Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 745
Das Schwert von Jomon Der Befreiungskampf gegen die Ligriden
von Peter Terri...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 745
Das Schwert von Jomon Der Befreiungskampf gegen die Ligriden
von Peter Terrid
Seit der Jahreswende 3818/19, als Atlan unvermittelt in die Galaxis Manam-Turu versetzt wird, ist nach terranischer Zeitrechnung inzwischen fast ein ganzes Jahr vergangen. Der Arkonide hat in dieser Spanne, zumeist begleitet von Chipol, dem jungen Daila, und Mrothyr, dem Rebellen von Zyrph, mit seinem Raumschiff STERNSCHNUPPE schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So ist zum Beispiel die Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gewährleistet – was sich auf den Kampf der Daila gegen ihre Unterdrücker positiv auswirken dürfte. Es bei dem bisher Erreichten zu belassen, wäre grundfalsch. Atlan weiß das – und seine Gefährten ebenfalls. Und so folgen sie verbissen selbst der kleinsten Spur des Erleuchteten und der seines mysteriösen Werkzeugs EVOLO. Die Verfolgung dieser Fährte bringt es mit sich, daß Chipol Dharys, seinem verschollenen Vater, begegnet. Doch der junge Daila kann keine Freude darüber empfinden, denn Dharys ist zum willenlosen Werkzeug des Erleuchteten geworden. Allerdings kommt es vor, daß Werkzeuge anders funktionieren als geplant – das zeigen die Ereignisse um DAS SCHWERT VON JOMON…
Die Hauptpersonen des Romans: Dharys – Der Daila verfolgt Atlans STERNSCHNUPPE. Hellenker – Chef des Ligriden-Stützpunkts auf Jomon. Drasthor und Drastim – Hellenkers verräterische Stellvertreter. Gavran – Ein Steuerschätzer. Bracher, Gjoph und Plodar – Drei Jomoner auf einem Rachefeldzug.
1. Die LJAKJAR fiel in den Normalraum zurück. Mit annähernder Lichtgeschwindigkeit jagte das Schiff durch den Leerraum. Auf dem großen Bildschirm waren die umliegenden Sterne zu sehen, eine verwirrende Ansammlung von glitzernden Punkten, in der man sich nur mit Hilfe einer Positronik zurechtfinden konnte. Der Pilot der LJAKJAR kannte das Phänomen bereits und ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Nur wer sein Leben auf ein und demselben Planeten verbrachte, entwickelte Vorstellungen von Sternbildern, die scheinbar unverrückbar am Himmelsgewölbe haften. Wer sich aber im Raum bewegte und dabei Hunderte oder Tausende von Lichtjahren zurücklegte, der wußte, wie weit scheinbar zusammenhängende Sterne in Wirklichkeit voneinander entfernt waren. Nur eine hochleistungsfähige Positronik war imstande, die Bewegung eines Raumschiffs im Sternengewimmel durchzurechnen und die veränderten scheinbaren Standorte der Sterne zu berücksichtigen. Und selbst dabei war man vor unangenehmen Überraschungen niemals sicher. Sternenkarten in einem vielbereisten Teil der Galaxis waren natürlich auf dem neuesten Stand. Für Bezirke außerhalb dieser Bereiche galt das nicht. Manch einer, der sich auf das Kartenmaterial verlassen hatte, das auf Randwelten hergestellt worden war, hatte verwundert feststellen müssen, daß Sterne nicht zu finden waren oder an Stellen aufrauchten, wo sie nach den Karten nicht hingehörten. Die vergleichsweise einfache Ursache für diese Fehler lag darin, daß viele der Randkarten nach lichtastronomischen Daten angefertigt worden waren. Das Licht aber war elend langsam, verglichen mit der Geschwindigkeit moderner Raumschiffe. Unter diesen Umständen in unbekanntem Gebiet einen Stern zu finden, war nicht einfach. Und ein Stern war ein gigantisches Objekt, verglichen mit einem Raumschiff. Die Aufgabe, die Dharys zu bewältigen hatte, war daher entsprechend schwierig. Mit seinem Schiff sollte er den flüchtigen Atlan in dessen Schiff finden und stellen. Dharys stieß eine Verwünschung aus. Die Ortungssysteme der LJAKJAR zeigten an, daß im Umkreis von ein paar Lichtjahren keine Maschinen zu finden waren, die mit Hyperenergie arbeiteten. Das hieß nicht, daß solche Maschinen nicht existierten - aber solange sie nicht arbeiteten, waren sie nicht zu orten. Das galt auch für den Antrieb der STERNSCHNUPPE, mit der Atlan, Chipol und Mrothyr den Planeten Areffa verlassen hatten. Seither war Dharys den Fliehenden auf den Fersen – und nun sah es so aus, als hätte er die Spur verloren. Dharys schimpfte vor sich hin. LJAKJAR bedeutete soviel wie Kettenhund, und genauso kam sich Dharys auch vor – gefährlich und wachsam, aber leider an der Kette und gezwungen, zu parieren. Neben den Enttäuschungen, die eine solche Jagd mit sich brachten, gab es noch etwas, das an Dharys Nerven zerrte. Er war allein, und er hatte entsetzlich viel Zeit zum Nachdenken und Grübeln. Daß der Erleuchtete ihn allein auf die Reise schickte, war ein stilles Kompliment. Zum einen die Anerkennung für die Fähigkeiten des Daila, zum anderen einen Beweis dafür, daß der Erleuchtete Dharys Loyalität nach wie vor traute. Auf der anderen Seite… Den flüchtenden Arkoniden zu jagen und zu stellen war für Dharys eine Herzensangelegenheit. Zum einen hatte es der Erleuchtete befohlen, zum anderen brachte eine erfolgreiche Jagd Dharys einen handfesten Gewinn, und zum dritten war Dharys daran gelegen, den verhängnisvollen Einfluß
zu unterbinden, den Atlan auf seinen Sohn ausübte. Nur würde es sehr schwer werden, Atlan zur Strecke zu bringen, ohne dabei Chipol in Gefahr zu bringen – und das behagte Dharys gar nicht. Nach seiner Meinung hätte der Erleuchtete das berücksichtigen müssen. Aber vielleicht hatte der Erleuchtete anderes zu tun? Die Kontakte zwischen Dharys und dem Erleuchteten waren seit Beginn des Fluges immer rarer geworden, zeitweise sogar völlig abgerissen. Dharys hatte auch einen Verdacht, welches Problem den Erleuchteten so sehr beschäftigte, daß er für ihn kaum mehr Zeit hatte. Anima – Dharys hatte von Chipol davon erfahren – mußte für den Erleuchteten unerhört wichtig sein. Die Energieortung meldete sich. Dharys studierte die Werte. Relativ nahe bei ihm war ein Schiff in den Normalraum eingetaucht. Dharys runzelte die Brauen. »Ein seltsamer Zufall«, murmelte er. Er ging hinüber zum Funkgerät. Die kleine Positronik hatte bereits einen Ruf empfangen und die Senderkennung festgestellt. »Ein Traykon-Schiff«, staunte Dharys. Das Auftauchen dieses Schiffes war in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Zum einen war klar, daß das Schiff nicht durch blinden Zufall an diesen Koordinatenpunkt gelenkt worden war. Die Besatzung hatte Anweisungen vom Erleuchteten. Das aber bedeutete, daß der Erleuchtete jederzeit genau wußte, wo Dharys mit seiner LJAKJAR zu finden war. Wenn dem so war – warum nahm der Erleuchtete dann nicht auf dem üblichen Weg Kontakt mit Dharys auf? Wozu diese vergleichsweise primitive Methode der Nachrichtenübermittlung? »Traykon-2814 an LJAKJAR«, erklang es aus dem Lautsprecher. Dharys stieß einen leisen Pfiff aus. Vier bis fünf Traykon-Roboter pro Schiff – der Erleuchtete mußte also inzwischen eine Flotte von sechshundert bis siebenhundert Schiffen zur Verfügung haben. »Dharys an Traykon-2814«, antwortete der Daila. »Ich höre.« »Wir haben Anweisung, dich bei deiner Suche technisch zu unterstützen. Ein Anlegemanöver ist erforderlich.« »Einverstanden. Leite Annäherung ein.« Es behagte Dharys gar nicht, bei seinem Auftrag von Robotern begleitet und vermutlich bewacht zu werden. Aber was blieb ihm anderes übrig? Das Traykon-Schiff kam näher. Die LJAKJAR flog ihm entgegen. Dharys half den Robotern beim Anlegen, und nach einiger Zeit tauchte der Robot 2814 in der Zentrale der LJAKJAR auf. »Der Erleuchtete läßt dir übermitteln, daß er dich bei deiner Suche unterstützen wird. Meine Begleiter sind zur Zeit dabei, in deinem Schiff einen Finder zu installieren, der dir helfen wird, die Spur des Arkoniden aufzufinden und nicht mehr zu verlieren.« »Ich danke dafür«, sagte Dharys mißmutig. Die technische Hilfe wußte er durchaus zu schätzen. Ihn verdroß die Beiläufigkeit, mit der der Erleuchtete ihn behandeln ließ. »Der Erleuchtete läßt dir sagen, daß er nach wie vor größten Wert darauf legt, daß der Arkonide und sein Schiff verfolgt und ausgeschaltet werden. Der Erleuchtete selbst kann sich darum nicht kümmern, er hat mit den Ligriden und den Hyptons wichtige Dinge zu erledigen.« Dharys machte ein Zeichen der Zustimmung, obwohl er nicht recht begriff, was Traykon-2814 ihm
eigentlich sagen wollte. Die Worte des Robots waren für Dharys zu wenig handfest. Eines aber war klar – Dharys würde in der nächsten Zeit auf sich selbst gestellt sein. »Hast du mich weiter zu unterstützen?« fragte Dharys. »Mein Auftrag ist damit erledigt«, antwortete der Robot. »Ich habe dir nur noch einmal eindringlich zu sagen, daß dein Auftrag von großer Wichtigkeit ist. Atlan muß ausgeschaltet werden, unter allen Umständen.« »Ich habe verstanden«, gab Dharys zurück. Unter allen Umständen, das hieß wohl im Klartext: notwendigerweise unter Opferung deines Sohnes, von deinem eigenen Leben ganz zu schweigen. Mit leisem Grimm verfolgte Dharys, wie die Traykon-Roboter am Antrieb der LJAKJAR einen schlicht und unscheinbar aussehenden Metallkasten anbrachten und mit der Positronik zusammenschalteten. Sobald diese Arbeiten abgeschlossen waren, kehrten die Robots in ihr Schiff zurück, und eine Stunde später waren sie bereits weit von der LJAKJAR entfernt. Nach welchen technischen Prinzipien das installierte Gerät funktionierte, wußte Dharys nicht. Er konnte nur auf dem Hauptbildschirm der Zentrale eine Art Fadenkreuz erkennen, das scheinbar ziellos über den Bildschirm wanderte. »Prachtvoll«, murmelte Dharys spöttisch. »Nun sind wir genauso schlau wie vorher.« Er nahm auf dem Sitz des Piloten Platz und wollte das nächste Hyperraummanöver einleiten, aber bevor er noch dazu kam, der Positronik die ersten Daten einzugeben, leitete die LJAKJAR von sich aus bereits das Eindringen in den Hyperraum vor. »He!« rief Dharys wütend. »Was soll das?« Er versuchte den Flug abzubrechen, aber die Positronik gehorchte nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen mußte Dharys feststellen, daß er das Kommando über die LJAKJAR offenbar verloren hatte. Auf dem großen Bildschirm war zu sehen, daß der Finder offenbar ein Ziel entdeckt hatte – das Fadenkreuz verharrte auf einer Stelle. Diese Machtergreifung eines Automaten traf den Daila tief. Er sah darin ein offenes Mißtrauen des Erleuchteten ihm gegenüber. Hatte er dem Erleuchteten Anlaß zu solchem Mißtrauen gegeben? Dharys war nicht dieser Meinung. Er wußte, daß er der Sache des Erleuchteten aus eigenem Entschluß und mit freiem Willen diente, nicht nur aus Loyalität sondern auch im eigenen Interesse. Bisher war diese Zusammenarbeit erfolgreich gewesen, und für Dharys gab es keinen Grund, das Bündnis zu kündigen. Jetzt aber? Dieser Automat kam Dharys vor wie ein Spitzel des Erleuchteten, und den Einsatz dieses Spitzels empfand Dharys als demütigend. Unter diesen Bedingungen… Er verließ die Zentrale der LJAKJAR. Hier konnte er ohnehin nichts ausrichten. Er suchte die Räume auf, in denen der Antrieb der LJAKJAR untergebracht war. Dharys suchte nach dem Kasten… und fand ihn nicht. Im ersten Augenblick glaubte Dharys zu halluzinieren. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Traykon-Robots den Kasten angebracht hatten, er erinnerte sich noch der Stelle, an der der Finder gesessen hatte. Doch dort war nichts zu sehen. »Das Ding ist beweglich«, staunte Dharys. Die Sache kam ihm nicht geheuer vor. Was hatte es für einen Sinn, den Finder beweglich zu machen? Doch wohl nur den, ihn vor Dharys Zugriff zu schützen. Für den Daila war dies ein neuerlicher Beweis dafür, daß der Erleuchtete ihm mißtraute. Dharys spürte, daß er sehr verärgert war. Zu all den Sorgen, die er ohnehin schon hatte, kam nun
auch noch dieses Problem dazu. In einer inneren Notlage wie dieser hätte Dharys eigentlich auf Hilfe und Unterstützung des Erleuchteten gehofft. Statt dessen wurde er bespitzelt. Irgendeine Apparatur, die es vor dem Auftauchen des Finders an Bord schon gegeben hatte, verriet dem Erleuchteten oder seinen Robotern den jeweiligen Standort der LJAKJAR. Dharys wurde zwar an langer Leine geführt, aber er wurde geführt, daran ließ sich nicht rütteln. Mißtrauen mit Mißtrauen begegnend, grübelte Dharys weiter. Wenn er nur gründlich und hartnäckig suchte, dann mußte Dharys den Kasten früher oder später finden. So groß war die LJAKJAR nicht, daß der Finder sich für alle Ewigkeit verstecken konnte. Wenn das stimmte, war die Beweglichkeit des Finders eigentlich überflüssig – sie verschaffte dem Kontrollgerät nur Zeit, mehr nicht. Damit würde der Erleuchtete sicher nicht zufrieden sein. Dharys kannte seinen Herrn. Gab es ein Mittel, den Finder vor dem Zugriff des Daila sicher zu machen? Es gab eines, niemand wußte das besser als Dharys selbst: Telepathie! Dharys hielt den Atem an. War es möglich? Daß irgendwo an Bord ein seltsames Geschöpf, halb Lebewesen, halb Maschine, nicht nur damit beschäftigt war, die LJAKJAR zu steuern, sondern auch gleichzeitig Dharys zu überwachen? Und das nicht nur über normale optische Systeme, sondern auch auf paraphysikalischem Weg? Dharys knirschte mit den Zähnen. Es war niederträchtig, ihn in diese Lage zu bringen. Dharys empfand es als Zeichen der Schwäche, wenn der Erleuchtete zu solchen Mitteln griff, um sich der Gefolgschaft des Daila zu versichern. Dharys setzte seine Fähigkeiten ein. Die ersten Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten – sie waren deprimierend. In den letzten Tagen war Dharys aufgefallen, daß seine telekinetischen Fähigkeiten geschrumpft waren. Er hatte sofort den Verdacht gehabt, daß er diese Gabe nur im Kontakt mit dem Erleuchteten wirklich entfalten konnte – und diesen Kontakt gab es jetzt nicht mehr. Hatte auch seine telepathische Begabung darunter gelitten? Dharys konnte an Bord kein Lebewesen erspüren. Hieß das, daß er sich getäuscht hatte? Noch einmal ging Dharys mit seiner Telepathie jeden Winkel der LJAKJAR durch. Er fand nichts, womit er etwas hätte anfangen können. Verdrossen kehrte Dharys in die Zentrale der LJAKJAR zurück. »Kannst du mich hören, Finder?« rief er, völlig davon überzeugt, daß sein geheimnisvoller Wächter ihn auch dort überwachte. »Du kannst deine Arbeit tun, ich werde dich nicht hindern.« Dharys ließ sich auf dem Sitz des Piloten nieder. Das Raumschiff flog jetzt von allein, besser gesagt unter dem Befehl des Finders. Dharys war an Bord nicht mehr als ein Passagier, noch dazu einer, dem man nicht über den Weg traute. Der Daila war ein Geschöpf mit einem ausgeprägten Gefühl für Ehre, und die entwürdigenden Vorsichtsmaßnahmen des Erleuchteten ärgerten ihn ungeheuer. Es war ein Teufelskreis, und Dharys wußte das. Die offene Bespitzelung durch den Finder trieb Dharys geradezu in die Geisteshaltung hinein, die dann den Einsatz einer solchen Überwachungsautomatik durchaus rechtfertigte. Unter der Kontrolle des Finders legte die LJAKJAR eine Hyperraumetappe nach der anderen zurück. Nach jedem Wiedereintauchen in den Normalraum wanderte als erstes wieder das Fadenkreuz über den Panoramaschirm. Sobald der Finder das Ziel erfaßt hatte, setzte er das nächste
Hyperraummanöver an. Dharys sah es mit steigendem Unbehagen. Das gesuchte Objekt war die STERNSCHNUPPE, in der Atlan, Mrothyr und Chipol geflohen waren. In welchem Maß, begann sich Dharys immer drängender zu fragen, wurde die Jagd nach dem Auffinden der STERNSCHNUPPE von dem Finder beeinflußt? Was war der Grund, weshalb der Erleuchtete Dharys diesen Aufpasser zugeteilt hatte? Befürchtete der Erleuchtete, daß Dharys nicht rücksichtslos genug zugriff und Atlan womöglich entkommen ließ, nur weil er Chipol nicht gefährden wollte? In Dharys wuchs die Angst, daß der Finder nach der Entdeckung der STERNSCHNUPPE erbarmungslos zuschlagen würde, ohne die geringste Rücksicht auf Chipol zu nehmen. Der Daila holte tief Luft. Er mußte etwas unternehmen. Vielleicht blieben nur noch wenige Stunden, bis Finder die STERNSCHNUPPE entdeckt hatte, und dann war es zum Handeln vermutlich zu spät. Dharys versuchte sich selbst zu beruhigen. Wenn Finder ihn tatsächlich telepathisch ausspähte… Dharys schüttelte den Kopf. Nein, das war es nicht. Für echte Telepathie war Intelligenz erforderlich, und ein intelligentes Lebewesen an Bord wäre dem Daila nicht entgangen. Wahrscheinlicher erschien Dharys, daß der Finder irgendeine Art von Gefühlsdetektor enthielt, der kaum mehr erfassen konnte als grobe geistige Strukturen. Wenn Dharys in offenem Haß gegen den Erleuchteten handelte, hatte er den Finder gegen sich - und Dharys zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß der Erleuchtete solchen Verrat tödlich bestrafen würde. Dharys mußte behutsam und zielstrebig zugleich vorgehen, vor allem aber verdeckt. Er zog sich in seine Kabine zurück und legte sich auf das Bett. Beiläufig ließ er seine Wahrnehmung durch das Schiff wandern. Diesmal suchte er nicht nach einem Lebewesen, eher nach einem Etwas, dessen telepathisches Muster weitaus schwieriger anzupeilen war als das eines intelligenten Geschöpfs. Eine Stunde verging, und Dharys mußte sich sehr anstrengen, aus dem scheinbar unbeabsichtigten Herumwandern seiner Telepathiefühler nicht auszusteigen und sich durch gezieltes Suchen zu verraten. Dann… Es war kaum wahrnehmbar, nicht mehr als ein schnelles, schwaches paraphysikalisches Pulsieren, gegen den Hintergrund anderer Einflüsse kaum wahrzunehmen. Das Etwas zog sich zusammen, dehnte sich wieder aus, verwehte und entstand dann erneut. Dezentralisiert, durchfuhr es Dharys. Deshalb war der Finder nicht genau zu orten. Irgend etwas Lebendes hatte sich in der LJAKJAR niedergelassen, in seinen Teilen nicht aufzufinden, aber durchaus fähig, sich immer wieder für kurze Zeit zu vereinigen und Dharys zu überwachen. Und nur in diesen wenigen Sekundenbruchteilen der Vereinigung war der biologische Teil des Finders erkennbar. »Perfekt«, murmelte Dharys in widerwilliger Anerkennung. Wie sollte er sich gegen diesen Schnüffler wehren oder ihn gar aufstöbern und unschädlich machen? Der Daila wußte keinen Rat. Wenig später kehrte die LJAKJAR in den Normalraum zurück.
