Mitten im Krieg spielen zwei Kinder Krieg – das einzige Grundstück, das in dem stillen englischen Villenvorort von ei ...
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Mitten im Krieg spielen zwei Kinder Krieg – das einzige Grundstück, das in dem stillen englischen Villenvorort von ei ner Bombe getroffen wurde, bietet Keith und Stephen ein ideales Versteck. Von hier aus versuchen sie, die trügerische Ordnung der bürgerlichen Welt zu entlarven: im scheinbar harmlosen Nachbarn erkennen sie einen vielfachen Mörder, der Boden unter ihren Füßen, da von sind sie überzeugt, wimmelt von Geheimgängen, und finstere Gestalten gehen ein und aus in einem Haus, das auch bei Tag immer verdunkelt bleibt. Und dann stellt Keith fest, daß seine Mutter eine deutsche Spionin ist. Die beiden Jungen beschatten sie von nun an auf Schritt und Tritt, aber während Keith ganz in seinen kindlichpubertären Phantasievorstellun gen verstrickt bleibt, merkt der schüchterne Stephen, daß sie mit ihrem Detektivspiel Dinge in Gang gesetzt haben, die nach einer Weile außer Kontrolle ge raten und eine unheimliche Eigendynamik entwickeln. Keith’ schöne, kultivierte, immer so beherrschte Mutter hat nämlich tatsächlich etwas zu verbergen, und Stephen, verängstigt, hilflos, isoliert, ahnt zwar, was es sein könnte, und tut doch mit schrecklicher Unausweichlich keit immer wieder das Falsche.
Michael Frayn
Das Spionagespiel
Roman Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Carl Hanser Verlag
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2002
unter dem Titel Spies bei Faber and Faber in London.
ISBN 3-446-20455-5
© Michael Frayn 2002
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2004
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
1
Die dritte Juniwoche, und da ist er wieder, dieser fast peinlich vertraute süßliche Hauch, der sich alljährlich um diese Zeit bemerkbar macht. Ich registriere ihn in der warmen Abendluft, wenn ich an den gepflegten Gärten in meiner ruhigen Straße vorbeigehe, und für einen Moment bin ich wieder ein Kind und alles liegt vor mir – all die ängstigenden, halb verstandenen Versprechungen des Lebens. Er muß aus einem der Gärten kommen. Aber wel chem? Ich kann es nicht erkennen. Und was ist es? Es ist nicht die herzzerreißend zarte Süße blühender Linden, für die diese Stadt bekannt ist, und auch nicht das heitere Sommerglück von Geißblatt. Es ist etwas ziemlich Intensives und Aufdringliches. Es riecht unangenehm, fast ein wenig obszön. Und es irritiert mich, wie immer. Ich empfinde – ja was? Unruhe. Eine Sehnsucht, hinter dem Wäldchen am Ende der Straße zu sein, weit weg. Aber gleichzeitig eine Art Heimweh nach dem Ort, wo ich gerade bin. Ist das möglich? Ich habe das Gefühl, daß es irgend wo noch etwas Ungelöstes gibt, daß ein Geheimnis in der Luft liegt, das seiner Enthüllung harrt. Wieder eine Andeutung dieses Geruchs im leichten Sommerwind, und dann weiß ich, daß es meine Kindheit ist, nach der ich mich zurücksehne. Das Haus, nach dem ich Heimweh habe, existiert ja viel 7
leicht noch. Jeden Sommer, Ende Juni, wenn dieser süße Duft kommt, stelle ich fest, daß es billige Flüge in dieses ferne, nahe Land gibt. Zweimal greife ich zum Hörer, um zu buchen, zweimal lege ich wieder auf. Du kannst nicht zurück, das weiß jeder … Ich werde also nie zurückkehren? Ist das meine Entschei dung? Ich werde alt. Wer weiß, vielleicht ist dieses Jahr die letzte Gelegenheit … Aber was ist es, das so schrecklich irritierend in der Sommerluft liegt? Wenn ich nur wüßte, wie diese ge heimnisvolle Blüte heißt, wenn ich sie nur sehen könnte, vielleicht wäre mir dann klar, woher ihre Kraft rührt. Plötzlich registriere ich den Duft, wäh rend ich meine Tochter und ihre beiden kleinen Kin der nach ihrem wöchentlichen Besuch zum Auto be gleite. Ich lege ihr eine Hand auf den Arm. Sie kennt sich aus mit Pflanzen und in Gartenfragen. »Riechst du das? Da … jetzt … Was ist das?« Sie schnuppert. »Die Kiefern«, sagt sie. Im sandi gen Boden stehen hohe Kiefern, die den bescheide nen Häusern Schutz vor der Sommersonne bieten und unserer berühmten guten Luft eine belebende Frische verleihen. Der Geruch, der sich so listig auf drängt, hat aber nichts Sauberes oder Würziges. Meine Tochter rümpft die Nase. »Oder meinst du diesen … ein bißchen ordinären Geruch?« sagt sie. Ich lache. Sie hat recht. Der Geruch ist wirklich ein bißchen ordinär. »Liguster«, sagt sie. Liguster … Hilft mir auch nicht weiter. Den Namen habe ich natürlich schon gehört, aber es entsteht kein Bild in mir und keine Erklärung der Macht, die dieser Geruch über mich hat. »Es ist ein Strauch«, sagt meine Tochter. »Ziemlich verbreitet. Hast du in den Grün 8
anlagen bestimmt schon gesehen. Sieht sehr langweilig aus. Erinnert mich immer an deprimierende, verregne te Sonntagnachmittage.« Liguster … Nein. Und doch rührt und regt sich alles in mir, als wieder ein Hauch dieser schamlosen Aufforderung über uns hinwegweht. Liguster … Und doch flüstert er von etwas Ge heimnisvollem, etwas Dunklem und Verstörendem tief in meinem Innern, von etwas, an das ich nicht gern denken möchte … Nachts wache ich auf, das Wort läßt mir keine Ruhe. Liguster … Moment mal. Hatte meine Tochter Englisch ge sprochen, als sie dieses Wort erwähnte? Ich hole mir das Wörterbuch … Nein. Und als ich sehe, was es auf englisch heißt, muß ich wieder lachen. Natürlich! Ganz klar! Diesmal lache ich auch aus Verlegenheit, weil ein professioneller Übersetzer bei einem so sim plen Wort nicht passen sollte und weil es mir – nun da ich weiß, was es ist – als Auslöser derart intensiver Gefühle so lächerlich banal und unpassend erscheint. Jetzt erinnere ich mich wieder an alle möglichen Dinge. Lachen zum Beispiel. An einem Sommertag vor fast sechzig Jahren. Ich habe nie mehr daran ge dacht, aber da ist sie wieder, die Mutter meines Freundes Keith, im längst vergangenen grünen Sommerschatten, die braunen Augen funkeln, sie lacht über etwas, das Keith geschrieben hat. Jetzt ver stehe ich natürlich, warum, da ich weiß, was es war, und ich den Geruch wieder spüre, der uns umgab. Dann hört das Lachen auf. Sie sitzt weinend auf der Erde vor mir, und ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Um uns herum ist dieser süßlich betörende Geruch, unbemerkt dringt er bis in die verborgensten Winkel meines Gedächtnisses vor, um zeit meines Lebens in mir zu bleiben. 9
Keith’ Mutter. Sie muß jetzt in den Neunzigern sein. Oder tot. Wie viele der anderen wohl noch le ben? Wie viele werden sich erinnern? Und Keith selbst? Ob er je an die Ereignisse jenes Sommers denkt? Es könnte sein, daß er ebenfalls tot ist. Vielleicht bin ich der einzige, der sich erinnert. Oder halbwegs erinnert. Verschiedene Dinge schießen mir blitzartig durch den Kopf, in beliebiger Reihenfolge, und sind schon wieder verschwunden. Funkenregen … Scham … Jemand, den man nicht sieht, hustet und versucht, das Husten zu unterdrücken … Ein Krug, bedeckt von einem Tuch, an dem vier blaue Glasper len hängen … Ja, und auch die Worte meines Freundes Keith, die alles überhaupt erst in Gang setzten. Oft ist es nicht ganz leicht, sich genau an die Worte zu erinnern, die jemand vor einem halben Jahrhundert gesagt hat, aber in diesem Fall ist es einfach, weil es nur so weni ge waren. Sechs, um genau zu sein. Leichthin ausge sprochen wie die allerbeiläufigste Bemerkung, leicht und schwerelos wie Seifenblasen. Und doch haben sie alles verändert. Wie das bei Worten eben ist. Und nun, da ich einmal angefangen habe, wird mir plötzlich klar, daß ich gern länger über all diese Sa chen nachdenken würde, um sie zu strukturieren, Verbindungen herzustellen. Es gab Dinge, die nie er klärt wurden. Dinge, die niemand aussprach. Es gab Geheimnisse. Jetzt möchte ich sie endlich ans Tages licht bringen. Und obwohl ich inzwischen weiß, wo her meine Unruhe rührt, spüre ich schon, daß immer etwas Ungelöstes bleiben wird. Ich sage meinen Kindern, daß ich für ein paar Tage nach London fliegen werde. 10
»Haben wir dort eine Adresse von dir?« fragt meine praktisch denkende Schwiegertochter. »Memory Lane vielleicht«, sagt mein Sohn trocken. Wir sprechen jetzt Englisch miteinander. Er spürt meine Unruhe. »Genau«, antworte ich. »Das letzte Haus vor der verrückten Kurve, wo dann die Amnesie-Allee an fängt.« Ich erwähne nicht, daß ich einem Strauch auf der Spur bin, der im Sommer ein paar Wochen blüht und mir den Seelenfrieden raubt. Ich erwähne schon gar nicht, wie dieser Strauch heißt. Ich mag selbst kaum daran denken. Es ist zu absurd.
2
Alles ist wie früher, stelle ich fest, als ich mein Reise ziel erreicht habe, und alles hat sich verändert. Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit ich zuletzt an dieser kleinen Station aus Holz ausgestie gen bin, aber meine Füße tragen mich mit müheloser, traumwandlerischer Selbstverständlichkeit hinunter zu der friedlichen, nachmittäglich belebten Haupt straße, nach links zu der unordentlichen kleinen La denzeile und am Briefkasten wieder links in die ver traute Allee. Auf der Hauptstraße gibt es lauter komplizierte neue Verkehrsregelungen, die Geschäfte haben neue unpersönliche Namen und Fassaden, und aus den schmächtigen Pflaumenbäumchen, die in meiner Erinnerung die Allee säumten, sind nun weise und würdevolle Bäume geworden. Doch als ich um die Ecke biege, von der Allee in den Close … Dort ist es noch wie früher. Die gleiche altvertrau te, stille, süße, langweilige Durchschnittlichkeit. Ich stehe an der Ecke, betrachte das alles, höre es, atme es ein, kann nicht genau sagen, ob ich gerührt bin, nach all dieser Zeit wieder dazusein, oder ob es mich gleichgültig läßt. Langsam gehe ich weiter bis zu dem kleinen Wen dekreis ganz am Ende. Dieselben vierzehn Häuser, ruhig und zufrieden an diesem warmen, trägen Som mernachmittag, genau wie früher. Langsam gehe ich 13
wieder zur Ecke zurück. Alles ist noch da, genau wie früher. Ich weiß nicht, warum ich das so überra schend finde. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Trotzdem, nach fünfzig Jahren … Und während der erste Schock der Vertrautheit nachläßt, merke ich allmählich, daß überhaupt nichts so ist wie früher. Alles hat sich verändert. Die Häuser sind jetzt sauber und langweilig, ihre architektonische Vielfalt gewissermaßen homogenisiert durch neue Vorbauten und Lampen und aufgesetztes Fachwerk. In meiner Erinnerung war jedes Haus eine eigene Welt, so verschieden von den anderen wie die Men schen, die darin wohnten. Jedes Haus war, hinter sei nem Schirm von Rosen oder Geißblatt, Linden oder Buddleia, ein Mysterium. Nun sind diese üppigen Pflanzen fast überall verschwunden und durch Ab stellplätze und Autos ersetzt worden. Auch am Stra ßenrand bilden Autos geräuschlos eine Schlange. Die vierzehn einzelnen Reiche haben sich vereinigt zu einer Art gärtnerisch gestalteten Parkplatz. Alle My sterien sind gelöst. In der Luft der höfliche, interna tionale Geruch von schnellwachsenden Immergrün pflanzen. Doch von dem wilden, unanständigen Geruch, der mich hierherlockte, ist selbst an diesem Spätjunitag nicht ein Hauch geblieben. Ich schaue in den Himmel, das einzige Element jeder Landschaft und jeder Stadt, das von Generation zu Generation und von Jahrhundert zu Jahrhundert fort besteht. Doch selbst der Himmel hat sich verändert. Einmal stand dort, in einem Wirrwarr heroischer Kondensstreifen, der Krieg geschrieben. Es gab die aufgerichteten Finger der nächtlichen Scheinwerfer und die riesigen bunten Leuchtraketengebäude. Jetzt ist selbst der Himmel mild und nichtssagend geworden. 14
An der Ecke zögere ich wieder. Langsam komme ich mir ziemlich töricht vor. Habe ich diese Reise un ternommen, nur um die Straße hinauf- und hinterzu gehen und den Duft der Zypressenhecken zu riechen? Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun oder empfin den könnte. Ich bin am Ende meiner Pläne ange kommen. Und dann merke ich, daß sich die Atmosphäre um mich herum verändert, als würde die Vergangenheit aus der Luft heraus wieder Gestalt annehmen. Es dauert einen Moment, bis ich die Ursache er kenne. Es ist ein Geräusch – das Geräusch eines un sichtbaren Zuges, erst gedämpft und fern, plötzlich ganz deutlich, als er in dem Einschnitt hinter den Häusern am oberen Ende des Close auftaucht, genau wie der Zug, mit dem ich vor zwanzig Minuten ange kommen bin. Unsichtbar fährt er den Bahndamm entlang, hinter den Häusern auf der linken Straßen seite, überquert dann eine Brücke und nähert sich, langsamer werdend, dem Bahnhof. Während dieser vertrauten Abfolge von Geräu schen verändert sich vor meinen Augen das ganze Er scheinungsbild des Close. Das Haus links an der Ecke, vor dem ich stehe, gehört nun den Sheldons, das Haus gegenüber den Hardiments. Jetzt höre ich noch ande re Geräusche. Das endlose Klappern von Mr. Shel dons unsichtbarer Gartenschere hinter der hohen Buchenhecke, die inzwischen verschwunden ist. Die endlosen Tonleitern, die die blassen Kinder der Har diments in dunklen Räumen hinter dem Schirm aus hübsch miteinander verwachsenen Linden (noch vor handen) spielten. Ich weiß, wenn ich den Kopf zur Seite drehe, werde ich weiter unten die beiden GeestZwillinge bei einem komplizierten Himmel-und 15
Hölle-Spiel sehen, die identischen Pferdeschwänze identisch wippend … und auf der Zufahrt der Averys ein ölverschmiertes Knäuel aus Charlie und Dave und den Einzelteilen eines zerlegten Dreirads … Aber im Moment richte ich den Blick natürlich auf Nr. 2, das Haus neben den Hardiments. Selbst dieses Haus ähnelt sonderbarerweise all den anderen, ob wohl es mit Nr. 3 verbunden ist – das einzige Dop pelhaus hier im Close. Inzwischen hat es offenbar ei nen Namen: Wentworth. Als ich darin wohnte, hatte es nur eine Nummer, und auch das kaum, denn das Namensschild am Gartentor war mit Teerfarbe über strichen. Aber trotz des grandiosen neuen Namens und der frisch verputzten Fassade und der strikten Herrschaft, die Steinplatten und ein unpersönlich wir kender Rasen über den Vorgarten ausüben, strahlt das Haus noch immer eine gewisse Verlegenheit aus. Un ter dem glatten weißen Putz glaube ich fast das alte, rissige, wasserfleckige Grau sehen zu können. Aus den Fugen der schweren Steinplatten sprießen die Geister wilder unbekannter Sträucher, um die mein Vater sich nie kümmerte, und das kleine kahle Rasenstück. Unsere Haushälfte wurde noch unansehnlicher durch die andere Hälfte, die in einem noch schlimmeren Zustand war, weil der Garten der Pinchers als Müll halde für ausrangierte, vom Regen verzogene Möbel und Holz- und Metallreste diente, die Mr. Pincher an seinem Arbeitsplatz gestohlen hatte. Zumindest glaubten das die Leute in der Straße. Vielleicht, den ke ich jetzt, lag das auch nur an seinem Namen. Je denfalls waren die Pinchers die unerwünschten Ele mente im Viertel – noch weniger erwünscht als wir –, und wegen der furchtbaren Verbindung unserer Häu serhälften färbte das auch auf uns ab. 16
Heute kann ich das so sehen. Aber hat er das damals auch schon so gesehen? Ich meine den schüchternen Jungen, der in diesem unordentlichen Haus zwischen den Hardiments und den Pinchers wohnt – Stephen Wheatley, der mit den Segelohren und dem zu kur zen grauen Schulhemd aus Flanell, das aus den zu langen grauen Flanellshorts hängt. Ich sehe, wie er aus der verworfenen Haustür tritt und sich noch im mer einen Rest vom Nachmittagstee in den Mund stopft. Alles an ihm ist Grau, in den verschiedensten Tönen – selbst der elastische Gürtel, gestreift wie das Band eines altmodischen Strohhuts und zusammen gehalten mit einer S-förmig verschlungenen Metall schlange. Die Streifen des Gürtels sind in zwei unter schiedlichen Grautönen, denn Stephen ist ganz und gar monochrom, und zwar deswegen, weil ich ihn so in Erinnerung habe, von den alten Schwarzweißfotos her, über die meine Enkel ungläubig lachen, wenn ich ihnen erkläre, daß ich das bin. Ich bin genauso un gläubig wie sie. Ohne die Schnappschüsse würde ich nicht wissen, wie Stephen Wheatley aussieht, oder jemals ahnen, daß er und ich verwandt sind, wenn auf der Rückseite nicht der Name stünde. Aber noch jetzt spüre ich in den Fingerspitzen die zart schuppige Beschaffenheit der Schlangenhaut. Stephen Wheatley … Oder einfach Stephen … Auf den Zeugnissen S. J. Wheatley, im Klassenzimmer oder auf dem Sportplatz einfach Wheatley. Merk würdige Namen. Keiner paßt so richtig zu ihm, wenn ich ihn jetzt vor mir sehe. Er dreht sich noch einmal um, bevor er die Haustür zuwirft, und ruft mit vollem Mund irgendein unpassendes Schimpfwort als Ant wort auf eine der vielen herablassenden Bemerkungen seines unerträglichen älteren Bruders. Einer seiner 17
schmuddeligen Tennisschuhe ist nicht zugeschnürt, und ein grauer Strumpf schlängelt sich als dicker Wulst um seine Knöchel. In den Fingerspitzen spüre ich, so deutlich wie die Schuppigkeit der Schlange, das hoffnungslos ausgeleierte Gummiband des herun tergerutschten Strumpfs. Weiß er in seinem Alter eigentlich schon, welchen Ruf er in der Straße genießt? Er weiß es sehr wohl, auch wenn er nicht weiß, daß er es weiß. In seinem Innersten spürt er, daß bei ihm und seiner Familie etwas nicht ganz stimmt, daß sie nicht ganz passen zu den Geests mit ihren Pferdeschwänzen und den ölverschmierten Averys, nie ganz passen werden. Die Gartentür braucht er nicht zu öffnen, denn sie ist schon offen, hängt schief in den Angeln. Ich weiß, wohin er geht. Nicht hinüber zu Norman Stott, der ganz in Ordnung wäre, wenn nicht sein jüngerer Bruder Eddie wäre. Irgend etwas mit Eddie stimmt nicht – er hängt ständig herum, sabbert, grinst und will einen immer anfassen. Nicht zu den Averys oder den Geests. Ganz sicher nicht zu Barbara Berrill, die so listig und verräterisch ist wie die meisten Mädchen und noch unsympathischer, seit sein Bruder Geoff sich Brillantine ins Haar schmiert und in der Abend dämmerung mit Barbaras älterer Schwester Deirdre herumsteht und Zigaretten raucht. Der Vater der beiden Mädchen ist in der Armee, und alle sagen, daß die beiden es bunt treiben. Wie ich schon ahnte, überquert Stephen nun die Straße, zu sehr in Gedanken, um auf den Verkehr zu achten – allerdings gibt es mitten im Krieg auch nicht viel Verkehr, auf den er achten müßte, abgesehen von gelegentlichen Fahrrädern und den langsam dahin trottenden Pferden, die den Karren des Milchmanns 18
und des Bäckers ziehen. Stephen geht langsam, den Mund leicht geöffnet, in einem unbestimmten Tag traum verloren. Was empfinde ich bei seinem An blick? Vor allem wohl den Wunsch, ihn an den Schultern zu packen und zu schütteln, ihm zu erklä ren, er solle endlich aufwachen und nicht so … unbe friedigend sein. Ich erinnere mich, daß ich nicht der erste bin, der diesen Wunsch hat. Ich folge ihm, vorbei an Trewinnick, dem mysteriö sen Haus mit den ständig geschlossenen Verdunke lungsvorhängen und dem ungepflegten Garten hinter einem nordisch kalten und düsteren Kiefernwald. Trewinnick wirkt aber nicht schandbar wie unser Haus und das der Pinchers, von seiner düsteren Ver schlossenheit geht etwas Unheimliches aus. Niemand weiß, wie die Leute heißen, die dort wohnen, oder wie viele es sind. Ihre Gesichter sind dunkel, ihre Kleider schwarz. Sie kommen und gehen bei Dun kelheit und lassen die Vorhänge auch bei Tag ge schlossen. Stephens Ziel ist das benachbarte Haus, Nr. 9, Chollerton. Die Haywards. Er öffnet die weiße, gut geölte Gartentür und macht sie sorgfältig hinter sich zu. Er geht den mit Ziegeln gepflasterten Weg ent lang, der sich durch die Rosenbeete windet, und hebt den schmiedeeisernen Klopfer an der schweren Ei chentür. Zwei respektvolle, nicht zu laute Klopfer, gedämpft durch das solide Holz. Ich warte draußen vor dem Gartentor und studiere diskret das Haus. Es hat sich weniger verändert als die meisten anderen. Die mattroten Backsteine sind sau ber verfugt, die hölzernen Fensterrahmen, die Giebel und das Garagentor so makellos weiß wie damals, als Mr. Hayward sie in einem ebenso makellos weißen 19
Overall anstrich, unentwegt pfeifend, von morgens bis abends. Der gepflasterte Weg windet sich noch immer durch die Rosenbeete, deren Ränder so geo metrisch exakt sind wie früher. Die Haustür ist noch immer aus unlackierter Eiche und noch immer mit einem kleinen, rautenförmigen Fenster aus Drahtglas versehen. Der Name, der diskret auf dem oxydierten Kupferschild neben der Tür steht, lautet noch immer Chollerton. Hier jedenfalls ist die Vergangenheit in all ihrer Perfektion bewahrt worden. Stephen wartet vor der Tür. Jetzt erst, zu spät, be merkt er sein Äußeres. Er zieht den herunterge rutschten Strumpf hoch und beugt sich hinunter, um den einen Tennisschuh zuzuschnüren. Doch schon geht die Tür einen Spalt auf, ein Junge in Stephens Alter zeigt sich, eingerahmt von der dunklen Diele. Auch er trägt ein graues Flanellhemd und eine kurze graue Flanellhose. Sein Hemd ist allerdings nicht zu kurz, seine Hose nicht zu lang. Die grauen Strümpfe sitzen ordentlich bis knapp einen Fingerbreit unter dem Knie, und seine braunen Ledersandalen sind or dentlich zugeschnallt. Er dreht den Kopf zur Seite. Ich weiß, warum. Er hört seine Mutter fragen, wer an der Tür ist. Ste phen, antwortet er. Sie sagt, er solle ihn hereinbitten oder aber mit ihm spielen gehen, jedenfalls nicht auf der Schwelle herumstehen, nicht richtig drinnen, nicht richtig draußen. Keith macht die Tür ganz auf. Stephen säubert sei ne Schuhe rasch über dem eisernen Schuhabstreifer, dann ein zweites Mal auf der Matte im Haus, und der Strumpf mit dem lockeren Gummiband rutscht wie der herunter. Hinter ihm schließt sich die Tür. Hier fing die Geschichte an. Bei den Haywards. An 20
dem Tag, als Keith, mein bester Freund, diese sechs einfachen Wörter aussprach, die unsere Welt von Grund auf veränderten. Ich frage mich, wie es in diesem Haus inzwischen aussieht. Das erste, was man damals sah, wenn sich die Tür öffnete, war eine Flurgarderobe aus polierter Eiche, mit Kleiderbürsten, Schuhlöffeln und Haken und einem Gestell für Stöcke und Regenschirme. Und wenn man eingetreten war, dunkle Eichentäfe lung, zwei Aquarelle der Trossachs von Alfred Hol lings und zwei Porzellanteller mit blauen Pagoden und kleinen blauen Figuren mit Strohhüten auf klei nen blauen Brücken. Zwischen Wohnzimmer und Eßzimmer befand sich eine Standuhr, die alle Viertel stunde schlug, nicht ganz im Takt mit den Uhren in anderen Zimmern, so daß das Haus viermal die Stun de von einer ätherischen Musik erfüllt wurde, die nie ganz gleich klang. Und mittendrin mein Freund Keith. Das Bild ist natürlich nicht mehr monochrom, denn ich sehe jetzt die Farbe unserer Gürtel. Der von Keith, ebenfalls mit einem metallenen schlangenförmigen Verschluß, hat zwei gelbe Streifen auf schwarzem Grund, meiner dagegen zwei grüne Streifen. Das sind Farbcodes zwecks rascher sozialer Zuordnung. Gelb und Schwarz sind die Farben der richtigen Grundschule, an der jeder Schüler die Aufnahmeprüfung für eine Privatschule ablegt und besteht und jeder seinen ei genen Kricketschläger hat, seine eigenen Stiefel und Knieschützer und einen besonders langen Beutel, in den man das alles steckt. Grün und Schwarz sind die Farben der falschen Schule, deren Schüler zur Hälfte schlaksige Lümmel sind wie mein Bruder Geoff, die 21
die Aufnahmeprüfung nicht bestanden haben. Kricket spielen wir mit ramponierten Schlägern, die Eigen tum der Schule sind, und einige von uns tragen brau ne Turnschuhe und die übliche kurze graue Hose. Mir war schon damals bewußt, welch unglaubliches Glück es war, Keith zum Freund zu haben. Jetzt, als Erwachsener, erscheint es mir noch viel erstaunlicher. Nicht nur sein Gürtel, alles an ihm war Gelb und Schwarz, während alles an mir Grün und Schwarz war. Er war das Offizierskorps in unserer Zwei-MannArmee, ich war die Mannschaftsdienstgrade – und dankbar dafür. Bei all unseren Unternehmungen und Projekten war er stets der Führer, ich der Geführte. Jetzt sehe ich, daß er nur der erste in einer Reihe dominanter Figuren in meinem Leben war, deren Jünger ich wurde. Seine Autorität gründete, völlig zu Recht, auf seiner geistigen Überlegenheit und seiner größeren Phantasie. Keith war es, nicht ich, der sich die Seil bahn zwischen unseren Häusern ausgedacht hatte, mit der Botschaften hin und her gehen konnten wie Geldscheine und Münzen auf einem Ladentisch, und anschließend die erstaunliche Untergrundbahn kon struierte, die wie jenes pneumatische Geldtransport system funktionieren würde, das wir bei Expeditionen in ein nahe gelegenes Kaufhaus gesehen hatten, und mit der wir, unbemerkt von den Nachbarn, rasch und mühelos hin und her fahren konnten. Beziehungswei se fahren würden, sobald die Pläne umgesetzt waren. Keith war es, der entdeckt hatte, daß Trewinnick, das mysteriöse Nachbarhaus mit den ständig ge schlossenen Gardinen, von den Juhn bewohnt wurde, einer üblen Organisation, die offenbar hinter allen möglichen Betrügereien und Verschwörungen stand. 22
Er war es, der eines Sonntagabends am Bahndamm hinter den Häusern den geheimen Durchgang ent deckt hatte, durch den die Juhn kamen und gingen. Beziehungsweise hätte er ihn im nächsten Moment entdeckt, wenn sein Vater ihm nicht aufgetragen hät te, rechtzeitig zu Hause zu sein und seine Kricket schuhe zu reinigen, damit sie für den nächsten Schul tag parat waren. Keith und Stephen stehen also jetzt in der Diele, umgeben von der dunklen Täfelung und dem Schimmer der Silberdinge und dem feinen Ticken der Uhren, und denken sich aus, was sie an diesem Nachmittag machen wollen. Beziehungsweise Ste phen wartet darauf, daß Keith sich etwas ausdenkt. Vielleicht hat ihm der Vater die eine oder andere Ar beit im Haus aufgetragen, bei der Stephen mithelfen darf. Sein Fahrrad pflegen beispielsweise oder den Boden rings um die väterliche Werkbank in der Ga rage fegen. Besonders das Fahrrad verlangt viel Pfle ge, weil Keith jeden Tag damit in die Schule fährt und weil es ein spezielles Sportmodell ist, das mit speziellem Öl geölt und mit speziellem Reinigungs mittel gereinigt werden muß, bis der grüne Rahmen glänzt und Chromlenker und Felgen und Dreigang nabe in der Sonne funkeln. Mit dem Rad zur Schule zu fahren ist natürlich die einzig wahre Art. Mit dem Bus zu fahren, in den Stephen jeden Tag an der rissi gen Betonhaltestelle auf der Hauptstraße einsteigt, ist eindeutig die falsche Art. Grün ist die richtige Farbe für ein Fahrrad, aber die falsche für einen Gürtel oder einen Bus. Oder vielleicht gehen sie nach oben, ziehen sich in Keith’ Spielzimmer zurück. Sein Spielzimmer ist ge nauso ordentlich wie das übrige Haus. Keine blöden 23
Brüder oder Schwestern machen sich breit und brin gen alles durcheinander, wie in Stephens Familie und überall in der Nachbarschaft, wo es Kinder gibt. Keith’ Spielzeug gehört ihm ganz allein, es ist ordent lich in Schubladen und Schränken verstaut, oft noch in der Originalverpackung. All die solide gebauten Rennautos und Motorboote mit ihrem Federwerk verbreiten den wunderbar richtigen Geruch von Uhrmacheröl. Es gibt aufwendige Konstruktionen, sauber nach Anleitung zusammengebaut, mit Zahnrä dern und Sperrklinken und Schneckengetrieben, au ßerdem maßstabgetreue Modelle von Spitfires und Hurricanes, aus Bausätzen zusammengeklebt, mit Kanzeln aus Plexiglas und Tragflächen mit ausfahrba rem Fahrwerk in wunderschönem Enteneiblau. In manchen Schubladen sind batteriegetriebene Gegen stände – Taschenlampen, die in drei verschiedenen Farben leuchten, und kleine optische Instrumente, die Licht durch Linsen und Prismen werfen –, alle in funktionstüchtigem Zustand. Auf einem Bücherregal stehen Abenteuergeschichten, in denen einsame In seln kolonisiert, Doppeldecker geflogen und Ge heimgänge entdeckt werden. In einem zweiten Regal stehen Bücher, in denen zu lesen ist, wie man aus lee ren Zigarrenkisten einen Überlagerungsempfänger baut und wie man Eier in seidene Tücher verwandelt. Bei schönem Wetter und wenn sein Vater nicht ge rade den Rasen gemäht hat, spielen sie vielleicht draußen im Garten. Sie bauen eine Eisenbahn, die vom Flachland der Blumenbeete hinter der Garage hinaufführt zu den hohen Bergpässen des Luftschutz bunkers, auf spektakulären Brücken atemberaubende Schluchten überwindet, dann durch gefährliches Banditengebiet durch den Küchengarten und weiter 24
hinunter in das wichtige Industrie- und Hafengelände hinter dem Gurkenbeet führt. Beziehungsweise sie werden sie bauen, sobald Keith von seinem Vater alle erforderlichen Genehmigungen eingeholt hat. Vielleicht gehen sie auch hinaus zum Golfplatz, wo Keith ein sonderbares wildes Tier beobachtet hat, eine Art sprechenden Affen, der sich hinter dem Stechgin ster versteckt, oder zu den Kleingärten von Paradise, wo er einmal ein abgestürztes deutsches Flugzeug ge sehen hat, dessen Pilot tot im Cockpit saß. Dabei sprechen sie über ihren Plan, einen Ein-Mann-Gleit segler zu bauen, der vom Dach aus starten könnte, oder ein richtiges Auto mit richtigem Lenkrad. Den Gleitsegler und das Auto hat natürlich Keith konstru iert, aber bei der Entwicklung des Autos spielt Ste phen eine wichtige Rolle, denn es soll mit vielen alten Federwerken angetrieben werden, die nicht aus Keith’ unantastbaren Spielsachen ausgebaut, sondern aus dem reichhaltigen Vorrat an kaputten Motoren in Stephens chaotischer Spielzeugkommode geplündert werden. Ganz viele Vorhaben sind in der Planung, und ganz viele Geheimnisse müssen aufgeklärt werden. Eine Möglichkeit ist jedoch so abwegig, daß sie überhaupt nie in Betracht käme – die Vorstellung, bei Stephen zu spielen. Warum auch? Durch die uninteressanten Savannen seines Gartens fährt keine große Interkonti nentaleisenbahn, und Stephen würde nie auf die Idee kommen, andere Jungen, schon gar nicht Keith, in das Zimmer einzuladen, in dem er und Geoff nicht nur spielen, sondern auch schlafen und Hausaufgaben machen. Schon die beiden Betten sind hinderlich; bei Keith ist das Schlafzimmer ganz woanders als das Spielzimmer. Schlimmer ist, was in, auf und unter 25
den Betten liegt – ein hoffnungsloses Durcheinander aus Bindfäden und Plastilin und Verlängerungsschnü ren und vergessenen Strümpfen und Staub, alten Kar tons mit vergammelten Schmetterlingen und zerbro chenen Vogeleiern, Überreste unvollendeter alter Projekte. Ich versuche, mir das Unmögliche vorzustellen, daß Keith nämlich seine Mutter fragt, ob er bei Stephen spielen dürfe … Ich muß lachen bei dem Gedanken. Seine Mutter sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, schaut von ihrem Buch aus der Leihbücherei auf und zieht die perfekt gezupfte Augenbraue leicht in die Höhe. Was wird sie sagen? Ich weiß genau, was sie sagen wird: »Schätzchen, ich glaube, das fragst du lieber Daddy.« Und was würde Daddy sagen, wenn Keith soviel Mut und Entschlossenheit aufbrächte, auf diesem ab surden Vorschlag zu beharren? Würde er sich um drehen und ausnahmsweise einmal Stephen ansehen, voller Erstaunen über die Unverschämtheit? Natür lich nicht. Er würde auf die Frage auch nicht antwor ten. Er würde nur irgend etwas sagen wie: »Hast du schon deinen Kricketschläger eingeölt, Junge?«, und damit hätte es sich. Sie würden in die Küche gehen, sich von Mrs. Elmsley eine Zeitung geben lassen, die se auf den Boden legen und dann Keith’ Kricket schläger einölen. Heute wundert mich, daß Keith’ Eltern ihrem Sohn überhaupt erlaubt haben, unterirdische Gänge und eine Drahtseilbahn zu Stephens Haus zu bauen, Vo gelnester mit ihm zu plündern und auf Affenjagd zu gehen, Stephen einzuladen, mit seinen tadellos ge pflegten Spielsachen zu spielen und beim Reinigen seines speziellen Sportrads zu helfen. Es ist möglich, 26
daß Keith’ Vater Stephen überhaupt nicht wahrge nommen hat, während Keith’ Mutter ihn durchaus beachtete. Sie sprach ihn nicht persönlich an, sondern wandte sich kollektiv an Keith und an ihn – als »ihr beide« oder »Jungs«. »Möchtet ihr beiden ein Glas Milch?« sagte sie vielleicht am Vormittag und sah da bei Keith an. Oder: »Los, Jungs, es wird Zeit, daß ihr eure Spielsachen aufräumt.« Manchmal beauftragte sie Keith, Stephen etwas von ihr auszurichten: »Schatz, muß Stephen keine Hausaufgaben machen …? Keith, Liebes, möchtest du, daß Stephen zum Tee bleibt?« Sie sprach sanft und lächelte dabei, still amüsiert und ohne die Lippen viel zu bewegen. Einen großen Teil des Tages ruhte sie mit hochgelegten Beinen auf dem Sofa oder in ihrem Zimmer auf dem Bett, und überhaupt machte sie immer den Eindruck, als ruhe sie. Wenn sie in der Tür des Spielzimmers stand, um bekanntzugeben, daß sie Tante Dee besuchen oder einkaufen gehen wolle, fragte sie ruhig, entspannt und gelassen: »Ihr kommt zurecht, ja? Ihr könnt euch beschäftigen?« Wenn sie nicht einkaufen oder Tante Dee besuchen ging, dann ging sie zum Briefkasten. Stephen schien es, als würde sie mehrmals am Tag Briefe einwerfen. Keith’ Vater dagegen arbeitete den ganzen Tag. Nicht in einem unsichtbaren Büro, wie Stephens Va ter und all die anderen Väter, die nicht bei den Streitkräften waren, sondern im Garten, im Küchen garten und ums Haus herum. Man sah ihn unentwegt graben und düngen, zurückschneiden und stutzen, unentwegt grundieren und anstreichen, Leitungen verlegen und erneuern, die Vollkommenheit unent wegt weiter vervollkommnen. Selbst die Hühner hin ten im Garten führten ein untadelig elegantes Leben, 27
hochmütig stolzierten sie in einem weitläufigen Reich, das von einer schnurgeraden Mauer aus fun kelndem Maschendraht umgrenzt war, zogen sich dann zurück und legten saubere braune Eier in einem Stall, in dem die vertrauten Gerüche von Futter und Kot sich dezent vermischten mit dem Duft von fri schem Teeranstrich draußen und frischer Tünche im Innern. Seine Operationszentrale war jedoch die Garage. Das vordere Tor wurde nie geöffnet, aber es gab eine kleine Tür an der Seite, gegenüber der Küche, und wenn Keith seinen Vater um Erlaubnis bitten mußte, den Rasen zu betreten oder auf den Gehwegen Bahn gleise zu verlegen, konnte Stephen, hinter ihm ste hend, manchmal einen Blick in dieses wundervolle Privatreich werfen. Keith’ Vater beugte sich über ein Stück Holz oder Metall, das in dem großen Schraub stock der Werkbank eingespannt war, und feilte, sägte oder hobelte; oder er schärfte seine diversen Stechbeitel an einem rotierenden Schleifstein; oder er suchte in den hundert ordentlich aufgeräumten Schubladen und Fächern über und unter der Werk bank nach Schleifpapier einer ganz bestimmten Kör nung oder nach einer Schraube mit einem ganz be stimmten Durchmesser. Ein charakteristischer Geruch lag in der Luft. Was war es? Sicherlich Sägespäne und Maschinenöl. Vielleicht gefegter Boden. Und Auto. Auch das Auto war ein Muster an Vollkommenheit, eine kleinere Limousine, deren blitzende Chromteile in der dunklen Garage schimmerten; Karosserie und Motor waren tadellos gepflegt, damit der Wagen, wenn es nach Kriegsende wieder Benzin gab, einsatz bereit zur Verfügung stand. Manchmal waren von 28
Keith’ Vater nur die Beine zu sehen, die aus einem Lichtschein unter dem Auto hervorragten, wenn er regelmäßig die vorgeschriebenen Inspektionen ein schließlich Ölwechsel durchführte. Nur die Räder fehlten. Das Auto stand, völlig unbeweglich, auf vier sorgfältig hergerichteten Holzblöcken, damit es, wie Keith erklärte, bei einer deutschen Invasion nicht be schlagnahmt werden konnte. Die Räder hingen or dentlich an der Wand, neben einem Picknickkorb, Tennisschlägern in Holzspannern, unaufgeblasenen Luftmatratzen und Gummireifen – all dem Zubehör eines vergessenen Freizeitlebens, das, wie so vieles andere, für die Dauer des Krieges suspendiert war, dieses großen, alles überragenden Umstands, der aller Leben in der unterschiedlichsten Weise prägte. Stephen faßte sich einmal ein Herz und fragte Keith im Vertrauen, ob die Deutschen mit ihrem berüchtig ten Scharfsinn denn nicht die Räder von der Wand nehmen und anmontieren würden. Keith erklärte ihm, daß die Radmuttern in einem Geheimfach im Nachttisch seines Vaters versteckt seien, zusammen mit dem Revolver, den er als Offizier im letzten Krieg getragen hatte und mit dem er im Falle einer Invasion den Deutschen diesmal eine böse Überraschung be reiten werde. Keith’ Vater arbeitete unaufhörlich und pfiff dabei. Er pfiff unbeschwert und fröhlich wie ein Singvogel, eine unendlich komplexe, mäandernde Melodie, die nie ein Ende fand – ebensowenig wie seine Arbeit. Selten hatte er einen Augenblick Zeit, um etwas zu sagen. Wenn, dann waren es rasch hingeworfene, trockene, ungeduldige Worte. »Frisch gestrichen, die Tür«, konnte er beispielsweise zu Keith’ Mutter sa gen. Wenn er gut gelaunt war, sagte er »mein Junge« 29
zu Keith. Manchmal wurde daraus »Junge«, was schon einen befehlsmäßigen Unterton hatte: »Fahr rad in den Schuppen, Junge!« Manchmal bezeichnete er Keith aber als »Freundchen« und verzog dabei die Lippen zu etwas, das wie Lächeln aussah. »Wenn dein Flugzeug das Gewächshaus trifft, Freundchen, setzt es was«, sagte er lächelnd. Keith glaubte ihm of fenkundig. Desgleichen Stephen. Im Flur standen neben den Spazierstöcken und Regenschirmen auch ein paar Rohrstöcke. Zu Stephen sagte er nie etwas – er sah ihn nicht einmal an. Selbst wenn es Stephen war, der das Gewächshaus zu beschädigen drohte, war Keith das »Freundchen«, und es war Keith, der den Rohrstock abbekam, denn Stephen existierte nicht. Aber auch Stephen sprach nie mit ihm und sah ihn nie an, ob er nun lächelte oder nicht. Vielleicht weil er Angst hatte, oder vielleicht weil das nicht geht, wenn man nicht existiert. Keith’ Vater flößte aber noch aus anderen Gründen Respekt ein. Keith hatte einmal erzählt, daß sein Va ter im letzten Krieg fünf Deutsche getötet hatte und dafür mit einen Orden ausgezeichnet worden war. Er hatte sie mit einem Bajonett erstochen, wenn Stephen sich auch nicht traute, zu fragen, wie Keith’ Vater denn ein Bajonett an dem berühmten Revolver auf gepflanzt hatte. Allerdings existierte das Bajonett, es wippte furchteinflößend über dem khakibehosten Hintern, wenn Keith’ Vater jedes Wochenende in seiner Uniform der Home Guard loszog; allerdings ging er, wie Keith einmal erklärt hatte, genauge nommen nicht zur Home Guard, sondern zu einer speziellen Arbeit für den Geheimdienst. Die Haywards waren mustergültig. Und trotzdem tolerierten sie Stephen! Er war vermutlich der einzige 30
Mensch aus der Nachbarschaft, der je ihr Haus oder auch nur ihren Garten betreten hatte. Ich versuche mir vorzustellen, wie Norman Stott in Keith’ Spiel zimmer herumtrampelt … oder wie Barbara Berrill zum Tee eingeladen wird … Meine Phantasie läßt mich im Stich. Ich kann mir nicht einmal vollkom men anständige und wohlerzogene Kinder wie die beiden Geests oder die blassen Musikanten von Nr. 1 vorstellen, wie sie brav zwischen den Rosenbeeten spielen. Einen Erwachsenen kann ich mir übrigens ge nausowenig vorstellen. In Gedanken stehe ich hinter Keith, der gerade an die Wohnzimmertür klopft … »Herein«, sagt die Stimme seiner Mutter, kaum er hoben. Er öffnet die Tür, und nun sieht man, kulti viert mit seiner Mutter Tee trinkend … wen? Natür lich nicht Mrs. Stott oder Mrs. Sheldon. Nicht meine Mutter (völlig absurde Vorstellung!). Nicht Mrs. Pin cher … Niemanden. Nicht einmal Mrs. Hardiment oder Mrs. McAfee. Keith’ Mutter kann man sich aber auch nicht in ir gendeinem der anderen Häuser im Close vorstellen. Ausgenommen bei Tante Dee. Tante Dee war noch so ein bemerkenswertes Schmuckstück der Familie Hayward. Sie wohnte drei Häuser weiter, auf derselben Stra ßenseite, fast gegenüber von Stephen, hinter schoko ladenbraunem Fachwerk und blühenden Mandel bäumen. Für meine Mutter und die übrige Straße war sie Mrs. Tracey. Keith’ Mutter war hochgewachsen, Tante Dee war klein. Keith’ Mutter war nie gehetzt und lächelte immer ruhig; Tante Dee war immer in Eile und lächelte alles andere als ruhig, sondern fröh 31
lich und mit bedenkenlos entblößten weißen Zähnen. Keith’ Mutter ging ständig einkaufen, nicht nur für sich, auch für Tante Dee, weil Tante Dee von der kleinen Milly beansprucht wurde, und wenn sie nicht einkaufte, ging sie zu Tante Dee und kümmerte sich um Milly, während Tante Dee unterwegs war. Manchmal schickte Keith’ Mutter ihren Sohn an ih rer Statt los, mit zwei, drei frisch gelegten Eiern aus dem vorbildlichen Hühnerstall im hinteren Teil des Gartens oder einer Zeitung voll frisch geerntetem Frühjahrsgemüse, und Stephen kam mit. Tante Dee begrüßte uns, sobald die Tür aufging, mit einem un bekümmerten Lächeln, und sie redete nicht nur mit Keith, sondern mit uns beiden, als existierte ich ge nauso wie Keith. »Hallo, Keith! Du hast dir ja deine Haare schneiden lassen! Sieht prima aus! Hallo, Ste phen! Deine Mama hat erzählt, du und Geoff hattet gräßlichen Schnupfen. Geht’s dir besser inzwischen …? Na, Gott sei Dank! Setzt euch einen Augenblick zu Milly, ich schau mal, ob ich ein Stück Kuchen für euch finde.« Und Keith und ich saßen verlegen im Wohnzim mer, inmitten des Kuddelmuddels von Kinderspielsa chen, die auf dem Boden herumlagen, und verzogen unwillig das Gesicht, wenn Milly ihre Puppen und Bilderbücher anschleppte und versuchte, uns auf den Schoß zu klettern, lächelnd und zutraulich wie ihre Mutter. In diesem Haus sah es fast so schlampig aus wie bei uns. Der Garten draußen vor der Terrassen tür war noch schlimmer. Auf dem vernachlässigten Rasen stand das Gras so hoch wie die Krockettore, die seit mehreren Sommern dort vergessen vor sich hin rosteten. Wenn wir bei Tante Dee waren, hatte Keith immer diesen ungnädigen Gesichtsausdruck 32
seines Vaters, die Augenlider leicht gesenkt, die Lip pen gespitzt, als wollte er gleich zu pfeifen anfangen. Aus meiner Sicht hatte das aber nichts mit der vollen deten Tantenhaftigkeit seiner Tante zu tun. Tanten hatten einfach fröhlich und gastfreundlich und unor dentlich zu sein. Sie hatten kleine Kinder, die einen anlachten und einem auf den Schoß krabbelten. Keith’ tadelnder Blick war nur der Blick, den ein gut erzogener Neffe im Haus seiner Tante eben aufsetz te. Es war ein weiterer Beweis der unerschütterlichen Korrektheit seines Elternhauses. Es gab ja auch einen Grund für die Unordnung. Tante Dee und sogar die Unordnung selbst schienen erfüllt von einem frommen Lichtschein, wie eine Heilige mit ihren Attributen auf einem religiösen Gemälde, denn beide spiegelten Onkel Peters Ruhm wider. In einem silbernen Rahmen auf dem Kaminsims stand ein Foto von Onkel Peter, der genauso unbe kümmert wie Tante Dee lächelte, und der Unbe kümmertheit seines Lächelns entsprach der Sitz sei ner R.A.F.-Offiziersmütze. Der Vater der Berrills war irgendwo bei der Armee, der Sohn der McAfees dien te in Fernost. Aber niemand hatte einen abwesenden Angehörigen, der es mit Onkel Peter aufnehmen konnte. Onkel Peter war Bomberpilot, und er hatte Sondereinsätze über Deutschland geflogen, die so gefährlich und so geheim waren, daß Keith sie nur andeuten konnte. Rings um das Foto standen Silber pokale, die Onkel Peter bei diversen Sportwettkämp fen gewonnen hatte. Auf dem Regal standen die Abenteuerbücher aus seiner Kindheit, die Keith manchmal ausleihen durfte. Er war abwesend und doch gerade dadurch präsent. Seine Präsenz zeigte 33
sich in der Silberbrosche, die Tante Dee immer trug, mit den berühmten drei Initialen auf blau emaillier tem Grund, eingerahmt von den berühmten ausge breiteten Flügeln und darüber die berühmte Krone. Man spürte seine fröhliche Tapferkeit in Tante Dees tapferer Fröhlichkeit, seine Gleichgültigkeit gegen über Gefahr in der Unordnung des Hauses und der Vernachlässigung des Gartens. Nur Keith’ Mutter kam zu Besuch, sein Vater nie. Und Tante Dee erschien nie zu Besuch bei Keith’ El tern. Nur ein einziges Mal habe ich Millys Kinderwa gen draußen vor der Tür stehen sehen, doch das war später, und ich wußte sofort, daß etwas nicht stimmte. Nicht daß mir dieses Mißverhältnis damals merk würdig erschienen wäre. Die Lebensweise der Hay wards stand genausowenig zur Debatte und entzog sich ebenso dem Verständnis wie die häuslichen Ver hältnisse der Heiligen Familie. Vielleicht wurde, trotz Onkel Peter, nicht einmal Tante Dee den Anforde rungen Gottvaters gerecht. Nur ein einziger Gast war im Haus von Keith je derzeit willkommen: Stephen mit seinen Segelohren, dem leicht geöffneten Mund und den verdreckten Tennisschuhen. Liebte Stephen seine Eltern denn nicht? Schätzte er die Eigenschaften nicht, die er später an ihnen ent deckte und die ihn mit den Jahren immer stärker be einflußten? Ich glaube nicht, daß er je darüber nachgedacht hat, ob er sie liebte oder nicht. Sie waren seine Eltern, und damit hatte es sich. Einige ihrer Qualitäten schätzte er vermutlich, weil ihm unbewußt klar war, daß seine Benachteiligung im Leben eine notwendige 34
Voraussetzung war für den faszinierenden Unter schied zwischen seiner Stellung in der Welt und der von Keith. Wie hätte er Keith’ unangestrengtes Glück, nicht mit einem Bruder belastet zu sein, bewundern können, wenn er selbst nicht mit einem Bruder ge schlagen gewesen wäre, sich nicht ständig hätte an hören müssen, wie der seine neuen Lieblingsflüche ausprobierte (»Menschenskind«, »Gottverdammich«) und alles als »irre« bezeichnete? Hätte er die feine, elegante Art von Keith’ Mutter so deutlich wahrge nommen, wenn seine eigene Mutter nicht den ganzen Tag in einer ausgeblichenen Kittelschürze herumge laufen wäre, seufzend und nervös, offenbar außer stande, an etwas anderes zu denken als Geoffs Flüche und Stephens Verbleib und den chaotischen Zustand ihres Zimmers? Wäre selbst Onkel Peter ein so voll kommener Onkel gewesen, wenn Stephen nicht mit einer Handvoll obskurer Tanten in geblümten Klei dern hätte vorliebnehmen müssen? Stephens Vater und Keith’ Vater bildeten einen be sonders pikanten Gegensatz. Stephens Vater war kaum anwesend. Er verbrachte den ganzen Tag und oft auch den Abend in irgendeinem Büro, bei einer unbeschreiblich öden Arbeit, die irgendwie mit der Überprüfung von Baustoffen zu tun hatte. Einmal war er in dienstlichem Auftrag ein ganzes Jahr in Nordengland gewesen, und niemand hatte je darüber gesprochen oder es überhaupt groß bemerkt. Und selbst wenn er zu Hause war, hatte er nicht dieses gräßliche Pfeifen auf den Lippen, er sagte nicht »Freundchen« zu Stephen und drohte nie mit dem Rohrstock. Er sprach nicht viel. Oft glich er einem gutmütigen, zotteligen Tier. Stundenlang konnte er am Eßtisch sitzen, Papiere und Dokumente vor sich 35
ausgebreitet, eine Brille auf der Nase, oder er versank in einem der abgewetzten Sessel im Wohnzimmer und lauschte vor sich hin dösend irgendwelchen ob skuren Konzerten im Radio, die außer ihm kein Mensch hören wollte. Er lockerte die Krawatte, so daß dunkle Brusthaare wirr aus dem geöffneten Hemd sprossen. Dann sank ihm der Kopf auf die Brust, so daß noch mehr wirres Haar zu sehen war, unregelmäßige Büschel auf der unfruchtbaren Land schaft seines Schädels. Dunkelbehaart waren selbst die Handrücken – und die Stelle zwischen Hosenum schlag und den verrutschten Socken. Sein Äußeres war ebenso unbefriedigend wie das Stephens. Wenn er wach war, erkundigte er sich manchmal höflich bei Stephen und Geoff, was sie so getrieben hätten. Er sprach langsam und sorgfältig, als glaubte er, sonst nicht verstanden zu werden. Und wenn er irgendwann die Geduld verlor, holte er mit der Hand aus, während sie mühelos auswichen. Das war die schlimmste Strafe, die ihm einfiel. Grund seines Är gers war meistens ihr Zimmer und der Zustand, in dem es sich befand und den er manchmal als »Kud delmuddel« bezeichnete. Dieses Wort war irgendwie peinlich, klang zu intim. Niemand in der Nachbar schaft hatte je einen solchen Ausdruck verwendet. Wenn Stephen darauf hinwies, daß man durch Nicht aufräumen die Zeit für sinnvollere Dinge wie etwa Hausaufgaben sparen könne, reagierte sein Vater hin und wieder mit einem noch ungewöhnlicheren Wort: »Schnickschnack«. Stephen verwendete diesen Aus druck einmal gegenüber Keith – in der womöglich einzigen Situation, in der eine Bemerkung Keith’ ihn nicht restlos überzeugt hatte. »Du kennst doch das Kind von Tante Dee. Es ist aus einem Samen ent 36
standen«, hatte Keith erklärt. »Schnickschnack«, antwortete Stephen unsicher und erkannte an Keith’ Gesichtsausdruck, daß er wieder einmal das Falsche gesagt hatte. Ich entsinne mich auch, wie Stephen seinem Vater erzählte, daß die Juhn in Trewinnick eingezogen sei en. Sein Vater sah ihn lange und nachdenklich an. »Wirklich«, sagte Stephen. »Keith hat es gesagt.« Sein Vater lachte. »Ach so, Keith hat es gesagt. Dann brauchen wir uns ja nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Schnickschnack.« Nein, Stephen mußte seine Familie geliebt haben, denn gewöhnlich liebte man eben seine Familie, und alles in Stephens Familie, so schien es ihm jedenfalls, war außergewöhnlich gewöhnlich, selbst das Kud delmuddel. Und doch sehnte er sich danach, in Keith’ Haus zu sein. Und am besten gefielen ihm die Einla dungen zum Tee. Diese Teestunden! Sofort schmecke ich die Nuß creme auf der dicken Scheibe Brot. In den Fingerspit zen spüre ich das Rautenmuster der Gläser, aus denen wir Limonade tranken. Ich sehe den polierten dunk len Eßtisch, an dem Keith und ich allein sitzen dür fen, wie wir die Servietten aus den beinernen Serviet tenringen nehmen, uns Limonade aus dem großen Krug einschenken, über dem ein Tuch liegt, das mit vier blauen Glasperlen beschwert ist. Zwischen den silbernen Kerzenleuchtern auf dem Kaminsims steht ein silberner Aschenbecher mit der Inschrift »WWLTC. Senior Mixed Doubles. Runners up W. P. Hayward and R. J. Whitman, 27 July 1929«. W.P. Hayward und R. J. Whitman waren, wie mir Keith schon vor langer Zeit einmal erklärt hat, seine 37
Eltern, ehe sie heirateten, und WWLTC stand für Wimbledon World Lawn Tennis Club. Sie hätten das Turnier gewonnen, wenn sie nicht um den Sieg betrogen worden wären von einem Paar, das ebenje ner finsteren Organisation angehörte, die sich nun in Trewinnick verschanzt hat. Auf der Anrichte, zwi schen zwei Glaskaraffen, steht Onkel Peter, ebenfalls in einem silbernen Rahmen. Hier in Keith’ Haus lä chelt er etwas zurückhaltender, und seine Offiziers mütze sitzt gerade. Jedes Detail ist gestochen scharf, der Adler, die Krone, die dick gestickten Lorbeerblät ter über dem Schirm und das Pilotenabzeichen über der linken Brusttasche. Wenn Stephen nachmittags zum Tee bleiben darf, klopft Keith anschließend an der Wohnzimmertür und schickt ihn hinein zu seiner Mutter, damit er sei ne Abschiedsrede hält. Auf einem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa steht ein Tablett mit einer silbernen Teekanne, einem silbernen Milchkännchen und ei nem silbernen Döschen mit winzigen Saccharinta bletten, alles für sie ganz allein. Keith’ Mutter sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Sofa und liest in ih rem Buch. Oder sie sitzt an dem Schreibtisch in der Ecke und schreibt, beobachtet von einem Dutzend silbergerahmter Familienfotos über ihr an der Wand, die vielen Briefe, die sie immer zur Post bringt. Ste phen traut sich nicht, hier an diesem heiligen Ort ir gend etwas direkt anzusehen. Keith’ Mutter schaut hoch und lächelt. »Oh, will Stephen schon nach Hau se gehen?« fragt sie Keith. »Du mußt ihn unbedingt mal wieder einladen.« Stephen tritt vor und hält seine Rede. »Vielen Dank, daß ich dasein durfte«, murmelt er. »Solange ihr euern Spaß habt«, sagt sie. 38
Ich glaube nicht, daß Stephens Worte ihm damals viel bedeutet haben, also möchte ich sie in seinem Namen noch einmal aussprechen, bevor das, was dann passieren sollte, passiert ist. Mit aufrichtiger Dankbarkeit und einem Gefühl der Verwunderung über mein Glück, die mit den Jahren nur stärker ge worden sind. Dankbarkeit nicht nur gegenüber Keith’ Mutter, sondern auch gegenüber Keith und all den anderen nach ihm, deren Adjutant und Publikum ich war, und allen, die das Drama des Lebens schrieben und aufführten, in dem ich eine kleine, oft erschrek kende, aber mich stets ausfüllende Rolle spielte: Vielen Dank, daß ich dasein durfte. Vielen, vielen Dank. Woher kam also dieser irritierende Geruch? Es waren nicht die gepflegten Rosenstöcke im Vor garten der Haywards, auch nicht das Durcheinander von ich weiß nicht was in unserem. Es waren nicht die Linden vor den Hardiments, nicht die Buddleia der Stotts und der McAfees, nicht das Geißblatt von Mr. Gort und den Geests. Langsam gehe ich wieder die Straße zurück, be trachte die Häuser gegenüber den Haywards, versu che, mir Gewißheit zu verschaffen. Es kam nicht von Nr. 6 – das waren die Berrills und ein Stacheldraht verhau wildwuchernder Rosen … Nr. 5 waren die Geests … bei Nr. 3 sind wir wieder bei den Pinchers. Es kann also nur das Haus zwischen den Geests und den Pinchers gewesen sein, die Nr. 4. Ich bleibe stehen, sehe genau hin. »Meadowhurst« steht auf dem rustikalen Schild am schmiedeeisernen Gartentor, und abgesehen von vier gepflegten Gera nienkübeln und drei Autos auf dem gepflasterten 39
Abstellplatz gibt es kaum so etwas wie einen Garten. Das Haus selbst kommt mir nicht bekannt vor. Archi tektonisch unterscheidet es sich von allen anderen Häusern in dieser Straße – offensichtlich wurde es sehr viel später gebaut. Ja, hier war es – unser Arkadi en, unser Atlantis, unser Garten Eden, das herrenlose Gelände, das übrigblieb, nachdem Miss Durrants Haus von einer verirrten deutschen Brandbombe zer stört worden war. Braemar hieß es damals. Als Stephen und all die an deren Kinder dort spielten, war die melancholische Trümmerlandschaft über dem Fundament des Hau ses, in dem Miss Durrant gelebt und den Tod gefun den hatte, bereits überwuchert von Brombeersträu chern und Weidenröschen und Heckenrosen. Der ganze Garten war verwahrlost, genau wie die beiden Berrills, und die hohe grüne Hecke, die Miss Durrant immer schnurgerade stutzte und hinter der sie sorg fältig ihre Privatsphäre verbarg, hatte ihre Form ver loren und sich in ein ausuferndes Gesträuch verwan delt, das den Eingang zu diesem geheimen Reich völlig vor der Außenwelt verbarg. Stephen versteckte sich oft in diesen unauffälligen blaßgrünen Büschen, die einmal eine Hecke gewesen waren, nahm sie aber kaum wahr. Jedenfalls erst spä ter, kurz vor dem Ende jenes Juni, als sie ringsum zu blühen begannen und ihn mit jener aufdringlichen Süße erstickten, die ihn jahrelang verfolgen sollte. Ich blicke auf die vier Geranienkübel und die drei Autos. Von den Sträuchern ist nichts mehr da. Ich muß über mich lachen, denn jetzt fällt mir wieder ein, was für Büsche es waren, diese Sorte ist so verbreitet, so verachtet und verhöhnt, so verknüpft mit der Un terdrückung und Verdrängung all der wilden Gefühle, 40
die sie in mir offenbar ausgelöst haben. Ich möchte jetzt endlich den Namen aussprechen, ein für allemal. Die Quelle meiner großen Unruhe ist der gemeine * Liguster, der privet. Die Geschichte begann jedoch dort, wo die meisten unserer Projekte und Abenteuer begannen – in Keith’ Haus. Genauer gesagt am Teetisch – ich höre das lei se Klingeln der vier blauen Glasperlen an dem Tuch, das den hohen Limonadekrug bedeckte … Halt, das stimmt nicht. Die Glasperlen klingeln ge gen den Krug, weil das Tuch vom Wind bewegt wird. Es ist Vormittag, wir sind draußen im Freien, unweit des Hühnerauslaufs hinten im Garten, und bauen un sere Transkontinentaleisenbahn. Genau. Ich kann nämlich noch etwas anderes hören – die echten Züge, die aus dem Einschnitt kommen und auf dem Bahndamm unmittelbar hinter dem Drahtzaun entlangfahren. Ich sehe die sprühenden Funken, die an der Stromschiene hochfliegen. Der Krug mit Limonade – das ist nicht unser Nachmit tagstee, sondern unser zweites Frühstück. Dazu für jeden zwei Kekse auf einem Tablett, das Keith’ Mut ter gebracht und auf dem gepflasterten Weg neben uns abgesetzt hat. Sie geht schon wieder den gepfla sterten Weg zurück, und in diesem Moment läßt Keith ganz ruhig die Bombe platzen. Wann ist das? Die Sonne scheint, als die Glasperlen klingelnd den Krug berühren, aber ich habe das Ge *
Im ganzen Roman spielen die durch die lautliche und orthogra phische Ähnlichkeit der Wörter privet (Liguster), private (privat) und privy (Abort) hervorgerufenen Assoziationen eine große Rolle (Anm. d. Übers.).
