JOHN GRIBBIN
Das Schiff der Visionen Roman
Aus dem Englischen von WALTER BRUMM
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE V...
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JOHN GRIBBIN
Das Schiff der Visionen Roman
Aus dem Englischen von WALTER BRUMM
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5996
Titel der englischen Originalausgabe INNERVISIONS Deutsche Übersetzung von Walter Brumm Das Umschlagbild ist von p.n.m. doMANSKI – (Gruppe d4)
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt
2. Auflage Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1993 by John and Mary Gribbin Erstausgabe 1993 A Penguin Book, published by The Penguin Group, London Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und Mohrbooks, Literarische Agentur, Zürich Copyright © 2001 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Hey ne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Deutsche Erstausgabe 1/2001 Printed in Germany 2001 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-14918-1
P rolog In den Tiefen des Weltraumes, weit von jedem Stern entfernt, schwebte die Kugel in immerwährender Nacht. Ohne einen Bezugspunkt in der Nähe wäre es einem Beobachter schwergefallen, ihre Größe zu bestimmen oder festzustellen, ob sie sich bewegte. Solch einem Beobachter wären jedoch die glatten, symmetrisch über die Oberfläche der Kugel verteilten Vorwölbungen und das Netzwerk der Linien aufgefallen, die sie miteinander verbanden. Ein Fahrzeug bewegte sich scheinbar quälend langsam eine dieser Linien entlang. An einer anderen Stelle der Oberfläche, fern von jeder Linie oder Vorwölbung, schien eine Maschine geschäftig einer unverständlichen Arbeit nachzugehen. Aber natürlich gab es hier, weitab von jedem Stern, kein intelligentes Wesen, das von alledem Notiz genommen hätte.
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Langsam erwachte Ely se aus dem Traum. Auch nach dem Erwachen wollten die schweren Lider sich nur widerwillig öffnen. Die Zunge fühlte sich in ihrem trockenen Mund dick an, ihr Nacken schmerzte. Wenn die Träume über sie kamen, fühlte sie sich beim Erwachen womöglich noch müder, als sie ins Bett gefallen war. Und es war noch schlimmer, wenn der Traum wie dieser jetzt keinen Sinn ergab. Wenn sie von den großen Schiffen träumte, oder den Vogelmenschen, oder anderen seltsamen Leuten, die ihren unverständlichen Geschäften nachgingen, hatte sie wenigstens den Anker ihres offensichtlichen Menschseins, an den sie sich klammern konnte. Ein Traum über Menschen, ganz gleich wie seltsam in ihrer Erscheinung und in ihrem Tun, war wenigstens zum Teil mit der tröstlichen Vertrautheit des Alltagslebens verwandt. Aber von metallenen Spinnen zu träumen, die auf einem in schwarzer Leere treibenden Metallei herumkrochen, trug sicherlich den Stempel des Wahnsinns. Diesen Traum, mochte er sich auch wiederholen, würde sie niemals jemandem anvertrauen. Aber die anderen? Wie viel konnte, durfte sie den Ältesten offenbaren? Ihre Gabe, wenn es eine Gabe war und nicht ein Fluch, war ihnen infolge ihrer kindischen Unbedachtheiten bereits bekannt. Nun, an der Schwelle zum Erwachsensein, verstand sie es, ihre Zunge besser im Zaum zu halten. Aber die Umsicht war zu spät gekommen, um zu verhindern, dass die Neugier der Ältesten erweckt und sie hierher ins Noviziat des Gemeinschaftsbaues gebracht worden war, wo ihr die schwere Feldarbeit erspart blieb, sie aber nicht besser als ein Dienstmädchen behandelt wurde, während sie gleichzeitig so scharf beobachtet wurde, als wäre sie eingekerkert. Die Ältesten wussten, dass sie ein Talent hatte, sahen aber noch nicht, ob zum Guten oder Schlechten. Und bis sie entschieden, würde Ely se keine Freiheit haben.
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Plötzlich brach der Bann, in den der Traum sie gezogen hatte, und sie setzte sich im Bett auf und schlug die dünne Decke zurück, die während der warmen Jahreszeit ihren Bedürfnissen genügte. Sie legte die Arme um die Knie und blickte an den grob behauenen Balken der Wand zum Fenster hinaus zu den Hügeln. Obschon beinahe achtzehn Sommer alt, hatte Elyse noch die Figur eines jüngeren Mädchens, und ihre Brust war beinahe so flach wie die eines Jungen. Ihr schwarzes Haar reichte kaum auf die Schultern und die dunklen, weit auseinander stehenden Augen in dem Gesicht, das trotz seiner Sommersprossen bleich von den langen Stunden war, die sie jetzt im Haus verbrachte, blickten unkonzentriert und gedankenverloren, als sie sich nicht die wirklichen Hügel vorstellte, die durch das Fenster zu sehen waren, sondern jene anderen, wo sie als Kind frei herumgestreift war, bevor der Verdacht ihres Talents zur Gewissheit geworden war und ihre Eltern sie in die Obhut der Ältesten gegeben hatten. Wenn diese entschieden, dass ihr Talent nicht im Interesse der Menschen sei, würde sie noch vor dem nächsten Sommer verheiratet sein. Mit einem Mann, den die Ältesten für sie aus einer Abstammungslinie wählen würden, welche sich in der Vergangenheit reich an Talenten gezeigt hatte – aber wahrscheinlich jemanden, den sie vor der Hochzeitszeremonie niemals zu Gesicht bekommen würde. Der Gedanke verursachte ihr ein mulmiges Gefühl im Magen, ähnlich dem ängstlichen, aber angenehmen Kitzel, den sie verspürt hatte, als sie vor langer Zeit auf einen hohen Baum geklettert war, dessen dünne, unter ihrem Gewicht und im Wind schwankenden Wipfeläste sie in akute Absturzgefahr gebracht hatten. Die Aussicht erregte sie körperlich, obwohl ihr Geist davor zurückschreckte. Dann nämlich, wenn sich herausstellte, dass ihr Talent nicht ausreichte, würde sie frei sein. Frei, den Gemeinschaftsbau zu verlassen und zu den Feldern und Hügeln draußen zurückzukehren. Frei aber nur, die Gefährtin eines Bauern zu werden, ihm bei der Feldarbeit zu helfen und Kinder auszutragen, die, wenn sie Mädchen waren, besonders sorgfältig würden beobachtet werden, ob sie etwa Zeichen eines knospenden Talents zeigten. Und wenn die Ältesten ihr Talent guthießen? Wenn sie eine Möglichkeit sahen, es vorteilhaft anzuwenden? Nun, dann würde sie eine Schwester und schließlich selbst eine Älteste werden, eine der Herrscherinnen über das Volk – eine Aussicht, die geistig so
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erregend war, wie die Aussicht auf die Partnerschaft mit einem Mann auf ihren Körper wirkte. Doch würde sie als eine Älteste für immer eine Gefangene des Gemeinschaftsbaues sein, gehorsam den Förmlichkeiten und Bräuchen, und ihr Talent für das Gemeinwohl einsetzen, eingeschlossen wie ein wertvolles Kunstwerk, und niemals die Berührung eines Mannes fühlen oder auch nur mit einem Mann allein sein. Als sie im Alter von vierzehn Jahren in das Internat des Gemeinschaftsbaues aufgenommen worden war, hatte es auf dem ihr vorgezeichneten Lebensweg so oder so eine Gewissheit gegeben: niemals würde sie frei sein, allein zu reisen, durch das Hügelland zu wandern, wo es ihr gefiel, und niemandem als sich selbst Rechenschaft zu schulden. Und das war natürlich das eine, was Elyse vor allem anderen ersehnte. Dabei gab es für all jene, die die Neigung und die Freiheit hatten, es zu tun, genug Land zu entdecken. Vom Gemeinschaftsbau, der ein wenig zurückgesetzt am Ufer des Kleinen Flusses lag, konnte man vier Tage lang in beide Richtungen reiten, ostwärts zum Großen Fluss oder nach Westen, wo die Berge an die See herantraten, ohne den Herrschaftsbereich der Ältesten zu verlassen. Landeinwärts erstreckte sich das landwirtschaftlich besiedelte Gebiet mit seinen Gehöften, Feldern, Gehölzen und Weiden bis zu den Weißen Bergen, wo das Hügelland von den steilen, unersteigbaren Felsbastionen abgelöst wurde, düster dräuenden Wänden, eingehüllt in die Wolken, die ihnen den Namen gaben, aufragend in Regionen unvorstellbarer Geheimnisse. Und sowohl im Osten wie im Westen, jenseits des Großen Flusses und der Küstengebirge, gab es weitere Siedlungen, zugänglich nur durch die kleinen Schiffe, welche die Küstengewässer befuhren. Diese Siedlungen unterstanden nominell den Ältesten, waren Gerüchten zufolge aber Heimat wilder Talente und seltsamer, barbarischer Praktiken. Jenseits von diesen lag die Wildnis selbst und sogar eine so abenteuerlustige Seele wie Ely se schreckte vor dem Gedanken zurück, jemals so weit in die Ferne zu schweifen. Anders war es jedoch um die äußeren Dörfer bestellt. Sie konnte davon träumen, dort eine Heimat zu finden, ihr Talent zu verbergen und ein normales Leben zu führen. Oder sogar, wenn die Geschichten, die man sich erzählte, der Wahrheit entsprachen, mit Hilfe ihres Talents zu einer wichtigen Person in einer kleinen Gemeinde zu werden, nicht bloß eine junge
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Schwester unter vielen, frei von den Förmlichkeiten und Bräuchen des Gemeinschaftsbaues. Das war für Geist und Körper die erregendste Aussicht von allen – selbst wenn sie die am wenigsten wahrscheinliche war, und obwohl sie nach vier Jahren der Träume noch immer keine Ahnung hatte, von welchem Nutzen ihr Talent für irgendjemand sein könnte, wenn es wirklich ein echtes Talent war. Doch weder Träume noch Tagträume konnten sie von ihren Pflichten als Novizin im Gemeinschaftsbau fernhalten. Und die große Glocke, die von der diensttuenden Schwester Novizin bei der Wasseruhr geläutet wurde, zeigte bereits die siebte Stunde an. Eilig schlüpfte Elyse aus dem Bett und wusch sich die restliche Schläfrigkeit aus den Augen. Sie legte ihr Nachthemd ab, zog die Unterwäsche und dann das knöchellange, hochgeschlossene blaue Gewand mit dem weißen Kragen und den weißen Ärmelaufschlägen an. In der Sommerhitze würde es übermäßig warm sein, aber Schicklichkeit war im Gemeinschaftsbau wichtiger als Bequemlichkeit. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass der Anblick einer Novizin oder Schwester einen Mann in Erregung versetzen konnte, obwohl ohnedies kaum eine Chance bestand, dachte Elyse nicht zum ersten Mal, als sie mit den Händen über ihren schlanken Körper fuhr, um das Gewand zu glätten, wie irgendein Mann überhaupt bemerken sollte, dass sie mehr als ein Kind war, außer vielleicht an ihrer Größe. Sie zog die Finger durchs Haar, ohne sich lange mit einem Kamm abzugeben, und eilte hinaus. Zuerst Küchendienst – Aufwarten am Tisch der Ältesten, Geschirr abräumen und Spülen. Dann erst würde ihr erlaubt sein, selbst zu frühstücken. Es war keine Zeit zu verlieren. Am rohen Tisch im Küchensaal schaufelte sie mechanisch den Rest Haferbrei aus der hölzernen Schale in den Mund und beobachtete die erlöschende Glut des Kochfeuers. Die dünne Spirale grauen Rauchs, die aus der Asche stieg, schien die Gestalten ihrer Träume anzunehmen, blähte sich wie die großen Segel der Schiffe ihrer Einbildung. Mit der freien Hand schob sie halb unbewusst eine Haarsträhne aus den Augen, während die Hand mit dem Löffel stillhielt. Vielleicht war es bloß Einbildung. Oder vielleicht nicht. Auf welche Weise genau die Ältesten ihre jeweiligen Talente ausdrückten, war ein sorgfältig gehütetes Geheimnis. Jede Novizin musste ihren eigenen Weg zur Wahrheit finden. Aber es gab Geschichten
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von Schwestern, die Wolken nach ihrem Willen formen konnten, denen es gelang, die Äste und Zweige lebender Bäume nach ihrem Gutdünken in Bewegung zu setzen. Wäre es so seltsam, wenn ihr Talent, das aus ihren Träumen Kraft bezog, sich jetzt in der Beherrschung von Rauch manifestierte? Und konnte es bedeuten, dass sie endlich bereit war, sich der Prüfung zu unterziehen? Sie würde nie für die Prüfung bereit sein. Sie riss ihren Blick vom Feuer und seinem Rauch los und schaute umher. Sie hob den Löffel an die Lippen und leckte die letzten Spuren Haferbrei ab. Wenigstens gab es hier reichlich und gut zu essen, wenn auch einfache Speisen. Die Ältesten sagten, wenn man den Schwächen des Körpers zu sehr nachgebe, führe es zur Verweichlichung und schwäche dadurch den Geist. Aber kein Talent konnte richtig wirken, wenn der Körper, in dem es wohnte, nicht gesund und kräftig war. Nur die zwei jüngsten Novizinnen saßen mit ihr am Tisch. Sie behandelten Ely se, die älteste Novizin, mit beinahe so viel Ehrerbietung wie die Ältesten und hatten keinen Versuch unternommen, ihre Tagträumerei zu unterbrechen. Leise flüsterten sie miteinander, als sie ihre einfache Mahlzeit beendeten. Zur Zeit gab es insgesamt nur sechs Novizinnen; so oder so, bald würden es nur noch fünf sein. Niemand konnte vor dem Alter von sechzehn Jahren eine Schwester werden; niemand konnte über das Alter von achtzehn Jahren hinaus Novizin bleiben. Für Elyse wurde die Zeit knapp. Sie spürte die Veränderung, die über sie kam, die Kraft des in ihr wachsenden Talents. Eines Talents, das Rauch beherrschte; das ihr erlaubte, Visionen nicht bloß in ihren Träumen zu sehen, sondern auch in dem graublauen aufsteigenden Gekräusel, welches das lebende Holz in seiner feurigen Todesqual von sich gab. Aber würde sie auch imstande sein, diese Visionen zu beherrschen? Und würden sie ihr etwas zu sagen haben, was für die Menschen von Wert war? Oder würde sie auch weiterhin nur fremde Länder, fremde Schiffe und noch fremdere Metalleier und Spinnen sehen? Karyn, das etwas ältere der beiden Mädchen ihr gegenüber, blickte zu Ely se auf, lächelte ein wenig und zog dann schnell den Kopf ein, als müsse es sich auf seine leere Holzschale konzentrieren. Elyse lächelte zurück und dachte zurück an die Zeit, als sie wie die beiden gewesen war, neu im Internat des Gemeinschaftsbaues, nervös und aufgeregt und mit der Frage
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beschäftigt, wie es sein würde, eine Schwester und dann eine Älteste zu sein, dabei noch keineswegs sicher, ob sie selbst Trägerin eines Talents sei oder nicht. »Na, Karyn, wenn du noch lange in deiner Schale herumkratzt, wird sie noch ein Loch kriegen. Welche Pflichten hast du heute Morgen, die dich so lange am Tisch festhalten?« Das Mädchen blickte wieder auf und errötete. Seine Gefährtin, Miryam, kicherte. »Oh, bitte, Elyse … wir haben Unterricht bis zur Mittagsglocke.« »Dann solltet ihr vielleicht zur Schwester Tutorin laufen, solange die Glocke noch nicht geläutet hat.« Sie langte über den Tisch und nahm ihre Schalen und Löffel an sich. »Ich werde euer Geschirr mit abspülen.« »Ja, Ely se.« Die zwei kleinen Gestalten schoben ihre Bank zurück und eilten kichernd davon. Vielleicht hätte sie sich hier mehr zu Hause gefühlt, dachte Ely se flüchtig, wenn sie mit einer Gefährtin ihres Alters ins Noviziat eingetreten wäre. Aber es war nicht so gekommen. Es waren nur vier weitere Mädchen im Internat gewesen, alle wesentlich älter als sie. Eine von ihnen, die damals den Namen Marretta getragen hatte, war jetzt Schwester Tutorin. Ihr gewählter Name spiegelte ihr Talent wider, wie es auch bei den anderen Schwestern und Ältesten üblich war. Bei ihr war es eine Gabe für Kommunikation, für die Weitergabe von Wissen und vielleicht sogar Weisheit; offensichtlich ein Talent von großem Wert für die Menschen. Und die kleine Karyn, welchen Namen würde sie annehmen? Für sie war es leicht, so glücklich zu sein, denn sie hatte trotz ihrer Jugend ein solch offensichtliches Talent. Seit ihrem zehnten Lebensjahr war das Gehöft ihres Vaters Gesprächsgegenstand zuerst seines Dorfes, dann der östlichen Siedlungen und schließlich des ganzen Landes gewesen. Die Feldfrüchte, welche die kleine Karyn pflegte, wuchsen hoch und gerade, blieben frei von Mehltau; die Tiere, die sie fütterte, erkrankten nie. Schwester Grün, das würde zu ihr passen. Und sicherlich würde sie ihren Namen annehmen, sobald sie mit sechzehn Sommern ihr Noviziat beendete. Während Ely se, schon bald achtzehn, noch immer auf eine Entscheidung und einen Namen wartete. Ein nutzloses Talent, bestenfalls; ein Talent, Bilder im grauen Holzrauch zu sehen. Schwester Grau, das würde zu ihr passen, dachte sie bitter,
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und das Lächeln verblich auf ihren Lippen. Sie stieß ihre Bank zurück und nahm das Geschirr auf. Sie könnte ebenso gut anfangen, sich schon jetzt auf ein Leben voll Arbeit und Plackerei einzustellen. Für die Tageszeit war es ungewöhnlich heiß. Die Sonne brannte vom Zenit herunter auf Rantors Kopf und es gab kaum einen schützenden Wolkenschleier, obwohl es bald Abend sein würde. Er blieb auf seinem zielbewussten Marsch zur Schiffswerft stehen, zog ein großes Taschentuch aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel und wischte sich zuerst die Stirn, dann den Nacken. Darauf ballte er das Tuch in der rechten Hand zusammen, um es wieder einzustecken, und blickte, hinauf zu den vier Fahnenmasten auf dem Bergfried der Burg auf dem Vorgebirge, das die Bucht eingrenzte. Drei Masten waren leer, während am vierten eine einzelne Fahne, die auf Halbmast gesetzt war, matt in der ungewöhnlich schwachen Meeresbrise wedelte. Das vierte Viertel mehr als zur Hälfte durch; Dunkelheit in weniger als zwei Kerzen. Und kaum eine Wolke am Himmel. Wechselnde Winde. Kein Grund zur Sorge, so etwas kam vor. Aber wo würde ein Seemann bleiben, wenn er sich nicht am Tag auf die Meeresbrise und bei Nacht auf den ablandigen Wind verlassen konnte? Trotz der Hitze erschauerte Rantor bei dem Gedanken. Die verlässlichen Winde waren die einzige sichere Navigationshilfe um den Archipel. Darum lohnte es sich, jedem Hinweis nachzugehen, der eine Möglichkeit aufzeigte, wie außerhalb des Archipels im offenen Ozean ein sicherer Kurs gesteuert werden konnte. Sogar einem so halb ausgegorenen Hinweis wie dem, der ihn jetzt hierhergeführt hatte. Wieder schritt er energisch aus, seinem Ziel entgegen. Der kleine Schatten, den der beinahe unerträglich helle Lichtpunkt über ihn warf, bewegte sich geschäftig unter ihm dahin. Es hatte vor mehreren Fünftagen mit einer Vorladung von Seiten seines Herrn begonnen, des Herzogs Kyper, dem mächtigsten Mann der Drei Inseln, vielleicht dem mächtigsten im ganzen Archipel, obwohl damit nicht gesagt war, dass die vereinten Anstrengungen von drei oder mehr seiner Rivalen ihn nicht in Verlegenheit bringen könnten. Was der Grund dafür war, dass Herzog Kyper mit einem guten Teil seiner Einnahmen dafür sorgte, dass diese Rivalen nie auf den
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Gedanken kamen, gemeinsam gegen ihn zu arbeiten. Der größte Teil seiner restlichen Einnahmen wurde für die Suche nach Mitteln und Wegen ausgegeben, seine eigene Position zu festigen. Da Kyper kein Dummkopf war, bedeutete dies, dass die meisten Bewohner der Drei Inseln sich guter Fürsorge ihres Landesherrn erfreuen konnten und dass dessen Justiz schnell und genau arbeitete. Im Dienste des Herzogs zu stehen kam daher für die meisten Bewohner der Drei Inseln der Erfüllung ihrer Wünsche und Hoffnungen gleich. Aber selbst der loy alste und vertrauteste Diener seines Herrn, der Steuermann selbst, verspürte bei jeder unerwarteten Vorladung auf die Burg einen Anflug von Furcht. Die Begrüßung war jedoch freundlich, mit nur dem Minimum von Förmlichkeit, die das Protokoll in der Anwesenheit eines Dritten verlangte. Dieser Mann war Rantor fremd, und nach dem Schnitt seiner Kleidung zu urteilen, ein Ausländer. »Nun, Steuermann.« Der Herzog schien erfreut und aufgeräumt und verstärkte seine Begrüßung durch eine brüderliche Umarmung, in der er Rantors Schultern mit beiden Händen umfasste, mehr als die Höflichkeit erforderte. Kyper war noch immer eine eindrucksvolle Erscheinung; in guter körperlicher Verfassung, wenn auch etwas übergewichtig, mit einem Anflug von Grau an den Schläfen und im Schwarz seines Bartes. »Ich habe einen neuen Dummkopf, wie Sie sehen.« Seine linke Hand deutete auf die etwas sonderbar aussehende Gestalt des Unbekannten, während er die Rechte ungezwungen um Rantors Schultern legte. Der Fremdling konnte nicht daran zweifeln, dass Rantor der vertrauteste Gefährte und Adjutant des Herzogs war – was Rantor jedenfalls neu war. Aber wenn sein Herr die Szene so spielen wollte, sollte es ihm recht sein. »Tatsächlich? Er scheint mir nicht allzu amüsant zu sein.« »Ah, aber die äußere Erscheinung dieses Narren täuscht. Er sieht ziemlich gewöhnlich aus. Aber er hat Ehrgeiz und will zum Rand der Welt segeln.« Rantor sah sich den kleinen Mann genauer an. Ein Verrückter? Es musste mehr an dieser Geschichte sein, sonst würde der Herzog nicht dieses persönliche Interesse zeigen. Rantor machte sich keine Illusionen über seine vorgebliche Freundschaft mit Herzog Kyper, aber dieser kannte den Wert eines guten Steuermanns und würde nicht mit müßigen
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Scherzen Zeit vergeuden. Der Mann war offensichtlich nervös, von seiner Umgebung aber nicht eingeschüchtert. Trotz seiner leicht gebeugten Haltung und dem vorgeschobenen Kopf wirkte er entschlossen und selbstbewusst. Er musterte die beiden mit scharfem Blick, beinahe wie ein Kater, der einen Rivalen ins Auge fasst. »Euer Hoheit.« Er sprach mit leiser, aber fester Stimme, wie ein geduldiger Lehrer mit einem schwierigen Kind. »Ich weiß, dass Ihr zu scherzen beliebt. Aber Ihr Gast mag den Scherz nicht zu würdigen wissen. Wenn dies Euer berühmter Steuermann ist, dann lasst ihn bitte nicht denken, dass ich ein Idiot sei. Ich wünsche nicht den Rand der Welt zu finden. Ich deutete lediglich an, dass es einen Rand geben müsse.« Verblüfft über die unhöfliche Art, in der dieser Fremde den Herzog beinahe als seinesgleichen behandelte, blickte Rantor hilfesuchend zu Kyper. Der Herzog zeigte ein halbherziges Lächeln und zog eine Braue hoch. Verrückter oder Narr, der Fremde konnte sich offenbar so viele Freiheiten herausnehmen wie ein amtlicher Hofnarr. Aber – der Rand der Welt? Dem lag tatsächlich eine verrückte Vorstellung zugrunde, da jeder Schuljunge wusste, dass die Welt jenseits des Archipels unendlich und unveränderlich war, ein flacher Ozean, der sich gleichmäßig in alle Richtungen erstreckte. Der Herzog trat an einen Tisch und sagte: »Dieser respektlose Ausländer nennt sich Falk. Nicht wegen seiner körperlichen Attribute, wohlgemerkt, sondern weil er meint, wie ein am Himmel kreisender Vogel weiter zu sehen als alle anderen. Ich habe Hinweise auf seine besonderen Fähigkeiten, sonst würde er jetzt nicht bei uns sein.« Er wandte sich dem leicht gebeugten Mann zu. Ja, dachte Rantor, sein Auge gleicht mehr dem eines Adlers oder Falken als dem eines Katers. »Und dies, mein Freund Falk …« – die ironische Betonung des Wortes Freund war unverkennbar –, »ist tatsächlich Rantor, der beste Steuermann auf den Drei Inseln und darum zweifellos der beste im ganzen Archipel. Überzeugen Sie ihn, dass in Ihren Plänen mehr als Verrücktheit steckt, und meine Unterstützung ist Ihnen sicher.« Falks Verhalten änderte sich und wurde höflicher und untertäniger, als er seine Aufmerksamkeit dem Steuermann zuwandte. Rantor erkannte, dass es dem kleinen Mann schwerfiel, der es offensichtlich nicht gewohnt war, gegenüber
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einem anderen Menschen Untertänigkeit vorzutäuschen. Es musste ihm sehr viel an seiner Sache liegen, dass er den Steuermann für sich gewinnen wollte; es beeindruckte Rantor mehr als die Worte selbst. »Steuermann, ich bitte für meine Unhöflichkeit um Entschuldigung. Ich komme von einer fernen Insel und bin zivilisierte Umgangsformen nicht gewohnt. Auch habe ich viel Zeit und Mühe darauf gewendet, das Ohr des einzigen Mannes zu erreichen, der mir helfen kann, meinen Traum zu verwirklichen.« Meinte er den Herzog? Oder sich selbst? grübelte Rantor. Der Herzog war hier allmächtig. Doch wenn Falk sich auf den weiten Ozean hinauswagen wollte, konnte nicht einmal der Herzog ihm ohne die Billigung des Steuermanns helfen … »Es ist wahr. Ich glaube – aus sehr guten Gründen, versichere ich Ihnen –, dass unsere Welt endlich ist. Und ich glaube auch, dass unsere Welt mehr enthält als einen Archipel.« Ach so! Die Häresie der vielen Welten. Das erklärte das Interesse des Herzogs – und warum keine Beobachter an der Begegnung teilnahmen. »Aber nicht doch, guter Mann. Man lehrt uns, dass es nur einen Archipel gibt, von Gott in die Mitte des ewigen Ozeans gesetzt. Wenn unser Herr seinen Gästen nicht so großzügig geneigt wäre, könnten Sie sich für das Äußern solcher Häresie auf Unannehmlichkeiten gefasst machen.« Der Herzog lächelte. »Wie Sie wissen, Steuermann, haben in meiner Domäne alle das Recht, ihre Meinung frei zu äußern.« Aber die Domäne des Herzogs erstreckte sich, wie Rantor auch wusste, nur so weit wie seine Autorität und die Loyalität seiner Gefolgsleute. Es gab Priester, die vorgaben, loyal zum Herzog zu stehen, aber unverzüglich gegen jeden freimütigen Häretiker vorgehen würden, besonders wenn er Ausländer war. Angesichts einer Kirche, die in der Verwaltung der Drei Inseln untertänig sein mochte, ihre Tentakel aber durch den ganzen Archipel erstreckte und keinen Mangel an fanatischen Anhängern hatte, fehlte sogar Herzog Kyper die Macht, die Gesetze über religiöse Angelegenheiten zu ändern. Es war ein Wunder, dass dieser Mann unbehelligt den herzoglichen Machtbereich mit seiner vergleichsweise großzügigen Freiheit erreicht hatte. »Seine Hoheit der Herzog ist wahrhaftig ein großzügiger
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Gastgeber und ein Mann mit einem entschiedenen Sinn für Humor. Ihm ist auch bewusst, Steuermann, dass jemand von diesen Häresien profitieren wird, wenn etwas Wahres an ihnen ist. Ich habe kein Interesse an Reichtum für mich selbst. Als Mittel zum Zweck weiß ich seinen Wert natürlich zu schätzen. Aber mein Interesse gilt neuen Entdeckungen, dem Infragestellen alter Vorstellungen und der unvoreingenommenen Erforschung der Welt, in der wir leben. Ein Steuermann wie Sie, dessen Ruhm sich über den ganzen Archipel ausgebreitet hat, wird dafür sicherlich Verständnis und sogar ein eigenes Interesse aufbringen.« »Vielleicht.« Er blickte zum Herzog, um sich dessen Billigung zu vergewissern, und nahm sein leichtes Kopfnicken als Ermutigung. »Ich bin außer Sichtweite sogar der entferntesten Inseln gesegelt und habe treibende Äste und fliegende Vögel gesehen, die möglicherweise von jenseits des Archipels gekommen sind. Aber auf die Suche nach anderen Inseln, anderen Archipelen zu gehen, ohne über ein sicheres Mittel zur Rückkehr zu verfügen, ist mehr, als jeder tüchtige und verantwortungsbewusste Steuermann riskieren würde.« »Aber angenommen, es gäbe kein Risiko?« Nun kamen sie zum Zweck der Zusammenkunft und gegen seinen Willen fühlte Rantor, wie sich in seiner Brust Hoffnung regte. Es war der Traum jedes Steuermanns und obwohl die Chance seiner Verwirklichung winzig war, würden die Früchte des Erfolges so süß sein, dass jede Möglichkeit untersucht werden musste. Er war noch jung und hatte es schon weit gebracht. So weit, wie man es in seinem Beruf bringen konnte. Steuermann im Dienst des Herzogs Ky per. Was konnte er mehr verlangen? Und doch brannte in ihm noch eine Rastlosigkeit, ein Verlangen nach etwas – er wusste nicht, was es war. Jedenfalls etwas, das im Archipel nicht zu finden war, denn er hatte diese Inselwelt in allen Richtungen durchkreuzt und musste das noch finden, das ihm Frieden geben würde. »Sie haben ein Mittel, das sichere Navigation jenseits des Archipels ermöglicht?« Er machte eine Frage daraus, so entschlossen, sich nicht von falschen Hoffnungen überwältigen zu lassen, wie er begierig war, diese Hoffnungen erfüllt zu sehen. Aber der kleine Mann namens Falk hatte offensichtlich sogleich die wahre Reaktion des Steuermannes auf die bloße Andeutung solch einer Errungenschaft erkannt.
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Er lächelte. »Ein Steuermann, in der Tat. Wir wollen beide das Gleiche, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Und wir können beide unserem gnädigen Herrn dienen, während wir unseren eigenen Träumen folgen. Ja, Steuermann Rantor, ich habe ein Mittel, um jenseits des Archipels zu segeln und den Rückweg wieder zu finden. Wie weit wir segeln können und was wir finden mögen, kann nur Gott sagen.« Das Lächeln ließ erkennen, dass Falk mehr der Fähigkeit seiner selbst und eines menschlichen Steuermannes vertraute als den Launen Gottes. »Aber ich bin sicher, dass die Reise der Mühe wert sein wird, und mit der Erlaubnis unseres gnädigen Herrn werde ich es erklären.« Der Herzog nickte. »Unter der Voraussetzung, Steuermann, dass Ihnen nichts davon außerhalb dieser Wände über die Lippen kommt.«
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Statt bescheiden auf der harten hölzernen Bank vor dem Zimmer der Schwester Seniorin zu sitzen, kniete Elyse, obwohl das Holz schmerzhaft gegen ihre dünnen Knie drückte, damit sie aus dem Fenster sehen und mit gerecktem Hals die grauen Wolken betrachten konnte, die sich über den Himmel schoben. Warum war Schwester Seniorin so an Wolken interessiert? Die Prüfung war nicht so verlaufen, wie sie erwartet hatte. Schwester Seniorin und ihre zwei Gefährtinnen waren weitaus weniger furchterregend gewesen, als Ely se es sich vorgestellt hatte. Sie hatten gewünscht, dass sie die Prüfung bestehe, dass sie ein Talent habe, was für die Menschen von Nutzen sein konnte. Nun, natürlich waren sie daran interessiert. Sie wollten mehr Talente, um die älteren Schwestern zu ersetzen. Die Zahl der Schwestern, die im Gemeinschaftsbau lebten, war eher bescheiden, das sah jeder. Aber jeder konnte auch sehen, dass die Prüfung streng sein musste, um sicherzugehen, dass nur Schwestern mit wirklich wertvollen Talenten im Gemeinschaftsbau blieben. Ein nutzloses Talent, ganz gleich wie interessant es sein mochte, wurde besser der nächsten Generation in der Hoffnung geopfert, dass die Töchter der gescheiterten Novizin sich als von größerem Wert für das Volk erweisen würden. Woher sonst sollte schließlich die nächste Generation von Talenten kommen? Also musste die Prüfung streng sein. Sie musste gewissermaßen eine Tortur sein, egal wie sehr Schwester Seniorin wünschen mochte, die Zahl der Schwestern zu vergrößern. Nichts hatte Elyse auf die Möglichkeit vorbereitet, dass die Schwestern nicht nur eifrig, sondern geradezu verzweifelt bemüht waren, einen verborgenen Nutzen in ihrem armseligen Talent zu finden. Natürlich war das nicht offen ausgesprochen worden, noch hatten sie es auch nur angedeutet. Aber irgendwie hatte sie in den vergangenen paar Wochen gelernt, die Stimmungen und das allgemeine Klima, in denen
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sich eine wichtige Entscheidung vorbereitet, besser zu beurteilen. Die Schwestern waren tief besorgt über etwas. Und alles schien mit ihrer seltsamen Besessenheit von Wolken zusammenzuhängen. Die Schwestern wussten so gut wie sie, dass Holzrauch und Wolken verschiedenen Gesetzen gehorchten. Ein Talent, im Holzrauch Bilder zu sehen und zu deuten – Bilder, die nur sie wahrnehmen konnte –, war schwerlich geeignet, ihr irgendeine Kontrolle über Wolken zu verschaffen. Aber trotz des Fiaskos ihrer Bemühungen, irgendeine Nützlichkeit ihres Talents vorzuweisen, war sie beinahe zu glauben geneigt, dass die Schwestern sie im Gemeinschaftsbau behalten würden, einfach in der schwachen Hoffnung, dass sie aus ihrer Affinität zu Rauch eine Art Wolkentalent entwickeln könnte. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie wirklich eine Affinität zu Rauch hatte. In den letzten Wochen hatten die Träume sie weniger beunruhigt, weil sie angefangen hatte, ihr Talent in der erwachsenen Art und Weise zu gebrauchen, wie es sein sollte. Mit einem Feuer, das sorgsam mit grünen Zweigen genährt worden war, um mehr Rauch zu erzeugen, hatte sie beinahe gelernt, die Trance zu beherrschen, in der sich der aufsteigende graue Rauch kräuselte und ausbreitete, nicht ganz in Übereinstimmung mit ihrem Willen, aber im Widerhall zu etwas tief in ihrem Innern. Je grüner die Zweige, je näher sie dem lebenden Holz waren, desto klarer wurden die Bilder, hatte sie beobachtet. Solch ein Talent konnte von großem Wert sein, wenn sie es einsetzen konnte, um in die Zukunft zu blicken oder zu sehen, was in den Siedlungen weit im Osten und Westen geschah. Doch alles, was sie jemals zu sehen bekam, waren die großen Schiffe (und insbesondere ein Schiff) oder die fliegenden Menschen, oder (obwohl sie den Schwestern kein Wort davon sagte) das metallene Ei. Sie wusste, dass das Talent nutzlos war. Aber nun hatte sie endlich die wahre Macht eines Talents gefühlt, irgendeines Talents, und sie suchte eine Gelegenheit zu lernen, was es ihr sagen konnte. Schließlich hatte sie spät angefangen. Anders als die kleine Karyn, deren Talent mit vierzehn vollständig herausgebildet schien. Wenn Elyse eine Spätentwicklerin war, wer konnte sagen, welche Richtung ihr Talent in einem oder zwei Jahren noch nehmen würde? Aber die Regeln waren klar und unbeugsam. Nach nicht mehr als achtzehn Sommern mu sste eine Novizin entweder der
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Schwesternschaft beitreten oder eines Mannes Frau werden und jedes Talent ablegen, das sie besitzen mochte. Auf das Geräusch der hinter ihr geöffneten Tür hin wandte Ely se sich vom Fenster um, schwang rasch die Füße auf den Boden, strich das blaue Gewand glatt und faltete die Hände im Schoß. Kaum hatte sie den Blick niedergeschlagen, musste sie ihn wieder heben, weil sie beim Namen genannt wurde. Es war die Schwester Seniorin selbst. »Ely se.« Die Pause war bedeutsam. Im Gemeinschaftsbau wurden nur die Novizinnen mit dem Namen angeredet, den sie bei ihrer Geburt erhalten hatten. Wenn sie die Prüfung bestanden hatten, weil ihr Talent von irgendeinem Wert war, wurden sie für den Rest ihres Lebens als ›Schwester‹ angeredet. »Es tut mir leid, Kind. Wir können für dein Talent keine Verwendung finden. Komm jetzt mit mir. Ich werde dich zu den Besucherquartieren begleiten, wo du bleiben kannst, bis wir ein neues Heim für dich finden.« Die Besucherquartiere – wo die weiblichen Angehörigen jüngerer Novizinnen untergebracht wurden, wenn sie für ein paar Tage zu Besuch kamen. Sie hatte ihre Prüfung also nicht bestanden und war nun nicht einmal mehr eine Novizin. Nur eine Besucherin. Sie stand da, den Blick noch immer starr auf das Gesicht der Ältesten gerichtet. »Sofort, Schwester?« »Ja, Kind.« Sie wusste, dass es so sein musste. Durchgefallene Novizinnen kehrten nicht mehr in ihre bisherige Umgebung im Gemeinschaftsbau zurück. »Aber meine Sachen …« »Eine der Novizinnen wird sie dir bringen. Komm, Ely se. Schließlich kann die Entscheidung dich nicht allzu sehr überrascht haben.« »Nein, Schwester.« Aber das Eintreffen des Erwarteten konnte den Druck der Enttäuschung nicht von ihr nehmen, der sich auf sie gelegt hatte, als sie neben der Schwester Seniorin aus dem eigentlichen Gemeinschaftsbau unter dem grauen Himmel über den staubigen Hof zu den Besucherquartieren ging. Das ebenerdige hölzerne Gebäude, das aus nicht mehr als zwei Räumen bestand, lag unmittelbar am hohen Zaun und neben dem Tor. Die Worte der Ältesten gingen ungehört an ihr
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vorbei, als sie über den Hof gingen – etwas über ihre Verpflichtung gegenüber dem Volk, die Erziehung von Töchtern, die eines Tages vielleicht ihren Platz im Gemeinschaftsbau einnehmen würden, dass sie immer einen Ehrenplatz unter den Mitbürgern einnehmen würde. Am Eingang zu dem kleinen Gebäude riss der Strom der Worte ab. Schwester Seniorin streckte beide Hände aus, nah m Ely se bei den Schultern und küsste sie leicht auf beide Wangen. »Lebe wohl, Kind.« Dann machte sie kehrt und ging, ließ Elyse auf der Schwelle des Besucherquartiers zurück, wo ein junger Wächter stand und sie angrinste. Er öffnete die Tür, verbeugte sich tief und sagte: »Nimm es nicht zu schwer, Mädchen. Das Leben hat mehr zu bieten als den Gemeinschaftsbau, wie du bald sehen wirst. Und wenn dir der Bauernjunge nicht gefällt, den sie für dich ausgesucht haben, komm einfach hierher zurück und frag nach Rafe. Ich werde dir einen besseren Zeitvertreib zeigen, als all diese alten Schwestern je gesehen haben!« Wütend, mit hochroten Wangen, rauschte sie an ihm vorbei in den Raum und warf die Tür hinter sich zu, bevor er weitere Hilfe anbieten konnte. So früh! Noch innerhalb des Zaunes, wenn auch nicht mehr ganz im Gemeinschaftsbau, wurde ihr der Verlust ihres Ranges in so unverschämter Weise klargemacht. Nicht dass dieser Rafe es wagen würde, sie anzurühren. Das Leben als ein Wächter des Gemeinschaftsbaues war zu angenehm, um es aufs Spiel zu setzen, selbst wenn es nur sein Posten war, nicht sein Leben, den er wegen Belästigung einer durchgefallenen Novizin verlieren würde. Aber wenn sie noch eine Novizin wäre, geschweige denn eine Schwester, würden ihm solche Bemerkungen niemals über die Lippen gegangen sein. Und das trotz ihrer unauffälligen Kleidung und ihrer überschlanken Figur! Sie setzte sich hart auf das schmale Bett unter dem Fenster, atmete tief durch und beruhigte ihre turbulenten Gedanken. Welche Aussichten blieben ihr jetzt, mehr über ihr Talent zu lernen? Innerhalb einer Woche würde sie verheiratet sein. Und bis dahin blieb sie eine Gefangene in diesem Raum, mit dem Wächter als einzigem Gesprächspartner. Und nach der Hochzeitsnacht würde es zu spät sein.
