Roy Palmer Das Totenschiff
1. Arwenack, der Schimpanse, faßte sich mit den Affenhänden an den Kopf. Es war eine verkra...
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Roy Palmer Das Totenschiff
1. Arwenack, der Schimpanse, faßte sich mit den Affenhänden an den Kopf. Es war eine verkrampfte, hilflose Geste, die in totaler Erstarrung enden zu wollen schien. Der Mund des Affen öffnete sich weit und entließ einen Schrei, der wie der eines Menschen klang. Dies war nicht das übliche Nachahmen der Zweibeiner, mit dem sich Arwenack an Bord der ›Isabella VIII.‹ oft und gern hervortat. Es hatte auch nichts mit dem Mut und Eifer zu tun, den er in jeder Schlacht an den Tag legte. Ganz im Gegenteil: Es handelte sich um den Ausdruck des entsetzlichsten Gefühles, das der Affe kannte: Todesangst. Sein schriller Ruf mischte sich in das Schreien der Seewölfe. Panik herrschte an Bord des Dreimasters, aber das Gebrüll wurde von noch mächtigeren Lauten fast völlig überdeckt. Little Cayman befand sich wieder in dröhnender Bewegung, eine alles verschlingende Eruption schien sie von innen her zu zerreißen. Vor etwa einer Viertelstunde waren die Männer ohne den verschwundenen Seewolf, nach dem sie gesucht hatten - an Bord zurückgekehrt. Schon an Land war das Grauen über sie hergefallen, aber sie hatten es noch geschafft, wieder an Bord zu kommen. Es war das Inferno auf Erden. Felsbrocken, ja, ganze Quader prasselten wie von Katapulten abgefeuert in die See, wühlten das Wasser auf und belegten die in der Bucht am Südufer ankernden Schiffe mit einem verheerenden Feuer. Die ›Isabella‹ tanzte auf den Wogen. Es hatte keinen Zweck, ankerauf zu gehen und das Heil in der Flucht zu suchen. Jeder 2
Versuch, etwas zur Rettung von Schiff und Mannschaft zu tun, kam zu spät. Philip Hasard Killigrews Crew mußte die Verdammnis wie ohnmächtig über sich ergehen lassen. »O Himmel, Arsch und Zwirn!« schrie der Profos Edwin Carberry. »Der Teufel soll diese verfluchte Drecksinsel holen!« stieß Ferris Tucker hervor. Damit konnten sie am Verlauf der Dinge auch nichts ändern. Aber wenigstens ihrer Wut machten sie ein bißchen Luft. Mit einer Art Beben hatte alles begonnen. Das »Auge der Götter«, jener geheimnisvolle, mit Schätzen gefüllte See, hatte sich vor den Augen der Seewolf-Crew, der Männer Siri-Tongs und der vier Begleiter des Wikingers Thorfin Njal unter Donnern und Fauchen in die Tiefe ergossen, hatte Felsen zerschmettert, die alles mit sich rissen. Gischtend hatte sich die Flutwelle zu Tal gewälzt - und über Little Cayman war das Chaos hereingebrochen. Ein Vulkanausbruch war das also nicht, aber die Auswirkungen waren beinahe die gleichen. Kein Zweifel: Die beiden Wächter am Auge der Götter, die den Überfall der fremden Piraten überlebt und die Plünderung ihres Heiligtumes verhindert hatten, hatten den See gesprengt. Das Wasser hatte sich seinen Weg durch die Felsen und Kavernen gebahnt - bis zur ›Isabella‹, dem Schwarzen Segler, der Schaluppe des Wikingers und dem Zweimaster der Roten Korsarin. Letzterer ankerte jedoch weiter draußen in der Bucht und war deshalb von dem Gesteinshagel weniger betroffen. Arwenack war überzeugt, der Untergang der Welt stünde bevor. Und da war er nicht der einzige. Wieder einmal bekreuzigten sich die Seewölfe. Wieder einmal waren sie sicher, dies alles ginge nicht mit rechten Dingen zu - trotz der vernunftsmäßigen Erklärung, die es dafür gab. Ihr Aberglaube entsprang einer tief in ihnen verwurzelten Furcht vor Unerklärlichem, Übersinnlichem. O, sie schreckten 3
nicht vor Tod und Teufel zurück, wenn es galt, sich mal wieder mit einem Gegner zu schlagen, daß die Fetzen nur so flogen. Aber das hier, das war ihnen zu unheimlich. Vernichtende Naturgewalten waren am Werk, finstere Mächte, auf die sie keinen Einfluß hatten. Arwenack wußte in seiner Not keinen besseren Rat, als sich an den ihm am nächsten Stehenden zu klammern. Das war Ferris Tucker, der zusammen mit Shane und einigen anderen Männern hinter dem Schanzkleid des Achterdecks in Deckung gegangen war. Der rothaarige Riese nahm den keckernden und zeternden Gesellen schützend in die Arme. Er lachte aber nicht, wie er das sonst selbst bei ärgstem Verdruß tat - im Augenblick war es selbst ihm vergangen. Die ›Isabella‹ tanzte und schlingerte wie wild. Steine landeten polternd auf Deck. Einer traf fast den wüst fluchenden Matt Davies. Ein besonders großer Brocken klatschte haarscharf an der achteren Steuerbordwand ins Wasser. Ferris und den anderen auf dem Achterdeck sträubten sich die Haare. »Hol’s der Teufel!« rief Luke Morgan, der gerade wieder einen Blick übers Schanzkleid der Kuhl hinweg riskierte. »Die Schaluppe des Wikingers! Sie ist weg, verschwunden! Das ist reine Hexerei!« Carberry lief dunkelrot an. »Rede doch keinen Mist, du Himmelhund. Die Trümmer haben den Kahn voll erwischt, zerschmettert und binnen Sekunden auf den Grund der Bucht gesenkt. Hast du Schlick auf den Augen?« »Ich sehe mehr als ihr alle«, erwiderte Luke, vorsichtshalber aber gedämpft, denn mit dem Profos war mal wieder nicht zu spaßen. Carberry blickte zu den vier Gefährten von Thorfin Njal. Sie kauerten ganz in seiner Nähe vor dem Querabschluß des Quarterdecks. »He!« rief er ihnen zu. »Ihr habt wirklich Glück, daß ihr euch 4
jetzt bei uns an Bord befindet, ihr Höllenhunde. Das da - das hättet ihr nicht überlebt.« Die vier waren tatsächlich blaß geworden. Einer von ihnen antwortete: »Hoffentlich bleibt die ›Isabella‹ heil.« Etwas sauste heran. Carberry duckte sich instinktiv. Das Ding, ein kindskopfgroßer Felsbrocken, raste schräg über seinen Rücken weg, knallte auf die Handleiste des Schanzkleides und riß eine Scharte. »Satan!« brüllte Carberry. »Nun beschwört es doch nicht, ihr Halunken. Haltet den Rand, oder ich ziehe euch die Haut in Streifen von euren ...« Der Rest ging in neuerlichem Getöse unter. Was Ed Carberry weiter von sich gab, tat eigentlich auch nichts zur Sache und bedurfte keiner Rückfragen, denn seine Sprüche waren ja allenthalben bekannt. Immer noch tobte die Flutwelle und zermalmte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Immer noch prasselten die Gesteinsbrocken. Keiner der Männer durfte seine Deckung verlassen. Es konnte tödlich sein. Ben Brighton hockte rechts neben Ferris Tucker und dem zitternden Arwenack. Wiederum rechts von dem Bootsmann und ersten Offizier der ›Isabella‹ hatte sich Big Old Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle, in Sicherheit gebracht. »Verdammt«, stieß Ben immer wieder aus. »Verdammt, hört denn das nie auf?« »Was ist nur aus Hasard, Siri-Tong und dem Wikinger geworden?« sagte Shane. Ben ballte die Hände, daß das Weiße an den Knöcheln hervortrat. »Mein Gott, fragt mich doch nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl.« »Hör auf!« fuhr Ferris dazwischen. »Das Unken hat jetzt auch keinen Zweck.« Er wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Moment 5
wurde seine Aufmerksamkeit durch einen neuen Zwischenfall in Anspruch genommen. Ferris traute seinen Augen nicht, so gespenstisch wirkte das, was sich da am südwestlichen Ufer der Bucht abspielte. Ein mächtiger Felsquader wirbelte auf den schwarzen Segler nieder. Das Schiff, das einstmals dem gefürchteten Piraten El Diablo gehört hatte, lag dicht unter Land. Thorfin Njal und seine Männer hatten es in mühsamer Arbeit dorthin verholt. Sie hatten es einer genaueren Untersuchung unterziehen wollen. Der Wikinger hatte seine ›Thor‹ in der WindwardPassage verloren. Er brauchte dringend ein neues Schiff. Ob das aber jemals der schwarze Segler sein würde, war in diesem Augenblick sehr, sehr zweifelhaft denn der Quader raste mit solcher Geschwindigkeit auf das Schiff zu, daß seine Zerstörung sicher schien. Im freien Fall erlangte der Felsen immer mehr Drall und damit größere Wucht. Er würde sich wie eine Kanonenkugel in den Rumpf fressen. Und doch kam es anders. Ferris und seine Kameraden kauerten wie angewurzelt da, als es geschah. Der Felsbrocken hieb auf das Schanzkleid des schwarzen Seglers. Es knackte und splitterte, und dann erwuchs eine schaurige Gestalt zu neuem Leben. Jedenfalls wirkte es so. Durch die Wucht des Aufpralls wurde eines der Gerippe an Bord des Seglers hochgeschleudert. Es sah wirklich so aus, als springe die Schauergestalt aus eigenem Antrieb. Sie schwang hoch und breitete dabei die Knochenarme aus - ein von der Sonne ausgebleichtes Skelett mit tückisch grinsendem Totenschädel. Dieses Haupt flog samt Gerippe über das Schanzkleid weg und neigte sich der Wasserfläche zu. Es zog seinen scheußlichen Leib in grotesker Gebärde nach. Dann stieß die Erscheinung kopfüber wie ein Taucher in die Fluten und verschwand darin. »Jesus«, sagte Ben Brighton. Ferris Tucker sagte gar nichts. Er blickte wie gebannt auf den 6
schwarzen Segler und registrierte dabei aus den Augenwinkeln, wie die Freunde sich bekreuzigten. Je mehr sie die unheimlichen Vorkommnisse verfluchten, desto öfter ereigneten sie sich. Die Szene mit dem Skelett hatte die meisten von ihnen bis ins Mark erschauern lassen, so echt, so täuschend war sie gewesen. Wie ein zappelndes Gespenst hatte der Knochenmann gewirkt - einer von El Diabios grausamen Spießgesellen, der auferstanden war, um sich an den Sterblichen für sein Schicksal zu rächen. Matt Davies warf einen wilden Blick auf die Stelle, an der das Gerippe im Wasser verschwunden war. Er schüttelte sich. »Verdammt, keiner würde mich dazu bringen, jemals dort zu tauchen.« »Der Geist lauert unten und packt jeden, der ihm vor die Klauen gerät«, sagte Luke Morgan. »Ein würgendes Monstrum.« Carberry hatte es mitgekriegt und brüllte einen seiner ellenlangen Flüche. Ferris schaute unverwandt auf das große schwarze Schiff, Aber nicht wegen des Vorfalls mit dem Skelett. Auch er war zusammengeschaudert, aber er maß der Angelegenheit nicht mehr Bedeutung bei, als nötig war. Nein, ihn faszinierte etwas anderes. »Ben, hast du das gesehen?« »Verdammt, ja, und ich zweifle langsam an meinem Verstand. Hölle, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich ein Skelett ...« »Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Ferris. »Ich rede von dem Felsbrocken.« »Was ist mit dem Felsbrocken?« »Fällt dir denn gar nichts auf?« »Tja, ein Stück vom Schanzkleid des schwarzen Seglers ist zersplittert, aber das ist wohl alles.« »Mit anderen Worten, der Riesenklotz ist fast wirkungslos 7
von dem Schiff abgeprallt«, sagte jetzt Big Old Shane. »Das ist doch schier unglaublich, bei der Wucht, die das Ding hatte. Wie kann so was angehen, Ferris?« Ferris beschrieb eine beinahe hilflose Gebärde. »Keine Ahnung. Ich kann’s auch nicht fassen, Männer. So was gibt es nicht. Was ist das bloß für Holz, aus dem der Segler gebaut wurde? Himmel, ich weiß doch, wie gut und stark unsere ›Isabella‹ ist, aber ich weiß auch, daß der Brocken dort ganz erheblichen Schaden auf unserem Schiff angerichtet hätte, falls er uns getroffen hätte.« Ben schüttelte den Kopf. »Härteres Holz als gute englische Eiche existiert doch nicht.« »Weißt du das?« fragte Ferris. »Wie meinst du das? Ich verstehe vom Schiffbau nicht so viel wie du, aber immerhin doch eine ganze Menge ...« »Geh doch nicht gleich auf die Palme, Ben«, erwiderte Ferris. »Ich wollte nur sagen: Wir haben noch nicht die ganze Welt gesehen. Es gibt Dinge, über die wir nur staunen können, richtige Wunder, bei deren Anblick uns die Augen übergehen und die doch eine vernünftige Erklärung haben.« »Zum Beispiel Holz aus einem fremden Land, das so hart wie Eisen ist?« fragte Shane zweifelnd. »Mich würde mal interessieren, wie man das Material bearbeitet.« »Ich komme noch dahinter«, versicherte Ferris. »Ich schwör’s euch, Freunde. Der Sache geh ich auf den Grund.« »Wir müßten den schwarzen Segler untersuchen«, sagte Ben Brighton. »Aber im Moment hat etwas anderes die größere Dringlichkeit. Wir müssen Hasard, Siri-Tong und Thorfin Njal finden.« Er richtete sich auf. Es war stiller geworden um die ›Isabella‹. Nur noch vereinzelt rollten Felsbrocken die Hänge der Insel hinunter. Plötzlich trat völlige Ruhe ein. Totenstille. Etwas Lähmendes, das sich wie eine Drohung auf die Männer senkte. 8
Den düsteren, zerstörten Hängen der Insel haftete die Aura des Bösen an. Ben griff zum Spektiv, hob es ans Auge und tastete mit seinem Blick das Ufer ab. »Und?« sagte Old O’Flynn ungeduldig. »Nichts. Keine Spur von Hasard, Siri-Tong und dem Wikinger.« Die Männer waren wie geschockt. Sie wußten ja, daß ihr Kapitän mit der Roten Korsarin und dem Wikinger zum Auge der Götter hinaufgestiegen war. Zum Ort der Katastrophe. Ben steckte das Spektiv wieder weg, formte seine Hände zu einem Schalltrichter vor dem Mund und begann zu rufen: »Hasard! Siri-Tong! Thorfin!« Er wiederholte es, und mittendrin erhob sich neben ihm Ferris Tucker und fiel mit ein. Shanes mächtige Gestalt schob sich gleich darauf am Schanzkleid des Achterdecks hoch, es folgten Old O’Flynn, Pete Ballie, dann, auf Quarterdeck und Kuhl, Carberry und all die anderen, zuletzt schließlich auch der junge Dan O’Flynn hoch oben im Hauptmars. Alle schrien die Namen der Gesuchten. Es war ein einziger Ruf, der in Abständen nach Little Cayman hinüberschallte - und doch keinen Erfolg zeitigte. Nirgends war auch nur die Spur vom Seewolf zu entdecken. Siri-Tong und der Wikinger blieben ebenfalls verschwunden. »O Himmelarsch, so ein elender Mist«, sagte der Profos. »Da denkt man, man hat den ganzen Schlamassel hinter sich, dabei geht es mit den Schwierigkeiten wieder von vorn los. Wenn den dreien bloß nichts zugestoßen ist!« »Ich hab’s gleich gewußt, daß es nicht gut ausgeht«, unkte Luke Morgan. »Ich sehe mehr als ihr alle.« Carberrys vernichtender Blick traf ihn. »Sag mal, bist du jetzt auch unter die Wahrsager und Spökenkieker gegangen, du Hering?« fragte der Profos. »So wie der Jonas?« Luke schüttelte den Kopf. »Nein. Nur sagt mir mein Verstand, daß es Wahnsinn ist, was wir hier tun. Wir hätten 9
längst weg sein müssen und uns auf nichts einlassen sollen.« »Du sprichst in Rätseln«, entgegnete Ed Carberry - noch eine Spur leiser, und das verhieß bei ihm nichts Gutes. »Der Wikinger ...« »Was ist mit ihm passiert, Luke? Und mit Hasard und der Roten Korsarin?« »Das weiß ich nicht«, sagte Luke Morgan. »Himmel, ich hoffe wirklich nicht, daß es übel für sie ausgegangen ist. Ich ...« Carberry fiel ihm wieder ins Wort. »Natürlich. Dann brüllen wir die Namen noch mal zusammen, ja, Luke?« Er flüsterte jetzt fast. »Und wenn du nicht aufhörst, den Teufel an die Wand zu malen und dauernd rumzunörgeln, hau ich dich ungespitzt durch die Decksplanken, kapiert, was, wie?«
2. Bevor unten in der Bucht das Inferno eingesetzt hatte, hatte es für Hasard ein böses Erwachen gegeben. Mit diesem Zusichkommen nach tiefer Bewußtlosigkeit und den stechenden Schmerzen in Kopf, Hals und Leib hätte er sich noch abgefunden. Es wäre nicht das erstemal gewesen, daß er sich in einer derartigen Lage befand. Er war hart im Nehmen und konnte viel einstecken. Aber da war noch etwas. Er lag im Dunkeln und konnte nichts, aber auch gar nichts von seiner Umgebung erkennen. Kurzum, es war stockfinster, Hasard vermochte nicht die Hand vor Augen zu sehen. Wo war er? Und was war geschehen? Er bezwang die aufkeimende Panik und besann sich. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Zunächst waren es nur Bruchstücke, aber sie ließen sich bald zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. 10
Das Wiedersehen mit Thorfin Njal unten in der Bucht! Alle hatten den Wikinger und seine Gefährten für tot gehalten. Es war unmöglich, daß sie der damaligen Schlacht gegen Caligu in der Windwardpassage entronnen waren. Seinerzeit war dessen Galeone beim Rammen einer PiratenKaravelle gemeinsam mit dem Feindschiff explodiert. Und doch. Thorfin und die anderen vier hatten sehr lautstark ihre Existenz kundgetan, als die Seewölfe mit der ›Isabella‹ in die Bucht gelaufen waren. Es hatte eine lärmende Bordfeier mit erbeutetem Rum stattgefunden, beinahe ein Riesenbesäufnis. Zwischendurch hatte Hasard erfahren, was sich auf der Insel abgespielt hatte. Siri-Tong hatte einen klaren Fehler begangen. Niemals hätte sie sich allein zum Auge der Götter hinauf begeben dürfen. Hätte der Wikinger sie nicht gerettet, wäre sie verloren gewesen. Hasard hatte daraufhin beschlossen, ebenfalls zum See hinauf zu steigen. Ließ sich mit den letzten beiden Wächtern der heiligen Schätze nicht doch noch reden? Er wollte es zumindest versuchen. Nun, Hasard hatte Siri-Tong und Thorfin Njal zur persönlichen Sicherheit und um die Wächter nicht zu erschrecken, mitgenommen. Er hatte wirklich geglaubt, mit ihnen verhandeln zu können. Aber es war alles ganz anders gekommen. Siri-Tong war plötzlich zusammengesunken. Dann hatte Hasard einen brennenden Stich am Hals verspürt. Der Berg stand auf dem Kopf, die Welt rotierte, und dann fühlte er sich wie auf einer düsteren Wolke eilig davongetragen. Er griff sich an den Hals und fühlte die winzige Wunde. »Ein Giftpfeil«, sagte er heiser. »Er steckt nicht mehr, aber ich bin sicher, die Kerle haben so ein Ding auf mich abgeschossen.« »Ja«, antwortete ihm eine weibliche Stimme. »Aber wenn die Pfeile tatsächlich in Gift getunkt worden wären, befänden wir uns jetzt ganz woanders, schätze ich.« 11
»Siri-Tong«, sagte er überrascht. »Wo steckst du?« »Hier ...« »Deine Stimme hallt zu stark nach, ich kann dich nicht orten«, erwiderte der Seewolf. Unwillkürlich mußte er grinsen. »Vielleicht krauchen wir doch schon in der Hölle herum.« »Unsinn, es war nur ein Betäubungsmittel, das die Wächter auf uns abgeschossen haben.« »Wie lange hat es wohl gewirkt?« »Ich habe keine Ahnung.« »Weißt du, wo der Wikinger abgeblieben ist?« Sie seufzte. Es klang hohl und unnatürlich. »Leider nicht. Hoffentlich haben die Schufte ihn verschont.« Hasard erhob sich und tastete sich voran. »Jedenfalls sind wir in irgendwelche Höhlen geschleppt worden. Und die liegen mit einiger Wahrscheinlichkeit in der näheren Umgebung des Götterauges, denn auf eine andere Insel haben uns die beiden Indianer, diese fanatischen Kerle, bestimmt nicht bringen können.« »Und wie finden wir aus diesem Labyrinth wieder heraus?« »Irgendwie. Es gehört Glück dazu. Ich führe dich.« »Du hast Nerven«, sagte sie. »Aber dazu müssen wir uns erst einmal gefunden haben.« Hasard grinste wieder. Aber im nächsten Moment sackten seine Mundwinkel sehr schnell herunter. Etwas näherte sich mit verhaltenem Donnergrollen. Das Geräusch schwoll an. Hasard spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Er mußte plötzlich an die Erzählungen des Wikingers über den Gott Thor denken - Thor, der mit einem gigantischen Wagen auf dem Dach der Welt umherfuhr und bündelweise Blitze schleuderte. »Was ist das?« rief die Rote Korsarin entsetzt. »Ich weiß es nicht.« »Mein Gott - gib mir deine Hand!« Hasard begriff schlagartig, daß sie sich nicht mehr rechtzeitig 12
finden konnten. Genützt hätte es ihnen ohnehin nichts mehr. Denn der Seewolf wußte, was dieses entsetzliche Grollen bedeutete. Das Inferno war noch nicht zu Ende. Das Grollen verdichtete^ich zu einem gewaltigen Getöse. Siri-Tong schrie auf. Dann brach die Hölle über sie herein. Der Untergrund bebte. Hasard vermochte immer noch nichts zu sehen, aber er entnahm den Lauten, daß auch die Wände der Höhle ins Vibrieren und Wackeln gerieten und schließlich barsten. »Hinlegen!« brüllte er. »Flach auf den Boden!« Er selbst ließ sich nach vorn fallen und preßte sich bäuchlings auf das kalte Gestein. Seinen Kopf schützte er mit beiden Händen. Keine Sekunde zu früh, denn jetzt nahm das Verhängnis erst richtig seinen Verlauf. Es donnerte, prasselte und krachte, rundum brachen die Felsen. Wasser schoß an Hasard vorbei. Siri-Tongs Schreie erstickten in einem letzten gurgelnden Laut. Hasard fluchte und betete abwechselnd, er verdammte, daß er dem schwarzhaarigen Mädchen nicht helfen konnte, er flehte, daß wenigstens sie das dröhnende Pandämonium überstand. Es ist das Ende, dachte er. Ganze Gesteinsbrocken gingen auf seinen Rücken nieder. Er krümmte sich unter den Schlägen. Ein Stück traf seinen Kopf. Er zuckte zusammen. Ausgerechnet eine von den Händen nicht gedeckte Stelle hatte es erwischt! Für Augenblicke drohte der Schmerz ihn zu überwältigen, er kämpfte mit der Ohnmacht. Dann siegten seine Bärennatur und die fünf Sinne. Nach wie vor lag er in tintenschwarzer Nacht. Hatte er anfangs noch gehofft, die Höhlendecke würde einstürzen und Licht einlassen, so stellte sich dies rasch als Täuschung heraus. Es blieb finster. Hasard hatte keine Wahl. Er mußte das Entsetzliche über sich ergehen lassen und hatte keine Möglichkeit, die Dinge zu 13
beeinflussen. Wenn der Tod ihn und Siri-Tong ereilte, mußten sie ihn ohne Wehr hinnehmen. Eine bittere Erkenntnis. Er mußte an das Seebeben denken, das sie vor der Windwardpassage zwischen Felseninseln erlebt hatten. Der Jonas hatte es vorausgesagt. Und er war dann ja auch wie ein Teufel an ihnen vorbeigeschossen auf einem Wellenkamm reitend. Hatte er, der »hinter den Horizont blicken konnte«, auch dieses Unglück vorausgesehen? Hatte er etwas von den Vorfällen auf Little Cayman geahnt, hätte er sie Hasard in seinen apokalyptischen Deutungen beschreiben können? Und wenn? Was hätte das genutzt? Hasard hätte ja doch nichts darauf gegeben. Als das Brüllen und Rauschen nachließ, hob er benommen den Kopf. Der Götterwagen raste davon, sein Poltern verlor sich in der Ferne. Zurück blieben die totale Finsternis, Schmutz, Wasser und die quälende Ungewißheit. »Siri-Tong«, sagte Hasard. Als er keine Antwort erhielt, überlief es ihn eiskalt. Er probierte es noch einmal mit dem Rufen, diesmal lauter. Wieder erwiderte die Korsarin nichts. »Siri-Tong!« Sein Schrei gellte durch die Höhlengänge und kehrte hohnvoll an sein Ohr zurück. Nichts. Kein Laut. Keine Regung. Hasard krampfte sich das Herz zusammen. Er richtete sich auf und schüttelte den Schutt von sich ao. Er tastete sich ab und stellte rasch fest, daß er außer ein paar schmerzenden Prellungen keine Blessuren davongetragen hatte. Schmerzen - damit wurde er spielend fertig! Wütend lachte er auf. Er hätte ohne Zögern gern noch einiges mehr auf sich geladen, wenn er nur ein Lebenszeichen von Siri-Tong erhielt. Und - wenn nicht? Hasard wollte nicht an die furchtbarste Konsequenz dieses Abenteuers denken. Er wehrte sich dagegen. Alles in seinem 14
Inneren sträubte sich, auch nur die Möglichkeit ihres Todes einzuräumen. »Siri-Tong«, murmelte er. »Erst helfe ich dir, dann suchen wir nach Thorfin Njal, diesem Himmelhund. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht aus diesem Loch rauskämen.« Bist du verrückt, fragte er sich, durchgedreht, übergeschnappt? Er kam sich selbst in höchstem Maße lächerlich vor, als er zwischen den Trümmern dahintappte und mit den Fingern nach Halt forschte. Wasser rieselte immer noch von den Wänden. Hasard schnitt sich an irgendwelchen scharfkantigen Gegenständen die Hände und die Kleidung auf. »Siri-Tong!« Sein Rufen und Suchen blieb auch jetzt erfolglos. Trotzdem gab er nicht auf. Und wenn ich hier verrecken muß, ich finde sie, sagte er sich. Der Seewolf hat bisher noch immer erreicht, was er sich als Ziel gesetzt hatte. O ja, es lag Arroganz in dieser Denkweise. Aber Überheblichkeit war im Moment das einzige, was ihn überhaupt auf den Beinen hielt und vorantrieb. Sie suggerierte ihm einen unbändigen Willen. Und dann fand er sie doch. In diesem Augenblick hielt er die Luft an. Er kniete sich hin, tastete ihren Körper ab, lauschte nach ihrem Atem und Herzschlag und fühlte ihren Puls. Hasard stieß einen leisen Laut der Erleichterung aus. Siri-Tong lebte! Sie war bewußtlos und wohl bei dem Wassereinbruch in eine Felsspalte geschleudert und darin festgeklemmt worden, wie er feststellte aber sie lebte! Sofort begann er damit, die Felsen in der Dunkelheit eingehend zu ergründen. Erst hier wurde ihm richtig bewußt, von welch elementarer Bedeutung der menschliche Tastsinn war. Ohne ihn wäre er hilflos wie ein Kind gewesen. Nach und nach ermittelte er, daß auch sie unwahrscheinliches 15
Glück bei dem Ganzen gehabt hatte. Das Wasser und die niederstürzenden Felsen hätten sie beide umbringen können. Hingegen steckte Siri-Tong in einer Art Höhlung, die tatsächlich durch hereingeschwemmte Felsmassen verdämmt worden war. Dieser Umstand hatte sie vor dem Ertrinken bewahrt. Hasard kauerte in knöcheltiefem Wasser und wartete, bis die Rote Korsarin zu sich kam. Er konnte schon wieder lächeln. Wohler wäre ihm allerdings gewesen, wenn er auch über Thorfin Njals Schicksal etwas hätte erfahren können. Siri-Tong stöhnte. Hasard griff nach ihrer Hand und begann, beruhigend auf sie einzureden. Erst als sie ganz bei Bewußtsein war, erfaßte sie den Inhalt seiner Sätze, doch die besänftigende Wirkung hatten seine Worte auch vorher schon allein durch ihren Tonfall. Siri-Tong seufzte. »Da wären wir also endlich wieder zusammen. Aber ich kann mich nicht bewegen, wie ich will.« »Kein Grund zur Panik«, erwiderte er. »Ich haue dich da schon heraus.« »Das sagst du nur, damit ich mich nicht aufrege.« »Nein. Es ist die Wahrheit. Ich habe alles genau untersucht.« »Ich finde, unsere Lage ist zum Verzweifeln.« Er schüttelte den Kopf, obwohl sie es nicht sehen konnte. »Irrtum, Siri-Tong. Daß wir noch leben, verdanken wir meiner Meinung nach einem glücklichen Zufall.« »Warte«, sagte sie. »Laß mich mal nachdenken. Was ist eigentlich passiert? Die Wächter haben gehandelt, nicht wahr?« »Sie haben zum letzten Mittel gegriffen, das ihnen blieb, um die heiligen Schätze allen fremden Teufeln vorzuenthalten. Sie haben den geschickt angelegten Mechanismus zur Vernichtung des Sees und der Reichtümer betätigt.« »Eine Überflutung der Insel«, sagte Siri-Tong erschüttert. »Aber könnte es nicht sein, daß die beiden Indianer dabei selbst ihr Leben verloren haben?« 16
»Möglich. Es entspräche ihrer Wesensart.« »Wie auch immer«, meinte sie. »Sie hatten unsere Vernichtung selbstverständlich mit eingeplant. Mit anderen Worten, sie wollten uns ersäufen wie die Ratten. Wieso hat es uns nicht erwischt?« »Eigentlich hätte die gesamte Wasserflut auch durch unsere Höhle brechen müssen«, versetzte Hasard. »Ganz bestimmt, denn Thorfin sagte mir, daß sich sämtliche unterirdischen Gänge unterhalb des Wasserspiegels des Sees befinden. Aber ich schätze, die Indianer haben eines nicht mit einkalkuliert: Der Fels ist im Lauf der Jahre morsch geworden. Irgendwo, irgendwie müssen die einbrechenden Fluten eine Wand mit sich fortgerissen und darum einen anderen Weg genommen haben. Nur so kann es gewesen sein.« »Mein Gott, wenn ich mir das richtig klarmache ...« »Verlieren wir keine Zeit«, sagte er. »Wir müssen die vertrackten Felsen hier wegräumen - du von innen, ich von außen. Traust du dir das zu?« »Warum nicht?« Sie bemühte sich, ihre Stimme tapfer klingen zu lassen. »Fangen wir gleich an.« Sie arbeiteten verbissen. Hasard dachte die ganze Zeit über daran, daß die beiden Wächter des Götterauges wahrscheinlich auch Thorfin Njal gefangengesetzt hatten, bevor sie die Teufelsschleuse geöffnet hatten, und er dachte, daß es für den Wikinger doch besser gewesen wäre, in der Windwardpassage ins Jenseits gesprengt zu werden, statt hier elend und schimpflich zu ersaufen.
