Rosemary Sutcliff
Das Stirnmal des Königs scanned by Ginevra corrected by Chase
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Rosemary Sutcliff
Das Stirnmal des Königs scanned by Ginevra corrected by Chase
Titel der englischen Originalausgabe »The Mark of the Horse Lord« © 1981 Verlag Urachhaus - Johannes M. Mayer GmbH & Co. KG Stuttgart. © 1965 by Rosemary Sutcliff. ISBN 3 87838318 5
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Der Schritt über die Schwelle Das Licht der Öllampe warf schwankende Schatten auf die Wände des langen, unterirdischen Umkleideraumes, skelettartige Schatten der von Lanzen starrenden Waffenständer, riesenhafte Schatten der Männer, die sich auf Bänken drängten oder mit ihren Waffen und ihrem Gerät geschäftig auf und ab liefen, hier und dort der pferdekopfähnliche Schatten eines federbuschgeschmückten Helmes. Aus den nahen Gehegen drang der Gestank wilder Tiere in den Raum und mischte sich mit der noch schärferen Ausdünstung der Männer, die leicht schwitzend auf das Trompetensignal warteten. Hier unten fiel es schwer, zu glauben, daß draußen, wo die Menge sich seit dem Hahnenschrei versammelt hatte, eine warme Junisonne schien und eine vom Heidehochland her wehende frische Brise die lebhaft bunten Wimpel in flatternde Bewegung versetzte. Aber der Mann in der hintersten Ecke, der mit auf den Knien gekreuzten Armen und tief in Gedanken versunken leicht vorgeneigt saß, schien von allem, was um ihn herum vorging, nichts zu bemerken. Einige seiner Kameraden warfen ihm im Vorbeigehen einen Blick zu, ließen ihn aber in Ruhe. Sie waren an die Launen des Roten Phaedrus' vor einem Kampf gewöhnt; später würde er diese Stimmung abschütteln, lachen und sich wie ein Tiger gebärden, sobald die Trompeten ertönten. Tatsächlich war Phaedrus mit seinen Gedanken weit fort: in einer Zeit, die vor den vier Jahren als Schwertkämpfer hier in der Gladiatorenschule von Corstopitum und noch vor den zwei Jahren davor lag. Seine Erinnerung führte ihn in das hübsche kleine Haus in Londinium, zurück zu jener Nacht, in der sein Vater, Ulixes der Arkadier, Händler vorzüglicher griechischer Weine, starb. Er hatte Phaedrus nie als Sohn anerkannt, sondern nur als Sohn der Sklavin Essylt, die ihm den Haushalt führte. Aber er hatte die beiden sehr gern gehabt, soweit ihm seine Geschäfte Zeit für solche Gefühle ließen. Er hatte dafür gesorgt, daß der Junge eine gute Ausbildung bekam. Er hatte auch die Absicht gehabt, die beiden eines Tages freizulassen. Aber dann war er zu überraschend gestorben. Wäh3
rend der Herbsfwind die Blätter einer Pappel gegen das Fenster wirbelte, war er über seinem Schreibpult zusammengesunken. Unter seiner Hand lag ein halbgeschriebener Brief an seinen Handelspartner in Korinth. Alles, auch die Haussklaven, war verkauft worden - nur Phae-drus" Mutter nicht. »Ich bin zu alt, um noch einmal zu einem neuen Herrn zu gehen«, hatte sie am letzten Tag vor dem Verkauf erklärt. Sie hatte Phaedrus mit einem Auftrag in die Stadt geschickt. Als er zurückkam, fand er die Mutter in der Laube am Ende des schmalen Gartens, wo der Herr an schönen Sommermorgen gern sein Frühstück eingenommen hatte. Sie hatte das schlanke Jagdmesser der Einheimischen benutzt, das Ulixes als Papyrusmesser gedient hatte. Aber es waren kaum Blutspuren dagewesen, weil sie sich die Waffe ins Herz gestoßen und sich nicht die Pulsadern geöffnet hatte, wie es eine Römerin getan haben würde. Phaedrus, der damals seinen vierzehnten Geburtstag noch vor sich hatte, war an diesem Tag zum Mann herangereift. Am nächsten Tag war er, weil er Talent zum Wagenlenker hatte, zusammen mit dem halblibyschen Gespann verkauft worden. Einige Male hatte er den Besitzer gewechselt - und von seinem letzten Herrn hatte er die Grundbegriffe des Schwertkampfes gelernt, weil dieser jemanden brauchte, mit dem er üben konnte. Schließlich war er zur Begleichung einer Spielschuld an die Gladiatorenschule verkauft worden. (»Entweder du oder das Gespann«, hatte sein Herr ihm erklärt, »und es wird nicht einfach sein, wieder ein Paar zueinander passende Braune zu bekommen.«) Zuerst war ihm sein neues Leben zutiefst verhaßt gewesen, aber im Laufe der vier Jahre war es Teil seiner selbst geworden, so daß es nicht länger wichtig war, ob er es haßte oder liebte. Es rann ihm durch die Adern wie das feurige Gerstengetränk, das die Stammesangehörigen brauten: das Gebrüll der Menge, das das Blut in erregte Wallung versetzte, die Wärme der Sonnenstrahlen, die Süßigkeit billigen Weines und die stolze Freude an der eigenen Kraft und Geschicklichkeit. Und er empfand das alles noch deutlicher in dem Wissen, daß es schon morgen, nächste Woche oder gar in einer 4
Stunde unter der aufgesetzten Schwertspitze eines Kameraden zu Ende sein konnte. Vier Jahre schon - nicht viele hielten so lange in diesem lebensgefährlichen Handwerk durch. Wenn er es noch ungefähr ein Jahr aushielte, gaben sie ihm vielleicht das hölzerne Schwert mit der silbernen Scheide, und dann wäre er frei. Aber seine Gedanken gingen niemals weiter als bis zu jenem triumphreichen Augenblick, in dem er die Freiheit erlangen würde, ebensowenig wie sie über den Zeitpunkt hinausgingen, an dem er den tödlichen Schwerthieb empfangen würde; denn er war als Sklave geboren worden und wußte so wenig über die Freiheit wie über das Sterben. »Das hölzerne Schwert?« brüllte eine Stimme direkt neben ihm. »Du hast geträumt, Kerl!« Diese Worte, die so genau zu seinen eigenen Gedanken paßten, verscheuchten sie gleichzeitig und brachten Phaedrus in die Gegenwart und seine wirkliche Umgebung zurück. »Ich habe nicht geträumt«, sagte Lucius der Bulle, der sich jetzt zurücklehnte und sich streckte, daß die Gelenke knackten. »Einer soll ihr hölzernes Schwert haben, gleichgültig, ob er es verdient hat oder nicht. Mühe und Kosten werden bei diesen Spielen nicht gescheut, wenn sich nur die Provinz daran erinnert und nachher jeder sagt: >Ach ja, der gute alte Silvanus! Er hat die besten Spiele veranstaltet, die wir je hatten.< Ich hörte den Chef mit Ulpius darüber reden - keiner von beiden schien davon begeistert zu sein; Ulpius fluchte bei allen Göttern, die er kennt.« »Nun, man kann nicht erwarten, daß der Besitzer einer Arena von solchen Plänen begeistert ist«, sagte einer der Männer. »Vielleicht findet er, daß er ohnedies genug Kampfhähne verlieren wird.« Unter denen, die dicht genug dabeistanden und einstimmen konnten, erhob sich unbekümmertes Gelächter. Phaedrus bückte sich und rieb seine Handfläche auf dem mit Sand bestreuten Boden, ein alter Trick, wenn man spürte, daß die Schwerthand schweißfeucht wurde. In dem Augenblick des Schweigens, der auf das Lachen folgte, hörte er das anschwellende Murmeln der Menge und aus den Tiergehegen das Heulen eines Wolfes, wild und klagend wie das Jammern einer verlorenen Seele; 5
die Tiere wußten wohl, daß es nun bald Zeit war. Ohne es zu wollen, warf Phaedrus einen Blick quer durch den belebten Raum zu Vortimax, der unter der flackernden Lampe stand und die Federn auf seinem Helm ordnete, ehe er ihn sich aufsetzte. Der starkknochige Gallier wandte im gleichen Augenblick den Kopf nach ihm um, und ihre Augen trafen sich. Gleich darauf wandten beide den Blick zur Seite ... Normalerweise konnte es sich der Besitzer einer Gladiatorenschule im Grenzgebiet nicht leisten, seine Gladiatoren rasch zu verlieren, aber Silvanus Varus, der neue Statthalter, der diese Spiele zur Feier seines Amtsantrittes veranstaltete, hatte für vier Paar Schwert- und Schildmänner bezahlt, die auf Tod und Leben miteinander kämpfen sollten. Vier Kämpferpaare, darunter auch Phaedrus und Vortimax. Phaedrus konnte es noch immer nicht glauben. Von den ersten Tagen auf dem Übungsplatz an hatten sie die Schule miteinander durchgemacht. Jeder kannte die Kampftechnik des anderen so gut wie seine eigene; sie hatten aus der gleichen Schüssel miteinander gegessen und mit dem gleichen Wasser einander die Wunden ausgewaschen; und in der ganzen Schule war der starke, blondhaarige Gallier der einzige gewesen, den Phaedrus als Freund betrachtete. Draußen auf dem Gang ertönten energische Schritte, und Automedon, der Aufseher der Gladiatoren, erschien in dem dunklen Eingang. Einen Augenblick lang blickte er stumm auf die Männer nieder. Die fahle, an seine eigene Gladiatorenzeit erinnernde Narbe brannte nun feuerrot auf seiner Wange, wie immer in den Augenblicken kurz vor dem Erschallen der Trompeten. »Zeit zum Fertigmachen, Männer!« Wie die anderen stand auch Phaedrus auf, ergriff den Helm mit dem Federbusch, der auf der Bank neben ihm gelegen hatte, und trat aus seiner dunklen Ecke hervor. Im Lichtschein der nahen Lampe war zu erkennen, daß er wie die übrigen Schwertmänner nackt war bis auf den an einem Gürtel hängenden ledernen Lendenschurz und die geschmeidige, bronzene Panzermanschette an dem Arm, der das Schwert führte; ein junger Mann mit kupferrotem Haar, gelenkig und schlank wie ein junger Wolf, in dessen Gesicht die fahle 6
Sonnenbräune nur durch ein Paar rote Augenbrauen und von dem zu einem leisen, unbekümmerten Lächeln verzogenen Mund unterbrochen wurde. Er setzte den schweren Helm auf und zog den Kinnriemen fest. Jetzt sah er die Welt nur noch durch die länglichen Augenschlitze in der Maske, und während er die Schnalle am Riemen noch einmal überprüfte, dachte er: Das wird der letzte Blick sein, den ich auf diese Welt werfe — ein klar umrissenes, helles Bild, das ich aus der finsteren Höhle meines Helmes in mich aufnehme. Aber dann schob er diesen Gedanken von sich. Es war nicht gut, sich solchen Grübeleien hinzugeben, wenn man im Begriff stand, die Arena zu betreten. So fingen einem die Nerven an durchzugehen. Automedon betrachtete die Männer von seinem günstigen Standplatz an dem zwei Stufen höher gelegenen Eingang aus, sah zu, wie sie die Lanzen und die schweren, bronzeumrandeten, länglichen Schilde aus den Waffenständern nahmen und sich zu einigermaßen geordneten Reihen aufstellten. Nach einem prüfenden Blick nickte er. »In Ordnung. Ihr kennt das heutige Programm: zuerst die wilden Tiere, dann die Boxer und darauf der Scheinkampf; anschließend die Kämpfe mit Netz und Dreizack und zu guter Letzt«, sein Blick wanderte zu Phaedrus und Vortimax und den übrigen Männern in der hintersten Reihe, »ihr glücklichen Burschen auf dem Ehrenplatz! Was die anderen betrifft, so wünsche ich keine solchen durch Nachlässigkeit hervorgerufenen Zwischenfälle, wie wir sie letzten Monat erlebt haben! Ereignisse dieser Art beweisen nicht etwa Mut, sondern einfach schlechte Kampftechnik. Die Schule zahlt nicht für euren Unterhalt und eure Ausbildung, damit ihr euch in Stücke hacken laßt, ehe das Unternehmen für jeden von euch auf seine Kosten gekommen ist! Jeder Mann, der heute aus der Arena ein Loch in seinem Fell davonträgt, das tief genug ist, um ihn von der Teilnahme an den Consualia-Spielen auszuschließen, wird sich vor mir zu verantworten haben, und wenn mich das, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat, nicht befriedigt«, er blickte mit zusammengekniffenen Augen und einem Lächeln, das seine starken gelben Hundezähne entblößte, auf sie nieder, »dann werden sowohl er 7
wie derjenige, der ihm die Verletzung beigebracht hat, sich wünschen, nie geboren zu sein. Verstanden?« Sie grinsten zurück, und einige hoben in ironischer Grußbezei-gung die Waffen empor. »Verstanden, Automedon! Verstanden, edler Aufseher!« »Gut.« Sein grimmiger Gesichtsausdruck wich einem leisen Anflug von Humor. »Der neue Statthalter kommt direkt aus Rom. Vermutlich erwartet er von einer Gladiatorenschule im Grenzgebiet nicht eben viel, deshalb zeigt ihm heute - mag er auch gewaltigere Kämpfe in Rom gesehen haben -, daß die Jungen von Corstopitum, Mann für Mann, den römischen Kämpfern jederzeit die Nasen blutig hauen können!« Als ob sie Caesar selbst grüßten, warfen sie unter eifrigen Ausrufen Schwerter und Lanzen in die Höhe, und während ihre Stimmen noch unter den Dachbalken hohl nachhallten, hörte Phae-drus die Trompeten schmettern und das schleifende Klirren, mit dem sich die Pforten der Arena weit öffneten. Mit einem knappen Befehl wandte sich Automedon auf dem Absatz um, und die Arenawache trat zurück an die Seiten der breiten Steintreppe, die ans Tageslicht führte. Paarweise stiegen die Gladiatoren hinauf. Am Fuß der Treppe verhielt Phaedrus den Schritt, und mit knapp bemessenem Gang, hoch erhobenen Kopfes, mit gezogenem Schwert und bereitgehaltenem Schild ging es hinaus. Der düstere Schein der Lampen blieb zurück, und das helle Tageslicht strömte ihnen mit dem anschwellenden Gemurmel der Menge entgegen. Sie traten aus dem hallenden Dunkel des gewölbten Treppenaufgangs hinaus in die plötzliche Weite der von Wind und Sonnenschein erfüllten Arena, spürten den unter ihren Füßen nachgebenden Sand, vernahmen die Begrüßung durch die vielen Menschen, die in einer gewaltigen Lärmwelle unter dem Klirren der Zimbeln und dem durchdringenden Schmettern der Trompeten über sie hinwegging. Sie bogen in dem weitausgreifenden Schritt des Parademarsches nach links in die Arena ein, um diese einmal zu umrunden, passierten dabei den Altar der Rache, an dem sie, wie jedesmal vor den Spielen, im ersten 8
Morgengrauen geopfert hatten, marschierten vorbei an dem Auslaß der Tiergehege, vorbei an der dunklen Passage, die zu den Räumen führte, in denen der syrische Arzt und seine Sklaven darauf warteten, jene Verwundeten zu behandeln, bei denen es sich noch zu lohnen schien, einen Versuch zu ihrer Rettung zu unternehmen; vorbei an den Schaufeln und Sandkisten, vorbei an den Arenawärtern mit den langen Haken. Phaedrus blickte empor und sah Reihe um Reihe bis an die höchste Stelle des Amphitheaters mit Städtern und Stammesleuten besetzt: Römer und Britannier, dazwischen unbekümmerte Gestalten in purpurgesäumten Tuniken auf den Bänken des Magistrats, und überall -denn in Corstopitum war ein Lager der Grenztruppen - das rostrote Tuch und die glänzende Bronze der Legionäre. Gesichter starrten zu ihnen hinunter, Hände umklammerten die Geländer in erregter Erwartung dessen, was geschehen sollte. Das Publikum warf die üblichen Blumen und Süßigkeiten auf seine Lieblingsgladiatoren. Phaedrus fing in der Höhlung seines Schildes eine wilde weiße Rose auf, und wie ein geübter Schauspieler brachte er der dicken, juwelenbehangenen Frau, die die Rose geworfen hatte, seine Dankesbezeigung dar. Eine volle Runde rings um das weite Rund der Arena, dann waren sie dicht vor der Loge des Statthalters. Automedon stieß einen knappen Befehl aus, klirrend blieben sie stehen, schwenkten und standen vor dem mächtigen, stiernackigen Mann. Dort lehnte er, Caesars neuer Stellvertreter, der diese Spiele veranstalten ließ; sein strahlendweinroter Mantel fiel hinten in Falten über den geschmiedeten, vergoldeten Panzer. Die Waffen wurden in die windbewegte, sonnendurchglänzte Luft emporgeschleudert, und aus voller Brust stimmten die Männer ihren Schrei an, als ob Caesar selbst dort lehnte. »Heil dir, Caesar! Die Todgeweihten grüßen dich!« Dann traten sie auseinander und stellten sich rings um die Schranken auf. Phaedrus schwang seinen Schild in Ruhestellung über die Schulter und stellte sich mit gespreizten Beinen und auf die Hüften gelegten Händen in eine bewußt verwegen und mutig wirkende Pose. 9
Das wollte die Menge sehen, die Menge, die gekommen war, um ihn oder Vortimax sterben zu sehen. Die als Hilfskräfte bestimmten Arenawärter zogen die Gitter zurück, die die dunklen Ausläufe der Tiergehege versperrten, und ein stolzer Zehnender kam in die Arena gestürmt, schon halb wahnsinnig vor Angst durch die Witterung der Wölfe in seinen Nüstern. Wenige Augenblicke später wurden sie auf ihn losgelassen, eine geduckt hetzende, dunkle Meute von sechs Tieren. Zwei davon tötete der Hirsch mit seinem furchtbaren Geweih und ließ sie zerfetzt und zerschmettert in dem blutigen Sand zurück, ehe die übrigen Wölfe ihn zu Boden rissen und ihm unter dem Gebrüll der Zuschauer ein blutiges Ende bereiteten. Die Kadaver wurden weg-gezerrt; ein dritter Wolf, der wild um sich schnappend und knurrend mit gebrochener Wirbelsäule am Boden lag, wurde von einem der Wärter erledigt. Die übriggebliebenen drei Wölfe wurden in ihre Käfige zurückgelockt, um eines Tages wieder im Kampf verwendet zu werden, und über die Blutflecken in der Arena wurde frischer Sand gestreut. Dann folgte der Boxkampf und schließlich das große Scheingefecht, das der Menge besser gefiel, besonders dann, wenn Blut dabei floß - denn trotz Automedons Anordnung gab es selten einen Schwertkampf, der nicht mit ein paar Toten und Verstümmelten endete. Darauf war die Reihe an den Kämpfern mit Netz und Dreizack; mit den Schwertmännern, die ihnen als Gegner gegenübertraten, bewegten sie sich kämpfend in ruckartigem Hin und Her quer durch die Arena wie Eintagsfliegen in einem makabren Todestanz. Plötzlich bemerkte Phaedrus, daß der weite Raum vor ihm nicht mehr von gespannt lauernden und rennenden Gestalten bevölkert war, daß die Wärter mit ihren Haken einen weiteren Toten davonschleiften, daß der klebrige Sand ein letztes Mal durchgerecht wurde und man die schlimmsten Blutlachen mit frischem Sand bedeckte. Jetzt sind wir dran, dachte er völlig abwesend. Wieder schmetterten die Trompeten, und wie ein Mann traten die acht Auserwählten von ihrem Platz dicht unterhalb der Loge des 10
Statthalters in die Mitte der Arena, wo jetzt Automedon stand und sie erwartete. Jeweils zehn Schritte voneinander entfernt wurden sie paarweise so aufgestellt, daß keiner den Vorteil von Sonne oder Wind auf seiner Seite hatte. Und dann ging es ganz schnell: In der Loge des Statthalters flatterte ein weißes Tuch, und die Trompeten gaben das Signal zum Kampfesbeginn. Phaedrus trat die üblichen zwei Schritte vor und einen nach links, was an die Eröffnungszüge bei einem Brettspiel erinnerte, und brachte darauf Schwert und Schild in Kampfstellung. Mit dieser Bewegung verlor er jegliches Bewußtsein für die anderen Kämpferpaare, ja selbst für die plötzlich verstummten Zuschauer. Das Leben konzentrierte sich auf einen einzigen Punkt, beschränkte sich auf einen Kreis zertrampelten Sandbodens und auf Vortimax' Augen hinter den Schlitzen seiner Maske. (»Immer auf die Augen achten«, hatte Automedon sie am ersten Tag in der Schule ermahnt. »Laßt die Schwerthand nie aus dem Blick, aber achtet auf die Augen.«) Vorsichtig umkreisten sie einander, duckten sich sprungbereit hinter ihre Schilde. Mit kühlem und klarem Kopf und einem außerordentlich behenden Körper hatte Phaedrus diesen Kampf begonnen, so wie er jeden Kampf begann, mochte er im Ernst oder nur der Übung halber geführt werden. Übung - wie viele solcher Übungskämpfe hatte er doch mit Vortimax durchgefochten! Oberflächlich war er sich der Tatsache bewußt, daß es jetzt anders war, daß es hier darum ging, zu töten oder getötet zu werden, aber irgend etwas in ihm weigerte sich, das zu glauben. Das hier konnte einfach nicht mehr sein als eine Erprobung der Geschicklichkeit zwischen ihm und Vortimax; nachher würden sie ihre Schwerter in den Waffenständer zurückknallen und lachend miteinander in die Weinschenke gehen ... Er unternahm einen plötzlichen Scheinangriff, und in geducktem Sprung kam der Gallier vor. In Schlag und Gegenschlag klirrten ihre Schwerter aufeinander, und der heftige Schlagwechsel ließ Funken aus dem grauen Eisen in die windbewegte, sonnendurchglänzte Luft sprühen. Rings um ihre Füße erhob sich der Sand in Wirbeln und kleinen Staubwolken; sie umkreisten sich und 11
trieben einander hin und her, jeder in dem Bemühen, die Sonne im Rücken zu haben, während ihr blendender Glanz dem Gegner in die Augen fiel. Einmal spürte Phaedrus den Hornissenstich der Schwertspitze des anderen an seinen Rippen und sprang aus der Reichweite des Gegners zurück. Vortimax drängte nach, und während Phaedrus einen weiteren Schritt vor dem vorschießenden Schwert nach rückwärts auswich, begriff er, daß der Gallier ihn auf die Schranke zutreiben wollte, wo ihm kein Raum zum Manövrieren blieb. Er spürte die hölzerne Barriere förmlich im Rücken, die zwar noch ein Stück entfernt lag, aber die doch auf ihn wartete - und schuf sich mit einem Sprung zur Seite Bewegungsfreiheit, während er zugleich über den Schild hinweg zum Schlag ausholte, der nur um ein weniges die Schulter seines Gegners verfehlte. »Scheinangriff auf den Kopf, Hieb ins Bein, und dann den entscheidenden Schlag über den Schild hinweg!« Automedons Worte, die er so oft während der Übungsstunden gehört hatte, klangen ihm noch im Ohr. »Habet!« brüllte die Menge, als ein Kämpfer zu Boden ging; und fast sofort darauf wurde der Schrei von neuem laut, so daß die zweite Schallwelle die erste noch im Ausklingen erreichte, während die Wärter zwei Körper hinwegzerrten. Nun waren nur noch zwei Kämpferpaare übrig. Phaedrus nahm es an der äußersten Peripherie seines Bewußtseins zur Kenntnis, doch hatte es für ihn keine Bedeutung; dieses Geschehen lag außerhalb des engen Kreises auf dem zertrampelten Sandboden und außerhalb der unmittelbare Gefahr bedeutenden Funken hinter den Sehschlitzen von Vortimax. Für eine gewisse Zeit waren sie zu einer vorsichtigeren Kampfführung zurückgekehrt, und ihre Schwerter klirrten leicht und fast wie erkundend aneinander. Aber sie hatten es nicht nötig, irgend etwas zu erkunden - jeder kannte die Technik des anderen nur zu gut. Teilweise war es diese Tatsache, die den ganzen Kampf leicht unwirklich und wie einen Traum erscheinen ließ. Und dieses Gefühl des Unwirklichen nahm Phaedrus' Schwertführung den entscheidenden Nachdruck; er spürte das, versuchte sich davon zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Da! Vortimax' Deckung war jetzt um eine Kleinigkeit ungeschützter! Phaedrus' Schwert schnellte vor, und nun war es an 12
dem anderen zurückzuspringen, während eine rote Wunde wie ein offener Mund in der braunen Haut über seinem Schlüsselbein klaffte. Jetzt hatte Phaedrus den Gallier in der Hand, und er begann, ihn immer weiter zurückzutreiben. Nun mochte Vortimax hinter sich die wartende Schranke spüren. Aber noch immer beherrschte Phaedrus das merkwürdige Gefühl eines Traumgefechts, und er sah sich unfähig, die auf dem Übungsplatz angewendete Kampftechnik aufzugeben und das Schwert mit tödlichem Ernst zu führen ... Während des Bruchteils einer Sekunde sah er das Flackern hinter Vortimax' Sehschlitzen, ehe der gefährlich tiefe Schlag kam. Phaedrus sprang zur Seite, drehte sich auf dem Fußballen herum und spürte ein weißglühendes Stechen wie nach einem Peitschenhieb seitlich am linken Knie. Wenn dieser Schwerthieb ihn quer getroffen hätte, wäre die Sehne durchtrennt worden, und er, Phaedrus, hätte bewegungsunfähig und hilflos im Sand gelegen. Es war ein hervorragender, böswilliger, fast unerlaubter Schlag, weil er den Gegner verkrüppelte, statt ihn zu töten. Mit einem solchen Schlag konnte man den anderen zu Boden strecken und ihn von der eigenen Gnade abhängig machen; verfehlte man aber sein Ziel, dann war man selbst weitgehend ungedeckt. Als ob sich plötzlich eine Höhle in seinem Kopf geöffnet hätte, begriff Phaedrus mit einem Schlag die Wirklichkeit, und in einem eisklaren, winzig kurzen Augenblick wurde ihm bewußt, daß dies ein Kampf auf Leben und Tod war, daß er hier und jetzt nicht gegen seinen Kameraden Vortimax kämpfte, sondern gegen den Tod an sich - den blutigen Tod, der dem Hirsch zuteil geworden war - und gegen die Haken der in ihrem dunklen Gang harrenden Wärter. Dieser Mann hier vor ihm war sein Feind, und Phaedrus sprang vor, um ihn zu erledigen. Aber im gleichen Augenblick wandte sich der Gallier, der auf dem Sand fast in die Knie gesunken war, zur Seite und sprang in einer beinahe wunderbaren Rückgewinnung seiner Kräfte in die Höhe und außer Reichweite. Phaedrus biß die Zähne zusammen und verfolgte den Gegner, während ihn der an seinem Bein hinunterrinnende Strom daran erinnerte, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er hörte nicht, wie die 13
Menge zum drittenmal »Habet!« brüllte, vernahm auch nicht das anschwellende Grölen, als alle auf den Bänken ringsum ihm oder Vortimax zujohlten. Er hatte jetzt gegen einen anderen Feind zu kämpfen: gegen die zunehmende Schwäche, die sich durch den Blutverlust in seinem Körper ausbreitete. Bald fühlte er, wie seine Schwertführung an Sicherheit verlor. Keiner der Zuschauer ahnte bis jetzt etwas davon, aber er selbst wußte es, und auch Vortimax hatte es bemerkt. Einmal war die Klinge des Galliers nur um Haaresbreite von seiner Kehle entfernt gewesen, ehe er sich zur Seite warf. Sein Herz arbeitete schwer in der kranken Höhle seines Leibes, seine Zähne waren zusammengepreßt, sein Atem ging pfeifend durch die geblähten Nasenflügel. Die Menge war plötzlich seltsam stumm geworden; aber er nahm ihr Schweigen ebensowenig wahr, wie er zuvor ihr Toben gehört hatte. Er beschränkte sich jetzt ganz auf die Defensive, begann mehr und mehr an Boden zu verlieren — noch ein wenig und noch ein wenig mehr und erkannte mit schmerzlicher Verzweiflung, daß es fast um ihn geschehen war. Plötzlich schoß sein Schwert schwankend und das Ziel verfehlend vor, und Vortimax sprang in seine Deckung hinein. Wie Phaedrus diesem Hieb entging, wußte er später nie zu sagen, aber als er ohne Überlegung wie ein verwundeter Wolf zur Seite sprang, rutschte Vortimax auf Phaedrus' Blut im Sand aus, und während jener Sekunde, in der Vortimax mit gesenktem Schild um sein Gleichgewicht rang, sammelte Phaedrus die letzten Reste seiner Kraft und stieß zu. Vortimax ließ ein leises, überraschtes Schnaufen hören, kippte vornüber, beschrieb während des Fallens eine Drehung und landete mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden, zum Teil noch durch seinen Schild gedeckt. Auf einem Bein wankte Phaedrus über ihm und mußte an sich halten, um nicht der Länge nach hinzustürzen. Jetzt hörte er die Stimmen der Zuschauer, aber so entfernt, als vernähme er sie in dem unterirdischen Umkleideraum. Mit erhobenem Schwert stand er da, rang in heftigen, schluchzenden Zügen nach Atem und wartete darauf, das »Habet!« zu hören und die nach unten gerichteten Daumen zu 14
sehen. Aber das Signal erfolgte nicht; statt dessen gab es lang anhaltenden, brausenden Beifall. Und da begriff er. Der Kinnriemen an Vortimax' Helm hatte sich während des Sturzes gelöst, der mit Federn geschmückte bronzene Helm war abgefallen und hatte das Gesicht freigegeben. Vortimax war tot. Das wäre beinahe ich gewesen, dachte Phaedrus ohne Gemütsbewegung, während er auf den Toten niederblickte. Es fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, sich nach der Loge des Statthalters umzuwenden und seinen Gruß zu entbieten, während doch alles vor seinen Augen verschwamm und der Boden unter seinen Füßen wankte; da war auch schon Automedon neben ihm und raunte ihm ins Ohr: »Halte durch! Halte durch, Bursche! Wenn du jetzt schlappmachst, dann, das schwöre ich dir, hole ich die Wärter mit den heißen Eisen!« Der Aufseher umschloß mit hartem Griff seinen Arm, um ihn zu dem gewölbten Eingang zu führen. Die Wärter zerrten bereits Vortimax' Leiche aus der Arena. »Nun komm schon - brauchst jetzt was Ordentliches zum Trinken!« In einem irren Anfall von Gelächter ging es ihm durch den Sinn: Sie locken mich weg wie die Wölfe von ihrer Beute - locken mich weg, um mich eines Tages von neuem einsetzen zu können. Er brachte so etwas Ähnliches wie seinen gewohnten forschen Gang zustande und schritt durch die Strahlen der untergehenden Sonne davon, wobei er eine breite Blutspur hinter sich ließ. Er trat in die dämmrige Finsternis des Treppengangs und sah den blakenden Schimmer der Lampen, die unten noch immer brannten. Sein Fuß verfehlte die oberste Stufe, und irgend jemand, der ihn vor einem Sturz bewahrte, erkundigte sich vergnügt: »Schon wieder betrunken? Das ist jetzt nicht die Zeit, sich den Hals zu brechen!« Mit hängendem Kopf saß er auf einer Bank, während der langgestreckte, von Menschen belebte Umkleideraum sich um ihn drehte. Sie hatten ihm den Helm abgenommen, und der syrische Arzt umwickelte sein Knie so fest mit Leinwandstreifen, daß er es nicht beugen konnte. Plötzlich nannten viele angeberische Stimmen seinen eigenen Namen, und zwischendurch tauchten immer wieder die Worte »hölzernes Schwert« auf. Man schlug ihm auf die Schulter, um ihn zu sich zu bringen, und flößte ihm den versprochenen Gerstentrank ein, 15
der wie Feuer durch seine Adern rann und die Welt um ihn wieder festigte. »Und jetzt hoch mit dir!« sagte Automedon. »Hoch!« Und dann wurde er wieder zur Treppe und zur Eingangstür gestoßen und trat hinaus in das abendliche Sonnenlicht, das jenseits der großen Doppelpforte flimmerte. Da plötzlich dämmerte ihm die Wahrheit! Irgendwie — zum Teil mit Hilfe des Gerstengetränks - gelang es ihm, sich zusammenzunehmen und so forsch wie möglich einherzuschreiten, soweit sein steifes Knie ihm das erlaubte. Er brachte die wenigen Schritte bis zur Loge des Statthalters steifbeinig und gespreizt stolzierend hinter sich. Das grobe, gewitzte Gesicht des Silvanus schien vor seinen Augen auf Wolken von strahlender Bedeutungslosigkeit zu schweben, und die übrige Welt war nur ein verschwommenes Etwas. So bemerkte Phaedrus nicht jenen braunhäutigen, verwittert aussehenden Mann mit Ohrringen aus Silber und Korallen, der sich auf einer nahen Bank ganz unvermittelt vorlehnte und ihn aus plötzlich geweiteten Augen anstarrte. Phaedrus sah nichts als die kräftige, fleischige Nase des Statthalters und seine kleinen scharfblickenden Augen, und schließlich sah er auch das Schwert mit der Klinge aus weichem Eschenholz, das fast ebenso weiß schimmerte wie die silberne Scheide. Er nahm es aus der Hand des Statthalters in die eigene und spürte, wie leicht es wog gegen den schweren Gladius, an den er gewöhnt war, und wie anders es sich halten ließ, als er es jetzt zum Salut emporwarf. »Phaedrus! Roter Phaedrus!« brüllte die Menge ihm entgegen. Die dicke Frau, die ihm die wilde Rose zugeworfen hatte, warf ihm nun ein emailliertes Armband vor die Füße, und zwei oder drei andere Zuschauer folgten ihrem Beispiel. Aber Phaedrus merkte kaum etwas von diesen Geschenken. Er wußte nur, daß er jetzt ein freier Mann war, daß er eine der beiden Schwellen erreicht hatte, die ihn erwartet hatten, und daß er trotz aller Zurufe und trotz allen Triumphes diese Schwelle allein überschreiten mußte, allein den Schritt wagen in die unbekannte Welt, die dahinter lag. 16
Corstopitum bei Nacht In dem vom Heidehochland hereinwehenden Nieselregen stand er vor dem Tor der Gladiatorenschule unter den in Stein gemeißelten Helm und Waffen, die den Giebel schmückten, und schlug den Mantel fester um sich. Er trug einen neuen und sehr vornehmen Mantel, gefertigt aus safrangelbem Wolltuch und besetzt mit Borten in Schwarz, Karmesinrot und Blau. Der Mantel war das Geschenk eines Kaufmanns, der voller Bewunderung miterlebt hatte, wie er Vortimax getötet und sein hölzernes Schwert errungen hatte. Ein hochgewachsener Mann war er gewesen, jener Händler, zäh, hager und ausgedörrt wie ein Stück altes, verwittertes Pferdeleder, doch an seinen Ohren hatte schwerer Schmuck aus Silber und Korallen gebaumelt. Am Morgen nach den Kämpfen hatte er sein Geschenk persönlich überbracht und Phaedrus dabei so eindringlich ins Gesicht gestarrt, daß der Gladiator schließlich lachend gesagt hatte: »Du wirst mich wohl wiedererkennen, auch wenn ich nicht diese Regenbogenpracht von einem Mantel trage!« Der Mann hatte nur die leicht faltigen Lider über die Augen gesenkt, ihn jedoch weiter angestarrt und: »Hm - ich würde dich wohl wiedererkennen«, gemurmelt, mit einem gewissen Etwas in seiner Stimme, das Phaedrus plötzlich hatte wachsam werden lassen. Trotzdem hatte er den Mantel behalten; es war ein wertvolles Stück, und nicht umsonst hatte Phaedrus vier Jahre in der Gladiatorenschule zugebracht, wo man lernte, niemals ein Geschenk auszuschlagen. Er blickte die Straße hinauf zum Lager der Legion und dann die Straße hinunter, wo sich die Bäder und die tiefer gelegenen Viertel der Stadt befanden, unschlüssig, welchen Weg er einschlagen sollte, da ihm doch jetzt alle Wege offenstanden. Er fühlte sich plötzlich wie ein Fremder in dieser Stadt, die er doch ebensogut kannte wie die Risse im Mauerverputz hinter seiner Schlafpritsche. Nun, es hatte jedenfalls keinen Zweck, hier den ganzen Tag herumzustehen - er würde sich eine andere Schlafpritsche suchen müssen. Er schulterte das längliche Bündel, in dem sich neben dem hölzernen Schwert seine wenigen Habseligkeiten befanden, und ging die Straße 17
hinunter - ein wenig hinkend noch, weil die halbverheilte Wunde (sie hatten ihn noch ganze zwei Wochen dort behalten, bis sie einigermaßen vernarbt war) ihn noch behinderte. Beim dritten Versuch fand er eine Unterkunft - ein schmutziges Zimmer in einem Haus unten am Fluß, das einem einäugigen, aus dem Heeresdienst entlassenen Maultierführer gehörte. Phaedrus ließ sein Bündel zurück und ging wieder fort, dieses Mal zu den Bädern, wo er sich eine volle Behandlung angedeihen ließ, nach der siedenden Hitze des Schwitzraumes den atemberaubenden Sprung ins kalte Wasser tat und sich schließlich wie ein feiner Herr ausstreckte, während ein Sklave ihn mit parfümiertem öl einrieb und mit einem Bronzestriegel abschabte. Zu guter Letzt ließ er sich den lohfarbenen Flaum seines jungen Bartes abrasieren. Das alles kostete ihn eine ganze Menge, aber in dem kleinen Lederbeutel, den er um den Hals gebunden hatte, befanden sich ja das Armband jener dicken Frau und noch einige andere Kleinigkeiten; außerdem verlernte man in der Gladiatorenschule, für ein Morgen zu sparen, das es vielleicht nicht gab. Und schließlich half dies alles mit, die Zeit zu vertreiben. Aber die Trompete vom Sammelplatz verkündete eben erst die mittägliche Wachablösung, als Phaedrus schon wieder auf den Säulengang hinaustrat. Ein paar vorbeischlendernde Männer blickten zu ihm herüber, erkannten ihn und sagten irgend etwas zueinander. Der Regen hatte aufgehört. Eine bleiche Sonne schien auf die feuchten Ziegel und Pflastersteine und ließ zarte Schwaden verdunstendes Wasser aus durchnäßtem Dachstroh aufsteigen. Das Haar klebte ihm noch feucht an der Stirn, als er die Stufen des Säulengangs hinunterging, und der herrliche Mantel, der von den Schultern herabfiel, verlieh ihm in gewisser Weise die großsprecherische, unbürgerliche Pracht einer gelben Ringelblume. Weil er wußte, daß sie ihn noch beobachteten, ging er die Straße hinunter, als strebte er einem bestimmten Ziel zu. Während der folgenden Stunden wanderte er in Corstopitum umher. An einem Stand kaufte er sich ein braunes Gerstenbrot und scharfen Ziegenkäse. Beides aß er während eines neuen Regenschauers auf den Stufen, die zum Fluß hinunterführten. Dann 18
nahm er seine Wanderung wieder auf. Er war frei! Zum erstenmal in seinem Leben ein freier Mann! Sein Name war mit dem Zusatz »ehrenvoll entlassen« anstatt mit dem weit häufiger vermerkten »tot« in dem Verzeichnis der Gladiatorenschule gestrichen worden. Seinen amtlichen Freilassungsbrief, unterzeichnet vom Magistrat und von dem Besitzer der Gladiatorenschule, trug er in dem kleinen Beutel, der an seinem Hals baumelte. Niemand mehr war sein Herr, und es gab keinen, bei dem er sich nach einem freien Tag zurückzumelden hatte. Und doch fand er sich an diesem Tag mehr als einmal vor dem Doppeltor mit den darüber eingemeißelten Waffen wieder, oder er ertappte sich dabei, wie er zu dem außerhalb des Südtors gelegenen grasbewachsenen Amphitheater wanderte. Das letztemal, als ihm das passierte, blieb er mit einem Fluch stehen und blickte sich um. Er sah, daß die Dämmerung hereingebrochen war und daß ein Stück die Straße hinunter irgend jemand die erste Laterne des Abends herausgehängt hatte. Der erste Tag neigte sich seinem Ende zu, und Phaedrus dachte plötzlich: Dies ist nur ein Tag, nur der erste - und morgen wird wieder einer sein, und dann noch einer, und noch einer ... Ein Gefühl der Panik stieg in ihm auf, wie er es in der Arena, wo man sich nur vor körperlichem Schmerz fürchten mußte, nie gekannt hatte. Das Gefühl wurde so stark, daß er sich einen Augenblick an die nächste Mauer lehnen mußte. Dann stieß er sich mit einem spöttischen Lachen von der Mauer ab, wandte sich zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, und steuerte auf die schmaleren Seitenstraßen zu, wo die weniger vornehmen Weinschenken zu finden waren. Narr - du brauchst etwas zu trinken! Das ist alles, was dir fehlt - eine Menge Wein! Vollaufen lassen wie einen Schlauch kannst du dich heute und deinen Rausch ausschlafen wie ein Kaiser! Brauchst nicht mehr beim ersten Morgengrauen hinaus auf den Übungsplatz mit einem Kopf, der so schwer ist wie der Amboß des Hephaistos, und mit Augen, die alles doppelt sehen! An der ersten Schenke ging er vorüber. Hier kehrten mit Vorliebe die für einen Abend in die Stadt beurlaubten Gladiatoren ein, und er wollte den einstigen Gefährten nicht begegnen. Merkwür-
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dig, daß er jetzt vor dieser Möglichkeit zurückschreckte - es war so etwas wie Verlegenheit, das Gefühl, als würde man nicht so recht wissen, wie man einander ins Gesicht sehen sollte. Nur einen unter ihnen allen zu treffen, hätte ihm nichts ausgemacht, aber diesen einen hatte er in der vorletzten Woche getötet. Selbst drängend und von anderen angerempelt, die noch immer die Straßen auf und ab eilten, bahnte er sich seinen Weg, bis die ROSE VON PAESTUM ihren gelben Lichtschein vor ihm auf die Straße warf und das Stimmengewirr an sein Ohr drang. Er trat ein und schlug dabei mit der schauspielerhaften Großtuerei seines bisherigen Gewerbes den Mantel zurück, während er sich quer durch die Menge zum Schanktisch am hinteren Ende des Raumes drängte, um dort einen Becher Wein zu verlangen. Er grinste das Mädchen, das ihn bediente und dessen Locken fettig herabhingen, an. Dann legte er nach der Manier vornehmer Herren neben das Geld für den Wein noch eine kleine Bronzemünze extra auf den Schanktisch. Es griff schon halb danach, doch dann schob es die Münze zurück. »Die ist zuviel.« »Dann behalte sie doch für dich.« »Behalt du sie nur«, erwiderte es. »Ich denk', du hast sie dir hart genug verdient, mein Junge.« »Na schön, wie du willst. Nimm dies dafür«, sagte Phaedrus, beugte sich über den Schanktisch, schlang einen Arm um seine Schultern und gab ihm einen geräuschvollen Kuß. Unter der billigen Duftessenz roch es nach warmer, ungewaschener Mädchenhaut, und sie zu küssen milderte ein wenig die Kälte jener ratlosen Leere, die sich auf der Straße vor ihm aufgetan hatte. Er nahm seinen Becher und die kleine Geldmünze vom Tisch -das Mädchen war von der gleichen Art wie er selbst, war ein Teil seiner eigenen Welt, und die Münze trotzdem liegenzulassen, wäre so etwas wie Verrat gewesen -, schlenderte hinüber zu einer Sitzbank an der Wand und ließ sich dort nieder. Den größten Teil des Weines - obwohl er nicht allzuviel Aroma hatte - trank er in einem Zug hinunter, saß dann lange Zeit mit dem fast geleerten Becher in der Hand da und starrte blicklos über die 20
Köpfe der Menge hinweg auf die gegenüberliegende Wand und das verblichene Fresko einer Tänzerin mit einer Rose in der Hand, die der Schenke ihren Namen gegeben hatte. Was würde er mit den Tagen, die nun vor ihm lagen, anfangen? Dieser Augenblick der Panik auf der dämmrigen Straße, die erschreckende Vision einer Leere, die sich Tag für Tag bis in alle Ewigkeit wiederholen würde, waren albern gewesen, albern aus dem sehr einfachen Grund, weil man essen mußte, um überhaupt weiterzuleben, und arbeiten mußte, wenn man künftig etwas zu essen haben wollte - das Armband der dicken Frau würde nicht ewig reichen. Wie wäre es mit den Adlern*? Nein, natürlich nicht die reguläre Legion, aber vielleicht die Hilfstruppen, die an der Grenze Dienst taten? Ein Versuch würde sicher nicht schaden; aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der alte, einarmige Marius, der oben im Lager das Kommando führte, einen ehemaligen Gladiator nehmen würde. Nun denn - vielleicht könnte er irgendwo den Wagenlenker machen? Eine Arbeit übernehmen, bei der er mit Pferden zu tun hatte? Aber Leute, die Pferde besaßen, wollten keine freien Stallknechte oder Wagenlenker, wenn sie um zwölf Aurei einen Sklaven bekommen konnten. Nein - der Schwertkampf war für ihn der einzige Broterwerb; vielleicht konnte er sich irgendwo in einer der Städte des Südens von einem Fechtmeister anstellen lassen und würde also dabei enden, daß er junge Grünschnäbel aus der Stadt die effektvollsten und sichersten Fechthiebe lehrte. Bei dieser Aussicht wurde ihm übel. In der Menge entstand eine Bewegung. Auf seine Hand, die den Becher hielt, fiel ein Schatten; und als Phaedrus rasch aufblickte, sah er, daß von einem nahen Tisch ein junger Mann aufgestanden und neben ihn getreten war. Phaedrus kannte ihn flüchtig - es war Quintus Tetricus, der Sohn des Heereslieferanten. Zugleich erkannte er zwei oder drei unter den Gesichtern rings um den Tisch, die alle ihm zugewandt waren. »Seht nur, wer hier alleine sitzt und trinkt!« sagte Quintus, der offenbar für die anderen sprach. »Nein, wirklich, das ist keine Art, sein hölzernes Schwert zu feiern!« 21
»Ich habe allein dafür gekämpft und kann deshalb ebensogut allein den Siegesbecher trinken«, erwiderte Phaedrus barsch. »Der Wein schmeckt mir allein genauso süß, und hinterher schnarche ich dann allein unter dem Tisch.« * römische Soldaten »Komm herüber und trink mit uns, dann schnarchen wir später alle gemeinsam unter dem Tisch«, sagte Quintus, und die Männer in der Tischrunde lachten. »Ich fühle mich ganz wohl hier, wo ich bin.« In der Stimmung, in der sie sich befanden, hätten sie selbst den zur Tür hereintorkelnden Tanzbären eines fahrenden Gauklers zum Mittrinken aufgefordert, und Phaedrus hatte keine Lust, nach ihrer Pfeife zu tanzen. »Auch mit dem leeren Becher? Nein, nein, mein Roter Phaedrus! Komm und leere einen neuen Becher mit uns; wir haben einen Krug Falerner - Adlerblut!« Weitere Stimmen erhoben sich drängend. Man rückte auf den Bänken enger zusammen, um für einen neuen Tischgenossen Platz zu machen. Und plötzlich, weil es ja eigentlich auch ganz gleichgültig war, schien es ihm einfach zu mühsam, weiter abzulehnen. Er zuckte die Achseln, stand auf und fand sich, ohne recht zu wissen, wie es geschah, zwischen Quintus und seinen Freunden sitzend, einen randvollen Becher mit unverwässertem Falerner in der Hand. Rings um den weinbespritzten Tisch grinsten ihn gerötete Gesichter an. Ein ihm völlig fremder junger Mann mit flachsblond gebleichtem Haar, wie einige der jungen Krieger unter den Stammesleuten es trugen - es war gerade modern, sich sehr britannisch zu geben -, schlug ihm auf die Schulter und schrie: »Das ist er also! Laßt uns auf sein Wohl trinken! He, du Glücklicher - das war ein herrlicher Kampf!« Von allen Seiten hob man die Becher: »Roter Phaedrus! Glück und ein langes Leben!« Phaedrus lachte und trank mit ihnen auf diesen Hochruf, trank, bis der Becher leer war. Es würde angenehm sein, betrunken zu werden. »Ein herrlicher Kampf, ja. Hast du ihn gesehen?« 22
»Ich hätte ihn nicht um alles Gold aus Eburacums Münze versäumen mögen!« »Bei dem flachen Schlag dachte ich, der Gallier hätte dich erwischt«, sagte ein anderer. »Das dachte ich auch«, erklärte Phaedrus, leerte seinen Becher und schüttete den Bodensatz über seine Schulter hinweg auf den schmutzigen Fußboden, wo er sich wie Tropfen geronnenen Blutes ausnahm. »Was ist schließlich ein Freund? Also ich trinke noch etwas, wenn man mich darum bittet.« Bald darauf - er hatte keine Ahnung, wie viele Becher Wein er inzwischen getrunken hatte - bemerkte er, daß die Schenke sich allmählich leerte. Das Schankmädchen und zwei Sklaven sammelten die leeren Becher ein und wischten den vergossenen Wein auf, während am anderen Ende des Raumes Bänke aufeinandergestellt wurden. »Sieht ganz so aus, als ob sie schließen.« Ein rundlicher, dunkelhaariger junger Bursche, der sich den ganzen Abend ruhiger als die übrigen verhalten hatte, blickte ein wenig einfältig in die Runde. »Ei-eigenartig, wie schnell der Abend in guter Ge-gesell-schaft vergangen ist.« »Wer sagt denn, daß er schon vergangen ist? Ich habe noch immer Durst.« Quintus lehnte sich an die Wand zurück und winkte befehlend dem Mädchen. »He, meine Schöne! Wir brauchen Wein!« Das Mädchen blickte von seiner Beschäftigung auf. »Wir schließen jetzt«, sagte es. »Nicht, solange ich hier bin - kommt gar nicht in Frage.« Es sah zum Eigentümer der Schenke hinüber. Seinen Bauch unter dem schmutzigen, mit Weinspritzern befleckten Kittel vorgestreckt, watschelte er quer durch den Raum auf die Männer zu. »Die ROSE VON PAESTUM ist nicht die ganze Nacht geöffnet«, sagte er. »Das ist ein anständiges Lokal, ihr Herren, und wir brauchen unseren Schlaf genauso wie andere Leute.« Quintus torkelte und wurde blutrot. Seine Hände suchten das Messer, doch Phaedrus, mit dem letzten bißchen Vernunft, das er noch in sich hatte, legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn auf 23
die Bank. »Nur gemach! Die ROSE VON PAESTUM ist ja nicht die einzige Weinschenke in Corstopitum.« Ein dicker, rotgesichtiger Jüngling mit schlaffem Mund grinste zustimmend. »Hab' genug von dem Mädchen da an der Wand. Die blättert sowieso schon ab. Gehen wir doch und suchen uns ein paar richtige Tanzmädchen.« Irgendwie einigte man sich, die restliche Zeche wurde nach vielem Feilschen bezahlt, und einer nach dem anderen trat hinaus auf die Straße, während sie bereits heftig darüber diskutierten, wohin sie jetzt gehen sollten. In dem stickigen, heißen Raum der Schenke waren sie nur von lärmender Fröhlichkeit und gelegentlich auch etwas streitsüchtig gewesen, aber nun wirkte die frische Luft wie eine andere Art Wein auf Köpfe und Beine. Ich bin betrunken! dachte Phaedrus. Seit den Saturnalien bin ich nicht mehr so betrunken gewesen! Nun, er hatte sich an diesem Abend einen Rausch wie ein Kaiser antrinken wollen, und das Gefühl war durchaus angenehm. Er sah sich nicht mehr jener Kälte der Einsamkeit ausgesetzt, und das Morgen mochte für sich selbst sorgen; er fühlte sich im Augenblick riesengroß und seltsam entfernt von seinen eigenen Füßen. Mit nur einer Hand hätte er jetzt den Kampf gegen eine Legion aufgenommen und mit einem Pfiff die sieben Sterne des Orion vom Himmel herunterbeordert. Die Welt war eben doch nicht so trostlos. Sie hatten ihr Bedürfnis nach Tanzmädchen vergessen und schwankten eine Weile singend und einander die Arme um die Schultern legend durch die Straßen. Ehrbare Leute verschwanden hastig in den Hauseingängen, wenn sie sich näherten, was ihnen als ein Riesenspaß vorkam; sie brüllten vor Lachen und begannen im Vorbeigehen an Türen zu schlagen und jedem wütenden Gesicht, das in den höher gelegenen Fenstern auftauchte, Beleidigungen zuzuschreien. Sie hatten keine klare Vorstellung, wohin sie eigentlich gingen, aber bald darauf fanden sie sich im Zentrum wieder, wo vor ihnen die mächtigen Gebäude des Forums und, einer Felsklippe gleich, die Basilika im Licht der späten Laternen in die Dunkelheit aufragten. Zwischen den verschlossenen Läden, die sich daran 24
anlehnten und die sich den äußeren Säulengang entlang hinzogen, zeigte hier und dort der Schein einer Laterne an, wo ein später Weinausschank noch offen hatte, und der Anblick kleiner Menschentrauben, die sich darum versammelten, erweckte in Phaedrus und seinen Zechbrüdern wieder neuen Durst. »Los«, sagte Quintus. »Wir trinken noch einen.« »Ist eigentlich genug.« Der rundliche Dunkelhaarige zeigte von ihnen allen noch am meisten Bedächtigkeit. »Vielleicht sollten wir lieber nach Hause traben.« »Roma Dea! Die Nacht fängt doch erst an - zwei volle Wachen sind es noch!« Und ein anderer aus der Schar der jungen Männer hob die Stimme zu klagendem Gesang: »Blick nicht zu tief in den Becher, mein Sohn, mein einziges Kind! Sei nicht so ein wüster Zecher wie andere Leute es sind!« Im Chor fielen die anderen ein: »Gelber Wein aus Chios, der aus Gallien ist dunkel und rein, doch der blutigrote Falerner, der rubinrote Falerner der feuerrote Falerner, ist der allerherrlichste Wein!« Und dann, in verschwommenem Stammeln: »Aus - ganz — bestimmtem - Grunde - lieg" — ich - hier — Stund' — um Stunde -, doch - weiß - ich - nicht - mehr - ganz - genau — warum? - Ich — werd' - selbst - nicht - draus - schlau!« Und während sie einander zu immer neuen Darbietungen anfeuerten, strebten sie dem nächsten der noch offenen Weinstände zu, der sich nahe beim Haupttor mit der Siegesinschrift und den wachsamen, aus Stein gehauenen Löwen befand. Der Weinausschank war eigentlich nur ein Tisch unter dem Dach des Säulenganges, hinter dem zwei klobige Krüge für Wein und Wasser standen und auf dem mitten zwischen einigen Hornbechern eine Lampe aus rotem Ton brannte. Er wurde von einem ehemaligen 25
Legionär betrieben, der an diesem Abend kurz zuvor schon Ärger mit Betrunkenen gehabt hatte. .Er blickte ihnen, während sie näher kamen, mit grimmigem Mißvergnügen entgegen und begann auffällig die Hornbecher ineinanderzustecken. »Was wollt ihr hier eigentlich?« Quintus lehnte sich gegen den Tisch. »Weswegen kommt man denn an einen Weinausschank, he? — Sag mir das mal. Wes-we-wegen kommt man-man ...« »Nun, dann seid ihr zu spät gekommen«, erklärte der Eigentümer des Standes. »Seht ihr nicht, daß ich für heute gerade Schluß mache?« Quintus schüttelte den Kopf. Die anderen traten inzwischen näher heran, während er mit gekünstelter Sorgfalt erwiderte: »Dasselbe haben sie uns auch in der ROSE VON PAESTUM gesagt. Genauso - nur war es nicht wahr. Denen ge-gefielen unsere Gesichter nicht. Dir gefallen sie wohl auch nicht, wie?« »Habe schon erfreulichere gesehen.« »Aber unser Geld ist schließlich genausogut.« Quintus warf eine Handvoll klappernder Münzen auf den Tisch und stieß sein sich verdüsterndes Gesicht dem Exlegionär entgegen. »Und das allein ist doch für dich wichtig, oder? Und jetzt wollen wir Wein haben. I-ich und mei-meine Freunde - wir-wir wollen Wei-wein.« »Aber nicht hier - kommt nicht in Frage.« Der Mann schob Quintus das Geld wieder zu. »Nimm das Zeug hier wieder weg, und dann verzieht euch ins Bett, ihr Burschen!« Die anderen hatten sich nach und nach um den Stand geschart; drohendes Murmeln erhob sich unter ihnen. Phaedrus, der sich plötzlich aus seiner gehobenen Stimmung gerissen fühlte und trotz der seligen Benebelung durch den Falerner wieder an die graue, eintönige Zukunft denken mußte, die er so erfolgreich ertränkt zu haben glaubte, spürte ein heftiges Verlangen, mit jemandem zu kämpfen, gleichgültig, wer es sein mochte. Mit den Ellenbogen bahnte er sich seinen Weg zu Quintus in die vorderste Reihe. »Und wenn wir nun keine Lust haben, ins Bett zu gehen? Wenn uns nun durch und durch 26
nach einem Becher Wein und nach nichts anderem sonst auf der Welt zumute ist?« Die Stimmung der ganzen Schar wurde gefährlich; Phaedrus konnte spüren, wie die Drohung in seinem Rücken wuchs, wie sich die Kraft aller zusammenballte, und er sah an dem plötzlich wachsam gewordenen Blick des Exlegionärs, daß auch dieser die Gefahr erkannt hatte. Ein Legionär von den Adlern, für die er, Phaedrus, nicht gut genug war. Im Augenblick schien es ihm, als hätte er tatsächlich den Gang zum Lager unternommen und wäre dort abgewiesen worden. »Dann mußt du es an einem anderen Ausschank versuchen, Gladiator. Ich schließe jetzt!« Unvermittelt verfiel der Mann in den barschen Ton des Exerzierplatzes, während er die klappernden Hornbecher in einen Korb schleuderte, den ein Junge hinter ihm unter dem Tisch hervorgezogen hatte. Aus den Augenwinkeln sah Phaedrus, wie sich mehrere andere Männer näherten; die Eigentümer der Weinstände waren zum größten Teil ehemalige Legionäre, die zusammenhielten, wenn es Schwierigkeiten gab. »Na gut! Dann werden wir dir beim Aufräumen helfen!« brüllte Quintus und stieß den größten Krug um. Im gleichen Moment, während sich der Schankwirt wie ein gereizter Bulle, auf dessen Schwanz eine Bremse sitzt, in den Kampf stürzte, packte Phaedrus das eine Ende der Tischplatte und hob sie an, so daß alles, was sich darauf befand, mit einem Krachen auf dem Boden landete, was ihm Genugtuung bereitete. Sofort entwickelte sich rings um die Verwüstung eine Schlägerei. Der rote Sabinerwein floß wie Blut über die Pflastersteine. Die Lampe war mit dem übrigen zu Bruch gegangen, und kleine Rinnsale von brennendem öl vermischten sich mit dem Wein. »Achtung! Die Wache!« schrie plötzlich jemand. Und die ganze Sache, die wenig mehr als ein wüster Spaß gewesen war, verwandelte sich in einen Alptraum. Irgend jemand - in der Dunkelheit gelang es Phaedrus nicht, ihn zu erkennen - zog ein Messer. Im flackernden Licht des zu ihren Füßen brennenden Öls sah er flüchtig das metallische Aufglänzen. Eine 27
Stimme rief: »Laß doch den Unsinn - bei allen Göttern ...«, und ein Legionär der Wache fiel mit einem schrillen Schrei zu Boden. Eines der kleinen brennenden Rinnsale hatte das ausgedörrte Fassadenholz eines nahen Ladens erreicht; als ob sie den Geschmack prüfen wollte, leckte eine schwankende Flamme daran hinauf, und dann erfaßte das Feuer prasselnd den Fensterladen. In dem roten Geflacker sah Phaedrus den Helmbusch und die gepanzerten Schultern des Patrouillenoffiziers, der sich zum Angriff duckte, während etliche Männer grimmig entschlossen hinter ihm vorwärts drangen. Die kleine Schar von Nachtschwärmern zerstreute sich und verschwand mit von Panik beflügelter Hast. Phaedrus sprang ins Dunkel zurück und wandte sich zur Flucht. Aber während der Schlägerei hatte er einen Stoß gegen die erst halb verheilte Wunde erhalten, und jetzt gab sein Knie plötzlich unter ihm nach. Er hörte einen Schrei, das Stampfen von Füßen, und während er sich noch von dem Sturz aufrappelte, den er kopfüber getan hatte, warfen sich schon zwei der Wachsoldaten auf ihn. »Hier ist wenigstens einer von der Bande!« schrie eine Stimme, und erbarmungslose Hände zerrten ihn auf die Füße und zurück in den Feuerschein der brennenden Ladenfassade, wo einige Männer der Wache mit Wasser aus dem Forumsbrunnen bereits ans Werk gingen. Er erhaschte einen raschen Blick auf den Helmbusch des Offiziers, der sich hoch und schwungvoll wie eine Pferdemähne vor dem verlöschenden Feuer abhob; darunter hervor sagte kühl und angewidert eine Stimme: »Einen einzigen! Und Gerontius haben sie den halben Bauch aufgeschlitzt!« Alle Verfolgungsgeräusche verklangen in der Ferne. Phaedrus wand sich in den Händen seiner Bezwinger und begann sich zu wehren. Vier Jahre in der Gladiatorenschule, wo persönliche Zwi-stigkeiten ohne Waffen und fern von den Augen der Obrigkeit ausgetragen wurden, hatten ihn auch andere Kampfmethoden als nur die des Schwertes gelehrt, und die wandte er nun alle an -jeden der erlaubten und der gemeinen Tricks. Aber die teilweise wieder aufgeplatzte Wunde 28
behinderte ihn, und als er versuchte, einem seiner Bewacher das Knie in die Leistengegend zu stoßen, versagte es ihm den Dienst. »Ah - das möchtest du wohl, wie? Du stinkender Wildkater!« knurrte jemand ihn an; er wurde zur Seite gezerrt, und etwas, das ihn an einen Blitz erinnerte, traf ihn unter dem linken Ohr. Zuckend fuhr die Flamme des Schmerzes von der getroffenen Stelle durch seinen Schädel, und inmitten von bunten, umherwirbelnden Funkenrädern sank er in eine brausende Finsternis.
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Midir, der Dalriade In einer Ecke der Zelle saß Phaedrus auf einem Haufen schmutzigem Stroh, zerrte an dem blutverkrusteten Lumpen, der um sein Knie gebunden war, und sah zu, wie das letzte Tageslicht hinter der hochgelegenen, schmalen Fensteröffnung verblich. Es war gegen Mittag gewesen, als sie ihn aus dem großen Gemeinschaftsraum des Gefängnisses herausgeschleppt und in diese Zelle gestoßen hatten. Zu der Zeit hatte er sich zu elend gefühlt, als daß es ihn weiter gekümmert hätte; fast hatte er es nicht einmal bemerkt. Es war etwas Merkwürdiges mit dieser Übelkeit gewesen: Kaum hatte er am Morgen das trockene Haferbrot und das Wasser hinuntergewürgt, da war ihm so plötzlich und so furchtbar übel geworden, daß er sich überlegte, ob man ihn vergiften wollte - bis er selbst zu solchen Überlegungen nicht mehr fähig war. Auch jetzt noch schmerzte - wenn auch nur noch dumpf - sein Kopf; es war ein bleiernes Drücken anstelle jenes drohenden Pochens vor ein paar Stunden. In seinem Leib war alles schmerzhaft verkrampft, doch litt er jetzt nicht mehr unter jenem fröstelnden Schwitzen. Und nun begann er sich mit wachsender Besorgnis zu fragen, warum er in diese kleine Zelle gebracht worden war - abgeschlossen von den übrigen Gefangenen. Vielleicht wegen dieser plötzlichen Übelkeit? Hatte man befürchtet, es könnte eine Krankheit sein, die, im Gefängnis entstanden, sich ausbreiten und über die Gefängnismauern hinaus in Corstopitum ausbrechen könnte? Oder war der verwundete Legionär gestorben? Er war noch am Leben gewesen -so viel hatte Phaedrus erfahren, als man ihn vor sechs Tagen in das städtische Gefängnis geworfen hatte -, aber er konnte ja in der Zwischenzeit gestorben sein. War diese Einzelzelle vielleicht der Ort, wo man Gefangene hielt, die das Todesurteil erwartete? Es war schon etwas anderes, mit dem Schwert in der Hand und vor überfüllten Bänken voll lärmender Zuschauer ein anständiges Ende zu finden, als so zu sterben ... Ein nicht gerade erfreulicher Gedanke, und er verband sich mit dem unbehaglichen Gefühl, daß die feuchten Steinwände sich immer enger um ihn schlössen. 30
Ganz bewußt schob er die Wände von sich weg und zwang sich, ruhiger zu atmen. Die Tatsache, daß er den Hieb gegen den Legionär nicht geführt hatte, würde ihm in keiner Weise zustatten kommen, das wußte er wohl. In den Augen der römischen Justiz hatten sie alle gleichermaßen zugestoßen, alle das Messer gezogen. Und die anderen hatten sich alle davonmachen können. Nun, er würde einen guten Sündenbock abgeben - ehemaliger Gladiator, entlassen mit dem hölzernen Schwert, feiert seine Freiheit und betrinkt sich, sticht bei einer Straßenschlacht einen Wachsoldaten nieder; für die Akten eine hübsche, abgerundete Geschichte, in der keine Fragen offenbleiben würden, und also bestand keine Veranlassung, weiter nach dem Täter zu suchen. Draußen ertönten schwere Schritte, und der Gefängniswärter erschien vor dem Eisengitter der Tür, bückte sich, um die Schüssel mit dem Abendessen unter der untersten Gitterstange hindurchzuschieben, und ging ohne ein Wort schwerfällig weiter; ein paar Augenblicke später hörte Phaedrus den plötzlich aufbrandenden Lärm, mit dem in der großen Gefängnishalle jedesmal das Eintreffen des Essens begrüßt wurde. Er warf einen Blick auf die Schüssel, die der Wärter auf dem Boden zurückgelassen hatte; aber der Anblick des schwarzen Roggenbrotes und des wäßrigen Bohnengemüses erregte in ihm Brechreiz. Er blieb sitzen und ließ die Schüssel, wo sie war. In der Zelle war es jetzt dämmrig geworden, obwohl draußen vor dem kleinen, hoch in der Wand befindlichen Fenster noch immer heller Himmel war. Hinter der Gittertür wurde allmählich ein schwaches, lohfarbenes Glühen sichtbar — der Schein der Fackel, die die ganze Nacht hindurch am oberen Absatz der Treppe brannte. Bald darauf kehrte der Wärter zurück, doch anstatt nur die Schüssel herauszuholen und weiterzugehen, blieb er stehen und nahm etwas Klirrendes von seinem Gürtel. Seine Hände wurden vom Rand der Tür verdeckt, aber Phaedrus hörte, wie Metall an Metall schlug und das Schloß aufschnappte. Der lange Riegel, der die Tür geschlossen hielt, wurde gelöst und zurückgezogen, und die Tür schwang auf. »Heraus mit dir!« sagte der Mann und trat zurück. 31
Schon hatten sich Phaedrus' Muskeln mit der raschen Reaktionsfähigkeit des Arenakämpfers gespannt, um die Chance zur Freiheit zu ergreifen, aber er machte keine Bewegung. Es hatte keinen Zweck, sich auf die Tür zu stürzen, wenn sie schon offenstand — und die Götter wußten, was dahinter wartete . .. »Raus - habe ich gesagt! Los jetzt, komm heraus!« Ohne Eile stand Phaedrus auf. »Soll ich vor dem Magistrat* erscheinen? Wird auch langsam Zeit - sechs verfluchte Tage hat er mich warten lassen.« »Zu dieser Zeit? Außerdem ist der Magistrat noch nicht zurück. Glaubst du vielleicht, er wird wegen einem solchen Kerl wie dir seinen Jagdausflug abkürzen?« »Kaum«, erwiderte Phaedrus und fragte dann: »Ist der Mann tot?« »Den du mit dem Messer bearbeitet hast? Nein, ich habe nichts gehört.« * römischer Beamter Das war immerhin etwas; aber noch immer stand Phaedrus voller Wachsamkeit an die Mauer gelehnt. Das verstohlene Gebaren des Mannes wollte ihm nicht gefallen. »Wohin bringst du mich dann? Warum muß ich zu dieser späten Stunde meine Zelle verlassen?« Der Wärter zuckte die breiten Schultern. »Wie soll ich das wissen? Meine Befugnisse gehen nicht über die Schwelle der Wachstube hinaus. Also - kommst du jetzt, oder soll ich meinen Gehilfen rufen?« »Ich komme«, erwiderte Phaedrus und stieß sich von der Wand ab. Während er sich bückte, um aus der Zellentür hinauszutreten, wich der Mann trotz seines behäbigen Körpers mit der Geschmeidigkeit einer Katze beiseite, und Phaedrus spürte das Prickeln einer Messerspitze zwischen seinen Rippen. »Und jetzt ganz friedlich.« Als Phaedrus die Berührung des kalten Eisens fühlte, verhielt er einen Augenblick lang den Schritt. Sekundenlang hatte er fast gehofft, daß ihn jemand befreien wollte, doch die Messerspitze schien dieser Vorstellung ein Ende zu setzen. Es war ohnedies ein närrischer Einfall gewesen; zwar stand die Schule, trotz aller Zwi-stigkeiten eine merkwürdige Bandenloyalität bewahrend, für jedes ihrer Mitglieder 32
ein; hatte man jedoch einmal, ob tot oder lebendig, die Gemeinschaft verlassen, dann war man draußen, und die Meute jagte ohne den Vergessenen weiter. »Hier herunter - und aus dem Licht bleiben.« Nun, was immer hier auch geschah, was immer es bedeuten mochte, er hatte nicht viel zu verlieren. Phaedrus war daran gewöhnt, sich Gefahren auszusetzen. Und so fügte er sich ganz bereitwillig und überließ sich dem Geschehen wie ein Schwimmer, der in die Strömung vorstößt. Als er von neuem das warnende Prickeln der Messerspitze zwischen den Rippen spürte, entfuhr ihm ein unterdrücktes, keuchendes Lachen, und dann ging er abseits vom Lichtschein der Fackel den steingepflasterten Gang hinunter. Die große Gefängnishalle mit ihrem Gestank, der an wilde Tiere erinnerte, lag schon hinter ihnen; wieder durchschritten sie den Lichtkreis einer Fackel, der durch die offene Tür der Wachstube auf einen engen Hof fiel, bogen dann um eine Ecke und stiegen ein paar Stufen hinauf. Ein kühler Luftzug fuhr ihnen ins Gesicht und befreite Phaedrus' Kopf ein wenig von der Betäubung jener merkwürdigen Übelkeit. Eine Gestalt, hochgewachsen, doch formlos in der Dunkelheit, trat neben einer geöffneten Hintertür hervor. Ein rascher, gemurmelter Wortwechsel zwischen dem Unbekannten und dem Wärter: »Alles in Ordnung?« Und darauf: »Ja, alles in Ordnung.« Danach zu Phaedrus: »Nimm diesen Mantel um - so, und die Kapuze tief ins Gesicht ziehen. Eine herrliche Nacht heute für einen Spaziergang, mein Freund.« Dann fand sich Phaedrus draußen in einer abgelegenen Gasse und schritt neben der verhüllten Gestalt seines Begleiters einher, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. »Benimm dich so, als ob wir zur nächsten Weinschenke unterwegs wären und also nichts Wichtiges vorhätten«, hörte Phaedrus eine trockene Stimme unter der Kapuze des anderen sagen, eine Stimme, die ihm schwach vertraut erschien und britannisch sprach. Phaedrus blickte ihn von der Seite an. »Und da das unwahrscheinlich ist - wohin sind wir dann unterwegs, in dieser für einen Spaziergang so herrlichen Nacht?« 33
»In keine Falle - wenn du das meinen solltest.« »Kann ich dessen ganz sicher sein?« fragte Phaedrus mit leicht ironischem Unterton. »Nein, sicher bist du dessen nicht, bis es sich als wahr erweist. Du hast nur mein Wort dafür, und es gibt Orte, an denen das Wort Sinnochs des Händlers als verbindlich angesehen wird.« Phaedrus fragte sich, ob das auch hier gelten mochte und zuckte dann unter den fettig riechenden Falten des Mantels die Achseln. Da seine Schwäche mehr und mehr von ihm abzufallen begann, hielt er mühelos mit dem anderen Schritt. Mitten im abendlichen Gedränge passierten sie enge Wege und Hintergassen, kamen dann schließlich in die »Straße des Trompeters« und gingen sie entlang. Es war inzwischen fast ganz dunkel geworden. Ein leichter Nebel zog vom Hochland herein und umgab die Laternen, die hier und dort an Straßenecken und über Ladentüren hingen, mit gelben, dunstigen Schleiern. Aus einer offenen Tür fiel ein Lichtschein quer über die Straße, und zugleich ertönte Stimmengewirr und der amselähnliche kehlige Klang einer Flöte. Mit dem dumpfen Gefühl, sich im Kreise bewegt zu haben, begriff Phaedrus, daß jenes durch die Tür fallende Licht und die Geräusche aus der ROSE VON PAESTUM kamen. Aber der Mann neben ihm berührte seinen Arm, und anstatt unter dem herunterhängenden Efeubusch einzutreten, bogen sie scharf ab in einen schmalen, dunklen Durchgang neben der Weinschenke - und der Kreis war durchbrochen. Nach ein paar Schritten durch die Finsternis fühlte Phaedrus mehr als er sie sah jene Tür, die ihnen das Weitergehen verwehrte. Sie öffnete sich nach einer Berührung des Händlers, als hätte man sie für ihn nur angelehnt gelassen. Sie waren jedoch kaum eingetreten, als der Mann ihn aufforderte zu warten. Während er dort im Finstern stand, hörte Phaedrus, wie sich ein Schlüssel im Schloß drehte und danach das leise Scharren eines Riegels, der vorgeschoben wurde. Wenn dies doch eine Falle sein sollte, war er jetzt hineingetappt, und sie war nun zugeschnappt. Es war merkwürdig, noch immer jenes Stimmengewirr und die Flöte zu hören, zu wissen, daß es auf der anderen Seite der Fachwerkmauer Lampenschein und das vergnügte, abendliche 34
Beisammensein in einer Weinschenke gab, während er hier im Dunkel stand und nicht wußte, was aus dem Ungewissen auf ihn zukommen würde. Sinnoch der Händler ging ihm voraus zu einer zweiten Tür, die sich gleichfalls nach einer leichten Berührung öffnete; und dieses Mal blieb er nicht stehen, um sie hinter sich und Phaedrus abzuschließen. Sie befanden sich in einem engen, von Mauern eingeschlossenen Hof oder Garten, wo eine Laterne von einem wackeligen Weinspalier herab ein paar klägliche Rosenbüsche beleuchtete, die in alten Weinkrügen wuchsen. Nach dem Geruchsgemisch aus Heu und Pferdedung zu schließen, befand sich ein Stall in der Nähe. Am anderen Ende des kleinen Hofes fiel ein schmaler Lichtstrahl durch den Spalt einer Tür, die zu einem Schuppen oder zu einer Reihe von Lagerräumen führen mochte. Der Mann ging quer über den kleinen Hof auf die Tür zu und stieß einen leisen, verstohlenen Pfiff aus, als ob er drinnen jemand von seiner Ankunft verständigen wollte. Dann hob er den hölzernen Türbolzen und trat ein. Phaedrus folgte ihm dicht auf den Fersen. Im Licht einer hübschen Lampe aus rotem Ton, die an einer Kette von den Dachbalken herunterhing, sah Phaedrus einen Lagerraum, erkannte schwach Ballen und Kisten, die an den Wänden entlang aufgestapelt waren, aufgerollte Lederriemen, ein paar Satteldecken und allerlei Pferdegeschirr. Er erkannte auch zwei Bänke, auf denen Decken und Kissen aus dem gestreiften Tuch der Einheimischen lagen, und auf einem Tisch einen bronzenen Weinkrug und Trinkbecher. Sicher war dies ein Privatzimmer der ROSE VON PAESTUM, wie es ein Händler, den es nicht nach der Gesellschaft in der großen Posthalterei am Südtor verlangte, für sich und seine Waren mieten mochte. Aber obwohl sein erster Blick dies alles wahrnahm, war und blieb doch gleich darauf seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf jenen Mann gerichtet, der am Tisch saß. Er war im besten Mannesalter, ganz sicher noch weit unter vierzig und, aus der beinahe grotesk wirkenden wuchtigen Dicke seines Nackens und seiner Schultern zu schließen, von gewaltiger Körperkraft, was auch die Hand verriet, die den eben 35
abgesetzten Trinkbecher umklammerte und nicht zu wissen schien, wie man etwas behutsam hält. Sein Mund war herb und an den Rändern aufgesprungen, so als habe er die Angewohnheit, auf seiner Unterlippe herumzukauen; die schwarzen Brauen trafen sich fast über dem Nasenrücken, und auf Wangen und Stirn trug er jene feinen, eintätowierten blauen Spirallinien, die den Leuten aus dem hohen Norden den Namen »die Tätowierten« eingetragen hatten. Was Sinnoch auch immer sein mag - dies hier ist ganz sicher kein Händler, dachte Phaedrus. Er hörte den Türbolzen fallen; Sinnoch ging an ihm vorbei, schlug die Kapuze seines Mantels zurück und ließ ihn von seinen Schultern gleiten. Im Licht der Lampe erglänzte ein Ohrring aus Silber und Korallen. Sinnoch war der Mann, der ihm, Phaedrus, den safrangelben Mantel geschenkt hatte. Einige Dinge wurden ihm immer unbegreiflicher. »Ich habe ihn mitgebracht«, sagte Sinnoch. Der Mann am Tisch antwortete mit einem Kopfnicken und sagte dann in einem fremdartigen Dialekt der keltischen Sprache direkt zu Phaedrus: »Leg den Mantel ab.« Phaedrus, der sich noch immer bereitwillig von der Strömung treiben ließ, warf ohne ein Wort die Kapuze zurück und ließ das schwere, faltenreiche Kleidungsstück zu Boden sinken. Mit erhobenem Haupt und dem leicht anmaßenden Lächeln, das seine Gefährten in der Arena kannten, stand er dem Fremden gegenüber. Lange Zeit herrschte völliges Schweigen. Phaedrus konnte von fern den Lärm aus der Weinschenke hören, der sich mit dem Pochen seines eigenen Herzens vermischte. Dann sagte der Fremde: »Ich kann mir vorstellen, daß du einen schlimmen Tag hinter dir hast.« Phaedrus tat einen einzigen großen Schritt auf den Tisch zu und blickte stehend hinab in jene Augen, die lohfarben waren wie die eines Wolfes. »Also ihr habt das getan?« »Es war nötig. Wir mußten sicher sein, daß man dich allein in eine Zelle sperrte. Es war auch nötig, daß es da etwas gab -irgendein Krankheitsmerkmal an dir, woran man sich später erinnern würde.« 36
»Später? Was heißt das?« »Nachdem man den Leichnam gefunden hat.« Phaedrus empfand einen winzigen, eiskalten Schock in der Magengrube. Seine Hand fuhr an die Stelle, wo sein Dolch hätte stecken müssen, und sank dann herab. Im gleichen Augenblick bemerkte er zum erstenmal die Tür, die, von einem Vorhang verdeckt, halb verborgen im Dunkel lag. »Nein, nein, nicht dein Leichnam«, sagte Sinnoch, der sich auf einer etwas seitlich stehenden Bank niedergelassen hatte, mit trockener und leicht belustigter Stimme. »In einer Stadt kann man sich zu jeder Zeit einen Leichnam beschaffen - ein Bettler auf einer abgelegenen Gasse , irgendeiner, den man nicht zu genau anschaut, genügt vollauf für unsere Zwecke. Und wenn er erst einmal in sein Loch im Gefängnishof geworfen ist. ..« »Und das alles ist schon vorbereitet?« fragte Phaedrus schwerfällig. »Alles ist schon vorbereitet. Es wäre schwieriger gewesen, wenn er, den sie den Obersten Magistrat nennen, nicht zu seinem Jagd-ausflug unterwegs wäre. Doch es ist einfach herrlich, was ein paar Klumpen gelbes Gold bei denen dort ausrichten können, herrlich, sage ich. Als Händler weiß ich gut, was das Gold alles zu kaufen vermag ... Sie werden ihn schleunigst in sein Loch werfen, damit sich die Krankheit in dieser Sommerhitze nicht ausbreitet, und wenn der hohe Jäger von seiner Jagd zurückkehrt, wird von Phaedrus, dem Gladiator, nichts mehr übrig sein als ein Stück umgegrabene Erde im Gefängnishof.« Die trockene Stimme verfiel in einen melancholischen Ton. »Es ist zu traurig - ein kräftiger, gutaussehender junger Mann - doch im Gefängnis überfiel ihn eine plötzliche Krankheit, und sein Leben erlosch wie eine Flamme, die man zwischen Daumen und Zeigefinger ausdrückt.« Sinnoch führte die Geste scharf und treffend aus und klopfte dann die Fingerspitzen aneinander ab, als müsse er sie vom Ruß des verkohlten Dochtes säubern.