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Zweimal hörte sie die Glocke läuten, während sie bewegungslos und ohne einen klaren Gedanken auf dem Bett saß. Irgendwo im Hintergrund ihres Denkens war ihr bewusst, dass sie nicht gegessen hatte und dass es bald dunkel sein würde. Aber was machte es aus? Ihr Leben war nicht mehr ihr eigenes; sie würde darauf warten, dass jemand ihr sagte, was zu tun sei, wohin sie zu gehen und wen sie zu heiraten habe. Nichts anderes hatte jetzt irgendeine Realität für sie. Auch das leise Klopfen an die Tür schien zuerst nichts mit ihr zu tun zu haben. Aber als es ein wenig lauter wiederholt wurde, regte sie sich endlich. »Herein.« Es war Karyn. Die kleine Karyn, die jüngste der Novizinnen, mit einem Bündel in den Händen, das nur Ely ses wenige Kleidungsstücke enthalten konnte. Sie hätten wenigstens eine schicken können, die mehr in ihrem Alter war und mit der sie reden konnte. Vielleicht war es die Idee einer Schwester, sie in ihre Schranken zu weisen, indem sie die jüngste Novizin auf einen lästigen Botengang schickte. Oder vielleicht war es ein bewusster Hinweis auf ihr eigenes kümmerliches Talent, dass sie die Novizin mit dem nützlichsten Talent, das seit einer Generation vorgekommen war, geschickt hatten. Was immer die Schwestern damit hatten ausdrücken wollen, die Schuld lag nicht bei Karyn selbst, die nervös umherblickend in der Türöffnung stand. Sie war nur ein Kind und ruhte sicher in ihrem Talent. Was konnte sie von Ely ses Verlust wissen? »Komm herein«, sagte sie mit mehr Wärme. »Du hast meine Sachen?« Sie nickte, kam näher und lud das Bündel auf dem Bett ab, als Elyse beiseite trat, um Platz zu machen. »Alles aus deiner Truhe. Kleider, Bürsten und so Zeug. Etwas Schmuck.« Ely se lachte. Nun, das war ein Vorteil, den das Verlassen des Gemeinschaftsbaues mit sich brachte. Sie konnte die hübschen Anstecknadeln und Ringe tragen, die sie hatte ablegen müssen, als sie Novizin geworden war. Einer plötzlichen Regung folgend, öffnete sie das Bündel, fand den kleinen Lederbeutel, der ihre billigen kleinen Schmuckgegenstände enthielt, und entleerte seinen Inhalt auf das Bett. Darunter war ein kleiner kupferfarbener Ring, zwei umeinander gedrehte Metallstränge, ihr Lieblingsschmuck, als
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auch sie ein Kind gewesen war. Sie hielt ihn Karyn hin. »Möchtest du ihn? Vielleicht wird er dich an mich erinnern, wenn du Schwester Seniorin bist und ich eine alte Frau mit Dutzenden von Enkeln bin.« Karyn schaute unsicher drein. »Ach, es ist schon in Ordnung, weißt du. Die Regel sagt, dass du keinen Schmuck zur Schau stellen darfst. Aber jede von uns hat ein paar hübsche Sachen, die sie anschauen kann, wenn sie allein ist.« Die Kleine nahm den Ring und erwiderte das Lächeln. »Und wenn deine Enkelinnen in den Gemeinschaftsbau kommen, werde ich ihnen den Ring zeigen und erzählen, wer ihn mir gab! Es wird wirklich nicht allzu schlimm sein, Elyse. Es tut mir leid, dass du nicht bei uns bleiben kannst. Aber mir gefiel es zu Haus auf dem Hof. Und auch dir wird es gefallen. Dort gibt es viel zu tun und man kommt herum und …« »Als Bäuerin und Hausfrau kommst du nicht sehr weit herum, nehme ich an. Die Küche, der Kuhstall, die Wäsche am Brunnenbecken. Da bleibt nicht viel Zeit, um in Feld und Wald herumzulaufen oder auf Bäume zu klettern.« Die Kleine war niedergeschlagen, rührend bemüht, Elyse zu helfen, dass sie die positive Seite ihrer Zukunft sah. »Aber Schwester Seniorin sagte …« Sie brach ab, wandte sich ein wenig zur Seite und hob die Hand zum Mund. Es war mehr diese Geste als die Worte, die Elyse aufmerken ließ. »Schwester Seniorin? Schickte sie dich zu mir?« Karyn nickte. Ely se schob das Häuflein ihrer Besitztümer beiseite und machte Platz für sie beide auf dem Bett. Dann nahm sie Karyn bei der Hand und ließ sie neben sich sitzen. »Und sie sagte dir, dass du mich mit einer Geschichte über das Leben auf dem Bauernhof aufmuntern solltest?« Die Kleine nickte wieder. Zorn erwachte in Elyses Brust. Sie kannte ihre Pflicht und wusste, welches Geschick sie erwartete. Sie brauchte kein unschuldiges Kind, um sich überzeugen zu lassen, dass das Leben auf dem Bauernhof wundervoll sei. Sie wusste, dass es nicht so war und sie würde es so oder so auf sich nehmen – aber es schmerzte sie, dass Schwester Seniorin so gering von ihr dachte, dass sie es für nötig hielt, sie auf diese Weise zu überreden. Ein Funke von Rebellion glomm in ihr auf. Wenn sie
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dachten, sie sei so unwürdig, warum sollte sie sich darum scheren, was sie wollten? Was konnten sie sich davon versprechen, dass sie Töchter mit unnützen Talenten wie ihrem eigenen zur Welt brachte? Wie, wenn sie doch wieder durch Wald und Feld streifen und auf Bäume klettern könnte? Aber zuerst würde sie weit, weit weg vom Gemeinschaftsbau sein müssen. Sie legte Karyn den Arm um die Schultern. »Vielleicht hat Schwester Seniorin Recht. Ich brauche wirklich jemanden, der mich daran erinnert, wie gut das Leben draußen sein kann. Schließlich bin ich vier Jahre hier drinnen gewesen und erinnere mich kaum noch an vieles andere. Du stammst aus den Östlichen Siedlungen, nicht?« »Ja, Elyse.« »Eine lange Reise.« »Ich bin mit einem Boot gekommen!« Bei der Erinnerung wurden die Augen des Mädchens groß. »Es dauerte fünf Tage!« »Bitte, Karyn, erzähl mir davon. Erzähl mir vom Bauernhof und den Leuten in deinem Dorf. Und von deinen Freundinnen und Bekannten. Sie müssen sehr stolz gewesen sein, als du für den Gemeinschaftsbau ausgewählt wurdest.« »O ja. Es gab ein Fest. Alle kamen – bis auf Gregor.« Der Glanz verlor sich aus ihren Augen. »Gregor?« »Mein Bruder. Viel älter als ich.« Karyn seufzte, dann lächelte sie über irgendeine glückliche Erinnerung. »Er nannte mich immer seine Lieblingsschwester. Manchmal durfte ich den Blasebalg für ihn treten. Er sagte, ich könnte der erste weibliche Schmied in den Siedlungen sein, wenn er zu alt und schwach sein würde, um die Arbeit zu tun.« Das Lächeln verschwand. »Er wollte nicht, dass ich wegging. Er sagte, es sei eine Verschwendung und ein Jammer, mich wegzuschicken. Er sagte, ich könnte mein Talent dort im Dorf gebrauchen, wie ich es immer getan hätte. Aber darin hatte er nicht Recht, nicht wahr, Elyse?« Sie blickte zu ihr auf und suchte Bestätigung. Das Gespräch entwickelte sich nicht ganz in der Richtung, die der Ältesten vorgeschwebt haben musste. Ely se nickte. »Natürlich. Du hast Recht getan. Im Gemeinschaftsbau kann dein Talent ausgebildet und entwickelt werden, um allen zu helfen, nicht bloß einem Dorf. Ich nehme
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an, dass auch dein Bruder das inzwischen erkannt haben wird. Und mit deinem besonderen Talent wirst du ganz sicher wieder hinaus zu den Siedlungen gehen müssen, sobald dein Noviziat beendet sein wird. Wenn du so alt bist wie ich, wirst du Gregor wiedersehen. Und vielleicht wirst du auch mich irgendwo dort draußen sehen. Erzähl mir von deiner Reise. Ich wurde hier in der Nähe geboren, weißt du, am Ufer des Kleinen Flusses. Den Großen Fluss habe ich nie gesehen, geschweige denn die Östlichen Siedlungen.« Aber, dachte sie, als Kary n zu erzählen begann, für alles gibt es ein erstes Mal. Aufmerksam lauschte sie der Geschichte und merkte sich die Namen von Menschen und Orten. Wenn sie auch sonst nicht viel aufzuweisen hatte, diese Fähigkeit war etwas, das sie mitnehmen würde, dank ihren Studienjahren im Gemeinschaftsbau unter der Anleitung der Schwester Tutorin und ihrer Vorgängerin. Sie wusste, dass sie eine gute Schülerin gewesen war, trotz der Nutzlosigkeit ihres Talents. Und jemand mit der Ausbildung, wie sie im Internat des Gemeinschaftsbaues geboten wurde, und sogar einem gewissen Talent, sollte imstande sein, sich als eine weise Frau zu etablieren, irgendwo dort draußen, fern vom Einfluss der Schwestern … Seit Falk dem Steuermann zum ersten Mal seine seltsamen Ideen umrissen hatte, hatte er in vielen weiteren Gesprächen seine Träume und Pläne ausführlicher dargestellt, bis Rantor beinahe selbst daran glaubte. Im Laufe dieser Gespräche hatte er Gefallen an dem kleinen Mann gefunden und bewunderte seine seltsame Genialität. Was immer bei dieser Mission herauskommen würde, die Drei Inseln würden nie wieder die gleichen sein, des war er sicher. Gleichwohl waren die Ideen so eigenartig und da er niemanden außer Falk hatte, mit dem er sie diskutieren konnte – und Falk war von seinen eigenen Ideen naturgemäß völlig überzeugt –, fragte sich Rantor manchmal, ob in den Gedankengängen des anderen Fehler sein mochten, die zu erkennen es ihm an Intelligenz mangelte, oder ob er sie überhaupt richtig verstand. Er hätte viel dafür gegeben, die seltsame Philosophie mit einem verständnisvollen und wohlgesinnten Priester zu erörtern – geriete er aber an den Falschen, so konnte es ihn das Leben kosten. Da er niemanden als sich selbst hatte, dem er diese Dinge anvertrauen konnte,
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wiederholte er in Gedanken das seltsame Weltbild Falks, als er mit raschen Schritten der Werkstatt zustrebte, wo er, wenn alles gutging, den Genius dieses Mannes am Werk sehen würde. Als Steuermann kannte Rantor sich mit Geometrie und Trigonometrie aus. Er wusste aus eigener Erfahrung und nicht bloß aus den Worten der Priester oder der Bücher – die sie so sorgsam hüteten, dass kein Außenstehender hineinsehen konnte –, dass die Sonne tatsächlich senkrecht auf jede Insel im Archipel herabschien. Natürlich hatte er niemals eine Neigung verspürt, Messungen zu machen, aber seine gesamten eigenen Erfahrungen sagten ihm, dass die Priester – und auch Falk – die Wahrheit sagten, wenn sie behaupteten, solche Messungen zeigten stets die Sonne genau im Zenit. Ein gewöhnlicher Mann mochte Schwierigkeiten haben, die darin liegende Implikation zu erfassen, doch Rantor verstand die Natur von parallelen Linien. Parallele Linien fanden nur in der Unendlichkeit zusammen. Wenn die Sonne in einer vernünftigen Entfernung über der flachen Ebene der Welt stand, dann würden sorgfältige Messungen und Triangulationen, dieselben Techniken, die zur Navigation gebraucht wurden, ihre Höhe über den Inseln ergeben. Denn wenn sie stets vertikal über jedem Punkt im Archipel zu stehen schien, musste sie in einer unendlichen Höhe über der flachen Welt sein. Soviel war klar. Aber was konnte aus der Beobachtung noch gefolgert werden? Er lächelte bei sich, als ihm der eine Anlass einfiel, als er Falk mit seinen Kenntnissen der Navigation beinahe in Schwierigkeiten gebracht hätte. Wenige Menschen konnten in Begriffen von drei Dimensionen denken, da sie auf einer flachen Ebene lebten. Aber der Steuermann hatte immer eine Vorliebe für abstrakte Mathematik gehabt. Und er hatte Falk darauf aufmerksam gemacht, dass einige Philosophen bemerkt hatten, die Sonne könne auch vertikal über jedem Punkt der Welt erscheinen, wenn diese die innere Oberfläche einer Hohlkugel bilde, in deren Mittelpunkt die Sonne sei. Zuerst war sogar Falk sprachlos gewesen, überwältigt von dieser neuartigen Vorstellung. Wenigstens die Mathematiker der Drei Inseln hatten ein paar Kniffe auf Lager, die sie ihm beibringen konnten! Dann aber, schnell von Begriff und scharfsinnig wie er war, hatte er den Fehler in diesem Weltbild erkannt. Wenn die Welt rund wäre, würde der Archipel in der unteren
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Krümmung wie in einem riesigen flachen Tal liegen. Alle Wasser der Welt würden sich dorthin ergießen und die Inseln vollständig überfluten. Die Sonne selbst würde vom Himmel fallen, weil sie der natürlichen Tendenz der Dinge folgen müsste, den tiefsten Punkt aufzusuchen. Es war bloß ein hübsches geometrisches Kunststück, in seinen Anwendungen ebenso unpraktisch wie Artemisios’ Theorem von Primzahlen, nicht bedeutungsvoller als die negative Quadratwurzel einer quadratischen Gleichung; ein schlauer Trick, mit dem man die Leute bei einer Tischgesellschaft verblüffen konnte. Tatsächlich musste die Sonne in unendlicher Entfernung sein, wenn dies die einzige Alternative war! Ein schönes Beispiel von der Doktrin der absurden Alternative – wenn zwei Alternativen angeblich dasselbe Problem lösen konnten, eine ›Lösung‹ aber offensichtlich absurd war, dann musste die zweite, so unwahrscheinlich sie in Alltagsbegriffen erscheinen mochte, die richtige Lösung sein. Die Priester lehrten natürlich, dass auch die Welt selbst von unendlicher Ausdehnung sein müsse, eine flache Ebene, die sich in alle Richtungen erstreckte, ein leerer Ozean, der den Archipel umgab. Dann diktierte die Logik, dass es nur einen Archipel geben dürfe, der von Gott als Heimat des Menschen geschaffen wurde. In einem unendlichen Ozean konnten prinzipiell unendlich viele Archipele mit unendlich vielen Lebensformen existieren. Dies war offensichtlich absurd. Also argumentierten die Logiker, dass es entweder viele Welten geben müsse oder dass der Archipel einzigartig sei, da die Tatsache ihrer Existenz beweise, dass der Archipel wirklich sei. Das mussten sogar Philosophen einsehen. Gäbe es eine unendliche Zahl von Archipelen, das heißt, viele Welten, würde der Mensch keinen besonderen Platz in der Schöpfung einnehmen und könnte nicht Gottes Werk repräsentieren. Darum, folgerten die Priester, gebe es nur einen Archipel. Nur Häretiker argumentierten anders. Aber Falk behauptete, dass die Lichter, die man von Zeit zu Zeit am Nachthimmel sehen konnte, andere Welten seien, wie die Welt des Archipels. Wenn es sich so verhielt, konnten sie nicht von unendlicher Ausdehnung sein, denn sonst würden sie den Himmel füllen und das Licht der Sonne verdecken, oder ihre unendlichen Ebenen würden die Ebene der Welt schneiden. Wenn es endliche Welten gab, Inseln im Himmel, dann konnte die Welt des Archipels gleichfalls endlich sein.
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Und in einem endlichen Ozean mochte eine endliche Zahl von Archipelen existieren, ohne dass die Unendlichkeitsprobleme entstanden, die Philosophen plagten und vernünftige Spekulation in Häresie umschlagen ließen. Rantor schüttelte den Kopf und murmelte wortlos vor sich hin, während er seinem Ziel entgegenstrebte. Für Falk schien es klar, dass eine Überschneidung unendlicher Welten den Bewohnern des Archipels offensichtlich sein würde, aber der Steuermann war nicht so sicher. In einer unendlichen Welt konnte eine unendliche Zahl anderer Welten ihre Ebene schneiden, und dennoch mochte die nächste Überschneidung unendlich weit vom Archipel entfernt sein. Und wenn die Lichter andere Welten waren, was hinderte sie daran, auf die Welt herabzufallen? Auch die Sonne könnte durchaus herabfallen. Bei unendlicher Entfernung konnte sie ewig fallen und würde dem Archipel doch nicht näher kommen. Aber andere Welten – endliche Welten –, die wie Teller im Himmel schwebten? Die Vorstellung machte ihn schwindeln. Er schob sie beiseite. Außerdem war sie von keiner praktischen Bedeutung. Niemand schlug vor, dass sie zu den Welten dieser Lichter im Himmel reisen sollten! Falks Plan war verrückt, aber nicht so verrückt. Wenn die Priester sich über die unendlichen Ausmaße der Welt irrten, argumentierte Falk, dann mochte auch ihre Lehre falsch sein, nach der es nur einen Archipel gab. Die Tatsache, dass der Archipel existierte, bewies, dass es in der Welt Inseln und Leben gab. Und wenn ein Archipel bestehen konnte, warum nicht andere? Die anderen Welten, die Falk suchte, waren nur (nur!) andere Archipele auf dem flachen Ozean der Welt. Rantor hatte seine Zweifel an dem Argument, obwohl er bereit war, ein vernünftiges Risiko auf sich zu nehmen, wenn eine gewisse Chance bestand, neue Inseln zu finden, mit denen man Handel treiben konnte. Auch war er durchaus bereit, jeden Ansatz zu einer Technik weiter zu verfolgen, die es erlauben würde, auf hoher See ohne Landsicht zu navigieren und den Rückweg zu finden, nicht nur den zum Archipel, sondern zu jeder Insel seiner Wahl. Das würde seinen Herrn, den Herzog, unvergleichlich reich machen, und etwas von dem Reichtum würde auf ihn abfärben. Und es würde eingeführte Techniken der Seekriegsführung über Nacht obsolet machen – wenn es funktionierte.
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Die Dunkelheit kam mit ihrer gewohnten Plötzlichkeit, obwohl man in rechtzeitiger Erwartung bereits ein paar rauchende Fackeln entzündet hatte. Das Nachtleuchten ließ es zwar nicht zu vollkommener Dunkelheit kommen, wie man sie in einem geschlossenen Raum erfahren würde, verbreitete aber kaum genug Licht, dass man mehr sehen konnte als die unbestimmten, schattenhaften Umrisse von Gebäuden und Bäumen. Vor ihm hob sich die Werkstatt, die man Falk für seine Arbeiten überlassen hatte, deutlich von ihrer Umgebung ab, denn sie war von experimentellen Gaslaternen beleuchtet, die Falk befähigten, bis weit in die Nacht hinein zu arbeiten, und der Grund dafür waren, dass man ihm dieses Gebäude zugewiesen hatte. Rantor runzelte die Stirn. Für einen wie ihn, der in Ausübung seines Gewerbes auf die Sicherheit eines hölzernen Schiffes angewiesen war, hatte Feuer nicht nur Vorteile. Hölzerne Wohn- und Lagerhäuser waren kaum weniger gefährdet. Zweifellos war es eine geniale Leistung der herzoglichen Handwerker und Ingenieure, diese praktische Verwendung von überschüssigem Mist aus der Landwirtschaft und den Latrinen und Trockenklosetts der Stadt zu entwickeln. Aber wenn sie mit dem natürlichen Gas mehr als ein paar Gebäude beleuchten wollten, würde es nicht mehr genug Dünger für die Felder geben. Nein, Gasbeleuchtung würde eine Technik bleiben, die nur für besondere Bedürfnisse gebraucht werden konnte. Und besondere Bedürfnisse hatten im Archipel im Allgemeinen mit Schiffen zu tun. Rantor war überzeugt, dass aus diesem Gas irgendwo und irgendwann nichts Gutes erwachsen würde. Aber einstweilen bedeutete es, dass er Falks Demonstration zu einer Zeit beiwohnen konnte, wo die meisten rechtschaffenen Bürger entweder zu Haus oder in einem gemütlichen Wirtshaus sein würden. Wenn die Sonne ausging, war es viel zu dunkel, um auf den Straßen herumzuwandern. Kurz bevor er das Gebäude betrat, hielt der Steuermann inne, beschattete die Augen und spähte aufwärts in die Dunkelheit, um vielleicht die fernen, schwachen Lichter zu Gesicht zu bekommen, die Falk so viel bedeuteten. Natürlich war es nutzlos. Seine Augen waren nicht der Dunkelheit angepasst, und selbst unter idealen Bedingungen, vom Deck eines Schiffes auf See, zeigten sich die Lichter niemals deutlicher als eine schwache Phosphoreszenz in der alles umfassenden Schwärze des Himmels. Falk erwartete ihn schon. Ungeduldig hantierte er mit der
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komplizierten Apparatur, die zwei Tische bedeckte und sich am Boden bis zum Ende der langen Galerie erstreckte. Seine beiden Assistenten standen nervös abseits. Rantor wusste, dass bewaffnete Wachen im Gebäude waren, aber ihm kam es allein auf Falk und sein seltsames Experiment an. Der kleine Mann richtete sich auf. »Sie sind allein gekommen, Steuermann?« »Wen sonst erwarteten Sie?« »Ich dachte … aber …« Rantor lächelte. »Ich habe die Autorität, Falk, keine Bange. Überzeugen Sie mich, dass Ihr Trick funktioniert, und unser Herr wird meiner Entscheidung nicht widersprechen. Er würde ein wertvolles Schiff ohne seinen besten Steuermann nicht für solch eine Reise riskieren, aber wenn der Steuermann die Technik gutheißt, dann wird das Schiff segeln.« »Ich denke, das genügt.« Falks scharfer Verstand hatte die Situation sofort richtig eingeschätzt. »Seine Hoheit der Herzog ist ein intelligenter Mann, aber er ist auch Verwalter und Soldat. Es sollte einfacher sein, einen praktisch denkenden Mann wie Sie zum Verständnis zu rühren, und dann …« Der Rest blieb ungesagt. So viel von seinem Leben hatte auf diesen Zeitpunkt hingeführt, dass Falk bei all seinem Verstand offenbar kaum eine Ahnung hatte, was als Nächstes geschehen würde. Auf einer Reise ins Unbekannte würde er sich dem Steuermann ausliefern. »Also, dies ist es.« Er zeigte auf die komplizierte Apparatur. »Sorgen Sie sich nicht wegen der Einzelheiten. Sehen Sie einfach zu.« Er gab den Assistenten mit einem Kopfnicken das Zeichen und einer trat zu einer Reihe großer Glaskrüge und hielt sich bereit, mit einer Kurbel etwas zu drehen, das wie eine kleine Winde aussah. Falk sprach weiter. »An diesem Ende des Raumes erzeugen wir einen künstlichen Blitz. Es ist früher schon bei Experimenten gelungen, Blitze zu erzeugen, aber nicht in diesem Maßstab. Aber dort …« – er zeigte die Galerie entlang – »ist etwas völlig Neues. Der Sensor. Wenn wir hier einen Blitz erzeugen«, erläuterte er und zeigte wieder auf die Hauptmasse der Apparatur, »reagiert der Sensor. Kommen Sie mit mir und sehen Sie selbst.« Rantor folgte Falk die Galerie entlang. Der Sensor sah viel einfacher aus als die Maschine zur Blitzerzeugung, was durchaus in Rantors Sinne war, denn dies war der Teil der
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gesamten Anlage, den er an Bord seines Schiffes nehmen sollte. Hervorstechendes Merkmal war ein Paar Metallkugeln, die ungefähr eine Daumenlänge Durchmesser hatten und einander fast berührten. Die gesamte Apparatur, Blitzmaschine und Sensor, schien unglaublich verschwenderisch mit Metall ausgestattet. Der Wert der Ausrüstung würde den seines Schiffes übersteigen. Der Umfang des herzoglichen Engagements und die Implikationen eines Scheiterns nach solch einer Investition erzeugten ihm ein Prickeln im Nacken. »Vielleicht können Sie die Blitzentladung in der Luft fühlen.« Also war es nicht Fu rcht! Der Steuermann lächelte über seine eigene Torheit. »Wir können beginnen. Beobachten Sie den Abstand zwischen den beiden Metallkugeln.« Falk hob die Hand und ließ sie in einem dramatischen, offensichtlich einstudierten Signal an seine Assistenten fallen. An einem Ende der Galerie begann der eine die kleine Winde zu drehen. Gleich darauf gab es einen Knall wie Donner. Trotz Falks Hinweis blickte Rantor zum anderen Ende des Raums, wo es geknallt hatte. Eine zuckend aufflammende Lichtentladung, von einem Blitz nicht zu unterscheiden, begleitete einen weiteren Knall, der offensichtlich auf irgendeine Weise durch das Drehen der Kurbel erzeugt wurde. Dann erinnerte er sich seiner Instruktion und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Apparat vor sich. Als die knallenden Entladungen andauerten, sah er, dass jede Entladung von winzigen Funken begleitet wurde, die von einer Metallkugel zur anderen übersprangen. Der Blitz am anderen Ende der Galerie wurde vom Sensor in Miniatur reproduziert! Falk hob wieder die Hand. Die knallenden Blitzentladungen hörten auf. Er zuckte die Achseln. »Mit dieser Ausrüstung können wir es nur kurze Zeit aufrechterhalten. Aber der Apparat in Originalgröße wird wirkungsvoller sein.« »Dies ist bloß ein Modell?« »Selbstverständlich. Ich habe die Absicht, die Originalausführung oben in der Burg zu bauen. Ihre Zustimmung und Seiner Hoheit Erlaubnis vorausgesetzt.« »Aber wie funktioniert es?« »Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Es hat mit dem zu tun, was ich das Gesetz der Gemeinsamkeiten nenne. Sie werden sehen, dass die Konstruktion des Sensors dem Muster des Blitzgenerators folgt. Die Morphologie ist entscheidend. Wenn
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im Generator die Entladung erfolgt, gibt es im Sensor eine Resonanz. Die Konstruktion muss vollkommen sein, aber wenn sie es ist, haben wir die Wirkung, die Sie sehen. Ich nenne es morphologische Resonanz.« Rantor war fasziniert. Er studierte die seltsame Gestaltung der kleinen Maschine vor sich, dann ging er die Galerie entlang, um das Bild in seiner Vorstellung mit der Struktur des Blitzgenerators zu vergleichen. »Und das ist alles?« »Nicht ganz. Der Sensor könnte nicht aus der Entfernung reagieren, selbst wenn es ein vollkommener Resonator wäre, ohne vorbereitet zu werden. Wenn er auf Empfang eingestellt wird, ist der Resonator in einem Spannungszustand, wo er beinahe bereit ist, seine eigenen Blitzfunken spontan zu erzeugen. Er hat das Potential, Funken zu erzeugen. Die Resonanz gibt nur die nötige Verstärkung.« Rantor achtete kaum auf die Worte. Als seine anfängliche Überraschung sich legte, begann er sich auf die Frage praktischer Anwendbarkeit zu konzentrieren. »Eine eindrucksvolle Vorführung, Falk. Sie haben nicht zu viel versprochen. Unser Herr wird erfreut sein. Aber wie beabsichtigen Sie die Apparatur zur Navigation zu gebrauchen?« Der kleine Mann lächelte. »Es ist wunderbar einfach, Steuermann. Früher, bei meinen Studien und Versuchen auf meiner Heimatinsel arbeitete ich in einem noch kleineren Maßstab als dem, den Sie hier sehen.« Wie und warum Falk seine Heimat verlassen hatte, musste Rantor noch entdecken, wenn es auch natürlich war, dass jemand mit einem Plan, der ihm Geld einbringen sollte, zu den Drei Inseln und dem Hof des Herzogs Kyper gehen würde. »Dabei entdeckte ich einen merkwürdigen Sachverhalt, eine Möglichkeit nämlich, den Resonator gegen die Blitzentladung abzuschirmen«, fuhr Falk fort. »Eine metallene Abschirmung – sie muss nicht aus festem Metall sein, ein Drahtgeflecht oder Sieb genügt –, die zwischen den Generator und den Sensor geschaltet wird, verhindert die Resonanz. Nun, mir scheint, dass ein Steuermann an Bord eines Schiffes auf See, der über einen Resonator und eine Abschirmung verfügt, nur die Abschirmung drehen muss, um festzustellen, auf welcher Seite des Sensors sie die Blitzentladung blockiert. Und das muss die Richtung sein, aus der die Resonanz kommt – der Weg nach Hause!«
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Er sah Rantor triumphierend an. Der Steuermann dachte über die Sache nach; er war weniger beeindruckt, als, wie es schien, Falk erwartet hatte. Es mochte funktionieren. Natürlich würde es auf dem Deck eines stampfenden und schlingernden Schiffes außer Landsicht anders aussehen. Aber immerhin, es mochte funktionieren. Man könnte sogar eine kleine kreisförmige Führungsschiene einbauen, auf der die Abschirmung bewegt werden konnte. Theoretisch ließ sich auf diese Weise der Heimathafen orten. »Metall unterbricht die … äh … Resonanz, sagten Sie?« Falk nickte. »Aber Stein nicht?« »Nein, Stein hat keinerlei abschirmende Wirkung.« »Also können wir den Generator sicher vor neugierigen Augen schützen. Gibt es eine Grenze der Resonanz?« Falk zuckte die Achseln. »Es ist an uns, das herauszufinden. Bevor ich hierher kam, arbeitete der Sensor mit einem kleineren Modell auf eine Distanz von siebenhundert Schritten, durch mehrere dazwischenstehende Häuser. Auf See – über größere Entfernungen – wer weiß?« »Aber selbst wenn es funktioniert, wie Sie hoffen, wie lang ist der Generator einsatzbereit? Wie kann der Steuermann auf See sicher sein, dass er das Si gnal zur rechten Zeit sucht?« »Ganz einfach. Wir wählen eine Zeit, die Irrtümer ausschließt – Tagesanbruch, vielleicht. Jeden Morgen bei Tagesanbruch läuft der Generator so lange wie möglich. Jeden Morgen bei Tagesanbruch hat der Steuermann seine Position. Danach braucht er nur noch den richtigen Kurs zu halten.« Der Steuermann lächelte. Das war leichter gesagt als getan. Man fragte sich, warum die Herzöge und Landesherren sich die Mühe machten, ihre Steuerleute zu verhätscheln, wenn es so einfach war. Tatsächlich würde die wirkungsvolle Anwendung dieses Tricks seine Fähigkeiten auf eine harte Probe stellen. Was natürlich ein Grund war, warum er die Aussicht darauf so verlockend fand. Rantor war es gewohnt, Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. Er schlug Falk auf die Schulter. »Wir werden feststellen, wie einfach oder wie schwierig es in der Praxis sein wird. Der Herzog hat mir ein neues Schiff zur Verfügung gestellt, die Far Trader. Zweidecker von sechzig Schritten Länge. Ich nehme an, Sie werden Ihren Sensor morgen an Bord schaffen können? Und dann werden
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wir sehen, was er kann.« »Morgen! Wieso, wir können jetzt anfangen – meine Assistenten wissen, was sie zu tun haben.« »Und sie können wie Katzen im Dunkeln sehen?«, fragte Rantor lachend. »Morgen wird früh genug sein, mein Freund, aber einstweilen weiß ich nicht weit von hier ein Wirtshaus, sogar meh r als ein Wirtshaus. Wenn Sie Lust haben, mir Gesellschaft zu leisten …?« Als er in die Dunkelheit der Straße hinaustrat, noch geblendet vom Gaslicht im Innern, stolperte Rantor und tastete nach der Wand, um Halt zu finden. »Verdammte Fackeln. Immer lassen sie einen im Stich, wenn man sie braucht! Falk, Ihr nächstes Projekt sollte dem Zweck dienen, Ihren Blitzgenerator so zu vervollkommnen, dass er ein gleichmäßiges Licht abgibt. Dann könnten wir …« Er fuhr herum, als er hinter ihnen ein Geräusch hörte, und seine Hand umfasste den Schwertgriff. »Halt! Hinter mich, Falk!« Idiot! schoss es Rantor durch den Kopf. Natürlich waren diese Fackeln noch nicht abgebrannt, in diesem Hafenviertel, das von der Wache des Herzogs patrouilliert wurde. Jemand hatte ihnen aufgelauert – jemand, dessen Augen genug Zeit gehabt hatten, sich der Dunkelheit anzupassen. Er zog das Schwert und wich zurück, als er merkte, dass er es mit drei – nein, vier – schattenhaften Gestalten zu tun hatte. »Im Namen des Herzogs! Ich bin der Steuermann Rantor. Wer mich oder meinen Gefährten verletzt, wird sich vor dem Herzog verantworten müssen.« Sicherlich konnte niemand so töricht sein. Rantor selbst stellte den wertvollsten Besitz des Herzogs dar. Kein rivalisierender Landesherr würde dem Steuermann etwas zu Leide tun oder ihn entführen. Mehrere mochten versucht sein, es zu tun, aber das würde dem Herzog einen Vorwand bieten, den Gegner zu zerschmettern, der töricht genug war, so etwas zu unternehmen. Er würde seine Gegenspieler einen nach dem anderen ausschalten, bevor sie sich gegen ihn zusammenschließen konnten. Alle kleineren souveränen Herren würden den Herzog in jeder Aktion unterstützen, die ihm zur Verteidigung des Steuermannes geboten schien. Ohne Navigation würde der Archipel in Barbarei zurücksinken. Zwei der Schattengestalten griffen von vorn an, zwei weitere von beiden Seiten. Berufsmäßige Banditen und
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Strolche. Vier gegen einen, da hatte er keine Chance, aber sie sollten wissen, dass sie ihn nicht billig bekommen konnten. Das Schwert stieß zu, traf auf eine andere Klinge, parierte und machte einen Ausfall gegen den zweiten Angreifer. Er fühlte den Stoß im Handgelenk, als sein Schwert Fleisch durchbohrte und an Knochen entlangfuhr. Doch ehe er die Waffe zurückziehen konnte, um erneut zuzustoßen, hatten zwei der mit Kapuzen verhüllten Gestalten ihn bei den Armen gepackt. Der Vierte hielt den entsetzten Falk, der sich während des Überfalls passiv verhalten hatte, mit der Schwertspitze an der Kehle in Schach. Erst jetzt, als einer der beiden Rantor die Hände band, sprach der andere. »Ich bitte um Entschuldigung, Steuermann. Wir haben nicht die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen, aber es scheint zweckdienlich, Sie für eine Weile auszuleihen. Wir suchen die Dienste Ihres Gefährten, dessen Aktivitäten für unseren Herrn von Interesse sind.« Der zweite Mann wandte seine Aufmerksamkeit dem verwundeten Kameraden zu, der an der Wand lehnte und sich mit einer Hand den Umhang gegen die Seite presste. Sie wechselten ein paar Worte, dann entfernte sich der Verwundete langsam in die Nacht. Er blieb nahe bei der Wand, an die er sich mit der freien Hand bei jedem zweiten Schritt stützte. Die anderen drängten Rantor und Falk zurück zum Eingang der Werkstatt, die blanken Schwerter in den Händen. Im Eingang zeichneten sich vor dem Licht aus dem Innern die Gestalten von zwei Wachen ab, die, vom Schwertgeklirr verspätet aufgerüttelt, sich nicht in die Dunkelheit hinauswagten. Derselbe Mann, offensichtlich der Anführer der Bande, ergriff wieder das Wort. »Wachen! Wir haben Ihren Steuermann, den hochgeschätzten Rantor, wie Sie sehen. Herzog Ky per würde sicherlich wünschen, dass solch einem wertvollen Diener kein Schaden zustößt! Lasst uns für ein paar Minuten ein und er wird unversehrt freigelassen.« Der Steuermann schäumte innerlich vor Wut. Er wusste, dass die Rechnung der Kapuzenmänner aufgehen würde. Kein Wachsoldat würde den Zorn des Herzogs riskieren, indem er zuließ, dass Rantor zu Schaden käme. Was immer ihre Befehle hinsichtlich Falks und seiner Experimente waren, die Wachen
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würden gegen die Entführer nur vorgehen, wenn für Rantor kein Risiko bestand. Nicht zum ersten Mal verwünschte er seine privilegierte Position. Im Innern der Werkstatt, entwaffnet, gebunden und mit kaltem Stahl an der Kehle, konnte er nur hilflos zusehen, wie der Anführer der Banditen die eindrucksvolle Anordnung der Apparate in Augenschein nahm, vor allem Falks Blitzgenerator am nahen Ende der Galerie. Unter der Drohung gezogener Waffen herrschte Stille im Raum, während die Eindringlinge ihrer Arbeit nachgingen. Draußen zeigten Hufgetrappel, Schnauben und das Knarren von Wagenachsen und Zuggeschirren an, dass die Banditen Verstärkung mit Transportmitteln bekommen hatten. Offenbar wollten sie den Generator mitnehmen. Es war nichts dagegen zu machen, es sei denn, die Wachen wären bereit gewesen, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Einen Moment dachte er daran, sich in ein Schwert zu stürzen. Wenn er tot wäre, würden die Wachsoldaten handeln müssen. Aber es war nicht zu leugnen, dass er mehr wert war als Falk und seine Apparatur, ganz abgesehen von seinem Widerwillen, sein eigenes Leben zu beenden. Aber vielleicht gab es einen Weg. Er riss die gebundenen Arme hoch und rief: »Falk!« In diesem Augenblick verstärkte die Dolchspitze seines Bewachers den Druck gegen seine Kehle und Blut rann ihm den Hals hinab. »Tun Sie, was sie befehlen!« Damit ließ er die gebundenen Arme wieder herabfallen. Der schmerzhafte Druck gegen seine Kehle ließ nach. »Oder Sie werden keinen neuen Morgen erleben. Verstehen Sie? Nehmen Sie Ihre Maschine und machen Sie davon Gebrauch, wie diese Leute es verlangen. Für unseren Herrn bin ich als Steuermann mehr wert als Sie und Ihr gesamtes Spielzeug. Ist alles noch an Ort und Stelle?« Der glänzende, wache Blick eines intelligenten Vogels war wieder in Falks Augen. Wie Rantor gehofft hatte, ging er zurück zum Generator und begann ihn demonstrativ zu untersuchen. »Ja, Steuermann, alles ist da. Alles betriebsfertig.« »Dann können wir gehen«, erklärte der Anführer der Bande. Zwei weitere Männer in Umhängen und Kapuzen waren hereingekommen. Er zeigte zum Generator und zu Falk. »Nehmt alles mit, ihn auch. Der brave Steuermann«, setzte er mit erhobener Stimme hinzu, den Blick auf die Wachen
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gerichtet, die aufgereiht an der Wand gegenüber standen, »bleibt eine Weile bei uns. Wenn niemand folgt, wird er freigelassen. Andernfalls kann Ihr Herzog einen anderen suchen, der seine Schiffe steuert.«
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Es war noch dunkel, als Elyse erwachte. Eine der nützlichen Fertigkeiten, die sie während ihrer Zeit als Novizin gelernt hatte, war die Fähigkeit aufzuwachen, wann sie wollte, zu der Zeit, die sie sich vor dem Einschlafen eingeprägt hatte. Diesmal war der Traum besonders lebendig gewesen – lebendiger als alle, seit sie angefangen hatte, mit dem Holzrauch zu arbeiten. Andererseits hatte sie in jüngster Zeit kaum Gelegenheit gehabt, in Ruhe mit dem Rauch zu arbeiten, da die Vorbereitungen auf ihre Prüfung und die Prüfung selbst ihr wenig Zeit gelassen hatten. Karyns Erzählung von ihrer Reise hierher, um im Gemeinschaftsbau ihr Noviziat zu beginnen, mochte dazu beigetragen haben und erklärte vielleicht die Lebendigkeit des Traums von einem großen Schiff. Allerdings war kein Schiff, das sie je gesehen hatte, und ganz gewiss nicht dasjenige, mit dem Karyn von den Östlichen Siedlungen gekommen war, so groß wie das Schiff ihrer Vision gewesen. Aber jetzt war keine Zeit, sich über die Bedeutung des Traums Gedanken zu machen, wenn er überhaupt eine Bedeutung gehabt hatte. Leise schlüpfte Ely se aus dem Bett. Sie war bereits voll angezogen bis auf Stiefel und Jacke. In dem kurzen Wams und der Hose, das Haar unter einer Mütze versteckt und mit der losen Jacke um die Schultern würde sie leicht für einen jungen Mann durchgehen, wenigstens im Halbdunkel der schlecht beleuchteten Straßen. Der größte Teil der Kleidung, die Karyn ihr am Vortag gebracht hatte, konnte zurückbleiben; nur ein paar Besitztümer steckten in dem Rucksack, den sie auf den Rücken schwang. Sie stellte die Schultergurte ein, bis er gut auf dem Rücken saß und ihre Bewegungsfreiheit nicht behinderte. Wichtiger als die Kleidung waren Zunderschwamm und Feuerstein, die gut eingewickelt im Rucksack ruhten. Diese beiden Dinge betrachtete sie mehr und mehr als die Werkzeuge ihres
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Talents. Nun brauchte sie nur noch zu verschwinden, ohne den Wächter aufmerksam zu machen, und weit genug zu kommen, um vor einer etwaigen, von den Schwestern organisierten Verfolgung sicher zu sein, bevor es hell wurde und die Morgenglocke zum Wecken läutete. Der Wächter – oder jedenfalls ein Wächter; sie vermutete, dass der andere inzwischen abgelöst worden war – war noch immer vor ihrer Tür und verhinderte jeden Kontakt mit den Bewohnerinnen des Gemeinschaftsbaus. Aber das Fenster, das sich auf eine kleine Fläche zwischen dem Holzhaus und dem Zaun öffnete, war unbewacht. Schließlich war dies kein Gefängnis. Sie wurde einfach wie jeder beliebige Besucher des Gemeinschaftsbaues behandelt und auf Armeslänge Distanz gehalten, außer wenn es um offizielle Geschäfte ging. Es war undenkbar, dass eine wie sie, die so lange unter der Autorität der Schwestern gelebt hatte, auf den Gedanken kommen würde, etwas anderes als das zu tun, was ihr gesagt wurde. Aber sie tat das Undenkbare, überstieg den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite ins Nachtdunkel hinab. Zu ihrer Linken konnte sie die dunkle Masse des Torturms ausmachen. Von dort führte der Weg in sanften Windungen abwärts zur Stadt Seahaven, einer Streusiedlung zu beiden Seiten des Kleinen Flusses. Jetzt, im Hochsommer, war die Luft sogar zu dieser späten Nachtstunde noch warm und trocken. Im Winter, wenn das Land abkühlte, zogen oft Wolken von den Weißen Bergen herüber und brachten leichten Regen und Nebel mit sich. Im Gemeinschaftsbau war dieser Gang der Jahreszeiten beinahe unbemerkt geblieben. Doch als sie sich vom Zaun entfernte und die leise Luftbewegung der Sommerbrise fühlte, kehrten Erinnerungen an ihr früheres Leben mit Macht zurück. Ja, mit dem Leben hatte es mehr auf sich, als man im Gemeinschaftsbau merkte. Und sie würde sich dieses Lebens erfreuen und ihr Talent bewahren, so lang sie konnte. Still wie ein Schatten entfernte sich die schmale Gestalt vom eingezäunten Bereich des Gemeinschaftsbaues den Hügel hinab nach Seahaven, ohne aber den breiten Fahrweg zu benutzen. Sie erkannte klar, dass man sie dort unten am Fluss als Erstes suchen würde. Darum hielt sie ein wenig nach Osten, um der Stadt und dem Fluss im Umkreis von Seahaven auszuweichen. Was sie brauchte, war ein Fischerdorf, eine kleine Gemeinde, wo sich vielleicht jemand finden ließ, der
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sie an der Mündung des Großen Flusses vorbei und weiter zu den Östlichen Siedlungen bringen würde. Ohne Boot gab es keine Möglichkeit, den Großen Fluss zu überqueren, und sie hatte für die Überfahrt nichts Materielles zu bieten. Aber vielleicht konnte sie solch einem Fischerdorf von Nutzen sein. Die Idee hatte in ihr Fuß gefasst und sich entwickelt, seit sie ihre Entscheidung getroffen hatte, genährt durch die vorsichtigen Fragen, die sie Karyn gestellt hatte, und ihre eigenen Erinnerungen an die Boote, die sie gesehen hatte, in denen sie als Mädchen aber nie gereist war. Alle Boote, die sie aus der Realität kannte, große oder kleine, trugen die gleiche Art von Rahsegel, das an einem Mast in der Mitte des Fahrzeugs aufgezogen wurde. Aber die Boote ihrer Vision und besonders das Schiff waren anders getakelt. Und sie glaubte nach längeren Überlegungen zu wissen, warum es so war. Zuerst brauchte sie ein Versteck, wo sie den Tag verbringen konnte. Eines der landeinwärts liegenden Gehölze würde ideal sein. Dann musste sie ein Feuer machen; aber das konnte bis zum Abend warten. Und morgen … »O ja, Euer Hoheit, ich bin ziemlich sicher.« Unfähig, an sich zu halten, schritt der Steuermann ungeduldig im großen Raum auf und ab und schlug sich mit den Handschuhen, die er in der Rechten hielt, bei jedem Schritt an den Oberschenkel. Er war der Insubordination gefährlich nahe, aber der Herzog musste ihm Handlungsfreiheit gewähren. Er hatte absichtlich den Feigling gespielt, weil er plante, Falk und seine Blitzmaschine zu retten und den Entführern im Namen des Herrschers der Drei Inseln einen Schlag zu versetzen. Wenn Herzog Kypers Vorsicht ihn daran hinderte, etwas zu unternehmen, würde die Geschichte, dass er einen in seiner Obhut stehenden Bediensteten im Stich gelassen hatte, bald die Runde unter den Seefahrern der Welt machen. Er blieb vor dem Schreibtisch des Herzogs stehen, stützte sich mit den flachen Händen ungeniert auf die Oberfläche und blickte Kyper ins Auge. »Es waren Ballastres Leute. Ich kenne ihr Schiff und kann Falk finden. Er wird öffentlich gegen die gewaltsame Entführung protestieren und Ihr werdet die Möglichkeit haben, gegen Ballastre vorzugehen. Niemand wird es Euch verdenken, weder Falco noch Langan. Ihr werdet erwiesenermaßen im Recht sein.« »Und wenn Sie Falk nicht finden können, Ballastre aber entdeckt, dass Sie sich in seiner Domäne herumtreiben, wird er
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berechtigten Anlass zur Klage gegen mich haben. Falco und Langan werden sich auf seine Seite stellen; vielleicht auch andere, während die kleineren Inseln sich zurückhalten werden.« »Aber wenn Ihr nichts unternehmt? Diesmal habt Ihr wenig verloren. Die Maschine ist wahrscheinlich wertlos; Falk ist ein Dummkopf – Ihr sagtet es selbst. Aber wenn sich herumspricht, dass Piraten von einem Schiff Ballastres sich am Eigentum des Herzogs Kyper mitten in seinem eigenen Hafen vergreifen können?« Forschend musterte der Herzog seinen Steuermann. »Dann sind Sie so sicher, dass Falk und sein Spielzeug wertlos sind?« Unter diesem durchdringenden Blick wurde Rantor unsicher. »Hoheit, ich …« »Und Sie würden solche Risiken allein um der Ehre der Drei Inseln und Ihrer selbst auf sich nehmen?« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Rantor triumphierte. Der Herzog mochte ihn aufziehen, aber er würde zustimmen! »Wie viele Männer brauchen Sie?« »Höchstens fünf doppelte Hände. Das neue Schiff, die Far Trader, und die beiden Assistenten, die bei Falk gelernt hatten.« »Und Ihr Plan?« Er schüttelte den Kopf. »Vergebt mir, Hoheit. Ich fürchte, dass es Spione in unserer Mitte gibt. Wie sonst hätten diese Piraten wissen können, wo und wann sie zuschlagen mussten? Aber ich bitte Euch, habt Vertrauen; in einem oder vielleicht zwei Fünftagen werde ich Euch Falk zurückbringen und gerechten Anlass geben, gegen Ballastre loszuschlagen. Danach wird keine Insel es wagen, Euch zu verärgern.« Die Far Trader glitt langsam auf den Strand zu. Die Segel waren gerefft und das Schiff bewegte sich nur unter leisen Ruderschlägen. Um diese Zeit, kurz vor Morgengrauen, wehte ablandiger Wind. Dabei würde es noch für einige Zeit nach Sonnenaufgang bleiben, ideal für ihre Flucht. Nachdem er sechs Tage in der Dunkelheit vor diesen Küsten und weiter draußen auf See gekreuzt hatte, war dem Steuermann der mutmaßliche Aufenthaltsort Falks ziemlich klar. Die in der Kajüte unter Deck verbrachten Stunden schienen sich ausgezahlt zu haben, aber seine Besatzung wusste nur, dass er
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die benötigte Information hatte. In der Mannschaft ging das Gerücht um, er habe einen Spion im feindlichen Lager. Er hatte das Gerücht nicht dementiert und sogar gefördert, und seine offensichtliche Zuversicht hatte den Glauben sowohl an das Gerücht als auch an sich selbst ermutigt. Ballastre hatte, wenn Rantors Vermutung zutraf, einen guten Aufenthaltsort für seinen Gefangenen gewählt, wo dieser seiner Arbeit nachgehen konnte. Der isolierte Wachtturm war weit genug von der Stadt entfernt, dass unglückliche Ereignisse keinen Schaden anrichten würden. Rantor erinnerte sich verschiedener Missgeschicke in den frühen Experimenten mit der Gasbeleuchtung und billigte solche Vorsicht. Der Turm war auch weit vom Hafen und von diesem nur über einen steilen Pfad zu erreichen. Kein Angriff aus dieser Richtung konnte die Garnison überrumpeln. Er war jedoch aus einer anderen Richtung verwundbar. Ein kleiner Trupp, der in der Bucht hinter dem Vorgebirge der Halbinsel an Land ging, konnte sich dem Turm von hinten nähern – wenn er mit gutem Grund annehmen konnte, dass Falks Aktivitäten jetzt dort ihren Fortgang nahmen. Ballastre hatte alles getan, um sicherzugehen, dass keine Andeutung von diesen Aktivitäten durchgesickert war. Aber ihm stand eine Überraschung bevor. »Das genügt«, sagte Rantor leise, aber ohne zu flüstern. Der Kapitän nickte und erteilte den notwendigen Befehl mit ebenso ruhiger Stimme. Die Befehlskette war durch lange Praxis festgelegt und klar. Der Steuermann entschied, was zu tun und welcher Kurs wann einzuschlagen war. Der Kapitän entschied, wie es zu machen war, und befehligte das Schiff. Wenn ein Steuermann das Unmögliche verlangte oder einen Kurs nehmen wollte, der sein Schiff in Gefahr bringen würde, konnte der Kapitän sich weigern und seine Entscheidung später vor dem Herzog rechtfertigen. Aber das kam so gut wie nie vor. Steuerleute gelangten nicht in ihre Position, indem sie unnötige Risiken eingingen. Ein Heckanker hielt das Schiff, dessen Bug in der leichten Brise seewärts zeigte. Zwei Boote wurden vorsichtig zu Wasser gelassen. »Los!« Die vollbesetzten Boote legten ab und ruderten zum Ufer. Rantor ließ zwei Mann zu ihrer Bewachung zurück und führte die übrigen fünfzehn den Hang hinauf zum Turm. Ungefähr hundert Schritte vor dem Ziel hielten sie im Schutz eines kleinen Gehölzes. Gesträuch bedeckte den Boden zwischen den Bäumen und dem
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Wachtturm. Nachlässige Arbeit, dachte Rantor, als er einen Zugang erkundete. Niemand hatte daran gedacht, die Büsche zu roden und damit möglichen Angreifern die Deckung zu nehmen. Er winkte zwei Bogenschützen und zwei Männer mit zusammengerollten Seilen über den Schultern zu sich und wies ihnen den Weg von Deckung zu Deckung. Dann zeigte er zur Spitze des Turmes hinauf, zehn Klafter über ihren Köpfen. Die Vier nickten und verschwanden rasch in der Dunkelheit und den Büschen. Dem Geräusch von zwei Enterhaken, die sich am zinnenbewehrten Umgang des Turmes festbissen, folgte das Schwirren von zwei Bogensehnen und ein erstickter Aufschrei, als die vom metallischen Klirren und Kratzen der Enterhaken angelockten Wachtposten vom Umgang geschossen wurden. Rantor winkte seine Leute vorwärts, rannte an ihrer Spitze zum Turm und begann rasch eines der Seile zu erklettern. Es war eine müde, schmutzige, hungrige und schrecklich durstige Ely se, die am nächsten Morgen ins Dorf stolperte. Aber in ihr brannte ein Feuer; der Rauch hatte sich wie nie zuvor ihrem Willen gefügt und brachte ihr Bilder von dem großen Schiff auf See, wie es die Wellen durchschnitt. Sie konnte sich noch im wachen Zustand an die Art und Weise erinnern, wie die Segel und die Takelage angeordnet waren. In ihrer Trance hatte sie beinahe das Gefühl gehabt, sie könne den Wind fühlen, der die Segel blähte, und das Rauschen und Klatschen des schäumenden Wassers unter dem Bug. Aber auf diese Einzelheiten kam es nicht an. Es kam darauf an, dass sie sicher war, Recht zu haben. Dass dies ein wirkliches Schiff war, das irgendwo einen wirklichen Ozean mit Hilfe eines wirklichen Windes befuhr, in einer seltsamen Welt von Inseln, wohin es gehörte. Und wenn das Schiff wirklich existierte, dann würde ihre Idee die beabsichtigte Wirkung haben. Das Dorf bestand aus einer Ansammlung von Blockhütten um einen Anger in einiger Entfernung vom Ufer. Dünne Rauchfäden stiegen aus den Abzugslöchern in den Dächern; Hühner scharrten im Staub. Ein Stück weiter, direkt am Flussufer, standen drei noch primitivere Hütten, behängt mit Netzen, Seilen, Schwimmkörpern und anderen Ausrüstungsgegenständen. Mehrere Männer arbeiteten am Gerät oder flickten Netze. Ely se umging die Häuser und Hütten des Dorfes und steuerte ihr Ziel vom Ufer her an.
