Waldtraut Lewin Miriam Margraf
Wolfsbande 6 Das Turnier
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einhe...
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Waldtraut Lewin Miriam Margraf
Wolfsbande 6 Das Turnier
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. © 2002 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. Umschlagillustration: Ferenc B. Regös Umschlagkonzeption: Gabor Racsmany Redaktion: Doreen Eggert Printed in Germany ISBN 3-473-34966-6
Natürlich können Heinrich, Lorenz und Lucia, die als Wolfsbande durch die Lande ziehen und als Boten für Walther von der Vogelweide arbeiten (s. zuletzt „Die Hexe“), nicht einfach weiterziehen, als Jadwiga, eine ebenso schöne wie unglückliche Burgherrin um Hilfe bittet. Anstelle ihres ermordeten Bruders soll Heinrich für sie in einen Turnierkampf auf Leben und Tod bestehen, um zu beweisen, dass sie ihren ungeliebten Ehemann nicht umgebracht hat. Heinrich verliert diesen Kampf und soll auf dem Scheiterhaufen sterben. Mit Jadwiga – so befiehlt es ihr böser Schwiegervater. Doch zum Glück kreuzt Sänger Walther auf und befreit Heinrich in einer ebenso cleveren wie dramatischen Rettungsaktion. Auch Jadwiga entgeht dem Tod. Zeichnet sich die gesamte Wolfsbanden-Reihe durch Spannung, Tempo, Witz und gute Charakterisierung aus, so ist dieser Band ein Glanzlicht.
Ein Überfall im Schnee
Über Nacht ist frischer Schnee gefallen und eine unberührte weiße Fläche erstreckt sich vor den Augen der Reisenden. Das morgendliche Sonnenlicht ist gleißend hell – ein wunderbarer Anblick für jemanden, der weiß, dass er sich binnen kurzer Zeit wieder am Ofen aufwärmen und mit einer heißen Suppe stärken kann. Doch gerade diese Gewissheit fehlt den dreien, die da am Waldrand stehen und über die Flur blicken. Lorenz, der hübsche Junge, dessen halb langes braunes Haar jetzt wild und zerzaust vom Kopf absteht, wirft einen letzten Blick auf die selbst gebaute Schneehöhle, in der sie die Nacht verbracht haben. »Wärmer, als ich befürchtet hatte. Aber zur Abwechslung dürfte es jetzt gern mal wieder ein richtiges Bett sein.« Lucia sieht ihn belustigt von der Seite an. »Du jammerst ja immer, Ragazzo. Ofenhocker! Im Winter mit einem wie dir ohne Dach zu sein – Dio mio!« Sie verdreht die Augen. »Gute Höhle, warm! Schnee gut! Ohne Schnee und nur Frost wir alle sterben.« Sie redet immer noch ein bisschen merkwürdig, eine Mischung aus Deutsch und Italienisch. Lucia stammt aus den Alpen. Heinrich, der Anführer, ein großer siebzehnjähriger Junge mit einem von Pocken verwüsteten Gesicht, nickt ernst. »Sie hat Recht, Lorenz, die Nacht war nicht übel, und ohne Schnee hätten wir sie vielleicht nicht überstanden.« Die drei sind Fahrende, rechtlose Vagabunden, die sich ihr Überleben auf der Straße durch Gaukelspiel, Gesang, Musik und das Vorführen ihrer dressierten Hündin sichern. Sie sind noch halbe Kinder – aber ganz auf sich allein gestellt.
Zuweilen freilich sind sie unterwegs als Kuriere im Auftrag Walthers von der Vogelweide, des »Meisters«, wie er bei Heinrich heißt. Walther, der weltberühmte Sänger, hat auch noch anderes zu tun als Liebeslieder zu dichten – er ist ein Geheimagent des neuen Königs Friedrich. Er hat den dreien auch ihren Namen verliehen: die Wolfsbande. Aber nicht immer kann er ihnen Arbeit und Lohn geben. Jetzt sind sie nichts weiter als rechtlose, vogelfreie Gaukler und Possenreißer und auf der Suche nach einem Quartier, um die nächste Nacht, die nächsten Wochen, den Winter zu überstehen. –
Um warm zu werden, tobt das Mädchen Lucia aufs offene Feld hinaus. Ihr Haar weht ihr nach – eine rötliche Mähne. Wie ein Silberpfeil schießt die Jagdhündin Lythande hinter ihr her. Lythande gehört Lorenz, aber wenn es ums Springen, Rennen und Jagen geht, ist ihr jeder recht. »Manchmal beneide ich sie«, seufzt Lorenz und meint Lucia. Heinrich legt ihm die Hand auf die Schulter. Eine kleine Geste, die Lorenz mitteilt, dass Neid alles andere als angebracht ist. Mit ihren zwölf Jahren ist Lucia zwar die Jüngste im Bunde, doch hat sie bei weitem das Schlimmste durchgemacht: den Kinderkreuzzug. Lorenz dagegen ist nur ein entlaufener Page, der sich mit seiner geliebten Hündin aus dem Staub gemacht hat, als man ihr ans Leben wollte. Und Heinrich – nun, selbst seinen Freunden gegenüber schweigt er sich über seine Vergangenheit aus. Sie wissen nicht mehr, als dass er ein ehemaliger Klosterschüler ist. Und wegen seines von Blatternarben zerfressenen, hässlichen Gesichtes, das er entweder mit einem Sarazenentuch oder unter einer Wolfsmaske zu verbergen pflegt, nennen sie ihn den Wolf. Seinen eigentlichen Namen kennen sie so wenig, wie sie
wissen, dass er in Wirklichkeit von Adel ist und dass sein habgieriger Stiefvater ihn um sein Erbe gebracht hat… Die Gegend, durch die sie ziehen, ist bergig. »Hätten wir nur das Maultier damals nicht verkauft!«, seufzt Lorenz. »Was blieb uns denn übrig?« Heinrich schleppt von den dreien am schwersten: Decken und Felle, in die sie sich nachts wickeln, hat er sich allein aufgeladen. Dazu kommen seine eigenen Habseligkeiten und alles, was sie für ihr Gauklerhandwerk brauchen: eine Laute, Jonglierbälle, Fackeln; und dann ihre wirksamste Verteidigungswaffe, die ebenfalls bei den Vorstellungen ihren Einsatz findet: die Armbrust. »Schließlich müssen wir essen.« Lucia trottet ohne zu Murren hinter den Jungen her. Das Laufen ist sie gewohnt. Lorenz dreht sich zu ihr um. »Du beschwerst dich wohl nie, oder?« Lucia zuckt mit den Achseln. »Warum beschweren. Wetter ist schön. Trocken. Wir frieren nicht und haben keinen Hunger.« »Und wir sind seit ein paar Wochen über keine Leiche mehr gestolpert!«, ergänzt Heinrich grimmig. Leider waren es in den letzten Monaten zu viele Tote gewesen, über die die Wolfsbande gleichsam gestolpert ist. Und immer waren sie dabei gezwungen gewesen sich einzumischen, Schicksal zu spielen, auf irgendeine Art und Weise etwas wieder ins Lot zu bringen. Die Wolfsbande. Inzwischen haben sie schon so einen Ruf. Wo die sind, passiert was. »Reden wir nicht über Lei…«, hebt Lorenz an, doch der Rest bleibt ihm im Halse stecken. Ein gellender Schrei, irgendwo dort vor ihnen, hinter der Wegbiegung. Blitzschnell schleudert Heinrich sein Gepäck in die Büsche, reißt sich die Armbrust von der Schulter, legt den Bolzen ein
und spannt. In Lorenz’ Hand blitzt ein Messer. Lucia ist im Wald verschwunden und Lythande verhofft zitternd in der Mitte des Weges. So reagiert jeder auf seine Art. Weitere Schreie. »Wir sollten es machen wie Lucia und uns von hier verdrücken«, raunt Lorenz dem Älteren zu. »Sonst sind wir es bald, die schreien müssen!« »Helft, Leute, helft!« Was dann folgt, hört sich kaum menschlich an. »Jemand braucht uns!« Schon rennt Heinrich, die Armbrust im Anschlag, los. Lorenz stöhnt auf. Muss der sich immer einmischen? Aber natürlich läuft er hinterher. Als sie um die Wegbiegung kommen, flieht ein reiterloses Pferd in die entgegengesetzte Richtung. Und zwei in Lumpen gehüllte Gestalten sind gerade dabei, ihrem in einer Blutlache liegenden Opfer das Lederkoller vom Leib zu zerren. Ohne jede Vorwarnung springt Lythande dem einen Räuber gegen die Brust und bringt ihn zu Fall. Der andere blickt auf und sieht sich im Visier von Heinrichs Armbrust. Der Mantel des Reiters gleitet ihm aus den Fingern, als er die Hände hebt. Sein Kumpan reißt die Arme vors Gesicht, um es vor Lythandes gebleckten Zähnen zu schützen. »Lasst alles liegen, was ihr rauben wolltet und betet zu Gott, dass wir uns nicht wieder begegnen!«, brüllt Heinrich, ohne die Waffe zu senken. »Lythande aus!«, sagte Lorenz leise, »komm her.« Die Hündin lässt von dem Mann ab. Der erhebt sich vorsichtig und kehrt nun ebenfalls die Handflächen nach außen. »Verschwindet! Auf der Stelle!« Heinrichs Finger bleibt auf dem Abzug liegen, während die beiden Wegelagerer erst langsam, dann immer schneller rückwärts stolpern. Endlich
wagen sie es, den Jungen den Rücken zuzukehren. Und dann rennen sie wie die Hasen davon. Heinrich legt die noch immer gespannte Armbrust neben den Mann am Boden; die Erfahrung hat ihn gelehrt, vorsichtig zu sein. Der Verletzte atmet stoßweise, Blut sprudelt aus einer Stichwunde am Hals. Wie ein Schatten ist plötzlich Lucia bei ihnen. »Wolf! Wolf, was ist dir?« Sie kniet neben dem Fremden. »Mir geht es gut«, sagt Heinrich. »Hilf dem da.« Sie starrt ihn an, als wäre er ein Gespenst. Blickt dann erneut auf den Verletzten, auf seine Wunde. Dann schaut sie Heinrich in die Augen und schüttelt den Kopf. Keine Hoffnung. Sie kennt sich aus. Lorenz sitzt abseits auf einem Baumstamm und hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Er verträgt so etwas schwer. Da bewegt der Überfallene mühsam eine Hand und winkt Heinrich näher. Der große Junge beugt sich über ihn, das Ohr an seinem Mund und lauscht der schwachen, krächzenden Stimme. »Meine Schwester – Jadwiga – sie wartet auf mich. Pfalzgräfin Jadwiga, ihr Leben«, er atmet schwach, »ihr Leben… Gefahr…« Die Atemzüge werden immer mühsamer. Das Blut fließt nur noch als dünnes Rinnsal aus der Wunde, während der Schnee in mehr als einem Meter Umkreis tief rot gefärbt ist. Und dann hört der Schwerverletzte auf zu atmen. Heinrich schließt ihm die Augen und spricht ein Totengebet. »Er hat keine Schmerzen gehabt«, sagt Lucia, wie um sich selbst Mut zu machen. »Wir müssen ihn begraben.« Lorenz hebt den Kopf. »Wie wollt ihr ihn denn begraben? Der Boden ist steinhart!« Seine Stimme schwankt. »Uns fällt etwas ein«, sagt Heinrich schlicht.
Stunden später türmt sich ein Hügel aus Steinen neben dem Weg, bedeckt mit Tannenzweigen. »Ein besseres Grab können wir dir nicht richten, verzeih uns«, murmelt Heinrich. Mit Lucia steht er an der einfachen Grabstätte. Lorenz und Lythande sind fort – das Pferd zu suchen. Lorenz’ Nerven sind für solche Situationen nicht geschaffen. »Weißt du was?«, murmelt Lucia. »Zuerst hab ich gedacht – du bist es…« Heinrich zieht die Stirn kraus. »Wie meinst du das?« »Er sah dir ähnlich, hast du das nicht bemerkt?« Lucia sieht betreten zu ihm empor. »Das Haar, die Größe, alles. Wie Bruder.« Sie seufzt. »Dank den Heiligen, du lebst.« Heinrich hört nicht richtig zu. »Was für eine grausame Welt, in der ein junger Mann sterben muss, weil er einen Mantel trägt, den ein anderer haben will!« Jetzt lächelt sie. »Nicht nur Mantel.« Sie zieht einen Geldbeutel aus ihren Kleidern hervor. Ihre Augen blitzen. Heinrich schnappt nach Luft. »Du Elster!« Doch seine Empörung hält sich in Grenzen. Die Börse ist prall gefüllt. Den Inhalt könnten sie gut gebrauchen, und dem Toten nützt er ohnehin nicht mehr. Und wenn er dieser Pfalzgräfin die Nachricht vom Tod ihres Bruders bringt – na ja, vielleicht lässt sie ihnen dann sogar das Geld – oder einen Teil… Obwohl schlechte Nachrichten meist nicht viel einbringen… Sie entfernen sich von dem Grab, Heinrich holt seine Sachen, verstaut die Armbrust und schultert den Mantelsack. Dann folgen sie den Spuren von Lorenz und Lythande. Es wird schon dämmrig.
Das Lagerfeuer auf der Lichtung prasselt munter. Sie haben Schnee in einem Kessel geschmolzen und Kräuter hineingetan.
Der Tee wärmt sie von innen. Auch in dieser Nacht werden sie nicht erfrieren. Und sie haben ein Pferd. Lorenz hat den Braunen nicht weit entfernt im Wald gefunden, wo sich sein Zügel im Ast eines Baumes verfangen hatte. Ein wohlgenährtes braunes Pferd, das auf die gut gefüllte Scheune seines Besitzers schließen lässt. Dennoch hat die Stimmung der Wolfsbande mal wieder einen Tiefpunkt erreicht. Da liegt ihnen nun wohl ein Vermächtnis auf den Schultern – jedenfalls, wenn es nach Wolf geht. Und dass es nach ihm geht, das dürfte auch klar sein. Immer. »Die Pfalzgräfin Jadwiga, ihr Leben… Gefahr – was er wohl damit gemeint hat?« Heinrich stochert in der Glut und fischt eine gebackene Rübe heraus. Lorenz zieht einen Flunsch. »Das Leben irgendeiner Pfalzgräfin ist in Gefahr. Himmel! Ich weiß nicht mal so richtig, was eine Pfalzgräfin ist!« »Eine Gräfin auf einer Pfalz«, sagt Heinrich mürrisch. »Und eine Pfalz?« Heinrich spürt, wie er die Geduld verliert. »Junge, stell dich nicht dümmer, als du bist! Eine Pfalz ist eine Festung, die dazu eingerichtet ist, den König und sein Gefolge zu beherbergen, wenn er durchs Land zieht! Wenigstens das wirst du ja wissen, dass der König auch so etwas wie ein Fahrender ist in Deutschland. Hat keine feste Hauptstadt, zieht von Ort zu Ort. Und der Pfalzgraf oder die Pfalzgräfin, die sind so etwas wie die adligen Wirtsleute. Verstanden?« Lorenz grinst im Dunkeln. »Danke für die Belehrung. Und die Pfalzgräfin Jadwiga ist in Gefahr und Ritter Heinrich wird sie retten – sehe ich das richtig?« Heinrich antwortet nicht. Er blickt in die Flammen, während er darauf wartet, dass sein Abendessen abkühlt. Seine Gedanken sind weit fort. Das Pferd, das sie an einem Baum
angebunden haben, schnaubt leise. Es ist ein tröstliches Geräusch. »Wirst du die Frau suchen?« Lucia sieht ihn fordernd an. Heinrich nickt langsam, und Lorenz seufzt schwer. »Na, das war ja zu befürchten. Auf Wiedersehen, voller Geldbeutel und gutes Pferd! – Aber, nebenbei gesagt, wo willst du sie finden? Eine Adresse hat er dir ja wohl nicht verraten.« »Denk doch mal nach, Lorenz!« Er beginnt, seine Rübe zu schälen. »Pfalzen gibt es nicht wie Sand am Meer. Wenn hier eine ist, wird sie unschwer zu finden sein.« Zum Schlafen schmiegen sie sich eng aneinander. –
Da hat sich Heinrich schön lächerlich gemacht bei den Leuten mit seiner Frage, ob es denn hier eine Pfalz gäbe. Ausgelacht haben ihn die Einheimischen – ob er denn vom Mond käme! Jeder hier kennt die Pfalz und die dazu gehörige Stadt. Tatsächlich war es nur noch ein halber Tagesmarsch durch immer dichter besiedeltes Gebiet gewesen, bis die Truppe die Stadt zu Füßen der mächtigen Kaiserpfalz erreicht hat. Nicht nur zum Schutz gegen die Kälte hat Heinrich sein Gesicht jetzt wieder mit dem Sarazenentuch verhüllt. Er will die Leute nicht unnötig erschrecken mit seinem Gesicht voller Narben, diesem Gesicht eines Wasserspeiers über der Kirchentür. Allerdings ist es im Winter leichter zu erklären, warum man so ein Kleidungsstück trägt. Man sieht ihm weniger argwöhnisch hinterher als in der warmen Jahreszeit. Heinrich, Lorenz und Lucia kennen sich inzwischen in Städten aus. Das ist nicht das erste Mal, dass sie so etwas erleben: Die verwinkelten Gassen innerhalb der Stadtmauern, die jetzt im Winter stinken nach dem Rauch der Schornsteine, und die sich dann irgendwann öffnen zu einem langgestreckten Marktplatz mit prächtigen Gebäuden, bunt bemalt, mit
frommen Sprüchen beschriftet, die Türen verziert mit Holzschnitzereien, spiegelnde Butzenscheibenfenster. Weil der Boden gefroren ist, versinkt man zum Glück auch nicht im Matsch, wie das sonst in den Gassen meist der Fall ist, denn aller Dreck wird kurzerhand auf die Straße gekippt. Lorenz begutachtet fachmännisch den Platz. »Ich werde zum Bürgermeister gehen und um Erlaubnis bitten, dass wir eine Vorstellung geben dürfen. Das bringt bestimmt gut was ein. Die Leute langweilen sich im Winter, und es ist nicht so kalt, dass sie nicht mal für eine halbe Stunde vor die Tür gehen könnten, um ein paar Gaukler anzusehen. Da kommt was in die Kassen.« Er wirft einen schrägen Seitenblick auf Heinrich. »Denn ich seh ja schon kommen, dass wir den Pfalzgrafenbeutel nicht behalten werden.« Heinrich nickt und »überhört« zugleich die letzte Bemerkung. Er weiß, in geschäftlichen Angelegenheiten kann er sich auf Lorenz verlassen, der versteht es besser, mit den Menschen umzugehen. »Ich suche inzwischen diese Pfalzgräfin auf und überbringe ihr die schlimme Nachricht. Vielleicht ist sie großzügig…« »Ph! Wer’s glaubt!« Lorenz kann den Mund nicht halten. »Ich gehe mit!« Lucia steht neben Heinrich. Aber der schüttelt den Kopf. »Du bleibst bei Lorenz!«, sagt er – sanft, aber bestimmt. »Bereite alles vor für unsere Vorstellung.« »Kommst du bald zurück? Ohne dich ist Vorstellung nichts. Ohne Armbrustschießen auf mich – Leute sind immer ganz wild drauf. Ist das Beste.« Er muss lächeln. Das ist wirklich ihre wichtigste Szene: Wenn Lucia wie angenagelt an der Bretterwand steht und er, Heinrich, sie mit seinen Armbrustbolzen sozusagen »einrahmt«. Lorenz ist dabei vor Angst fast gestorben. Lucia hat bessere Nerven.
»Ich bin zurück, so schnell es geht!«, verspricht er. Irgendwie hat er bei der ganzen Sache kein gutes Gefühl.
Die Pfalzgräfin braucht einen Bruder
Und jetzt führt Heinrich das Pferd in die Pfalz hinein. Es trottet gesenkten Hauptes hinter ihm her und wirkt dabei genauso deprimiert wie er selbst, der er die Todesnachricht zu überbringen hat. Der Klang der Hufeisen schallt laut auf dem gepflasterten Burghof. Noch ehe Heinrich lange überlegen muss, wohin er sich nun wenden soll, schlüpft eine zierliche Gestalt aus der Tür des rechtsseitigen Turmanbaus, fliegt auf ihn zu. Und bevor er sich’s versieht, schlingt ihm das Mädchen die Arme um den Hals. »Endlich bist du gekommen, Wenzel!«, flüstert sie schwach mit erstickter Stimme. Heinrich fühlt einen Kloß in der Kehle. Behutsam schiebt er das Wesen von sich. Räuspert sich. »Ich bin nicht der, den Ihr erwartet«, bringt er schließlich hervor. »Aber… du bist doch… Ihr schient mir…« In ihre Augen tritt ein Ausdruck des Entsetzens. »Aber das ist das Pferd! Das Pferd meines Bruders!« Er begreift. Das Fräulein hat ihn mit dem Toten verwechselt. Wie entsetzlich. »Ruft einen Stallknecht, damit er das Pferd versorgt, und dann weist uns einen Platz, an dem wir ungestört reden können«, sagt er heiser. Er atmet tief durch. »Ich habe Euch etwas zu sagen.«
Die Pfalzgräfin Jadwiga hat nicht geschrien und ist nicht in Ohnmacht gefallen, als er ihr die Nachricht vom Tod ihres Bruders überbracht hat. Sie wurde einfach nur entsetzlich blass. Schweigend sitzt sie ihm gegenüber auf dem Stuhl in ihrer Kemenate. Ihr Blick geht ins Leere, und nur die Finger, die um die Stuhlkante gekrallt sind und deren Knöchel bläulich weiß hervortreten, verraten, wie aufgewühlt die junge Frau ist. Kein Mädchen mehr – das hat Heinrich inzwischen erkannt. Zwar ist sie mädchenhaft zart und wohl kaum älter als er – aber unverkennbar wölbt sich ihr Bauch unter dem weiten Gewand. Jadwiga ist schwanger. Heinrich hat ausreichend Gelegenheit, die junge Pfalzgräfin zu betrachten, wie sie so stumm dasitzt und versucht, fertig zu werden mit dem, was er ihr gesagt hat. Sie ist weder hübsch noch hässlich. Die Stupsnase verleiht dem Gesicht einen kindlichen Ausdruck. Vielleicht hätte man sie niedlich genannt, wäre da nicht der schwermütige Zug um ihren Mund gewesen, wo sich schon jetzt zwei Falten eingeprägt haben – und dieser Blick. Leer. Verzweifelt. Endlich sieht sie ihn an. »Zeigt mir Euer Gesicht.« »Es ist kein Gesicht zum Vorzeigen. Verzeiht, ich will nicht unhöflich sein, aber ich hatte als Kind die Blattern und…« Sie unterbricht ihn mit einer kleinen, befehlsgewohnten Geste. »Zeigt Euch!« Ihre Miene bleibt völlig starr, auch als er das Sarazenentuch abnimmt. Sie mustert ihn eindringlich, seine zerklüfteten Wangen, die scharf geschwungenen Augenbrauen und die gebogene Nase, die ihn wie einen Raubvogel aussehen lassen. Dann deutet sie mit einem Nicken an, dass er sich wieder verhüllen kann. In ihren Blick kommt Leben. Ein Funke flammt auf. »Ich wüsste etwas. Wollt Ihr mir helfen?«
»Kann ich das denn?« »Steht einmal auf!« Er sieht sie fragend an. Wieder die kleine Geste. »Bleibt so.« Sie geht um ihn herum, mustert ihn wie eine Ware. »Ja, Ihr könnt…«, sagt sie schließlich, wendet sich ab und tritt an ein Erkerfenster. So – indem sie Heinrich den Rücken zukehrt – beginnt sie übergangslos, ihre Geschichte zu erzählen. Und er steht wie gelähmt in der Mitte des Zimmers und hört ihr zu.
»Meine Familie lebt weit entfernt von hier im Norden. Mein Vater, ein pommerscher Fürst, lernte den alten Pfalzgrafen auf einem Kreuzzug kennen. Zu meinem Unglück. Sie fassten beide einen Entschluss.« Sie holt Luft, macht eine Pause. Heinrich fragt nichts. »Als mein Vater dann vom Kreuzzug heimkehrte, erfuhr ich, dass ich verlobt war. Ich wurde nicht gefragt, ob ich damit einverstanden wäre. Ich war auf einmal die Braut des jungen Pfalzgrafen Albert, einfach weil mein Vater den alten Pfalzgrafen Christoph zu seinem Busenfreund gemacht hatte! – Albert, mein Verlobter, war nicht mit auf dem Kreuzzug gewesen. Warum, darüber schwieg sein Vater sich aus. – Ich hatte ihn nicht einmal gesehen! Wider meinen Willen musste ich mit einem kleinen Gefolge die lange und mühselige Reise hierher nach Westfalen antreten. Man erwartete mich – und natürlich meine Mitgift!« Jetzt wendet sie sich Heinrich zu. Um ihre Lippen liegt ein verächtlicher Zug. »Dann lernte ich meinen Ehemann kennen. – Nein, der hätte den Kreuzzug weiß Gott nicht durchgestanden! Der kam schon ins Japsen und hielt sich die Brust, wenn er nur eine Treppe stieg. Ein Schwert konnte der nicht einmal halten! Ich war verschachert worden an einen
jungen Mann, der aussah, als würde er dem Grab entstiegen sein.« Sie dreht sich wieder zum Fenster. Ein Ton, von dem Heinrich nicht weiß, ob es ein Lachen oder ein Schluchzen ist. »Ich will es kurz machen«, sagt sie hart. »Albert starb in der Hochzeitsnacht, in meinem Bett.« Es ist still im Raum. »Nachdem er das hier«, sie legt beide Hände auf ihren Bauch, »vollbracht hatte, ging ihm der Atem vollends aus.« Jetzt lacht sie wirklich. »Herrin, Ihr solltet euren toten Gemahl nicht hassen«, beginnt Heinrich vorsichtig. Sie fährt herum, und die Röte ist ihr in das blasse Gesicht gestiegen. »Ha, nicht hassen!«, entgegnet sie plötzlich heftig. »Wartet ab, was jetzt kommt!« Jadwiga spricht jetzt schnell und erregt, ihre zuvor zur Schau gestellte Kühle ist gänzlich verschwunden. »Christoph, der alte Pfalzgraf, beschuldigt mich nämlich, seinen Sohn umgebracht zu haben! Eine Giftmischerin nennt er mich, einen tödlichen Nachttrunk soll ich seinem Söhnchen gegeben haben, um den ungeliebten Mann loszuwerden.« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Geliebt habe ich ihn nicht, gewiss, aber ich bin doch keine Mörderin!« Der letzte Satz klingt schrill. Und plötzlich schießen ihre Tränen hervor. »Christoph, mein Schwiegervater, hätte mich am liebsten gleich hinrichten lassen, doch ich sagte ihm, ich trüge seinen Enkelsohn unter dem Herzen…« »Woher wisst Ihr, dass es ein Junge wird?«, fragt Heinrich. Sie macht Handbewegung. »Als ich das behauptete, wusste ich noch nicht einmal, dass ich überhaupt schwanger war«, sagt sie unwirsch. »Es ging um meinen Hals! So bleibe ich zumindest am Leben, bis das Kind auf der Welt ist.« Jetzt geht sie unruhig im Raum hin und her, ihre vorherige Starre ist einer seltsamen Wildheit gewichen.
»Dann fiel mir etwas ein. Ich habe meine Unschuld beschworen und ein Gottesgericht gefordert. Einen Zweikampf zwischen dem Kläger, also Christoph, und einem, der für mich eintritt. Ich habe als meinen Streiter meinen Bruder Wenzel genannt. Er glaubt mir, und er ist jung und stark und ein erfahrener Kämpfer.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Ich meine: Er war jung und stark…« Ihr Gesicht erstarrt wieder vor Verzweiflung. »Ich habe vor Monaten schon nach ihm geschickt und ihn so sehnlich erwartet wie ein Kind, dass auf den Heiligen Christ hofft. Wenzel hätte das Gestech gewonnen, ich bin sicher, und ich hätte mit ihm nach Haus zurückkehren können. Aber nun, wo er tot ist… Graf Christoph hat mich in der Hand. Ein Sieger ohne Schlacht. Hat meine Mitgift und das Enkelkind dazu, und wenn ich erst geboren habe, werde ich gerichtet.« Sie richtet ihren Blick starr auf Heinrich. »Außer, Ihr helft mir.« »Aber wie soll ich Euch helfen, Dame?« »Sagt mir erst, ob Ihr mir glaubt. Ob Ihr an meine Unschuld glaubt und bereit wäret, sie zu beschwören.« »Ich weiß nicht, ob ich sie beschwören kann – aber Ihr hört Euch nicht an wie eine Lügnerin, und die letzten Worte Eures Bruders…« »Das reicht mir!«, unterbricht sie ihn, wieder mit dieser herrischen kleinen Geste. Wiederholt: »Das muss genügen.« Ihr Gesicht ist hart. Mit zwei Schritten ist sie bei Heinrich und wirft sich vor ihm auf die Knie, ergreift seine Hände. »Ihr müsst mir helfen, rettet mich! Ihr könnt es!« Sie schluchzt auf, und Heinrich spürt die Tränen über seine Hände rinnen. »Der Himmel hat Euch zu mir geschickt, das ist sicher. Ihr müsst die Stelle meines Bruders einnehmen. Ihr habt seine Statur, Ihr seid kräftig, sicher seid Ihr kampferprobt. Kämpft für mich im Gottesgericht.«
Einen Moment lang hat Heinrich das Gefühl, der Raum würde sich um ihn drehen. Das ist der helle Wahnsinn! »Ausgeschlossen!« Gröber, als er will, stößt er sie von sich, springt zur Seite. Jadwiga atmet tief durch, erhebt sich und streicht ihr Kleid glatt. »Mein Leben und das Wohl meines Kindes liegen in Eurer Hand. Eure Weigerung nehme ich nicht zur Kenntnis. Wenn Ihr ein Ritter seid und an meine Unschuld glaubt, müsst Ihr kämpfen.« »Aber ich bin kein Ritter!« Heinrich schreit fast. »Ich bin ein Fahrender, ein rechtloser Gaukler!« Die junge Frau lächelt finster. »Das mag für den Augenblick stimmen. Aber Ihr könnt mir nichts weismachen. Die Art, wie Ihr geht, wie Ihr steht, wie Ihr Eure Waffe am Gürtel habt – außerdem: Was tut das? Ritter hin, Ritter her. Ich will leben! Es reicht, dass Ihr kämpfen könnt und an meine Unschuld glaubt. Ihr geltet als mein Bruder und Gott wird richten.« Sie steht vor ihm, klein und schmal, verzweifelt und zu allem entschlossen. »Ich habe ohnehin keine Wahl. Noch zwei Monate, und ich bin tot.« Sie schließt die Hände um ihren Bauch. Heinrich fasst sich an den Kopf, krallt sich die Finger ins Haar. »Gütiger Heiland! Dame! Ihr wisst nicht, was Ihr da verlangt. Abgesehen davon, dass ich ohnehin nicht glaube, dass Gott der Herr sein Urteil spricht über so unsinnige und prahlerische Dinge wie ein Kampfgestech – ich bin nicht ausgebildet in solchen Sachen! Ich kann es einfach nicht, versteht Ihr?« »Wenn Ihr an meine Unschuld glaubt, werdet Ihr gewinnen!«, sagt sie ruhig. »Ich denke sehr wohl, dass Gott auf diese Weise den zu Unrecht Beschuldigten hilft.« Plötzlich hat sie einen kleinen Dolch in der Hand. Sie packt ihn an der Spitze, und er saust blitzend durchs Zimmer, genau
auf Heinrich zu. Der weicht mit einer raschen Drehung aus und hat im gleichen Moment sein Messer gezogen. Wut presst ihm die Kehle zu. »Was soll das, Frau Jadwiga?« Seine Augen funkeln kalt. »Seht Ihr«, sagt sie ungerührt. »Ihr könnt es sehr wohl. Wie schnell Ihr seid! Mein Bruder Wenzel wird einfach drauf bestehen, dass er nach der langen Reise seine Kampfkünste auffrischt. Er wird noch ein oder zwei Wochen Zeit haben zum Üben und dann…« »Nun reicht’s mir aber!«, sagt Heinrich voller Zorn. »Ich lass mich nicht erpressen! Glaubt mir, wenn ich jemandem helfen kann, dann tu ich das. Aber nicht auf diese Art, ganz bestimmt nicht. Meine Freunde und ich, wir werden uns beraten und uns wird bestimmt etwas einfallen, Euch hier rauszuholen, Ihr seid ja offenbar nicht allzu streng bewacht. Und dann…« »Nein!« Sie geht im Raum hin und her, rührend schmal, das Kreuz durchgedrückt, und stützt die Arme in die Hüften, um ihre Last zu erleichtern. »Nein, nein!« Sie schüttelt den Kopf. Unter der strengen Kopfbedeckung, die sie trägt, kommen ein paar blassgoldene Haarsträhnen hervor, liegen wie Schatten auf ihren Wangen. »Erpressen«, wiederholt sie, wie in Gedanken. »Ja, das ist ja dann wohl das Einzige, was mir übrig bleibt. Verzeiht mir.« Sie bleibt vor Heinrich stehen, und ihre Augen scheinen einfach durch ihn hindurchzugehen. »Ein Rechtloser? Ein Gaukler? Gut. Dann werde ich jetzt Anklage gegen Euch erheben wegen des Mordes an meinem Bruder Wenzel. Ihr habt seinen Geldbeutel und sein Pferd. Das ist Beweis genug. Der Gipfel Eurer Unverschämtheit ist, dass Ihr auch noch zu mir gekommen seid und behauptet habt, Ihr hättet ihn retten wollen, um von mir was zu ergaunern. Was meint Ihr wohl, wem wird man glauben? Mir oder Euch?« Heinrich ringt nach Luft. Fassungslos starrt er auf diese zarte Frau mit den verzweifelten Augen, die nichts zu sehen
scheinen. In was für eine Falle ist er da geraten? »Das werdet Ihr nicht ernsthaft tun, Frau Jadwiga! Das glaube ich einfach nicht!«, stottert er und weiß, dass er sich irrt, schon bevor sie ihm tonlos, aber fest erwidert. »Ich werde es tun. Ich schwöre beim Leben meines ungeborenen Kindes.« »Wollt Ihr mich umbringen?« »Ich will niemanden umbringen. Man will mich umbringen. Und um das zu verhindern, ist mir alles Recht. Mir steht das Wasser bis zum Hals. Kämpft für mich, oder ich zeige Euch an.« »Selbst wenn ich es wollte – ich werde verlieren!« Sie zuckt die Achseln. »Ich glaube das nicht. Zwei Wochen lang könnt Ihr Euch vorbereiten. Zwei Wochen Lebenszeit für mich – und wer weiß, was dann ist.« Heinrich starrt vor sich hin. Diese Frau ist zu allem entschlossen, das ist ihm klar. »Ich habe Gefährten da unten in der Stadt«, sagt er leise. »Sie wissen, dass ich hier bin und werden nach mir suchen.« »Noch mehr Gauklervolk? Ich kann euch auch alle vor den Richter bringen! Zwar stehe ich selbst unter Anklage, aber immerhin bin ich noch eine Adlige und ihr seid rechtlos. Ihr seid geliefert.« Sie sagt es völlig ohne Aufregung, mit der Ruhe der Verzweiflung. Gerade das macht sie so glaubwürdig. So gefährlich glaubwürdig. Heinrich spürt: Er hat keine Chance. »Ich muss ihnen wenigstens sagen, wo ich bin.« Sie nickt. »Tut das. Aber gebt mir Euer Wort, dass Ihr ihnen nicht verratet, was Ihr hier vorhabt. Gaukler sind schwatzhaft. Niemand darf wissen, dass Ihr nicht mein Bruder Wenzel seid.« »Ihr habt mein Wort«, sagt er widerstrebend. Fügt hinzu: »Etwas so Hirnrissiges würden sie mir ohnehin nicht glauben.«
Sie zuckt nicht mit der Wimper. »Dann geht. Bringt ihnen etwas von Wenzels Geld, das wird ihnen das Maul stopfen. Schickt sie fort aus der Gegend und seid spätestens morgen früh zurück – in ritterlicher Kleidung, so wie Wenzel sie trug, und auf diesem Pferd. Man wird Euch gebührend empfangen. Schwört, zu schweigen!« »Ich schwöre«, murmelt Heinrich. Ihm ist wie in einem bösen Traum. Jadwiga atmet tief durch. »Nun ist es gut«, sagt sie leise. Plötzlich wankt sie, und mit einem leisen Seufzer fällt sie Heinrich ohnmächtig in die Arme. –
Endlich ist auf sein Rufen eine Dienerin gekommen, ein Mädchen, fast so blass und klein wie ihre Herrin, und hat ihm die junge Frau abgenommen. Jadwiga kommt erstaunlich schnell wieder zu sich. Er sieht, dass sie mit der anderen tuschelt. Einen Augenblick lang steht er noch und zögert. Aber was soll er hier noch? Bloß weg hier! Raus aus dieser Pfalz! Er rennt fast nach draußen. Im Stall ist alles still. Kein Reitknecht zu sehen. Der Braune ist noch nicht einmal abgesattelt. Wo sind die alle, dieser Pfalzgraf Christoph und die gesamte Dienerschaft? Vielleicht auf der Wildschweinjagd? Auch egal. Unbehelligt verlässt er die Mauern. Treibt das Tier in die Stadt hinunter, tief in Gedanken versunken. So bemerkt er nicht, dass kurze Zeit nach ihm ein Reiter in dunklem Mantel ebenfalls das Tor passiert und ihm durch die Gassen folgt wie ein Schatten.