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Phaedrus nahm dies alles nur aus den Augenwinkeln zur Kenntnis; während er Sinnoch zuhörte, hatte er den Blick keine Sekunde lang von dem Mann am Tisch abgewandt. »Es muß euch wichtig gewesen sein, mich in die Hand zu bekommen, wenn ihr euch solche Mühe machtet«, sagte Phaedrus mit einem trockenen Gefühl im Hals. »Uns — ja, in gewisser Weise brauchen wir dich.« »Wozu?« Die ganze Zeit hatte der Mann unbeweglich gesessen und den Trinkbecher mit der Hand umklammert gehalten. Jetzt schob er ihn so heftig von sich, daß ein paar Tropfen Wein über den Rand schwappten und wie Blut auf die Tischplatte spritzten. Der Fremde sprang auf die Füße und kam polternd um den Tisch auf Phaedrus zu. Sitzend hatte er den Eindruck eines Mannes von beachtlicher Größe erweckt. Aber mit einem gewissen Schock erkannte der Gladiator nun, daß er weit auf den anderen herabsah, dessen Körper auf kräftigen, gebogenen Beinen von solcher Kürze ruhte, daß er fast wie ein Zwerg wirkte. »Wende dich zum Licht.« Phaedrus gehorchte. Er konnte jetzt das Gesicht des anderen kaum mehr erkennen und sah nur noch die dunkel verschwommenen Umrisse und das Lampenlicht auf Haar und Schultern, doch war er sich des aufmerksamen Blickes bewußt, mit dem er von Kopf bis Fuß eindringlich gemustert wurde; er bemerkte auch, obwohl er es nicht hätte erklären können, daß das Ziel jenes starrenden Blickes sich veränderte und nicht mehr seine äußere Erscheinung, sondern sein innerstes Wesen einer Prüfung unterzogen wurde. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich widerspruchslos treiben lassen, wohin die Strömung ihn trug, aber irgend etwas an dieser unverhohlenen, prüfenden Musterung erregte seinen Unwillen, und er verflocht seinen Blick mit dem des anderen und rang darum, ihn zum Niederschlagen der Lider zu bewegen, als wenn er es mit den Waffen eines Gegners zu tun hätte. Endlich brach Sinnoch der Händler das Schweigen: »Hatte ich recht, Starker Gault?« 38
Der andere nickte und wandte sich zum Tisch zurück. »Du hattest recht, Sinnoch, mein Bruder. Er könnte unseren Zwecken dienen.« Phaedrus ließ seinen Arm gegen die Schulter Gaults des Starken vorschnellen und drehte ihn wieder zu sich herum. »Und da ihr nun allem Anschein nach befriedigt seid, sagt mir in Typhons Namen, was für Zwecke das sind, und dann wollen wir sehen, ob auch ich zufrieden bin!« Plötzlich erschien auf dem Gesicht des düsteren Mannes ein Lächeln, und mit einer blitzschnellen Bewegung schlug er Phaedrus' zupackende Hand herunter, daß der einen Augenblick lang das Gefühl hatte, sein Handgelenk wäre gebrochen. »Wenn du Hand an mich legst, so tue das in Freundschaft und nicht im Zorn! Und jetzt zieh dir den Hocker an den Tisch und setz dich her, denn du wirst uns lange zuhören müssen.« Mit geballten Fäusten stand Phaedrus einen Augenblick lang da, zuckte dann die Achseln und zog sich den Schemel heran. Als sie am Tisch einander gegenübersaßen, fragte Gault: »Kannst du alles verstehen, was ich sage, oder soll Sinnoch die Worte in deine Sprache übersetzen?« Tatsächlich war Gaults Sprache reich an ungewöhnlichen Wortformen und Betonungen, was sie für Menschen von Phaedrus' Herkunft fast zu einer Fremdsprache gemacht haben würde. Seine Mutter jedoch war, als Teil der Kriegsbeute einer Schlacht, aus dem hohen Norden auf den Sklavenmarkt der Römer gekommen und hatte, wenn sie mit Phaedrus allein war, auf ganz ähnliche Weise gesprochen. »Ich verstehe ganz gut«, sagte er. »Hm. Dann trink zuerst einen Schluck, mein Freund.« Gault der Starke goß in seinen eigenen Becher Wein nach und schob ihn über den Tisch. Phaedrus ließ den Becher unberührt. »Ich habe einen leeren Magen und möchte das, was du mir zu sagen hast, lieber mit klarem Kopf anhören.« »Vielleicht liegt Klugheit in deinen Worten. Dann werden wir
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später miteinander essen und trinken.« Gault hatte einen Finger in den verschütteten Wein getaucht und malte damit geistesabwesend während des Sprechens verschlungene Linien auf die Tischplatte -eine Angewohnheit, die Phaedrus im Laufe der Zeit noch sehr vertraut werden sollte. »Zur Zeit meines Großvaters kamen wir, die Dalriaden, das Volk der Galen, von Erin über das Westliche Meer und eroberten das Land und die Menschen in den Bergen und an den Meeresbuchten unterhalb von Cruachan. Es war das Volk, das sich in jenen Tagen die Epidaier nannte; und wir hatten unsere Jagdgründe dort, wo ihre gewesen waren, so daß das ganze Land Earra-Ghyl wurde, die Küste der Galen.« Er blickte auf, und sein Finger hielt einen Augenblick lang inne, geschwungene und sich überkreuzende Linien zu malen. »Undenkbar lange Zeit zuvor waren wir ein Pferdevolk gewesen, untenan Lugh, dem Sonnengott, und geführt von Königen, die ihre Herrschaft vom Vater auf den Sohn übertrugen. Doch die Epidaier, obwohl auch ein Pferdevolk, waren -wie es die Caledonier noch immer sind - Cailleach, der Großen Mutter, Untertan. Für sie war die Königin alles, und der König hatte kaum mehr Bedeutung, als mit der Königin Kinder zu zeugen. Darum bezwang und heiratete unser König ihre Königin, so wie der Sonnengott die Mutter, die zugleich Erde und Mond ist, bezwingt und sich mit ihr verbindet; und auf eine gewisse Weise wurden wir und die Epidaier dadurch eins.« »Das könnte man von jedem Harfenspieler erfahren, der von den alten Zeiten und dem Sterben der Könige singt«, sagte Phaedrus. »Warum erzählst du mir das gerade jetzt?« »Aus gutem Grund - du wirst es schon noch erfahren ... Vor sieben Wintern starb Levin vom Langen Schwert, als ein bei der Jagd in die Enge getriebener Keiler sich gegen ihn wandte. Die Königswürde hätte an Midir fallen müssen, Levins jungen Sohn. Vielleicht wäre das auch geschehen, wenn die Mutter des Jungen noch gelebt hätte; doch sie war tot, und Liadhan, des Königs Halbschwester, war die Königliche Frau des Stammes - ein Weib, wild wie eine Wölfin in einem harten Winter. Das Blut der Alteingesessenen war in ihr und zugleich damit die alte Lebensweise, denn ihre Mutter war eine 40
Prinzessin von den Caledoniern gewesen. Sie wählte sich einen aus der königlichen Leibwache zum Gatten - ihr erster Gemahl war kurze Zeit vorher gestorben — und ergriff die Macht. Und so haben wir sieben Jahre lang wieder nach der alten Weise Gefolgschaft geleistet.« »So war das also. Habt ihr euch nicht gewehrt?« »Einige von uns haben sich gewehrt.« Gault betastete eine lan^e weiße Narbe, die sich an seinem Unterarm hinaufzog, und beschmierte sie mit dem Purpurrot vergossenen Weins, von dem seine Finger benetzt waren. »Die meisten von uns starben. Liadhan hatte die Sippen des Nordens, in denen das alte Blut noch mächtig ist, hinter sich; sie wurde unterstützt von den Priestern, die auf größeren Einfluß unter der Herrschaft der Mutter hofften, als sie ihn in den Tagen des Sonnengottes gekannt hatten; und sie hatte sich des jungen Midir versichert. Das Ganze spielte sich zwischen der Abenddämmerung und dem Morgengrauen in einer Winternacht ab. Wir von den südlichen Sippen waren vom Kampf geschwächt, denn wir hatten im Sommer zuvor unsere Schilde mit denen der Caledonier vereinigt, um den nördlichen Wall der Roten Helmbüsche* zu durchbrechen. Wir besaßen keinen rechtmäßigen König, dessen Namen wir zum Kampfschrei gegen sie erheben konnten. Die Weitsichtigen von denen unter uns, die übriggeblieben waren, drängten auf Frieden; und zu guter Letzt machten wir Frieden, so gut es ging - eben solch einen Frieden, wie man ihn mit Wolfsgezücht schließen kann - und harrten auf spätere Zeiten.« Er verstummte, tauchte seinen Finger noch einmal in den vergossenen Wein und fügte einen sorgsam berechneten Schnörkel zu dem schon vorhandenen Muster. An seiner Wange zuckte ein winziger Muskel. »Um die Wintersonnenwende werden es sieben Jahre, daß wir warten.« »Sieben Jahre?« fragte Phaedrus verwirrt. Trocken warf Sinnoch der Händler von der deckenbeladenen Bank her ein: »Du hast zu lange unter den Römern gelebt. Du vergißt die Lebensart deines eigenen Volkes.« 41
»Jedes siebte Jahr stirbt der König«, sagte Gault, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Liadhan hat den Mann schon ausgewählt, der mit Logiore in den tödlichen Kampf treten und * römische Soldaten seinen Platz einnehmen soll, bis nach weiteren sieben Jahren die Reihe an ihm ist, zu sterben und einem neuen König Platz zu machen.« »Und was geschieht, wenn der Alte König den tödlichen Kampf gewinnt?« hätte Phaedrus in seiner von den Gesetzen der Arena geprägten Anschauung fast gefragt. Er hatte sein ganzes Leben unter Menschen von römischer Wesensart verbracht, aber trotzdem begann irgend etwas in ihm sich der Lebensweise seines eigenen Volkes zu erinnern - mehr vom Instinkt als vom reinen Verstand her. Und darum begriff er, daß der Alte König den tödlichen Kampf nicht gewinnen würde. Vielleicht wurde ein Betäubungsmittel benutzt, vielleicht geschah es auch nur, weil der Alte König wußte, daß ein Sieg bei diesem Kampf nicht in den vorgezeichneten Lauf seines Schicksals paßte. Phaedrus begann allmählich und ganz schemenhaft zu ahnen, wohin dies hier möglicherweise führen sollte. »Und der Alte König macht sich nichts daraus, welches Ende man ihm zugedacht hat?« Plötzlich und unerwartet zuckte ein Lachen um die Mundwinkel von Gaults zerbissenen Lippen. »Natürlich nicht. Der Alte König hat ja das Blut der alten Sippe in sich. Für ihn ist das die anerkannte Ordnung der Dinge. Es ist der Junge König, der das Spiel nicht mitmacht. In Beltane sandte die Königin das Zeichen ihrer Gunst an den jungen Conory aus der Sippe. Ihr Gunstbeweis erwies sich jedoch als unwillkommen.« »Und nun?« Der dunkle Mann beugte sich vor; mit dem Ellbogen verwischte er das Muster auf der Tischplatte zu einem verschwommenen roten Fleck. Ganz plötzlich brannten seine Augen wie die eines Fiebernden. »Und nun ist die Zeit gekommen, daß die Dalriaden Liadhan, die Königin, absetzen, nachdem sie ihre Herrschaft lange genug ertragen haben. Schon blasen die Hörner überall in den Bergen, und die 42
schwarze Ziege stirbt. Selbst unter den Sippen im Norden sind viele in ihrem Innersten auf unsere Seite getreten, weil sie der Herrschaft dieses finsteren Weibes müde sind, das nach dem Tod von Männern verlangt. Wir vom Stamm, von der königlichen Sippe, sind in dieser Sache ganz eines Sinnes; Conory steht zu uns, der Gefährten ist er sicher, und die Leibwache wird ihm folgen. Da ist noch ein einziger, den wir brauchen - Midir!« Unter gerunzelten Brauen hervor starrte Phaedrus ihn an. »Und da Midir tot ist?« Gault machte ein rasche Handbewegung, als wollte er sagen, lassen wir das im Augenblick, und fuhr dann fort: »Wir brauchen unseren rechtmäßigen König, den wir auf den Thron erheben und dem wir zum Kampf gegen die Frau folgen - so wie wir ihn vor sieben Wintern gebraucht haben. Er wäre damals - obwohl noch ein Knabe - so viel wert gewesen wie zwei- oder dreitausend kampferprobte Männer. Als Mann müßte er noch mehr wert sein.« Die lohfarbenen Augen waren auf Phaedrus' Gesicht geheftet. »Ein Mann etwa in deinem Alter und dir sehr ähnlich.« »Ich bin nicht ganz sicher, was du meinst.« Phaedrus hörte seine eigene Stimme nach einem inhaltsschweren Schweigen, fast ohne sich bewußt zu sein, daß er überhaupt gesprochen hatte. »Aber mir scheint, du willst, daß ich den verlorenen Prinzen für euch spiele.« »Wir brauchen Midir.« Phaedrus warf lachend den Kopf zurück. »Bei allen Göttern! Du bist doch ein größerer Narr, als es den Anschein hat, wenn du glaubst, daß ich das kann.« — Die lohfarbenen Augen blieben unbeweglich. »Du kannst, wenn du willst.« »Wenn ich will? Dann habe ich also eine Wahl?« »Das ist etwas, was man nur aus freiem Willen tun kann.« »Verlangst du von mir, zu glauben, daß ich - falls ich ablehne - frei meiner Wege gehen kann, beladen mit dem Wissen um all das, was du mir anvertraut hast? Erzähl das, wem du willst.« »Du brauchst nicht so mißtrauisch zu sein. Wenn du ablehnst, bleibst du als Gefangener in unseren Händen, bis alles vorbei ist. 43
Dann kannst du frei davongehen und deine Geschichte herumerzählen, soviel du magst. Ich schwöre dir das, wenn du willst, bei allen unseren Hoffnungen auf einen Erfolg.« »Aber wenn er tot ist«, entgegnete Phaedrus, »wird sie - nein, der ganze Stamm wird wissen, daß es eine List ist.« Während er noch sprach, schien es ihm, als habe sich der Vorhang bewegt, der die Tür verdeckte, aber als sein Blick sich rasch in jene Richtung wandte, hingen die schweren Falten ordentlich und unbewegt. Das Lampenlicht mußte ihn getäuscht haben. »Ein Gerücht läuft um, daß der Junge ertrank, als er in der Bucht badete, und daß sein Leichnam nie ans Ufer gespült wurde. Nur die Königin und jene, die ihren Befehl ausführten, können wissen, daß es eine List ist, und sie werden aus guten Gründen nicht versuchen, das zu beweisen.« »Welch ein Pech für Liadhan, daß der Leichnam nicht ans Ufer gespült wurde, damit alle ihn sehen konnten.« »So weit reicht selbst Liadhans Macht nicht«, erwiderte Gault. »Er war nämlich nicht tot.« Die Worte schienen zwischen Ballen und Kisten widerhallend in der Luft zu schweben, bis Phaedrus schließlich fragte: »Nicht tot?« »Selbst Liadhan konnte nicht so weit gehen, den König zu ermorden. Sie - sie versicherte sich seiner auf andere Weise.« »Und was geschieht, wenn er zurückkommt und sein Recht beansprucht?« »Er wird nicht zurückkommen und sein Recht beanspruchen.« »Wie willst du das wissen? Wenn er verschwunden ist.. .« »Er ist nicht verschwunden.« Gault begann wieder halb unbewußt, mit dem Finger in dem verschütteten Wein herumzuzeichnen. »Er arbeitet für einen Sattler in Eburacum. Wir haben ihn von Anfang an gesucht und fanden ihn vor mehr als drei Jahren.« Phaedrus hatte allmählich das Gefühl, in einen phantastischen Traum versponnen zu sein. »Aber wenn ihr euren eigenen Prinzen zur Verfügung habt - warum braucht ihr dann mich? Warum mich? An 44
dieser Sache ist irgend etwas, das mir seltsam erscheint, und ich kann nicht sagen, daß mir das Ganze gefällt!« »Dir wird ein Preis geboten.« »Dieses Mal bin ich nicht feil.« »Für Gold vielleicht nicht. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, jemandem seine Dienste zu lohnen.« »Ein Königreich? Was wäre ich schon für ein König, wenn alles vollbracht ist?« »Das kommt auf dich an. Das verspreche ich dir, ich, der ich nicht ohne Einfluß in unserem Stamm bin ... Der Preis, den ich im Sinne hatte, war mehr als das Gewicht eines Schwertes in deiner Hand, mehr als ein paar Gefahren, die zu bestehen sind - vielleicht eher dies, daß das Leben einen neuen Reiz gewönne, den es schon verloren zu haben schien.« »Du weißt deinen Preis geschickt zu wählen«, sagte Phaedrus nach einer Weile. »Und deine Antwort?« »Gebt mir ein Schwert, und ich werde es gut für euch zu führen wissen. Ich werde mich nicht mit einer Königswürde abgeben, die mir nicht zusteht; daraus erwächst nur Unheil.« Schwer lastete das Schweigen im Raum, ein Schweigen, das so fühlbar schien wie die Luft, die sie atmeten. Und in dieser Stille saß Sinnoch der Händler beobachtend da, als wohne er einer Szene bei, die ihn zwar interessierte, doch für ihn selbst ohne Belang war; die beiden Augenpaare, lohfarben das eine, schiefergrau das andere, hielten einander über den Tisch hinweg fest. Dann wandte Gault sich auf der Bank um und rief in die Dunkelheit: »Midir!« Und als Phaedrus' Blick auf jene verhangene Tür fiel, wurde der Vorhang beiseite geschoben, und ein Mann stand auf der Schwelle; ein junger Mann in der groben Tunika eines Handwerkers, der am äußersten Rand des Lichtscheines stehenblieb, den Kopf aufmerkend erhoben wie ein witternder Jagdhund. Phaedrus' Blick erhaschte den Glanz des roten Haars, und es war ein gewisses Etwas an dem 45
überschatteten Gesicht, an den Linien von Hals und Schultern, bei dessen Anblick sich seine Nackenhaare leise sträubten. Es war, als erblickte er sein eigenes Gespensterbild. »Hat jemand meinen Namen gerufen?« Die Stimme war jedenfalls anders als seine, härter und heller, und in ihr schwang eine brennende, fiebernde Wildheit, die in Phaedrus' Erinnerung das Bild eines Panthers aufzucken ließ, den er einst in der Arena von Londi-nium gesehen hatte. »Ich habe gerufen«, sagte Gault. »Ich hatte keinen Erfolg. Nun versuch du, ob du es besser kannst!« Der junge Mann trat vor. Phaedrus, der plötzlich die Wahrheit zu ahnen begann, nahm an, daß er nur dem Klang von Gaults Stimme folgte, und als Midir voll in den Lichtschein der Lampe trat, sah Phaedrus, daß sich unter den geraden Brauen, wo die Augen hätten sein sollen, nur zwei narbige Höhlen befanden; er sah zugleich auch die große, faltige Narbe auf der Stirn, wo man etwas - vermutlich ein eintätowiertes Muster - durch kreuz und quer geführte Dolchhiebe in widerwärtiger Zerstörungswut ausgemerzt hatte. Phaedrus hatte genug Erbgut von seiner Mutter in sich, um zu wissen, daß bei den Stämmen kein verstümmelter, blinder oder buckliger Mann die Königswürde tragen durfte, damit seine Herrschaft auf das Volk kein Unheil herabbeschwor. So also hatte die Königin sich Midirs, des rechtmäßigen Königs, versichert, den zu töten sie nicht gewagt hatte! Phaedrus spürte ein Würgen im Hals. »Sprich, Phaedrus, Gladiator, damit ich höre, wo du stehst.« »Ich stehe hier, eine Speerlänge von dir entfernt, Midir von den Dalriaden.« »Du nennst mich bei einem Namen, den ich diese sieben Jahre nicht getragen habe. Ich bin Midir, der Lederarbeiter.« Der andere hatte Phaedrus bei dessen ersten Worten das Gesicht voll zugewandt und kam jetzt ohne Zögern auf ihn zu. Tisch und Bänke schien er aus dem Klang seiner eigenen Schritte zu erkennen oder mittels jenes geheimnisvollen »Schattens«, von dem die Blinden sprechen. »Und du 46
siehst mir also ähnlich. Ähnlich genug, um meinen Platz einzunehmen?« »Ich kann mir vorstellen, daß jeder, der keinen von uns beiden sieben Jahre lang gesehen hat, uns durchaus miteinander verwechseln könnte.« »Das müßte dich eigentlich stolz machen. Nicht jeder Gladiator sieht so aus, daß man ihn für einen Prinzen der Dalriaden halten könnte.« Phaedrus spürte, wie die Zornesröte ihm bis hinauf in die Haarwurzeln stieg, aber noch ehe er etwas entgegnen konnte, fügte der andere mit kurzem Auflachen hinzu: »Natürlich könnte auch nicht jeder Dalriadenprinz ohne weiteres für einen Lederarbeiter gehalten werden.« »Warum nicht, wenn er sein Handwerk gelernt hat?« erwiderte Phaedrus in einem Ton kühler Unverschämtheit, aber seine plötzlich aufgeflammte Wut verflog schon wieder. »Wer weiß. Du meinst wohl, mit dem Amt des Prinzen verhalte es sich ebenso?« Noch immer schwang jenes Lachen in Midirs Stimme. »Nein. Mit dem Amt des Prinzen ist es eine andere Sache. Niemand braucht als Lederarbeiter oder als Sohn eines Lederarbeiters geboren zu werden, aber kannst du dir irgendeine Ausbildung vorstellen, die einen Sklavengladiator in einen Prinzen der Dalriaden verwandeln würde - und zwar wirklich und nicht nur dem Schein nach?« »Der Schein könnte vielleicht genügen - wenn er Unerschrockenheit besäße.« »Unerschrockenheit?« »Ein Mann, der sich entschließt, eine solche Rolle zu spielen, hätte wohl guten Grund, sich zu fürchten ... Aber wenn du wirklich so aussiehst wie ich und wenn du nicht leicht in Angst zu versetzen bist, dann mag es tatsächlich sein, daß der Gott dich uns gesandt hat.« Mit abnehmendem Interesse - er hielt sich noch immer für unbeteiligt, weil er noch glaubte, er werde ablehnen - erkundigte sich Phaedrus: »Und du? Könntest du beiseite stehen, während ein anderer deinen Platz einnimmt?« 47
Midirs Kopf war hoch erhoben, die Linien, die das Lachen in sein Gesicht gezeichnet hatte, waren plötzlich starr und dünn wie Einschnitte, die Schwertstreiche hinterlassen haben. »Hör zu, mein Freund. Gault hat mich heute nacht als Waffe gegen dich benutzt - o ja, das hat er, du weißt es ebenso gut wie ich -, und wenn Sinnoch, der alte Fuchs, dich nicht entdeckt hätte, würden sie mich - da keine geeignetere zur Hand war - als eine Waffe gegen Liadhan verwendet haben. Sie hätten mich vor dem ganzen Stamm als lebende Anklage gegen sie benutzt. >Seht, ihr Krieger von EarraGhyl, ihr Edlen aus dem Pferdevolk, seht, hier ist Midir, der euer König hätte sein sollen; aber die Wölfin entriß ihm das Augenlicht und machte ihn zu einer Beleidigung für die Götter. Kämpft nun gegen die Frau, die die verruchte Tat begangen hat!< Das wäre besser als gar keine Waffe. Aber rufen zu können: >Brü-der - seht her, hier ist Midir, euer König! Liadhan wollte ihn töten lassen, aber er entkam; und jetzt ist er zurückgekehrt, um die Kampf Standarte unserer Kriegsschar zu sein !< Das ist eine schärfere Waffe - und allein auf die Schärfe kommt es mir jetzt an.« Während er sprach, hatte er die Hände erhoben und nach Phaedrus' Schultern getastet, die er nun mit wildem, drängendem Griff umspannte. Und wieder dachte Phaedrus, obwohl er nicht recht wußte, warum, an den angeketteten Panther; doch mit der gleichen Bestimmtheit, als ob er diese sieben Jahre mit dem anderen geteilt hätte, empfand er, daß sein rothaariges zweites Ich sich nie auf irgendeine Weise mit seinem Schicksal abgefunden hatte, daß er keine Sekunde lang resigniert, nie auch nur einen Augenblick lang aufgehört hatte, mit unverminderter Heftigkeit, ruhelos und unversöhnt gegen diese Dunkelheit zu wüten. Phaedrus spürte auch, daß dieser Mann ohne Mitleid für sich selbst und für alles übrige unter dem Himmel war. In diesem Augenblick, während es ihm durch die Hände des anderen auf seinen Schultern, über die er bedeckend die eigenen Hände gelegt hatte, schien, als durchflösse sie beide ein einziger Lebensstrom, lernte er den Prinzen Midir kennen, wie er von 48
dem Tage an, an dem er geboren wurde, keinen anderen Menschen eindringlicher kennengelernt hatte. Die beiden Zuschauer hatten aufgehört, von Bedeutung zu sein; die Welt schmolz zusammen in einem einzigen scharfen Brennpunkt, wie es in der Arena stets der Fall gewesen war, bis es darin nur noch ihn selbst und den Mann gab, der ihm gegenüberstand. »Du gebietest mir, deinen Platz einzunehmen, Midir?« Midir zeigte ein schwaches Lächeln. Er sprach leichthin, doch die Worte kamen in großen Abständen wie kleine glänzende Blutstropfen. »Nimm meinen Platz ein, Phaedrus, und mit ihm nimm meine Rache und bewahre sie wärme sie mit deiner eigenen Wärme wie den kleinen blanken Wurfstein in der Höhlung deines Schildes, den du bewahrst, bis der Zeitpunkt kommt, ihn zu schleudern. Aber schrei meinen Namen, wenn die Zeit gekommen ist, damit beide es wissen, der Sonnengott und die Frau, daß dies meine Rache ist, nicht deine.«
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Das Haus der Kampfhähne Der Morgenruf der Trompeten vom Lager war eben verklungen, und die schmale, sich lang hinziehende Ansiedlung Onnum, die aus Eingeborenenhütten, Weinschenken und Badehäusern, aus Kornspeichern, Familienunterkünften, Pferdekoppeln und Tempeln, die der Verehrung fremder Götter dienten, bestand, regte sich in erstem Erwachen. Im Grunde fiel keine der Städte entlang des Walles jemals in festen Schlaf; es war ein Ausruhen mit zuckenden Augenlidern -man hatte ein Ohr stets gespitzt und ein Auge offen. Nahe beim Tor der Befestigungsanlage, im Dachgeschoß des baufälligen Hauses, wo Florianus, der alte syrische Bogenschütze, seine Kampfhähne züchtete, erwachten die großen Vögel, schüttelten ihre Federn, streckten die Hälse und krähten eine trotzige Antwort auf die römischen Trompeten. Fast jeden Morgen wurden Phaedrus und Midir in ihrer Unterkunft auf der anderen Seite der roh gezimmerten Trennwand durch das Hahnengeschrei geweckt. Dann stieg der, an dem die Reihe war, für Essen zu sorgen, die wackelige Bodenleiter hinunter und ging hinaus zum Brunnen an der Straßenecke, zog sich einen Eimer Wasser zu der eilig vorgenommenen, planschenden Morgenwäsche herauf und nahm auf dem Rückweg die Platte mit Gerstenbrot und den Krug mit Buttermilch oder dem sauren Wasser- und Weingemisch mit, die die alte Frau, der das Haus gehörte, am Abend zuvor für sie bereitgestellt hatte. Derjenige, der sich das Essen wie ein Kaiser bringen lassen durfte, verzichtete für diesen Tag auf das Waschen. Niemals traten sie gemeinsam aus ihrem Unterschlupf hervor, denn wenn es auch noch halb Nacht war — die Laterne über dem Eingang zur Schenke BACCHUSKOPF ganz in der Nähe brannte bis zum Morgengrauen. Die beiden jungen Männer achteten darauf, daß bei zufälligen Beobachtern nicht unnötig der Eindruck entstand, daß im Haus der Kampfhähne zwei Männer wohnten, die, wenn man ihnen nicht nahe genug kam, um zu merken, daß der eine blind war, einander völlig glichen. 50
An diesem Tag jedoch waren sie noch vor den Hähnen wach gewesen. Sie saßen nebeneinander auf dem Rand der behelfsmäßigen hölzernen Bettstatt; Krug und Platte, beide schon fast geleert, hatten sie zwischen sich stehen. In der Lampe, die in einer Nische hoch oben in der Wand brannte, war kaum noch öl; ruhelos zuckte und flackerte die Flamme, ihr Ungewisses Licht erreichte hin und wieder die beiden jungen Männer, ließ sie dann fast wieder völlig im Dunkel und machte gleich darauf ihre bis auf die karierten Hosen nackten Körper sichtbar. So hatten sie auch geschlafen, denn in dem kleinen Raum war es schwül, und der Tag, der hinter dem schmalen Fenster aufstieg, versprach heiß zu werden. Vielleicht lag es an dieser gewittrigen Schwüle, so sagte sich Phaedrus, daß er keinen Hunger verspürte. Doch er wußte recht gut, daß das nicht der wahre Grund war. Bei den Furien! Man sollte doch meinen, daß er glücklich sein müßte bei der Aussicht, diesen Ort verlassen zu können! Er blickte sich nach Midir um. Der saß mit einem halbverzehrten Stück des mundaustrocknenden Gerstenbrotes da, und Phaedrus vermerkte mit einer gewissen Erbitterung, daß die Hitze auch Midirs Hunger vertrieben hatte. Der flackernde Lichtschein erzeugte scharfe Schatten an den Stellen, wo Midirs Augen hätten sein sollen, und ließ die runzlige Narbe auf seiner Stirn in grausam plastischer Deutlichkeit hervortreten. Es war jetzt fast ein Monat verstrichen seit jener Nacht, in der sie hierhergekommen waren; Seite an Seite hatten sie gelegen, während Gault mit seiner seltsamen Geschicklichkeit für solche Dinge das zerstörte Muster mit der in blaue Farbe getauchten Nackenfeder eines Hahnes wiederhergestellt und darauf die wichtigsten Linien davon auf Phaedrus' Stirn abgezeichnet hatte - jene mächtigen, sich überschneidenden Linien, Spiralen und Doppelschlingen des Sonnenkreuzes und des Hengstsinnbildes, die miteinander ein Muster bildeten, das einer vierblättrigen Blume nicht unähnlich war. Alles weitere hatte die alte Frau, die Gault mitgebracht hatte, mit ihren Tätowiernadeln und ihren Töpfen voller roter und blauer Farbe übernommen. Die Erinnerung an diese winzige, prickelnde Qual ließ selbst jetzt noch die Nervenenden zwischen seinen Brauen erzittern, und unbewußt hob Phaedrus die Hand und betastete die leicht 51
erhabenen Linien auf seiner Stirn. Die königliche Blume - so hatte die alte Frau gesagt —, das Stirnmal des Pferdekönigs. »Ist es immer noch so ein seltsames Gefühl?« fragte Midir mit jenem verwirrenden Wahrnehmungsvermögen, das ihn manchmal erraten ließ, was ein anderer tat. »Nicht mehr so wie noch vor einem Monat.« »Wäre ich ein paar Monate älter gewesen, dann hätte dir die Frau mehr als nur das Stirnmal in die Haut ritzen müssen.« Phaedrus dachte an Gault, der wieder nach Norden aufgebrochen war; Gault den Starken, der die Tätowierung des Kriegers auf Brust und Schultern, auf Waden, Wangen und Schläfen trug. »Dann hätte sie dir alle jene Muster eines Kriegers, die man beim Fest der Neuen Speere den Buben in die Haut kratzt, einritzen müssen«, fuhr Midir fort. »Beim nächsten Fest wäre ich an der Reihe gewesen, in die Finsternis der Höhle des Lebens zu gehen und aus ihr als ein Mann hervorzutreten, geschmückt mit den Mustern eines Kriegers.« Jenseits der dünnen Trennwand krähte ein Hahn in stolzer Herausforderung. Vom anderen Ende der Stadt, aus einem anderen Hahnengehege, ertönte über die Dächer hinweg eine undeutliche Antwort. »Warum trägt eigentlich Sinnoch keine Tätowierung?« fragte Phaedrus plötzlich. »Sinnoch gehört nur halb zu unserem Stamm. Sein Vater war ein römischer Kaufmann — sie kommen überallhin, diese Händler —, der mit seiner Mutter in eben jener Nacht zusammenkam, als sie ihren Gürtel für die Göttin aufhängte. Soviel ich hörte, hatte es in jenem Jahr eine schlechte Ernte gegeben. Die Priesterin hatte daraufhin erklärt, daß die Große Mutter zornig sei und versöhnt werden müsse. Und als man unter den Mädchen das Los zog, wer von ihnen am Flußübergang schlafen und dem ersten Fremden gehören sollte, der vorbeikam, fiel das Los auf sie. Und so kam Sinnoch zur Welt, und das Mädchen starb bei seiner Geburt. Ich glaube, es hat ihn niemals sonderlich gereizt, ein Krieger zu werden. Vermutlich steckt auch in 52
ihm die Wanderlust seines Vaters, und so betreibt er Pferdehandel mit den Römern, er mit seiner ungezeichneten Haut. Gault sagt, daß es im ganzen Stamm keinen Edlen gäbe, den er nicht aufkaufen könnte, wenn er das wollte. Es ist seltsam — er legte keinen Wert darauf, ein Krieger zu sein, und doch haben die Dalriaden ihn auf andere Weise immer anerkannt; aber in ihm hat das keine Zuneigung erweckt zu dem Volk, das in der Dunkelheit leise die Große Mutter anruft.« »Ich glaube, das wäre bei mir genauso«, sagte Phaedrus. Er stand auf und ging hinüber ans Fenster. Die Lampe erlosch jetzt endlich in einem letzten winzigen Aufzucken der Flamme. Die Dächer der gegenüberliegenden Häuser wurden schon von der Morgenröte berührt, wenn auch in dem engen Schacht der darunterliegenden Straße noch Dunkelheit herrschte. Phaedrus starrte hinab, während er sich das Haar mit einem Lederriemen zurückband, so wie er es früher getan hatte, ehe er den Helm aufgesetzt hatte. Er kannte diese Straße jedenfalls den Teil von ihr, den man durch das Fenster sehen konnte — ebenso gut wie den Raum, dem er jetzt den Rücken zuwandte, diesen Raum mit seinen löchrigen Dielenbrettern und dem Wirbel heller Federn, die zusammen mit dem Geruch nach Hühnermist vom Hahnengehege herüberdrangen und den Stellen, wo der Lehmverputz von den Wänden abgefallen war, so daß die Latten des Fachwerks wie die entblößten Rippen eines toten Körpers zu sehen waren. »Es ist bald Zeit für dich aufzubrechen«, sagte Midir hinter ihm. »Ja, ich weiß. Heute morgen reicht es nicht mehr zu einem Ringkampf.« Jeden Morgen, seitdem sie hier oben eingesperrt waren, hatten sie miteinander gerungen. Zuerst eigentlich nur, um sich vor Verweichlichung zu bewahren, und weil ihnen keine andere Möglichkeit eines Trainings zur Verfügung stand. Später jedoch hatten beide Freude daran gefunden, Kraft und Geschicklichkeit aneinander zu messen. Nun, all das war jetzt vorbei. »Ich darf meinen neuen Herrn nicht warten lassen«, fügte Phaedrus hinzu und dachte dann: Mir ist, als wäre ich ein ganzes Leben in diesem Raum eingeschlossen gewesen, um für meine Aufgabe zu lernen. Und nun? 53
Noch eine kleine Weile, dann wird dieser Raum noch immer hier sein, aber ich bin längst fort. Ich werde die Straße hinaufgegangen sein, um mich Sinnoch anzuschließen und die Packtiere nach Norden zu treiben, um mir eine Königswürde zu gewinnen, die mir nicht zusteht, oder, was wahrscheinlicher ist, um als Wolfsköder ein Ende zu finden. Und Midir? Irgendwie war der vergangene Monat so ganz von seinem anderen Leben abgetrennt, so ganz auf sich bezogen gewesen, daß Phaedrus sich diese Frage nie zuvor gestellt hatte. Er wandte sich jäh vom Fenster weg. »Und du? Was für ein Weg ist dir bestimmt, Midir?« Im tiefen Schatten sitzend zuckte der andere die Achseln. »Der Weg zurück nach Eburacum, zurück zu meinem alten Herrn und den aufgespannten Häuten. Dies hier war nur ein Urlaub, um meine Tante in Segedunum zu besuchen. Mein Meister ist ein guter alter Mann; er sagt, ich hätte etwas freie Zeit wohl verdient.« »Das ist einer der Vorteile eines freien Mannes. Ein Sklave hat nie Urlaub verdient.« (Phaedrus wußte, daß Midir niemals als Sklave verkauft worden war. Wer würde auch einen blinden Sklaven kaufen es sei denn, er könnte singen? Man hatte ihn einfach wie einen unerwünschten Hund unter die Bettler von Eburacum gestoßen, und das einzige bißchen Glück, das er dabei gehabt hatte, war der Augenblick gewesen, als der Sattler, der jetzt sein Meister war, ihn beobachtet hatte, wie er vor der Posthalterei den Lastriemen eines Reisenden flickte, und dabei die Geschicklichkeit seiner Finger erkannt hatte.) »Ich kann mir denken, daß er keinen so langen Urlaub gemeint hat wie diesen«, bemerkte Midir trocken. »Aber er wird dich doch wieder nehmen?« »Ja, ja. Ich bin ein guter Arbeiter. Man braucht nichts zu sehen, um die Häute zu bearbeiten oder einen Gürtel zuzuschneiden -nur, um ein König zu sein . . . Ich frage mich manchmal, ob das einem der Götter, der durch Zufall auf mich herabblickt, als ein guter Witz erscheint. Ich möchte wohl wissen, ob die Götter über das lachen, was den Menschen zustößt, so wie wir über jemand lachen, der auf einem Kohlstengel ausrutscht, oder ob es ihnen einfach gleichgültig ist... 54
Mein Vater stellte sich seinem Eber. Es war viel gekämpft worden, und die Roten Helmbüsche hatten alles Weideland abgebrannt, das sie erreichen konnten. Dann kam ein feuchter Herbst, und das Vieh starb. Es gab eine Hungersnot, weißt du. Und nun schau, was daraus entstanden ist. Das wird selbst die Götter zum Lachen gebracht haben.« »Du mußt nicht so sprechen«, sagte Phaedrus hastig. Er verstand nicht, wovon Midir sprach, aber er wußte, daß es gefährlich war. »Nur ein Narr reizt den Zorn der Götter, wie jemand, der einen Hengst mit einem Stöckchen kitzelt.« Midir zuckte die Achseln. »Ach was, ich habe das ja gesagt, nicht du.« Er beugte sich vor und tastete nach dem Krug. Mit einer raschen Geste schüttete er den Satz des mit Wasser gemischten Weines auf den bereits schmutzig-klebrigen Boden. »Sieh her, ich bringe ein Opfer dar - wie nennt ihr es doch in eurer römischen Sprache? Ich verschütte ein Trankopfer für den Sonnengott - eine Friedensgabe.« Während er sich an die Wand zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte, fuhr er fort: »Komm, ich werde dich noch einmal abfragen, während du dich fertigmachst.« Phaedrus hatte begonnen, in ihrer engen Behausung umherzugehen und seine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen, die er in einen alten Mantel bündelte. Ganz nebenbei beschäftigte ihn die Frage, was wohl aus seinem hölzernen Schwert und aus dem Armband der dicken Frau geworden sein mochte. Wahrscheinlich hatten die Vermieter beides und alles, was sonst noch in seinem Bündel gewesen war, an sich genommen, als sie hörten, daß er tot sei. Sonst aber war er ganz wartende Bereitschaft, sein Verstand war geschult, auf jede Frage, die Midir ihm stellte, sofort zu reagieren. »Was geschah«, fragte Midir, »nachdem Liadhan dich hatte überwältigen und in den Fluß werfen lassen?« Phaedrus runzelte die Stirn. (»Du darfst deiner Sache nicht zu sicher scheinen«, hatte Sinnoch ihn ermahnt, als seine Ausbildung begann, »nicht so sicher, daß die Männer denken, es sei eine auswendig gelernte Lektion.«) »Wie sollte ich das in der Dunkelheit erkennen, zumal ich mit dem Kopf gegen einen Stein schlug? Das letzte, woran 55
ich mich erinnere, ist Liadhans Knecht; der unter ihnen, der einen Stein in der Hand hielt. Wie es dann weiterging .. .« Er zuckte die Achseln. »Ich nehme an, der Mann hatte nicht hart genug zugeschlagen - vielleicht wollte er das auch gar nicht. Oder es lag eben daran, daß meine Zeit noch nicht gekommen war. Ich muß zwischen den Felsen unter dem überhängenden Ufer mit dem Gesicht über Wasser hängengeblieben sein. Und sie warteten wohl nicht lange genug, um sicher zu sein, daß ganze Arbeit geleistet worden war; denn als ich zu mir kam, war niemand mehr da. Ich war halb ertrunken und fühlte mich sehr elend. Meine Kraft reichte nicht aus, um ans Ufer zu gelangen. Ich - ich habe es wohl mühsam versucht, und da rollte ich die Felsen hinunter, die Strömung des Flusses erfaßte mich und trug mich fort. Schließlich spülte sie mich weit unten an der Crinan-Furt, dort wo die Wagenstraße nach Süden führt, an Land. Ein Händler, der mit Pferden für die Garnisonen an der Mauer unterwegs war, fand mich ...« »Wie sah er aus?« »Ein kleiner Mann - ich erinnere mich nicht mehr deutlich. Ich war damals nicht in dem Zustand, mir ein Gesicht genauer anzusehen. Außerdem ist es lange her.« »Das war recht gut. Fahre fort.« »Er wollte mir nicht glauben, als ich ihm sagte, wer ich sei; er war ein Fremder und kannte das königliche Zeichen nicht. Er brachte mich zusammen mit den Pferden nach Süden und verkaufte mich gleich ihnen; der Mann, der mich gekauft hatte, verkaufte mich weiter, und ... soll ich weitererzählen?« »Nicht nötig. So weit macht die Geschichte Sinnoch alle Ehre. Was den Rest angeht - du solltest deine eigene Geschichte gut genug kennen, ohne daß ich sie dir abhören muß. Nein, wir wollen etwas anderes probieren.« Nicht im geringsten veränderte sich Midirs lässige Haltung, doch die nächste Frage kam blitzschnell wie ein Dolchstoß. »Du siehst einen Mann mit einer kleinen, sichelförmigen Narbe, die quer durch eine Augenbraue geht. Wer ist das?« 56
»Dergdian, der Sohn des Curoi, ein Angehöriger der Leibgarde in den Tagen meines königlichen Vaters.« »Durch welche Augenbraue verläuft die Narbe?« »Durch die linke.« »Wie kommt es, daß du dich daran so deutlich erinnerst? Es ist doch länger her, seit du Dergdian sahst als jenen Pferdehändler?« »Ich war es, der die Narbe bei ihm verschuldete, weil ich einen Stein nach etwas warf, das ich für einen Fuchs im hohen Farnkraut hielt. Dergdian stellte mich vor die Wahl, meine Prügel von meinem Vater oder von ihm selbst zu beziehen. Dann sollte kein Wort mehr darüber verloren werden.« Phaedrus ließ seine Stimme kläglich tönen und rieb sich während des Sprechens die Schultern, so als erinnerte er sich tatsächlich an die Wucht von Dergdians Arm. Manchmal überkam es ihn jetzt so. Er wandte sich zu dem schmalen Fenster und blickte hinaus. »Conory half mir, das Blut abzuwaschen, und erbat sich ein wenig Wundsalbe von Grania, um den Schmerz zu lindern.« »Conory?« fragte Midirs Stimme hinter ihm. »Conory war - ist mein Vetter, den lorwen, meines Vaters jüngere Schwester, im gleichen Sommer, in dem ich geboren wurde, zur Welt brachte. Ich erkenne ihn daran, daß sein eines Auge etwas höher sitzt als das andere, und im Augapfel sieht man einen braunen Fleck.« Es gab noch mehr, was er über Conory wußte, viel mehr, und dazu gehörte auch manches, was Midir ihm nie gesagt hatte. Aber er erwähnte das jetzt nicht. Er hatte sich dieses Wissen aneignen müssen, aber obwohl die Jahre in der Gladiatorenschule ihn gegen vieles verhärtet hatten, haßte er es noch immer, mehr als unbedingt nötig in den privaten Bereich eines anderen Menschen einzudringen. »Conory war es, dem die Königin beim Maifest ihren Gunstbeweis schickte«, sagte er, und dann, während er einer Taube auf dem gegenüberliegenden Dach zusah: »Es scheint, daß die Königin es gern hat, wenn ihre Könige junge Männer sind.« »Der geweihte König muß immer jung und voll Kraft sein, sonst gibt es eine schlechte Ernte, und die Stuten werden unfruchtbar. Es
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mag schon sein, daß es für die Königin sehr angenehm ist, aber das Wichtigste ist doch die Ernte.« »Du hast mir von Liadhan, der Königin, nicht viel erzählt. Eigentlich sehr wenig nur, verglichen mit allem, was du mir von den anderen Männern und Frauen berichtetest.« »Was soll ich dir von ihr erzählen? Sie hat langes helles Haar und ein langes helles Gesicht, und alle ihre Bewegungen sind langsam, kraftvoll und majestätisch - sie erinnert an eine früchteschwere Kornähre. Man sagt, daß Maeve von Connacht, die in dem Land, aus dem unser Volk kommt, vor undenkbaren Zeiten gegen uns kämpfte, ihr ähnlich war. Doch es ist kaum nötig, sie dir zu beschreiben - du wirst sie kaum mit einer anderen verwechseln. Ich habe sie bei den Festen und Opferfeiern an dem der königlichen Frau zustehenden Platz gesehen, doch ihr Leben kam mit dem meinen nicht in Berührung bis zu dem Tag .. .« Er brach ab, und Phaedrus, der sich umwandte, sah, daß sein Gesicht einen Augenblick lang nicht mehr als eine starre Maske war, ähnlich der Gladiatorenmaske, hinter der sich das schweißbedeckte, verzerrte Gesicht des Gladiators verbirgt. Sogar seine Stimme schien sich unter einer Maske künstlicher Ruhe zu verbergen, als er weitersprach. »Der junge Midir hat sie immer gehaßt und gefürchtet -das ist alles, was Prinz Midir, der zu seinem jubelnden Stamm zurückkehrt, als Erinnerung an Liadhan braucht. Nicht einmal das soll er wissen, daß sie ihn blenden ließ, um ihn für die Königswürde unfähig zu machen, und daß sie daneben stand und zusah. Die Sache ist abgetan und am besten vergessen, nun, da etwas Neues da ist, um an die Stelle des Alten zu treten.« »Trotzdem wird jener Teil von mir, der weiter Phaedrus der Gladiator bleibt, diese Geschichte niemals ganz vergessen, bis die Rechnung mit Liadhan beglichen ist.« »Nein! Vergiß das!« Midir erwachte aus seiner Starrheit, sprang auf und kam quer durch den Raum auf ihn zu. »Das Gespann, das du zu lenken hast, ist wild genug, ohne daß du noch diese Stute daz wischenspannst.« 58
»Aber du warst es doch, der mich bat, dich zu rächen - in jener Nacht in der ROSE VON PAESTUM.« »Das sagte ich in einem düsteren Augenblick«, erklärte Midir. Es entstand ein kurzes, bitteres Schweigen. »Du mußt mich gehaßt haben«, sagte Phaedrus dann. »Du kannst kaum erwarten, daß ich dich lieben würde.« Ein Fuhrwerk ratterte die Straße hinauf. Der Wagenlenker fluchte auf sein Gespann. Man hörte das Knallen einer langen, ungegerbten Lederpeitsche. Die gemächlichen Hufschläge der Ochsen verklangen in der Ferne. Da sagte Phaedrus: »Gib mir ein Anrecht auf die Königswürde, Midir.« »Ich habe dir doch gesagt...« »Ich will mehr als nur Worte.« Einen Augenblick lang stand Midir nachdenklich da. Dann zog er seinen Dolch aus dem Gürtel, wo er ihn Tag und Nacht stecken hatte (»Ein Mann muß wissen, wo er auch im Dunkel sein Messer finden kann«, hatte er einmal gesagt), tastete mit dem Finger am Blatt entlang bis zur Spitze und vollführte eine winzige, präzise Bewegung, rascher, als das Auge zu folgen vermochte. Ein purpurroter Faden wurde auf der zarten braunen Haut an seinem inneren Handgelenk lebendig, und ein paar Tropfen Blut quollen hervor. Mit raschem Griff wandte er das Messer um und hielt es an der Klinge Phaedrus entgegen. »Und jetzt du.« Phaedrus nahm es und hielt es eine Weile abwägend in der Hand. Er war sich nicht einmal sicher, ob er diesen unbequemen Mann mochte, und ganz sicher fühlte er für ihn nicht jene einfache Kameradschaft, die er für Vortimax empfunden hatte; aber das alles hatte jetzt keine Bedeutung. Während dieses langen Monats des Eingeschlossenseins waren sie an den Rändern ihres Seins miteinander verwachsen in einer Art, die nichts mit Zuneigung zu tun hatte, sondern weit hinunter bis zu den Wurzeln der Dinge reichte. Er führte seinerseits jene kleine, rasche Bewegung aus und sah zu, wie das Blut aus seinem eigenen Handgelenk hervordrang. Als er die Bewegung hörte, hob Midir den Kopf. »Ist es geschehen?« »Ja.« »Dann bring deines mit meinem zusammen.« Phaedrus tat es. Er spürte, wie die Öffnung der winzigen Wunde diejenige seines 59
Gefährten berührte, während sie ihre Handgelenke zusammenpreßten. Drei Tropfen vermischten Blutes entrannen zwischen ihnen und bildeten mitten unter dem von Midir zum Trankopfer für die Götter vergossenen Weinsatz drei hellere Flecken. »Jetzt haben wir das gleiche Lebensblut, du und ich«, sagte Midir, »und du hast das Blut des Pferdekönigs mit deinem eigenen vermengt, falls jemals die Götter dich zur Rechenschaft ziehen wegen der Königswürde, die du dir angemaßt hast.« In seiner Stimme lag fast ein Anflug von Lachen. Dann, als er das Messer wieder entgegengenommen und in die Scheide gesteckt hatte, hob er die Hände tastend zu Phaedrus' Schultern und sagte äußerst ernst: »Hör zu. Du kannst mir die Königswürde gar nicht nehmen. Liad-han hat das ein für allemal besorgt. Aber sie gehört nicht ihr -nicht einmal nach dem Recht des Räubers. Denn sie hat sich zu der alten Weise zurückgewandt, und so gibt es keinen Pferdekönig, der die Dalriaden anführt und in ihrem Namen Lugh, dem Gott vom Glänzenden Speer, antwortet. Die Königswürde liegt frei und wartet. . . Nimm sie dir, wenn du kannst - und viel Glück auf dem Kriegspfad, Phaedrus, mein Blutsbruder.« Phaedrus legte einen Moment lang die eigenen Hände auf die Midirs, wie er es am allerersten Abend getan hatte. »Es kann sein, daß wir uns eines Tages wiedersehen«, sagte er. »Mögen die Sonne und der Mond dich auf deinem Weg begleiten, Midir.« Er wandte sich um, griff nach seinem Bündel und ging dann polternd die wackelige Treppe hinunter. Als er auf die Straße hinaustrat, wäre er beinahe mit einem Mann zusammengestoßen, der heiße Brotlaibe trug. Der Mann schrie ihm einen Fluch nach, doch Phaedrus fluchte mit einem in der Gladiatorenschule erworbenen, so blumenreichen Wortschatz an Beschimpfungen zurück, daß der andere mit offenem Mund und neiderfüllt stehenblieb. Dann wandte Phaedrus sich um und blickte hinauf zu dem kleinen Fenster hoch unter den schadhaften Dachschiefern, von wo ein leises Pfeifen kam - eine kurze Melodie aus fünf Tönen, die in ihrer Munterkeit an eine Bachstelze erinnerte. Während des ganzen Monats hatten Midir und er sie bei jedem Kommen und Gehen als Signal benutzt. Er pfiff zurück, 60
während er sein Bündel schulterte, und machte sich dann auf zu der Herberge am Rande der Stadt, wo Sinnoch und die Pferde untergebracht waren. Während er so dahinschritt, verfiel er wieder in seinen alten, schauspielerhaft-prahlerischen Gang. Er hatte in diesen Handel eingewilligt zum Teil um dessentwil-len, was Gault als Preis geboten hatte, und zum Teil wegen jenes plötzlichen Gefühls des Einsseins mit Midir; und schließlich hatte er nicht gewußt, in welch sonderbare Gewässer er sich da begab und wohin ihn das alles führen würde. Jetzt aber, während er die inzwischen belebte Straße hinunterschritt, auf die allmählich Licht und Farbe zurückkehrten und wo über den Dächern die Tauben schwebten, fühlte er sich plötzlich leichtfüßig und glücklich. Jeder Gladiator kannte dieses Gefühl an Tagen, wenn das Gesicht des Gottes ihm zugekehrt war - es waren Glückstage, an denen es der Gegner und nicht man selber war, der sich völlig ungeschützt darbot. Er wich einem mit Weinschläuchen beladenen Wagen aus und setzte in angeberischem Schritt seinen Weg fort. Hier und da wandte jemand den Kopf nach dem hochgewachsenen Mann mit dem roten Haar unter der tief über die Brauen herabgezogenen Kappe, der die derbe Kleidung eines Packpferdtreibers trug und mit dem weitausholenden Schritt eines Tänzers oder eines Schwertmannes dahinging. Es war beinahe hell, als er die Stallungen des Gasthauses ZUM GOLDENEN VLIES erreichte.
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Grenzposten Sechzehn Tage später - es wurde schon Abend - bog der kleine Handelszug, den die weitläufigen, sanften, mit Heidekraut bewachsenen Hügel von Valentia vom Stadttor von Onnum trennten, von der jetzt breiter werdenden Clota, der er seit dem Morgengrauen gefolgt war, nach Norden ab und zog den Pfad entlang, der allmählich aus den Flußniederungen herausführte. Um diese Zeit entdeckte Phaedrus schwache Rauchschwaden über dem Hügelkamm und sagte zu dem an seiner Seite reitenden Händler: »Was liegt da vor uns? Es sieht nicht aus wie ein Heidefeuer, obwohl - Typhon weiß es - der Ginster wahrhaftig dürr genug ist.« »Es ist kein Heidefeuer«, sagte Sinnoch. »Der Rauch dort kommt von der Abendmahlzeit, die man sich am nördlichen Grenzwall kocht.« Es war jetzt spät im August. Unter den Hufen der Ponys erhob sich auf dem Pfad eine Staubwolke, die sich langsam wieder senkte, wenn sie vorbei waren. Es war ein Hauch grauen Staubes, der Tiere und Menschen von Kopf bis Fuß bedeckte, die Kehlen austrocknete und in den Augen brannte. Selbst das Tönen der Glocke schien er zu dämpfen, die der Vorreiter um den Hals trug, um mit ihr den bösen Blick zu vertreiben. Phaedrus, der ständig an dem dahin-trabenden Zug auf und ab ritt, beneidete Vron, der seit einer Reihe von Jahren Sinnochs Vorreiter war und auf seinem kleinen, zerzausten Pony gemächlich vorausritt. Seine Füße streiften zu beiden Seiten beinahe den Boden, und sein alter schafslederner Hut saß locker auf seinem Hinterkopf. Es war ein sehr kleiner Handelszug, vier Packpferde und drei Reitponys, denn Sinnoch war in erster Linie Pferdehändler. Einmal im Jahr machte er eine Reise nach Süden mit zwanzig oder mehr halbgezähmten Pferden, die von Pferdetreibern auf kleinen zottigen Ponys bewacht wurden wie eine Schafherde von ihren Hütehunden. Sinnoch gewährte den jungen Burschen ein paar freie Tage, in denen sie Corstopitum noch unsicherer machten, als es während der übrigen Zeit des Jahres ohnehin schon war. Danach sandte er sie wieder nach 62
Norden. Er selbst folgte später nur mit Vron und vielleicht einem zweiten Mann zur Begleitung nach. Dann waren die gelben Warenballen seiner Ponys gefüllt mit ein paar wenigen Kostbarkeiten, die Sinnoch mit Sorgfalt und einer auf langjähriger Erfahrung beruhenden Kenntnis seiner Kunden ausgewählt hatte: ein paar feingearbeitete Waffen aus Bronze, Schmuckstücke aus Bernstein und Jett*, ein Trinkbecher aus violettschimmerndem Glas, ein Stück smaragdfarbener Seide und schließlich ein paar Krüge etruskischen Weines, die zu beiden Seiten des Packsattels herunterhingen. Phaedrus hatte einmal gefragt, warum Sinnoch die Pferdetreiber nicht bei sich behielt, um sie als Wachen für seine kostbare kleine Warenladung zu verwenden. »Nun«, hatte Sinnoch darauf geantwortet, »das hieße in alle Winde hinausschreien, daß es sich lohnt, die Waren in meinen Ballen zu rauben. Und was könnte eine Handvoll Pferdetreiber schon gegen eine Räuberbande ausrichten? Nein, nein, man läßt die Leute auf solche Gedanken am besten gar nicht erst kommen.« Kurze Zeit später hatten sie den Hügelkamm überschritten und * eine Art Pechkohle blickten zu den Flußniederungen hinunter, wo sich die Clota in einer ihrer großen Schleifen nach Norden wand. Es war eine breite, flache Landzunge aus durchnäßter Erde, die sich bis weit in die Hügellandschaft hinein erstreckte. An \ihren entfernten Rändern loderte gelbblühender Stechginster, während zur Küste hin mausgraue Dünen und Salzablagerungen das Bild trübten. Und wenn man über diese Ebene hinwegblickte, wo das Land wieder zu steigen begann, sah man die vierkantige, klobige Masse des großen aus Holzbalken und Torf errichteten Kastells, um das sich innerhalb des Palisadenzauns wie gewöhnlich die Hütten der Einheimischen scharten. Zu beiden Seiten des Walles befanden sich grasbewachsene Steilhänge und Gräben. Der Wall endete im Westen mit einer Art Blockhaus oder Signalstation weit draußen in den Niederungen, während er nach Osten zu ständig anstieg bis hinauf in das Bergland, in seiner Ausdehnung nur unterbrochen von weiteren Waclit-türmen Phaedrus konnte von dem flachen Hügelkamm aus, auf dem sie die 63
Ponys rasten ließen, zwei dieser Türme erkennen -und sich schließlich in der Ferne, der dunstigen Hitze und den riesigen, tiefdunklen Wäldern Caledoniens, die wie eine Gewitterwolke über der weiten Binnenlandschaft hingen, verlor. Und jenseits des Walles erhoben sich, durchscheinend und zitternd in der schwülen Luft, Reihe um Reihe die Berggipfel des Nordens, die von zarterer Schwerelosigkeit schienen als der Rauch der Lagerfeuer, der über dem Kastell schwebte. Acht Jahre zuvor war der Rauch, der über den Kastellen des nördlichen Grenzwalles lag, der Rauch des Krieges gewesen, der dunkle Qualm brennender Balken, der sich über die Toten in den Wallgräben hinwegwälzte. Es war das letztemal gewesen, daß Dalriaden und Caledonier ihre Speere vereinigt hatten, und das zweitemal, daß der Grenzwall des Lollius Urbicus in Flammen aufging. Doch jedesmal war er wieder repariert und mit neuer Besatzung versehen worden, und der nun aufsteigende Rauch zeugte von stillen, abendlichen Kochfeuern. Über der ganzen Siedlung zwischen den Niederungen und den bewaldeten Hügeln lag eine Atmosphäre ruhiger Sicherheit. »Es ist eine angenehme Abwechslung, wieder Rauch von einem Herd aufsteigen zu sehen«, sagte Phaedrus. Seine Gedanken kehrten zurück zu den erloschenen Herden, den Überbleibseln verlassener Dörfer, den Scheunen und Ställen, deren Steine von Dornengestrüpp überwuchert waren und wo über den Eingängen die Winden herabhingen. Mehr als einmal hatten sie das bei ihrem Zug nach Norden gesehen. Oh, gewiß - es hatte auch bewohnte Ansiedlungen gegeben; doch selbst über ihnen hatte es wie fröstelnder Hauch gelegen: es lebten dort zu viele alte Frauen mit hohlen Gesichtern, doch zuwenig Männer und zuwenig Kinder. »Ja, ja - Lollius Urbicus hat in Valentia tüchtig aufgeräumt, als er schon einmal dabei war«, sagte Sinnoch. Er sprach den Namen des Feldherrn aus, als ob er ihm widerlich sei - in einem Ton, wie Phaedrus ihn schon öfter unter den Männern aus dem Norden gehört hatte. »Das alles liegt schon mehr als vierzig Sommer zurück, doch die Narben sind noch immer zu sehen. Und sie schmerzen, wenn der 64
Wind von Osten bläst, wie alte Narben das nun einmal zu tun pflegen.« Mit plötzlich erhobenen Brauen hatte Phaedrus sich umgeschaut. »Soll das heißen, daß es eines Tages einen neuen Aufstand gibt?« Doch in den Augen des Händlers, der entspannt auf seiner Satteldecke saß, die große Peitsche aus Ochsenleder auf dem Widerrist des Pferdes vor sich, lag nichts als ein in die Ferne und die dunstige Hitze gerichteter Blick. »Vielleicht ja - zu einer Zeit, in der die Stämme des Flachlandes stark genug geworden sind. Doch das wird weder zu deinen noch zu meinen Lebzeiten geschehen; Lollius Urbicus wußte, was er tat, als er der Provinz seine Forderungen stellte. Er verstand es, der Sache einen feinen, ehrbaren Anstrich zu geben, indem er sie als Einberufung zu den römischen Hilfstruppen bezeichnete und alle jungen Männer wegführen und am anderen Ende des Imperiums bei den Adlern Dienst tun ließ.« »Man könnte das eine Art Mord nennen«, sagte Phaedrus nachdenklich. »Nur ist es Mord an einem ganzen Volk anstatt an einem einzelnen Mann.« Sinnochs Stimme war trocken und voll bitteren Spotts. »Aber nein, das ist die Art und Weise, in der die Roten Helmbüsche die Pax Romana* durchführen.« Er pfiff den Packpferden und ließ die * »Römischer Friede«. Bezeichnung für den befriedeten Herrschaftsbereich des römischen Staates sowie die unter seinem Schutz sich entfaltende Kultur im Gegensatz zur Barbarenwelt. lange Peitsche über ihre Rücken knallen, um sie wieder in Bewegung zu setzen. »Und dann baute er diesen schönen, neuen Wall«, stellte Phae-drus fest, während sie weitertrabten und die erstickende Staubwolke sich von neuem erhob, »um allen Menschen zu verkünden: Bis hierhin gilt die Pax Romana. Bis hierhin scheint die Sonne, und dahinter liegt das Dunkel, das man besser fernhält.« »So ist es nicht ganz. Schon hundert Jahre zuvor, hat man mir erzählt, gab es Kastelle entlang dieser Linie. Und da sind noch immer 65
Außenposten und jene alte Festung in Are-Cluta, eine volle Tagesreise hinter dem Wall. Und was das >besser fernhalten< betrifft...« »Aber welchem Zweck dient er dann?« Sinnoch zuckte die Achseln. »Er dient als Kontrollinie, mit deren Hilfe die Roten Helmbüsche in gewisser Weise feststellen können, wer geht und wer kommt, wie viele es sind und wie oft.« »Was soll das heißen - auf gewisse Weise?« »Nun, es gibt auch Wege, auf denen man hinübergelangen kann, ohne die Roten Helmbüsche zu bemühen. Für denjenigen, der die Gezeiten kennt und sich die Mühe macht, die Gewohnheiten der Patrouillen zu studieren, gibt es auf beiden Seiten die Marschen entlang der Küste. Doch das Ganze ist nicht das Lampenöl wert, wenn es sich nicht um Dinge von besonderem Wert handelt, die durchgeschmuggelt werden sollen.« »Und was wäre das?« »Zum Beispiel arabische Stuten. Die Römer nicken zwar wohlwollend, wenn wir gelegentlich einen Hengst, der ganz legal auf dem Pferdemarkt gekauft wurde, hier hindurchbringen, damit unser Bestand aufgefrischt werden kann - um so lieber kaufen sie unsere Dreijährigen zur Ausrüstung ihrer Reiterei. Doch Stuten -das ist schon eine andere Sache.« Phaedrus nickte. Ein Hengst konnte in einem Jahr viele Fohlen zeugen, doch eine Stute trug nur eines in der gleichen Zeit. Das war auch der Grund, warum kein Kriegsheer jemals die Stuten in die vorderste Kampflinie warf, ehe sich nicht ein verzweifelter Mangel an Pferden bemerkbar machte, und warum keine Provinz gute Stuten über ihre Grenzen hinausließ, wenn es irgendwie zu verhindern war. »Warum läßt man dann - wenn es sich doch nur darum handelt, die Rasse aufzufrischen - die Stuten nicht aus dem Spiel und bringt nur die Hengste hinüber, bei denen man des Einverständnisses der Roten Helmbüsche sicher ist?« Sinnoch schaute zu ihm herum. »Du bist unter anderem auch Wagenlenker gewesen, aber es kommt mir vor, als ob du nur wenig von Pferdezucht weißt. Hast du niemals gehört, daß ein Pferd die 66
Kraft vom Zuchthengst, den Mut aber von seiner Mutter erbt? Und mögen unsere kleinen, berggewohnten Stuten auch zäh und ausdauernd sein, so kann doch keine andere wie die Araberstute ein solches Feuer in ihre Fohlen setzen. Außerdem wäre es eine traurige Welt, in der ein Mann nur das täte, was die Roten Helmbüsche erlauben.« »Hast du selbst«, fragte Phaedrus behutsam, »jemals Stuten hinübergeführt?« »Mag sein - von Zeit zu Zeit, als ich noch jung und draufgängerisch war. Und wenn es nur zu dem Zweck geschah, mir die versteckten Pfade meines heimatlichen Berglandes vertraut zu machen, die nur wenige außer den Leuten aus dem Dunklen Volk kennen. Aber auf dieser Reise werden wir kein Risiko eingehen; ich will außerdem einen alten Freund aufsuchen, der dort unten in der Ansiedlung eine Weinschenke hat. Wir werden heute nacht also sicher und ehrbar im Schatten der Festungsmauern schlafen und am Morgen mit Roms Segen durch die Tore hinausziehen.« Und so führten Vron und Phaedrus spät am Abend die Ponys zur Tränke, nachdem sie die Warenballen abgeladen und Sinnoch im Hinterzimmer der Schenke zur Erörterung der jüngsten Neuigkeiten aus dem Grenzgebiet bei seinem alten Freund, der sich als eine unsagbar dicke Frau in schmutzigem, rosafarbenem Gewand erwies, zurückgelassen hatten. Ein kleiner Bach floß unterhalb des Kastells. Er entsprang irgendwo landeinwärts zwischen Heidekraut und verkrüppelten Birken und rann in einer Kette von flachen Flußschlingen und sich zu kleinen Teichen ausweitenden Verbreiterungen herab, um sich schließlich mit der Clota zu vereinigen. Eine Patrouille von Grenzsoldaten war gerade zurückgekehrt und tränkte ihre Pferde. Phaedrus, der sich des Wertunterschiedes zwischen Packpferd und Kavalleriepferd wohl bewußt war -obwohl gerade diese Kavalleriepferde genauso zottig und kaum größer waren als die, die er zu betreuen hatte -, folgte Vron hinunter an den Teich, der unter jenem lag, an dem die Pferde der Soldaten soffen. Es war kühl unter den Erlen, deren Zweige zum Wasser 67
hinunterhingen, und obwohl die Mücken noch immer im Sonnenlicht tanzten, erhob sich von den Niederungen her verstohlen ein Luftzug, eine salzige Brise nach der Hitze des Tages, deren langsames Aufkommen man verfolgen konnte, da sie die Sumpfgräser alle in einer Richtung übersilberte. Phaedrus und der alte Vorreiter stiegen ab, verknüpften die Zügel und ließen die Ponys allein den Weg die Uferböschung hinab finden. Das kalte, torfbraune Wasser kräuselte sich um sieben Paar begieriger Nüstern, als die müden kleinen Geschöpfe die Köpfe beugten, um zu saufen. Vron ging in Hockstellung, lehnte den Rücken gegen einen Erlenstumpf und zog sich seinen schafsledernen Hut über die Augen. Phaedrus jedoch, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Zügel sicher befestigt waren, so daß die Ponys sich herumwälzen konnten ohne Gefahr, sich in den Leinen zu verstricken, beobachtete die Männer stromaufwärts. Schon ein- oder zweimal hatte er nach dem Passieren des Hadrianwalles und auf der weiteren Reise nach Norden Scharen von diesen Grenzsoldaten gesehen, doch für ihn waren sie eine seltsame Gesellschaft - nicht zu vergleichen mit den Legionären oder den Angehörigen der Hilfstruppen, die von den Kastellen am Wall an ihren dienstfreien Tagen nach Corstopitum herunterkamen. Natürlich hatte er manches von ihnen erzählen hören. Es waren hagere, hochgewachsene Männer - viele britannischer Abstammung -, die imstande waren, das Bergland zu Fuß fast ebenso rasch zu besetzen wie zu Pferde. Eine rauhe Gesellschaft -so nannte man sie allgemein -, doch man sagte das mit dem Unterton widerstrebender Hochachtung. Während er sie beobachtete, sie standen neben ihren Pferden, konnte Phaedrus ihren guten Ruf und den ihnen entgegengebrachten Respekt ein wenig verstehen. In entspannter Haltung und doch aufmerksam standen sie bei ihren Ponys; der eine lehnte am Stamm eines Haselnußstrauchs und pfiff durch die Zähne vor sich hin, der andere beschäftigte sich prüfend mit seinem Bogen, einem leichten Hornbogen übrigens, wie ihn die kretischen Hilfstruppen benutzten, mit dem man besonders gut vom Pferd herunter schießen konnte. Zwei weitere Soldaten 68
stritten leise und leidenschaftlich über etwas; ein Wortgefecht, das offenbar schon den ganzen Tag über andauerte und sich möglicherweise die ganze Nacht hindurch fortsetzen würde. Doch jeder hatte dabei ständig ein Auge auf sein Pferd und achtete darauf, daß es soff, was es brauchte, und nicht mehr. Keine Legion würde sich je direkt in der Gesellschaft dieser Leute sehen lassen, die Hosen trugen wie die Barbaren, mit Wolfsfellen bekleidet waren und die manchmal den Kopfpelz des Wolfes anstelle einer Mütze oder eines Helmes über den Kopf gezogen trugen. Etwas an ihnen jedoch erschien Phaedrus vertraut und erweckte eine unbestimmte Sehnsucht in ihm. Er war davon überrascht und verwirrt, bis er begriff, daß es die Einheit der Meute war, ihre enge Verbundenheit untereinander, die er von der Gladiatorenschule her kannte. Doch die kleine, rötlichgraue Stute war besonders durstig, und weil er darauf achten mußte, daß sie nicht den halben Teich aussoff und dann Kolik bekam, verlor er die Grenzsoldaten aus den Augen. Erst als ein Zweig knackte und er sich umschaute, sah er, daß der Centurio der Gruppe am Flußufer entlanggeschlendert war und dabei unablässig die Ponys gemustert hatte. Er wies nickend auf die Stute. »Mir scheint, als ob sie ein bißchen Rasse in sich hätte.« »Sie ist aber nicht...«, begann Phaedrus, sofort bereit, sich zu verteidigen. Der andere lachte nur. Er war ein magerer, sehr dunkelhäutiger Mann, Ende Zwanzig vielleicht, mit einer gebogenen Nase, die für sein schmales Gesicht zu groß geraten schien, und einem Paar vergnügt dreinschauender, geradestehender, tiefliegender Augen. »Nein, nein, ich beschuldige sie ja nicht, arabisches Blut in sich zu haben. Ich dachte mir nur, daß sie eigentlich ein wenig zu schade für die Lastenschlepperei ist. Sie könnte ein schönes Jagdpferd abgeben. Ich möchte wohl wissen, ob Sinnoch sie verkaufen würde.« Phaedrus hatte begonnen, die Stute aus dem Wasser zu treiben. »Genug, alte Säuferin! Raus jetzt! Los, raus mit dir!« Nun wandte er sich zu dem Soldaten um. »Du kennst meinen Herrn?« 69
»Ich bin seit drei Jahren in diesem Kastell und habe ihn in der Zwischenzeit dreimal mit jungen Pferden nach Valentia ziehen und dreimal mit Wein und Bernstein in das Bergland zurückkehren sehen. Jedermann in diesem Abschnitt des Walls kennt Sinnoch und verläßt sich auf ihn, wenn er wissen möchte, was es da draußen in der anderen Welt Neues gibt. Aber was die Stute anbetrifft...« »Da fragst du ihn am besten selbst.« »Vielleicht tue ich das.« Der Mann hatte eine Hand ausgestreckt, die schmal und dunkelhäutig war wie er selbst, und begann, das feuchte Maul der sich nur widerwillig vom Wasser abwendenden Stute zu kraulen, wodurch er sie zu sich hinlockte. »Ja, du bist mein gutes Mädchen. Siehst du, wir sind schon Freunde, du und ich.« Doch sein Blick war noch immer wie abwägend auf Phaedrus' Gesicht gerichtet; und plötzlich sagte er: »Du bist neu unter Sinnochs Leuten, nicht wahr?« »Ja.« »Und wie die Stute scheinst du nicht zu diesem Packzug zu gehören.« »Ich bin in meinem Leben schon so manches gewesen.« »Vielleicht auch - Gladiator?« Phaedrus' Kopf schnellte hoch. »Ich hab' mein hölzernes Schwert vor etwa zwei Monaten gewonnen.« »So, so. Aber das scheint mir doch ein etwas ungewöhnlicher Beruf für einen ehemaligen Gladiator zu sein.« »Ich hab' hier mein Essen und Trinken. Schließlich muß ich ja auch leben, selbst wenn sich die Tore der Gladiatorenschule für mich geschlossen haben. So hat man euch also alles über mich gemeldet?« »Es gehört zu meinen Aufgaben, auf kampffähige Männer zu achten. Du bist einer, aber dein Aussehen verrät mir, daß du kein gedienter Legionär bist.« Phaedrus grinste. »Dann liegt es also nur an der Ausbildung, ob einer für den Krieg oder die Arena geeignet ist?«
