VON STERN ZU STERN Für die Menschen an Bord des Raumschiffes Hope of Man war die Erde zu einer vagen Erinnerung geworde...
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VON STERN ZU STERN Für die Menschen an Bord des Raumschiffes Hope of Man war die Erde zu einer vagen Erinnerung geworden und die Sonne zu einem winzigen Lichtpunkt unter den vielen Milliarden Sternen des Universums. Nach 20 Jahren Flugzeit brachen die ersten Unruhen an Bord aus. Viele Menschen wollten zur Erde zurückkehren, anstatt ins Unbekannte weiterzufliegen, wo vielleicht kein Leben möglich war. Captain Lesbee befürchtete eine Meuterei, und er befürchtete auch die unmittelbar bevorstehende Zerstörung der Erde. Für ihn gab es keinen Weg mehr zurück. Seine einzige Hoffnung war jetzt der Centaurus.
Vom selben Autor erschienen in den Heyne-Büchern die utopischen Romane Der Krieg gegen die Rull · Band 3018 Die Weltraum-Expedition der Space-Beagle · Band 3047 Slan · Band 3094 Die Waffenhändler von Isher · Band 3100 Die Waffenschmiede von Isher · Band 3102 Welt der Null-A · Band 3117 Kosmischer Schachzug · Band 3119
A. E. VAN VOGT
DAS UNHEIMLICHE RAUMSCHIFF Utopischer Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3076 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe ROGUE SHIP Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
3. Auflage Copyright © 1965 by A. E. van Vogt Printed in Germany 1969 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
1 Der junge Lesbee beobachtete aus dem Augenwinkel heraus, wie Ganarette die Treppe zur Kommandobrücke des Raumschiffs hinaufstieg und ärgerte sich darüber. Der neunzehnjährige Ganarette war kräftig gebaut und benahm sich meistens reichlich herausfordernd. Er war wie Lesbee selbst auf dem Schiff geboren worden. Als Nicht-Offizier hatte er eigentlich keinen Zutritt zur Brücke; diese Tatsache im Verein mit seiner persönlichen Aversion gegen Ganarette machte Lesbee wütend. Ganarette sah erst auf, als er die letzte Stufe überwunden hatte, denn vorher hatte er sich ausschließlich auf den Weg konzentriert. Als er die Sterne über sich leuchten sah, holte er plötzlich tief Luft und blieb schwankend vor Lesbee stehen. Seine Reaktion verblüffte Lesbee, der noch nie darüber nachgedacht hatte, daß es an Bord des Schiffs tatsächlich Menschen gab, die den Sternenhimmel nur von Bildschirmen her kannten. Dieser Anblick des Weltalls, von dem der Betrachter auf der Brücke nur durch eine Plastiglaskuppel getrennt war, mußte überwältigend sein. Lesbee verzog die Lippen zu einem leicht überheblichen Lächeln. Er hatte seit frühester Jugend die Brücke betreten dürfen.
Für ihn war alles dort draußen so natürlich und gewöhnlich wie das Schiff selbst. Er beobachtete, daß Ganarette sich von seinem ursprünglichen Schock erholt hatte. »So sieht die Sache also von hier aus«, stellte Ganarette fest. »Wo liegt Centaurus?« Lesbee wies schweigend auf den sehr hellen Stern, der hinter den zur Astrogation benutzten Sichtlinien deutlich erkennbar war. Gleichzeitig überlegte er, ob er das Eindringen des anderen melden sollte. Andererseits widerstrebte es ihm, diese Meldung tatsächlich zu machen, weil er genau wußte, daß er damit die anderen jungen Leute an Bord des Schiffs verärgern würde. Als Sohn des Captains wurde er ohnehin bereits als Außenseiter angesehen. Wenn er nun eindeutig zu erkennen gab, daß er auf der Seite der Obrigkeit stand, verschärfte er diese Trennung selbst noch mehr. Er stellte sich vor, wie es sein müßte, das einsame Leben seines Vaters zu führen. Dann schüttelte er leicht den Kopf. Nein, das würde er nie können. In wenigen Minuten war sein Dienst für heute zu Ende. Darin würde er Ganarette freundlich, aber bestimmt von der Brücke führen und ihn vor zukünftigen Ausflügen in diese Richtung warnen. Er sah, daß der andere ihn mit einem ironischen Lächeln beobachtete.
»Bis Centaurus ist es aber noch ziemlich weit. Na, die Kolonisten sind ganz schön hereingelegt worden, als man ihnen erzählte, das Schiff werde die Entfernung mit Überlichtgeschwindigkeit in weniger als vier Jahren zurücklegen.« Ganarettes Stimme klang sarkastisch. »Noch neun Jahre«, erklärte Lesbee ihm. »Dann sind wir da.« »Hoffentlich«, meinte der andere zweifelnd. »Das muß ich erst mit eigenen Augen sehen.« Er machte eine Pause. »Und wo liegt die Erde?« Lesbee führte ihn auf die andere Seite der Brücke, wo ein Teleskop ständig auf die Erde gerichtet war, obwohl aus dieser Entfernung nur ihre Sonne erkennbar war. Ganarette starrte den blassen Stern fast eine Minute lang an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich; jetzt drückte er tiefe Enttäuschung aus. »So weit weg«, flüsterte er dann. »Wenn wir jetzt umkehren würden, wäre ich bei der Landung schon vierzig.« Er drehte sich rasch um und legte Lesbee die Hände auf die Schultern. »Denk nur!« sagte er eindringlich. »Vierzig Jahre alt. Eine Hälfte des Lebens bereits vorbei, aber noch immer Hoffnung auf ein paar schöne Jahre – wenn wir augenblicklich umkehren ...« Lesbee machte sich mit einem Ruck frei. Er war ziemlich verwirrt, denn seit über einem Jahr hatten
die jungen Leute nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Seit sein Vater die Vortragsreihe über die Bedeutung dieses zweiten Fluges in Richtung Alpha Centauri begonnen hatte, waren auch die unruhigsten der jungen Leute wieder stiller geworden. Ganarette schien selbst zu merken, daß er sich ungeschickt benommen hatte. Er trat einen Schritt zurück und grinste verlegen. »Aber natürlich wäre es unsinnig, jetzt umzukehren, nachdem der Rückflug über Centaurus nur achtzehn Jahre länger dauert«, meinte er dann wieder ironisch. Lesbee fragte ihn nicht, wohin diese Rückkehr führen sollte, denn der eigentliche Zweck dieses Fluges war unterdessen schon fast in Vergessenheit geraten. War die Sonne denn nicht noch immer unverändert sichtbar? Dann mußte es also auch eine Erde geben, zu der man zurückkehren konnte. Lesbee wußte, daß die jungen Leute seinen Vater als vertrottelten Alten ansahen, der nur deshalb nicht umkehren wollte, weil er das Gelächter der zurückgebliebenen Wissenschaftler fürchtete. Dieser närrische alte Mann zwang deshalb die gesamte Besatzung des Schiffes dazu, ihr Leben im All zu verbringen. Lesbee hatte schon oft über diese Behauptungen nachgedacht und spürte, daß er der darin enthaltenen Kritik wenigstens teilweise zustimmte. Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte er-
leichtert fest, daß er jetzt den Autopiloten einschalten konnte. Sein Dienst war vorüber. Er legte die Schalter um, zählte die aufleuchtenden Signallämpchen, benachrichtigte die beiden Physiker im Maschinenraum und kontrollierte die Lämpchen dann gewohnheitsmäßig zum zweitenmal. Alles war in bester Ordnung. In den nun folgenden zwölf Stunden wurde das Schiff von elektronischen Geräten auf Kurs gehalten. Dann ging Carson sechs Stunden lang auf Wache. Wieder zwölf Stunden später folgte der Zweite Offizier, dann war Browne, der Dritte Offizier, an der Reihe. Und dann folgte wieder Lesbee. In diesen geregelten Bahnen war sein Leben seit seinem vierzehnten Geburtstag verlaufen. Es war gewiß nicht anstrengend, denn die Schiffsoffiziere litten keineswegs unter Überarbeitung. Aber jeder von ihnen betrachtete die Wachzeit als Vorrecht und erschien auf die Minute pünktlich. Vor einigen Jahren hatte Browne sich sogar im Rollstuhl auf die Brücke fahren lassen, wo sein Sohn sechs Stunden lang bei ihm bleiben mußte. Dieses Pflichtbewußtsein hatte Lesbee damals so verblüfft, daß er es gewagt hatte, seinen Vater danach zu fragen. Captain Lesbee hatte gelächelt und ihm erklärt: »Der Dienst auf der Brücke stellt für jeden Offizier ein Statussymbol dar, das du nicht unterschätzen darfst. Wir stellen die offiziell herrschende Klasse
dar, mein Junge. Wenn du diesen Männern respektvoll begegnest und sie mit ihrem Titel ansprichst, werden sie ihrerseits auch deinen Status anerkennen. Die Vorteile unserer Position sind davon abhängig, wie gut wir diesen Status aufrechterhalten.« Lesbee hatte bereits festgestellt, daß zu diesen Vorteilen auch die hübschesten Mädchen an Bord gehörten, die ihn freundlich anlächelten, wenn er an ihnen vorüberging. Jetzt erinnerte er sich an ein besonders hübsches Lächeln und überlegte, daß ihm kaum noch Zeit für ein Bad blieb, bevor die Filmvorstellung begann. Dann bemerkte er, daß Ganarette auf die Uhr über dem Schaltpult starrte. Der junge Mann drehte sich zu Lesbee um. »Okay, John«, begann er, »jetzt kann ich es dir sagen. Fünf Minuten nach Beginn der Vorstellung übernimmt meine Gruppe das Schiff. Du sollst Captain werden – aber nur unter der Bedingung, daß du zur Erde zurückkehrst. Den Alten geschieht nichts, wenn sie keine Schwierigkeiten machen. Wenn du sie zu warnen versuchst, wird ein anderer Captain.« Ganarette ignorierte Lesbees Verblüffung völlig und fuhr fort: »Wir müssen vor allem darauf achten, daß wir keinen Verdacht erregen. Das bedeutet, daß alle – auch du – ihren normalen Tagesablauf nicht unterbrechen. Was tust du sonst immer um diese Zeit?«
»Ich gehe in meine Kabine und nehme ein Bad«, antwortete Lesbee wahrheitsgemäß. Er hatte sich unterdessen von seinem Schock erholt und stellte jetzt verwirrt fest, daß er sich Sorgen machte, ob »diese Idioten« – er murmelte die Worte leise vor sich hin – die Meuterei auch richtig zu Ende führen würden, damit der verrückte Flug in die Unendlichkeit nicht fortgesetzt wurde. Als ihm auffiel, wie rasch er zu den Rebellen übergegangen war, schluckte Lesbee trocken und war verwirrter als zuvor. Bevor er sich wieder erholt hatte, sagte Ganarette zögernd: »Einverstanden – aber ich begleite dich.« »Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht erst in meine Kabine gehe«, meinte Lesbee zweifelnd. »Damit dein Vater Verdacht schöpft! Unmöglich!« Lesbee war unentschlossen, weil er spürte, daß er sich in Gefahr begab. Aber in diesem Fall war das Gefühl stärker als jede Vernunft. Er beugte sich zu Ganarette hinüber, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »Das wäre immer noch besser, als daß er sich fragt, was ich mit dir zu schaffen habe. Er kann dich nämlich nicht ausstehen.« »Ach, wirklich!« Ganarettes Tonfall war so fest wie zuvor, aber sein Gesichtsausdruck verriet Unsicherheit. »Schön, dann gehen wir gleich in den Vorführraum. Hoffentlich erinnerst du dich noch an alles,
was ich gesagt habe. Du mußt den Überraschten spielen und darauf vorbereitet sein, das Kommando zu übernehmen.« Er legte Lesbee impulsiv die Hand auf den Arm. »Wir müssen siegen«, sagte er dabei. »Mein Gott, wir müssen einfach!« Als sie eine Minute später durch das Schiff gingen, bereitete Lesbee sich auf einen Kampf vor.
2 Lesbee ließ sich in den Sitz sinken. Er bemerkte kaum, daß um ihn herum andere Menschen die Sitzreihen füllten. Jetzt hatte er genügend Zeit für Zweifel und nachträgliche Überlegungen. Wenn er noch etwas ändern wollte, mußte er rasch handeln. Ganarette, der sich flüsternd mit einem anderen jungen Mann unterhalten hatte, ließ sich in den Sitz neben Lesbee fallen. »Nur noch ein paar Minuten, bis alle sitzen«, flüsterte er. »Wenn der Film läuft, warten wir noch zwei oder drei Minuten. Dann gehe ich in der Dunkelheit an die Bühne vor. Nachdem die Lampen wieder aufleuchten, kommst du nach vorn zu mir.« Lesbee nickte schweigend, fühlte sich aber unbehaglich. Seine ursprüngliche Begeisterung für die Meuterei war rasch verflogen und hatte der Furcht vor den Konsequenzen dieser Tat Platz gemacht. Er hatte keine bestimmte Vorstellung von den kommenden Ereignissen, ahnte aber, daß eine Katastrophe bevorstand. Ein Summer ertönte. »Aha«, flüsterte Ganarette, »die Vorstellung beginnt gleich.« Langsam verstrichen die Sekunden. Lesbee spürte, daß er eigentlich die anderen Offiziere warnen muß-
te. Er hatte das bestimmte Gefühl, seine Stellung innerhalb der herrschenden Klasse allzu leicht aufs Spiel gesetzt zu haben. Vielleicht wollten die Meuterer ihn nur vorläufig für ihre Zwecke benutzen, um ihn später wieder abzusetzen, wenn sie selbst genug gelernt hatten. Plötzlich war er davon überzeugt, daß selbst ihr Sieg keinen Gewinn bringen konnte. Lesbee rutschte unruhig auf seinem Sitz umher und sah sich verstohlen um, während er überlegte, in welche Richtung er fliehen konnte. Er gab bereits nach einem kurzen Rundblick auf. Seine Augen hatten sich an das hier herrschende Halbdunkel gewöhnt. Am Ende der gleichen Reihe saß der Dritte Offizier mit seiner Frau. Browne fing Lesbees zerstreuten Blick auf und lächelte freundlich. Lesbee rang sich mühsam ein Lächeln ab und wandte sich wieder um. Neben ihm fragte Ganarette: »Wo sitzt Carson?« Lesbee stellte fest, daß der Erste Offizier in der vorletzten Reihe saß, während der Zweite Offizier auf einem Sitz in unmittelbarer Nähe der Bühne hockte. Nur Captain Lesbee selbst war noch nicht gekommen; alle anderen Schiffsoffiziere waren anwesend. Das war etwas beunruhigend, aber Lesbee tröstete sich mit dem Gedanken, daß der Vorführraum wie üblich mit Menschen angefüllt war. Dreimal pro »Woche« wurde ein Film vorgeführt.
Dreimal pro Woche versammelten sich die achthundert Menschen an Bord des Raumschiffs in diesem Raum, um auf die Leinwand zu starren, auf der Erdszenen gezeigt wurden. Kaum einer versäumte diese Gelegenheit freiwillig Lesbees Vater mußte jeden Augenblick kommen. Lesbee zuckte resigniert mit den Schultern und ergab sich in das Unvermeidbare. Auf der Leinwand erschien jetzt der Vorspann des Films, während gleichzeitig Musik ertönte. Lesbee hörte undeutlich, daß von einer »wichtigen Gerichtsverhandlung« die Rede war, achtete aber nicht weiter darauf, sondern sah wieder auf den Platz, der für seinen Vater reserviert war. Der Sitz war noch immer leer. Diese Tatsache versetzte ihm einen schweren Schock. Lesbee erkannte in diesem Augenblick, daß er wirklich in Gefahr schwebte, daß sein Vater über die Meuterei unterrichtet sein mußte. Gleichzeitig spürte er eine unendliche Enttäuschung, weil er erkannte, daß der Flug nun fortgesetzt werden würde. Bisher hatte er nicht gewußt, wie sehr ihn die Tatsache bedrückte, daß das Schiff jetzt schon siebentausendachthundert Tage von der Erde entfernt war. Er drehte sich zu Ganarette um und wollte ihn anfahren, weil der Plan offensichtlich gescheitert war.
