoren, zu isolieren oder die Wahrheit zu vertuschen. ›Also‹, sagten wir zu unseren Gastgebern, ›hier sind wir. Wo ist der Beweis für Ihre Anschuldigungen?‹ – ›In Wales‹, wurde uns geantwortet. In Wales, in Stoneywall, existierte offenbar in irgendeinem unterirdischen Tresor eine beträchtliche Summe an Beweismaterial für ein Klon-Programm, das von der Saint-Familie durchgeführt worden war. Dies würde uns bald vorgelegt werden. Auch lebende Beweise versprach man uns, in Form von Mathilda Saint und ihrer Tochter Clarissa, plus einem oder zwei weiteren Klonen – sobald sie ausfindig gemacht werden konnten! Unglücklicherweise wurde das Beweismaterial aus Stoneywall zerstört, bevor wir es in Augenschein nehmen konnten. Diese Vernichtungsaktion wurde von Mathilda Saint selbst durchgeführt, die sich dann offensichtlich freiwillig festnehmen ließ. Somit war ein Beweisstück verloren, dafür ein anderes, sie selbst, gewonnen. Aber warum, so fragten wir uns, sollte sich Mrs Saint mit der Zerstörung des Materials belasten, wenn sie doch genau wissen musste, dass
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die Anschuldigungen allein durch ihre bloße Existenz bewiesen werden können?« Wieder raunte ein Murmeln durch den Saal. Tilly saß nach wie vor ruhig auf ihrem Platz, nahm mit höflichem Blick Anteil an dem Vortrag, wobei ein leises Lächeln ihre Lippen umspielte. Einmal, ganz kurz, wanderten ihre Blicke durch den Raum zu ihrer Tochter, und ein einzelnes, langsames Blinzeln schwebte von Tilly zu Clarissa, von Mutter zu Tochter, und ließ das Mädchen unfreiwillig lächeln. Schnell schaute Clarissa zur Seite und bemühte sich, den bitteren und gekränkten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu bewahren. Sie wusste nicht, was sie von ihrer Mutter erwartet hatte, aber das war es ganz sicher nicht. Etwas in ihrem Innern, etwas Namenloses, blühte vor Freude auf. Amarfios Stimme fuhr fort: »Diese undurchsichtige Frage beschäftigte uns so sehr, dass wir uns den berühmten Tresor mit eigenen Augen ansehen wollten. Aber wir wurden nicht dazu aufgefordert, und wir hatten kein Verlangen, unsere Gastgeber und ihre Freunde von unserem Wunsch in Kenntnis zu setzen. Aus diesem Grund nahmen wir Verbindung mit einer anderen Großen Familie auf, einer, von der wir annahmen, dass sie unserer Bitte nach Hilfe entsprechen würde, um uns die verfügbaren Informationen über den Tresorraum zu besorgen. Heute Morgen wurde uns der folgende Film übermittelt, der letzte Nacht durch Funk übertragen wurde.«
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Die Lichter wurde gedämpft, und auf dem Monitor hinter den Inspektoren erschien eine Abfolge von Bildern, angefangen mit dem Eingang zu Stoneywalls hermetisch abgeriegeltem Level eins. Langsam und gleichmäßig schwenkte die Kamera herum und zeigte dem Publikum den gesamten Tresorraum, dann jeden offenen, zerstörten Bunker in Großaufnahme, einschließlich der Leere im Innern. Das letzte Bild präsentierte den Saint-Tresor, der nun ebenfalls offen stand und dessen Innenraum verkohlte und mit Blasen übersäte Wände aufwies sowie einen Boden, der von feiner, blendend weißer Asche bedeckt war. In das Schweigen ließ Amarfio die Bombe fallen. »Wir schließen aus diesen Bildern, dass elf der zwölf Tresore auf ein und dieselbe Art und Weise geöffnet und die darin enthaltenen Materialien durch eine Person weggeschafft wurden, die uneingeschränkten Zugang zu dem Stoneywall-Center hatte, das unter der Aufsicht der Geburtenkommission stand. Für diese Aktion wurden Umstürzler verantwortlich gemacht, was in unseren Augen allerdings höchst unwahrscheinlich ist. Der zwölfte Tresor, den Mrs Saint selbst öffnete und, nachdem sie den Sprengstoff dort deponiert hatte, wieder schloss, wurde absichtlich von demjenigen offen stehen gelassen, der die anderen Tresore leer räumte. Warum? Erneut überlasse ich es Ihnen, Vermutungen über die Identität dieser Person – oder Personen – anzustellen. Bezüglich dessen, was die anderen Tresore enthiel-
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ten, denke ich, dass ich wohl darüber keine Vermutung anstellen muss. Licht an, bitte.« Dieses Mal konnte Amarfio den Aufruhr, der folgte, nicht eindämmen. Stimmen erhoben sich, Finger deuteten anklagend auf Jan, geballte Fäuste donnerten auf Tische hernieder. Die Pax-Wachen, die die Gefangenen beaufsichtigten, schauten sich unsicher um und fragten sich, ob der Tumult ein Einschreiten erforderlich machte. Drei weitere Wachen, die den Lärm gehört hatten, kamen aus dem Korridor hereingerannt und schauten Jan erwartungsvoll an. Mit steinernen Augen und Zorn im Herzen scheuchte er sie wieder auf ihre Posten. Vor diesem Pöbel musste ihn niemand schützen. Wenn es nötig war, würde er sie alle eigenhändig erschießen. Wer, fragte er sich und ließ seinen Blick an den aufgereihten Gesichtern entlangschweifen, wer war jenes Mitglied einer Großen Familie, das den Film aufgenommen hatte? Warum hatten Pieter und Magnus ihn nicht gewarnt? Er schaute hinüber, wo sie saßen, unbekümmert und harmlos wirkend wie immer. Pieter, so glaubte Jan zu erkennen, zuckte ganz leicht mit den Schultern und schüttelte dann kaum merklich den Kopf zum Zeichen, dass er sich beruhigen und den Sturm vorbeiziehen lassen sollte. Schließlich, nach beinahe zehn tosenden Minuten, senkte sich wieder angespanntes Schweigen über die Zuhörer, die darauf warteten, was die Inspektoren
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wohl als Nächstes präsentieren würden. Wieder räusperte sich Amarfio. »Ich sehe, dass ich Ihnen einigen Stoff zum Nachdenken gegeben habe. Nun, ich hoffe, dass etwas Gutes daraus erwächst. Dann möchte ich mich nun den Ergebnissen unserer Untersuchung in Bezug auf die Vorwürfe des illegalen Klonens zuwenden, die gegenüber der Saint-Familie gemacht wurden. Angesichts der ausführlichen Kommentare zu diesem Thema im Allgemeinen kann ich mich wohl hier kurz fassen.« Er nahm ein Dokument aus dem Papierstapel vor sich, überflog es kurz, wie um sich des Inhalts zu versichern, und schaute dann auf. »Meine Damen und Herren der Großen Familien von Britannien, Mitglieder der Geburtenkommission … Nachdem wir DNAProben sowohl von Clarissa als auch von Mathilda Saint genommen haben – die uns in beiden Fällen freiwillig und mit dem Einverständnis der Betreffenden übergeben wurden –, kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Erstgenannte ein Klon der Zweitgenannten ist oder – was ebenfalls denkbar ist – dass beide Klone einer anderen Person sind. Ohne weitere Untersuchungen können wir in dieser Beziehung keine detaillierten Aussagen machen. Die Frage nach der Verantwortung wird dadurch nicht geklärt, aber …« – er verlangte mit erhobener Hand nach Ruhe – »aber meine Kollegen und ich haben Grund zu der Annahme, dass der Klon-Prozess in der Tat mit voller Absicht eingesetzt wurde. Wir halten es für unwahr-
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scheinlich, dass das Klonen ohne die Kenntnis – wenn nicht sogar Zusammenarbeit oder den Wunsch – der beiden Erwachsenen vorgenommen wurde, die hier angeklagt sind.« Er deutete auf Tilly und Tomas. »Im Namen der Internationalen KrisenstrategieVereinbarung haben wir daher keine andere Wahl, als unsere Zustimmung zur Absetzung dieser Personen zu geben. Was von nun an mit ihnen geschehen wird, entzieht sich unserer Kontrolle, wir würden allerdings für eine Strafe von allerhöchstens fünf Jahren Einkerkerung plädieren, falls sie von einem Gericht dieses Landes abgeurteilt werden. Auch diese Empfehlung wird zu den Akten genommen werden.« Wieder war eine Unterbrechung nötig, damit die erhitzten Gemüter sich abkühlen konnten. Doch aus Jan war nun jeder Zorn gewichen. Amarfio hatte in der Tat den Zuckerguss auf dem Kuchen geliefert. Der Rest – das ganze Geschwafel davor – war unbedeutend. Die alten Säcke hatten eine Entscheidung nach Maß gefällt; nur dafür waren sie hier. Das Land gehörte ihm. Als Tomas das Urteil hörte, vergrub er sein Gesicht in den Händen. »Wie auch immer«, dröhnte Amarfio, als wieder Stille eingekehrt war, »es bleibt noch die Sache mit den anderen beiden angeblichen Klonen, die sich in Frankreich aufhalten sollen. Wir wurden gebeten, unsere Autorität den französischen Behörden gegenüber geltend zu machen, um Suchtruppen auszu-
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schicken und diese beiden Menschen – zwei Kinder, wohlgemerkt – nach Britannien zurückzubringen, wo sie als Beweise in dieser Anhörung dienen sollten. Da wir zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei anderen Beweis vorliegen hatten«, er blickte Tilly Saint und ihre Tochter an, »kamen wir dieser Bitte nach, wenn auch widerwillig. Jetzt da der Fall unstrittig ist, habe ich mich mit meinen Kollegen beraten, und wir sind alle einer Meinung: Die Truppen sollten nicht entsandt werden. Jedenfalls nicht, unter keinen Umständen, mit unserer Einwilligung. Wir halten weder die beiden Personen in Frankreich noch Clarissa Saint eines Vergehens im Zusammenhang mit der KlonTechnologie für schuldig, zumal alle drei Genannten noch nicht volljährig sind. Sie zu bestrafen oder in ihr Leben einzugreifen wäre, unserer Meinung nach, unentschuldbar und würde ihr Leid nur unnötig vergrößern. Wir werden daher noch heute eine Botschaft an die zuständigen Kräfte in Frankreich schicken und ihnen mitteilen, dass wir unsere Unterstützung für Mr Barbieris Anfrage zurückziehen. Und schließlich sehen wir keinerlei Gründe für die Inhaftierung von Mr Copper und Mr Sebestova, die früheren Leibwächter der Saint-Familie. Auch ihnen kann keine Beteiligung an dem Klon-Prozess nachgewiesen werden.«
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36 Pieter schaute aus dem Fenster. »Wir waren unvorsichtig«, sagte er. »Wir haben die Unterstützung von einigen der anderen Familien verloren. Wir haben es zugelassen, dass unsere Handlungen Fragen aufwerfen. Dinge, die akzeptiert wurden, als sie noch unausgesprochen waren, werden nun angezweifelt. Es wäre unklug, wenn wir uns unter diesen Umständen unsere Verbündeten oder die Inspektoren zu Feinden machten.« Jan trat gegen die Teppichkante. »Wir müssen uns die Informationen besorgen, die der Ersatz bei sich trägt«, stieß er gepresst hervor. »Habt ihr Tilly Saints Gesichtsausdruck gesehen? Sie glaubt, dass sie gewonnen hat. Was immer sich auf dieser Karte befindet, kann uns bei der IKSV oder den Familien weit mehr schaden als dieser Film oder der andere Quatsch. Und außerdem will ich, dass die Linie der Saints endet. Ich werde dieser Familie antun, was sie meiner angetan hat.« »Aber Clarissa willst du behalten? Möchtest sie für dich haben, nicht wahr? Soll sie die Ausnahme sein?« Mit gesenkten Augen sagte der Junge leise: »Ich bin der letzte Barbieri. Sie wird die letzte Saint sein. Das Gleichgewicht wird gewahrt. Und es ist doch das, was ihr wolltet, nicht wahr? Was ihr mir befohlen 653
habt zu tun, um den großartigen Familien zu schmeicheln.« Magnus legte beschwichtigend seine dünne Hand auf Jans Schulter. »Mein lieber Junge. Wir haben dir nie irgendetwas befohlen, das hoffe ich wenigstens. Wir haben dir nur Ratschläge gegeben, immer zu deinem Besten. Und vielleicht zum Besten unserer großen Nation. Schließlich wollen wir alle für Britannien dasselbe, oder etwa nicht?« Fragend schaute ihn der alte Mann an. »Wenn wir irgendetwas getan haben, was dich verärgert oder beunruhigt, dann tut es mir Leid. Uns beiden tut es Leid.« Er räusperte sich und blickte Pieter kurz an. »Vielleicht hätten wir dir doch nicht die Wahrheit über deine Eltern und die anderen Angriffe erzählen sollen, die jüngst passiert sind. Ich glaube wahrhaftig, dass es besser gewesen wäre, es zu verschweigen. Es wäre gnädiger gewesen. Und doch: Du bist jetzt erwachsen. Ein erwachsener Mann mit Verantwortung. Du hattest das Recht, es zu wissen, das dachten wir jedenfalls.« Jan schaute hinab auf die seltsame kleine Gestalt und verspürte zum ersten Mal den Hauch eines Verdachts – dass er zum Narren gehalten wurde. Doch es war nur eine flüchtige Erscheinung, die durch seinen Kopf schwebte und vergangen war, bevor er ihrer richtig gewahr werden konnte. Allein schon bei dem Gedanken daran fühlte er sich schuldig. Wenn er daran dachte, wie freundlich diese beiden zu einem