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Dort lehnte sie eine Weile an einem hölzernen Steg und betrachtete aufmerksam die Reihe der kleinen Fischerboote am Strand. Die meisten lagen kieloben auf dem Sand, die flachen, außen gerundeten Böden zerkratzt von den vielen Malen, die sie aus dem Wasser auf den Strand gezogen oder wieder hinunter ins Wasser geschoben worden waren. Zwei Boote lagen mit aufgerichteten Masten am Ufer im Wasser. Elyse lächelte. Bei einem der beiden war das einzige Segel bereits an der – wie nannte man es? – Rah? – befestigt, die quer über dem Boot lag, bereit zum Aufziehen. Wer immer Eigentümer dieses Bootes war, verschwendete keine Zeit. Wahrscheinlich war er in dieser kleinen Gemeinde tonangebend, eine Art Anführer. Die Ausbildung im Internat gab ihr Zuversicht in ihrer Entscheidung. Sie setzte sich entschlossen in Bewegung, befeuchtete sich aber die trockenen Lippen, denn das Boot war beinahe zum Auslaufen bereit, und die beiden Männer – nein, ein Mann und ein Junge – waren dabei, die letzten Handgriffe zu tun. Der Mann war groß, bärtig und von der Sonne gebräunt. Er hantierte mit Fischernetzen und Leinen und geruhte nicht aufzublicken, als sie näher kam, während der Junge die Arbeit einstellte und sie wie eine Erscheinung angaffte. »Na, was haben wir denn da?« Der bärtige Mann sagte es ohne aufzusehen und ohne in seiner Arbeit am Netz innezuhalten. »Wenn Sie bitte …« Ely se brach ab. Ihre heisere Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern. Der Fischer blickte auf, sah ihre ungepflegte Erscheinung, die Schmierer von Holzkohlenasche im Gesicht und an den Händen. »Hol Wasser, Jak.« Der Junge wandte sich um und lief hinüber zur nächsten Hütte, wo sich eine kleine Gruppe von Männern versammelt hatte, die zu Elyse herüberstarrten. »Setz dich, Junge. Es eilt nicht. Bist von weit her gekommen?« Sie nickte. Je weiter er dachte, desto besser – und er hatte sie ›Junge‹ genannt. Sie setzte sich auf die rohe, altersgraue Holzkiste, auf die er gezeigt hatte, und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, um die Falten der Jacke so lose wie möglich um ihren Körper zu halten. »Flussaufwärts?«
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Sie nickte wieder, gerade als Jak mit Wasser in einem hölzernen Becher zurückkam. Sie nahm ihn ihm aus der Hand, lächelte dankbar und trank gierig. Dann wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken und schmierte dabei mehr Staub und Holzkohlenruß darüber. Je weniger deutlich die Erinnerung sein würde, die dieser Fischer von ihrem Gesicht bewahrte, desto besser. »Danke.« Sie reichte den Becher dem Jungen zurück. Der Fischer beugte sich wieder über seine Arbeit. Anscheinend übernahm er gern die Führung ihres Gesprächs und sie war froh darüber. Auch hier kam ihr die Ausbildung wieder zustatten: in Verhandlungen war es zweckmäßig, den anderen so viel wie möglich reden zu lassen und aus seinen Bemerkungen alles zu lernen, was man konnte. Sie hatte bereits gelernt, dass diese Gemeinde nicht allzu überrascht war, Besuch von zerzausten Fremdlingen aus den flussaufwärts gelegenen Gegenden zu erhalten, und indem sie sich ruhig verhielt, hatte sie jetzt die Anfänge eines einleuchtenden Hintergrunds beisammen, der überzeugender war als jede Geschichte, die sie sich hätte ausdenken können. »Wir sehen hier unten nicht viele Leute vom Oberlauf. Was bringt dich hierher?« »Ich bin unterwegs zu den Östlichen Siedlungen. Verwandte besuchen. Gregor, den Schmied.« Der Mann nahm seine Zähne zu Hilfe, um einen Knoten festzuziehen, dann legte er das Netz beiseite und musterte sie wieder. »Ja. Das wird die Dürre sein, kein Zweifel. Hast nicht viel Fleisch auf den Knochen, aber deine Leute werden bestimmt besser durchkommen, wenn sie einen Mund weniger zu füttern haben.« »Die Dürre?« Er lächelte und streckte den Arm aus, um ihr das Knie zu tätscheln. »Wir mögen nicht viele Besucher vom Oberlauf zu sehen bekommen, aber Nachrichten sind schneller als jeder Mensch. Und dass die Dürre im ganzen Land schlimm genug ist, wirst du auch gehört haben. Ich hoffe, dein Vetter der Schmied hat genug zu essen für dich – nun, habe ich deinen Namen nicht mitgekriegt?« »Aly n.« »Und ich bin Nathan.« Er streckte ihr die Hand hin, die sie so kräftig drückte, wie sie konnte. »Und Jak kennst du schon,
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und dies«, sagte er und klopfte an die Bordwand des Bootes, »ist Merry. Wir alle würden lustiger sein, wenn die Fänge besser wären.« Er lachte laut über den kleinen Scherz, während sie unsicher lächelte und sich fragte, welche Wendung dieses Gespräch nehmen würde. Sie verhielt sich abwartend, was er angesichts ihrer Jugend für Schüchternheit oder Zaghaftigkeit nehmen würde. »In den Siedlungen gibt es genug zu essen. An den Ufern des Großen Flusses herrscht keine Dürre.« Er nickte. »Kann ich mir denken.« Es folgte eine Pause, während er seinen Überlegungen nachhing. »Also bist du Alyn, vom Oberlauf des Flusses, unterwegs, deinen Vetter Gregor den Schmied in den Östlichen Siedlungen zu besuchen.« Sie nickte wieder. »Ohne ein Boot wirst du nicht hinkommen.« Aha! Darauf hatte er hingearbeitet. »Darum bin ich hier.« »Und warum kommst du zu Nathan und der Merry? Dort gibt es gute Seeleute«, sagte er und deutete mit einem Nicken zu den Hütten, »an denen du vorbeigegangen bist, ohne auch nur guten Tag zu sagen. Nicht dass einer von ihnen leugnen würde, wer der beste Seefahrer hier herum ist. Aber wer hat es dir gesagt?« »Sie sagten es mir selbst.« Er sah sie überrascht an, wartete aber auf ihre Erklärung. »Welches Boot ist bereit zum Auslaufen? Wer ist bereits fertig mit der Arbeit an den Netzen, während die anderen wie alte Frauen schwatzen?« Er lachte laut und schlug ihr auf den Rücken. »Hast scharfe Augen, Junge. Und einen klaren Verstand, kein Zweifel. Vielleicht wirst du in den Siedlungen deinen Mann stehen.« Er wandte den Kopf und blickte zu der Gruppe bei den Hütten und beantwortete die zum Gruß schlaff angehobenen Hände mit einem Kopfnicken. Es war klar, dass er sich im Ort einer gewissen Wertschätzung erfreute und dass sie ihn bei seiner Befragung des Fremdlings nicht stören würden. Wieder schwieg er eine Weile und überlegte. Dann hob er den Kopf und blickte hinaus zur See. »Zwei Tage, bei gutem Wind«, sagte er mit halblauter Stimme, mehr zu sich selbst. »Und zwei Tage zurück. In vier Tagen kann man eine Menge Fische fangen, selbst wenn sie sich rar machen.«
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»Ich kann nicht bezahlen.« »Denke ich mir. Wer zahlen kann, wird drüben in Seahaven sein.« »Aber ich habe etwas … Ich habe eine Idee … Das heißt, ich glaube, ich weiß eine Möglichkeit …« Nun, da sie es in Worte fasste, klang es so albern, dass sie ins Stocken kam. Ein alter, erfahrener Seemann wie dieser Nathan, der viele Sommer auf dem Rücken hatte und alles über den Fluss und das Meer und die Winde wusste. Wie konnte sie ihn überzeugen, dass sie vom Segeln mehr verstand als er? Aber es hatte keinen Sinn, wenn sie jetzt zögerte und zagte. Ihre Ausbildung sagte ihr, dass sie zuversichtlich sein musste, und wenn sie auch an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelte, durfte sie anderen keinen Raum für Zweifel lassen. Er schaute nicht mehr zur See hinaus. Sie spürte, wie sein Blick auf ihrem gesenkten Kopf ruhte. Sie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Ich weiß eine Möglichkeit, wie Ihr Boot besser segeln kann.« »Besser?« »Anders. Auch gegen den Wind.« »Nun, das wäre ein hübscher Trick.« Das laute Lachen kam wieder. »Bestimmt vier Tage Fischfang wert. Und wie kommt es, dass du solch einen Trick kennst, oben am Fluss, wo man überhaupt nicht segelt?« Das war es. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Entweder hörte er sie wenigstens an, oder sie konnte sich noch an diesem Tag auf den Rückweg zu den Schwestern machen. »Wissen aus dem Gemeinschaftsbau der Schwestern.« »Der Schwestern?« Er beugte sich näher, plötzlich ernst, und kam zu einer augenblicklichen Entscheidung. »Jak, Junge, lauf nach Haus und sag deiner Mutter, dass wir einen Gast haben.« Er stand auf, blickte umher, als Jak davonrannte, nickte der Gruppe von Fischern bei der Hütte zu. Darauf wandte er sich um, blickte auf die See hinaus und schüttelte den Kopf. »Mir gefällt sowieso nicht, wie das Wetter aussieht.« Verwundert folgte Elyse seinem Blick hinaus über die blaue See, wo Vögel unter ein paar weißen Quellwolken kreisten. Nathan reckte die Arme über den Kopf, wandte sich wieder zu ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. »Heute kein Fischfang.« Er stand einen Moment lang schweigend und blickte auf sie nieder, wo sie noch auf der Kiste saß. »Was
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weißt du von den Hexen, Junge?« Hexen! Einen Augenblick war Ely se nahe daran, alles mit einer zornigen Erwiderung zu verderben. Die Schwestern waren keine Hexen! Aber sie erinnerte sich, dass die Bezeichnung verbreitet war, zumindest in ihrer Kindheit, auch wenn sie sie in den letzten vier Sommern nicht gehört hatte. Außerdem, sagte sie sich, zeigte der Ausdruck einen erfreulichen Mangel an Ehrfurcht, der ihr unter den gegenwärtigen Umständen nur willkommen sein konnte. »Ich habe eine Schwester. Eine Novizin im Gemeinschaftsbau. Und meine Mutter«, improvisierte Elyse aufs Geratewohl, »war auch einmal eine Novizin.« »Also hast du wirklich Wissen von dort, Junge? Ein Geschenk von deiner Mutter, mit dem du die Reise nach dem Osten bezahlen kannst … Nun ja, ich habe seltsamere Geschichten gehört. Und in dein em Körper ist Hexenblut.« Sie fühlte Röte in ihre Wangen steigen und ließ schweigend den Kopf hängen. »Na, besser, du erzählst es Nathan als irgendwelchen anderen, die ich nennen könnte. Und besser sprechen wir nicht mehr darüber, solange du mein Gast bist. Wir zahlen unsere Abgaben an die Schwestern und befolgen das Gesetz, so arm wir auch sind. Aber die Zeiten sind hart, und viele denken, dass die Hexen die Not der Menschen teilen könnten, statt die Abgaben mit jedem Jahr zu erhöhen. Wissen, das der Fischerei nützt, nun, das würde nicht mehr als recht und billig sein. Aber wird mir dieses Wissen helfen, Fische zu fangen?« Sie stand auf. »Es wird Ihrem Boot erlauben, gegen den Wind zu segeln. Wenn Ihnen das helfen kann, mehr Fische zu fangen, dann wird es nützlich sein.« »Hexerei. Aber wenn es klappt, gute Bezahlung für eine viertägige Reise. Komm.« Und ohne auf ihre Antwort zu warten, schritt er über den Strand davon in die Richtung, die der Junge vorher genommen hatte. Als es Nacht wurde, war sie am Verzweifeln. Alle waren gut zu ihr gewesen. Sie hatte gut zu essen bekommen, war nicht mehr durstig und einigermaßen sauber. Aber Nathan weigerte sich, ihr ›Wissen‹ zu akzeptieren. Sie hatte mit einem Stecken in den Sand gezeichnet und sich heiser geredet, um die Bedeutung des flachen, dreieckigen Segels zu erklären, das mit zwei Enden am Mast und mit dem dritten an einem langen
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Bugsprit befestigt war, der über den Bug des Bootes nach vorn ragte. Er hatte einfach den Kopf geschüttelt und in seiner entschiedenen Art wiederholt, dass solch ein seitwärts stehendes Segel ein Boot nicht gegen den Wind bewegen könne, sondern nur bewirken wü rde, dass es seitwärts durch das Wasser getrieben wurde. Es war nicht hilfreich, dass sie offensichtlich nichts von der Seemannssprache wusste und nicht einmal die Namen der Dinge kannte, die sie ihm zu beschreiben suchte. Was, fragte er ganz vernünftig, sollte das Boot daran hindern, seitwärts durch das Wasser zu gleiten, wenn der Wind von der Seite wehte? Er wollte auch nichts von der Idee wissen, eine derartige Takelung versuchsweise für die Merry zu bauen, weil es bloße Zeitverschwendung sein würde. Und er machte deutlich, dass er zwar niemals einen Gast von seiner Tür weisen würde, aber keine Aussicht bestehe, eine Reise zu den Östlichen Siedlungen zu unternehmen. Es war auch klar, dass der Gast, der nicht viel mehr als ein Junge war, mit Jak in dessen Bett schlafen würde. Vernünftig und sogar großzügig, aber wenig geeignet, die Fiktion von ›Alyn‹ aufrechtzuerhalten. Was der entscheidende Faktor war, der sie nach dem Abendessen wieder hinaus in den Wald geführt hatte, wo sie Funken in den Zunderschwamm schlug, bis eine kleine Flamme entstand, die sie an den vorbereiteten Haufen trockener Blätter und Zweige legen konnte, bevor sie eine doppelte Handvoll grüner Blätter auf den knisternden Haufen tat. Das Talent konnte jetzt nicht versagen. Es musste mehr an dem Trick sein, gegen den Wind zu segeln, als sie mit ihrem laienhaften Auge gesehen hatte, das ihr aber nun in Kenntnis von Nathans Einsichten klar sein würde. Sie konnte die Kraft in sich fühlen und wusste, dass selbst ein kleines Feuer genügen würde. Sie setzte sich im Schneidersitz mit dem Rücken an einen Baum und warf das Grünzeug auf die Flammen. Dann ließ sie die Hände im Schoß ruhen, beobachtete den Rauch und sah, wie er Gestalt annahm. Es war, als ob sie dort wäre, auf dem Deck des großen Schiffes, das sich im Wind auf die Seite legte. Männer rannten und zogen an Tauen, das Wasser gurgelte über die Deckskante. Vögel flogen um die Wolken der Segel. Die Vision war wirklicher denn je und war so rasch gekommen; ihr brennendes Bedürfnis hatte sie rasch an die Trance getragen. Dennoch
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wusste sie, dass sie bloß eine Beobachterin war und dass dies nicht die Vision war, die sie brauchte. Das Schiff lag nach rechts geneigt – nach steuerbord, wie Nathan es nannte –, und als sie in die Richtung blickte, konnte sie ein weiteres Schiff sehen, lang und schmal, das einen einzigen Mast mit einem quadratischen Rahsegel trug und außerdem von den rhythmischen Bewegungen eines Dutzends Ruder auf jeder Seite angetrieben wurde. Der Wind blies über das andere Schiff, dessen Segel schräg gestellt war, um ihn einzufangen und die Geschwindigkeit zu erhöhen. Aber die Haupttriebkraft kam von den langen Rudern, die das Schiff vorwärts peitschten. Die Wirkung des Segels ging eher dahin, dass das Schiff seitwärts statt vorwärts bewegt wurde. Tatsächlich glitt es seitwärts durch das Wasser, genau wie Nathan es für die Merry prophezeit hatte, falls er sie mit ›Alyns‹ fremdartiger Takelung ausstatten würde. Aber an Bord der Merry gab es natürlich keine Reihen von Rudern, die das Boot gleichzeitig vorwärts trieben. Trotz der Kombination von Rudern und Segeln auf dem anderen Schiff war es klar, dass das Segelschiff, das hart am Wind fuhr, mit sicherem Abstand an seinem Bug vorbeilaufen würde. Elyse war überzeugt, dass sie entferntes Lachen hören konnte und die Geräusche bloßer Füße auf Decksplanken, als die Seeleute auf laut gerufene Befehle Leinen losmachten und andere fester zurrten, um die Stellung der Segel zu verändern. Aber die Geräusche waren so undeutlich und traumhaft, wie ihre ersten Rauchvisionen des Schiffes es gewesen waren. Sie bedeuteten nichts. Aber warum konnte das Schiff schneller segeln als die Ruderer das andere vorwärts trieben? Plötzlich veränderte sich die Vision. Sie stand auf dem Bug des Ruderschiffes – der Galeere. Der Name kam ihr ungebeten ganz von selbst in den Sinn, zusammen mit der Erkenntnis, dass sie alles, was sie in ihren Träumen sah, ja, alles, was sie jemals in ihren Träumen gesehen hatte, durch die Augen einer anderen Person sah. Sie war keine körperlose Beobachterin, sondern sah nur, was jemand anders irgendwo wirklich sah. Und dieser besondere Jemand war halb zornig, halb beeindruckt, als er (?) das Schiff vor der Galeere vorüberkreuzen sah, so weit auf die Seite geneigt, dass die Umrisse des Kiels im klaren Wasser sichtbar waren, bevor es mit Winken und höhnischen Rufen an den Männern auf dem Achterdeck davonrauschte.
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Sie schrak aus ihrer Trance auf. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, der Rücken schmerzte vom Druck des Baumstamms, die Beine waren steif und verkrampft. Das Feuer war niedergebrannt. Wo war sie? Einen Augenblick schien der Boden unter ihr seltsam ruhig, da ihre Sinne sich an das Heben und Senken eines Decks unter ihren Füßen gewöhnt hatten. Sie schüttelte den Kopf. Was kam ihr da in den Sinn? Nie im Leben hatte sie das Heben und Senken eines Decks unter den Füßen gefühlt! Doch als sie aufstand, geriet sie durch die Verkrampfung in ihren Beinmuskeln und ein plötzliches Schwindelgefühl ins Wanken und musste sich am nächsten Baumstamm stützen. Der ›Baumstamm‹ griff ihr unter die Arme. »Ruhig, Junge.« Nathan! »Seltsames Benehmen, sogar für einen mit Hexenblut in den Adern. Oder vielleicht nicht so seltsam. Kannst du gehen?« Sie nickte, bevor ihr klar wurde, dass sie für ihn so unsichtbar war wie er für sie. »Ja.« Sie machte sich los von der helfenden Hand. »Mir fehlt nichts.« Die klebrige Trockenheit in ihrem Mund begann sich aufzulösen. »Und ich weiß, was wir noch brauchen, um Ihr Boot gegen den Wind segeln zu lassen.« »Richtig. Sicherlich hat deine Mutter es dir erzählt. Oder der Feuerschein.« Er wusste es! »Am besten gehen wir jetzt zurück. Du brauchst deinen Schlaf. Ich werde Jak zum Boot schicken, dort kann er auf den Netzen schlafen; die Nacht ist schön und nicht kalt. Dann kannst du sein Bett ganz für dich haben. Leute mit Hexenblut brauchen ein wenig Zurückgezogenheit, nehme ich an.« Zusammen gingen sie durch die Dunkelheit zurück zum Dorf. Elyses Gedanken waren in Aufruhr. Er wusste Bescheid und würde sie nicht zurückschicken. Riskierte er den Zorn der Schwestern, weil er hoffte, von ihrem Wissen zu profitieren? Oder geschah es aus Bitterkeit über die Abgaben, die seinem Dorf auferlegt waren? Sie mochte nicht fragen, und im Grunde war es ihr gleich. Aber sie würde ihm seine Güte vergelten. Wie Nathan erkannt hatte, war das schräg angestellte Segel allein noch nicht geeignet, um gegen den Wind zu kreuzen. Man musste verhindern, dass das Boot vom Wind seitwärts durch das Wasser getrieben wurde. Und das ließ sich durch das
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Holz verhindern, das unten aus dem Boden des Bootes ins Wasser ragte – den Kiel. Sie schüttelte den Kopf. Er schien voll von seltsamen neuen Worten. Kiel. Galeere. Einen Augenblick fühlte sie die Bewegungen des Schiffs unter den Füßen und wankte. Nathan fasste sie beim Ellbogen und stützte sie; diesmal entzog sie sich nicht dem Griff. Natürlich konnte man nicht einfach ein Stück Holz an den Boden der Merry kleben. Aber vielleicht ließ sich etwas an der Seite befestigen, was man hochziehen konnte, wenn das Boot ans Ufer kam, um es wieder hinunter zu lassen, wenn man draußen auf See fuhr. Oder man befestigte etwas an beiden Seiten; sicherlich würde das doppelt so gut wirken. Und die Merry würde das erste Boot im ganzen Land sein, das gegen den Wind fahren konnte, und es würde sie über die Mündung des Großen Flusses zu den Östlichen Siedlungen tragen. Würde er es wirklich tun, dieser abgehärtete, praktisch denkende Fischer, der keine Neigung gezeigt hatte, ihrem Rat zu folgen? Würde er glauben, dass zwei an den Seiten seines Bootes angebrachte Planken oder Bretter den entscheidenden Unterschied ausmachen würden? In ihrem Unterbewusstsein spürte sie, dass er darauf eingehen würde. Nun, da er wusste, dass sie selbst eine ›Hexe‹ war, und gesehen hatte, dass sie ein Talent hatte. Hörensagen von einem streunenden Jugendlichen konnte man unbeachtet lassen; die Visionen einer Schwester wurden immer ernst genommen. Es war in ihrem Verstand beinahe so klar wie eine der Rauchvisionen selbst. Wenn ein angesehener Fischer wie Nathan, der in der weiteren Nachbarschaft des Gemeinschaftsbaues lebte, bereit war, sich in seiner eigenen stillen Art den Schwestern zu widersetzen, dann würde Karyns Bruder Gregor, weit entfernt im Osten, sie sicherlich willkommen heißen und ihr eine Unterkunft verschaffen. Selbst mit einem nutzlosen Talent würde sie imstande sein, die Rolle einer weisen Frau zu übernehmen, mit der Hilfe ihrer Ausbildung Streitigkeiten schlichten und vielleicht ein wenig als Heilerin wirken. Aber war ihr Talent wirklich so nutzlos? Der Gedanke rüttelte sie aus ihrem schlafwandlerischen Dahintappen auf. Ein Talent, das Fischer neue und bessere Segeltechniken lehren konnte? Ihr Herz schlug schneller. Schließlich hatte sie doch einen Weg gefunden, ihr Talent zu gebrauchen! Die Schwestern hatten sich geirrt und wenn sie ihnen gehorcht hätte, wäre das Talent für immer verloren gewesen. Es konnte
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kein klareres Zeichen geben, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Vielleicht gab es neue Tricks, die ihre Visionen ihr zeigen konnten und mit denen sie sogar einen Schmied beeindrucken konnte! Sie lächelte im Dunkeln, strauchelte und fand Halt an Nathans Arm. Sie war so müde. Ein Glück, dass sie nichts mehr vortäuschen musste, wenigstens nicht ihm gegenüber; und ein doppeltes Glück, dass sie ein Bett ganz für sich allein haben und all den Schlaf bekommen würde, den sie brauchte. Schlaf, mit oder ohne Träume, war alles, was sie jetzt nötig hatte. Es war eine Sache von Minuten. Noch herrschte Dunkelheit, als der Trupp zu den Booten zurückkehrte, beladen mit einem Toten, zwei Verwundeten und den großen Glasbehältern, auf deren Mitnahme Falk bestand. Diese Lasten behinderten sie mehr, als Rantor erwartet hatte, und sie kamen verhältnismäßig langsam voran. Damit nicht genug, waren ein paar Leute der Turmbesatzung dort zurückgeblieben und hinreichend unversehrt, um die Treppen hinaufzusteigen. Die Boote ruderten noch hinaus zur Far Trader, als auf dem Vorgebirge ein orangegelber Lichtschein erschien. Zuerst war es nur ein Flackern von Flammen, aber bald erblühte daraus eine Feuersäule. Unter Flüchen trieb der Steuermann die bereits angestrengt rudernden Männer zu schnellerem Tempo an. Doch als sie längsseits kamen, war ihm klar, dass Ballastres Schiffe im Hafen auf der anderen Seite der Halbinsel bereits von den Männern ihrer Besatzungen wimmeln und zum Auslaufen vorbereitet würden. Es drohte knapp zu werden. Wenn die Far Trader erst seewärts von Ballastres Schiffen wäre, würde der Kapitän ihnen das Nachsehen geben, aber wenn sie abgeschnitten wurden … »Boote zurücklassen!«, befahl Kapitän Bryon. Ihm war bewusst, dass größte Eile geboten war. »Anker auf. Helft diesen Leuten an Bord. Und an die Segel.« Dies mit einem Blick zurück zum dunklen Land hinter ihm, nicht so sehr, um es zu betrachten, als die abflauende Brise im Gesicht zu fühlen und abzuschätzen, wie viel sie noch hergeben mochte. Wenn sie erst seewärts von der Flotte stünden und mit der Sonne die Seebrise landwärts wehte, würde niemand jemals die Far Trader einholen. Jenseits der Gegend der Windstillen, kaum zwanzig Seemeilen entfernt, würde der auflandige Wind sie
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rasch nach Haus zu den Drei Inseln bringen. »Vorsichtig da!«, rief Falk, als ein stolpernder Seemann einen seiner Glasbehälter fallen zu lassen drohte. »Stellen Sie ihn hier ab, auf dem Deck.« Er wandte sich um. »Steuermann, das war großartig gemacht. Ich nehme an, der Sensor funktionierte?« Sie tauschten einen Händedruck und erfreuten sich gemeinsam der kurzen Ruhepause, während der Kapitän das Schiff gefechtsbereit machte. »Sehr gut.« Rantor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will nicht sagen, dass wir keine Schwierigkeiten hatten, aber Ihre Assistenten sind gut ausgebildet. Als wir patrouillierten, fanden sie jeden Morgen Ihr Signal. Die Kursfestlegung ist schwierig, aber mit drei sukzessiven Messungen hätte selbst ein Anfänger auf dem Gebiet der Navigation Ihren Aufenthalt auf dem Vorgebirge nachweisen können. Und es gibt auf dem Vorgebirge nur einen Ort, wo Sie sein konnten. Meine einzige Sorge war, dass Sie meine Absichten missverstehen oder außerstande sein würden, von Ihrem zeitweiligen Herrn die Erlaubnis zum Experimentieren zu erhalten.« Falk lachte. »Keine Bange. Am liebsten hätten sie mich Tag und Nacht zur Arbeit angetrieben, sobald ich durchblicken ließ, dass ich eine Technik zur Umwandlung von Felsgestein in Metall entwickelte. Herzog Ballastre ist ein geldgieriger Mann. Aber ich überzeugte ihn, dass meine Methode darauf abgestellt sei, eine Resonanz mit der neugeborenen Sonne zu erzeugen, und natürlich auch, dass die Arbeit eine räumliche Trennung vom Stadtzentrum erfordere, da anders kein ungestörtes Arbeiten möglich sei. Seine Wachsoldaten hatten Befehl, mir in jeder Weise behilflich zu sein. Aber sagen Sie mir«, meinte er in verändertem Ton, »wir sind noch in Gefahr, nicht wahr?« Rantor, gleichfalls ernst geworden, ließ seinen Blick über das abgedunkelte Schiff schweifen, wo nur ein paar schwache Laternenlichter das Dunkel milderten. Das Kap der Halbinsel musste ungefähr querab liegen – sein Orientierungssinn versagte selten, nicht einmal in pechschwarzer Nacht. Und tatsächlich, kurz darauf sah er dort ein Licht blinken, dann ein zweites. Er nickte seinem Gefährten zu. »Ernste Gefahr, mein Freund. Auf offener See könnte uns kein Schiff einholen, geschweige denn bei Nacht entern. Aber hier, in diesem beengten Fahrwasser mit nur einem freien
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Schifffahrtskanal, können sie uns den Weg verlegen.« Er deutete mit einem Nicken nach vorn zum Bug, wo ein stämmiger Seemann eine lange zusammengerollte Leine hielt, an deren Ende ein Stein gebunden war, bereit, ihn auf Befehl über Bord zu werfen, um die Wassertiefe zu loten. »Hätten wir etwas mehr Zeit, vielleicht eine halbe Kerze, könnten wir vielleicht vor ihnen die freie See erreichen. Wie die Dinge liegen …« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht kann ich helfen. Ihr Kapitän – ist er ein guter Mann? Wird er meinen Rat befolgen?« »Bry on? Wir sind oft zusammen gesegelt. Wenn ich ihm den Rat gäbe, würde er sogar in den Mahlstrom segeln. Aber wenn Sie einen Plan haben, kommen Sie heraus damit, denn die Zeit ist knapp.« Drei Schiffe mit gesetzten Positionslichtern sperrten den Kanal vor der Far Trader. Weiter voraus und quälend nahe lag die offene See und mit ihr die Freiheit. Die Ruderer der Far Trader hielten gegen die ablandige Brise und verlangsamten das Schiff beinahe zum Stillstand, doch die Strömung trieb es langsam weiter auf die Schiffe zu. Auf den Befehl hin konnte sie unter vollen Segeln den Durchbruch versuchen – entweder zur sicheren Zerstörung oder, wenn die anderen Schiffe es gestatteten, in die Freiheit. Die Katapulte waren aufgewunden und besetzt, aber es waren selbst bei hellem Tageslicht ungenaue Waffen. Seegefechte wurden durch Entern und Nahkampf entschieden. Außerdem stand das Kräfteverhältnis eins zu drei. »Macht Platz! Macht Platz oder tragt die Folgen!« Zu Rantors Überraschung kam der Ru f von Kapitän Bryon, der am Bug Aufstellung genommen hatte. Es blieb eine Weile still. Waren sie verblüfft von seiner Kühnheit? Oder musste erst geklärt werden, wer unter den Seeleuten, Soldaten und Offizieren an Bord der Schiffe die Entscheidungsgewalt hatte? Bryon nahm seinen momentanen Vorteil wahr. »Wir haben Falk. Und seine Waffe. Gebt die Durchfahrt frei, oder wir werden sie gebrauchen.« Endlich kam die Antwort. Es fehlte ihr Bryons zuversichtlicher Ton. »Es gibt keine Waffe. Wir haben den Vorteil und Sie müssen sich uns ergeben. Wir haben keinen Grund, Sie zu
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fürchten.« Falk war mit seinen beiden Assistenten und einem Durcheinander von Ausrüstungsteilen und Geräten am Bug der Far Trader beschäftigt. Er nickte dem Kapitän zu. Die langsam vorwärts treibende Far Trader war kaum noch einen Steinwurf von den Schiffen entfernt, die ihre Durchfahrt sperrten. Der Steuermann, der in der Schiffsmitte stand, gab den Ruderern das Zeichen, sich bereitzuhalten. Am Bug hob Bryon wieder seine Stimme. »Wir werden Ihnen eine Chance geben. Falk gebietet über den Blitz. Einmal, und nur dieses eine Mal, wird er seine Macht demonstrieren. Dann müssen Sie die Durchfahrt freimachen und uns zu den Drei Inseln folgen. Oder vom Blitz erschlagen werden, wo Sie sind.« Er hob die Hand. »Seid gewarnt, Zweifler!« Er ließ die Hand fallen. Am Bug knallte es und eine grelle Blitzentladung fuhr vom Bug knisternd hinaus und berührte beinahe das nächste Schiff Ballastres. Ein seltsam stechender Geruch, der Geruch einer Blitzentladung, breitete sich aus. Von den Schiffen voraus kamen Schreckensrufe und die Ruderer begannen ohne Befehl rückwärts zu rudern. Eine Lücke tat sich auf. »Jetzt!«, rief der Steuermann, und die disziplinierten Ruderer der Far Trader legten sich ins Zeug. Das Schiff schoss auf die Öffnung zu und war in drei Ruderschlägen durch. Nach zwei weiteren Ruderschlägen hatte sie freies Wasser hinter sich und war fort, hielt in der abflauenden Brise auf den offenen Ozean zu. Beflügelt durch ihren Erfolg, verdoppelten die Ruderer ihre Anstrengungen und die in Unordnung geratenen und in ungünstigen Positionen liegenden Galeeren Ballastres gewährten ihnen einstweilen einen sicheren Vorsprung. Der Steuermann vergaß seine Würde und rannte nach vorn, wo Falk trübsinnig die zerstörte Ausrüstung betrachtete. Ohne die Gratulationen zu beachten, mit denen er überschüttet wurde, blickte er erst auf, als Rantor ihn bei den Schultern fasste. »Gut gemacht. Oh, ganz ausgezeichnet. Diese Geschichte wird noch lange in allen Häfen des Archipels für Gesprächsstoff sorgen! Die Nacht, als Falk den Blitz schleuderte!« »Gut, ja, aber um welchen Preis!« Falk zeigte auf die
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ruinierte Ausrüstung. Das Metall war geschmolzen, die kleine Kugel des Sensors zur Unkenntlichkeit verformt; Glasbehälter zerbrochen. Zu Falks Füßen schaukelte eine metallene Halbkugel von Faustgröße leicht mit den Bewegungen des Schiffes. Sie war Teil einer der größeren Hohlkugeln und war um den Saum auseinander gebrochen. Er hob sie auf und hielt sie in einer Hand. Am Boden der Halbkugel hatte sich ein wenig Spritzwasser gesammelt. Es folgte der natürlichen Tendenz aller Dinge, den tiefsten Punkt zu suchen, und schwappte hin und her, als Falk mit den leichten Schlingerbewegungen des Schiffes schwankte. Er drehte die Halbkugel um und das Wasser fiel aufs Deck. Seufzend hielt er den nutzlosen Gegenstand Rantor hin. »Dies ist alles ruiniert und der Rest ist im Turm zurückgeblieben. Die Arbeit vieler Jahreszeiten.« »Aber Sie haben Ihr Leben und Ihre Freiheit, Falk. Sorgen Sie sich nicht um diese Kleinigkeiten. Ballastre ist durch Ihr Zeugnis entehrt und unser gnädiger Herr Kyper wird in seiner Dankbarkeit großzügig sein. Dieses Schiff wird mit allem ausgestattet, was Sie benötigen, und gemeinsam werden wir über den Archipel hinaussegeln, sicher, dass wir unseren Rückweg finden werden. Welche Wunder werden wir sehen, Falk, wenn Ihre Philosophie zutrifft, und welche Reichtümer werden wir zurückbringen!« Seine begeisterte Erregung riss Falk aus seiner trüben Betrachtung. »Glauben Sie wirklich? Ist es doch nicht so ein katastrophales Fiasko?« »Ach nein, mein Freund. Wenigstens ich weiß, worauf mein Leben hingeführt hat und wohin ich gehe. Sie haben mir eine neue Orientierung gegeben und dafür bin ich Ihnen dankbar.« Wie um seine Worte zu betonen, leuchtete die Sonne hoch über ihren Köpfen in ihrer gewohnten Art und Weise auf. Ein neuer Tag hatte begonnen; und mit ihm eine neue Ära für die Steuerleute des Archipels.
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Serien von Impulsen rasten mit Lichtgeschwindigkeit durch einen logisch organisierten Verstand, kollationierten, verglichen, beobachteten, interpretierten. Insbesondere die Beobachtung war seit undenklichen Zeiten Aufgabe des Verstandes. In unwandelbarem Gehorsam gegen einen uralten Imperativ wartete der Beobachter, geduldig wie nur anorganische Intelligenz sein konnte, auf die Zeichen, die auszumachen er programmiert worden war. Die vom Blitzgenerator verursachten Störungen hatten für kurze Zeit seine Aufmerksamkeit erregt. Schwache, erratische und wahrscheinlich natürliche Störungen im elektromagnetischen Spektrum, die von der Region einer kleinen Inselgruppe in der südlichen Hemisphäre ausgingen. Sie enthielten jedoch keine Information und hörten nach ein paar Zyklen von Licht und Dunkelheit auf. Sie waren nicht die Zeichen von Intelligenz, die zu erkennen der Beobachter programmiert war. Er fühlte keine Enttäuschung. Dies war bei weitem nicht das erste Mal, dass eine zeitweilige Veränderung von Umweltbedingungen irrtümlich suggeriert hatte, dass die lange Wartezeit vorüber sei, und außerdem war der Beobachter nicht für Gefühle programmiert. Der Vorfall wurde zum Vergleich mit künftigen Störungen gespeichert. Der Beobachter ging still und ruhig seiner Arbeit nach, wie er es seit Jahrtausenden getan hatte.