Er hatte schon die Lippen geöffnet, zögerte aber noch. Falls die Meuterei wirklich fehlschlug, durfte er sich nicht jetzt noch dabei ertappen lassen, daß er sich zustimmend darüber äußerte. Er seufzte leise und ließ sich wieder in den Sitz zurücksinken. Gleichzeitig mit dem Ärger über den fehlgeschlagenen Plan wurde auch seine Enttäuschung geringer. Statt dessen fand Lesbee sich mißmutig mit dem Unvermeidbaren ab, das die Zukunft bringen würde. Auf der Filmleinwand erschien jetzt ein Mann, der anklagend die Hand ausstreckte und dabei sagte: »... das Verbrechen des Angeklagten heißt Hochverrat. Die auf der Erde geltenden Gesetze sind auch im Weltall, auf dem Mond oder dem Mars nicht außer Kraft gesetzt, sondern ...« Lesbee konnte sich selbst bei bestem Willen nicht auf diese Szene konzentrieren. Er sah immer wieder zu dem leeren Sitz hinüber, der für Captain Lesbee reserviert geblieben war. Dann holte er plötzlich tief Luft, als er beobachtete, daß sein Vater auf den Platz zuging. Also hatte er doch nichts von der geplanten Meuterei gewußt. Sein Zuspätkommen war nur ein bedeutungsloser Zufall gewesen. Jetzt konnte es nur noch Sekunden dauern, bis die jungen Rebellen das Licht einschalteten und die Gewalt über das Schiff an sich rissen. Eigenartigerweise konnte Lesbee sich jetzt endlich
auf den Film konzentrieren, nachdem nun keine Möglichkeit mehr bestand, irgendwie selbständig zu handeln. Dabei hatte er das Gefühl, er dürfe nicht weiter nach innen sehen, wenn er sein schlechtes Gewissen beschwichtigen wollte. Aus diesem Grund starrte er angestrengt auf die Leinwand. Die Szene spielte noch immer in dem Gerichtssaal. Ein blasser junger Mann stand vor einem Richter, der ein schwarzes Barett aufgesetzt hatte und eben zu ihm sagte: »Wollen Sie vor der Urteilsverkündung noch ein Schlußwort sprechen?« Die Antwort des jungen Mannes erfolgte zögernd. »Nein, nichts mehr, Sir ... Ich meine, wir waren so weit draußen ... Wir schienen gar keine Verbindung mehr mit der Erde zu haben – nach diesen sieben langen Jahren konnten wir uns einfach nicht mehr vorstellen, daß die auf der Erde geltenden Gesetze auch hier anwendbar sein könnten ...« Lesbee fiel in diesem Augenblick zum erstenmal auf, daß in dem großen Raum tiefes Schweigen herrschte, und daß die Meuterei viele Minuten überfällig war. Als er die letzten Worte des Richters hörte, verstand er plötzlich, warum es nicht zu der Rebellion kommen würde. Der Richter auf der weit entfernten Erde sagte eben: »... deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als Sie zum Tod zu verurteilen – wegen Meuterei.«
Einige Stunden später betrat Lesbee den Projektionsraum. »Guten Abend, Mister Jonathan«, sagte er zu dem kleinen Mann, der dort die Filmrollen sortierte. Jonathan erwiderte seinen Gruß betont höflich, aber sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er sich im stillen fragte, weshalb der Sohn des Captains ausgerechnet ihn aufsuchte. Diese Reaktion erinnerte Lesbee wieder einmal daran, daß es falsch war, irgend jemand an Bord des Raumschiffs zu ignorieren. Nicht einmal die Männer, die niemand als wichtig ansah. »Heute haben Sie aber zu Anfang einen seltsamen Film gezeigt«, sagte Lesbee beiläufig. »Stimmt. Ich war auch einigermaßen überrascht, als Ihr Vater anrief und mir den Auftrag gab, heute abend zur Abwechslung damit anzufangen. Der Film ist schon ziemlich alt, wissen Sie. Er stammt noch aus den Anfängen der Raumfahrt.« Lesbee nickte verständnisvoll, wagte aber nicht zu sprechen, weil er seiner Stimme nicht traute. Er sah sich die Projektoren an, hob noch einmal grüßend die Hand und stolperte aus dem Raum. Dann irrte er fast eine Stunde lang durch die Gänge des Raumschiffs, bis er endlich einen Entschluß gefaßt hatte. Er mußte seinen Vater aufsuchen und sich mit ihm aussprechen.
3 Lesbee fand seinen Vater in dem geräumigen Wohnraum des Appartements, das sie sich teilten. Im Alter von über siebzig Jahren schon lange nicht mehr voreilig, sah er nur auf, als sein Sohn hereinkam, und nahm die unterbrochene Lektüre wieder auf. Eine Minute verstrich, bevor der Captain bemerkte, daß sein Sohn nicht in sein Schlafzimmer weitergegangen war. Er sah nochmals auf, diesmal allerdings überrascht. »Ja?« sagte er. »Kann ich etwas für dich tun?« Der junge Lesbee zögerte. Er spürte plötzlich den brennenden Wunsch, endlich wieder mit seinem Vater Frieden zu schließen. Bis zu dieser Sekunde hatte er ihm den Tot seiner Mutter nicht verzeihen können. »Vater«, sagte er leise, »warum hat Mutter Selbstmord begangen?« Captain Lesbee legte das Buch nieder. Er schien blaß geworden zu sein, obwohl das bei seiner ungesunden Gesichtsfarbe schlecht zu beurteilen war. Dann holte er tief Luft. »Hmm«, meinte er, »du stellst seltsame Fragen!« Seine Stimme klang heiser, seine Augen glänzten. »Ich muß es aber wissen«, drängte sein Sohn. Dann folgte ein endlos langes Schweigen. Das falti-
ge Gesicht des Alten blieb farblos; seine Augen glänzten noch immer. Lesbee II sprach weiter: »Mutter hat sich oft bei mir bitter über dich beklagt, aber ich habe sie nie recht verstanden.« Captain Lesbee nickte, als spreche er mit sich selbst. Dann schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein, denn er richtete sich in seinem Sessel auf. »Ich habe sie ausgenützt«, sagte er. »Sie war mein Mündel, und als sie zu einer schönen Frau heranwuchs, fühlte ich Verlangen nach ihr. Unter normalen Umständen hätte ich schweigend zusehen müssen, wie sie einen jungen Mann aus ihrer Generation heiratete. Aber ich redete mir selbst ein, daß sie wenigstens am Leben bleiben würde, wenn sie mich begleitete. Auf diese Weise mißbrauchte ich ihr Vertrauen, das dem eines Kindes für seinen Vater, aber nicht dem einer Frau für den Geliebten glich.« Lesbee II, der seine Mutter nie für besonders jung angesehen hatte, begriff nur mühsam, daß dies der Grund für ihre Klagen gewesen sein mußte. Trotzdem gab er sich jetzt einen Ruck und sprach weiter. »Mutter nannte dich oft einen Dummkopf und ...« Er zögerte. »Dabei bist du ganz bestimmt nicht dumm. Aber sie beteuerte immer wieder, daß Mister Telliers Tod kein Unfall gewesen sei, wie du den anderen gesagt hast. Sie sagte, du seist ein Mörder!«
Captain Lesbee saß unbeweglich in seinem Sessel und lächelte leise. Dann wandte er sich wieder an seinen Sohn. »Johnny, später einmal wirst du wissen, ob ich ein Genie oder ein Narr war. Ich war Tellier überlegen, weil er sich Schritt für Schritt weitertasten mußte, während ich auf Grund meiner größeren Erfahrung bereits wußte, was uns erwartete. Eines Tages erzähle ich dir vielleicht mehr von diesem langen Ringen. Tellier hätte gewinnen können, aber dazu fehlte ihm der nötige Elan.« Er mußte bemerkt haben, daß diese Erklärung nicht ausreichte, denn einen Augenblick später sprach er weiter. »Ich kann dir alles in wenigen Sätzen erklären. Nach dem Start war Tellier davon überzeugt, daß wir fast die Lichtgeschwindigkeit erreichen würden, um dadurch die in der Lorentz-Fitzgeraldschen Kontraktionstheorie vorhergesagten Vorteile auszunützen. Das gelang jedoch nicht, wie du selbst weißt. Der Antrieb erfüllte Telliers große Hoffnungen nur zu einem Bruchteil. Als wir erkannten, daß der Flug sehr viel länger dauern würde, wollte Tellier umkehren. Das konnte ich selbstverständlich auf keinen Fall zulassen. Daraufhin erlitt er einen Nervenzusammenbruch und befand sich in diesem krankhaft überreizten Zustand, als er den Unfall hatte.« »Warum warf Mutter dir dann seinen Tod vor?« Der ältere Lesbee zuckte mit den Schultern. Seine
Stimme veränderte sich nicht, als er die Frage beantwortete. »Deine Mutter hat nie richtig begriffen, worüber Tellier und ich uns stritten. Sie wußte nur, daß er umkehren wollte. Nachdem sie den gleichen Wunsch empfand, behauptete sie, er sei mir, der ich Astronom bin, als Astrophysiker geistig überlegen. Aus diesem Grund widersprach ich ihrer Meinung nach dummerweise einem Mann, der die Tatsachen wirklich kannte.« »Aha.« Lesbee II schwieg einen Augenblick lang; dann sagte er: »Ich habe die Lorentz-Fitzgeraldsche Kontraktionstheorie nie richtig verstanden und weiß auch nicht, was dir an der Sonne so gefährlich erscheint, daß du diesen Flug unternimmst.« Der Ältere warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Der Grund dafür ist nicht mit wenigen Worten zu erklären«, sagte er langsam. »Zum Beispiel habe ich nicht die Sonne selbst, sondern eine Veränderung unseres Raum-Zeit-Kontinuums analysiert. Diese Veränderung müßte unterdessen die Zerstörung des Sonnensystems herbeigeführt haben.« »Aber die Sonne ist doch nicht aufgeflammt.« »Ich habe nie behauptet, daß sie das tun würde«, stellte Captain Lesbee sofort fest. Dann sprach er wieder ruhig weiter. »Mein Junge, in der Bibliothek findest du meinen genauen Bericht und eine Darstellung von Doktor Telliers Versuchen, eine höhere Ge-
schwindigkeit zu erreichen. Seine Aufzeichnungen enthalten die Erläuterung der berühmten LorentzFitzgeraldschen Kontraktionstheorie. Warum liest du das Zeug nicht einmal durch?« Der Junge zögerte. Im Augenblick hatte er keine allzu große Begeisterung für lange wissenschaftliche Ausführungen. Andererseits erkannte er aber, daß diese Gelegenheit sich vielleicht nie wiederholen würde, und ließ nicht locker. »Weshalb erreichte das Schiff damals nicht die vorgesehene Geschwindigkeit? Wo lag damals der Fehler?« Dann fügte er rasch hinzu: »Oh, ich weiß, daß darüber Vorträge gehalten wurden, aber wie ich dich kenne, haben wir nur erfahren, was du für richtig hieltest. Wie sieht die Wahrheit aus?« Der alte Mann lächelte. »Du hast natürlich recht, mein Junge – ich habe den Leuten erzählt, was ich in ihrem Interesse für richtig hielt. Die Wahrheit hast du bereits vorher von mir gehört. Als Tellier feststellte, daß die ausgestoßenen Teilchen nicht bis zu der Geschwindigkeit beschleunigt werden konnten, an der eine Ausdehnung stattfinden mußte, wurde es notwendig, mit dem Treibstoff sparsamer umzugehen. Theoretisch hätte ein Fingerhut voll Treibstoff genügt, wenn die Teilchen sich wie vorhergesagt ausgedehnt hätten. Wir verbrauchten aber tatsächlich Hunderte von Tonnen, um das Schiff auf fünfzehn
Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Dann ließ ich den Antrieb stillegen, so daß das Schiff seitdem mit dieser Geschwindigkeit fliegt. Wir werden die gleiche Treibstoffmenge benötigen, um die Geschwindigkeit wieder herabzusetzen. Wenn alles wie geplant verläuft, erwarte ich keine Schwierigkeiten. Aber wenn unerwartete Veränderungen eintreten, müssen wir irgendwann für Telliers Versagen bezahlen.« »In welcher Form?« erkundigte sich Lesbee II. »Treibstoffmangel«, antwortete sein Vater lakonisch. »Oh!« »Noch etwas«, fuhr der Alte fort. »Ich weiß genau, daß der größte Teil der Besatzung noch immer glaubt, die Erde existiere nach wie vor, und daß ich in dieser Beziehung scharf kritisiert werde. Ich habe mir schon vor Jahren Gedanken darüber gemacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß ich mich lieber beschimpfen lasse, als mit diesen Leuten zu diskutieren. Der Grund dafür: meine Autorität stammt von der Erde. Wenn die Besatzung einsieht, daß die Erde nicht mehr existiert, kann kein Angehöriger der herrschenden Klasse – ich, du und die anderen Offiziere – mehr das tun, was ich heute abend getan habe: Unzufriedene daran erinnern, wie die Erde jeden bestraft, der ihrem Auftrag zuwiderhandelt.«
Der Sohn des Captains nickte. Da er dieses Thema nach Möglichkeit vermeiden wollte, sah er die Unterhaltung als beendet an. Allerdings hätte er gern noch eine Frage gestellt, die sich mit den Beziehungen des Captains zu Telliers Witwe nach dem Tod seiner Mutter befaßte. Aber nachdem er einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, stellte er die Frage doch lieber nicht. »Danke, Vater«, sagte er und ging in sein Schlafzimmer.
4 Seit Wochen verzögerte das Raumschiff. Von Tag zu Tag leuchteten die hellen Sterne in der Dunkelheit vor ihnen größer und strahlender auf. Die vier Sonnen von Alpha Centauri erschienen nicht mehr wie ein einziger gleißender Diamant, sondern waren zu deutlich voneinander zu unterscheidenden Lichtpunkten geworden, zwischen denen dunkle Räume lagen. Das Raumschiff passierte Proxima Centauri in einer Entfernung von mehr als drei Milliarden Kilometern. Der schwach leuchtende rote Stern blieb langsam hinter ihm zurück. Nicht Proxima, sondern Alpha A war das erste Ziel der Expedition. Selbst von der Erde aus war zu erkennen gewesen, daß sieben Planeten um Alpha A kreisten. Und von sieben Planeten mußte sich doch wenigstens einer für eine Besiedlung eignen. Als das Raumschiff noch immer fast sechseinhalb Milliarden Kilometer von dem Hauptsystem entfernt war, kam der sechsjährige Sohn von Lesbee II in die Treibhäuser, wohin sein Vater gerufen worden war, um über die Verwendung von flüssigem Kunstdünger beim Gemüsebau zu entscheiden. »Großvater möchte, daß tu zu ihm in seine Kabine kommst, Dad.«
Lesbee nickte und stellte gleichzeitig fest, daß der Kleine kaum auf die Gärtner achtete. Er freute sich darüber, denn schließlich bewies diese Tatsache, daß der Junge sich seiner Stellung bewußt war. Genau dieses Bewußtsein hatte Lesbee ihm seit seiner Geburt – einige Jahre nach der durch Ganarette verursachten Krise – einzuflößen versucht. Der Junge mußte mit dem Gefühl der Überlegenheit aufwachsen, das für den Captain eines Raumschiffs unerläßlich war. Lesbee dachte an die Benachrichtigung, die er eben erhalten hatte. Er brachte seinen Sohn auf den Kinderspielplatz, ließ ihn dort zurück und fuhr selbst mit dem Aufzug in das Offiziersdeck hinauf. Sein Vater, vier Physiker der Ingenieurabteilung und Mr. Carson, Mr. Henwick und Mr. Browne waren zu einer Besprechung in der Kabine des Captains versammelt. Lesbee zog einen Sessel heran und ließ sich schweigend darin nieder, weil er wußte, daß er zu warten hatte, bis er angesprochen wurde. Schon nach kurzer Zeit verstand er, worüber hier so eifrig diskutiert wurde. Über die Funkenbildung. Seit Tagen durchflog das Raumschiff offenbar einen heftigen elektrischen Sturm. Die Funken sprühten ständig über das Schiff hinweg. Die wachhabenden Offiziere mußten auf der Brücke dunkle Brillen tragen; die unaufhörlichen Lichtblitze überanstrengten
die Augenmuskulatur und riefen heftige Kopfschmerzen hervor. Die Erscheinung wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. »Meiner Meinung nach«, sagte Chefphysiker Plauck, »sind wir auf eine Gaswolke gestoßen. Wie Sie wissen, herrscht im All kein völliges Vakuum, sondern der Raum ist besonders in unmittelbarer Nähe der Sternensysteme mit freien Atomen und Elektronen angefüllt. Innerhalb der komplizierten Struktur, deren Eckpfeiler Alpha A, B, C und Proxima bilden, entzieht das dadurch gebildete Schwerefeld der äußersten Atmosphäre dieser Sterne unvorstellbare Mengen von Atomen, die im gasförmigen Zustand in die weitere Umgebung vordringen. Die elektrischen Erscheinungen sind vermutlich dadurch zu erklären, daß durch irgendwelche Ursachen eine Strömung innerhalb dieser gasförmigen Wolken entstanden ist – vielleicht ist daran sogar unser Raumschiff schuld, obwohl das unwahrscheinlich ist. Andererseits sind interstellare elektrische Stürme durchaus nicht neu, was Ihnen bekannt sein dürfte.« Er machte eine Pause und sah Kesser, einen seiner Assistenten, fragend an. Der Mann sagte: »Zufällig bin ich mit der Theorie über die Entstehung und das Vorhandensein eines elektrischen Sturms nicht ganz einverstanden, obwohl ich eben-
falls der Auffassung bin, daß wir im Augenblick eine Gaswolke durchqueren. Schließlich sind solche Erscheinungen jedem Astronomen bekannt. Aber ich habe eine andere Erklärung für die Funken. Schon im zwanzigsten Jahrhundert versuchten einige Physiker die Theorie zu beweisen, daß Gasmoleküle im All jederzeit Geschwindigkeit in Wärme oder Wärme in Geschwindigkeit verwandeln. Die Temperatur dieser freien Teilchen, die einen solchen Wechsel vollzogen hatten, wurde genau berechnet. Dabei erhielt man Werte bis zu elftausend Grad Celsius.« Kesser sah sich um. »Was würde also geschehen, wenn ein Molekül mit entsprechender Geschwindigkeit auf unser Schiff auftrifft, wodurch die Umwandlung in Gang gesetzt wird? Natürlich würden Funken sprühen!« Der Physiker machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er zögernd weitersprach: »Außerdem müssen wir immer an die erste Expedition nach Centaurus denken und deshalb doppelt vorsichtig sein.« Plötzlich herrschte eisiges Schweigen in der Kabine. Lesbee II hatte seltsamerweise den Eindruck, daß keiner der Anwesenden von dieser Expedition hatte sprechen wollen, obwohl bestimmt jeder von ihnen daran gedacht hatte. Lesbee II sah zu seinem Vater hinüber. Captain Lesbee runzelte nachdenklich die Stirn. Er hatte im Laufe der Jahre einige Kilogramm Gewicht verloren,