2. Brasher richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unbarmherzig brannte die Sonne am Himmel. Jörn meinte es gut an diesem Tag, die Götter waren den Jomonern wohlgesinnt. Ein heißer Spätherbst kam den Bewohnern des Tales sehr gelegen. Brasher fing einen belustigten Blick von Gjoph auf. Brashers Halbbruder war normalerweise ein rechter Faulpelz, aber er konnte auch arbeiten und zupacken, wenn er gebraucht wurde. »Schon erschöpft?« fragte Gjoph mit leisem Spott. »Noch lange nicht«, gab Brasher zurück. Er griff wieder nach der Sense und ließ das Blatt mit weitem Schwung durch die Hahne gleiten. Sämtliche Bewohner des Gutes waren bei der Arbeit. Die Männer mähten das Getreide, die Frauen banden die Garben zusammen, während die Kinder in den Furchen des Ackers nach herabgefallenen Fruchtständern, suchten. Nichts durfte verlorengehen. Die Abgaben waren gerade erst erhöht worden, und wenn sich bei den Himmelsgöttern herumsprach, daß diese Ernte besonders gut ausgefallen war, würden die Lieferungen in Naturalien noch weiter heraufgeschraubt werden. Die älteren Männer und Frauen bekamen ebenfalls zu tun. Die Männer lenkten die schweren Wagen, die von den unermüdlichen Zugechsen gezogen wurden. Die alten Frauen hatten in der Küche zu tun und versorgten die Arbeiter mit Nahrung und Wasser. Brasher ließ die Sense wieder sinken. Der Boden war trocken, bei jedem Schritt wurde Staub aufgewirbelt, außerdem war die Luft erfüllt von feinen Häckselteilen. Er ging ein paar Schritte weit zu einer der Frauen hinüber. »Wasser!« bat er. Die alte Kanlee gab ihm den halbvollen Lederschlauch. Er hatte in einem feuchten Tongefäß gelegen, der das Wasser viele Stunden lang kühl und frisch hielt. An den leichten Beigeschmack nach Leder hatte Brasher sich längst gewöhnt. Er trank langsam und ruhig, dann gab er der Frau den Schlauch zurück. Brasher sah sich um. Dreißig Jomoner waren an diesem Tag mit dem Einbringen der Ernte beschäftigt, fast alle lebten auf dem Gut des alten Wahron, den Brasher Vater nennen durfte, obwohl er gar nicht mit ihm verwandt war. Vor vielen Sommern hatte Wahron Brasher als Säugling im Wald gefunden, mitgenommen und aufgezogen. Daß er den Alten Vater nennen durfte und auch sonst neben Gjoph gleichberechtigt behandelt wurde, entsprang einer Laune des alten Bauern. Brasher wußte allerdings – erben würde Gjoph den Hof, wie es bei den Jomonern üblich war. Brasher konnte sich dann entweder als Knecht bei Gjoph verdingen oder sich anderswo umsehen. Einem leiblichen Zweitgeborenen wäre es nicht anders ergangen, und so hatte Brasher an seinem Schicksal nichts auszusetzen. Ob allerdings auch Syvea, Wahrons einzige Tochter, mit dieser Lösung einverstanden sein würde, stand auf einem anderen Blatt. Brasher konnte seine Halbschwester sehen. Sie war groß und kräftig geraten, auffallend hübsch und ebenso temperamentvoll. An Bewerbern um ihre Hand würde es wohl nicht fehlen. Brasher erlaubte sich einen leisen Seufzer. Da war Wohl nichts zu machen – er war sich allerdings selbst nicht ganz klar darüber, ob er Syvea den Hof machen sollte oder nicht. Ihre Zunge war so spitz und scharf wie ein Dolch, und bisher hatte sie nicht erkennen lassen, daß Brasher für sie etwas anderes sein konnte als ein angenommener Halbbruder. Brasher kehrte an seine Arbeit zurück. Sein oberes Armpaar war ein wenig müde geworden, daher
arbeitete er mit den unteren Armen weiter. Brasher war einer der wenigen, die mit beiden Armen gleich geschickt und kräftig zu hantieren wußten. In gleichmäßigen Schwüngen ließ er die Sense durch die Halme gleiten. Nach jeweils einer Bahn wendete er und machte in Gegenrichtung weiter. Ab und zu blieb er stehen, um das Blatt der Sense nachzuschleifen. Gjoph war nur wenig schlechter als Brasher und schloß zu ihm auf. Nebeneinander stapften die beiden Männer über das Feld und machten sich einen Spaß daraus, die hinter ihnen arbeitenden Sammlerinnen ins Schwitzen zu bringen. »Das wird ein vergnüglicher Abend werden«, stieß Gjoph hervor. »Kein einziger Regenguß während der ganzen Ernte. Der Alte wird hochzufrieden sein.« Brasher nickte nur. Für ihn würde dieser Abend alles andere als vergnüglich sein. Der Gutsnachbar wollte mit seinem Sohn seine Aufwartung machen, und Brasher wußte genau, worüber die beiden Väter zu sprechen gedachten. Syvea war heiratsfähig und Horlogs Sohn Plodar hatte noch kein Weib benommen. Wären Horlogs Felder nicht die größten und fruchtbarsten nach denen von Wahron gewesen, Plodar dazu Horlogs einziger Sohn – es hätte sich schwerlich eine Frau von Verstand finden lassen, die den tumben, ungeschlachten Plodar genommen hätte. So aber galt der Tropf als gute Partie – ganz besonders in Wahrons Augen. Es ließ sich leicht abschätzen, wer in dieser Familie das Sagen haben würde, wenn Syvea Plodar heiratete und der alte Horlog sich zur Ruhe setzte. Eine günstigere Gelegenheit für Wahron, seine Güter fast zu verdoppeln, ließ sich schwerlich finden. »He, nicht so hastig«, rief Gjoph. »Was ist in dich gefahren?« Brasher verlangsamte sein Tempo. Er war so in Gedanken versunken gewesen, daß er gar nicht bemerkt hatte, mit welch verbissener Wut er die Sense geschwungen hatte. »Wen hast du da mit deiner Sense bearbeitet?« wollte Gjoph wissen. Er grinste breit. »Laß mich raten…« »Rate für dich«, wehrte Brasher ab. Er verstand sich gut mit Gjoph, aber höchstwahrscheinlich wäre auch der Halbbruder recht erstaunt gewesen, hätte er etwas von Brashers geheimen Gedanken gewußt. Die Sonne hatte bereits die Gipfel der Berge berührt, als die Ernte beendet wurde. Während die anderen noch die Garben zusammenbanden und auf die Karren luden, legte Brasher die Sense über die Schulter und trabte mit Gjoph zusammen nach Hause. Ein Donnerschlag ließ sie zusammenfahren. Unwillkürlich spähte Brasher hinauf zum Himmel. Eine Götterechse jagte winzig klein über den Himmel. Brasher hatte nie begriffen, wie es möglich war, mit diesen Dingern zu fliegen – nun, dafür waren es halt Götter. Vor einigen Jahren waren sie aus dem Himmel herabgestiegen und hatten sich auf Jomon niedergelassen. Seither war das Leben der Jomoner teils leichter, teils beschwerlicher geworden. Die ungeheuer scharfe Klinge der Sense beispielsweise stammte aus den Werkstätten der Götter; sie brauchte nur selten nachgeschärft zu werden und wies nach langem Gebrauch noch nicht den kleinsten Rostfleck auf. Weniger erfreulich war, daß seit dem Erscheinen der Himmelsgötter die Abgaben gewaltig gestiegen waren. Einmal hatte es deswegen einen Bauernaufstand gegeben, aber den hatten die jomonischen Fürsten blutig niedergeschlagen, mit Hilfe der Himmelsgötter, und seither wagte niemand mehr aufzumucken. Die beiden Männer erreichten den Hof. Das Haupthaus mit seinen drei Stockwerken und den Fenstern aus richtigem Glas war Wahrons ganzer Stolz. Niemand weit und breit konnte sich eines solchen Hauses rühmen. Rechts und links waren die eingeschossigen Nebengebäude errichtet
worden. Dort wurde die Ernte gelagert. Auf der gegenüberliegenden Seite waren die Stallungen für die Zugechsen untergebracht. Brasher warf einen Blick auf Gjoph. Eines Tages würde das alles Gjoph gehören, und für Brasher würde nichts abfallen. Nun, Gjophs zufriedenes, offenes Gesicht ließ nicht erwarten, daß er Brasher vom Hof jagen würde. Auch Brashers Zukunft war in gewisser Weise gesichert – wenn da nicht Syvea gewesen wäre. Wahrons einzige Tochter scheuchte die Mägde durch den Hof. Vor dem Hauptgebäude waren lange Tischreihen aufgestellt worden, dazu Bänke und für Wahron und seine Gäste sogar Stühle. Zum Abschluß der Ernte sollte es ein Festmahl geben, und dafür hatten am Nachmittag einige Tiere ihr Leben lassen müssen. Aus der Backstube wehten verlockende Gerüche über den Hof. Brasher und Gjoph gaben die Sensen in der Rüstkammer ab, dann wuschen sie den Staub vom Körper und zogen die Festtagskleidung an. »Auf welche hast du es heute abgesehen?« fragte Gjoph, während er das Leinenhemd überstreifte. »Loron?« »Vielleicht«, gab Brasher ausweichend zurück. Er spähte aus dem Fenster und konnte sehen, wie Horlogs Echsengespann auf den Hof rollte. Eine Unzahl kleiner Glocken am Zaumzeug hatte das Herannahen des Wagens schon von weitem verkündet. Horlog liebte es, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Auch die vier Echsen konnten sich sehen lassen, ranke, geschmeidige Tiere mit ölglänzender Haut. Gjoph war mit den Augen Brashers Blick gefolgt. Wieder grinste er. »Ich bin gespannt, ob die beiden heute zum Abschluß kommen«, sagte Gjoph. »Wahrscheinlich werden sie erst einmal versuchen, sich wechselseitig unter den Tisch zu trinken.« Die Vorstellung, daß über Syveas Schicksal im Vollrausch entschieden werden sollte, entsetzte Brasher, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Das Leben der Jomoner verlief in strengen, vorgezeichneten Bahnen. Es würde auch in Zukunft nicht anders sein. Es sei denn… Aber die von vielen ersehnte Rückkehr des Schwertes von Jomon war nichts weiter als dummes Geschwätz, dem sich vornehmlich Greise und alte Weiber hingaben, die vom Leben nicht mehr viel zu erwarten hatten. Wer noch bei Kräften war, hatte anderes zu tun, als in der Urvergangenheit herumzuwühlen, sich zehntausend Jahre alte Geschichten über den Glanz und den Ruhm des jomonischen Reiches anzuhören und davon zu träumen, daß diese Zeiten zurückkehrten. »Hilfst du mir?« Gjoph hatte sich herumgedreht und zeigte Brasher, den Nacken. Er hatte seine Mähne sehr sorgfältig gewaschen und von Zecken und anderem Ungeziefer befreit. »Selbstverständlich«, antwortete Brasher. Sorgfältig knüpfte er die vielen kleinen Haarknoten, bis Gjophs Mähne richtig aussah – der ganze Stolz eines jungen Freigeborenen. Der Endzopf mit dem kleinen silberbestickten Lederband darin zeigte allen an, daß Gjoph noch zu haben war. Wie so oft in den letzten Jahren würde eine der Mägde mit ihm anbandeln, in der aberwitzigen Hoffnung, daß sie vielleicht Gjophs Zuneigung für immer gewinnen und durch eine Heirat dem Abhängigendasein entkommen zu können. Brasher trug sein Mähnenhaar offen wie ein Abhängiger, aber sehr kurz geschnitten. Ein Werbeband ins Haar zu flechten, hatte er bisher nicht gewagt. Wahrons Mägde und Knechte, die sein Eigentum waren wie Stallungen und Scheuern, konnten sich nach Belieben untereinander zusammentun; ihre Kinder gehörten in jedem Fall dem Gutsherren. Brasher aber war weder Eigentum, noch Besitzer. Er hatte auch keine Ausbildung in irgendeiner der Zünfte und Gilden genossen, was ihm ermöglicht hätte, sich als reisender Arbeiter anzubieten. Seine Stellung war einzigartig – beneidenswert, solange er sich mit Gjoph und seinem Vater gut verstand, beklagenswert, wenn er deren
Unterstützung verlieren sollte. »Komm, wir wollen die Gäste begrüßen«, schlug Gjoph vor. Die beiden jungen Männer verließen das Zimmer, das sie schon immer geteilt hatten, und traten hinaus auf den Hof. Von den Bergen her wehte ein kühler Wind, der nach der Hitze des Tages erfrischend wirkte. Brasher sah die beiden Alten beieinander stehen, zwei rüstige alte Jomoner von sehr unterschiedlichem Aussehen. Wahron war hochgewachsen und schlank, seine Mähne noch sehr dunkel, und die Bewegungen des Gutsherren wirkten bedacht und würdevoll. Horlog hingegen war kurz und stämmig gewachsen, sehr temperamentvoll, eine wahre Kraftnatur in früheren Jahren, jetzt aber von Arbeit und Alter gezeichnet, mit breiten silbernen Streifen in der Mähne. Wahron hatte seinen Besitz von seinem Vater ererbt, Horlog seine Güter selbst gerodet und angelegt, und diese unterschiedliche Entwicklung hatte die Charaktere gezeichnet. Plodar stand in der Nähe seines Vaters und machte einen verlorenen Eindruck. Sein Schädel war einfach zu kurz, um gut auszusehen, seine Ohren standen ein wenig verdreht ab, und viele seiner Bewegungen waren linkisch und unbeholfen. Er tat Brasher aufrichtig leid. Plodar war gewiß ein Tölpel, mit Kraft gesegnet wie kein zweiter Jomoner weit und breit, aber ohne den Verstand, der ihm diese Kraft hätte dienstbar machen können. Brasher hätte dem ehrlichen und gutmütigen Plodar jedes Glück gegönnt, aber nicht Syveas Hand. Syvea stand ein paar Schritte von ihrem Vater entfernt, ohne Plodar zu beachten, der sie mit dem glückseligen Lächeln eines Geschöpfs bedachte, das nicht zu glauben vermag, was ihm geschenkt werden soll. Brasher begrüßte Plodar freundlich und erwiderte die herzliche Umarmung. Horlog stieß ein halblautes Zischen aus. Als Neureicher war er mehr auf Etikette bedacht als andere. Es gehörte sich nicht, daß ein Gutserbe mit einem so zweifelhaften Jomoner, wie Brasher es war, freundlich tat. Dabei wußte Brasher, daß Horlog ihn schätzte. Brasher lächelte matt und trat zwei Schritte zurück. Es war sein persönliches Pech, daß er in diesem Leben keine offenen Feinde hatte. Das Ungemach, das ihm widerfuhr, rührte aus den Traditionen und Gebräuchen, die andere vor Äonen aufgestellt hatten. »Ich hörte, deine Ernte war sehr gut in diesem Jahr«, ließ sich Horlog vernehmen. »Das kann man sagen«, antwortete Wahron stolz. Brasher ließ die Gruppe hinter sich. Ein Gefühl der Ohnmacht hatte sich in ihm ausgebreitet. Es gab nichts, was er tun konnte. Selbst wenn er sich Syvea erklärt hätte, selbst wenn sie… es hätte nichts genutzt. Es war üblich, daß Väter ihre Töchter zum Wohl der ganzen Sippe verheirateten. Der Schacher zwischen Horlog und Wahron war völlig normal, niemand hätte ihn anstößig gefunden, und es verstand sich von selbst, daß auch Gjoph damit einverstanden war. Die Mägde hatten inzwischen die ersten Schüsseln aufgetragen. Heiße Bodenfrüchte, gebratene Beeren, einen riesigen, dampfenden Braten. Langgezogene Ahs und Ohs verrieten Brasher, wie allein er mit seinen Gedanken war. Er holte sich einen Krug Getreidesud, frisch und kühl, aber der Trank wollte nicht schmecken wie üblich. Brasher trank lustlos und langsam, während die Stimmung der anderen sich immer mehr verbesserte. Es war ein Fest, wie es in dieser Gegend seit langem nicht mehr gegeben worden war. Ein großer Teil von Horlogs Knechten und Mägden stieß zu Wahrons Leuten und beteiligte sich an dem
Festmahl. Es wurden die üblichen dreisten Witze gerissen, die Männer flüsterten den Mädchen zweideutige Bemerkungen zu, und schon nach einer halben Stunde kam es zu der ersten freundschaftlichen Rauferei zwischen zwei Knechten. Es ging um die Gunst eines Mädchens, und während die beiden sich mit Fäusten bearbeiteten, wurde ihnen die erhoffte Beute von einem anderen abgejagt. Auch das gehörte zum Spiel. »Was ist los, Brasher?« Schon ein wenig angeheitert, einen überschäumenden Krug in der Hand, kam Gjoph zu Brasher herüber. »Du machst ein Gesicht, als wäre die Ernte verhagelt. Mann, vergnüge dich! Es ist doch alles da, was willst du mehr?« Brasher preßte kurz die Lippen zusammen, dann setzte er ein verzerrtes Lächeln auf. »Recht hast du, beim Licht der Sterne«, stieß er mit gezwungener Lustigkeit hervor. In ihm hatte sich die Absicht gebildet, sich so schnell und gründlich wie nur möglich zu betrinken und dann in irgendeinem Winkel einzuschlafen. Der Rausch und seine Folgen würden ihn vielleicht genug beschäftigen, um alles andere vergessen zu machen. Er machte ein paar Schritte auf den Bottich zu, um seinen Krug aufzufüllen, als plötzlich Stille eintrat. Brasher drehte sich herum. Eine Gruppe von bewaffneten Reitern war erschienen. Ihre Abzeichen machten sie als Reisige des Rorque de Gorm kenntlich, des Landesfürsten, dem Wahron und Horlog abgabepflichtig waren. Langsam ließen die Reiter ihre Echsen auf den Hof traben. Es waren andere Tiere als die, die auf dem Gut benutzt wurden. Schlanker, viel schneller und wendiger, vor allem aber auch viel gefährlicher. Wer gegen einen solchen Reiter antrat, hatte es mit Reiter und Tier zugleich zu tun. »Schätzer«, knurrte Gjoph. »Ausgerechnet jetzt. Die hätten sich wirklich noch einen Tag Zeit lassen können.« Diese Frist hätte gereicht, wenigstens einen Teil der Ernte zu verstecken. Das wurde überall so gehandhabt. Die Bauern verbargen einen Teil ihrer Erträge, die Schätzer wußten das und griffen in ihren Bewertungen entsprechend zu hoch, und so kam alles wieder ins Lot. Beide Seiten hatten sich an das Verfahren gewöhnt und hielten sich an die stillschweigende Übereinkunft – manchmal aber auch nicht. »Ausgerechnet Gavran«, murmelte Gjoph. »Der Schlimmste von allen.« Die Lage war brenzlig. Wenn Gavran jetzt die Ernte schätzte – ohne daß etwas in Sicherheit gebracht worden war -, würde seine Forderung noch höher liegen als üblich. Zwar konnte selbst das einen Wahron nicht zum armen Mann machen, aber es war klar, daß manch einem auf dem Hof im Winter der Magen knurren würde. »Ah, sieh an, genau zum richtigen Zeitpunkt«, stieß der Anführer der Reiter hervor. Er schwang sich aus dem Sattel. Es gehörte sich, Gästen einen Willkommenstrunk zu kredenzen. Angesichts der Lage hielt es Wahron wohl für angebracht, Gavran damit zu ehren, daß er diesen Auftrag nicht einer Magd, sondern Syvea gab. Syvea näherte sich Gavran mit einem Krug in der Hand. Der Reiter nahm den Krug und leerte ihn mit einem Zug. Auf Gjophs Gesicht tauchte ein anerkennendes Grinsen auf. Dazu gehörte etwas. Gavran drehte den Krug um – kein Tropfen fiel auf den Boden. Die Gäste klatschten und trampelten, und Gavran begann überlegen zu grinsen. Im nächsten Augenblick hatte er den Krug fallen gelassen, nach Syvea gegriffen und sie an sich gezogen. Das Mädchen sträubte sich, und Gavran war so in ihren Anblick vertieft, daß er das erschreckte
Aufspringen des Gutsherren nicht bemerkte. »Zier dich nicht«, rief der Reiter. Brasher machte zwei Sätze, die ihn dicht an Gavran heranbrachten. Aber er brauchte nicht einzugreifen. Mit einem Fußtritt, wohlgezielt und kraftvoll, brachte Syvea den Reiter von seinem Vorhaben ab. Brasher stand wie erstarrt. Wahrons Blick pendelte fassungslos zwischen Syvea und Gavran hin und her. Gjoph starrte Brasher offenen Mundes an, und Brasher wußte, daß sein Geheimnis nun entdeckt war. Syvea sah Gavran voll Verachtung an, und in das Gesicht des Reiters stieg Zornesröte. Brasher wußte – damit war die Katastrophe perfekt.
3. Einen schmerzlich langen Augenblick wagte niemand etwas zu sagen. Die einzelnen Beteiligten des unaufhaltsam aufsteigenden Dramas sahen sich nur an. Es war Gavran, der’ das Schweigen brach. Er schritt langsam auf den großen Festtisch zu. »Deine Tochter, nicht wahr?« stieß er hervor. Brasher konnte die mühsam gezügelte Erregung in der Stimme des Reiters hören. Gavran kochte innerlich, aber er konnte sich beherrschen, und das machte alles nur noch schlimmer. Gavran würde sich Zeit lassen, und je mehr Tage verstrichen, bis er sich für diese Demütigung rächte, um so härter würde die Vergeltung ausfallen. »Syvea, meine einzige Tochter«, bestätigte Wahron. »Hier nimm!« Er reichte Gavran eine Scheibe Brotkuchen, die übliche Gabe zum Willkomm für Gäste. Gavran zögerte nicht, er nahm an und setzte sich - einer der Knechte hatte sehr schnell für ihn den Platz geräumt. »Es freut uns, daß du mit deinen Männern gerade heute gekommen bist«, versuchte Wahron den Konflikt herunterzuplaudern. »Wir feiern heute vielleicht nicht nur das Erntefest, sondern auch…« Gavran begriff auch ohne weitere Erklärungen. Er deutete eine Ehrenbezeigung an. »Wer ist denn der Glückliche?« fragte er. Brasher schloß die Augen. Er wußte, was nun unausweichlich folgen mußte. Wahron deutete auf Plodar, der vor Stolz dunkelbraun im Gesicht wurde. Gavran sah den jungen Jomoner eine Zeitlang aufmerksam an, dann begann er zu kichern. »Den?« prustete Gavran. »Diesen…« Brashers Blick fiel auf den Fleck unmittelbar vor Gavran auf dem Tisch. Der Reiter des Fürsten Rorque de Gorm hatte von dem Kuchen nicht einen Bissen zu sich genommen – eine gut maskierte, aber eindeutige Zurückweisung. Und Gavran war nicht verpflichtet, auf irgend jemanden Rücksicht zu nehmen. »Ich kann es nicht fassen«, schüttelte sich der Reiter vor Lachen. Plodars Mund zuckte, in seinen Augen standen Tränen. Brasher sah, wie Gjoph wütend die Fäuste ballte. »Er, wirklich er?« Er hatte noch nicht ein Wort gesagt, das eine Herausforderung gerechtfertigt hätte. Horlog fletschte die Zähne, aber auch er konnte nichts ausrichten – noch nicht. Zornhell war Syvea an Plodars Seite getreten. Sie griff nach seinen Händen. »Du wirst es nicht wagen, ihn zu verspotten«, sagte sie scharf. Brasher preßte die Kiefer aufeinander, bis die Muskeln schmerzten. Gavrans Reiter hatten sich näher herangeschoben. Brasher konnte sehen, daß sie die Hände an den Schwertgriffen hatten. »Nicht doch«, höhnte Gavran weiter. Er hielt sich den Bauch vor Lachen. »Ich kann mir kein prächtigeres… Und die Kinder erst.« Er hatte es geschafft. Gjoph konnte seine Wut nicht länger zügeln. Mit wenigen Sätzen war er bei Gavran und holte zum Schlag aus. Der Hieb fegte Gavran vom Sitz, er stürzte auf den Boden. Im nächsten Augenblick flogen die Schwerter seiner Begleiter aus den Scheiden. »Zurück!« schrie Wahron. »Kein Kampf!« Gavran machte noch im Liegen eine heftige Handbewegung, seine Krieger rückten vor. Gleichzeitig fuhr Gavrans Hand an den Gürtel. Brasher sah ein Messer blitzen.
Ohne zu zögern, warf er den Krug, den er in der Hand hielt. Das schwere Holzgefäß traf Gavran am Kopf, gerade in dem Augenblick, in dem er sein Messer dem unbewaffneten Gjoph in den Leib stoßen wollte. Gavran gab noch ein Ächzen von sich, dann kippte er zur Seite. An seinem Schädel war Blut zu sehen. Nirgendwo waren die Reiter des Fürsten gern gesehen, schon gar nicht zur Erntezeit, und jetzt nutzten die Knechte die Gunst der Stunde. Ein Hagel von Wurfgeschossen ging auf Gavrans Begleiter nieder, auch die Mägde beteiligten sich daran. Die Reiter versuchten sich hinter ihren Echsen in Sicherheit zu bringen, aber sie wurden von allen Seiten eingedeckt. Essensreste und Unrat besudelten ihre Rüstungen und versetzten sie in Wut. Sie schwangen ihre Schwerter und griffen an. Raufereien gehörten im Tal zum Alltag, und Memmen duldete Wahron nicht in seinem Dienst. Mit Bänken und Ackergerät bewaffnet, stürzten sich die Knechte in den Kampf. Gegen die scharfen Schwerter der Krieger, die aus den Werkstätten der Himmelsgötter stammten, hatten sie mit diesen Mitteln wenig auszurichten. Es war die Übermacht, der die Reiter erlagen. Einmal am Werk, ließen Wahrons und Horlogs Knechte erst ab, als sie die Reiter genügend durchgeprügelt und ihnen die Waffen abgenommen hatten. Fassungslos mußten die beiden Alten dem Treiben zusehen. Die Reiter wurden in Jauche getaucht, dann durch den Misthaufen gezogen und schließlich, nur noch halb bei Bewußtsein, wieder auf ihre Echsen gesetzt. Auch Gavran wurde so behandelt. Er wurde von dem kalten, stinkenden Bad wach, und er sagte keinen Ton, während man ihn mißhandelte. Der Blick aber, den er über die Schulter warf, als seine zerrupfte Truppe vom Hof ritt, sagte genug. Die Reiter waren kaum außer Sicht, als schlagartig Stille auf dem Hof eintrat. Horlog und Wahron sahen sich stumm an. »Es ist nun einmal geschehen«, stieß Horlog schließlich hervor. »Wir können es nicht rückgängig machen.« »Gavrans Rache wird uns treffen«, sagte Wahron. »Er wird dem Fürsten berichten, und seine Krieger werden jeden Eid schwören.« »Das werden sie nicht«, sagte Brasher zu seiner eigenen Verwunderung. »Wie kommst du auf den verwunderlichen Gedanken?« fragte Horlog. »Hast du nicht gesehen, wie sie aussahen?« »Was können sie Rorque de Gorm berichten? Daß sie von ein paar Knechten verprügelt worden sind? Sie, Gorms beste Reiter?« Horlog wiegte den Kopf. »Wenn ihr euch jetzt aufführt, als hättet ihr schwere Schuld auf euch geladen, dann wird jeder auch daran glauben«, fuhr Brasher fort. »Und weglaufen könnt ihr ohnehin nicht.« »Er hat recht«, sagte Wahron. »Es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Außerdem – sind wir nicht aus einem ganz bestimmten Grund zusammengekommen?« Brasher verstummte. Die beiden Alten sahen sich an, dann fanden sich ihre Hände. Das Verlöbnis war besiegelt. Brasher fing einen Blick von Syvea auf. Er drehte sich um. Ihre Augen hatten ihm die Antwort auf die Frage gegeben, die er nie gestellt hatte. Aber jetzt war es auch dafür zu spät. Nach dem Spaß der Prügelei und dem anschließenden kurzen Schrecken über das Geschehen war
die Versammlung nur zu gerne bereit, die Feier fortzusetzen. Das Verlöbnis war Anlaß genug, und außerdem stand dann in Bälde eine noch prachtvollere Hochzeitsfeier zu erwarten. Gjoph kam auf Brasher zu. Er hatte ein angeschlagenes Auge, und sein rechter oberer Arm hing schlaff an seinem Körper herab. Er legte Brasher einen Arm auf die Schultern. »Ich habe es zu spät begriffen«, sagte er leise. »Wenn du mir etwas gesagt hättest…« Brasher schüttelte den Kopf. »Das hätte auch nichts geändert, vor allem nicht Vaters Entscheidung.« »Und was willst du machen?« Brasher warf einen Blick über die Schulter. Plodar ließ sich von den anderen beglückwünschen, während Syvea steif neben ihm stand und den Blick ins Leere gerichtet hielt. Brasher senkte den Kopf. Es war vorbei. Bei den Jomonern wurden Abreden mit Handschlag besiegelt, und ein Mann, der einen solchen Vertrag nicht einhielt, galt als ehrlos. Hätte Wahron – was er mit Sicherheit nicht einmal erwogen, geschweige denn getan hätte – das Verlöbnis rückgängig machen sollen, wäre er zugrunde gerichtet gewesen, und mit ihm alle, die auf seinem Gut lebten. »Ich möchte allein sein«, stieß Brasher hervor. Gjoph nahm die Hand zurück. »Ich hoffe, du weißt, wohin du gehörst«, sagte er. »Wir reden später noch darüber, einverstanden?« Brasher nickte. Gjoph kehrte an die Tafel zurück, während Brasher sich langsam entfernte. Viel Zeit zur Muße hatte er nie gekannt, aber in den Jahren, in denen er noch nicht so hart hatte arbeiten müssen, hatte er gern einen ganz bestimmten Platz am Bachufer aufgesucht, den Insekten beim Flug zugesehen und den Fischen bei ihren Bemühungen, gegen die heftige Strömung bergauf zu schwimmen. Oft hatte er damals Fische mit der Hand gefangen. Über dem Tal war der blauschimmernde Mond aufgegangen, und Brasher setzte sich in das dichte Ufergras. Ihm war elend und traurig zumute, und zugleich fühlte er sich so kraftlos, daß er nicht einmal ein paar Tranen zusammenbrachte. Er fühlte sich leer, halb tot. Er versuchte sich selbst etwas einzureden. Daß ein Blick nicht viel besagen mußte, daß er Syveas Augenausdruck falsch gedeutet hatte, daß er außer diesem einen Blick nicht den geringsten Beweis dafür hatte, daß Syvea ihn liebte – es half nicht viel. Unruhig wälzte sich Brasher im Gras hin und her. Gedankenverloren rupfte er eine Blume aus und riß ihr ein Blütenblatt nach dem anderen heraus. Die feingeschuppten Blätter ließ er auf den Bach herabrieseln. Das Wasser trug sie rasend schnell mit sich fort. Brasher hatte nicht die leiseste Ahnung, wo die Blätter ankommen würden. Sein Leben hatte sich immer nur im Tal abgespielt; Gedanken an die Welt jenseits der Berge hatte er nie erwogen. Seit vielen Menschenaltern vollzog sich das Leben in dieser Gemeinschaft nach unveränderlichen Regeln und den Launen der Natur. Es wurde gesät und geerntet, Jomoner wurden geboren oder starben, manche früh, andere später. Ein paar magere Jahre konnten einen reichen Landbesitzer zugrunde richten, ein paar fette dann einen anderen vom armen zum reichen Mann machen, aber das geschah nur selten. Ab und zu gab es kleinere Tragödien, die den Gesprächsstoff für die langen Winterabende lieferten. Auch die Tragödie, die sich in den letzten Stunden ereignet hatte, würde während des Winters ausgiebig betuschelt werden, natürlich hinter Brashers Rücken. Und jedermann würde erwarten, daß er die ganze Angelegenheit vergaß und irgendein anderes Mädchen zur Frau nahm.