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Rantor lehnte an der Reling und sah zu, wie Falk versuchte, das Schiff in Brand zu setzen, während Kapitän Bryon sich ostentativ in seine Kajüte unter Deck zurückgezogen und damit klargemacht hatte, dass er mit diesem Wahnsinn nichts zu tun hatte. Der Steuermann fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er in diese verrückte Lage geraten war. Feuer an Bord eines Schiffes auf hoher See! Dass er dies erleben musste. Rantor blickte zum fast wolkenlosen Himmel auf, wo die Sonne wie immer im Zenit stand. In einer gewohnheitsmäßigen Geste, die schon mechanisch geworden war, wischte er sich Stirn und Nacken mit einem großen roten Halstuch. Er trat in den bescheidenen Schatten des Segels und beobachtete die Vorgänge mittschiffs. Unter den Leuten der Freiwache gab es stets genug Freiwillige, die bereit waren, an jeder verrückten Aufgabe teilzunehmen, die Falk ihnen stellen mochte – man musste ohnedies halb verrückt sein, um sich zu dieser Reise ins Unbekannte, die aus der Landsicht weit in den grenzenlosen Ozean hinausführte, freiwillig zu melden. Die Hälfte von ihnen waren Studenten, beurlaubt von den Priestern, welche die Hochschule des Archipels leiteten. Und man konnte sicher sein, dass jeder, dem die Priester Urlaub gewährten, einer war, den sie sich mit Freuden vom Hals schafften. Natürlich gab es auch die gute Stammbesatzung – Seeleute, die ihrem Kapitän überallhin folgen würden. Was Kapitän Bryon anging, so war er hier, weil er dem Steuermann vertraute, der diese Expedition leitete. Aber warum war Rantor hier? Jeden Tag stellte er sich die gleiche Frage und musste erst noch eine zufriedenstellende Antwort finden. Die nicht zufriedenstellende Antwort war, dass er hier war, weil er Vertrauen zu Falk hatte, der von den meisten Leuten als der seltsamste Mann angesehen wurde, der je auf den Inseln gelebt hatte (ein Gedanke, der meistens durch die
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Bemerkung ergänzt wurde, dass er schließlich doch ein Außenseiter sei, von einem abgelegenen Atoll am anderen Ende des Archipels). Ein paar nervöse Helfer hatten in einem Kohlenbecken Holzkohle verbrannt und stocherten in der Glut, beaufsichtigt von dem kleinen Mann, der, nackt bis zum Gürtel und rußbeschmiert, wie ein Teufel aussah. Was andere Leute als banal betrachteten, fanden Falks weitblickende Augen seltsam; was er für normal zu halten schien, fanden die meisten Leute unverständlich. Und doch hatten seine sonderbaren Ideen oft genug Früchte getragen, dass der Steuermann auf ihn hörte und Falks Anregungen folgte, vorgeblich in der Hoffnung, Reichtum und Ruhm zu finden, in Wirklichkeit aber weil – nun, weil auch er die Abenteuerlust im Blut hatte und es liebte, etwas Ungewöhnliches zu tun. Nur Falk hätte den Steuermann überreden können, ein offenes Feuer an Bord zu erlauben, während das kostbare Schiff auf hoher See war, selbst unter ruhigen Witterungsbedingungen, wie sie derzeit herrschten. Erst nach langen Diskussionen und Vorstellungen war es Falk und dem Steuermann gelungen, Kapitän Bryon, der für das Schiff und die Sicherheit seiner Besatzung verantwortlich war, zu überreden, dass er seine Zustimmung zu diesem Wahnsinn gab. Auf einem hölzernen Schiff, außer Sichtweite von festem Land und in glühender Sonnenhitze, war Feuer der größte Schrecken der Seeleute. Aber Falk sagte, es sei wichtig. Das scheußlichste daran war, dass Falk für seine Experimente ruhige Bedingungen brauchte, und ruhige Bedingungen bedeuteten, dass Windstille und infernalische Hitze herrschten, so dass Segel und Tauwerk durch Funkenflug wie Zunder in Brand geraten konnten. In acht Fünftagen ihrer Reise war dies die denkbar ungünstigste Zeit, Feuer anzuzünden. Was eigentlich bedeutsam an der Art und Weise war, wie Funken von einem Feuer in die Luft hinaufwirbelten, entzog sich Rantors Verständnis. Jeder wusste, dass Funken aufwärts flogen – deshalb waren sieben oder acht Matrosen ungebeten in die Wanten geklettert, hielten Ausschau nach Funken aus Falks Kohlenbecken, die sich an Segeln oder Tauen festsetzten, und löschten sie, bevor die trockenen Segel und Hanftaue Feuer fangen konnten. Funken schienen Falk allerdings kaum gut genug zu sein. Stoffstreifen verschiedener
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Größen wurden in die Glut des Kohlenbeckens geworfen und stiegen brennend in die Luft empor. Es gab sogar ein paar Blätter kostbaren Papiers, an deren Verhalten Falk besonders interessiert schien, die den Seeleuten aber die größte Sorge bereiteten. Wenn das Papier aufwärts schwebte, stand es noch in hellen Flammen und verbrannte erst in mehreren Klaftern Höhe zu schwarzer, schrumpeliger Asche, die unter den wachsam-besorgten Blicken der Besatzung höher stiegen und schließlich seitwärts abtrieben. Während er die vom Kohlenbecken aufsteigenden Funken beobachtete, blickte Rantor in die Sonne und erschauerte trotz der Hitze. Falks neueste verrückte Idee konnte nicht zutreffen, nicht wahr? Aber wenn sie doch zutraf, lag es an den Funken. Funken einer anderen Art waren verantwortlich, dass sie hier waren, so weit von daheim. Falks seltsame Signalvorrichtung, der morphische Resonator hatte getreulich jeden Morgen seine kleinen Entladungen künstlicher Blitze reproduziert, in Antwort auf das Wirken des großen Blitzgenerators, der im höchsten Turm des herzoglichen Schlosses zu Hause in den Drei Inseln installiert war. Rantor erinnerte sich der Demonstration des morphischen Effekts, der er beigewohnt hatte: wie die Reihen elektrischer Speichergefäße, die ihre Spannung über einen Abstand zwischen zwei Metallstäben entluden, den Blitz und den Donner erzeugt hatten, zusammen mit einem bitteren, beißenden Geruch wie dem der Hölle selbst; und wie das kleine Gegenstück der Blitzmaschine am anderen Ende der langen Galerie seine eigenen schwachen Funken im Einklang mit den Blitzentladungen erzeugt hatte, obwohl es von keines Menschen Hand berührt worden war. Trotz aller gelehrter Reden, die Falk über die wissenschaftlichen Prinzipien morphischer Resonanz führte – dem Gesetz der Ähnlichkeiten, welches bewirkte, dass gleiche Gegenstände sich in ähnlicher Weise verhalten mussten, im Einklang miteinander, selbst wenn sie durch weite Entfernungen getrennt waren –, kam es Rantor noch immer wie Zauberei vor, und nicht unbedingt wie Zauberei der harmlosen Art, eher wie Schwarzkunst. Allzu gut erinnerte er sich der Geschichten aus seiner Kindheit in dem Dorf, wo es hieß, Großmutter Holly könne das Wechselfieber heilen, indem sie einer Tonfigur des Kranken einen Breiumschlag auflegte, oder (wie man sich zuflüsterte) eine Ziege töten konnte, indem sie eine Nadel durch eine primitive kleine Nachbildung des Tieres
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stieß. Aber Schwarze Magie oder nicht, Falks Methode funktionierte; und Rantor war vor allem ein praktisch denkender und kein religiöser Mann. Wenn es funktionierte, sagte er sich, dann sollte man Gebrauch davon machen. Falks Genie hatte den Resonator zu einem Leuchtfeuer gemacht, das die Richtung anzeigte, in der die heimatlichen Inseln lagen. Dies wurde durch die metallene Abschirmung erreicht, beweglich auf eine kreisförmige Schiene auf dem Oberdeck montiert, wo sie von Falks eifrigsten ›Lehrlingen‹ (die, wie könnte es anders sein, die in seemännischen Dingen Untüchtigsten der studentischen Besatzungsmitglieder waren) lachend hin und her geschoben wurde. Wenn die Abschirmung in einer Linie zwischen dem Resonator und dem Blitzgenerator war, konnte dieser Blitze erzeugen, so viel er wollte, und nicht ein Funke würde im Resonator zu sehen sein. Schob man die Abschirmung jedoch zur Seite, erschienen die Funken. Metall blockierte die resonanten Korpuskel. Warum es so war, konnte nicht einmal Falk sagen, noch konnte er das seltsame Phänomen erklären, dass die Funken im Resonator, je weiter sie sich von der Heimatinsel entfernten, am stärksten waren, wenn die Metallabschirmung auf der dem Blitzgenerator entgegengesetzten Seite des Resonators war. Die Entdeckung war zufällig gewesen und sobald der Effekt erwiesen war und er ihn nicht hatte erklären können, hatte Falk das Interesse daran verloren. Aber der Wert der Entdeckung war für den Steuermann, der in seiner Kunst und in der Mathematik der Trigonometrie versiert war, offensichtlich gewesen. Mit einer erprobten Navigationshilfe, die ihnen wie ein Leuchtfeuer den Weg zur Heimat zeigen konnte, und einem guten, stabilen Schiff unter den Füßen, war die Besatzung der Far Trader die Erste, die weit außer Sicht des Archipels segelte und doch sichere Heimkehr erwarten konnte. Sie folgten einem Kurs, von dem noch niemand jemals zurückgekehrt war, und selbst Falks glühendste Anhänger, vermutete Rantor, dankten wahrscheinlich jeden Morgen den Göttern, dass sie in der Nacht nicht vom Rand der Welt gefallen waren. Als die Tage sich summiert hatten, und dann die Fünftage, war Rantor nicht entgangen, dass sich frühmorgens eine Gruppe zwangloser Beobachter auf dem Vorschiff zu versammeln pflegte, kurz bevor die Sonne erstrahlte, um bei Tageslicht zu überprüfen, ob noch immer offene See voraus lag. Jeden Tag war das Ergebnis gleich
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gewesen. Einen Moment strengten alle ihre Augen an, um in der Dunkelheit über den Bugspriet hinauszusehen; im nächsten kehrte die Sonne zurück, erstrahlte in ihrer gewohnten Position im Zenit und erhellte den Ozean voraus. Immer lag offene See vor ihnen, so weit das Auge reichte. Obwohl er es niemals zugegeben hätte, verspürte auch Rantor jeden Morgen Erleichterung, wenn sich herausstellte, dass über Nacht keine Veränderung eingetreten war. Funken hatten sie hierher gebracht, weit jenseits des Punktes, wo Ungläubige den Rand der Welt meinten orten zu müssen. Die Priester, welche die Lehre verbreiteten, dass die Welt eine unendliche flache Scheibe sei, schienen mit jedem Tag, der verging, gerechtfertigt. Und doch waren Funken, indem sie sie hierher geführt hatten, für Falks häretische neue Ideen verantwortlich, die das Fundament alles dessen, was er sein Leben lang geglaubt hatte, unter dem Steuermann zersetzten. Vor einigen Abenden, in der kühlen Dunkelheit auf dem Achterdeck, hatte Falk ihm seine Vision erläutert. Rantor war heiter gestimmt gewesen, wie immer glücklich, auf See zu sein, trotz seiner Sorgen im Hinblick auf den Ausgang der Mission. »Nun, Falk, zwei Tage ist es her, seit wir zuletzt einen Funken aus Ihrem Resonator bekommen haben. Aber ich glaube, ich könnte auch so den Rückweg zu den Drei Inseln finden.« Er hob die Hand zu der dunstigen Schicht leichten Seenebels, die hinter dem Schiff als heller Streifen unter dem dunklen Himmel lag. »Wir werden Ihr Spielzeug benötigen, wenn wir der Heimat näher sind. Aber wenn es soweit ist, werden Sie uns zu Hilfe kommen , nicht wahr?« Falk war in einer mehr nachdenklichen Stimmung und nicht bereit, auf den leichten, halb scherzhaften Ton einzugehen. »Sie können diesen leichten Lichtschimmer über dem Nebel als Leuchtfeuer verwenden, Steuermann. Aber ich verstehe nicht, wie es dazu kommt. So weit vom Land entfernt, könnten alle Fackeln auf allen Inseln des Archipels nicht genug Licht erzeugen, um uns einen Anhalt zur Navigation zu geben. Und das ist kein Fackelschein. Er ist zu blass, und bläulich. Wenn die Luft über den Inseln bei Nacht leuchtet, warum haben wir es nie bemerkt, die wir doch unser ganzes Leben im Archipel verbracht haben?« »Der Mann mit den Antworten stellt Fragen!«, lachte Rantor. »Das Warum und das Wie sind nicht meine Sorge.
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Vielleicht schickten die Götter dieses Leuchten, um Seeleute in der Weite des Ozeans auf ihrem Kurs zu halten. Wichtig ist mir vor allem, dass Ihre Funken uns weit genug auf die See hinausgeführt haben, um die Lichter im Himmel deutlich zu sehen, sowohl achtern wie auch voraus. Ich werde nie wieder an Ihnen zweifeln, Falk. Die Lichter am Himmel sind andere Inseln, andere Welten. Und die Far Trader wird sich ihres Namens würdig erweisen. Wir werden alle reich und berühmt sein, wenn wir zu den Drei Inseln zurückkehren!« »Für mich aber, mein lieber Steuermann, ist das Warum und Wie von großer Bedeutung. Wie leuchten die Lichter am Himmel? Und, was mich gegenwärtig am meisten beschäftigt, warum sind sie über unseren Köpfen? Immer müssen wir zu den Lichtern aufblicken. Gibt Ihnen das nicht zu denken, mit Ihrer Ausbildung in Geometrie und Navigation?« Rantor runzelte die Stirn; um seine aufgeräumte Stimmung war es geschehen. »Die Hohlkugel? Aber das ist eine logische Absurdität.« »Das hängt von Ihrem Gesichtspunkt ab.« Wie es schien, kam Falk jetzt auf den Punkt zu sprechen, der Hauptgegenstand seiner Überlegungen war. Er beugte sich näher zu Rantor und zählte die Punkte an seinen Fingern ab, um die Logik seiner Argumentation zu betonen. Rantor bemerkte mit leiser Heiterkeit, dass sogar Falk jetzt mit gespreizten Beinen wie ein echter Seemann stand und mit dem leichten Schlingern des Schiffes schwankte, das unter halber Besegelung in der leichten Nachtbrise durch die See glitt. Das Kielwasser hinter ihnen schien mit einem eigenen Leben zu leuchten und markierte ihren pfeilgeraden Kurs durch die Nacht. Mit dem Schiff war alles in Ordnung. Aber Falks Worte beeinträchtigten Rantors Wohlbefinden. »Wir wissen, dass die Sonne immer im Zenit steht, ganz gleich, von wo im Archipel man sie sieht, oder sogar, wie wir jetzt sehen, von außerhalb. Eine gerade Linie zur Sonne ist immer lotrecht zur Oberfläche der Welt. Parallele Linien treffen erst in der Unendlichkeit zusammen, also lehrt man uns, dass die Sonne unendlich weit entfernt sein muss. Während die Welt eine unendliche flache Ebene ist. Es sei denn …« »Es sei denn, die Welt ist wirklich die innere Oberfläche einer Kugel, mit der Sonne im Mittelpunkt, ja, ja. Aber das ist absurd. Ich erwähnte das daheim in der Burg des Herzogs nur,
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um die Absurdität zu demonstrieren – das Gesetz der absurden Alternative. Lebten wir auf der inneren Oberfläche einer Hohlkugel, warum läuft nicht alles Wasser am Boden zusammen und ertränkt uns? Und wenn die Sonne nicht unendlich weit entfernt ist, warum fällt sie nicht herunter und verbrennt uns? Nein, Falk, da müssen Sie sich etwas Besseres einfallen lassen.« »Was absurd ist, Rantor, hängt, wie ich sagte, von Ihrem Gesichtspunkt ab. Die Priester, die Ihnen Ihre Geometrie beibrachten, sind ehrliche Männer, aber sie haben nur einen begrenzten Horizont, der nicht über einen Archipel hinausgeht. Nun sind wir weiter gereist – weiter als jeder Mensch, der gelebt hat und zurückgekehrt ist, um davon zu berichten. Und wir sehen hinter uns einen diffusen Lichtschein tief am Himmel, so tief, dass wir ihn leicht für ein Phänomen des Seenebels halten können, einen Lichtschein, der nur vom Archipel herrühren kann – obwohl ich zugebe, dass wir nicht wissen, wie oder warum. Und dieser Lichtschein steigt langsam am Himmel hinter uns empor, je weiter wir fahren. Auch voraus sehen wir tief am Himmel einen undeutlichen Lichtschein, der, darauf wette ich meinen Kopf, einen anderen Archipel markiert, der langsam am Himmel herabsinkt und uns begegnen wird, wenn wir weiterfahren. Und wir sehen die Sonne wie zu Hause senkrecht über uns. Wir müssen uns über die innere Oberfläche bewegen. Von unserem Gesichtspunkt sagt uns das Gesetz der absurden Alternative, dass die Vorstellung von der Welt als einer flachen, unendlichen Scheibe unmöglich ist. Und das bedeutet, dass die Sonne sich wirklich nur in einer endlichen Entfernung über unseren Köpfen befindet. Hätte ich ein Mittel, die Entfernung zu messen, die wir vom Archipel bis hierher zurückgelegt haben, dann bräuchte ich nur den Winkel jenes diffusen Lichtscheins über dem Horizont hinter uns zu messen und könnte Ihnen genau sagen, wie hoch über uns die Sonne steht – wie weit es zum Mittelpunkt der Hohlkugel ist.« Obwohl der Steuermann schwerlich war, was man einen religiösen Menschen nennt, machte er instinktiv das Zeichen zur Abwehr des Bösen. »Und was hält sie dort fest? Was lässt sie über uns schweben, während alle anderen Dinge auf die Oberfläche der Welt herabfallen? Was hält einen Ozean fest, dass er die Innenwand der Hohlkugel bedeckt, statt den Boden zu überfluten?«
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Falk lächelte. Rantor erkannte dieses Lächeln und begann sich zu fragen, worauf er sich diesmal einließ. »Ach, mein lieber Steuermann, ich habe da eine Idee. Ich dachte – vielleicht morgen, wenn der Tag nicht zu windig wird – könnten Sie mir erlauben, ein paar einfache Versuche auszuführen.« Tatsächlich war es nicht am nächsten Tag geschehen. Auffrischender Wind, der günstig von achtern wehte, hatte sie vier Tage lang weitergetragen, während der nächtliche Lichtschimmer am Himmel voraus, wo Falk einen anderen Archipel zu finden seinen Kopf gewettet hatte, herabsank und im Dunst bis zur Unsichtbarkeit verblasste. Selbst unter reduzierter Segelfläche war die Far Trader im schräg von achtern wehenden Wind dahingejagt, unter dem Druck der Böen immer wieder stark nach Steuerbord krängend, bis die Deckskante und Teile der Steuerbordreling unterschnitten, wenn die kräftige Dünung sich unter ihnen hob. Bryon und die Männer seiner Stammbesatzung hatten ihre Sache gut gemacht. Im Laufe der vorausgegangenen Fünftage waren die unausgebildeten Freiwilligen, noch feucht hinter den Ohren, als sie die Drei Inseln verlassen hatten, vielleicht nicht die besten Seeleute im Archipel geworden, aber keine unfähigen Stümper mehr. Rantor erinnerte sich mit Vergnügen des Gefühls, wie das Deck unter seinen Füßen lebendig gewesen war und die Gischtspritzer in seinem Gesicht prickelten. Die Seeleute hatten eine Redensart, dass es kein schlechtes Wetter gebe – schlecht zum Segeln sei es nur, wenn es überhaupt kein Wetter gebe, womit sie eine vollkommene Flaute meinten. Hatten sie Wind und ein gutes Schiff, gab es für sie keine Grenzen. Noch ein Tag und eine Nacht in diesem Tempo und sie würden den Archipel erreichen, wenn es einen gab. Falk hatte um Erlaubnis gebeten, vorher noch seine Experimente mit dem Kohlenbecken weiterzuführen, doch weder Rantor noch Kapitän Bryon ließen sich erweichen, solange der Wind nicht einschlafen wollte. Nun aber bekam Falk seine Chance, als hätte der Wind auf sein Flehen hin ein Einsehen gehabt. Mindestens die Hälfte der Besatzung hielt Falk für einen Zauberer und diese günstige Koinzidenz (Rantor sagte sich, es müsse eine Koinzidenz sein) würde seinem Ruf nicht schaden. Der Steuermann wusste, dass
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es sich lohnte, Falk seinen Willen zu lassen, innerhalb vernünftiger Grenzen, wohlgemerkt, und es war besser für ihn, wenn er seine gegenwärtige Verrücktheit abreagieren konnte, bevor sie in einem fremden Archipel anlangten, wo Falks Beobachtungstalent von unschätzbarem Wert für die Anknüpfung von Handelsbeziehungen sein konnte. Morgen oder am folgenden Tag würde es für alle genug zu tun geben … Rantors Gedankengang wurde von einem Ruf aus dem Ausguck im Mastkorb unterbrochen. »Land! Land an Backbord voraus!« Er sprang in die Wanten, kletterte hinauf, beschirmte die Augen gegen die Sonne und spähte über die See hinaus. Nach den kräftigen Winden der vergangenen Tage hob und senkte der Ozean sich noch immer in einer langen Dünung, aber er passte seine Balance automatisch dem Rhythmus der Schiffsbewegungen an. Auf der Höhe der Dünung, als das Schiff emporgehoben wurde, bevor es in das Wellental zurücksank, erblickte er etwas, was die Spitze einer Insel sein mochte. Verdammter Ausguck! Wenn hier, aus halber Höhe über dem Deck, Land sichtbar war, hätte der Mann es von seinem Mastkorb aus schon längst sehen müssen. Aber wie alle anderen an Bord war der Ausguck wahrscheinlich mehr auf Falks Possen konzentriert gewesen als auf seine eigenen Pflichten. Der verdammte Falk! Er öffnete den Mund, um dem Ausguck den Kopf zurechtzusetzen, schloss ihn aber wieder. Wie durch Magie war Kapitän Bryon an Rantors Seite erschienen; die Disziplinierung der Mannschaft war Aufgabe des Kapitäns und in einem gewissen Maße war es Rantors Schuld, die Ablenkung zugelassen zu haben, obwohl er wusste, dass sie sich Land näherten. Ihre Verständigung bedurfte keiner Worte; er und der Kapitän kannten die Situation. »Übergießt das Feuer! Alle Mann auf ihre Posten!« Das dumpfe Dröhnen vieler Füße auf den Decksplanken beendete die Stille, die auf den Ruf des Ausgucks gefolgt war. Bryon wandte sich zu Rantor. »Eine vorgelagerte Insel. Dieser Archipel muss noch eine Tagesreise entfernt sein. Aber es sind keine Schiffe zu sehen. Schaden ist nicht entstanden.« Die Worte waren dem Kapitän kaum von den Lippen gegangen, als sie von den Ereignissen überholt wurden. »Vögel! Zwei große Vögel voraus!«
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Wie um für sein Versagen Buße zu tun, hatte der Ausguck mit verdoppelter Aufmerksamkeit zum Archipel gespäht und etwas völlig Unerwartetes ausgemacht. Sie waren noch immer zu weit vom Land entfernt, um mit dem Auftauchen von Vögeln zu rechnen. Aber dort waren zwei Punkte zwischen dem Schiff und der fremden Insel am Himmel. Es konnten nur Vögel sein, aber der Ausguck hatte seine Aufgabe erfüllt und sie erspäht. Erwartungsvolle Spannung ergriff Besitz von Rantor. Vögel bedeuteten, dass es Leben gab. Wo Vögel waren, würde es Pflanzen geben – Nahrung –, und vielleicht Menschen. Dies war der eigentliche Sinn und Zweck der Reise. Falks Spielzeuge und sein Philosophieren waren alle gut und schön, an ihrem Ort und zur rechten Zeit. Aber nichts davon war mit der Aussicht auf die Entdeckung neuer Länder zu vergleichen, zum ersten Mal in der Geschichte des Archipels. Zumindest könnten sie ihre geschrumpften Vorräte ergänzen, Trinkwasser an Bord nehmen und das Schiff für weitere Forschungen bevorraten. Und bestenfalls – wer konnte wissen, was die Bewohner dieser Inseln für den Tauschhandel zu bieten haben mochten? Auf die gebrüllten Befehle des Kapitäns hin hatte der Rudergänger Kurs auf die einsame Insel genommen und unter allen Segeln krängte es selbst in der nachlassenden Brise leicht nach Steuerbord. Rantor veränderte seine Position und bewahrte das Gleichgewicht, ohne bewusste Anpassung. Noch immer spähte er aufmerksam voraus. Diese Vögel muteten ihn seltsam an. Entweder waren sie viel näher, als er gedacht hatte, oder sie waren sehr groß und noch ziemlich weit entfernt. Und warum schlugen sie nicht mit den Flügeln? Sie schienen seltsam steif, glitten mit ausgebreiteten Schwingen durch die Luft. Große Seevögel wie der Albatros segelten so, und die Fischadler zu Hause, wenn sie sich von den Aufwinden entlang den Kliffs emportragen ließen; aber niemals hielten sie ihre Schwingen so lange steif ausgestreckt – schon gar nicht draußen über der See, wo es keine Aufwinde gab. Und was immer sie waren, diese zwei Vögel flogen über die See auf das Schiff zu. Falk kam zu ihnen auf das Achterdeck. Die neuen Entwicklungen schienen völlig an ihm vorbeigegangen zu sein und er plapperte aufgeregt daher, ebenso zu sich selbst wie zu den anderen.
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»Ein großer Erfolg! Ich glaube, ich habe die Antwort. Haben Sie gesehen, wie Papierschnitzel in der Hitze aufwärts steigen, selbst wenn sie selbst nicht brennen? Es scheint mir alles ganz klar. Gleiches zieht Gleiches an, das ist offensichtlich: das Gesetz der Ähnlichkeiten. Heiße Dinge werden von der Sonne angezogen und steigen aufwärts. Kalte Dinge werden natürlich von der Sonne abgestoßen, einheitlich in alle Richtungen, und breiten sich gleichmäßig über die Oberfläche der Hohlkugel aus. Das ist der Grund dafür, dass das Wasser nicht am Boden zusammenläuft und die Inseln überflutet. Was werden die Priester dazu sagen! Aber die kalten Dinge stoßen die Sonne ab, mit gleicher, aber entgegengesetzter Kraft, und stoßen sie zur Mitte der inneren Höhlung, wo sie unter dem Druck von allen Seiten schwebt! Wenn wir das Kohlenbecken wiegen könnten, würde es sicherlich leichter sein, wenn die Kohlen rotglühend sind, obwohl es zu viel inhärentes Gewicht hat, um jemals in der Luft zu schweben. Das Papier aber ist so leicht, dass sogar warme Luft, die zur Sonne emporsteigt, es mit sich tragen kann. O ja, Steuermann, dies ist ein großer Tag, einer, dessen Sie sich erinnern werden. Ich glaube, ich kann Ihnen ablandige und auflandige Brisen zur Verfügung stellen, da ich jetzt diese neue Perspektive auf die Dinge gewonnen habe. Es hat alles mit dem Gesetz der Ähnlichkeiten zu tun. Heiße Luft, die aufsteigt, um die Sonne zu grüßen …« »Nicht jetzt, Falk«, der entschiedene Befehl des Steuermanns unterbrach den Fluss seiner Rede. »Was halten Sie von diesen Vögeln? Etwas zu groß, finden Sie nicht? Sind sie eine Gefahr?« Als Falk aufblickte und verspätet bemerkte, was vorging, kam ein neuer Ruf vom Ausguck. »Menschen! Nicht Vögel! Fliegende Menschen! Menschen mit Flügeln!« Das Zischen des erstickenden Traumfeuers brachte Elyse in die Wirklichkeit zurück. Das war tatsächlich eine der seltsamsten Visionen gewesen; ihr eigenes Feuer hatte sie in einen Traum geführt, in dem ein anderes Feuer brannte, ein Brennpunkt seltsamer Gedanken und Ideen. Sie schüttelte den Kopf, bewegte Arme und Beine, um sie von der allzu vertrauten Steifheit zu befreien, und blickte umher. Der gute Gregor hatte Wasser auf dem Tisch
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zurückgelassen, dazu etwas Käse und Brot. Sie trank, aß und versuchte die neuen Ideen in ihrem Kopf zu ordnen. Doch so sehr sie sich abmühte, sie blieben verwirrend. Das Schiff war vertraut genug gewesen und einige der Leute an Bord konnte sie jetzt nach wiederholten Träumen wiedererkennen. Aber das Feuer war unverständlich. Warum sollte jemand an Bord eines Schiffes Feuer machen? Und die Vorstellungsbilder von Kugeln wie Schwimmkörper von Fischernetzen, aber halb mit Wasser gefüllt, ergaben überhaupt keinen Sinn. Ein jähes Frösteln überlief sie und sie umfasste ihre an den Körper gedrückten Oberarme mit den Händen. Angenommen, jemand anders teilte ihr Talent? Angenommen, das Feuer an Bord dieses Schiffes war entzündet worden, um jemandem zu helfen, dass er von ihr träumen konnte? Sie hatte schon seit einiger Zeit akzeptiert, dass die Ereignisse, die sie in ihren Träumen sah, an irgendeinem anderen Ort Wirklichkeit waren – aber noch nie hatte sie sich eingebildet, dass diese wirklichen Leute von ihr träumen könnten. Der Gedanke verging. Es war lächerlich; an Bord des Schiffes waren ausschließlich Männer und nur Frauen konnten mit einem Talent gesegnet sein. Und sicherlich hätte sie es gemerkt, wenn sie inmitten eines Traumes die Gedanken eines anderen Feuerträumers teilte … Die Tür hinter ihr wurde leise geöffnet. Sie wandte den Kopf und lächelte der breiten Gestalt des Schmiedes zu, der Karyns Bruder war. »Also bist du wach.« Gregor hatte eine Gewohnheit, das Offensichtliche festzustellen. Sie nickte. Sie konnte jede Menge von offensichtlichen Fragen ertragen, denn sie erhielt dafür Gregors ruhige Bereitwilligkeit, ihr ein Heim zu geben und sie zu behandeln, als ob sie seine eigene, ins Dorf zurückgekehrte Schwester und keine ausgestoßene Fremde wäre. Und die Schmiede war ein ausgezeichneter Stützpunkt für eine weise Frau – ein Mittelpunkt dörflichen Lebens, wo Klatsch ausgetauscht und Schwierigkeiten erörtert wurden. Hier war sie wirklich auf die Füße gefallen. Aber sie musste ihren Unterhalt verdienen. Das Talent erwies sich als so nutzlos wie immer. Die lebendigen Träume vom Schiff waren immer wieder überwältigend, lieferten aber keine Hinweise, wie man das Los armer bäuerlicher Familien bessern könnte. Andererseits
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festigte die Tatsache, dass sie unverkennbar träumte und in ihrem Feuerrauch seltsame Visionen hatte und in eine Trance fiel, aus der sie nichts wecken konnte, bis der Traum vorüber war, ihre Position in der Dorfgemeinschaft. Die Dorfbewohner brauchten nicht zu wissen, was sie träumte, solange sie wussten, dass sie eine echte Hexe war, ausgestoßen vom Gemeinschaftsbau der Schwestern und vom Schicksal zu ihnen geschickt, ohne Zweifel als Ersatz für ihre eigene Karyn. Und obgleich manche von ihnen murren mochten, es sei ein Jammer, dass sie nicht Kary ns Talent im Umgang mit Pflanzen hatte, waren die Ratschläge, die sie ihnen aufgrund ihres angelernten Wissens und ihrer eigenen Intelligenz und schnellen Auffassungsgabe hatte geben können, ausreichend gewesen, um ihren Platz in der Gemeinde zu erhalten. Hätte jemand sie gefragt, wäre sie vielleicht sogar widerwillig bereit gewesen, zuzugeben, dass die Idee, Schwestern mit wertlosen Talenten in die Gemeinden zurückzuschicken, vielleicht doch nicht ganz ohne praktische Weisheit sei. Hier konnten sie ihr Wissen und ihre Geschicklichkeiten denjenigen zugute kommen lassen, die nicht den Vorzug einer Internatsausbildung genossen hatten. Aber niemals würde sie zugeben, dass die Weitergabe ihrer Weisheit, soweit man davon sprechen konnte, notwendigerweise zum Verlust ihres Talents führen müsse, mochte es noch so schwächlich sein. Alles das machte Gregors brüderliche Fürsorge umso willkommener. »Hast du Ratschläge für den Gemeinderat?« Sie nickte wieder. Sie hatte den Rat klar im Kopf gehabt, bevor sie das Feuer angezündet, die frischen Zweige daraufgelegt und sich niedergelassen hatte, um in den Rauch zu blicken. Sie wollte nicht behaupten, dass ihre Ratschläge von den Träumen kämen, doch wenn die Dorfbewohner es glauben wollten, dann sollten sie es tun. Das Problem war einfach genug. Obwohl der Große Fluss noch immer reichlich Wasser lieferte, war es mühsam, es ohne ausgebaute Bewässerungsanlagen auf die Felder zu bringen, und die Sonne brannte tagein tagaus vom wolkenlosen Himmel, trocknete den Boden aus und ließ die Pflanzen welken und verdorren. Sie kannte einen Teil der Antwort, die von den Ältesten im Gemeinschaftsbau erarbeitet worden war (soviel sie wusste, mit der Hilfe von jemandes echtem Talent), da die Gegenden landeinwärts von Seahaven unter einer weitaus schlimmeren
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Dürre litten. Sie hatte Diskussionen über das Problem gehört, aber die Lösung war zur Zeit ihres Weggangs noch nicht in die Praxis umgesetzt gewesen. »Die Leute sollen Streu vom Waldboden sammeln. Laub, Zweige und Nadeln, und sie unter den Feldpflanzen ausbreiten. Die Streu schützt den Boden vor der Austrocknung durch direkte Sonnenbestrahlung und hält den Tau zurück, der dann in den Erdboden eindringen kann.« »Ist das alles?« Sie lächelte. »Das ist einstweilen alles, Gregor.« »Es scheint allzu einfach. Offensichtlich.« »Warum hat es dann noch niemand getan?« Die Frage war nicht zu beantworten. Und wenn aus dem Westen die Nachricht käme, dass diese einfache Methode erfolgversprechend war, würde es ihren Ruf nur mehren, weil die Dorfbewohner dem Überbringer der Nachricht würden sagen können: »Ach, dieser alte Hut – das tun wir hier schon lange. Ist es nicht offensichtlich?« Er nickte nachdenklich und überdachte es. »Und der junge Bjarni?« Hier hatte sie noch festeren Boden unter den Füßen. Wenn es um die Beilegung der alltäglichen Streitigkeiten im Dorf ging, brauchte sie sich bloß in die Schuhe der Schwester Seniorin zu versetzen und eine passende Erklärung abzugeben. Der Respekt der Dorfbewohner vor ihrer Internatsweisheit besorgte den Rest. Der Umstand, dass sie wahrscheinlich noch nicht ganz so alt wie der ›junge Bjarni‹ war, spielte keine Rolle – wenigstens solange sie die richtigen Entscheidungen traf. Und sie wusste genau, wie die Schwester Seniorin in dieser Situation reagieren würde. »Er muss das Mädchen heiraten. Seine Brüder müssen ihm helfen, ein Haus am Fluss zu bauen, wo es leichten Zugang zum Wasser gibt. Und wenn das Kind ein Mädchen wird, dann werde ich es zur rechten Zeit als meinen Lehrling annehmen.« Das durchstieß sogar Gregors Unempfindlichkeit gegen Überraschungen. »Aber Hexen – entschuldige, Elyse, aber …« »Hexen haben keine Lehrlinge, meinst du? Nun, diese schon. Wie soll das Dorf sonst eine andere finden, die sich um sein Wohlergehen kümmert, wenn ich fort bin? Und erzähl mir nichts über Talente. Zu einer weisen Frau – oder sogar einer
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Hexe – gehört mehr als Talent, weißt du. Aber«, fügte sie nachdenklich hinzu, »du brauchst den anderen nicht zu erzählen, dass ich das sagte.« Der Schmied sagte nichts mehr. Nun, dass er sich überrumpelt fühlte, konnte nicht schaden. Sie wollte nicht, dass jemand – und schon gar nicht Gregor – sie allzu berechenbar fand. Und warum sollte sie nicht einen Lehrling annehmen, oder zwei? Sie könnte niemals d em Gemeinschaftsbau Konkurrenz machen, aber sie konnte ihren Teil dazu beitragen, dass hier in den Östlichen Siedlungen eine Schule der Weisheit entstand, die über ihren Aufenthalt hier Bestand haben würde. Als die fliegenden Gestalten auf die Far Trader zugesegelt kamen, ging ein Murmeln durch die Besatzung. Mehrere Seeleute machten das Zeichen zur Abwehr des Bösen. Die erfahreneren Leute blickten in Erwartung seiner Befehle zum Kapitän. Falk, der überall und immer die Aufmerksamkeit auf sich zog, rannte das Deck entlang und kletterte in die Takelage, um besser nach vorn Ausschau halten zu können. Als das Schiff schlingerte, verlor er mit einer Hand den Halt und schwang an der Rah hinaus über die lange Dünung; doch wandte er seinen Blick nicht von den Fliegern, während er nach einem sicheren Griff tastete. Rantor gewann den Eindruck, dass Falk, selbst wenn er in den Tod stürzte, den Fall noch mit der Beobachtung seiner Umgebung mitteilen und darüber nachdenken würde, was es alles zu bedeuten hatte. »Achtung auf Enterer!« Wie immer, dachte der Kapitän zuerst an sein Schiff. »Männer oder Vögel, sie kommen ohne meine Einladung nicht an Bord, Leute!« Der derbe Humor lenkte die Stimmung der Mannschaft von Gedanken an Schwarze Magie ab. Sie hatten den besten Kapitän im Archipel, und den besten Steuermann – und sie hatten ihre eigene Geheimwaffe, den kleinen Falk. Die zwei segelnden Gestalten trennten sich, um auf beiden Seiten am Schiff vorüberzugleiten, als Armbrustschützen eilig Positionen an der Reling einnahmen. Falk ließ sich an einem Tau herab und eilte über das Deck zurück. Er hielt mit den Fliegern Schritt. »Menschen, Kapitän«, keuchte er, »keine Vögel. Gewöhnliche Menschen wie wir. Sehen Sie das Gurtzeug, mit dem sie an den Flügeln befestigt sind? Aber wie sie fliegen –
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wie Adler!« Die beiden fliegenden Menschen hatten den Schwung und die Beschleunigung ihres Herabstoßens ausgenutzt, um sich abzufangen und wieder emporzusteigen, und segelten über das Schiff hinweg, um in einer Schleife zurückzukehren und den Aufwind über dem Schiff einzufangen. Aber sie konnten es Adlern nicht gleichtun. Ihre Flügel schlugen nicht und nun sanken sie langsam tiefer. »Ich glaube nicht, Falk.« Rantor hatte ihre Schwierigkeit begriffen. »Diese Adler werden niemals zum Land zurückkehren können. Wie sie so hoch in den Himmel steigen konnten, weiß ich nicht. Vielleicht war es die Anziehungskraft der Sonne, wie? Aber sie hätten sich nicht so weit hinauswagen dürfen. Nun sinken sie tiefer und werden in der See landen. Vielleicht bekommen Sie zwei Passagiere, Kapitän – nasse Passagiere, was das angeht.« Plötzlich schwenkte einer der Flieger, jetzt nur noch ein paar Klafter über ihren Köpfen, nach rechts auf das Schiff zu und verlor rasch an Höhe. Die kleine Gruppe auf dem Achterdeck warf sich zu Boden, als seine Absicht klar wurde. Einen Augenblick sah es so aus, als würde ihm die Landung auf dem Deck gelingen. Dann blieb der linke Flügel an einem Spannseil des stehenden Tauwerks hängen. Holz zerbrach, der Flügel wurde zerknittert, während der fliegende Mann herumgerissen wurde und hart gegen die Reling krachte. Bryon und Rantor eilten ihm mit zwei Besatzungsmitgliedern zu Hilfe. Falk war genauso schnell, ließ den Mann jedoch unbeachtet und befühlte vorsichtig den gebrochenen Flügel, der nicht mehr als ein leichter, mit feiner Seide bespannter Holzrahmen war. Er hatte kaum mehr Substanz als der Flügel eines Schmetterlings und doch hatte er einen Mann hoch über ihre Köpfe getragen, nachdem er ihn von der Insel bis hierher gebracht hatte. Der Mann sah seltsam aus. Er trug nur eine weite, mit leichten Gurten umwickelte Hose und eine Weste, die seine Arme frei ließ. Außerdem war er bartlos, was daheim auf den Inseln beinahe unvorstellbar war, und er erwiderte Rantors Blick fest aus blauen, nicht braunen Augen. Dessen ungeachtet war er ein Mensch, der wie jeder Sterbliche blutete. Ein Aufklatschen längsseits, begleitet von einem nicht ganz zutreffenden Ruf ›Mann über Bord !‹ verkündete, dass auch der andere Flieger das Ende seines Fluges erreicht hatte. Bryon
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überließ den verletzten Fremden der Obhut der anderen – der Arm des Mannes schien gebrochen und er war offenbar einer Ohnmacht nahe. »Dann werft ihm eine Leine zu!« Auf den Ruf ›Mann über Bord‹ hatte der Rudergänger sofort beigedreht, und der Flieger, der sich bereits von seinen Flügeln befreit hatte, kämpfte im auf- und abschwellenden Wasser neben der Bordwand. Während die Segel des beigedrehten Schiffes im leichten Wind schlaff gegen die Masten schlugen, wurde dem Schwimmer eine Leine zugeworfen. Bald stand er keuchend und triefend auf dem Deck. Rantor ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, war aber sehr erstaunt über die Worte des Fliegers. »Ich hoffe, ihr Dummköpfe seid den Verdruss wert.« Der Akzent war eigentümlich, aber zu verstehen. »Meine Flügel verloren, weil Ihre idiotische Besatzung zu beschäftigt war, mich zu retten, um an sie zu denken; Bah-Lees Flügel wahrscheinlich irreparabel zerbrochen. Und alles, weil Sie nicht vorbereitet waren, uns angemessen zu empfangen! Kennen Sie denn den Code nicht? Jemand wird für diese Bescherung bezahlen müssen!« »Wir konnten nicht mit solchen Besuchern rechnen«, sagte der Steuermann. Er beschloss taktvoll zu sein. »Tatsächlich haben wir niemals solche Wunder wie fliegende Menschen gesehen, mein Herr.« »Ich bin kein Herr.« Der Besucher blickte umher. »Aber woher kommen Sie? In den Nationen gibt es kein Schiff wie dieses. All diese Taue und Masten. Und solch ein Durcheinander von Segeln! Wo sind Ihre Ruder? Warum gibt es kein freies Deck, wo Flieger landen können?« »Wir haben Ruder – wenn wir sie brauchen.« Der Steuermann blickte zu Bryon und nickte. Der Kapitän verstand den Wink. Der abflauende Wind brachte sie nur noch langsam weiter und es schien geraten, so bald wie möglich die Insel anzulaufen. Ein paar ruhige Kommandos und das Schiff wimmelte von geschäftiger Aktivität. Seeleute enterten die Wanten, holten Segel ein und zogen zur Begleitung gutwilliger Klagen der Männer, die sie bedienen mussten, Riemen hervor und legten sie in die Dollen ein. Die in der warmen Sonne trocknenden Flieger beobachteten die Vorgänge mit offensichtlichem Interesse. Die zu den Taktschlägen des Bootsmannes arbeitenden Ruderer
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schienen sie so stark zu faszinieren, dass dies, wie Rantor vermutete, offenbar nicht die Rudertechnik war, die diesen Leuten vertraut war. Ungehalten über das Benehmen des Fliegers, versuchte er noch einmal seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Aber wie ich sagte, haben wir niemals Menschen gesehen, die fliegen.« Diesmal drang er mit seiner Bemerkung durch. Der Flieger wandte sich stirnrunzelnd zu Rantor. »Sie haben niemals Flieger gesehen? Dann sind Sie wirklich seltsame Fische und König Rotonoga wird Sie sicherlich als einen lohnenden Fang betrachten, selbst wenn die Kosten zwei Sätze Flügel betragen! Bleiben Sie auf diesem Kurs und ich werde Sie in den Hafen dirigieren.« Rantor blickte finster. Er hatte etwas dagegen, als Fang betrachtet zu werden. Zudem war es lange her, seit jemand ihm Befehle gegeben hatte. Aber er war entschlossen, das Schiff in den Hafen zu bringen, nicht bloß zur Übernahme von Wasser und Proviant, sondern um Näheres über das Geheimnis der Flügel zu erfahren. Und er war klug genug, die Hilfe eines einheimischen Lotsen in Anspruch zu nehmen, wenn er selbst in fremden Gewässern war. Wenn dieser rüpelhafte Passagier glauben wollte, er habe die Leitung, war es am besten, ihm einstweilen diese Illusion zu lassen.
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Als die Tage und die Hände von Tagen vergingen, merkte Ely se, dass sie als Teil der Dorfgemeinschaft akzeptiert wurde und dass sie sogar ein Gegenstand des Stolzes war; wenige Dörfer hatten ihre eigene weise Frau, eine mit einem echten Talent, noch dazu in diesen abgelegenen Siedlungen, weit vom direkten Einfluss der Schwestern. Aber wenn sie nicht achtgab, bestand gerade dadurch das Risiko, für selbstverständlich gehalten zu werden. Zudem zählte ihre Jugend gegen sie. Also blieb sie viel im Haus, suchte die dunkleren Winkel auf und kleidete sich in einen langen braunen Umhang mit Kapuze. Das gab ihr nicht viel Spielraum, um in den Wäldern herumzustreifen oder Bäume zu erklettern, obwohl sie es sich zur Gewohnheit machte, wenigstens alle Fünftage hinauszugehen und eine stille Lichtung aufzusuchen, wo sie ein Feuer anzündete und mit grünem Laub und Zweigen Rauch erzeugte. Und wenn sie im Rauch manchmal nichts als das aufsteigende Gekräusel und die sich langsam ausbreitenden Wolken sah, beunruhigte es sie nicht weiter. Wer konnte schon wissen, dass ihr Talent nicht ganz so großartig und wundervoll war? Wenigstens gab ihr das Ritual Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Nachdenken über die Probleme des Dorfes; Zeit, sich der Geschichten ihrer Kindheit über die seltsamen Verhaltensweisen von Hexen zu erinnern und ein neues Verständnis ihrer zurückgezogenen Lebensweise und rätselhaften Geheimnisse zu gewinnen. Wie viele von ihnen, überlegte sie, waren im Grunde so gewöhnlich wie sie selbst, hüllten sich aber in eine geheimnisvolle Aura, um ihren bevorzugten Platz in der Gemeinde zu erhalten? Und doch leistete sie in einer bescheidenen Art und Weise manches Gute. Wenn sie nur einmal mit etwas Großem herauskommen könnte, etwas, das groß genug war, um einen dauerhaften Eindruck zu erzeugen; etwas, das Müttern Stoff für eine Geschichte gab, mit der sie ihre Kinder verblüffen konnten.