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fühl, daß auf den Erdhaufen für die Transkontinental eisenbahn noch ein paar Apfelbaumblüten liegen und daß Keith’ Mutter sich Sorgen macht, ob wir für draußen auch warm genug angezogen sind. »Ihr kommt rein, wenn euch kalt wird, ja?« Vielleicht Mai. Warum sind wir nicht in der Schule? Vielleicht ist es ein Samstag oder Sonntag. Nein, in der Luft liegt et was von einem Werktagvormittag. Unverkennbar, auch wenn das in der Jahreszeit eigentlich nicht sein kann. Etwas paßt nicht ganz ins Bild, wie so oft, wenn man versucht, Mosaiksteinchen zusammenzusetzen. Oder habe ich mich geirrt? War das mit dem Poli zisten schon passiert? Es ist wirklich schwer, sich zu erinnern, in welcher Reihenfolge alles passiert ist – aber wenn einem das nicht gelingt, wird man nicht herausfinden, wie das eine zum anderen führte und wie sich alles zueinan der verhielt. Wenn ich mein Gedächtnis sorgfältig er forsche, ist es ja gar keine Geschichte, an die ich mich erinnere, sondern ein Sammelsurium lebhafter Einzel heiten. Bestimmte Wörter, die ausgesprochen wer den, bestimmte Gegenstände, die man wahrnimmt. Bestimmte Handbewegungen und Gesichtsausdrücke. Bestimmte innere Verfassungen, bestimmte Wetter verhältnisse, bestimmte Tageszeiten und Lichtver hältnisse. Bestimmte Momente, die so viel zu bedeu ten scheinen, tatsächlich aber so wenig bedeuten, solange die verborgenen Beziehungen zwischen ihnen nicht klar sind. Wann taucht der Polizist auf? Wir sehen ihn lang sam den Close entlangradeln. Sein Erscheinen bestä tigt unseren Verdacht und macht zugleich alle unsere Bemühungen hinfällig, denn er wird Keith’ Mutter verhaften … Nein, nein, das war früher. Wir laufen 42
neben ihm her, munter und nichtsahnend, und er verheißt nichts als die Hoffnung auf ein kleines, un erwartetes Abenteuer. Er radelt an allen Häusern vorbei, schaut sich jedes an, fährt bis ans Ende zum Wendekreis und radelt wieder zurück und steigt vor Nr. 12 ab. Deutlich erinnere ich mich an den Ge sichtsausdruck von Keith’ Mutter, als wir hineinlau fen und ihr erzählen, daß ein Polizist ins Haus von Tante Dee geht. Für einen Moment verliert sie die Fassung. Sie sieht krank und erschrocken aus. Sie reißt die Haustür auf und geht, nein, rennt die Straße hinunter … Heute weiß ich natürlich, daß sie und Tante Dee und Mrs. Berrill und die McAfees sich vor Polizisten und Telegrammboten fürchteten, wie jeder damals, der einen Angehörigen im Feld hatte. Ich weiß nicht mehr, worum es ging – mit Onkel Peter hatte es je denfalls nichts zu tun. Ich glaube, jemand hatte sich über Tante Dee beschwert, weil sie es mit der Ver dunkelung nicht so genau nahm. Wieder sehe ich diesen Ausdruck auf dem Gesicht von Keith’ Mutter, und diesmal glaube ich, außer der Angst noch etwas anderes zu sehen. Etwas, das mich an Keith’ Gesichtsausdruck erinnert, wenn sein Vater irgendein Versäumnis in bezug auf das Fahrrad oder seine Kricketsachen bemerkte. So etwas wie schlech tes Gewissen. Oder wird die Erinnerung im Rück blick abermals korrigiert? Wenn der Polizist und der Blick tatsächlich schon passiert waren, könnten sie Keith dann überhaupt auf die Idee gebracht haben? Heute glaube ich, daß Keith’ Worte höchstwahr scheinlich aus dem Nichts kamen, spontan geäußert wurden. Daß sie ein blinder Ausbruch purer Phanta 43
sie waren. Oder purer Intuition. Oder, wie so vieles, von beidem. Aus diesen sechs Wörtern ergab sich jedenfalls alles Folgende, einfach nur deswegen, weil Keith sie aus sprach und ich sie hörte. Der Rest unseres Lebens wurde in diesem einen kurzen Moment entschieden, als die Glasperlen gegen den Krug klingelten und Keith’ Mutter sich von uns entfernte, durch den hel len Vormittag, über die letzten der heruntergefallenen weißen Blüten auf dem gepflasterten Gartenweg, auf recht, ruhig und unverletzlich, und Keith ihr hinter hersah, mit dem verträumten Ausdruck in den Augen, der mir vom Beginn so vieler unserer Unternehmun gen erinnerlich ist. »Meine Mutter«, sagte er nachdenklich, fast bedau ernd, »ist eine deutsche Spionin.«
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Sie ist also eine deutsche Spionin. Wie reagiere ich auf diese Neuigkeit? Äußere ich mich dazu? Ich glaube, ich sage überhaupt nichts. Ich glaube, ich sehe Keith, wie schon so oft, nur mit leicht ge öffnetem Mund an und warte, was als nächstes kommt. Bin ich überrascht? Natürlich bin ich über rascht – aber Keith’ Ankündigungen überraschen mich ja oft. Ich war überrascht, als er mir erzählte, daß Mr. Gort, der alleinige Bewohner von Nr. 11, ein Mörder sei. Doch als wir dann unsere Ermittlungen aufnahmen, entdeckten wir auf dem leeren Grund stück gleich hinter seinem Garten einige Knochen seiner Opfer. Ich bin also überrascht, gewiß, aber nicht in dem Maß, wie ich es heute wäre. Und natürlich bin ich sofort ganz aufgeregt, weil ich alle möglichen interes santen neuen Möglichkeiten sehe – sich in der Däm merung verstecken und beobachten, Nachrichten mit unsichtbarer Tinte schreiben und erhalten, einen der Bärte aus Keith’ Kostümierkiste tragen, irgendwelche Dinge unter seinem Mikroskop studieren. Ich glaube, ich bin ein bißchen eifersüchtig auf die sen neuerlichen Beweis seines nicht enden wollenden, bewundernswerten Glücks. Ein Vater im Geheim dienst und noch dazu eine Mutter, die deutsche Spio 45
nin ist – wo wir anderen nicht einmal einen interes santen Elternteil vorweisen können! Frage ich mich, ob sein Vater weiß, was die Mutter treibt – oder seine Mutter, was sein Vater treibt? Denke ich über die heikle Situation nach, die dieser Loyalitätskonflikt in der Familie erzeugen muß? Ich glaube nicht, daß es dazu kommt. Beide sind offen sichtlich imstande, ihr wahres Ich vor der Welt zu verbergen, und vermutlich können sie ihre jeweiligen Geheimnisse auch voreinander bewahren. Ohnehin ist das Verhalten von Erwachsenen untereinander ein Rätsel, das zu ergründen mich noch nicht reizt. Ein bißchen schade finde ich es aber schon. Ich denke an die Limonade und die Nußcreme, die ich bei ihr bekommen habe, an ihre Nachsicht, an ihre Anmut und ihre gelassene Haltung. Sosehr es mich freut, eine deutsche Spionin beobachten zu können, wäre es mir doch sehr viel lieber gewesen, es wäre Mrs. Sheldon oder Mrs. Stott. Oder Keith’ Vater. Daß Keith’ Vater ein Deutscher ist, würde ich sofort glauben. Oder hätte es geglaubt, wenn ich nicht von seiner Arbeit im Geheimdienst wüßte und von seinen bemerkenswerten Bemühungen, während des letzten Kriegs die deutsche Bevölkerung zu dezimieren. Nein, wenn ich es mir recht überlege, bin ich er leichtert, daß es nicht Keith’ Vater ist. Der Gedanke, ihn zu beobachten, macht mir viel zu sehr angst. Ich sehe schon das dünne Lächeln auf seinen Lippen: »Wer hat dir erlaubt, an meinem geheimen Funkge rät herumzufummeln, Freundchen?« Stelle ich Keith die nächstliegende Frage – woher er weiß, daß seine Mutter eine Spionin ist? Natürlich nicht, genausowenig, wie ich ihn je gefragt habe, wo her er weiß, daß seine Mutter seine Mutter und sein 46
Vater sein Vater ist. Sie ist einfach seine Mutter, so wie Mrs. Sheldon Mrs. Sheldon ist und Barbara Ber rill es nicht wert ist, von uns beachtet zu werden, und meine Familie nicht ganz respektabel ist. Jeder weiß, daß das so ist. Solche Dinge muß man weder erklären noch begründen. Der Gedanke, an den ich mich in den nächsten Ta gen gewöhne, macht sogar vieles verständlicher. All die Briefe beispielsweise, die seine Mutter schreibt. An wen eigentlich? Abgesehen von mir kennen die Haywards nur Tante Dee und Onkel Peter. Vermut lich gibt es irgendwo noch weitere Tanten und Onkel – jeder hat irgendwo Onkel und Tanten. Aber Mütter schreiben an Tanten und Onkel einige Male im Jahr, nicht jeden Tag! Man geht nicht zweimal an einem Nachmittag los, um die Briefkastenleerung nicht zu verpassen! Wenn sie aber Berichte an die Deutschen schickt … Berichte worüber? Was sie eben auskund schaftet, wenn sie einkaufen geht. Die Flakeinrich tungen wahrscheinlich – den Luftschutzposten an dem Weg, der nach Paradise führt, und die Zisterne hinter der Bücherei. Die geheime Munitionsfabrik an der Hauptstraße, in der Mr. Pincher seine Alumini umreste und Sperrholzteile klaut. Natürlich auch über Mr. Pincher selbst, dessen Ak tivitäten für den Feind so aufschlußreich sind. Die merkwürdigen Vorgänge in Trewinnick. Unbedachte Äußerungen, denen zu entnehmen ist, wo Mr. Berrill und der Sohn der McAfees gerade Dienst tun. Der allgemeine Zustand der Moral in unserem Viertel, wie sie aus Mrs. Sheldons Beschwerden über die Qua lität des Angebots von Hucknalls Fleischerei und Tante Dees Nichteinhaltung der Verdunkelungsvor schriften hervorgeht. Sie beobachtet jeden von uns. 47
Nun werden sogar ein paar Dinge verständlich (ist das nicht der Beweis für jede neue Erkenntnis?), von denen ich gar nicht gewußt hatte, daß sie unverständ lich gewesen waren. Warum haben die Deutschen eine Brandbombe ausgerechnet auf den Close geworfen? Und warum ausgerechnet auf Mrs. Durrants Haus? Wenn aber Miss Durrant die Wahrheit herausgefun den hatte und im Begriff war, Keith’ Mutter zu ent tarnen … und wenn Keith’ Mutter das erkannt hatte und während der Verdunkelung hinausgegangen war und mit Taschenlampensignalen das Ziel markiert hatte … Auf dem Tisch im Flur der Haywards liegt eine Ta schenlampe. Ich glaube, mir kommt noch ein anderer irritieren der Gedanke: daß das vielleicht all ihre unbegreifliche Nettigkeit mir gegenüber erklären könnte, die Limo nade und die Nußcreme. Es gehört einfach zu ihrer falschen Identität, ihren wahren Charakter zu verber gen. Kurz nach Keith’ Feststellung, während ich noch offenen Mundes dasitze und weit davon entfernt bin, mir über die Konsequenzen klarzuwerden, haben wir unsere Transkontinentaleisenbahn aufgegeben und beschatten bereits seine Mutter. Wir beobachten vom Treppengeländer aus, wie sie zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her geht, wie sie mit Mrs. Elms ley über das zu putzende Silber und über die Zipper lein von Mrs. Elmsleys Mutter spricht. Im Spielzim mer finden wir das Notizheft, das wir zur Vogelbeob achtung benutzen wollten, bis wir statt dessen das affenartige Wesen auf dem Golfplatz beobachteten. Keith streicht »VÖGEL« durch und schreibt »LOCK BUCH - GEHEIM« darüber. Ich habe leise Zweifel an 48
der Schreibweise, behalte sie aber für mich, wie all die anderen gelegentlichen leisen Zweifel an Keith’ Auto rität. Keith beginnt, unsere Beobachtungen einzutragen. »10.53 Uhr«, schreibt er, während wir uns oben am Treppenabsatz ducken und lauschen, was seine Mut ter unten in der Diele sagt. »Thelefoniert. Verbin dung mit 8087. Mr. Hucknall. 3 Hammellkottletts. Nicht so fettig. Zu mittag.« Wir flüchten ins Spiel zimmer, denn sie kommt die Treppe herauf … unter brechen unsere Beobachtungen und denken, während sie auf dem Klo ist, an etwas anderes … und folgen ihr dann hinunter in die Küche … hinaus in den Gar ten, beobachten sie hinter dem Schuppen, wie sie die bekannte dampfende, säuerlich riechende Email schüssel zu den Hühnern trägt … Und während wir sie beobachten, wird mir klar, daß sie im Lauf des Vormittags sehr viel mehr Dinge tut, als ich bislang gedacht hatte – kein einziges Mal macht sie Pause, um auszuruhen oder einen Brief zu schreiben. Man verkennt leicht, wie aktiv sie ist, weil sie alles so ruhig und ohne Hektik tut, so … unauffällig eben. Jawohl, ihr ganzes Auftreten hat etwas unheimlich Unbemerkenswertes – wenn man einmal erkannt hat, was in Wahrheit dahintersteckt. Die Frau hat etwas eindeutig Falsches an sich, wenn man sie genau beob achtet und ihr zuhört, wie wir es jetzt tun. Man hört den falschen Zungenschlag in der besonders liebens würdigen, besonders unpersönlichen Art, wie sie mit Mrs. Elmsley spricht, mit Keith’ Vater, sogar mit den Hühnern. »Diesmal haben Sie hinter der Uhr im Eß zimmer Staub gewischt, nicht wahr, Mrs. Elmsley? … Ted, mein Lieber, soll ich dir etwas mitbringen? Muß ein paar Sachen für Dee besorgen. Deine Salatsetz 49
linge sehen übrigens prachtvoll aus … Immer mit der Ruhe, meine Damen. Hier wird nicht gedrängelt. Stellt euch hübsch ordentlich an und haltet eure Le bensmittelkarten bereit …« Die gleiche Falschheit fällt mir an dem besonders amüsierten Tonfall auf, den sie Keith und mir gegen über anschlägt, als sie mit der leeren Futterschüssel ins Haus gehen will und bemerkt, wie wir von Dek kung zu Deckung huschen, vom Schuppen zur Pergo la, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren. »Peng, peng!« ruft sie gutgelaunt und tut, als ziele sie mit ei ner Pistole auf uns, als ob wir Kinder wären. »Hab’ euch erwischt, ihr beiden!« Sie tut, als würde sie bei einem harmlosen Kinderspiel mitmachen. Dabei ist sie diejenige, die nicht dazugehört und uns mit frem den Augen beobachtet. Zum erstenmal sehe ich mir Mrs. Elmsley genauer an. Ich hatte mir noch nie überlegt, warum sie einen Schnurrbart und mitten auf der Stirn eine Warze hat oder warum sie so leise spricht … Und ist »Mr. Hucknall«, mit dem Keith’ Mutter am Telefon sprach, wirklich Mr. Hucknall, der all seits bekannte blutbesudelte Komödiant im Fleischer laden? Und selbst wenn er es ist, angesichts seiner Beziehung zu einer berüchtigten Spionin fangen wir an, auch ihn mit mißtrauischen Augen zu sehen. Ich denke daran, wie er immer fröhlich singt, wenn er die Fleischstücke von weitem in die Waagschale wirft. »Und wärst du das einz’ge Mädel auf der Welt …« Dann wirft er die glänzenden Messinggewichte von der einen Hand in die andere, als wären es Jonglier kugeln – »… und ich der einz’ge Bursch’ …« Und an schließend ruft er in Richtung Kasse: »Zwei Shilling vier Pence bei dieser Dame, Mrs. Hucknall. Diiiie 50
nächste, bittschön …« Er ist ein Schauspieler, genau wie Keith’ Mutter. Er versucht, sein wahres Ich zu verbergen. Und was das betrifft: sind »Hammelkote letts« wirklich Hammelkoteletts? Als kurz vor Mittag der Botenjunge mit seinem schweren Fahrrad eintrifft – »Fleischerei F. Hucknall« steht auf dem Schild an der Querstange –, woher wollen wir wissen, daß in dem weißen Päckchen, das er aus dem großen Korb über dem kleinen Vorderrad holt, tatsächlich Ham melkoteletts sind? Alles, was früher eine Selbstverständlichkeit war, er scheint uns jetzt fragwürdig. Selbst das, was vor den eigenen Augen passiert, erweist sich bei näherem Nachdenken als etwas, was letztlich nicht recht zu se hen ist und alle möglichen Theorien und Interpreta tionen verlangt. Als Keith von seiner Mutter aufgefordert wird, sich die Hände zu waschen, das Mittagessen sei bereit, und ich nach Hause laufe, weil dort meines steht, ha ben wir in unserem Logbuch schon einiges an Bewei sen zusammengetragen. Während ich mein Corned beef mit Kartoffeln hinunterschlinge und meine Kohlrüben in die Abfallschüssel kippe, kann ich an nichts anderes denken als an die nächste, noch kriti schere Phase unserer Aktion, die für den Nachmittag geplant ist. Während Keith’ Mutter Mittagsschlaf hält, wollen wir uns ins Wohnzimmer schleichen. Wir werden den Handspiegel nehmen, der in der Diele neben den Kleiderbürsten und Schuhlöffeln hängt, und die Löschpapierunterlage auf ihrem Schreibtisch untersuchen, denn die Briefe, die sie dort schreibt, werden deutlich lesbare Spuren in Spiegelschrift hinterlassen haben. Sollte das aus ir gendeinem Grund nicht funktionieren, werden wir 51
die Taschenlampe vom Tisch im Flur nehmen und mit ihrer Hilfe den Abdruck studieren, den die Feder auf der Oberfläche des Löschpapiers hinterlassen hat. Undeutlich nehme ich wahr, daß meine Mutter sich über ein bekanntes Thema ausläßt: »Du fällst ihnen hoffentlich nicht zur Last, wenn du die ganze Zeit drüben bei Keith bist, oder?« »Nein«, murmele ich, den Mund voll Grießpud ding; was Keith natürlich nie tun würde – und ich auch nicht, wenn ich bei ihm wäre. »Du gehst doch heute nachmittag nicht schon wie der rüber?« Ich glaube, daß ich darauf nicht antworte. Ich glau be, ich sehe meine Mutter nicht einmal an. Sie hat etwas so unendlich Gewöhnliches, daß man Mühe hat, sie überhaupt wahrzunehmen. »Seine Mutter will sicher hin und wieder ein biß chen Ruhe haben. Sie hat bestimmt keine Lust, euch die ganze Zeit um sich zu haben.« Ich muß innerlich lächeln. Wenn sie wüßte! »Einmal könntest du Keith doch einladen, hier bei dir zu spielen.« Sie versteht nichts, und ich kann nichts erklären. Ich esse meine Portion Grießpudding auf und erhebe mich, noch kauend, von meinem Platz. »Wohin gehst du?« »Nirgendwohin.« »Zu Keith?« »Nein.« Ich gehe tatsächlich nicht zu Keith – noch nicht, denn dort darf ich erst auftauchen, wenn sein Vater mit dem Mittagessen fertig ist. Ich gehe hinaus auf die Straße, um zu sehen, ob ich jemand anders finde, mit dem ich solange spielen kann. Vielleicht hängt 52
Norman Stott irgendwo herum in der Hoffnung, daß ich mich ebenfalls langweile. Oder die beiden Zwil linge sind in ihrem Vorgarten und spielen dort wie üblich Himmel und Hölle. Ich würde so gern jeman dem von unserer phantastischen Entdeckung erzählen und von der wichtigen Tätigkeit, der wir jetzt nach gehen. Beziehungsweise nicht genau erzählen, son dern nur ein paar aufreizend dunkle Andeutungen fal lenlassen. Nein, nicht einmal Andeutungen machen, sondern gar nichts sagen, einfach etwas wissen, wo von sie nichts wissen. Ich stelle mir vor, wie ich einen dieser überheblichen Blicke erhasche, die Wanda und Wendy vertraulich wechseln, und dabei die ganze Zeit selber ein Geheimnis habe, das viel erhabener ist als jedes, das sie haben könnten. Ich stelle mir vor, wie ich trübselig mit Norman herumschlendere, aber nur, um vor ihm zu verbergen, daß ich über derlei kindische Zeitverschwendung wirklich weit hinaus bin. Aber niemand ist draußen, alle sitzen noch am Mit tagstisch. Ich gehe die ganze Straße entlang. Selbst das Dreirad der Averys steht einsam und ölver schmiert da, fahrbereit mit allen drei Rädern – eine leichte Beute für eventuell vorbeikommende deutsche Soldaten. In Ermangelung anderer Gesellschaft wäre ich ausnahmsweise sogar bereit, das eine oder andere Wort mit Barbara Berrill zu wechseln. Sie hängt im mer herum, wenn man sie nicht gebrauchen kann, zieht affektierte Mädchengrimassen und macht affek tierte Mädchenbewegungen. Heute könnte ich sie be gründetermaßen noch verächtlicher behandeln, aber natürlich ist sie nirgendwo zu sehen. Ich behalte Keith’ Haus diskret im Auge, warte auf das Pfeifen seines Vaters oder irgendeinen anderen Hinweis, daß das Leben nach dem Mittagessen weiter 53
geht. Nichts. Stille. Nichts als die Vollkommenheit des Hauses, seine unangestrengte Überlegenheit, die die anderen Häuser im Close nur respektvoll anerkennen können. Und nun hat es – nur Keith und mir bekannt – noch einen weiteren Vorzug, eine geheime, zutiefst verborgene Bedeutung, von der niemand etwas ahnt. Was werden all die gewöhnlichen, langweiligen Bewohner der Straße – meine Mutter, die Berrills, die Geests, die McAfees – in Kürze über diese Überra schung staunen! Eine noch größere Überraschung wird es natürlich für Tante Dee sein, wenn sie sieht, daß der radelnde Polizist vor dem Haus von Keith’ Mutter hält, denn nun wird sie niemanden haben, der sich um Milly kümmert oder für sie einkaufen geht. Und auch für Keith, denke ich jetzt, wird es sehr traurig sein, wenn sie ihm die Mutter weggenommen haben und er und sein Vater allein miteinander zurechtkommen müs sen. Mrs. Elmsley wird Mittagessen machen, sofern man sie nicht ebenfalls verhaftet hat. Aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, wie sie, mit ihrer War ze und dem Schnurrbart, mir zum Tee die Nußcreme hinstellt. Ob sie mir überhaupt erlauben wird, zum Tee zu bleiben? Mir wird langsam klar, daß diese Ermittlungen für uns alle recht traurige Folgen haben werden. Die Sa che ist nicht so simpel, wie ich zunächst gedacht hatte. Aber was soll man anderes tun, wenn sie eine deut sche Spionin ist? Wir müssen unseren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten. Wir müssen ausharren und Opfer bringen. Ich höre Pfeifen. Keith’ Vater taucht neben dem Haus auf und geht in Richtung Küchengarten. Ich schüttele alles Mitgefühl ab und öffne die Gartentür. 54
»Jungs, ihr wißt euch zu beschäftigen?« sagt Keith’ Mutter mit einem Blick um die Spielzimmertür, be vor sie sich zu ihrer Mittagsruhe zurückzieht. Wir nicken stumm. »Seid bitte nicht zu laut, ja?« Wir sind nie zu laut, doch jetzt machen wir über haupt kein Geräusch. Schweigend sitzen wir auf dem Fußboden, ohne einander anzusehen, und spitzen die Ohren, bis zu hören ist, wie die Schlafzimmertür weich in das gutgeölte Schloß fällt. Daraufhin schlei chen wir die Treppe hinunter, erstarren bei jedem Knarren einer Stufe, bei jedem Quietschen der Fin ger auf dem Geländer. Ganz vorsichtig nimmt Keith den Spiegel vom Haken und die Taschenlampe, die auf dem Tisch liegt. Ganz langsam dreht er den Handgriff der Wohnzimmertür, hält inne, schaut noch einmal zur Treppe. Die Standuhr tickt. Das ist das einzige Geräusch. Ich wäre jetzt gern bei mir zu Hause. Keith öffnet behutsam die Tür. Im Zimmer herrscht völlige Stille. Jede Andeutung eines Geräuschs wird von dem dicken hellgrünen Teppich, von den dunkel grünen Samtvorhängen und den dazu passenden Pol stermöbeln geschluckt. Lautlos wie Sioux-Indianer schleichen wir zum Schreibtisch. Auf der polierten dunklen Oberfläche funkeln die Lichtreflexe von schimmerndem Silber: ein Papiermesser, ein Tisch feuerzeug, eine Kerzenschere und die vielen silber gerahmten Fotografien, die sich würdevoll auf un sichtbaren Ellbogen zurücklehnen. Keith schlägt die ledergebundene Schreibunterlage auf. Wir blicken auf eine schneeweiße Fläche ohne ir gendwelche Tintenabdrücke in Spiegelschrift. Keith legt den Spiegel beiseite und knipst die Taschenlam pe an. Er legt sie, wie wir es in diversen Büchern oft 55
gelesen haben, an den Rand der Schreibunterlage, so daß sie wie eine untergehende Sonne lange Schatten wirft, beugt sich dann darüber und schaut angestrengt durch die Lupe aus seinem Zubehör für Briefmarken sammler. Langsam und systematisch arbeitet er sich von der Mitte nach außen vor. Ich betrachte unterdessen die Fotos in den silber nen Rahmen. Aus einem schaut mich, etwas unscharf, ein ernst dreinblickendes Mädchen an, das ungefähr so alt ist wie Keith und ich. Sie steht in einem son nengesprenkelten Garten, trägt lange weiße Hand schuhe, die ihr bis zum Ellbogen reichen, und einen breitkrempigen Sommerhut, der ihr viel zu groß ist. Es ist Keith’ Mutter, erkenne ich mit einer gewissen Befangenheit, und sie spielt die Erwachsene, die sie inzwischen geworden ist. Sie legt den Arm schützend um ein anderes Mädchen, das einige Jahre jünger ist, eine Puppe hält und zu ihr aufschaut, vertrauensvoll, aber auch ein wenig unsicher. Das ist Tante Dee, die so tut, als sei sie das kleine Mädchen ihrer älteren Schwester. Es erscheint mir fast ein wenig unschick lich, die beiden so zu sehen, herausgerissen aus ihrem schützenden Erwachsenendasein, ertappt in einer kindischen Pose, und irritierend wirkt Tante Dees naive Unwissenheit in bezug auf das, was ihre ältere Schwester eines Tages sein wird. Keith richtet sich wieder auf und reicht mir wortlos die Lupe. Ich beuge mich darüber und imitiere seine langsame methodische Art. Es gibt tatsächlich Ab drücke auf dem Löschpapier, aber nur sehr schwach und undeutlich. Zum Teil könnten es übereinander geschriebene Wörter sein. Ich glaube, ich kann ein paar Buchstaben erkennen, eventuell sogar ein, zwei Silben: »Donn« vielleicht und »wenn Du«. 56
Keith flüstert mir ins Ohr: »Siehst du das?« Er zeigt darauf. Ich starre auf die Gegend um seinen rie sigen Fingernagel. Ich glaube, ich kann eine Acht und eine Zwei erkennen. Vielleicht ist es auch eine Drei und ein Fragezeichen. »Geheimcode!« flüstert Keith. Er notiert verschiedene Buchstaben und Zahlen im Logbuch und schließt dann die Schreibunterlage. Ich bin ungeheuer erleichtert, daß die Operation beendet ist und wir aus dem Zimmer verschwinden können, bevor seine Mutter aufwacht oder sein Vater wieder ins Haus kommt. Doch Keith legt mir eine Hand auf den Arm, er ist noch nicht fertig. Vorsichtig zieht er die lange Schublade unter der Schreibfläche auf. Sei ne Mutter schaut uns weiterhin aus dem silbernen Rahmen an, während wir darangehen, den Inhalt der Schublade zu sichten. Schreibpapier mit Briefkopf … Kuverts … Heft chen mit Zweieinhalb-Penny-Marken … Alles sehr ordentlich, viel Platz … Ein Adreßbuch … Keith nimmt das Adreßbuch und blättert darin. Die Einträge sind in einer ordentlichen, klaren Schrift ge schrieben. Ashtons (Reinigung), ABC-Schreibwaren, Arzt … Mr. und Mrs. James Butterworth, Marjorie Beer, Bishop (Fensterputzer) … Wer sind Mr. und Mrs. Butterworth und Marjorie Beer? Es könnte sich natürlich um Codenamen handeln … Friseur … Bei jedem Buchstaben ist nur eine Handvoll Namen ver zeichnet, meistens Geschäfte. Ich bemerke »Hucknall (Fleischerei)« … Soweit ich sehen kann, keiner der Nachbarn, abgesehen von Mr. und Mrs. Peter Tra cey … Keith studiert jeden Namen mit der Lupe und überträgt einige in das Logbuch. Ich schaue mir unterdessen wieder die Fotos an. 57
Drei lachende Gestalten in weißem Tennisdreß: Keith’ Mutter und Tante Dee, dazwischen der jun genhafte Onkel Peter, und dann noch eine vierte Ge stalt, die mit ihrem leblosen, kurzen grauen Haar und ihrem grimmig ironischen Lächeln schon den Zug aufweist, den ich so alarmierend finde. Dasselbe Quartett irgendwo an einem Strand, Onkel Peter macht einen Kopfstand, Keith’ Mutter und Tante Dee halten ihn an den Knöcheln. Dann eine ernst dreinschauende junge Braut vor einer Kirchentür, schüchtern hält sie den Schleier aus dem Gesicht, die lange weiße Schleppe fällt dekorativ über die Stufen vor ihr: Keith’ Mutter, tugendhaft am Arm eines grauen, ironisch lächelnden Gehrocks. Gleich daneben, damit es ein Paar ergibt, wieder eine Braut, fast identisch mit der ersten, offenbar vor derselben Kirchentür, mit derselben Schleppe auf denselben Stufen. Allerdings ist diese Braut etwas kleiner, und sie schaut etwas kesser aus, irgendwie ein bißchen zeitgemäßer, und der Arm, den sie hält, steckt in einem Grau, das, wie ich weiß, natürlich nicht grau, sondern luftwaffenblau ist und einem Bräutigam gehört, dessen Frisur und Lächeln immer noch jungenhaft sind. Mutter und Vater, Tante und Onkel – alle vier schauen uns aus der Vergangenheit heraus an, wäh rend wir im Begriff sind, die Geheimnisse der Gegen wart zu ergründen und ihnen jede Zukunft zu nehmen. Ganz hinten in der Schublade hat Keith einen klei nen Taschenkalender gefunden. Wieder erfaßt mich Panik. Ihren Kalender werden wir doch nicht anrüh ren, oder? Kalender sind privat … Aber Keith hat ihn schon aufgeschlagen, und ich schaue ihm schon über die Schulter, während er blättert. 58
Wieder nur spärliche Eintragungen. »Arzt … Millys Geburtstag … Gardinen waschen … Hochzeitstag …« Manches sind anscheinend Verabredungen. »Bridge bei Curwens … Teds Eltern … Ted beim OHDinner …« Oft geht es um K. »K.s neues Schuljahr (Blazer gereinigt, Krickethemden) … K.s Sportfest … K. zum Zahnarzt …« Ich weiß nicht, wie Keith das erste der Geheimzei chen entdeckt hat. Ich merke nur, daß er nicht mehr weiterblättert und den Taschenkalender dicht vor das Gesicht hält – die Lupe ist vergessen. Er schaut mich an, mit diesem speziellen Gesichtsausdruck, den er aufsetzt, wenn etwas wirklich Wichtiges passiert. So hat er mich angesehen, als in der Erde hinter Mr. Gorts Garten die ersten Wirbelknochen zum Vor schein kamen. »Was?« flüstere ich. Er reicht mir den Taschenka lender und zeigt auf einen Freitag im Januar. Das Kästchen scheint erst ganz leer. Dann entdecke ich, unauffällig zwischen Datum und dem Zeichen der Mondphase, eine handschriftliche Markierung, noch kleiner als die anderen Eintragungen: ein winzi ges Kreuzchen. Ich spüre ein eigenartiges Kribbeln. Das hier ist wirklich etwas anderes als alles, was wir bislang ge funden haben. Ganz gleich, was dieses unauffällige Zeichen bedeutet, es ist eindeutig etwas, was niemand lesen oder verstehen soll. Wir sind tatsächlich auf et was Geheimes gestoßen. Keith schaut mich noch immer mit diesem speziel len Gesichtsausdruck an, wartet auf eine Reaktion von mir. In seinen Augen ist ein Leuchten, das mir nicht gefällt. Er sieht, daß mich der Mut wieder ver läßt, wie damals, als er den ersten der vergrabenen 59
Knochen hochhielt und ich nicht weitergraben woll te. Seine Erwartungen haben sich erfüllt: auf einmal habe ich kein Interesse mehr, die aktuellen Ermitt lungen weiterzuführen. Ich lege den Taschenkalender wieder in die Schub lade. »Komm, laß uns aufhören«, flüstere ich. In Keith’ Mundwinkel zeigt sich, kaum wahrnehm bar, ein Moment der Überlegenheit. Wie oft hat er mich schon auf diese Weise gedemütigt! Alles fängt wie ein Spiel an, und plötzlich wird eine Prüfung dar aus, bei der ich versage. Er holt den Taschenkalender wieder heraus und blättert ihn langsam durch. »Aber wenn es etwas Privates ist …« insistiere ich. »Schreib es im Logbuch auf«, kommandiert er. Er sieht zu, wie ich zögernd das Datum und das Kreuzchen notiere. Ich bin schon fast an der Tür, als ich merke, daß er noch immer am Schreibtisch ist und im Taschenkalender blättert. »Noch etwas«, sagt er. »Etwas anderes.« Ich bleibe stehen. Aber am Ende muß ich natürlich umkehren und ihm über die Schulter gucken. Er zeigt auf einen Samstag im Februar. Neben dem Datum ist ein kleines Ausrufezeichen. »Schreib das auf«, sagt er. Er blättert weiter. Noch mehr Kreuzchen. Noch mehr Ausrufezeichen. Ich notiere alles, und dabei stellt sich ein bestimmtes Muster heraus. Das Kreuz chen, was immer es bedeuten mag, passiert einmal im Monat. Manchmal ist es durchgestrichen und ein, zwei Tage vorher oder später eingetragen. Doch das Ausrufezeichen ist in diesem Jahr bislang nur dreimal passiert, und zwar in unregelmäßigen Abständen – an 60
einem Samstag im Januar, an einem Samstag im März und an einem Dienstag im April. Bei dem letzten Da tum, bemerke ich etwas verwirrt, steht außerdem die Eintragung »Hochzeitstag«. Meine Befangenheit wird zunehmend von dem Ein druck überlagert, daß da etwas Mysteriöses vorgeht. Ich betrachte Keith’ Mutter, die uns hinter ihrem Schleier schüchtern zulächelt. Ich begreife es nicht. Sie ist wirklich eine deutsche Spionin. Und nicht in dem Sinn, wie Mr. Gort ein Mörder ist oder die Be wohner von Trewinnick Mitglieder einer finsteren Organisation sind. Nicht in dem Sinn, daß jeder auf der Straße ein Mörder oder ein deutscher Spion sein könnte. Sie ist buchstäblich … eine deutsche Spionin. Wir gehen noch einmal die Eintragungen im Log buch durch. Es gibt also etwas, was sie einmal jeden Monat tut. Etwas, was sie notieren muß. Etwas Ge heimnisvolles. Was mag das sein? »Sie trifft sich mit jemandem«, schlage ich vor. »Geheime Treffen. Im voraus geplant, aber manch mal kann derjenige nicht kommen, also müssen sie einen anderen Tag ausmachen …« Keith beobachtet mich stumm. Nachdem ich ein mal meinen Grips bemüht habe, arbeitet er aus nahmsweise schneller als der seine. »Und ab und zu passiert noch etwas anderes«, fahre ich langsam fort. »Etwas Überraschendes, nicht Ein geplantes …« Ich merke, daß Keith sein dünnes Lächeln aufsetzt. Er hinkt überhaupt nicht hinterher, er ist wieder vor mir und läßt mich einfach zappeln. »Diese Treffen mit X«, flüstert er schließlich. »Wann finden die eigentlich statt?« Ich kriege eine Gänsehaut. Nach dem Klang seiner 61
Stimme zu urteilen, muß jetzt etwas Unheimliches kommen, aber ich habe keine Ahnung, worauf er hin auswill. »Einmal im Monat«, flüstere ich verzagt. Langsam schüttelt er den Kopf. »Doch! Schau hier, Januar, Februar …« Wieder schüttelt er den Kopf. »Einmal alle vier Wochen«, sagt er. Ich bin ratlos. »Wo ist der Unterschied?« Er wartet, setzt sein dünnes Lächeln auf, während ich wieder im Kalender blättere. Vermutlich hat er recht. Jeden Monat erscheint das Kreuzchen etwas früher. »Und?« »Schau dir den Mond an!« flüstert er. Ich gehe wieder zum Anfang, betrachte den Mond neben den Kreuzchen. Ja, sie folgen ungefähr dem Mondzyklus. Jeden Monat ist das Kreuzchen in der Nähe des vollen schwarzen Kreises. Ich sehe Keith an. »Neumond«, flüstert er. Wieder stellen sich mir die Nackenhaare auf. Jetzt sehe ich die Möglichkeiten genauso klar wie er – das Flugzeug ohne Positionslampen landet auf dem Golf platz, der Mann am Fallschirm schwebt lautlos durch die vollkommen dunkle Nacht … Ich blättere weiter. Das letzte Kreuzchen war vor zwei Nächten. Das nächste ist in sechsundzwanzig Tagen. Danach – nichts. Kein Kreuzchen, kein Aus rufezeichen. Also noch ein letztes Treffen in mondloser Nacht … Und plötzlich ist das ganze Haus erfüllt von kaska denartig sich verstärkender Märchenmusik. Alle drei Uhren schlagen gleichzeitig. Bei den ersten Klängen fahren wir hoch, werfen den Kalender in die Schublade, knallen die Schublade zu und laufen zur Tür. 62
Und da steht Keith’ Mutter, direkt auf der Schwel le, ebenso erschrocken über unseren Anblick wie wir über den ihren. »Was macht ihr denn hier?« fragt sie. »Nichts«, sagt Keith. »Nichts«, bestätige ich. »Wart ihr an meinem Schreibtisch?« »Nein.« »Nein.« Hat sie uns gesehen? Weiß sie Bescheid? Wie lange hat sie uns schon beobachtet? Wir drei bleiben un beweglich stehen, wissen nicht recht, wie wir die Si tuation lösen sollen. »Warum guckt ihr so komisch?« Keith und ich sehen einander an. Es stimmt – wir haben einen komischen Gesichtsausdruck. Aber wo her weiß man, welcher Gesichtsausdruck angebracht ist, wenn man mit jemandem spricht, der sich, wie wir wissen, gerade mit einem deutschen Kurier getroffen hat? Und wenn sie nicht merken darf, daß wir Be scheid wissen? Sie legt das Buch, das sie in der Hand hält, auf den Schreibtisch, nimmt ein anderes in die Hand, zögert dann, runzelt die Stirn. »Ist das nicht deine Lupe hier?« fragt sie. »Was hat die Taschenlampe hier zu suchen? Und der Spiegel?« »Wir haben bloß gespielt«, sagt Keith. »Aber du weißt doch, daß ihr hier nicht spielen sollt«, sagt sie. »Geht nach draußen und spielt dort.« Wortlos steckt Keith die Lupe in die Hosentasche. Wortlos bringen wir die Taschenlampe und den Spiegel an ihren Platz. Als Keith die Haustür öffnet, sehe ich mich noch einmal um. Seine Mutter steht 63
noch immer in der Wohnzimmertür und beobachtet uns nachdenklich. Sie findet unser Verhalten wohl ebenso kurios wie wir das ihre. Und alles hat sich verändert, unvorstellbar und un widerruflich. Also spielen wir jetzt draußen, wie man uns geheißen hat. Wenn ich den Korridor der Jahre zurückblicke, habe ich das Gefühl, daß dies möglicherweise ein wei terer entscheidender Punkt in der Geschichte war – daß alles, was dann passierte, ganz anders gekommen wäre, wenn Keith’ Mutter nicht diesen einfachen, beiläufigen Vorschlag gemacht hätte: wenn wir wie der in Keith’ Spielzimmer gegangen wären und dort, in der heiteren, ordentlichen Welt seiner offiziellen Spielsachen, über unsere niederschmetternde Entdek kung gesprochen hätten. Aber draußen gibt es nur ei nen Ort, an dem wir unbeobachtet und unbelauscht reden können, und als wir dort ankommen, haben wir schon die Grenze überschritten, befinden uns schon in einem völlig anderen Land. Wenn man die richtige Stelle kennt in dem Ge strüpp, das früher einmal die vordere Hecke von Braemar war, kann man den Schirm aus Vegetation teilen und unter den Zweigen in einer Art niedrigem Gang bis zu einer Geheimkammer kriechen, die wir mitten im Dickicht freigelegt haben. Der Boden ist gestampfte Erde. Durch die Blätter dringt grünes Dämmerlicht. Selbst bei Regen ist man geschützt. Hier kann uns kein Mensch der Welt sehen. Es ist ein langer Weg, den wir von der Nußcreme und den sil bernen Fotorahmen zurückgelegt haben. Zwei Sommer zuvor war dies unser Camp, in dem 64
wir diverse Expeditionen in den afrikanischen Dschun gel planten und uns vor den berittenen kanadischen Polizisten versteckten. Letzten Sommer beobachteten wir hier die Vögel. Nun soll es als Hauptquartier ei ner sehr viel ernsteren Operation dienen. Keith hockt mit untergeschlagenen Beinen auf der Erde, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in die Hände gestützt. Ich sitze ihm gegenüber, ebenfalls im Schneidersitz, bemerke kaum die Zweige im Rücken oder die winzigen, an Fäden schwebenden Tierchen, die sich in meinen Haaren verfangen und mir in den Hemdkragen fallen. Vermutlich ist mein Mund mal wieder halb geöffnet, während ich ergeben darauf warte, daß Keith verkündet, was wir denken und was wir tun sollen. Es fällt mir sehr schwer, meine Empfindungen zu rekonstruieren – es ist alles so groß und so komplex. Das Bemerkenswerteste ist vielleicht die Größe. Nach all den Tagen und Jahren der Langeweile, kleiner Ängste, kleiner Bürden und Unzufriedenheiten sind wir endlich auf etwas Bedeutsames gestoßen. Uns ist eine große Aufgabe übertragen worden. Wir müssen unsere Heimat vor dem Feind schützen. Mir ist klar, daß das mit furchtbaren Schwierigkeiten und heftigen Loyalitätskonflikten einhergehen wird. Ich ahne deutlich, wie ernst und traurig alles sein wird. Mehr denn je bin ich mir der Ehre bewußt, daß ich mit Keith bekannt bin. Seine Eltern haben die heroi schen Dimensionen von Legendenfiguren angenom men – der edle Vater und die verräterische Mutter, die den uralten Kampf zwischen Gut und Böse, zwi schen Licht und Dunkel ausfechten. Nun ist es Keith vom Schicksal bestimmt worden, seinen Platz neben ihnen einzunehmen, die Ehre des einen hochzuhal 65
ten, indem er die Ehrlosigkeit des anderen bestraft. Und mir selbst wurde ein bescheidener Platz in der Geschichte zugewiesen, die Rolle des loyalen Knap pen und Schwertträgers, den jeder Held benötigt. Mir ist wohl auch klar, daß Keith bei all unseren Erlebnissen mehr ist als nur ein Protagonist – son dern auf rätselhafte Weise ihr Schöpfer. Für ihn ist das nichts Neues – ich denke nur an die Morde, die Mr. Gort begangen hat, an den Bau der Transkonti nentaleisenbahn oder den Geheimtunnel zwischen unseren Häusern. Jedesmal sprach er die Worte aus, und die Worte wurden Wirklichkeit. Er erzählte die Geschichte, und die Geschichte wurde lebendig. Aber noch nie wurde sie Realität, nicht wirklich Realität, so wie diesmal. Und so sitze ich da und sehe ihn an, warte darauf, daß er bekanntgibt, wie wir die Operation angehen werden, die er für uns vorgesehen hat. Er sitzt da, den Blick zur Erde gerichtet, tief in Gedanken versunken, offenbar ohne sich meiner Anwesenheit bewußt zu sein. In manchen Stimmungen findet er mich ebenso unbemerkenswert wie sein Vater. Zu meinen Aufgaben als Schwertträger gehört es jedoch, seine Phantasie anzuregen, indem ich sinnlose Vorschläge unterbreite. »Wir sollten deinem Vater Bescheid sagen.« Keine Antwort. Der Grund dafür ist mir klar, sobald ich den Vorschlag ausgesprochen habe und mir kon kret vorstelle, was er beinhaltet. Ich sehe, wie wir uns seinem Vater nähern, der im Garten arbeitet und da bei pfeift. Wir warten darauf, daß er sich umdreht oder Luft holt. Er tut weder das eine noch das andere. Keith muß also die Stimme heben: »Daddy, Stephen und ich haben in Mamas Taschenkalender gelesen …« 66
Nein. »Oder der Polizei«, sage ich versuchsweise. Ich bin allerdings nicht ganz sicher, was das prak tisch bedeutet. Ich habe keine Erfahrung mit Anzei gen – ich weiß nicht einmal, wo man die Polizei fin det, wenn man sie braucht. Die Polizei ist eben zufällig da oder auch nicht, spaziert langsam an den Geschäften vorbei, radelt langsam die Straße entlang. Und richtig, da kommt in meiner Phantasie prakti scherweise auch schon ein Polizist angeradelt. »Ent schuldigen Sie«, sagt Keith höflich, während ich hin ter ihm stehenbleibe. Der Polizist hält an und setzt einen Fuß auf die Erde, wie neulich vor dem Haus von Tante Dee. Er sieht mich und Keith genauso mißtrauisch an wie neulich die Kinder, die aufgeregt neben ihm herliefen. »Meine Mutter«, sagt Keith, »ist …« Aber die Wörter wollen sich nicht einstellen. Nicht gegenüber einem Polizisten. Jedenfalls reagiert Keith nicht. Mein nächster Versuch: »Wir könnten einen an onymen Brief an Mr. McAfee schreiben.« Mr. McAfee verwandelt sich abends oder am Wo chenende manchmal in eine Art Polizist, allerdings trägt er Schirmmütze statt Helm, und jedenfalls wis sen wir, wo er zu finden ist – er wohnt gleich neben Keith. Wir hatten ihm einmal einen anonymen Brief geschrieben und darin Vorwürfe gegen Mr. Gort er hoben. Keith hatte ihn selbst geschrieben, in verstell ter Schrift. Er hatte den Brief an Mr. Mercaffy adres siert und ihm mitgeteilt, daß wir vier menschliche Wirbelknochen entdeckt hätten. Bislang wurde Mr. Gort nicht verhaftet. Keith reißt sich aus seiner Trance. Er tastet unter den Zweigen am hinteren Ende unserer Geheim 67
kammer nach dem flachen Stein und nimmt den Schlüssel, den wir darunter verbergen. Am Rand der Kammer steht eine verbeulte schwarze Blechkiste, die wir in den Trümmern des Hauses gefunden und mit dem Schloß verschlossen haben, das ich zum letzten Geburtstag für mein Fahrrad geschenkt bekommen habe. Keith schließt auf und legt das Logbuch zu den anderen Dingen, die wir darin aufbewahren, ordent lich nebeneinander wie seine offiziellen Spielsachen. Außerdem gibt es noch ein verbogenes graues Metall stück von einem abgeschossenen deutschen Flugzeug, den Stummel eines zweifarbigen Stifts, wie er von Lehrern zum Korrigieren verwendet wird, am einen Ende blau, am anderen rot, den wir, genau wie die Kiste, aus den kaputten Überresten von Miss Dur rants Leben gerettet haben; einen Kerzenstummel und eine Streichholzschachtel, vier echte .22er-Patronen, die Keith in der Schule gegen ein Panzermodell ein getauscht hat; und der Union Jack, den wir am Empire Day und am Geburtstag des Königs an den Zweigen über der Kiste aufhängen. Keith entnimmt ihr nun unseren geheimsten und heiligsten Besitz – das Bajonett, mit dem sein Vater die fünf Deutschen tötete. Der metaphysischen Komplexität des Gegenstands, den Keith jetzt hält, wird diese schlichte Beschrei bung aber nicht gerecht. Es ist das geweihte Bajonett und ist es auch wieder nicht, so wie die Oblate und der Wein der Leib und das Blut eines Wesens sind und nicht sind, das Gott ist und nicht ist. In seiner physikalischen Beschaffenheit ist es ein langes, gera des Tranchiermesser, das wir, wie so viele andere Dinge auch, in den Ruinen von Miss Durrants Haus gefunden haben. Der beinerne Griff fehlt, und die 68
Klinge hat Keith am Schleifstein der väterlichen Werkbank geschliffen, so daß das Messer auf beiden Seiten scharf ist und spitz wie ein Rapier. Innerlich aber besitzt es die Identität des Bajonetts, das mit all seinen geweihten Attributen an jedem Wochenende mit Keith’ Vater zum Geheimdienst geht. Keith hält mir das Messer hin. Ich lege die Hand auf die Klinge, spüre erregt die Schärfe auf beiden Seiten. Keith schaut mir direkt in die Augen. »Ich schwöre«, sagt er. »Ich schwöre«, wiederhole ich. »Niemanden in unser Tun einzuweihen, es sei denn, es wurde mir ausdrücklich gestattet.« »Niemanden in unser Tun einzuweihen, es sei denn, es wurde mir ausdrücklich gestattet«, intoniere ich feierlich. Aber offenkundig nicht feierlich genug. Keith ist noch nicht ganz beruhigt. Er hält das Messer weiterhin in der Hand und schaut mir unverwandt in die Augen. »Von mir, Keith Hayward.« »Von dir, Keith Hayward.« »So wahr mir Gott helfe. Andernfalls soll mir die Kehle aufgeschlitzt werden.« Ich spreche die Worte nach, so gut ich kann. Vor lauter Ernst ist meine Stimme ganz leise geworden. »Stephen Wheatley«, sagt er abschließend. »Stephen Wheatley«, sage ich. Er legt das Bajonett wieder sorgfältig in die Kiste. »Dies wird unser Ausguck sein«, verkündet er. »Von hier aus werden wir das Haus beobachten, und wenn wir sehen, daß sie herauskommt, werden wir ihr folgen. Wir werden ihre Bewegungen genau regi strieren.« Wir bereiten uns auf diese Aufgabe vor, indem wir 69
diskrete Fenster im Buschwerk freilegen, durch die wir alles sehen können, was draußen auf der Straße vor sich geht, vor allem aber Keith’ Haus, etwas wei ter oben auf der anderen Straßenseite. Mir fällt eine praktische Schwierigkeit ein. »Und die Schule?« frage ich. »Das machen wir nach der Schule.« »Und wenn gerade Tee- oder Abendbrotzeit ist?« »Wir können uns ablösen.« Vor allem müssen wir sie natürlich beobachten, wenn sie am Ende des Monats bei Dunkelheit zu ih ren Treffen geht. »Und was machen wir nachts?« frage ich Keith. »Wir dürfen nachts nicht raus.« »Wir werden verknotete Stricke verstecken, an de nen wir uns aus dem Fenster abseilen können. Dann treffen wir uns hier. Wir besorgen uns noch ein paar Kerzen aus dem Luftschutzbunker.« Mich fröstelt. Ich fühle schon die rauhen Knoten des Stricks in meinen Händen und die unheimliche Kälte der Nachtluft. Ich sehe die flackernden Kerzen und das tiefe Dunkel der Nacht. Ich höre die leisen Schritte von Keith’ Mutter, während wir ihr hinter hergehen auf ihrem Weg zu den Geschäften, am Bahnhof vorbei, durch die Büsche oberhalb des Steinbruchs, hinaus auf das offene Gelände des Golf platzes … »Und dann? Was machen wir dann?« frage ich. Ir gendwann, so scheint mir, wird der Moment kommen, in dem diese große Operation zu einem Eingreifen der Behörden der Erwachsenenwelt führen muß. Keith greift wortlos zum Bajonett und sieht mich an. Was meint er? Daß wir selbst sie verhaften werden – mit vorgehaltenem Bajonett? Oder daß wir dem Bei 70
spiel seines Vaters folgen und dem Kurier, mit dem sie sich trifft, das Bajonett zwischen die Rippen jagen? Doch nicht etwa, daß wir …? Nicht seine eigene Mutter! Keith hat die Augenlider gesenkt. Sein Gesichtsaus druck ist entschlossen und unerbittlich. Er sieht aus wie sein Vater. Er sieht aus, wie sein Vater ausgese hen haben muß, als er, eines grauen Morgens im letz ten Krieg, vor der Schlacht das Bajonett auf seinen Revolver aufpflanzte. Mich fröstelt wieder. Neumond … ich spüre schon, wie die Dunkelheit mich umgibt, auf meine Augen drückt … Keith öffnet die Kiste wieder. Er holt eine weiße Badezimmerkachel heraus, die wir in den Trümmern gefunden haben, und den Bleistiftstummel. Mit dem roten Ende schreibt er in ordentlichen Druckbuch staben ein Wort darauf und befestigt die Kachel in einer Astgabel am Eingang zu unserem Ausguck. – PREVAT steht da. Ich möchte das nicht in Frage stellen, nachdem Keith das Wort so ordentlich und mit so großer Au torität geschrieben hat. Und der Sinn ist ja ohnehin klar – daß wir eine lange Reise auf einem einsamen Weg beginnen, bei der wir ganz allein sind.