Weglaufen will gelernt sein
»Ich fass es nicht! Es gibt noch Zeichen und Wunder! Sag bloß, sie hat dir wirklich das Pferd gelassen, die adlige Dame, statt dich mit einem Fußtritt wegzujagen!« Lorenz empfängt Heinrich an der Stalltür der Herberge, in der sie über dem Heuschuppen ein dürftiges Quartier gemietet haben. Er nimmt das Pferd beim Zügel, während Heinrich absitzt und mit einer ärgerlichen Handbewegung Lythande verscheucht, die freudig wedelnd an ihm hochspringt. »He, was hat dir mein Hund getan?« Lorenz reagiert immer empfindlich, wenn man seiner Lythande unfreundlich begegnet. Heinrich antwortet nicht. Fragt stattdessen: »Wo ist Lucia?« Der Junge zuckt die Achseln. »Auf unserer Stube, denke ich doch. Nicht jeder springt dir gleich vor Freude an den Hals, wenn du kommst – vor allen Dingen, wenn du solche Laune hast wie jetzt!« Er will beginnen, das Pferd abzusatteln, aber Heinrich hält seine rechte Hand fest. »Nicht! Nimm ihm nur das Gebiss ab und schütt ihm ein Maß Hafer in die Krippe. Danach pack zusammen. Wir müssen los.« Mit langen Schritten stiefelt er an Lorenz vorbei, der ihm mit offenem Mund nachsieht. Auf der Stiege, die außen am Schuppen zu ihrem Quartier führt, holt er den Älteren ein. »Sag das noch mal. Ich glaube, ich träume. Wir müssen los?! Aber wieso denn? Lucia und ich, wir haben uns hier fast ein Bein ausgerissen, alles für eine Vorstellung vorbereitet. Die sind sehr freundlich gewesen im Rathaus, wir dürfen sogar am Sonntag nach der heiligen Messe spielen, und ich hab schon
Bretter für ein Spielgerüst bestellt beim Tischler, und jetzt willst du abhauen? Aber wieso denn bloß?!« Die Tür fliegt auf. In ihrem Rahmen steht Lucia, sieht fragend zu Heinrich auf. Dann schmiegt sie sich wortlos in seine Arme, verbirgt ihr Gesicht an seiner Schulter. Lorenz räuspert sich. »Schön, dass ihr euch mögt«, sagt er bissig. »Na, ich hab ja Lythande.« Seine Eifersucht auf Lucia, die als Dritte erst später zu ihnen stieß, sich in ihre Jungenfreundschaft »hineingedrängt« hat, verlässt ihn nie ganz. Das Mädchen löst sich aus Heinrichs Armen. »Siehst du denn nicht?«, sagt sie verwundert. »Irgendwas ist passiert. Wolf ist ganz in Sorge.« »Und warum müssen wir jetzt Hals über Kopf weg?« »Wir müssen weg?!« Lucia sieht von einem zum anderen. Als Heinrich nickt, beginnt sie wortlos, ihre Sachen zusammenzusuchen. Lorenz lehnt sich an die Tür, verschränkt die Arme. »Würdest du uns vielleicht aufklären, edler Herr?« Heinrich zuckt zusammen bei dieser ironischen Anrede. Er senkt den Kopf, sieht vor sich hin. Seine Gefährten haben ein Recht auf eine Erklärung. Aber was kann er ihnen sagen? »Freunde«, beginnt er hilflos. »Etwas ist passiert auf der Pfalz. Etwas, wovor ich nur weglaufen kann. Was es ist, darf ich euch nicht sagen, ich hab’s hoch und heilig versprochen. Man verlangt da etwas von mir, wozu ich nicht in der Lage bin – und ich will es auch nicht tun. Darum rennen wir jetzt weg. Ich könnte vielleicht allein gehen und euch hier zurücklassen, aber ich denke, wenn wir zusammenbleiben, ist es allemal besser. Wie ich euch kenne, würdet ihr sowieso nach mir suchen, und das Aufsehen, das ihr dann erregen würdet, das könnte gefährlich werden. Für euch und für mich. Wir haben ein
Pferd, wir haben das Geld. Lasst uns unser Glück wo anders probieren, bitte. Mehr kann ich nicht sagen.« Für einen Moment ist es still in dem Raum. Nur das Feuer in dem kleinen Ofen prasselt. Es hätte so gemütlich werden können! Ein warmes Zimmer, richtige Betten, Vorstellungen auf dem Marktplatz in einer Stadt, wo sie wirklich willkommen sind, nicht bloß geduldet… Alle drei hängen sie wohl den gleichen Gedanken nach im Augenblick. Schließlich sagt Lorenz: »Wenn schon Wolf vor etwas Reißaus nimmt, dann muss es hart auf hart kommen. Trotzdem. Wir können hier nicht weg wie die Diebe in der Nacht. Ich muss wenigstens dem Tischler Bescheid sagen, der an unserem Spielgerüst arbeitet, und ihm eine kleine Entschädigung geben – schließlich hat er schon angefangen. Und der Stadtausrufer, den ich dafür bezahlt hab, dass er auf dem Markt zusammen mit den anderen neusten Neuigkeiten auch unsere Vorstellungen ansagt. Das Geld von dem kriegen wir sowieso nicht wieder. Na ja. Das hilft ja alles nichts.« Heinrich nickt zustimmend. »Wär gut, wenn wir die Stadt noch heute verlassen könnten, bevor sie die Tore schließen.« »Es wird früh dunkel!«, sagt Lucia. Sie packt ihre wichtigsten Habseligkeiten – die Musikinstrumente und das, was sie zum Gaukelspiel brauchen, unter anderem die berühmte Wolfsmaske, die Walther von der Vogelweide einst Heinrich geschenkt hat – in einen Mantelsack. »Besser, Wolf reitet vor. Wenn wir nicht fertig sind, kommen wir morgen nach. Verabreden Treffen.« »Keine dumme Idee!«, sagt Lorenz. Fügt sehnsüchtig hinzu: »Wir könnten auch noch mal in einem Bett schlafen!« »Gut. Dann trense ich jetzt den Braunen wieder auf und mache mich davon. Vielleicht ist es überhaupt besser so, erregt weniger Aufsehen, wenn wir die Stadt getrennt verlassen. Ich reite Richtung Westen, erst mal nach Dortmund und dann
weiter. Aachen dürfte von hier aus ungefähr noch zehn Tagesreisen sein.« »Willst du immer noch zu dieser Kaiserkrönung, warum überhaupt?«, fragt Lorenz. »Hörst du nie zu, denkst du nie mit?«, entgegnet Heinrich ungehalten. »Zum Ersten sind wir dort mit Herrn Walther verabredet. In seiner letzten Nachricht hat er einen großen Auftrag für uns angekündigt. Wichtige Botschaften nach Italien! In den Süden, versteht ihr, in die Wärme – und auch noch gut bezahlt!« Wobei er tunlichst verschweigt, dass sie auf dem Wege dorthin erst einmal die frostklirrenden Alpen überqueren müssen. »Zum Zweiten kommt zur Krönung Kaiser Friedrichs jede Menge Volk zusammen. Wir werden dort auftreten und mehr einnehmen, als wir in diesem muffigen Provinznest jemals hätten verdienen können!« »Wer’s glaubt«, Lorenz zuckt die Achseln. Er hat keine Lust, zu dieser Jahreszeit zu reisen. »Außerdem ist die Reise einigermaßen sicher«, fügt Heinrich hinzu. »Schließlich wollen alle zur Kaiserkrönung nach Aachen. Da fallen wir nicht auf. Wir treffen uns im nächsten Rasthaus auf dem Weg nach Dortmund. Nehmt Maultiere. Ach ja, hier. Wir teilen das.« Er zieht den Geldbeutel des toten Wenzels heraus, schüttet die Münzen aus und schichtet sie in drei kleinen Säulen auf. »Viel Silber. So viel haben wir lange nicht gehabt. Lorenz, steck zwei Drittel für dich und Lucia ein. Passt gut aufeinander auf, ihr beiden!« Lucia verzieht den Mund. »Ich kann auf mich selber aufpassen!«, sagt sie mit einem belustigten Seitenblick auf Lorenz. Dann, die großen Augen voll aufgeschlagen zu Heinrich: »Wolf, addio! Der Heiland soll dich behüten!« Sie schlägt vor seinem Gesicht ein Kreuz. Wendet sich dann ab, um ihre Tränen zu verbergen. Die Jungen umarmen sich hastig. Als Heinrich die Tür hinter sich geschlossen hat, sehen
sich die beiden Zurückgelassenen ernst an. »Ich hab Angst um ihn«, murmelt das Mädchen. Lorenz schnieft. »Ich doch auch!«, erwidert er. »Was für ein verdammter Unsinn das nun wieder ist – mit dieser Pfalz, und dass er es uns nicht sagen kann! Er zieht es förmlich an, das Missgeschick, denke ich manchmal.« Lucia öffnet den Mund zu einer Erwiderung, aber Lorenz winkt ab: »Ich weiß schon, was du jetzt sagen wirst. Wolf, unser Beschützer! Ist er ja auch. Aber ein schwieriger Beschützer ist er manchmal schon. – Ich erledige jetzt die Dinge in der Stadt. Komm, Lythande!« Die Hündin wieselt ihm eilfertig hinterher. In dem dämmernden Raum bleibt Lucia allein zurück. Statt weiter einzupacken, kniet sie nieder, faltet die Hände und betet. Betet für die Sicherheit Wolfs. –
Alles scheint gut zu gehen. Unbehelligt verlässt Heinrich das Gasthaus, kommt kurz vor Schließung am Stadttor an und schlägt die Richtung nach Westen ein. Er hat keine Angst vor dem einsamen Nachtritt. Die Wanderungen der Wolfsbande mussten oft nachts stattfinden. Manchmal mussten sie sich vor jemandem verstecken oder, so wie er jetzt, fliehen. Nachts sind kaum Leute unterwegs. Also auch keine Wegelagerer und Räuber. Auf dem Weg, den er einschlagen will, liegen viele Dörfer, man muss sich keine Sorgen machen wegen wilder Tiere. Der Schnee erhellt die Nacht, und die Kälte ist erträglich. Es weht kein Wind. Heinrich zieht sich den Pelz fester um die Schultern und lässt das Pferd einen leichten Trab anschlagen. Es ist zwar müde, aber bei dieser Gangart kann es sozusagen vor sich hin dösen, und er kann seinen Gedanken nachhängen. Wegzulaufen – das war der einzige Ausweg. Nie und nimmer wäre es ihm gelungen, einen in allen Waffenkünsten
bewanderten Ritter bei einem Gestech vom Pferd zu holen! Er ist gut ausgebildet in vielen Kampfarten, hat vor seiner Zeit im Kloster einen hervorragenden Waffenmeister gehabt und hat sich auch während der Zeit in der Abtei »Zum Guten Hirten« heimlich im Fechten üben können – aber das hier ist etwas ganz anderes. Dazu braucht man Kraft und vor allem jahrelange Erfahrung. Abgesehen davon, dass ihm der ganze Schwindel nicht gefällt. Er kann die junge Frau in ihrer Todesangst gut verstehen, und sie tut ihm in der Seele Leid. Aber er ist nun mal nicht Ritter Wenzel. Die ganze Sache würde so oder so auffliegen. Ein Gottesgericht! Was ist das überhaupt für ein Unsinn! Was soll Gott der Herr damit zu schaffen haben, wenn zwei bis an die Zähne gepanzerte Männer auf rasenden Hengsten versuchen, sich mit ihrer Lanze gegenseitig vom Pferd zu stoßen? Und der Sieg beweist die Schuld oder die Unschuld einer anderen Person, je nachdem, auf welcher Seite der Sieger steht!? Das haben sich Menschen ausgedacht. Die Wege des Himmels sind das nicht. Er überlegt fieberhaft: Wie kann man Jadwiga helfen? Vage kommt der Gedanke an seinen Meister Walther von der Vogelweide in ihm auf. Der ist nicht nur von adliger Herkunft, sondern hat auch das Ohr des künftigen Kaisers. Wenn sie ihn in Aachen treffen, können sie ihn vielleicht davon überzeugen, dass er sich für die junge Frau verwendet – falls es dann nicht schon zu spät ist… Heinrich ballt die Fäuste um die Zügel. Verdammt. Weglaufen ist seine Sache sonst nicht. Der Braune schnaubt unruhig, wendet den Kopf, beginnt zu tänzeln. Heinrich nimmt die Armbrust von der Schulter und reckt den Hals, späht mit zusammengekniffenen Augen ins Dickicht. Doch Wölfe? Aber eigentlich wirkt das Pferd nicht
verängstigt. Er klopft ihm beruhigend den Hals, beugt sich vor, um ihm gut zuzureden. In dem Augenblick trifft ihn ein furchtbarer Schlag in den Nacken. Es ist, als wenn ihn eine eiserne Keule aus dem Sattel risse. Ihm wird schwarz vor Augen. Er stürzt kopfüber vom Pferd, verfängt sich mit einem Fuß im Steigbügel, merkt, dass, Gott sei Dank, das Tier stehen geblieben ist und ihn also nicht mitschleift – dann weiß er gar nichts mehr. Die Welt versinkt in Finsternis. –
Schlagende Argumente
Die Schmerzen sind wie eine große Faust, die ihn unbarmherzig im Nacken gepackt hat. Sie strahlen aus bis in die Schultern und Arme. Sein Kopf dröhnt – und er hängt nach unten. In rhythmischer Bewegung drückt etwas gegen seinen Magen; er glaubt, dass er sich gleich übergeben muss. Bewegung… Natürlich. Er liegt mit dem Kopf nach unten bäuchlings über einem Sattel, Arme und Beine sind mit Stricken unterm Pferdebauch zusammengebunden. Das Tier geht im Trab und schüttelt ihn durch. Es ist unerträglich. »Wer Ihr auch seid – bindet mich los und lasst mich reiten! Ich bin bei Bewusstsein!«, presst er zwischen den Zähnen hervor. Erleichterung! Die Bewegung wird gestoppt. Er hört Geräusche, Klirren von Eisen, Schritte knirschen im Schnee. Dann knurrt eine tiefe Stimme neben ihm. »Hab wohl ein bisschen zu fest zugeschlagen. Na, Ihr werdet es verkraften.« Jemand löst die Fesseln von seinen Gelenken und gibt ihm einen Stoß. Er rutscht vom Pferd herunter in den Schnee und sitzt da, benommen, hält sich den Kopf, in dem Glocken zu dröhnen scheinen, und murmelt: »Mein Geld ist in der rechten Satteltasche. Es lohnt nicht, mich umzubringen. Lasst mich einfach hier sitzen. Ich werde Euch nicht anzeigen. Hab Euch ja nicht einmal gesehen. Gott verzeih Euch.« »Das Geld gehört Euch so wenig wie das Pferd, nebenbei bemerkt«, sagt die tiefe Stimme. »Aber das spielt keine Rolle. Ihr habt meiner Herrin ein Versprechen gegeben, und ich bin ausgeschickt, um aufzupassen, dass Ihr es einhaltet.«
Heinrich blinzelt mühsam. Vor ihm steht eine große dunkle Gestalt, er sieht nur Umrisse. »Ihr seid ein Diener der Pfalzgräfin?«, fragt er und weiß die Antwort schon, bevor der andere bestätigend brummt. »Also los, steigt auf den Gaul. Ich habe zugesagt, dass ich Euch zu ihr bringe, und im Gegensatz zu Euch halte ich mein Versprechen, meineidiger Schurke!« »Ich bin nicht meineidig«, sagt Heinrich finster und steht auf. Die Welt dreht sich um ihn, er muss sich am Pferd mit beiden Händen abstützen. »Ich habe Eurer Herrin nur gelobt, verschwiegen zu sein, weiter nichts.« »Ja, wer’s glaubt!«, kommt die ungerührte Antwort. »Los, aufs Pferd, und seid nicht so zimperlich – Ritter Wenzel!« »Ihr wisst so gut wie ich, dass ich das nicht bin.« »Von jetzt an seid Ihr’s. Sitzt auf, Herr Ritter!« Heinrich reibt sich den Nacken. »Ihr hättet mir das Genick brechen können! Wenn mein Tuch nicht gewesen wäre…« »Wenn der Hund nicht geschissen hätte, hätte er den Hasen gehabt«, kommt die grobe Antwort. »Hört endlich auf zu jammern. Übrigens, ich werde Euer Waffenmeister sein.« Heinrich quält sich in den Sattel. »Ich bin entzückt!«, sagt er wütend durch die Zähne. »Sicher wird das eine wundervolle Zeit. Wie heißt Ihr, schlagkräftiger Freund?« Etwas wie ein Lachen neben ihm in der Dunkelheit. Aber es klingt alles andere als lustig. »Lukas, und ein Mann der Herrin Jadwiga heute und immer, auf Leben und Tod. Auf mich kann sie zählen.« »Auch wenn ich jemanden krumm schlagen muss« – ergänzt Heinrich in Gedanken den Satz des anderen. Da ist er schön in die Falle gerasselt. Aber um über das alles weiter nachzudenken, tun ihm Kopf und Genick viel zu weh. Nur eines ist klar: Schlimmer kann es eigentlich gar nicht kommen.
»Der Raum für meinen Bruder ist besser eingerichtet als meine eigene Kemenate«, sagt Jadwiga. »Schließlich ist der ja ein Gast, auch wenn er zu einem Kampf mit dem Burgherrn hergekommen ist – ich bin bloß eine Gefangene.« Sie spricht ruhig, fast beiläufig. Heinrich starrt sie wütend an und kann nicht umhin, sich den schmerzenden Nacken zu reiben. »Kein Wort darüber, was Euer – Euer Leibwächter mit mir angestellt hat? Nicht einmal eine Erklärung? Von so etwas wie einer Entschuldigung rede ich gar nicht. Ihr glaubt doch nicht im Ernst…« Sie unterbricht ihn mit der kleinen herrischen Handbewegung, die er nun schon an ihr kennt. »Worüber redet Ihr? Ihr wolltet davonlaufen – ist es da nicht klar, dass ich versuche, Euch festzuhalten?« »Ich habe Euch nie eine Zusage gegeben!« Sie zuckt die Achseln. »Ich muss es tun – versteht Ihr denn nicht? Es geht um mein Leben!« Heinrich schreit fast. »Aber ich kann Euer Leben nicht retten! Ich kann es einfach nicht!« »Ihr habt Zeit zum Üben«, sagt sie ungerührt, und die Verzweiflung in ihren Augen ist wieder da und leuchtet durch die vorgetäuschte Ruhe hindurch. »Jetzt ruht Euch zunächst einmal aus von den Anstrengungen der Reise‹. Meine Kammerfrau wird Euch eine Schüssel mit Essigwasser bringen, damit Ihr die Beule an Eurem Kopf kühlen könnt. Übrigens: Niemand außer ihr und meinem treuen Lukas wissen, dass Ihr in Wirklichkeit nicht mein Bruder seid. Von jetzt an seid Ihr Wenzel, und wer etwas anderes behauptet, dem wird es übel ergehen.« Sie wendet sich ab, will fort. »Jadwiga! Bleibt noch!« Heinrich lässt resigniert die Arme sinken. »Wir drehen uns im Kreis. Gestattet wenigstens, dass
ich meine Gefährten beruhige, dass sie erfahren, ich bin wohlauf.« Sie schüttelt den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage. Ich hoffe, Ihr habt wenigstens Euer Wort gehalten, nichts zu verraten.« »Ja, leider! Jetzt bereue ich es. Es ist unklug von Euch! Sie werden nach mir suchen!« »Das Gauklerpack? Daran glaube ich nicht. Die werden Euch schneller vergessen, als man einen Knochen abnagt. Außerdem: Wen schert es schon, wenn ein paar Rechtlose einen anderen Rechtlosen vermissen? Kein Hahn wird danach krähen.« Sie ist fort. Heinrich sinkt in einen Sessel, schlägt die Hände vors Gesicht und lässt seiner Verzweiflung freien Lauf. Er ist ein Gefangener und die Mauern seines Gefängnisses scheinen undurchdringlich. Was für eine Lage! Es klopft. Auf sein »Herein« öffnet sich die Tür, und das blasse Mädchen, das er bereits heute Vormittag bei seiner ohnmächtigen Herrin gesehen hat, kommt herein, überm Arm ein Leintuch, in jeder Hand einen Krug. Sie stößt die Tür mit dem Ellenbogen zu und lächelt schüchtern. »Das Essigwasser, wie meine Herrin befohlen hat. Und ein Wein. Meine Herrin sagt, es ist der ungarische Rotwein, den Ihr so gern trinkt, Herr Wenzel.« »Du weißt genauso gut wie ich, dass ich nicht dieser Wenzel bin«, sagt er eindringlich, und sie schlägt die Augen nieder, antwortet nicht. Stattdessen sagt sie: »Die Herrin lässt fragen, ob Ihr hungrig seid.« »Natürlich bin ich hungrig!«, erwidert er voller Wut. »Und ob ich hungrig bin! Das Beste aus der pfalzgräflichen Küche für Junker Wenzel, wenn ich bitten darf, und zwar ein bisschen plötzlich! Wenn ich schon hier festgehalten werde, dann bitte standesgemäß!«
Sie sieht ihn erschrocken an, nickt dann und huscht hinaus. Die Tür lässt sie angelehnt. Auch vorhin hat er keinen Schlüssel gehört. Nachlässigkeit – oder hält man ihn sozusagen an der langen Leine? Vorsichtig stößt er die Tür mit dem Fuß auf, blickt in den Flur, gewärtig, dass ihm irgendwer einen Spieß vor die Nase halten wird. Aber da ist niemand. Fackeln stecken in schmiedeeisernen Wandhaltern, erhellen in Abständen einen Gang, der zu einer steinernen Wendeltreppe führt. Die Steine sind schön behauen, das Geländer geschnitzt – in so einer Kaiserpfalz dürfte alles vom Feinsten sein. Er steht am Treppenabsatz und lauscht. Von unten dringen Stimmen zu ihm hoch, und der Geruch nach gebratenem Fleisch steigt ihm in die Nase. Da ist also die Küche – vielleicht mit einem besonderen Ausgang – aber das kann er erst erforschen, wenn die Leute zu Bett gegangen sind – falls es Frau Jadwiga oder ihrem Lukas nicht doch noch einfällt, ihn einzusperren. Also nach oben. Mit langen Schritten stürmt Heinrich die Treppe hoch. Auf dem Absatz eine schmale Tür: verschlossen. Das Gleiche wiederholt sich noch zweimal. Scheint der große Turm dieser Pfalz zu sein. Schließlich spürt er einen frischen Luftzug. Winterliche Kälte strömt ihm entgegen, als er auf die oberste Plattform des Turms, den Söller, hinaustritt. Zu seinen Füßen ein mattes Flimmern – die Lichter der Stadt, wo sich jetzt vielleicht Lorenz und Lucia ahnungslos im Wirtshaus eine gute Suppe genehmigen, sich auf die Nacht im warmen Bett freuen und möglicherweise gerade über ihn reden: »Wie weit wird Wolf wohl gekommen sein? – Oh, ich wette, der ist schon über alle Berge!« Er ballt die Fäuste in ohnmächtigem Zorn, hämmert auf die steinerne Brüstung.
Wie konnte er sich nur so übertölpeln lassen! Jetzt wie ein Raubvogel die Schwingen ausbreiten, entfliehen können, weg von hier… Sinnlose Fantasien. Er beugt sich weit vor über den Söller. Der kalte Wind zaust in seinem Haar. Vorsichtig tastet er das Mauerwerk von außen ab, so weit er mit der Hand kommt. Glatte Fugen und vor allem: Im Augenblick mit einer feinen Eisschicht überzogen. Jeder, der versuchen würde, sich hier abzuseilen oder womöglich zu klettern, würde abstürzen und sich den Hals brechen, das steht fest. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Gegenüber macht er den gewaltigen Turm des Domes aus, dahinter die Minarette der Kirchen. Direkt unter ihm liegt die Straße, die zum Domplatz führt, dem Mittelpunkt der Stadt. Seine Gefährten werden womöglich dort entlangreiten, wenn sie morgen das Westtor passieren wollen. Bei dem Gedanken daran, dass sie hier vorbeikommen könnten, wird ihm heiß. Aber wie soll er sich bemerkbar machen? Die Straßen und Gassen sind zu tief unten. Rufen würde man nicht hören, winken – winken kann jeder. Es müsste etwas sein, woran sie ihn erkennen. Wenn sie denn überhaupt diesen Weg nehmen. Wenn man ihn denn überhaupt morgen auch noch auf den Turm lässt. Wenn. Heinrich schließt die Augen, legt die Hände um seinen schmerzenden Nacken. Selten hat er sich so hilflos gefühlt. »Herr Wenzel?« Er wirbelt herum. Hinter ihm steht die kleine Magd mit den erschrockenen Augen, hält überm Arm irgendwelche Kleidungsstücke. »Euer Abendessen steht bereit in Eurem Zimmer. Und dies hier« – sie streckt den Arm mit den Sachen aus – »sollt Ihr anziehen, so befiehlt meine Herrin.« »Herr Wenzel, Herr Wenzel!«, äfft er sie wütend nach. »Du weißt doch so gut wie ich, dass ich nicht dieser Wenzel bin!«
Sie senkt den Kopf. Ihr dunkles Haar ist in der Mitte gescheitelt und zu zwei Zöpfen geflochten. Ein richtiges Kind noch. Heinrich schämt sich. Was fährt er die Kleine an? Die tut nur, was man ihr aufträgt. »Komm weg von hier«, sagt er ruhiger. »Hier ist es kalt.« Sie läuft vor ihm die Treppe hinunter, mit ihren schnellen, leisen Schritten. In seinem Zimmer ist der Tisch gedeckt mit weißem Brot und gebratenem Fleisch, und wider Willen läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. So etwas Gutes hat er lange nicht mehr gehabt. Ohne viel zu fragen setzt er sich und fängt an mit Essen, aber als die Kleine nach seinen ersten Bissen immer noch im Raum steht, wischt er sich den Mund und fragt. »Was machst du noch hier?« »Meine Herrin befiehlt, ich soll Euch bei Tisch bedienen. Und danach soll ich Euch Umschläge machen mit dem Essigwasser und soll Euch – und soll Euch beim Umkleiden helfen.« Heinrich sieht, dass ihr die Röte ins Gesicht steigt, auch wenn sie den Kopf wegdreht. »Kommt überhaupt nicht in Frage!«, sagt er energisch. »Ich kann allein essen, ich kann mir allein Umschläge machen und vor allem kann ich mich allein umkleiden.« »Aber meine Herrin…« »Deine Herrin kann dir etwas befehlen, aber nicht mir«, sagt er und verkneift sich ein Schmunzeln. »Schließlich bin ich ihr Bruder.« Sie sieht ihn an, blinzelt verwirrt. »Es ist doch so, nicht wahr?«, wiederholt er herausfordernd und schaut ihr gerade in die Augen. »Ich bin doch ihr Bruder?« Jetzt füllen sich diese Augen mit Tränen. »Was wollt Ihr von mir?«, stammelt sie.
Heinrich seufzt. »Gar nichts. Ich nehme an, du und dieser Lukas, ihr werdet mein Hauptumgang sein. Wie heißt du denn eigentlich?« »Greta«, erwidert sie und Heinrich zuckt zusammen. »Ich hatte eine Schwester, eine wirkliche Schwester, die heißt so wie du. Margarete.« »Warum sagt Ihr ›ich hatte‹? Ist sie tot?« »Für mich schon«, sagt er und legt das Brot zurück auf das Holzbrett. Der Appetit ist ihm vergangen. »Das war in meinem anderen Leben. Aber lass mal. Das brauchst du nicht zu wissen.« Schwer lastet die Erinnerung an seine unglückliche Schwester auf ihm, die von Stiefvater und -brüdern unterdrückt und gepeinigt wurde und schließlich in eine zweifelhafte Ehe entfloh. Heinrich hat nie mehr von ihr gehört, seit er als rechtloser Fahrender durch die Lande streift. Das Mädchen, Greta, steht immer noch da. »Geh schlafen«, sagt er freundlich. Die Kleine knickst und geht. Von einem Schlüssel oder Riegel hat Heinrich nichts gehört. Als sie fort ist, reißt sich Heinrich Wams und Hemd vom Leib und betastet vorsichtig die Beule an seinem Nacken. Die »Überredungskünste« dieses Lukas sind wirklich sehr überzeugend gewesen. Vorsichtig legt er sich einen EssigWasserumschlag auf die geschwollene Partie und begutachtet dann, was man ihm da an Kleidungsstücken gebracht hat. Eine Art Lederweste mit halbem Ärmel, ein Hemd aus feinem Leinen, bestickt, Hosen auch aus Leder, Stiefel, einen pelzbesetzten Umhang. Und darunter, wie sollte es anders sein, ein Schwertgurt, wie es sich für einen Ritter gehört. Natürlich ohne Schwert. Da sind sie vorsichtig. Das Bett ist fürstlich. Trägt auf vier Pfosten einen Himmel aus rotem Samt mit Troddeln an den Ecken. Weiße
Bettwäsche. Ein Traum. Auf einmal merkt Heinrich seine bleierne Müdigkeit. Er ist eingeschlafen, bevor sein Kopf das Kissen richtig berührt hat.
Kleine Waffenlehre
Der Morgen bringt wieder Greta mit Waschwasser und einem Topf heißer Milch und duftendem, frisch gebackenem Brot. Sie grüßt schüchtern, huscht im Raum hin und her, um Vorhänge aufzuziehen und Stuhlkissen gerade zu zupfen. Bei Tageslicht entpuppt es sich: Der Raum ist noch üppiger eingerichtet, als es Heinrich am Abend vorkam. Wandteppiche, Felle auf dem Boden, ein Kamin, an dem sich das Mädchen jetzt zu schaffen macht. So bequem wohnte Abt Benno, der schurkische Klostervorsteher der Abtei, aus der Heinrich damals geflohen ist, als er merkte, dass man ihn mit einer gefälschten Urkunde um sein Erbe betrügen wollte… »Werde ich deine Herrin heute zu Gesicht bekommen?«, fragt er und macht sich über das Frühstück her. Greta zuckt die Achseln. »Ich weiß nicht«, erwidert sie. »Nachher holt Euch Lukas ab.« Lukas, natürlich. Lukas, der ihn schleifen soll, damit er in kürzester Zeit erlernt, einen anderen standesgemäß vom Pferd zu holen. Schöne Aussichten. »Wo ist eigentlich der Burgherr? Ich meine, Pfalzgraf Christoph? Will er nicht mal kommen und den Bruder seiner Schwiegertochter begrüßen?«, erkundigt er sich spöttisch. »Der Herr Pfalzgraf ist auf Wildschweinjagd!« antwortet sie ernsthaft. Natürlich. Das hat er sich ja schon gedacht. Wo sollte ein ritterlicher Herr im Winter sonst schon sein, wenn er nicht hinterm warmen Ofen hockt und sein Bier schlürft. Warmer Ofen – das Feuer im Kamin flackert und verbreitet schnell wohlige Wärme. Mein Gott, so gut hat er’s schon lange
nicht mehr gehabt. Es lässt sich gut leben als Bruder der edlen Pfalzgräfin – fragt sich eben bloß, wie lange. Diese Frage zu beantworten, bekommt er bald Gelegenheit, denn kaum hat er den letzten Bissen verzehrt, da klirrt schon der lange Lukas herein, bekleidet mit einer halben Eisenwarenhandlung: Brustharnisch, Beinschienen, gepanzerte Handschuhe. Den Topfhelm trägt er unterm Arm. Aus der Halsberge, diesem stählernen Kragen, der fast bis zu den Ohren reicht, kommt sein großer zottiger Kopf hervor wie der einer Schildkröte aus ihrem Panzer: Kleine, finster blickende Augen, so schwarz wie Kohle, ein grimmig zusammengezogener Mund, dunkle Bartstoppeln – offenbar gehört er zu den Männern, die sich dreimal am Tag rasieren müssen. Sollte lieber gleich Vollbart tragen, denkt Heinrich. »Trainingsstunde!«, verkündet diese wandelnde Rüstung ohne Umschweife. »Los, komm. Mal sehen, was mit dir anzufangen ist.« Heinrich reckt sich zu seiner vollen Länge auf und mustert den anderen mit zusammengekniffenen Augen. Sein eisgrauer Wolfsblick verfehlt seine Wirkung nicht: Lukas senkt die Lider, scharrt leicht verlegen mit dem Fuß auf den Dielen. »Ich bin Junker Wenzel, hast du das vergessen?«, sagt Heinrich höhnisch. »Wenn du mich noch einmal so respektlos mit »Du« anredest, werde ich meine Schwester davon in Kenntnis setzen. Und den Schlag ins Genick – den zahle ich dir noch heim, verlass dich drauf. Los, worauf warten wir noch?« –
Die Waffenkammer der Pfalz ist hervorragend bestückt, wie nicht anders zu erwarten war. Heinrich findet auf Anhieb den passenden Brustpanzer, eine Halsberge und Handschuhe. Als ihm Lukas aber einen Helm hinhält, schüttelt er den Kopf.
