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Ein eisiger Wind fegte über den Berg. Trotz ihrer Umhänge aus Bärenfell drängten sich die Mitglieder des Stammes vor der Höhle eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Sie warteten auf das Erscheinen des Priesters, der in der Höhle war. In der vordersten Reihe stand das Mädchen Sana. Zwei der stärksten Krieger hielten sie fest. Nur in ein Gewand aus Hirschleder gehüllt, stand sie im knöcheltiefen Schnee. Ihre Augen waren blicklos, fast so, als habe ihr Geist ihren Körper verlassen. A'den, der Krieger an ihrer rechten Seite, schaute sie forschend an. Wohin war ihr Geist gegangen ? A'den kannte Sana, seit sie Kinder gewesen waren. Und schon damals hatten sie gewußt, daß dieser Tag kommen würde, denn sie war für Mogar auserwählt worden, als sie gerade erst fünf Jahre alt war. A'den erinnerte sich noch, wie sie tagelang herzzerreißend geweint hatte, er erinnerte sich an ihr kleines, schmales Gesicht, tränenüberströmt und gezeichnet von dem Wissen um das, was sie erwartete. Er erinnerte sich auch daran, wie er selbst geweint hatte, allein in der Nacht, wenn niemand ihn sehen oder hören konnte, denn ein Krieger weint nicht. Auch nicht um eine Freundin, die sterben muß. Sie hatten nicht darüber gesprochen, weder damals noch später. Irgendwann, es mag einen Monat nach der Ankündigung des Opfers gewesen sein, hatte Sana aufgehört zu weinen. Ernst und still war sie geworden. In dieser Zeit hatte A'den angefangen, sie zu lieben, und die Stärke seiner Liebe war mit ihm gewachsen. Er drückte Sanas Arm, doch sie ließ nicht erkennen, ob sie es gespürt hatte. Plötzlich trat der Priester mit seinem Stab aus der Höhle. Sein schwarzes Haar wehte im Wind. Ein Raunen ging durch die Menge. Würde Mogar das Opfer annehmen? Langsam ging der Priester auf Sana zu. Seine stechenden schwarzen Augen glänzten fiebrig. Erzog ein Messer aus seinem Gürtel, nahm es in beide Hände und hielt es vor ihr Gesicht. Sie blinzelte nicht einmal. Der Priester steckte das Messer wieder in den Gürtel und nickte den Kriegern zu, die das Mädchen hielten. Sie traten vor. Vor dem Höhlen-
eingang waren zwei schulterhohe Holzpfähle in den Boden getrieben worden. Mit Lederschnüren banden A'den und sein Kamerad Janas Arme an die Pfähle. Auf ein Zeichen des Priesters hin gingen Ä den und der andere Krieger zu den übrigen Stammesmitgliedern zurück. Der Priester hob die Arme. „Mogar!"rief er. „Mogar, komm und hole, was dein ist!" Unruhe breitete sich unter den Angehörigen des Stammes aus. Der Priester wandte sich um und machte ihnen Zeichen. „Mogar!" rief er wieder, „Mogar! Mogar!" Sie nahmen den Ruf auf. „Mo-gar! Mo-gar!" Er wurde zu einem kraftvollen, rhythmischen Singsang. Lauter und lauter erscholl der Ruf, bis er zu einem mächtigen Dröhnen wurde, das das Heulen des Windes übertönte und als Echo von den Hügeln zurückkam. Auch A'den wurde mitgerissen von der magischen Kraft, die von der Gruppe ausging. Zunächst hatte er noch versucht, sich dagegen zu wehren, doch bald merkte er, wie die Worte gegen seinen Willen aus seinem Mund kamen. „Mogar! Mo-gar! Mo-gar!" An der Spitze des Stammes stand der Priester. Er hatte sich die Kleider vom Leib gerissen und hielt das Messer über den Kopf. „Mo-gar!" schrie er. „Mo-gar! Mo-gar!" Plötzlich begann die Erde zu beben. Der heulende Sturm legte sich von einem Augenblick zum nächsten. An seine Erteile trat ein neuer, andersartiger Wind. Er blies aus dem Höhleneingang und trug den Geruch des Todes mit sich. Die Mitglieder des Stammes schrien auf, nur der Priester sang weiter wie besessen. J'ana hing kraftlos in ihren Fesseln, Und dann war Mogar da. Aus dem Höhleninneren brach ein Brüllen hervor, gefolgt von dem Entsetzensschrei des Stammes. Im selben Augenblick erschien der riesige, häßliche Kopf in der Felsöffnung. Jetzt endlich erwachte J'ana aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie warf den Kopf zurück und schrie. Nie würde A'den diesen Schrei vergessen. Das riesige Maul öffnete sich. Ein Schatten fiel über die Angehörigen des Stammes. Alle drehten sich um und rannten davon. A'den mit ihnen. J'ana und der Priester blieben allein bei Mogar zurück. Die Menschen liefen den Hügel hinunter, stolperten und fielen, einer trat auf den anderen auf der panischen Flucht vor dem, was sie aus dem Schoß der Erde heraufbeschworen hatten. Hinter ihnen schrie J'ana noch immer. Und dann war es still.
1. KAPITEL „Dennis, bist du fertig?" Die Stimme seiner M u t t e r riß Dennis Haie aus seinen Tagträumen. Er stöhnte, da er nur zu gut wußte, w a s hinter ihrer Frage steckte. Sie wollte wissen, ob er sein dunkelblaues Jackett und die K r a w a t t e anhatte. „Fast", rief er zurück. Er stand auf dem Treppenabsatz vor ihrem neuen Haus und schaute die Straße hinunter auf den Platz, der das Herz der kleinen Stadt Ashton im Staat Vermont bildete. Hinter dem Platz lagen mehrere große weiße Häuser mit grünen Fensterläden. Seit über 200 Jahren w a r e n sie schon da. Rechts und links von der Rasenfläche standen zwei für Neu-England typische Kirchen, weiß verputzt mit hohem, spitzem Turm. Was Dennis sah, w a r schon fast unerträglich kitschig, wie aus einem Bilderbuch. Wieder seufzte Dennis. Es half alles nichts. Er mußte die K r a w a t t e umbinden. Also drehte er sich um und ging ins Haus. Rasch lief er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, wo vom Auspacken noch alles wild durcheinanderlag. Er zog das Sweatshirt aus und wühlte in einem Berg Klamotten nach dem Jackett und einer K r a w a t t e . Dennis w a r mit seinen Eltern erst vor drei Tagen nach Ashton gekommen. Seine Eltern hatten sich riesig gefreut, als sie das große alte Haus fanden, so kurz nachdem sein Vater sich entschlossen hatte, am College von Ashton die Stelle als Leiter der neugegründeten Abteilung für Computerwissenschaften anzunehmen, Dennis w ä r e viel lieber in Connecticut geblieben, in der Großstadt, wo er geboren und aufgewachsen war, doch seine Mutter w a r begeistert von der Vorstellung, auf dem Land zu leben. „Meilenweit w e g von dem Irrsinnsverkehr", sagte sie immer. Als Dennis so vor dem Spiegel stand urld sich die K r a w a t t e umband, überkam ihn plötzlich das Heimweh. Am nächsten Tag w ü r d e die Schule anfangen. Er hatte sich auf das letzte Schuljahr zusammen mit seinen Freunden gefreut. Jetzt w a r er der Neue, und das w a r absolut kein Grund, sich zu freuen. Während er das Jackett anzog, überlegte er, wie die Jungen und Mädchen in Ashton wohl w a r e n . Wenigstens ist die regionale High School
hier, dachte er. Die Schüler aus den umliegenden Ortschaften gingen alle in Ashton zur Schule. Und dann gab es ja auch noch die abgelegenen Straßen, wo er nach Herzenslust laufen konnte, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Und nur ein paar Minuten von einem Skigebiet entf e r n t zu wohnen, hatte ohne Zweifel seine Vorteile. Er strich sich eine blonde Locke aus der Stirn. Vielleicht w a r der Umzug nach Ashton doch nicht so schlimm. Seine Eltern w a r t e t e n schon an der Haustür auf ihn., „Hier, Den", sagte sein V a t e r und gab ihm die Wagenschlüssel, „du fährst." „He, danke, Dad!" IVIai nicht darum bitten zu müssön, w a r eine angenehme Überraschung. Nach einer kurzen Fahrt durch die Außenbezirke der Stadt erreichten sie ein großes, rustikales Gebäude, das früher einmal eine Scheune gewesen sein mußte. „The Farmer's Restaurant" stand auf einem Schild über der Tür. „Wie hübsch es hier ist!" rief Mrs. Hale, als sie das Restaurant betraten. Dennis mußte zugeben, daß es innen wahrhaftig nicht nach einer Scheune aussah. Der große, hohe Raum w a r anheimelnd gemütlich und elegant zugleich. In dem aus Natursteinen gemauerten Kamin brannte ein herrliches Feuer. Dennis lächelte, als er das Summen der Klimaanlage bemerkte. Anscheinend ließen sich die Leute die sogenannte „Atmosphäre" einiges kosten. Der Besitzer, ein großer, stattlicher Mann, begrüßte sie freundlich. „Ich bin Will Horrigan", stellte er sich vor. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal gesehen zu haben. Sind Sie auf der Durchreise?" „Nein, w i r wohnen seit drei Tagen hier, „erwiderte Mr. Haie lächelnd. „Ich bin Scott Haie, das ist meine Frau Cheryl und mein Sohn Dennis. Da ich von meinen Kollegen am College schon so viel über Ihr Restaurant gehört habe, wollte ich es mal ausprobieren." „Das ist schön. Und herzlich willkommen in Ashton." Mr. Horrigan w a n d t e sich an eine freundliche Frau von ungefähr vierzig Jahren, die zu ihnen getreten w a r , während sie geredet hatten. „Das ist meine Frau Grace. Sie ist der eigentliche Chef hier." Grace Horrigan lächelte. Nachdem ihr Mann sie mit den Haies bekannt gemacht hatte, führte sie die Gäste zu einem Tisch beim Kamin. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns", sagte sie, während sie jedem eine Speisekarte reichte. „Unsere Tochter Janet arbeitet heute abend hier. Sie wird Ihre Bestellung aufnehmen. Am besten, Sie stellen sich selbst vor." Bei diesen Worten blinzelte sie Dennis zu. Kurz darauf kam ein schlankes Mädchen an den Tisch. Sie hatte rotes,
nicht zu bändigendes Haar und die blauesten Augen, die Dennis je gesehen hatte. Er mupte sich beherrschen, um sie nicht regelrecht anzustarren. Ob alle Mädchen in Ashton so hübsch sind? schoß es ihm durch den Kopf. „Hallo", sagte das Mädchen. „Ich bin Janet." Beim Lächein zeigte sich ein Grübchen am rechten Mundwinkel. Dennis w a r fasziniert. „Mein Vater hat mir gesagt, ich soll mich heute abend ganz besonders um Sie kümmern." An Dennis gewandt, fuhr Janet fort: „Du gehst be~ ,. stimmt aufs College hier/ 4 Daß sie ihn für einen Studenten hielt, schmeichelte Dennis. „Äh, nein. Das heißt, ich hoffe." Verflixt, weshalb machte ihn dieses Mädchen nur so verlegen? „Jetzt hab ich erst mal noch ein Jahr High School vor mir." Janet strahlte ihn an. „Super. Ich hab auch noch zwei Jahre. Freust du dich auf die Schule? Sie fängt morgen an." „Ich weiß, ich hab mich am Freitag angemeldet." Während Janetund Dennis sich unterhielten, hattenMr. undMrs.Hale die Speisekarte studiert. Als Mr. Haie sich nun räusperte, wurde Janet rot. „Tut mir leid. Haben Sie schon gewählt?" Mr. Haie lächelte und nickte seiner Frau zu. Janet schaute plötzlich sehr professionell aus, und Dennis überflog rasch die Speisekarte. Nachdem Janet die Bestellungen aufgenommen hatte und mit dem Zettel in die Küche gegangen war, schaute Scott Haie seinen Sohn an und meinte: „Sie ist ausgesprochen hübsch." Dennis, der Janet mit unverhohlener Bewunderung nachgeschaut hatte, w u r d e rot., Ja. Viel zu hübsch. Wahrscheinlich geht sie schonfest mit irgendeinem Typ vom College." Er seufzte. „Ich wünschte, ich müßte nicht wieder neu anfangen, Freunde zu suchen/' Dennis genoß das Essen und die Tatsache, daß er dabei Janet beobacht e n konnte, w e n n sie zu den anderen Tischen ging. Als die Haies mit dem Essen fertig w a r e n , kam sie an ihren Tisch und fragte, ob jemand einen Nachtisch haben wollte. Mr. und Mrs, Haie bestellten Kaffee. „Ich komme bald um vor Durst", sagte Janet zu Dennis. „Wollen wir uns eine Cola genehmigen, während deine Eltern ihren Kaff eetrinken?" „Geh nur", meinte sein Vater. Dennis stand auf und folgte Janet in die Küche. An der Tür zögerte er kurz, doch sie nahm seinen A r m und sagte: „Ist schon okay. Komm ruhig rein," Während Janet zwei Gläser mit Eis und Cola füllte, schaute sichDennis in der Küche um. Die Stoßzeit w a r wohl vorbei, es w a r nur noch ein Koch da. Ein paar junge Männer in weißen Hosen und T-Shirts spülten ab. Sie sahen aus wie College-Studenten, die sich hierein bißchen Geld verdien-
ten. irgendwie war Dennis eifersüchtig auf sie, weif sie in der Nähe von Janet arbeiten durften. Jetzt mach aber mal einen Punkt! sagte er sich. Du kennst das Mädchen doch erst seit einer Stunde! „Hier, nimm." Janet drückte ihm ein Glas in die Hand. „Laß uns nach draußen gehen. Es ist so heiß hier. Außerdem sehe ich an den Wochenenden genug von der Küche." Sie dirigierte ihn zu einer Tür, die auf einen kleinen Balkon führte. Obwohl es fast dunkel war, war der Blick auf die Berge, die sich hinter dem Restaurant erstreckten, atemberaubend. Seite an Seite genossen Dennis und Janet die Aussicht. Nach ein paar Minuten rieb sich Janet die Arme. „Für September ist es ganz schön kalt", meinte sie. „Wahrscheinlich wird der Winter früh kommen." Dennis zog sein Jackett aus. „Hier", sagte er und legte es Janet über die Schultern, „nimm das." Zuerst wollte sie protestieren, dann sah sie ihn an, lächelte und zog das Jackett enger um sich. „Danke. Eigentlich hab ich nichts gegen die Kälte, weil dann die Skisaison früher anfängt." „Du fährst Ski?" fragte Dennis begeistert. „Klar. In Vermont fährt jeder Ski." „Wollen wir mal zusammen fahren?" „Gern. Aber da hier wirklich jeder Ski fährt, fahren wir meist in der Gruppe." „Ach so." Enttäuscht biß Dennis sich auf die Lippen. In diesem Augenblick kam Janets Mutter auf den Balkon. „Hier seid ihr", rief sie. „Ich hab euch schon überall gesucht. Deine Eltern wollen gehen, Dennis." „Ich komme sofort." Seiner Stimme war deutlich anzuhören, wie wenig Lust er dazu hatte. Mrs. Horrigan lächelte. „So eilig ist es nun auch wieder nicht., Will versucht gerade, sie zu einer zweiten Tasse Kaffee zu überreden, und normalerweise gelingt ihm so w a s immer." Sie blinzelte Dennis zu, bevor sie in die Küche zurückging. „Meine Mutter ist echt super", meinte Janet. „Wenn sie nur nicht immer so direkt wäre." Dennis lachte. „Dasselbe Problem hab ich mit meinem Vater. Ich sag mir dann immer, daß er es im Grund ja nur gut meint. Sehen wir uns morgen in der Schule?" „Sicher", erwiderte Janet, während sie Dennis das Jackett zurückgab. „Die High School hier ist nicht so groß. Wahrscheinlich hast du bis zur Mittagspause schon alles und jeden gesehen/Treibst du irgendeinen Sport, abgesehen vom Skilauf en?"
„Macht ihr Geländelauf an der Schule? 4 ' „Na klar. Das gibt's bei uns schon seit Jahren. Die Schulleitung w a r bis vor einem Jahr zu knausrig, um eine Bahn anzulegen, da blieb den Läufern nichts a n d e r e s übrig, als durchs Gelände zu rennen/' „Hört-sich nach massiver Konkurrenz an", meinte Dennis. „Du schaffst d a s schon." J a n e t lächelte ihr Grübchenlächeln, und er w ü n s c h t e , seine Eitern würden noch einen Eimer voll Kaffee trinken. Eine schmale Gestalt, die im Schatten der Büsche unterhalb des Balkons g e s t a n d e n h a t t e , drehte sich um und, ging davon. Sie schlüpfte fast lautlos durch die Hecken. Ab und zu warf sie einen kurzen Blick zurück zum Baikon. Haß stand in den dunklen Augen.
Als Dennis am n ä c h s t e n Morgen durch die Gänge der High School ging, ließ er den Blick suchend über all die fremden Gesichter gleiten, in der Hoffnung, J a n e t zu sehen. Er fühlte sich verloren in einem Meer von Fremden. Es läutete bereits zur dritten Stunde, und noch immer keine Spur von ihr. Mit einem leisen Seufzer blieb Dennis stehen. Er w a r vor der Tür zu d e m Klassenzimmer angelangt, in dem sein nächster Kurs stattfand. Beim B e t r e t e n d e s Raumes w u r d e er fast von einem entgegenkommenden Schüler über den Haufen gerannt, der murmelte: „Ach du liebe Zeit, ich dachte, hier sei Sozialkunde." Die Klasse lachte, und der Englischlehrer meinte: „Ich glaube nicht, daß ich irgendwelche Ähnlichkeit mit Miß Guilford habe." Geräuschlos schlüpfte Dennis auf einen Platz in der letzten Reihe. Nachdem es in der Klasse wieder still geworden war, stellte der Lehrer sich vor: „Mein Name ist Irving. Ich habe schon viele eurer älteren Geschwister unterrichtet und sogar die Eltern von einigen unter euch." Er ließ den Blick über die Bankreihen gleiten. „Es gibt also keine Tricks, die ich nicht schon kenne. Ihr v e r g e u d e t nur eure Zeit, w e n n ihr euch überlegt, wie ihr hier durchkommen wollt, ohne die vorgeschriebene Lektüre zu lesen und sämtliche T e s t s mitzumachen." Dennis m e r k t e , wie seine Gedanken abschweiften zu Janet, bis er das Wort „Klassenaufsatz" hörte. Jetzt w a r es wohl besser, aufzupassen. Als das allgemeine Stöhnen abgeklungen war, sprach Mr. Irving weiter: „Regt auch nicht auf, es gibt keine Noten dafür.. Ich will nur eure grauen Zellen nach der langen Sommerpause wieder aktivieren." Dennis s c h a u t e sich um. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Gangs, saß ein Junge mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Er w a r
auf eigenartige Weisen schön. Obwohl es in d e m Klassenzimmer ziemlich w a r m w a r , schien ihm das nichts auszumachen» Er w i r k t e frisch und alles andere als gestreßt. Voll k o n z e n t r i e r t sah er den Lehrer an. „Ihr h a b t zehn M i n u t e n Zeit, um e t w a s über euren Lieblingsautor zu schreiben. E r k l ä r t einfach, w e s h a l b euch.sein Werk gefällt/' Nervös spielte Dennis mit seinem Kugelschreiber. E r f ü h l t e sich außers t a n d e , irgend e t w a s über irgend j e m a n d e n zu schreiben — ausgenomm e n Janet. Als er sah, w i e die anderen alle eifrig schrieben, w u r d e er noch nervöser. W e r ist mein Lieblingsautor? überlegte er. Dann, schrieb er drauflos. Viel zu f r ü h s a g t e Mr. Irving auch schon: „Die Zeit ist u m " , und fing an, die B l ä t t e r einzusammeln. W ä h r e n d z w e i Schüler auf seine A n w e i s u n g hin Bücher v e r t e i l t e n , überflog er die A u f s ä t z e . E t w a , in der M i t t e des Stapels zog er ein B l a t t heraus, um es genauer anzuschauen. Danach legte er es beiseite und b l ä t t e r t e w e i t e r . Kurz b e v o r er den ganzen Stapel durchgesehen h a t t e , zog er noch einmal ein B l a t t heraus, schaute kurz darauf und lächelte. „Nun, Adrian", m e i n t e er, „dein Ruf ist dir vorausgeeilt. A b e r es sieht so aus, als h ä t t e s t du K o n k u r r e n z b e k o m m e n . Dieses Jahr ist noch ein H o r r o r - F r e a k in der Klasse. Und nicht nur das, er schreibt auch einen ausgezeichneten Stil, ganz w i e d u , " Dennis w u r d e r o t . Er h a t t e über Edgar Allan Poe geschrieben. Meinte Mr. Irving e t w a ihn? „Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied. W ä h r e n d du dich über L o v e c r a f t ausgelassen hast -' ein in meinen A u g e n eher drittklassiger A u t o r — h a t Dennis Edgar Allan Poe g e w ä h l t . Eis k ö n n t e ganz inter e s s a n t w e r d e n , w e n n ihr beide die Gründe f ü r eure Wahl einmal in eij
n e m o f f e n e n Rededuell v o r der Klasse darlegt." „Gern", s a g t e der gutaussehende Junge, der auf der anderen Saite des Gangs neben Dennis saß. „Kriegen w i r E x t r a p u n k t e d a f ü r ? " Fast h ä t t e Dennis gelacht. Adrians A n t w o r t w a r frech,.aber es sah so aus, als wolle der Lehrer sie beide gegeneinander aufhetzen. Deshalb d a c h t e Dennis, daß Mr.. Irving die R e t o u r k u t s c h e verdient h a t t e . „Sicher", e r w i d e r t e der Lehrer knapp. „Darüber reden w i r n ä c h s t e Woche." Dennis sah zu A d r i a n hinüber. Das g l a t t e s c h w a r z e Haar u m r a h m t e ein s c h a r f k a n t i g e s , f a s t habichtähnliches Gesicht. Plötzlich d r e h t e A d r i a n 'den K o p f und schaute Dennis an. U n t e r d e m s t e c h e n d e n Blick der s c h w a r z e n A u g e n w u r d e es diesem ganz unbehaglich. Der A n f l u g eines Lächelns glitt über Adrians schmale Lippen. Nach der Stunde t i p p t e Dennis Adrian auf die Schulter und s t r e c k t e i h m
dann die Hand hin. „Ich bin Dennis Haie", stellte er sich vor. „Wie es aussieht, werden w i r uns bald eine Redeschlacht liefern." Adrian nickte. „Adrian Furolle", sagte er, machte jedoch keine Anstalt e n , die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Nach einem peinlichen Augenblick ließ Dennis sie sinken. „Bist du tatsächlich ein Horror-Freak?" wollte Adrian wissen. „Klar, ich bin wahnsinnig . . ." Adrian schnitt ihm das Wort ab. „Sehr interessant. Wir müssen mal miteinander reden." Damit drehte er sich um und ging davon. Dennis schäumte vor Wut. So hatte ihn noch niemand abblitzen lassen. Wer w a r dieser Adrian Furolle eigentlich? Er beschloß, Janet nach ihm zu fragen, sobald er sie fand. Falls er sie überhaupt fand. „Hi, Fremder. Suchst du jemanden?" fragte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm. „Janet! Ich hab dich den ganzen Morgen über gesucht. Du hast gesagt, die Schule sei so klein, daß w i r uns auf jeden Fall finden würden." „Na bitte, wir haben uns doch gefunden." Dennis grinste. „Hast du Lust, mit mir zu essen?" fragte Janet. „Dann lernst du auch gleich ein paar von meinen Freunden kennen." „Gute Idee!" Janet zeigte Dennis die Cafeteria. Sie holten sich jeder ein Sandwich und gingen dann zu einem Tisch, wo bereits einige Mädchen und Jungen saßen. Es freute Dennis, daß sie ihn sofort in ihren Kreis aufnahmen, selbst w e n n sie ihn zunächst mal nur ausfragten. Als sie hörten, daß er den Computer seines Vaters benutzen durfte, wurden sie ganz heiß. „Echt?" Laura, offenbar die engste Freundin von Janet, konnte es kaum fassen. „Ihr habt so ein Ding zu Hause?" ,,,Na ja, mein Vater ist Dozent für Computerwissenschaften am College", a n t w o r t e t e Dennis. „Er braucht einen Computer von Berufs w e gen." ^Wahnsinn!" Nach dem Mittagessen fühlte Dennis sich entschieden besser als am Morgen. Vielleicht w a r es doch nicht so schwer, neue Freunde zu finden. „Ich will nach dem Unterricht mal sehen, ob sie mich beim Geländelauf in die Mannschaft aufnehmen", meinte er, als er zusammen mit Janet die Cafeteria verließ. ,,Dann sehen w i r uns ja. Ich hab in der letzten Stunde Gymnastik, also unmittelbar vorher." Nach der Schule ging Dennis gleich zum Sportgelände, von wo aus an diesem Tag ein Trainingslauf starten sollte. Eigentlich w a r es nur eine
F o r m s a c h e , denn die Schule w a r so klein, daß jeder, der beim Geländelauf m i t m a c h e n w o l l t e , auch in die Mannschaft a u f g e n o m m e n w u r d e . Doch Dennis w o l l t e nicht nur mitlaufen, er w o l l t e seinen f e s t e n Platz in d e r Schulmannschaft. M i t einem lockeren Dauerlauf begann er seine Ä u f w ä r r n ü b u n g e n . Bald vergaß er alles andere und k o n z e n t r i e r t e sich nur noch aufs Lauf e n , bis plötzlich j e m a n d seinen N a m e n rief. Als er sich u m s c h a u t e , sah er, daß J a n e t m i t w e n i g e n M e t e r n A b s t a n d hinter ihm lief. Sie sah irre aus, selbst in d e m v e r w a s c h e n e n grauen Trainingsanzug. . „Auf geht's!" Lächelnd p r e s c h t e sie an ihm vorbei. „Wir wollen mal seh e n , w e r schneller ist." „He, w e s h a l b h a s t du es denn so eilig?4' rief er, als er neben ihr w a r . Sie lachte. „Du h ä t t e s t nicht gedacht, daß ich auch laufen k a n n , w a s ? T u t mir leid, w e n n du dich j e t z t ein bißchen auf den A r m g e n o m m e n fühlst. Es ä r g e r t mich nur immer, daß die Jungs hier nur sich selber sportliche Leistungen z u t r a u e n . Mädchen zählen f ü r die gar nicht." A u c h Dennis lachte. „Ist schon okay. Ich w a r nur ü b e r r a s c h t , das ist alles." S t u m m d r e h t e n sie nach eineinhalb Runden und s t o p p t e n dann, um noch ein paar Drehübungen zu m a c h e n . Dabei f r a g t e Dennis: „Du, J a n e t , k e n n s t du einen A d r i a n hier? Er ist groß, dunkelhaarig . . ." „. . . und ausgesprochen gutaussehend. Außerdem a r r o g a n t , t o t a l v e r d r e h t und absolut hoffnungslos. Puh!" „Wieso ,puh'?" Janet h a t t e auf der Stelle gejoggt. Einen Augenblick lang hielt sie inhe. „So richtig erklären kann ich es auch nicht, aber er ist irgendwie selts a m . Er w o h n t bei seiner T a n t e im ,Hillbrook\ ihr g e h ö r t das R e s t a u r a n t . " Sie s c h a u t e Dennis an. „Ich hoffe, du hast nicht v o r , dich m i t ihm und seiner Clique näher einzulassen." Dennis s e t z t e sich ins Gras. „Wieso?" „ A c h , w e i ß t d u , sie m a c h e n lauter komische Sachen, Fantasy-Spiele und so w a s . Nur t u n sie so, als sei es echt, Sie haben einen Geheimclub, der sich oben in den Hügeln t r i f f t . " „ H ö r t sich g u t an", meinte Dennis. „Fantasy-Spiele sind okay." „Solang m a n sie nicht zu e r n s t n i m m t . Ich f ü r mein Teil spiele lieber Tennis. K o m m , w i r wollen noch ein paar Runden drehen, b e v o r es b e i dir ernst wird." Sie w a r e n gerade einmal halb um die B a h n h e r u m , als Janet Dennis' m i t d e m Ellbogen anstieß. „Wenn m a n v o m Teufel spricht . . . " Dabei w i e s sie m i t d e m Kinn zur Tribüne. A d r i a n Furolle saß auf den Zuschauerbänken, den Blick s t a r r auf Janet und Dennis g e r i c h t e t .