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Sie beugt sich über ein Funkgerät, das im Kellerge wölbe der alten Burg versteckt ist, und bedient die Morsetaste, und ich will gerade durch eine Geheim tür hereinstürzen und ihr das Handwerk legen, als ich höre, daß mein Name gerufen wird. Ich trete aus dem Schatten der Burg und stelle fest, daß Mr. Pawle mit ironisch-geduldigem Gesichtsausdruck an der Tafel lehnt und die ganze Klasse kichernd zu mir herüber sieht. Alle warten darauf, daß ich eine Frage beant worte, die er mir gestellt hat. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie die Frage lautete, nicht einmal, welches Thema gerade behandelt wird. In der Mittagspause praktizieren Hanning und Neale wieder ihr übliches Ritual. Sie packen mich an den Ohren, ziehen meinen Kopf hin und her und ru fen: »Wheatley, du wehleidiges Würstchen«, doch ausnahmsweise fühle ich mich ihnen nicht ganz so ausgeliefert, denn die enorme Bedeutung des gehei men Wissens, das zwischen diesen beiden gepiesack ten Ohren steckt, gibt mir Kraft. Sobald die Schule aus ist, laufe ich sofort zu unse rem Versteck und beginne, das Haus der Haywards zu beobachten. Aber kaum ist Keith gekommen, muß ich schon nach Hause zum Nachmittagstee, und kaum bin ich wieder zurück und er auch, müssen wir wieder nach Hause, Schulaufgaben machen, zu Abend 73
essen, ins Bett gehen. Genau, wie ich es schon geahnt hatte. Wir haben einer Aufgabe von nationaler Be deutung nachzugehen, aber ständig wird unsere Ar beit von unwichtigen Alltagsdingen durchkreuzt. »Zappelphilipp!« sagt meine Mutter. Ich sitze un ruhig am Eßtisch und seufze, während ich gekochten Fisch esse oder vielleicht über der Lateinhausaufgabe schwitze. »Was ist los mit dir?« Geoffs höhnisches Grinsen ist zum Verrücktwerden. »Hat sich dein bekloppter Kumpel wieder mal ein Spiel ausgedacht?« fragt er. »Was ist es denn dies mal? Oder seid ihr immer noch hinter dem Affen menschen auf dem Golfplatz her?« Ich ertrage alles schweigend. Gern würde ich eine rätselhafte Andeutung machen und sehen, wie sie dann schauen. Aber ich lasse es sein. Ich habe einen Eid geschworen, den ich peinlichst genau befolgen werde. »Wohin willst du denn jetzt?« ruft meine Mutter, als ich den Mund am Handrücken abwische oder mein Schulheft zuklappe und aufspringe, um an mei nen Posten zurückzukehren. »Heute abend gehst du nicht mehr zu Keith, das sag ich dir gleich!« »Ja, ja – ich gehe nicht zu Keith!« »Stimmt, sie treiben sich in anderer Leute Gärten rum«, sagt Geoff. »Du weißt überhaupt nicht, was wir machen!« »Ich habe dich gesehen, mein Lieber! Seid um Mr. Gorts Haus herumgeschlichen und habt nach Affen menschen gesucht! Irre lächerlich, in deinem Alter!« Und ich habe ihn vor Deirdre Berrills Haus herum schleichen sehen. Aber das ist irre schändlich, das kann man nicht einmal in einem Streit erwähnen. »Jedenfalls«, sagt meine Mutter, »heute abend 74
könntest du ruhig mal dableiben. Es ist nämlich Frei tag.« Stimmt, es ist wieder Freitag, was die ganze Sache noch vertrackter macht. Aus irgendeinem Grund heißt es immer, daß es nett wäre, wenn ich Freitag abend dabliebe, und immer liegt ein unausgesproche ner, unklarer Vorwurf in der Luft, wenn ich diese er hoffte Nettigkeit verweigere und hinausgehe. »Und Daddy ist auch da – er sieht dich überhaupt nie!« Natürlich, sogar mein Vater ist da. Sitzt wieder einmal dösend im Sessel und wacht bei unseren Wor ten allmählich auf. Lächelt mich verschlafen an und bekräftigt den Hinweis meiner Mutter, indem er zeigt, wie sehr er sich freut, mich nach so langer Zeit zu Gesicht zu bekommen. »Ah, Stephen«, sagt er in seiner langsamen, metho dischen Art. »Soso! Setz dich! Erzähl! Erzähl mir et was!« Widerstrebend setze ich mich in den zweiten Sessel. Freitag – mein Vater – Berichterstattung erforderlich. Ich sitze in der Falle. »Was soll ich denn erzählen?« »Was ihr heute in der Schule gemacht habt.« Was soll ich sagen? Soll ich von Mr. Sankey erzäh len, der mich ins rechte Ohr kniff, weil ich nicht wuß te, wie der Ablativ von quis heißt, oder von Mr. Pawle, der mich ins linke Ohr kniff, weil ich so eifrig dabei war, Keith’ Mutter beim Übermitteln von Nachrichten an die Deutschen zu beobachten, daß ich nicht einmal wußte, was er gefragt hatte, oder von Hanning und Neale, die beide Ohren gleichzeitig malträtierten, weil ich, trotz der vielen an mich ergangenen Warnungen, weiterhin das wehleidige Würstchen Wheatley bin? 75
»Wir haben wiederholt«, sage ich. »Was habt ihr wiederholt?« Ich kann mich nur mit größter Mühe erinnern. »Gleichungen und so. Und Kanada. In Geographie. Weizen und Bodenschätze und so.« »Aha«, sagt er. »Bestens. Also – wie groß ist x, 2 wenn 7x gleich 63?« Über seinem Kopf, durch das Fenster schwach zu erkennen, hängt ein kabbalistisches Symbol. Ein blaß schimmernder Neumond, ein umgekehrtes C am hel len blauen Himmel wie ein Omen, das nur ich erken nen kann. Mittlerweile bestimmt der Himmelskalen der die Tage. Erst nimmt der Mond zu, dann nimmt er ab, bis er in Schwärze verschwindet, in das X, die Unbekannte in der Gleichung, die wir lösen müssen. Ich weiß nicht mehr, wie die Gleichung lautet, die mir mein Vater gestellt hat. »Solche Gleichungen behandeln wir nicht«, sage ich ungeduldig. »Nein? Na schön. Wie groß ist die jährliche kana dische Weizenproduktion, ausgedrückt in kanadi schen Dollar oder Pfund Sterling – was dir lieber ist?« Ich zucke mit den Schultern. Wie kann ich mich mit der kanadischen Wirtschaft abgeben, wenn ich weiß, daß irgendwo dort draußen im Abendlicht eine Spionin die Geographie unseres Viertels auskund schaftet? Auf einer Karte die Munitionsfabrik ein zeichnet, in der Mr. Pincher arbeitet … in Paradise geheime Untergrundlaboratorien findet … vielleicht eine der großen Spionageoperationen durchführt, die mit einem Ausrufezeichen verzeichnet werden … Mein Vater will nun alles über mein Leben wissen, nachdem er schon mal angefangen hat. In seiner freundlichen, methodischen Art stellt er immer neue Fragen. Ob ich mit den anderen jetzt besser zurecht 76
komme? Ob sie mich noch immer hänseln? Das fragt er, weil ich von meiner Mutter einmal wissen wollte, was ein Itzig ist. Sie sagte nichts, sondern bugsierte mich nur ins Eßzimmer, wo mein Vater am Tisch saß, vor sich die ausgebreitete Arbeit, und ließ mich die Frage wiederholen. Inzwischen war mir natürlich klar, daß ein Itzig bestimmt zu jener großen Gruppe von Dingen gehört, von denen man niemals sprechen darf. Ich ahnte, daß es etwas mit Mädchen zu tun hat te. Mein Vater musterte mich lange, so wie damals, als ich ihm von den Juhn in Trewinnick erzählt hatte. »Hat das jemand zu dir gesagt?« fragte er. Ich schüt telte rasch den Kopf und spürte, wie ich errötete. Er sah mich nach wie vor an. »Jemand in der Schule?« »Nein.« »Was haben sie sonst noch gesagt?« »Nichts.« Er seufzte und rieb sich die Augen, wie immer, wenn er müde war. »Nimm’s nicht so wich tig«, sagte er schließlich. »Vergiß es. Zerbrich dir nicht den Kopf. Und sag mir Bescheid, wenn jemand noch einmal so was sagt, dann red ich mit der Schul leitung.« Nein, sage ich ihm jetzt, niemand hänselt mich. Und wer sind meine besten Freunde in der Klasse? Wer ist mein Lieblingslehrer? Machen mir die Na turwissenschaften mehr Spaß als früher? Ich meinerseits möchte wissen, was daran so merk würdig ist, an Freitagabenden hinauszugehen und zu spielen. Warum mein Vater keine Deutschen getötet hat. Warum niemand von uns bei der Royal Air Force ist. Warum wir einen so peinlichen Namen wie Wheatley haben. Warum wir nicht einen haben kön nen, der mehr wie Hayward klingt. Unser Leben hat irgendwie etwas Trauriges, aber ich kann nicht so recht den Finger darauf legen. Manchmal, wenn ich 77
von der Schule nach Hause komme, darf ich nicht in das vordere Zimmer, weil dort ein melancholischer Fremder sitzt und schweigend darauf wartet, daß mein Vater nach Hause kommt und ein bekümmertes Gespräch mit ihm führt, das Geoff und ich nicht mit anhören dürfen. Es wird schon allmählich Schlafenszeit, als es mir endlich gelingt, von meiner unbefriedigenden Familie loszukommen und Hals über Kopf aus dem Haus zu stürzen. Ich laufe so schnell hinaus, daß ich fast mit ihr zusammenstoße. Sie schlendert nach Hause, den Close hinauf, kehrt von irgendwoher zurück. Wir bleiben stehen, auch jetzt wieder fast erschrocken, einander zu sehen, irritiert wie ein Großwildjäger und ein Tiger, die unerwartet aufeinandertreffen. »Meine Güte, Stephen«, sagt sie. »Hast du’s aber eilig! Wo willst du denn hin?« »Nirgends.« Mein übliches Ziel, wie sie sofort merkt. »Keith ist schon zu Bett gegangen, Stephen. Komm morgen vorbei, dann kannst du mit ihm spielen.« »Ist gut«, murmle ich stoffelig und laufe ebenso rasch, wie ich gekommen bin, wieder zurück durch unsere Gartentür. Als ich später, nachdem mein Pulsschlag sich beru higt hat, über dieses Zusammentreffen nachdenke, erscheint mir nicht nur ihre gefaßte Haltung merk würdig, sondern noch etwas anderes. Sie wirkte ir gendwie abwesend. Deshalb war sie so überrascht – weil sie so sehr in ihren Gedanken versunken war. Und sie hat mich direkt angesprochen. Ich glaube, das war das erste Mal. Woran sie wohl gedacht hat? Wenn ich mich an ih ren Gesichtsausdruck erinnere und daran, wie sie 78
Stephen zu mir sagte, dann glaube ich, daß es traurige Gedanken waren. Zum erstenmal, glaube ich, denke ich darüber nach, daß es einem in der Seele weh tun muß, sein Heimatland zu verraten, und daß bei den Haywards noch mehr unbeantwortete Fragen in der Luft liegen als bei uns. Ich vermute, daß wir erst am folgenden Samstag ernst haft mit unseren Beobachtungen beginnen. Stunden lang sitzen wir auf unserem Posten, ohne daß irgend etwas passiert. Es ist, als beobachteten wir die fast un merkliche Strömung eines trägen flachen Flusses, in dem es nur gelegentlich vorbeischwimmendes Treib gut oder einen lethargischen Strudel zu sehen gibt. Das wichtigste Ereignis des Vormittags ist das Ein treffen des Milchmanns. Erst die Geräusche des lang sam sich nähernden Wagens: das Klappern der Pfer dehufe … das leise Klirren des Geschirrs, während das Pferd wartet und dann weitertrottet … Dann taucht der Wagen direkt vor uns auf, der Milchmann geht zu Fuß hinterher, den Blick in das vertraute, ab genutzte Kundenbuch gerichtet, das vertraute Gum miband um die eine Seite gespannt … Das Pferd war tet wieder, in melancholischen Gedanken versunken, bläst durch die Nüstern und uriniert ausgiebig, wäh rend der Milchmann die Flaschen nimmt und die nächsten Häuser ansteuert. Keith beobachtet ihn durch sein Vogelbeobach tungsfernglas, sieht, wie er den Weg zur Küchentür seiner Mutter hinaufgeht. Ob der Milchmann ebenfalls zu dem Agentenring gehört? Spioniert er die Geheim nisse der Häuser aus, die er beliefert – schreibt er al les in das Kundenbuch – gibt er die Informationen an Keith’ Mutter weiter, die sie ihrerseits weitergibt …? 79
»10.47 Uhr«, sagt Keith, mit einem Blick auf die Armbanduhr, die er zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hat. »Milchmann trifft ein.« Ich notiere das im Logbuch. »10.48 – Milchmann geht weiter.« Nachdem der Milchwagen weitergefahren ist, tritt Norman Stott mit einer Schaufel und einem klap pernden Eimer aus Nr. 13. Er geht direkt an uns vor bei, spricht düster vor sich hin und verschwindet aus unserem Blickfeld. Man hört Scharren auf Kies. Wir müssen nicht hinsehen, um zu wissen, was Norman tut. »Pferdeäpfel.« So bezeichnet mein Vater aus irgend einem peinlichen, ausgefallenen Grund den Pferde mist. Für einen kurzen Augenblick geht es wieder auf wärts, als Mrs. McAfee aus Nr. 8 langsam die Straße entlanggeht, in der Hand irgendeinen Gegenstand, und Nr. 13 betritt. Das ist interessant. Die Stotts ge hören nicht zu den Leuten, mit denen die McAfees normalerweise verkehren. Mrs. Stott öffnet die Tür. Sie reden … Mrs. McAfee gibt Mrs. Stott den Ge genstand, den sie in der Hand hatte … Keith schaut durch sein Fernglas. »Eine Gartenschere«, flüstert er. »Soll ich’s aufschreiben?« flüstere ich. Er schüttelt den Kopf. Dreimal die Stunde ist das gedämpfte Geräusch ei nes Zuges zu hören, der aus dem Einschnitt hinter dem Haus der McAfees kommt, weiter den Bahn damm hinter den Haywards entlangfährt, über den Tunnel hinter den Sheldons rumpelt und dann vor dem Bahnhof langsamer wird. Dreimal die Stunde ist ein Zug zu hören, der den Bahnhof in der entgegen gesetzten Richtung verläßt, allmählich schneller wer 80
dend über den Tunnel rumpelt, den leicht ansteigen den Bahndamm hinauf und vom Einschnitt ver schluckt wird. Der Hund der Stotts jagt die Katze der Hardiments die Straße entlang, bleibt dann etwas ratlos vor unse rem Versteck stehen und schaut lange in unsere Rich tung, wedelt fragend, aber zuversichtlich mit dem Schwanz. Es ist eine Promenadenmischung mit hel lem Fell und einem großen Fleck auf dem Rücken, deutlich wie die R.A.F.-Kokarde auf einer Flugzeug tragfläche. Mit seiner Neugier macht er nicht nur die ganze Straße auf uns aufmerksam, sondern auch alle feindlichen Maschinen, die vorüberfliegen. Schließlich verliert er das Interesse. Er gähnt, hebt das Bein und trollt sich, wälzt sich im Staub der Stra ße. Selbst die flachgetretenen Pferdehaufen sind in teressanter als wir. In den Häusern auf unserer Straßenseite mögen aufschlußreiche Dinge vorgehen, aber wir können nichts sehen. Auf der anderen Straßenseite passiert nichts mehr nach der Aufregung mit dem Milch mann, nicht in Keith’ Haus, nicht bei den Sheldons oder bei Tante Dee, nicht bei den Stotts oder den McAfees … Gewisse Entwicklungen sind bei Mr. Gort und in Trewinnick zu beobachten. Mr. Gort tritt aus dem Haus, bleibt einen Moment unschlüssig auf der Stra ße stehen und geht dann wieder hinein. Im oberen Geschoß von Trewinnick zieht eine mysteriöse Hand den Vorhang hinter den immergrünen Pflanzen zu rück, aber wir können nicht erkennen, wem sie ge hört. Mr. Gorts Haus und Trewinnick haben ja schon immer irgendwie unheimlich gewirkt. Aber alle diese stummen Häuser wirken unheimlich, wenn man sie 81
so ansieht. Je weniger man von außen bemerkt, desto sicherer ist man, daß drinnen merkwürdige Dinge vor sich gehen … Die Sonne kommt heraus. Die Sonne verschwindet wieder. Langsam verliert sich die allgemeine Fremdheit wieder. Eine bleierne Ödnis legt sich über die Straße. Meine Aufmerksamkeit läßt nach. Ich nehme das Fernglas, halte es verkehrt herum vor die Augen und betrachte Keith. Er entreißt es mir. »Mann, du verstellst es nur«, flüstert er. »Geh doch nach Hause, wenn du dich langweilst!« Die Stimme seines Vaters und wieder der Ge sichtsausdruck seines Vaters. Ich merke, daß mir dieses Spiel keinen Spaß mehr macht. Ich hocke auf der nackten Erde, in diesem öden Gebüsch, die Zweige piksen mich im Rücken, Raupen fallen mir in das geöffnete Hemd, rebellisch richte ich den Blick auf die Ameisen, die über den staubigen Boden eilen, statt auf die stumpfsinnige Er eignislosigkeit der Straße. Ich merke, daß ich es satt habe, so zu tun, als würde ich alles glauben, was Keith sagt. Ich habe es satt, die ganze Zeit herumkomman diert zu werden. »Mein Vater ist übrigens auch ein deutscher Spion«, sage ich. Keith stellt wortlos das Fernglas ein. »Wirklich«, sage ich. »Er hat geheime Bespre chungen mit Leuten, die zu uns in Haus kommen. Sie unterhalten sich in einer anderen Sprache. Und zwar Deutsch. Ich hab’s gehört.« Keith’ Lippen verziehen sich jetzt ein wenig, er wirkt halb belustigt, halb herablassend. Aber es stimmt! Mein Vater schließt sich tatsächlich mit ge 82
heimnisvollen Besuchern ein, und sie sprechen tat sächlich eine fremde Sprache. Ich habe es doch ge hört! Warum soll es denn nicht Deutsch sein? War um soll mein Vater kein deutscher Spion sein, wenn Keith’ Mutter eine deutsche Spionin ist, aber sich nicht einmal mit anderen Leuten in fremden Spra chen unterhält – sondern nur sinnlose Zeichen in ih ren Taschenkalender einträgt, die überhaupt nichts bedeuten? Ich gehe jetzt nach Hause. Ich fange an, den Gang entlangzukriechen. »Da ist sie«, flüstert Keith. Ich halte an und gucke unwillkürlich hin. Keith’ Mutter ist zur Küchentür herausgekommen, die Ein kaufstasche am Arm. Sorgfältig macht sie die Garten tür hinter sich zu und geht, ganz gelassen wie immer, die Straße entlang. Wir beobachten sie wie gebannt. Keith vergißt sogar, durchs Fernglas zu schauen. Sie passiert Trewinnick und Mr. Gorts Haus und öffnet Tante Dees Gartentür, geht den Weg hinauf, winkt in Richtung Wohnzimmerfenster, öffnet die Haustür und verschwindet im Innern. Automatisch greife ich nach dem Logbuch. »12.17«, flüstert Keith. Ich notiere es. Unsere Langeweile ist verflogen und mit ihr die Mißstimmung zwischen uns und meine Zweifel. Schweigend beobachten wir Tante Dees Haus. Wieder kommt mir alles so merkwürdig vor. Warum hat Keith eine Tante, die drei Häuser weiter wohnt? Tanten wohnen nicht in derselben Straße wie man selbst. Sie leben in fernen Orten, die man ein-, zwei mal im Jahr besucht, allerhöchstens, und lassen sich nur an Weihnachten blicken. Und Keith’ Mutter be sucht sie nicht nur zwei-, dreimal im Jahr, sondern 83
jeden Tag. Während ich auf die Mandelbäume und das braune Fachwerk von Tante Dees Haus starre, wird mir zum erstenmal bewußt, wie sonderbar diese Be ziehung ist. Wenn wir Tante Nora oder Tante Mel besuchen, leiden wir alle gemeinsam. Keith’ Mutter besucht Tante Dee allein. Immer ganz allein. Jeden Tag. Worüber mögen sie wohl sprechen? Ich denke an die Fotografie auf dem Schreibtisch von Keith’ Mutter, und zum erstenmal kommt mir der Gedanke, daß sie, wenn sie als kleine Mädchen Schwestern waren, nach wie vor Schwestern sein müs sen. Ein erstaunlicher Gedanke. Gewiß, wenn meine Mutter mit meinem Vater redet, dann bezeichnet sie Tante Mel manchmal als ihre Schwester, aber ich hatte mir noch nie überlegt, daß erwachsene Schwe stern ja genauso Schwestern sind wie Deirdre und Barbara Berrill. Ich versuche mir Keith’ Mutter und Tante Dee als eifersüchtige Schwestern vorzustellen, die einander verpetzen … sich Geheimnisse zuflüstern. Was für Geheimnisse mögen sie als Erwachsene haben? Geheimnisse, die Onkel Peter betreffen, viel leicht. Wo er ist und was er macht – kleine, scheinbar harmlose private Informationen. Keith’ Mutter wird sich daraus ein Bild über die Operationen des Bom berkommandos machen können … In diesem Mo ment zeigt Tante Dee ihr vielleicht Onkel Peters Brief, den sie gerade bekommen hat. Darin stehen ein paar unvorsichtige Bemerkungen, daß sein nächster Urlaub gestrichen worden sei und daß er sich sehr darauf freue, Adolf Hitler persönlich ins Visier zu nehmen … und wenn seine Staffel bei der nächsten Mission Berlin erreicht, wird die Luftwaffe sie merk würdigerweise schon erwarten … Onkel Peters Flug zeug wird als erstes getroffen … 84
Oder ist Tante Dee etwa auch eine Spionin? Jetzt sehe ich Onkel Peter, der nun doch auf Urlaub nach Hause kommt, er geht die Straße hinauf, die Mütze verwegen auf dem Kopf, wie immer, umringt von al len Kindern. Diesmal versuchen sie aber nicht, seine Uniform zu berühren, sie betteln nicht darum, seine Mütze aufsetzen zu dürfen. Sie rufen ihm zu, daß Tante Dee abgeholt worden ist – sie ist als Spionin enttarnt worden und sitzt im Gefängnis. Und wo ist die kleine Milly? Sie hockt mutterseelenallein im Wohnzimmer und weint … Ich habe einen Kloß im Hals. Onkel Peter tut mir so leid. Milly tut mir so leid. Tante Dees Haustür geht auf, und Keith’ Mutter tritt heraus. Tante Dee steht auf der Schwelle, ohne zu lächeln, die Hände an die Lippen gepreßt, als wolle sie ihr eine Kußhand zuwerfen, während Keith’ Mut ter durch die Gartentür tritt und mit dem Einkaufs korb die Straße hinuntergeht. Sie ist wieder unter wegs, um für Tante Dee einzukaufen. »Zeit?« flüsterte ich hastig und greife zum Log buch, als Tante Dee die Haustür wieder schließt, ohne eine Kußhand geworfen zu haben. Aber Keith kriecht schon eilig durch den Gang, denkt nicht mehr an das Logbuch. Ich folge ihm, so schnell ich kann. Wir werden seine Mutter beim Ein kaufen beobachten. Als wir aus dem Gebüsch hervortreten, ist sie bei den Hardiments schon um die Ecke gebogen. Wir laufen ihr hinterher, spähen bei den Hardiments vor sichtig um die Hecke. Sie ist verschwunden. Am Ende des Close kann man eigentlich nur nach links weitergehen, denn rechter Hand verwandelt sich 85
die Straße fast sofort in einen heckengesäumten Feldweg, der in dem dunklen, nicht mehr benutzten Tunnel verschwindet, über den die Eisenbahn so un heimlich hinwegrumpelt. Aber linker Hand führt die von blühenden Kirschbäumchen gesäumte Allee in einer langen, geraden Linie zur Hauptstraße und zu den Geschäften, wo Keith’ Mutter einkauft. Die Allee ist etwas ganz anderes als der Close. Auf den ersten Blick sehen die Häuser zwar ähnlich aus, aber sobald man um die Ecke biegt, merkt man, daß man fremdes Gebiet betritt, hier fängt die Außenwelt an. Ein paar Schritte weiter stößt man auf den Beitrag zur Landesverteidigung – übelriechende Abfallkübel, in denen die Essensreste der Nachbarschaft gesam melt werden. Am anderen Ende, an der Ecke zur Hauptstraße, steht der Briefkasten, in den Keith’ Mutter diesen nicht enden wollenden Strom verdäch tiger Korrespondenz einwirft. Um die Ecke, von hier aus nicht zu sehen, ist die Ladenzeile mit den Ge schäften, die sie so oft besucht, und die Bushaltestelle, an der ich auf den 419er warte, der mich zur Schule bringt. Dann gibt es Paradise, den Bahnhof, wo mein Vater jeden Morgen den Zug nimmt, die Munitions fabrik, in der Mr. Pincher sein ganzes Zeug klaut, den Golfplatz, auf dem in der Dunkelheit deutsche Flug zeuge landen … Die Allee liegt jetzt vor uns, deutlich und schnurge rade, von den Abfallkübeln an diesem Ende bis zum Briefkasten am anderen. Hucknalls Laufbursche be liefert gerade ein Haus auf der rechten Straßenseite. Auf dem linken Gehsteig triezen zwei Jungen, die ich von der Bushaltestelle kenne, einen kleinen weißen Hund – wie nicht anders zu erwarten bei Kindern aus dieser Gegend. Aber von Keith’ Mutter keine Spur. 86
Sie ist schneller zur Hauptstraße gegangen, als wir für die halbe Strecke des Close gebraucht haben. Wir laufen wie blöd hinter ihr her. Atemlos errei chen wir die Ecke. Wir verstecken uns hinter dem Briefkasten und schauen nach links in die Richtung der Geschäfte. Fahrräder, Kinderwagen, Menschen. Zwei alte Damen steigen an der Haltestelle gerade aus dem 419er, und drei Kinder mit Badezeug steigen ein … Ich schaue hierhin und dorthin, suche das eine bekannte Detail, das wir finden wollen … Ich kann es nirgends entdecken. Wir schauen auf die andere Straßenseite, den holprigen Weg, der nach Paradise führt … Nichts. Wir schleichen links um den Briefka sten herum und schauen in Richtung Bahnhof und Golfplatz … Nein. Sie muß schon in einem der Geschäfte sein. »Du schaust in alle Geschäfte auf dieser Seite«, ordnet Keith an. »Ich nehme die gegenüber. Paß auf, daß sie dich nicht sieht.« Ich laufe von einer vertrauten Tür zur nächsten. Court’s Bakery mit dem Geruch von warmen, gla sierten Rosinenbrötchen, der mich sofort hungrig macht … aber keine Spur von Keith’ Mutter. Cop pards, auch dort ein wunderbarer Geruch, nach Bü chern und Bleistiften, Süßigkeiten und Zeitungen. Mrs. Hardiment studiert gerade die Romane in der Ecke, wo die Bücher stehen. Aber Keith’ Mutter ist nicht da … Vor dem Lebensmittelgeschäft eine Schlange. Ich weiß nicht, wie ich es verhindern kann, daß sie mich sieht, wenn sie in der Schlange steht und sich plötzlich umdreht … Aber sie ist nicht da. Auch bei Hucknalls natürlich eine Schlange … da ist sie aber auch nicht … Wainwrights, wo ich mit Keith manchmal hingehe, um ihm zu helfen, die Tüten mit 87
Hühnerfutter nach Hause zu schleppen … Ist nicht ganz leicht, an den offenen Säcken Getreide und Schrot vorbei, die vor dem Geschäft auf dem Bür gersteig stehen, in das säuerlich-stickige Dunkel im Innern zu schauen, aber ich glaube nicht, daß sie dort ist … Auch in der Apotheke ist sie nicht, ebensowenig im Kurzwarenladen oder irgendeinem Geschäft auf Keith’ Seite. Sie ist einfach verschwunden. Langsam gehen wir zur Allee zurück und versuchen, uns einen Reim darauf zu machen. Der Einkaufskorb war Tar nung, sagt Keith. Sie wollte zu einem ihrer Treffen. Aber wo? »Bestimmt in einem der Häuser in der Allee«, sage ich. Das scheint logisch, aber wenn man sich die Häuser ansieht, dann wird sofort klar, daß die Leute, die dort wohnen, nicht die Sorte Leute sind, mit de nen Keith’ Eltern verkehren. Man kann sich kaum vorstellen, daß Keith’ Mutter tatsächlich auf eine die ser Türen zugeht, nicht einmal aus den dringendsten und niedrigsten Beweggründen. Keith kommentiert meinen Vorschlag nicht. »Dieser Kanalisations schacht …« murmelt er, als wir an dem beschlagenen Eisendeckel in der Nähe der Abfallkübel vorbeikom men. Das erscheint mir plausibler, durchaus. Es könnte der Eingang zu einem der unterirdischen Gänge sein, von denen es in dieser Gegend wimmelt. In diesem Fall könnte sie schon überall sein – auf dem Golfplatz, in dem alten Steinbruch oder in einem ab gelegenen Haus auf dem Land, mit abgedunkelten Fenstern und Wachhunden … Ihr tatsächlicher Aufenthaltsort, den wir kurz darauf entdecken, ist sehr viel prosaischer. Und überra schender. 88
Sie ist bei Tante Dee. Die Haustür geht in dem Moment auf, als wir vor beikommen. Keith’ Mutter tritt, den Einkaufskorb am Arm, heraus. Mich überläuft es kalt, genau wie neulich, als wir den Code in ihrem Taschenkalender fanden. Es ist nicht möglich! Sie ist zu den Geschäf ten gerast, bevor wir das Ende des Close erreichten, und ist quasi im selben Moment wieder zurückgerast. Oder die Zeit ist zurückgesprungen, und die letzten fünfzehn Minuten hat es nicht gegeben. Wieder steht Tante Dee auf der Schwelle und sieht ihr hinterher. Wieder öffnet Keith’ Mutter das Gartentor. Doch diesmal geht sie nicht in Richtung Geschäfte, sondern nach Hause, bleibt aber stehen, als sie Keith und mich sieht. »Na, was habt ihr beiden denn den ganzen Vormit tag getrieben?« fragt sie und geht mit uns die Straße entlang, während Tante Dee uns hinterherwinkt und die Tür schließt. »Gespielt«, sagt Keith. Ich höre, daß er genauso fassungslos ist wie ich. Auch seine Mutter merkt, daß etwas los ist. Sie mu stert uns aufmerksam. »Meine Güte, schon wieder dieser komische Ge sichtsausdruck«, sagt sie. »Geht hier etwas Rätselhaf tes vor? Etwas, das ich nicht wissen soll?« Wir schweigen. Vermutlich könnten wir sie einfach fragen, wo sie war, aber auf diesen Gedanken kom men wir nicht. Die Welt hat sich in einen dieser Träume verwandelt, in denen man glaubt, man habe das alles schon einmal erlebt. Es sei denn, wir haben es uns nur eingebildet, daß wir sie vor fünfzehn Mi nuten aus Tante Dees Haus haben kommen sehen … »Wie auch immer, Jungs«, sagt sie, »ich fürchte, ihr 89
müßt eine kleine Pause machen, denn es ist fast Mit tagszeit.« Was wäre erschreckender – in einem Traum zu le ben oder in einer Geschichte, die unsere Erinnerung überwältigt hat? In den nächsten Tagen reden wir lang und breit über das Problem, wenn wir in unserem Versteck sitzen und auf eine neue Gelegenheit warten. Möglicher weise hat der Geheimgang unter dem Kanalisations deckel eine Abzweigung, die direkt zu Tante Dees Haus führt. Oder Keith’ Mutter hat sich am unteren Ende des Gartens der Hardiments verdrückt – er liegt an der Allee und stößt auf unseren Garten und den der Pinchers – und ist via Braemar wieder auf die Straße zurückgekommen, sobald sie uns auf die fal sche Fährte gelockt hat. Wir heben den Kanalisationsdeckel hoch. Dort un ten ist tatsächlich ein geheimer Gang, aber er stinkt unbeschreiblich und ist anscheinend nur einen halben Meter breit. Am unteren Ende des Gartenzauns der Hardiments entdecken wir ein lockeres Brett, aber als wir es aufstemmen, ist die Lücke trotzdem viel zu schmal für uns, und ohnehin steht auf der anderen Seite ein Stapel aufgetürmter Hyazinthengläser. Wir können nichts anderes tun als warten und Aus schau halten, bis sie wieder das Haus verläßt. Was sehen wir in der Zwischenzeit von unserem Guckposten aus? Beziehungsweise träumen, es zu se hen, oder glauben, es zu sehen, oder glauben später, daß wir uns erinnern, es gesehen zu haben? Den Polizisten, ja. Durch das Gebüsch sehen wir ihn langsam die Straße entlangradeln, er taucht auf und verschwindet … Nein, das war früher, ehe die 90
Geschichte begann … Andererseits konnte er erst ge kommen sein, nachdem Mrs. Berrill den Eindringling gesehen hatte … Oder gab es zwei verschiedene Poli zisten, den einen früher, den anderen später, die in meiner Erinnerung zu einem verschmolzen sind? Durch das Gebüsch sehe ich jetzt Onkel Peter auf Heimaturlaub, lächelnd und vergnügt steht er vor sei nem Haus, die blaue Uniform rosa gesprenkelt mit Mandelblüten, die wie rosa Schnee auf seiner Uniform liegen, und sämtliche Kinder unserer Straße umrin gen ihn. Sprachlos starren sie ihn an, ihre ehrfürchti gen Gesichter spiegeln sich in jedem der blanken Messingknöpfe seiner Uniform. Der Adler an seiner Schildmütze hebt das stolze Haupt unter der gold roten Krone und breitet die Flügel schützend über Norman und den armen kleinen Eddie aus über die beiden Geests, über Roger Hardiment und Elizabeth Hardiment, über die beiden Averys und die beiden Berrills, ja sogar über meinen Bruder Geoff … Nein, auch das war früher. Wenn der Mandelbaum blühte, muß es früher gewesen sein. Keith und ich sitzen nicht in unserem Versteck – wir sind bei den anderen, gebannt wie sie von den goldschimmernden Knöpfen, stolz unter dem hochmütigen Blick des Adlers … Es sei denn, wir haben Onkel Peter überhaupt nie gesehen, und er ist einfach aus diesem silbergerahm ten Schwarzweißfoto herausgetreten, das auf dem Kaminsims steht … Aber an die Farben erinnere ich mich, so deutlich wie nur an irgend etwas in meinem langen Leben! An das Blau der Uniform, das Rosa der Blütenblätter, an die beiden blutroten Punkte in der Krone über dem Adler. Und ich erinnere mich an die Laute! An sein Lachen … an Millys Lachen. Er und 91
Milly lachten, weil er sie in den Armen hielt und sie nach dem hübschen goldenen Schmuck an seiner Uniformmütze greifen wollte … Und jetzt ist Nacht, und der Himmel ist ein flak kerndes Orange, und Männer mit Stahlhelmen laufen in dem Gewirr von Löschschläuchen auf der Straße herum … Aber da stand ich hinter meinem Vater in der Tür unseres Hauses, also noch früher, als vor Miss Durrants Haus noch eine gepflegte Hecke war … Was ich aber endlich von unserem Versteck sehe, und zwar ganz bestimmt sehe, ist wieder Keith’ Mut ter. Ich bin allein. Ich glaube, Keith mußte zu Hause bleiben, um seinem Vater zu helfen, einen Anbau zum Hühnerstall zu konstruieren. Doch plötzlich steht sie am Gartentor, zieht es sorgfältig hinter sich zu und geht die Straße hinunter, genau wie sonst auch, ruhig und ohne Eile, vorbei an Trewinnick und Mr. Gorts Haus … und verschwindet in Tante Dees Haus … Ich schlage das Logbuch auf. »17.00«, schätze ich, denn die Uhr hat Keith im Hühnerstall. »Betritt …« Doch da kommt sie schon wieder heraus. Sie macht die Tür hinter sich zu, geht den Gartenweg hinunter, ohne Einkaufskorb, sondern mit einem Brief. Sie wird ihn für Tante Dee einwerfen. Ich krieche durch den Gang, völlig durcheinander vor Aufregung. Ich werde derjenige sein, der das Rät sel löst! Als ich mich ins Freie vorgearbeitet habe, ist sie schon wieder um die Ecke bei den Hardiments ver schwunden. Ich laufe ihr hinterher, schneller, als ich je gelaufen bin. Wieder liegt die Allee vor mir, schnurgerade und 92
leer, von den Abfallkübeln am vorderen Ende bis zum Briefkasten am anderen. Doch statt blindlings loszurennen, bleibe ich dies mal stehen und denke nach. Bis zur Ecke habe ich nicht mehr als, sagen wir, zehn Sekunden gebraucht. Sie kann unmöglich in zehn Sekunden am Briefkasten sein, selbst wenn sie die ganze Strecke gelaufen wäre. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie den Ka naldeckel geöffnet hat, hineingestiegen ist und ihn über sich wieder geschlossen hat. Und sie kann sich unmöglich durch die Lücke im Zaun der Hardiments gezwängt haben. Sie muß in einem der Häuser sein – eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wieder versuche ich, einen klaren Gedanken zu fassen. Losgelaufen bin ich vom vierten Haus im Close, sie kann also nicht sehr viel weiter als bis zum vierten Haus in der Allee gekom men sein. Langsam gehe ich an den ersten sechs Häu sern auf beiden Seiten vorbei, schaue jedesmal genau hin. Ich weiß nicht, was ich zu sehen hoffe. Vielleicht will ich sie hinter einem Fenster sehen … ein Ge sicht, das aufmerksam Wache hält … hinter einem Kamin versteckt die Antenne eines Kurzwellenemp fängers … Nichts. Überall begegnet einem die gleiche undiffe renzierte, dumpfe, unheilvolle Gewöhnlichkeit. Keith’ Mutter könnte in jedem dieser Häuser sein. Wieder denke ich genau nach. In welchem Haus auch immer sie ist, früher oder später wird sie heraus kommen müssen. Ich muß nur außer Sichtweite war ten und beobachten. Langsam ziehe ich mich zur Ecke des Close zurück – ich bewege mich rückwärts, um keines der Häuser aus dem Blick zu verlieren. Selbst wenn ich bis zur 93
Schlafengehenszeit bleiben müßte – ich werde dafür sorgen, daß sie nicht unbemerkt in Tante Dees Haus zurückkehrt und, wie schon einmal, wie eine Erschei nung herauskommt. Und als ich gerade rückwärts um die Ecke biege, habe ich eine merkwürdige Ahnung. Ich drehe mich um und schaue kurz den Close hinunter. Und da ist sie – wie eine Erscheinung steht sie schon bei Tante Dee auf der Türschwelle, aufbruchbereit, und wech selt noch ein Wort mit Tante Dee, die wieder da steht und Keith’ Mutter hinterhersieht, die wieder durch das Gartentor tritt. Wieder habe ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Fassungslos stehe ich da, während sie die Straße hin untergeht, sich ihrem Haus nähert. Ich stelle fest, daß sie den Brief nicht mehr in der Hand hält. Sie hat nicht nur einen Zeitsprung rückwärts gemacht, sie ist vorher noch zum Briefkasten gesprungen. Vielleicht sind wir ja gar nicht in eine Spionagege schichte verwickelt. Sondern in eine Geistergeschichte. Beim nächstenmal ist Keith wieder dabei. Wir beob achten sein Haus so scharf, daß wir sie sofort sehen, als sie aus der Tür tritt. Keith’ Vater arbeitet im Vor garten. Sie bleibt stehen, sagt etwas zu ihm, tritt dann durch das Gartentor, zieht es sorgfältig zu und geht die Straße entlang, den Einkaufskorb wieder am Arm, ruhig und gelassen wie immer. Sie geht zu Tante Dee. Wir warten, geduckt und an gespannt, sprungbereit. Diesmal werden wir unser Versteck schon verlassen haben, bevor sie um die Ecke gebogen ist. Wir werden an der Ecke sein, noch be vor sie Zeit hat, den Kanalisationsdeckel zu erreichen. 94
»Vielleicht hat sie so ein Raketendings«, flüstere ich. Keith schweigt. Ich habe ihm alle meine Theorien schon mehrfach erzählt. Außerdem mißfällt ihm, daß ich das letzte mysteriöse Erlebnis während seiner Abwesenheit hatte. Wir warten. Vom vielen Kriechen tun mir die Knie weh. Ich verlagere das Gewicht auf das andere Bein. »Oder eine Art Zeitmaschine«, flüstere ich nervös – zum fünftenmal. Keith’ Augenlider senken sich. Ich verstehe. Theo rien über Geheimgänge, Raketen, Zeitreisen und der lei Dinge können nur dann überzeugen, wenn es sei ne Stimme ist, die sie vorträgt, nicht meine. Und da ist sie, tritt mit dem Einkaufskorb aus Tante Dees Haus. Sofort krabbeln wir den Gang entlang, die Zweige schlagen uns ins Gesicht, Keith’ Sandalen treten mir auf die Hände, wirbeln die Erde vor mir auf … Wir sind draußen auf der Straße, bewegen uns unglaublich geräuschlos, nicht einmal zwanzig Schritt hinter ihr, der Ecke entgegen … Sie hat uns nicht gehört. Wir biegen hinter ihr um die Ecke, praktisch ohne sie einen Moment aus den Augen zu verlieren … Und da ist sie noch, sie geht die Straße hinunter, an den Abfallkübeln vorbei. Wir bleiben stehen und beobachten sie, trauen uns nicht, weiterzugehen, trauen uns nicht, zu atmen oder zu blinzeln. Wir werden mit eigenen Augen sehen, wie sie das mit ih rem Trick anstellt. Sie geht ohne Hast, ganz unaufgeregt. Immer wei ter. Wird immer kleiner … Am Briefkasten vorbei … um die Ecke. Zu den Geschäften, wie alle anderen auch. 95
Tage vergehen, und es passiert nichts. Es gibt nur die Schule, immer nur die Schule und Streit mit Geoff und öde Stunden fruchtlosen Beobachtens. Eines Abends ertappen wir sie, wie sie mit Briefen in der Hand aus dem Haus tritt. Sie geht die Straße hinunter, kommt bei Tante Dee vorbei, geht aber nicht hinein. Wir rennen zur Ecke … sehen dann, wie sie langsam bis zum Briefkasten an der Ecke geht und die Briefe einwirft. An einem anderen Tag, es muß ein Samstag sein, sehen wir sie mit ihrem Einkaufs korb losgehen. Sie schaut bei Tante Dee vorbei … kommt dann wieder heraus, begleitet von Tante Dee, die Milly im Kinderwagen vor sich herschiebt. Wir rennen zur Ecke … und da sind sie, entfernen sich unspektakulär, die Allee hinunter. Einmal folgen wir ihr sogar bis zu den Geschäften. Wir beobachten, wie sie draußen vor dem Kaufmann ansteht, sehen sie in der Bäckerei und im Kurzwaren geschäft und folgen ihr zurück in den Close. Von einer Rakete oder einer Zeitmaschine ist nichts zu sehen. Es regnet, Keith wird bestimmt nicht auf die Straße dürfen. Der Regen hört auf, und wir sitzen lustlos un ter den nassen Zweigen des Verstecks, gähnend und mißmutig. Ich weiß, daß Keith mir nicht glaubt, was ich von dem zweiten Verschwinden erzählt habe, auch wenn er es nicht sagt. Auch ich selbst habe all mählich meine Zweifel. Selbst das erste Verschwin den, dessen Zeugen wir beide waren, ist in jenen Winkel der Vergangenheit geraten, in dem Unerklär liches nicht mehr überrascht oder unbedingt erklärt werden muß. Wir fangen an, diesen Vorfall genauso als selbstverständlich hinzunehmen wie den brennen den Busch, der nicht verbrannte, oder das Wunder mit den Broten und Fischen. 96
Auch die Kreuze und Ausrufezeichen sind im Nebel verschwunden. Sie sind nur noch Runen in einem ar chaischen Text. Und die Nacht – wegen der zweifa chen Sommerzeit der Kriegsjahre findet der Sonnen untergang immer später statt, lange nach unserer Schlafenszeit – scheint nun fern wie das Mittelalter und das Thema Mondphasen so akademisch wie nur irgend etwas. Das Schlimmste ist, daß wir auf einmal in der De fensive sind. Zwei braune Augen und ein breites spöt tisches Grinsen schauen eines Abends durch das Blattwerk unseres Verstecks. Es ist Barbara Berrill. »Ihr beiden spielt immer hier«, sagt sie. »Ist das euer Camp?« Ich sehe Keith an. Seine Augenlider senken sich, und für einen Moment macht er ein angewidertes Gesicht, genau wie sein Vater. Er sagt nichts. Er spricht kaum mit den anderen Kindern in unserer Straße, nie mit Mädchen und schon gar nicht mit Barbara Berrill. Ich spüre, daß sich auch meine Au genlider etwas senken. Auch ich schweige. Ich bin ge troffen von ihrer demütigenden Vorstellung, wir würden hier nur »spielen«, wo wir doch in einem Versteck Wache halten. »Was spielt ihr denn?« fragt sie. »Spioniert ihr je mandem hinterher?« Keith schweigt. Ich schweige auch, aber ich bin ge knickt. Das Schild, das uns unsichtbar machen sollte, ist ruiniert, unsere Absicht entdeckt. Und ausgerech net von Barbara Berrill. Sie hält sich für überlegen, bloß weil sie ein Jahr älter ist, aber da hat sie sich ge täuscht, wir halten sie unserer Aufmerksamkeit nicht für würdig. Alles an ihr ist weich und mädchenhaft. Die großen braunen Augen, das runde Gesicht, der 97
topfartige Helm ihrer Haare, die ihr lockig auf die Wangen fallen. Ihr Schulkleid mit den blauweißen Sommerkaros und den kleinen Puffärmeln. Ihre wei ßen Sommersöckchen. Aber das Mädchenhafteste und Blödeste an ihr ist das Geldtäschchen, das sie um den Hals trägt und in das sie jeden Tag das Geld für den Bus und die Milch steckt. Sie trägt das Geld täschchen jetzt. Wieso? Keith und ich tragen doch auch nicht unsere Schulmützen oder unsere Ranzen. Warum sind Mädchen so? »Wer ist es?« fragt sie. »Doch nicht immer noch Mr. Gort?« Die hat es gerade nötig – redet von Spionieren, wo sie selbst spioniert. Und woher weiß sie das mit Mr. Gort? Sie muß uns seit Ewigkeiten hinterher spionieren. »Na los«, bettelt sie. »Ich sag’s auch nicht weiter.« Wir sitzen es schweigend aus, den Blick zu Boden gerichtet. »Wenn ihr nicht antwortet, heißt das, daß ihr tat sächlich spioniert … Also gut, ich werd’ euch verpet zen.« Die braunen Augen verschwinden. »Keith Hayward und Stephen Wheatley spionieren Leute aus!« ruft sie. Ob sie ein Publikum hat, ist unmöglich zu erken nen. Noch ein paar Schritte, dann wiederholt sie ihre Erklärung. Vor lauter Peinlichkeit sitzen wir wie er starrt da und sehen uns nicht an. Ich weiß jetzt, daß diese ganze Sache – das Verschwinden, die Geheim zeichen im Taschenkalender, alles – nur eines unserer Spielchen war. Selbst Keith weiß das. Uns bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Versteck hervorzu kommen und uns nach Hause zu schleichen. Wir wissen aber, ohne uns darüber verständigt zu 98
haben, daß das erst möglich ist, wenn wir sicher sein können, daß Barbara Berrill nicht in der Nähe ist und unsere Schmach sieht. Also warten wir. Und warten. Wir hören sie nämlich noch immer am unteren Ende der Straße, wie sie mit den Averys lacht. Wahrschein lich über uns. Die Schatten werden länger. Wenn ich vor acht nicht zu Hause bin, kann ich mich auf eine schöne Standpauke gefaßt machen. Keith wird den Rohrstock zu spüren bekommen. Wir hocken da, lassen die Köpfe hängen, lauschen. Leise, eilige Schritte sind zu hören. Wir schauen hoch, Barbara Berrill kehrt wieder zurück. Es ist aber nicht Barbara, sondern Keith’ Mutter. Sie hat die Arme verschränkt und trägt eine Strickjak ke über den Schultern – und sie läuft eilig die Straße hinunter, der Abendsonne entgegen. Sie läuft zu Tante Dee hoch, läuft fast im selben Moment wieder zurück und weiter zur Ecke. Als wir uns aufgerappelt und ebenfalls die Ecke erreicht haben … liegt die Straße im goldenen Licht vor uns, menschenleer bis zum Briefkasten am anderen Ende. Die Jagd geht wieder weiter. Nur daß wir nicht wissen, wo wir jetzt noch nach sehen oder was wir noch versuchen könnten. Wir rennen zum Kanalisationsdeckel und zu dem lockeren Brett im Zaun. Wir schauen verzagt in Häuser und Gärten. Nirgends auch nur die kleinste Spur, wohin sie ver schwunden sein könnte. Wir flüstern miteinander, aufgeregt, aber zuneh mend beunruhigt, zunehmend hilflos. Wir spüren, wie der Abend immer weiter vorrückt. Am Ende müs sen wir einfach nach Hause gehen. Ich weiß natürlich, 99
was passieren wird. Sobald wir den Close erreichen, wird sie wieder aus Tante Dees Haus kommen, so als wären wir an den Anfang des Abends zurückgesprun gen und alles läge noch vor uns. Und mit geradezu traumhafter Folgerichtigkeit taucht sie auch wirklich auf – diesmal jedoch an ei nem zeitlich und räumlich etwas zurückliegenden Punkt. Sie tritt, die Strickjacke um die Schultern, wieder aus ihrem eigenen Haus. Wieder erstarrt mir das Blut in den Adern, so unheimlich ist das alles. »Du liebe Güte, was soll denn das, Schätzchen?« sagt sie zu Keith. Sie spricht ruhig, aber an der Schär fe ihrer Stimme und an den ungeduldigen Handbe wegungen, mit denen sie sich immer wieder durchs Haar fährt und etwas auf der Schulter ihrer Strickjak ke schlägt, erkenne ich, daß sie ausnahmsweise über ihn verärgert ist. »Du kennst die Regeln. Du weißt genau, wann du zu Hause sein mußt. Wenn du dich wie ein Kind benimmst, wird Daddy dich wie ein Kind behandeln.« Ihr offenkundiger Ärger scheint ihrem Haar und ih rer Schulter zu gelten. Immer wieder fährt sie sich durchs Haar und schlägt sich auf die Schulter, als male sie sich unbewußt die Strafe aus, die Keith zu gewärtigen hat. Sie und Keith gehen davon, ohne mich noch einmal anzusehen. Zuletzt sehe ich noch, wie sie die Hände reibt. Die ses Durchs-Haar-Fahren und Auf-die-Schulter-Schla gen war offenbar der Versuch, sich von etwas zu be freien. Jetzt hat sie es an den Händen, es scheint etwas Klebriges zu sein, das sie nur mit Mühe losbe kommt. Und plötzlich weiß ich, was es ist. Es ist nichts Klebriges, sondern etwas Schmieriges. 100
Und ich weiß noch etwas. Ich weiß, wo sie jedesmal war, wenn wir sie nicht entdecken konnten. Mich schaudert. Die kleinen Zeichen im Taschen kalender stimmen. Bald ist Neumond, und es wird schrecklicher sein, als wir dachten.