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Damit könnte sie sich hier ihren Platz sichern, nicht bloß für ein paar Hände von Tagen, sondern wenn nötig für ein ganzes Leben. Aber einstweilen verweigerte ihr der Rauch jede Hilfe. Es war beinahe so, als hätten ihre Sicherheit und die Entfernung vom Gemeinschaftsbau die Kraft ihres Träumens verringert. Früher, als sie im Internat vom Versagen bedroht gewesen war, und wieder im Fischerdorf, wo sie gedacht hatte, ihre Flucht sei gescheitert, hatte sie Visionen von Kraft und Farbe gehabt. Brauchte ihr Talent die Drohung persönlicher Gefahr, um sich zu entfalten? Und wenn es sich so verhielt, wie lange würde es dauern, bis Gregor und seine Freunde entschieden, dass sie schließlich doch bei der Feldarbeit von größerem Wert sein könnte, als wenn sie sich in dunklen Winkeln verbarg und Ratschläge zu alltäglichen Problemen des Dorflebens gab? Gregor. Wie brüderlich war seine Fürsorge überhaupt? Er sah sie mehr und öfter als jeder andere im Dorf und kannte ihre Jugend. Bisweilen betrachtete er sie in einer Art und Weise, die sie als seltsam empfand; nicht bedrohlich, aber entschieden seltsam. Sie musste daran denken, den Hexenumhang auch dann zu tragen, wenn sie allein waren. Besonders dann. Aber so sehr sie sich manchmal bemühte, sie konnte ihr Talent nicht davon überzeugen, dass die Aussicht, ihren Status im Dorf zu verlieren, eine hinreichend ernste Drohung darstellte, um die Träume zurückzubringen. Sie war so weit gelaufen, wie es ihr möglich war; was immer jetzt aus ihr wurde, es musste hier geschehen. Wie konnten sie so dumm gewesen sein! Rantor schäumte innerlich vor Wut. Siebzehn Tage Untätigkeit. Eine verfahrene Situation. Die Vertreter dieses verwünschten Königs Rotonoga verlangten noch immer, dass das Schiff – das ganze Schiff! – als Kompensation für den Verlust von zwei Sätzen Flügeln, für den sie Rantor verantwortlich machten, übergeben werden müsse. Sie konnten es natürlich mit Gewalt an sich bringen, hier im Hafen, obwohl Rantor es vorher verbrennen würde und dafür gesorgt hatte, dass sie es wussten. Oder sie konnten die Besatzung der Far Trader schließlich durch Aushungerung zur Übergabe zwingen. Das, dachte er mit grimmiger Befriedigung, mochte freilich länger dauern, als sie erwarteten, und er würde trotzdem das Schiff verbrennen, bevor sie es in die Hände bekamen. Rantor hatte, wie er hoffte, Zeit gewonnen, indem er den Eindruck erweckt hatte,
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ihre Vorräte seien nahezu erschöpft, und wiederholt ohne Erfolg um Proviantlieferungen gebeten hatte. Das sollte diesen König und seine Männer ermutigen, das Wartespiel wenigstens noch eine Weile weiterzutreiben. Aber konnte irgendetwas an ihnen vorausgesagt werden, wenn die Idioten sich weigerten, über Handelsfragen zu sprechen? Vielleicht waren sie keine Idioten. Sie hatten alle Trümpfe in der Hand, solange die Far Trader unter den wachsamen Augen der königlichen Garde im Hafen lag. Schließlich würden sie gezwungen sein, um Lebensmittel zu betteln oder einen verzweifelten Fluchtversuch zu unternehmen – doch wie konnten sie unbemerkt auslaufen? Und selbst wenn es ihnen heimlich oder im Kampf gelang, den Hafen zu verlassen, hatte der König Flieger, die von oben die See überblicken und das Schiff mühelos ausmachen würden. Auf längeren Strecken konnte die Far Trader jeder Galeere bei einigermaßen günstigem Wind davonsegeln. Aber wenn sie wussten, wo das Schiff war, und mehrere von ihnen prompt die Verfolgung aufnahmen, konnten sie das Schiff rasch abfangen und entern. Er war töricht gewesen, seine Leute in diese Lage zu bringen. Er hätte vor der Küste auf Reede ankern und auf Armeslänge verhandeln sollen. Aber selbst dann wären die Einheimischen mit diesen verdammten Fliegern im Vorteil gewesen. In einem Gefecht würde es leicht sein, sie vom Schiffsdeck fernzuhalten, doch würde das nicht genügen. Ein paar wagemutige Männer, die in der Takelage landeten und die Seile durchschnitten, würden das Schiff lähmen, während die Galeeren auf beiden Seiten längsseits kommen konnten. Die langen Riemen der Far Trader, so nützlich sie waren, um in einen Hafen oder heraus zu fahren, konnten das große und schwere Schiff nicht schnell und wendig genug manövrieren, um es mit den für Kriegszwecke konstruierten Galeeren aufzunehmen. Gleichwohl war er ein Dummkopf gewesen, sich vorzustellen, dass die ganze weite Welt wie der Archipel sein würde, nur größer. Dort gab es immer verschiedene Fraktionen, wechselnde Bündnisse unter den verschiedenen Inselgruppen, so dass ein guter Händler eine gegen die andere ausspielen und dabei einen Weg finden konnte, der ihm zum Vorteil gereichte. Aber hier – noch immer konnte er es kaum glauben: eine einzige große Insel, isoliert im Ozean, beherrscht von einem einzigen König, dem alle Untertan
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waren. Es gab keine Fraktionen, die man gegeneinander ausspielen könnte. Keine wirklichen Schiffe, nur diese vergrößerten Ruderboote – was der Grund war, dass sie so begierig waren, die Far Trader in ihren Besitz zu bringen, nachdem sie die Möglichkeiten erkannt hatten, die sich mit ihr verbanden. Der große Berg in der Mitte der Insel erschwerte das Reisen über Land, aber die Galeeren befuhren die Küstengewässer und konnten dem Verkehrsaufkommen von Personen und Waren durchaus genügen. So gab es hier genug erfahrene Seeleute und Schiffsbauer, die sein Schiff nachbauen und segeln konnten, und bei dem Gedanken, was sie tun könnten, wenn sie auf den Archipel losgelassen wären, machte Rantor frösteln. Denn wer hätte sich die Flieger vorstellen können? Alles schien davon abzuhängen. »Steuermann.« »Ah, Falk! Ich habe über Ihren Rat nachgedacht. Versuchte den richtigen Gesichtspunkt zu finden, wie man das Problem unserer Flucht in Angriff nehmen kann.« »Vielleicht kann ich helfen.« »Ihr Blitzgenerator wird uns nicht aus diesem Hafen bringen, lieber Freund.« »Nein.« Falk fasste den Steuermann um die Schultern und beugte sich zu seinem Ohr. »Aber wenn wir auf der anderen Seite der Insel vor Anker lägen«, sagte er mit halblauter Stimme, »und wenn ein guter ablandiger Wind wehte und wenn ich garantieren könnte, dass uns für einen halben Tag oder so keine Flieger folgen könnten – was würden Sie dem Kapitän raten?« »Die Ankerkette kappen. Alle Segel setzen und auslaufen. Mit einem Vorsprung und ohne Gefahr, dass Flieger uns die Segel zerschneiden, könnten wir den Galeeren davonlaufen, bis sie ermüden.« Auf einmal leuchtete waches Interesse in Rantors Augen. »Aber ist es zu machen, Falk? Haben Sie wirklich einen Plan?« »O ja, Steuermann, ich habe einen Plan. Und ein Geheimnis, das diesen Leuten viel wertvoller ist als die Far Trader. Ich kann ihnen zeigen, wie sie bei Nacht und im ersten Licht des Morgens fliegen können, wenn, wie Sie beobachtet haben müssen, ihre schönen Schmetterlinge am Boden bleiben müssen.« Der Steuermann lehnte sich seufzend zurück. »Wirklich, ein wundervolles Geheimnis, mein Freund. Aber wenn Sie meinen,
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es würde uns die Freilassung erkaufen, befinden Sie sich in einem traurigen Irrtum. Dieser König wird Ihr Geheimnis nehmen und uns und unser Schiff als Zugabe behalten.« »Aber ich kann nicht hier bleiben, Steuermann. Wir können nicht hier bleiben. Ich habe Arbeit zu tun – die Theorie der Ähnlichkeiten hat die interessantesten Implikationen. Ich muss irgendwo Gelegenheit haben, wieder richtig zu arbeiten.« Rantors eben erwachte Hoffnung verblasste schon wieder. Er erinnerte sich, dass Falk aus einem weit entfernten Teil des Archipels zu den Drei Inseln gekommen war. Er schuldete dem Herzog keine wirkliche Untertanentreue; er wollte nichts als einen Wohltäter, der ihm seine Experimente erlaubte und Unterstützung gewährte. Sogar das kostbare Schiff bedeutete ihm nichts, außer dass es eine eher ungünstige Plattform für diese Experimente und Studien abgab. Dennoch betrachtete Rantor ihn als einen Freund und glaubte, dass das Gefühl erwidert wurde. Sicherlich würde Falk sich nicht mit seinem neuen Geheimnis einfach davonstehlen und seine Dienste dem König anbieten? Wenn ihn schon nicht die Untertanentreue dem Herzog gegenüber davon abhalten würde, dann doch sicherlich diese Freundschaft, die sie verband? »Wir gehen zusammen, Falk, oder überhaupt nicht. Ich werde nicht einen einzigen der Leute unter meinem Kommando im Stich lassen.« Falk überhörte geflissentlich oder aus Unaufmerksamkeit den harten Unterton, der in Rantors Stimme gekommen war. »Natürlich. Selbstverständlich.« Er verlor sich wieder in seine Traumwelt und murmelte beinahe unhörbar, während er im Kopf komplizierte Pläne wälzte. »Selbst ein König muss seine Geheimnisse haben und mein Geheimnis ist so mächtig, dass es nicht nahe den neugierigen Ohren und Augen der Stadt enthüllt werden kann. In einiger Entfernung, hinter dieser Halbinsel dort, würde es eher möglich sein. Und das Schiff muss zur Hand sein, um meine Ausrüstung zu befördern. Sie werden das nicht ungewöhnlich finden, weil hier alle Transporte auf dem Seeweg abgewickelt werden.« Er brach ab und musterte Rantor mit ernster Miene, als wäre ihm gerade ein Zweifel gekommen. »Ja, Steuermann, ich werde eine Menge Ausrüstung benötigen. Es wäre vielleicht das beste, Sie würden es dem Kapitän erklären.« Rantor hatte die Gewohnheit angenommen, Falk zu
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vertrauen. Es war eine Gewohnheit, mit der zu brechen er nicht über sich bringen konnte, obwohl er sich gelobte, dass der Schwindler dafür bezahlen würde, wenn dies irgendein fauler Trick wäre. »Der Kapitän wird sicherlich zustimmen. Selbst wenn die Flieger uns verfolgen sollten, wird es besser sein, kämpfend auf offener See unterzugehen als hier im Hafen zu verhungern. Bei Nacht, mit nur ein paar Wachen, die überwältigt werden müssen, und dem ablandigen Wind …« Er zuckte die Achseln. »Nun, wir werden nicht gewinn en. Aber sie werden wissen, dass wir es ihnen nicht leichtgemacht haben.« Er hielt inne. »Aber wo werden Sie sein, Falk? Wie können wir unseren Anker lichten und fliehen, wenn Sie an Land sind und den Leuten des Königs irgendwelchen Schwindel demonstrieren?« Falk zeigte sein vertrautes Grinsen. »Schwindel, Steuermann? Haben Sie so wenig Vertrauen? O nein, meine Tricks wirken immer, wie Sie wissen sollten. Aber dieser mag nicht in der Weise wirken, wie andere Leute erwarten. Sie brauchen nur eine Weile vor der Küste zu warten, um mich an Bord zu nehmen, bevor Sie alle Segel setzen. Ich versichere Ihnen, es wird keine Flieger geben, die Ihre Flucht verhindern. Sehen Sie, es hat alles mit der Anziehung von Ähnlichkeiten und der Abstoßung von Gegensätzlichkeiten zu tun.« So sehr er es versuchte, mehr konnte Rantor seinem weitblickenden Freund nicht entlocken. Das und eine Liste von Materialien, die benötigt wurden, des Königs Männer zu täuschen, aus der Rantor nicht schlau wurde. Während Kapitän Bryon dem Angriff auf die Lagerräume des Schiffes nur aufgrund von Rantors feierlichem Versprechen zustimmte, dass das Ergebnis wenigstens die Entführung des Schiffes aus diesem verdammten Hafen sein würde. Bei ihrer Annäherung schienen die Flammen höher aufzulodern und wirbelnde Funken in die Nachtluft zu entsenden. Natürlich war es eine Illusion, sagte sich Elyse, eine Täuschung ihrer Wahrnehmung, verursacht von ihrem erhöhten Bewusstsein von der Macht der Flammen und der Art und Weise, wie die kleine Menschenmenge freundlich Platz machte, um ihr einen ungehinderten Blick zu ermöglichen. Das Erntefest war eine gedämpfte Angelegenheit, die zur bescheidenen Ausbeute der Ernte passte. Aber es gab eine Ernte, selbst wenn sie
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bescheiden ausgefallen war, und die Tradition verlangte, dass sie in der geeigneten Form mit einem Freudenfeuer und Tanz gefeiert werde. Wenn das Dorf die Tradition nicht aufrechterhielt, war nicht abzusehen, wie schlecht die Ernte das nächste Mal sein könnte. Ely se starrte ins Feuer und versuchte durch eine Willensanstrengung, mehr als Flammen und Rauch zu sehen. Als sie sich konzentrierte und die umgebenden Ablenkungen zurückdrängte, schien sie nichts als ein noch wilderes Auflodern zu sehen, begleitet von einem lauteren Knistern und Knacken, als die trockenen – allzu trockenen – Scheite vom Feuer verzehrt wurden. Und dann nahm sie ein weiteres Geräusch wahr, ein Gemurmel der umstehenden Dorfbewohner, die sich vorsichtig weiter von ihr zurückzogen. Aufgeschreckt aus ihrer Träumerei, blickte sie aus der Deckung ihrer Kapuze umher. Es war keine Illusion! Die Intensität des Feuers hatte bei ihrer Annäherung, als sie ihren Geist auf die Flammen konzentriert hatte, wirklich zugenommen – und einige hatten die Veränderung bemerkt. Wenigstens dachten sie, dass sie eine Veränderung bemerkt hatten. Aber es war nicht zu spät, Zweifel zu säen. Es war nicht nötig, für mehr Aufregung zu sorgen; sie konnte sich jetzt zurückziehen, einen Becher Glühwein nehmen, sich von den Flammen fernhalten und an alles außer Feuer denken. Niemand würde erwarten, dass sie am Tanzvergnügen teilnahm. Das Feuer mochte seinen natürlichen Gang nehmen und am Morgen würde niemand wirklich glauben, dass die Hexe die Macht hatte, das Feuer heller auflodern zu lassen. Jeder, der solch eine Geschichte erzählte, würde im hellen Tageslicht ausgelacht; und wer sich einbildete, er oder sie erinnere sich an solch ein Ereignis, würde sich selbst sagen, dass es Einbildung gewesen sei, der Einfluss des Glühweins, welche die Hexe mit dem Feuer in Verbindung gebracht hatten, in dem sie, was ein jeder wusste, ihre Visionen fand. Oder einfach ein Zufall, verursacht von ein paar frischen Scheiten, die in die Glut gefallen waren, als sie zufällig dahergekommen war. Aber sie wusste es besser. In dem Maße, wie ihre Träume sie verließen, wuchs ihre Macht über die Flammen . Es war nicht bloß, wie sie gedacht hatte, dass sie geschickter darin wurde, ihre Feuer anzuzünden und mit frisch geschnittenen Zweigen zu behandeln. Die Flammen reagierten wirklich auf
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ihre Wünsche. Ein weiteres nutzloses Talent. Das Letzte, was die Leute mitten in einer Dürre wünschen konnten, war eine Brandstifterin. Dieses Geheimnis musste sie für sich bewahren. Sie verließ das Fest so früh wie es mit ihrem Status zu vereinbaren war, und ging zu Bett. Dort, ohne die Hilfe eines lebendigen Feuers, träumte sie wieder, als ob ihr Talent sie nie verlassen hätte. Doch obgleich sie ohne die Hilfe von Feuer träumte, lag es wieder im Herzen des Traums. Falk war müde. Es hatte wie ein brillanter Schachzug von Seiten des Steuermanns ausgesehen, dass er darauf bestanden hatte, er könne seinen Falk nicht ohne Eskorte unter die Insulaner gehen lassen. Natürlich hatte Rho-gan, der Mann des Königs, seinerseits und aus einer Position der Stärke heraus darauf bestanden, dass niemand außer Falk das Schiff verlassen dürfe. Stattdessen wurden Geiseln angeboten, die Falks sichere Rückkehr garantieren sollten. Und so saß jetzt Bah-Lee mit dem gebrochenen Arm in Schienen an Bord der Far Trader in der Kapitänskajüte und wurde von der Besatzung bewacht. Das Schiff wiederum wurde von Männern des Königs in ihren Galeeren bewacht. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt darum zu sorgen, aber wenn es nicht notwendig gewesen wäre, dass Rantors Bluff gelingen würde, hätte Falk die Anwesenheit von jemandem begrüßt, dem er wirklich vertrauen konnte und der ihm bei der Arbeit half, alles aufzubauen. Es war eine langwierige und mühsame Schlepperei gewesen, vom Strand beinahe tausend Schritte landeinwärts und bergauf. Doch die Stelle schien nahezu ideal, und die Meeresbrise, die noch unregelmäßig geweht und ihnen etwas Kühlung verschafft hatte, als sie das Material hinaufgeschafft hatten, war beinahe eingeschlafen. Das Feuer brannte bereits. »Rho-gan!« Der Insulaner wandte auf Falks Ruf hin den Kopf. »Der Wind hat sich gelegt, wir können anfangen. Sagen Sie ihnen, sie sollen nachlegen, bis das Feuer höher brennt, und die Halsöffnung des Himmelssegels über den aufsteigenden Rauch halten.« »Wie Sie befehlen, o Falk.« Rho-gan war es gewohnt, selbst Befehle zu erteilen, doch schien es ihm lieber, sich selbst mit gespielt unterwürfigem Gehorsam zu belustigen, als sich von der Situation aus der Fassung bringen zu lassen. Dies fügte
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sich gut in die Instruktionen, die Falk vom Steuermann erhalten hatte: auf jeden Fall entkommen und den Einheimischen vor Augen führen, dass sie mit der Besatzung der Far Trader und den Leuten des Archipels insgesamt nicht nach Belieben umspringen konnten. Dabei sollte die Tür für spätere Handelsbeziehungen zwischen gleichgestellten Partnern möglichst offengehalten werden. Es hatte keinen Sinn, sein Vorhaben mit allzu viel Geheimnistuerei zu umgeben, und es beruhigte immer seine Nerven, wenn er etwas erklären konnte. Auf Rho-gans Anweisung hin waren die Männer mit der unangenehmen Aufgabe, die kreisförmige untere Öffnung des Himmelssegels über das Feuer zu halten, ein wenig näher an die Flammen herangerückt. Die Öffnung wurde über dem Feuer von Stangen gestützt und jede Stange wurde von einem schwitzenden Mann gehalten. Weitere Stangen hielten den schlaffen Körper des Himmelssegels oberhalb der Öffnung und des Halses und dieser Körper begann anzuschwellen und sich wie ein gigantisches Tier, das aus dem Schlaf erwacht, zu bewegen. »Sie sehen, wie der Rauch und die Funken in der warmen Luft aufsteigen. Das ist ein Naturgesetz, die Abstoßung von Gegensätzen. Heißes kann den kalten Boden nicht ertragen und muss davon aufsteigen. Mein kleines Himmelssegel wird das Gleiche tun.« »Klein!« Rho-gan blickte zu dem sich allmählich aufblähenden Stoff, der einmal zu den besten Schönwettersegeln des Schiffes gehört hatte und zuvor flach am sanft ansteigenden Hang gelegen hatte, nun aber ein Eigenleben anzunehmen begann, als heiße Luft vom Feuer in seine gähnende Mundöffnung gelenkt wurde. »Zwanzig Männer könnten es kaum mit ausgestreckten Armen umfassen. Aber sicherlich werden Sie auf Ihrer Heimatinsel viel größere Himmelssegel haben?« »Ich habe selbst nie ein größeres geflogen.« Was sicherlich wahr war, dachte Falk, und hoffentlich hinreichend irreführend, dass der Insulaner zu seinen eigenen falschen Schlüssen gelangen würde. »Aber es ist beinahe Zeit für meine Vorführung. Da Sie selbst ein erfahrener Flieger sind, könnten Sie mir vielleicht mit dem Gurtzeug helfen. Es ist ein Glücksfall, dass Ihre Flügelgurte für meine Bedürfnisse hergerichtet werden konnten, aber die Anordnung ist mir nicht
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vertraut.« Gemeinsam gingen sie um das Feuer. Sogar am Boden war die Hitze ungemein stark. Das Himmelssegel hatte sich aufgerichtet, war jetzt beinahe gerundet und aufgebläht und machte Anstalten, vom Boden abzuheben, doch es wurde von einem weitmaschigen übergespannten Netz niedergehalten, dessen Halteseile von kräftigen Männern gehalten wurden. Es funktionierte! Falk versuchte seine Erregung zu verbergen. Natürlich funktionierte es; er hatte es gewusst. Doch obwohl die Wirklichkeit aufregend genug war, musste er den Eindruck erwecken, es sei alles Routine. »Vorsicht, dass die Funken nicht das Segel entzünden!« Der nächste Stangenhalter grunzte etwas, das eine Bestätigung oder Erwiderung sein mochte, und Falk beschloss nicht weiter zu drängen. Er hatte sich um genug zu sorgen. Hauptsache, sie hielten das Himmelssegel über der heißen aufsteigenden Luft an Ort und Stelle, wo es vom kühlen Boden abgestoßen wurde, wie die Gesetze der Wissenschaft es diktierten. Rho-gan hatte das Gurtzeug bereit. Falk, dem seine kleine Statur zustatten kam, fuhr mit den Armen hinein und sah zu, wie der Insulaner die Gurte fest um seine Brust schnallte. Über seinem Kopf war das lederne Gurtzeug an Seilen befestigt, die um die breite untere Öffnung des Himmelssegels gezogen waren. Es schien alles recht sicher – allzu sicher für das, was er vorhatte. »Sollte ich ein wenig abrupt niedergehen, Rho-gan, könnte es erforderlich sein, dass ich mich eilig aus diesen Gurten befreien kann, bevor mir das Himmelssegel auf den Kopf fällt und mich erstickt.« Der Insulaner nickte. »Ein echtes Problem, sollten Sie mehr als ein paar Klafter in die Luft emporsteigen.« Machte Rhogan sich über ihn lustig? Egal, Spott oder nicht, er erklärte, was Falk zum raschen Öffnen der Schnallen wissen musste. Und je weniger Vertrauen er zum Himmelssegel hatte, desto größer würde der Überraschungseffekt sein, der Falk weiterhelfen würde. »Dieser Knoten hier kann durch einen Zug geöffnet werden, so«, erklärte er und knüpfte den Knoten dann aufs Neue. »Aber es ist besser, nicht daran zu ziehen, wenn Sie hoch über unseren Köpfen schweben!« Falk lächelte. Er konnte nicht umhin, diesen Mann zu
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mögen. Vielleicht würden sie einander wieder einmal begegnen. Es gab vieles über die Flügel der Insulaner, was er gern gelernt hätte. Aber jetzt kam alles auf die Wahl des richtigen Zeitpunktes an. Er hatte den Steuermann instruiert, seinen Schachzug zu machen, wenn das Feuer in sich zusammenzusinken begann, was der Fall sein würde, sobald er sicher auf dem Weg sein und die enthusiastischen Brandstifter, die er angestellt hatte, aufhören würden, Holzscheite in die Flammen zu werfen. Er fühlte einen Zug an den Schultern und seine Nackenhaare sträubten sich. Er hatte nie bezweifelt, dass die Vorrichtung funktionieren würde, aber dieses Experiment war ein wenig anders als die üblichen. Diesmal experimentierte er an sich selbst. Er blickte auf. Das Himmelssegel war beinahe über seinem Kopf, festgehalten von den Seilen, um die aufsteigende Hitze des Feuers einzufangen. Die Lederriemen seines Gurtzeugs waren straff gespannt. Er musste starten und darauf vertrauen, dass der ablandige Nachtwind sich rechtzeitig einstellen würde. Sein Verstand sagte ihm, dass er in der Höhe bereits eingesetzt haben musste; aber sein Magen schien im Streit mit seinem Verstand zu liegen. Rho-gan lächelte ihm zu. »Nun, Falk, es ist Zeit, dass Sie Ihrem Namen gerecht werden. Ein Mann ohne seine Flügel, sage ich immer, ist kein richtiger Mann. Ihr Himmelssegel ist nicht das, was ich mir unter Fliegen vorstelle. An ein paar Gurten zu hängen, unfähig, einen bestimmten Kurs zu steuern. Aber ich muss zugeben, dass meine Flügel mich heute Abend niemals in die Höhe tragen würden, während Ihr Himmelssegel genau die Abneigung zeigt, am Boden zu bleiben, die Sie voraussagten. Wenn es Sie höher trägt, als ich springen kann, werde ich Sie morgen zum Ehrenmitglied der Fliegergilde machen.« Ich mag außerstande sein, einen bestimmten Kurs zu steuern, dachte Falk, aber wenn alles wie geplant verläuft, wirst du die Gelegenheit nicht bekommen. Er lächelte mit echter Wärme zurück und hoffte, Rho-gan würde für das, was nun geschehen sollte, nicht verantwortlich gemacht werden. »Fertig.« Rho-gan nahm den Ruf auf. »Unser Falke ist bereit zu fliegen! Gebt den Vogel frei!« Die Männer, die auf einer Seite des Netzes die Seile hielten, ließen diese los, und das Himmelssegel konnte unter dem Netz
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herausgleiten und sich über das Feuer erheben. Falk wurde seitwärts gerissen, begann mitzulaufen, stolperte; einen Augenblick glaubte er, das Himmelssegel werde ihn ins Feuer schleifen. Dann aber kam es frei vom Netz und stieg mit schwindelerregender Schnelligkeit empor. Seine Stiefel streiften kaum die Flammen und er war in der Luft, schwebte in einer warmen, aufsteigenden Luftsäule, lautlos wie ein Vogel. Er wusste, dass die Zeit knapp war. Bald würde die Wärme im Himmelssegel abkühlen, entweichen und in der Luft verschwinden, wie sie zuvor von der kühlen Erdoberfläche abgestoßen worden war. Mit der Abkühlung des Himmelssegels würde es in Übereinstimmu ng mit dem Gesetz der Anziehung von Ähnlichkeiten sanft (hoffte er) zum Boden zurücksinken. Aber es taugte nicht, dort zu landen, wo er aufgestiegen war. Alles hing jetzt vom ablandigen Nachtwind ab, der immer vom Ufer seewärts wehte, von jeder Insel, das hatte der Steuermann ihm versichert. Falk wusste jetzt, warum es so war. Von der Sonnenstrahlung des Tages erwärmte Luft wurde durch die Anziehung von Ähnlichkeiten zur Sonnenhitze gezogen. Darum konnten diese Inselflieger auf ihren Schwingen während der Tageshitze so hoch fliegen. Die aufsteigende Luft hob sie empor. Natürlich wirkte sich das auf dem Land stärker aus, da es höher lag als die See und die aufsteigende Luft an den Flanken des Berges emporstrich, der Sonne entgegen. Bei Nacht kam es zur Umkehrung dieser Verhältnisse. Die höheren Luftschichten kühlten ab, wenn die Sonne bei Nacht dunkel wurde. Kühle Luft wurde von der kühlen Oberfläche unten angezogen, sank abwärts, und dieses Abwärtssinken wurde durch die Hänge des Berges verstärkt. So sank die abgekühlte Luft rasch die Berghänge herab und wehte als ablandige Nachtbrise zur See hinaus. Kein Flieger mit künstlichen Schwingen konnte den Boden verlassen, wenn die Nachtbrise wehte; er konnte nur in aufsteigender Warmluft fliegen, in der Tageshitze. Falk aber konnte selbst in kalter Luft aufsteigen, weil er seine eigene Wärme erzeugte. Sobald er allerdings in der Luft war, benötigte er in diesem Fall die kalte Luft, die vom Berg herab und zur See hinauswehte, weil sie ihn mitnehmen und zur Far Trader tragen sollte. Aber nichts geschah! Er konnte überhaupt keine Luftbewegung spüren!
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Beunruhigt blickte Falk zwischen seinen Stiefeln hinab in die Tiefe. Er war weit über den höchsten Bäumen, zwanzig, dreißig – vielleicht fünfzig – Klafter über dem Boden. Das Feuer war nicht mehr dort! Er drehte sich in seinen Gurten und sah es ein gutes Stück abseits. Während er es beobachtete, schien es fortzutreiben. Er war in Bewegung! Und die Bewegung trug ihn seewärts! Rufe von unten unterbrachen seine Gedanken. »Falk! Himmelfahrer! Wie weit wollen Sie reisen?« Er lachte. Alles war gut. Die Gelegenheit war unwiderstehlich. »Die ganze Strecke zurück zu meinem Schiff, Rho-gan! Und wenn Ihre Flieger auf Ihren Schwingen aufsteigen können, werden wir weit, weit entfernt sein!« Rantor selbst führte den Angriff, sobald er sah, dass das Feuer auf dem Vorgebirge niederzubrennen begann. Er wollte mittendrin sein und einen mäßigenden Einfluss ausüben. Es war wichtig, dass niemand von der Ehrenwache ihrer Geisel getötet wurde; er wollte jeden Vorwand vermeiden, der zu weiterer Feindseligkeit zwischen dem Archipel und dieser Insel führen konnte. Die Wachen waren jedoch frei von solcher Zurückhaltung, und obwohl sie auf unvertrautem Boden kämpften, verschaffte ihnen dies einen Vorteil. Aber sie mussten überwältigt werden, bevor die zwei Galeeren, die von den Geräuschen des Handgemenges sicherlich alarmiert worden waren, eingreifen konnten. Kurze Knüppel hatten mehrere der Wächter außer Gefecht gesetzt – Rantor hoffte nur, dass sie nicht mit allzu viel Begeisterung geschwungen worden waren –, und er bemerkte grimmig, dass mindestens drei seiner Männer zu Boden gegangen waren, offenbar ernstlich verwundet. Aber der Fechter ihm gegenüber war kein Anfänger; er hatte alle Hände voll zu tun, um ihn in Schach zu halten, während er versuchte, den Mann in eine Position zu manövrieren, wo einer der Seeleute ihn mit einem sicheren Schlag niederstrecken konnte. Das Schwert stieß nach Rantors Unterleib; er sprang seitwärts, lenkte die Klinge ab und wich wieder zurück. Verdammt, dieser Mann war wirklich gut; wo waren seine Helfer? Plötzlich schwankte die Far Trader, als das Ankertau durchschnitten war und der Bug vor den Wind schwang. Rantor konnte sich der Bewegung des Decks mit Leichtigkeit
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anpassen; sein Gegner aber, offensichtlich ein Landbewohner, geriet aus dem Gleichgewicht. Rantor sah eine Gelegenheit und unternahm einen Ausfall, um den Schwertarm seines Gegners zu treffen. Zu seinem Schrecken stolperte sein Gegner in den Stoß, als das Schiffsdeck sich unter ihnen hob. Im letzten Augenblick gelang es Rantor, die Spitze seiner Klinge hochzureißen, dass sie den Mann in die rechte Schulter traf, statt seine Brust zu durchbohren. Als der Verwundete versuchte, das Schwert in die linke Hand zu nehmen, sprangen zwei der Matrosen hinzu und nahmen ihn von hinten. Er sank mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie und blutete stark, war aber, wie Rantor hoffte, nicht tödlich verletzt. Er sah sich um. Der Kampf war vorüber, das Schiff machte Fahrt. Aber es waren mehr Probleme zu bewältigen. Er nickte seinen Helfern anerkennend zu, dann rannte er zurück zum Achterdeck. Unterwegs wischte er das blutige Schwert geistesabwesend an seinem Umhang sauber. »Kurs halten!« Auf Deck war es ruhig geworden und Kapitän Bryons Befehl an den Rudergänger war auf dem ganzen Schiff hörbar. Eine der Galeeren lief unter allen Rudern im spitzen Winkel auf die Far Trader zu, als wollte sie ein Entermanöver ausführen. Die andere lag noch ein paar hundert Schritte zurück. »Jetzt! Hart backbord, in die Ruder!« Unter dem Druck der Segel legte das Schiff leicht über und lief direkt auf die Galeere zu. Das Manöver überraschte die Besatzung des Ruderschiffes, die nur im Seegefecht gegen andere Galeeren ausgebildet war. Nun schrammte die Far Trader Bord an Bord an der Galeere entlang und brach deren Ruder nacheinander ab. Kaum eine Minute nach dem Beginn des Manövers blieb die Galeere hilflos zurück, wenigstens einstweilen. Der Kapitän ließ wieder Kurs auf die See nehmen, aber unter verringerten Segeln. Die andere Galeere hielt in sicherem Abstand Schritt mit ihnen. »Far Trader!«, rief jemand von dort herüber. »Ihre Geisel wird verloren sein!« Bryon blickte zum Steuermann, der ihm zunickte. Der Kapitän legte beide Hände an den Mund und rief zurück: »Er muss es darauf ankommen lassen! Aber wir haben hier ein paar Passagiere, die gern zu Ihnen hinüber möchten. Wir werden ihnen ein Boot geben.« Der Kapitän spielte die Szene aus, trödelte herum, vorgeblich, um den Gefangenen die Ausschiffung zu erleichtern, und gab den Männern seiner Besatzung
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umständliche Anweisungen, wie sie ein Boot zu Wasser lassen, die Gefangenen an Bord nehmen und zur Galeere hinüberrudern sollten. Unterdessen suchten besorgte Blicke nicht nur des Steuermanns Himmel und Wasser achteraus nach Verfolgern und Falks Himmelssegel ab. Konnte es wirklich klappen? Ein Mann, selbst wenn er klein und schmächtig wie Falk war, ließ sich nicht gut mit einem Stück Papier vergleichen, das von heißer Luft in die Höhe getragen wurde. Würde er überhaupt die Rückkehr an Bord versuchen, oder hatte er sich vorgenommen, bei einem neuen Mäzen auf der Insel zu bleiben? Rantor musste damit rechnen, dass jeden Augenblick eine oder zwei Hände Galeeren hinter dem Kap der Halbinsel hervorkommen würden, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. »Ich sehe ihn! Achteraus auf zwanzig Strich steuerbord!« Der Steuermann blickte nach links. Ein weißlicher Fleck, matt schimmernd im schwachen Schein des Nachtglühens, kaum eine Masthöhe über dem Wasser. Und rasch sinkend. »Ein Kronenstück für den Mann!«, rief der Kapitän. »Gebt das Boot frei! Ruderer auf die Plätze! Unter Segel!« Die Far Trader drehte stark krängend beinahe auf der Stelle und hielt auf das rasch sinkende Himmelssegel zu. Plötzlich stieg dieses wieder aufwärts, aber ein verräterisches Aufklatschen darunter erklärte den Sachverhalt. Falk hatte sein seltsames Luftfahrzeug aufgegeben und sich ins Wasser fallen lassen. Abermals überrascht von dieser neuen Wendung der Dinge, lag die verbliebene Galeere volle zwei Schiffslängen zurück, als drei kräftige Seeleute den triefenden Falk an einer Rettungsleine an Bord des Schiffes zogen. Endlich kam der Befehl, alle Segel zu setzen, und wieder drehte das Schiff auf Gegenkurs und nahm unter der vollen Stärke der ablandigen Fallwinde rasch Fahrt auf, während Falk tropfend zum Achterdeck stapfte. »So, Falk.« Bryon wandte seine Aufmerksamkeit vorübergehend von der Arbeit der Besatzung, die damit beschäftigt war, die höchstmögliche Geschwindigkeit aus seinem Schiff herauszuholen. »Wo ist mein bestes Schönwettersegel, wenn ich es brauche, hm?« Rantor lachte über den Ausdruck, der in Falks Gesicht kam. »Keine Bange, Falk. Sie sind uns mehr wert als ein Segel.« Er schlug seinem Freund auf die Schulter, doppelt erleichtert,
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dass es Falk tatsächlich gelungen war, Wort zu halten. »Aber dieser Trick mit dem Himmelssegel!« Er schüttelte den Kopf. »Ein sehenswerter Anblick. Ein Mensch schwebt durch die Luft.« Falk lächelte. »Sie hätten mich vorher sehen sollen, Steuermann. Es trug mich mindestens hundert Klafter in die Höhe. Aber es sinkt so rasch; mit den Flügeln der Insulaner kann es sich nicht messen. Ein nutzloses Spielzeug, nun, da der Überraschungseffekt verlorengegangen ist.« »Das würde ich nicht sagen.« Die ruhige Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit zu einer Gestalt, die mit einem steifen Arm abseits an der Reling stand. »Bah-Lee – warum sind Sie nicht mit den anderen von Bord gegangen?« Er hob eine Schulter. »Unser König, mein Onkel«, sagte er und lächelte über die erstaunte Reaktion, die seine Worte auslösten, »könnte Sie unterschätzt haben. Ich verstehe nicht, wie Falk dieses Kunststück glücken konnte, aber sein Wert ist mir klar. Wenn eines dieser Himmelssegel einen Mann mit seinen Flügeln in die Höhe tragen kann, könnte er sich dort losmachen und von diesem günstigen Ausgangspunkt seinen Flug antreten. Es könnte die Reichweite von Fliegern bedeutend vergrößern. Der König ist kein Dummkopf und wird dieses Geschenk weit höher schätzen als das Schiff, das sich seinem Zugriff so geschickt entzogen hat.« »Schöne Worte«, sagte Bryon mit verdrießlicher Miene. »Trotzdem werde ich nicht zu Ihrer Insel zurückkehren.« Bah-Lee zeigte sich unbekümmert. »Ich denke, unsere Partie ist ausgeglichen. Sie könnten zurückkehren, ohne um Ihre Sicherheit fürchten zu müssen. Aber wie ich sehe, sind Sie Händler und nicht Überbringer von Geschenken, nicht einmal für große Könige. Und wenn ich mich nicht täusche, war dies bei all Ihren eigenen schönen Worten der erste Flug dieses Falken. Eine eindrucksvolle Schaustellung. Als Gegenleistung für die Gabe des Himmelssegels kann ich Ihren Falk vielleicht in der Kunst des Fliegens mit Schwingen unterweisen, so dass er seinem Namen wirklich Ehre machen kann. Und dann würden Sie und Ihre Leute vielleicht erkennen, dass wir ein zivilisiertes, nüchtern und geschäftsmäßig denkendes Volk sind.« »Wir begrüßen Ihr Angebot, Bah-Lee.« In einer freundschaftlichen Geste legte Rantor dem Flieger die Hand
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auf dessen unverletzte Schulter. »Trotzdem haben wir nicht die Absicht, zurückzukehren und einen Hafen Ihrer Insel anzulaufen.« Der Insulaner lächelte. »Ich bin nicht sicher, wie willkommen ich selbst zum gegenwärtigen Zeitpunkt sein würde, nachdem ich so vollständig übertölpelt worden bin. Und ich würde gern mehr über diese anderen Inseln erfahren, von denen Sie sprechen. Mein Onkel wies mich an, alle Informationen über Sie zu sammeln, die ich bekommen kann, und wie könnte ich dies besser tun als durch meine Teilnahme an Ihrer Reise? Dann, wenn wir zurückkehren, mag ich genug Wert haben, um frühere Fehler vergessen zu machen. Und Sie werden einen Abgesandten haben, der direkten Zugang zum König hat.« Andere Inseln. Die Worte lenkten alle Gedanken von der Verfolgung ab, die bereits hinter ihnen zurückfiel. Zusammen wandten sich die Reisenden und ihr Gast nach vorn zur offenen See. Es war noch dunkel. Das Nachtglühen, um das Land konzentriert, lag hinter ihnen. Voraus konnten sie, sobald ihre Augen sich dem Dunkel angepasst hatten, undeutlich andere Lichtflecken ausmachen. Lichter am Himmel, die, wie sie jetzt wussten, andere Inseln sein mussten, andere Archipele – andere Welten mit ihren eigenen fremdartigen Sitten und Gebräuchen. Nächstes Mal, gelobte sich der Steuermann, würden sie vorbereitet sein: auf seltsame Gewohnheiten, neue Erfindungen und verschiedene Gesichtspunkte. Er wandte sich wieder dem Insulaner zu. »Und Falk mag auch Sie etwas zu lehren haben, Bah-Lee. Sie sind willkommen, an unserer Reise teilzunehmen, aber es könnte mehr Zeit in Anspruch nehmen, als Sie erwarten. Wenn es in meiner Macht steht, werden wir Sie zu Ihrer Insel zurückbringen, das verspreche ich …« Er wandte sich zur Reling und blickte hinaus in die Dunkelheit, stellte sich die gigantische Rundung der Hohlkugel vor, über die das Schiff kroch. Würde die Abstoßung von Gegensätzen wirklich dafür sorgen, dass sie sicher gegen diese Innenseite gedrückt wurden, während sie über die Sonne hinweg krochen? Es gab nur eine Möglichkeit, das festzustellen. Er seufzte. »Ich verspreche es Ihnen, aber wir mach en einen weiten Umweg.«
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Wenn man sagen könnte, dass der Beobachter Beunruhigung verspürte, dann entsprach es sicher dem, was er jetzt empfand. Er hatte Anweisungen, jede vorstellbare Eventualität zu berücksichtigen; er war auch praktisch unsterblich und selbstreparierend. Er hatte nur eine vage Vorstellung vom Gang der Zeit, wie sterbliche Wesen ihn verstanden, und infolge dessen war seine Geduld beinahe unerschöpflich. Beinahe, aber nicht ganz. Sogar ein selbstreparierendes Wesen hat ein bestimmtes Bewusstsein davon, wie viele Male es sich repariert hat, wie viele Komponenten ersetzt wurden und wie viele Äonen vergangen sind. Ein unsterbliches Wesen, das ständig die Aktivitäten sterblicher Wesen beobachtet, kann in einem abstrakten Sinne schließlich verstehen, was ihnen der Gang der Zeit bedeutet. Und wenn das unsterbliche Wesen weiß, dass seine Instruktionen von anderen sterblichen Wesen erdacht und festgelegt wurden, dann kann es allmählich zu der Erkenntnis gelangen, dass manche Dinge sich nicht ganz in der Weise entwickeln, wie die Verfasser dieser Instruktionen es geplant hatten. Wäre ihm zum Beispiel gesagt worden, es solle auf weitere Instruktionen warten, könnte es schließlich anfangen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie lange es warten sollte. Und ob es eine Möglichkeit gab, die sterblichen Wesen aufzufordern, mit den lang erwarteten neuen Instruktionen herauszukommen. Aber nichts davon beeinflusste den effizienten Betrieb der Systeme des Beobachters, noch die ständige Aufmerksamkeit, über das elektromagnetische Spektrum irgendwelche Zeichen von Intelligenz aufzufangen, irgendeine Antwort auf die eigenen, regelmäßig wiederholten Signale.