2. KAPITEL „Poes Stil ist zweifellos besser. Doch er ist oberflächlich. Er ist nie zum wirklichen Kern vorgestoßen, weiß gar nicht, w a s Horror, also das Böse an sich, überhaupt ist." Dennis schaute Adrian an. Dessen Worte verlangten ihm Respekt ab, gleichzeitig merkte er, wie er langsam wütend wurde. Drei Wochen w a ren vergangen, seit Mr. Irving vorgeschlagen hatte, daß sie in einer offenen Diskussion vor der Klasse die Verdienste der beiden Schriftsteller Poe und Lovecraft einander gegenübersteilen sollten. Während der letzt e n beiden Wochen hatte Denis sich auf diese Diskussion vorbereitet, hatte Zitate von Kritikern gesammelt und sich Stichworte zu den wichtigsten Stellen in Poes Büchern aufgeschrieben. Seine Hauptargumente hatte er seinen Eltern vorgetragen. Und jetzt in der Diskussion konnte er durchaus mithalten. Trotzdem hatte er das ungute Gefühl, daß Adrian dabei w a r , Hackfleisch aus ihm zu machen. Die Diskussion näherte sich dem Ende. „Lovecraft schrieb Geschichten, keine Literatur." Dieses Zitat hatte Dennis bei seinen Vorbereitungsarbeiten gefunden. „Die Geschichten sind zwar aufregend, entsprechen jedoch in keiner Weise der Realität. Sie sind wie Fernsehshows, interessant, aber bedeutungslos." Adrian lächelte. „Lovecraft w a r in seiner Beschreibung des Bösen realistisch wie kein zweiter, da er um die eine, letztgültige Wahrheit wußte: das Hingezogensein des Menschen zum ursprünglich Bösen. Und er w a r einer der wenigen Autoren, die den Mut hatten, diese Wahrheit öffentlich zu bekennen. In manchen Erzählungen ist sie nur versteckt enthalt e n , doch sie ist immer da." Man merkte, wie Adrian richtig in Fahrt kam. „Niemand w a g t zuzugeben, w a s im Grund alle wissen: daß nämlich das Böse eine genauso große Anziehungskraft auf uns ausübt wie das Gute. Sie sind die beiden Urkräfte des Universums. Das Böse ist — auf seine A r t — so rein und iustvoll wie irgend e t w a s Paradiesisches." Er ließ den Blick über die Klasse wandern. Seine Augen leuchteten, er hatte alle in seinen Bann gezogen. „Lovecraft wußte um die uralten Kräfte des Bösen im Inneren der Erde. Er wußte, daß sie zeitweilig schlafen, manchmal jahrhundertelang. Aber sie kommen immer zurück,
da der Mensch von Natur aus ihr Opfer ist. Und sie sind von Natur aus seine Meister." Mit einem Blick auf Dennis beendete er seinen Vortrag. „Das ist alles, w a s ich zu sagen habe." Dennis nickte und schaute zu Mr. Irving, in der Hoffnung, dieser w ü r d e die Diskussion als beendet erklären. Es gab nichts, was er den letzten Worten Adrians hätte entgegenstellen können. Erleichtert sah er, daß der Lehrer sich erhob. „Gut gemacht, meine Herren", lobte Mr. Irving. „Ich hoffe, daß dies den Maßstab gesetzt hat für zukünftige Diskussionen dieser A r t . Die Argumente lagen auf einem sehr hohen Niveau, auch wenn sie manchmal etw a s w e i t hergeholt waren." Mit gerunzelter Stirn sah er zu Adrian hinüber. Dieser schien von dem Kommentar gänzlich unbeeindruckt. Adrian und Dennis setzten sich wieder auf ihre Plätze, und noch w ä h rend der Lehrer die Hausaufgaben gab, läutete es zum Ende der Stunde. „Ich möchte mit dir reden"* sagte Adrian. Dennis w a r sich nicht sicher, ob er das auch wollte. Er hatte nicht vergessen, wie Adrian ihn am ersten Schultag hatte abblitzen lassen. Außerdem hatte dieser in den drei Wochen, die seither vergangen w a r e n , nicht ein einziges Wort mit Dennis gesprochen. Aber er wollte nicht nachtragend sein. Deshalb nickte er. „Okay. Wann?" Das ist typisch, dachte Dennis. Laut sagte er: „Also gut. Was gibt's?" „Ich würde dich gern mit ein paar von meinen Freunden bekannt machen. Du würdest gut in unseren Fantasy-Klub passen, denke ich. Du kennst dich doch aus mit Fantasy-Rollenspielen?" „Klar. Allerdings habe ich noch kaum Gelegenheit gehabt zum Spielen. Aber Spaß macht es bestimmt, da bin ich sicher." „Gut. Wir haben ein paar Varianten, die die ganze Sache in meinen A u gen noch interessanter machen. Komm doch am Freitag mit. Ich hole dich nach der Schule ab und zeig dir unseren Versammlungsplatz." Für Dennis kam diöse Einladung etwas plötzlich. Er wußte nicht, w a s er sagen sollte, doch Adrian w a r t e t e auch gar nicht erst auf eine Antw o r t , sondern w a r schon verschwunden. Ungläubig schüttelte Dennis den Kopf. Janet hat recht, dachte er, dieser Typ ist ganz schön verdreht. Was sie nicht gesagt hatte, war, daß er irgendwie auch unheimlich interessant war. Fantasy-Spiele hatten Dennis schon immer begeistert, doch an seiner alten Schule hatte er es nicht geschafft, genügend Leute für eine richtige Spielgruppe zusammenzutrommeln. „Hi, Dennis. Wie ich gehört häb, hast du zusammen mit Mister ,groß,
dunkel und verdreht* im Englischkurs für einigen Wirbel gesorgt." Dennis drehte sich um. „Janet! Du kommst genau richtig. Ich könnte im Moment nämlich ein bißchen moralische Unterstützung gebrauchen." „Wieso brauchst du moralische Unterstützung?' 1 fragte Janet. „Ich hab gehört, du w a r s t super." „Danke. Aber ich hatte eher das Gefühl, daß Adrian mich glattweg überrollt hat." „Ich hab gerade mit Alan und Marsha gesprochen. Wie sie sagten, w a r Adrian echt gut, aber auch wieder so verdreht, daß kein Mensch kapiert hat, w a s er eigentlich wollte. Du seist ruhig und sachlich geblieben, meinten sie, und es sei alles sehr logisch gewesen. Aber jetzt w a s anderes: Wie sieht es mit dem Computer-Schnellkurs aus, den du mir versprochen hast?" „Das geht klar. Du brauchst mir nur zu sagen, w a n n du Zeit hast." „Gleich heute nach der Schule?" „Du hast Glück. Normalerweise habe ich dienstags ja Training, aber heute ist unser Trainer auf irgendeiner Konferenz. Das heißt, ich hab Zeit für dich," Auf dem Weg zum Haus der Haies sagte Janet zu Dennis: „Es ist schön hier, findest du nicht auch? Ich bin hier geboren und hab nie woanders gewohnt. Und auch w e n n ich später mal viel reisen möchte, weiß ich docn, oap ich immer wieder nach Ashton zurückkommen werde." „Ich bin ja erst seit ein paar Wochen hier", a n t w o r t e t e Dennis, „aber ich w ü r d e schon sagen, daß es sich in Ashton gut leben läßt." Er nahm ihre Hand, und sie gingen Hand in Hand weiter. „Ich fühl mich hier schon fast wie zu Hause." : Janet lächelte ihn an. „Das freut mich." Als die beiden wenig später in die Küche der Haies kamen, rief Dennis' Mutter: „Janet! Was für eine nette Überraschung." „Hallo, Mrs. Haie. Dennis will mir ein paar Computerspiele beibringen." „Prima." Mrs. Haie lächelte verschmitzt. „Hoffentlich bist du bald sow e i t , daß du ihn beim einen oder anderen Spiel schlägst. Sein Väter und ich schaffen das nämlich nicht." Sie stellte einen Teller mit frischgebakkenen Keksen auf auf den Tisch. ,,Hm, die riechen aber gut", sagte Janet. „Greif zu. Dennis, gibst du Janet ein Glas Saft." „Können wir das mitnehmen?" fragte Dennis, während er den Saft aus dem Kühlschrank holte. „Wir wollten gleich anfangen." „Klar. Paß aber auf, daß keine Krümel ins Laufwerk kommen." Dennis verdrehte die Augen und schenkte Janet ein Glas Orangensaft ein. „Komm, Ich führe dich ins Allerheiligste."
Sie folgte ihm über den Flur in ein Zimmer voller Gewehre. „Du lieber Himmel, w a s ist das denn? Bereitet ihr eine Revolution vor?" Dennis lachte. „Nein, das ist ein Hobby von meinem Vater. Eines seiner vielen Hobbys. Er ist ein echter Waffen-Freak und sammelt alles, w a s auch nur im entferntesten nach Donnerbüchsen aussieht. In dem Schrank da drüben sind auch ein paar Granaten." Vorsichtig t r a t Janet einen Schritt näher. „Das kannst du dir alles ein andermal anschauen", meinte Dennis. „Im Augenblick gibt es Wichtigeres." Er öffnete die Tür zu einem kleinen Erkerzimer. „Ich muß die Vorhänge zumachen, sonst sind die Grafiken auf dem Bildschirm so schlecht zu erkennen." Nachdem er die Vorhänge zugezogen hatte, rückte er einen Stuhl an den Schreibtisch, auf dem der Computer stand, „Dad und ich haben gestern abend erst gespielt. Es ist also alles bereit. Aber ich will dir trotzdem ein paar Basics erklären." In den nächsten paar Minuten erläuterte Dennis, w a s Floppy Disks und Joysticks sind, w ä h r e n d Janet Kekse f u t t e r t e und jede seiner Bewegungen mit ihren großen blauen Augen verfolgte. „Jetzt paß auf", sagte er schließlich und drückte auf eine Taste. Plötzlich wurde es auf dem Bildschirm lebendig. Raumschiffe erschienen, Kometen, Planeten. Überall blitzte und sprühte es. „Wow! Was hast du gemacht?" „Ich hab das Gerät nur eingeschaltet. Die Diskette sagt dem Computer, was er zu t u n hat. Das Spiel hier heißt ,Der intergalaktische Krieg 4 ." Schnell w a r e n beide so vertieft in das Spiel, daß sie jeglichen Zeitbegriff verloren. Janet w a r ganz erstaunt, als Mrs. Hale den Kopf durch die T ü r steckte und fragte, ob sie mit ihnen zu Abend essen wolle. „Wie spät ist es denn?" fragte Janet zurück. „Himmel! Und ich hab Mom gesagt, es wird nicht spät. Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Haie, aber heute geht es leider nicht." „Dann eben ein andermal. Dennis kann dich ja nach Hause fahren." „Ich hätte nie gedacht, daß Computer-Spiele so interessant sein könnten", meinte Janet wenig später im Auto. „Früher hielt ich die Typen, die den ganzen Tag Pac-Man spielen, für gehirnamputiert." „Sind sie auch, w e n n sie wirklich nichts anderes machen." Dennis fuhr aus der Einfahrt. „Alles mit Maß und Ziel, sagt mein Vater immer. Ich bin mal gespannt, wie es ist, in einem Fantasy-Spiel mitzumachen." Erschrocken sah ihn Janet an. „Du willst dich doch nicht e t w a mit Adrian und seiner Clique einlassen?" „Warum nicht?" Dennis wußte nicht, wie er Janets heftige Reaktion deuten sollte.
„Kennst du Adrian denn überhaupt?" fragte sie. „Weißt du, daß seine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen, als er noch s e h r klein w a r , und daß er von seiner T a n t e aufgezogen w u r d e ? Daß er ständig einen Haufen Geld h a t ? Daß niemand in Ashton es gern sieht, w e n n sein Sohn oder seine Tochter e t w a s mit ihm zu tun hat?" „Nein, d a s w u ß t e ich nicht", gab Dennis zu. „Aber für mich ist d a s kein Grund, ihn zu schneiden. Er t u t mir eher leid." J a n e t s Augen wurden immer größer. „Du e r s t a u n s t mich, Dennis Haie. Du bist mit Sicherheit der einzige in der ganzen Schule, dem Adrian Furolle leid t u t . Bitte laß dich nicht mit ihm ein." Dennis fühlte sich in die Ecke gedrängt. Er h a t t e Adrian schon zugesagt, am Freitag mitzukommen. „Versprechen kann ich nichts", meinte er deshalb ausweichend, „aber ich w e r d ' s mir überlegen." Ein p a a r Minuten s p ä t e r w a r e n sie bei J a n e t s Haus angelangt. „Sehen wir uns morgen?" fragte Dennis. ; „Klaro. Und danke für den Super-Nachmittag!"
Am Freitagnachmittag m a c h t e Dennis auf dem Heimweg von der Schule einen weiten Bogen um J a n e t s Haus. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, da er Geheimnistuerei haßte. Ihm w a r e n Ehrlichkeit und Offenheit seinen Freunden gegenüber immer sehr wichtig g e w e s e n . Aber J a n e t empfand Adrian gegenüber eine unheimlich s t a r k e Abneigung. Punkt halb vier fuhr Adrian in einem schwarzen J e e p die Auffahrt der Haies hinauf. „Gehört der dir?" fragte Dennis, als er sich auf den Beifahrersitz schwang. F a s t im selben Augenblick p r e s c h t e der Wagen auch schon wieder davon. Ja. Ein b e s s e r e s Auto gibt es nicht. Es klebt praktisch an der Straße. Deshalb hab ich meine T a n t e auch überredet, mir einen zu kaufen," „Deine T a n t e ? " „Ja. Sie ist mein Vormund. Meine Eltern sind tot. Ich w o h n e mit ihr im ? Hillbrook\ Das R e s t a u r a n t gehört ihr." „Oh, d a s t u t mir Seid. Das mit deinen Eltern, mein ich." In Adrians Stimme lag keinerlei Traurigkeit. Er sprach sehr nüchtern. „Ich w a r fast noch ein Baby damals." Dann w e c h s e l t e er abrupt d a s Thema. „Du bist dir hoffentlich darüber im klaren, w a s d a s bedeutet, w e n n die Clique dich okay findet und wir dich fragen, ob du in unseren Klub eintreten willst. Du zählst dann zu den wenigen auserwählten Personen an der High School, die einem exklusiven Zirkel angehören." Dennis warf Adrian einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob dieser sich
über ihn lustig m a c h t e . Doch dessen dunkle Augen w a r e n unverwandt auf die Straße gerichtet, und er lächelte nicht. „Unterschätze dieses Privileg nicht". „Wie heißt das Spiel, das ihr gerade spielt?" „Die große Jagd", a n t w o r t e t e Adrian ernst, „Du wirst beizeiten mehr darüber erfahren ~ möglicherweise. Es ist so ähnlich wie ,Die Höhle d e s Ungeheuers*. Das Spiel kennst du ja sicher/ 1 „Ja, "kenn ich", erwiderte Dennis. Natürlich kannte er „Die Höhle des Ungeheuers". An seiner alten Schule h a t t e n es ein p a a r Jungen gespielt, und die h a t t e n die ganze Sache auch sehr e r n s t genommen. Ais alter Fan von Science fiction — und Horrorgeschichten h a t t e ihn der Gedanke, einmal selbst mitzuspielen, schon immer gereizt. Doch von seinen Freunden in Connecticut h a t t e sich keiner für Fantasy-Rollenspiele interessiert:. J e t z t sollte er seine Chance bekommen — falls die Gruppe ihn akzeptierte. Nur; wollte er überhaupt zu Adrians Clique gehören? „Wohin fahren wir?" „Zu Waiiing Rocks.— den heulenden Felsen. Nie gehört?" „Trotzdem w u n d e r t es mich, daß dich noch niemand davor g e w a r n t hat, zu den Felsen hinaufzugehen. Normalerweise ist d a s d a s e r s t e , w a s Neuzugezogene hier zu hören kriegen/ 4 „Warum?" Dennis Neugier wuchs von Sekunde zu Sekunde. „Wie weit ist es noch bis dahin?" „Nicht mehr weit. Wir haben uns den Platz ausgesucht, weil außer uns nie jemand hinkommt. Dort sind wir ungestört." Nach einem raschen Seitenblick auf Dennis fuhr er fort: „Die Leute sagen, der Platz sei verhext. Aber für unsere Zwecke ist er optimal." Plötzlich bog er von der Straße ab auf einen von tiefen Furchen durchzogenen Feldweg. „Halt dich fest!" rief er. Eine Weife fuhren sie schweigend weiter, bis sie zu einem offenen Lieferwagen kamen, der am Wegrand abgestellt war. „Die anderen sind schon da", erklärte Adrian. Nach ein paar hundert Metern hügelaufwärts hielt er an. „Weiter können wir nicht fahren. Den Rest müssen wir zu Fuß machen/ 9 Er d e u t e t e auf eine große Reisetasche auf dem Rücksitz. „Bring die mit." Seine herrische Art ä r g e r t e Dennis, doch er w a r entschlossen, sich die Laune nicht verderben zu lassen. Zuerst wollte er mehr über Adrian und d a s Spiel erfahren. . ' Die T a s c h e w a r ziemlich schwer. „Was ist denn da drin?" wollte er wissen, als sie nebeneinander durch den Waid gingen. „Ach, bloß unsere Umhänge und s o n s t noch ein paar Sachen, die wir für d a s Spiel brauchen/ 8
Die beiden Jungen kletterten über Felsen, stiegen über abgebrochene Äste und gingen über einen dicken Teppich aus welken Blättern und Kiefernnadeln. Dennis fiel auf, daß die Bäume alle recht niedrig und verkrüppelt w a r e n . Trotzdem ließen sie die Sonne kaum durch. Keine Kaninchen hoppelten über den Weg, und kein einziges Eichhörnchen huschte die S t ä m m e hinauf. Überhaupt w a r nichts zu hören von den üblichen Geräuschen. Dennis p a c k t e plötzlich eine unerklärliche Angst. Nach ein paar Minuten blieb Adrian plötzlich s t e h e n und verkündete: „Hinter der Wegbiegung hängt ein elender V e r r ä t e r von G'nath. Wir haben den Kerl erwischt und ihn seiner gerechten Strafe zugeführt. Ein lausiger Tod, gehängt zu w e r d e n . Erschrick nicht." Er m a c h t e Dennis ein Zeichen, vor ihm um einen riesigen Felsbiock herumzugehen. Trotz der Warnung blieb Dennis nach zwei Schritten wie angewurzelt s t e h e n . Ihm bot sich ein schauerlicher Anblick. An dem verkrüppelten Ast einer Kiefer baumelte ein Mann. Die Hände w a r e n ihm aur dem Rücken zusammengebunden worden. Seine Kleider hingen in Fetzen an ihm hierunter. Das Gesicht w a r tief dunkelrot, fast schon schwarz. Eine dunkelrote Zunge hing aus dem offenen Mund. Die Augen w a r e n weit aufgerissen und s t a r r auf Dennis gerichtet. Dennis blieb fast d a s Herz s t e h e n . Er schrie auf, m a c h t e blindlings einen Schritt zurück und stolperte dabei über einen Stein. Als er sich wieder aufgerappelt h a t t e , w a r sein e r s t e r Gedanke, davonzulaufen, und zwar so schnell wie möglich. Sein zweiter war, die Polizei holen, Hilfe holen, irgend e t w a s tun. Doch bevor er sich umdrehen und weglaufen konnte, w a r Adrian an seiner Seite. Mit einer Hand packte er ihn fest am Arm, mit der anderen zeigte er auf den Gehängten. „Sprich, Verräter!" rief er. „Erzähle unserem edlen Freund, welchen Verbrechens du dich schuldig gemacht hast!" Ein röchelnder, krächzender Laut kam aus dem Mund der Leiche, Dennis s t a n d e n buchstäblich die Haare zu Berge, als sie anfing zu sprechen. „Ich habe G'nath v e r r a t e n . Ich betrog meine Mitbrüder im Tal von Midron auf der Suche nach dem großen Edelstein, der auf dem Grund der Erde liegt." Mit angehaltenem Atem lauschte Dennis. „Sie haben mich gehängt als Warnung für alle, die dieses heilige Tal betreten." Adrian ließ Dennis' Arm los und s a g t e ruhig: „Komm, hilf mir, ihn abzuschneiden." Er ging hinüber zu dem Baum, an d e m die Leiche sacht im Wind hin und her s c h w a n g . Mit einer einzigen raschen Bewegung griff er hinter den B a u m s t a m m , zog an dem Strick und löste den Knoten. Der leblose Körper fiel auf den Boden und rollte Dennis direkt vor die Füße. Dann s e t z t e die Leiche sich auf und grinste ihn an.
3.KAPITEL
Dennis stand da wie vorn Donner gerührt und schaute auf die „Leiche", die vor ihm auf dem Boden saß und grinste. Er wußte nicht, ob er lachen oder wütend werden sollte, Adrian nahm ihn am Arm. „Darf ich dir Pete Woodward vorstellen?" fragte er. „Du bist mir ganz: schön auf den Leim gegangen, w a s ? " Pete lachte, während er sich die Fesseln von den Händen streifte und den Kopf aus der Schlinge zog. „Wir wollten dich standesgemäß willkommen heißen." „Wir bemühen uns immer, alles so realistisch wie möglich zu machen", ergänzte Adrian. „So macht es mehr Spaß, findest du nicht auch?" Dennis nickte. Er beobachtete Pete, der gerade sein Hemd ausgezogen hatte. Um seinen Brustkorb lief ein zweites Seil unter den Achseln durch. Es war auf dem Rücken geknotet. Ein Ende hatte hinten aus dem Hemdkragen herausgeschaut und war an die Schlinge geknüpft gewesen. Das hatte den „Gehängten" so echt wirken lassen. Lachend ließ Dennis sich auf einem Baumstumpf fallen. Schließlich sah er auf und sagte: „Ihr seid wirklich unglaublich! Das war in dieser Art das Verrückteste, w a s ich je gesehen hab." „Adrian ist Experte in solchen Sachen", erwiderte Pete. Er versuchte gerade, sich die schwarzrote Farbe vom Gesicht zu wischen. „Hat's tatsächlich echt ausgesehen?" „Und ob. Ihr habt.mich ganz schön reingelegt. Aber du hast auch Nerven. Ich weiß nicht,, ob ich so was machen könnte. Wahrscheinlich müßte ich ständig daran denken, was wohl passieren würde, wenn sich der Knoten vorn Halteseil irgendwie löst." Ein Schatten huschte über Adrians Gesicht. „Kommt, gehen wir rauf zu den Felsen, damit Dennis sieht, wo der eigentliche Schauplatz unseres Spiels ist." Damit nahm er Dennis wieder am Arm und führte ihn weg von dem Galgenbaum. .Nach ungefähr 300 Metern kamen sie zu einer Lichtung. „Hier sind wir", verkündete Adrian. „Die Wailing Rocks." Dennis schaute sich um. Einen verhexten Platz hatte er sich eigentlich anders vorgestellt,' obwohl er schon etwas Unheimliches hatte. Alle Bäume und Pflanzen ringsum waren abgestorben. Es war fast so, als
habe v o r langer Zeit einmal ein. schreckliches Feuer g e w ü t e t , v o n d e m sich die N a t u r nicht w i e d e r erholt h a t t e . A u f der Lichtung h o c k t e n drei Jungen in dunklen Kapuzenumhängen. Als Dennis, Adrian und Pete aus d e m Wald h e r a u s t r a t e n , s t a n d e n sie auf. „Meine H e r r e n " , s a g t e Adrian feierlich, „das ist Dennis Haie, der möglic h e r w e i s e bald u n s e r e m Club angehören w i r d . Dennis, das ist Bob Schumacher." Er zeigte auf einen e t w a s u n t e r s e t z t e n blonden Jungen, dann auf einen kleinen d r a h t i g e n , der Dennis angrinste, „Mike Haskell. Und das ist B r a d T u r n e r . " B r a d , mittelgroß und nicht gerade schlank, hob die Hand Gruß. „Hallo. F r e u t mich, euch kennenzulernen", s a g t e Dennis und stellte beim Händeschütteln beruhigt f e s t , daß die drei Jungen anscheinend ziemlich normal w a r e n . Zumindest schienen sie die Sache nicht ganz so ernst zu nehmen wie Adrian. „ H a s t du schon mal ,Die Höhle des Ungeheuers* gespielt?" w o l l t e Mike Haskell w i s s e n . „Nein, aber ich habe eine Menge Computerspiele dieser A r t und k e n n mich ein bißchen aus m i t Science fiction and Fantasy." „Heißt das, du h a s t einen eigenen C o m p u t e r ? " f r a g t e Brad ungläubig. „Na j a , eigentlich g e h ö r t er meinem V a t e r , aber ich kann ihn benutzen, w a n n i m m e r ich m ö c h t e . " „ W o w ! " M a r k sah ihn neidisch an. „Meinst d u , w i r k ö n n t e n auch mal ..."
„Okay, Leute", u n t e r b r a c h ihn Adrian. „Wir sind hier, um ,Die große Jagd` zu spielen, und nicht, um über Computer zu reden." Er s c h a u t e v o n einem z u m andern. „Gehe ich richtig in der A n n a h m e , daß ihr alle e i n v e r s t a n d e n seid, w e n n Dennis unserem Club b e i t r i t t ? " Ohne eine A n t w o r t a b z u w a r t e n , w a n d t e er sich an Dennis und f r a g t e : „Dennis, s c h w ö r s t du, über das, w a s w i r hier t u n , äußerstes Stillschweig e n zu wahren?" „Schon, aber v o r h e r h ä t t e ich gern g e w u ß t , w o r u m es ü b e r h a u p t g e h t . " Dennis w a r e t w a s skeptisch. „Oh, keine A n g s t , w i r t u n nichts Illegales, falls du das meinst. Wir mac h e n einfach nur — Rollenspiele." „ D a n n ist es o k a y . " „Gut. Und w a s h ä l t s t d u v o n d e m Platz? Genau die r i c h t i g e A t m o s p h ä r e , findest du nicht auch? Die anderen w o l l t e n zuerst nicht so r e c h t , aber j e t z t gefällt es ihnen hier." Die Jungen n i c k t e n z u s t i m m e n d , w e n n auch ohne allzu große Begeisterung . Dennis s c h a u t e sich u m , Dabei fiel ihm eine schmale Öffnung z w i s c h e n
zwei Felsblöcken auf, welche die Lichtung auf einer Seite begrenzten. Adrian war seinem Blick gefolgt. „Wie ich sehe, hast du unsere Höhle entdeckt. Du hast gute Augen. Komm mit." Er drehte sich um, doch dann fiel ihm noch etwas ein. „Zuerst müssen wir unsere Kultgewänder anlegen." Damit griff er in die Reisetasche und zog einen langen dunkelblauen Umhang heraus wie den, den die anderen Jungen trugen. Er reichte ihn Dennis, griff noch einmal hinein und brachte einen schwarzen, mit Silberfäden bestickten Umhang zum Vorschein. Den zog er sich selbst über, schlug die Kapuze hoch - und war plötzlich wie verwandelt. Dennis kam er vor wie ein Priester aus längst vergangenen Zeiten. Er schaute an seinem eigenen Umhang hinunter und fragte sich, wer ihn wohl entworfen hatte. „Ich hab nicht gedacht, daß Rollenspiele so aufwendig sind", sagte er. „Wir versuchen eben immer, alles möglichst realistisch zu machen", antwortete Adrian. „Aber jetzt komm und trete ein in die heilige Halle von Rothenor, dem Hüter uralter, verborgener Geheimnisse. Komm und sieh das Tor zum Unbekannten." Er gab Dennis eine große Taschenlampe. Die anderen Jungen zogen ebenfalls Taschenlampen unter ihren Umhängen hervor. Da sie beide groß waren, mußten Dennis und Adrian halb durch die niedrige Öffnung im Fels kriechen. Die dunkle Höhle selbst war geräumiger, so daß sie sich wieder aufrichten konnten. Im Licht der Taschenlampen versuchte Dennis, sich in dem großen Raum zu orientieren. „Wow!" sagte er schließlich. „Das ist ja Wahnsinn!" Die Höhle war hoch und rund mit einem Durchmesser von ungefähracht Metern. Die Wände gingen etwa zwei Meter senkrecht hoch, bevor) sie sich zur Mitte wölbten, um eine Kuppel zu bilden, deren Mittelpunkt sich in der Dunkelheit fast verlor. Dennis ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Hände gleiten und entdeckte seltsame Zeichnungen. Sie erinnerten ihn an die Abbildungen von Höhlenmalereien in seinem Geschichtsbuch. Er trat näher, um sie genauer betrachten zu können - und wünschte, er hätte es nicht getan. Häßliche Monster mit langen Greifarmen und hervorquellenden Augen starrten ihn an. Angewidert schaute er weg. „Wie gefällt dir das hier?" fragte Adrian. Er hatte den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf den Boden gerichtet. i Im Mittelpunkt eines Kreises aus groben, seltsamen Ornamenten waren bizarre Einkerbungen zu sehen. Als Dennis genauer hinschaute,? würgte es ihn beinah. So etwas Abstoßendes hatte er noch nie gesehen. Es erschreckte ihn und machte ihn gleichzeitig aggressiv.
Er versuchte, die widerstreitenden Gefühle zu unterdrücken, und untersuchte das in den Boden geritzte Bild genauer. Es zeigte ein Wesen mit einem schlangenähniich aufgerollten Körper. Der Kopf w a r hoch aufgerichtet, bereit zum Angriff. Doch da hörte die Ähnlichkeit mit einer Schlange auch schon auf. Statt mit feinen Schuppen w a r die Unterseite des Bauches mit mehreren überlappenden Platten bedeckt wie bei einer Languste. Auf der Stirn saß ein einzelnes, riesiges Auge, und darunter klaffte ein Maul voll scharfer Zähne. Wirklich erschreckend w a r der Kreis von Fangarmen dicht unter dem Kopf, Man hatte den Eindruck, als w ü r d e n sie einen jeden Augenblick packen. „Woher k o m m t das?" fragte Dennis. Er hatte eine richtige Gänsehaut. „Das sind alte indianische Zeichnungen. Diese hier soll angeblich ein unirdisches Wesen darstellen, eine A r t Überbleibsel aus der Eiszeit. Es ist alles ziemlich kompliziert. Die Einzelheiten erzähl ich dir ein andermal." Adrian schaute auf seine Armbanduhr. „Zu viel mehr als der Einführungszeremonie werden w i r heute nicht kommen. Die Galgengeschichte hat doch mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich dachte." Er machte den fünf Jungens Zeichen, sich in einem engen Kreis um ihn herum aufzustellen. Während er zwei Kerzen aus der Reisetasche holte, verkündete er in feierlichem Ton: „Ich, Statthalter der Höhle und Gruhenwächter, rufe die Höhlengeister und Bewohner der Grube an. Mögen sie dich als ihren treuen Diener beschützen." „Wovon redet er eigentlich?" fragte Dennis im Flüsterton Pete Woodw a r d . „Was sollen die Geister und die Grube? Ich dachte, er sei lediglich der Höhlenmeister." „Oh, Adrian spielt das Spiel auf seine Weise", a n t w o r t e t e Pete. Er schaute zu Adrian auf, der gerade die Kerzen auf den Boden stellte. „Irgendwo ist es verrückt — aber nie langweilig." „Ruhe!" befahl Adrian. Er kniete sich vor das Wesen in dem Kreis. „Macht die Taschenlampe aus." Im Schein der Kerzen w i r k t e die Höhle noch unheimlicher. In dem flakkernden Licht schienen sich die Tiere an den Wänden zu bewegen. Die Jungen in den langen Umhängen schienen aus einer anderen Zeit zu stammen. Dennis konnte fast spüren, wie die Jahrhunderte sich verflüchtigten. Jetzt wußte er auch, weshalb die Jungen von diesem Rollenspiel so angetan w a r e n . Adrian breitete die Arme aus, legte die Hände auf den Kreis und beugte sich vor, bis seine Stirn den Boden berührte. „Ihr Götter von Llanor und M'dab!" rief er. „Gefürchteter Rothenor, Hüter der Tore zwischen den Welten, höre mich!" Dann senkte er die Stimme zu einem Flüsterton. „Wir, deine Diener, erweisen der großen Schlange Mogar unsere Hochachtung, Vernichter
der Erde, Wächter über die schwarzen Schächte und die verborgenen Wege. Wir schwören dir ewige Treue." „Er ist wieder weggetreten", murmelte Bob Schumacher. „So w a s hab ich noch nie von ihm gehört." Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Dennis w a n d t e sich wieder Adrian zu. Dieser legte die Fingerspitzen in ein paar Einkerbungen neben dem Bild des Schlangenmonsters. Was er vor sich hinmurmelte, w a r nicht zu verstehen. Plötzlich hob er den Kopf und befahl: „Der Bittsteller möge an den Altar treten." Brad schob Denis v o r w ä r t s . „Er meint dich." Mit einer knappen Kopfbewegung wies Adrian Dennis an, sich hinzuknien.. Dieser zögerte kurz, dann kniete er sich Adrian gegenüber in den Kreis. Sein Magen krampfte sich zusammen, und einen Augenblick lang spürte er den dringenden Wunsch, aufzustehen und aus der Höhle hinauszulaufen. Ruhig Blut, sagte er sich. Wenn dir die Sache nicht benagt, kannst du später immer noch aussteigen. Mach dich jetzt nicht lächerlich. „Wir suchen das Auge Mogars, einen riesigen Edelstein, gestohlen vor vielen Jahrhunderten v o m Altar des schwarzen Gottes. Da w i r auf unserer Jagd nach dem Stein der Hilfe des Bittstellers bedürfen, muß der Bittsteller zuerst Mogars Hilfe erflehen." Adrian schaute Dennis in die Augen. Dieser wollte sich zuerst abwenden, doch dann riß er sich zusammen und hielt dem Blick stand. „Leg deine Hand auf das Bild. Spüre seine Kraft. Spüre, wie die Kraft auf dich übergeht. Berühre es und spüre es!" Dennis legte die Handfläche auf die Einkerbungen. Eine seltsame Kälte breitete sich in seiner Hand aus. Fast hätte er sie zurückgezogen, doch dann sah er, daß Adrian ihn scharf beobachtete. Vielleicht ist das wieder einer seiner Tricks, dachte er und zwang sich, die Hand auf dem Boden liegenzulassen. „Spür die Kraft!44 rief Adrian. „Spür den Hunger Mogars! Wir müssen ihm den Edelstein zurückgeben." Während Dennis die Hand auf den Boden drückte, schossen ihm Gedanken und Bilder durch den Kopf, die er nicht kontrollieren konnte. Es w a r , als sei er besessen. Er hatte das Gefühl, von einer unsichtbaren, magnetischen Kraft hinuntergezogen zu werden in ein riesiges Höhlenlabyrinth. Unter größter Willensanstrengung zog Dennis die Hand zurück, und das Gefühl verschwand. Er schrak auf. Adrian beobachtete ihn lächelnd. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er hatte den Eindruck, als wisse Adrian fast genau, w a s in seinem Kopf vorging.
„Du h a s t die Kraft gespürt", s a g t e Adrian. Es w a r keine Frage, sondern eine Feststellung. Die dunklen Augen blitzten im Schein der Kerzen. Dennis rieb sich die Hände, sie w a r e n immer noch kalt. „Die Einführungszeremonie ist vorüber", v e r k ü n d e t e Adrian, blies die Kerzen a u s und stand auf. „Dennis, du bist nun einer von uns."