»Nein. Zunächst einmal solltest du vielleicht herauskriegen, wie ich mit leichteren Waffen umgehen kann – wo ist übrigens meine Armbrust? Das ist meine liebste Art, zu kämpfen.« »Kann ich mir denken!«, knurrt der Mann. »Unritterlich und von weitem, nicht nah am Mann. Deine – äh – Eure Armbrust ist wohl verwahrt, keine Sorge. Die könnt Ihr dann wiederhaben.« Dann. Falls ich je lebend aus dieser Pfalz herauskomme, ergänzt Heinrich in Gedanken. Er entdeckt an der Wand zwei leichte, gebogene Krummschwerter, wie sie die Sarazenen im Orient benutzen. Seine Lieblingswaffe! Damit haben seine Waffenmeister ihn in die neue Kampfkunst eingeweiht, bei der man nicht mehr frontal mit erhobenem Schwert losgeht und schwerfällig aufeinander eindrischt, sondern sich schräg zum Gegner stellt und die Klinge gleichzeitig zur Deckung des eigenen Körpers einsetzt. »Wie wär’s damit?« Lukas nickt verächtlich – das scheint ihm ins Bild zu passen. »Kinderkram!« »Kennst du dich damit aus? Man ficht ohne Schild!« »Ohne Schild? Na, von mir aus.« Er nimmt die beiden Waffen vom Ständer, wirft die eine Heinrich zu – und erlebt im nächsten Moment sein blaues Wunder. Sein Gegner dringt mit solcher Heftigkeit und so schnell auf ihn ein, dass er sich binnen kurzem an der Wand sieht und die Linke hebt, zum Zeichen, dass er aufgibt. »Verdammt!« Lukas wischt sich mit dem Handschuh den Schweiß von der Stirn. »Und dann ziehst du wohl – zieht Ihr wohl Euren Dolch und gebt dem Gegner den Rest, was?«, fragt er böse.
»Dolch ist unritterlich«, gibt Heinrich spöttisch zurück. Er weiß, dass Lukas ihm diesen schnellen Sieg nicht verzeiht, und dass es nun hart auf hart kommt. Aber das ist ihm egal. Der Waffenmeister stiefelt jetzt in die Ecke, wo die großen Bidenhänder an der Wand lehnen – schwere Waffen für den Nahkampf Mann gegen Mann, die man nur mit beiden Händen schwingen kann – daher der Name. »Auch was für den Kampf ohne Schild!«, bemerkt er hämisch und lässt die Klinge probeweise durch die Luft sausen. Als Heinrich seine Waffe anhebt, hat er das Gefühl, einen Sack voller Korn zu stemmen. Er presst die Zähne zusammen. Der erste Hieb von Lukas, den er mit seiner Waffe pariert, lässt ihn taumeln. Der zweite zwingt ihn in die Knie. In seiner Not packt er die Waffe mit der Linken unten an der Schneide, um den nächsten mörderischen Schlag von Lukas aufzufangen wie mit einer Stange. Er fühlt, wie das Eisen durch seinen Handschuh dringt, wie das warme Blut seinen Arm hinunterläuft, stemmt sich hoch, wobei er sich auf den Schwertgriff stützt, wirbelt herum und lässt den Bidenhänder kreisen. So kann Lukas wenigstens nicht an ihn heran. Das Gewicht der Waffe bringt ihn wieder fast aus dem Gleichgewicht. Seine Arme fühlen sich an, als wenn sie gleich vom Körper abreißen würden. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Lukas mit erhobenem Schwert steht, lauernd auf den Augenblick, wo sein Gegner nicht mehr kann. Mit letzter Kraft setzt Heinrich zu einem Sprung an, sein kreisender Bidenhänder trifft Lukas’ Brustpanzer, Metall scheppert auf Metall, und dann kippt sein Waffenlehrer um wie eine gefällte Eiche. Heinrich ist schwarz vor Augen, schwer atmend steht er da, gestützt auf den Schwertknauf. Sein ganzer Körper schmerzt.
»Für den Anfang gar nicht schlecht!«, hört er die Stimme von Lukas. Sie dringt in seine Ohren wie durch Watte. »Was ist mit deiner Hand, Junge? Alles in Ordnung?« Heinrich zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Ich denke schon. Jedenfalls kann ich die Finger bewegen.« Dass Lukas wieder angefangen hat, ihn mit Du anzureden, übergeht er. »Pause? Oder weitermachen?« »Weitermachen. Aber wenn’s geht, nicht mit diesen Dingern.« »Für heute nicht. Du brauchst einfach Ausdauer. Tja, also, dann wollen wir mal zum Eigentlichen kommen.« Zum Eigentlichen. Heinrich schwant nun Fürchterliches, als Lukas ihm Beinschienen anlegt, ihm einen Helm gibt, der dem seinen um ein Haar ähnelt, dazu einen Schild, der bleischwer am Arm liegt, und eine riesige, bunt gestreifte Lanze, die seinen Kopf weit überragt. »Keine Sorge, die Spitze ist stumpf!«, beruhigt Lukas. »Wir gehen jetzt zum Turnierplatz. Die Pferde habe ich vorhin schon vorbereiten lassen. Kannst du überhaupt richtig reiten?« »Was versteht man hier unter richtig?«, fragt Heinrich mit zusammengebissenen Zähnen. »Na, kampfmäßig. Im Galopp anreiten, Lanze einlegen, möglichst nicht auf den Schild des Gegners zielen, sondern auf eine verwundbare Stelle, den anderen aus dem Sattel heben, wenden und…« »Ich hab Pferde bisher immer als Beförderungsmittel angesehen«, erwidert Heinrich mutlos. Lukas ist stehen geblieben, und in seinem Gesicht spiegelt sich echte Sorge. »Willst du damit sagen, dass du noch nie – nie! – dergleichen gelernt hast?«, fragt er mit gedämpfter Stimme, und Heinrich nickt. Der Mann atmet tief durch. »Arme Herrin Jadwiga!«, murmelt er. Und in dem Blick, mit dem er den anderen
mustert, scheint fast so etwas wie ein Funke Mitleid aufzuleuchten – unklar bleibt, ob mit ihm oder mit seiner Herrin. »Du bist ja gar kein so schlechter Kämpfer, deshalb dachte ich…«, er bricht ab. »Verrat mir im Vertrauen, wo du aufgewachsen bist. Ich sag’s keinem weiter.« »Auf einer Burg«, erwidert Heinrich wahrheitsgemäß, und fährt dann fort: »Und in einer Klosterschule.« Der Seufzer, den Lukas ausstößt, ist so tief wie der Schlossbrunnen. –
Auf dem weiträumigen Innenhof ist eine Kampfbahn mit bunten Wimpeln abgesteckt, die im kalten Wind flattern. Die Pferde, die da hinten von den Reitknechten gehalten werden – jedes Tier von zwei Männern – wirken wie fremdartige Ungeheuer. Sie sind nämlich gepanzert und über der Panzerung mit bunten Überzügen eingekleidet. Nur Beine und Schweif, Nüstern, Augen und Ohren sind zu sehen. »Kampfhengste!«, erklärt Lukas. »Extra als Turnierpferde ausgebildet. Ihr kriegt jetzt noch Sporen – anders kommt man mit den Biestern nicht zurecht.« Er ist wieder zum höflichen »Ihr« zurückgekehrt; vielleicht dem ritterlichen Sport, der hier ausgeübt werden soll, angemessen. Heinrich mustert die Tiere sorgenvoll. Die Männer können sie kaum halten, obwohl die Hengste eine Kandare, ein großes Stangengebiss, im Maul haben. Die sind ausgesucht, weil sie aggressiv sind, klar. Unterdessen gibt Lukas weiter seine Erklärungen ab: »Das ist jetzt nur eine leichte Übungsrüstung, die wir tragen. Im Ernstfall werden die letzten Teile des Harnischs angelegt, wenn man schon im Sattel ist, dann kommt man nämlich aus eigener Kraft nicht mehr aufs Pferd.« Er gluckst. »Hab auch
schon ältere Herrschaften gesehen, die sich mit einem Kran hochhieven ließen.« »Pfalzgraf Christoph etwa?«, fragt Heinrich schnell. »Wie kommt Ihr auf so was? Der Pfalzgraf ist nicht mehr der Jüngste, das stimmt schon, aber als Kämpfer steht er voll im Saft.« Entmutigt senkt Heinrich den Kopf. Lukas erklärt weiter: »Wir stellen dann also eine kleine Treppe ans Pferd…« »Ihr macht was?« Heinrich glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. »Ach, Ihr denkt, Ihr könnt Euch einfach so in den Sattel schwingen?« Lukas grinst höhnisch. »Das Reitpferd, das ich nicht besteigen kann, das ist noch nicht geboren!«, gibt Heinrich hochmütig zurück – und bereut seine Äußerung sofort, als ihm Lukas den Helm überstülpt. Der Sehschlitz schränkt sein Gesichtsfeld auf ein Minimum ein, und die Schrauben, mit denen das Ding an der Halsberge befestigt wird, verhindern jede Art der Beweglichkeit des Nackens – er muss immer den ganzen Oberkörper drehen, wenn er etwas sehen will und kommt sich vor wie eine Vogelscheuche auf dem Feld. »Na, Reitpferde sind das eben nicht!«, hört er Lukas wie von fern sagen – hören kann man mit dem bleischweren Eisenhut auch nicht mehr richtig. Schweren Schritts stapft er hinüber zu den Tieren. »Der mit dem roten Überwurf ist Eurer!«, ruft ihm Lukas nach. Der mit dem roten Überwurf sieht ihn, bleckt die Zähne und versucht zu steigen, um mit den Hufen nach Heinrich zu schlagen. Die Reitknechte hängen an den Zügeln, werden mitgeschleift. So, beißen will das Biest auch noch. Jetzt weiß man endlich, was das Wort Kampfhengst bedeutet – zunächst wird der eigene Reiter bekämpft. Irgendwie gelingt es Heinrich schließlich, seitlich zu dem Tier zu gelangen. Er packt den
hohen Sattelbogen und beginnt sich daran hochzuziehen – behindert von mindestens vierzig Pfund Blech, halb blind und halb taub, und als er endlich oben ist, wäre er um ein Haar auf der anderen Seite kopfüber wieder abgestürzt, gezogen von diesem entsetzlichen Helm. Schließlich sitzt er im Sattel und packt die Zügel. Die Reitknechte lassen los – und das Ungetüm steht still. Offenbar ist es dressiert, jeden am Boden für einen Feind anzusehen, aber den Reiter nicht. Lukas hat sich das Manöver angeguckt, mit gekreuzten Armen an die Stallwand gelehnt. Jetzt löst er sich und brummelt: »Na ja, ganz nett. Aber ich verstehe nicht, warum man seine Kräfte so vergeuden muss.« Heinrich schluckt in seinem Blechgefängnis. Der Mann hat Recht. Das war unnötige Angeberei. Er merkt, dass die sich da unten an seinen Beinen zu schaffen machen. Sie schieben seine Füße in die großen massiven Steigbügel, stellen sie so tief, dass er mit durchgestreckten Knien sitzt, fast, als würde er über dem Pferd stehen. Dann wird ihm was in die Hand gedrückt – diese endlos lange Lanze. Jemand stellt sie neben seinen rechten Fuß auf den Steigbügel. Lukas muss inzwischen auch aufgesessen sein; sehen kann er ihn nicht, aber er hört seine Stimme neben sich auf seiner Höhe. »So, heute üben wir erst mal, damit Ihr ein Gefühl für die Sache kriegt.« Gefühl? Wie soll man für so etwas ein Gefühl kriegen? Heinrich zuckt innerlich die Achseln, behindert von dem Blech, das auf seinen Schultern ruht. Jetzt hängt man ihm auch noch einen Schild an den linken Arm – womit soll man eigentlich die Zügel halten? »Also Folgendes«, dröhnt Lukas neben ihm. »Ihr wendet, reitet bis zum Ende der Bahn und galoppiert dann an. Sowie Ihr mich sehen könnt durch Euer Visier, legt Ihr die Lanze ein – also Ihr lasst sie fest auf dem Unterarm ruhen – und versucht,
auf meinen Brustpanzer zu zielen. Nicht auf den Schild! Alles klar?« »Vollkommen!« schreit Heinrich unter dem Topf vor seinem Gesicht. Das Atmen fällt ihm schwer, und trotz der Winterkälte läuft ihm der Schweiß nur so herunter. Er bringt das Pferd mit einer Hand in die Volte, und es pariert, wie es das gelernt hat. Ende der Bahn? Im letzten Augenblick bemerkt er, dass er schon beinah die Markierung überritten hat – er sieht ja nichts. Aber das Pferd bleibt von allein stehen. Er dreht es um und drückt die Sporen leicht gegen die Panzerung des Tiers, und schon setzt sich die Kampfmaschine in Bewegung, in einem ausgreifenden Galopp, der ihm durch Mark und Bein geht, weil er ihn aussitzen muss dank der langen Steigbügel und der eigenen Schwere. Die Hufe donnern auf dem angefrorenen Boden. Wo zum Teufel ist der Gegner? Wo steckt Lukas? Er sieht nichts. Schon denkt er, dass er ja vielleicht in die falsche Richtung reitet. Aber da taucht das andere Pferd in seinem Visier auf, wird rasch größer. Gütiger Himmel! Allein die schwere Lanze in die andere Position zu bringen, lässt wertvolle Zeit verstreichen. Schon ist der andere heran. Heinrich stemmt sich fest in die Bügel, zielt auf den Harnisch vor sich – und fühlt im gleichen Augenblick einen dumpfen Stoß, der sein Brustbein unterm Panzer zu zermalmen scheint. Die Luft bleibt ihm weg. Trotz seiner vielen Pfunde in Blech fliegt er durch die Luft wie eine Puppe, die ein kleines Mädchen aus dem Fenster wirft, und landet unter dumpfem Scheppern unsanft auf der hart gefrorenen Erde des Turnierfelds. Wahrscheinlich war er für einen Moment ohnmächtig. Er kommt wieder zu sich, als ihm Lukas den Topfhelm abnimmt. Der Waffenmeister sagt nichts. Nicht einen Mucks. Heinrich blinzelt. Er liegt auf dem Rücken, sieht in den Himmel – und
auf die Fensterbögen und Wandelgänge dieser Pfalz. Alles voll besetzt mit den Männern und dem Hausgesinde des Pfalzgrafen. Bestimmt steht auch irgendwo Jadwiga. Heinrich macht die Augen wieder zu. Nun haben sie also einen Vorgeschmack davon, was von dem Verteidiger der Unschuld in diesem Gottesgericht zu halten ist. »Wir arbeiten heut Abend weiter. Erst mal auf dem Fechtboden«, sagt Lukas. Es klingt resigniert. –
Der Geierpfiff
Ein Zuber mit warmem Wasser! Duftende Essenzen, ein grober Striegel aus Hanf, ölige Seife – das könnte der Vorgeschmack des Paradieses sein, wenn nur die Umstände ein bisschen anders wären. Heinrich hat die kleine Greta weggeschickt, die ihm errötend erklärte, ihre Herrin hätte befohlen, ihm beim Bad behilflich zu sein. Jetzt begutachtet er die Quetschungen und blauen Flecke, mit denen sein Körper übersät ist. Da fällt die Beule im Nacken gar nicht mehr ins Gewicht. Über vier Finger der Linken zieht sich ein breiter blutiger Schnitt, aber keine Sehne ist verletzt, alles ist beweglich. Ein Verband drum und gut. Heinrich denkt an seine Wolfsbande. Sie werden jetzt unterwegs sein, um mich zu suchen. Lorenz wird Reittiere besorgt haben, Maultiere, tüchtig und ausdauernd, nichts auffällig Gutes, damit keiner auf die Idee kommt, bei ihnen Geld zu vermuten, und sie werden sich für die Reise das schäbigste Zeug angezogen haben, das sie im Gepäck haben, um kein Aufsehen zu erregen. Vielleicht ergibt es sich, dass sie sich einer anderen Gruppe Reisender anschließen können, das ist allemal sicherer. Wenn sie morgens nicht allzu zeitig aufgebrochen sind, dann müssten sie jetzt… Er fährt hoch aus seinem Badewasser, als hätte ihn was gestochen, rubbelt sich hastig trocken und fährt in seine Kleider. Um das nasse Haar schlingt er sein orientalisches Tuch. Auf einmal tut nichts mehr weh. Mit großen Schritten rennt er den Gang entlang, stürmt die Treppe zur Turmplattform hoch. Steht im eisigen Wind. Der Schnee auf den Dächern glitzert, er muss die Augen zusammenkneifen.
Unten in den Gassen bewegen sich Leute. Spielzeugklein. Heinrich schirmt die Augen mit den Händen ab. Dort läuft ein Tier wieselflink über die Straße – ein Hund! Gefolgt von zwei Reitern auf Mauleseln oder Pferden – das kann er auf die Entfernung nicht erkennen. Verdammt! Wenn ich ihnen doch nur mitteilen könnte, wo ich bin! Der Geierpfiff!, fällt ihm ein. Der schrille Pfiff des Lämmergeiers, das Erkennungszeichen, mit dem sie sich in heiklen Situationen verständigten. Der Pfiff, bei dem Lythande nicht bellt. Er hebt zwei Finger zum Mund, pfeift gellend. Einmal, zweimal, dreimal. Gibt es ein kleines Zögern da unten, oder bildet er sich das nur ein? Die Gruppe zieht weiter, verschwindet zwischen Häusern im Gewirr der Gassen. Heinrich drückt die gefalteten Hände vor die Stirn. Gütiger Gott, mach, dass sie mich gehört haben! Ich weiß, sie würden versuchen, mich hier rauszuholen. Zumindest versuchen… Langsam schlendert er die Treppe hinunter. Auf einmal spürt er seine Knochen wieder. Das Badewasser ist kalt geworden. Heinrich wirft sich auf das vornehme Bett und drückt sein Gesicht in die Kissen. –
»Hast du das gehört?«, sagt Lucia zu Lorenz. »Geierpfiff. Klingt wie Heinrich.« »Bloß, was sollte Heinrich noch hier in diesem Kaff? Der ist doch über alle Berge.« »Da, noch mal. Lythande hört es auch.« Wirklich ist die Hündin stehen geblieben, eine Vorderpfote erhoben, und hat den Kopf lauschend schief gelegt. Ein dritter Pfiff. Lorenz hält sein Maultier an, blickt am Dom empor.
»He, was habt ihr?«, fragt eine Kaufmann, der sein Gespann über den Platz lenkt. »Wollt ihr hier Wurzeln schlagen? Lasst mich wenigstens durch!« »Ja, gleich.« Lorenz hat den Kopf in den Nacken gelegt, sucht mit den Augen den Himmel ab. »Guck mal, da!« Über der Stadt kreist ein riesiger Lämmergeier, stürzt sich dann pfeilschnell herunter auf irgendeine Beute, die sie nicht sehen können. »Ja, wirklich.« Lucia seufzt, schüttelt den Kopf. »Ist richtiger Lämmergeier. Aber hat sich angehört wie Wolf, wenn er pfeift.« Sie setzen ihren Weg fort, tauchen ein in die Gassen, gelangen zum Westtor, verlassen diese Stadt. Vor ihnen, von vielen Karrenrädern zerfahren, liegt die hart gefrorene Straße nach Dortmund.
»Also das ist die erste Herberge am Weg! Ich hab mich noch mal genau erkundigt. Bei den Wirtsleuten und bei den Gästen auch!« »Und warum ist Wolf nicht hier?« Lorenz zuckt mit den Achseln und massiert seiner Hündin die Fußballen mit Schmalz, das er von der Abendbrottafel mitgenommen hat; Lythande hat sich in Schnee und Eis die Füße wundgelaufen. »Und du hast auch Wolf beschrieben?«, Lucia hat vor Aufregung rote Flecken im sonst immer blassen Gesicht. »Na klar hab ich das: Ein großer Kerl auf einem braunen Pferd, Armbrust, schwarzes Lederwams, Pelz, Tuch vorm Gesicht, potthässlich, hab ich gesagt. Ich meine, den übersieht doch keiner! Aber so ein Reiter ist nirgendwo vorbeigekommen. Vielleicht ist er gleich weiter zur nächsten Herberge, ohne auf uns zu warten. Den nötigen Vorsprung hatte er ja.«
Lucia sitzt auf dem Strohsack des Bettes mit gekreuzten Beinen. Vor Aufregung kaut sie an ihren Nägeln herum. »Wolf macht so was nicht. Wolf wartet«, sagt sie bestimmt. »Nicht wieder ablecken, meine Schöne!«, redet Lorenz auf Lythande ein. »Lass das einziehen! Ich glaube, ich muss dir mal kurz die Schnauze verbinden…« »Lorenz! Paria con me, ragazzo! Red mit mir, nicht mit der!« »Ja doch. Vergiss nicht: Wolf hatte es furchtbar eilig. Der ist vor etwas davongelaufen. Was es war, wollte er uns nicht verraten. Kann doch sein, dass er den Vorsprung vergrößern wollte. Vielleicht war jemand hinter ihm her.« »Also was sollen wir tun?« Lorenz sagt: »Gehen wir einmal davon aus, dass wirklich jemand hinter ihm her war. Dann hat er natürlich versucht, den Verfolger abzuschütteln und hat sich beeilt.« »Das Pferd war müde, hast du vergessen?« »Hm. Das Pferd war müde, richtig.« »Und wenn – wenn der Verfolger schneller war? Wenn er ihn« – Lucia stockt – »wenn er ihn geschnappt hat?« Lorenz bekreuzigt sich, und sie folgt seinem Beispiel. »Mal den Teufel nicht an die Wand!«, murmelt er erschrocken. »Teufel ist schon an Wand, wenn Wolf nicht da ist, wie er hat versprochen«, erwidert das Mädchen bestimmt. Lorenz atmet tief durch. »Wir sollten zumindest die nächste Herberge noch abklappern.« Lucia nickt nachdenklich. »Aber wenn er da auch nicht ist, dann…« Der Junge zögert, es auszusprechen. Sagt schließlich doch: »Dann ist was passiert.« »Wenn wir bloß wüssten, warum er es so eilig hatte. Wer, um Himmels willen, hat ihn bedroht? Und womit?« »Vielleicht ist was von früher?«, wagt Lucia einen neuen Gedanken.
»Möglich. Aber wir wissen ja nichts von ihm. Wieso kann er so gut reiten und schießen und kämpfen? Das lernt man ja nicht im Kloster.« »Ist mir egal. Totalmente egal. Ich will, dass wir Wolf bald finden!« »Na, sehr hilfreich bist du jetzt aber auch nicht.« »Und du, was redest du, wenn du gar nichts weißt!« Sie sitzen sich gegenüber mit geradem Rücken, bereit, wie zwei Kampfhähne aufeinander loszugehen. Immer noch ist da die alte Eifersucht, die Rivalität zwischen ihnen. Lorenz und Wolf, die Freunde, in deren Bund das Mädchen einbricht. Lucia, die Lythande nicht leiden kann. Lorenz, der neidisch ist auf die Duldsamkeit, die Wolf der Kleinen entgegenbringt… Lythande richtet sich auch auf, mit gesträubtem Nackenhaar, knurrt Lucia an. »Aus, Blanchefleur!«, sagt Lorenz. »Aus!« Er entspannt sich. »Lucia, das hat keinen Zweck. Wir dürfen uns jetzt nicht zanken. Wir müssen zusammenhalten. Wir beide sind aufeinander angewiesen, wenn wir dies Rätsel lösen wollen, ist das klar?« Er steckt ihr die Hand hin, und nach kurzem Zögern nickt das Mädchen und schlägt ein. »Also, was nun?« »Lass uns diese Nacht abwarten. Dann gehen wir morgen mit den anderen Reisenden vor zur nächsten Herberge. Fragen überall nach, ob ihn jemand gesehen hat. Und wenn das nichts bringt – dann müssen wir zurück.« »D’accordo. Einverstanden.« Sie streckt sich auf dem Bett aus, wirft Lorenz einen Strohsack und zwei Decken zu. Dass sie diejenige ist, die den besten Platz bekommt, das ist auch Lorenz durch Wolf in Fleisch und Blut übergegangen. »Lass uns zur Nacht beten«, sagt sie. »Beten, dass wir ihn bald finden. Und dann: Machst du die Kerze aus?« –
Es ist dunkel. Lorenz ist schon am Eindämmern, als er das Stroh im Bett rascheln hört, merkt, dass Lucia sich aufrichtet. »Was ist los?«, fragt er mit schlaftrunkener Stimme. »Lorenz, der Geierpfiff! Der Geierpfiff über der Stadt!« »Der Geierpfiff?« »Ja. Wir müssen nicht warten. Müssen gleich umkehren. War nur Zufall, dass echter Lämmergeier da war. Wolf hat gepfiffen, ich weiß es.« –
Langsam voran
So brechen so früh auf, dass die anderen Reisenden noch gar nicht wach sind – da sparen sie sich die Erklärung, warum sie nun auf einmal wieder zurückwollen. Der Wind bläst ihnen eisig ins Gesicht, und sie reiten schweigend mit gesenkten Köpfen. Noch haben sie keinen Plan. Nur erst einmal in die Nähe dieser Pfalz kommen! Lorenz hat Lythande zu sich aufs Pferd genommen, damit sie ihre wunden Pfoten schonen kann. In ihre Richtung ist kaum jemand unterwegs. Die meisten Reisenden, denen sie begegnen, wollen rechtzeitig zur Kaiserkrönung in Aachen sein – auch die Vorbereitungen für so ein großes Ereignis sind ja Gewinn versprechend. Wenn sich eine Stadt herausputzt und große Herren erwartet werden, dann ist auch Geld im Umlauf. Man verspricht sich schließlich viel von dem jungen Stauferfürsten: ein starkes Deutschland, sichere Straßen, Recht und Gerechtigkeit. Dass sie so »gegen den Strom schwimmen«, verschlechtert zudem noch ihre Stimmung. Sie kommen sich einsam und verlassen vor. Niemand will dahin, wo sie hin wollen – zwei armselige Gestalten auf müden Maultieren mit einem Hund als Begleiter. Als die Stadtmauer näher rückt, holt sie ein Reiter auf einem schnellen Pferd ein, gekleidet in einen großen Pelz, gestickten Waffenrock mit Wappen darüber, große Handschuhe, ein Horn über der Schulter. Eine Bote oder Kurier. Er macht keine Anstalten, sich bei ihnen aufzuhalten, nickt nicht mal einen beiläufigen Gruß herüber zu den armseligen Gestalten, die da
unterwegs sind. Als er dicht an ihnen vorbeiprescht, überschüttet sein Pferd sie mit einem Schwall von Schnee, der ihnen zum Teil zwischen Mantel und Hemd rutscht. »Angeber! Hochmut kommt vor dem Fall!«, sagt Lorenz böse und schüttelt sich. Lucia zuckt die Achseln. »Was willst du? So ist die Welt. Er da oben, wir hier unten. Komm weiter, damit uns warm wird.« Aber diesmal scheint Lorenz mit seinem Sprichwort Recht zu behalten. Hinter der nächsten Wegbiegung hören sie es schon fluchen. Das Tempo war ein bisschen zu scharf, und der Gaul ist auf einer unter der Schneewehe verdeckten Eisschicht ausgerutscht, liegt da, alle viere in die Luft, und der Reiter zerrt wütend am Zügel, um ihn hochzukriegen. Aber es ist einfach zu glatt. Lorenz grinst. »Was für ein Missgeschick!«, bemerkt er hämisch. »Tja, blinder Eifer schadet nur.« »Statt dumme Sprüche zu machen, könntet ihr mir vielleicht helfen.« Der Mann wischt sich die Stirn. Lorenz wiegt den Kopf. »Mal sehen…« Unterdessen hat Lucia schon ohne viel Federlesens ihren Mantel abgelegt, schiebt ihn dem kämpfenden Pferd unter die Hufe, damit sie Halt bekommen. Lorenz fasst mit an, der Mann schwingt die Peitsche, und endlich rappelt sich das Tier auf, steht schwitzend und zitternd vor Aufregung da, schnauft unruhig. Der Mann schwingt sich wieder in den Sattel. »Danke denn auch!«, sagt er, will den Gaul wieder antreiben, als ihm Lorenz in den Arm fällt. »Wollt ihr das Tier zu Schanden reiten? Nehmt ein vernünftiges Tempo, damit es sich beruhigen kann! Und, nebenbei, ein bisschen mehr als ein Danke für die Hilfe wär ja auch nicht verkehrt.« Der Mann grunzt ungeduldig und kramt eine Münze aus dem Gürtel. »Tut mir Leid«, sagt er, »aber ich hab meine Zeit nicht gestohlen. Muss die Ankunft des Grafen Christoph auf der
Pfalz ankündigen.« Er zeigt auf sein Horn, wird langsam gesprächig. »Der kommt von der Wildschweinjagd zurück«, sagt er wichtig. »Und dann passieren bald große Dinge da oben, das kann ich euch versichern!« Er lässt sein Pferd Volten gehen, wiegt sich im Sattel. »Große Dinge?«, Lorenz macht Kulleraugen. »Das kommt uns ja wie gerufen! Ihr müsst wissen, wir sind Gaukler – wir singen, spielen, jonglieren, machen mit unsrer Hündin Kunststücke – da können wir doch bestimmt auftreten!« Der Reiter treibt sein Pferd vorwärts, lacht. »Vergesst es! Da seid ihr fehl am Platze! Ein großes, ritterliches Ereignis von hohem Ernst – ein Gottesgericht findet statt! Gaukler! Nein, vielen Dank!« Und weg ist er. Die beiden Gefährten sehen sich an. »Das wird ja immer merkwürdiger!«, murmelt Lorenz und streichelt gedankenverloren das weiche Fell seiner Hündin. »Was ist das – Gottesgericht?«, fragt Lucia. »Erinnerst du dich noch an Anna, die Müllerstochter, die sie für eine Hexe gehalten haben?« Lucia nickt. »Und weißt du noch, dass die Leute sie gefesselt in den Brunnen schmeißen wollten? Wenn sie untergeht und tot ist, ist sie unschuldig, wenn sie oben schwimmt, ist sie die Hexe und wird gerichtet? – Das ist Gottesgericht.« »Aber das ist Unfug! Und da auf der Pfalz soll auch wer in den Brunnen…« Lorenz macht eine ungeduldige Handbewegung. »Es gibt noch andere Formen! Zweikämpfe zum Beispiel. Wer verliert, ist schuldig.« »Und das wollen die da machen?« »Lucia, nerv mich nicht! Ich weiß es doch auch nicht. Aber es wäre auf alle Fälle gut, wenn wir darüber mehr rauskriegen könnten!«
Lucia nickt. Sie hat so viel Schlimmes und Verrücktes auf der Welt gesehen in ihrem jungen Leben – es gibt wenig, was sie erstaunen kann. Ein Hornsignal lässt sie wissen, dass der Bote nun schon in der Stadt, nah an der Pfalz sein muss. »Hinterher!«, sagt das Mädchen entschlossen. –
»Meinst du, die lassen uns rein? Wir sind ja eigentlich nur… Kinder.« Lucia schneidet eine unwillige Grimasse. »Ja, ohne Wolf sind wir ziemlich verlassen«, sagt Lorenz müde, ohne dagegen zu protestieren, dass das Mädchen ihn ein »Kind« nennt – das hätte er sonst bestimmt gemacht. Sie gelangen unbeachtet in die Stadt, durchqueren die Straßen, so schnell sie können, und nähern sich der Pfalz. Als sie sich auf die äußere Mauer zubewegen, werden sie immer langsamer, trödeln fast. Wie Wolf wohl hier eingeritten ist, als er seine Nachricht überbracht hat? Bestimmt nicht lahm und müde, sondern mit allem Schwung, aller Tatkraft, die er immer hat. »Komm!«, sagt Lorenz entschlossen. »Wir müssen es wenigstens versuchen.« Sie passieren das Tor, ohne dass sie jemand überhaupt nur zur Kenntnis nimmt. Der äußere Hof scheint verlassen. Vorsichtig nähern sie sich der Durchfahrt, die zum zweiten Hof führt. So eine Pfalz ist ein weiträumiges Gelände mit mehreren Gebäuden; kein Wunder, schließlich hat sie ja manchmal einen König oder Kaiser mit seinem ganzen Hofstaat zu beherbergen. Im Gegensatz zum Außenhof herrscht im Innenhof hektisches Treiben. Frauen und Mädchen, trotz der Winterkälte mit aufgekrempelten Ärmeln und hoch geschürzten Röcken, schleppen Wäscheberge in die eine Richtung und große Bretter mit dampfenden frischen
Broten in die andere. Zwei Knechte fegen den Hof und fluchen über die Weibsbilder, die ihnen überall vor den Besen laufen, zwei andere streuen ihn hinterher mit goldgelbem Sand aus. Seitlich bei den Stallungen werden Garben mit frischer Streu abgeladen, werden Hafersäcke geschleppt und Karren hin und her geschoben. Es ist ein Durcheinander wie in einem Ameisenhaufen, und immer noch kümmert sich keiner um die Ankömmlinge auf ihren Maultieren. Aber dann hebt Lucias Muli den Schwanz und lässt etwas fallen – und auf einmal sind sie umringt von einem Haufen schreiender und wild mit den Armen fuchtelnder Leute. Jemand kommt sofort mit Besen und Kehrschaufel und beseitigt den Dreck, irgendwer fährt sie an, was sie denn hier zu suchen hätten? Sie sollten sich zum Teufel scheren, der Herr, Pfalzgraf Christoph, komme von der Jagd zurück – da könnten sie keine Störenfriede und Bettelleute wie sie brauchen! »Aber wir sind keine Bettelleute, ihr Guten!«, versucht Lorenz zu erklären. »Wir sind ehrliche Gaukler, und weil wir gehört haben, dass euer Herr heimkehrt, dachten wir, ihm den ersten Abend mit Spiel, Gesang und Kunststücken zu versüßen! Dieser mein Hund hier…« Er kommt nicht weiter. Zwei Knechte greifen ihren Tieren unsanft in die Zügel. Lythande knurrt, und Lorenz hält ihr schnell die Schnauze zu. Man zerrt sie aus der Pfalz heraus, jagt sie durchs Tor, als wären sie ein paar räudige Katzen, und zum Abschied fliegen ihnen noch ein paar steinharte Schneebälle hinterher. Die erschrockenen Mulis bocken und galoppieren den halben Weg hinunter in die Stadt, bis sie endlich zum Stehen kommen. »Reizende Leute!« Lorenz schnauft vor Empörung. »Bote hatte uns gewarnt«, entgegnet Lucia ungerührt. »Kein Spaß da oben, nur dies Gottesurteil.« Sie zuckt die Achseln.