Brasher halfen diese Überlegungen wenig. Sie halfen ihm aus seiner trüben Stimmung nicht heraus, eher verschlimmerten sie sie noch. Brasher stand auf. Er wußte selbst nicht recht, wohin er sich nun wenden sollte. Es war inzwischen Nacht geworden. Nur das Licht des Mondes erleuchtete den Weg, außerdem… Brasher hielt inne. Der rote Widerschein am Himmel konnte nur eines bedeuten: Feuer. Und es gab in dieser Richtung nur ein Anwesen, auf dem ein solches Feuer ausbrechen konnte. Brasher begann zu rennen. Er achtete nicht auf die Zweige, die ihm Körper und Gesicht peitschten, und wenn er stolperte, raffte er sich sofort wieder auf und rannte weiter. Je näher er kam, um so deutlicher war die Feuersbrunst zu erkennen. Auch das Prassel und Knattern war zu hören, dazwischen die gellenden Schreie von Menschen. Brasher stürzte aus dem Unterholz ins Freie. Er stand vor dem Eingang zu Wahrons Gut – vor der Feuerstelle, die einmal Wahrons Gut gewesen war. Sämtliche Gebäude standen in Flammen, die himmelhoch aus den strohgedeckten Dächern schlugen. Kein Gedanke daran, dieses Feuer zu löschen. Alles, was die Jomoner jetzt noch tun konnten, war, so viel wie möglich aus dem Innern der Gebäude zu bergen und vor allem die Tiere in den Stallungen in Sicherheit zu bringen. Brasher machte ein paar Schritte auf das Tor zu. Im ersten Augenblick dachte er, der Mann wäre bewußtlos geworden, aber dann sah er die klaffende Wunde – der Knecht war erschlagen worden. Furcht erfaßte Brasher. Er rannte auf den Hof. Wie erstarrt blieb er stehen. Ein halbes Dutzend Knechte und Mägde war damit beschäftigt, die Echsen und die anderer Nutztiere aus den Ställen zu holen. Diese Arbeit hatte Vorrang. Niemand kümmerte sich daher um die Erschlagenen, die auf dem Boden lagen. Wie betäubt machte Brasher ein paar Schritte. Da lag Horlog, in der breiten Brust einen Speer. Wahron war von einem Pfeil getroffen worden. »Hilf mir, Brasher!« Brasher sah zur Seite. Er erkannte Plodar, der den Körper eines Mannes in Sicherheit zerrte. Brasher eilte zu ihm hinüber. Der Mann war Gjoph, und er blutete aus einer Schädelwunde. »Er lebt noch«, stieß Plodar hervor. Brasher nahm flüchtig wahr, daß Plodars Gesicht verschmiert war. Blut, Asche und Tränen machten seine Züge fast unkenntlich. Brasher faßte mit an. »Wo ist Syvea?« Plodar stieß ein Schluchzen aus. »Sie haben sie entführt.« »Sie? Etwa Gavran?« »Er ist zurückgekommen«, bestätigte Plodar. Gemeinsam schafften sie Gjoph, der immer wieder aufstöhnte, an einen sicheren Platz, abseits von der Feuersbrunst. »Es waren mindestens dreißig«, sagte Plodar, nachdem sie Gjoph abgelegt hatten. »Und Gavran war
ihr Anführer. Sie haben uns keine Zeit gelassen, bevor wir etwas machen konnten, waren sie schon über uns hergefallen. Und Syvea haben sie mitgenommen – für Rorque de Gorm.« Brasher ballte die Fäuste. Der Fürst war als Weiberjäger bekannt, und sein Appetit war unersättlich. Und es gab niemanden auf Jomon, der Rorque de Gorm hätte Einhalt gebieten können. Außer vielleicht… Brasher schüttelte den Kopf. Es gab jetzt anderes zu tun. Er überließ es Plodar, sich um Gjoph zu kümmern. Brasher kehrte zu dem Feuer zurück. Es war zu spät, um noch irgend etwas unternehmen zu können. Der größte Teil der Tiere hatte gerettet werden können, alles andere verbrannte in den Flammen – auch die gerade erst eingefahrene Ernte. Brasher warf einen Blick auf den Himmel. Kein Gewitterguß in Aussicht, der die Folgen des Brandes hätte mildern können. Die Häuser würden bis auf die Grundmauern herunterbrennen. Von der Habe hatte nur wenig gerettet werden können. »Tragt die Toten davon«, ordnete Brasher an. An die hundert Festgäste waren auf dem Hof versammelt gewesen. Überlebt hatten den heimtückischen Überfall nur dreißig Jomoner. »Was machen wir jetzt?« stieß einer der Echsenknechte hervor. Der Mann hatte seine linke Hand übel verbrannt, aber er schien die Wunde gar nicht wahrzunehmen. »Das muß Gjoph entscheiden«, sagte Brasher. »Er ist jetzt der Herr des Gutes.« Die Bemerkung kam ihm albern vor. Es gab kein Wahron-Gut mehr. Was den Reichtum des Anwesens ausgemacht hatte, war den Flammen zum Opfer gefallen. Was an Nahrung hatte geborgen werden können, reichte höchstens für ein paar Tage. »Horlogs Leute sollen sich an Plodar wenden«, fuhr Brasher fort. Wenigstens einen von Gavrans Leuten hatten die Verteidiger niederstrecken können. Brasher ging zu dem Toten hinüber und nahm ihm die Waffen ab. Dann stemmte er den Leichnam in die Höhe und schleuderte ihn in das Feuer. Brasher wog das Schwert des Kriegers in der Hand. Er war im Kämpfen nicht ungeübt. Raufereien waren bei den Jomonern nicht selten. Aber niemals hatte Brasher ein richtiges Schwert in der Hand gehalten. Er schwang die Klinge, und das zischende Geräusch gefiel ihm. Langsam kehrte er zu Gjoph und Plodar zurück. Gjoph war wieder zu sich gekommen. Sein Gesicht war von Schmerz verzerrt. Plodar hatte ihm den Schädel verbunden und den Kopf auf seinen Schoß gebettet. »Was machen wir jetzt?« fragte Plodar ratlos. »Du kannst zu eurem Gut zurückkehren«, sagte Brasher. »Ich schlage vor, daß du Gjophs Leute mitnimmst – hier können sie nicht länger leben, und du wirst Ersatz brauchen für die Erschlagenen.« Plodar nickte. Wahrscheinlich war ihm noch gar nicht bewußt geworden, daß er nun der reichste und mächtigste Gutsherr im Tal war. »Wir müssen Syvea zurückholen«, stieß Gjoph hervor. Seine Stimme klang vom Schmerz verzerrt. »Wenn sie de Gorm in die Hände fällt…« »Können wir es verhindern?« fragte Brasher mit rauher Stimme. »Gavrans Reiter brauchen zwei Tage für die Strecke, wir ein paar Wochen. Ehe wir Burg Gorm erreicht haben, ist es schon zu spät.« »Dann werden wir sie rächen«, stieß Plodar hervor. Ein Lächeln stahl sich auf Brashers Züge. Ahnte
Plodar überhaupt, was er da sagte? »Du hast recht«, antwortete Brasher zögernd. Natürlich war Plodar dafür nicht der richtige Mann. Eine unerklärliche Ruhe hatte von Brasher Besitz ergriffen. Dieser eine Abend hatte sein Leben von Grund auf gewandelt. Syvea war für ihn verloren, er hatte keine Zukunft mehr. Aber er würde losziehen und Syvea und ihren Vater und die anderen Erschlagenen rächen. Ein paar der Täter konnte er mit Sicherheit in die Gründe der Finsternis schicken, bevor er selbst sein Leben verlor, vielleicht sogar Gavran. Brashers Leben hatte einen neuen, begrenzten Sinn bekommen – Rache zu nehmen. »Wir werden zusammen gehen«, flüsterte Gjoph. »Ich bin bald wieder auf den Beinen.« Seine Stimme strafte ihn Lügen. Er klang bereits jetzt fiebrig, und ob er die Verletzung überhaupt lebend überstand, war noch lange nicht entschieden. Brasher wußte, welche Opfer der Wundbrand forderte, und daß es ein scheußlicher Tod war. »Ich habe eine Idee«, sagte Plodar plötzlich. »Wir bringen ihn zu Baarschach, dem Magier.«
4. »Ach, der«, sagte Brasher unwillig und machte eine heftige Geste. »Er wird Gjoph wieder gesund machen«, sagte Plodar eifrig. »Er hat schon vielen Jomonern geholfen.« Brasher antwortete nicht darauf. Seine Ansicht über den Magier stand fest. Baarschach war vor gar nicht langer Zeit im Tal aufgetaucht und hatte sich abseits der übrigen Gehöfte niedergelassen. Baarschach verstand sich mäßig darauf, krankes Vieh zu kurieren, bei kleineren Unpäßlichkeiten mit Kräutertränken zu helfen und Tröpfen wie Plodar angeblich unfehlbare Liebeszauber anzudrehen. Nach Brashers Ansicht hätte der Mann oder jede Frau, die sich Zeit dazu nahm, Ähnliches zuwege bringen können. Von Magie konnte bei Baarschach keine Rede sein. »Er hat recht«, ächzte Gjoph. »Schafft mich zu Baarschach. Und macht schnell.« Brasher preßte die Kiefer aufeinander. Der Weg zu Baarschach war steil und langwierig, womöglich kam Gjoph gar nicht mehr lebend dort an. Gjoph hatte Brashers Zögern bemerkt. Einen Augenblick lang bekam Gjophs Gesicht einen Zug, den Brasher kannte – diese Miene setzte Gjoph auf, wenn er einen Knecht oder eine Magd zu schelten hatte. Dann aber wandelte sich der Ausdruck. »Ich bitte dich darum«, sagte er matt. Brasher schloß die Augen und nickte. Diesen Wunsch konnte er nicht abschlagen. Die Männer hatten keine Lust abzuwarten, bis das Gehöft niedergebrannt war. Gjoph brauchte so schnell wie möglich Hilfe für seine Wunde. Daher gab Brasher in Gjophs Namen den Knechten Anweisung, eine Trage zu bauen. Für sich und die Freunde schnürte er ein Bündel mit Nahrungsmitteln und Kleidung. Während noch immer Flammen zum Himmel schlugen, machten sich die drei auf den Weg. Plodar und Brasher schleppten die Trage, auf die sie Gjoph festgebunden hatten. Er war halb bewußtlos und fieberte. »Kennst du die Strecke zu Baarschach?« fragte Brasher. Plodar senkte ein wenig den Kopf. »Ja«, sagte er dann, sichtlich verlegen. »Ich war einmal da.« »Du?« fragte Brasher verwundert. »Du bist doch nie im Leben krank gewesen.« »Das ist richtig«, gab Plodar zögernd zurück. »Ich war da… weißt du… wegen einem… Zauber.« Brasher konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Und? Hat der Liebeszauber geholfen?« Plodar stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das hast du ja heute erlebt«, sagte er dann niedergeschlagen. Brasher hätte vor Überraschung fast die Trage aus den Händen gleiten lassen. Einen Liebeszauber hatte sich Plodar bei dem Magier geholt, einen Zauber, der auf Syvea gemünzt gewesen war. Und eine Zeitlang hatte er sogar seine Wirkung getan – vor wenigen Stunden noch waren Plodar und Syvea einander versprochen gewesen. Wie hatte Baarschach das gemacht? Tatsächlich durch Magie? Oder hatte er einfach zwei und zwei zusammengezählt – daß die beiden reichsten Gutsherren im Tal passenderweise einen Sohn und eine Tochter für eine gewinnbringende Heirat brauchten? Dann aber… der Überfall der Reiter. Das sprach nicht gerade von Liebesglück. Brashers Gedanken rasten weiter. Wenn Gjoph nun starb? Andere Erben des Wahron-Anwesens gab es nicht. Syvea
würde früher oder später zurückkehren, Rorque de Gorm behielt seine Kebsweiber nur selten für längere Zeit. Mit dieser öffentlich bekannten Vergangenheit konnte selbst eine Schönheit wie Syvea nicht darauf hoffen, noch einen Mann zu finden, der sie zur Frau’ nahm – ausgenommen wahrscheinlich einen gutmütigen Tölpel wie Plodar, der sich um das Gerede der anderen ohnehin nicht kümmerte. Die beiden Güter waren dann vereinigt - für Plodar war dieses Zusammentreffen vermutlich ein ausgesprochener Glücksfall. War also doch etwas dran an der Magie? Brasher hatte immer noch Zweifel. Während er mit Plodar zusammen den wimmernden Gjoph schleppte, konnte er darüber nachdenken, und das ließ den Weg etwas weniger beschwerlich geraten. Ab und zu machten die beiden Männer eine Pause, sahen nach Gjophs Verband, der völlig durchgeblutet war und kühlten ihm die Stirn mit kaltem Wasser. Danach ging es wieder voran. Stunde um Stunde quälten sich die beiden Männer mit ihrer Last vorwärts. Die Pfade im Gebirge waren steil und beschwerlich. »Bald sind wir da«, sagte Plodar. Während Brasher immer wieder nach Luft schnappen mußte, zeigte Plodar keinerlei Zeichen von Schwäche. »Hoffentlich ist Baarschach auch zu Hause.« Der Magier hatte sich eine ehemalige Raubtierhöhle als Unterkunft ausgesucht – der Eingang war mit Steinen und Balken ausgebaut worden. Ein paar Schritte vom Eingang der Höhle entfernt gab es einen kleinen Bach, und das Gelände unmittelbar vor seiner Behausung hatte der Magier als Kräutergarten angelegt. Einige der Gewächse leuchteten ziemlich seltsam im Mondlicht, und Brasher wurde doch ein wenig mulmig zumute. Sie setzten Gjoph vor dem Eingang ab. Plodar klopfte zaghaft an die Tür. Durch die Ritzen konnte Brasher sehen, daß es im Innern ein Feuer gab – Baarschach mußte also zu Hause sein. »Wer ist da?« Die Stimme klang scharf und fordernd, respektheischend. »Plodar«, rief Brashers Gefährte. »Und Brasher vom Wahron-Hof. Wir haben einen Verwundeten bei uns. Er braucht deine Hilfe.« »Ich habe euch immer gesagt, ich will mit euren Kämpfen nichts zu tun haben. Wenn ihr Bauerntölpel euch die Schädel zertrümmert, dann ohne mich. Packt euch!« »Es war keine Rauferei«, sagte nun Brasher laut. »Und wenn du ihm nicht hilfst, wird es einen zertrümmerten Schädel mehr auf Jomon geben.« Die Tür bewegte sich in den ledernen Schlaufen, als Baarschach öffnete. Brasher sah einen uralten Jomoner mit hellwachen Augen und einem faltenreichen Gesicht. Die Mähnenhaare des Magiers waren fast weiß, ein Zeichen hohen Alters. »Du willst mir drohen? Mir, dem Zauberer?« »Dem Ungastlichen«, antwortete Brasher rauh. »Ich kann mir keine Tür in diesem Tal vorstellen, an der ich vergeblich geklopft hätte – ausgenommen deine.« Der Alte wiegte den Kopf und sah Brasher mit schräggelegtem Kopf an. »Dich habe ich bei mir noch nie gesehen.« »Ich halte nicht viel von Magie«, antwortete Brasher. Er deutete auf Gjoph. »Es war sein Wille.« Baarschach warf einen Blick auf Gjoph. Brasher konnte sehen, daß der Magier erschrak. »Schafft ihn herein«, sagte der Zauberer rauh. »Ich will sehen, was ich für ihn tun kann.« Brasher und Plodar nahmen die Last wieder auf und folgten dem Magier in die Höhle.
Offenbar verstand sich Baarschach darauf, seine Leute zu beeindrucken. Im Innern der Höhle waren einige Lampen aufgehängt, in denen Öl verbrannte. Dieses Licht war etwas ganz anderes als Fackeln oder ein offenes Feuer. Alle Dinge warfen seltsame, verzerrte Schatten an den Wänden, und es waren viele Dinge, die zu sehen waren. Ausgestopfte Tiere, die Brasher noch nie im Tal gesehen hatte, Knochen und getrocknete Insekten. Auf einem hohen Pult lag ein Totenschädel und bleckte die Besucher an. »Legt ihn dorthin«, ordnete Baarschach an. Plodar und Brasher schafften Gjoph auf das fellbedeckte Bett. Eine Laufkatze suchte fauchend und buckelnd das Weite. »Wie ist das passiert?« wollte Baarschach wissen, während er sich über Gjoph beugte und behutsam den Verband entfernte. Gjoph rührte sich nicht, er hatte das Bewußtsein verloren. »Ein Überfall«, sagte Brasher rauh. »Gavran und seine Reiter. Sie haben ihn so zugerichtet.« Baarschach wiegte den Kopf. »Dann werdet ihr auch weiterhin Ärger haben«, sagte er schroff. »Ob ich dem hier helfen kann, steht auch noch nicht fest. Immerhin, ich will es versuchen.« Der Magier machte sich ans Werk. Er säuberte die Wunde mit einem Kräutersud, dessen Geruch Brasher fast den Atem verschlug. Entsetzt sah er, wie Baarschach aus einem Glasgefäß einen Haufen Spinnweben hervorholte und auf die klaffende Wunde legte. »Willst du ihn umbringen?« fragte Brasher entgeistert. Der Magier sah nicht auf. »Weißt du es besser?« fragte er zurück. »Ich helfe, so gut ich kann. Wie ich das mache, ist allein meine Angelegenheit.« Das klang so selbstbewußt, daß Brasher keine weiteren Bemerkungen mehr machte. Baarschach erneuerte den Verband, dann flößte er Gjoph einen kristallklaren Trank ein. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Gjophs Atem wurde ruhiger, und als Brasher probeweise eine Hand auf Gjophs Gesicht legte, konnte er spüren, daß auch das Fieber zurückgegangen war. »Hm«, machte Baarschach. »Das allein wird nicht genügen.« Sein Blick wanderte von Gjoph zu den beiden anderen und wieder zurück. »Plodar, du wirst dich um Gjoph kümmern. Gib ihm zu trinken, wenn er wach wird. Und sorge dafür, daß er sich möglichst wenig bewegt. Und du wirst mich begleiten.« »Wohin?« fragte Brasher verblüfft. »Weiter hinauf in die Berge«, antwortete der Magier, schon damit beschäftigt, Mundvorrat und Wasserschläuche zusammenzupacken. »Ich brauche die Hilfe der Geister der Berge.« Brasher schluckte. Es gab bei den Jomonern allerlei Geschichten über diese Geister, die den Bewohnern des Tales nicht sehr wohlgesinnt waren. Angeblich hausten sie in tiefen Höhlen, und wer es wagte, sie dort zu stören, kehrte niemals zurück. Brasher hatte sich schon recht früh gesagt, daß das nicht stimmen konnte – wenn sie keinen Zeugen überleben ließen, woher wußte man dann, daß es diese Berggeister überhaupt gab. Im übrigen hatten Reisende, die alle paar Jahre einmal auftauchten, ähnliche Geschichten über geheimnisvolle Wesen an anderen Orten zu berichten gewußt. Brasher hielt das alles für Schauergeschichten, nur dazu bestimmt, den Zuhörern ein gelindes Gruseln zu verschaffen. »Du hast Umgang mit den Geistern der Berge?« fragte Brasher zweifelnd.