Eines s t a n d fest, d a s W e t t e r w a r für diese Jahreszeit viel zu kalt. Dennis w a r froh, daß er seinen w a r m e n Trainingsanzug angezogen h a t t e , bevor er am Samstagnachmittag zu seinem Geländelauf g e s t a r t e t w a r . Er s c h a u t e sich um. Die Landschaft w a r zweifellos wunderschön. Wie geschaffen für solche Läufe. Und die kalte Luft s t ö r t e ihn nicht. Die „Einführungszeremonie" vom Tag zuvor h a t t e ihn ziemlich fertiggemacht. Beim Laufen bekam er immer einen klaren Kopf, und er hoffte, daß es auch diesmal der Fall sein w ü r d e . Plötzlich stellte er fest, daß ihm das Gelände ringsum v e r t r a u t w a r . Klar, dachte er, hier sind wir g e s t e r n abend längsgefahren. War er rein zufällig hier gelandet, oder h a t t e sein Unterbewußtsein ihn hierher geführt? Obgleich ihm nicht wohl w a r bei dem Gedanken, beschloß er, zu den Wailing Rocks hinaufzulaufen, um sie noch einmal in aller Ruhe zu untersuchen. In einem nicht zu schnellen Tempo folgte er der Straße, bis er zu dem schmalen Weg kam, der durch den Wald direkt zu den Wailing Rocks führte. In dem hohen Laub zu laufen, wurde w e g e n der darunter verborgenen Wurzeln und Steine bald unmöglich. Er kam nur noch langsam voran. Hinter dem e r s t e n großen Felsblock fand er auch den Pfad zu der Lichtung wieder. Der Wald schien noch stiller und unheimlicher, die Bäume noch verkrüppelter als am Tag vorher. Als er kurz hinübersah zu der Kiefer, an der die „Leiche" gehangen h a t t e , mußte er grinsen. Der Trick w a r nicht schlecht g e w e s e n . Dann ließ er den Wald hinter sich und t r a t auf die Lichtung. Sie h a t t e die Form eines Hufeisens. Seltsam geformte Felsbrocken lagen verstreut auf dem Platz wie Murmeln, die einem längst v e r g e s s e n e n Riesen gehört h a t t e n . Der Stein w a r von Granitadern durchzogen. Ein flaches Felsstück w a r auf der Oberseite mit eingekerbten Symbolen übersät. Die Stille und Abgeschiedenheit m a c h t e n Dennis zu schaffen, doch seine Neugier w a r größer, und so blieb er. Selbst an einem so klaren Tag wie h e u t e kommt kaum Sonne hierher, dachte er, w ä h r e n d er sich auf einen Felsblock s e t z t e und sich umsah. Der Wind frischte auf, alles schien von einer Kälte überzogen. Dennis war, als höre er ein leises Summen a u s der Richtung, wo die Höhle lag.
Als er sich dahin umdrehte, fiel sein Blick sofort auf den Eingang der Höhle. Und da bemerkte er etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Von der Stelle, an der er saß, w a r die Öffnung kaum zu sehen. Eine ganze Weile starrte er hinüber. Er sah aus, als habe jemand einen ganzen Berg Felsbrocken davorgeschoben, um den Höhleneingang zu schließen oder zu verbergen oder sonstwas. Dennis schauderte, ob von dem letzten Wind oder weil er allein an diesem unheimlichen Platz saß, wußte er nicht zu sagen. Entschlossen sprang er auf und machte sich auf den Weg zurück durch den Wald, Von Erkundungsgängen hatte er vorerst genug. Jetzt: wollte er laufen, und zwar noch ein ganzes Stück. Ais Dennis wieder auf der Straße war, fiel ihm auf, wieviel w ä r m e r es hier unten w a r im Vergleich zu der Lichtung bei den Felsen. Er begann zu laufen und merkte bald, wie sein Kreislauf in Schwung kam und sein Kopf klarer wurde. Schon nach wenigen Minuten dachte er nicht mehr an die Wailing Rocks. Da er plötzlich großen Durst hatte, sah er sich nach einem Bach oder einer Quelle um. Dabei entdeckte er in einiger Entfernung auf der linken Seite der Straße ein Haus und beschloß, hinzugehen und um ein Glas Wasser zu bitten. Die Farm sah unbewohnt und heruntergekommen aus. Einer der Torflügel knarrte erbärmlich und brach fast aus den Angeln, als Dennis ihn auf„Hallo", rief er. „Ist jemand da?" Er w a r ziemlich erschöpft» Erst jetzt fiel ihm auf, wie tief die Sonne schon stand. Eigentlich hätte er sich schleunigst auf den Heimweg machen"sollen, doch sein Durst w a r so groß, daß er über den Hof zur Haustür ging. Er wollte gerade klopfen, als er hinter sich eine brummige Stimme fragen hörte: „Was willst du hier, Junge?" „Oh!" entfuhr es Dennis. Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand ein weißhaariger alter Mann in Arbeitskleidung und mit einer spekkigen Baseballmütze auf dem Kopf. In der Hand hielt er eine verdreckte' Schaufel. Mit gerunzelter Stirn schaute er Dennis mißtrauisch an, „Ich hab dich gefragt, w a s du hier willst, Junge. Bist: du taub?" „Nein, nein. Ich wollte Sie nur um ein Glas Wasser bitten." Dennis v e r suchte ein Lächeln. „Wasser? Das kannst du haben, denke ich. Komm hier entlang", sagte der Mann und deutete auf die Rückseite des Hauses. „Dachte schon, du willst für w a s sammeln. Geld hab ich nämlich keins übrig." Er führte Dennis ein paar ausgetretene Stufen hinauf. „Geh schon rein
in die Küche und hol dir w a s zu trinken. Ich bring die Schaufel hier w e g " In der Küche fand Dennis ein Glas und füllte es mit Wasser a u s dem Hahn. Er h a t t e g e r a d e den e r s t e n Schluck getrunken, da kam der alte Mann herein. „Das b e s t e W a s s e r weit und breit. Mein Großvater hat den Brunnen selbst gegraben." Er zog sich einen Stuhl heran und s e t z t e sich. „Hab dich nie in der Gegend gesehen." „Wir wohnen auch noch nicht lange hier. Ich bin Dennis Hale." „Frisch hergezogen, wie? Was macht dein V a t e r ? Dachte immer, die jungen Leute ziehen w e g von kleinen S t ä d t e n wie Ashton, und ihr zieht her." „Mein V a t e r ist Dozent am College." „College-Lehrer, hm." Der alte Mann schnaubte. „Hab nie w a s mit dem College am Hut gehabt, brauch kein College als Farmer. Wir S t a r k s sind schon fast 200 J a h r e auf diesem Grund und Boden." Unvermittelt s t r e c k t e er die Hand a u s . „Cal Stark, mein Name. Wie bist du hergekomm e n ? Ich hab kein Auto und kein Fahrrad gesehen. Was m a c h s t du hier?" „Ich bin gelaufen." „Gelaufen? Ist w e r hinter dir her?" fragte Stark mißtrauisch. „Nein, nein. Sie haben mich falsch verstanden." Dennis mußte ein Lachen unterdrücken. „Ich bin einfach nur gelaufen, als Sport." Anges t r e n g t überlegte er, wie er dem Mann seine Lauferei erklären könne, „ich bin in der Schulmannschaft für Geländelauf und hab ein bißchen trainiert." „Ach so. Die Art von Laufen." Mit einem lauernden Blick fuhr Stark fort: „Wo bist du rumgelaufen? Es gibt bloß Berge hier." „Oh, ich w a r oben an einem Platz, der Wailing Rocks heißt. Da hab ich mich ein bißchen hingesetzt und ausgeruht." Daß er mit Adrian und seinen Freunden am Tag zuvor schon einmal d a g e w e s e n war, s a g t e er natürlich nicht. Mr. Stark w u r d e blaß. Kerzengerade saß er plötzlich auf seinem Stuhl. „Was suchst du an einem Ort wie dem da?" Wieder runzelte er die Stirn. „Wenn dein Dad ein College-Lehrer ist, müßte er eigentlich wissen, daß er dich da nicht rauf lassen darf." Er m a c h t e eine P a u s e , bevor er fortfuhr: „Weißt du, w a r u m sie heulende Felsen heißen? J e d e Wette, du weißt es nicht. Sie heißen so w e g e n der Töne, die von da kommen. Böse Geister gibt's da. Arg böse." Ein Schauer überlief Dennis. Der alte Mann lehnte sich wieder zurück und kicherte. „Na ja, wahrscheinlich bist du alt genug, um mit den rneis t e n Geistern fertig zu werden, aber bei denen oben in den Bergen weiß ich nicht recht."
„Hm . . ." machte Dennis. „Du mußt mächtig aufpassen, wohin du trittst. Da oben gibt's 'ne Menge Höhlen und Löcher im Boden. Du könntest reinfallen, und keiner wird dich finden. In hundert Jahren nicht — wenn dann überhaupt noch was zu finden war." Um endlich auf ein anderes Thema zu kommen, fragte Dennis: „Leben Sie allein hier, Mr. Stark?" In der Küche war ein schreckliches Durcheinander, und außer ihnen beiden schien niemand im Haus zu sein. „Natürlich leb ich allein. Oder hast du hier noch jemand anderen gesehen außer mir?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der alte Mann fort: „Nenn mich Cal, Kein Grund, formell zu sein." „Okay, Cal. Aber jetzt muß ich weiter. Meine Mutter reagiert ziemlich sauer, wenn ich bis zum Abendessen nicht daheim bin: Danke auch für die Erfrischung, die» hat gutgetan." Als Dennis sich zur Tür wandte, stand der alte Mann auf und kam ihn nach. „Sag deiner Ma einen schönen Gruß und daß sie stolz sein kann auf ihren Sohn. Nur macht er Sachen, die er nicht machen sollte. Zu den Wailing Rocks gehen, zum Beispiel. Und sag ihr, sie soll vorbeikommen, wenn sie Eier und Schinken braucht. Der beste in der ganzen Gegend. Und billig dazu." Er schaute zum Himmel hinauf. „Der hundertjährige Kalender sagt, daß wir einen strengen Winter kriegen. Ich weiß das auch ohne Kalender. Das spür ich in den Knochen." Der alte Mann hatte Dennis bis an die Straße begleitet. Plötzlich blieb er stehen und. sah hinauf zu den Bergen, von denen Dennis gekommen war. „Was ist?" fragte Dennis. . „Pssst." Cal legte den Finger an die Lippen. Mit angehaltenem Atem stand Dennis neben dem alten Mann und wartete. Und dann hörte er es. Der Wind brachte ein hohles, unheimliches Stöhnen mit. Es klang unendlich traurig. Dennis spürte, wie sich die Härchen im Nacken aufstellten. Das Stöhnen wurde lauter. Cal packte ihn an der Schulter. „Jahrelang hab ich das nicht mehr gehört", sagte er. „Was ist es?" fragte Dennis, obwohl er die Antwort im voraus wußte. „Die Wailing Rocks." Immer lauter würde das Jammern und Stöhnen, bis Dennis es kaum noch aushielt. „Aufhören!" schrie er. Der Schrei kam als Echo von den Bergen zurück: . . . hören . . . hören , . . hören. Und das Heulen hörte tatsächlich auf. Cal sah den Jungen von der Seite her an. „Komm, ich fahr dich nach Hause. Es wird schon dunkel."
4. KAPITEL „Oh, Dennis, ich w ü r d e am Freitag unheimlich gern mit dir ins Kino gehen, a b e r ich muß arbeiten." Dennis seufzte. Es w a r Dienstag, und er h a t t e geglaubt, d a s sei früh genug, um mit J a n e t eine Verabredung fürs Wochenende zu treffen. „Wie ist es mit S a m s t a g ? Arbeitest du da auch?*8 Einen Augenblick lang überlegte Janet, dann strahlte sie. „Nein, da hat Mom mir freigegeben." „Also, wie sieht's a u s ? Hast du Lust?" „Hab ich." Lächelnd nahm Dennis ihre Hand und zog J a n e t in Richtung Cafeteria. „Stinkt dir die Arbeit im R e s t a u r a n t nicht manchmal?" fragte er. „Doch, manchmal schon. Aber ich halte es einfach für meine Pflicht, mitzuhelfen. Mom und Dad arbeiten beide sehr hart, ich käme mir richtig schäbig vor, wenn ich sie hängenlassen w ü r d e . Außerdem sollen wir einen strengen Winter kriegen. Das heißt, die Skisaison wird lang, und das wiederum b e d e u t e t , daß ich 'ne Menge für Liftkarten brauche," Sie lächelte ihr Grübchenlächeln, d a s Dennis so sehr mochte, „ich kann's kaum abwarten." Sie h a t t e n sich gerade mit ihren Tabletts an einen freien Tisch gesetzt, als Adrian Furolle auftauchte, „Ich möchte dich kurz sprechen, Dennis", s a g t e er. „Hat d a s nicht Zeit? Ich bin jetzt beschäftigt." „Oh, natürlich", a n t w o r t e t e Adrian übertrieben höflich, drehte sich um und ging w e g . Keine Frage, er w a r wütend. - Was soll's? d a c h t e Dennis. Nur weil ich in seinem Klub bin, hat er noch lange kein Recht, über mich zu bestimmen. J a n e t warf ihm einen besorgten Blick zu. „Willst du dich doch mit ihm einlassen?" fragte sie. „Ich laß mich auf gar nichts ein", w a r Dennis' ausweichende Antwort. „Dennis, bitte. Ich weiß, das hört sich komisch an, aber er hat e t w a s an sich, das mich fix und fertig macht. Ich kann's nicht erklären. Es ist wie d a s Gefühl, d a s man manchmal hat, w e n n man ein Zimmer betritt
und ganz sicher ist, daß man schon mal da war." „Dejä vu", meinte Dennis. „Nenn es, wie du willst. Das Gefühl hab ich jedenfalls bei Adrian. Als sei ich ihm in einem früheren Leben schon mal begegnet. Und es war keine schöne Begegnung." „Ich paß auf", versprach Dennis.
„Dennis! Dennis, für dich!" Langsam kam Dennis zu sich. Das war vielleicht ein seltsamer Traum gewesen. Er rieb sich die Augen und schaute auf die Uhr. Es war Samstagmorgen. Wer wollte ihn so früh schon sprechen? „Dennis?" „Sekunde, Mom, ich komme." Ächzend hievte er sich aus dem Bett und stolperte zum Telefon im Flur. „Hallo?" „Dennis? Hier ist Adrian, ich hab w a s Wichtiges mit Dir zu besprechen!" „Am Samstagmorgen um acht?" Adrian überging den Einwand einfach. „Ich habe dich zum Ersten Astrologen und Assistenten des Meisters ernannt und möchte ein paar Änderungen in der Spieldimension mit dir besprechen. Kannst du in einer Stunde zu mir kommen?" „Erstens schlafe ich noch, und zweitens hab ich keine Ahnung von Astrologie", erklärte Dennis ärgerlich. „Dann wach endlich auf. Wir sehen uns in einer Stunde." Damit hängte Adrian ein. Dennis stand im Flur und schaute ungläubig auf den Hörer in seiner Hand. Hätte ich bloß auf Janet gehört, dachte er. Möglich, daß Adrian nicht) ganz so verdreht ist, wie sie meint, aber wer mich Samstag morgens um acht anruft, kann nicht alle Tassen im Schrank haben. Langsam ging er in sein Zimmer zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Bald merkte er, daß er nicht mehr einschlafen konnte, und das ärgerte ihn. Erster Astrologe. Hm. Hörte sich gar nicht so schlecht an. Erfragte sich, ob Adrian wußte, daß man Horoskope über den Computer erstellen konnte. Die Neugier hatte ihn gepackt. Seufzend stand er auf, zog sich an und ging in die Küche. „Morgen, Dennis", begrüßte sein Vater ihn. „Die Pfannkuchen sind, gleich fertig." Mr. Hale stand am Küchentresen und rührte begeistert in einer Schüs-
sei mit Teig. Kochen gehörte ebenfalls zu seinen Hobbys. „Morgen, D a d , s a g t e Dennis. „Wo ist Mom?" „Die ist, kurz nachdem du den Anruf bekommen hast, verschwunden. Sie muß irgend e t w a s machen für den Klub, dem sie sich angeschlossen hat." Dennis' V a t e r s t e c k t e den Finger in den Teig und probierte. Ein genießerisches Lächeln ging über sein Gesicht. „Es ist schön, daß sie so schnell Kontakt gefunden hat. Ich hab mir für h e u t e auch eine Menge vorgenommen. Will Horrigan möchte sich meine Waffensammlung ansehen, und da soll j e d e s einzelne Stück glänzen, bis er kommt. Was h a s t du vor?" Dennis zuckte mit den Schultern. „Ich will nachher gleich rüber zu Adrian FuroIIe. Kann ich den Wagen haben?" Es e n t s t a n d eine kurze P a u s e , dann meint sein Vater: „Okay." „Heute abend auch?" fragte Dennis vorsichtig. „Ich hab eine Verabredung mit Janet." Mr. Haie seufzte. „Das Los der Väter von heute. Wenn deine Kinder groß werden, heißt d a s nicht, ein E r w a c h s e n e r mehr im Haus, sondern ein Auto weniger." Er lächelte Dennis an. „Klar kannst du ihn haben. Aber fahr vorsichtig." „Tu ich immer."
Helen Woodbridge, Adrians Tante, stand im Vorraum d e s G a s t h a u s e s , als Dennis dort ankam. Geistesabwesend zeigte sie auf eine breite Treppe. „Adrian ist in seinem Zimmer", s a g t e sie. „Zweiter Stock, dritte Türrechts." Damit v e r s c h w a n d sie in der Gaststube, gefolgt von zwei Frauen in weißen Schürzen. Rasch lief Dennis die Treppe hinauf und klopfte an Adrians Tür. Sie w u r d e sofort geöffnet, fast so, als habe Adrian direkt dahinter gestanden und hur auf ihn g e w a r t e t . „Komm rein. Schön, daß du pünktlich bist." Dennis wollte ihm g e r a d e sagen, daß er zuerst gar nicht h a t t e kommen wollen, da fiel sein Blick auf ein p a a r äußerst merkwürdige Gegens t ä n d e in dem Zimmer. Heiliger Strohsack! dachte er. Was ist bloß los mit dem Typ? Auf dem Schreibtisch s t a n d ein ausgestopfter Vogel mit mörderisch langem Schnabel, der auf eine ausgestopfte Maus einzuhacken schien. Daneben lag ein Totenkopf. Von einem Haken in der Decke hing ein Skelett, und auf dem Fenstersims lag auf gerollt eine ausgestopfte Schlange mit entblößten Giftzähnen. Es sah aus, als wolle sie jeden Augenblick zubeißen. P o s t e r und Karten mit P e n t a g r a m m e n und anderen okkulten Symbolen schmückten die Wände, und dazwischen hing eine ganze Kol-
fektion gefährlich aussehender Schwerter und Degen. „Kriegst du bei dem ganzen Zeug hier keine Alpträume?" fragte Dennis schließlich. „Überhaupt nicht. Ich jab jedes einzelne Stück mit Bedacht ausgesucht. Jedes erfüllt einen ganz bestimmten Zweck." Adrian nahm die Schlange in die Hand. „Die gehört zu meinen Lieblingsstücken. Meine Elt e r n haben sie aus Kolumbien mitgebracht, als ich klein war." Mit einem hintergründigen Lächeln sah er Dennis an, während der die Schlange streichelte. „Sag bloß nicht, daß dich die Sachen hier erschrecken. Von einem Poe-Fan hätte ich etwas mehr Begeisterung erwartet." „Es ist nicht gerade mein Stil, sagen wir mal so. Aber jedem das Seine." Dennis ging im Zimmer herum und betrachtete die einzelnen Stücke genauer. „Was sagt denn deine Tante dazu?" fragte er und holte ein Einmachglas mit Spinnen vom Regal. „Die k o m m t hier nicht rein, und die Kellnerinnen auch nicht." Wieder lächelte Adrian. „Nachdem ich sie einmal so richtig erschreckt hab, brauch ich j e t z t nicht mal mehr die Tür abzuschließen. Außerdem ist meine Tante so beschäftigt mit dem Restaurant und allem Drum und Dran. Die weiß nicht mal, daß ich hier bin." Es kam Dennis so vor, als läge eine Spur Bitterkeit in Adrians Worten. „Deshalb kann ich auch machen, w a s ich will", fuhr Adrian fort, holte den Totenschädel v o m Schreibtisch und schaute ihn fast liebevoll an. Schweigend beobachtete Dennis ihn. Adrian schien völlig vergessen zu haben, daß er da war. „Das hier sind alles'Symbole für,die Welt jenseits des menschlichen Verstandes", erklärte Adrian, während er den Totenkopf auf den Tisch zurücklegte. „Lovecraft wußte um diese Welt, eine Welt jenseits von Zeit und Raum." Llnvermittelt drehte er sich um und schaute Dennis an. „Eine Welt, in der fremde Wesen herrschen, und der Mensch nichts gilt — absolut nichts." Das letzte Wort hatte er fast gezischt. Er ging durchs Zimmer zu der Wand, an der die Degen hingen, nahm einen aus der Scheide und prüfte die Spitze am Finger. „Damit hat man Jungfrauen geopfert." Seine Augen glänzten. „Es gibt Zeiten, da muß man den Hunger der Alt e n stillen, den'Hunger der Geister, die in eisiger Tiefe wohnen . . . " Dennis fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Noch nie w a r ihm jemand begegnet, der Fantasy-Spiele so ernst nahm. Er fragte sich gerade, worauf Adrian eigentlich hinauswolle, als dieser sagte: „Deshalb möchte ich dem Spiel eine neue Richtung geben. Die Zeit, wo der Hunger der Alten gestillt werden muß, ist nah. Als Erster Astrologe ist es an dir, die Sterne zu befragen und mir zu sagen, wann es soweit ist." Erleichtert atmete Dennis auf. Dann w a r das alles nur die Einleitung ••Dir
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g e w e s e n zu der neuen Spielart, die Adrian einführen wollte. Hervorragend inszeniert, d a s mußte Dennis zugeben. „Ich w e r d e mich jetzt zurückziehen und sehen, w a s die S t e r n e zu dies e r Angelegenheit zu sagen haben", verkündete Dennis feierlich. „Meine Zaubermaschine" - normalerweise Computer genannt, fügte er in Gedanken hinzu — „wird mir dabei helfen. Sobald wie möglich w e r d e ich dir Bericht erstatten. 4 ' Adrian lächelte. Seine dunklen Augen blitzten. „Ich bin s e h r a n g e t a n von deinem Vorschlag. Vielleicht ist h e u t e abend schon die richtige Zeit." Die Verabredung mit J a n e t fiel Dennis ein. „Ich brauche mehr Zeit, Meister. Solche Berechnungen sind schwierig. Zuerst muß der Hunger der Maschine gestillt w e r d e n . Ich muß sie mit Informationen füttern, bevor sie meine Fragen b e a n t w o r t e t . " Die Art, wie Dennis seine Rolle spielte, gefiel Adrian. Seine Stimme nahm einen verschwörerischen Ton an, als er sich jetzt zu Dennis hinüberbeugte und s a g t e : „Du sollst es als e r s t e r wissen. Die große Jagd bekommt eine andere Dimension. Ich h a t t e eine Vision. Es ist nicht mehr der Edelstein, auch ,Auge d e s Mogar' genannt, dem wir nachspüren. Mit diesem Opfer beginnt die Suche nach Mogar selbst!" Verständnislos s c h a u t e Dennis ihn an. Noch w u ß t e er nicht genügend über d a s Spiel, daß es ihn gekümmert h ä t t e , ob sie nun hinter Mogars Auge oder hinter Mogar selbst her waren. Wenn Adrian die Spielregeln ändern wollte und die anderen damit einverstanden w a r e n , sollte es ihm recht sein. Adrian w a n d t e sich um. „Es ist offensichtlich, daß du die Bedeutung dieser Suche noch nicht v e r s t e h s t . Aber du wirst es bald v e r s t e h e n , Ers t e r Astrologe." Als er sich wieder zu Dennis hindrehte, h a t t e n seine Augen einen fast fiebrigen Glanz. „Du wirst sehen."
Janet b ü r s t e t e ihr wildes r o t e s Haar und überlegte dabei, ob sie eine Bluse oder den hellen Mohairpulli zu der neuen J e a n s anziehen sollte. Sie hielt sich beides vor dem Spiegel vor und entschied sich schließlich für den Pullover. Obwohl sie Dennis noch gar nicht so lange kannte, b e d e u t e t e er ihr doch schon s e h r viel. Während sie sich fertig m a c h t e , fragte sie sich, was sie eigentlich am liebsten an. ihm mochte. Er sah gut aus, w a r groß ein Segen, denn sie w a r einen Meter siebzig —, und er w a r intelligent und e r n s t — aber nicht zu ernst. Wenn sie ihn bei dem e r s t e n Besuch im R e s t a u r a n t nicht zu einer Cola eingeladen h ä t t e , h ä t t e n sie sich vielleicht nie kennengelernt, und d a s
w ä r e ewig schade gewesen. So wie er aussah, stand die halbe Schule auf ihn, und sie hätte wahrscheinlich nie eine Chance gehabt. Geistesabwesend steckte sie sich das Haar mit Spangen zurück. Dann fiel ihr ein, daß Dennis einmal gesagt hatte, er finde es schöner, wenn sie das Haar offen trug. Also entfernte sie die Spangen rasch wieder. Noch ein paar Bürstenstriche, ein bißchen Rouge auf die Wangen, und fertig w a r sie. Dennis hatte am Nachmittag angerufen, und sie hatt e n beschlossen, in die Sieben-Uhr-Vorstellung zu gehen. Jetzt w a r es viertel nach sechs. In einer Viertelstunde würde er kommen. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. War der Mohairpullover nicht zu edel fürs Kino? Vielleicht sollte sie lieber ein Sweatshirt anziehen, das w a r sportlicher, und sie hatte den Eindruck, Dennis stand auf sportliche Mädchen. Doch bevor sie sich noch einmal umziehen konnte, hörte sie die Türgiocke. „Du siehst super aus", sagte Dennis, als sie die Tür öffnete. „Der Pulli ist toll." „Deiner gefällt mir auch." Sie grinste. Auf dem Weg zu Dennis Wagen erklärte Janet: „Übrigens, falls du es noch nicht gehört haben solltest: In Ashton zahlt jeder für sich selbst. Das hat sich bewährt, denn so kann jeder das t u n und bestellen, w a s er will und w a s er sich leisten kann. Ich halte das für die beste Lösung. Du auch?" Inzwischen w a r e n sie beim Auto angekommen und stiegen ein. Dennis nickte. „Ja, das macht die Sache für beide Seiten leichter. Was hat Asht o n denn außer dem Kino noch zu bieten?" „Es gibt noch Schulfeten, aber meist hocken w i r einfach bei irgendw e m zu Hause, hören Musik und tanzen ein bißchen. Im Winter ist es auch schön, einfach nur am offenen Kamin zu sitzen und gar nichts zu tun." Als Dennis das Auto auf dem Parkplatz hinter dem Kino abstellte, sah er Adrians scharzen Jeep. Janet hatte ihn ebenfalls bereits entdeckt. „Wie ich sehe, ist der Verdrehte auch da", meinte sie. Erst im Foyer des Kinos merkte Janet, welchen Film sie sehen würden. „Wenn ich das gewußt hätte!" rief sie. „Ein amerikanischer Werwolf in London. Das hört sich ja grausig an." Dennis nahm ihre Hand. „Halb so schlimm. Ich habe den Film schon fünfmal gesehen. Er ist irre." „Irre, meinst du? Darunter verstehe ich aber was anderes." Nachdem sie die Eintrittskarten gekauft, hatten, holten sie sich noch eine Tüte Popcorn und zwei Dosen Cola. Dann gingen sie den Gang hinunter bis zur allerersten Reihe.
„Witzig, daß du auch gern vorn sitzt", s a g t e J a n e t . • „So hab ich d a s Gefühl, selber in Aktion zu sein", gab Dennis zu. „Auf dieses Gefühl könnte ich bei solchen Filmen locker verzichten." „Halt meine Hand, w e n n du Angst hast." „Wie großmütig du bist. B e s t e n Dank!" Sie schnitt ihm eine Grimasse und kuschelte sich dann in ihren Sitz. Langsam gingen die Lichter im Kino, a u s . Der Film begann. Als J a n e t und Dennis nach dem Kino mit ein p a a r anderen Jungen und Mädchen von der High School in der Pizzeria zusammensaßen, mußte Janet zugeben, daß sie an diesem Abend zum erstenmal einen Gruselfilm genossen h a t t e . Dann erzählte sie allen von Dennis' Computer und den Spielen, die er ihr beigebracht h a t t e . „Hey, Dennis", meinte einer der Jungen am Tisch, „hier haben sie ,Astro-Katastrophe\ Wie w ä r ' s mit. einem Spiel?" „Gern. Ich will nur e r s t meine Pizza e s s e n , bevor sie ganz kalt ist." Er schnitt ein großes Stück ab und s t e c k t e es in den Mund. Einen Augenblick s p ä t e r kamen Adrian, Mike und Brad in die Pizzeria. Sie s e t z t e n sich in eine Nische. Als Adrian Dennis sah, s t u t z t e er, dann nickte er. Dennis stand auf, um die drei Neuankömmlinge zu begrüßen. Außer ihm k ü m m e r t e sich keiner um sie. . J e t z t v e r s t e h e ich, weshalb der E r s t e Astrologe die Zeit für ein Treffen h e u t e abend nicht günstig fand", s a g t e Adrian kühl. Sein Tonfall schien die anderen zu irritieren. Sie vermieden e s , Dennis anzuschauen. „Jetzt'halt aber mal die Luft an, Adrian. Das hier h a t t e ich schon lange vorher ausgemacht. Außerdem hab ich dir doch gesagt, daß ich den Computer e r s t mit den nötigen Informationen füttern muß, w e n n ich ein gescheites Ergebnis haben will. Das geht schließlich nicht von allein, ich muß d a s auch e r s t nachlesen. Und ich frage mich, ob die ganze Sache überhaupt den Aufwand w e r t i s t . . . " Adrians Augen sprühten Funken. „Vielleicht h ä t t e n wir dich doch nicht in den Klub aufnehmen sollen." „Vielleicht", erwiderte Dennis. „Aber falls es dich'interessiert: ich hab last den ganzen Nachmittag an dem Programm gearbeitet, und wie es aussieht, ist morgen ein günstiger Tag." Mißtrauisch s c h a u t e Adrian ihn an. „Du h a s t es wirklich über den Computer g e m a c h t ? " „Ja. Wie gesagt, es hat. mich fast den ganzen Nachmittag g e k o s t e t . Das nächstemal geht es schneller. J e t z t ist ja alles . . . " Adrian ließ ihn nicht ausreden. „Gute Arbeit. Hervorragend, ich hol
dich um halb acht ab. Alles andere ist fertig, ich hab nur noch auf deine Entscheidung gewartet." „Okay. Aber jetzt muß ich jemanden bei .Astro-Katastrophe' schlagen. Wir seh'n uns morgen abend." Als Dennis zu Janet an den Tisch zurückging, schaute sie ihn fragend an. Bestimmt hätte sie gern gewußt, worüber er mit Adrian gesprochen hatte, doch das wollte er lieber für sich behalten. „Er ist wirklich nicht so schlimm, wie du denkst", begann er. „Ich hab doch gar nichts gesagt." Dennis lächelte. „Manchmal hab ich aber das Gefühl, ich muß ihn in Schutz nehmen." „Das ist deine Sache. Sag bloß später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." „Hey, Dennis", rief Alan, „Wie ist das nun mit dem Spiel, das du mir versprochen hast?" „Okay, aber nur eine Minute." Aus der einen Minute wurden zehn, und bald w a r eine halbe Stunde um. Eine Menge Leute standen um Dennis und Alan herum und schaut e n ihnen zu. Schließlich ging auch Janet zu ihnen hinüber. „Meinst du nicht, daß es langsam genug ist, Superman? Du hast ohnehin schon sämtliche Rekorde gebrochen." Dennis sah auf die Uhr. Das Spiel hatte ihn so in seinen Bann gezogen, daß er die Zeit darüber völlig vergessen hatte. „Heiliger Strohsack! Schon so spät. Wenn w i r uns jetzt nicht beeilen, kommst du zu spät nach Hause, und dann hab ich's bei deinen Eltern womöglich für immer versiebt." Janet lachte. „Auf fünf Minuten kommt's nicht an, aber du hast recht, w i r sollten trotzdem gehen." Während er seine Jacke anzog, sah sich Dennis noch einmal in der Pizzeria um. Adrian und die beiden anderen Klubmitglieder w a r e n bereits gegangen. Wenig später saß er mit Janet im Auto seines Vaters. Sie räusperte * sich. „Okay, ich wollte die Sache vor den anderen nicht ansprechen, aber wie kommt's, daß du so freundlich bist zu Adrian und seiner Clique?" „Moment mal, ich bin zu allen freundlich", meinte Dennis ausweichend. „In meinen Augen w a r das ein bißchen mehr als nur Freundlichkeit. Er w a r kaum zur Tür herein, da w a r s t du auch schon bei ihm." „Du hast gewonnen. Ich bekenne mich schuldig. Adrian hat mich gefragt, ob ich in seinen Klub eintreten will. Er hat mich sogar mit zu dem Ort genommen, wo sie die Rollenspiele machen. Wailing Rocks heißt er." „Da treffen sie sich?" rief Janet. „Daß sie in die Berge gehen, wußte
ich, aber zu den Wailing Rocks! Das hätte ich nicht gedacht." „Was ist damit?" „Da geht man einfach nicht hin. Niemand t u t das, zumindest niemand, den ich kenne. Fürchterliche Dinge sind dort schon passiert." „Zum Beispiel." „Ach, so genau weiß ich das auch nicht. Man redet nicht darüber. Hör zu, Dennis, w e n n du mir nicht glaubst, geh in die Bücherei und hol dir ein Buch über die Geschichte von Ashton. Oder noch besser: geh zu einem Mann namens Cal Stark. Das ist ein alter Farmer, der hier ganz in der Nähe wohnt. Er kann dir alles darüber sagen."