»War erster Versuch. Machen wir weiter.« Ihr zartes weißes Gesicht, auf dem die Sommersprossen jetzt im Winter nur wie blasse Punkte sichtbar sind, ist ruhig und entschlossen. –
Jadwiga betrachtet nachdenklich Heinrichs verbundene linke Hand. Er hat mit Engelszungen auf die kleine Greta einreden müssen, bis er sie endlich davon überzeugen konnte, dass er unbedingt mit ihrer Herrin sprechen muss, bevor der alte Pfalzgraf zurück ist. »Also was wollt Ihr?«, fragt die junge Frau. Sie sitzt halb liegend auf einem Sessel, die Füße hoch auf einem Bänkchen. Unter ihren Augen sind tiefe Ringe. Es scheint ihr nicht sonderlich gut zu gehen. »Frau Jadwiga«, sagt Heinrich und gibt sich Mühe, die Panik in seiner Stimme zu unterdrücken, »zunächst einmal möchte ich Euch noch einmal anflehen: Sucht einen anderen Kämpfer oder nehmt meine Hilfe anderweitig in Anspruch – aber so stürzen wir beide ins Verderben! Seht mich an nach diesem Übungstag! Ich kann es nicht!« »Ihr lernt es ja gerade«, erwidert sie und sieht an ihm vorbei. »Eure Bitte ist abgelehnt. Was noch?« Heinrich seufzt. Er hat nichts anderes erwartet. Aber zumindest wollte er noch einen Versuch wagen, sie umzustimmen. Ihr noch einmal vor Augen halten, wie sinnlos das ist, was sie da mit ihm vorhat… »Gut«, sagt er. »Oder vielmehr: schlecht. Wenn jetzt aber Euer Schwiegervater nach Haus kommt – nun, ich denke, er will seinen Gegner doch kennen lernen! Was soll ich ihm über mich erzählen?« »Was meint Ihr?«, fragt sie verständnislos. Offenbar hat sie über diesen Teil des Geschehens überhaupt noch nicht nachgedacht.
Heinrich beißt die Zähne aufeinander, versucht, seine Ungeduld zu bezähmen. »Ich soll Euer Bruder sein! Er wird mich doch gewiss dies und jenes fragen! Was weiß er über Eure – unsere Familie? Doch ganz sicher eine Menge, wenn er mit Eurem Vater sogar befreundet war! Was, wenn ich mich verplappere, was ganz anderes erzähle, als er vorher erfahren hat?« Ihr Gesicht ist müde. »Ich glaube nicht, dass er groß mit Euch reden wird. Ihr seid ja schließlich der Feind. Vielleicht gibt es einen gemeinsamen Gottesdienst in der Burgkapelle, und da begrüßt er Euch. Was wollt Ihr denn wissen? Ihr seid Wenzel, mein jüngerer Bruder, aus dem fernen Pommern gekommen.« »Und unser Vater?« Ein Schatten verdunkelt ihre Züge. »Ach, hatte ich Euch das nicht gesagt?«, bemerkt sie unerregt. »Er ist gestorben, kurz nachdem ich hierher geschickt wurde. Der kann keine Grüße aufgetragen und keine Meinung haben zu den Dingen hier – Gott sei Dank! Das musste er nicht mehr erleben.« »Bedeutet das«, fragt Heinrich betroffen, »dass Ihr allein seid auf der Welt?« Sie nickt. Legt die Hände auf ihren Bauch. »Ich und das hier.« Und fügt leise hinzu: »Helft uns.« Heinrich senkt die Lider. »Gütiger Heiland!«, murmelt er. »Ich werde für uns beten.« Er wendet sich zum Gehen, als ihn ihre Stimme erreicht. »Wegen Eurer Pockennarben – sagt einfach, Ihr hattet die Krankheit erst kürzlich. Er kennt Wenzel mit glattem Gesicht.« Ihm ist, als wenn ihn der Blitz streift. Langsam dreht er sich um, starrt sie an, entgeistert. »Er kennt Wenzel…«, wiederholt er langsam. »Wollt Ihr damit sagen, der Pfalzgraf hat Euren Bruder schon einmal gesehen?« »Natürlich«, erwidert sie, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Sonst wäre es doch nicht so wichtig, dass Ihr ihm ähnlich seht!« Sie hebt endlich die Lider, um ihm ins
Gesicht zu blicken. Sagt leise: »Darum glaube ich ja, dass Gott Euch gesandt hat für mich in meiner Not!« Heinrich stößt die Luft mit einem Keuchen aus. »Ihr spielt mit meinem Leben!« »Mit unser beider Leben. Und sie liegen in Eurer Hand.« Sie lächelt.
Stangen fürs Turnier
»Wir sollten uns um ein Quartier kümmern«, sagt Lorenz besorgt. »Es wird schnell dunkel zu dieser Jahreszeit.« Lucia nickt und zeigt mit der Hand nach vorn. Wie hingeduckt unter ihrer Schneehaube stehen die Häuser eng beieinander. Rauch dringt hier und da aus einem Schornstein. »Da sind bestimmt Leute, die für die Pfalz arbeiten. Besser als Wirtshaus. Wenn sie uns nehmen, können wir was erfahren.« »Gut.« Lorenz treibt sein Tier an. Es ist nicht weit. Gleich beim ersten krummen Fachwerkhaus treffen sie auf jemanden. Ein alter Mann, vermummt in ein räudiges Fell, den Hut tief ins Gesicht gezogen, löcherige Halbhandschuhe an den Fingern, arbeitet da vor der Tür. Sie halten an und begucken sich neugierig und erstaunt diese Tätigkeit: Auf zwei Gabelstöcken, wie man sie benutzt, um einen Spießbraten überm Feuer zu wenden, ruht eine lange gerade Stange. Der Mann taucht einen Strohwisch in einen Kübel mit Kalkfarbe und weißt die Stange. Daneben befindet sich ein kleinerer Kübel mit roter Krappfarbe und einem Haarpinsel, und was es damit auf sich hat, zeigen die Stangen, die bereits aufgereiht an der Seite der Hütte lehnen. Nach dem Weißen werden sie mit einer spiralförmigen Linie in Rot bemalt. Warum das alles bei eisiger Kälte im Freien passiert, ist leicht erkennbar: Die Stangen sind so lang, dass sie über das Dach des niedrigen Hauses hinausragen. Drinnen hätten sie gar nicht Platz. Ihre Maultiere schnaufen. Der Mann fragt: »Ist da wer?«, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er arbeitet gleichmäßig und ruhig, obwohl seine nackten Finger, die aus den Handschuhen hervorgucken, blau sind von Kälte.
Lorenz räuspert sich: »Guten Tag, Vater!«, sagt er eilfertig. »Wir sind zwei Gauklerkinder und dachten, unser Glück auf der Pfalz zu machen mit schönen Kunststücken und Liedern. Aber da will uns niemand. Nun suchen wir ein Nachtlager und eine warme Suppe zum Abend. Wir können zahlen.« »Gaukler, die zahlen können?« Der Alte scheint in sich hinein zu kichern. »Was ganz Neues. Aber wenn das so ist – versucht es doch zwei Häuser weiter. Da ist die junge Frau gerade am Kindbettfieber gestorben, und der Mann sitzt am kalten Herd und bläst Trübsal. Könnt ihr kochen?« Die Gefährten wechseln einen Blick. Lucia zuckt die Achseln. Sie kann allenfalls einen toten Igel im Feuer braten… Aber Lorenz ist ein Hans Dampf in allen Gassen. Er sagt mit Überzeugung: »Aber natürlich. Danke für den Ratschlag, Vater. Übrigens, darf ich was fragen?« Und da der Alte weder ja noch nein sagt: »Was macht Ihr da eigentlich?« »Seht ihr das nicht? Ich bemale die Stangen, die den Kampfplatz begrenzen sollen. Alles rüstet sich für das Gottesurteil, das demnächst da stattfinden soll. Sind meine Stangen ordentlich und regelmäßig bemalt?« Warum fragt er uns das?, denkt Lorenz. Braucht er ein Lob? Das kann er kriegen. »Noch nie habe ich so gut bemalte Stangen gesehen!«, sagt er ernsthaft. »Wirklich meisterlich.« Der Alte grunzt und scheint es zufrieden. Lorenz nutzt die gute Stimmung, um noch ein bisschen weiter zu bohren. »Worum geht’s eigentlich bei diesem Gottesurteil?« »Wisst ihr das nicht? Die ganze Gegend redet von nichts anderem. Die junge Pfalzgräfin, Jadwiga heißt sie, soll in der Hochzeitsnacht ihren Mann vergiftet haben. Aber sie leugnet die Schuld.«
Die beiden holen tief Luft. Lucia treibt ihr Maultier dicht an das von Lorenz heran, flüstert ihm ins Ohr: »Das also ist Gefahr, wovon Wolf geredet hat!« »Was tuschelt ihr?«, fragt der Mann scharf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. Er hat gute Ohren. »Ach«, sagt Lorenz und ist dabei um keine Ausrede verlegen. »Wir wundern uns nur. Wieso kann eine Frau in einem Turnier kämpfen?« »Ph!« Der Alte lacht auf. »Sie doch nicht! Doch keine Frau! Das wär ja was! Außerdem ist sie ja schwanger. Nein, ihr Streiter ist nun endlich angekommen. Derjenige, der für ihre Unschuld in den Kampf zieht. Ihr Bruder.« »Aber ihr Bruder ist doch…«, stammelt Lorenz und verstummt, weil ihm Lucia von Reittier zu Reittier einen Fußtritt versetzt. »Habt Ihr den wohl gesehen – diesen Bruder?«, fragt sie, und ihre Stimme klingt heiser. »Gesehen? Wollt Ihr mich verhöhnen?« Langsam hebt der Alte den Kopf, schiebt seinen Filzhut in die Stirn. Entsetzt starren die Kinder in zwei weiße, starre, tote Augen. Der Mann ist blind. »Verzeiht uns!«, murmelt Lorenz. »Wir wussten nicht… wir gehen dann zu dem Haus… Gottes Segen mit Euch!« Sie treiben ihre Maultiere an, als säße ihnen der Teufel im Nacken, verlassen den unheimlichen Maler, der da seine Stangen mit der Genauigkeit eines Könners anstreicht, ohne etwas zu sehen. Der Schnee stiebt unter den Hufen der Mulis. Bevor sie am beschriebenen Haus anhalten und absitzen, um zu klopfen, sagt Lucia leise zu dem Gefährten: »Denkst du auch, was ich denke?« Lorenz sieht sie begriffsstutzig an. »Du meinst?« »Bruder ist tot. Wir haben ihn selbst begraben. Erinnerst du dich, wie ich Schreck hatte – ich dachte, Wolf liegt da.«
Der Junge nickt benommen. »Stimmt. Sie sahen sich ziemlich ähnlich. Die Größe, die Figur, das dunkle Haar – Heilige Jungfrau Maria! Denkst du etwa…« Lucias Augen sind in die Ferne gerichtet. »Ich denke: Junge Frau ist ganz allein und sehr verzweifelt. Kein Kämpfer mehr. Ich denke: Wolf wollte fliehen. Und ich denke: Wolf ist verschwunden.« »Aber das ist…« »Das ist verrückt, pazzia, si. Aber so wird es sein.« »Der Geierpfiff! Er hat uns gerufen. Und wir sind weitergezogen!« »Jetzt sind wir da!«, sagt das Mädchen ruhig. »Lass uns warten bis morgen. Dann müssen wir auf die Pfalz. Irgendwie.« »Rauskriegen, ob dein Verdacht stimmt.« »Kein Verdacht. Ich weiß. Aber rauskriegen, wann Turnier ist.« Sie hebt die Hand, um an die Tür, die schief in den Angeln hängt, zu klopfen. Ein klägliches »Herein!« ertönt.
Nur ein Madonnenbildnis
In dieses Haus ist seit Wochen kein Besen mehr gekommen, und der Herd ist so kalt wie ein Eisblock. Ein paar Hühner scharren in der kalten Asche. Der Hausherr liegt im Federbett, um sich zu wärmen, und starrt die Decke an. Klar, dass er nichts Vernünftiges rausbringt. Er hat das Bierfässchen gleich ans Bett geholt, damit er nicht so weit laufen muss, um sich den Humpen zu füllen. Ersäuft seinen Kummer um die tote Frau – wie lange wohl schon? Die Gefährten haben sich nicht groß mit Fragen aufgehalten, ob sie willkommen sind und was zu tun ist. Lucia macht Feuer. Die Hühner verschwinden erschreckt gackernd nach draußen, als Lythande fröhlich bellend zwischen sie springt. Lorenz beguckt sich die Vorratskammer: gar nicht so schlecht. Mehl und Salzbutter sind da für eine Suppe, Räucherwurst, steinhartes Brot, sogar eingelegte Gurken im Tontopf. Die Hausfrau hat gut vorgesorgt. Nun verkommt alles. Der Kerl trinkt nur. »Seid froh, dass wir gekommen sind! Ohne uns wärt Ihr hier eingegangen!«, behauptet Lorenz und hilft dem Mann, sich hochzusetzen. Schüttet den Rest des Bierkrugs einfach aus und flößt dem anderen von der schnell zubereiteten Mehlsuppe ein. Der würgt und schluckt. Seine Augen sind glasig. »Ich bin Witwer!«, bringt er raus und verzieht den Mund zu einer kläglichen Grimasse. »Meine Frau…« »Ja, wir wissen«, sagt Lucia, ohne auf den Jammerton einzugehen. »Eure Frau ist vor kurzem gestorben. Sie ist nun bei Gott. Was wollt Ihr? Nur noch saufen? Leben geht weiter.«
Der Mann sieht verblüfft von dem Mädchen zu dem Jungen und wieder zurück. Was sind das für merkwürdige Wesen, die hier einfach reinkommen und alles in die Hand nehmen? Er lässt es geschehen. Schließlich verbreitet sich eine wohlige Wärme vom Herd her und eine Pfanne mit Eiern brutzelt auf dem Feuer. Lorenz geht raus in den Stall und kommt wieder, fuchsteufelswild. »Was seid Ihr für ein Mensch, dass Ihr Euer Vieh verkommen lasst? Der Esel hatte nicht mal frisches Wasser, vom Futter ganz zu schweigen. Dabei ist alles da! Kommt und helft mir beim Füttern. Unsre Maultiere sind auch hungrig.« Während der Kerl gottergeben hinter Lorenz her ins Kalte schlurft, macht Lucia das Bett, rollt das Bierfass in die hinterste Ecke, weg aus den Augen. Dann sitzt sie am Feuer, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen, und starrt in die Flammen, fast ohne zu blinzeln. Dann kommen Lorenz und der Mann zurück, und während der Junge die Eier und die Suppe auf den Tisch bringt und Löffel verteilt, sagt er beiläufig zu Lucia: »Stell dir vor, Rupert hier hat für morgen die Aufgabe, mit seinem Esel die bemalten Stangen zur Pfalz zu bringen. Aber der Esel ist ganz entkräftet, und mit nur einem Tier ist das auch ganz schön schwierig. Da hab ich angeboten, dass wir das für ihn übernehmen und mit unseren beiden Mulis die Stangen hochbringen. Bist du einverstanden?« Er kneift ein Auge zu. Lucias Blick leuchtet auf, sie nickt heftig. »Sehr gut!«, sagt sie leise, mit einem kleinen Grinsen. Lebhaft taucht sie ihren Holzlöffel in den Suppentopf, schlenkert mit den Beinen, als wollte sie am liebsten gleich aufbrechen. Dem Witwer Rupert haben der Gang in die Kälte und die Arbeit draußen wohl ein bisschen von den Bierdünsten weggepustet, die seinen Kopf umnebelt hatten. Er blickt sich in
seinem verkommenen Haus um wie ein Erwachender. »Hier sieht’s aus!«, murmelt er. Lucia nickt grimmig. »Eure Frau hat bestimmt alles ordentlich gehalten!«, sagt sie vorwurfsvoll. »Wenn die jetzt von da oben auf Euch runter gucken – muss sie sich ja schämen für Euch vor allen Engel!« Die kindliche Vorstellung vom Himmel scheint Rupert zu beeindrucken. Er bekreuzigt sich, senkt den Kopf. »Friede ihrer Seele! Ich werde ihr eine Messe lesen lassen.« »Und gelegentlich mal ausfegen!«, ergänzt Lorenz energisch. »Und vor allem: Das Vieh füttern!« »Was seid ihr denn für welche?«, fragt der Mann zwischen Misstrauen und Staunen. Die Gefährten tauschen einen Blick. Nichts von Wolfsbande! »Och, wir ziehen bloß so rum«, entgegnet Lorenz dann vage und macht eine alles umfassende Handbewegung. »Landstreicher?« »Viaggiatori – Reisende«, verbessert Lucia. »Ich komme aus Italia. Er begleitet mich.« »Hm«, brummt der Mann. Das alles ist ihm offenbar zu kompliziert, und sein Kopf brummt. »Also ich gehe jetzt schlafen. Wenn ihr wollt, könnt ihr hier vorm Feuer übernachten. Ich erlaube es.« Lucia sieht ihm nach, wie er sich in seine Federdecke einrollt. »Stolto!«, sagt sie leise mit geschürzten Lippen. »Hätten wir doch sowieso gemacht.«
In der frostigen Morgenfrühe schirren sie ihre Maultiere an, bündeln die bemalten Stangen und befestigen sie so an den beiden Tieren, dass sie wie zwischen Deichseln zu ihren Seiten damit gehen können. Lorenz schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung, wie das einer mit einem Esel hätte schaffen sollen!«
Der Blinde, der die ganze Zeit an seiner Haustür gestanden hat, mischt sich ein. »Hätte er auch nicht. Er hätte das Zeug vorn am Esel befestigt, und ich hätte hinten mit tragen müssen. Eine Arbeit, die man auch ohne Augen ausführen kann.« Dazu schweigen die beiden. Schließlich fragt Lorenz scheu: »Wart Ihr schon immer so – ich meine, wart Ihr schon immer blind?« Der Alte schiebt frierend seine Hände unter die Achseln. Sein Gesicht ist unkenntlich unter der Hutkrempe. Erst sagt er gar nichts. Dann: »Meint ihr, dass die Leute einen Blinden als Anstreicher ihrer Hauswände und als Maler ihrer Muttergottesbilder wollen?« Lorenz schnappt nach Luft. »Aber…« »Mir ist das nur Recht, wenn ihr’s erfahrt«, sagt der Blinde. Er spricht, als wären seine Gefühle unbeteiligt an dem, was er da erzählt. »Das ist weniger als ein Jahr her. Ich habe oben in der Pfalz gearbeitet. Habe ihre Zimmer mit schönen Blumenmustern an den Pfeilern ausgemalt oder ihre Fenster und Portale mit Laubkränzen ausgeschmückt. Dann gab mir Pfalzgraf Christoph einen Auftrag, der eine hohe Ehre für mich war. Ich sollte für die Kapelle eine Madonna malen. Zu der Zeit war die junge Braut seines Sohnes gerade auf der Burg eingetroffen. Ein Fräulein Jadwiga. Sie war sehr lieblich und sehr traurig.« Lorenz und Lucia packen sich an den Händen, lauschen mit angehaltenem Atem. Der Mann fährt fort: »Nicht, dass ich sie zum Vorbild für die Madonna genommen hätte – Gott bewahre! Das wäre mir nie eingefallen. Aber ich habe sie gern angesehen, das stimmt. Und je länger ich an dem Bild malte, desto ähnlicher wurde sie der schönen Jadwiga. – Dann kam der Tag der Hochzeit – und damit brachen alle Schrecken der Welt über die arme junge Frau herein. In der Brautnacht ist der junge Pfalzgraf in ihren Armen gestorben. War eh ein kränklicher Herr, wenn ihr mich fragt, wir alle waren in
Zweifel, ob er seinen Aufgaben bei der jungen Frau gewachsen sein könnte. Aber der alte Pfalzgraf beschuldigte nun Jadwiga, sie hätte ihn mit einem Trank vergiftet, und stellte sie unter Anklage. Gerade zu diesem Zeitpunkt war mein Gemälde fertig. Es sollte anlässlich des feierlichen Hochamts nach der Eheschließung enthüllt werden.« Rupert atmet tief durch. »Als Pfalzgraf Christoph das Madonnenbild sah, wurde er weiß vor Zorn. Er ließ mich vor sich bringen, und ich fiel auf die Knie. Und der Herr sagte: ›Einer, der eine Mörderin als Heilige Mutter Gottes darstellt, dem hat wohl der Satan in die Augen gespuckt. Solche Augen sind es nicht wert, dass sie weiter das Licht der Sonne sehen.‹ – Mein Flehen und Schreien half gar nichts. Erst zerstörten sie vor meinen noch sehenden Augen das Bildnis. Dann haben sie mich mit kochendem Essig geblendet und aus der Pfalz gejagt.« Die Kinder wagen kaum zu atmen. Ihnen ist kalt vor Entsetzen – noch kälter als es ohnehin schon ist. Endlich sagt Lorenz mit belegter Stimme: »Was Ihr da sagt, das ist schrecklich. Aber warum seid Ihr noch hier?« Der Blinde stößt einen Laut zwischen Lachen und Schluchzen aus. »Wohin sollte ich gehen – ohne Augen, ohne meine Kunst? Außerdem: Ich bin ein Dienstmann des Pfalzgrafen. Er hatte mich ja nicht entlassen, und es war unerwartete Gnade, dass ich dies verfallene Haus zugewiesen bekam. Sogar für meinen Unterhalt ist gesorgt. Ich darf gegen ein kleines Entgelt diese Stangen bemalen und ihre Lanzenschäfte. Stangen und Lanzen, die für das Gottesgericht benötigt werden, das über Frau Jadwigas Schuld befindet.« Er wendet sich ab. Die Maultiere schnauben ungeduldig, und Lythande kommt gerade von einem kleinen Morgenspaziergang zurück, umspringt Lorenz. Fröhlich und unbeschwert.
»Gott allein weiß, warum ich euch das erzählt habe«, sagt der Blinde leise, fast wie zu sich. »Vielleicht, weil ihr mir uneigennützig helft und mir die Qual und die Schande erspart, mit diesen Stangen selbst auf der Burg zu erscheinen. Vergesst mich. Gott segne euch – und nehmt euch in Acht da oben.« Er wirft die Haustür so fest hinter sich zu, als wolle er nie wieder herauskommen. Wortlos streichelt Lorenz den Kopf seiner Hündin, geht dann zum ersten Maultier und nimmt es am Führzügel. »Bleib du hinten, Lucia, und führ das zweite«, sagt er tonlos. Sie nickt. Beide können sie nicht reden, die Brust ist ihnen wie zugeschnürt. Drohend wächst vor ihnen die Pfalz.
Begegnungen
»Beeilt Euch!« Das Glöckchen bimmelt ohne Unterlass. Nein, Heinrich ist überhaupt nicht nach Beeilen zu Mute. Aufgeregt hält ihm die kleine Greta den pelzbesetzten Umhang hin, knotet dann an den Verschlüssen seiner Hemdsärmel herum, reicht ihm die Stulpenhandschuhe und das Barett mit der Fasanenfeder. »Damit mache mich ja lächerlich!«, wehrt Heinrich unwillig ab. »So ein Federhut über meinem Gesicht – also entschuldige schon!« »Aber Ihr könnt doch nicht zur heiligen Messe ohne geziemende Kopfbedeckung!« Greta klingt fast flehentlich. Sie hat ja Recht. Wenn er nicht »standesgemäß« gekleidet ist, wird sie, Greta, die Schuld daran bekommen. Was macht es schon aus. Während des Hochamts muss er dies Ding ja sowieso vom Kopf nehmen. Dies Hochamt. Wo er nun das erste Mal Auge in Auge mit seinem Gegner sein wird, dem Pfalzgrafen Christoph. Am liebsten möchte er sich sonst wo verkriechen. Eigentlich unvorstellbar, dass dieser Mann den Betrug nicht merken wird. Aber vielleicht ist das ja auch das Beste. Vielleicht wird er dann gleich mit Schimpf und Schande als Betrüger fortgejagt und Jadwiga – Jadwiga. Das ist der Haken. Jadwigas Leben ist verwirkt. Er wendet sich an Greta. »Gib mir wenigstens ein paar Hinweise! «, fordert er. »Wo ist Junker Wenzel denn dem Pfalzgrafen begegnet?« Sie starrt ihn an mit ihren runden Augen. »Aber das müsst Ihr doch selbst wissen, das…«
»Himmelherrgott noch einmal!« Das Blut steigt ihm zu Kopfe. Ungeduldig packt er sie an den Oberarmen und schüttelt sie. Sie nickt und wird abwechselnd blass und rot. Flüstert dann: »Ihr wart gerade vierzehn, als Euer Vater Euch mitnahm. Eigentlich solltet Ihr mit auf den Kreuzzug ins Heilige Land. Aber als die Botschaft kam, dass Eure Mutter gestorben war, schickte Euch der Vater zurück, damit ein Mann auf der Burg sein konnte. Damals wurdet Ihr ja auch zum Ritter geschlagen.« »Mit vierzehn zum Ritter? Was für eine frühe Ehre!« »Damit Ihr zu Haus mit allen Rechten ausgestattet wart…« »Ich versteh schon. Und auf dieser Reise bin ich also hier in Deutschland dem Pfalzgrafen begegnet, der meines Vaters Freund wurde«, stellt sich Heinrich seinen neuen »Lebenslauf« zusammen. »In Würzburg, ja.« »In Würzburg, so, so. Gut, das zu wissen.« Er verzieht die Mundwinkel zu einem Grinsen, und die kleine Greta lächelt schüchtern zurück. Das Gebimmel hat aufgehört. »Kommt!«, drängt das Mädchen. »Das Hochamt fängt gleich an! Ihr müsst Eure Schwester abholen. Allein darf sie ihren Raum nicht verlassen.« Heinrich strafft sich und spürt dabei alle Knochen. Nach weiteren Übungsstunden im Kampf mit Bidenhändern und im Abstechen vom Pferd weiß er überhaupt nicht mehr, was ihm nicht wehtut. Lukas kennt kein Pardon. Greta huscht ihm eilig voraus durch die Gänge. Seine »Schwester« wartet schon. Schwarz in Schwarz gewandet, verschleiert, Rosenkranz und Almosenbeutel in der Linken. Sie sieht so zart aus, dass er sich fragt, ob sie nicht unter der Last ihrer Schwangerschaft zusammenbrechen wird. Ritterlich
ergreift er ihre andere Hand und legt sie auf seine behandschuhte Rechte, führt sie, wie es sich für eine Dame gehört. Ihre Finger liegen so leicht auf seinem Handrücken, dass er durch das Leder keine Berührung spürt. So treten sie, gefolgt von der kleinen Kammerfrau, hinaus auf den eisigen Burghof, um zur Basilika hinüberzugehen. Im Hintergrund werden rotweiße Stangen von zwei Maultieren abgeladen. Sicher in Vorbereitung auf dies verfluchte Turnier. Zwischen den Arbeitenden wieselt ein schöner silbergrauer Jagdhund herum – hebt zögernd eine Vorderpfote, als wolle er zu ihm laufen… »Was habt Ihr?« Heinrich steht wie angewurzelt. Die Hand der jungen Frau ist von seinem Handschuh geglitten. Greta rennt fast in ihn hinein. Ihm ist abwechselnd heiß und kalt. Sie sind da! Sie haben ihn gefunden! Aber – was können sie ausrichten? Seine Gedanken wirbeln, hinterlassen nur Leere im Kopf. Nur nicht auffallen! Nur nichts tun, was die in Gefahr bringen könnte! Gott im Himmel, schick mir einen Einfall, wie ich mit ihnen sprechen, wie ich etwas aushecken kann mit ihnen – bloß was? »Verzeiht, Frau Jadwiga«, sagt er. Seine Lippen fühlen sich taub an. »Ich habe – ich habe wohl einen Tagtraum gehabt.« Er nimmt ihre Hand wieder, geht weiter. Wie abwesend tut er, was zu tun ist. Nimmt das Barett ab, streift den rechten Handschuh herunter, um Weihwasser zu schöpfen und es ritterlich der Dame anzubieten, auf dass sie sich damit bekreuzigt, beugt sein Knie vorm Allerheiligsten und führt Jadwiga dann zu ihrem Platz. Gott sei Dank, sie sitzt – als angeklagte Verbrecherin – für sich allein an der Seite. So kann er, auf dem Weg zu seinem Platz Greta beiseite nehmen. »Um der Liebe Gottes willen, Greta, tu mir einen Gefallen, und der Heiland wird dich segnen für deine Güte!«, zischelt er an ihrem Ohr. »Da draußen ist eine graue Bracke. Bei ihr
müssen ein Junge und ein Mädchen sein. Sag ihnen, Herr Wenzel bestellt sie nach dem Hochamt zu sich, und bring sie zu mir! Wirst du das tun?« Sie starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sagt weder Ja noch Nein. Schon wird man auf sie aufmerksam, einige drehen sich um. Das da vorn muss der Pfalzgraf sein, der kurz geschorene Graukopf mit dem prachtvollen Pelzmantel. Eilig nimmt Heinrich in der Kirchenbank Platz, faltet die Hände zum Gebet vor der Stirn. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Greta aus der Kapelle schlüpft, und der Inhalt seines Gebetes ist alles andere als heilig. Einfach nur: Allmächtiger Gott, mach, dass sie tut, um was ich sie gebeten habe! Wohl noch nie ist eine heilige Handlung an ihm so vorübergerauscht wie diese hier! Wie hat er sich danach gesehnt, wieder einmal Weihrauch zu riechen, die frommen Gesänge zu hören, einer Predigt beizuwohnen, die altgewohnten Riten zu erfüllen, die wohlbekannten Gebete und Responsorien zu sprechen – nun gleitet alles an ihm vorbei, als wenn er in einem Traum wäre. Nimm dich zusammen, Heinrich!, befiehlt er sich selbst. In wenigen Augenblicken wahrscheinlich wirst du diesem Mann gegenüberstehen, deinem Gegner, deinem Todfeind. Da darfst du keinen Fehler machen, nicht zerstreut und abwesend sein! Langsam kommt er zur Ruhe. Sammelt sich, spricht das Glaubensbekenntnis und die Fürbitten aus tiefstem Herzen mit. Beim »Ite, missa est«, ist er gelassen. Gott wird ihm beistehen, er fühlt es. Er will gerade zu Jadwiga gehen, um sie abzuholen von ihrem »Armesünderbänkchen« – da tritt er ihm rasselnd in den Weg. Pfalzgraf Christoph. Es ist verboten, in der Kirche Waffen zu tragen, aber der Herr hat so viel überflüssiges Metall an sich – Sporen, silberner Wehrgurt, große Ehrenkette, eisenbeschlagene Handschuhe –, dass er trotzdem klirrt wie ein
Kämpfer in voller Ausrüstung. Das also ist er. Heinrich ist groß, aber der hier ist mindestens einen halben Kopf größer als er und doppelt so breit. Ein Riese von einem Mann – wie hat er nur so einen schwächlichen Sohn haben können?, schießt es Heinrich durch den Kopf, während ihn zwei graublaue Augen durchdringend mustern. Er hält dem Blick stand, senkt die Lider nicht. Schließlich deutet Herr Christoph ein kurzes Kopfnicken an. »Willkommen, Herr Ritter Wenzel. Ich dachte nicht, dass wir uns unter solchen Umständen Wiedersehen würden. Eure Schwester…« »Meine Schwester ist unschuldig, und ich fordere den zum Kampf heraus, der etwas anderes behauptet«, hört Heinrich sich laut und deutlich sagen. Der Pfalzgraf macht eine ungeduldige Handbewegung. »Das wissen wir ja schon. Wir kennen schließlich den Grund, warum Ihr hergekommen seid.« Er mustert das Gesicht seines Gegenübers. »Wann hattet Ihr die Blattern?«, fragt er beiläufig. »Im vorigen Jahr. Gott war gnädig und hat mich gerettet.« Christoph lacht kurz auf. Es klingt nicht lustig. »Ja, um Euch ein Jahr später von meiner Hand sterben zu lassen.« Heinrich presst die Lippen aufeinander. »Gott wird der Unschuld zum Sieg verhelfen«, sagt er und glaubt nicht daran. Glaubt Christoph daran? Hält er Jadwiga wirklich für schuldig? Oder will er auf diese Weise nur seinem Schmerz, seiner Wut und seiner Enttäuschung über den toten Sohn, den Versager, den Schwächling, Ausdruck verleihen? Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagt der Pfalzgraf: »Ich bewundere Euren Mut. Um einen Sohn wie Euch hätte ich Gott gebeten. Nun hoffe ich auf den Enkel und Erben.« Ein verächtlicher Blick streift Jadwiga, die noch immer in sich zusammengesunken in ihrer Ecke sitzt. »Schade, dass Ihr mein
Feind seid. Aber zunächst seid Ihr mein Gast. Es soll Euch an nichts fehlen. Ist alles zur Zufriedenheit?« »Ja, Herr Pfalzgraf.« Der grauhaarige Mann nickt und wendet sich mit seinem Gefolge zum Gehen. Sagt über die Schulter: »Übrigens, damals nanntet Ihr mich Ohm Christoph. Aber so vertraulich kann man wohl seinen Gegner nicht ansprechen.« Weg ist er. Glaubt er wirklich, dass ich Wenzel bin? Egal. Im Moment egal. Es gibt Wichtigeres. Hastig und stumm führt er Jadwiga zurück. Als er in sein Zimmer kommt, wartet Greta schon auf ihn. An schön verzierter Leine hält sie – Lythande.