wog aber trotzdem noch immer fast achtzig Kilo bei einer Größe von einsdreiundneunzig. Jetzt richtete er sich langsam in seinem Sessel auf und sagte: »Daß wir vorsichtig sind, versteht sich eigentlich von selbst. Schließlich wurde diese Expedition auch zu dem Zweck ausgeschickt, nach dem Verbleib des ersten Raumschiffs zu forschen.« Er sah zu den Physikern hinüber. »Wie Sie wissen, meine Herren«, fuhr er dann fort, »ist diese Expedition vor fast fünfundsiebzig Jahren in Richtung Alpha Centauri gestartet. Wir nehmen an, daß die Triebwerke weiterhin funktioniert haben. Daraus folgt, daß während des Eintritts in eine Planetenatmosphäre eine Möglichkeit zur Verzögerung vorhanden gewesen sein muß. Also müßten sich noch Spuren des Raumschiffs finden lassen. Die große Frage ist nur – welche Geräte an Bord eines Raumschiffs überdauern fünfundsiebzig Jahre unter ungünstigsten Bedingungen?« Lesbee II war über die verschiedenen Antworten überrascht, denn die Physiker zählten eine ganze Reihe von Dingen auf, die noch zu finden sein mußten. Die Atommeiler des Raumschiffs. Alle elektronischen Detektoren und andere Energiequellen. Jemand stellte fest, daß Instrumente mit gedruckten Schaltungen bis zu achthundert g belastet werden konnten, ohne dabei funktionsunfähig zu werden. Das Raumschiff selbst? Ob die Hülle intakt blieb, hing vor allem von
der Geschwindigkeit ab, mit der sich das Schiff durch die Atmosphäre eines Planeten bewegte. Theoretisch war es möglich, daß die Geschwindigkeit so hoch war, daß die maximale Belastungsgrenze überschritten wurde. In diesem Fall löste sich selbst das beste Raumschiff explosionsartig in seine Bestandteile auf. Aber die Experten nahmen nicht an, daß es dazu gekommen war. Sie waren davon überzeugt, daß noch etwas zu finden sein würde. »Wir sind der Meinung, Sir, daß das Schiff schon wenige Stunden nach unserer Ankunft auf dem entsprechenden Planeten geortet werden kann.« Als die Physiker und Offiziere sich erhoben und die Kabine verließen, bemerkte Lesbee, daß sein Vater ihm ein Zeichen gab, er solle noch bleiben. Als die anderen gegangen waren, sagte der Captain: »Wir müssen auf eine zweite Meuterei gefaßt sein und uns darauf vorbereiten. Diesmal geht es darum, unsere Position zu untergraben, indem eine ständige Kolonie auf Centaurus gegründet wird, ohne daß eine Rückkehr zur Erde geplant ist. Nachdem du weißt, daß ich davon überzeugt bin, daß die Erde inzwischen nicht mehr existiert, kannst du dir vorstellen, wie mich diese Entwicklung verblüfft. Ich muß dir allerdings auch mitteilen, daß die Meuterer dich diesmal nicht wieder zum Captain machen wollen. Deshalb wollte ich mit dir die nötigen Gegenmaßnahmen diskutieren ...«
5 Die Wache auf der Brücke wurde zu einem Alptraum. Lesbee II und die drei anderen Schiffsoffiziere lösten einander jetzt schon nach drei Stunden ab, wodurch die Anstrengung des einzelnen etwas verringert wurde. Während der Zeit, die sie auf der Brücke zubringen mußten, trugen sie leichte Schutzanzüge, deren Helme mit dunklen Gläsern ausgerüstet waren, aber Lesbees Augen schmerzten trotzdem ständig. Wenn er schließlich nach drei Stunden erschöpft in seine Koje fiel, tanzten die Funken unter seinen geschlossenen Lidern weiter und vermischten sich mit seinem ständigen Angsttraum zu einer feurigen Symphonie. Lesbee träumte in letzter Zeit immer öfter von einer erfolgreichen Meuterei unter Ganarettes Führung, von der die Schiffsoffiziere völlig überrascht wurden, obwohl sie vorher darüber informiert gewesen waren. Eigentlich war es ohnehin ein Wunder, daß der Captain überhaupt soviel darüber wußte. Die Geschwindigkeit des Raumschiffs wurde weiter verringert, bis die interplanetare Reisegeschwindigkeit erreicht war. Das Schiff näherte sich langsam dem Planeten, auf dem die erste Landung erfolgen sollte. Die Wahl war nicht schwer gewesen, denn
sechs der sieben Planeten dieses Systems waren so groß wie Jupiter; der siebte besaß einen Durchmesser von sechzehntausend Kilometern. Bei einer Entfernung von etwa einhundertneunzig Millionen Kilometern von Alpha A, einer Sonne, die fünfzehn Prozent heißer als Sol war, glichen die Verhältnisse auf diesem Planeten fast denen der Erde. Allerdings war dabei zu berücksichtigen, daß auch Alpha B – in einer Entfernung von einskommaacht Milliarden Kilometern von Alpha A – und die fast unsichtbare Sonne Alpha C ebenfalls die Verhältnisse auf dem Planeten beeinflussen würden. Aber das spielte eigentlich fast keine Rolle mehr, nachdem der Planet die richtige Größe und eine Atmosphäre aufwies, die selbst aus dieser Entfernung in allen Farben glühte. Das gigantische Raumschiff Hope of Man schwenkte in sechstausend Kilometern Höhe über der Planetenoberfläche in eine Kreisbahn ein und behielt die Minimalgeschwindigkeit konstant bei. Dann begann die erste Untersuchung des Planeten, die fast augenblicklich ein greifbares Ergebnis brachte – auf dem Planeten wurden Städte festgestellt. Dann begann eine spannungsgeladene Wartezeit, in der die freudige Überraschung über diese Entdekkung allmählich unterging. Die Meßgeräte auf der Brücke und in dem Ausweichkontrollraum zeigten immer deutlicher an, daß die Verhältnisse auf der
Oberfläche des Planeten und in seiner Atmosphäre zumindest teilweise für Menschen ungeeignet waren. Allerdings waren sich alle Beteiligten darüber einig, daß Messungen aus einer so großen Entfernung bestenfalls einen ungefähren Anhalt darstellen konnten. Einige Tage später, als Lesbee II seinen Vater auf die Brücke begleitete, kam der rasch gealterte Chemiker Kesser langsam auf den Captain zu. »Je eher wir tiefer in die Atmosphäre eindringen, damit wir unsere Untersuchungen abschließen können, desto lieber ist es mir«, sagte er. Lesbee II wollte schon zustimmen, aber sein Vater schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Mister Kesser, Sie hatten eben erst Ihr Universitätsstudium beendet, als Sie sich für diese Expedition meldeten. Deshalb ist es kein Wunder, daß Sie sich nicht darüber im klaren sind, wie vorsichtig wir in diesem Fall vorgehen müssen. Leider trifft diese Feststellung auf alle anderen, die während des Flugs geboren worden sind, in noch stärkerem Maße zu. Ich habe nicht die geringste Absicht, den Planeten innerhalb der nächsten zwei Wochen näher zu besichtigen. Vielleicht findet die Landung sogar erst noch später statt.« Wieder einige Tage später bestätigten genauere Messungen die ersten Vermutungen. Die Atmosphäre des Planeten war leicht grünlich gefärbt, was auf einer hohen Chlorkonzentration beruhte. Da außerdem
in der Stratosphäre ein erheblicher Sauerstoffgehalt gemessen werden konnte, erinnerte der Planet stark an die Venus. Allerdings würde es erforderlich sein, hier ständig Masken zu tragen, die vor Chlorgasen schützten. Kesser und seine Assistenten konnten nicht genau feststellen, bis zu welchem Prozentsatz die Planetenatmosphäre Wasserstoff und Stickstoff enthielt, aber diese Tatsache verstärkte ihren Wunsch nach einer baldigen Landung um so mehr. Aus sechstausend Kilometern Höhe war der Unterschied zwischen Wasser und Land so deutlich wahrnehmbar, daß eine fotografische Karte zusammengestellt werden konnte. Die Hochleistungskameras, die pro Sekunde Zehntausende von Bildern aufnahmen, lieferten schließlich einen Bildstreifen, der völlig frei von störenden Funken war. Die Planetenoberfläche war in vier Kontinente und zahllose Inseln untergliedert. Neunundfünfzig Städte waren groß genug, um trotz der beträchtlichen Entfernung deutlich sichtbar zu sein. Sie alle waren nachts nicht beleuchtet, aber das war nicht unbedingt erforderlich, weil auf diesem Planeten nie wirklich Nacht herrschte. Wenn Alpha A nicht am Himmel stand, leuchteten entweder Alpha B oder Alpha C – gelegentlich auch beide gemeinsam – und erhellten die Oberfläche des Planeten. »Wir dürfen nicht einfach annehmen«, führte Cap-
tain Lesbee in einer seiner täglichen Ansprachen über die Schiffslautsprecher aus, »daß die Zivilisation dort unten die Elektrizität noch nicht entdeckt hat. Einzelne Lichtquellen innerhalb der Gebäude brauchen aus dieser Entfernung nicht mehr sichtbar zu sein, wenn sie nicht oft benützt werden.« Lesbee II mußte feststellen, daß diese Ansprachen keineswegs den Zweck erfüllten, den sein Vater ihnen zugedacht hatte. Die Besatzung murrte statt dessen, denn fast alle waren der Überzeugung, der Captain sei auf seine alten Tage allzu vorsichtig geworden. »Warum landen wir nicht einfach?« hieß es allgemein. »Warum untersuchen wir die Atmosphäre nicht direkt, anstatt hier oben herumzufliegen? Dann wäre endlich die ständige Ungewißheit vorüber. Wenn das Zeug nicht atembar ist, sollten wir uns davon überzeugen und nach Hause zurückfliegen.« Obwohl er Zutrauen zu den Fähigkeiten seines Vaters hatte, stimmte Lesbee II den Kritikern bis zu einem gewissen Punkt zu. Schließlich war nicht anzunehmen, daß die Leute dort unten sofort über das Raumschiff herfallen würden. Außerdem konnten sie doch sofort wieder starten ... Sein Vater teilte ihm abends in ihrer Kabine mit, daß die Meuterei vorläufig nicht stattfinden solle, weil die Verschwörer zunächst die weitere Entwicklung abwarten wollten. Der Plan einer ständigen Ko-
lonie auf diesem Planeten war offensichtlich ins Wanken geraten, als sich herausstellte, daß die Atmosphäre vielleicht nicht atembar war – und daß die Erlaubnis zur Besiedlung auf jeden Fall von der gegenwärtigen Bevölkerung eingeholt werden mußte. »Obwohl sie es natürlich nie zugeben würden«, schloß der Captain, »haben sie vor Angst fast die Hosen voll.« Auch Lesbee II hatte Angst. Die Vorstellung einer fremden Zivilisation machte ihm schwer zu schaffen. Er hatte den einen Trost, daß er wenigstens nicht der einzige war, dem es so erging. Auch die anderen hatten blasse Gesichter und zitternde Stimmen, während Lesbee sich wenigstens noch an dem Beispiel seines Vaters aufrichten konnte. Er begann sich eine Zivilisation ohne Maschinen vorzustellen, deren Angehörige beim Anblick des riesigen Schiffes von der Erde ehrfurchtsvoll in die Knie sinken würden. Er stellte sich vor, wie schön es sein müßte, durch die Reihen der verwirrten Eingeborenen zu schreiten, die ihn für einen Gott halten mußten. Diese Vision endete abrupt, als am neunten Tag nach der Annäherung an den Planeten eine Durchsage aus den Schiffslautsprechern erklang. »Hier spricht Captain Lesbee. Soeben wurde gemeldet, daß ein Super-Raumschiff unterhalb unserer
gegenwärtigen Position in die Atmosphäre eingetreten ist. Der Kurs des fremden Schiffs zeigt, daß es uns in einer Entfernung von wenigen Kilometern passiert haben muß. Wir müssen deshalb annehmen, daß wir beobachtet worden sind. Sämtliche Offiziere und Mannschaften beziehen sofort ihre Alarmstationen. Weitere Informationen folgen.«
6 Lesbee II legte so rasch wie möglich den leichten Schutzanzug an und machte sich auf den Weg zur Brücke. Die Funken sprühten noch immer über die Plastiglaskuppel hinweg, so daß er es als eine Erleichterung empfand, sich vor dem Bildschirm niederlassen zu können, den die Physiker vor einigen Tagen auf der Brücke installiert hatten. Der Bildschirm setzte die Impulse der Hochleistungskameras um, aber ein Steuergerät filterte alle Impulse aus, die einen Funken zeigten. Da die Aufnahmegeräte mit hoher Geschwindigkeit arbeiteten, fiel nicht auf, daß einzelne Impulse fehlten, denn das Bild auf dem Schirm schien nicht unterbrochen zu werden. Lesbee beobachtete den Bildschirm, als plötzlich am unteren Rand ein heller Punkt erschien – in einer Entfernung von etwa fünfzehn Kilometern. Ein Raumschiff! Die anwesenden Physiker diskutierten aufgeregt darüber, weshalb das Schiff sich so rasch genähert haben konnte. Eben noch war der Bildschirm leer gewesen; in der nächsten Sekunde zeigte er bereits ein riesiges Raumschiff. Captains Lesbees Stimme drang wieder aus den Lautsprechern: »Offenbar haben diese Lebewesen ein
Antriebsprinzip erfunden, das ohne die sonst üblichen langsamen Beschleunigungen und Verzögerungen arbeitet. Dazu gehört auch, daß sie im Innern des Schiffes ein künstliches Schwerefeld erzeugen. Vermutlich erreicht ein Schiff dieser Art seine Höchstgeschwindigkeit schon wenige Minuten nach Verlassen der Atmosphäre eines Planeten.« Lesbee II hörte kaum zu, weil er das fremde Raumschiff angestrengt beobachtete. Er erinnerte sich daran, daß die Hope of Man für jede Beschleunigung oder Verzögerung Monate brauchte, aber dann dachte er absichtlich nicht mehr daran; der Vergleich war zu ungünstig. Er stellte erschrocken fest, daß das andere Raumschiff sich weiter genähert hatte. Dann ertönte wieder die Stimme des Captains: »Torpedomannschaften, laden! Aber der Abschuß erfolgt nur auf meinen Befehl hin! Jeder Waffenoffizier, der vorzeitig handelt, wird vor ein Kriegsgericht gestellt! Vielleicht sind die Fremden uns nicht feindlich gesinnt.« Auf der Brücke herrschte tiefes Schweigen, während der Abstand zwischen den beiden Raumschiffen sich auf zwei Kilometer verringerte. Beide lagen jetzt auf einem Parallelkurs; das fremde Raumschiff lag hinter der Hope of Man, holte aber ständig weiter auf. Ein Kilometer, dann nur noch ein halber. Lesbee fuhr
sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er warf Carson einen Blick zu und sah, daß der andere steif aufgerichtet auf seinem Stuhl saß und zu dem Bildschirm hinüberstarrte. Das bärtige Gesicht des Ersten Offiziers war mit kleinen Schweißperlen bedeckt. Wieder drang Captain Lesbees Stimme aus dem Lautsprecher hinter ihnen: »Achtung! Der folgende Befehl gilt nur für die Torpedokammer A unter dem Kommando von Oberbootsmann Doud. Doud, ich möchte, daß Sie einen nicht scharfgemachten Aal aus dem Rohr lassen. Verstehen Sie mich richtig! Stoßen Sie einen Torpedo mit Preßluft aus.« Lesbee II sah den Torpedo aus dem Rohr gleiten und hörte, daß sein Vater weitere Anweisungen erteilte: »Lassen Sie den Torpedo zweihundert Meter weit fliegen, damit er von dem anderen Schiff das deutlich zu sehen ist. Dann steuern Sie ihn in einem engen Kreis mit einem Radius von fünfzig Metern.« Der Captain erklärte seinen unsichtbaren Zuhörern ruhig: »Ich hoffe, daß wir dadurch der Besatzung des anderen Schiffs beweisen können, daß wir zwar über Waffen verfügen, sie aber nicht aggressiv anwenden wollen. Aus ihrer Reaktion ergibt sich vielleicht, ob sie sich uns absichtlich oder nur zufällig so heimlich genähert haben. Vielleicht erhalten wir zusätzlich noch andere wertvolle Informationen, über die ich je-
doch im Augenblick noch nicht sprechen möchte. In der Zwischenzeit besteht kein Grund zur Beunruhigung. Unsere Abwehrschirme sind bereits aktiviert worden und bestehen aus verschiedenen Arten von Energiefeldern, die alle bekannten Angriffswaffen unschädlich machen.« Lesbee II war für kurze Zeit wieder beruhigt, aber das unangenehme Gefühl kam sofort wieder zurück, als er die Stimme von Oberbootsmann Doud aus dem Lautsprecher hörte: »Hier spricht Oberbootsmann Doud, Torpedokammer A. Irgend jemand versucht, die Fernsteuerung des Torpedos zu beeinflussen.« »Schalten Sie Ihr Gerät ab!« wies Captain Lesbee ihn sofort an. »Offenbar haben die anderen festgestellt, daß der Aal nicht scharf ist.« Lesbee II beobachtete gespannt, wie der Torpedo auf das fremde Raumschiff zuflog. Dann öffnete sich eine Luke in der Außenwand, die den Torpedo aufnahm und wieder geschlossen wurde. Eine Minute verging; dann noch eine. In der dritten Minute tauchte der Torpedo wieder auf und näherte sich langsam der Hope of Man. Lesbee wartete schweigend, weil er in diesem Augenblick ohnehin um Worte verlegen gewesen wäre. Nicht zum erstenmal in diesen vergangenen Tagen spürte er, daß dieses Zusammentreffen zweier Zivilisationen von verschiedenen Sonnen einzigartig war. Seit
einigen Wochen wunderte er sich bereits darüber, daß ausgerechnet er zu den Männern gehörte, die diesen Flug mitmachen durften. Auf der Erde lebten Milliarden von Menschen, aber er gehörte zu den Auserwählten, die hier an den Grenzen des bekannten Universums den größten Augenblick in der Geschichte der Menschheit miterleben durften. Plötzlich verstand Lesbee den Stolz, der in der Stimme seines Vaters mitschwang, wenn dieser von der Expedition sprach. Einen Augenblick lang vergaß Lesbee alle Angst, teilte diesen Stolz und empfand dabei eine Freude, die ihm früher unvorstellbar erschienen wäre. Dann schrak er wieder aus seinen Gedanken auf, als Captain Lesbees Stimme aus dem Lautsprecher ertönte: »Die folgenden Anweisungen betreffen nur die Offiziere und Wissenschaftler an Bord. Doud, versuchen Sie zunächst, ob Sie den Torpedo wieder steuern können. Ausführung!« Eine kurze Pause; dann: »Der Aal ist wieder unter Kontrolle, Sir.« »Gut.« In Captain Lesbees Stimme schwang deutlich Erleichterung mit. »Wie steht es mit den Telemetrie-Messungen?« »Laut und klar – auf beiden Kanälen.« »Überprüfen Sie die Zündereinstellung.« »Jawohl, Sir.« Wieder eine Pause. »Alles negativ. Entschärft.«
»Kaum anzunehmen, daß die anderen in dieser kurzen Zeit schon eine Veränderung an der Zündeinstellung vorgenommen haben können.« Der Captain war weiterhin vorsichtig. »Irgendwelche anomalen Messungen? Erhöhte Radioaktivität?« »Nein, Sir. Geigerzähler im unteren Sicherheitsbereich.«
7 Der Prozeß gegen Ganarette begann unmittelbar nach dem Frühstück am folgenden Schiffstag. Die Hope of Man befand sich noch immer in einer Kreisbahn um Alpha A-4, aber das fremde Raumschiff war bereits wieder verschwunden. Aus diesem Grunde konnte die Besatzung sich ungestört auf die Verhandlung konzentrieren. Lesbee II war über den Umfang des vorgelegten Beweismaterials verblüfft. Stundenlang hintereinander wurden Tonbandaufzeichnungen abgespielt, in denen Ganarettes Stimme laut und klar zu verstehen war, während die Stimmen seiner Gesprächspartner bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurden. »Ich habe mich zu dieser Maßnahme entschlossen«, erklärte Captain Lesbee den schweigenden Zuhörern, »weil Ganarette der Anführer der Meuterer ist. Niemand außer mir weiß, wer die anderen Männer sind – und ich habe die Absicht, ihre Namen zu vergessen, als hätten sie nie eine Meuterei geplant.« Die Beweise waren niederschmetternd. Lesbee II konnte sich nicht einmal vorstellen, wie die Tonbandaufnahmen zustandegekommen waren, aber jedenfalls war Ganarette in Situationen belauscht worden, in denen er sich völlig sicher gefühlt hatte. Der Mann hatte