Cal Stark stand im Hof und sah sich aufmerksam um, Irgend etwas hatte seine Tiere aufgeschreckt. In der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen eine geladene Schrotflinte. Es w a r schon öfters vorgekommen, daß junge Leute ihm einen Streich gespielt hatten. In letzter Zeit hatte er zwar Ruhe vor ihnen gehabt, doch daß der Friede nicht ewig dauern würde, w a r ihm klargewesen. Er lauschte. V o m hinteren Ende der Scheune kam ein Geräusch. Die Schweine grunzten und quiekten ungewöhnlich laut, und die Hühner gackerten aufgeregt. Vielleicht w a r es nur ein Fuchs. Cal wollte es nicht zugeben, nicht einmal vor sich selbst, doch er I loffte, ein Fuchs möge der Störenfried sein. Nach ein paar Minuten hatten die Tiere sich wieder beruhigt. Cals Auftauchen hatte den Eindringling anscheinend vertrieben. Was allerdings r licht bedeutete, daß er nicht wiederkommen konnte. Fröstelnd zog Cal die abgewetzte Jacke enger um die Schultern. Für «'ine Oktobernacht w a r es ausgesprochen kalt. Er ging zum Haus zui uck. In letzter Zeit hatte er öfter daran gedacht, in die Stadt zu ziehen, wo er nicht so isoliert w ä r e . Doch hier auf der Farm hatte er sein ganzes l eben verbracht. Jetzt noch woanders hinzuziehen, brachte er nicht übersieh. Trotzdem wünschte er sich Gesellschaft. Der junge Hale zum Beispiel, DER da neulich mal hereingeschneit war, hatte ihm gefallen. Sich mit ihm zu unterhalten, hatte gutgetan. Langsann stieg Cal die Treppe hinauf, zog sich aus und legte sich ins Bett. Die alte Flinte lehnte er in Reichweite an die Wand. Für alle Fälle. Zwei Stunden später saß er wieder aufrecht im Bett. E t w a s hatte ihn aus. dem Tief schlaf gerissen. Was w a r passiert? In der Scheune schien der Teufel los zu sein. Mit einem Satz sprang Cal aus dem Bett, schlüpfte in ein Paar alte
Schuhe und griff nach der Schrotflinte. Es dauerte eine Weile, bis er die Taschenlampe gefunden hatte. Er stürzte die Treppe hinunter. Vor Kälte zitternd lief Cal über den Hof. Rauhreif überzog den Boden. Im Schein der Taschenlampe sah er den dunklen Streifen, wo kein Frost mehr w a r . Er folgte ihm in die Scheune hinein zu dem Hühnerstall. Ein Schrei entschlüpfte ihm. In einer Blutlache lag der Hahn - ohne Kopf. Cal wirbelte herum, als e r w a r t e er, den Mörder hinter sich zu finden. Niemand w a r zu sehen. Das steigerte nur seine Wut und Angst. Jetzt zitterte er nicht mehr vor Kälte, sondern vor Zorn. Das w a r kein Fuchs gewesen. Der Hahn w a r abgeschlachtet worden. Jemand hatte ihm den Kopf abgehackt. Cal hob den Kopf und schaute über die Felder und den Wald nach Norden, Er riß die geballte Faust hoch und stieß einen gellenden Schrei aus. Rasende Wut und blanker Horror lagen in dem Schrei, der sekundenlang als Echo von den Bergen zurückkam. In dem Wald in der Nähe von Cals Farm zog eine hochgewachsene Gestalt einen blutbefleckten Umhang aus und rollte ihn zu einem kleinen Bündel zusammen. Sie zog die ebenfalls blutigen Handschuhe aus und drückte sie in das Bündel. Dann holte sie eine Plastiktüte aus der Tasche und stopfte die blutigen Sachen hinein. In diesem Augenblick zerriß ein unmenschlicher Schrei die Stille des Waldes. Der Hochgewachsene verzog keine Miene. Nur die dunklen Augen glänzten. Durch die Bäume hindurch sah er, wie in dem Haus Licht anging. Er nahm den Sack auf, der vor ihm auf dem Boden gelegen h a t t e , und lief hinunter zur Straße, wo hinter einer Baumgruppe ein Jeep geparkt w a r . Er stieg ein, legte den Sack vor dem Beifahrersitz auf den Boden und verstaute die Plastiktüte unter seinem eigenen Sitz. Dann löste er die Handbremse und ließ den Wagen geräuschlos den Hügel hinunterrollen.
5. KAPITEL „Junge, ist das eine Kälte", sagte Dennis, als er sich am Sonntagabend in Adrians Jeep schwang. Mike und Bob saßen mit ihren Taschen auf der Rückbank. Zwischen ihnen auf dem Boden lag eine große Plastiktüte. „Wo sind Brad und Pete?" „Wir treffen sie im Wald", a n t w o r t e t e Adrian. Dennis schnüffelte angewidert. „Irgendwas stinkt hier. Ist einer von euch über einen Misthaufen gestiefelt und hat anschließend vergessen, sich die Schuhe abzuputzen?" Adrian kicherte. „Das ist komisch, Dennis, komischer, als du glaubst." Irritiert sah Dennis ihn an. „Was soll das heißen?" Adrian schaute stur geradeaus. Er schien sich ganz auf die Straße zu konzentrieren. Für Dennis W a r das nicht weiter verwunderlich. Inzwischen w a r er Adrians vieldeutige Bemerkungen gewöhnt. Er steckte den Kopf aus dem Fenster, um frische Luft einzuatmen. Erbarmungslos jagte Adrian den Jeep über die holprige Straße und brachte ihn an dem gewohnten Platz mit einer Vollbremsung zum Stehen. Dann drehte er sich auf seinem Sitz um. „Bob, du nimmst die Plastiktüte, Mike und Dennis, ihr bringt die anderen Taschen." Ohne eine A n t w o r t abzuwarten, stieg er aus und marschierte in Richtung Wailing Rocks. Die drei Jungen schauten sich an. Adrian schien irgendwie fiebrig erregt, fast noch stärker als sonst gefesselt von dem Spiel. Bob zuckte mit den Schultern. „Gehen wir", sagte er und nahm die Plastiktüte, wie ihm befohlen w o r d e n war. „Kommt, Jungs." Mit jedem Schritt den Hügel hinauf schien es kälter zu werden. Nachdem Dennis seinen Parka zugeknöpft hatte, w a r f er sich eine der Reisetaschen über die Schulter. Vor sich sah er den Schein von Adrians Taschenlampe, und er ließ seine eigene Taschenlampe über die Umgebung wandem. „Wenn jemand zufällig von unten hier heraufschauen würde, kamen w i r ihm wahrscheinlich ziemlich gespenstisch vor. Mit ein bißchen Fantasie könnte man unsere Taschenlampen für die Bordlichter eines Raumschiffs halten." Mike lachte. „Vielleicht sollten w i r als nächstes ein Weltraumspiel machen. Ich w e r d Adrian mal fragen, ob er eines kennt."
Als die drei Jungen auf die Lichtung t r a t e n , w a r t e t e n dort Adrian, Brad und Pete auf sie. Nachdem alle ihren Umhang übergezogen hatten, befahl Adrian ihnen, sich im Kreis um ihn herum aufzustellen. Dennis spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Im Kreis der anderen Jungen, alle angetan mit den langen Roben, fühlte er sich zurückversetzt in eine längst vergangene Zeit. Man konnte gegen Adrian sagen, w a s man wollte, er w a r ein ausgezeichneter Spielleiter. „Ich hatte eine Vision", begann Adrian. „Unsere Jagd gilt nicht mehr dem großen Edelstein, Auge des Mogar genannt/' Der Reihe nach schaute er die Jungen an. „In ihrer neuen Dimension ist sie von ungleich größerer Bedeutung - und weitaus gefährlicher. Jetzt sind w i r auf der Suche nach Mogar selbst, Mogar, dem gefürchteten Urwesen aus einer Zeit, als die ersten .Menschen die Erde besiedelten.48 Seine Stimme w u r d e zu einem Flüstern. Die Jungen mußten sich anstrengen, um ihn bei dem Rauschen des Windes noch zu verstehen. „Mogar, die große Schlange, die alle verschlingt, das Böse selbst, das immer noch mit Gott um die Seelen der Menschen ringt/ 8 Feierlich fuhr er f o r t : „Wir müssen ein Opfer bringen, damit er uns ein Zeichen gibt. Der Erste Astrologe hat festgestellt, daß heute abend die Sterne günstig stehen." „Vernichten w i r Mogar, wenn w i r ihn gefunden haben?" wollte Bob Schumacher wissen. Adrians Stimme klang wie das Zischen einer Schlange. „Idiot! Niemand kann Mogar vernichten. Wir werden ihm huldigen/ 8 Aus den Falten seines Umhanges brachte er eine TotenschädelMaske zum Vorschein und zog sie sich über den Kopf. Während er die Maske zurechtrückte, ging er über die Lichtung zum Eingang der Höhle. „Folgt dem Meister", befahl er. Bob nahm die Plastiktüte und ging als erster hinein. Die anderen folgten. Auf ein Zeichen von Adrian hin legte Bob die Tüte neben die Zeichnung auf dem Boden. Dann richtete Adrian seine Taschenlampe auf die hint e r e Höhlen w a n d . Überrascht bemerkte Dennis das kreisrunde Loch im Boden, das ihm vorher nie aufgefallen war. Adrian breitete die Arme über der Öffnung aus, „Großer Mogar", rief er, „damit du zum Menschen kommen kannst, opfern w i r dir das Tier." Er kam zurück, nahm die Plastiktüte und t r u g sie zu dem Loch. Mit dem Rücken zu den anderen zog er e t w a s aus der Tüte heraus. Einen blutverkrusteten Hahnenkopf. Rasch w a r f er den Kopf in das Loch. Einen Augenblick lang lauschte er, dann wandte er sich zu den anderen um. „Es ist vollbracht", sagte er feierlich.
„Was jetzt?" wollte P e t e wissen, „Wir sind es nicht w e r t , dem großen Mogar von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Er wird uns ein Zeichen geben, w e n n er bereit ist für das n ä c h s t e Opfer." „Soli d a s heißen, du h a s t uns h e u t e hier raufkommen lassen, bloß um e t w a s in d a s Loch zu schmeißen?" fragte Mike. „Ruhe!" donnerte Adrian. Mit der Totenkopfmaske vor dem Gesicht und der Kapuze über dem Kopf sah er fremd und bedrohlich aus. Es schien fast, als sei er selbst gar nicht mehr da, als sei e t w a s B ö s e s an seine Stelle g e t r e t e n . Keiner sprach mehr ein Wort. Stumm kniete Adrian sich vor die bizarre Zeichnung auf den Boden. Den anderen gab er ein Zeichen, es ihm nachzutun. Er murmelte e t w a s , das sie nicht v e r s t a n d e n , und hieß sie dann, wieder aufstehen. Auch er erhob sich, zog die Maske vom Gesicht und lächelte. Seine Augen glänzten fiebrig. „Wir können uns freuen", s a g t e er, „der große Mogar wird uns ein Zeichen geben." „Mensch, Adrian", meinte P e t e vorsichtig, „ich w u ß t e gar nicht, daß bei u n s e r e m Spiel auch Opfer und s o w a s vorkommen." Brad w u r d e deutlicher. „Wie steilst du dir das in Zukunft überhaupt vor? Willst du jetzt bloß noch Zeug hier rauf schleppen, w e n n es diesem Mogar einfällt, daß er Hunger haben könnte, oder geht die richtige Jagd endlich weiter?" Der Blick, den Adrian Brad zuwarf, sprach eine deutliche Sprache. Brad w u r d e blaß. „Sei vorsichtig und beleidige nicht den großen Mogar", s a g t e Adrian, Dann lächelte er. „Wir sind in eine neue P h a s e u n s e r e s Spiels eingetreten. Von nun an s t e h e n wir im Dienst dessen, der in den eisigen Höhlen unter diesem Berg wohnt. Dieses Wesen wird wiederkommen und die Menschheit daran erinnern, daß sie im Grunde böse ist. Wir s t e h e n im Dienst d e s großen Mogar, d e s Bösen an sich." Dennis fühlte sich äußerst unwohl. Die Sache mit dem ursprünglich Bösen h a t t e n sie in der Diskussion vor der Klasse zur Genüge erörtert, Damals h a t t e Adrian niemanden überzeugen können, doch jetzt h a t t e Dennis d a s Gefühl, als seien die anderen Jungen bereit zu glauben, Adrian w i s s e m e h r als sie. „Mann!" Unverholene Bewunderung lag in Bobs Stimme. „Das wird ganz schön a u f r e g e n d . Fantasie h a s t d u , A d r i a n , das muß m a n dir lassen."
,,Ja", s t i m m t e Brad ihm zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man sich das alles ausdenken kann. Aber eins s t e h t fest: Du kannst einem richtig Angst machen." Er lachte nervös.
Ohne auf die Bemerkungen einzugehen, begann Adrian in der Höhle herumzuwandern, wobei er unverständliche Worte vor sich hinmurmelte. Plötzlich erhob sich ein kalter Wind. Er schien vom hinteren Ende der Höhle zu kommen.Die Temperatur sank spürbar. Ein fauler Verwesungsgeruch erfüllte die Luft. Brad War der erste, der hustend und würgend zum Ausgang lief. Die anderen folgten ihm auf den Fersen. „Verräter!" schrie Adrian. „Kommt zurück! Mogar hat uns ein Zeichen gegeben, daß er unser Opfer annimmt!" Draußen atmeten die Jungen gierig die frische Luft ein. Endlich erschien auch Adrian im Höhleneingang. Er schrie und schimpfte immer noch. „Verrat! Verrat am großen Mogar, Euch alle wird ein Fluch treffen!" Irritiert schauten die fünf Jungen ihn an. Im stillen fragte sich jeder, ob Adrian immer noch bloß eine Rolle spielte oder ob er jetzt tatsächlich den Verstand verloren hatte. Dennis war der erste, der etwas sagte. „Okay, Adrian. Vielleicht hat dir der Gestank da drin wirklich nichts ausgemacht, aber du kannst nicht erwarten, daß normale Leute sowas aushalten." Er hielt inne. Adrian schaute ihn an wie in Trance, als sehe er ihn zum erstenmal. Dann blinzelte er ein paarmal, schüttelte den Kopf und zog die Kapuze zurück. „Ihr habt euch doch nicht erschrocken, oder?" fragte er mit einem höhnischen Grinsen. „Selbst dich hat's gepackt, Dennis. Hab ich recht? Aber ich hab dir gesagt, daß wir alles so realistisch machen wie irgend möglich." Jetzt war es an Dennis, zu blinzeln und den Kopf zu schütteln. Ungläubig starrte er Adrian an. Dann dreht er sich um und machte Sich auf den Weg zu dem Jeep.
„Ich hab gestern abend versucht, dich anzurufen", sagte Dennis. „Meine Mutter hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, vom Schlußverkauf zu profitieren", erzählte Janet. „Wir haben stundenlang das gesamte Einkaufszentrum unsicher gemacht." Sie lächelte. „Wart's ab, bis du mein neues Kleid siehst." „Wirst du es mir bald vorführen?" „Ich denke schon. Ende der Woche sag ich dir noch mehr dazu." „Was soll das heißen?" Jetzt lächelte sie ihr Grübchenlächeln. „Gedulde dich noch ein paar Tage. Du erfährst es früh genug." „Hey, Dennis!"
Dennis d r e h t e sich um, um zu sehen, w e r nach ihm rief. Es w a r P e t e Wood ward. „Ich hab einen Auftrag für dich", s a g t e er, als er an ihren Tisch kam. „Hättest du Lust, meine Semesterarbeit in Englisch auf deinem Comput e r zu schreiben? Du h a s t doch ein Textverarbeitungsprogramm, oder?" „Klar", meinte Dennis. „Wann brauchst du's?" „Irgendwann n ä c h s t e Woche. Das genaue Datum weiß ich im Moment nicht mehr. Der alte Irving h a t mir angedroht, bei allem, w a s ich abgebe, von vornherein 20 Punkte abzuziehen, weil er meine Handschrift nicht lesen kann." „Dann w e r d e n ihm die Augen a u s dem Kopf fallen, w e n n er deine n ä c h s t e Arbeit sieht." Dennis biß genüßlich in sein Thunfisch-Sandwich. „Was verlangst du für die Schreiberei, Dennis?" erkundigte sich J a n e t s Freundin Laura. „Wie w ä r ' s mit 75 Cents pro Seite?" fragte Dennis nach kurzem Überlegen. „Nicht schlecht." Hastig fügte Dennis hinzu: „Es muß allerdings so geschrieben sein, daß ich es lesen kann." Er w a n d t e sich wieder an P e t e . „Ich hab keinen Bock, erst mal stundenlang irgendwelche Hieroglyphen zu entziffern." „Okay", meinte P e t e . „Aber du h a s t doch bestimmt b e s s e r e Augen als der alte Irving." „Du solltest einen Anschlag am Schwarzen Brett machen." Der Vorschlag kam von J a n e t . „Jede Wette, daß du dich dann vor Aufträgen bald nicht mehr r e t t e n kannst." „Eine prima Idee." Der Vorschlag gefiel Dennis ganz gut. Auf diese Art und Weise konnte er sich ein bißchen Geld verdienen, bevor die Skisaison anfing. Daß sein Anschlag am Schwarzen Brett allerdings so. große Beachtung finden würde, h ä t t e er sich nicht t r ä u m e n lassen. Viele Schüler und sogar einige Lehrer sprachen ihn darauf an. Bis Dienstag h a t t e er bereits die e r s t e n Aufträge, und zwei davon w a r e n brandeilig. Dennis m a c h t e sich sofort an die Arbeit. Darüber vergaß er ganz, daß er Adrian versprochen hatte,noch einmal die S t e r n e zu befragen, w a n n der nächste günstige Tag für ein w e i t e r e s Opfer sei. Nach der Englischstude am Donnerstag tippte ihm Adrian auf die Schulter und fragte: „Hat unser Erster Astrologe vergessen, daß er die Sterne befragen und uns sagen wollte, w a n n wir dem großen Mogar wieder opfern sollen?" „Diese Woche w a r so viel los, ich bin einfach nicht dazu gekommen", antwortete Dennis entschuldigend.
„So, du bist einfach nicht dazu gekommen", wiederholte Adrian sarkastisch. „Zu so e t w a s Wichtigem kommst du nicht." „Jetzt halt aber mal die Luft an, Adrian." Dennis wurde sauer. „Du t u s t ja so, als ginge es um Leben und Tod, dabei ist es doch nur ein Spiel." Adrians Augen glühten, als er Dennis ansah, und plötzlich hatte dieser dasselbe Gefühl wie damals in der Höhle, als er vor der Zeichnung auf dem Boden kniete. Irgend etwas nahm Besitz von seinem Bewußtsein, e t w a s , auf das er keinen Einfluß hatte. Dann sagte Adrian düster: „Ein Spiel, Dennis? Den Hunger des großen Mogar mit einem entsprechenden Opfer zu stillen, kann eine Sache vonLeben und Tod sein. Leben für die einen, Tod für die andern. Ich würde ihn nicht enttäuschen wollen - und seinen Hunger zu spüren bekommen." Zuerst konnte Dennis nicht glauben, daß Adrian es ernst meinte, doch dessen Blick und der Ton seiner Stimme belehrten ihn eines Besseren. Er lachte unsicher. „Okay, okay, ich w e r d mich gleich dransetzen. Wenn du ein Zeichen der Sterne willst, sollst du eines haben." „Wann kannst du mir Bescheid sagen?" fragte Adrian. „Es muß so früh wie möglich sein."
„Näachste Woche?" „Morgen. Am Sonntagabend müssen w i r uns treffen, um dem großen Mogar zu huldigen." Dennis sah ihn an. „Am Sonntag?"
„Ich hol dich um sieben ab." Plötzlich konzentrierte sich Adrian auf etwas hinter Dennis. Dieser drehte sich um und sah Janet, die offensichtlich darauf w a r t e t e , daß er das Gespräch mit Adrian beendete. „Hallo, Dennis", sagte sie und nickte Adrian kurz zu. „Hast du einen Augenblick Zeit? Ich möchte dich w a s fragen." „Klar." Rasch verabschiedete er sich von Adrian. Dann nahm er Janets Hand und ging mit ihr den Gang hinunter. „Was gibt's, Janet? Du siehst aus, als hättest du das große Los gezogen." Ihre Augen blitzten. „Soll ich dir w a s verraten? Ich hab am Sonntag Geburtstag, und Mom hat mir erlaubt, im Restaurant eine Party zu geben. Ist das nicht super?" Dennis w a n d t e das Gesicht ab, damit sie ihm die Enttäuschung und Verwirrung nicht ansah. Fröhlich erzählte sie weiter: „Mom hat gesagt, ich darf vier Pärchen einladen, und dich natürlich. Kommst du? Ich würde mich wirklich sehr freuen. Ich darf mir aussuchen, w a s es zum Essen geben soll. Roastbeef w ä r e nicht schlecht." Sie schaute ihn prüfend an.
„Du magst doch Roastbeef, oder? Und der Chefkoch macht extra für mich eine Geburtstagstorte!" Schließlich merkte sie, daß Dennis ihre Begeisterung nicht teilte,und blieb irritiert stehen. „Wa ist los, Dennis? Hab ich w a s Falsches gesagt? Du machst so ein miesepetriges Gesicht," „Nein, du hast nichts Falsches gesagt." Ihre Stimme klang enttäuscht. „Du hast keine Zeit am Sonntag. Du hast schon w a s anderes vor. Ich weiß ja, daß es knapp ist, aber Mom und Dad konnten mir erst gestern abend sagen, ob es am Sonntag geht oder nicht." Sie ließ Dennis' Hand los und drehte sich um. Dennis holte tief Luft. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Hey, Janet, das hört sich toll an. Um nichts in der Welt würde ich mir die Party entgehen lassen." Dabei klangen ihm Adrians Worte in den Ohren: „Eine Sache von Leben und Tod. Leben für die einen, Tod für die andern." Und er fragte sich, w a s damit wohl gemeint sein könnte. Was sollte er bloß machen? Er konnte Janet unmöglich enttäuschen, andererseits hatte er ein bißchen Angst davor, Adrian zu verärgern und am Sonntag nicht zu dem Treffen zu gehen. Die Entscheidung w a r schwierig, und er hatte kaum eine Sekunde Zeit zum Nachdenken. Rasch legte er den A r m um Janets Schulter. „Du, hab ich nicht gesagt, daß ich mir die Party auf keinen Fall entgehen lassen will? Ich w e r d nur . . . ich meine, nichts ist wichtiger als dein Geburtstag." Er drückte sie an sich. „Wann soll ich dich abholen?" „Um sieben", a n t w o r t e t e sie glücklich. Hand in Hand gingen sie weiter den Gang hinunter. „Einen Augenblick lang hab ich tatsächlich gedacht, du könntest nicht kommen, weil du andere Pläne hast." Vor einer Tür am Ende des Flures blieb sie stehen. „Hier muß ich rein. Ich hab jetzt Geschichte. Bis später." „Bis später." Dennis fragte sich, wie er Adrian die veränderte Sachlage beibringen sollte. Mir w i r d schon w a s einfallen, dachte er. Vielleicht können wir das Treffen auf Montag verschieben.
6. KAPITEL Als Adrian am nächsten Morgen auf Dennis zukam, war dieser gewappnet. Die Lösung des Problems war so einfach gewesen, daß Dennis sich gefragt hatte, weshalb er nicht gleich darauf gekommen war. „Hast du das Horoskop erstellt?" wollte Adrian wissen. „Ja", antwortete Dennis ernst. „Nach meinen Berechnungen ist Montag der beste Tag für Opfer. Für Sonntag stehen die Sterne höchst ungünstig. Es sieht sogar so aus, als ob ein Treffen am Sonntag eine Katastrophe auslösen könnte." Adrian schaute Dennis mißtrauisch ab. „Bist du sicher?" Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete Dennis: „Wenn du meinen Berechnungen nicht traust, mußt du dir einen anderen Astrologen suchen." Sofort lenkte Adran ein, „Nein, nein, ich vertraue dir. Wir hatten nur schon alles für Sonntag vorbereitet. Aber deine Berechnungen geben natürlich den Ausschlag." „Gut", sagte Dennis. „Die Zeichen der Sterne kann man nicht ernst genug nehmen." So ganz wohl war ihm allerdings nicht bei der Sache, doch dann versuchte er, seine Entscheidung zu rechtfertigen, indem er sich sagte, daß Adrian ihn bestimmt auch schon ausgetrickst hatte, und das nicht nur einmal. In diesem Augenblick kam Janet zu den beiden herüber. „Hi, Dennis", rief sie und nahm seinen Arm. „Es ist alles fertig für Sonntagabend." Daß Dennis nicht allein war, merkte sie erst im nächsten Augenblick. „Oh, hallo, Adrian", grüßte sie kühl. Adrian nickte wortlos. Sie wandte sich wieder an Dennis. „Kommst du mit in die Cafeteria?" Ihre Stimme klang gereizt. „Sicher. Bis später, Adrian." Adrian griff nach Dennis' Arm. „Ich würde dich gern noch eine Minute sprechen", sagter in eisigem Tonfall. Und an Janet gewandt, fügte er hinzu: „Das heißt, falls du nichts dagegen hast." Verblüfft registrierte Dennis, wie Adrian es fertigbrachte, ausgesprochen höflich zu sein und trotzdem beleidigend. „Natürlich nicht", erwiderte Janet von oben herab, drehte sich um und ging davon.
Dennis sah ihr nach. „Jan . . ." „Wir sehen uns beim Mittagessen." Damit w a r sie verschwunden. „Mußte das sein?" fuhr Dennis Adrian an. Dieser konnte sich kaum beherrschen. Seine Augen sprühten vor Wut. „Ob das sein mußte oder nicht, spielte hier keine Rolle. Ich weiß jetzt, weshalb die Sterne den Sonntag für ungünstig hielten. Und ich w a r n e dich, Dennis Haie. Hüte dich vor der Rache des großen Mogar!" Dennis spürte, wie es ihm bei Adrians Worten und dessen bohrendem Blick eiskalt den Rücken hinunterlief. Unwillkürlich t r a t er einen Schritt zurück. „Hör zu, Adrian, ich nehme das Spiel genauso ernst wie du." „Das bezweifle ich stark", erwiderte Adrian. „Wie auch immer, der Montag w u r d e festgesetzt. Am Montag treffen w i r uns. Ich habe keine Beweise für einen Verrat, nur einen Verdacht. Und ich warne dich noch einmal. Ein langer, kalter Winter steht uns bevor, und der große Mogar w i r d kein Erbarmen haben mit denen, die seinen Hunger nicht ernst nehmen. Treue ihm gegegnüber kommt vor allem anderen, wenn w i r das Wissen und die Macht erlangen wollen, die nur er uns geben kann." Nach diesen Worten ließ er Dennis stehen und ging davon. Irritiert schaute Dennis Adrian nach. Adrian t u t ja so, als gäbe es diesen Mogar tatsächlich, schoß es ihm durch den Kopf. Und w a s soll das Gerede von „Wissen" und „Macht"? Gerade als er die Zahlenkombination an seinem Schließfach eingestellt h a t t e , k a m Pete angelaufen. „Hey, Dennis, wie ich gehört habe, t r e f f e n w i r uns am Sonntag wieder oben bei den Felsen. Wenn ich nur wüßte, w a s Adrian diesmal vorhat." „Ich hab gerade mit ihm gesprochen", sagte Dennis, während er die Tür seines Schließfaches öffnete. Er legte sein Notizbuch in das untere Fach und holte einen Pullover aus dem oberen. „Wir haben das Treffen auf Montag verschoben. Hoffentlich ist das okay für dich." „Sicher. Solange es okay ist für Adrian." Ein erstaunter Ausdruck t r a t auf Petes Gesicht. „Wie hast du das geschafft?" „Was geschafft?" „Daß es auf Montag verschoben wurde? Von uns läßt er sich nichts sagen. Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hat, läßt er sich nicht mehr davon abbringen." „Ach, halb so schlimm." Dennis' Stimme klang gedämpft, weil er sich gerade den braunweißgestreiften Pullover über den Kopf zog. „Maß muß ihn nur zu nehmen wissen." Er steckte die Arme in die Pulloverärmel. „Es ist schon ganz schon frisch hier. Wenn das so weitergeht, können wir noch vor Halloween skifahren."