Auf der Suche nach Hilfe
Mit einem Freudengeheul reißt sich die Hündin aus der Hand Gretas los und stürzt sich, die Leine nachschleifend, auf Heinrich, springt an ihm hoch, versucht, ihm das Gesicht abzuschlecken. Er hockt sich herunter zu ihr, zaust das silberweiße Fell, drückt ihren Kopf an seinen, bemüht, seine Bewegung zu verbergen. Lythande, ein Stück von ihrer Gemeinsamkeit. Ein Stück Wolfsbande. Das Tier liegt jetzt vor ihm auf dem Rücken, verzückt die Augen geschlossen, und er liebkost ihren weichen Bauch. Heinrich sieht fragend zu Greta auf. Das Mädchen dreht an ihren Zöpfen. »Die beiden, die – die die Turnierstangen gebracht haben – also der Türsteher hat sie nicht reingelassen. Da haben sie gemeint, der Hund tut’s auch.« Der Hund tut’s auch. Fast hätte Heinrich laut losgelacht, ungeachtet all seiner Sorgen. Das sieht ihnen ähnlich, Lorenz und Lucia. Wenn erst einmal einer oder eines von ihnen drinnen ist, wird Wolf schon den Rest richten. »Der Junge«, fragt er, »hat der sich denn einfach so von dem Hund getrennt?« »Der junge Mann!«, verbessert Greta, fast beleidigt. »Nein, eigentlich nicht. Er wollte nicht so recht. Aber die Kleine mit den rotbraunen Haaren, die hat ihn ziemlich angeschrien.« Wieder muss sich Heinrich auf die Lippen beißen, um das Lachen zu unterdrücken. Er erkennt die Gefährten so genau wieder – wie sie miteinander umgehen. Ihm ist direkt warm ums Herz geworden. »Sind die beiden noch da?«, fragt er, und Greta nickt. Heinrich streichelt gedankenversunken das Fell
der Hündin. Vielleicht kann ihm Lythande nützlich sein. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, sie hier auf der Pfalz zu behalten. Durch sie könnte man später eine Botschaft senden an jemanden, der einem helfen kann – sie ist klug und anstellig, lernt schnell… Eine Botschaft… Ihm ist, als höre er in seinem Inneren eine bekannte, spöttische Stimme: »Ich wäre bereit, einiges an Silber für den Hund zu geben…« Herr Walther von der Vogelweide. Sein Meister. Wenn überhaupt einer, dann dürfte der in der Lage sein, ihn aus dieser misslichen Lage zu retten. Walther, ein Mann mit Einfluss, ein Mann, der das Ohr der Großen im Reich hat. Wieso ist ihm das nicht eher eingefallen? Muss da erst Lythande kommen und seine Erinnerung wachrufen an diese Stimme? – Auch Walther will nach Aachen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er schon in der Nähe ist, von Burg zu Burg zieht, Neuigkeiten überbringt und so seinen Geldbeutel füllt. Man muss sich nur ein wenig umhören. Entschlossen erhebt Heinrich sich. »Geh noch einmal zu den beiden!«, sagt er im Befehlston. »Sag ihnen Folgendes: Sie sollen den Meister suchen, so schnell es geht. Den Hund behalte ich hier. Er kann mir vielleicht nützlich sein.« Dabei stellt er sich schon vor, wie Lorenz toben wird, dass er seine »Blanchefleur«, seine weiße Lilie, behält. Er weiß noch gar nicht so recht, was er mit ihr vorhat. Und vielleicht ist es ja einfach nur, dass er sich nicht so verlassen vorkommt. Das Mädchen, beeindruckt von seiner Kommandostimme, seinem plötzlichen Herrengebaren, nickt und knickst. An der Tür dreht sie sich noch einmal um. »Die Herrin Jadwiga liebt Hunde sehr!«, sagt sie bedeutungsvoll. Umso besser. Da wird die schöne Bracke eben eine Aufmerksamkeit ihres Bruders Wenzel für sie sein – und die Möglichkeit, mit ihr öfter in Kontakt zu kommen.
Lythande steht schwanzwedelnd an der Tür. Natürlich will sie nun, nach der freudigen Begrüßung dieses »Rudelmitglieds«, wieder zu ihrem Lieblingsmenschen. Heinrich schlingt ihr die Arme um den Hals, drückt seine Stirn gegen ihren Nacken. »Bleib ein bisschen bei mir!«, sagt er leise. »Hilf mir! Wenn Gott will, sind wir alle bald wieder zusammen…«
Fassungslos starrt Lorenz der kleinen Greta hinterher. »Das kann nicht wahr sein!«, sagt er heiser. »Ich wollte ihm Lythande nur schicken als Zeichen, dass wir in der Nähe sind und damit er sich nicht so einsam fühlt, und er – er behält sie einfach bei sich!« »Calmati, Ragazzo«, bemerkt Lucia ungerührt. »Reg dich nicht auf. Wird schon seine Gründe haben, unser Wolf. Passiert ihr ja nichts.« »Passiert ihr nichts – als ob es darauf ankäme! Sie gehört zu mir! Zu mir! Ich hab ihr das Leben gerettet und sie mir auch! Was war ich bloß für ein Dummkopf, mich auch nur ein Vaterunser lang von ihr zu trennen!« Er sitzt da, den Kopf in die Hände gestützt, während das Mädchen das Geschirr der Maultiere in Ordnung bringt und ihr Gepäck auflädt. »Jammere nicht, hilf mir!«, fährt sie ihn an. »Du hast gehört, was Wolf will – wir sollen Meister suchen! Willst du hier hocken bleiben, bis es Abend ist?« Lorenz schüttelt den Kopf, erhebt sich langsam, mit hängenden Schultern. »Ohne meine Blanchefleur komme ich mir vor wie – wie ein Waisenkind«, murmelt er. »Ach, Waisenkind bin ich auch«, sagt das Mädchen ruhig. »Und Wolf – vielleicht Wolf auch. Lass ihm den Hund, ja?«
Wortlos legt Lorenz mit Hand an, belädt die Maultiere. Seufzt dann. »Und wo finden wir den berühmten Mann wohl auf dieser großen weiten Welt?«, murmelt er aufsässig. Lucia zuckt mit den Achseln. »Ist doch klar. Alle gehen nach Aachen. Wir auch. Er auch. Unterwegs finden.« Sie verlassen die schreckliche Pfalz, die Stadt. Ihre Tiere nehmen den Weg unter die Füße. –
Heinrich musste nicht warten, um von Jadwiga empfangen zu werden. Wieder liegt die junge Frau auf den Polstern, viele Kissen im Rücken. Als sie die Hündin sieht, legt sie ihr Buch beiseite, richtet sie sich hoch, und ein Lächeln tritt auf ihr blasses Gesicht, zeichnet zwei Grübchen auf ihren Wangen. »Was für ein wunderschöner Hund!«, sagt sie bewundernd. »Und meine Kammerfrau sagt, den wollt Ihr mir schenken?« Heinrich beißt sich auf die Lippen. Davon war keine Rede. »Ich kann schlecht verschenken, Dame, was schon einem anderen gehört«, sagt er. »Die Wahrheit ist, dass diese Hündin einen Herrn hat, und dass sie beide ungewöhnlich aneinander hängen. Aber um Euch diese trübe Zeit zu verkürzen, dachte ich…« Er bricht ab. Sein Blick ist auf das Tischchen neben dem Lager gefallen. Jadwiga schnipst mit den Fingern, lockt die Hündin zu sich heran, krault sie hinter den Ohren. »Ich weiß nicht einmal, ob der Pfalzgraf es erlaubt, dass sie bei mir bleibt. Es wäre vielleicht schon zu viel der Gnade.« Sie sieht auf, folgt Heinrichs Blick. »Was habt Ihr?« »Das Buch!«, bringt er hervor. Er ist ganz aufgeregt. Seit seiner Klosterzeit hat er kein Buch mehr in der Hand gehabt. »Ihr könnt lesen, Jadwiga? Lateinisch lesen?« »Und Ihr?«, entgegnet sie, mindestens genauso verwundert. »Woher wisst Ihr, dass das Latein ist?«
»Na, ich sehe doch den Titel. Ciceronis Somnium Scipionis. Ciceros Traum des Scipio«, erwidert er ohne zu überlegen. Wieder ist dies Lächeln da, fast spitzbübisch. »Woraus folgt, dass auch Ihr lesen könnt – noch dazu in einer fremden Sprache. Merkwürdig für einen Mann Eurer Herkunft.« »Was ist meine Herkunft?«, sagt er scharf, ärgerlich, dass er nicht vorsichtiger war. Sie sieht ihn mit großen Augen an. »Nun, Junker Wenzel, die wenigsten Ritter können lesen und schreiben. Und anderes Volk – schon gar nicht.« »Und die Edelfräulein, die es gelernt haben, muss man mit der Laterne suchen!« Jadwiga nickt. »Da habt Ihr Recht. Aber nach dem Tod meiner Mutter war ich so einsam und verlassen da auf unserer Burg in Pommern. Der Vater auf dem Kreuzzug, mein Bruder – ich meine, Ihr – noch nicht zurück. Da habe ich den Burgkaplan gebeten, mich zu unterrichten, um mir die Zeit zu vertreiben.« »Es kann von Nutzen sein«, bemerkt Heinrich nachdenklich. Die junge Frau zuckt die Achseln. »Schwerlich. Was soll mir noch von Nutzen sein?« Sie beugt sich zu Lythande, um sie zu liebkosen, ächzt plötzlich und presst die Hände auf ihren Leib. »Was ist Euch?«, fragt Heinrich besorgt. »Ich weiß nicht. Ein plötzlicher Schmerz, wie ein Riss. Es geht vorüber. Es war – es war heute alles ein bisschen viel. Die Messe, der Anblick von Herrn Christoph, seine Begegnung mit Euch, ob auch alles – alles in Ordnung ist dabei…« »Ihr meint, ob er auf die Täuschung hereinfällt!«, sagt Heinrich hart. »Nennt es, wie Ihr wollt.« Wieder stöhnt sie auf.
Heinrich ist es etwas unheimlich zu Mute in Gegenwart dieser Schwangeren. Was weiß er schon von Frauen. »Ich werde Greta rufen!«, bietet er an. »Nein. Lasst nur. Es ist gut. Etwas anderes macht mir zu schaffen.« Sie senkt die Stimme, flüstert: »Es regt sich nicht. Schon seit einer Woche nicht mehr.« »Ich verstehe nicht.« Sie schnauft ungeduldig durch die Nase. »Heilige Einfalt! Ein Kind im Mutterleib bewegt sich. Mal da ein Tritt, mal hier einen Fuß, den man fühlen kann, oder ein kleines Knie. Aber seit Tagen ist da nichts mehr. Gar nichts.« Plötzlich hat sie seine Hand gepackt. »Um der Barmherzigkeit Gottes willen, arbeitet mit Lukas, lernt zu kämpfen! Das Turnier kann schneller heran sein, als Ihr denkt.« Heinrich macht sich steif. »Ich weiß, dass ich nur verlieren kann«, sagt er ruhig. »Und Ihr wisst es auch.« »Gott schützt die Unschuld!« »Ja«, sagt er müde, »aber nicht auf diese Weise. Sie ist Gott nicht wohlgefällig. Lasst uns nicht mehr darüber reden, wir drehen uns im Kreis.« Sie sinkt in ihre Kissen zurück, schließt die Augen. »Darf die Hündin heute bei mir bleiben?« Sie ist so erbarmungswürdig allein, diese Frau. »Ich lasse sie bei Euch bis zum Abend. Sie vermisst schon ihren eigentlichen Herrn. Mich kennt sie wenigstens. Versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie soll nicht auch noch ein verlassenes Geschöpf werden.« »So viel Mitgefühl mit einem Hund!«, murmelt sie. »Ich wollte…« Sie bringt ihren Gedanken nicht zu Ende, und Heinrich wartet vergeblich darauf, dass sie ihn entlässt. Schließlich gibt er Lythande den leisen Befehl, zu bleiben und geht. Bis zur Tür verfolgen ihn die fragenden, beunruhigten Blicke der Hündin. –
Wieder einmal steigt er auf den Turm, den Ort seiner Sehnsucht nach Freiheit. Spürt, dass der Wind umgeschlagen ist. Nicht mehr eisig weht es ihm entgegen, sondern eine weiche Luft spielt um sein Haar, scheint sein Gesicht zu streicheln. Graue Wolken ziehen auf. Noch mehr Schnee? Schnee bedeutet: Erschwernis auf dem Weg der Gefährten. Wo mögen sie sein? Werden sie Walther finden? Und was erhofft er sich eigentlich von dem Sänger? Er weiß es selbst nicht.
Bloß kein Tauwetter!
Am Abend sind sie wieder bei der Herberge auf dem Weg nach Westen, an der sie ursprünglich auf Wolf treffen wollten. Der Wirt kann sich an sie erinnern. »Wo habt ihr euren Hund gelassen?«, fragt er. »Wohl verkauft? Na, ich kann mir schon denken, dass irgendein adliger Herr einen ganzen Batzen Geld hinlegt für so ein schönes Tier.« Lorenz wird feuerrot im Gesicht. Er erwidert nichts. Muss der Kerl auch noch den Finger auf die Wunde legen? Als sie ihr bescheidenes Quartier bezogen haben – kein Ofen, dafür wenigstens dicke Federbetten – sagt er: »Da hörst du’s. Wir waren mal zu viert. Die Wolfsbande. Dann waren wir die Wolfsbande ohne Wolf. Nun auch noch ohne Lythande. Wenn’s so weitergeht – ja, dann wird wohl jeder von uns allein sein.« Die Stimme kippt ihm weg. Er schlägt die Hände vors Gesicht. Lucia betrachtet ihn aufmerksam. Dann streicht sie ihm übers Haar. Das ist das erste Mal, dass sie eine Zärtlichkeit für den Jungen übrig hat. Meist streiten sie eigentlich. »Du musst« (sie sucht nach dem Wort) »du musst vertrauen, Ragazzo. Glauben, dass wir es schaffen. Das ist nur eine Trennung. Nur für kurz. Zwei hier, zwei da. Coraggio, hab Mut! Komm, wir wollen Leute fragen. Wenn Walther unterwegs ist, wird er auch auftreten. Lieder singen. Lieder sind Neuigkeiten, Leute wollen alles wissen. Komm! Wir gehen in Gaststube.« »Sollen wir etwa auch auftreten?«, fragt Lorenz mutlos. »Ohne Lythande kriege ich nichts hin.«
»Blödsinn!«, erwidert das Mädchen energisch. »Wir können doch singen. Lieder von Walther. Vielleicht erkennen die Leute was wieder und sagen: Ha, da war doch einer, der hat das auch gesungen… Los, nimm die Fiedel!« Eher widerwillig folgt Lorenz dem Vorschlag Lucias. Aber es stellt sich heraus, dass ihr Einfall richtig gut ist. Die Gaststube ist voll von Reisenden, die Richtung Aachen unterwegs sind. Die Krönung soll zwar erst in zwei Monaten sein, aber rechtzeitiges Erscheinen ist angebracht, wenn man noch ein gutes Quartier bekommen und vor allem Geschäfte machen will. Lucia und Lorenz sprechen sich im Flüsterton ab, beginnen dann mit ein paar lustigen Tanzliedern. Die Gäste klopfen den Takt mit ihren Bierhumpen auf dem Tisch mit, und ein Mädchen mit viel Schminke im Gesicht und einem bis zum Knie hochgeschürzten Rock steht sogar auf und beginnt sich im Rhythmus hin und her zu wiegen – zu einem richtigen Tanz reicht der Platz nicht aus in der engen Stube. Es gibt Beifall und Warmbier, aber das lassen sie lieber stehen, damit sie nicht gleich müde werden. Dann kommt die Frage, auf die sie gewartet haben: »Bringt ihr auch neue Lieder mit?« Neue Lieder, das bedeutet immer: Lieder mit Neuigkeiten, Lieder, aus denen sie erfahren können, was in der Welt vorgeht. Lieder mit Nachrichten. Lorenz nickt eifrig und schießt auf engstem Raum einen Purzelbaum. Langsam kommt er in Fahrt und denkt nicht an mehr an seine Lythande. »So neu, wie die Beine in die Luft stecken!«, ruft er. »Was meinst du, Lucia, wollen wir eines der neuen Lieder des großen Sängers zum Besten geben?« »Welcher große Sänger?«, fragt ein Glatzkopf von hinten am Tisch, und Lorenz sprüchelt: »Herr Walther von der Vogelweide/wer den vergisst, der tut mir leide.«
Er gibt Lucia ein Zeichen, und sie beginnen mit einem der älteren Lieder des Meisters: »Wenn Kräuter gut gewachsen sind/in einem schönen Garten/dann lasse sie der kluge Mann/ für eine Zeit in Ruh…« Was da so gärtnerisch daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Lied um Zeit und Zeitereignisse: Mit dem Bild der Kräuter im Garten fordert der Sänger seine Zuhörer auf, mit dem jungen König Friedrich Geduld zu haben – nicht alles kann man auf einmal erreichen. Seine Macht ist am Wachsen, sein Stern im Steigen, aber noch steht er nicht im Zenit. Noch ist Deutschland nicht geeint, herrscht Kleinstaaterei, verdienen Fürsten und Junker an Zöllen und willkürlich erhobenen Steuern. Die Gäste in dieser Wirtstube hören freundlich zu, klatschen sogar mit und summen den Refrain. Aber als die beiden enden, ist der Beifall nur lau, und ein bärtiger Mann im Kapuzenmantel, der aussieht, wie ein weit gereister Händler, ruft ihnen zu. »Ganz hübsch, aber das Neuste ist das gerade nicht! Da haben wir inzwischen andere Neuigkeiten gehört – und aus erster Quelle!« Die Gefährten wechseln einen Blick. Wie immer führt Lorenz das Wort. »Was soll denn das heißen: Aus erster Quelle?«, fragt er und legt die Hand hinters Ohr, als würde er schwerhörig sein. Die Leute lachen. Der Kapuzenmann fährt selbstgefällig fort: »Was würdet ihr Spielmannskinder wohl dazu sagen, wenn ich euch anvertraue, dass ich den großen Walther von der Vogelweide selbst gehört habe – und zwar erst vor ein paar Tagen?« »Och!«, sagt Lorenz und schnappt übertrieben nach Luft. »Das kann ich gar nicht glauben! Wieso sollte so ein großer Künstler vor einfachem Volk singen? Der ist ja nicht so Lumpengesindel, wie wir es sind!« Man grölt. Der Kapuzenmann fühlt sich herausgefordert. »Na ja, in der Kneipe hat er nicht gesungen!«, gibt er überheblich
zurück. »Aber ich hab kürzlich gerade eine Ladung getrockneten Salzfisch in Brechtme abgeliefert, und da hatte er seinen Auftritt, der große Sänger, und alle, nicht nur die Herren und Damen, sondern jeder bis herunter zum Stallknecht und Schweinehüter, konnte ihn hören. Singt jetzt ganz andere Lieder als diese ollen Kamellen. Lobt seinen König, der nun Kaiser wird, seine Freigebigkeit und Gerechtigkeit… Ja, so ist das.« Ein anderer fällt ein. »Ich hab auch davon erfahren, dass er hier in der Gegend sein soll. Klar doch, die Krönung. Aber selbst gehört hab ich ihn leider nicht.« Die Gefährten haben genug erfahren. »Das wäre ja ein Glück, wenn wir ihn auch mal hören könnten!«, sagt Lorenz. »Brechtme, sagt ihr, wo ist das?« »Nordöstlich von hier, auf der anderen Seite des Flusses. Aber da wird er wohl nicht mehr sein. Soviel ich weiß, wollte er weiter nach Verne.« Die beiden Tanzlieder, die ihnen noch abgefordert werden, bringen die beiden mehr schlecht als recht hinter sich. –
Voller Ungeduld wartet das Mädchen auf Lorenz, der noch bei den Stallburschen und den Mägden nach dem Weg herumgefragt hat. »Und?«, ist alles, was sie sagt. »Um nach Norden zu gelangen, müssen wir die einzige Brücke bei Lippstadt nehmen. Sonst kommen wir nicht über den Fluss. Brechtme ist nur eine Tagereise von hier entfernt. Vielleicht können wir ihn unterwegs abfangen!« Lorenz stößt die Luft aus. »Ein Stein fällt mir vom Herzen! Ich hätte nicht gehofft, dass wir so bald Glück haben.« »Kein Glück!«, widerspricht Lucia heftig. »Gott will es! Wir befreien Wolf! Alles wird gut!«
»Lob mal den Tag nicht vor dem Abend!«, bremst Lorenz ihre Zuversicht. »Erst mal müssen wir ihn finden. Dann muss er uns anhören. Und dann – ja, dann muss er sich dazu breitschlagen lassen, Wolf zu helfen, falls er denn dazu in der Lage ist.« Lucia runzelt die Stirn: »Was heißt: breitschlagen?« »Wir müssen ihn überreden.« »Ich werde überreden! Non dubitar! Kannst du nicht dran zweifeln.« Sie sagt das ganz ruhig, aber mit absoluter Gewissheit. »Wir beten. Dann schlafen. Und morgen früh gehen wir da hin.« »Hoffentlich haben wir gutes Reisewetter«, sagt der Junge und seufzt. »Als ich vorhin über den Hof gegangen bin, war so ein warmes Lüftchen – wenn wir richtiges Tauwetter kriegen, versinken wir im Matsch.« Dazu sagt Lucia nichts. –
Lorenz erwacht, weil das Mädchen ihn ruft. »Ragazzo, eh, Augen auf! Hörst du nichts?« Graue Dämmerung rieselt durch die Ritzen der Fensterladen in die Kammer. Ja, er hört es: Der Regen plätschert, läuft glucksend durch die hölzernen Regenrinnen, die auf den Hof führen, gurgelt wie in Bächen. Lorenz setzt sich auf. »Das ist das Letzte, was wir brauchen können!«, murmelt er. Er springt aus dem warmen Bett, stößt fröstelnd den Fensterladen auf. Die Welt, die gestern noch weiß war vom Schnee, ist nun grau und silbern: Grau von Regenschleiern und den großen Flecken nackter Erde, die bereits frei sind, silbern von schimmernden Eisflächen. Die Schneedecke hat sich in eine Eiskruste verwandelt. Lucia ist hinter den Jungen getreten, legt ihm die Hand auf die Schulter. »Dio mio!«, flüstert sie. Sonst nichts.
»Wie sollen wir reisen bei diesem Wetter?« Lorenz breitet hilflos die Arme aus. »Bei jedem Wetter kann man reisen. Wenn man muss.« Lucia beginnt entschlossen, ihre Schuhe zuzuschnüren. –
Sie schlittern und stapfen über den Hof zum Stall. Der Knecht, der die Tiere versorgt, starrt sie an, als wären sie zwei Geister. »Seid ihr wahnsinnig? Keiner der Gäste will fort bei diesem Wetter! Eure Maultiere werden sich die Knochen brechen auf dem Eis!« »Wir schaffen das schon«, entgegnet Lorenz einsilbig. In der Küche lassen sie sich Proviant geben, dann machen sie sich auf den Weg. Der eisige Regen peitscht ihnen ins Gesicht. Sie ziehen ihre Kapuzen bis zur Nasenspitze herunter, nehmen die Mulis am Führzügel und stapfen los, beide auf ihre großen Wanderstäbe gestützt. Zu reiten scheint ihnen angesichts der Wegverhältnisse zu gefährlich. Zwar sind Maultiere trittsicher und vorsichtig, aber wenn sie denn doch stürzen sollten, werden Tier und Reiter gemeinsam verletzt. Manchmal schmatzt der Schlamm unter ihren Sohlen, dann wieder rutschen sie über eine Eisfläche. »Da jagt man ja keinen Hund raus!«, murmelt Lorenz. Ergänzt das Sprichwort dann: »Bloß gut, dass Lythande im Trockenen ist.« –
»Sei froh, dass du jetzt im Trockenen bist!«, sagt Heinrich und krault der Hündin den Bauch. »Aber ich denke, die beiden werden vernünftig genug sein, nicht bei diesem Wetter weiterzuziehen.« Die Hündin wedelt mit dem Schwanz, gibt zu verstehen, dass sie nichts begreift. Der junge Mann ist selbst schlammbedeckt – er hat gerade wieder eine Übungsstunde mit Lukas hinter sich: Zweikampf
mit den Bidenhändern. Im strömenden Regen, oft bis zu den Knöcheln im Matsch, hat er sich mit Lukas herumgeschlagen. Heinrich macht gute Fortschritte, das ist zu sehen. Seine Arme erstarken, und nachdem er begriffen hat, wie Angriff und Abwehr bei diesen Schwertkämpfen funktionieren, ist er manchmal fast genauso gut wie Lukas. Aber was diese Lanzengänge auf dem Kampfhengst angeht – bisher ist er noch kein einziges Mal im Sattel geblieben, sondern immer ausgehoben worden und im hohen Bogen auf die Erde gekracht. Sein Körper ist von Prellungen und Blutergüssen übersät, und morgens, wenn er aufwacht, bevor er sich mit ein paar Übungen »weich gemacht« hat, fühlt er seine Armmuskeln wie glühende Stränge. Immerhin, es bleibt noch Zeit. Vielleicht besteht ja doch der Schimmer einer Hoffnung, dass er in der verbleibenden Woche noch genug dazulernt. Vielleicht ist ja auch das Glück mit ihm oder der Zufall. An Gottes Gnade wagt er in dem Zusammenhang gar nicht zu denken. Gott, davon ist er fest überzeugt, ist abwesend bei einem solchen Gestech. Er ist richtig dankbar, dass der Pfalzgraf bisher nicht auf den Gedanken gekommen ist, bei seinen Übungsstunden zuzusehen. Aber das ist wohl unter der Würde dieses Herrn. Der ist ja ohnehin von seinem Sieg überzeugt. Während ihm der tägliche Badezuber zubereitet wird, hört er vom zweiten Hof, da, wo der Kampfplatz ist, Zurufe und Waffengeklirr. Was geht da vor? Von seinem Fenster aus hat er keinen Einblick auf diesen Teil der Pfalz. Eilig schnippt er mit den Finger, um Lythande zum Mitkommen zu bewegen, und steigt mit ihr auf den Turm. Die Hündin schüttelt sich im Regen, aber als Heinrich sich weit über die Brüstung beugt, um hinunter zu sehen, setzt auch sie ihre Vorderpfoten auf den Mauerring und äugt mit schief gelegtem Kopf nach unten.
Was Heinrich da sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren. Pfalzgraf Christoph hat mit seinen Kampfvorbereitungen begonnen. Mit eingelegter Lanze prescht er ein paarmal rund um die Bahn. Erst sticht er eine Strohpuppe ab, wirbelt dann einen hölzernen »Mann« durch die Luft, fordert schließlich mit Zuruf zwei Knechte auf, ihn kurz nacheinander anzugreifen. Beide liegen augenblicklich im Dreck. Herr Christoph wirbelt auf dem schweren Hengst herum, als wenn er ein leichtes arabisches Pferdchen unter den Schenkeln hätte, stürmt schon auf das dritte unglückliche Opfer zu. Bei alledem hat er es nicht einmal für notwendig gehalten, sich mit einem Schild zu bewaffnen. Heinrich bekreuzigt sich. Gütiger Gott, verleih mir Stärke! Lythande, von dem wilden Lärm da unten aufgeregt, wedelt mit dem Schwanz, beginnt zu bellen. »Still, Mädchen!« Heinrich hält ihr schnell die Schnauze zu, aber es ist schon zu spät. Christoph nimmt den Topfhelm ab, der nur lose auf seinen Schultern saß, legt den Kopf in den Nacken und blickt nach oben, kneift die Augen zu gegen den Regen und macht dann eine höhnische Verbeugung im Sattel. Heinrich schießt das Blut ins Gesicht. Muss er sich zu allem auch noch verspotten lassen? Schnell tritt er zurück von der Brüstung. Das Haar klebt ihm in Strähnen am Kopf, Regenwasser strömt über sein Gesicht. Er beeilt sich, zu seinem Badezuber zu gelangen, lässt sich in das warme Wasser gleiten, schließt die Augen und atmet tief durch. In seiner Vorstellung erscheint ein Bild: Zwei Gestalten, die mit ihren Stäben mühsam gegen den peitschenden Regen anmarschieren, die Maultiere am Führzügel. Ihre Kapuzenmäntel glänzen vor Nässe, die Decken der Tiere sind schwarz vom Regenwasser. So rutschen und stapfen sie unermüdlich voran, klein und verloren in dieser unbarmherzigen Welt, auf ihr Ziel zu: seine Rettung.
Nein, sie haben sich nicht in einer Herberge verkrochen, um besseres Wetter abzuwarten. Sie sind unterwegs – seinetwegen. Mögen alle Heiligen sie beschützen. –
Noch mehr Katastrophen
Nein, das kann man keine Herberge nennen. Das ist eine elende Kate mit einem Stall dran – und zudem voll bis unters Dach mit Reisenden, die das schlechte Wetter abwarten wollen, ehe sie weiterziehen. Für Neuankömmlingen ist kein Platz. Zum Glück kann man im Stall noch ein bisschen zusammenrücken, sodass die Tiere ein Unterkommen haben – und die beiden jungen Fahrenden schlüpfen zu ihren Mulis ins Haferstroh. Lucia faucht den Jungen an: »Warum du hast nicht gefragt nach dieses, dieses…« »Verne«, sagt Lorenz verzagt. »Wir einen Tag lang gehen in falsche Richtung, falsches Flussufer! Gehen, woher Walter kommt, nicht wohin! Und jetzt Leute erzählen, er längst vorbei!« »Und über den Fluss und über die Brücke!«, stöhnt Lorenz. »Ich gehe trotzdem nicht den ganzen Weg zurück. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, den Fluss wieder zu überqueren. Wenn wir die Brücke nehmen, verlieren wir zu viel Zeit! Verne ist nur einen Katzensprung entfernt!« »Katze nicht kann springen über Fluss!«, schnaubt Lucia. »Haferstroh piekt besonders«, jammert Lorenz an Stelle einer Antwort. Lucia hat darauf nur ein verächtliches »Ph!« zur Antwort. »Umso besser! Sind wir morgen schnell wach und können gleich los. Erster Vogel kriegt Regenwurm.« »Hä?«, der Junge muss grinsen. »Der frühe Vogel fängt den Wurm – so heißt das.«
»Na und? Kommt doch auf dasselbe raus«, entgegnet sie ungerührt. Lorenz stöhnt. »Sag mal, bist du aus Eisen? Wenn man dich sieht, denkt man, du brichst irgendwann auseinander, so dünn, wie du bist – aber du bist nicht kaputtzukriegen. Wie machst du das?« Lucia schweigt. Dann sagt sie drei Worte: »Weil ich will.« Er möchte gern noch etwas erwidern, antworten, dass er ja auch will – aber da verkünden tiefe Atemzüge, dass sie schon eingeschlafen ist. Lorenz versucht, noch ein Gebet zu sprechen, ein Vaterunser für sie beide, für Wolf und Lythande – aber auch er kommt nicht bis zum Amen. Ihre Erschöpfung ist tief. –
Sie sind die ersten, die die Herberge verlassen. Der Regen hat aufgehört. Es ist unnatürlich mild, der Wind umweht sie wie ein weiches Tuch. Es hat die ganze Nacht weiter getaut, die Eisflächen sind verschwunden und haben großen Pfützen Platz gemacht. Die Gefährten stapfen durch bodenlosen Schlamm, der jeden Schritt erschwert und als Klumpen an den Schuhen hängt. Die beiden sind schweigsam, jeder hängt seinen Gedanken nach. Nur die Mulis schnauben und das Lederzeug knarrt. Schließlich unterbricht Lorenz die Stille: »Der Wirt hat was von einer Furt gesagt, wenn wir direkt nach Verne wollen. Aber durch das Tauwetter könnte der Fluss Hochwasser führen. Dann wird’s schwierig.« Lucias belustigter Blick streift ihn. »Ja, schlecht, wenn man nicht schwimmen kann!«, bemerkt sie nicht ohne Bosheit. Der Junge reagiert empört: »Also hör mal! In dem eisigen Wasser schwimmen – das kann ja wohl niemand!«
Sie zuckt die Achseln. »Wenn Furt nicht geht, finden wir Boot. Irgendwas geht immer.« »Machst du dir eigentlich gar keine Sorgen, he?« »Erst, wenn nötig ist«, erwidert sie trocken. Gegen Mittag wird der Boden sumpfiger. An Stelle der Buchen und graustämmigen Eichen, die zum Teil noch ihr vorjähriges Laub tragen, finden sie jetzt Erlen, Hasel und Weidenbäume. »Wir sind gleich am Fluss«, sagt Lucia aufmunternd und gibt ihrem Muli einen kleinen Klaps auf die Kruppe. Sie erklimmen eine Art Damm – und erstarren. Nein, da ist kein Fluss. Da ist eine einzige grau schimmernde Wasserfläche, aus der hier und da Hügel, vereinzelte Bäume und Hecken herausragen. Das gesamte Auenland, die Wiesenund Weidelandschaft im Schwemmgebiet des Flusses, steht unter Wasser. Sie sehen einander nicht an. Dann murmelt Lorenz, ohne den Kopf zu dem Mädchen zu drehen: »Hast du nicht gesagt, irgendwas geht immer?« Statt einer Antwort beginnt sie, mit ihrem Stab die Tiefe des Wassers auszuloten. Geht ein paar Schritte hinein. Lorenz packt sie grob am Arm und zieht sie zurück. »Lucia, bist du von denn Gott und allen Heiligen verlassen? Wir können da nicht einfach durchwaten! Erstens weißt du überhaupt nicht, wie tief es wirklich ist. Da können Löcher und Gräben und Kanäle im Gelände sein. Und zweitens holen wir uns den Tod bei so einem Gang. Und die Tiere schaffen das auch nicht. Das ist doch keine Furt, wo man sich hinterher irgendwie trocknen kann. Das… das dauert ja bestimmt eine Stunde oder zwei, bis wir da durch sind! Siehst du, da drüben, wo wieder festes Land ist? Wie weit das ist? Und dazwischen ist auch noch der Flusslauf! Lucia, du…«
Sie schüttelt seine Hand ab und sagt leise: »Kannst aufhören zu reden. Ich hab schon verstanden.« Dann wendet sie sich ihrem Maultier zu, lehnt den Kopf gegen den Leib des Tieres und beginnt verzweifelt zu weinen. –
»Du musst sie nicht immer an der Leine halten«, sagt Heinrich freundlich zu Greta. »Guck mal, sie kennt dich inzwischen und sie kennt deine Herrin. Du brauchst sie nur zu rufen, und sie geht mit dir. Hat ja verstanden, dass ihr es gut meint mit ihr.« Er schmunzelt. »Vor allem solange du immer ein Hühnerbein für sie in der Schürzentasche hast.« Greta errötet mal wieder und beugt sich schnell zu Lythande herunter, um sie zu streicheln. »Meine Herrin sagt, dieser Hund ist ihre einzige Freude. Und meine Herrin…« »Und deine Herrin füttert sie mit gutem Kuchen und weißem Brot«, unterbricht Heinrich. »Irgendwann ist das keine Bracke mehr, sondern eine wandelnde Tonne.« Das Mädchen kichert. Wird dann rasch wieder ernst, als der junge Mann fragt: »Wie geht es der Dame Jadwiga?« »Schlecht«, sagt die Kleine betrübt. »Der Herr Pfalzgraf hat gestern nach einer Hebamme geschickt, die sollte meine Herrin untersuchen. Und die hat gesagt, sie muss ganz und gar still liegen, nur still liegen, denn das Kind – mit dem Kind ist nicht alles so, wie es sein soll.« Sie zerknittert verlegen ihre Schürze. Offenbar ist es ihr peinlich, über solche Dinge mit einem männlichen Wesen zu sprechen. Rasch lenkt Heinrich ab. »Ich werde für sie beten«, bemerkt er. »Nimm Lythande jetzt mit. Ich muss sowieso zu Lukas. Heute ist mal wieder Abstechen angesagt.« Er seufzt. Greta mustert ihn ängstlich; die blauen Flecken auf seinem Gesicht stammen von der Helmkante und die Schwielen an den Unterarmen daher, dass sein eigener Schild sich in einen
Rammbock verwandelte gegen ihn, und die Finger der Linken sind noch immer verbunden. »Werdet Ihr es schaffen?«, fragt sie. Nein, will Heinrich sagen. Wenn kein Wunder geschieht, nicht. Aber warum soll er ihr allen Mut nehmen? »Das weiß der liebe Heiland allein!«, sagt er ausweichend. –
Er ist noch keine halbe Stunde auf dem Platz und erst einmal vom Gaul geflogen, als jemand über den Hof gerannt kommt und eilig mit Lukas flüstert. Dann kommt sein Waffenlehrer im Laufschritt zu ihm. »Die Unterweisung ist für heute beendet. Ich habe einen sehr eiligen Botengang zu tun«, sagt er, und seine Stimme klingt seltsam gehetzt. »Geht in Euer Zimmer und wartet, bis man sich um Euch kümmert.« Heinrich schluckt die Frage, die ihm auf der Zunge liegt, herunter. Was geht ihn an, was hier auf dieser Pfalz geschieht? Er muss sehr bald erfahren, dass es ihn sehr viel angeht… In den Gängen und auf den Treppen ist ein eiliges Hin und Her. Und von fern hört er Schreie. Schreie, die aus dem Bereich zu kommen scheinen, in denen Jadwigas Zimmer liegt. Er bleibt einen Augenblick stehen, um auf diese Schreie zu lauschen, und kann nicht verhindern, dass er eine Gänsehaut bekommt. Es ist eine Frauenstimme, die da schreit. Nun verstummt sie, dann setzt sie wieder ein. Als er um die Ecke biegt, stößt er fast mit Greta zusammen. Sie trägt Lythande in ihrer Schürze, als wollte sie den Hund vor etwas behüten. Ihre Augen sind geweitet vor Schreck. »Nehmt Euren Hund zu Euch und geht in Euer Zimmer und betet um den Beistand der Heiligen!«, bringt sie mit versagender Stimme heraus. »Was ist geschehen?«
»Die Herrin… die Wehen haben eingesetzt… Lukas holt die Hebamme… Gott schütze uns!« Sie ist weg, ihre eiligen Schritte klappern auf den Fliesen des Gangs. Heinrich steht wie vom Donner gerührt, hält die zitternde, erschreckte Hündin in seinen Armen. Jadwigas Kind kommt jetzt schon. Es kommt zu früh. Das bedeutet, ganz gleich, wie diese Geburt verlaufen wird: Sobald das Kind auf der Welt ist, wird das Turnier stattfinden. In seinem Zimmer sinkt er vor dem Bett in die Knie, faltet die Hände vor der Stirn. Es ist alles aus. Die schwache Hoffnung, die er hatte – in den verbleibenden zwei Wochen doch noch einiges zu erlernen in dieser ritterlichen Kampfart –, die ist nun zunichte gemacht. Er wird morgen oder übermorgen in den Ring reiten müssen, gegen diesen mächtigen Gegner. Es gibt noch einen Weg, vielleicht mit dem Leben davon zu kommen: Hin zu gehen, zu diesem Herrn Christoph, und aufzuklären, dass alles Betrug ist. Dass er nicht Ritter Wenzel ist, sondern ein rechtloser Gaukler. Vielleicht kommt er dann mit blau geschlagenem Rücken davon. Oder mit dem Verlust seiner Ohren und seiner Nase… Und Jadwiga? Jadwiga ist verloren. Nein. Dann lieber den Versuch wagen. Nicht einfach kampflos aufgeben und in ewige Schande versinken. Wagen und auf die Gnade Gottes hoffen. Obwohl dieser Hoffnungsfunke so schwach ist, dass man an ihm keinen Kienspan mehr entzünden kann. –
Gegen Abend, nach einem Tag voll qualvollen Wartens, kommt die Nachricht: Jadwigas Kind ist geboren worden. Ein Sohn. Er war bereits tot, als er auf die Welt kam. Die junge Frau selbst ist noch sehr schwach, aber nach Meinung der
Hebamme durchaus in der Lage, dem Turnier beizuwohnen, wie es in einem solchen Fall vorgeschrieben ist. Pfalzgraf Christoph hat den Zweikampf vor adligen Zeugen für übernächsten Tag angesetzt. Zum Zeichen der Herausforderung überbringt einer seiner Männer Heinrich den Fehdehandschuh des Pfalzgrafen. An dergleichen erinnert sich Heinrich noch aus der Zeit, als er selbst auf einer Burg wohnte und zum Ritter erzogen wurde: Man muss diesen Handschuh annehmen und sich bereit erklären, zu den Bedingungen des Herausforderers zu kämpfen. Als er allein ist, betrachtet er mutlos den mit Metallplatten bedeckten Stulpenhandschuh. Der Handschuh des schurkischen Abts Benno fällt ihm ein, damals im Kloster. Benno pflegte darin geheime Dokumente zu verstecken. Pfalzgraf Christoph kann nicht einmal lesen. Warum muss er sein Leben in so einer sinnlosen Weise verlieren? Es wird Nacht.