gelegentlich davon gesprochen, daß jeder umgebracht werden müsse, der sich den Meuterern in den Weg stelle. Mindestens zehnmal hatte er die Verschwörer aufgefordert, den Captain, die Schiffsoffiziere und Lesbees Sohn zu ermorden. »Sie müssen unbedingt beseitigt werden, damit wir den Rücken freihaben. Die dummen Kerle an Bord haben sich nämlich schon fast damit abgefunden, daß die Lesbees hier den Ton angeben.« An dieser Stelle lachte Ganarette laut auf und starrte die Zuhörer herausfordernd an. »Seid ihr nicht auch meiner Meinung?« fragte er in den Saal hinein. »Ihr armen Trottel seht es anscheinend für selbstverständlich an, daß jemand euer ganzes Leben lang euer Boß bleibt. Wacht doch endlich auf, ihr Narren! Schließlich habt ihr nur ein Leben. Laßt euch nicht von einem Mann vorschreiben, wie ihr es leben sollt!« Ganarette bekannte sich ohne weitere Umschweife schuldig. »Klar, die Anklage ist völlig berechtigt. Aber seit wann vertritt unser Captain die Stelle des Allmächtigen? Ich bin auf diesem Schiff geboren worden, ohne daß mich vorher jemand um mein Einverständnis gebeten hätte. Meiner Meinung nach gibt es hier an Bord niemand, der mir sagen darf, was ich zu tun oder zu lassen habe.« Einige Male drückte Ganarette auch eine Verwirrung aus, von der Lesbee II in den letzten Tagen ebenfalls befallen worden war. »Was soll das ganze Verfahren ei-
gentlich?« wollte er wissen. »Nachdem wir festgestellt haben, daß das Centaurussystem bewohnt ist, erübrigt sich doch der lächerliche Aufwand. Ich bin jederzeit bereit, brav zur Erde zurückzukehren. Schließlich ist es schlimm genug, daß der lange Flug vergeblich war, und daß ich sechzig sein werde, bis wir wieder auf der Erde landen. Aber viel wichtiger ist, daß ich jetzt einsehe, weshalb wir zurückkehren müssen. Außerdem hat es nie eine Meuterei gegeben. Niemand kann mich verurteilen, weil ich dummes Zeug geredet habe.« Gegen Ende beschränkte Lesbee sich darauf, den Gesichtsausdruck seines Vaters zu beobachten. Er versuchte zu enträtseln, was die steilen Falten auf der zerfurchten Stirn seines Vaters zu bedeuten hatten, und gelangte schließlich zu der Einsicht, daß er diesen Ausdruck nicht deuten konnte. Er ahnte nur, daß sein Vater bereits einen bestimmten Entschluß gefaßt haben mußte. Als das Abendessen noch weniger als eine Stunde entfernt war, stellte der Captain dem Angeklagten die letzte Frage: »Emile Ganarette, haben Sie alles vorgebracht, was Sie zu Ihrer Verteidigung anzuführen haben?« Der grobknochige junge Mann zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Jedenfalls fällt mir im Augenblick nichts mehr ein.« Nach einer kurzen Pause begann Captain Lesbee
mit der Verkündung des Urteils. Er erwähnte die Bestimmungen der Kriegsgesetze, die sich mit der »Anstiftung zur Meuterei« befaßten. Zehn Minuten lang las er aus einem mit zahlreichen Siegeln beglaubigten Dokument vor, das Lesbee noch nie gesehen hatte. Es trug die Bezeichnung »Autoritätsartikel der Hope of Man« und war von den Mitgliedstaaten der Westlichen Allianz unterzeichnet worden, bevor das Raumschiff den Flug ins Unbekannte angetreten hatte: »... deshalb steht unerschütterlich fest, daß ein Raumschiff in jedem Fall nur den entferntesten Vorposten einer Zivilisation darstellt, von der es entsandt worden ist. Somit ist ausgeschlossen, daß der Besatzung das Recht zugestanden werden kann, unter irgendwelchen wie auch immer gearteten Umständen souverän zu handeln oder auch nur den Versuch dazu zu unternehmen. Die Autorität der einmal bestimmten Offiziere und die Aufgaben und Ziele dieser Expedition sind nicht von der Zustimmung der Mannschaft abhängig und können selbst bei völliger Übereinstimmung der restlichen Besatzung nicht durch Wahl oder Abstimmung verändert oder beeinflußt werden. Ein Raumschiff wird von seinen Eigentümern oder einer souveränen Regierung entsandt ... Seine Offiziere werden vor dem Start bestimmt. Die Führung des Raumschiffs erfolgt nach den Bestimmungen und Verordnungen der Raumfahrtsbehörde.
Hiermit wird schriftlich festgehalten, daß das Eigentum an der Hope of Man Averill Hewitt, seinen Erben und von ihm ernannten Bevollmächtigten zusteht. Wegen der bekannten Aufgabenstellung des Raumschiffs erhält es die Erlaubnis, als militärisches Schiff zu operieren. Gleichzeitig vertreten die bereits bestimmten Offiziere die Erde bei jedem Kontakt mit anderen Machten und handeln in jeder Beziehung in der Weise als Vertreter der bewaffneten Streitkräfte der Westlichen Allianz, wie aus den Kriegsartikeln hervorgeht. Diese Befugnisse werden unwiderruflich und in unbeschränktem Ausmaß übertragen ...« Dann folgten längere Erläuterungen zu den wichtigen Punkten, die aber nur Ergänzungen darstellten. Aus den Artikeln ging deutlich hervor, daß die Gesetze der unendlich weit entfernten Erde weiterhin an Bord der Hope of Man Gültigkeit besaßen. Lesbee hatte noch immer keine Ahnung, worauf sein Vater hinauswollte. Er verstand nicht einmal, weshalb die Verhandlung überhaupt angesetzt worden war, nachdem keine Gefahr mehr bestand, daß es zu einer Meuterei kam. Die abschließenden Sätze kamen für den Angeklagten und die Zuhörer gleichermaßen überraschend: »Auf Grund der Autorität, die mir von den Regierungen der Erde übertragen worden ist, muß ich das Urteil über das Verbrechen dieses unglücklichen jun-
gen Mannes sprechen. Das Gesetz ist eindeutig und läßt keine andere Auslegung zu. Mir bleibt keine andere Wahl, als Emile Ganarette zum Tod im Atomkonverter zu verurteilen. Gott sei seiner armen Seele gnädig.« Ganarette war aufgesprungen. Sein Gesicht war aschfahl geworden. »Sie Narr!« rief er mit zitternder Stimme. »Was wollen Sie damit überhaupt erreichen?« Dann schien er endlich begriffen zu haben, was der Urteilsspruch für ihn bedeutete, denn er rief: »Irgend etwas stimmt hier nicht! Der Captain hat etwas vor, von dem wir alle nichts wissen! Er ...« Lesbee war bereits aufgestanden, als sein Vater ihm das vereinbarte Zeichen gab. Jetzt schob er Ganarette gemeinsam mit Browne, Carson und drei Militärpolizisten durch einen Seitenausgang aus dem Saal. Er war froh darüber, daß er endlich wieder etwas tun konnte. Auf diese Weise brauchte er wenigstens nicht mehr zu denken. Ganarette überwand seine anfängliche Erschütterung, als er durch die Gänge geführt wurde. »Damit kommt ihr nie durch!« behauptete er lauthals. »Meine Freunde befreien mich ganz sicher. Wohin schleppt ihr mich eigentlich?« Lesbee hatte diese Frage ebenfalls zu beantworten versucht, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Wieder einmal kam Ganarette ihm zuvor. »Ihr Schuf-
te!« keuchte er. »Wollt ihr mich gleich jetzt umbringen?« Lesbee fiel auf, daß ein Außenstehender es schwer gehabt hätte, den Gefangenen und seine Wärter nach ihrer Gesichtsfarbe zu unterscheiden. Als Captain Lesbee einige Minuten später eintraf, war er ebenfalls leichenblaß, aber seine Stimme klang ruhig: »Emile Ganarette, Sie haben noch eine Minute Zeit, um Ihren Frieden mit Gott zu machen ...« Die Hinrichtung wurde nach dem Abendessen verkündet, aber der Zeitpunkt war so gewählt, daß die folgende Schlafperiode nicht gestört wurde. Lesbee hatte keinen Bissen gegessen. Die übrigen Beteiligten ebenfalls nicht.
8 Als Lesbee am nächsten Morgen nach einer unruhig verbrachten Nacht erwachte, hörte er den leisen Summton über seinem Kopf. Er zog sich rasch an und machte sich auf den Weg zur Brücke. Als er sich in seinen Sessel neben Browne sinken ließ, stellte er überrascht fest, daß das Raumschiff den Planeten bereits verlassen hatte. Ein Blick nach draußen zeigte ihm, daß sie sich auch von den drei Sonnen Alpha A, B und C entfernten; nur C leuchtete weiterhin schwach vor ihnen auf, während die beiden anderen nur noch strahlende Lichtpunkte in der Dunkelheit hinter ihnen waren. »Guten Morgen, meine Herren«, sagte Captain Lesbee plötzlich hinter ihnen. Er wirkte völlig ausgeruht, als er auf seinen Sessel zuging. Lesbee nickte ihm zögernd zu, weil er selbst nicht wußte, was er von seinem Vater halten sollte. Natürlich hatte Ganarette gelegentlich wilde Drohungen ausgestoßen – aber immerhin waren sie gemeinsam aufgewachsen. Außerdem hatte er recht gehabt! Nachdem keine Meuterei mehr drohte, war die Hinrichtung nicht mehr angebracht. Das Ende war zu rasch gekommen, überlegte Lesbee. Bei längerer Zeit zwischen Urteil und
Vollstreckung hätte er vielleicht bei seinem Vater protestiert. Jetzt empfand er Abscheu gegen die unziemliche Hast, mit der die Hinrichtung geschehen war. Die Grausamkeit des Urteils erschreckte ihn. Sein Vater sprach weiter: »Vor einigen Stunden habe ich einen Suchtorpedo in die Atmosphäre von Alpha A-4 abschießen lassen. Ich bin überzeugt davon, daß Sie alle sich für das Ergebnis interessieren.« Er wartete die Antwort der Offiziere nicht ab. Als er auf einen Knopf drückte, begann der Filmprojektor zu surren. Auf der Leinwand wurde der Torpedo vor dem Hintergrund der grünlichen Planetenatmosphäre sichtbar. Zunächst fiel der Torpedo senkrecht nach unten, aber dann begann er plötzlich auf unerklärliche Weise zu torkeln. Er kam vom Kurs ab und zog gleichzeitig eine lange Rauchfahne hinter sich her. »Hätten wir eine Minute länger gewartet, wäre der Torpedo verloren gewesen«, erläuterte Captain Lesbee ruhig. »Überraschenderweise funktionierte die Fernsteuerung jedoch immer noch.« Der Film zeigte jetzt den Torpedo, der eine weite Kurve beschrieb und dann langsam Kurs auf das Raumschiff nahm. Auf dem Rückflug durchquerte er eine Wolkenschicht, aus der dichter Regen fiel. Dann wurde er von den Greifern aufgenommen und an Bord der Hope of Man gebracht.
Als der Film zu Ende war, erhob Captain Lesbee sich und ging auf den länglichen Gegenstand zu, der mit einer Plane bedeckt im Hintergrund der Brücke lag. Lesbee hatte sich schon gefragt, was darunter verborgen sein mochte. Der Captain zog langsam die Plane beiseite. Lesbee brauchte einige Sekunden, bevor er erkannte, daß dort die versengten und zerbeulten Überreste eines ehemals blitzenden Torpedos lagen. Die Offiziere sprangen auf und drängten sich um die beschädigte Hülle. Lesbee beugte sich nieder und untersuchte sie näher. Der zwei Zentimeter starke Mantel des Torpedos war an zahlreichen Stellen versengt und zerfressen. Hinter Lesbee sagte einer der Offiziere zögernd: »Sie meinen also, Sir, daß ... die Atmosphäre ... dort ... unten ...?« »Dieser Torpedo«, fuhr Captain Lesbee fort, als habe er die Frage nicht gehört, »und vielleicht auch die Centaurus I ist in einen Regen aus Salzsäure und Salpetersäure geraten. Nur ein Schiff, das aus Glas, Platin oder Blei hergestellt ist, könnte durch eine Atmosphäre fliegen, in der solche Niederschläge vorkommen. Und wir könnten es ebenfalls, wenn wir die Möglichkeit hätten, das Schiff ständig mit Ätznatron zu berieseln. Aber selbst damit wäre uns nur ein Teil unserer Sorgen abgenommen.«
Er sah die Offiziere ernst an. »Das ist eigentlich alles, meine Herren. Ich könnte noch andere Gründe anführen, aber allein aus dieser Demonstration ergibt sich, daß dieser Planet für eine Besiedlung nicht in Frage kommt. Vermutlich werden wir nie erfahren, ob die erste Expedition sich ohne eingehende Untersuchungen in die Atmosphäre gewagt hat. Wenn diese Vermutung zutrifft, kann über das Schicksal der Centaurus I kein Zweifel mehr bestehen.« Bei diesen Worten hob Lesbee II gespannt den Kopf. Er hatte immer damit gerechnet, daß die Suche nach dem verschollenen Raumschiff noch einige Jahre in Anspruch nehmen würde. Aber jetzt konnte der Rückflug beginnen! Er würde die Erde noch einmal sehen, bevor er starb. Sein Wunschtraum verflog, als sein Vater fortfuhr: »Von der fremden Zivilisation wissen wir nur, daß ihre Angehörigen uns nicht allzu freundlich gesinnt sind. Sie haben uns gewarnt, aber wahrscheinlich wollten sie damit nur verhindern, daß unser großes Schiff auf ihrem Planeten abstürzt und vielleicht eine ihrer Städte zerstört. Nachdem die Warnung übermittelt worden war, verschwand das fremde Raumschiff wieder. Seitdem haben wir zwei weitere beobachtet, die sich uns jedoch nicht genähert haben.« Captain Lesbee machte eine Pause, bevor er weiter-
sprach: »Ich hoffe, daß Sie nunmehr davon überzeugt sind, daß eine Landung auf dem Planeten unzweckmäßig gewesen wäre. Wir fliegen jedoch nicht wieder zur Erde zurück. Dafür gibt es zwei Gründe – einmal muß berücksichtigt werden, daß die Erde unterdessen nicht mehr bewohnbar ist. Darüber möchte ich jedoch nicht weiter sprechen, weil ich selbst zu den eifrigsten Verfechtern dieser Theorie gehöre. Existiert die Erde andererseits jedoch noch immer, sind wir erst recht zu weiteren Anstrengungen verpflichtet. Ich habe von Averill Hewitt, dem Schiffseigner, die Anweisung erhalten, zunächst Sirius und gegebenenfalls später Prokyon anzusteuern. Sie sehen also selbst, meine Herren, daß es notwendig und unerläßlich war, den Unruhestifter in unserer Mitte zu beseitigen. Das Exempel, das an ihm statuiert worden ist, wird andere Heißsporne in Zukunft von ähnlich unüberlegten Plänen abhalten.« Dann schloß er ruhig: »Sie verfügen jetzt über alle notwendigen Informationen, meine Herren. Ich hoffe, daß Sie sich auch weiterhin pflichtgemäß mit dem Ernst und der Würde betragen werden, die in allen Lagen und unter allen Umständen das Kennzeichen eines Offiziers ist. Für die Erfüllung dieser bestimmt nicht immer leichten Aufgabe darf ich Ihnen allen viel Glück und Erfolg wünschen ...«
9 John Lesbee III, der offizielle Stellvertreter des alternden Captains, saß in dem großen Lehnstuhl, den er auf die Brücke hatte bringen lassen, und dachte über das Problem mit den Alten nach. Es gab zu viele alte Menschen. Sie aßen zuviel. Sie brauchten ständige Pflege. Im Grunde genommen war es lächerlich, neunundsiebzig Menschen an Bord zu haben, die über hundert Jahre alt waren. Andererseits wußten einige der Alten mehr über Physik, Chemie, Biologie und Astrogation als alle jungen Leute zusammen. Und sie waren sich darüber auch völlig im klaren, diese senilen Trottel. Wer von ihnen konnte beseitigt werden, ohne daß dabei unersetzliches Wissen verlorenging? Lesbee III schrieb einige Namen auf – Frauen und einige Männer, die nicht wenigstens Decksoffiziere waren. Als die Liste fertiggestellt war, starrte er sie nachdenklich an und suchte bereits die ersten fünf Opfer aus. Dann drückte er auf einen Knopf neben seinem Sessel. Wenige Minuten später erschien ein kräftiger junger Mann vor ihm auf der Brücke. »Schon da«, sagte er. »Worum handelt es sich denn?« Lesbee III betrachtete den anderen und mußte sich
mühsam beherrschen, damit seine Abneigung nicht allzu deutlich sichtbar wurde. Atkins hatte eine grobschlächtige Art, die abstoßend wirkte, und der stellvertretende Captain wußte, daß er den Mann nie würde ausstehen können, der seinen Vater John Lesbee II ermordet hatte – obwohl er den Mord selbst geplant und befohlen hatte. Lesbee seufzte unhörbar. Das Leben erforderte ständig neue Anpassung an die Dinge, aus denen die Umgebung bestand, in der man existieren mußte. Wollte man einen Mann fachgerecht ermorden lassen, brauchte man zunächst einen fähigen Mörder. Seit frühester Jugend hatte er sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß diese Null von einem Vater eines Tages beseitigt werden mußte. Aus diesem Grunde hatte er sich Atkins für seine Zwecke herangezogen. Aber von Zeit zu Zeit war es natürlich erforderlich, diesen Kerl wieder an seinen Platz zu verweisen, damit er nicht zu frech wurde ... »Atkins«, sagte Lesbee mit einer gelangweilten Handbewegung, »hier sind einige Namen für dich. Sei vorsichtig, damit kein Verdacht erregt wird, die Todesfälle könnten unnatürliche Ursachen haben. Wenn etwas schiefgeht, lasse ich dich einsperren!« Der junge Mann nickte schweigend. Er war der Enkel einer der Gärtner, so daß es nicht verwunderlich war, daß seine Ablösung aus der Gärtnerei, die vor
einigen Jahren erfolgt war, großes Aufsehen erregt hatte. Die Widersprüche verstummten jedoch sehr rasch, als der Offizierssohn, der am lautesten protestiert hatte, an Stelle von Atkins in der Gärtnerei arbeiten mußte. Lesbee III hatte sich alles genau überlegt, bevor er gegen seinen Vater rebellierte. Er wollte Atkins beseitigen, sobald der Mann seinen Zweck erfüllt hatte. Jetzt las er die ersten fünf Namen von der Liste ab, war aber vorsichtig genug, sie Atkins nicht etwa schriftlich zu geben. Als der Mann die Brücke wieder verlassen hatte, wandte Lesbee sich dem großen Bildschirm zu. Er drückte auf einen weiteren Knopf und wartete ungeduldig, bis der ergraute Sohn des früheren Ersten Offiziers langsam auf der Brücke erschien. »Was gibt es denn ... Captain?« Lesbee zögerte unentschlossen, weil ihm die kurze Pause vor seinem offiziellen Titel aufgefallen war. Er seufzte leise und überlegte wieder einmal, wie wenig er diesen Carson leiden konnte. Aber das Leben erforderte viele Anpassungen, weil heutzutage jeder eifersüchtig das Wissen und die Kenntnisse bewahrte, die er sich irgendwie angeeignet hatte. Damit mußte man sich eben abfinden, obwohl die Veränderung gegenüber früher auffallend war. Lesbee erinnerte sich deutlich an seine Jugend, als die Menschen noch umgänglicher und offenherziger gewesen waren.