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Alles ist wie früher, und alles hat sich verändert. Die Häuser stehen, wo sie immer gestanden haben, aber sie sagen nicht mehr, was sie früher gesagt haben. Der Färberginster ist herausgerissen worden, die Erde zugepflastert. Und aus Stephen Wheatley ist der alte Mann geworden, der ich offenbar bin. Ja, der klein wüchsige Junge mit den Segelohren, der seinem mächtigen Freund offenen Mundes und leichtgläubig von einem Unternehmen und Rätsel zum nächsten folgte, ist der kleinwüchsige Rentner mit Segelohren geworden, der sich langsam und vorsichtig in den Fußstapfen seines früheren Ichs bewegt, und es bleibt ihm nur noch dieses eine Unternehmen und dieses eine Rätsel. Ein überraschender Gedanke kommt diesem alten Mann nun, da er diese Gegend mit dem Abstand der Jahre sieht: daß damals alles neu war. Die Häuser, die Straßen, die Ladenzeile auf der Hauptstraße, der Briefkasten an der Ecke – das alles war kaum älter als Stephen. Das ganze Viertel war wie ein Potemkin sches Dorf errichtet worden, gerade rechtzeitig, daß seine Familie dort einziehen und Stephen es als sei nen unveränderlichen, angestammten Besitz entdek ken konnte. Es war ein Produkt der Eisenbahn, derselben Strek ke, die ich heute gefahren bin. Rings um diese kleine, 103
ländliche Station aus Holz waren hoffnungsvoll ein paar Straßen voll Schlaglöchern angelegt worden, Bauleute aus benachbarten Ortschaften hatten Grund stücke gekauft und ihre schlichten Träume vom Land leben in Backstein und Holz umgesetzt. Junge Paare waren am Wochenende mit dem Zug gekommen und hatten sich umgesehen … Anzahlungen geleistet … Sitzgarnituren bestellt und Liguster gepflanzt … Man brauchte Schreibpapier und Gardinenband … Neue Geschäfte wurden eröffnet, in denen sie ihren Bedarf decken konnten. Eine Stange markierte die Haltestelle der neu eingerichteten Buslinie, ein Briefkasten wur de aufgestellt, in den die Neuankömmlinge Post an ihre ehemaligen Nachbarn einwerfen konnten. Die Feldwege wurden drainiert, geteert und geschottert, damit die Frauen ihre hohen Kinderwagen zu den Geschäften schieben konnten, ohne ihre Babys dabei durcheinanderzurütteln, und die Männer in ihren Stadtschuhen jeden Morgen trockenen Fußes zum Bahnhof und abends trockenen Fußes wieder nach Hause kamen. Die nackte Erde und die blanken Zie gelsteine der Baugrundstücke milderte ein grüner Schirm, der ebenso heranwuchs wie Stephen, ihm kaum weiter voraus als sein älterer Bruder. Und nun betrachte ich das alles und denke dabei, daß diese neue Kolonie nicht plötzlich aus dem Nichts entstanden war. In den schon lange existieren den Siedlungen, die es in dieser Gegend gab, mußte Schritt für Schritt Platz dafür geschaffen werden. Die neuen Grundstücke wurden auf dem bäuerlichen Land angelegt, das die Stadt mit Gemüse beliefert hatte, in den Gärten mit ihren Apfel- und Kirsch bäumen und auf den Wiesen, auf denen Pferde ge weidet hatten. Die neuen Windermeres und Sorren 104
tos verdrängten die niedrigen Fachwerkkaten der Landarbeiter. Ordentliche Schotterstraßen ersetzten das Gewirr von Pfaden und Wegen, auf denen die Bauern zur Feldarbeit gegangen und die Fuhrleute mit ihren Karren gefahren waren. Und abseits der befestigten Straßen, in den verblie benen Gegenden zwischen dieser neuen und all den anderen Siedlungen, die gleichzeitig im Umkreis an derer Bahnhöfe an mehreren Bahnstrecken entstan den waren, lebte die alte Welt fort. Um sie zu finden, mußte man nicht weit gehen. Auf dem Weg zum Golfplatz kam man vorbei an aufgelassenen Steinbrü chen und Lehmgruben, wo die Leute den Lehm ge graben hatten, aus dem sie die Ziegelsteine für Mau ern und Kamine brannten, und den Kalk für den Mörtel. Auf der anderen Seite der Hauptstraße, gleich hinter den Geschäften, lag Paradise, eine An sammlung von verdreckten Bauernhöfen, wo unsere Nachbarn unrationierte Eier oder einen Hahn für Weihnachten kaufen konnten. Paradise, das sind heute die Paradise-Reitställe und das Freizeitzentrum, und der Weg dorthin ist eine asphaltierte Privatstraße. Früher blieb man, wenn es naß war, mit den Stiefeln im tiefen Morast stecken. Auf unserer Seite der Hauptstraße muß noch ein anderer Weg gewesen sein, der dann befestigt wurde und Allee hieß. Wenn man nämlich am Ende des Close stand und nach rechts schaute, also nicht nach links hinunter zu den Geschäften, sah man, wo der Weg wieder auftauchte wie ein unterirdischer Bach. Ein paar Schritte von der Ecke entfernt endete der neue Schotterbelag, es folg te der alte Feldweg, der nach besten Kräften weiter führte, obwohl er damals schon nicht mehr in Ge brauch und halb überwuchert war. Der Schotterbelag 105
hörte auf, weil es keine Häuser mehr gab, zu denen der Pfad hätte führen können. Hier endete unsere Siedlung, der Bahndamm war die Grenze. Doch in diesem Damm war, wie eine nicht mehr benutzte Seitentür in einer mittelalterlichen Stadt mauer, der gemauerte Eingang zu einem schmalen Tunnel zu erkennen, den die Eisenbahngesellschaft hatte bauen müssen, weil es sich um einen öffentli chen Weg handelte. Und durch diesen unscheinbaren Durchlaß führte der Feldweg weiter, unauffällig wie seit eh und je, zu der im alten Zustand belassenen Welt hinter dem Bahndamm. Ich gehe bis zur Ecke und schaue nach rechts. Jetzt ist auch der restliche Weg asphaltiert. Die Allee führt unter der Bahnlinie, ohne Luft zu holen, unter einer hohen breiten Brücke, hindurch, rechts und links ge pflegte Bürgersteige. Ich gehe unter der Brücke hin durch. Auf der anderen Seite verzweigt sich die Allee in ein Labyrinth aus Crescents, Walks und Meads ei nes Siedlungsgebiets, das fast schon so altehrwürdig aussieht wie der Close. Die vertraute Welt hat sich ausgedehnt und die Un terwelt unter gutdrainierten und gutbeleuchteten Oberflächen versiegelt. Licht hat sich mit Licht zu sammengetan, und das geheimnisvolle Dunkel dazwi schen ist beseitigt. Ich kehre wieder um, gehe auf dem sauberen grauen Bürgersteig unter der sauberen Stahlbrücke hindurch bis zur Ecke des Close. Hinter mir höre ich das ver traute Geräusch eines herannahenden Zuges, der aus dem Einschnitt hinter den McAfees herauskommt und weiterfährt in Richtung des Bahndamms hinter den Haywards. Das Geräusch ändert sich wieder, als der Zug über die Brücke fährt … und wieder höre ich 106
das hohle Dröhnen des alten Tunnels und die endlos hallenden Rufe von Keith und Stephen, die auf einer ihrer seltenen Expeditionen in dieses langgestreckte, niedrige Dunkel das Echo ausprobieren und zeigen wollen, daß sie keine Angst haben. Wieder sehe ich die Gefahren, die hinter dieser hal lenden Mutprobe lauerten, dort, wo die alte Welt weiterexistierte, nur kurz unterbrochen durch unsere vertrauten Straßen und Häuser, denen gegenüber sie so gleichgültig war, als gäbe es sie nicht. Wir nannten diese Gegend die Lanes, auch wenn es nur ein Weg war, und der war so schmal, daß er im Sommer fast verschwand unter dem üppigen Grün der Hecken auf beiden Seiten und im Schatten der alten verwachse nen Bäume. Ich sehe die Cottages, die verstohlenen, baufälligen Schuppen hinter dem Unterholz, umge ben von verrosteten Ölfässern und kaputten Kinder wagen. Ich höre das Gebell der häßlichen Köter, die uns entgegenstürzten, wenn wir vorbeigingen, und sehe den mürrischen Blick der zerlumpten Kinder, die uns hinter dem Gatter anstarrten. Ich rieche den säuerlichen Katzengestank der Holunderbäume auf dem Gelände des verfallenen, verlassenen Bauern hofs, wo man manchmal einen alten Landstreicher sehen konnte, der sich dort verkrochen hatte und ei nen rußgeschwärzten Kessel über einem kleinen Feu erchen erhitzte … Hinter dem verlassenen Bauernhof lag ein ödes, halb als Baugrund ausgewiesenes Niemandsland, wo die heranrückende Kolonisation während des Krieges ins Stocken geraten war. Zwischen der Bahnlinie und diesem Baugrund, noch ein paar Jahre geschützt durch das Auf und Ab der Geschichte, ging das letzte Überbleibsel der bäuerlichen Welt seinem alten, 107
verborgenen Leben nach. Unsere seltenen Expeditio nen dorthin waren jedesmal ein furchteinflößendes Abenteuer, eine Aneinanderreihung von Prüfungen, in denen unsere künftige Männlichkeit sich beweisen mußte. Und die erste dieser Prüfungen war der Tunnel. Wieder höre ich unsere unsicheren Rufe, die in dem mächtigen Rumpeln des Zuges untergingen, der über uns vorbeifuhr. Wieder sehe ich den abweisenden Lichtkreis am Ende und sein Spiegelbild in der gro ßen Pfütze, die sich nach Regenfällen im Tunnel bil dete. Wieder spüre ich, wie ich mich verrenken muß, wenn ich mich auf dem schmalen Damm am Rand der Pfütze vorbeidrücke und gleichzeitig aufpassen muß, um nicht die glänzende, tropfnasse Tunnelwand zu berühren. Wieder fühle ich die feuchten Wände an Haar und Schulter und vertreibe mit einer Hand bewegung die üblen Gerüche, die sie ausströmen. Wieder versuche ich, den dunkelgrünen Schleim von den Händen zu wischen. Ihr Verschwinden ist also ganz einfach zu erklären. Sie hat uns hereingelegt. Die Briefe, mit denen sie losgeht, sind ebenso Tarnung wie der Einkaufskorb an ihrem Arm. Sie biegt am Ende des Close nicht nach links ab, in Richtung Briefkasten und Ladenzei le, sondern nach rechts zum Tunnel. Sie verschwin det in dieser dunklen Öffnung, zwängt sich vorbei an dem Wasser auf der Erde und dem Wasser an der Wand, so wie wir es manchmal tun, um uns unseren Mut zu beweisen, und betritt die alte Welt dahinter, in der es keine Läden und keine Briefkästen gibt und in die sich, abgesehen von Keith und mir, niemand aus dem Close jemals vorwagt. 108
Was macht sie dort? Keith und ich staksen vorsichtig um die Pfütze her um, bemüht, mit dem Rücken nicht die glitschigen Wände zu berühren, in den Ohren das Echo jeder Berührung unserer Schuhe mit einem spitzen Stein, jedes Wassertropfens, der von der Decke des Tunnels lallt. Keith geht natürlich voran, aber ich bin sehr aufgeregt, denn das ist ja alles meine Idee. Und die Schrecknisse des Tunnels erfüllen mich mehr denn je mit Unruhe. Obwohl wir erst aufgebrochen sind, nachdem Keith’ Mutter sich zur Mittagsruhe zurück gezogen hat, bin ich sicher, daß wir plötzlich ihre hal lenden Schritte hinter uns hören werden. Immer wie der schaue ich mich nach dem Licht und seinem Widerschein um, von dem wir uns entfernen, und warte darauf, daß die Silhouette auftaucht, die uns den Rückweg abschneiden und uns unausweichlich vorantreiben wird zu den Hunden und Kindern, die in den Lanes auf uns lauern. Am anderen Ende treten wir hinaus in den feuchten Nachmittag. Der Weg vor uns verschwindet in fast mannshoher Vegetation, und die Luft ist erfüllt von summenden Fliegen und dem betäubenden Geruch von Kerbel. Wir sehen uns um, wissen nicht recht, wo anfangen. »Vielleicht hat sie irgendwo ein Funkgerät ver steckt«, flüstere ich, aus dem Gefühl heraus, Vorschlä ge machen zu müssen, die meine Theorie erhärten. »Vielleicht gibt es hier auch ein geheimes Forschungs laboratorium, das sie auskundschaftet.« Keith schweigt. Er reagiert verhalten auf meine Überlegungen, um mich daran zu erinnern, daß noch immer er der Chef dieser Expedition ist. »Sehr viel weiter geht sie bestimmt nicht«, erkläre 109
ich, bevor Keith uns noch weiter in diesen Alptraum vorantreibt. »Sie ist ja immer gleich wieder zurück.« Wir verscheuchen die Fliegen aus dem Gesicht und versuchen, uns in dem unübersichtlichen Gelände zu orientieren. Nur eines scheint eindeutig identifizier bar – die gemauerte Tunnelöffnung und die Stütz mauern zu beiden Seiten. »Sie kundschaftet die Züge aus«, verkündet Keith. Natürlich! Das ist so sonnenklar, daß ich nicht weiß, warum uns das nicht schon früher aufgefallen ist. Die langweilige Bahn, die meinen Vater und viele der Nachbarn morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause bringt, mag für das deutsche Oberkom mando nicht besonders interessant sein, aber es fah ren schließlich noch andere Züge auf dieser Strecke. Manchmal uralte, rußstarrende Dampflokomotiven, die zahlreiche Güterwaggons hinter sich herziehen. Wir haben Tieflader gesehen, beladen mit verhüllten Panzern und Geschützen und Jagdflugzeugen, deren Flügel hochgeklappt waren, so daß sie wie ruhende Grillen aussahen. Ein erfahrener Beobachter konnte daraus bestimmt viele aufschlußreiche strategische In formationen ziehen. »Und sie kommt zu diesem Tunnelausgang …« überlege ich langsam, um Keith die Möglichkeit zu geben, mich einzuholen und wieder die operative Führung zu übernehmen. »… damit niemand sie sieht. Wahrscheinlich hat sie hier ein Spezialversteck.« Wir untersuchen die Mauersteine. Die beiden Stützwände haben den gleichen Neigungswinkel wie der Bahndamm. Am unteren Ende hängt jeweils ein rostiger Drahtzaun an Betonpfählen und ein vor sich hin rostendes Blechschild, das vor dem Betreten warnt. 110
Auf einer Seite hat sich der Zaun von dem Betonpfahl gelöst, so daß man ihn zurückbiegen kann. Keith klet tert hindurch, ich hinterher. Die Kerbelstengel auf der anderen Seite sind nie dergetreten, und auf der Erde sind vage Fußspuren zu erkennen. Jemand war ganz bestimmt vor uns hier, und zwar erst vor kurzem. Keith sieht mich an und kneift die Augen zusammen. Eine Angewohnheit sei nes Vaters, aber diesmal bedeutet es, daß er recht hat te, wie immer. »Vielleicht sollten wir umkehren«, flüstere ich. Wenn seine Mutter nämlich hierherkommt, dann wird sie wieder kommen – vielleicht sogar schon bald. Keith schweigt. Er verfolgt die Fußspuren über die flachgetretenen Kerbelstengel bis zum Fuß der Bö schung. Dort hören sie auf. »Sie darf uns hier nicht sehen …« fange ich an, doch Keith klettert schon auf die Mauer, steigt in Richtung Tunnelöffnung. »Dort oben war sie be stimmt nicht«, wende ich ein. »Sie ist immer viel zu rasch zurück.« Keith reagiert nicht. Widerstrebend klettere ich ebenfalls hinauf und folge ihm unsicheren Schritts. Am oberen Ende der Tunnelöffnung haben wir die überwucherte Böschung fast schon hinter uns gelas sen. Vor uns liegt der Weg, den die Streckenarbeiter benutzen, dahinter der aufgeworfene Schotter. Von nahem sehen die Schwellen riesig aus, und die von Gleisstühlen getragenen Schienen verlaufen über un serer Augenhöhe. Es riecht warm nach geteertem Holz und Maschinenöl. Hierher kommt sie also und beobachtet … zählt … notiert … prägt sich ein … und schafft es dann ir gendwie, wieder im Close zu sein, bevor wir von den 111
Geschäften zurückgekehrt sind. Im Grunde ergibt das alles keinen Sinn. »Vielleicht baut sie etwas zusammen«, flüstert Keith. »Schritt für Schritt. Eine Bombe. Sie wartet auf einen bestimmten Zug. Mit einer bestimmten La dung. Einem neuen Flugzeugtyp.« Und wenn er kommt … trägt sie wieder ein Ausru fezeichen in den Taschenkalender ein. Ein leises metallisches Geräusch ist zu hören. Di rekt vor uns. Die Schienen geben summend das Her annahen eines Zuges bekannt. Wir treten auf der Mauerbrüstung den Rückzug an, bleiben aber sofort stehen. Unter uns ist noch ein an deres Geräusch – das Echo eines Schuhs, der gegen einen Stein stößt, eines Steins, der in Wasser fällt. Jemand geht durch den Tunnel. Keith’ Mutter, ich weiß es. Und sein Gesichtsaus druck verrät mir, daß er es auch weiß. Wir zögern kurz, können uns nicht entscheiden, was schlimmer ist – seiner Mutter zu begegnen oder zu Füßen eines Zugs zu liegen, der in all seiner maje stätischen Gefahr vorbeifährt. Verlegen sein oder sterben? Oder noch schlimmer als sterben – von der Polizei erwischt, vor Gericht gestellt und zu vierzig Shilling Strafe verurteilt zu werden. Schon ist Keith wieder hinter dem schützenden Gebüsch neben den Gleisen, ich bin ihm dicht auf den Fersen. Wir liegen ausgestreckt da wie furchtsame Gläubige vor einem strengen Gott, während die großen, stau bigen Rädergestelle den Himmel über uns erfüllen. Der Zug fährt unmittelbar an uns vorbei, Funkenre gen fällt uns auf den Kopf. Waggon auf Waggon, eine eindrucksvolle Prozession. Als die Donnerwand 112
schließlich im Einschnitt verschwindet und wir die Köpfe heben, um hinunterzublicken … ja, da ist sie. Sie beugt sich hinunter zu dem Loch im Zaun, steigt aber nicht hindurch, sondern richtet sich wieder auf und geht zurück zum Tunnel, wieder einen Brief in der Hand, als wollte sie zur Post gehen. Was immer sie hier tut, sie hat es bereits getan. Wir warten, bis die Schritte im Tunnel verhallt sind, und dann noch einen Moment, bis sich auch un ser Herzklopfen gelegt hat. Vorsichtig klettern wir auf der Mauer hinunter, ich steige durch das Loch im Zaun, diesmal bin ich es, der vorangeht, möglichst schnell will ich hier wegkommen, bevor die Polizei auftaucht oder Keith’ Mutter umkehrt oder die Hun de und die zerlumpten Jungen von den Cottages nach uns suchen. Doch Keith ist nicht hinter mir. »Keith?« rufe ich und versuche, nicht so verängstigt zu klingen, wie ich mich fühle. »Was machst du? Wo bist du?« Keine Antwort. Zögernd steige ich wieder durch das Loch im Zaun. Keith kniet am unteren Ende der Mauer, dort, wo die Fußspuren aufhören, drückt die Kerbelstengel beiseite und starrt auf eine Stelle dicht an der Mauer. »Was ist?« rufe ich. Er schaut auf, wieder mit dem Gesichtsausdruck seines Vaters. »Was ist da?« sage ich. Er wendet sich wortlos wieder seinem Fund zu. Verborgen zwischen den Kerbelstengeln, in einer vom Regen ausgewaschenen Kuhle an der Stützmau er, liegt eine große Blechkiste. Sie ist gut einen Meter lang und dunkelgrün, aber schon ein wenig rostig. Auf dem Deckel steht in erhabenen Lettern: »Gama ges of Holborn. The Home Sportsman No. 4 Garden Croquet Set.« 113
Wir starren hin, versuchen, uns einen Reim darauf zu machen. »Wir sollten Mr. McAfee Bescheid sagen«, sage ich schließlich. Wir starren immer noch hin. »Oder deinem Vater.« Keith legt die Hand auf den Deckel. »Nicht!« rufe ich sofort. »Nicht anfassen!« Er zieht die Hand nicht zurück. Sie liegt locker auf dem Deckel, weiß nicht recht, ob sie weitermachen soll oder nicht. »Vielleicht ist Sprengstoff darin, mit dem man den Zug in die Luft sprengen kann«, sage ich. »Oder viel leicht ist eine Bombe darin versteckt.« Keith legt auch die andere Hand auf den Deckel und klappt vorsichtig das Scharnier auf. Die Kiste ist völlig leer. Ihr Inneres liegt golden schimmernd vor uns wie ein Reliquiar ohne Inhalt. Nein, auf dem Boden liegt ein kleiner Gegenstand. Keith holt ihn vorsichtig heraus: ein rotes Päckchen, auf der Vorderseite eine schwarze Katze über einem weißen Oval, in dem »Craven A« steht. Zwanzig Zigaretten. Oder? Keith öffnet die Schachtel. Zwanzig Korkfil ter gucken uns an. Keith schiebt das innere Fach ganz heraus. Die zwanzig Korkfilter sind allesamt mit zwanzig kompletten Zigaretten versehen. Ein Stück chen liniertes Papier aus einem Schulheft kommt zum Vorschein. Darauf steht nur ein bekannter Buchstabe: X – was, wie ich weiß, auch »Kuß« bedeutet. Dieses X verfolgt mich in meinen Träumen. In den langen Wirren der Nacht versuche ich im mer wieder auszurechnen, wieviel x ist, wenn x = K.s 114
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Mutter …? X, die unbekannte Größe, und die Kreuzchen im Taschenkalender von Keith’ Mutter kollidieren mit x, dem Multiplikator, und x wird noch mysteriöser, wenn x = K.s Mutter x Januar x Februar x März … Die Kreuzchen von Keith’ Mutter kollidieren ihrer seits mit den Kreuzchen auf den Geburtstagskarten, die ich von meiner Mutter bekommen habe. Sie beugt sich im Traum über mich, wie am Abend, als sie mir einen Gutenachtkuß gab, und ihre spitzen Lippen bilden ein X. Ihr Gesicht kommt immer nä her, und nun sehe ich, daß es nicht meine, sondern Keith’ Mutter ist, und das X, das sie mir schenken will, ist ein Minus-X: ein Judaskuß, ein Kuß des Ver rats. Und sie kommt immer näher, die Küsse verviel fachen sich, plötzlich ist sie die schwarze Katze auf der Zigarettenschachtel, und die Schwärze der schwar zen Katze schwillt furchterregend zu einer Neumond nacht an. Was machen wir als nächstes? Ich habe keine Ah nung. Am nächsten Tag sitze ich in unserem Versteck und warte auf Keith. Er wird wissen, wie es weitergeht. Er wird einen Plan haben. Die düsteren, unergründli chen Träume werden sich auflösen in die vertrauten Geheimgänge und Untergrundhauptquartiere. Er kommt aber nicht. Wahrscheinlich muß er Hausauf gaben machen oder seinem Vater helfen. Doch ich vermute, daß es irgendwie mit seiner Mutter zu tun hat. Sie beugt sich mit glänzenden braunen Augen über ihn, um ihm einen Gutenachtkuß zu geben, die Lippen zu einem X gespitzt … Ich sollte hinübergehen und fragen, ob er zum Spielen kommen kann. Doch dann denke ich an seine 115
Mutter, die sich über ihn beugt, um ihn zu küssen, und habe so gar keine Lust, mich dem Haus auch nur zu nähern. Ich denke mir, daß all das für Keith schwerer ist als für mich. Er ist derjenige, der ihren Gutenachtkuß tatsächlich aushalten muß. Er ist der jenige, der mit einer feindlichen Agentin unter einem Dach leben muß – er muß ihren Anordnungen Folge leisten, er muß essen, was sie auf den Tisch bringt, er muß es zulassen, daß sie Jod auf seine Wunden und Schrammen träufelt – und er muß sich dabei so ver halten, daß sie auch nicht den leisesten Verdacht schöpft. Jeder Moment des Tages ist eine weitere Prüfung seiner inneren Stärke, eine weitere Demon stration seines Heldentums. Wenn Keith nicht kommt, werde ich wohl allein noch einmal durch den Tunnel gehen müssen. Ich werde noch einmal nachsehen, ob die Zigaretten noch in der Kiste sind. Wenn ja, werde ich mich am Bahngleis verstecken und schauen müssen, wer sie holt … Aber ich hocke immer noch im Gebüsch, tue so, als hielte ich Ausschau wie üblich, warte darauf, daß Keith kommt, dessen Kühnheit für uns beide reichen muß. Nach diesen Träumen erscheint mir der dunkle Tunnel furchterregender denn je. Ich weiß, daß ich X gegenüberstehen werde, dem Unbekannten, einer dunklen Figur mit verhülltem Gesicht, die aus dem Grün der Lanes auf mich zukommt … Oder schlim mer noch, ich werde seine hallenden Schritte hinter mir im Tunnel hören … So viele Dinge im Leben sind anscheinend eine Prüfung. Wenn man ein Junge ist und ein Mann wer den möchte, muß man sich zehnmal am Tag zusam menreißen, sich anstrengen, einen Mut zeigen, den 116
man in Wahrheit nicht besitzt. Zehnmal am Tag hat man furchtbare Angst, daß man wieder seine Schwä che zeigen wird, seine Feigheit, seine allgemeine Charakterschwäche und seine mangelnde Eignung zum Mann. Es ist wie die Kriegsanstrengung und der ständige Druck, den das erzeugt, das schlechte Ge wissen, nicht genug dafür zu tun. Die Kriegsanstren gung lastet auf uns, solange Krieg ist, und sowohl der Krieg als auch das lange Examen der Kindheit werden ewig dauern. Ich nehme das Logbuch aus der Kiste. »17.00 – Betritt«, lautet die letzte, mehrere Tage alte Eintra gung. Ich werde sie vervollständigen und das Log buch jedenfalls auf den neuesten Stand bringen. Aber noch während ich nach dem zweifarbigen Stift suche, höre ich ein beruhigend vertrautes Geräusch, denn Keith kommt den Gang entlanggekrochen. Mein Herz hüpft dankbar. Nun wird alles gut. Doch es ist nicht Keith. »Ich wußte, daß du allein bist«, sagt Barbara Berrill. »Ich hab’ eine Geheimmethode, wie ich dich hier se hen kann.« Dieser unglaubliche Frevel verschlägt mir die Spra che. Barbara Berrill sitzt auf der Erde, schlingt die Arme um die Knie, lächelt spöttisch und scheint sich hier wie zu Hause zu fühlen. Sie trägt ihre Schulbluse mit den Puffärmeln und über der Brust ihr Geld täschchen. Das Täschchen ist aus genopptem blauem Leder und hat einen blauschimmernden Druckknopf. Das noppige Leder und der schimmernde Knopf ha ben etwas kokett Selbstgefälliges, das mich fast so empört wie ihr unbefugtes Eindringen. »Hier darf niemand rein!« rufe ich schließlich. »Nur ich und Keith!« 117
Sie sitzt unbeirrt da und lächelt. »Du hast bestimmt nicht gesehen, daß ich dich beobachtet habe.« »Doch.« »Nein, hast du nicht.« »Hör zu, Unbefugte haben hier keinen Eintritt. Das ist privat.« »Nein. Das hier ist Miss Durrants Garten, und sie ist tot. Hier darf jeder rein.« »Kannst du nicht lesen?« Ich zeige auf das Schild, an dem sie gerade vorbeigekrochen ist. Sie dreht sich um. »Was – prevat?« »Privat.« »Da steht aber prevat.« Ich schäme mich für Keith. »Nein, privat«, behaupte ich starrsinnig. »Nein. Und es ist wirklich blöd, ein Schild anzu bringen, auf dem prevat steht.« »Du bist blöd. Du weißt doch gar nicht, was das be deutet.« »Was – prevat?« sagt sie. Sie stützt das Kinn auf die Knie und schaut mich an. Ihr ist auf einmal klarge worden, daß meine Ignoranz noch viel tiefer geht. Es ist nicht bloß eine Frage der richtigen Schreibweise. Ich bin augenblicklich auf der Hut. Ich ahne schon, daß prevat etwas bedeutet. »Wie, du weißt nicht, was prevat ist?« fragt sie leise. »Klar weiß ich das«, sage ich wegwerfend. Und ich weiß es, allein schon wegen ihres Tonfalls. Zumindest weiß ich, daß es eines dieser Dinge wie Brust und Itzig sein muß, die einen hinterhältig überfallen, wenn man am wenigsten damit rechnet, so daß man sich plötz lich umringt sieht von johlenden Feinden, die wissen, wer sie sind, man selbst aber nicht. Prevat, ja … Dun 118
kel erinnere ich mich an etwas Halbgehörtes, Halb verstandenes. »Nein, du weißt es nicht«, sagt sie spöttisch. »Doch.« »Was ist es denn?« »Sag’ ich nicht.« Ich sage es nicht, weil aus meiner schwachen Erin nerung Gewißheit geworden ist. Ich weiß sehr wohl, was ein Prevat ist. Das sind die geheimen kleinen Ka buffs, die die Leute in den Lanes hinter dem Haus haben – eine Art Klo, aber eine besonders ekelhafte Sorte, voller Bakterien, und damit will ich nichts zu tun haben, also rede ich auch nicht darüber. Sie kichert. »Dein Gesicht ist ja ganz käsig gewor den«, sagt sie. Ich schweige. »Käsig« ist ein Mädchenausdruck, auf den zu reagieren unter meiner Würde ist. »Weil du schwindelst«, sagt sie. »Du weißt es näm lich nicht.« »Laß mich in Ruhe!« Ich schaue hinüber zu Keith’ Haus. Jeden Augen blick wird er den Gartenweg entlanggehen … die Straße überqueren … den Gang entlanggekrochen kommen … und Barbara Berrill in unserem geheimen Versteck vorfinden, mit ihrem Geldtäschchen, ihrem Schulrock, sittsam über die angezogenen Knie gezupft, aber ihr Höschen kann ich trotzdem sehen. Natürlich wird er Barbara keinen Vorwurf machen, er wird nicht einmal mit ihr sprechen, sowenig wie sein Vater mir einen Vorwurf macht oder mit mir spricht. Für ihre Anwesenheit wird er mich verantwortlich ma chen, so wie sein Vater ihn für mich verantwortlich macht. Er wird mich mit seinem dünnen spöttischen Lächeln ansehen. Ich denke an das scharfe Bajonett, 119
das in der verschlossenen Kiste neben mir liegt, warte darauf, daß Keith es mir zur Strafe für meinen gebro chenen Eid an die Kehle setzen wird. Barbara Berrill schafft es irgendwie, meinen Ge danken zu folgen. »Was ist in der Blechkiste?« fragt sie. »Nichts.« »Sie hat ein Vorhängeschloß. Habt ihr geheime Sa chen darin versteckt?« Wieder schaue ich hinüber zu Keith’ Haus. Sie wendet sich um, will sehen, wohin ich schaue, dreht sich dann wieder um und verzieht das Gesicht zu dem bewußten spöttischen Lächeln. Sie hat verstanden, was mir Sorge macht. Ich bin zwischen diesen beiden Lächeln gefangen – das eine breit und aufsässig, das andere dünn und dezent und doch so scharf wie eine scharfe Klinge. »Keine Sorge«, sagt sie. »Ich verschwinde, sobald er kommt.« Sie bleibt sitzen, die Arme um die Knie geschlun gen, und mustert mich nachdenklich. Doch nun hat sie das Kinn in das straffgezogene Kleid gesteckt, so daß ich nicht weiß, ob sie noch lächelt. Die goldenen Härchen auf ihren braunen Beinen unterhalb des Saums schimmern im Abendlicht. »Ist Keith dein bester Freund?« fragt sie leise. »Dein wirklich allerbester Freund?« Ich schweige. Über Keith möchte ich mit Barbara Berrill ebensowenig reden wie über Brust und Prevats. »Warum magst du ihn, wo er doch so schrecklich ist?« Ich starre nach wie vor auf Keith’ Haus. »Er ist dermaßen hochnäsig. Keiner kann ihn aus stehen, abgesehen von dir.« 120
Sie stichelt, weil sie weiß, daß Keith sie nicht leiden kann. Trotzdem spüre ich, wie sich die Worte »schrecklich« und »keiner kann ihn ausstehen« wie Bakterien in mir festsetzen, und ich weiß, die Infektion wird mich allmählich erfassen wie die säuerliche Lan geweile eines leichten Fiebers. Mein Schweigen zeigt ihr, daß sie zu weit gegangen ist. »Willst du wissen, wer meine beste Freundin ist«, sagt sie, diesmal wieder mit sanfter Stimme, um ein zulenken. »Meine wirklich allerbeste Freundin?« Mein Blick bleibt hartnäckig auf Keith’ Haus ge richtet. Dort tut sich jetzt etwas. Jemand kommt den Gartenweg entlang, öffnet das Tor. Aber es ist nicht Keith. Es ist seine Mutter. »Ich sag’s dir nur, wenn du mir dafür auch ein Ge heimnis verrätst«, sagt Barbara. Keith’ Mutter geht gelassen die Straße hinunter. Kein Einkaufskorb, keine Briefe. Ich weiß, daß auch Barbara Berrill sie jetzt beobachtet. Sie verschwindet in Tante Dees Haus. »Immer geht sie dorthin«, sagt Barbara Berrill. »Komisch, wenn die Verwandtschaft nur ein paar Häuser weiter wohnt und man sich dauernd be sucht.« Aus irgendeinem Grund sehe ich die Kiste vor mir, in der die Krocketschläger waren – und noch ein an deres Bild, das schon seit einiger Zeit an die Oberflä che steigen will: die Krockettore, die auf Tante Dees Rasen vor sich hin rosten und fast schon im Gras ver schwunden sind. Jawohl, Tante Dee ist tatsächlich auch in diese Sache verwickelt. Keith’ Mutter tritt im nächsten Moment aus der Tür, jetzt wieder mit dem Einkaufskorb am Arm. Etwas berührt meine Schulter, so daß ich mich um 121
sehe. Es sind Barbara Berrills lockige Haarspitzen. Sie kauert neben mir und schaut ebenfalls hinüber. »Sie kauft immer für Mrs. Tracey ein«, murmelt sie. Zunehmend gepeinigt sehe ich zu, wie Keith’ Mut ter gelassen die Straße entlanggeht, in die Abendson ne hinein. Ich müßte sie verfolgen, von der Ecke aus beobachten, wie sie den Tunnel betritt, dann am vor deren Eingang, wenn sie das andere Ende erreicht … Aber wie soll ich das schaffen, wenn ich selbst beob achtet werde? »Komisch, daß sie abends einkaufen geht«, sagt Barbara Berrill. »Wo doch alle Geschäfte geschlossen sind.« »Sie ist eine deutsche Spionin«, erkläre ich. Nein, ich spreche die Wörter nicht aus. Oder doch? Sie gehen mir durch den Kopf, wollen herausplatzen und dieses spöttische Lächeln ein für allemal auslö schen, in Erstaunen verwandeln. Aber ich spreche die Wörter nicht aus. Ich glaube nicht, daß ich sie tat sächlich ausspreche. Barbara Berrill sieht mich noch immer an, lächelt wieder. Nein, ich habe die Wörter nicht ausgespro chen. Das Lächeln ist aber nicht mehr spöttisch, son dern verschwörerisch. »Sollen wir ihr folgen und schauen, wo sie hingeht?« flüstert sie. »Ihr folgen?« wiederhole ich, entsetzt darüber, daß mein eigener dringender Wunsch von jemand anders für mich ausgesprochen wurde. »Du spinnst ja.« »Vielleicht kauft sie etwas auf dem Schwarzmarkt. In einem der Geschäfte, an der Hintertür, wie Mrs. Sheldon. Deirdre hat gesehen, wie Mrs. Sheldon bei Hucknall an der Hintertür etwas gekauft hat, als dort schon zu war.« 122
Es ärgert mich, den Hochverrat von Keith’ Mutter als derart schäbige, unbedeutende Handlung abgetan zu sehen. »Das tut sie nicht«, sage ich verächtlich. »Woher weißt du das?« Woher ich das weiß? Weil ich weiß, daß sie nicht einmal in die Richtung der Geschäfte gegangen ist! Sie ist schon hinter dem Tunnel, beugt sich über die Kiste, legt etwas hinein … Und nimmt vielleicht et was heraus. Legt eine Schachtel Zigaretten hinein … und holt ein Stück Butter oder ein paar Scheiben Speck heraus, von einem der Leute in den Lanes? Wäre das die ganze Erklärung? Bei Coppards gele gentlich die ihnen zugeteilten Zigaretten besorgen, die sie und Keith’ Vater nie rauchen, und gegen ein paar Schwarzmarktlebensmittel eintauschen? Plötz lich erscheint mir das nur allzu plausibel. Mein Mut sinkt. Ich sage nichts. Ich kann Barbara nicht ansehen. Aber ich spüre, daß sie mich noch immer ansieht, wieder mit diesem spöttischen Lächeln. »Oder vielleicht«, sagt sie leise, »bringt sie dem Freund von Mrs. Tracey eine Nachricht.« Jetzt schaue ich sie aber doch an, viel zu verständ nislos, als daß ich es verbergen könnte. Der Freund von Tante Dee? Was redet sie da? Wie können Tan ten einen Freund haben! »Weißt du das nicht?« flüstert Barbara. »Deirdre hat gesehen, wie sie ihn geküßt hat. Während der Verdunkelung. Sie ist mit deinem Bruder zum Tun nel gegangen, und dort waren sie.« Wieder sitze ich in der Falle. Wieder befinde ich mich in vermintem Gelände. »Er ist immer zu Mrs. Tracey gekommen, als die Leute alle schliefen«, sagt Barbara. »Nur Mrs. Har 123
diment hat ihn gesehen, und weil sie dachte, er ist ein Spanner, hat sie die Polizei gerufen.« Und der Polizist kam langsam die Straße entlang geradelt und stieg vor Tante Dees Haus aus dem Sattel … »Und sie haben allen gesagt, daß mit Mrs. Traceys Verdunkelung etwas nicht in Ordnung war«, sagt Barbara. »Aber das stimmte nicht, es war wegen des Spanners – aber er war natürlich kein Spanner. Deir dre hat ihn ganz oft ins Haus gehen sehen. Deshalb muß sich jetzt Mrs. Hayward um Milly kümmern, während Mrs. Tracey im Dunkeln rausgeht, wenn man nichts sieht, nur wird es jetzt erst ziemlich spät dunkel.« Ich merke, daß Barbara Berrill mich mustert, um zu sehen, wie ich auf all diese Enthüllungen reagiere. Ich reagiere nicht. Irgendein Instinkt sagt mir, daß es ge nau das ist, was Mädchen immer erzählen, vor allem die beiden Berrills, die über die Stränge schlagen, weil ihr Vater nicht da ist. Mir fällt das silbergerahmte Foto von Tante Dee und Onkel Peter mit den Flügeln auf der Brusttasche ein. Sobald Barbaras Geschichte den soliden Silberrahmen berührt, platzt sie wie eine Sei fenblase in meiner Hand und hinterläßt auf meinen Fingern nicht mehr als ein bißchen Schleim. »Dein Gesicht ist wieder ganz käsig geworden«, sagt sie. »Weißt du nicht, daß die Leute Freunde und Freundinnen haben?« »Natürlich.« Sie lacht, ihr Gesicht ist dicht an meinem. Ich fühle den Schleim an meinen Fingern. Ein X ist ein Kuß. Auf der anderen Seite des Tunnels legt Keith’ Mutter einen Kuß in die versteckte Kiste, den Mr. X, der Freund von Tante Dee, finden soll … 124
»Nur solange Mr. Tracey bei der Air Force ist. Deirdre sagt, viele Frauen haben Freunde, solange ihre Männer fort sind.« »Barbara!« ruft Mrs. Berrills Stimme. »Wo bist du? Wenn du nicht in genau einer Minute zu Hause bist …!« Barbaras Lippen berühren jetzt fast mein Ohr. »Meine Mami hat einen Freund«, flüstert sie. »Deir dre hat in Mamis Handtasche ein Foto von ihm ge funden. Er ist Luftschutzwart.« »Barbara! Ich sag’s dir nicht noch einmal …!« Barbara kriecht zurück, ihr Täschchen schleift dabei auf der Erde. Sie hält an und dreht sich um, zögert, plötzlich verlegen. »Meine allerbeste Freundin ist Rosemary Winters, in Mrs. Colleys Klasse«, sagt sie. »Aber wenn du magst, könntest du mein zweitbester Freund sein.« Nachdem sie fort ist, sitze ich da, bewegungsunfä hig und verwirrt und schließlich von einem zuneh menden Schuldgefühl außer Gefecht gesetzt. Ich habe Keith verraten. Ich habe jemanden in unser Versteck gelassen – und zwar ausgerechnet Barbara Berrill. Ich habe meine Pflicht als Beobachtungsposten vernach lässigt. Und ich habe mir würdelose Unterstellungen angehört, daß Keith’ Mutter Speck und Butter auf dem Schwarzmarkt besorgt – daß sie in einen uner laubten, schändlichen Handel mit Brust und Freun den verwickelt ist. Ich habe für einen Moment die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß sie gar nicht für die Deutschen spioniert. Und da ist sie wieder, kommt die Straße herauf … tritt durch Tante Dees Gartentor … klopft im Vorbei gehen leicht an das Wohnzimmerfenster. Die Haus tür geht auf, und Tante Dee steht auf der Schwelle. 125
Keith’ Mutter gibt ihr den Einkaufskorb. Wieder einmal hat sie für Tante Dee Besorgungen gemacht. Obwohl alle Geschäfte geschlossen waren. Tante Dee schaut in den Korb. Sie sucht nach der Nachricht von ihrem Freund, die Keith’ Mutter ge bracht hat … Nein, natürlich nicht. Ich denke an ihr freundliches, offenes Lächeln. Niemand könnte so lächeln und Geheimnisse haben. Ich denke an die vertrauensvolle Art, wie Onkel Peter aus dem Silberrahmen auf dem Kaminsims lächelt. Jetzt lächelt sie nicht. Sie beißt sich nervös auf die Lippen, sieht Keith’ Mutter aber vertrauensvoll und ängstlich an, genauso wie das kleine Mädchen mit der Puppe auf der anderen Fotografie, das vertrauensvoll und ängstlich zu der älteren Schwester hochschaut, die sie immer beschützen wird. Schwestern … Ja. Worüber sprechen die beiden Schwestern so ernst, dort auf der Türschwelle? Sie sprechen über die Dinge, über die Deirdre und Bar bara sprechen. Geheimnisse … über Küsse während der Verdunkelung … Keith’ Mutter dreht sich um und geht zum Garten tor. Sie sieht aus wie immer – ruhig, gelassen, selbst sicher. Tante Dee steht auf der Schwelle und sieht ihr hinterher. Sie hat sich irgendwie verändert. Aber schließlich ist sie jetzt ein Mensch mit Geheimnissen. Sie schließt die Tür. Wenig später schließt Keith’ Mutter die eigene Tür. Der Vorhang ist wieder gefal len. »17.00 – Betritt …« Am nächsten Tag bin ich wieder auf meinem Po sten, das Logbuch aufgeschlagen, in der Hand den 126
zweifarbigen Stift, und während ich noch versuche, mich daran zu erinnern, was Keith’ Mutter um 17.00 Uhr betreten hat, bemerke ich, daß sich im Hayward schen Haus etwas rührt. Wieder spielt sich die gleiche Szene ab. Keith’ Mut ter tritt mit dem Einkaufskorb aus dem Gartentor. Sie geht zu Tante Dee, um ihr weitere Geheimnisse zuzuflüstern … Nein, diesmal geht sie vorbei … Nicht daß ich Barbara Berrills lächerliche Geschichten über die beiden geglaubt hätte, nicht einen Moment. Sie geht weiter zur Ecke, und ich weiß, daß ich diesmal nicht darum herumkomme: Ich werde ihr folgen müssen. Durch den Tunnel. Ganz allein. Woher ich den Mut dafür nehmen soll, ist mir nicht klar, aber ich krieche schon durch den Gang, laufe zur Ecke, biege rechts ein in Richtung Tunnel … Und wieder ist sie verschwunden. Der Weg, der sich durch die vordringenden Hek ken zum Tunnel windet, ist so leer wie jedesmal zu vor die Straße linker Hand, wenn Keith’ Mutter ver schwunden war. Das vertraute Frösteln überläuft mich. Dann höre ich ein bekanntes Geräusch hinter mir – ein trockenes Rascheln und ein feuchtes Glitschen. Ich drehe mich auf dem Absatz um. Da steht sie, links an der Ecke, und kippt Essensreste aus einer alten Zei tung in den Abfallkübel und sieht nachdenklich zu mir herüber. Sie läßt den Deckel wieder auf den Kübel fallen und lächelt. »Hallo, Stephen. Suchst du Keith?« Links, ja. Nicht nur rechts, es gibt ja auch links. Und die Abfallkübel. Natürlich. Ich schüttele einfältig den Kopf. »Es sieht so aus, als suchst du jemanden.« »Nein.« »Hast du zufällig mich gesucht, Stephen?« 127
»Nein, nein.« Ich ergreife die Flucht, verstecke meine Verwirrung unter den Büschen. Auf dem Heimweg bleibt Keith’ Mutter stehen und schaut in meine Richtung. Ich habe keine Ahnung, warum sie merkt, daß ich sie beobachte, wo es doch geheim ist, aber sie weiß es eben. Und als sie zehn Minuten später wieder aus dem Haus tritt, weiß ich, daß ich diesmal wirklich nicht den Mut ha ben werde, ihr zu folgen. Sie hat aber keinen Einkaufskorb dabei, sondern ei nen Teller in der Hand. Und sie geht nicht die Straße hinunter zu Tante Dee oder zur Ecke, sondern über quert die Straße und … kommt direkt auf mich zu. Ich sitze wie angewurzelt da, während sie durch die Zweige späht. »Stephen?« sagt sie. »Darf ich rein kommen?« Ich bin außerstande, ihr zu antworten. Alle mögli chen Orte haben wir uns vorgestellt, alle Eventualitä ten vage eingeplant, aber daß sie hierherkommt, ha ben wir nie in Betracht gezogen. Ich bin viel zu verlegen, als daß ich ihr beim Her einkriechen zusehen könnte. Und mir ist klar, daß sie bestimmt keine sehr vorteilhafte Figur abgibt, weil sie in der einen Hand den Teller hat und deswegen das Gewicht auf die andere Seite verlagern muß, damit die Knie nicht die Erde berühren, aber ihr Rücken ist viel zu hoch, so daß ihre Strickjacke an den Zweigen entlangstreift. Sie säubert, so gut es geht, den Boden von Blättern und Insekten und setzt sich dann mit un tergeschlagenen Beinen vor mich hin. Ich weiß nicht, wohin mit mir. Man weiß ja schon unter normalen Umständen kaum, wie man sich ver halten soll, wenn man mit jemandes Mutter allein ist. Aber was macht man, wenn sie einem auf der bloßen 128
Erde gegenübersitzt, und zwar an einem Ort, der ge rade mal Platz bietet für Personen, die nur halb so groß sind wie sie? Und wenn man weiß, daß sie nicht nur irgend je mandes Mutter ist, sondern auch noch eine deutsche Spionin, eine Landesverräterin? Wohin schaut man beispielsweise, wenn man nir gends anders hinschauen kann als zu ihr hin? Ins Ge sicht kann man ihr nicht sehen. Ebensowenig auf ihre Beine, die sie anmutig, aber irgendwie schamhaft un ter ihren dunkelblauen Sommerrock gesteckt hat. Es bleibt eigentlich nur die Stelle in der Mitte, und die ser Körperteil einer Dame, wie ich seit mindestens einem Jahr weiß, heißt Brust, und daran darf man so wenig denken wie an ein Prevat. Sie stellt den Teller auf das bißchen Platz zwischen uns auf die Erde. Er ist rosengeschmückt, und zwei Schokoladenkekse liegen darauf. »Ich dachte, eine kleine Stärkung würde dir gut tun«, sagt sie. »Keith muß leider seinem Vater in der Werkstatt helfen, du wirst heute also allein spielen müssen.« Ich nehme einen Keks und knabbere daran, dankbar über diesen Gegenstand, mit dem ich mich beschäfti gen und den ich ansehen kann. Schweigen. Ist sie etwa nur deswegen gekommen und sitzt jetzt mit unterge schlagenen Beinen vor mir auf der Erde, bloß um mir das zu sagen? Doch sie sieht sich in unserem Versteck ein wenig um, wie jeder höfliche Mensch, der irgendwo zu Be such ist. »Sehr vernünftig, daß ihr dieses Schild da ange bracht habt«, sagt sie und zeigt auf die Kachel, die den Eingang unseres Verstecks bewacht. »Prevat.« 129
Beim Klang dieses unanständigen Worts auf ihren Lippen nimmt mein Gesicht, ich spüre es, denselben verlegenen Ausdruck an, auf den Barbara Berrill in so peinlicher Weise hingewiesen hatte. Vielleicht weiß Keith’ Mutter nicht, was das Wort bedeutet. Ich be mühe mich, nicht ihre Brust anzusehen. »Furchtbarer Geruch im Sommer«, sagt sie. Nein, sie weiß es doch. »Aber wirklich ein hübsches Ver steck!« Sie greift zu dem aufgeschlagenen Logbuch. Ich er innere mich an die Daten mit all den Kreuzen und Ausrufezeichen, und meine Muskeln erstarren, der höfliche Mundvoll Schokoladenkeks bleibt mir im Hals stecken. Doch sie klappt das Logbuch zu und studiert die Aufschrift auf dem Umschlag: LOCKBUCH – GEHEIM. Sie lacht. »Oje. Das hat Keith geschrieben, nicht?« Ich möchte lügen und sagen, daß ich es war, möchte Keith die Schande ersparen, aber es dringen keine Worte durch den Keks. Ich möchte ihr das Buch ent reißen, bevor sie es wieder öffnet, aber meine Hände bringen keine Bewegung zustande. Sie schaut erneut auf das Schild vor dem Eingang und lacht wieder. »Ach so«, sagt sie. »Privat! Wie komisch!« Sie legt das Logbuch hin. »Ich glaube, ich schaue besser nicht rein, wenn hier alles so furchtbar geheim ist.« Ich schlucke den zerkrümelten Schokoladenkeks hinunter. Sie schaut durch die Zweige nach draußen. »Ist aber ein tolles Versteck!« murmelt sie. »Man sieht, was auf der Straße alles passiert. Das macht ihr doch, stimmt’s? Ihr beobachtet die Leute und schreibt alles in euer Logbuch.« 130
Ich kann noch immer nicht antworten. Einfache Wörter wie »Ja« und »Nein« sind auf meiner Zunge anscheinend übereinandergeschichtet und behindern sich gegenseitig. »Ich glaube, Keith hat irgendwo ein Fernglas, das er zum Vogelbeobachten verwendet. Das wäre viel leicht ganz nützlich.« Ja/Nein. Verwenden es schon/Haben keine Ver wendung dafür. »Was habt ihr denn bislang alles gesehen? Schreck lich verdächtige Sachen?« Mein Kopf schüttelt sich von allein. Vielleicht erho le ich mich langsam von meinem ersten Schock. Aber während ich in dem anschließenden Schweigen versu che, nicht auf ihre Brust zu schauen, spüre ich, wie sie aufmunternd auf meinen Kopf herunterlächelt, und dann wird ihr Lächeln ernst. Es kommt bestimmt mehr. »Also, ich hoffe, die Polizisten erwischen den Mann und so weiter, und ich möchte euch wirklich nicht den Spaß verderben. Aber ihr solltet vielleicht daran denken, daß man selbst bei dem tollsten Spiel manchmal übers Ziel hinausschießt. Es wäre jammer schade, wenn sich die Nachbarn belästigt fühlten. Zum Beispiel würde ich es für ein kleines bißchen unhöflich halten, wenn ihr dem einen oder anderen tatsächlich hinterherspioniert.« Sie hat uns also gesehen. Aber warum hält sie dann mir die Standpauke und nicht Keith? Man weiß doch, daß man das eigene Kind rannimmt und nicht ein an deres, wenn sie gemeinsam etwas ausgefressen haben. Warum ist sie herübergekommen, um mir das zu sa gen, wo Keith gar nicht da ist? »Es ist so schön«, sagt sie, »daß Keith einen richtigen Freund hat. Wenn man keine Geschwister hat, fühlt 131
man sich manchmal ein bißchen einsam, und es fällt ihm nicht leicht, Freundschaften zu schließen. Ich weiß, ihr beide habt viel Phantasie, und ich weiß, ihr erlebt spannende Abenteuer zusammen. Aber Keith ist leicht zu verführen, was du ja bestimmt schon bemerkt hast.« In meiner grenzenlosen Verblüffung sehe ich ihr zum erstenmal direkt ins Gesicht. Weiß sie wirklich nicht, daß Keith der Anstifter und Kommandeur all unserer Unternehmungen ist? Kann eine erfahrene Spionin ihre Beobachtungen so komplett falsch inter pretieren? Vermutlich spricht auch das für Keith – er ist offenkundig so gut wie seine Eltern, wenn es dar um geht, seine wahre Natur zu verbergen. Sie hat braune Augen, wie Barbara, und sie haben die ruhige Zufriedenheit verloren, mit der sie mich früher immer betrachtet hat. Sie mustert mich genau so scharf wie Barbara, als sie herausfinden wollte, ob mich ihre albernen Geschichten schockieren. Aber die Augen von Keith’ Mutter funkeln nicht spöttisch. Sie sind ganz ernst. »Ich möchte ihm nicht verbieten müssen, daß er weiterhin mit dir spielt«, sagt sie sehr sanft. »Aber ich möchte auch nicht, daß er in Schwierigkeiten gerät.« Ihre Stimme wird noch sanfter. Ihr Blick auch. Nachdem ich ihr in die Augen gesehen habe, kann ich nicht mehr wegschauen. »Es gibt Dinge, bei denen die Menschen nicht gestört werden wollen«, sagt sie. »So wie du und Keith hier. Sie wollen nicht, daß alle darüber sprechen.« Während sie mich anschaut und ich sie anschaue, bekomme ich plötzlich Angst, daß sie ein volles Ge ständnis ablegen wird. Ich möchte sie bitten, es nicht zu tun. Ich will es nicht hören. Ich will es nicht mit völliger Sicherheit wissen. 132
Doch sie schaut weg. »Kleinigkeiten vielleicht«, sagt sie. »Ich weiß nicht … Mr. Gort zum Beispiel. Wenn er in die Railway Tavern geht, um dort ein Bier zu trinken, ist es ihm vielleicht unangenehm, wenn ihn jemand beobachtet und überall erzählt: ›Mr. Gort ist wieder im Pub.‹ Oder Mr. und Mrs. Stott. Ich glaube nicht, daß es ihnen gefällt, wenn man dem armen Eddie hinterherläuft und ihn an starrt. Oder angenommen, ihr lauft den Leuten von Trewinnick hinterher. Dann denken sie vielleicht, daß irgend etwas mit ihrem Äußeren nicht stimmt.« Ihre Beispiele überzeugen mich nicht. Jeder weiß, daß Mr. Gort in die Kneipe geht. Jeder weiß, daß es sich nicht gehört, Eddie Stott anzustarren. Und es wäre bestimmt gut und nicht schlecht, wenn die Juhn von Trewinnick begreifen, wie sonderbar wir sie fin den. Sie sagt nicht, wer es in Wahrheit ist, den wir nicht mehr verfolgen sollen, oder warum. Sie wird kein Geständnis ablegen. Ich bin halb erleichtert und halb enttäuscht. »Jedenfalls«, sagt sie und nimmt den leeren Teller, »ich weiß, daß du ein vernünftiger, wohlerzogener Junge bist, und ich dachte, ich rede mal allein mit dir, ohne Keith. Und wir behalten das für uns, ja? Viel leicht solltest du auch Keith nichts von unserer klei nen Plauderei erzählen.« Ich nicke. Was soll ich auch sonst tun? »Also, du siehst, ich vertraue dir. Ich packe dich bei deiner Ehre. Ja?« Wieder nicke ich hilflos. Sie legt mir die Hand auf den Arm und sieht mich an. »Du wirst mich nicht enttäuschen, Stephen, nein?« Ich schüttele den Kopf. Noch immer hält sie sanft meinen Arm und sieht mir ins Gesicht. Dann läßt sie 133
mich mit einem leichten Seufzer los und schickt sich an, hinauszukriechen. Sie hält an und betrachtet das »Prevat«-Schild. »Tut mir schrecklich leid«, sagte sie. »Wirklich dumm von mir, daß ich nicht darauf gekommen bin. Ich werde nie mehr hier eindringen, ich versprech’s.« Sie kriecht noch ein Stück weiter und dreht sich dann noch einmal um. »Du warst schon ewig nicht mehr bei uns zum Spielen«, sagt sie. »Ich werde Keith sagen, er soll dich für morgen nachmittag einladen.« Und während sie in der Außenwelt verschwindet, versuche ich, die Lage einzuschätzen. Wieder habe ich jemand Fremdes in unser Versteck gelassen. Wie der hat sich alles verändert. Nachdem sie verschwunden ist, erinnere ich mich an ihr Kleid, das ich von hinten sah, während sie nach draußen kroch, dessen Schlichtheit durch den Staub der blanken Erde beeinträchtigt, dessen Eleganz von dem daran hängenden Laub und den Zweigen Lügen gestraft wurde. Und irgendwie … tut sie mir leid, trotz ihrer Untaten. Es tut mir weh, daß sie sich in dieser Weise vor mir demütigen mußte. Ich zucke zusammen, denn gerade merke ich, daß sie wieder durch die Zweige späht. Den Teller hat sie nicht mehr in der Hand. Sie hat jetzt wieder den Ein kaufskorb am Arm. Sie lächelt. Ihre braunen Augen betrachten mich wieder ruhig. »Danke, daß ich dasein durfte«, sagt sie. Sie geht ruhig die Straße entlang in Richtung Ecke. Ich sehe ihr nach. Diesmal wird sie natürlich durch den Tunnel gehen. Ich unternehme keine Anstalten, ihr zu folgen.