„Adrian sagt, das wird der kälteste Winter seit 1816. Das hat er anscheinend irgendwo gelesen." „Janet w i r d sich jedenfalls freuen, wenn sie das hört." Im stillen fragte er sich, ob Janet überhaupt noch mit ihm reden würde. Sie saß in der Cafeteria und w a r t e t e bestimmt schon ungeduldig auf ihn. „Meinst du Janet Horrigan?" wollte Pete wissen. „Das ist eine SuperFrau, echt." Mit gesenkter Stimme fuhr er f o r t : „Sag's nicht weiter, aber ich glaube, Adrian wollte sich letzten Sommer an Janet ranmachen. Sie hat ihn abblitzen lassen. Ich an deiner Stelle würde vor Adrian nicht unbedingt damit angeben, daß du mit ihr gehst." „Danke", sagte Dennis. „Ich werd's mir merken. Aber jetzt muß ich los. Wir sehen uns später." Hoffentlich w a r ich nicht zu bestimmt, dachte Janet, als sie sich am Sonntagabend für die Party fertig machte. Ich kann nicht für Dennis entscheiden. Wenn er sich mit Adrian und diesen Typen treffen will, ist das seine Sache. Sie ging zum Schrank und holte das Kleid heraus, das ihre M u t t e r ihr bei ihrem gemeinsamen Einkaufsbummel gekauft hatte. Gerade als sie hineinschlüpfte, läutete das Telefon. „Hallo?" Den Hörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt, versuchte sie, den Reißverschluß an ihrem Kleid zu schließen. Keine A n t w o r t , nur ein leises Weinen und Heulen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sollte das ein übler Scherz sein? „Was soll das?" fragte sie. „Ich finde das absolut nicht witzig." Heftiges A t m e n übertönte das Weinen. Siedendheiß fiel es Janet ein, daß ihre Eltern beide schon im Restaurant waren. Sie w a r ganz allein im Haus. Ihre Hände begannen zu zittern. Rasch legte sie den Hörer auf. Sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte, wählte sie Dennis' Nummer. Als er sich meldet, kam sie sich plötzlich sehr kindisch vor. Wie hatte sie sich bloß von einem Anruf, der wahrscheinlich nicht mal ihr gegolten hatte, so erschrecken lassen können? So ruhig wie möglich sagte sie: „Ich bin fast fertig, Dennis. Kannst du nicht ein bißchen eher kommen?" „Klar." Am Klang ihrer Stimme merkte er, daß e t w a s nicht stimmte. „Ist alles okay, Janet?" „Sicher. Ich dachte nur, es sei vielleicht gut, ein wenig früher dazu sein." „In einer Viertelstunde bin ich bei dir." Kaum hatte Janet den letzten Tupfer Rouge aufgelegt, da hörte sie auch schon einen Wagen die Einfahrt heraufkommen. Noch einmal mit
der Bürste durchs Haar — fertig. Erwartungsvoll lief sie die Treppe hinunter, um die Haustür zu öffnen. MWow!" Dennis riß die Augen auf, als er sie sah. „Du siehst super aus!" Er zog die Hand hinter dem Rücken hervor und brachte eine kleine, durchsichtige Schachtel mit einer Rose darin zum Vorschein. „Pour vous", s a g t e er auf französisch. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
„O Dennis", flüsterte sie. „Meine e r s t e Rose. Wie schön." „Gefällt sie dir wirklich? Die Verkäuferin s a g t e , eine rote Rose paßt immer, egal welche Farbe dein Kleid hat." „Gefallen ist gar kein Aussdruck! Ich finde sie wunderschön!" stürmisch warf J a n e t ihm die Arme um den Hals. „Hm", m a c h t e Dennis, als sie ihn wieder losließ, „das nächstemal bring ich eine ganze Wagenladung voll." J a n e t lachte. „Wie kalt ist e s ? Muß ich meine Daunenjacke drüberziehen?" „Ich würd's dir raten. Es ist eisig. Sicher fängt's bald an zu schneien." „Super! Ich kann's kaum erwarten." Mit glänzenden Augen s c h a u t e sie ihn an. Das ist der s c h ö n s t e Tag in meinem Leben, d a c h t e sie. Die P a r t y w a r ein Riesenerfolg. J a n e t s Freunde verputzten plattenweise Roastbeef und P o m m e s frites. Als die G e b u r t s t a g s t o r t e mit sechzehn brennenden Kerzen darauf in den Saal getragen wurde, knips t e jemand d a s Licht aus, und G ä s t e und Restaurantangestelite sangen gemeinsam „Happy birthday to you". J a n e t strahlte. Am liebsten h ä t t e Dennis sie den ganzen Abend angeschaut. Erst kurz bevor sie nach Hause gehen wollten, fiel J a n e t der s e l t s a m e Anruf wieder ein. Auf Dennis' Frage, ob er ihr die Jacke holen solle, meinte sie: „Ich glaube, ich w a r t e lieber auf Mom und Dad. Macht d e s dir was aus?" Damit h a t t e er nicht gerechnet. „Naja, eigentlich h a t t e ich gehofft, wir h ä t t e n noch ein p a a r Minuten für uns allein heute abend. Ich hab such ein Geschenk für dich, a b e r d a s wollte ich dir e r s t geben, w e n n wir allein sind." „Du h a s t mir doch schon die Rose geschenkt." „Weiß ich. Trotzdem hab ich noch w a s für dich. E t w a s , d a s nicht in ein oder zwei Tagen verwelkt ist." J a n e t nahm seine Hand. „Ach, Dennis, d a s ist lieb. Vielleicht kannst du es mir morgen nach der Schule geben." Er zuckte mit den Schultern. So h a t t e er sich d a s Ende der P a r t y nicht vorgestellt. Schon als er d a s kleine goldene Herzchen an der K e t t e für Janet gekauft h a t t e , h a t t e er sich auf den Augenblick gefreut, an dem
er es ihr geben würde. Und jetzt mußte er noch einen ganzen Tag wart e n . Wie es morgen laufen würde, wußte er noch nicht. Das kam darauf an, w a n n Adrian ihn abholen wollte. Vielleicht würde Dennis gar keine Zeit haben, ihr das Geschenk zu überreichen. Dennis sah so enttäuscht aus, daß Janet fast schwach wurde. Sie könnte ja alle Lichter im Haus brennen lassen und w a r t e n , bis ihre Eltern kämen. Ihre Angst w a r jedoch größer, als sie sich eingestehen wollte. Zum erstenmal in ihrem Leben wollte sie nicht alleine daheim herumsitzen, und sie haßte es, von anderen abhängig zu sein. Das ganze w a r wirklich ein bißchen blöd, zu blöd, um Dennis davon zu erzählen. Trotzdem konnte sie das gespenstische Weinen nicht vergessen. Und das schwere A t m e n . . . „Ich w a r t e morgen nach der Schule auf dich, dann können w i r zusammen nach Hause gehen. Okay?" sagte sie schließlich. Dennis seufzte und lächelte sie an. „Okay. Dann bis morgen." Nachdem er sich bei ihren Eltern noch einmal bedankt und sich verabschiedet hatte, brachte Janet ihn zur Tür. Er küßte sie ganz leicht auf die Lippen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Prinzessin. Wir seh'n uns morgen."
Sonntagabend. Adrian Furolle lümmelte sich in einem dick gepolsterten Sessel, die Augen halb geschlossen und die langen Beine weit von sich gestreckt. Seinem Gesichtsaudruck nach hätte man meinen können, er schliefe, doch Adrian w a r hellwach. Konzentriert lauschte er den Tönen aus dem kleinen Kassettenrecorder neben sich. Die Kassette hatte er bei den Wailing Rocks aufgenommen, andern Abend nach Dennis' Aufnahme in die Gruppe. Er w a r allein da oben gewesen. Der Wind w a r über die Felsen gefegt, und plötzlich hatte er über dem Heulen des Windes dieses seltsame Weinen gehört. Da er die Geschichte kannte, die man sich über diese Gegend erzählte, hatte ihn das zunächst etwas erschreckt. Er konnte nicht glauben, daß er tatsächlich das legendäre Heulen hörte, das zu dem Mythos um die „Heulenden Felsen" gehörte. Aber - w e n n dieses Heulen tatsächlich die Stimme Mogars w a r ? Wenn das uralte, gefürcht e t e Ungeheuer wirklich unter den Felsen lag und darauf w a r t e t e , befreit zu werden? In diesem Augenblick w a r Adrian klargeworden, daß er dem Spiel eine andere Richtung geben mußte. In seiner Fantasie überschlugen sich die Ereignisse. Er rannte zu seinem Jeep, um den Kassettenrecorder zu holen. Wenn er das Heulen aufnahm und seinen Freunden vorspielte, mußten sie das Spiel ernst neh-
men. Er konnte den Recorder unter seinem Umhang verstecken und das mysteriöse Jammern jederzeit ablaufen lassen. „Adrian, du bist ein Genie", sagte er zu sich selbst, während er so dasaß und die Kassette zum x-tenmal hörte. Als sie zu Ende w a r , stand er auf und suchte in seinen Bücherregalen nach einem ganz bestimmten Titel. Er hatte das Buch erst kürzlich auf einem Flohmarkt gekauft, genau einen Tag, nachdem er die Kassette aufgenommen hatte. Es w a r ganz vergilbt und hatte wahrscheinlich die letzten hundert Jahre unbeachtet auf irgendeinem Dachboden gelegen. ' „Ein kurzer Abriß über die Geschichte Ashtons in Vermont", lautete der Titel des Buches, und es w a r im Mai 1820 gedruckt worden, vier Jahre nach der Katastrophe von 1816. In der Einleitung hieß es, es handele sich um „eine Beschreibung des schrecklichen Unglücks, das in dem ungewöhnlich kalten Winter von 1816 über die braven Bürger von Ashton hereinbrach." Bei seiner neuesten Errungenschaft hatte er sofort gewußt, daß es sich um eine echte Rarität handelte. Die meisten Leute in der Gegend hielten die Legende von den „Heulenden Felsen" für ein Märchen. Jetzt glaubte Adrian, die Wahrheit darüber in Händen zu halten, w a s in jenem eiskalten Winter geschehen w a r . Das Buch bestätigte ihm, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er aus der Jagd nach dem Edelstein die Suche nach Mogar selbst gemacht hatte. Die Legende erzählte von einem Ungeheuer, einem Überbleibsel aus der Eiszeit, das in den vereisten Höhlen tief im Innern des Berges wohnte. Es hieß, die große Schlange Mogar — so wurde das Ungeheuer genannt — verlasse ihre Höhle nur bei extrem niedrigen Temperaturen. Doch w e n n sie sich auf der Erde zeige, verschlinge sie alles Lebendige in einem Umkreis von mehreren Meilen. Die Ureinwohner der Gegend hatten das Ungeheuer über Jahrhunderte hinweg mit Opfergaben befriedigt, sowohl mit Tieropfern als auch mit Menschenopfern. Für sie w a r Mogar der ursprüngliche Geist des Bösen und Herr über alle anderen bösen Geister gewesen. Bis zum Jahr 1816 w a r die Legende fast in Vergessenheit geraten. Doch als dann plötzlich Menschen und Tiere spurlos verschwanden, erinnerte man sich wieder an die alte Geschichte von dem Ungeheuer im Berg. Die Ereignisse dieses schrecklichen Winters w a r e n , so stand es in dem Buch, Stück für Stück rekonstruiert worden nach dem, w a s die Leute gesehen und gehört hatten. Der Autor w a r Student in New Haven im Staat Connecticut gewesen, als die Katastrophe sich ereignete. Adrian holte sich aus dem „kurzen Abriß über die Geschichte Ashtons" nun neue Ideen für das Rollenspiel bei den Wailing Rocks. Der Gedanke, ninem Urwesen zu huldigen, reizte ihn w e i t mehr als die Suche nach ei-
nem Edelstein. Plötzlich fiel ihm Dennis ein, und er runzelte die Stirn. Kein Gruppenmitglied hatte seine Autorität je angezweifelt. Nun kam ausgerechnet das jüngste Mitglied daher und sagte ihn, er müsse das Datum für ein Treffen verschieben. Er w a r sich nicht sicher, doch er hatte sehr stark das Gefühl, daß diese Verschiebung nichts zu t u n h a t t e mit den astrologischen Berechnungen, die Dennis auf seinem Computer angestellt hatte - w e n n er überhaupt welche angestellt hatte. Offensichtlich hatte Dennis noch nicht begriffen, daß Adrian es w a r , der sämtliche Entscheidungen für die Gruppe traf. Das mußte er ihm noch beibringen. Dann fiel ihm ein, daß Dennis an diesem Abend zu einer Party ging. Mit Janet. Ein grausames Lächeln spielte um Adrians Lippen. Er holte das Telefonbuch von Ashton und blätterte darin herum. Bevor er wählte, schaltete er den Kassettenrecorder ein und stellte ihn neben das Telefon. Später zog er seine Jacke an und schlich sich aus dem Haus. In der Tasche hatte er ein Stück Fleisch von seinem Abendessen, und im Gürtel steckte eine Keule. Eine große Plastiktüte t r u g er in der Hand. Laut Dennis w a r der nächste Tag günstig für ein Opfer an Mogar. Vielleicht stimmte das, vielleicht w a r es auch nur so dahingesagt. In jedem Fall würde Mogars Hunger gestillt werden. Geräuschlos bewegte sich Adrian durch die Straßen der Stadt. Es w a r kalt, doch das störte ihn nicht. Im Gegenteil, es freute ihn. Sehr sogar. Das w a r ein gutes Zeichen. Ein eisiger Wind zerzauste ihm das kohlschwarze Haar. Gerade als er dachte, er müsse seinen Jeep holen und wieder hinausfahren zu Cal, sah er in einem Haus ein erleuchtetes Fenster. „Okay, okay", sagte eine müde Stimme, „noch einmal. Aber das war's dann auch. Du kommst zurück und bleibst die Nacht über im Haus." Die Tür wurde aufgeschlossen, und alles w a r wieder dunkel. Adrian versteckte sich hinter einem Busch. Kein Mond w a r am Himmel zu sehen. Nur eine Straßenlampe, fast zwanzig Meter weiter an der Ecke, verbreitete ein schwaches Licht. Er schnalzte leise mit der Zunge. Der Hund schnüffelte neugierig und kam langsam auf Adrians Versteck zu. Dieser hielt das Fleisch in der ausgestreckten Hand. Wie e r w a r t e t waren die Gelüste des Tieres stärker als die angeborene Vorsicht. „So ist's gut", flüsterte Adrian. „Guter Hund, lieber Kerl." Die Keule sauste herab. Es gab nur einen dumpfen Schlag. Adrian w a r schon an der Straßenecke, als die Tür des Hauses wieder geöffnet wurde.
7. KAPITEL Dennis eilte am Montag nach der Schule zu seinem Schließfach. Ein paar Minuten vorher h a t t e Adrian ihm gesagt, daß er ihn um halb vier abholen würde. Dennis mußte sich also beeilen, w e n n er J a n e t nach Hause bringen, ihr d a s Geschenk geben und dann möglichst vor Adrian bei sich zu Hause sein wollte. Zum Glück w a r t e t e J a n e t schon bei seinem Schließfach auf ihn. „Komm", s a g t e er, als er seine Jacke aus dem Fach zog und nach seinen Büchern griff. „Gehen wir." Normalerweise gingen sie beide ziemlich schnell, doch an diesem Tag h a t t e J a n e t Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. „Warum r e n n s t du denn so?" fragte sie atemlos. „Ich hab noch eine Menge Arbeit und muß so schnell wie möglich nach Hause." Doch am Fuß d e s Hügels, in der Nähe d e s R a t h a u s e s , blieb Dennis unter einem Baum s t e h e n und legte seine Bücher auf den Boden. „Was ist jetzt los? Ich dachte, du h ä t t e s t es so eilig . . ." „Stimmt auch. Aber ein Grund, weshalb ich so gerannt bin, w a r der, daß ich noch ein bißchen Zeit haben wollte, um dir dein Geschenk richtig zu überreichen." Er griff in seine J a c k e n t a s c h e und brachte eine kleine Schachtel zum Vorschein. „Hier". Damit nahm er ihre Hand und legte ihr die Schachtel auf die Handfläche. „Zu deinem Geburtstag." Aufgeregt riß J a n e t d a s Papier auf und öffnete die Schachtel. „Oh, ist d a s schön", rief sie, als sie d a s kleine Herz an der feinen Goldkette sah. „Ich m ö c h t e die Kette gleich ummachen. Hilfst du mir?" Sie knöpfte ihre Jacke auf und d r e h t e sich um, und Dennis legte ihr d a s Kettchen um den Hals und m a c h t e den Verschluß im Nacken zu. Dann w a n d t e sie sich ihm wieder zu. Dennis s c h a u t e ihr ein p a a r Sekunden lang in die Augen, bevor er sie auf die Stirn küßte. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, J a n e t . Ich hoffe, wir können noch viele Geburtstage zusammen feiern." „Danke, Dennis. Das hoffe ich auch", s a g t e sie und b e t a s t e t e d a s Herzchen an ihrem Hals. Sie lächelte. „Das ist d a s s c h ö n s t e Geschenk, das du mir machen konntest." Dennis nahm seine Bücher vom Boden auf und stopfte das Geschenkpapier in seine T a s c h e . „Komm", s a g t e er und s t r e c k t e die Hand aus. „Ist
das nicht komisch? Ich kenn dich noch gar nicht lange, und schon hab ich dir mein Herz geschenkt." Den Rest des Nachhausewegs legten sie fast schweigend zurück. Als sie bei Janets Haus ankamen, fragte sie: „Möchtest du noch mit reinkommen?" „Heut hab ich keine Zeit. Können w i r es auf ein andermal verschieben?" „Klar." Von der Haustür aus sah sie ihm nach, wie er die Straße hinunterlief. Immer noch strahlend griff sie wieder nach dem Herzchen. Dann ging sie ins Haus, um das Geschenk ihrer M u t t e r zu zeigen.
Dennis erreichte das Haus im selben Augenblick, als der Jeep die Straße heruntergebraust kam. „Ich komme sofort!" rief er Adrian zu. Dann lief er ins Haus, w a r f seine Bücher auf den Tisch, schnappte sich w a s zu essen und w a r auch schon wieder draußen. „Brrr, ist das kalt", sagte er, als er in den Jeep kletterte. „Warum hat mir niemand gesagt, daß in Vermont der Winter schon im Oktober beginnt?" Er gab Adrian einen Umschlag. „Hier ist der Ausdruck deines Biorhythmus, um den du mich gebeten hast." Adrian steckte den Umschlag ein. „Danke. Ich hab dir schon ein paarmal gesagt, w i r würden einen frühen Winter kriegen - und einen kalten. Du hörst mir nur nie zu!" Bald hatte der Jeep die Landstraße außerhalb der Stadt erreicht. „Was liegt heute an?" wollte Mike wissen, während sie über die Schlaglöcher holperten. „Wart's ab." Adrian lächelte hintergründig. Er spürte deutlich den Kassettenrecorder, den er unter seinem Hemd verborgen hatte. Bei dem Gedanken daran, wie die anderen reagieren würden, w e n n er ihnen die Kassette in der Höhle vorspielte, hätte er am liebsten laut gelacht. . Die Lichtung kam Dennis diesmal noch einsamer und unheimlicher vor als sonst. Ein feuchtkalter Nebel hing in der Luft. Brad und Pete w a r t e t e n bereits. Sie saßen auf großen Felsblöcken und zitterten vor Kälte. Verflixt, dachte Dennis, als er sich umschaute, es ist noch nicht mal vier Uhr. Aber hier oben könnte man meinen, es sei schon Nacht. Rasch schlüpften die Jungen in ihre Umhänge und folgten Adrian in die Höhle. Während sie einer nach dem anderen eintraten, schienen die tanzenden Lichtkegel ihrer Taschenlampen die Zeichnungen an den Wänden zum Leben zu erwecken. Dennis sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Die Luft w a r schal w i e immer, doch zum Glück h a t t e sich der erbärmliche Gestank verzogen.
Adrian stellte die Kerzen zu beiden Seiten des in den Boden geritzten Bildes auf. Dann w a n d t e er sich an die anderen. „Wir sind nun schon eine ganze Zeitlang auf der Suche. Zuerst suchten w i r nach einem großen Edelstein, dann nach einem großmächtigen Wesen. Wir sind dem Ziel unserer Suche schon sehr nah." Mit funkelnden Augen schaute er in die Runde. „Bereitet euch darauf vor, die Macht des großen Mogar zu spüren!" Bei diesen Worten kniete er nieder und zündete die Kerzen an. „Macht eure Taschenlampen aus", befahl er. Die Jungen gehorchten. Bob Schumacher hüstelte nervös. „Ruhe", sagte Adrian scharf. Er breitete die Arme aus und beugte den Kopf, so daß er direkt in das Auge auf dem Boden sehen konnte. „Ihr Götter von Llanor und M'dab, erhabener Rothenor, der du das Tor zwischen den Welten bewachst, helft uns bei unserer Suche nach dem großen Mogar, dem Erdenvernichter, Hüter der schwarzen Höhlen und der verborgenen Wege und aller Schätze unter der Erde. Laßt uns ihn finden, damit er sein Wissen und seine Macht mit uns teile, mit uns, die wir ihm ewige Treue schwören." Während Adrian sprach, begannen die Kerzenflammen wild zu flakkern. Dennis starrte auf das in den Boden eingeritzte Bild des Monsters, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Im Licht der Kerzen schienen sich die Tentakel zu bewegen, jeder einzeln, jeder lebendig. Fasziniert beobachtete er das Schauspiel, bis er fast hypnotisiert war. Ein Teil von ihm erkannte, daß er Gefahr lief, hinabgezogen zu werden in diese dunkle, unbekannte Welt. Abrupt hörte Adrian mit seiner Beschwörung auf und wandte sich an die Jungen. „Es w i r d Zeit, daß w i r dem großen Mogar opfern." Dennis schüttelte den Kopf und blinzelte. Er versuchte, wieder zu sich selbst zu finden, sich von dieser fremden Macht zu befreien, die Besitz ergreifen wollte von seinem Bewußtsein. Unter großer Anstrengung konzentrierte er sich auf das, was Adrian t a t . Dabei vermied er es, die Tentakel oder das Auge noch einmal anzuschauen. Wie beim letzten Treffen nahm Adrian wieder seine Plastiktüte und ging damit zum hinteren Ende der Höhle, wo er den Inhalt der Tüte in das dunkle Loch kippte. Als er sich den anderen zuwandte, w a r sein Blick leer, wie in Trance. Die Hände hatte er in den Falten seines Umhangs verborgen. Gespannt beobachteten ihn die Jungen. Was würde er sich als nächstes einfallen lassen? Plötzlich legte Adrian den Kopf zur Seite, als lausche er. Von weither kam ein Heulen und Jammern.
Dennis w a r wie gelähmt vor Angst. Die Geräusche wurden lauter, kamen näher. Aus der Opfergrube stieg ein kräuselnder Nebel auf. Er schien menschliche Formen anzunehmen, die immer näher rückten. Menschliche Gestalten, schreiend vor Schmerz und Angst. Sie rannten, stolpert e n , als würden sie verfolgt. Eisiger Wind blies aus dem Loch. Die Kerzen erloschen. In der plötzlichen Dunkelheit w a r kein Laut zu hören außer dem Jammern. Dennis glaubte, das Herz würde ihm aus der Brust springen, während er den klagenden Geisterstimmen lauschte. Eisige Finger schienen an seinen Haaren und an seinem Umhang zu zerren. So plötzlich, wie er sich erhoben hatte, legte sich der Wind auch wieder, und es wurde still. Bevor irgendjemand e t w a s sagen konnte, befahl Adrian: „Keiner bew e g t sich!" Sie hörten, wie er nach seiner Taschenlampe suchte. Im nächsten Augenblick knipste er sie an. „Was w a r das?" fragte Bob mit klappernden Zähnen. „Was w a r was?" fragte Adrian zurück, ohne jemanden anzuschauen. V e r w i r r t blickte Bob zu den anderen hinüber, dann kratzte er sich am Kopf. „Ich weiß nicht, w a s es ist, aber irgend e t w a s gefällt mir nicht an der Sache", sagte Mike. „Ich gehe." Adrian sah ihn an, und Dennis merkte, daß er nur mit Mühe das Lachen unterdrückte. „Eine gute Vorstellung, was?" fragte er. Einen Augenblick lang konnte es keiner glauben. Dann stießen alle fast gleichzeitig einen Seufzer der Erleichterung aus. „Gut? Es w a r die beste bis jetzt! Wie hast-du das gemacht?" rief Pete. Die anderen lachten und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Nur Dennis nicht. Er beobachtete Adrian genau. Täuschte er sich, oder stand Angst in diesen dunklen Augen? Adrian wandte sich ihm zu. „Was sagst du dazu, Astrologe? Haben deine Sterne dir für heute keine Überraschung vorausgesagt?" Ohne auf die sarkastische Bemerkung einzugehen, meinte Dennis: „Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte." Und im stillen fragte er sich, ob die anderen wohl ahnten, worauf sie sich eingelassen hatten. Sie verließen die Höhle. Auf der Lichtung zogen sie die Umhänge aus. Es w a r immer noch Tag. Irritiert sah Dennis auf seine Uhr. Ihm kam es vor, als sei er Stunden in def Höhle gewesen, doch es w a r e n erst knapp sechzig Minuten vergangen, seit Adrian ihn zu Hause abgeholt hatte. Es w ü r d e gerade noch reichen, heimzulaufen, bevor es dunkel w u r d e . Beim Laufen würde sein Kopf hoffentlich wieder klar werden. Außerdem wollte er noch jemanden besuchen.
Er s a g t e nichts, bis sie die Straße erreichten, die zu Cals Farm führte. Dann v e r k ü n d e t e er: „Das letzte Stück laufe ich. Ich muß in Form bleiben. Danke fürs Mitnehmen, Adrian. Bis morgen." Bevor die anderen noch e t w a s darauf erwidern konnten, w a r er schon auf dem Weg. Adrian s e t z t e Mike und Bob zu Hause ab. Sobald er allein im Wagen war, holte er den K a s s e t t e n r e c o r d e r a u s der Reisetasche. Er schaltete ihn ein. Nichts t a t sich. Mit zitternden Händen öffnete er den Deckel und s c h a u t e hinein. Ungläubiges Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Am Sonntagabend h a t t e er die Reinigungskassette durchlaufen lassen, damit auch ja nichts schiefging. Er h a t t e v e r g e s s e n , die richtige K a s s e t t e wieder einzulegen. Der Recorder w a r leer.
Während Dennis die Straße entlanglief, dachte er über das, w a s in der Höhle vorgefallen w a r , nach. Bei Tageslicht konnte man sich s c h w e r vorstellen, daß es den grausigen Ort überhaupt gab. Doch Adrians Rollenspiel und die seltsamen Ereignisse wuchsen sich für Dennis zu einem riesigen, unlösbaren Rätsel aus, und er w a r entschlossen, soviel wie irgend möglich von Cal Stark zu erfahren. Sicher w u ß t e Cal mehr als die meisten Leute in der Gegend. Hatten seine Vorfahren nicht schon vor zweihundert Jahren hier gelebt? . Bald kam er zu dem Zaun, der die Farm begrenzte. Er sah Cal vor dem Haus a u s seinem alten Lieferwagen steigen. „Cal! Cal Stark!" rief Dennis. „Warten Sie!" Der alte Mann b e s c h a t t e t e die Augen mit der Hand und runzelte die Stirn. Seine Augen w a r e n nicht mehr die b e s t e n , doch eine Brille kam für ihn nicht in Frage. Als Dennis näher kam, e r k a n n t e Cal ihn und winkte. Mit einem herzlichen Händeschütteln begrüßte er Dennis. „Schön, dich zu sehen, Junge. Vor w a s Säufst du denn h e u t e davon?" Dennis lachte. „Komm rein und trink ein Glas Quellwasser. Du h a s t bestimmt Durst. Cal ging voran in die Küche, wo immer noch dasselbe Durcheinander h e r r s c h t e . „Setz dich", s a g t e er und wies auf einen Stuhl. Wenn er lächelte, konnte man sehen, daß er kaum noch Zähne im Mund h a t t e . Nachdem er ein Glas mit W a s s e r gefüllt und es Dennis gegeben h a t t e , s e t z t e er sich auf den anderen Stuhl. „Warst du in letzter Zeit mal wieder oben bei den Wailing Rocks?" erkundigte er sich leichthin. Dennis zögerte einen Moment, bevor er a n t w o r t e t e . „Hm . . . J a . Und um ehrlich zu sein, Cal, genau darüber wollte ich mit Ihnen reden. Die Ge-
schichte der Gegend hier interessiert mich. Und es gäbe ein gutes Thema ab für meinen Engiischaufsatz". Er grinste. „Vielleicht springt sogar eine eins dabei raus, w e n n Sie mir die nötigen Informationen geben können." „Ich denke schon, daß ich dir ein paar Fragen beantworten kann", meinte Cal. „Worüber willst du denn gern schreiben?" „Erinnern Sie sich noch an unser letztes Gespräch? Ais Sie mir sagten, ich soll von den Felsen wegbleiben?" „Natürlich erinnere ich mich, Junge. Und ich wünschte, du würdest hören auf das, w a s ich dir sage." Ein finsterer Ausdruck t r a t auf sein Gesicht. „Ich würde gern e t w a s über die alten Legenden erfahren", sagte Dennis ruhig. Cal schaute zum Fenster hinaus, als er zu erzählen begann. „Großvat e r wollte nicht, daß einer von uns zu den Wailing Rocks raufgeht. Er wußte ein paar ziemlich üble Geschichten, die er gehört hatte, als er zuerst hierherkam." Er zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Sind Sie je oben gewesen? Haben Sie die Höhle gesehen mit den seltsamen Zeichnungen auf dem Boden?" wollte Dennis wissen. Cal schaute ihn lange an. „Ich denke,, jeder richtige Junge aus Ashton und Umgebung muß mindestens einmal hinauf. Gefallen hat's mir dort allerdings nicht. Es w a r feucht und kalt, selbst mitten im Sommer. Und es hat gestunken." Einen Augenblick schien es, als würde er sich in seinen Erinnerungen verlieren. „Ich bin später nie mehr dort gewesen", fügte er nach einer Weile hinzu. „Können Sie mir nicht ein paar von den Geschichten erzählen, die Sie von Ihrem Großvater gehört haben?" Der alte Mann nahm die speckige Baseballmütze ab, kratzte sich am Kopf und setzte die Mütze wieder auf. „Warum eigentlich nicht? Wenn du w a s drüber schreiben willst, kann es nicht schaden, wenn du auch die Tatsachen kennst." Cal räusperte sich. „Vor langer, langer Zeit, lange bevor der weiße Mann in dieses Land kam, lebten Heiden in diesen Bergen, die eine riesige . . . Kreatur verehrten. Man sagt, sie habe ausgesehen wie eine Schlange, nur daß sie bloß ein einziges großes Auge mitten auf dem Kopf hatte, und darunter wuchsen diese komischen Fangarme wie bei einem Tin-, tenfisch. Das Ungeheuer benutzte die Arme, um sich Sachen ins Maul zu stopfen." Cal machte eine Pause, um zu sehen, wie Dennis reagierte. Als er keine Spur von Spott auf dem Gesicht des Jungen erkennen konnte, fuhr er fort.
„Und es h a t t e einen Panzer, keinen weichen wie eine Schlange oder ein Käfer. Wenn man den alten Indianererzählungen glaubt, sind S p e e r e und Pfeile glatt davon abgeprallt. Nur die Tentakel w a r e n nicht gepanzert." Mit zusammengekniffenen Augen fragte er Dennis: „Ist d a s d a s richtige Wort für die Fangarme, Junge? Tentakel?" Dennis nickte. Er bekam eine Gänsehaut. Cal beschrieb haargenau d a s Wesen, d e s s e n Bild in den Höhlenboden eingeritzt war. „Sie glaubten, daß diese Schlange, oder wie immer du sie nennen willst, d a s ursprünglich Böse war, d a s die Seelen der Menschen raubt. Für sie w a r es so eine Art Teufel. Jedenfalls opferten sie ihm. Meistens Tiere, manchmal auch junge Mädchen. Um d a s Ungeheuer ruhig zu halten." Wieder m a c h t e Cal eine P a u s e und rieb sich das Kinn, bevor er weitersprach. „Im Winter 1816 passierte e t w a s , d a s die Leute, vor allem die Indianer, wieder an die alten Geschichten denken ließ. Es w a r ein bitterkalter Winter, und er hat früh angefangen. Schon im Oktober soll der ers t e Schnee gefallen sein. In der Nähe der Felsen v e r s c h w a n d e n plötzlich Tiere und Menschen. Die Indianer b e k a m e n es mit der Angst zu tun. Sie sprachen von einem uralten bösen Geist, der zurückgekommen sei und sich die Menschen hole. Der Geist sei wahrscheinlich wütend, s a g t e n sie, weil ihn jahrhundertelang niemand b e a c h t e t habe. Und er w o h n e in einer Höhle tief unten im Berg, s a g t e n sie." Der alte Mann s c h a u t e Dennis mit einem schiefen Lächeln an. „Weißt du jetzt, weshalb ich säe Märchen nenne, diese Geschichten? Solang ich lebe, hab ich nichts Lächerlicheres gehört." „Ich finde sie s e h r interessant", erwiderte'Dennis. Äußerlich w a r er ganz ruhig, doch es k o s t e t e ihn viel Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Ob Adrian d a s alles w u ß t e ? Bestimmt. Der h a t t e sicher alles darüber gelesen, w a s er bloß in die Finger kriegen konnte. „Also, wie ich g e s a g t habe, als plötzlich Menschen und Tiere verschwanden, wollen die Leute oben bei den Felsen e t w a s g e s e h e n haben, d a s sich dort bei Dunkelheit b e w e g t e und herumkroch. Es w a r etw a s so Schreckliches, daß die Indianer nicht darüber reden wollten." „Und?" d r ä n g t e Dennis, als Cal schwieg. „Seltsam", fuhr der alte Mann nachdenklich fort, „ich glaube, niemand erinnerte sich an die alten heidnischen Bräuche, bis die Leute einer nach dem anderen v e r s c h w a n d e n . Dann e r s t hörte man hier und da e t w a s von den Indianern — sofern sie bereit w a r e n zu reden," Langsam kam Cal in Fahrt. Dennis saß buchstäblich auf der Stuhlkante und h ö r t e g e s p a n n t zu. „Das meiste haben sie wohl für sich behalten, nehme ich an. Schließlich w u r d e auf der Farm neben dieser hier eine ganze Familie ausgelöscht.