Die Erwachsenen der ersten Generation hatten sich tatsächlich noch alle Mühe gegeben, ihren Kindern das eigene Wissen zu vermitteln – so hieß es jedenfalls. »Mister Carson, wie lauten die letzten Berichte über Sirius?« Carsons düsterer Gesichtsausdruck hellte sich merklich auf. »Die Entfernung beträgt nur noch vierzehn Millionen Kilometer. Die Hope of Man fliegt bereits mit dem Heck voraus, damit die Verzögerung eingeleitet werden kann, aber trotzdem dauert es bestimmt noch eine Woche, bis wir durch das Teleskop feststellen können, welche Größe und Atmosphäre die Planeten haben.« »Haben Sie irgendwelche – äh – Strahlungen messen können?« Mr. Carson wollte schon den Kopf schütteln, hielt aber plötzlich inne. In seine Augen trat ein seltsamer Ausdruck. Lesbee wandte den Kopf, um seinem Blick folgen zu können. Er runzelte angestrengt die Stirn. Über die vordere Hälfte der Plastiglaskuppel stiebten Funken. Während Lesbee sie beobachtete, wurden sie immer zahlreicher und heller. Eine Stunde später befand das Raumschiff sich inmitten eines Gassturms. Aus einer Entfernung von achthundert Millionen
Kilometern erinnerte Sirius A der Größe nach an die Sonne, wenn man sie von der Erde aus beobachtete. Lesbee III konnte bei diesem Vergleich nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, sondern mußte sich auf die Filme in dem Archiv an Bord des Raumschiffs verlassen. Das Planetensystem entsprach jedoch nicht dem der irdischen Sonne. Zwischen Sirius A und der zweiten Sonne kreisten zwei Planeten. Der zu B gehörige Planet war nicht weit von seiner Sonne entfernt und besaß deshalb eine ziemlich hohe Umlaufgeschwindigkeit. Der andere, der siebenhundertfünfzig Millionen Kilometer von A entfernt im All kreiste, bewegte sich erheblich langsamer um seine Sonne. Auf diesem nächsten Planeten ruhte die ganze Hoffnung der Expeditionsteilnehmer. Bei einem Durchmesser von siebenundzwanzigtausend Kilometern war er um die Hälfte kleiner als der zweite Planet und damit im Vergleich zu den übrigen Planeten von Sirius B geradezu winzig. Durch die Wolken über Sirius A-1 waren Städte sichtbar. Lesbee III las die Berichte sorgfältig durch, betrachtete die Szene auf der Oberfläche des Planeten und zuckte mit den Schultern. Er war etwas deprimiert, aber trotzdem weiterhin fest entschlossen. Selbstverständlich war das Universum nicht nur zum Vergnügen der Menschheit erschaffen worden. Folglich war
es falsch, sich allzu früh geschlagen zu geben, ohne wenigstens einen Versuch unternommen zu haben. Widerwillig machte er sich auf den Weg zu der Kabine, in der er seinen greisen Großvater schon vor Jahren isoliert hielt. Er fand seinen Großvater vor dem kleinen Bildschirm sitzen, auf dem der Planet deutlich zu erkennen war. Lesbee III hatte dem alten Herrn den Bildschirm als kleine Aufmerksamkeit zugestanden, aber der Alte war trotzdem nicht umgänglicher geworden. Sein Großvater sah nicht einmal auf, als er die Kabine betrat. Lesbee zögerte und ließ sich dann in einen Sessel fallen, von dem aus er den Alten beobachten konnte. Er wartete ungeduldig. Es war wirklich nicht leicht, wenn man seine guten Absichten so mißverstanden sah. Früher einmal hatte er sich eingebildet, daß sein Großvater Verständnis dafür haben würde, daß John Lesbee III wie kein anderer um den Erfolg der Expedition besorgt war. Aber vielleicht hatte er zuviel erwartet. Wahrscheinlich war der Alte noch immer böse, weil er eines Tages in den Ruhestand versetzt worden war. Dabei erwartete Lesbee III das gleiche Schicksal, wenn der jetzt zehnjährige Lesbee IV erwachsen war. Er hatte sich schon fast damit abgefunden, hoffte aber, daß es nicht allzu bald dazu kommen würde.
Schließlich konnte er seine Ungeduld nicht länger beherrschen und brachte seinen Vorschlag an den Mann. »Großvater, ich wollte Sie um Erlaubnis bitten, bekanntgeben zu dürfen, daß Sie während unserer Annäherung an Sirius wieder aktiv die Schiffsführung übernehmen werten.« Der hagere Körper bewegte sich, aber sonst war keine Reaktion wahrzunehmen. Lesbee unterdrückte ein Lächeln, weil er erriet, wie angestrengt der Alte jetzt nachdachte. Deshalb hieb er sofort noch einmal in die gleiche Kerbe: »Ihr ganzes Leben war ausschließlich auf einen Zweck ausgerichtet, Sir – auf den Erfolg der Mission der Hope of Man. Ich kann mich in Ihre Lage versetzen, denn schließlich bin ich der Mann, der offiziell bekanntgegeben hat, daß das Schiff unsere einzige Heimat ist.« Lesbee zuckte mit den Schultern. »Bis zu diesem Zeitpunkt wollte die Besatzung immer wieder zur Erde zurück. Ich habe mit dieser Wunschvorstellung aufgeräumt und den Leuten klargemacht, daß sie ihr Leben hier genießen müssen. Manche von ihnen machten sich sogar Sorgen, weil es in der dritten Generation ein überzähliges Mädchen gab. Auch dieses Problem habe ich sehr einfach gelöst, indem ich mir eine zweite Frau nahm. Zunächst waren die Leute entsetzt, aber jetzt findet keiner mehr etwas dabei.« Er lehnte sich in den Sessel zurück. »Ein so langer
Flug wie der unsere unterliegt eigenen Gesetzen. Innerhalb unserer kleinen Welt müssen wir uns den veränderten Bedingungen anpassen. Ich kann nur hoffen, daß meine Anordnungen auf Ihr Verständnis stoßen, Sir.« Lesbee machte eine Pause und wartete. Als der Alte sich nicht zu einer Antwort bereitfand, fuhr er ungerührt lächelnd fort: »Ich könnte mir vorstellen, Sir, daß Sie sich für die Maßnahmen interessieren, die ich während unseres Aufenthalts in der Nähe von Sirius A-1 vorgesehen habe. Selbstverständlich steht bereits jetzt fest, daß wir dort nicht landen können. Die Atmosphäre des Planeten besteht zum größten Teil aus Schwefelverbindungen. Wir wissen nicht, welche Auswirkungen sie auf das Schiff haben könnten, aber immerhin steht für mich fest, daß das Risiko zu groß wäre. Aber etwas anderes ist ebenso sicher – wir müssen hier feststellen, wo unser nächstes Ziel liegt.« Lesbee hatte den Eindruck, daß der Alte plötzlich mehr Interesse zeigte, denn er fuhr sich mit der Hand durch den weißen Bart und kniff die Augen zusammen. Trotzdem blieb es wieder Lesbee überlassen, das Schweigen zu brechen: »Ich habe die Berichte über die Annäherung an Alpha A-4 sorgfältig durchgelesen und bin zu dem Schluß gekommen, daß die damals angewandten Methoden nur deshalb keinen Er-
folg gebracht haben, weil sie nicht überzeugend genug waren. Die aufgewendete Zeit war praktisch vergeudet, weil kein Mensch den Entschluß faßte, das Problem energisch anzugehen.« Lesbee lehnte sich plötzlich nach vorn. »Wir müssen den Bewohnern von Sirius A-1 so lästig werten, daß sie uns alle gewünschten Informationen zugänglich machen, damit wir nur ja wieder abfliegen. Was halten Sie davon, Sir?« Der Alte bewegte sich und verschränkte langsam die Arme. Dann starrte er seinen Enkel fragend an. »Was hast du vor?« erkundigte er sich. »Willst du vielleicht die ganze Bevölkerung ermorden?«
10 Die Atombombe, die in die Atmosphäre von Sirius A-1 geworfen wurde, erreichte eine Geschwindigkeit von achtundvierzig Kilometern pro Minute. Deshalb kam sie der Oberfläche des Planeten bis auf fünfundsechzig Kilometer nahe, obwohl lange Flammenzungen bis in hundert Kilometer Höhe aufflackerten. Schließlich explodierte die Bombe jedoch nach einem Volltreffer. Kaum eine Stunde später, als der Explosionspilz noch immer die Sicht verdeckte, erfolgte bereits die erste Reaktion. Auf den Bildschirmen an Bord des Raumschiffs wurde eine glänzende Kugel mit einem Durchmesser von zwei Metern sichtbar, die sich langsam näherte. Im Innern der Kugel befand sich etwas, das trotz aller Anstrengungen nicht deutlich zu erkennen war. Die Kugel kam näher und näher, aber das Ding in ihrem Innern blieb geheimnisvoll. Lesbee III stand auf der Brücke neben dem Lehnstuhl, in dem sein Großvater saß. Als die Kugel nur noch hundert Meter von der Hope of Man entfernt war, erkundigte er sich ängstlich: »Sollen wir sie noch näher herankommen lassen, Sir?« Der Alte warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Die Abwehrschirme sind doch aktiviert, nicht wahr?
Wenn das Ding eine Bombe ist, kann es uns nicht gefährlich werden.« Lesbee III teilte die Zuversicht des Alten durchaus nicht, daß die irdische Wissenschaft allen anderen gleichwertig sei. Selbstverständlich wußte er nicht allzu viel darüber, aber ... diese Kugel ... »Sie bewegt sich nicht mehr, Sir.« Das war Carson, der sich betont an den ehemaligen Captain wandte, anstatt seinen Stellvertreter anzusprechen. Lesbee III war erleichtert, ärgerte sich aber auch über den Ersten Offizier. Warum bildete der Kerl sich eigentlich ein, er müsse sich an den hundertjährigen Trottel wenden, obwohl neben ihm der Mann stand, der noch mindestens dreißig Jahre lang sein Captain sein würde? Dann vergaß er seinen Ärger wieder, weil er das Gefühl hatte, von dem Ding im Innern der Kugel beobachtet zu werden. Lesbee III zögerte einen Augenblick und befahl dann: »Die Techniker sollen sich anstrengen, damit das Bild klarer wird.« Der Bildschirm wurde dunkel und leuchtete eine Sekunde später wieder auf, aber das Ding in der Kugel war nur verschwommen sichtbar. Es schien sich langsam zu bewegen, wodurch die Kugel sich wieder dem Raumschiff näherte. Wenige Augenblicke später betrug die Entfernung nur noch fünfzig Meter und verringerte sich weiterhin.
»Die Abwehrschirme werden das Ding schon aufhalten«, meinte Lesbee III. Er beobachtete die Kugel gespannt. Als die Entfernung nur noch zwanzig Meter betrug, hatte sie nicht nur den Abwehrschirm des Raumschiffs, sondern auch Lesbees geistige Abwehrbereitschaft durchdrungen. Er konnte die Kugel nicht mehr verfolgen, weil seine Augen sich verdrehten, als könne das Gehirn die Sinneseindrücke nicht umsetzen. Plötzlich verlor er die Nerven und stürmte auf den Niedergang zu. Carson war ihm bereits zuvorgekommen, während der bullige Browne hinter ihm herabstolperte. Lesbees letzter Eindruck von der Brücke prägte sich tief ein – der uralte Captain saß aufrecht in dem Lehnstuhl, während die glänzende Kugel nur noch wenige Meter von der Plastiglaskuppel entfernt war. Auf dem nächsten Deck erholte Lesbee III sich soweit von seinem Schock, daß er gemeinsam mit den beiden Offizieren den Aufzug benützen konnte. Er ging in den Ausweichkontrollraum voran. Die drei Männer stellten hastig die Verbindung zur Brücke her. Auf dem Bildschirm erschienen Flammenzungen. Aus den Lautsprechern drang ein dumpfes Grollen, dessen Tonhöhe sich nicht veränderte. Lesbee zuckte hoffnungslos mit den Schultern, bevor er sich an die Wissenschaftler wandte, die unterdessen herbeigeeilt waren. »Was kann Ihrer Meinung
nach an dieser Erscheinung schuld sein? Wodurch lassen sich die Augen eines Menschen auf diese Weise beeinflussen? Kennt einer von Ihnen ein physikalisches Phänomen, das diese Wirkung hat?« Eine Antwort lautete, daß bestimmte Arten von Infrarotlasern das Sehzentrum des Gehirns schmerzhaft beeinflussen könnten. Ein anderer erwähnte, daß übermäßige Angstgefühle die gleiche Wirkung hervorrufen konnten, wodurch die Augenstellung beeinflußt wurde. Andere Möglichkeiten schien es nicht zu geben. Lesbee III befahl energisch: »Baden Sie so rasch wie möglich ein Gerät auf, das diese speziellen Laserstrahlen ablenkt oder auf andere Weise unschädlich macht.« Zu Dr. Kaspar sagte er: »Wodurch werden übermäßige Angstgefühle hervorgerufen?« »Durch bestimmte Geräusche.« »Wir alle haben nichts gehört.« »Durch Ausstrahlungen auf einer Gehirnwellenlänge, die Angst erzeugt.« »Hm«, meinte Lesbee zweifelnd. »Wir sind in die Flucht geschlagen worden, aber ich habe eigentlich keine Angst dabei empfunden. Eher eine unbeschreibliche Verwirrung.« »Durch eine Art Energiefeld – aber das ist nur eine unbeweisbare Vermutung«, sagte der Psychologe daraufhin zögernd.