3. Immer wieder brüllten die Männer der ›Isabella‹ die Namen der drei Verschollenen, aber sie erhielten keine Antwort. Die Stille, die auf das Rufen folgte, war deprimierend. Hier und da 17
blitzte etwas in der Sonne - Gold, das in den Felsen der Insel hängengeblieben war. Aber der Anblick hob die Stimmung der Crew um keinen Deut. »So ein Dreck«, sagte Carberry. »Diese Hundesöhne von Bewachern hätten sich Gold, Silber und Diamanten von mir aus in die Hintern stecken können. Wir wollten das verfluchte Zeug nicht, und mir wäre es tausendmal lieber, wir hätten statt der Klunker endlich wieder unseren Kapitän und die beiden anderen Vermißten vor Augen.« Er stand jetzt auf dem Achterdeck. Ben Brighton drehte sich um, begegnete seinem Blick mit tiefem Ernst und erwiderte: »Da hat alles Rufen keinen Sinn, Ed. Da gibt es nur eins.« »Zur Insel pullen.« »Sehr richtig. Profos, du stellst den Suchtrupp zusammen.« Dan O’Flynns Stimme erscholl aus dem Großmars. »Deck! Siri-Tongs Männer pullen heran. Der Boston-Mann ist mit an Bord.« Die Seewölfe wandten die Köpfe nach Süden und sahen das Boot, das sich näherte. »Die haben die Nase genauso voll wie wir«, sagte Bob Grey. »Die kommen, um uns zu sagen, daß sie ankerauf gehen und abhauen wollen. Auch ohne Siri-Tong.« Luke Morgan nickte grimmig. »Eins steht fest. Mich kriegen keine zehn Pferde auf die Insel.« Er drehte sich dem Profos zu. »Ich hab nämlich gehört, was ihr da eben beschlossen habt, Ed, auch, wenn ihr nur leise gesprochen habt.« Carberry setzte sich in Bewegung. Er ging nicht, er schritt zum Backbordniedergang, der das Achterdeck mit dem Quarterdeck verband. Fast gemächlich begab er sich auf die Kuhl. Dabei sagte er: »Luke, es wird Zeit, daß wir uns mal eingehend unterhalten.« Es klang sanft. Dreierlei stimmte an Carberrys Verhalten bedenklich. Erstens stapfte er gewöhnlich - statt zu schreiten. Zweitens sprach er 18
nicht, er brüllte. Drittens würzte er jede Rede mit Flüchen. Die feine, schleichende Art, die er da jetzt an den Tag legte, kündigte Unheil an. »Ich hab’s satt!« rief Luke Morgan. »Das eine sage ich dir, Ed, und dir auch, Ben Brighton: Ich lasse mich nicht verschaukeln. Verheizen auch nicht. Den anderen geht es genauso. Die stehen hinter mir.« Carberry war auf der Kuhl. Ferris Tucker hatte den Steuerbordniedergang benutzt und befand sich jetzt an der Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Quarterdecks bildete. »Seit wann wird auf der ›Isabella‹ gemunkelt, gemauschelt und verschaukelt?« fragte der Profos. »Erkläre mir das mal, Luke, ich hab’s noch nicht ganz begriffen. Meinst du, wir denken uns sinnlose Befehle aus und beschließen so ganz klammheimlich, wie wir euch Männer am besten massakrieren lassen können. Meinst du das?« »Es hört sich jedenfalls so an!« stieß der hitzige Engländer hervor. Er war weiß im Gesicht. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Aber ich spiele da nicht mit.« »Meuterei?« fragte Carberry sanft. »Nein. Vernunft. Hör mal, du mußt doch einsehen ...« »Daß du die Hosen voll hast«, fiel Carberry ihm ins Wort. »Ja, das habe ich jetzt begriffen. Du hast sie gestrichen voll und scheißt dich noch zusätzlich ein, weil du vor würgenden Skeletten, die deiner Meinung nach in der Bucht herumschwimmen, nur so bibberst.« »Verdreh mir nicht das Wort im Mund!« brüllte Morgan. »Dieser verdammte Wikinger, dieser Hund!« Der Profos war verblüfft. »Was hat denn der damit zu schaffen?« »Der ist längst tot«, ereiferte sich Morgan. »Der kann gar nicht mehr leben. Ich war dabei, als seine ›Thor‹ in der Windwardpassage in die Luft flog. Das hat niemand überlebt, 19
niemand, sage ich euch. Das alles hier geht nicht mit rechten Dingen zu!« Die Männer starrten ihn an. Batuti, der hünenhafte schwarze Mann aus Gambia, löste sich aus der Gruppe auf der Kuhl, schritt auf Luke zu und stellte sich vor ihn hin. »Wie meinst du das, Luke? Der Wikinger hier. In Fleisch und Blut. Du glaubst, er ein Gespenst, he? Wie?« Die Blicke bohrten sich förmlich in Lukes Gesicht. Keiner der Männer fügte etwas hinzu, alle warteten auf die Antwort. Und Luke nickte. Er stand breitbeinig da und schüttelte die Fäuste. »Gespenst? Es ist noch viel schlimmer!« schrie er voller Wut. »Dieser verdammte Jonas, habt ihr den schon wieder vergessen, ihr Narren? Der hat sich in der Gestalt des Wikingers an Bord der ›Isabella‹ geschlichen, um uns alle ins Verderben zu locken!« Jonas - der Seher, der Unglücksbringer! Die Seewölfe hatten ihn als Schiffbrüchigen aufgenommen, aber er hatte es ihnen schlecht gedankt, daß sie sich um ihn gekümmert hatten. Nur Unheil hatte er ihnen gebracht. Lukes Worte ließen das Bild des Mannes wieder vor den Augen der anderen aufleben - und es war kein Wunder, daß sich plötzlich alle auf Lukes Seite stellten. »Der Wikinger hat Schuld!« rief Matt Davies. »Der Teufel soll hin holen!« Er und die anderen schrien durcheinander, es entstand Tumult. Ben Brighton blickte entsetzt zu Big Old Shane. »Die Ereignisse haben sie geschockt. Sie glauben Morgan aufs Wort«, sagte er. »Moment«, sagte Ferris. »Wäre doch gelacht, wenn wir diese Himmelhunde nicht sofort zur Räson brächten!« Mit zwei Sprüngen war er auf der Kuhl und rückte erbost .auf Luke Morgan zu. Arwenack, mittlerweile wieder auf einem luftigen Posten in den Hauptwanten, begann zu zetern. 20
»Sag das noch mal!« rief der Schiffszimmermann. »Los, spuck’s noch mal aus.« »Der Wikinger ist der Jonas«, keuchte Luke. Er stellte sich Ferris mit erhobenen Fäusten entgegen. Ferris stieß einen grollenden Laut aus. »Na warte. Ich zeig dir, was der Jonas meiner Meinung nach mit dir hätte tun sollen.« »Das kannst du haben, Großmaul!« »Reiß das Maul nur nicht zu weit auf,du Zwerg!« Luke griff an, bevor Ferris einen Ausfall gegen ihn unternehmen konnte. Er sprang vor, schoß die linke Faust auf Ferris Brust ab und dann die rechte in Richtung auf sein Kinn. Der Riese sah rot. Er fluchte, blockte ab, mußte aber doch einen Hieb einstecken - und dann deckte er Morgan mit einem Hagel von Schlägen ein. »Laß ihn in Ruhe!« schrie Bob Grey. Er wollte Luke Beistand leisten, wurde aber von dem dunkelrot angelaufenen Carberry gestoppt. Arwenack kreischte Mord und Bein. Dan enterte aus dem Großmars ab. Ben Brighton und Shane marschierten zur Unterstützung von Ferris Tucker und Edwin Carberry vom Achterdeck her an, es folgte Old Donegal Daniel O’Flynn. Der Alte verharrte kurz an der Five-Rail, lehnte sich dagegen und schnallte sein Holzbein ab. Anschließend griff auch er in das Geschehen ein. Wüster Tumult brach an Bord der ›Isabella VIII.‹ los. Carberry explodierte. Eine Art Röhren löste sich aus seiner Kehle, er räumte Bob Grey mit einer einzigen Handbewegung beiseite. Wie ein Stier walzte er auf Luke Morgan los. Ben und Shane krempelten sich die Ärmel hoch. Old O’Flynn stand hinter ihnen, schwang sein Holzbein und brüllte: »Na los, ihr Idioten, wem soll ich das Ding als erstem auf dem Rücken tanzen lassen?« Arwenack sauste an den Wanten auf Deck herab, flitzte auf die nächste Nagelbank zu und griff sich zwei Koffeynägel, 21
bereit, sie zu schleudern. Dan war neben ihm und rief: »Hört doch auf, ihr Narren, was ist denn nur in euch gefahren?« Luke Morgan badete in seinem Schweiß. Er atmete schwer, seine Augen waren unnatürlich geweitet, sein Gesicht verzerrt. Er trachtete, Ferris Deckung zu unterlaufen. Ob er es geschafft hätte und wie der Zweikampf verlaufen wäre, blieb ungeklärt, denn jetzt war Carberry heran. Er fuhr wie der Leibhaftige zwischen die Zankhähne. »Himmelarsch!« brüllte er. »Ihr Affenärsche, ihr schlagt euch hier gegenseitig die Schädel ein! Dabei verrecken der Seewolf und die beiden anderen vielleicht da oben. Ihr elenden Satansbraten!« Ferris wollte sich Luke nicht vor der Nase wegschnappen lassen, aber der Profos ging so resolut vor, daß ihm nichts anderes übrigblieb. Carberry drängte Ferris einfach weg und den aufmüpfigen Luke Morgan traktierte er mit Fausthieben, von denen jeder einzelne die Wucht eine Pferdetritts hatte. Luke wurde gegen das Schanzkleid geworfen. Hart schlug sein Rücken gegen die Kante der Handleiste. Er stöhnte auf und krümmte sich. Carberry war wieder bei ihm, so flink, so katzenhaft gewandt, wie es ihm nicht einmal die eigene Crew zugetraut hätte. Wieder landete er einen Hieb. Luke Morgan hörte Glocken dröhnen und glaubte, es würde ihm glatt die Brust zerreißen. »Aufhören«, japste er. »Das - das kannst du nicht tun ...« »Ich kann noch viel mehr«, dröhnte Carberrys Baßstimme. »Du Mistfresser, dich hat wohl der Esel im Galopp verloren, was, wie? Was bildest du dir eigentlich ein, dich hier wie ein Irrer aufzuführen? Dir bring ich Vernunft bei und den anderen auch. Und wenn ich euch einzeln die Haut von euren verfluchten Affenärschen abziehen muß!« »Hau ihm die Hucke voll!« rief Old O’Flynn. »Er hat’s verdient.« 22
Luke Morgans Miene spiegelte plötzlich blankes Entsetzen. »Ed, tu das nicht. Schlag mich nicht tot ...« Carberrys Faust sauste auf ihn zu. Luke versuchte auszuweichen, aber ihm fehlte es an Reaktionsschnelligkeit, und der Profos war schnell, unheimlich schnell. Der Hieb traf Lukes Kinn. In diesem Augenblick hatte der hitzköpfige Engländer das Gefühl, außenbords und in einen gähnenden schwarzen Schlund geschleudert zu werden, während Feuerblitze vor seinen Augen zuckten und etwas in seinem Schädel zu zerspringen schien. Luke Morgan sank schlaff am Schanzkleid zu Boden. Der alte O’Flynn johlte Beifall, Arwenack keckerte und klatschte in die Hände. Carberry wirbelte auf dem Stiefelabsatz herum. Das Haupt leicht gesenkt, das Rammkinn vorgestreckt, so stapfte er auf die Crew zu. Matt Davies hatte das Pech, gerade in seiner Nähe zu stehen. Der Profos holte aus. Matt duckte sich, aber die Ohrfeige erwischte ihn trotzdem. So wuchtig knallte sie gegen seinen Kopf, daß er umfiel und auf seinem Hintern landete. »Ihr Versager!« brüllte Carberry. »Bastarde, Saftsäcke, Scheißkerle! Euch werde ich zeigen, wer hier den Ton angibt, ich bring euch die Flötentöne bei!« Er sagte ihnen die Meinung und prügelte dabei wie ein Berserker um sich. Bob Grey fing einen Hieb gegen die Schultern ein. Batuti empfing einen Tritt. Einen Moment sah es so aus, als würde sich die Crew auf ihren Profos stürzen, aber dann gaben die Männer doch klein bei. Carberry zog vom Leder, wie es noch keiner an Bord der ›Isabella‹ erlebt hatte. Zwischen einem Schlag und dem anderen machte er diesen Hurenböcken und Kanalratten klar, was er von ihnen hielt. Und das wog weitaus schwerer als die ganze Prügelei. Denn dieses Mal war es dem Profos bitter ernst. Das war nicht die übliche Standpauke, das ewige Gemecker und Gefluche, das bei ihm dazugehörte wie das Salz 23
in die Suppe. Nein: jedes Wort war Anklage und Urteil zugleich, Edwin Carberry behauptete seinen Stand, er war die Exekutive an Bord, und niemand durfte ihm auf die Füße treten. Gleichzeitig berief er sich auf den Moralkodex aller Korsaren. Was war das für eine Mannschaft, die nur an ihre eigenen Belange dachte, während der Kapitän und zwei andere mittendrin im schlimmsten Verdruß steckten! Na schön, der Aberglaube war in jedem Seemann tief verwurzelt. Den kriegte man aus ihm nicht raus. Und er war es eben, der die Seewölfe zu jenen Äußerungen verleitet hatte. Dennoch: »Ich treibe euch die Unkerei und das Gemotze aus, darauf könnt ihr euch verlassen, ihr Holzköpfe!« schrie Carberry. Mit diesen Worten trieb er die Männer quer über die Kuhl. Jawohl, sie flüchteten, rasten die Niedergänge zur Back hinauf, verkrochen sich ins Vorschiff. Sie nahmen Reißaus, weil sie begriffen hatten, daß Widerstand gegen den tobenden Profos nur zum völligen Untergang führen konnte. Ein neuer Zeuge des Geschehens tauchte am Außenrand des Steuerbordschanzkleides auf. Es war der Boston-Mann, der soeben mit seinem Beiboot längsseits gegangen und aufgeentert war. Entsetzt verfolgte er, wie Carberry hinter seinen Männern herjagte und dem einen oder anderen einen Tritt in den Hintern verpaßte, Dann verhielt Carberry. Bis ins Vordeck oder auf die Back verfolgte er die Männer nicht. Er stand jetzt einfach nur noch da und stemmte die Fäuste in die Seiten. Sein Gesicht gewann allmählich die normale Färbung zurück. Sein Blick wanderte über Deck. Er wandte den Kopf und sah Dan O‘Flynn und Arwenack, die sich vorsichtshalber über die Hauptwanten in den Großmars zurückzogen. Wenn sie auch klar für den Profos Partei ergriffen hatten, man wußte ja nicht, wo er noch hinschlug, wenn er so gewaltig unter Dampf stand. Carberry grinste hart. Sein Blick schweifte nach Steuerbord, 24
erfaßte das Gesicht des Boston-Mannes und verharrte darauf. »Na, du Pflaume«, sagte er. »Auf was wartest du? Komm schon, hier beißt dich keiner.« Der Boston-Mann grinste jetzt auch. Er sah nach unten, stieß einen Pfiff aus und winkte seine Begleiter herauf. Wenig später hatten sie sich alle auf der Kuhl eingefunden, sieben Männer der Roten Korsarin, darunter auch Juan und Bill, the Deadhead, der Mann mit dem Totenkopf. »Alle Mann an Deck!« rief der Profos. Die Seewölfe erschienen. Ihre betretenen Mienen glätteten sich etwas, als sie aus Carberrys Gesicht ablasen, daß der Sturm sich gelegt hatte. »Smoky«, sagte der Profos. »Ich hoffe, daß hier jetzt wieder alles klar ist.« Hasards Decksältester trat zwei Schritte vor. »Wir haben darüber gesprochen, Ed. Alles wieder in Ordnung. Und, ehem, ich glaube, Luke tut die Sache leid.« Damit war das Eis gebrochen. Es bedurfte keiner weiteren Worte über die Angelegenheit. Carberry sprach denn auch mit keiner Silbe mehr darüber. Luke Morgan war zu sich gekommen und hatte sich, wenn auch lädiert, der Gruppe auf Deck angeschlossen. »Boston-Mann und Juan«, sagte der Profos. »Schließt euch unserem Suchtrupp an. Wir müssen auf der Insel nach dem Seewolf, nach Siri-Tong und dem Wikinger forschen. Das hattet ihr doch auch vor, oder?« »Ja. Nur wollten wir uns vorher mit euch abstimmen«, erwiderte der Boston-Mann. »Wir nehmen am besten zwei Boote.« Carberry wies auf das an Backbord liegende Beiboot der ›Isabella‹. »Luke und Batuti, ihr fiert den Kahn ab. Boston-Mann, Juan, Bill, ihr entert mit eurem kompletten Haufen wieder ab. Smoky, Batuti, Blacky, Luke, Matt und Shane, ihr stellt die Besatzung für mein Beiboot und den Trupp. Los, beeilt euch mit dem 25
Abfieren und Abentern, oder soll ich euch Feuer unter euren Achtersteven machen?« Widerworte gab es nicht mehr. Luke Morgans Bedenken wegen des Jonas waren natürlich nicht ausgeräumt, aber er wagte nicht, wieder etwas davon zu sagen. Er murrte nur ein wenig, als er mit den anderen über die Jakobsleiter nach unten mußte. Carberrys Blick traf ihn, da verstummte er sofort wieder. Beide Boote bewegten sich kurz darauf auf das Ufer zu. Keine Skeletthand schob sich aus dem Wasser, um die Männer zu packen und in die Tiefe zu reißen. Die Gespenster, die die Crew schon überall gesehen hatten, erwiesen sich eben doch nur als der reine Mummenschanz. Die dunklen, verwüsteten Felsen der Insel entboten einen finsteren Gruß. Die tödliche Drohung, von der Stille noch unterstrichen, wich nicht, sie wuchs mit jedem Yard, den sich die Boote dem Strand näherten. Carberry und die anderen spürten es. Ihre Nervosität wuchs. Sie konnten ihre Gefühle einfach nicht ignorieren und abwerfen. Die Stimmung war deshalb alles andere als rosig, als sie sich an den beschwerlichen Aufstieg machten. Sie quälten sich die Felsen hoch, denn der Pfad war von den Wassermassen ebenfalls zerstört worden. Weit oben schwärmten sie aus. Von Hasard, Siri-Tong und Thorfin Njal war trotz allen Rufens und Fahndens aber nach wie vor nichts zu entdecken. Batuti war es schließlich, der durch seinen Schrei die anderen alarmierte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an dem Standort des Gambia-Negers getroffen hatten. Sie scharten sich um ihn und schauten bestürzt auf das, was er ihnen durch eine Geste wies. Die beiden Indianer. Ihre Leichen boten keinen schönen Anblick. Luke Morgan schnitt eine Grimasse. Ihm drehte sich fast der Magen um. 26
»Der Sog muß sie mitgerissen haben«, sagte Carberry. »Sie sind an den Felsen zerschmettert. Bedauern kann ich sie nicht. Los, Männer, weiter jetzt.« Er stapfte voran. Sein Mut schwand, aber er zwang sich, es den Männern nicht zu zeigen. Ihm war hundeelend zumute, denn er hatte wirklich keine große Hoffnung mehr, die drei Gesuchten lebend zu finden. Luke Morgan wollte wieder vom Jonas zu palavern beginnen, aber er biß sich auf die Zunge. Er brauchte bloß zum Profos zu schauen, und der Respekt durchfuhr ihn bis auf die Knochen. Grundsätzlich fürchtete Luke nichts und niemand. Doch die Lektion, die ihm der Profos erteilt hatte, wirkte noch nach. Er wagte es einfach nicht, Carberry abermals zu reizen.