Die letzte Hoffnung schwindet
Er erwacht vom leisen Knurren Lythandes. Der Raum ist hell vom Mondschein. Die Hündin steht mit gesträubtem Nackenfell an der Tür – allerdings hat sie den Kopf schief gelegt und wedelt. Also kann der Ankömmling kein Fremder sein. »Wer ist da?«, fragt Heinrich halblaut. Ein Flüstern: »Ich bin’s, Greta. Zieht Euch an und kommt mit mir.« Hastig schlüpft Heinrich in seine Sachen, öffnet die Tür. Das Mädchen schirmt eine Kerze mit der Hand ab. Sie blickt ängstlich um sich, ob auch kein anderer sie hört. »Die Herrin bittet Euch zu sich!« »Bleib, Lythande!«, befiehlt Heinrich, und Greta legt erschrocken den Finger auf die Lippen: »Psst, nicht so laut!« Sie eilt vor ihm her auf Zehenspitzen, guckt sich an jeder Ecke um. Er tritt ebenfalls so leise auf, wie es nur geht. Im Zimmer Jadwigas brennt ein trübes Nachtlicht, und es riecht streng nach Kampfer, mit dem man die schwindenden Kräfte der jungen Frau bei der Geburt zu beleben versucht hat. Heinrich schreckt zusammen: Da ist noch jemand. In einem Sessel am glimmenden Kamin sitzt laut schnarchend eine dickliche Frau mit weißer Schürze. Das Kopftuch ist ihr bis über die Augen gerutscht. Neben ihr steht ein umgekippter Bierkrug. Greta flüstert schüchtern: »Keine Angst, Herr Wenzel. Das ist die Hebamme. Die wacht vor morgen früh nicht auf. Ich hab ihr was ins Warmbier getan.« Sie nähert sich dem Bett, dessen Vorhänge zugezogen sind. Sagt leise: »Er ist da, Herrin.«
»Mach auf, ich will ihn sehen. Und er soll mich sehen.« Das Mädchen gehorcht. Jadwiga ist so bleich wie die Kissen, in denen sie liegt. Ihre Lippen sind zerbissen, und unter ihren Augen liegen tiefe Ringe. Ihr blassblondes Haar ist wild zerrauft – während der Wehen hat sie sich daran festgekrallt. Sie hebt die Hand. »Kommt näher, bitte.« Heinrich, erschüttert von ihrem Anblick, geht auf die Knie vor ihrem Bett. »Es tut mir Leid«, sagt er unbeholfen. »Mit dem Kind. Gott hat jetzt sicher seine Seele.« Sie dreht den Kopf zu ihm. »Wer weiß? Die Hebamme hat ihm die Nottaufe gegeben. Hoffentlich findet die kleine Seele noch dahin, wo wir sie gern wünschen.« Ihre Augen schließen sich für einen Moment. Dann redet sie weiter; es ist ein fiebriges Flüstern. »Das Kind war meine ganze Hoffnung. Wäre es nicht zu früh geboren worden, dann hättet Ihr vielleicht doch eine Gelegenheit gehabt, gegen meinen Schwiegervater zu gewinnen. Dann hätte ich es selbst aufziehen dürfen. Hätte etwas gehabt, wofür das Leben lohnt. Jetzt ist alles aus. Und ich – mir liegt nichts mehr daran, auf dieser Welt zu sein.« Erschrocken greift Heinrich nach ihrer Hand. Glühend heiß und schlaff liegt sie zwischen seinen Fingern. »Das dürft Ihr nicht sagen, Jadwiga. Versündigt Euch nicht.« Sie lächelt matt. »Lasst nur. Etwas anderes: Zu dieser Stunde erkenne ich, dass ich übel an Euch gehandelt habe. Wenigstens Ihr sollt heil davonkommen, wenn ich schon verloren bin.« Sie richtet sich mühsam auf in ihren Kissen, sagt ernst: »Herr Ritter, hiermit entlasse ich Euch aus Eurer Verpflichtung mir gegenüber. Ich brauche keinen Kämpfer mehr. Zieht mit Gottes Gnade in Frieden fort.« Heinrich schluckt. Er merkt, dass ihm der Mund trocken wird, will einwenden, dass es ja doch kein Entkommen aus
dieser Festung gibt, aber sie fährt fort: »Es ist da eine geheime Pforte, und mein Lukas hat sich den Schlüssel dazu verschafft. Greta führt Euch zu ihm. Beeilt Euch. Und danke für Euren Beistand. Geht schnell.« »Wie soll ich Euch jetzt in Stich lassen?«, stammelt Heinrich. »Gütiger Gott, Ihr seid dem Tod geweiht.« »So oder so«, sagt sie mit müdem Spott und schließt die Augen. »Geht, ich befehle es.« Heinrich will ihre fieberheiße Hand küssen, aber sie wird ihm entzogen. Greta packt ihn am Arm. »Kommt! Sie will es!« Sie sind draußen. Wieder geht es durch lange Gänge, Greta mit dem Licht voraus, sorgfältig Ausschau haltend. »Warte noch!«, flüstert Heinrich. »Lythande! Wir müssen Lythande holen!« »Die Zeit eilt!« »Ohne den Hund kann ich nicht fortgehen. Mein Freund würde mir nie verzeihen. Und ich mir auch nicht.« »Herr Wenzel! Lukas wartet!« Aber Heinrich hört nicht auf sie. Er macht kehrt, rennt mit langen Schritten zurück zu seinem Zimmer. Greta folgt ihm mit dem Licht. Freudig wedelnd springt die Hündin an ihm hoch. Er nimmt sie auf den Arm, flüstert: »Sei leise, Lythande! Keinen Ton!« Wieder sind sie unterwegs in den Gängen, steigen schmale, feuchte Stufen hinunter. Es geht in den Keller. Ein Geräusch von näher kommenden Schritten. Jemand läuft ihnen entgegen, eilig, laut. Metall klirrt. Gedämpftes Flüstern. Fackelschein huscht über die nassen Wände. Greta sieht sich gehetzt um. Da, eine Holztür und zum Glück unverschlossen. Die beiden schlüpfen gerade noch rechtzeitig hinein. Heinrich fühlt, wie sich die Nackenhaare der Hündin sträuben, sie knurrt dumpf und er schiebt ihre Schnauze unter sein Wams.
Gretas Augen glänzen angstvoll im Schein der Kerze, sie atmet schwer. Die Schritte hasten vorüber. »Wer war das?« »Vielleicht ist Lukas uns entgegengegangen?«, mutmaßt Heinrich, aber das Mädchen schüttelt den Kopf. »Bestimmt nicht. Die Herrin hat befohlen, dass er auf uns wartet – also wartet er. Außerdem waren das nicht nur Schritte von einem.« Sie öffnet die Tür einen Spaltbreit, lugt hinaus. »Das Licht entfernt sich. Die sind weg. Was wollten sie bloß da unten, ausgerechnet heute Nacht?« Wieder packt sie Heinrich am Arm, zieht ihn mit sich. Der Boden ist glitschig, sie laufen jetzt über nackten Lehm. »Wo gehen wir hin?«, fragt Heinrich im Flüsterton. »Da unten gibt es einen Gang«, erklärt Greta, genauso leise. »Ihr müsst ihm folgen bis Ihr ins Freie gelangt. Und dann lauft um Euer Leben.« Sie ist stehen geblieben, dreht sich herum. »Ich sage schon mal Ade.« Plötzlich stellt sie sich auf die Zehen und küsst Heinrich schüchtern auf die Wange. »Ihr seid ein guter Mensch – wer Ihr auch seid. Und nun schnell.« Sie biegen um die Ecke. »Gott im Himmel!« Gretas Schrei hallt im Gewölbe wider. Sie hält das Licht mit ausgestrecktem Arm, ihre Hand zittert. Heinrich drückt die Hündin fest an sich. Eisige Kälte steigt in seinen Adern hoch. Da liegt Lukas auf der Erde vor dem eisernen Gitter, das in die Freiheit führen sollte. Er liegt mit dem Gesicht nach unten, und in seinem Rücken steckt ein Dolch.
»Halt sie fest!« Lythande zappelt aufgeregt und strebt fort. Heinrich drückt sie Greta in den Arm, beugt sich zu dem Mann herunter, dreht ihn behutsam zur Seite. Blut an seinen Händen, Blut überall.
Lukas’ Augen sind bereits gebrochen. Da kommt alle Hilfe zu spät. Der hier am Werk war, der hat sein Handwerk verstanden. Ein tödlicher Stoß direkt ins Herz. Greta schluchzt. Heinrich schließt dem Toten die Augen, er schlägt das Kreuz über ihm, murmelt ein Gebet, ohne dass er weiß, was er da redet. Seine Gedanken überschlagen sich. Hätte er nicht noch Lythande geholt – vielleicht hätte er Lukas helfen können! Oder? Das waren zwei. Vielleicht wäre er genauso aufgespießt worden wie der da, aus dem Hinterhalt, tückisch. Weshalb der Mann ermordet wurde, das liegt klar auf der Hand. Der Schlüssel. Natürlich ist der Schlüssel weg. Hatte er sich jemandem anvertraut, der sie verraten hat? Oder ist er im Gespräch mit Jadwiga belauscht worden? Keiner wird das je erfahren. Heinrich hebt den Blick, fort vom graubleichen Gesicht des Mannes, seinem offenen Mund, den geschlossenen Augen. Da ist das schmiedeeiserne Gitter, versperrt mit Ketten, an denen das große Vorhängeschloss befestigt ist. Kühle Luft weht herein. Keine Möglichkeit zu entkommen. Er steht auf. »Lass uns verschwinden von hier«, sagt er hastig. »Bevor sie uns auch noch aufspüren. Lauf!« »Aber wir können ihn hier doch nicht einfach liegen lassen!«, stammelt Greta. Das Schluchzen schüttelt sie. »Wir müssen! Greta, er ist tot, keiner kann ihm mehr helfen. Irgendwann morgen werden sie die Leiche ›finden‹, da kannst du sicher sein. Wir können nur noch für ihn beten.« Nun zieht er sie mit sich, so wie sie ihn vorhin gezogen hat, nun übernimmt er das Lauschen und Stehenbleiben. »Komm!«, drängt er. »Denk dran: Dir darf nichts passieren. Jetzt hat deine Herrin nur noch dich.« Sie nickt, versucht ihr Weinen zu unterdrücken. Dich und mich, denkt Heinrich. Denn nun bin ich drin in diesem Spiel und muss das Beste daraus machen.
Als er in seinem Zimmer angekommen ist und Lythande absetzt, sieht er, dass ihr schönes silbergraues Fell blutverschmiert ist von seinen Händen, die den Toten berührt haben. Er schauert. Wäscht sich selbst, reinigt die Hündin. Beginnt dann, vor dem Bett kniend, mit den Totengebeten. An Schlaf ist nicht zu denken.
Der Abend davor
Kein Wort wird verloren über den Toten unten im Kellergang. Es ist so, als habe es Lukas, den Bediensteten Jadwigas, nie gegeben. Im Morgengrauen ist Greta schaudernd noch einmal hinuntergestiegen zu dem geheimen Ausgang. Keine Leiche. Keine Blutflecke mehr. Gar nichts. Auch mit Heinrichs Bewegungsfreiheit innerhalb der Grenzen der Burg ist es nun vorbei. Keine Aufstiege auf den Turm, keine Waffenübungen. Zweimal bringt ihm Greta zu essen und führt Lythande aus. Sie traut sich nicht, ihn anzureden, geschweige denn, ihm zu erzählen, was draußen vorgeht: Die Männer des Pfalzgrafen stehen stets als Wache an der Tür, wenn sie kommt oder geht. Am Abend des gleichen Tages steht plötzlich Herr Christoph selbst im Türrahmen. Heinrich ist aufgesprungen, verbeugt sich. Der alte Mann mustert ihn stumm, und auch Wolf hat das erste Mal so richtig Gelegenheit, seinen Gegner anzusehen. Es kommt ihm so vor, als ob seit der Begegnung in der Burgkapelle Haar und Bart des Pfalzgrafen noch eisgrauer geworden sind, und unter seinen hart blickenden Augen liegen tiefe Ringe. »Ihr habt einen Enkel verloren«, beginnt Heinrich beklommen, »und ich fühle mit Euch…« Christoph macht eine schroffe Handbewegung, als wolle er etwas auslöschen. »Spart Euch Euer Mitgefühl auf für Euch selbst und Eure Schwester, Ihr werdet es beide nötig haben!«, sagt er, und seine Stimme klingt heiser. »Eure Strafe erwartet Euch.« Plötzlich stützt er sich schwer gegen den Türrahmen, neigt den Kopf, und Heinrich scheint es, als würde er gar nicht
mehr zu ihm reden, sondern nur mit sich selbst. »Der Enkel. Die einzige Hoffnung, die mir geblieben war. Mit mir erlischt meine Familie, so wie ein Licht auslöscht. Verflucht sei der Tag, an dem ich mit meinem Kampfgefährten diese Heirat beschloss.« Er fährt sich mit der Hand über die Augen, zischt Heinrich dann zornig an: »Starrt mich nicht so an, Junker Wenzel.« Wiederholt: »Junker Wenzel«, und beginnt, um den anderen herumzugehen, umkreist ihn wie ein Tier seine Beute. Heinrich ist es unheimlich zu Mute. Christoph schüttelt den Kopf. »Als ich Euch zuerst sah, dachte ich, Ihr seid ein Betrüger. Ich hatte den jungen Wenzel ganz anders in Erinnerung. Aber welcher Narr würde sich wohl zu einer solchen Sache freiwillig hergeben… Nun, wie auch immer. Ihr habt meinen Handschuh empfangen. Die Herren aus der Umgebung, Teilnehmer des Turniers, sind angereist. Das Gottesgericht wird morgen stattfinden.« »Morgen!« Heinrich fühlt, dass er blass wird. Der Pfalzgraf nickt grimmig. »Keine Gelegenheit mehr zum Weglaufen!«, sagt er nebenher. »Betet. Beichten könnt Ihr auf dem Kampffeld oder im Kerker – ich hoffe, ich töte Euch nicht sofort, sondern überlasse diese Arbeit dem Henker.« »Warum hasst Ihr mich?«, fragt Heinrich und erkennt seine eigene Stimme nicht wieder. »Ich hasse Euch nicht. Ich bestrafe eine Mörderin. Und wenn Ihr die schützen wollt, werden Euch die Härte des Gerichts und der Zorn Gottes ebenfalls treffen. Das ist alles.« Er geht, der Riegel klirrt. Heinrich verbirgt das Gesicht in den Händen. –
Fast einen halben Tag haben sie verloren, indem sie am Ufer des überschwemmten Landes hin und her gezogen sind, auf der
Suche – ja, wonach eigentlich? Sie wissen es dabei selbst nicht so genau. Lorenz hat Ausschau gehalten, ob man vielleicht an irgendeiner Stelle sozusagen eine Inselbrücke ans andere Ufer finden könnte, also von Bühl zu Bühl waten. Aber so etwas erweist sich als unmöglich. Lucia geht bei jedem Gehöft, jeder Kate am Wegesrand zu den Leuten und fragt nach einem Kahn. Aber die Menschen zucken nur mit den Achseln. Wozu brauchen sie Kähne? Das Hochwasser kommt und geht. Man wartet ab, bis es gesunken ist, bis die Wiesen leidlich trocken sind und man das Vieh wieder darauf treiben kann. Kähne haben nur die Fischer am Fluss. Aber die hausen weiter stromaufwärts, wo sie sicher sind vor solchen Überflutungen und wo es fischreich ist. »Wie weit ist es bis da?«, fragt das Mädchen dann und erhält die unterschiedlichsten Antworten. »Ungefähr eine halbe Tagesreise«, sagen die einen. »Mindestens einen Tag, bei den Wetterverhältnissen«, die anderen. »Weg und Steg sind überschwemmt und unauffindbar.« Und andere wieder sagen, dass man bei so bestellten Sachen überhaupt nur abwarten sollte und sich nicht von der Stelle rühren. Jedenfalls ist keiner bereit, sie zu führen. Wer weiß, was die nächsten Tage bringen. Noch mehr Regen, noch mehr Wasser – da bleibt man lieber zu Haus und sieht zu, dass man selbst nicht auch noch mehr Schaden erleidet als ein paar nasse Wiesen. Gegen Abend verändert sich die Landschaft. Eine Art Landzunge erstreckt sich weit ins Wasser, und auf dem höher gelegenen Stück Erde wachsen Linden und Buchen – Ausläufer eines Waldes. Würziger Rauch steigt auf in die diesige Luft, weht zu ihnen herüber. Lorenz schnuppert. »Holzkohlenduft! Ein
Kohlenmeiler!«, stellt er fest. »Vielleicht können wir beim Köhler übernachten.« »Ich will nicht übernachten! Wir müssen weiter!« Lucias Gesicht ist vor Müdigkeit grünblass, und ihre Augen scheinen unnatürlich groß. »Wir vielleicht – aber guck dir die armen Mulis an! Wenn du schon mit dir selbst kein Erbarmen hast, dann wenigstens mit den Tieren.« Das Mädchen gräbt die Zähne in die Unterlippe, und Lorenz will es scheinen, als wenn ihr schon wieder die Tränen kommen. »Heul nicht! Heul bloß nicht, Lucia!«, sagt er flehentlich. »Das halt ich nicht aus.« Sie schüttelt zornig den Kopf, sagt nichts. Aber sie lässt es auch zu, dass Lorenz vom Wasser weg in das Waldstück hinein abbiegt, auf den Holzkohlengeruch zu. Als sie die Lichtung erreichen, ist es bereits dämmrig; der graue Himmel macht die Tage noch kürzer, als sie ohnehin schon sind. In der Mitte steht der Kohlenmeiler und verbreitet seinen Duftrauch und wohlige Wärme. Stapel geschlagenen Holzes liegen an der Seite. Der Köhler hat gerade neues Holz unter der Lehmschicht aufgelegt und brennt eine Partie Buchenscheite zu Holzkohle. Er steht daneben, den breiten Spaten in der Hand, und beklopft die Seiten des Meilers, um das Feuer daran zu hindern, auszubrechen – dann wäre alle Mühe umsonst gewesen. Als er die beiden erschöpften Wesen und ihre Maultiere sieht, unterbricht er seine Arbeit, stützt sich auf den Stiel seines Geräts und betrachtet sie erstaunt. »Was seid ihr denn für komische Vögel?«, sagt er, und ein Lachen vertieft die Fältchen um seine Augen. Er ist groß, fast ein Riese, schwarzbärtig, und seine Stimme ist tief und laut. Die Gefährten haben nicht das Gefühl, dass sie sich vor ihm fürchten müssen.
»Wir bitten um ein Nachtquartier«, sagt Lorenz. Und Lucia: »Wir wollen übers Wasser.« Der Mann sieht von einem zum andern. »Also was denn nun?«, fragt er. »Eins geht nur.« Lucia schluckt. »Heißt das«, fragt sie leise, »dass Ihr uns übers Wasser helfen könntet?« Der Köhler mustert sie weiterhin eingehend. »Jetzt geben wir mal euren Maultieren ein paar Körner«, sagt er. »Und dann zeige ich euch beiden was.« Die Gefährten sehen einander an. Beklommen lassen sie zu, dass der Mann in aller Ruhe die Mulis absattelt, sie festbindet, ihnen Futtersäcke umhängt, noch einmal seinen Meiler beklopft und sie dann mit einem kleinen Kopfnicken auffordert, ihm zu folgen. Gleich hinter dem Meiler, von der Lichtung aus nicht zu sehen, beginnt ein breiter Steg im Wald, den tiefe Fahr- und Reitspuren durchfurchen. Offenbar geht hier in normalen Zeiten eine wichtige Straße auf den Fluss und eine Furt zu. »Hier werden meine Kohlen abgeholt und hier kommen die Holzfuhren an«, erklärt der Köhler. Er grinst. »Und außerdem gibt es immer Leute wie euch, die es ganz besonders eilig haben, auch in solchen schlechten Reisezeiten wie diesen. Für die habe ich mir was ausgedacht. Es ist nicht ungefährlich, aber ich hab daheim fünf Kinder, und die hungrigen Mäuler wollen gestopft werden. Das da bringt gutes Geld.« Er macht eine große Geste, als wolle er seinen Begleitern eine der Herrlichkeiten der Welt vorführen. Lucia schreit leise auf. Wo das Wasser beginnt, liegt ein großes massives Floß mit einem Ruder und einer großen Stange. »Na, ist das was?«, sagt der Mann stolz. »Mit einem Boot hast du gar keine Chance bei Hochwasser«, erklärt er wichtig. »Jederzeit kann es auf Grund laufen. Ein Floß kommt überall durch. Außerdem können wir mit der Stange immer messen, wie tief es ist. Haarig wird die ganze Sache erst beim Fluss –
der hat jetzt eine ziemliche Strömung. Aber das trau ich mir zu, solange nicht noch mehr Regen kommt.« Er wirft einen prüfenden Blick zum Himmel. Fragt dann plötzlich: »Wohin habt ihr zwei es eigentlich so eilig?« »Nach Verne, zur Vernaburg«, sagt Lorenz einsilbig. »Hm. Ihr seht nicht gerade so aus, als wenn ihr mir noch viel mehr verraten wollt. Aber wenn euch die Sache den Preis wert ist…« »Welchen Preis?«, fragt der Junge schnell. Der Köhler streicht seinen Bart. »Eure Maultiere können sowieso nicht auf das Floß«, sagt er freundlich. »Ihr meint – unsere Maultiere für die Überfahrt ans Südufer?« Lorenz schnappt nach Luft. »Aber das… das ist…« »Das ist Wucher, willst du sagen, ja? Stimmt, das ist Wucher. Aber ihr müsst es ja nicht machen.« Der Köhler zuckt die Achseln, wendet sich zum Gehen. »Wir wollen!« Lucia muss sich räuspern, bevor sie sprechen kann. »Eh, seit wann bestimmst du allein, was wir tun oder lassen? Können wir vielleicht erst mal darüber reden?« »Basta! Taci ragazzo!« Das Mädchen steht hoch aufgereckt, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Augen sind riesig. »Wir wollen! Wir wollen noch heute!« Der Köhler pfeift durch die Zähne. »So eilig habt ihr’s? Naja, man kann nicht wissen, ob nicht noch mehr Regen kommt. Und zurück muss ich ja auch noch. Allerdings – es ist bald dunkel…« »Wir nehmen Laterne!« »Habt ihr außer euren Maultieren noch was anderes Wertvolles? In dem Fall muss ich nämlich eine Gefahrenzulage verlangen.« Lorenz zuckt die Achseln, er gibt auf. »Wie viel?«, fragt er seufzend und zieht den Beutel aus dem Gürtel. –
Vier große Blendlaternen aus Horn hat der Köhler mit Öl gefüllt und an jede Ecke des Floßes eine gestellt; er ist bestens gerüstet für alle Gelegenheiten. Seinen Meiler hat er dick mit Erde eingeschüttet, damit kein helles Feuer ausbricht in seiner Abwesenheit und die »Tracht« vernichtet. Lucia hockt in der Mitte des seltsamen Fahrzeugs, neben dem Gepäck, fest eingemummt in ihren Mantel, die Kapuze bis über die Augen gezogen. Sie sagt nichts und fragt nichts, als wäre sie bei dieser Reise, die sie doch so wild gefordert hat, gar nicht anwesend. Lorenz steht vorn und hantiert mit der Stange, erkundet die Wassertiefe. Ihm ist alles andere als wohl zu Mute. Er hat Angst vorm Wasser, schon immer, er kann nicht schwimmen, und diese grauschwarzen Fluten, die die Hölzer des Floßes umspülen und sich in kleinen Strudeln gurgelnd an den Seiten entlangbewegen, sind ihm furchtbar unheimlich. Der Köhler bedient das Ruder. Er tut es mit Kraft und Geschick, aber Lorenz kommt es so vor, als wenn sie sich gar nicht vom Fleck bewegen würden. »Wisst Ihr denn noch, wo wir sind?«, fragt er schließlich kläglich. Der Köhler lacht, und es klingt beruhigend. »Keine Sorge. Ich hab Augen wie ein Luchs, ich sehe sehr gut. Da drüben ist der Erlenbühl, da grasen im Sommer die Kühe des Heidebauers. Und da links die Kopfweiden – an denen führt die Straße entlang, wenn’s trocken ist. Ich kenn diese Gegend wie meine Hosentasche und mach das nicht zum ersten Mal. Das ist hier doch gar nicht tief. Wie gesagt, ungemütlich wird’s erst am Fluss.« »Wann sind wir denn da?« »Das wirst du schon merken.«
Schweigend arbeiten sie sich weiter vor in der wachsenden Dunkelheit. Nach einer Weile sagt Lorenz beklommen: »Ich glaub, jetzt wird’s tiefer.« »Ich muss auch mehr gegenhalten«, brummt der Mann. »Heb mal die linke Laterne hoch. Noch höher. Hm.« »Was ist?« Der andere flucht leise. »Ist gestiegen seit gestern«, sagt er dann. »Muss noch ein Schwall Tauwasser aus den Bergen dazugekommen sein. Na, wir werdens versuchen. Komm her mit deiner Stange, Junge, hier neben mich. Knie dich hin und mach genau, was ich dir sage.« Er späht mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel. »Du musst ein bisschen herumstochern. Irgendwann stößt du auf ein paar Steine. Sag mir Bescheid, wenn du sie findest.« »Ich glaube, das sind sie!« Lorenz’ Stange stößt knirschend auf einen harten Widerstand. »Glauben hilft da nicht viel. Hast du sie oder nicht?« »Verdammt, ja!« Der Köhler lacht. »Das klingt schon besser. Stoß uns von da mit aller Kraft ab. Und dann leg dich auf den Boden. Du auch, Mädchen.« Lorenz gehorcht und hat kaum Zeit sich hinzuwerfen, dann erfasst sie ein Wasserwirbel und lässt das Floß tanzen wie einen Kreisel, reißt es in den Sog. Kleine Wellen jagen über die mit Harz und Bast verbundenen Stämme, eine der Laternen geht über Bord. Das Herz des Jungen geht wie ein Schmiedehammer. Heiland, steh uns bei, betet er innerlich, das ist unser letztes Stündlein. Der Köhler liegt ebenfalls flach auf den Stämmen, auf dem Bauch, umklammert sein Ruder, ohne es einzusetzen. Es rauscht und tost um sie her. Weiße Schaumkronen springen an den Seiten hoch, als leckten gierige Zungen nach ihnen. Ein eisiger Schwall überspült nun schon zum zweiten
Mal das Floß. Schaudernd verbirgt Lorenz den Kopf in den Händen. »Ich spende der Madonna eine dicke Kerze, wenn…« »Jammer nicht rum, Bengel, gucke!« »Da!« Der Schrei kommt von Lucia. Sie hat sich, entgegen der Anweisung des Köhlers, nicht flach hingelegt, sondern hockt auf allen vieren in der Mitte des Floßes, den Kopf hoch erhoben. Jetzt sehen sie es auch: Etwas Großes, Dunkles treibt auf sie zu. Nein, es ist kein Baumstamm. Ein totes Tier. Eine Ziege. Mit aufgeblähtem Bauch, in den Hörnern hat sich nasses Stroh und Laub verfangen. Der Köhler kniet und beginnt fieberhaft zu rudern. »Stoß es weg! Stoß es weg!«, brüllt er. Lorenz weiß, es geht ums Leben. Mit seiner Stange sticht er auf das ertrunkene Tier ein, strengt alle Kräfte an, schiebt es beiseite. Dicht an der Seite ihres Floßes schwimmt es vorbei, man kann die weit geöffneten, glasigen Augen sehen. Lorenz fühlt, wie ihm übel wird, wie sein Magen sich hebt. Kurz schließt er die Augen. Hört die Stimme ihres Fährmanns: »Das tote Vieh hat uns geholfen! Wir haben an Fahrt verloren! Da ist das andere Ufer!« Dann noch eine kleine Strecke im ruhigen Wasser der Überschwemmung – und sie sind wirklich und wahrhaftig da. Es ist inzwischen völlig dunkel. Mit wankenden Knien geht Lorenz zu Lucia, hilft ihr, die Sachen zusammenzusuchen. Als er ihr die Hand reicht, um ihr bei Absteigen zu helfen, spürt er, dass sie am ganzen Leib zittert. Der Köhler steht, auf sein Ruder gestützt, betrachtet sie. Schüttelt den Kopf. »Ihr seid ein waghalsiges Pärchen!«, sagt er, und es klingt fast bewundernd. Er starrt den beiden Gestalten hinterher, die da, beladen mit ihrem Gepäck, in der Dunkelheit verschwinden. »Ihr gefallt mir!«, sagt er in die Nacht hinein. Dann bricht er in fassungslosvergnügtes Gelächter aus.