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verlorenen und einsamen Jungen gewesen waren … »Die ganze Sache mit den Tresoren«, sagte er schließlich. »Amarfio hat angedeutet, dass es eine andere Person als die Attentäterin war, die sie leer geräumt hat. Stimmt das?« Pieter erhob wieder seine Stimme. Er schien heute ungewöhnlich ruhelos und gereizt zu sein. »Amarfio?«, knurrte er Jan an. »Denk bitte nach! – Was weiß der denn schon? Ist er ein Polizist? Ein Detektiv? Offensichtlich nicht! Er will nur Unruhe stiften. Nein, nein. Was wäre denn logischer, als dass Tilly Saint zunächst das Klon-Material der gegnerischen Familien zerstört, um die Position ihrer eigenen zu festigen, sich damit Zeit lässt und den Anschlag bis ins Detail plant – wobei sie ihre Kontakte zu den Umstürzlern ausnutzt – und dann zurückkehrt, um in aller Eile mit einer Brandbombe die Beweise gegen sich selbst zu zerstören, als sie erfährt, dass die Inspektoren im Anmarsch sind? Hmm? Amarfio! Er ist ganz der Typ, der es genießt, Unruhe zu stiften.« »Ja«, nickte Jan. »Das verstehe ich. Aber warum hat sie sich danach festnehmen lassen?« »Warum? Warum? Ja, glaubst du denn, sie wusste, dass man sie nach ihrer verstohlenen kleinen Zerstörungsaktion erwischen würde? Glaubst du etwa, dass sie sich gefangen nehmen lassen wollte?« Ja, dachte Jan unfreiwillig. Ja, er würde sagen, dass es genau das war, was sie beabsichtigt hatte. Wie passte das zusammen? Wieder taumelte dieser geister-
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hafte Zweifel durch seine Gedanken. Rasch und mit Schuldgefühlen beladen, verscheuchte er ihn. Magnus sprach nun mit Pieter: »Beruhige dich, mein Freund. Beruhige dich! Es kommt nichts Gutes dabei heraus, wenn man sich so aufregt. Wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern. Wir müssen uns jetzt entscheiden, welche Taten wir nun folgen lassen.« Jan blieb hartnäckig. »Mein Mann in Frankreich hat schon fast die genaue Lage des Ortes herausgefunden, an dem dieses Mädchen lebt. Er ist ihr schon sehr nah. Ich sage, wir fliegen trotzdem dorthin. Rein und raus, in einer Nacht, schnappen uns den Ersatz oder eliminieren sie und den Rest gleich dort. Holen die Comcard zurück. Die Franzosen werden niemals erfahren, dass wir überhaupt da waren.« »Und wenn doch? Wenn sie eine Beschwerde einreichen?« »Wenn sie etwas davon mitbekommen und sich beschweren, sagen wir einfach, dass die Mission, die Beweise für die IKSV zu sichern, schon vor der heutigen Anhörung gestartet ist. Möglicherweise schicken die Inspektoren ihre Botschaft an die Franzosen auch erst morgen los.« Zwischen den drei Männern herrschte Stille. Die beiden Alten sahen besorgt aus. Jan wirkte störrisch und entschlossen. Schließlich war es erneut Magnus, der die Wogen glättete. »Also gut«, sagte er. »Bereite deine Mission
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vor. Geh und hole dir den Ersatz und die gestohlenen Informationen. Geh heute noch, am besten jetzt gleich, bevor die Franzosen ihre Genehmigung zurückziehen. Ich werde Dr. Amarfio sagen, dass du krank bist, und ihm die besten Wünsche für eine gute Heimreise von dir ausrichten. Aber Jan, mein Junge: Wenn du auf Blut aus bist, dann lass es für alle wenigstens wie einen Unfall aussehen. Und nicht auf französischem Gebiet. Ich denke da an … nun, an etwas auf offener See – was meinst du?« Pieter nickte. »Ja, wenn es denn sein muss, ist das Meer die beste Lösung.« Jan verbeugte sich knapp vor den beiden und sagte: »Dann werde ich jetzt gehen und mich vorbereiten.« Nachdem er den Raum verlassen hatte, schenkte Pieter seinem Gegenüber ein leichtes Lächeln. »Das lief doch gar nicht so schlecht, nicht wahr?« »Du hast Recht. Und du, mein Freund, warst einfach großartig. So wütend zu werden – das hat dem Esel jegliche Zweifel geraubt.« »Das war nicht schwer, mein Bruder. Ich bin wütend auf ihn. Er ist so ein sturer Esel. So ein Holzkopf!« »Ja. Tja, und nun? Was ist mit seiner Mission?« Achselzuckend rollte Pieter mit den Augen. »Er hätte sich durch nichts davon abhalten lassen. Es wäre nicht gut, sich ihm jetzt in den Weg zu stellen. Er braucht ein Ventil für seinen Zorn, denke ich. Und
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außerdem wird es das Problem mit dem unglückseligen Kind ein für alle Mal lösen.« »Ja, das ist wahr. Das Kind … Aber macht uns das nicht zu zwei paranoiden alten Männern, die es eigentlich besser wissen sollten?« »Nein, Bruder. Wir sind zwei vorsichtige alte Männer, die es in der Tat besser wissen – und die nicht riskieren, dass sich die fragwürdigeren und leichter zu beeinflussenden Elemente unserer Bevölkerung an eine Galionsfigur klammern, egal wie schwach diese auch sein mag. Das hat mit Paranoia nichts zu tun, so etwas darfst du nicht einmal denken. Es ist das Bewusstsein, dass jeder noch so kleine, harmlos erscheinende Umstand zu einer Rebellion hochkochen kann.« Solcherart bestätigt lächelten die beiden, schüttelten einander die welken Hände und umarmten sich. »Es ist eigentlich schade«, sagte Magnus, »dass wir die Leiche nicht untersuchen können. Dann würden wir das Rätsel dieser seltsamen Augen vielleicht lüften können.« Während Mira ausgestreckt auf den alten, von der Sonne ausgebleichten Holzplanken im Schatten eines dicken braunen Segels lag, das sich im Wind blähte, schickte ihr Retter eine kurze Mitteilung in dem vereinbarten Code nach Le Porge. Nachdem sie die Meldung erhalten hatte, ging Marie hinunter zum Wasser, wo Pierre unter einem ein-
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samen Baum döste. Sie sagte: »Das Mädchen kommt. Aziz hat sie in seinem Boot. Aber er sagt, dass sie verfolgt wurde. Vielleicht wissen die Bluthunde schon, wo wir sind. Er ist sich nicht sicher.« Der fette Mann grunzte schläfrig. »Lass sie nur kommen! Wir werden sie gebührend empfangen.« Und dann: »Was sagt Aziz noch?« Marie grinste. »Nur, dass sie schön ist und sehr hungrig. Sie hat zwei von seinen Pasteten gegessen.« Beide mussten lachen. »Das ist typisch Aziz. Da fährt er ein hübsches Mädchen in seinem Boot spazieren – und er füttert sie mit Pasteten!« Clarissa eilte den Korridor entlang, dankbar für die kurze Zeit der Freiheit, während sich Jan mit den beiden verstaubten Skeletten traf. Ihr war klar, dass sich ihre Freiheit lediglich auf das Innere des Gebäudes beschränkte – noch war ihr nicht gestattet hinauszugehen –, aber schließlich musste sich ihre Mutter auch noch irgendwo hier im Haus befinden. Wenn sich Jan nur Zeit ließe mit seinen Plänen, dann könnte es ihr vielleicht gelingen, sie zu finden. Natürlich war ihr auch nicht erlaubt worden, Tomas zu besuchen, aber das war etwas anderes. Sie konnte sich nicht mit der Vorstellung abfinden, dass man Tilly für lange Zeit – für Jahre vielleicht – in eine Zelle sperren würde, nicht bevor sie sie richtig gesehen, richtig kennen gelernt hatte, bevor sie etwas
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sagen konnte … ihr zeigen konnte, dass alles in Ordnung war. In Wahrheit wusste sie nicht, welche Worte sie finden würde. Und tief in ihrem Herzen verspürte sie die eisige Gewissheit, dass es nicht die Zelle war, die auf ihre Mutter wartete. Sie konnte nur beten, dass sich Jan an die Auflagen der IKSV hielt. Als sie in der Hoffnung, dass die Gefangenen noch nicht weggebracht worden waren, um die Ecke in den Korridor einbog, der zurück zum Verhandlungssaal führte, stieß sie beinahe mit drei Mitgliedern des IKSV-Untersuchungsausschusses zusammen. Sie schlenderten durch den Flur, unterhielten sich und lachten über einen Scherz. Zwei Frauen und ein Mann. Als sie Clarissa erblickten, sagte eine der Frauen, ein sehr bleiches blondes Geschöpf mit einem starken ausländischen Akzent: »Meine Liebe, ich mich freuen, dass ich dich sehe. Ich will sagen, dass wir sehr leid sind, dass wir dir so viel … Problem gemacht. Mit dem Gesetz, so ist es manchmal. Das Gesetz ist befolgt, aber Menschen verletzt. Die kleinen Menschen. Wie du.« »Bitte«, beeilte sich Clarissa zu sagen, »machen Sie sich keine Vorwürfe. Es ist nicht Ihre Schuld.« Sie versuchte, an den dreien vorbeizukommen – jede Sekunde war kostbar –, aber die Frau verstellte ihr den Weg. »Bitte. Ich will sagen mehr. Ich weiß, Dr. Amarfio hat dir angeboten Hilfe. Ein bisschen Liebe. Und du
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sagst Nein, du brauchst nicht Hilfe. Vielleicht du bist starkes Mädchen, tapfer, ich weiß nicht. Ich immer noch glaube, du brauchst Hilfe. Und so sage ich dir, ich habe Tochter auch. In meinem Haus, zu Hause, in der Schweiz. Sie hat sechzehn Jahre, so wie du. Wir haben schönes Haus, aber sie ist einsam. Vater ist tot. Wenn du willst, du kommst und lebst dort mit uns. Es ist Platz. Weit weg von Mr Barbieri und all den Sachen hier. Niemand tut weh dir. Alles ist sicher. Ich sehe gut, wie benimmt sich Mr Barbieri zu dir. Warum kommst du nicht?« Wieder war Clarissa von der unerwarteten Freundlichkeit überwältigt. Diese Frau, die sie nicht kannte, bot ihr alles an, was sie sich nur wünschen konnte! Ein Heim, Sicherheit, Normalität, Liebe. Sie wurde von dem Verlangen überwältigt, einfach zu sagen:Ja, oh ja, nehmen Sie mich mit! Sie zitterte förmlich vor Sehnsucht, dem Verlangen nachzugeben, und konnte der Frau nicht in die Augen sehen, aus Angst, dass ihr die verräterischen Worte entschlüpften. Wer wollte es ihr übel nehmen? Wen würde sie im Stich lassen? Beherrsche dich, dachte sie. Entspanne dich, atme, finde deine Kontrolle. Sie dachte an die Kameras über ihnen, die all das aufnahmen. Vielleicht waren sie ihr sogar nützlich, sagte sie streng zu sich selbst. Wenn sie sich kontrollieren konnte, waren sie hilfreich für ihren Zweck. »Sie sind sehr freundlich«, sagte sie klar und deut-
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lich zu der Frau. »Wirklich, ich bin Ihnen sehr dankbar. Aber dazu besteht kein Anlass. Ich werde Jans Partnerin werden. Ich werde hier ein sehr schönes Zuhause haben. Ich bin sicher, dass er für mich sorgen wird. Und nun … nun ja, ich war gerade auf dem Weg, um meine Mutter zu besuchen.« Die zweite Frau sagte etwas in einer Sprache, die Clarissa nicht verstand. Ihre Kollegen nickten zustimmend. Die erste Frau sagte: »Komm. Wir gehen mit dir. Es ist gut, wenn du siehst deine Mutter. Vielleicht kann sie sagen: Geh nach der Schweiz. Wenigstens können wir sorgen dafür, dass niemand Nein sagt, wenn du sie willst sehen.« Sie drehte sich um und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. »Komm! Komm! Sie haben deine Mutter in einem Untergeschoss. Wir gehen alle.« Wortlos folgte Clarissa den drei Inspektoren. Jan und seine Spione konnten sagen, was sie wollten: Dies war ein Angebot, das sie nicht ausschlagen würde. Gemeinsam gingen sie zu den großen Fahrstühlen und fuhren hinunter. Nicht einmal Tageslicht gibt es hier, dachte sie bitter. Warum müssen sie sie hier unten einsperren? Sie könnte genauso gut in einem der oberen Stockwerke bewacht werden. Sie liebt die Höhe. Die Schweizer Beamtin führte sie von dem Fahrstuhl einen spärlich erleuchteten Gang entlang zu einer Tür, vor der vier riesenhafte Wachen standen. Die Kameras verfolgten surrend ihren Weg und nahmen
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jede Bewegung auf. Die Inspektorin sagte zu den Männern: »Wir kommen, um zu sehen die Gefangene. Öffnen Sie Tür, bitte.« Die Männer beäugten Clarissa zweifelnd. Einer von ihnen sagte: »Entschuldigen Sie, Madam, aber wir fragen besser vorher nach, ob das in Ordnung geht.« »Dann Sie das tun«, sagte die Frau scharf. Der Mann drückte einen Knopf auf seinem Kommunikator am Handgelenk. »Mr Hunter, Sir. Hier spricht Soldat Jacks, Sir. Drei von den IKSV-Leuten sind hier. Sie wollen zu Mrs Saint. Clarissa Saint ist auch dabei.« Es folgte eine unhörbare Erwiderung und der Mann löste seinen Kommunikator und reichte ihn der Frau. »Madam, Mr Hunter möchte gerne mit Ihnen sprechen.« Sie nahm ihm das Gerät aus der Hand. Clarissa sah, wie sich ihr Kiefer vor Entschlossenheit verhärtete. »Guten Tag für Sie, Mr Hunter. Hier ist Frau Kästner vom Team der Internationalen KrisenstrategieVereinbarung. Ich wünsche Zugang zu diese Gefangene. Bitte kommen Sie Wunsch umgehend nach. Unser Bericht für unser Vorgesetzten wird heute noch geschrieben. Ich will nicht zufügen Ihre Name zu den Problem, wir hatten hier. IKSV hat uneingeschränkt Zugang. Hier und überall. Das ist das Gesetz.« Eine weitere laute, aber nur für die IKSV-Beamtin verständliche Antwort.