»Machen Sie sich sofort mit Ihren Assistenten an die Arbeit!« wies Lesbee III ihn an. »Stellen Sie fest, welche Abwehrmöglichkeiten es in diesem Fall gibt. Ich erwarte Ihren Bericht so schnell wie möglich, meine Herren!« Die Wissenschaftler arbeiteten noch immer angestrengt, als der Bildschirm in dem Ausweichkontrollraum plötzlich wieder ein deutliches Bild zeigte. Auch das dumpfe Grollen aus den Lautsprechern verstummte. Lesbee III sah den alten Captain zusammengekrümmt in dem Lehnstuhl sitzen. Außer ihm schien auf der Brücke niemand mehr zu sein. Lesbee schaltete auf die außen angebrachten Aufnahmegeräte um und stellte mit einem erleichterten Seufzer fest daß die Kugel sich bereits wieder entfernte; der Abstand betrug schon fast einen Kilometer. Die Kugel wurde rasch kleiner und verschwand schließlich in der dicken Wolkenschicht, von der die Oberfläche des Planeten bedeckt war. Lesbee III wartete nicht ab, bis die Kugel vollständig verschwunden war, sondern rannte sofort auf den Aufzug zu. Browne und Carson folgten ihm auf den Fersen. Sie fanden den alten Captain noch lebend vor – aber er stammelte wirres Zeug und war zudem völlig erblindet. Während die drei Männer den Alten die Treppe hinabtrugen und in einem Rollstuhl zu seiner Kabine
fuhren, hörte Lesbee ihm aufmerksam zu. Aber die einzigen verständlichen Satzfetzen handelten von der längst vergangenen Jugendzeit, die der Alte auf der Erde verbracht hatte. In der Kabine hielt Lesbee III die eiskalten Hände des Greises in den seinen. »Captain! Captain!« Als er dieses eine Wort mehrere Male wiederholt hatte, hörte das Gemurmel des Alten auf. »Captain, was ist auf der Brücke geschehen?« Der alte Mann besann zu sprechen. Lesbee III mußte sich anstrengen, um wenigstens Bruchstücke zu verstehen: »... haben die exzentrische Umlaufbahn von Canis Major A im Verhältnis zu B nicht berücksichtigt. Keiner hat daran gedacht, daß B eine der seltsamen Sonnen der Galaxis ist ... so dicht, so schrecklich dicht ... Es stammte von dem Planeten von B ... Es sagte: Fliegt wieder fort! Wir verhandeln nicht mit Lebewesen, die uns bombardieren ... Fliegt wieder fort! Fliegt ... fliegt ...!« Lesbee III sah nachdenklich zu Boden. Als er eine Sekunde später wieder den Kopf hob, erkannte er, daß der Alte in den vorherigen Zustand zurückgefallen war. Das Gesicht, das eben noch fast normal erschienen war, war grauenhaft verzerrt. Die Augen verdrehten sich, als versuche der Mann etwas zu sehen, was noch kein Mensch vor ihm gesehen hatte.
Obwohl ihn der Anblick des Alten abstieß, versuchte Lesbee III ihn wie zuvor in die Gegenwart zurückzurufen, indem er ihn eindringlich ansprach. Aber diesmal blieben seine Versuche vergebens und unbeantwortet. Das zerfurchte Gesicht behielt den unnatürlichen Ausdruck. Unterdessen war der Schiffsarzt mit zwei Sanitätern gekommen. Die drei Männer entkleideten den Alten und brachten ihn zu Bett. Captain John Lesbee, der erste Kommandant der Hope of Man starb zu Beginn der Schlafperiode des gleichen Schiffstages im ehrenvollen Alter von einhunderteinunddreißig Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Flug siebenundsiebzig Jahre, vier Monate und neun Tage gedauert. Von den Männern und Frauen seiner Generation überlebte ihn niemand um mehr als sechs Monate. Dann beging Lesbee III den ersten entscheidenden Fehler seines Lebens, als er den Versuch unternahm, Atkins zu beseitigen, weil er ihn als Mitwisser seiner Verbrechen fürchtete. Die Ermordung von Lesbee III durch Atkins – der sofort hingerichtet wurde, obwohl er angeblich in Notwehr gehandelt hatte – beschwor eine neue Krise an Bord der Hope of Man herauf. John Lesbee IV war zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt. Browne wollte ihn zwar am liebsten auf der
Stelle zum Captain ernennen, aber Carson, der Erste Offizier, war anderer Meinung. »Selbstverständlich ist es richtig, daß der Junge erwachsen ist, bevor wir Prokyon erreichen«, wandte er in seiner bedächtigen Art ein. »Aber in der Zwischenzeit muß die Offiziersversammlung an seine Stelle treten und das Schiff für ihn führen.« Luthers, der Zweite Offizier, schloß sich seiner Auffassung an. Browne brauchte mehrere Wochen, um endlich zu merken, daß die beiden Frauen von Lesbee III jetzt mit Carson und Luthers lebten. »Ihr alten Strolche!« sagte er wütend in der nächsten Sitzung des Offiziersrats. »Ich verlange sofort eine ehrliche Wahl! Wenn mir das nicht zugestanden wird, setze ich mich direkt mit den Wissenschaftlern und der Mannschaft in Verbindung.« Er war aufgestanden und überragte jetzt die beiden anderen Offiziere, die entsetzt zurückwichen. Dann wollte Carson einen Strahler ziehen, den er in seinem Anzug verborgen gehalten hatte. Browne unterschätzte seine enormen Körperkräfte. Er griff nach den beiden Männern und stieß sie heftig mit den Köpfen zusammen. Die Männer waren dieser rauhen Behandlung nicht gewachsen und starben. Als Browne endlich merkte, was er angerichtet hatte, ließ er erschrocken die Fäuste sinken. Dann faßte er sich jedoch ziemlich rasch und rief die Wissen-
schaftler zu einer Versammlung zusammen, in der die Abhaltung der von ihm gewünschten Wahl beschlossen wurde. Es dauerte einige Zeit und erforderte einige Überredungskunst, bis die Besatzung endlich begriffen hatte, was von ihr erwartet wurde. Aber schließlich kam es doch zu einer geheimen Abstimmung, aus der ein Kontrollrat hervorging. Und dieser Kontrollrat stellte in aller Form fest, daß John Lesbee IV die Nachfolge seines Vaters als Captain der Hope of Man zustand. Als vorläufiger Stellvertreter auf diesem Posten wurde Browne bestimmt – allerdings nur für ein Jahr. Im folgenden Jahr hatten zwei Mitglieder des Kontrollrats sich die Sache anders überlegt und kandidierten selbst für den freigewordenen Posten. Browne wurde wiedergewählt. Der ehemalige Dritte Offizier, jetzt stellvertretender Captain, ärgerte sich über diese unerwartete Opposition. »So ein Unsinn«, sagte er mißmutig zu seinem ältesten Sohn, »dabei haben die Kerle gar keine Ahnung von den Aufgaben eines Offiziers.« Bereits am folgenden Tag begann er mit der intensiven Ausbildung seiner beiden Söhne. »Am besten bringe ich euch ein bißchen von der Sache bei«, meinte er dazu. »Irgend jemand muß schließlich einen Be-
griff davon bekommen, wie die Aufgaben der Offiziere und das Captains aussehen.« Zunächst hatte er noch Gewissensbisse, aber das änderte sich mit einem Schlag, als er hörte, daß hinter seinem Rücken eine Verleumdungskampagne im Gange zu sein schien. »Das wäre früher einfach unmöglich gewesen«, klagte er in einer Sitzung des Kontrollrats. »Irgend etwas ist nicht in Ordnung, wenn Esel wie der junge Kesser oder der alte Plauck mich hinter meinem Rücken ungestraft einen Trottel nennen dürfen. Meiner Meinung nach wäre es besser, wenn ich zum Captain ernannt würde, bis Lesbee fünfundzwanzig ist, damit der Unsinn endlich ein Ende hat. Wir dürfen nicht riskieren, daß irgendein ahnungsloser Narr, der keine Ahnung von dem Schiff hat, plötzlich zum Captain gemacht wird.« Daraufhin erhob sich Plauck, der Mitglied des Kontrollrats war, und stellte nüchtern fest, daß es eher vorteilhaft sein könne, einen Captain zu haben, der ein gute Physiker war. Brownes »Empfehlung«, wie sie schließlich genannt wurde, stieß allgemein auf Ablehnung. Trotzdem wurde er für ein weiteres Jahr als Captain bestellt. Kurze Zeit später fiel einem Mitglied des Kontrollrats in der Gärtnerei ein bekanntes Gesicht auf. Er setzte sich sofort mit Kollegen in Verbindung, die eine Sondersitzung einberiefen. Browne wehrte alle
Vorwürfe gelassen ab. »Warum sollte der junge Lesbee sich nicht körperlich betätigen? Die bestehende Gesellschaftsordnung ist ohnehin längst überholt. Meiner Meinung nach sollten die jungen Leute alle einmal für längere Zeit in der Gärtnerei arbeiten. Vielleicht können wir darüber gelegentlich einmal abstimmen. Ich wette, daß die Gärtner vor Freude einen Luftsprung machen, wenn jemand bei ihnen auftaucht und ihnen erzählt, daß es an Bord der Hope of Man tatsächlich Leute gibt, die sich für ehrliche Handarbeit nicht zu schade sind.« Als Browne später gefragt wurde, welche Fortschritte der junge Lesbee in seiner Offiziersausbildung mache, schüttelte er mit geziemendem Ernst den Kopf. »Offen gestanden, meine Herren, sind seine Fortschritte kaum der Rede wert. Ich lasse ihn jeden Tag zu mir auf die Brücke kommen, wenn er mit seiner Arbeit in der Gärtnerei fertig ist. Aber er interessiert sich einfach nicht genug dafür. Allmählich habe ich fast den Verdacht, daß er nicht sonderlich intelligent ist. Jedenfalls besitzt er keine allzu rasche Auffassungsgabe.« Zumindest für einige Mitglieder des Kontrollrats war es offensichtlich, daß Captain Browne ausgezeichnete Fortschritte machte.
11 John Lesbee IV pflückte automatisch weiter reife Tomaten von den Stauden. Der nächste Arbeiter war fast fünfzig Meter von ihm entfernt, aber trotzdem durfte Lesbee nicht unvorsichtig sein. Er sah nicht einmal auf, als das Mädchen zu ihm sagte: »Mutter läßt dir ausrichten, daß wir seit zwei Tagen wieder durch Funken fliegen. Folglich müssen wir bereits in der Nähe von Prokyon sein.« Lesbee IV antwortete nicht. Er dachte über die alte Erklärung für dieses Phänomen nach, in der behauptet wurde, die Funken entstünden, wenn zwei oder mehr Sonnen geladene Teilchen aus dem Magnetfeld der anderen herauszogen und sie weit ins All hinausschleuderten. Obwohl sein Führungsanspruch von Tag zu Tag weniger stichhaltig zu sein schien, befolgte Lesbee bestimmte »Regeln«, zu denen auch gehörte, daß er technische Details unter keinen Umständen mit seinen Anhängern diskutierte. Am vergangenen »Abend« hatte er dem Mädchen einen Auftrag erteilt. Jetzt hatte es zu berichten. Er pflückte gleichmäßig weiter, während das Mädchen fortfuhr. »Die anderen sind der Meinung, daß du dich diesmal zur Wahl stellen mußt. Browne will
seinen ältesten Sohn in den Kontrollrat wählen lassen. Wenn du an seiner Stelle ...« Das Mädchen zögerte und sagte dann eindringlich: »John, du bist jetzt neunundzwanzig. Und der Kontrollrat mißachtet deine angestammten Rechte. Du mußt für sie kämpfen.« Lesbee IV schwieg, weil er allmählich von diesen Dummköpfen genug hatte, die immer nur von einem offenen Kampf sprachen. Ahnten sie denn gar nichts von der Gefahr, die darin lag? Und außerdem mußte er auf jeden Fall warten, bis sie auf Prokyon gewesen waren. Wenn die Hope of Man dann wieder Kurs auf die Erde nahm, würden die Verbrecher, die ihn bisher belogen und betrogen hatten, eine unangenehme Überraschung erleben. »Wenn du nicht bald etwas unternimmst«, fuhr das Mädchen drängend fort, »wollen die Männer die Angelegenheit selbst in die Hände nehmen. Sie haben es satt – wir alle haben es satt –, die schwerste Arbeit tun zu müssen und dafür noch schlecht behandelt zu werden. Gourdy sagt, daß er den Befehl über das Schiff an sich reißen will.« In seiner Stimme schwang deutlich eine gewisse Ehrfurcht vor diesem kühnen Plan mit Lesbee machte jetzt zum erstenmal eine Bewegung, die nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte. »Pah!« sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. Diese armen
Irren, dachte er. Dabei wußten sie nicht einmal, wie unsinnig ihr Plan war. Den Befehl übernehmen – eine Horde von Arbeitern, die das Weltall nur vom Bildschirm her kannten! Dabei wußten sie nicht einmal, welcher Unterschied zwischen einem Kursrechner und einem Gyrokompaß bestand ... »Du hast nicht mehr viel Zeit!« mahnte das Mädchen. »Wenn du dich nicht bald entschließt ...« Die von Zeit zu Zeit eingehenden Berichte, daß eine Untergrundbewegung im Entstehen war, beunruhigten Captain Browne keineswegs. »Diese zerlumpten Idioten«, sagte er zu Leutnant George Browne, seinem jüngeren Sohn, der Erster Schiffsoffizier war, »sind nicht einmal intelligent genug, eine Henne von der Stange zu schubsen. Außerdem brauchen wir nur zu warten, bis sie herausbekommen, was ich vorhabe, wenn wir erst einmal Prokyon erreicht haben. Dann werden sie wahrscheinlich nicht mehr auf dumme Gedanken kommen.« Der jüngere Browne schwieg. Er hielt seinen Vater für unfähig, wußte aber, daß er noch lange zu warten hatte, bevor der jetzige Captain in den Ruhestand trat. Selbst im Alter von hundertundvier Jahren machte Browne noch den Eindruck, als gedenke er weitere zwanzig Jahre frisch und munter zu bleiben. Das bedeutete also eine lange Wartezeit. Leutnant
Browne würde also bereits ein alter Mann sein, bevor er selbst Captain werden konnte. Über dieses Thema hatte er sich schon mehrmals mit seinem älteren Bruder unterhalten, der sich im nächsten Monat in den Kontrollrat wählen lassen wollte. Vielleicht war es sogar ratsam, den Führern der Untergrundbewegung mitzuteilen, welche Gedanken ihn bewegten? Einige vage Versprechungen, die geschickt an der richtigen Stelle angebracht wurden ... Prokyon A, dessen Helligkeit die von Sol um das Sechsfache übertraf, schwebte in der Dunkelheit vor dem Bug der Hope of Man. Die gelb-weiße Sonne wurde allmählich größer und leuchtender. Im Gegensatz dazu war Prokyon B in einer Entfernung von mehreren Milliarden Kilometern selbst in dem Teleskop nur undeutlich zu erkennen. Überraschenderweise besaß Prokyon mehr Planeten als Sirius – insgesamt wurden fünfundzwanzig riesige Welten gezählt. Das Raumschiff steuerte nacheinander zwei davon an, die beide einen Durchmesser von etwa vierzigtausend Kilometern aufwiesen. Beide Planeten waren bewohnt und hatten eine Chloratmosphäre. »Meine ehrenwerten Vorgänger waren bestimmt nicht dumm«, stellte Captain Browne auf einer Sitzung des Kontrollrats fest, »aber sie sind nie auf die Idee gekommen, daß andere Zivilisationen uns viel-
leicht gar nichts Böses antun wollten. Wir müssen immer daran denken, daß wir bisher noch nie angegriffen worden sind. Und was war mit dem alten Captain Lesbee, sagen Sie jetzt vielleicht? Unsinn, sage ich. Er hat etwas gesehen, das nicht für menschliche Augen bestimmt war. Deshalb schnappte er über und starb. Viel wichtiger ist, daß das Ding in der Kugel keinen Versuch unternommen hat, das Raumschiff zu zerstören, obwohl es bestimmt dazu fähig gewesen wäre.« Der Captain sah von einem der Männer zum anderen. »Was bedeutet das also für uns? Es bedeutet, daß wir uns in einer ausgezeichneten Position befinden. Der alte Lesbee trat auf Centaurus den Rückzug an, weil er sich dem Unbekannten gegenübersah. Bei Sirius ergriffen wir die Flucht, weil das Unbekannte sich uns in nichtmenschlicher Form zeigte. Aber jetzt sind wir hoffentlich etwas schlauer geworden. Hier haben wir eine Zivilisation vor uns, die unsere Fragen beantworten kann. Was wollen wir denn wissen? Natürlich vor allem, welche Sonnen Planeten besitzen, die in Größe und Atmosphäre der Erde entsprechen. Den anderen kann es völlig gleichgültig sein, ob wir diese Planeten aufsuchen oder gar besiedeln. Weshalb sollten sie sich auch darum kümmern? Sauerstoffplaneten sind für sie ungeeignet, während wir mit einer Chloratmosphäre nichts anfangen können.
Folglich müssen wir ihnen klarmachen, was wir von ihnen wissen möchten. Auf welche Weise?« Browne grinste seine Zuhörer triumphierend an. »Überlassen Sie das ruhig mir«, sagte er. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wir setzen uns mit dem ersten fremden Raumschiff sofort in Verbindung.« Tatsächlich wurde die Verbindung erst zu dem vierten Raumschiff aufgenommen, denn die drei ersten hatten die Hope of Man völlig ignoriert. Das vierte kam langsam näher, bis der Abstand zwischen den beiden Schiffen nur noch hundert Meter betrug. Dort verharrte es bewegungslos, während Browne seine Schau ablaufen ließ. Seine Methode war einfach, aber wirkungsvoll. Er hatte einen riesigen Bildschirm in einem der Rettungsboote installieren lassen und schickte das Boot dann in die Nähe des fremden Raumschiffs so daß der Bildschirm deutlich zu sehen sein mußte. Dann übertrug er eine Reihe von Bildern auf den Schirm, in denen gezeigt wurde, wie die Hope of Man Planeten ansteuerte, deren Atmosphäre zum größten Teil aus Schwefel oder Chlor bestand. Diese Tatsache wurde dadurch erläutert, daß die Atomstruktur von Schwefel und Chlor neben die Abbildung des betreffenden Planeten projiziert wurde. Neben der Erde erschienen Sauerstoff und Stickstoff, wobei Browne annahm, daß die Fremden erfassen würden, daß Sauerstoff lebenswichtig war.
Dann begann der wichtigste Teil der Demonstration. Eine Sternenkarte erschien auf dem Bildschirm und zeigte die über sechzig Sonnen, die innerhalb von zwanzig Lichtjahren um Sol gruppiert waren. Auf der Sternenkarte wurde ein Dreiei aus Atomstrukturen sichtbar – Chlor, Sauerstoff und Schwefel. Dieses Trio verharrte einen Augenblick bei einer Sonne und bewegte sich dann zu der nächsten weiter. »Ich bin gespannt«, meinte Browne, »wie lange die anderen brauchen, um herauszubekommen, daß wir nicht wissen, welche Atmosphäre die Planeten dieser Sonnen besitzen.« Die Fremden begriffen seine Absicht, als das dreieckige Fragezeichen sich auf die siebte Sonne zubewegte. Sie reagierten, indem sie das bewegliche Trio auslöschten. Statt dessen erschien jetzt neben jeder Sonne eine bestimmte Atomstruktur. Browne zählte vier, deren Planeten eine Sauerstoffatmosphäre aufwiesen. Sekunden später ersetzten die Fremden seine Karte durch eine wesentlich größere, auf der Tausende von Sonnen verzeichnet waren. Neben jeder wurde eine Atomstruktur gezeigt, die auf die Atmosphäre der bewohnbaren Planeten hinwies. Dann entfernte das fremde Raumschiff sich wieder; schon nach kurzer Zeit war es von den Bildschirmen verschwunden.