»Du wirst es erleben«, antwortete Baarschach. »Spute dich, dein Freund hat nicht viel Zeit.« Gemeinsam verließen sie die Wohnhöhle des Magiers. Draußen war es inzwischen hell geworden. Der Tag versprach heiß zu werden. »Geh hinter mir«, bestimmte Baarschach und marschierte los. Brasher hatte bereits einen anstrengenden Marschtag hinter sich und war unangenehm überrascht über das Tempo, das der Zauberer einschlug. »Was hat es mit den Berggeistern auf sich?« fragte Brasher. »Erzähle mir nicht, daß es sich um Gespenster oder so etwas handelt.« »Keine Gespenster«, gab Baarschach zurück. »Es sind Jomoner, aber recht seltsame. Wenn wir mit ihnen zusammentreffen, wirst du dich zurückhalten. Sie haben nicht gerne Kontakt mit uns anderen.« »Warum?« »Du wirst es erleben«, antwortete Baarschach. Mit gleichmäßigen Schritten stieg der Zauberer den schmalen Pfad empor, der sich an den Flanken des Berges entlang in die Höhe wand. Brasher kam das alles reichlich merkwürdig vor. Jomoner, die in den Bergen hausten und von denen die Talbewohner nie einen zu Gesicht bekommen hatten? Das klang verwirrend. »Was wirst du machen, wenn Gjoph stirbt?« fragte Baarschach plötzlich. »Ich weiß es nicht«, antwortete Brasher zögernd. Die Sorge um Gjoph hatte ihn in den letzten Stunden so beherrscht, daß er an Syvea und seine Rache keinen Gedanken mehr verwendet hatte. »Du könntest dich uns anschließen«, sagte der Zauberer, ohne Brasher dabei anzusehen. »Uns?« »Du wirst alles verstehen«, meinte Baarschach. »Das hoffe ich jedenfalls.« Die Angelegenheit wurde immer rätselvoller. Immerhin schien Baarschach genau zu wissen, worüber er sprach. Der Magier machte auf Brasher nicht den Eindruck, als sei er ein versponnener Schwätzer. Stunde um Stunde marschierten die beiden. Die Sonne ging bereits auf, als Baarschach zu erkennen gab, daß das Ziel erreicht war. »Bleib hinter mir«, wies er Brasher an. »Und erschrick nicht, wenn du etwas siehst, was du bisher nicht kanntest.« Brasher nickte schweigend. Ihr Weg hatte sie zu einem Hochplateau geführt, das wahrscheinlich noch nie ein Jomoner betreten hatte. Nur nackter Fels war zu sehen, auf der anderen Seite der Hochebene ragten die schroffen Gipfel eistragender Berge in die Höhe. Da jedermann wußte, daß es keinen brauchbaren Pfad durch das Gebirge gab, hatte auch nie ein Jomoner versucht, auf diesem Weg die andere Seite der Berge zu erkunden. Das harte und einfache Leben ließ für solche Spielereien auch keinerlei Zeit. Baarschach stapfte am Rand der Felsfläche entlang. Schließlich blieb er stehen. Brasher erkannte eine Gruppe von Felsbrocken vor einer steil aufragenden Wand aus massivem Gestein. Vermutlich waren die hausgroßen Trümmer vor Urzeiten einmal aus der Höhe abgestürzt. Baarschach marschierte auf die Steine zu und verschwand in dem Gewirr. Brasher folgte ihm auf den Fersen. Es wurde mit einem Schlag dunkel, und nun begriff Brasher, daß diese Steine den Einganz zu einer Höhle bildeten. »Warte, ich muß erst Licht machen.«
Brasher blieb stehen und wartete, bis Baarschach eine Fackel angezündet hatte. In ihrem Licht konnte er sehen, daß die Höhle offenbar tief in den Fels hineinreichte. »Weiter!« Immer tiefer hinein in den Berg führte die Höhle, und allmählich wurde Brasher mulmig zumute. Die Wänden dieser Höhle sahen sehr eigentümlich aus. Sie waren so glatt und gleichmäßig, als habe ein Riese sie mit einem Messer aus dem Stein geschnitten. Die Vorstellung, daß jemand imstande war, eine solche Höhle künstlich zu schaffen, machte Brasher schwindeln. »Halt!« Baarschach war am Ende der Höhle stehengeblieben. Dieses Ende war noch glatter als die Wände, und langsam dämmerte es Brasher, daß er vor einem Hindernis aus Metall stand. Baarschach pochte mit dem Messergriff gegen das Metall. Eine Zeitlang geschah nichts, dann senkte sich das Hindernis für Brasher völlig überraschend in den Boden. Der Jomoner hielt den Atem an. Zauberei, anders konnte er sich nicht erklären, was er sah. Und er bemerkte, daß er nicht nur beeindruckt war – er begann sich vor dieser Magie mehr und mehr zu fürchten. »Kein Grund zum Zittern«, sagte Baarschach trocken. »Komm. Weiter!« Sie schritten nach vorn, und Brashers Beklemmung wuchs, als er feststellte, daß nun die gesamte Höhle aus Metall bestand. Wie viele Pflugscharen hätte man daraus schmieden können? »Auch das ist Jomon«, sagte Baarschach. Er tat so gelassen, als sei er es gewöhnt, sich in einer solchen Umgebung zu bewegen. Brasher begann zu frösteln. Ein paar Schritte voraus wurde es hell, wahrscheinlich der Ausgang aus der Höhle – aber dann fiel Brasher ein, daß er noch nie einen Berg gesehen hatte, der nur ein paar hundert Meter dick gewesen wäre. Dort vorn konnte es keinen Ausgang geben. Und doch… Brashers Mund blieb offen stehen, als er die Stelle erreicht hatte. Er war in einem Tal herausgekommen, so schien es, denn Brasher konnte sich nicht vorstellen, daß es so große Höhlen geben konnte, auch nicht so grell leuchtende Fackeln wie die, die von oben das Tal erleuchteten. Für das, was es dort zu sehen gab, hatte Brasher aber keine Augen. Fassungslos starrte er die beiden Jomoner an, die vor ihm und Baarschach standen. Ihre Körper wirkten seltsam deformiert und aufgeschwemmt, aber das Schlimmste waren die rötlichen Augen und die fahlweiße Haut der beiden Jomoner. »Du hast einen Besucher mitgebracht?« sagte einer der beiden hellhäutigen Jomoner. »Er heißt Brasher. Er wird vielleicht mein Nachfolger werden«, antwortete Baarschach. »Davon habe ich nie etwas gesagt«, stieß Brasher hervor. »Das war auch nicht nötig«, antwortete Baarschach, ohne Brasher auch nur anzusehen. »Ich weiß es, das muß dir genügen.« »Ist das der Grund deines Besuchs, Baarschach?« »Ich brauche Hilfe, Ältester«, sagte Baarschach. »In meiner Hütte liegt ein Verletzter. Ich brauche von dem Heilwasser, meine Vorräte reichen nicht mehr aus.« »Hast du uns etwas mitgebracht?« Baarschach nickte. Er öffnete sein Bündel und holte ein Bündel von Kräutern heraus, die er an den Ältesten weitergab. Der Hellhäutige schnupperte verzückt an den Kräutern.
»Unser Abkommen bewährt sich«, sagte der Älteste. »Wir werden dir von dem Trank etwas geben.« Baarschach zögerte einen Augenblick lang. »Da ist noch etwas«, sagte er schließlich. »Ich glaube, daß der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir handeln sollten.« Über das verunstaltete Gesicht des Ältesten huschte ein wehmütiges Lächeln. »Handeln?« sagte er langsam. Es klang, als trauere er einer Erinnerung nach. »Das ist der Grund, weshalb ich diesen jungen Mann mitgebracht habe«, fuhr Baarschach fort. »Er kann mit einigen Freunden vielleicht erreichen, was bisher nicht möglich war - das Schwert von Jomon zu erobern und zu uns zu bringen.« Brasher schüttelte spontan den Kopf. Das ganze Gerede um das Schwert von Jomon war sinnloses Gewäsch, so albern, daß Brasher die genauen Einzelheiten gar nicht erinnerlich waren. Er hatte nie zugehört. »Und wie stellst du dir das vor, Baarschach?« Der Magier schien auf die Frage des Ältesten vorbereitet zu sein; er hatte sofort eine Antwort bereit. »Wir werden ihn nach Jompol schicken. Zusammen mit ein paar Freunden, die ihm helfen werden. Dort können sie ein Raumschiff stehlen und nach dem Schwert suchen. Wir wissen ja, wo es zu finden ist.« Brasher bekam von dem nur ein Drittel mit. Mit dem Wort Raumschiff konnte er nichts anfangen. Nur der Name Jompol sagte ihm etwas. »Aber dort hausen die Himmelsgötter«, rief er aus. »Unsinn«, sagte Baarschach. »Nur Kinder glauben noch an Himmelsgötter. Diese Geschöpfe in ihren Flugmaschinen sind Eroberer aus dem Weltraum, und wer sich auskennt, nennt sie auch nicht Himmelsgötter sondern einfach Ligriden.«
5. »Ligriden?« wiederholte Brasher erschüttert. »So nennen sie sich selbst«, erklärte Baarschach. »Vor einigen Jahren haben sie unseren Planeten gefunden und sind mit ihren Raumschiffen gelandet. Seit jenem Tag beherrschen sie uns. Aber das werde ich dir erklären, wenn wir zurückgehen zu Gjoph.« »Du meinst, man könnte es schaffen?« mischte sich der Älteste ein. »Kann er denn ein Raumschiff fliegen?« »Er weiß nicht einmal, was das ist«, antwortete Baarschach. »Einer von euch wird mit ihm gehen müssen.« Über das Gesicht des Ältesten huschte ein Lächeln. »Du traust uns zuviel zu«, sagte er niedergeschlagen. »Auch von unseren Leuten kann keiner ein solches Gerät bedienen.« »Wir reden beim nächsten Mal darüber«, entgegnete Baarschach. Der Begleiter des Ältesten hatte sich mit den Kräutern entfernt und kehrte nun mit einer Flasche zurück. »Hier ist dein Trank«, sagte der Jomoner. Allmählich kamen die Bewohner dieser Höhlenwelt Brasher nicht mehr ganz so gespenstisch vor, dennoch behielt er ständig die Hand am Griff seines Schwertes. »Wir kehren zurück, nach dem Mondwechsel«, erklärte Baarschach. »Bis dahin überlegt euch meinen Vorschlag.« »Deine Zuversicht ist tröstlich«, antwortete der Älteste. »Aber wir kennen unsere Grenzen.« »Die kennt niemand«, gab Baarschach trocken zurück. Er wandte sich zum Gehen. Brasher trottete verwirrt und ratlos hinter ihm her. »Ich begreife nicht, was das alles zu bedeuten hat«, sagte er leise, als die beiden die Höhle verlassen hatten und wieder im Freien aufgetaucht waren. »Ich will versuchen, es dir zu erklären«, antwortete Baarschach. »Du siehst dort Jom, unsere Sonne?« »Natürlich«, antwortete Brasher ein wenig beleidigt. »Was du des Nachts sehen kannst, sind ebenfalls Sonnen – nur sehr weit entfernt, daher sehen sie so klein aus.« Brasher nickte. Er konnte zwar Baarschachs Behauptungen nicht nachprüfen, aber er wollte sie zunächst einmal glauben. »Es gibt nun Raumschiffe…« »Was sind Raumschiffe?« »Maschinen…« »Was ist eine Maschine?« Baarschach stieß einen Seufzer aus, dann begann er zu lachen. »Komm, ich erkläre es dir unterwegs.« Es dauerte geraume Zeit, bis Brasher auch nur annähernd begriff, was Baarschach meinte. Der Magier erinnerte Brasher an die Mühle, auf der das Korn zu Mehl gemahlen wurde. Das sei – beinahe – eine Maschine. Sie tue etwas, was normalerweise ein Jomoner machen mußte, nur eben
ohne Jomoner, weil das fließende Wasser ihr dazu die Kraft gab. Wenn Baarschach recht hatte, dann gab es Mühlen, die liefen mit unsichtbarem Wasser, das Energie genannt wurde, und diese Mühlen konnten ohne Jomoner Dinge tun, die ein Jomoner niemals fertiggebracht hätte. Wenn man mehrere verschiedene dieser Mühlen in einen Metallkasten sperrte, dann konnte sich dieser Kasten bewegen, selbst da, wo es weder Land noch Luft noch Wasser gab. »Aber was ist da, wenn es weder Luft noch Erde noch Wasser gibt? Feuer?« »Gar nichts«, antwortete Baarschach. Er wirkte müde, und das hatte wenig mit dem Marsch zu tun. Brasher hatte immer wieder einfache Fragen gestellt und darauf höchst verwirrende Antworten bekommen, die nur zu neuen Fragen führten. »Aber wenn da gar nichts ist…« »Glaub es mir einfach, oder meinetwegen stell dir vor, es wäre Wasser da, aber man könnte es nicht sehen.« »Aber warum, wenn dort überall die Sonne scheint?« Baarschach stieß einen tiefen Seufzer aus. »Glaub es einfach. Kannst du begreifen, daß man mit solchen Raumschiffen von einer Welt zur anderen reisen kann?« »Begreifen nicht – ich glaube dir aber.« »Wunderbar«, seufzte Baarschach. »Das Problem ist, daß ich es auch nicht richtig begriffen habe – ich weiß aber, daß es so ist. Mit diesen Raumschiffen sind die Ligriden von ihrer Welt zu uns gekommen, und nun plündern sie uns aus.« »Dagegen sollten wir uns wehren«, stieß Brasher hervor. »Einem Fürsten den Tribut zu zahlen, das ist so und wird so bleiben. Aber für Fremde…?« »Die Ligriden haben Waffen, Maschinen, die Jomoner töten können. Sie haben viele Waffen, und diese Waffen sind besser und stärker als alles, was wir haben. Einen Ligriden kannst du mit dem Schwert nicht besiegen – seine Waffe würde dich töten, bevor du auch nur auf Hiebnähe an ihn herangekommen bist.« »So ähnlich wie ein Speer?« Baarschach nickte. »Nur sehr viel schneller – man kann sich nicht ducken und wegspringen.« »Schneller als ein Pfeil?« »Schneller als der Wind«, ergänzte Baarschach. Er holte tief Luft. »Und nun zum Wichtigsten. Es gibt auch Maschinen, die können nicht nur arbeiten, sie können auch denken.« Brasher versuchte sich eine Mühle vorzustellen, die dachte, Witze erzählte oder sich in ein Mädchen verliebte – oder in eine andere Mühle? Was Baarschach da erzählte, war völliger Blödsinn, aber die Ernsthaftigkeit, mit der er all das berichtete, beeindruckte Brasher nach wie vor. »Maschinen, die denken können, werden Positroniken genannt. Solche Maschinen können, und das ist das wichtigste von allem, anderen Maschinen Befehle geben.« »Und woher wissen diese Denkmaschinen, wann und was sie anderen Maschinen befehlen?« »Dazu kommen wir noch«, sagte Baarschach erschöpft.
Brasher war froh, daß sie unterdessen Baarschachs Behausung wieder erreicht hatten. Brashers Kopf schwirrte und brummte von dem, was ihm Baarschach erzählt hatte – es war wirklich an der Zeit, sich einer anderen Beschäftigung zuzuwenden. In Baarschachs Hütte stießen sie auf einen wachen, aber restlos erschöpften Plodar. Er hatte Gjoph keinen Augenblick lang unbeobachtet gelassen, und jetzt konnte er sich trotz seiner Kräfte kaum noch auf den Beinen halten. Gjophs Befinden hatte sich ein wenig gebessert, aber er war noch nicht wieder zu sich gekommen. Sorgfältig wechselte Baarschach den Verband und beträufelte die scheußlich aussehende Wunde mit dem Trank, den er in den Bergen bekommen hatte. »Essen wir erst etwas, dann erzähle ich dir weiter«, meinte Baarschach später. Plodar hatte sich vor der Tür ausgestreckt und schlief wie betäubt. »So, jetzt stell dir eine Welt vor - wie diese. Nennen wir sie Tyleph.« »Warum Tyleph?« Baarschach sah Brasher an. »Tu mir einen Gefallen: stell mir nie wieder eine Frage, die mit dem Wort warum beginnt.« »Wa…?« Brasher unterbrach sich. »Wie du willst. Fahr fort.« Das Räucherfleisch schmeckte vorzüglich, auch das Kräuterbrot, das Baarschach gebacken hatte. Offenbar konnte der Magier in seiner Einsiedelei recht gut leben. »Die Bewohner dieses Planeten sind reich und mächtig, und sie besitzen viele Maschinen, denkende Maschinen und auch Raumschiffe. Sie haben mehrere andere Planeten besiedelt.« »Andere Planeten?« Baarschach nickte. »Einer dieser Planeten wird Jomon genannt.« »Kommen die Ligriden von Tyleph?« fragte Brasher in der Hoffnung, etwas durchschaut zu haben. »Nein«, antwortete Baarschach. »Wir Jomoner kommen ursprünglich von Tyleph. Wie die Dinge genau zusammenhängen, weiß ich auch nicht. Es ist so. Die Siedlung auf Jomon sollte aus irgendeinem Grund geheim bleiben, niemand durfte etwas davon erfahren.« »Vor allem die Ligriden nicht«, vermutete Brasher. »Damals kannte man noch keine Ligriden«, antwortete der Magier. »Was ich dir berichte, hat sich vor mehr als zehntausend Jomoneraltern zugetragen.« »Zehn was?« »Soviele Jahre wie du Haare in der Mähne hast.« Brasher griff sich in den Nacken und erschauerte. »Die Siedler auf diesem Planeten hatten auch sehr viele Maschinen, und sie haben sie versteckt. Beispielsweise in den Bergen.« »Die Höhle?« »Richtig«, bestätigte Baarschach. »Das waren solche Maschinen.« »Und was tun sie dort?« »Nichts«, antwortete Baarschach mit einem tiefen Seufzer. »Das ist ja gerade das Problem. Diese
Maschinen haben ihre Befehle von dem Planeten Tyleph bekommen – und eines Tages sind keine Befehle mehr gekommen.« »Und dann?« »Arbeiteten die Maschinen nicht mehr. Damals waren diese Maschinen für die Jomoner so wichtig wie das Wetter, sie haben ihnen alle Arbeiten abgenommen. Als die Maschinen damit aufhörten, mußten unsere Vorfahren sich an ein ganz anderes Leben gewöhnen.« »An was für ein Leben?« »Das, welches wir führen.« Brasher begann zu lachen. »Wie muß man sich daran gewöhnen? Es ist das Leben! Wie könnte es ein anderes geben?« Baarschach lächelte matt. »Eine gescheite Frage«, sagte er. »Wenn die Maschinen wieder arbeiten würden, könnten wir dann die Ligriden vertreiben?« Baarschach sah Brasher sehr aufmerksam an. »Du hast es begriffen«, sagte er langsam und feierlich. »Das ist genau das Problem.« »Wir müßten jemand nach Tyleph schicken, damit von dort wieder die Befehle für die Maschinen kommen.« »Richtig. Nur wer das Schwert von Jomon trägt, kann den Maschinen Befehle geben und sie wieder aufwecken.« »Und du traust mir zu, das Schwert zu holen.« Baarschach nickte. »Wieso ich?« Baarschach lehnte sich zurück und sah Brasher an. »Weil du nichts mehr zu verlieren hast«, sagte er dann. »Dein Leben ist ruiniert, und du platzt schier vor Zorn darüber. Deine Kiefermuskeln sind ständig angespannt, ohne Pause mahlst du mit den Zähnen, und deine Atemzüge ähneln einem grimmigen Keuchen. Du kannst diesen Zorn auf dich selbst richten und dich damit zerstören. Du kannst zur Rache greifen und andere mit dir zusammen zerstören – und du kannst diese Aufgabe übernehmen, die tödliche Gefahren birgt. Gelingt es dir, das Schwert nach Jomon zu bringen, wirst du der berühmteste Jomoner aller Zeiten sein.« Brasher schwieg lange. Er fühlte sich durchschaut, und das schmerzte ihn. Instinktiv spürte er, daß Baarschach recht hatte. »Jeder andere, den ich kenne, würde zögern, weil er noch etwas zu verlieren hat. Gjoph seinen Hof, Plodar seine Braut…« Heftig preßte Brasher die Kiefer aufeinander. Er war sicher, daß Baarschach das nicht entgangen war und er nun ebenfalls Bescheid wußte. »Du hast nichts außer deinem Leben, und das zählt nicht viel – jedenfalls für dich.« Der Schmerz fraß sich immer tiefer. Brasher hatte nicht den Eindruck, daß Baarschach ihn verspotten wollte; dennoch kam er sich immer lächerlicher vor. »Ich werde mit meinen Freunden darüber reden«, sagte er schließlich, hauptsächlich um Zeit zu gewinnen. »Einverstanden«, meinte Baarschach. »In drei oder vier Tagen wird Gjoph wieder auf den Beinen
sein, dann sehen wir weiter.« * Es dauerte fünf Tage, bis Gjoph wiederhergestellt war. Dank des Tranks der Bergjomoner heilte die Kopfwunde überraschend schnell und gründlich. Für Brasher waren diese Tage lang und anstrengend. Er wollte Baarschach zur Hand gehen, aber es gab nichts zu tun. In den wildreichen Wäldern für Fleisch zu sorgen, war auch keine Aufgabe, die ihn den ganzen Tag lang beschäftigen konnte. So verbrachte er viel Zeit mit sich selbst und seiner Sehnsucht nach Syvea. Immer wieder nahm er sich eindringlich vor, nicht mehr an sie zu denken – es gelang ihm nicht. Vor allem Plodars Anwesenheit zerrte gewaltig an Brashers Gemüt. Hilfsbereit und freundlich war Plodar immer schon gewesen, und auch jetzt brachte er es ohne Schwierigkeiten fertig, seine Gutmütigkeit auszuleben. Nur wenn er sich unbeobachtet fühlte, gab er seiner Trauer nach, und Brasher mußte voll Grimm erkennen, daß Plodar auf seine unbeholfene Art ebenso an Syvea hing wie er. Plodar in das Geheimnis der Berge einzuweihen, erwies sich als ebenso einfach wie hoffnungslos. Er glaubte alles und begriff nichts. »Wenn es wichtig ist, sollten wir es tun«, sagte er nur kurz, lächelte und fuhr fort, für Baarschach einen Vorrat an Feuerholz zu schlagen, der für sieben Winter ausgereicht hätte. Irgendwann nahm Brasher Baarschach zur Seite. »Es wird von Gjoph abhängen«, erklärte er dem Zauberer. »Wenn er unbedingt zuerst nach Syvea suchen will, werde ich ihm helfen, und Plodar wird es auch tun. Im anderen Fall werden wir das Schwert holen.« Baarschach nickte nur kurz. »Wie ihr wollt«, sagte er. »Wieso bist du eigentlich so sicher, daß ich mich auf dieses Abenteuer einlasse?« forschte Brasher. »Es scheint für dich da nicht den geringsten Zweifel zu geben.« »Du bist der Mann dafür, ich weiß es einfach«, antwortete Baarschach. »Hier draußen kann man seltsame Fähigkeiten entwickeln, wenn man sich die Zeit dazu nimmt. Das ist eine davon – ich kenne dich, auch wenn wir wenig miteinander zu tun hatten. Und ich weiß, daß du es schaffen kannst. Es wird allerdings nicht einfach werden. Nach Tyleph ist es weit.« »In welche Richtung?« fragte Brasher arglos. Baarschach deutete nach oben. »Die Berge hinauf?« »Nein«, antwortete Baarschach. »Erinnere dich – Tyleph ist eine andere Welt. Du wirst ein Raumschiff benutzen müssen.« »Ich weiß nicht einmal, wie so ein Ding aussieht!« rief Brasher aus. »Du wirst es schaffen, verlaß dich darauf. Ich weiß es.« »Ich weiß es, ich weiß es«, äffte Brasher den Magier nach. »Hast du nicht mehr zu bieten?« »Zur rechten Zeit«, sagte Baarschach, ohne auf die Verspottung einzugehen. Brasher ließ ihn stehen und ging zu Gjoph hinüber, der sich von der Sonne bestrahlen ließ.
»Nun, wie sieht es aus?« fragte Brasher. »Wir brechen morgen auf«, sagte Gjoph. Er war noch ein bißchen wacklig auf den Beinen, erholte sich aber von Tag zu Tag mehr. Baarschachs Geschichte hatte er sich gar nicht erst anhören wollen. Er hatte nur eines im Sinn – Syvea ins Tal zurückzuholen. »Drei Mann, einer davon verletzt - gegen Rorque de Gorm und seine Echsenreiter«, murmelte Brasher. »Wir werden mit List vorgehen«, meinte Gjoph. Brasher lächelte nur. Er ahnte, wie dieses Abenteuer ausgehen würde - keiner der drei Männer würde es überleben. Nun, auch das war eine Lösung, und wenn es Brasher gelang, möglichst viele von Gavrans Reitern, einschließlich ihn selbst, in den Tod mitzunehmen, dann war dieses Ende so gut wie jedes andere auch. »Ich habe nichts anderes erwartet«, meinte Baarschach, als Brasher ihm Gjophs Entschluß mitteilte. »Kehrt zu mir zurück, wenn ihr könnt.« »Du glaubst wirklich, daß einer von uns zurückkehren wird?« »Ich bin mir sicher«, antwortete Baarschach. Brasher lachte nur. Am nächsten Morgen machten sich die drei auf den Weg. Baarschach hatte sie reichlich mit Nahrungsmitteln ausgerüstet. Gjoph konnte davon nichts tragen, er war noch nicht kräftig genug dafür, aber Plodar bewältigte Gjophs Last ohne Mühen. Der Weg nach Gorm führte ins Tal zurück. Das Anwesen von Wahron war verlassen. Es gab nur noch eingestürzte Mauern und geschwärzte Balken zu sehen. Die Knechte und Mägde hatten offenbar alles Nützliche hinübergeschafft auf das Gut von Horlog. Gjoph blieb lange vor den Trümmern stehen. Man hatte die Erschlagenen im Garten bestattet, wie es üblich war. Kein Zeichen verriet, wer unter welchem Hügel lag. Tote gehörten nicht länger zur Gemeinschaft, bei den Jomonern wurde kein besonderer Trauerkult getrieben. »Wir werden sie rächen«, stieß Gjoph hervor. Brasher sah in seinen Augen ein Funkeln, das ihm gar nicht gefiel. Der Haß von Gjoph war anders als seiner – leidenschaftlich, heiß und überschäumend. Brashers Haß war von der kalten Art, leidenschaftslos und nüchtern – und, wie Brasher sehr deutlich bei sich spüren konnte, völlig unstillbar. Gjoph würde damit zufrieden sein, Gavran zu erschlagen und Syvea zu holen. Danach war für ihn die Angelegenheit erledigt. Brasher empfand anders. Er wollte Gavrans Tod, und ab und zu ertappte er sich bei Tagträumen darüber, wie er Gavran bestrafen würde. Und Brasher wußte auch, daß er nicht ruhen würde, bis er auch den letzten der Reiter erwischt hatte, die an dem Überfall auf das Wahron-Gut beteiligt gewesen waren. »Gehen wir«, sagte Gjoph schließlich rauh. »Ich will nicht länger warten.« Plodar, der Unermüdliche, ging voran, dann folgte Gjoph. Brasher bildete den Schluß. Drei Männer, keiner mit Kampferfahrung, gegen die Reiterscharen eines Fürsten. Und jeder mit ganz anderen Gedanken und Wünschen. Plodar, der seine Braut wiederhaben wollte, um mit ihr zusammenzuleben und die Vergangenheit zu vergessen. An Rache, so vermutete Brasher, dachte er gar nicht, sie war ihm wesensfremd.