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»Im allgemeinen gehört mehr dazu, das kannst du mir glauben. Wenn ein Gladiator einmal für die Arena gedrillt ist, wird kein guter Soldat aus ihm.« »Dann hatte ich also recht. Ich dachte zuerst daran, hinauf ins Lager zu gehen - das war noch in Corstopitum; aber dann sagte ich mir, daß das wahrscheinlich Zeitverschwendung wäre.« Der andere nickte. Seine Hand lag noch immer auf dem Hals der kleinen Stute, während das Tier mit seinem zarten erkundenden Maul behutsam gegen seine Brust stieß. »Bei den Grenzwölfen wäre das natürlich eine andere Sache. Nach den Maßstäben der Legion sind auch wir sehr schlechte Soldaten.« Völlig verblüfft blieb Phaedrus einen Augenblick lang stumm. »Du willst damit doch nicht sagen, daß du mir den Dolch eines Grenzsoldaten gegen mein hölzernes Schwert anbietest?« »Kaum. Doch wenn du zum Befehlshaber nach Credigone gingest, wäre das wohl keine Zeitverschwendung.« Sie standen einander gegenüber, während Phaedrus' schwere Herzschläge verebbten; das zwischen ihnen lastende Schweigen wurde von dem sanften Stampfen und Schlucken der Pferde und dem flötenähnlichen Ruf eines Austernfischers aus den Niederungen unterbrochen. Unbeteiligt dachte Phaedrus darüber nach, wie es wäre, aus dem gegenwärtigen wilden Abenteuer auszubrechen und hinter diesem Mann oder einem anderen seiner Art herzureiten und wieder Teil einer festgefügten Gemeinschaft zu sein. Es war eine Vorstellung, mit der man einen Augenblick lang spielte, so wie man einen kleinen scharfen Dolch hochwarf und an der Klinge wieder auffing. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Dazu ist es jetzt zu spät. Ich habe einen anderen Weg eingeschlagen.« »Und kannst du nicht umkehren?« Phaedrus sah plötzlich vor seinem inneren Auge, was passieren würde, wenn er jetzt versuchte, von dem ihm bestimmten Weg abzuweichen. Und er wußte im gleichen Moment, daß er auch dann, wenn es die Abmachung im Nebenraum der ROSE VON PAESTUM nicht gegeben hätte, und wenn er jenes Zeichen, das die Kappe verdeckte, 71
nicht auf der Stirn trüge, nicht länger als nur einen Augenblick mit diesem Gedanken gespielt hätte. »Es gibt keine Umkehr. Um es offen zu sagen - ich hätte keine Lust, die nächsten zwanzig Jahre in dieser trostlosen Gegend Patrouille zu reiten, wo ein Scharmützel mit Viehräubern die einzige Abwechslung wäre. Sicher würde ich die zwanzig Jahre gar nicht erleben. Bis zum Frühling hätte ich mir schon die Kehle durchgeschnitten.« »So? Bist du so sehr Stadtmensch? Die Berge nördlich des Walles sind noch einsamer als das Bergland von Valentia.« »Aber vielleicht nicht so trostlos. Zwischen ihm* und dem süd* Nördlicher (»Antonius«-)Wall, der Caledonien von Valentia trennt liehen Wall* gab es zu viele menschenleere Dörfer und erloschene Herdstellen.« »Das ist nun doch eine alte Geschichte - wenn es damals auch scheußlich war«, erklärte der römische Centurio. »Strafaktionen sind immer häßlich.« »Man hat mir gesagt, daß es mehr als vierzig Jahre zurückliegt; und doch sind die kleinen Dörfer noch immer ausgestorben und die Herdstätten kalt, so wie Lollius Urbicus sie zurückgelassen hat.« »Du bist britannischer Abstammung, nicht wahr? Nun, mehr als die Hälfte meiner Leute sind Einheimische.« »Sie haben gewählt, wem sie folgen wollen, und ich auch«, erklärte Phaedrus. »Ich glaube, du mußt ein ebenso ungewöhnlicher Gladiator gewesen sein, wie du ein ungewöhnlicher Pferdetreiber bist«, sagte der Römer nachdenklich. »Schade, daß ich dich nicht überreden kann; du wärest ein guter Grenzwolf geworden.« Das Klirren eines herunterhängenden Zaumteiles wurde hörbar, als eines der Kavalleriepferde den Kopf zurückwarf, und zugleich ertönte vom Kastell her ein Trompetenstoß. Phaedrus merkte, daß die Schatten zwischen den Erlenstämmen sich allmählich verdichteten. »Also gut, ich werde mit Sinnoch über die Stute reden«, sagte der 72
Centurio. Dann wandte er sich um und schlenderte flußaufwärts zu seinen Männern zurück. Mit einem freundlichen Fußtritt scheuchte Phaedrus Vron aus dem Schlaf auf. »Komm, Alter, es ist Zeit, sie für die Nacht einzupferchen.« Spät an jenem Abend saßen sie miteinander in dem von einer Lampe erhellten Lagerraum hinter der Weinschenke. Vron war zu einem Hahnenkampf gegangen, und die dicke Frau war hinausgewatschelt, um ihre anderen Besucher zu bedienen, als Sinnoch sich erkundigte: »Und worüber habt ihr zwei, du und der Centurio Titus Hilarian, so ernsthaft dort unten an der Pferdetränke gesprochen?« »Das kann nur Vron gewesen sein«, sagte Phaedrus. »Ich hatte * Südlicher (»Hadrians«-)'w'all, der die nur lose zum römischen Imperium gehörende Provinz Valentia von Britannien trennt schon meine Zweifel, ob er wirklich so unvermittelt eingeschlafen sein sollte.« »Vron schläft immer wie ein Wachhund - ein Ohr gespitzt und ein Auge offen.« »So, so - ich habe verstanden. Nun gut, dann kann er dir ja erzählen, worüber wir gesprochen haben.« Ein trockenes Lächeln zuckte um Sinnochs Mundwinkel. »Leider habt ihr lateinisch gesprochen; Vron kennt aber nur drei Wörter Latein, und eines davon ist >trinken< ... Was also wollte der Centurio?« »Er interessierte sich für die rötliche Stute.« Sinnoch nickte. »Das dachte ich mir. Er brauchte ein neues Jagdpferd, als ich auf meiner Reise nach Süden hier vorbeikam, und so habe ich meine Augen auf den Pferdemärkten von Corstopitum offengehalten.« »Du dachtest es dir also schon - warum tust du dann so, als ob die Stute ein Packpferd sei?« »Warum sollte ich sie diesen weiten Weg wie eine feine Lady mitlaufen lassen, wie einen nutzlosen Fresser, wenn sie sich doch auf 73
der Reise ihr Futter hat verdienen können? Außerdem dachte ich mir, daß es seinem Selbstgefühl schmeichelt, wenn er die gute Rasse unter dem Packsattel erkennt; und ein mit sich selbst zufriedener Mann zahlt besser.« »Du verschlagener alter Fuchs«, sagte Phaedrus voller Bewunderung. Sinnoch machte eine abwehrende Geste wie einer, der ein Kompliment bescheiden zurückweist. »Es ist nur eine Frage, wie gut man seinen Markt und seine Kunden kennt. Er ist ein ziemlicher heller Kopf, unser Centurio, und tüchtig in seinem Dienst. Wenn er nicht abgesetzt wird, weil er zuviel nach seinem eigenen Gutdünken handelt, oder mit einem Pfeil der kleinen Männer vom Dunklen Volk im Leib tot in einem Sumpf gefunden wird, wird er sicher in einem oder zwei Jahren Befehlshaber auf einem der abgelegenen Kastelle sein. Doch wie bei den meisten seiner Art vermag der Verstand bei ihm nur geradlinig zu arbeiten. Vielleicht hat diese Eigenschaft Rom zum Beherrscher der Welt gemacht; aber es ist nicht zu leugnen, daß derjenige, der auf Umwegen zu denken imstande ist, beim Pferdehandel den Vorteil hat.« Unvermittelt beugte er sich vor. Sein Gesicht lag im Schatten, während einer der schweren Ohrringe aus Korallen und Silber im Hin- und Herschwingen das Lampenlicht einfing. »Was sagte er noch?« Phaedrus runzelte die Stirn und verharrte einen Augenblick lang schweigend, ehe er antwortete. »Er sagte, daß ein ehemaliger Gladiator sich unter den Grenzwölfen ganz gut ausmachen würde.« »Und du denkst das vielleicht auch; zu schade, daß du nicht daran gedacht hast, ehe du zum erstenmal in die ROSE VON PAESTUM gingst und danach im Stadtgefängnis endetest.« Phaedrus rieb sich das Knie dort, wo die Narbe noch immer schmerzte, wenn er erschöpft war. »Wir hatten in der Gladiatorenschule ein Sprichwort, daß das Leben zu kurz ist, um es mit Sparen für die Zukunft oder Bedauern über die Vergangenheit zu vergeuden. Ich habe dem Centurio Hilarian erklärt, daß ich mir spätestens im Frühjahr die Kehle durchschneiden würde, wenn ich in dieser trostlosen Gegend Dienst annähme.« 74
»Es kann sein, daß du in Earra-Ghyl nicht einmal so lange lebst.«
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Forschende Augen Am nächsten Tag, als das Feilschen um die rote Stute vorüber war und das Tier seinen Besitzer gewechselt hatte, stießen sie in nordwestlicher Richtung in das Gebiet der Stämme vor, wohin der Schatten Roms nicht mehr reichte. Zwei Nächte später trafen sie mit Gault und einer ihn begleitenden, ausgewählten Schar von Kriegern zusammen. Und danach folgten Tage und Nächte - so viele, daß Phaedrus das Zählen aufgab - zwischen den Marschen an der Küste, steilen Waldhängen und riesigen, bis tief ins Binnenland reichenden Meeresarmen. Ein gewaltiges Bergmassiv, von dem Sinnoch gesagt hatte, daß es Cruachan sei, der Schutzschild der Welt, türmte sich höher und immer höher in den nördlichen Himmel auf. Von Ort zu Ort zogen sie; fremde Gesichter, in die man beim Feuerschein blickte, waren am anderen Morgen verschwunden. Verstohlen wurden Botschaften von Mund zu Mund weitergesagt - in der Hütte eines Hirten oder an der Furt eines Flusses. Im Ungewissen Licht der Abenddämmerung oder des Morgengrauens tauchten wie aus dem Nichts kleine Scharen speerbewaffneter Männer auf, die ihre Befehle entgegennahmen und darauf wieder in jenes Nichts entschwanden. Endlich kamen sie zu drei großen Höhlen in den Klippen, die einst von den westlichen Gewässern überspült gewesen sein mochten, wenn auch jetzt ein schmaler Felsstreifen zwischen ihnen und dem Meer lag. Im Inneren der geräumigsten Höhle entzündeten sie ihr Feuer; nun sollte für eine Weile der Lagerplatz nicht mehr gewechselt werden. Inzwischen war es richtig Herbst geworden; heftige Stürme heulten von Westen heran und brausten gegen die Höhenrücken der vor der Küste gelegenen Insel. Die Robben hatten ihre Sonnenplätze auf den Felssteinen mit den tiefen Gewässern vertauscht. Und dann kam eine Herbstnacht - eine stille, dunkle Nacht zwischen den Stürmen; und in ihr gab es einen Augenblick, der Phaedrus an die Sekunden, bevor die ersten Fanfarenstöße erklangen und die Arenatore klirrend geöffnet wurden, erinnerte. 76
Der Nebenstollen, in dem er stand, war nicht mehr als eine Verwerfungsspalte im Fels, so schmal, daß die Schultern eines Mannes sie zu beiden Seiten berührten, doch zu ungeahnter Höhe aufstrebend. Das Gestein war schlüpfrig glatt, und von irgendwo aus der Tiefe kam das Geräusch fließenden Wassers. Die schwere, kalte Luft war erfüllt von den hohltönenden Seufzern des Meeres. Weiter hinten, dort, wo im Inneren der kleineren Höhle noch immer die Lampe brannte, fiel ein verschwommener Lichtschein ins Freie, und ganz in der Nähe flackerte lebhafter Fackelschein durch einen Riß in dem schweren Robbenfell, das als Vorhang den Eingang zum Stollen verdeckte. Gedämpfte Stimmen erklangen dahinter, als die drei Männer in der alles verhüllenden Finsternis zwischen den zwei Lichtern einen Augenblick lang den Schritt verhielten; selbst diese Stimmen hatten einen hohlen Klang und riefen ein seltsam flüsterndes, fortlaufendes Echo hervor. Dann griff Gault zu - Phaedrus wußte aus der unterdrückten Wildheit der Bewegung, daß nur Gault es gewesen sein konnte - und zog das schwere Fell beiseite. Der Schein der Fackeln und des Feuers flutete ihnen entgegen. Phaedrus, von der raucherfüllten Helligkeit voll angestrahlt, die Finsternis des Stollens noch im Rücken, blieb einen Augenblick auf der Höhe des Felsgewirrs stehen, das in die gewaltige Haupthöhle hinunterführte. Er, der darin geübt war, wirkungsvoll aufzutreten und Eindruck zu machen, war sich seiner selbst aufs höchste bewußt und begriff sehr genau, daß der Gladiator und der Pferdetreiber dahingegangen waren und an ihrer Stelle ein Prinz der Dalriaden stand. Ein Prinz in Hosen aus kariertem Tuch und einem Überrock aus feiner, safrangelber Wolle, mit Schuhen aus ungegerbtem Leder an den Füßen und einem in bronzener Scheide steckenden Dolch am Gürtel. Überall an ihm — an den Armen, am Hals und in dem Band aus verschlungenen Drähten, das sein Haar zurückhielt, schimmerte der Glanz gelben Flußgoldes. Die Stimmen in der Höhle waren plötzlich verstummt. Mit hungrigem Ausdruck wandten die Gesichter sich ihm zu, hefteten die Augen sich auf seine Gestalt. Phaedrus sprang über die lockeren 77
Steine in die Höhle hinunter, während Gault und Sinnoch ihm gesetzteren Schrittes nachfolgten. Wie jedesmal, wenn er in die große Höhle trat, warf Phaedrus zuerst einen raschen Blick auf die innere Felswand. Dort erhoben sich die Massen vulkanischen Gesteins, die überall sonst im Raum in gigantischen Zickzacklagen aufeinandergetürmt waren, in senkrechten Flächen, so eben und gleichmäßig, als ob sie von Hand bebauen worden wären. Auf ihrer glatten Oberfläche zeigten sich noch immer die verblichenen und bruchstückartigen Umrisse von Tier- und Vogelbildern in Rot, Ocker und Schwarz: Auerochse und wilder Bär, Eber und Wolf, und schließlich ein Gebilde, das aussah wie eine zum Flug aufsteigende wilde Ente. Mitten unter ihnen jedoch, bis in das hoch oben herrschende Dunkel aufragend, düster, grotesk und doch großartig, befand sich das Bildnis eines Mannes mit dem Geweih eines Zwölfenders. Niemand wußte, wie lange es ihn dort schon gab es stand nur fest, daß er sehr, sehr alt war. Und Sinnoch, der sich neben dem Pferdehandel noch auf vieles andere verstand, hatte ihm einmal erzählt, daß das der König der Herden und der Jagdgründe sei, und etwas Seltsames darüber, daß er für das Volk sein Leben gäbe, wann immer dieses Opfer sich als nötig erweise. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf, während sein Fuß den Boden der Höhle berührte; dann wandte er sich den fünf Männern zu, die neben dem inmitten des Raumes auf erhöhter Herdstätte brennenden Treibholzfeuer saßen oder standen. »Nun?« hörte er Gault neben sich sagen und dann fortfahren: »Betrachtet ihn gut, meine Brüder; wird er unseren Zwecken genügen können?« Es schien Phaedrus, als gäbe es in dieser vom Meeresecho erfüllten Höhle nichts als nur Augen, und hinter diesen Augen die Urteilskraft von fünf Männern, die sich allein auf ihn konzentrierte. Er fühlte, wie die Blicke ihn durchbohrten, während er ihnen gegenüberstand — den Kopf erhoben und um den Mund ein Lächeln, dessen leicht anmaßender Ausdruck ihm nicht bewußt war. Ein großer, sommersprossiger Mann mit den verschwommenen Umrissen eines dick gewordenen Athleten war der erste, der das Wort 78
ergriff. »Es ist bei einem Knaben von vierzehn Sommern schwer zu sagen, was für ein Mann er einst sein wird; doch der König, sein Vater . . .«, er hielt einen Augenblick lang inne und verbesserte sich dann, »dieser Mann ist jedenfalls ganz ähnlich anzuschauen wie es der König, Midirs Vater, im gleichen Alter war.« Ein zweiter nickte zustimmend, und ein dritter sagte: »Es gehört mehr als eine bestimmte Form der Nase dazu, um einen Mann für einen anderen auszugeben; aber soweit es das Äußere betrifft - ja, ich meine, da wird er unseren Zwecken dienen können.« Doch das vierte Mitglied der Gruppe, ein ältlicher Mann mit feurigen, scharfen Augen und einem herben Mund ohne Zähne, erklärte mürrisch: »Ich wundere mich, Gault der Starke, daß du dir überhaupt die Mühe machst, ihn zum Feuer des Rates zu bringen, da es doch scheint, als hättest du die Sache bereits nach deinem Gutdünken entschieden. Oder träume ich auf meine alten Tage und bilde mir nur ein, auf seiner Stirn schon das Stirnmal des Pferdekönigs zu sehen?« »Nein, du träumst nicht, Andragius, mein Häuptling«, erwiderte Gault. »Das Zeichen ist da. Aber vielleicht spielt dein Gedächtnis dir einen Streich, und du hast vergessen, daß du ebenso wie die übrigen Mitglieder des Rates mich zum Führer in dieser Sache gewählt hast, wie ich es dann von Anfang an gewesen bin. Die Zeit reichte nicht aus, um den Rat einzuberufen. Wirklich, wenn Sinnoch nicht ruhiges Wetter für die Bootsüberfahrt gehabt und mich nicht auf meiner eigenen Burg, Red Bull, angetroffen hätte, sondern nach Norden gezogen wäre, um mich auf Burg Monaidh zu suchen, so glaube ich, daß keine Zeit mehr gewesen wäre, die Sache überhaupt durchzuführen. Das Zeichen mußte so rasch wie möglich eingeritzt werden, damit das Aussehen einer frischen Tätowierung allmählich verblassen konnte. Und in solch einem Fall steht es dem Anführer zu, zu entscheiden, was getan werden soll und was nicht! Will einer von euch behaupten, daß ich über die Befugnisse hinausgegangen bin, die ihr mir übertragen habt?« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Es wurde nur unterbrochen von dem Widerhall des Meeresrauschens und dem 79
Knistern des Treibholzes auf der Feuerstelle. Dann zuckte Andra-gius die Achseln und sagte unfreundlich: »Wenn meine Mitbrüder zufrieden sind, bleibt mir wohl kaum etwas übrig, als mich auch zufriedenzugeben.« Gault ließ das Thema sofort fallen. Er wandte sich an das fünfte Mitglied des Rates. »Du hast noch nicht gesprochen, Tuathal der Weise, Mundschenk des Sonnengottes. Du, der als erster unter uns sprechen sollte.« Der fünfte Mann, der die ganze Zeit über unbeweglich auf einem mit Fell bespannten Stuhl gesessen und die Augen nicht von Phaedrus' Gesicht gewendet hatte, erhob sich langsam und zeigte dabei seine volle Größe. Sofort wurde er zum unumstrittenen Mittelpunkt der Szene. Er war kaum jünger als Andragius, doch von ganz anderer Art: ein Mann mit einer mächtigen Hakennase, die an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte; er trug ein Gewand aus feinen, gegerbten Pferdehäuten, die so geschmeidig wie Stoff waren und ihn faltenreich wie ein Königsmantel umgaben. Sein Kopf war kahl geschoren bis auf einen einzigen breiten Haarstreifen, der von der Stirn bis zum Nacken verlief. Das Haar stand steil aufgerichtet und bog sich in stolzem Schwung, ähnlich der silbernen Mähne eines Pferdes, nach hinten. Seine Augen waren die eines Raubvogels - eines Falken, nicht eines Habichts -, dunkle, volle, glühende Augen, die als einzige von allen Menschen- und Tieraugen unverhohlen in die Sonne starren können, ohne von ihr geblendet zu werden. Tuathal sagte schließlich: »Komm her zu mir, du, den man jetzt Midir nennt.« Phaedrus trat zu ihm hin und fühlte sich von jenen Augen in Bann geschlagen und festgehalten. »Begreifst du auch bis zum letzten, was wir von dir verlangen? Nicht wir allein hier, der Rat, sondern jenes Volk, das dann dein Volk sein wird?« »Ich kenne und begreife die Forderungen des Rates. Kann aber ein Mensch das Verlangen eines Volkes verstehen, in dessen Mitte er nicht geboren wurde - es sei denn, er erforscht es, sobald es ihm begegnet?« 80
»Nein«, erwiderte Tuathal der Weise. »Gewiß nicht ... Aber selbst das ist etwas, das einzusehen sich wohl lohnt, und das übrige kann folgen, wenn die Notwendigkeit da ist ...« Es schien, als spräche er mehr zu sich selbst als zu Phaedrus, und sein Blick schweifte an diesem vorbei zu der großen, gemalten Gestalt an der Wand im Hintergrund. Dann kehrten die glänzenden, durchdringend blickenden Augen plötzlich wieder zu Phaedrus' Gesicht zurück. »Und du hast die Rolle gelernt, die du spielen mußt? Die Sitten und Gebräuche - und die Erinnerungen? Kennst du den Weg durch die fünf Höfe der Burg Monaidh? Wenn ein Gefolgsmann dich anspricht, wirst du den Namen wissen, bei dem du ihn zu nennen hast?« »Ich habe einen vollen Monat zusammen mit Midir verbracht, und ich glaube, daß ich die Zeit nicht vergeudet habe.« »Nein?« Tuathal wartete sichtlich auf einen Beweis. Phaedrus lächelte in dem Wissen, daß er diesen Beweis liefern konnte. »Soll ich dir alle deine Titel nennen - Tuathal der Weise, Oberster Priester der Glühenden Sonne, Sprecher des Gottes Lugh vom Glänzenden Speer, Mundschenk, Fohlen des Sonnengottes? Und dann noch jenen einen, der nicht laut ausgesprochen werden darf?« Er beugte sich näher heran und murmelte den fünften Namen, ein TabuWort, das nur zwischem dem Pferdekönig und dem Sonnenpriester gesprochen werden durfte. In der Tiefe von Tuathals Augen flackerte es auf, und die stolz geschwungenen Lider weiteten sich ein wenig, das war alles. Phaedrus wandte sich an den großen beleibten Mann, der als erster von den fünfen gesprochen hatte. »Oscair Mac Maelchwn, ist unter deinen Haushunden noch immer ein Junges der weißbrüsti-gen Skolawn?« Dann, als Oscair nickte, kehrte sich Phaedrus zu dem dritten Mann. Aus einem grobknochigen, frischen Gesicht blickten ihn kleine, lebhaft glänzende Augen an, die an die einer Schlange erinnerten. »Du bist hier an Stelle des Häuptlings, deines Vaters, Cuirithir? Er war vor sieben Jahren ein kranker Mann, der alt wurde vor seiner Zeit. Und doch trägst du noch nicht den Armreif eines Häuptlings.« 81
Und dann kam die Reihe an Andragius. Am liebsten hätte Phae-drus ihm gesagt: »Armer alter Mann! Weißt du nicht, daß sie dich nur in den Rat genommen haben, weil du als Häuptling zu mächtig bist, um abseits gelassen zu werden?« Statt dessen jedoch sagte er: »Mein Herr Andragius, du hast niemals wirklich geglaubt, daß ich beim Speertanz der Knaben deinem Enkelsohn nicht absichtlich ein Bein gestellt habe, so daß er kopfüber hinfiel und alle lachten. Aber wirklich - es war nichts als reine Ungeschicklichkeit. Ich habe inzwischen gelernt, besser mit meinen Waffen umzugehen.« Und zu dem letzten von ihnen, einem stämmig gebauten, dunkelhäutigen Mann, jünger als die übrigen, mit einem häßlichen, aber vergnügten Gesicht, sagte er: »Gallgoid, bist du noch immer der Beste unter den Wagenlenkern im ganzen Earra-Ghyl? Du pflegtest mich immer in deinen Wagen hinaufzuheben und wie der Westwind mit mir davonzubrausen, und ich hätte mit allen Göttern und Helden zugleich meinen Platz nicht tauschen mögen!« »Es hat sich bis jetzt noch niemand gezeigt, der mich übertrumpfen könnte«, antwortete Gallgoid, und seine weißen, schief gewachsenen Zähne blitzten dabei auf. »Du hast von dem Monat guten Gebrauch gemacht«, sagte der Sonnenpriester nach einer Weile. »Aber sag uns bitte noch eins: Warum tust du das?« Mürrisch warf Oscair ein: »Er tut es eben. Spielt denn der Grund eine Rolle?« »Mir scheint, daß es solche und solche Gründe gibt - obwohl gerade dieser eine nicht weit zu suchen ist. Eine Königswürde muß ein ausreichender Anreiz sein für Männer, die, wie ich hörte, um den Preis ihrer nächsten Mahlzeit auf Tod und Leben kämpfen, nur um die Meute der Roten Helmbüsche zu unterhalten.« »Sowohl Gault als auch Sinnoch werden bezeugen, daß ich zuerst schwor, ich würde mich mit einer Königswürde, die mir nicht zusteht, nicht abgeben.« »So, so - und was hat deine Meinung geändert?« Sie schwiegen lange. Phaedrus hörte an dem veränderten Echo 82
des Meeres in der Höhle, daß der Gezeitenwechsel gekommen war. »Midir! - Aber auch noch etwas anderes«, erwiderte er schließlich und fuhr dann mit einem Ton leichter Herausforderung fort: »Nein, eigentlich ist es noch viel einfacher: Gault bot mir einen Preis - o nein, nicht in Gold! Es war das aufregende Leben, das ich ein bißchen vermißt hatte, seit ich in der Arena meine Freiheit gewonnen hatte. Mir erschien das ein fairer Preis, und so bin ich euer Mann, ebenso gut wie jeder andere Söldner, der seinen Schwertdienst gegen eine angemessene Bezahlung anbietet.« »So nennst du uns also zwei Gründe; und zusammen gesehen finde ich sie gut.« Tuathal wandte sich den anderen am Feuer zu. »Was mich anbetrifft, so stehe ich in dieser Sache zu Gault dem Starken. Was sagt ihr, meine Brüder?« »Ich schließe mich an«, erklärte Gallgoid mit Nachdruck. »Ich auch.« »Und ich.« Nur Andragius zuckte die Achseln und hielt seine Hände ans Feuer. Er würde, wenn es später Unannehmlichkeiten gab, jederzeit sagen können, daß er sie immer gewarnt hätte, ja, er würde sogar für sich in Anspruch nehmen können, daß er niemals eingewilligt habe, sondern von den anderen Mitgliedern des Rates einfach überstimmt worden sei. Bald darauf saßen sie alle rings um das Feuer und ließen das Methorn von Hand zu Hand gehen. Phaedrus, als der Jüngste unter ihnen, kümmerte sich um die großen Stücke Schweinefleisch, die auf den rotglühenden Torfstücken im Feuer brieten. Sie schmiedeten Pläne, während sie darauf warteten, daß das Essen fertig wurde - Pläne, die in der Nacht vor den Winter-sonnwendfeuern in die Tat umgesetzt werden sollten. Tatsächlich aber waren diese Pläne schon seit langem gefaßt (»Schon blasen die Hörner überall in den Bergen, und die schwarze Ziege stirbt«, hatte Gault Monate zuvor in Corstopitum erklärt), und es waren daran nur einige Kleinigkeiten zu ändern, weil man jetzt statt eines geblendeten Prinzen, den es zu 83
rächen galt, einen lange verschollenen besaß, den man auf den Platz seines Vaters zurückführen konnte. Selbst das Kennzeichen, an dem man Freund von Feind unterscheiden konnte, wurde verabredet. Jeder Mann von der Partei des Sonnenvolkes sollte die Schläfenhaare geflochten und die übrigen lose tragen. Conory, so schien es, würde das besorgen, indem er die neue Haarmode aufbrachte und darauf sah, daß sie in der Zeit zwischen dieser und der Nacht des Aufstandes eine so natürliche Verbreitung fand, wie eine neue Modelaune es zu tun pflegt. Oscair fragte plötzlich: »Seid ihr sicher, daß Conory das kann? Er ist geübter im Schwertkampf als in der Kunst der arglistigen Täuschung.« »Er wird das schon machen. Schließlich ist er nicht dumm; und außerdem - wenn es ihm heute einfiele, sich die Nasenspitze abzuschneiden, würden morgen der Hälfte unserer jungen Stammeskrieger die Nasen fehlen.« »Ich bin immer noch der Meinung«, warf Gallgoid der 'Wagenlenker ein, »daß wir Conory in dieser Sache die Wahrheit hätten sagen sollen.« »Wenn er Verdacht schöpft...« »Warum sollte er Verdacht schöpfen?« erkundigte sich Gault barsch. »Es liegt sieben Jahre zurück, seit er Midir zum letztenmal sah; damals waren sie beide vierzehn. Und auf jeden Fall bedeutet Schweigen ein geringeres Risiko, als wenn wir es ihm sagen würden. Er ist so unberechenbar wie eine Frau, und wenn wir es ihm erst einmal gesagt haben, ist es zu spät, das wieder ungeschehen zu machen.« Der Sonnenpriester, der sich tief in das eigene Innere zurückgezogen zu haben schien, hob den Blick vom Feuer. »Darüber hinaus haben wir in Conory unseren einzigen, ganz sicheren Prüfstein«, sagte er. »Sie waren einander enger verbunden als die meisten leiblichen Brüder, diese zwei. Wenn Conory nicht merkt, daß 84
dies nicht Midir ist, dann wird, wenn dieser Mann nicht gerade einen groben Fehler begeht, niemand sonst es je merken.« Viele Fackeln brannten am inneren Ende der Höhle, und in dem ungewohnten Licht, das sich von den Füßen bis zu dem vom Herdrauch umhüllten und mit stolzem Geweih gekrönten Kopf emporzüngelte, schien die gemalte Gestalt des Gehörnten Gottes aus der Felswand hervorzutreten. Eine Decke aus Fellen war zum Schutz gegen das unwirtliche Herbstwetter vor den zum Meer gelegenen Höhleneingang straff über die Pflöcke gezogen worden. Der Sturm heulte knatternd dagegen wie ein Riese, der mit der flachen Hand auf die gespannte Haut einer gewaltigen Trommel schlägt. Und zwischen dem Eingang und dem auf erhöhtem Herd brennenden Feuer waren die Häuptlinge und Anführer des Stammes versammelt. Phaedrus, der allein vor den riesigen, auf Fels gemalten Füßen des Gottes stand, sah sie alle nur als dichtgedrängte Schatten, die hier und dort durch das Blinken von Bronze und Gold oder das lebendige Aufblitzen eines Auges belebt wurden. Jene Schatten, die vor seinem Eintreten mit tief murmelnden Stimmen gesprochen hatten, waren jetzt verstummt, und selbst der Sturm hatte für einen Augenblick sein Trommeln gegen die Felle am Eingang aufgegeben; nur das Meer, das an dem felsigen Strand emporschlug, brauste und dröhnte noch und erfüllte die Höhle mit dem Widerhall seines Tobens. »Hier ist er also«, schrie dann Gault, der mit seiner Schar von Leibkriegern eine Speerlänge entfernt auf der Seite stand. Seine Stimme wurde von den Felswänden zurückgeworfen, und das Echo ähnelte dem Klang rauher Kriegshörner. »Hier ist Prinz Midir, unser wahrer Pferdekönig, den das Weib Liadhan vor sieben Wintern töten lassen wollte!« Durch die sich zusammendrängenden Schatten ging eine Bewegung, sie zogen den Atem ein, daß es fast wie ein Schluchzen klang. Dann rief eine Stimme zurück: »Welchen Beweis kannst du uns dafür geben, daß dies hier wirklich Midir ist und nicht ein anderer, der nur so aussieht wie er?« 85
»Was haben ich oder Sinnoch der Händler mit dem Beweis zu schaffen? Wir haben den Prinzen Midir ausfindig gemacht und ihn euch gebracht. Den Beweis muß er selbst euch geben, wenn es denn mehr ist als der eigene Augenschein, was ihr braucht.« »Dann soll er ihn geben!« Phaedrus hob die Hände zu dem kleinen Reif aus verschlungenen Golddrähten, der sich tief in seine Schläfen preßte, nahm ihn ab und warf ihn klirrend auf den Felsboden, während er seine bloße Stirn dem Licht der Fackeln preisgab. »Hier ist euer Beweis! Kommt näher und schaut ihn euch an!« Ein unverständliches Stimmengewirr, das sich im Brüllen des wieder anschwellenden Sturms verlor, antwortete ihm. Die Schatten teilten sich und traten näher, um sich jenseits des Feuers zu versammeln. Der flackernde Fackelschein, der nun auf sie fiel, ließ sie die Gestalt lebendiger Männer annehmen. Ein ältlicher Mann, dessen Haar das Aussehen eines Dachsfelles hatte, drängte sich aus der Menge hervor. Seine tiefe und glückliche Stimme klang durch das Tosen des Sturmes. »Midir! Es ist wirklich Midir - nach all diesen Jahren!« »Sieben Jahre«, sagte Phaedrus und streckte ihm die Hände entgegen, während die Armreifen aus Gold und Kupfer an seinen Handgelenken klirrten. »Es ist gut, daß sie vorbei sind und ich wieder zurückgekehrt bin.« Doch in einigen der Männer regte sich noch immer der Zweifel. Eine Tätowierung konnte schließlich kopiert werden; unter Liad-hans Herrschaft hatten sie gelernt, Vorsicht zu üben. »Du sprichst nicht so wie wir«, rief jemand aus der Menge. Phaedrus ließ die Hände sinken und wandte sich ihm zu. »Setze ein Wolfsjunges in den Hundezwinger, dann wird es lernen, wie ein Hund zu bellen. Bei den Göttern, Mann - ich habe sieben Jahre im Süden gelebt!« Da ergriff ein anderer das Wort. »Warum bist du nicht früher zurückgekommen ? « 86
»Warum fohlt die Stute nicht, bevor sie beschält wurde, und warum reift die Brombeere nicht, bevor die Blüte abfällt? Was wäre wohl geschehen, wenn ich eines Nachts zu euren Jagdfeuern geschlichen wäre, oder - noch schlimmer - mit dem Kriegsruf auf den Lippen bei euch aufgetaucht wäre, ehe die Zeit reif war und ehe ihr mich zurückrieft? Und ich habe keinen unter euch nach mir rufen hören.« »Wir wußten nicht, daß du noch lebtest.« Irgendwo in der Versammlung der Krieger erhob sich eine dritte Stimme, die von anderen unterstützt wurde: »Du bist also nicht ertrunken, wie man uns gesagt hat? Erzähle uns, was in jener Nacht und in der Zeit danach geschah.« Alle schwiegen erwartungsvoll, nur der Wind pfiff draußen vor dem Höhleneingang, doch Phaedrus hatte ein gutes Gespür für diese Ruhe. Er hatte gewußt, daß die Frage kommen und immer wieder gestellt werden würde. Er hatte seine Geschichte zur Hand; sie war ihm so vertraut, daß sie ihm wie ein Teil seiner eigenen Erinnerungswelt erschien. Doch plötzlich wußte er, während jede Nervenfaser an ihm aufs äußerste gespannt war, daß er sie ihnen dieses Mal nicht erzählen durfte; es wäre nicht Midirs Art gewesen, auf eine fordernde Frage zu antworten. Sein Kopf war stolz erhoben, und seine Hand strich über den Dolch. Er lachte ein wenig, doch es war ein freudloses Lachen. »Wie - hat man euch das nicht berichtet, als man euch hierherbestellt hat? Haben die Boten euch nur ins Ohr geflüstert: >Kommt, denn Midir ist von den Erschlagenen zurück!<, und ihr seid gekommen, ohne Fragen zu stellen?« »Wir möchten es von dir selbst hören, Midir.« »Das möchtet ihr also?« Phaedrus musterte sie von oben bis unten und schrie sie dann in einer gekonnten Zornesaufwallung an. »Bei Lugh vom Glänzenden Speer! Wenn man euch hört, könnte man meinen, Prinz Midir wäre hier unter seinen eigenen Leuten nur geduldet. Soll ich zu euch kommen mit ausgestreckten Händen und gebeugtem Kopf, um vor euch zu stehen wie ein Bettler vor dem Hausherrn, und euch meine Geschichte erzählen für einen Kanten Gerstenbrot und einen Platz am Feuer? Es steht euch nicht zu, eure 87
Köpfe zu schütteln und mich aufzunehmen, wie ein Hausherr aus Barmherzigkeit einen Bettler aufnimmt; ich bin es, Midir der Pferdekönig, und ich bin zurückgekehrt, um den Platz einzunehmen, der mir gebührt - und nur mir allein! Ich bin die Speerspitze dieses Aufstandes, der die Wölfin von dem Platz vertreiben soll, dessen sie sich bemächtigt hat, und der den Stamm befreien wird, damit er wieder im Tageslicht wandeln kann! Ich bin der König des Pferdevolkes, wie es mein Vater vor mir war, und wenn ihr mir nicht glaubt, so tötet mich als einen Betrüger. Wenn ihr mir aber glaubt, so nehmt mich als das, was ich bin, und seid froh über meine Rückkehr!« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Es wurde von dem dachshaarigen Mann unterbrochen: »Das hörte sich wirklich ganz nach Midir an. Er hatte niemals auch nur den geringsten Respekt vor uns Älteren.« Irgend jemand stieß ein tiefes, kehliges Lachen aus. Durch den Tumult, der auf die Stille folgte, löste sich die Spannung. Und inmitten von all dem Trubel hielt Phaedrus den Dachshaarigen an den Händen, sah im Licht der Fackeln die Spur einer alten Narbe, die sich durch die buschige Augenbraue zog, und sagte plötzlich ganz ruhig: »Wie, Dergdian, nicht die geringsten Zweifel?« »Keine!« erwiderte Dergdian. »Ich erkannte dich im ersten Augenblick. Ich gehöre nicht zu den Tröpfen, die ein Gesicht schon vergessen, wenn sie es eine Woche lang nicht mehr gesehen haben. Und ich habe dir ja auch mein Kennzeichen verpaßt, wenn ich mich recht erinnere.« »Und ich dir! Die Narbe ist noch immer ein wenig zu sehen -aber du hast mich auch dafür zahlen lassen! Mein Rücken schmerzt noch immer, wenn ich an jenen Tag zurückdenke!« Er rieb sich die Schultern. »Und ich sage noch immer, daß es ein bloßes Versehen war; du warst zu jener Zeit wirklich rot wie ein Fuchs. So rot bist du jetzt nicht mehr, Dergdian.« »Nun, nun! Ich mag nicht ein Fuchs genannt werden - das steht Sinnoch zu. Ich bin ein Jagdhund, der ein wenig grau um die Schnauze wird.« Die Lachfalten um Dergdians Augen vertieften sich. »Aber ich bin dein Jagdhund, wie ich auch der deines Vaters war.« 88
Und da er noch immer Phaedrus' Hände hielt, ließ er sich nach Sitte der Stammesangehörigen, die ihrem obersten Herrn treue Gefolgschaft schwören, steifgliedrig auf ein Knie nieder und preßte seine Stirn gegen sie. Einer nach dem anderen folgten die übrigen dem Beispiel, sie drängten sich um Phaedrus, um ihrer Untertanenpflicht nachzukommen. In ihren Gesichtern drückte sich eine neu erwachte Hoffnung aus. Und plötzlich hatte Phaedrus das Verlangen, den nächsten Mann wegzustoßen und ihnen zuzuschreien: Tut das nicht in Typhons Namen - tut das nicht! Ich bin nicht Midir - wenn ihr ihn wollt, so geht nach Eburacum und fragt nach einem blinden Lederhandwerker! Da sah er hinter den anderen einen Mann mit einer Art großem Pelzkragen um den Hals, der sich zurückhielt und sich Zeit zu nehmen schien, während er Phaedrus beobachtete. Seine Augen -und das konnte man selbst in dem Halbdunkel jenseits des Fackelscheines erkennen - hatten eine merkwürdige Stellung: Eines saß ein wenig höher als das andere ... Ihre Blicke trafen sich, und in diesem Augenblick sah Phaedrus, daß auch der Pelzkragen Augen hatte. Es war ein grau und schwarz gestreiftes Etwas mit Augen wie zwei grüne Monde. Der junge Mann raunte ihm etwas zu, und es krümmte und streckte sich in rascher, schwingender Bewegung, wurde eine Wildkatze, die einen Augenblick sprungbereit und schwankend auf seiner Schulter hockte und darauf mit einem mühelosen Satz zu Boden sprang. Während der Mann vortrat, um seinen Platz unter den übrigen einzunehmen, ging sie neben ihm mit stolz erhobenem Schwanz. Eine Sekunde lang, als sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden und die Wildkatze sich zu seinen Füßen duckte, dachte Phaedrus, daß dies doch nicht der Vetter sein konnte, der im gleichen Sommer geboren war und der vor langer Zeit Midir nach einer Tracht Prügel geholfen hatte, das Blut von seinem Rücken abzuwaschen. Das konnte er einfach nicht sein - dieses Geschöpf mit dem wespenschlanken Leib und dem zu der silbernen Blässe reifer Gerste gebleichten Haar, dieser Mann, der eine Wildkatze als Kragen 89
trug und zugleich wie ein Tanzmädchen mit Kristallkugeln an den Ohren herausgeputzt war, während an den schmalen Handgelenken Armbänder aus auf Goldfäden aufgereihten Perlen klapperten! Aber ein Auge des Mannes stand ohne Zweifel höher als das andere; und auf der glänzenden, haselnußfarbenen Iris war ein brauner Fleck in der Form einer Pfeilspitze. Eine lange Weile standen sie einander gegenüber, und Phaedrus begriff, daß dies der eigentlich gefährliche Moment war. Er sah einen Augenblick lang Mißtrauen in den merkwürdig gestellten Augen, und irgend etwas verkrampfte sich in seinem Magen bei der Erwartung, was als nächstes geschehen würde, während die Männer ringsum die Szene beobachteten. »Midir«, sagte der junge Mann - nur dieses eine Wort, dann streckte er die Hände aus. Phaedrus, in dem unbehaglichen Bewußtsein, daß sich am Boden die Wildkatze mit zurückgelegten Ohren duckte, folgte seinem Beispiel so unvermittelt, daß die Zuschauer kaum je hätten sagen können, wer den ersten Schritt getan hatte. Doch im nächsten Augenblick umfingen sie einander in einer raschen, festen Umarmung, die wie das Wiedersehen zweier lang getrennter Brüder wirkte und doch nichts anderes war als ein gewisses Erkunden, ein fragendes Suchen, wie der erste Griff eines Ringkampfs. Wie zur Warnung fauchte die Wildkatze; doch sie rührte sich nicht. Dann traten sie beide zurück und betrachteten einander aus einer Armeslänge Entfernung. »Conory - du hast dich verändert!« Es war das einzige, das zu sagen Phaedrus einfiel, und es schien unverfänglich. »Wirklich?« fragte Conory. »Du aber auch, Midir. Du - aber auch«, und noch immer lag jener mißtrauische Ausdruck in seinen Augen. Tatsächlich, der Zweifel hat sich noch verstärkt, dachte Phaedrus; doch niemand außer ihm konnte das bemerken-noch nicht jedenfalls. Was für ein Spiel trieb der andere mit ihm? Hatte er, Phaedrus, sich jenen leise aufzuckenden Zweifel nur eingebildet? Jetzt war er doch verschwunden. Es sei denn, er wäre wieder hastig verschleiert worden ... 90
Conory faßte ihn an der Schulter, und Phaedrus entdeckte, daß in jenen schlanken Handgelenken mehr Kraft steckte, als man jemals vermutet hätte. Und zugleich machte Phaedrus noch eine zweite Entdeckung: Er wußte nicht, während er in jene eigenartig gestellten Augen blickte, die so seidenhaft hell waren, ob Conory und er Herzensfreunde oder die bittersten Feinde sein würden; doch er wußte, daß es das eine oder das andere sein würde - denn zwischen ihnen bestand etwas, das zu stark war, als daß es in bloße Gleichgültigkeit würde auslaufen können.
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Der Weg nach Burg Monaidh Die Häuptlinge und Anführer waren heimgekehrt, und auch Gault und Sinnoch waren fort. Noch immer waren es eineinhalb Monate bis zu den Wintersonnwendfeuern. Phaedrus wurde die Zeit in seinem Versteck an der wilden Westküste jedoch nicht lang. Während die Stürme von der See hereinbrausten, während die Tage kürzer und die Nächte immer länger wurden, hatte er ein scharfes Training durchzustehen. Gallgoid der Wagenlenker war zurückgeblieben (offiziell hieß es, er liege krank in seiner Burg unterhalb von Red Peak), befehligte die kleine Schar von Kriegern, die man ihm dagelassen hatte, und hatte entscheidenden Anteil an Phaedrus' Ausbildung. Es war ähnlich wie jener Monat neben dem Hahnenstall in Onnum, doch während das eine Ausbildung des Geistes gewesen war, die im geschlossenen Raum stattgefunden hatte, wurde hier, auf den weiten Hochmoorflachen, die Gewandtheit von Hand, Fuß und Auge, die der Pferdekönig besitzen muß, geschult. Mit Gallgoid oder manchmal einem anderen Krieger neben sich verbrachte Phaedrus lange Tage im landeinwärts gelegenen Bergland. Immer erfolgten Aufbruch und Heimkehr im Schütze der Dunkelheit. Und allmählich lernte Phaedrus vieles, was ihm fremd war, was aber Midir von Kindheit an vertraut gewesen sein mußte. Er lernte, wie man sich lautlos und doch schnell auf dem Jagdpfad voranbewegt, wie man am Rande einer flüchtenden Pferdeherde entlangreitet und ein ganz bestimmtes Hengstfohlen von den übrigen Tieren absondert, wie man ein Stück Wild mitten im Lauf durch die Bola, ein Jagdinstrument aus drei durch eine Schnur verbundenen Steinen, zu Boden bringt, und selbst solche Kleinigkeiten, wie man mit Hilfe des Speers aufs Pferd springt, anstatt sich wie gewohnt beim Aufsitzen mit einer Hand am Widerrist abzustützen. Und dann waren natürlich alle Dalriaden geborene Wagenlenker. Vier Jahre lang hatte Phaedrus kein Gespann mehr gelenkt, und als er zum erstenmal mit Gallgoid ausfuhr, merkte er zu seinem Verdruß, daß seine Hände durch die Gewöhnung an das kurze Schwert und den 92
schweren Arenaschild viel von ihrer alten Geschicklichkeit verloren hatten. Immerhin war er froh, daß der Herr, der ihn zum Wagenlenker ausgebildet hatte, ehe er ihn an die Arena verkaufte, einen nach britannischer Art gebauten Wagen und nicht eine jener anmutigen Muschelschalen gefahren hatte, die die Römer Wagen nannten. Wenigstens kannte er auf diese Weise doch den Wagentyp, den er jetzt fuhr, mit seinem größeren Eigengewicht und dem andersartigen Gleichgewicht, mit den weiter gesetzten Rädern, die sicheres Fahren auf rauhem, bergigem Gelände gewährleisteten, und mit der offenen Vorderseite, durch die man fast den Eindruck gewann, als säße man auf dem Rücken eines galoppierenden Ponys. Und nach und nach kam alles wieder - wie alte Fertigkeiten wieder zu erwachen pflegen, weil man sie kaum ganz verliert, sondern nur tief unten im Gedächtnis aufbewahrt. Etwa nach einem Monat waren er und Gallgoid so miteinander vertraut, daß Gallgoid eines Tages in den Bergen oberhalb des Sees der Schwäne, als sie die Pferde nach einem rasenden Galopp zügelten, zu ihm sagte: »Du wirst es schon schaffen! Habe ich dir nicht gesagt, du würdest ein guter Wagenlenker werden, als du noch nicht weiter reichtest als bis zur Schulter eines Wolfshundes . ..« Er stockte, und sie schauten einander an und lachten, wenn auch das Lachen ein wenig schwerfällig aus ihren Kehlen kam. Vier Tage vor den Sonnwendfeuern brachen sie aus der Höhle des Jägers auf. Phaedrus trug einen rauhen Umhang; sein Haar wurde wieder von der alten Lederkappe verdeckt. Er wandte sich um und grüßte zum letztenmal die riesige, gehörnte Gestalt mit derselben grimmig entschlossenen Geste, mit der er den Altar der Rache gegrüßt hatte, bevor er in die Arena gegangen war. Dann wandte er sich südwärts zur Fahrt in die Königsburg. Es dämmerte bereits, als sie die wartenden Ponys in der geschützten, landeinwärts gelegenen Schlucht bestiegen, doch hinter den eilenden Sturmwolken stand der aufgehende Mond. Wie eine Geisterschar ritten sie an der Schlangenbucht entlang zum unteren Ende des Schwanensees, und als es völlig dunkel geworden war, schätzte Phaedrus, daß sie den größten Teil von zehn römischen 93
Meilen hinter sich gebracht hatten. Im Waldesdickicht in einer steilwandigen Klamm fanden sie für sich und die Ponys einen kalten Unterschlupf für den Rest der Nacht. Schon im ersten Morgengrauen brachen sie wieder auf, über Bergkämme, wo die dünnen Birkenstämme durch die Gewalt des Westwindes alle nach einer Seite geneigt wuchsen; sie umritten die Ausbuchtungen grauer Seen, wo viele Inseln das Wasser mit gärendem Schaum und dem Wirbel von Gezeitenstrudeln durchschnitten. Gegen Abend, als der Wind sich allmählich legte, folgten sie einem schmalen Pfad, der sich zur Linken an den dem Meer zugewandten Berghängen und winterlich kahlen, schwarzen, hoch aufgeschossenen Haselnußgehölz entlangschlängelte und der zur Rechten steil zum breiten Fjord hin abfiel. In der Abenddämmerung erreichten sie schließlich die Ausläufer einer durchweichten Marschlandschaft mit Binsen, verwelktem gelbem Gras und Salzablagerungen, die in dem dahinschwindenden Licht ins Meer abzusinken schienen, noch während man über sie hinwegblickte. Und dort, in dem bescheidenen Unterschlupf, den ein Gewirr von Stechginster ihnen bieten konnte, ließen sie sich nieder, um auf die Dunkelheit zu warten. Während der ganzen Reise hatten sie außer ein paar Hirten in der Ferne und einer Schar von Jägern aus dem kleinen Dunklen Volk, die neben ihrem Pfad vorbeitrabten, niemanden gesehen. Doch es war r.itsam, auf dem nächsten Abschnitt ihrer Reise so wenig wie möglich zu riskieren, daß man sie sah; es war besser, wenn keine zufälligen Beobachter etwas von irgendeiner Verbindung zwischen der kleinen Schar aus dem Sonnenvolk, die aus dem Norden kam, und der weit zahlreicheren, die am nächsten Tag aus dem Süden heranzog, ahnte. Zudem mußten sie die Flut abwarten. Sie mußten lange warten. Die Dunkelheit kam - eine schwarze Finsternis, denn in dieser Nacht war der Mond fast völlig verdeckt. Und dann stahl sich allmählich ein seltsames Geräusch in die Luft, ein fernes, gedämpftes Tosen, das doch zugleich schwingend war, wie der Ton einer Harfe oder einer menschlichen Stimme. Und Phaedrus, der sein froststarres und durchnäßtes Knie am Boden hin und her bewegte, fragte flüsternd: »Was ist das?« 94
»Das Brüllen? Das ist das alte Weib, das Schiffe verschlingt. Es ruft immer dann, wenn die Gezeiten wechseln.« »Und wer - was ist das für ein Weib?« »Der Strudel - weit dort draußen, wo die Wasser zwischen zwei Inseln zusammenstoßen. Bei ruhiger See kann ein Coracle* sicher passieren, doch beim Gezeitenwechsel ist das eine andere Sache. Darum sagt man bei uns, daß das alte Weib wieder ruft.« »Es klingt wie ein Todesruf«, sagte Phaedrus. »Sie ist weit entfernt von deinem Seeweg.« Phaedrus lachte leise. »Eine alte Frau, die vor den Toren der Arena wahrzusagen pflegte, sagte mir einmal, daß ich nicht sterben würde, bis ich nicht selbst meine Hände nach dem Tod ausstreckte. Demnach bin ich also heute nacht ganz sicher, denn ich habe nicht die Absicht, dem Ruf des alten, Schiffe fressenden Weibes zu folgen.« Gallgoid hatte hastig den Kopf umgewandt und in der Dunkelheit zu ihm herübergeblickt, als ob er etwas Wunderliches gesagt hätte. Doch dann erklärte er nur: »Ich habe zwei Männer gekannt, die in ihrem Rundboot in den Strudel geraten und dennoch entkommen sind. Die Bootsleute hier an diesen Küsten sind eben richtige Seeleute und keine bloßen Teichpaddler.« Und gleich darauf: »Komm, wir sollten eigentlich schon unterwegs sein.« * Rundboot aus Weidengefledit mit wasserdichtem Lederüberzug Sie ließen die Ponys und die übrigen Männer der Schar hinter sich zurück und gingen allein weit hinaus in den Irrgarten aus scharfen Salzablagerungen, winzigen, gewundenen Wasserrinnen und Hügeln angewehten Dünensandes. Wie ein vergessener, zur Seite gekippter Kessel lag im Schütze eines sandigen Hügels auf der Flutlinie ein Zweimannrundboot — für die Augen einer Landratte wie Phaedrus wirkte es tatsächlich kaum größer als ein Kessel. Neben dem Boot erhob sich der dunkle Schatten eines Mannes und blieb wartend stehen. Gallgoid und der Mann tauschten einen unterdrückt gemurmelten Gruß, und dann, während der Mann sein kleines Boot aufnahm und es ins Wasser schleppte, sprach Gallgoid zu Phaedrus einige hastige Abschiedsworte. »Hör gut zu - denn es ist jederzeit Verrat möglich. Wir haben zwar niemanden, der uns gefährlich werden könnte, auf 95
unserem Weg nach Süden gesehen, aber es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob uns nicht jemand gesehen hat. Gault wird vielleicht nicht selbst kommen, um dich drüben am anderen Ufer zu treffen. Wenn du den Mann nicht kennst, dem du dort begegnen wirst, so sage zu ihm, daß die Blume mit den vier Blütenblättern sich in den Wäldern schon öffnet. Wenn er dir antwortet, daß alles auf ein zeitiges Frühjahr hindeutet, weil die Pferdeherden schon unruhig werden, dann wirst du wissen, daß du ihm vertrauen kannst.« »Und wenn er das nicht antwortet?« »Du hast deinen Dolch«, erwiderte Gallgoid bedeutungsvoll. »Einen Speerwurf vom Ufer entfernt wird Struan, der Bootsmann, auf dich warten, bis er weiß, daß alles in Ordnung ist.« »So, so. Nun, wenn ich dich heute nacht nicht wiedersehe, werde ich morgen auf Burg Monaidh nach dir Ausschau halten.« Der Bootsmann hockte jetzt in der hinteren Hälfte des kleinen Bootes und hatte die Ruderstange hervorgeholt. »So, wie ich nach dir ausschauen werde«, entgegnete Gallgoid. »Vorsicht! Bring das Boot nicht ins Schwanken! Es ist deutlich zu sehen, daß du lange unter den Leuten im Binnenland gelebt hast!« Phaedrus platschte durch das eisige Flachwasser und stieg behutsam über den Rand des kleinen Bootes. Er schöpfte dabei nicht mehr Wasser ein, als ein Hund es getan haben würde, und ließ sich dann auf dem Boden des napfförmigen Fahrzeuges nieder. Nie zuvor in seinem Leben hatte er in einem Rundboot gesessen, und während er auf das schäumende Wasser hinter der Sandbank hinausspähte, wünschte er sich insgeheim, er wäre ein besserer Schwimmer. Der Bootsmann knurrte irgend etwas vor sich hin und stieß dann mit der Ruderstange ab. Sie fuhren aus der Mündung des breiten Meeresarmes, der sich landeinwärts erstreckte und sich irgendwo nach Osten zu in den Niederungen und dem Torfmoor unterhalb von Burg Monaidh verlor. Kaum hatten sie die Landzunge hinter sich, packte das Meer die winzige, zerbrechliche Schale aus Weidengeflecht und darübergespannten Tierhäuten, so daß sie zu tanzen begann. Phaedrus wäre es jämmerlich übel geworden, doch er war von der Kälte zu 96
betäubt, um überhaupt etwas zu empfinden. Es war bitter kalt, und der Wellengischt brannte auf der Haut wie weißes Feuer. Während er mit bis zu den Ohren hochgezogenem Mantel dakauerte und spürte, wie sich das kleine Boot gleich einer Möwe auf jeder Welle hob, zugleich aber feststellte, mit welcher Geschicklichkeit der Bootsmann es steuerte, merkte er nach einer Weile, daß er anfing, Spaß an der Fahrt zu haben. Der Mann sprach zu seinem Passagier nicht ein einziges Wort, doch hatte er begonnen, im Takt seiner Ruderschläge leise und dunkel vor sich hin zu singen. Vielleicht sang er für sich selbst, vielleicht aber auch für das Boot, so wie ein Mann auf sein Pferd einsingt, ihm gut zuspricht und ihm leise ins Ohr summt, um das Tier zu ermutigen und ihm das Gefühl der Gemeinsamkeit zu vermitteln. Durch die Strömung des Meeres wurde die Überfahrt, die auf direktem Wege nur etwa eine Meile betragen mochte, beträchtlich verlängert. Der verdeckte Mond war untergegangen und ließ die Umgebung, die schon zuvor dunkel genug gewesen war, schwarz wie das Innere eines Wolfsmagens erscheinen, als endlich die See ruhiger wurde und sie sacht zwischen Binsen, hartem Gras und Dünen an der gegenüberliegenden Küste auf den Strand setzten. Phaedrus kletterte aus dem Boot und landete knietief im Flachwasser. Das leichter gewordene Fahrzeug schoß in die Höhe, und der Bootsmann, der noch immer leise vor sich hin sang, stieß sofort wieder ab. Aus dem Gestrüpp erhob sich, wie ein dunkler Fleck vor dunklem Hintergrund, eine Gestalt, doch Phaedrus konnte nicht erkennen, ob es jemand war, den er kannte oder nicht. Die Hand auf den Dolch gelegt, sagte er leise: »Die Blume mit den vier Blütenblättern öffnet sich schon in den Wäldern.« Ebenso leise antwortete ihm die Stimme eines Leibkriegers von Gault: »Man würde es jetzt noch nicht meinen - aber alles deutet auf ein zeitiges Frühjahr. Schon werden die Pferdeherden unruhig.« »So - dann brauche ich also meinen Dolch nicht«, sagte Phae-drus. »Das ist gut.« »Das ist bestimmt gut«, erwiderte die Stimme mit unterdrücktem Lachen. Der Mann wandte sich wieder zum Meer und stieß dreimal 97
den pfeifenden Ruf eines Strandläufers aus. »Jetzt weiß Struan, daß alles in Ordnung ist.« Wenige Zeit später, als sie den Weg landeinwärts einschlugen, fragte der Mann: »Entsinnst du dich an das, was der da gesungen hat?« »Wie sollte ich? Ich - eh, ich habe in den vergangenen sieben Jahren die Lieder vergessen, die wir hier singen. Wir in der Gladiatorenschule sangen nach dem Abendessen andere Lieder.« Überrascht, doch nicht mißtrauisch, wandte der andere sich nach ihm um. »Es war des Königs Ruderlied, das die Ruderschläge lenkt, wenn der König auf Seefahrt geht. Ich glaube nicht, daß es jemals in einem Zweimannrundboot gesungen wurde. Aber er muß glücklich gewesen sein, es wieder singen zu können.« »Und wie ist es, wenn die Königin über See fährt?« »Dieses Lied ist nur für die Männer; selbst Liadhan würde das wissen.« In der Stimme des Mannes lag wieder ein leiser, verwunderter Beiklang, und Phaedrus dachte: Verdammt! Solche Fehler darf ich nicht zu oft machen! Danach setzten sie schweigend ihren Weg fort - querfeldein durch Birkenwälder, Heidekraut und Preiselbeergestrüpp, durch das es sich in der Finsternis schlecht marschieren ließ. Etwa eine Stunde später erreichten sie die alte Handelsstraße dort, wo sie sich mit der Straße durdi das Festland kreuzte. Als sie ihr ein kurzes Stück weit gefolgt waren, stießen sie auf ein von ringförmiger Einpfählung umgebenes kleines Gehöft. Durch eine offene Tür sah man das safrangelbe Flackern eines Feuers, und an die Mauer des Wohnhauses gelehnt standen drei oder vier Wagen mit hochragenden Deichseln. Jemand wartete bereits, um das verdorrte Dornengestrüpp weg- • zuziehen, das die Einfahrt versperrte; ein anderer beruhigte die bellenden Hunde. Die Helligkeit und die Wärme der Flammen, der Geruch warmer Tierfelle und bratenden Fleisches und die vielen Männer in der kleinen, roh gezimmerten Halle traf die beiden, die aus der Kälte und der Finsternis einer Mittwinternacht kamen, wie ein 98
Faustschlag. Es mußten dort neben dem Hausherrn und seinen Söhnen etwa zwanzig Männer versammelt sein. Gault blickte von dem Muster, das er mit einem verkohlten Zweig in die Herdasche gezeichnet hatte, auf. »So - dann bist du endlich gekommen. Jetzt können wir uns die Mägen füllen.« Einer der Söhne erhob sich, um die grob gezimmerte Tür zuzuwerfen. Der Herr des Hauses stand ohne ein Wort auf, kam herbei, fiel vor Phaedrus aufs Knie, nahm seine Hände und hielt sie an seine Stirn, wie es zuvor die Häuptlinge in der Höhle des Jägers getan hatten. Das Schläfenhaar des Mannes hing wie das aller übrigen im Raum Anwesenden in dünnen Zöpfen zu beiden Seiten seines Gesichtes herab. Am nächsten Morgen schliefen sie lange - niemand wußte, wann sie wieder zu Schlaf kommen würden - und brachten danach eine gute Weile damit zu, ihre Ausrüstungen und die bronzenen Zierplatten der Pferde zu polieren und ihren kurzen Dolchen die richtige Schärfe zu verleihen. Und als sie am frühen Nachmittag auf der alten Handelsstraße nach Norden zogen, hatte Gault einen neuen Wagenlenker. Es war ein guter Wagen, zu dessen Lenker Phaedrus sich bestellt sah. Zwar war er nicht so schön anzusehen wie der des Herrn, der ihn an die Gladiatorenschule verkauft hatte, denn es fehlte jeglicher Zierat, der ihn auch nur um das Gewicht einer Feder schwerer gemacht hätte. Aber er war so vollendet ausgewogen, daß man kaum bemerkte, daß er schwerer war als der Wagen, den Gallgoid fuhr; wie viele Wagen der Britannier war auch dieser an keiner Stelle versplintet oder verdübelt; durch Riemen aus gutgedehntem Leder waren die Teile miteinander verbunden. Das verlieh dem ganzen Gefüge eine geschmeidige Biegsamkeit und dadurch eine schwierige Lenkbarkeit. Der Wagen gab jeder ausgefahrenen Spur auf dem Fahrweg nach sowie jedem Loch, jedem Erdhügel, jeder Wurzel, wenn der vom winterlichen Regen ausgewaschene Weg zum seitlichen Ausweichen in die Heide zwang. Er war fast wie ein lebendiges Wesen, etwa eine wilde Stute, die man wegen ihres Wagemutes liebt. 99
Phaedrus verlagerte sein Gewicht auf die weit auseinandergestellten Füße, um bergab die Fahrt des Wagens zu hemmen, und spürte die Bewegungen des geflochtenen Lederbodens unter sich, spürte den stolzen und willigen Gehorsam des Gespanns, der über die Zügel wie über eine lebendige Verbindung zu ihm zurückströmte; er hörte das eilige Rollen der Räder durch das Heidekraut, das Quietschen der Achsen, die sanften Hufschläge und die Zurufe der anderen Wagenlenker hinter sich und begann, leise durch die Zähne vor sich hin zu pfeifen. Er hörte ein rauhes Lachen neben sich, wo Gault auf dem Robbenfellkissen des Kriegersitzes saß. »Jetzt fängt es an, gut zu werden.« »Jetzt fängt es an, gut zu werden«, wiederholte Phaedrus nur halb bei der Sache, da er gerade dabei war, das Gespann für die beginnende Talfahrt zu zügeln. Die Landschaft, die am Tage zuvor noch so menschenleer erschienen war, war plötzlich belebt von Reitern und Wagen; und sogar Scharen des Dunklen Volkes liefen eilig - in wohlbedachter Entfernung zu den Zugstraßen - mit bemalten Gesichtern und Armen einher. Sie trugen ihren vollen, rituellen Putz aus gefärbten Wildkatzenfellen und Halsketten von Tierzähnen, und hier und dort sah man ein Mädchen mit den grünen Federn des Spechtes im Haar. Und die Straße, die schon zuvor schlecht genug gewesen war, verwandelte sich, während ganz Earra-Ghyl sich auf der Königsburg zu den Feuern der Wintersonnenwende, zum alle sieben Jahre stattfindenden Kampfestod des Alten Königs und der ihm folgende Weihe des Jungen versammelte, unter den durchziehenden Füßen, Hufen und Wagenrädern in eine Morastfläche. Das graue Licht des Wintertages erlosch zu schieferfarbener Dämmerung, als sie von den flachen Weidehügeln, auf denen man die Pferdeherden selbst bei kältestem Wetter im Freien ließ, herabfuhren in die feuchte Ebene von Mhoin Mhor, dem Großen Torfmoor. Von Westen her zog, nachdem der Wind, von dem er zurückgehalten worden war, sich gelegt hatte, ein eisiger Nebel über die Marschen. Im Norden stiegen die Berge wieder an, und überall glänzten wie matte Rundschilde aus Silber Wasserflächen, die den Himmel widerspiegelten. Kleine Bäche schlängelten sich von den 100
Bergen herab und vereinigten sich mit der weit auslaufenden Schlinge des Flusses, der mitten durch das Große Torfmoor zum Meer floß. Und kaum weiter als eine Meile entfernt, diesseits des Flusses, stand auf dem Hügel, der unvermittelt und einsam aus den weiten, feuchten Torfflächen aufragte, Burg Monaidh. Aus dieser Entfernung und wegen des schwindenden Tageslichtes konnte Phaedrus nicht viel mehr als die oberen Schutzwälle erkennen, und dazu leichten Rauch, der tief über dem Gipfel des Hügels hing. Als sie jedoch näher heranfuhren, stiegen die Wälle hoch vor ihnen auf; mit Bohlen befestigt und mit Kalk vertüncht, der sich bleich von dem winterlich gelbbraunen Rasen abhob. Hier und dort flackerte der schwache Schein von Fackeln auf, lebhaftgelb gleich wildem Goldlack, wie Fackeln in der ersten Dämmerung zu glühen pflegen. Und aus den undeutlichen Flecken am Fuße des Abhanges, die nicht größer als Ameisen schienen, wurden beim Näherkommen grasende Ponys, die meist zu zweit, wie man sie ausgespannt hatte, auf den schmalen Landstreifen zwischen dem Festungshügel und den Marschen weideten. Nach der Zahl der Gespanne zu urteilen, und wenn man zudem daran dachte, daß die Pferde der Anführer und Häuptlinge oben auf der Burg in Ställen untergebracht waren, mußte bereits eine gewaltige Zahl von Gästen versammelt sein. Doch auf dem Pfad, dem Gault und seine Begleiter folgten, und schwach erkennbar auf dem von Norden her kommenden Pfad sowie auf den unsichtbaren Fußpfaden durch die Marschen zogen noch immer Männer aus den entferntesten Gegenden der dem Stamm gehörenden Jagdgründe hinauf zur Burg Monaidh. Ihr eigener Fahrweg führte in das Marschland. Es war ein auf einem Unterbau aus Reisig mit Holzplanken gebauter Pfad, der viele Krümmungen beschrieb, um dem festesten Untergrund zu folgen, und schließlich zum Fuße des Festungshügels führte. Man fuhr auf ihm besser als auf den Pfaden im Bergland, wenn man es vermied, über seinen Rand hinauszugeraten. »Laß sie ruhig den Stock spüren«, sagte Gault. »Du bist ja jetzt schließlich nicht mit einem Packzug unterwegs.« Doch Phaedrus hatte auf diese Worte nicht gewartet. Wenn es nicht von vornherein 101
in seiner Natur gelegen hätte, so hätte die Arena es ihn gelehrt, wie wichtig ein wirkungsvoller Auftritt ist; und eben von diesem Auftritt konnte so sehr viel abhängen. Denn später würden die Männer sich seiner erinnern und zueinander sagen: »Das war das erste, was wir von Midir bei seiner Rückkehr sahen.« Er kitzelte die Flanken der Pferde mit dem Stock, den er zuvor kaum benutzt hatte - es hatte ihm nie gelegen, beim Wagenlenken den Stock einzusetzen —, und schrie dem Gespann aufmunternd zu, »He ja! Holla - he! Auf mit euch! Hü-a! Hü-a!« Und mit einem Schnauben als Antwort auf die Berührung des Stockes sprangen die Ponys mit gestreckten Hälsen und zurückgelegten Ohren in vollem Galopp voran. Der Fahrtwind zog vorbei und blähte Phaedrus' dunklen Überwurf auf, der Wagen unter seinen Füßen schwankte auf und ab wie von einem Dämon besessen, die Achsen kreischten, und die übrigen der kleinen Schar, Reiter und Wagen, folgten mit donnernden Hufschlägen nach. Auf dem Wege vor ihm fuhr ein Wagen, und Phaedrus mißfiel dieser Anblick. Es ging nicht an, daß Prinz Midir im Gefolge eines anderen Wagens in die Königsburg Monaidh einfuhr. Wie ein Pfeil überholte er den Wagen; nur wenige Zoll* freier Raum blieben zwischen den Radnaben übrig, und sein äußeres Rad berührte schon leicht den zu der Marschfläche abfallenden Wegrand. Als er auf die Mitte des Weges zurückgekehrt war, sagte Gault, der sich bis dahin weder geregt noch ein Wort gesprochen hatte, nur: »Es ist sicher recht schön, sich einen heldenhaften Auftritt zu verschaffen. Aber ich möchte dich daran erinnern, daß das Leben anderer von dem deinen und selbst von meinem abhängt.« »Prinz Midir sollte nicht mit dem Dreck, den ihm ein anderes Gespann ins Gesicht geworfen hat, heimkehren. Zudem war das Ganze ungefährlich; du hast gute Pferde.« Dem Krieger mit den schwarzen Augenbrauen schien die Luft auszugehen. »Und du verstehst mit ihnen umzugehen. Trotzdem, wenn du als König versagst, dann komm nur nicht zu mir, um mein Wagenlenker zu werden!« 102
»Wenn ich als König versage, dann werde ich zu niemand mehr um irgend etwas zu kommen brauchen«, erwiderte Phaedrus, wäh* i Zoll = 2,54 cm rend seine Augen unablässig auf den Weg gerichtet blieben, der allmählich anstieg. Er ließ seine Pferde aus dem Galopp in Schritt fallen und zugehe sie, während der Weg immer steiler wurde. Der Pfad beschrieb an einem kleinen Gebirgsbach eine scharfe Wendung. Deichsel und Achsen knarrten, als Phaedrus das Gespann behutsam herumlenkte und es dann wieder vorantrieb. Kein guter Ort für einen Angriff, dachte er bei sich. Es gibt offenbar keinen brauchbaren Weg hinauf außer diesem steilen Bergpfad, der so aussieht, als ob er nach heftigen Regengüssen ebenso gut ein reißender Strom wie ein Pfad sein könnte. Mehr noch, er war so winkelig angelegt, daß auf seinem letzten Abschnitt die rechte Flanke eines Angreifers, der sich auf das Burgtor zubewegte, ungeschützt den Speeren der Verteidiger preisgegeben war. Phaedrus konnte jetzt verstehen, warum Gault und der übrige Rat sich so entschieden dafür ausgesprochen hatten, daß der Aufstand seinen Anfang im Inneren der Festungswälle nehmen sollte. Das mächtige, von Holzbohlen umrahmte Tor war dicht vor ihm. Sein Blick streifte den düsteren Schimmer von Eisen und Bronze, erkannte das scheckige Rot-Weiß der mit Rinderfell überzogenen Schilde dort, wo die Krieger und Jäger die Torfwälle bevölkerten, um den Einzug der späten Gäste zu beobachten. Die anderen hinter sich, unter denen sich eingezwängt auch der Wagen befand, den er überholt hatte, fuhr er dröhnend über die Brücke des Festungsgrabens. Die großen geschnitzten Pfosten des Eingangstores flogen zu beiden Seiten vorbei, die eisenbeschlagenen Räder polterten über die breiten Schwellensteine, während unter ihnen die Funken hervorstoben wie von einer Dolchklinge auf dem Amboß. Er raste hindurch bis in den weiten äußeren Hof der Königsburg und brachte das Gespann vor dem hohen, grauen Malstein des Pferdekönigs plötzlich zum Stehen.