»Rettungsboot einholen!« befahl Browne. »Am besten starten wir ebenfalls gleich und nehmen Kurs auf Alta. Das ist von hier aus die nächste Sonne.« Als er später dem Kontrollrat Bericht erstattete, trug er ein selbstzufriedenes Lächeln zur Schau. Er war stolz auf seinen Erfolg, denn seine Methode hatte sich als richtig erwiesen. An Bord der Hope of Man gab es jetzt einen Film, der Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Planeten zeigte, die für eine Besiedlung durch Menschen geeignet waren. Browne fühlte sich seines Erfolgs sehr sicher, während er die Mitglieder des Kontrollrats nacheinander ansah. Er fragte sich, ob diese Männer bereits auf den Gedanken gekommen waren, der ihn im Augenblick bewegte: wie recht sie daran getan hatten, ihn als Captain zu bestätigen. Vielleicht sahen sie jetzt endlich ein, daß es bestimmt besser war, in Zukunft überhaupt keine Wahlen mehr abzuhalten. Im Grunde genommen bedeutete dieses System eine Gefahr für das Schiff und war außerdem mit den Bestimmungen nicht vereinbar, die für die Führung eines Kriegsschiffs niedergelegt waren. Die Angelegenheit mußte endlich einmal zufriedenstellend gelöst werden, damit keine Verwirrung entstehen konnte, falls ihm eines Tages etwas zustoßen sollte. Allerdings fühlte er sich keineswegs alt. Aber immerhin würde der Flug nach Alta etwa dreißig Jahre
in Anspruch nehmen, so daß die Möglichkeit bestand, daß er in der Zwischenzeit starb. Er hätte gern das Recht besessen, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Sein zweiter Sohn sollte nach ihm Captain der Hope of Man werden. Während er noch über die beste Formulierung seines Wunsches nachdachte, fiel sein Blick zufällig auf die Tür des Versammlungsraums. Er sah, daß sie sich einen Spalt breit öffnete; er hatte sofort einen bestimmten Verdacht ... Browne riß seinen Strahler heraus ... Seine blitzschnelle Reaktion bewahrte das Schiff vor der Herrschaft der Rebellen, obwohl sein eigenes Leben dadurch nicht mehr zu retten war. Als der jüngere Browne später eine bewaffnete Gruppe von Wissenschaftlern und Technikern in den Versammlungsraum führte, lebte nur noch ein Mitglied des Kontrollrats. Aber auch dieser eine Überlebende war schwer verwundet worden. Captain Browne und sein ältester Sohn gehörten zu den Opfern des Überfalls. Plauck und Kesser waren fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, aber sie hatten wenigstens noch Zeit gehabt, ihre Strahler zu ziehen und auf die Meuterer unter Gourdys Führung zu schießen. Später stellte sich heraus, daß Lesbee IV sich strikt geweigert hatte, an dem bewaffneten Aufstand teilzunehmen. Von den mehr als zwanzig jungen Männern, die
gemeinsam mit Gourdy rebelliert hatten, waren neunzehn tot an der Stätte des Kampfes zurückgeblieben. Eine Blutspur in den Gängen des Schiffs führte die Verfolger zunächst zu drei Schwerverwundeten und schließlich in den Lagerraum, in dem Gourdy sich verbarrikadiert hatte. Da er sich nicht ergeben wollte, nützten seine Gegner ihre größere Kenntnis des Schiffs zu ihrem Vorteil aus. Einer der Techniker drang durch einen Geheimgang bis zu dem Lagerraum vor und erledigte den nichtsahnenden Gourdy durch eine Luke in der Wand. Der neue Captain Browne, der selbst schon weit über siebzig war, ließ das verwundete Kontrollratsmitglied in seine Kabine schaffen. Dann ließ er sich selbst in seinen Sessel fallen und überlegte angestrengt, welche Komplikationen das Überleben dieses einen Mannes mit sich bringen würde. Die Schafperiode näherte sich bereits wieder ihrem Ende, als er endlich einen Entschluß gefaßt hatte. »Wenn er mit dem Leben davonkommt«, murmelte er vor sich hin, »wird das Wahlsystem vielleicht nie abgeschafft. Und das wäre doch wirklich lächerlich.« Daraufhin rief er seinen Sohn zu sich in die Kabine. Die beiden Männer – sein Sohn war damals fünfundvierzig – wurden sich darüber einig, daß der Vater die Lage richtig beurteilt hatte. Dann kehrte der jüngere Browne wieder in seine Kabine zurück.
Er war jedoch keineswegs überrascht, als sein Vater nach Ende der Schlafperiode bekanntgeben ließ, daß auch das letzte Kontrollratsmitglied dem feigen Mordanschlag der Meuterer zum Opfer gefallen war. Jetzt gab es keinen Menschen mehr an Bord, der eine Wahl hätte verlangen können.
12 Als einhundertundneun Jahre seit dem Start von der Erde vergangen waren, schwenkte das Raumschiff Hope of Man in eine Kreisbahn um Alta III ein. Dieser Planet war der einzige bewohnbare und bewohnte des gesamten Systems. Am folgenden »Morgen« informierte Captain Browne die Besatzung, die aus Kolonisten der vierten und fünften Generation bestand, daß er die Absicht habe, ein bemanntes Landungsboot auszuschicken. »Jeder Mann an Bord der Pinasse muß ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben handeln«, erklärte er mit ernster Stimme. »Heute ist endlich der Tag gekommen, den unsere Vorfahren, die sich so kühn in den Raum gewagt haben, nie erleben durften, obwohl alle ihre Hoffnungen nur auf dieses Ziel gerichtet waren. Wir müssen dieses Vermächtnis in Ehren halten und alles tun, um ihm gerecht zu werden.« Er schloß seine Ansprache über die Schiffslautsprecher mit der Mitteilung, daß die Namen der Besatzungsmitglieder der Pinasse innerhalb der nächsten Stunde bekanntgegeben würden. »Und ich weiß, daß jeder echte Mann an Bord sich nichts sehnlicher wünscht, als seinen Namen auf dieser Liste zu sehen ...«
John Lesbee, der fünfte seines Geschlechts an Bord der Hope of Man, spürte eine unbestimmte Angst, als er diese Ankündigung hörte. Sein Verdacht bestätigte sich schon kurze Zeit später. Während er sich noch überlegte, ob er sofort das Zeichen zu einer verzweifelten Erhebung geben sollte, erfolgte schon die nächste Bekanntgabe. Captain Brownes Stimme drang wieder aus den Schiffslautsprechern. »Ich bin davon überzeugt, daß die gesamte Besatzung John Lesbee in diesem Augenblick beneidet, dem die ehrenvolle Aufgabe zufällt, die Hoffnungen der Menschheit auf diesem entfernten Planeten würdig zu vertreten. Und jetzt zu den Männern, die ihn dabei unterstützen werden ...« Daraufhin las der Captain die Namen von sieben der neun Männer vor, die gemeinsam mit John Lesbee eine Meuterei geplant hatten. Da die Pinasse bestenfalls acht Personen faßte, war es für Lesbee V völlig klar, daß Browne so viele Gegner wie möglich zu beseitigen versuchte. Er hörte in äußerst trübseliger Stimmung zu, als der Captain die gesamte Besatzung der Hope of Man in den großen Speisesaal beorderte. »Dort erhalten die sieben Männer unter der Führung John Lesbees ihre letzten Anweisungen von mir und den anderen Offizieren. Sie haben den Auftrag, sich jedem Raumschiff zu ergeben, das sie aufzuhalten versucht. Die Aufnahmege-
räte an Bord der Pinasse werden jede Einzelheit aufzeichnen und hierher übermitteln. Auf diese Weise können wir zuverlässig beurteilen, welchen technischen Entwicklungsstand die Bewohner des Planeten erreicht haben.« Lesbee V ging so rasch wie möglich in seine Kabine auf dem Technikerdeck, weil er hoffte, daß Tellier oder Cantlin ihn dort aufsuchen würde. Er hatte das Bedürfnis, sich wenigstens kurz mit ihnen über die neueste Entwicklung zu beraten. Aber selbst fünf Minuten später war noch keiner der anderen Verschwörer gekommen. Wenigstens hatte er genügend Zeit, um wieder etwas ruhiger zu werden. Er saß hinter seinem Schreibtisch, schloß die Augen und atmete tief. Die Kabine war von dem charakteristischen Geruch nach heißem Metall und Ozon erfüllt, der in Lesbee die Vorstellung von gebändigter Kraft erweckte, die in den mächtigen Triebwerken des Raumschiffs schlummerte. Lesbee war sich durchaus darüber im klaren, daß die beabsichtigte Machtergreifung beträchtliche Risiken mit sich brachte. Noch schlimmer war jedoch, daß niemand berechtigte Einwände gegen Brownes Wahl vorbringen konnte. »Schließlich bin ich wahrscheinlich der beste Techniker, den es jemals an Bord gegeben hat«, überlegte Lesbee laut. Browne III hatte ihn unter seine Fittiche genommen, als er kaum zehn
Jahre alt war. Im Lauf der Zeit war er nacheinander in sämtlichen technischen Abteilungen des Schiffs ausgebildet worden. Und Browne III hatte ihm eine gute Zusatzausbildung geben lassen. Er lernte, wie man die verschiedenen Steuersysteme und Regelvorrichtungen reparierte. Allmählich begriff er die Funktion der komplizierten elektronischen Geräte. Schließlich war er mit dem gigantischen Drahtgewirr unterhalb der Schaltpulte und in den Wänden so vertraut, daß es ihm geradezu als Erweiterung seines eigenen Nervensystems erschien. Allerdings fand er dabei nie die Zeit, sich gründlich mit dem Prinzip vertraut zu machen, auf dem der Schiffsantrieb beruhte. Während seiner Ausbildung hatte er zwar davon gehört, aber die Informationen waren so lückenhaft und unzulänglich, daß er davon weniger als sein Vater verstand. Sein Vater hatte sich alle Mühe gegeben, Lesbee die nötigen Kenntnisse zu vermitteln. Aber es war nicht leicht, einem müden und schläfrigen Jungen komplizierte Vorgänge zu erklären, obwohl der Ältere sich dieses Wissen ebenfalls unter erschwerten Bedingungen hatte aneignen müssen. Lesbee V empfand sogar eine gewisse Erleichterung, als seine Eltern starben – sein Vater wenige Wochen nach seiner Mutter. Auf diese Weise war er endlich von dem ständigen Druck befreit. Seitdem war ihm jedoch klar geworden, daß
die Familie Browne ihren größten Sieg errungen hatte, als sie die Nachkommen des ersten Captains von der vorgesehenen Laufbahn in eine andere abdrängte. Als Lesbee sich endlich auf den Weg zu dem Speisesaal machte, fragte er sich, ob die Brownes ihn etwa nur deshalb so gut ausgebildet hatten, um ihn eines Tages mit einer Aufgabe dieser Art zu betrauen. Er runzelte nachdenklich die Stirn. Wenn diese Vermutung zutraf, war die geplante Meuterei bestenfalls die passende Entschuldigung. Vielleicht war die Entscheidung über Leben und Tod bereits vor Jahren gefallen ... Als die Pinasse die Hope of Man verließ und die Oberfläche von Alta III ansteuerte, saßen Lesbee und Tellier nebeneinander in den Sesseln der beiden Piloten und beobachteten die Szene auf dem vorderen Bildschirm. Dr. Tellier hatte nie verstehen können, weshalb das Raumschiff nicht einmal ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit erreichte. Seine Aufzeichnungen bewiesen, daß er sogar eine Überlichtgeschwindigkeit für möglich und erreichbar gehalten hatte. Aber er war so früh gestorben, daß er seinen Sohn nicht mehr hatte ausbilden können, um die begonnene Arbeit von ihm fortführen zu lassen. Seitdem verfügte niemand an Bord mehr über die nötigen Kenntnisse, um die Versuche fortzusetzen.
Die Wissenschaftler, die Dr. Telliers Nachfolge angetreten hatten, vermuteten seitdem, daß die Ursache für das Versagen des Antriebs durch die LorentzFitzgeraldsche Kontraktionstheorie zu beweisen sein mußte. Diese Erklärung mochte zutreffen, war aber nie bewiesen worden. Lesbee beobachtete seinen Begleiter aus dem Augenwinkel heraus und fragte sich im stillen, ob Tellier die gleiche Erregung wie er selbst empfand. Dies war das erstemal, daß jemand sich von der Hope of Man entfernte. »Wir steuern tatsächlich auf einen Planeten zu«, sagte Lesbee leise zu seinem besten Freund. Tellier sah kurz auf und nickte. Jetzt waren bereits Einzelheiten der großen Landmassen des Planeten zu erkennen. Die Pinasse glitt in einer flachen Kurve nach unten, damit sie jederzeit wieder nach oben gesteuert werden konnte, falls die natürlichen Strahlungsgürtel sich als zu gefährlich erweisen sollten. Bisher war jedoch noch kein Alarmsignal ertönt, so daß Lesbee sich beruhigt in seinen Sitz zurücklehnte. Plötzlich wurde die Stille von einem schrillen Heulton durchbrochen. Gleichzeitig zeigte einer der Bildschirme einen Lichtpunkt weit unterhalb der Pinasse, der rasch näher kam.
Eine Abwehrrakete! Lesbee hielt unwillkürlich den Atem an. Aber der Lichtpunkt wich plötzlich nach Steuerbord aus, beschrieb eine elegante Kurve, setzte sich hinter die Pinasse und verringerte den Abstand allmählich immer mehr. Lesbees erster Gedanke war: »Sie wollen uns nicht landen lassen!« In diesem Augenblick fühlte er eine unbeschreibliche Enttäuschung. Auf dem Schaltpult vor ihm flackerte ein grellrotes Warnlicht auf. »Sie tasten uns ab«, stieß Tellier hervor. Eine Zehntelsekunde später erzitterte die Pinasse in allen Fugen. Das war die typische Wirkung eines Suchstrahls, der von dem anderen Raumschiff ausgeschickt wurde. Das Kraftfeld zog die Pinasse zu sich heran und ließ sie nicht mehr los. Damit war bereits bei der ersten Begegnung deutlich geworden, daß die Bewohner von Alta III über eine hochentwickelte Technik verfügten. Die Pinasse bewegte sich langsam weiter. Die Besatzung versammelte sich vor dem Bildschirm, auf dem der Lichtpunkt größer wurde, bis er sich schließlich in ein Raumschiff verwandelte. Es war doppelt so groß wie die kleine Pinasse. Dann erfolgte ein leichter Aufprall, als die beiden Raumschiffe sich berührten.
»Sie haben uns so gesteuert, daß ihre Luftschleuse der unseren gegenüberliegt«, stellte Tellier sofort fest. Die anderen machten Witze über die Situation, in der sie sich plötzlich befanden. Eigentlich typischer Galgenhumor, dachte Lesbee, mußte aber trotzdem lachen. Dann fiel ihm jedoch ein, daß Browne sie beobachtete und daß ihnen kein anderer Ausweg blieb, als seine Befehle auszuführen. »Schleuse öffnen!« befahl er deshalb. »Wir lassen uns von den Fremden gefangennehmen.«
13 Wenige Minuten nachdem sie die äußere Luftschleuse der Pinasse geöffnet hatten, ging auch die Schleuse des fremden Raumschiffs auf. Dicke Gummiwülste wurden aufgeblasen und dichteten so den Spalt zwischen den beiden Schleusen luftdicht ab. Dann zischte Luft in den Verbindungsgang zwischen den beiden Schleusenkammern. Die innere Luke des anderen Raumschiffs öffnete sich langsam. Lesbee hielt wieder den Atem an. In dem Verbindungsgang bewegte sich etwas. Ein Lebewesen kam in Sicht, schritt gravitätisch weiter und klopfte dann mit einer seiner vier Hände gegen die innere Schleuse der Pinasse. Das Wesen besaß vier Arme und vier Beine, die aus einem langen, dünnen Körper wuchsen. Ein Hals war nicht zu erkennen, aber die zahlreichen Hautfalten zwischen Kopf und Schultern ließen vermuten, daß der Kopf trotzdem sehr beweglich war. Während Lesbee sich noch mit diesen Äußerlichkeiten befaßte wandte das Lebewesen leicht den Kopf. Die beiden ausdruckslosen Augen starrten geradewegs in die Linse des versteckt angebrachten Aufnahmegeräts – und deshalb auch direkt in Lesbees Augen.