Gjoph, der den Tod seines Vaters und die Verschleppung seiner Schwester rächen wollte – und der mit Sicherheit dabei auch erwog, wie er den materiellen Schaden ausgleichen und das Gut wieder aufbauen konnte. Und Brasher, dessen Haß der tödlichste war, weil es nichts gab, was er bei diesem Unternehmen gewinnen konnte. Und immer wieder erinnerte sich Brasher an Baarschachs geheimnisvolle Bemerkung: »Ich weiß es, glaube mir, ich weiß es.« »Wir werden sehen, Baarschach«, murmelte Brasher.
6. Hellenker setzte vorsichtig den Krug zurück in das Regal. Das Stück war uralt, es hatte schon immer zu den Kostbarkeiten im Hause der Hellenker gehört. Es wurde jeweils dem ältesten Sohn weitervererbt und von allen gehütet als kostbarster Besitz der Familie. Der Krug war einfach und schlicht, ein leidlich hübsch geformtes Gefäß aus gebrannter Erde. Man sagte in der Familie der Hellenker, daß dieser Krug noch aus einer Zeit stammte, in der die Ligriden keine Raumfahrt gekannt hatten – aber das lag so weit zurück in den Tiefen der Geschichte der Ligriden, daß es beim besten Willen keinen Beweis für die These gab. Allerdings auch keinen Gegenbeweis. Hellenker hatte die Erfahrung gemacht, daß der Krug seiner Karriere gutgetan hatte. Als er ihn geerbt hatte – sein Vater hatte auf eine höchst ehrenvolle und für den Feind außerordentlich schädliche Art und Weise Selbstmord begangen -, hatte Hellenker ein wenig Angst gehabt, wegen des Getues um den Krug ausgelacht zu werden. Bei einigen rabiateren Geistern hatte das auch gestimmt, aber seltsamerweise waren vor allem die jeweiligen Vorgesetzten Hellenkers davon begeistert gewesen. Vielleicht lag es daran, daß besonders bei den Gward-Schülern Traditionsbewußtsein hochgehalten wurde- und vor diesem Hintergrund gewann das alte Gefäß an Gewicht. Hellenker atmete tief durch. Wöchentlich einmal nahm er den Krug zur Hand und benutzte ihn zu einer meditativen Übung, die ihn in Verbindung bringen sollte mit den Geistern der Ahnen. Nicht, wie einige Gwyn-Anhänger meinten, um ein Plauderstündchen mit Verstorbenen zu führen. An solchen Unfug glaubte Hellenker nicht. Es kam ihm darauf an, seine eigene Stellung in der ewigen Reihenfolge von Vätern und Söhnen zu finden, zu spüren, daß er nur ein Glied war in einer endlosen Folge von Gliedern, die vom Beginn ligridischen Lebens bis in die fernste Zukunft reichte. Hellenker genoß diese Stunden, sie gaben ihm Kraft und Zuversicht, vor allem aber jene innere Gelassenheit, die es ihm ermöglichte, ein Problem sachlich zu betrachten, frei von Eitelkeiten und kleinlichen Sorgen. Pünktlich stellte sich Loron ein, Hellenkers Leibdiener, wie er ein Gward-Schüler, allerdings von minderem Rang. Er hatte frische Kleidung besorgt – Hellenker meditierte niemals in der Dienstkleidung. Die beiden Ligriden waren ein seit vielen Jahren gut eingespieltes Team. Hellenkers hohe Schule in den Künsten des Gward befähigte ihn, sowohl die Äußerlichkeiten seines Dieners wahrzunehmen – seine Ungeschliffenheit, den Mangel an Bildung, den niederen Rang – als auch seine einzigartigen Qualitäten als lebendes Geschöpf. Auf der hohen Ebene der Meditation waren alle Ligriden gleich in diesem Bereich des Denkens gab es keine Wertsysteme mehr, nach denen Dinge und Lebewesen kategorisiert wurden. Allerdings war Hellenker nicht so dumm, Meditation und Alltag durcheinanderzuwerfen. So hatte er beispielsweise niemals einen Versuch unternommen, Loron über ein ganz besonderes Symbol der wechselseitigen Beziehung aufzuklären. Loron war der einzige Ligride, der den erwachsenen Hellenker ohne Kopfbedeckung gesehen hatte. Auch jetzt, als er sich umzog, zeigte Hellenker seinen unbedeckten Hinterschädel. Mochte Loron darüber nachgrübeln, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Es war als Zeichen der Verachtung interpretierbar – »Du bist in dieser Beziehung für mich so bedeutungslos wie irgendeine Maschine«, mochte die stumme Botschaft lauten. Es konnte aber auch als Zeichen einer außerordentlichen Verbundenheit gedeutet werden.
»Gibt es Neuigkeiten?« fragte Hellenker, nachdem er sich umgezogen hatte. Natürlich gab es Neuigkeiten, nur Nachrichten gab es nicht. Das war der Nachteil von Hellenkers Position als Stützpunktkommandant auf Jomon - die Aufgabe war langweilig. Ab und zu gab es kleinere Versuche der unbedarften Jomoner, sich gegen die Herrschaft der Ligriden aufzulehnen, aber solche Unternehmungen waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. »Eine Patrouille von uns ist überfallen worden«, berichtete Loron. »Es hat zwanzig Tote gegeben, natürlich keiner von unseren Leuten dabei.« »Auf wessen Gebiet?« »Fürst Larn von Had’h«, wußte Loron zu berichten. Hellenker lächelte versonnen. Anders als andere ligridische Gouverneure besetzter Welten legte Hellenker großen Wert darauf, daß Vergeltungsmaßnahmen nach solchen Überfällen sich niemals unmittelbar gegen die eingeborene Bevölkerung richteten. Auf Jomon hielt Hellenker es nicht anders. Er hatte bei seinem Amtsantritt die inhaftierten Fürsten wieder in Freiheit gesetzt und für die Haft großzügig entschädigt – großzügig nach den Verhältnissen Jomons. Für den Etat des Stützpunkts waren die Klimaanlagen, transportablen Energieschirme und andere Geschenke an die einheimischen Fürsten nur Kleinigkeiten. Mit Gaben dieser Art spielte Hellenker die JomonerFürsten gegeneinander aus, und die meisten der edlen Herren hatten sehr bald begriffen: sich gegen die Ligriden aufzulehnen, war angesichts deren Überlegenheit völlig aussichtslos, folglich war es besser, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Falls das gemeine Volk, das über erhöhte Abgaben und vermehrten Arbeitseinsatz den neuerworbenen Luxus ihrer Fürsten doppelt und dreifach zurückzuerstatten hatte, rebellierte, überließ es Hellenker den einheimischen Fürsten, die Bestrafungsaktionen zu übernehmen. Zum einen brauchte dann kein Ligride das ohnehin recht geringe Risiko einzugehen, sein Leben zu verlieren, zum anderen richtete sich der verständliche Haß der Eingeborenen dann auf ihre eigenen Führer. Später einmal, nach einigen Jahren, konnte Hellenker dann daran gehen, die einheimische Führungselite mit einem Schlag auszuschalten und eine rein ligridische Verwaltung aufzubauen. »Ich werde dem Fürsten ins Gewissen reden«, verkündete Hellenker. »Ist er mit irgendeinem Anliegen bei uns vorstellig geworden?« »Er möchte einen Individualschutzschirm von uns haben.« Hellenker nickte. »Den kann er haben, wenn er sich bewährt.« Hellenker konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Sein System funktionierte – kein anderer Ligridenstützpunkt auf einem unterworfenen Planeten wirtschaftete so sparsam wie der seine. Hellenker wußte auch sehr genau, woran das lag. Er hatte in seiner Karriere einige Male Kontakt mit Hyptons gehabt, und anders als die meisten gwyn-orientierten Militärbefehlshaber hatte sich Hellenker die Mühe gemacht, die Gedankengänge der Hyptons nachzuvollziehen. Sie hatten ihm eingeleuchtet, und bisher war er mit der sanften Methode der Unterdrückung eindeutig besser gefahren als seine Rivalen auf der Karriereleiter. »Sonst noch etwas?« Loron stieß einen leisen Seufzer aus. Ein solcher Kommentar stand ihm zwar eigentlich nicht zu, aber Hellenker ließ ihn gewähren. »Die beiden stellvertretenden Kommandanten ersuchen um ein Gespräch.« Nun stieß auch Hellenker einen Seufzer aus.
Drasthor und Drastim, eineiige Zwillinge und daher kaum voneinander zu unterscheiden, waren fanatische Gwyn-Schüler und für Hellenker eine arge Last. »Einverstanden. In einer Stunde im Konferenzraum. Noch etwas?« Loron machte eine Geste der Verneinung und zog sich dann zurück. »Die Zwillinge«, murmelte Hellenker. Die beiden hatten die Schule des Meisters Nommooh absolviert, eine der verbohrtesten GwynSchulen überhaupt. Obwohl dort die gleichen meditativen Übungen einstudiert wurden wie auf Gward-Schulen, dienten sie bei Meister Nommooh nur dazu, die körperliche Leistungsfähigkeit zu vervollkommnen. Daß die wahre Kunst der Gward-Meditation darin bestand, ein kosmisches Verständnis jenseits der Waffenkünste zu erreichen, war dort wohl unbekannt. Infolgedessen drängten Drasthor und Drastim auf Aktion; Hellenker war in ihren Augen zu lasch. Die beiden Schwerter – so nannte Hellenker die Zwillinge für sich – brannten auf Kampf, eine andere Form der persönlichen Bewährung kannten sie nicht. Während Hellenker im Bedarfsfall ohne weiteres auf Waffenkünste zurückgreifen konnte, stand den Zwillingen Hellenkers philosophische Einsichtstiefe nicht zu Gebote. Für Hellenker waren Waffen ein Werkzeug des Geistes – für die Zwillinge war der meditativ geschulte Geist nichts anderes als ein möglichst vollkommenes Werkzeug zur Führung von Waffen. Hellenker verließ seine Unterkunft und ging hinüber in das Konferenzzimmer. Die Zwillinge warteten dort bereits auf ihn. Immerhin waren sie so gut erzogen, daß sie Hellenker respektvoll grüßten und sich erst setzten, als Hellenker Platz genommen hatte. »Du hast von dem Überfall auf unsere Patrouille gehört?« eröffnete Drastim die Unterredung. Er war noch ein wenig hitziger als sein Bruder; eine Krankheit hatte ihn für ein paar Wochen außer Gefecht gesetzt, und Drasthor war in der Leistungsbewertung ein paar Punkte vorausgeeilt. Jetzt fieberte Drastim nach einer Möglichkeit, den Vorsprung wieder aufzuholen. »Ich habe mir berichten lassen. Kein nennenswerter Schaden auf unserer Seite.« »Wenn wir Ligriden nicht endlich hart zuschlagen, wird das das Eingeborenengesindel nur zu weiteren Versuchen dieser Art aufstacheln.« »Und du glaubst, es wird die Jomoner besänftigen, wenn wir ein paar Dutzend Köpfe rollen lassen?« »Das natürlich nicht. Aber sie würden endlich begreifen, mit wem sie es zu tun haben.« Hellenker lehnte sich ein wenig in seinem Sessel zurück. »Außerdem könnten wir dann die Abgaben drastisch erhöhen«, führte Drasthor ins Feld. Hellenker lächelte nur. »Es scheint mir ergiebiger zu sein, einem reichen Bauern die Hälfte seiner Ernte wegzusteuern als einem Armen alles. Der Ertrag für uns ist der gleiche – aber von dem armen Bauern ist im nächsten Jahr nichts mehr zu erwarten.« Drasthor machte eine Geste des Unwillens. Wahrscheinlich hielt er Hellenker wieder einmal für einen verweichlichten Bürokraten, der unter dem Einfluß der Hyptons stand. Für Ligriden wie die Zwillinge waren die Hyptons nur lästig, vor allem deswegen, weil sich diese Geschöpfe nur in den seltensten Fällen auf offene Kämpfe einließen. Ein solcher Verbündeter war den militärisch fixierten Ligriden ein Greuel. Hellenker aktivierte die Positronik und forderte einen Datenvergleich wichtiger Stützpunktwelten an. Ein paar Augenblicke später waren die Zahlenkolonnen auf einem Bildschirm zu sehen. »Ich glaube, das spricht für sich selbst«, sagte Hellenker gelassen. »Wir haben weniger Opfer,
erzielen eine höhere Rendite und verbrauchen erheblich weniger Nachschubmaterial als andere Stützpunkte.« »Das ist richtig«, gab Drasthor unwillig zu. »Darf ich?« Hellenker machte eine Geste der Zustimmung. Drasthor bediente die Positronik und forderte einen Überblick über Personaldaten an. »Das ist die andere Seite«, sagte er rauh. »In keiner anderen Sektion sind in den letzten Jahren und Monaten so wenig Beförderungen und Belobigungen ausgesprochen worden wie hier auf Jomon.« Hellenker sah die Zwillinge scharf an. »Ich weiß, was Ehrgeiz ist«, sagte er freundlich. »Ohne diese Triebfeder hätte ich diesen Posten nicht bekommen. Allerdings wurde ich dazu erzogen, meinen Ehrgeiz für das Wohl des Neuen Konzils einzusetzen, nicht ausschließlich für mich.« Drastim machte eine abschätzige Geste. Die Anspielung auf das Neue Konzil war ein taktischer Fehler, erkannte Hellenker. Das Ansehen der Hyptons war bei manchen Ligriden in den letzten Monaten immer mehr gesunken – offenbar hatten die Hyptons große Schwierigkeiten. Auch Hellenker hatte nicht alles begriffen, was in der letzten Zeit von den Hyptons zu hören gewesen war. So versuchten die Hyptons mit bemerkenswertem Aufwand einen gewissen Atlan zu fangen – und das Seltsame daran war, daß sie diese Person unbedingt lebend haben wollten. Eine genaue Beschreibung dieser Person hatte den Inhalt der letzten Nachrichtenverbindung dargestellt, die es mit MANAM-PZAN, einem Hypton-Stützpunkt, gegeben hatte. Danach war der Kontakt völlig abgerissen. Hellenker hatte nicht gewagt, intensiv nach den Gründen für die Unterbrechung des Informationsflusses forschen zu lassen – es hätte nur den Verdacht einiger Gwyn-Schüler verstärkt, Hellenker sei ein Werkzeug der Hyptons. Immerhin ließ diese Tatsache erkennen, daß die Hyptons in beträchtlichen Schwierigkeiten waren. »Uns geht es auch nicht um persönliche Vorteile«, sagte Drastim scharf. »Wir sind vielmehr einer Sache auf der Spur, die wichtig sein könnte.« »Ich höre«, meinte Hellenker und schloß die Augen. »Wir haben ein paar jomonische Gefangene eingehend verhört…« Hellenker öffnete die Augen. »Wie eingehend?« »Es war nicht nötig, zu härteren Mitteln zu greifen«, warf Drasthor rasch ein. Hellenkers Abneigung gegen wirksame Befragungshilfsmittel war ein weiteres Kuriosum dieses Kommandanten. »Fahr fort.« »Dabei haben wir herausgefunden, daß es bei einigen, vor allem älteren Jomonern einen gewissen Mythos gibt.« Für solche Dinge hatte Hellenker stets ein offenes Ohr, auch das war bekannt. »Die Jomoner sind angeblich nicht auf diesem Planeten entstanden, sondern auf einer ganz anderen Welt. Die Verbindung zum Heimatplaneten ist allerdings vor so langer Zeit abgebrochen, daß die Jomoner auf ihr jetziges Niveau zurückgefallen sind.« »Dergleichen soll vorkommen«, meinte Hellenker gelassen. »Bei den Jomonern geht nun die Legende um, daß die Urväter der Jomoner eines Tages mit großer Macht kommen werden, um uns zu vertreiben.« »Hmm«, machte Hellenker. An solchen Mythen war in der Regel wenigstens ein Teil wahr.
»Ist irgend etwas gefunden worden, was auf eine frühere Hochtechnik der Jomoner hinweist?« »Nichts«, gab Drasthor zu. »Es wurde allerdings auch nicht danach gesucht. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die Jomoner im Umgang mit unserer Technik bemerkenswert schnell eine gewisse Sicherheit entwickeln.« Das konnte Hellenker aus eigener Erfahrung bestätigen. Wie fast alle Ligriden auf Jomon hatte er neben seiner Dienstwohnung im Stützpunkt noch eine private Unterkunft außerhalb. Das Personal war von einem der Fürsten zur Verfügung gestellt worden. Auch Hellenker war aufgefallen, daß die Jomoner nach anfänglichem, völligem Unverständnis mit Lichtschaltern und ähnlichen Dingen bemerkenswert gut zurechtkamen. Vielleicht war dafür eine tief im Unbewußten gespeicherte kollektive Erinnerung an frühere Epochen der Jomoner verantwortlich. »Ich nehme an, ihr habt einen Vorschlag zu machen«, sagte Hellenker und sah die Zwillinge an. »Wir haben die wirren Angaben der Jomoner überprüft, und jetzt sind wir ziemlich sicher, jene Sonne ausgemacht zu haben, um die die Heimatwelt der Jomoner kreist. Wir schlagen vor, einen kleinen Flottenverband dorthin zu entsenden und nachzusehen.« »Was versprecht ihr euch davon?« »Wenn wir nichts finden, können wir das den Jomonern mitteilen und der Legende des jomonischen Widerstands die Grundlage entziehen.« Das klang vernünftig. Wenn der Untergrund erfuhr, daß es keinerlei Hilfe von außen geben würde, mußte das die Moral der Widerstandskämpfer schwächen. »Und wenn wir dort einen bewohnten Planeten finden«, über Drasthors Gesicht flog ein boshaftes Lächeln, »dann haben wir die Jomoner von hier als Geiseln. Man wird uns nicht verwehren können, dort einen neuen Stützpunkt zu errichten.« Mit einem neuen Stützpunktkommandanten, dachte Hellenker belustigt. Der Plan war sauber eingefädelt. Er erwog die Aussichten. Falls die Zwillinge keinen bewohnten Planeten fanden, war lediglich Zeit und Energie vertan. Außerdem war Hellenker ein paar Tage lang vom Umgang mit den beiden befreit. Entdeckten Drasthor und Drastim eine bewohnte Welt auf ähnlichem Niveau wie Jomon, war die Anlage eines weiteren Stützpunkts durchaus sinnvoll. Die Jomoner waren fleißig und willig, und die Ligriden konnten weitere Tributplaneten durchaus gebrauchen. Was aber, wenn der Mythos stimmte und man am Ziel auf eine hochtechnisierte Welt traf? So wie Hellenker die beiden einschätzte, würden sie sofort dafür sorgen, daß Kämpfe ausbrachen, und dieser Gedanke behagte Hellenker gar nicht. Die Lage in Manam-Turu war unsicher geworden, einen neuen Gegner zu provozieren, war daher mehr als unklug. Hellenker richtete sich auf. »Der Vorschlag gefällt mir«, sagte er. »Aber ich möchte, daß wir mit diesem Unternehmen noch etwas warten. Mein Terminkalender läßt eine solche Operation in den nächsten Wochen nicht zu.« Die Enttäuschung und Wut der Zwillinge waren fast mit Händen zu greifen. Sie hatten natürlich darauf spekuliert, diese Operation auf eigene Faust durchführen zu können. Der Ruhm wäre dann ihnen zugefallen. Wenn Hellenker aber das Kommando über die Flotte hatte, würde man ihm den Erfolg zuschreiben. Außerdem kannten die Zwillinge ihren Stützpunktkommandanten viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er behutsam vorgehen würde und die Aussicht auf einen ruhmvollen Eroberungsfeldzug damit zunichte machte.
»Aber…«, wollte Drasthor protestieren. Sein Bruder hielt ihn zurück. »Ich werde euch mitteilen, wann wir zu der Expedition aufbrechen werden«, sagte Hellenker. Der Tonfall verriet, daß die Unterredung für ihn beendet war. Die Zwillinge standen auf, machten eine provozierend exakte Ehrenbezeigung und verließen den Raum. Hellenker sah ihnen nachdenklich hinterher. Er ahnte, daß er sich in den beiden zwei Feinde gemacht hatte, die ernstzunehmen waren, aber auch damit würde er fertig werden. Wesentlich mehr bedrängten ihn andere Probleme. Was war mit den Hyptons, was ging in ManamTuru eigentlich vor? Und was hatte es mit jenem Atlan auf sich, nach dem gefahndet wurde, als handle es sich um einen flüchtigen Hochverräter?
7. »Burg Gorm«, stieß Gjoph hervor, als er aus dem Wald hervortrat und den Hang hinunterblicken konnte. Der Tag ging zur Neige, die späte Nachmittagssonne beschien die Burg und tauchte sie in ein rötliches Licht. Niemals zuvor hatte Brasher etwas Ähnliches gesehen. Verglichen mit dieser Burg war das prächtige Anwesen Wahrons nicht mehr als eine Ansammlung schäbiger Hütten. Aus den Bergen kommend und sich dabei stetig verbreiternd, floß der Ghoreyn durch die Ebene, und an einem seiner Seitenarme war Burg Gorm erbaut worden. Ein weiter, heller Forst umgab das Burggelände, dann war das glitzernde Wasser des Flußarms zu sehen. Burg Gorm war in das Wasser hineingebaut worden, vielleicht auf einer Insel angelegt. An dieser Stelle des Flusses gab es einen Wasserfall, der neben der Burg in die Tiefe stürzte und die Burg so von der Wasserseite her nahezu unangreifbar machte. Wer mit Booten oder Flößen übersetzen wollte, lief Gefahr, den Fall hinunterzustürzen. Landseitig wurde Burg Gorm von einem breiten Graben geschützt. Wer diesen Graben überwand, hatte es mit Mauern zu tun, die mehr als zwanzig Mannslängen hoch waren, mit Schießscharten und Pechnasen gespickt. »Das steckt eine Menge Arbeit darin«, murmelte Plodar. »Viele Ernten«, stimmte Brasher zu. Hier also wohnte Rorque de Gorm, dem alles Land gehörte, noch weiter als ein Jomoner sehen konnte. Weit jenseits des Flusses konnte Brasher die regelmäßigen Linien von Feldern erkennen. Auch dieses Land und ein großer Teil seiner Bewohner gehörten dem Fürsten. Sein Wort war Gesetz. »Versuchen wir die Burg zu erreichen, bevor es Nacht wird«, sagte Gjoph drängend. Die drei waren lange unterwegs gewesen. Sie hatten sich mit Sturm und Unwetter auseinandersetzen müssen, ein Rudel wilder Tiere bekämpft und an manchen Tagen nicht einen Bissen zu essen bekommen. Nach diesen Strapazen wirkte der Anblick der Burg wie die Verheißung eines Märchens. Brasher ging voran. Immer wieder sah er hinüber zu der Burg. Hinter den dicken, zinnengekrönten Mauern waren Häuser zu sehen, so hoch, daß sie die höchsten Mauern überragten. Aus zahlreichen Schloten und Kaminen stieg Rauch auf, schwerbeladene Gespanne rollten über die Zugbrücke ins Innere der Burg, andere polterten leer wieder zurück. Brasher und seine Gefährten hatten Hunger, und die Spuren verrieten, daß der Wald reich an Wild war. Aber Gjoph erinnerte sich daran, daß dieser Forst allein dem Fürsten gehörte, der Wilddiebe sehr streng bestrafte. Daher unterdrückten die drei ihren Hunger und hofften darauf, daß man ihnen in der Burg etwas Brot abgab. Gjoph stieß Brasher an. »Siehst du das?« Er deutete mit dem Finger in die Richtung. Brasher nickte. Er hatte das seltsame Gebilde ebenfalls gesehen. Es sah groß aus, größer als ein Fuhrwerk, und es glänzte metallisch im Licht der untergehenden Sonne. Brasher sah auf den ersten Blick, daß dieses Ding von keinem Jomoner hergestellt worden war. Wahrscheinlich handelte es sich um eine dieser seltsamen Mühlen, die arbeiteten und dachten, und die Baarschach Maschinen genannt hatte.