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»Ja? Nun, Mr Hunter, ich will sagen, dass IKSV auch Vereinbarung von Behandlung von Gefangene und Angehörige hat. Alles in Bericht. Und wenn wir Beweis haben, dass Verstoß schlimm ist, dann schikken wir neues Team. Größer, mit mehr Macht. Dann werden wir Ihre kleine Stadt umdrehen und suchen nach Würmern.« Wieder eine Antwort, diesmal scheinbar leiser. Frau Kästner lächelte und die Muskeln unter ihren bleichen Wangen entspannten sich. »Danke, Mr Hunter. Sie sind sehr guter Mann.« Dann reichte sie den Kommunikator wieder dem Soldaten, der einen Moment lang den Befehlen lauschte. »Ja, Sir«, sagte er schließlich und tippte einen Zahlencode in die Schalttafel an der Tür ein. »Bitte schön, Madam. Sie haben so viel Zeit, wie Sie wollen.« Frau Kästner machte eine kleine Verbeugung und winkte Clarissa zur Tür. »Du hörst den Mann, mein Kind. So lange du willst. Wir bleiben Weile hier draußen, falls du uns brauchst.« Ein Hoch auf Frau Kästner. Wenn sie nicht so begierig darauf gewesen wäre, durch die Tür zu gehen, hätte Clarissa sie umarmt. Die Frau schien zu verstehen, wie es um sie stand. Sie fing an, die Wachen in ein Gespräch zu verwickeln, und fragte, wo man am besten essen gehen könnte, da dies die letzte Nacht der Inspektoren in Britannien war. »Ich möchte etwas … nicht so europäisch«, sagte
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sie. »Unser Essen ist … wie sagt ihr hier? … hmm … dick wie ein großer Stein.« Clarissa hörte nicht, was die Wachen antworteten. Sie schob die schwere Tür auf, ging hindurch und schloss sie hinter sich. Der Raum war kahl und hell erleuchtet. Zwei Überwachungskameras spähten jeden Winkel aus. Es gab weder Fenster noch Möbel. Ihre Mutter saß links von ihr auf dem Boden mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie hatte die Augen geschlossen; ihr Gesicht wirkte entspannt. Ohne ihre Augen zu öffnen, stahl sich ein Lächeln in ihre Mundwinkel. »Liebling. Du bist gekommen.« »Ja.« Jetzt da sie hier war, wusste Clarissa nicht, was sie sagen sollte. Plötzlich erschienen ihr ein paar Minuten in diesem leeren Raum viel zu wenig, um all ihren Gefühlen Ausdruck zu geben – doch gleichzeitig war es viel zu viel. Jede Sekunde schmerzte. Und dann war Tilly auf den Beinen und hielt sie eng an sich gepresst, drückte sie mit aller Kraft, sodass sie kaum noch Luft bekam. Und Clarissa klammerte sich mit derselben Intensität an ihre Mutter. »Mein armer Liebling«, murmelte Tilly schließlich. »Wir haben dich allein gelassen.« Ja! Warum? Warum hast du mich verlassen? Sie schwieg. Sie musste schweigen wegen der Kameras, das redete sie sich wenigstens ein. Es war ein guter Vorwand, um den Damm am Brechen zu hindern. Nach einer ganzen Weile lösten sie sich voneinan-
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der, schauten sich in die Augen und hielten sich an den Händen. Tilly betrachtete sie, blickte aufmerksam in ihre Augen. Sie nickte, als ob sie ihre Erwartungen bestätigt sah. »Meine Clarissa«, sagte sie sanft, »du bist zur Frau geworden und ich hatte es nicht bemerkt.« »Skifahren. Die Umstürzler. Dein Liebesleben!« Clarissa bemühte sich, ihre Worte scherzhaft klingen zu lassen. Doch sie musste das Lachen förmlich hervorwürgen. Denk an die Kameras! »Ich habe dich gar nicht gekannt.« »Ja. Ich war eine schreckliche Mutter. Ich habe mir selbst nicht getraut. Wie konnte ich auch? Welches Recht hatte ich dazu? Weißt du – du warst ja … ich.« Das letzte Wort war kaum mehr als ein leiser Hauch. In Clarissas Kopf drehte sich alles. Wieder nahm Tilly sie in die Arme und zog sie zu sich. Es schien, als ob gar nicht viele Worte nötig waren. Sanft wiegten sie sich in ihrer Umarmung hin und her. Stille Tränenströme vereinten sich auf ihren Gesichtern. Von draußen war Lärm zu hören. Rennende Schritte. Erhobene Stimmen. »Ich komme wieder«, flüsterte Clarissa unglücklich. »Na, na … weine nicht, meine Liebe, meine Tochter, meine Schwester. Ich bin zufrieden, so wie die Dinge sind. Und ich bin stolz.« Jetzt war Jan im Raum und zerrte Clarissa von ihrer Mutter weg. »Raus!«, brüllte er sie an. Wie im
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Traum ging sie und er folgte ihr. Die schwere Tür schloss sich und das elektronische Schloss wurde aktiviert. In Clarissas Ohren klang das leise Klicken wie etwas Endgültiges, Unabänderliches. Jan nahm ihren Arm und brachte sie in ihr Apartment zurück. Vor der Tür sagte er, ruhiger jetzt: »Das war keine besonders gute Idee. Du bist aufgeregt. Sie verdient deine Sorge nicht, meine Liebe. Wann hatte sie jemals Zeit für dich?« Sie zwang sich zu nicken. »Ich weiß. Ich weiß. Es war dumm.« Sie hielt sich an ihm fest, streckte sich, um seine Wange zu küssen. Misstrauisch betrachtete er sie. »Schlaf jetzt«, sagte er und schob sie in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Nur mit allergrößter Anstrengung gelang es ihr, sich zu beherrschen, die Tür nicht einzutreten, den Glastisch, der mitten im Raum stand, nicht zu zerschlagen. Stattdessen ging sie auf die Toilette. Dort wenigstens würden die Kameras sie nicht beobachten. Sie setzte sich auf den Toilettensitz, spürte, wie ihr Herz hämmerte, und tastete unter ihrer Tunika nach etwas, was sie dort seit der Umarmung mit ihrer Mutter verspürte, zog es hervor. Es war ein winziger Ohrstöpsel mit integriertem Aufnahmegerät. Anhand der Tatsache, dass nur ein einziger roter Punkt auf dem Display leuchtete, vermutete sie, dass es auch nur eine Aufnahme enthielt. Sie steckte das Gerät in ihr Ohr und lauschte. Es war die Stimme ihrer Mutter, die sanft ein Lied sang:
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Gesegnete Kinder, euch wurde diese schlafende Schlange geschenkt. Lange Jahre hat sie überdauert, mit ihren starken, glänzenden Windungen, tief in den Sümpfen und Fluten verborgen. Ihr Maul umschlingt ihren Schwanz. Und wenn die Schlange erwacht, gewachsen ist und voller Kraft, wenn sich der Kopf erhebt – schön und schlank und weise –, wenn die zwei Augen, eins braun und eins grün, sich öffnen, dann, gesegnete Kinder, mögt ihr auf ihrem Rücken reiten zu Frieden und Liebe. Denn diese Schlange verführt euch nicht zum Übel, sondern ist euer wahrer Freund. Als das Lied zu Ende war, folgte eine Pause. Dann: »Hast du sie singen gehört, mein Liebling? Viele von unseren Leuten singen diese Worte oder sie sprechen sie oder schreiben sie auf. Ganz normale Menschen. Keine Idealen, keine Klone. Ich weiß nicht, woher die Worte kommen oder was sie bedeuten, aber dennoch berühren sie etwas in meinem Herzen. Natürlich gab es in dem alten christlichen Glauben eine Schlange: Sie führte die Menschheit zu dem, was man Sünde nennt. Doch in der Antike, bei
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den Griechen, bedeutete die Schlange Fruchtbarkeit – es gab sogar eine Schlangengöttin.« Wieder eine Pause. »Was diese Schlange – in diesem Lied – bedeutet, weiß ich nicht. Aber ich empfinde eine große Hoffnung für alle von uns. Für Britannien. Das mag dir seltsam vorkommen.« Clarissa dachte, die Aufnahme sei zu Ende, so lange währte nun die Stille an ihrem Ohr. Sie saß da und versuchte herauszufinden, was ihr Tilly damit sagen wollte. Sie hatte Worte der Liebe erwartet oder wenigstens etwas Greifbares, was sie gegen Jan benutzen konnte. Sie schob ihre Enttäuschung beiseite, wollte sich den Ohrstöpsel herausziehen – und dann fing die Stimme wieder an zu sprechen. »Jetzt habe ich dich mit meinem Gerede verwirrt. Meine arme Clarissa. Ich möchte nur noch zwei Dinge sagen. Das eine ist, dass ich dich liebe und dich immer geliebt habe. Die andere Sache ist, dass es mir so vorkommt, als ob diese … Menschen, die wir sind, du und ich und die anderen, jene ›glänzenden Windungen‹ der Schlange sein könnten, von denen in diesem Lied die Rede ist. Was meinst du? Ich weiß nicht, warum mir das in den Sinn gekommen ist. Vielleicht wegen der ungebrochenen Linie, von der wir abstammen. Die ›Windungen‹, die Stränge unserer genetischen Informationen … Nun, vielleicht spielt das keine Rolle. Es gibt etwas, was noch seltsamer ist: Deine kleine Schwester, diejenige, die Mira und Kay finden wollen – ihre Augen sind braun …
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und grün. Vielleicht … vielleicht ist sie unsere Hoffnung. Ich kann es nicht sagen. Jetzt muss ich gehen. Lebe wohl, meine Schwester. Lebe stolz.« Während sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen, löschte Clarissa die Aufnahme und warf das kleine Gerät in die Toilette. Dann betätigte sie die Spülung. In der Nacht kam Jan zu ihr, um sie zu wecken, wie er es schon einmal, vor ein paar Tagen, getan hatte. Wieder flog er wie ein Schneegestöber oder ein Trompetenstoß herein, aktivierte die helle Beleuchtung und schleuderte ihre Bettdecke beiseite. Wieder hatte er Neuigkeiten. »Komm«, sagte er, »zieh dich an. Wir fliegen in fünfzehn Minuten ab. Vertrödel keine Zeit damit, dich hübsch zu machen.« Sie blinzelte in das Licht. »Abfliegen? Wohin?« »Nach Südfrankreich. Mit dem Hubschrauber.« »Frankreich? Bist du verrückt?! Es ist mitten in der Nacht. Warum jetzt?« Er schaute sie mit einem schmalen, kalten Lächeln an. »Wir müssen dort ein paar Leute einsammeln, meine Liebe. Ich bin sicher, du kannst dir denken, wen ich meine. Außerdem wirst du dann nicht in Versuchung kommen, in die Schweiz zu fahren, nicht wahr?« Sie griff nach ihrem Morgenmantel und versuchte, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. Sie hatte
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mit ihrem Verhalten genau den richtigen Weg beschritten, irgendwo zwischen Loyalität und Verrat. Der Dummkopf wollte sie im Auge behalten, weil er nicht sicher sein konnte, dass sie nicht doch das Angebot jener Schweizerin zur Flucht wahrnahm oder erneut versuchen würde, ihre Mutter zu sehen. »Okay«, sagte sie. »Wenn ich jetzt bitte ein paar Minuten allein sein könnte, um mich anzuziehen …« Er sah so aus, als wollte er sich weigern und es sich gemütlich machen, um zuzuschauen, doch nach einem Moment drehte er sich schwungvoll um. »Ich warte draußen. Lass dir nicht zu viel Zeit, mein Herz.« Eine halbe Stunde später hoben sie ab, flogen schnell und niedrig über die Wellen hinweg. Grübelnd betrachtete Jan Clarissa. Er begegnete ihrem Blick und drückte bedächtig ein paar Knöpfe auf seinem Kommunikator. »So«, sagte er mit einem kleinen, freudlosen Lächeln, »wieder ein Problem gelöst, meine Liebe.« Und im Pax-Gebäude, tief unter der Erde, holten sie Tilly, so wie er es befohlen hatte.
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37 Es war ein köstlicher Traum. Das erste Licht des Tages. Die scharfe, kühle Luft, die von jener Andersartigkeit sang. Mira lag im reinen Schnee. Sie schob sich davon über ihre Beine, fing an, sie damit zu bedekken. Sie spürte, wie sie warm wurden und kribbelten. Nachdem ihre Beine gemütlich eingegraben waren, machte sie dasselbe mit ihrem Bauch. Sie lag jetzt flach ausgestreckt und schaute hoch durch die schneeschweren Zweige in den bleichen, tief hängenden Himmel. Der Duft der Zweige und des Schnees kitzelte sie in der Nase. Ihr Bauch wurde warm. Immer weiter schob sie den Schnee herbei, eine Hand nach der anderen, bedeckte ihre Brust und dann ihren Hals. Ihre Arme und Hände gruben sich selbst in das weiche weiße Pulver. Sie war geschützt, so warm wie in einem Ofen. Nur das Gesicht war noch zu sehen und ihre Ohren lauschten den eisigen Klängen, die durch die Bäume schwebten. »Mademoiselle! Mademoiselle!« Sie erwachte, öffnete die Augen. Der junge Pastetenverkäufer hatte sich über sie gebeugt, ruderte immer noch und grinste zu ihr hinab. Das alte Eichenholz unter ihrem Körper war heiß von der Sonne und feucht vom Wasser, das durch kleine Ritzen ein672
drang. Sie fühlte sich benommen, glücklich, traurig, seltsam berührt durch ihren Traum. »Mademoiselle«, sagte der junge Mann wieder, »Le Porge. Nous arrivons. Un quart d’heure.« Sie schaute wohl ziemlich verständnislos oder verschlafen drein, denn er ließ die Ruder einen Moment lang los und hielt erst zehn Finger und dann noch einmal fünf in die Höhe. »Quinze minutes. Quinze. Un quart d’heure.« Fünfzehn Minuten. Noch eine Viertelstunde, dann würden sie ankommen. Sie nickte und versuchte, sich zu erinnern, wie lange sie auf dem Wasser gewesen waren. Es war immer noch unerträglich heiß, selbst in der leichten Brise, die vom Meer her wehte, doch die Sonne stieß schon tief in den Westen hinab. Sie hatte offenbar fast den ganzen Tag geschlafen, war eingedöst, aufgewacht und wieder eingeschlafen. Vielleicht war das gut so. Es stand ihr immer noch die größte Anstrengung ihrer Reise bevor. Sie musste ein Kind finden und ihm helfen, wenn sie konnte. Irgendwie musste sie aus den Tiefen ihres Körpers neue Energie hervorholen, um ihre Reise zu einem guten Ausgang zu bringen, noch einmal. Ein letztes Mal. Es war ein Segen, dass ihr dieser goldene Tag geschenkt worden war, dass sie hatte essen und schlafen können, dass die sanften Bewegungen des Ruderboots und das Plätschern des Wassers gegen den Rumpf sie getröstet hatten. Ein Tag, an dem sie noch einmal Kind sein durfte.