4. Hasard raffte die letzten Felsbrocken zur Seite, dann sagte er aufatmend: »Wir haben es geschafft, Siri-Tong. Du bist frei.« Er vernahm, wie sie durch die Finsternis auf ihn zurutschte. Plötzlich gab sie einen Wehlaut von sich. »Verflixt, Hasard, halte mich nicht für eine Memme. Aber ich habe bei dem Ganzen doch ein paar Kratzer abgekriegt, glaube ich.« »Laß mich mal nachsehen.« »Nachsehen ist gut ...« »Nun komm schon.« Er glitt auf sie zu. Ihre Hände fanden sich, und er spürte, wie ihr Griff zunahm. »Hasard.« »Tut es sehr weh?« »Es geht schon wieder. Laß uns nach einem Ausgang suchen.« »Warte. Erst will ich deine Wunden verarzten.« Hasard tastete ihre Arme und Schultern ab. Sie war ihm dabei behilflich und führte seine Finger fast bis auf ihre vollen, 27
harten Brüste herab. »Hier«, hauchte sie. »Blut«, stellte er fest. »Ich reiße ein paar Streifen Stoff aus meinem Hemd, knote sie zusammen und verbinde dich notdürftig. Auf der ›Isabella‹ wird sich dann der Kutscher um dich kümmern.« »Ich habe auch einen Feldscher.« »Mir wäre es lieber, wenn du dich beim Kutscher behandeln lassen würdest. Auf den kann ich mich hundertprozentig verlassen.« Ihre Stimme war sanft und ein bißchen rauchig. »Warum? Ist dir soviel an mir gelegen?« »Ich würde das gleiche für jeden meiner Männer tun«, antwortete er, ohne sich weiter etwas dabei zu denken. Er legte ihr den Notverband so an, daß er sich unter ihren Achselhöhlen hindurch um ihren Oberkörper spannte und dabei genau die Blessur auf dem Brustansatz bedeckte. Stumm bedeutete Siri-Tong ihm, wo sich die nächste Verletzung befand. Auf ihrer Hüfte. Warmes, weiches Fleisch in vollendeter Proportion und Rundung - Hasard spürte Hitze in sich aufsteigen. Aber er konzentrierte sich darauf, auch hier den Notverband so fachmännisch wie möglich anzubringen. Aber dann ergriff die Rote Korsarin die Initiative. Ihre Hände waren wieder da, schlanke, heiße Hände, die unversehens auf seinem Hinterkopf lagen und sein Haar kraulten. Sie glitten tiefer, spannten sich um seine breiten Schultern, dann wurde der Griff sehr fest, und Hasard spürte, wie die Frau sich aufrichtete und zu ihm vorbeugte. Ihr Atem strich über seine Wange und kam ganz nahe. Zarte Lippen preßten sich auf seine Haut, suchten seinen Mund, fanden ihn und drückten sich leidenschaftlich darauf. Hasard war völlig überrascht. Sie hatte ihm zwar schon früher deutlich zu verstehen gegeben, was sie für ihn empfand. Er 28
hatte seine Gefühle verdrängt und ihr die kalte Schulter gezeigt. Dafür gab es Gründe. Gwen. Damals, bei den ersten Begegnungen mit Siri-Tong, war er noch ein verheirateter Mann gewesen. Gwendolyn Bernice Killigrew, geborene O’Flynn, dieses faszinierende Wesen, war rechtmäßig mit ihm vermählt gewesen und hatte ihm zwei Söhne geboren. Zwillinge - Hasard und Philip waren sie getauft worden. Aber dann war das Unglück über die junge Familie hereingebrochen. Gwen war bei ihrer Flucht aus England in der See ertrunken. Die Zwillinge waren verschleppt und umgebracht worden. Eine Zeitlang hatte der Seewolf entsetzlich unter diesem Verlust gelitten. Aber was sollte er tun? Sich eine Kugel in den Kopf schießen? Damit war niemandem geholfen. Er mußte sich mit den Tatsachen abfinden. Die Verantwortlichen waren bestraft. Burton und Keymis lebten nicht mehr. Jetzt galt es, einen neuen Lebensinhalt zu finden. Ein großes Ziel war es, den Spaniern ihre Schätze zu entreißen, ihre Flotte zu schwächen und mitzuhelfen, einen drohenden Krieg gegen England zu verhindern. Hasards Zukunft war darauf ausgerichtet. Aber ein Mann konnte auf die Dauer auch nicht wie ein Eremit leben. Überdies half die Zeit, gewisse Wunden zu heilen. Gwen nutzte es nichts mehr, wenn er sich wie ein Priester unter der Fuchtel des Zölibats verhielt, so hart das auch klingen mochte. In dieser neuen Erkenntnis empfand Hasard es nicht mehr als Verbrechen, eine andere zu küssen. Darum zog er Siri-Tong jetzt ganz fest an sich, erwiderte ihren heißen, brennenden Kuß und sank mit ihr auf den Boden der Höhle. Sie war jung und berückend, diese Eurasierin, und sie riß Hasard in einen Strudel von Leidenschaft und Verlangen. 29
* Carberry blieb stehen. Er hatte jetzt den Platz erreicht, an dem sich der See befunden hatte. Seinen Augen bot sich ein Bild der Verwüstung. Ein riesiger Erdrutsch hatte stattgefunden, die Ufer des leeren Gewässers hatten nachgegeben und waren eingebrochen. Felsen, die wie Moränen dicht oberhalb der struppigen Böschungen gelagert haben mußten, waren nachgesackt und teilweise bis zum Zentrum des Sees geschwemmt worden. Was war geblieben? Eine urweltliche schwarze Wüste, ein kleines Meer aus Schlamm und Schlick, das zu betreten man sich tunlichst hüten sollte. Mittendrin glitzerte und funkelte es. Gold, Silber, Edelsteine, Splitter der Kultgegenstände, die die beiden fanatischen Indianer wie ihren Augapfel gehütet hatten - ein Schatz, den man nur aufzulesen brauchte. Carberry spuckte verächtlich aus. »Ich pfeife darauf«, murmelte er. Der Tag ging zur Neige. Eine frische Brise umfächelte Carberrys kantiges Haupt. Plötzlich war ihm nach Aufbruch zumute. Verdammt, es hätte alles so schön sein können, alles in Butter, aber da war das unlösbare Problem: Hasard, Siri-Tong und der Wikinger. »Hasard!« schrie der Profos in die Totenstille. »Teufel, wo steckst du denn nur?« Eine Antwort erhielt er nicht. Er rechnete auch schon nicht mehr damit. Mißmutig schritt er weiter. Weil er sich sehr angestrengt hatte, hatte er einen gewissen Vorsprung herausgeschunden und war vor seinen Kameraden an der Stätte des Unglücks eingetroffener strebte weiter, beseelt von dem Wunsch, wenigstens als erster auf die drei zu stoßen, ganz gleich, wie sie zugerichtet waren. 30
Der Henker soll dich holen, Ed, ging er mit sich selbst zu Gericht. Diese Schnapsidee von Hasard, noch mal hier raufzusteigen! Du hättest dagegen anstinken sollen. Jawohl, das hättest du, und wenn es tausendmal nach Meuterei ausgesehen hätte! Er hatte das östliche Seeufer zu gut zwei Dritteln passiert, da vernahm er einen Ruf. Abrupt blieb er stehen. Täuschte er sich oder wehte der Laut wirklich von dem Teil der Insel herüber, den sie noch nicht abgesucht hatten? Etwas anderes fiel ihm ein. »Batuti!« schrie er. »He, du schwarzer Krieger, bist du das wieder? Was hast du jetzt entdeckt? Antworte! Wo stecktet du?« Seine gewaltige Stimme dröhnte von den Felswänden wider. Dann, als sich das Echo verlor, kehrte die Stimme aus der Ferne zurück. Carberry verstand nicht, was sie brüllte. Aber ihm wurde klar, daß sie nicht dem Gambia-Neger gehören konnte. Unmöglich - der konnte ihn nicht überholt haben! Carberry hastete weiter. Er bewegte sich zu schnell, zu ungestüm, plötzlich gab der tückische Untergrund nach und zog ihn mit sich. So sehr der Profos auch wetterte, er verlor die Balance und schlidderte in seiner ganzen Länge auf dem abschüssigen Ufer nach unten. Verzweifelt versuchte er sich festzukrallen. Es gelang ihm nicht. Er setzte unten auf und geriet in den Schlick. Bald steckte er bis zu den Knöcheln in dem Morast und spürte, wie die Masse gierig an seinen Beinen sog. »Nicht durchdrehen, Ed«, ermahnte er sich mit äußerster Beherrschung. »Bleib jetzt bloß ruhig, sonst ist es um dich geschehen.« Er konnte um Hilfe rufen. Aber er tat es nicht. Diese Blöße wollte er sich nach seinem jüngsten Auftritt an Bord der ›Isabella‹ nicht geben. Nein, er mußte aus eigenen Kräften aus dem Schlamm heraus. 31
Als er sich fluchend umdrehte, entdeckte er einen platten Felsbrocken, der erstaunlicherweise auf der trügerischen schwarzen Masse ruhte und nicht verschlungen wurde. Carberry grübelte nicht darüber nach, welchen Naturgesetzen das wohl zuzuschreiben war. Er handelte. Der Stein lag zum Greifen nahe. Er brauchte sich nur richtig auszustrecken, dann hatte er ihn. Und das tat Edwin Carberry. Er dehnte sich, daß es in den Gelenken knackte. Er wälzte sich im Schlamm und kratzte mit den Fingern an der Platte, damit sie sich etwas näher auf ihn zu bewegte. Nur ein Stückchen, und er hatte die Partie gewonnen! Der Stein regte sich. Behäbig drehte er sich unter Carberrys keuchendem Bestreben, glitt auf dem Morast, verharrte dann wieder, da der schwere Mann unter dem eigenen Körperschwung zur Seite wegkippte. Carberry riskierte, in diesem Teufelsmoor unterzugehen und zu ersticken. Es hatte Leute gegeben, die in harmlos wirkenden Seen hatten baden wollen und dabei vom Grund gepackt und in die Tiefe gezerrt worden waren. Sie waren jämmerlich ersoffen, aber noch schimpflicher war es, in einem wasserlosen See vernichtet zu werden. Carberry ließ ellenlange Flüche vom Stapel. Diesmal nutzte es was, denn er kriegte den flachen Stein wieder zu packen. Energisch zog er ihn zu sich heran. Das Ding war beinahe kreisrund und etwa so groß wie die beste Eisenpfanne des Kutschers. Carberry wandte sich dem Ufer zu, das er herabgeglitscht war, und legte den Stein vor sich hin. Er rüttelte ihn etwas im Schlamm fest, dann beugte er sich darüber und zog die Beine nach. In dieser Position gelang es ihm tatsächlich, aus dem verdammten Morast freizukommen. Es schmatzte, als er die Stiefel herauszerrte. Carberry schob die Steinplatte vor sich her und legte wieder ein Stück zurück. So rutschte er bäuchlings über den Seegrund und gelangte ans Ufer zurück. 32
Früher, als Junge, hatte er es ähnlich angestellt, wenn er in seiner Heimat im Winter auf zugefrorenen Gewässern herumstolziert und dann eingebrochen war. Schon damals hatte er mehr Körpergewicht als die meisten seiner Altersgenossen gehabt. Wie man sich aus Eislöchern befreite, wenn man wenigstens einen Ast oder etwas Ähnliches packen konnte, hatte er seinerzeit gründlich gelernt. Und das Prinzip, nach dem er heute verfahren war, war im Grunde das gleiche. Er kroch das Ufer hoch. Zweimal glitt er ein Stück zurück, fing sich aber jedesmal sofort wieder. Als er seinen vorherigen Standort erreicht hatte, erhob er sich und spuckte noch einmal wütend in den Schlamm zurück. Vorsichtig tastete er sich weiter. Das Rufen kehrte wieder. Es war mehr ein zorniges Grölen, wie er jetzt feststellte. Carberry kriegte festeren Boden unter die Füße und schritt schneller aus. Schließlich lief er. Seine Kameraden hatten den See immer noch nicht erreicht. Ein paarmal blickte der Profos über die Schulter zurück, konnte sie aber nirgends entdecken. Er wartete nicht, er hetzte der Stimme nach und bemühte sich, sie zu orten. Sein Weg führte über eine Geröllhalde abwärts. Auch hier mußte er höllisch aufpassen, um nicht abzurutschen und sich womöglich ein paar Rippen zu brechen. Endlich geriet er auf ein Plateau und vernahm die Stimme noch deutlicher. Sie war nahe, sehr sogar. Nur bediente sie sich einer fremden Sprache. Vergebens trachtete Carberry, das Kauderwelsch zu deuten. Nur eins war gewiß: Freundliches gab der unsichtbare Mann da nicht von sich. Das Plateau war nicht sonderlich groß. Carberry maß es mit seinen Schritten. Fünfzehn - und am gegenüberliegenden Ende dröhnte die Stimme fast in seinen Ohren. »Das ist ja - he, ho! Thorfin Njal, du Rübenschwein, wo steckst du denn bloß?« Für Sekunden brach das Gefluche in der fremden Sprache ab. 33
Dann kam es auf englisch: »Wer, zum Teufel, ist da? Carberry?« »Ja, ich bin’s.« »Hölle, hol mich hier »raus!« »Ja«, schrie der Profos. »Aber ich sehe dich nicht.« »Ich bin doch kein Gespenst, Mann!« »Verdammt, nein!« »Dann sperr gefälligst die Augen auf!« brüllte der Wikinger. Edwin Carberry drehte sich wie ein tanzender Bär auf der Stelle, vermochte aber von dem Gesuchten nichts zu entdecken. * Thorfin Njal ballte in ohnmächtiger Wut die Hände. »Verflucht, ich könnte mir selbst in den Hintern beißen!« röhrte er. »Da hockst du hier und kannst nichts, aber auch gar nichts tun, und wenn einer zu deiner Rettung antrabt, hilft das auch nichts.« Die Wassermassen hatten ihn in der Höhle ereilt, in die die beiden Indianer ihn verschleppt hatten. Fast wäre er ersäuft worden, doch dann hatte es ihn in eine Nebenhöle gespült. Diese Kaverne stand immer noch voll Wasser. Das Naß lief nur langsam ab. Kein Wunder, daß der Wikinger tobte. Er hatte sich auf einen Felsvorsprung retten können, aber ihm waren in jeder Beziehung die Hände gebunden. Nur von oben drang durch eine winzige Öffnung Licht in seine Höhle. Das Loch reichte jedoch nicht aus, um ihn ins Freie zu lassen. Und es war auch kein Trost für Thorfin Njal, rings um sich Gold und Edelsteine liegen oder in den Felsen stekken zu sehen. »He!« schrie oben wieder Profos. »Gib mir ein Zeichen, Thorfin!« »Gib mir ein Zeichen«, stieß der gefangene Mann wild 34
hervor. »Mann, nun sieh doch endlich mal auf den Boden. Siehst du das Loch? Paß auf, daß du nicht mit dem Fuß reintrittst.« »Da, ich hab’s!« brüllte Carberry. »Knie dich hin und peile durch.« Carberry folgte der Aufforderung. Im Dunkel unterhalb der Felsenöffnung erkannte er undeutlich die Gestalt des Wikingers. »Ich krieg zuviel«, sagte er. »Mann, das ist vielleicht ein Ding.« »Klopf keine Sprüche, hol mich hier lieber raus!« brüllte Thorfin. Der Profos mußte grinsen. Das Loch war länglich, mehr ein Spalt, und man konnte den Arm hineinstecken. Das war aber auch alles. Er schob seine Hand tief hinein und fingerte eine Weile herum. »Was soll das?« fuhr ihn der zornige Wikinger an. »Ich prüfe, wie wir dich da am besten herausholen.« »Die Öffnung ist zu klein, verdammt noch mal.« »Das sehe ich auch. Bin doch nicht blind.« »Was hast du also vor?« »Wir könnten es mit einer Sprengladung versuchen«, erwiderte Carberry fröhlich. »Vielleicht trägst du ein paar Schrammen davon, aber es lohnt sich.« »Bist du des Teufels?« Carberry nahm den Arm aus der Lücke und legte sich auf den Bauch. Er spähte angestrengt ins Innere der wassergefüllten Höhle und erkannte das verzerrte Gesicht des Wikingers, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Verstehst du keinen Spaß mehr, Thorfin?« »Fahr zur Hölle. Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt.« »Wikinger ...« »Beim Odin, willst du mich ewig hier schmachten lassen?« »Bist du der Jonas?« fragte der Profos. Plötzlich war er ernst geworden. 35
Thorfin Njal fehlten die Worte. Er mußte erst nach Luft schnappen, bevor er eine Antwort fand. »Sag mal, hat’s dich erwischt? Bist du übergeschnappt? Was faselst du da vom Jonas?« »Einer aus der Crew hat gesagt, du wärst der Jonas.« »Der hat ja nicht alle Becher im Schapp. Seid ihr alle verrückt geworden?« »Nein. Ich habe den Burschen auch zusammengestaucht.« »Wer ist es?« »Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte Carberry. »Vergiß es. Fest steht, daß dieses eine gottverfluchte Scheiß-Insel ist, und daß wir am besten so schnell wie möglich abhauen. Hast du was von Hasard und Siri-Tong gesehen?« »Nein. Die Indianer betäubten sie mit kleinen Giftpfeilen, dann erwischten sie auch mich. Mehr weiß ich nicht. Sind die beiden etwa auch verschwunden?« »Das weiß ich nicht«, sagte Carberry gereizt. »Hätte ich dich sonst etwa gefragt?« »Schon gut, reg dich nicht auf.« »Ich trommle jetzt den Trupp zusammen«, sagte der Profos. »Gemeinsam schaffen wir es schon, das Loch zu vergrößern und dich da rauszuziehen. Warte.« Er rappelte sich auf, wandte sich ab, lief bis zur Geröllhalde und brüllte aus Leibeskräften; »He, Blacky, Batuti, Matt, Smoky, Luke - alle zu mir!« Thorfin Njal kauerte derweil finster brütend auf seinem Felsenabsatz und murmelte zwischen zwei Flüchen: »Warte. Natürlich warte ich. Was bleibt mir denn anderes übrig?« Wenig später hatten sich die sechs Seewölfe und die SiriTong Leute unter der Führung Juans und des Boston-Mannes auf dem kleinen Plateau eingefunden. Carberry setzte ihnen die Lage auseinander. Jeder warf einen Blick in die Felsspalte und hörte den Wikinger fluchen. Nur Luke Morgan verspürte keine Lust, in die Tiefe zu spähen. Er bekreuzigte sich, denn er glaubte immer noch, daß der rüde Mann aus dem Norden 36
niemand anderes als der Jonas war. Carberry sah die Geste. Aber er spuckte nur verächtlich aus. Bevor er ans Werk ging, hielt er mit seinen Männern eine kurze Beratung ab. »Es gibt nur eine Möglichkeit, dem Wikinger aus der Klemme zu helfen, das ist doch wohl klar. Wir müssen dieses dämliche Loch erweitern, bis er hindurchpaßt. Wir haben unsere Waffen - Messer, Enterbeile, Äxte, Morgensterne. Die werden dabei zwar stumpf, aber das ist scheißegal. Mit den Äxten können wir irgendwo einen kräftigen Ast aus einem Baum hauen oder sogar aus einem Stamm einen Rammbock anfertigen.« »Und wenn wir mit Pulver arbeiten?« sagte Smoky. Carberry grinste säuerlich. »Das habe ich Thorfin auch schon gesagt, aber er hält nichts davon. Mann, Smoky, eine zu schwache Ladung würde nichts ausrichten, und eine zu starke würde dem Wikinger den Schädel abreißen oder ihn unter Schutt begraben. Nein, das geht nicht.« »Wir könnten einen großen Felsen herbeischaffen und auf das Loch schmeißen«, schlug Luke Morgan vor. Die Augen des Profos wurden schmal. »Damit Thorfin geplättet wird wie eine Flunder, was, wie?« »So hab ich das nicht gemeint, Ed. Jetzt schätzt du mich wirklich falsch ein.« »Meinetwegen. Aber dein Vorschlag läßt sich nicht in die Tat umsetzen. Weitere Pläne, Männer?« »Hölle und Verdammnis«, ertönte Thorfin Njals grimmige Stimme aus dem Felsengefängnis. »Wollt ihr mich hier unten vergammeln lassen? Auf was wartet ihr denn noch?« »Einer könnte zu den Booten laufen, zur ›Isabella‹ pullen und sich von Ferris besseres Werkzeug geben lassen«, meinte Shane. »Damit kehrt er dann schleunigst wieder zurück. Ich melde mich freiwillig.« »Verdammt, daran hätte ich auch gleich denken können«, sagte der Profos und kratzte sich an seinem Rammkinn. »Was 37
uns auch noch fehlt, ist ein Tau, mit dem wir Thorfin nachher hochziehen.« In seine letzten Worte fiel ein eigentümliches Geräusch, eine Art Prasseln und Scharren. Carberry wandte überrascht den Kopf und blickte in die Richtung, aus der die Laute drangen. »Das kommt von der Geröllhalde. Teufel, spuken hier oben etwa doch noch andere Indianer herum?« »Unmöglich!« rief der Wikinger von unten zurück. »Dann ist es irgendein anderer Besuch. Fremde Piraten. Spanier. Weiß der Teufel, wer.« Der Profos blickte wild um sich. »Männer, geht in Deckung und haltet euch bereit. Es gibt gleich Zunder, schätze ich.« Sie trennten sich und versteckten sich hinter Felsenquadern am Rand des kleinen Plateaus. Ed Carberry zog seine Steinschloßpistole aus dem Gurt, prüfte, ob die Ladung einwandfrei und trocken war, spannte den Hahn und legte die Waffe vor sich auf den Untergrund. Sein Entermesser zückte er ebenfalls und plazierte es neben der Pistole. Dann machte er seine Muskete schußbereit. Es war eine bis an die Zähne bewaffnete Einheit, die auf die Störenfriede lauerte. Der Blick zur Geröllhalde war durch einen Teil urwüchsiger, zerklüfteter Felsenlandschaft versperrt, so daß die Seewölfe nicht erspähen konnten, ob der oder die Fremden sich ihnen wirklich näherten. »Aber wenn sie aufkreuzen, kriegen sie die Jacke voll, daß sie nur so mit den Ohren schlackern«, zischte der Profos. »Vielleicht war es auch nur ein Tier«, meinte Shane. Er kauerte zu seiner Linken. »Kein Tier veranstaltet solchen Radau«, sagte Carberry. Dann schwiegen die Männer. Wie gebannt lugten sie hinter ihren Deckungen hervor und beobachteten das Plateau. Schritte knirschten heran. Carberry legte seine Muskete an. Etwas schob sich an der gegenüberliegenden Plateauseite 38
hinter einer Felsnase hervor - ein Stiefel, ein Bein. Danach tauchte der dazugehörende Kerl in seiner vollen Größe auf, und der Profos war drauf und dran, ihm ohne Warnung das Schwert aus der Hand zu schießen. Jählings verhielt er jedoch. Dann brach es aus ihm hervor: »Du Teufelsbraten, du Hurensohn, hättest du das nicht gleich sagen können? O, du Himmelhund, fast hätte ich dir eine Kugel verplättet!« Er erhob sich und trat wütend hinter seinem Quader hervor. Der Mann, der da auf ihn zumarschierte, war einer von Thorfin Njals Gefolgsleuten. Hinter ihm schlossen die drei anderen Wikinger auf. Der erste grinste schief und sagte: »Wir sind euch nachgepullt, als ihr schon in den Felsen verschwunden wart. Wir mußten einfach wissen, was mit Thorfin ist.« »Hättet ihr das nicht gleich sagen können?« brüllte Carberry. »Das ging alles so schnell ...« »Da hört doch alles auf, ihr Hammel, ihr Holzköpfe!« wetterte der Profos. »So kann man das nicht machen. Fast hätten wir uns gegenseitig über den Haufen geschossen.« »Eike!« brüllte Thorfin Njal in seinem Verlies. Eike, der Sprecher der vier Nordmänner, schaute sich verblüfft um. Big Old Shane mußte ihm erst das Loch im Felsboden zeigen, sonst hätte er wie der Profos eine Weile suchen müssen, um seinen Kapitän zu entdecken. Eike ließ sich auf die Knie sinken und blickte entgeistert in die Höhle. »Wie habt ihr hier herauf gefunden, Eike?« wollte Thorfin Njal wissen. »Ganz einfach. Wir hörten Rufe und gingen ihnen nach.« »Das nächstemal ruft ihr auch, um euch zu erkennen zu geben, ihr Stinkstiefel!« schrie der Wikinger. »Jawohl, Kapitän.« »Habt ihr wenigstens Werkzeuge mitgebracht?« 39
»Ferris Tucker hat uns noch Äxte mitgegeben, außerdem haben wir eine Hacke und ein paar Taue«, sagte Eike. »Vielleicht hat er geahnt, daß ihr drei irgendwo festsitzt.« »Ist ja großartig«, sagte Carberry. »Jetzt erübrigt sich deine Rückkehr zur ›Isabella‹, Shane. Wir können gleich anfangen und voll einsteigen. Also, los jetzt.« Sie schufteten verbissen, trieben den harten Rand der Spalte weiter auf und verwandelten die Öffnung durch Schlagen, Meißeln und Feilen in eine richtige Bresche. Es dauerte aber doch Stunden, bis der Wikinger endlich an einem herabgelassenen Tau nach oben hangeln konnte. Es war Abend geworden. Thorfin Njal kletterte aus seinem nassen Verlies, hieb seinen Rettern auf die Schultern und blickte um sich. »Ho, ich fühle mich wie neugeboren. Habt Dank. Das werde ich euch nie vergessen.« Seine Augen fixierten plötzlich Luke Morgan, dessen Gesicht in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Shane und der Boston Mann hatten zwei mitgebrachte Pechfackeln angezündet. Das Licht hob Lukes Zustand drastisch hervor. »Mich laust der Affe«, sagte der Wikinger. »Durch welchen Sturm bist du denn gesegelt, Engländer?« Luke schnitt eine Grimasse, erwiderte aber nichts. Thorfin sah zu Carberry, begriff und dachte sich: Schwamm drüber! »Wie sollen wir jetzt bloß den Seewolf und die Rote Korsarin finden?« fragte er. Seit ich von dem Pfeil der Wächter getroffen wurde, habe ich von den beiden nichts mehr gesehen und gehört. Ich nehme an, daß sie ebenfalls in die unterirdischen Gänge und Höhlen verschleppt wurden. Weiter reicht meine Weisheit aber auch nicht.« »Mist«, entgegnete Carberry. »Ich habe deine vier Männer noch mal befragt. Aber sie haben auch keine Spur gefunden, als sie in die Felsen aufstiegen.« Shane hob seine Fackel ein Stück an. Geisterhaft fiel der 40
zuckende Schein auf die Gestalten der neunzehn Männer. »Wir haben Licht«, sagte er. »Das ist schon mal viel wert. Nur Mut, Freunde. Irgendwie stoßen wir schon auf Hasard und Siri-Tong. Wir dürfen nur nicht aufgeben.« Wenig später setzte sich der Trupp wieder in Bewegung. Die Suche wurde fortgeführt. Auf der ›Isabella VIII.‹ und dem Zweimaster der Roten Korsarin machten sich Ben Brighton und die anderen Zurückgebliebenen mittlerweile ernsthaft Sorgen um die Carberry-Gruppe.