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Der König muß sterben Später am selben Abend schmauste Phaedrus mitten unter den Wagenlenkern der Häuptlinge und Edlen im Vorraum der großen, runden, mit Heidekraut gedeckten und vom Feuer erhellten Halle. Hier waren die Wagenlenker keine Sklaven wie bei den Römern, ja nicht einmal Diener: Sie waren Söhne oder jüngere Brüder, enge Freunde, niedriger stehende Stammesleute, doch war für sie im Saal ganz einfach kein Platz mehr. Selbst in der Vorhalle gab es wenig genug an Raum, und so saßen sie aneinandergedrängt wie Speerspitzen im Korb eines Waffenschmiedes. Doch das hatte auch seine Vorteile, denn nur wenig Wärme drang zu ihnen heraus von dem Torffeuer, das auf der Herdstätte mitten in der Halle brannte und die hohe Wölbung des Daches mit Rauch füllte. Ein leiser, unangenehm kalter Luftzug, der wie ein Messer in die Knöchel schnitt, pfiff säuselnd unter der nach draußen führenden Tür herein. Aber dicht aneinandergezwängt, wie sie dort saßen, und fest in ihre Mäntel gehüllt, hatten sie einen dämpfigen Mief um sich erzeugt, der nach der Wärme eines Feuers das nächstbeste war; sie aßen, was immer man ihnen brachte, und füllten aus dem bronzebeschlagenen Faß mit den einem Eberkopf nachgebildeten Griffen, das an der zum Saal führenden Tür stand, immer von neuem die Methörner. Phaedrus trank so wenig wie möglich. Schon ohne Met hätte ein Mann allein von dem im Vorraum herrschenden Geruch trunken werden können; und er brauchte doch für später einen klaren Kopf. Er war sich durchaus der winterlichen Dunkelheit jenseits des rauchenden Fackelscheins, des verschwommenen Monds und des sich verdichtenden Nebels über den eisigen Marschen bewußt. Er dachte an die Männer, die geduckt im Heidekraut und winterbleichen Gestrüpp, hinter Erlenstämmen und dem windbrechenden Gewirr von Weißdornbüschen in diesem geisterhaften Nebel lauerten -jeder von ihnen hatte den Speer neben sich und erwartete das Signal. Auch im Inneren der Burg gab es solche Männer, die um die Feuer versammelt waren, über denen ganze Schweine und Ochsen brieten. Und selbst in dem Saal dort waren sie ... 104
Phaedrus hatte es einrichten können, einen Sitzplatz auf der dritten Stufe der oberen Treppe zu bekommen. Von dort aus konnte er, wenn er den Hals streckte, den größten Teil der Halle durch die offene Tür überblicken, einer Tür, die breiter war, als eine Außentür es je sein konnte. Er sah den Kreis von sieben großen, aufrecht stehenden Holzpfosten, die das Dach trugen, und zwischen den vielen Schultern der Krieger das gelegentliche Aufglänzen und Flackern des Feuers auf dem Herdplatz in der Mitte. Die Kienspane in ihren eisernen Haltern an jedem der sieben Dachpfeiler überfluteten die Mitte des Raumes mit einem hellen, gelblodernden Licht, wenn sie auch die Wände der Halle in dichtem Schatten ließen. Und während er seinen Blick müßig über die Gesichter schweifen ließ, sah Phaedrus viele, die er kannte: Gault und Sin-noch, Dergdian und Gallgoid, den berühmten Wagenlenker. Wohin er auch schaute, sah er Männer mit rotem oder dunklem, mit grauem oder rostfarbenem Haar, oder mit gebleichten Haarlocken, die viele der jungen Krieger mit Vorliebe trugen; und bei allen diesen Männern waren die vorderen Haare in dünne Zöpfe geflochten, die ihnen auf die Wangen hingen. Doch Phaedrus sah auch, daß sie an Zahl weit übertroffen wurden von jenen, die das Haar in der üblichen Weise offen trugen. Eindringlicher als je zuvor begriff er, daß ihr einziger wahrer Vorteil im Überraschungsmoment lag und daß selbst mit dieser zu ihren Gunsten wirkenden Überraschung beim ersten Aufflammen des Angriffes die ganze Sache an einem sehr dünnen Faden hing. Die meisten Torwachen gehörten zu ihren eigenen Männern, doch alles würde davon abhängen, ob sie, wenn der Kriegsruf einmal ausgestoßen war, sich mit ihren kurzen Dolchen, die sie zum Essen benutzt hatten, würden behaupten können, bis die Männer aus der Dunkelheit dort draußen zu ihrer Unterstützung herbeigeschwärmt wären. Denn es war nicht gewiß, daß sie die Waffenkammer vor den Anhängern der Königin würden besetzen können. Einige ausgewählte Männer der Leibwache, die Gefährten genannt, waren die einzigen, die bei einer Zusammenkunft wie dieser Waffen tragen durften. Auf ihre Speere gelehnt standen sie hinter dem Thron; Phaedrus' suchender Blick entdeckte Conory in ihrer Mitte. Nicht daß 105
es schwierig gewesen wäre, ihn zu entdecken: Er mußte zu diesem Fest sein Haar frisch gebleicht haben, denn es glänzte fast silbern zu seiner braunen Haut, und die eigenartig gestellten Augen waren bemalt wie bei einer Frau. Unter den dunklen Falten seines Mantels, den er auf einer Schulter zurückgeschlagen hatte, trug er den Kilt und einen Überrock aus grün gefärbtem, feinem weichem Fell. An seinen Handgelenken sah man zarte, aus verschlungenen Golddrähten gefertigte Armbänder, und um seinen Hals trug er Ketten aus Kristall, Gold und blauer Keramik; auf seiner Schulter saß zusammengeduckt und sich schwankend jeder seiner Bewegungen anpassend die gestreifte Wildkatze, deren Halsband genau wie der Gürtel ihres Herrn mit Emailbeschlägen besetzt war. Aber nicht nur das allein, dachte Phaedrus, hebt ihn aus der Schar seiner Genossen hervor. Vielleicht lag es an der Tatsache, daß er in dieser Stunde, gleichgültig, was später geschehen würde, der Auserwählte war, der Bezwinger des Alten Königs und der kommende Junge König. Ihn umgab eine Art von seltsamem Schimmer, ein Glanz, wie man ihn manchmal an den Blütenblättern bestimmter Blumen bemerkt, wenn das Licht direkt auf sie fällt - etwa am purpurroten Knabenkraut, dem gefleckten Aronstab oder der dunklen wilden Hyazinthe. Irgend jemand stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, und er stellte fest, daß man ihm das Methorn unter die Nase hielt. »Wach auf, mein tapferer Held! Wer schläft, wenn die Reihe an ihn kommt, kriegt vielleicht nie mehr eine neue Chance!« Es war ein junger Bursche mit einem Mund, der an ein Froschmaul erinnerte, und einem Gewirr von struppigem, ginstergelbem Haar; seine Schläfenlocken gaben sich alle Mühe, aus den ziemlich mißlungenen Zöpfen auszubrechen. Grinsend nahm Phaedrus das Methorn entgegen. »Ich habe aber nicht geschlafen. Ich habe mir den neuen König für die nächsten sieben Jahre angesehen.« Von der anderen Seite beugte sich ein älterer Mann zu ihm herüber. »Den hast du dir aber lange und gründlich betrachtet. Na schön - es lohnt sich schon, ihn anzuschauen, und er weiß das auch«, knurrte er, doch in diesem Knurren lag ein leiser Anflug von Bewunderung. »Seit 106
er ins Mannesalter gekommen ist, schauen die Frauen nach ihm; ach ja, - und auch die Männer, und so denke ich manchmal, er macht sich ein Vergnügen daraus, festzustellen, wie weit er gehen kann. Er braucht eines Tages nur in einem Mantel aufzutreten, dem er einen besonderen Faltenwurf gegeben hat, oder einen Weiberohrring an einem Ohr zu tragen, dann wird am nächsten Tag die Hälfte unserer jungen Stammeskrieger das gleiche tun. Wenn er sich heute nacht eine Fingerspitze abschnitte, würden morgen der anderen Hälfte unserer jungen Männer ebenfalls eine Fingerspitze fehlen. Diese Narren!« Phaedrus trank und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Irgend jemand hat vor einiger Zeit genau das gleiche gesagt fast genau das gleiche.« Der andere streckte die Hand nach dem Methorn aus und trank nun seinerseits, während er immer noch murrte. »Die neueste Mode ist jetzt, daß sie sich die Schläfenhaare flechten. Man kann zwar von jungen Narren wie Brys« - er wies mit dem Finger auf den gelbhaarigen jungen Burschen -, »die beim letzten Fest der Neuen Speere gerade erst die Tapferkeitsprobe bestanden haben und kaum schon als Männer gelten, keine Vernunft erwarten; aber wenn es erwachsene Männer tun, erfahrene Krieger, die eigentlich mehr Verstand haben sollten ...« Doch Phaedrus schien sowohl das Interesse für den neuen König der nächsten sieben Jahre wie auch für seinen mürrischen Trinknachbarn verloren zu haben; er reckte den Hals, wie er es schon mehr als einmal an diesem Abend getan hatte, um die Frau besser zu sehen, die auf den aufgeschichteten, blutrot gefärbten Schaffellen des Thrones saß, die Frau, die zugesehen hatte, wie Midir geblendet wurde. Andere aus der Schar der Frauen bewegten sich in der Halle hin und her und sorgten dafür, daß die Metbecher gefüllt waren; denn bei den Stämmen war es nicht üblich, daß Sklaven in der Halle bedienten. Liadhan jedoch saß und wurde bedient, denn kein Mann in diesem Raum, weder Conory, der morgen beim Sonnwendfest auf dem Platz des Königs neben ihr sitzen würde, und ganz gewiß nicht der düstere, schweigsame Mann, der jetzt auf diesem Platz saß, waren ihr ebenbürtig, ihr, die die Göttin auf Erden war, der Anfang aller 107
Dinge; ihr, ohne die es weder Söhne für den Stamm noch Fohlen für die Pferdeherden, noch Gerste auf den Feldern geben würde. Sie saß leicht zurückgelehnt zwischen den aufgehäuften Fellen und Kissen, während eine Hand müßig auf dem aus Bronze gefertigten Zweig mit den neun Silberäpfeln ruhte, der im Schöße ihres blutroten Gewandes lag. Sie wirkte entspannt wie eine große Katze, die halb schlafend in der Sonne liegt. Ihr Stolz war unbändig wie der einer Katze, zu sehr in sich abgerundet, als daß er sich nach außen hin hätte offenbaren müssen. Als junges Mädchen mußte sie schön gewesen sein. Das breitknochige Gesicht war noch immer schön. Es war umrahmt von Zöpfen aus noch blondem Haar, die so dick waren wie das Handgelenk eines Kriegers. Breit und würdevoll wölbte sich die Stirn unter dem hohen, silbernen Kopfschmuck, den sie trug. Doch während Phaedrus sie betrachtete, überlief es ihn plötzlich kalt, was nicht so sehr der Angst als vielmehr einer Art körperlichen Abscheus entsprang, so wie ihn manche Menschen gegen Spinnen empfinden - gegen jene riesigen Spinnenweibchen, die ihre Männchen verschlingen. Der düstere Mann neben ihr saß sehr aufrecht in angespannter Unbeweglichkeit, die im Gegensatz zu ihrer lässigen Ruhe stand. Sein grübelnder Blick hing unverwandt an den Fackeln, als wollte er ihr Licht in seine Seele saugen. »Der Alte König hat das Blut der alten Sippe in sich«, hatte Gault in jener Nacht hinter der ROSE VON PAESTUM gesagt. »Für ihn ist das die anerkannte Ordnung der Dinge.« Logiore hatte sein Schicksal angenommen, und niemand konnte ihn davor retten. Schon lange war das Festmahl beendet, und selbst die Methörner gingen allmählich langsamer herum. Das Stimmengewirr, das hier und dort ausbrechende Gelächter und die hin und wieder angeschlagenen Töne einer Harfe, die Halle und Vorraum gleichermaßen erfüllt hatten, begannen zu verstummen. Stille und Erwartung breiteten sich aus. Auch Phaedrus wartete darauf, daß die Sache ihren Anfang nehmen sollte. Man hatte ihm zwar gesagt, was geplant war; dennoch lauschte irgend etwas in ihm auf den Ruf von Kriegshörnern, auf das Klirren von Waffen, auf irgendeinen Aufschrei, der diesen Ort mit 108
dem silbernen Schmettern der Arenafanfaren erfüllen würde. Und es traf ihn ganz überraschend, als er feststellen mußte, daß das Warten vorüber und die Sache schon fast im Gange war, ehe er es bemerkte. Der Vorhang aus schwerem Stoff über dem Eingang zu den Wohnräumen der Frauen wurde beiseite geschoben. Ein Mädchen trat gebückt heraus und richtete sich wieder auf, während die Falten hinter ihr in die alte Lage zurückfielen. Es war von hohem Wuchs. In seinen Händen hielt es eine kunstvoll aus Bernstein gearbeitete, flache Schale. Sein Gewand aus dunkel kariertem Stoff, das im Fackelschein fast schwarz erschien, war überall mit dünnen Bronzescheiben behängt, die leise klirrend aneinanderschlugen, wenn es sich bewegte. Schwere Goldreifen waren über seine Arme gestreift, und sein Gesicht, über das kräuselnd der Rauch des Torffeuers hinwegstrich, war starr wie eine Maske. Ein wenig Ähnlichkeit mit Liadhan lag in dieser Maske, doch war das Gesicht zartknochiger, als Liadhans je gewesen sein konnte, und die dicken Zöpfe, die in hin- und herschwingenden, emaillierten Bronzekugeln endeten, waren von völlig anderer Farbe; zwar fast ebenso hell, doch von wärmerem Ton. Das Gold des Haares schien gedämpft und irgendwie von Grau überhaucht - Taubengold, dachte Phaedrus plötzlich; Taubengold und dabei weich und schwer zu bändigen, so daß es sich aus den Zöpfen löste genau wie das ginstergelbe Haar des jungen Brys'. Es war ein Haar, das geradezu sein eigenes Leben lebte und damit in offenem Widerspruch stand zu dem Gesicht, das nur eine Maske war. Es war Murna, die Königliche Tochter, die, wenn der nächtliche Aufstand mißlang, eines Tages ihrerseits Königin sein würde -wenn er mißlang. Aber er würde nicht mißlingen. Phaedrus schob den Gedanken als unheilbringend beiseite. Mit kleinen, wiegenden Schritten trat das Mädchen vor. Als es sich herabneigte und Logiore die Schale reichte, fiel sein Schatten, durch das Licht der nächsten Fackel erzeugt, über ihn. Ohne sich zu erheben und ohne es anzusehen, nahm er die Schale entgegen und saß, die Augen noch immer zu den Fackeln erhoben, einen Augenblick lang 109
mit ihr in den Händen unbeweglich da; dann legte er den Kopf zurück, trank und gab Murna die Schale wieder zurück. Phaedrus fragte sich, ob das Getränk ein Betäubungsmittel enthalten hatte. Zum erstenmal wandte sich Liadhan um, um den Mann an ihrer Seite anzusehen, und es war deutlich erkennbar, daß sie auf etwas wartete. Alle, die in der Halle versammelt waren, blickten jetzt auf ihn. Er war es, der den nächsten Schritt in diesem rituellen Ablauf zu tun hatte. Phaedrus sah, daß er das wußte und vielleicht einen letzten Augenblick düsterer Freude darüber genoß, sie alle warten zu lassen und dieses eine Mal sogar Liadhan. Dennoch würde er den Schritt tun. Jemand hatte ungesehen die ins Freie führende Tür geöffnet, und der kalte Nebel zog herein. Im Vorraum waren alle Wagenlenker aufgestanden und drängten zurück gegen die steinernen Mauern, um einen freien Durchgang zu schaffen. Phaedrus wurde genötigt, auf der Treppe ein Stück höher zu klettern, da die anderen die unteren Stufen belegten; einige schlüpften zur offenen Tür hinaus ins Freie. Logiore erhob sich, stand einen Augenblick still und schritt dann steif quer über die gepflasterte Tanzfläche in der Mitte des Raumes, vorbei am Feuer und durch den Vorraum. Fast wie ein Nachtwandler ging er hinaus in die Winternacht. Zwei Mann der Leibwache waren vorgetreten, um ihm zu folgen; jeder von ihnen entzündete im Vorbeigehen am Feuer eine frische Fackel. Hinter ihnen gingen zwei weitere Männer mit entblößten Schwertern in den Händen. Dann folgte Conory, dem die gestreifte Katze geschmeidig auf der Schulter hing, und schließlich nach ihm die übrigen Männer der Leibwache mit gezogenen Schwertern und Fackeln. Die Häuptlinge und Edlen strömten aus der Halle wie Wein aus einem Becher und überließen es den Frauen, sich auf der Tanzfläche zu versammeln. Die Wagenlenker und Waffenträger, Phaedrus mitten unter ihnen, hatten sich ins Freie begeben; doch im Schatten des Türpfostens blieb er zurück, bis die vierschrötige, krummbeinige Gestalt Gaults des Starken vorbeischritt; dann schlüpfte er hinaus und schloß sich ihm an. 110
Nicht ein einziges Mal wandte Gault den Kopf nach ihm um oder gab sonst durch ein Zeichen zu verstehen, daß er seine Nähe bemerkt hatte; nur als sie zum Tor kamen, murmelte er: »Zieh die Kappe herunter, später ist keine Zeit mehr herumzufummeln.« Auf einem Stück dunkler Wegstrecke, das zwischen zwei Fackeln lag, riß Phaedrus die enganliegende Kappe eines Wagenlenkers ab und warf sie weg. Er schüttelte den Kopf, das Haar fiel lose herab, und er spürte die ungewohnte Berührung der Zöpfe an seinen Wangen. Dann zog er die lockere Kapuze seines Mantels nach vorne, damit sie sein Gesicht und das Muster auf seiner Stirn beschattete. Sinnoch war von der anderen Seite hinzugetreten, und als Phaedrus sich im Gehen umschaute, sah er Gallgoid mit seinen schwarzen Brauen und einem grimmig vergnügten Gesicht dicht hinter sich. Das Licht der Fackeln fiel auf andere Gesichter, die er kannte, und er begriff, ohne zu wissen, wie sie das hatten bewerkstelligen können, daß er inmitten einer Art eigener Leibwache dahinschritt. Der Nebel hatte sich seit der Zeit, als er die Pferde in den Stall geführt hatte, verdichtet. Er drang in Schwaden über die aus Torf und Steinplatten errichteten Wälle der Burg und verschleierte den Fackelschein zu verschwommenen Pferdeschweifen aus Feuer. Es wurden mehr und mehr Fackeln, als die Männer von einem Feuerplatz nach dem anderen herbeiströmten, um sich dem Zug anzuschließen. Burg Monaidh gleicht einer lodernden Feuersbrunst, dachte Phaedrus, so als ob es schon morgen nacht wäre - die Nacht der Wintersonnwendfeuer. So gingen sie von der Burg herab, ein anschwellender Strom aus Menschen, Fackeln und dem alles verzerrenden, feuriggoldenen Nebel, durchquerten die zur Königsburg gehörenden fünf Höfe einen nach dem anderen, bis sie sich durch alle hindurchgeschlängelt hatten, und erreichten schließlich den tiefstgelegenen und äußersten Hof. Dort brannten im weiten Kreis rings um die gewaltig aufragende Säule des Königlichen Malsteins sieben Feuer, von denen die ferner liegenden schon wieder vom Nebel getrübt wurden; und schon drängte sich die Menge zwischen den Feuern, eine Menschenmenge ohne sichtbare Waffen und - was ungewöhnlich für die Stammesleute war 111
ohne Hunde, denn die Hunde waren ebenso wie die Sklaven sicher eingeschlossen worden, damit sie bei der Zeremonie, die folgen sollte, nicht im Wege waren. Phaedrus und das Häuflein Krieger rings um ihn nahmen nicht weit von den Gefährten Aufstellung, die schon auf ihre Speere gestützt dort standen, Conory in ihrer Mitte. Von Logiore war nichts zu sehen. Dann hörten sie vom Pfad, der von der Burg herabführte, wilden, wortlosen Frauengesang und dazwischen den dünnen, ausdruckslosen Klang klagender Flöten. Ich muß mich in acht nehmen! dachte Phaedrus plötzlich. Bei den Göttern - ich muß vorsichtig sein, oder diese Musik wird mich verzaubern, und dann bin ich verloren! Ich muß an etwas anderes denken - an den Arenasand unter meinen Füßen und an den Rhythmus des Parademarsches! Ja, wir marschieren vorbei an den Karren der Abdecker und vorbei am Altar der Rache. Wenn die Frau dort auf der dritten Bank noch einen weiteren Honigkuchen ißt, wird sie einen Schlaganfall bekommen. Bei Typhon! Dieser Helmriemen reibt aber scheußlich! Ich hätte ihn nach dem letzten Kampf herrichten lassen sollen. Ah! Wir sind an der Loge des Statthalters; Ave Caesar! Die Todgeweihten grüßen dich... Das prahlerische Stampfen und Ausschreiten des Parademarsches kam ihm aus der Welt der vertrauten und bei Tageslicht geschehenden Dinge zu Hilfe, und er schob es zwischen sich und die eintönig klagende Musik, die etwas Bestimmtes in seinem Inneren nur zu gut begriff. Sie kam jetzt ganz nahe. Etwas rührte sich im Nebel am Rande des Feuerscheins, und Liadhan trat in den von sieben Feuern gebildeten Kreis. Das Mädchen Murna, das die Priesterin des Ritus zu sein schien, schritt dicht hinter ihr her, und ihnen folgend drängten sich die Frauen, die zwischen sich die blutrot gefärbten Schaffelle für den Thron trugen. Sie sangen noch immer, doch das Getön der Flöten hatte sich von ihnen getrennt und setzte sich, während sie die Schaffelle zu einem Thron aufeinanderlegten, in kleinen Trillern und leisem Murmeln rings um den Kreis der Feuer fort. Phae-drus konnte halb erkennen, wie groteske, schemenhafte Gestalten hinter den Feuern und der von Fackeln beleuchteten Menschenmenge eilig hin 112
und her huschten, während die Flötenklänge sich mit ihnen fortbewegten. Es war ein leises Aufklingen von Tönen, Pfeiflauten und halben Vogelrufen, so daß es schien, als ob sie auf den Flöten miteinander in einer Sprache redeten, die älter war als die menschliche Zunge. Irgend etwas veranlaßte Phaedrus, über seine Schulter zu schauen, und er sah eine dieser Schattengestalten ganz dicht hinter sich. Ein Mann - oder vielmehr ein Wesen, das einem Mann glich und das in dieser bitteren Kälte, die den Atem der Versammelten als Rauch in den Nebel aufsteigen ließ, völlig nackt war bis auf die Streifen aus rotem Ocker, mit denen sein Körper beschmiert war, und bis auf die Gewinde aus Muschelschalen, Federn und getrockneten Samenhülsen, die es um Handgelenke und Knöchel trug. Es hatte eine Flöte, die aus dem Schenkelknochen eines großen Vogels gefertigt zu sein schien, in der Hand, und auf seinen Schultern befand sich statt des Kopfes die grimmige Maske eines wilden Ebers. Eine Sekunde lang stellten sich Phaedrus' Nackenhaare auf - da duckte sich die Gestalt und hob die Flöte an eine verborgene Öffnung irgendwo im Schatten unter dem zähnefletschenden Maul; und er begriff, daß im Inneren der borstigen Haut ein menschlicher Mund verborgen war. Dann waren dies also maskierte Priester, doch Priester von ganz anderer Art als Tuathal der Weise. Die langen Finger des Mannes tanzten auf der Flöte, und die schrillen, an Vogelzwitschern erinnernden Töne hasteten auf und nieder. Phaedrus spürte, daß irgendwoher aus dem Inneren der Maske ein Paar Augen ihn beobachtete und wandte sich deshalb wieder in den vom Feuer beleuchteten Kreis zurück. Von den Frauen und den Gefährten aus der Leibwache umgeben, hatte Liadhan zwischen zwei der geweihten Feuer auf den aufgeschichteten Schaffellen Platz genommen. Sie saß jetzt sehr aufrecht und unbeweglich wie der große, aufragende Malstein, der die Nabe des aus Feuern gebildeten Rades darstellte. Ihr Blick ging daran vorbei, vorbei auch an den verschwommenen Feuern der gegenüberliegenden Seite und hinaus in die Dunkelheit, die dahinter lag. Dies war ihre große Stunde, und das leichte, stumme Lächeln auf ihren Lippen war von einer Art, wie es kein Sterblicher je zur Schau tragen sollte. 113
Das Singen hatte jetzt ausgesetzt, die Rufe der Flöten waren verstummt. Nur die Königliche Tochter sang weiter - eine hohe, eintönige Weise, die nichts Menschliches an sich hatte. Sie bewegte sich von einem Feuer zum anderen und wob mit schwingenden und schleifenden Schritten eine komplizierte Tanzfigur. Bei jedem Feuer blieb sie stehen und nährte die Flammen mit Blättern und Krautern aus einem Korb, den sie auf ihrer Hüfte trug. Mit dem Rauch kam ein eigenartiger Geruch auf, bitter und streng, doch zugleich gefährlich angenehm, weil er längst Vergessenes aus den verborgensten Winkeln des Bewußtseins hervorrief. Irgendwo in der dahintreibenden, milchigen Finsternis jenseits des Flammenscheins begannen die mit Wolfshaut bezogenen Trommeln zu tönen, leise pochend nur wie das Herz eines Schlafenden; und etwas schien die Wachsamkeit aufzurütteln und die Menge zu durchzittern wie ein kalter Windhauch vor dem Gewitter. Während er an Gaults Seite stand, den Kopf geneigt und die Schultern zu formloser Gestalt unter seinem Mantel gekrümmt, warf Phaedrus einen raschen, verstohlenen Blick hinüber zu Conory. Der hielt den Kopf hoch erhoben, und mit den geweiteten Augen und den geblähten Nüstern bot er den Anblick eines Jagdhundes, der, während die Leine ihn noch zurückhält, schon den Eber wittert. Einer der Gefährten hatte ihm Speer und Schwert abgenommen, und er hatte den Mantel gelöst und ihn von einer seiner nackten Schultern heruntergleiten lassen; doch die gestreifte Katze kauerte noch immer an ihrem gewohnten Platz. Er würde sie natürlich nicht in den Kampf mitnehmen, doch vorerst schien niemand an ihrer Anwesenheit mehr Anstoß zu nehmen, als wenn die Katze gleich seiner Schwerthand ein Teil seiner selbst gewesen wäre. Murna, die ihren Kreistanz um die Feuer beendet hatte, war neben die Königin getreten, und während die Bronzeplättchen ihres Gewandes beim Hin- und Herschwingen noch immer leise klirrten, hob Liadhan den dünnen Zweig mit den neun Silberäpfeln und schüttelte ihn. Das zarte, wohlklingende Läuten der kleinen Glocken schien ein seltsames Echo im Nebel hervorzurufen, und das leise Pochen der Wolfshauttrommeln verwandelte sich in ächzendes 114
Dröhnen, das sich immer mehr steigerte und dann mit einer Plötzlichkeit abriß, die eine wollene Taubheit in den Ohren hinterließ. Wieder schüttelte Liadhan den Silberzweig, und ein langgedehnter Seufzer, der fast ein Stöhnen war, erhob sich in der Menge, als sich in der Dunkelheit, in die ihr Blick gerichtet war, etwas regte und Logiore, der Alte König, in den Feuerschein trat. Es dauerte einen Augenblick, ehe Phaedrus erkannte, daß diese wilde, gefährliche Gestalt im Schmuck des Pferdekönigs Logiore war. Nach Kriegerart war er bis zur Leibesmitte unbekleidet. Schwere Bronzereifen umgaben seine Oberarme, und um seinen Hals lag Kette um Kette aus Jett, Bernsteinperlen und Reiherfedern. Lehm- und ockerfarbene Muster waren auf seine Haut gemalt worden und überdeckten die feinen blauen Linien seiner Tätowierungen. Auf seinem Kopf saß eine Streitkappe, die aus dem Skalp eines roten Pferdes gefertigt zu sein schien, der stolze Schöpf sprang noch immer steil zwischen den Ohren auf, während die lange Mähne ihm auf die Schultern herabfiel. Und mitten aus der Todes-bemalung auf seinem Gesicht blickten zwei Augen lodernd auf die Welt wie Augen eines Mannes, der einen Gifttrank zu sich genommen hat. Das blanke Messer in seiner Hand spiegelte den Feuerschein wider und wurde zu einer flammenden Zunge, als er mit seltsam hochtrabendem Gang herankam und vor die Frau auf dem Thron aus aufgehäuften Schaffellen trat. Conory warf seinen Mantel weg; auch er war für den Kampf bis zur Taille entblößt. Ohne Hast zog er den eigenen Dolch und trat den einen langen Schritt vor, der ihn an die Seite der Königin braphte, so daß er seinem Gegner von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Das Geräusch der Trommeln hatte wieder eingesetzt; und der Geruch dieses seltsamen Rauches, der von den Feuerstellen herüberzog, schien die Sinne sowohl zu schärfen als audi zu verwirren. Und noch immer hing die gestreifte Katze auf der Schulter ihres Herrn. Ihre Augen waren riesengroß, und das Haar auf ihrem gewölbten Rücken sträubte sich immer mehr, bis es schien, als ob sie ihren Umfang verdoppelt hätte. Wenige Sekunden zuvor hatte Conory noch, während sie ihre pelzige Wange an die seine drückte, mit ihr 115
geflüstert, doch jetzt - sicher mußte er vergessen haben, daß sie noch da war. Auch andere waren dieser Meinung. Einer der Gefährten sagte etwas zu ihm, wies auf das Tier und streckte die Hand aus, um die Leine zu übernehmen. Conory antwortete mit einem kehligen Laut, der nur für die Katze bestimmt war, und der kleine Teufel legte seine buschigen Ohren zurück und sprang, während die sich abstoßenden Tatzen mit den ausgestreckten Krallen rote Risse in Conorys bloße Schulter pflügten, mit einem ohrenbetäubenden Wutgekreische direkt auf Logiores Gesicht zu. Im gleichen Augenblick - beide Bewegungen wirkten wie eine einzige - fuhr Conory mit seinem Dolch zu Liadhan, der Königin, herum. Doch im selben Moment kam es zu einer jener unvorhersehbaren winzigen Pannen, die ein ganzes Reich ins Verderben stürzen können. Es war nur ein Hund, den man im Stallungshof angebunden hatte. Das Tier hatte seine Leine durchgebissen und war gekommen, um seinen Herrn zu suchen. Niemand und ganz gewiß nicht Phaedrus, der ihm den Rücken zukehrte, sah den wolf ähnlichen Schatten im Nebel, der sprungbereit auf der breiten Steinmauer hockte. Im Bruchteil einer Sekunde, ehe die Katze Logiore kreischend ins Gesicht fuhr, stieß der Hund ein freudiges Bellen des Erkennens aus und sprang hinunter in den Hof. Sein Sprung zielte auf eine Lücke in der Menge, doch irgend etwas - vielleicht die groteske Gestalt mit dem Eberkopf - ließ ihn mitten in der Luft zurückzucken. Es war kein einfacher Hütehund, sondern einer der mächtigen Wolfshunde von Erin mit buschig behaarten Beinen, an Größe und Gewicht fast einem einjährigen Ponyfohlen gleich. Diese Unsicherheit während seines Sprungs verursachte, daß er mit voller Gewalt gegen Phaedrus prallte, der der Länge nach zu Boden und mitten in den Lichtschein der nächsten Fackeln stürzte. Der Hund landete direkt auf ihm und preßte ihm fast die Luft ab; dann sprang er weiter quer durch den Kreis, um sich zu seinem Herrn auf der anderen Seite zu gesellen. Sosehr er auch außer Atem war, stand Phaedrus mit der in der Arena erlernten Schnelligkeit rasch wieder auf den Füßen; doch 116
die Kapuze seines Mantels war herabgesunken, und für alle Anwesenden wurde das Königliche Zeichen der Dalriaden, das Stirnmal des Königs, deutlich sichtbar. Die Zeit schien langsam zu verstreichen, denn es geschah viel zwischen den beiden Sprüngen des riesigen Hundes. Liadhan, vielleicht wachsam geworden durch die Spannung, die schon den ganzen Abend über in der Luft gelegen hatte, war herumgefahren, um nach der Ursache des plötzlichen kleinen Tumultes zu sehen, und der blitzschnelle Streich von Conorys Dolch, der ihr Herz hatte treffen sollen, verletzte sie statt dessen nur an der Seite. Mit einem Wutschrei stieß er noch einmal zu, doch das Mädchen Murna hatte sich zwischen sie geworfen und warf ihm die dunklen Falten ihres Mantels über das Gesicht, womit sie ihn zugleich daran hinderte, etwas zu sehen oder zu schreien. Die Königin selbst war beiseite gesprungen, und als die ganze Szene sich in ein schreckliches Chaos auflöste, sah Phaedrus, noch während er aufsprang, ihre furchtbaren Augen auf das Zeichen an seiner Stirn gerichtet. Dann schrie sie auf - und mit diesem Schrei erhob sie den verabredeten Kriegsruf: »Midir!« Die Frauen drangen mit gezogenen Messern auf Conory ein. Logiore, an dem noch immer die Wildkatze hing und dessen Gesicht eine blutüberströmte Maske war, stürzte mit dem schrillen Wutschrei eines erregten Hengstes herbei. Phaedrus, der nur mit dem einen Gedanken vorsprang, Conory zu erreichen, ehe es zu spät war, hörte Gault neben sich den Kriegsruf aufnehmen und damit für die Männer, die draußen im Dunkel lauerten, das Signal geben: »Midir! Midir!« Der genaue Zeitpunkt war vertan, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Rings um den Königlichen Malstein und zwischen den sieben Feuern wogten die Kämpfer hin und her, als die Männer mit den geflochtenen Schläfenhaaren ihre Dolche herausrissen und sich auf die Anhänger der Königin stürzten. Doch im Augenblick nahm Phaedrus das alles nicht wahr; Rücken an Rücken mit Conory focht er inmitten dieses wilden Kampfgetümmels direkt vor dem Thron. Er kämpfte um sein Leben und um mehr noch als nur das Leben, denn kein Mensch findet die Aussicht erfreulich, in Stücke gerissen zu 117
werden. Sie kämpften gegen eine schreiende Schar von Frauen, die neben ihren Messern in diesem Kampf auch die Warfen wilder Tiere, Zähne und Krallen, einsetzen. Phaedrus wußte nicht, was mit Liadhan oder dem Mädchen Murna geschehen, ja nicht einmal, was aus Logiore geworden war. Es gab in der Welt nichts anderes mehr als diese schreienden Furien ringsum und Conorys Rücken, der sich gegen den seinen stemmte. Ein Messer traf seine Schulter, Krallen gruben sich in seinen Hals; wenn nicht bald Hilfe kam, würde es nicht lange dauern, bis Conory oder er selbst zu Boden ging, und wenn das geschah . . . Plötzlich ließ der Ansturm der Gegner nach, brach ab, und die blutrünstigen Schreie der Frauen verwandelten sich in hilfloses Wutgeheul, als ein fester Keil von Gefährten, die Köpfe durch ihre mit Mänteln umwickelten Unterarme geschützt, zu ihrer Unterstützung heranstürmte. Den Geräuschen nach zu urteilen, hatte sich der Kampf auch in andere Höfe ausgedehnt. Irgend jemand schrie: »Sie kämpfen um die Waffenkammer!« Mitten im Herzen der Burg sprang eine feurige Lohe auf, durch den Nebel nur verschwommen und unruhig flackernd sichtbar. Durch das große Tor, das man ihnen geöffnet hatte, strömten Männer herein und schwärmten über die Wälle. Jeder dieser Männer trug eine Reservewaffe bei sich. Phaedrus raste mit einem dieser Schwerter in der Hand an die Spitze einer stärker werdenden Kämpferschar, die gegen die Hauptmenge der Liad-han-Anhänger focht, welche sich nach den ersten Augenblicken planlosen Kämpfens zu geschlossenen Reihen vor dem Tor zum Stallungshof sammelten. Auch sie hatten jetzt Waffen; offenbar hatten einige Leute der Königin die Waffenkammer zuerst erreicht. Ein Stück entfernt zu seiner Rechten hörte er Gaults Brüllen und schrie als Antwort den Kriegsruf: »Midir! Midir!« Eine weitere Schar von Männern und Frauen, angeführt von der wilden Gestalt Logiores in seiner fliegenden Pferdemähne, vertrat ihnen angreifend den Weg. Auch sie waren voll bewaffnet, denn inzwischen gab es Waffen für jede danach ausgestreckte Hand. Und 118
im Schein der verstreut brennenden Feuer und der tropfenden Fackeln glaubte Phaedrus, inmitten des Kampfgetümmels um das Hoftor, den mondsilbernen Schimmer des von der Königin getragenen Kopfschmuckes erspäht zu haben. Auch andere hatten es gesehen, denn ein neuer Schrei brandete auf - wie das Bellen von Hunden, die Wild gesichtet haben. »Da ist sie!« brüllte Gault. »Die Hexe! Die Wölfin!« Und zugleich stießen sie mit Logiores Kampfschar zusammen, tödlich entschlossen, zu jenem in einiger Entfernung schimmernden Kopfschmuck zu gelangen. Der Kampf wogte in so raschem Wechsel und ständiger Veränderung hierhin und dorthin, daß alles gestaltlos wie in einem Traum erschien; und schließlich war Logiores Schar zurückgeworfen, und sie befanden sich in direkter Tuchfühlung mit den Verteidigern am Tor, Knie stieß an Knie, Klinge gegen Klinge, verzerrte Gesiditer mit fliegendem Haar blickten einander an. Aber nun wichen die Anhänger der Königin zurück, langsam nur, während sie verbissen um jeden Fußbreit Boden kämpften. Irgendwie gelang es, den äußeren Hof zu räumen, dann den Hof der Pferde; und nun wichen sie zurück zu der Toreinfahrt des Hofes der Könige und zur Burg selbst. Männer standen auf dem Kamm des Felsvorsprunges, der einen Teil der Umwallung des Königshofes bildete. Steine und Speere flogen den Angreifern pfeifend entgegen. Und doch tauchte noch immer irgendwo über dem wirbelnden Getümmel, wie ein Streifen Mondlicht inmitten von Sturmwolken, das Schimmern des Kopfschmuckes auf und verschwand wieder. Sie hatten nun das Tor erreicht, und die ganze Felsmauer war zu einer hin und her wogenden Kampflinie geworden. Der Nebel über ihnen war rot verfärbt, denn irgend jemand hatte das mit Heidekraut gedeckte Dach der Halle in Brand gesteckt. Und in dieser feurigtrüben Finsternis waren Phaedrus und Logiore, der Alte König, aufeinandergestoßen. Und dann geschah etwas Merkwürdiges: Rings um sie schienen alle übrigen Kämpfenden ein wenig zur Seite zu weichen, und in dem so entstandenen Raum traten sie gegeneinander an, kämpften sie, wie es nach der alten Sitte dem Alten und dem Jungen König bestimmt war, 119
gegeneinander zu kämpfen - Phaedrus noch immer im rauhen Gewand des Wagenlenkers, während das rote, vom Nebel feuchte Haar ihm um den Kopf flog, und ihm gegenüber der Mann im Schmuck des Pferdekönigs mit den furchtbaren, brennenden Augen in einem entsetzlich geschminkten und blutverschmierten Gesicht. Selbst Conory hielt sich von diesem Kampf fern; für sein Schwert gab es an anderer Stelle reichlich zu tun. Während die Funken der brennenden Halle auf sie herabfielen, begannen sie auf diesem abgeschlossenen Raum ihren Zweikampf, duckten sich, stießen zu und parierten die Streiche des Gegners. Logiore war ein guter Schwertmann, das hatte Phaedrus, als Gladiator an rasches Einschätzen des Gegners gewöhnt, bald gemerkt; doch er wußte zugleich, daß er dank Automedons Training der bessere war. Die Schlacht um die Burg dauerte nicht lange, denn die Anhängerschar der Königin war inzwischen stark gelichtet; und mochte auch die Zahl der Kämpfer um das Eingangstor auf beiden Seiten gleich sein, waren es doch zuwenig Verteidiger, um den inneren Wall gegen die darüber hinwegschwärmenden Angreifer zu halten. Sie leisteten letzten verzweifelten Widerstand, während an der vom Flammenschein erleuchteten Toreinfahrt der Alte und der Junge König den althergebrachten, rituellen Zweikampf austrugen, der nichts Rituelles mehr hatte. Beide bluteten aus Wunden auf Brust, Armen und Schultern. Es blieb ihnen kein Raum zum Manövrieren, kein Raum, aus der Reichweite des Gegners zu springen; eng verflochten wie kämpf ende Hirsche fochten sie dort, wo sie standen. Phaedrus konnte den feuchten Niederschlag des Nebels auf dem Kopfputz aus Pferdehaaren erkennen und die Funken brennenden Dachstrohs, die zwischen ihnen verglommen. Er sah den weltfremden Blick in den Augen seines Gegenübers und bemerkte wie einst bei Vortimax die Veränderung in diesem Blick, parierte den tödlichen Stoß, indem er die Klinge des anderen im letzten Augenblick beiseite schob, und stieß dann seinerseits in die offene Deckung vor. Er spürte, wie seine Klinge tief eindrang, sah, wie Logiores Augen sich weiteten, und fand noch Zeit, sich über den Ausdruck des Triumphes in ihnen zu wundern, ehe der Alte König zurückschwankte und zu Boden ging. 120
Überall brach jetzt die Verteidigungslinie zusammen, und die Anhänger des Pferdekönigs drängten durch das Tor und über die breiten, niedrigen Mauern herein. Hunde bellten, und das Wiehern verängstigter und erregter Pferde erfüllte die Luft. Doch in der Burg selbst schien einen Augenblick lang ein seltsames Schweigen zu herrschen. Logiore, dessen Kopfschmuck abgerissen und dessen Bemalung zum größten Teil von Blut weggewaschen war, lag zusammengekrümmt wie jeder andere Tote, und davon gab es viele, am rechten Pfeiler des Tores, wohin ihn die Füße der das Tor Stürmenden gestoßen hatten. Doch noch immer stand jener Triumph in seinen Augen. Den Grund dafür erkannte nun auch Phaedrus, als er auf sein blutgerötetes Schwert gelehnt stand und in pfeifenden Atemzügen nach Luft rang; er blickte auf Murna, die Königliche Tochter, die auf der Schwelle des brennenden Saales zwischen zwei der Gefährten stand. Ihr zerfetztes und verknülltes Gewand war mit Blut bespritzt, und ein leises Lächeln, das den Triumph in Logiores Augen widerspiegelte, lag um ihre Mundwinkel. Und auf ihrem Kopf trug sie den hohen, silbermondartigen Kopfschmuck der Königin.
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Du bist nicht Midir! »Wo ist Liadhan?« fragte Gault mit rauher Stimme. »Die Königin, meine Mutter, ist an einem Ort, wo du sie nicht finden wirst - Gault der Verräter!« Der stämmige Mann zuckte nur die Achseln. »Ich habe anderes zu tun, als mit jemandem Schimpfworte zu tauschen.« Dann wandte er sich an die zwei Männer von der Leibgarde. »Führt sie weg und sperrt sie sicher ein - aber denkt daran, daß sie die Königliche Tochter ist, und behandelt sie anständig.« »So, so - dann muß ich euch wohl noch dankbar sein«, sagte das Mädchen. »Würdet ihr meiner Mutter den gleichen Grund zur Dankbarkeit gegeben haben, wenn ihr ihrer habhaft geworden wäret?« »Wenn wir sie haben, wirst du auf deine Frage Antwort erhalten.« Gault gab den Leibwächtern mit dem Kinn ein Zeichen, sie abzuführen. Sie wandte sich, den zupackenden Händen an ihren Armen folgend, schon halb zum Gehen, blieb aber dann stehen, blickte zurück und sah Phaedrus zum erstenmal voll ins Gesicht. Es war ein langer, seltsamer und völlig unergründlicher Blick, und während er ihn auf sich spürte, fragte sich Phaedrus, ob sie wußte, wie ihre Mutter mit dem wahren Pferdekönig in Wirklichkeit verfahren war. Wenn sie es wußte, dann mußte ihr klar sein, ebenso wie Liadhan es nach dem ersten Schock begriffen haben mußte, daß, wer immer er sonst auch sein mochte, er nicht Midir war. Und genau wie Liadhan konnte sie nichts unternehmen. Er erwiderte den langen, kühl musternden Blick, und ein paar Sekunden später ging sie inmitten ihrer beiden Bewacher davon. Der feurige Nebel schien danach in Phaedrus' Kopf geraten zu sein, und alles wurde zu einem Traum, in dem es keine geordnete Reihenfolge der Ereignisse gab. Er hörte Gault Befehle schreien und sah Männer, die das brennende Heidekraut vom Dach rissen und die Flammen ausschlugen, die sich bis zu den Holzpfeilern ausgebreitet hatten. Er war sich dessen bewußt, daß in abgelegenen Winkeln der Burg noch immer gekämpft wurde; dann und wann zeigte ein 122
Aufschrei an, wie ein Zweikampf geendet hatte. Zwischen den nebelumhüllten Gebäuden und den aufeinandergehäuf-ten Toten wurde gesucht, rasch, verzweifelt und mit äußerster Gründlichkeit. Phaedrus blutete aus etwa zwanzig Wunden, von denen jedoch keine ernster Natur war; neben sich hörte er Conory leise fluchen, der das Blut aus einer tieferen Wunde in seinem Oberarm mit einem Streifen Stoff von dem Kilt eines toten Kämpfers zu stillen versuchte. Irgendwo erhob eine Katze ihren wilden, kreischenden Schrei. Mit ausdruckslosem Blick sah Phaedrus sich nach ihr um und bemerkte in dem erlöschenden Feuerschein eine gestreifte Gestalt mit Augen gleich grünen Monden, der das Blut aus der verwundeten Flanke tropfte und die sich an den Rand des Vorraumdaches krallte, während sie ein Triumphgeschrei ausstieß, das von allen Geistern im tiefsten Pfuhl der Unterwelt hätte erdacht sein können. Conory unterbrach einen Augenblick lang sein Fluchen, um Shän zu rufen, und das gestreifte Etwas sprang, die Reste seiner Leine hinter sich herziehend, auf Conorys Schultern, ließ sich auf seinem Nacken nieder und sang noch immer. Ein Mann keuchte Gault eine Botschaft zu, und plötzlich hasteten alle davon. Phaedrus, der sich inmitten der Eilenden befand, stolperte über den Leichnam eines fast nackten Mannes mit einer Ottermaske vor dem Gesicht. Und gleich darauf war er wieder im äußeren Hof und starrte auf die Stelle, wo das übersprudelnde Wasser der Quelle, die die Bewohner der Burg mit Trinkwasser versorgte, in einen engen Abfluß verschwand und unter einem roh behauenen Schwellenstein durch die Wallmauer nach draußen floß. Drei Männer mit geflochtenen Schläfenhaaren lagen dort tot am Boden. Jeder von ihnen war vermutlich in die Schnüre einer von fern geschleuderten Jagdbola verwickelt worden, und alle drei hatte man an der Stelle erdolcht, wo sie lagen. Irgend jemand hielt eine Fackel tief hinunter zu der dunklen Öffnung des Ablauftunnels, und der Lichtschein offenbarte das Glitzern von Silberäpfeln unter der Wasseroberfläche. Man fischte den Silberzweig heraus. 123
»Auf diesem Weg also ist sie entkommen«, sagte Gault und kaute dabei auf seiner Unterlippe herum, die aufgesprungen und wund war. »Sie wird sich nach Caledonien zu ihrer eigenen Sippe gewandt haben«, meinte Conory, der sich inzwischen den Stoffetzen um den verwundeten Arm gebunden hatte. Abgesehen von den Blutspuren, die er an sich hatte, sah er so wenig mitgenommen aus wie die gestreifte Katze, die nun ein Stück entfernt von ihnen hockte und sich unbekümmert die Wunde an ihrer Flanke leckte. »Können wir alle Wege absperren, ehe sie uns entkommt?« »Ich zweifle daran.« Gault schüttelte den Kopf. »Das Dunkle Volk in den Bergen wird zu ihr halten, und niemand außer dem Wild kennt alle ihre Schleichpfade. Trotzdem müssen wir es versuchen; denn sie trägt möglicherweise Tod und Leben unseres Stammes in ihren Händen.« Er fuhr zu dem jungen Krieger herum, der die Fackel trug. »Brys, suche mir deinen Herrn Gallgoid und Dergdian, wenn er noch am Leben ist, und dann diesen Pferdeschmuggler Sinnoch. Nur wenige kennen das Bergland an der Grenze so gut wie er.« Phaedrus hatte in dem jungen Burschen seinen vergnügten Nachbarn aus der überfüllten Vorhalle nicht wiedererkannt; sein Gesicht war grau und gealtert, und alles Lachen war daraus verschwunden. »Mein Herr Gallgoid ist tot.« »Dann hole Cuirithir. Die drei - rasch.« Im Laufschritt eilte der Junge davon. Und bald darauf erschienen Dergdian und Sinnoch, dem Cuirithir dicht auf den Fersen folgte. Gault sprach schnell und barsch: »Die Wölfin ist entkommen. Sie muß auf irgendeinem Weg nach Caledonien unterwegs sein - es gibt sonst keine Zuflucht für sie, es sei denn, sie begäbe sich aufs Meer hinaus. Sinnoch, du kennst die Berge an der Grenze besser als sonst einer von uns: Wie viele Bergpfade hinüber in das Land der Cailleach sind um diese Jahreszeit gangbar?« Sinnoch dachte einen Augenblick lang nach. »So viele, wie Finger an meiner Hand sind.« »Dann kommt auf jeden von uns ein Bergpaß.« 124
»Wir sind doch sechs«, sagte der borstenhaarige Dergdian mit einem Blick auf Phaedrus. Es entstand eine kurze Pause, dann sagte Phaedrus: »Es ist lange her, seit ich in den Bergen an der Grenze war. Ich werde hinter einem von euch reiten.« »Also jeder von uns zu einem Bergpfad«, sagte Gault, als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben. »Conory, nimm dir Männer, soviel du in aller Eile auftreiben kannst, zweimal zwanzig sollten wohl genügen, und folge dem Weg hinauf zum Königlichen Wasser, dem Fhiona-See. Dann reite weiter über die Berge in die Schlucht von Baals Beacon. Nicht weiter! Es nützt dem Stamm wenig, wenn du in die Jagdgründe der Cailleach vordringst und nie zurückkehrst! Dergdian und du, Cuirithir, ihr macht euch auf zu der weiten Fläche des Abha-Sees. Dort trennt ihr euch. Einer übernimmt die ErlenwaldSchlucht, der andere die Schlucht der Schwarzen Göttin.« »Den Weg wird sie bestimmt nicht einschlagen«, sagte Cuirithir. »Nein, der ist ja doppelt so lang und führt zwei volle Tage mitten durch Earra-Ghyl.« »Vermutlich wird sie ihn nicht wählen«, fuhr Gault auf. »Aber wenn die kleinen Männer vom Dunklen Volk es sich einfallen lassen, ihre Wegführer zu sein und ihren Nebel um sie zu breiten, dann wären wir Narren, diesen Weg unbeachtet zu lassen. Ich selbst werde mich nach Rudha-Nan-Coorach aufmachen, und die Fischer sollen mir ihre Rundboote leihen, damit ich den Fhiona-See überqueren kann. Der Weg hinunter in die Schlucht der Hörner bleibt auch zu dieser Jahreszeit fest genug, und da überall an der weiten Küste Fischersleute wohnen, die sie über den Fjord der Kriegsboote bringen könnten, glaube ich, daß dies der Weg ist, den sie möglicherweise wählt. Das wären vier. Wo entlang führt der fünfte Weg, Sinnoch?« »Mir scheint, daß ich mich verzählt habe. Es gibt noch zwei Wege mindestens noch zwei - zwischen den Königlichen Wassern und dem Fjord der Kriegsboote. Doch das ist alles wildes Land, und die Caledonier jagen darin ebensooft wie wir. Es ist schwierig, sich allein nach der Vorstellung, und ohne die Wege zu sehen, zurechtzufinden; im vergangenen Monat hat es heftige Regengüsse gegeben.« 125
»Dann reite hin und sieh nach. Jene beiden Wege überlasse ich dir. Nimm dir die besten Jäger mit - du wirst sie brauchen.« »Nun, da wäre einmal mein alter Vron. Einige der besten Jäger auf Burg Monaidh hämmern im Augenblick von innen gegen die Tür des Sklavenhauses.« »Männer aus dem kleinen Dunklen Volk?« unterbrach ihn Gault. »Das kleine Dunkle Volk hat die besten Jäger der Welt.« Leichte Ironie schwang in Sinnochs Stimme, obwohl sein Gesicht jetzt im Dunkel lag. »Und was die dort im Sklavenhaus anbetrifft -Liadhans Sklaven lernten nie, sie zu lieben, selbst nicht um der Großen Erdgöttin willen.« »So sei es denn - jage mit deinen kleinen Dunklen Hunden.« »Die und andere - eine buntgemischte Meute, würde ich sagen, offen für alle, die nicht zu stolz sind, gemeinsam mit ihr zu jagen.« »Ich will mit deiner bunten Meute jagen«, sagte Phaedrus und kam gleich darauf durch das einen kurzen Augenblick währende plötzliche Schweigen zu der Erkenntnis, daß das ein Fehler gewesen war. Doch seinen Entschluß jetzt zu ändern, wäre ein noch weit größerer Fehler gewesen, und außerdem mußte ein Prinz der Dalriaden nicht immer nur nach der Pfeife anderer Leute tanzen. »Natürlich nur, wenn ich nicht zu sehr aus der Übung bin, um ein guter Jäger zu sein«, fügte er hinzu und gab damit vor, den Grund des allgemeinen Verstummens mißverstanden zu haben. Mit der ihm eigenen trockenen Amüsiertheit in der Stimme sagte Sinnoch aus dem Dunkel heraus: »Du bist der Prinz der Dalriaden. Natürlich kannst du jagen, mit wem du willst, und wenn es die Höllenhunde selbst wären.« Vier Tage lang war Phaedrus mit Sinnochs bunt zusammengewürfelter Meute unterwegs - bald zu Fuß, bald auf einem der kleinen Berglandponys, die sie jenseits der Heidehügel und der tiefen, bewaldeten Schluchten zwischen den beiden großen Meeresarmen aufgetrieben hatten. Doch wenn Liadhan diesen Weg gewählt hatte, war sie zu schnell für ihre Verfolger gewesen und hatte zudem keine Spuren hinterlassen. Und als die Männer am vierten 126
Abend tief in der Schlucht von Baals Beacon mit Conory und seinen Begleitern zusammentrafen, stellte sich heraus, daß auch jene kein Jagdglück gehabt hatten. Sie waren von Nebel durchnäßt und todmüde; ihre Wunden hatten kaum heilen können. Das gedörrte Fleisch, das die Stammesleute auf längeren Ritten bei sich hatten, war knapp geworden. Da aber keine Zeit gewesen war, für ihren eigenen Bedarf auf die Jagd zu gehen, waren sie hungrig. Finster errichteten sie ihr Lager auf dem schmalen Streifen aus Rasen und Heidekraut, der zwischen Fluß und Wald lag. In dem zunehmenden Abendschatten schienen die Bäume Hände nach ihnen auszustrecken, als ob auch sie hungrig wären. Die Männer versorgten die rauhhaarigen Ponys und pflockten sie an, denn sie wagten wegen der Nähe des Waldes nicht, sie frei grasen zu lassen. Inzwischen waren Phaedrus und Conory zusammengetroffen, und als ob es so zwischen ihnen verabredet worden wäre, waren sie ein kurzes Stück flußabwärts bis zur oberen Rundung des Sees gewandert. Ohne Verwunderung und ohne Kommentar hatten die übrigen Männer im Lager sie weggehen sehen - hatte doch schon in ihrer Knabenzeit jeder von beiden sich in der Gesellschaft des anderen am wohlsten gefühlt. Sie sprachen nicht gleich über die Sache, wegen der sie, wie sie beide wußten, das Lager verlassen hatte. Tatsächlich sprachen sie lange Zeit überhaupt nichts, sondern standen nur und blickten über den Fluß auf die mächtigen Berge Caledoniens, die noch das letzte Abendrot der Wintersonne einfingen. Die gestreifte Katze war ihnen durch Heidekraut und Sumpfmyrte nachgeschlichen und ließ sich jetzt nieder, um die heilende Wunde an ihrer Flanke von neuem zu lecken. »Dann ist also die Wölfin in den Jagdgründen ihrer Verwandten in Sicherheit«, sagte Phaedrus schließlich verdrossen. »Es sei denn, Gault oder Dergdian hätte mehr Jagdglück gehabt als wir.« »Das werden sie nicht.« »Nein, ich halte es auch für unwahrscheinlich.«
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»War es meine Schuld? Oder die des Hundes? Oder war es Zufall wie beim Würfelspiel?« Conory zuckte die Achseln. »Kann der Würfel, der aus des Gottes Hand fällt, dem Zufall unterworfen sein?« »Das habe ich mich auch schon früher gefragt. So werden nämlich auch die Kämpferpaare in der Arena bestimmt. .. Was wird jetzt geschehen?« »Im Augenblick nichts, es ist ja Winter. Du weißt selbst, in welchem Zustand jetzt die Wege sind; nicht einmal Liadhan könnte eine Kriegsschar über diese Berge und die Moorflächen senden, wenn die Bergpässe tief verschneit sind und nirgendwo Gras für die Pferde zu finden ist. Doch wenn die Knospen der Birke dicker werden und die Bäche in der Schneeschmelze zu reißenden Flüssen, dann wird bei den Caledoniern ein großes Rüsten beginnen.« Phaedrus wandte sich hastig um. »Du meinst, es wird Krieg geben?« »Sie ist des Königs Sippenverwandte. Und glaubst du, daß sich die Große Mutter - oder die Göttin des Waldes, wie sie sie nennen - nicht in Kriegsbemalung erheben wird, um die Ihren zu beschützen? Hast du vergessen, daß die Caledonier auch nach der Alten Weise leben?« Conory wandte langsam den Kopf, und der spöttische, verschleierte Blick richtete sich auf Phaedrus' Gesicht. »Du hast in den sieben Jahren viel vergessen.« »Sieben Jahre sind eine lange Zeit, in der man manches vergessen kann.« Conorys Mantel war von seiner linken Schulter geglitten, und Phaedrus, der auf ihn hinabschaute, entdeckte, daß der um den Oberarm gewundene Stoffetzen dunkel durchtränkt war. »Das sollte neu verbunden werden«, sagte er. »Ich werde mich nachher darum kümmern.« »Am besten jetzt gleich, solange noch genug Tageslicht da ist, um etwas zu erkennen. Ich werde das an deiner Stelle tun.« Und irgend etwas im Gesicht des anderen ließ ihn hinzufügen: »Es ist ja nicht das erstemal, daß wir einander unsere Wunden auswaschen.« 128
Es folgte ein kurzes, gespanntes Schweigen, lautlos bis auf das Rauschen und Plätschern des Wassers und den plötzlichen, verlorenen Ruf eines Vogels im winterlich schwarzen Heidekraut. Dann sagte Conory langsam und wohlüberlegt: »Ist es wirklich so?« Phaedrus spürte, wie unter dem Brustbein sein Herz einen kleinen, heftigen Ruck tat; doch war er weder erschrocken noch überrascht. Das war jenes Etwas, das zwischen ihnen gestanden und sie vom Lager weg hierhergeführt hatte. Er versuchte es trotzdem noch einmal, bereit, es bis zum Ende durchzukämpfen. Er zwang sich zu einem Lachen. »Das eine Mal ist mir vor allen anderen im Gedächtnis geblieben. Doch du hattest die Schläge ja nicht bekommen, und so besteht für dich wohl weniger Grund, dich daran zu erinnern, wie du mir nach Dergdians Prügeln halfst, das Blut von meinem Rücken abzuwaschen. Ich hatte ihm vorher mit einem Wurfstein fast den Schädel eingeschlagen.« Conory wirbelte zu ihm herum. »Wer hat dir das erzählt?« »Wer soll mir das erzählt haben? Ich war es doch, der die Schläge erhielt, und ich erinnere mich ihrer noch gut genug, ohne daß jemand mir davon erzählte.« »O nein, du erinnerst dich an gar nichts«, erwiderte Conory mit seidenweicher Stimme. »Es war Midir, der die Prügel bekam — und du bist nicht Midir!« »Du bist verrückt! Es muß das Wundfieber sein«, sagte Phaedrus. »Sowohl die Wunde wie mein Verstand sind völlig kühl«, erklärte Conory. »Na schön, dann sag mir, wer ich bin.« Die Hände des anderen schössen vor und packten seine Schultern mit jener unerwarteten Kraft, die er schon einmal in der Höhle des Jägers erfahren hatte. Conorys Gesicht war dicht vor dem seinen. Die merkwürdig gestellten Augen verengten sich unter den Farbresten, die noch immer auf den Lidern lagen. »Das will ich von dir hören!« Phaedrus unternahm keinen Versuch, den Griff des anderen abzuschütteln, obwohl er das bei Conorys verletztem Arm ohne große Mühe hätte tun können. Doch die Katze hatte aufgehört, ihre Wunde 129
zu lecken, und kauerte mit zurückgelegten Ohren und einer zu stummem Fauchen verzogenen Maske sprungbereit am Boden. Sie gab keinen Laut von sich und hockte völlig reglos da, doch er wußte, daß sie sich bei der ersten Geste, die nach Feindseligkeit aussah, auf ihn stürzen würde. Das zusätzliche Problem, von einer Wildkatze angegriffen zu werden, war nach seinem Empfinden mehr, als er gerade jetzt vertragen konnte. Doch eine andere Art von Verwegenheit erfaßte ihn plötzlich. Er hatte keine Ahnung, ob dies das Ende seines Weges war oder nicht, doch er lachte dem anderen ins Gesicht. »Na schön, dann werde ich es dir sagen. Mein Vater war ein griechischer Weinhändler und meine Mutter eine Sklavin, die ihm das Haus führte. Ich wurde als Sklave geboren und als solcher auch erzogen - du siehst also, wie angemessen meine Wahl war, als ich erklärte, mit der bunten Meute jagen zu wollen. Ich wurde immer wieder gekauft und verkauft, bis ich in die Kampf schule von Corstopitum kam; und noch immer war ich ein Sklave. Die meisten Gladiatoren sind Sklaven, wußtest du das? Und für so einen hast du vor fünf Nächten >Midir!< geschrien!« »Dann sah also Sinnoch dich in der Arena und erkannte die Ähnlichkeit - und die Gelegenheit. Zu Recht nennt man ihn Sinnoch den Fuchs! Welchen Preis hat er dir gezahlt?« »Soll das eine Beleidigung sein?« erkundigte sich Phaedrus ruhig. »Wenn du es so auffaßt, dann ja. Doch in erster Linie war es eine Frage.« »Eine, die ich nicht beantworten kann. An dem Tag, als er mich zum erstenmal sah, gewann ich mein hölzernes Schwert - das bedeutet für einen Gladiator die ehrenvolle Freisprechung. Einen ganzen Tag lang, nachdem sie mich zum Tor hinausgeschoben hatten, war ich frei, bis die schreckliche Langeweile dieses Tages mich in eine Straßenschlacht trieb und meine Freiheit im Stadtgefängnis ihr Ende fand. Wenn du wissen willst, wieviel Bestechungsgeld es kostete, mich da herauszuholen, dann mußt du Sinnoch fragen — oder Gault.« »Mich interessiert nicht, was es kostet, eine Gefängnistür zu öffnen. Welches war dein Preis? Und worin bestand er? Haben sie dich gekauft oder dich mit Gewalt dazu gezwungen? Oder bist du nur 130
gekommen, weil irgend etwas zu tun dir besser erschien als jene schreckliche Langeweile?« »Alle drei Gründe haben etwas mitgespielt. Außerdem riefen sie noch Midir zu Hilfe. Er zeigte sich als ein Meister der Überredung.« Ein Zucken durchfuhr die Hände auf seinen Schultern, die jetzt ihren Griff lockerten. Conory ließ die Arme schlaff heruntersinken und wandte sich halb zur Seite. »Midir - ja, natürlich. Niemand sonst hätte dir erzählen können, wie ich ihm nach jener Tracht Prügel das Blut abwusch . .. und all das andere. All das andere. .. Er war immer gründlich bei dem, was er tat.« Phaedrus sah ihn schlucken. »Sag mir bitte eines: Wenn Midir noch lebt, warum benötigten sie einen anderen an seiner Stelle?« »Er ist blind!« erwiderte Phaedrus. »Blind!« Conorys Stimme klang erstickt, und er führte eine eigenartige kleine Geste aus, indem er die Handballen in seine eigenen Augenhöhlen preßte, als ob er sekundenlang ihre Leere fühlte. »So also hat sie sich seiner vergewissert. . . Wo ist er?« »Er kehrte zu dem Mann zurück, für den er arbeitet, einem Sattler in einer römischen Stadt weit südlich vom Hadrianswall.« »Wie lange schon haben Gault und Sinnoch davon gewußt?« »Drei Jahre, glaube ich.« »Und wer sonst noch?« »Tuathal der Weise, Gallgoid, aber der ist ja tot. (Merkwürdig, daß ihm das jetzt erst richtig zu Bewußtsein kam, als er es aussprach.) Und noch zwei oder drei andere.« »Und mir haben sie nichts davon gesagt. Selbst dann, als die Wölfin mir beim Maifest ihren Gunstbeweis sandte und die Zeit anbrach, unsere Schwerter zu schärfen, sagten sie mir nichts, mir, der ihm näherstand als ein Bruder.« »Es lag noch eine lange Zeit des Wartens vor ihnen. Und sie, die es wußten, sind alle Grauköpfe, bis auf Gallgoid, und vielleicht fürchteten sie, du könntest etwas Unüberlegtes tun.«
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»Fürchteten sie das auch noch am Ende des Sommers, als sie mir das gleiche Märchen erzählten wie den übrigen des Stammes - daß Prinz Midir von den Toten zurückgekehrt sei?« Conorys Stimme hatte einen scharfen Ton. »Sie meinten, daß du der Prüfstein sein solltest. Wenn du nicht merktest, daß ich nicht Midir war, dann würde niemand sonst es merken. Aber du hast es gemerkt, und darum bin ich ein Mißerfolg.« Sie hatten sich weit von jener gefährlichen Stimmung entfernt, die noch so kurz zuvor zwischen ihnen geherrscht hatte. »Nein«, erwiderte Conory abwesend, »das würde ich nicht sagen, denn die Probe war nicht fair.« Mit einem sanften, fast schläfrigen Lächeln schaute er zu Phaedrus herum. »Mein Arm beginnt zu schmerzen. Meinst du, daß es noch hell genug ist?« Wenige Augenblicke später waren sie die Uferböschung hinuntergeklettert und knieten zwischen dem Gewirr aus Erlenwurzeln am Rande des Wassers. Phaedrus hatte begonnen, die schmutzigen Lumpen abzuwickeln, die dunkle, nasse Flecken auf seinen Händen hinterließen, als ob er überreife Brombeeren gepflückt hätte. Conory schaute ihm blinzelnd zu. »Nein, wirklich, ich würde nicht sagen, daß du versagt hast. Und wenn du nicht einen groben Fehler begehst, wirst du ohne weiteres durchkommen - bei den anderen.« »Welchen Fehler habe ich bei dir gemacht?« Das letzte blutdurchtränkte Stück Verband fiel ab, und Phaedrus bückte sich und schöpfte mit der hohlen Hand das eiskalte Wasser, um damit das geronnene Blut von der Wunde abzuwaschen und zu sehen, wie es mit der Verletzung stand. »Mehr als nur einen Fehler; und Kleinigkeiten gab es genug. Als zum Beispiel Gault die Gruppe zur Verfolgung einteilte, kam es dir in den Sinn, daß du dich in diesen Bergen ja nicht auskennst, und einen Augenblick lang wußtest du nicht, was du tun solltest. Du hast dich allerdings gut getarnt; dich für den Anschluß an Sinnochs bunte Meute zu entschließen, war genau das, was Midir auch getan haben würde. Er hatte immer ein höllisches Vergnügen daran, festzustellen, wie weit er in seiner Mißachtung gegen die Grauköpfe und die Sitten des Stammes gehen konnte.« 132
»Ähnlich wie du ausprobierst, bis zu welchem Punkt die jungen Krieger deine überspannten Moden nachahmen und sich dadurch selbst zum Narren machen?« »Es macht immer Spaß, herauszubringen, wie weit man gehen kann«, erwiderte Conory und hielt ein wenig den Atem an, als Phaedrus mit tastenden Fingern über die Wunde fuhr. Er blickte auf zu der gestreiften Katze, die oben auf der Uferböschung geblieben war und jetzt dort kauerte; ihr Gesicht war nur ein kleines Stück über dem seinen. Sie starrte verloren vor sich hin, doch als er die Hand hochstreckte, rieb sie ihren breiten, pelzigen Kopf in seiner Handfläche. »Man wird dir erklären, es sei unmöglich, eine Wildkatze zu zähmen; und meist ist das auch wahr, aber doch nicht immer. Ich fand Shän als Junges, noch ehe ihre Augen richtig offen waren. Ihre Mutter war von einem Adler getötet worden - es muß ein furchtbarer Kampf gewesen sein! -, und die übrigen Kleinen des Wurfs waren schon eingegangen. Doch in dieser hier glomm noch ein Funken Leben, und so nahm ich sie mit. In dem Augenblick, als sie brauchbare Zähne hatte, biß sie mir den Daumen bis auf den Knochen durch, aber jetzt — siehst du?« Er lächelte nachdenklich, und Phaedrus wußte, daß er vor dem Gedanken an einen lebenden und geblendeten Midir Zuflucht suchte, bis er Zeit gefunden hatte, sich daran zu gewöhnen. »Nur als ich ihr das erstemal eine Leine anlegte und sie auf meiner Schulter in die Halle mitbrachte, glaubte jeder Trottel auf Burg Monaidh, daß Conory eine neue Mode einführte.. . Fast einen Monat hatten die Heilpriester damit zu tun, Bisse und Kratzwunden zu säubern.« »Du solltest damit am besten auch zum Heilpriester gehen, wenn wir zurück sind«, sagte Phaedrus. »Aber für den Augenblick wird dies schon genügen ... Nun, sie hat ihre Abstammung bewiesen, als du sie auf Logiores Gesicht hetztest. Glaubtest du sie eigentlich lebend wiederzusehen?« Conory zuckte leicht mit einer Schulter. »Es war ein Risiko, das wir alle eingingen. Aber es war schön, hinterher ihren wilden Triumphgesang zu hören.« 133
Er kehrte zu dem zurück, worüber sie gesprochen hatten, ehe die Rede auf Shän gekommen war. »Es waren nur geringfügige Fehler. Aber es hatte auch keiner Fehler bedurft, ich hätte es gemerkt. Damals, in der Höhle des Jägers - welchen Namen trugst du, ehe du auf den Namen Midir hörtest?« »In der Arena nannte man mich Roter Phaedrus.« Er riß einen Streifen vom Rand seines Mantels ab; das würde jedenfalls eine bessere Binde ergeben als jener stinkende Lappen. »Dann sage mir, Roter Phaedrus - wart ihr in der Kampfschule gewohnt, eure Waffen aus einem gemeinsamen Ständer zu nehmen, oder hatte jeder von euch seine eigene Waffe?« »In der Gladiatorenschule hat man nichts Eigenes, abgesehen von den Kleidern, in denen man steckt, und ein wenig Krimskrams, den man von Gönnern oder Bewunderern erhält. Doch soweit es möglich war, holte man sich immer das gleiche Schwert.« »So. Dann wirst du wissen, wie das mit Waffen ist. Für das Auge mögen sie einander gleich sein wie ein Sandkorn dem anderen, doch jede kommt vom Waffenschmied mit einer um ein geringes verschiedenen Balance, mit einer bestimmten Eigenart, die sie mit keiner anderen Waffe gemeinsam hat. Und deine Hand wird allmählich damit vertraut, so daß, wenn du ein anderes Schwert an ihrer Statt aufnimmst, dein Auge zwar den Unterschied nicht erkennt doch deine Hand ihn sofort spürt.« Phaedrus nickte. »Midir und ich waren als Knaben wie die zwei Hälften einer Nuß. In jener Nacht in der Höhle des Jägers war ich zuerst nicht sicher, doch als wir die Arme umeinander legten und eine Szene für die anderen spielten, da wußte ich es genau. Die Balance der Schwertklinge stimmte nicht.« »Warum sagtest du es dann nicht?« »Ich beschloß, abzuwarten, was geschehen würde, um zu erfahren, wer du seist, da du doch nicht Midir warst. Außerdem hatte ich nicht im Sinn, den Aufstand zu verderben, dem so lange schon unser 134
Warten und Planen gegolten hatte, und vielleicht so den Tod vieler Freunde zu verschulden.« Phaedrus verband die Wunde, und seine und Conorys Augen waren einander sehr nahe. »Und jetzt? Wenn du mich jetzt verrätst, wird ein Riß mitten durch das Pferdevolk gehen, und Liad-han wird unangefochten zu den roten Ruinen ihrer Königinnenherrschaft zurückkehren.« »Wie wir Prinz Midir brauchten, um das Joch der Wölfin abzuwerfen, so werden wir ihn auch weiter brauchen.« Phaedrus zog den Knoten an. »Dann wirst du also zu mir stehen?« »Wenn ein Mann mir eine Wunde an meinem Körper verbindet, muß ich ihn als meinen Freund betrachten. Und meist stehe ich zu meinen Freunden. Ist es mit dir auch so?« »Du solltest auf meine Freundschaft nicht allzu großes Vertrauen setzen. In der Arena lernt man, solche Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen«, erwiderte Phaedrus leichthin und barsch. »Den einzigen, den ich jemals als Freund betrachtete, habe ich getötet und dadurch mein hölzernes Schwert errungen.« Einen Augenblick lang blickten sie einander an. Dann sagte Conory: »Darauf will ich es ankommen lassen.« Sie gingen zum Lager zurück, die Arme einander leicht um die Schultern gelegt. Und dieses Mal war es nicht nur eine Szene für die Zuschauer. Die gestreifte Katze lief voraus, den Schwanz steil emporgereckt wie ein Banner. Gault und seine Begleiter waren soeben auf dem Sammelplatz eingeritten, als die beiden ins Lager zurückkehrten. Ziemlich spät in der Nacht kamen Cuirithir und eine Handvoll Reiter mit der Nachricht, daß Dergdian am folgenden Tag eintreffen würde. Keiner der Beteiligten hatte bei der Suche Erfolg gehabt. Später noch, als sie ihr mageres Mahl in verdrossenem Schweigen verzehrt hatten und die erschöpften Männer sich bereits in ihre Mäntel hüllten und hinter den aus Heidekraut errichteten Windschutz dicht am Feuer kauerten, sammelte Gault die Anführer um sich. Er ließ sie warten, bis ihm zu reden beliebte; dann blickte er von der Asche auf, in der er mit einem 135
Zweigstückchen herumgemalt hatte, und sagte unvermittelt: »Es bleiben uns zwei Monate, vielleicht auch drei, wenn der Frühling später kommt, aber sicher nicht mehr, um unsere Schwerter zu schärfen, ehe die Caledonier sich auf den Kriegspfad begeben. Es ist genug Zeit, aber keinesfalls mehr als genug. Je eher wir deshalb den König zum Krönungsstein führen, desto besser; denn wenn das geschehen ist« - und hier fuhren die gelben Wolfsaugen herum und sonderten Phaedrus von den übrigen ab, so daß Gaults Worte zum erstenmal direkt an ihn gerichtet waren -, »je eher das geschehen ist und er Prinzessin Murna zur Frau genommen hat, um so eher werden wir Zeit haben, an das Schärfen unserer Schwerter zu gehen.« Phaedrus war aufgesprungen, noch ehe die letzten Worte gesagt waren. »Die Prinzessin Murna?« Der Blick des anderen blieb fest. »Wen sonst?« »So war es nicht ausgemacht!« »Was heißt ausgemacht?« Gaults Stimme hatte den Klang von Eisen. »Wenn Liadhan nicht zu ihrer Verwandtschaft entkommen wäre, wäre die Sache vielleicht nicht so unbedingt nötig und zumindest nicht so dringend gewesen. Wie die Dinge aber liegen, mußt du die Königliche Tochter zur Frau nehmen, so wie dein Urahn die Königin der Epidaier nahm, damit die beiden Völker zu einem wurden. Du mußt sie nehmen, sobald du zum König gekrönt bist. Das kleine Dunkle Volk und alle, die ihre Gebete in erster Linie an die Erdgöttin richten, werden dich bereifwilliger anerkennen, wenn du deine Königswürde sowohl nach dem althergebrachten Recht als auch nach dem des Sonnenvolkes besitzt. Du mußt deinen Machtanspruch festigen, ehe es zu einem Aufstand kommen kann, der ihn wieder gefährdet.« In dem Dunkel, das in seinem Kopf herrschte, sah Phaedrus das weiße, maskenstarre Gesicht unter dem Kopfschmuck und den Blick jener Augen, den er nicht verstand. »Was geschieht, wenn ich ablehne?« fragte er mit belegter Stimme. Die düsteren Brauen zogen sich ein wenig in die Höhe. »Du wirst nicht ablehnen. Du bist der König!« 136
Phaedrus unternahm einen einzigen verzweifelten Versuch, den Blick der lohfarbenen Wolfsaugen niederzuzwingen, der nicht von seinem Gesicht weichen wollte; doch er war gefangen, und er wußte es. Er wußte zugleich, obwohl er innerlich dagegen wütete, daß er in diesem Wettstreit der Willen durch die Tatsache gehemmt wurde, daß er zu lange Sklave gewesen war, dazu erzogen, zu gehorchen wie ein lebloses Objekt, das kein Recht auf einen eigenen Willen hat. Diese Gewöhnung hatte in seinem Wesen Narben und schwache Stellen hinterlassen, die sich gleich alten Wunden immer dann lähmend bemerkbar machten, wenn man es am wenigsten erwartete. Er verkehrte das Ganze in einen unguten Scherz. »Gut, dann werde ich Liadhans Tochter zur Frau nehmen. Doch man sagt ja, die Tochter schlüge nach der Mutter. Versprecht ihr mir, nicht zuzulassen, daß sie mich nach sieben Wintersonnwendfeiern auffrißt und einen anderen König wählt?« Er wagte nicht, Conorys Augen zu begegnen, aus Furcht, daß er in ihnen Verachtung sehen würde oder, schlimmer noch, den Blick eines Mannes, der seinem Freund zuliebe Nachsicht übt.
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Der König wird gekrönt Phaedrus öffnete die Augen. Es herrschte undurchdringliche Finsternis. Er lag einige Zeit unbeweglich, während er zu ergründen versuchte, wo er sich befand, und sich zugleich anstrengte, rückschauend den abgrundtiefen Schlaf zu durchdringen, der wie ein Vorhang zwischen ihm und einer seltsamen, schattenhaften Halbwirklichkeit herabgefallen war. Drei Tage, hatten sie gesagt -irgend jemand hatte das gesagt —, drei Tage und drei Nächte währte es, ehe der Pferdekönig wieder ins Leben zurückkehrte. Doch ganz sicher mußte es länger gedauert haben - ganze Jahre mußten vergangen sein. Oder hatte es vielleicht niemals einen Anfang gegeben - und würde dies hier ohne Ende sein? Er fuhr mit einer plötzlichen panischen Bewegung auf; der Schmerz und die Steife in seinem Körper schienen jenes bedrückende Angstgefühl zu zerstreuen, das in ihm hatte aufsteigen wollen, so daß er sich nun erinnerte, wo er sich befand und was mit ihm geschah. Vorsichtig wandte er den Kopf und sah in geringer Entfernung die wenigen Glutreste eines erlöschenden Feuers. Es hatte schon viele Feuer in diesem Raum gegeben, wohin die Männer des kleinen Dunklen Volkes ihre toten Anführer getragen hatten, als sie noch die Herren des Landes waren; Phaedrus hatte die von diesen Feuern hinterlassenen dunklen Narben auf dem Boden und an der Deckenwand gesehen - ganz zu Anfang, als noch Fackeln da waren, in deren Licht man etwas erkennen konnte. Den Ort des Lebens - so nannten sie diesen Raum, wohin jetzt die Knaben zur geheimnisvollen Feier ihrer Mannwerdung kamen und wo der Pferdekönig drei Tage und Nächte unter den Toten liegend verbringen mußte. Er war in der Grabkammer nicht allein gewesen. Undeutlich konnte er sich jetzt des Kommens und Gehens der Sonnenpriester rings um sich entsinnen: schweigende Gestalten in Umhängen und Lendenschurzen aus Pferdehaut, die Köpfe bis auf den breiten Streifen Haar in der Mitte kahl. Er erinnerte sich der seltsam riechenden Krauter, die sie im Feuer verbrannt hatten, und des rituellen Gewebes aus Klängen und Schritten, das sie um ihn vollzogen hatten. Da waren 138
auch Träume gewesen, Träume, die aus dem Rauch des Feuers aufzusteigen schienen — das Gefühl, vier Beine und ein Herz aus Flammen zu besitzen und mit einer Herde gleichgearteter Vierbeiner im Donner der Hufe und mit himmelweit flatternden Mähnen und Schweifen davonzurasen, seltsame Träume von einer Freiheit, wie sie kein Sterblicher je gekannt hatte. Von neuem bewegte er behutsam und prüfend seine Glieder. Die von den neuen Tätowierungen herrührenden, schmerzenden Versteifungen an Brust und Schultern brachten ihn vollends und unvermittelt zu klarem Bewußtsein und zu der Überlegung, warum er, im Namen aller Götter, zu denen Menschen je gebetet haben mochten, in die Schlägerei an jenem Weinausschank geraten war. Warum hatte er nicht einfach sein Bündel geschultert und sich nach Süden aufgemacht in dem Augenblick, als die Tore der Gladiatorenschule sich hinter ihm geschlossen hatten? Er hätte jetzt in Lon-dinium sein können, vielleicht ein freier Ausbilder an einer anderen Schule, sein eigener Herr unter Menschen seiner Art. Und selbst als Gault auftauchte — warum hatte er nicht vorgegeben, einverstanden zu sein, und dann eine Gelegenheit abgewartet, um davonzurennen, als ob alle Ungeheuer des Tartarus hinter ihm her wären? Er kam zu dem Schluß, daß er wohl so sehr daran gewöhnt gewesen war, nicht über den nächsten Tag hinaus zu denken, daß in jenem Augenblick, als Gault und Sinnoch ihm das Vorhaben erklärten, und dann in der Zeit, als er mit Midir zusammen war, das Ganze ihm nur wie ein wildes Abenteuer erschienen war, auf das er da ausging. Er hatte nicht begriffen, daß er sich diesem Abenteuer für den Rest seines Lebens verschreiben mußte. Bis zum Ende seines Lebens war er nun Midir, der Pferdekönig, und wenn sein Ende herangekommen war, würde er an einem ganz ähnlichen Ort wie diesem niedergelegt werden - mit einem Schwert in der Hand und einem Krug Heidebier neben sich, das ihn auf der dunklen Reise erfreuen sollte. Unter einem Namen, der ihm nicht gehörte, würde ein Volk, das gleichfalls nicht das seine war, die Erinnerung an ihn pflegen. Aber war es inzwischen nicht Zeit, daß jemand kam? Wie lange sollte das hier noch dauern? Bald würden die letzten Glutreste des 139
Feuers verblassen und erlöschen ... Plötzlich legte sich die Finsternis auf ihn mit der vollen Wucht aufgehäuften Torfs und Gesteins, die ihn von der Welt der Lebendigen trennten; sie erstickte und umschloß ihn, sie preßte ihn aus seiner Existenz. Rings um ihn ertönte, schnell und immer schneller, dröhnendes Trommelgeräusch und ein seltsames tierisches Keuchen, das von unsichtbaren Wänden widerzuhallen schien. Er wurde sich nicht bewußt, daß er seinen eigenen Herzschlägen und den eigenen hastigen Atemzügen lauschte. Er warf die weiche Felldecke zurück, in die er gehüllt gewesen war, und richtete sich stöhnend, da jede steif gewordene Muskelfaser seines Körpers schmerzhaft protestierte, zuerst auf einen Ellbogen und dann in Sitzstellung auf. Weitab am Eingang zur Grabkammer regte es sich, und Fackelschein flackerte auf, als ob jemand, der dort Wache hielt, nur auf das Geräusch einer Bewegung gewartet hätte, um den anderen mitzuteilen, daß er erwacht sei. Gestalten kamen geduckt durch den niedrigen Erdgang herein. Nach dem langen Aufenthalt in der Dunkelheit traf Phaedrus das Licht der Fackeln, die sie bei sich trugen, wie ein Stich in die Augen und blendete ihn so stark, daß es einige Augenblicke dauerte, bis er erkennen konnte, daß der vorderste der Fackelträger Conory war - dieses eine Mal ohne seine Wildkatze -, gefolgt von zwei weiteren der Gefährten. »War es ein guter Schlaf?« stellte Conory die vom Ritus vorgeschriebene Frage. Und Phaedrus nahm seine ganze Geisteskraft zusammen, um die rituelle Antwort zu geben: »Es war ein guter Schlaf. Und ein gutes Erwachen.« Die Gefährten setzten ihre Fackeln in behelfsmäßige Ständer aus gekreuzten Speeren, die zu diesem Zweck an der Wand bereitgestanden hatten, und das aufwärts zuckende Licht übergoß die großen, nach innen gewölbten Steine mit honigfarbener Tönung, bis sie aufeinander zustrebend sich an der großen, vom Feuer geschwärzten Oberschwelle hoch über dem Raum trafen. Wie ein riesiger Bienenkorb, dachte Phaedrus plötzlich. Man konnte sich leicht vorstellen, wie dort oben wilde Bienen nisteten und die Grabkammer 140
mit ihrem tiefen Summen erfüllten .. . Ob wohl das Brustgerippe eines toten Häuptlings ein gutes Gerüst für eine Honigwabe abgab? »Zeit, sich fertigzumachen«, hörte er Conorys Stimme in sein Ohr flüstern. Also nahm er sich zusammen und brachte angestrengt seine Gedanken wieder in eine gewisse Ordnung. Es gab so vieles, was er jetzt gern gefragt hätte. So vieles konnte in diesen drei Tagen und Nächten geschehen sein, die er abgeschlossen von der Welt der Lebenden verbracht hatte. Er hätte gern gewußt, ob es irgendwelche Neuigkeiten über Liadhan gab und was mit jenen ihrer Priester, die in dem Kampf nicht den Tod gefunden hatten, geschehen war; wieviel Männer des Stammes auf beiden Seiten erschlagen worden waren und wie sich der Aufstand in den entfernter gelegenen Gebieten von Earra-Ghyl ausgewirkt hatte. Doch das alles mußte warten. Gault hatte ihn gründlich darauf gedrillt, wie er sich während dieser Zeit der Vorbereitung zu verhalten hatte. Und so trank er das dunkle, bitter schmeckende Gebräu, das Conory ihm in einem Bronzebecher reichte, und kam steif und linkisch auf die Füße. Der Boden schwankte und senkte sich unter ihm, bis das, was auch immer in jenem Trank enthalten war, seine Wirkung entfaltete und die Umgebung wieder ein wenig an Beständigkeit gewinnen ließ. So stand er da, um sich für die Königsweihe schmücken zu lassen; wie ein Opferbulle vor dem Abschlachten, dachte er und hatte einen Augenblick lang die verrückte Anwandlung, in Lachen auszubreiten. Schweigend kämmten Conory und die Gefährten sein Haar und banden es wie für einen Kampf mit Riemen zurück. Dann bekleideten sie ihn mit Kniehosen und einem Kittel, die sie mitgebracht hatten. Um den Hals legten sie ihm eine altehrwürdige, klirrende Kette aus Flußgold, Bernstein und Karneol und einen breiten Kragen aus Reiherfedern. Sie befestigten einen Dolch mit blattförmiger Klinge und goldenem Knauf an seiner Seite und streiften über jeden Arm ein Paar gewundener, bronzener Armreifen, die er schon gesehen zu haben glaubte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihm einfiel, wann und wo das gewesen war und daß es nicht die Armreifen allein gewesen waren; und dann, als er an sich hinabblickte, sah er den 141
dunklen, verklebten Fleck, wo Logiores Blut in die Reiherfedern gesickert war. Sie reichten ihm den Speer mit einem Koller aus schwarzem Pferdehaar. Und zuletzt setzten sie ihm den riesigen, mit Kamm und Mähne gezierten Kopfschmuck des Pferdekönigs aufs Haupt. Er spürte, wie die Kappe von den Brauen bis tief hinunter in den Nacken seinen Kopf umfaßte und wie die Seitenfransen mit den kleinen Goldplättchen gegen seine Wangen schlugen, so daß sie bei jeder Bewegung des Kopfes klirrten, er fühlte das schwere Schwanken des mächtigen, schwungvollen Pferdeschopfes und das Wehen der Mähne zwischen seinen Schultern und erinnerte sich, ehe sie endgültig in ein Nichts zerstoben, zum letztenmal jener Träume, in denen er vierbeinig inmitten der Pferdeherde über die Ebenen gerast war. Gefolgt von den drei Gefährten, lief er gebückt den gewölbten Gang hinunter, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um den mächtigen Haarkamm von der Deckenwölbung fernzuhalten, und stand dann aufrecht auf der Schwelle zwischen den gewaltigen Eingangspfosten. Darauf trat er vor in den flackernden Schein der Kienfackeln, wo die restliche Schar der Gefährten ihn erwartete. Jenseits dieser Pfosten im Vorhof wurden Pferde in der bitterkalten Nachtluft hin und her bewegt. Nach der ruhigen und schweren Luft der Grabkammer schien der leise winterliche Nachtwind seine Knochen geradezu zu durchdringen, und der Fackelschein war von Hagelgestöber gefleckt. Bei seinem Anblick erhoben die Krieger ein großes Lärmen, indem sie ihre Speere gegen die Ränder ihrer Schilde schlugen. Dann brachte ihm einer - Phaedrus sah, daß es der junge Brys war - ein rotes Pferd mit fahler Mähne und fahlem Schweif. Er schwang sich mit Hilfe seines Speeres hinauf und war auf und davon, während die anderen aufstiegen und ihm mit donnernden Hufen folgten - Conory nur eine knappe halbe Pferdelänge hinter ihm für den Fall, daß er irgendwann einmal des Weges nicht sicher sein sollte. Aus jeder der engen Seitenschluchten, die er auf dem Wege nach Süden passierte, aus jedem befestigten Gehöft und jedem Dorf inmitten der schneebedeckten Hochflächen schlössen sich ihnen berittene Männer an. Viele von ihnen trugen Fackeln, bis es 142
schließlich aussah, als sei die ganze Landschaft mit Flammen gefleckt. Es kamen Hirten in abgerissenen, wollenen Winterkleidern auf kleinen, sicher trabenden Bergponys und Männer in ihren besten Mänteln, die ihre kostbarsten Waffen mit sich führten; hier und dort eine Schar Reiter auf herrlichen Pferden mit arabischem Einschlag; einmal ein dicker Mann mit flamrnendrotem Bart auf einer Stute, der ein Fohlenpaar folgte. Es wurden mehr und mehr, bis Phaedrus sich an der Spitze einer feurigen Wolke von Berittenen sah, die die Wege durch die Schluchten zu matschigem Schlamm zerstampften. Und seine Ohren waren erfüllt von dem sanft rollenden Donner der Hufschläge und den kehligen Jubelschreien der Reiter. Es war Mitternacht gewesen, als sie sich zu jenem wilden Ritt aufgemacht hatten, und die Morgendämmerung war nicht mehr fern, als über die Marsdien hinweg Burg Monaidh in Sicht kam -ein mit Fackeln gekrönter, dunkler Koloß, der über dem halb getauten, halb gefrorenen, die großen Sumpfflädien des Mhoin Mhor scheckig bleich überdeckenden Schnee thronte. Bei diesem Anblick stießen die Männer laute Rufe aus, Fersen bohrten sich in die Flanken der Pferde, und die Massen ritten in dröhnendem Galopp voran, schwärmten zu beiden Seiten des krümmungsreichen Dammweges aus, wateten durch die gepflasterte Furt und schwenkten dann links ab, um den zum Festungshügel hinaufführenden Weg zu erreichen. Von der Burg her kam ihnen eine eilige Reiterschar entgegengesprengt, um sie am Fuße des Hügels zu empfangen; rings um Phaedrus erhob sich über dem Geräusch der Hufe lautes Geschrei. Im Fackelschein und den treibenden Hagelschauern wehten safrangelbe, schwarze und scharlachrote Mäntel, Waffen wurden emporgeschleudert und wieder aufgefangen. So setzte Phaedrus mit einer großen Schar von Reitern vor und hinter sich seinen Weg auf dem steiler werdenden Pfad fort und zog zum zweitenmal durch die Tore von Burg Monaidh ein. Vor dem hohen Malstein brachte er sein Pferd zum Stehen. Die Sonnenpriester standen bereit. Ihr Gesang erhob sich in die Blässe des anbrechenden Wintermorgens, ein volltönendes und lautes Flehen zu Lugh vom Glänzenden Speer. Versammelt waren auch die 143
Ältesten der Sippe, um ihn zu empfangen, als er sich von dem roten Pferd herabschwang. Der erste unter seinen Priestern war Tuathal der Weise in seinem Gewand aus Pferdefell, den Sonnenkranz aus Bernstein auf seiner Brust. Er trat vor und legte einen Dolch mit steinernem Griff und eigenartig blattförmiger Kupferklinge in Phaedrus' Hand. Eine Schar junger Krieger brachte den heiligen weißen Hengst herbei. Midir und später auch Gault hatten ihn darauf vorbereitet, daß er dies würde vollbringen müssen — die Opferung eines Pferdes vor dem Malstein des königlichen Hauses. »Ich bin weder ein Priester noch ein Schlächter«, hatte er ärgerlich erwidert. »Ich habe bisher Menschen, nie aber Pferde getötet; ich werde alles verpfuschen.« In dem Ton eines Mannes, der auf seine Befehle unbedingten Gehorsam erwartet, hatte Gault erwidert: »Du wirst nichts verpfuschen! Eine ungeschickte Tötung wird man als ein böses Omen ansehen, und an jenem Tage können wir kein böses Omen gebrauchen.« Und er verpfuschte nichts - oder jedenfalls nicht viel. Es war ein recht sauberes Töten, wenn auch das weiße Pferd, als es seinen Tod herannahen spürte, sich aufbäumte und trotzig wieherte wie ein Hengst in der Schlacht, während es an den Leinen zerrte und die Männer, die sie hielten, von einer Seite zur anderen schleuderte. Einen Augenblick lang ragte es über Phaedrus auf wie eine riesige Welle, ehe sie sich bricht — bereit, über ihn hereinzustürzen und ihn zu erdrücken. Doch dann gaben die mächtigen Schenkel nach, und das riesige Pferd stürzte zur Seite nieder, zuckte noch einmal im Krampf zusammen und lag dann still. Morgen würde es in der heiligen Pferdeherde einen neuen Königshengst geben. Der Geruch des Blutes vermischte sich mit dem Brandgeruch, der noch immer um das verkohlte Holz und das geschwärzte Dachstroh schwebte. Unter der wartenden Menge erhob sich großes Klagen. Der alte Hohepriester tauchte einen Finger in das Blut und machte damit ein Zeichen auf Phaedrus' Stirn über dem Mal des Pferdekönigs. Und das Klagen der Frauen wurde aufgefangen und übertönt durch ein triumphierendes Gebrüll der Männer, das wiederum wurde erstickt durch einen tiefdröhnenden, prachtvollen Klang, der jeglichen 144
Gedanken auszulöschen schien, als zwei Priester die mächtigen, gewundenen Bronzetrompeten des Sonnengottes ansetzten, die man auf Burg Monaidh seit sieben Jahren nicht mehr gehört hatte, und darauf bliesen. Die Fackeln waren erloschen, und das graue Licht der Morgendämmerung umgab sie von allen Seiten, als Phaedrus durch die Burganlage hinaufgeführt wurde. Voran gingen die Sonnenpriester, die Gefährten und die Sippenangehörigen, und ein Kometenschweif von Männern folgte nach, bis sie in den Hof gelangten, der als nächster direkt unterhalb der Burg lag, und wo aus dem natürlichen Gestein der Fels des Königsfußes herausragte - der Krönungsstein der Dalriaden. Dort mußten weitere Zeremonien erfüllt werden, doch waren sie kurz und rasch geschehen: Stutenmilch mußte aus einer abgestoßenen schwarzen Steingutschale getrunken werden, die außer bei der Königsweihe niemals benutzt wurde. Dann folgte eine rituelle Handund Fußwaschung in einer schüsseiförmigen Vertiefung, die sich im selben Fels wie der Königsstein befand. Mit kurzen, gespreizten Schritten vollzogen die Priester heilige Figuren, unterstützt durch Worte und Gesten, die wie ein Traum an Phaedrus vorbeiglitten. Man hatte das frisch abgezogene Fell des königlichen Pferdes herbeigebracht und breitete es über das Ende des Felsens, das sich gegenüber der schüsseiförmigen Vertiefung befand, aus, so daß es jenes Dritte überdeckte, das dort aus dem Gestein gehauen •war; den von den Kriegern geliebten wilden Eber. Noch immer trieben Hagelschloßen mit dem Wind einher, doch schon zeigte sich am Rand des östlichen Himmels der gelbe Streifen des beginnenden Sonnenaufgangs, als Phaedrus den Krönungsstein bestieg. Sein linker Fuß stand auf dem Fell des königlichen Pferdes, den rechten setzte er in den tief eingeschnittenen Fußabdruck, in den jeder Dalriadenkönig seit dem Zeitpunkt, als sie von Erin* her über das westliche Meer gekommen waren, seinen rechten Fuß gesetzt hatte. Und in eben diesem Augenblick fielen die ersten Sonnenstrahlen auf die schneegefüllten Mulden des fernen CruachanGebirges. 145
Gault brachte den Speer des Lugh herbei und gab ihm diesen in die Hand an Stelle des anderen, den er vom Ort des Lebens mitgebracht hatte. Conory befestigte die Schwertscheide des Königsschwertes an seinem Gürtel. Und nun lösten sie die Riemen des Pferdekopfschmuckes und hoben ihn ab. Tuathal, der Hohepriester, stand auf der Pferdehaut neben ihm und hielt einen schmalen Reif aus feurig glänzendem, blassem Gold hoch erhoben, der einen Augenblick lang im morgendlichen Licht weiß aufglänzte so wie die Blätter der Silberpappel, wenn sie an einem sonnigen Tag vom Wind bewegt werden. Phaedrus neigte den Kopf, um den Reif zu empfangen, und spürte, wie er ihm tief bis auf die Brauen gepreßt wurde. Wieder erschollen die bronzenen Trompeten; das tiefe, erderschütternde Dröhnen klang hinaus über Marschen, Hügel und Hochmoore, um irgendwo am äußeren Rand der Hörweite aufgenommen und weitergetragen zu werden und so Kunde zu geben von einem zum anderen Ende von Earra-Ghyl, daß es auf Burg Monaidh wieder einen Pferdekönig gab. * Irland
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Königsjagd Dieses Mal war es das Flackern eines Feuers, das Phaedrus weckte, ein Flackern, das er durch vom Schlaf noch halbverklebte Augenlider aufnahm, und dazu das milchige Silber des morgendlichen Himmels über dem Rauchfang im Dach des königlichen Gemaches. Einige Augenblicke lang lag er und schwelgte in einem Gefühl des Wohlbehagens, das ihn umgab. Alle schmerzende Steife und das bleierne Gewicht der Erschöpfung waren von der milden Flut des Schlafes hinweggespült. Doch gleich darauf senkte sich an deren Stelle allmählich ein Gewicht anderer Art auf ihn herab, als seine Erinnerung einsetzte. Gestern war es zum Pferdekönig gekrönt worden - doch heute war der Tag seiner Vermählung mit der königlichen Frau. Er öffnete die Augen und stützte sich mit einem Laut, der halb Stöhnen, halb Fluch war, auf einen Ellbogen; ein leises rhythmisches Geräusch, das fortwährend hörbar gewesen war, ohne daß er jedoch davon Notiz genommen! hatte, brach unvermittelt ab. Der junge Krieger Brys hockte an dem großen Feuer, das in der Mitte des weiten, quadratischen Raumes wärmespendend glühte, und blickte mit wachsamen Augen von dem großen Kampfspeer mit dem Koller aus schwarzen Pferdehaaren auf, den er über sein Knie gelegt und blank gerieben hatte. Phaedrus runzelte die Stirn und war sekundenlang bestürzt bei der Feststellung, daß er sich nicht allein im Raum befand. »Was — in Typhons Namen — suchst du hier?« »Ich habe dein Gerät und deine Waffen geputzt, während du schliefst, Herr. Gault hat mir geboten, zu kommen und dir zu dienen.« »Gault!« Irgend etwas in Phaedrus schien sich aufzubäumen. »Gault gebietet dies - Gault gebietet jenes, Gault wählt für mich den Waffenträger und selbst meine Frau ...« Beim Anblick von Brys' Gesicht hielt er inne und mäßigte seinen Ton ein wenig. »Du hast mir gut gedient. Der Speer da sieht aus, als wäre er erst heute morgen aus der Werkstatt des Waffenschmieds gekommen. Jetzt geh zurück zu deinem eigenen Herrn, und solltest du Gault unterwegs treffen, so sag 147
ihm, daß ich mich für seine Aufmerksamkeit bedanke, daß ich mir meinen Waffenträger aber selbst auswählen werde.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sagte Brys: »Mein eigener Herr ist tot.« Und plötzlich erinnerte sich Phaedrus an jene Stelle, wo der Quellbach der Festung durch den äußeren Wall hinausströmte, und daran, wie Brys die Fackel gehalten hatte, die den glänzenden Widerschein der Silberäpfel unter Wasser hervorgerufen hatte. Gault hatte gesagt: »Dein Herr Gallgoid«, und der junge Bursche hatte darauf geantwortet: »Mein Herr Gallgoid ist tot.« Phaedrus fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und versuchte, Klarheit für die Verwirrung zu finden, die noch immer über den Randereignissen jener Nacht lag. »Natürlich. Du bist ja - du mußt Gallgoids Waffenträger gewesen sein.« »Sein Waffenträger und Wagenlenker.« »Ich kann mir vorstellen, daß ein Wagenlenker von seiner Sache einiges verstehen muß, um Gallgoids Zufriedenheit zu gewinnen.« »Ich verstehe etwas davon«, erklärte Brys mit Überzeugung. »So - und bescheiden bist du noch dazu. Und jetzt willst du wohl bei mir dienen?« »Ich bin aus der Sippe«, erklärte der Junge stolz, um seinen Anspruch zu begründen. »Du wirst dich meiner nicht erinnern: Ich war gerade das erste Jahr im Haus der Knaben, als du - als das Schlimme passierte. Doch ich bin aus der Sippe.« »Gallgoid hatte, als er über einen Monat mit mir in der Höhle des Jägers war, niemand bei sich.« »Er ließ mich auf seiner Burg zurück, bis die Zeit herankam, mich ihm hier auf Burg Monaidh wieder anzuschließen. Es mußte jemand dasein, dem er trauen konnte, während er angeblich krank in seiner eigenen Burg lag.« »Und du warst derjenige, dem er trauen konnte.« »Niemand wußte, daß er nicht da war.« 148
Phaedrus betrachtete Brys mit neuen Augen, bemerkte jetzt das ordentliche, aufrechte Äußere des Jungen, den eigenwilligen Mund. »So, so - es könnte wohl sein, daß ich eines Tages jemand brauche, dem ich trauen kann ... Ich werde Gallgoids Wagenlenker übernehmen.« »Trotz Gaults des Starken?« sagte Brys langsam. »Trotz Gaults des Starken.« Plötzlich mußte Phaedrus lachen. »Wenn Gault mir heute morgen Cuchulain* selbst geschickt hätte, damit er mein Waffenträger sei und mein Gespann lenke, so hätte ich Cuchulain ins Gesicht gespuckt, wenn ich keine Gelegenheit gefunden hätte, es bei Gault selbst zu tun.« Dann, als das schüchterne Lächeln auf Brys' Gesicht sich ausweitete, setzte er hinzu: »Laß jetzt das Polieren und schau nach, ob du etwas zu essen für mich auftreiben kannst. Mein Magen klebt mir schon an der Wirbelsäule.« Der Fellvorhang vor dem Eingang war kaum hinter Brys gefallen, als draußen Stimmen laut wurden. Noch einmal wurden die schweren Falten beiseite geschoben, und Conory, um dessen Schultern sich Shän schmiegte, kam hereingeschlendert. »Möge es ein schöner und glückbringender Tag für dich sein«, sagte er liebenswürdig und stellte auf den niedrigen Schemel neben dem Feuer ein Spielbrett und ein geschnitztes Holzkästchen. »Da der Bräutigam nicht ausgehen darf, ehe man ihn zur Hochzeit holt, habe ich mir gedacht, daß vielleicht ein Spiel Fuchs und Gans helfen wird, die Zeit zu vertreiben.« In plötzlicher Heftigkeit schlug Phaedrus die Bettdecke zurück und setzte sich auf. »Conory, das ist doch Wahnsinn! Ich kann bei dieser Heirat nicht unerkannt davonkommen!« Conory saß auf den Fersen und hatte das Spielkästchen zur Hand genommen, um es zu öffnen. »Midir, mir will scheinen, daß du keine andere Wahl hast.« »Sie wird es merken!« »Sprich leiser - du hast draußen eine königliche Leibwache stehen. Komm - leg dir diesen Mantel um und setz dich ans Feuer.« 149
»Tod und Verderben!« fluchte Phaedrus, doch er nahm den schweren, safrangelben Mantel auf, der unordentlich auf der Bettstatt lag, und streifte ihn sich über das leichte Untergewand, das alles war, was er trug. Dann trat er näher, um sich ans Feuer zu hocken, und blickte Conory über das bunte Brett hinweg an. Der hatte schon begonnen, die Figuren aus rotem Bernstein und Narwalelfenbein aufzustellen. »Sie wird es merken!« wiederholte er verzweifelt. * Irischer Sagenheld, der allein die Provinz Ulster gegen das übrige Irland verteidigte »Sie wird es nicht merken. Sie war erst zehn oder elf Sommer alt, als das alles geschah. Ein Kind, das kaum mit seiner Waffenübung begonnen haben konnte.« (Phaedrus schien es immer noch seltsam, daß die Frauen der nördlichen Stämme an der Ausbildung der jungen Krieger teilnahmen und den Umgang mit dem Wurfspeer ebenso übten wie den mit der Spindel, und unbewußt runzelte er bei diesem Gedanken die Stirn.) »Du hast in dieser Hinsicht nichts zu fürchten. Sie wird das veränderte Gleichgewicht der Schwertklinge nicht bemerken.« Phaedrus hatte gerade zu weiterem wütenden Protest Atem geholt, denn es schien ihm entsetzlich, nicht nur in bezug auf sich selbst, sondern auch auf Midir, daß er die Tochter der Wölfin zur Frau nehmen sollte. Doch in diesem Augenblick erschien Brys — einen Bierkrug in der einen und eine mit kaltem Schweinefleisch und Gerstenbrot vollgehäufte Schale in der anderen Hand -, und so blieb der Protest unausgesprochen. Statt dessen wandte sich Phaedrus, während sie miteinander schmausten - denn Brys hatte mehr als reichlich für zwei gebracht -, den Fragen zu, die er schon am Tag zuvor hatte stellen wollen. Und Conory antwortete ihm, so gut er konnte; Shan, die von seiner Schulter sprang, stürzte sich auf ein Stück fettes Fleisch, das er ihr neben das Feuer geworfen hatte, spielte damit und mißhandelte es, bis sie des Spiels überdrüssig wurde und mit steil erhobenem Schwanz auf der Suche nach besseren Jagdobjekten nach draußen stolzierte. Als sie mit dem Essen fertig waren, war auch alles berichtet: die Zahl der Toten und wie viele Frauen darunter waren; der Erfolg des 150
Aufstandes, der sich wie ein Heidefeuer über Earra-Ghyl ausgebreitet und die Dalriaden von der finsteren Knechtschaft befreit hatte, in der sie sieben Jahre lang gefangen gewesen waren; und schließlich die Flucht Liadhans mit jenen Priestern, die in dem Kampf am Leben geblieben waren. »Jetzt wird es wieder an den Frauen sein, die Mysterien für Mutter Erde zu feiern, wie sie es immer getan haben«, sagte Conory. »Diese Furien!« Phaedrus schauderte es leicht, als er an die Frauen mit ihren Messern und den reißenden Krallen dachte, in deren Mitte Conory und er selbst um ihr Leben gekämpft hatten. Conory warf einen raschen warnenden Blick in Brys' Richtung, der bereitstand, um Schale und Bierkrug wieder entgegenzunehmen, »Kannst du dich erinnern, sie je so gesehen zu haben - es sei denn, ein Mann dränge bei den Mysterien der Frauen ein? Und jeder Mann, der das tut, hat sich die Unbill, die ihm widerfährt, selbst zuzuschreiben, genau wie eine Frau, die bei den Weihezeremonien der Knaben heimlich zuschaut. Nein, nein, jene Nacht war Liadhans Schuld - der Tanz in der Halle ebenso wie der Flötenzauber der Priester.« Brys war mit der leeren Schale hinausgegangen. Phaedrus, der ihm nachblickte, hatte den Kopf voll von allem, worüber sie gesprochen hatten. Er stellte fest, daß seine Gedanken einen Augenblick lang auf Abwege geraten waren und kam zu dem Ergebnis, daß Prinzessin Murna kaum ein Jahr älter sein konnte als Brys. In diesem einen kurzen Augenblick dachte er an sie als Menschen und fragte sich, wie es ihr seit Liadhans Flucht ergangen sein mochte, wo man sie wohl gefangenhielt, und ob sie an diesem Morgen auch mit einem bleiernen Gewicht auf dem Herzen erwacht war - wenn sie überhaupt geschlafen hatte. »Sollen wir beginnen?« fragte da Conory. »Bernstein hat den ersten Zug.« Sie spielten drei Spiele, und Conory gewann sie alle. »Wenn du schon meine Königswürde hast«, sagte er, als er beim drittenmal den gewinnbringenden Zug ausführte, »ist es nur recht und billig, daß ich beim Spielen gewinne.« 151
Gelächter tönte vom Eingang her, und aufblickend gewahrte Phaedrus, daß einige von den Gefährten eingetreten waren und um ihn herumstanden, um den Ausgang des Spieles zu beobachten. Gestern noch waren es nicht viel mehr als fremde Gesichter und zufällig gehörte Namen gewesen - diese Männer, die zusammen mit Midir Knaben gewesen waren. Doch jetzt, nach dem wilden Ritt, an dem sie teilgenommen hatten, und nach dem Fest der letzten Nacht, das sie gemeinsam gefeiert hatten, waren Gesichter und Namen allmählich miteinander verschmolzen. Da war der hagere, sommersprossige Loarne und Diamid mit den düsteren Augen und den dämonisch geschwungenen Brauen, Comgal sowie Domingart, die zwei Brüder, von denen man selten einen ohne den anderen sah. Dann der kleine Dunkle, der vermutlich ein wenig Blut von den Erdanbetern in sich hatte und den sie Baruch die Ringelnatter nannten. Und ohne daß er sich dessen bewußt wurde, begann Phaedrus sie gerne zu sehen. »Möge der Tag dir Glück bringen«, sagte Diamid, »und möge alles Unheil, das er mit sich bringt, dort auf jenem Spielbrett geblieben sein.« »Fuchs und Gans war niemals dein Spiel, Herr Midir.« Domin-gart schüttelte bedauernd den Kopf, während er das Brett betrachtete, ehe Conory begann, die Figuren einzusammeln. »Und das scheint noch immer so zu sein.« »Ich bin sieben Jahre aus der Übung«, wandte Phaedrus ein. Diese Ausrede war unwiderlegbar. Hinter den Gefährten war Brys eingetreten. Er begann, vielfarbige Kleidungsstücke aus der großen geschnitzten Truhe zu nehmen, die an der gegenüberliegenden Wand stand. Des Königs Waffenträger zu sein, erfüllte ihn mit ernstem Stolz, und Phaedrus dachte bei sich, daß Brys, hätte er einen Schwanz wie ein Hund, nun sicher gravitätisch damit hin und her wedeln würde. Es war an der Zeit, sich fertigzumachen. Phaedrus warf den safrangelben Mantel ab, sprang auf und stand für sie bereit.