Sie verschwanden eines Nachts einfach vom Erdboden mitsamt dem Vieh. Das Haus sah aus, als sei ein Bulldozer drübergewalzt. Das hat den Ausschlag gegeben, vermute ich. Die Männer aus dem Dorf kamen eines Nachts herauf. Mit Fackeln und Walfisehöl gingen sie bis zu der Lichtung vor der Höhle und brannten alles ringsum nieder. Es heißt, das Feuer sei hell wie der Tag und glühend wie die Sonne gewesen." Er stand auf und holte sich ein Glas Wasser. „Völlig ausgetrocknet", erklärte er. „ich hab seit Jahren nicht mehr so viel geredet." Nachdem Cal das Glas ausgetrunken hatte, setzt er sich wieder hin und erzählte weiter. „Die meisten von denen, die oben waren und den Platz abgebrannt haben, sind innerhalb der nächsten paar Jahre von hier weggezogen. Irgendwas scheint in dieser Nacht mit ihnen passiert zu sein, Sie fühlten sich hier nicht mehr wohl. Die anderen, die geblieben sind, wollten nicht viel darüber reden." „Macht es Ihnen nichts aus, so dicht dabei zu wohnen?" fragte Dennis. „Ach du liebe Zeit! Denkst du vielleicht, ich glaube das alles, was ich dir erzählt hab?" Cal schnaubte verächtlich. „Du hast mich danach gefragt, und ich hab dir die Geschichte erzählt, aber ich hab nicht gesagt, daß ich glaube, daß da oben wirklich ein Ungeheuer ist." „Warum haben Sie mich denn vor den Wailing Rocks gewarnt, als ich das,erste Mal hier war, wenn Sie keine von den Geschichten glauben?" Plötzlich wurde Cals Gesicht rot. Er sprang auf und stapfte durch die Küche. „Hör zu, Junge", sagte er schließlich, „ich hab noch eine Menge Arbeit. Das Beste ist, du gehst jetzt." Dennis erhob sich ebenfalls. „Bitte, Mr. Stark, ich wollte Sie nicht verärgern. Ich bin nur neugierig. Vielen Dank, daß Sie sich die Zeit genommen haben, mir das alles zu erzählen." Cals Ärger w a r verraucht. „Ich mag dich, Junge", sagte er. „Du wollt e s t e t w a s über die Wailing Rocks wissen, und ich hab dir alles erzählt, w a s ich als Junge gehört hab. Klar, auch ich w a r einmal da oben, aber in all meinen fünfundsiebzig Jahren hab ich mich nicht ein einziges Mal mit heidnischen Bräuchen und so w a s befaßt. Man sagt, da oben hausen Geister. Ich hab noch nie einen Geist gesehen. Vielleicht sind die Geschichten wahr, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur eins: Wenn du mein Sohn oder mein Enkel w ä r s t , wollte ich nicht, daß du dich da oben rumtreibst. Ganz bestimmt nicht!" setzte er nachdrücklich hinzu. Als Dennis zur Tür ging, schaute Cal zum Fenster hinaus und sah, daß es schon dunkel geworden war. „Komm, Junge", sagte er und zeigte auf den Lieferwagen im Hof. „Du kannst jetzt nicht mehr nach Hause laufen. Hier draußen gibt's keine Straßenlampen. Ich fahr dich heim." Verblüfft folgte Dennis dem alten Mann zu dessen Wagen.
8. KAPITEL „Bist du okay, Dennis?" fragte Mrs. Hale, nachdem sie eine Weile beobachtet hatte, wie ihr Sohn das Essen auf dem Teller hin und her schob. „Klar, Mom," Dennis schaute nicht auf. „Was hast du denn heute nachmittag gemacht?" „Nicht viel. Ich bin ein Stück die Landstraße entlanggelaufen." Wenigstens w a r es nicht gelogen. „Hat dich nicht ein Lieferwagen heimgefahren? Wem gehört der?" fragte sein Vater neugierig. Abrupt schob Dennis seinen Stuhl zurück und stand auf. „Könnt ihr mich nicht in Frieden lassen?" brüllte er und lief aus dem' Zimmer. Seine Eltern schauten sich entgeistert an. „Vielleicht hatte er Streit mit Janet", sagte seine Mutter schließlich. „Du weißt doch, wie Jungen in diesem Alter sind." Mr. Haie seufzte. „Vielleicht hast du recht. Und vielleicht behandeln wir ihn immer noch wie einen kleinen Jungen, wenn wir ihn mit Fragen löchern. Es fällt mir einfach schwer, zu glauben, daß er bald achtzehn wird." Von dem Telefon im oberen Stockwerk aus rief Dennis sofort Adrian an. „Hör zu, ich muß dich heut abend noch sprechen." „Was gibt's?" „Ich hab da ein paar Fragen zu dem verrückten Platz oben in den Felsen." „Komm rüber", sagte Adrian. „Könntest du mich abholen? Ich hab gerade Ärger mit meinen Eltern und will unter keinen Umständen um den Wagen bitten." Dennis wußte, daß Adrian niemanden um irgend e t w a s bitten mußte, und für einen Augenblick beneidete er ihn um seine Freiheit. „Okay. In einer Viertelstunde bin ich bei dir. Warte draußen auf mich." Nachdem Dennis aufgelegt hatte, holte er ein Buch v o m Bücherregal. Er blätterte es durch, bog bei ein paar Seiten die Ecken um und nahm es dann mit in sein Zimmer. Dort ging er nervös auf und ab und dachte über das nach, w a s er in den letzten Stunden erlebt hatte. Die Sache in der Höhle hatte ihn mitgenommen. Er w a r sich immer noch nicht darüber im klaren, ob es Wirk-
lichkeit gewesen w a r , oder ob er sich alles nur eingebildet hatte. Das, w a s ihm Cal Stark dann von dem prähistorischen Monster erzählt hatte, w a r auch nicht gerade sehr beruhigend gewesen. Der einzige, mit dem er über all das reden konnte, w a r Adrian. Dennis zog seine Jacke an und verließ leise das Haus. Er brauchte nicht lange auf Adrian zu w a r t e n . „Fahr ein Stück die Straße runter. Ich will nicht, daß meine Eitern den Jeep hier sehen." „Gab's Ärger?" fragte Adrian mitfühlend. „Muß ganz schön nerven, w e n n man ständig jemandem Rechenschaft darüber ablegen muß, w a s man t u t und wohin man geht." „Das ist es nicht. Heut w a r nur einfach ein verrückter Tag. Zu viel ist passiert, w a s ich nicht verstehe." „Hier." Adrian drückte ihm ein Buch in die Hand. „Lies das. Aber paß gut drauf auf. Ich glaube nicht, daß es hier irgendwo ein zweites Exemplar davon gibt." Mit zusammengezogenen Brauen las Dennis den Titel: „Heidnische Legenden aus dem Nordosten". Auf der ersten Seite stand der Name des Autors, eines französischen Priesters, und das Erscheinungsjahr, 1795. Dennis schüttelte den Kopf und wollte Adrian das Buch zurückgeben. „Von der Sorte hatte ich heute schon genug. Mehr verkrafteich nicht." „Komm, hab dich nicht so. Lies es." Ein lauernder Unterton lag in Adrians Stimme. „Ich dachte, du stehst auf Horrorgeschichten." Nicht im wirklichen Leben, dachte Dennis. Mit einem Seitenblick auf Adrian schlug er das Buch an der mit einem Lesezeichen markierten Stelle auf. Der Name „Mogar" sprang ihm gleich mehrfach in die Augen. Während er ein paar Seiten weiterblätterte, bemerkte er in einem, wie er hoffte, unverfänglichen Ton: „Übrigens, ich w a r heut nachmittag noch auf der Farm von Cal Stark." Adrian zuckte unmerklich zusammen. „Was hat er dir erzählt?" Er grinste. „Du weißt j a , daß er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat." „Nein, das wußte ich nicht. Und ich glaube auch nicht, daß es stimmt. Aber egal, ich wollte von ihm erfahren, w a s er über die Wailing Rocks weiß. Schließlich kamen seine Vorfahren bereits vor zweihundert Jahren hierher. Da hab ich mir gedacht, daß er eigentlich eine ganze Menge über Ashton wissen müßte." „Und? Hast du w a s erfahren?" „O j a . Er sagt, daß die gruselige Zeichnung auf dem Boden der Höhle . . . " „Er w a r in der Höhle?" fragte Adrian scharf. „Klar. Er meint, jeder, der hier wohnt, w a r mindestens einmal im Le-
ben oben. Aber w a s ich s a g e n wollte: Vor hundert oder gar t a u s e n d Jahren haben die Leute d a s Wesen verehrt. Und nicht nur das, sie haben ihm auch geopfert. Sie hielten das Ungeheuer für d a s ursprünglich Böse. Cal glaubt, es sei ihr Teufel g e w e s e n . „Das ursprünglich Böse, damit kann er recht haben", meinte Adrian. „Übrigens, wie h a t dir die Show gefallen, die ich h e u t e nachmittag inszeniert h a b e ? Nicht schlecht, w a s ? Viele meiner Ideen hab ich a u s alten Büchern wie diesem hier." „Aber ich hab den eisigen Wind echt gespürt, und den Gestank neulich hab ich wirklich gerochen!" rief Dennis. „Und dann diese schrecklichen Geräusche! Mir läuft's jetzt noch kalt den Rücken runter. Wie h a s t du d a s alles bloß gemacht?" Mit einem selbstzufriedenen Lächeln erklärte Adrian: „Was w ü r d e s t du zu einem Tonband s a g e n mit den Geräuschen drauf? Den Gestank h a s t du ja schon im Auto gerochen, als wir hochfuhren. Da w a r e n nur zwei dicke Plastiktüten drum herum, deshalb w a r ' s nicht ganz so schlimm wie in der Höhle." „Wo ist d a s Tonband? Ich würd's gern noch mal hören." „In meinem Zimmer. Wenn du d a s nächstemal vorbeikommst, spiel ich dir's vor." „Und wie h a s t du d a s mit dem Nebel g e m a c h t ? Daß er menschliche Formen angenommen hat, mein ich?" Adrian lächelte. „Das ist d a s Allerbeste. Damit hab ich nichts zu tun. Von einem bestimmten Punkt ab hat dir nämlich deine Fantasie einen Streich gespielt. Zuerst w u ß t e ich gar nicht, wovon ihr eigentlich redet." Du lügst, d a c h t e Dennis. Er w u ß t e es instinktiv. Warum Adrian ihn anlog, w a r ihm allerdings schleierhaft. Deshalb beschloß er, Adrians Spiel mitzuspielen. „Die Show w a r super, Adrian, d a s muß dir der Neid lassen. Wissen die anderen d a s alles?" „Bist du v e r r ü c k t ? Das erzähl ich nur dir, weil du wahrscheinlich ohnehin darauf gekommen w ä r s t . Außerdem kann es sein, daß ich bei ein p a a r neuen Effekten deine Hilfe brauche. Ich denke, wir geben ein g u t e s T e a m ab." „Hast du mir deshalb d a s Buch gebracht?" erkundigte sich Dennis. „Hör mal, wir könnten doch eine Quarzlampe mit hinaufnehmen und den R e s t der Höhle auskundschaften." „Hab ich schon gemacht", erwiderte Adrian rasch, „es gibt nichts Int e r e s s a n t e s mehr. Bloß ein paar Nischen und Spalten. Ich w a r ziemlich enttäuscht." Dennis h a t t e seine Zweifel. „Bist du sicher, daß du auch nichts übersehen h a s t ? "
„Ganz sicher," Der Ton in Adrians Stimme machte ganz deutlich, daß das Thema für ihn abgeschlossen war. „Ich nehme an, es gibt irgendwo einen Gang durch den Berg, der auf der anderen Seite herauskommt. Wenn da der Wind durchpfeift, entstehen die schauerlichen Geräusche." Dennis nickte. „Das leuchtet mir ein. Was ist mit den Opfergaben?4* „Was soll damit sein?" fragte Adrian Säuernd. „Na ja, w a s hattest du in denPlastiktüten?" „Ach, allerhand Zeug, Abfälle aus dem Restaurant, die ich mir zusammensuche, damit ich w a s in das Loch werfen kann." Wieder nickte Dennis. „Und Mogar? Wie paßt der dazu?" „Was meinst du?" fragte Adrian scharf. Dennis stellte ihm entschieden zu viele Fragen. „Ich hab seinen Namen in dem Buch gelesen", antwortete Dennis hastig. Er wollte nicht zu neugierig erscheinen. „Der große Mogar ist nur Teil des Rollenspiels, oder?" „Möglicherweise änderst du deine Meinung über ihn, wenn du erst das Buch gelesen hast. Geräuscheffekte sind eine Sache, aber in dem ungewöhnlich kalten Winter von 1816 ist tatsächlich e t w a s Schreckliches passiert, und nach dem hunderjährigen Kalender sollen wir dieses Jahr den härtesten Winter seit langem kriegen." „Soll das heißen, du glaubst echt an das Zeug?" fragte Dennis ungläubig. „Also, bei dir blick ich langsam überhaupt nicht mehr durch» Zuerst willst du mir einreden, daß du uns in der Höhle w a s vorgespielt hast» und jetzt könnte man fast meinen, dieser Mogar würde für dich wirklich existieren." Er schüttelte den Kopf. „Wenn du das betreffende Kapitel gelesen hast, reden wir wieder drüber", sagte Adrian, während er rückwärts in die Auffahrt zu Dennis Haus einbog. „Okay. Und danke, daß du rübergekommen bist." Dennis stieg aus und ging aufs Haus zu. , „Je, Dennis", rief Adrian ihm leise nach. „Denk dran, das bleibt zwischen uns beiden." „Versteht sich." In Gedanken fügte Dennis hinzu: Oder glaubst du, ich will, daß mich die Leute für so verdreht halten wie dich? In der Diele zog Dennis erst mal seine Jacke aus, dann ging er zu seinen Eltern ins Wohnzimmer. „Entschuldige, Mom." Er gab seiner Mutter einen Kuß auf die Wange. „Und du auch, Dad. Ich hab vorhin einfach die Nerven verloren. Aber ich hab einen harten Tag hinter mir und bin ziemlich geschafft." „Ist schon okay, Dennis", sagte sein Vater und schaute von seinem Buch auf. „Mußt du noch Hausaufgaben machen?" „Ich m a c h mich gleich d r a n . Gute Nacht."
In seinem Zimmer m a c h t e Dennis es sich auf seinem B e t t bequem und schlug d a s Buch auf. Nachdem er die e r s t e n paar Sätze gelesen h a t t e , erinnerte er sich plötzlich wieder daran, wie unwohl er sich jedesmal gefühlt h a t t e , w e n n er in die Nähe der in den Höhlenboden eingeritzten Malerei gekommen w a r . Als er sie d a s erstemal berührt h a t t e , w a r ihm g e w e s e n , als ziehe e t w a s an ihm und wolle ihn willenlos und gefügig machen. Beim zweitenmal w a r er fast in Trance gefallen, als er d a s Auge und die Tentakel anstarrte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er fragte sich, ob es d a s flackernde Kerzenlicht g e w e s e n w a r oder Adrians Beschwörungen oder die g r o t e s k e Zeichnung, die ihm so zugesetzt h a t t e — oder w a r es e t w a s a n d e r e s g e w e s e n ? E t w a s so Schreckliches, daß nicht einmal d a s g e s t ö r t e s t e Hirn es sich vorstellen konnte? Am liebsten h ä t t e er Adrians Buch in die Ecke geworfen, doch die Neugier hinderte ihn daran, und er begann wieder zu lesen. Er mußte herausfinden, w a s hinter dem grausigen Wesen s t e c k t e , d a s der große Mogar genannt w u r d e . Etliche Stunden s p ä t e r klappte Dennis d a s Buch zu und ließ sich aufs B e t t fallen. G e i s t e s a b w e s e n d s t a r r t e er an die Decke. Unten im Wohnzimmer schlug die Uhr Zwei. Das Buch w a r eine trockene, sachliche Wiedergabe indianischer Legenden. Obwohl es schrecklich langweilig geschrieben war, h a t t e Dennis nicht aufhören können zu lesen. Die Indianer h a t t e n dem französischen Priester von Ungeheuern erzählt, die auf der Erde lebten, bevor der Große Geist die Sonne erschuf. Die Beschreibung dieser Ungeheuer paßte haargenau auf die Zeichnung in der Höhle. Diese Kreaturen, die in einer Kälteperiode e n t s t a n d e n w a r e n , verm e h r t e n sich rasch w ä h r e n d der „Großen Kälte", wie die Indianer die Eiszeit in ihren Legenden nennen. Als diese Zeit zu Ende ging, s t a r b e n die Wesen aus, alle bis auf eines. Dieses eine überlebte, weil es sich in eisige Höhlen im Erdinnern zurückzog. Dort schläft e s , nach dem Glauben der Indianer, bis es auf der Erde wieder kalt genug ist, daß es zurückkommen kann, w a s h ö c h s t e n s einmal alle hundert J a h r e der Fall ist. Den Legenden zufolge lebten die S t ä m m e dieser Gegend in ständiger Angst vor einem ungewöhnlich kalten Winter, der den großen Mogar aufwecken könnte. Die Geschichte ging noch weiter. Für die Indianer w a r dieses Wesen nicht einfach ein wildes Tier. Sie glaubten, daß es mit den Menschen über d a s Unterbewußtsein Kontakt aufnehmen könne, daß es seine Opfer hypnotisierte, wie eine Schlange d a s Kaninchen hypnotisiert, und
Opfer verlange, um seinen Hunger zu stillen. Dennis ließ das Buch sinken und schloß die Augen. Er sah die Zeichnung an den Höhlenwänden so deutlich vor sich, als stünde er direkt davor. Dann rief er sich noch einmal ins Gedächtnis, w a s Cal Stark ihm über die Katastrophe von 1816 erzählt hatte. Das Buch w a r zwanzig Jahre vorher geschrieben worden. Irgendwie mußten Tatsachen und Legende sich in den Köpfen der Leute von Ashton vermischt haben. Es müßte eine absolut logische Erklärung geben für das, w a s damals passiert war. Natürlich hatten sich nach einiger Zeit alle wieder beruhigt, und die Sache w a r in Vergessenheit geraten. Bis Adrian sie wieder ausgrub und zur Grundlage eines Rollenspiels machte, das inzwischen seltsam wirklichkeitsnah geworden w a r . Das w a r das nächste Rätsel. Wieviel von all dem glaubte Adrian t a t sächlich? Er hatte um die Legende von Mogar ein Fantasy-Rolienspiel entworfen. Aber glaubte er wirklich, daß es ein solches Wesen gegeben hatte, daß es im Winter 1816 auf die Erde gekommen w a r und soviel Unheil angerichtet hatte? Und glaubte er auch, Mogar würde in diesem Jahr wiederkommen, weil ein ungewöhnlich kalter Winter vorausgesagt worden w a r ? Wenn ja - weshalb wollte er ganz bewußt auf die Jagd nach diesem Wesen gehen? Und welche „Opfer" plante er, um Mogars Hunger zu stillen? Dennis seufzte. A n s t a t t Klarheit in die Angelegenheit zu bringen, hatte ihn das Buch nur noch mehr verwirrt. Er hatte mehr Fragen - und mehr Zweifel — denn je. Vielleicht hatte Janet doch recht gehabt. Vielleicht sollte er Adrian sagen, daß er keine Lust mehr hatte, bei dem Spiel mitzumachen. Doch Dennis wußte, er würde das nicht fertigbringen. Solange auch nur die geringste Chance bestand, daß Mogar tatsächlich existierte und möglicherweise zurückkommen könnte, würde Dennis w e i t e r mitspielen. Es w a r viel zu aufregend, um jetzt aufzuhören. Seine Neugier würde, das nicht zulassen.
Dennis gab Adrian das Buch am nächsten Morgen vor der Englischstunde zurück. „Und?" fragte Adrian und schaute ihn scharf an. Dennis zögerte. Schließlich sagte er: „ich hab mir die halbe Nacht damit um die Ohren geschlagen. Die Idee, auf dieser Legende ein Rollenspiel aufzubauen, w a r super."
„Ich hab g e h o f f t , daß du so denken w ü r d e s t " , meinte A d r i a n lächelnd. Dann s e n k t e er die S t i m m e . „Können w i r uns nach deinem Training h e u t e n a c h m i t t a g t r e f f e n ? Ich w ü r d e g e r n ein paar neue Ideen m i t dir durchsprechen. 1 4 Dennis s c h ü t t e l t e den Kopf. „ T u t mir leid, Adrian, h e u t e geht's nicht. Ich hab zu Hause drei A u f t r ä g e liegen und hab v e r s p r o c h e n , sie alle bis z u m Ende der Woche zu erledigen. 48 Es w a r , als w ü r d e Adrian einen V o r h a n g zuziehen. Das v o r ü b e r g e hende Gefühl der Nähe w a r w i e d e r w e g . „Wann h a s t du denn mal Zeit?44 e r k u n d i g t e er sich kühl. „Als ich dich zu m e i n e m P a r t n e r m a c h t e , ging ich eigentlich d a v o n aus, daß das Spiel v o n j e t z t ab auch f ü r dich absoluten V o r r a n g v o r allem anderen hat.44 „ V o r r a n g haben im Augenblick die drei A r b e i t e n , die ich v e r s p r o c h e n habe zu tippen. 44 Um nicht gar zu unkameradschaftlich dazustehen, l e n k t e Dennis ein. „Laß mich die A u f s ä t z e noch f e r t i g m a c h e n . Dann w e r d e ich darauf a c h t e n , daß nichts m e h r dazwischenkommt. 4 4 „ A u c h J a n e t nicht? 44 f r a g t e A d r i a n scharf. Dennis z ö g e r t e . Bald w ü r d e die Halloween-Party in der Schule steigen, und er w o l l t e m i t Janet hingehen. Er schaute Adrian an und s a g t e in unmißverständlichem T o n : „Die Samstagabende gehören mir.44 Am A b e n d rief Dennis Janet a n , um sie zu f r a g e n , ob sie m i t ihm zu der H a l l o w e e n - P a r t y gehen wolle. Ihre S t i m m e klang niedergeschlagen. „Oh, Dennis, ich hab die ganze Zeit g e w a r t e t , daß du mich f r a g s t , aber wahrscheinlich h a t t e s t du zuviel zu t u n . J e t z t h a t Lee Phillips mich g e f r a g t , und ich hab ja gesagt. 44 Dennis s p ü r t e einen Stich in der B r u s t . Er k o n n t e es einfach nicht glauben. „ T u t mir leid44, f u h r Janet f o r t , „ich d a c h t e , du w ü r d e s t nicht hingehen und h ä t t e s t deshalb noch nichts g e s a g t . . ." „Ist schon o k a y , Janet. Es ist meine Schuld. Ich h ä t t e f r ü h e r den M u n d a u f m a c h e n sollen.44 „ D u , Dennis, sie haben Schnee v o r a u s g e s a g t f ü r s Wochenende. H a s t du s c h o n gehört? 44 „Was?44 rief er. „So ungewöhnlich ist das nicht. Wir haben schon ö f t e r im O k t o b e r Schnee gehabt. A b e r w i e sieht's aus? Hast d u a m S a m s t a g m o r g e n Lust zum Skifahren, falls die W e t t e r f r ö s c h e r e c h t behalten? 44 „Und ob ich Lust hab!44 „Super! Dann k ö n n e n w i r nur noch h o f f e n , daß die V o r h e r s a g e auch stimmt. 44 Eine Weile s t a n d Dennis noch da und s t a r r t e den Hörer an. Dann legte
er auf.
Schnee im Oktober. Wieviel wußte Adrian Furoile? Dennis ging nach unten in das Zimmer, in dem der Computer stand. Er schaltete ihn ein und w a r t e t e , bis das Gerät betriebsbereit w a r . Dann holte er ein Zusatzgerät aus dem Schreibtisch, schloß es an den Comput e r an und legte es daneben. Auf dem Tisch stand das Telefon. Er hob den Hörer ab urtd wählte die Nummer auf dem Papierstreifen, den sein Vater auf die Unterseite des Apparats geklebt hatte. Bei dem Zusatzgerät handelte es sich um ein Modul oder einen Akustik-Koppler. Damit konnte er per Telefon von einer Datenbank Informationen abrufen. Noch wußte er nicht, wie er den Anruf erklären sollte, wenn die nächste Telefonrechnung kam. Aber mit dem Geld, das er mit der Schreiberei für seine Schulkameraden verdiente, konnte er es ja bezahlen. Ein leiser Piepton sagte ihm, daß die Verbindung hergestellt war. Er gab einen Befehl ein und w a r t e t e . Ein Surren ertönte, dann erschien die Information auf dem Bildschirm. Beim Lesen wurden seine Augen immer größer. Er gab einen neuen Befehl ein. Mit dem gleichen Surrton verschwanden die Daten auf dem Bildschirm, und neue erschienen. Ungläubig las er, w a s da stand. Eine halbe Stunde später schaltete Dennis den Computer aus. Ihm schwirrte der Kopf. Den ganzen Abend über w a r er sehr schweigsam.
9. KAPITEL Am Mittwochmorgen w a r t e t e Dennis vor der Schule auf P e t e Woodward. „Hallo, Dennis, w a s gibt's?" „Hast du eine Minute Zeit?" „Klar." P e t e sah Dennis prüfend an. „Ist was?" „Ach, ich weiß nicht recht. Ich muß nur mal mit jemanden außer Adrian über d a s Spiel reden/' P e t e nickte. „Seh weiß, w a s du meinst. Mir hat's in letzter Zeit auch ein bißchen zugesetzt." Beide gingen ein Stück über den Schulhof, um in Ruhe reden zu können. „Wie lange kennst du Adrian schon?" fragte Dennis. P e t e überlegte. „Seit dem Kindergarten. Er w a r schon immer ein bißchen verdreht", fügte er mit einem verlegenen Lachen hinzu. „Du kannst dir nicht vorstellen, w a s der alles angeschleppt hat, um Aufmerksamkeit zu erregen." „Vielleicht doch." Dennis dachte an Adrians Zimmer. „Und wie w a r er s o n s t früher?" „Irgendwie a n d e r s als die anderen. Er h a t t e schon immer eine Wahnsinnsphantasie. Manchmal erzählte er uns aus seinem früheren Leben, und das w a r lange, bevor einer von uns e t w a s von Reinkarnation gehört h a t t e . Er h a t t e ständig irgendwelche Freunde, die nur in seiner Einbildung existierten, und berichtete uns von Ungeheuern, die er in seinen Träumen g e s e h e n h ä t t e . Weil er immer so tolle Geschichten erzählte, w a r er eine Zeitlang sehr beliebt in der Klasse, doch dann haben die Jungen angefangen, sich für andere Dinge zu interessieren, und ihn mehr oder weniger links liegen lassen. Inzwischen sind es nur noch wenige, die überhaupt mit ihm reden." „Was meinst du — wie ernst nimmt Adrian das Rollenspie!?"
P e t e s c h a u t e ihn unsicher an. „Worauf willst du hinaus?" „Wie e r n s t nimmst du e s ? " k o n t e r t e Dennis. „Für mich ist es Spaß", verteidigte sich P e t e , „mehr nicht." „Für Adrian auch?" „Nein." P e t e w a r sauer. „Hör zu, Dennis, Adrian ist ein bißchen ver-
dreht, aber ich mag ihn. Wir sind schon jahrelang b e f r e u n d e t . . . " „ich mag ihn auch", unterbrach Dennis, „aber ich versuche mir darüber klarzuwerden, in w a s w i r uns da reinmanövrieren." „Wie meinst du das?" „Ich hab gestern abend mal ein bißchen nachgeforscht. Hat Adrian euch gesagt, daß diese ganze Mogar-Geschichte auf indianischen Legenden basiert? Und nicht nur indianische. In der Chronik von Ashton steht, daß dieser Mogar im Winter 1816 wirklich erschienen ist." „Na und? Jede Stadt hat ein paar Gruselgeschichten aufzuweisen." „Möglich. Aber ich hab noch weiter nachgeforscht. Der Winter von 1816 w a r tatsächlich der kälteste seit Menschengedenken. Zumindest hier im Nordosten. Noch lange hinterher sprachen die Leute v o m Winter von ,achtzehnhundertundsechzehn\" So"3" „Ja, so. Und insofern passen die Geschichten von Mogar und die Tatsache, daß "1816 tatsächlich der härteste Winter seit Urzeiten w a r , zusammen." Dennis schaute Pete eindringlich an. „Wieweit hat Adrian euch eingeweiht? Hat er euch gesagt, daß Mogar ein Wesen aus der Eiszeit ist, das nur auf der Erde erscheint, w e n n dort Stein und Bein gefroren sind?" Pete schüttelte den Kopf. „So sagen es jedenfalls die Legenden. Aber ich hab noch eine wichtige Information für dich. Dieselben Voraussetzungen, die den Winter von 1816 zu dem Jahrhundertwinter gemacht haben, der er war, scheinen auch für dieses Jahr zuzutreffen. Einige sehr angesehene Wissenschaftlicher gehen davon aus, daß w i r den kältesten Winter seit über 100 Jahren kriegen." „Was willst du damit sagen?" fragte Pete scharf. „Gar nichts. Ich versuche nur herauszufinden, auf was wir uns da einlassen." Nach der Englischstunde sprach Dennis Adrian an. „Wollen w i r uns heute nach der Schule treffen?" fragte er. Er wollte unbedingt mit Adrian reden, um noch ein paar Informationen aus ihm herauszuholen. „Nein. Wir brauchen uns in nächster Zeit nicht zu sehen." Der abwesende Ausdruck in Adrians Augen beunruhigte Dennis. Auch w e n n er Adrian nicht sonderlich mochte, machte er sich doch langsam Gedanken über dessen Geisteszustand. „Aber gestern . . . " „Ich hab gesagt, wir brauchen uns in nächster Zeit nicht zu sehen", fuhr Adrian ihn w ü t e n d an. Seine Augen blitzten, als er sich umdrehte und den Flur hinuntermarschierte. „Wow", hörte Dennis jemanden hinter sich sagen. „Seine verdrehte
Exzellenz hat heute aber äußerst schlechte Laune, was?" Er drehte sich um. „Komm, Janet, laß ihn doch in Ruhe." „Du willst dir wohl einen Heiligenschein verdienen, wie? Aber.komm, laß uns zum Mittagessen gehen. Dabei können wir uns überlegen, wie w i r das am Samstag mit dem Skifahren machen. „Falls es überhaupt Schnee gibt", gab Dennis zu bedenken. „Mach dir darüber keine Gedanken. Es wird schneien, das spür Ich/'
Arn Freitagmorgen w a r es hell und klar und fast unnatürlich w a r m , Das war's dann wohl mit dem Skifahren, dachte Dennis. Und mit Mogar. Er fragte sich, w a s Adrian machte. Und damit stand er nicht allein da, die ganze Gruppe fragte sich das. Sie w a r t e t e n ständig darauf, daß er das nächste Treffen einberief, doch jedesmal, wenn ihp jemand darauf ansprach, meinte er, die Zeit sei noch nicht reif. N a j a , dachte Dennis, vielleicht ist. das Spiel zu Ende. Bis jetzt hat's Spaß gemacht. Er seufzte. Es w a r seltsam. Immer wieder hatte er sich überlegt, ob er aus der Gruppe aussteigen solle. Doch jetzt, wo es so aussah, als w ü r d e sie ohnehin auseinandergehen, wußte er, daß ihm die Treffen sehr fehlen würden. Er hatte die prickelnde Aufregung irgendwie genossen. Adrian erschien an diesem Tag nicht in der Schule. Ohne ihn schienen die anderen Gruppenmitglieder aufgeschmissen. Dennis w a r froh» daß er'sich für den Samstag mit Janet verabredet hatte. Morgens wollten sie skifahren und abends ins Kino. So konnte er sich wenigstens auf etw a s freuen. Nach der Schule s t ü r m t e er nach Hause, schnappte sich ein Stück Käse und eine Handvoll Kräcker und setzte sich an den Computer, um die nächsten Aufträge zu erledigen.-Das Geschäft lief gut, doch an diesem Tag w a r er schrecklich unkonzentriert und konnte nicht ruhig sitzenbleiben." „Warum läufst du nicht ein paar Meilen?" fragte seine Mutter, nachdem er zum drittenmal in die Küche marschierte und den Kühlschrank öffnete, ohne etwas herauszunehmen. „Vielleicht siehst du anschließend klarer." „Keine schlechte Idee", meinte Dennis. Das Training würde nicht schaden, und er wußte, daß er danach immer ruhiger w a r . Also zog er seinen Trainingsanzug an und machte sich auf den Weg. Nach ungefährt einer Viertelstunde merkte er, daß er in Richtung Wäiling Rocks lief. Ein Zufall w a r das nicht. Er hatte diesen Weg eingeschlagen — ob bewußt oder unbewußt, spielte keine Rolle.