5. Es war unsagbar schön gewesen. Das Paradies auf Erden. Hasard fühlte sich unwillkürlich an seine Erlebnisse auf der Mocha-Insel erinnert, an die Priesterin Arkana und die Stunden, die er auf so wunderbare Weise mit ihr verbracht hatte. Der Armreif mit der Darstellung des Schlangengottes, den Hasard noch heute trug, kündete von jenen unvergessenen Stunden. Schlangengott - Schlangeninsel. Siri-Tong, dieses heißblütige, mit Temperament geladene Geschöpf, hielt den Vergleich mit Arkana aus. Natürlich sagte Hasard ihr das nicht. Er erwähnte seine Gedanken mit keinem Wort, um nicht Siri-Tongs Eifersucht zu wecken. In der Finsternis der Höhle zog er die Rote Korsarin zu sich hoch, nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich fort. »Wir können nicht ewig hierbleiben. Wir müssen nach einem Ausstieg suchen. Unsere Männer denken bestimmt schon an das Schlimmste.« Hasard tastete sich weiter und achtete darauf, daß sie nicht ausglitt und fiel. Etwas später verließen sie ihre Höhle und stießen in eine flache Kaverne vor, die sie nur geduckt durchqueren konnten. 41
»Das Wasser hat diesen Gang geschaffen«, sagte Hasard. »Ich schätze, hier liegt unsere Chance. Wir müssen höllisch aufpassen, aber wenn wir auch dieses Mal ein wenig Glück haben, müßte uns der Abstieg zur Bucht gelingen.« »Ich habe jegliche Orientierung verloren«, erwiderte sie. »Ich eigentlich auch. Ich handle mehr nach Instinkt.« »Ich baue darauf, Hasard.« »Hast du so großes Vertrauen zu mir?« »Ja.« Hasards Voraussage bewahrheitete sich. Die flache Höhle wurde abschüssig und führte fast übergangslos in andere Kavernen gleicher Beschaffenheit. Sie hatten keine Wahl, es existierte kein anderer Weg, der sie aus dem Gefängnis führte. Sie mußten schon froh sein, überhaupt genügend Luft zum Atmen zu haben. Der Abstieg erwies sich als trügerisch und gefährlich. Unter ihnen bröckelte der Fels bedrohlich. Der gesamte Untergrund war naß und rutschig, und immer noch lief das Wasser des Sees in dünnen Rinnsalen über die Felsen. Hasard stellte es durch Tasten fest. Nach wie vor war es stockdunkel, das kam noch erschwerend hinzu. Er konnte keine Veränderung des Terrains im voraus erkennen.Es war eine akrobatische Leistung, sich den unterirdischen Abhang hinunterzubewegen und dabei weder Halt noch Gleichgewicht zu verlieren. Aber sie schafften es. Der Auslaß war schmal. Hasard hatte Schwierigkeiten, sich hindurchzuzwängen. Siri-Tong nicht. Als sie endlich im Freien standen, stieß sie einen Jubellaut aus und umarmte ihn. Jetzt konnten sie sich sehen. Die Nacht hatte sich auf Little Cayman und die Karibik gesenkt, aber sie hatte ihr freundlichestes Gesicht aufgesetzt. Ergriffen schauten Hasard und die Rote Korsarin auf. Über ihnen spannte sich der Himmel wie ein schwarzes, mit Silbertupfern durchwirktes Samttuch. Eine breite Mondsichel 42
goß weißes Licht über die Insellandschaft und die See. Hasard und der Frau fiel es nicht schwer, sich darauf einzustellen. Sie kamen ja aus totaler Finsternis. Für sie war diese schwache Helligkeit gleichsam eine Festbeleuchtung. Der Seewolf tat zwei Schritte und verharrte auf einer Felsenkante. Dahinter fiel das Gelände sanft zum Ufer der Bucht ab. Und er entdeckte jetzt auch die Silhouetten der beiden Schiffe. Auf der ›Isabella‹ und dem Segler der Roten Korsarin waren Lichter gesetzt worden. Hasard atmete auf. Immerhin hatte er damit rechnen müssen, daß die Katastrophe für die Schiffe und ihre Crews alles andere als glimpflich hätte verlaufen können. Sie hatten also auch Glück gehabt. »Vielleicht ist die Pechsträhne zu Ende«, sagte Hasard. »Verdient hätten wir’s.« »Was sagst du da?« Sie trat näher. »Ach, dummes Zeug. Komm, Siri-Tong, sieh dir das an.« Schweigend standen sie eine Weile und betrachteten das friedliche Bild. Der Mond setzte den Wellen silbrige Kronen auf. Macht, Stolz und Sicherheit strahlten die ›Isabella‹, der Zweimaster und sogar das schwarze Schiff aus, das sie jetzt auch am Strand entdeckten. Plötzlich hörte er Geräusche. Er duckte sich instinktiv und bedeutete Siri-Tong, es ihm gleichzutun. Jemand kletterte unter unausgesetztem Murmeln durch eine enge Spalte im Fels abwärts. Hasards Herz schlug ein paar Takte schneller, als er die Stimme seines Profos erkannte. Und nach und nach verstand er auch, was Carberry da von sich gab: eine Menge Selbstvorwürfe - Ausdruck völliger Resignation. Hasard sah ihn auftauchen und erblickte die anderen, wie sie einer nach dem anderen aus der düsteren Felsennische traten. Jetzt breitete sich auch das Licht von Fackeln aus. Shane und der Boston-Mann trugen sie. Neunzehn Männer zählte der triste Trupp, und alle hatten die gleiche niedergeschlagene Miene. Auch Thorfin Njal. 43
Für Hasard war es ein neuer Beweis für die Treue und Freundschaft, die ihm seine Crew entgegenbrachte. Aber auch in den Gesichtern von Juan, dem Boston-Mann und den anderen Piraten stand zu lesen, wie sie an ihrer Herrin hingen und wie sehr sie um ihren vermeintlichen Verlust trauerten. Carberry, der Anführer, schrak zusammen, als er Hasards Gestalt urplötzlich vor sich emporwachsen sah. »Leibhaftiger«, stieß er aus. »Ein Geist!« »Ed«, sagte der Seewolf. »Muß ich dir eine runterhauen? Was faselst du denn da?« »Ich ... der Himmel ... was ...« »Edwin Carberry«, sagte Hasard eine Spur schärfer. »Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!« Worauf sich der Profos straffte, den Kopf hob und beinahe auch noch zackig salutierte. »Aye, aye, Sir. Mein Gott, wie ist das bloß möglich? Wir haben überall gesucht und nichts gefunden.« Siri-Tong stand nun ebenfalls aus ihrem Versteck auf und lächelte den armen Carberry an. »Das glaube ich, Profos. Ihr seht wirklich total ausgepumpt aus. Hey, Wikinger, wie ist das - hat es dir die Sprache verschlagen? Du hast doch sonst ein so großes Maul.« Von Thorfin Njal fiel daraufhin der Bann ab. Er begann als erster zu brüllen und zu gestikulieren. Er riß sich sogar seinen Kupferhelm vom Schädel und warf ihm vor Begeisterung hoch. Scheppernd landete das Ding irgendwo. Thorfin, dieser Bär von einem Kerl, sprang auf Hasard und die Rote Korsarin zu und drückte sie zusammen an seine mächtige Brust. Das wirkte ansteckend. Shane brach auch in Jubel aus, dann Blacky, Batuti und der Boston-Mann. Im Nu war der Teufel los. Es gab ein Mordshallo, und mittendrin standen Carberry und Luke Morgan. »Ed, was ich da über den Jonas gesagt hab, war großer Mist«, sagte Luke. Das war das Friedensangebot. 44
»Mann, da reden wir doch nicht mehr drüber«, erwiderte der Profos. »Ich hab’s längst vergessen.« Er hatte das Friedensangebot angenommen. Der Funke der allgemeinen Ausgelassenheit sprang nun auch auf sie über. Carberry führte einen wahren Tanz auf. Luke warf seine Mütze in die Luft und feuerte seine Pistole in den Himmel ab. Shane und der Boston-Mann schwenkten ihre Fackeln. Das Gebrüll war ohrenbetäubend. Alles in allem mußte Ben Brighton, der von der ›Isabella‹ aus die Szene mit dem Kieker betrachtete, den Eindruck gewinnen, die Männer seien nun tatsächlich vom Wahnsinn befallen. Aber im Licht der Pechfackeln mußte ja auch er schließlich den Seewolf, die Rote Korsarin und den Wikinger erkennen. Plötzlich verstummte die Carberry-Gruppe und schaute den Seewolf und Siri-Tong grinsend an. Carberry ließ seinen Blick besonders ungeniert an dem Körper der Korsarin auf und abwandern. Ihn stach bereits wieder der Hafer. Ihre Kleidung war zerfetzt. Eigentlich bedeckten die Stoffreste nur noch das Allernotwendigste, und dann waren da noch zwei provisiorische Verbände. Im Grunde aber war SiriTong mehr nackt als angezogen. Der Seewolf sah nicht sehr viel besser aus. Einzig und allein seine Hose und die langen Stiefel waren noch intakt. »Tja«, sagte der Profos gedehnt. »Nachdem ihr nun wieder unter uns seid, kann ich’s ja sagen. Was immer ihr durchgemacht habt, sehr lang habt ihr euch die Zeit wohl nicht werden lassen.« Matt Davies begann zu kichern, aber er verstummte unter Hasards strafendem Blick. Der Seewolf sah zu Carberry. »Profos, was nimmst du dir da eigentlich heraus? Wahre bloß die Disziplin, verdammt noch mal, oder ich lasse dich ein paar Tage in der Vorpiek einweichen.« Carberrys Grinsen war wie weggewischt. Er nahm wieder 45
Haltung an. »Aye, aye. Verzeihung, Sir.« Stille breitete sich aus. Siri-Tong legte den Kopf etwas schief, lächelte und sagte: »Wenn es euch jetzt recht ist, kehren wir an Bord unserer Schiffe zurück, ja?« »Ich lade euch alle auf die ›Isabella‹ ein«, sagte der Seewolf. »Heute nacht haben wir allen Grund zum Feiern.« »Ein dreifaches Hurra für den Seewolf!« rief Big Old Shane. Die Männer brüllten es. Und von Bord der ›Isabella‹ donnerte plötzlich der alte Schlachtruf der Seewölfe zu ihnen herüber. »Arwenack! Arwenack!« Der Trupp an Land eilte zu den beiden Booten und schob sie vom Strand in das Flachwasser. Beide Boote schwankten bedenklich, als die ausgelassene Bande einstieg und zu den Riemen griff. Hasard saß achtern und hielt die Ruderpinne, Siri-Tong übernahm den gleichen Platz auf ihrem Boot. Sie lächelten sich von Bord zu Bord zu. Verflixt, dachte Hasard dennoch, auf was hast du dich da bloß eingelassen? Er hatte noch seine Zweifel über die Persönlichkeit SiriTongs, aber vielleicht hatte sie wirklich die Loyalität, die sie vorgab. Er hoffte es. Es hätte ihn hart getroffen, wenn diese berückende Frau seine Gefühle für irgendwelche eigennützige Zwecke ausgenutzt hätte. Auf der ›Isabella‹ wurden sie ebenso stürmisch begrüßt, wie Carberry und seine Helfer es an Land getan hatten. Siri-Tong, der Boston-Mann und Juan blieben auch gleich auf dem Dreimaster, während die anderen Männer der Roten Korsarin weiter zum Schiff mit den roten Segeln pullten. Sie holten drüben ihre Kameraden ab, und auch das zweite Beiboot des Piratenschiffes wurde noch abgefiert und bemannt. Alle fanden sich zu der Feier auf der ›Isabella‹ ein. Und es wurde dann auch wirklich ein »Mordsfest«, wie Carberry es nannte. Thorfin Njal hob seinen Becher. Er war bis zum Rand mit 46
Rum gefüllt. »Ho, Feunde, laßt uns begießen, was wir glimpflich durchgestanden haben. Als wir auf die Insel übersetzten und noch mal zum Auge der Götter hinaufstiegen, waren wir mit dem Saufen ja ohnehin noch nicht richtig fertiggeworden.« »Stimmt«, sagte Hasard. »Sauf dir von mir aus die Hucke voll, bis du nicht mehr auf den Beinen stehen kannst.« Thorfin Njal setzte den Becher zum Trinken an. In einem Zug leerte er ihn und beugte sich dabei so weit nach hinten über, daß er fast wieder seinen Kupferhelm verlor. Er nahm den Becher von den Lippen, lehnte sich nach vorn und stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Skol! Auf die Seefahrt und die Freibeuterei!« rief er. Sie stießen alle gemeinsam an, und Hasard sprach nur eine Ermahnung aus: »Daß mir bloß die Bordwache halbwegs nüchtern bleibt!« »Aye, aye«, sagte Carberry. »Dafür sorge ich, Sir.« Während die ersten Becher kreisten, sorgte der Boston-Mann gemeinsam mit dem Kutscher dafür, daß die Vorräte der ›Isabella‹ tüchtig geplündert wurden. Sie fuhren den Wein und Rum gleich faßweise auf. Überdies hatten Siri-Tongs Männer alles Trinkbare von Bord des roten Zweimasters mitgebracht, was sie hatten auf treiben können - außer dem Süßwasser. Batuti hockte sich auf die Stufen eines Niederganges und klemmte sich eine Trommel zwischen die Knie. Als er sie zu bearbeiten begann, holte der junge Dan O’Flynn eine selbstgebastelte Holzflöte hervor, hob sie an den Mund und spielte darauf. Die Männer kannten die Weisen. Englische Seemannslieder waren es, alte Balladen, die von fernen Zielen, von Stürmen und Abenteuern berichteten, und von den Mädchen, die schluchzend auf den Hafenmolen zurückblieben, wenn das Schiff mit dem Geliebten wieder auslief. »Mann, wenn ich das höre, wird mir ganz traurig zumute«, 47
gestand Matt Davies. »Wie wird dir?« fragte Stenmark verdutzt. »Na, so komisch eben ...« Weiter kam Matt nicht, denn Thorfin Njal hieb ihm mit der Pranke auf die Schulter, daß er sich krümmte und hustete. »Ach was«, brüllte ihm der Wikinger ins Ohr. »Red keinen Quatsch. Laß uns lieber einen singen, daß die Masten wackeln!« Er stimmte ein wildes Piratenlied an und grölte, daß selbst Arwenack entsetzt dreinschaute und die Milch sauer wurde. Seinem Beispiel folgend, fielen nun die versammelten Crews ein. Es wurde ein einzigartiger, wenn auch nicht gerade schöner Chor, ein grausiges Röhren, das weit aus der Bucht heraus über die Insel und die offene See schallte, glücklicherweise aber keine Zuhörer fand und erschreckte. Siri-Tong faßte Hasard plötzlich bei den Hüften und tanzte mit ihm über Deck. Sie legte den Kopf zurück, daß ihre pechschwarzen Haare weit auf ihren Rücken hinabflossen, und lachte silberhell. Hasard walzte mit ihr los. Unbeschwert drehten sie ihre Runden über Deck, die Männer klatschten dazu im Takt, Batuti trommelte wie besessen, und Siri-Tong war in diesem Augenblick ein ausgelassenes, fröhliches und verliebtes Mädchen. Später, als so manchem vom Rum und Wein die Zunge schwer und die Knie weich geworden waren, wandte sich Hasard an den Wikinger. »Thorfin, du solltest jetzt endlich mal erzählen, was sich damals in der Windwardpassage zugetragen hat. Ich glaube, es warten alle gespannt darauf.« Thorfin Njal strich sich mit seinen Pranken über die Felle. Er stand aufrecht da, fest und sicher wie eine hundertjährige Eiche, obwohl er mehr Schnaps die Kehle heruntergespült hatte als alle anderen. »Damals, als wir Caligu und seinen Spießgesellen die Hölle 48
heiß machten«, sagte er, und es war kein Lallen in seiner Stimme, »bei Odin, wer wird den Tag jemals vergessen.« Er wies auf die Narben in seinem Gesicht, Dann öffnete er plötzlich den Leibgurt, riß die Tierfelle auseinander und zeigte seinen mächtigen Oberkörper vor - so weit, wie es wegen SiriTongs Anwesenheit gerade noch statthaft war. Hasard saß auf den Stufen des Backbordniederganges zum Quarterdeck. Die Rote Korsarin ließ sich neben ihm nieder. Batuti und Dan O’Flynn legten ihre Instrumente beiseite und gesellten sich zu ihnen, und nach und nach fanden sich alle Männer am Niedergang ein. Sie bildeten einen Kreis um Thorfin Njal. Fasziniert und betroffen zugleich blickten sie auf die gräßliche Wunde, die der Wikinger bloßgelegt hatte. Über zwei Jahre lag jene Schlacht nun zurück, und dennoch waren ihre Spuren nicht völlig verheilt. Sie würden wohl auch nie ganz verschwinden, denn Thorfin Njals Verletzung war eine Verbrennung gewesen. Breit zog sich die Narbe über seine gesamte Brust und noch tiefer hinunter. Sie war rot wie das Feuer. »Daran seht ihr’s«, sagte der Wikinger. »Wir haben es keinem Spuk zu verdanken, daß wir noch leben. Natürlich wären wir beinahe auch mit draufgegangen. Und ich schwöre euch, ich bin keine Memme und kann eine Menge einstecken, aber die verdammte Wunde hier brachte mich fast um.« Er wandte den Kopf. »Eike, zeig ihnen, was für ein Ding du damals abgekriegt hast. Arne, Oleg, Stör, entblättert euch auch mal kurz, aber nicht zu weit, sonst wird Siri-Tong noch rot.« Eike trug eine Brandwunde, die der seines Kapitäns ähnlich war, nur zog sie sich bei ihm über den Rücken. Seinen drei Kameraden war es nicht weniger schlimm ergangen. Arne krempelte sich das linke Hosenbein hoch und deutete auf Oberund Unterschenkel, die bei der Explosion halb zerfleischt worden waren. Sehr viel war da auch nicht nachgewachsen, 49
und es wunderte sich keiner mehr darüber, daß der Wikinger beim Gehen hin und wieder das linke Bein nachzog. »Wie ich dir das nachfühlen kann«, sagte der alte O’Flynn. »Du kannst noch von Glück sagen, daß es nicht amputiert werden mußte.« Oleg nahm sich die Kappe vom Kopf. Ihm fehlte das halbe rechte Ohr. Die Haare, die einst seine Schädelplatte bedeckt hatten, waren weggesengt worden. Siri-Tong stieß einen Laut des Entsetzens aus, als sie in der schwachen Bordbeleuchtung seine furchtbaren Narben sah. Der vierte, den sie wegen seiner hageren Gestalt und seines spitzen Gesichtes den Stör nannten, druckste herum. »Das kannst du nicht von mir verlangen«, sagte er zu Thorfin Njal. Immer wieder warf er huschende Blicke zur Roten Korsarin hinüber. Der Wikinger beschrieb eine wegwerfende Gebärde. »Meinetwegen. Freunde, ihr habt wohl auch genug gesehen. Den Stör hat’s an einem seiner edelsten Körperteile erwischt, wenn ihr’s ganz genau wissen wollt.« Ferris Tucker sah den hageren Burschen voll Mitgefühl an. »Pech für dich, Mann.« »Moment mal«, sagte der Stör. »Versteh das nicht falsch. Nicht da, wo du jetzt denkst, bin ich verwundet worden ...« »Sondern?« »Am Achtersteven«, erklärte Thorfin Njal grollend. »Reicht das? Daß mir bloß keiner glaubt, der Stör wäre seines Stolzes beraubt worden.« Siri-Tong hatte die Blicke, die der Hagere ihr zuschoß, wohl bemerkt. Darum antwortete sie: »Nein, das glaubt keiner, ganz bestimmt nicht. Aber komm jetzt endlich zur Sache, Wikinger. Spann uns nicht länger auf die Folter. Wie war das damals?« »Also«, sagte Thorfin Njal. »Ihr erinnert euch doch sicher noch, wie wir auf die verdammte Piratenkaravelle zurauschten, oder?« 50
Hasard und seine Männer fixierten den riesigen Mann, und vor ihrem geistigen Auge tauchte wieder jener Morgen auf, an dem Caligu und seine Verbündeten ihnen in der Windwardpassage das erbitterte Gefecht geliefert hatten damals, im Herbst des Jahres 1579 ...