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Sie lächelte dem Mann an den Rudern zu und beschattete ihre Augen. Er erwiderte ihr Lächeln mit seinem schmalen, starken Gesicht. Er hatte stundenlang gerudert, hatte sich kaum eine Pause gegönnt und trotzdem schien er nicht müde zu sein. Sie war überrascht, als sie merkte, wie sie sich vorstellte, mit dem Finger über diese braune, muskulöse Brust zu streichen, sie vielleicht sogar zu küssen. Wie herrlich wäre es, ein paar Tage mit einem Jungen – mit diesem Jungen – zu verbringen und zu tun, was ganz normale Menschen taten. Was jeder Junge und jedes Mädchen taten. Sie fühlte, wie sie rot wurde. Vielleicht, eines Tages … Sie schüttelte ihren Kopf, um die träumerischen Gedanken zu vertreiben, setzte sich auf und zog das Segeltuch, unter dem sie sich verborgen hatte, zur Seite, wobei das Boot gefährlich schwankte. »Voilà!«, sagte der junge Mann. »Le Porge.« Sie waren da. Sie ließen die weite, offene blaue Fläche hinter sich. Mira sah, dass sie sich auf eine schmale Meerenge zubewegten oder auf einen See, der vom Ozean verschluckt worden war. Rechts und links davon erhoben sich hohe Buckel aus ausgedörrtem Land, stiegen wie die Schultern eines schlafenden Riesen aus dem Meer empor: rotbraune Erde, bestäubt mit kleinen Flecken Gebüsch und Gras und niedrigen, verkrüppelten Bäumen, die sie nicht kannte. Weiter entfernt, halb verborgen in der flimmern-
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den Sonne, erhoben sich die höchsten Berge, die Mira jemals gesehen hatte. Sie marschierten in einer endlosen Linie über den Horizont, von Osten nach Westen, so weit man blicken konnte, stiegen in einer scharfen, ursprünglichen Herrlichkeit in den Himmel – entfernte Verwandte ihrer eigenen Berge. Sie spürte ihr Herz bei diesem Anblick singen. Berge. Heimat. Die schmale Wasserfläche, die wie eine Zunge aussah, schlängelte sich zwischen den ersten niedrigen Hügeln hindurch und führte in ein ertrunkenes Tal, das sich an den Fuß der steileren Abhänge schmiegte. »Là«, sagte der Pastetenjunge und deutete auf eine Ansammlung von Gebäuden am äußersten Ende des Wassers. Sie schaute zu der Stelle, auf die er zeigte, und sah das Dorf. Adelines Dorf. Wie in Miras eigener Siedlung bestanden auch in Le Porge die niedrigen Gebäude zum Großteil aus Holz, ausgenommen zwei ältere Steinhäuser in der Nähe des Wassers. Aber hier, im Gegensatz zu ihrer Heimat, waren die Holzplanken blendend weiß, wahrscheinlich ausgebleicht durch die unbarmherzige Sonne, die auf diesen Ort niederbrannte, der Erde jegliche Feuchtigkeit entzog und alles in feinen roten Staub verwandelte. Die Holzhäuser standen ein gutes Stück vom Wasser entfernt, für den Fall, dass die Fluten noch weiter steigen würden. Die obersten Gebäude befanden sich bereits an den Abhängen. Das letzte Stück dieser zungenförmigen Bucht war mit einer
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schwarzen Barriere abgesperrt, die wie eine dunkle Schlange über dem Wasser lag. »Pour les poissons«, sagte der Pastetenjunge und machte mit der Hand eine schlängelnde Bewegung im Wasser. Für die Fische. Auf der anderen Seite der Barriere waren kleinere Abteilungen im Wasser abgetrennt, vielleicht für die unterschiedlichen Arten von Meerestieren, die hier gezüchtet wurden. An der Barriere mussten sie das Boot verlassen. Der junge Mann schob die Ruder klappernd durch die Dollen und wartete, bis der Bug des Bootes sanft am Ufer auf Grund setzte. Er stieg ins seichte Wasser, stabilisierte das Boot mit seinem schmalen, bloßen Fuß und reichte Mira seine Hand. »Voilà. Le Porge. Il faut marcher un peu.« Wir müssen noch ein Stück laufen. Sie nahm seine Hand und folgte ihm. Während sie neben ihm ging, blickte sie auf die Schrammen und Blutergüsse in seinem Gesicht, Gils Fäuste hatten ihn schwer getroffen. Sie näherte sich mit ihrem Finger, ohne die Wunden zu berühren, und er zuckte mit den Schultern, wobei er sie unbekümmert angrinste. »Ça, ce n’est rien.« Das Wasser zwischen ihren Zehen war kühl. Sie platschten zum Ufer, hinauf auf den festgebackenen, staubigen Weg, der dort verlief, und der Junge ging zurück, um das Boot mit einem Tau an Land festzumachen. Das nasse Holz des Rumpfes glänzte und tropfte wie die Schuppen eines Fisches. »On y va«, sagte er, und sie wandten sich nach links
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auf die Gebäude zu, gingen an den anderen Booten vorbei, die wegen der Flut ebenfalls an Land gezogen worden waren. Mira ging wie durch einen Traum. Sie sah jetzt, dass dieser Teil der Bucht von Menschen bevölkert war. Einige saßen im Staub und hantierten mit Fässern und Metallrohren herum; zwei Männer balancierten vorsichtig auf der schwarzen Barriere, die sich durch das Wasser zog, hielten lange Stäbe in der Hand und schauten aufmerksam auf die still glitzernden Wellen vor sich. Während Mira und der Junge näher kamen, trat ein Mann mit schweren Schritten aus den Schatten des vordersten, zerfallenen Steinhauses und stellte sich mit gespreizten Beinen in ihren Weg. Wie der Junge neben ihr war auch er von der Taille an aufwärts nackt, doch während ihr Begleiter so schlank und drahtig war wie ein Seil, hing diesem Mann ein Hügel von einem bronzefarbenen Bauch über den Gürtel seiner Hose. Die mächtigen, muskelbepackten Arme waren in die Seiten gestemmt. Hinter ihm rannten drei Kinder lachend zwischen den Häusern herum. Sie waren alle älter als das Mädchen, das Mira suchte. Der Mann schaute ihnen sekundenlang mit gerunzelter Stirn entgegen, als wäre er über irgendetwas wütend, dann verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Aziz!«, dröhnte er. »Aziz, petit chiot, elle est vraiment belle, hein?« Und er schlug seine massige Hand dem Jungen auf die Schulter. Mira verstand,
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dass er sie schön fand und wurde rot. Zu ihr sagte er nun: »Bienvenue, Mademoiselle! Bienvenue!« Willkommen! Er küsste sie auf beide Wangen und umarmte sie, als ob sie sich gut kennen würden, wobei er sie fast vom Boden hochhob. »Viens! Marie t’attend. Elle devait dormir un peu, mais elle t’attend.« Komm! Marie wartet auf dich. Sie musste ein bisschen schlafen, aber sie wartet. Immer noch schien sie nichts denken oder tun zu müssen. Man sorgte für sie. Diese freundlichen Menschen, die aus irgendeinem Grund von ihrer Ankunft wussten, hatten alles im Griff. Und sie konnte nicht einmal ihre Sprache richtig sprechen. Zusammen gingen die drei zu einem der beiden alten Gebäude aus Stein, einem winzigen, windschiefen Häuschen, an dem der trockene Mörtel zwischen den grob behauenen Steinbrocken herausbröckelte und dessen verzogene und von der Sonne ausgetrocknete Fensterläden halb geschlossen waren. »Marie!«, brüllte der Riese, als sie näher kamen. »Marie! Elle est là!« Eine dünne, melodische Stimme drang aus dem Innern. »Oui, d’accord. J’arrive. Attends-moi dans le jardin, Pierre.« Der große Mann – Pierre – deutete mit seinem Kopf vorwärts. »Le jardin«, sagte er rau. Sie gingen an dem Haus vorbei, und Mira sah, dass sich dahinter eine große, ebene Fläche befand, eingeschlossen von einer niedrigen Mauer. Innerhalb der Mauer standen
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viele rotbraune Töpfe voller Kräuter, Pflanzen und kriechender, rankender Gewächse, die sich an einem hohen Gestell emporwanden. Von diesen Gewächsen hingen büschelweise pralle Früchte herab: tiefrote Kugeln, Früchte, die Mira nicht kannte. Es war ein duftender, friedlicher Ort, wie Mira noch nie einen gesehen hatte, halb im Schatten, und von einer Seite konnte man auf das Ufer darunter und die Meerenge sehen, die sich kühl und einladend in die Ferne erstreckte und sich mit der offenen Wasserfläche vereinte. »Bienvenue! Bienvenue, Mira.« Sie drehte sich um und sah eine junge Frau die Stufen vom Haus aus hinunterkommen. Die Frau war schlank, nicht groß, bewegte sich aber mit katzengleicher Geschmeidigkeit. Hellbraunes Haar fiel ihr, zu einem schlichten, kurzen Zopf geflochten, über den Rücken. »Willkommen, Mira.« Die Frau streckte ihr eine schmale Hand entgegen und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Mira ergriff die Hand. »Danke. Sie sprechen meine Sprache!« »Oui. Ein bisschen. Ich bin Marie Coutures. Eine Wächterin. Das weißt du bereits, glaube ich. Und du bist Mira. Aus derselben Serie wie das Mädchen, das ich beschütze. Aziz hast du schon kennen gelernt und das« – sie zeigte auf den großen Mann – »das ist Pierre, der am Ufer auf deine Ankunft gewartet hat.«
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Mit einem Gefühl, als ob dies alles nicht real wäre, nickte Mira und lächelte wieder die beiden Männer an, sagte »Bonjour« und schüttelte ihnen die Hand. Aziz grinste belustigt. Die Haut seiner Handfläche war hart und schwielig vom Rudern. »Sie sind alle sehr freundlich«, sagte Mira. »Und Aziz hat mir auf dem Pfahlweg das Leben gerettet.« Marie nickte. »Oui, das weiß ich bereits. Es war ein glücklicher Zufall. Komm, setz dich und erzähle mir ein bisschen von deiner Reise. Sag mir zuerst, wer der Mann war, der dich angegriffen hat. Kennst du ihn?« Mira nahm die Einladung an und ließ sich im Schatten auf einer Steinbank nieder. »Aye, ich kenne ihn, sehr gut sogar. Er war mein Wächter. Sein Name ist Gil. Er ist hinter mir her, seit ich von zu Hause weggelaufen bin.« Wieder nickte die Frau. Sie sagte rasch ein paar Worte zu Aziz und lauschte aufmerksam seiner Antwort. »Der Junge, der mit dir kam, dieser Kay … ist er stark? Im Geiste, meine ich.« Mira war überrascht. »Kay? Warum? Ich weiß nicht. Ach, wahrscheinlich schon, nehme ich an. Aber er war auf dem Monster – auf dem großen Transporter – und wir haben uns aus den Augen verloren. Er ist wahrscheinlich irgendwo in Richtung Süden unterwegs. Und verflucht mich sicher, weil er denkt, dass ich ihn im Stich gelassen habe.« Marie schüttelte den Kopf. »Nein. Aziz sagte mir, dass dein ehemaliger Wächter, dieser Gil, den Jungen
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abgefangen hat. Ich wünschte, ich wüsste, wie viel Zeit er uns lässt. Er weiß vermutlich, wohin du wolltest, nicht wahr?« Benommen flüsterte Mira: »Aye, er weiß Bescheid.« Der arme Kay. Von Gil gefangen genommen! Und sie hatte es nicht gewusst, hatte ihm nicht helfen können! »Bitte«, sagte Marie, die scheinbar ihre Gedanken gelesen hatte, sanft, »mach dir keine Vorwürfe. Es ließ sich nicht vermeiden. Wenn du dem Jungen geholfen hättest, wäre vermutlich keiner von euch beiden hier angekommen.« Mira schüttelte in einem Anfall von Zorn den Kopf. »Ich weiß kaum, warum ich überhaupt gekommen bin, jetzt wo ich da bin. Es war so eine lange Reise. Aber ich wollte das Kind retten, wollte es beschützen.« Sie schaute hinunter auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. »Stattdessen habe ich wahrscheinlich die Gefahr mit mir gebracht.« »Non, non, non, pas du tout. Nein, ganz und gar nicht. Bitte glaub das nicht. Tilly war sehr froh über deinen Wunsch, hierher zu kommen. Sie hat es mir gesagt. Und du bist wahrscheinlich die Beste. Du kannst Adeline beschützen, kannst sie unterrichten, wenn sie älter ist.« Sie legte ihre Hand auf Miras Arm. »Dein Instinkt hat dich nicht getrogen. Im Gegenteil, ich glaube, dass hier sehr viele Dinge am Werk sind, Mira. Du musst dir keine Sorgen machen.« Der Mann mit Namen Pierre sagte etwas mit seiner