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Ha, Hexe!« Die Worte klangen wie ausgespuckt, voll Geringschätzung. Bjarni war ärgerlich und sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie stand da, ließ ihren Umhang im Wind flattern und blickte hinab auf das hübsche Holzhaus und die verdorrten Feldfrüchte auf den primitiv eingezäunten Anbauflächen im Umkreis. »Bist gekommen, dein Werk zu bewundern, wie? Zu sehen, wie gut wir deinen Rat befolgten? Wie leicht es ist, Wasser vom Fluss auf die Felder zu bringen – wenn der Fluss selbst absinkt und man hinunterklettern muss, um ihn zu erreichen? Schwere Arbeit für einen Mann. Keine Arbeit für eine schwangere Frau.« »Es tut mir leid.« Die Worte waren nutzlos, ihre Anwesenheit hier eine Beleidigung. Gleichwohl hatte sie gehofft, dass Bjarni seinen Ärger an ihr auslassen und sich auf diese Weise abreagieren würde, so dass er vielleicht zu einem besseren Verständnis größerer Zusammenhänge finden würde. Sie sah den Trampelpfad, der durch den ausgetrockneten Schlamm hinunter zum abgesunkenen Wasserspiegel des Flusses führte. Sie stellte sich das Mädchen vor, Cladine, wie es sich mit ihrem geschwollenen Bauch den Pfad heraufmühte, beladen mit einem Wassereimer. Das Absinken des Wasserstands und die schrecklichen Folgen. Und alles, weil sie dem jungen Paar gesagt hatte, es solle hier am Flussufer leben, wo es leichten Zugang zum Wasser finden würde! Aber wie konnte jemand ahnen, dass der Wasserstand so stark absinken würde? Natürlich, dafür hatte man Hexen, dass sie wussten, was andere Leute nicht wissen konnten. Und doch, warum hatte das junge Paar nicht um Hilfe gebeten? Wenigstens darauf konnte sie die Antwort erraten. Keine übernatürlichen Kräfte waren nötig, um eine Erklärung zu finden. Die jungen Leute wussten nur zu gut, wie sehr die Dorfbewohner sich abgemüht hatten, rechtzeitig Wasser in die
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Bewässerungsgräben zu leiten, um wenigstens einen Teil der Ernte zu retten. Sie hatten der Gemeinschaft nicht weiter zur Last fallen wollen, nachdem alle miteinander so viel getan hatten, um sie in ihrem eigenen Haus zu etablieren. Und alle anderen, einschließlich Elyse, die ihr Möglichstes getan hatten, das Schöpfrad zu bauen und funktionstüchtig zu machen, hatten einfach nicht daran gedacht, in den sieben Tagen nach dem dramatischen Absinken des Wasserstandes nach dem jungen Paar zu sehen. Was bedeutete, dass sie als weise Frau und als Hexe eine Versagerin war. Eine wirklich weise Frau, wie die Ältesten im Gemeinschaftsbau, hätte alle Leute von den außenliegenden Siedlerstellen herbeigerufen und mehr Menschen darauf konzentriert, den wichtigsten Teil der Ernte zu retten und die außenliegenden Felder aufzugeben. Sie hätte ihre Sorge ganz auf die Sicherung einer ausreichenden Ernte für den Lebensunterhalt konzentriert. Nun, wenigstens das war wahrscheinlich erreicht worden, dank des Schöpfrads. Aber wie es mit der nächsten Aussaat und Ernte weitergehen sollte, und der danach und allen weiteren Ernten in der Zukunft, wusste niemand. Sie wandte den Blick von der schmerzlichen Ordentlichkeit der Siedlerstelle unter ihr flussaufwärts zu den weißen Bergen selbst, die noch immer verlockend von Wolken umkränzt waren. Diese Wolken waren schon lange nicht mehr mit dem Wind herabgezogen, um das Land mit ihren willkommenen Regenfluten zu tränken. Der Große Fluss musste in den Weißen Bergen entspringen, obwohl niemand jemals dort gewesen war und es gesehen hatte. Auf dieser Seite des Flusses lag das unwegsame Land, dicht bewaldet und Heimat wilder Tiere. Es begann mehr als einen Tagesritt weiter landeinwärts und ließ zwischen sich und der Küste genug Raum auf der sanft abfallenden Ebene, dass auf dem fruchtbaren Ackerland bäuerliche Siedlungen gedeihen konnten. Ungefähr dort, wo die Wälder begannen, hatte man ihr erzählt, in der unzugänglichen, weglosen Wildnis, verengte sich das Flussbett, und das Wasser rauschte zwischen hohen Felsen wie ein Wildbach zu Tal, unpassierbar für jedes Boot. Dort war keine Hilfe zu finden. Sogar hier würde es unter normalen Bedingungen tollkühn sein, eine Überquerung zu versuchen, obwohl der Fluss mit seinem neuen, niedrigeren Wasserstand ein wenig ruhiger schien. Sie wandte sich nach
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rechts, weg vom Fluss, und ließ den Blick über die braune Ebene zur Meeresküste wandern. Dort funkelte der Ozean unbekümmert im strahlenden Sonnenlicht. Der Ozean änderte sich nie. Das alte Traumbild vom großen Schiff, das durch die Wellen pflügte, kam ihr zu Bewusstsein. Aber es war nur die Erinnerung an einen Traum. Wunschdenken. Mit einem Schiff wie dem k önnte sie all diese Leute vom ausgedörrten Land anderswohin bringen, zu einer reichen und fruchtbaren Insel wie der, die sie in ihren Träumen gesehen hatte. Dennoch hatte sich etwas an der See geändert. Seit sie in den Östlichen Siedlungen lebte, war nur ein Boot an diese Küste gekommen, das Nachrichten von Seahaven und dem Gemeinschaftsbau gebracht hatte. Bisher war sie froh gewesen, dass es keine Verbindungen mit den zivilisierteren Gegenden auf der anderen Seite des Großen Flusses gab. Es verbesserte ihre Chance, den Platz zu festigen, den sie in der Gemeinschaft gefunden hatte, und verringerte das Risiko, entdeckt und wieder dem Schicksal zugeführt zu werden, vor dem sie geflohen war. Nun ab er schien das Ausbleiben von Besuchern eher unheilverkündend und sie zweifelte so oder so daran, ob sie in der Gemeinschaft einen Platz hatte, den zu erhalten sich lohnte. Wie schlecht ging es den Leuten auf der anderen Seite des Großen Flusses bei ausbleibendem Regen und sinkenden Wasserständen der Flüsse? Überließ man die Siedlungen ihrem Schicksal, weil man selbst ums bloße Überleben kämpfen musste? Jemand würde die Reise antreten und in Erfahrung bringen müssen, wie die Lage dort war, und die Schwestern um Hilfe bitten. Zu diesem Zweck würde ein geeignetes Boot gebaut werden müssen; die kleinen Nussschalen, die von den Einheimischen zur Küstenfischerei verwendet wurden, taugten nicht für die Reise über das Mündungsgebiet des Großen Flusses. Aber das würde Zeit in Anspruch nehmen. Sie wandte sich wieder dem Fluss zu, doch hob sie diesmal den Kopf und blickte über das Dach des kleinen Blockhauses und über das Wasser hinaus. Selbst hier, relativ weit landeinwärts, war der Fluss noch breit, aber am anderen Ufer waren die dichten, verfilzten Wälder zu sehen, die das unbegehbare Gelände auf der anderen Seite bedeckten. Dort erstreckte sich die Wildnis beinahe bis zur See; niemals war ein Versuch gemacht worden, den Fluss zu überqueren und dort zu landen. Doch selbst in einer Nussschale konnte man
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hinüberrudern und sich flussabwärts zur Küste treiben lassen, um dann an die Landspitze zu den Fischerdörfern an der Küste jenseits des Mündungsgebietes zu rudern. Freilich würde es keine Möglichkeit geben, das kleine Boot gegen die Strömung wieder flussaufwärts zu bringen; es würde eine Reise ohne Wiederkehr sein, unter normalen Umständen eine Zeitverschwendung. Das war der Grund, warum niemand es je versucht hatte. Aber dies waren keine normalen Zeiten. »Was siehst du, Hexe?« Die Bitterkeit war noch in den Worten, aber wenigstens hatte er seine Lautstärke ein wenig gemäßigt. »Neues Ackerland mit reichlich Wasser? Was soll ich tun, hinüberschwimmen und ein neues Haus bauen? Und wirst du mir Frau und Kind hinüberbringen, dass sie bei mir sein können?« Sie streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. Sie hätte den armen Kerl gern umarmt, musste aber bewahren, was von ihrem geheimnisvollen Nimbus geblieben war. Nicht nur zu ihrem eigenen Schutz, sondern auch um der Dorfbewohner willen, die besser für das Gemeinwohl arbeiten würden, wenn sie Hoffnung hatten. Er stand starr und mit gespannten Muskeln unter ihrer Berührung, dann erschlaffte er plötzlich vollständig, sank auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Sie legte ihm die Hand auf den Kopf und strich sanft über das zerzauste Haar. »Nichts kann ungeschehen machen, was geschehen ist. Und es ist wahr, dass ich als Hexe nicht viel wert bin. Aber vielleicht gibt es doch noch etwas, was ich für die Lebenden tun kann, selbst wenn ich denen, die an Krankheit und Hunger gestorben sind, nicht helfen kann.« Er blickte zu ihr auf. »Es wäre besser für uns gewesen, wenn wir dich nie gesehen hätten.« Die Worte waren noch hart, aber seine Stimme klang resigniert, seine Haltung blieb schlaff. Es war nur Trotz, kein wirklicher Zorn. Aber es gab ihr eine Gelegenheit. »Oder vielleicht wäre es besser, wenn ich euch jetzt verlassen würde.« Das erschreckte ihn. Offensichtlich betrachtete er sie nach wie vor als Hexe und glaubte noch immer, dass sie dem Dorf von Nutzen sein könnte. »Ich werde deine Hilfe brauchen, Bjarni, um eine Entscheidung zu treffen. Ich brauche Feuerholz, grüne Zweige mit Blättern, wenn du sie finden kannst, und einen Ort außerhalb des Dorfes, wo ich ein Feuer
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machen kann. In der Nähe des Flusses.« Er nickte. Sie sah, dass sein Respekt vor der Hexerei noch immer seine Enttäuschung über ihr Versagen übertraf. Natürlich würde das Feuer nutzlos sein; sie erwartete nicht, etwas in dem Rauch zu sehen. Aber Bjarni würde herumerzählen, dass sie ihre Rauchvisionen suchte. Und wenn sie den Dorfbewohnern sagte, sie müsse ein Boot und Proviant haben, um über den Großen Fluss und weiter zum Gemeinschaftsbau der Schwestern zu reisen, würden sie das begrüßen und glauben, sie habe eine Vision gehabt, wie sie Hilfe finden könne. Einige von ihnen würden insgeheim erleichtert sein, sie nicht mehr zu sehen. Doch was immer ihre Motive waren und wie vergeblich ihre Versuche sein mochten, im Rauch nützliche Visionen zu sehen, sie würde Hilfe finden. Das war sie den Menschen hier schuldig, die sie vor zwei Ernten freundlich aufgenommen hatten – und der kleinen Karyn, ohne die sie vielleicht niemals Seahaven verlassen hätte. Als das Feuer knisterte und Funken wirbelnd in die Luft über dem Fluss stiegen, blickte Ely se in die Flammen und stellte sich vor, dass sie Menschen und Schiffe sehe. Sie wusste, dass es nur Einbildung war; selbst als sie noch ihr Talent gehabt hatte, wirkte es am besten in Verbindung mit Rauch, nicht mit Flammen. Doch hatte sie noch immer Spuren ihres Talents, oder es hatte eine neue Gestalt angenommen. Selbst wenn sie die Trockenheit berücksichtigte, und Gregors Hilfe beim Sammeln von Brennholz, loderte dieses Feuer viel heller und heftiger, als normal gewesen wäre. Gregor. Sie wandte den Kopf und betrachtete sein großes, ruhiges, halb in den Schatten verborgenes Profil. Nun, das war eine Überraschung gewesen. Wenige im Dorf hatten sich auch nur die Mühe gemacht, ihre Gleichgültigkeit zu verbergen, als Elyse ihnen gesagt hatte, dass sie das Dorf verlassen würde, und sie bezweifelte, dass die Leute sich von ihrem Vorhaben, Hilfe zu suchen, viel versprachen. Einerseits war man froh, sie von hinten zu sehen, andererseits wäre man kaum bereit gewesen, ihr ein gutes Boot und Reiseproviant zu geben, wenn Gregor nicht plötzlich in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete, erklärt hatte, dass er sie nach Seahaven begleiten würde. Er habe, sagte er, den Wunsch, seine Schwester wiederzusehen, und es gebe ohnehin wenig Schmiedearbeit zu
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tun, wenn die Felder zum Pflügen zu trocken seien. So hatten sie anstelle eine Nussschale ein solides Floß, zusammengefügt aus Rundhölzern, die Bjarni für den Bau einer Scheune bekommen hatte, der nun nicht mehr dringlich war. Sie war froh, Gregor bei sich zu haben, der sie vor den wilden Tieren schützen konnte, die nach Hörensagen die Wälder am anderen Ufer des Flusses unsicher machten, und der weit besser als sie imstande war, das unhandliche Floß zu manövrieren. Sie hätten sich ohne Aufenthalt den Fluss hinab und zur Küste treiben lassen können, aber das hätte bedeutet, einen Teil der Strecke bei Nacht in unbekannten Gewässern fahren zu müssen, ohne mögliche Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Also hatten sie ›bloß‹ – wie schwer selbst Gregor sich hatte abmühen müssen, um das Floß ans Ufer zu bringen, machte ihr klar, welches Glück sie hatte, ihn dabeizuhaben – den Fluss zur unbewohnten Seite überqueren müssen und waren am ersten Tag ungefähr die halbe Strecke zur Flussmündung getrieben, während Gregor das eine lange Ruder bediente, das gleichzeitig als Steuer und Antrieb des Floßes wirkte, bis sie an einen schmalen freien Uferstreifen aus Kies und Geröll gestoßen waren, wo jetzt ihr Lagerfeuer brannte. Vielleicht konnte sie kein Floß steuern, aber wenigstens war sie gut darin, ein Feuer zu machen, das sie wärmte und ihre Kleider trocknete, die bei der unsanften Landung nassgespritzt worden waren. Sie blickte in die Flammen, die gleich höher zu lodern schienen. Doch obwohl sie froh war, dass Gregor sie begleitete, war sie auch ängstlich. Seine Gegenwart war in einer Weise beunruhigend, wie sie es nie gewesen war, auch dann nicht, wenn sie sich allein in der Schmiede aufgehalten hatten. Schließlich war die Schmiede mitten im Dorf, umgeben von Nachbarn. Hier waren sie nur von Bäumen und eingebildeten Tieren umgeben. »Was siehst du?«, unterbrach seine Stimme ihr Sinnieren. »Nur Flammen, Gregor. Ich sagte dir, dass ich nicht viel von einer Hexe habe. Aber ich kann prophezeien, dass wir morgen früh müde sein werden, wenn wir nicht ruhen.« Sie legten sich zu beiden Seiten des Feuers nieder, jeder in die eigene Decke gewickelt. Aber zumindest Elyse schlief in dieser Nacht sehr wenig. Schon am zweiten Tag der Reise schlug das Unheil zu und bestätigte Ely ses wachsende Überzeugung von ihrer eigenen
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Fähigkeit, Unglück zu verbreiten, wohin sie auch ging. Einen Augenblick glitt das Floß glatt in der rasch ziehenden Strömung dahin; im nächsten sahen sie in einer Flussbiegung weiter voraus unerwartet gischtendes weißes Wasser neuer Stromschnellen, die sich infolge des abgesunkenen Wasserstandes gebildet hatten. Ely se klammerte sich an die Seile, mit denen ihre kleinen Bündel sicher am Floß befestigt waren; Gregor legte sich mit aller Kraft, aber wenig Wirkung in das lange Ruder und versuchte das ungefüge Floß zum Ufer zu lenken. Beinahe wäre es ihm gelungen. Nur wenige Klafter vom trockenen Land entfernt, stieß das Floß auf Grund, glitt zuerst über einen Felsen, stieß dann auf einen zweiten und wurde von der Strömung gedreht, bis es quer lag und von den Stößen des gischtenden Wassers erschüttert wurde. »Spring!« Sie schüttelte den Kopf, unfähig und nicht bereit, der Anweisung zu folgen. Gregor ließ das Ruder fahren und griff nach dem kleinen Haufen ihrer zusammengeschnürten Habseligkeiten; der Aufprall seiner Landung verstärkte die heftigen Erschütterungen des Floßes noch mehr. Die Verbindungen zwischen den Stämmen knarrten und begannen sich zu lockern. Mit einer Hand ergriff er das Seil, mit der anderen Elyses Arm. »Spring jetzt, Elyse! Das Floß bricht auseinander! Spring zum Ufer, so weit du kannst, und schwimm den Rest!« Er ließ ihren Arm los, zog ein Messer und machte sich daran, die Seile durchzuschneiden, die ihre Bündel sicherten. Sie blickte in Panik umher. Er hatte Recht. Die Stämme bewegten sich gegeneinander und in den Seilen, die sie zusammenhielten. Noch während sie zuschaute, riss eine der Seilverbindungen, und die stoßende Bewegung des andrängenden Wassers verstärkte sich zu einem ruckartigen Stampfen. Er hatte Recht. Ängstlich blickte sie zu Gregor. Er nickte. Sie holte tief Atem, kroch zu dem Ende des Floßes, das dem Ufer am nächsten war, nahm eine kauernde Haltung ein und biss die Zähne zusammen. Dann, als das Floß wieder aufwärtsstieß, sprang sie hinaus, so weit sie konnte. Das Wasser war kalt, schaumig und turbulent. Sofort hatte sie es in den Augen, in Mund und Nase. Es durchnässte ihre Kleider und zog sie nieder, warf sie auf die Seite, aber schon Augenblicke später fühlte sie Grund unter den Füßen. Sie stieß sich von den Felsen ab, warf sich vorwärts, schwamm ein paar
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Züge, wurde dann mit der Seite gegen einen Felsen geworfen und landete auf allen vieren in der brodelnden Gischt, kaum zwei Körperlängen vom Ufer. Sie blickte zurück zum Floß, das überraschend weit flussaufwärts lag. Gregor schwang ein Bündel wie ein Pendel hin und her und hielt Ausschau nach ihr. Sie hob die Hand und winkte. Ein letztes, langes Ausholen, und er ließ das Bündel los. Es flog stromaufwärts von ihr zum Ufer, würde aber im Wasser landen. Natürlich. Sie musste es herausfischen. Sie wandte sich um, watete strauchelnd gegen die andrängende Strömung und bekam das durchnässte Bündel zu fassen, als es von den Wellen vorbeigetragen wurde. Sie zog es an der Verschnürung zu sich und stolperte über die glatten runden Steine am Grund und mit beiden Armen in der hüfttiefen Strömung rudernd zurück zum Ufer, wo sie sich ausgepumpt zu Boden warf und auf Gregor wartete. Sie sah nicht, wie er ins Wasser sprang, das zweite Bündel seinem Schicksal überließ und oberhalb von ihr das Ufer erreichte. Zitternd vor Kälte und Schock versuchte sie festzustellen, was sie vom Schiffbruch gerettet hatten. Die Verschnürung des Bündels war im Wasser geschrumpft und Gregor war gezwungen, die Knoten mit dem Messer durchzuschneiden. Dann, während sie versuchte, den Inhalt des Bündels zu sortieren, machte Gregor sich auf die Suche nach Brennholz. Die äußere Umhüllung des Bündels bestand aus Gregors Schlafdecke, deren Vliesseite innen lag. Die Wolle war noch relativ trocken und sie entledigte sich eilig ihres nassen Gewandes und wickelte den wärmenden Vlies um sich. Weiter enthielt das Bündel etwas Proviant, eine Axt, Gregors zweites Hemd, aber nichts von ihren Sachen. Kein Material zum Feueranzünden. Gregors durchnässte Jacke lag, wo er sie abgelegt hatte. Sie durchsuchte die Taschen. Der Beutel mit Zunderschwamm war da, aber durchnässt. Auch der mit einer Feder bewehrte Feuerstahl war nass und erzeugte keine Funken. Sie hielt ihn unter dem Arm an den Körper gedrückt in der Wärme der Decke und versuchte ihn zu trocknen, während sie am nahen Waldrand trockenes Laub und ein paar grüne Zweige sammelte. Dann versuchte sie wieder Funken zu schlagen. Gab es einen, oder war es ihre Einbildung? Wenigstens konnte sie es versuchen. Sie setzte sich vor ihren kleinen Haufen von trockenem
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Material zum Feueranmachen und betätigte wiederholt den Feuerstahl. Ihr Verstand sagte, dass es Zeitvergeudung sei, dass sie, selbst wenn es gelang, Funken zu schlagen, niemals ohne trockenen Zunder eine Flamme erzeugen würde. Aber es war besser als nur herumzusitzen, zu frösteln und auf Gregor zu warten. Inzwischen gab es Funken. War das eine Glutstelle an einem trockenen Blatt? Sie beugte sich näher, begann vorsichtig zu blasen, aber der Funke war schon wieder ausgegangen. Wieder betätigte sie den Feuerstahl, konzentrierte sich ganz auf die hellen Funken, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Da! Ein Aufglühen an einem trockenen Blatt, eine winzige, fast unsichtbare Andeutung von Rauch. Sie beobachtete die Glut, bewegungslos, die Augen halb geschlossen, ganz auf das Feuer konzentriert. Die Glut breitete sich aus, wurde eine winzige Flamme; eine wachsende Flamme, die auf ein anderes Blatt übersprang, dann auf die dürren Zweige und Blätter des Häufleins. Schließlich ergriffen die Flammen einen der noch grünen Zweige. Der Rauch verdichtete sich. Sie lehnte sich zurück, plötzlich sehr müde. Sie fühlte sich schläfrig, entspannt, zufrieden. Aber sie brauchte mehr Holz. Wie in Antwort auf ihren unausgesprochenen Gedanken erschien eine große Hand und legte behutsam Zweige ins Feuer. Sie blickte auf. Gregor war zurückgekehrt, hatte einen Armvoll Brennmaterial gebracht. Er sah sie von der Seite an. »Ein hübscher Kniff, Hexe.« Wie viel hatte er gesehen? Hatte sie wirklich aus nichts ein Feuer zustande gebracht – nun, aus beinahe nichts? Der durchnässte Beutel mit Zunderschwamm lag noch neben ihr. Gregors Blick ruhte darauf, wanderte zu dem kleinen, aber wachsenden Feuer und wieder zu ihr. Sie zog die Vliesdecke fester um sich und bemerkte, wie viel von ihren Beinen entblößt war. Sie zog sie an sich, um sie unter die Decke zu stecken, ließ es dann sein. Was sollte es nützen? Sie lächelte zu ihm auf. »Es ist das Einzige, worin ich gut bin, Gregor. Feuer zu machen, woran die Leute sich wärmen können. Zieh das nasse Hemd aus; hier ist ein beinahe trockenes.« Er zog die Schleifen am Hemd auf, zerrte den nassen, am Rücken haftenden Stoff über den Kopf. Sie fügte dem Feuer kleinere Zweige hinzu. Bald würde es ganze Äste verzehren. Gregor benutzte das nasse Hemd als Handtuch für sein Haar.
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Ihr Talent hatte sie endgültig verlassen, dessen war sie jetzt sicher. Und als sie es noch gehabt hatte, war es nie von besonderem Nutzen gewesen. Träume von Schiffen, die nicht existierten! Die Schwestern hatten Recht. Sie sah zu, wie Gregor sich bückte und das trockene Hemd aufhob. Warum war er wirklich mit ihr zu dieser tollkühnen Reise aufgebrochen? Sie streckte das rechte Bein aus und bewegte die Zehen, um das Prickeln der eingeschlafenen Füße zu lindern. Sie hatte zu lange in einer Position gesessen. Ihre Beine waren sicherlich so wohlgeformt, dass sie als attraktiv gelten konnten, selbst wenn ihre Brust für den Geschmack mancher Männer noch zu flach sein mochte. »Gregor.« Er blickte auf. »Ich habe gehört, dass es andere Mittel gibt, sich warm zu halten, als durch Feuer.« Sie schlug den Blick nieder und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Vielleicht ist es Zeit, herauszufinden, ob ich darin auch gut bin.« »Aber du bist eine Hexe.« Sie lachte gepresst. »Ich habe nicht viel von einer Hexe, Gregor. Ich tauge nicht viel dazu, Gefahren und Probleme vorauszusehen. Ich träume nur von Schiffen und falls du es nicht schon erraten hast: seit der letzten Ernte habe ich keine richtige Vision mehr gehabt. Was gibt es zu verlieren?« Er blieb still. Sie blickte wieder auf. Das Hemd war noch in seiner Hand. »Weißt du, was du da sagst?« »Im Internat lehrten sie uns etwas über die wirkliche Welt, zum Beispiel über die Pflichten einer Novizin, deren Talent nicht ausreicht, um eine Schwester zu werden. Ich fand nie Gefallen an der Vorstellung, dass die Schwestern einen Partner für mich auswählen würden, dass gescheiterte Novizinnen wie Haustiere nur zur Zucht taugen. Aber wenn ich frei bin, meine eigene Wahl zu treffen, könnte das anders sein.« Sie lockerte ihren Griff an der Decke ein wenig. Nun waren ihre Schultern ebenso wie die Beine kaum vom Vlies bedeckt. Einen Moment dachte sie, sie hätte einen Fehler gemacht und Gregor wäre wirklich nur mitgekommen, um seine Schwester zu besuchen, nicht weil er sich um sie sorgte oder ein stärkeres Gefühl für sie empfand. Würde sie sogar darin versagen? Dann lächelte er, warf das Hemd in ihre Richtung. »In diesem Fall sollte ich lieber nachlegen, sonst geht das Feuer
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aus, während deine Aufmerksamkeit abgelenkt ist. Wenn du das Hemd anziehst, kannst du die Schlafdecke ausbreiten, wie es sein soll.« Er kehrte ihr den Rücken zu und legte größere Zweige und abgebrochene Stücke dürrer Äste ins Feuer, wobei er sich Zeit ließ. Sie stand auf, zog das weite Hemd über den Kopf, wandte sich dann um und breitete die Vliesdecke auf einer ebenen Stelle aus. Dann legte sie sich nieder und zog das Hemd zu den Knien, die es beinahe erreichte. Sie wälzte sich auf die Seite und sah, dass Gregor noch mit dem Feuer beschäftigt war und unnötige Stecken hineinlegte, obwohl es schon größere Stücke erfasst hatte. Sie lächelte. Ich hätte es viel schlechter treffen können, dachte sie. Gescheiterte Novizinnen haben gewöhnlich keine Wahl und müssen nehmen, was ihnen zugewiesen wird. Dann sagte sie leise: »Gregor.« Er hörte auf, das Feuer zu nähren, wandte sich aber nicht um. »Ich bin bereit, die andere Art des Warmhaltens auszuprobieren, wenn du dich vom Feuer losreißen kannst.« Darauf wandte er sich zu ihr um. In den folgenden Tagen bedauerte Ely se nicht ein einziges Mal, dass sie ihr Talent aufgegeben und ihre Weiblichkeit angenommen hatte. Sie benötigten nur zwei Tage, um durch das walddurchwachsene Hinterland zur Küste vorzudringen, weil sie sich Zeit ließen und darin einig waren, dass es zweckmäßig sei, ihre Energien für künftige Notfälle zu bewahren. Und selbst ohne die letzten Spuren ihres Talents war das Feuermachen keine große Schwierigkeit, wenn man mit trockenem Zunderschwamm und Feuerstahl bewaffnet war; sie schien ohnehin geschickt im Umgang mit Feuer, geradeso wie viele andere Leute, die nicht daran dachten, sich irgendein Talent anzumaßen. Und mit Feuer gab es keine Gefahr von Seiten gefährlicher Raubtiere, die sich vielleicht weit von den Weißen Bergen bis ins Küstenland vorgewagt haben mochten. Aber Ely se hegte sehr bald Zweifel, ob es überhaupt klug gewesen sei, jemals ihr Talent zu gebrauchen. Der Erfolg ihrer Ideen über das Segeln gegen den Wind war deutlich zu sehen, als sie das Fischerdorf erreichten, wo jedes Boot jetzt mit Wetterbrettern ausgerüstet war, wie Nathan und seine Freunde von der Fischergenossenschaft die Neuerung nannten – weil, wie er erklärte, sie ermöglichte, dass die Boote gegen Wind und Wetter ankreuzen konnten, statt immer nur vor dem Wind
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zu fahren. Im Dorf herrschte eine Atmosphäre der Zufriedenheit – nicht gerade von Wohlstand, aber auch nicht von Armut – und das Ausbleiben offensichtlicher Überraschung angesichts ihres Wiedererscheinens in Frauenkleidern und in Begleitung eines stattlichen Schmiedes ließ erkennen, dass das ›Geheimnis‹ ihrer Verkleidung als Junge keinen Bestand gehabt hatte, nachdem Nathan von seiner Fahrt über die weite Mündung des Großen Flusses nach Haus zurückgekehrt war. Der bescheidene Wohlstand, wenn man davon sprechen konnte, hing von den Fischlieferungen nach Seahaven ab, und es gab keine Schwierigkeiten, die Zusage einer kostenlosen Passage zu erhalten, genoss Ely se doch im ganzen Dorf mittlerweile den Ruf einer Wohltäterin. Sie fragte sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, von Anfang an offener zu diesen Menschen zu sein und bei ihnen zu bleiben; aber es war den Schwestern und ihrem Gemeinschaftsbau so nahe und man erzählte ihr, dass zweimal Reiter aus Seahaven dagewesen seien und sich nach einem vermissten Mädchen erkundigt hätten. Und wenn sie geblieben wäre, hätte sie ihre gegenwärtigen Qualen vielleicht öfter ertragen müssen. Ihre frühere Reise war rasch und angenehm vonstatten gegangen, weil das Boot vor dem Wind bei schönem Wetter über eine ruhige See gesegelt war. Diesmal aber, nachdem sie den Leuten eine Vorstellung von der schwierigen Lage in den Siedlungen und der Dringlichkeit rascher Hilfe verschafft hatte, war Nathan mit einem Vetter übereingekommen, dass dieser über die Mündung des Großen Flusses zu den Siedlungen fahren und die Hilfe des Dorfes anbieten sollte, während er selbst sofort nach Seahaven aufbrechen würde, obwohl ein stürmischer Wind die See aufwühlte. Dank den Wetterbrettern konnte die Merry Too tatsächlich diagonal in den Wind kreuzen und die gischtgekrönten Wellen beinahe von vorn nehmen. Gregor schien ebenso wie Nathan unempfindlich gegen die Bewegung des Bootes, was Ely ses Elend nur noch steigerte. Sie saß im Bug, wo der frische Wind ihr ins Gesicht blies, ohne auf die Gischt zu achten, die sie jedesmal durchnässte, wenn das Boot den nächsten Wellenkamm durchschnitt. Wenn sie bewegungslos und aufrecht saß, war es beinahe erträglich. Aber dann kam unausweichlich eine Schlingerbewegung, die ihr den Magen umdrehte, dass sie sich speiend über die Bordwand beugen musste. Und wenn sie erst
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den Kopf gebeugt hatte, wurde ihr zehnmal so übel, und sie würgte Schleim und Galle, bis der Krampf verging und sie vorsichtig und erschöpft den Kopf wieder heben konnte, mit beiden Händen an das Seil geklammert, das vom Bug zur Mastspitze hinaufführte. Gregor saß bei ihr und teilte mit ihr die Unbequemlichkeit des offenen Bugs, obwohl er nicht von Übelkeit geplagt wurde. Und die ganze Zeit musste sie daran denken, dass ihr diese qualvolle Fahrt erspart geblieben wäre, wenn sie nicht ihre Träume gehabt hätte. Endlich, als der Wind ein wenig nachließ und die See sich nach den aufgewühlten kabbeligen Wellen zu einer starken, aber gleichmäßigen Dünung beruhigte, fiel sie an Gregors Schulter und eingehüllt in seinen schützenden Arm in einen Halbschlaf. Mit den Bewegungen des Bootes und der Natur der bitteren Gedanken, die ihr während ihrer Übelkeitsanfälle durch den Kopf gegangen waren, war es kaum überraschend, dass sie vom Schiff träumte oder tagträumte, selbst wenn die richtigen Träume ihres Talents ihr jetzt nicht mehr zugänglich waren. Die vertrauten Gesichter, die ihr einst so wirklich vorgekommen waren, und die hohen Masten des vor Anker liegenden Schiffes – offensichtlich wünschte ihr Unterbewusstsein, dass die Merry Too vor Anker liege – waren eindeutig Traumerinnerungen; der Geruch der See und der Wind in ihrem Gesicht waren allzu wirklich, hatten nichts mit Träumen zu tun, drängten sich aber in ihr Träumen hinein. In diesem erschöpften Zustand, in dem sie Hunger zu fühlen begann, obwohl die Übelkeit noch immer in abgeschwächten Wellen wiederkehrte, in einem halb schlafenden Dämmerzustand, wurde Elyse plötzlich von einem Ausruf Nathans aufgeschreckt, als das Boot die Mündung des Kleinen Flusses erreichte und die Zufahrt nach Seahaven und der Ankerplatz vor der Stadt in Sicht kamen. Sie blickte auf und unter dem Segel hindurch zu seinem Platz, wo er saß, einen Arm u m die Ruderpinne gelegt, den anderen ausgestreckt und nach vorn weisend. Gregor schlief. Er regte sich ein wenig, als sie sich umwandte und mit ihrem Blick Nathans Fingerzeig nach vorn folgte. Es war ein Schiff. Schlief sie noch? Es sah genau wie das Schiff aus, von dem sie geträumt hatte, lag friedlich und mit gerefften Segeln vor Anker. Sie rieb sich die Augen, auf einmal hellwach, schaute wieder hin. Nein, kein Traum. Es
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war das Schiff. Das Schiff ihrer Träume, zum Leben erwacht, gerade als sie das Träumen aufgegeben hatte. Was konnte es hier in Seahaven tun? Würden auch Falk und der Steuermann hier sein, oder waren sie bloß Hirngespinste des Traums? Auf einmal wusste sie, wie sie es nie zuvor wirklich gewusst hatte, dass sie wirklich waren. Woher sie die Sicherheit nahm, konnte sie nicht sagen; aber die Gewissheit machte, dass ihr gepeinigter Magen sich schmerzhaft zusammenzog. »Gregor!« Sie rüttelte ihn. »Wach auf, Gregor! Wir sind da. Und mein Schiff auch. Jetzt werden wir erfahren, was vorgeht.« Nun war er an der Reihe, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben und über das Wasser zum Hafen zu spähen. Als er den Blick zu ihr wandte, schien er nur mäßig beeindruckt. »Ja, es ist ein Schiff. Ein mächtig großes, das gebe ich zu. Aber bloß ein Schiff.« »Nein, Gregor, siehst du nicht?« Sie kniete am Boden des Bootes im schwappenden Bilgenwasser und blickte angespannt in seine Augen, versuchte ihm mit einer Willensanstrengung die Bedeutung dessen klarzumachen, was geschah. »Ich sagte dir, als ich eine richtige Hexe war, bevor ich zu den Siedlungen kam, pflegte ich von einem Schiff zu träumen. Einer dieser Träume zeigte mir, wie man es macht, dass ein Boot gegen den Wind kreuzen kann – dasselbe Kunststück, das dich heute hierher gebracht hat. Und das dort …« – sie streckte den Arm aus und zeigte mit dem Finger hinüber – »ist dasselbe Schiff, von dem ich träumte. Ich kann es beweisen. Es heißt Far Trader. Der Name des Kapitäns ist …« Sie musste sich einen Moment besinnen, aber dann fiel er ihr ein. »Ist Bryon. Aber er lenkt nicht das Schiff, sondern der Steuermann. Und sie haben ihren eigenen Träumer, eine Art Hexer namens Falk. Ich weiß das alles, Gregor, verstehst du nicht?« Er blickte zum Schiff hinüber, dann sah er sie nachdenklich an. Gregor war kein impulsiver Mensch. Auch seine Entscheidung, mit ihr auf diese Reise zu gehen, war wohlüberlegt und wahrscheinlich der auslösende Faktor eines schon länger bestehenden Planes, seine Schwester zu besuchen. Eines Planes, der sich seit all den Sommern, nachdem sie ins Internat der Schwestern eingetreten war, in ihm verfestigt hatte. »Wir werden bald sehen, ob dies dein Schiff ist, Liebes.
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Nicht dass ich an dir zweifle, aber wir werden es bald erfahren. Die ganze Stadt wird von nichts anderem sprechen. Aber es ist nicht nötig, dass du dein besonderes Wissen zu erkennen gibst. Nicht nötig, den Schwestern zu sagen, dass du zurückgekommen bist, solange wir nicht mehr darüber wissen und bereit sind. Zuerst müssen wir erfahren, was hier vorgeht. Dein Schiff kann nicht den Regen bringen, das ist sicher. Und es könnte die Schwestern zu sehr beschäftigen, als dass sie Zeit finden würden, uns zu helfen. Ich denke, es ist am besten, bei aller Eile mit Bedacht vorzugehen.« Sie sah die Weisheit seiner Worte ein. Nein, ein Schiff konnte nicht helfen, die hungrigen Menschen in den Siedlungen zu ernähren, nicht einmal das Schiff. Im Gegenteil, das Schiff benötigte Lebensmittel vom Land, um seine eigene hungrige Mannschaft zu füttern; darum musste es in Seahaven eingelaufen sein. Das Äquivalent eines weiteren hungrigen Dorfes, das versorgt werden musste und weniger übrig ließ, um anderswo auszuhelfen. Und was das Regenmachen betraf, so würde nicht einmal einer wie Falk dazu imstande sein. Sie sank wieder an Gregors Schulter zurück und schmiegte sich wärmesuchend an ihn. Er hatte Recht. Zuerst sollten sie eine Unterkunft finden und alle Neuigkeiten in Erfahrung bringen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie ihn hatte. Und wenn sie erst wussten, wie die Verhältnisse lagen, an Bord des Schiffes und an Land, dann konnten sie sich mit ihrer Bitte um Hilfe an die Schwestern wenden. Und sie hatte bereits eine vage Idee, wie sie am besten an sie herantreten konnte … Im Audienzsaal drängten sich die Bittsteller, besetzten die langen Bänke. Vor der Rückwand saßen drei Schwestern auf geraden Stühlen mit hohen Lehnen hinter einem großen Tisch. Schwester Sprecherin, natürlich, die beste Rednerin und trotz ihres Namens auch eine gute Zuhörerin. Schwester Seniorin, ohne die keine wichtigen Entscheidungen getroffen werden konnten, und heute schien es, dass jede Entscheidung eine wichtige sein würde. Und Schwester Tutorin, was eine Überraschung war, aber nur auf den ersten Blick. Ely se, die unter der schützenden Kapuze ihres Gewandes hervorlugte, vermutete, dass es die Anwesenheit der Fremden war, welche die einstige Marretta hierher geführt hatte. Ihre Fähigkeiten als Lehrerin machten sie naturgemäß auch zu einer guten Lernenden, geradeso wie Schwester Sprecherin auch eine gute
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Zuhörerin war. Und von den Leuten des Schiffes gab es sicherlich viel zu lernen. Wenn sie den Kopf ein wenig zur Seite drehte, konnte sie sie in der Reihe vor ihr und Gregor sehen, aber etwas weiter rechts. Sowohl der Steuermann als auch Falk waren gekommen, für Elyse, die sie so gut kannte, ein deutliches Zeichen von der Bedeutung, die sie dieser Audienz beimaßen. Ebenso deutlich war ihr, dass die beiden entrüstet waren, dass man sie mit den anderen Bittstellern warten ließ, bis sie ihr Anliegen vorbringen konnten. Es fiel ihnen sichtlich schwer, ihre Ungeduld im Zaum zu halten. Sie lächelte unter der Kapuze. Zweifellos hatten sie auf ihren Reisen viel gelernt, nicht zuletzt von den Vogelmenschen. Hier schienen sie entschlossen, trotz allem ein untadeliges Benehmen zu zeigen und sich den Landessitten anzupassen. Sie hatte die vier Tage, die sie und Gregor vor dieser Audienz in Seahaven verbracht hatten, nicht vergeudet und wusste, dass die Seefahrer, wie die Tradition es verlangte, bereits mit Schwester Sprecherin zusammengetroffen waren, als sie ihre Petition eingereicht hatten, ebenso wie Gregor bereits mit der Schwester über die Verhältnisse in den Östlichen Siedlungen gesprochen hatte. Wie alle die anderen Bittsteller waren sie jetzt hier, um die Antworten der Schwestern auf ihre verschiedenen Anliegen zu empfangen. Sie konnte sich denken, was der Steuermann wünschte: Proviant und Wasser für sein Schiff. Falk würde Informationen wünschen, die er schon jetzt durch eifriges Umherblicken im Saal sammelte. Die Fremden vom Schiff waren offenbar geschickt in die Reihenfolge der Bittsteller eingeordnet worden. Nicht an erster Stelle, was wichtige Leute in Seahaven verdrießlich gestimmt und sie selbst zu übertriebenen Vorstellungen von ihrer eigenen Bedeutung verleitet hätte. Aber sie waren sehr weit vorn. Auch Gregor war überraschend hoch eingeordnet worden, nicht weit hinter den Fremden: ein Zeichen, dass die Schwestern ihn vielleicht als einen Abgesandten aller Östlichen Siedlungen betrachteten. Seine Einordnung hatte sicherlich nichts mit ihrer Anwesenheit zu tun. Sie hatten ihre Vergangenheit niemandem gegenüber erwähnt und Nathan hatte die Heimreise angetreten, sobald er seine Ladung Fische angelandet hatte. Während des ersten Gesprächs mit der Schwester Sprecherin war sie still unter ihrer Kapuze im
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Hintergrund geblieben; gegenwärtig war sie den Schwestern nur als Gregors Gefährtin bekannt. Und er hatte bisher noch nicht einmal versucht, mit seiner Schwester Karyn Verbindung aufzunehmen, weil er ihre unvermeidliche Erwähnung Elyses fürchtete. Bald würde Zeit genug sein, dass sie ihren eigenen Beitrag zu den Vorgängen leisten konnte. Unterdessen zeigten die Entscheidungen, die den wichtigen Bittstellern aus den Gebieten um den Kleinen Fluss mitgeteilt wurden, wie ernst die Lage geworden war, sogar im näheren Umkreis von Seahaven. Alle Streitigkeiten schienen Bewässerungsrechte zur Ableitung von Wasser aus dem Fluss zu betreffen; die einfachen Hilfeersuchen wiederholten allesamt das Wort ›Dürre‹. Und hierin lag eine weitere subtile Überlegung der Schwestern: bis der Steuermann seine Antwort bekäme, würde er über die Armut des Landes und die Unfähigkeit der Schwestern, sein Schiff zu verproviantieren, im Bilde sein. Der Augenblick rückte näher. Sobald jeder Bittsteller die Antwort der Schwestern auf sein Gesuch erhalten hatte, verließ er den Saal, und die Reihen der Bittsteller rückten auf den Bänken ein Stück weiter, so dass die vorderste Bank stets voll besetzt war. Nun waren der Steuermann und Falk am linken Ende der ersten Bank angekommen; Gregor und Ely se waren beinahe am rechten Ende derselben Reihe und sie konnte die beiden nicht sehen, ohne sich vorzubeugen und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber sie konnte die Schwester Sprecherin sehen, die im Namen des Ordens, der Stadt Seahaven und der zugehörigen Länder die Entscheidung bekanntgab. »Steuermann Rantor.« Die Stimme der Schwester war leise und angenehm wie immer, aber ihre Botschaft musste sich in seinen Ohren weniger angenehm ausmachen. »Wir heißen Sie und Ihre Besatzung willkommen, wie wir alle Fremden willkommen heißen. Solange Sie hier sind, werden wir unser Möglichstes tun, um Ihnen Gastfreundschaft zu erweisen. Aber wie Sie gehört haben, fällt es uns äußerst schwer, unsere eigenen Leute zu ernähren. Wir hoffen, dass Sie nicht lange bleiben werden, und wir haben nichts übrig, um Ihr Schiff zu bevorraten.« »Nein!« Der Steuermann sprang auf, ein klarer Verstoß gegen die Etikette. Da er aber ein Fremdling war, konnte dies verziehen werden. »Ich sage Ihnen, wir haben keinen Ort,
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wohin wir gehen können. Im Süden, woher wir gekommen sind, sind es viele Tagereisen zur nächsten Insel. Wir konnten uns glücklich schätzen, hier zu landen, bevor unsere Vorräte erschöpft waren. Und dieses Land erstreckt sich unabsehbar weit nach Westen und Osten, soviel wir feststellen konnten. Wir können nicht über Land segeln. Sie müssen uns helfen, wenn wir diesen Ort jemals verlassen sollten.« »Für dies alles haben wir nur Ihr Wort, Steuermann.« Die Schwester hob die Hand, um einem weiteren Ausbruch zuvorzukommen. »Niemand beschuldigt Sie der Lüge, aber wir wissen nichts von den Inseln, die Sie erwähnen. Es ist natürlicher, anzunehmen, dass Sie aus einem entfernten Teil unseres eigenen Landes kommen , weit im Osten oder Westen. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, können Sie sicherlich in beiden Richtungen die Küste entlangfahren und Halt machen, um Vorräte an Bord zu nehmen, sobald Sie eine Gegend finden, die nicht von der Dürre betroffen ist, die uns heimsucht. Sie haben heute schon viele Hilfeersuchen gehört; einige unter diesen Bittstellern werden mit Recht denken, dass Sie besser daran seien als sie selbst, da Sie mit Ihrem Schiff in fruchtbare Länder fahren können.« »Schwestern, ich bitte Sie.« Der Steuermann war noch auf den Beinen, hatte aber seinen Ton gemäßigt. »Wir sind zu weit gereist, um noch umzukehren, selbst wenn wir Vorräte hätten. Helfen Sie uns und wir werden Ihnen jede Hilfe geben, die wir bieten können.« »Wie können Sie uns helfen?« Er blieb still. Inzwischen beugte Elyse sich vor und reckte den Hals, um die beiden Fremden zu beobachten, wie alle anderen im Audienzsaal es taten. Einen Augenblick lang schien es, dass Falk antworten würde, dann lehnte er sich zurück und wandte den Blick zur Decke. »Wenn Sie uns nicht helfen können, können wir Ihnen nicht helfen. Wir müssen Sie bitten, am Ende des nächsten Fünftags abzureisen. Es sei denn, jemand unter den Anwesenden hier wird sich für Sie verbürgen.« Der letzte Satz war eine Formalität, Teil des Rituals, wenn Anliegen von Bittstellern abgewiesen werden mussten. Ely se stand auf und schlug die Kapuze zurück. »Ich werde mich für sie verbürgen.« Alle Blicke richteten sich auf sie, als ihre klare Stimme ertönte. »Ich verbürge mich für den Steuermann und für Falk …« – sie sah, wie der kleine
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Mann sich auf der Bank wieder vorwärts neigte und sie mit seinem aufmerksamen Blick fixierte –, »für Kapitän Bryon und alle, die Herzog Kyper an Bord der Far Trader dienen, und sogar für ihren Gast, den Flieger Bah-Lee.« Das bereitete ihr Vergnügen, besonders als sie sah, wie der Steuermann und Falk auf ihre Namensliste reagierten, Namen, die sie während ihres Aufenthalts an Land offensichtlich niemandem gegenüber erwähnt hatten. »Und ich weiß etwas, das selbst der Steuermann nicht weiß, obwohl sein Freund Falk nahe daran gewesen ist, es Ihnen selbst zu sagen. Mit seiner Hilfe können die Leute dieses Schiffes wirklich in der Lage sein, uns zu Hilfe zu kommen und den Regen zurückzubringen.« Ihr Vergnügen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, verging so rasch, wie es entstanden war. Sie setzte sich, ließ aber die Kapuze zurückgeschlagen und richtete ihren Blick auf die Schwester Sprecherin. Die Antwort aber kam von deren Nachbarin zur Rechten – von Schwester Seniorin selbst, die so gut wie nie bei Audienzen das Wort ergriff. »Willkommen zurück, Elyse. Ich fragte mich schon, wann du den Zeitpunkt für richtig halten würdest, dich bei uns zu melden.« Konnte sie wirklich Ely ses Verkleidung durchschaut haben? Ihre Wangen erröteten bei dem Gedanken. Nein, sicherlich war es ein Kniff der Ältesten, sie aus der Fassung zu bringen. »Es scheint, dass wir heute nicht mit unserer Audienz fortfahren werden.« Ein Gemurmel erhob sich unter den Bittstellern, die noch auf ihre Bescheide warteten, verstummte aber, als Schwester Seniorin fortfuhr: »Aber ich bin sicher, dass niemand uns das übelnehmen wird, wenn es wirklich eine Möglichkeit gibt, den Regen zurückzubringen und damit alle unsere Probleme zu lösen. Ich werde zuerst mit Elyse allein sprechen. Dann mit Steuermann Rantor, seinem Gefährten und … äh … Gregor, nicht wahr?« Der Schmied erhob sich und nickte. »Während Sie warten, Gregor, wird eine unserer jüngeren Schwestern Zeit haben, mit Ihnen zu sprechen. Schwester Grün – die als Karyn bekannt war.« Er setzte sich wieder. Ein breites, zufriedenes Lächeln erhellte sein bärtiges Gesicht. Saalordner erschienen und forderten die Bittsteller zum Verlassen des Audienzsaales auf. Schwester Sprecherin erhob sich von ihrem Platz und ging um den Tisch zu den beiden Fremden, um sie einstweilen zu beschäftigen. Schwester
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Tutorin kam mit einem Lächeln für Elyse zu Gregor und bat ihn, ihr zu folgen. Er blickte zu Ely se, die ihm aufmunternd zunickte und lächelte, dann folgte er der Schwester zur Tür am Ende des Saales hinter den drei Stühlen. Schwester Seniorin blieb allein am Tisch zurück. Ely se blickte zu ihr hin und das Lächeln verblasste auf ihren Lippen, während es im Saal ruhig wurde und die Türen geschlossen wurden. Nun würde sie mit einer guten Geschichte aufwarten müssen. Wenn sie nur wüsste, was Falk in dem Augenblick durch den Kopf gegangen war, bevor er sich zurückgelehnt und mit solchem Interesse zur Decke aufgeblickt hatte. Aber die Älteste sah nicht so aus, als ob sie ihr zürnte. Als Elyse wieder hinsah, hob die Schwester die Hand und winkte sie zu sich. »Komm, Kind. Setz dich zu mir. Und erkläre dich.« » … und so, Schwester, kamen wir hierher mit der Absicht, um Ihre Hilfe zu bitten, aber ich wollte mehr über das Schiff und die Leute meiner Träume erfahren, darum gab ich mich Ihnen nicht zu erkennen. Aber Sie erkannten mich trotzdem?« Es war nur eine rhetorische Frage. Als sie seitwärts auf dem Stuhl neben der Schwester Seniorin saß und ihre Geschichte erzählte, kehrte ihre alte Ehrfurcht teilweise zurück. Die Älteste saß ruhig da, nickte und nahm alles auf, vermittelte aber den Eindruck, dass sie es schon wusste. Das war verwirrend und eindrucksvoll. Wie konnte sie es alles schon gewusst haben? Konnte sie Gedanken lesen? »Nun, Elyse, ich sehe, dass ich dich nicht mehr ›Kind‹ nennen sollte. Du hast deine Sache gut gemacht. Aber glaubtest du wirklich, dass ich überrascht sein würde, dich hier in Gesellschaft von jemandem aus den Östlichen Siedlungen zu sehen? Insbesondere in der Gesellschaft eines gewissen Schmiedes?« Ely se errötete. Die Älteste hatte eine Art, dass Elyse sich in ihrer Gesellschaft noch immer wie eine einfältige Novizin vorkam. »Wie konnten Sie gewusst haben, wohin ich ging?« »Wer war deine letzte Besucherin vor deiner unzeitigen Abreise? Und wer schickte sie zu dir?« »Sie meinen, Sie wollten, dass ich zu den Siedlungen davonlaufen würde?« Ausnahmsweise bekam der Anschein von Allwissenheit
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Sprünge. Die Schwester lächelte sogar und schüttelte den Kopf. »Nicht ganz, meine Liebe.« Sie hatte Ely se noch nie ›meine Liebe‹ genannt. »Meine Pläne lassen sich nicht immer vollkommen verwirklichen. Du solltest, wie du dich vielleicht erinnerst, vor dem Verlassen des Gemeinschaftsbaues ein letztes Gespräch mit mir führen. Ich gestehe, dass ich einfach gehofft hatte, Karyn könnte dich vorher von der Weisheit meiner Entscheidung überreden, dich in den Osten zu schicken. Wo es, wie du bemerkt haben wirst, viel zu wenig Kontakt mit uns gibt. Und wo, wenn alles gutgegangen wäre, ich dich mit einem guten Ehemann versorgen wollte, obwohl ich nie hätte hoffen können, dass es Karyns Bruder sein könnte.« »Sie wollten, dass ich dorthin gehe?« »Hast du dich nie gefragt, wie leicht du der Gefangennahme entgingst? Und dass unsere Sucher vergeblich ein Hexenmädchen in einer Gemeinde ausfindig machen wollten, wo Klatsch die Hauptquelle der Unterhaltung ist?« »Aber wenn, wenn …« – sie hatte Mühe, die Fassung zu bewahren – »wenn ich es auf Ihre Weise getan hätte, wäre ich niemals eine Hexe geworden. Hätte den Fischern nie erklären können, wie man gegen den Wind segelt.« »Vielleicht nicht.« Die Schwester saß für ein paar Augenblicke in nachdenklichem Schweigen. Ely se überlegte, ob die Privataudienz bereits vorüber sei. Dann ergriff sie wieder das Wort. »Meine Liebe, es war ein arbeitsreicher Tag. Wir müssen noch über deine Behauptung sprechen, dass diese Schiffsleute helfen können, die Wiederkehr des Regens zu erreichen. Zuerst aber muss ich dir etwas anderes sagen, etwas, das du gelernt hättest, bevor du von un s fortgingst, wenn du es mit deiner Abreise nicht so eilig gehabt hättest. Etwas, das alle Mädchen wissen, die den Gemeinschaftsbau verlassen und Frauen werden; aber nur wenige von denen, die zurückbleiben. Gegenwärtig ist es nur mir und der Schwester Sprecherin bekannt.« Wieder machte sie eine Pause. Ely se versuchte zu erraten, was kommen mochte, doch ohne Erfolg. Welches Geheimnis konnte ihr anvertraut werden, was den Schwestern selbst verborgen blieb, aber gescheiterten Novizinnen bekannt war, die niemals Schwestern geworden waren? Aber keine Vermutung hätte so bizarr sein können wie die nächsten Worte
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der Schwester Seniorin. »Warum, meinst du, hättest du dein Talent verloren, wenn du mit unserer Billigung gegangen wärst?« »Jeder weiß, Schwester, dass eine Hexe keine Hexe mehr ist, sobald sie mit einem Mann beigelegen hat. Ich selbst, nun, ich habe Ihnen alles erzählt.« »Hast du diese Geschichte nie ziemlich sonderbar gefunden? Hast du dich nie gefragt, warum dieser einfache körperliche Akt dein Talent zunichte machen sollte, das ja auch durch Essen und Schlafen nicht beeinträchtigt wird?« »Aber Schwester …« Sie war völlig verwirrt. »Jeder weiß …« »Jeder? Jeder – wer? Jeder außerhalb unserer Gemeinschaft, meinst du. Alle, die ein unbehagliches Gefühl haben würden, wenn sie eine Hexe in ihrer Mitte hätten. Alle Männer. Mit anderen Worten, jeder, der gar nichts über das weiß, wovon er redet.« »Aber, meinen Sie …?« Es überstieg ihr Fassungsvermögen. Konnte sie Gregor haben – und ihr Talent behalten? »Wenn es Novizinnen gibt, deren Talente hier in unserer Gemeinschaft nicht von unmittelbarem Nutzen sein können, ist es natürlich, sie ins Land hinauszuschicken, dass sie Ehemänner finden. Ein Teil der Geschichte ist wahr – Frauen mit Talent bringen mit höherer Wahrscheinlichkeit talentierte Töchter hervor als jene, die kein Talent haben, und wir müssen immer nach neuen Novizinnen suchen. Ehemänner aus der gleichen Abstammungslinie wie jemand mit Talent sind in diesen Fällen immer wünschenswert, was der Grund ist, dass ich über deinen Gregor so erfreut bin. Aber wenn eine ein bescheidenes Talent hat, das sie lieber für sich behält, und vielleicht nach Kräften Gutes tut, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, könnte das zum Entstehen und zur Ausbreitung von Geschichten beitragen, wonach Heirat gleichbedeutend mit dem Verlust eines Talentes sei. Auch ein weiterer Punkt ist zu bedenken.« Schwester Seniorin sah sich im Saal um, als wollte sie sich vergewissern, dass niemand während ihres Gesprächs hereingeschlichen war. Ihre schon ruhige Stimme wurde entschieden verschwörerisch. »Wenn die Männer wüssten, dass wir schwachen Frauen beschlafen werden können, ohne unsere Talente zu verlieren, wie lange, meinst du, würde dann die Autorität unserer Gemeinschaft dauern? Diejenigen von uns, welche hierbleiben, meine Liebe, bringen das Opfer, nicht ihr,
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die in das Land hinausgeht.« »Es kann nicht sein.« Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte etwas, woran sie so fest geglaubt hatte, nicht wahr sein? »Was träumtest du dann auf dem Weg hierher, bevor du das Schiff im Hafen liegen sahst?« »Ich sagte es Ihnen. Das war nur eine Erinnerung an einen Traum. Nicht wirklich.« »Eine Erinnerung? Bist du sicher?« Das Bild kam ihr wieder in den Sinn. Das Schiff im Hafen liegend, die hohen Masten ohne Segel. Hatte sie je zuvor im Traum dieses Bild gesehen, vielleicht vor langer Zeit? Sie konnte sich nicht erinnern. Vielleicht war es wirklich ein Traum gewesen, während sie seekrank im Boot gelegen hatte. Sie blickte umher. Wie immer brannte ein Feuer im offenen Kamin an der Westseite des Audienzsaales. Es durfte niemals ausgehen, obwohl man es bei warmem Wetter wie jetzt klein hielt. Sie blickte zurück zur Schwester Seniorin. »Darf ich?« Die Älteste nickte. Ely se stand auf und ging hinüber zum Feuer. Eine kleine Ansammlung glühender Holzkohle, von grauer Asche bedeckt, in der Mitte ein paar rauchende Holzscheite, an deren Seiten winzige Flammen entlangleckten. Sie nahm ein Scheit vom Stapel neben dem Kamin, hielt ihn zum Feuer und konzentrierte sich angestrengt. Noch immer glaubte sie nicht, dass ihr Talent noch gegenwärtig sein könne, war aber entschlossen, einen ernsthaften Versuch zu machen. Sie konzentrierte sich mit aller Anspannung, dachte daran, wie sie nach dem Zerbrechen des Floßes den nassen Zunderschwamm zum Brennen gebracht hatte, stellte sich die Flammen vor, wie sie aus dem Scheit sprühten, als es das Feuer berührte, wie der Rauch in Wolken zum Schornstein aufstieg. So nahe am Feuer wurde ihre rechte Hand, die das Scheit hielt, unangenehm warm, obwohl das Feuer so klein war. Sie beugte sich näher, bereit, das Scheit in die Flammen zu werfen, und beobachtete die Glut, die nun heller zu werden begann und mehr weiß als rot leuchtete. Ihr ganzes Wesen war auf das Feuer, auf die Wärme ihrer Hand konzentriert. Und plötzlich, als das Holzscheit noch zwei Handspannen von der Glut entfernt war, flammte es hell lodernd auf. Als die Hitze ihr die Hand versengte, warf sie es mit einem leisen Aufschrei in die hintere Ecke des offenen Kamins, wo es noch heftiger brannte als das Bild, das sie in ihrer Vorstellung gehabt hatte,
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und nicht nur Rauch, sondern Flammen und Funken stiegen in die Schornsteinöffnung hinauf. Ely se hielt die schmerzende rechte Hand mit der linken und wich vom Feuer zurück und die Flammen fielen in sich zusammen, bis ein gewöhnliches, eher unauffälliges Stück Holz abseits vom ursprünglichen Feuer brannte. Auch die Holzkohle glomm nur noch stumpfrot. »Das ist ein sehr gut entwickeltes Talent, was du hast, Ely se. Ungewöhnlich. Und du kannst auch träumen?« »Ja, Schwester.« Sie kam sich wieder wie eine Novizin vor, vollständig unter der Autorität der Schwestern. »Zeig mir deine Hand.« Sie streckte der Ältesten die Rechte hin. »Nun, es ist nichts Ernstes. Du hast schnell reagiert. Aber du musst mit diesem Brandstiftertalent sehr vorsichtig umgehen, Ely se.« »Ja, Schwester.« Allmählich überwand sie den Schock und fand den vertrauten autoritären Ton der Schwester Seniorin irritierend. Wessen Talent war es schließlich? Aber zugleich wurde ihr warm ums Herz. Sie konnte ihr Talent behalten und Gregor haben! Und der Anblick des flammenden Holzscheites hatte ihr die Einsicht gegeben, wie Falk tatsächlich zur Wiederkehr der Regenfälle beitragen oder wenigstens herausfinden konnte, wo sie niedergegangen waren. Aber sie musste aller Welt zeigen, dass sie ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Entwicklungen war, und durfte nicht zulassen, dass sie wieder im Gemeinschaftsbau eingesperrt oder nach Osten zurückgeschickt wurde, um mehr Hexenbaby s aufzuziehen. »Sollten wir nicht mit dem Steuermann und Falk sprechen?« »Wenn du bereit bist. Aber willst du mir vorher nicht deine Pläne verraten?« Sie schüttelte den Kopf. Einmal war genug. Und sie wollte ihre Gesichter sehen, wenn sie sprach. »Nein. Lassen Sie sie hereinbringen, Schwester. Lassen Sie mich ihnen zeigen, wie nützlich mein Talent sein kann.« Und, dachte sie, vielleicht wirst du bei der Gelegenheit begreifen, wie übereilt du handeltest, als du mich loswerden wolltest. Sie saß wieder neben Schwester Seniorin, wo zuvor Schwester Sprecherin gesessen hatte, nun aber mit den Händen auf dem Tisch und den Blick in den Audienzsaal gerichtet, nicht seitwärts zur Schwester Seniorin selbst. Sie fand es natürlich und bequem. Allemal bequemer als die harten Bänke
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dort draußen. Sie sah nicht das noch breitere Lächeln, das jetzt über Schwester Seniorins Gesicht ging, bevor sie die Saalordner aufforderte, die Fremden wieder hereinzuführen. Minuten später standen die beiden Fremden vor dem langen Tisch, eindeutig in einer gegenüber Schwester Seniorin und Ely se untergeordneten Position, aber geehrt durch die Intimität der Privataudienz. Fremdlinge waren sie jedenfalls für die Älteste; Ely se hingegen schienen nicht nur ihre Gesichter völlig vertraut, sondern ihre Haltung und ihr Benehmen, und wie sie mit etwas gespreizten Beinen dastanden, als erwarteten sie, dass der Boden des Audienzsaales sich wie ein Schiffsdeck bewegen würde. Sie schienen zuversichtlich, sogar glücklich über die Entwicklung, obwohl Falks Augen sie mit ihren Blicken durchbohrten. Sie verstand jedoch, dass dies Teil ihrer langen Erfahrung war, und vermutete, dass die beiden von der Fülle der Fragen, die sie stellen wollten, nahe am Bersten waren. Sie hatte ihnen gegenüber alle Vorteile. Es war ein Augenblick, der genossen werden musste. Der Steuermann ergriff zuerst das Wort und wandte sich an Schwester Seniorin. »Verehrte Dame, wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, dass wir zur Lösung Ihrer Probleme beitragen können, werden wir es als Gegenleistung für Ihre Hilfe mit Freuden tun. Aber zuerst würden wir gern wissen, wie dieses Mädchen …« – sein Blick huschte zu Elyse und wieder zurück zur Ältesten –»so viel über uns wissen kann. Hat es hier andere Besucher von jenseits des Ozeans gegeben?« »Nein. Sie sind die ersten Besucher, die wir aus anderen Weltgegenden jenseits dieser Länder gehabt haben. Aber Sie müssen während Ihres Aufenthalts in Seahaven sicherlich gelernt haben, dass wir in unserer Gemeinschaft gewisse Kräfte haben, die anderswo nicht bekannt sind?« »Aberglaube!« Falk spie das Wort aus. »Ich möchte Sie nicht beleidigen, meine Dame, und als Gast würde ich die Neuigkeit nicht draußen verbreiten, aber es liegt auf der Hand, wie Sie dieses Land regieren. Sie haben hier Wissen, nicht my stische Kräfte. Sie mögen ihr eigenes Volk täuschen, mich aber können Sie nicht täuschen. Ich kenne und verstehe die Macht des Wissens und wie es benutzt werden kann, um die Abergläubischen zu täuschen.« »Ja«, sagte Ely se ruhig, »das haben Sie sicherlich zu Ihrem Vorteil genutzt, Falk, als Sie den Klauen Ballastres entkamen.