»Damit reisen die Himmelsgötter«, murmelte Gjoph beeindruckt. Brashers Mund wurde trocken. Ligriden hatte Baarschach die Himmelsgötter genannt, die mit ihren Dingen durch die Luft reisen konnten und vieles andere mehr. Hatte der Fürst Besuch von einem Ligriden bekommen? Brasher warf einen Blick auf Gjoph. Es war gezeichnet von grimmiger Entschlossenheit. Gjoph gehörte zu der Sorte Männer, die einen Feind auch vor den Augen eines Himmelsgotts erwürgen konnten. Brasher beschloß, ein Auge auf Gjoph zu haben. Während sie sich der Burg näherten, schien sie immer größer zu werden. Wahrscheinlich konnten dort mehr Jomoner sicher wohnen, als das ganze heimatliche Tal Einwohner hatte. Die drei durchquerten den Forst und blieben am Rand stehen. Vor ihnen war ein Weg zu erkennen, der pfeilgerade hinüberführte zum Eingang der Burg. Einige Jomoner waren zu erkennen, die durch das große Tor die Burg betraten und verließen. Wachen waren am Tor aufgezogen. Brasher spähte nach Gavran oder einem seiner Männer, konnte ihn aber nicht finden. »Was nun?« fragte Plodar. »Wir gehen hinein«, entschied Gjoph. Brasher hielt das für einen Fehler, sagte aber nichts. Er hatte sich den Wohnsitz des Fürsten anders vorgestellt, wesentlich kleiner und auch nicht so belebt. Vorsichtig und sehr unsicher betraten die drei die hölzerne Zugbrücke. Ein leeres Echsengespann rollte polternd an ihnen vorbei. »He, ihr da! Sputet euch, das Tor wird gleich geschlossen«, rief der Fahrer herüber. Die Wachen am Tor machten mürrische Gesichter. Sie senkten die Speere, als Brasher näher trat. »Was wollt ihr in der Burg?« fragte die Wache. »Wir…«, stotterte Brasher ratlos. »Wahrscheinlich Bittsteller«, warf die zweite Wache ein. »Du brauchst sie dir ja nur anzusehen, diese Landtölpel. Laß sie durch, der Fürst hat heute einen guten Tag.« Die Wache hob den Speer und machte eine herrische Handbewegung. Zögernd trat Brasher als erster üben die Schwelle. Die Mauern der Burg waren unglaublich flick, die Toreinfahrt ähnelte mehr einer kurzen Höhle als einer Tür. Am Ende dieser Höhle gab es noch eine zweite Tür, auf halber Strecke war ein Gitter zu entdecken, das vom Boden bis zur Decke reichte. Für Gespanne mußte der Weg in ganzer Breite geöffnet werden, Fußgängern wurde nur ein schmaler Einlaß gewährt. »Hier kommen wir nie wieder heraus«, murmelte Plodar beeindruckt. Mit lautem Getöse wurden hinter den dreien die Tore der Burg geschlossen. Jeweils fünf Mann bewegten die schweren Riegel. Auf dem Hof gab es ein Gedränge wie bei einem Markttag. In der Menge fielen die drei gar nicht auf. Händler waren zu sehen, die ihre Waren an die Burgbewohner verkaufen wollten, eine große Menge von Bittstellern wartete darauf, vor den Fürsten geführt zu werden, und überall waren Bewaffnete zu sehen. Von Gavran keine Spur. Brasher und seine Begleiter stellten sich in die Reihe der Bittsteller. Schwertkrieger führten die Jomoner in Vierergruppen ins Innere der Burg. Brasher paßte auf, daß er sich auch gebührend und lautstark verwunderte, obwohl, ihm der Anblick bereits vertraut war – es gab im Innern von Burg Gorm das gleiche helle Licht wie in der Höhle in den Bergen. Normale Jomoner bekamen solches Wunderwerk natürlich nicht zu Gesicht, und einem Teil der Bittsteller schlug diese Magie derart aufs Gemüt, daß sie ihr Anliegen vergaßen und unter vielen beschwörenden Gesten das Weite suchten. Die Wachen hatten ihr Vergnügen daran und
weideten sich an dem Entsetzen, das einige befallen hatte. Eine der Wachen ging auf Brasher zu und deutete auf das Schwert an dessen Seite. »Die Waffe mußt du am Eingang zum Saal abgeben, du bekommst sie später zurück.« Brasher nickte kurz. Ein Blick zur Seite. Plodar war vom Anblick des Burginneren überwältigt. Das letzte, woran er jetzt wohl dachte, war Kampf und Rache. Gjoph war unbeeindruckt – er hatte nur Vergeltung im Sinn. Brasher erwog seine Chancen. Sie waren nicht gut. Er hatte sich das alles ganz anders vorgestellt, und er wußte nicht mehr, wie er aus dieser verwirrenden Situation herauskam. »Benehmt euch anständig, spuckt nicht auf den Boden, sondern in die Näpfe. Es ist verboten, sich in den Ärmel zu schneuzen oder in einen Winkel zu pinkeln. Und denkt daran, haltet eure Mäuler. Ihr antwortet erst, wenn ihr angesprochen werdet. Vergeßt nicht, den Fürst gebührend zu begrüßen…« Brasher hörte nicht auf die Ermahnungen, aber er trennte sich folgsam von seinem Schwert, als der Eingang des großen Saales erreicht war. Vieles von dem, was er in dem Raum zu sehen bekam, begriff Brasher nicht – warum der Fürst die Teppiche an die Wände hatte hängen lassen, wie es kam, daß der Boden so glatt war, daß man darauf ausrutschen konnte, warum einige der Gäste Mützen aus Pelz trugen, obwohl es angenehm warm war und anderes mehr. Brasher hatte nur für dreierlei Augen. Syvea. Zuerst erkannte Brasher sie nicht wieder. Ihre Mähne sah anders aus, und sie trug eine unglaublich kostbare Kleidung. Sie wirkte blaß, aber sehr ruhig. Rorque de Gorm. Er saß auf einem breiten Sessel, Syvea still zu seiner Linken. Der Fürst war ein Jomoner von beeindruckender Gestalt, hochgewachsen und sehr kräftig. Sein unterer linker Arm fehlte, vielleicht als Folge eines Kampfes. Seine Mähne verriet Kraft und Feuer und war mit goldfarbenen Bändern durchwirkt. Zu seiner Rechten sah Brasher zwei Geschöpfe, die auf den ersten Blick als Himmelgötter zu erkennen waren. Solche Wesen gab es auf Jomon nicht: riesenhaft groß und seltsam verstümmelt wirkend mit nur zwei Armen und Beinen. Kaum vorstellbar, daß sie sich damit überhaupt bewegen konnten. Die Haut dieser Wesen war an einigen Stellen leicht geschuppt, und Brasher bemerkte, daß sie an jeder Hand sechs Finger hatten. Die behelmten Köpfe wirkten im Vergleich zu einem normalen Jomonerschädel grotesk verkürzt, Brasher empfand die Ligriden als erschreckend häßlich. Was die Ligriden dachten oder empfanden, konnte Brasher nicht erkennen – für ihn waren die ligridischen Gesichter ausdruckslos. Rorque de Gorm machte einen sehr angestrengten Eindruck. Aufmerksam hörte er sich an, was die Bittsteller vorzubringen hatten. Ab und zu stellte der Zwischenfragen, um ein wenig Sinn in das meist unbeholfene Gestammel zu bringen. Gjoph hatte sich an Brasher und Plodar vorbeigedrängt. Langsam schob sich die Reihe der Bittsteller vorwärts. Die meisten machten einen recht zufriedenen Eindruck, wenn sie mit tiefen Verbeugungen und Kratzfüßen den Rückzug antraten. Syvea hatte inzwischen die drei in der Menge erkannt. Brasher sah, daß sie sehr aufgeregt war, und sich immer wieder auf die Lippen biß. »Nun zu dir…« »Ich bin Gjoph, Wahrons Sohn.« Rorque de Gorm lächelte zurückhaltend.
»An deiner Kleidung sehe ich, daß du aus dem Tal der sieben Winde kommst. Welcher Anlaß führt dich von so weit her?« »Ich möchte meine Schwester abholen«, sagte Gjoph einfach. »Sie heißt Syvea und sitzt neben dir.« Die erste Reaktion der Versammelten war Schweigen, dann prasselte spöttisches Gelächter über Gjoph herein. Rorque de Gorm schnitt es mit einer Handbewegung ab. »Du bist dreist«, sagte der Fürst. Es klang noch einigermaßen wohlwollend. Brasher bemerkte, daß sich aus dem Hintergrund Gavran nach vorn geschoben hatte. Er starrte Gjoph mit einer Mischung aus Verwunderung, Spott und Wut an. »Nicht dreister als dein Reiterführer Gavran, der unsere Leute beleidigt, meinen Vater erschlagen und meine Schwester verschleppt hat. Dies ist Plodar, Syvea ist ihm versprochen. Auch sein Vater wurde von Gavrans Reitern erschlagen.« Rorque de Gorm sah zur Seite, wo Gavran stand, die Hände zu Fäusten geballt. »Lüge«, behauptete Gavran dreist. »Davon ist kein Wort wahr. Ich habe diese Magd gekauft, weil ich dachte, sie würde dein Gefallen finden, Fürst.« Rorque de Gorm sah zu Syvea hinüber. »Der Augenschein spricht gegen dich, Gavran«, sagte er halblaut. Brasher sah, daß Gavran den Griff eines Schwertes umklammerte, so heftig, daß die Knöchel stark hervortraten. Plötzlich begann eine Metalldose zwischen dem Fürsten und den Ligriden zu reden, und außer Brasher und den anderen Neulingen schien das niemand verwunderlich zu finden. »Bei uns pflegt man solche Probleme mit der Waffe zu erledigen, Fürst.« Die Stimme klang rauh und schnarrend, und Brasher begann zu ahnen, daß es sich bei der Dose um eine sprechende Denkmaschine handelte. Schauer liefen über seinen Rücken. »Deine Schwester mag gehen, wenn sie will. Ist das alles, was du verlangst?« »Fürst, du wirst diese Schmähung nicht zulassen«, rief Gavran aus. »Ich werde…« Rorque de Gorm brachte ihn mit einem Fingerschnippen zum Schweigen. »Wer ist der dritte Talbewohner?« »Brasher, ein angenommener Halbbruder, unser Freund.« »Ein hergelaufener Bastard«, giftete Gavran. »Mag sein«, gab Brasher zurück und sah Gavran haßerfüllt an. »Doppelt schändlich für sich, wenn ich dich töte.« Rorque de Gorm brach das Gezänk ab. »Nimm deine Schwester und geh deines Weges. Ich werde die Angelegenheit vergessen.« Gjoph schüttelte den Kopf. »Leben für Leben«, sagte er heftig. »Ich will Vergeltung für den Tod meines Vaters und für unser niedergebranntes Gut.« »Du bist mit dem Schwert nicht geübt«, warnte der Fürst. »Dann laß sie doch alle drei kommen«, rief Gavran prahlerisch. »Ich nehme es mit noch mehr von diesen Tölpeln auf.« Beifall klang auf. Brasher sah, wie die beiden Ligriden die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Ihre Blicke wanderten immer wieder zu ihm und den anderen beiden. »Nehmt ihr an?«
»Sofort«, rief Gjoph. Brasher trat an seine Seite. Er wußte, daß seine Aussichten gering waren, aber wenn es eine Möglichkeit gab, Gavran zu strafen, dann wollte er sie nutzen - am liebsten vor Syveas Augen. Freundlich lächelnd, als habe er gar nicht begriffen, worum es ging, trat auch Plodar vor. Brasher sah, wie Syveas Augen sich mit Tränen füllten. »Gebt den dreien Schwerter«, rief Rorque de Gorm. Er griff an seinen Gürtel. Die gleiche Bewegung führten die Ligriden aus, und einen Augenblick später waren die drei Personen von einem halb durchsichtigen, flimmernden Etwas umgeben, das Brasher Grauen einflößte. Die Versammlung rückte an die Wände und machte den Platz in der Mitte frei. Schwerter wurden hereingetragen und verteilt. Gavran machte ein zuversichtliches Gesicht. Er kämpfte mit zwei Schwertern. Das eine hielt er als Schlagwaffe in der rechten oberen Hand, das zweite, mit der Spitze nach oben gerichtet, in der unteren linken Hand. Der Mann war gefährlich, und an seinen Augen konnte Brasher ablesen, daß Gavran seine Gegner rücksichtslos töten würde, wenn er Gelegenheit dazu fand. »Ihr könnt anfangen«, erklang die Stimme des Fürsten. Gavran hatte nur auf das Zeichen gewartet. Wie eine Raubkatze sprang er los, und hätte Gjoph die Absicht nicht gewittert, hätte Gavran schon bei diesem Angriff den völlig überraschten Plodar getötet. Die Klingen prallten gegeneinander. Gavran wirbelte herum, schlug mit der Rechten zu und ließ die Linke nach oben gleiten. Die Linke wurde von Gjoph zur Seite geschlagen, Gavrans rechtes Handgelenk landete in Plodars ausgestreckter Hand. Doch damit war dem Reiterführer nicht beizukommen. Er setzte die beiden freien Arme ein, und mit einigem Erschrecken mußte Brasher feststellen, daß Gavran nicht nur beidarmig kämpfen konnte, sondern auch mit getrennten Fäusten. Soviel Geschicklichkeit nötigte den Zuschauern Beifall ab. Plodar und Gjoph prallten, von wuchtigen Fausthieben getroffen, zurück. Brasher eilte zu Hilfe. Nur für ein paar Herzschläge konnte er sich gegen Gavrans Angriffe aus eigener Kraft wehren, dann mußten Plodar und Gjoph eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Das Gefecht wurde erbitterter. Auch Plodar schien begriffen zu haben, daß er um sein Leben kämpfte - was er an Geschicklichkeit nicht zu bieten hatte, machte er durch Kraft wett. Auch seine etwas plumpe, unbeholfene Art sich zu bewegen, kam ihm zustatten – Gavran hatte Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. Immer wieder schlugen die Klingen gegeneinander. Brasher und Gjoph griffen gleichzeitig an, und Gavran wehrte ab. Er brachte es sogar fertig, einen Hieb nach Plodar zu führen, der in seinem Rücken auftauchte. Wäre Plodar nicht blitzschnell zurückgeprallt, hätte die Klinge nicht nur sein Wams geschlitzt. »Weiter so, Gavran. Zeig es ihnen.« Für die Zuschauer hatte Brasher kein Auge mehr. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Gavran gerichtet, der wie ein Rasender focht. Zwei schnelle Hiebe, eine Finte, ein Stich – Gjoph mußte das Schwert fallen lassen. Eine wirbelnde Drehung, und Plodars Klinge flog durch die Luft. Zitternd blieb die Waffe in einem Balken stecken. Brasher machte einen Satz auf Gavran zu, aber ein Fußstoß des Reiters ließ ihn sofort den Halt verlieren. Brasher stürzte, landete auf dem Rücken, und der Aufprall trieb ihm die Luft aus dem Körper. Über sich sah er Gavrans triumphierendes Gesicht, davor die blitzende Klinge des Schwertes…
»Halt, Gavran.« Gavran hielt inne. »Sie sind geschlagen, ihre Leben gehören dir.« Gavran schüttelte den Kopf. Brasher wollte wegkriechen, aber seine Glieder versagten ihm den Dienst. »Keine Schonung«, stieß Gavran hervor. »Keine Gnade.« »Du bist ein hervorragender Schwertkämpfer«, mischte sich eine andere Stimme ein. Die Dose, durchfuhr es Brasher. »Ich bin an diesen drei Leben interessiert. Willst du mit mir darum kämpfen, mit dem Schwert?« Langsam kam Brasher wieder zu Kräften. Gavrans Klinge senkte sich, die Spitze berührte Brashers Brust. Die andere Waffe hielt Gjoph in Schach. Plodar stand mit kraftlos herabbaumelnden Armen zwei Schritte entfernt. »Verzeih, nicht daß ich mich vor dem Kampf fürchte… aber was ist, wenn ich siege, dich verletzte oder gar töte…?« Allmählich dämmerte Brasher, daß die Dose für den Ligriden sprach. Wieso war einem Himmelsgott am Leben von drei Jomonern gelegen. »Du hast mein Wort und das meines Zwillingsbruders. Selbst wenn du mich tötest, wird dir nichts geschehen. Im Gegenteil – siegst du, bekommst du ein solches Schirmfeld wie dein Fürst.« Aus den Augenwinkeln heraus konnte Brasher sehen, daß die Miene des Fürsten unverändert blieb, obwohl das Angebot des Ligriden beleidigend war. Man konnte einem Reiterführer nicht das gleiche Geschenk anbieten wie einem Fürsten. »Einverstanden«, sagte Gavran. In seinem Gesicht war die Gier zu erkennen. Wachen traten in die Mitte und nahmen Plodar, Gjoph und Brasher fest. Man führte sie zum Rand, während der Ligride das Flimmern um sich herum erlöschen ließ. Er nahm eines der Schwerter vom Boden auf und machte ein paar prüfende Schläge. Was er sagte, war für Brasher unverständlich, und die Dose gab keinen Laut von sich. Gavran stellte sich kampfbereit auf. Der Ligride nahm das Schwert in beide Hände und hielt es seltsam abgewinkelt auf seiner rechten Seite. Gavran griff an, vorsichtig zuerst, er kannte seinen Gegner noch nicht. Der Ligride parierte die Schläge schnell und geschickt. Die beiden trennten sich wieder. Und dann… Brasher sah, wie der Ligride das Schwert in seinen Händen wirbeln ließ, bis die Spur der Klinge fast einer Scheibe glich. Er schwang nach rechts, nach links, dann machte er einen Ausfall nach vorn. Ein schmetternder Schlag, als seine Klinge gegen Gavrans Schwert prallte, eine Drehung, eine rasend schnelle Bewegung… begleitet von einem Aufschrei in der Menge, dann landete Gavrans Kopf auf dem Boden. Brasher wurde fast übel. Der Ligride kehrte an seinen Platz zurück. Die Menge war totenstill geworden. »Eure Schwerter sind nicht übel«, ließ sich die Dose vernehmen. »Nur eure Kämpfer taugen nicht viel.« Der nächste Satz ließ Brasher fast das Mark gefrieren.
»Laß die drei zu unserem Gespann führen.«
8. Dharys ließ die Ortungsanlagen der LJAKJAR arbeiten und studierte die Ergebnisse. Unmittelbar nach dem Wiedereintritt in den Normalraum hatte der geheimnisvolle Finder Dharys die Kontrolle über die LJAKJAR zurückgegeben, Dharys ahnte aber, daß er nach wie vor überwacht und bespitzelt wurde, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Die Taster zeigten an, daß vor dem Bug der LJAKJAR ein Doppelsonnensystem lag – ein hellweißer, kleiner Stern und ein Riese in Dunkelrot. Planeten hatte das System nicht - wohl aber einen sehr seltsamen Materiegürtel. Wie ein riesiger Schlauch führte dieser Materiegürtel um die beiden Sonnen herum. Der Abstand betrug knapp siebzehn Lichtminuten, und der Schlauch wies eine durchschnittliche Dicke von annähernd 20.000 Kilometern auf. Da die beiden Sonnen sehr dicht beieinander standen und sich wechselseitig rasch umkreisten, schien dieser befremdliche Gürtel sehr stabil zu sein. Der Massetaster zeigte an, daß der weitaus größte Teil dieses Materierings aus kosmischem Feinstaub bestand. In diesem Staub eingebettet fanden sich allerdings auch unzählige kompaktere Himmelskörper – angefangen bei faustgroßen Klumpen über kilometerdicke Brocken und Körper, die man fast als kleine Monde bezeichnen konnte. »Ein ideales Versteck«, murmelte Dharys anerkennend. Die Energiemessung zeigte ihm, daß es in dem Materiegürtel ununterbrochen energetische Entladungen gab, die die Anpeilung eines Raumschiffs natürlich sehr schwer machten. Auf dem Schirm der Energieortung zeichnete sich der Ring als ein waberndes, von energetischen Strömen durchflossenes Gebilde ab, dessen Streustrahlung so groß war, daß die normalen Strahlungen von funktionstüchtigen Raumschiffen vor diesem Hintergrund nicht mehr auszumachen waren. Es würde eine schwierige Aufgabe werden, in diesem Materiering den Flüchtigen aufzuspüren, und zum ersten Mal empfand Dharys die Anwesenheit des Finders sogar als Erleichterung. Dharys ließ die LJAKJAR näher an das System heranfliegen. Er wartete darauf, daß der Finder sich bemerkbar machte, aber nichts dergleichen geschah. Dharys murmelte ein paar Verwünschungen. Was konnte er jetzt tun? Die LJAKJAR hatte unterdessen den Materiegürtel erreicht, in dem sich Atlan vermutlich verborgen hielt. Dharys ließ die Ortung die nähere Umgebung durchforsten. Von außen machte der Materiegürtel einen relativ stabilen Eindruck, in seinem Innern sah es ganz anders aus. Es kam Dharys vor, als wäre er in eine kleine Galaxis hineingeraten. Der ganze Gürtel war ein brodelndes Durcheinander von kleinen und großen Körpern, die sich mit Geschoßgeschwindigkeiten bewegten. Und irgendwo in diesem astronomischen Mückenschwarm hielt sich Atlan versteckt. Dharys kalkulierte seine Möglichkeiten durch. Wenn er sich außerhalb des Materierings hielt, konnte er seine Hoffnung aufgeben, Atlan zu finden – es sei denn, der verriet absichtlich oder ungewollt sein Versteck. Damit rechnete Dharys nicht. Ein wenig größer waren die Aussichten des Daila, wenn er mit der LJAKJAR in den Gürtel hineinflog. Dann aber mußte er sich entscheiden – mit vergleichsweise hoher Geschwindigkeit oder langsam.