Das Gestech
Es ist ein strahlend schöner Tag, so warm, als würde sich der Frühling schon ankündigen. Der Kampfplatz ist markiert mit rotweiß gestreiften Stangen, an den Ecken wehen Wimpel. Es gibt so etwas wie eine Tribüne, auf der sich der Adel der Umgebung versammelt hat – nur Männer, keine Frauen. Über den Pelzen leuchten die Wappen auf den Überwürfen, und die Helme, die hier zur Schau getragen werden, sind keine Töpfe mit Sehschlitzen, sondern eher Schmuckstücke mit wehenden Federn und vergoldeten Visieren. Weiter hinten, hinter einer zweiten Absperrung, drängt sich das Volk. Man erwartet ein großes Schauspiel. Heinrich bemerkt den ganzen Aufwand nur aus den Augenwinkeln, als er, bereits in der Rüstung, den Helm unterm Arm, an den Rand des Kampffeldes tritt. Seine Aufmerksamkeit gilt der anderen Seite, gegenüber der Rittertribüne. Dort steht ein einzelner Stuhl auf einem Podest, auf ihm sitzt eine tief verschleierte Gestalt. Greta hockt auf den Stufen, in sich zusammengesunken und verängstigt. Also muss die Verschleierte dort Jadwiga sein – verurteilt, dem beizuwohnen, was über ihr Leben oder Sterben entscheidet. Er ist an diesem Morgen merkwürdig ruhig – so, als träumte er noch. Er hat gebetet, und er macht sich jetzt keine Gedanken mehr über den Ausgang dieses Kampfes. Er will so gut sein, wie er kann. Dass das wohl nicht ausreichen wird, weiß er sehr genau. Trompeten. Ein Herold in den Farben des Pfalzgrafen tritt in die Arena, stößt dreimal mit seinem Stab auf. Und dann schallt
seine Stimme über den Platz: »Ich rufe auf zum Gottesgericht! Wer hat eine Klage vorzubringen?« Wie von fernher hört Heinrich die Worte Herrn Christophs: »Ich verklage diese Frau, meinen Sohn in der Hochzeitsnacht heimtückisch mit Gift ums Leben gebracht zu haben. Sie ist eine Mörderin. Wenn jemand für sie streiten und ihre Unschuld beweisen will, soll er vortreten.« Heinrich weiß, nun ist er an der Reihe. Ihm ist, als würde er neben sich stehen. Er sieht sich vortreten, hört das Geraune derer, die zum ersten Mal sein Gesicht sehen, antwortet laut: »Herr Christoph, Ihr seid im Irrtum. Diese Frau ist unschuldig, und ich bin bereit, das im Kampf zu beweisen.« Und denkt dabei: Was für ein Unsinn. Was für ein Unsinn! Dann knien sie beide vor dem Kaplan der Burgkapelle, der sie und ihre Waffen segnet und mit erhobenen Händen Gott anfleht, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen in diesem Streit. Man befestigt ihm den Helm, schiebt ihn in Richtung auf sein Pferd, hilft ihm aufzusitzen, drückt ihm die Lanze und den Schild in die Hände… Er blinzelt. Grell fallen die Strahlen der Sonne durch den Sehschlitz des Helms. Er ist geblendet, sieht überhaupt nichts. Herr Christoph hat dafür gesorgt, dass sein Gegner von der aufgehenden Sonne geblendet wird! Plötzlich ist Heinrichs träumerische Ruhe wie weggeblasen. Wut wallt in ihm auf. So ein Schurke! Hat der Herr Pfalzgraf, bei all seiner kämpferischen Überlegenheit, zusätzlich einen so üblen Trick nötig? Man hätte ja auch die Positionen auslosen können! Seine Augen tränen, er kneift sie zusammen, um die Nässe zu entfernen, sieht Licht und Schatten nur durch einen Schleier. Ein erneutes Trompetensignal. Heinrich spürt, dass die Helfer sein Pferd loslassen, er wendet es und reitet bis an die Begrenzung, stemmt die Füße fest in die Steigbügel. Er weiß, dass das Zeichen zum Angaloppieren durch das Senken einer
Fahne gegeben wird – einer Fahne, die er nicht sehen kann. Hört da drüben das erste dumpfe Poltern der Hufe in dem weichen Boden, reitet ebenfalls los und legt seinen ganzen Zorn, all seine Wut und Verzweiflung in seinen Angriff. Der Hengst fegt über die Kampfbahn, wie er es gelernt hat, auf den Gegner zu. Heinrich lauscht gleichsam mit allen Sinnen. Wie nah ist der andere? Die Geräusche des eigenen Angriffs, das Poltern der Hufe, der schnaubende Atem des Pferds, das Klirren des Eisenzeugs übertönen alles. Der Augenblick scheint sich endlos zu dehnen. Dann kommt das Donnern der fremden Pferdehufe heran, so schnell wie ein Sturmwind. Heinrich legt seine Lanze ein, zielt blind, schickt alle Kraft seines Körpers in den Stoß. Der Aufprall scheint ihm den Körper entzweizureißen. Unter dem Gebrüll der Zuschauer wird er durch die Luft gewirbelt. Aber hat er nicht auch getroffen? Er schlägt hart auf, wird zum Glück nicht ohnmächtig. Kommt mühsam auf die Knie, behindert durch das Ungetüm von Rüstung, und löst hastig die Schnallen des Helms, während er auf das erneute Angaloppieren Christophs lauscht, auf den tödlichen Schwertstreich. Lieber ungeschützt sein, aber sehend sterben! Doch da kommt nichts. Der Tumult ist unbeschreiblich. Er fährt sich mit dem Eisenhandschuh übers Gesicht, kann endlich sehen. Das Unwahrscheinliche ist geschehen: Der Pfalzgraf ist ebenfalls zu Boden gegangen, er, Heinrich, hat ihn mit seinem blinden Lanzenstoß ausgehoben. Das war ein Zufall, er weiß es. Trotzdem erfüllt es ihn mit einem Gefühl wilden Triumphs. Ein Gefühl, das nicht lange anhalten kann. Denn schon kommt sein Gegner mit blankem Langschwert auf ihn zu, bevor er selbst überhaupt auch nur die Hand an die eigene Waffe legen kann. Im letzten Augenblick fängt er einen
fürchterlichen Hieb mit dem Schild ab, der ihm noch am linken Arm hängt. Taumelnd kommt er auf die Beine, kann endlich ziehen, pariert die ersten Hiebe des Pfalzgrafen – aber mit welcher Mühe! Gegen die Kraft, die in diesem Arm steckt, waren die Angriffe von Lukas wie Mückenbisse gegen Wespenstiche. Nach der dritten oder vierten Parade geht er wieder in die Knie, wehrt weitere Schläge nur noch mit dem Schild ab. Und dann, als er versucht, von unten selbst einen Stoß zu führen, wird ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Es fliegt in hohem Bogen über den Kampfplatz, glitzernd im Sonnenlicht. Aus und vorbei. Durch das Publikum läuft ein Aufschrei. Heinrich lässt den Schild sinken, er weiß, er hat verloren. Und genau in diesem Augenblick stößt Herr Christoph noch einmal zu, bohrt seine Klinge in die ungeschützte Stelle zwischen Hals und Schulter, die vorher unter dem metallenen Kragen des Helm verborgen war. Das Blut spritzt sofort, strömt wie eine blutige Schärpe über Brust und Arm und Rücken. Heinrich schließt die Augen. Er weiß, dass dieser Stoß außerhalb der Regeln des Zweikampfs ist, denn er war wehrlos. Christoph hätte ihn fragen müssen, ob er sich ergibt, und erst auf sein Nein hätte er weitermachen dürfen. Aber was nützt ihm dies Wissen – der andere hat die Macht, und niemand wird den Regelverstoß »gesehen« haben. »Worauf wartet Ihr? Stoßt zu!«, sagt er, ohne die Lider zu heben. Er spürt, wie ihm schwindlig wird vom Blutverlust. Auf einmal ist er sehr müde. Dann hört er die Stimme seines Gegners: »Euch auf dem Kampfplatz töten? Gott bewahre! Das wäre zu einfach. Gericht ist Gericht. Wir werden Euch sorgfältig pflegen, Wenzel. Ganz sorgfältig, bis Ihr genesen seid. Und dann kommt Ihr auf den Holzstoß, gemeinsam mit dieser Frau!«
Jadwiga! Dass sie das alles mit ansehen musste! Heinrich versucht, den Kopf zu wenden, um zu Jadwiga zu sehen. Aber das geht nicht. Er kann nicht einmal mehr die Hand heben. Sein Blut tropft in die aufgewühlte Erde der Arena. Sie grölen und schreien. Aber dann ist auch das vorbei. Er hört nichts mehr, und wohltätige Dunkelheit hüllt die Welt ein.
Kann man ihn überreden?
Ja, er ist noch da auf der Vernaburg. Der Torwächter bestätigt es den beiden verdreckten abgerissenen Gestalten, die da vor ihm stehen. Der große Sänger Walther von der Vogelweide singt heute vor den edlen Damen und Herren der Umgebung, die vom Hausherrn extra dazu eingeladen sind. »Gott sei Dank!« Lorenz bekreuzigt sich aufatmend. »Wir müssen sofort zu ihm!« Der Mann am Tor mustert sie herablassend. »Das wird sich wohl kaum machen lassen. Erstens tritt er gerade auf vor den hohen Herrschaften und zweitens kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass er sich mit so etwas wie euch einlässt. Was wollt ihr eigentlich von ihm?« »Wir gehören zu seinem Gefolge!«, erklärt Lorenz getreu seinem Vorbild Heinrich, der sich auf diese Art auch schon einmal den Zutritt zu dem Sänger erzwungen hat. »Gefolge?« Der Torwächter lacht auf. »Denkt euch bessere Lügen aus, Lumpenpack! – He, was soll das!« Lucia ist einfach an ihm vorbeispaziert und läuft auf das Haupthaus der Burg zu. »Haltet sie auf!«, schreit der Kerl, aber da ist im Moment gerade niemand. Lorenz erkennt die Gunst des Augenblicks. »Ich hol sie zurück!«, erklärt er eilfertig und rennt dem Mädchen hinterher, ohne auf den Protest, das Geschimpfe des Wächters zu achten. Beide verschwinden um die Ecke, halten an, kichern. »So, das wäre erst mal geschafft. Und nun?« Lucia hebt den Finger. »Horch mal!«
Jetzt hört es Lorenz auch. Von da drinnen, hinter den hell erleuchteten Fenstern, erklingt Geigenspiel, eine helle markante Stimme, dann Beifall. »Da ist er. Er singt.« Lorenz atmet tief durch. »Gott, was bin ich froh! Nun wird alles gut. Wie machen wir’s?« Lucia sieht sich um. »Am besten, wir suchen Hintereingang. Küche oder so.« »Gute Idee.« Lorenz sieht sich um. »Guck mal da…« Eine Seitenpforte ist nur angelehnt. Die beiden fassen sich an den Händen, laufen los. Sie haben Glück. Niemand ist zu sehen. Wahrscheinlich stehen alle Mägde und Knechte des Hauses vor den Türen des Saals und hören dem berühmten Sänger ebenfalls zu; wer will so etwas schon verpassen. Sie rennen ein paar Stiegen hoch, durcheilen ein paar Gänge. Kommen immer näher an die Musik heran. Wollen in einen großen Flur einbiegen – und stoppen, ziehen sich hinter die Wand zurück. Tatsächlich! Da stehen sie dicht gedrängt im Vorraum und horchen… »Wie machen wir’s?«, flüstert Lorenz. »Warten!«, gibt Lucia zurück. Recht hat sie. Sie müssen einfach abwarten, bis der Auftritt vorbei ist. Zu ihrem Glück sind sie ziemlich zum Schluss des Vortragsabends angekommen. Wieder Beifall. Dann fliegt die Flügeltür auf, und im Glanz der Lichter erscheint der große Sänger, die Fiedel unterm Arm, bekleidet mit einem ziemlich prunkvollen Überrock in Grau und Silber. Das Haar hängt ihm wirr in die Stirn, und sein Gesicht ist angespannt; noch größer scheint die scharfe Nase, hohler die Wangen, gleichsam nach innen gerichtet der Blick der hellen Augen. Er scheint nichts und niemanden zu sehen, geht sehr schnell an den applaudierenden Menschen vorbei und nach draußen. Lorenz springt vor. »Herr Walther!«
Der Sänger sieht ihn nicht an. »Nicht jetzt«, sagt er. »Niemand und gar nichts jetzt.« Lorenz läuft neben ihm her, und nun streift Walther ihn mit einem kurzen Seitenblick und sagt dann: »Und du schon gar nicht.« »Herr Walther! Erkennt ihr mich nicht? Lorenz! Und das ist Lucia!« Sie lassen nicht locker. Links Lorenz, rechts Lucia, laufen sie mit wie zwei junge Hunde. »Wisst ihr was?«, sagt Walther, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Die da drinnen wollen jetzt eigentlich mit mir trinken und mich feiern, und ich habe gesagt, ich bin zu müde. Und jetzt soll ich mich mit irgendwelchem Gesindel herumschlagen? Ich werde die Burgwächter alarmieren. Ich brauche Ruhe.« »Wir waren die Gefährten von Wolf, Eurem Freund!« Ein rascher Seitenblick nach rechts und links. »Nun, Freund ist wohl zu viel gesagt. Richtig, jetzt erkenne ich euch. Das freche Mädchen, das so schlecht spricht, und der Junge mit dem Hund. Hat Wolf sich von Euch getrennt? Nun, auf die Dauer vielleicht auch besser.« »Er hat sich überhaupt nicht von uns getrennt! Wir sind getrennt worden!« »Und das soll ich jetzt verstehen? Verschont mich. Seht ihr nicht, dass ich Ruhe brauche?« Lucia packt ihn am Ärmel. »No! Veramente no!« Sie stemmt die Hacken in den Boden, hängt sich an den Sänger, sodass der nicht vom Fleck kann. »Bist du närrisch, Mädchen?«, sagt er unwillig und reißt sich los. »Ihr seid närrisch! Hört zu! Hört uns an! Dio mio, Wolf ist in Gefahr! Wolf stirbt, wenn Ihr nicht helft! Capisce?« Walther steht der Mund offen. Er dreht sich zu Lucia um und starrt sie an wie ein Wesen aus einer fremden Welt. »Immer noch so vorlaut wie damals in Meißen!«, sagt er wie zu sich
selbst. Er guckt kurz um sich. Dann halblaut. »Hört auf, so einen Radau zu machen! Ich bin hier als Sänger und nicht als – hm, Mitarbeiter der kaiserlichen Kanzlei. Betet zehn Vaterunser und kommt danach in mein Zimmer. Aber ohne Aufsehen zu erregen. Meine Güte, ich muss mich wenigstens umziehen dürfen, ja!?« –
»Ich kann das einfach nicht glauben!« Der Sänger sitzt am Kaminfeuer, die Beine von sich gestreckt. Der zuckende Feuerschein beleuchtet sein scharfes Profil, jagt Licht und Schatten über ihn hin. »Ein Gottesgericht? Ein Turnier? Und Hein… ich meine, Wolf soll da kämpfen, nur weil er jemandem ähnlich sieht? Das ist doch hirnrissig! Habt ihr euch das nicht bloß zusammengereimt?« Lucia zischt vor Ungeduld. »Ist wahr! Und er selbst hat gesagt: Sucht den Meister! Der kann helfen!« Walther seufzt. »Irgendwie scheint er mich mit dem Heiland zu verwechseln – wenn das wirklich so ist, wie ihr hier erzählt. Ich gehöre weder zu den vierzehn Nothelfern, noch bin ich der Kanzler Seiner Majestät. Ehrlich: Ich habe keine Ahnung, was man von mir erwartet.« Schweigen. Die Gefährten hocken auf einem Bärenfell, ein bisschen weg vom Feuer. Man hat ihnen einen Tisch mit Essen zurechtgestellt, aber sie haben noch keinen Bissen angerührt. Lorenz murmelt bedrückt. »Schließlich ist er für Euch unterwegs. Und Ihr – Ihr lasst ihn einfach… fallen?« »Ich lass ihn nicht fallen. Aber was nicht geht, das geht nicht. Dieser Graf…« »Pfalzgraf«, verbessert Lorenz müde. »Pfalzgraf Christoph.« Der Sänger dreht langsam den Kopf. »Pfalzgraf Christoph, hast du gesagt?«, fragt er gedehnt. Lorenz nickt. Die Stimme
Walthers hat auf einmal anders geklungen. Er beugt sich in seinem Stuhl vor, gibt die lässige Haltung auf. »Ein ganz besonderer Freund von mir. Das war vor drei oder vier Jahren, und ich warb für unseren König. Dieser alte Grobian Christoph hat sich doch nicht entblödet, mich mit Hunden vom Hof zu jagen, weil er für den anderen Kronkandidaten, für Otto, war! Also Pfalzgraf Christoph – hm – dem würde ich schon gern mal eine Nase drehen.« Er mustert die beiden. »Ein Gottesgericht hat er veranstaltet? Sehr interessant. Der zukünftige Kaiser hat dergleichen nämlich in Italien schon verboten – als der Blödsinn, der es ja ist. Hm. Tja. Vielleicht fällt mir was ein.« »Aber schnell!«, sagt Lucia scharf. »He, du Göre! Benimm dich!« »Sollen wir warten, bis Wolf ist tot?« Der Sänger verkneift sich ein Grinsen. »Selbst wenn wir wollten – selbst wenn mir was einfallen würde – man kann nicht reisen!« »Oh, was das betrifft – wir sind auch gereist«, sagt Lorenz beiläufig. »Sind sogar durch Hochwasser gekommen.« Walther sieht von einem zum anderen. »Ihr seid schon erstaunlich! Meine Güte, man könnte es zumindest versuchen…« »Gut!«, sagt Lucia so bestimmt, als habe er ihr ein Versprechen gegeben. Sie steht auf und geht zu dem Tisch mit dem Essen, greift sich einen Apfel. Für sie scheint es nun beschlossene Sache zu sein… Der Sänger erhebt sich, zögert. »Ich hab nichts zugesagt!«, bemerkt er. Jetzt ist auch Lorenz am Tisch. Die beiden achten gar nicht mehr auf ihn. »Also gut. Erst mal bis morgen.« Kopfschüttelnd mustert Walther den Jungen und das Mädchen, die sich gerade große
Stücke von einem Brotfladen abreißen und heißhungrig zu essen beginnen. Dann ist er draußen. »Er macht’s«, sagt Lorenz. »Aber hast du gemerkt? Eigentlich tut er’s gar nicht wegen Wolf. Mehr, um diesem Pfalzgrafen eins auszuwischen. So ein…« Er verschluckt, was er sagen will. Lucia zuckt die Achseln. »Na, und?«, erwidert sie mit vollem Mund. »Hauptsache, er macht’s.«
Die Zeit wird knapp
Nein, ein angenehmer Reisegefährte ist Herr Walther nicht. Aber das war auch nicht zu erwarten. Immerhin hat er ihnen neue Maultiere besorgt und sie mussten nicht noch einmal über den Fluss – Walther nimmt einen kürzeren, trockenen Weg zurück zur Pfalz in die verhasste Stadt. Jeder ist beritten, aber das nicht gerade kleine Gepäck Walthers belastet das ganze Packtier, sodass sie ihre Sachen mit aufs Muli nehmen müssen. Trotzdem ist dem Sänger nichts gut genug; der Weg ist schlecht, das Essen mies, die Wirtsleute sind frech und die Betten schlecht. Die beiden Gefährten Wolfs kommandiert er herum, als wären sie seine Dienerschaft. Wenn sie unterwegs miteinander schwatzen wollen, verbietet er ihnen den Mund – sie würden seine Gedanken stören. Damit kommen die beiden zurecht, aber dass er sie ständig »Kinder« nennt, macht vor allem Lorenz fuchsteufelswild. »Wenn wir Kinder sind, was ist er dann?«, fragt er Lucia, während sie im Stall der Herberge die Tiere versorgen. »Ein Tapergreis?« Lucia kichert. »Von mir aus kann er sein, was er will. Hauptsache, er holt Wolf raus. Was hat er für Plan, was denkst du, Ragazzo?« »Kind – Ragazzo – Heda – Hundejunge – noch irgendwas?!«, gibt Lorenz übellaunig zurück. »Woher soll ich das wissen? Denkst du, er weiht mich ein?« Das Mädchen winkt ab. »Reg dich nicht auf über ihn. Wenn er macht, was nötig ist, dann ist gut.« –
Sie kommen ziemlich rasch vorwärts. Das unzeitgemäße Tauwetter ist leichtem Frost gewichen. Die Wege sind nicht mehr so furchtbar matschig und die Pfützen wieder vereist. Zudem sind sie fast die einzigen Reisenden in dieser Richtung. Alles zieht nach Aachen, und der Sänger lässt keine Gelegenheit aus, ihnen zu erklären, dass er ja eigentlich auch längst dorthin unterwegs sein müsste, dass er wichtige Papiere für Leute in der Kaiserstadt zu überbringen hat und über kurz oder lang hofft, vom Kanzler persönlich empfangen zu werden. Jedenfalls tut er so, als ob er ihnen einen riesigen Gefallen tun würde, wenn er seinen Boten rausholt – wie er das anstellen will, das wissen die »Kinder« immer noch nicht. Und zumindest Lorenz hat ernsthafte Zweifel, ob Walther selbst es schon weiß.
Es ist, als wenn er aus Nebeln auftauchte, eine Schicht nach der anderen. Dunkel, halb dunkel, hell. Aber hell ist gar nicht gut, denn mit hell kommen die Schmerzen. Mühsam öffnet er die verklebten Augenlider. Keine Ahnung, wo er ist. Graue Steinquader. Ein Kreuz. Seine Zelle im Kloster Zum Guten Hirten? Nein. Das ist kein richtiges Kreuz. Das ist ein Fenster. Ein vergittertes Fenster. Ein Kerker? Natürlich, ein Kerker. Er ist der Verlierer. Er wartet auf den Henker. Jemand schiebt ihm den Arm unter, um seinen Kopf anzuheben, und er schreit laut auf. »Nicht doch!«, flüstert es. »Ihr müsst das hier bitte trinken. Das lindert das Fieber. Später kommt jemand, um Eure Verbände zu wechseln.« Er kennt die Stimme. Aber er kann sich nicht erinnern. Etwas Hartes berührt seine Lippen. Der Rand eines Gefäßes. Er schluckt. Es schmeckt – er kennt diesen Geschmack.
Holundersaft. Den gab ihm die Mutter, um das Fieber zu lindern, als er die Pocken hatte. Als die Hand ihn vorsichtig zurückgleiten lässt, bemüht er sich, nicht wieder zu schreien. Zwingt sich, die Augen wieder zu öffnen. Dunkles, gescheiteltes Haar, Zöpfe, ein kindliches Gesicht. »Greta?« Sie greift seine Hand, drückt ihr Gesicht darauf. Er spürt ihre Tränen. »Was machst du – hier?« »Mir ist erlaubt worden, Euch zu pflegen, damit Ihr bald gesund werdet.« »Gesund – wozu?« Ihr Schluchzen wird stärker. »Ihr wisst es.« Ja, er weiß es. Für den Scheiterhaufen. »Was ist mit – Jadwiga?« »Sie ist nebenan, in dem anderen Kerker. Ich darf als Einzige zu ihr.« Heinrich stöhnt auf. »Es tut mir so Leid! Es war unmöglich.« »Ihr habt gut gekämpft. Das sagen alle. Denkt nicht mehr daran. Was passiert ist, das ist passiert.« »Was ist mit – meiner Wunde?« »Der Arzt sagt, Ihr habt Glück gehabt. Der Schwertstoß hat keine Sehne und keine lebenswichtige Ader getroffen.« »Glück? Dass ich schneller auf den Holzstoß komme, ja?« Er stöhnt. Etwas Warmes, Feuchtes berührt sein Gesicht, eine raue Zunge fährt über seine Wange. »Lythande?« »Der Pfalzgraf hat erlaubt, dass sie bei Euch bleibt – und bei Jadwiga. Bis es – bis es so weit ist.« »Wie ›gütig‹! Und dann?« »Dann, sagt er, freut er sich schon auf das schöne Tier.« Heinrich hebt die Hand, um den Hund zu streicheln. Lythande trägt ihr schönstes Halsband, verziertes Leder. Als seine Finger darüber hingleiten, knistert etwas.
»Habt Ihr es gefunden?«, fragt Greta leise. Heinrich nestelt einen schmalen Papierstreifen unter dem Halsband hervor, führt ihn mühsam an die Augen, liest blinzelnd: »Vergebt mir um Gottes willen. Ich bete Tag und Nacht für Eure Rettung. Jadwiga.« Seufzend schließt er die Augen. »Sag deiner Herrin meinen Dank. Beten – das ist das Einzige, was wir tun können.« Greta geht. Lythande schmiegt sich an seine Seite. So ist er doch nicht ganz verlassen. –
Sie erfahren es in einer Schenke noch außerhalb der Stadtmauern von einem Fuhrmann, der mit seinem Wagen voller Weinfässer Richtung Dortmund und Aachen unterwegs ist: Das Turnier hat bereits stattgefunden, der alte Graf hat gewonnen, die junge Pfalzgräfin und ihr Bruder sind zum Tode verurteilt. Der Schreck verschlägt ihnen die Sprache. Selbst Walther schweigt. Schließlich stammelt Lorenz: »Aber wieso denn? Ich denke, das Kind – also das Kind der Pfalzgräfin sollte erst in zwei Wochen oder so auf die Welt kommen und dann…« Der Fuhrmann zieht seine wollene Kappe über beide Ohren und wickelt sich den Schal fester um den Hals: »Tja, Gottes Wege sind wie immer unergründlich. Das Kind kam zu früh zur Welt. Tot außerdem. Da hat Graf Christoph nicht lange gefackelt. Soll ein Kinderspiel für ihn gewesen sein, den jungen Spund zu besiegen. – Ich muss los, ehe sich meine Pferde erkälten, Leute.« »Aber – aber er ist am Leben – der – der Gegner?« Lucias Stimme ist hoch und schrill. Der Mann nickt. »Ist er. Schwer verwundet, aber am Leben. Nun päppeln sie ihn für den Scheiterhaufen auf. Wird bestimmt ein aufregendes Ereignis. Schade, dass ich nicht
dabei sein kann. Aber die Pflicht ruft.« Er grüßt kurz mit seiner Peitsche und ist draußen. »Maestro! Rette ihn!« Das Mädchen liegt plötzlich zu Walthers Füßen, umschlingt seine Knie mit den Armen. An den anderen Tischen recken sie die Hälse. »Hör mit dem Unfug auf!«, zischt der Sänger scharf. »Statt hier Theater zu machen, sollten wir alle einen klaren Kopf behalten. Natürlich will ich ihn retten! Wär ja vergeudete Zeit – wo ich schon so weit mit euch gegangen bin.« Lucia steht auf, aber ihre großen, hellen Augen bleiben ohne zu blinzeln auf Walther gerichtet, fragend, fordernd. »Was sollen wir tun?«, fragt Lorenz beklommen, mit Tränen in der Stimme. »Alles Mögliche, bloß nicht herumheulen! Wenn wir uns beeilen, kann ich hoffentlich diesem Christoph trotzdem noch in die Suppe spucken!« Walther verzieht den Mund zum Grinsen. »Aber ihr müsst mir helfen.« »Als wenn wir das nicht die ganze Zeit wollen! Aber habt Ihr uns eingeweiht in das, was Ihr vorhabt? Kein Bisschen. Außer uns rumzukommandieren und von oben herab mit uns reden, ist Euch ja nichts eingefallen!« Zu Lorenz’ aufgebrachter Rede nickt Lucia eifrig mit dem Kopf. Walther guckt spöttisch von einem zum anderen. »Empfindlich wie die Mimosen! Also gut, jetzt seid ihr dran!« Er winkt sie näher zu sich, und die drei stecken überm Tisch die Köpfe zusammen. Walther beginnt im Flüsterton: »Ich hatte vor, ein königliches Verbot des Gottesgerichts zu – hm – sagen wir mal, zu besorgen. Wie, das geht euch nichts an. Aber das schaffe ich jetzt nicht mehr in der Kürze der Zeit. Ihr wart ja auf der Pfalz. Wisst ihr, ob es da oben einen Pfaffen gibt?« Die Gefährten sehen sich an, nicken dann eilig. »Na klar, als wir Wolf gesehen haben da oben, kam er gerade von einem Gottesdienst.«
»Das dürfte der Einzige sein, der lesen kann, hoffe ich«, sagt der Sänger mehr zu sich. Wendet sich dann an die beiden. »Den müsst ihr mir vom Hals schaffen.« »Wie denn?« »Weglocken aus der Pfalz und festhalten. Wie? – Das ist eure Sache.« »Ich gehe!«, erbietet sich Lorenz. Fügt hoffnungsvoll hinzu. »Vielleicht find ich dann dabei gleich Lythande wieder…« »Deinen Hund?«, fährt Walther dazwischen. »Das fehlte noch! Er wird einen Heidenlärm veranstalten, wenn er dich sieht, und schon sind alle misstrauisch! Bloß nicht du!« Er wendet sich an das Mädchen. »Wenn ich mich recht entsinne, liebt ihr beide euch nicht so sehr, du und diese Bracke.« Lucia zuckt die Achseln, und Lorenz zieht einen Flunsch. »Fein. Dann wirst du mir den Pfaffen weglocken. Traust du dir das zu?« »Sicuro. Ich mach alles für Wolf.« »Na wunderbar. Aber es muss klappen, ist das klar? Gut, starr mich nicht gleich wieder so an, als wenn du mich mit Blicken durchbohren willst. Und du, Junge, kannst du malen? Ein Wappentier zeichnen?« »Ich? Malen?«, fragt Lorenz verständnislos zurück. »Wieso malen?« »Ja oder nein?« »Eher nein. Was ist, Lucia?« Das Mädchen flüstert ihm was ins Ohr, und Lorenz murmelt: »He, ist ja richtig. Aber…« Walther trommelt ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. »Also was ist?« »Wir kennen einen Maler. In der Stadt. Aber er – er ist blind.« »Gerechter Gott!« Walther bleibt der Mund offen stehen. »Irgendwie bin ich in einem Tollhaus gelandet, scheint mir. Ein blinder Maler, seid ihr noch bei Trost?!«
»Der Pfalzgraf hat ihn geblendet«, sagt Lucia ruhig. »Ist noch nicht lange her.« Der Sänger legt den Kopf schief und pfeift durch die Zähne. »Hm. In dem Falle – sieht er zwar auch nichts, aber vielleicht bekommen wir gemeinsam etwas zu Stande. Hass kann eine Hand so sicher machen wie das schärfste Auge. Lorenz geht mit mir zu diesem Mann.« Er erhebt sich. »Wirt, bringt uns die Rechnung. Worauf warten wir noch? Los, Kinder – äh, ich meine, Freunde!« Er grinst.
Das Unternehmen läuft an
»Was denn, schon zurück?« Der Sänger sagt es fast unwillig. Er war in der geräumigen Wirtsstube hin und her gegangen und hatte die Lippen bewegt, stumm einen Text gelernt. Auf einmal steht Lucia in der Tür, erhitzt, außer Atem. Er hat ein Quartier in einer Herberge innerhalb der Stadtbefestigung gemietet, keine halbe Stunde von der Pfalz entfernt. Das ist ihr Treffpunkt, von hier aus führen sie ihre Pläne aus. »Ich störe?«, fragt das Mädchen, sieht jedoch nicht so aus, als wenn es ihr Leid täte. »Kommt darauf an, was du für Nachrichten bringst.« »Priester ist weg«, sagt sie so ruhig, als würde sie mitteilen, dass die Katze eine Maus gefangen hat. Walther blinzelt. »Donnerwetter«, sagt er dann. »Wie hast du denn das angestellt?« Über Lucias Gesicht huscht ein verschmitztes Lächeln. »Geld kann alles. Zuerst bin ich zu Rupert. Wir kennen von letztes Mal. Er – « – sie macht die Geste des Trinkens. »Ich ihm sage, gebe Geld. Dann ich bin auf Pfalz mit viel Geschrei. Mein Herr ist reicher Kaufmann, liegt im Sterben. Will Testament machen und alles an Kirche geben. Zitto, zitto! Ganz eilig, Hochwürden!« Sie spielt überzeugend vor, was für eine aufgelöste, klägliche Figur sie da bei dem Priester abgegeben hat. Walther muss sich auf die Lippen beißen, um sein Lachen zu verbergen. »Und dann? Ist er mitgekommen?«
»Naturalmente! Priester wollen immer Testament von Sterbende, wo drinsteht: Alles an Kirche! Er ist gelaufen so! Kutte fliegt!« Wieder eine pantomimische Einlage. »Dann waren wir schon bei Rupert. Der hat sehr guten Keller mit – wie sagt man – mit Klappe…« »Falltür?« »Falltür, ja. Priester runter, Klappe zu.« »Du meinst, ihr habt ihn eingesperrt?« »Nicht so schlimm. Viel Bier da unten.« »Hm. Irgendwann werden sie ihn vermissen auf der Pfalz, meinst du nicht?« »Sicher. Aber dann ist Wolf frei und wir weit weg.« Die Zuversicht in ihren Augen ist unerschütterlich. »Wir müssen eilig sein«, sagt sie drängend. »Ich habe gesehen – hinter der Pfalz, wo der Kampfplatz ist – sie bauen Holzstoß auf. Zwei Stück. Maestro! Wir holen Wolf bald, ja?« Der Sänger zieht die Brauen hoch. »Wenn’s nach mir geht, bestimmt. Ich hab keine Lust, mehr Zeit als nötig an diese Angelegenheit zu verschwenden«, sagt er knurrig. »Hoffentlich ist dein Freund genauso erfolgreich wie du.« »Ich hab ihn gesehen!«, verkündet Lucia eifrig. »Er kommt mit blindem Mann. Geht langsamer als bei mir. Er hätte lieber Maultier nehmen sollen.« –
Der hölzerne Tisch ist bedeckt von Kreidekritzeleien, mal größer, mal kleiner. Fasziniert beugen sich die drei vor, über die Schulter des blinden Mannes, korrigieren, was er macht. »Die Krallen größer und weiter auseinander!«, kommandiert Walther, und Lucia ergreift die Hand des Malers und führt sie an die Stelle, wo er ansetzen soll. Das ist alles, was sie tun müssen – Anweisungen geben und die Hand an den richtigen Platz
bringen. Die toten Augen weit aufgerissen, das Gesicht zur Decke gewandt, als erblicke er innerlich das, was er zeichnet, arbeitet der Blinde ruhig und konzentriert. Unter seinen Händen entsteht immer wieder, immer aufs Neue und immer sicherer die Gestalt eines Wappenvogels: der Adler des Stauferkaisers Friedrich. »Der Schnabel muss weit aufgerissen sein!«, gibt Walther an. »Und die Zunge – die Zunge muss sich irgendwie schlängeln. Ja, sehr gut. Kannst du es auch auf halbe Größe bringen?« Statt einer Antwort wischt der Maler mit dem Ärmel über den Tisch, löscht das alte Kreidebild aus, macht ein neues. »Herrlich!« Lorenz klatscht vor Begeisterung und erntet einen missbilligenden Blick des Meisters. »So«, sagt der und reibt sich befriedigt die Hände. »Und nun muss es mit schwarzer Farbe auf diesen gelben Waffenrock. Also am besten auch erst in Kreide, damit wir die Umrisse haben. Und dann führt Lucia dir wieder die Hand.« Der Blinde nickt. Er fragt nicht, wozu er das tut. Man hat ihm einen Lohn versprochen und sich ausbedungen, dass er den Mund hält – vor allem gegenüber der Pfalz. Das hat genügt, seine Bereitschaft zu wecken. Wenn es eine Sache ist, die der Pfalzgraf nicht wissen darf, ist er dabei. Walther breitet den Waffenrock auf dem Tisch aus. Dann packt er Lorenz am Ärmel. »Komm, Junge. Lassen wir die beiden allein. Wir gehen nach unten in die Gaststube und warten. Ich spendiere dir ein Warmbier.« Lorenz ist zapplig vor Neugier. »Was habt Ihr eigentlich vor?«, fragt er, während er an dem Bier nippt. Der Sänger sieht ihn grinsend von der Seite an. »Ein bisschen hochstapeln«, erwidert er. »Dem Pfalzgrafen eins versetzen und euren Wolf rausholen.« »Ja, aber genau…«
»Genau musst du gar nichts wissen. Wenn du ausgetrunken hast, besorg mir ein Pferd, aber was Ordentliches. Eines, das Eindruck macht. Alles andere ist dann meine Sache.« »Wann gehen wir in die Pfalz?« Walther zieht die Brauen hoch. »Wieso wir?«, fragt er zurück. »Also ihr macht gar nichts. Ihr wartet hier hübsch und betet für den Erfolg. Wenn alles gut geht, bringe ich euren Freund nachher an. Wenn nicht – aber daran glaube ich einfach nicht. Was ich mache, das gelingt.« Er lächelt eitel, und Lorenz beißt sich auf die Lippen, um nicht mit der Erklärung herauszuplatzen, dass die Wolfsbande schon einmal alle Mühe gehabt hat, den großen Könner Walther aus der Geiselhaft zu befreien… Lucia kommt herein. »Pronto!«, verkündet sie strahlend. »Er ist fertig. Sieht gut aus!« Walther erhebt sich. »Während ich mir das ansehe, besorgst du das Pferd!«, bestimmt er. »Und beeil dich. Wenn das Bild trocken ist, will ich aufbrechen.« Lorenz verzieht das Gesicht. »Immer muss ich den Botenjungen spielen!« Plötzlich fällt ihm etwas ein. »Meister, wenn Ihr da oben – wenn Ihr Wolf wirklich freibekommt – meine Hündin ist auch noch da!« Der Sänger verdreht die Augen. »Bin ich jetzt auch noch der Hundebefreier? Na, mal sehen, was ich ausrichten kann.« Wenig später steht er vor dem prachtvoll verzierten Waffenrock mit dem Stauferadler; der Maler ist entlohnt worden, den »darf« Lorenz nachher auch zurückbringen. »Sieht gut aus«, brummt er, »ziemlich echt.« Er kratzt sich am Kopf. »Wenn ich bloß wüsste, ob – hm.« »Ob was?«, fragt Lucia gespannt.