Und plötzlich wußte er auch, weshalb. Er hatte das ganz merkwürdige Gefühl, daß Cal in Schwierigkeiten war, daß er Dennis irgendwie brauchte. Er beschleunigte sein Tempo und lief in Richtung Farm. Eine halbe Stunde später blieb er stehen und sah sich irritiert um. War er an der Farm vqrbeigelaufen? Auf der richtigen Straße w a r er, das stand fest. Er zuckte mit den Schultern. Schon früher w a r es ihm manchmal so gegangen, daß er beim Laufen gar nicht mehr mitbekommen h a t t e , w a s um ihn herum geschah. Er mußte an der Farm vorbeiget r a b t sein, ohne sie zu sehen. Also machte er kehrt und rannt den Weg wieder zurück. Das ungute Gefühl v e r s t ä r k t e sich. Es wurde immer, bedrückender, je näher er dem Feldweg kam, der zu Cal Starks Farm führte. Irgend e t w a s stimmte nicht. Im nächsten Moment blieb Dennis wie angewurzelt stehen. Ein Schrei entfuhr ihm. Er hatte die Zufahrt zur Farm erreicht. Aber es gab keine Farm mehr. Fassunglos starrte Dennis auf die Stelle, wo sie hätte sein sollen. Es w a r , als sei ein Tornado über das Gelände gefegt. Das Haus und die Ställe w a r e n plattgewalzt. Bretter, Steine und Möbelstücke lagen über den ganzen Hof verstreut. Eine tödliche Stille lag über dem Platz. Keines der Tiere w a r zu sehen. Wo w a r Cal? Dennis machte einen Schritt v o r w ä r t s . Da drehte der Wind und t r u g ihm einen unerträglichen Gestank zu. Dennis schluckte hart. Derselbe Gestank w a r aus dem Loch in der Höhle gekommen. Dennis hielt sich das Oberteil des Trainingsanzugs vor Mund und Nase und kämpfte gegen die Übelkeit an. Dann lief er los. Vielleicht w a r Cal irgendwo zwischen den Trümmern eingeklemmt. Möglicherweise w a r er im Keller. Er mußte sehen, ob der alte Mann Hilfe brauchte. Der Gestank w a r nicht auszuhalten. Trotzdem ging Dennis weiter. Von dem alten Mann w a r keine Spur zu sehen. Zuerst schaute Dennis im Keller nach. Kein Cal. Vorsichtig sah er sich um. Wer oder w a s konnte eine solche Verwüstung angerichtet haben? Er ging langsam um das herum, w a s von dem Haus noch übrig w a r . Als er um die Ecke bog, stockte er. Starr vor Entsetzen stand er einen Augenblick lang mit w e i t aufgerissenen Augen da. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief davon, w e g von der v e r w ü s t e t e n Farm. Es hatte angefangen zu schneien. Dennis saß neben einem Polizeibeamt e n im Wagen und beobachtete, wie die großen, weichen Flocken immer dichter fielen, bis aus dem Herbstwind ein eisiger Schneesturm geworden war.
„Ich weiß wirklich nicht, w a r u m ich noch nicht nach Florida gezogen bin", sagte der Polizist. Er mußte die Augen zusammenkneifen, um die Straße v o r sich zu sehen. Ein zweifelnder Blick t r a f Dennis. „Ich hoffe in deinem Interessee, daß an der Geschichte w a s dran ist, Junge. In diesem Sauwetter durch die Gegend zu fahren, macht nämlich keinen Spaß." Dennis schwieg. Es hatte lange genug gedauert, bis er den Leiter der Polizeistation davon überzeugt hatte, daß es besser sei, jemanden zu Cals Farm hinaufzuschicken. Er hatte den Fehler begangen, sofort zur Polizei zu laufen, verschwitzt und geschockt, wie er war, um die ganze Geschichte ohne Punkt und Komma herauszusprudeln. Sie hatte sich offenbar so verrückt angehört, daß ihm zunächst kein Mensch geglaubt h a t t e . Einer der Beamten hatte sogar vorgeschlagen, ihn in die Tüte blasen zu lassen, um festzustellen, ob er getrunken hatte. Als Dennis das begriffenhatte, zwang er sich so w e i t zur Ruhe, daß er ihre Fragen beantworten konnte. Allerdings sagte er nicht alles, w a s er gesehen hatte. Das w a r so unwahrscheinlich, so absolut irrwitzig, daß sie es ihm doch nicht abgenommen hätten. Schließlich hatte er sie wenigstens so weit, daß sie ihm glaubten, daß auf der Stark-Farm e t w a s nicht in Ordnung war, und sie beschlossen, einen Beamten mit ihm hinauf zuschicken. „Ich glaube, w i r müssen jetzt hier rechts ab", sagte der Polizist gerade. Er s t a r r t e angestrengt durch die Windschutzscheibe. Die Flocken fielen immer noch gleichmäßig und ununterbrochen, doch weniger dicht als vorher. „Aha, da ist die Straße. Ich w a r schon jahrelang nicht mehr hier oben auf Cals Farm. Was soll passiert sein, hast du gesagt?" „Warten Sie's ab." Dennis wollte sich nicht noch einmal lächerlich machen. „Halt. Hier ist die Zufahrt." „Das ist doch nicht Cals Farm", erwiderte der Polizist. „Hier ist ja w e i t und breit kein Haus." Mit Dennis' Beherrschung w a r es vorbei. „Das versuche ich Ihnen ja die ganze Zeit klarzumachen!" Sie bogen in die Auffahrt ein. „Du bleibst hier", befahl der Polizist, doch Dennis stieg gleichzeitig mit ihm aus dem Wagen. Der Mann sagte nichts mehr. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck ungläubigen Staunens, als er sich auf dem Hof umschaute. „Was zum Teufel ist hier los?" fragte er. „Warum hast du uns nicht gesagt, daß die ganze Farm nur noch ein Trümmerhaufen ist?" „Ich hab's versucht", erwiderte Dennis einfach. Mit dem Fuß drehte der Polizist ein loses B r e t t um. Fast drei Zentimet e r Schnee lagen bereits darauf. Irgend e t w a s irritierte Dennis. Und plötzlich wußte er, w a s es war.
Der Gestank war weg. Das muß am Schnee liegen, der alles zudeckt, dachte er. Trotzdem war er wieder völlig durcheinander. Da er angenommen hatte, daß niemand ihm glauben würde, hatte er nichts von dem Geruch gesagt. Das wird die Polizei früh genug feststellen, hatte er gedacht. Mit einem Satz war er bei der Ecke, wo die Grundmauern noch standen. „He, wo willst du hin?" Dennis ging um die Mauerreste herum und blieb abrupt stehen, um nach dem zu suchen, w a s er vorher gesehen hatte. Es war hoffnungslos. Der Schnee hatte alles zugedeckt. Entmutigt ging er zurück zu dem Polizeiauto. Vielleicht hatte er es sich doch nur eingebildet. Jetzt würde er es nie mit Sicherheit wissen. Doch als er das erstemal da gestanden hatte, hätte er schwören können, daß eine Spur auf dem Boden war - wie von einem schweren Körper - und Abdrücke, die nur von suchend ausgestreckten Tentakeln stammen konnten.
„Dennis, Dennis!" Mr, Hale rüttelte seinen Sohn an der Schulter. „Ein Freund von dir ist da. Er scheint ziemlich durcheinander. Ich hab ihm gesagt, daß du schläfst." Mit einem Ruck setzte Dennis sich auf. „Ist es Adrian?" „Nein. Er heißt Pete." Dennis seufzte. Noch am Abend vorher, gleich nachdem er nach Hause gekommen war, hatte er versucht, Adrian zu erreichen. Niemand im Restaurant hatte gewußt, wo er war. nach dem ganzen Hickhack auf dem Polizeirevier und dem mühsamen Versuch, seinen Eltern alles zu erklären, war er dann zu müde gewesen, um noch einmal anzurufen. Wie ein Stein war er ins Bett gesunken und sofort eingeschlafen. Im Traum hatte ihn der große Mogar verfolgt. Die halbe Nacht hatte er von einem Opferzeremoniell geträumt, bei dem ein primitiver Stamm dem hungrigen Ungeheuer ein junges Mädchen übergab. Und in seinem Traum hatte Dennis erkannt, daß Mogar nicht nach Menschenfleisch hungerte, sondern nach der Seele des Menschen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Dennis?" „Was? Oh, Entschuldigung, Dad. Sag Pete, ich komm sofort runter." Nachdem sein Vater gegangen war, dachte Dennis noch einmal voll Dankbarkeit daran, wie verständnisvoll seine Eitern am Abend vorher
gewesen w a r e n . Sie hatten gemerkt, wie erschöpft er war, und hatten nur in groben Zügen wissen wollen, w a s passiert war. Die Polizei hatte sofort alle möglichen Vermutungen angestellt, angefangen von einem schlimmen Tornado bis hin zu einer Explosion. Plötzlich erinnerte sich Dennis wieder, daß einer der Beamten e t w a s gesagt hatte, w a s ihn sehr beunruhigt hatte. Er nahm sich vor, das später nachzuprüfen. Auf der Treppe machte er die letzten Knöpfe seines Hemdes zu. Seine M u t t e r saß vor einer Tasse Kaffe am Küchentisch. Ein sorgenvoller Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. „Bist du okay, Dennis?" „Klar", sagte er, „nur noch ein bißchen müde. Wo ist Pete?" „Im Wohnzimmer. Ich hab ihn gefragt, ob er mit uns frühstücken will, aber er meinte, er habe schon gegessen." Pete saß auf der Couch. Als Dennis ins Wohnzimmer kam, schaute er auf. Erschrocken blieb Dennis stehen. Pete sah total verändert aus, irgendwie völlig fertig. „Ich muß mit dir reden", sagte Pete. „Okay." „Unter vier Augen." Dennis sah sich demonstrativ um. „Hier ist niemand außer mir." Pete schüttelte den Kopf. „Ich will nicht, daß deine Eltern w a s mitkriegen." „Dann komm mit nach draußen." Dennis und Pete liefen um das Haus herum zur hinteren Terrasse. Gut zwanzig Zentimeter Schnee lagen bereits, und es schneite immer noch leicht. „Die ganze Stadt spricht von dem Unglück auf Cal Starks Farm", begann Pete. „Das hab ich e r w a r t e t . In einer Kleinstadt machen solche Neuigkeiten schnell die Runde." „Okay. Ich höre. Wer oder w a s hat's getan?" Dennis schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Was meinst du denn?" Pete w a n d t e sich ab. „Keine Ahnung. Es klingt bescheuert, aber. . ." „Nein, so bescheuert ist das gar nicht", meinte Dennis, „mär ist nämlich derselbe Gedanke gekommen. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, und trotzdem will es mir nicht aus dem Kopf. Da w a r dieser Gestank. . ." Pete w u r d e blaß. „Hast du mit Adrian gesprochen?" fragte er. „Nein. Ich hab gestern abend noch versucht, ihn anzurufen, aber er w a r nicht da." „Ich weiß. Er w a r überhaupt nicht zu Hause. Oder er hat sich rein- und wieder rausgeschlichen, ohne daß ihn jemand gesehen hat. Möglich w a r das. Im Augenblick weiß jedenfalls niemand, wo er ist."
Die Frage nach Adrian hatte in Dennis Kopf etwas anderes ausgelöst, „Hör zu", sagte er, „als ich gestern abend bei der Polizei war, erzählte jemand, Cal habe vor einigen Wochen angerufen und gemeldet, daß jemand in seinem Stall w a r und einen Hahn getötet hat. Er sagte, der Betreffende habe dem Tier den Kopf abgehackt. Glaubst du . . . " Er stockte. „Nein, das ist zu ekelhaft. So weit würde nicht mal er gehen." Petes Gesichtsausdruck nach zu schließen, w a r er in diesem Punkt nicht so sicher. „ich glaube, wir sollten zu den Felsen raufgehen", schlug Dennis vor. „Wozu?" „Keine Ahnung. Ich hab nur so ein Gefühl, w i r sollten da mal nachsehen." „Ich will auch mit." Dennis fuhr herum. „Janet! Wo kommst du denn her?" „Deine Mutter sagte, du seist hier. Wir wollten skifahren heute morgen, erinnerst du dich? Außerdem wollte ich wissen, wie's dir geht. Ich hab gehört, w a s du gestern abend mitgemacht hast." „Ich bin okay", erwiderte Dennis. „Gut. Dann können w i r jetzt zu den Felsen hinauf." „He, Moment mal, J a n e t . . ." „Geschenkt. Ich hab die Faxen dicke von eurem Macho-Gehabe und diesen Spielchen unter lauter Männern da oben in den Felsen. Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten hast, will ich mit dir da hoch." Er schaute Pete an. Dieser zuckte bloß mit den Schultern. „Okay", sagte Dennis, „dann kommm mit." Der Schnee glitzerte in der Sonne und ließ die Lichtung seltsam hell und rein erscheinen. Pete parkte den Wagen, und sie stiegen zu den Felsen hinauf. „Ich hab's mir hier schlimmer vorgestellt", sagte Janet. Als sie den Eingang zur Höhle erreichten, w a r f e n sich die beiden Jungen einen kurzen Blick zu. Sollten sie hineingehen? Dennis nickte. Gebückt gingen die drei in die Höhle hinein. Dennis hatte von zu Hause eine Quarzlampe mitgebracht, die er nun einschaltete. Der Effekt w a r umwerfend. Es w a r das erstemal, daß er oder Pete das Innere der Höhle richtig sahen. Janet zog hörbar die Luft ein. „Was ist das?" rief sie. „Indianische Zeichnungen", erklärte Pete. „Früher w a r hier wohl mal eine Opferstätte oder so was." Gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von den Zeichnungen, ging Janet dicht an die Höhlenwand heran, um sie genau zu betrachten. Als sie sich nach Dennis umschaute, lag ein beunruhigter Ausdruck auf ihrem Gesicht. ,,Ich hab wieder dieses Gefühl, über das w i r schon mal gespro-
chen haben. Das, wo man-glaubt, schon mal an dem Ort g e w e s e n zu sein." „De ja vu", s a g t e Dennis. ,;Ja, d a s ist es." Langsam drehte J a n e t sich um. „Ich mag die Höhle nicht." Da fiel ihr Blick auf die Zeichnung auf dem Boden, und sie stieß einen kleinen Schrei a u s . „Das ist Mogar", erklärte P e t e leichthin. J a n e t sah Dennis an. „Komm, laß uns gehen." „Einen Augenblick noch. Ich muß noch w a s nachschauen." Er ging zu dem Loch am hinteren Ende der Höhle, in d a s Adrian die Opfergaben geworfen h a t t e . Zögernd beugte er sich darüber und richtete den Strahl der Quarzlampe hinein. Auf alles mögliche w a r er gefaßt g e w e s e n , nur nicht auf das, w a s er sah. Die Grube w a r leer. Was immer Adrian auch hineingeworfen h a t t e , es w a r verschwunden. Dennis ging zu den anderen zurück. „He, w a s macht ihr da?" rief er. J a n e t und P e t e durchquerten gerade die Höhle. „Ich will hier ein bißchen auskundschaften." J a n e t s Stimme klang fremd. .Mit ein paar Schritten w a r Dennis bei ihr. „Hier gibt's nichts auszukundschaften." „Nein? Und 'was ist'dann das hier?" J a n e t zeigte auf einen Tunnel,' der ins Dunkel führte. Also h a t t e Adrian sie alle angelogen. „Ich glaube nicht . . . " Zu spät. J a n e t w a r schon in den Tunnel geschlüpft:. „Komm", rief sie. „Echt s e h e n s w e r t . " Dennis und P e t e folgten ihr. Nach e t w a fünf Metern standen sie in einer zweiten Höhle. Der Gestank dort w a r unerträglich. „A'den!" „Was?"
Sie d r e h t e sich zu ihm um. „Der Meister w a r t e t . " „Janet!" Dennis p a c k t e J a n e t an den Schultern und schüttelte sie. „Janet!" Ihr Kopf fiel kraftlos auf ihre Brust. Als sie ihn wieder hob, lag ein selts a m e r Ausdruck in ihren Augen. „Bring mich nach Haus, Dennis."
10. KAPITEL Es w a r Mittwochabend. Adrian Furolle saß in seinem Zimmer und streichelte nachdenklich die ausgestopfte Schlange auf seinem Schoß. Immer wieder mußte er an Cal Stark denken. In der Schule sagten alle, so e t w a s sei in Ashton noch nie passiert. Aber das lag nur daran, daß sich niemand mehr an den Winter von 1816 erinnerte, als Menschen und Tiere spurlos verschwanden, und Farmhäuser und Stallungen dem Erdboden gleichgemacht wurden wie durch einen unerwarteten Tornado. Adrian erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Dabei dachte er über das Rollenspiel nach, das er auf den indianischen Legenden aufgebaut Plötzlich blieb er stehen. Es w a r mehr als Fantasy, das wußte er jetzt ganz sicher. Er hatte es schon immer gewußt, nur hatte er es nicht zugeben wollen. Irgend etwas an dem Spiel w a r von tief innen aus ihm gekommen. Es w a r keine Erfindung. Es w a r Erinnerung! Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen. Hatten die konstruierten Zeremonien, die blutigen Opfer tatsächlich ein schlafendes Wesen gew e c k t , es aus seiner eisigen Behausung unter dem Berg herausgelockt? Oder w a r die Kreatur von allein aufgewacht, weil ein strenger Winter bevorstand, und hatte sie Adrian zu ihrem Werkzeug auserkoren? Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Was Cal Stark passiert war, w a r anderen vor ihm passiert. Würde es sich wiederholen? Adrian schloß die Augen und stöhnte. Es schien, als könne er an nichts anderes mehr denken als an das Spiel - an das Spiel und an den großen Mogar. Tag und Nacht, wach oder schlafend, spukte ihm das Ungeheuer im Kopf herum. Er hatte sogar das Gefühl, als beobachte es ihn, als wache es über ihn mit diesem riesigen, glühenden Auge. Manchmal glaubte ehe ihn hinauf zu der Höhle. In letzter Zeit ging er oft hinauf. Allein. Solange er mit den anderen Jungen dort w a r und eine Show inszenierte mit Umhängen und Kerzen, hatte er die Sache unter Kontrolle. Doch ohne die anderen stand er da oben an der Tür zu einer anderen Welt, zu einer Welt voll Dunkelheit, Angst und Schmerz. Der Welt des ursprünglich Bösen.
In der Höhle w a r es jetzt immer kalt, und es stank, daß einem übel w e r d e n konnte. Anfangs hatte er noch gedacht, es sei reine Neugier, die ihn dort hielt, wenn er vor der gespenstisch leuchtenden Zeichnung auf dem Boden stand. Dann hatte er die Stimme gehört, „Blut", flüsterte es in seinem Kopf, „warmes Blut." Danach hatte er mit den Opfern angefangen. Adrian rutschte tiefer in seinen Sessel. Wer ist dieser Mogar? überlegte er ärgerlich. Wer glaubt er eigentlich, daß er ist? Die A n t w o r t kam unerwartet und erschreckte ihn. Er ist mein Meister und war es seit Tausenden von Jahren. Mit der flachen Hand schlug Adrian sich an die Schläfen. Die Träume. Er hatte sie gehabt, seit er ein kleiner Junge war. Die Träume v o n den Opfergaben eines primitiven Stammes an einen primitiven Gott. Er ließ den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels fallen. Müde. Wie müde er w a r . . . Plötzlich fand sich Adrian auf der Straße zu Cal Starks Farrn wieder. Er wußte nicht, wie er dahin gekommen w a r , doch er wußte, daß der eisige Wind, der an seinem Haar und an den Kleidern zerrte, und der Gestank, der in der Luft lag, Wirklichkeit waren. Das w a r kein Traum mehr. Er hörte wilde Schreie und das Brüllen der Tiere. Dann w a r alles totenstill. Er ging näher an die Farm heran und beobachtete mit klopfendem Herzen, wie e t w a s Dunkles und Großes das alte Haus in Trümmer legte. Die Fenster wurden aus. den Mauern gerissen und mit solcher Kraft weggeschleudert, daß die Glassplitter bis zur Straße flogen und zu Adrians Füßen landeten. Schwere Batken segelten durch die Luft wie Streichhölzer und zerbarsten beim Aufprall auf den Boden. Die Erde bebte, riesige alte Eichen wurden entwurzelt und Felsbrocken aus dem Weg des Ungeheuers geräumt. Plötzlich erschien Cal. Blindlings rannte er durch die Trümmer. Vergeblich versuchte er, einem Fangarm auszuweichen. Adrian hielt den A t e m an, als der alte Mann stolperte und hinfiel. Die Tentakel griffen nach ihm . . . Ein Schrei erschütterte die Luft. Dann w a r es still. Adrian stand wie angewurzelt, sein Herz raste, er konnte sich nicht rühren. Die Dunkelheit und Stille drohten ihn zu ersticken. Dann hörte er das schreckliche Geräusch. E t w a s kam über den von Trümmern übersähten Boden gekrochen. Es kam auf ihn zu, und er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Die Angst lag wie ein eisernes Band um seine Brust, er konnte kaum atmen. Langsam, einer nach dem' anderen, erschienen die Fangarme. Sich streckend und suchend glitten •mir
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sie über den Boden. Und dann erschien das Auge, das Auge des großen Mogar. Die Tentakel erreichten Adrian und legten sich sanft, fast zärtlich um ihn, einer nach dem anderen. Er erschauerte unter der vertrauten Berührung. Eine Berührung so alt w i e die Erinnerung. Schließlich hörte er die Stimme in seinem Kopf, ganz leise. „Blut. Menschenblut Adrian öffnete die Augen. Er zitterte, und seine Hände w a r e n feucht und kalt. Die Schlange und das Buch lagen auf dem Boden neben seinem Sessel. Er ging zur Tür und drehte den Thermostat höher. Dann stellte er sich ans Fenster.Er bewegte sich wie in Trance. Draußen w a r es dunkel. Das Licht der Straßenlampen fiel auf frischen Schnee. Langsam w u r d e ihm bewußt, w a s er gerade gesehen hatte, wie ein Film, der mit halber Geschwindigkeit ablief. Entsetzt erkannte er, daß er soeben Zeuge der Zerstörung von Cal Starks Farm gewesen war. So hatte es sich zugetragen — vor sechs Tagen. Er schüttelte den Kopf. Erinnerungen tauchten auf an die Stunden, die Tage und Nächte, die er in der Höhle bei den Wailing Rocks zugebracht hatte. Andere, ältere Erinnerungen folgten. Mit blicklosen Augen s t a r r t e Adrian aus dem Fenster. Es gab nichts zu befürchten. Er w a r jetzt, w a s er immer gewesen war. Der Hohepriester Mogars.
Dennis klopfte den Schnee von den Schuhen und ging ins Haus. Das w a r ein fantastischer Vormittag gewesen. So viel Spaß hatte er beim Skifahren noch nie gehabt. Eine Zeitlang hatte er darüber sogar alles vergessen, w a s ihm während der letzten Wochen so zugesetzt hatte. Er seufzte. Jetzt, wo er zu Hause w a r , stürmten auch die Sorgen wieder auf ihn ein. Rasch zog er die Stiefel aus und stellte sie auf die Matte neben der Tür. Warum konnte er nicht einfach so t u n , als sei nichts gewesen, und zur Tagesordnung. übergehen? Zumindest w a r nun alles vorbei. ODER e t w a nicht? Er nahm sich einen Apfel aus der Schale auf dem Küchentisch und ging ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich in einen Sessel fallen und versuchte zum x-tenmal, Klarheit in die ganze Angelegenheit zu bringen
Cal war verschwunden. Das w a r das eine. Man hatte keine Spur von ihm gefunden, doch schien es schlichtweg
ausgeschlossen, daß jemand eine solche Katastrophe überlebt haben könnte. Den Polizeiangaben zufolge w a r ein schrecklicher Tornado Ursache des Unglücks. Untermauert wurde dieses Theorie von der breiten Schneise, die durch den Wald führte. Bäume w a r e n entwurzelt und umgeknickt worden. Wie gern hätte Dennis an diese Erklärung geglaubt. Doch irgend etw a s sagte ihm, daß die Schneise auch von e t w a s anderem geschlagen w o r d e n sein könnte - von einem riesigen, schleichenden Ungeheuer. Natürlich w a r das lächerlich. Trotzdem konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Und dann w a r da auch noch Adrian. Der schien seit kurzem die meiste Zeit über in einer anderen Welt zu leben. Soweit Dennis es beurteilen konnte, hatte er das Rollenspiel beendet. Es w a r e n keine Treffen mehr einberaumt worden, und immer, wenn ihn jemand darauf ansprach, wechselte er einfach das Thema. Doch das w a r noch nicht alles. Er w a r anders als früher, irgendwie verändert, ruhiger. Zu seiner eigenen Überraschung stellte Dennis fest, daß er gern mehr Zeit mit Adrian verbracht hätte. Adrian schien jedoch nicht interessiert. Und dann w a r da noch Janet. Sie w a r die ganze Woche über zerstreut und fast abweisend gewesen — eigentlich seit dieser Geschichte in der Höhle am letzten Samstag. Nachdem Dennis den letzten Bissen von seinem Apfel geschluckt hatte, stieß er hörbar die Luft aus. War es wirklich vorbei? Oder würde noch e t w a s nachkommen? Er stand auf und w a r f das Kernhaus des Apfels in den Papierkorb. Genug gebrütet. Jetzt mußte er sich für die Schulparty fertig machen, auch w e n n er allein ging.
Kritisch betrachtete sich Janet im Spiegel. Das schwarze Hexenkostüm sah gar nicht übel aus. Sie griff nach der schwarzen Perücke ihrer Mutt e r und stülpte sie sich über das rote Haar. Was für ein Unterschied! Das hätte sie nie für möglich gehalten. Nur die hellen Augenbrauen paßten jetzt nicht mehr zu ihrem Gesicht. Mit einem schwarzen Brauenstift zog sie den Bogen nach, dann lächelte sie. Jetzt stimmte die Sache wieder. „Meine Güte, Janet, du siehst ja zum Fürchten aus!" Janet fuhr herum. „Mom! Hast du mich erschreckt!" Ihre M u t t e r k a m ins Zimmer. „Das hab ich vorausgesehen. Du w a r s t ja
völlig vertieft in deinen Anblick. Eigentlich wollte ich nur fragen, wie es beim Skifahren war/ 4 „Super. Du hättest Dennis sehen sollen. Er fährt wirklich gut. Zuerst hatte ich Angst, daß er mit den anderen nicht mithalten könnte, doch er hat alle in den Schatten gestellt." „Das freut mich. Er ist wirklich ein netter Junge." Janet seufzte. „Das ist er. Wenn ich nur mit ihm zu der HalloweenParty gehen könnte. 1 ' „Ich hab dir doch gesagt» du hast dich viel zu früh festgelegt . . ." Als Grace Horrigan den Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah, hielt sie inne. „Tut mir leid, Janet. Das hätte ich dir wohl nicht noch extra zu sagen brauchen." Janet zuckte mit den Schultern. „Nun ja, vielleicht ist ihm das fürs nächstemal eine Lehre." Sie zupfte ein bißchen an der Perücke herum, dann sah sie ihre Mutter an. „Du glaubst doch nicht, daß er jemand anders gefragt hat, oder?" „Möglich wäre es. Aber ich bin sicher, er wäre lieber mit dir zusammen." Das beruhigte Janet etwas. „Hier, mach mir das bitte um." Damit gab sie ihrer Mutter die Kette mit dem kleinen Herzchen. „Eigentlich paßt das ja nicht zu deinem Aufzug", gab Mrs. Horrigan zu bedenken. „Was stellst du denn überhaupt dar?" „Einen weiblichen Vampir. Sieht man das nicht?" „So e t w a s Ähnliches hab ich mir schon gedacht. Warte, ich will mal w a s ausprobieren." Sie nahm eine Puderdose und begann an Janets Gesicht zu arbeiten. Wie immer, wenn sie sich stark konzentrierte, lugte die Zungenspitze zwischen den Lippen hervor. „Fertig. Jetzt schau dich mal an." Janet drehte sich zum Spiegel um und stieß einen kleinen Schrei aus. „Wie hast du das gemacht?" Mrs. Horrigan lächelte. „Auch eine Mutter hat so ihre Tricks auf Lager." Eingehend betrachtete Janet ihr Spiegelbild. Ihre Mutter hatte ihr die Haut bleich geschminkt und die Augen mit viel Schwarz herausgehoben. Zusammen mit den knallroten Lippen und den dunklen Schatten unter den Wangenknochen sah sie aus wie eine wandelnde Leiche. Trotzdem wirkte das Ganze noch irgendwie edel. „Du wirst sie doch nicht so aus dem Haus lassen?" Mr. Horrigan stand in der Tür und begutachtete das Werk seiner Frau. ,,Daddy!"