6. Caligu hatte seine Bundesgenossen von der Insel Tortuga zusammengetrommelt und mit einer kleinen Armada an der Südostspitze Kubas auf den Seewolf gewartet, als dieser durch die Windwardpassage und mit Kurs auf die Bahamas den Rückweg nach England antreten wollte. Thorfin Njal hatte das geahnt. Er hatte Hasard überraschend auf Little Cayman getroffen und ihm dann geholfen, einen heimtückischen Anschlag Caligus abzuwehren. Jetzt leistete er ihm einen weiteren Freundesdienst: Ohne Hasards Wissen segelte er mit seiner Galeone auf Parallelkurs. Er griff in die Schlacht ein, fiel Caligu und seinen Teufeln in die Seite - und dann, als im Osten schon ein heller Streifen über der Kimm das Nahen des Morgens ankündigte, kulminierte der Kampf in einem dramatischen Höhepunkt. »Auf sie mit Gebrüll!« schrie Thorfin Njal. Breitbeinig stand er auf dem Achterdeck seiner Galeone ›Thor‹. Der Triumph und die Schadenfreude über das soeben Geschehene blitzten in seinen Augen. Eine Karavelle der Piraten war ihm mit einer Halse nach Steuerbord entwischt, hatte dabei jedoch eine der Schaluppen gerammt, die ihrem blitzschnellen Manöver nicht hatte ausweichen können. »Schießt sie zu Klump!« brüllte er seinen heim und schwertbewehrten Männern zu. »Feuert, daß die Fetzen fliegen!« Das Fell, das seine gewaltige Brust bedeckte, klaffte auseinander. Er war ein Riese an Gestalt, ein Rachegott, der 51
dem Namen seines Schiffes alle Ehre machte. »Backbordbatterie klar bei Lunten!« schrie Eike unten auf der Kuhl. Mit rauschender Bugwelle pflügte die ›Thor‹ auf den Gegner zu. Ihre Gallionsfigur, ein blitzeschleudernder Hammer, wies auf eine der großen Galeonen des Gegners, die Thorfin Njal sich als Angrifssobjekt ausgesucht hatte. Prall gefüllt bauschten sich die dunklen Segel der ›Thor‹, und die pechschwarze Flagge flatterte am Großtopp. Dann ließ der Wikinger anluven und fiel mit der Backbordbreitseite über die Feindgaleone her. Er nutzte den Überraschungseffekt voll aus. Systematisch schoß er sie zusammen. Die Geschütze dröhnten und spuckten ihre Kugeln aus. Treffer um Treffer war zu verzeichnen. Die Wikinger standen in Schwaden von Pulverrauch auf Oberdeck und schrien vor Begeisterung. Thorfin Njals Gesicht war rußgeschwärzt. Er grinste, als er sah, wie der Seewolf mit seiner ›Isabella V.‹ sich die zweite Galeone der Piraten herauspickte und bedrängte. Deren Besatzung war offenbar so verwirrt, daß sie ihr Heil in der Flucht suchte. Panik entstand, als die Siebzehnpfünder der ›Isabella‹ ihr das Schanzkleid wegrissen. Kopflos flohen die Piraten über das Deck zum Achterkastell. Während der Wikinger sein Schiff einem neuen Angriff entgegenschickte, bemerkte er, daß sich eine Karavelle, die bisher keiner beachtet hatte, von achtern an den Seewolf heranpirschte. »Verflucht und zugenäht!« stieß Thorfin Njal aus. »Dem kannst du nicht ausweichen, Hasard, mein Freund. Der Teufel soll diesen dreisten Hund holen!« Als die ›Isabella‹ sich mitten in der Wende befand, eröffnete die Karavelle das Feuer. Wütend sah der Wikinger, wie die Kugeln auf der ›Isabella‹ einschlugen. Er vernahm das Gebrüll der Verwundeten, verfolgte, wie die Karavelle erneut 52
herumschwang und ihre Kanonen aufblitzten. »Stangenkugeln!« rief er fassungslos. »Hölle, sie hauen dem Seewolf die Takelage in Stücke und zerfetzen ihm das Achterkastell. Eike, Oleg, Arne - abfallen und Kurs auf die verfluchte Karavelle nehmen! Wollt ihr wohl parieren, ihr Hornochsen?« Sekunden später rauschte die ›Thor‹ mit vollen Segeln auf die Karavelle zu. Thorfin Njal ließ einen Bogenschützen in den Besantopp aufentern, die Breitseiten in aller Eile nachladen und gleichzeitig auch zum Nahkampf und zum Entern rüsten. Dann ging alles sehr, sehr schnell. Drüben auf der ›Isabella‹ feuerte Ferris Tucker seine Breitseite auf die Karavelle ab. Sie lag voll im Ziel. Den Piratensegler wurden Besan- und Großmast weggeschossen, die Bordwand durchlöchert, und gleich darauf begann er zu brennen. Thorfin Njal erkannte das Verhängnis. Aber er konnte seinen Kurs nicht mehr ändern und die Kollision nicht mehr verhindern. »Beim Odin, drauf!« schrie er deshalb. »Und wenn die ›Thor‹ dabei in Stücke geht, wir entern!« Die Männer mit den Kupferhelmen und den schwertähnlichen Waffen duckten sich. Der Aufprall erfolgte. Donnernd bohrte sich der Bug der ›Thor‹ in das brennende Feindschiff. Bugspriet und Blinde knickten weg, der Fockmast senkte sich wie ein gefällter Baum auf die lodernde Karavelle. Thorfin Njal hatte sein Schwert gezückt und hielt sich mit nur einer Hand an der Five-Rail fest. Er gab einen grollenden Laut der Wut von sich, als es den Bug und das Vorkastell seines Schiffes zerquetschte. »Entern!« brüllte er. »Schlagt die Hunde tot!« Die Karavelle war herumgedrückt worden und schor jetzt bei der Galeone längsseits. Thorfin Njal hatte sich von der FiveRail gelöst und stürmte den Steuerbordniedergang zur Kuhl hinunter. Er war bereits unten und wollte sich an die Spitze 53
seiner aufgebrachten Meute setzen, da geschah es. Zweimal krachte es drüben auf der Karavelle. Aus dem Feuer stoben Pulverwölkchen hoch. Da waren zwei Musketen abgeschossen worden. In Thorfin Njals Rücken schrie Eike auf. Die Mannschaft der ›Thor‹ drängte unaufhaltsam weiter hinüber auf die Karavelle, nichts konnte sie mehr halten. Ihr Kapitän wirbelte kurz herum, um nach Eike zu schauen. Eike war nicht getroffen, aber er wies nach oben. Mit einem Fluch quittierte Thorfin Njal, was nun auch er gewahrte. Arne, der Mann, den er als Bogenschützen in den Besantopp geschickt hatte, hatte den heimtückischen Musketenschützen als Ziel gedient. Brüllend bewegte er sich in den Besanwanten, sein Bein, von gehacktem Eisen getroffen, war eine blutige Masse. Er verlor seine Waffe, gab unter fürchterlichen Schmerzen seinen Halt auf und rutschte an den Wanten hinunter. Eike und zwei andere, die sich noch hinter Thorfin Njal befanden, rasten zum Achterdeck hoch. Der Wikinger selbst hatte an der Spitze seiner Mannschaft die Karavelle entern wollen, aber sein Gewissen war stärker als sein Drang, die Piraten reihenweise niederzusäbeln. Arne, einer seiner besten Männer, drohte sich zu Tode zu stürzen. Gerade verfing er sich wieder in den Webeleinen und blieb hängen. Aber er befand sich in einer so verzweifelten Position, daß das erschütternde Ende schon jetzt abzusehen war. Thorfin Njal lief zum Achterdeck zurück, stürmte noch an seinen Männern vorbei, erklomm die Wanten und versuchte, den verletzten Mann so schnell wie möglich zu fassen zu kriegen. Arne war bewußtlos geworden. Er rutschte erneut ab, aber dann landete er sicher in den riesigen Fäusten seines Kapitäns. Eine Feuerwand türmte sich zwischen der ›Isabella‹ und der ›Thor‹ auf. Keine der beiden Besatzungen konnte wegen der 54
Flammen, die aus der Karavelle hochschlugen, sehen, was mit dem anderen geschah. So hörten die Seewölfe auch nur das dröhnende Lachen des Wikingers und sahen nicht, was sich abspielte. »Ho, Arne, du rabenschwarzer Hund!« brüllte Thorfin Njal noch. »So schnell krepiert es sich beim Wikinger nicht, verstanden?« In der nächsten Sekunde erfolgte die Explosion. Thorfin Njal sah einen grellgelben Feuerblitz auf sich zurasen und fühlte, wie sich das Schiff regelrecht unter ihm aufbäumte. Die Karavelle und die ›Thor‹ flogen gleichzeitig in die Luft, soviel begriff er noch. Instinktiv hielt er den soeben geretteten Arne fest. Die Wanten schienen plötzlich zu glühen, sie bogen sich ihm wie heißes Blei entgegen. Eine urweltliche Macht katapultierte ihn durch wabernde Hitze geradewegs in den Schlund der Hölle. Das heiße Blei ging in Tropfen auf seine Brust nieder, rundum schrien Männer, und das gigantische Bild eines grinsenden Höllenfürsten glitt auf ihn zu. Thorfin Njal schrie nun auch. Doch dann senkte sich erlösende Finsternis über alles. * Die Rückkehr in die Wirklichkeit war grausam. Thorfin Njal spürte stechenden, unerträglichen Schmerz in seiner Brust. Sein Kopf und seine Lungen wollten bersten. Er brüllte, aber es wurde kein Brüllen, nur Wasser, viel Seewasser spuckte er aus. Seine Hände tasteten in den Fluten herum und suchten verzweifelt nach Halt. Sie fanden Widerstand und klammerten sich daran. Thorfin Njal schluckte noch einmal Wasser und spuckte wieder, dann hörte er auf, mit dem verfluchten Element zu ringen. Pfeifend pumpten seine Lungen frische Atemluft. Die 55
Schmerzen ließen nicht nach, aber Thorfin Njal bekämpfte die neue, drohende Ohnmacht, bezwang sich und schaffte es nach und nach, mit der schier unmenschlichen Qual fertigzuwerden. Er schlug die durch Salz und Blut verkrusteten Augen auf. Als erstes gewahrte er das Ding, an dem er sich festhielt. Eine halbe Spiere, die mit unzähligen anderen Trümmerstücken rundum im Wasser trieb. Allmählich gelang es dem Wikinger, etwas zu rekapitulieren. Die Explosion hatte ihn weit von der ›Thor‹ weggeschleudert, wahrscheinlich war er mit dem Achterdeck durch die Luft gewirbelt. Danach hätte er - bewußtlos und verletzt unzweifelhaft ertrinken müssen. Aber er war nicht abgesoffen. Er begriff, daß es nur an einem Umstand liegen konnte: Auch in seiner Besinnungslosigkeit hatte er sich irgendwie an den vielen Schiffstrümmern festzuhalten vermocht, nur halbwegs, immer wieder abgleitend, jedoch gerade so gut, daß er zwischen dem einen und anderen Wasserschwall auch Luft in seine Atemwege kriegte. Es hatte ihm das Leben gerettet. Ihm war speiübel zumute, die Schmerzen brachten ihn fast um, und doch keimte der Lebenswille sofort wieder neu in ihm auf. Er begann zu fluchen. Das war ein gutes Zeichen. Wer flucht, ist gesund, sagte sich der Wikinger. Fluchen war der Ausdruck eines starken Selbsterhaltungstriebes. Er keuchte, spuckte aus und schaute sich um. Helles Morgenlicht hatte sich über der Wasserwüste ausgebreitet. Die ›Thor‹ und die gegnerische Karavelle waren verschwunden, ebenso die anderen Schiffe. Caligus zusammengeschossene Verbündete waren natürlich untergegangen, der Rest des Verbandes hatte sich in panischer Flucht verzogen. Und der Seewolf? Thorfin Njal wußte nicht, ob er sich halbwegs heil aus der Schlacht hatte zurückziehen können. Er wünschte es ihm von ganzem Herzen. Wenn das der Fall war, so stand aber eins mit Sicherheit fest. Hasard hatte keine 56
Hoffnung, daß die Besatzung der ›Thor‹ wenigstens zu einem Teil die gewaltige Explosion überlebt hatte. Er konnte es nicht glauben. Er mußte überzeugt sein, daß alle dabei drauf gegangen waren. Deshalb konnte Thorfin Njal auch nicht darauf bauen, daß die Seewölfe ihn möglicherweise suchten und aus dem Wasser zogen. Eine bittere Erkenntnis. Er lachte freudlos auf. Es war mehr ein Krächzen, und er wunderte sich selbst, daß diese brüchige Stimme ihm gehörte. Gab es denn außer ihm überhaupt noch Überlebende? Er schickte seinen Blick in die Runde und drehte sich mit der halben Spiere, obwohl es ihm höllisch wehtat, sich auch nur einen Deut zu bewegen. Dabei überlegte er wieder. Zum Zeitpunkt des Unglücks hatten Eike, Oleg, der Stör, Arne und er sich am weitesten vom Kernpunkt der Explosion entfernt befunden. Das bedeutete, daß sie vielleicht nicht zerfetzt worden waren. Thorfin Njal stieß einen heiseren Laut aus. Er hatte etwas entdeckt. Eine menschliche Gestalt. Jemand, der auf einem Trümmerstück wahrscheinlich einem Schiffsschott, trieb. Tot? Er überlegte nicht lange. Er handelte. Unter großen Anstrengungen und Qualen schwamm er zu dem armen Teufel. Als er auf drei, vier Yards heran war, brüllte er auf. »Arne! Teufel, du bist das! He, du Satansbraten, sag mir, ob du lebst oder abgekratzt bist?« Eine Antwort erhielt er nicht. Er brachte sich dicht neben den verletzten Mann und legte ihm eine Hand auf die Brust. Jawohl, da war ein Zeichen! Arnes Herz schlug. Langsam und schwach zwar, aber es schlug. Thorfin Njals Augen leuchteten fiebrig. »Arne«, flüsterte er. »Beiß bloß nicht ins Gras. Ich verbiete es dir, verstanden? Bei mir an Bord gibt es so was nicht. Feigheit vor dem Feind und andere Drückebergermanieren kann ich nicht leiden.« 57
Er kicherte, dann mußte er husten. Mein Gott, du bist verrückt geworden, sagte er sich. Aber ein Wahnsinniger war sich doch seines Zustandes nicht bewußt, oder? Der Wikinger betastete seinen Kameraden und knurrte dabei wirres Zeug. Tief in seinem Inneren begriff er, daß es der Schock und das Fieber waren, die ihn so aberwitzige Dinge sagen ließen. Aber verrückt, nein, das war er noch nicht. Dagegen wehrte er sich. »Arne ...« Er berührte vorsichtig das zerschossene Bein des Mannes. Unter dem Schmerz kam Arne zu sich. Er stöhnte und wimmerte und schlug um sich. Dabei rutschte er fast von dem Schott. Thorfin Njal hielt ihn fest. »Hey! Reiß dich zusammen, Arne. Disziplin an Bord, du Hurensohn!« Der sinnlose Befehl brachte Arne doch zur Ruhe. »Jawohl«, stammelte er. »Jawohl ich gehorche, Kapitän. Ich reiß mich am Riemen.« »Wie fühlst du dich?« »Schmerzen ... ich muß sterben.« »Quatsch!« fuhr der Wikinger ihn an. »Wegen des Kratzers krepierst du nicht.« »Was - ist passiert?« »Wir sind in die Luft geflogen, als die Karavelle explodiert ist. Du brauchst nicht so zu stieren - von der ›Thor‹ ist nichts Übriggeblieben. Aus und vorbei. Komm jetzt, keine Müdigkeit vorschützen. Mach mir Platz auf dem verdammten Schott, dann paddeln wir los und suchen nach den anderen.« Arne schob sich zur Seite. Einen Aufschrei konnte er dabei nicht unterdrücken. Sein wundes Bein brannte wie Höllenfeuer. Das Salzwasser fraß daran. Arne drohte wegen der Gewichtsverlagerung vom Schott zu rutschen, aber jetzt hatte Thorfin Njal sich von der Spiere gelöst und hielt sich an dem größeren Untersatz fest. 58
Das Schott behielt seine Lage bei. Mühsam klomm der Wikinger hoch. Danach mußte er sich ausstrecken und erholen. Jede Anstrengung brachte ihn körperlich völlig auf den Hund. In seiner Brust schienen tausend Nägel zu stecken und durch Hammerschläge immer tiefer hineingetrieben zu werden. Erst jetzt fing er an, an die größte Gefahr zu denken, die in den Tiefen der Karibik lauerte. Bei jeder Seeschlacht wurden die Menschenfresser angezogen. Tiburones nannten die Spanier sie. Die Haie - wo waren sie? Ein langgezogener Schrei ertönte. Er ging in einem erstickten Gurgeln unter. Thorfin fühlte einen eisigen Schauer auf dem Rücken, und seine Nackenhaare sträubten sich. Unter gewaltiger Anstrengung hob er den Kopf. Er blickte in die Richtung, aus der der Schrei herübergeweht war. Ein Arm ragte noch für einen Augenblick aus dem Wasser, dann verschwand er ruckartig in der Tiefe. »Allmächtiger«, flüsterte der Wikinger. »Die Haie. Sie sind da. Arne, wenn diese Bestien einen der unseren verschlungen haben ...« »Der Herrgott sei ihm gnädig«, stieß Arne gequält hervor. Thorfin Njal erblickte die dreieckigen Rückenfinnen der unheimlichen Mörder. Sie begannen, das kleine Floß zu umschwimmen und immer engere Kreise zu ziehen. Thorfin Njal sah auf das zerfleischte linke Bein seines stöhnenden Kameraden, ballte seine Pranken zu Fäusten, lief blutrot im Gesicht an und schrie: »Nein, zum Teufel, nein! Es treiben auch noch verwundete Piraten in diesem Dreckswasser herum. Warum soll es nicht einen von ihnen erwischt haben? Geschieht ihm recht, dem Hundesohn. Verdammt, diese Schweine haben’s ja so gewollt.« Er kümmerte sich einen Dreck um die Schmerzen und fischte die halbe Spiere aus dem Wasser. Sie waren schwer und nur mühsam zu handhaben. Sie gab kein gutes Paddel ab, aber der Koloß von einem Mann schaffte es doch, damit zu hantieren. 59
Seine Selbstüberwindung war gewaltig, wilde Entschlossenheit trieb ihn voran. So bugsierte er das primitive Floß zwischen Schiffstrümmern und Leichen hindurch und forschte nach seinen Kameraden. Die Zeit verstrich. Die Haie umschwammen in unerschöpflicher Geduld das Schott. Thorfin Njal fluchte und beschimpfte sie mit den übelsten Ausdrücken, die ihm einfielen, aber das half natürlich nichts. Arne war wieder ohnmächtig geworden. Thorfin Njal betete zu den alten Göttern, sie mögen dem armen Teufel helfen, damit er nicht elend verreckte. Wenig später stieß der riesige Mann einen kehligen Laut aus. Er hatte wieder jemanden entdeckt. Es war Eike, der sich an einem gekenterten Beiboot festklammerte. Das Boot war halb zerstört und sank langsam. Eike wäre ein sicheres Opfer der Haie geworden. »Aber euch schlagen wir ein Schnippchen«, wetterte Thorfin Njal. »Eike, halte durch, wir retten dich!« Das Manöver gelang. Es wurde eng auf dem Schott, und Eike mußte lang ausgestreckt auf dem Bauch liegen, weil sein Rücken bei der Explosion schwer angesengt worden war. Mit dem Beiboot konnten sie nichts anfangen. Es ließ sich weder in seine richtige Lage drehen noch reparieren. Ein unmögliches Unterfangen. Die drei Schiffbrüchigen mußten sich mit dem Behelfsfloß begnügen. Eike wußte zu berichten: »Es hat ein paar überlebende Piraten gegeben. Einer, der sich wohl im richtigen Augenblick mit einem Beiboot von einem der zerstörten Schiffe abgesetzt hatte, pullte herum und sammelte die Kerle ein. Ich beobachtete es, hütete mich aber, ein Zeichen zu geben. Die hätten mich erkannt und umgebracht.« »Das ist sicher«, sagte Thorfin grimmig. »Den letzten halbtoten Piraten haben dann eben die Haie vertilgt, und wir sind die nächsten Kandidaten. Aber wir husten diesen 60
Kreaturen was, das schwöre ich dir.« Um die Mittagsstunde entdeckten sie dann auch Oleg und den Stör. Sie trieben auf einer losgerissenen Gräting. Thorfin Njal stiegen die Tränen in die Augen, und er brüllte vor Wiedersehensfreude. Oleg hatte sich einen Behelfsverband um seinen lädierten Kopf gewickelt, aber das Blut sickerte noch immer darunter hervor. Der Stör mußte auf dem Bauch liegen wie Eike, denn es hatte ihn am Hintern erwischt. Sie banden das Schott und die Gräting mit ihren Ledergurten aneinander fest. Später lasen sie noch zwei halbwegs brauchbare Bootsriemen aus der See auf. So arbeiteten sie sich verbissen auf dem Wasser voran. Wohin? Sie wußten es nicht. Thorfin Njal vermochte sich am Stand der Sonne wohl zu orientieren, aber er begriff rasch, daß sie Kuba oder irgendeine andere Insel niemals erreichen würden. Sie kamen viel zu langsam voran und würden nicht mehr lange pullen können. Die Schwäche und das Fieber würden sie übermannen. Ihr einziger Vorteil war, daß die See ruhig und das Wetter beständig war, aber das nutzte ihnen nichts. »Kopf hoch, ihr Himmelhunde«, sagte Thorfin Njal. »Der Höllenfürst will uns nicht, wir schmecken ihm nicht. Wir haben das Inferno wie durch ein Wunder überstanden und schaffen auch den Rest.« Es gelang ihm immer wieder, den Männern Mut einzutrichtern, dabei war ihm völlig klar, daß ihr Schicksal besiegelt war. Die Frage war nur, was trat eher ein: der Tod durch Durst, Hunger, durch das Wundfieber - oder durch die Haie, die ihnen folgten? Die Sonne über der Karibik hatte auch zu dieser Jahreszeit noch immense Macht. Sie brannte auf sie nieder, dörrte ihre Kehlen aus und setzte ihren Verletzungen zu. Thorfin Njal blickte immer wieder auf Arne. Um ihn stand es am schlimmsten. Wie lange hielt er diese Qual noch durch? 61
Zweifellos würde er als erster das Zeitliche segnen. »Mastspitzen«, flüsterte Eike plötzlich. »Ein Schiff.« »Du spinnst. Du faselst im Fieber«, sagte sein Kapitän. »Ich verbiete dir, so einen Blödsinn zu verzapfen und ...« »Nein. Da ist wirklich ein Schiff!« Thorfin Njal folgte Eikes Fingerzeig. Sekunden später verschlug es ihm die Sprache. Tatsächlich, Eike litt nicht unter Halluzinationen, er konnte mit bloßem Auge den Segler erkennen, der sich an der südöstlichen Kimm hervorschob und Kurs auf sie nahm. »Das gibt’s doch nicht«, sagte Thorfin Njal verblüfft. Aber das fremde Schiff hielt seinen Kurs. Nachdem der Wikinger seine Überraschung überwunden hatte, sagte er sich im stillen, daß sie im Grunde doch wenig Gutes von der Schiffsbesatzung zu erwarten hatten. Ob Spanier oder Engländer, alle waren hinter ihm und seiner ›Thor‹ hergewesen. Er, Thorfin Njal, war berüchtigt geworden als Schnapphahn zur See, und praktisch jedes Land, das eine Flotte hatte, war darauf aus, ihn zu vernichten. Und wenn es Piraten waren? O, die würden mit ihm, dem konsequenten Einzelgänger, auch nicht freundschaftlich umgehen. Nur von dem Seewolf und seiner ›Isabella‹ hätte er kompromißlose Hilfsbereitschaft erwarten können. Aber daß der fremde Segler nicht die ›Isabella V.‹ war, erkannte er rasch. * Hasard, Siri-Tong und die auf der Kuhl versammelten Mannschaften sahen den Wikinger wie gebannt an. Ihre Blicke hingen an seinen Lippen, als er fortfuhr. »Der Rest ist schnell erzählt. Das fremde Schiff entpuppte sich als Piratensegler, der gerade von einem Beutezug vor Jamaika zurückkehrte. Es war Zufall, daß er in unsere Nähe 62