Ein schneller Flug machte es notwendig, die Schirmfelder gegen Staub und Kleinmaterie reichlich mit Energie zu versorgen – und das war nur für eine begrenzte Zeit möglich. Langsamflug ohne verstärkte Schirmfelder aber konnte die Suche nach Atlan zu einem Abenteuer mit Ewigkeitscharakter gestalten. Dharys verließ die Zentrale und suchte seine Kabine auf. Der positronische Service sorgte für eine kräftige Mahlzeit, während Dharys das Problem von allen Seiten betrachtete. Atlan steckte in einer Klemme, das war für Dharys ein entscheidender Vorteil. Zum einen mußte der Arkonide wissen, daß er gejagt wurde, unter anderem auch von dem Erleuchteten. Daher konnte Atlan nicht einfach abwarten, bis Dharys die Geduld verlor und sich wieder entfernte. Wenn Dharys Verstärkung anforderte, wurde die Lage für Atlan zusehends gefährlicher. Der zweite Trumpf in den Händen von Dharys bestand darin, daß Atlan sich selbst ein Ziel gesetzt hatte. Der Arkonide wollte etwas unternehmen – auch das verbot es ihm, in dem Versteck für lange Zeit auszuharren. Früher oder später mußte sich Atlan daher zeigen. Soweit, so gut. Blieb Dharys mit seiner LJAKJAR offen sichtbar und anpeilbar, konnte sich Atlan durch den Materiering manövrieren und zur Fortsetzung der Flucht einen Ort auswählen, der möglichst weit von der LJAKJAR entfernt war. Es war nicht auszuschließen, daß ihm dieser Vorsprung sogar reichte. Verbarg sich Dharys mit der LJAKJAR hingegen ebenfalls in dem Materiegürtel, mußte der Arkonide die Richtung seiner Flucht aufs Geratewohl bestimmen, und das verbesserte die Aussichten von Dharys erheblich. Dharys kehrte gesättigt und wieder zuversichtlich in die Zentrale der LJAKJAR zurück. In langsamer Fahrt ließ er die LJAKJAR in dem Materiegürtel eindringen. Die Positronik hatte dieses kosmische Unikum als »Ring der Hybris« bezeichnet, ohne sich darüber auszulassen, aus welcher Quelle sie diese Einsicht bezog. »Ein passender Name, Arkonide«, murmelte Dharys vergnügt. Noch ein Gedanke war ihm gekommen. Er aktivierte wieder die Energieortung. Normalerweise maß dieses Gerät Energieformen an, die den übergeordneten Räumen zugehörig waren – mit seiner Hilfe ließen sich die Standorte von Raumschiffen oder großen Industrieanlagen auf Planeten ausmachen und präzise anpeilen. Das Gerät ließ sich aber auch so umstellen, daß es nicht den Ort, sondern die spezifische Art der Quantelung der Energie anmaß. Dharys programmierte mit Hilfe der Positronik den Energietaster so um, daß er vornehmlich nach jenen Energieimpulsen Ausschau hielt, die üblicherweise für überlichtschnellen Funkverkehr verwendet wurden. Dharys begann breit zu grinsen, als sich die ersten Erfolge einstellten. Der Taster fing charakteristische, sich wiederholende Muster auf – und die Positronik konnte anhand dieser Daten sogar einen ungefähren Standort des Senders ausfindig machen. Immer wieder schaltete Dharys verschiedene Filter und Frequenzweichen zusammen, um die angepeilten Impulse deutlicher und klarer werden zu lassen. Die Ergebnisse wurden von Stunde zu Stunde besser. Sehr behutsam arbeitete sich Dharys mit seinem Schiff auf die Quelle dieser Impulse zu. In seiner Experimentierlust ging er sogar einen Schritt weiter. Die Hyperimpulse waren inzwischen so deutlich strukturiert, daß er den Versuch wagen konnte, die spezifischen Modulationen dieser
Impulse anzumessen und auszuwerten. Unmittelbar abhören konnte Dharys den Funkverkehr Atlans ohnehin nicht, aber vielleicht bekam er mit diesem technischen Trick eine Abschrift des gesprochenen Textes auf den Bildschirm geliefert. Die ersten Versuche verliefen kläglich. Auf dem Schirm erschien eine absurde, schlierenhafte Grafik, in deren Muster ab und zu ein paar Buchstaben aufblitzten. Der Daila hatte Zeit und Geduld. Unablässig arbeitete er an der Verbesserung des Verfahrens, und langsam begann der Schirm immer mehr Text zu zeigen – zunächst vollkommen sinnlose Abfolgen von Buchstaben, aber ab und zu auch ein verständliches Wort. Als zum ersten Mal das Wort Atlan auf dem Schirm auftauchte, stieß Dharys einen Jubelschrei aus. »Jetzt habe ich dich, Arkonide«, stieß er hervor. Der Jäger hatte die Beute im Visier… * Eigentlich hätte uns die Rast guttun sollen, aber davon konnte keine Rede sein. Das Versteck im Weltraum war hervorragend, bis uns hier jemand fand, selbst wenn dieser Jemand gezielt nach uns suchte, konnten Jahre vergehen. Aber wir hatten das Versteck nicht freiwillig gewählt. Die STERNSCHNUPPE brauchte unbedingt eine Rast, um wieder zu Kräften zu kommen – zur Zeit war sie nicht voll einsatzbereit, und das machte sich auf fast jedem Gebiet bemerkbar. Mrothyr machte keine Schwierigkeiten, wohl aber Chipol. Der junge Daila war ein Nervenbündel, reizbar und mürrisch. Die letzten Stunden hatte er glücklicherweise in seiner Kabine brütend verbracht. So hatte er nicht mitbekommen, daß in dem System der Doppelsonne ein Raumschiff aufgetaucht war. Zuerst hatte ich an einen – wenn auch wenig wahrscheinlichen – Zufall geglaubt, aber das Verhalten des fremden Piloten hatte mich eines Besseren belehrt. Wer immer das fremde Schiff flog – er hatte diesen Bereich von Manam-Turu absichtlich angeflogen und suchte nach etwas. Nach Lage der Dinge konnte das nur die STERNSCHNUPPE mit ihrer Besatzung sein. Ich hatte auch schon eine Ahnung, wer der Pilot des Raumschiffs war, das sich wie die STERNSCHNUPPE im undurchdringlichen Materiewirbel des Systems versteckt hatte. Dharys, hatte das Extrahirn lakonisch gemeldet. Wenn Chipol erfuhr, wer sich da auf unserer Fährte herumtrieb – die Folgen waren nicht auszudenken. Zwar hatte sich Chipol bei der jüngsten Konfrontation klar für meinen Standpunkt entschieden, aber das änderte nichts daran, daß Dharys sein Vater war. Ich wechselte einen raschen Blick mit Mrothyr, als Chipol in die Zentrale der STERNSCHNUPPE trat. Chipol machte ein verdrossenes Gesicht. »Es ist langweilig hier«, maulte er. »Die STERNSCHNUPPE braucht eine Ruhepause«, erinnerte ich ihn sanft. »Ich nicht«, gab Chipol zurück. Er starrte auf den Panoramaschirm, auf dem das undurchdringlich erscheinende Gewirr des Materierings zu sehen war. Wenn man zu den Bewegungen der kleinen und großen Himmelskörper zusätzlich eine Projektion der energetischen Verhältnisse auf den Schirm brachte – und das hatte Mrothyr getan -, dann ergab sich ein faszinierendes Schauspiel. Aber Chipol hatte dafür keine Augen. Er war mit sich selbst beschäftigt.
»Vielleicht ist die Idee gar nicht einmal schlecht«, machte sich Mrothyr bemerkbar. »Seht einmal, was ich gefunden habe.« Er veränderte die Bildschirmdarstellung. »Ganz in unserer Nähe gibt es eine Art Loch in dem Materiegürtel – weder Energie noch Masse anpeilbar, von einem gewaltigen Brocken abgesehen. Könnt ihr es sehen?« Ich nickte. Schon beim Anflug dieses Gebildes hatte ich den Verdacht gehabt, daß der Planetoidenring aus den Trümmern eines oder mehrerer Planeten bestand. Dieser Verdacht fand jetzt eine Bestätigung – das »Loch«, wie Mrothyr es genannt hatte, wies so exakte Abgrenzungen auf, daß es für mich nur eine Erklärung gab – ein Energieschirm war dafür verantwortlich. Von einem entsprechenden Feld war nichts zu erkennen. Ich vermutete, und das Extrahirn bestätigte die Kombination, daß der Riesenbrocken Teil der Planetenoberfläche gewesen war. Beim Zerbrechen der Welt hatte es dort einen starken Energieschirm gegeben, der viele Jahrhunderte oder Jahrtausende später erst zusammengebrochen war. So lange hatte er das Oberflächenbruchstück vor dem materiellen und energetischen Trommelfeuer seiner Umgebung geschützt – und diese Blase war geblieben. »Wollen wir uns das einmal ansehen?« fragte ich, absichtlich in beiläufigem Tonfall. Chipol starrte angestrengt auf den Schirm. »Ich bin dafür«, stieß er hervor. Die Ablenkung tat ihm vielleicht gut. Außerdem hielt sie uns beschäftigt, bis die STERNSCHNUPPE wieder voll einsatzklar war und wir unseren Flug fortsetzen konnten. Vor unserem Verfolger hatte ich keine Angst – er war zu weit entfernt von uns im Materiewirbel verschwunden. Im Langsamflug würde er Monate brauchen, um uns zu erreichen, und bei Vollschub war er antastbar. Mrothyr würde uns rechtzeitig warnen, wenn sich an diesen Tatsachen etwas änderte. Chipol und ich suchten eine Schleuse der STERNSCHNUPPE auf, während Mrothyr das Schiff langsam näher an die Blase heranbrachte. Wenig später verließen wir das Schiff und glitten hinaus in den freien Raum. »Neugierig?« fragte ich Chipol über Helmfunk. Wir mußten Hyperfrequenzen benutzen, die Störungen ließen normalen Funk nicht zu. »Sehr«, gab Chipol zurück. Was für ein schnelles Raumschiff ein überaus gefährliches Medium war, erwies sich für unsere langsam treibenden Körper als gähnende Leere - die eigentliche Gefahr dieses Materierings bestand in der Geschwindigkeit, mit der man ihn zu durchdringen versuchte. Wir konnten ein kopfgroßes Gesteinsstück einfach beiseite schieben – beim Aufprall auf ein mit relativistischer Geschwindigkeit fliegendes Schiff wäre dieser Zusammenprall einer atomaren Explosion vergleichbar gewesen. Mit gleichmäßiger Geschwindigkeit flogen wir auf den Planetoiden zu. Ich überprüfte schnell den Funkkontakt zur STERNSCHNUPPE. Die Verbindung war stabil und gut hörbar. Dieser treibende Himmelskörper war vermutlich einer der größten in dem Gürtel – man konnte ihn fast als kleinen Mond bezeichnen. Wir mußten unsere Rückstoßaggregate einsetzen, um sanft darauf landen zu können – die Massenanziehung war beträchtlich. »Wir sind gelandet, Mrothyr«, gab ich zur STERNSCHNUPPE weiter. »Was mag hier geschehen sein?« fragte Chipol. Seine Stimme verriet trotz der Verzerrungen des Helmlautsprechers Beklemmung.
»Eine Katastrophe«, antwortete ich. »Ein Planet wurde zerstört, auf dem intelligente Geschöpfe gelebt haben – intelligent genug, um energetische Schirmfelder zu besitzen.« Das Extrahirn hatte inzwischen aus der Ausdehnung der Blase den ungefähren Standort des früheren Generators errechnet, der das Schirmfeld mit Energie beliefert hatte. Wir waren in der Nähe dieses Ortes auf dem Trümmerstück gelandet. Auf den Schirmen der Energieortung zeigte sich der Materiegürtel als wabernder, dichter Schlauch. Mit normalen Mitteln war nur das zu sehen, was unsere Handscheinwerfer aus dem Dunkel rissen – geborstene Mauern, bizarre Strukturen, die vielleicht einmal Bäume gewesen waren. »Dorthin«, schlug ich vor und ließ den Scheinwerferstrahl wandern. Vor uns war ein hoch aufragender Mauerkegel zu sehen, seine Oberfläche wies tiefe Risse und Sprünge auf. »Da hat wahrscheinlich der Generator gestanden.« Die Massenanziehung machte es möglich, daß wir uns mit weiten Sätzen recht schnell und leicht bewegen konnten. Der Kegel war bald erreicht. Chipol atmete sehr heftig, der Anblick der Ruinen hatte ihn erschüttert. »Das ist ein Tor«, stieß er hervor. »Wollen wir hineingehen?« »Versuchen wir es«, antwortete ich. Den Aufprall großer oder schneller Partikel hatte das frühere Schirmfeld verhindern können, nicht aber die Folgen der explosiven Dekompression, als der Planet geborsten war, auch nicht das langsame Herabrieseln von Staub. Wir stiegen gesprungene Treppen hinunter, auf den Stufen lag knöchelhoch dunkler Staub, der metallisch aufleuchtete, wenn man den Scheinwerferstrahl genau darauf richtete. Wir erreichten das Ende der Treppe. Die grellen Strahlen der Handscheinwerfer wanderten durch eine große Halle. Maschinen waren zu sehen, zum größten Teil zerstört, in ihrer Funktion für uns nicht erkennbar. Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle gab es eine Empore. Ich richtete den Strahl in diese Richtung – und bewegte ihn schnell wieder weg. »Ich habe es schon gesehen«, sagte Chipol leise. Auf einer Reihe von Sesseln waren dort die Körper der früheren Bewohner zu sehen – so, wie das schlagartige Entweichen der Atemluft in den Weltraum sie hinterlassen hatte. Es war ein scheußlicher Anblick. Mit zögernden Schritten bewegten wir uns darauf zu. In der Mitte der halbrunden Empore war ein besonders auffälliger Sessel zu erkennen. Sofort fühlte ich mich an einen Thron erinnert. Dahinter konnte ich ein Standbild erkennen. Die Statue hatte die Katastrophe unbeschadet überdauert und zeigte uns, wie die Bewohner des zerstörten Planeten einmal ausgesehen hatten. Wenn das Standbild charakteristisch war, dann waren die Planetenbewohner durchschnittlich 1,5 Meter groß gewesen und sehr kräftig. Sie hatten vier Arme und Beine, einen grob menschenähnlichen Rumpf und langgezogene Schädel, die mich an Pferde erinnerten. Dazu paßten auch die zotteligen Mähnen im Nacken. Die Statue stand aufrecht, die vier Hände vor der Brust. Sie hielten ein Schwert, das im Licht der Scheinwerfer erglänzte. Die Statue selbst bestand aus einem stumpfgrauen Material. Ich blieb vor der Statue stehen. Einem unerklärlichen Impuls folgend, griff ich nach dem Schwert. Mühelos ließ es sich aus den Händen der Statue herausziehen. Der Griff war goldüberzogen, mit verwirrenden Schriftzeichen bedeckt, die ich nicht lesen konnte. Die Klinge war unglaublich dünn und biegsam. Man konnte sie sogar regelrecht zusammenrollen.
Ganz bestimmt keine Waffe, gab der Logiksektor durch. Ich ließ das Schwert in einer Tasche meines Anzugs verschwinden. Chipol hatte unterdessen damit begonnen, die Schaltpulte zu untersuchen, die es in großer Zahl gab. Vor jedem Pult war ein Sessel zu sehen, und in jedem Sessel lag der mumifizierte Leichnam eines Opfers dieser Katastrophe. »STERNSCHNUPPE an Atlan. Kommt zurück. Es sind Schiffe aufgetaucht.« Mrothyrs Stimme klang aus den Lautsprechern. Ich sah, wie Chipol zusammenzuckte. »Was für Schiffe?« fragte ich zurück. »Der Typ ist unverkennbar – es sind Ligriden.«
9. Niemals zuvor hatte Brasher etwas so Schreckliches gesehen. Das fliegende Gespann der beiden Ligriden, denen jetzt sein Leben gehörte, war nicht nur gewaltig groß. Das Ding gab auch ganz entsetzliche Geräusche von sich, zitterte und bebte, als fürchte es sich. Daß es Gjoph und Plodar nicht besser ging, war für Brasher kein Trost. Er hatte fürchterliche Angst, nicht nur vor dieser gräßlichen Maschine, sondern mehr noch vor den beiden Ligriden. »Verhaltet euch ruhig, dann wird euch nichts passieren!« Inzwischen hatte Brasher begriffen, daß die denkende Dose wohl die Aufgabe hatte, die Worte der Ligriden in die Sprache der Jomoner zu übertragen. Wie das vonstatten gehen sollte, war Brasher ein Rätsel. Der Metallkasten, in den die drei Jomoner eingesperrt waren, ruckte an. Das Oberteil dieses Kastens war durchsichtig, und als Brasher zur Seite blickte, konnte er sehen, wie Burg Gorm vor seinen Augen abstürzte. Brasher richtete sich auf. Mit unglaublicher Geschwindigkeit, schneller als jeder Vogel stieg der Flugapparat in die Höhe, und das ohne Schwingen oder Flughäute. Brasher begriff jetzt, warum die Jomoner die Ligriden als Götter ansahen – wer solche Dinge zuwege brachte, der konnte wahrscheinlich alles zuwege bringen. Maschinen, hämmerte es in Brashers Schädel. Es sind alles Maschinen, es ist nichts übernatürliches dabei. Es half nichts, die Furcht hielt ihn fest im Griff. Himmelhoch stieg der Flugapparat, bis die Jomoner am Boden kaum noch zu sehen waren. Gleichzeitig fegte er mit der Geschwindigkeit eines Sturmwinds über das Land hinweg. Einer der beiden Ligriden wandte sich zu den Jomonern um. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte der Ligride. »Wir bringen euch nach Jompol, und wenn ihr tut, was wir euch auftragen werden, könnt ihr bald in euer Tal zurückkehren.« Der Ligride log, das wußte Brasher. Er hatte gesehen, wie einer der beiden Gavran getötet hatte, kaltblütig und völlig ohne Anteilnahme. Gavran hatte dem Ligriden nichts getan, ihn nicht einmal gereizt – und doch hatte er sterben müssen. Es war nicht die Tatsache von Gavrans Tod, die Brasher erschütterte, sondern die Art und Weise, in der er getötet worden war. Er hatte gegen die Schwertkunst des Ligriden nicht die geringste Chance gehabt – und der Ligride hatte das von Anfang an gewußt. Was immer die Ligriden von den Jomonern wollten – es würde letztendlich darauf hinauslaufen, daß auch sie getötet wurden. »Was werden wir zu tun haben?« fragte Plodar hoffnungsvoll. Gjoph hatte die Kiefer aufeinandergepreßt und sagte nichts. »Das sagen wir euch, wenn wir angekommen sind.« Irgendeine Schurkerei steckt dahinter, witterte Brasher. Er dachte an Baarschach und dessen Prophezeiung. Hatte der Magier gewußt, wie schnell Brasher mit den Ligriden zu tun bekommen würde? Und wenn ja - woher? Ruhig zog das Fluggerät seine Bahn, und Brashers Furcht legte sich ein wenig. Er versuchte abzuschätzen - wie schnell sich – wie hatte der Ligride das Ding genannt? Gleiter? - der Gleiter durch die Luft bewegte. Binnen weniger Augenblicke legte er eine Strecke zurück, für die ein Wanderer Stunden gebraucht hätte. Brasher sah tief unter sich Ebenen und Berge, Flüsse und Seen vorbeiziehen, Dörfer und Burgen –
Brasher hatte nie geahnt, wie groß die Welt wirklich war. Wenn es ihm gelang, den Ligriden zu entfliehen, würde er wahrscheinlich monatelang laufen müssen, bis er seine Heimat wieder erreicht hatte. Wenig später begann das Fluggerät zu sinken, und Brashers Magen schien sich umstülpen zu wollen, als er dabei hinaussah. »Nehmt die Köpfe herunter, dann ist es nicht so schlimm.« Brasher gehorchte, und der Ligride behielt recht. Nur einen flüchtigen Blick hatte Brasher auf das Ziel werfen können – und er hatte nicht begriffen, was er zu sehen bekommen hatte. Eine riesige, völlig glatte Fläche, auf der Fluggeräte standen, die noch viel größer sein mußten als der Apparat, in dem Brasher befördert wurde. Hoch in den Himmel ragende Gebäude, die in der Sonne glänzten, eingehüllt von dem seltsamen, bedrohlichen Flimmern, das Brasher bei den beiden Ligriden und dem Fürsten Rorque de Gorm schon einmal gesehen hatte. Und dann die eigentliche Stadt Jompol – viele Häuser, eines neben dem anderen, kein grünes Land dazwischen, nur dunkle Straßen. Ein paar dieser Häuser waren fast größer als Burg Gorm. In Brashers Kopf schwirrte alles. Er versuchte sich zusammenzunehmen, um nicht den Verstand zu verlieren. Seine beiden Begleiter hatten die Hände vor die Gesichter geschlagen. Plodar zitterte am ganzen Leib. Der Gleiter kam zum Stillstand. Geräuschlos öffnete sich die gläserne Abdeckung. Die beiden Ligriden stiegen aus. Brasher bemerkte, daß jeder seine recht Hand in der Nähe eines Dings am Gürtel hielt – einer Waffe, wie Brasher vermutete. »Steigt aus!« Das Haus, vor dem der Gleiter gehalten hatte, war fast so groß wie Wahrons Gutshaus, allerdings auf ganz andere Art erbaut – es gab keine Balken zu sehen, statt dessen aufeinandergeschichtete Steine. Es mußte sehr viel Arbeit gekostet haben, diese Steine so gleichmäßig zurechtzuschlagen. Die Ligriden führten ihr Eigentum ins Haus. Es war angenehm kühl im Innern. Ein paar Jomoner mit auffällig herablassenden Gesichtern wollten Brasher und die anderen in Empfang nehmen, wurden aber von den Ligriden barsch davongescheucht. »Du, komm her!« Die Aufforderung galt Brasher, der zögernd vortrat. Einer der Ligriden hielt ein ledernes Band in der Hand, daran war ein glänzendes Ding befestigt. »Das wirst du an der Hand tragen«, bestimmte der Ligride. Widerstandslos ließ sich Brasher die lederne Fessel anlegen. Auf der Oberfläche des Dinges bewegte sich etwas. »Paß auf!« Der Ligride nahm ein langes, schmales Ding zur Hand und fuhr damit über den linken Innenarm von Brasher. Seltsame Zeichen tauchten auf Brashers Haut auf - sie sahen denen auf der Oberfläche des anderen Dinges sehr ähnlich. Brasher schloß die Augen. Sein Kopf begann zu schmerzen. Für ihn bestand die Welt nur noch aus Dingen, die er nicht begriff und für die er keinen Namen wußte. Er fühlte sich überfordert. »Du wirst immer wieder diese Zeichen mit denen auf der Uhr vergleichen«, bestimmte der Ligride. »Als erstes werden die Zeichen ganz links gleich aussehen, dann beide Zeichen links. Dann kommt das dritte dazu, schließlich wird auch das vierte Zeichen genau gleich aussehen. Hast du das begriffen?« Brasher nickte hilflos. »Wir werden euch nachher an einen Ort bringen. Dort werdet ihr warten, bis die Zeichen gleich
sind.« Brasher hatte inzwischen begriffen, daß das Ding an seinem Handgelenk etwas Ähnliches tat wie die Tropfuhren, mit denen im Tal die Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in gleiche Stücke aufgeteilt wurde. »Ihr werdet dann zu einem Haus gehen, von dem ich euch ein Bild zeigen werde. Man wird euch öffnen. Es werden Jomoner wie ihr sein, die euch aufmachen. Ihr werdet sagen, ihr hättet ein Geschenk für den Edlen Hellenker. Kannst du dir den Namen merken?« »Der Edle Hellenker«, wiederholte Brasher, ohne zu zögern. »Nicht übel für einen Bauerntölpel«, sagte der Ligride. »Mehr habt ihr nicht zu tun«, fuhr der Ligride fort. »Ein Diener von uns wird euch ans Ziel bringen. Wenn ihr das Geschenk abgeliefert habt, bringt euch der Diener zu euren Leuten zurück.« Wenn das keine Schurkerei war, wollte Brasher nicht länger ein Jomoner sein. Für wie dumm hielten die Ligriden ihn eigentlich? »Zum Zeichen unseres Vertrauens werden wir auch euch etwas schenken. Nehmt diese Waffen.« Brasher war überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. Waffen von den Ligriden? Es war so. Für jeden der drei gab es ein Schwert, prachtvolle Waffen, wie sie sonst nur ein Reiterführer oder Fürst besaß, dazu einen Dolch für jeden und ein paar metallene Schienen, die den Unterarm schützten. Brasher hatte Mühe, nicht in einen Schrei der Überraschung auszubrechen, als er sowohl auf den Waffen wie auf den Schienen eine Zeichnung entdeckte. Sie stellte eine Faust dar, die ein Schwert hielt – eine Jomoner-Faust, wie Brasher sehen konnte: sie hatte fünf Finger. »Diese Geschenke sollen euch entschädigen für das, was Gavran euch angetan hat«, verkündete der Ligride. Es war der gleiche, der Gavran getötet hatte, und seine plötzliche Großzügigkeit paßte wenig zusammen mit der Gnadenlosigkeit, mit der er Gavran getötet hatte. Langsam klärten sich Brashers Sinne. Die Ligriden hatten irgend etwas ausgeheckt, und das war gewiß nicht von Vorteil für ihn, Gjoph und Plodar. Gjoph verhielt sich nach wie vor still, während Plodar sein Entzücken über die kostbaren Waffen nicht verhehlen konnte. »Und dies ist das Geschenk für den Edlen Hellenker«, sagte der Ligride. Er drückte Brasher einen kunstvoll verzierten metallenen Kasten in die Hand, unverkennbar eine jomonische Arbeit. Brasher hatte solches Metall noch nie in der Hand gehalten, aber er wußte, daß es Gold sein mußte. »So, und nun geht. Wir wünschen euch den Segen der Sternengötter.« Die Schroffheit, mit der die Ligriden die Jomoner abfertigten, sprach ihrer vorher gezeigten Freundlichkeit Hohn. Der Diener, der sie befördern sollte, entpuppte sich als ein schreckerregendes Geschöpf aus Metall, fast noch scheußlicher anzusehen als seine Herren. Ein Gleiter, erheblich kleiner als das erste Fluggerät, trug die Jomoner durch die Lüfte, über die Häuser der Stadt hinweg. Der Gleiter war nicht mehr als eine oben offene Schale, und der Flug schlug Plodar so auf den Magen, daß er sich übergeben mußte. Ungerührt flog der schweigende Metalldiener über Jompol hinweg. Sein Ziel war ein Haus, das Brasher an Burg Gorm erinnerte – dieses Haus war noch größer und entschieden prunkvoller in einem riesigen Park gelegen. Am Rand des Parks hielt der Gleiter an, die drei Jomoner stiegen mit wackligen Beinen aus. Immer wieder hatte Brasher während des Fluges auf das Ding an seinem Handgelenk gesehen, und ein paarmal hatte er einen heftigen Schreck bekommen. Immer wieder, sehr schnell hintereinander,
war das rechte Zeichen mit dem auf seinem Arm gleich gewesen, etwas seltener auch das zweite von rechts. Brasher begriff das nicht, und seine Verwirrung wuchs immer mehr. Plötzlich war dann das zweite Zeichen von links richtig und die beiden rechten falsch, und als dann das äußerste rechte und das zweite von links so aussahen, wie die Zeichen auf seinem Arm verlor er völlig die Übersicht. »Was willst du tun?« fragte Gjoph verwundert, als Brasher sich in Bewegung setzte. Auch er hatte die verwirrenden Veränderungen verfolgt und nichts davon begriffen. »Die Zeichen sind noch nicht gleich.« »Die beiden Himmelsgötter sind nicht unsere Freunde«, sagte Brasher energisch. »Sie haben übles im Sinn, mit uns und vielleicht auch mit anderen. Ich will jetzt endlich wissen, woran wir sind.« »Sie werden uns furchtbar bestrafen, wenn wir ihrem Willen nicht gehorchen«, stieß Plodar hervor. »Du hast doch gesehen, was sie alles haben und machen können.« »Denk an Gavrans Tod«, sagte Gjoph beschwörend. »Genau das tue ich«, stieß Brasher hervor. »Kommt mit.« Der Metalldiener der beiden Ligriden hatte sich mit dem Gleiter entfernt, und Brasher war nicht entgangen, daß er sich förmlich versteckt hatte. Auch das mußte etwas zu bedeuten haben. Energisch setzte er sich in Bewegung. Er spazierte einen langen Weg entlang, durch eine Landschaft, in der es kein Unterholz und kein Gestrüpp zu geben schien, nur Blumen und blühende, sorgfältig zurechtgeschnittene Sträucher. Unbehelligt konnte Brasher mit seinen Gefährten bis zum Haus vordringen. Offenbar hatte man das Kommen der drei bemerkt. Zwei hochnäsige Jomoner in seltsamer, völlig gleicher Kleidung erwarteten sie bereits. »Landleute«, sagte einer der beiden herablassend. »Man kann es sogar riechen.« Brasher warf einen Blick auf das Zeichending an seinem Handgelenk. Jetzt waren plötzlich alle drei Zeichen von links richtig, nur das rechte stimmte nicht. »Wir sollen dieses Geschenk für den Edlen Hellenker überbringen«, sagte Brasher so freundlich wie möglich. * Hellenker versuchte sich zu entspannen. Ohne innere Sammlung und Gelassenheit war nicht daran zu denken, ein wirkliches Kunstwerk hervorzubringen. Langsam ließ er seinen Blick über die Gerätschaften schweifen. Alles lag am rechten Platz – Pinsel, Tuschstein, Wasserschale, Leinwand. Das Werkzeug war fertig, nur der Künstler noch nicht. Hellenker versuchte die wenigen Geräusche zu vergessen, die von der Außenwelt in sein Zimmer drangen. Er liebte es, bei offenen Fenstern zu malen. Mit zunehmender Beiläufigkeit ließ er die Geräusche an seinem Bewußtsein vorbeiströmen – das leise Wehen des Windes, das sanfte Blätterrauschen aus dem Park, das ferne Dröhnen eines startenden Raumschiffs… Hellenker richtete sich auf. Für diesen Tag war kein Raumschiffstart vorgesehen, schon gar nicht der Start einer kleinen Flotte, worauf der immer stärker werdende Lärm hindeutete. Hellenker griff zum Schalter des Kommunikators und stellte eine Verbindung zum Raumhafen her. Der diensthabende Offizier wirkte sichtlich verwundert, als er Hellenkers grimmige Miene entdeckte.