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tiefen Stimme, was wie eine Frage klang. Marie nickte. Wieder folgte ein Gespräch in schnellem Französisch, an dem sich alle drei beteiligten, wobei sie wiederholt auf den Berg zeigten, sich umwandten und Mira betrachteten – sie hörte ihren Namen, auch den von Adeline – und schließlich einstimmig nickten. Pierre stand auf und machte eine kleine Verbeugung vor Mira – »Mademoiselle, excusez-moi«-, klopfte Aziz wieder auf die Schulter- »Chiot!« – und stieg dann über die niedrige Mauer und den Abhang hinab. »Bitte entschuldige«, sagte Marie, »meine Freunde sprechen deine Sprache nicht. Wir haben uns beraten, was nun zu tun ist. Welche Chancen wir sehen. Und wir haben einen Plan, aber nur wenn du einverstanden bist. Pierre geht wieder auf seinen Posten zurück und hält Wache, während wir uns unterhalten, und ich werde uns etwas zu trinken holen. Hast du Durst?« Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie im Haus und kehrte mit drei großen Gläsern zurück. »So«, sagte sie, »es sieht folgendermaßen aus: Adeline, das Kind, ist in den Bergen versteckt. Ihre Mutter ist bei ihr. Aufgrund dessen, was in deinem Land passiert ist, habe ich der Frau die Wahrheit über ihre Tochter gesagt und auch über dich. Sie weiß, wer du bist und warum du gekommen bist. Das Kind hat natürlich keine Ahnung davon. Wir denken, dass wir mit ziemlicher Sicherheit bedroht werden. Wenn dein Gil hier ist, wird er unsere
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Feinde alarmiert haben, und schon bald werden sie kommen. Vielleicht beobachten sie uns bereits in diesem Moment. Aus diesem Grund werden wir abwarten, bis es dunkel ist. Das wird noch etwa drei Stunden dauern. Dann wird Pierre alle Bewohner dieses Dorfes auf einem Pfad entlang des Wassers in ein anderes Dorf bringen. Dort ist alles genauso wie hier, und sie haben dort auch Fische, können sich also ernähren, und sind in Sicherheit, falls es hier Ärger gibt. Die ganze Sache betrifft sie nicht, obwohl viele ihr Leben für das Mädchen geben würden. Zur selben Zeit werde ich dich in die Berge bringen. Es ist sowieso besser, in der Nacht zu laufen. Die Luft ist kühl und unsere Verfolger werden uns nicht so leicht entdecken.« Scheu lächelte sie Mira an. »Tu es d’accord? Bist du damit einverstanden?« »Oui. Aye. Ich bin mit allem einverstanden, was Sie für gut befinden. Sie sind wirklich sehr freundlich.« Sie brauchen mich nicht, dachte sie. Es war idiotisch zu glauben, dass ich von Nutzen sein könnte. Diese Marie kann hundertmal besser auf Adeline aufpassen als ich. Aber sie hatte ja nicht gewusst, dass Adeline so treue Verteidiger besaß. Sie hatte nicht gewusst, dass dieser »Wächter« so anders war als ihr eigener. Doch auch wenn sich ihre Reise, eigentlich, als überflüssig erwiesen hatte – ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht. »Ich werde jetzt ein paar Sachen vorbereiten«, sag-
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te Marie. »Ich will auch die Leute, die in den Bergen nach uns Ausschau halten – und nach Ärger! – warnen. Wenn du willst, kannst du schlafen, in meinem Bett. Oder du kannst etwas essen. Oder Aziz kann dir das Dorf zeigen und die Fischzucht.« »Dann werde ich mit Aziz gehen«, erwiderte Mira, »wenn er nichts dagegen hat. Ich habe in seinem Boot geschlafen. Ich würde mir gerne den Ort anschauen, an dem meine … Schwester lebt.« Die Frau lächelte und sagte etwas zu Aziz, woraufhin der Junge wieder sein strahlendes Grinsen zeigte. »Da«, sagte sie, »schau – ich glaube nicht, dass er etwas einzuwenden hat!« Und damit war es beschlossen. Aziz stand auf und wartete darauf, dass Mira ihm folgen würde – »Viens, viens!« –, aber bevor sie sich abwenden konnte, nahm Marie sie bei der Hand und schaute ihr in die Augen. »Es ist gut, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Wirklich. Danke.« »Viens!«, sagte Aziz und rollte mit den Augen. Gil fluchte gereizt, als er entdeckte, dass es Kay irgendwie gelungen war, aus dem Boot zu entkommen. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Junge das Bewusstsein wiedererlangt hatte, geschweige denn, dass er in der Lage gewesen war, sich aus dem Schlauchboot zu rollen und in Sicherheit zu bringen. Andererseits: Vielleicht war ihm Letzteres gar nicht gelungen. Die Chancen standen nicht gut, in seinem
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Zustand, mit gefesselten Händen und Füßen, zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Gil suchte mit den Augen den See ab, doch er konnte nirgends etwas sehen, was die glasklare Wasseroberfläche bewegte. Nein, der Junge war ganz sicher ertrunken. Vielleicht war dies sogar seine Absicht gewesen. Eins war sicher: Barbieri würde nicht begeistert sein, solange er keinen Beweis für Kays Tod hatte. Aber Gil hatte ihm die anderen auf einem Silbertablett serviert – was wollte er mehr, der arrogante junge Schnösel? Gil musste sich widerstrebend eingestehen, dass er einen gewissen Respekt vor dem Saint-Jungen empfand. Er hatte ihn fast eine Stunde lang bearbeitet, ohne ein Wort aus ihm herauszubekommen. Selbst als Gil den kleinen Zylinder mit dem Pulver gefunden hatte – grüner Sternenstaub, ein teures Vergnügen! – und etwas davon in die Kehle seines sich windenden Gefangenen geschüttet hatte, war Kay nicht zu erweichen gewesen, ihm irgendwelche wichtigen Informationen zu verraten. Nur seine Augen und sein Geist waren herumgewandert. Nachdem er, Gil, so seine Zeit verschwendet hatte und ihm mitten auf dem See der Treibstoff ausgegangen war, blieb ihm nichts anderes übrig, als Hunter um Mithilfe zu bitten. Im Pax-Hauptquartier hatte man die Mutter des Jungen aus ihrer Zelle geholt und sie Kay mittels des kleinen Bildschirmempfängers, den Gil bei sich trug, vorgeführt. Dann hatte man ihm gedroht, sie weiter
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zu foltern, wenn er nicht endlich den Mund aufmachte. Das hatte recht schnell zu befriedigenden Resultaten geführt. Armer Teufel. Später hatte er mithilfe der Ruder bis nahe ans Ufer paddeln müssen. Die Ruder in diesen Rettungsbooten waren ein verdammter Witz; es hatte verdammt noch mal Stunden gedauert. Er hatte gewartet, bis es Abend wurde, und war dann bis an den Strand geschwommen, um die Lage zu erkunden. Das kleine Boot hatte er etwas weiter draußen an seinem Anker zurückgelassen. Und nachdem er ein paar Stunden lang gewartet und mit seinem Nachtsichtgerät die Bucht abgesucht hatte, war ihm doch tatsächlich seine kleine Mira vor die Linse gelaufen, immer noch in Begleitung dieses verdammten Pastetenverkäufers. Sie gingen spazieren. Das reichte ihm. Er hatte seine Zielperson geortet, gab die Information an Hunter weiter und schwamm leise zu seinem Boot zurück, wobei er sich bereits überlegte, dass er sich den jungen Pastetenverkäufer gründlich vorknöpfen würde, weil er seiner Mira zu nahe gekommen war. Und dann war das Boot leer gewesen. Aber eigentlich war das nicht mehr wichtig. Der Junge hatte seinen Zweck erfüllt. Gil kaute auf seiner staubtrockenen Ration herum und machte es sich bequem, um auf den Helikopter zu warten. So gern er die Sache auch allein erledigt hätte, Hunter hatte ihn
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angewiesen, sich zurückzuhalten, und ihm gedroht, ihm ansonsten seinen Kopf mittels des EnforcerRings wegzublasen. Je eher er das Ding loswurde, desto besser. Nun war Mira doch eingeschlafen. Sie lag, eng an Aziz gedrängt, in dem dichten, würzig duftenden Gebüsch am Hang über dem Dorf. Sie schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem Arm leicht über seinen Körper gelegt. Ihr Wunsch hatte sich erfüllt; sie hatte ein paar Stunden lang nichts anderes getan, als zu reden – soweit das möglich gewesen war – und durch die Landschaft zu wandern und ein bisschen mit dem Jungen zu flirten. Sie hatte ihn geküsst. Sie hatte sich so berauschend normal gefühlt. Normal. Während er sie im Schlaf betrachtete, dachte Aziz, dass sie das schönste Mädchen war, das er je gesehen hatte, schön, stark und traurig. Ihre Küsse waren so süß wie Honig. Er streichelte ihr Haar und wartete auf Maries Signal. Als es kam – bald, viel zu bald –, weckte er Mira so widerstrebend wie vor ein paar Stunden im Boot, aber jetzt rief er sie beim Namen. »Mira. Ma belle Mira. C’est l’heure. On y va.« »Oui. Oui«, murmelte sie schläfrig und streckte sich. »On y va. Je comprends,Aziz.« Sie fühlte sich warm und glücklich und vollkommen. Zusammen gingen sie durch die nun schweigende und menschenleere Ortschaft hinunter zum Stein-
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haus, wo Marie mit drei Rucksäcken und drei Paar festen Schuhen auf sie wartete. »Ça pa?«, fragte Marie mit einem kleinen Lächeln. »Hat sich Aziz gut um dich gekümmert?« »Oui. Ça va très bien.« »Aha, ich denke, du wirst schon bald fließend Französisch sprechen.« Sie schulterten die Rucksäcke und verließen das Haus. Es war eine schöne Nacht zum Wandern. Der schwarze Himmel glitzerte vor Sternen und die Luft war mild. Die Berge lockten Mira stärker als je zuvor. In der Dunkelheit griff sie nach Aziz’ Hand. Doch Marie gab ihnen Zeichen, still zu sein. »Attendez! Wartet! Da ist etwas …« Ihr Gesicht verzog sich vor Angst und Verzweiflung. Etwas. Auch Mira hörte es. Etwas. Sie wusste, was dieses Etwas war. Sie hatte es schon früher gehört. In niedriger Höhe dröhnte es über das Wasser hinweg, schneller als ein Adler, und stürzte sich auf seine Beute, mit gleißenden Lichtern, die sie blendeten. Und dieses Mal kamen ihnen weder Seile noch Kabel zu Hilfe, denn das Ding ließ sich direkt vor ihnen nieder und spuckte die grauen Gestalten aus. Sie rannten. Alle rannten und schrien. Marie winkte und rief ihnen zu, sie sollten ihr folgen, rannte jetzt am Helikopter vorbei auf die Berge zu. Ihren Rucksack hatte sie weggeworfen und feuerte aus irgendeiner Waffe. Während Mira hinter ihr herlief, sah sie, wie zwei der grauen Gestalten gefällt
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wurden. Doch dann riss es auch Aziz, der neben ihr lief, zu Boden. Sie drehte sich um, ihm zu helfen, und sah Gil, der mit einem teuflischen Grinsen auf dem Gesicht wie ein Wahnsinniger auf den Jungen einschlug und ihn mit Füßen trat. Mit einem zornigen Schrei stieß sie ihn zur Seite, schleuderte ihn wie eine Marionette in den Dreck, beugte sich nach vorn, um Aziz aufzuhelfen, aber es war zu spät: Sie waren von grauen Männern eingekreist. Dieselben großen grauen Ungeheuer, die sie seit dem Tag, an dem Annie Tallis niedergeschossen worden war, nicht mehr hatte abschütteln können. Sie kauerte sich nieder, schob Aziz hinter sich in Dekkung und blickte den Männern entgegen, die sich ihr näherten. Noch in diesem Augenblick dachte sie voll Dankbarkeit an die Geister, die ihr diesen herrlichen normalen Tag geschenkt hatten. Ein wahrhaftig goldener Tag. Der erste Mann fiel lautlos unter ihrem Tritt. Dann der zweite, der dritte. Mira war wie besessen, obwohl sie sich noch nie so klar und gelassen gefühlt hatte. »Aye! Na kommt schon!«, rief sie ihnen zu. Und das taten sie. Und nachdem sechs von ihnen zu Boden gegangen waren, spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Bein, und die Welt löste sich in Nichts auf. Nun lag sie selbst im Schmutz, sah nicht, wie Jan zu ihr kam und sich über sie beugte. In der Hand hielt er die Betäubungswaffe, die sie gespürt hatte.