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Dieses Manöver mit dem morphischen Resonator, vorzugeben, Sie könnten den Blitz herunterholen. Sehr hübsch.« Die selbstsichere Fassade der beiden Seefahrer fiel in sich zusammen. Sie starrten einander verblüfft an. Offenbar fragte sich jeder der beiden, ob der andere indiskret gewesen sei, dann aber erkannten sie, dass keiner von ihnen Ely se die Information zugespielt haben konnte. »Und wenn wir Zeit hätten«, fuhr sie fort, »könnte ich mit Ihnen über Ihre seltsamen Ideen in Bezug auf die Gestalt der Welt diskutieren.« Ungebeten kam ihr das Vorstellungsbild von dem metallenen Ei in den Sinn. Nun, es gab ein Geheimnis, zu dessen Aufklärung Falk vielleicht beitragen könnte. Aber jetzt noch nicht. »Diese Ideen sind jetzt aber nicht wichtig. Wichtig ist Ihre Besessenheit von Feuer, Falk. Ein Interesse, das ich mit Ihnen teile. Sie scheinen sehr tüchtig, wenn es darum geht, aus schwierigen Situationen zu entkommen , Falk; Sie geraten aber auch immer wieder in Situationen, aus denen Sie entkommen müssen. Nun, hier sind Sie in der Falle. Sie sagen, Sie können nicht weiter nach Norden, weil das Land wie eine Sperre vor Ihnen liege. Aber Sie möchten Ihre Reise auf dem langen Weg herum fortsetzen. Es gibt einen Weg aus der Falle. Über die Weißen Berge. Das ist dort, wo die Wolken und der Regen herkommen – herkamen. Wir können Ihnen auf Ihrer Reise weiterhelfen, aber Sie müssen mich mitnehmen über die Berge, um herauszufinden, warum die Regenfälle aufgehört haben.« »Und wie wollen Sie über die Berge reisen?« Es war sein letzter, verzweifelter Versuch, ihren vermeintlichen Bluff herauszufordern. »Durch die Luft?« »Selbstverständlich. Ich kenne zwei Möglichkeiten, wie man fliegen kann. Einmal mit künstlichen Schwingen wie denen ihres Passagiers Bah-Lee. Und eine mit einem Himmelssegel wie dem, das Sie gebrauchten, um Bah-Lees Leuten zu entkommen . Wie ich sagte, darin sind Sie gut.« Sie wandte sich zur Ältesten. »Dies ist der Plan, den ich in Falks Geist sah, als er plötzlich so fasziniert von der Decke war. Über die Berge fliegen und für das Wiedereinsetzen der Regenfälle sorgen.« Sie sah den kleinen Mann an. »Habe ich Recht?« »Vollständig. Es hat keinen Sinn, es zu leugnen. Aber wie konnten Sie es wissen? Und können wir Ihnen vertrauen?« »Ich habe ein Talent, Falk. Ich kann aus der Ferne Dinge
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sehen.« Es war nicht zweckmäßig, genauer zu erklären, wie ihr Talent arbeitete und wie lückenhaft es war, oder dass das einzige, wovon sie verlässlich träumen konnte, die Far Trader und ihre Besatzung war. Und schon gar nicht brauchten sie zu wissen, dass ihr Talent über eine Entfernung besser zu arbeiten schien als aus der Nähe. »Ich habe Sie beobachtet, bevor Sie die Drei Inseln verließen, obwohl ich bis zu Ihrer Ankunft hier nicht wusste, ob Sie wirklich waren oder Traumgespinste. Was das Vertrauen betrifft, so haben Sie keine andere Wahl, als uns zu vertrauen. Aber Sie haben keine Ursache, uns zu fürchten, weil ich alles über Sie weiß und den Schwestern versichern kann, dass sie von Ihnen nichts zu fürchten haben. Ich kenne Ihre geheimen Navigationshilfen; ich weiß gut genug, wie Ihr Schiff funktioniert. Ich darf sagen, dass ich unseren Fischern ein paar Andeutungen gemacht habe. Am besten aber kenne ich Sie alle. Ich weiß, dass der Steuermann ein ehrlicher und aufrichtiger Mann ist, dessen Wort wir trauen können; ich weiß, dass Sie ihn von der Notwendigkeit überzeugen werden, über die Berge zu reisen, um Ihre eigene Neugierde zu befriedigen; und ich weiß, dass Kapitän Bryon und seine Mannschaft innerhalb vernünftiger Grenzen alles tun werden, was ihr Steuermann verlangt und sogar manches, was die Grenzen der Vernunft überschreitet. Also brauche ich nur Sie zu überreden, Steuermann. Überreden Sie Falk, dass wir in unbekannte Länder jenseits der Berge fliegen müssen, um neue Entdeckungen zu machen und einem leidenden Volk vielleicht weiterzuhelfen. Selbst meine geringen Überredungskünste sollten dieser Aufgabe gewachsen sein.« Die Betonung war genau richtig. Der Falk ihrer Träume war auf Entdeckungen aus; sie waren ihm wichtiger als fast alles andere. Er würde es vorziehen, niemandem dabei Schaden zuzufügen, und hatte nichts dagegen, als ein Retter betrachtet zu werden. Im Augenblick war er unsicher und in Ehrfurcht vor ihrer Kraft, und daher leicht zu manipulieren. Bis er vielleicht herausbrachte, wie lückenhaft und schwach ihre Träume wirklich waren, würde es zu spät sein, um vor dem Abenteuer zurückzuweichen. Jedenfalls war er von der Idee, die Reise mit Hilfe eines Himmelssegels fortzusetzen, wohin kein Seeschiff ihn jemals tragen konnte, bereits fasziniert. Und der Steuermann hatte sich schon damit abgefunden, und wahrscheinlich nicht ganz unwillig, an einem weiteren von
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Falks abenteuerlichen Vorhaben teilzunehmen. Es gab noch ein letztes Detail, einen möglichen Einwand gegen ihre eigene Beteiligung an dem Abenteuer zu überwinden, bevor er zur Sprache gebracht werden konnte. »Es gibt noch etwas, Falk. Ihr Himmelssegel benötigt Feuer, um emporzusteigen.« Er nickte. »Ich denke, es könnte möglich sein, dass ich Ihnen auch dabei helfen kann.« Sie wandte sich zur Schwester Seniorin und lächelte. Der Tag hatte sich nicht allzu schlecht entwickelt.
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Trotz des abgesunkenen Wasserstandes war es der Far Trader noch möglich, ein Stück flussaufwärts zu fahren. Der Kleine Fluss, obschon viel schmaler als der Große Fluss, war auch viel tiefer, wenigstens in seinem Unterlauf. Das fruchtbare Tal, eingebettet in waldreiches Hügelland, ein im Unterlauf schiffbarer Fluss mit leichtem Zugang zur See, aber schmal genug, dass er mit der Fähre oder auf der neuen Brücke (noch immer ›neu‹, obwohl sie gebaut worden war, lange bevor Ely se das Licht der Welt erblickt hatte) leicht überquert werden konnte, hatten günstige natürliche Voraussetzungen für das bedeutendste Bevölkerungszentrum des Landes geschaffen. Eine Tagesreise weiter landeinwärts traten die Hügel zurück und der Fluss durchströmte in einem breiteren, seichteren Bett eine kleine Ebene vor den Ausläufern der Berge. Noch weiter nördlich, wo das Bergland begann, verengte sich das Flussbett wieder, und das Wasser schoss über Stromschnellen und rauschte durch felsige Engen, unpassierbar für jedes Boot, geschweige denn ein seegehendes Schiff. Aber Bryon scheute das Risiko, sein Schiff auf Grund laufen zu lassen, ließ die Wassertiefe laufend durch ein vorausfahrendes Boot loten und schließlich einen knappen Tagesritt flussaufwärts von der Stadt Anker werfen. Trotzdem hatte sich die Anstrengung der Männer gelohnt, die das Schiff in Schleppkolonnen an langen Seilen vom Ufer aus gegen die Strömung zogen. Es bedeutete, dass die Besatzung über alles verfügen konnte, was das Schiff an Werkzeug und Ausrüstung bereitstellen konnte, desgleichen genug kräftige und taugliche Männer, die Material zu einem noch zu errichtenden Basislager weiter nördlich schaffen konnten, das als Ausgangspunkt für die Expedition in die Berge dienen sollte. Das Tragen der Lasten über weite Strecken war mühselig und machte allen bewusst, was ihnen durch das Treideln des Schiffes erspart geblieben war. Die Last war eindrucksvoll: beinahe die gesamte Ersatzbesegelung der Far Trader, von den Segelmachern des Schiffes zu so
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einem großen Himmelssegel zusammengenäht, dass man hoffte, es werde zwei Personen über die Berge tragen. BahLees Flügel, zerlegt und von Natur aus leicht genug, aber sperrig und zerbrechlicher, als man erwarten würde, wenn man einen Menschen aus der Ferne damit fliegen sah. Proviant für die Sechshände, Männer – und eine Frau –, die alles so weit wie möglich ins Bergland hinauftragen mussten. Und schließlich die flache Metallplattform und der metallene Feuerkorb, die sie benötigten, um ein ausreichend großes Feuer zu machen, das mit dem Ballon selbst emporgetragen werden konnte. Die Anziehungskraft zwischen der Sonne und ihrem Feuer, sagte Falk, müsse zunehmen, wenn sie höher stiegen und der Sonne näher kämen, genauso wie die Resonanz zwischen seinem kleinen Funkengenerator und dem großen Funkengenerator in Herzog Kypers Turm stärker war, wenn die Far Trader den Drei Inseln näher war. Falks Idee war, die Ränder der Metallplattform durch Seile am Himmelssegel zu befestigen und auf der Plattform ein Feuer zu entzünden. Natürlich würden sie zur Vorbereitung des Fluges auch ein großes Feuer neben der Plattform benötigen, wie Falk es zur Erzeugung der heißen Luft und des Rauches verwendet hatte, die ihn emporgetragen hatten. War das Feuer groß genug, dass ausreichend heiße Luft das Himmelssegel füllen und vom Boden abheben konnte, dann würde das kleinere Feuer auf der Plattform dafür sorgen, dass das Himmelssegel nicht nach kurzer Zeit wieder herabsinken, sondern weiter emporsteigen würde. Die wachsende Anziehungskraft zwischen dem Feuer auf der Plattform und der Sonne, erläuterte Falk, würde das Himmelssegel dann schneller und schneller emporsteigen lassen, bis sie das Feuer nicht weiter nährten und ausbrennen ließen. Die Zeit hatte zur Erprobung der Idee nicht gereicht, aber Falk war zuversichtlich. Die Ableitung von etwas Bekanntem wie dem morphischen Resonator auf etwas Ähnliches, aber bisher Unbekanntes, sagte er, sei ein wesentlicher Schritt zu einem wirklichen Verständnis der Welt. Es sei im Wesentlichen der gleiche Prozess logischen Denkens, der BahLees Leute befähigt habe, Flügel von einer Größe, die einen Menschen tragen konnten, von der Art und Weise abzuleiten, wie ein Vogel segeln konnte; oder wie er es getan hatte, den Flug des Himmelssegels vom Verhalten eines brennenden
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Stücks Papier abzuleiten. Die Macht reinen Denkens, solche Sprünge ohne praktische Erprobung zu machen, überzeugte Elyse weniger, aber der Steuermann und die ganze Besatzung schienen volles Vertrauen zu Falk zu haben, und auch sie wusste von seinen früheren Erfolgen. Außerdem war es ihre Idee gewesen, über die Berge zu fliegen; Falks Aufgabe war es, diese Phantasie zur praktischen Realität zu machen, und wer war sie, Einwände gegen die Art und Weise zu erheben, wie er es tun wollte? Gegenwärtig wollte sie aus ihren eigenen guten Gründen jedenfalls nicht mit einer abweichenden Meinung hervortreten. Es hatte schon genug ablehnendes Gemurmel gegen ihre Teilnahme an der Expedition gegeben, obwohl sowohl Schwester Seniorin als auch der Steuermann entschieden darauf beharrt hatten, dass sie eine Schlüsselperson der Expedition sei. Schwester Seniorin, die als einzige von ihrer Macht über Feuer wusste, hatte Ely se zu ihrer persönlichen Vertreterin und nominellen MitExpeditionsleiterin neben dem Steuermann ernannt, der ihren Status akzeptieren musste, wenn er später Unterstützung von Seiten der Schwesterngemeinschaft begehrte. Ihm schien es nichts auszumachen; er schien sogar zufrieden mit der Lösung, weil ihr Hexenwissen ihn beeindruckt hatte und er wahrscheinlich nicht wusste oder glaubte, dass sie ihre besonderen Fähigkeiten verloren hatte. Vielleicht meinte er, dass die Geschichte vom Verlust dieser Kräfte nicht mehr als eine politische List von Seiten der Schwestern sei. Das würde erklären, warum er sie mit solchem Respekt behandelte. Außerdem traf es zu, selbst wenn das Talent begrenzter war, als er denken mochte, und ihr keinen Zugang zu seinen Gedanken gab. Die stärkste Abneigung schien ihr von den Männern aus Seahaven entgegenzuschlagen. Zwar waren sie bereit, die Herrschaft der Schwesterngemeinschaft zu akzeptieren, weil sie ihre besonderen Talente brauchten; aber jede Frau außerhalb des Gemeinschaftsbaues (auch oder vielleicht besonders eine frühere Hexe) sollte ihnen Untertan sein. Die Seeleute hingegen waren mehr oder weniger einverstanden mit allem, was der Steuermann für gut befand, und Ely se vermutete, dass ihre Reisen und ihre Begegnungen mit dem Unbekannten sie für neue Ideen aufgeschlossener gemacht hatten. Aber in beiden Gruppen schien es eine
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stillschweigende Annahme zu geben, dass das für zwei Personen bestimmte Himmelssegel Falk und den Steuermann für seinen Entdeckungsflug an Bord finden würde. Sie hatte andere Pläne und zog es vor, still an ihrer Verwirklichung zu arbeiten, statt lästig zu werden und Feindseligkeit auf sich zu ziehen. Ihre Gelegenheit kam früher als erwartet. Sie hatten am Rand eines kleinen Plateaus ihr Lager aufgeschlagen, zu Füßen einer langen Reihe steiler Felsklippen, die den Weißen Bergen schützend vorgelagert waren. Noch nie war ein Mensch weiter als bis hierher nach Norden vorgedrungen. Die Felsklippen waren nicht übermäßig hoch, aber sie waren glatt, ohne Griffe und Tritte, und leicht überhängend. Sie galten als unersteigbar. Mehrere tollkühne Abenteurer hatten, den Legenden zufolge, bei Versuchen, sie zu erklettern, das Leben verloren, und niemand in der gegenwärtigen Expedition hatte die Absicht, die eigene Geschicklichkeit an der seltsam glatten Oberfläche zu erproben, die wie nackter Fels aussah und sich anfühlte, aber keine Spur von Vegetation an der Oberfläche trug, nicht einmal Moos, und die den planlosen Bemühungen einiger Seeleute, Brocken als Erinnerungsstücke abzuschlagen, widerstanden. Aber niemand schenkte der Eigentümlichkeit der Klippen besondere Aufmerksamkeit; was hatte es schon zu sagen, wenn sie über das Mittel verfügten, über die Klippen zu fliegen, ohne sie auch nur zu berühren? Und wenn erst ein paar Leute oben auf den Klippen standen, konnten sie ein paar Seile hinunterwerfen, und die Flaschenzüge, die man in weiser Voraussicht aus den Lagerräumen des Schiffes mitgenommen hatte, würden den Rest der Expedition bald hinaufgeschafft haben. Südwärts, in der entgegengesetzten Richtung, aus der sie gekommen waren, lagen die Vorberge und allmählich zur Ebene abflachenden Hügel, über die sie sich heraufgemüht hatten. Von ihrem Lagerplatz genossen sie einen großartigen Ausblick auf die unbewohnte Wildnis. Etwas weiter östlich kamen die Quellwasser des Kleinen Flusses als Wildbäche von den Bergen herab und ergossen sich in mehreren kleinen Wasserfällen rauschend über den Rand der Klippen. Weiter voraus, im Norden, erhob sich der Gebirgswall selbst. Die weißen Wolkenbänke, die den Bergen ihren Namen gaben, umzogen die Gipfel und verhüllten sie. Und die ganze Zeit wehte ein leichter, aber gleichmäßiger kühler Wind von den
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Klippen am Fuß der Berge herab. Die vier wichtigsten Mitglieder der Expedition standen in einiger Entfernung von der geschäftigen Aktivität des Lagers außer Hörweite der Männer, spähten zu den Klippen hinauf, fühlten den Wind im Gesicht und überdachten die Folgerungen, die sich aus dieser unerwarteten Entdeckung ergaben. »Nun, Falk, Ihr Himmelssegel kann nicht gegen den Wind fliegen.« Der Steuermann schien nicht allzu besorgt über den Rückschlag, bemerkte Ely se. Lag es einfach daran, dass er darauf vertraute, Falk werde schon etwas einfallen? Oder war er froh über einen Vorwand, die Expedition abbrechen zu können? So oder so, Falk war in seinem Element. »Aber wer kann sagen, in welcher Richtung der Wind dort oben weht?« Er gestikulierte in die allgemeine Richtung der Sonne. »Ja, wer? Warum sollte der Wind dort oben günstiger für uns sein, als er es hier unten ist?« Falk lächelte. »Ach, Rantor, haben Sie auf unseren Reisen so wenig gelernt? Überlegen Sie. Woher kommt Wind?« Der Steuermann sah Falk halb misstrauisch, halb erwartungsvoll an. Offenbar würde er mitspielen, wenn Falk ihn Schritt für Schritt wie ein Kind zu einer großen neuen Entdeckung führen wollte. »Wind? Wieso, das ist nichts als bewegte Luft.« »Und was liegt dahinter?« »Mehr bewegte Luft. Es sei denn, der Wind legt sich.« »Genau.« Der kleine Mann schien erfreut über seinen Schüler. »Hinter den Winden ist stets mehr Luft. Nun, überlegen Sie, was wir über den ablandigen Wind und die Meeresbrise wissen. Wie Sie mir vor langer Zeit einmal erklärten, weht der Wind tagsüber landwärts und bei Nacht vom Land seewärts.« »Und Sie erklärten mir, dass dies alles mit der Affinität heißer Dinge zur Sonne und kalter Dinge zur See zu tun habe.« »Ja. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Es ist derselbe Wind – dieselbe Luft –, die ständig hin und her in Bewegung ist, wie Wasser, das in einem Bottich hin und her schwappt. Zuerst in eine Richtung – Meeresbrise – und dann in der anderen – ablandiger Wind. Es gibt keine neue Luft. Luft bleibt erhalten. Das ist ein fundamentales Naturgesetz. Luft kann weder geschaffen noch zerstört werden.«
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Ely se konnte nicht länger schweigen. »Aber dieser Wind ändert nie die Richtung.« »Nein.« Falk richtete seinen durchbohrenden Blick auf sie. »Woher kommt er also? Er schwappt nicht hin und her wie Wasser in einem Bottich. Er weht stetig und gleichmäßig, wie ein Fluss. Woher kommt das Wasser in einem Fluss?« Nun war sie an der Reihe, den Schüler zu spielen. »Regen. Vom Himmel.« »Genau. Woher also muss die Luft kommen, die diese Windströmung erzeugt?« Ungeduldig, auf das Ende seiner Erklärung zu warten, antwortete Falk sich selbst. »Von oben. Vom Himmel. Wir können es nicht sehen, aber in der Höhe muss ein Wind zu den Bergen wehen, in der Wärme der Sonne. Wenn er die Berge erreicht, kühlt er sich im Schatten der Wolken ab und bläst als Fallwind die Bergflanken abwärts zu diesen Klippen. Irgendwo unten in den Hügeln«, fuhr er fort und machte eine ausgreifende Handbewegung südwärts, »erwärmt die Luft sich wieder und steigt auf, und der Kreislauf beginnt von neuem. Wir brauchen unser Himmelssegel nur in der Luftst römung treiben zu lassen.« »Und vermeiden, dass es an den Felsen zerschellt, bevor wir hoch genug kommen, um Ihre Luftströmung zu finden.« »Ja. Wir müssen unseren Flug so nahe wie möglich an den Klippen beginnen und rasch genug aufsteigen, um zu vermeiden, dass wir abwärts zum Plateau getragen werden.« »Wird das Himmelssegel so schnell steigen?« Ausnahmsweise schien Falk verunsichert. »Ich weiß es nicht. Es hängt davon ab, wie stark die Winde in verschiedenen Höhen wehen. Wie heftig das Feuer im Metallkorb brennt. Wie stark es von der Sonne angezogen wird.« Er zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht sagen.« Bah-Lee, der schweigend der Diskussion gelauscht hatte, meldete sich erstmals zu Wort. »Dann ist es ein glücklicher Umstand, nicht wahr, dass Sie hier einen Flieger haben, der Ihnen vorausfliegen kann, um dies alles zu erkunden?« Der Steuermann wandte sich zu ihm. »Wie? Wir können Sie nicht mit dem Himmelssegel emporheben, wie ich gehofft hatte, solange wir nicht wissen, auf welche Strömungen wir treffen werden. Und ohne den warmen aufsteigenden Wind können Sie nicht höher kreisen.« Bah-Lee schüttelte den Kopf. »Sie wissen noch immer sehr wenig über das Fliegen, Steuermann. Ich kann mich ohne
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weiteres vom Rand dieser Klippen abstoßen, über die Hügel fliegen, und wenn es dort aufsteigende Luft gibt, werde ich mehr als ausreichend Höhe gewinnen, um über Ihren Köpfen zu den Bergen zurückzufliegen. Dort werde ich feststellen, in welche Richtung der Wind weht, und Ihnen Meldung machen.« »Oder über die Berge weiterfliegen, ohne auf uns zu warten.« Der Flieger lächelte. »Sie haben keine Wahl. Ich fliege, wohin der Wind mich trägt. Wenn er mich zu den Bergen bringt, wissen Sie wenigstens, wohin Sie mir folgen müssen. Wenn Falk irrt, werde ich dort unten in den Hügeln stranden und auf mich selbst gestellt sein. Aber es ist besser, einen Flieger in der Wildnis zu verlieren als Sie beide, denke ich.« Rantor nickte. Er wandte sich zu Ely se. »Und der Verlust unseres Fliegers durch solch widrige Umstände würde zweifellos die Schwestern überzeugen, dass wir keine Anstrengung gescheut haben, unser Versprechen zu halten?« Konnte sie für die Schwester sprechen, indem sie diese Geste als ausreichend akzeptierte? Sollte sie auf größeren Anstrengungen zum Erreichen der Berggipfel bestehen? Wie, wenn sie auf einem Flug mit dem Himmelssegel bestehen würde, selbst wenn Bah-Lee scheiterte, und der Steuermann nicht darauf einginge? Sie nickte unschlüssig. »Wenn der Flieger nicht hoch genug segeln kann, müssen wir aufgeben. Aber wenn es ihm gelingt«, sagte sie mit gefestigter Stimme, »dann müssen Sie schwören, das Himmelssegel folgen zu lassen.« »Selbstverständlich.« Er schien überrascht. »Ich möchte nicht so weit kommen und keine Gelegenheit haben, zu erfahren, was jenseits der Berge liegt. Selbst wenn Falk uns würde umkehren lassen, nachdem Bah-Lee vorausgeflogen wäre.« Also war es geregelt. Doch während Bah-Lee und der Steuermann zum Lager zurückschlenderten, wo die zerlegten Schwingen des Fliegers lagen, blieb Elyse bei Falk und berührte ihn leicht am Arm, u m ihn einen Moment zurückzuhalten. Etwas, das er gesagt hatte, beschäftigte sie. »Falk?« »Ja?« Wie der Steuermann war er während ihrer Reise kühl und höflich zu ihr gewesen, aber nicht mehr. »Woher kommt der Regen, der die Flüsse erzeugt?« »Vom Himmel.« Er wollte sich abwenden und Rantor
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folgen. »Aber wie kommt er in den Himmel?« Er wandte sich zu ihr zurück und eilig fuhr sie fort: »Der Meeresspiegel verändert sich nicht, obwohl alle Flüsse sich ins Meer ergießen. Ich meine, würden Sie sagen, dass der Meeresspiegel erhalten bleibt, wie die Luft?« »Das Wasser, das den Regen macht, muss vom Meer kommen, um den Kreislauf zu vollenden …« Er überlegte einen Moment lang. »Es sei denn, die See wäre unendlich. In diesem Fall könnte man jede Menge Wasser hinzufügen und der Wasserspiegel würde sich nicht verändern.« »Aber wenn wir in einer endlichen Welt leben? Der inneren Kugel?« »Dann muss alles erhalten bleiben. Wind, Wasser, alles.« Er lächelte sie erfreut an. Plötzlich steckte er seinen Arm durch ihren und zog sie mit sich. »Kommen Sie, es gibt viel zu tun, um den Flieger vorzubereiten. Aber wir müssen mehr darüber sprechen. Wie kann Seewasser in die Luft gelangen, um Wolken und Regen zu machen? Ich nehme an, es muss von der Sonne angezogen werden. Aber was verhindert, dass alles Wasser zum Himmel aufsteigt? Gut, gut, Ely se. Also denken auch Sie über diese Dinge nach, statt sie einfach hinzunehmen. Oder haben Sie das geträumt?« Bah-Lees Flug war spektakulär, ließ sich aber kaum als ein Erfolg bezeichnen. Der Start vom oberen Ende eines Hanges war ein eindrucksvolles Schauspiel, denn zu beiden Seiten rannte ein Mann mit, um die Spitzen der zerbrechlichen Flügel ruhig zu halten, während der Flieger selbst zwischen ihnen rannte, angeschnallt an seine Flügel. Dann, in dem Augenblick, als er nicht mehr lief, sondern die Beine vom Boden gehoben hatte und seinen Helfern zurief, die Flügel loszulassen, damit er segeln könne, zuerst kaum ein Klafter über dem Boden, und dann, als der abschüssige Hang unter ihm zurückfiel, hinaus in den Luftraum, ließen sich die zwei Flügelmänner keuchend ins Gras fallen. Sie hatten ihn natürlich zur Mittagszeit gestartet, als die Sonnenwärme lange genug am Werk gewesen war, um das Land und die darüber liegende Luft zu erhitzen, und alle beobachteten mit gespannter Aufmerksamkeit, wie die Schwingen des kreisenden Fliegers in der Sonne glänzten, als er nach warmen Aufwinden suchte. Zuerst war er unter der Ebene der
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Beobachter; dann stieg er allmählich auf gleiche Höhe und kreiste weiter aufwärts, bis sie den Kopf in den Nacken legen mussten, um ihn zu sehen. Endlich war Bah-Lee bereit. Er verließ den Aufwind und flog in gerader Linie zurück zu seinem Ausgangspunkt. Das Sonnenlicht schimmerte auf seinen Flügeln und er kam mit eindrucksvoller Geschwindigkeit voran. »Er hat den Wind gefunden«, murmelte Ely se unnötigerweise zu Gregor, der neben ihr stand. »Da oben muss eine Gegenströmung sein, sonst würde er nicht so schnell fliegen.« Doch so schnell er auch flog, bald wurde den Beobachtern klar, dass er an Höhe verlor – zu viel vielleicht, um mehr als eine ungewisse Chance zu haben, die Felsklippen zu überfliegen. Als er über sie hinwegflog, schien noch immer eine Möglichkeit zu bestehen, dass er es schaffen könnte; doch als sie zum Fuß der Felsklippen rannten, stolpernd über den unebenen Boden, während sie zu ihm hinaufblickten, wurde rasch klar, dass es hoffnungslos war. Ganz plötzlich wurde der Flieger langsamer, als er aus der Gegenströmung in den Fallwind sank. Sein Sinkflug wurde steiler und die erfahrenen Seeleute der Far Trader konnten alle seinen Kurs zu dem Punkt projizieren, wo der Flug enden musste. Als der Flieger sich den Felsklippen näherte, war er ungefähr hundert Schritte unter dem oberen Rand. Einen Moment schien es, als wollte Bah-Lee in seiner Enttäuschung direkt in die Felswand fliegen. Dann begann er in einer Aufsehen erregenden Schau fliegerischer Tüchtigkeit in einem engen Bogen abzuschwenken. Aber Bah-Lee hatte das Manöver zu spät eingeleitet, entweder aus übertriebener Zuversicht oder in seinem Zorn darüber, dass er unfähig gewesen war, die Felsklippen zu überwinden. Während des Abschwenkens kippte der den Felsen nächste Flügel auf einmal ab, als er in den kalten Fallwind geriet, der über die Kante herabsank. Als BahLee versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen, drehte er instinktiv in die Richtung des abkippenden Flügels und brachte auch den anderen Flügel in den Fallwind. Als er die Drehung vollendete und den entsetzt heraufstarrenden Beobachtern zugekehrt war, schien der Flieger mit rasch zunehmender Geschwindigkeit herunterzukommen, ohne sich vorwärts zu bewegen. Dann, als er vom Strom absteigender Kaltluft freikam, hoben sich die Vorderkanten der Flügel plötzlich,
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während der rückwärtige Teil noch unter dem Einfluss des Fallwindes war. Der Flieger segelte ein paar Klafter beinahe senkrecht in die Höhe, dann kippten die Flügel vorwärts, und er stürzte das letzte Stück fast im freien Fall, bevor er am Boden aufschlug. Als sie Bah-Lee erreichten, lag er zwischen zerbrochenen Flügeln, die offensichtlich nicht mehr fliegen würden, auf der Seite und versuchte sich auf den rechten Ellbogen zu stützen, während er mit der linken Hand an den Gurten zerrte. Blut rann aus einer Kopfwunde und er schien beim Aufprall mindestens einen Zahn eingebüßt zu haben. Aber er bewegte sich und murmelte durch aufgeplatzte Lippen. Ely se, leichtfüßig und gestählt durch ihre jüngsten Reisen, war überrascht, als sie im Wettlauf zu Bah-Lee von Falk geschlagen wurde, der den Kopf seines verletzten Gefährten in den Arm nahm und sich über ihn beugte, um seinen gemurmelten Worten zu lauschen. »Kein Problem. Viel Strömung , wenn man die Höhe hält. Besser für ein Himmelssegel als für Schwingen.« Er versuchte ein Lächeln, hustete und spie etwas aus, was ein weiterer Zahn zu sein schien. Dann schloss er die Augen, öffnete sie wieder. Seine linke Hand tastete nach Ely ses Arm. »Aber hören Sie, ich konnte über die Klippen sehen, bevor ich sie erreichte. Dort ist kein Land. Keine Bäume, kein Gras. Kein Land. Es glänzt wie Metall in der Sonne. Aber es gibt kein Land.« Sein Griff lockerte sich, als er wiederholt »kein Land« murmelte und die Augen schloss. Ely se achtete kaum auf die Worte. Sie war damit beschäftigt, Bah-Lees Arme und Beine abzutasten, dann vorsichtig die Rippen, um die begrenzten Heilungsfähigkeiten anzuwenden, die sie im Internat gelernt hatte. »Nichts gebrochen, außer vielleicht eine Rippe hier. Aber der Kopf …« Sie wischte mit dem Ärmel ihres Gewandes das Blut von seiner Stirn. Es war eine hässlich klaffende Platzwunde, umgeben von bläulichroten Abschürfungen und bereits merklich angeschwollen. Außer den fehlenden Zähnen schien auch mit der Form der Nase etwas nicht zu stimmen und er würde sicherlich ein Aufsehen erregendes Brillenhämato m davontragen. Aber soweit sie es beurteilen konnte, war er ohne ernstere Verletzungen davongekommen. Und bevor er in eine heilende Ohnmacht gefallen war, hatte er recht klar und zusammenhängend gesprochen. Wahrscheinlich würde er
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überleben. Aber was hatte er gesagt? Nachdem Falk den Verletzten in die Obhut mehrerer sanfter Händepaare gegeben hatte, die ihn vorsichtig aus den Gurten befreiten, seine Arme und Beine streckten, den Kopf mit einem Kleiderbündel polsterten und sich daranmachten, seine Verletzungen zu säubern, setzte er sich auf die Fersen und blickte zum Steuermann auf, den die ganze Aufregung scheinbar unberührt ließ. »Nun?« »Kein Problem, Steuermann. Seine eigenen Worte. Die gegenläufige Luftströmung ist stark und scheint durchgängig zu sein. Er hat bloß zu rasch an Höhe verloren, ein Problem, mit dem wir uns nicht werden herumschlagen müssen.« »Das ist noch nicht alles, Falk. Ich sehe es in Ihren Augen.« »Ja.« Falk blickte zu Ely se, dann zurück zum Steuermann. »Keine Bäume, kein Gras. Ein Land aus Metall, sagte er. Obwohl es kaum noch Sinn ergab, was er zuletzt sagte.« »Metall oder nicht, Falk, wir werden es erkunden. Und ohne Verzögerung. Wir machen das Himmelssegel startbereit.« Seine Worte lösten einen Wirbel hastiger Aktivität unter den Männern der Besatzung aus, die offenbar nicht damit gerechnet hatten. Elyse war ebenso überrumpelt. Sicherlich war dies nicht der richtige Zeitpunkt. Dann aber, als sie die anfangs konfuse Geschäftigkeit in geordnete Aktivität um das bereits vorbereitete Feuerholz einmünden sah, verstand sie. Es war genau der richtige Zeitpunkt. Für Bah-Lees Genesung war es bedeutungslos, ob das Himmelssegel flog oder nicht, und der Steuermann wollte seine Männer aktiv beschäftigt sehen, nicht über Bah-Lees misslungenen Flug brütend. Er verstand, dass man die Leute mit vertrauter Arbeit beschäftigen und das Himmelssegel in die Luft bringen musste, bevor jemand schlussfolgerte, dass die ganze Expedition vom Unglück verfolgt sei oder dass der Versuch, die Höhen über den Klippen zu erreichen, ein Arbeiten gegen die Macht des Schicksals sei. Wenn sie bis zum nächsten Tag warteten und Bah-Lee keine deutlichen Zeichen von Erholung zeigte, mochten sich solche Ideen rasch ausbreiten. Wenn sie aber jetzt aufstiegen, ob der Flieger sich erholte oder nicht, würde es den Fortgang der Expedition bedeuten. Obwohl es selbst unter diesem Verständnis für einen Flug ins Unbekannte schon spät am Tag war. Wenn sie es schafften, würden sie die Nacht allein dort oben verbringen müssen, bevor die Flaschenzüge
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angebracht werden konnten. Sie erschauerte bei dem Gedanken. Aber alles ging zu schnell. Das Feuer und das Himmelssegel wurden bereitgemacht, der Steuermann und Falk waren bereit, die ringsum mit gestapeltem Brennholz beladene Plattform zu besteigen, in deren Mitte bereits der Feuerkorb brannte. Und wenn sie mit diesem Flug erfolgreich wären, würden sie später mit Sicherheit genauso verfahren, und sie, Elyse, würde niemals eine Gelegenheit bekommen, näher zu den Bergen zu fliegen. Während im Falle eines Misserfolgs niemand eine zweite Chance bekommen würde. Unsicher, wie sie reagieren sollte, zog sie sich ein Stück von der Geschäftigkeit zurück zum Rand des Lagerplatzes. Das große Feuer, dessen Flammen eindrucksvoll in die Höhe schossen, war nahe dem Fuß der Felsklippen, aber weit genug davon entfernt, um außerhalb des Fallwindes zu sein. Flammen und Rauch wurden von der kalten Luft nach außen gedrückt, fort von den Klippen und in die Richtung, der das Himmelssegel unausweichlich folgen würde, wenn es sich vom Boden löste. Fasziniert beobachtete sie die Technik. Es war, als sähe sie einen ihrer Träume, der wieder zum Leben erwachte. Die gleiche Anordnung von Seilen und kräftigen Stangen, um die Halsöffnung des Himmelssegels über dem heißen, aufsteigenden Rauch vom Feuer zu halten, das gleiche allmähliche Anschwellen des Himmelssegels selbst, das sich vom Boden zu heben begann und über den prasselnden Flammen schwankte. Gregor war ihr nachgegangen. Schweigend legte er ihr den Arm u m die Schultern. Er verstand, wie sehr sie wünschte, diejenige zu sein, die in unbekanntes Territorium vordrang und dem Land das Wasser zurückbrachte. Sie war überzeugt, dass er sie nicht zurückhalten würde, obwohl sie ihrerseits seinen Wunsch verstand, sie bei sich zu behalten. Bald war alles bereit. Falk und der Steuermann waren auf der Plattform, die vom Boden abhob, nur noch von den letzten zwei Seilen gehalten. Männer warfen Holzscheite hinauf, damit sie das Feuer schüren konnten, ohne schon auf das um die Plattform gestapelte Brennholz zurückgreifen zu müssen. Es sei wichtig, hatte Falk erklärt, das Feuer mit frischem Holz zu versorgen und reichlich Rauch zum Heben des Himmelssegels zu erzeugen. Dann waren sie frei. Wie
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erwartet, begann das Himmelssegel rasch aufzusteigen, sobald die Leinen losgeworfen waren, und sich gleichzeitig von den Klippen zu entfernen, bis es beinahe über ihnen war. Dann aber, statt mehr Höhe zu gewinnen, wurde es wie von einer Riesenhand wieder heruntergedrückt. Es konnte nur der Fallwind sein, dessen Wirkung sich von den Klippen weiter hinaus erstreckte, als Falk erkannt hatte. Sie würden am Boden zerschellen! Von Gregors Griff befreit, rannte sie beinahe unter den Schatten des schwankenden Himmelssegels. Für einen Moment ging es wieder in die Höhe, dann wurde es beinahe auf die Seite geweht und der wichtige heiße Rauch an der Halsöffnung vorbeigeblasen, statt in sie aufzusteigen. Wieder schwankte das Himmelssegel abwärts, schlug mit der Plattform durch einige zerzauste Baumwipfel und trieb sie auf einen Felsen zu, der wie ein morscher Zahn dem Bo den entragte. Der Steuermann beugte sich über die Seite der Plattform und hantierte mit den Seilen des Himmelssegels, als sie auf den Felsen prallte. Er geriet aus dem Gleichgewicht und fiel, scheinbar so langsam, als wäre er unter Wasser. Eines der langen Seile, an dem er sich zu schaffen gemacht hatte, schlang sich lose um seinen Körper. Alles um Elyse schien sich sehr langsam zu bewegen. Sie hatte alle Zeit der Welt, um zu sehen, wie der Steuermann nach dem Seil fasste, es aus den Händen verlor, sich überschlug und auf dem Rücken im Gesträuch landete. Sie sah das Himmelssegel schwankend dahintreiben, während die Plattform an verschiedenen Hindernissen hängenblieb. Es konnte auch ohne das Gewicht des Steuermanns kaum die Höhe halten. Sie rannte los, sprang, versuchte das Seil zu ergreifen, konnte es mit beiden Händen packen, die Beine darum winden und wurde über den Rand hinausgetragen, schwankend unter der Metallplattform. Falks Gesicht schaute von oben zu ihr herab. Sie verloren Höhe. Der Hang unter ihnen fiel rascher ab, als sie sanken, aber sie sanken noch immer tiefer. Ely se schloss die Augen zu einem Vorstellungsbild des Feuers im Metallkorb. Ein Bild hell auflodernden Feuers, dessen Hitze sich in alle Richtungen verbreitete, dessen Flammen bis in die Halsöffnung des Himmelssegels leckten. Sie klammerte sich mit Händen und Beinen an das Seil. Nichts schien zu geschehen. Es herrschte kein Wind mehr, nur Stille und das Seil und in ihrem Kopf ein Vorstellungsbild
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von hell knisterndem, loderndem Feuer. Natürlich, schien etwas in ihrem Kopf zu sagen, war etwas falsch. Falk wollte Rauch, nicht glühende Holzkohle. Aber ihr Talent war nicht mehr gut im Erzeugen von Rauch, nur im Fördern der Verbrennung. Zu dumm. Sie machte sich für den unvermeidlichen Aufprall in den Bäumen bereit, zog die Beine an und spähte abwärts, als eine Stimme ihren Gedankengang unterbrach. Es war Falk, der von oben herabrief, nicht mehr als vier oder fünf Klafter über ihrem Kopf. Sie blickte hinauf. »Wie haben Sie das gemacht?« Er schien unbesorgt, interessiert an den Entwicklungen, aber nicht im mindesten beunruhigt von seiner misslichen Lage. Sie blickte wieder hinunter. Sie waren noch ein gutes Stück über den vorgelagerten Hügeln und die Bäume am Hang schienen jetzt kleiner als noch vor wenigen Augenblicken. Sie stiegen! Falks Stimme fuhr fort, ganz beiläufig, als wären sie an Bord der Far Trader oder irgendwo an einem sicheren Ort. »Es ist natürlich alles verkehrt. Kein Rauch. Trotzdem scheint es gut zu funktionieren. Vielleicht hat die Holzkohlenglut eine stärkere Affinität zur glühenden Sonne, als bloßer Rauch dies haben kann.« Falk lehnte nonchalant an der hölzernen Seite der Plattform. Dass sie ungesichert am Seil hing, schien ihn nicht zu beunruhigen. »Legen Sie Holz nach!«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Ich werde dafür sorgen, dass es gut brennt, aber zuerst müssen Sie es hineinlegen. Und dann helfen Sie mir hinauf!« Wieder schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf das Vorstellungsbild des Feuers. Also wollte er glühende Holzkohle. Das konnte er haben, aber zuerst musste das Holz brennen. Sie fühlte einen leichten Zug am Seil und öffnete wieder die Augen. Dann zog sie sich am Seil höher, den Blick auf Falks grinsendes Gesicht fixiert, bis er sie bei den Handgelenken fassen und ihr über die Seite und auf die Plattform helfen konnte. Das Feuer war beinahe wie Weißglut, der Feuerkorb selbst glühte kirschrot. Es war unangenehm heiß auf der kleinen Plattform, die eingeengt war durch den Holzvorrat, der rasch abgebaut wurde, als Falk ständig neue Scheite in die hungrige Glut warf, während er in kurzen Sätzen zu ihr sprach.