6
Warum werde ich wach? Wegen der vielen sorgen vollen Gedanken über die Operation, die wir geplant haben, und die Frage, wie es weitergeht, nachdem Keith’ Mutter mich gebeten hat, die Sache sein zu lassen? Oder ist es mein schlechtes Gewissen wegen der vielen Schwächen, die ich gezeigt, und all der fal schen Gedanken, die ich zugelassen habe? Oder liegt es bloß an der ungewohnten Helligkeit in meinem abgedunkelten Zimmer? Rings um die Verdunkelung zeichnet sich ein son derbares weißes Licht ab. Ich stehe auf und stecke den Kopf unter das Rollo. Die langweilige, bekannte Welt dort draußen hat sich verwandelt. Die Büsche in unserem Vorgarten und die Fassaden der Häuser ge genüber schimmern zart und unwirklich weiß vor ei nem samtdunklen Hintergrund. Es gibt keine Bewe gung, keinen Laut. Es ist, als wäre die Straße ein Abbild ihrer selbst oder als wäre das ätherische Schla gen der Haywardschen Uhren wie eine lautlose Figur im Raum festgehalten und konserviert worden. Nacht – die fast vergessene Zeit. Und irgendwo über dem Dach steht der Vollmond und verströmt ein wei ches Licht, überdeckt das Durcheinander im Garten und den wetterfleckigen Putz der Häuser gegenüber und wäscht alle Scham und Verwirrung des Tages ab, so daß nur diese vollkommene weiße Stille bleibt. 135
Wir sind in der Mitte des Mondzyklus. Noch ein mal zwei Wochen bis Neumond. Und was werde ich tun? Natürlich kann ich Keith’ Mutter nicht weiter beobachten und verfolgen, nach dem sie uns dabei gesehen und an meine Ehre appel liert hat, damit aufzuhören. Aber natürlich kann ich nicht aufhören, sie zu beobachten und zu verfolgen, nachdem sie mir mehr oder weniger verraten hat, daß wir sonst vielleicht etwas herausfinden, was wir nicht wissen dürfen. Selbstverständlich muß ich mit Keith darüber re den, damit er sich etwas ausdenken kann. Sie ist ja seine Mutter! Sie ist seine Spionin! Aber selbstver ständlich kann ich Keith nichts davon erzählen, denn sie hat es mir verboten. Sie hat es mir verboten, und ich habe hilflos genickt. Ich war einverstanden. Ich habe es ihr praktisch versprochen. Auch schon vorher hat sich ein Haufen Dinge ange sammelt, die ich Keith nicht erzählen konnte. Der Besuch von Barbara Berrill. Ihre albernen Geschich ten über seine Mutter und seine Tante. Nun ist mir ein weiteres Geheimnis aufgebürdet worden, von dem er nichts wissen darf. Aber wie können wir wei termachen, wenn ich ihm zumindest davon nichts er zähle? Mir ist, als würde mir der Kopf platzen, so sehr strenge ich mich an, all diese Widersprüche unter ei nen Hut zu kriegen. Doch dann, während ich noch immer die friedliche weiße Welt draußen vor dem Fenster betrachte, sieht alles eigentlich recht simpel aus. Wenn ich nur, wie von Keith vorgeschlagen, ei nen zusammengeknoteten Strick hätte, könnte ich aus dem Fenster steigen und mich hinunterhangeln in diese große Stille. Ich würde sie in mich aufnehmen 136
und in ihr aufgehen. Ich würde eine einfache Helden tat vollbringen, und alles wäre ein für allemal geklärt. Ich würde durch den Tunnel gehen, während die Welt völlig still daliegt, und Keith’ Mutter ist nicht da, ich brauche sie nicht zu beobachten, ihr nicht zu folgen. Ich würde entdecken, was sie diesmal in der Kiste gelassen hat, bevor irgend jemand es herausneh men kann. Ich würde den Beweis finden, der zweifels frei demonstrieren würde, daß Keith recht hat – daß seine Mutter tatsächlich eine deutsche Spionin ist. Eine einzige heldenhafte Tat, die ich Keith am Morgen zu Füßen legen würde. Und auf einen Schlag wären alle meine Probleme gelöst und alle mein Schwächen und Irrtümer weggewischt, so wie alle Unzulänglichkeiten des Tages vom Mondlicht zer streut werden. Ich würde durch den dunklen Tunnel gehen. Ganz allein. Und am anderen Ende hinaustreten in den Mondschein. Wenn ich nur einen zusammengeknoteten Strick hätte … Die weiße Stille dauert immer noch an. So habe ich die Welt noch nie gesehen. Langsam wird mir klar, daß ich ja gar keinen Strick brauche. Ich muß nur die Treppe hinuntergehen. Nachdem mir dieser Gedanke gekommen ist, weiß ich, daß ich es tun muß. Ich weiß, daß ich es tun werde. Und auf einmal habe ich furchtbare Angst. Die Sommernacht ist auf einmal kalt geworden. Ich zitte re so heftig, daß ich kaum den Pullover über den Kopf oder die Sandalen an die Füße bekomme. Ich höre meine Zähne klappern wie Würfel in einem Würfelbecher. Geoff bewegt sich im Schlaf, als hätte er sie ebenfalls gehört. Ich taste mich die Treppe hin 137
unter und schleiche durch die Küche, zur hinteren Tür hinaus. Ganz langsam und immer noch zitternd schiebe ich den Riegel zurück und trete geräuschlos hinaus in die silberne Dunkelheit, werde ein Teil davon. Noch nie in meinem Leben bin ich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen. Noch nie habe ich diese große Stille erlebt oder diese eigentümliche neue Freiheit, überall hingehen und alles tun zu können. Natürlich werde ich nicht den Mut haben, die Sa che hinter mich zu bringen. Ich werde vor Angst sterben, bevor ich das Ende der Straße erreicht habe. Aber ich muß es tun, ich muß. Zwischen der silbriggrauen Scheibe, die sich hinter mir spiegelt, und derjenigen vor mir erstreckt sich ein Dunkel, dessen Umrisse nur von Geräuschen be stimmt werden. Der gewaltige Hall des Wassers, das von der nassen Schwärze über mir in das schwarze Wasser neben mir fällt, verbindet sich mit dem plat schenden Getrippel unsichtbarer Nachtkreaturen, die vor dem langen Echo meines panikerfüllten Atmens fliehen. Vor Schreck verliere ich auf dem unsichtba ren schmalen Damm am Rand des unsichtbaren Sees die Balance, so daß ich mich mit der Hand an der glitschigen Wand abstützen muß. Die schleimige Schicht ist voller Bakterien – überall an den Händen habe ich jetzt Bakterien. Und dann bin ich endlich wieder draußen im Freien und schaue dankbar hoch zu dem friedvollen weißen Gesicht, das voll und rund über dem Bahndamm steht. Die Nacht wird kommen, denke ich, in der ich wieder im Dunkeln bin, aber ohne Mond, der die 138
Welt weißelt. Und genau in diesem Moment weht eine kühle Brise, und der Mond wandert hinter eine Wol ke. Die zartweiße Welt um mich herum löst sich auf. Ich bleibe stocksteif stehen, bezwinge meine neue Panikattacke. Aus den verschiedenen Schwarztönen und ein paar Geräuschen setze ich mir langsam eine Welt zusammen. Das Rascheln der Blätter in den Bäumen am Weg. Das Murmeln der Telegrafenlei tungen entlang der Gleise über mir. Ich schleiche weiter. Ich ertaste die rauhen Ziegel steine der Stützmauer … die rostigen Maschen des Drahtzauns … die zertrampelten Kerbelstengel … die metallische Glätte der Kiste, die aufgeprägten Lettern. Ich lausche. Das Rascheln der Blätter, das Murmeln der Telegrafenleitung. Mein Atem. In der Ferne das Bellen der Hunde in den Lanes. Sonst nichts. Ich hebe den Deckel an. Die glänzende Unterseite reflektiert einen schwachen Lichtschein von den Wolken. Auf dem Kistenboden spiegelt sich aber kein Licht. Ich schaue in Schwärze. Diese Schwärze erscheint mir merkwürdig – das Geräusch stimmt nicht … Es gibt nämlich kein Geräusch. Die metalli schen Innenflächen sollten ein schwaches Echo der leisen atmosphärischen Bewegungen der Nacht wie dergeben, doch es gibt kein Echo. Vorsichtig stecke ich die Hand hinein. Die Beschaf fenheit der Luft um meine Finger scheint sich zu ver ändern, zu verdichten, sie berühren ein Material, das nachgibt. Ich reiße die Hand zurück. Im nachhinein wird mir klar, daß ich etwas Weiches berührt habe. Etwas Trockenes, Kühles, Weiches. In der Kiste liegt etwas. Ich überlege, was es war. Eine Art Stoff. Langsam und vorsichtig stecke ich beide Hände wie 139
der in die Kiste. Stoff, genau … Viel Stoff … Verschie dene Arten Stoff … Manches glatt, manches rauh … Ein Saum … Ein Knopf … Noch ein Knopf … Unter meinen Fingern ist nun etwas, das sich rauh anfühlt, etwas Geripptes, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Ich glaube, ich weiß, was es ist. Langsam taste ich nach der Unterseite, um festzustellen, wie sie beschaffen und wie breit sie ist – und dann höre ich auf. Das Dunkel um mich herum ändert ein wenig seine Beschaffenheit. Ich schaue hoch und sehe die Andeu tung eines Lichtscheins am Rand der Wolken. Jeden Moment wird der Mond wieder hervortreten. Aber noch etwas anderes hat sich verändert. Etwas an dem Geräusch der Welt … Ich lausche angestrengt. Nichts. Nur die Bewegun gen der Blätter, das Seufzen der Leitungen, das Ein und Aus meines Atems … Ich konzentriere mich wieder auf den Gegenstand, den ich berühre. Die Unterseite fühlt sich genauso an wie die Oberseite. Er ist etwa so breit wie meine Hand … Ja, ich weiß, was es ist. Ich schiebe meine Hand entlang, um zu prüfen, wo das Ende ist, halte dann wieder inne. Das veränderte Geräusch, stelle ich fest, ist das Ge räusch meines Atems. Es ist komplexer geworden. Es entspricht nicht mehr genau dem Heben und Sinken meiner Brust. Ich halte die Luft an. Das Atemgeräusch geht weiter. Jemand muß ganz in der Nähe sein – jemand, der laut los zu dem Loch im Zaun gekommen ist und nun ste hengeblieben ist, um zu lauschen, wie ich jetzt lausche. Noch ein leises Geräusch. Eine Hand, die nach der Stützmauer tastet, genau wie ich vorhin … Jetzt wer 140
den die rostigen Maschen des Zauns zurückgebogen. Jemand zwängt sich hindurch … Jemand ist dicht hinter mir, tastet sich zu der Kiste vor. Es ist ein Mann – ich kann das Männliche seines gleichmäßigen Atems hören. Ein erwachsener Mann – ich höre seine Körpergröße. Gleich werde ich spü ren, wie er die Hände nach der Kiste ausstreckt und statt dessen meinen Rücken berührt. Ich kann mich nicht rühren, kann nicht atmen. Eine quälende elektrische Kälte wandert über meinen Rücken, hinter dem ich die sich nähernden Hände spüre. Und plötzlich löst sich die Dunkelheit in einer Flut von Mondlicht auf. Aus dem gleichmäßigen Atem hinter mir wird ein scharfes, heiseres Luftholen. Keiner von uns bewegt sich. Keiner von uns atmet. Ich brauche mich nur umzudrehen, dann sehe ich ihn. Aber ich schaffe es nicht, so wie man sich nie umdrehen kann, wenn man die furchtbare Gestalt in einem Alptraum hinter sich hört. Dann verschwindet der Mond wieder hinter den Wolken, und der Mann ist fort. Ich höre, wie er sich durch den Zaun zwängt und in seiner Hast stolpert, während er zu den zerfurchten Tiefen der Lanes rennt. Ich warte, unbeweglich wie ein Stein, noch erfüllt von dieser unerträglichen kalten Elektrizität. Ich warte … und warte … bis ich in der Ferne wie der die Hunde bellen höre und mit Sicherheit weiß, daß er weg ist. Dann drehe ich mich um, stürze mich blindlings durch den Drahtwirrwarr und in das dröh nende Dunkel des Tunnels. 141
Atemlos komme ich um die Ecke des Close gelaufen. Die Straße ist voll von wild tanzenden Taschenlam penstrahlen und verrückten Gestalten, die hin und her rennen. Die Taschenlampen richten sich sofort auf mich und stechen mir in die Augen. Hände zerren an mir, aufgeregtes Flüstern – wie ein Sturm bricht es über mich herein. »Wo warst du … was in drei Teufels Namen ist in dich gefahren? … Hast du den Verstand verloren …? Wir wollten schon die Polizei rufen … Weißt du, wie spät es ist …?« Es stellt sich heraus, daß die erregte Menschen menge aus meinen Eltern besteht, beide im Morgen mantel, sie drängen mich nach Hause, versuchen noch immer zu flüstern, um die Nachbarn nicht zu wecken. Geoff steht auf der Schwelle und schaut spöttisch zu. Vermutlich hat er mich verpetzt. Sobald sich die Tür hinter uns schließt, können sie endlich die Stimme heben, und als mein Vater Licht macht, haben sie erneut Anlaß, sich aufzuregen. »Du bist ja pitschnaß«, ruft meine Mutter. »Von oben bis unten!« Das stimmt. Offenbar bin ich im Tunnel mitten durch das Wasser gelaufen und der Länge nach hin geschlagen. Meine Mutter reißt mir die nassen Sachen vom Leib, als wäre ich ein Dreijähriger. »Menschenskind«, sagt Geoff, »was habt ihr denn diesmal gejagt? U-Boote?« »Wieder so eine Schnapsidee von Keith und dir, ja?« ruft mein Vater. So habe ich ihn noch nie erlebt. »Keith?« ruft meine Mutter. »Der läuft doch nicht etwa auch noch draußen herum?« Ich sage nichts. Meine Zähne klappern wieder. 142
»Antworte!« sagt mein Vater. »Oder muß ich drü ben klopfen, um mich zu vergewissern, daß er zu Hause ist?« Angesichts dieser unvorstellbar grauenhaften Mög lichkeit entscheide ich mich für eine andere Taktik. Ich schüttele den Kopf. »Bestimmt?« sagt meine Mutter. »Bist du sicher, daß du Keith nicht auch zu dieser Dummheit ange stiftet hast? Dann würde ich nämlich gern wissen, was seine Mutter dazu sagt.« Wieder schüttele ich den Kopf. Glaubt sie wirklich, daß ich es bin, der Keith zu irgendwelchen Dingen anstiftet, und nicht umgekehrt? Wie konnte Keith unsere beiden Mütter so komplett täuschen? »Also, was hattest du vor?« fragt mein Vater. »Wenn du mir freundlicherweise die Frage gestattest …« Doch jetzt entscheide ich mich für vollständiges Schweigen. Weigere ich mich bewußt, über Dinge zu sprechen, von denen mir klar ist, daß sie unter keinen Umständen preisgegeben werden dürfen? Oder bin ich nur zu erschrocken, um den Mund zu öffnen? Nackt und zitternd, stumm und infantil stehe ich da und habe nur den einen verzweifelten Gedanken: daß ich mich hätte umdrehen und sehen können, wer es war. Ich hätte mich umdrehen, ich hätte ihn sehen können. Wieder habe ich versagt. Während meine Mutter ein Handtuch nimmt und mich kräftig abrubbelt, merke ich, daß ich noch etwas in der Hand halte – das rauhe Etwas, das ich in der Kiste gefunden habe, bevor ich ihn kommen hörte. Jetzt sehe ich: es ist genau, was ich gedacht habe. Es ist so naß wie alles andere. Meine Mutter schnappt es mir weg und wirft es auf den nassen Haufen neben mir auf dem Fußboden. 143
In seiner neuen Umgebung sieht es ganz normal aus: eine lange dunkelblaue Wollsocke, mit einer stark gestopften Ferse. Keith dreht die Socke um, inspiziert sie sorgfältig. Ich habe sie trocken aus dem Wäschekorb meiner Mutter genommen, und nun sieht man, daß die gestopften Stellen etwas heller sind als der Rest, und die Sohle ist braun vor Alter und Abnutzung. Keith krempelt die Socke um. Bis auf ein paar Wollflusen ist nichts darin versteckt. Wir sitzen am Teetisch, unter den glänzenden sil bernen Kerzenleuchtern und dem Aschenbecher, den seine Eltern bei den Tennismeisterschaften gewon nen haben. Bei Keith’ Anblick verläßt mich der Mut. Das also ist das Ergebnis meines grandiosen Unter nehmens, der Schatz, den zu heben und ihm zu Fü ßen zu legen ich in der Nacht losgegangen bin. Na türlich müßte es etwas anderes sein. Wenn Keith die Aktion unternommen hätte, wäre es etwas anderes. Eine Landkarte vielleicht oder irgendein Plan. Eine verschlüsselte Nachricht. Das allermindeste wäre ein Päckchen Zigaretten mit einem Geheimzeichen dar in. Aber keine Socke. Nicht eine alte Socke. Auf der polierten dunklen Tischplatte, unter Onkel Peters offenem Blick, springen die braune Sohle und die gestopfte Ferse unnatürlich deutlich ins Auge. »In der Kiste war noch anderes Zeug«, erkläre ich abermals. »Hemden und so Sachen. Das ist mir zufäl lig unter die Finger gekommen. Als ich den Mann hörte.« Ich habe ihm von dem Mann erzählt, von den bel lenden Hunden in den Lanes. Ich habe nichts davon erzählt, daß der Mond wiederauftauchte. Ich habe 144
nicht erzählt, daß ich mich hätte umdrehen und den Mann im Mondschein hätte sehen können. Keith senkt die Augenlider ein wenig. Wieder diese Angewohnheit seines Vaters. Mein großer Fund ge fällt ihm nicht und beeindruckt ihn nicht. Ich hätte es mir denken können. Er ist der Held unserer Unter nehmungen, nicht ich. »Und er hat dich bestimmt nicht gesehen?« fragt er. »Ich hab’ mich versteckt«, sage ich, ohne ihn anzu sehen. »Ich hab’ mich ganz schnell versteckt.« Jetzt wird mir klar – ich habe alles falsch gemacht. »Und du hast ihn nicht sehen können?« »Nein. Ich hab’ mich doch versteckt.« Keith krempelt die Socke wieder um, unzufrieden mit der Socke oder meiner Erklärung oder beidem. »Ich dachte, es könnte vielleicht eine Verkleidung sein«, schlage ich demütig vor. »Ich dachte, es ist vielleicht etwas zum Wechseln. Für jemand, der mit einem Fallschirm landet oder so und eine deutsche Uniform trägt. Wenn derjenige sich in den Lanes ir gendwo versteckt.« Jedenfalls ist eine alte Socke offensichtlich keine Bezahlung für unrationierten Speck und auch kein Geschenk von Tante Dee für einen imaginären Freund. Nicht daß ich diese Geschichten je geglaubt hätte. Oder Keith davon erzählt hätte, selbst wenn ich sie geglaubt hätte. Das wäre Klatsch. Man erzählt keinen Klatsch. Schon gar nicht über die Tante von jemand, über die Mutter von jemand. Ich schnappe mir die Socke und verstecke sie in meinem Schoß, denn Keith’ Mutter kommt herein. »Ich weiß nicht, ob Stephen Rosinenbrötchen mag«, sagt sie. »Bei Courts gab es nichts anderes mehr.« 145
Mit ihrer üblichen sorgfältigen Unbestimmtheit lä chelt sie uns beide an. Alles, signalisiert sie mir damit, soll so bleiben, wie es war. Aber das ist unmöglich, unmöglich! Unter dem Tisch halte ich die alte Socke, die sie für X, einen deutschen Fallschirmspringer, in die Kiste getan hat und die ich, trotz ihres Appells, wieder herausgeholt habe. Ich kann ihr nicht in die Augen blicken. Ich weiß, daß mein Gesicht wieder komisch aussieht. »Vielen Dank«, murmle ich. Sie geht wieder hinaus, aber ich bringe es nicht fer tig, die Socke wieder auf den Tisch zu legen. »War um hast du sie rausgenommen?« fragt Keith jetzt, noch immer unzufrieden, die Rosinenbrötchen igno rierend. »Wenn sie feststellen, daß die Socke fehlt, werden sie wissen, daß jemand da war.« Ich schweige. Ich kann nicht erklären, wieso die Socke plötzlich in meiner Hand war, ohne von mei ner panikartigen Flucht zu sprechen, und ich kann meine Flucht nicht erklären, ohne von der Gestalt zu sprechen, die atmend hinter mir stand, und von dem schmählichen Versäumnis, mich nicht zu ihr umge dreht zu haben. Wortlos würge ich mein Rosinenbrötchen hinunter. »Wir sollten vielleicht nachsehen, was los ist«, sagt Keith. In seiner Stimme liegt etwas bewußt Nachsich tiges. Er übernimmt wieder die Bürde des Führen den, indem er die schwere Verantwortung akzeptiert, die ein Führer für die Fehler seines Untergebenen tragen muß. Ich unternehme einen verspäteten Versuch, mei nem Abkommen mit seiner Mutter Folge zu leisten. »Besser nicht.« Keith’ Lider senken sich wieder. »Warum nicht?« fragt er – und natürlich kann ich es nicht erklären. Er 146
glaubt, ich habe Angst. All meine nächtliche Tapfer keit zählt jetzt nicht mehr. »Ich glaube, es wäre einfach besser«, sage ich lahm. Er ist schon auf dem Weg zur Wohnzimmertür und klopft wie gewöhnlich an. »Ich und Stephen gehen nach draußen zum Spielen«, verkündet er. Keith’ Mutter denkt darüber nach. Ich kann sie hin ter ihm sehen, sie sitzt am Schreibtisch, die Schreib unterlage geöffnet, einen Füller in der Hand. Sie überlegt, ob sie sich darauf verlassen kann, daß ich unser Abkommen einhalte und dafür sorgen werde, daß auch Keith sich daran hält. »Stephen und ich«, murmelt sie schließlich. Sie ver traut mir. »Stephen und ich«, wiederholt er folgsam. Er tritt beiseite. Ich trete vor, um den üblichen Spruch aufzu sagen. »Vielen Dank, daß ich dasein durfte«, sage ich leise. Sie lächelt, vielleicht weil sie die Formel wieder aus meinem Mund hört. »Na dann, viel Vergnügen, Jungs«, sagt sie. »Und macht mir keine Dummheiten!« Sie erinnert mich an unseren Pakt, und natürlich füh le ich mich elender denn je, während ich hinter Keith hertrotte, dem Ende der Straße entgegen, und mit je dem Schritt diesen Pakt breche und sie enttäusche. An der Ecke bleiben wir stehen und schauen vor sichtig, ob die Straße hinter uns leer ist. »Sie hat Briefe geschrieben«, sagt Keith. »Sie wird sie bald einwerfen.« Ich weiß. Und sie wird nicht nach links, sondern rechts gehen und uns dabei erwischen, wie wir in die Kiste schauen, und meinen Verrat entdecken. Hilflos folge ich Keith durch das hallende Dunkel zwischen 147
Wasser und schleimiger Wand und versuche mir ein zureden, daß wir ihr ja nicht hinterherspionieren, weil wir ihr voraus sind. Wir klettern durch die Lücke im Zaun. In dem Gras neben der Stützmauer ist nur der un deutliche Abdruck eines nichtvorhandenen Objekts zu sehen. Die Kiste ist verschwunden. »Er hat dich doch gesehen«, sagt Keith. »Sie haben ihr Versteck verlagert. Die Deutschen wissen also, daß wir von ihnen wissen. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen, Freundchen.« Mir rutscht das Herz in die Hosen bei diesem Ton fall und dem Ausdruck seines Vaters, angesichts des vorwurfsvoll nichtvorhandenen Objekts im Gras, meiner eigenen Hoffnungslosigkeit. »Tut mir leid«, sage ich demütig. Der Bruch meines Ehrenworts hat nichts als böse Folgen. Und jeden Moment wird sie mit ihrer näch sten Lieferung von Geheimnissen eintreffen, um sie in die Kiste zu packen. Sie wird feststellen, daß sie nicht mehr da ist, und mich sehen, den Grund für ihr Verschwinden. »Tut mir leid, Keith«, flüstere ich. »Komm, laß uns gehen.« Aber Keith lächelt sein gefährliches dünnes Lä cheln. Ich weiß, er wird mich demütigen, weil ich ein so hoffnungsloser Fall bin und so vermessen war, das Gegenteil vorzutäuschen. »Er hat dich also gesehen«, sagt er. »Aber du ihn nicht.« Diese Ungerechtigkeit verschlägt mir den Atem. Keith hat keine Ahnung, wie schrecklich es war, hier zu sein, ganz allein, mitten in der Nacht! Er hat es schließlich nicht erlebt! 148
»Es war dunkel«, erkläre ich. »Der Mond hat geschienen. Du hast gesagt, es war Mondlicht.« »Nicht in dem Moment.« »Wann?« »Als er mich gesehen hat. Als ich ihn nicht gesehen habe.« Im selben Moment, als ich das sage, wird mir be wußt, wie dürftig meine Antwort ist. Keith’ Lächeln wird noch dünner, seine Stimme noch leiser. »In Wahrheit hast du dich gar nicht versteckt«, flü stert er. »Du hast nur dein Gesicht verborgen.« »Keith, bitte – laß uns nach Hause gehen.« »Du hast einfach die Hände vors Gesicht gehalten. Damit du nichts sehen kannst. Wie Milly, wenn sie Verstecken spielt. Wie ein kleines Baby.« Ich spüre den Kloß im Hals, dann die schmachvollen Tränen, die meine Sicht behindern. Es ist die schiere Ungerechtigkeit seines Vorwurfs, die mich umhaut, die groteske Konzentration auf die eine momentane Schwäche, nachdem ich soviel Mut demonstriert habe, seine brutale Zurückweisung des hart erarbeiteten Tri buts, den ich ihm zu Füßen gelegt habe. Aber natürlich beweisen meine Tränen jetzt, daß er recht hat. Mit ver schwimmendem Blick sehe ich, daß sein Lächeln lang sam verschwindet. Er wendet sich achselzuckend ab. Er hat das Interesse an mir verloren. »Dann geh doch«, sagt er. »Geh nach Hause, wenn du unbedingt willst.« Wimmernd krieche ich zurück zum Zaun. Noch nie habe ich mich so gedemütigt gefühlt. Ich will den Draht auseinanderdrücken, aber in meiner Qual ge lingt mir selbst das nicht. Dann halte ich inne. Ich lausche, versuche, meine Schluchzer zu unterdrücken. 149
Aus dem Tunnel dringt schwach das Geräusch hal lender Schritte. Ich krieche zu Keith zurück. »Sie kommt«, flüstere ich. Wir schauen uns nach einem Versteck um. Aber schon hören wir die herannahenden Schritte … schon sind sie am Loch im Zaun … und schon habe ich mich hingeworfen und presse das Gesicht auf die Erde, um nicht zu sehen, welches Schicksal mir droht. Wie Milly beim Versteckspielen. Wie ein kleines Baby. Dann entfernen sich die herannahenden Schritte wieder. Langsam wird mir klar, daß die Welt doch nicht untergegangen ist. »Schnell!« flüstert Keith. »Sie ist vorbeigegangen! In Richtung Lanes!« Ich richte mich auf. Er stolpert schon zum Zaun. Beschämter denn je, stolpere ich eilig hinterher. Als Keith durch den Zaun steigt, fällt mir jedoch ein grü ner Grasstreifen auf seiner Backe auf. Auch er hat das Gesicht versteckt, genau wie ich. Zwei kleine Babys. Einen kurzen Moment fühle ich mich triumphal be stätigt. Dann laufe ich nach Hause – und merke kurz vor dem Tunnel, daß Keith in die andere Richtung läuft, den Lanes entgegen. Wir beide bleiben überrascht stehen. Er verfolgt seine Mutter. Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. Er wartet, in der Annahme, daß ich umkehre und ihm folge, aber ich rühre mich nicht. »Was ist?« sagt er mit seinem dünnen Lächeln. »Hast du Angst vor den Hunden?« Ich schüttelte den Kopf, bewege mich aber nicht. Ich kann nicht! Sie hat mich bei meiner Ehre gepackt! Und ich kann es nicht erklären. Wir stehen also da – denn auch er rührt sich nicht 150
von der Stelle. Ohne mich wird er nicht gehen. Und mit einem Anflug lächerlicher Dankbarkeit begreife ich, daß er mich als Begleitung braucht. Ohne mich gibt es kein Spiel. Ohne mich hat er niemanden, den er an Tapferkeit überbieten kann. Langsam gehe ich zurück. »Beeil dich!« sagt er kühl, »sonst verlieren wir sie.« Er trabt los, um sie einzuholen. Ich trabe mit, einen halben Schritt hinterher. An jeder Biegung des holp rigen Wegs halten wir an, an jeder Öffnung in den üppig grünen Hecken, hinter denen sie sich verber gen könnte. Dann fangen irgendwo weiter vorn Hunde zu bel len an. Sie ist also schon bei den Cottages. Wir beei len uns. Die Sommernachmittage in den Lanes scheinen alle unter einer großen Trägheit und Schwere zu ächzen. Selbst der Zug, den ich hinter uns auf dem Bahn damm höre, schleppt sich derart müde über den Tunnel und weiter zum Einschnitt hinauf, als hätte ihn die gleiche grüne Schlaffheit überwältigt. Die wenigen Male, die wir hierher vorgedrungen waren, hatte ich immer das Gefühl, in einem anderen, älte ren und unheimlicheren Land zu sein. Der Weg schlängelt sich nach rechts und links, ich erkenne die Platane wieder, in der ein vermoderter Strick hängt … dann kommt unvermutet das kleine Feld, überwu chert von Nesseln und Sauerampfer … ein nur mit Nesseln bewachsenes Stück Land … ein vor sich hin rottender Stiefel mit klaffender Sohle … ein umge stürzter Sessel in einer Pfütze von triefend nassem Polstermaterial … Dann haben wir die Cottages vor uns. Und die Hunde. 151
Es sind drei, mit angelegten zerrissenen Ohren und bösen Augen, so scheckig wie das Fell, sie führen den vertrauten Tanz von Haß und Angst auf, springen uns an, ducken sich und springen wieder los. Alle noch verbliebenen Meinungsverschiedenheiten mit Keith sind auf einmal vergessen, ich stehe an seiner Seite, genauer gesagt direkt hinter ihm, versuche, mich selbst und den Geruch meiner Angst zu verbergen, während er, den Hunden zugewandt, langsam, aber entschlossen weitergeht, ich einen Schritt dahinter, langsam und nervös. Ausdruckslos beobachtet uns ein halbes Dutzend Kinder unterschiedlichen Alters, die vor den Cottages stehen, auf dem Weg oder in den kleinen Vorgärten, in denen rostige Mangeln und alte Matratzen liegen. Ihre Gesichter sind dreckig, sie tragen dreckige kra genlose Hemden und dreckige, viel zu große Kleider. Es ist ganz klar, daß sie vor Bakterien nur so starren. Sie tun nichts – sie spielen nicht, sie rufen die Hunde nicht zurück, sie freuen sich nicht einmal über unsere Verunsicherung, sie stehen völlig reglos da, als stün den sie seit dem Beginn der Zeit dort, und beobach ten uns mit hölzernen Gesichtern, als wären wir An gehörige eines völlig fremden und unverständlichen Volks – eisenzeitliche Invasoren in steinzeitlichem Land, weiße Siedler unter Ureinwohnern. Inmitten meiner Angst kommt mir der unbehagli che Gedanke, daß diese undurchschaubaren und un nahbaren Wesen den Schlüssel zu dem Geheimnis besitzen. Sie beobachten, was in den Lanes vor sich geht, so wie wir beobachten, was im Close vor sich geht. Sie haben X auf seinem Weg zum Versteck im Tunnel und auf dem Rückweg gesehen. Sie wissen, wie er aussieht. Sie wissen, wo er sich versteckt. Wir 152
können sie aber unmöglich fragen, denn es ist un möglich, sich mit ihnen zu verständigen. Keith behandelt Hunde und Kinder gleichermaßen geringschätzig. Während wir vorübergehen, studiert er die Cottages mit einem knappen, mitleidigen Lä cheln, als wären sie unbewohnt. Ich tue so, als stu dierte ich sie ebenfalls, und versuche dabei, ebenso herablassend zu wirken. Ich bemerke zumindest, wie niedrig sie sind und wie grau und rissig die weißen Schindeln. Ich bemerke die zerrissenen Vorhänge an den Fenstern und die beiden kleinen vorderen Türen. Zu beiden Seiten der Cottages ist ein intensiv bewirt schafteter Gemüsegarten, an dessen hinterem Ende sich jeweils ein kleiner, baufälliger Schuppen befin det: der Prevat. Der bleierne Blick der mürrischen Kinder bedrückt mich fast ebenso wie das Interesse der Hunde. Der gleiche Blick, überlege ich, hat kurz zuvor auf Keith’ Mutter geruht. Ein undenkbarer Gedanke, der schon eine ganze Weile in meinem Hinterkopf ist, nimmt langsam etwas deutlichere Gestalt an: Keith’ Mutter ist hier, in den Cottages. Dies ist das geheime Wis sen, das diese verschlagenen Gesichter verbergen. Eine der Haustüren geht auf, und ein Mann in schmuddeligem Unterhemd tritt heraus. Er sieht von der Schwelle aus zu uns her, während er mit offenem Mund irgend etwas kaut. X.
Oder?
Wir gehen weiter, erwehren uns der Hunde. X ist
es nicht, weil es nicht sein kann. Es kann nicht sein, weil … weil wir sonst in der Sache nicht weiterkä men. Mit Deutschen würden wir schon fertig. Mit diesen Leuten ganz sicher nicht. Wir müssen glau 153
ben, daß Keith’ Mutter noch weitergegangen ist. Wir müssen uns auf diese Annahme stützen. Wir gehen langsam weiter, angestarrt und ange bellt, bis wir hinter der Biegung verschwinden. Ich weiß, daß Keith der gleiche undenkbare Gedanke durch den Kopf geht wie mir, aber keiner von uns spricht ihn aus. Wir setzen unsere Suche an jedem möglichen Zu gang zu dem grünen Wirrwarr links und rechts fort. Wir kommen an einem halb ausgetrockneten Teich vorbei, in dem wir einmal Kaulquappen gefangen ha ben, dann an einer kleinen, aufgelassenen Kalkgrube und an einem unkrautüberwucherten Haufen ausran gierter Karren und kaputter Eggen. Der Pfad verliert sich im Nirgendwo. Vor uns öffnet sich eine weite Fläche, abgeholzt und brachgelegt, als Baugrund aus gewiesen, bei Kriegsausbruch dann wieder aufgege ben. Inzwischen hat eine niedrige Savanne aus wu cherndem Unkraut das Land zurückerobert. Das Netz aus Straßen und Sackgassen, aus Kreiseln und Wendepunkten ist verschwunden, wie die Radmut tern des Autos von Keith’ Vater und so viele andere Dinge für die Dauer des Krieges. »Wohin jetzt?« frage ich demütig und noch immer fast flüsternd. Keith sucht den weiten Horizont dieses trostlosen Meeres ab. Die einzigen Lebenszeichen sind kleine Figuren, die auf ein, zwei fernen inselartigen Parzel len arbeiten. Weit auf der anderen Seite, wie niedrige Felsen an einer fernen Küste, stehen die letzten Häu ser in den unfertigen Straßen, wo nicht mehr gebaut wird. Wir müssen glauben, daß jemand von dort drü ben jeden Abend den ganzen weiten Weg über diese Mondlandschaft gegangen ist, um nachzuschauen, 154
was in der Crocketkiste ist, und daß Keith’ Mutter in umgekehrter Richtung die gleiche trostlose Reise zu diesem fernen Ziel bereits hinter sich gebracht hat. Aber an welcher Stelle dieser weiten Küste gehen sie an Land? »Irgendwo muß ein Weg sein«, murmelt Keith. Dort, wo der Weg aufhört, suchen wir den Boden ab. Zwischen den dicken Grasbüscheln scheint der rissige Boden durch, wie der kahle Schädel unter den Haarsträhnen auf dem Kopf meines Vaters. Also Pfa de überall und nirgendwo. Wir sind hier am Ende der Welt, und uns beiden geht der gleiche undenkbare Gedanke durch den Kopf. Wir müssen wieder zurück zu dem letzten Ort, den sie mit Sicherheit erreicht hat – die Cottages. Doch wir trödeln in dem vagen, undefinierbaren Ge lände am Ende der Lanes herum. Keiner von uns er wähnt die Cottages, und ich weiß, daß Keith genauso zögert wie ich, weil nicht einmal er den Mut haben wird, dort in Aktion zu treten. Diese Gegend hier heißt allgemein Barns, obwohl hier keine einzige Scheune zu sehen ist, nur ein trost loses Durcheinander von überwucherten Fundamen ten aus Ziegelsteinen und schwarzen Wellblechplat ten, Resten von landwirtschaftlichen Gebäuden, die schon vor Jahren eingefallen sein müssen. Selbst diese letzten Spuren verschwinden allmählich unter Holun dersträuchern und einem Berg alter Emailschüsseln, deren Boden sich gelöst hat. Im letzten Winter wohn te hier irgendwo ein alter Landstreicher, aber Norman Stott sagt, er sei von der Polizei abgeholt worden. Wir stochern unter den alten Töpfen und Pfannen herum, zögern unsere Rückkehr zu den Cottages hinaus. 155
Keith nimmt einen Stein und wirft ihn auf einen ruß geschwärzten Kessel, der neben dem niedrigen, ver fallenen Mauerrest unter dem Holunder liegt. Es ent steht ein lautes Geräusch in der Stille. Ich mache es ihm nach und werfe ebenfalls einen Stein, aber der Kessel schweigt. Wir haben etwas gefunden, womit wir uns eine Weile beschäftigen können. Keith wirft einen zweiten Stein und trifft. Ich werfe auch beim zweitenmal daneben. Unter dem Holunder bewegt sich etwas. Keith setzt gerade zum dritten Wurf an, läßt den Arm sinken. »Der alte Landstreicher ist wieder da«, flüstert er. Wir warten. Keine weitere Bewegung. Keith wirft seinen Stein auf den Holunder. Er trifft einen ande ren metallischen Gegenstand – dem Geräusch nach zu urteilen etwas Größeres, nicht so Hohles. Eine der al ten Wellblechplatten vielleicht, die hier herumliegen. Keith kriecht näher, ich hinterher. Inmitten der verfallenen Mauerreste sind Stufen zu sehen, die in die Erde führen, zu einem Geheimgang oder dem Rest eines Kellers. Jemand hat ein paar Wellblechplatten auf den Mauersockel gelegt, so daß sie eine Art Dach bilden. »Da unten ist er«, flüstert Keith. »Ich kann ihn hö ren.« Ich lausche, kann aber nur das plötzliche, vertraute Rattern eines Zuges irgendwo hinter den Bäumen hören, dort, wo die Bahnstrecke aus dem langen Ein schnitt herauskommt, der hinter dem Haus der McAfees beginnt. Die beiläufige, gleichgültige Alltäglich keit des Geräuschs läßt dieses langweilige Waldstück noch langweiliger erscheinen. Ich spüre den traurigen, säuerlichen Holundergeruch in der Nase, scharf wie 156
Katzenpisse, der mich sofort an die Unbrauchbarkeit von fleischig-weichem Holunderholz erinnert, das furchtbar schlecht brennt und bricht, wenn man et was daraus machen will. Der unmögliche Anspruch des Holunders, ein richtiger Baum zu sein – seine er niedrigende Position ganz unten in der Baumhierar chie –, paßt eigentümlich zu der Art und Weise, wie die bekannte Welt hier draußen, hinter den Lanes, irgendwie aufhört. Wir haben eine Reise von ganz oben nach ganz unten gemacht – von den silberge rahmten Helden auf den Altären der Haywards, Schritt für Schritt die soziale Stufenleiter des Close hinunter, von den Berrills und den Geests zu uns, von uns zu den Pinchers, weiter zu den verwahrlosten Cottages und ihren armseligen Bewohnern und noch weiter bis zu einem alten Obdachlosen, der unter ei ner Wellblechplatte in einem übelriechenden Holun derbusch Zuflucht gesucht hat und nicht einmal ei nen Hund besitzt, der für ihn bellt. Nicht einmal ein Prevat, in dem er sein Geschäft verrichten kann. Wo macht er es dann? Irgendwo in der Landschaft, wie ein Tier. Ich rieche es, es vermischt sich mit dem Geruch des Holunders. Ich spüre die Bakterien. Das Geräusch des Zuges hat sich verloren. Und nun höre ich tatsächlich etwas. Husten. Ganz leises Hu sten. Wir sollen ihn nicht hören. Er hat Angst. Angst vor Keith, Angst vor mir. So weit unten in der menschlichen Rangordnung ist er. Nach meiner Feigheit in den Lanes bin ich auf einmal tapfer. Ich suche nach einem Instrument, mit dem ich den Alten noch etwas mehr ängstigen kann. »Was?« flüstert Keith. Ich sage nichts. Ich gehe zu einem Haufen alter Töpfe und Pfannen und ziehe eine verbogene und rostige Eisenstange hervor. Diesmal 157
übernehme ich die Führung. Ich demonstriere Keith, daß er nicht der einzige ist, der sich Pläne und Pro jekte ausdenken kann. Ich hole aus und schlage mit der Stange leicht auf das Wellblech über dem Kopf des Alten. Das leise Husten hört sofort auf. Er will lieber ersticken als seine Anwesenheit verraten. Wieder schlage ich zu. Stille. Keith sieht sich um und findet ein altes graues Stück Holz, das vielleicht von einem Pfosten abgesplittert ist. Jetzt schlägt er damit auf das Wellblech ein. Stille. Ich schlage. Er schlägt. Noch immer keine Reaktion. Noch immer hält der Alte dort unten den Atem an. Ich haue die Stange mit aller Kraft auf das Well blech. Keith tut das gleiche mit seinem Stück Holz. Wir schlagen auf das Wellblech ein, bis es sich all mählich verbiegt. Der Lärm erfüllt unsere Köpfe, so daß wir weder über den ergebnislosen Ausgang unse rer Expedition nachdenken müssen noch über die Aussicht, wieder zu den Cottages zurückkehren zu müssen. Er verleiht der großen Ödnis am Ende der Lanes Sinn und Zweck. Wenn es hier draußen schon so laut ist, wie laut muß es dann erst unter dem Wellblechdach sein! Bei dem Gedanken kann ich mir ein Lachen nicht ver kneifen. Ich kann es nicht erwarten, den komischen Schrecken auf dem Gesicht des Alten zu sehen, wenn er schließlich herauskommt und wir in Richtung Lanes davonrennen. Doch er kommt nicht heraus, und irgendwann müs sen wir aufhören. Wir können vor lauter Keuchen und Lachen nicht mehr. Kein Zeichen von dem Mann. Auch kein Geräusch, 158
abgesehen von unserer eigenen Erregung und aber mals einem Zug, der gleichgültig hinter den Bäumen vorbeirattert. Das Geräusch geht in der Tiefe des Einschnitts unter, und wieder ist große Stille. Ich erinnere mich an die Situation, als Dave Avery und ein paar Jungs aus der Seitenstraße den armen Eddie Stott im dunklen Gartenschuppen der Hardi ments einschlossen und dann auf das Dach einschlu gen. Ich erinnere mich an die schauerlich animali schen Laute, die Eddie in seiner Angst ausstieß. Die Stille unter dem Wellblechdach ist noch schau erlicher. Kein Schrei, kein Fluch, kein Atemzug. Wir lachen nicht mehr. Eine kalte Angst erfaßt plötzlich mein Herz, und ich weiß, daß es Keith ähn lich geht. Der alte Mann ist aber nicht tot. Wie kann er tot sein! Die Leute sterben doch nicht wegen einer klei nen Neckerei! Sie sterben aber vor Angst … Keith wirft sein Stück Holz weg. Ich werfe meine Eisenstange weg. Wir wissen nicht recht, was wir tun sollen. Warum gehen wir nicht hinunter und schauen nach? – Weil wir nicht können. Und plötzlich drehen wir uns um und rennen los, keiner Anführer diesmal, keiner Geführter. Wir laufen und laufen, bis wir, zuerst von den auf uns losstürzenden Hunden und dann von den star renden Kindern, genötigt werden, unser Tempo zu verlangsamen. Wir sagen kein Wort zueinander, selbst als wir die Cottages hinter uns gelassen haben und das Bellen verklungen ist. Wir kommen an dem vergammelten Stiefel vorbei, an den Nesseln und dem kleinen Feld voll Unkraut und Sauerampfer, an 159
der Platane mit dem Strick, bis wir dieses alte, be drückende Land hinter dem Tunnel endlich verlassen haben. Schweigend gehen wir den Close hinauf. Wir schweigen jetzt, weil unsere Panik sich gelegt hat und wir an den alten Landstreicher denken. An dieses un sichtbare, unhörbare Wesen, das lieber sterben als sein Gesicht zeigen oder seine Stimme hören lassen wür de. An den Unbekannten, der unbekannt bleibt. Die noch zu bestimmende Größe in der Gleichung. X. Keith’ Vater steht in seiner Home-Guard-Uniform am Gartentor. »Mama ist immer noch nicht zurück von Tante Dee«, raunzt er Keith an. »Hab’ Parade heute abend. Müssen früher essen. Hat sie’s verschusselt?« Keith’ Mutter ist also noch nicht zurück. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, was das heißt. Dann dreht sich mir der Magen um. Ich sehe Keith an. Ihm ist der gleiche Gedanke gekommen; sein Gesicht ist weiß geworden. Er sieht mir kurz in die Augen und schaut dann weg. Sein Blick ist umschleiert und leer. Seine grauen Lippen verziehen sich, er lächelt freud los wie sein Vater. »Lauf rasch los und sag ihr Bescheid«, sagt sein Vater. Ich kann Keith nicht ansehen. Ich kann mir nicht erlauben, zu überlegen, was er tun oder was er sagen wird. »Schon gut«, sagt sein Vater. »Da ist sie ja.« Wir sehen sie mit dem Einkaufskorb den Close her aufkommen. Diesmal beeilt sie sich, sie läuft fast. »Entschuldige, Ted«, sagt sie schließlich atemlos. »Deine Parade – ich weiß. Ich war in Paradise. Hab’ überall versucht, ein Kaninchen fürs Wochenende 160
zu ergattern. Nichts. Bin den ganzen Weg zurück gelaufen.« Keith wendet sich schweigend ab und geht zum Haus. »Also, meine Liebe, Abendessen in zehn Minuten auf dem Tisch«, sagt sein Vater. Er folgt Keith ins Haus. Über seinem Khakihintern wippt das berühmte Bajonett in der Scheide. Keith’ Mutter schaut mich an, während sie das Gar tentor schließt. Einen Moment steht sie völlig unbe weglich da, kommt langsam wieder zu Atem. »Wart ihr das?« fragt sie leise. Ich sehe weg. »Ach Stephen!« sagt sie bekümmert. »Ach Ste phen!«
7
Wie weit war Stephen in dieser Situation eigentlich klar, was vor sich ging? Ich stehe vor Meadowhurst, dem langweiligen neu en Haus, das früher ein überwuchertes Niemandsland namens Braemar gewesen war, und starre auf den zweiten Geranienkübel von links auf den Pflasterstei nen. Etwa dort dürfte die Stelle im Versteck gewesen sein, wo Stephen in den Tagen nach der Expedition zu den Lanes stundenlang saß. Keith kam nicht mehr zum Spielen heraus, und Stephen war zu verunsichert von den Vorgängen im Hause Hayward, als daß er geklopft hätte. Also saß er allein da. Mit dem Hintern auf der blanken Erde, die nun unter den Steinplatten verborgen ist. Sein Kopf dürfte mehr oder weniger dort gewesen sein, wo jetzt die scharlachroten Blüten sind. Ich betrachte sie verwirrt. Am Wohnzimmerfenster steht ein Junge, der mich ebenso nachdenklich und aufmerksam beobachtet. Er ist ungefähr so alt, wie Stephen damals war, und stellt sich bestimmt vor, was im Kopf dieses alten Mannes vorgeht, der so unglaublich konzentriert auf die Ge ranien seiner Mutter starrt. Er denkt, daß er mich noch nie im Close gesehen hat. Er erinnert sich an all die Geschichten von den Dieben, die das Vogelbad im Nachbargarten gestohlen haben, von den kranken 163
Erscheinungen, die mit ausgestreckter Hand am Rand der bekannten Welt herumgeistern, von den Hausie rern, vor denen man ihn gewarnt hat, die mit furcht baren Vergnügungen locken, denen man sich versa gen muß, von den Kinderpeinigern, von den umher streifenden Mördern … Ich ignoriere ihn. Ich denke an den Kopf, der dort drüben in dem Geranienkübel wächst. Schwer zu be greifen, daß es derselbe Kopf ist wie derjenige, der auf meinen Schultern sitzt und über ihn nachdenkt – aber ich weiß noch immer nicht, was in ihm vorgeht, ebensowenig wie der Junge hinter den Gardinen weiß, was in meinem jetzigen Kopf vorgeht. Ich stelle mir vor, daß ein ständig sich verändernder, ruheloser Wirrwarr aus Erinnerungen und dunklen Ahnungen darin ist. Daß er immer wieder an die donnernden Schläge auf das schwarze Wellblech denkt und an die anschließende Stille; an den Gesichtsausdruck von Keith’ Mutter, als sie ihn über das Gartentor hinweg ansah und ihm leise diese Frage stellte; an die Kreuz chen und Ausrufezeichen; an die Küsse bei Verdunke lung. Daß er den bevorstehenden Neumond nicht vergessen hat. Eindrücke … Ängste … Aber was hat Stephen sich dabei gedacht? Was hat er tatsächlich verstanden? Was verstehe ich? Jetzt in diesem Moment? Von ir gend etwas? Noch von den einfachsten Dingen vor meinen Augen? Was verstehe ich von den Geranien dort in dem Kübel? Nur daß es Geranien in einem Kübel sind. Von den biologischen, chemischen und molekularen Prozessen, die dieses Scharlachrot ausmachen, gar den kommer ziellen und wirtschaftlichen Bedingungen, die den Topfpflanzenmarkt bestimmen, oder den soziologi 164
schen, psychologischen oder ästhetischen Erklärun gen für das Pflanzen von Geranien im allgemeinen und diesen Geranien im besonderen verstehe ich mehr oder weniger nichts. Das brauche ich auch nicht. Ich schaue nur in diese Richtung und habe die Sache in den Grundzügen so fort verstanden: Geranien in einem Kübel. Nun, da die Frage gestellt ist, bin ich mir nicht si cher, ob ich wirklich weiß, was es heißt, etwas zu ver stehen. Wenn Stephen überhaupt etwas von den Vorgän gen verstanden hat, dann vermutlich dies: Daß er das Vertrauen enttäuscht hat, das Keith’ Mutter in ihn gesetzt hatte; daß er in gewisser Weise alles schlimmer gemacht hat; daß alles auf der Welt komplizierter war, als er gedacht hatte; daß Keith’ Mutter nun in der gleichen Schwierigkeit war wie er, daß auch sie nicht wußte, was denken, was tun, die selbe tiefe Unruhe. Und während ich die Geranien anstarre, stelle ich mir eine ganz einfache, simple Frage: Glaubte Ste phen denn nach wie vor, daß sie eine deutsche Spio nin war? Und während ich versuche, mich zu erinnern, ver schwimmen die Geranien vor meinen Augen in einem vagen Scharlachrot. Soweit ich es als Erbe von Stephens Gedanken zu sammenkriege, hat er es weder geglaubt noch nicht geglaubt. Ohne Keith, der ihm gesagt hätte, was er glauben sollte, hatte er aufgehört, darüber nachzu denken. Die meiste Zeit überlegt man ja nicht, daß irgendwelche Dinge etwas sind oder nicht sind, ge nausowenig wie man sie versteht oder nicht versteht. Man nimmt sie als gegeben hin. Für mich steht außer 165
Zweifel, daß diese Geranien Geranien sind, aber trotzdem denke ich nicht bewußt: »Diese Blumen sind Geranien« oder »Diese Blumen sind keine Ka puzinerkresse«. Mich beschäftigen andere Dinge, glauben Sie mir. Lassen Sie mich anders herangehen. Lassen Sie mich eine noch einfachere Frage stellen: Was hat Keith’ Mutter – aus Stephens Sicht – denn getan? Ich vermute, daß er nicht einmal darüber konkret nachgedacht hat. Was tat, aus seiner Sicht, Mr. McAfee denn, wenn er am Wochenende in seiner Poli zeiuniform davonradelte? Falls ihm die Frage je ge kommen ist, dann nahm er einfach an, daß Mr. McAfee weiterhin der Polizist war, als der er die Straße davonradelte. Was tat Mr. Gort aus seiner Sicht? Nun ja, er war ein Mörder, also hat er wahr scheinlich Menschen ermordet. Ich kann mich nicht entsinnen, daß Stephen je darüber nachgedacht hat, wen Mr. Gort ermordet hat und warum. Was tat Ste phens Vater? Er verschwand morgens und tauchte abends wieder auf. Verschwinden und wiederauftau chen reichte als Tätigkeitsbeschreibung im Grunde genommen völlig aus. Was tun Spione – nach allem, was man weiß, wenn es einen überhaupt interessiert? Sie verhalten sich verdächtig. Keith’ Mutter verhielt sich verdächtig. War das nicht genug? Das eigentliche Rätsel in dieser dahintreibenden Wolke gleichzeitiger Möglichkeiten war nun jeden falls X, dieses stumme, unsichtbare Wesen in den Barns. Was hat Stephen von ihm geglaubt? Er glaubte, er sei ein Deutscher. Je weniger deutlich das Deutschsein von Keith’ Mutter wurde, desto deutlicher übertrug es sich auf ihren Kurier oder 166
Führungsoffizier. Das Deutschsein, anfänglich durch Keith’ Beobachtung enthüllt, war Ausgangspunkt all dieser Ereignisse gewesen. Es blieb, wie ein rudimen tärer Glaube an Gott in einem Meer von Zweifeln hinsichtlich der theologischen Einzelheiten, der ein zige verläßliche Glaubensartikel, an dem Stephen festhalten mußte. Stephen dachte aber auch, daß es ein alter Land streicher war, da er an einem Ort lebte, wo alte Land streicher lebten. Hielt Stephen ihn also für einen alten deutschen Landstreicher? Keineswegs. Der Gedanke an alte Landstreicher deutscher Staatsangehörigkeit ist ihm nie gekommen. Meines Wissens hat er mit zwei völlig separaten Tei len seines Gehirns zwei völlig separate Dinge ge dacht: daß die unsichtbare Gestalt in den Barns ein Deutscher war und zugleich etwas ganz anderes – ein alter Landstreicher. Allerdings vermute ich, daß in einem dritten Teil seines Gehirns eine unbewußte Verbindung zwischen dem alten Landstreicher und dem Deutschen herge stellt wurde, die die beiden Auffassungen etwas kom patibler machte: die Bakterien, mit denen alte Land streicher vermutlich infiziert waren und die auf englisch vermutlich deswegen germs hießen, weil sie so schlimm und heimtückisch waren wie Germanen. Glaubte Stephen, daß diese zweideutige Gestalt auch der mysteriöse Freund von Tante Dee war, wie Barbara Berrill behauptet hatte, oder daß Keith’ Mut ter ihn unter dem schwarzen Wellblech womöglich küßte? Nein – derlei Überlegungen waren völlig lä cherlich. Selbst wenn Tanten Freunde hatten, dann bestimmt keine alten Landstreicher. Selbst wenn 167
Leute bei Verdunkelung andere Leute küßten, dann bestimmt keine bakterienstarrenden Deutschen. Und dennoch, irgendwo in Stephens Denken hielt sich das Echo dieses Wortes »Freund«, der Geist die ser gestohlenen Küsse, wie ein schwacher Duft in der Luft. Er wollte, glaube ich, daß diese unruhigen Gedan ken in seinem Kopf aufhörten, daß alles aufhörte und wieder wurde, wie es vorher gewesen war. Aus so viel versprechend eindeutiger, simpler Spionage war ein so grauenhaftes Durcheinander geworden. Er wollte, daß Keith mit einem neuen Einfall auftauchte, mit ei nem neuen Projekt, das das alte aus ihren Köpfen ver treiben würde. Doch Keith kam nicht. Stephen konnte nur dasit zen und allein nachdenken. Noch ein Anlaß für Unruhe – was war mit ihm pas siert? Jedesmal wenn Stephen drauf und dran war, an Keith’ Tür zu klopfen, sah er, wie sie geöffnet wurde, aber nicht von ihm, sondern von Keith’ Mutter, und bei dem Gedanken an ihren unausgesprochenen Vor wurf, ihr bekümmertes »Ach Stephen«, beschloß er, doch nicht hinüberzugehen, sondern auf Keith zu warten. Ich fokussiere den Blick wieder und lasse ihn von den Geranien zu dem Jungen wandern, der mich beob achtet. Was macht er aus all seiner Unruhe? Doch er ist verschwunden – sicher um seiner Mutter von mir zu berichten. Gleich wird sie auftauchen, und wenn sie sieht, wie ich in ihr Wohnzimmer schaue, wird sie die Polizei rufen, genau wie Mrs. Hardiment damals, als sie den mysteriösen Fremden im Close herum schleichen sah. 168
Ich gehe weiter, überquere die Straße und stehe wieder vor Keith’ Haus. So wie Stephen damals. Natürlich war ihm am Ende nichts anderes übriggeblieben. Ohnehin war alles schon ein Stück weit in die Ver gangenheit gerückt, wie das immer der Fall ist. Mehr war nicht passiert. Vielleicht war tatsächlich alles wieder so geworden, wie es vorher gewesen war. Seine Mutter öffnet die Tür, genau wie ich befürchtet hatte. Ich kann ihr nicht in die Augen blicken, da nach meinem Entschluß, den Gartenweg hinaufzu gehen und anzuklopfen, mein ganzer Mut erschöpft ist, aber ich habe den Eindruck, daß sie mir mit ge wohnter Ruhe zulächelt. »Hallo, Stephen«, sagt sie, und diesmal kann ich nicht die Spur eines Vorwurfs entdecken. »Hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen.« Ich bringe, den Blick weiterhin zu Boden gerichtet, die übliche Formel vor: »Kann Keith zum Spielen kommen?« Sie zögert kurz. Dann dreht sie sich um und ruft in Richtung Treppe: »Keith, Liebes, Stephen ist da!« Sie wendet sich wieder mir zu, und ich spüre ihr Lächeln über mir: »Geh ruhig hinauf, Stephen. Er räumt im Spielzimmer auf.« Ich trete in die Diele, und die ruhige, vertraute Ordnung stellt sich wieder her: die Flurgarderobe mit den Kleiderbürsten und Schuhlöffeln … der Ständer mit den Stöcken und Regenschirmen … die Tros sachs … die Pagoden … Irgendwo draußen vor dem Haus das endlose Solo für gespitzte Lippen, lauter und leiser werdend, während Keith’ Vaters im Garten seiner Arbeit nachgeht. Keith’ Mutter sieht mir zu, 169
während ich die vertraute Treppe hochsteige, und die Standuhr schlägt die Viertelstunde. Ja, alles ist wieder so, wie es war. Keith sitzt im Spielzimmer auf dem Boden und ordnet die Bestandteile eines Stabilbaukastens in die jeweiligen Fächer der Schachtel. Als ich eintrete, schaut er kurz auf. »Paß auf, wo du hintrittst, Mensch!« sagt er. Ich setze mich ihm gegenüber auf den Boden. Er arbeitet wortlos weiter, als wäre meine Abwesenheit oder mein Wiederauftauchen nichts Besonderes. Das ist es wohl, was er damit ausdrücken will – daß nichts Ungewöhnliches passiert ist. Er will mir sagen, daß das Spiel aus ist. Die ehedem so wichtige Frage der Spionagetätigkeit seiner Mutter hat sich als unlösbar erwiesen. Sie ist im Archiv abgelegt und vergessen, wie so viele andere Fragen, die zu ihrer Zeit so drin gend erschienen. Keiner von uns wird je wieder dar auf zu sprechen kommen. Keith hat, was ich schon immer wußte, die Erklärung für all die Schwierigkei ten und Probleme gefunden. Die süßen, vertrauten Gerüche des Zimmers stei gen mir in die Nase: das prickelnd Metallische der Flansche und Träger im Stabilbaukasten und die glänzende Reinheit des Kartons, das scharfe, nasekit zelnd Berauschende des Klebstoffs, mit dem die Flü gel am Modellflugzeug befestigt sind, und der Aze tonlösung der Tarnfarbe, die ruhige Seriosität des leichten Maschinenöls, mit dem so viele Achsenlager so vieler Modelle und Motoren geschmiert werden. »Wollen wir weiter an der Eisenbahn bauen?« schlage ich vor. »Wollen wir den Viadukt über die Bergschlucht bauen?« Ich sage ihm damit, daß ich verstanden habe. Ich 170
stimme zu, daß wir nie in der furchtbaren Stille der Barns angestrengt gelauscht haben, daß die Zeichen im Taschenkalender nichts bedeuten und daß der Neumond kommen und gehen wird, ohne daß etwas passiert. Ich versichere ihm, daß ich ebensowenig wie er über diese Dinge reden werde, daß ich bereitwillig seine Lösung akzeptiere und daß auch ich weiß, daß das Spiel aus ist. Er sortiert weiter Streben zu Streben und Nuten zu Nuten. Die vollkommene Ordnung des Zimmers wird Schritt für Schritt noch vollkommener. »Wenn ich hier fertig bin, muß ich mein Kricketzeug sau bermachen«, sagt er. Ich beobachte ihn. Auf meinen langweiligen Vor schlag, diesen Viadukt zu bauen, geht er natürlich nicht ein, weil die Idee von mir kam und nicht von ihm. Er wird sich plötzlich, wie aus dem Nichts, etwas völlig Neues einfallen lassen. Unter seiner Führung werden wir ein neues Vorhaben in Angriff nehmen, und ich bin schon ganz gespannt, was es sein wird. Es klopft an der Tür, seine Mutter schaut herein. »Ich schau’ rasch bei Tante Dee vorbei«, sagt sie. »Ihr kommt allein zurecht, ja?« Alles ist wieder normal; sie schaut bei Tante Dee vorbei, wie sie es immer getan hat. Nachdem sie gegangen ist, schweigt Keith immer noch. Er sieht unentwegt auf seine Arbeit. Er konzen triert sich, genau wie ich, auf die Normalität der All tagsverrichtungen seiner Mutter. Er konzentriert sich darauf, sie auf dem Weg in Tante Dees Garten zu se hen und nicht am Ende der Straße um die Ecke oder durch den Tunnel oder in die Lanes gehen zu sehen. Alles ist wieder normal. Aber wir beide wissen ins geheim, daß das Normale sich verändert hat, ein für 171
allemal. Das Spiel ist aus, weil das Unnormale im Normalen aufgegangen ist. Die Geschichte hat eine andere Richtung eingeschlagen, wie ein Schiff, das sich auf einem neuen Kurs befindet, und nun fährt es geradeaus weiter, wie zuvor, nur mit einem anderen Ziel, und wir sind nicht mehr an Bord. Keith räumt den Stabilbaukasten weg und holt Knieschützer und Schuhe aus dem Schrank. Ich trö dele hinter ihm her die Treppe hinunter und sehe zu, wie er im Hof alles auf Zeitungen ausbreitet. Die hin tere Garagentür ist offen, und auch von dort dringen vertraute Gerüche heraus: Sägespäne, Motorenöl, ge fegter Boden, Auto. Der riesige Schatten seines pfei fenden, ewig pfeifenden Vaters, den die niedrige Lampe über der Werkbank wirft, bewegt sich an den Wänden wie ein Menschenfresser in seiner Höhle, über die Tennisschläger und die anderen ordentlich aufgehängten Erinnerungen ihres Vorkriegslebens. Ich beobachte, wie die grauen Flecken und die grü nen Grasflecken auf den Knieschützern unter dem er sten Streifen eines makellosen Weiß verschwinden. Es dämmert mir, daß es keine neue Idee, kein neues Spiel geben wird. In der neuen Normalität ist dafür kein Platz. Nicht bloß dieses eine Spiel ist aus – alle unsere Spiele sind aus. Ich bin Komplize bei einem Verbrechen, so unbestimmt wie diese Flecken und Schmutzstreifen, das jetzt aber übermalt wird und ich mit dazu. »Dann werd ich mal losgehen«, sage ich kläglich. »Es muß bald Abendessenzeit sein.« »In Ordnung.« Wieder erscheint ein feucht glän zender weißer Strich. Doch ich bleibe. »Kommst du morgen zum Spielen?« frage ich. »Weiß nicht. Mal sehen.« 172
Plötzlich richtet er sich auf. Das Pfeifen in der Ga rage hat aufgehört. Ich drehe mich um und sehe sei nen Vater, der in der Tür steht und uns beobachtet, die Lippen zu dem vertrauten, ungeduldigen Lächeln verzogen. »Die Thermoskanne!« sagt er. Er spricht natürlich mit Keith. Wie gewohnt, gibt er nicht zu erkennen, daß er mich bemerkt hat. Ich sehe Keith an. Er wird rot. Er wird eines Verbrechens angeklagt, und schon fühlt er sich schuldig – doppelt schuldig, weil er weiß, daß er sofort erraten müßte, worin sein Verbrechen besteht, aber es gelingt ihm nicht. Sein Vater wartet. Keith wird noch röter. »Komm schon, Freundchen«, sagt sein Vater unge duldig, und ich spüre auf einmal einen Anflug von Angst, auch um Keith. »Die Thermoskanne. Im Pick nickkorb. Hat jemand gesagt, daß du sie nehmen darfst?« Keith schaut zu Boden. »Ich hab’ sie nicht genom men.« Wieder lächelt sein Vater. »Ohne Erlaubnis ande rer Leute Sachen wegnehmen – das ist Diebstahl. Das weißt du. Und zu behaupten, daß du es nicht warst, obwohl du es warst – das ist Lügen. Richtig?« Keith schaut weiterhin zu Boden. Schweigen. Die Worte »Mama muß sie genommen haben« liegen in der Luft, unausgesprochen, hörbar nur für Keith und mich. »Also, wo ist sie, Freundchen?« Wieder Schweigen, drei Silben lang. »In den Barns.« »Was soll der Quatsch? Ist das ein Spiel von dir? Sei ein Mann und gib es zu!« Die gleiche Erklärung erfüllt zweifach die Stille – un ausgesprochen von Keith, unausgesprochen von mir. 173
»Bin enttäuscht von dir«, sagt sein Vater. Sein Lä cheln ist noch schlimmer geworden. Es enthält jetzt Besorgnis und Mitleid. Auf einmal ahne ich, was er wirklich vermutet: daß ich die Thermoskanne ge nommen habe. Daß Keith mich beschützt. »Du weißt, was dir blüht, Freundchen«, sagt sein Vater. »Wasch dir das Zeug von den Händen und trockne sie richtig ab.« Er geht durch die Küchentür ins Haus, tritt auf der Matte die Schuhe ab. »Geh lieber«, sagt Keith zu mir. Er ist noch im mer rot im Gesicht, schaut unentwegt zu Boden. Er folgt seinem Vater in die Küche, tritt ebenfalls die Schuhe auf der Matte ab, und dann höre ich das Wasser rauschen, mit dem er sich am Spülbecken die weiße Farbe von den Händen wäscht, zur Vorberei tung. Ich würde Keith’ Vorschlag gern befolgen und ge hen, doch ich kann nicht, denn ich muß hineingehen und seinen Vater zur Rede stellen. Ich muß diese Sa che verhindern. Ich muß ihm sagen, daß er recht hat – daß ich die Thermoskanne genommen habe. Ich war es ja auch. Im Grunde genommen. Ich habe das Vertrauen von Keith’ Mutter mißbraucht. Sie ist meinetwegen zu den Barns gegangen. Dort ist etwas Schlimmes passiert, und ich bin verantwortlich. Das Spiel ist noch nicht aus. Es ist nur schlimmer gewor den. Im Haus ist alles still. Ich muß hineingehen und es ihm sagen. Die Stille hört nicht auf. Ich muß. Keith’ Vater kommt aus der Küche und geht in die Garage. Er beginnt wieder zu pfeifen. 174
Keith erscheint. Die Röte seiner Backen ist fleckig geworden. Er preßt die Hände unter die Achseln. »Ich hab doch gesagt, du sollst gehen«, sagt er kurz angebunden. »Tut mir leid«, flüstere ich niedergeschlagen. Es tut mir leid, daß ich nicht gegangen bin, daß ich es nicht zugegeben habe, daß ich ihn in diesem Zustand sehe, daß ich jetzt gehen und ihn in diesem Zustand zurücklassen werde, daß seine Hände brennen, alles tut mir leid. Sein Vater kommt wieder aus der Garage. »Ich gebe dir Zeit bis heute abend«, sagt er zu Keith. »Wenn sie bis dahin nicht da ist, setzt es noch einmal was. Und morgen wieder. Und jeden Tag so weiter, bis sie wieder da ist.« Er bleibt in der Tür stehen, schaut zu Boden, denkt offenbar an etwas anderes. »Und deine Mutter ist schon wieder bei Tante Dee?« fragt er schließlich in einem anderen Tonfall. Keith nickt. Sein Vater lächelt wieder dieses dünne Lächeln. Er geht in die Garage. Der Schleifstein brummt, und plötzlich regnet es Funken. Ich kann nicht sehen, was er schärft, aber ich weiß es auch so. Es ist das Bajo nett, das berühmte Bajonett. Ich laufe los, dem Ende der Straße entgegen. Ich glaube, mir ist überhaupt nicht klar, was ich machen werde – ich weiß nur, daß ich irgend etwas tun muß. Um all meine Feigheiten und Versäumnisse wieder gutzumachen. Etwas Kühnes und Entschlossenes, um Keith vor seinem Vater zu schützen und die drohende Katastrophe abzuwenden, auch wenn ich nicht weiß, was für eine Katastrophe das sein mag. 175
Zumindest muß ich dafür sorgen, daß die Ther moskanne wieder im Picknickkorb ist, bevor Schla fenszeit ist und Keith wieder verprügelt wird. Ich bie ge um die Ecke zum Tunnel. Ich nehme an, daß ich in Richtung Barns laufe. Ich glaube nicht, daß ich be absichtige, die ganze Strecke zurückzulegen. Soviel ich weiß, hoffe ich, ihr mit einigem Glück auf halbem Weg zu begegnen. Mein Plan führt sich aus, noch ehe ich die Gele genheit habe, genauer herauszufinden, worin er be steht. In dem Moment, als ich aus dem Sonnenschein in das dröhnende Dunkel des Tunnels laufe, stoße ich mit aller Wucht mit jemandem zusammen, der her ausgelaufen kommt. Wir umfassen einander, mein Gesicht begraben in verwirrend weicher Brust, und tanzen einen unsicheren Tango, um am matschigen Ufer des großen unterirdischen Sees nicht die Balan ce zu verlieren. Zuerst in die Nässe der Wand, dann wieder rückwärts in die Nässe des Wassers. Als wir wieder zu uns kommen und hinausstreben vom dunk len Tanzboden in das Sonnenlicht, ist von ihrer ge lassenen, würdevollen Haltung nichts mehr übrig. »Stephen!« ruft sie und beugt sich herab, um die Kleider und Bücher einzusammeln, die aus ihrem Korb auf die Erde gefallen sind. »Die Thermoskanne«, sage ich. »Was habe ich dir gesagt, Stephen?« ruft sie so er regt wie an jenem Abend, als sie den Schleim vom Tunnel auf ihren Sachen hatte. »Worum habe ich dich gebeten? Warum machst du das?« »Die Thermoskanne«, wiederhole ich verzweifelt. »Du bist sehr unartig, Stephen, und ich bin sehr böse mit dir.« 176
»Die Thermoskanne!« Schließlich begreift sie, was ich sage. Sie mustert mich aufmerksam. »Was soll das heißen?« fragt sie mit anderer Stim me. »Was ist passiert?« Doch nun ist mir wegen eines heiklen semantischen Problems die Zunge gebunden. Ich kann ihr nicht er zählen, was passiert ist, weil ich nicht weiß, wie ich den Betreffenden bezeichnen soll. Sage ich »Keith’ Vater«? Keith’ Mutter gegenüber kann ich doch nicht von Keith’ Vater sprechen! Er muß in einer di rekteren Beziehung zu ihr stehen. Das Wort »Gatte« bietet sich an. Kann ich »Ihr Gatte« sagen? Nein, das ist noch unaussprechbarer. »Mr. Hayward«? Noch viel schlimmer. Sie hat es aber schon erraten. »Hat Ted etwas ge sagt?« fragt sie leise. Ich muß bloß nicken – und schon hat sie auch den Rest der Geschichte erraten. »Glaubt er, daß Keith sie genommen hat?« Ich nicke. Sie beißt sich auf die Lippen. Ihre braunen Augen sehen mich an. »Hat er ihn bestraft?« Ich nicke. »Mit dem Rohrstock?« Wieder nicke ich. Sie zuckt zusammen, als wären es ihre Hände, die brennend rot geworden sind. »Ach Stephen«, sagt sie, wie schon einmal. »Ach Stephen!« Erst hat sie meinen Namen überhaupt nie gesagt, und jetzt sagt sie ihn öfter als alle anderen Menschen auf der Welt zusammengenommen. »Und er hat Keith gesagt, daß er sie zurücklegen soll?« fragt sie leise. 177
»Spätestens heute abend«, bringe ich heraus. Sie schaut auf die Uhr und geht dann wieder in den Tunnel. Ihr helles Sommerkleid ist von grünem Schleim bedeckt, und ihre durchnäßten weißen Som mersandalen quietschen bei jedem Schritt. Ich habe mich bemüht, ihr Geheimnis zu wahren, und habe es ihr überall hingeschrieben. Sie bleibt stehen und dreht sich um. »Danke, Stephen«, sagt sie demütig.