geriet. Natürlich stoppten die Kerle und fischten uns auf, mehr aus Neugierde als aus Menschlichkeit, wie ihr euch denken könnt. Ich gab vor, ein Verbündeter Caligus zu sein, und sagte, der verdammte Seewolf hätte uns fertiggemacht. Das war mein Glück. Diese Bastarde hatten sich auf der Insel Navassa zwischen Hispaniola und Jamaika eingenistet, waren jetzt jedoch in Richtung Windwardpassage und Kuba unterwegs, weil sie eine Nachricht von Caligu erhalten hatten. Sie sollten mit zu seiner Flotte stoßen und ihm helfen, den Seewolf und seine Crew in die Hölle zu schicken.« Thorfin Njal grinste breit. »Nun, daraus wurde ja nichts mehr. Sie kamen zu spät, die Halunken. Da sie es sich mit Caligu nicht verderben wollten, waren sie sofort bereit, uns zu verarzten, zu verpflegen und nach Tortuga zu bringen.« »Das wiederum hätte euch in Teufels Küche gebracht«, erwiderte Hasard. Der Wikinger lachte röhrend. Eike hatte ihm den Becher wieder mit Rum gefüllt. Er hob ihn an die Lippen, leerte ihn, setzte ihn ab und gab einen Seufzer der Zufriedenheit von sich. »Richtig. Aber ich ließ den Dingen erstmal ihren Lauf. Bei der erstbesten Gelegenheit wollte ich das Kommando auf dem Kahn an mich reißen. Doch es kam anders. In der Nacht drückte uns ein Sturm bis an die Küste von Kuba. Dem Piratenführer gelang es, sich in eine geschützte Bucht zu verholen. Es war eine Meisterleistung, das muß ich ihm zugestehen. Was weiter geschah? Ho, noch vor Morgengrauen verschaffte ich mir Waffen, schlug zwei Bordwachen nieder und fierte das Beiboot ab. Wir türmten. Ein wenig Proviant und Wasser ließen wir mitgehen. Wir stiegen in die Berge der Sierra Maestra auf und versteckten uns. Es war die einzige Möglichkeit. Die Piraten hielten zu ihrem Führer, und einen Kampf mit ihnen hätten wir nicht durchgestanden.« Thorfin Njal fuhr sich gemächlich mit der Hand über den Bauch. »Eine Zeitlang versteckten wir uns in Höhlen. Die 63
Piraten suchten uns, fanden uns aber nicht. Als sie wieder abgezogen waren, begannen wir langsam den Abstieg nach Norden. Monatelang schlugen wir uns durch, fanden in Dörfern Unterschlupf. Ein alter Indianer pflegte Arnes schlimmes Bein mit Kräutern und Beschwörungen. Als die Spanier irgendwie herauskriegten, daß wir auf Kuba herumkrochen, begannen sie uns zu jagen. Aber sie erwischten uns nicht. Wir türmten auf die Jardines de la Reina, die der Südküste vorgelagerten Inseln. Es verging insgesamt mehr als ein Jahr, bis wir eine spanische Galeone kapern konnten, die auf die Korallenriffs schlug und schwer havarierte. Auf dem Kahn gab es nicht viel zu holen. Wir jagten die Mannschaft zum Teufel, schnappten uns das Beiboot, die Schaluppe, und segelten damit nach Little Cayman. Die Schaluppe ist ja nun auch zerstört. Thorfin Njal ist mal wieder ohne Schiff, aber Hauptsache, wir leben.« Er holte tief Luft. »Das wär’s.« Stille folgte auf die lange Schilderung des Wikingers. Alle, die ihn und seine vier Kameraden für Geister gehalten hatten, waren jetzt endlich eines Besseren belehrt. Luke Morgan schaute belämmert drein. Er bereute sein Verhalten und war noch heilfroh, daß ihm keiner etwas nachtrug. Hasard erhob sich, trat zu Thorfin Njal und schüttelte ihm ergriffen die Hand. »Wenn ich von alledem nur etwas geahnt hätte. Was für ein Narr ich gewesen bin, daß ich nicht nach euch gesucht habe.« »Du konntest nicht wissen, daß wir mit heiler Haut davongekommen waren.« »Trotzdem. Das war ein Fehler von mir.« Der Wikinger schlug ihm die Pranke auf die Schulter, daß es krachte. Hasard blieb trotzdem aufrecht stehen und verzog keine Miene - und Thorfin lachte dröhnend. »Seewolf, quäle dich nicht mit Selbstvorwürfen!« rief er. »Das ist nicht deine Art. Außerdem brauche ich keine Amme, 64
ich kann mir auch selbst aus der Patsche helfen, wie du gesehen hast. Hölle und Teufel, hast du mir nicht was von einem phantastischen Schnaps erzählt, den du noch in deiner Kapitänskammer versteckt hast, du Satansbraten?« Er goß sich den Rest Rum aus seinem Becher in die Kehle und schnitt eine Grimasse. »Wenn ihr mir noch einmal so ein Labberwasser anbietet, komme ich nicht mehr zum Feiern an Bord dieses Waschzubers.« »Kutscher«, sagte Hasard grinsend. Der Kutscher verstand, turnte ins Achterkastell hinunter und kehrte kurz darauf mit vier angestaubten, bauchigen Flaschen zurück. Hasard bedankte sich und nahm ihm eine ab. Er entkorkte sie und schnupperte über der Öffnung. »Spanischer Schnaps, aus edlen Weinen gebrannt«, sagte er. »Den haben wir auf einem unserer Züge erbeutet, ich weiß nicht mehr, auf welchem.« Thorfin Njal streckte die Pranke aus. »Her damit. Ich sage dir, ob der Stoff was taugt.« Und er nahm einen kräftigen Zug, der Einfachheit halber gleich aus der Flasche. Als er wieder absetzte, weiteten sich seine Augen. Er lief dunkel an, röchelte, spuckte, hustete dann und rief keuchend: »Beim Odin, so einen feinen Tropfen habe ich meinen Lebtag noch nicht geschluckt. Hoch die Becher, Freunde, die Nacht ist noch lang!«
7. Es gab Kojen und Hängematten, aber das beste Bett eines Seemanns war nach einer durchzechten Nacht noch immer das Deck. Matt Davies erwachte durch ein wahrhaft teuflisches Gebrüll. Verdattert schlug er die Augen auf. Als er den Kopf leicht anhob, dröhnte es in seinem Schädel, als wäre da alles in 65
fürchterliche Unordnung geraten. Trotzdem schaffte er es, sich aufzurichten. Als erstes stellte er fest, daß er sich auf der Back der ›Isabella‹ befand. Wie er hierhergeraten war, davon hatte er nur noch eine höchst unklare Vorstellung. Zweitens: Al Conroy, Luke Morgan, Smoky und Bob Grey lagen neben ihm auf den trockenen Planken und sahen ziemlich tot aus. Jedenfalls regten sie sich nicht. Daß sie aber doch noch unter den Lebenden weilten, bewies die Tatsache, daß sie wie die Bären schnarchten. Aber nicht das hatte Matt aufgeweckt. Er stand ganz auf, trat an die Balustrade, die den Querabschluß zur Kuhl bildete - und sperrte entgeistert die Augen auf. »Das halte ich im Kopf nicht aus«, murmelte er. Thorfin Njal stolzierte auf dem Oberdeck herum und brüllte, als ob er dafür bezahlt kriegte. »He, ho, ihr Faulpelze, ihr Waschlappen, könnt ihr nichts vertragen? Was ist denn das für eine abgeschlaffte Art, einfach so auf den Planken rumzuliegen und in den Tag hineinzudösen? Hopphopp, hoch mit euch, es ist schon verflucht spät und wir haben eine Menge vor!« Er stieg über Blacky, den jungen O’Flynn und ein paar andere Schnapsleichen weg, die auf der Kuhl schnarchten, dann wurde er ungeduldig und tickte sie mit der Stiefelspitze an. Matt verzog gequält das Gesicht. Er ging zu Al Conroy, weckte ihn und fing sich dabei fast eine Maulschelle ein. »He, Al, mach keinen Ärger, komm her und sieh dir das an!« Hasards Waffenexperte und Stückmeister rappelte sich fluchend auf. Als er dann ebenfalls den brüllenden und gestikulierenden Wikinger betrachtete, sagte er: »Verdammt, ist der denn überhaupt nicht kleinzukriegen? Der ist ja schon wieder putzmunter.« »Davon können wir uns noch ‘ne Scheibe abschneiden«, meinte Smoky in ihrem Rücken. Er hatte sich ebenfalls erhoben. 66
Wenig später war der Großteil der Seewölfe auf den Beinen. Auch die vier Männer der ›Thor‹ und die Piraten Siri-Tongs, die die Nacht - der Einfachheit halber - ebenfalls an Bord der ›Isabella‹ verbracht hatten, gesellten sich zu ihnen und hörten sich an was der Wikinger ihnen zu sagen hatte. In dem allgemeinen Durcheinander fiel es überhaupt nicht auf, wie zunächst der Seewolf und dann auch Siri-Tong das Achterkastell verließen. Thorfin Njal hatte inzwischen zu sprechen begonnen. Die Männer lauschten ihm mit gemischten Gefühlen. »Warum ich euch Penner hochgepurrt habe, wollt ihr wissen?« Der Wikinger grinste. »Ein Kapitän ohne Schiff ist eine jammervolle Gestalt. Ich bin jetzt sogar noch die Schaluppe losgeworden - höchste Zeit, einen neuen seetüchtigen Kahn zu beschaffen. Männer, ich will jetzt endlich den schwarzen Segler untersuchen! Und ich will auf Grund laufen, wenn sich nicht was Vernünftiges daraus machen läßt.« Ferris Tucker trat dicht vor ihn hin. »Großartig, ich brenne auch schon darauf, mich mal näher mit dem Schiff befassen zu können. Als der See die Felsen sprengte und die Brocken in die Bucht prasselten, sauste auch eins der Trümmer genau auf das Deck des schwarzen Seglers. Er richtete kaum Schaden an. So ein Holz habe ich noch nie gesehen ...« »Und das Skelett?« fragte Matt Davies. »So was hab ich auch noch nicht erlebt. Ich schwöre dir, da ging was nicht mit rechten Dingen zu.« Carberry drängte sich dazwischen. »Fangt ihr jetzt schon wieder an? Bei euch tickt es wohl nicht richtig? Ich würde jedenfalls mit zu dem schwarzen Schiff pullen - vorausgesetzt, der Seewolf gestattet es. Diejenigen, die Schiß haben, können ja hierbleiben und sich schön gemütlich die Hosen vollmachen.« Hasard verschaffte sich Platz und stellte sich neben Thorfin Njal. »Augenblick mal. Ed, ich will nicht, daß es wieder böses 67
Blut auf meinem Schiff gibt. Ich habe ja inzwischen erfahren, was vorgefallen ist. Darüber will ich kein Wort mehr verlieren, aber eins muß klar sein: der Streit darf nicht neu geschürt werden.« »Aye, aye«, entgegnete der Profos. »Eigentlich hab ich das auch nicht vorgehabt, Sir.« »Wir gehen folgendermaßen vor«, sagte Hasard. »Alle, die sich an der Expedition beteiligen wollen, heben den Arm. Das Unternehmen spielt sich auf freiwilliger Basis ab. Niemand wird dazu gezwungen.« Thorfin Njal war der Initiator, und Ferris und Carberry hatten ja schon ihre Zustimmung erteilt, aber die drei hoben nun doch die Arme. Weiter meldete sich Hasard, Big Old Shane und die Rote Korsarin. Der Boston-Mann bekreuzigte sich. Er war entsetzt. »Das dürfen Sie nicht tun, Madame«, sagte er zu der schönen Frau. »Sie ahnen nicht, welche Gefahren auf dem verteufelten Schiff lauern.« Siri-Tong musterte ihn kühl. »Du denn?« »Nach allem, was geschehen ist, können wir uns doch einiges ausrechnen.« »Was denn?« »Daß das Schiff verhext ist.« »Unsinn, Boston-Mann. Es gibt keinen Spuk, jedenfalls ist das meiste davon reine Einbildung. Mich wundert überhaupt, daß du jetzt auch noch mit diesem dämlichen Gerede anfängst.« Er zeigte eine verdrossene Miene. »Ich bin nur um Sie besorgt, Madame. Das dürfen Sie nicht falsch verstehen.« »In Ordnung«, erwiderte sie. »Ich will dich auch nicht beleidigen. Danke für deine Bemühungen. Aber ich lasse mich nicht zurückhalten.« »Durch nichts?« »Durch nichts.« In ihrem Gesicht nahm ein merkwürdiger 68
Ausdruck Gestalt an. »Man müßte mich schon mit Gewalt daran hindern. Aber das würdest du niemals wagen, nicht wahr, Boston-Mann?« »Nein, Madame.« Sie wandte sich zum Gehen. Carberry und Shane hatten das Beiboot an Backbord der ›Isabella‹ abgefiert. Eine Jakobsleiter wurde oben am Schanzkleid belegt, und gleich darauf enterten die sechs daran ab und nahmen auf den Bootsduchten Platz. Siri-Tong übernahm die Ruderpinne, Hasard, der Wikinger, Ferris Tucker, Carberry und Shane griffen zu den Riemen, legten Abstand zwischen die Schaluppe und die Galeone und pullten auf gleichbleibender Höhe mit dem Inselufer auf das Heck des schwarzen Seglers zu. Die Männer an Bord der ›Isabella‹ schauten ihnen stumm nach und bekreuzigten sich wieder. In der Schaluppe saß Hasard der Roten Korsarin gegenüber. Etwas befremdet konstatierte er wieder jenen seltsamen Ausdruck in ihrem Gesicht. Er spiegelte weder Neugier noch Furcht, weder Entschlossenheit noch Zurückhaltung. Hasard glaubte vielmehr etwas Wissendes, Geheimnisvolles, ja, beinahe Sibyllinisches darin zu erkennen, wußte das aber nicht zu deuten. * Thorfin Njal und seine vier Männer hatten das schwarze Schiff in mühsamer Arbeit bereits auf den Strand verholt, aber dann war es wegen der dramatischen Entwicklung der Ereignisse auf Little Cayman wieder ein Stück in die Bucht zurückgeglitten. Früher hatte es in der Bucht geankert, ein pechschwarzer Viermaster, sehr massig, sehr groß. Es verfügte über ein Vorkastell, nicht aber über ein Achterkastell; und war der eigenartigste Schiffstyp, den Hasard je gesehen hatte. 69
Was war sonst noch über den Segler bekannt? Vor zwei Jahren hatte Thorfin Njal es dem Seewolf erzählt: Der berüchtigte Pirat El Diabolo war der Eigner gewesen, eine gefürchtete und legendäre Figur, die sich seinerzeit zu einem wahrhaft gespenstischen Schrecken der Karibik entwickelt hatte. Eine ziemlich versteckt liegende Bucht der Insel Little Cayman war damals stets Versteck und Schlupfwinkel des El Diabolo gewesen. Der Pirat, über dessen Herkunft niemand etwas Genaues wußte, war von dort aus in die große Nebenbucht eingelaufen, wenn es gegolten hatte, Schiffe von See her zu überraschen. Zumeist hatte er gewartet, bis sie vor Anker lagen. Dann war er über die Mannschaften hergefallen und hatte sie niedergemetzelt - alle. Bei El Diabolos Beutezügen hatte es nie Überlebende gegeben. Er war ein grausamer Patron gewesen, der sich oftmals an den Leiden seiner Opfer geweidet hatte. Grausame Orgien hatten sich in der Bucht abgespielt. Thorfin Njal und seine Männer hatten die Leichen von El Diabolo und dessen Gefährten in der riesigen Wohnhöhle gefunden, die ihnen als Unterschlupf gedient hatte. Was die Bande umgebracht hatte, hatte sich nie feststellen lassen - es hatte sie mitten in einem wüsten Gelage ereilt. Als stummer Zeuge war der schwarze Segler draußen in der Bucht zurückgeblieben. Auf seinem Deck hatte die Wache gelegen vier verweste, von der Sonne ausgedörrte Gestalten, grinsende Totenschädel. Mittlerweile konnten es nur noch drei sein, denn ein Gerippe war ja bei dem Steinschlag über Bord gegangen. Das Beiboot schob sich knirschend mit seinem Kiel auf den grobkörnigen Ufersand. Hasard sprang als erster an Land. Er schwang ein Tau mit einem daran festgeknoteten Enterhaken. Der Haken surrte in der Luft, dann schnellte er elegant hoch und krallte sich oberhalb der Galion des schwarzen Schiffes im hölzernen Wulst der Bordwand fest. 70
Hasard enterte geschickt auf. Er hatte eine Jakobsleiter von Bord der ›Isabella‹ mitgenommen und sie sich um den Leib gewunden. Oben angelangt, ließ er sie herabbaumeln und belegte sie am Schanzkleid. Siri-Tong klomm an den Sprossen empor. Sie stellte sich neben Hasard, und sie schauten zu, wie auch die vier anderen heraufkletterten. Siri-Tong lächelte knapp. »Danke, Hasard. Hast du die Jakobsleiter extra für mich mitgebracht? Du bist ein richtiger Kavalier.« »Was ist eigentlich los mit dir?« fragte er sie unumwunden. »Nichts, wieso?« »Du bist so verändert.« »Du täuschst dich«, erwiderte sie. »Ganz gewiß.« Das nahm er ihr nicht ab. Es bedrückte ihn, daß sie nach so viel Innigkeit und Intimität jetzt nicht aufrichtig zu ihm war. Aber er zwang sich, der Sache keine Bedeutung beizumessen. Sicherlich hatte sie ihre Gründe, sich so zu verhalten. Und er durfte sie nicht drängen. Gemeinsam stiegen die sechs auf die Back des Seglers. Ferris Tucker strich unablässig mit seinen großen und doch so gewandten Fingern über das Holz des Schiffsgebäudes, prüfte, klopfte, lauschte, wischte hier und da Sand und Staub beiseite, um die Planken blankzulegen. »Donnerwetter«, sagte er. »Das ist ja erstaunlich. Ich kann es überhaupt nicht fassen das Holz hat allen Witterungseinflüssen standgehalten.« Shane fügte hinzu: »Man sollte gar nicht meinen, daß der Kahn schon so lange Wind und Wetter ausgesetzt war.« »Mit anderen Worten, der Rumpf ist in einwandfreier Verfassung«, sagte Hasard zu Ferris. »Das meinst du doch, oder?« »Genau. Natürlich kann ich ein ganz richtiges Urteil erst abgeben, wenn wir auch die Schiffsräume von oben bis unten 71
inspiziert haben.« »Dafür haben wir ja Fackeln mitgebracht«, sagte der Wikinger grinsend. »Ich hab sie mir schon unter den Arm geklemmt. Von mir aus können wir mit dem Abstieg beginnen. Na, Ed, kriegst du jetzt nicht doch das Flattern?« »Unsinn«, erwiderte der Profos. »Ich hau jedem Geist was hinter die Löffel, wenn ich einen über das Schanzkleid krauchen sehe.« Das war maßlos übertrieben, denn auch ihn hatte jetzt ein flaues Gefühl befallen. Was erwartete sie im Schiffsinneren? Hasard stieg auf die Kuhl hinunter, dann legte er den Kopf in den Nacken und besah sich die Masten eingehend. »Fock-, Groß-, Besan- und Kreuzmast - alle vier müssen erneuert werden. Vom laufenden und stehenden Gut ganz zu schweigen. Ferris, ich schätze, das Schiff muß auch aufgeslippt werden, damit das gesamte Unterwasserschiff überholt werden kann.« »Ja.« »Das gibt uns Probleme auf«, sagte Hasard. »Daß sich unser Aufenthalt hier auf Little Cayman zwangsläufig verlängert, ist ja bereits klar. Damit finden wir uns auch ab, ob es der Crew nun paßt oder nicht. Aber die Segel und die Takelung für den schwarzen Segler ... Wißt ihr was? Es gibt nur einen Weg. Wir müssen ein spanisches Schiff kapern, am besten eine Galeone. Deren Bauweise kommt der Konstruktion dieses Schiffes am nächsten, zumindest, was die Masten betrifft.« Siri-Tong trat wieder zu ihm. »Die Galeone kriegen wir schon«, sagte sie zuversichtlich. »Der Weg der spanischen Schiffe führt ja häufig nach Hispaniola oder Kuba in einen der Häfen, in denen dann die Konvois für Spanien zusammen gestellt werden. Oder wir schnappen uns ein Schiff der TierraFerma-Flotte, das aus der Alten Welt herüberkommt.« »Eigentlich wäre das ganz egal«, sagte Ferris Tucker. »Hauptsache, wir erwischen ein dickes, massives Schiff. Ich traue mir durchaus zu, daran was hinzukriegen.« 72
»Du bist ein feiner Kerl«, sagte Thorfin Njal. »Und ein Könner. Ich glaube, du würdest auch ein ganzes Schiff bauen, was?« »Ach wo, so ein Faß bin ich nun auch wieder nicht«, erwiderte Ferris. Er wurde richtig verlegen. Siri-Tong hatte Hasard wieder mit einem Blick bedacht, der genauso unerklärlich war wie die vorherigen. Die vier Begleiter hatten nichts davon bemerkt, aber Hasard spürte Ärger in sich aufsteigen. Was hatte es mit dieser Geheimnistuerei auf sich? Das war doch sonst so gar nicht SiriTongs Art. »Steigen wir endlich nach unten«, sagte er. »Ich kann es kaum noch erwarten, im Inneren des Schiffes herumzustöbern. Auf Indianer, die Giftpfeile verschießen, stoßen wir hoffentlich nicht.« Bevor sie das Achterschiff betraten, verharrten sie neben dem, was von der einstigen Bordwache übriggeblieben war. Hasard und Thorfin Njal standen nebeneinander und betrachteten die grausigen Relikte dieser Menschen. Sonne, Wind und Wetter hatten sie auf den schwarzen Decksplanken fast völlig verwesen lassen. Und doch - einige Teile waren regelrecht mumifiziert. An zwei Totenschädeln waren noch die langen, pechschwarzen Haare zu erkennen, die in Zöpfen endeten. Auch ein paar brüchige Kleidungsreste wiesen aus, daß es sich um Fremde aus einer gänzlich unbekannten Gegend gehandelt haben mußte. »Mann«, sagte der Profos heiser. Etwas kratzte in seinem Hals. »So möchte ich nicht liegenbleiben, wenn ich eines Tages mal abmarschiere.« »Darüber würde ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, Ed«, entgegnete Ferris. »Und wenn wir auf dieser letzten Reise sind, merken wir auch nicht mehr, was mit uns passiert, oder?« Thorfin Njal zündete eine Fackel an. Hasard und Siri-Tong entfachten mitgebrachte Öllampen. Und so stiegen sie die 73
Niedergänge hinunter, ein wenig beklommen und doch voller Begierde, etwas von dem Geheimnis des Schiffes und seiner so rätselhaft ausgelöschten Besatzung herauszufinden. Die erste Überraschung bot sich bald. Hasard versuchte eine der Türen im Achterdeck zu öffnen. Vergeblich. Sie war fest verschlossen. »Das ist ja ein Witz«, sagte er. »Ferris, du hast doch Werkzeuge mitgebracht. Gib mir mal ein Eisen.« Wenig später hatte er die Tür aufgebrochen. Staunend, fast ehrfürchtig, traten sie in die dahinterliegende Kammer. Seit Jahren hatte kein Mensch seinen Fuß in diesen Raum gesetzt. Sie erwarteten, auf dicke Staubschichten und lästige Spinnengewebe zu treffen. Aber sie wurden angenehm enttäuscht. Das Licht der Fackel und der Öllampen geisterte über schwarzen Fußboden, auf dem Tische, Stühle und eine eigentümlich gearbeitete Koje standen. »Alles blitzsauber«, sagte Carberry. »Mann, das hat die Welt noch nicht gesehen. Wie kann so was angehen?« »Das Holz«, erwiderte Ferris leise. »Es ist unglaublich hart und einmalig gut verdichtet. Es läßt einfach nichts durch ...« »Jedenfalls deutet nichts darauf hin, daß dieses Schiff schon jahrelang vor Anker liegt«, sagte Thorfin Njal. »Und daß an Bord kein Leben mehr geherrscht hat.« »Woran mögen El Diabolo und seine Männer wohl gestorben sein?« Shane warf die Frage wieder auf. »Ob wir das wohl jemals herauskriegen?« »Wenn nicht, ist es auch egal«, erwiderte der Profos. »Ich habe kein großes Verlangen nach weiteren Schauermärchen.« »Weiter jetzt«, sagte Hasard. »Wir wollen nicht ewig hier verweilen. Mich interessiert vor allem die ehemalige Kapitänskammer.« Sie traten wieder auf den dunklen Schiffsgang hinaus. Carberry war der letzte, er ließ die Tür nicht offenstehen, sondern zog sie ordentlich wieder in ihr kaputtes Schloß. Der 74
saubere, schier unerklärlich gute Zustand des Schiffes schien zu dieser Pedanterie einzuladen. Am achteren Ende des Ganges strich das Licht der Fackeln und Lampen über eine Tür, auf die ein schnörkliges Zeichen gepinselt worden war. »Weiß jemand, was das bedeutet?« fragte Hasard. »Wir nicht«, sagte Thorfin Njal. »Oder malst du solche Krakel, Profos?« »Ich? Ich kann gerade meinen Namen schreiben.« Hasard bemerkte wieder Siri-Tongs Miene. Ihre Augen sahen diesmal verklärt aus. Ihr Geist schien in weite Ferne entrückt zu sein. »Also schön, dann eben nicht«, sagte der Seewolf. »Ferris, ich brauche wieder das Eisen.« Er hatte prüfend die Türklinke bewegt, aber auch hier war ein Riegel vorgeschoben, damit keiner eintreten konnte. Als Hasard das Schloß gesprengt hatte und die Tür aufstieß, hielt Thorfin Njal sogleich seine blakende Pechfackel in den Raum. Die Reaktion der Betrachter war unterschiedlich. Carberry stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Shane sagte »Oh«, Ferris »Donnerkeil«, Thorfin Njal sperrte nur den Mund weit auf. Hasard und Siri-Tong gaben keinen Kommentar ab. Sie betraten als erste den Raum. Die Rote Korsarin bewegte sich eigenartig sicher - so, als wäre sie hier zu Hause.