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Als er von neuem in das rituelle Gewand des Pferdekönigs gekleidet war, von den Schuhen an seinen Füßen bis hinauf zu dem riesigen Pferdekopfschmuck, den sie aus der Hütte, wo die Priester die heiligen Dinge verwahrten, herbeigebracht hatten, ging er mit den Gefährten hinaus in den Hof der Pferde, der neben dem Hof des Königsfußes lag. Dort standen die Pferde für sie bereit. Sie stiegen auf und ritten hinunter in den großen Vorhof. Hier ging es bereits lebhaft zu. Die Menschenmenge wurde größer und größer, da immer neue Zuschauer aus allen Winkeln von Burg Monaidh herbeiströmten. Unter ihnen befanden sich nur wenig Frauen, denn jene versammelten sich zum größten Teil im Königshof. Ein Zuruf begrüßte Phaedrus, als er im Kreise seiner Gefährten einritt. Sie wurden von dem allgemeinen Strom ergriffen und mitgezogen bis hinüber zu der Toröffnung, die in den Hof des Königsfußes und von dort aus in die Burg selbst führte. »Der König reitet zur Jagd!« Irgend jemand hatte den Ruf ausgestoßen. Er durchlief die große Versammlung und wurde von einem bis zum anderen Ende der Burg weitergegeben. »Der König reitet zur Jagd!« und dann: »Wer reitet mit dem König?« Conory und die Gefährten riefen die Antwort: »Wir reiten mit dem König!« Sie waren jetzt dicht vor dem inneren Tor - drängend und von anderen gedrängt. Die Pferde stampften und schnaubten, und aus ihren Nüstern kamen dichte Wolken von Atem. Dunkel schimmerten im grauen Licht des Wintertages, der seinen Höhepunkt schon weit überschritten hatte, die farbigen Mäntel und die gefransten Reitdecken, die glänzende Bronze an Broschen und Zaumzeug. »Welche Beute jagt der König? Welche Beute jagt der König?« Einen Augenblick lang kam keine Antwort. Die Menge war stumm geworden und blickte auf das Tor. Dann erhob sich aus dem letzten inneren Ring der Umwallung das leise Jammern der Frauen, die vom Ritus vorgeschriebene Klage um ein Mädchen, das gegen seinen 153
Willen aus ihrer Mitte gerissen wird. Phaedrus, auf seinem roten Pferd mit der fahlen Mähne, übersah Gaults düsteres Gesicht unter den Edlen in der vordersten Linie der Menge und blickte unter seinen roten Brauen seitwärts auf Conory. Er bemerkte, daß Conory belustigt und mehr noch höflich interessiert dreinblickte und hätte ihn dafür schlagen mögen. Unter den wartenden Stammesleuten entstand eine leichte Unruhe, und dann wurde das dürre Dornengestrüpp beiseite gezogen, das das innere Tor versperrte. Phaedrus gewahrte im Inneren des Hofes eine gewisse Bewegung und aufleuchtende Farben; dann schritt Prinzessin Murna langsam durch das Tor, begleitet von Frauen der Sippe, die zu ihren Seiten und in ihrem Gefolge gingen. Sie blickte weder nach rechts noch nach links, während sie vorwärts schritt hinunter in den Hof des Königsfußes und hinaus in den weiträumigen Vorhof. Hoch erhoben hielt sie den Kopf, und das weiche, widerspenstige Haar, dessen Flechten gelöst waren und das nach vorn über ihre Schultern fiel, ergoß sich in dichten Massen aus Taubengold hinunter auf das Oberteil ihres vielfarbigen Gewandes. Das letztemal, als Phaedrus sie gesehen hatte, hatte sie den silbernen Kopfschmuck getragen; jetzt war sie nur mit einem schmalen Kopfband aus rotem Stoff geschmückt, das von glänzenden Drähten umwunden und mit Gold- und Korallenscheiben behangen war. Ihr Gesicht war mit einer Maske aus rotem Stutenfeil bedeckt, die ihr das Aussehen eines nicht zu der Welt der Menschen gehörenden Wesens gab, so daß Phaedrus bei ihrem Anblick fühlte, wie sich seine Nackenhaut prickelnd zusammenzog. »Welches Wild jagt der König?« riefen die Männer von neuem, und die Frauen schleuderten ihnen die Antwort entgegen: »Ein königliches Wild! Ein königliches Wild jagt der König!« Unten am Ende des äußeren Hofes, wo die hölzernen Tore offenstanden, hatten zwei Männer eben eine gefranste Reitdecke über den Rücken einer jungen Stute geworfen. Das Pferd sieht aus, als ob es an diesem Tage schon einmal geritten worden wäre, dachte Phaedrus, als er es hinter dem Malstein sah. Er sprach es Conory gegenüber aus, und der antwortete mit freundlichem Lächeln: »Es wäre traurig, wenn das Wild dem Jäger davonlaufen würde.« 154
Die Prinzessin befand sich jetzt ganz in seiner Nähe. Einmal wandte sie im Vorübergehen den Kopf, und er bemerkte den unruhigen Blick hinter den Sehschlitzen der Maske. Die Männer wichen zur Seite, um ihr Platz zu machen, bis sie das Tor und die dort wartende schwarze Stute erreichte. In diesem Augenblick schien sie zum Leben zu erwachen, sie raffte eine weite Falte ihres Rockes hoch, zog sie durch den Gürtel und sprang wie ein Knabe auf. Ein seltsam hoher Schrei, ähnlich dem eines Wasservogels, schallte zu ihnen herüber, während sie die Stute auf das Tor zu lenkte und mit einem scharfen Schlag der Reitpeitsche aus dem Stand in leichten Galopp versetzte. Sie war zum Tor hinausgeritten, und durch den Gesang der Priester, die zu Lugh vom Glänzenden Speer flehten, hörten sie das sich ins Freie hinaus entfernende Hufgetrappel, welches in den trommelnden Rhythmus eines vollen Galopps überging. Vor seinem geistigen Auge sah Phaedrus den steilen, felsigen Pfad, der zu den Marschen hinunterführte - sie ritt auf ihm entlang, als wäre er ein ebener Waffenübungsplatz. Seine Hand krampfte sich um die Reitpeitsche aus grüner Esche, und unbewußt mußte er die Knie gegen den Pferdeleib gepreßt haben. Der rote Hengst unter ihm wurde lebhaft und stieg; doch schon schnellte Conorys Finger warnend an seinem Reitzügel hoch: »Noch nicht.« Ringsum wurde allgemein gelacht: »Seht nur, wie ungeduldig er ist! Das wird eine herrliche, wilde Jagd!« Das Dröhnen der Hufschläge klang nun schon ganz schwach und verlor sich fast völlig. Der Gesang der Priester endete mit einem letzten, langen und klangvollen Ton, und von neuem schnippte der Finger an Conorys Reitzügel. Phaedrus hob das kleine, bronzegefaßte Jagdhorn, das am Brustriemen seines Hengstes hing, setzte es an den Mund und ließ den Echoruf erschallen; dann, während die Töne noch in der winterlichen Luft hingen, stieß er nun seinerseits dem roten Hengst die Fersen in die Flanken, so daß dieser aus dem Stand in leichten Galopp fiel. Die Gefährten hielten sich dicht hinter ihm, Conory wie gewöhnlich zu seiner Rechten, während er bergab auf das große Tor zuritt. Hinter sich hörte er Rufe: »Gute Jagd!«, wobei 155
Gaults dröhnendes Brüllen alle anderen Stimmen übertönte. »Gute Jagd - Midir, König der Dalriaden!« Sie waren zum Tor hinaus und über die Brücke des Wallgrabens geritten. Vor ihnen fiel der Pfad zu den Sumpfgebieten ab. Einen Augenblick lang war von Pferd und Reiterin nichts zu sehen. Dann wies Conory die Richtung. »Dort reitet sie!« Und weit entfernt, nach Norden zu, entdeckte Phaedrus die flüchtende Gestalt, die allmählich schon mit dem trostlosen Gelb und Grau der Marschen verschmolz. »Es wird nicht leicht sein, ihr zu folgen, wenn das Tageslicht erst zu schwinden beginnt.« Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nahmen sie den vom Burghügel herunterführenden steilen Pfad; an den zur Festung gehörenden Weiden, auf denen verstreut die einjährigen Fohlen grasten, donnerten sie vorbei, die Fersen in die Flanken der Pferde gepreßt, und hinaus in die weite Leere von Mhoin Mhor. Wie eine Schar wilder Gänse, die hintereinander über den Winterhimmel fliegen, bildeten die Gefährten eine Kette. Der rote Hengst streckte schnaubend den Hals, und der von seinen Nüstern stiebende Schaum flog Phaedrus gegen Brust und Schenkel. Die fahle Mähne flatterte zurück über seine Hand, die den Zügel hielt, während das Land unter den dröhnenden Hufen hinwegglitt. Erregung wurde in allen Reitern wach; Gelächter und Jagdschreie brandeten unter den ihm folgenden Männern auf. Er vermutete, daß die Flucht des Mädchens ebenso wie das Klagen der Frauen normalerweise nur Schein waren. Doch hier verhielt es sich anders; wenn er Prinzessin Murna fangen wollte, dann würde er sie in allem Ernst jagen müssen. Und Mitleid regte sich in ihm - nicht für sie, die Tochter der Wölfin, sondern für die müde Stute, die sie ritt. Der Pfad verließ jetzt die weite Fläche von Mhoin Mhor und führte bergan. Die Jagdbeute wandte sich seitwärts und ritt nach Nordosten auf die Berge zu, die sich rings um die obere Rundung des Abha-Sees erhoben. Und die wilde Jagd raste hinter ihr her, Hufe trommelten über die schwärzliche Heide, wichen kleinen Tümpeln aus, die den schwertgrauen Himmel widerspiegelten, und scheuchten den grünen Regenpfeifer aus grasbewachsenen Lichtungen auf. Weit drüben im 156
Westen rissen die Wolken auf, als sie hinauf in die Berge ritten; ein Streifen dunstigen, gelben Lichtes breitete sich jenseits der Insel aus und warf einen öligen Glanz über die unheimlich strudelnden Gewässer des alten Weibes, das Schiffe verschlingt. In weiter Ferne, nach Norden zu, fingen die hochgelegenen Schneematten des Cruachan den abendlichen Glanz auf und leuchteten in mattem Weiß gegen die dahinterstehenden Sturmwolken. Doch jetzt ging die Jagd mit dem Sonnenuntergang im Rücken weiter, und plötzlich stieß Conory einen erschrockenen Fluch aus. Er zwang sein Pferd auf gleiche Höhe mit dem von Phaedrus und rief diesem zu: »Bei der Schwarzen Göttin - sie versucht die königlichen Wasser und Caledonien zu erreichen!« Die Worte wurden von erregtem Stimmengewirr in ihrem Rücken aufgenommen und vom einen zum anderen getragen. »Die Füchsin!« sagte Phaedrus und lachte. »Du sagtest, es wäre traurig, wenn die Beute dem Jäger davonliefe. Die heißen Strahlen der Sonne mögen für alle Zeit auf die Schultern desjenigen brennen, der die Stute heute geritten hat!« Danach wurde es eine tödlich ernste Jagd, und mit einem Zuruf an die anderen duckte sich Phaedrus tiefer herab, stieß die Fersen in die Flanken des Hengstes und bereitete sich auf einen Ritt vor, wie er ihn nie zuvor in seinem Leben unternommen hatte. Der Boden wurde allmählich unwegsam; bald war da ein Gewirr flacher, enger, bewaldeter Gräben, bald Gestrüpp aus Brombeerranken, Heidelbeergesträuch und dichtem Wacholder auf den dazwischenliegenden Bergrücken. Und einmal glaubten sie, das Mädchen aus den Augen verloren zu haben, bis Baruch die Ringelnatter über die Schlucht wies und dabei schrie: »Dort reitet sie!« - Auf dem Kamm eines fernen Bergrückens hoben sich einen Augenblick lang die Umrisse des fliehenden Pferdes und der Reiterin ab. Sie wendeten die Pferde und galoppierten bergab hinter ihr her, durchquerten den zwischen schneebedeckten Ufern liegenden kleinen Bach und ritten auf dem kürzesten Weg den gegenüberliegenden Berg hinauf. Als sie den Kamm erreichten, war Murna nirgends zu sehen; doch wenige 157
Augenblicke später kam sie wieder in Sicht, als sie eben die Schlucht zu den Hochmoorflächen hinaufritt. Sie war in dem Bemühen, die Verfolger von ihrer Spur abzuschütteln, nach Norden abgeschwenkt und hatte vielleicht darauf vertraut, daß das schwindende Tageslicht sie deckte. Aber es herrschte doch noch zuviel Helligkeit, und da sie nach Norden abgebogen war, hatte sie die Furt versäumt, die sich ein Stück weiter stromabwärts befand. Mit einem allmählich müde werdenden Pferd und wild fließendem Wasser zwischen sich und dem weiteren Fluchtweg hatte sie sich nun auseinanderzusetzen. Conory ritt den anderen ein kleines Stück voraus und war fast auf gleicher Höhe mit Phaedrus. Er beugte sich zu ihm hinüber und sagte rasch: »Es ist sieben Jahre her, seit du in diesen Bergen warst. Erlaubst du, daß ich die Befehle gebe?« Phaedrus nickte, und Conory blieb ein wenig zurück, während er über die Schulter hinweg der nachfolgenden Reiterschar zurief: »Die Stute wird jetzt zunehmend matter, und wenn wir sie noch eine kleine Weile im Blick behalten, haben wir sie! Baruch, Finn und Domingart ihr reitet am besten von uns allen. Zurück zur Furt mit euch, und kommt auf der gegenüberliegenden Seite herauf! Wenn ihr das obere Ende der Schlucht vor ihr erreichen solltet, könnt ihr sie zum Wenden bringen, während wir dafür sorgen, daß sie uns auf dieser Seite nicht davonkommt! Wir werden sie haben, ehe die Dämmerung in die Nacht übergeht!« Die drei jungen Männer wendeten ihre Pferde und verschwanden, während der größte Teil der Jäger weiter auf das verzweifelte, ermattende Wild vorstieß. Doch bald darauf erschienen sie wieder und zeigten sich mit voller Absicht am Horizont - in raschem Ritt dahinstürmend wie der Westwind. Phaedrus sah die schwarze Stute zur Seite schrecken, als wenn die Hand, die ihren Zügel hielt, ungewollt das Gebißstück angezogen hätte. Die Reiterin warf einen Blick über ihre Schulter; fast glaubte er die verzweifelten Sekunden der Unschlüssigkeit nachzuempfinden - da schwenkte sie herum und wandte sich wieder nach Westen dem noch freien Berghang zu. 158
Es war jetzt eigentlich keine richtige Jagd mehr, sondern ähnelte dem Einkreisen eines entlaufenen Füllens. Die Gefährten waren nicht nur hinter ihr, sondern kletterten auch zu beiden Seiten den Hang empor, wodurch sie gezwungen wurde, auf dem Weg zurückzureiten, den sie gekommen war. Das Tageslicht nahm rasch ab, während sie von den Bergen hinunter in tiefer gelegenes Land ritten. Was an Helligkeit noch übrigblieb, lag über den weiten Flächen von Mhoin Mhor, die sich grau und schwarzbraun in fahler Öde zum Meer hin erstreckten. Doch zur Linken, am Fuß der Berge, konnte die zunehmende Dämmerung noch nicht völlig jenen Landstrich verhüllen, der sich als einziger durch lebhafte Färbung aus dem Winterabend hervorhob - zwischen halbgetauten Schneeinseln leuchtete das giftige Grün des Sumpfes auf. Die Entfernung zwischen ihnen und der wilden Reiterin verminderte sich ständig, weil die Stute trotz aller tapferen Versuche beim Galopp ins Wanken geriet und fast völlig verausgabt war. Da warf das Mädchen hastig einen weiteren Blick hinter sich, als wollte es die Entfernung abschätzen, die noch zu seinen Gunsten blieb, und ließ dann die Stute, nachdem es sie in der eigenen Spur herumgeschwenkt hatte, hinunter in das Haselgehölz tauchen, das im Süden in jenes grünschimmernde Dunkel einmündete. »Bei Tyrs Donner!« schrie Conory. »Sie reitet direkt auf den Sumpf zu!« Sie würde also auch vor diesem letzten, schrecklichen Ausweg nicht zurückweichen. Sie galoppierten hinter ihr her, die Köpfe wegen der peitschenden Haselzweige tief geduckt. Vor ihnen lag ruhig und voll tödlicher Drohung der Sumpf. Das Mädchen ritt geradewegs darauf zu, saß tief über den mühsam gestreckten Nacken der Stute gebeugt und trommelte mit den Fersen in die armen, schwer arbeitenden Flanken. Es trieb das Pferd mit ermutigenden und kosenden Zurufen an, seine Stimme tönte bis zu ihnen zurück; Phaedrus, der selbst die Fersen in die Flanken des eigenen Pferdes bohrte, hatte mit dem roten Hengst einen Vorsprung vor den übrigen Reitern gewinnen können; er ritt einen Bogen, um dem 159
Mädchen den Weg abzuschneiden, wie die Viehtreiber es zu tun pflegen, wenn sie ein ausgebrochenes Tier zum Umkehren bringen wollen. Die Brocken weicher, schwarzer Erde, die die Hufe der Stute aufwirbelten, flogen an ihm vorbei. Hinter sich hörte er die gedämpften Hufschläge der reitenden Gefährten, vor sich und zur Rechten sah er die Stute, die lahmte und schwankte. Und das im abendlichen Licht fahle Grün des Sumpfes kam näher und immer näher. Der kalte, erdige Geruch hüllte sie ringsum ein. Nur noch wenige Augenblicke, und sie würden ihn erreicht haben ... Rufen war sinnlos. In seiner Verzweiflung schleuderte Phaedrus die Reitpeitsche wirbelnd wie einen Dolch nach vorn, sah sie in hohem Bogen an der Stute vorbeifliegen und direkt vor ihr zur Linken in die Sumpfmyrte fallen. Das immerhin war ein nutzbringender Trick, den er in der Gladiatorenschule gelernt hatte. Erschreckt und schwankend sprang das Pferd zur Seite und raste weiter - doch nun nicht mehr direkt auf den Saum des Sumpfes zu. Jetzt war das Maul des roten Hengstes fast auf gleicher Höhe mit dem dunkel wehenden Schweif der Stute, während die Prinzessin darum kämpfte, ihr Pferd wieder zu jener wartenden grünen Fläche zurückzulenken, die sich jetzt in gefährlicher Nähe befand. Doch die Stute war fast am Ende ihrer Kraft; und Phaedrus drückte die Knie einwärts und trieb den Hengst brüllend an, bis die Pferde Nacken an Nacken waren. Nur noch wenige Schritte, und der Boden wurde mit jedem Huf schlag weicher; Phaedrus schwenkte herum und rammte die schwarze Stute mit Absicht an der Flanke, wodurch er sie fast zu Fall brachte. Sie wieherte vor Angst auf und schlug aus; doch der Zusammenprall hatte sie in ihrer Fährte herumgeworfen — weg von dem tödlichen Rand. Im gleichen Augenblick spürte Phaedrus, wie sein eigenes Pferd unter ihm ausrutschte, als einer der großen, runden Hufe in den schwarzen, zitternden Morast unter der grünen Oberfläche einsank. Einige lang währende, angstvolle Sekunden schwankte der rote Hengst an der Kante, und es schien, daß sie im nächsten Moment im Sumpf stecken würden. Doch seine eigene Geschwindigkeit trug ihn weiter, und der nächste fliegende Schritt brachte wieder haltgewährende Myrtenbüschel unter seine Hufe. 160
Das Mädchen hatte sich mit einem Wutschrei umgewandt und ihm mit seiner Reitpeitsche über das Gesicht geschlagen. Doch er hatte Murnas Zügel in der Hand, und in gefährlicher Verkettung rasten sie miteinander am Rande des Sumpfes entlang, bewegten sich fortwährend zwischen festem Grund und nachgebendem Moor voran und entfernten sich doch ständig von dem fahlen Grün der gierigen Sumpffläche. Und dann - mit einem Laut, der zwischen Schluchzen und Lachen lag - hatte Phaedrus einen Arm um Prinzessin Murna gelegt und sie auf den Widerrist des roten Hengstes herübergezogen. Von ihrer Last befreit, sprang die wild um sich blickende Stute davon und raste in der Fährte zurück auf das Bergland zu, während zwei der Gefährten sie verfolgten. Und Phaedrus, noch immer in vollem Galopp reitend, hielt die königliche Frau mit dem freien Arm an sich gepreßt, während sie darum kämpfte, sich zu befreien und abzuspringen. Dann, als sie von dem wilden Galopp in Trab übergingen, schien aller Kampfgeist sie verlassen zu haben. Phaedrus machte seine Hand frei - er lenkte den keuchenden Hengst jetzt nur mit den Schenkeln und griff nach der Maske aus rotem Stutenfell. Einen winzigen Augenblick lang, während seine Hand die haarige Oberfläche des Fells berührte, fragte er sich, ob es wieder der gleiche Trick wie mit dem Kopfschmuck war und ob das darunter befindliche Gesicht gar nicht das von Murna sein würde. Mit leisem Erschauern zwischen den Schulterblättern erwog er, ob überhaupt ein menschliches Gesicht darunter sein mochte oder vielleicht etwas anderes, etwas, das zu erblicken nicht gut sein würde ... Dann zog er die Maske herunter und warf sie hinter sich zwischen die nachfolgenden Reiter. Es war Murnas Gesicht, das zu ihm aufblickte, grauweiß und in gewisser Weise wie zerfetzt, so als ob er mit der Brautmaske etwas anderes, irgendeine innere Abwehr, abgerissen hätte, ohne die sie nun nackt und verängstigt war. Und jenen einen Augenblick konnte er trotz der Dämmerung ihr wahres Gesicht erblicken anstatt jener Maske, die sich ihm sonst nur darbot. Noch immer wegen der Nähe des Sumpfes von ein wenig unguten Gefühlen 161
bedrängt, lachte er in plötzlichem Triumphgefühl auf, neigte den Kopf und küßte sie. Völlig überraschend schmiegte sie sich an ihn und küßte ihn wieder. Doch während sie das tat, spürte er ihre Hand, die sich leicht wie ein Blatt, doch nicht leicht genug, hervorstahl und nach dem Dolch in seinem Gürtel tastete. Seine eigene Hand fuhr herunter und packte ihr Handgelenk, entwand die Waffe ihrem Griff, noch ehe sie sie fest hatte umschließen können, und schleuderte sie wirbelnd in einen Ginsterstrauch. »Nur sachte, Liebling! Vielleicht werden wir besser miteinander auskommen, wenn wir beide ohne Waffen sind«, sagte er mit drohender Freundlichkeit. Sie konnte keine andere Waffe bei sich haben, sonst hätte sie nicht nach seinem Dolch gegriffen. Sie stieß einen scharfen Schrei hilfloser Wut aus und wurde zu einem so starren und abwesenden Gebilde wie jene Baumwurzeln, die, zu menschlichem Aussehen verzaubert, dem Sonnenvolk von den Bergbewohnern manchmal an Stelle eines geraubten Kindes hinterlassen wurden. Und doch war es merkwürdig, Phaedrus wußte ohne jeden Zweifel, daß ihr Kuß ebenso wirklich gewesen war wie ihre Hand, die seinen Dolch gesucht hatte. Lange nach Einbruch der völligen Dunkelheit kehrten sie zur Burg zurück; und auf der ganzen Länge des steilen Pfades, dazu noch in hellen Scharen an den Toren, warteten die Krieger mit Kienfackeln in den Händen, so daß sie durch eine verzerrte Prachtstraße aus Lichterglanz einritten: Mi dir von den Dalriaden mit der königlichen Frau, die überwältigt und gefangen quer vor ihm auf dem Pferd saß; danach in ihrem Gefolge die Gefährten, unter ihnen Conory, der die Maske aus rotem Stutenfell triumphierend auf der Spitze seines Speers hoch vor sich her trug, als ob sie eine Trophäe wäre. Der König war von seiner Jagd heimgekehrt.
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Goldgefleckte Zauberfeder Wenn es darum ging, eine Weile für sich allein herumzustreifen, dann befand sich der König der Dalriaden, das mußte Phaedrus feststellen, in sehr ähnlicher Lage wie ein Gladiator, dem man den Ausgang in die Stadt gesperrt hat. Die ganzen zwei Tage, die sie hier oben in den Bergen auf dem Pferdedressurplatz verbracht hatten, um Sinnochs langbeinigen Zweijährigen bei den ersten Zureiteübungen zuzuschauen, waren die Gefährten - Freunde und Leibwache zugleich - ständig um ihn gewesen, wachsam und bereit, überallhin mitzugehen und alles mitzumachen; sie glichen darin einer auf den Schritt folgenden Hundemeute - und ebenso schwer waren sie auch abzuschütteln. Zu guter Letzt war er einfach zu den Müllgruben gegangen wenigstens dorthin ließen sie ihn allein gehen. Von dort aus war er hinten herum um Sinnochs Gehöft zu den Stallungen geschlendert und hatte Brys, den er mit drei anderen Wagenlenkern beim Knöchelspiel fand, gebeten, ihm das braune Hengstfohlen zu bringen. »Werde ich mit dir reiten, Herr?« hatte der junge Bursche gefragt, und Phaedrus hatte erwidert: »Weder du noch sonst jemand. Wenn Conory oder ein anderer der Gefährten fragt, wohin ich geritten bin, oder wenn sie Anstalten machen, mir zu folgen, so sage ihnen, daß ich fortgeritten bin, um mir bessere Gesellschaft zu suchen als die ihre.« Er bestieg sein Pferd und ritt mit klappernden Hufschlägen zum unteren Tor hinaus, durch das sie die Fohlen auf die Dressurplätze brachten. Sie würden wahrscheinlich denken, daß er hinter irgendeinem Mädchen her war, das er in der Hütte eines Hirten erspäht hatte. Nun, sie würden darüber nicht erstaunt sein. Die einen Monat zurückliegende Eheschließung des Pferdekönigs war nur eine Formsache gewesen, und niemand war töricht genug, zu glauben, daß es dabei irgend etwas gab, was ihn hindern könnte, anderen Mädchen nachzustellen, oder daß die Königin sich darüber aufhalten oder es überhaupt bemerken würde, wenn er das tat. Sie hatte sich nicht verändert seit jener Nacht, in der er sie zur Burg zurückgebracht hatte. Conory hatte sie begleitet, auf seiner Speerspitze hatte er die Maske aus rotem Stutenfell getragen. Ihre 163
Abwehr, worin immer sie auch bestehen mochte, war ungebrochen, und nach wie vor erschien sie ihm wie ein lebloser Gegenstand, dem durch Zauberkraft ein scheinbar menschliches Wesen verliehen worden war. Es schien, als sei sie von Angehörigen des Dunklen Volkes, die die wirkliche Murna hinweggeführt hatten, zurückgelassen worden. »Wenn ich dich mit dem blanken Eisen schlage«, hatte er sie einmal gefragt, »wirst du dann durch den Rauchfang entweichen oder dich in ein Stück Holz zurückverwandeln?« Und in einem Ton völliger Gleichgültigkeit hatte sie erwidert: »Versuche es doch und sieh selbst.« Halb hatte er im Sinn gehabt, es wirklich zu tun. Aber zu guter Letzt hatte er es einfach nicht gewagt, wie, wenn das, was er als bösen Scherz so dahingesagt hatte, Wirklichkeit war? ... Und doch hatte es jenen Augenblick gegeben, in dem sie seinen Kuß erwidert hatte, mochte sie dabei auch nach seinem Dolch getastet haben; das jedenfalls war nicht der leblos-kalte Kuß eines untergeschobenen Zauberwesens gewesen. Manchmal fragte er sich, ob sich die wirkliche Murna die ganze Zeit über in ihr verborgen hielt und ihn beobachtete, wie er selbst so oft durch die Sehschlitze seines Gladiatorenhelms auf die Welt um sich geblickt hatte. Nun, wie es sich damit auch verhalten mochte - es bedeutete ihm nicht allzuviel; er besuchte die Räume der Königin so selten wie irgend möglich und dachte die übrige Zeit kaum an sie. Am besten wandte er wohl auch jetzt seine Gedanken von ihr ab, denn er war erst einmal zuvor in dieser Gegend gewesen; wenn er also seinen Grübeleien freien Lauf gewährte und sie jedem Windstoß folgen ließ, würde er mit ziemlicher Sicherheit den halb abgestorbenen Birkenstamm übersehen, wo man den Pfad durch die Schlucht verlassen mußte. Doch er fand ihn dann ohne Mühe, ebenso wie den schmalen, weißen Wasserlauf eines Bächleins, das murmelnd von den Hochmoorflächen herabplätscherte. Es war welkes, düsteres Land, durch das er anschließend bergan stieg; er mußte das Pferd am Zügel führen, weil es zum Reiten zu steil 164
war. Der Boden, durch den das Felsgestein hervorbrach, triefte vor Feuchtigkeit. Dieses Land mochte in der ihm eigenen wilden Art schön sein, wenn das frische Farnkraut durch die modernde Masse vorjähriger Farnwedel brach und die alten Weißdornbüsche entlang dem Bach in Blüte standen; doch jetzt, im dunkelsten Abschnitt des Winters und noch ein gutes Stück vom Frühling entfernt, wirkte alles einigermaßen trostlos. Darum, so dachte Phaedrus bei sich, überließ man dieses Land wohl auch dem kleinen Dunklen Volk, den Enteigneten, deren Platz immer auf diesem Felsgeröll und den öden, feuchten Sumpfflächen gewesen war, mit denen die späteren Herren des Landes nichts Rechtes anzufangen wußten. Seit er den Pfad verlassen hatte, befand er sich in einer für ihn völlig fremden Gegend, und er hatte keine Ahnung, wie weit er gehen mußte. (»Seitwärts abbiegen und den Bach entlang«, hatte Sinnoch gestern gesagt, als sie jene Birke auf ihrem Wege zu den abgelegenen Pferdedressurplätzen passierten - und das war alles gewesen.) Schon dachte Phaedrus, daß er den richtigen Weg verpaßt haben mußte, da - zwischen einem Schritt und dem folgenden - lag es vor ihm. Es war nicht mehr als ein Haufen Steine und Torf, die von Brombeerranken zusammengehalten wurden; man hätte es für einen natürlichen Erdbuckel halten können, wäre da nicht jene dunkle Öffnung an der Seite gewesen, die zu groß und zu gleichmäßig war, um der Einschlupf zur Höhle eines wild lebenden Tieres zu sein. Als Phaedrus stehenblieb und sich umsah, entdeckte er auf halbem Wege zwischen sich und jenem Erdhügel einen großen, flachen Stein, der aus dem schwärzlichen Heidekraut herausragte. Nichts regte sich, kein Geräusch war zu hören außer dem Wehen des Bergwindes und dem Bachgeplätscher. Hoch über der Landschaft zog ein goldener Adler schwebend seine meilenweiten Kreise. Er hatte schon von solchen Orten wie diesem gehört, wo man etwas, das repariert werden mußte, zusammen mit einer Gabe zurückließ. Wenn man später wiederkam, fand man den beschädigten Gegenstand geflickt vor, die Gabe jedoch war weggenommen. Man sprach nicht viel darüber, aber auf diese Weise kam das Leben des Sonnenvolkes 165
mit dem der Ureinwohner, der Menschen aus den Bergen, in Berührung. Ähnlich verhielt es sich mit den Schalen voller Milch, die die Frauen manchmal des Nachts als Lohn für irgendeine kleine Arbeit hinausstellten, die zu erledigen war, oder mit den Büscheln von Ebereschenzweigen, die man zum Schutz gegen den uralten Erdzauber über die Tür hängte, oder mit der Tatsache, daß von Zeit zu Zeit ein Kind des Sonnenvolkes entführt wurde. Abgesehen von den wenigen, die sie als Sklaven und Leibeigene hielten, hatten die Stämme wenig mit dem Alten Volk des Landes zu schaffen. Und wenn es darum ging, den vermutlichen Ausgang eines Krieges vorauszuberechnen, so zogen sie dabei die Angehörigen des Dunklen Volkes ganz bestimmt weniger in Betracht als ihre Pferdegespanne und Rinderherden, Und doch war es mit Sicherheit die Hilfe des kleinen Dunklen Volkes gewesen, die Liadhan die Flucht zu den Ihren in Caledonien ermöglicht hatte. So jedenfalls hatte Gault gesagt, und nun, da die Kriegshörner dem anbrechenden Frühling entgegentönten, spürte Phaedrus mit jenem gesunden Menschenverstand, den er seiner römisch geprägten Erziehung verdankte, daß die Zeit gekommen war, in der die Angehörigen des Dunklen Volkes mindestens ebensoviel zählen sollten wie die zur Verfügung stehenden Pferde und Rinder. Sin-noch hatte ihm erzählt, daß dieser Mann, der hier oben seine Höhle und seinen Ablegestein für zerbrochene oder zerrissene Dinge hatte, die er instand setzte, der Weise Alte sei, der Häuptling seines Dorfes und auf seine Weise ein König. Und so schien es Phaedrus, daß ein Besuch bei dem Mann vermutlich die beste Chance war, die sich ihm je bieten würde, mit einem Anführer des Dunklen Volkes Kontakt aufzunehmen. Das Pferd begann zu scheuen, und Phaedrus beruhigte es, streifte die Zügel über einen Weißdornstrauch und ging weiter, während er aus dem Ausschnitt seines Kittels einen guten, brauchbaren Riemen aus gegerbtem Leder und drei Gerstenkuchen zog. Er beugte sich nieder und legte alles auf den flachen Stein. Dann zog er sich bachabwärts zu seinem Pferd zurück, wandte sich wieder um und blickte zu dem dunklen Loch im Erdhügel hinüber, das 166
man fast für den Einschlupf zur Höhle eines Tieres hätte halten können, wäre da nicht jenes verräterische Rauchwölkchen gewesen, das aus dem darüberhängenden Dorngestrüpp aufstieg. In dem Bewußtsein, daß jede seiner Bewegungen beobachtet wurde, legte er langsam und betont seinen Speer so auf den Boden, daß die Spitze zur Schlucht hinunterzeigte. Daneben legte er den Dolch. Er streckte die Hände vor, zeigte, daß sie waffenlos und leer waren, und rief: »Alter Mann der grünen Hügel - laß es dir gefallen, zu mir herauszukommen!« Nichts regte sich außer dem leisen Säuseln des Bergwindes. Phaedrus wartete und wartete. Dann ging er langsam einen Teil des Weges zurück und blieb wieder stehen. Plötzlich empfand er, wie wenig er doch von dem Dunklen Volk wußte, und fragte sich, was er unternehmen konnte, wenn der Mann nicht kam. »Häuptling -sieh doch, ich trage kein blankes Eisen bei mir. Laß es dir gefallen, zu mir herauszukommen.« Und aus dem Inneren des dunklen Einganges antwortete eine Stimme. Sie redete in der Sprache der Stämme, doch in jenem leichteren, sanfteren Tonfall, der den Angehörigen des Alten Volkes eigen war: »Du hast mir eine Gabe hinterlassen, doch nichts, das meiner Geschicklichkeit bedürfte, es wieder heil zu machen. Warum sollte ich zu dir herauskommen?« »Weil ich dir das als Geschenk gebracht habe. Ich bitte dich nicht darum, einen zerrissenen Schuh oder eine zerborstene Niete am Griff meines Dolches zu flicken. Nein, ich bitte dich, herauszukommen und mit mir zu sprechen.« »So-o, das scheint recht und billig«, erwiderte die Stimme in abwägendem Ton. Doch noch immer regte sich nichts hinter jenem dunklen Loch. Und dann - Phaedrus kam später zu dem Schluß, daß er weggeschaut haben mußte, doch in jenem Augenblick hätte er geschworen, daß er die Augen nicht von dem Eingang unter dem Dorngestrüpp gewandt hatte - stand plötzlich ein Mann auf der anderen Seite des Steines. Es war ein kleiner, feingliedriger Mann in einem Kilt aus Otterfellen, grauem buschigem Haar auf dem schmalen Schädel und Augen, die zuerst wie Jettperlen zu glänzen schienen, bis 167
man noch einmal hinschaute und sah, daß sie durchaus nicht schwarz waren, sondern von einem dunklen Braun, das an die Farbe einer Biene erinnerte. Phaedrus machte hinter sich das Zeichen der Hörner und hatte gleich darauf das unbehagliche Gefühl, der andere habe es bemerkt. Doch mit einem Blick auf das eine vierblättrige Blume darstellende Stirnmal sagte der Mann nur: »Was ist es, worüber du mit mir sprechen möchtest, Midir von den Dalriaden?« »Ich will mit dir sprechen, weil man mir gesagt hat, daß du unter deinem eigenen Volk ein Häuptling bist, und weil die Kriegshörner über den Drum Alban erschallen. Wenn der Frühling kommt, werden die Heerscharen des Königs Bruide auf Kriegspfad gehen, und zu solcher Zeit ist es sicher gut, wenn der Pferdekönig weiß, wie es um jene steht, die in seinen Jagdgründen leben — um alle, und nicht nur um die Angehörigen seines eigenen Stammes.« Der kleine Mann winkte Phaedrus, sich auf den Stein zu setzen, und ließ sich dann selbst in Hockstellung nieder. »Du hast mehr als einen unseres Volkes als Sklaven auf deiner Burg. Warum fragst du nicht sie nach dem, was du von dem Dunklen Volk wissen willst?« »Weil ein Sklave die Antworten eines Sklaven gibt. Ich aber suche die Antwort eines freien Mannes.« Der andere nickte. »So frage.« Phaedrus wußte, d.aß es keinen Sinn hatte, mit versteckten Fragen einen Versuch der Erörterung der Sache zu unternehmen. Nicht bei diesem Mann, der alle Schliche nur zu gut durchschauen würde. Darum stellte er seine Frage so direkt, als stieße er mit seinem Dolch zu: »Wenn der Kampf beginnt, dieser Kampf, bei dem es nicht nur um Viehherden oder Landbesitz geht, sondern um die Entscheidung der Frage, ob die Dalriaden weiterhin ein freies Volk sein sollen, von welchen Königen sie regiert werden und welchen Göttern sie folgen, müssen wir dann fürchten, daß sich in unseren Rücken eure kleinen blauen Quarzsteindolche erheben, während unsere Schilde den Caledoniern zugewandt sind?« »Wenn ihr das befürchten müßtet, würde ich es dir sagen?« »Nein«, erwiderte Phaedrus offen. »Doch ich habe zu oft zum Vergnügen einer römischen Zuschauermenge um mein Leben gekämpft, als daß ich 168
nicht in der Lage wäre, den Gesichtsausdruck der Menschen zu beurteilen. Ich hatte gehofft, dein Gesicht würde es mir verraten, ehe du dir dessen bewußt würdest.« »Und tat es das nicht? Nun, ich will es dir selbst sagen, und es wird die Wahrheit sein. Wir gelten nichts, wir, das Volk der dunkelblauen Quarzsteinwaffen, seit das Pferdevolk unsere Jagdgründe in Besitz nahm; wir gelten nichts, und wir wissen das. Doch die Stämme kommen und gehen wie Windstöße, die durch das Heidekraut fahren, und wir weichen in unsere Berge zurück und lassen sie vorüberziehen. Es kümmert uns nicht, wenn sie einander bekriegen. Wir werden immer hier bestehen, solange es Wölfe in den Bergen gibt. Tötet und laßt euch töten, wie ihr wollt - uns gilt das gleich.« »Und doch habt ihr Liadhan geholfen, nach Caledonien zu entkommen.« »Sicher. Sie war die Mutter, die Herrin der Wälder. Sie war uns zugehörig, wie wir ihr zugehörten. Doch weil sie floh, als der Große Ruf an sie erging — obwohl wir ihr bei der Flucht halfen —, glaube ich nicht, daß um ihretwillen viele von uns sich von ihrem Herdfeuer erheben werden.« »Als der Große Ruf an sie erging?« Der Satz hatte Phaedrus aufmerksam gemacht und zugleich verwirrt. Der Blick des anderen lag auf seinem Gesicht. Das Rauschen des Baches schien in dem Schweigen überaus laut. Weit, weit über ihren Köpfen hörte Phaedrus den spitzen, scharfen Schrei des goldenen Adlers. Dann sagte der kleine Dunkle Mann behutsam: »Unter allen Menschen sollte der Pferdekönig am besten wissen, was der Große Ruf bedeutet ...« Und dann, als wollte er den Gesprächsgegenstand wechseln, streckte er die Hand aus, ergriff einen der Gerstenkuchen und brach von einer Seite ein langes Stück Kruste ab. »Herr, siehst du, was ich hier in der Hand halte?« »Natürlich«, erwiderte Phaedrus überrascht. »Was ist es denn?« »Ein Stück Kruste von einem Gerstenkuchen.« »Bist du dessen sicher?« 169
Aus der Verwunderung geriet Phaedrus in Verwirrung, und irgendwo tief in seinem Inneren flackerte ein warnendes Gefühl auf, das er nicht begriff. »Ich bin ganz sicher - es ist Kruste von einem der Gerstenkuchen, die ich dir gebracht habe.« »Sieh es wohl an«, sagte der Mann. Und Phaedrus entdeckte, wie er gehorchte, indem er seinen Kopf über die Kruste beugte, als wäre sie etwas Seltsames und Wunderbares, das er nie zuvor gesehen hätte. »Bist du immer noch sicher?« fragte die sanfte, beharrliche Stimme. Und plötzlich war er seiner Sache nicht mehr so gewiß - nein, ganz und gar nicht mehr. Das Ding dort in der schmalen dunklen Hand verschwamm vor seinen Augen, verlor die Umrisse und verwandelte sich in etwas anderes. In etwas - etwas »Was ist es also?« fragte die Stimme. »Es sieht aus - es ist wie eine Feder.« Er konnte erkennen, wie sie Form annahm, sah die längliche, schlanke Umrißlinie, die, wie es -schien, von Nebel ausgefüllt wurde. Doch der Nebel verdichtete sich, nahm Gehalt und Farbe an. Phaedrus konnte einen Augenblick lang die fast vollkommen schwarze, nur mit goldenen Tupfen durchsetzte kräftige Feder erkennen; doch irgend etwas in ihm hatte begonnen, Widerstand zu leisten. »Was für eine Feder ist das wohl?« »Die eines goldenen Regenpfeifers...«, begann Phaedrus, doch dann hielt er inne. »Es ist überhaupt keine Feder!« Er zwang die Worte förmlichfaus sich heraus, während seine Augen darum rangen, die verschwundenen Umrisse der Gerstenkuchenkruste wiederzuerkennen. Er konnte sie jetzt schwach wie einen Schatten sehen, ihr Bild drang durch das der Feder, die wieder verschwamm. Sehr lange, wie es ihm schien, lagen die beiden Bilder gleich gut erkennbar übereinander, so daß er sie beide sehen konnte, eines schien durch das andere hindurch. »Es ist nur ein Stück Kruste - Kruste!« Die Feder war nun nicht greifbarer als ein Rauchwölkchen, und mit äußerster Willensanstrengung löschte er das Bild aus, jenes dunkle, 170
schlanke Gebilde mit den goldenen Schattierungen, und in der Hand des anderen war nichts mehr außer einem Stück Kuchenkruste, das mit getrockneten Gerstenkörnern bestreut war. Mit keuchendem Atem blickte er auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Trotz des leichten kalten Windhauchs war sie naß. »Warum hast du das getan?« Auch auf der Stirn des kleinen Dunklen Mannes stand Schweiß, als er die Kruste neben den Kuchen zurücklegte, von dem er sie genommen hatte. »Das? Ach, das war nur ein wenig Erdzauber, wie man ihn zwischen den Augen zweier Männer hervorrufen kann. Ich wollte Antwort auf eine Frage erhalten, die sich in mir regte.« Er hob den Blick von seinen Händen, die mit der Sorgfalt eines Handwerkers die Kruste wieder an den alten Platz fügten, und ließ seine Augen abwägend auf Phaedrus' Gesicht ruhen. »Es ist seltsam, ich hätte schwören mögen, daß es nicht einen unter dem Sonnenvolk gibt, den ich nicht dazu hätte bringen können, die Feder des goldenen Regenpfeifers zu sehen und die Gerstenkuchenkruste völlig zu vergessen, bis ich ihn auffordern würde, sich ihrer wieder zu erinnern.« Es folgte ein kurzes Schweigen; dann sagte Phaedrus: »Ich habe sieben Jahre in der Welt der Römer gelebt, die sehr verschieden von der unseren ist; vielleicht liegt es daran, daß du deinen Zauber nicht so vollkommen über mich ausüben konntest.« »Möglich«, sagte der andere, doch seine Augen betrachteten noch immer grübelnd Phaedrus' Gesicht. Indem er sich der in ihnen liegenden Frage stellte, setzte Phaedrus jenes alte, überhebliche Arenalächeln auf, das er ebenso gut wie seine Schwertstreiche gelernt hatte. »Nun, nun, denkst du vielleicht, daß ich nicht Midir von den Dalriaden bin und nicht der Pferdekönig, sondern ein anderer, der sein Stirnmal trägt?« »Ich weiß nicht«, erwiderte der Mann langsam. »Doch wenn du jene Feder des goldenen Regenpfeifers noch einmal sehen wirst, wirst du der Pferdekönig sein - und jenes Stirnmal dein eigenes.« »Löse mir das Rätsel, alter Mann.« 171
»Die Zeit wird das besorgen. Doch dies sage ich dir, damit du wissen mögest, daß ich die Wahrheit spreche: Innerhalb von drei Tagen wird einer aus dem Alten Volk wieder dein Leben berühren, doch ich fühle es in meinem Herzen, daß jener schon tot sein wird.« So hatte Phaedrus also seine Antwort; es waren also doch nur die Pferde und Rinderherden, die man einkalkulieren mußte. Das Volk der Bergbewohner war Teil einer andersartigen Welt und war als wunder Punkt oder als besondere Stärke nicht höher einzuschätzen als die bewaldeten Schluchten oder Schneeflächen des Cruachan ... Am folgenden Tag ritt er mit den Gefährten nach Burg Monaidh zurück, und danach blieb wenig Zeit, sich jener kleinen Probe von Erdzauber zu erinnern, die in seinem Inneren bereits ähnlich einem Traum verblich, oder an die Dinge zu denken, die der alte Mann vorausgesagt hatte. Es gab wenig Zeit für andere Dinge außer für die Sache, um die es allein ging und die hieß: Krieg! Krieg, sobald die wilden Gänse im Frühjahr nach Norden flogen. Auf Burg Monaidh waren wie auf jeder anderen Burg, jedem Wehrhof und jedem Gehöft in Earra-Ghyl die Huf- und Waffenschmiede, die Zureiter und Wagenbauer an der Arbeit. Den ganzen Tag hindurch hörte man aus den geschwärzten Hütten im äußeren Hof das Getöse der schafsledernen Blasebälge und sah das rote Flackern von Flammen. Hell klang der Hammer auf dem Amboß, als man hier neue eiserne Felgen an ein Wagenrad anpaßte und dort aus dem Rand eines mit gescheckter Ochsenhaut bespannten Schildes die Beulen herausschlug. Und jeder Krieger war damit beschäftigt, seine Warfen an dem großen Malstein zu schleifen und nachzuschärfen. Und dann, es war am zweiten Tag nach seiner Rückkehr, kam Phaedrus mit zweien der Gefährten hinter sich aus dem langgestreckten Wagenschuppen und hörte irgendwo an der nördlichen Umwallung ein plötzliches Lärmen, das zweifellos menschlichen Ursprungs war und das ihn doch an den Augenblick erinnerte, in dem die Jagd zu Ende geht und die Hunde von allen Seiten herbeijagen und ihr Opfer töten. 172
Fast im gleichen Moment, als er, während die beiden anderen ihm auf den Fersen folgten, zu rennen begann, legte sich der Lärm; und als er zwischen zwei Vorratsschuppen hervor in den freien Raum trat, der genau in der steinernen Biegung der Umwallung lag, fand er die dort versammelte kleine Schar von Kriegern außerordentlich schweigsam, die Dolche noch in den Händen, die Blicke gesenkt auf eine Gestalt, die auf dem Boden gekrümmt vor ihnen lag. Einer von ihnen drehte, als Phaedrus eintraf, den Körper mit dem Fuß um, ähnlich wie man eine tote Ratte umdreht; und als der Tote herumfiel, sah Phaedrus, daß es ein Mann aus dem Dunklen Volk war, der an Brust und Bauch vier oder fünf Dolchstiche aufwies. »Was ist hier geschehen?« fragte er. Der Mann, der den Leichnam umgedreht hatte, antwortete ihm: »Eine Rattenjagd, Midir.« »Und es scheint, daß ihr eure Beute erlegt habt. Was tat er auf der königlichen Burg?« Ein anderer der Männer zuckte die Achseln. »Ein Späher. Wir fanden ihn dort unten im Holzlager versteckt. Er muß bei Nacht über den Wall gestiegen sein.« »Oder er ist auf dem gleichen Weg heraufgekommen, auf dem die Wölfin entschwand.« Rings um sie hatte sich eine kleine Ansammlung gebildet; irgend jemand kam und bahnte sich wie ein kräftiger Schwimmer bei heftigem Seegang einen Weg durch die Männer, und dann stand Gault dort, die Arme auf der Brust verschränkt, während der harte Blick der wolfsgelben Augen auf dem schmalen dunklen Körper in dem blutdurchtränkten Hirschfell ruhte. »Ein Späher, ganz sicher.« Plötzlich beugte er sich nach vorn, um ihn näher zu betrachten. »Ja, er kommt aus den Jagdgründen der Caledonier, das sagt mir das Muster auf seiner Haut. Ohne Zweifel wäre er, wenn ihr ihn nicht aufgestöbert hättet, heute nacht wieder über den Wall davongeschlichen und zu König Bruide mit Nachricht darüber zurückgekehrt, wie viele Kampfwagen Burg Monaidh aufzubieten vermag.« Er richtete sich auf und wandte sich halb zur Seite, als ob für ihn jedenfalls die Sache erledigt wäre. »Entzündet ein Feuer auf den östlichen Hängen jenseits des anderen Ufers - ein kräftiges, hohes 173
Feuer, damit sein Schein weit über das Land sichtbar wird -, und dann verbrennt mir diese Ratte.« Es folgte ein scharfes, überraschtes Schweigen; dann fragte der kleine Baruch: »Warum stoßen wir ihn nicht einfach in den Sumpf oder werfen ihn zum Fraß für die Wölfe hinaus?« »Feuer ist die beste Art, Ratten zu vernichten.« Die Augen unter den roten Brauen zusammengezogen, übernahm Phaedrus plötzlich die Führung. »Warum bist du so darauf versessen, ihn zu verbrennen, Gault der Starke?« »Seine Brüder aus der gleichen Brut werden davon erfahren. Vielleicht wird ihnen das als wirksame Warnung dienen.« »Sie werden doch auch so erfahren, daß er getötet wurde. Wird ihnen das nicht Warnung genug sein?« »Ich zweifle daran«, erwiderte Gault barsch. »Die vom Alten Volk sind mit der Mutter Erde so eng verbunden, daß der Tod für sie nicht mehr ist als eine kurze Reise.« Dann würde also durch das Feuer ... Phaedrus hatte die geradlinige Welt der Römer lange genug verlassen, um zu wissen, was dies alles zu bedeuten hatte. Den Menschen des Sonnenvolkes war es kaum ein Unterschied, ob die Erde oder das Feuer ihre Körper aufnahm, wenn es einmal um sie geschehen war. Doch bei den Kindern der Mutter Erde war es etwas ganz anderes. Korn, das man ins Feuer warf, würde nie wieder keimen, und in den Augen dieser Menschen nahm das Feuer nicht nur den Körper, sondern auch das Leben hinweg, das zu diesem gehört hatte. Tatsächlich schlug Gault vor, als Warnung für die anderen alles zu zerstören, was dieser Mann je an Seele besessen hatte. Phaedrus hatte sich zwar nie übermäßig viel um die Gesetze der Menschen gekümmert, doch dies hier war eine andere Sache, und die Gesetze der Menschen hatten nichts damit zu tun. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er, selbst damit beschäftigt, sich in einer neuen und fremdartigen Umgebung seinen Weg zu ertasten, die eigentliche Führerschaft immer Gault und dem Inneren Rat überlassen. Doch jetzt spürte er plötzlich und mit absoluter Gewißheit, daß er den Punkt erreicht hatte, wo diesem Zustand ein Ende gesetzt werden mußte. 174
»Nach meiner Meinung ist es mit dem Töten getan«, sagte er, »und Gault, ich bin hier der König! Was immer er auch getan haben mag, sein Tod gleicht es aus. Es wird keine Verbrennung geben!« Gaults Wolfsblick fuhr herum, um dem seinen zu begegnen, und Phaedrus las aus dem Stirnrunzeln des anderen, daß auch jener wußte: Der Zeitpunkt war gekommen, an dem sie zu einer Kraftprobe gegeneinander antraten. »Du bist der König, doch es scheint, daß du in der Arena viel von deiner eigenen Welt vergessen hast. Darum, bis du dich ihrer wieder erinnerst, überlasse solche Sachen am besten jenen unter uns, die besser wissen, was zu tun ist.« »Ich habe viel vergessen«, gab Phaedrus zu, »doch ich habe auch einige Dinge dazugelernt. Selbst in der Arena betrachten wir den Kampf mit dem Tod als beendet und versuchen nicht, ihn über den tödlichen Streich hinaus fortzuführen.« Die Schar der zuschauenden Krieger wuchs jeden Augenblick weiter an, doch niemand versuchte, in diesen seltsam stummen Kampf der Willen einzugreifen. Dies war eine Sache zwischen Gault und König Midir, während der Körper des kleinen Dunklen Jägers zwischen ihnen lag. »Du sprichst wie ein Gladiator, wie ein bloßer gekaufter Schlächter«, sagte Gault schließlich. »Es gibt vielleicht schlimmere Dinge, als ein Gladiator zu sein.« »Zum Beispiel König der Dalriaden?« Es war nicht schwer, die versteckte Bedeutung der Frage zu erfassen: >Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist, und ich kann dich auch stürzen. Du hast es nicht nötig, noch eine Stunde länger König der Dalriaden zu sein, wenn es dir nicht paßt.< Phaedrus' Mundwinkel hoben sich zu jenem leichten, überheblichen Lächeln, das seine Kampfgenossen in der Arena nur zu gut gekannt hatten. »Sicher ist es eine feine Sache, König der Dalriaden zu sein; und Lugh vom Glänzenden Speer selbst verbietet mir, zu vergessen, daß du es warst, der mich aus dem Stadtgefängnis von Corstopitum holte und meinen Fuß auf den Krönungsstein setzte.« Auch er ließ Gault die heimliche Bedeutung seiner Worte spüren: >Du hast mich 175
zu dem gemacht, was ich bin, und du kannst mich stürzen; doch wenn du das tust, wirst du mit mir stürzen.< Unter der äußerlichen Ruhe beherrschte ihn Kampflust. Wieder hatte er jenes alte Empfinden, als ob das Leben sich in einen engen Kreis zusammendrängte und sich schließlich in einem Brennpunkt konzentrierte, in dem es nichts anderes gab als ihn selbst und Gault, und beide wußten, daß sie hier um die Führerschaft über den Stamm stritten. So standen sie einander gegenüber, Auge in Auge; keiner von ihnen sprach ein Wort oder machte eine Bewegung, bis das Schweigen zwischen ihnen so unbehaglich und gespannt wurde, daß Phae-drus das Gefühl hatte, er könnte Funken daraus schlagen, wie man einer Harfensaite Töne entlockt. Und er hörte, wie seine eigene Stimme die Stille durchbrach, indem sie überaus deutlich und jedes Wort vom folgenden trennend sagte: »Es - wird - keine -Verbrennung - geben.« Tief drinnen in Gaults Augen flackerte etwas auf, und er zuckte die wuchtigen Schultern. Der Kampf war zu Ende, und der Sieg gehörte Phaedrus. »Du bist der König, und es soll so geschehen, wie du entscheidest. Doch die Götter mögen dir und uns allen helfen, wenn deine Entscheidung falsch ist.« Doch in seinem Ton lag keine Feindseligkeit, vielmehr zeigte sich in seinem finster gerunzelten Blick ein neuer Ausdruck von Respekt. Oberflächlich betrachtet war es ein nur geringfügiger Streitfall gewesen; es hatte sich dabei nicht einmal um einen Krieger des Stammes gehandelt, sondern nur um einen aus dem kleinen Dunklen Volk, um eines der Geschöpfe, die in den Augen der Dalriaden halb Tier und halb Ungeheuer waren. Doch jetzt und nicht damals, als sie ihn zum König weihten, fühlte der Rote Phaedrus die Herrschaft über die Dalriaden in seine Hände übergehen. »Tragt ihn weg und werft ihn hinaus für die Wölfe«, befahl er den Männern, die den Mann getötet hatten. Die Wölfe hatten nichts zu bedeuten - allein das Feuer spielte die entscheidende Rolle.
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Und erst jetzt, während er zusah, wie sie den kleinen Leichnam wegzerrten, erinnerte er sich an die Weissagung des Alten, die genau drei Tage zurücklag. In jener Nacht, als die Abendmahlzeit vorbei und die Harfenklänge in der Halle verstummt waren und Phaedrus in das Königsgemach trat, um sich schlafen zu legen, blieb er auf der Schwelle stehen und hielt vor Überraschung den Atem an. Neben der Feuerstelle in der Mitte des Raumes, wo Brys ihn eigentlich hätte erwarten sollen, saß eine Frau. Sie hatte seinen eigenen Schemel ans Feuer gerückt und saß dort, den dunklen Mantel lose um sich gebreitet. Ihr Gesicht wurde ihm durch das Haar verborgen, das sie gelöst hatte und nun kämmte, wie um sich damit die Zeit des Wartens zu vertreiben. Doch der herabfallende Vorhang war unverkennbar: Es war das sanfte Taubengold, das mausgoldene Haar der königlichen Frau. »Murna! Was tust du hier?« Sie warf die Masse ihres Haares zurück und wandte ihm ihr Gesicht zu. »Darf die Königin nicht in die Räume des Königs kommen, wann es ihr beliebt?« »Sicher. Doch hat es der Königin bisher so oft beliebt zu kommen?« Er warf seinen schweren Mantel ab und schleuderte ihn über die aufgehäuften Felle der Bettstatt. Dann trat er neben das Feuer, blickte auf sie herab, die Schulter gegen den Pfeiler gelehnt, der das Dach trug. »Ich hatte den Wunsch, mit dir zu reden«, sagte sie, »und darum schickte ich deinen Waffenträger für eine Weile fort.« »Ja - und?« Phaedrus wurde wachsam. »Du hast heute einen Sieg errungen.« »In der Sache mit dem Späher? Du hast davon gehört?« »Es gibt wenig, wovon wir Frauen nichts erfahren«, erwiderte sie, und die kühlen, haselnußbraunen Augen, die, das bemerkte er plötzlich, denen von Conory glichen, nur daß sie eine ebenmäßige Stellung hatten, jene Augen hingen nachdenklich an seinem Gesicht. 177
Dann, als ob sie einen Entschluß gefaßt hätte, fügte sie hinzu: »Doch der Mann kam nicht zum Spionieren hierher.« »Nicht? Warum sonst?« »Er kam, um mit mir zu sprechen.« »Und tat er das?« »Ja. Er brachte mir Nachricht von meiner Mutter - und ein Geschenk - für dich.« Phaedrus' rote Brauen fuhren erstaunt in die Höhe. »Für mich? Ich hätte nicht gedacht, daß sie mich so sehr liebt.« »Es gibt verschiedene Arten von Geschenken«, sagte Murna. »Und dieses? Wirst du es mir geben?« Statt einer Antwort legte sie den elfenbeinernen Kamm hin, den sie noch immer in der Hand gehalten hatte, und holte etwas aus dem Ausschnitt ihres Gewandes hervor, das sie ihm hinstreckte. Er nahm das Ding entgegen und betrachtete es vorsichtig. Es war eine Lederflasche, so klein, daß sie wie eine Kastanie in der Mulde semer Hand lag, und verschlossen mit einem knöchernen Pfropfen, der zu der Form eines winzigen, fauchenden Kopfes geschnitzt war, ob Menschen- oder Tierkopf, ließ sich nicht sagen. Das kleine Ding hatte etwas beinahe spürbar Unheilverkündendes an sich, und Phaedrus achtete darauf, nicht an den gewachsten Faden zu geraten, der den Pfropfen an seinem Platz hielt. »Was ist das?« »Der Tod«, sagte Murna. »Gift?« Halb war er darauf vorbereitet gewesen, dennoch zog sich irgend etwas am Grund seines Magens fröstelnd zusammen. Einige Augenblicke lang stand er da und wandte das Fläschchen betrachtend in der Hand hin und her. Seltsam, den eigenen Tod in der geöffneten Hand zu halten. »Warum hast du mir das gesagt -und mir dies hier gezeigt?« Sie streckte die Hand aus, damit er ihr das Ding zurückgäbe. »Weil ich glaube, daß ich es nicht benutzen werde, nach alledem.« 178
»Nach alledem?« Phaedrus, überrascht und belustigt zugleich bei der Feststellung, was für ein Narr er doch war, gab ihr das Fläschchen wieder. Sie saß dort und umschloß es mit den Händen, während sie durdi die herabfallenden Massen goldenen Haares zu ihm aufblickte. »Du hast dich in jenen sieben Jahren verändert. Der Midir, den ich kannte, als ich noch ein Kind war, hätte Gault unbedenklich die Verbrennung durchführen lassen, es sei denn, es hätte ihm Spaß gemacht, seine Macht gegen die von Gault auszuspielen, und es hätte ihn zufällig in jenem Augenblick nach solchem Spaß verlangt.« »Und wie willst du wissen, daß es mich heute nicht nach solchem Spaß verlangte?« Zum erstenmal zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht. »War das denn der Fall?« »Nein.« »Und wenn es so gewesen wäre, hätte der Midir, den ich kannte, sich nicht die Mühe gemacht, mich zu belügen.« »Vor sieben Jahren war ich noch ein Knabe, und Knaben ändern sich, wenn sie zu Männern heranwachsen.« »Es ist mehr als nur das - eine andere Art von Veränderung.« »Du hast zweimal gesagt: >der Midir, den ich kannte<, aber in Wirklichkeit warst du doch nur wenig älter als zehn Jahre, als deine Mutter jenen Midir erledigte. Du kanntest ihn doch kaum näher, nicht wahr, Murna?« Ihr Gesicht verhärtete sich, und einen Augenblick lang dachte er, sie würde wegen der Bemerkung über ihre Mutter auffahren. Aber sie ließ es auf sich beruhen. »Ich kannte ihn vielleicht besser, als andere glauben mögen, näher, als du dich vielleicht erinnerst. Doch du gehörtest nie zu den Menschen, die es kümmerte, was sie zerstörten, oder die sich des Zerstörten überhaupt erinnerten, nicht wahr, Midir?« »Wirklich? Ich hatte nie ein besonders gutes Gedächtnis, was für einen Sinn hat es also, mich so etwas zu fragen?« Doch dann gab er den leichten, scharfen Ton auf. »Sage mir, wenn der Bote deiner Mutter entkommen wäre und also diese Sache zwischen Gault und mir 179
heute nicht stattgefunden hätte, würdest du dann das Gift verwendet haben?« »An dem Tage, da ich Gift benötigen werde«, erwiderte Murna schlicht, »werde ich nicht darauf angewiesen sein, daß meine Mutter es mir schickt.« Sie zog den Faden ab und den knöchernen Pfropfen heraus; goß dann den Inhalt der winzigen Flasche mitten ins Feuer und warf schließlich die Flasche hinterher. Das Feuer fauchte auf wie eine wütende Katze, eine bläuliche Flamme züngelte in die Höhe, flackerte unruhig und erlosch allmählich. Als das geschehen war, nahm Murna den Elfenbeinkamm auf und erhob sich, während sie die Falten ihres Mantels um sich schlug. »So, es ist alles gesagt, um dessentwillen ich herkam. Brys, daran zweifle ich nicht, wird sich in Rufweite befinden, als der treue, guterzogene Hund, der er ist.« Und dann war sie fort. Phaedrus rief nicht sofort nach seinem Waffenträger, sondern stand da und starrte ihr nach. Zwischen seinen Brauen lag eine tiefe Grübelfalte, während er sich bemühte, einen Sinn zu finden in Dingen, die er nicht begriff und zu denen auch seine eigenen Gefühle gehörten.