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Wie geht es jetzt weiter? Jeden Abend nach der Schule gehe ich zum Ver steck, atme die verwirrende neue Süße ein, von der die Luft des Hochsommers erfüllt ist: die zarte und unbeschwerte Unschuld der miteinander verwachse nen Linden vor dem Haus der Hardiments und des Geißblattes bei Mr. Gort und den Geests, die schläf rige, klebrige Üppigkeit der Buddleia, die bei den Stotts und den McAfees bis auf den Bürgersteig hängt; die vornehmen Rosenstöcke der Haywards. Ich setze mich allein hin und starre hilflos auf Keith’ Haus. Das einzige, was ich mit Bestimmtheit weiß, ist, daß ich aus dieser wohlgeordneten Welt jetzt wirklich endgültig ausgeschlossen bin. Nie wieder werde ich das Schlagen der Uhren hören oder im Schein des polierten Silbers Nußcreme essen. Die Haywards ha ben sich zurückgezogen. Ein paarmal sehe ich die Bewegung einer Gardine, die zum Schutz vor der Nachmittagssonne vorgezogen wird, oder Mrs. Elms ley, die ihr Fahrrad um die Ecke schiebt und nach Hause fährt. Manchmal kommt Keith auf dem Weg von der Schule vorbei und schiebt sein Fahrrad hin ters Haus. Einmal kommt Keith’ Vater, pausenlos pfei fend, mit einem Schlauch um das Haus und gießt den Vorgarten. Von Keith’ Mutter ist nichts zu sehen. 179
Etwas geht in diesem Haus vor, das weiß ich. Die eine Hälfte von mir rechnet damit, daß ein Polizist angeradelt kommt, so wie damals bei Tante Dee. Die andere Hälfte erwartet, daß nichts passiert. Und so ist es auch. Hält Keith’ Mutter sich also be deckt, wartet sie darauf, ihre Aktivitäten wiederaufzu nehmen, sobald Neumond ist? Mir ist, als müßte ich ganz allein über das Schicksal der Welt entscheiden. Ich ahne, daß ich jemandem davon berichten sollte. Einem Erwachsenen. Sollen die das in Ordnung bringen. Und was sage ich ihnen? – Was hier vor geht. – Aber ich weiß doch nicht, was hier vorgeht! Und überhaupt, welchem Erwachsenen? Mr. McAfee, so wie damals bei Mr. Gort? Ich stelle mir vor, wie Mr. McAfee die Schülerhandschrift sieht, wie damals, auch wenn diesmal sein Name richtig ge schrieben ist, und sofort sinkt mein Mut. Meine Eltern? Ich treibe mich in der Küche herum, als meine Mutter das Abendessen macht, bin in ihrer Nähe, überlege, ob die Worte herauskommen werden. »Was ist?« fragt sie ungehalten. »Du stehst mir im Weg. Was willst du?« Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück, wo mein Bruder vor seinen Schulaufgaben sitzt und versucht, mit einem Bimsstein die Nikotinflecken von den Fin gern zu entfernen, bevor unsere Mutter es bemerkt. »Menschenskind, mußt du andauernd reinkom men?« sagt er. »Ich versuche zu arbeiten. Du störst irre.« Oder mein Vater. Ich weiß schon jetzt, was er sagen würde: »Schnickschnack!« Und wenn ich mir die Worte vorstelle, die aus mei nem Mund kommen, dann höre ich schon den furcht bar verdrucksten Tonfall. Das wäre Anschwärzen. 180
Sicher, wir haben Mr. Gort angeschwärzt. Aber das war nicht wahr in dem Sinn, wie dies jetzt wahr ist. Oder wahr sein könnte. Anschwärzen ist also schlim mer als Ausspionieren? Schlimmer als zulassen, daß jemand das Leben unserer Soldaten und Matrosen gefährdet? Und unserer Flieger. Ich sehe Onkel Peter lachend am Gartentor stehen, Milly auf dem Arm. Wir um ringen ihn und betasten die gestickten Blätter unter dem Adler und die rotsamtenen Füllungen in der Kro ne, und ich sage mir, nein, wir werden diese Sticke reien oder diese roten Stellen nie wieder sehen – weil ich es zugelassen habe, daß er abgeschossen wurde … Ich reiße eine Seite aus einem meiner Schulhefte. Ich schreibe »Sehr geehrter Mr. McAfee« und halte inne. Vielleicht ist es besser, keine direkten Beschul digungen zu erheben – sondern einfach zu schildern, was ich gesehen habe, und es ihm zu überlassen, was er davon hält. »Ich habe gesehen«, schreibe ich, »daß die Mutter von Keith Hayward in der Nähe des Tun nels etwas in eine Kiste gelegt hat. Ich habe nachge schaut, es war eine Socke darin …« Ich zerreiße das Blatt. »Der alte Landstreicher ist wieder in den Barns, aber er ist Deutscher, und die Mutter von Keith Hayward trifft sich dort mit ihm …« Meine Hände sind ganz feucht. Ich schwärze je manden an, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und so sitze ich allein im Gebüsch, umgeben von süßen Düften, und beobachte und warte. Ich rufe so gar nach dem Hund der Stotts, der vorbeitrottet, und überlege, wie ich es schaffe, daß er stehenbleibt und sich für mich interessiert. Ich konzentriere mich so sehr auf den Hund, daß Barbara Berrill im Versteck ist, bevor ich es merke. 181
»Ich weiß immer, wenn du hier bist«, sagt sie. Mir ist so elend zumute, daß ich sie nicht einmal auffordern kann, wegzugehen. Ich spiele mit einem toten Zweig, während sie sich neben mich setzt. Ihr affiges blaues Täschchen mit dem blauen Druckknopf hängt noch immer um ihren Hals. »Du bist in der letzten Zeit immer allein«, sagt sie. »Seid ihr nicht mehr befreundet, du und Keith?« Selbstverständlich habe ich nicht die Absicht, darauf zu antworten – und ohnehin tritt Keith natürlich ge nau in diesem Moment, wie zum Beweis des Gegen teils, aus der Küchentür, geht durch den Garten und öffnet das Gartentor. Mein Herz hüpft zweimal, erst vor Freude, dann vor Angst. »Keine Sorge«, flüstert Barbara Berrill, »er kommt nicht her. Er geht einkaufen.« Das ist natürlich Unsinn. Keith ist noch nie in sei nem Leben einkaufen gegangen. Doch als er das Tor hinter sich schließt und sich umdreht, sehe ich den Korb an seinem Arm. Er geht die Straße entlang und schaut nicht einmal herüber. »Er macht jetzt immer Besorgungen für seine Mama«, flüstert Barbara Berrill. »Und für Mrs. Tra cey.« Keith öffnet Tante Dees Gartentor und klopft an der Haustür. Ich registriere einen kurzen lachhaften Anfall von Eifersucht. Wieso weiß Barbara Berrill et was über Keith’ neue Gewohnheiten und ich nicht? Tante Dee öffnet die Tür und lächelt. Sie zeigt ihm ein Stück Papier, das sie in der Hand hält. Offensicht lich hat sie ihn schon erwartet. »Ich glaube, irgend etwas Komisches ist passiert«, sagt Barbara. »Früher hat Mrs. Hayward immer bei Mrs. Tracey vorbeigeschaut. Jetzt schaut sie nie 182
mehr vorbei. Warum eigentlich? Haben sie sich ge stritten?« Ich habe keine Ahnung. Aber was auch passiert sein mag, ich weiß, ich bin schuld daran. Mein schlechtes Gewissen überholt meine Eifersucht. »Oder weißt du nicht mehr, was bei den Haywards los ist?« sagt Barbara Berrill. »Du gehst nicht mehr hin, stimmt’s?« Sie dreht das Messer einfach um, aber darauf werde ich mich gar nicht einlassen. Unbeirrt richte ich den Blick auf das Haus von Tante Dee, die, einen Stift in der Hand, mit Keith die Liste auf dem Zettel durch geht, hier etwas ergänzt, dort etwas hinzufügt. Barbara Berrill hält sich die Hand vor den Mund und kichert. »Vielleicht hat Mrs. Hayward ja auch ei nen Freund, so wie Mrs. Tracey«, sagt sie. Ich spüre, daß sie mich anschaut, um zu sehen, ob ich wieder so ein komisches Gesicht mache, aber was immer sie sagt, nichts kann mich mehr schockieren. »Und Keith’ Vater hat es herausgefunden, und jetzt darf sie nicht mehr aus dem Haus.« Ich lasse Keith nicht aus den Augen. Er nimmt die Liste und geht los. Barbara Berrills Mund berührt fast mein Ohr. »Und vielleicht hat sie Keith beauftragt«, flüstert sie, »ihm Nachrichten von ihr zu überbrin gen. Vielleicht geht er jetzt dorthin!« Ich weiß sehr wohl, daß dies nur ein weiteres Bei spiel für die törichten Dinge ist, die Mädchen so sa gen, trotzdem erfaßt mich eine noch schlimmere Woge der Eifersucht. Worauf sich diese Eifersucht bezieht, weiß ich nicht genau. Bin ich eifersüchtig auf Barbara Berrill, weil sie beansprucht, schlaue Speku lationen über das Verhalten meines Freundes anzu stellen? Oder auf Keith, weil er mich als Vertrauten 183
seiner Mutter verdrängt? Gar auf seine Mutter, weil sie diesen angeblichen Freund hat? Wieder flüstert es in mein Ohr: »Sollen wir ihm folgen? Dann wissen wir, wer es ist.« Sie versucht jetzt, Keith als Planer und Projektma cher zu verdrängen! Und die Pläne und Projekte rich ten sich sogar gegen Keith! Am Ende beschließe ich, meiner Empörung Ausdruck zu verleihen, doch bevor ich den Mund aufmachen kann, hat sie mir schon eine Hand auf den Arm gelegt und zeigt wortlos auf Keith’ Haus. Die Tür geht auf, und heraus tritt Keith’ Mutter. Sie hat Briefe in der Hand, immerhin darf sie also zur Post gehen. Gebannt, alles andere ist vergessen, sehen wir zu, wie sie die Tür vorsichtig hinter sich schließt. »Sie schleicht sich davon!« flüstert Barbara Berrill. Keith’ Mutter geht zur Gartentür, aber nicht ver stohlen, sondern ruhig und gelassen wie eh und je … doch dann bleibt sie stehen und dreht sich um. Keith’ Vater, im Overall und einen Pinsel in der Hand, kommt um das Haus. »Neeein!« flüstert Barbara Berrill. Er geht langsam auf Keith’ Mutter zu, sie reden eine Weile miteinander. »Sie haben einen furchtbaren Streit«, flüstert Bar bara Berrill. Soweit ich sehe, reden sie ruhig und sachlich mit einander, wie jedes andere Paar hier in der Straße, das eine ganz normale häusliche Frage löst. Keith’ Vater geht wieder hinter das Haus. Keith’ Mutter bleibt am Gartentor stehen, die Briefe in der Hand, und schaut ruhig in die friedliche blaue Tiefe des Abendhimmels. »Sie weiß nicht, was sie tun soll«, flüstert Barbara Berrill. »Sie weiß nicht, ob sie weitergehen soll.« 184
Keith’ Mutter bleibt lange stehen, sucht den Him mel nach einer Antwort auf ihre Probleme ab. »Liegt es an ihrem Freund, daß du und Keith nicht mehr befreundet seid?« fragt Barbara Berrill. Keith’ Vater taucht wieder auf. Statt seines Overalls trägt er jetzt Hemd und Hose. Er öffnet das Garten tor, läßt Keith’ Mutter den Vortritt, und dann gehen beide die Straße hinunter. Barbara Berrill kichert. »So was! Er kommt sogar mit zum Briefkasten!« Ja. Darüber haben sie gesprochen – deshalb hat er sich umgezogen. Es ist ein so schöner Sommerabend, daß er sich zu einer beispiellosen Geste der Zunei gung hat verleiten lassen. Ausnahmsweise hat er sich von Werkbank und Garten losgerissen, um sie zum Briefkasten zu begleiten. Barbara Berrill hat recht. Seit jenem Tag, als Keith’ Mutter mit ihrem weißen, von grünem Schleim ver unstalteten Kleid nach Hause kam, ist alles anders. Auf dem Weg zu den Geschäften, zur Post oder zu Tante Dee gibt es keinen Schleim. Was immer sie Keith’ Vater erzählt hat, dieser Schleim mußte plötz lich mit all ihren Abwesenheiten zu tun haben. Und nun hat er durchgegriffen. Sie ist eine Gefangene. Sie hat keine Möglichkeit mehr, mit der Welt hinter dem Tunnel in Kontakt zu treten. Sie schlendern die Straße entlang. Vor Mr. Gorts Haus bleiben sie stehen und riechen an dem Geiß blatt. Keith’ Mutter schaut kurz in unsere Richtung, als überlegte sie, was ein Beobachter sich dabei den ken würde, und mir fällt nichts anderes ein, als daß wir sie besiegt haben. Ganz undramatisch und ohne Skandal haben wir ihre Karriere als Spionin beendet. Genauer gesagt, ich war es. 185
Sie gehen weiter, aber sie bleibt gleich wieder ste hen. Sie hält sich am Arm von Keith’ Vater fest und streift eine makellos weiße Sandale vom Fuß, um den Riemen zu untersuchen. Irgend etwas scheint damit nicht in Ordnung zu sein. Sie reden miteinander, un verändert ruhig und beiläufig, dann gibt sie ihm die Briefe und geht wieder zum Haus zurück, bleibt un terwegs stehen, um den Riemen etwas zu lockern. »Sie tut nur so«, flüstert Barbara Berrill mir ins Ohr. Er sieht ihr nach, bis sie das Gartentor geöffnet hat, betrachtet dann die Adressen auf den Briefumschlä gen und schlendert weiter zur Straßenecke. Sie selbst bleibt kurz hinter dem Gartentor stehen, anscheinend gibt es wieder etwas am Himmel, das ihre Aufmerk samkeit erregt. Es sieht so aus, als hätte sie noch einen Brief in der Hand. »Sie versteckt sich bloß, bis er verschwunden ist. Dann wird sie …« Dann was? Sie öffnet das Tor, wirft einen kurzen Blick zur Ecke und kommt dann direkt auf uns zugelaufen. »Auch das noch«, piepst Barbara Berrill und duckt sich. Ich mache es ihr automatisch nach. »Stephen?« sagt Keith’ Mutter leise durch die Zweige. »Darf ich reinkommen?« Ich muß mich aufrichten und sie ansehen. Barbara Berrill richtet sich ebenfalls auf. Keith’ Mutter schaut irritiert hin und her. »Ach, hallo, Barbara«, sagt sie. »Entschuldigt bitte. Ich dachte, Stephen ist allein.« Sie dreht sich um, zögert und kommt wieder zu rück. Sie lächelt. 186
»Ich wollte nur sagen, du mußt mal wieder zum Tee vorbeikommen, Stephen.« Sie geht wieder in ihr Haus. Mit der Sandale scheint sie jedenfalls keine Probleme mehr zu haben. »Sie wollte, daß du ihm den Brief vorbeibringst, stimmt’s?« flüstert Barbara Berrill. »Hättest du’s ge tan? Wenn sie dich darum gebeten hätte? Wenn ich nicht dagewesen wäre?« Ich lege die Hände auf den Kopf und starre zu Bo den. Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Barbara Berrill lacht. »Wir hätten herausfinden können, wo er wohnt. Wir hätten herausfinden kön nen, wer es ist.« Wo er wohnt, dürfte das einzige sein, was ich tat sächlich weiß. Ob ich herausfinden will, wer es ist, bezweifle ich. Es gibt aber noch etwas anderes, von dem ich eine so starke Vorahnung habe, daß das beinahe als Wis sen gelten kann: Keith’ Mutter wird wiederkommen und es noch einmal probieren. »Wenn du und Keith nicht mehr befreundet seid«, sagt Barbara Berrill schließlich, »kann ich dann in eure Geheimkiste gucken?« Vor Tante Dees Gartentor steht eine Kinderschar. Ich bemerke sie, als ich am nächsten Tag, von der Schule kommend, um die Ecke biege, und gehe gleich weiter, die Schultasche über der Schulter, um nachzusehen. Anwesend sind alle jüngeren Kinder in unserer Stra ße, bis auf Keith natürlich, der nie mit den anderen spielt: die beiden Geest-Zwillinge, Barbara Berrill, Norman und Eddie, Dave Avery – sogar Elizabeth Hardiment und Roger haben sich ausnahmsweise von 187
ihren Tonleitern losgerissen. Alle berühren ehrfürch tig ein schweres Fahrrad, das am Gartentor lehnt, über dem Lenker ein ordentlich zusammengefaltetes Polizistencape. Sobald sie mich sehen, sprechen alle auf einmal. »Gestern abend war dieser Mann wieder da!« »Dieser Spanner!« »Während der Verdunkelung!« »Barbaras Mama hat ihn gesehen!« Der arme Eddie Stott lacht entzückt, weil alles so aufregend ist. Alle anderen schauen respektvoll zu Barbara Berrill, weil sie eine so bedeutende Mutter hat. Sie lächelt geheimnisvoll, sagt aber nichts, wirft mir nur einen besonders vielsagenden Blick zu, der signalisieren soll, daß nur wir beide wissen, wer der Mann ist und warum er gekommen ist. »Er hatte einen Bart!« sagen die anderen. »Und einen furchtbar stechenden Blick!« »In der Dunkelheit konnte sie ihn doch gar nicht sehen!« »Konnte sie wohl! Im Mondlicht!« »Sie hat geschrien!« »Und dann ist er weggelaufen!« »Er ist in Trewinnick verschwunden!« »Er lauert Frauen auf!« verkündet Elizabeth Har diment, deren Worte Gewicht haben, weil sie eine Brille trägt. »Logisch«, sagt Roger Hardiment, der ebenfalls eine Brille trägt. »Ist ja ein Sittenstrolch.« Eddie lacht und klatscht in die Hände. Ich schaue wieder zu Barbara Berrill. Sie wirft mir einen eindringlich erregten Blick zu. Sie teilt mir mit, daß sie dem Bedürfnis widersteht, allen zu erklären, 188
was sie weiß, und das tut sie mir zuliebe, weil Keith mein Freund ist und sie meine Freundin ist. »Er kommt heraus!« flüstert einer der beiden Zwil linge, und wir alle drehen uns um. Natürlich ist es nicht der Sittenstrolch mit dem stechenden Blick, sondern der Polizist, der von Tante Dee an der Tür verabschiedet wird. Er dreht sich noch einmal um, sagt etwas. Sie nickt wortlos, beißt sich auf die Lip pen, ihr ewig lächelndes Gesicht wirkt diesmal ange spannt und ängstlich. »Schaut mal«, flüstert einer der Zwillinge. »Wie sie aussieht!« »Sie hat echt Angst«, flüstert der andere. »Sie weiß nämlich, wenn der Mann schon mal da war«, erklärt Elizabeth Hardiment, »dann kommt er auch ein zweites Mal.« »Das machen Sittenstrolche immer«, sagt Roger Hardiment. Der Polizist nähert sich dem Gartentor, und wäh rend Tante Dee schon im Begriff ist, die Haustür zu schließen, bemerkt sie, daß wir sie beobachten. Sie öffnet die Tür wieder und winkt und lächelt wieder, wie üblich. Dave Avery, Norman Stott und Roger Hardiment schnappen sich das Fahrrad und halten es dem Polizi sten hin. Alle Blicke richten sich auf ihn, jeder wartet darauf, daß er sich zu dem Fall äußert. Sein dichter, rötlichgelber Schnurrbart, dessen Enden nach unten hängen, verleiht ihm das Aussehen einer Respektsper son, aber er sagt kein Wort. Wir treten zurück, und wir folgen ihm schweigend, während er sein Fahrrad die Straße hinaufschiebt. »Er schaut in Trewinnick vorbei«, flüstert einer der Zwillinge. 189
»Stimmt das?« fragt ihn der andere kühn. Keine Antwort. »Mein Vater hat die Leute gesehen, die dort woh nen«, teilt Dave Avery ihm mit. »Tagsüber sind sie nie da«, erklärt Norman Stott. »Nur nachts.« Dort angekommen, spähe ich, wie alle anderen auch, in den verwilderten Garten. Die Verdunkelungsvor hänge an den Fenstern sind zugezogen, ungestört herrscht die übliche trübsinnige Verwahrlosung. »Der Mann versteckt sich wahrscheinlich immer noch hinter dem Haus«, flüstert einer der Zwillinge. Barbara Berrill schaut zu mir herüber, um zu sehen, wie ich auf seine möglicherweise unmittelbar bevor stehende Entdeckung reagiere. Meine alte Unruhe erwacht aufs neue. Doch der Polizist geht unbeirrt an Trewinnick vor bei. Ein halbes Dutzend Finger weist ihn auf seinen Irr tum hin. »Dort! Nein, das da!« Er stellt sein Fahrrad an das Gartentor der Hay wards. Natürlich. »Keith’ Haus«, flüstern alle und drehen sich zu mir um, denn Keith ist mein Freund, und deshalb bin ich in gewisser Hinsicht verantwortlich für das, was hier vorgeht. Ich sage nichts und weiche allen Blicken aus, spüre aber, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Alle drehen sich wieder um und sehen schweigend zu, wie der Polizist zweimal den massiven Türklopfer betätigt. »Mrs. Hayward ist nämlich die Schwester von Mrs. Tracey«, erklärt Elizabeth Hardiment. »Ja, oder vielleicht ist der Kerl, der sich dann in Trewinnick versteckt hat, erst hier über den Zaun 190
gestiegen und hat Mrs. Hayward beobachtet«, sagt Roger Hardiment. Sie werfen mir wieder verstohlene Blicke zu. Ich starre unverwandt auf das Haus, muß dann aber weg schauen, als Keith’ Mutter die Tür öffnet. Ich will nicht sehen, welcher Ausdruck auf ihr Gesicht tritt, wenn der Polizist ihr erklärt, weshalb er gekommen ist. Schließlich macht sie ihm Platz, er streift die Stiefel an dem Abstreifer ab, tritt dann ein und putzt sie noch einmal auf der Matte sauber, genau wie ich es immer mache. Die Haustür geht zu. Ich weiß, ich sollte etwas tun. Ich sollte an die Tür klopfen und dem Polizisten alles sagen, was ich weiß. Aber ich stehe nur da, starre wie alle anderen auf die geschlos sene Haustür und versuche, mir nicht vorzustellen, was im Innern vor sich geht, versuche, nicht zu be merken, daß Barbara Berrill mich von der Seite beob achtet. Dann drehen wir uns alle um und machen Platz, weil jemand an uns vorbei durch das Gartentor gehen möchte. Es ist Keith, der von der Schule kommt, von seinem Fahrrad absteigt und das dünne verlegene Lächeln seines Vaters aufsetzt, als er sein Zuhause be lagert findet. Wir sehen schweigend zu, wie er unge lenk das Tor öffnet und das Fahrrad hindurchschiebt. Ich sollte vortreten und ihm helfen. Ich sollte erklä ren, was hier vorgeht. Aber ich tue nichts. Schließlich sind es die Geests, die sich seiner erbarmen. »Der Polizist ist da«, sagt der eine Zwilling. »Er spricht mit deiner Mama.« »Gestern nacht hat sich der Spanner wieder hier herumgetrieben«, sagt der andere. »Er ist ein Sittenstrolch«, sagt Roger Hardiment. »Er hat es auf deine Mutter abgesehen.« 191
Keith schweigt. Unsere Blicke treffen sich kurz, und ich sehe, wie seine Augenlider sich senken – der ver traute Vorhang der Verachtung. Ich bin nicht mehr sein Freund. Ich gehöre jetzt zur Masse. Ich schaue rasch weg und sehe noch, wie Barbara Berrill uns bei de beobachtet. »Warum sagt er nichts?« fragt Norman Stott und sieht mich dabei an, während Keith sein Fahrrad den Pfad hinaufschiebt und hinter dem Haus verschwindet. »Weil er sich Sorgen wegen seiner Mama macht«, sagt einer der Zwillinge. »Von wegen«, sagt Dave Avery. »Er ist einfach hochnäsig.« Alle sehen mich an. »Nicht einmal mit dir spricht er jetzt«, sagt ein Zwilling. »Vielleicht ist er ja der Spanner«, sagt Dave Avery. »Oder Stephen vielleicht?« sagt Norman Stott hin terlistig. Eddie strahlt mich zutraulich an und will meine Hand schütteln. Ich reagiere auf beide nicht. Ich konzentriere mich darauf, mir nicht vorzustellen, wie Keith sein Fahrrad in den Schuppen stellt … die Bücher aus der Sattelta sche nimmt … in die Diele tritt, wo sein Vater kom mentarlos zuhört, während seine Mutter dem Polizi sten erklärt, daß ihr nichts Ungewöhnliches aufge fallen ist. Ich will mir nicht vorstellen, wie Keith rot wird und das Lächeln seines Vaters aufsetzt, als alle drei sich zu ihm umdrehen … Die Haustür geht auf, und Keith’ Mutter verab schiedet sich von dem Polizisten. Sie trägt ein hilfsbe reites Lächeln. Sie hat ihm gesagt, daß sie ihn sofort benachrichtigen wird, wenn sie etwas Verdächtiges bemerkt. 192
Keith’ Vater ist an seine Werkbank zurückgekehrt. Keith ist hinauf in sein Spielzimmer gegangen. Es ist kein Wort gefallen. Es wird nichts Unangenehmes passieren. Die Kinder reichen dem Polizisten das Fahrrad und laufen neben ihm her, während er langsam den Close hinunterfährt. Ich warte, bis sie verschwunden sind, dann krieche ich in das Versteck und sitze da, den Kopf in die Hände gestützt. Wieder einmal habe ich nichts getan. Nichts, was ihr geholfen, nichts, was sie aufgehalten hätte. »Diesmal war es nicht der Freund von Tante Dee, stimmt’s?« flüstert Barbara Berrill. Sie sitzt in unserem Versteck und beobachtet mich und spielt dabei mit der Unterlippe an dem Verschluß ihres Geldtäschchens, daß der Druckknopf auf- und zuploppt. »Es war der Freund von Keith’ Mama. Keith’ Vater läßt sie näm lich nicht mehr aus dem Haus. Er hat sie besucht.« Ich spiele mit demselben abgebrochenen Zweig herum, mit dem ich schon einmal gespielt habe, zer breche ihn in lauter kleine Stückchen. Das ganze Le ben bewegt sich im Kreis. »Meine Mama war ganz aufgeregt gestern abend«, flüstert Barbara Berrill. »Sie hat nach Deirdre ge sucht, weil es schon fast dunkel war und Deirdre noch nicht zu Hause war. Dauernd hat sie gejammert, daß Daddy nicht da ist, der würde aufpassen, daß wir nichts anstellen – und plötzlich hat sie den Mann ge sehen und gedacht: O nein!« Ich zerbreche den Zweig in noch kleinere Stück chen. »Aber ich weiß«, flüstert sie, »warum Deirdre nicht nach Hause gekommen ist.« 193
Ich spüre, daß sie mich beobachtet, um zu sehen, ob ich es auch weiß. Natürlich weiß ich es, aber ich wer de es ihr nicht sagen. »Sie war mit deinem Bruder irgendwo.« »Ich weiß«, sage ich, bevor mir einfällt, daß ich es nicht sagen wollte. »Und ich weiß, was sie gemacht haben«, flüstert sie. »Sie rauchen Zigaretten«, sage ich unwillkürlich: Ich kann sie unmöglich in dem Glauben lassen, daß sie etwas weiß und ich nicht. Keine Antwort. Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie sieht mich immer noch an und lächelt dabei geheim nisvoll. Sie weiß etwas Bestimmtes, das sie mir unbe dingt erzählen will. »Sie küssen sich«, flüstert sie. »Deirdre hat’s mir erzählt. Sie rauchen Zigaretten, und dann küssen sie sich.« »Ich weiß, ich weiß«, sage ich, was aber nicht zu trifft. Doch nun, da ich es weiß, kann ich es mir leb haft vorstellen. So etwas traue ich Geoff sofort zu. Barbara hält sich das blaue Täschchen noch immer vor den Mund, spielt mit dem Druckknopf und schaut mich über den Rand hinweg an. »Dein Gesicht ist wieder ganz käsig geworden«, sagt sie. »Quatsch.« »Du kannst dich ja gar nicht sehen.« Sie blickt mich unverwandt an. »Hast du schon mal Zigaretten geraucht?« flüstert sie. »Haufenweise.« »Glaub’ ich nicht.« »Doch. Ganz oft.« Sie lächelt, glaubt mir nicht, tut aber so, als glaubte sie mir, weil sie darüber reden will. »Macht es Spaß?« 194
Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es eigent lich war, als Charlie Avery und ich aus den feuchten Tabakresten im Aschenbecher seiner Eltern zwei Zi garetten gerollt haben. Ich erinnere mich nur an den köstlich verbotenen Feuerwerksgeruch des aufflam menden Streichholzes. »Es geht«, sage ich schulter zuckend. »Raucht ihr hier, du und Keith?« fragt sie. Sie hält etwas hoch, was sie neben sich auf der Erde gefunden hat. Es ist eine Zigarette, die jemand angefangen und dann ausgedrückt hat. Ich bin viel zu verblüfft, als daß ich sie rechtzeitig als meinen Besitz beanspruchen könnte. »Hier muß also noch jemand anders gewesen sein«, sagt sie. Eine Art Schwindelgefühl erfaßt mich. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Fremde kommen in unser Ver steck und flüstern und betteln und erzählen Geheim nisse und rauchen Zigaretten, und ich kann es nicht verhindern. Barbara inspiziert die Zigarette. »Ein Korkfilter«, sagt sie. Sie steckt sie sich kichernd zwischen die Lip pen und tut, als rauchte sie. »Paß auf, du holst dir irgendwelche Bakterien!« rufe ich entsetzt. »Du weißt nicht, wo sie überall war!« Sie nimmt sie aus dem Mund und bläst versonnen einen imaginären Ring in die Luft. »Ich kann’s mir denken«, sagt sie und bläst abermals einen Ring in die Luft. Es dauert ein Weilchen, bis ich ahne, was sie meint. Ich starre sie noch verwirrter an. Wie – Geoff und Deirdre? Im Dunkeln? Zigarettenrauchend? Einan der küssend? Hier? »Ganz bestimmt«, sagt sie. »Hast du Streichhöl zer?« 195
Darauf gehe ich nun wirklich nicht ein. Sie fragt nur, weil sie weiß, daß ich keine habe. Mit einer Kopfbewegung deutet sie auf die Kiste mit dem Vorhängeschloß. »In deinem Geheimdings vielleicht?« Ich zögere kurz, denn plötzlich erinnere ich mich an den Kerzenstummel und die Zündhölzer, und schüttele dann den Kopf. Allerdings habe ich zu lange gezögert. »Komm schon«, sagt sie, »er wird’s nicht merken.« Sie lehnt sich über mich und hantiert an dem Vor hängeschloß. Mein Schoß ist erfüllt von dem Ge wicht, der Weichheit, den Bewegungen ihres Kör pers, während sie an dem Schloß rüttelt. Das blaue Geldtäschchen liegt jetzt auf meiner Hand. Auf der Haut spüre ich das Leder und den blanken Druck knopf und den feuchten Rand, den sie mit den Lip pen festgehalten hat. »Wo ist der Schlüssel?« fragt sie. Ich schweige. Sie wendet mir den Kopf zu, spöttisch verkehrt herum, so daß ihr die Haare über die Augen fallen. »Oder gibt er den Schlüssel nicht aus der Hand?« Das Schwindelgefühl kehrt wieder. Nirgends ist fe ster Boden. Ich drehe mich zur Seite und strecke die Hand nach dem Schlüssel aus, der versteckt unter dem Stein liegt. Ich höre das leise Geräusch des Schlosses, das Keith immer sorgfältig geölt hat. Sie hebt den Deckel an und betrachtet den Inhalt. »Das da sind alle eure geheimen Sachen?« fragt sie. Sie nimmt, quer über mir liegend, verschiedene Din ge heraus. Hilflos beobachte ich sie. Ich kann die Un geheuerlichkeit meines Verbrechens kaum fassen. Erst lasse ich eine Fremde in unser Versteck, und nun erlaube ich ihr, sich unsere allerprivatesten Besitztü mer anzusehen. Wie konnte es soweit kommen? 196
»Sind das Spielzeugpatronen?« »Nein, echte.« »Was soll denn diese alte Socke?« Ich nehme sie ihr weg und werfe sie wieder hinein. »Die brauchen wir für etwas Besonderes.« Sie holt das Tranchiermesser heraus. »Wofür ist das denn?« »Das ist ein Bajonett.« »Ein Bajonett?« Vorsichtig streicht sie über die Klinge. »Mit dem man Leute absticht?« Ja, und mit dem man den Eid ablegt, keiner Men schenseele von all diesen Sachen zu erzählen, und mit dem mir die Kehle aufgeschlitzt wird, wenn ich gegen den Eid verstoße, so wahr mir Gott helfe. Ich sage kein Wort mehr. »Der Griff ist ab«, sagt sie. »Ich finde, es sieht mehr wie ein Küchenmesser aus.« Ich finde auch, daß es mehr wie ein Küchenmesser aussieht. Ich nehme es ihr weg und lege es vorsichtig wieder in die Kiste. Barbara Berrill richtet sich auf und zeigt mir, was sie statt dessen gefunden hat – die Streichholzschachtel. Sie zündet ein Streichholz an, und ich spüre in der Nase das erregende Kribbeln der Schwefeldämpfe. Sie steckt sich die Zigarette wieder in den Mund und nähert das krumme, geschwärzte Ende vorsichtig der Flamme. Ihr Gesicht leuchtet im flackernden Schein. Im Dunkel ihrer zusammenge kniffenen Augen tanzen zwei winzige Lichtreflexe. Plötzlich läßt sie das Streichholz fallen und reißt sich, hustend und prustend, die Zigarette aus dem Mund. »Uuuaach!« ruft sie und schaut sie erstaunt an. »Das ist ja grauenhaft!« Ich strecke die Hand aus. »Laß mich mal!« Sie ignoriert mich. Unendlich vorsichtig steckt sie 197
sich die Zigarette wieder in den Mund und versucht es ein zweites Mal. Wieder hustet und prustet sie und bekommt nun auch Rauch in die Augen. Diesmal gibt sie mir die Zigarette und hält sich die Handrücken vor die Augen. Ich stecke mir die Zigarette in den Mund. Der Korkfilter ist feucht von ihren Lippen, so wie die Klappe ihres Geldtäschchens. Ich mache einen ganz vorsichtigen Zug. Ich spüre den Rauch in meinem Mund wie einen festen Gegenstand. Barbara nimmt die Hände von den tränenden Augen und sieht mir blinzelnd zu. Ich behalte den Rauch eine Weile im Mund, konzentriere mich darauf, ihn nicht in die Kehle zu bekommen. Er schmeckt nach Wichtigkeit und Erwachsensein. Ich hebe den Kopf, so wie ich es bei Geoff gesehen habe, und blase den Rauch wieder aus. Ich seufze zufrieden. Barbara Berrill nimmt die Zigarette wieder an sich. »Wie macht man es?« fragt sie demütig. »Man muß sich einfach daran gewöhnen.« Sie verdreht die Augen und nimmt wieder einen kleinen Zug. »Und jetzt ausblasen!« sage ich. Sie bläst den Rauch aus und wirft den Kopf zurück, damit die Augen nichts abbekommen. Sie reicht mir die Zigarette und sieht zu, wie ich wieder einen Zug mache. »Wie fühlst du dich?« fragt sie. »Angeblich soll ei nem schlecht davon werden.« Wie ich mich fühle? Ich fühle mich … ein wenig verwirrt. Ich glaube nicht, daß mir schlecht ist. Ich fühle mich irgendwie … beschwingt. Ich verspüre eine Art Freiheit, als wäre ich nicht mehr an die Gesetze und Vorschriften der Kindheit gebunden. Ich kann 198
verschlossene Kisten öffnen und ungestraft bedeu tungslose Eide brechen. Ich bin im Begriff, Mysterien zu verstehen, die mir bislang verschlossen waren. Ich tauche auf aus der alten, dunklen Welt von Tunneln und Schrecknissen und komme in eine weite Hoch ebene, wo die Luft klar ist und ringsum sich ein fer ner blauer Horizont abzeichnet. Barbara streckt die Hand nach der Zigarette aus und macht wieder einen kleinen Zug. Diesmal hustet sie nicht nur, sondern lacht auch. »Was ist?« frage ich. »Wir hier«, sagt sie, sobald sie wieder sprechen kann. »Mit einer Zigarette.« Wir lassen das magische Feuer hin- und hergehen. Wir halten es auf verschiedene Weise, keck und ex travagant – zwischen zwei gestreckten Fingern, wie Geoff, oder in der flachen Hand vor dem Gesicht, wie in einer Art Gruß, den Ellbogen auf die andere Hand gestützt, wie Mrs. Sheldon. Wir spitzen die Lippen, um das Sakrament zu empfangen. Wir pressen sie zu sammen, um den Geschmack des Rauchs auszuko sten. Wir beobachten das glühende Rot, das bei je dem Zug erst kräftiger und dann blasser wird, und den blauen Rauch, der durch die Blätter aufsteigt. Wir liegen auf der Erde und blinzeln in den Him mel und rauchen und reden über dieses und jenes. Beziehungsweise Barbara redet. Sie kann Miss Pinne gar nicht leiden, die Zeichenlehrerin an ihrer Schule – niemand kann sie leiden, alle nennen sie Miss Vine gar. Rosemary Winters war ihre beste Freundin, aber das ist vorbei, seit sie zu Ann Shakespeare etwas Häß liches über sie gesagt hat. Sie überlegt, was Keith’ Mutter und ihr Freund nun tun werden, wo er überall gesucht wird. 199
»Er ist nicht ihr Freund«, erkläre ich ruhig. »Beide sind bloß deutsche Spione.« Aber natürlich sage ich nichts. Ich schweige. »Wenn er das nächstemal mitten in der Nacht kommt, schleicht sie sich vielleicht aus dem Haus, und dann laufen sie zusammen weg«, flüstert Barbara Berrill. »Sie sind deutsche Spione!« Diesmal sage ich es nur deswegen nicht, weil ich weiß, wieviel komplizierter alles ist. Irgendwie hat es auch mit Weichheit und Brust und Küssen zu tun. Simple Spionage war Teil jener Welt von Geheimgängen und Bajonetten, die soeben in dem blauen Zigarettenrauch davongeweht ist und sich über den weiten Himmel zerstreut hat. Barbara Berrill zieht noch einmal an der Zigarette und gibt sie mir dann. Es ist fast nur noch der Kork filter übrig. »Wir könnten doch mal sehen, was passiert«, sagt sie sanft. »Wir könnten uns nachts aus dem Haus schleichen und uns hier verstecken, wie dein Bruder und Deirdre.« Ein Schauder erfaßt mich, und mein Magen ver krampft sich. Vielleicht wird mir schlecht. Doch wäh rend ich daran denke, wie Barbara und ich nachts Sei te an Seite hier im Versteck sitzen, fällt mir wieder ein, daß in drei Tagen Neumond ist. Und noch etwas fällt mir ein – wo ich zuletzt ein Päckchen Zigaretten mit Korkfilter gesehen habe. Vielleicht waren es gar nicht Geoff und Deirdre, die gestern abend hier waren. Vielleicht war er es. Wäh rend er das Haus beobachtete, auf einen günstigen Moment wartete … Die Korkfilterzigaretten in der versteckten Kiste hinter dem Tunnel waren Craven A. Ich schaue mir 200
den Stummel an, den ich in der Hand halte. Der Name auf dem Papier ist weggeraucht. Wir beide ha ben das Beweisstück ruiniert. Und wieder hat sich alles geändert. Die Luft in unse rer Straße ist jeden Abend von Vogelgesang erfüllt – bis dahin war mir das eigentlich nie aufgefallen. Er füllt von Vogelgesang und Sommergerüchen, erfüllt von fremdartigen Anblicken und Andeutungen, aus den Augenwinkeln wahrgenommen, von Sehnsucht und Traurigkeit und bestimmten Hoffnungen. Sie hat einen Namen, diese süße Verwirrung. Sie heißt Lamorna. Lamorna. Immer wieder finde ich das Wort auf meiner Zunge, es sagt sich ganz von selbst. Lamorna ist die Weichheit des Kleides, das Barbara Berrill trug, als sie sich über mich beugte, um in die Kiste zu schauen. Lamorna ist die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung für den Gegensatz zwischen der ge noppten Struktur ihres Geldtäschchens und der glat ten Oberfläche des Druckknopfs. Lamorna ist der Feuerwerksgeruch des Streichholzes und dessen fun kelnde Reflexe in ihren Augen. Lamorna ist aber auch das Weiche in der Stimme von Keith’ Mutter, als sie durch das Gebüsch nach mir rief, und der hilfesuchende Ausdruck, den ich für einen Moment in ihren Augen sah, ehe sie merkte, daß ich nicht allein war. Lamorna. Ein fernes Land hinter dem Ozean, blau am blauen Horizont. Das Seufzen der Bäume. Der Titel eines Lieds, das ich einmal gehört habe. Aber auch eine Spur des Schreckens der Lanes ist darin enthalten und der Stille unter dem Holunder. Lamorna … und da ist es, dieses Wort, in erhabe 201
nen Metallettern, bemalt in der gleichen abblättern den Farbe wie das Fachwerk dahinter, fast verborgen in einem wilden Durcheinander von Heckenrosen am Gartentor von Barbara Berrills Haus. Auf der einen Straßenseite, steif und korrekt ein graviert in dem Grünspan hinter den Rosenstöcken: Chollerton. Auf der anderen Seite, in unbekümmerten, offenherzigen Metallettern, von denen die Farbe ab blättert: Lamorna. Nun, da Lamorna in der Luft liegt, sehe ich, wohin mein Blick auch geht, alle möglichen Dinge, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich schaue in den Abend himmel, wie Keith’ Mutter, als sie geduldig am Gar tentor stand und darauf wartete, zum Briefkasten be gleitet zu werden, und zu meiner Überraschung stelle ich fest, daß sie nicht in einen leeren Himmel, in eine friedliche Ereignislosigkeit geschaut hat, sondern in etwas unendlich Komplexes. Dort oben findet eine lautlose Luftschlacht statt – der große abendliche Nahkampf zwischen den hoch fliegenden Insekten und den niedrig fliegenden Schwalben. Und zehntausend Fuß über den Schwalben sehe ich wieder die heroischen Kondensstreifen, die ich an ei nem früheren Sommerhimmel geschrieben sah. Jetzt ist Nacht, ich höre Sirenen heulen, in der Nähe und in der Ferne, dicht hintereinander, und das schwere Dröhnen der Bombenflugzeuge. Ich sehe die Such scheinwerfer, die das Universum abtasten, und die hohe Kuppel aus Leuchtkugeln und das flackernde Orange über Miss Durrants Haus. Und auf einmal sehe ich die ganze Geschichte in einer raschen Abfolge von Bildern, wie Blitze unhör barer Bomben, die das Dunkel erleuchten. Wieder die gespenstische Figur, die an einem Fall 202
schirm lautlos herabschwebt … Der gräßliche Auf prall … Der Mann liegt wie betäubt da, kriecht dann, auf der Suche nach einem Unterschlupf, über die un durchschaubare dunkle Gegend in Feindesland, über dieses unerklärliche Muster aus Bodenrissen und har ten Grasbüscheln, verlassenen Bordsteinen und über wucherten Erdlöchern … Er ist überhaupt kein Spion. Kein alter Landstrei cher. Er ist ein deutscher Pilot, der abgeschossen wurde. Keith’ Mutter hat ihn irgendwie gefunden. Eines Nachts vielleicht, während der Verdunkelung, als er, auf der Suche nach etwas Eßbarem, aus dem Tunnel kam. Er tat ihr leid. Er erinnerte sie an das silberge rahmte Porträt eines anderen Piloten, der eines Nachts vielleicht ebenfalls über Feindesland abstürzen und in ein schützendes Erdloch kriechen wird und Hilfe braucht. Sie hat niemandem etwas gesagt. Nur Tante Dee, unter dem Foto jenes anderen Piloten. Sie be gann, bei Tante Dee Lebensmittel und Zigaretten zu sammenzupacken und sie ihm hinzustellen … Frische Sachen … Heißen Kaffee in der Thermoskanne aus dem Picknickkorb … Dann finden zwei kleine Jungen die Kiste, in der diese Dinge liegen. Daraufhin muß sie ihm alles zu seinem Versteck bringen. Sie muß ihm persönlich gegenübertreten. Tag für Tag kommt sie … und allmählich nimmt sie ihn zur Brust … Ich fühle mich beschwingt. Ich bin erleichtert dar über, daß Keith’ Mutter doch keine Spionin ist, bin bestürzt darüber, daß sie dem Feind hilft und ihn trö stet, denn ein abgeschossener deutscher Pilot ist trotzdem ein Deutscher. Und empfinde eine allge meine Erregung, die in der Luft liegt, unbeständig und unlokalisierbar wie ein Sommergewitter. Es hat 203
mit der Brust zu tun, an die sie ihn nimmt. Ich erin nere mich an die verwirrende Weichheit, die ich spürte, als ich im Tunnel mit ihr zusammenstieß. Sie vermengt sich mit der Weichheit von Barbara Berrills Kleid, das sie trug, als sie sich über mich beugte, um in die Kiste zu sehen … Der Name der Weichheit weht durch die wohlrie chende Luft, langsam und sanft wie ein Seufzer: L…a…m…o…r…n…a… Doch an dem Wohlgeruch in unserem Versteck hat sich etwas verändert. Die arglose Süße von Linde und Geißblatt wird überlagert von einer anderen Süße, herb, etwas ordinär und aufdringlich, mit einer ganz kleinen Spur des Katzengestanks von Holunder. Sobald ich die Augen hebe, sehe ich, daß die Quelle dieses Geruchs ganz nahe ist. Die eintönig grünen Zweige des Gebüschs, in dem ich mich verstecke, verwandeln sich in ein Meer von intensiv duftendem Weiß. In diesem Weiß entdecke ich eines warmen Nach mittags zwei braune Augen, die mich ansehen. Mein Herz macht einen Sprung, erst vor Aufregung und im nächsten Moment, als mir klar wird, wer es ist, vor Angst. »Stephen«, sagt Keith’ Mutter leise, »jetzt bist du allein … Ich würde dich gern um etwas bitten. Darf ich hereinkommen?«
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Vor Meadowhurst bleibe ich noch einmal kurz ste hen. Der zweite Geranienkübel von links, da ist Ste phen, und dort ist sie, Keith’ Mutter neben ihm auf der Erde, der dritte Kübel. Das Spiel war in eine völlige neue Phase eingetre ten. Ich glaube, Stephen wußte das schon in dem Moment, als Keith’ Mutter sich zu ihm setzte. Ge naugenommen wurde ein völlig anderes Spiel ge spielt. Angefangen hatte er als ihr Gegner, und nun sollte er ihr Komplize sein. Irgendwie schien sie verändert. Ich entsinne mich, daß mir auch das sofort aufgefallen war. Sie hatte sich ebenso verändert wie das Gebüsch, wie Stephen selbst und alles um ihn herum sich verändert hatte. Worin bestand diese Veränderung? Ich glaube, sie sah noch vollkommener aus als sonst. Ihre Lippen waren röter, ihre Wangen glatter, ihre Augen leuch tender. Sie trug ein hellblaues Seidentuch, das vorne von einer silbernen Spange zusammengehalten wurde und ihr bis ans Kinn reichte. Auf diese Weise schien ihr Kopf angehoben, so daß etwas Hoheitsvolles, Er habenes von ihr ausging, während sie mit unterge schlagenen Beinen vor Stephen auf der Erde saß. Wie eine Bettlerin, die sie wohl geworden war. Erst jetzt ahne ich, wie verzweifelt sie gewesen sein muß, daß sie sich so erniedrigte und ein Kind um Hilfe bat. 205
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie sie es überhaupt schaffte, das Thema anzuschneiden. Ich glaube, sie stellte den Einkaufskorb, den sie mitge bracht hatte, einfach auf die Erde zwischen sich und Stephen und sagte dann ganz leise, daß er bestimmt wisse, was sie von ihm wolle. Ich vermute, daß er dar auf nicht geantwortet hat. Aber natürlich wußte er es. Ich glaube, sie entschuldigte sich dafür, ihn bitten zu müssen. Ich glaube, sie sagte, daß sie keine andere Möglichkeit sehe, daß es niemanden gebe, an den sie sich sonst wenden könne. Hat sie erklärt, warum sie Keith nicht bitten konn te? Das brauchte sie nicht – Stephen hatte schon ver standen. Keith wußte nichts von dieser Angelegenheit – er wollte nichts wissen. Jedenfalls war schon der Gedanke, sie könne ihn bitten, undenkbar. Was ge nau war daran undenkbar? – Nichts Genaues. Was undenkbar ist, kann naturgemäß nicht irgend etwas sein. Diese Ungenauigkeit macht es ja so überwälti gend. Unsichtbar erfüllt es die Luft, wie ein Parfüm. Ein sauberes Küchentuch lag über dem Korb, als hätten sich die beiden zu einem Picknick verabredet. Sie hat ihm den Inhalt nicht gezeigt. Ich glaube, sie erklärte, daß es einfach ein paar Sachen seien, die er brauche. Die wer brauchte? Er. So hat sie ihn ge nannt, glaube ich. Er … Wer oder was dieser Er auch sein mochte, für Ste phen stand zumindest fest, daß er ein Deutscher war. Daran war nicht zu rütteln. Sie wies Stephen darauf hin, daß er keine Lebens mittelmarken habe. Er sei krank, müsse eigentlich zum Arzt. Sie sprach von der Feuchtigkeit. Wo genau diese Feuchtigkeit war, sagte sie nicht. Stephen erinnerte sich an dieses leise, hartnäckige 206
Husten in der Erdgrube unter dem Holunder. Er stellte sich auch vor, wie der Deutsche hier in seinem Versteck saß, sich im Dunkeln eine Zigarette anzün dete, hustete und sie ungeraucht wieder ausdrückte. Sie hätte ihm gern etwas Warmes mitgegeben, sag te sie, und natürlich wußte Stephen, warum das nicht ging: weil die Thermoskanne wieder im Picknickkorb war, der in der Garage an der Wand hing und für die Dauer des Krieges dort bleiben würde. Sie bat Stephen, nicht die Stufen hinunterzugehen, sondern die Sachen draußen auf der Erde abzustellen – er solle einfach rufen und sagen, daß es da sei. »Du weißt, wohin du gehen mußt, nicht wahr?« fragte sie Stephen leise. »Oder bilde ich es mir bloß ein?« Stephen sah noch immer zu Boden und schwieg. Aber sie hatte verstanden. Er wußte es. Sie hatte es sich nicht bloß eingebildet. »Also, wirst du’s für mich tun, Stephen?« Noch immer halte ich den Blick gesenkt. Ich spüre das sanfte, lautlose Herabschweben des Fallschirms im Dunkeln. Ich spüre den mörderischen Aufprall, das Blut an den Händen … Aber er ist doch ein Deutscher! »Stephen, mein Schatz, hör zu«, sagt sie, so sanft wie das seidene Rascheln des Fallschirms. »Ich kann es dir nicht erklären. Es würde zu lange dauern, und ich muß wieder nach Hause, und überhaupt gibt es ein paar Dinge, die sich nicht so einfach erklären lassen.« Die Sanftheit ihrer Stimme, die Nähe, die entsteht, wenn sie sich zu mir herüberbeugt, und vor allem das »mein Schatz«, mit dem sie sonst ihren Sohn anredet – das alles macht, daß mein Gesicht sich auflöst wie 207
der geblähte Fallschirm, der sich auf der Erde um mich herum ausbreitet. Aber er ist ein Deutscher! »Jedenfalls, ich glaube, du hast mich verstanden«, sagt sie, unverändert sanft. »Nicht wahr, Stephen? So ungefähr? Du weißt, daß Menschen manchmal allein sind. Sie fühlen sich ausgestoßen, spüren, daß die Leute gegen sie sind. Du hast doch erlebt, wie Jungen in der Schule aus irgendeinem Grund schikaniert werden. Vielleicht wegen irgendeiner Sache, für die sie gar nichts können – irgend etwas an ihrem Ausse hen oder ihrer Ausdrucksweise oder weil sie nicht be sonders sportlich sind. Vielleicht sogar aus keinem besonderen Grund. Einfach weil sie so sind, wie sie sind. Ja?« Ich nicke. Ich kenne tatsächlich einen Jungen, der schikaniert wurde. Ich spüre den Schmerz in den Oh ren und die Angst, daß meine Peiniger sie mir am Ende abreißen werden, wenn sie meinen Kopf so hinund herschütteln. Aber ich bin schließlich kein Deut scher! Das ist doch ein Riesenunterschied! »Also, Stephen, tust du’s für mich?« Sie hat nicht viel Zeit. Ich habe keine Ahnung, wo Keith’ Vater ist oder was er gerade macht, aber sie weiß, daß er ihre Abwesenheit bald bemerken wird. Plötzlich weicht das drängende Zutrauen aus ihrer Stimme. »Ich weiß, wie schrecklich es ist, dich bitten zu müssen, Stephen. Ich würde es nicht tun, wenn ich eine andere Möglichkeit sähe. Ich …« Sie verstummt. Ich schaue hoch, um zu sehen, was passiert ist. Sie hält die Hand vor den Mund, und Tränen steigen ihr in die Augen. Drei fast unhörbare Wörter entkommen schließlich durch ihre Finger: »… schäme mich so.« 208
Sie wird weinen. Ich schaue weg. Das ist das Schlimmste. Das werde ich nicht aushalten. Aber ich muß! Er ist aus gutem Grund ausgestoßen – weil er Deutscher ist. Ich unternehme einen letzten Versuch. »Tante Dee könnte es tun«, sage ich. »Sie könnten auf Milly aufpassen, und Tante Dee könnte ihm die Sachen bringen.« Schweigen. Wieder schaue ich hoch. Sie sitzt völlig bewegungslos da, die Hände noch immer vor dem Mund, und sieht mich durch den Tränenschleier an. Und auf einmal begreife ich. Der Mann, der Tante Dee während der Verdunkelung besuchte, ist eben dieser Deutsche in den Barns. Wie Schuppen fällt es mir jetzt von den Augen. Nicht Keith’ Mutter hat ihn gefunden, sondern Tante Dee. Tante Dee hat ihn zur Brust genommen. Keith’ Mutter gibt einen furchtbaren, gräßlichen Schluchzer von sich. Dann noch einen und noch einen. Wieder Stille. Ich riskiere nur einen Blick. Sie sitzt mit gesenktem Kopf da, die Hände vor dem Gesicht, und zittert stumm. Ich schaue wieder weg. In diesem Zustand darf ich sie nicht sehen. Auf der Erde zeich nen sich feuchte Stellen ab. Ein Tropfen fällt auf meinen Handrücken. Ich warte, wage kaum zu atmen. Auf der Straßen seite gegenüber zeichnen die beiden Geest-Zwillinge mit Kreide Kästchen auf den Bürgersteig, und Nor man Stott wischt mit der Schuhsohle alles wieder weg. Barbara Berrill geht vorüber, ruft dem Hund der Stotts etwas zu. Jeden Moment wird einer der Zwil linge etwas hören, oder Barbara wird zurückkommen und durch die Zweige schauen. Ich erinnere mich, sie saß dort, wo Keith’ Mutter jetzt sitzt, und auch ihre Augen waren voller Tränen wegen des Zigaretten 209
rauchs, und ich ahne, daß all die Dinge, die damals so einfach und unkompliziert schienen, überhaupt nicht einfach und unkompliziert sind, sondern unendlich kompliziert und schmerzhaft. Noch immer dieses lautlose Beben. Und alles ist meine Schuld. Weil ich die Kiste gefunden habe, so daß Keith’ Mutter Tante Dees Nachrichten zur Barns bringen mußte. Weil sie dem Deutschen persönlich begegnen mußte. Sie hat ihn an ihre Brust gedrückt – und ihn von Tante Dees Brust gerissen. Deshalb kann sie Tante Dee nicht bitten, hinzugehen. Deshalb be sucht sie Tante Dee nicht mehr. Nur weil ich Dinge angeschaut habe, die ich nicht hätte anschauen dür fen, habe ich sie verändert. Ich habe Keith’ Eltern entzweit. Ich habe Keith’ Mutter und Tante Dee ent zweit. Alles ist ruiniert. »Es tut mir leid«, murmle ich. »Es tut mir leid.« Keith’ Vater kommt um das Haus. Er geht über den Vorgarten, pfeift die Melodie, die nie ihr Ziel er reicht, schaut auf der anderen Seite um die Ecke, geht dann zum Gartentor und schaut die Straße hinunter. Das Pfeifen verklingt. Keith’ Mutter stößt einen langen, tiefen Seufzer aus. Sie weint jetzt nicht mehr. Sie beobachtet Keith’ Vater durch die vorgehaltene Hand. Er wendet sich zögernd um und geht wieder zur Küchentür. »Ich muß gehen«, sagt sie, so leise, als kämen ihr die Worte nur mit größter Mühe über die Lippen. Sie holt ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupft sich damit die Augen ab. »Vielleicht sollte ich mich noch ein bißchen in Ordnung bringen.« Ich sehe sie an. Wieder hat sie sich völlig verändert. Die Makellosigkeit, in der sie erschienen war, ist ver wischt, und mir wird klar, was daran so besonders 210