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»Ich denke, Sie können es jetzt von selbst auf natürliche Weise brennen lassen. Es war Ihr Werk?« Sie nickte. »Sie brauchen jetzt nichts zu erklären. Sehen Sie. Wir sind auf dem Weg.« Sie blickte hinunter. Inzwischen waren sie viel höher, ein gutes Stück über dem Lagerplatz, wo sie gestartet waren. Der Felsen, gegen den die Plattform geprallt war, lag nun fast unmittelbar unter ihnen. Eine Gruppe von Gestalten mit dem Steuermann in der Mitte stand auf dem höchsten Punkt und spähte zu ihnen herauf. Vom Lagerplatz sandte die niederbrennende Feuerstelle eine Rauchfahne über die freie Fläche, wo sie vom kalten Fallwind aufgelöst wurde. Eine zweite Gruppe von Gestalten hatte sich um Bah-Lee versammelt. Weiter nördlich rückten die Felsklippen rasch näher, während sie scheinbar bewegungslos in der Luft hingen. Das Himmelssegel war höher als der obere Klippenrand! Höher als Bah-Lee auf seinem Flug gekommen war. Die Bewegung in der Gegenströmung war nicht zu fühlen, weil sie sich so schnell wie der Wind fortbewegten, und der trug sie genau in die erwünschte Richtung. Sie wandte sich zu Falk und umarmte ihn impulsiv. »Ich wusste, dass mein Feuertalent nützlich sein würde.« Sie ließ ihn los, schaute wieder hinaus, gewann den Eindruck, dass sie an Höhe verloren, nahm Holzscheite vom stark dezimierten Vorrat und warf sie in den Feuerkorb. Falk tat es ihr nach. »Also brannte das Feuer nicht heller, weil es der Sonne näher kam«, sagte er und schüttelte bekümmert den Kopf. »Aber da es aufflammte, sobald Sie das Seil ergriffen, erforderte es keine große Intelligenz, um zu folgern, wer verantwortlich war. Aber ein hübscher Kniff. Können Sie es zu jeder Zeit tun?« »Nicht in dieser Form. Es bedarf starker Empfindungen, um das Talent auszulösen. Gewöhnlich ist es Angst.« Sie lachte. »Aber ich kann machen, dass es ein wenig heller brennt, wenn Sie sicher sein wollen, über die Klippen hinauszukommen.« Er nickte zu der rasch näher rückenden Felsbastion. »Noch nicht.« Seine Stimme hatte den nachdenklichen Ton angenommen, den sie so gut aus ihren Träumen kannte. »Es ist interessant, nicht wahr, wie die Berge sich auf uns zu zu bewegen scheinen, und nicht wir uns zu ihnen. Relativität der
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Bewegung. Sind wir wirklich von den Drei Inseln hierher gesegelt, oder haben die Drei Inseln sich entfernt und uns in der See treiben lassen, bis Ihr Land daherkam?« »Und fällt das Himmelssegel abwärts oder kommt der Boden zu uns herauf? So oder so, am Ende gibt es einen bösen Aufprall.« Der etwas übertriebene Vergleich riss ihn aus seinen tagträumerischen Spekulationen, wie sie es beabsichtigt hatte. Er blickte hinunter und stellte fest, dass sie ungefähr eine gleichmäßige Höhe einhielten, dann richtete er den Blick wieder voraus. »Nun, in diesem Fall legen wir vorsichtshalber noch Holz nach. Und dann sehen Sie zu, was Sie für das Feuer tun können. Rantor wird sich ärgern, dass ihm dies entgeht, aber es muss gesagt werden, dass wir nicht hier wären, wenn er sich an Bord befände und nicht Sie. Hab ich Recht?« »Sie haben.« Sie warfen den größten Teil des restlichen Holzvorrats in die Flammen, dann trat sie zurück, blickte konzentriert ins Herz des Feuers und fachte es durch Willenskraft an. Die Flammen schossen von den frischen Scheiten hoch und trugen heiße Luft und Rauch in die gähnende Öffnung des Himmelssegels über ihnen. Sie merkte, dass Falk sie ebenso aufmerksam beobachtete wie sie das Feuer, und wandte sich ab, um hinauszublicken und die Wirkung ihrer Anstrengungen zu verfolgen. Sie hatten tatsächlich wieder Höhe gewonnen und würden mit Leichtigkeit die Klippen überfliegen und das Land dahinter erreichen. Aber was lag jenseits der Klippen? »Sehen Sie.« Falk hob den Kopf und blickte in die angezeigte Richtung. Das Land jenseits der Klippen schimmerte wirklich wie Metall im Sonnenlicht. Es gab keine Bäume, kein Gras. Aber etwas bewegte sich schwerfällig vom Fuß der Berge auf die Klippen zu. Um aus so weiter Entfernung sichtbar zu sein, musste es riesige Ausmaße haben – eine Burg in Bewegung. Und doch war etwas an der Erscheinung der Berge selbst sehr eigenartig, wenn man sie von hier oben betrachtete. Sie sahen beinahe wie in einem Modell aus, wie etwas künstlich Gemachtes. Sie schüttelte den Kopf. Es musste an dem Winkel liegen, aus dem sie es hier aus der Höhe beobachteten. Sie blickte über den Rand der Plattform in die Tiefe. Sie hatten die Klippen bereits hinter sich und sanken rasch auf die seltsam flache, kahle Ebene zu. Sie wandte sich wieder dem Feuer zu und überließ es Falk, das
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Ding zu beobachten, das von den Bergen her auf sie zukam. Sie warf das restliche Holz ins Feuer, das sich unter ihrer konzentrierten Anstrengung rasch in eine feurige Lohe verwandelte, aber es reichte gerade, um ihr Absinken zu verlangsamen. »Falk!« Er beachtete sie nicht, blickte wie gebannt in die Ferne. »Falk! Wir haben kein Brennholz mehr und das Feuer wird bald ausgehen.« »Das ist nicht wichtig. Wir brauchen es jetzt nicht.« »Wie landen wir?« Er sah sich nach ihr um und lächelte. »Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nie gemacht. Am besten halten wir uns an etwas fest.« Seinem Beispiel folgend, ergriff sie zwei der Seile, an denen die Plattform vom Himmelssegel hing. Natürlich, als er das erste und bis heute einzige Mal geflogen war, hatte er das Himmelssegel am Ende des Fluges einfach auf das Wasser niedergehen lassen. Sie hatte es in ihren Träumen gesehen. Aber was immer diese schimmernde Oberfläche war, der sie beängstigend rasch näher kamen, bestand gewiss nicht aus Wasser. Sie würden hart aufprallen. Sie hatte Zeit zu bemerken, dass sie sich zu den Klippen zurück bewegten, offensichtlich mit der kalten Luft der Fallwinde, und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, was das Grinsen von seinem Gesicht wischen würde, aber schon kam der Aufprall und schlug ihr die Zähne zusammen. Alles kippte seitwärts und sie verlor mit der rechten Hand den Griff am Seil, konnte sich nur noch mit der linken halten, als sie mit holpernden Stößen über die Oberfläche geschleift wurden. Das Himmelssegel legte sich auf die Seite, Wärme entwich aus seiner Halsöffnung, es kam zum Stillstand und sank langsam in sich zusammen. Elyse ließ das Seil los und landete auf allen vieren am Boden. Sie blickte auf und sah eine Szene, die aus einem ihrer Träume hätte sein können, nicht in der wirklichen Welt. Falk lag auf dem Rücken und lachte. Ein Gewirr von Seilen lag um das zusammensinkende Himmelssegel. Hinter ihm schien der Rand der Klippen ungemütlich nahe und der gleichmäßige Wind schien sie sogar jetzt noch darauf zuzutreiben. Aber als sie den Kopf wandte, sah sie eine flache, monotone Ebene, die sich bis zum Fuß der Berge erstreckte, die nahe herangerückt und seltsam unproportioniert schienen.
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Da ging die Sonne aus. Sie saßen an einem kleinen Feuer, das sie aus der Glut und noch nicht vollständig verbrannten Holzscheiten entfacht hatte. Ely se nährte es mit kleineren Holzstücken, die von den Seiten der Plattform gebrochen waren, und ließ sie auf natürliche Weise brennen. Zu diesem Zweck vermied sie es, ins Feuer zu sehen, sondern richtete den Blick hinaus in die Dunkelheit. Falk, wie konnte es anders sein, redete. »Wenn wir nur ein Seil hinunterlassen und an diesem Ende sichern, können einige unserer Seeleute im Nu heraufklettern. Sie sind Seile und Taue gewohnt. Und sobald sie einen Flaschenzug angebracht …« »Was ist das für ein Licht?« Er wandte den Kopf. Aus der Richtung der Berge näherte sich schnell ein helles Licht. Vielmehr zwei helle Lichter – Ely se stand auf, um sie besser zu beobachten –, die vielleicht ein wenig höher als ihr eigener Kopf über dem Boden und in einem gewissen Abstand voneinander waren. Sie erzeugten doppelte Reflexe auf der metallischen Oberfläche der Ebene. Bald war ein leises Summen zu hören, das die Annäherung begleitete. Auch Falk stand auf und sie trat instinktiv zu ihm. Sie überragte ihn um einen halben Kopf. Beide dachten nicht an einen Fluchtversuch. Wohin sollten sie fliehen? Außerdem waren sie gekommen, das Unbekannte zu erforschen, und dies war zweifellos das Unbekannte. Ely se sah, dass die Lichter sich in einer Richtung bewegten, die sie nahe an ihnen vorbeiführen musste. Der veränderte Gesichtswinkel gab ihr plötzlich eine Vorstellung von der Nähe der Lichter – sie waren sehr nahe – und ihrem Abstand voneinander, der ungefähr fünf Schritte betrug. Die beinahe lautlose Annäherung und das Fehlen von Bezugspunkten hatte einen falschen Eindruck von Entfernung vermittelt. Dann waren sie plötzlich vorbei und hielten. Als ihre von den Lichtern geblendeten Augen sich wieder der Dunkelheit angepasst hatten, konnte sie sehen, dass die Lichter an der Vorderseite eines beweglichen Kastens angebracht waren, der ungefähr die Abmessungen eines großen Zimmers hatte und knapp über der Oberfläche der Ebene schwebte. Das Licht konzentrierte sich jetzt auf das Wrack des Himmelssegels, als wäre der Kasten ein Lebewesen, das es betrachtete. Dann drehte er, der ganze schwebende Kasten drehte sich langsam
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wie ein Blatt in der Brise, bis der Lichtschein sie erfasste, wo sie noch immer nebeneinander bei den flackernden Resten des Feuers standen. »Ich verstehe nicht, warum es schwebt.« »Was?« Sie war noch nicht gewohnt, wie Falks Verstand arbeitete. »Dieser Kasten. Er ist aus Metall gemacht, glaube ich. Also sollte er von der metallenen Oberfläche, auf der wir stehen, angezogen werden. Und doch schwebt er. Das verstehe ich nicht.« »Bitte sprechen Sie weiter.« Die Stimme kam aus dem Kasten. Beide waren zu erschrocken, um gleich zu antworten. »Bitte sprechen Sie abwechselnd, zu Identifikationszwecken.« »Wer sind Sie?« Falk hatte sich zuerst erholt. »Was soll ich sagen?« Elyse achtete mehr auf die Frage. »Bitte sprechen Sie abwechselnd. Zuerst die Frau. Sagen Sie mir, woher Sie kommen.« »Ich komme aus Seahaven. Dort war ich im Gemeinschaftsbau der Schwestern.« Bei dem Gedanken gewann sie Selbstvertrauen. »Ich vertrete die Schwestern und bin die stellvertretende Leiterin dieser Expedition.« »Genug. Danke. Ich habe den Dialekt bestätigt gefunden. Eine Schwester von der Gemeinschaft in Seahaven. Nun der Mann.« »Ich komme von den Drei Inseln und stehe im Dienst des Herzogs Kyper, aber das ist jetzt nicht wichtig. Wie können Sie so schweben? Sicherlich müsste die Anziehungskraft von Ähnlichkeiten Sie auf die Oberfläche kleben? Kommen Sie aus den Bergen? Wie weit ist es? Etwas an Ihrem Aussehen scheint nicht richtig zu sein …« Also hatte auch er es bemerkt. Aber Falks Redeschwall wurde ebenso abrupt unterbrochen wie ihrer zuvor. »Genug. Danke. Der Dialekt ist unvertraut. Wo befinden sich diese Drei Inseln?« »Weit im Süden. Viele Hände von Tagen.« Ely se bemerkte, dass Falk darauf achtete, nicht zu genau zu sein. »Vielleicht in der südlichen Hemisphäre. Meine Sensoren sind dort weit verstreut.« »Die südliche Hemisphäre«, sagte sie. »Teil einer Kugel.
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Der inneren Kugel?« »Sie scheinen wohlunterrichtet, Schwester. Überraschend wohlunterrichtet. Ihr Gefährte ist nicht weniger überraschend. Ein Reisender aus dem fernen Süden. Und es ist dieser Ballon zu erklären.« Ballon? Was in aller Welt war ein Ballon? Die Stimme fuhr fort: »Ich kann nicht berechnen, wie Sie mit Holz allein genug Hitze erzeugen konnten, um für ausreichend lange Zeit in der Höhenströmung bleiben zu können. Nichts davon passt zu meinen Projektionen.« Sie schüttelte den Kopf, vergeblich bemüht, etwas vom Sinn der Worte zu verstehen. Es klang, als ob die Stimme etwas erklärte, doch was es war, konnte Elyse nicht ergründen. »Aber wenigstens sind Sie hier und es ist ganz klar, dass Sie durch eigene Anstrengung und die anderer Menschen gekommen sind, ohne die Hilfe verbotenen Wissens. Ich glaube, ich kann großzügig sein und Ihnen eine Fahrt zurück zur Brücke anbieten, wenn Sie es wünschen.« »Brücke? Welche Brücke?« Falks Frage fiel zusammen mit dem Erscheinen einer Spalte in der Seite des Kastens, die sich verbreiterte und einen kleinen Raum dahinter enthüllte, viel kleiner als die äußeren Abmessungen des Kastens, mit einer niedrigen Couch auf einer Seite und einem Glasfenster auf der anderen. »Sie stellen sich die Brücke als die Berge vor. Sie haben Recht, es ist nicht so weit entfernt, wie es von unterhalb der Klippen scheint.« Also hatte die Stimme ihre Fragen nicht vergessen. »Die Berge sind weitgehend eine holographische Projektion, die eine falsche Perspektive geben und große Entfernung suggerieren soll, um Besucher abzuschrecken.« Wieder war die Erklärung unverständlich. »Die Brücke ist das Navigationszentrum und die technische Zentrale des Schiffes.« Schiff? Was für ein Schiff? Die Antworten der Stimme waren verwirrender als ihre Fragen. »Der Nordpol wird willkürlich als der Bug des Schiffes betrachtet, obwohl das Schiff natürlich, wie Sie erkannt haben, von sphärischer Symmetrie ist. Ich kann Sie in ein paar Minuten dorthin bringen und Ihnen die Sterne zeigen, wenn Sie wollen. Und unterwegs kann ich mehr von Ihren Fragen beantworten.« »Was ist mit unseren Gefährten? Ich kann nicht fort, bevor der Steuermann die Klippen erstiegen hat.«
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»Und was ist mit der Dürre? Die Leute des Landes brauchen Wasser. Ich kann nicht fort, bis ich sicher bin, dass Sie uns helfen wollen.« »Interessant.« Die Stimme hielt inne. »Eine unvertraute Empfindung, aber befriedigend, nach all dieser Zeit. Sie haben natürlich ganz Recht. Ich kann Sie nicht zwingen, irgendetwas zu tun. Innerhalb gewisser Grenzen haben Sie als stellvertretende Leiterin der Expedition selbstverständlich die Befehlsgewalt, Schwester.« Sie bemerkte eine subtile Veränderung im Tonfall der Stimme, die nicht mehr unpersönlich klang, als sie in einer Redeweise und einem Dialekt zu ihr sprach, der in Seahaven nicht fehl am Platz gewesen wäre. Dann sprach sie zu Falk in einer Art und Weise, die mehr jener der Seeleute glich. »Und wir können Ihren Steuermann leicht heraufbringen, sobald es hell wird. Ich möchte die Morgendämmerung nicht vorziehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, da es überall im Schiff viel Verwirrung verursachen würde. Aber wir können hier ein paar Stunden warten und ich kann einige Ihrer Fragen beantworten. Ich würde wirklich gern wieder mit einem anderen Steuermann sprechen.« »Was ist mit der Dürre?« »Ich habe nicht vergessen. Ich vergesse kaum etwas. Während wir sprachen, habe ich nachgeforscht. Es gibt Schwierigkeiten mit dem Hauptantrieb und ich brauche die Reaktionsmasse für bevorstehende Manöver mit Hilfe des sekundären Systems. Aber vielleicht bin ich in den Vorbereitungen tatsächlich etwas gedankenlos gewesen. Alles wird sich im Laufe der nächsten zwei Jahreszeiten ausgleichen und zu normalen Wetterverhältnissen bei einem etwas niedrigerem Meeresspiegel führen. Aber ich kann den Regen ein wenig vorziehen, wenn Sie es wünschen.« »Das wäre sehr wichtig.« Elyse war der Hinweis nicht entgangen, dass sie die Befehlsgewalt hatte. Sie wusste nicht, wozu dieser sprechende Kasten imstande war und ob er ihr wirklich gehorchen würde. Aber was hatte sie zu verlieren? »Ich wünsche normale Regenfälle im ganzen Land und in dieser Jahreszeit. Und ich wünsche, dass der Große Fluss wieder seine normale Wassermenge führt, aber allmählich, nicht auf einmal.« »Und während ich mich darum kümmere und wir auf den Morgen warten, würden Sie sich gern setzen, während ich Ihre
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Fragen beantworte?« »Wir werden uns setzen, aber hier draußen.« Falk ließ seinen Worten die Tat folgen und sie folgte seinem Beispiel. Es schien vernünftig. Vernünftiger als die Stimme. Zwar konnte sie die Worte verstehen, aber sie ergaben noch immer keinen Sinn. Wie konnte er sich um den Regen kümmern, während er hier blieb und mit ihnen sprach? Waren sie erst in diesem Kasten, konnte ihr und Falk alles zustoßen. Nicht, sagte sie sich, dass es nicht auch hier draußen passieren könnte. Aber es schien ihr, als hätten sie die Dinge besser unter Kontrolle, solange sie eine gewisse Unabhängigkeit bewahrten. »In diesem Fall werde ich die Filmvorführung einstweilen ausfallen lassen müssen. Ich glaube, sie hätte Ihnen gefallen. Sehr lehrreich. Aber ich gewöhne mich jetzt an menschliche Sprachmuster und werde mein Bestes tun. Sie haben eine Frage gestellt, die ich noch nicht beantwortet habe. Wie schwebt dieses Fahrzeug über der Oberfläche. Sind Sie vertraut mit Magnetismus?« Ely se und Falk sahen einander im matten Feuerschein an, zuckten die Achseln. Falk sprach für sie beide. »Nein.« »Gut. Sie sprachen von der Anziehung von Ähnlichkeiten. Können Sie mir ein Beispiel nennen?« »Heißer Rauch, der aufsteigt, die Sonne zu grüßen.« »Interessant. Nun, Metalle gehorchen einem Gesetz, das genau das Umgekehrte davon ist. Man könnte es die Abstoßung von Ähnlichkeiten nennen. Bei Gebrauch von Elektrizität ist es möglich, zwei Verhaltensweisen von Metall zu erzeugen. Gegensätze ziehen sich an, Ähnlichkeiten stoßen sich ab. Diese magnetischen Verhaltensweisen sind im Metall des Fahrzeugs und in der Oberflä che darunter. Also schwebt es.« Ely se bedeutete es nichts, aber Falk hatte wie immer etwas in den Worten Verborgenes entdeckt und konnte es zur Sprache bringen. »Und was ist Elektrizität?« »Wie Blitzentladungen, aber kontrolliert und gebändigt, dass sie sich in Drähten transportieren lässt. Aber natürlich haben Sie keine Erfahrung darin. Lassen Sie mich erklären …« »Aber ich habe Erfahrung!« Er triumphierte. »Wir verwenden kontrollierte Blitzentladungen zur Navigation, wenn wir den Drei Inseln näher sind. Lassen Sie mich erklären.«
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Und schon war er in einer Diskussion mit der körperlosen Stimme. Eine Diskussion, die ein weites Spektrum behandelte, von der Arbeitsweise seines morphischen Resonators, der von großem Interesse für die Stimme schien, bis zur Vorstellung von Sternen, anderen Sonnen, aber außerhalb der Hohlkugel, die ihre Welt enthielt. Das schien nicht allzu schwierig zu begreifen; sie würde diese Sterne gern sehen, wenn der Steuermann käme und sie zur Brücke fahren würden, von der die Stimme sprach. Sogar die Vorstellung einer unendlich großen Welt außerhalb der Welt, übersät von Sternen und vermutlich anderen Welten, schien eine mehr oder minder gerade Weiterentwicklung von allem, was sie über die Natur der Unendlichkeit gelernt hatte, als sie in ihren Träumen Falks Erfahrungen geteilt hatte. Wenn sie in der inneren Sphäre lebten, leuchtete es bei einigem Nachdenken ein, dass es draußen, unter ihren Füßen, auch etwas geben müsse. Es konnte nicht massiver Fels bis in die Unendlichkeit sein. Aber dann kam der unverständliche Teil. »Nein, Falk.« Die Stimme war beharrlich und unermüdlich, obwohl Falk vor lauter Fragen und Antworten heiser geworden war und der Morgen inzwischen nicht mehr fern sein konnte. »Soweit mir bekannt ist, gibt es keine anderen Welten wie diese. Die anderen Welten sind kugelförmig, aber massiv. Manche von ihnen haben eine Atmosphäre auf der Außenseite. Und Leben, auch auf der Außenseite.« »Aber wie?«, schaltete sich Elyse ein. »Warum fällt nicht alles hinaus in den Raum zwischen den Sternen?« »Weil die natürliche Tendenz nicht ist, dass Dinge nach außen, sondern nach innen fallen. Es ist ziemlich wie Ihre Anziehung von Ähnlichkeiten. Dinge fallen zum Mittelpunkt.« »Das ist Unsinn. Wie könnten wir auf der Innenseite einer Hohlkugel leben, wenn die Dinge zum Mittelpunkt fallen? Warum fallen wir nicht in die Sonne? Weil die Dinge natürlich nach außen fallen.« »Nein.« Es folgte eine Pause. »Ich hatte beabsichtigt, etwas länger zu warten, aber es ist alles eine Geschichte. Es ist unnatürlich, dass Dinge nach außen fallen. Gerade so wie es unnatürlich ist, dass ein schwebendes Objekt sich gegen den Wind bewegt.« »Aber das ist einfach eine Technik der Seefahrer. Ich lernte sie von der Beobachtung der Far Trader.« Diesmal war Falk schneller als sie. »Er meint, dass ein
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Schiff sich unnatürlich verhalten kann, weil es so gebaut wurde. Er meint, dass in unserer Welt die Dinge nach außen fallen, weil unsere Welt so erbaut worden ist.« Die Worte widerhallten scharf und klar in ihrem Gedächtnis. Allmählich ergaben sie eine Art Sinn. »Und die sogenannte Brücke ist die technische Zentrale und das Navigationszentrum des Schiffes. Er meint damit, dass diese ganze Welt ein Schiff ist. Und wir sind Passagiere. Warum? Wohin geht die Reise? Wo ist die Besatzung?« »Ja. Nun, ich bin jetzt die Besatzung. Es gab Menschen, die auf der Brücke lebten und die Befehlsgewalt hatten. Zu wenige. Sie starben aus, verstehen Sie, und übergaben mir die Aufsicht und Führung. Es schien die beste Lösung, letzten Endes. Niemand wollte sich in das Leben der Passagiere einmischen, und nach den ersten paar Jahrhunderten gab es wenig genug, was Menschen tun konnten. Ich denke, schließlich glaubten sie nicht mehr wirklich an die Reise.« »Was ist ein Jahrhundert? Wie lange dauert diese Reise schon?« Die halbverstandene Erklärung hatte einen schrecklichen Verdacht in ihr geweckt. »Ein Jahrhundert sind hundert Jahre. Hundert jahreszeitliche Zyklen. Eine Doppelhand von Doppelhänden. Nicht ganz das Gleiche wie hundert Zyklen von Ihren Jahreszeiten; ungefähr zehn Prozent länger. Tausend Jahre sind eine Doppelhand von Jahrhunderten. Nach Ihren jahreszeitlichen Zyklen gerechnet, dauert die Reise jetzt seit viertausenddreihundertundzweiundneunzig Jahren und fünfundachtzig Tagen.« »Vier Mengen von einer verdreifachten Doppelhand?« Sogar Falks Stimme erbebte ein wenig bei dem Gedanken. Es brachte die Reise der Far Trader zweifellos in eine ganz andere Perspektive. Eine Reise, die viertausend Jahre dauerte und Passagiere beförderte, die lebten, liebten und starben, ohne je zu wissen, dass sie auf einer Reise waren. Wie die Ratten, die in den Bilgen der Far Trader hausten. »Aber warum?« »Um zu entkommen. Die Sonne, die Ihre Vorfahren kannten und die den Planeten erwärmte, auf dem die Menschen zuerst erschienen, wurde instabil. Es gab Kolonien in Umlaufbahnen um diese Sonne. Leute lebten in Habitats, künstlichen Welten, die viel kleiner waren als dieses Schiff. Sie entwickelten und verwirklichten die Idee einer Flucht aus der Gefahrenzone. Sie erbauten dieses Schiff aus dem Gestein, das zwischen den
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Planeten um die Sonne kreist. Ein sich selbst erhaltendes System zum Schutz des Lebens, mit einer kleinen menschlichen Besatzung und mir zur Beaufsichtigung der Ökologie. Die Passagiere – die erste Generation – wussten, dass sie das Ende der Reise niemals erleben würden. Darum entschieden sie sich für Gedächtnislöschung und für den Beginn eines neuen, einfacheren Lebens innerhalb des Schiffes. Erst ihre fernen Nachkommen würden dereinst auf der Oberfläche eines anderen Planeten gehen.« »Aber alles, was sie wussten, ist verloren gegangen.« Ely se, die das Internat im Gemeinschaftsbau besucht hatte, nahm den Verlust von Wissen viel akuter wahr als den Verlust eines Planeten, eines Begriffs, von dem sie keine klare Vorstellung hatte. »Nein, Schwester. Nicht verloren. Ich habe alle Informationen gespeichert und bin bereit, die Pioniere zu unterrichten, wenn wir eine neue Welt erreichen. Ich kann Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen, nun, da Sie mich gefunden haben. Und ich würde Ihre Anleitung begrüßen.« »Anleitung wozu?« »Innerhalb der Reichweite meiner Sensoren gibt es eine mögliche neue Heimat. Es ist der siebenunddreißigste mögliche Planet, den ich seit Beginn der Reise untersucht habe. Dreiundzwanzig erfüllten nicht die erforderlichen Umweltbedingungen. Acht zeigten Anzeichen intelligenten Lebens, fünf zeigten überhaupt keine Spuren von Leben, Der neueste Kandidat ist ein Grenzfall Stickstoff/SauerstoffAtmosphäre, Schwere 0,8, Oberflache siebzig Prozent Ozean, gut entwickeltes Ökosystem, aber die Sonde wurde kurz nach der Landung zerstört. Möglicherweise durch intelligente Wesen. Und es gibt eine Fehlfunktion im Hauptantrieb. Wir können das System ohne Weiteres erreichen. Wenn nötig, kann ich den sekundären Antrieb einsetzen – die Reaktionsmasse Ihres Ozeans. Aber wenn wir in eine Umlaufbahn eintreten und wenn der Hauptantrieb nicht wieder zu voller Funktionstüchtigkeit gebracht werden kann, werden wir die Reise nicht fortsetzen können, selbst wenn es dort Intelligenz gibt. Die Situation verlangt nach einer menschlichen Entscheidung.« »Was gibt es an Intelligenz auszusetzen?« Sie wählte den einen Punkt in der Litanei, den sie zu verstehen glaubte »Meine ursprüngliche Programmierung verlangt die
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Besiedlung einer unbewohnten Welt. Das Risiko eines Konflikts wurde als unerwünscht bezeichnet.« »Aber wenn wir es Ihnen sagen, werden Sie uns trotzdem dort landen?« »Es würde schwierig für mich sein, die Instruktionen zu missachten. Aber unter den Umständen würde eine menschliche Entscheidung ausschlaggebend sein.« »Wann müssen wir entscheiden?« Falk, der in den Problemen einer langen Reise Erfahrung hatte, stieß gleich zum Kern der Dinge vor. »Innerhalb des nächsten Monats – dreißig Tagen – drei Doppelhänden von Tagen « »So bald?« Ely se geriet in Erregung »Warum haben Sie uns das nicht früher gesagt?« »Es war verboten. Der letzte Kommandant verstärkte meine ursprüngliche Programmierung und auferlegte mir sehr restriktive Befehle. Keine Kontakte mit den Passagieren vor dem Ende der Reise, es sei denn, Passagiere würden mich durch eigene Anstrengungen finden oder ein technisches Niveau erreichen, das meine Entdeckung unvermeidlich machen würde. Oder im Notfall« »Ist dies nicht ein Notfall?« »Nein. Ein Notfall ist ein Defekt oder Fehler, der die lebenserhaltenden Systeme bedroht. Auch ohne den Hauptantrieb würde das Leben nicht bedroht sein.« »Aber die Reise wurde niemals enden.« »Richtig.« »Und wenn wir die Chance, diese neue Welt aufzusuchen, nicht wahrnehmen?« »Wir können das System auf einer Flugbahn passieren, die das Schwerefeld der Welt ausnutzt und ein Minimum von Reaktionsmasse für den sekundären Antrieb benötigt. Das nächste Zielsystem wird in einhundertsiebenundzwanzig Jahren erreicht werden. Selbst wenn der Hauptantrieb vollständig ausfällt, haben wir genug Reaktionsmasse, um dort in eine Umlaufbahn einzutreten.« »Und jenseits davon?« Sie begann ein besseres Verständnis von der Bedeutung des Begriffs Unendlichkeit zu entwickeln, selbst wenn die Hälfte der Worte in den Erklärungen der Stimme noch immer keinen Sinn ergaben. »Ich habe dreiundachtzig weitere Zielsysteme innerhalb der Reichweite möglicher Flugbahnen von unserer gegenwärtigen
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Position. Von ursprünglich zwanzig Forschungssonden sind noch zwölf funktionstüchtig. Die lebenserhaltenden Systeme sind für wenigstens weitere fünftausend Jahre ausreichend, wenn die vergangenen und gegenwärtigen Abnutzungserscheinungen als Maßstab zugrunde gelegt werden. Keine Grundlage für einen durch Notfall erzwungenen Eintritt in eine geschlossene Umlaufbahn, wie Sie sehen.« »Aber wir würden es verpassen. Und unsere Kinder und unsere Enkel und weiteren Nachkommen. Als hätten Falk und der Steuermann und all ihre Gefährten niemals die Drei Inseln verlassen und wären immer dort geblieben, gefangen in der Vorstellung, dass es die ganze Welt sei.« Sie dachte, dies könne das Ende einer Geschichte sein. Sie konnten dieser Stimme sagen, sie solle weitermachen. Dann würden sie alle nach Haus gehen, die Regenfälle würden sich wieder einstellen und alles würde so sein, wie es gewesen war. Oder es konnte der Beginn von allem sein. Sie konnten das Ende dieser Reise durch die Unendlichkeit befehlen, eine neue Welt finden, auf der – sie erschauerte bei dem Gedanken – Außenseite gehen. Trotz ihres Erschauerns wusste Ely se, dass sie einen Anfang jedem Ende vorziehen würde. »Und wenn wir diese Reise beenden«, sagte Falk, als hätte er ihre Gedanken gelesen, »können wir in Schwierigkeiten kommen, wie es uns mit Bah-Lees Leuten erging; oder wir können Freunde wie Sie finden. Aber sicherlich würden wir mehr über die Welt draußen lernen, wo viele Sonnen im Himmel schweben und die Dinge nach innen zum Mittelpunkt fallen.« »Haben wir die Autorität, eine Landung zu befehlen?« Sie wollte sicher sein. »Noch nicht«, erwiderte die Stimme. »Ich bin gehalten, Ihnen vollständige Informationen zu geben, aufgrund derer eine Entscheidung getroffen werden kann. Das kann ich nur von der Brücke aus tun. Aber da Sie mich aus eigener Kraft und eigenem Antrieb gefunden haben und die diagnostischen Tests, die ich durchgeführt habe, Ihre geistige Gesundheit zeigen, werde ich gehorchen, sobald Sie vollständige Informationen haben. Ich kann mich nur über Ihre Entscheidung hinwegsetzen, wenn Sie eine Handlungsweise verlangen, welche die Passagiere eindeutig gefährdet. Der Eintritt in eine Umlaufbahn – eine Landung, wie Sie es ausdrücken – würde das nicht tun.«
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»Es ist eine Entscheidung, die wir ohne die Hilfe des Steuermannes nicht treffen können.« Aber sie wusste bereits, welches ihre Entscheidung sein würde, und auch im Falle des Steuermannes hatte sie kaum Zweifel. Schließlich kannte sie seinen Werdegang und seine Geschichte besser als jeder andere außer Rantor selbst. Was für eine wundervolle neue Geschichte würde dies sein, die sie ihren eigenen Kindern und Enkeln erzählen könnte – wenn alles gutging. »Natürlich. Es wird interessant sein, die Möglichkeiten mit einem anderen Steuermann zu diskutieren.« Es folgte eine Pause, dann ergriff die Stimme wieder das Wort. »Der Morgen ist erst in weiteren siebzehn Minuten fällig. Ungefähr tausend Herzschläge. Aber wenn Sie es wünschen, würde es meines Erachtens keinen großen Schaden verursachen, wenn ich den Tag nur dieses eine Mal ein wenig vorziehen würde. Dann könnten wir anfangen, Ihrem Steuermann über die Klippen heraufzuhelfen.« »Können Sie das wirklich?« Falks Stimme verriet seine Freude über die Aussicht. Elyse dachte, wie geeignet der Morgen als Sy mbol eines Neuanfangs sei. »O ja. Wenn die Schwester es wünscht.« Sie blickte im matten Glimmen ihres niedergebrannten Feuers zu Falk. Die Versuchung war unwiderstehlich, selbst wenn es die Dinge nur ein wenig beschleunigen würde. In ihrem Geist begann die Geschichte Gestalt anzunehmen, wie sie sie eines Tages ihren Enkelkindern am Feuer vor ihrem neuen Heim auf der Außenseite einer neuen Welt erzählen würde. Am Anfang, dachte sie, war die Stimme; und dann … »Ja«, sagte sie. »Es werde Licht.« Und es ward Licht.
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E pilog In den Tiefen des Raums, aber nicht weit von einem hellen Stern, trieb die Sphäre in der Schwärze. Ein geduldiger Beobachter hätte nach sorgfältiger Beobachtung sagen können, dass die Sphäre sich auf einer Bahn bewegte, die sie nahe an den hellen Stern vorbeiführen würde. Solch ein Beobachter würde auch bemerken, dass die Sphäre rotierte und in eine bestimmte Richtung orientiert war, wenn man das von einem so gleichförmigen Objekt sagen konnte. Sobald sie ihre bevorzugte Orientierung gefunden hatte, begann die Sphäre ihre Bewegung relativ zu dem hellen Stern zu verlangsamen. Und als die verlangsamende Kugelgestalt in das planetarische Sy stem um den Stern eintrat, gab sie aus einer bis dahin unsichtbaren Öffnung einen Materiestrahl von sich, den eine spektroskopische Untersuchung als hauptsächlich aus Wasser bestehend analysiert hätte und der vom ultravioletten Licht des Sterns rasch in seine Wasserstoff- und Sauerstoffatome aufgespalten wurde. Er verlangsamte die Sphäre weiter und brachte sie in eine Umlaufbahn, aus der sie niemals mehr entkommen würde. Aber natürlich gab es kein intelligentes Wesen, das etwas von alledem bemerkt hätte, was sich fern der Oberfläche eines der neun Planeten ereignete, die diesen Stern umkreisten.
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