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Kriegstanz In den flachen Mulden des Cruachan-Gebirges schmolz der Schnee zusammen, und die Nächte wurden lebendig durch das sanfte Rauschen fließenden Wassers und die werbenden Lockrufe der Brachvögel, die landeinwärts zu den Hochmooren zogen, als der Gesandte der Caledonier eintraf. Umgeben von einer Schar der Gefährten empfing der König der Dalriaden ihn und die Edlen seiner Gefolgschaft auf seinem Thron aus schwarzen Widderfellen in der Halle. Er hieß sie willkommen, bewirtete sie als Ehrengäste und bat danach seinen Harfenspieler, für sie zu musizieren. Der Schein mußte gewahrt bleiben, als ob das Zeichen eines grünen Wacholders in der Hand des Gesandten wirklich bedeutete, daß er in friedlicher Absicht kam. Doch das Wissen darum, was vor sich ging, und die Anwesenheit der caledonischen Edlen in ihren feierlichen Mänteln aus den Fellen von Wildkatzen beherrschte wie ein leichter, trockener Wind die ganze Halle, und in den jungen Männern regte sich eine Stimmung, die mehr verlangte als nur Harfenspiel. Die Gefährten hatten begonnen, auf ihre Art eine eigene Musik zu machen. Der kleine Baruch schlug mit der flachen Hand den Rhythmus auf einem der Kochtöpfe, den die anderen aufnahmen, indem sie auf den festgetretenen Boden, nachdem sie die Farnwedel beiseite gestoßen hatten, im gleichen Takt schlugen oder stampften. Und sechs oder sieben der jungen Krieger verteilten sich auf die gepflasterte Tanzfläche und begannen dort, zwischen den Ausläufern des Feuers, sich in einem Jagdtanz zu ducken und stampfend zu drehen. Diamid mit den dämonischen Augenbrauen war der Gejagte -die übrigen die Jäger; ob Menschen oder Hunde, blieb dabei unerheblich. Das Wild floh vor ihnen und wandte sich nach ihnen um, tanzte, wie es schien, mit seinem eigenen Tod, floh von neuem und zog sie alle hinter sich her; die Jäger folgten und ahmten unter dem wilden, stoßenden Rhythmus stampfender Füße, angeführt von dem seltsam glockentonähnlichen Dröhnen, das Baruchs Hände auf dem Kochtopf erzeugten, eine Jagd nach, bis der alte Zauber die Halle ergriff, und 181
Phaedrus hätte schwören können, daß das Dach zu dem Astgewirr eines Waldes und die Schattengestalten der Tänzer, die das Feuer warf, zu den Schatten eines fliehenden Hirsches und der ihn verfolgenden Hundemeute geworden waren. Sie tanzten die Tötungsszene, der Rhythmus steigerte sich zu fieberhafter Erregung; sie umzingelten die keuchende Beute und stießen sie zu Boden, durchbohrten sie mit ihren Speeren. Wie durch die Speerstöße abgeschnitten verstummte das Trommeln, und die Tänzer standen atemlos und lachend, alles Geheimnisvolle fiel von ihnen ab wie ein Mantel. Jetzt waren sie nichts weiter als junge Männer, die sich ein wenig von der angestauten Spannung befreit hatten. Doch nun hatte die Stimmung sich ihrer bemächtigt, und bald begannen sie von neuem zu tanzen. Die Tänzer wechselten unaufhörlich, bis sich die ganze Nacht in stampfende und umherwirbelnde Gestalten aufzulösen schien. Selbst ältere Kämpfer spendeten ihren bescheidenen Beitrag zu den ungestümen Takten, die man für die Tänzer schlug. Doch dann, in einer Atempause, wandte sich Forgall, der neben Phaedrus sitzende Gesandte, mit dem Ausdruck von kaum verhüllter Langeweile zu ihm um und fragte: »Sage mir doch, ist es nicht wie bei uns auch bei den Dalriaden üblich, daß die Frauen tanzen?« »Es ist üblich - aber nur dann, wenn sie mögen«, erwiderte Phaedrus. »Ich würde gerne eure Frauen tanzen sehen. Es wäre interessant für mich, ihre Gewandtheit mit der der Frauen meines eigenen Volkes zu vergleichen. Würdest du wohl Botschaft in die Gemächer der Frauen senden, daß es ihnen vielleicht jetzt belieben möge?« Phaedrus geriet plötzlich in Wut über diese kühle Forderung, die nur so spärlich als Bitte getarnt war. Die Frauen tanzten wirklich, wenn sie Lust hatten; doch als ein Fremder in diesen Toren das von ihnen zu verlangen, kam einer Beleidigung gleich, und Phaedrus bezweifelte sehr, daß dieser Caledonier mit dem vollippigen Mund und den herausfordernden dunklen Augen das nicht wußte. Doch ehe er etwas erwidern konnte, sagte Murna, die den ganzen Abend über die Frauen angeleitet hatte, ständig für gefüllte Methörner zu sorgen, und die jetzt, sehr aufrecht und verschlossen wie immer unter dem 182
silbermondförmigen Kopfschmuck, an seiner anderen Seite saß, mit klarer, hoher Stimme: »Es ist nicht Sache meines Herrn, des Königs, solche Botschaft in die Gemächer der Frauen zu senden. Doch wenn unser Gast es wünscht, werde ich Anweisung geben.« Sie blickte quer durch die große, runde Halle dorthin, wo sich noch ein paar Frauen, zum größten Teil ältere, aufhielten und in einer kleinen Gruppe an der Tür beieinanderstanden. Grania, eine der Frauen, kam auf ihren Ruf herbei, erhielt einige gemurmelte Anweisungen und ging hinaus. Die jungen Krieger kehrten inzwischen an ihre Plätze und zu dem Zeitvertreib zurück, mit dem sie sich anfangs beschäftigt hatten, einem Hund die Ohren zu kraulen oder mit einem Freund ein Knöchelspiel zu beginnen. Phaedrus verbarg seine eiskalte Wut hinter dem gekonntesten Arenalächeln. Daß der Gesandte es gewagt hatte ... daß Murna es ihm unmöglich gemacht hatte, dem Burschen die Beleidigung ins Gesicht zurückzuschleudern ... Aber natürlich mußte sie das größte Interesse daran haben, das zu vermeiden; schließlich war sie Liadhans Tochter und selbst zum Teil caledonischer Abstammung. Vielleicht stammte dieser Mann hier aus ihrer Sippe. Von draußen hörte man das Gemurmel weiblicher Stimmen und das Geräusch eilender Füße. Eine Schar junger Mädchen kam durch den Vorraum herein und entledigte sich der hastig übergeworfenen Mäntel. Ihre Röcke waren bereits kniehoch gegürtet; jedes Mädchen trug einen Dolch in der linken Hand und hatte einen zweiten im Gürtel stecken. Die Frau, die Murna ausgesandt hatte, war mit den Mädchen zurückgekehrt und trug gleichfalls zwei Dolche. Doch es war deutlich, daß sie nicht tanzen würde, denn ihr Gewand fiel noch immer in geraden Falten hinunter bis auf ihre Knöchel, und in der freien Hand hielt sie eine lange Holunderflöte. Murna erhob sich von ihrem Platz und rief den Mädchen an der Tür mit klarer, durchdringender Stimme zu: »Die Gäste im Saal wollen, daß wir für sie tanzen, meine Schwestern. Deshalb — laßt uns tanzen.« Eines der Mädchen, ein dunkles, stolzes Geschöpf, lachte auf, als hätte es einen groben Witz gehört, den die anderen im Augenblick 183
noch nicht verstanden. »Wir werden für sie tanzen, Königin Murna, so wie wir zu tanzen pflegten, als wir uns noch die Wildkatzen nannten und zusammen zum Kampfplatz gingen.« Als sie mitten durch die sich zusammendrängenden Krieger schritten, trat Murna vor, zog sich die Röcke, während sie ging, durch den bronzebeschlagenen Gürtel und schloß sich den anderen auf der Tanzfläche an. Eine Zeitlang herrschte völliges Schweigen im Saal, so daß jedermann deutlich das leise Klingen der auf dem ledernen Kopfschmuck in vielen Reihen angeordneten, winzigen silbernen Schuppen hören konnte, aus denen er bestand. Murna streckte die Hände aus, und die ältere Frau kam und legte die beiden Dolche hinein, ehe sie mit ihrer Pfeife beiseite trat und sich niederließ, den Rücken an einen der riesigen Dachpfeiler gelehnt. Die Tänzerinnen bildeten einen weiten Kreis um das Feuer. Jedes Mädchen legte die Klinge des Dolches in seiner linken Hand auf die des Dolches, den seine Nachbarin in der Rechten hielt; und als die ersten Töne der Holunderflöte erklangen, begannen sie, sich mit kleinen, knapp bemessenen Schritten rings um das Feuer zu bewegen. So weit alles sehr kindlich und hübsch, dachte der noch immer von kalter Wut erfüllte Phaedrus, obwohl man eigentlich hätte erwarten sollen, daß die Mädchen durch eine Girlande oder ein buntes Band und nicht durch gekreuzte Dolche miteinander verbunden wären. Er wunderte sich, warum jeder Mann im Saal so hastig den Atem anhielt und aufrechter dasaß als zuvor; warum Conory direkt hinter ihm flüsterte: »Bei den Göttern! Das sind tatsächlich Wildkatzen!« Diesen besonderen Tanz hatte er nie zuvor gesehen. Zuerst hatte man nichts weiter gehört als die Flöte und das leise Tappen, das die Füße der Tänzerinnen auf den Steinplatten erzeugten. Doch dann begann einer nach dem anderen unter den Männern den Takt aufzunehmen, wie sie es auch zuvor getan hatten, und bald wandelte der Rhythmus selbst sich von Weiß zu Rot, wurde wilder, drängender. Die Dolchklingen wiesen in die Höhe, dann wieder zu Boden, begannen einander abzutasten; Klinge glitt um Klinge, als ob jede von eigenem Leben erfüllt wäre. Schneller und immer schneller 184
hüpften und flatterten die Klingen, drehten sich die Schatten. Und dann plötzlich schien der Kreis aus seiner eigenen Drehbewegung auszubrechen, und statt eines Reigens tanzender Mädchen sah man sieben Paare junger Krieger. Und nun begriff Phaedrus die plötzlich gespannte Atmosphäre in der Halle. Was er da sah, war der Kriegstanz der Frauen. Zugleich sah er vor sich eine Murna, wie er sie nie zuvor erblickt hatte, eine Murna, von der er nie gewußt hatte, daß es sie gab. Murna, deren Gesicht zum Leben erwacht war, an der jede Faser von angespannter Heiterkeit ergriffen war. Sie tanzte ihren mimischen Kampf mit dem dunklen Mädchen in so unmittelbarer Nähe seines Platzes, daß er sie mit einem Schritt hätte erreichen und aus dem Tanz reißen können. Er fragte sich einen flüchtigen Augenblick lang, ob sie, wenn er das tat, wohl jene springenden Dolche gegen ihn richten würde; wahrscheinlicher jedoch war, das wußte er gleich darauf, daß sie sich einfach in die Murna zurückverwandeln würde, die er kannte, jene kalte, unnahbare königliche Frau zwischen seinen Händen. Und eine andere Art von Wut kam in ihm auf, eine zornige Hilflosigkeit, die er nicht begriff; doch schließlich begriff er kaum etwas, was mit Murna zu tun hatte. Ringsum im Kreise wirbelten und schössen die langen Messer empor, blitzten in ihren tödlich verschlungenen Mustern im Flammenlicht auf. Immer hochtönender schrillte die Flöte gegen den stoßenden Takt an, den die Männer aus dem Dunkel stampften, und gegen das Klirren der aufeinandertreffenden Dolche. Und dann schließlich fiel von jedem Kämpferpaar ein Mädchen auf die Knie, warf sich herum und zurück, um dann mit ausgebreiteten Armen am Boden zu liegen. Wie Blütenblätter einer großen, mit Dolchspitzen bewehrten Blume, deren Kelchmitte das Feuer war, lagen sie ringsherum ausgestreckt, während die anderen hoch über ihre Körper hinweg den Siegessprung ausführten. Dann war der Tanz zu Ende. Die Bezwungenen sprangen wieder auf die Füße. Das dunkle Mädchen zog ein Stückchen Farnwedel aus seinem Haar. Und Murna warf der Frau, die für sie auf der Flöte gespielt hatte, die beiden Dolche zu und verließ, ohne einen Blick zurückzuwerfen, die 185
Tanzfläche, während sie ihre Röcke schon wieder aus dem Gürtel zog. Jetzt war sie wieder die alte Königin; selbst der Kopfschmuck, mit Bändern befestigt, die in ihre Zöpfe eingeflochten waren, hatte sich nicht um Haaresbreite verschoben. Zu dem Gesandten gewandt, während ihr Atem noch immer rasch ging, fragte sie: »Können eure Frauen jenseits von Drum Alban es besser?« Auch der Gesandte atmete hastig, und um seine Nasenflügel zeichnete sich eine seltsame Blässe ab. »Jenseits von Drum Alban ist es bei den Frauen nicht üblich, für einen Gast, der in Frieden kommt, den Kriegstanz zu tanzen.« »Und auf dieser Seite von Drum Alban ist es nicht üblich, daß ein Gast überhaupt verlangt, die Frauen für sich tanzen zu sehen«, erwiderte Murna freundlich. »Unter meinem Volk gibt es Männer, die die Wahl eines solchen Tanzes als eine Beleidigung ansehen würden.« Der Gesandte sprang auf, raffte seinen Mantel aus Wildkatzenfell um sich und schwenkte den Friedenszweig aus grünem Wacholder hin und her, so wie eine erregte Katze die Schwanzspitze bewegt. Doch im gleichen Augenblick war auch Phaedrus auf den Beinen. »Sagen wir doch: eine Beleidigung gegen die andere, und damit wären wir quitt?« Und ehe der Mann noch etwas antworten konnte, streckte er die Hand aus und packte Murna am Handgelenk. »Komm, meine Königin. Die Nacht ist vorgeschritten, und wir müssen daran denken, daß unsere Gäste eine weite Reise hinter sich haben und morgen den Heimweg antreten werden. Mein Herr mit dem grünen Zweig - magst du und mögen deine Begleiter in den Gästehäusern angenehmen Schlaf finden; wir werden uns am Morgen hier wieder treffen.« Während hinter ihnen der allgemeine Tumult des Aufbruchs einsetzte, sagte er noch einmal: »Komm, meine Königin«, obwohl für diese Aufforderung im Grunde wenig Anlaß bestand, denn noch immer hielt er ihr Handgelenk umfaßt; und zum erstenmal, seit er die Maske aus rotem Stutenfell von ihrem Gesicht gerissen hatte, verließen sie gemeinsam die Halle durch den von einem Vorhang verdeckten Ausgang, der zu den miteinander verbundenen Häusern führte, in denen die Frauen wohnten. 186
Nachdem er die Sklavin der Königin, die dort auf sie gewartet hatte, barsch aus dem Gemach gewiesen hatte, sagte Murna: »Und würdest du jetzt wohl mein Handgelenk loslassen, Midir?« Sie hatte mit ihm den Saal verlassen, als wenn sein Griff um ihr Handgelenk nur die allerleiseste Berührung gewesen wäre. Bis zu diesem Augenblick war er sich nicht bewußt gewesen, daß er es noch immer, und zwar mit einer von Wut diktierten Heftigkeit, gepackt hielt. Er ließ sie sogleich los, und als sie zurückwich, sah er im Schein der Robbenöllampe die sich verdunkelnden Male, die seine Finger hinterlassen hatten. Jede andere Frau, dachte er, würde sich jetzt wehleidig das Handgelenk reiben, doch nicht Murna. Der größte Teil seiner Wut verflog und ließ nur verwirrte Hilflosigkeit zurück. der ihr zuschaute, dachte bei sich, so, wie man manchmal mitten in einer ganz anderen Überlegung an kleine, unwichtige Dinge denkt, daß sie die Bänder des Kopfschmucks in jener Nacht zerschnitten haben mußte, als sie ihn von ihrer Mutter übernahm und ihn statt ihrer trug. Die Erinnerung an jene Nacht ließ ihn hart gegen sie werden. So sagte er: »Da kannst du ganz sicher sein, wenn die Zeit kommt, daß ich doch den Kriegsaufruf zu den Kämpferscharen der Frauen senden muß, so werde ich dennoch nicht nach der königlichen Frau rufen, weil ich daran denke, daß sie Liadhans Tochter ist!« Ähnlich wie bei Shän, wenn sie erregt war, weiteten sich ihre Augen, wurden riesengroß und glänzend. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen!« flüsterte sie. »Mit mir, der Königin!« »Vergiß nicht, daß ich es war, der dich zur Königin machte!« »Wirklich? Mir scheint eher, daß du durch die Heirat mit mir, der königlichen Frau, die Königswürde errangst, die du ohne mich nicht hättest halten können!« Phaedrus' Hand schoß vor, um sie zu packen und zu schütteln. »Du verfluchte Füchsin ...« Doch er schüttelte sie nicht. Sie stand völlig unbeweglich; das kühle Glänzen ihres starren Blicks traf den seinen. »Ja, so ist es schon viel 187
besser, das entspricht weit mehr dem Mann, zu dem sich jener Midir, den ich einst kannte, zu entwickeln versprach!« Phaedrus ließ die Arme sinken, wandte sich mit einem Fluch um und verließ das Gemach der Königin. Die Forderungen des caledonischen Gesandten waren, als sie am nächsten Morgen in der Halle zusammenkamen, klar und eindeutig. Liadhan, die Königin, sollte auf ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren und als Göttin auf Erden über das gesamte Earra-Ghyl herrschen. Conory, der Erwählte, sollte ebenfalls seinen ihm zustehenden Platz an ihrer Seite einnehmen. Der Stamm sollte sich wieder zu der alten Lebensweise und der alten Götterverehrung bekennen. »Und was ist mit mir?« erkundigte sich Phaedrus interessiert. »Liadhan, die Wölfin, und Conory, der Führer meiner Leibgarde, rinden beide ihre Plätze für sich vorbereitet; welcher Platz ist bei all dem mir zugedacht?« »Was dich anbetrifft, so lautet der Bescheid König Bruides so: Du sollst frei sein, so lange du dich weitab von hier aufhältst. Wenn du jedoch noch einmal den Fuß in die Jagdgründe der Dalriaden setzt, dann erwartet der Tod dich und jene, die dich auf den Platz erhoben, wo du jetzt sitzt«, erklärte der Gesandte anmaßend. Mit sinkendem Interesse fragte sich Phaedrus, wie weit er wohl auf seinem Weg ins Exil kommen würde, bis er tödlich verunglückte oder einfach verschwand. Er blickte Forgall in die Augen und lachte, lachte so, daß er selbst überrascht war, knapp und kalt. »Was mich anbetrifft, so bin ich der Pferdekönig! Ich habe in den vergangenen sieben Jahren genug des Herumziehens erlebt, und ich habe nicht die Absicht, wieder zum Wanderer zu werden. Soweit es Conory, meinen Führer, angeht, so steht es ihm frei, mit dir zu dieser Göttin auf Erden zu ziehen und ihr sieben Jahre währender König zu sein; doch wird er kein Siebenjahrkönig bei den Dalriaden werden!« Conory, der mit Shän, die ihm in ihrer Lieblingspose wie ein Pelzkragen um die Schulter lag, direkt hinter ihm stand, beugte sich mit lässiger Anmut vor und spie ins Feuer. Die Katze, von der plötzlichen Bewegung erschreckt, grub alle ihre Krallen in sein 188
Fleisch, legte die Ohren zurück und öffnete das rosafarbene Maul zu lautlosem Fauchen. »Ja, ja, wir beide sind meist einer Meinung, du und ich«, murmelte Conory ihr zu und löste behutsam eine der Tatzen, die ihn blutig gekratzt hatte. »Und nun zu Liadhan, einst königliche Frau des Stammes, die sich ohne Recht Königin nennt: Tod treffe sie an dem Tag, an dem sie den Fuß in die Jagdgründe von Earra-Ghyl setzt.« Midirs Wut stieg in Phaedrus' Kehle auf; er hatte völlig vergessen, daß er eine Rolle spielte, als er sich vorbeugte, um voller Verachtung in das dunkle Gesicht vor sich zu starren. »Das ist der Bescheid, den du Bruide, deinem König, zurückbringen magst - und der Wölfin, die sich Königin der Dalriaden nennt!« Die Augen Forgalls des Gesandten waren dunkel und undurchsichtig wie die der Menschen aus dem Alten Volk, deren Blut stark in den Adern der Caledonier floß; doch weit hinten glühten in ihnen winzige rote Funken, und in seinem Gesicht begann sich die gleiche verkniffene Blässe um die Nasenflügel zu zeigen wie in der letzten Nacht in der Feuerhalle. »Der Anspruch von Liadhan, der Königin, ist wohlbegründet im Alten Gesetz. Du bist es, Midir Mac Levin, nichts weiter als der Sohn eines Sohnes eines Sohnes, der sitzt, wo zu sitzen er kein Recht hat! Du hast die Große Mutter und den Wahren Weg verlassen, um fremden Göttern zu folgen. Der Fluch der Cailleach liegt auf solchen wie dir - und auf allen Dalriaden, die versuchen, sie von ihrem rechtmäßigen Platz in den Herzen der Menschen zu vertreiben.« »Höre«, sagte Phaedrus. »Höre, kleiner Mann: Für die Epidaier und für das Alte Volk vor ihnen galt die Alte Weise. Aber wir, die Dalriaden, sind es, die jetzt in Earra-Ghyl herrschen, und bei uns gilt eine andere Weise. Noch ehe wir jemals über die westliche See hierherkamen, sprachen wir schon das Mittagsgebet zu Lugh vom Glänzenden Speer und riefen ihn im Klange unserer Sonnentrompeten an; und unsere Könige waren die Söhne von Königen und nicht nur die Gatten der königlichen Frauen. Für uns ist allein das die Weise. Würden wir darum zu euch kommen und sagen: >Ihr müßt euch von der Großen Mutter abkehren und Bruide, euren König, absetzen, der 189
nur darum herrscht, weil er die Tochter der Königin heiratete, und dafür Conal Caenneth zum König machen, der eures letzten Königs Sohn ist, und euch zu unserer Weise bekehren, weil es die unsere ist?< Die Caledonier sind ein freies Volk; das gleiche sind die Dalriaden. Und da sie ein freies Volk sind, werden sie die Bewohner jenseits von Drum Alban nicht um Erlaubnis fragen, ob sie frei unter dem Himmel atmen dürfen!« »Kühne Reden«, sagte der Gesandte. »Kühne Reden eines kleinen Volkes an ein mächtiges!« »Wer kam schon unversehrt davon, der sich dem Wolf unterwarf«, folgerte Phaedrus barsch. »Höre nur weiter: Sicher wäre es eine feine Sache für die Caledonier, ihre Verwandte auf den Thron der Dalriaden zurückzuführen und sie dort mit Schwertgewalt zu erhalten, und eine feine Macht würde euch das über diesen Stamm geben für alle Zeit, solange die Sonne im Osten aufgeht und der Weizen im Boden keimt. Auf diese Weise habt ihr euch andere Untertanen ja erworben. Doch die Dalriaden sind nicht gewillt, eure Untertanen zu sein; und wir sind eigensinnige Leute und wenig geneigt, unsere Meinung zu ändern.« »Und das ist das letzte Wort, das du zu sagen hast?« Phaedrus hatte vorgehabt, zuerst mit dem Rat und der Sippe zu beratschlagen, ehe er der Sache ein Ende machte. Doch er erinnerte sich kaum noch daran, daß sie in der großen Halle anwesend waren. »Das ist mein letztes Wort, ja, mein letztes.« Sie schwiegen lange. Dann trat der Gesandte einen Schritt zurück und zerbrach feierlich den grünen Zweig. Die Bruchstücke warf er ins Feuer. »Dann schärfe deine Speere, Midir von den Dalriaden.« »Die Speere sind schon geschärft.«
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Streitwagen am Paß Der Gewittersturm, der des Nachts über sie hereingebrochen war, hatte die Luft gereinigt, und hoch über ihnen zogen die Wolken an einem vom Regen klar gewaschenen, blauen Himmel dahin. Doch hier, in dem tiefgelegenen Landstrich zwischen dem Fluß und den Erlenwäldern, wo sich der Beinn Na Stroine behäbig aus den Wäldern vor ihnen in die Höhe türmte und das Cruachan-Gebirge die weiße Mähne des in den höher gelegenen Mulden verbliebenen Schnees trug und den Raum nach Nordosten völlig auszufüllen schien, hier regte sich kaum ein Lüftchen. Obwohl der Frühling kaum erst in den Sommer übergegangen war, lag die Hitze flimmernd über dem Boden, und die Schmeißfliegen plagten die müden Männer und die noch matteren Pferde unerträglich. Kopf um Kopf flog unmutig in die Höhe, Hufe stampften, und überall entlang der Wagenlinie schlugen die Schweife. Brys sprach beruhigend auf sein Gespann ein, während er die Zügel ganz locker hielt. »Ruhig! Nur ruhig, Kinder! Es dauert nicht mehr lange, und bald wird unser Fahrtwind diese Quälgeister geradewegs über den Cruachan hinwegblasen! Nur ruhig! Ruhig, sage ich!« Phaedrus, der auf dem Platz des Kriegers zur Linken des Wagenlenkers kauerte, hatte großes Verlangen, den drückend warmen Umhang abzuwerfen, der auf seiner Schwertschulter mit einer riesigen Spange aus vergoldeter Bronze und blauem Email, der Kriegsbrosche des Pferdekönigs, befestigt war. Doch der König der Dalriaden, mochte er darunter auch bis auf die Kniehosen entblößt sein, fuhr nicht wie ein einfacher Fußvolkkrieger ohne Mantel in den Kampf. Immerhin boten die schweren Falten wenigstens einigermaßen Schutz gegen die bissigen Insekten. Phaedrus dachte bei sich, daß ihm genauso wie dem unruhigen Gespann der Fahrtwind guttun würde; inzwischen jedoch schwitzte er weiter, während der Schweiß ihm auf Stirn und Oberlippe prickelte und die Kriegsbemalung auf seinem Gesicht verlief. Fortwährend öffnete und schloß sich seine Hand um die Schäfte von drei leichten Wurfspeeren, die er in der Höhlung seines mit Stierhaut 191
bespannten Schildes hielt. Zwei volle Monate waren vergangen, seit sie das Kriegsaufgebot durch ganz Earra-Ghyl gesandt und die Krieger zum Sammelplatz gerufen hatten, und mehr als ein Monat, seit sie den Kriegspfad beschatten hatten; doch in den ersten Wochen war die Kampftätigkeit wenig mehr als eine zermürbende Kette von Scharmützeln und Raubüberfällen auf Viehherden gewesen, die sich auf den Hochmoorflächen zwischen den königlichen Wassern und dem Fjord der Kriegsboote und in den steil abfallenden Schluchten des Drum Alban abspielten. Doch das heutige Treffen würde kein bloßes Scharmützel sein, und Phaedrus, der die Wurfspeere in seiner Hand spürte, hatte wieder jenes altvertraute Gefühl, auf das Trompetensignal in der Arena zu warten. Er war mit dem größten Teil der Kriegsschar im Süden gewesen, um einen Vorstoß der Caledonier abzuwehren, die sich der wenige Stunden währenden Dunkelheit bei bedecktem Mond bedient hatten, um auf ihren Pferden an den schmalen Stellen des Fjords der Kriegsboote herüberzuschwimmen und die leichten Wagen mit Rundbooten überzusetzen, als die Nachricht von einem Verwundeten auf strauchelndem Pferd überbracht wurde, daß eine ungeheure Menge von Kriegswagen über die Pässe von Drum Alban schwärme und zu den Schluchten der Erlenwälder und der Schwarzen Göttin sowie zum Abha-See strebe. Die leichten, vom alten Dergdian angeführten Wagenscharen, die dort auf der Wacht standen, würden sich ihnen entgegenwerfen - ja, gewiß, bis zum letzten Mann -, doch es würde nicht lange dauern, bis der letzte Mann fiel, wenn man ihnen nicht zu Hilfe kam. Ein zweiter Reiter, so sagte der Mann, sei zur gleichen Zeit wie er nach Burg Monaidh gesandt worden; man würde dort die Botschaft schon eher erhalten haben, denn die alte Wagenstraße ließ ein rascheres Vorwärtskommen zu als diese verfluchten Hügel__ Dann starb er. Kampfwagen. Das hieß also die Schlucht der Schwarzen Göttin, so steil sie auch sein mochte; durch die dichten Erlenwälder gab es keinen Weg für die Wagen. Noch fast während die Gespanne aufgezäumt wurden, hatten die Anführer sich zu einer eilig 192
abgehaltenen Beratung zusammengefunden. Gault war mit einer starken Kriegsmacht, die alle Fußtruppen umfaßte, zurückgeblieben, um den Vorstoß im Süden zurückzuschlagen, während Phaedrus und Conory die Elite der Reiter und Wagenkämpfer übernommen und sie wie eine Schar fliegender Wildgänse nach Norden geworfen hatten, dazu überzählige Wagenpferde, die als Deichselpferde für besondere Geschwindigkeit aufgezäumt wurden und einsprangen, wenn unterwegs Pferde aus den Gespannen lahm wurden. Die Entfernung war geringer als die von Burg Monaidh, doch wie der Bote schon gesagt hatte, erlaubte die alte Wagenstraße ein schnelleres Vorankommen als diese verfluchten Berge. Und der Gewittersturm, der in der vergangenen Nacht auf sie niedergegangen war, die Pferde unruhig gemacht und alle Bergbäche über ihre Ufer hatte treten lassen, hatte sie noch zusätzlich aufgehalten. Drei Tage schon waren sie auf diesem verzweifelten Ritt unterwegs, und mindestens sieben Pferde waren der unbarmherzigen Geschwindigkeit erlegen. Doch als sie durch die bleiche, vom Sturm erschöpfte Morgendämmerung in das flache, feuchte Land rings um den langgestreckten Abha-See gelangten, hatten die zur Erkundung vorausgeschickten Männer festgestellt, daß die leichten Wagen zusammen mit den Reservetruppen, die am Vortage eingetroffen waren, noch immer den Feind zurückhielten; schwer zerschlagen jedoch hielten sie die Front, und der Kampf hatte nach wenigen Stunden Dunkelheit schon wieder begonnen. Keine Zeit also, Männer und Pferde ausruhen zu lassen, wie Phaedrus es erhofft hatte, keine Zeit für irgendeine Beratung. Er erinnerte sich an seinen Blick hinüber zu Conory, an die unausgesprochene Frage und Zustimmung, die zwischen ihnen hin und her gingen; und dann hatte er die nötigen Befehle erteilt. Er erinnerte sich an das heftige Stampfen von Pferdehufen, als der Späher sein Pferd herumschwenkte und schon mit der Nachricht an den alten Dergdian und die Schar der hart bedrängten und ständig geringer werdenden Kampfwagen weit drinnen in der Schlucht der Schwarzen Göttin davon war: »Ich sende Reiter aus, die eure Flanken
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decken; seid bereit, euch zurückzuziehen, wenn sie erscheinen. Wir sind zur Stelle, um euch aufzufangen.« Und fast noch auf den Fersen des Boten war die müde Reiterschar ausgezogen. Sie ritten hinaus in den morgendlichen Nebel, und jeder Mann aß im Reiten sein Frühstück - ein Stück Gerstenbrot aus dem Beutel, der seinem Pferd um den Hals hing. Nun, nachdem sie ihr eigenes Stück Gerstenbrot zum Frühstück verzehrt und die Pferde so gut wie möglich versorgt hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten - hier am Eingang der Schlucht, die weiten Wälder und die zum Abha-See hin verlaufenden Niederungen hinter sich, an der linken Flanke geschützt durch den Fluß, während vor ihnen das nackte Felsgestein und die abfallenden, mit Farnkraut bewachsenen Hänge der Schlucht zur Schwarzen Göttin in der Hitze flimmerten. Vor den wenigen hinter ihm liegenden Wochen hatte Phaedrus keine Erfahrung in der Führung einer Kriegsschar gehabt, doch seine Geübtheit als Gladiator und eine natürliche Veranlagung zur Führerschaft waren ihm gut zustatten gekommen; jetzt blickte er die Wagenlinie entlang und erfaßte dabei gleichzeitig die Position der Reiterei mit den Augen eines Heerführers, der zumindest eine einigermaßen vernünftige Vorstellung davon besitzt, wie er seine Männer am vorteilhaftesten anzuordnen hat. Die Lücken in den Reihen der Kampfwagen waren dazu bestimmt, die hart bedrängte Schar Dergdians passieren zu lassen. Kleine Kampfgruppen standen im Hintergrund bereit, um vorwärts zu schwenken und die Lücken zu schließen, ehe der nachfolgende Feind hineindrang. Phaedrus, an die Disziplin der Römer und die geordneten Scheinkämpfe in der Arena gewöhnt, hatte den Befehl zu diesem Vorgehen erteilt; doch die Männer des Stammes hatten von solcher Kampfweise nie etwas gehört, und er wußte nun, daß er mit dem Versuch, diesen Plan mit einer ungeübten Wagentruppe auszuführen, ein äußerst gewagtes Risiko einging. Was geschehen würde, wenn die Lücken sich nicht rechtzeitig schlössen, war eine Aussicht, an die zu denken ihm Übelkeit bereitete; doch wenn sie den alten Dergdian und seine 194
Männer nicht ihrem Schicksal überlassen wollten, durften sie vor diesem Risiko nicht zurückschrecken. Eine Bremse stach ihn ins Handgelenk, und mit einem Fluch ließ er seine Hand auf die Stelle niederfahren und wischte den kleinen, zerschmetterten Körper weg. Dann wartete er wieder. Allmählich müßte schon ein Anzeichen von ihnen bemerkbar werden. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit angespannt nach vorn, hinauf in die felsige Krümmung der Schlucht, um irgendeine Bewegung, einen Laut wahrzunehmen .. . Die Luft war erfüllt von der Feuchtigkeit und dem sanften Rauschen des Flusses, so daß es schwierig war, festzustellen, wann die ersten Geräusche endlich hörbar wurden. Plötzlich erhob sich von den fernen Hängen des Beinn Na Stroine ein Brachvogel und stieß seinen Warnruf aus, der dünn und kläglich über die Entfernung zu ihnen drang. Und ein Stück die Wagenlinie hinunter warf ein Pferd den Kopf zurück, während ein anderes den Boden mit dem Huf aufscharrte und dabei schnüffelnd die Brise kühler Luft einsog, die von den hohen Bergen des Drum Alban durch die Schlucht herunterwehte. Ein schwaches, unverständliches Murmeln schien mit dem leisen Windhauch herüberzutreiben, erstarb mit ihm zugleich im Farnkraut und drang von neuem an ihr Ohr. Dann durchbrach deutlich erkennbar der Klang eines Jagdhorns die hitzeflirrende Luft. Jemand, der dort oben noch immer das Kommando führte, rief die Überlebenden jener ersten Bewährung ab, wie ein Jäger seine Hunde zu sich zurückbeordert. Irgend etwas, es war, als ob die dunstige Hitze siedete und sich verdichtete, sammelte sich weit im Inneren der Schlucht an; und von dort drinnen kam helles Blinken, das hier und dort aufleuchtete, wenn das Sonnenlicht auf eine Waffe, eine Radnabe oder den glänzenden Brustriemen eines Pferdes fiel. Die Dunkelheit unter der Staubwolke nahm zu, und aus ihr kam ein Geräusch, das an Donnergrollen in den Bergen erinnerte. Es wurde zu dem Rumpeln und Dröhnen von Rädern und Hufen, dem Klirren von Kriegsgerät und dem Schreien von Männern, zu all dem Getöse einer im Gang befindlichen Schlacht. Phaedrus, der jetzt wie alle übrigen auf den Füßen war, konnte sehen, 195
wie ihre eigenen Wagen zurück und immer weiter zurück fielen. Das Kriegshorn der Dalriaden schallte hohl von den Rändern des Beinn Na Stroine wider; und plötzlich wurden die farnbewachsenen Hänge darunter belebt von hastenden Gestalten, die lange Speere in den Händen trugen, während die Reiterei herabgerast kam, um sich ihren Kameraden anzuschließen, die die Flanken der heftig umkämpften Wagentruppe sicherten. Sie waren jetzt so nahe heran, daß Phaedrus durch die Staubwolke erkennen konnte, wie in jedem Wagen, der noch zwei Männer beherbergte, der Krieger das Gesicht dem Feind entgegenwandte, den Speer noch immer in der Hand und den Schild erhoben, um sich selbst und des Wagenlenkers Rücken zu decken. Wie Soldater eines schrecklichen Geisterheeres strömten sie blutbefleckt und zerfetzt durch die Lücsen herein. Da waren Wagen, in denen nur noch ein Mann fuhr, Wagen, in denen sowohl der Krieger wie der Wagenlenker gegen die weidengeflochtene Seitenwand gesunken lagen, oder solche, die schräg und nur von einem wild umherblickenden, verwundeten Pferd gezogen wurden, neben dem dort, wo man seinen toten Gefährten aus den Leinen geschnitten hatte, das leere Zaumzeug baumelte. Die wilde Reiterei schwenkte von rechts und links auf beide Seiten der Kriegsschar zu. Die erschöpften Pferde in der Wagenlinie, aufgerüttelt von ihren Gefährten, dem Tumult und dem Geruch nach Blut, hatten ihre Müdigkeit vergessen und kämpften um ihr Leben. Conory, der nächste in der Linie nebeii ihm, blickte zu Phaedrus, doch der schwitzte jetzt nicht mehr allein wegen der Hitze, biß die Zähne zusammen und hielt die ganze Kriegsschar jenen einen Augenblick länger im Zaum, der nötig war, bis auch der allerletzte der zurückweichenden Wagen sicher durchgeschleust war, während der sie verfolgende Feind, vermutlich eine Falle befürchtend, die Pferde zugehe und einige Sekunden von seinem Kampfgegner ablassend zur Seite abschwenkte. Dann sprangen die in hinterster Linie wartenden Gruppen vor, um die Lücken zu schließen, und Phaedrus wartete noch einen von rasendem Herzklopfen erfüllten Augenblick länger und hob, als eben die Caledonier im Begriff waren, wieder vorzudringen, das bronzene Ochsenhorn an die Lippen und ließ ein einziges scharfes Signal ertönen, das von den Bergen hin und her widerhallte, bis die 196
hochgelegenen Taleinschnitte des Cruachan es auffingen und zurückwarfen, ein Ton, der alle Küstenvögel in Earra-Ghyl aufschreckte. Doch lange bevor das letzte Echo in das wilde Kreischen von Brachvogel und Strandläufer übergegangen war, hatte sich die Wagenlinie der Dalriaden in vollem Galopp in Bewegung gesetzt, um sich den anstürmenden Scharen der Cailleach entgegenzuwerfen. Phaedrus hörte sich selbst den Kriegsschrei ausstoßen: »Cruachan! Cruachan!« Er hörte, wie die anderen ihn aufnahmen; die Feinde schleuderten ihn mit ihrem langgezogenen Schlachtruf zurück. Er warf, als sie auf Wurfweite herangekommen waren, seinen ersten Speer, und einer der führenden Wagenlenker brach zusammen, während sein ausschlagendes Gespann die nachfolgenden in Verwirrung brachte. Und fast im gleichen Augenblick trafen die beiden Kampfwagenheere voll aufeinander. Das alles geschah unter wildem Gebrüll der Männer und dem Chaos der Pferde, mit einem Lärm, der so heftig schien, als müßte er die Berge in ihren Urfesten erschüttern. Wie lange sie dort am Eingang der Schlucht gegeneinander kämpften, während das Schlachtgetümmel einmal vor- und dann wieder zurückwogte, wußte Phaedrus nicht zu sagen. Die Zeit zählte nicht mehr, sie verging mit der Geschwindigkeit eines zuckenden Blitzes; und doch schien es ihm, als wenn sie hier ihr ganzes Leben lang gekämpft hätten, um die Caledonier von dem Gebiet um den Abha-See und von dem ins Innere Earra-Ghyls führenden Weg fernzuhalten. Schon seit langem hatte die Schlacht ihren geschlossenen Charakter verloren und sich in ein Getümmel verstreut stattfindender Kämpfe aufgelöst. Wie eine riesige Scheune, in der Getreide gedroschen wird, war die Schlucht von Staub erfüllt; die Wagen rasten und umfuhren einander, Rad verklemmte sich in Rad, während die Reiter sich an den äußeren Rändern des Schlachtfeldes hielten und von sich aus einen Vorstoß unternahmen, wo immer sich ihnen dazu eine Möglichkeit bot. Überall schwärmten Fußkämpfer mit bis an den Knauf geröteten Dolchen umher. Es schien Phaedrus, daß viele von diesen Kämpfern 197
zu Fuß Frauen waren, doch er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Vor sich, in dem Gemisch aus hochgewirbeltem Staub und emporgeschwungenen Waffen, entdeckte er einen mit schwarzer Stierhaut bespannten Wagen; die goldverzierten Brustriemen des aus hellhaarigen Braunen bestehenden Gespanns reflektierten ein feuriges Glänzen in das stauberfüllte Sonnenlicht. Der halbnackte, mit Blau und Ockerrot, den caledonischen Kriegsfarben, bemalte Krieger trug um seinen Hals den goldenen Reif eines Häuptlings. Phaedrus' Wurfspeere waren schon seit langem verbraucht. Die breite, zum Nahkampf bestimmte Lanze in der Hand, schrie er Brys etwas zu. Der Junge lachte und duckte sich tiefer, das rote Gespann, von dem Stock angestachelt, sprang vorwärts und schnaubte blutbespritzten Schaum von seinen Nüstern. Der vornehme Wagen raste näher in Phaedrus' Blickfeld und wandte ihm fast die Breitseite zu. Er sah den suchenden Ausdruck in den Augen der mit hochgerissenen Köpfen und fliegenden Mähnen rasenden Pferde und das blauäugige, brüllende Gesicht des caledonischen Häuptlings und wappnete sich gegen den Schock, als der vorschnellende Speer um ein weniges seine Schulter verfehlte. Und dann, in dem winzigen Augenblick vor dem Zusammenstoß, wich das feindliche Gespann nach links aus, und Brys riß die Roten zur Seite. Während ein Wagen über die Hinterflanke des anderen hinwegschleuderte, wobei kaum ein Daumenbreit Raum zwischen Radnabe und Felge war, zeigte sich für den Bruchteil eines Augenblicks der Rücken des feindlichen Wagenlenkers, der darum kämpfte, sein rasendes Gespann unter Kontrolle zu bekommen, ungeschützt. Phaedrus stieß mit dem Speer zu und zog ihn wieder heraus und war schon an dem Wagen vorbei, ehe er sehen konnte, wie der Mann nach vorne auf die Kruppe seiner Pferde stürzte. Das war eine Kampftaktik, die den Männern der Stämme wohlvertraut war. Beim erstenmal war es Phaedrus zuwider gewesen, den Gegner von hinten zu töten, doch jetzt war er daran gewöhnt. Ein Zuruf von Brys ließ ihn herumfahren und entdecken, daß ein zweiter Wagen auf sie zustrebte. Doch der Junge war der bessere 198
Lenker oder hatte vielleicht auch nur mehr Glück als der andere. Fast im allerletzten Moment riß er die Roten auf der Stelle herum und brachte sie dazu, das heranrasende Gespann zu umgehen. Der Wagen zitterte und verzog sich wie ein von Schmerzen gequältes lebendes Wesen, und von irgendwoher unter der Bodenfläche kam ein unheilvolles Bersten. Sie streiften die Seitenfläche des feindlichen Kampfwagens, und es schien, als ob sich im nächsten Augenblick die Räder ineinander verklemmen würden. Doch dann kamen sie doch irgendwie frei davon, während der andere vorbeijagte und wendete, um von neuem anzugreifen. Ein herrenloses Gespann mit zwei hellen Braunen, dessen Krieger wie viele andere in seiner Lage heruntergesprungen war, um den Kampf zu Fuß fortzuführen, kam quer über den Weg daher und behinderte den heranbrausenden gegnerischen Wagen, wodurch es allgemeine Verwirrung anrichtete. Und in dem Augenblick, ehe der schwitzende Wagenlenker das Gespann aus dem Wirrwarr befreien konnte, riß der Krieger mit einem Aufschrei der Wut den Speerarm in die Höhe und schleuderte die breitflächige Lanze so mühelos, als wenn sie nicht mehr als ein leichter Wurfspeer wäre. In hohem Bogen daherkommend, traf er Phaedrus an der Schläfe, während der den Schild hochriß, riß hinunterschlitzend die linke Wange auf und drang schließlich durch den jungen roten Bart entlang dem Unterkiefer wieder heraus. Während eines entsetzlichen Augenblicks, da die Hälfte seines Sehvermögens in roter Finsternis erlosch und er, in die Knie gesunken, das Wagengeländer umklammerte, dachte Phaedrus, daß sein linkes Auge verloren sei. Als er jedoch eine Hand frei machte und sie an sein Gesicht hob, begriff er, daß nur das Blut ihm das Sehen verwehrte. Er hörte, wie Brys ihm etwas zurief, spuckte Blut und schrie durch das Getöse zurück: »Nein, nein - es ist alles in Ordnung.« Doch war zu fühlen, daß der Wagen weit davon entfernt schien, ganz in Ordnung zu sein; irgendeine wichtige Befestigung hatte unter der unerhörten Beanspruchung nachgegeben, und das Fahrzeug war für den weiteren Kampf an diesem Tag nur noch wenig zu gebrauchen. 199
Phaedrus war es gelungen, wieder auf die Füße zu kommen; er wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus den Augen, während seine Kraft allmählich wiederkehrte. »Es ist nur eine Schnittwunde — viel Schweinerei, aber nichts Ernstes. Bleib in meiner Nähe und halt die Pferde aus dem Trubel 'raus.« Phaedrus zog sein Schwert und sprang vom Wagen, um sich dem Häuptling mit dem goldenen Halsring entgegenzustellen, der wieder herangeprescht kam. Die Schlacht hatte sie dichter an den Fluß herangetrieben, als ihm bewußt geworden war, und auf der Böschung über dem schäumenden Wasser trafen sie aufeinander und verfingen sich in einem Zweikampf, wahrend der Kampf rings um sie hin und her wogte. Sie fochten auf engem Raum; jeder hatte den Rücken den eigenen Jagdgründen zugewandt. Der Häuptling griff mit dem Mut eines wilden Ebers an, doch gegen seine gewaltige Stärke und die beiden unversehrten Augen konnte Phaedrus vier Jahre in der Gladiatorenschule setzen. Das glich sich aus und machte den Kampf zu einem Treffen von zwei gleichwertigen Gegnern. In Phaedrus stieg eine stolze Freude und zugleich eine Art fiebrige Benommenheit auf, so daß er es kaum bemerkte, als er seinen Gegner schließlich niederstreckte, und nur sah, daß ein neuer Feind ihm gegenüberstand, ein jüngerer und behenderer Mann, der während des Kämpfens wie ein Tänzer vor- und zurücksprang. Phaedrus spürte plötzlich, wie seine eigenen Füße allmählich langsam und sein Schwertarm schwer zu werden begannen. Er kannte diese tödlich schleichende Schwäche von früher her, und einen Augenblick lang verwischte sich das Brüllen, das Dröhnen der Hufe und das Klirren der Kriegswagen rings um ihn zum Zuschauerlärm in der Arena. Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu kriegen, und erblickte die steil abfallende Flußböschung fast direkt vor seinen Füßen, zugleich auch das düstere Aufzucken der feindlichen Klinge, die wie der sichtbar gewordene Tod auf ihn zukam, und fuhr von unten her unter die Deckung des Mannes. Seine Schwertspitze trieb er unter dem Schildrand hinweg nach oben.
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Die Augen des Caledoniers weiteten sich plötzlich mit verwundertem Ausdruck, seine Deckung öffnete sich weit, und mit ersticktem Schrei stürzte er rückwärts die Böschung hinunter. Und während der Mann mit einem Aufklatschen im Wasser verschwand, taumelte Phaedrus herum, um sich dem entgegenzustellen, was als nächstes auf ihn zukommen würde. Eine Schar feindlicher Reiter drang auf ihn ein. In dem ständig sich wandelnden Bild der Schlacht war er längst von den Gefährten getrennt worden, und Brys war nirgendwo zu sehen. Und in diesem traumartigen Chaos begriff er mit nebensächlicher, kühler Gewißheit, daß dies das Ende seines Kampfes war, und bereitete sich darauf vor, von seinen Angreifern so viele wie nur möglich mit sich zu nehmen, ehe er zu Boden ging. Und dann rasten mit donnernden Hufen und wildem Räderklirren, unter einem Gebrüll, das aus den dunklen Kehlen von Teufeln hätte stammen können, drei Kampfwagen der Dalriaden auf ihn zu. Er wandte sich um und taumelte ihnen entgegen. Er sah eine Hand, geschmückt mit Perlenarmbändern wie die einer Frau, und griff danach oder wurde von ihr ergriffen, als der erste Wagen vorbeijagte. Halb kletterte er, halb wurde er hineingezogen, kaum daß die Pferde indessen ihren wilden Lauf verringerten. Der Fahrtwind klärte ihm ein wenig den Kopf, und er merkte erst jetzt, daß das ewige Hin und Her über den gleichen Kampfplatz vorbei war und die Flut der Schlacht sich nur nach einer Seite hin bewegte, hinauf in die Schlucht der Schwarzen Göttin, und weg von den Ufern des Abha-Sees, zurück zu den Bergen, die die Grenze zu Caledonien bildeten. Fast überall brach der Widerstand der Caledonier zusammen, sie wichen zurück und strömten davon bis auf einige Kämpfergruppen hier und dort, die, abgeschnitten von ihren Kameraden, sich umwandten, um kämpfend zu enden. Zwischen Heidekraut und den Resten zertretener junger Fingerhutpflanzen lagen zerbrochene Wagen umher; tote Männer, tote Pferde, und die verfolgenden Wagen jagten ohne Unterschied über die Körper von Freund und Feind. Phaedrus hatte das Verlangen, sich über das Wagengeländer zu beugen und zu 201
erbrechen; doch er schluckte das Würgen in seiner Kehle hinunter und hielt sich an der Seitenwand des Wagens fest, um aufzustehen. Er war der König, der Pferdekönig, der die siegreiche Verfolgung anführte, die sich hinter ihm und zu seinen Seiten ausbreitete. Er schüttelte das Blut aus seinen Augen und blickte ringsum auf seine Männer; und es schien ihm, daß weniger da waren, als er erwartet hatte. Da klang noch ein anderer Ton durch die Luft: der kreischende, haßerfüllte Kriegsgesang einer Wildkatze; und als er hinunterblickte, sah er Shän, die mit zurückgelegten buschigen Ohren und hin- und herpendelndem Schwanz langgestreckt auf der Deichsel kauerte, wo während des Kampfes stets ihr Platz zu sein pflegte. Conory, tief geduckt auf weit gespreizten Beinen, lenkte den Wagen selbst; die Zügel hatte er sich nach der Art vieler Wagenlenker um den Leib geknotet, um eine Hand für seinen Speer frei zu haben. »Wo ist Brys, mein Wagenlenker?« erkundigte sich Phaedrus mit belegter Stimme durch die zusammengepreßten Zähne. Doch in seinem Herzen fragte er auch gleichzeitig nach all den anderen. »Irgendwo hinter uns, mit einer Speerwunde im Schenkel«, erwiderte Conory. »Und meiner ist tot. Du mußt dich diesmal mit mir abfinden.« Er duckte sich noch tiefer über die Hinterbacken seines Gespanns und rief die Pferde beim Namen: »Auf - Weißfuß und Wildfeuer! Sie rennen, treibt sie immer weiter! Treibt sie, wie der Wind die Sturmwolken von den Gipfeln des Cruachan wegtreibt, dann werden eure Stuten stolz sein, euch viele Söhne zu tragen!« Die Worte wurden in Phaedrus' Kopf zu einer Art Gesang, der zusammen mit dem gräßlichen Kriegsgeschrei der großen Katze stieg und fiel. Der Nebel der Unwirklichkeit verdichtete sich um ihn, so daß er nichts mehr deutlich aufnahm außer dem Geruch des Blutes und dem feurigen Klopfen in seiner Wunde. Er nahm nicht mehr wahr, wann die Jagd endete, und merkte nicht, wer den Befehl zum Sammeln der Jäger gab. Doch plötzlich war da kein Tumult mehr, kein holpernder Wagenboden unter ihm; er saß auf der Deichsel, während die erschöpften Pferde mit bebenden Flanken und hängenden Köpfen 202
weggeführt wurden. Irgend jemand beugte sich über ihn und hielt ein kaltes, feuchtes Tuch an sein Gesicht, und eine Stimme sagte: »Seine Schönheit hat er oben in der Schlucht lassen müssen, glaube ich.« Ein anderer antwortete: »Die Blutung jedenfalls hat aufgehört, und das ist das wichtigste.« Und dann sagte eine dritte Stimme - Phaedrus meinte, daß sie wie die Hand, die das ausgewrungene Tuch hielt, zu Conory gehörte -: »Himmel! Um ein Haar hätte er das Auge verloren!« Phaedrus fragte sich, so als ob es um jemand anderen dabei ginge, was geschehen wäre, wenn er wirklich das Auge verloren hätte. Zählte ein Auge, soweit es die Königswürde betraf, ebensoviel wie beide? Irgend jemand hielt ihm eine Feldflasche mit Met an den Mund. Der Flaschenrand stieß gegen seine Zähne, und Phaedrus hob den Kopf und versuchte, die Flüssigkeit durch sie hindurch einzusaugen. Sein Gesicht war so steif, als wäre es in eine Schleifzwinge eingespannt, und etwas von dem brennenden Zeug kam wieder zu der großen zerfetzten Stelle in seiner Wange heraus. Doch es gelang ihm, einige Mundvoll hinunterzuschlucken, und der Nebel um ihn schien ein wenig zurückzuweichen. Durch das krankhafte Pochen, das aus dem Inneren der Wunde zu hämmern und seinen ganzen Kopf zu erfüllen schien, blickte er um sich und sah, daß es Abend geworden war. Die Schatten lagen lang über Wäldern und Marschen, und der Cruachan türmte sich tiefschwarz gegen den Sonnenuntergang auf, während an seinen Gipfeln goldene und purpurne Sturmwolken wie Banner wehten. Weit über das Land bis zum Abha-See war das dämmrige Gebüsch von Lagerfeuern belebt, und zwischen den Feuern standen die Pferde, an die Geländer der Wagen gebunden. Doch wieder schien es Phaedrus, als wären da erstaunlich wenige - weniger Wagen, Pferde und Männer - viel weniger Männer . .. Phaedrus bemühte sich, auf die Füße zu kommen, doch irgend jemand drückte ihn an den Schultern nieder. »Bleib still liegen, der Heilpriester kommt gleich.« Er schüttelte den Kopf und hob tastend die Hand an die aufgerissene linke Wange. »Es blutet ja kaum noch. Gib mir das Tuch da mit, dann werde ich es schon schaffen.« Die Worte kamen belegt 203
und undeutlich zwischen seinen Zähnen hervor, denn sowohl seine Kehle wie auch seine Zunge waren geschwollen. »Warte auf den Priester.« »Das hat auch spater noch Zeit. Ich habe jetzt anderes zu tun und er auch.« Doch noch immer lagen die Hände auf seinen Schultern, und er war zu schwach, um sich trotz ihres Druckes zu erheben. Statt dessen fragte er nach einer Weile: »Was ist aus Dergdians Kampf wagentruppen geworden?« Es war Dergdian selbst, der ihm antwortete. »Wir sind hier im Lager und schlagen uns mit Haferbrei voll, jedenfalls die, die von uns übriggeblieben sind.« Phaedrus hob mühsam den Kopf, er war so schwer, daß er ihn kaum in die Höhe brachte, und sah den alten Krieger über sich gebeugt. »Wir — kamen — so — schnell - wir — nur — konnten.« »Sicher«, sagte Dergdian und nickte. »Und die anderen? Es - scheinen mir so wenige.« Es folgte eine beklemmende Pause, und dann sagte Conory mit einer eigenartigen Behutsamkeit, die sich völlig von seiner sonstigen geschmeidigen Sprechweise unterschied: »Ich kann mir vorstellen, daß auch die Caledonier ihre Wunden zu lecken haben, und die sind zahlreicher und tiefer als unsere.« »Anscheinend sind aber auch unsere tief genug! Nein, ich muß es selbst sehen . . .« Phaedrus nahm alle Kraft zusammen, die er noch in sich hatte, und kam schwankend auf die Füße. »Nehmt eure Hände weg — ich muß — nachsehen . ..« Sie ließen ihn gehen, und er merkte nicht, daß Conory dicht hinter ihm war, während er auf das nächste Feuer zutaumelte. Noch ehe er es erreichte, rief eine schwache Stimme: »Herr! Mein Herr Midir!«, und er blieb stehen und blickte umher. Nur ein paar Schritte entfernt waren seine roten Pferde an das Geländer dessen angebunden, was von dem königlichen Kampfwagen übriggeblieben war. Einige Armvoll Gras waren vor den Tieren aufgehäuft, und ganz in der Nähe lag der junge Brys, der sich jetzt mühsam auf einem Ellbogen aufrichtete, während das Blut noch immer durch die aus 204
irgendeinem Mantel gerissenen Stoffstreifen drang, die man ihm um den Schenkel gebunden hatte. Schwankend wandte sich Phaedrus zur Seite und ging mit unsicheren Beinen auf ihn zu. »Bleib liegen, oder du wirst wieder — bluten wie ein Schwein, wenn du - dich so herumdrehst. Und wir haben ohnehin schon - genug Männer verloren - wie es scheint.« »Herr, ich ...« Der Junge blickte auf sein verbundenes Bein. »Ich hab' das hier abgekriegt, und als ich wieder in die Höhe kam, hatte ich dich verloren, und da war ich zu nidits mehr nutz, als die Pferde aus der Gefahr zu bringen.« »Das hast du großartig gemacht, und da war - wirklich nicht mehr, was du hättest tun können. Nein, lieg still, hörst du - ich werde meinen Wagenlenker eines Tages wieder brauchen.« Er versuchte zu grinsen, doch sein ganzes Gesicht schien starr, als wenn man Lehm darübergeschmiert hätte. Der Schmerz wühlte in der Wunde so stark, daß er fast nichts mehr sah, und er wandte sich rasch ab, damit der Junge es nicht bemerkte. Die plötzliche Wendung versetzte die Welt um ihn in heftige Drehbewegung. Einen Augenblick lang verschwammen die Lagerfeuer zu einem feurigen Sonnenrad, und in seinem Kopf schien sich eine dröhnende Höhle zu öffnen. Und dann - direkt vor sich, doch weit fort - sah er ein Gesicht. Ein Gesicht, das unter den bunten Streifen der Kriegsbemalung leichenblaß war, und die Augen darin brannten so dunkel, daß sie über alles einen Schatten zu werfen schienen. Ohne die geringste Überraschung sah er, daß es Murna war. Er fragte sich geistesabwesend, warum sie so aussah, weil er nicht wußte, welchen Anblick er selbst bot, blutbespritzt von Kopf bis Fuß und das Gesicht, wie eine zerfetzte rote Maske, entsetzlich aufgerissen. Ohne zu wissen, was er tat, bewegte er sich auf sie zu; der Boden schwankte und begann unter seinen Füßen wegzugleiten. Irgend jemand fing ihn auf und stützte ihn, doch im gleichen Augenblick war Murna zur Stelle, und durch das Dröhnen in seinen Ohren hörte er sie sagen: »Gebt ihn mir.« Ihre Arme umfingen ihn, und er fühlte, wie sie sich gegen sein Gewicht stemmte, als seine Knie nachgaben und er zu Boden sank. Sie kniete neben ihm und hielt ihn 205
fest, während er sich, das verwundete, blutige Gesicht an ihre Achselhöhle gepreßt, gegen sie lehnte. Die Welt um ihn festigte sich wieder. Mit großer Anstrengung hob er den Kopf und hinterließ dunkle Flecken auf dem Schulterteil des Knabengewandes, das sie trug. Und dann geschah etwas, das ihm hinterher erstaunlich vorkam, das ihn jedoch in jenem Augenblick nicht mehr überraschte als die Tatsache, sie hier zu finden. Sie nahm sein zerstörtes Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn. Und dieses Mal tastete sie hinterher nicht nach seinem Dolch. »Jetzt hast du auch Blut im Gesicht«, murmelte er mit belegter Stimme. »Es wird die Kriegsbemalung abwaschen«, antwortete sie.
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Entstanden inmitten der Speere Von seinem Mantel bedeckt, aus dem man die schlimmsten Blutflecken ausgewaschen hatte, lag Phaedrus in einer kleinen, aus Ästen erbauten Hütte auf einem Haufen Farnwedel und sah zu, wie Murna im Schein des vor dem Eingang brennenden Feuers seine Waffen blank rieb. Draußen konnte er die Stimmen der Gefährten hören, doch nicht die Stimmen von Loarne, Domingart oder Ferdia; die waren gestern mit so vielen anderen auf den Totenfeuern in der Schlucht der Schwarzen Göttin für immer fortgegangen, und ihre Stimmen würden im Kreis der Gefährten nicht mehr erklingen. Phaedrus konnte einen Blick auf Conory werfen, der auf seinen Speer gelehnt stand, und auf Shan, die neben ihm in ein kleines, selbstzufriedenes und tödliches Spiel mit der eigenen Leine vertieft war. Von dem in ihm tobenden Fieber geschüttelt, warf er sich unruhig hin und her, mochten auch die Salben des Heilpriesters und das Leben, das er durch seine Fingerspitzen in die Wunde gerieben hatte, ein wenig den Schmerz gelindert haben. Murna hörte auf zu reiben und sah ihn an, Besorgnis und Frage in ihren Augen. Es war seltsam, wie anders ihr Gesicht jetzt aussah, da es lebendig geworden war. Zwar hatte es noch die gleiche Form, die gleiche Farbe wie ehedem, doch war die Veränderung selbst im Schein des Feuers zu sehen. »Wenn du meine Waffen saubermachst, wer wird deine putzen?« fragte er. Noch immer fiel es ihm schwer zu sprechen, und das große Polster salbengetränkten Stoffes, das die ganze linke Seite seines Gesichtes bedeckte, machte es nicht leichter. Doch gab es so vieles, was er Murna sagen wollte, und er konnte nicht länger damit warten. »Ich habe meinen Speer im Kampf verloren; jetzt habe ich nur noch einen Dolch wie die zu Fuß kämpf enden Frauen.« »Dann hast du also deine Wildkatzen herbefohlen.« »Als die Nachricht nach Burg Monaidh kam, wußten wir, daß jeder gebraucht werden würde, der eine Waffe halten konnte.« »Auch die Königin?« 207
»Ich konnte nicht die anderen den Kriegstanz tanzen lassen und mich selbst hinter meiner Königinnenwürde verbergen«, sagte sie fast mit den gleichen Worten wie in jener Nacht, als der caledoni-sche Gesandte zu Besuch geweilt hatte. Plötzlich lag um ihren Mund ein geradezu mitleiderregendes Zucken. »Nicht einmal darum, weil du mir zu kämpfen verboten hast, da mir als Tochter meiner Mutter nicht zu trauen sei.« Phaedrus sah schweigend zu, wie sie seinen Schild umdrehte, um an die andere Hälfte des Randes zu gelangen. »Das darfst du mir nicht vorhalten, Murna«, sagte er schließlich. »Sie ist doch nun einmal deine Mutter!« »Und? Hab' ich dir das Gift gegeben, wie sie verlangte?« »Das ist etwas anderes, als gegen sie zu kämpfen.« »Wie, wenn ich dir sage, daß die Caledonier uns immer gehaßt haben, weil sie fürchten, daß wir eines Tages mächtig werden könnten? Daß sie ihre Chance gekommen sahen und ergriffen, als meine Mutter zu ihrer eigenen Sippe, zu ihnen floh? Und daß ich deshalb kämpfe, weil ich nicht will, daß sie in ihren Mänteln aus Wildkatzenfell wie die Herren durch Earra-Ghyl stolzieren?« »Ich würde sagen, daß du die Wahrheit sprichst, doch nicht die ganze Wahrheit.« »Dann will ich es noch einmal versuchen. Ich bin ebensogut die Tochter meines Vaters wie die meiner Mutter. Erinnerst du dich, wie groß, wie lebensvoll und glücklich er war, ehe sie ihn aussaugte, bis er nur noch die armselige, leere Hülle eines Mannes war, ähnlich wie am Schluß Logiore?« »Und doch war es dein Mantel, der sie vor Conory rettete. Und du warst es, die mit ihrem Kopfschmuck zurückblieb, damit sie entfliehen konnte.« »Sie war die Göttin auf Erden.« »Das glaubst du?« »Das brauchte ich nicht zu glauben. Sie war ganz einfach die Göttin auf Erden. Ich muß ja auch nicht glauben, daß du der Pferdekönig bist. Ich sah, wie man dich krönte.« 208
»Und was hat sich da inzwischen verändert? Wenn sie nun einmal die Göttin war ...« Er stockte und wußte nicht recht, wie er fortfahren sollte. Lange Zeit antwortete Murna ihm nicht. Dann sagte sie mit so leiser Stimme, daß er die Worte kaum verstehen konnte: »Vielleicht hat sie das verloren, als sie floh, als ihre Zeit herangekommen war und sie nicht bereit war, ihr eigenes Opfer zu bringen.« Diese Worte erzeugten in Phaedrus' Innerem eine Art Echo, als ob er sie irgendwo schon einmal gehört hätte - irgend etwas in dieser Art, das schon früher einmal ausgesprochen worden war. Doch er konnte sich nicht erinnern, wann und wo das gewesen sein sollte. »Wenn es sich so verhält«, sagte er, »dann war es ein geringer Verlust. Sie war doch eine recht unfreundliche Göttin.« Geduldig, als wenn sie einem kleinen Kind etwas erklärte, erwiderte Murna: »Was hat die Große Mutter mit Freundlichkeit oder Unfreundlichkeit zu schaffen? Es liegt nicht in ihrem Wesen, zu handeln, sie ist einfach da. Sie ist die Herrin über Leben und Tod. Wenn Mann und Frau zusammenkommen, um ein Kind zu zeugen, so ist ihr Wesen darin, aber auch dann, wenn eine Wildkatze das Nest einer Drossel aufspürt und die Jungen darin zerfetzt, während die Eltern über ihrem Kopf schreien und flügelschlagen.« »Und wenn - ein Knabe umgebracht wird, damit ein anderer das an sich bringe, was jenem gehört?« Phaedrus wünschte, daß er diese Unterhaltung beenden könnte, doch irgend etwas in ihm vermochte nicht aufzuhören. Es gab Dinge, die zwischen ihm und Murna geklärt werden mußten. Sie hörte auf, den Schild zu polieren und legte ihn beiseite, ehe sie antwortete. Dann sagte sie: »Bitte, glaube mir, ich wußte nichts von all dem bis zu jener Nacht, als du zurückkamst. Ich wußte nur das, was allen in Earra-Ghyl erzählt worden war: daß du in dem Fluß, der nahe bei Burg Monaidh fließt, ertrunken wärest und daß die Strömung deinen Körper davongetragen hätte.« Noch immer konnte er nicht Schluß machen. »Das will ich glauben. Doch du wußtest es, Murna, als du mich erstechen wolltest, nachdem ich dir die Brautmaske vom Gesicht gerissen hatte.« 209
»Was tut ein gejagtes Wild, wenn die Hunde es zur Strecke bringen? Es wendet sich um und wehrt sich mit den Waffen, die es hat, seien es Zähne, Krallen oder Geweih.« »So einfach war das also«, sagte Phaedrus nach einem überraschten Schweigen. »So einfach. Du jagtest mich, und ich - ich hatte schreckliche Angst.« Plötzlich und unerwartet lachte sie auf, doch in dem Lachen lag ein leises Stocken. »Nein, du verstehst noch nicht, was ich meine. Es gibt vieles, das du nicht verstehst, Midir. Höre, meine Mutter liebte meinen Vater, und sie liebte auch Logiore, bis sie beiden all das ausgesaugt hatte, was liebenswert an ihnen war. Und - sie liebte mich.« Während ihn ein Frösteln überlief, tastete Phaedrus im Dunkeln vor und ergriff wortlos ihre Hand. Murna drehte sie in der seinen leicht herum, bis beide Handflächen genau aufeinanderlagen. »Ich kann mich kaum an eine Zeit erinnern, in der mir nicht bewußt gewesen wäre, daß ich ihr keinen Zugang zu mir gewähren durfte. Und - ich weiß gar nicht recht, wie ich das erklären soll - so lernte ich, mich in mein tiefstes Inneres zurückzuziehen, wo sie mich nicht erreichen konnte. Ich errichtete Mauern, um sie fernzuhalten, und während all dieser Jahre, in denen ich tat, sagte und vielleicht manchmal sogar dachte, was sie mir gebot, bin ich hinter meinen Mauern vor ihr in Sicherheit gewesen. Nur um die Kraft zu haben, sie von mir fernzuhalten, mußte ich mein Selbst von diesen Mauern umgeben. Ware ich darüber hinausgetreten, dann wären sie niedergebrochen worden, verstehst du das?« Phaedrus' Hand legte sich fester um die ihre. »Ich versuche zu begreifen. Sprich weiter, Murna.« »Und dann kehrtest du zurück und verwandeltest die Welt in rote Feuersglut; und als du auf dein Schwert gelehnt standest und mich, als der Kampf vorüber war, anschautest, wußte ich sofort, daß du meine Mauern niederbrechen und mich finden würdest, wie klein ich mich dahinter auch zurückgezogen haben mochte.« »Und war das so schlimm?« 210
»Es ist angsterregend, zum Leben zu erwachen. Ich glaube kaum, daß ich mich so vor dem Sterben fürchten würde, wie ich mich fürchtete, als ich wußte, daß ich zum Leben würde erwachen müssen.« »Und erscheint es dir noch immer so schlimm, Murna?« »Nein, jetzt nicht mehr. Ich glaube, ich hätte vielleicht weniger Angst gehabt, wenn ich gewußt hätte, wie sehr - wie sehr du dich verändert hast.« Da war es wieder, dieses Reden darüber, daß er sich verändert hatte. Urplötzlich sah Phaedrus sich aufgerüttelt und nahe am Rand eines gefährlichen Bodens. Doch er mußte es genau wissen. »Murna, du sagtest schon einmal, daß ich mich verändert hätte, und du sagtest auch, daß es mir gleichgültig war, was ich zerstörte, und daß ich mich dessen hinterher nicht einmal mehr erinnerte. Murna, ich erinnere mich wirklich nicht, bitte sage mir, was ich tat.« Es folgte ein kurzes Schweigen; dann sagte Murna: »Vor langer Zeit hatte ich einen Spalt in meiner Mauer, nur einen einzigen. Es war ein zahmer Otter. Ich hatte ihn als junges Tier verlassen aufgefunden vielleicht war seine Mutter getötet worden - und ihn heimlich, ohne daß meine Mutter davon wußte, aufgezogen. Du entdecktest ihn und an einem Morgen, als du nichts Besseres zu tun hattest, hetztest du die Hunde auf ihn. Das Tier wußte nicht, wie es ist, gejagt zu werden, und so war es ein leichtes, es zu töten. Zu leicht, sagtest du damals, es wäre kein wirklicher Reiz dabei gewesen.« Phaedrus fühlte sich elend. »Ich muß keine Ahnung gehabt haben! Bestimmt habe ich gedacht, es wäre ein wilder«, sagte er nach einer Weile. »Murna, ich kann nicht gewußt haben, daß es deiner war!« »O doch, du wußtest es. Ich war doch dabei. Doch ich war damals noch nicht einmal zehn, ein kleines Mädchen, dem keine Bedeutung zukam; und du haßtest und fürchtetest meine Mutter. Vielleicht tatst du es, weil ich das ihr Nächststehende war, das du verletzen konntest. Doch mein Otter war das einzige, das ich besaß und dem ich meine Liebe schenken konnte. Danach habe ich den Spalt in der Mauer geschlossen und nie mehr gewagt, auch nur noch eine Maus zu lieben, immer in der Furcht vor dem, was einem solchen Geschöpf widerfahren könnte.« 211
Das also hatte Midir getan und sich dessen nicht einmal mehr erinnert, sonst würde er ihm, Phaedrus, während der Vorbereitungszeit neben dem Hahnenstall in Onnum am Hadrianswall, davon erzählt haben. Doch obwohl die Geschichte Phaedrus unglücklich machte, versetzte sie ihm doch, etwa als eine Enthüllung über Midir, keinen Stoß, noch ließ sie ihn die zwischen ihnen bestehende Bindung schwächer empfinden. Statt dessen fühlte er plötzlich aufwallendes Mitleid für den Knaben, der so in Angst gelebt und dafür guten Grund gehabt hatte. Und so nahm er bereitwillig und ungeschmälert die Last jener lange vergangenen böswilligen Grausamkeit auf seine eigenen Schultern, nicht nur, weil ihm nichts anderes übrigblieb; vielmehr erschien es ihm, als ob er auf eigenartige Weise durch solches Verhalten die Last von Midirs Schultern nehmen konnte. »Oh, Murna, es tut mir so leid -wirklich! Ich glaube, ich verdiente tatsächlich den Dolch!« »Nein«, erwiderte sie. »Nein, ich weiß das jetzt. Es geschah, weil du - weil jener Knabe solche Angst hatte. Wir beide hatten solche Angst.« »Und du fürchtest dich nun nicht mehr?« »Nein.« »Aber du zitterst, ich fühle es doch.« »Nur, weil ich müde bin.« Murna gab einen Laut von sich, der fast nur ein Flüstern war. »Ich bin so müde.« Mit der freien Hand schlug Phaedrus die Falten seines Mantels zurück. »Dann komm und lege dich hin, hier ist Raum für uns beide.« Und als sie in dem aufgehäuften Farnkraut lag, zog er den Mantel über sich und sie, und der Schlaf überfiel ihn wie einen erschöpften Jagdhund nach einem schweren Tag. Die Wundsalben des Heilpriesters taten ihre Wirkung, und noch ehe viele Tage vergangen waren, zog Phaedrus mit den Kriegsscharen wieder hinaus, wohlauf wie immer, wenn man von der großen, halbverheilten Narbe absah, die die linke Hälfte seines Gesichtes verzerrte. Zweifellos hatte er seine Schönheit dort oben in der Schlucht der Schwarzen Göttin lassen müssen; er wußte das wohl, und es gefiel ihm gar nicht, denn er war, das hatte die Arena ihn gelehrt, 212
ein gutaussehender junger Mann gewesen. Das gute Aussehen eines Gladiators war für ihn ein Teil seines Handelskapitals, und jetzt war er, Phaedrus, nur noch gut anzuschauen, wenn er die linke Seite seines Gesichtes abwandte. Er ertappte sich dabei, wie er das eines Tages tatsächlich tat, und für den Rest des Tages wunderten sich die Gefährten, warum er in einer so bösen Stimmung war. Nur Conory, mit dem er bei der Gelegenheit gesprochen hatte, wußte den Grund. Und in den Monaten, die nun folgten, hatte er wahrlich über andere Dinge nachzudenken als über die verlorene Schönheit. Den ganzen Sommer setzten sich die Kämpfe fort, verebbten wie ein stoßweise wehender Wind im hohen Gras und flackerten an anderer Stelle oder an mehreren Orten zugleich wieder auf, aber zu einer großen Schlacht kam es nicht mehr. Das Volk der Cailleach unternahm Vorstoß auf Vorstoß, einmal durch die Schluchten des Drum Alban, dann über die Furten und Engen des Fjords der Kriegsboote. Doch allmählich, je weiter der Sommer voranschritt, begannen die verstreuten Kämpfe sich auf einen Punkt zusammenzuziehen und in jenes Gebiet einzumünden, das rings um die sich vom Fjord aus nach Nordwesten erstreckende Croe-Schlucht lag. Es begann dort mit einem Scharmützel, nicht von größerer Bedeutung, wie es schien, als eine Vielzahl anderer Treffen, die vorangegangen waren. Doch wo die Scharen der Caledonier vertrieben worden waren, kamen andere, viele andere herangeströmt. Ganz plötzlich schien es, als ob, verteilt auf die Länder einer halben Tagesreise auf und ab am Ufer des Fjords, das Land von ihnen wimmelte. Und immer gab es anderswo genug Ereignisse, die dafür sorgten, daß Phaedrus nicht seine ganze Heeresmacht auf die eine Aufgabe konzentrieren konnte, den Feind zu vertreiben. Immer wieder drangen die schwindenden Kriegsscharen der Dalriaden gegen ihn vor, doch wenn es ihnen für den Augenblick gelang, ihn zurückzu•werfen, so flutete er, noch ehe die Verteidiger von Earra-Ghyl Atem schöpfen konnten, wieder zurück; mehr und immer mehr Männer, bis es Phaedrus, Conory und dem grimmigen, krummbeinigen Gault, der darum kämpfte, die Küstenlinie des Fjords gegen sie zu halten und den schmalen Landstrich zwischen dem Kopf 213
des Fjords und dem See von Baals Beacon abzuschließen, erschien, daß sie aus dem Erdboden entsprangen wie die Kriegsscharen, die nach dem Bericht einer uralten Legende durch Zauber aus Pilzen und Distelstengeln erstanden. Die ganze Schlucht und die Höhen zu beiden Seiten waren jetzt in ihren Händen. Sie hatten auch die alte verlassene Festung von Dun Dara auf dem hochgelegenen Vorsprung des Beinn Na Locharn besetzt, von wo aus man den Bergpaß zu den königlichen Wassern beherrschte. Bald, wenn sie nur noch ein wenig an Stärke gewonnen hatten, würden sie über jenen Paß geströmt kommen, und sobald sie die Küste rings um die Einmündung der Croe-Schlucht beherrschten, gab es wenig, was sie daran hindern konnte, jeden einzelnen ihrer Krieger überzusetzen. Die Anführer hatten immer die gleiche Frage in den Augen, wenn sie einander anblickten. Welche Kräfte hatte der Feind noch in Reserve? Es war so, wie der Gesandte gesagt hatte: Die Caledo-nier waren ein großes Volk, die Dalriaden dagegen nur ein kleines. Die Caledonier hatten andere Stämme, auf die sie zurückgreifen konnten, während die Männer von den westlichen Küsten und Inseln nur sich selbst hatten; ihre Reserven, selbst die der Frauen und Knaben, waren erschöpft. Doch sicher mußten auch die Caledonier eines Tages an das Ende ihrer Kraft gelangen. Nur für Phaedrus besaß dieser wilde und bittere Sommer ein eigenes, schmerzliches Glück. Auf all den langen Nachtritten und in den kurzen, blutigen Gefechten, während die Ebereschen blühten und die Blüten in die wegen der Trockenheit seichten Bergbäche fielen, ritt Murna neben ihm und Conory inmitten der Gefährten, und sie erwies sich als ebenso mutig und geschickt mit dem Wurfspeer wie irgendeiner der jungen Krieger. Die Nächte verbrachten sie zwischen steilen Schluchten und den bewaldeten Mulden der Hochmoore oder in irgendeinem Berggehöft, von dem man schon seit langem das Vieh und alles, was weggetragen oder -getrieben werden konnte, fortgetrieben oder getragen hatte. Wenn dann die