8. Hinter der Schwelle zur Kapitänskammer begann eine andere Welt. Die Wände waren mit fremdartigen Drachen und Götzenfiguren bemalt. Das wabernde Licht unterstrich den Zauber dieser Gestalten. Es war, als bewegten sie sich. Der Boden war mit Matten aus Schilf oder aus anderem, 75
unbekanntem Material ausgelegt. Die Schrittgeräusche waren darauf kaum zu hören. Nur etwas feuchte Luft schwebte in dem Geviert, von Fäulnis und Verfall war auch hier nichts zu bemerken. Hasard blieb stehen. Er wandte sich um und legte Thorfin Njal die Hand auf den Unterarm. Die Fackel zuckte ein Stück herunter. »Paß auf«, sagte der Seewolf. »Du steckst hier sonst noch alles an.« »Verdammt, ja«, brummte der Riese. »Du kannst die Fackel löschen«, sagte Carberry. »Wir haben ja die Öllampen.« Der Wikinger kam der Aufforderung nach. Hasard schritt an die verzierten Schränke der Kammer und öffnete sie. Prunkvolle Waffen und andere Geräte lagerten darin. Er zog ein seltsam geformtes Schwert aus seiner Scheide und fuhr prüfend mit dem Finger über die Klinge. Fast schnitt er sich. Siri-Tong hatte das Schreibpult des einstigen Kapitäns aufgeklappt und zwei dünne Kerzen darin gefunden. »Hier«, sagte sie. »Die können wir auch noch anzünden.« Shane streckte seine Öllampe vor. Die Flamme sprang auf die Dochte der beiden Kerzen über. Knisternd entwickelte sich Glut, und aus der Glut erwuchsen bläuliche Flammen, die ein mysteriöses Licht verbreiteten. Hasard hatte eine Truhe geöffnet. Sie war aus dem gleichen eisenharten Holz wie das Schiff gearbeitet und wies kunstvolle Intarsien auf. »Es ist mir ein Rätsel, wie sie das Holz so bearbeitet haben«, murmelte er. »Dann zog er etwas aus der Truhe hervor und hielt es hoch. Es handelte sich um einen länglichen Gegenstand. »Na, Freunde, kommt euch nicht wenigstens das hier bekannt vor?« »Allerdings«, erwiderte Ed Carberry verdutzt. »Das ist ja so ein Brandsatz, wie wir ihn auf dem merkwürdigen Schiff der 76
Fremden im Sargassomeer gefunden haben.« »Eine Rakete«, sagte Siri-Tong. Die Männer schauten sie fragend an. Hasard ging absichtlich nicht auf das ein, was sie eben geäußert hatte. Er wandte sich vielmehr an den Wikinger. »Nun mal raus mit der Sprache, Thorfin. Warum hast du niemals zuvor den Versuch unternommen, in dieses Schiff einzudringen? Die Gelegenheit dazu hätte dir weiß Gott nicht gefehlt. Die Zeit auch nicht. Warum hast du dich erst heute dazu durchgerungen?« »Na ja, früher hatten wir doch unsere ›Thor‹. Und wenn die Schaluppe nicht durch die Felsbrocken zerschmettert worden wäre ...« Hasard richtete sich auf. Seine Stimme klang hart und unnachgiebig. »Halt, Wikinger! Jetzt schwindelst du. Ich will die Wahrheit wissen. Was ist unsere Freundschaft wert, wenn du mir etwas so Wesentliches verschweigst?« Thorfin Njal zuckte mit den Schultern. »Also gut. Meinetwegen. Die Wächter am Auge der Götter haben mich und meine Männer immer davor gewarnt. Du weißt ja, daß ich eine gute Beziehung zu den Burschen hatte und wir im friedlichen Einvernehmen hier auf der Insel lebten. Nun, die Indianer sagten, wer das Schiff betritt, dem blüht ein so schrecklicher und ebenso plötzlicher Tod wie El Diabolo und seinen Bastarden.« »Eine hübsche Prophezeiung.« Der Seewolf fixierte sein Gegenüber scharf. »Und du, Thorfin? Warum hast du diese Warnung nicht einfach in den Wind geschlagen?« »Es gab da einen Vorfall. Einer meiner Männer hielt sich nicht an die Ermahnungen und Gebote der Wächter. Er pullte mitten in der Nacht mit einem kleinen Boot zum schwarzen Schiff, enterte auf, kehrte aber schon nach kurzer Zeit wieder zurück. Er schrie wie am Spieß. Es war einfach nicht aus ihm rauszukriegen, was ihm zugestoßen war. Er konnte schon gar 77
nicht mehr richtig reden, versteht ihr? Mit dem Boot konnte er gerade noch am Strand landen, aber dann wälzte er sich unter gräßlichen Qualen, und keiner von uns konnte ihm helfen. Die Indianer übrigens auch nicht.« »Hör auf, das ist ja furchtbar«, sagte Ferris Tucker. »Ihr habt’s hören wollen«, erwiderte der Wikinger barsch. »Also, dieser Mann starb auf entsetzliche Weise. Es war, als würde ihn ein inneres Feuer verzehren. Das Ganze war uns natürlich eine Lehre, und was für eine! Profos, mal ganz ehrlich, hättest du nach einem solchen Vorfall noch gewagt, zum schwarzen Segler zu fahren und ihn zu betreten? Carberry stapfte mit dem Fuß auf, daß der Boden vibrierte. »Hölle, nein. Und ich will wissen, warum du uns die Sache nicht vorher erzählt hast bevor wir von der ›Isabella‹ gestartet sind.« »Hätte dich das zurückgehalten?« wollte der Seewolf wissen. »Ich denke, gerade du gibst nichts auf Spuk und jede Art von Mummenschanz?« »Daran hat sich auch nichts geändert«, erklärte der Profos. »Nur habe ich keine Lust, auf so ‘ne dämliche Weise zu krepieren. Es könnte Fallen auf diesem Scheißkahn geben. Giftpfeile, die sich durchs Stiefelleder in die Füße bohren oder so was Ähnliches. Hat daran noch keiner gedacht?« Hasard nickte. »Doch. Und wir werden höllisch auf der Hut sein. Thorfin, war es der gute spanische Schnaps, der deine Bedenken ausgeräumt hat?« »Nein.« Der Wikinger brüllte es fast. »Ich brauche ein neues Schiff und scheiße jetzt auf den ganzen verfluchten Aberglauben.« Ihm fiel plötzlich ein, daß sich Siri-Tong bei ihnen befand, und er drehte sich ihr zu. »Oh, Verzeihung für den Ausdruck, Madame.« Sein Grinsen wollte nicht richtig gelingen. Die Rote Korsarin winkte ab. »Keine Ursache. Ich bin Härteres gewohnt.« 78
Nun hatte sich Unruhe unter den Seewölfen ausgebreitet, aber Hasard setzte nun einfach zusammen mit seinem rothaarigen Schiffszimmermann und dem Wikinger die Untersuchung fort. Siri-Tong hielt sich jetzt mehr im Hintergrund. In der Kapitänskammer beförderten die drei Männer immer mehr merkwürdige Waffen zutage. Big Old Shane und Carberry hielten die Lampen, Siri-Tong die Kerzen. Die Klingen und Läufe der fremdartigen Waffen funkelten in dem Licht. Dann sagte Siri-Tong unvermittelt: »Ich will euch einen Rat geben. Meiner Meinung nach solltet ihr euer besonderes Augenmerk auf die Wände und die Innenverschalungen richten.« Hasard verhielt und blickte zu ihr hinüber. Nicht nur eine, mehrere Fragen lagen ihm auf der Zunge. Aber wieder beherrschte er sich. Ohne Zögern befolgte er ihren Ratschlag. Und wirklich, er hatte bei diesem Unternehmen Erfolg. Als er den Kammerboden lange genug abgeklopft und abgehorcht hatte, legte er unter einer großen, quadratischen Matte die Fugen einer Luke frei. Er hob ihren Eisenring an, zog daran und die Lichtquellen erhellten eine Holztreppe, die tiefer ins Innere des schwarzen Seglers führte. »Dann wollen wir mal«, sagte Hasard entschlossen. »Sei bloß vorsichtig«, sagte Carberry. Er zog seine Steinschloßpistole. Die anderen folgten seinem Beispiel. Der Seewolf nahm eine der geheimnisvoll knisternden Kerzen an sich und stieg langsam die steilen Stufen hinunter. Wieder pochte er die Wände ab. Diese routinemäßige Arbeit ließ ihn am Fuß des Niederganges rechter Hand einen Hohlraum entdecken, auf den er sonst niemals gestoßen wäre. Das Versteck befand sich in Kniehohe. Hasard bückte sich und hielt die Öllampe ganz dicht vor die Wand. Thorfin Njal, Ferris und Carberry waren über die Stufen des Niederganges nachgerückt, verharrten aber jetzt, um ihn in seiner Tätigkeit 79
nicht zu behindern. Hasard zückte sein Messer. Er schabte geduldig an der harten Holzwand und legte auf diese Art allmählich drei sehr dünne, im rechten Winkel aufeinanderstoßende Figuren frei. Er schob die Schneide des Messers in die oberste. Nach vier, fünf mißglückten Versuchen glitt eine schmale Kante aus der Wand. Der Seewolf faßte sofort mit dem Messer nach und kehrte den ganzen Rand einer Klappe nach außen. Er packte mit der Hand zu und öffnete die Klappe, bis er seine Lichtquelle vor die rechteckige Öffnung halten und ins Innere spähen konnte. »Was siehst du?« fragte Carberry. Er stand wie erstarrt. Den anderen ging es genauso, Spannung und düstere Ahnungen erfüllten sie. »Eine Truhe«, sagte Hasard. »Wieder so ein Ding wie oben in der Kapitänskammer, aus dem gleichen eisenharten Holz. Sie ist mit vielen geschnitzten Schnörkeln verziert, aber was mir besonders auffällt, ist der Deckel. Moment mal.« Er steckte das Messer in seinen Gurt zurück, griff mit beiden Händen zu und zerrte die Truhe aus ihrem Versteck. Behutsam schob er sie bis an den Fuß des Niederganges. Sein Blick ruhte auf den Intarsien des Deckels. »Das ist ja kaum zu fassen! Es sind die gleichen Schriftzeichen, die ich bereits auf jenem Segler im Sargassomeer entdeckt und mir dann abgezeichnet habe. Erinnert ihr euch?« »Und ob«, erwiderte Shane. »So was vergißt man nicht.« »Siri-Tong hatte dir den Spruch doch übersetzt, nicht wahr?« fragte Ferris Tucker. »Ja«, antwortete die Rote Korsarin an Hasards Stelle. »Und ich sage ihn euch noch einmal: ›Wer hier eingeht, dessen Leben ist für immer verwirkt.‹« Thorfin Njal wiederholte den Satz flüsternd. »Bei allen Teufeln der Hölle«, sagte er. »Dann stimmt es also doch, was 80
die Wächter immer wieder behauptet und mir eingeschärft haben. Auf dem schwarzen Segler nistet der Tod.« »Mann«, sagte der Seewolf heiser. »Bist du das noch, Thorfin Njal, oder spricht aus deinem Mund ein anderer - ein Hasenfuß?« Das riß den Wikinger aus seinen finsteren Gedanken hoch. »Verdammt noch mal, nein!« rief er aus. Hasard lachte grimmig auf. »So! Dann rede nicht so einen Blödsinn, der verdirbt uns noch die ganze Moral. Siri-Tong, komm bitte mal zu mir. Männer, laßt sie vorbei.« Die Rote Korsarin stieg zu ihm hinunter. Etwas zögernd zwar, aber sie trat doch vor ihn hin und blickte ihm dabei offen in die Augen. »Siri-Tong«, sagte Hasard eindringlich, »tu mir doch einen Gefallen und rede. Du weißt mehr, als du zugeben willst. Vielleicht glaubst du, wir könnten mit deinen Aussagen nichts anfangen. Oder wir würden sie falsch werten. Was immer es ist, ich schwöre, daß nichts davon zutrifft. Du kannst Vertrauen haben. Zu uns allen.« »Das habe ich auch.« »Warum sprichst du dann nicht?« »Weil es nichts zu sagen gibt. Nichts, verstehst du?« »Ich begreife dich nicht«, erwiderte er wütend. Mühsam bezwang er sich, dämpfte seinen Ärger und verlieh seiner Stimme wieder einen sanfteren Klang. »Also, ich begreife ja, daß die Zusammenhänge nicht so einfach sind. Aber eins steht fest. Wir haben hier die Überbleibsel einer hochentwickelten Kultur gefunden, Dinge, die den Werken der Alten Welt in vielem weit voraus sind. Beispielsweise die Raketen - die können nur Genies konstruiert haben! Ich glaube nicht, daß El Diabolo und seine Kerle solche geistigen Leuchten waren, nein, die Sachen kommen von weiter her. Ich schätze, auf dieses Land würde man stoßen, wenn man durch die Magellanstraße und dann immer nach 81
Nordwesten oder Westen segeln würde.« Siri-Tong schwieg dazu. Erbittert fuhr Hasard fort: »Was immer hinter all diesen Rätseln steckt, du weißt ganz genau, daß wir nichts zerstören wollen, Siri-Tong. Wenn das deine Bedenken sind, dann kannst du sie wegwischen. Nur die Spanier sind unsere Feinde, und wir schädigen sie, wo wir können. Aber auch die Indianer in der Neuen Welt haben wir stets in Frieden gelassen, eher noch unterstützt.« »Das kann ich bestätigen«, sagte Carberry. »Wir anderen auch«, fügte Shane hinzu. Siri-Tong schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Darauf läuft es« nicht hinaus. Aber ich kann euch nichts sagen. Ich wüßte nicht, was.« Hasard drang nicht weiter in sie. Zum erstenmal entdeckte er jedoch so etwas wie Sorge in ihren Zügen. »Los«, sagte er. »Wir tragen die Truhe ein Stück weiter in den Gang, der hier hinter dem Niedergang beginnt. Das schaffe ich nicht allein. Helft mir.« Thorfin Njal und Ferris Tucker packten mit zu. Sie wuchteten das reich verzierte und beschriftete Ding gut zwei Yards tiefer in den Schiffsgang. Hierhatten sie mehr Bewegungsfreiheit. Hasard inspizierte die Truhe noch einmal ganz genau. »Jetzt stehen wir vor einem neuen Rätsel. Das Ding hat keine Schlösser, ist aber zugeriegelt. Frage: Wie kriegen wir es auf?« Siri-Tong stand neben Carberry und hatte ein fast spöttisches, auf jeden Fall überlegenes Lächeln aufgesetzt. Hasard hatte nicht übel Lust, aufzuspringen und ihr den Hosenboden zu versohlen. Zum Teufel mit den Weibern und ihrer verflixten Art, dachte er aufgebracht. Ferris strich mit den Händen über die Truhe. »Wieder das Eisenholz. Einfach toll. Und da dachte unsereins bisher, Eiche sei das härteste Holz, das es gibt.« »Schön, aber wie öffnen wir das Ding?« fragte der Profos 82
ungeduldig. »Wißt ihr was? Wir schleppen die Truhe nach oben und sprengen den Deckel hoch. Wenn das Holz so hart ist, dann wird es schon nicht bersten, aber die Riegel springen garantiert auf.« »Eine schlechte Idee«, entgegnete Shane. »Wer weiß, was in der Truhe steckt. Wir könnten etwas zerstören.« »Ich bin auch für’s Sprengen«, sagte Ferris. »Du hast sie nicht mehr alle«, sagte Shane unwirsch. »Moment mal ...« »Ich warne euch auch vor einem solchen Vorgehen«, sagte Siri-Tong. Mehr nicht. Sie stand da und hielt die Arme vor ihren festen Brüsten verschränkt, stolz, unglaublich schön und doch so verdammt arrogant. Hasard sah sie an. Und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Wissen in Siri-Tongs Augen, Fragen in den seinen. »Es muß doch einen Weg geben, die Kiste aufzubringen«, wetterte Carberry. Wieder bosselte er an der Truhe herum. Ferris unterstützte ihn dabei. Big Old Shane und der Wikinger beteiligten sich ebenfalls an dem Unternehmen - und Siri-Tong lächelte dazu. »Sprengen!« rief Carberry schließlich. »Ich sage sprengen, das ist das einzig Vernünftige.« Hasard musterte Siri-Tong abermals aus den Augenwinkeln. Na warte, dachte er. »Also einverstanden«, sagte er. »Wir hieven die Truhe auf Oberdeck, besorgen Pulver und lassen den Deckel hochgehen. Ich will doch nicht verrückt werden mit dem vertrackten Apparat.« »Nein«, sagte die Rote Korsarin. Sie trat vor und scheuchte die Männer mit ein paar herrischen Gebärden von der Truhe fort. Dann kniete sie sich hin. Behutsam strichen ihre feingliedrigen Finger über das Eisenholz. Sie trafen auf ein paar bunte, tief eingelassene 83
Felder. Hier verharrten sie. Diese handballengroßen Quadrate befanden sich in der vorderen Truhenwand knapp unterhalb des Deckelrandes. SiriTong legte die Daumen darauf. Die Spitzen ihrer übrigen Finger wiesen nach oben. »Aha«, sagte Hasard. »Das ist es also.« »Still«, flüsterte sie. »Bitte, sei still.« Ihr Antlitz spiegelte den Ausdruck äußerster Konzentration. Sie wisperte etwas, das Hasard nicht verstand, und drückte mit den Daumen zu. Die Felder senkten sich in die hölzerne Truhenwand. Aber gleichzeitig sprang sie zurück kreidebleich im Gesicht. Sie stieß einen entsetzten Laut aus. Hasard war mit einem Satz dicht vor der Truhe und sah deutlich, wie beim Hochschwingen des Deckels zwei lange, dolchspitze Dorne aus dem Holz hervorschnellten. Sie erschienen direkt unter den bunten, versenkten Feldern, dort, wo sich eben noch Siri-Tongs Handballen befunden hatten. Hasard wirbelte zu der Eurasierin herum. Carberry, Shane, Ferris und der Wikinger waren gleichzeitig neben ihr. Aber sie wehrte sie ab. Mit bebendem Finger deutete sie auf die beiden Dorne. »Sie sind vergiftet. Himmel, hätte ich mit einer solchen Sicherheitsmaßnahme meiner Ahnen nicht gerechnet, dann wäre ich jetzt vielleicht schon tot.« Sie war leichenblaß. Hasard ging zu ihr, und sie sank mit einem trockenen, schluchzenden Laut in seine Arme. »Siri-Tong ...« »Ja, Hasard.« »Du hast mein und das Leben der anderen Männer gerettet.« »Ach, das ist nicht wahr.« »Doch. Irgendwann wären wir darauf verfallen, auf die bunten Felder zu drücken. Aber so blitzschnell wie du hätten wir nicht reagiert. Du selbst hast hoch gesetzt, und ich allein 84
weiß, was dein Einsatz wert ist.« Sie lächelte ihn an. »Du großer, schwarzhaariger Teufel, sei mir nicht böse wegen meiner Sturheit von vorhin. Du wirst noch begreifen, warum ich mich so verhalte. Es ist nicht, weil ich etwas gegen dich habe, bestimmt nicht.« »Dann ist es gut.« Ihre Ahnen, hatte sie gesagt. Hasard geisterte dieses Wort im Kopf herum. Aber er kam nicht dazu, weiterhin über diesen Punkt nach zugrübeln, denn Big Old Shane hatte in die offene Truhe gegriffen und etwas zum Vorschein gebracht. »Rollen kostbaren Pergaments«, sagte Hasard. »Geh vorsichtig damit um, Shane.« »Worauf du dich verlassen kannst.« »Vorsicht«, mahnte Ed Carberry«. »Die Rollen könnten auch vergiftet sein.« »Das glaube ich nicht«, widersprach die Rote Korsarin. Hasard ging hin, nahm selbst eins der knisternden Dokumente in die Hände und entrollte es langsam. Die Männer scharten sich hinter seinem Rücken, alle blickten wie gebannt auf die Eintragungen. Es waren Zeichnungen. Hasard hielt die detaillierte Karte eines fremden Landes in den Händen.