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Sie hörte nicht, wie er seine Männer und Moore wegen ihrer Unfähigkeit verfluchte und drei von ihnen, einschließlich Moore, der fliehenden Marie nachschickte, um sie und das Kind in ihrem Versteck aufzuspüren. Und sie sah auch nicht den mitleidsvollen Blick, den ihr Zwilling ihr über Jans Schulter hinweg zuwarf. Er allerdings auch nicht. Als Mira das nächste Mal aufwachte, war alles ganz anders als bei ihrem letzten Erwachen. Ihr Mund war trocken und fühlte sich an, als wäre er mit Staub gefüllt; durch ihren Kopf surrte ein Klingeln und ihr Bein schmerzte. Sie befand sich an irgendeinem dunklen, stickigen Ort, in einem Gebäude. Ihre Hände waren fest auf ihrem Rücken gefesselt. Ein Schatten beugte sich über sie, kaum sichtbar im Dämmerlicht. Die Gestalt nannte ihren Namen, nur einmal. Dann wurde ein winziges Licht angeknipst und sie schaute in ihr Spiegelbild. Sie versuchte, dem, was sie sah, einen Sinn abzuringen. »Warte. Beweg dich nicht«, sagte das Gesicht. »Ich gebe dir noch eine Dosis. Jan nimmt immer viel zu viel von dem Zeug. Warte. Bald geht es dir besser.« Eine Hand näherte sich ihrem Arm. Dann ein kleiner Schmerz. Dann wurde etwas, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es da war, von ihrem Mund entfernt,
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wobei sie ein leichten Ziehen verspürte. Vielleicht ein Stück Klebeband. Eine Flasche schob sich zwischen ihre Lippen: herrliches, kühles Wasser, das sie kaum schlucken konnte. Sie keuchte, würgte und hustete. »Schhh!«, sagte das Gesicht. Nach einer kleinen Weile fühlte sie sich etwas wohler, so wie das Gesicht vor ihr es vorausgesagt hatte. Die Schwere verließ ihre Glieder. Sie konnte wieder etwas klarer denken. Und sie war in der Lage, dem Gesicht einen Namen zu geben. »Clarissa«, flüsterte sie. »Ja«, sagte das Gesicht. »Clarissa.« »Aber … Aber du hasst mich.« Das Gesicht bewegte sich verneinend von einer Seite zur anderen. »Nein. Jetzt nicht mehr. Ich hasse dich nicht. Wie könnte ich mich selbst hassen, Schwester?« Das Gesicht lächelte und Mira lächelte zurück. Sie fragte: »Wo sind wir? Wo ist Aziz? Und Marie? Wo ist das Kind?« »Du bist immer noch in dem Dorf, in Le Porge. Du warst zwei Stunden lang bewusstlos. Ist Aziz der Junge, der bei dir war? Er ist in einem anderen Gebäude untergebracht, nebenan. Er ist ziemlich übel zugerichtet, aber er wird es überstehen. Marie ist in die Berge geflüchtet. Moore und ein paar von den anderen sind hinter ihr her und sie wollen auch die Kleine finden.« Mira versuchte, ihre Muskeln zu strecken. »Dann muss ich ihnen helfen!«
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Clarissa lächelte. »Warum glaubst du, bin ich hier? Das ist der Plan, Schwester.« »Wir können beide gehen!«, sagte Mira rau. Das Lächeln verschwand. »Ich fürchte, nein. Jan ist immer noch wachsam. Vermutlich wird er schon bald wieder nach dir schauen. Dann muss er jemanden hier finden oder er wird nur noch mehr Männer in die Berge schicken. Er ist ohnehin ziemlich sauer darüber, wie seine ganze Mission gelaufen ist.« Sie griff hinter Mira und durchtrennte ihre Fesseln. »Also, wenn du dich gut genug fühlst, um dich zu bewegen, werden wir die Kleider tauschen. Der Wachmann hat gesehen, wie ich hier hineingegangen bin; er glaubt, es geschah auf Jans Befehl – also wird er auch erwarten, dass ich wieder herauskomme. Es ist ganz einfach. Du darfst nur nicht den Fehler machen und rennen, falls dich jemand sieht. Dann wissen alle gleich Bescheid. Überall im Dorf sind Wachen, auch auf dem Weg in die Berge. Hast du alles verstanden?« Benommen nickte Mira. »Aber was wird er mit dir machen, wenn er es herausfindet?« Clarissa zuckte mit den Schultern. »Mach dir keine Sorgen. Er will mich heiraten. Er wird sich schon wieder beruhigen.« Mira bezweifelte, dass es so kommen würde, aber das andere Mädchen sprach weiter: »Ach ja, die Comcard, die meine Mutter dir gegeben hat – sie haben sie dir weggenommen, als sie deine Sachen durchsuchten, aber ich habe sie ihnen
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wieder gestohlen. Ich habe sie durch eine andere ersetzt. Was ist – kannst du aufstehen? Leise! Okay, tauschen wir die Kleider.« Mira erhob sich. Jetzt standen zwei Spiegelbilder da, zwei Hälften eines vollkommenen Ganzen. »Meine Schwester«, sagte sie, »ich wünschte, wir hätten einander früher kennen gelernt. Das wünschte ich wirklich.« »Ich auch.« Und sie umarmten sich. In dem Moment, in dem Jan bemerkte, dass das kleine Miststück aus dem Zelt verschwunden war, das sie neben dem Helikopter aufgebaut hatten, wusste er auch, wo er sie finden würde. Blitzartig wurde ihm klar, wie sehr sie ihn zum Narren gehalten hatte, wie die kleine Schlampe ihn manipuliert und seine ungewöhnliche Großmut der letzten Tage ausgenutzt hatte. Das verdammte Weib! Weißer Zorn brannte in ihm. Er würde keine Fehler mehr machen, würde nichts mehr dem Zufall überlassen, wenn es darum ging, die Großen Familien oder die Franzosen zu beschwichtigen. Das Miststück würde er brechen, und zwar völlig, auch wenn es Wochen oder Monate dauern würde – und dann würde sie seine gehorsame Frau sein. Was die andere anging, die ihn vor aller Augen, vor den Familien und der Geburtenkommisson gedemütigt hatte … Er griff in den Helikopter und holte eine Waffe hervor. Keine Betäubungspistole diesmal, sondern
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etwas, was seine Probleme dauerhaft lösen würde. Dann rannte er leise zu dem Gebäude, wo man den Ersatz untergebracht hatte. Wie erwartet hatte der Wachmann keine Ahnung, was vor sich ging. »… auf Ihren Befehl … hatte angenommen, dass Sie es angeordnet haben … Mitglied einer Familie …« Völlig unbrauchbar, der Mann, aber daran hatte er, Jan, sich schon fast gewöhnt, seit er an die Macht gekommen war. Wenn Zeit dafür war, würde er die Pax schon zu einem anständigen Kampftrupp umbiegen. Im Augenblick begnügte er sich damit, den Mann zu Boden zu schlagen, er würde ihn später seines Postens entheben. Er trat die Tür auf und knipste seine Taschenlampe an. Ja, da waren sie, alle beide. Wie Ratten in der Falle. Seiner zukünftigen Gemahlin schlug er heftig ins Gesicht, sodass sie mit voller Wucht gegen die Wand fiel. Für die andere, deren Fesseln von der Schlampe schon gelöst worden waren – für sie hatte er nichts anderes übrig als seine Waffe. Die er abfeuerte. Und wieder. Und wieder. Fast geräuschlos glitt der Körper zu Boden. Stille senkte sich über den Raum, nur unterbrochen vom leisen Schluchzen seiner verräterischen kleinen Schlange. Nun, das war Lektion Nr. 1 in ihrer Umerziehung. »Tja«, sagte er, als sein Zorn verraucht war, »es hat ja wohl keinen Sinn, eine Leiche zu befreien, nicht
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wahr? Ich schlage vor, du kehrst ins Zelt zurück und gehst schlafen. Ich werde dich genau im Auge behalten. Keine Tricks mehr, verstanden?« Er wartete, bis das Mädchen vor ihm aus dem Haus gestolpert war, folgte ihr den Abhang hinauf zum Helikopter, sah, wie sie sich hinlegte, immer noch schluchzend, das Gesicht in den Händen vergraben. Er war froh, dass es ihm endlich gelungen war, sie zu erreichen, dass er sie dazu gebracht hatte, etwas zu fühlen, bei all den kleinen Tricks und Intrigen, mit denen sie ihn und die Welt verspottet hatte. Er nickte zufrieden und ging hinaus, um Moore zu kontaktieren und herauszufinden, was zum Teufel da oben in den Bergen vor sich ging. Er kam gerade noch dazu, die Hand zu heben, um seinen Kommunikator zu aktivieren. Ein Schlag von hinten und er fiel der Länge nach hin. Schwärze sank auf ihn nieder. Über ihm stand das Mädchen, angespannt und in Erwartung seiner Verteidigung, doch er bewegte sich nicht mehr. Er war bewusstlos. Fast hätte sie die Waffe aus seinem Gürtel genommen und die Sache zu Ende gebracht. Ihr Götter, es war genau das, was er verdiente! Sie zitterte und wurde immer noch von Weinkrämpfen geschüttelt. Sie stellte sich vor, wie sie den Abzug durchdrücken würde – diese Erleichterung! Aber sie war keine Mörderin. Sie wollte nicht sein wie er. Stattdessen schaute sie sich gründlich um, ging zu dem Haus, in dem Aziz lag, gefesselt und zerschun-
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den, und zerschnitt seine Fesseln. Er wachte nicht auf, und sie hatte keine Zeit, also zog sie ihn mühsam aus dem Haus und zerrte ihn hinter ein paar Büsche, bis er gut versteckt war. Dann fiel ihr etwas ein; sie rannte zum Helikopter zurück, nahm Wasser an sich und Jans Waffe. Beides legte sie neben den schlafenden Pastetenverkäufer. So hatte er eine Chance, und keine schlechte. Mehr konnte sie nicht tun. Schließlich, beinahe überwältigt von Trauer und Schmerz, ging sie zurück zu dem Haus, das sie erst vor fünf Minuten verlassen hatte. Dort auf dem Boden lag die goldene Comcard, die Jan in seiner Wut übersehen hatte. Sie steckte die Karte in ihre Tunika, küsste ihren toten Zwilling auf die Wange, verließ das Haus und rannte los. Dann verlangsamte sie ihr Tempo. Der Wachmann am Ende des Dorfes sah sie. Sie lächelte ihn an, verbarg ihre Qual. »Ich habe eine Nachricht von Leutnant Barbieri.« »Ja?«, sagte der Mann fragend und ließ seine Waffe sinken. Sie schickte auch ihn ins Land der Träume. Dann war sie fort.
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38 Sie war der Wind. Sie war ein junges Reh. Sie war frei. Der Pfad war kahl gebrannt durch die Sonne und durch unzählige Füße, die darüber geschritten waren und ihn geformt hatten. Selbst im Dunkeln hatte sie keine Schwierigkeiten, ihm zu folgen,jedenfalls am Anfang nicht. Auch halfen ihr das klare Licht der Sterne und des Mondes in dieser wolkenlosen Nacht. Eine halbe Stunde lang stieg sie stetig an. Mit jedem Schritt atmete sie leichter, hieß die Berge willkommen, die sie mit offenen Armen aufnahmen und vor den Blicken jener, die hinter ihr blieben, verbargen. Die Ereignisse dieser Nacht verbannte sie entschlossen aus ihrem Gedächtnis. Bald würde sie genügend Zeit haben, ihre Trauer zu verarbeiten. Dann würde das Leid sie überwältigen, das spürte sie. Aber jetzt musste sie laufen, musste einen klaren Kopf bewahren für das Kind – wenn es noch nicht zu spät war. Irgendwo … irgendwo zwischen diesen harten, herrlichen, gnadenlosen Gipfeln wurden Adeline und ihre Beschützer von Jan Barbieris Männern gejagt. Sie wusste nicht, wo … aber sie würde den Weg finden. Sie würde helfen. Das erste Hindernis stellte sich ihr nach etwa vier697
zig Minuten in den Weg: Vor einem großen Felsbrokken, einem schattenhaften Klumpen, um ein Vielfaches größer als sie selbst, der wie von einer Riesenfaust gespalten worden war, gabelte sich der Weg. Ein Pfad schien um den Felsen herumzuführen und wurde fast zu einer Treppe, die sich an der blanken Klippe vor ihr emporschlängelte. Wandte man sich nach links, verlief dort ein weiterer Pfad, breiter als der andere, breit genug, dass drei oder vier Menschen nebeneinander hergehen konnten. Doch dieser Weg schien von den höheren Gipfeln wegzuführen, als ob er sich wieder zum Wasser hinabneigen wollte. Der dritte Weg, zu ihrer Rechten, das war eigentlich kein richtiger Weg, sondern mehr ein ausgetrocknetes Bachbett, mit Kieseln übersät, das sich in ein enger werdendes Tal oder eine Felsspalte erstreckte. Das Mädchen legte eine Hand auf den zerborstenen Fels, vor dem sie stand. Er verströmte noch die Wärme von der Sonne des gestrigen Tages; seine Oberfläche war bröselig und uralt. Sie lehnte sich an, gönnte sich einen Moment Ruhe und suchte am Boden nach irgendwelchen Zeichen, wohin sich die anderen gewandt haben mochten, lauschte – mit angehaltenem Atem – nach Geräuschen von oben oder von der Seite. Nichts war zu sehen, nichts zu hören. Sie musste ihre Entscheidung allein treffen. Eine Sekunde lang schloss sie die Augen und dachte nach. Dann wählte sie den rechten Pfad. Der Boden, den sie nun betrat, war uneben und
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das Laufen beschwerlich. Außerdem schlugen die Kieselsteine unter ihren Füßen hörbar gegeneinander. Der Weg schlängelte sich über eine kurze, offene, fast ebene Fläche und klammerte sich dann an den Fuß eines steilen Abhangs, auf dem vereinzelte Bäume wuchsen. Dort sank er in einen Kanal, ebenfalls wasserlos und teilweise von vertrockneten Zweigen und Klumpen hart gebrannten Lehms übersät – Überreste des letzten Unwetters, das den Schutt von den Bergen herabgewaschen hatte. Fast hätte sie schon nach wenigen Schritten ihre Meinung geändert und wäre zu dem zerbrochenen Felsen zurückgelaufen, obwohl ihr klar war, dass vielleicht gerade in diesem Moment Jan und der niedergeschlagene Wachtposten zu sich kamen und voller Wut die Verfolgung aufnahmen oder gar Verstärkung herbeiriefen. Es half nichts: Sie musste nach oben, damit sie sich dort in der Höhe der Gipfel verlieren konnte, dort wo man sie nicht finden würde. Und wenn sie sich noch einmal die drei Pfade ins Gedächtnis rief, die zur Auswahl standen, glaubte sie nicht, dass das Kind den steilsten Weg – die Treppe den Felsen hinauf- hätte bewältigen können, selbst nicht mithilfe der Erwachsenen; der andere Weg schien ihr zu offensichtlich, zu einfach und einladend für Verfolger. Nein, sie würde ihrem Instinkt vertrauen. Sie rannte weiter, unermüdlich, leichtfüßig, dachte nur an die Freiheit und an den Grund, warum sie hier war.