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Krieger mit den Speeren neben sich und ihren Schilden als Kopfkissen schliefen, breitete Murna ihren eigenen Mantel auf den Boden zwischen die Wagenräder, damit Phaedrus sich darauf ausstreckte, und legte sich dann neben ihn, während sein Mantel sie beide bedeckte. Es gab Abende, an denen sie zusammen über irgendeinen albernen Spaß lachten; und als einmal ein nächtlicher Angriff auf den Wagenring erfolgte, kämpften sie gemeinsam hinter einem Schild. Doch als der Sommer sich seinem Ende näherte und das von der Hitze ausgedörrte Heidekraut zu verwelken begann, hatte Murna einen Ausdruck um die Augen, den Phaedrus nicht verstand, und er wußte doch inzwischen ihre verschiedenen Gesichtsausdrücke recht gut zu deuten. Er fragte sich, ob der Schwertstreich, den sie vor einigen Wochen quer über die Rippen bekommen hatte, ihr Beschwerden bereitete. Doch als er sie danach fragte, lachte sie und zeigte ihm die Stelle, und er konnte sich überzeugen, daß die Wunde sauber verheilt war. Er redete sich ein, daß es nur Einbildung von ihm sei und wandte seine Gedanken völlig darauf, die Überreste der Heerschar für ein Treffen zu sammeln, das, wie alle wußten, die letzte Schlacht sein würde. Während jener letzten, von prasselnder, dörrender Hitze erfüllten Sommertage kamen sie aus den verstreuten Gebieten von Earra-Ghyl herbei, Kriegsscharen, die man zu neuer Stärke aufgebaut hatte, mit Männern, die zu alt, und Knaben, die zu jung für den Kampf waren, mit hastig reparierten Wagen, die von nicht aufeinander abgestimmten Pferden gezogen wurden, jedes der Tiere ein überlebendes aus einem ehemaligen Gespann. Sie versammelten sich in den steilwandigen Schluchten nördlich von Dun Dara, wo der Pferdekönig und die Krieger von Burg Monaidh auf den grasbewachsenen Hängen des Grünen Kopfes ihren großen Wagenring hatten. Und dann war eines Morgens, während sich die große Schlacht schon zusammenbraute, Murna verschwunden, als eben die Wagen der Späher eingespannt wurden. Und Phaedrus, der sie suchen ging, 215
fand sie zusammengekrümmt und von heftiger Übelkeit geschüttelt neben dem seichten, von Haselsträuchern eingefaßten Bach. Er hockte sich nieder und hielt ihr den Kopf, wie er es auch bei Conory oder dem jungen Brys getan haben würde, und wartete, bis der Anfall vorüber war und sie mit den Händen das kalte, torfbraune Wasser schöpfte, um ihr Gesicht damit zu kühlen. Dann fragte er drängend: »Was ist mit dir? Bist du krank?« Sie wandte sich um und schaute ihn an. Allmählich kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück, und in der Tiefe ihrer Augen lächelte sie ihm leicht zu. »Nein, ich bin nicht krank. Doch es scheint, daß ich mich nun mit dem Geschäft der Frauen befassen muß. Ich trage ein Kind für dich, Midir.« Es war eine Zeit der Ruhe - eine jener unguten Flauten, die sich kurz vor dem Beginn eines Kampfes ergeben. Sonst würde er sie sofort weggeschickt haben. Wie die Dinge aber lagen, hatten sie noch einige Stunden Zeit, und da die Späher um die Croe-Schlucht keine Bewegung gesichtet hatten, war es Phaedrus sogar möglich, die Heerschar für eine kleine Weile zu verlassen und Murna auf den Weg zu bringen. Und so standen sie um ungefähr die gleiche Zeit des nächsten Tages miteinander auf dem Kamm des Hochmoors, etwa eine Meile westlich vom Lagerplatz der Heerschar, um Abschied voneinander zu nehmen, während das kleine Gefolge von Gefährten, das sie nach Burg Monaidh zurückbringen sollte, in einiger Entfernung wartete. Obwohl es früh am Morgen war, wölbte sich der Himmel wolkenlos und schon hitzestrahlend über den Bergen, die von welkem Heidekraut bedeckt oder gelbbraun wie das Fell eines Hundes waren; ein warmer, trockener Wind strich flüsternd über die Moore und erzeugte ein Rauschen wie das des Meeres in den dunklen Wäldern der Schlucht. Phaedrus erinnerte sich später, daß hier und dort verstreut zwischen den Ginstersträuchern noch späte Glockenblumen geblüht hatten. Fast vorwurfsvoll sagte Murna: »Warum mußtest du mich gestern suchen kommen? Wenn du nicht gekommen wärst, hättest du es noch nicht zu wissen brauchen, wenigstens die nächsten Tage nicht. Es waren nur noch ein paar Tage, auf die ich hoffte.« 216
Der warme, durch die Ginsterbüsche streichende Wind und das ungeduldige Zügelklirren eines der Pferde waren danach wieder die einzigen Geräusche. Noch ein paar Tage ... In zwei oder drei Tagen würde die Sache entschieden sein, so oder so; sie wußte es genauso gut wie jeder unter ihnen, und hatte versucht, ihr Geheimnis lange genug zu wahren, um die letzte Schlacht mit ihm zu teilen. Und halb wünschte er sich selbst, daß es ihr gelungen wäre, ihr Wissen geheimzuhalten; sie war ein guter Kampfgefährte gewesen. »Dann laß mich doch bleiben«, sagte sie, als ob sie wüßte, was er gerade gedacht hatte. »Nur noch drei Tage.« »Es könnten genau drei Tage zuviel sein.« Er blickte ihr sehr eindringlich in die Augen. »Murna, dieses eine Mal wirst du mir gehorchen!« »Ja, dieses Mal werde ich dir gehorchen.« Um ihren Mund lag der zaghafte, verzerrte Versuch eines Lächelns. »Ich habe gar keine Lust, aber das Kind ist stärker als ich. Er will geboren werden und leben.« »Er? Bist du denn sicher, daß es ein Knabe sein wird?« »Natürlich. Es wird ein Sohn, der nach dir das Pferdevolk anführen wird.« Sie warf den Kopf hoch und lachte, es war ein Lachen, das "sie in der Kehle zu schmerzen schien. »Wie könnte er etwas anderes werden? Er ist doch inmitten der Speere entstanden.« Seit dem Augenblick, als er zum erstenmal von dem Kind erfahren hatte, hatte Phaedrus sich bemüht, nicht zu sehr daran zu denken, daß Murna glaubte, es wäre Midirs Kind. Doch jetzt bei ihren Worten schrie plötzlich etwas in ihm auf in dem Verlangen, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie hatte das Recht, es zu wissen, und er selbst fühlte, daß irgend etwas im Innersten seines Herzens mit den Wurzeln ausgerissen würde, wenn er sich von ihr trennen mußte, ohne es ihr gesagt zu haben; das würde eine Schranke zwischen ihnen errichten. Doch er durfte es ihr niemals sagen; nie in seinem oder ihrem ganzen Leben, gleichgültig, wie kurz oder wie lang es währen mochte. Er legte den Arm um sie, leicht und zuerst sehr behutsam — seltsam, daß er jetzt zwei Menschen in seinen Armen hielt -, und zog 217
sie dann fest an sich. »Höre, Murna: Was immer geschieht, ob ich nach Burg Monaidh zum Siegestanz zurückkehre und wir miteinander alt werden und erleben, wie dieser Sohn, der zwischen den Speeren entstanden ist, ein Mann wird, oder ob wir auf dieser Seite des Sonnenuntergangs nie wieder zusammenkommen - was immer geschieht, was immer du von mir hörst -, denk daran, daß ich dich liebe, meine Murna.« Sie hob die Hände und nahm sein narbiges Gesicht zwischen sie, küßte ihn und stand einen Augenblick lang hochgereckt, um ihre Stirn an die seine zu legen. »Ich liebe dich, mein Gladiator, und das wird mir helfen, mich zu erinnern.« Einen Herzschlag lang noch hielt Phaedrus sie fest an sich gedrückt, dann stieß er sie beinahe fort. »Geh jetzt, geh rasch.« Sie gehorchte, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Er stand und sah zu, wie sie, in Kniehose und Kittel fast wie ein Knabe, durch das gelbliche, kniehohe Gras zwischen den Ginstersträuchern auf die Gefährten zuging, die dort warteten. Er sah, wie sie ihnen zuwinkte und dann in den bereitstehenden Wagen stieg ... Er blieb stehen und sah ihr nach, bis eine ferne Bodenwelle der Hochmoorfläche den Wagen und das kleine Gefolge seinen Blicken entzog. Da wandte er sich um und stieß in seinem Herzen die düsteren, langen Flüche der Galen aus, die um so vieles kräftiger waren als die Flüche, die er in der Gladiatorenschule in Corstopitum gelernt hatte, und machte sich auf den Rückweg ins Lager an den Hängen des Grünen Kopfes. Auf halbem Wege traf er Conory, der mit Shäns Leine in der Hand durch das Haselgestrüpp schlenderte. »Du hast meine gestreifte Teufelin sicher auch nicht gesehen?« fragte er. »Sie ist aus ihrem Halsband geschlüpft.« Phaedrus schüttelte den Kopf. »Nicht einmal ein Schwanzwedeln von ihr.« Doch er hatte das Gefühl, daß nicht die Suche nach Shän die, darin geübt, aus ihrem Halsband zu schlüpfen, manches Mal ganze Tage auf Jagd unterwegs war — den Führer seiner Leibwache hier heraus hatte kommen lassen. 218
»Nun ja, sie wird zurückkommen, wenn sie ihr Opfer getötet hat«, sagte Conory, wandte sich um und ging neben Phaedrus her. Ein Stück des Weges legten sie schweigend zurück; dann sagte Phaedrus: »Murna müßte in drei Tagen sicher auf Burg Monaidh eingetroffen sein.« Und Conory erwiderte: »Sie wird es nach diesem Sommer in den Gemächern der Frauen langweilig finden, und sie wird dort fast allein sein.« »Die ganze Heerschar wird es inzwischen erfahren haben«, sagte Phaedrus nach einer Weile aufgebracht. »Die meisten jedenfalls.« »Es ist ein verfluchtes Durcheinander.« »Hast du denn nie daran gedacht, daß etwas Derartiges passieren könnte?« »Ach, ich glaube schon.« »Und hast du dir nie gewünscht, daß es geschehen sollte?« Phaedrus erwiderte: »Murna ist meine Frau — mein — auf eine Weise, wie nie zuvor eine Frau es war; und in meinem Herzen wird es warm bei dem Gedanken, daß wir miteinander ein Kind gezeugt haben.« »Aber...« »Es ist mein Kind, aber nicht Midirs.« »Die wenigen, die es wissen, werden Schweigen bewahren.« Phaedrus machte eine Geste der Ungeduld. »Das ist eine der Redensarten, wie sie Sinnoch der Händler gebrauchen würde. Doch, doch, ich weiß, daß das wahr ist. Sie werden sich an ihre Verpflichtungen aus der Abmachung halten, wie ich mich an meine gehalten habe. Außerdem haben sie zuviel zu verlieren, wenn sie es zwischen den Zähnen hervorlassen.« »Aber?« fragte Conory wieder. »Bei den Furien! Sie denkt, daß ich Midir bin«, stöhnte er, »und ich mußte sie in dem Glauben gehen lassen.« Während sie weiterschritten, blickte Conory ihn nachdenklich an. »Ich frage mich gerade - nur als reine Überlegung -, ob sie das wirklich glaubt oder ob auch ihr die Balance der Schwertklinge verändert schien.« 219
Phaedrus blieb auf der Stelle stehen und erinnerte sich, wie sie bei der Erzählung der grausamen Geschichte von der lang zurückliegenden Otterjagd zuerst »du« gesagt und dieses Du dann mit »jener Knabe« vertauscht hatte. Wie sie gesagt hatte: »Ich liebe dich, mein Gladiator«, und ihn nicht mit Midirs Namen angeredet hatte. »Glaubst du das wirklich?« fragte er schwerfällig. »Ich weiß nicht. Du wirst es vielleicht eines Tages erfahren, niemand sonst.« »Sie würde dem Stamm niemals ein Kind, von dem sie weiß, daß es nicht Midirs ist, als künftigen Pferdekönig unterschieben.« »Sie ist eine Frau, kein Mann, und da liegt der Unterschied«, erklärte Conory freundlich. »Frauen sind imstande, seltsame Dinge für einen Mann zu vollbringen, und haben nie das Gefühl, jemanden zu hintergehen, solange sie nicht das Vertrauen dieses einen Mannes mißbrauchen.« Er schwieg und fuhr dann fort: »Da ist auch noch zu bedenken, daß für den Stamm dein Sohn besser sein kann, als wenn überhaupt kein königlicher Sohn da wäre, wenn es überhaupt ein Sohn wird. Denke doch daran, daß er von seiner Mutter her königlichen Geblüts sein wird, vom gleichen Blut wie Midir oder wie Conory, dem Führer deiner Leibwache, wenn wir schon davon sprechen.« Sie gingen weiter, durchquerten das steil abfallende, von Mückenschwärmen wimmelnde Haselnußgehölz, das die tieferen Hänge des Grünen Kopfes bedeckte; wieder schwiegen sie eine Zeitlang, dann lachte Phaedrus wild auf. »Ist es nicht ein Spaß für die Götter? Liadhan riß die Herrschaft an sich und brachte die alte Götterverehrung und die alte Lebensweise wieder; und die Könige töteten einander und gelangten nur durch Heirat mit der königlichen Frau zur Herrschaft; die Töchter bedeuteten alles, die Söhne nichts. Dann erhoben sich Gault und ihr anderen gegen Liadhan, um die Lebensweise des Sonnenvolkes wieder einzuführen, und ihr setztet mich ein, um an Liadhans Stelle König der Dalriaden zu sein. Und was habe ich getan? Ich habe den Alten König getötet und die 220
königliche Frau geheiratet, und mein Sohn wird sein Recht, nach mir der Herrscher zu sein, von seiner Mutter ableiten.« »Ich bin nicht Tuathal der Weise«, sagte Conory nach einer Weile, »doch ich glaube, daß alle Götter, die von Menschen verehrt werden, an den äußersten Bereichen ein wenig ineinanderfließen. Mir will auch scheinen, daß es die Mutter Erde ebenso wie den Sonnengott geben muß, ehe die Gerste in der Ackerfurche treiben kann.« Phaedrus nickte. Das war vermutlich die Antwort, alles jedenfalls, was es als Antwort darauf gab. Inzwischen kamen sie immer näher ans Lager, und da war noch etwas anderes, das er Conory gern sagen wollte, etwas, das ihm zu sagen er im Sinn gehabt hatte, seit er von dem Kind wußte. »Conory, wenn ich morgen getötet werde - wenn ich auf der anderen Seite des Sonnenunterganges davongehe, ehe die Zeit für den Knaben heran ist, seine Mutprobe abzulegen - und wenn du mich überlebst, dann wache du bitte über ihn und Murna an meiner Stelle.« »Du bist sehr sicher, daß es ein Sohn werden wird.« »Murna sagt, daß es ein Sohn sein wird.« »Die Frauen wissen so etwas manchmal, so jedenfalls sagen sie. Schau, wenn dann also die Herrschaft auf den Sohn übergeht, ist der alte Brauch endlich gebrochen.« »Und du wirst über sie wachen?« »Ich will es beschwören, auf was du es immer verlangst.« »Ein einfaches Versprechen genügt.« In Conorys Stimme drückte sich sein sanftes, spöttisches Lächeln aus. »Du vergißt, daß auch ich königlichen Geblüts bin und vielleicht eines Tages eigene Söhne habe. Ich will schwören.« »Dann schwöre auf die blanke Klinge.« Halb lachten sie beide, und doch waren sie unter dem Lachen ernst. Phaedrus zog seinen Dolch und hielt ihn Conory hin, während sie weitergingen. Und Conory, die Hand flach auf die Klinge gelegt, schwor den ältesten und bindendsten Eid des gälischen Volkes. »Wenn ich das Wort, das ich dir gab, breche, möge die grüne Erde sich öffnen und mich verschlingen, mögen die grauen Meereswogen 221
heranrollen und mich mit sich reißen, möge der Sternen-himmel einstürzen und mich für immer aus dem Leben ausrotten.« Irgend etwas hatte sich unter der Heerschar im Lager während ihrer Abwesenheit ereignet; vielleicht war irgendeine Botschaft gekommen. Es lag förmlich in der Luft, als sie auf die Wagenlinien zukamen, und als Phaedrus zu seinem Begleiter hinüberblickte, sah er, daß dessen Kopf hochgereckt und seine Nasenflügel geweitet waren, als wenn er einen ungewohnten Geruch wahrnähme. Eine Schar von Kriegern wich bei ihrem Herannahen auseinander. Phaedrus rief einen von ihnen herbei, den jungen Brys, der vor kurzem zu ihm zurückgekehrt war. Der Junge kam herbeigerannt, lahm wie ein Vogel, der einen gebrochenen Flügel nachschleppt. »Was ist hier im Gange?« fragte Phaedrus. »Mein Herr Midir, es geht überall im Lager um, daß die Wölfin sich dort drüben in Dun Dara aufhält.« Phaedrus und Conory tauschten einen Blick. »So«, sagte Phaedrus sanft, »die Göttin selbst ist also gekommen, um dem Sterben beizuwohnen.« »Das, oder« — Conory hielt einen Augenblick lang inne, und seine Augen verengten sich, während er nachdachte —, »oder könnte es vielleicht sein, daß die Caledonier sie hergebracht haben, um Kampfgeist in den Herzen ihrer Krieger zu entfachen? Könnte es sein, daß selbst ihre Stärke ein Ende hat und daß sie ihre letzte Waffe gegen uns in den Kampf werfen?« Phaedrus entgegnete: »Wir haben bereits unsere letzte vertan. Nun, so oder so, wir werden es bald genug erfahren.«
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Die letzte Waffe Als die Sonne zwei Abende später hinter Cruach Mor unterging, waren die Dalriaden wieder Herren über Dun Dara. Und als die mächtigen Berge sich in der Dämmerung verschleierten, war die alte Festung inmitten der Torfböschungen und der auf drei Seiten steil abfallenden Hänge von den Wachfeuern der hart mitgenommenen Heerschar wie mit roten Blumen besetzt. Doch dort drüben, hinter der Croe-Schlucht, auf der mächtig vorspringenden Schwarzen Klippe, glühte es in der gleichen Weise von caledonischen Wachfeuern, selbst nach diesen zwei Tagen des Kampfes gab es noch so viele Wachfeuer. Und die Toten des Pferdevolkes lagen zwischen den Toten der Caledonier überall dort unten in der Schlucht. Phaedrus, der vor dem Eingang des Gebäudes saß, das einst die Halle des Häuptlings gewesen war, faßte die Situation in Worte; er tat das unter anderem auch, um sie klar im eigenen Inneren zu erfassen, denn die um das Feuer des Rates versammelten Männer kannten die Lage ebenso gut wie er. »So steht es also: Wir haben nicht mehr die Kraft, sie auf ihre Seite des Fjords zurückzutreiben; und wenn wir uns zurückziehen und ihnen die Herrschaft über die Schwarze Klippe und die tiefer gelegene Schlucht lassen, werden sie wie eine Herde durchgehender Pferde in unser Weideland eindringen, und wir werden sie da nicht wieder herausbekommen, bis der Cruachan in den AbhaSee fällt. Wir können sie in der Schlucht nur so lange einschließen, wie wir uns hier in Dun Dara halten können. Doch ihr alle wißt, wie es aussieht: Dies war der trockenste Sommer, solange die Ältesten unter uns zurückdenken können. Seht doch, wie der Ginster im Feuer lodert und knistert! Und sie waren vor uns hier oben und haben die alten Brunnen leer getrunken. Die Quellen rinnen so schwach, daß sie kaum ausreichen werden, die Männer mit Wasser zu versorgen, geschweige denn die Pferde. Das Wasser des Baches jedoch ist faulig durch die Toten, die sie hineingeworfen haben. Wir können hier noch die wenigen Tage aushal-ten, die wir brauchen, um unsere Toten zu verbrennen und unsere Verwundeten wegzubringen, nicht länger - während sie dort drüben den ganzen oberhalb des Bachausflusses gelegenen Teil des 223
Fjords zur Verfügung haben, um ihn leer zu trinken, ehe sie den Wassermangel zu spüren bekommen.« »Möge es ihnen die Bäuche vergiften«, knurrte Oscair, die mächtigen, sommersprossigen Hände auf seinen Knien zu Fäusten geballt. »Das wäre die Lösung unseres Problems«, sagte Phaedrus. »Doch ich glaube, daß wir selbst etwas werden unternehmen müssen.« Gault, der einen blutigen Lumpen um den Kopf trug, blickte vom Feuer auf. »Und was sollte das sein?« »Ich weiß noch nicht. Ehe wir einen Plan fassen können, müssen wir sichere Kenntnis darüber haben, wieviel Männer König Bruide zur Verteidigung seines Wagenrings noch zur Verfügung stehen. Darum, meine Brüder, habe ich im Sinn, ein wenig auf nächtliche Jagd zu gehen und aus größerer Nähe einen Blick auf das Lager der Caledonier zu tun.« Eine rasche Bewegung ging durch die Gefährten, und Diamid sagte: »Wir gehen mit dir, Midir.« Conory, der mit seinem Dolch gespielt hatte wie ein Mädchen mit einer Blume, schob ihn in die Scheide und stieß einen für die neben seinem Knie kauernde Shän bestimmten, leisen, kurzen Kehllaut aus, so daß sie aufhörte, sich zu waschen und mit einem antwortenden Schrei auf seine Schulter sprang. »So, dann wäre alles bereit. Das wird eine feine Jagd, wie, meine scharfgezahnte Schöne?« »Drei von uns sollten reichen«, erklärte Phaedrus rasch. »Nein, du nicht, Finn. Du bist zwar mutig wie ein Eber, doch wenn du dich bewegst, machst du auch ebensoviel Lärm wie er. Auch du nicht, Cathal, mit der erst halb verheilten Wunde. Dich, Conory, und Baruch nehme ich mit — euch zwei, sonst niemand.« »Noch einen.« Phaedrus hatte sich, die Proteste nicht beachtend, schon erhoben und begann die Ketten und Armreifen abzustreifen, als er die trockene Stimme Sinnochs des Händlers hörte, der an jenem Tag mit seinen letzten Reserven an Pferden eingetroffen war. Er wandte sich um und begegnete dem unter faltigen Lidern leicht 224
amüsierten Blick des Pferdehändlers. »Wäre das ein Kriegspfad, wollte ich mich wohl still im Schatten zurückhalten, wie es einem Mann von friedlicher Denkungsart geziemt - wohl bewußt, daß ich nur halb zum Stamm gehöre und nicht das Muster des Kriegers auf meiner Haut trage. Doch da es sich um einen bloßen Jagdgang handelt würdet ihr mich als vierten mitnehmen? Ich verstehe mich noch immer leiser als ein Eber zu bewegen, und ich kenne mich in diesen Bergen vielleicht ein wenig besser aus als ihr anderen.« »Stuten zu schmuggeln hat seine Vorteile«, sagte Phaedrus. »Dann komm also, und zeig uns den Weg, du friedliebender Kaufmann.« Und so standen nach einer kleinen Weile die vier Jäger aufbruchbereit, jeder mit dem Dolch als einziger Waffe im Gürtel, jeder von ihnen nackt bis zur Taille. Gesicht und Körper waren mit über die Kriegsbemalung geschmiertem Ruß bedeckt, und alles, was sie durch Glitzern oder Klirren verraten konnte, war abgelegt worden. Und schon jetzt, im Licht am Feuer des Rates, schienen sie zu bloßen Schatten geworden zu sein; nichts an ihnen war deutlich zu erkennen bis auf die Augen der Wildkatze auf Conorys Schulter, die den Flammenschein einfingen und wie zwei grüne Monde glänzten. »Sind wir bereit? Dann möge uns eine gute Jagd beschieden sein«, sagte Phaedrus, und die drei anderen nahmen seine Worte auf und wiederholten: »Möge uns eine gute Jagd beschieden sein.« Sinnoch der Händler bewies bald seinen Wert, denn es schien, daß er diese Berge wirklich so genau kannte wie andere die Wege um ihr eigenes Gehöft. Sie gerieten mit keinem caledonischen Vorposten oder Spähertrupp in Berührung, und es dauerte nach Phaedrus' Schätzung nicht länger als eine römische Stunde seit ihrem Aufbruch, bis sie zwischen Ginstersträuchern und Heidelbeerdickicht oberhalb von Craeg Dhu, der Schwarzen Klippe, geduckt lauerten und auf die Wachfeuer der Caledonier hinunterspähten. Nach Phaedrus' Schätzung waren es mindestens fünfzig Feuer, die dort den ganzen mächtigen Gebirgsvorsprung bedeckten; und wenn man die übliche Zahl von fünfzig Mann pro Feuer in Rechnung stellte ... 225
»Es besteht immer noch die Möglichkeit, daß sie die Männer spärlicher verteilt haben, damit wir sie für stärker halten, als sie in Wirklichkeit sind«, murmelte Conory. »Das könnte sein. Doch kann man das von hier aus nicht beurteilen. Ich gehe weiter, um mir die Sache aus größerer Nähe anzusehen.« »Ich auch.« »Du auch - und Baruch. Du wirst nicht umsonst Ringelnatter genannt, Baruch. Geh dort hinüber auf die andere Seite und sieh nach, welche Möglichkeiten ein Angriff über die östliche Böschung bieten würde. Sinnoch, du bleibst hier. Es ist das beste, wenn einer bleibt, um uns vor einer Gefahr zu warnen oder Ablenkungsmanöver vorzunehmen. Schlimmstenfalls jemand, der Gault Nachricht bringen kann, was mit uns geschehen ist.« »Gebt acht, denkt daran, daß sie Hunde dort haben können. Vergeßt auch nicht, daß Posten außerhalb des Schleuderkreises um das Lager aufgestellt sind.« »Ja, ja, wir werden daran denken. Halt du deine Augen und Ohren offen. Laß bei Gefahr den Schrei einer Füchsin hören.« Kaum daß die Worte ausgesprochen waren, kroch Phaedrus weiter vor, Conory folgte ihm, und der kleine gestreifte Schatten, der Shän hieß, glitt ihnen durch das Heidelbeerdickicht voran. Baruch war schon verschwunden. Der Ginsterwuchs verdichtete sich, je tiefer sie kamen, so daß sie sich bald nicht mehr von Busch zu Busch schleichen konnten, sondern auf dem Bauch auf schmalen, krümmungsreichen Wegen zwischen den Ginsterwurzeln mühsam vorwärts kriechen mußten, jeden Nerv gespannt, immer auf Gefahr gefaßt. Doch es kam kein Warnschrei, nirgendwo sprang plötzlich ein Speermann oder ein zähnefletschender Hund auf. Zu guter Letzt schien es, als wäre es der Ginster selbst, der sie aufhalten würde - eine undurchdringliche Mauer aus Ginstergestrüpp, das sich tiefschwarz gegen das Licht des allmählich aufsteigenden Mondes abhob. Doch als sie umherschlichen und nach einer Lücke suchten, führte sie der Geruch eines Fuchsrüden zur Einmündung eines Fuchsbaus, der unter dem 226
Wurzelgewirr und Zweigen fast völlig versteckt lag und vor dem Shän einen Buckel machte und fauchte, ehe sie wie ein flüssiger Schatten hineinschoß. Die beiden Männer folgten ihr. Der Tunnel schien sehr lang, und der Gestank drang Phaedrus in die Kehle und erstickte ihn fast; doch gerade als er das Gefühl hatte, daß er ewig so weiterkriechen müßte, bog der Gang scharf nach unten ab, und er entdeckte an seinem Ende Feuerschein, fand wenig später offenes Land vor sich und sah eines der Vorpostenfeuer kaum einen Speerwurf weit von sich entfernt. Sofort verhielt er sich völlig reglos und streckte einen Fuß zurück, um Conory hinter sich zu warnen. Er spürte die Berührung des anderen antwortend an seinem Knöchel, und wenige Augenblicke später kroch Conory langsam neben ihn und bog mit unendlicher Behutsamkeit den Ginster auseinander, um ein Späherloch zu gewinnen. Shan hockte geduckt zwischen ihnen, und Phaedrus spürte das erregte Schlagen ihrer Schwanzspitze an seinem Nacken; doch sie würde sich nicht ohne Anweisung bewegen - nicht, wenn sie mit Conory auf Jagd war. Während er schweigend wie ein Schatten im Ginster kauerte, suchte Phaedrus mit prüfendem Blick bei den Männern um das Vorpostenfeuer nach irgendwelchen Zeichen von Schläfrigkeit; doch sie waren wach und aufmerksam, standen auf ihre Speere gelehnt und starrten in die Nacht hinaus. Nun, er konnte von hier aus genug sehen . .. Kaum mehr als eine Schleuderweite von der Stelle entfernt, wo sie lagen, hatten Bruides Krieger eine Brustwehr aus Pfählen und entwurzelten Dornbüschen quer über den offenen Berghang gezogen und ihre Wagen direkt dahinter aufgestellt, obwohl ohne Zweifel ihr hauptsächlicher Schutz auf dieser Seite der Ginster selbst war, während sie auf allen anderen drei Seiten durch die steil abfallenden Wälder der Schlucht und den Fluß darunter geschützt waren. Die Caledonier hatten sich auf eine vortreffliche Verteidigungsposition zurückgezogen, und Phaedrus fluchte innerlich, als er die Aussichtslosigkeit eines direkten Angriffes einsah. Der gesamte befestigte Platz lag klar erkennbar im weißroten Lichtgemisch des 227
Mondes und der Feuer. Warum auch nicht? dachte Phaedrus wütend. Das Volk der Cailleach hat es nicht nötig, seine Stärke zu verbergen. Und sie würden recht gut wissen, daß sie selbst vom Rande des Ginstergestrüpps aus, falls irgendeiner der Dalriaden überhaupt so weit gelangen sollte, mit der Schleuder nicht erreicht werden konnten. Himmel! Was würde er nicht für eine Hundertschaft jener syrischen Bogenschützen geben, die er oft genug durch Corstopitum hatte reiten sehen! Er sah jetzt, daß die Zahl der Feuer keine Vortäuschung falscher Tatsachen gewesen war. Auf dem breiten Berghang vor ihm wimmelte es von Männern - Männern, die mit den Schilden als Kissen unter dem Kopf schliefen, Männern, die wachsam auf ihre Speere gelehnt standen. Er konnte hören, wie einer dem anderen etwas zurief, vernahm das Wiehern eines angebundenen Pferdes von der Wagenlinie her, das Klingen des Hammers auf einem Feldamboß, wo die Schmiede damit beschäftigt waren, Kriegsgerät, das im Kampfe des vergangenen Tages zerbrochen war, instand zu setzen. Er hörte das ruhelose, unaufhörliche Hin und Her eingefangenen Viehs. Und inmitten von allem, neben dem großen Feuer, dem königlichen Feuer, standen unter dem mit grimmigem Hirschkopf gezierten Kriegsbanner des Königs Bruide zwei aus Ginster errichtete Hütten dicht beieinander. Während Phaedrus angestrengt zu ihnen hinüberstarrte, erhob sich neben dem Feuer eine hohe Gestalt und schritt hinüber zu einer der Hütten, wandte sich dann am Eingang einen Augenblick lang um und blickte den dunklen Berg hinauf, als ob sie die Augen spürte, die sie aus dem Ginsterdickicht beobachteten. Da die Gestalt in einen Mantel gehüllt war, konnte man auf diese Entfernung nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Nicht einmal das Schimmern des gerstenbleichen Haares verriet, wer es war, da unter den Caledoniern ebenso wie unter den Dalriaden viele junge Krieger ihr Haar bleichten. Doch es war, als ob der Haß seiner Sehfähigkeit Flügel verlieh, denn Phaedrus erkannte Liadhan die Wölfin mit solcher Sicherheit, als ob sie nur auf Reichweite von ihm entfernt stünde. Er hatte geglaubt, schon früher Haß gekannt zu haben; doch diese Art von Haß hatte er nie empfunden, wie er sich jetzt, während er hinüberspähte, irgendwo in der trockenen Höhle seines Magens 228
zusammenzog. Er war scharf und bohrend um Midirs und zugleich um Murnas willen und umfassend im Hinblick auf den ganzen Stamm. Dieser Haß schien von ihm auszustrahlen, um quer durch das feuererhellte Lager sie, die sich in dessen Mitte befand, zu erreichen; was Wunder, daß sie sich, wie durch eine Berührung veranlaßt, umwandte und lange Zeit stehenblieb und in die Dunkelheit starrte ... Dann wandte sie sich wieder zurück und trat in die Hütte. Phaedrus merkte, wie Shän sich gegen seinen vorgestreckten Arm kauerte und fühlte das leise, ungute Zittern, das sie durchlief; ihr Fell sträubte sich, als sie die ihn beherrschenden Haßgefühle erspürte. Er fühlte eine Berührung an seiner Schulter, einen leisen, nach hinten weisenden Druck von Conorys Hand, der »zurück jetzt« bedeuten sollte. Nun, sie hatten gesehen, was zu sehen sie hergekommen waren, und in dieser Nähe der Vorposten noch länger zu verharren, bedeutete nichts anderes, als unnötiges Unheil herauszufordern. Doch alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, durch diesen stinkenden Bau zurückkriechen zu müssen und der wartenden Heerschar die bittere Nachricht zu überbringen, daß ein Angriff auf den Wagenring der Caledonier nichts anderes sein würde, als sich in die unvermeidliche Katastrophe zu stürzen; daß es nichts gab, was über die nackten Felsen der Schwarzen Klippe oder durch jene dunkle Masse von Ginstergestrüpp den Feind erreichen konnte, der sich auf einem Abhang befand, den selbst die Wagenpferde nicht bewältigen könnten. Und dann ereigneten sich fast im gleichen Moment zwei Dinge. Aus der tödlichen Reglosigkeit der Luft, die den ganzen Tag das Atmen zu erschweren schien, kam ein leiser Windhauch die Schlucht hinuntergeweht - ein Wind, der zum erstenmal seit vielen Wochen aus dem Westen wehte. Und ganz plötzlich, wie aus eigenem Entschluß, sagte ihm sein Verstand: »Feuer könnte es schaffen.« Lange reagierte er nicht auf Conorys mahnende Berührung, während der leichte Luftzug erstarb und ein neuer sich weit oben in der Schlucht erhob und durch den Ginster auf sie zu wehte. Phaedrus spürte in sich eine Stille, die wie die Stille einer Offenbarung war. Tuathal der Weise hatte ihm einmal gesagt, daß man so empfand, 229
wenn der Gott zu einem sprach. Nach der Dürre des Sommers würden der Ginster, das welke Gras und das dünnzwei-gige Gestrüpp wie Zunder brennen, und wenn dazu noch ein leichter Wind es antrieb, würde das Feuer sich mit der Geschwindigkeit einer über das Land rasenden Viehherde ausbreiten ... Er gab endlich der Berührung an seinem Arm nach und glitt von der Öffnung des Fuchsbaus zurück. Conory wartete einen Augenblick, um das Ende der um sein Handgelenk gewickelten Leine an Shäns Halsband zu knüpfen, und folgte ihm dann. Es schien Stunden zu dauern, ehe sie endlich Raum genug fanden, um sich umzudrehen, und weitere Stunden, ehe sie durch die Ausläufer und Strauchreihen des hier verstreuter wachsenden Ginsters wieder der Stelle zustrebten, wo sie Sinnoch auf seinem Beobachtungsposten gelassen hatten. Baruch die Ringelnatter war wenige Augenblicke vor ihnen eingetroffen, doch keiner von ihnen sprach ein Wort, ehe sie alle vier außer Gefahr waren und in einer kleinen Mulde von Ben Dornich, schon auf dem Rückweg nach Dun Dara, haltmachten. Dann endlich brach Phaedrus das Schweigen; er sprach rasch und mit unterdrückter Stimme, denn selbst hier war es nicht gut, mehr Geräusch zu verursachen, als unbedingt sein mußte. »Es müssen bei ihnen noch mehr als zweitausend kampffähige Männer sein; und von dem Platz aus, an dem Conory und ich versteckt lagen, zeigte sich keine Möglichkeit, an sie heranzukommen, selbst wenn wir genug Männer für den Angriff auftreiben könnten. Wie sah es von deiner Seite aus, Baruch?« »Das gleiche. Bei diesen steil abfallenden Wänden und dem schwarzen Ginstergewirr könnten ein paar hundert Mann den Platz leicht gegen uns halten.« »So. Und was nun, meine Lieben?« Sinnochs Stimme klang trocken und raschelnd wie herbstliche Blätter. Ein kurzes Schweigen entstand, und irgend etwas ließ Phaedrus zu Conory herumblicken. Sein Gesicht war schwarz in dem vom Mond geworfenen Schatten, doch die Neigung seines Kopfes sagte Phaedrus, daß der Führer seiner Leibwache sich ebenfalls umgewandt hatte, um 230
ihn anzuschauen. Nach ein paar Sekunden sagte er behutsam: »Denkst du an das gleiche wie ich?« »Ich denke, daß nach diesem trockenen Sommer das ganze Land wie eine Fackel brennen würde, wenn eines von jenen Lagerfeuern oder selbst eines unserer eigenen, dort auf dem kurzen Gras von Dun Dara - zufällig außer Kontrolle geraten sollte.« »Feuer!« flüsterte Baruch. Und der leise Wind strich auffrischend durch das hohe Gras am Berghang. »Oder wenn ein Mann zufällig, sagen wir einmal, einen brennenden Zweig in einen Grashaufen fallen ließe«, meinte Sinnoch nachdenklich. Phaedrus nickte. »Wo Menschen nicht hingelangen können, kommt doch das Feuer hin«, sagte er und spürte die aufmerkende Wachsamkeit der anderen drei. »Noch vor einer Weile herrschte völlige Flaute, doch jetzt erhebt sich dieser leichte Wind - und dazu noch von Westen! Dieser Wind ist ein Geschenk der Götter. Wenn wir die Berghänge talaufwärts in Brand setzen, sagen wir etwa dort, wo der westlichste Bach von Ben Dornich herabfließt, wird es über sie hereinbrechen, noch ehe sie es begriffen haben.« »Das erbeutete Vieh ist auf der westlichen Seite eingesperrt«, sagte Baruch. »Es wird in wilder Panik durch das Lager rasen.« »Sicher, und weiter die Schlucht hinunter, und dort werden unsere eigenen Reiter sein, um dem Brand zur Hand zu gehen und sich allen Entkommenen entgegenzustellen; das sollte die ungleichen Chancen ein wenig zu unseren Gunsten ändern. Zumindest wird es sie von der Schwarzen Klippe vertreiben.« »Ein Waldbrand ist wie ein wildes Tier an der Kette«, sagte Sinnoch, »und sollte nicht unbedacht losgelassen werden.« »Solange der Wind aus dieser Richtung beständig bleibt, sind wir sicher; und der Fjord wird dem Feuer eine Grenze setzen«, warf Conory ein. »Und wenn der Wind wieder dreht?« 231
»Baruch«, sagte Phaedrus, »wird der Wind vor dem Morgengrauen drehen? Nein - vor morgen mittag?« Während ihn alle beobachteten, blieb der kleine Mann einen Augenblick lang stumm, hielt den Kopf zur Seite geneigt und schien mit der empfindsam schnuppernden Nase, so sah es jedenfalls aus, die Luft zu betasten. Dann schüttelte er den Kopf. »Vor morgen mittag wird er sich gelegt haben, doch er wird seine Richtung nicht ändern. Und ich glaube, daß er nicht aufhören wird, ehe er Zeit gehabt hat, seine Arbeit zu tun.« »So. Habt ihr jemals gehört, daß Baruch sich in dieser Beziehung geirrt hätte?« fragte Phaedrus. »Wir müssen zu Lugh vom Glänzenden Speer beten, daß er nicht gerade jetzt damit anfängt, sich zu irren.« Baruch, der in Kampfzeiten ein leidenschaftlicher Gegner sein konnte, doch davor und danach von eigenartiger Gutherzigkeit, sagte nun: »Ein Waldbrand bewegt sich mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes voran. Es werden Verwundete unter ihnen dort im Wagenring sein, Männer, die zu schwer verletzt sind, um davonzukommen.« »Würden die Caledonier auf dieses Mittel verzichten, wenn die Sache andersherum stände?« fragte Phaedrus unbarmherzig. »Wenn sie Verwundete haben, dann müssen ihre Schwertbrüder das für sie tun, was wir zuvor schon immer für unsere eigenen Verwundeten getan haben.« Im Falle eines erzwungenen Rückzuges nämlich hatten die Dalriaden immer ihre eigenen Verwundeten erstochen, um es ihnen zu ersparen, dem Feind auf Gnade und Ungnade ausgeliefert zu sein. Sollten doch die Caledonier ihre eigenen Verwundeten auf die gleiche Weise davor bewahren, dem Feuer ausgeliefert zu sein. Er blickte in der vom Mond erleuchteten Bergmulde alle drei Männer der Reihe nach an. »Ich weiß, was für eine wilde Bestie ein Feuer ist, das man von der Kette gelassen hat. Ich v/eiß auch, daß es eine schlimme Waffe ist, die wir da benutzen, und daß wir mit ihrer Verwendung ein schlimmes Risiko eingehen. Doch wenn wir den Caledoniern EarraGhyl nicht einfach als Geschenk überreichen wollen - haben wir noch irgendeine andere Möglichkeit?« »Nein«, sagte Conory nach einer Weile, »da ist keine andere.« 232
»Also - und es ist kein Augenblick mehr zu verlieren. Baruch, du bist der schnellste Läufer unter uns. Zurück mit dir nach Dun Dara. Berichte Gault, was wir im Lager der Caledonier gesehen haben, und erkläre ihm, was wir vorhaben. Bitte ihn, jeden Mann aufzustellen, der sich noch auf einem Pferd halten kann, und jedes Pferd, das noch einen Fuß vor den anderen zu setzen vermag. Dreiviertel dieser Männer soll er in die Erlenwälder bei dem am westlichsten vom Ben Dornich fließenden Bach schicken, wo sie mich treffen werden. Das restliche Viertel soll er über den Fluß und das nördliche Ufer entlang zum gleichen Punkt führen. Und bitte ihn auch, dafür zu sorgen, daß fünf Mann aus seiner Schar und zehn aus meiner Feuertöpfe unter ihren Mänteln tragen.« Einen Fuß herangezogen, kauerte Baruch schon startbereit am Boden. »Noch etwas, mein Herr Midir?« »Sag ihm, er soll reiten, als wenn die Wilde Jagd ihm auf den Fersen wäre. Diese Sommernächte sind kurz, und wir müssen sie unter Feuer setzen, ehe es beim Morgengrauen im Wagenring lebendig wird, und bereit sein, in dem Augenblick anzugreifen, in dem sie vor dem Feuer fliehen.« »Ich werde es ihm sagen.« Nur ein kaum hörbares, raschelndes Geräusch war in dem hohen Gras zu hören, das sich aber sofort in dem Säuseln des leichten Westwindes verlor. Und dort, wo Baruch die Ringelnatter noch eben gewesen war, stand nur der Schatten eines Ginsterbusches im Mondlicht. Phaedrus wandte sich zu den anderen beiden zurück. »Wir haben eine ziemlich lange Wartezeit vor uns. Wir könnten uns ebensogut auch schon zum Treffpunkt aufmachen; wenigstens werden wir uns dort oben frei bewegen können, ohne ständig einen caledonischen Spähtrupp befürchten zu müssen, und können einen Teil der Zeit damit ausfüllen, daß wir dürres Gras und Äste für Fackeln sammeln.« Er grinste Conory zu. »Ich hatte unrecht, als ich sagte, daß wir unsere letzte Waffe schon in den Kampf geworfen hätten; wir werfen sie erst jetzt hinein.« 233
Im Schütze Roms Gegen Mittag war der Westwind im Gras verebbt, und der weißliche Hitzedunst flirrte wieder über der Schlucht - über dem Ort des Schweigens und der Verwüstung, der einst die Croe-Schlucht gewesen war. Die letzte Waffe hatte ganze Arbeit geleistet. Blutrot und schwarz lag das Tal, beißender Qualm erhob sich noch immer hier und dort zwischen den verkohlten Stümpfen von Ginster-sträuchern, Birken und Erlen, inmitten von toten Männern, Pferden und Rindern und von zerstörten Wagen. Überall verstreut an der Einmündung der Schlucht und entlang dem Ufer des Fjords bis an sein oberes Ende lag die gleiche Kette von Toten und zerbrochenem Gerät; denn jene Rundboote, die dort am Ufer gelegen hatten, wo die Schlucht zur Küste auslief, hatten nur ausgereicht, eine äußerst kleine Schar von Kriegern zu befördern, wenig mehr als eine Leibwache für jene wilde, zornige Frau, die Königin Liadhan gewesen war. Für alle übrigen hatte es nur den verzweifelten, gebrochenen Rückzug hinauf zum oberen Ende des Fjords und zur Furt durch den Fluß gegeben; einige lagen sogar verstreut auf der anderen Seite. Die Toten der Dalriaden lagen zwischen den weit zahlreicheren Toten der Caledonier. Conall und Diamid ruhten ein kleines Stück unterhalb der Schwarzen Klippe, Schulter an Schulter, so wie sie auch gekämpft hatten. Am Eingang der Schlucht hatten Frauen, die unter den Erschlagenen nach Verwundeten suchten, Sinnoch den Händler gefunden. Sinnoch, der nie ein Krieger gewesen war, war wie manch einer der Kämpfer mit caledonischer Kriegsbemalung nicht durch das gegnerische Eisen, sondern durch die in wilder Flucht davonrasenden Viehherden getötet worden. Vielleicht war deshalb, als sie ihn umwandten, auf seinem toten Gesicht der Ausdruck einer trockenen Amüsiertheit, als sei ihm das alles wie ein schlechter Witz vorgekommen. Dort, wo an der Furt des Flusses die Erschlagenen am dichtesten lagen, lehnte schief an einem Erlenstamm, die bronzegeränderten Zinken in den Zweigen verfangen und die safrangelben Troddeln teilweise abgerissen, die Standarte mit dem Hirschkopf und 234
bezeichnete die Stelle, wo König Bruide sich mit seinen Gefährten mit denjenigen, die noch übriggeblieben waren - umgewandt hatte, um den Rückzug seiner Heerschar zu decken. Bald, dachte Phaedrus, werden wir einen würdigen Hügel für ihn und seine Schwertbrüder errichten, wenn die Totenfeuer für unsere eigenen Gefallenen erloschen sind. Wölfe und Raben mögen sich dann den Rest holen. Auf seinem geliehenen Rotschimmel hielt er neben Conory auf einem kleinen Vorsprung des Berghanges und blickte auf das sich an der Furt bietende Bild herab. In plötzlicher hilfloser Wut schlug er sich mit der Faust der einen Hand in die offene Handfläche der anderen. »Das ist nun schon das zweitemal! Bruide war ein König, der diesen Titel wohl verdient hatte, und da liegt er nun heute zum Fraß für die Raben, während sie...« Seine Stimme klang gepreßt vor Abscheu. Conory, der eigenartig gekrümmt auf seinem Pferd saß, erwiderte: »Und es wird noch ein drittes Mal geben.« Irgend etwas -eine gewisse Angespanntheit in der Stimme - ließ Phaedrus herumblicken. Er sah den gequälten Ausdruck um den Mund des anderen, doch brachte er ihn fast ohne Nachdenken mit dem Verlust von Shän in Zusammenhang; die Wildkatze hatte wie gewohnt ihren Herrn in den Kampf begleitet, und das war das letzte, was man von ihr gesehen hatte. Doch dann ergriff ihn wieder die alte Wut. »Es sieht doch ganz so aus, nicht wahr? Sie wird inzwischen schon halb hinüber zu Baals Beacon gelangt sein, während wir hier sitzen und auf die Meldung der Späher warten. Ich hatte unrecht - wir hätten unverzüglich aufbrechen sollen . . .« »Du hattest nicht unrecht. Es wäre der reine Wahnsinn gewesen, erschöpfte Jagdhunde blindlings in diese herrenlosen Jagdgründe zu hetzen. Zumindest wird uns dieser Aufenthalt Gelegenheit zum Ausruhen, zum Füttern und Tränken unserer Pferde geben; gleichzeitig werden auch wir etwas in die leeren Mägen bekommen, und wir werden uns danach nicht mehr ganz so sehr wie Geister fühlen.« Conory lachte. »Ich kann den fetten Geruch der Kochfeuer riechen; man sagt doch, daß erobertes Ochsenfleisch um so köstlicher schmeckt.« 235
»Dann müßte zweimal erobertes auch zweimal so köstlich sein.« Es hatte keinen Sinn, hier weiter zu bleiben, zur Furt hinüberzu-stieren und sich seiner Wut zu überlassen. Phaedrus wandte sein Pferd in Richtung auf ihren Wagenkreis zurück. »Komm also, sonst entgeht uns noch unser Anteil.« Conory wendete neben ihm, doch während er das tat, rollte ein Stein unter den rechten Vorderhuf des Pferdes, und das erschöpfte Tier stolperte heftig. Mit einem leise keuchenden Laut des Schmerzes zog Conory den Atem ein, und Phaedrus blickte gerade noch rechtzeitig herum, um ihm zur Seite zu eilen und ihn aufzufangen, ehe er nach vorn auf den Hals seines Pferdes sank. »Sachte! Was ist denn?« Conory brachte ein ziemlich verzerrtes Lächeln zustande. »Ich habe einen Speerstoß in die Hüfte bekommen - er muß etwas -etwas tiefer gegangen sein, als ich dachte.« »Du Narr!« schrie Phaedrus ihn in einer anderen Art von Wut an; für einen einzigen Tag hatte er schon zu viele Freunde verloren. »Du Narr! Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Dann, als der andere etwas völlig Unverständliches murmelte: »Gib mir die Zügel. Kannst du es bis zum Lager aushaken, wenn ich dich stütze?« Conory kämpfte mit letzter Kraft gegen die tödliche Schwäche, die ihn grauweiß bis an die Lippen werden ließ, und sagte sehr deutlich durch die zusammengebissenen Zähne: »Ich bin bis jetzt noch niemals vom Pferd gefallen.« Und er fiel nicht, wenn er auch blindlings und über den Hals des Pferdes gebeugt dahinritt, als sie sich den Vorpostenlinien näherten. Und Phaedrus, der Knie an Knie und mit stützendem Griff seinen Arm umklammernd neben ihm ritt, war fast das einzige, was ihn davor bewahrte, kraftlos zu Boden zu sinken. Am nächstliegenden der Lagerfeuer zügelte er die Pferde und schrie: »He! Diamid!«, ehe ihm einfiel, daß es keinen Sinn mehr hatte, Diamid zu rufen. Zwei oder drei andere Männer kamen herbeigeeilt, allen voran der junge Brys, um die Zügel aufzufangen, während Phaedrus von dem geliehenen Pferd glitt und Conory hinunterhelfen wollte. 236
».., noch bin ich jemals wie ein kreischendes, gefangenes Mädchen vom Pferd gehoben worden«, sagte Conory sanft, öffnete die bis dahin halbgeschlossenen Augen, stützte die Hände auf den Widerrist des Pferdes, um sein gesundes Bein herüberzuschwingen, und brach dann stumm in Phaedrus' Armen in t'-fer Ohnmacht zusammen. Phaedrus umfaßte ihn und schüttelte ungeduldig den Kopf, als vorschnellende, hilfsbereite Hände mit anfassen wollten. »Nein, laßt nur. Ich habe ihn schon. Wo sind die Heilpriester?« Aluin die Bärenklaue wies ihnen mit der Hand, deren Rücken von dichtem schwarzem Haar bedeckt war, die Richtung. »Dort drüben bei jenem Haselnußwäldchen an der Biegung des Flusses.« Conory war sogar bewußtlos eine ungewöhnlich leichte Last. Phaedrus dachte plötzlich, daß Murna kaum viel leichter sein würde. Doch das Gewicht seiner eigenen Müdigkeit kam zu dem Gewicht der leichten Gestalt in seinen Armen, so daß er nach Luft rang, als er die Haselnußsträucher erreichte, wo mehrere Sonnenpriester mit den eigenartig bemähnten Köpfen sich zwischen den Männern umherbewegten, die dort im Schatten ausgestreckt lagen oder saßen. Während er den Freund niederlegte, glaubte Phaedrus einen entsetzlichen Augenblick lang, er wäre tot. Doch als er ihm die Hand auf das Herz legte, fühlte er es schwach unter seinen Fingern schlagen; der Heilpriester war hinter ihn getreten und sagte: »Nein, nein - sein Geist hat zwar den Körper verlassen, doch er wird zurückkehren.« »Bist du sicher?« fragte Phaedrus. Ein trübes Lächeln flog über das Gesicht des Priesters. Auch er war erschöpft. »Es besteht immer die Gefahr, daß der Geist den Weg zurück nicht mehr findet. Ich werde es besser wissen, wenn ich die Wunde gesehen habe.« Er sandte eine der Frauen nach Wasser aus dem seichten Fluß und schnitt, nachdem er niedergekniet war, Conorys Kniehose auf, um an die Speerwunde in seiner Hüfte zu gelangen. Wie eine alte Frau schnalzte er bei ihrem Anblick mit der Zunge und rief einen Priester, der ihm seine Instrumente bringen sollte. 237
Phaedrus sagte nichts, stand aber dabei, während die Wunde gereinigt und mit Salbe versehen wurde - froh darüber, daß Conory wenigstens während dieser Zeit außerhalb seines Körpers weilte und das Hantieren des Chirurgen nicht spürte, der Knochensplitter aus der Wunde zog. Als alles vorbei und die Wunde fest verbunden war, fragte er: »Wird es heilen?« Erschrocken blickte der Priester, der seine Anwesenheit ganz vergessen hatte, zu ihm auf. »Er wird bis zum Ende seiner Tage auf dem Bein hinken. Doch wenn er nicht das Wundfieber kriegt, wird er bis zum Winter wieder zu Pferde sitzen.« Sein müdes Gesicht wurde sanft. »Es gibt nichts, was du hier tun könntest, mein Herr Midir. Geh nur hin und iß und ruh dich aus, so gut du kannst.« Als er zu den Kochfeuern zurückkehrte, gab man Fetzen von halbrohem Ochsenfleisch an die Männer aus, die es wie verhungernde Wölfe verschlangen oder zu ermattet waren, um zu essen. Und einer der Späher war gerade mit der Nachricht hereingekommen, daß man die Spur Liadhans und ihrer kleinen Begleiterschar gefunden hatte und ihr gefolgt war, bis feststand, daß sie zur Schwarzen Schlucht und zu den Wassern von Baals Beacon unterwegs war. Phaedrus hörte zu, während er an einem großen Klumpen Fleisch herumkaute, der außen schwarz und innen noch feucht und rot war. Dann wandte er sich mit drängenden Worten an Gault. »Kratze mir zwei- oder dreimal zwanzig Mann zusammen. Es müssen unter der Heerschar so viele sein, die sich noch ein paar Stunden länger auf dem Pferderücken halten können.« »Die Heerschar ist um einiges kleiner, als sie sonst zu sein pflegte«, erwiderte Gault aufgebracht. »Das habe ich wohl gemerkt. Nichtsdestoweniger muß ich zweimal zwanzig Männer haben, die jetzt mit mir vorstoßen. Was die übrigen betrifft, so laß sie und die Pferde ausruhen, doch sammle jeden einzelnen, den du auftreiben kannst, und halte sie bereit, sie mir nachzubringen, sobald ich Nachricht sende.« »Das will ich tun«, erklärte Gault. »Doch was die zweimal zwanzig Mann angeht, so besorge deine schmutzige Arbeit selbst, mein Herr Pferdekönig. Sie schlafen im Stehen - doch wenn du sie aufwecken 238
kannst, dann werden sie deinem Ruf eher folgen als meinem.« Er lächelte - es war sein herbes, beißendes Lächeln. »Versprach ich dir nicht, daß du in dem Maße König sein würdest, in dem du dich stark zu zeigen imstande wärest?« »Das hast du, und überdies bin ich der Pferdekönig, und die Leute kommen, wenn ich rufe.« Einen Augenblick lang, während Auge in Auge sah, erinnerten sich beide jenes nach außen hin stummen Zweikampfs um die Seele des kleinen Dunklen Jägers - des Zweikampfs, der zugleich ein Wettstreit um die Führerschaft über den Stamm gewesen war. Es waren nun nur noch sieben der Gefährten übrig, und von diesen war Baruch die Ringelnatter mit den Spähern unterwegs. Brys erhöhte die Zahl wieder auf sieben; und überraschend trat Vron, Sinnochs alter Vorreiter, zu ihnen und ergab den achten. Den unansehnlichen Hut aus Schaffell trug er noch immer auf dem Hinterkopf. Dergdian überließ die Führung seiner Schar einem Verwandten und schloß sich der Gruppe an, desgleichen auch Tyr-non und Niall Mac Cairbre ... Sie traten vor, einzeln und zu zweit - Männer mit rotgeränderten Augen, mit versengten und rauchgeschwärzten Gesichtern, einige davon mit blutgetränkten Lappen um irgendeine Stelle ihres Körpers - bis Phaedrus schließlich nach kurzer Zeit schon mehr hatte als die dreimal zwanzig Mann, die er brauchte. Länger als nach Männern mußte man nach Pferden suchen, denn die armen Tiere waren bis zum äußersten erschöpft. Während das geschah, bereitete sich jeder der Männer so gut er konnte auf den Ritt vor; man bündelte einen für fünf Tage berechneten Vorrat an Gerstenbrot und Fleisch in den zusammengerollten Mantel. Brys, der noch immer mit stolzer Gewissenhaftigkeit seine Pflichten als Waffenträger des Königs wahrnahm, obwohl er jetzt einer der Gefährten war, hatte Phaedrus' Mantel mit der noch daran befestigten großen Kriegsbrosche vor Anbruch der Morgendämmerung und im Schütze der Dunkelheit von Dun Dara heruntergebracht, damit der Pferdekönig nicht ohne ihn in den Kampf reiten mußte. Jetzt beschäftigte er sich mit dem Bündel seines Herrn wie auch mit seinem eigenen und kümmerte sich um ihrer beider Waffen. 239
Während solche Vorbereitungen getroffen wurden, war Phaedrus stromaufwärts zu dem Haselnußwäldchen gewandert, wo die Priester noch immer mit den Verwundeten beschäftigt waren. Conory war wieder zu Bewußtsein gekommen. Er lag, Kopf und Schultern an den stützenden Stamm eines Haselnußstrauches gelehnt, und blickte auf etwas herab, das an seiner Seite kauerte. Als Phaedrus sich ihm näherte, schaute er herum und machte eilig eine winzige Geste, die ihn warnen und zugleich jenes Etwas, das in so angespannter Reglosigkeit an seiner Seite lag, zurückhalten und beruhigen sollte. Und Phaedrus, der neben ihm stehenblieb, sah hinunter und erkannte, daß es Shän war. Ihr Halsband war verlorengegangen, und mit ihrem fast abgesengten gestreiften Fell bot sie einen jammervollen Anblick; doch irgendwie war sie aus dem Kampfgewühl entkommen und hatte ihren Herrn wiedergefunden. Sie schien ganz die Alte geblieben zu sein, denn als Phaedrus sich näherte, fauchte sie und wurde steif. Erst unter Conorys Hand beruhigte sie sich. Ihre zu Schlitzen verengten Augen, die zu ihm aufblickten, waren so glänzend und tückisch, wie er sie stets gekannt hatte. Es ist töricht, dachte er bei sich, zu einer Zeit wie dieser eine plötzliche Freude und Erleichterung darüber zu empfinden, daß eine kleine, bösartige Wildkatze Kampfgetümmel und Feuer lebend überstanden hat. Und doch wäre es viel bitterer gewesen, Conory hierzulassen und ohne ihn fortzureiten, wenn sie nicht... »So - dann ist sie also wieder einmal von der Jagd zurück«, sagte er. Es war die selbstverständlichste und naheliegendste Bemerkung, da die Worte für das, was eigentlich gesagt werden mußte, zu schwer auszusprechen waren und in der Kehle steckenblieben. »Man sagt ja, daß eine Katze mit neun Leben geboren wird.« Conory streichelte die kläglichen, versengten Ohren, und Shän, die ihre Wildheit jetzt ganz abgelegt hatte, drängte den Kopf in die Wölbung seiner Hand und schnurrte ihn an. »Wenn ich den Tag mitrechne, an dem ich sie fand, dann blieben ihr also noch sechs Leben«, sagte Conory und sprach dabei so leichthin, wie Phaedrus es 240
getan hatte. Phaedrus hockte sich neben ihn und blickte ihm fragend ins Gesicht. »Wie steht es denn jetzt mit dir?« »Nicht schlecht. Welche Neuigkeiten gibt es im Lager? Mir kommt es vor, als ob ich schon sehr lange hier oben liege.« »Der erste Späher ist mit Nachricht eingetroffen, daß Liadhan zur Schwarzen Schlucht zieht. Ich werde sie jetzt mit etwa dreimal zwanzig Mann von unseren Kriegern verfolgen. Diese Zahl umfaßt alle, die von den Gefährten übriggeblieben sind.« »Wie viele sind von uns noch vorhanden — von den Gefährten?« fragte Conory nach einer Weile. »Sieben, die imstande sind zu reiten, und du hier.« »Es tut mir von Herzen leid, bei dieser Jagd fehlen zu müssen.« »Wir haben in diesen vergangenen Monaten gut miteinander gejagt«, sagte Phaedrus. Und während er in die hellen, glänzenden Augen blickte, die trotz ihrer merkwürdigen Stellung so sehr denen von Murna glichen, dachte er plötzlich daran, wie ihre Blicke sich zum erstenmal über die Köpfe der anderen hinweg in der Höhle des Jägers begegnet waren. Das lag weniger als ein Jahr zurück. Bei den Göttern - weniger als ein Jahr! Und doch schien es ihm, als hätte er seit jener Nacht im Hinterzimmer der ROSE VON PAESTUM ein ganzes Leben gelebt und beinahe ebensolang, seitdem er zum erstenmal mit Conory zusammengetroffen war. Die römische Welt war für ihn versunken, klein, fern und unwirklich wie eine Szene, die sich auf einem glänzenden Helm spiegelt. Er erinnerte sich mit plötzlicher, überscharfer Klarheit, wie er Conory damals angesehen hatte, als ein Geschöpf mit Wespentaille, das Farbe auf seinen Augenlidern und aufgefädelte Glasperlen um seine Handgelenke trug. Und da hatte er sich immer für einen guten Menschenkenner gehalten! Tor, der er gewesen war, im Inneren der phantastisch verzierten, seidenen Scheide die gehärtete Klinge nicht entdeckt zu haben! »Wenn du vor mir nach Burg Monaidh zurückkehren solltest, so sage Murna - sage ihr, daß sie nach mir Ausschau halten soll. Und 241
denke daran, wenn es nötig werden sollte, ich vertraue dir die beiden an.« Der Schmerz zerrte an Conorys Mundwinkeln, doch zugleich lag auch eine Spur seines gewohnten lässigen Lächelns in ihnen. »Sicher, das werde ich ihr ausrichten, doch ich glaube kaum, daß man ihr das wird sagen müssen. Sei unbekümmert wegen Murna und dem Kind.« Phaedrus legte eine Hand auf Conorys Schulter und umklammerte sie sekundenlang ohne ein Wort, während Shän ihn inzwischen mit zurückgelegten Ohren beobachtete für den Fall, daß er doch etwas Unrechtes vorhatte, dann richtete er sich wieder auf und ging flußabwärts zurück, wo die Pferde bereitstanden, dieses Mal zu erschöpft, um wie üblich zu stampfen und zu scheuen, wenn auch nicht viel erschöpfter als die Männer, die sie reiten sollten. Sie hatten an der Furt Schwierigkeiten mit den Pferden, denn der Blutgeruch war hier sehr stark; und ein Rabe, der direkt unter der Nase von Finns Pferd aufflatterte, machte das arme Tier halb wahnsinnig vor Entsetzen. Aber endlich gelangten sie doch hinüber, und indem sie vom Hauptrückzugsweg seitwärts abbogen, der hier und dort von im zertrampelten Gras liegenden toten Pferden und gefallenen Männern gekennzeichnet war, schlugen sie einen Weg in südwestlicher Richtung ein, um die Spur der Wölfin aufzunehmen. Es war der alte Vron, der, vorausreitend, wie er das von den Packzügen her gewohnt war, die Spur als erster fand und wartete, bis die anderen herangekommen waren. Dann wies er auf den nur Stunden alten Pferdemist. »Sie hatten Pferde auf der anderen Seite bereitstehen«, teilte er ihnen in düsterem Triumph mit. Die Schatten wurden länger, und sie waren, indem sie sich selbst und die müden Tiere bis zur äußersten Grenze des Erträglichen vorantrieben, drei oder vier römische Meilen vorangekommen, als ein dunklerer Schatten aus einem Wäldchen von Bergwacholder herausschlich und ihnen entgegenkam. »So - so, Baruch die Ringelnatter.« Phaedrus blickte auf den kleinen Mann herab, der neben seinem Pferd stand. »Was für Bescheid hast du?« »Ich folgte der Wölfin und ihrer Bande, bis sie dort drüben über 242
jenen Kamm hinweg in die Schwarze Schlucht geritten waren.« Er wandte sich um und wies auf eine Erhöhung im Hochmoor, die etwa eine Meile weit entfernt lag. »Dort drüben war ein Lager der Caledonier, und König Bruides Gemahlin wartete da auf ihren Herrn. Ich lag in Deckung, dort gibt es gutes Versteck im Farnkraut, und beobachtete, wie sie und Liadhan eine Weile miteinander sprachen. Dann kam die erste Reihe ihrer geschlagenen Heerschar über die Höhe und strömte ins Lager, und dann hörte ich sie schreien. Es muß gewesen sein, als man ihr gemeldet hatte, daß ihr Herr erschlagen worden sei. Sie schrie und riß sich ganze Hände voll ihres Haares aus. Es sammelte sich dort eine große Menschenmenge, und ich konnte weder sehen, was sich ereignete, noch hören, was sich zwischen ihr und Liadhan abspielte. Doch zu guter Letzt kam Liadhan in der Königin eigenem Wagen durch die Menge gefahren, nur von wenigen reitenden Priestern und sonst niemand begleitet. Doch den Pferden saß das Entsetzen im Nacken! Und während die Caledonier anspannten und sich wieder nach Norden zu den Pässen des Drum Alban aufmachten, fuhren jene auf der alten Wagenstraße, die entlang dem Seeufer nach Süden führt - zum Kastell der Roten Helmbüsche an der Clota.« Den unterdrückten Aufschrei seiner Männer in den Ohren, sagte Phaedrus: »Ein römisches Kastell! Sie kann sich doch nicht dorthin wenden.« »Ich glaube, daß es keinen anderen Ort gibt, zu dem sie auf jenem Pfad unterwegs sein könnte«, warf der alte Vron ein, der die besondere Kenntnis der Berge an der Grenze mit seinem Herrn gemeinsam hatte. »Aber - beim Licht der Sonne! Liadhan, die sich der Gnade der Roten Helmbüsche anheimgibt!« »Was mag sie von den Caledoniern getrennt haben?« Aluin hatte die Frage gestellt, und der grauköpfige Dergdian gab die Antwort. »Bruide, der ihr Sippenverwandter war, ist tot. Ich kann mir vorstellen, daß die Königin - und mit ihr vielleicht auch das Volk -, die nun ohne einen starken König zurückgelassen sind, das Gefühl haben, daß innerhalb der caledonischen Jagdgründe für eine zweite 243
Göttin auf Erden kein Platz ist. Ich würde es nicht so völlig von der Hand weisen, daß auch Liadhan die daraus erwachsende Gefahr wittert.« »Und ich wittere Gefahr in der Tatsache, daß sie sich zu den Roten Helmbüschen gewandt hat«, sagte Phaedrus rauh. »Wohin sie auch geht, sie trägt tödliche Gefahr für die Dalriaden mit sich; und unter den Roten Helmbüschen, die diese Frau nicht kennen, wird sie wirken wie Feuer, das man an ein Stoppelfeld legt.. . Kleine Ringelnatter, kehre zurück zu Gault dem Starken und berichte ihm alles, was du mir eben berichtet hast.« Dann wandte er sich an seine Reiter. »Auf - es scheint immerhin, daß wir einer klaren Spur zu folgen haben; doch wir müssen ihr rasch nachreiten.« Drei Tage später ritt die kleine Kriegerschar gegen Abend aus dem dichten, von keinem Lufthauch bewegten Dunkel des Coit Caledon, des Waldes der Caledonier, und hielt in dem verwachsenen Dickicht aus Haselnußsträuchern und Erlenstämmen an, das den Rand des Waldgebietes bildete. Sie blickten hinaus über die Leere gerodeten Landes, das in dem dunstigen Sonnenlicht gelblich bleich leuchtete, und hinauf an dem mit dürftigem Gras und schwarz herausragendem Felsgestein bedeckten steil abstürzenden Hang bis hin zu dem Punkt, wo die alte Festung Theodosia auf dem Kamm des mächtigen Felsens lag, der weit über die Wasser der Clota hinwegragte. Sie hätte sogar ein Teil des Felsens sein können, so tief war sie mit ihm verwachsen, und die weißen Möwen umflatterten sie. Selbst auf diese Entfernung erweckte das Kastell einen halb verlassenen Eindruck, doch römische Fahnen hingen schlaff und gerade in der unbewegten Luft über dem Praetorianertor und hoben sich lebhaft wie Schwaden farbigen Feuers gegen die düstere Masse der sich dahinter auftürmenden Gewitterwolken ab. Und während Phaedrus auf seinem müden Pferd im Schutz des Waldrandes saß und wegen des grellen Lichts mit zusammengekniffenen Augen hinaufspähte, wurde die brütende Stille jäh von römischen Trompeten zerrissen, die er ein Jahr lang nicht mehr gehört hatte. Alle ihre Bemühungen, die Wölfin auf dem Ritt zu überholen, ehe sie den alten Seehafen erreichte, waren von Anfang an hoffnungslos 244
gewesen, denn sie hatte frische Pferde, während ihre eigenen bedauernswerten Tiere schon weitgehend verausgabt waren, ehe sie überhaupt aufbrachen. Immer wieder hatten sie die Pferde rasten lassen, und mehr als einmal hatten sie sich verbergen müssen, um den Patrouillen der Hilfstruppen zu entgehen; das alles hatte nicht dazu beigetragen, sie schneller vorankommen zu lassen. Und so war Liadhan hinter römischen Mauern in Sicherheit. Was war jetzt zu tun? »Was jetzt?« fragte Dergdian wie ein Echo auf seine eigenen Gedanken. »Wir wollen zuerst sehen, was die bloße Anfrage einbringt«, sagte Phaedrus, den Blick noch immer auf das ferne Torhaus gerichtet. »Das wird uns zumindest verraten, ob sie noch immer innerhalb der Festung ist.« Und so trug jeder der Männer, als sie die erschöpften Pferde wieder vorwärts trieben, seinen Speer mit nach rückwärts weisender Spitze, zum Zeichen dafür, daß sie in friedlicher Absicht kamen; und Phaedrus, der ein wenig vorausritt, hatte von einem am Wege stehenden Baum einen grünen Zweig abgerissen und trug ihn in der Hand. Wieder ertönten hoch über ihnen die Trompeten, als sie das Gewimmel von Hütten der kleinen, von Einheimischen bewohnten Siedlung am Fuße des Felsens passierten und den dahinter liegenden zickzackförmig verlaufenden Pfad emporritten. Und als Phaedrus die rote Stute vor dem hohen, hölzernen Tor stolpernd zum Halten brachte - armes Tier, es war nicht einmal nötig, die Zügel anzuziehen -, waren die Wallanlagen zu beiden Seiten von Posten besetzt, und ein Centurio der Hilfstruppen, der vom Dach des Wachtturmes herunterblickte, fragte: »Was wollt ihr hier, Fremde?« »Wir wollen mit deinem Kommandanten sprechen.« »Und was glaubt ihr, wer ihr wohl seid, daß ihr mit dem Kommandanten zu sprechen verlangt?« »Ich bin Midir, der König der Dalriaden. Ich komme in Frieden.« Phaedrus erhob den grünen Zweig in seiner Hand. »Aber es wäre 245
dennoch gut, wenn der Kommandant herauskäme und mit mir spräche.« »Midir von den Dalriaden, sagst du?« In der Überzeugung, daß dieser Name, nachdem Liadhan hinter jenen Mauern war, so oder so seine Wirkung ausüben würde, hatte er darauf gesetzt, daß es eine nützliche Wirkung sein würde. Er konnte nur hoffen, daß das der Fall war, als der Centurio einen Augenblick lang geradeaus starrte, halblaut etwas murmelte und danach verschwand. Hinter den Toren wurden ein paar rasch hervorgestoßene, barsche Befehle hörbar, und dann geschah eine Weile nichts mehr. In der drückenden Sonne ritt Phaedrus auf der roten Stute den Weg längs des Grabens entlang, hielt mit erbarmungsloser Hand ihren Kopf am Zügel in die Höhe und überhörte die Bemerkungen - von denen die Wachen auf dem Wall nicht annahmen, daß er sie verstand - über EinTal-Könige, die auf kurzatmigen Kleppern dahergeritten kämen und sich mit Cäsar verwechselten. Endlich wurden die Wachen schlagartig stumm und traten zurück, während ein anderer Kopf bis zu den Schultern an der hölzernen Brustwehr über Phaedrus auftauchte. Ein Bronzehelm glänzte in dem dunstigen Sonnenlicht, und ein Helmbusch aus rotem Pferdehaar zeichnete seine Umrisse gegen den hitzeflirrenden Himmel. Und unter dem Stirnband zeigte sich ein schmales, dunkles Gesicht mit einer Nase, die zu groß für es war - ein Gesicht, das Phaedrus schon einmal gesehen hatte. »Sei gegrüßt, Midir von den Dalriaden. Du möchtest über den grünen Zweig hinweg mit mir sprechen?« Extra für die Wachen sprach Phaedrus in einem Latein, das bei weitem gewählter war als das ihre. »Sei gegrüßt, Kommandant. Hat die Stute sich als ein gutes Jagdpferd erwiesen?« Die dunklen Augen im Gesicht des Offiziers wurden plötzlich wachsam, und er lehnte sich über die Brustwehr vor. »Habe ich dich schon einmal gesehen?« 246
»Vor mehr als einem Jahr. Möglich, daß ich mich etwas verändert habe.« Phaedrus, der sich dem fragenden Blick stellte, in dem kein Erkennen aufzuckte, wurde sich dieser Veränderung eindringlich bewußt - jener prächtige Dolch mit dem Bronzegriff an seiner Seite, das an eine vierblättrige Blume erinnernde, eintätowierte Muster auf seiner Stirn, das von der verwischten Kriegsbemalung halb überdeckt wurde, und schließlich die große, verwachsene Narbe, die eine Gesichtshälfte verunstaltete. »Ich war Treiber beim Packzug von Sinnoch dem Händler, und du warst Centurio einer Truppe von Grenzwölfen. Ein rascher Aufstieg, Herr Kommandant.« »So-o, ja, ich erinnere mich. Und jetzt bist du König der Dalriaden? Ein rascher Aufstieg, mein Herr Midir; doch nach deinem Aussehen zu urteilen, wurde er dir nicht ohne Kampf zuteil.« »Nicht ohne Kampf wurde er mir zuteil. Als wir das vorige Mal zusammentrafen, war ich auf dem Weg nach Norden, um die Königswürde zurückzugewinnen, die Liadhan, meines Vaters Halbschwester, mir geraubt hatte, als mein Vater starb. Ich habe um diese Würde gekämpft, und viele andere kämpften mit mir, um EarraGhyl von der Wölfin zu befreien. Und wir errangen den Sieg. Doch sie entfloh zu den Caledoniern und entfachte den Krieg zwischen uns und jenen. Nun, da man unter jenem Volk ihre Anwesenheit immer zögernder zu begrüßen beginnt, entflieht sie von neuem, um unter den Fittichen der Adler Zuflucht zu suchen.« »Eine interessante Geschichte - aber was habe ich damit zu tun?« »Du hast insofern damit zu tun, weil du die Wölfin in eben-diesem Augenblick innerhalb deiner Tore beherbergst, und ich komme, um ihre Herausgabe zu fordern.« Die dunklen Augen musterten die kleine Schar von zerlumpten und todmüden Reitern. »Du solltest einen mächtigeren Heerbann mit dir führen, wenn du mit einer Forderung an die Tore eines römischen Kastells kommst.« »Es werden bald mehr von uns hier sein«, erwiderte Phaedrus mit beleidigender Kaltblütigkeit. »Dann komm wieder, wenn du genügend Männer hinter dir hast, die deiner Forderung Nachdruck verleihen.« 247
»Du lehnst also ab?« »Ich lehne es ab, auf das bloße Ansinnen eines Abenteurers und Thronräubers hin eine Königin auszuliefern, die sich dem Schütze Roms anvertraut hat.« Siedend heiß gleich einem Brechreiz stieg die Wut in Phaedrus' Kehle hoch; doch er schluckte sie hinunter, weil er wußte, daß ein wütender Schwertkämpfer nur zu oft damit die höchste Feinheit seines Könnens verdarb. »Ich bin kein Thronräuber!« (Er hatte völlig vergessen, daß eben dies genau auf ihn zutraf.) »Ich bin der einzige Sohn meines Vaters. Als er starb, ergriff diese Frau, wie ich dir schon sagte, die Macht. Sie hätte mich töten lassen, wenn ich nicht entkommen - wäre, und sieben Jahre lang hat sie mein Volk im Widerspruch zu dem Gesetz und nach Gebräuchen regiert, die ihm verhaßt waren. Darum haben sie sich schließlich gegen sie erhoben, und ich - kehrte zurück, um ihr Führer zu sein. Macht mich das zum Thronräuber?« »So hat die Königin es uns nicht berichtet«, sagte Titus Hilarian. »Würde sie wohl mit der Wahrheit — mit solcher Wahrheit -auf der Zunge zu euch um Schutz gekommen sein?« »Möglicherweise nicht.« Der Festungskommandant stützte die Ellbogen auf die Brüstung und beugte sich mitteilsam vor. »Doch selbst wenn ich einmal annehme, daß jedes Wort deiner Erzählung wahr ist, warum machst du dir die Mühe, die Frau weiterhin zu verfolgen? Du hast deine Königswürde zurückgewonnen. Sie steht nicht mehr zwischen dir und der Sonne. Und wenn es mich anginge, würde ich sagen, daß Rache fast eine Zeitverschwendung wäre.« »Solange sie lebt, ist sie ein Todesschatten über den Dalriaden.« (Es hatte keinen Zweck, ihm zu sagen: Du kennst sie nicht. Du weißt nicht, daß du, wenn du sie dort behältst, auf sie hören wirst, und so wahr ein Gewitter heraufzieht, so wahr werdet ihr euch eines Tages nach Norden marschieren sehen, um sie auf den königlichen Stuhl zurückzusetzen, und das in dem Glauben, daß der Frieden der Grenze davon abhängt. Man konnte nur sagen: Sie ist der Todesschatten über den Dalriaden und es dabei bewenden lassen.) 248
Der Kommandant richtete sich von der Brustwehr auf, stand da und blickte, während sein Mund streng und schmal wurde, auf die Reiter unter sich herab. »All das ist für Rom ohne Bedeutung. Mögen die Stämme jenseits der Grenze ihre eigenen Fehden austragen. Die Königin hat den Schutz Roms erbeten, und bevor der Legat mir nicht gebietet, sie euch zu übergeben, werde ich nichts dergleichen tun. Ist das klar?« Es folgte ein langes Schweigen, und in der Ferne zitterte leises Donnergrollen den Horizont entlang. Dann erwiderte Phaedrus: »Es ist klar«, und schleuderte den Zweig zu Boden. Dann riß er die Stute, die auf den heftigen Stoß seiner Ferse und auf das Zerren des Gebißstücks an ihrem Maul mit einem Schnauben antwortete, wild herum. »Weg!« Hier gab es nichts mehr zu reden.