»Ob der Kopf von diesem Wappentier wirklich nach rechts schaut. Irgendwie kommt mir vor, als wenn es eigentlich links sein müsste. Na, hoffen wir, dass die da oben nicht so genau hingucken oder es selbst nicht so genau wissen.«
Einer seiner besten Auftritte
Laute Schritte auf den Steinplatten des Gangs, Fackelschein. Das Klirren der Schlüssel. Heinrich fährt erschrocken hoch, ohne an seine Wunde zu denken, fühlt, dass das Blut wieder zu fließen beginnt… Wollen sie ihn etwa jetzt schon holen? Bei Nacht und Nebel hinrichten? Eis rinnt ihm durch die Adern. Zwischen den Wachen das bärtige Gesicht, die stahlharten Augen, der schmal gekniffene Mund seines Feindes. Pfalzgraf Christoph in Person steht in seinem Kerker. »Was… was wollt Ihr?«, stammelt Heinrich. Christoph betrachtet ihn abschätzend. »Ich bekomme hohen Besuch und will infolgedessen meinen Kerker räumen«, sagt er nach einer Weile. »Diese Männer werden eine Trage für Euch holen und Euch dann fortbringen. Ihr seid frei.« Frei? Heinrich hört zwar die Worte, aber sie scheinen keinen Sinn zu ergeben. Frei? Was meint der? In seinem Kopf dröhnt es. Christoph entlässt die beiden Wachen mit einer Handbewegung. Setzt sich dann auf den Schemel neben der Pritsche. Er sieht Heinrich nicht an. »Denkt nicht, dass ich das freiwillig tue!«, sagt er, und seine Stimme ist hart von verhaltener Wut. »Mir wurde ein Spruch des künftigen Kaisers überbracht, der alle Gottesgerichte als ungesetzlich verbietet. Ich muss mich fügen, da mir gleichzeitig der Besuch des hohen Herrn unerwartet ins Haus steht.« Er beugt sich vor, flüstert plötzlich. »Übrigens: Ich habe keinen Augenblick daran geglaubt, dass Ihr Wenzel seid. Mein Plan war, dass Ihr Euch selbst öffentlich als Betrüger entlarvt aus Angst vor dem Kampf – dann hätte ich Jadwiga ohne einen weiteren
Richterspruch verbrennen können. Darum habe ich Eure Flucht vereitelt und den Vertrauten der Frau beseitigt. Nun, Ihr habt gekämpft – aus welchen Gründen auch immer – und nicht schlecht für einen, der das nicht gelernt hat. Deshalb lasse ich Euch auch gehen. Aber nicht die Frau!« Er erhebt die Stimme wieder, und in seinen Augen ist nackter Hass. »Nicht sie, die mir meinen Sohn und meinen künftigen Enkel gestohlen hat! Und wenn ich sie selbst nicht richten kann – nun gut, so überstelle ich sie dem weltlichen Gericht in Lippstadt. Das wird sie auch verurteilen, genauso wie ich es will. Euch wird der Königsbote, dieser Walther, mitnehmen, aber sie…« »Walther?«, unterbricht Heinrich. Er ist wie betäubt. »Walther von der Vogelweide? Der Sänger?« »Ja, dieser hochnäsige Habenichts. Spielt sich mächtig auf hier – nur weil er auf den richtigen König gesetzt hat zur rechten Zeit im Gegensatz zu mir. Jetzt hat er das Sagen. Aber das steht auf einem anderen Blatt.« Er erhebt sich. »Lebt wohl«, sagt er kurz. »Ihr werdet geholt.« »Herr Christoph! Jadwiga ist unschuldig, so wahr Gott lebt!« Ein zorniges Lachen. Dann klirren seine Sporen auf den Fliesen, und er ist fort. Also doch! Walther! Die Gefährten! Sie haben es geschafft, wie auch immer! Heinrich starrt mit leeren Augen vor sich hin, sein Atem geht mühsam. Noch kann er nicht begreifen, dass dieser tödliche Albtraum zu Ende sein soll. Er fühlt, wie es warm an seiner Schulter herunterläuft. Die Wunde hat sich geöffnet, und das Blut schlägt durch den Verband. Ich werde gesund werden, sagt er sich. Ich werde leben. Ich werde Gott mit jedem Atemzug dafür danken, auf der Welt zu sein. Und den Freunden auch. Aber in ihm ist noch alles taub, alles empfindungslos. –
Sie kommen gleichzeitig, die Männer mit der Trage und Greta mit Lythande. Das Mädchen weint und lacht zugleich. »Gott hat ein Wunder getan!«, schluchzt sie. »Wenigstens Euch hat er gerettet!« Die Hündin springt an ihm hoch, versucht, sein Gesicht zu lecken. Er liebkost sie, und dann muss er die Augen schließen, weil ihm die Tränen kommen. Jadwiga! Was kann man nur tun? Plötzlich hört er sich selbst laut mit Entschiedenheit sagen: »Bringt diese Trage weg. Ich kann sehr gut gehen.« Und, da die beiden zögern. »Gehorcht! Ich stütze mich auf das Mädchen hier.« Die Männer verschwinden. Heinrich sieht sich im Raum um. Der Holundersaft. Die achtlos in der Ecke liegenden Verbände, die vorhin gewechselt wurden. Der Löffelstiel seiner Abendsuppe… »Rasch, Greta. Reiß ein Stück von dem Leinen ab. Und gibt mir den Saft da und den Löffel…« In fieberhafter Eile malt er mit dem dunklen Saft Buchstaben auf das Leinen. Verzagt nicht. Ich werde alles versuchen, um euch zu retten. Rollt den Streifen zusammen und schiebt ihn unter Lythandes Halsband. »Bring die Hündin nachher zu deiner Herrin. Und später, wenn es möglich ist – ach, ich kenne jemanden, der sie bestimmt von sich aus holen wird.« Er lächelt, und ihm ist plötzlich, als würde ein eisernes Band entzweispringen, dass ihm die Lebensluft abgeschnürt hatte, und genau wie das Mädchen, weiß er nicht, ob er lachen oder weinen oder beides zugleich tun soll. Taumelig richtet er sich auf, stützt sich schwer auf die Schulter der Kleinen, und als ihm schwarz vor Augen wird, klammert er sich für einen Moment am Türpfosten fest. Ein Glück, dass die mit ihrer albernen Trage doch noch an den Stufen gewartet haben – er hätte es wohl doch nicht aus eigner Kraft fertig gebracht.
Walther von der Vogelweide ist bestens gelaunt. Er sonnt sich in seinem Erfolg. Aufgekratzt stolziert er im Raum auf und ab und schwenkt seinen Weinbecher. Dass ihm die anderen – aus unterschiedlichen Gründen – gar nicht richtig zuhören, scheint ihm nicht so wichtig zu sein. »Einer meiner besten Auftritte und ganz ohne dass ich meine Fiedel oder meine Kehle strapaziert habe! So ein kaiserlicher Wappenadler auf dem Überwurf wirkt einfach Wunder. Da wird einem ohne weiteres geglaubt, dass man als Gesandter der Majestät unterwegs ist – und dass diese Majestät vorhat, innerhalb der nächsten drei Tage die Pfalz zu besuchen. Dabei nimmt König Friedrich eine ganz andere Reiseroute. Na, das merkt der erst, wenn wir längst über alle Berge sind, der Herr Christoph. Das pfalzgräfliche Gesicht, als ich da so unvermutet auftauchte mit einem Haufen gesiegelter Dokumente! Ein Regentag ist nichts dagegen. Als ich das Verbot des Gottesgerichts im gesamten Reichsgebiet verlas und die Herausgabe des Gefangenen verlangte, dachte ich, den Herren trifft der Schlag.« Er leert seinen Becher und gießt sich neu ein. Heinrich liegt auf dem Bett, matt wie eine Fliege, und Lucia ist mit ihm beschäftigt. Sie hat die Wunde mit warmem Wein ausgewaschen, die Blutung mit Eichenrinde gestillt und ist nun dabei, ihn neu zu verbinden. Lorenz hockt in der Ecke und kämpft mit den Tränen. Lythande! Nach der ersten Freude über Wolfs Rettung schlägt ihm das Fehlen der Hündin schwer aufs Gemüt. Walther trinkt erneut einen Schluck, sieht von einem zum anderen. Verzieht dann den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Ich hatte eigentlich mit mehr Beifall gerechnet für meinen Einsatz. Hm, und auf ein Dankeschön auch.«
Heinrich streckt den gesunden Arm nach ihm aus. »Gott allein kann Euch lohnen, was Ihr für mich getan habt!«, sagt er ernst. »Und Gott und all seinen Heiligen sei Dank dafür, dass der königliche Erlass zum rechten Zeitpunkt da war.« »Na ja, was das Letztere angeht – da musste ich Gott ein bisschen unter die Arme greifen«, sagt der Sänger trocken. »Ich verstehe nicht!«, murmelt Heinrich. Noch immer fühlt er sich benommen, und manchmal fragt er sich, ob er das hier nicht alles träumt: das Bett, auf dem er liegt, Lucias liebevoll besorgte Hände, der Freund dort in der Ecke, das scharfnasige Profil des Meisters und dessen übersprudelnde Beredsamkeit… »Ich kann’s dir erklären. Wenn du drauf bestehst.« »Natürlich. Ja. Gern.« Heinrich stammelt. Er weiß nicht, auf was der Sänger hinaus will. Der wendet sich an die Gefährten. »Sagt mal, ihr sauertöpfisches Volk, habt ihr nichts weiter zu tun, als hier herumzusitzen und Maulaffen feilzuhalten? Willst du dich nicht um deinen Hund kümmern, der noch auf der Pfalz ist? Und du – wie lange, meinst du, kann man einen Pfaffen im Keller festhalten?« Lucia mustert ihn mit aufsässigen Blicken. »Bis Bier alle ist, denke ich.« »Na gut. Dann gehst du jetzt mal hin, wo dieser Keller ist und sagst Bescheid, dass das Bier noch zwei Tage zu reichen hat. Bis dahin sind wir über alle Berge.« »Was hat das zu bedeuten?« »Zunächst mal, dass ich euch hier raushaben will. Husch, husch! Ich will allein mit Wolf reden.« Er klatscht in die Hände, wie um ein paar Hühner zu scheuchen. Lucia, schon an der Tür, sagt: »Maleducato«, dann ist sie draußen. Um Walthers Mund zuckt es. »Einen Grobian hat sie mich genannt!«, sagt er vergnügt, »diese kleine Hexe.« Dann wird er ernst. »Sie haben unendliche Anstrengungen unternommen,
um dich zu befreien. Ihnen musst du mehr danken als mir. Halt sie dir warm, die sind Gold wert.« »Es sind meine Freunde«, erwidert Heinrich ruhig. Der Sänger nickt. »So, nun zu dem königlichen Erlass.« Er holt aus seiner Tasche ein Dokument mit prächtigem Siegel hervor. »Fühlst du dich in der Lage, was zu lesen?« Mit Anstrengung richtet sich Heinrich auf, stützt die verletzte Schulter mit der anderen Hand ab, nimmt das Papier entgegen, liest. Sagt dann langsam: »Was soll das?« »Bestes Kanzleilatein, nicht wahr?« Walthers Augen glänzen. »Kannst du es übersetzen?« »Natürlich. Eine neue Verordnung über die Besteuerung der Schlachthäuser in den Städten. Was hat das…« Er stockt, starrt Walther an. »Richtig. Eine neue Verordnung über die Besteuerung von Schlachthäusern. Mit den Siegeln der Kanzlei und des Königs, von Friedrich eigenhändig unterschrieben. Damit bin ich zurzeit unterwegs. Das Dokument habe ich vorgelesen da oben auf der Pfalz. Nur als ich es übersetzte, da klang es auf einmal ganz anders. Da war es der Erlass zur Abschaffung des Gottesgerichts.« Heinrich lässt die Hand mit dem Dokument sinken. »Ihr habt… Es gibt gar keinen…« »Och, es gibt schon. Bloß leider noch nicht in Deutschland, nur im Süden. Da hab ich mir gedacht, man kann ja den Ereignissen ruhig mal vorgreifen, wenn es um Leben und Tod geht. Und hab einen anderen Text improvisiert. Hörte sich sehr erhaben und gebieterisch an. Der Pfalzgraf war tief beeindruckt.« Er beobachtet Heinrich mit schief gelegtem Kopf. »Du offenbar auch«, bemerkt er trocken. Sein Gegenüber schluckt. »Ihr habt Euch meinetwegen in große Gefahr begeben«, sagt er leise.
»In noch größere, als du denkst. Ich bin im Moment gar kein Königsbote, sondern nur von der Kanzlei mit einigen wichtigen Angelegenheiten betraut. Wir – deine Freunde und ich – haben eben schnell mal ein Kostüm gebastelt.« Sein Blick fällt auf den Waffenrock mit dem Adler, der überm Stuhl hängt. »Verdammt, ich glaube wirklich, er guckt in die falsche Richtung!« »Gütiger Gott! Wenn jemand es bemerkt hätte!« Walther zuckt die Achseln. »Eigentlich hatte ich gewonnen, als Christoph mich akzeptierte. Der Rest war leicht. Den Pfaffen hatten wir vorsorglich entfernt, und von den hochgeborenen Herren kann ja keiner lesen, das ist bekannt.« Heinrich setzt zu einer Erwiderung an, aber der Sänger legt ihm die Hand auf den Arm. »Von Wenningen«, sagt er und spricht ihn mit seinem Adelstitel an wie meist, wenn er vertraulich mit ihm redet, »ich brauch dich, ich hab noch viel mit dir vor. Ich kann mir nicht leisten, einen wie dich zu verlieren. Sieh zu, dass du auf die Beine kommst. Wir müssen weg von hier, bevor der Boden hier zu heiß wird. Aachen wartet auf uns.« »Meister – ich danke Euch mein Leben. Aber bevor ich hier weg kann, muss ich noch ein Versprechen einlösen.« Der Sänger wendet sich ab und geht wieder zu seinem Weinbecher. »Bestimmt wieder irgendetwas Ritterliches, hoffnungslos Törichtes. Ich weiß schon, dass ich dich Starrkopf von so etwas nicht abhalten kann. Tut mir Leid. Ich jedenfalls breche noch heute auf. Falls ihr vorhabt, länger in der Gegend zu bleiben – sucht euch so etwas wie ein Versteck.« »Nicht länger. Höchstens ein, zwei Tage, denke ich.« »Und du meinst, bis dahin bist du wieder auf den Beinen?«
»Ich muss. Es ist nur ein Stich, kein Hieb, und der Medicus sagt, Sehnen oder Adern sind nicht getroffen. Eine Fleischwunde.« Der Sänger ist schon fast an der Tür, zögert, nestelt an seiner Gürteltasche. »Ich bin ausnahmsweise bereit, dir ein bisschen Silber vorzustrecken«, sagt er. »Denke, du brauchst vielleicht was. Aber das wird abgearbeitet – in Aachen werde ich wichtige Papiere empfangen, die umgehend nach Genua gelangen müssen! Haben wir uns verstanden?« Ein Beutel landet auf Heinrichs Bettdecke. »Ja, Meister. Danke, Meister.« Aber das hört Walther schon nicht mehr. Er ist so schnell draußen, als befürchte er, dass ihm seine Großzügigkeit Leid tun könnte. Ein bisschen Silber? Der Beutel ist prall gefüllt.
Versprochen ist versprochen
»Ich hab sie wieder! Meine Süße, meine Schöne, meine Blanchefleur!« Lorenz tobt mit Lythande durch den Raum, und die Hündin teilt seine überschwängliche Freude, bellt, springt ausgelassen von einem zum anderen. Lucia wehrt das Tier ab, verzieht das Gesicht. »Ist viel zu laut! Wolf ist krank!« Sie rümpft die Nase. »Dir ist Lythande wichtiger als Wolf, was?« »Lass ihn nur!«, wehrt Heinrich lächelnd ab. »Freude war schon immer ein Ding, das dazu beigetragen hat, die Menschen gesund zu machen!« »Das Mädchen hat sie mir direkt in die Arme geworfen, von der Pförtnerluke aus!«, berichtet Lorenz mit großen, leuchtenden Augen. »Und Lythande – sie sprang, als wenn sie fliegen könnte zu mir!« »Gütiger Heiland!« Lucia bekreuzigt sich, verdreht die Augen. »Ist doch bloß ein Hund!« »Kein Streit, ihr beiden!«, fährt Heinrich dazwischen. »Hat sie direkt gewartet – die kleine Greta?« »Sah fast so aus.« »Dann guck doch mal, ob Lythande was unter ihrem Halsband hat.« Lorenz untersucht seine Hündin. Reicht dann mit vor Staunen runden Augen ein schmal zusammengefaltetes Stück Papier an Heinrich. »Woher wusstest du…?« »Das war die Art, uns im Kerker Botschaften zuzuschicken. Jadwiga kann lesen und schreiben«, erklärt Heinrich und studiert das Blatt. Er ist ernst geworden.
»Jadwiga?«, fragt Lorenz gedehnt. »Diese – diese Pfalzgräfin, die dir das alles eingebrockt hat? Die, für die du den Bruder spielen musstest und fast umgekommen bist?« »Ja, die. Wir müssen ihr helfen.« Lorenz stößt die Luft mit einem Fauchen aus. »Der willst du jetzt auch noch helfen? Ich fass es nicht! Soll sie doch verfaulen in ihrem Gefängnis!« »Lorenz! Es geht um ihr Leben! – Und ich bin es auch ihrem Diener schuldig. Lukas ist meinetwegen gestorben.« »Und wir? Wir dürfen unseres dafür aufs Spiel setzen?! Irre ich mich oder hat Walther nicht gesagt, dass uns hier der Boden unter den Füßen heiß wird, nach dem Streich, den er denen in der Burg gespielt hat? Wolf! Was hast du vor?« Auf einmal ist es still im Raum. Sogar Lythande merkt, dass sich die Stimmung verändert hat, und legt sich flach hin, die Schnauze auf den Vorderpfoten. Heinrich atmet tief durch. Auf einmal spürt er seine Wunde wieder, sie brennt wie Feuer. Vielleicht hat der Freund ja Recht. Was kann er denn von ihnen verlangen, nach dem, was sie für ihn getan haben? Er senkt die Lider, sagt leise. »Brecht ihr auf, reist Walther hinterher. Ich werde versuchen, es allein zu machen.« Er schluckt. »Sie schreibt, dass sie am Valentinstag fortgebracht wird… Der Valentinstag, das ist übermorgen.« »Und was willst du da tun, an diesem verdammten Valentinstag?« Er antwortet nicht direkt. »Hier ist – ziemlich viel Geld. Könnt ihr mir noch zwei Reiter anwerben, bevor ihr fortgeht? Dann wird das schon werden.« Schweigen. »Zwei Reiter, ja?« Lorenz baut sich vor ihm auf, mit verschränkten Armen. »Zwei Reiter und ein schwer Verwundeter. Dann wird das schon gehen. Das, was du
vorhast. Wolf, hast du den Verstand verloren? Wir lassen dich hier nicht zurück.« »Ihr könnt mich schlecht zwingen.« »Und ob wir das können! Du bist schwach wie eine Fliege, du kannst dich nicht wehren.« Er lacht wütend auf. »Heiliger Sankt Georg, weißt du, wie schwach und krank du bist? Früher wär das gar nicht in Frage gekommen, dass du uns so etwas vorgeschlagen hättest! Da hättest du uns einfach rumkommandiert und gesagt: Basta, es wird gemacht, was ich bestimme!« Lucia hat bisher kein Wort gesagt bei diesem Streit. Jetzt tritt sie an Heinrichs Lager heran und fasst seine Hand. »Ich bleibe hier«, sagt sie ruhig. »Wolf braucht Hilfe.« Lorenz schlägt sich mit der geballten Faust gegen die Stirn. »Seid Ihr völlig vernagelt? Wegen dieses Frauenzimmers… Lythande, sind wir die einzigen Vernünftigen hier?« Die Hündin wedelt freundlich und ohne das Geringste zu verstehen. Der Junge wirft einen schrägen Blick rüber zu den Freunden. »Was hast du denn vor?«, fragt er zögernd. »Habt ihr die Wolfsmaske im Gepäck?« »Denkst du, wir schmeißen sie weg, sobald du uns den Rücken kehrst?«, erwidert Lorenz ruppig. »Natürlich haben wir die!« Er nimmt den Geldbeutel, der noch immer auf Heinrichs Bettdecke liegt, wiegt ihn in der Hand. »Nicht schlecht«, sagt er. »Wo doch dein Meister sonst so filzig ist. Vier Reiter wären vielleicht besser, was? Aber zuerst müssen wir uns ein anderes Quartier suchen. Raus aus dieser ekelhaften Stadt. Wolf, kannst du reiten?« Die Freunde liegen sich in den Armen. »Vorsicht!«, sagt Lucia. »Seine Wunde!« Lythande vollführt einen Freudentanz und dreht sich um die eigene Achse, als wollte sie ihren Schwanz jagen.
Der Wagen, der die »Verbrecherin« Jadwiga nach Lippstadt bringen soll, wird von vier Pferden gezogen. Er rumpelt durch die Gassen der Stadt, dann zum Südtor hinaus und die Straße entlang, auf der Walther und die Gefährten vor einigen Tagen gekommen sind. Die Wege sind noch immer schlecht. Außer dem Kutscher gibt es vier Mann zum Geleit – es ist nicht einzusehen, warum Pfalzgraf Christoph mehr Leute abkommandieren soll für eine Angelegenheit, die ohnehin niemanden interessiert. Er braucht seine Bediensteten auf der Burg, um alles für die bevorstehende Ankunft des Königs vorzubereiten. –
Die Frau ist nicht gefesselt. Wozu auch? Sie ist klug genug, um sich auszurechnen, dass sie nicht entkommen kann. Zusammen mit ihrem Kammermädchen sitzt sie unter Decken und Pelzen im Wageninnern. Sie frieren beide und schmiegen sich aneinander, Herrin und Dienerin. Eine mit heißem Wasser gefüllte Wärmpfanne aus Kupfer hat nicht lange vorgehalten. Jetzt ist sie nur ein kaltes Stück Metall. Mit Essen und Trinken hat man sie nicht versorgt. Es ist ja nur eine Tagesreise. Die Räder knarren und knirschen in den tief ausgefahrenen, überfrorenen Fahrrinnen. Der Wagen rumpelt und stößt, schüttelt die Frauen durch. Jadwiga ist eingeschlafen, fast durchsichtig ihre Augenlider in dem bleichen Gesicht. Greta hält unruhig Wache. Immer wieder hebt sie den Vorhang vom Wagenfenster, späht vorsichtig hinaus. Wald ringsum. Keine Menschenseele. Der Tag ist trüb, es scheint schon jetzt, am frühen Nachmittag, zu dämmern. Sie seufzt, lehnt sich zurück. Worauf hofft sie bloß noch? Es ist unvernünftig, zu hoffen. Nun versucht auch sie, zu schlafen.
Als das Schaukeln und Rütteln plötzlich aufhört, wachen beide Frauen auf. »Was ist?«, fragt Jadwiga matt. »Sind wir schon angelangt?« Greta lehnt sich nach draußen. »Nur Wald«, erwidert sie. »Ein Baum liegt quer über der Straße. Die Männer müssen ihn erst wegräumen.« Jadwiga schließt die Augen wieder. »Wie kalt es ist!«, murmelt sie. »Ich wollte, wir wären schon dort.« »Da!« Greta schreit gellend auf. »Herrin, seht doch nur! Heilige Jungfrau Maria, bewahre uns vor der Macht des Bösen!« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Zwischen den Tannen erscheint eine große Gestalt im dunklen Mantel. Statt eines menschlichen Kopfes fletscht eine grausige Wolfsfratze die Zähne. Die Männer der Wache haben auf Gretas Schrei hin von dem Baumstamm abgelassen und sich umgedreht. Der Schreck versteinert sie zunächst. Zwei schlagen ein Kreuz, ein dritter greift zögernd zu seinem Spieß – aber da fliegen bereits Pfeile aus dem Waldesdickicht. Kleine, leichte Pfeile, wie man sie zur Jagd auf niederes Wild nimmt, ungeeignet, einen Menschen ernsthaft zu verletzen, wenn er, wie diese hier, einen Panzer trägt. Aber sie stören und verunsichern. Die Wachen ducken sich hinter ihre Schilde. Der Kutscher versucht fluchend und peitschenschwingend, den Wagen zu wenden. Aber dazu ist der Weg zu eng. Die Deichsel verkeilt sich hinter einem Baumstamm, die verschreckten Pferde steigen wiehernd und verstricken sich im Geschirr. Der Wagen steht schräg. Der Kutscher ist der Erste, der Fersengeld gibt. Mit langen Sätzen verschwindet er in Richtung Pfalz. Ein zweiter Mann schwingt sich auf sein Pferd und folgt. Aber die drei anderen scheinen zur Verteidigung entschlossen. Sie stehen mit dem Rücken zu dem bewegungsunfähigen Wagen, die Spieße vorgestreckt.
Vier schwarz vermummte Reiter brechen mit gezogenen Schwertern aus dem Gehölz, stürzen sich mit Geschrei auf die Wachen. Der Vorderste springt ab, zerschlägt mit einem Hieb seiner Waffe den hölzernen Schaft eines Speers, dringt mit so ungezügelter Wut auf den Mann ein, dass der sich unter seinen Schild duckt, wirbelt herum, um einen anderen abzuwehren. Die drei anderen attackieren die Wachen vom Pferd aus. »Verdammt! Sollen wir uns abschlachten lassen wegen dieser Gefangenen?«, keucht der eine der Angegriffenen. »Soll sie doch der Werwolf fressen, wenn er sie so gern hat!« Sie ziehen sich fechtend hinter den Wagen zurück, beginnen zu laufen. Einer der Reiter will nachsetzen, ein Pfiff holt ihn zurück. »Genug, es reicht!« Heinrich zieht sich das dunkle Tuch vom Gesicht, steckt seine Waffe weg. »Ihr habt euch gut gehalten. Nehmt die Kutschpferde dazu, wenn ihr euch traut. Sie gehören der Pfalz, ihr könnt sie hier nicht verkaufen.« Er atmet schwer, der Schweiß rinnt ihm übers Gesicht. Sein Halsverband färbt sich wieder rot. Die Kämpfer beginnen, die Gäule auszuschirren. »Wir finden schon Abnehmer, keine Sorge!«, grinst der Anführer, ein Kerl mit einer Narbe quer übers Gesicht und einem fehlenden Ohr. »War leichte Arbeit, Herr – dank diesem da.« Lorenz springt von den Stelzen, nimmt die Maske ab. »War das erste Mal, dass ich den Wolf spielen durfte!«, sagt er. »Furchtbar warm unter dem Ding. Wie du das immer aushältst, Großer!« Aus dem Dickicht kommt Lucia, Lythande an der Leine. »Sie wollte die ganze Zeit mitmachen«, sagt sie vorwurfsvoll. »Ich konnte kaum…« Sie stockt. »Wolf! Du hast gesagt: Ich kämpfe nicht! Ich sage bloß, was sie machen sollen! Und nun?« Sie zeigt anklagend auf das frische Blut, dass das Leinen durchdringt.
Heinrich lächelt schuldbewusst. »Ich bin ja rechts nicht verletzt«, murmelt er. »Es geht schon. Und nun – wir sollten uns jetzt nicht mit uns beschäftigen.« Aus der Kutsche kommt kein Laut. Er tritt heran, öffnet die Tür. Schreckensbleich, mit geweiteten Augen starren ihn die beiden Frauen an. Er lehnt sich an den offenen Schlag. »Ich habe versprochen, es zu versuchen«, sagt er. »Komm, Greta, hilf deiner Herrin beim Aussteigen. Wir haben Pferde für euch. Die Männer, die ich angeworben habe, werden euch geleiten – zumindest, bis ihr aus dem Bereich der Pfalz heraus seid.« Greta schluchzt hemmungslos. Jadwiga, ihre Herrin, ist noch immer stumm. Sie macht ein paar Schritte, dann versagen ihre Beine ihr den Dienst, und sie sinkt zu Boden. »Du liebe Zeit«, brummelt der Anführer der kleinen Schutztruppe vor sich hin. »Hätten wir vielleicht lieber eine Sänfte besorgen sollen?« –
Es ist ein weiter Weg nach Norden, ins Pommersche, nach Haus, den die beiden jungen Frauen vor sich haben, und der Winter ist noch lang. Heinrich hat sie mit wärmenden Pelzen, mit Vorräten und Bargeld ausgestattet und zählt nun die mageren Reste in Walthers Beutel. Seine Wolfsbande sitzt um ihn herum und zählt mit. »Hm, man gerade so!«, sagt Lorenz skeptisch. »Damit sollen wir nach Aachen kommen?« »Meinst du, wir müssen wie die Fürsten reisen?«, unterbricht Heinrich ihn unwirsch. »Sobald wir aus dieser gefährlichen Ecke mit der Pfalz raus sind, werden wir natürlich wieder auftreten und unser Brot mit Gaukelspiel verdienen!« »Du bist noch krank!«, sagt Lucia streng, und er erwidert: »Unsinn. Außerdem, dann habt ihr eben mal die großen
Aufgaben und ich ruhe mich aus. Zugucken kann auch schön sein.« Lorenz grinst. »Als du den Raubritter gespielt hast – das hat dir wirklich gut gestanden. Bist wie geboren für die Rolle.« Heinrich will erst auffahren, aber dann sieht er das Blitzen in den Augen der Gefährten und lacht mit ihnen. »Freunde, ich schwöre euch: Das ist das erste und das letzte Mal, dass ich so etwas gemacht habe. Wenn ich das gewollt hätte – also das hätte ich haben können.« Dazu schweigen die beiden. Sie wissen ja nicht, dass Heinrichs alter Freund und Waffenlehrer vor nicht allzu langer Zeit ihm dergleichen »Arbeit« angeboten hatte. Während Lorenz mit Lythande noch eine Runde ums Gasthaus macht, erneuert Lucia Heinrichs Verband. Sie ist sehr schweigsam dabei, sehr in sich gekehrt. Schließlich, als sie fertig ist mit ihrer Arbeit, hält Heinrich ihre Hand fest, zieht sie sanft an seine narbige Wange. »Was hast du?«, fragt er leise. Sie blickt zu Boden. »Diese Frau«, sagt sie stockend. »Ihr habt gar nicht mehr miteinander geredet. Nur so das Nötige. Warum?« Heinrich atmet tief aus. »Ich glaube, sie hat sich geschämt. Geschämt, in welcher unwürdigen Lage ich sie erlebt habe, geschämt auch, dass sie ihr eigenes Leben um den Preis meines Lebens retten wollte. Und schließlich auch, weil ich sie befreit habe – verstehst du?« »Vielleicht«, sagt das Mädchen. »Ich weiß nicht.« Dann hebt sie ihre großen hellen Augen und sieht ihm gerade ins Gesicht. »Du hast sie gemocht, ja?« »Sie hat mir Leid getan.« »Solche Frauen mögen nicht, wenn sie wem Leid tun.« »Da kannst du Recht haben, Lucia.« Er schließt die Augen. »Ich bin so froh, wieder bei euch zu sein. Bei dir.«
»Ich bin auch froh. Sehr froh.« Zart wie ein Hauch berühren ihre Lippen seine Stirn. Dann schlüpft sie aus dem Raum. Als er allein ist, greift Heinrich in sein Wams. Holt das Stück Pergament hervor, dass ihm Jadwiga stumm beim Abschied gegeben hat. Es sind Verse, er kennt sie. Nicht von Walther, nein. Von einem älteren Meister. »Ich zog mir einen Falken/länger als ein Jahr…« Sie handeln von unerfüllter Liebe und Verlust, und sie schließen mit den Worten: »Gott füge die zusammen/die voller Liebe sind.« Heinrich liest sie noch einmal durch. Dann wirft er das Blatt in den Kamin und betrachtet ruhig, wie es sich aufbäumt, krümmt und zu Asche wird.