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Und während sie rannte, kam sie plötzlich an eine Kurve in dem steilen Abhang zu ihrer Rechten, die fast völlig im nächtlichen Schatten lag. Es war eine schmale, versteckte Rinne, wahrscheinlich durch Erosion entstanden oder durch einen weiteren alten Bach, der sich in tausenden von Jahren seinen Weg durch den Fels geschnitten hatte. Wieder stand sie vor einer Entscheidung. Wieder musste sie wählen, und sie wählte die Rinne, ging langsam über das lokkere, unebene Geröll am Boden. Am Ende der Rinne tauchte sie zwischen zwei Erhebungen wieder auf, die sich wie zwei Wächter über ihr auftürmten, und erkannte, dass sie sich am Sockel eines langen, gewundenen und weit offenen Tals befand, das stetig anstieg. Hier war die Vegetation üppiger, vielleicht durch den Schutz der Hänge oder die etwas kühlere Luft der Höhe. Gedrungene, dornige Büsche wuchsen hier, gestützt und abgeschottet von der äußeren Barriere niedrigerer Hügel zur Rechten und dem Anstieg in Richtung der Kette des Zentralmassivs zur Linken. Es waren sogar ein paar Kaninchen zu sehen, die auf der Suche nach saftigen Blättern durch die Büsche hoppelten und im Zickzack in die Dunkelheit davonsausten, als sie vorbeisprang. Und hier fand sie endlich ein Zeichen, das ihr bestätigte, den richtigen Weg gewählt zu haben: Quer über dem ausgetrockneten Bachbett lag der leblose Körper eines Pax-Mannes, gekleidet in Grau. Ermutigt und gleichzeitig doppelt ängstlich, ob sie wohl
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noch rechtzeitig kommen würde – angespornt durch die Vorstellung, dass die kleine Adeline in die Hände ihrer Jäger fallen könnte –, rannte sie, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Jetzt, dachte sie, jetzt muss ich handeln, dieses eine Mal, oder ich werde es für den Rest meines Lebens bereuen. Am Ende des Tals erwartete sie ein steiler Aufstieg, der zu einem weiteren schmalen Pfad zwischen zwei niedrigen Gipfeln hindurchführte. Ihr Atem stach in ihren Lungen wie tausend Messer, während sie einen Fuß vor den anderen setzte, ihre Beinmuskeln wieder und wieder anspannte und streckte und sich aufwärts trieb. Vielleicht war es die Höhe, die langsam ihren Tribut forderte. Sie konnte hören, wie die Luft in ihre Lungen gesaugt wurde und wieder nach draußen explodierte, hörte sie als ein schreckliches Brüllen in ihren Ohren. Doch als sie einen Moment innehielt, um auf allen vieren über eine glatte, abschüssige Erhebung zu klettern und sich dabei die Haut an ihren Knien aufschürfte, hörte sie das Brüllen immer noch. Sie blieb stehen und lauschte. Ja, es kam von vorn: Es war ein Mensch, der vor Schmerzen schrie. Schon bald fand sie einen weiteren Körper; noch einen Mann in Grau, doch dieser hier würde niemals mehr schreien. Das Geräusch lag immer noch vor ihr. Sie kletterte und kletterte und erreichte schließlich die Überreste eines provisorischen Unterstands aus
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Zelttuch, der offenbar an der Felswand zur Linken befestigt war. Im gleichen Augenblick verstummte das Brüllen. Ein Mann saß dort im Schatten, hatte sich zurückgelehnt. Ein dunkler Fleck breitete sich auf der gesamten rechten Hälfte seines Oberkörpers aus, bis hinab zur Hüfte. In seinen Armen hielt er eine Frau, Marie. Sie hatte es nicht geschafft, das Kind zu erreichen. Sie lag still da, mit geschlossenen Augen. »Monsieur, Monsieur!«, keuchte das Mädchen, kämpfte mit den Worten und rang um Atem. Wo ist das Kind! »Où est Adeline? Où est l’enfant?« Er gab keine Antwort und sie schüttelte ihn, wiederholte ihre Frage, schrie ihm ins Gesicht. Langsam hoben sich seine Augen und er schien sie endlich wahrzunehmen. Matt hob er eine Hand und deutete hinter sich. »Adeline? La petite coquine? Descendez un peu. Allez à gauche. Remontez. Il y a un bâtiment là. Une cabine.« Die Hand gestikulierte schwach, beschrieb den Weg. Dann schwieg er, neigte sich nach vorn und streichelte Maries Stirn. Sie lief weiter, zwang ihre Füße zum Dienst, weiter hinauf zu den Gipfeln, dann schlitternd und gleitend auf der anderen Seite über den Schotter wieder hinab. Einmal verlor sie das Gleichgewicht, fiel hin und rutschte etwa zwanzig Meter weit schmerzhaft über die spitzen Steine. Als sie ihren Fall bremsen konnte, stand sie wieder auf und drehte sich um, schaute zurück nach Norden, wo ein düsterer breiter Abgrund
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sich in der Felswand rechts von ihr öffnete, strengte ihre Augen an, sah weit, bis dorthin, wo entfernt im Mondlicht hell glänzende Wasser die Füße der Berge umspülten. Es war nichts zu sehen; keine Andeutung dessen, was dort unten geschehen war. Sie wandte den Kopf: Dort im Osten, so glaubte sie zu ahnen, erwuchs bereits die erste Andeutung des kommenden Tages. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, denn die Sterne strahlten so hell wie zuvor über ihr in einem samtschwarzen Himmel. Die Luft war klar und warm, selbst in dieser Höhe. Wie schön wäre es, sich einfach hinzusetzen und die Morgendämmerung zu begrüßen, die herrliche Luft zu atmen. Beweg dich … Du musst dich bewegen … In völliger Konzentration wandte sie sich wieder dem steilen Abstieg vor ihr zu, rutschte und sprang und hüpfte weiter nach unten, wobei sie kleine Lawinen aus Schmutz und Steinen lostrat, die sie in ihrem Lauf überholten. Dann galt es, erneut aufzusteigen, noch steiler diesmal, links hinauf, wie der Mann es ihr gesagt hatte. Noch ein Aufstieg und dann müsste sie die Hütte sehen können … Sie spähte suchend in die Dunkelheit, hielt nach einem Gebäude Ausschau, jedoch vergeblich. Die Nacht schenkte ihr nur eine schmale Mondsichel; um mehr zu sehen, würde sie warten müssen, bis ihr die Sonne zu Hilfe kam. Sie begann diesen neuen Anstieg, lauschte nach wie vor auf jedes Geräusch vor-
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aus, ging jetzt vorsichtiger, da sie sich der Gefahr – oder der Tragödie – näher glaubte. Gleichzeitig legte sich eine nie gekannte Ruhe über sie. Es hatte keinen Sinn, Schreckensbilder heraufzubeschwören. Davon hatte sie bereits genug gesehen. Und sie hatte, wo immer sie konnte, ihre eigenen Entscheidungen getroffen; der Versuch, Adeline zu retten, war sicherlich die beste davon. Wenn sie zu spät kam, dann würde sie neue Entscheidungen treffen. Das schweigende Dunkel der Berge umarmte sie, unbeeindruckt von ihren Plänen oder Hoffnungen. Still und stetig rannte sie weiter, suchte sich behutsam ihren Weg unter den Sternen und über den Abhang. Nach etwas mehr als einer Stunde sah sie das steinerne Gebäude – vielleicht die Kate eines Bauern. Als kaum wahrnehmbares bleiches Viereck hing es links über ihr. Sie nahm eine Abkürzung und hielt direkt darauf zu, verlangsamte ihre Schritte und lauschte. Im Türrahmen lag ausgebreitet der Körper eines Mannes, ein weiterer Mann aus dem Dorf. So viel Blut war vergossen, so viel Mühe war aufgebracht worden, um ein Kind zu finden – und um es zu beschützen. Das Gebäude lag dunkel und still da; etwaige Möbel waren hinter dem offenen Eingang im Schatten verborgen. Um ganz sicherzugehen, ging sie hinein, fühlte den irdenen Boden mit ihren Füßen ab, flüsterte dabei: »Je suis une amie … une amie.« Es kam keine Antwort, doch ihr Fuß verfing sich in etwas,
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was in der Nähe des Eingangs lag. Sie hob es auf und nahm es mit nach draußen. Dort sah sie im schwachen Licht der sich jetzt nahenden Dämmerung, dass es ein Stück gemusterten Stoffs war – ein lang gezogenes Dreieck, mit dem man etwa ein Kind einwikkeln konnte oder das Haar einer Frau. Im selben Moment hörte sie einen schwachen Schrei, der aus der Höhe des Berges zu ihr hinabdrang. Es war, so glaubte sie, die Stimme einer Frau, die sich voller Angst und Trotz erhob. Sie ließ das Stück Stoff zu Boden fallen und stürzte los, sprintete den dunklen Fels empor, vertraute ganz darauf, dass ihre Füße den Weg fanden. Ihr Atem ging schnell, ihr Körper fühlte sich leicht an, hart und stark. Die Muskeln ihrer Beine, durchflutet von Adrenalin, trieben sie unbeirrbar nach oben, nach oben, von wo der Schrei gekommen war. Rechts von ihr öffnete sich ein breiter, dunkler Abgrund, wahrnehmbar als Schwärze in all dem Grau des Tagesanbruchs. Zu ihrer Linken stieg die Felswand fast senkrecht nach oben. Dazwischen befand sich ein enger Pfad, und auf diesem Pfad nahm sie Bewegungen wahr, hörte Schreie, ein Durcheinander … Sie zwang sich, langsamer zu gehen, und näherte sich lautlos der Szene. Da stand ein Mann, weiter vorn, wütend und schreiend. Über ihm, in einem Spalt der Felswand, die sie erklommen hatte, hockte eine erschöpfte Frau, weinte laut, hob Steine auf und schleuderte sie auf ihren Angreifer hinab. Dass ihr
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Standort alles andere als sicher war, schien sie nicht zu kümmern. Schon bald würden ihr die Steine ausgehen, und der Mann, der seinen Kopf mit den Händen schützte und dennoch versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, würde sich ihr ungehindert nähern können. Der Mann trug keine Waffe. Vielleicht war sie ihm von dem Steinhagel aus der Hand geschlagen worden. Vielleicht sah er in seiner Arroganz auch keine Notwendigkeit, sich zu bewaffnen. Sie hatte sich ebenfalls dafür entschieden, unbewaffnet zu kommen; sie war das Blutvergießen und die Zerstörung leid. Ihre Aufgabe waren Gnade und Rettung, nicht der Tod. Von dem Kind war keine Spur zu sehen. Ihre Alarmglocken schrillten. Zu spät! Ihr Magen drehte sich um vor Übelkeit bei dem Gedanken an den Abgrund, der neben ihr gähnte. Aber die Vernunft sagte ihr, dass der Mann nicht versuchen würde, hinaufzuklettern, wenn das Kind tot wäre. Die Frau spielte für ihn sicher keine Rolle. Sie drehte den Kopf, versuchte, nach oben zu sehen, ließ ihre Augen über die Felswand gleiten. Und da hörte sie ein winziges, dünnes Stimmchen: »Maman … Maman … J’ai peur, Maman!« Die Kleine musste weiter oben versteckt sein, wahrscheinlich auf einem Vorsprung. Immer noch unbemerkt von dem Mann, kletterte sie weiter, versuchte, sich bis zu der Höhe vorzuarbeiten, wo sie die Stimme vermutete; dann schob sie
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sich langsam zur Seite. Sie fand reichlich Halt für ihre Hände und Füße, doch der Fels bröckelte an einigen Stellen, gab nach, wenn sie Zugriff, sodass ihr Gefahr drohte, nach unten in Richtung des schwarzen Abgrunds zu rutschen. Die Steinkanten, nach denen sie griff, waren scharf, schnitten ihr in die Hände und die Knie. Als sie das dritte Mal abglitt, sprang ein größerer Steinbrocken geräuschvoll ab, rollte klappernd über die zerklüftete Felswand und riss weiteres Geröll mit sich. Unbeweglich hing sie da und betete, dass niemand sie gehört hatte. Weiter vorn und über ihr weinten die Frau und das Kind noch immer, aber die Stimme des Mannes war verstummt. Es waren mehrere Minuten vergangen. Wo war er? Sollte sie es wagen, sich zu bewegen? Und dann, als sie ihren Hals verrenkte, um nach unten zu schauen, sah sie seinen Kopf auf dem schmalen Pfad auftauchen. Dann blieb er stehen, zehn oder elf Meter unter ihr, stand vollkommen still und starrte zu der Stelle, wo sie am Fels hing. Ein dunkler Fleck war auf seinem Gesicht zu sehen – wo ihn vermutlich einer der Steine der Mutter getroffen hatte –, doch immer noch lächelte er arrogant und selbstsicher. »Aye«, rief er. »Schön, dich zu sehen, Mira. Das hast du gut gemacht – hier hinaufzukommen, meine ich. Was hat dieser arme Narr Barbieri sich bloß gedacht? Offenbar kann er nichts richtig machen. Na ja, egal. Es scheint, dass uns ein weiteres Drama bei
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Sternenglanz bevorsteht, nicht wahr? Aber diesmal, kleine Mira, bist du dran mit Fallen. Als ausgleichende Gerechtigkeit, sozusagen.« Er fing an, zu ihr hinaufzuklettern. »Geh weg!«, schrie sie ihm zu. »Lass mich in Ruhe. Lass uns alle in Ruhe. Was bedeutet dir das Kind? Es ist vorbei. Hast du nicht gehört? Die Saints sind am Ende. Kehr um! Lass mir das Kind!« »Das werde ich nicht.« Sie kletterte, so schnell sie konnte, hörte seinen schweren Atem unter ihr, versuchte, sich einen Weg nach oben und zur Seite zu ertasten, wo das Kind vor sich hin schluchzte. »Geh weg!«, schrie sie noch einmal, und wieder antwortete er: »Das werde ich nicht.« Sie schaute nach unten. Er war ihr nicht näher gekommen; der Abstand zwischen ihnen war gleich geblieben, während sie beide emporstiegen. Sie sah jetzt, dass die Felswand vor ihr weniger steil war, obwohl das Gestein immer noch gefährlich locker saß. »Maman«, ertönte die müde, weinende Stimme des Kindes. »Oui. Oui, ma puce. Je monte, j’arrive«, schluchzte die Frau. Das Mädchen konnte jetzt die Mutter sehen, die rechts von ihr versuchte, sich mit ängstlichen, zitternden Handgriffen nach oben zu ziehen. Sie machte den Eindruck, als ob sie jeden Moment aufgeben und
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abrutschten würde. Und darüber, zwischen ihnen beiden, kauerte eine kleine Gestalt. Adeline. Ihre Zwillingsschwester. Ihre Hände waren schweißnass. Schweiß lief ihr in die Augen, blendete sie. Ärgerlich wischte sie ihn mit ihrem Arm ab. Es musste ihr gelingen. Alles, was sie brauchte, waren Mut und Geduld. So schnell, wie sie es wagen konnte, kletterte sie auf das Kind zu. Hinter ihr polterten die Steine, losgetreten von ihrem Verfolger, der hastig versuchte, die Lücke zu schließen. »Geh weg!«, rief sie. »Das ist die letzte Warnung!« Doch er lachte nur zu ihr hoch. »Kleine Mira, jetzt warnst du mich also schon! Wie du dich verändert hast. Du denkst, dass du alles weißt. Du bist so sicher, dass deine Gene dich retten werden. So sicher, dass deine Serie unüberwindbar ist. Und was ist mit mir? Glaubst du, ich sei ein einfacher, nichtsnutziger Räudiger? Denk nach!« Vielleicht hätte sie darauf etwas erwidert, wenn sie nicht ihre ganze Energie zum Klettern gebraucht hätte. Sollte er doch denken, was er wollte. Sie hatte es fast geschafft. Noch zehn Meter … acht … sechs. Rechts von ihr versuchte die Mutter immer noch, sich nach oben zu ziehen, aber sie war schwach und wirkte völlig entkräftet. Das Kind saß im Morgenlicht; das dunkle Haar glänzte, die Augen, mit denen sie dem Mädchen entgegenblickte, waren groß und verwundert. »Qui es-tu?«, fragte sie. Wer bist du?