eindrucksvoll gewesen war: Sie hatte sich noch sorg fältiger als sonst zurechtgemacht. »Es tut mir schrecklich leid, Stephen«, sagt sie. »Wir tun einfach, als wäre das alles nicht passiert, ja? Ich weiß, daß du dich gut verstellen kannst. Und mach dir keine Sorgen wegen der Sachen. Ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Ich hätte dich nicht bit ten sollen. Das war nicht recht. Ich hab mich nur … so … hilflos gefühlt.« Sie hält sich das Taschentuch vor den Mund und sieht gedankenverloren an mir vorbei, als erinnere sie sich an ein weit zurückliegendes Ereignis. »Ja, so haben wir es gemacht«, sagt sie verträumt. »Ich habe mich um Milly gekümmert, während Dee losging.« Mit ihrem verwischten Make-up ist sie kaum wie derzuerkennen. Aber ihr Gesicht hat auch etwas ei gentümlich Vertrautes, das aus einem ganz anderen Zusammenhang stammt, so als hätte ich sie in einem Traum schon einmal gesehen. »Ach Stephen«, sagt sie. »Das Leben kann manch mal so gemein sein. Erst sieht es so leicht aus. Und dann …« Sie legt die Arme um die angezogenen Beine, genau wie Barbara, und stützt das Gesicht auf die Knie. »Als ihr, du und Keith, angefangen habt, Detektiv zu spielen«, sagt sie, »als ihr begonnen habt, in mei nen Sachen herumzukramen und mich zu beobachten, da dachtest du bestimmt nicht, daß alles so enden, daß ich mich an deiner Schulter ausweinen würde. Armer Stephen! Es war nicht recht, anderen Leuten hinterherzuspionieren, weißt du. Trotzdem, was für eine schreckliche Strafe!« Sie schenkt mir ein mattes Lächeln. Jetzt weiß ich, 211
wo ich dieses Gesicht gesehen habe. Es ist das ernste Gesicht, das aus dem Silberrahmen in ihrem Wohn zimmer schaut. Das Gesicht des jungen Mädchens mit langen Handschuhen und einem breitkrempigen Hut, das die Erwachsene spielt und der jüngeren Schwester, die das Kind spielt und zutraulich lächelnd zu ihr aufblickt, schützend den Arm um die Schultern legt. Wieder spüre ich, wie sich die verschlossene Kiste öffnet und ihre Geheimnisse preisgibt. Ich lasse die alten Tunnel und Schrecknisse der Kindheit hinter mir – und betrete eine neue Welt noch dunklerer Tunnel und noch unbestimmbarerer Schrecknisse. Sie tastet Wangen und Augen mit den Fingern ab. »Oje«, sagt sie, »ich habe nicht einmal einen Spiegel dabei. Sehe ich schauderhaft aus?« Ich vermute ja. Ich schüttele den Kopf. Sie nimmt den Korb, will aufbrechen. Keith’ Vater taucht lautlos hinten beim Haus auf. Wieder geht er zum Gartentor und schaut stumm die Straße hinun ter. Sie wartet. »Egal«, sagt sie. »Ich werd’ mir schon etwas aus denken. Du erzählst es nicht weiter, Stephen, hörst du, jetzt, wo du weißt, wer es ist?« Ich schüttele den Kopf. Und ich strecke den Arm aus und nehme ihr den Korb aus der Hand. Überrascht sieht sie mich an. »Ach Stephen«, flü stert sie. »Wirklich?« Sie beugt sich vor und küßt mich. Ich ducke mich ungeschickt weg, so daß ihre Lippen meine Augen brauen treffen. Aber auf meiner Stirn spüre ich die Tränen, die ihr wieder über die Wange laufen. Keith’ Vater wartet am Gartentor, pfeift jetzt wie der, abwesend, unschlüssig. Er geht, noch immer 212
pfeifend, zurück zum Haus. Keith’ Mutter kriecht durch den Gang ins Freie. Ich versuche, mir nicht vorzustellen, was passiert, wenn sie nach Hause kommt. Sie bleibt noch einmal stehen, schaut auf die Wolke aus weißen Blüten ringsum und rümpft die Nase. »Siehst du?« sagt sie. »Ich hab’ dir ja gesagt, es ist völlig überwältigend.« Sie hat recht. Jedenfalls hat mich der süße Geruch überwältigt. Und verwoben mit der Süße dieses Geruchs, wie Worte in die Melodie eines Liedes, ist die sehn suchtsvolle Süße des Klangs: L…a…m…o…r…n…a… Ich schiebe den Korb hinter meinen Rücken, damit er möglichst wenig auffällt, aber trotzdem kann Barbara die Augen nicht davon abwenden. Sie sitzt mit unter geschlagenen Beinen auf der Erde, genau dort, wo Keith’ Mutter saß, und beugt sich zur Seite, um an mir vorbeizuschauen. »Was sollst du denn damit machen?« fragt sie. »Nichts.« »Was hat sie denn gesagt?« »Nichts. Weiß nicht.« »Sie hat ihn einfach stehenlassen und nichts weiter gesagt?« »Ich weiß nicht mehr.« Barbara lächelt, doch es ist nicht das verschwöreri sche Lächeln wie beim letztenmal, sondern wieder dieses breite, spöttische Lächeln. Ich hätte sofort ge hen sollen, nachdem Keith’ Mutter aufgebrochen war. Ich wollte noch kurz darüber nachdenken, mich vergewissern, daß ich tatsächlich bereit war, wieder 213
durch die Lanes zu gehen, an den Hunden vorbei zu der dunklen Treppe, die in das Erdloch unter dem Holunder führt. »Sie hat geweint«, sagt Barbara leise. An diesem Vorwurf ist irgend etwas Intimes, etwas Peinliches. Ich schäme mich für Keith’ Mutter, aber auch für mich, weil ich Zeuge ihre Tränen geworden bin. »Sie hat nicht geweint«, sage ich. »Doch. Ich habe euch beide beobachtet. Wußtest du bestimmt nicht.« »Natürlich wußte ich es.« »Nein.« Mein Mut sinkt. Warum sind wir wieder bei diesem blöden Doch-Nein angekommen, wo wir diese kindi schen Dinge eigentlich hinter uns gelassen haben? Wie kommt es, daß die sonnenhelle Welt auf einmal wieder so dunkel ist? Barbaras spöttisches Lächeln ist gemeiner denn je. »Sie hat sich die Augen getupft. Und ihr Make-up war ganz verschmiert.« »Sie hat gelacht«, sage ich verzagt. »Gelacht?« Barbaras spöttisches Lachen wird brei ter als je zuvor. »Worüber denn?« »Nichts.« »Sie hat über nichts gelacht? Wieso? Tickt sie nicht ganz richtig, so wie Eddie Stott?« Was ist passiert? Noch nie habe ich sie solche Sa chen sagen hören. Nicht seit dem Beginn der Zeit rechnung von Lamorna. Sie schaut wieder auf den Korb. Ihre Neugier ist stärker als ihre Gemeinheit. »Ich könnte mitkom men«, sagt sie in etwas freundlicherem Ton. »Ich könnte dir helfen.« 214
Darauf würde ich gern antworten, aber ich wüßte nicht, wie. Kläglich schüttele ich den Kopf. Sie schaut enttäuscht weg. »Na schön, dann geh halt allein. Ist mir doch egal.« Ich sitze da, starre zu Boden. Bevor sie kam, hatte ich mich fast schon überwunden. Ich war fast bereit, den Hunden in den Lanes zu trotzen, mich sogar in die Nähe des Deutschen zu begeben. »Geh schon!« spottet sie. Ich spüre, wie mich mit jedem Wort, das sie sagt, der Mut noch mehr verläßt. »Ich werd’ dir nicht hinterherlaufen! Hast du davor Angst? Interessiert mich doch nicht, wohin du ihre blöden Sachen bringst!« Sackgasse. Wir werden hier bis in alle Ewigkeit sit zen. »Was ist denn überhaupt drin?« fragt sie schließ lich. Wieder hat ihre Neugier den desinteressierten Tonfall ein wenig gemildert. Ich zucke mit den Schultern. »Irgendwelche Sa chen.« »Was denn?« »Weiß ich nicht. Irgendwelche Sachen eben.« »Geheime Sachen? Wie in eurer Kiste? Rostige alte Tranchiermesser?« Mir ist viel zu elend zumute, als daß ich antworten könnte, selbst wenn mir etwas einfiele. Plötzlich kichert sie. »Oder bist du ihr Freund?« sagt sie leise. »Das wär aber komisch, wenn die Mama deines besten Freundes deine Freundin wäre!« Und nun glaube ich in ihrem spöttischen Lächeln etwas zu entdecken, eine kurz aufschimmernde Trau rigkeit, die mich erinnert an den flehenden Ausdruck in den Augen von Keith’ Mutter, als sie mir ihren 215
Vortrag über die kleinen privaten Dinge hielt, die man respektieren müsse. Meine ganze Verzweiflung bricht aus mir hervor. »Ich dachte«, rufe ich, »wir wollten …« Aber schon halte ich inne. Was hatte ich gedacht? Ich wollte »Freunde sein« sagen. Hatte sie denn nicht gesagt, daß ich, nach irgendeiner Schulfreundin, ihr zweitbester Freund sein könnte? Und hatte sie dann nicht gesagt, daß sie und dieses Mädchen nicht mehr beste Freundinnen seien? Das Wort »Freund« möch te ich aber nicht verwenden, denn sie hat wieder an gefangen, von Freundinnen und Freunden zu reden, doch so etwas Törichtes und Schreckliches meine ich nicht. Ein besseres Wort fällt mir allerdings nicht ein. »Freunde sein«, sage ich kläglich. »Ich dachte, wir wollten Freunde sein.« Und genauso schnell, wie das Problem aufgetaucht ist, hat es sich auch schon erledigt. Barbaras breites spöttisches Lächeln verschwindet. Statt dessen lächelt sie leise. In Wahrheit will sie genauso wie ich, daß wir Freunde sind. Sie öffnet ihr blaues Geldtäschchen. »Jetzt werd’ ich dir etwas Geheimes zeigen«, sagt sie. Sie hält mir das geöffnete Täschchen hin, wir beide schauen hin ein, die Köpfe dicht beieinander, so daß ihre lockigen Haarspitzen meine Wange berühren. Unter den Halfpenny- und Dreipennymünzen liegt ein Päck chen, in dem engen Täschchen verbogen und flach gedrückt. Auf der Seite steht »10 Players Navy Cut«. Unsere Köpfe entfernen sich wieder voneinander, wir sehen uns an. »Ich hab’s aus Deirdres Tasche«, sagt sie. In der Packung ist eine einzelne Zigarette, krumm 216
und flach wie die Schachtel selbst. Barbara macht ihre Tasche wieder zu. Mir fällt auf, daß der Druckknopf beim Öffnen und Schließen ein wunderschönes Ge räusch macht, das wie »Lamorna« klingt, in einer Silbe. »Deshalb bin ich gekommen«, sagt sie. »Ich dachte, wir könnten noch eine rauchen.« Die Luft ist wieder erfüllt von Süße und Vogelge sang. Ich zucke geringschätzig mit den Schultern, um meine heftige Erregung zu verbergen. »Von mir aus«, brumme ich. Ich hole die Streichhölzer aus der Kiste. Barbara steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen und guckt mich listig an, während ich ihr Feuer gebe. Das zuckende Flämmchen spiegelt sich in ihren Pupillen, und ich weiß, daß ich ihr nun im Gegenzug mein Ge heimnis zeigen muß. Sie hebt den Kopf und bläst eine Mundvoll Rauch aus. Sie reicht mir die Zigarette, und während ich daran ziehe, beugt sie sich schon vor und zieht das Küchentuch vom Korb. Ich lasse es gesche hen. Unser Streit endet sichtlich in großer Einigkeit. Sie fördert zwei Eier zutage, hält sie hoch, zeigt sie mir grinsend. Ich nicke. Sie legt sie behutsam beisei te. Ich gebe ihr die Zigarette, sie zieht daran, wäh rend ich nun meinerseits in den Korb greife und ein kleines Päckchen heraushole, das in Butterbrotpapier eingewickelt ist. Es enthält zwei Scheiben Speck. Barbara kichert. »Ich dachte, es wären Sachen für ein mitternächtliches Fest. Süßigkeiten und Bier und so.« Sie holt eine Handvoll Kartoffeln und Möhren her aus. Ich hole eine Büchse Dosenfleisch und ein Stück Corned beef heraus. »Komisches Mitternachtsfest«, sagt Barbara. Ich greife wieder in den Korb und finde ein weißes Schächtelchen. Auf dem Etikett steht ein vertrauter 217
Name: »W. Walworth Watkins, MPS FSMC FBOA, Dispensing Chemist and Optician«. Und darunter die handschriftliche Anweisung: »Für K. R. G. Hayward. M & B-Tabletten. Dreimal täglich eine Tablette, mit Wasser einzunehmen.« »M & B«, sagt Barbara. »Die nimmt man bei Fieber.« Ich weiß, ich mußte sie selbst einmal nehmen. Diese sind wahrscheinlich von einer Krankheit übriggeblie ben, die Keith im letzten Winter hatte. Barbara zieht wieder an der Zigarette und greift er neut in den Korb. Diesmal fördert sie einen Briefum schlag zutage. Er ist zugeklebt, aber es steht keine Anschrift darauf, nicht einmal ein X. Sie schaut mich mit ihrem leisen verschwörerischen Lächeln an. Ich nehme ihr den Umschlag aus der Hand. Das ist ein privater Brief, da werden wir nicht hineinschauen. Die Abdrücke auf einer Schreibtischunterlage zu stu dieren ist eine Sache, die sind ohnehin da, für jeder mann zu sehen, aber diesen Umschlag tatsächlich zu öffnen ist etwas ganz anderes. Das weiß jeder. Sie sieht mich nachdenklich an, läßt den Rauch aus dem Mund entweichen. Dann lehnt sie sich langsam vor, bis ihr Gesicht dicht vor meinem ist. »Was ist?« frage ich nervös und weiche zurück, aber ich ahne es schon. Sie beugt sich noch weiter vor und berührt meine Lippen mit den ihren. Es vergehen einige Momente. Sie nimmt die Lip pen wieder weg. »War das schön?« fragt sie. Schön? Ich war gar nicht dazu gekommen, zu über legen, ob es schön war, weil ich dauernd an die Bakte rien denken mußte. »Deirdre hat gesagt, es ist schön«, sagt sie. 218
Sie beugt sich wieder vor. Ich schließe die Augen, und diesmal gelingt es mir, nicht zurückzuweichen. Ich bemerke einen Tabakkrümel auf ihrer Unterlippe und überlege, wo die brennende Zigarette jetzt wohl sein mag. Ein sonderbarer Gedanke geht mir durch den Kopf- daß ich weiß, wie groß x ist. Wieder nimmt sie die Lippen weg und sieht mich an: »Na?« »Ganz schön«, sage ich höflich. Sie drückt mich zu Boden, setzt sich rittlings auf mich, beugt sich vor und holt das Bajonett aus der Ki ste, entreißt mir den Brief und schlitzt ihn auf. »Nicht!« sage ich mit Nachdruck. »Nein, nein, nein!« Ich will mich wieder aufrichten, liege aber hilflos unter ihr. Sie wirft mir ein triumphierendes Lächeln zu und holt den Brief aus dem Umschlag. »Nicht!« rufe ich und winde mich wie ein gestran deter Fisch. »Nicht! Das ist verboten! Das ist verbo ten!« Ich merke, daß jemand durch die Blätter schaut. »Kann ich mal mit dir sprechen, mein Junge?« sagt eine entsetzlich vertraute Stimme. Keith’ Vater. Ausgerechnet hier. Ausgerechnet jetzt. Er wartet auf der Straße, während Barbara ge räuschlos von mir runterklettert. Wir vermeiden es, einander anzusehen. Ich merke, daß auch Keith’ Va ter wegschaut. Barbara fängt an, alles wieder in den Korb zu packen. Ich krieche hinaus ins Freie und ste he vor Keith’ Vater, erwarte mein Schicksal. Er wirft mir einen kurzen Blick zu. »Den Korb«, sagt er knapp und wartet, während ich zurückkrieche und ihn Barbara aus der Hand nehme. »Gib ihn nicht her!« flüstert sie und gibt ihn 219
ebenso hilflos frei, wie ich ihn nehme. »Du darfst ihn nicht hergeben!« Ich halte den Korb mit beiden Händen und folge, ganz krank vor Angst, Keith’ Vater über die Straße zu seinem Haus. Zum erstenmal hat er mich direkt an gesprochen. Und er hat »mein Junge« zu mir gesagt, fast so, als gehörte ich zur Familie. Aber ich werde ihm den Korb nicht geben. Als wir die Garage erreichen, habe ich mich so weit von mei ner Überraschung erholt, daß ich mir da völlig sicher bin. Ich weiß zwar nicht, wie ich es anstellen werde, aber was auch passieren mag, den Korb werde ich ihm nicht geben. Nicht einmal, wenn er »Freundchen« zu mir sagt. Das Licht über der Werkbank brennt. Er beugt sich über ein kleines Stück Metall, das in den großen Schraubstock eingespannt ist. Er senkt, immer noch pfeifend, den Kopf dicht über die Arbeit. Anschei nend mißt er, was immer es ist, mit dem Mikrometer. In der Garage riecht es nach Sägespänen und Öl, nach Beton und Auto und nach Angst. Unvermittelt hört er auf zu pfeifen. »Hör zu, Jun ge«, sagt er. »Laß diese dummen Spiele. Guter Rat.« Schweigen. Er löst das Mikrometer und hält es an eine andere Stelle des Metallstücks. Ich sehe wie hyp notisiert zu, weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. »Diese dummen Spiele, wo man so tut, als ob«, fährt er fort und beugt sich hinunter, um das Mikro meter abzulesen. »Wenn jemand dich fragt, machst du mit?, dann sagst du, danke nein, ich bin nicht so dumm. Ob Kind oder Erwachsener, ganz egal. Du sagst einfach: Danke, kommt nicht in Frage.« 220
Plötzlich blickt er auf, mustert mich scharf, lächelt sein dünnes Lächeln. »Ja?« fragt er. Ich nicke stumm. Er mustert mich immer noch. »Die Leute machen sich lächerlich mit solchen Spielchen, Junge. Manö vrieren sich ganz schön in die Patsche. Habe mit Keith gesprochen. Möchte nicht, daß er auf noch mehr dumme Gedanken gebracht wird.« Wieder lächelt er sein schreckliches Lächeln, aber diesmal erinnert es mich ein kleines bißchen an das, was ich im Lächeln von Keith’ Mutter gesehen habe. Mir dämmert, daß er dieses Gespräch genauso schwierig findet wie ich, und für einen Moment er kenne ich eine allgemeinere und überraschendere Wahrheit: daß Erwachsene doch nicht einer völlig anderen Gattung angehören als ich. Selbst Keith’ Va ter gehört einem Zweig des Tierreichs an, der mit meinem irgendwie verwandt ist. »Also, Spiel zu Ende. Klar?« Wieder nicke ich. Was soll ich sonst auch tun? »Also, den Korb.« Der Korb. Wir sind wieder beim Korb. Ich blicke zu Boden. Schweigen. Die Betonfläche ist komplexer, als man erwarten würde. Unterschiedlich große Kieselsteine sind darin eingebettet. Manche haben sich auf irgendeine Weise befreit und davon gemacht und kleine kieselsteinförmige Krater zu rückgelassen. »Den Korb! Auf die Werkbank damit, mein Junge!« Ich setze meine Betrachtung des Bodens fort. In ei nigen Kratern haben kleinere Steinchen Zuflucht ge sucht, wie Einsiedlerkrebse in verlassenen Schnek kenhäusern. »Ich sag’s nicht noch einmal, Freundchen.« Aber noch immer passiert nichts. Trotz meiner 221
Angst nimmt eine weitere Erkenntnis Gestalt an: Er tut nichts, weil er nichts tun kann. Prügeln kann er mich nicht, weil er dank einer unglaublichen Fügung eines gnädigen Schicksals nicht mein Vater ist. Ent reißen kann er mir den Korb nicht, da es unter seiner Würde wäre, sich durch Gewalt und nicht durch Ein schüchterung etwas zu verschaffen. Er kann nur war ten, daß ich klein beigebe. Und das werde ich nicht. Das ist das Tapferste und Unerhörteste, was ich in meinem ganzen Leben je getan habe. Ich spüre, wie meine Glieder vor Entsetzen und Jubel zittern. Noch immer herrscht Schweigen. Ich hebe die Au gen vom Boden und sehe ihn an. Er hebt die Augen von seiner Arbeit und sieht mich an. Für einen Mo ment verschränken sich unsere Blicke. Sein Lächeln ist verschwunden. Er scheint aber nicht zornig zu sein. Eher ratlos. Er weiß nicht, was er tun soll. Und er sieht unglücklich aus, so unglücklich, wie ich noch nie jemanden gesehen habe. Wir beide schauen rasch weg. »Bitte!« sagt er, in einem sonderbar dünnen, fle henden Ton. Da gebe ich nach. Gegen dieses schamlose und schreckliche Wort komme ich nicht an. Ich stelle den Korb neben den großen Schraubstock. Ich weiß, dies ist das Schwächste und Feigste, was ich je in meinem Leben getan habe. Innerhalb einer einzigen Minute bin ich vom Besten zum Schlimm sten gesunken. Und schon höre ich die gelassenen, leisen Schritte hinter mir auf dem Hof. »Ted, Liebling«, sagt die Stimme von Keith’ Mut ter, »Keith ist noch immer nicht fertig mit seinen 222
Matheaufgaben, er sitzt schon anderthalb Stunden daran, der Ärmste …« Sie hält inne. »Hallo, Stephen«, sagt sie überrascht. Ich kann sie nicht ansehen. Das Schweigen scheint nicht enden zu wollen, und ich weiß, was sie gerade tut. Sie schaut den Korb an, der auf der Werkbank steht. Und nach einer weiteren Ewigkeit weiß ich, daß sie mich ansieht, dann Keith’ Vater, dann wieder den Korb. Das verrutschte Küchentuch, das den Inhalt nicht mehr verdeckt. Das Ei, das Barbara in ihrer Eile zer brochen hat. Den geöffneten Briefumschlag. »Oh, vielen Dank«, sagt sie ruhig, und letztlich ist gar keine Pause entstanden. »Sind das nicht die Sa chen, die ihr euch für euer Camp ausgeborgt habt?« Sie geht hinüber zur Werkbank, um den Korb an sich zu nehmen. Keith’ Vater stellt ihn wortlos außer Reichweite, beugt sich dann über seine Arbeit und lä chelt sein bewußtes Lächeln. Abermals eine Ewigkeit, dann wendet sie sich wie der an mich: »Schau doch mal nach Keith und mun tere ihn auf«, sagt sie ruhig. Und zu Keith’ Vater sagt sie: »Ich finde, er hat jetzt wirklich genug Mathe ge büffelt.« Was dann passiert, höre ich nicht mehr, denn ich bin schon draußen im Freien. Keith wartet vor der Küchentür gegenüber, das Matheheft in der Hand. Er schaut herüber, offenkundig viel zu erschöpft von sei nem Kampf mit den Matheaufgaben oder zu ver schüchtert durch die Vorgänge in diesem Haus, als daß er überrascht wäre. Ich versuche nicht, ihn auf zumuntern, wie seine Mutter vorgeschlagen hat. Ich sage kein Wort zu ihm, weil ich vor lauter Scham nicht sprechen kann. 223
Ich laufe wieder hinaus auf die Straße. Barbara Berrill wartet dort auf mich, verunsichert und angstvoll. »Der Korb«, flüstert sie und schaut dabei auf meine leeren Hände. »Er hat dir den Korb weggenommen. Was hat er getan? Hat er dich mit dem Rohrstock …?« Aber ich höre sie kaum, weil ich schon losgelaufen bin. Ich laufe nach Hause, zu Mama. Mein Leben ist vorbei. »Ich kann dir nicht helfen«, erklärt meine Mutter zum zehntenmal, »wenn du mir nicht sagst, was los ist.« »Nichts ist los«, erwidere ich kläglich, ebenfalls zum zehntenmal. »Aber ich sehe doch, daß du geweint hast. Schau dich an!« »Ich habe nicht geweint!« »Hat es mit der Schule zu tun? Machst du dir Sor gen wegen der Prüfung? Sagen die anderen Jungen wieder solche Sachen zu dir? Haben sie diese Aus drücke verwendet?« »Nein.« »Hast du dich mit Keith gezankt?« »Nein!« Selbst mein Vater spürt, daß etwas nicht in Ord nung ist. Nach dem Abendessen ruft er mich zu sich und mustert mich traurig und mitfühlend. »Wenn ich könnte, würde ich dir all deine Sorgen abnehmen«, sagt er, »und dir dafür meine geben. Du hast Sorgen, wie sie noch nie jemand gehabt hat, das weiß ich. Meine würdest du nicht so schlimm finden. Anderer Leute Sorgen sind nie so schlimm wie die eigenen.« Mein Vater hat Sorgen? Wenn irgend etwas mich zum Lachen bringen könnte, dann das. Weswegen 224
sollte er sich Sorgen machen? Er hat sein Land doch nicht verraten. Er hat doch nicht bei einem Auftrag versagt, hat auch nicht ein ihm anvertrautes Geheim nis verraten oder einen kranken und hungrigen Men schen in den Tod geschickt. Ihn hat kein üppig süßer Duft gepeinigt, auch nicht jene leise Musik von La morna, und er hat nicht beides verloren. »Die Sorgen von gestern sind aber nie so schlimm wie die von heute«, sagt er. »Und wenn du morgen aufwachst, dann werden deine jetzigen Sorgen die von gestern sein.« Schon möglich, die Schwierigkeit ist nur, es bis morgen zu schaffen. Wie wacht man morgens auf, wenn man überhaupt nicht geschlafen hat? Ich bin noch lange wach, nachdem Geoff schließlich seinen Stapel alter Nackedei-Zeitschriften wieder unter dem Bett versteckt und die Taschenlampe ausgeknipst hat. Ich höre, wie die letzten Züge des Tages hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite vorbeifahren, aus dem Einschnitt herauskommen und zum Bahnhof hinunterrumpeln oder sich in der entgegengesetzten Richtung hinaufmühen, und durchlebe die langen In tervalle dazwischen. Ich stehe auf und stecke den Kopf unter das Verdunkelungsrollo. Zwischen dem Haus der Sheldons und dem der Stotts hängt ein letz tes dünnes Mondlächeln über dem Sonnenuntergang, als wäre Keith’ Vater gerade dort vorbeigekommen. Der Mond hat, genau wie ich, die Seiten gewechselt, seit ich ihn das letztemal gesehen habe. Er ist das Ge genteil seiner selbst geworden. Seine Spitzen zeigen nach Norden statt nach Süden, zwischen ihnen der sterbende Schatten des Vollmonds, den ich zwei Wo chen zuvor gesehen habe. Morgen abend wird er völlig verschwunden sein. 225
In dieser Dunkelheit kann jetzt aber nichts passie ren. Oder doch? Ich gehe wieder ins Bett und beob achte, wie das dünne Dämmerlicht entlang der Rollokante immer schwächer wird. Mitten in der Nacht, wenn normale Züge nicht mehr verkehren, fährt langsam eine Dampflokomotive vorbei, und die bela denen Waggons rumpeln immer noch weiter, als die Lokomotive schon längst in den Träumen anderer Menschen verschwunden ist. Meine Sorgen werden nicht weniger, sondern mehr. Das Durcheinander in meinem Kopf wird immer größer. Mich verfolgt die dunkle Gestalt, die durch die mondlose Nacht fällt und gleichzeitig in einem fremden Land einsam auf der bloßen Erde liegt, am Erfrieren und Verhungern ist. Um ihn herum, seiner Einsamkeit spottend, ist der süße Duft eines ungreif baren Glücks und die leise, melancholische Melodie eines alten traurigen Lieds namens Lamorna. Ich muß dann doch eingeschlafen sein, denn plötz lich bin ich wach und erfüllt von neuer Unruhe: Er liegt dort unten in dieser feuchten, unterirdischen Düsternis im Sterben, und Keith’ Mutter kümmerte sich um ihn, legte die hellen Arme um das entkräftete Gespenst, gerade in dem Moment, als Keith und ich auf das Wellblech über seinem Kopf einschlugen. Ich stehe auf und schleiche mich in das elterliche Schlafzimmer gegenüber, wie ich es immer getan habe, wenn ich als kleines Kind Alpträume hatte. Das Zimmer ist erfüllt von ihrem vertrauten Atmen – dem schweren, ungleichmäßigen Geräusch und der ver brauchten Luft. »Ich hab’ schlecht geträumt«, flüste re ich kläglich, wie früher. Sie atmen unbeirrt weiter. Ich trete ans Fußende des Bettes und krieche vorsich tig unter die Zudecken, bis ich mich in den schmalen 226
Canyon zwischen ihren Rücken zwängen kann. Ich bin wieder zum Kind geworden. Doch das alte Refugium bietet keinen Trost mehr. Die Fleischwände links und rechts bedrängen mich. Der Tiefschlaf meiner Eltern macht mir meine Ein samkeit nur noch schmerzlicher bewußt. Ich liege da, wacher denn je beziehungsweise unsicherer, ob ich überhaupt wach bin. Der sterbende Mann bin jetzt ich. Schlagartig wird mir klar, daß ich eines Tages in einem Sarg liegen werde, tief in der Erde. Derselbe Körper, der jetzt gepeinigt hier im Dunkeln liegt, wird leblos eingezwängt sein zwischen den engen Holzwänden; eingeschlossen von dem Deckel, der auf Brust und Kopf drückt. Zum erstenmal wird mir rich tig bewußt, daß früher oder später der Tag kommen wird, an dem ich tot sein werde, und von diesem Tag an werde ich für immer tot sein. Ich spüre das blinde Grauen, das mich erfaßt. Ich schreie und schreie, aber es kommt kein Ton heraus, denn ich bin tot, liege tief in der Erde. Für immer. Plötzlich Licht, es ist so hell, daß ich die Augen nicht richtig öffnen kann. Durch meine Tränen sehe ich nur, wie sich meine Eltern in hellwacher Bestür zung über mich beugen. »Was ist bloß los, Liebes?« ruft meine Mutter. »Du mußt uns sagen, was los ist!« Ich weine und weine, nach wie vor unfähig, mich zwischen diesen engen Wänden zu bewegen, mich zu erklären, ich kann inzwischen überhaupt nicht mehr sprechen, nicht einmal den Kopf schütteln. Am Morgen stelle ich fest, daß mein Vater recht und unrecht hat. Meine Sorgen sind nicht weniger gewor den – aber zumindest weiß ich jetzt, was ich tun muß. 227
Ich muß noch einmal versuchen, all meine Ver säumnisse wiedergutzumachen – und diesmal muß ich es schaffen. Ich muß hinabsteigen in das Dunkel und dem Ster benden die dringend benötigte Hilfe bringen. Mir wird schlecht bei dieser Aussicht. Der furchtbare nächtliche Traum, wenn es überhaupt ein Traum war, begleitet mich den ganzen Schultag hindurch. In Englisch müssen wir einen Aufsatz schreiben, aber ich vergeude die halbe Zeit, indem ich auf das Papier vor mir starre und mich nicht entscheiden kann, ob ich über das Heim des Engländers schreiben soll, das seine Burg ist, oder über die Freuden des Müßig gangs, denn ich muß immer an die andere Prüfung denken, die mir nach der Schule bevorsteht, wenn ich in das lebendige Grab hinuntersteigen werde. Wenigstens muß man bei dieser Prüfung keine Wahl treffen. Sobald ich zu Hause bin, gehe ich so fort zum Badezimmerschrank und finde die Tablet ten, die mir im letzten Winter verschrieben worden waren. Ich schaue in den Schrank unter der Treppe, wo Geoff und ich während der schlimmsten Bom bennächte schliefen, und finde auf dem Stromzähler und den Sicherungskästen die Päckchen und Konser vendosen, die meine Mutter dort, zusammen mit dem Verbandkasten, für den Notfall deponiert hatte, falls das Haus getroffen würde und wir, wie Miss Durrant, unter den Trümmern begraben wären. Ich nehme eine Büchse Sardinen und eine Dose Kondensmilch, ein Päckchen Kekse und eine Schachtel Eipulver. Wir haben schon lange nicht mehr unter der Treppe ge schlafen, und überhaupt ist mir nicht ganz klar, was Geoff und ich nach Ansicht meiner Mutter mit Ei pulver hätten anfangen sollen. 228
Ich packe all diese Vorräte in meine Schultasche. Für das, was in dem Briefumschlag war, finde ich na türlich keinen Ersatz. Ich werde erklären müssen, was passiert ist. Wird er Englisch verstehen? Wie haben er und Keith’ Mutter sich verständigt? Wenn sie eine deutsche Spionin ist, dürfte sie wohl Deutsch spre chen. Ich versuche sie mir beim Aussprechen dieser berüchtigten Kehllaute vorzustellen … Aber sie ist keine deutsche Spionin, oder? Das alles gehört zu ei ner Vergangenheit, die schon lange hinter mir liegt, nicht wahr? »Ich geh nach draußen spielen«, sage ich zu meiner Mutter. Sie sieht mich prüfend an. »Mit Keith?« fragt sie mißtrauisch. »Nein.« »Wehr dich«, sagt sie. »Laß dir von ihm nichts bieten.« Und wieder mache ich mich auf diese schreckliche Reise. Diesmal ist es noch bedrohlicher, weil ich ja allein bin, und die Ungewißheit am anderen Ende er scheint noch größer, weil der Schatten meines Traums über ihr liegt. Der See im Tunnel ist in dem trockenen Mittsom merwetter zu einer Reihe von Tümpeln geschrumpft. Die Hecken in den Lanes haben ihre feuchte, grüne Frische verloren und sind durch den aufgewirbelten Staub grau geworden. Es ist wieder heiß, wie damals, als ich mit Keith hier war, und die Luft ist ganz still. Diesmal ist aber ein unheimliches gelbes Licht am Himmel und manchmal ein Grummeln, das entweder Donner oder ein Luftangriff irgendwo in der Ferne sein könnte. Hintereinander passiere ich all die entmutigenden 229
Orientierungspunkte. Die Platane mit dem verrotte ten Strick. Das kleine Feld voller Unkraut und Sauer ampfer. Das Brennesselbeet. Der Stiefel. Der kaputte Sessel. Dann das Gebell und die Hunde. Heute sind sie zu viert und auch mutiger, weil ich allein bin, nach Angst rieche. Sie stürzen auf mich zu, einer schnappt nach meiner Hand, zwei schnappen von hinten nach mir. In meiner Panik drehe ich mich so rasch um, daß meine Tasche fast ihre Schnauzen trifft und sie einen Moment zurückweichen. Ich nehme die Tasche von der Schulter und wirbele sie herum. Die Kinder vor den Cottages beobachten mich so ausdruckslos wie zuvor. Eines nimmt einen Stein und wirft nach mir. Ich ducke mich, obwohl ich doch gerade gegen die Hunde kämpfe. Mit jedem Moment mache ich all die Schwächen gut, die ich gezeigt habe. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich außer Sichtweite der Kinder bin und der letzte Hund ein letztes Mal gebellt und sich desinteressiert abgewendet hat. Nun der ausgetrocknete Teich … die überwucherte Kalkgrube … das grüne Unkrautmeer mit den zer brochenen Deichseln, die aufragen wie Spieren eines gesunkenen Wracks … Ich gehe immer langsamer und bleibe stehen. Ich habe das Ziel erreicht. Hier in den Barns, wie anderswo auch, versinkt alles in noch üppigerem Mittsommmergrün als damals. Die Mauerreste und die verbogenen Wellblechplat ten sind schwerer auszumachen. Zögernd trete ich näher, und als ich den säuerlichen Holundergeruch wahrnehme, bleibe ich abermals ste hen. Jetzt kann ich das Mauerwerk und das Wellblech über den Stufen erkennen, die in die Erde hinunter führen. Kein Lebenszeichen. Ich halte den Atem an und horche. Nichts. Nur das gelegentliche Grummeln 230
des fernen Donners und das leise, beiläufige Rattern eines vorbeifahrenden Zuges. Das lebende Grab. Dann, in dem Holundergeruch, registriere ich den schwachen Hauch jenes anderen Geruchs, den ich schon einmal gerochen habe, menschliche Exkremen te auf frisch umgegrabener Erde. Hier lebt noch im mer ein Mensch. Und in der großen Stille, die sich herabsenkt, nachdem der Donner verklungen ist und der Zug in den fernen Bahnhof hinter dem Tunnel eingefahren ist, höre ich dasselbe Geräusch wie schon einmal. Ein leises, unterdrücktes Husten. Ja, er ist noch da, kaum fünf Meter von mir ent fernt. Und jetzt weiß ich natürlich nicht, was ich machen soll. Ich denke an Keith’ Mutter, wie sie aus der Welt des silbernen Schmucks und der silbernen Glocken klänge kommt und die große Weltenleiter hinunter steigt, Sprosse für Sprosse, bis sie schließlich hier steht, wo ich stehe, inmitten des Geruchs von Holun der und Exkrementen – und dann weitergeht, weiter hinab in die Unterwelt. Langsam gehe ich bis zur obersten Stufe vor. Das Husten hört auf. Er hat mich gehört. Die Stufen sind schief und zerfallen. Am unteren Ende, unter dem Wellblech, verschwinden sie im Dunkel. Ich weiß, daß seine Augen mich aus diesem Dunkel heraus beobachten. Ich möchte etwas sagen, um das Schweigen zu bre chen, aber mir fällt nichts ein. Ich nehme die mitgebrachten Sachen aus meiner Tasche und lege sie auf die oberste Stufe. Ich weiß, daß ich auch noch etwas anderes abliefern sollte – eine Nachricht statt des Briefs, den ich verloren habe. Ich 231
sollte erklären, warum sie so lange nicht gekommen ist und warum sie nie wiederkommen wird. Doch das ist unmöglich. Ich habe alles abgeliefert, was ich abliefern konnte. Ich nehme meine Tasche, will gehen, spüre seine Augen auf mir. Und dann, aus dem Dunkel, seine Stimme. Ein ein ziges leises Wort: »Stephen?«
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Begriff Stephen endlich, als er seinen Namen hörte, wer dort unten in dem Dunkel war? Ein halbes Jahrhundert später, als ich versuche, alles zusammenzufügen, habe ich wirklich keine Ahnung, ob er es begriffen hatte. Ich erinnere mich nur an den Schauder, der ihn durchfuhr, als er die Stimme hörte. Ich erinnere mich nur, wie er gelähmt dahockte, die Tasche über der Schulter, und sich weder bewegen noch sprechen, ja nicht einmal denken konnte. »Stephen?« Schon wieder und genauso leise. Es war also je mand, der Stephen erkannt hatte. Jemand, der seinen Namen wußte. »Was machst du hier?« Die Stimme war noch immer leise, aber hart vor Unruhe und Mißtrauen. Nicht die Spur eines auslän dischen Akzents. Er hörte sich nicht wie ein Land streicher an. Der Stimme nach zu urteilen, hätte er ein Nachbar sein können. Ein Lehrer. Ein Verwandter. Und noch immer wußte Stephen nicht, wer es war? Heute frage ich mich, wie diese Gestalt im Dunkeln darüber dachte. Er hat wohl einfach vermutet, daß Stephen Bescheid wußte. Ihm kam vermutlich nicht der Gedanke, daß Stephen eventuell nicht Bescheid wissen könnte. Und bestimmt nicht, daß Stephen es wissen und nicht wissen könnte. 233
»Warum bist du gekommen?« Stephen schaffte es, auf die Dinge zu zeigen, die er auf die Stufe gestellt hatte. »Hat Bobs dich geschickt?« Bobs. Dieser Name, der aus dem Dunkel auftauchte, war noch lähmender als der Klang seines eigenen Namens, denn bis auf Keith’ Vater hatte er nieman den diesen Namen je verwenden hören. Er konnte nicht antworten. Er konnte nicht zugeben, daß er wußte, wer Bobs war. Nicht gegenüber einem alten Landstreicher, der dieses intime Wort aussprach. Ei nem Deutschen. Einem alten Landstreicher und ei nem Deutschen mit einer Stimme, die fast so vertraut war wie die Stimme von Keith’ Mutter. Ich erinnere mich, daß das Husten wieder einsetzte und Stephen allen Mut zusammennahm und hoch schaute und in das Dunkel sah, das nun etwas weniger dunkel war. Er sah ein Gestrüpp aus dunklem Haar schopf und Bart, dessen zottelige Umrisse sich be wegten, als der Mann hustete. Für einen kurzen Mo ment sah Stephen das Helle in den Augen, die ihn beobachteten. Der Mann saß auf der Erde, in einem Wirrwarr von Decken und Säcken, mit dem Rücken an der Wand der unterirdischen Kammer. Begriff Stephen wirklich nicht, wer es war? Ich glaube, er hielt den Mann noch immer für einen alten Landstreicher, aber vielleicht wurde ihm bewußt, daß es doch kein alter Landstreicher war. Ich bin mir ziemlich sicher, daß er noch immer an der Grundthe se festhielt, daß der Mann auch ein Deutscher war. Aber vielleicht ahnte er nun allmählich, daß es sich um einen Deutschen handelte, der ganz und gar Eng länder war. 234
Der Hustenanfall geht vorüber, und als die Stimme wieder spricht, klingt sie weicher und weniger provo zierend: »Sie kann nicht kommen?« Ich schüttele den Kopf. »Gibt es einen Brief? Hast du einen Brief mitge bracht?« Wieder Kopfschütteln. Er seufzt. »Warum kann sie nicht kommen?« Wie soll ich das je erklären können? »Sie kann eben nicht.« Erneutes Schweigen, dann wird die Stimme noch leiser: »Hat sie Probleme?« Wieder reagiere ich nicht. Wieder versteht er, was ich sagen will. Wieder seufzt er: »Ted?« Ich habe Keith’ Mutter diesen Namen sagen hören, so wie ich ihn ihren Namen habe sagen hören. Aber es ist kaum zu begreifen, daß Keith’ Vater ein so schlichtes menschliches Attribut wie einen Namen besitzt, und vollends unmöglich, darauf zu reagieren, wenn dieser Name, wie der Name von Keith’ Mutter und auch der meine, aus dem fremden Dunkel kommt. Ich schaue zu Boden. Der Mann gibt einen Laut von sich, der wie leises Stöhnen klingt. »Das tut mir leid«, sagt er, noch lei ser. »Kannst du ihr das ausrichten?« Noch immer keine Reaktion von mir, doch diesmal ist er nicht so sicher, was mein Schweigen zu bedeu ten hat. »Ja?« hakt er nach. »Richtest du ihr das aus?« Ich nicke, wie ich schon die anderen Male genickt habe, weil ich nichts anderes tun kann, auch wenn ich nicht weiß, wie ich es je schaffen soll, ihr etwas auszu richten. »Und sag ihr …« Er hält inne. »Sag ihr …« Wieder hustet er, doch selbst als er aufhört, kann er 235
nicht sprechen. Mir ist, als zitterte er. »Nein, sonst nichts«, sagt er schließlich. »Es ist also vorbei. Es ist vorbei.« Schweigen. Ich hocke noch immer auf der Stufe, meine Knie sind schon ganz steif. Habe ich meinen Auftrag erledigt? Habe ich alles erklärt, was ich erklä ren kann? Hat er mir alles gesagt, was er mir sagen kann? Kann ich entkommen? Das Schweigen dauert und dauert. Er scheint nichts weiter sagen zu wollen. Ich stehe auf. »Geh nicht«, sagt er sofort, und in seiner Stimme ist der gleiche Ton, den ich bei Keith’ Eltern gehört habe – die Anordnung, in der etwas Bittendes an klingt. »Bleib einen Moment und rede mit mir. Es wird ein bißchen eintönig, wenn man hier so liegt. Man sieht immer nur dieses bißchen Grün am oberen Ende der Treppe. Man kann nichts anderes tun als denken. Bekommt ein merkwürdiges Bild von der Welt … Setz dich.« Ich setze mich auf die oberste Stufe, immer noch ohnmächtig und gehorsam gegenüber der Autorität Erwachsener. »Warum du?« fragt er. »Warum hat sie dich ge schickt?« Ich zucke mit den Schultern. Wie soll ich das er klären? »Scheinst ja bisher viel Unsinn angestellt zu haben. Hast die Nase in Dinge gesteckt, die dich nichts an gehen. Das war nur ein Spiel, ja?« Ich schweige. Das ist unmöglich zu erklären! »Also? Wieder so ein Spiel? Was hat sie dir ge sagt?« »Nichts.« »Nichts. Aber du bist hergekommen.« 236
Wieder fällt mir keine Antwort ein. Ja, ich bin ge kommen. »Also, wirst du es weitererzählen?« Ja. Nein. Ich weiß nicht, was ich tun werde. »Ja oder nein?« fragt er beharrlich. Ich bringe ein Schulterzucken zustande. »Was heißt das jetzt?« »Nein«, murmle ich. Plötzlich überwältigt mich das eigentümlich Traumartige dieser Situation. Ich verhandle mit einem al ten Landstreicher. Ich werde von einem Deutschen zu Geheimhaltung verpflichtet. In einer holunder überwucherten Erdgrube, an einem schwülen Som mernachmittag, der nach Gewitter aussieht. Und das Allereigentümlichste ist, daß es überhaupt nicht ei gentümlich ist. Dieser Holunder, diese kaputten Zie gelsteine, diese Grube, dieser drückende Tag, dieser kranke Mann, all das hat etwas ganz und gar Ge wöhnliches. »Wie geht’s Milly?« fragt der Mann. »Gut«, sage ich schulterzuckend. Er kennt alle unsere Namen. Mich erfaßt ein kalter Schauder bei dem Gedanken, daß ein Deutscher, ein Feind, der aus dem Nachthimmel gefallen ist und un sere Sprache so gut wie wir spricht – daß er alles über uns und unser Leben weiß, als wäre er einer von uns. Er hat im Dunkeln an unseren geheimsten Orten ge sessen und uns beobachtet. Er hat sich unsichtbar wie ein Geist unter uns bewegt und sich alle Namen und Gesichter eingeprägt. »Und wie geht’s …?« Er hält inne. Anscheinend versucht er, sich an einen anderen Namen zu erin nern. »… Millys Mutter?« sagt er schließlich. Ich gebe die gleiche Antwort. 237
Seine Stimme ist so gewöhnlich, so vertraut. Aber er selbst ist alles andere als gewöhnlich oder vertraut! Er ist ein alter Landstreicher, verdreckt und bärtig. Und er ist ein Deutscher! Sein Deutschsein liegt in der Luft, ist so sehr Teil seiner Identität wie das Mörderische bei Mr. Gort, so prägend wie der Ligu stergeruch in meinem Leben, so unhygienisch wie die Bakterien, die er verbreitet. »Ich habe die Hunde bellen hören«, sagt er. »Hast du keine Angst vor ihnen?« Wieder zucke ich mit den Schultern. »Wenn ich also sagen würde, hier, nimm diesen Eimer, geh an den Hunden vorbei und hol mir Was ser von dem Brunnen hinter den Cottages …« Ich nicke. Er macht aber keine Anstalten, mir einen Eimer zu geben. Er lacht. »Ja, du würdest tatsächlich gehen. Du würdest sofort losrennen. Damit du hier wegkommst. Du würdest gehen, aber nicht zurückkommen.« Ich sage nichts. Er hat für mich geantwortet. »Armes Kerlchen«, sagt er mit veränderter Stimme. »Aber so geht’s zu im Leben. Du läßt dich auf ein Spiel ein, du bist der Tapfere, der große Held. Das Spiel geht weiter und weiter, es wird immer schreck licher, und irgendwann hast du keine Lust mehr, weil du nicht andauernd tapfer sein kannst. Und eines Nachts passiert es dann. Du bist da oben in der Dun kelheit, fünfhundert Meilen von zu Hause entfernt, und plötzlich ist das Dunkel auch in dir. In deinem Kopf, in deinem Bauch. Du hast abgeschaltet, wie ein stotternder Motor. Du kannst nicht denken, dich nicht bewegen. Du siehst nichts, hörst nichts. Alles geht unter in diesem großen Angstschrei im Dunkeln, und der Schrei nimmt kein Ende, er kommt aus dir.« 238
Jetzt weint er. Zwischen einem Wort und dem nächsten, unvermittelt. An jedem anderen Ort auf der Welt wäre ich jetzt lieber, aber natürlich muß ich warten. »Die anderen müssen dich also nach Hause brin gen«, flüstert er. »Eigentlich sind sie genauso fertig wie du, aber irgendwie müssen sie die Nerven bewah ren und dich nach Hause schaffen, sie haben dir ver traut, und du hast versagt. Und später konntest du ih nen nicht mehr ins Gesicht sehen, nicht mehr mit ihnen zusammensein. Von diesem Tag an bist du ein Ausgestoßener. Es gibt nirgends mehr einen Platz für dich.« Er zittert wieder, so daß sein Weinen eigentümlich zittrig klingt. Allmählich legt sich der Anfall. »Alles ist aus, ja?« sagt er, die Stimme wieder fest, aber sehr leise und flach. »Ich habe es immer gewußt. Früher oder später mußte es ja vorbei sein.« Hinter den Bäumen fährt ein Zug vorbei. »Das ist der einzige Grund, weshalb ich nicht den Verstand verliere«, sagt er. »Das Geräusch der Züge. Ich liege hier und warte darauf. Jede Stunde drei in der einen Richtung, drei in der anderen Richtung. Hinunter zu den Häusern am Close. Und hinaus in die große weite Welt. In all diesen Zügen fahre ich mit. Hinunter zum Close. Und hinaus in die Welt.« Er hustet wieder und zittert. »Los, geh schon. Reich mir nur die Sachen runter, die du mitgebracht hast.« Ich sehe seine weiße Hand, im Dunkeln ausge streckt, wartend. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Um unter das Wellblechdach zu kom men, muß ich mich ducken, dabei falle ich beinahe kopfüber in die Grube. Ich verdecke das wenige Licht, 239
das hereinfällt, und das einzige, was ich registriere, ist der Geruch. Es ist eine Mischung aus feuchter Erde, Moder, alter Sackleinwand, verschimmelten Nah rungsmitteln, Krankheit und den muffigen Ausdün stungen, wie sie die alten Männer verströmen, die den ganzen Tag lang im Lesesaal der Bücherei über einer Zeitung vor sich hin dösen. Ich stelle die Sachen neben ihm auf die Erde, sehe ihn noch immer nicht an, versuche, die Bakterien nicht einzuatmen. Doch als ich mich wieder umdrehe, um zu gehen, bemerke ich aus den Augenwinkeln, daß mich aus dem dunklen Gestrüpp von Haaren und Bart zwei fiebrige Augen beobachten. »Warte, warte!« sagt er. Ich warte, die Augen jetzt sehnsüchtig auf das Ta geslicht am oberen Ende der Treppe gerichtet. Ich muß einatmen. Ich spüre, wie die Bakterien in mei nen Körper eindringen. Hinter mir höre ich das Ge räusch eines kritzelnden Bleistifts auf Papier. Eine Pause. Dann das Geräusch, wie das Papier vom Block abgerissen und zerknüllt wird. Wieder Kritzeln. Wieder wird das Papier zerknüllt und weggeworfen. Er seufzt. »Sinnlos! Aber sie soll doch etwas von mir haben …« Schweigen. Mich scheint er vergessen zu haben. Ich bewege mich zur Treppe. »Es war ja immer nur sie«, sagt er leise. Ich bleibe stehen. »Von Anfang an. Nur sie.« Wieder Schweigen. Ganz still unternehme ich ei nen neuen Versuch, mich zu entfernen. »Warte!« sagt er sofort wieder. »Hier. Nimm das für sie mit!« Ich drehe mich um, versuche ihn nicht direkt anzu sehen. Er greift nach etwas, das um seinen Hals ge 240
wickelt ist. Er faltet es mehrfach zusammen und hält es mir hin. Widerstrebend trete ich näher und nehme es. Es ist weich und seidig und von seinem fiebrigen Körper gewärmt. »Nur damit sie etwas hat«, flüstert er. »Und sag ihr … sag ihr … ach … nichts, nichts. Gib es ihr ein fach. Sie wird schon verstehen.« Schon bin ich draußen im Licht, auf der zerfallenen Treppe, schnappe meine Tasche und stopfe das gefal tete seidige Etwas hinein. »Stephen!« ruft er, während ich schon in Richtung Lanes loslaufe. »Stephen! Sag ihr ›für immer‹, ja? ›Für immer‹.« Irgendwo in der Ferne zucken Sommerblitze tief am Himmel. Vor mir fangen schon die Hunde an zu bellen. Für immer. Die beiden Wörter hallen leise in meinem Kopf, so wie zuvor Lamorna. Lamorna klang wie Wellen, die leicht ans Ufer schlagen; für immer klingt wie ein Schlüssel, der sich leise in einem gutgeölten Schloß dreht. »Es ist vorbei«, sagte er. »Für immer.« Etwas wird in die Vergangenheit weggeschlossen, so wie Keith und ich unsere geheimen Besitztümer in die Kiste einschließen, so wie ich eines Tages in mei ner engen Kiste eingeschlossen sein werde. Dieses Etwas, sagte er, sei schon immer so gewesen, von Anfang an. Und ich bin dazu ausersehen, den Schlüs sel umzudrehen. Für immer. Wenn ich ihr nur diese beiden Wörter überbringen kann, können wir verges sen, daß all das geschehen ist. Alles kann so sein wie früher. 241
Was wird aus ihm werden, dort unten in seinem Grab unter dem Holunder? Ich weiß es nicht. Es ist mir egal. Ich muß mir nicht den Kopf darüber zer brechen, denn was immer passiert, es wird bald pas siert sein, und dann ist es Vergangenheit. Für immer. Die ganze Nacht gehen mir die Wörter im Kopf herum, so verführerisch leicht wie der Schlüssel im Vorhängeschloß unserer Kiste. Am nächsten Tag in der Schule, während der schriftlichen Arbeiten in Geometrie und Französisch, spüre ich das heimtük kisch weiche Seidenbündel in meiner Tasche. Es ist blaßgrün, braungesprenkelt und von unregelmäßig schwarzen Linien durchzogen. Es sieht wie eine Landkarte aus, und mit einem Blick erkenne ich, auch ohne es auseinandergefaltet zu haben, daß deutsche Namen darauf stehen: »Chemnitz … Leipzig … Zwi ckau …« Es ist eine Karte seines Heimatlands – das letzte Überbleibsel aus seinem alten Leben. Mehr will ich nicht sehen, und auch über das unverhüllt Deut sche des Tuchs will ich nicht nachdenken. Ich will es ihr einfach geben und den Schlüssel mit diesen drei weichen Silben umdrehen. Die Frage ist nur, wie? Ich kann nicht einfach an der Tür klopfen. Was, wenn Keith aufmacht? Oder sein Vater in Hörweite ist? Mir fällt nichts anderes ein, als in unserem Versteck auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Sie wird ah nen, daß ich eine Nachricht für sie habe. Sie wird schon eine Möglichkeit finden, herüberzukommen. Doch als ich in das Versteck krieche, fällt mir sofort die Veränderung auf. PREVAT verkündet die Kachel am Eingang. Die Blätter und zerbrochenen Zweige auf der Erde sind weggefegt. Ein altes Staubtuch liegt über der Blechkiste, und auf dem Staubtuch steht ein Mar meladeglas mit einem Strauß welker Ligusterblüten. 242
Auf einmal registriere ich wieder die üppige Süße in der Luft, und das leise Murmeln von Lamorna erfüllt meinen Kopf. Eine Woge der Erregung steigt in mir auf bei dem Gedanken daran, daß Barbara allein hier war, ihr Zeichen hinterlassen hat. Der Woge der Er regung folgt augenblicklich eine Woge der Panik und der Entrüstung über ihre Anmaßung. Ich nehme das Marmeladeglas und den Staublappen von der Kiste, bevor Keith kommt und es entdeckt. Allmählich legt sich meine Panik. Keith wird nicht kommen. Dieser Teil meines Lebens ist vorbei, es gibt kein Zurück. Ich lege das Tuch wieder auf die Kiste, stelle das Glas wieder hin und fange an, das Haus zu beobachten. Auch dort hat sich etwas geän dert. Neben der Haustür, in der vollkommenen Ord nung des Gartens, bemerke ich eine gewisse Unord nung, ein fremdes Objekt, das noch nie dort war: ein Kinderwagen. Ich bin auf der Stelle alarmiert. Nie habe ich Tante Dee oder Milly im Haus gesehen, wenn ich bei Keith war. Ich versuche mir vorzustellen, wie Tante Dee in mitten der Stille und des ehrwürdigen Uhrengeläuts ihr fröhliches Lachen lacht … oder Milly ihr klebri ges Gesicht in dem feinen Samtpolster verbirgt … Wieder höre ich die Stimme aus der Dunkelheit unter der Erde meinen Namen flüstern. Ich ver schließe mich gegen die Erinnerung. Ich muß über diese Dinge nicht nachdenken, da sie bald für immer verschwunden sein werden. Ich muß nur warten, nicht nachdenken. Die Haustür geht auf, und Tante Dee kommt mit Milly auf dem Arm heraus. Milly weint. Keith’ Mut ter erscheint in der Tür und sieht schweigend zu, wie Milly im Kinderwagen angeschnallt wird. Sie steht 243