9. »Eins erkenne ich«, sagte er. »Es ist dasselbe Land wie auf den Karten, die ich auf dem anderen fremden Segler fand. Das sind schon so einige Übereinstimmungen, Männer, merkt ihr das? Die Raketen, die Schriftzeichen auf der Truhe, die den abweisenden Spruch ergeben, und jetzt diese Karten ...« Er öffnete auch die anderen. Alle zeigten dasselbe Land, 85
jedesmal in anderen Abschnitten, immer in der gleichen zeichnerischen Präzision. Er blickte Siri-Tong an. Diesmal nickte sie. »Ja, du hast recht«, bestätigte sie. »Aber ich will dir noch etwas sagen. Hüte dich. Segle niemals in dieses Land. Denke an den unheimlichen Spruch: Wer hier eingeht, des Leben ist für immer verwirkt. Das ist nicht einfach so daher gesprochen. Das ist eine ernstzunehmende Warnung. Ich warne dich, weil ich dein Bestes will, Seewolf, vergiß das nicht.« »Ja. Danke. Aber was hat dieses Land denn an sich, daß man es wie die Pest meiden muß? Wie heißt es überhaupt?« Siri-Tong beschrieb eine Geste, die keine Fehldeutung zuließ. Sie wollte nicht mehr über das Thema reden. Punktum und basta. Hasard begriff, daß es keinen Zweck hatte, jetzt weiter in sie zu dringen. Hasard betrachtete alle Karten, dann legte er sie wieder in die Truhe zurück. Nur Pergamentrollen enthielt sie, mehr nicht. Ihr Gewicht war durch das dicke, massive eisenharte Holz bedingt. Siri-Tong erklärte ihm wenigstens, wie man die Truhe wieder schloß und wie der Mechanismus der gefährlichen Dornen funktionierte. Das Behältnis wurde von Ferris und Ed zurück in das Versteck bugsiert, dann schlossen die Männer wieder die Klappe und begaben sich auf die Weiterführung ihres Erkundungsganges. Der schwarze Segler hielt noch eine Überraschung für die sechs bereit. In einem der Laderäume registrierten sie beim Abklopfen der Wände ein merkwürdiges Geräusch. Ferris Tucker und Big Old Shane, die Entdecker, schauten sich an, nickten sich zu und begannen mit der Arbeit. Hier gab es keine Luke oder Klappe, hier mußten sie die Planken lösen, um zum Ziel zu gelangen. Wenig später hatten sie es geschafft. Hasard, Carberry und der Wikinger leuchteten 86
in den Hohlraum - und alle sechs verschlug es glatt den Atem. In dem breiten Gelaß zwischen Bordwand und Innenwand des Schiffes lagerten die verschiedensten Gerätschaften - aus purem Gold und mit Edelsteinen besetzt. »Die müssen vom Auge der Götter stammen«, sagte Thorfin Njal entgeistert. »Ich erkenne das auf den ersten Blick. Beim Odin, ich würde mein Haupt dafür verwetten.« Hasard sah ihn von der Seite her an. »Aber Mann, dann ist ja schlagartig alles klar. Leuchtet dir das nicht ein, du Querkopf?« »Du meinst, was den Tod von El Diabolo und seinen Halunken betrifft?« »Genau das.« »Die Indianer! Die Wächter vom Auge der Götter!« »Das hätte uns auch eher einfallen können.« »Aber daß die Indianer die Piraten mitten in einem Gelage überwältigt haben, will mir nicht in den Kopf. Ich meine, nachts anzugreifen, das ist sonst ganz gegen ihre Gewohnheiten«, sagte Thorfin Njal. Hasard nickte. »Und genau das wird sich auch El Diabolo gesagt haben. Seine Sicherheit hat er teuer bezahlen müssen. Er hätte sich besser schützen sollen, nachdem er die heiligen Schätze geraubt hatte.« »Also, bedauern kann ich den Kerl nicht«, sagte Carberry. »Geschieht ihm ganz recht, was ihm widerfahren ist.« »Schließen wir die Innenbeplankung wieder«, sagte der Seewolf. »Wir brechen jetzt unseren wirklich unterhaltsamen Ausflug ab und kehren auf die ›Isabella‹ zurück. Dort beratschlagen wir, was zu tun ist.« Auf Oberdeck stellten sie erstaunt fest, daß der Tag bereits in die Abenddämmerung übergegangen war. Nun, an diesem Morgen hatten sie sich eben nicht besonders früh erhoben, und sie hätten auch noch die Mittagsstunde verschlafen, wenn der Wikinger sie nicht auf seine brachiale Art geweckt hätte. Auf der ›Isabella‹ wurden sie voller Spannung zurückerwartet. Der 87
Abend verging sehr rasch mit den Berichten der sechs über das, was sie auf dem schwarzen Schiff entdeckt hatten. Besonders die Todesursache von El Diabolo und seinen Schurken wurde von den versammelten Crews begierig aufgenommen und verarbeitet - ein Grund mehr, mit dem Gerede über Spuk und Geister aufzuhören und sich zu beruhigen. Siri-Tong blieb in dieser Nacht auch wieder an Bord der ›Isabella‹. Aber auch in den Stunden der Zärtlichkeit vermochte der Seewolf über die Herkunft des Seglers und die Geheimnisse in dem fremden, fernen Land nicht mehr aus SiriTong herauszubringen, als er schon wußte. Nichts. Der nächste Tag brachte eine intensivere Durchforschung der Räume des schwarzen Seglers. Diesmal beteiligten sich fast alle Seewölfe, Männer der Roten Korsarin und Wikinger daran. Das Ergebnis: Sie stießen auf weitere Verstecke wie in dem Frachtraum. Und auch diese waren mit Kostbarkeiten angefüllt. Edwin Carberry ließ sich angesichts dieser Fülle zu einem typischen Profos-Satz hinreißen. »Der Kahn geht mit Schätzen schwanger wie ein Frauenzimmer im neunten Monat«, knurrte er. Bevor er das sagte, schaute er sich aber doch um und vergewisserte sich, daß Siri-Tong nidht in der Nähe stand und mithörte. * Der nächste Morgen brachte eine Versammlung der Seewölfe auf dem Oberdeck der ›Isabella VIII.‹ und eine Erklärung von Smoky, dem Decksältesten. »Also, das ist so«, begann er. »Wir sind uns einig. Von diesen Schätzen auf dem schwarzen Schiff verlangen wir keinen Anteil. Außerdem sprechen wir dem Wikinger den Segler voll zu. Er hat das ältere Anrecht darauf, finden wir, und wir wüßten ja sowieso nicht, was wir mit einem zweiten Schiff 88
sollten. Ich glaube, das sollte noch mal herausgestellt werden.« »Ja«, erwiderte Hasard. »Und euer Verhalten ist großartig. Im übrigen bleiben wir ja doch noch ein paar Tage in dieser Bucht, und wer Lust hat, kann auf die Insel zurückkehren und etwas von den Reichtümern sammeln, die da offen herumliegen.« »Tun wir«, sagte Edwin Carberry mit breitem Grinsen. »Diese Rübenschweine und Affenärsche wissen ja jetzt genau, daß Little Cayman nicht verhext ist.« Thorfin Njal trat vor. »Meinen Dank für euer Einverständnis, Männer. Naturalien habt ihr bei alledem ein Wörtchen mitzureden. Es wäre dumm gewesen, wenn wir uns wegen des schwarzen Seglers in die Wolle gekriegt hätten.« Er kratzte sich am Hinterkopf, und zwar am Haaransatz, wobei der Kupferhelm tiefer in seine Stirn rutschte. Eike und Arne stießen sich heimlich an. Oleg und der Stör grinsten auch. Der Wikinger in seinem abenteuerlichen Aufzug gab manchmal schon eine etwas groteske Gestalt ab. »Tja«, sagte Thorfin Njal. »Jetzt muß der verfluchte Kahn instandgesetzt werden. Hoffentlich kriegen wir genügend Material dafür heran. Und dann, ehm, also, da wäre noch was, ich ...« Hasard lachte. »Heraus damit. Du stotterst ja.« Siri-Tong ergriff das Wort. »Der Wikinger und ich haben beschlossen, das Schwarze Schiff gemeinsam auszurüsten. Thorfin war sofort einverstanden, als ich ihm das vorschlug. Wir sind Miteigner, außerdem wird Thorfin bei mir als erster Steuermann fahren. Und seine vier Getreuen sind natürlich auch mit von der Partie.« Hasard war maßlos überrascht. Ihm fehlten fast die Worte. »Also ehrlich, das hätte ich nicht erwartet.« Thorfin Njal räusperte sich. Er fühlte sich plötzlich nicht sehr wohl in seiner Haut. »Du darfst das nicht falsch verstehen, Seewolf. Zu fünft sind wir ein zu kleiner Haufen und können das schwarze Schiff nicht manövrieren. 89
Wir brauchen irgendwie Unterstützung.« Carberry trat vor ihn hin. »Die hättest du von uns auch gekriegt. Aber ich sehe schon, du bist in die Rote Korsarin verschossen.« Der Wikinger stierte ihn an, als wolle er ihn vertilgen. Hasard wurde wütend, aber Carberry bemerkte das natürlich nicht, er hatte ja nicht einmal richtig mitgekriegt, was zwischen seinem Kapitän und Siri-Tong war. Sonst hätte er diesen Satz bestimmt nicht geäußert. Die Seewölfe begannen zu murren. »Halt!« rief Siri-Tong mit schneidender Stimme. »Das lasse ich mir nicht bieten! Haltet gefälligst den Mund, ihr Halunken!« Sie wollten aufbegehren, doch die schöne schwarzhaarige Frau stand plötzlich mitten unter ihnen. Der Respekt, den sie für sie empfanden, ließ sie verstummen. Siri-Tong sah Hasard an. Ihre Blicke verfingen sich ineinander. »Ich kann es dir ja nicht ausreden, Seewolf«, sagte sie. »Eines Tages wirst du doch in das Land meiner Ahnen segeln wollen. Nach China. Aber ich lasse dich und deine Männer nicht allein dorthin, es wäre euer sicherer Untergang. In jenem Land helfen Tapferkeit und Kampfesmut wenig. Dort wird mit anderen Waffen gekämpft. Da ich dir aber beistehen will, halte ich es für richtig, meine Mannschaft zu verstärken. In letzter Zeit habe ich ohnehin Verluste gehabt. Es ist daher nur richtig, wenn ich die fünf Wikinger sozusagen als meine Leibwache zu mir nehme.« »Tut, was ihr nicht lassen könnt«, entgegnete Hasard konsterniert. »Ihr seid frei in euren Entscheidungen.« Seine Miene war hart, als er hinzufügte: »Aber ich brauche keinen Geleitschutz, merkt euch das. Wir werden weiterhin zusammen gegen die Spanier und alle Feinde kämpfen. Wir kehren auch gemeinsam zur Schlangeninsel zurück. Aber wenn 90
ich irgendwann die Karibik wieder verlasse, um neue Gegenden zu erkunden, so werde ich das allein tun, klar?« Das war ein Schuß vor den Bug. Siri-Tong nahm ihn hin, aber ganz einfach fiel es ihr nicht. »Was erwartet uns im Land deiner Vorfahren?« fragte Hasard. »Raketenfeuer? Tausend tödliche Giftfallen? Krankheiten, Intrigen, Verrat? Daran sind wir gewöhnt.« »Später«, antwortete sie. »Später erzähle ich dir darüber.« Hasard wandte sich dem Wikinger zu. »Du unterwirfst dich also dem Kommando einer Frau, du Stier. Gut, du weißt sicher, was das bedeutet. Komm aber nie zu mir und beschwere dich darüber, daß ich meine Bedenken nicht rechtzeitig angemeldet habe.« Auch der Wikinger nahm diese Breitseite, aber er wirkte gelassen. Er trat auf den Seewolf zu und legte ihm schwer die Rechte auf die Schulter. »Es mag in deinen Augen merkwürdig sein, mein Freund«, sagte er, »daß ich mich unter das Kommando einer Frau begebe. Aber ich habe Gründe dafür, Gründe, die du nicht kennst, und deswegen solltest du dich mit deinem Urteil zurückhalten. Später wirst du erfahren, daß Siri-Tong und ich richtig daran taten, dieses Abkommen miteinander zu treffen!« Betretenes Schweigen hatte sich ausgebreitet. Hasard brach es wieder. »Ich schlage vor, wir rüsten den schwarzen Segler provisorisch aus und überführen ihn dann zur Schlangeninsel, um ihn dort in aller Ruhe von Grund auf zu überholen. Hat jemand Einwände?« Niemand meldete sich. Es blitzte mal wieder in den eisblauen Augen des Seewolfes, die Zeichen standen auf Sturm. Da war es ratsam, ihm nicht zu widersprechen. Nicht einmal Thorfin Njal und Siri-Tong wagten es. Im übrigen fanden sie seinen Plan durchaus richtig. 91
»Deck!« schrie Dan O’Flynn plötzlich aus dem Großmars. »Eine Karavelle läuft mit hoher Fahrt auf die Bucht zu! Hallo, Männer, das ist ja die ›Le Vengeur‹!« Hasard hastete zum Achterdeck hoch und begab sich an das Steuerbordschanzkleid. Kurz darauf sah er auch schon die Zweimastkaravelle von Jean Ribault und Karl von Hütten in die Bucht rauschen. Die beiden versammelten Crews auf der ›Isabella‹ stimmten ein wildes Begrüßungsgeschrei an. Hasard winkte auch, aber er zog die Augenbrauen dabei hoch. Schon an der Art, wie sich die ehemalige ›Isabella VII.‹ näherte, erkannte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Der Franzose ließ anluven, seine Kommandorufe tönten deutlich herüber, die ›Le Vengeur‹ ging fast ganz in den Wind und verminderte ihre Fahrt. Von Bord zu Bord johlten und pfiffen sich die Mannschaften zu. Hasard ließ seine Männer durch einen Wink verstummen. Er legte die Hände an den Mund und rief: »Jean, welcher Teufel treibt dich hierher? Hast du den Spanier nicht erwischt? Hat er Verstärkung gekriegt?« Sie hatten sich bereits getroffen, bevor Hasard Little Cayman erreicht hatte. Jean Ribault hatte es sehr eilig gehabt, weil er einem spanischen Segler auf den Fersen gewesen war. Diesen hatte er fassen und kapern wollen, ehe auch er zu dem Seewolf, der Roten Korsarin und den Wikingern stieß. Der Franzose, schlank und geschmeidig wie immer, turnte in die Wanten hoch, drehte sich und rief zurück: »Und ob wir ihn gepackt haben, den eitlen Hund! Seine Ladung haben wir übernommen, dann haben wir ihn versenkt. Aber zwei Karavellen und eine fette Galeone der Philipps haben uns dabei überrascht. Wir haben gerade noch abhauen können, aber sie sind hinter uns her. Und, verdammt noch mal, diese drei Spanier verstehen ihr Handwerk. Das sind keine Dummköpfe! Gegen die hätten wir auch mit der ›Le Vengeur‹ keine Chance 92
gehabt!« »Ganz sicher nicht!« rief Hasard. »Wir können also auf die Dons warten?« »Ja, sie haben Fühlung gehalten!« »Bald laufen auch sie in die Bucht ein«, sagte der Seewolf zu seinen Männern. »Beeilen wir uns. Die Schiffe der Spanier sind genau das, was wir suchen. Besser konnte es nicht kommen - Masten für den schwarzen Segler, laufendes und stehendes Gut, ja, sogar Segeltuch und Geschütze werden wir ihm geben können. Ganz abgesehen von den anderen Kleinigkeiten, die wir auf den Beuteschiffen mit aller Wahrscheinlichkeit finden.« »Holla, es gibt Arbeit!« rief der Profos. Er rieb sich die Hände. Hasard dämpfte seine Begeisterung. »Aber das wird keine Schlacht auf Teufel komm heraus, Ed. Zerschossene Schiffe nutzen uns nicht.« »Richtig, daran habe ich gar nicht gedacht.« »Wir gehen ankerauf und laufen in die Nebenbucht«, befahl Hasard. Sofort setzte rege Tätigkeit auf Deck ein. Die Rote Korsarin und ihre Männer verließen, begleitet von den fünf Wikingern, die ›Isabella‹, pullten zum roten Zweimaster und dann setzte auch dort die gleiche emsige Betriebsamkeit ein. Hasard wollte Jean Ribault zurufen, was er zu tun gedachte, aber der hatte schon begriffen. Zu lange waren sie gemeinsam auf einem Schiff gefahren, als daß der Franzose den Plan jetzt nicht im Ansatz erkannte. Gemeinsame Abenteuer und Entbehrungen hatten die Männer so fest zusammengeschmiedet, so daß dann oft keine Worte erforderlich waren, um die Handlungen aufeinander abzustimmen. In aller Eile gingen die ›Isabella‹ und der Zweimaster SiriTongs ankerauf. Hasard setzte sich an die Spitze. Die Rote 93
Korsarin und der Franzose folgten ihm, und zusammen glitten sie in die Nebenbucht, die seinerzeit El Diabolo als Versteck benutzt hatte, um fremde Schiffe aus dem Hinterhalt zu überfallen. So sollte es sein. Die Falle bestand darin, daß die Spanier in die Bucht hinein, aber nicht mehr herauslaufen konnten. * Und sie erschienen, kaum daß sich die drei Schiffe in ihren Schlupfwinkel zurückgezogen hatten. Der junge Dan O’Flynn vermochte sie als vorgeschobener Posten von einer Felsenkanzel aus zu sichten: zwei schlanke Karavellen und eine dickbauchige Galeone, alle drei mit stolz geblähten Segeln vor dem Südwestwind, alle drei von dem unbarmherzigen Willen beseelt, dem verfluchten Gegner den Garaus zu bereiten. Sie hatten die ›Le Vengeur‹ in Richtung auf die Bucht von Little Cayman fliehen sehen. Für ihre Kapitäne war es eindeutig, daß der freche Franzose hier Schutz und Deckung suchte. So liefen sie ohne Zögern in die Bucht. Hasard stand auf dem Achterdeck seiner ›Isabella‹, hielt die Hände auf die Five-Rail gestützt und gab das Zeichen zum Aufbruch, als Dan O’Flynn ihm zuwinkte. Vor den beiden Verbündeten her schob sich die ›Isabella‹ aus der kleinen Nebenbucht. Sie schor mit der Steuerbordseite dicht am Felsen entlang - eine Gelegenheit für Dan O’Flynn, in einem kühnen Satz von Land auf die Fockwanten überzuwechseln. Lautlos näherte sich der Dreimaster der Einfahrt zur großen Bucht. Ein Drittel der Crew war mit den Segelmanövern beschäftigt. Der Rest kauerte auf den Gefechtsstationen. Shane und Batuti waren mit Pfeil und Bogen in die Groß- und 94
Vortoppen aufgeentert. Big Old Shane hatte Raketen und Pulverpfeile als zusätzliche »Überraschungen« mitgenommen für den Fall, daß die Spanier nicht parierten. Sie taten es nicht. Eine der spanischen Karavellen setzte sich sofort zur Wehr auch, als sie merkte, daß die einzige Ausfahrt der Bucht von drei Schiffen blockiert war. Sie eröffnete das Feuer. »Hölle, Ben!« rief Hasard seinem Bootsmann zu. »Wir müssen zumindest diesen Hund opfern, um den Dons zu zeigen, was passiert, wenn sie sich nicht ergeben.« Dröhnend entluden sich drüben die Backbordgeschütze der Karavelle. Die Kugeln heulten heran und ließen gischtende Wasserfontänen dicht vor der ›Isabella‹ hochstieben. Sowohl die Seewölfe als auch die Männer der Roten Korsarin und Jean Ribaults gingen in Deckung. Aber noch hatten die feindlichen Kanonen nicht die Reichweite, um sie tatsächlich einzudecken. Hasard ließ zu den Spaniern hinübersignalisieren, sie sollten sich ergeben. Sie taten es nicht. Die Karavelle manövrierte, fuhr eine enge Wende und präsentierte die Steuerbordbreitseite. Hasard ließ noch einmal signalisieren, dann wurde es ihm zu bunt. Was er prohphezeit hatte, bewahrheitete sich. Sie mußten die Karavelle opfern. »Feuer!« schrie er. Mittlerweile war die ›Isabella‹ abgefallen und streckte dem Gegner die überlangen Rohre ihrer 17-Pfünder der Backbordseite entgegen. In das neuerliche Wummern der feindlichen Kanonen brüllte das konzentrierte Feuer der acht Culverinen. Und da sie eine größere Reichweite als Normalgeschütze hatten, fanden die Kugeln auch sofort ihr Ziel. Das Schanzkleid der Karavelle wurde aufgetrieben, der Fockmast brach weg. Das Schreien der Sterbenden und 95
Verwundeten klang zur ›Isabella‹ herüber. Hasard dirigierte sein Schiff kaltblütig näher an die Karavelle, luvte an, bis er sie vor der Steuerbordbreitseite hatte, und gab ihr auch die zu schmecken. Auf der Backbordseite wurden unterdessen in fliegender Hast die Culverinen nachgeladen. Hasard setzte auch die von Al Conroy und Smoky bedienten Drehbassen auf der Back ein. Wieder hagelte es Treffer drüben auf der Karavelle. Die Dons vergaßen die Gegenwehr. Hasard winkte Shane und Batuti zu, und sie begannen ein infernalisches Wettschießen mit Brandpfeilen. Dann - als ob der Spanier noch nicht genug hätte - setzte Shane die Raketen und Pulverpfeile ein. Im Nu stand die Karavelle in hellen Flammen. Sie kenterte und sank. Hasard spähte durch den Kieker zu der spanischen Galeone und der zweiten Karavelle hinüber. »Noch wagen sie es nicht, in den Kampf einzugreifen«, teilte er Ben, Ferris, Old O’Flynn und den anderen auf dem Achterdeck mit. »Sie sind wie gelähmt.« »Na klar«, sagte der Alte. »Noch nie haben sie Waffen gesehen, die ein Schiff so blitzschnell mit Feuer überziehen, das man nicht mehr löschen kann. Jetzt ist es an ihnen, an Spuk zu glauben.« »He«, sagte Ferris. »Nun seht euch das an!« Hasard fuhr herum. In Backbord zog die Rote Korsarin mit ihrem Zweimaster vorbei. Sie hatte die Geduld verloren. Hasard war erbost, aber er konnte sie nicht mehr stoppen. Wie der Teufel höchstpersönlich fiel sie über das ihr am nächsten liegende Shiff her die zweite Karavelle. Ehe die Spanier recht wußten, wie ihnen geschah, hatte sich das Schiff mit den blutroten Segeln an sein Heck herangepirscht. Und Siri-Tong, Thorfin Njal und ihre Männer enterten. Ben Brighton hatte ebenfalls ein Spektiv ans Auge gehoben. »Toll, wie sie das machen«, sagte er. »Und die Wikinger sind 96
keine schlechte Verstärkung für die Crew von Siri-Tong, das muß man ihnen lassen.« Schüsse peitschten drüben auf, Gebrüll und Waffenklirren drangen herüber. Hasard stand mit grimmiger Miene da. »Schön, aber jetzt fehlt noch, daß sie sich auch über die Galeone herfällt. Dann kriegt sie es aber mit mir zu tun. Ich will das Schiff heil.« Während die Piraten und Wikinger auf der Karavelle den Sieg davontrugen, signalisierte der Kapitän der dicken Galeone. Er erbat sich Bedenkzeit. Hasard lehnte ab. Allerdings senkte sich zu dieser Stunde bereits Dunkelheit über die Bucht. Der Seewolf wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte. Er befürchtete eine Hinterlist des Spaniers. * Die Dunkelheit nahm zu. Der Mond hatte in dieser Nacht einen Hof. Aus schmalen Augen starrte der Kommandant der spanischen Galeone vom Achterdeck zu der geenterten Karavelle hinüber. Dort, wo er in der Helligkeit zu seinem Entsetzen eine schwarzhaarige, wild um sich säbelnde Frau an der Spitze der feindlichen Horde gesehen hatte, dort schien nun wieder etwas ausgeheckt zu werden. »Was haben die vor?« murmelte er. »Wollen sie uns auch entern und niedermetzeln? Por Dios, gibt es denn keine Möglichkeit, aus dieser Teufelsbucht wieder herauszugelangen?« Drüben auf der Karavelle zuckte Fackellicht auf. Ein wahrhaft grausiges Geheul tönte herüber. Der Kommandant der Galeone wurde aschfahl im Gesicht. »Was sind das - Indianer?« stammelte er. Seine Mannschaft kauerte wie gelähmt unten auf der Kuhl, seine Offiziere hatten sich auf dem Quarterdeck versammelt. 97
Zu spät begriff der Kommandant, was es mit dem Treiben auf der Karavelle auf sich hatte. Als er das Geräusch in seinem Rücken vernahm, war es zu spät. Er fuhr herum, aber eine Hand stoppte ihn mit eisenhartem Griff. Sie packte ihn am Hals und drückte zu. Ein großer Mann preßte sich gegen seinen Rücken, er war naß. »Keine Bewegung, keinen Laut, dir dein Leben lieb ist«, zischte er in perfektem Spanisch. »Streich die Flagge, Don.« Der Seewolf war mit Shane, Carberry, Ben und drei anderen bis zum Heck der Galeone geschwommen. Siri-Tong, Thorfin Njal und die anderen Männer des roten Zweimasters hatten die Spanier unterdessen durch ihr Lärmen abgelenkt. Wie ein Panther war Hasard am Steuerruder der Galeone hochgekommen, war von der Hennegatsöffnung auf die Heckgalerie geklettert und von dort aus aufs Achterdeck. Jetzt wies er dem Kommandanten den Kaperbrief vor, den er in einer wasserdichten Schweinsledermappe auf der Brust mit sich getragen hatte. Der Spanier sah das Siegel und Wappen der Königin von England und erbleichte. Er kapitulierte und rief seiner Mannschaft zu, sie solle sich auch ergeben. Was blieb ihm noch anderes übrig? * Die Spanier wurden auf Little Cayman ausgesetzt. Fassungslos verfolgten sie aus sicherer Entfernung, wie die beiden Schiffe ausgeschlachtet und anschließend in der Bucht versenkt wurden. Zwei Tage waren vergangen. Noch vor Sonnenaufgang des dritten Tages verließen vier Schiffe die Bucht von Little Cayman. Die ›Isabella VIII.‹, der Zweimaster der Roten Korsarin, die ›Le Vengeur‹ und der schwarze Segler. 98
Ein verzweifeltes, fluchendes Grüppchen von Spaniern blieb auf der Insel zurück und starrte den auslaufenden Schiffen nach. Die Aussicht, daß sie bald jemand finden und wieder in spanisches Hoheitsgebiet zurückbringen würde, war denkbar gering. Mit südwestlichem Wind liefen die drei Schiffe in Richtung Windwardpassage. In der Höhe von Tortuga trennten sie sich. Die ›Isabella VIII.‹ und die ›Le Vengeur‹ drehten nach Westen ab, während Siri-Tongs roter Zweimaster dem schwarzen Segler Geleit zur Schlangen-Insel gab. Denn der große Viermaster segelte lediglich mit einer kleinen Notbesatzung und einer provisorisch errichteten Takelage. Es konnte nur allzuleicht sein, daß das Wetter umschlug, und dann brauchte der Wikinger Hilfe. Denn bei schwerem Wetter waren die paar Mann, über die Thorfin Njal verfügte, nicht mehr imstande, den großen schwarzen Segler zu bedienen. Der Seewolf stand auf dem Achterdeck seiner ›Isabella‹. Aus schmalen Augen blickte er der Roten Korsarin nach. Dann hob er langsam die Rechte und winkte ihr zu - und Siri-Tong erwiderte seinen Gruß. »Auf der Schlangeninsel treffen wir uns wieder«, murmelte er. »Leb wohl, Siri-Tong, und paß auf dich auf. Ich weiß nicht, was du mit mir angestellt hast, aber wir brennen beide, und zwar lichterloh. Und wahrscheinlich liebe ich gerade an dir, daß du so eigenwillig bist wie eine Katze!« Der Seewolf wandte sich ab. Doch dann streifte sein Blick noch einmal den schwarzen Segler, der seine Bahn durch die lange Dünung zog. Der Wikinger würde das Schiff auf der Schlangeninsel vom Kiel bis zur Mastspitze überholen, und die Seewölfe würden ihm dabei helfen. Aber tief in seinem Innern spürte Hasard, daß dieses Schiff noch ein Geheimnis barg, etwas, das es bis jetzt noch nicht preisgegeben hatte. Und für einen Moment überkam es Hasard wie eine Vision, daß dieses Schiff und sein Schicksal auf geheimnisvolle Weise fortan mit 99
dem Schicksal der Seewölfe verbunden sein würde. Der Seewolf wußte in diesem Moment noch nicht, wie recht er mit dieser Ahnung haben sollte und was die Zukunft schon jetzt für seine ›Isabella‹ und das schwarze Schiff bereithielt. Und das war auch gut so.
ENDE
Tödlicher Zauber von Kelly Kevin
Die Alte gehörte zum Stamm der Aruak-Indianer und hieß Bahrani. Sie war den Seewölfen unheimlich, denn sie hatte hypnotische Kräfte und konnte in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen - wie der alte Jonas, der auf einer Riesenwelle zur Hölle gefahren war. Als Bahrani den Tod eines spanischen Kapitäns voraussagte, lächelte Philip Hasard Killigrew. Als sie ihm aber sagte, er hebe eine Tochter und zwei Söhne, verging ihm das Lächeln, denn von einer Tochter wußte er nichts, und seine beiden Söhne waren tot. Später, als er den spanischen Kapitän sterben sah, dachte er anders darüber ...
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