»Wer startet da?« fragte Hellenker ohne Umschweife. »Die Offiziere Drasthor und Drastim«, antwortete der Diensthabende. »Mit insgesamt acht Einheiten.« Hellenker stieß eine Verwünschung aus. Diese Eigenmächtigkeit der beiden war unerhört. Keinesfalls durfte er das ungestraft durchgehen lassen. »Ist das Ziel bekannt?« fragte er. Das Gesicht des Diensthabenden verfärbte sich. Aus Hellenkers barscher Frage ließ sich mühelos ablesen, daß der Start ohne seine Genehmigung durchgeführt worden war – und das konnte auch für den Offizier am Raumhafen peinlich werden. Immerhin hatte er die Startbefehle zu prüfen. »Die Koordinaten sind bekannt«, sagte der Offizier eilig. »Ich will, daß mein Flaggschiff schnellstmöglich startklar gemacht wird. Ich komme sofort zum Hafen.« Hellenker trennte die Verbindung. Eilig streifte er sich den weiten Umhang über, der ihn schon von weitem als Anhänger der Gward-Schule kenntlich machte. Hellenker eilte die wenigen Stufen hinunter zum Portal. »Was geht hier vor?« fragte er rauh. Ein paar Jomoner standen ratlos im Eingang, von zwei Jomonern des Personals flankiert. »Sie behaupten, sie hätten ein Geschenk für dich«, antwortete einer der Diener. Hellenker hörte den Satz gar nicht. Er sah nur das seltsame Zeichen auf der Armschiene des vordersten Jomoners - ein Schwert in einer Jomonerfaust. Hellenker wußte sofort – das war das Zeichen einer Untergrundorganisation. »Weg mit dem Geschenk!« rief er schnell. »Und nehmt die Burschen fest.« Ein Attentat, vermutlich mit einem Sprengkörper, durchfuhr es Hellenker. Der vorderste der fremden Jomoner schien als erster zu begreifen, daß es ihm an den Kragen ging. Er machte einen Satz und suchte das Weite. Der kleinere der beiden Verbliebenen wurde von den Dienern festgehalten, der massige dritte Jomoner blieb wie angewurzelt stehen. Die Bombe. Bis er den stupiden Dienern klargemacht hatte, worum es ging, konnte es schon zu spät sein. Hellenker rannte los. Er packte den Metallkasten, den der vorderste Jomoner bei seiner Flucht hatte fallen lassen, und schleuderte ihn so weit wie möglich in den Garten hinaus. Dann ein Griff zum Schalter neben der Tür – das Schirmfeld legte sich um Hellenkers Unterkunft. Keinen Augenblick zu früh – eine furchtbare Detonation schickte ihre Energie gegen den Schirm. Der Boden erbebte, und das Leuchten der Explosion ließ Hellenker für einen Augenblick halbblind werden. In seinen Ohren dröhnte der Lärm der Detonation. Die Diener hatten vor Schreck ihre Gefangenen losgelassen. Der Klobige blieb offenen Mundes stehen, während der andere ins Innere des Hauses entkommen wollte. Hellenker griff zur Waffe und streckte den Flüchtenden mit einem Betäubungsschuß nieder. »Wer hat euch das befohlen?« fragte Hellenker den stämmigen Jomoner. Der Translator gab erst einmal ein paar seltsame Laute von sich, bevor er mit dem Gestammel des Jomoners zurechtkam. »Das hat niemand befohlen«, sagte der Jomoner. Hellenker verstand inzwischen von der spezifischen Mimik der Jomoner genug, um zu sehen, daß sein Gegenüber völlig erschüttert war. Hellenker überlegte eilig. Die Wucht der Detonation war so groß gewesen, daß sie das Haus in Stücke gerissen hätte, hätte sich die Energie im Innern entfalten können. Die Attentäter wären diesem heimtückischen Anschlag ebenfalls zum Opfer gefallen – eine skrupellose Methode,
unbequeme Zeugen aus der Welt zu schaffen. »Wer hat euch das Paket gegeben und euch befohlen, es hierher zu bringen.« »Die Götter des Himmels, zwei von ihnen«, stotterte der verwirrte Jomoner. Mit Himmelsgöttern, das wußte Hellenker, waren Ligriden gemeint. »Zwei?« Der Jomoner machte ein Zeichen der Bejahung. »Sie sahen aber aus wie einer«, fuhr er fort. Hellenker blieb wie erstarrt stehen. Für ihn gab es nur eine glaubwürdige Interpretation dieser Aussage – es mußte sich um die Zwillinge handeln. »Laßt die beiden einsperren«, befahl Hellenker seinen jomonischen Dienern. Von heute an wollte er nur noch von Ligriden oder Robots bedient werden, die Jomoner waren zu unsicher geworden. »Und leitet meine Anweisung weiter – die Gefangenen sind schärfstens zu bewachen. Ich will sie bei meiner Rückkehr lebend antreffen.« Vorsichtshalber gab Hellenker den gleichen Befehl noch über Funk an die nächste ligridische Wachstation weiter. »Zum Raumhafen«, befahl er. Während der Gleiter sich in Bewegung setzte, nahm sich Hellenker vor, die Zwillinge zur Rede zu stellen. Wahrscheinlich würde sich die Verbindung zu dem Attentat nicht beweisen lassen – die Jomoner würden vor einem ordentlichen Gericht niemals als ernsthafte Zeugen anerkannt werden – aber der nicht genehmigte Start reichte völlig aus, um die beiden zu ruinieren.
10. Dharys stieß eine Verwünschung aus. Was hatten Ligridenschiffe hier zu suchen? Acht Einheiten waren unvermittelt im System erschienen. Eine Routinepatrouille? Dharys mußte sich konzentrieren. Noch gab er nicht auf. Sein Blick pendelte hin und her – von einem kleinen Monitor, auf dem er die Unterhaltung zwischen Atlan, Chipol und dem Schiff STERNSCHNUPPE verfolgen konnte hinüber zur Energieortung, wo einigermaßen deutlich die ligridische Flotte zu sehen war. Kein Zweifel, die Ligriden waren zielsicher hierher geflogen. Die Schiffe schwärmten aus, offenbar suchten sie nach etwas. Dharys bezähmte mit Mühe seine Erregung. Ein furchtbarer Verdacht war in ihm aufgekeimt. Er wußte, daß Atlan nicht nur von dem Erleuchteten gesucht wurde. Auch die Ligriden waren hinter ihm her. Daß der Erleuchtete mitunter sehr eigenwillige Entscheidung traf, war Dharys auch bekannt. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand. Es gab nur ein Wesen in dieser Galaxis, das wissen konnte, wo Atlan und Dharys steckten – der Erleuchtete. Jetzt saß auch Dharys in der Falle - wahrscheinlich war das vom Erleuchteten sogar so geplant gewesen. Dharys mißtrauend, hatte er ihm nicht nur den schändlichen Finder auf den Hals gehetzt, sondern auch dafür gesorgt, daß eine stärkere Macht das Konzept des Handelns übernahm, sobald Atlan aufgespürt war. Die Ligriden schienen allerdings nicht genau zu wissen, wo Atlan steckte. Sie hatten inzwischen den Materiering erreicht und feuerten blindlings in das Trümmergewirr hinein. Dharys schüttelte den Kopf. Diese Strategie versprach keinerlei Erfolg. Dann aber entdeckte er etwas, daß ihm mit einem Schlag klar machte, wie rabiat die Ligriden gegen Atlan vorgehen wollten. Sie waren allen Ernstes dabei, in dem Materiegürtel einen unlöschbaren Atombrand anzulegen. Dieser Bedrohung hatten weder Atlan noch Dharys etwas entgegenzusetzen. Dharys warf einen Blick auf den Funkverkehr zwischen Atlan und der STERNSCHNUPPE. Was er las, erfüllte ihn mit noch größerem Entsetzen. Die Besatzung des Raumschiffs geriet in Panik – oder das Raumschiff selbst? Der Funkverkehr ließ da keine exakten Angaben zu. Das Schiff wurde auf den Energietastern sichtbar. Es beschleunigte mit höchstmöglichen Werten, hatte die Schirmfelder auf höchste Belastung eingestellt – und war damit auch ohne besondere Tricks anpeilbar geworden. Werde von STERNSCHNUPPE überwältigt, konnte Dharys lesen. Kontrolle des Schiffes nicht mehr mög… Der Funkkontakt war abgebrochen worden. Die STERNSCHNUPPE sendete nicht mehr. Aber das Schiff flog noch. Es tauchte aus dem Trümmergewirr auf, suchte sein Heil in der Flucht. Dharys hielt den Atem an. Waren Atlan und sein Sohn noch rechtzeitig an Bord gekommen? Nein, lautete Dharys Analyse. Dann wäre der letzte Funkspruch von der STERNSCHNUPPE sinnlos gewesen, er hätte keinen Adressaten gehabt. Das konnte nur eines bedeuten - Chipol und Atlan trieben in raumfesten Anzügen in dem Trümmergewirr herum. Der Atombrand hatte inzwischen gezündet und begann sich vorwärtszufressen. Es konnte noch sehr lange dauern, bis er Chipols Standort erreichte – bis dahin war Dharys’ Sohn längst an Sauerstoffmangel jämmerlich zugrunde gegangen.
Dharys schluckte heftig. Der Übermacht der Ligriden hatte er nichts entgegenzusetzen. Zum Glück kamen ihm, vermutlich ungewollt, die Ligriden zu Hilfe – ihre Schiffe nahmen Fahrt auf und begannen die STERNSCHNUPPE zu verfolgen. Wahrscheinlich hatten sie nicht mitbekommen, daß zwei Besatzungsmitglieder der STERNSCHNUPPE das Schiff verlassen hatten. Das gab Dharys eine Chance, wenn auch eine sehr kleine. Er ließ die LJAKJAR Fahrt aufnehmen – sehr behutsam, um die Ligriden nicht vor der Zeit aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich würde es eine Angelegenheit werden, in der es auf Sekundenbruchteile ankam. Dharys hatte einen Plan. Er wollte sich langsam an Chipols Zufluchtsort heranarbeiten und dabei sorgfältig darauf achten, daß er von den Ligriden nicht bemerkt wurde. Das kostete zwar entsetzlich viel Zeit, war aber sicherer. Daß sein Sohn in diesen Stunden furchtbare Ängste auszustehen hatte, nahm Dharys in Kauf. Chipol war alt und erfahren genug, um etwas auszuhalten. Unwillkürlich flog ein Lächeln über Dharys Gesicht, als ihm bewußt wurde, wieviel Zutrauen er zu seinem Sohn hatte. Und dann – blitzschnell vorstoßen, Chipol an Bord nehmen… Dharys unterbrach seine Gedanken. Die langen Stunden in der Leere des Raumes würden sowohl für Atlan als auch für Chipol grauenvoll werden. Irgendwann würden sie dann das herannahende Schiff bemerken, neue Hoffnung schöpfen… Dharys schüttelte den Kopf. Nein, unmöglich konnte er bei diesem Manöver Atlan, wie befohlen, ausschalten. Chipol hätte ihm diese Barbarei niemals verziehen. Einen Gegner zu stellen und im Kampf zu töten war eine Sache; ihn in Todesnot allein zu lassen oder gar zu töten, eine ganz andere. Dharys wußte, daß der Erleuchtete in diesem Punkt ganz anders dachte. Dharys würde sich den Zorn des Erleuchteten zuziehen, wenn er Atlan mit an Bord nahm – aber das war Dharys in diesem Augenblick gleichgültig. Ein paar Sekunden lang dachte Dharys an den Finder. Ob er das schurkische Geschäft im Auftrag des Erleuchteten übernehmen würde? Dharys hielt das für durchaus möglich. Und Chipol? Welche Befehle hatte der pulsierende Geist des Schnüfflers an Bord, die Chipol betrafen? Dharys hatte nicht die leiseste Ahnung. Er hatte auch keine andere Wahl – er mußte es versuchen und jedes Risiko in Kauf nehmen. Die LJAKJAR bewegte sich langsam durch den Raum. Noch immer jagten die Ligriden hinter der STERNSCHNUPPE her. Das flüchtige Schiff war nicht sonderlich schnell. Die Ligriden würden es mit Gewißheit einfangen. Auf der anderen Seite aber war die Geschwindigkeit der STERNSCHNUPPE hoch genug, um eine sehr langwierige Verfolgung möglich zu machen – und das vergrößerte die Chancen von Dharys, auch die von Atlan und Chipol. Es war nur eine Frage der Zeit – und der Nerven. * Hellenker behielt äußerlich die Ruhe, wie es sich für einen Ligriden seines Ranges gebührte. Innerlich aber brodelte es in ihm. Der Verrat der Zwillinge war ungeheuerlich; Hellenker konnte sich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, daß Untergebene einem Vorgesetzten nach dem Leben getrachtet hatten. Der Fall war
beispiellos, und beispiellos würde auch die Bestrafung sein, wenn es Hellenker gelang, den Anschlag nachzuweisen. Die Sache hatte allerdings einen entscheidenden Haken. Die Karriere der Zwillinge war bisher steil und glänzend gewesen, in ihren dienstlichen Beurteilungen gab es nicht den kleinsten Makel. Wenn zwei bislang untadelige Offiziere zu solchen Mitteln gegen einen Vorgesetzten griffen, dann warf das auch ein bezeichnendes Licht auf den Vorgesetzten. Hellenker konnte sich in die zu erwartenden Richter gut hineindenken. Der Verdacht allein, das Gerücht einer Verfehlung genügten bereits, um auch Hellenkers Ruf zu schädigen - vielleicht sogar in einem Ausmaß, das nicht zu reparieren war. Hellenker ging in der Zentrale seines Flaggschiffs auf und ab. Er tat das mit einem freundlichen Lächeln und langsamen, gleichmäßigen Bewegungen. Von den Offizieren in der Zentrale konnte niemand etwas von den Kämpfen ahnen, die Hellenker in seinem Innern ausfocht. Es gab natürlich eine Möglichkeit, den Zwillingen ein tödliches Bein zu stellen. Eine öffentliche Anklage, dann ein wirkungsvoller Selbstmord von Hellenker diese Tat tilgte jeden Makel und stempelte die Zwillinge so ab, daß sie keinen Helm mehr tragen durften. Wenn sie danach nicht als Verfemte in der ligridischen Gesellschaft leben wollten, blieb ihnen keine andere Wahl, als Hellenkers Beispiel zu folgen. Eine Rache, dachte Hellenker, die wegen ihrer Finesse jeden Ästheten entzückte – allerdings wurde ihm auch sofort bewußt, daß er von einem so feinsinnigen Manöver zur Tötung eines Feindes lieber in den Nachrufen eines anderen gelesen hätte. Hellenker war durchaus ein Ligride von ausgeprägtem Ehrbewußtsein, aber so weit ging sein Gefühl dafür nicht, daß er sich deswegen selbst geopfert hätte. Hellenker warf einen Blick auf die Schirme. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis das System erreicht war, das die Zwillinge angeflogen hatten. Es wurde Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Den Vorfall einfach zu vergessen, kam nicht in Frage. Dadurch hätte sich Hellenker in die Hände der Zwillinge gegeben, und die hätten das weidlich auszunutzen gewußt. Hellenker begann zu lächeln. Er konnte abwarten. Erst wollte er sehen, was die beiden entdeckt hatten. War das Unternehmen ein Erfolg, konnte er sich den selbst zuschreiben - die Zwillinge würden es kaum wagen, ihre Eigenmächtigkeit publik zu machen. War das Unternehmen ein Reinfall – wie auch das Attentat -, hatten die Zwillinge wahrscheinlich einige Zeit daran zu verdauen, Zeit, die Hellenker dazu nutzen konnte, den Zwillingen seinerseits eine Falle zu stellen. Ja, so wollte er vorgehen – und es würde ihm ein besonderes Vergnügen sein, den Zwillingen deutlich zu machen, daß eine Gward-Schulung dem Gwyn-Unfug haushoch überlegen war. Das Flaggschiff tauchte in den Normalraum zurück. Hellenker warf einen Blick auf den Panoramaschirm. Er hatte sich kurz nach dem Abflug alle Daten über das Zielsystem geben lassen. Die Koordinaten waren in Unterlagen enthalten gewesen, die die Ligriden bei ihrem Eindringen in Manam-Turu erbeutet hatten. Danach wurde das System »Ring der Hybris« genannt, ohne daß es eine weitere Erklärung dafür gegeben hätte. Vielleicht eine uralte Sternfahrersaga, die dann restlos in Vergessenheit geraten war, so daß nur der Name des Systems übriggeblieben war. Und der Name paßte. Der Ring war deutlich zu erkennen, ebenso wie die Tatsache, daß ein Atombrand ihn erfaßt hatte. Das war vermutlich das Werk der Zwillinge.
»Flotte setzt sich ab«, wurde von der Ortung gemeldet. »Waaas?« fragte Hellenker verblüfft. Wollten die Zwillinge vielleicht gar desertieren? »Korrektur«, klang es zurück. »Flotte verfolgt unidentifizierte flüchtige Einheit.« Hellenker lächelte boshaft. Den Spaß würde er den Zwillingen verderben. »Funkspruch an Führung der Flotte. Verfolgung abbrechen, zum System zurückkehren.« Mit stiller Freude verfolgte Hellenker, wie der Spruch abgeschickt wurde. Jetzt konnten die Zwillinge entweder den Befehl offen verweigern – was auf sofortige Exekution hinauslief – oder umkehren, ohne auch nur den geringsten Erfolg erzielt zu haben. Das würde sie zum wenigsten gewaltig ärgern. »Ortung. Weiteres Fremdschiff entdeckt.« »Darstellung!« verlangte Hellenker schnell. Die Projektion war nicht sehr deutlich. Das fremde Schiff schlängelte sich durch die Randbereiche des Materiegürtels und war daher nur verschwommen anzumessen. »Verfolgung einleiten«, befahl Hellenker nach kurzem Nachdenken. »Sobald als möglich Feuer eröffnen. Das Schiff soll manövrierunfähig gemacht werden, es darf keinen Totalschaden geben. Ich will die Besatzung verhören.« »Verfolgung abgebrochen«, meldete die Ortung. »Verband kehrt um.« Hellenkers Flaggschiff machte sich unterdessen an die Verfolgung des Fremdschiffs, das sich im System herumtrieb. Der unbekannte Pilot machte seine Sache recht geschickt, immer wieder versuchte er in den Ortungsschutz einzutauchen, den ihm die Energiewirbel des Materiegürtels lieferten. Es war augenfällig, daß er einen ganz bestimmten Punkt ansteuerte, der irgendwo tief im Innern des Materierings lag. »Fremdschiff im Feuerbereich!« Hellenkers Flaggschiff gab die ersten Schüsse ab. Der fremde Pilot versuchte auszuweichen, aber die Ortung hatte ihn jetzt präzise erfaßt. »Intensität langsam steigern«, bestimmte Hellenker. Auf den Monitoren konnte er den Ablauf der Jagd verfolgen. Der Fremde hatte seine Schirmfelder aktiviert, die durch das immer stärker werdende Feuer des Flaggschiffe an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht wurden. »Treffer!« Mit einem Schlag brach das Schirmfeld des Fremden zusammen. Augenblicke später wurde das Schiff erneut getroffen und aus dem Kurs geworfen. »Gegner verläßt Schiff«, bekam Hellenker zu hören. Er machte eine Geste der Zufriedenheit. »Beiboote ausschleusen«, bestimmte Hellenker. »Und schickt auch ein paar Boote hinüber zu dem Ziel, das der Fremde gehabt hat. Sammelt ein, was ihr finden könnt. Noch einmal – ich will die Besatzung lebend.« Hellenker war zufrieden. Den Plan der Zwillinge hatte er vereitelt – jetzt war er gespannt darauf, wer sich im »Ring der Hybris« versteckt hatte - und warum… ENDE
Auch der Atlan-Band der nächsten Woche behandelt das Hauptthema JOMON. Peter Terrid schildert, wie das Schicksal einer Welt sich entscheidet. Sein Roman erscheint unter dem Titel: DER RETTER VON JOMON.