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Signal aus dunklen Wäldern Von dem alten Vron geführt, hatten sie sich für die Nacht in einem kleinen Tal eingerichtet, wo ein Bach, der kaum genug Wasser führte, um die Steine zu bedecken, sich durch den tiefgelegenen Wald schlängelte, um in den Baalsfluß einzumünden, der an Theo-dosia vorbei in die Förde der Clota führte. Und in der Abenddämmerung machten sich Phaedrus und der alte Vorreiter durch Wälder und Marschen nach Süden zur Küste auf und arbeiteten sich an die dem Meer zugewandte Seite heran, um die Anlage näher zu betrachten. Theodosia war einst ein bedeutender Seehafen gewesen, zur Zeit des Agricola, als die Patrouillenschiffe regelmäßig wie die Schiffchen an einem Webstuhl in die Förde der Clota ein- und ausgefahren waren. Und die Größe des alten Kastells, das da über den leeren Anlegeplätzen und den überwucherten Hellingen* auf seiner Klippe lag, kündete auf eigene Weise von vergangener Macht. Jetzt war es natürlich nicht mehr als ein Außenposten-Kastell an dem nördlichen Wall, doch immer noch stark. Phaedrus zweifelte sehr, daß sie viel dagegen würden ausrichten können, selbst wenn Gault alles herbeiführte, was von der Heerschar übriggeblieben war. Und während er beobachtete, wie die aufragende Masse aus Felsgestein sich allmählich schwarz und drohend gegen den kupferfarbenen Sonnenuntergang abzuheben begann, der sich weit über die bleichen Wasser der Förde bis zu der flachen Küstenlinie Valentias ausdehnte, die wie eine Nebelbank wirkte, zuckte von der römischen Signalstation ein Leuchtzeichen auf. Theodosia mochte vom nächsten Kastell am Wall weit entfernt sein, doch es stand in enger Verbindung mit seinem Gegenüber jenseits des Wassers. Nach ihrer Rückkehr in das Tal, wo die selbst zum Grasen zu müden, humpelnden Pferde sich niedergelegt hatten, hatte die Kriegerschar ein Feuer entfacht. Die Roten Helmbüsche würden recht gut wissen, daß sie nicht ohne weiteres das Gebiet verlassen hatten, deshalb schien es das beste, keine Heimlichtuerei zu betreiben. Sie aßen das letzte Fleisch, das bereits stank. Morgen und am Tag darauf 250
würden sie sich von den Streifen geräucherten Hirschfleisches und dem Rest des Haferbreis erhalten können. Doch dann, * Schräger Sdiiffsbauplatz wenn die Sache sich noch länger hinzog, würden sie auf die Jagd gehen müssen, und das in einem Landstrich, der den Eindruck machte, als sei er schon seit langem von den Roten Helmbüschen nahezu leergejagt worden. Auf den Ellbogen gestützt, streckte sich Phaedrus am Feuer aus. Seine Gedanken reihten sich lose aneinander, wie die Gedanken eines Menschen, der zu erschöpft ist, um sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Gesichter tauchten in seiner Vorstellung auf und verschwanden: das von Murna und das von Conory; Sinnochs totes Antlitz, das den Ausdruck eines trockenen Amüsiertseins trug, als ob er über einen schlechten Scherz lachte; dann das dunkle Gesicht unter dem Helmbusch aus Pferdehaar, das von der Brustwehr in Theodosia auf ihn herabgeblickt hatte . . . Sinnoch hatte damals gesagt, daß dieser Mann ein Kastell befehligen würde, ehe er dreißig wäre - es sei denn, man fände ihn tot in einem Sumpf oder er würde abgesetzt, weil er zu sehr nach eigenem Ermessen handelte. Doch es war seltsam, ihn auf diese Weise wiederzusehen; es war, als ob dieses sonderbare vergangene Jahr sich nun zu einem Kreis schlösse. Es war, als vollende sich hier ein Webmuster, an dem jedes lose Fadenende, sobald man mit ihm fertig war, sorgfältig verknüpft wurde, wie die Frauen das an der Kante eines Webstückes mit jeder Farbe tun, die nicht mehr gebraucht wird. Und dann mußte er wieder an Murnas Gesicht denken und an den Geruch, den ihr Haar ausströmte, wenn es feucht geworden war. Zwischen Schlafen und Wachen hörte er etwas - ein leises klagendes Pfeifen zwischen den Bäumen unterhalb ihres Lagers, das fast wie der Ruf eines nächtlichen Vogels klang - fast, doch nicht wirklich. Noch immer halb schlafend, horchte er auf. Und während er horchte, kam das Pfeifen wieder. Es war der aus fünf Tönen bestehende Pfiff, den er und Midir als Signal füreinander benutzt hatten, als sie den Monat neben dem Hahnenstall in Onnum zusammen verbracht hatten. 251
Jetzt war er hellwach und lauschte mit jedem Nerv seines Körpers. Der Pfiff ertönte von neuem mit sanfter Beharrlichkeit, und die vom Feuerschein beleuchteten Gesichter der anderen verrieten ihm, daß auch sie ihn gehört hatten. Finns Hand stahl sich an den Dolch; auf ein Knie gestützt war er hochgefahren. Andere machten die gleiche Bewegung. »Ein Späher!« flüsterte jemand. Phaedrus sprang auf. »Narren! Würde ein Späher pfeifend so nahe an unser Feuer kommen? Das ist ein Signal - für mich!« »Signal von wem?« fragte Dergdian knapp. »Von einem Freund - oder von dessen Geist.« »Achte nicht darauf, Herr.« Brys' Gesicht wurde scharf in plötzlicher Angst um seinen Herrn. »Es ist nicht heilsam, solchen Rufen zu folgen.« Der alte Vron knurrte zustimmend. »Der Junge hat recht - ich erinnere mich, als ich ein junger Mann war . ..« Doch Phaedrus war schon unterwegs. Er eilte den schlüpfrigen Grashang hinunter, der in das Baumgebiet mündete. Vor sich hörte er wieder das Pfeifen, entfernter jetzt, als ob — wer oder was immer ihn auch rief - man sein Kommen bemerkt und zurückgewichen war. Es war eine dunkle Nacht, die noch dunkler wirkte durch die von Zeit zu Zeit weitab in den Bergen aufzuckenden Blitze; der zunehmende Mond war noch nicht aufgegangen, und eine dünne Schicht von Gewitterwolken verdeckte die Sterne; sobald er sich erst einmal zwischen den Bäumen befand, konnte Phaedrus nicht die Hand vor den Augen sehen. Dies waren nicht die dürftigen Birkenwälder und Haselgehölze Earra-Ghyls, sondern der dichte, schwarze Wald, der das ganze Flachland von den großen Höhen Valentias bis in unbekannte Fernen des Nordens bedeckte, nebliger Eichenwald, durchsetzt mit Eiben und Stechpalmen, und auf den nördlichen Hängen der Berge die hohen, flüsternden Kiefern. Ein uralter Wald, der, so schien es Phaedrus, ihn mit feindlichen Augen beobachtete, mit Augen, die wie die von Shän in der Dunkelheit sehen konnten. Tiefhängende Zweige schlugen ihm ins Gesicht, und von Zeit zu Zeit rannte er gegen einen Baumstumpf oder stolperte in ein Loch, das die Wurzeln eines lange umgestürzten Baumriesen hinterlassen hatten; 252
und immer, wenn er stehenblieb, um zu lauschen, ertönte wieder das Pfeifen, doch fern wie zuvor. Es lockte ihn weiter und weiter vom Lager fort. Doch er hatte keinen Zweifel daran - mochte das vor ihm nun durch einen unglaublichen Zufall Midir selbst oder sein Geist sein —, daß dieser Gang durch den dunklen Wald Teil eines Webmusters war, das sich vollendete. Der abschüssige Boden unter seinen Füßen war in ebenes Land übergegangen, und er konnte ganz nahe in der Dunkelheit das leise Murmeln des Baches hören, und schließlich trat er hinaus ans Ufer genau an der Stelle, wo der Bach in eine Reihe von Tümpeln überging, von denen der letzte in den Baalsfluß mündete. In diesem Augenblick begriff er plötzlich, daß der Rufende nicht mehr weit entfernt von ihm, sondern ganz in seiner Nähe war. Weder Geräusch noch Bewegung hatten es ihm verraten, nur das Gefühl, daß sich da jemand auf Armeslänge entfernt von ihm in der Dunkelheit aufhielt. Er fuhr herum und verfing sich dabei mit dem Fuß in einer gewölbten Wurzel; fast wäre er kopfüber die Uferböschung hinuntergestürzt. Er rappelte sich mit einem unterdrückten Fluch auf, und irgend etwas, das nur aus noch undurchdringlK cherer Dunkelheit bestand, kam nahe heran; er hörte nur den leisesten Hauch eines Lachens. »Im Dunkeln hat der Blinde den Vorteil.« »Midir! Bist du es wirklich? — Oder ist es dein Geist?« »Hast du denn gedacht, es könnte mein Geist sein?« »Ich — war nicht sicher.« »Und doch bist du gekommen.« »Ich bin gekommen.« Hände streckten sich in der Dunkelheit aus und packten seine Schultern in der altvertrauten Art; als Phaedrus die eigenen hob, um sie darauf zu legen, waren sie warm und stark und von Leben durchpulst. »Fühl selbst - es ist kein Geist«, sagte Midir. Nach den ersten kurzen Augenblicken hatte sich ihr Zusammentreffen wieder in das Geschehen eingeordnet, so daß Phaedrus es durchaus nicht als etwas Überraschendes empfand, 253
sondern als etwas, das einfach in der Zukunft für sie bereitgestanden hatte, bis die Zeit kam, da es eintreffen mußte. Er wußte noch immer nicht, ob er Midir mochte, und noch immer wußte er, daß das nicht wichtig war; wußte, daß sie tief unten an den Wurzeln aller Dinge zusammengehörten, so als ob sie ursprünglich als eine Person zur Welt hätten kommen sollen, sich dann aber irgendwie aufgespalten und als zwei Menschen die Welt betreten hatten. »Aber ich verstehe das nicht«, sagte Phaedrus. »Wie kommt es, daß du hier bist?« »Es war recht einfach, euch vom Kastell aus zu folgen. Ich hörte, welchen Weg ihr eingeschlagen hattet, und das verschaffte mir den Anfang der Spur. Erschöpfte Pferde haben eine starke Ausdünstung, und dann hatte ich für den letzten Teil des Weges den Rauch eures Feuers zum Führer.« »Ja, das begreife ich; doch ich meinte - wie kommt es, daß du dich hier, nördlich des Walles, aufhältst?« »Mein alter Meister starb; und da ich dennoch hin und wieder etwas zu essen brauche, machte ich mich auf, um Arbeit für mich zu suchen. Ich hatte auch im Sinn, wenn möglich, Nachricht darüber zu gewinnen, wie die Sache mit dem Pferdekönig ausgegangen war, nachdem wir uns damit so große Mühe gegeben hatten. Ich kam also nach Theodosia. Überall, wo es Rote Helmbüsche gibt, ist ein guter Lederhandwerker immer willkommen. Sie waren erfreut, mich hier in der Gegend zu sehen.« Midirs Ton änderte sich. »Und du? Ja, gewiß, du bist der Pferdekönig; ach ja, ich weiß es, in dieser Gegend werden die Neuigkeiten vom Wind weitergetragen. Außerdem, wenn die Sache zu deinen Ungunsten verlaufen wäre, wärest du längst eines unrühmlichen Todes gestorben, anstatt hier zwischen meinen Händen zu stehen .. . Doch es scheint, daß du noch nicht jene Rache für mich vollzogen hast, wie du mir versprochen hast.« »Ich werde sie noch vollziehen«, sagte Phaedrus. »Vielleicht. Oder vielleicht werde ich schließlich doch selbst Rache nehmen.« In Midirs Stimme war eine kalte, schleichende Sanftheit, die irgend etwas in Phaedrus' Magen sich verkrampfen ließ. Doch als Midir fortfuhr, klang seine Stimme wieder wie gewohnt. »Doch ich 254
vergeude Zeit, während doch wenig genug noch zur Verfügung steht. Höre, Phaedrus: Der Kommandant des Kastells hat an die Signalstation auf der anderen Seite der Förde Nachricht gesandt - das Boot ist in der Dämmerung hinübergefahren. Er hat um eine schnelle Rudergaleere und einen Geleitzug gebeten. Und morgen um Mitternacht werden sie sie nach Valentia hinüberbringen.« »Woher weißt du das?« »Jetzt sprichst du wie einer von den Roten Helmbüschen. Die britannischen Bewohner einer Siedlung, die sich rings um ein Kastell zusammendrängt, wissen im allgemeinen mehr, als der Befehlshaber des Kastells sich träumen läßt.« Phaedrus schwieg einen Augenblick; dann fuhr er auf: »Bei allen Göttern der Unterwelt! Ich hatte gehofft, sie würden sie hierbehalten, bis sie Anweisungen vom Legaten oder vom Statthalter bekämen!« »Ich glaube, daß Tims Hilarian, der Kommandant, sie so schnell wie möglich loswerden möchte, damit die Grenze nicht in Flammen aufgeht, während er sie noch hier hat.« Phaedrus betrachtete das bleiche Wasser, das sich kräuselte. »Eines ist ganz klar«, sagte er schließlich. »Liadhan darf niemals einen Fuß auf jene Galeere setzen.« »Wieviel Speere begleiten dich?« »Etwa dreimal zwanzig.« »Das genügt nicht. Wo sind die übrigen Männer der Heerschar?« »Ganz bestimmt nicht daheim, um Honigkuchen zu essen!« Phaedrus geriet in dem Augenblick, als es galt, die eigenen Leute zu verteidigen, in Harnisch. »Eine ganze Anzahl von ihnen ist tot. Wir haben den ganzen Sommer gekämpft, ist dir darüber keine Nachricht zu Ohren gekommen? Erst vor drei Tagen haben wir eine gehörige Schlacht bestanden, und danach konnte ich kaum dreimal zwanzig Mann auftreiben, die noch imstande waren, ein Pferd zu besteigen und diesen Weg mit mir zu reiten. Gault führt alles an Männern heran, was er zusammentrommeln kann, sobald sie und die Pferde wieder in der Lage sind, Tag und Nacht zu unterscheiden; doch Fleisch und Blut ist 255
schließlich Fleisch und Blut, mag auch noch soviel Willen darin wohnen. Ich bezweifle, daß sie früher als in zwei Tagen hier sein können.« Midir sagte verhalten: »Ja! Ich hatte recht, ich hatte recht! Ja, du bist der Pferdekönig, Phaedrus, mein Bruder.« »Jedenfalls ertappe ich mich selbst manchmal dabei, daß ich es wirklich glaube.« Eine Sekunde lang zuckte in Phaedrus die Erinnerung an den kleinen Dunklen Häuptling und seinen Zaubertrick auf. »Denkst du, daß ich nicht der Pferdekönig sei?« hatte er ihn gefragt. Und der kleine Mann hatte ihm geantwortet: »Ich weiß es nicht. Aber wenn du diese Feder wiedersiehst, wirst du es sein.« Doch diese Erinnerung war sogleich wieder entschwunden, ohne mehr an Spuren zu hinterlassen als jene goldglänzende Regenpfeiferfeder in der schmalen, dunklen Hand. Längere Zeit gab es zwischen ihnen keinen Laut außer dem Plätschern des Baches und den leisen, nächtlichen Geräuschen des Waldes. Dann sagte Phaedrus unvermittelt: »Für das, was da zu tun ist, hat nach meiner Meinung ein einzelner Mann bessere Erfolgsaussichten als eine ganze Kriegsschar.« »Zwei Männer«, sagte Midir, und aus seinem Ton entnahm Phaedrus, daß Midirs Gedanken der gleichen Bahn gefolgt waren. »Zwei?« Erneutes Schweigen. Dann durchbrach es Midir. Er sprach in knappen, hastig hervorsprudelnden Sätzen, zwischen die er lange Pausen einlegte, als arbeitete er erst während des Sprechens den Plan aus. »Höre — das wäre ein Weg: Die Galeeren werden nicht vor Einbruch der völligen Dunkelheit einlaufen, und wenn sie wirklich die Dunkelheit abwarten, so bedeutet das, daß sie beabsichtigen, vor dem Morgengrauen aufzubrechen. In der Abenddämmerung sendest du ...« Er unterbrach sich. »Hast du unter deinen Männern einen guten Messerwerfer?« Phaedrus' Gedankengang hatte jetzt die Richtung erfaßt. »Einen oder zwei«, erwiderte er. Und dann: »Zumindest einen.« 256
»Gut. Um die Abenddämmerung also sendest du ihn herüber. Im allgemeinen stellen sie dort unten keine Posten auf; da gibt es nicht viel zu bewachen - leere Bootsschuppen und niedergebrochene Molen -, und sie würden das auch nicht einfach finden, da die Siedlung sich am nördlichen Ende bis weit in die Hafenanlagen hinein erstreckt und die Fischer ihre Netze in den Ruinen aufbewahren, so daß niemand recht sagen kann, wo das eine beginnt und das andere endet. Doch ich kann mir vorstellen, daß sie morgen nacht dort eine Wache aufstellen werden.« »Und wie wird unser Messerwerfer da hindurchgelangen?« »Ach - das überlasse ich dir - oder ihm. Wähle einen Mann aus, der an das Pirschen auf Wild gewöhnt ist, und er wird schon hindurchzukommen wissen.« »Schön. Und dann?« »Auf der dem Meer zugewandten Seite gibt es nur einen Weg, der den Felsen hinunterführt, ein Weg, der besonders unten so steil ist, daß er in einer hölzernen Treppe endet. Dort hinunter werden sie sie bringen; selbst die Roten Helmbüsche wären nicht töricht genug, sie zum Praetorianertor hinaus und im Halbkreis durch die Siedlung zu führen. Dicht bei der Treppe, auf der nördlichen Seite, sind die Überreste von Lagerschuppen und ähnlichen Gebäuden. Die bieten recht gute Deckung und liegen in Reichweite eines Dolchwurfes. Laß deinen Mann sich dort niederlegen, und wenn sie an die unterste Stufe der Treppe kommt — sie werden eine oder zwei Fackeln tragen müssen, um ihr zu leuchten -, dann ist das der Augenblick für ihn, den Dolch zu schleudern und darum zu beten, daß er trifft!« Sie schwiegen einen Augenblick, und mitten in diesem Schweigen erklang irgendwo zwischen den Bäumen das leise, scharfe Geräusch eines knackenden Zweiges. Unter plötzlich rasendem Herzklopfen erstarrten die beiden Männer, während sie dort standen. »Was war das?« flüsterte Phae-drus, und die Hand des anderen packte seine Schulter fester. »Sei still.« 257
Während einer Weile, die ihnen wie eine Ewigkeit erschien, standen sie lauschend, jeden Nerv gespannt. Doch es war nichts mehr zu hören als das leise nächtliche Rauschen und Ächzen der Wälder hinter ihnen. Schließlich stieß Midir mit einem kleinen Seufzer den Atem aus. »Es war nichts.« »Ich werde hingehen und mich überzeugen.« »Wie?« sagte Midir. Nein, es gab keine Möglichkeit, sich zu überzeugen - und es war auch nicht nötig; schon früher hatte er solche leisen, scharfen und unerklärlichen Geräusche wahrgenommen. »Dieser trockene Sommer hat den Wald mit seinen verdorrten Zweigen lebendig gemacht.« Dennoch lauschten sie noch einen Augenblick und kehrten erst dann voller Dringlichkeit zu dem Punkt zurück, an dem sie abgebrochen hatten. »Ich würde nicht sagen, daß es ein guter Plan ist«, sagte Phae-drus, »doch er ist durchführbar, und mir will kein besserer einfallen. Es ist nur ein Haken daran - für den Mann mit dem Dolch bedeutet er den Tod.« »Sicher, wenn dieser Mann allein wäre. Doch eben hier kommt ja der zweite Mann ins Spiel, um die Verfolger abzulenken.« »Ich hatte den zweiten Mann ganz vergessen«, sagte Phaedrus. »Gut also, soll ich ihn zusammen mit dem anderen herüberschicken?« »Nein, du schickst ihn überhaupt nicht. Ich werde dorthin schlendern, um mit den Fischern zu schwatzen, wenn sie am Abend ihren Fang einbringen, das tue ich nicht zum erstenmal, und werde dann schon eine Möglichkeit finden, mich zu verbergen, bis der Zeitpunkt kommt.« »Du?« fragte Phaedrus. »Warum nicht? Sie werden mein Gesicht nicht erkennen, wenn ich vor ihnen davonlaufe. Ich kenne den Boden dort recht gut; mit etwas Glück werde ich sie ein gutes Stück weit weglocken, ehe ich über etwas falle - vielleicht sogar weiter weg, als sie selbst mir folgen werden. Fackeln geben zu Ungewisses Licht für eine 258
Verfolgungsjagd. Sie werden mich nicht als den blinden Lederarbeiter erkennen, bis sie mich gefangen haben.« »Und wenn sie dich gefangen haben?« »Dann werde ich eine gute Ausrede haben. Hör nur: Ich ging hinunter, um mit den Fischern zu schwatzen und mir einen Fisch zum Abendessen zu erhandeln. Ich war müde, die Luft gewitterschwer; ich kroch in eine Ecke und schlief ein. Der plötzliche Tumult weckte mich auf, und ich hatte Angst. Plötzlicher Lärm ist etwas Angsterregendes für einen Blinden, mein Phaedrus - und so rannte ich los.« »Das klingt einleuchtend«, sagte Phaedrus. »Natürlich klingt das einleuchtend.« »Aber es ist doch Wahnsinn, daß du es versuchen willst, Midir. Siehst du denn nicht. ..« Midir unterbrach ihn. »Nein, ich sehe nicht - ich sehe nicht; das willst du doch sagen, nicht wahr? Du glaubst, daß ich das nicht fertigbringe, weil ich blind bin. Ich weiß besser als du, wozu ich fähig bin! Wenn irgendeiner deiner Männer es tut, wird er sterben; es gibt kein Entkommen um die südliche Flanke des Felsens. Doch ich kann es tun und werde sehr wahrscheinlich am Leben bleiben, um einst davon zu erzählen, obwohl mich das im Augenblick nicht sonderlich interessiert .. . Außerdem ist es mein Recht. Es ist mein Recht, einen kleinen Anteil an meiner eigenen Rache zu haben und vielleicht auch einen kleinen Anteil an der Rettung des Stammes.« Er brach ab und fügte in einem gewollt leichten Ton hinzu: »Es ist eigentlich seltsam, daß ich mir darüber noch Gedanken mache. Schon vor langer Zeit habe ich mein Zugehörigkeitsgefühl zu ihnen verloren. Doch noch immer möchte ich die Dalriaden nicht in den Staub getreten sehen.« »Genau wie ich allmählich das Gefühl gewonnen habe, zu ihnen zu gehören. Auch ich möchte nicht mit ansehen, wie die Dalriaden untergehen.« Phaedrus brach ab und verstummte einen Augenblick. »Dann komm also und nimm deinen rechtmäßigen Anteil wahr.« Und wieder stockte er. »Mir gefällt der Gedanke nicht, im Dunkeln zuzuschlagen, doch es muß vollbracht werden; hier geht es um das Leben des Stammes oder das ihre - darum muß es geschehen!« 259
»Es muß geschehen«, sagte Midir. Ein leises, lang hallendes Donnergrollen durchzitterte das Schweigen. In den Wäldern schien es ganz still geworden zu sein, und in dieser Stille ertönte das Rauschen des Baches unnatürlich laut. »Ein Gewitter kommt«, sagte Midir. »Puh! In dieser Luft kann man kaum atmen.« »Es ist, als ob die Wälder es wüßten - und warteten.« Noch kurze Zeit blieben sie beieinander stehen und gingen rasch noch ein paar ungeklärte Einzelheiten durch; dann trennten sie sich ohne irgendeinen Abschied. Midir wandte sich zurück zu den Hütten, die sich am Fuße des Felsens von Theodosia zusammendrängten, und Phaedrus stieg die Schlucht wieder hinauf. Ein weiterer Faden des abschließenden Musters war eingewebt worden. Erst als er zwischen den Bäumen das erste Flackern des Wachfeuers erspähte, fiel ihm ein, daß Midir sich nach keinem, nicht einmal nach Conory, erkundigt hatte. Im ersten Augenblick war er verwundert, bis er verstand, daß in solcher Nähe zu seinem Volk, das für ihn unwiderruflich verloren war, Midirs einzige Hoffnung darin gelegen hatte, nichts zu fragen, nichts wissen zu wollen. »Schon vor langer Zeit habe ich mein Zugehörigkeitsgefühl zu ihnen verloren«, hatte er gesagt; und das war es, womit er sich wappnete. Phaedrus stieß einen Pfiff aus, um die Gefährten von seinem Nahen zu verständigen. Die Männer waren aufgestanden und hatten ihm die Gesichter zugewandt, als er in den Feuerschein trat. Finn setzte zu einer Frage an und verstummte dann; niemand sonst sprach, doch die Frage stand in allen Gesichtern, und Phaedrus gab ihnen die Antwort. »Nein, es war kein Geist. Es war ein alter Freund von mir, von dem ich nicht wußte, daß er sich nördlich des Walles aufhielt. Er ist Lederhandwerker in der Siedlung und schlüpfte mit Botschaft für mich heraus.« »Warum kam er nicht herauf ins Lager?« fragte Dergdian. »Vielleicht wollte er nicht riskieren, bei der Heerschar der Dalriaden entdeckt zu werden; und seine Nachrichten waren nur für mich bestimmt.« Phaedrus ließ sich in einiger Entfernung vom Feuer, doch nahe genug, daß der Rauch ihm die Mücken vertrieb, in 260
Hockstellung nieder; und während er dort mit über den Knien gefalteten Armen saß, berichtete er ihnen von dem, was sich zwischen ihm und Midir abgespielt hatte - oder zumindest das, was sie wissen mußten. Als er geendet hatte, sagte Dergdian, der Älteste und Bedächtigste unter ihnen: »Ich möchte wohl wissen, welchen Preis die Roten Helmbüsche für den Mord einer Göttin, die unter ihrem Schutz stand, verlangen könnten.« Auch Phaedrus hatte schon daran gedacht. »Liadhan bedeutet den Roten Helmbüschen wenig, und auch ihr Tod wird ihnen wenig bedeuten; nur daß wir auf solche Weise ihre Autorität mißachten, das wird ihnen nicht gefallen . . . Wenn das Glück auf unserer Seite ist, werden sie niemals in der Lage sein, zu beweisen, daß der Dolch von den Dalriaden kam. Wenn sie es aber können, werden sie vielleicht nach Norden marschieren, um uns mehr Respekt vor unseren Vorgesetzten zu lehren. Dann werden wir Lugh vom Glänzenden Speer danken, daß wir kein Volk von Getreidebauern sind, die von ihren Feldern abhängen, und werden unser Vieh und unsere Pferdeherden in die Berge und auf die Inseln führen und an ihren Flanken das Wolfsrudel spielen, bis der Winter sie wieder nach Süden zurücktreibt. Sie mögen hier und dort eine Halle niederbrennen, doch Dachstroh, Torf und Bauholz sind nicht so schwer zu ersetzen; schlimmstenfalls werden sie alles Erreichbare an Weideland abbrennen. Doch bald kommt ja der Regen. Wenn das Gewitter losbricht, wird mit ihm das Wetter umschlagen. Wenn aber Liadhan am Leben bleibt und ihren Willen bei ihnen durchsetzt, wenn sie dann nach Norden marschieren, sie auf den königlichen Thron zurückführen und sie dort mit ihren Schwertern stützen - das wird dann eine andere, eine weit düsterere Geschichte sein.« Rasch und erregt antworteten ihm rings um das Feuer die Stimmen der Männer. Über die Ränder ihrer Schilde hinweg blickten ihm von altem Zorn rotsprühende Augen entgegen. »Ja, es ist alles gut ausgedacht«, sagte Dergdian. »Demnach scheint es, daß nur noch eine Frage zu klären ist: Wer ist der beste Messerwerfer unter uns?« 261
Die Gefährten blickten einander an. Niall begann: »Ich ...« Doch Phaedrus erklärte: »Ich bin es.« Im Licht des Feuers blickte er sie der Reihe nach an. »Das Wurfmesser ist hier im Norden nicht so ganz eure gewohnte Waffe; doch in der Gladiatorenschule erwirbt man sich seltsame Fertigkeiten.« Ni.ill sagte rasch: »Mein Herr Midir, zwar lernte ich es nicht in der Gladiatorenschule, doch habe ich trotzdem eine gute Zielsicherheit mit dem Dolch. Laß mich gehen.« »Nein«, erklärte Phaedrus. Er blickte nacheinander in ihre protestierenden Gesichter. »Ich bin der beste Dolchwerfer unter uns allen, die heute nacht um dieses Feuer sitzen, es ist ganz einfach so. Und außerdem - ist dies eine Sache zwischen Liadhan und mir.« »Es ist eine Sache zwischen Liadhan und uns allen«, erklärte Finn. »Aber da wir nicht alle gemeinsam diese Sache mit ihr bereinigen können, ist es richtig, daß der König dies für alle übrigen erledigen sollte.« »Es ist keine Arbeit, die einem König ziemt.« »Es ist eine Arbeit, die sich keines Mannes ziemt. Aber einer muß sie tun, und nur der König kann sie für den ganzen Stamm vollbringen.«
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Der Messerwerfer Als die Morgendämmerung heraufzog, war das drohende Gewitter noch immer nicht ausgebrochen. Ein leiser Wind war aufgekommen, der unregelmäßig die Gipfel bewegte, doch brachte er keine Frische mit. Und in der Vorahnung des kommenden Gewitters gewann Phaedrus, je weiter der Tag voranschlich, mehr und mehr das Gefühl, daß er wie eine Katze Funken von sich geben würde, wenn ihn jemand berührte. Wieder grollte von fern der Donner, als die Zeit für ihn gekommen war, sich bereit zu machen; doch mehr als einmal hatten sie das an diesem Tage gehört, und immer wieder hatte sich das Gewitter Verzogen. Auch dieses Mal würde es vermutlich so sein. Sosehr Phaedrus die Wohltat des Gewitters herbeisehnte, sosehr hoffte er, daß es noch ausbliebe, denn ein in den nächsten Stunden hereinbrechendes Gewitter konnte das ganze Vorhaben hoffnungslos erschweren und durcheinanderbringen. Er legte seinen vom Kampf zerfetzten Mantel um, einesteils, weil er die lockere Kapuze über seinen Kopf ziehen konnte, wenn es nötig war, sein Gesicht zu verbergen, zum anderen aber, weil er das irgendwie für angemessen hielt; es war das Gefühl eines Schauspielers für das Wesen der Rolle, die er verkörperte. Dies war der Mantel des Königs. Brys hatte ihn in der Nacht, als sie die Croe-Schlucht in Brand setzten, von Dun Dara für ihn mitgebracht, damit er nicht ohne den Mantel in den Kampf gehen müßte. Und jetzt zog er zu einem Treffen gegen Liadhan aus, das - so viel war ihm klar - auf die eine oder andere Weise das letzte sein würde. Er warf sich den Mantel um, als ob es in die Schlacht ginge, und ordnete die Falten an der Schulter, um seinem rechten Arm Bewegungsfreiheit zu verschaffen; schließlich steckte er noch die große bronzene Kriegsbrosche mit ihren prächtigen Verzierungen aus blauer und grüner Emaille an. Brys, der in der Nähe gestanden hatte, trat jetzt mit seinem frisch geputzten und zu Rasiermesserschärfe geschliffenen Dolch heran. Phaedrus nahm ihn entgegen und betastete die Schneide mit dem Daumen; dann nickte er. »Jawohl - mit diesem Dolch könnte man 263
sogar dem Wind Blut entlocken!« Darauf ließ er die Waffe geschmeidig in die hirschlederne Scheide an seinem Gürtel gleiten. »Nimm mich mit dir!« bat Brys plötzlich und verzweifelt. »Mein Herr Midir, laß mich mit dir gehen!« Ganz sanft berührte Phaedrus die Schulter des Jungen. »Auf diesem Gang werde ich meinen Waffenträger nicht benötigen.« Er wandte sich den übrigen der Kriegsschar zu; sie waren alle versammelt, bis auf die zwei, die die Flußfurten um die Zeit beobachteten, zu der Gault kommen und sie suchen würde. Phaedrus hatte ihnen bereits ihre Befehle erteilt, sie sollten zurückbleiben, und niemand sollte ihn bis zum Rand des Waldgebietes begleiten außer dem alten Vron, um nicht die Aufmerksamkeit eines Spähtrupps der Roten Helmbüsche zu erregen. Und was immer auch geschehen würde, es sollte kein Angriff auf das Kastell unternommen werden, selbst dann nicht, wenn Gault mit der Heerschar heranzog. Wenn sie in ihrem augenblicklichen geschwächten Zustand auch nur einen Speer gegen das Kastell erhoben, war es um sie geschehen. Phaedrus konnte nur hoffen, daß er es ihnen eindringlich genug klargemacht hatte, denn er kannte ja ihre Hitzköpfigkeit und ihre geringe Fähigkeit, die Folgen zu bedenken. Dergdian jedenfalls hatte verstanden, und bei ihm konnte man darauf vertrauen, daß er seine Leute in Schach halten würde. Gemeinsam vollzogen sie das Opfer für Lugh vom Glänzenden Speer — das eilige, bescheidene Opfer aus Gerstenmehl, angefeuchtet mit ein paar Tropfen Blut aus dem Daumen jedes Kriegers, das der Sonnengott annahm, wenn kein lebendiges Opfer zur Verfügung stand; denn in einer Zeit wie dieser konnte kein Gott, der es wert war, daß man ihn anbetete, eines der Pferde verlangen. Und als dies geschehen war, gab es nichts mehr, was Phaedrus vom Aufbruch hätte zurückhalten können. Schweigend sahen sie ihn gehen, keine Stimme erhob sich zum Protest. All das war in der vergangenen Nacht erledigt worden. Wenn es der Wille des Sonnengottes war, würde er zurückkehren; war es nicht so, dann trug er das Zeichen auf seiner Stirn. Wie es auch sein mochte, dieser Jagdpfad gebührte dem König und keinem anderen; es 264
war eine Sache zwischen ihm und Liadhan, zwischen ihm und den Hohen Göttern, und sie hatten begriffen, daß es so war. Es war schon dämmrig, als er mit dem alten Vron dicht bei der Stelle, wo die alte Wagenstraße den Baalsfluß durchquerte, an den Saum des Waldgebietes kam. Unnatürlich früh hatte diese Dämmerung unter einem Gewühl blauschwarzer Wolken eingesetzt, deren Wölbungen hier und dort mit dem häßlichen kupferfarbenen Licht einer unsichtbaren untergehenden Sonne gefleckt waren. Bis jetzt hatte sich das Gewitter verzögert, doch nun zog es sich immer schneller zusammen. Nicht mehr lange, so dachte Phaedrus, dann wird es losbrechen. Er raunte dem Schatten in dem zerbeulten schafledernen Hut neben sich zu: »Warte hier und gib acht, bis ich wohlbehalten bei den Hütten bin; dann renn zurück und berichte den anderen, daß soweit alles gutgegangen ist.« Der alte Vorreiter antwortete nur mit einem Knurren, das alles mögliche bedeuten konnte. Phaedrus wartete nichts Weiteres ab, sondern schlüpfte aus der dämmrigen Finsternis des Waldrandes und durch das niedrige Gebüsch hinunter zu der Wagenstraße. Es gab in Theodosia keine von Mauern oder Hecken eingefaßten Wohnbezirke. Der steil aufragende Felsen bot auf seinem Kamm nur Raum für das Kastell selbst, und der ebene Grund darunter lag zu weit außerhalb des Walles, als daß man auf ihm das Badehaus, das Wohnviertel für die Verheirateten und die Kornspeicher hätte errichten können. Nur ein Gewirr von Eingeborenenhütten war auf der landeinwärts liegenden Seite am Fuß des Felsens aus dem Boden geschossen, und dazwischen stand, aus gutem Grund, eine Weinschenke. Und da man sich hier in einer Art Niemandsland befand - denn die innerhalb eines Tagesrittes von dem nördlichen Wall liegenden alten Stammesgebiete besaßen, außer in Kriegszeiten, keine große Bedeutung —, war dies ein Ort, wo das Gesindel vieler Stämme ständig kam und ging. Und so gab es hier keinen ringsum laufenden Wall, dessen Tor bei Anbruch der Dämmerung mit Dorngestrüpp versperrt wurde, so daß Phaedrus auf dem Weg, der von der Wagenstraße abzweigte, unbehindert eintreten konnte, wie ein Mann, 265
der am Ziel seiner Reise ist. Weder die Menschen noch die Hunde nahmen besondere Kenntnis von ihm, wie es etwa bei einem Fremden, der das Gehöft eines Stammesangehörigen betrat, der Fall gewesen sein würde; so verfolgte er seinen Weg quer durch das Gewirr der Hütten, indem er sich immer wohlweislich von dem Feuerschein fernhielt, der hier und dort durch Hütteneingänge oder aus kleinen Höfen ins Freie fiel. Sollte irgend jemand ihn ansprechen oder ihn auch nur eindringlich anschauen, so dachte er daran, nach der Weinschenke zu fragen, die, wie er von Midir wußte, in der gewünschten Richtung lag; doch niemand beachtete ihn. Es ging alles sehr leicht. . . fast zu leicht... Er ging ganz dicht an der Schenke vorbei, sah das rauchende Licht der Öllampen aus der Tür quellen und hörte einen plötzlich beginnenden Gesang, der ihm mit einem Schlag die dunklen Straßen und überfüllten Weinschenken von Corstopitum wieder in Erinnerung brachte. Sechs arme Soldaten marschiern aus Gallien her, Und dazu fünf Centurios: groß und dick und schwer. Vier tapfere Legaten, die nie den Kampf gesehn, Drei würdige Senatoren für Recht und Ordnung stehn. Zwei weise Konsuln gehen zum Gastmahl nun hinein, Doch einer soll hier Kaiser sein Und der muß zahlen unsern Wein! In leicht verändertem Wortlaut hatten sie den gleichen Abzählvers in der Gladiatorenschule gesungen, und genau wie hier hatten sie am Schluß irgendeinen Namen gebrüllt - den Namen dessen, der der Kaiser sein und die anderen freihalten sollte. Phaedrus ließ den erleuchteten Eingang hinter sich und schritt weiter. Allmählich machte sich ein anderer Geruch in der Luft bemerkbar - Geruch nach Salzwasser, der sich mit dem Gestank der kleinen, schmutzigen Stadt vermischte. Und plötzlich bemerkte Phaedrus das Geschrei der durch das herannahende Gewitter unruhigen Möwen. Die Wohnhütten wurden allmählich spärlicher, immer seltener, und in größeren Abständen schimmerte das Licht einer Lampe oder eines Feuers auf, und er wußte, daß es an der Zeit war, sich nun noch vorsichtiger zu bewegen. 266
Noch ein kurzes Stück weiter - und er ließ sich in der düsteren Schwärze zwischen einem Lagerschuppen und einem unordentlichen Stapel Treibholz auf den Bauch fallen und lag flach an den Boden gepreßt. Er spähte hinaus auf ein Stück freien Geländes und hörte das Trapp, Trapp, Trapp der Füße eines Postens, das näher und immer näher kam und sich dann wieder verlor. Er konnte den Mann in der sich vertiefenden Dämmerung erkennen, eine dunkle Gestalt, die sich stetig über den freien Platz bewegte; und noch ehe seine Schritte von dem Rauschen des Wassers und dem Schreien der Möwen übertönt wurden, nahmen die Schritte eines anderen Postens den Takt auf; eine zweite dunkle Gestalt überquerte den freien Platz, schwenkte herum und schritt zurück. Und wenige Augenblicke danach erschien von neuem der erste Mann. Midir hatte schon recht gehabt, die Außenbezirke des alten Hafens wurden von Posten bewacht. Eine Zeitlang, die ihm unendlich schien, lag Phaedrus unbeweglich, beobachtete und lauschte, während die Blitze immer näher aufzuckten und ihm dann und wann die auf und ab schreitenden Gestalten mit scharfer Deutlichkeit zeigten. Er versuchte festzustellen, welcher Zeitpunkt in diesem ständigen Hin und Her ihm die beste Chance gewähren würde. Und allmählich kam er zu dem Ergebnis, daß es, obwohl beide Wachen während der ganzen Zeit in Hörweite waren, einen Augenblick gab, in dem ein Posten ihm den Rücken zuwandte und der andere durch die Ecke eines, wie es schien, herrenlosen Segelspeichers in seiner Sicht behindert war. Trotzdem wartete Phaedrus noch, prägte sich die Zeiten ein und stellte fest, daß sie sich keinmal veränderten; immer gab es diesen einen blinden Augenblick, gerade lang genug, so schätzte er, um ihn hinübergelangen zu lassen, aber keinen Moment länger. Als er das nächste Mal kam, richtete Phaedrus sich auf und glitt vorwärts bis an das äußerste Ende seines Verstecks; dort erstarrte er, geduckt wie ein Schnelläufer vor einem Wettlauf. Der zweite Posten kam heran und schritt vorbei, wandte sich um und passierte ihn wieder, während der erste zurückkehrte. Diesmal - in dem Augenblick, als der Rücken des Mannes ihm zugewandt war, schoß er vor wie ein vom Bogen schnellender Pfeil. Auf dem von der Sonne 267
ausgedörrten Boden erzeugten seine weichen ungegerbten Schuhe kein stärkeres Geräusch als bloße Füße. Der freie Platz schien ganz plötzlich von bestürzender Breite, die Dämmerung noch erschreckend gering, und er konnte die Schritte des zweiten Postens hören, nach dem nächsten Herzschlag würde er um die Ecke des verlassenen Segelspeichers biegen. Er schaffte es gerade noch und sank, als der Mann auftauchte, neben einem dunklen Haufen Netze an der Wand des Segelspeichers zusammen, lag unbeweglich und betete, daß nicht der Schein eines Blitzes ihn verraten möge, betete, daß der Posten nicht nach dieser Seite schauen und bemerken würde, daß der Haufen Netze größer war als noch kurz zuvor. Die Schritte kamen heran -näher, immer näher und gingen vorbei, ohne anzuhalten. Ein paar Augenblicke später kroch Phaedrus von neuem vorwärts in einen schmalen Gang zwischen dem Segelspeicher und einem anderen Gebäude. Sand und Kies waren tief in den schmalen Raum geweht worden, und trockene, dolchspitze Dünendisteln wucherten dicht entlang der Mauer. Ihr dürres Rascheln tönte in seinen Ohren so laut, daß es ihm bei jeder Bewegung schien, als müßten dadurch jeden Augenblick die Roten Helmbüsche über ihn herfallen. Doch am Ende des Gebäudes hörte die Sandwehe auf, und er begriff mit einer fast zur vollständigen Erschöpfung führenden Erleichterung, daß er die Postenlinie glücklich passiert hatte. Doch hatte er keine Möglichkeit, festzustellen, ob noch mehr Wachen in der Nähe waren, und sein Herz trommelte noch immer gegen sein Brustbein, als er sich mit quälender Behutsamkeit durch die Wildnis aus verlassenen Gebäuden und verfallenden, von Unkraut überwucherten Molen seinen Weg suchte. Schließlich fand er sich kauernd im Eingang irgendeines dachlosen Lagerschuppens wieder, ganz nahe bei dem mächtigen, aufragenden Felsen, der sich über ihm erhob wie ein gefährliches wildes Tier, das zum Sprung ansetzt. Und er sah in dem schwachen Aufzucken eines Blitzes die hölzernen Stufen am Ende des zickzackförmig verlaufenden Pfades, der von der Höhe der Festung herabführte. Und als er, da wieder ein Blitz aufflackerte, weit hinaufblickte, vorbei an den Felskanten, die von den geisterhaften Gebilden dürrer, brauner Seenelken bedeckt waren, erkannte er die 268
Stelle, an der sich der Pfad ein letztes Mal steil hinaufwand, und die sich gegen den Himmel abhebenden groben Umrisse des Kastells. Und am südlichen Ende, dort, wo der Felsen beinahe senkrecht zum Meer hin abfiel, entdeckte Phaedrus die weit vorgeschobene Plattform für Wurfmaschinen, von wo aus in vergangenen Tagen die mächtigen Steinschleudern die Einfahrt zu Ankerplatz und Hafen geschützt haben mochten. Längs der einzigen noch brauchbaren Mole war keine Spur einer Galeere zu sehen gewesen, nicht einmal ein düsteres Heck draußen auf See; doch war auch die Dunkelheit noch nicht völlig hereingebrochen. Er hatte noch eine lange Wartezeit vor sich. Phaedrus legte die Hand an den Dolch und spürte, daß er locker und leicht beweglich in der Scheide steckte. Nun, da das Vorhaben so kurz vor der Ausführung stand, fühlte er sich merkwürdig leer, als wenn man alle Empfindungen aus ihm herausgespült hätte bis auf das Wissen um das, was er jetzt zu tun hatte. Er fühlte nichts von alledem, sondern begriff nur mit völliger Klarheit in der kalten, hallenden Leere seines eigenen Schädels, daß er gekommen war, um Liadhan zu töten, und wie und warum das geschehen sollte. Bald würde er wieder fühlen - doch nicht jetzt. Er stieß einen leisen Pfiff aus - nicht jenes aus fünf Tönen bestehende Signal, das zu unverkennbar menschlichen Ursprungs war, sondern das hohe, dünne >Piwitt< des Regenpfeifers, das, zweimal wiederholt, das vereinbarte Signal war. Doch es kam keine Antwort. Nur die erregten Möwen schwebten noch immer schreiend um den Felsen, und dazu rauschte das Wasser, während das unterdrückte Murmeln des Donners wie das erste ferne Erwachen der zum Krieg rufenden Wolfshauttrommeln klang. War Midir noch nicht da? War irgend etwas schiefgegangen? Phaedrus pfiff ein zweites Mal, und noch während er das tat, hörte er eine leise Bewegung hinter sich. Seine Hand fuhr an den Dolch, doch noch ehe er herumfahren konnte, fühlte er einen lähmenden Schlag auf seinem Hinterkopf und stürzte nach vorn in eine Finsternis, in der es dröhnte und summte und die voll von Sternschnuppen war. 269
Es schien ihm, daß er keinen Augenblick völlig das Bewußtsein verloren hatte, sondern sich durchaus der Vielzahl von Händen bewußt war, die an ihm zogen und zerrten, und des während der ganzen Zeit andauernden hohlen Tönens von Stimmen aus großer Entfernung. Doch er war in einer Art Benommenheit gefangen, wie ein Schwimmer, der unter der Wasseroberfläche von Schlingpflanzen gefangengehalten wird. Er kämpfte dagegen an, während sein Herz raste und das Blut in seinen Ohren hämmerte, und kam schließlich wieder voll zu Bewußtsein. Er stellte fest, daß man ihm die Hände auf den Rücken gebunden hatte und ihn bereits die hölzerne Treppe hinaufschleppte. Er begann sich zu wehren, und jemand, dessen Hand einen schweren Ring trug, schlug ihm über den Mund und sagte fluchend: »Schluß damit!« Danach gab er fürs erste den Widerstand auf. Es war ohnehin sinnlos. So befand er sich denn in den Händen der Festungssoldaten. Er war in eine Falle getappt - Narr, unbändiger Narr, der er war! Doch wer hatte die Falle gestellt, und wer hatte sie zufallen lassen? Trotz des Dröhnens und des Schwindelgefühls in seinem Kopf erinnerte er sich undeutlich des Zweiges, der in dem hitzedürren Wald geknackt hatte! Aber wer - wer nur? Das spielte jetzt keine Rolle; da war noch etwas - jemand - plötzlich durchfuhr ihn die Erinnerung und brachte ihn mit einem Schlage zu vollem Bewußtsein. Wenn er verraten war, dann auch Midir! Midir! Was war aus Midir geworden? Während die kleine Schar von Grenzwölfen mit dem taumelnden Phaedrus in ihrer Mitte den steilen Pfad hinaufstieg, der am Wässerter der Festung Theodosia endete, brach Midir aus dem kleinen, festen Verlies aus, das sich hinter dem Hauptwachhaus befand.
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Als Geisel gefangen Der wachhabende Decurio hatte befohlen, daß eine kleine Lampe in der hoch in der Wand des Verlieses befindlichen Nische brennen sollte, so daß sie durch das Gitter der Tür ein Auge auf ihren Gefangenen haben konnten, denn er schien so wahnsinnig erregt, daß er irgendeine Tollheit im Schilde führen konnte. Der Decurio hatte einmal erlebt, daß ein solcher Mann seine eigenen Handgelenke durchgebissen hatte und vor seinen Bewachern verblutet war; er wollte darum kein Risiko eingehen. Der Kommandant hatte angeordnet, den Mann sicher bis zum Morgen zu verwahren und ihn dann noch einmal zum Verhör vorzuführen - jawohl, sicher verwahren und zum Verhör bringen, das würde mit jenem Mann geschehen. Midir, der sein Gefängnis mit dem Geruchssinn und dem feinentwickelten Tastvermögen untersuchte, hatte, als kein schwerfälliges Atmen mehr hinter den Gitterstäben der Türöffnung zu hören war, schon hundert Herzschläge später die Lampe gefunden. Als er genau wußte, wo sie stand, so daß er sie von jedem Winkel der Zelle aus im Nu erreichen konnte, begann er wild schreiend an die Tür zu schlagen. Bald kam jemand fluchend herbei, und Midir wurde für kurze Zeit ruhig, um dann wieder das Hämmern und Schreien aufzunehmen. Mit der Zeit wurden seine Schreie zu heiserem Toben, das sich hysterisch über dem herannahenden Gewitter erhob - ein Heulen, das mehr an einen tollwütigen Wolf als an einen Menschen erinnerte. Und dann wurde er plötzlich unheimlich still. Die Ruhe ließ den Decurio herbeieilen, einer der Posten stampfte hinter ihm her. Als er durch die Gitterstäbe blickte, sah er den Gefangenen mit der Lampe in den Händen, offenbar im Begriff, das Stroh seines Lagers in Brand zu setzen. Der Decurio schrie ihm zu, doch kein Narr zu sein, und fluchte auf den Soldaten, weil dieser keine Fackel mitgebracht hatte, während er einen Augenblick lang an dem Vorhängeschloß hantierte und dann den Türriegel zurückriß. Beim Klang der Stimme und dem Klirren des Schlüssels im Schloß wandte Midir wild das Gesicht zur Tür und schien zu zögern. Dann aber, als die Tür aufflog und die Schritte der in genagelten Sandalen 271
steckenden Füßen auf ihn zu polterten, drückte er die kleine Flamme aus, stieß die Lampe beiseite und wich aufspringend aus dem Weg der plötzlich taumelnden Eindringlinge. Man hörte einen bestürzten Aufschrei, einen Fluch und viele Füße. Es stand zwei gegen einen, doch wie er zu Phaedrus gesagt hatte, befand sich ein Blinder in der Dunkelheit im Vorteil. Einige Sekunden herrschte heftigstes Durcheinander. Irgend jemand stolperte über sein vorgestrecktes Bein und stürzte mit dem Kopf voran gegen die Mauer auf der anderen Seite, an der er mit einem Grunzen zusammensank. Midirs Hände fanden die Kehle eines Mannes und umklammerten sie; seine Daumen stießen vor zu der Ader unter dem Kinn. Im nächsten Augenblick war er draußen, die Tür schlug hinter ihm zu. Tastend suchte und fand er den Riegel und ließ ihn einschnappen. Ein Stöhnen klang auf und das Geräusch eines Mannes, der sich erbrach, während Midir sich auf der Suche nach einem Versteck umwandte - eine Suche, bei der ein Blinder ganz und gar nicht im Vorteil war. Immerhin rechnete er jedoch damit, daß es eine kleine Weile dauern würde, bis aus der Arrestzelle ein ernstlicher Hilferuf kam, der zur Entdeckung seiner Flucht führen würde. Es war wohl zu spät, um Phaedrus zu warnen; doch wenn er sich der erneuten Festnahme entziehen konnte, müßte er eigentlich etwas tun können - er wußte nicht was, aber irgend etwas -, wenn sie ihren zweiten Gefangenen hereinführten. Und eben, als er durch etwas lief, das, dem Klang nach zu urteilen, ein Gang zwischen hohen Gebäuden war, ertönten durch das Kastell ein Gewirr von Stimmen und die klaren, knappen Befehle eines Offiziers; beides kam aus der Richtung jenes Tores, das auf die alte Treppe zum Wasser führte. Und dann wurde das alles verschluckt von dem peitschenartigen Knall eines Donnerschlages und einem langen, hohltönenden Dröhnen, als das Gewitter, das sie so lange umkreist hatte, sich nun über ihren Köpfen voll entlud. Er hörte hastende Schritte, Männer liefen an ihm vorbei, rannten alle in einer Richtung und riefen einander ein Wort oder eine Frage zu. Midir ging mit ihnen - einerseits, weil er keine andere Wahl hatte, andererseits auch, weil er die Bedeutung dieses plötzlichen 272
Aufruhrs erriet. Er hielt den Kopf wohlweislich gesenkt, denn aus nicht allzu weiter Entfernung roch er den harzigen Geruch einer Kienfackel. Während Phaedrus auf dem freien Platz hinter dem Wassertor zusammengesunken zwischen seinen Bewachern hing, hielt er den Donnerschlag für einen Teil des Tosens in seinem eigenen Kopf. Unbestimmt wurde er sich der Fackeln und ihres blinkenden Widerscheins auf Bronze bewußt, sah von überall her Gesichter herandrängen, die nur aus Augen und Mündern bestanden, und fand sich dem diensthabenden Centurio gegenüber. »Dann hat also unser Freund mit der Fuchsmaske die Wahrheit gesagt!« sagte der Centurio. »Bringt ihn hinauf ins Praetorium, der Kommandant will ihn sprechen.« Und dann, indem er sich zu den sich um ihn drängenden Männern von den Hilfstruppen umwandte: »Geht in eure Baracken zurück, Männer, hier gibt es nichts mehr zu sehen.« Wie ein Messer fuhr ein Blitz zwischen Himmel und Erde nieder und hob jede Einzelheit der Szene in blauweißem Glanz hervor, und wie der Kriegsruf der Wolfshauttrommeln brach der Donner mit röhrendem Dröhnen los, während die Zuschauer sich allmählich zerstreuten. Doch der Centurio hatte sich geirrt; denn als der weiße Peitschenschlag eines neuen Blitzes folgte, ertönte plötzlich die Aufforderung der Wache von dem Wall: »Wer da?« Und die klare, verachtungsvolle Stimme einer Frau erwiderte: »Die Königin der Dalriaden.« Phaedrus, der sich in den Händen seiner Bewacher herumwarf, sah in dem weißen Geflacker, das jetzt fast unaufhörlich am Himmel stand, die hohe, triumphierende Gestalt Liadhans am oberen Ende der Walltreppe stehen und auf ihn herabblicken. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß dies erst das drittemal war, daß er sie sah. Sie war in diesem hinter ihm liegenden Jahr so sehr ein Teil seines Lebens geworden ... Sie schien ein Wesen zu sein, das zu diesem Gewitter gehörte; der Schein des Blitzes machte aus ihrem Haar ein silbernes Wildfeuer, und Blitz stand auch in ihren Augen. »Ich bin gekommen, um dieses — dieses Etwas zu sehen, das sich an 273
meiner Statt Pferdekönig und Herrscher der Dalriaden nennen ließ; dieses Etwas, das mich, die Göttin auf Erden, in dieser Nacht ermorden wollte!« Und sie lachte, bis ihr Lachen von dem hallenden Krachen des Donners verschluckt wurde. Es folgte ein Augenblick äußerster Dunkelheit, denn nach einem Blitz spendete der Schein der Fackeln nicht einmal so viel Licht wie rotes Glühen in der Finsternis. Und in diesem Dunkel spürte Phaedrus mehr, als er es sah, daß irgend etwas sich auf den unteren Teil der Umwallung zubewegte und dort eigenartig, wie ein Hund nach einer verlorenen Spur, umhersuchte, bis es an die Stufen gelangte. Jenes Etwas hatte die Treppe schon zur Hälfte erklommen, als der Decurio der Torwache es erblickte und schrie: »He — du dort.. .« Die Gestalt warf sich vorwärts und hinauf und schien den Weg auf der Umwallung mit einem Sprung zu erreichen. In diesem Augenblick zuckte der Blitz von neuem auf, und Phaedrus sah, daß es Midir war. Auch Liadhan sah es. Ihre Augen traten stierend vor, und ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. »Midir!« Doch der Name formte sich undeutlich in ihrer Kehle, und in dem Tumult und dem Toben des Gewitters verstand niemand außer Midir selbst und Phaedrus, der vom Griff seiner Bewacher gefesselt dastand, welchen Namen sie gerufen hatte. Was Midir sagte, klang sanft, klang bitter-spöttisch; und in jenem von prickelndem Schweigen erfüllten Augenblick, ehe der nächste Donnerschlag kam, drang jedes Wort deutlich zu den unten Stehenden herab. »Göttin auf Erden, es war nicht klug von dir aufzuschreien«, und dann sprang er auf sie zu. Sie schreckte zurück und wandte sich zur Flucht, den Tod dicht auf ihren Fersen. Die einen Augenblick währende Stille explodierte in fieberhafte Tätigkeit. Männer rannten aus allen Richtungen herbei. Die Stimme des Kommandanten tönte durch den Tumult. »Einen Speer! Bringt ihn zu Boden!« Ein geschleuderter Speer verfehlte den Blinden um Daumesbreite und fuhr polternd in das Holz der Umwallung - es war in diesen Augenblicken kaum zu glauben, daß der Mann blind war. Männer umzingelten ihn, rasten den Wall entlang, die Stufen zur 274
Umwallung empor; ein zweiter Speer streifte tatsächlich seine Schulter und brachte den ihn verfolgenden Mann zum Stolpern, daß er ausgestreckt zu Boden stürzte und sekundenlang Verwirrung stiftete. In diesem kurzen Augenblick hatte Midirs ausgestreckte Hand eine Falte von Liadhans Mantel erhascht, und gleich darauf waren seine Arme fest um sie geschlungen. In dem düsteren Schein entstand der Eindruck, als wären die beiden Gestalten weit hinten auf der Umwallung zu einer verschmolzen. Liadhan schrie immer wieder auf wie ein in die Falle geratener Hase. Ein sengender Blitzstrahl zerspaltete die Nacht. Lange Zeit war der ganze Himmel ein flackerndes Glühen von grünlichem Licht, das sie alle zu blenden, zu verwirren und in die tiefsten Winkel der Seele einzudringen schien. Und während jenes einen, letzten Augenblicks erschien Midir schwebend direkt am Rand der erhöhten Plattform für Wurfmaschinen, die sich wehrende Liadhan in seinen Armen, während das flammende Licht des Blitzes sie beide umspielte. Und dann, die Frau noch immer an sich gefesselt, sprang er hinaus in den lodernden Raum. In dem gleichen Augenblick fiel die Dunkelheit wieder herein, und die Verfolger stießen an der Stelle gegeneinander, an der er kurz zuvor noch gestanden hatte. Wie mit einem Messer abgeschnitten verstummte das furchtbare, an einen Hasen erinnernde Schreien. Phaedrus dachte an die schwarzen, kantigen Felsen und die tief unten fließende Strömung. Und dann kam der Donner, krachend und klirrend folgte Schlag auf Schlag, daß selbst die Grundfesten des mächtigen Felsens zu erzittern schienen. Hohl dröhnte es unter dem Gewölbe des Himmels, grollte und hallte draußen in den Bergen wider. Für Phaedrus war die Nacht zu etwas Unwirklichem geworden, und der Fackelschein, das rasche Trampeln der Füße und die gebrüllten Befehle schienen ihm alle ein Teil jenes Chaos, das im Inneren seines dröhnenden Schädels herrschte. Das einzige, was er mit einer gewissen Deutlichkeit bemerkte, während seine Wächter ihn einen nächtlich-unheimlichen Gang hinauf- und einen anderen hinunterführ-ten, waren die ersten, 275
groß und sprühend fallenden Tropfen des lange ersehnten Regens und der Geruch des Regens, der aus der ausgedörrten Erde aufstieg. Sie kamen an einen viereckigen, von Gebäuden umgebenen Hof. Dann schien das sanfte Licht einer Lampe auf die getünchten Wände eines kleinen, spärlich mit Möbeln ausgestatteten Raums. Draußen rauschte der Regen, hinter dem kleinen, hohen Fenster fuhr dolchartig der Blitz nieder, schwächer und immer schwächer dröhnte der Donner in den Bergen. Irgend jemand gab ihm einen Becher des sauren, mit Wasser gemischten Essigs, der das Proviantgetränk der Legionäre war, und dieses Getränk zusammen mit dem ruhigen Lampenschein und der abgeschlossenen Stille des Raumes schaffte wieder Klarheit in seinem Kopf. Er schaute sich um und sah ein großes Pult mit Papyrusrollen, zwei Schränke und einige Feldstühle, einen lebhaft bunten, von einheimischen Händen gefertigten Teppich, der halb über einem offenen Eingang hing, durch den man einen Blick auf eine dahinter befindliche Schlafnische erhäschte. Das waren also die Räume des Kommandanten. Irgendwann hatte doch irgend jemand irgend etwas davon gesagt, daß er gemäß eines Befehls in die Privaträume des Kommandanten im Praetorium zu bringen und unter Bewachung zu halten sei, bis der Kommandant käme. Es mußte auch Befehl bestehen, ihm etwas zu trinken zu geben. Von seiner Müdigkeit wie von einem schweren Gewicht niedergedrückt, lehnte er sich an die Wand und starrte auf die kleine Flammenzunge der Lampe, während der Donner leiser und leiser in der Ferne verhallte und nur der Regen herniederrauschte. Er vermochte keinen anderen klaren Gedanken zu fassen außer dem, daß Midir seine Rache vollzogen hatte und daß Liadhan niemals wieder die Drohung der Vernichtung über die Dalriaden heraufbeschwören würde . .. Ein rascher, schwerer Schritt kam den Säulengang entlang, und die wachhabenden Männer nahmen Habachtstellung ein, als die Tür aufgest:oßen wurde und der Kommandant hereinkam, während er seinen durchweichten Mantel von den Schultern zog und sich wie ein naßgewordener Hund schüttelte. Sein rascher Blick erfaßte Phaedrus, 276
der von der Wand trat und sich aufrichtete. »Ah, gut - danke, Optio, ich werde euch bis auf weiteres nicht brauchen, doch halte deine Männer in Rufweite.« Als die drei salutiert hatten und gegangen waren, sprach er zu Phaedrus - nicht wie der Sieger zum Gefangenen, sondern mit förmlicher Höflichkeit, wie sie unter Machthabern üblich ist. »Es tut mir leid, daß du so lange auf mich warten mußtest.« »Du hattest Wichtiges zu erledigen«, meinte Phaedrus grimmig. »Ich hatte - Wichtiges zu erledigen, ja.« Der Kommandant schritt durch den Raum zu seinem Pult, blieb jedoch daneben stehen; und Phaedrus begriff durchaus und mit einer gewissen respektvollen Belustigung, daß Titus Hilarian trotz aller Höflichkeit seiner Rede einen Gefangenen nicht auffordern würde, in seiner Anwesenheit - der Anwesenheit römischer Autorität also - Platz zu nehmen, doch daß auch er selbst sich nicht setzen würde, solange er den anderen stehen ließ. »Was weißt du von dem Mann, der diese Tat verübt hat?« Die Frage schnellte vor und traf Phaedrus unvorbereitet, denn er hatte erwartet, daß seine eigene Beteiligung an den nächtlichen Geschehnissen Hauptgegenstand von Verhör und Anklage sein würde. »Was ich von ihm weiß?« fragte er, um Zeit zu gewinnen. »Was sollte ich von ihm wissen?« »Immerhin etwas, meine ich, da er dich ja aufsuchte mit dem Bescheid, daß wir beabsichtigten, Liadhan heute nacht mit einer Galeere nach Valentia hinüberzuschicken, obwohl Mithras allein wissen mag, wie er zu dieser Information gekommen ist, und mit dir einen Plan ausheckte, sie zu töten, der auch sehr wahrscheinlich geglückt wäre, wenn man euch nicht belauscht hätte.« Phaedrus erinnerte sich des Zweigs, der in dem dunklen Wald geknackt hatte. »Wer war es?« fragte er. »Einer von den drei Priestern, die sie begleiten - eh, begleiteten. Er bemerkte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen euch beiden, und als jener Mann - er war Lederarbeiter in der Siedlung der Einheimischen, blind, der arme Teufel - in der letzten Nacht hinausschlüpfte und sich 277
in die Wälder aufmachte, schien es dem Priester, als sei hier etwas zu holen, wenn er ihm folgte. Ein unerfreuliches kleines Biest in seinem Kopfschmuck aus Fuchsfell, und er stinkt wie der Schwarze Pfuhl der Unterwelt - doch scheint es, daß sein Instinkt richtig war und daß sein Bericht der Wahrheit entsprach.« »Nun, und?« »Es ist schwierig, zu verstehen, warum ein blinder Lederhandwerker so großes Interesse am Tode einer Königin haben sollte. Und jenem war das äußerst wichtig. Warum nur?« »Vielleicht aus demselben Grund, aus dem er sie später tötete.« »Du meinst irgendein tiefer Haß, ein wirkliches oder eingebildetes Unrecht, das er rächen mußte? Weißt du, um was es ging?« »Das Unrecht war greifbar und wirklich genug, es war ihm widerfahren, und er rächte es. Es hat nichts mit mir zu tun.« »Dann weißt du also doch etwas von ihm?« »In jenen Tagen, als ich noch Gladiator war, hat er mir einige Male die Riemen meiner Sandalen geflickt.« »Er ist nicht mit dir verwandt? Ihm flog das gleiche rote Haar um den Kopf, und als ich ihn heute am frühen Abend vernahm, schien es mir, als ob er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem König der Dalriaden hätte.« »Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Phaedrus. »Unter den Stämmen gibt es viel rotes Haar, und es ist schwer, die Ähnlichkeit von zwei Männern zu beurteilen, von denen dem einen die Augen fehlen, während dem anderen eine halbe Wange weggerissen ist.« Der Kommandant runzelte die Stirn und wechselte das Gesprächsthema wie jemand, der durchaus nicht überzeugt davon ist, der Wahrheit auf die Spur gekommen zu sein, der jedoch weiß, daß er, wenn das der Fall sein sollte, niemals näher an sie gelangen wird. »Aber eigentlich habe ich gar nicht wegen dieser Fragen meinen Leuten befohlen, dich hier bis zu meiner Rückkehr festzuhalten.« »Nein, das dachte ich mir.« Das alte, leicht gefährliche Lächeln lag auf Phaedrus' Lippen. »Sprich es aus, was immer es auch sein mag, das du deinem Gefangenen zu sagen hast.« 278
»Ich möchte dich lieber als - eine mögliche Geisel - betrachten«, erklärte der Kommandant und stockte dann. »Nein, nicht einmal als das - sondern als Gegenwert für einen Handel.« »Ich - verstehe nicht«, sagte Phaedrus langsam. »Und doch ist die Sache recht einfach: Ich schlage vor, dich deinem Volk zurückzugeben gegen tausend eurer jungen Männer, die zum Dienst bei den Hilfstruppen bestimmt werden.« Es folgte ein langes, bitteres Schweigen, das nur vom Rauschen des Regens erfüllt wurde. Phaedrus war es einen Moment zumute, als hätte er einen Schlag zwischen die Augen erhalten. Er dachte an die Trostlosigkeit von Valentia, an die verlassenen Herdstätten, die Weideflächen, die wieder von Heidekraut und Brombeergestrüpp in Besitz genommen worden waren, weil die Männer fort waren, um die Reihen der Hilfstruppen an den germanischen Grenzen zu füllen. Und für Earra-Ghyl würde der Schaden noch viel größer sein, denn wenn tausend der noch verbliebenen Krieger hinweggeführt wurden, würde niemand mehr übrig sein außer den Frauen, um die Schwerter zu erheben, wenn die Caledonier diese Gelegenheit ergriffen und ins Land geschwärmt kämen. Auch keine Kinder würden mehr geboren werden; schon jetzt gab es zu viele Frauen, die niemals an den Herd eines Gatten treten würden. »Und das war es, was du mir zu sagen hattest?« »Die tausend Mann würden natürlich im voraus zu entrichten sein«, sagte der Kommandant. In seltsamer Gleichgültigkeit, so als stände er außerhalb von sich selbst und wäre nur Zuschauer, dachte Phaedrus immer noch nach. Merkwürdig, daß jetzt er und nicht mehr Liadhan die Gefahr für die Dalriaden verkörperte. »Und wenn sie sich weigern, den Preis zu zahlen, oder wenn ich es ablehne, um den Preis des Lebens meiner besten Krieger losgekauft zu werden?« fragte er schließlich. »Dann werde ich dich höchstwahrscheinlich nach Süden senden, wo man dich als - Gast - des Imperiums in Verwahrung halten wird. In einem solchen Fall wirst du sicher eine Geisel genannt werden können. Natürlich gibt es auch noch eine andere Möglichkeit. Es mag 279
schließlich eine viel einfachere Lösung sein, dich als warnendes Beispiel für deine Leute zu kreuzigen.« »Als warnendes Beispiel? Was soll ich denn getan haben?« »Nichts. Du wurdest nur bei dem Versuch ertappt. Das ist die Ungerechtigkeit des Lebens.« »Und du fürchtest nicht, den Zorn des Nordens gegen deinen Wall heraufzubeschwören?« »Gefahr für den Wall besteht nur, wenn Dalriaden und Caledonier ihre Schilde vereinen.« Blick und Stimme des Römers waren unbeugsam, doch Phaedrus wußte, daß das einzige zwischen ihnen herrschende Gefühl das der gegenseitigen Zuneigung war; das machte das Ganze einigermaßen widersinnig und traurig. Hilarian war ein guter Soldat und tat seine Pflicht für den Frieden der Grenze, doch Freude machte es ihm nicht. »Ich brauche Bedenkzeit«, sagte Phaedrus schwerfällig. »Die hast du bis zum Sonnenaufgang.« »Und wozu auch immer ich mich entscheide, ich muß mit meinem eigenen Volk reden, sie sollen es von mir selbst hören.« »Auch das sollst du haben - so, wie ich mit dir gesprochen habe, von der Umwallung am Praetorianertor herab.« Sie sahen einander an; es war ein langer, gerader und fester Blick. Dann sagte Phaedrus: »Es war Liadhan, die sich die Herrschaft widerrechtlich aneignete, nicht Midir, das weißt du.« »Ich möchte sagen - ich glaube dir. Das ist deine Rechtfertigung vor deinen eigenen Göttern. Doch für Rom gilt die Rechtfertigung wenig neben der Tatsache, daß Gefahr für den Grenzwall besteht. Wenn hier an der Grenze ein Funken auf ein Grasbüschel fällt, treten wir ihn aus, ehe er zu einem Waldbrand werden kann.« Ohne die Augen von Phaedrus' Gesicht zu lassen, schritt er quer durch den Raum zur Tür und rief nach Optio. Man hörte das Stampfen von Füßen, und Optio tauchte mit den zwei Soldaten hinter sich auf. »Herr?«
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»Führt ihn hinweg und haltet ihn gut bewacht, bis ich ihn wieder holen lasse — gut bewacht, sagte ich! Er darf nicht einen Augenblick lang unbeobachtet bleiben. Wir hatten heute nacht schon einen Ausbruch.«
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Das Stirnmal des Königs Die beiden Wachsoldaten hockten unter der Lampe und spielten ein Glücksspiel, um sich die Zeit zu vertreiben. Zuerst hatte das Klappern des fallenden Würfels Phaedrus, der am entferntesten Ende des schmalen, von Steinmauern gebildeten Raumes auf einer Bank saß, verrückt gemacht. Doch jetzt spielte das Geräusch keine Rolle mehr; tatsächlich hörte er es kaum bewußter als das Tropf-tropftropf des Regens unter der Dachtraufe. Er lauschte nur auf eines: auf Kampfgeräusch aus der Welt jenseits dieser Mauern, das einen Angriff seiner eigenen Leute bedeuten würde, und betete zu allen Göttern, von denen er je gehört hatte, daß es nicht geschehen möge, daß sie seinen Befehlen gehorchen und wenigstens so viel Verstand haben würden, bis zum Morgen zu warten ... Und es geschah nichts. Einmal, als die Nacht weiter vorgeschritten war, hörte er schwache Geräusche von irgend etwas, das nur die Ankunft der Galeere sein konnte, sie mußte sich wegen des Gewitters verzögert haben. Phaedrus fragte sich, wie Hilarian wohl dem Befehlshaber des Geleitzugs entgegentreten würde. Für den Rest der Nacht saß er, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Mantel um sich geschlagen, denn nach dem Gewitter war es unangenehm kühl geworden, und ihn fror es vor Müdigkeit bis in die Knochen, von seiner Umgebung abgeschieden und tief in Gedanken versunken da. Er hatte endlos viel zu bedenken und doch nicht endlos Zeit dazu; denn die Trompeten hatten schon vor einer guten Weile die mitternächtliche Wachablösung verkündet. Er versuchte, an künftige Zeiten zu denken und sich zu überlegen, in welcher Weise es vermutlich mit dem Stamm weitergehen würde. Doch sein Geist wanderte zurück durch das vergangene Jahr - gedachte des überraschten Ausdrucks auf Vortimax' totem Gesicht, der seltsamen Leichtigkeit des hölzernen Schwerts in seiner Hand und jenes Augenblicks, in dem er allein den Schritt nach vorn in die Freiheit getan hatte, die ihm so fremd und einsam erschienen war wie der Tod ... Er erinnerte sich wieder an den Hahnenschlag in Onnum, an die leise, peinigende Qual der Tätowiernadel auf seiner Stirn, an das 282
wohltuende Gefühl bei seinen Ringkämpfen mit Midir. Er dachte an Murna, die diesen ganzen Sommer neben ihm gekämpft hatte, und an das Kind, das seinen Anfang inmitten der Speere genommen hatte. Er wünschte, daß er es wenigstens ein einziges Mal hätte sehen können. Nun, Conory würde sein Versprechen halten und auf sie achthaben; er konnte Conory sein Leben anvertrauen - bei diesem Gedanken lächelte er innerlich -, er konnte ihm Murnas und des Kindes Leben anvertrauen, das traf eher zu. Aber unabhängig von dem, was er dem Kommandanten gesagt hatte, brauchte er nicht darüber nachzudenken, welche Entscheidung er treffen würde. Es war, als wenn dieser Entschluß vor langer Zeit schon gefaßt worden wäre und ihm nun so vertraut erschien wie die Falten eines alten Mantels. Er war es, der den Stamm in diese neue Gefahr geführt hatte, und nur er konnte ihn daraus wieder befreien. Rom hatte, indem es ihn als Geisel hielt, Macht über die Dalriaden. Doch ohne Geisel keine Macht - so einfach war das bei oberflächlicher Betrachtung. Plötzlich aber erinnerte er sich an die riesige, gehörnte Gestalt auf der hinteren Wand der Höhle des Jägers und an Midirs Stimme, die von seinem Vater berichtete: »Mein Vater ging hin, um sich einem Eber zu stellen. Es war viel gekämpft worden, und dann kam ein feuchter Herbst. Es gab eine Hungersnot, weißt du? ...« Damals hatte er das nicht verstanden. Er verstand es auch jetzt nicht völlig - in seinem Kopf herrschte nur die Erkenntnis, daß, wenn es darum ging, das eine oder das andere zu wählen, es kaum etwas anderes gab, das man tun konnte, als mit dem eigenen Leben für das des Stammes zu bezahlen. »Er ging hin, um sich seinem Eber zu stellen. Es war Hungersnot, weißt du?« Das Merkwürdige war, daß ihm nicht ein einziges Mal der Gedanke kam, daß er doch eigentlich gar nicht der König sei; der wahre Pferdekönig war vor ein paar Stunden in den Tod gesprungen und hatte das Weib Liadhan mit sich gerissen. Draußen tropfte das Wasser noch immer aus der Dachtraufe, doch der Regen hatte aufgehört. Die Lampe brannte triefend im ersten grauen Licht der Morgendämmerung, und die Trompeten verkündeten 283
den Tagesanbruch. Bald darauf ertönte draußen das Stampfen von Füßen; die beiden Wachsoldaten steckten den Würfel weg und standen auf. Auch Phaedrus erhob sich, noch ehe die Tür klirrend aufging und die Stimme des Centurios meldete: »Der Kommandant schickt nach seinem Gefangenen.« Er war steif und voller Schmerzen wie ein von Rheuma geplagter alter Mann. Bei dem Gedanken grinste er vor sich hin. Das war etwas, womit er sich jedenfalls nie hätte abfinden können. Mit absichtlicher Anmaßung ließ er sich Zeit, weil er recht gut wußte, daß der Kommandant Order gegeben haben mochte, ihn nicht wie einen gewöhnlichen Gefangenen zu behandeln. Er kämmte, so gut es ging, sein Haar mit den Fingern durch, legte die Falten seines vom Kampfe sehr mitgenommenen Mantels auf der Schulter zurecht und fuhr dabei leicht über die große Brosche, die ihn zusammenhielt. Sie hatten ihm den Dolch natürlich abgenommen — seltsam, daß keiner an die Brosche gedacht hatte, die mit ihrer Nadel von der Stärke einer Kornähre und länger als ein Zeigefinger eine Waffe darstellte; und das in einem Lager der Adler, wo sie ebenso wie in der Gladiatorenschule lernten, daß die Länge eines kleinen Fingers am richtigen Platz genügte. »Ich bin soweit, Centurio«, sagte er, als auch die letzte Einzelheit zu seiner vollen Zufriedenheit ausgeführt war. »Ich freue mich, das zu hören«, erwiderte der Centurio mit Nachdruck und bedeutete ihm durch eine Geste voranzugehen. Draußen im grauen Schein der Morgendämmerung erwartete ihn ein kleiner Trupp Grenzwölfe. Phaedrus lachte, als er sie sah. »Ihr laßt euch wirklich auf kein Risiko ein. Glaubt ihr eigentlich, daß ich Cuchulain sei und im Lachssprung über diese Wälle setzen und euch entfliehen könnte?« »Weiter!« sagte der Centurio. »Wache - marsch!« In dem Raum, in dem Phaedrus dem Festungskommandanten in der vergangenen Nacht gegenübergestanden hatte, brannte die Lampe niedrig und triefend. Titus Hilarian - in denselben durchnäßten Kleidern, die jetzt ein wenig an ihm getrocknet waren, mit rotgeränderten Augen und grauem Gesicht, die ihn, den jugendlichen, 284
plötzlich wie einen alten Mann aussehen ließen - Tims Hilarian erhob sich von seinem vollgepackten Schreibpult und dem Bericht, an dem er zweifellos gerade geschrieben hatte. »Nun?« fragte er, als Phaedrus vor ihm stehenblieb. »Hast du einen Entschluß gefaßt?« Phaedrus antwortete mit einem übertriebenen Achselzucken. »Wenn man es recht bedenkt, habe ich ja kaum eine andere Wahl, nicht wahr? Ein Stamm gedeiht nicht ohne seinen Führer - und das Leben bei den Hilfstruppen soll ja gar nicht so übel sein. Ja, soweit es mich betrifft, nehme ich deine Bedingungen an.« Ihm war, als sähe er in den Augen des Römers Enttäuschung aufflackern. Doch Titus Hilarian sagte nur: »So - ein weiser Entschluß.« »Aber unter gewissen Voraussetzungen, vergiß das nicht. Ich muß mit meinen Männern sprechen und ihnen selbst die Bedingungen mitteilen können. Und das letzte Wort sollen sie dabei haben.« »Sicher.« Der Kommandant griff nach seinem Schwert, das auf der Bank neben ihm lag, und streifte sich den Gürtel über den Kopf. »Die Wachtposten berichten, daß vor dem Praetorianertor eine Schar von ihnen wartet. Die Reserve deiner Heerschar ist, wie es scheint, letzte Nacht eingetroffen, und ihr Anführer, ein dunkler Mann mit breiten Schultern und von untersetzter Gestalt ...« »Das ist Gault der Starke.« »So? Ein treffender Name, würde ich sagen. Gault der Starke also kam mit einer Schar deiner Männer hergeritten und verlangte dich zu sprechen. Ich sprach am Tor mit ihm und schwor ihm, daß du sicher wärest bis zum Morgengrauen, solange er und seine Männer keinen Angriff auf das Kastell unternähmen. Beim Sonnenaufgang würdest du dann selbst zu ihnen über die Bedingungen für deine Freilassung sprechen.« Wieder ordnete Phaedrus die Falten des Mantels auf seiner Schulter und sagte liebenswürdig: »Mir war, als hörte ich eine gute Weile nach Mitternacht die Galeere hereinkommen. Hatte sie sich durch das Gewitter verspätet?« 285
»Ja.« »Wie unangenehm für dich, daß sie sich nicht ein wenig länger verzögerte. Doch ich bin überzeugt, daß du ungeachtet irgendwelcher gegenteiliger Befehle Mittel und Wege finden wirst, deinen Plan auszuführen.« Hilarians Brauen fuhren in die Höhe. »Zum Glück hat der Befehlshaber des Geleitzugs keine Befugnis, mir gegenteilige Befehle zu erteilen. Alles, was er tun kann, ist, meinen Bericht an den Oberbefehlshaber des Grenzwalles mitzunehmen.« »So. Und dadurch gewinnst du Zeit.« »Zeit, die Sache auf meine Weise zu regeln und möglicherweise einen bewaffneten Zwischenfall an der Grenze zu vermeiden.« »Ja - dir kommt es auf Ruhe an der Grenze an -, das sagtest du mir schon. Und darum willst du mich gegen alles, was in Earra-Ghyl noch an Kampfkraft steckt, austauschen.« Phaedrus blickte ihn voll an. »Hat ein bloßer Kastellkommandant das Recht, das zu tun?« »Nein«, erwiderte der andere knapp. »Wie nun, wenn der Statthalter Silvanus den Ruhm, einen König als Gefangenen zu haben, dem zwar nützlicheren, aber weniger dramatischen Gewinn vorzieht, den ein großes Aufgebot von Hilfstruppen darstellt? Sie werden überdies nur die Legionen eines anderen Statthalters einer anderen Provinz des Imperiums stärken. Wäre er mit dem Kastellkommandanten zufrieden, der eine solche Entscheidung getroffen hat?« »Nein«, sagte der andere wieder. »Aber es ist nun einmal so, daß mich der Frieden an der Grenze mehr interessiert als die Möglichkeit, daß Silvanus Varus den Kaiser auf sich aufmerksam macht.« Einen Augenblick lang zuckte ein leises, bitteres Lächeln um seine Mundwinkel. »Rom wird es nicht riskieren, vor den Barbaren das Gesicht zu verlieren, indem es mein Vorgehen tadelt, obwohl man zweifellos mich selbst tadeln wird.« »So - das dachte ich mir. Du wirst wegen der Dinge, die sich letzte Nacht ereignet haben, auf jeden Fall erledigt sein, Kommandant.« Phaedrus sah den halbfertigen Bericht auf dem Schreibpult und 286
empfand eine Regung des Mitgefühls für diesen Mann, der weiterleben mußte und aller Wahrscheinlichkeit nach ungerechten Schimpf und eine ruinierte Karriere zu erwarten hatte. »Behalte mich am besten, um den Statthalter zu besänftigen, und überlasse die Sorge um den Frieden der Grenze dem Mann, der deinen Platz einnimmt. Dann geben sie dir vielleicht wenigstens eine andere Kohorte in einem anderen Teil des Imperiums, nachdem sie dich genug herumgestoßen haben.« »Hat man euch diese Anschauung in der Arena beigebracht?« Phaedrus lachte. »Die Welt ist ein Ort des Hungers für einen entlassenen Soldaten, genau wie für einen Gladiator, der sein hölzernes Schwert errungen hat. Wenn du hungrig genug bist, könntest du noch in die Arena gehen, so wie du mich dazu bringen wolltest, zu den Grenzwölfen zu kommen.« »Vielleicht.« »Bringe um der vergangenen Zeiten willen eine Taube in meinem Namen dar, wenn du das erstemal zum Opfer an den Altar der Rache trittst.« »Ich werde daran denken.« Phaedrus wandte sich halb zum Eingang um, hinter dem der Hof allmählich Form und Farbe annahm. Der Himmel über den Dachfirsten war schon voller Licht. »Wollen wir gehen? Es wäre schade, wenn die Sonne vor uns zur Stelle wäre.« »Sicher.« Der Kommandant schritt quer durch den Raum und trat neben ihn an die Tür. Zu dem Centurio der Wache sagte er: »Begleite ihn zum Praetorianertor, Centurio.« Die Begleitmannschaft nahm Aufstellung, und als rings um ihn die nägelbeschlagenen Sandalen klapperten und der Kommandant an seiner Seite ging, verfiel Phaedrus, während sie das Lager durchschritten, in den weitausgreifenden prahlerischen Paradeschritt. Während der letzten Meter schritt er seiner Begleitmannschaft voraus, und auf der untersten Stufe der Treppe zur Umwallung wandte er sich zu ihnen um. »Ich gehe, um mit meinen Männern zu 287
sprechen, und ich gehe allein. Es ist nicht nötig, daß mich einer von den Roten Helmbüschen weiter begleitet.« Seine Augen trafen sich mit denen Hilarians, ihre Blicke verflochten sich und hielten einander lange Zeit fest. Dann hob der Festungskommandant die Hand zu einer Geste, die einem freundlichen Salut sehr nahekam. »In Ordnung.« Und so erstieg Phaedrus die Treppe zur Umwallung allein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß eine kleine Schar von Soldaten zu beiden Seiten des Wallganges in einigem Abstand aufgestellt war, doch sie waren ein gutes Stück entfernt und würden fast ebenso lange brauchen, ihn zu erreichen, wie jene, die hinter ihm an der Walltreppe standen. Die Sonne ging gerade auf, und es versprach nach dem nächtlichen Gewitter ein herrlicher Tag zu werden. Der Morgen schien reingewaschen und frisch wie der erste Morgen der Welt, und über dem heiseren, niemals endenden Branden des Meeres unterhalb der Landzunge erhob sich der dünne, wohllautende Ruf des Regenpfeifers und das rauhe Gelächter der Möwen. Fern im Nordwesten, deutlich erkennbar in dem auf das Gewitter folgenden kalten Licht, fing der Cruachan die ersten Sonnenstrahlen ein. Und Phaedrus kannte plötzlich wieder jenes Gefühl leichtfüßigen Glücklichseins, jenes Gefühl, das den meisten Arenakämpfern wohlvertraut war - das Wissen, daß dies der Glückstag war, der Tag, an dem sich das Gesicht des Gottes ihm zukehrte . . . Er blickte hinunter. Ja, er hatte sich, was einen Sturz anbetraf, nicht geirrt. Sicher glaubten die Roten Helmbüsche, daß das genügen würde, um ihn von einer Flucht auf diesem Wege abzuhalten, oder sie würden ihm nicht gestattet haben, ohne Wache dicht an seiner Seite hier heraufzugehen. Und sie hatten wahrscheinlich recht. Doch hier, auf der dem Land zugewandten Seite, war er nicht tief genug, um jenes anderen ganz sicher zu sein, selbst wenn man sich mit dem Kopf voran hinunterstürzte, und besonders dann nicht, wenn man darauf trainiert war, wie man fallen mußte. Nun, er hatte seine Mittel, um ganz sicher zu gehen. Zuletzt blickte er auf die Schar von Reitern, die ein kleines Stück entfernt gewartet hatten und nun bei seinem Anblick ihre Pferde näher 288
herandrängten. Er sah die vierschrötige, dunkle Gestalt des Anführers mit einem blutigen Lappen um den Kopf und freute sich, daß es Gault war, der gute, vernünftig denkende alte Gault, der genug Verstand besessen hatte, nicht die ganze Heerschar heranzuführen und ihre Stärke - oder besser ihre jammervolle Schwäche - den Roten Helmbüschen zu offenbaren. Sie waren jetzt ganz dicht unter dem Tor; die Hand des Centu-rios fuhr in die Höhe: »So ist's nahe genug!« Und sie zügelten die Pferde. Sie blickten zu ihm auf, stießen ihre Speere empor, um sie darauf zum königlichen Gruß krachend auf die Ränder ihrer Schilde herabsausen zu lassen. Und dann saßen sie schweigend auf ihren Pferden und warteten darauf, daß er spräche. Gault und Dergdian, Niall, der haarige Aluin, Finn und der junge Brys mit bleichem, düsterem Gesicht ... Er überlegte, ob sie jetzt in ihrem Herzen dachten, daß er sie verraten hätte. Um Brys machte er sich die meisten Gedanken. Er beugte sich vor, die Hände auf den zersplitterten Holzrand der Brustwehr gestützt. Sie waren sehr nahe, und er mußte seine Stimme kaum erheben, um sie über den trockenen Graben hinweg zu erreichen. »Der Strahl der Sonne auf dich, Gault der Starke. Du bist zur rechten Zeit gekommen.« »Der Strahl der Sonne auch auf dich, Midir von den Dalriaden. Ich habe Männer mit mir hergeführt — möglicherweise genug; du brauchst nur Befehl zu geben .. .« War das auf irgendeine Weise für die lauschenden Roten Helmbüsche gemünzt? Oder verhielt es sich einfach so, daß dieser robuste, dunkle Krieger mit den zerbissenen Lippen so durch und durch ein Kämpfer war, daß sein Herz sich auch dann für den Kampf entschied, wenn er wußte, daß ein Kampf, jeder Versuch einer Befreiung, überhaupt keinen Platz in dem Geschehen hatte; oder war es eine direkte Frage von dem einzigen Mann in jener kleinen Schar, 289
der die Wahrheit über ihn kannte? »Du willst...? Du, der du nicht der König bist?« In jedem Fall war die Antwort die gleiche. »Es soll keinen Kampf geben, meine Brüder. Keinen Angriff auf dieses Kastell.« Er hatte in dem allgemein verbreiteten britannischen Dialekt gesprochen, der sowohl von der Reiterschar jenseits des Grabens wie auch von den Roten Helmbüschen in der Festung hinter ihm verstanden wurde; doch jetzt wechselte er rasch in die stark abgewandelte Sprechweise Earra-Ghyls, die für die Roten Helmbüsche kaum, wenn überhaupt, verständlich sein würde. »Kein Kampf - weder jetzt noch später. Diesen Platz mit den Kriegsscharen anzugreifen, die uns noch geblieben sind, würde nur bedeuten, sie ins Unheil zu jagen. Es wäre mit der gleichen Sicherheit der Untergang der Dalriaden, als wenn Liadhan neben euch stünde, um euch anzutreiben. Ich halte jetzt mein euch gegebenes Wort; und danach sollt ihr das mir gegebene halten.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie von beiden Seiten die Wächter näher herankamen, weil sie der beinahe fremden Sprache mißtrauten, und kehrte zu der geläufigen britannischen Sprache zurück. »Sinnoch würde sagen, daß das ein gerechter Handel ist.« »Wir werden Wort halten«, erklärte Gault schlicht. Und Phaedrus erkannte in ihren emporgewandten Gesichtern, und selbst in dem von Gault, daß sie wußten, was zu tun er im Begriff war, .und es hinnahmen, weil er der Pferdekönig war, der Herrscher, der das Recht des Königs besaß. Wie laut die Regenpfeifer, von den Pferden beunruhigt, heute riefen! Einen Augenblick lang schien ihr scheckiges Geflatter ihn rings zu umgeben, als ein ganzer Schwärm von ihnen über die Festung schwirrte; und inmitten des schwächeren Rufens der übrigen glaubte er das lieblichere, flötenähnliche Pfeifen des Goldregenpfeifers zu vernehmen, der sich manchmal einem Schwärm seiner geringeren Artverwandten anschließt. Sie schwangen sich auf und sanken wieder herab wie eine Wolke von Gewittersprühregen. Und aus dem Himmel - aus der Richtung, wo sie entlanggeflogen waren - kam eine einzelne Feder herabgeschwebt, wirbelte und kreiste in der stillen Luft. Sie schwebte an Phaedrus' Gesicht vorbei und ließ sich, beinahe seine 290
Hand berührend, auf der Brustwehr nieder - eine dunkle Feder, mit dem reinsten und glänzendsten Gold gesprenkelt. Sie blieb einen Augenblick dort hängen, hob sich dann wieder ab und setzte kreisend und schwankend ihre Reise hinunter zum Graben fort. »Man hat mir gesagt«, erklärte Phaedrus, »daß ihr schon mit dem Befehlshaber der Roten Helmbüsche hier in der Festung gesprochen habt, der euch sein Wort gab, daß ich bei Sonnenaufgang zu euch sprechen dürfte; und seht, er hat sein Wort gehalten.« Die Männer dort unten schwiegen und warteten. »Der Befehlshaber der Roten Helmbüsche bietet folgende Bedingungen für meine Freilassung an: Er will mich euch zu seinem eigenen Preis verkaufen, und dieser Preis sind tausend von unseren besten jungen Kriegern, die bei den Hilfstruppen der Adlerlegionen dienen sollen.« Unter der Reiterschar entstand eine leise Unruhe, und ein Pony warf den Kopf hoch im Protest gegen ein plötzlich angezogenes Gebiß. Doch niemand sprach. Sie warteten. Sie waren sein Volk. »Aber es ist in meinem Sinn, daß ich keine Lust habe, gekauft und verkauft zu werden, ich, der einst ein Sklave war; und so habe ich über eine bessere Lösung nachgedacht - diese ist es!« Er hatte, während er sprach, wie absichtslos mit der großen emaillierten Brosche an seiner Schulter gespielt und sie herausgezogen. Jetzt hielt er sie in der hohlen Hand. Seine Finger umschlossen sie, so daß nur die Spitze der tödlichen Nadel, die fast die Länge eines kleinen Dolches hatte, zwischen ihnen herausragte. Es blieb ihm genügend Zeit, die Stelle zu suchen, jene Stelle gleich links neben dem Brustbein, die einen raschen Tod bedeutete. Einen guten Abgang. Der alte Instinkt für wirkungsvollen Auftritt und Abgang war auch jetzt in ihm wach. Die gelösten Falten seines Mantels fielen von ihm ab, während er ein Knie über die Wallkante brachte und einen Augenblick später zu aufrechtem Stand hinaufgesprungen war. Hinter ihm und zu beiden Seiten ertönte Gebrüll und das Hasten von Schritten, und ein seltsam tiefer Schrei drang von seinen eigenen Männern dort unten herauf. Doch das alles schlug an seine Ohren wie das Lärmen der Zuschauer 291
in der Arena. Die Sonne, noch immer weit im Norden mit sommerlicher Wärme aufgehend, hatte sich den Bergen entrungen und warf ihren Schein voll in seine Augen, als er sich ein wenig zur Seite wandte, um ihr entgegenzusehen - ein goldenes Blenden, das wie zum Gruß das Stirnmal des Königs auf seiner Stirn berührte. Er öffnete die Finger, gab die ganze tödliche Länge der großen Nadel frei und trieb sie hinein. Ein Geschmack von Blut schoß ihm in den Mund. Er stürzte vorwärts in den betäubenden Sonnenglanz und merkte, wie er fiel. Die kantigen Steine im Graben spürte er schon nicht mehr.
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SCHOTTLAND zur Zeit dieser Erzählung Ortsnamen Are-Cluta Dumbarton (Cluta ist der keltische Name für Clyde) Baals Beacon Name für den See und den Berg Lomond. Hängt mit dem lateinischen Wort lumen = Licht zusammen. Lugh der Sonnengott führte unter anderem auch den Namen B aal. Clota Der Fluß Clyde Coit Caledon Der Wald der Caledonier Corstopitum Corbridge Druim Alban >Der britannische Gebirgszug.< Heute Drum Alban Burg Monaidh Dunadd Earra-Ghyl >Die Küste der Gälen.< Grob gesehen das heutige Argyllshire. Eburacum York Londinium London Segedunum Wallsend Theodosia Dumbarton Rock Das alte Schiffe fressende Weib Corryvrecken Valentia Die römische Provinz zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wall - etwa das schottische Tiefland.
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