Er grinste. „War doch bloß Spaß. Aber du mußt zugeben, ein wenig pro
vokativ ist es schon. Für Halloween ist es wohl genau das Richtige, obwohl du absolut nicht mehr aussiehst wie mein süßes kleines Mädchen." „Komm, Willy", sagte Mrs. Horrigan und nahm seinen A r m . „Geh'n wir, damit sie sich in Ruhe fertig machen kann." Eine Zeitlang stand Janet noch da und starrte auf die Tür, durch die ihre Eltern verschwunden waren. Sie kam sich auch nicht mehr vor wie Daddys süßes kleines Mädchen. Nicht nach den Ereignissen der letzten Wochen. Nachdenklich setzte sie sich auf die Bettkante und versuchte, nicht zum erstenmal, Klarheit in die ganze Sache zu bringen. Sie hätte ihrer Mutter gern von dem Vorfall in der Höhle erzählt, doch bisher hatte sie einfach nicht den Mut aufgebracht, ihr zu sagen, daß sie da oben gewesen w a r . Und obwohl sich der Wirbel um die Vorfälle auf Cal Starks Farm inzwischen gelegt hatte, wußte sie, daß sie Dennis immer noch sehr beschäftigten. Was sie am meisten berührte, w a r ihr eigenes, unerklärliches Hingezogensein zu Adrian Furolle. Bislang hatte sie ihn nicht im mindesten att r a k t i v gefunden, und plötzlich stellte sie fest, daß ihre Gedanken immer öfter zu ihm wanderten. Adrian hatte sich immer so ekelhaft selbstsicher gegeben, wie das oft bei Menschen der Fall ist, die im Grunde genommen schrecklich unsicher sind. In der letzten Woche hatte sich dies allerdings geändert. Er versuchte nicht mehr, die Leute zu beeindrucken. Er beeindruckte, ohne daß er e t w a s dazutat. Was sich an ihm verändert hatte, konnte Janet nicht genau sagen. Sie spürte nur eine Kraft in ihm, die es früher nicht gegeben hatte. Und fast gegen ihren Willen fühlte sie sich davon angezogen. Was w a r nur los mit ihr? Der seitsame Traum fiel ihr ein, den sie in der vergangenen Nacht gehabt hatte. E t w a s Schlimmeres hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht geträumt. Trotzdem konnte sie sich nicht mehr genau daran erinnern. Sie wußte nur noch, daß e t w a s Abscheuliches hinter ihr her gewesen w a r und daß sie geschrien und geschrien hatte, bis plötzlich alles schwarz w u r d e . „Janet! Lee ist da." Die Stimme ihrer M u t t e r riß sie aus ihren Gedanken. Mit dem schwarzen Schal ihrer Großmutter in der Hand ging Janet die Treppe hinunter.
Die Turnhalle w a r bereits brechend voll, als Janet und Lee ankamen. Das Dekorationsteam hatte gute Arbeit geleistet. Die Halle w a r mit
s c h w a r z e n Kreppapierstreifen und h a n d g e m a c h t e n Spinnweben ges c h m ü c k t . Da die L a m p e n ebenfalls mit s c h w a r z e m Kreppapier umgehüllt waren» w i r k t e das Ganze richtig schön gruselig. „Dennis ist auch da", f l ü s t e r t e Laura, als Janet sich suchend u m s c h a u t e . „Allein." J a n e t lächelte. Das h a t t e sie gehofft. Lee gegenüber h a t t e sie ein riehhu'
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t i g schlechtes Gewissen, weil sie i m m e r nur an Dennis dachte. Nein, das s t i m m t e nicht. Sie dachte an Dennis und Adrian. V e r w i r r t s c h ü t t e l t e sie den Kopf.' Langsam w u r d e es kompliziert. Nach d e m e r s t e n Tanz k a m Dennis' zu Lee und Janet herüber. Er t r u g ein s c h w a r z e s Cape und w a r als V a m p i r geschminkt. M a n h ä t t e meinen k ö n n e n , er und Janet h ä t t e n sich m i t den K o s t ü m e n abgesprochen. „Ihr beide paßt g u t zusammen", stellte Laura f e s t . Stirnrunzelnd schaute Lee zu, w i e Dennis m i t Janet d a v o n t a n z t e . Plötzlich ging ein Raunen durch die Turnhalle. „Was ist los?" f r a g t e Janet. Dennis stellte sich auf die Zehenspitzen. Ein S c h a t t e n huschte über sein Gesicht. „Adrian ist g e k o m m e n . " Er n a h m Janets Hand und ging in Richtung Tür. V o n den a n d e r e n w u ß t e er, daß A d r i a n noch nie auf einer Schulfete g e w e s e n w a r . Selts a m , daß er ausgerechnet heute hier a u f t a u c h t e . Noch seltsamer w a r der Aufzug, in d e m Adrian erschienen w a r . Er t r u g einen U m h a n g , den er bei d e m Spiel i m m e r angehabt h a t t e . Eine kleine Gruppe Schüler h a t t e sich um ihn v e r s a m m e l t . Irgend e t w a s ist anders an ihm, d a c h t e Dennis. Ich weiß nicht, w a s es ist, aber er ist v e r ä n d e r t , „Hey, A d r i a n , w a s stellst d u denn dar?" w o l l t e Laura w i s s e n . A d r i a n s c h a u t e sie an. „Ich bin Priester einer alten Religion", e r k l ä r t e er feierlich. Groß-und g u t a u s s c h e n d , w i e er w a r , paßte er ausgezeichnet in diese Rolle. Schon i m m e r h a t t e er er eine besondere A u s s t r a h l u n g gehabt. Bisher w a r sie allerdings durch seine überhebliche A r t geschmälert w o r den. An diesem A b e n d w a r er e r n s t , aber nicht überheblich. Die Schüler s p ü r t e n die. V e r ä n d e r u n g und d r ä n g t e n sich um ihn. Er ließ den Bück über die Menge s c h w e i f e n , bis er J a n e t e n t d e c k t . „Schenkst du mir den nächsten Tanz?" f r a g t e er feierlich. „Gern", s a g t e sie. Die Musik begann w i e d e r zu spielen. A d r i a n n a h m J a n e t s Hand, dann tanzten sie davon. ,,Ich kann`s nicht glauben", meinte P e t e , der neben Dennis s t a n d . „Das i s t e i n f a c h n i c h t d e r Adrian, den w i r kennen."
„Ich weiß." Eine'Welle der Eifersucht überkam Dennis. Plötzlich s t a n d Lee'Phillips auf der anderen Seite neben ihm. „Schlimm genug, daß du dich dazwischengedrängt hast.» aber das ist zuviel." Für einen Augenblick fragte sich Dennis, ob Lee Zoff machen wollte, doch im Grunde genommen w a r es ihm egal. Er m a c h t e sich zu viele Gedanken über das, w a s da zwischen J a n e t und Adrian ablief, als daß er sich auch noch um Lee h ä t t e kümmern können. Sollte er doch Zoff machen, das w a r vielleicht nicht einmal d a s Dümmste. Im Laufes d e s Abends w a n d e r t e J a n e t abwechselnd Dennis, zu Adrian, als sei sie ein ein Dreieck g e k e t t e t , von dem die Jungen die Spitzen bildeten. Immer, w e n n sie mit Lee t a n z t e , w a r Dennis an Adrians Seite. Doch Adrian ließ sich auf keine Gespräche ein. Ein nickte bloß und b r u m m t e vor sich hin, wenn Dennis ihn e t w a s fragte. Dann endlich w a r Geisterstunde. Der riesige Gong am vorderen Ende der Turnhalle ertönte, und alles v e r s a m m e l t e sich auf der anderen Seite, um zu hören, welche Kostüme einen Preis bekommen hatten. Dennis sah sich um. Er h a t t e die leise Hoffnung, daß er und J a n e t als d a s P a a r ausgewählt worden waren, das am b e s t e n zusammenpaßte. Er r e c k t e sich auf die Zehenspitzen. Wo mochte sie bloß sein? J a n e t w a r nirgends zu sehen. J a n e t w a r mit Adrian zusammen und fragte sich zum x-tenmal, w a s ihn so anziehend und aufregend m a c h t e . „Glaubst du an Wiedergeburt?" fragte er unvermittelt. „Was?" Die Frage kam so u n e r w a r t e t , daß J a n e t glaubte, sich verhört zu haben. „Hältst du es für möglich, daß wir früher schon einmal gelebt haben?" wiederholte Adrian seine Frage, Offensichtlich meinte er es ernst. J a n e t dachte nach. „Ich weiß nicht", s a g t e sie schließlich. „Manchmal kann ich es mir vorstellen. Manchmal kann ich es mir für mich vorstellen." „Komm mit r a u s zu meinem J e e p . Ich will dir w a s zeigen." „Später. Erst will ich hören, w e r einen Preis für sein Kostüm gewonnen hat." Adrian sah ihr direkt in die Augen. „Jetzt", s a g t e er leise. „Es ist wichtig, daß du jetzt kommst." J a n e t spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. „Nein." Adrians Augen schienen sich in ihre zu bohren. „Okay", s a g t e sie. „Ich komme mit."
Er nahm ihre Hand und führte sie hinaus in die Vorhalle. Sie fragte sich, w a s er ihr wohl so Wichtiges zeigen wolle. „Laß mich rasch meinen Mantel holen." Einen Augenblick später standen sie vor dem Jeep. Es schneite. „Steig ein", forderte Adrian sie auf. Janet kletterte in den Wagn. Adrian stieg auf der Fahrerseite ein und ließ den Motor an. „Adrian! Was machst du?" „Ich hab dir doch gesagt, daß ich dir etwas zeigen will." „Ich dachte, du meinst hier im Wagen. Adrian. Adrian." „Hast du Janet gesehen, Pete?" Pete schüttelte den Kopf. „Das letztemal, als ich sie gesehen hab, hat sie mit Adrian getanzt. Wo sie jetzt steckt, weiß ich nicht." Allmählich geriet Dennis in Panik. Weder Janet noch Adrian w a r e n in der Turnhalle. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, daß Janet mit Adrian weggegangen w a r . Dennis ging hinaus in die Vorhalle. Da w a r Janet auch nicht. Eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Er stürzte hinaus in die Sonne, gerade noch rechtzeitig, um Adrian in seinen Jeep steigen zu sehen. Dann hörte er, wie der Motor angelassen wurde. „Hey!" schrie er und rannte auf den Jeep zu. „Hey, w a r t e ! " Zu spät. Der Wagen schoß aus der Parklücke und hinaus auf die Straße. Eine ganze Schneefontäne wurde dabei aufgewirbelt. Dennis sah dem Wagen hinterher, wie er in der Dunkelheit verschwand. Ein kalter Wind kam auf. Die Schneeflocken fielen dichter.
11. KAPITEL Dennis rannte zu seinem Wagen. Möglich, daß er bloß irrsinnig eifersüchtig w a r . Möglich, daß er sich lächerlich machte. Doch das mußte er in Kauf nehmen. Denn irgend etwas sagte ihm, daß Janet nicht freiwillig mit Adrian gegangen war. Er mußte irgendeinen Einfluß auf sie haben, dem sie sich nicht entziehen konnte. Dennis drehte den Zündschlüssel um. Der Motor sprang nicht an. Fluchend versuchte er es noch einmal und w a r t e t e dann, bis er w a r m w u r d e . Jede Sekunde erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er stellte die Scheibenwischer an, um den frischgefallenen Schnee von der Windschutzsscheibe zu fegen. Die Worte des Radiosprechers, die er auf der Fahrt zur Turnhalle im Autoradio gehört hatte, schossen ihm durch den Kopf. „Der schlimmste Winter seit über einhundertfünfzig Jahren . . ." Es w ü r d e der schlimmste Winter seit 1816 werden! Aber das w a r doch idiotisch. Durch das Fantasy-Rollenspiel konnten sie das Ungeheuer doch nicht aufgeweckt haben, wenn es überhaupt eines gab. Doch dann w u r d e Dennis klar, daß es keine Rolle spielte, ob sie diesen Mogar tatsächlich gerufen hatten oder nicht, solange Adrian an die Möglichkeit glaubte. Während ihrer letzten Treffen hatte er ganz schön verrückt dahergeredet, bevor er sich dann in sich selbst zurückgezogen hatte. Ein anderer Satz kam Dennis in den Sinn, einer, den Adrian gesagt hatte, und es überlief ihn eiskalt, als er sich jetzt wieder daran erinnerte. Adrian hatte davon gesprochen, daß eine Jungfrau geopfert werden müsse... . ' Das w a r unmöglich. Nicht einmal Adrian . . . Dennis umklammerte das Steuerrad. Was, um alles in der Welt, ging tatsächlich in Adrians Kopf vor? Wenn er wirklich glaubte, sie könnten Mogar aus seiner Höhle hervorlocken, w a r er zu allem fähig. Dennis fiel wieder ein, w a s der Polizist über den geschlachteten Hahn auf Cal Starks Farm gesagt hatte, und er mußte an die geheimnisvollen „Opfergaben" denken, die Adrian in das Loch der Höhle geworfen hatte, ohne sie den anderen vorher zu zeigen. Es schüttelte ihn bei dem Gedanken, daß die Grube leer gewesen war, als er hineingeschaut hatte. Sei nicht albern, sagte er sich. Das kann alle möglichen Gründe haben.
Doch tief im Innern wußte er, daß nur einer in Frage kam - Mogar. Dennis gab Vollgas. Okay. Angenommen, das Schlimmste t r a f zu. Was sollte er dann machen? Ein dritter Satz ging ihm durch den Kopf, eine Bemerkung von Cal Stark, als er erzählte, wie die Leute 1816 versuchten, Mogar in seine Höhle zurückzudrängen: „Das Feuer w a r hell wie der Tag und heiß wie die Sonne." Plötzlich wußte Dennis, w a s er zu t u n hatte. Noch einmal versuchte er, rückwärts a' 's der Parklücke herauszufahren. Die Räder drehten durch. Fluchend schaltete er in den ersteaGang, in den zweiten, dann wieder zurück und wieder vor, bis die Räder endlich griffen. Mit Vollgas raste er nach Hause. Er wußte nicht, ob er erleichtert sein sollte, weil seine Eltern noch nicht zurück waren. Sein Vater hätte ihm sicher helfen können. Doch wie hätte er ihn davon überzeugen können, daß er seine Hilfe brauchte? Mit einem Satz sprang er aus dem Wagen, rannte in die Garage und holte das Brecheisen. Dann stürmte er zu der Waffensammlung seines Vaters. Ohne Rücksicht auf den Schaden, den er anrichtete, brach er die verschlossene Schranktür auf. Die sauber beschrifteten Gewehre und Pistolen interessierten ihn nicht. Mit sicherem Griff langte er nach den beiden Phosphorgranaten. Wie sie funktionierten, hatte ihm sein Vater oft genug erklärt. Sie verursachten einen unlöschbaren Feuerteppich über mehrere hundert Quadratmeter. Eigentlich sollten diese Granaten entschärft und völlig ungefährlich sein, doch einem alten Freund hatte Mr. Haie einmal anvertraut, daß eine davon einsatzbereit sei, obwohl die Zündung wahrscheinlich nicht mehr funktionierte. Aus der Küche holte Dennis anschließend das große Messer, das seine M u t t e r immer zum Fleischschneiden benutzte. Dann stieg er wieder in den Wagen, bereit, allem entgegenzutreten, w a s da kommen mochte. Ganz flüchtig dachte er an die Möglichkeit, daß er Adrian und Janet auch einfach beim Schmusen auf irgendeinem versteckten Parkplatz entdecken könnte. Dann würde er ganz schön blöd dastehen. Aber lieber blöd dastehen, als feststeilen müssen, daß seine Befürchtungen berechtigt waren. Adrian brachte den Wagen zum Stehen. Erschrocken merkte Janet, daß sie genau da parkten, wo auch Dennis das Auto abgestellt hatte, als er sie zu den Wailing Rocks mitgenommen hatte. Was ging hier vor? Sie wollte Adrian bitten, umzudrehen und sie zur Schule zurückzufahren, doch es w a r ihr unmöglich, die Worte herauszubringen. „Steig aus1', sagte Adrian kurz angebunden.
J a n e t rührte sich nicht. „Steig aus!" schrie er. Säe w a n d t e sich ihm zu. Tränen liefen ihr über die Wangen. Bitte, wollte sie sagen, kehr um. Bring mich nach Hause. Kein Ton kam a u s ihrem Mund. Sie öffnete die Wagentür. Dann stand sie im Schnee. Bitte, Dennis, komm und hol mich. Hol mich, bevor . . . Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn Adrian t r a t neben sie und p a c k t e sie am Arm. Nun richtete sie ihre ganze Konzentration darauf, nicht zu stolpern und hinzufallen, w ä h r e n d Adrian sie hinter sich herzog, den s c h n e e b e d e c k t e n Pfad hinauf, der zu den Wailing Rocks führte. Die Straße w a r vereist und rutschig. Dennis h a t t e alle Mühe, den Wagen einigermaßen in der Spur zu halten, als er in die Berge hinauffuhr. Der Wind w u r d e s t ä r k e r . Wenn die Karre doch bloß Vierradantrieb h ä t t e wie Adrians Jeep! Hoffentlich schaffte er es überhaupt bis z u d e m Parkplatz. Als er zu der Stelle kam, wo er in den Feldweg einbiegen mußte, drosselte er die Geschwindigkeit fast bis zum Schrittempo. Der Schnee fiel so dicht, daß er kaum noch die Straße erkennen konnte. Langsam kroch der Wagen in Richtung Parkplatz. Dabei holp e r t e er über die unter dem Schnee verborgenen Furchen und Steinbrocken. Für Geländefahrten dieser Art w a r er wahrhaftig nicht gemacht. Plötzlich blieb d a s rechte Vorderrad in einem tiefen Schlagloch hängen. Der Wagen w a r nicht mehr von der Stelle zu bringen. „Verdammt!" rief Dennis. Er v e r s u c h t e es wieder abwechselnd mit Vor- und Zurückfahren. Nichts t a t sich. Da zog er den Zündschlüssel ab, griff sich die Granaten und das Messer und stapfte entschlossen die s c h n e e b e d e c k t e Straße hinauf. J a n e t schluchzte leise, w ä h r e n d sie hinter Adrian herstolperte. Sie vers u c h t e sich einzureden, d a s Ganze sei ein Alptraum, bis sie voll Entsetzen e r k a n n t e , daß es tatsächlich ihr Alptraum war. Davon h a t t e sie in der Nacht zuvor g e t r ä u m t — daß sie hinaufgeführt w u r d e zu der Höhle, wo ihr irgend e t w a s Schlimmes bevorstand. An das, w a s sie dort erwart e t e , m o c h t e sie gar nicht denken. Erneut stolperte sie. Adrian v e r s t ä r k t e den Griff um ihren Arm, bis sie vor Schmerz laut h ä t t e schreien können. Doch die Kehle w a r ihr wie zugeschnürt. Erbarmungslos z e r r t e Adrian sie weiter. Als sie die Höhle erreicht hatten, w i e s er mit der Taschenlampe den Eingang. „Nach dir."
Ein Schauer überlief Janet. ihr M a g e n k r a m p f t e sich v o r A n g s t zusamm e n . . A d r i a n " , f l ü s t e r t e sie. „ B i t t e . . . " Er legte ihr die Hand auf die Schulter und z w a n g sie, sich zu b ü c k e n . „Geh rein!" J a n e t g e h o r c h t e , im Schein v o n Adrians Taschenlampe e r k a n n t e sie die scheußliche Zeichnung in der M i t t e der Höhle w i e d e r . W o r t l o s f ü h r t e A d r i a n sie zu d e m Bild und z w a n g sie, sich d a v o r hinzuknien. Dann stellte er -zwei Kerzen auf und kniete sich ebenfalls hin. Nach einer Weile s t a n d er w i e d e r auf und zog ein Seil aus seinem U m hang. M i t s t e c h e n d e n A u g e n sah er Janet an. „Gib mir deine Hände." „Nein, A d r i a n . Nein!" „Deine Hände." Sie w o l l t e sich w e i g e r n , w o l l t e den Blick a b w e n d e n . Es w a r ihr nicht möglich. „Du w e i ß t , w a s geschehen muß", s a g t e Adrian ruhig. „Du w e i ß t , Mogar ist hungrig, und sein Hunger muß gestillt w e r d e n . Du w e i ß t das, weil du es schon einmal erlebt hast." J a n e t w a r f v e r z w e i f e l t den Kopf hin und her. T r ä n e n s t r ö m t e n ihr übers Gesicht. N a c h d e m A d r i a n ihr die Hände und Füße gebunden h a t t e , s t i m m t e er einen m o n o t o n e n Singsang an. Nach einem a n s t r e n g e n d e n M a r s c h durch den eisigen Wind und t i e f e n Schnee e r r e i c h t e Dennis Adrians Jeep. Dann h a t t e er also doch r e c h t gehabt. Er biß die Zähne z u s a m m e n und k ä m p f t e sich w e i t e r den schmalen Pfad hinauf. Der S t u r m w u r d e mit j e d e m Augenblick s t ä r k e r . Dennis mußte höllisch aufpassen, daß er nicht v o m Weg a b k a m . Ein p a a r m a l r u t s c h t e er aus und fiel in den Schnee. Er z i t t e r t e v o r K ä l t e . Endlich k a m er zu der Lichtung. Fast im selben M o m e n t stieg ihm der G e s t a n k in die Nase. Ihn ihm k r a m p f t e sich alles z u s a m m e n . W a r er zu s p ä t g e k o m m e n ? H a t t e A d r i a n das Ungeheuer schon aus seiner Höhle gelockt? H a t t e er ihm J a n e t a n g e b o t e n , um seinen Hunger zu stillen? Mit einem W u t s c h r e i s t ü r z t e Dennis z u m Höhleneingang und t r a t ein. J a n e t w a r noch da. „Idiot!" schrie A d r i a n . „Weißt d u , w a s du t u s t ? " In seinem U m h a n g sah er wirklich aus w i e der Hohepriester einer alten Religion. . „Weißt du es?" f r a g t e Dennis zurück, w ä h r e n d er langsam auf A d r i a n zuging. Dennis' A u f t a u c h e n riß Janet aus d e m tranceähnlichen Z u s t a n d , in dem sie s.ich b e f a n d , seit A d r i a n sie aus der Turnhalle g e f ü h r t h a t t e . ,,Dennis!" schrie sie. „Bring mich v o n hier w e g ! " Als Dennis zu ihr hinübergehen w o l l t e , d r o h t e A d r i a n : „Keinen S c h r i t t
weiter. Die Opferzeremonie darf nicht unterbrochen werden." Dennis h ö r t e nicht auf ihn. „Du bist krank", s a g t e er. Da stieß Adrian einen wilden Schrei a u s . Mit einem einzigen Sprung w a r er bei Dennis und klammerte sich an ihm fest. Sie stürzten zu Boden. Ineinander verkeilt wälzten sie sich hin und her. „Dennis!" schrie J a n e t . „Das Messer!" Dennis p a c k t e Adrians Handgelenk. Die Spitze d e s M e s s e r s d a s Adrian hielt, w a r nur noch Zentimeter von Dennis' Brust entfernt. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. „Du h a s t mich nie verstanden", zischte Adrian. „Du h a s t d a s Spiel nie e r n s t genommen." Das Messer n ä h e r t e sich Dennis's Brust. Zwar w a r Dennis s t ä r k e r als Adrian und in b e s s e r e r Kondition, doch Adrian h a t t e die Kraft eines Geis t e s k r a n k e n . In seinen Augen stand blanker Haß. „Niemand darf die Rückkehr des Meisters verhindern!" schrie er. „Dennis!" Das w a r wieder J a n e t . „Dennis, er kommt!" Beide Jungen w a n d t e n den Blick in ihre Richtung. In dem Augenblick konnte Dennis Adrian abschütteln. Aus dem schmalen Durchgang, den J a n e t entdeckt h a t t e , als sie zum erstenmal in der Höhle war, kam ein langer Arm, der sich suchend vorwärts tastete. In der Höhle w a r es eiskalt geworden. Ein Gestank, schlimmer als alles, w a s Dennis je gerochen h a t t e , erfüllte den Raum. Klirrend fiel d a s Messer zu Boden. „Meister!" schrie Adrian. Ein zweiter Arm erschien in dem Durchgang. Auch J a n e t schrie. „Dennis, Dennis! Schneid meine Fesseln durch!" Dennis griff in seine Jacke, um das Messer herauszuholen, das er von zu Hause mitgebracht h a t t e . Als Adrian dies sah, wollte er ihm sofort wieder in den Arm fallen, doch Dennis w a r schneller. Er zog das Messer, und Adrian blieb s t e h e n . „Dennis!" Der e r s t e Fangarm h a t t e J a n e t erreicht und legte sich nun um ihren Arm. Mit einem Satz w a r Dennis bei ihr. Mit beiden Händen hob er das Messer über den Kopf, ließ es h e r u n t e r s a u s e n und z e r t r e n n t e den Tentakel. Das a b g e t r e n n t e Ende des Arms fiel auf den Boden, wo es hinund herzuckte wie eine Schlange. Plötzlich w a r die ganze Höhle voller Tentakel. T a s t e n d und suchend kamen sie a u s dem Durchgang. In hektischer Wut hackte Dennis nach ihnen, um sie von J a n e t fernzuhalten, die vor Angst zitterte. Und dann e r t ö n t e dieses mahlende, klagende Geräusch, gefolgt von einem Kratzen wie Fels gegen Fels. „Du solltest b e s s e r damit aufhören", befahl eine v e r t r a u t e Stimme.
Dennis sah auf. Der alte Mann stand am Anfang d e s Ganges. Die Augen w a r e n bücklos, die Haut schmutzverkrustet; das Haar zerzaust. „Mogar ist zornig", s ä g t e Cal. Um ihn herum w a b e r t e n die Tentakel. Dennis ergriff die Gelegenheit, um J a n e t s Fesseln durchzuschneiden. „Geh raus", flüsterte er. „Sofort." Sie straffte die Schultern. „Ich geh nicht ohne dich." Dann w a r keine Zeit mehr zum Denken. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erhob sich. Die Tentakel schlugen wie Dreschflegel durch die Luft. Cal fiel vornüber auf den Boden. Und dann erschien Mogar. „Meister!" rief Adrian. J a n e t begann zu schreien. IBM*
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Im Durchgang w a r ein einzelnes, riesiges, hervorquellendes Auge zu sehen. Das Kratzen wurde lauter. Mit einem Ruck fuhr der Kopf in die Höhle. Fassungslos s t a r r t e Dennis ihn an. Nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen h a t t e er ihn sich so groß vorgestellt. „Meister!" rief Adrian wieder. Dennis mußte alle Willenskraft aufbieten» um nicht ebenfalls auf die Knie zu sinken. Mogars Stimme flüsterte in seinem Kopf: „Gib mir das Mädchen, Gib mir das Mädchen, und du wirst viel von mir bekommen. Wissen, h/lacht. . ." Ein Bild nach dem anderen zog an Dennis' geistigem Auge vorbei. Bilder von dem, w a s Mogar alles für ihn tun würde. „Nein!" schrie Dennis laut. Der riesige Körper wälzte sich in die Höhle. Das Auge allein w a r so groß wie Cal. Dieser h a t t e sich wieder erhoben und stand da wie eine Dennis griff in seine Manteltasche und holte die e r s t e Granate heraus. Er riß an der Zündung und zielte auf Mogar. Die Granate prallte an der Membran d e s Auges ab. „Dummkopf, höhnte die Stimme in Dennis' Kopf. Die Tentakel begannen ihn zu umschlingen. Zunächst hackte Dennis noch in wilder Verzweiflung danach, doch es w a r e n zu viele. Sie waren zu stark, zu schnell. Er konnte sie nicht aufhalten. „Cal!" rief er. „Cal, hilf mir!" Der alte Mann blinzelte. Dennis zog die zweite Granate a u s der Jakkentasche. Ein Tentakel legte sich um seinen Arm. Die Granate fiel zu Boden.
„Reiß die Zündung!" schrie Dennis verzweifelt. Janet bückte sich nach der Granate. Sofort w a r sie von vier Tentakeln umschlungen. Die Arme wurden an ihren Körper gepreßt. Dabei fiel ihr die Granate aus der Hand und rollte Cal direkt vor die Füße. „Cal! Um Gottes willen,' hilf uns!" „Der Meister . . ." Cal blinzelte. „Der Meister . . ." Plötzlich schienen seine Augen klarer zu werden. Er richtete den Blick auf die Granate. Dann bückte er sich, um sie aufzuheben. Im selben Augenblick ließ das Ungeheuer von Dennis ab. Es zog die Tentakel zurück und schlang sie um Cal. Zu spät. Der alte Mann hatte die Zündung gerissen.'Eine Sekunde, bevor ihm die Arme an die Seiten gepreßt wurden, w a r f er die Granate unter Mogars unförmigen Leib. Dennis w a r t e t e verzweifelt. Nichts geschah. Die Stimme in seinem Kopf flüsterte: „Dumm, so dumm. Wie kannst du nur glauben . . ." Und dann brach die Hölle los. Die Granate explodierte. Die Höhle erbebte unter einem Schrei, wie Dennis in seinem ganzen Leben noch keinen gehört hatte. Er hatte das Gefühl, als würde ihm der Schädel zert r ü m m e r t . Mogar litt Qualen, und diese Qualen übertrug er auf Dennis. „Meister!" schrie Adrian. „Meister! Meister!" Feuer breitete sich in der Höhle aus. Daß die vier Menschen noch lebten» verdankten sie nur der Tatsache, daß die Granate unter Mogars Körper losgegangen war. Die Druckwelle hatte Cal gegen die Höhlew a n d geschleudert, wo der er besinnungslos zusammengesackt war. Tentakel zuckten und streckten sich nach allen Richtungen aus. Die Luft w a r erfüllt von unmenschlichem Geheul. „Komm!" rief Dennis, „wir müssen hier raus." Er zog Janet vom Boden hoch und schob sie zum Höhlenausgang. Dann packte er Cal und zerrte auch diesen in Richtung Ausgang. Das andere Ende der Höhle w a r inzwischen ein flammendes Inferno. Phosphor quoll unter Mogars Körper hervor. In der Mitte der Höhle stand Adrian und schrie immer nur: „Meister, Meister . . . " Cal rappelte sich auf. „Ist gut, Junge. Ich bin wieder okay." Als Dennis sah, daß der alte Mann es allein zum Ausgang schaffen w ü r d e , drehte er sich noch einmal um. Adrians Augen w a r e n glasig. Für Dennis stand fest, daß er den Verstand verloren hatte. Mit einem gezielten Faustschlag streckte Dennis Adrian zu Boden und zerrte ihn dann aus der Höhle. Auf der Lichtung kam Adrian wieder zu sich. „Meister!" schrie er, schüttelte Dennis' Hände ab und stürzte in die Höhle zurück. Dennis wollte ihm schon nachlaufen, als ein letztes, ge-
waitiges Brüllen aus der Felsöffnung drang. Er hörte, wie Mogars riesiger Leib gegen die Höhlen wände krachte. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern stürzte die Höhle in sich zusammen.
Es hatte aufgehört zu schneien. Dennis, Janet und Cal standen dicht beieinander, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen. Trotzdem zitt e r t e sie vor Kälte. Angstvoll starrten sie auf den verschütteten Höhleneingang. Wie mächtig w a r Mogar? Jeden Augenblick fürchteten sie, der häßliche Kopf könne durch den Fels brechen. Doch Mogar w a r t o t . Und ebenso Adrian. Dennis nahm Cals A r m . „Sind Sie okay?" Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht. Ich kann dir nicht sagen, was passiert ist, nachdem diese Kreatur meine Farm zers t ö r t hat," Dann w u r d e er blaß. „Das heißt, vielleicht könnte ich es, aber ich will nicht." Offensichtlich stiegen in dem alten Mann Erinnerungen auf an e t w a s unvorstellbar Schreckliches. Kein Mensch sollte je damit konfrontiert werden. Dennis zog Janet an sich. „Und wie ist es mit dir, Janet?" Sie legte ihm die Arme um den Hals. „In mir dreht sich noch alles, aber das geht vorbei." Erschöpft lehnte sie den Kopf an seine Schulter. „Wahrscheinlich weißt du nicht, w a s es bedeutet, wenn einem jemand das Leben gerettet hat, oder?" „Nein. Was denn?" „Das gerettete Leben gehört auf ewig dem Retter." Dennis schaute sie an. Um ihren Mund spielte das Grübchenlächeln, das ihn v o m ersten Augenblick an fasziniert hatte. „Einverstanden." Er drückte Janet noch enger an sich. „Einverstanden. So soll es sein." ENDE-