noch immer schweigend in der Tür, während Tante Dee den Kinderwagen zum Gartentor schiebt, läuft dann aber los und sagt etwas zu ihr. Tante Dee bleibt stehen und hört mit gesenktem Kopf zu. Milly heult lauter denn je. Keith’ Mutter läuft zurück zur Haus tür. Tante Dee läuft ihr hinterher. Beide stehen vor der Tür und sprechen miteinander, während Milly am Gartentor heult. Tante Dee hält die Hände erst vors Gesicht, dann über die Ohren. Mrs. Avery kommt langsam die Straße herauf. Sie trägt einen schweren Sack Kartoffeln. Sie überquert die Straße und beugt sich tröstend zu Milly herunter. Tante Dee kommt den Gartenpfad herunter, lächelt Mrs. Avery zu. Keith’ Mutter steht lächelnd in der Tür. Mrs. Avery geht wieder über die Straße und weiter zu ihrem Haus. Tante Dee lächelt nicht mehr. Sie nimmt die heulende Milly und eilt, gesenkten Kopfs, den Kinderwagen vor sich her schiebend, fast im Laufschritt ihrem Haus entgegen. Keith’ Mutter geht unschlüssig den Gartenweg hin unter, merkt dann, daß Keith’ Vater sie von der Tür aus beobachtet, und tritt nun auf die Straße, um Tante Dee zu folgen. Keith’ Vater kommt an das Gartentor und inspiziert, wie immer pfeifend, die Rosenstöcke. Als Keith’ Mutter vor Tante Dees Haus steht, ist die Tür schon zu. Sie klopft und wartet. Sie klopft ein zweites Mal. Und wartet. Keith’ Vater geht, noch immer pfeifend, wieder ins Haus. Keith’ Mutter kehrt um, geht die Straße hinauf. Mrs. McAfee kommt ihr entgegen. Sie lächelt. »Ihre Ena Harkness sind wirklich eine Zierde für die Stra ße!« sagt sie. Keith’ Mutter erwidert das Lächeln. »Ted kümmert sich sehr um den Garten«, sagt sie. 244
Sie geht den Weg hinauf, ruhig und gelassen wie immer. Und wie immer gepflegt gekleidet, um den Hals ein anderes Seidentuch, diesmal dunkelrot statt blau. Die Haustür fällt ins Schloß. Ich fühle das Seiden bündel in meiner Tasche, habe aber das Gefühl, daß ich nie imstande sein werde, die Nachricht zu über bringen. Wieder hat sich alles verändert, für immer verändert. In bezug auf Keith habe ich mich geirrt. Als ich nach dem Abendessen in das Versteck zurückkrieche, war tet er dort schon auf mich. Mit untergeschlagenen Beinen sitzt er gedanken verloren auf dem gefegten Erdboden. Es muß minde stens zwei Wochen her sein, seit er das letztemal hier war, aber er schaut beiläufig zu mir auf, als wären es nur ein paar Stunden gewesen. Er erklärt auch nicht, warum er sich nicht hat blicken lassen oder warum er jetzt wieder auftaucht. Sein Blick, starr und grübelnd, ist auf den Gegenstand in seiner Hand gerichtet. Es ist das Bajonett. Die Kiste ist geöffnet. Auf der Erde daneben liegt das Staubtuch, das über dem Deckel gelegen hatte, das Marmeladeglas mit den Ligusterblüten und die Kachel mit der Aufschrift PREVAT. Natürlich. Im Grunde war mir die ganze Zeit klar, daß er früher oder später zurückkommen würde. Ich spüre die Scham in meinem Gesicht und dann ein an deres, noch unangenehmeres Gefühl in den Händen, im Hals und tief im Magen. Angst. Mir ist sofort bewußt, daß es eine Möglichkeit gibt, eine einzige Möglichkeit, die drohende Strafe abzu wenden. Ich kann ihm das Halstuch zeigen. Es ist in 245
meiner Hosentasche. Deshalb bin ich ja zurückge kommen: um es in der Kiste zu verstauen. Ich werde es vor ihm auf der Erde ausbreiten und sagen, daß ich das Problem gelöst habe, das er uns ge stellt hat. Ich habe das Geheimnis aufgedeckt, mit dem wir uns gemeinsam beschäftigt haben. Ich werde ihm einfach erklären: »Es ist eine geheime Nachricht für deine Mutter. Von dem alten Landstreicher in den Barns. Er ist Deutscher. Er ist krank. Deine Mut ter hat ihn an ihre Brust genommen.« Aber ich tue es nicht. Ich zeige ihm nicht das Hals tuch, weil es nicht gezeigt werden kann. Ich sage nicht die Worte, weil sie nicht gesagt werden können. Er wendet die Augen vom Bajonett und sieht mich zum erstenmal an. Seine Augen sind kalt. »Du hast ihr unsere Sachen gezeigt«, sagt er leise. »Nein!« rufe ich. Zu spät wird mir bewußt, daß er gar keinen Namen genannt hat und ich nicht hätte zu erkennen geben sollen, daß ich weiß, wen er meint. Er blickt zu der Kachel und der Dekoration, die er von der Kiste entfernt hat. »Ja, aber ich habe ihr nicht gezeigt, was drin ist!« rufe ich. So war es doch! Sie hat nur einen Blick hin eingeworfen. Und ohnehin kann er nicht erkennen, daß die Kiste jemals geöffnet wurde. Er lächelt dünn, wie sein Vater. »Bestimmt!« rufe ich, fast in Tränen vor Aufrich tigkeit. »Wirklich! Ehrlich!« Er beginnt, leicht zu nicken, langsam und bedäch tig, als wollte er die Sekunden bis zu meinem Ge ständnis zählen. »Du hast es geschworen, Freund chen«, sagt er. »Ich weiß, und ich hab’ auch nichts getan!« Plötzlich hebt er das Bajonett und hält es mir vors 246
Gesicht. Er sieht mir direkt in die Augen, und jetzt lächelt und nickt er auch nicht mehr. »Schwöre!« Ich lege, wie schon einmal, die Hand auf die Klinge. Und spüre, wie schon einmal, auf der Haut die elek trisierende Schärfe. »Ich schwöre«, sage ich. »Daß ich den feierlichen Eid, niemandem unsere geheimen Sachen zu zeigen, nicht gebrochen habe.« Gesenkten Blicks spreche ich die Worte nach. Ich habe den Eid doch nicht gebrochen! Ich habe nie mandem unsere Sachen gezeigt! »So wahr mir Gott helfe«, wiederhole ich und sehe Keith noch immer nicht an. »Sonst soll mir die Kehle aufgeschlitzt werden.« Schließlich schaffe ich es, die Augen zu heben. Er holt etwas aus der Kiste und hält es hoch, damit ich es sehe. Es ist die flachgedrückte Schachtel Players. Sei ne Augen sind weiterhin auf mich gerichtet. Mein Gesicht brennt vor Scham. »Es war … Ich …« stammele ich. »Sie muß den Schlüssel gefunden haben.« Plötzlich ist sein Gesicht dicht vor meinem, er lä chelt, und ich spüre die Spitze des Bajonetts an mei ner Kehle. »Du hast geschworen«, flüstert er. »Zwei mal sogar.« Ich bringe kein Wort heraus. Meine Stimme ist wie eingeschnürt, entweder vor Angst oder wegen des Messers, das gegen meine Luftröhre drückt. Ich ziehe den Kopf ein wenig zurück. Das Bajonett folgt der Bewegung und drückt noch mehr. »Du hast gesagt: So wahr mir Gott helfe«, flüstert Keith. »Du hast gesagt: Sonst soll mir die Kehle auf geschlitzt werden.« Ich kann nicht sprechen. Ich kann mich nicht be wegen. Ich kann nur starr vor Angst dasitzen, wäh 247
rend der Druck der Klinge an meiner Luftröhre all mählich zunimmt. Keith wird mir nicht die Kehle aufschlitzen, soviel weiß ich. Aber doch die Haut ein ritzen, so daß die Bakterien auf der Klinge in meine Blutbahn gelangen. Ich kann die Augen nicht von diesem Lächeln wenden, eine Handbreit vor meinem Gesicht. Es nähert sich langsam wie das Gesicht Bar bara Berrills, als sie mich küßte. Seine Augen schauen in meine. Es sind die Augen eines Fremden. Der Druck der Klinge nimmt allmählich zu. Und plötzlich bin ich keineswegs mehr sicher, daß er ir gendwann aufhören wird. »Und dann hast du ihr alles gezeigt«, flüstert er. Ich weiß, daß mir Tränen des Schmerzes und der Ernied rigung in die Augen treten, und außerdem spüre ich noch etwas Feuchtes in der Gegend der Bajonettspit ze. Das hervorquellende Blut, das sich mit den Bakte rien verbindet. Und nun überlege ich, daß ich ihr tat sächlich unsere geheimen Sachen gezeigt habe, auch wenn mir plötzlich gar nicht klar ist, ob Keith Barba ra Berrill meint oder vielleicht seine Mutter. Ich habe das merkwürdige Gefühl, daß wir über beide spre chen – daß das Vergehen, für das er mich bestraft, gar nicht meines ist, sondern in seinem Haus verübt wur de. Und noch in meiner abgrundtiefen Angst wird mir plötzlich klar, wo er diese besondere Form der Folter mit diesem besonderen Werkzeug gelernt hat und warum seine Mutter trotz Sommerhitze dazu übergegangen ist, diese Halstücher zu tragen, die ihr bis ans Kinn reichen. Ganz langsam verstärkt sich der Druck an meiner Kehle. Ich muß nur den Schal herausholen und ihn Keith geben, so wie ich seinem Vater den Korb gege ben habe … 248
Aber das geht nicht. Ich kann nicht zulassen, daß Keith diese unverhüllt privaten Worte dieses leben den Gespensts sieht, auf Seide an seine Mutter über mittelt. Chemnitz … Leipzig … Zwickau … Ich darf sie niemandem zeigen! Sowohl Keith zuliebe als auch ihr zuliebe. Ich kann ihm nicht zeigen, was Spionage wirklich bedeutet – die Angst, die Tränen, die seidi gen geflüsterten Worte. Chemnitz … Leipzig … Zwickau … Würden diese Namen ausgesprochen, käme vielleicht noch ein wei terer Name hinterher, der Keith für immer beschä men würde, ein Name, den zu denken ich mir nicht einmal erlaubt habe. Jetzt lächelt er nicht mehr. Sein Blick ist gespannt, die Zungenspitze im Mundwinkel, so wie er es immer macht, wenn er sich beim Modellbauen auf ein schwieriges Detail konzentriert. Die Nässe rinnt den Hals hinunter bis in mein Hemd. Ich registriere ein Wimmern, das offenbar von mir kommt. Und so hocken wir da, ineinander verstrickt in der Logik der Folter. Wir werden für immer hier sein. Meine Hand würde sich bewegen und ihm das Hals tuch geben, wenn sie könnte. Aber sie kann nicht. Bei seinem Vater habe ich nachgegeben. Ein zweites Mal werde ich nicht nachgeben. Und dann ist es vorbei. Der Druck am Hals läßt allmählich nach und verschwindet ganz. Daß ich die Augen geschlossen hatte, merke ich erst, als ich sie wieder öffne, um zu sehen, was los ist. Keith hat sich wieder hingesetzt und betrachtet das Blut auf dem Bajonett. Er säubert es sorgfältig an der Erde. »Mach, was du willst«, sagt er kalt. »Spiel mit dei ner Freundin, wenn du willst. Ist mir doch egal.« Er sieht mich verächtlich an. 249
»Was flennst du so?« sagt er. »Das hat doch nicht weh getan. Wenn du meinst, es hat weh getan, dann weißt du nicht, was Schmerz ist.« Aber ich weine nicht. Ich habe Tränen in den Au gen, und mein Atem ist ein stoßweises Keuchen, aber von Weinen kann nicht die Rede sein. Keith zuckt mit den Schultern. »Alles deine Schuld, Freundchen.« Er kramt in der Kiste herum und holt ein Stück Schmirgelpapier heraus, das zum Polieren des Bajo netts dient. Er hat offenkundig das Interesse an mir verloren. Mein Atem normalisiert sich allmählich. Ich lebe noch, und die aufdringliche Süße des Ligusters steigt mir wieder in die Nase. Keiner von uns beiden sagt noch etwas. Es gibt nichts zu sagen. Und das Halstuch ist immer noch in meiner Ta sche. Er hat die Nerven eine Spur eher verloren als ich. Schon wieder hat sich die Welt verändert. Und wieder, denke ich, für immer. Ich versuche, unauffällig ins Haus zu schlüpfen. Den obersten Hemdknopf habe ich geschlossen, aller dings reicht der Kragen nicht so hoch wie das Hals tuch von Keith’ Mutter, und sowieso weiß ich, daß das Blut auf den Kragen getropft ist und sich allmäh lich ein dunkler Fleck darunter gebildet hat. Mein Plan ist, hinauf ins Badezimmer zu gehen und ein Pflaster über die Wunde zu kleben, damit das Bluten aufhört, und dann das Hemd irgendwie im Becken zu waschen. Ich bin schon auf der Treppe, als meine Mutter aus der Küche kommt. »Wo warst du bloß?« fragt sie. »Was ist eigentlich 250
los? Deine Schultasche ist noch genau dort, wo du sie nach der Schule hingestellt hast. Du hast morgen eine Klassenarbeit! Du mußt lernen!« Doch bevor ich eine Chance habe, auf ihre Fragen zu antworten, hat sie schon den Zustand meines Hemds gesehen. »Was ist das denn?« sagt sie, noch ungehaltener. »Dieser rote Fleck! Doch nicht etwa Farbe! Mein Gott, Stephen! Wie soll ich die Farbe rauskriegen? Das ist dein Schulhemd!« Plötzlich tritt sie näher. »Dein Hals …« sagt sie. Sie packt meinen Arm und führt mich ins Eßzim mer, wo mein Vater, die Brille auf der Nase, am Tisch sitzt, seine Papiere vor sich ausgebreitet. »Sieh mal!« ruft sie. »Sieh dir das an! Ich wußte, etwas ist passiert! Du mußt dafür sorgen, daß das auf hört!« Mein Vater knöpft vorsichtig meinen Hemdkragen auf und sieht sich meinen Hals an. »Wer war das, Stephen?« Ich schweige. »Doch nicht etwa Keith?« fragt meine Mutter. Ich schüttele den Kopf. »Einer von den anderen?« Wieder schüttele ich den Kopf. Mein Vater bringt mich nach oben ins Badezimmer. »Es gefällt mir nicht, wenn Menschen schikaniert werden«, sagt er. »Davon habe ich in meinem Leben zuviel gesehen.« Er läßt Wasser in das Becken ein und wäscht die Wunde mit einer Sanftheit aus, die ich bei ihm noch nie erlebt habe. Meine Mutter schält mich aus dem blutbefleckten Hemd. Das Halstuch fällt zu Boden, 251
aber ich rette es sofort, verberge es zusammenge knüllt in der Hand. Geoff taucht neugierig aus unserem Zimmer auf und sieht von der Tür aus zu, während sich die roten Fäden im Wasser auflösen wie umgekehrter Zigaret tenrauch. »Was ist denn passiert, Kleiner?« fragt er. »Klei ner« ist sein neuester Lieblingsausdruck. »Wolltest du dir die Kehle aufschlitzen?« »Wenn es Keith war«, sagt meine Mutter zu mei nem Vater, »mußt du mit seinen Eltern reden.« »Das war kein Spiel«, sagt mein Vater, und betupft sanft meinen Hals. »Der Einstich geht fast bis zur Luftröhre. Er hätte die Schlagader treffen können.« »Du mußt uns sagen, wer es war, Liebes«, sagt meine Mutter. »Das hat nichts mit Verpetzen zu tun.« Ich schweige. »Er kann nicht sprechen«, sagt Geoff. »Sie haben ihm die Stimmbänder durchgeschnitten.« »Halt dich raus, Geoff!« sagt mein Vater. »Hol lie ber den Verbandskasten aus der Kommode unter der Treppe.« Er hält ein Stück Verbandwatte auf die Wunde und wartet, bis die Blutung aufhört. »Erzähl uns, was pas siert ist, Stephen.« Schweigen. »War es eines der Kinder? Was haben sie gesagt? Haben sie dich wieder verspottet? Haben sie wieder diese Ausdrücke verwendet?« Schweigen. »Oder war es ein Erwachsener?« Ich schweige weiter. Mir kommt der Gedanke, daß ich nie mehr zu sprechen brauche. 252
»Wo war es? Auf der Straße? Bei jemandem zu Hause?« »Bitte, Liebes«, sagt meine Mutter. »Das hätte leicht eine böse Verletzung werden können.« »Du wärst vielleicht hopsgegangen, Kleiner«, sagt Geoff, der mit dem Verbandkasten zurückkommt. »Ir gend jemand hat übrigens die Notrationen stibitzt.« »Warum kannst du uns nicht sagen, was passiert ist?« fragt mein Vater freundlich und vernünftig, wie es seine Art ist. »Haben sie gesagt, daß du nichts er zählen sollst? Haben sie dich bedroht?« Schweigen. »Stephen, was ist sonst noch passiert? Ist noch et was anderes passiert?« »Vielleicht war es dieser Triebtäter«, sagt Geoff. »Der Kerl, der sich nachts hier herumtreibt.« »Stephen«, sagt mein Vater, sehr langsam und be dachtsam, »es gibt Menschen auf der Welt, denen es Vergnügen bereitet, anderen weh zu tun. Manchmal tun sie Kindern weh. Sie stellen Dinge an, die dem Kind angst machen. Wenn dir so etwas passiert ist, mußt du es uns sagen.« »Er hat alle Rationen mitgenommen«, sagt Geoff. »Und dann hat er Stevie die Kehle zerschlitzt, damit er nichts verrät.« Mein Vater pinselt Jod auf die Wunde. Das tut sehr viel mehr weh als das Bajonett. Ich zucke zusammen und schreie auf. Mein Vater nimmt einen Verband aus dem Kasten und wickelt ihn mir um den Hals. »Oder hast du die Rationen weggenommen, Ste phen?« fragt er ganz leise. Ich weine stumm, weil es so weh tut. »Wolltet ihr in eurem Camp damit spielen?« fragt er weiter. »Oder hast du sie jemandem gegeben? 253
Jemandem auf der Straße? Jemandem, der dich um etwas zu essen gebeten hat?« »Der alte Landstreicher wahrscheinlich«, sagt Geoff. »Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich mit dir schimpfe, Stephen. Es wäre ja eine gute Tat gewesen. Ich muß es nur wissen.« »Es ist dieser alte Landstreicher, der sich in den Barns versteckt«, sagt Geoff. »Ich dachte, sie hätten ihn abgeholt«, sagt meine Mutter. »Ich dachte, sie hätten ihn nach dieser Ge schichte mit dem kleinen Jungen ins Gefängnis ge steckt.« »Vielleicht ist er wieder draußen. Vielleicht ist er der Triebtäter.« »War es der Landstreicher, Stephen?« fragt mein Vater. Ich schüttele den Kopf. Ich will sagen »Nicht der Landstreicher. Nicht die Barns«, bringe aber keine Wörter heraus, kann nur heulen, so kindisch wie Mil ly in ihrem Kinderwagen. Ich verhalte mich genauso wie dieses arme Gespenst in seinem Grab – einmal tapfer, zweimal tapfer, aber nicht für immer. Mein Vater legt den Arm um mich. Meine Mutter streicht mir übers Haar. »Armes Kerlchen«, sagt Geoff. »Du mußt es melden«, flüstert meine Mutter über meinen Kopf hinweg meinem Vater zu, nachdem ich mich etwas beruhigt habe. »Haben wir die Telefonnummer des Polizeire viers?« murmelt mein Vater, und sofort heule ich wieder los, verzweifelter denn je. Jemand klopft an der Haustür. Vor Schreck höre ich auf zu heulen – die Polizei ist schon da. 254
Geoff geht nach unten, öffnet die Tür. »Es ist Barbara Berrill«, ruft er. »Ob Stephen zum Spielen herauskommt?« Ich heule weiter. Das beunruhigende Gefühl, daß etwas nicht in Ord nung ist, reißt mich aus den Tiefen eines bleiernen und traumlosen Schlafes. Ich liege im Dunkeln, lausche Geoffs Atem und versuche, herauszubekommen, was es ist. Der Schmerz im Hals – ja. Und als ich vorsichtig tastend meinen Hals berühre, finde ich den Verband. Nun erinnere ich mich wieder – nichts ist in Ordnung. Millys Weinen, Dee, die sich die Hände auf die Oh ren preßt, Keith’ konzentriertes Gesicht vor dem meinen … Der Polizist, der am Morgen mit mir sprechen wird … Das Halstuch, das er dann finden wird … Wo ist es eigentlich? In panischem Schrecken rich te ich mich auf. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo ich es hingetan habe! Ich habe es irgendwo liegen lassen, so daß jeder es finden kann! Starr vor Angst greife ich unter mein Kissen … Nein, da ist das Tuch, dort hatte ich es ja versteckt, blutverschmiert, als meine Mutter mich zu Bett brachte und ich endlich die geballte Faust öffnete. Auf der Stelle sehe ich den Polizisten, wie er das Zimmer durchsucht, die Spielzeugkommode öffnet, das Bettzeug aufschlägt … Ich muß mir ein besseres Versteck suchen. Bin ich deswegen aufgewacht? Möglich. Oder gibt es noch etwas anderes, das nicht in Ordnung ist? Et was, das ich noch nicht richtig lokalisieren kann? Etwas im Zimmer? Oder außerhalb des Hauses? 255
Ich stehe auf und stecke den Kopf unter das Ver dunkelungsrollo. Draußen ist es genauso dunkel wie drinnen, und es dauert lange, bis ich auch nur die Dachkanten der Häuser vor dem Himmel ausmachen kann. Auf das, was ich sehe, haben Keith und ich ge wartet: Neumond. Und in dieser Schwärze lauert etwas. Ein Geräusch. Ein ganz leises Geräusch, das aber nicht hierherge hört. Angestrengt lausche ich. Das Geräusch ist gleichmäßig und gleichbleibend, ein schwaches, an haltendes Zischen, als würde irgendeine Kreatur leise und unaufhörlich ausatmen. Mich erfaßt ein Zittern, weil ich weiß, daß ich hin aus muß in diese atmende Dunkelheit, um ein Ver steck für das Halstuch zu finden. Leise schlüpfe ich in meine Sandalen und ziehe mir, wie schon einmal, ei nen Pullover über den Schlafanzug. Fast wehmütig erinnere ich mich an jene Vollmondnacht und meine kindliche Überlegung, daß ich einen zusammengekno teten Strick brauchte, um daran aus dem Fenster zu klettern. Die Schwierigkeit, ins Freie zu gelangen, ist diesmal aber keine, die mit einem Strick zu lösen wäre. Die Schwierigkeit ist die Dunkelheit selbst und das Geräusch im Dunkeln, das nicht hierhergehört. Die Schwierigkeit ist das Zittern, das nicht aufhören will. Wieder entriegele ich vorsichtig die Küchentür und steige, Schritt für Schritt, durch das Chaos im Vor garten und stehe am Gartenzaun, umgeben von der dufterfüllten und leeren Stille der Straße, überlege, wohin ich gehen soll, fühle mich so körperlos wie die Dunkelheit, die mich umgibt. Hier draußen ist das Geräusch deutlicher. Es scheint von weit her zu kommen und doch in der Luft zu liegen. Einen Mo ment glaube ich, in der Ferne gedämpfte Stimmen zu 256
hören, aber als ich den Atem anhalte und mein Zit tern unterdrücke, um ganz sicher zu sein, höre ich nur das gleiche langgezogene Seufzen. Wo werde ich ein Versteck finden? Ich kann das Halstuch nicht in der Kiste einschließen, weil Keith es dort finden wird, selbst wenn der Polizist es nicht entdeckt. Ich denke an all die dunklen Häuser in der Straße. Die Sheldons … die Stotts … Lamorna, Tre winnick … Jedes eine Welt, die mir verschlossen ist. Wieder die Stimmen … Wieder halte ich den Atem an und versuche, nicht zu zittern … Nichts. Nur die ser lange, unnatürliche animalische Atem. Mir fällt nur eine Möglichkeit ein, und ich stehe lange Zeit im Dunkeln, ehe ich mich dazu durchrin ge, sie zu akzeptieren. Aber wenn es nichts anderes gibt … Ich gehe bis zum Ende der Straße und biege ab in Richtung Tunnel. Je näher ich komme, desto größer wird meine Angst. Der stockfinstere Tunneleingang ist schon schlimm genug, aber da ist noch etwas anderes. Etwas hat sich verändert. Irgend etwas stimmt nicht mit dem Bahndamm, der sich vor dem dunklen Himmel abzeichnet. Ich habe den Eindruck, daß der gemauer te Eingang von einer noch gewaltigeren Masse er drückt wird. Auch die Umrisse sehen anders aus. Der Horizont zwischen der schwarzen Böschung und dem schwarzen Himmel darüber ist nicht eben und gleich förmig, sondern wild gezackt. Der Klang und die Gestalt der Welt sind irgendwie verschoben. Nun bin ich eingeschlossen in dem hohlen Dunkel unter dieser merkwürdigen Masse … taste mich vor wärts, an der schleimigen Wand entlang durch das gewaltige Echo meines eigenen Atems … und komme 257
heraus in dieses gleichmäßige, ruhige Atmen der Nacht. Es erinnert mich, während ich den rostigen Zaun zurückbiege, an das gleichmäßige Atmen des unsichtbaren Mannes hinter mir, das ich an jenem anderen Abend gehört habe, und wieder spüre ich diesen kalten Schauder im Nacken. Ich steige durch das Loch und taste mich auf Hän den und Knien voran, bis ich die Kuhle hinter der Mauer finde, wo die Krocketkiste versteckt war. Ich nehme das Halstuch aus dem Ärmel meines Pullovers und verberge es, so gut mir das in der Dunkelheit möglich ist, in der lockeren, feuchten Erde und der üppigen Vegetation. Ein neues Geräusch, ich hebe den Kopf. In der Ferne Hundegebell. Jemand ist in den Lanes. Dieses arme kranke Gespenst ist auferstanden aus seinem Grab. Er kommt, um meinen Verrat zu be strafen – um mich genau in dem Moment zu erwi schen, wenn ich das wertvolle Objekt vergrabe, das zu überbringen er mich gebeten hat. Ich stolpere durch das Gebüsch und zurück durch den Zaun, lau fe zum Tunnel, bleibe dann stehen, weil mir am an deren Ende etwas entgegenkommt. Zwei schwache, abgedeckte Lichter und ihre Reflexe in den Pfützen bewegen sich langsam und kontrapunktisch auf der unebenen Erde auf mich zu. Das Heulen eines her untergeschalteten Motors hallt von den nassen Back steinwänden wider. Ein Auto – mitten in der Nacht und hier, wo noch nie ein Auto gesehen wurde. Es kann nur zu den Barns fahren. Ich krieche wieder zurück durch den Zaun und warte hinter der Mauer. Sie kommen ihn holen. Sie kommen ihn holen, weil ich mich wieder habe ein 258
schüchtern lassen, auch wenn ich diesmal nicht klein beigegeben habe, und weil ich zu schwach und unfä hig war, diese Tatsache vor meinen Eltern zu verber gen. Und ich kann es nicht ändern. Ich kann mich nur wieder verstecken. Angewidert von mir selbst warte ich darauf, daß das Brummen des Motors erstirbt. Doch es geht weiter, ebenso ruhig und gleichmäßig wie dieses mysteriöse Atmen. Vorsichtig spähe ich über die Mauer. Vor mir steht das Fahrzeug, ein brummender Kasten, der sich im Licht der trüben abgedeckten Scheinwerfer und der rotleuchtenden Rücklichter undeutlich abzeichnet. Hinten stehen zwei Türen offen, und auf der Stütz mauer und dem Bahndamm darüber tanzen zwei klei ne Lichter. Eines der beiden Lichter schwingt plötzlich zu mir herüber, doch kurz bevor mich der Strahl erfaßt, duk ke ich mich hinter der Mauer. Ich habe mich geirrt. Nicht ihn wollen sie holen, sondern mich. Die Taschenlampe findet das Loch im Zaun. Ich presse mich in die Kuhle, in der ich das Halstuch ver steckt habe, wie schon einmal, und höre, wie jemand beim Durchsteigen am Draht hängenbleibt. Der Atem eines Mannes. Dann schnappt der Zaun wieder zurück, und ich höre einen zweiten Mann. Die derben Hände werden mich im nächsten Mo ment packen und hinauszerren in das grelle Licht der Taschenlampen … Das Atmen und das Knacken im Gebüsch kommt näher … vorbei an mir, wird leiser. Jetzt höre ich das Scharren von Stiefeln auf Mauersteinen. Die Männer sind auf die Mauer geklettert, genau wie Keith und 259
ich, als wir das erstemal hier waren, und steigen hoch in Richtung Bahndamm. Also sind sie doch nicht hinter mir her. Oder wer den sie wieder herunterkommen, wenn ich mich rüh re, und mich finden, so wie Keith und ich wieder her unterkamen und die Kiste fanden? Ich warte … warte … Das Hundegebell hat längst aufgehört. Wer immer auf den Lanes entlangkommt, hat die Cottages nun weit hinter sich gelassen. Ich spüre fast, wie er näher kommt … Oder hat er schon die Lichter des Autos gesehen und ist stehengeblieben? Noch immer warte ich. Noch immer ist nichts zu hören als das Brummen des wartenden Fahrzeugs und der leise, unnatürliche Atem der Nacht. Langsam hebe ich den Kopf, spähe über die Mauer. Und nun höre ich Stimmen in den Lanes, und gleichzeitig sehe ich oben auf dem Bahndamm das Licht von Taschenlampen, das langsam näher kommt. Nicht zwei, sondern fünf, sechs Lampen, auf dem Pfad neben den Gleisen. Hin und wieder schwenkt ein Lichtstrahl zur Seite und fällt unter die Waggons, die dort oben in langer Reihe stehen, bis über den Tunnel hinaus und in Richtung Einschnitt. Ein Lichtstrahl zeigt kurz nach oben und erfaßt einen Teil der Ladung – die blaue Unterseite einer zer schmetterten Flugzeugtragfläche mit rotweißblauer Kokarde, die aus einem schroff gezackten Wirrwarr von Alteisen aufragt, eine Höhenflosse in Tarnfar benanstrich mit dem rotweißblauen Blitz. Ich ducke mich wieder, als die Männer langsam die abschüssige Mauerbrüstung über mir herunterkom men und dabei immer wieder ausrutschen. Ihr Atem geht jetzt schwer, und sie stoßen kleine grunzende 260
Laute aus, mit denen sie zur Vorsicht mahnen, wäh rend sie sich mit ihrer schweren, sperrigen Last ab mühen. Einen Meter von mir entfernt warten sie keu chend, bis der Zaun von den Betonpfosten gerissen und zurückgebogen wird, damit die Träger mit ihrer Bürde passieren können. Von den Lanes her rufen die Stimmen. »Habt ihr ihn?« ruft eine. »Das meiste von ihm«, antwortet ein Träger mit keuchendem Atem. »Willst du mal sehen?« Schweigen, und dann, hinter der Mauer, das hilflose Stöhnen und Würgen von jemandem, der sich über gibt. Ich weiß nur, daß ich das getan habe. Ich habe ge weint und war schwach und habe geschwiegen, und sie kamen, um ihn zu holen. Erst floh er vor ihnen auf den Bahndamm und lief weiter, hinunter in Richtung Close oder hinauf und weiter hinaus, der großen wei ten Welt entgegen. Und dort, im Dunkeln, vermute ich, stolperte er dann. Und wurde sofort von der furchtbaren verborgenen Kraft gepackt, die in der Stromschiene schlummert, und die darüberfahrenden Züge haben ihn zermalmt. Die Türen des Autos werden zugeschlagen. Das Brummen des Motors wird zum Geheul, entfernt sich dann langsam und stockend und hallt im Tunnel wi der. Die Stimmen folgen, hallen ebenfalls wider, eini ge nun erhoben in einer Kakophonie gespenstischer Rufe und lachender Antworten. Die Geräusche verstummen allmählich, bis in der Dunkelheit wieder nichts mehr zu hören ist als dieses irritierende, langgezogene Seufzen. Ich weiß jetzt, was es ist: das Zischen der Dampflokomotive, die weit da oben im Einschnitt steht und wartet. Das Seufzen 261
wächst zu einem heftigen Schnaufer an. Wieder ein Schnaufer, dann eine ganze Folge von Schnaufern, nun wieder maßvoller – und das harte Ruckeln der Kupplungen durchläuft die ganze Waggonreihe. Langsam nimmt der Zug seine unterbrochene Fahrt wieder auf. Als ich in meinem Bett liege, ist er in der Ferne der Nacht verschwunden, und die Schwärze ist wieder stumm. Das Spiel ist endlich aus.
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Im Close ist alles so, wie es war, und alles hat sich verändert. Die Häuser stehen dort, wo sie immer ge standen haben, aber alles, was sie früher gesagt haben, sagen sie jetzt nicht mehr. Jedenfalls nicht zu mir. Noch einmal gehe ich die Straße hinauf und hinunter, sinnlos, ein Fremder, der allmählich auffällig wird, ein verwirrter alter Mann, der im Freien umherirrt. An der Ecke biege ich ein und gehe noch einmal unter der Eisenbahnbrücke hindurch, was noch sinnloser ist, da von den Lanes nichts mehr übriggeblieben ist. Wo in diesem Laby rinth von Crescents, Walks und Meads war die Plata ne mit dem verrotteten Strick? Wo war der ausge trocknete Teich, wo waren die Cottages? War diese öde Tankstelle am Kreisverkehr womöglich die Barns? Ich wende mich wieder der Eisenbahnbrücke zu. Sie wird noch immer, wie damals der Tunnel, auf beiden Seiten von Stützmauern flankiert. Ich gehe auf dem glatten grauen Bürgersteig entlang, schaue hinüber zu der Mauerwand auf der Seite, wo die Krocketkiste versteckt gewesen war. Die Mauern müssen neu gebaut worden sein, als der Tunnel er setzt und die Straße erweitert wurde. Oder hat man aus Geldgründen die alte Mauer auf der einen Stra ßenseite stehenlassen? Die Steine sehen ziemlich verwittert aus … der Verlauf der obersten Schicht 263
wirkt vertraut … Am unteren Ende der Mauer, dort, wo der rostige Zaun war, steht jetzt ein Transforma torenhäuschen, neu umzäunt. Man kann nicht durch den Zaun klettern, und er ist auch zu hoch, als daß ich darübersteigen könnte. Ich gucke durch die soli den grauen Maschen. Der untere Teil des Bahn damms hinter der Mauer dient als Schutthalde, und man kann nicht erkennen, ob unter den alten Abfallschichten eine Lücke in der Mauer ist, wo vielleicht etwas versteckt sein könnte. Ich spüre eine leise, unvernünftige Enttäuschung. Es ist mir peinlich, es einzugestehen, sogar vor mir selbst, aber vielleicht ist das der Grund, weshalb ich den Blick von der Brücke wende. Vielleicht habe ich diese ganze Expedition überhaupt nur deswegen un ternommen. Um mich zu vergewissern. Um zu über prüfen – was für ein törichter Gedanke, kaum daß ich ihn ausgesprochen habe –, um zu überprüfen, ob es nicht doch noch irgendwo herumliegt. Das Halstuch. Der einzige vielleicht noch existierende handfeste Beweis, daß dieser ganze sonderbare Traum Wirk lichkeit war. Natürlich ist mir vollkommen klar, daß es unmög lich noch dasein kann. Es dürfte vor einem halben Jahrhundert verrottet sein. Wenn es nicht vorher ge funden wurde. Von anderen Kindern vielleicht, die ihre eigenen Phantasien auslebten. Ich frage mich, was sie wohl damit angestellt hätten. Chemnitz … Leipzig … Zwickau … Alle drei Städte dürften da schon in der Sowjetischen Besatzungszone oder der Deutschen Demokratischen Republik gelegen haben, und so hät te das Halstuch vermutlich eher auf einen kommuni stischen als auf einen Nazi-Spion hingedeutet. Ich stelle mir vor, daß sie es wichtigtuerisch zur Polizei 264
gebracht oder mit angemessener wissenschaftlicher Neugier zur Identifizierung in das nächste Museum gebracht hätten. Vielleicht könnte ich es in einer ver gessenen, verstaubten Schachtel wiederfinden oder in einer Glasvitrine, neben der obligaten Kollektion von Granatsplittern und alten Lebensmittelmarken. Warum bin ich später nicht zurückgekehrt, um es wieder auszugraben? Weil ich mich von dieser Nacht an in einem anderen Korridor meines Lebens befand. Eine Tür hatte sich hinter mir geschlossen, und ich öffnete sie nie wieder. Ich war nie wieder in den Lanes. Ich bin nie wieder durch den Tunnel gegangen. Das alles habe ich aus meinem Kopf verbannt. Bis zum heutigen Tag. Eingezwängt zwischen dem Transfor matorenhäuschen und dem verzinkten Drahtzaun stehe ich, während mir diese alten Gedanken durch den Kopf gehen, zum erstenmal seit über fünfzig Jah ren wieder auf diesem besonderen Fleckchen Erde. Was ist also nach jener Nacht passiert? Nichts. Das Leben ging weiter. Ich bin, wenn ich mich richtig er innere, am nächsten Morgen wie gewohnt aufgestan den. Ich bin zur Schule gegangen und habe versucht, mich auf die Klassenarbeiten in Algebra und Ge schichte zu konzentrieren. Auf die vielen Fragen we gen des Verbandes um meinen Hals bin ich nicht eingegangen, und die Hypothese, die meine Freunde Hanning und Neale schließlich vortrugen – ich hätte versucht, mich aufzuhängen, was mir aber nicht ge lungen sei, ich sei eben doch der Wheatley, das weh leidige Würstchen –, habe ich so gelassen wie nur ir gend möglich ertragen. Meinen Eltern erzählte ich nichts von den Ereignissen der Nacht. Sie sprachen mich auch nicht weiter auf die Wunde am Hals an, und kein Polizist erschien, mich zu verhören. Man 265
ging offenbar davon aus, daß sich das Problem gelöst habe und man nicht weiter in mich dringen müsse. Vermutlich gab es eine amtliche Obduktion der Lei che, die auf dem Bahndamm gefunden worden war, und sie muß auch irgendwie identifiziert worden sein, aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich davon ge hört habe. Nun ja, es war Krieg. Über manches wur de nicht berichtet oder gesprochen. Das Leben ging weiter, aber in einer etwas anderen Richtung. Ich war nie wieder bei Keith zu Hause. Ich war nie wieder in unserem Versteck. Was aus dem Bajonett wurde, weiß ich ebensowenig, wie ich es von dem Halstuch weiß. Vielleicht befindet es sich eben falls in einem Museum. Hin und wieder sah ich Keith auf dem Weg zur Schule oder auf dem Heimweg vorbeiradeln, aber er bemerkte mich nicht. Gelegentlich sah ich seinen Va ter, wenn er im Vorgarten arbeitete, und hörte ihn ein, zwei Passagen aus der großen Kadenz pfeifen, die nie endete. Seine Mutter lächelte mir manchmal zu, wenn sie mit ihrem Einkaufskorb vorbeikam oder Briefe zum Kasten brachte, ein Tuch bis unter das Kinn gebunden, als mein Verband schon längst ver schwunden war. Einmal blieb sie stehen und sagte, ich solle doch mal wieder zum Tee vorbeikommen, doch sie hatte keinen bestimmten Tag im Sinn, und sehr bald verließ Keith unser Viertel, erst zum Urlaub mit den Eltern und dann, um auf das Internat zu gehen. Auch Tante Dee lächelte mir immer zu, tapfer wie eh und je, aber meine Mutter erzählte, daß es ihr in Wahrheit furchtbar schlecht ging, weil Onkel Peter für vermißt erklärt worden war und weil es, in einer Zeit, in der sie am meisten die Unterstützung ihrer Angehörigen brauchte, offenbar zum Streit mit Keith’ 266
Mutter gekommen war. Meine Mutter versuchte manchmal zu helfen, indem sie auf Milly aufpaßte oder einkaufte, bis Tante Dee ein paar Wochen spä ter wegzog. Niemand hat sie danach mehr gesehen. Meine Mutter hatte, wie sie mir einmal gestand, selbst ein wenig für Onkel Peter geschwärmt – wie alle Frauen im Close. Ein paarmal ging ich zu Lamorna, aber Barbara konnte nie zum Spielen kommen. Ich sah sie dann gegenüber bei den Averys. Charlie Avery war einbe rufen worden, und Dave hantierte allein an dem Dreirad – während Barbara, das blaue Ledertäsch chen mit dem glänzenden Knopf immer noch um den Hals, mit untergeschlagenen Beinen auf dem Weg saß und ihm zusah und ihm das Werkzeug reichte. Ich litt zum erstenmal jene Qualen, die, wie ich später erkannte, in solchen Situationen üblich waren. Der Duft von Linde und Geißblatt ließ nach; der süße, beruhigende Hauch der Buddleia kam und ging; der starke, aufdringliche Ligustergeruch verschwand. Mit der Zeit wurde mir klar, daß Keith sich in vielem geirrt hatte. Doch in einem – sehr überraschenden – Punkt hatte er recht, auch wenn ich das erst nach Jah ren erkannte. In jenem Sommer gab es tatsächlich ei nen deutschen Spion im Close, aber es war nicht sei ne Mutter. Ich war es. Alles ist wie früher, und alles hat sich verändert. Aus Stephen Wheatley ist dieser alte Mann geworden, der sich langsam und vorsichtig in den Fußstapfen seines früheren Ichs bewegt. Dieser alte Mann heißt Stefan Weitzler. Der schmächtige Beobachter, der vom Li gusterbusch aus das Geschehen auf der Straße beob achtet, trägt wieder den Namen, unter dem er in dem 267
friedlichen Villenvorort der großen deutschen Stadt, wo er geboren war, eingetragen worden war. Als Stephen wurde ich dann ein zweites Mal gebo ren, als meine Eltern 1935 aus Deutschland weggin gen. Meine Mutter war ohnehin Engländerin, und zu Hause hatte sie immer Englisch mit uns gesprochen, aber mein Vater wurde nun noch sehr viel englischer, und wir alle verwandelten uns in Wheatleys. Meine Mutter starb Anfang der sechziger Jahre, und als mein Vater ihr knapp ein Jahr später folgte, spürte ich eine große Unruhe in mir – das Gegenteil jener Un ruhe, die mich jetzt in den Close zurückgeführt hat. Es war das, was wir in Deutschland Fernweh nennen und das in meinem Fall zugleich Heimweh ist – das schreckliche Zerrissensein, das jeder Emigrant kennt. Ohnehin war mein Leben in England nie richtig in Schwung gekommen. Meine Ehe war nie eine ganz richtige Ehe, mein Job in der Abteilung Maschinen bau einer Fachhochschule nie ein ganz richtiger Job. Ich wollte mehr über meinen Vater wissen, wo er aufgewachsen war, wo er und meine Mutter sich ver liebt hatten, wo ich zur Welt gekommen war. Und so machte ich mich auf die Suche und fand heraus, daß ich die ersten beiden Lebensjahre in einer ruhigen, gartengesäumten Straße verbracht hatte, die mir wie ein traumartiges Echo des Close erschien, in dem ich später aufwuchs. Das erklärt sicher auch, weshalb mir seinerseits der Close immer wie ein traumartiges Echo erschienen war. Ich verbrachte ein paar trostlose Monate in meinem wiedergefundenen Vaterland, kämpfte mit einer Sprache, die zu erlernen ich erst spät begonnen hatte, zu spät, um sie wirklich mühelos zu beherrschen, und arbeitete in einer Umgebung, die mir immer etwas 268
fremd blieb. Von der Vergangenheit meines Vaters war kaum eine Spur mehr übrig. Seine Eltern und die beiden Brüder waren abtransportiert und ermordet worden. Seine Schwester, die man aus irgendeinem Grund nicht mitgenommen hatte, wurde, zusammen mit ihren beiden Kindern, in ihrem eigenen Keller von Onkel Peter oder einem seiner Kameraden im Bomberkommando getötet. Und trotzdem … trotzdem bin ich geblieben. Aus meinem befristeten Job wurde ein unbefristeter. Ich glaube kaum, daß Sie die englischsprachigen Hand bücher für Installation und Wartung von SiemensTransformatoren und Starkstromumspannapparaten jemals gelesen haben, aber wenn, dann haben Sie je denfalls eine Vorstellung von meiner Tätigkeit. Die Geschichte in den Handbüchern, überlege ich gerade, hat sich jemand anders ausgedacht, so wie die Ge schichte von der deutschen Spionin und all die ande ren Geschichten meiner Kindheit von Keith stamm ten. Wieder einmal spiele ich nur den folgsamen Jünger. Und natürlich kam der Tag, an dem ich eine Frau kennenlernte, und ich begann, Deutschland mit ihren Augen zu sehen, und wieder veränderte sich meine Wahrnehmung … Bald gab es ein Haus, ebenfalls in einer stillen, baumbestandenen Straße … Aus dem Haus wurde ein Heim … Es gab Kinder und viele deutsche Verwandte, die uns besuchten … Und bevor ich mir Klarheit darüber verschaffen kann, ob hier oder dort mein Zuhause ist, wo überhaupt hier und dort ist, sind meine Kinder erwachsen, und gemein sam kümmern wir uns jede Woche um das Grab ihrer Mutter. 269
Wenn ich es recht bedenke, gab es eigentlich zwei deutsche Spione im Close – der andere war ein ernst hafter, engagierter Profi. Damit Keith mich ein bißchen mehr ernst nahm, behauptete ich einmal, daß mein Vater ein deutscher Spion sei. Ja, und das war er tatsächlich, wie ich spä ter herausfand. Jedenfalls war er Deutscher, und er arbeitete in der Wirtschaftsspionage, wenngleich für die Briten, nicht für die Deutschen. Deshalb kehrte er von dieser mysteriösen »Geschäftsreise« in den Nor den zurück. Man hatte ihn als feindlichen Ausländer auf der Insel Man interniert, dann aber vorzeitig frei gelassen, weil man an seinen Kenntnissen über die deutsche Optikindustrie interessiert war und weil er dechiffrierte Nachrichten, die sich darauf bezogen, interpretieren konnte. Jemand, der sich mit der Ge schichte des alliierten Luftkriegs beschäftigt hat, er klärte mir einmal, daß die Deutschen, wenn es diese Abteilung nicht gegeben hätte, über sehr viel bessere Visiergeräte verfügt hätten und die deutsche Flugab wehr Onkel Peter und seinen Kameraden noch sehr viel mehr zu schaffen gemacht hätte. Mit den Jahren bin ich meinem Vater vermutlich immer ähnlicher geworden. Ich höre mich die glei chen irritierend eigenwilligen Ausdrücke verwenden, die er damals verwendete und von denen mir nicht klar war, daß es ganz normale deutsche Ausdrücke waren. Wenn ich die Unordnung im Zimmer meines kleinen Sohnes sah, schimpfte ich wegen des furcht baren »Kuddelmuddels« und tat seine Ausreden, ge nau wie mein Vater, mit einem »Schnickschnack«! ab. Ja, wir waren Deutsche, in einem Land, das gegen die Deutschen Krieg führte, und niemand wußte da von. Niemand außer mir hörte die flehentlichen Bit 270
ten der verzweifelten Flüchtlinge, die meinen Vater um Hilfe ersuchten. Niemand ahnte, welche Sprache sie sprachen. Und niemand wußte, daß wir Juhn wa ren (die geheimnisvollen dunklen Fremden von Tre winnick stellten sich als orthodoxe Griechen heraus). Ich bin genausowenig religiös wie mein Vater, aber auch ich habe meine Familie mit der gleichen Vor stellung irritiert, einem Überrest aus uralten Zeiten, daß wir den Freitagabend, sobald sich der erste Stern am Himmel zeigt, gemeinsam zu Hause verbringen sollten. Warum haben meine Eltern all das für sich behal ten? Ich nehme an, sie wollten, daß Geoff und ich es leichter hätten. Vielleicht stimmte das auch. Keith’ Eltern hätten mich wahrscheinlich nie ins Haus gelas sen, wenn sie gewußt hätten, was wir waren. Später jedoch, als ich es herausfand, wurde es dadurch schwieriger. Für mich, anscheinend aber nicht für Geoff, der vier Jahre deutscher war als ich und zu gleich viermal britischer. Er wußte, woher wir kamen – er war schon sechs, als wir Deutschland verließen. Jedenfalls andeutungsweise, wie er mir sehr viel spä ter erzählte, so wie man viele Dinge andeutungsweise weiß. Warum hat er mir damals nichts gesagt? Weil er angesichts des Schweigens meiner Eltern vielleicht zu dem Schluß gekommen war, daß es Dinge gab, über die nie und nimmer geredet werden durfte. Nein, es ging wohl noch tiefer. Ich glaube, er hatte instinktiv begriffen, daß man manche Dinge nicht einmal wissen darf. Er blieb ohnehin immer Geoff Wheatley und dach te nie daran, wieder Joachim Weitzler zu werden. Er heiratete, zog in ein Haus ganz in der Nähe, das sich kaum von unserem alten Haus im Close unterschied, 271
war Auktionator und Sachverständiger, bewahrte sich sein jugendliches Interesse an Mädchen und Zigaret ten, hatte ein paar recht unappetitliche Frauenge schichten und starb an Lungenkrebs, unter großen Schmerzen, aber seine Vergangenheit schien ihn, so weit ich weiß, nicht sonderlich zu plagen. Jedenfalls hat er mir nie etwas anvertraut. Sogar seine Deutsch kenntnisse hatte er sorgfältig abgelegt. Zumindest war das mein Eindruck. Doch als ich ihn einmal im Hospiz besuchte, wo er im Sterben lag, schien er mich in seiner Verwirrung für unseren Vater zu halten. Er nahm meine Hand, und als ich mich über ihn beugte, sagte er nicht »Daddy« zu mir – so hatten wir immer zu unserem Vater gesagt –, sondern »Papi«. Und mit leiser, ängstlicher Stimme sagte er immer wieder: »Papi, Papi, ich hab’ Angst vor dem Dunkeln.« Was ist aus den anderen Kindern in unserer Straße geworden? Der junge McAfee starb in einem japani schen Kriegsgefangenenlager. Charlie Avery verlor bei einer Gefechtsübung, zwei Monate nach seiner Einberufung, ein Auge und eine Hand. Was aus Bar bara Berrill geworden ist, weiß ich nicht. Keith ist, glaube ich, Jurist. Ich habe seinen Namen an einer Tür im Inner Temple gesehen, als ich wegen meiner Scheidung dort war. »Mr. K. R. G. Hayward« – meh rere K. R. G. Haywards dürfte es kaum geben, oder? Fast wäre ich eingetreten und hätte ihn angespro chen. Warum habe ich es nicht getan? Ein letzter Überrest von Angst, vielleicht. Das war vor dreißig Jahren – inzwischen ist er vermutlich Richter. Als Richter kann ich ihn mir gut vorstellen. Oder viel leicht ist er schon pensioniert. Auch als Rentner kann ich ihn mir vorstellen, wie er seine Rosen pflegt und dabei pfeift. 272
Oder er ist tot. Kann ich ihn mir tot vorstellen? Ei gentlich nicht. Und mich? Kann ich mich in meinem schmalen Grab liegen sehen – so schauderhaft deut lich wie damals? Nein. Wie alles andere altert auch die Phantasie. Die Intensität läßt nach. Man fürchtet sich nicht mehr so wie früher. Um möglichst viel für den Preis meines Flugtickets herauszuschlagen, gehe ich noch einmal die Straße hinunter. Ein letzter Blick, bevor jemand die Polizei oder die Fürsorge ruft. Lamorna, sehe ich jetzt, ist schlicht Nr. 6. Hätte sich ein leise gemurmeltes »Nr. 6« genauso mit dem Ligustergeruch vermengt wie die weichen Silben von Lamorna? Die wilden Ro senbüsche im Vorgarten sind ersetzt worden durch kleine Stiefmütterchenbeete am Rand des Kieswegs, und eine weißhaarige alte Frau jätet kniend Unkraut. Sie schaut zu mir hoch, und schlagartig, in einem furchtbaren Moment des Wiedererkennens, der Hoffnung und des Schreckens, wird mir klar, daß es Barbara ist. Sie sieht mich gleichgültig an und wendet sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Es ist nicht Barbara. Natürlich nicht. Glaube ich jedenfalls. Tatsächlich denke ich gar nicht an Barbara – übri gens auch nicht an Keith oder einen der anderen. Sondern an das Halstuch, noch immer. Es läßt mich nicht los. Wenn nichts sonst, dann möchte ich wissen, was daraus geworden ist. Nicht daß mit vielen Überraschungen zu rechnen wäre, selbst wenn ich es ausfindig machen und end lich auseinanderfalten könnte. Ich weiß genau, was auf dem bedruckten Seidentuch zu sehen wäre: eine Karte von Deutschland und Westeuropa bis zur Ka nalküste – keine Gegend, die ein Deutscher ausspio 273
nieren oder bombardieren oder über der er an einem Fallschirm abspringen würde. Es war die Notlandkar te, die alle britischen Piloten in ihren Fliegerjacken immer dabeihatten, in der vagen Hoffnung, daß sie im Falle eines Abschusses auf diese Weise in die Heimat zurückfinden würden. Wußte ich damals wirklich nicht, daß der gebro chene Mann in den Barns Onkel Peter war? Natür lich wußte ich es. Ich wußte es, sowie er meinen Na men rief. Nein, schon vorher. Sowie ich ihn im Mondlicht hinter mir hörte. Oder noch viel früher. Vielleicht von Anfang an. So wie er selbst von Anfang an wußte, daß sie es war … Immer nur sie … Von An fang an … Wann fing es an, für ihn und sie? Viel leicht an dem Nachmittag, als er und das nette lustige Mädchen, das er gerade in einem Tennisclub kennen gelernt hatte, ein gemischtes Doppel gegen ihre ruhi ge, bedachtsame Schwester und deren verschlossenen, schon etwas älteren Mann spielten. Nur sie. Selbst als er später in seiner Fliegeruniform vor der Kirchentür stand, mit der falschen Schwester am Arm. Und doch wußte er es wahrscheinlich nicht, eben sowenig wie ich etwas von ihm wußte. Selbst nach dem ich seine Stimme gehört hatte, war er in meiner Vorstellung weiterhin Deutscher. Daran hielt ich mich fest – daß er Deutscher war. Das lag so intensiv und durchdringend in der Luft wie der Geruch des Ligusters oder der Klang von Lamorna. Was immer ich insgeheim wußte, und wann immer das war, ich hatte auch begriffen, daß es zu den Dingen gehörte, die man nicht wissen durfte. Ich schaue in den Himmel, genau wie bei meiner Ankunft: das einzig bleibende Merkmal der Straße. Ich denke an das namenlose Entsetzen, das ihn in der 274
dunklen Leere packte, in einer Höhe von zehntau send Fuß, fünfhundert Meilen von hier entfernt. Und ich denke an das Entsetzen, das auch meine Tante und ihre Kinder gepackt haben muß, als aus ihrem brennenden Haus die todbringenden Gase in ihren dunklen Keller drangen, zehntausend Fuß unter sei nem Flugzeug oder dem eines anderen. Ich denke an die Schande, die ihn danach verfolgte und vor der er in dieses dunkle Erdloch floh. Meiner Tante und ihren Kinder blieb zumindest diese Schan de erspart. Was haben wir einander angetan in diesen paar Jah ren des Wahnsinns! Was haben wir uns selbst angetan! Nun sind alle Geheimnisse gelöst, soweit sie über haupt zu lösen sind. Was bleibt, ist der leise, vertraute Schmerz in den Gliedern, wie eine alte Wunde bei umschlagendem Wetter. Heimweh oder Fernweh? Die Sehnsucht, dort zu sein oder hier zu sein, obwohl ich schon hier bin? Oder gleichzeitig an beiden Orten zu sein? Oder weder hier noch dort, sondern in dem alten Land der Vergangenheit, in das man nie wieder zurückkehrt, weder hier noch dort? Zeit, zu gehen. Also noch einmal: Danke. Danke, daß ich dasein durfte. Und als ich am Ende der Straße bin, liegt plötzlich ein schwacher Hauch von etwas Vertrautem in der Luft. Etwas Süßes, Aufdringliches und zutiefst Beun ruhigendes. Selbst hier, also doch. Selbst jetzt noch.
Mit großer Meisterschaft und sparsamen Mitteln macht Frayn feinste psychische Regungen, komplizierte Beziehungen und schleichende Veränderungen in diesen Beziehungen sichtbar. Durch einen raffinierten Wechsel in der Perspektive erlebt der Leser die Welt Stephens teils von innen, teils von außen. Und gerade weil er immer etwas mehr weiß als der kindliche Held, liest er mit ange haltenem Atem weiter. Frayn, der Zauberkünstler, demonstriert nicht zum erstenmal, daß das, was sich scheinbar vor unseren Augen ereignet, sich oft als etwas entpuppt, was wir überhaupt nicht sehen können. Michael Frayn, geboren 1933 in London, studierte Philosophie in Cambridge und war Reporter und Kolumnist beim Guardian und beim Manchester Observer. Von seinen Romanen erschienen auf deutsch u. a. Jetzt weißt du ’s (1992) und Sonnenlandung (1994), bei Hanser Das verschollene Bild (1999) und Celias Geheimnis (2001). Er ist außerdem als Übersetzer, u. a. von Tschechow, und als Dramatiker, etwa mit dem preisgekrönten Kopenhagen und seinem neuesten Stück Democracy, erfolgreich.
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen. München, unter Verwendung eines Fotos © Bettmann / Corbis Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser.de
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