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»Je suis ta sœur.« Ich bin deine Schwester. »Ma sœur?«, sagte das kleine Mädchen in einem Ton, als ob es mit einer Gleichaltrigen sprechen würde. »Mais je n’ai pas une sœur.« Aber ich habe keine Schwester. Die Mutter, die sie gehört hatte, hielt inne und rief: »Si. Si, ma puce. Tu as une sœur! C’est bon. Il ne faut pas avoir peur!« Doch, meine Kleine, mein Floh. Du hast eine Schwester! Alles ist gut. Du brauchst keine Angst zu haben! Mit einem letzten Kraftakt stemmte sie sich zu dem Kind mit den strahlenden Augen empor. Die Kleine saß in einer Art natürlichem Stuhl aus Felsgestein und ließ ihre Beine über den Rand baumeln. Ihr Gesicht bestand fast nur aus ihren riesigen Augen. Sie hätte das Kind zu gerne umarmt, es angeschaut, an sich gedrückt, es in Sicherheit gewogen. Aber Gil kam nun über den leichter zu erklimmenden Teil der Klippe rasch näher. In spätestens zwei oder drei Minuten würde er sie erreicht haben. »Wie bekommen wir dich nur von hier weg?«, fragte sie sanft. Sie nahm das Kind unter den Achseln und hob es hoch. Es war nicht schwer, aber das Gewicht war ihrer Flucht ganz sicher nicht dienlich. »Das ist das Ende, Mira«, rief Gil nach oben, kroch wie ein Krebs über den grauen Fels. »Wie schade. Mit uns hätte es etwas werden können.« Das Mädchen hockte sich nieder, mit ihrem Rücken zu Adeline, griff nach ihren kleinen Händen und
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legte sie sich auf die Schultern. Das Kind wehrte sich nicht, und so stand sie auf, spürte aufmerksam dem Gewicht auf ihrem Rücken nach. »S’il vous plaît«, wimmerte die Frau, die sich nun auf ihrer Position unterhalb des Mädchens nicht mehr bewegte, sondern sich nur noch verzweifelt an den Stein klammerte. »Sauvez l’enfant! S’il vous plaît!« »Zu spät«, knurrte Gil. Mit ihrer Last auf dem Rücken wandte sie ihr Gesicht wieder der Felswand zu und fing erneut an zu klettern. »Halte dich gut fest, Kleine. Ich brauche beide Hände.« Sie wusste nicht, wohin sie kletterte, nur dass ihr die Gefahr auf den Fersen war und dass es ein Leben kosten würde, wenn sie sich umwandte, um sich ihr zu stellen – vielleicht auch mehr als eines. Mit einer Kraft, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß, zog sie sich und das Kind nach oben. Adeline sang leise etwas vor sich hin und klammerte sich mit ihren scharfen kleinen Fingern fest an ihren Hals, sodass ihre Beschützerin kaum atmen konnte. Wie lange es dauerte, konnte sie nicht sagen. Allmählich kamen sie dem Ende des steilen Anstiegs näher, so sah es jedenfalls aus – eine Stelle, wo der Hang weggebrochen oder gesplittert war. Langsam, aber stetig schob sich Gil näher, Zentimeter für Zentimeter. Zweimal packte seine Hand ihren Fuß. Zweimal trat sie die Hand weg, kletterte schneller, brachte ein paar Meter zwischen sich und ihn. Sie schluchzte nun selbst, während das Kind auf ihrem
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Rücken merkwürdigerweise vertrauensvoll ruhig blieb. Sie wusste, es hatte keinen Sinn. Sie konnte ihn nicht abschütteln. Und sie konnte das Kind nicht den ganzen Weg bis zum Gipfel tragen. Die Entscheidung war gefallen. Es hieß nun: entweder das Leben dieses Mannes oder das von Adeline. »Assis. Assis«, flüsterte sie dem kleinen Mädchen zu. Setz dich hin. Dabei drehte sie sich um und ließ die Kleine zu Boden gleiten. Gehorsam setzte sich das Kind, das immer noch sein Liedchen summte, und fing an, am Daumen zu lutschen. Ihrer Last entledigt, holte Clarissa tief Luft und schüttelte ihre verspannten Muskeln aus. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen da und duckte sich dem Abhang entgegen, wie sie es bei einem Wettkampf in der Arena getan hätte. Voller Konzentration schaute sie der Gestalt entgegen, die sich ihr näherte. Sie sollte jetzt grüßend den Kopf neigen, dachte sie, so wie früher. Alles kam ihr seltsam unwirklich vor. Sie sollte warten, bis er hinaufgekommen war und sich in Position gestellt hatte, aber schließlich war dies kein Schaukampf. »Willst du nicht doch besser umkehren?«, fragte sie mit sanfter Stimme. »Das werde ich nicht, Mira«, antwortete er und schaute ihr direkt in die Augen. »Aber ich bin nicht Mira. Und du hast kein Recht, ihren Namen auch nur auszusprechen.«
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Jetzt kam er hoch, halb kletternd, halb rennend, stürzte sich auf sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Zorn auf dem Gesicht. Sie blieb stehen. Es war so einfach. So mühelos. Sie sah ihn kommen, schätzte seine Größe und seine Stärke ab, das Ausmaß der Wut, die in ihm brodelte, erkannte den Moment, in dem er nicht fest auf beiden Beinen stand … schnellte plötzlich vor, trat fast spielerisch gegen seinen Fuß, sodass das Gelenk nachgab und er umkippte. Dann, als er stolperte, fluchend, kam sie leichtfüßig näher, nahm ihn bei den Schultern, drehte ihn ruckartig seitwärts – und ließ los. Ein Punkt für sie – mindestens. Der Körper rollte und hüpfte den Abhang hinunter. Dabei machte er kaum ein Geräusch, außer von Zeit zu Zeit einen dumpfen Schlag von etwas Schwerem, Weichem auf dem Felsen und dem gelegentlichen Schaben des Gerölls, das mitgerissen wurde. Sie befürchtete, dass es ihm gelingen würde, sich mit ausgebreiteten Armen irgendwo festzuhalten, und fing an, den Abhang hinabzulaufen, um die Sache zu erledigen. Doch das war nicht nötig. Dort wo der Hang in das steilere Stück überging, hing Gils Gestalt, nur kurz, und verschwand dann. Sie ging hinunter, um sich mit eigenen Augen von der Endgültigkeit ihrer Tat zu überzeugen. Nein, er würde nicht noch einmal auferstehen. Weit unten auf dem Pfad erkannte sie seine verrenkte und zerschmetterte Gestalt.
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Als die Mutter schließlich zu ihnen kam, hockten Clarissa und das Kind eng umschlungen da, schliefen auf dem grauen Fels, vom weichen Morgenlicht der Sonne beschienen. Sie beugte sich vor und berührte sie, streichelte die beiden Köpfe mit den schwarzen Haaren. Ihre zwei Kinder, wo vorher nur eins gewesen war. Sie würde sie schlafen lassen und über sie wachen. Dann, wenn der Tag den Morgen ablöste, würde sie die beiden wecken. Andere würden kommen, hatte Marie gesagt. Andere, die dem kleinen Mädchen und diesem, das fast schon eine Frau war, Übel wollten. Die beiden mussten weiter. Ein Abschied stand bevor. Zumindest für den Moment.
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39 Als sie in weiter Ferne die Fallschirme sah, lachte Clarissa laut auf. Über den nördlichen Flanken der Berge fiel von einem schlanken silbernen Streifen ein Vorhang aus weißen Blüten herab, die, während sie langsam sanken, sanft vor dem tiefen Blau hin und her schaukelten. Es mussten mindestens dreißig sein. Ein letzter Schachzug. Jan, vielleicht auch die beiden Alten, waren offenbar verzweifelt oder aber zerfressen vor Wut. Ja, Letzteres schien wahrscheinlicher. Oder vielleicht hatten sie schließlich die französischen Familien überreden können, ihnen zu helfen. »Belle!«, rief die kleine Adeline und zeigte entzückt mit dem Finger. »Oui. Belle«, nickte sie. Ihr Französisch, das sie gemeinsam mit Jan und Kay gelernt hatte, würde bald flüssiger werden. Dann würde sie dem Kind von ihrer anderen Schwester erzählen, der sie beide ihre Freiheit verdankten. Sie würde ihr von all ihren Schwestern erzählen. »Komm mit!«, sagte Clarissa fröhlich. »On y va. Wir wollen diesen armen Kerlen zeigen, dass wir für die Berge geboren wurden.« Sie standen auf dem höchsten Punkt. Überall um sie herum fielen die mächtigen, rauen und zerkarste715
ten Linien ab, blau und grün und braun in der Sonne. Die beiden Mädchen wandten den weißen Blumen den Rücken zu und schauten in das vor ihnen liegende bewaldete Tal hinab und auf die Gipfel, die dahinter aufragten. Clarissa nahm Adeline auf ihren Rücken und rannte los. Das kleine Mädchen hopste auf und ab und kicherte vor Vergnügen. Ihre seltsamen Augen erstrahlten in der Erregung dieses merkwürdigen neuen Tages. Was die Männer in Grau betraf: Sie spielten keine Rolle. An diesem Tag existierten sie nicht.
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Anmerkungen des Autors
Einige Bemerkungen zu Klimawechsel, zum Klonen und dem Hintergrund dieses Romans … Wie wurde Miras Welt zu dem Ort, wie er in der Geschichte beschrieben wird? Nun, es ist allgemein bekannt, dass derzeit ein rapider Klimawechsel im Gange ist. Das weiß man seit etwa zwanzig oder dreißig Jahren, aber es ist eines jener grundlegend wichtigen Themen, über deren Existenz die Regierungen gerne schweigen. Schließlich ist es viel einfacher, über Börsenkurse zu diskutieren oder über Immobilienpreise oder über eine viertelprozentige Zinserhöhung, als den Menschen zu empfehlen, die Art, wie sie reisen, konsumieren, arbeiten – die Art, wie sie leben – zu verändern. Wie der Klimawechsel die britischen Inseln, wo der Roman angesiedelt ist, schließlich beeinflussen wird, ist noch nicht klar. Eines der Szenarien – das, welches ich für diese Geschichte gewählt habe – ist, dass der warme Golfstrom, der über den Atlantik aus Mittelamerika zu uns kommt, eines Tages verschwinden wird. Diese Strömung bewirkt derzeit, dass in Großbritannien (aber auch in weiten Gebieten des europäischen Kontinents) ein mildes Klima 717
herrscht, obwohl das Land genauso weit nördlich liegt wie die schneebedeckten Weiten Kanadas oder die eisigen Wälder Russlands. Es ist gut möglich, dass diese Strömung durch die schmelzenden Gletscher der Arktis verschwindet, weil die ständige Zuführung von frischem Süßwasser den Anteil an Salz in den Strömungen verändern würde, aus denen derzeit unser wohltätiger warmer Meeresstrom entsteht. (Ein hoher Salzgehalt ist lebenswichtig für das transatlantische System der Meeresströmung.) Während also die globale Erwärmung sich ausbreitet, ganze Landstriche in Wüsten verwandelt und bislang durchschnittliche Temperaturen in vielen Teilen der Welt dramatisch in die Höhe schnellen lässt, kann man nach diesem Szenario erwarten dass in Nordeuropa ein ebenso dramatischer Abfall der Temperaturen stattfindet, der eine lang anhaltende Eiszeit zur Folge haben könnte. »Das Saint-Netzwerk« spielt ein paar Jahrhunderte in der Zukunft und zu dieser Zeit ist der beschriebene Prozess der Vereisung bereits wieder im Abklingen. Mit anderen Worten: Europa und die britischen Inseln haben »tiefgefrorene« Jahre erlebt; nun steigen die Temperaturen wieder – ein Resultat der allgemeinen, weiter voranschreitenden weltweiten Klimaerwärmung. Nur Miras Schottland liegt noch in eisigem Schlaf. Weiter südlich breitet sich ein Wetterband aus, das ständig in Unruhe ist, weil dort warme Luft auf eisig kalte trifft. Dieses Band überzieht ganz England,
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einschließlich der windgepeitschten Hauptstadt. Die mächtigen Eisgletscher des Nordens schmelzen erneut, der Meeresspiegel steigt und fordert seinen Tribut: Das Flachland wird überspült und ganze Städte verschwinden. Einige Forscher rechnen damit, dass Veränderungen, wie sie hier geschildert werden, in relativ kurzer Zeit passieren können. Die Eiszeit zum Beispiel könnte uns demnach schon in etwa zwanzig Jahren ereilen, fast über Nacht. Sobald der wärmende nordatlantische Strom nicht mehr existiert, werden bei uns die Temperaturen sinken! In Miras Zeit zeigt die Klimaveränderung tief greifende Wirkungen. Ich stelle mir vor, dass die Bevölkerungszahl extrem zurückgeht, weil die verbleibenden Ressourcen bei weitem nicht ausreichen, um der großen Zahl der bis dahin in Großbritannien lebenden Menschen das Überleben zu sichern. Die Fortbewegung, Reisen über Land oder Wasser, ist extrem schwierig und nicht mehr an der Tagesordnung, fossiler Brennstoff ist sehr rar – und die Industrienationen, wie wir sie kennen, gehören der Vergangenheit an. Die Überflutung verhinderte neue technologische Entwicklungen, ganze Bevölkerungsgruppen wurden vernichtet oder wanderten ab, die Infrastruktur brach zusammen und so weiter … Es herrscht Stillstand, Neues ist nicht hinzugekommen – so gibt es in dieser Zukunft vieles, was wir von unserem heutigen Alltag her kennen … Allerdings gibt es eine Wissenschaft,
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die weiter betrieben wird: die genetische Forschung. Ihre Erkenntnisse machen sich nun die Großen Familien, Herrscher über das Land und die Menschen, zunutze. Klonen und vorgeburtliche Auslese dienen der Zucht einer Elite, die die Macht innerhalb einer kleinen Gesellschaftsschicht hält. Das Klonen von Menschen mag zu dem Zeitpunkt, da der Leser dieses Buch in Händen hält, schon eine Tatsache sein. Vielleicht auch nicht. Wenn nicht, wird es mit Sicherheit nicht mehr lange dauern, bis es so weit ist. Die entsprechenden Interessengruppen haben einen solch großen Einfluss, dass die Regierungen diesem Punkt stetig näher gedrängt werden und mit jedem neuen Gesetz die Messlatte zum Schutz vor dem Missbrauch der Gentechnik niedriger ansetzen, besonders wenn zu befürchten ist, dass andere schneller sind … Warum ist dies unausweichlich? Aus humanitären Gründen? Nun, das bezweifle ich. Eine der Triebkräfte dafür kommt aus anderer Richtung: Schon heute wollen Paare das Geschlecht ihres Kindes bestimmen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Da ist es nicht mehr weit bis zu dem Wunsch, die Farbe des Haares festzulegen und dass ein Kind sportlich ist, intelligent, gut aussehend, eine hohe Lebenserwartung hat … Genau hier liegt eine der Wurzeln für jenes Elitedenken, das in »Das SaintNetzwerk« beschrieben wird. Mira und ihre Schwestern sind augenscheinlich die vollkommensten menschlichen Wesen, die es gibt: reaktionsschnell, beweg-
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lich und schön. Aber was fühlen sie? Wie empfinden sie ihre Existenz? Was für eine Katastrophe muss es sein, als Klon zu leben? Letzten Endes ist Miras Antwort auf alle, die sie formen oder kontrollieren wollen, ganz einfach – simpel, nachdrücklich und liebevoll. Sie breitet sich aus wie kleine Wellen auf einem See und bringt Licht in das Leben vieler anderer. PATRICK CAVE Februar 2004
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