Lesbee schüttelte verwirrt den Kopf, schluckte einmal trocken und nickte Tellier zu. »Innere Schleuse öffnen!« befahl er. Als die innere Luke aufschwang, erschienen sechs weitere vierbeinige Lebewesen in dem Verbindungsgang und näherten sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie das erste. Alle sieben Lebewesen betraten das Innere der Pinasse. Während sie hereinkamen, las Lesbee augenblicklich ihre Gedanken ... Während Dzing und seine Besatzung ihr Schiff durch den Verbindungsgang verließen, um das andere zu betreten, dachte sein Erster Offizier: »Luftdruck und Sauerstoffgehalt entsprechen den vergleichbaren Werten auf Karn, Sir. Die Abweichung beträgt nicht mehr als ein Prozent. Diese Wesen können also bestimmt auf unserem Planeten leben.« Dzing ging weiter und stellte fest, daß er sich offenbar bereits in dem Kontrollraum des anderen Schiffes befand. Dann erst nahm er die Gegenwart der Menschen wahr. Er blieb stehen und hielt auch seine Leute zurück. Die beiden Gruppen – Menschen und die Bewohner von Karn – standen sich schweigend und abwartend gegenüber. Dzing war keineswegs überrascht, daß die Frem-
den zweibeinige Lebewesen waren, denn die Instrumente an Bord seines Schiffs hatten ihm bereits eine sehr gute Vorstellung davon vermittelt, wie die Fremden aussahen. Sein erster Befehl an die Mannschaft sollte überprüfen, ob die Fremden sich tatsächlich ergaben. Er befahl: »Macht den Gefangenen begreiflich, daß wir darauf bestehen, daß sie als Vorsichtsmaßnahme ihre Bekleidung abnehmen.« Bis dieser Befehl erteilt wurde, war Lesbee sich noch nicht darüber im klaren gewesen, ob die fremden Lebewesen seine Gedanken ebenfalls aufnehmen konnten. Von Anfang an hatten die Fremden sich telepathisch unterhalten, als ob ihnen die Gedanken der Menschen nicht verständlich seien. Jetzt sah Lesbee einen Karn, der sich ihm näherte und an seinem leichten Schutzanzug zupfte, als wolle er ihn zum Ausziehen auffordern. Damit war jeder Zweifel beseitigt. Die Gedankenströme flossen nur in einer Richtung – von den Karns zu den Menschen. Lesbee dachte angestrengt über die möglichen Auswirkungen dieser Tatsache nach, während er sich langsam auszog ... Browne durfte unter keinen Umständen davon erfahren! Er griff nach seinem Notizblock und schrieb so rasch wie möglich: ›Laßt euch nicht anmerken, daß wir die Gedanken dieser Lebewesen aufnehmen können.‹
Dann gab er den Notizblock weiter und fühlte sich beruhigter, als jeder der Männer die Warnung durch ein stummes Kopfnicken in seine Richtung bestätigt hatte. Dzing stand mit jemand auf dem Planeten in Gedankenverbindung. »Die Fremden hatten offensichtlich Anweisung, sich ohne Widerstand von uns gefangennehmen zu lassen«, berichtete er. »Wir stehen also vor dem Problem, uns von ihnen überwältigen zu lassen, ohne den Verdacht zu erregen, daß das unseren Absichten entspricht. Was sollen wir jetzt tun, um dieses Ziel zu erreichen?« Lesbee empfing die Antwort nicht direkt. Aber er verstand, was Dzing seinen Leuten befahl: »Zerlegt das Schiff in seine Bestandteile! Vielleicht reagieren die Fremden dann endlich.« Die Karns führten seine Anweisung sofort aus und begannen die Schaltpulte zu demontieren. Die Bodenplatten wurden aus den Halterungen gerissen, die Wandverschalung zertrümmert und die Pilotensessel aufgeschlitzt. Schon nach wenigen Minuten herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander aus Maschinenteilen, Drähten und Instrumenten. Browne mußte die Zerstörung beobachtet haben, denn seine Stimme drang aus dem Lautsprecher, bevor die Karns die Antriebs- und Steuerautomatik beschädigen konnten.
»Alles herhören!« befahl er. »Ich schließe jetzt die Luftschleuse und beschreibe in genau zwanzig Sekunden eine scharfe Kurve.« Lesbee und Tellier brauchten sich nur in ihre Sitze fallen zu lassen und sie so zu drehen, daß die Beschleunigung sie gegen die Rückenlehnen drücken würde. Die anderen Männer warfen sich zu Boden und hielten sich an den Spanten fest. Dzing spürte, daß das fremde Schiff sich plötzlich zu bewegen begann und eine Kurve nach Backbord beschrieb. Er ließ sich gegen die Wand drücken und griff mit allen vier Händen gleichzeitig nach den Griffen, die jetzt reichlich vorhanden waren, nachdem die Wandverschalung teilweise fehlte. Als die Kurve ihren Scheitelpunkt erreichte, hatte er sich bereits mit den Füßen abgestemmt und fing so den Andruck auf. Seine Begleiter folgten seinem Beispiel. Sie versuchten alle den Eindruck zu erwecken, als mache die plötzlich erfolgte Beschleunigung ihnen ernsthaft zu schaffen. Dann ließ der Andruck nach, und Dzing konnte feststellen, daß der jetzige Kurs der Pinasse um neunzig Grad von dem vorigen abwich. Er hatte weiter berichtet und erhielt jetzt zusätzliche Anweisungen: »Zerstört und demontiert wie zuvor. Beobachtet die Reaktion der Fremden genau und ergebt euch, wenn die Gefahr besteht, daß ihr ernsthaft angegriffen werdet.«
Lesbee schrieb wieder auf seinen Notizblock. »Wir brauchen nicht vorsichtig zu sein, wenn wir sie gefangennehmen. Sie wollen es uns so leicht wie möglich machen – also haben wir nichts zu verlieren.« Er wartete gespannt, bis der Block von einem zum anderen gegangen war. Wirklich eigenartig, daß den anderen noch nichts aufgefallen sein sollte. Tellier schrieb ebenfalls. »Offenbar haben diese Lebewesen den gleichen Befehl wie wir erhalten – sie sollen ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben handeln.« Damit war für Lesbee jeder Zweifel beseitigt. Die anderen hatten nicht wahrgenommen, auf welche Weise die Fremden sich untereinander verständigten. Lesbee seufzte erleichtert, als feststand, daß die übrigen Besatzungsmitglieder einem Trugschluß erlegen waren. Auf diese Weise gewann er einen Vorteil, den er im Grunde genommen seiner Spezialausbildung auf allen technischen Gebieten verdankte. Offenbar wußte nur er allein genug, um zu analysieren, was diese Wesen waren. Der Beweis dafür bestand aus der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Gedankenübertragungen. Bereits vor vielen Jahren war auf der Erde experimentell festgestellt worden, daß die meisten Menschen über bestimmte telepathische Fähigkeiten verfügen. Aber ihre Ausnützung war in jedem Fall von elektroni-
schen Verstärkern außerhalb des menschlichen Gehirns abhängig. Die für eine Verstärkung notwendigen Energiemengen hätten ausgereicht, um die Gehirnnerven bei direktem Kontakt augenblicklich zu lähmen. Da die Karns jedoch Gedanken ohne Verstärker übermittelten, konnten sie keine Lebewesen sein. Deshalb waren Dzing und seine Begleiter nur hochentwickelte Roboter. Die wirklichen Bewohner von Alta III waren zu vorsichtig, ihre kostbare Haut zu Markte zu tragen. Für Lesbee war es allerdings viel wichtiger, daß er jetzt eine Möglichkeit sah, diese wunderbaren Maschinen für seine Zwecke zu gebrauchen. Vielleicht konnte er mit ihrer Hilfe Browne absetzen, den Befehl über die Hope of Man an sich reißen und den langen Flug zur Erde zurück beginnen.
14 Während Lesbee über diese verlockenden Aussichten nachdachte, hatten die Karns ihr Zerstörungswerk fortgesetzt. Jetzt gab er sich einen Ruck und wandte sich an zwei Besatzungsmitglieder: »Hainker, Graves!« »Ja?« fragten die beiden Männer wie aus einem Munde. »In einer Minute werde ich Captain Browne bitten, nochmals eine enge Kurve zu steuern. In diesem Augenblick müßt ihr die Gaspistolen anwenden!« Die beiden grinsten erleichtert. »Schon so gut wie geschehen«, antwortete Hainker. Lesbee wies die übrigen vier an, die Handschellen zum sofortigen Gebrauch bereitzuhalten. »Du übernimmst meinen Posten, falls etwas schiefgehen sollte«, erklärte er Tellier. Dann schrieb er nochmals auf dem Notizblock: »Die Fremden lassen die telepathische Verbindung vermutlich nicht abreißen. Achtet nicht darauf und gebt vor allem nicht zu erkennen, daß wir sie verstehen.« Er fühlte sich erleichtert, als alle die Warnung gelesen hatten. Als er den Notizblock wieder in der Hand hielt, wandte er sich dem Bildschirm zu und sprach in das Mikrophon:
»Captain Browne! Lassen Sie die Pinasse nochmals eine enge Kurve fliegen, damit die Fremden wieder zu Boden gedrückt werden.« Auf diese Weise wurden Dzing und seine Begleiter gefangengenommen. Wie zu erwarten gewesen war, setzten die Karns ihre telepathische Unterhaltung ungehindert fort. Dzing berichtete über die neueste Entwicklung. »Ich finde, daß wir gute Arbeit geleistet haben«, meinte er abschließend. Er schien eine Antwort erhalten zu haben, denn er sprach weiter. »Jawohl, selbstverständlich, Sir. Wir haben uns befehlsgemäß gefangennehmen lassen und warten die weitere Entwicklung ab ... Die dabei angewandte Methode? Jeder von uns wird von einem Joch am Boden festgehalten, das sich den Umrissen unserer Körper anpaßt. Arme und Beine sind paarweise aneinandergefesselt. Da sämtliche Geräte elektronisch gesteuert werden, können wir uns selbstverständlich wieder befreien. Natürlich kommt das erst später in Frage ...« Lesbee empfand ein unbestimmtes Angstgefühl; aber für einen Mann in seiner Lage konnte es kein Zurück mehr geben. Er erteilte rasch einige Befehle an die Besatzung der Pinasse. »Zieht euch wieder an und beginnt mit der Reparatur des Schiffes. Setzt die Bodenplatten wieder
ein – bis auf das Planquadrat G-8. Dort sind die empfindlichsten Instrumente angeschlossen, um die ich mich selbst kümmern muß.« Nachdem er sich angezogen hatte, steuerte er die Pinasse auf Gegenkurs und rief Browne an. Der Bildschirm leuchtete auf und zeigte das mürrische Gesicht des vierzigjährigen Captains. »Ich möchte Ihnen und Ihrer Besatzung zu dem errungenen Erfolg gratulieren«, sagte Browne. »Offenbar sind wir dieser Rasse technisch gesehen eine Kleinigkeit überlegen, so daß wir eine Landung auf dem Planeten riskieren können.« Lesbee wartete schweigend. Browne schien tief in Gedanken versunken zu sein. Schließlich ergriff der Captain wieder das Wort, obwohl er sich anscheinend noch nicht zu einem Entschluß hatte durchringen können. »Mister Lesbee«, begann er, »Sie müssen Verständnis dafür haben, daß dies eine äußerst gefährliche Situation für mich und natürlich auch für die gesamte Expedition darstellt.« Lesbee erriet sofort, daß Browne nicht die Absicht hatte, ihn jemals wieder an Bord der Hope of Man zu lassen. Aber er mußte auf das Schiff zurück, wenn er seinen Plan ausführen wollte. Er dachte: »Vielleicht erwartet er, daß ich die Verschwörung zugebe und einen Kompromißvorschlag mache.« Deshalb holte er jetzt tief Luft, sah Browne auf dem Bildschirm geradewegs in die Augen und sagte mit
dem Mut der Verzweiflung: »Meiner Meinung nach bleiben uns zwei mögliche Lösungen, Sir. Wir können die persönlichen Probleme entweder durch demokratische Wahlen oder eine gemeinsame Führung lösen, wobei wir beide den Rang eines Captains erhalten.« Für jeden anderen, der ihr Gespräch verfolgte, war diese Bemerkung bestimmt ziemlich rätselhaft, weil kein klarer Zusammenhang mit den vorhergegangenen Ereignissen erkennbar war. Browne verstand jedoch sofort. »Jetzt hat das Versteckspiel also endlich einmal aufgehört«, meinte er zufrieden. »Schön, Mister Lesbee, dann darf ich Sie daran erinnern, daß nie von Wahlen die Rede war, als die Lesbees noch die Macht in ihren Händen hielten. Dafür gab es auch einen sehr guten Grund – die Führung eines Raumschiffs erfordert eine technische Aristokratie. Ihr Alternativvorschlag ist bemerkenswert, aber leider praktisch nicht durchführbar.« Lesbee log weiter: »Falls wir wirklich bleiben, brauchen wir mindestens zwei Männer mit gleicher Autorität – einer auf dem Planeten, der andere an Bord der Hope of Man.« »Ich würde Sie nie unbeaufsichtigt auf dem Schiff zurücklassen!« stellte Browne fest. »Dann bleiben Sie eben selbst auf dem Schiff zurück«, schlug Lesbee vor. »Über die Einzelheiten können wir uns bestimmt einig werden.«
Der Ältere schien gar nicht zugehört zu haben, denn er ignorierte Lesbees Vorschlag völlig. »Ihre Familie ist schon seit fünfzig Jahren nicht mehr an der Macht!« rief er jetzt wütend. »Wieso besitzen Sie überhaupt die Frechheit, sich auf Ihre sogenannten Rechte zu berufen?« Lesbee grinste. »Und woher wissen Sie, wovon ich spreche?« »Das System der Erbfolge für den Posten des Captains wurde von dem ersten Lesbee eingerichtet«, stellte Browne erregt fest. »Es war keineswegs von Anfang an vorgesehen.« »Offenbar sind Sie aber damit recht zufrieden«, erwiderte Lesbee, »denn schließlich haben Sie es für Ihre Zwecke beibehalten.« Browne biß die Zähne zusammen und machte eine Pause, bevor er weitersprach. »Ich finde die Vorstellung einfach lächerlich, daß die Regierung auf der Erde, die beim Start des Schiffs an der Macht war – und deren Mitglieder längst das Zeitliche gesegnet haben –, den Captain ernennen sollte. Aber noch absurder ist die Idee, daß ein Nachfolger dieses Mannes plötzlich behauptet, diese Position stehe ihm und seiner Familie für alle Zeiten zu!« Lesbee schwieg, weil er über diesen plötzlichen Gefühlsausbruch des anderen fast erschrocken war. Trotzdem glaubte er jetzt, absolut im Recht zu sein
und machte deshalb den nächsten Vorschlag ohne die geringsten Gewissensbisse. »Captain, wir stehen vor einer Krise, die nur überwunden werden kann, wenn wir unsere private Auseinandersetzung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Warum lassen Sie mich nicht einfach die Gefangenen an Bord bringen, damit wir sie auf irgendeine Weise verhören können? Später unterhalten wir uns vielleicht einmal in aller Ruhe über meine Vorschläge.« An Brownes Gesichtsausdruck erkannte er, daß der andere sich über die Logik dieses Vorschlags – und seine Möglichkeiten – im klaren war. Browne sagte rasch: »Nur Sie kommen an Bord – mit einem Gefangenen. Sonst niemand!« Lesbee fuhr innerlich zusammen, als der Captain auf seinen Köder anbiß. ›Eigentlich ist das Ganze eine Schachpartie‹, überlegte er. ›Browne will mich ermorden, sobald er mit mir allein ist und den Anschlag ohne Gefahr für sich selbst ausführen kann. Aber diesem Plan verdanke ich die Gelegenheit, wieder an Bord zu gelangen. Und ich muß auf der Hope of Man sein, wenn ich meinen Plan durchführen will.‹ Browne runzelte nachdenklich die Stirn. Dann erkundigte er sich besorgt: »Mister Lesbee, können Sie sich einen Grund vorstellen, der uns davon abhalten müßte, einen der Gefangenen an Bord zu lassen?«
Lesbee schüttelte energisch den Kopf. »Ich sehe keinen Grund, Sir«, log er. Browne schien einen Entschluß gefaßt zu haben. »Ausgezeichnet, dann sehen wir uns also bald. Dabei können wir uns über weitere Details unterhalten.« Lesbee nickte zustimmend und unterbrach die Verbindung. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken daran, daß er Browne mit voller Absicht belogen hatte. ›Aber was bleibt uns denn anderes übrig?‹ überlegte er. Dann wandte er sich dem Teil des Bodens zu, in dem noch eine Platte fehlte. Er ließ sich auf die Knie nieder und untersuchte die Markierungen der verschiedenen Stromkreise, als wolle er sich vergewissern, daß sämtliche Verbindungen noch intakt waren. Nach kurzem Suchen hatte er den Programmierungsstromkreis gefunden, nach dem er suchte – ein kompliziertes System von parallelgeschalteten Bausteinen, das ursprünglich für die Programmierung einer Fernsteuerung vorgesehen gewesen war. Lesbee hatte die ursprüngliche Konstruktion jedoch heimlich so abgeändert, daß er ihre Funktionen unter bestimmten Bedingungen durch seine Gedankenströme steuern konnte. Jetzt wechselte er einige Bausteine untereinander aus und verriegelte sie in der neuen Stellung.
Nachdem er diese wichtige Vorarbeit geleistet hatte, nahm er das Fernsteuergerät für die Anlage unauffällig auf und steckte es in die Tasche. Dann kehrte er an das Hauptschaltpult zurück und verbrachte die nächsten Minuten damit, daß er die Verdrahtung mit dem Schaltplan verglich. Eine Anzahl von Drähten waren losgerissen worden und mußten wieder befestigt werden. Während er daran arbeitete, schloß er das Hauptrelais des ferngesteuerten Autopiloten kurz. Als nächstes rollte er einen Käfig aus dem Lagerraum und schob den noch immer an Händen und Füßen gefesselten Dzing hinein. Bevor er die Klappe schloß, brachte er im Innern des Käfigs ein feines Drahtnetz an, das unter Strom gesetzt werden konnte. Auf diese Weise wurde der Karn daran gehindert, sich telepathisch zu verständigen, weil die Gehirnströme das elektrische Feld nicht durchdringen konnten. Nachdem Lesbee diese Vorsichtsmaßnahme getroffen hatte, schob er den Fernbedienungsschalter in die andere Tasche. Jetzt konnte er die telepathische Verbindung nach Belieben unterbrechen. Dzing berichtete aus dem Käfig: »Ich finde die Tatsache bemerkenswert, daß diese Wesen ihre Aufmerksamkeit ganz auf mich konzentrieren. Das kann natürlich ein Zufall sein, aber ich glaube, daß sie eine
gute Beobachtungsgabe besitzen und herausbekommen haben, wer von uns den anderen Befehle erteilt. Jedenfalls wäre es unsinnig, jetzt etwa einen Rückzug anzutreten.« Ein Summton wurde hörbar. Lesbee beobachtete den Lichtpunkt, der auf einem der Bildschirme erschienen war. Der Punkt bewegte sich rasch auf das Fadenkreuz im Mittelpunkt des Schirms zu. Die Hope of Man, die durch diesen Lichtpunkt dargestellt wurde, und die Pinasse näherten sich einander.
15 Brownes Anweisung lautete: »Kommen Sie in den Ausweichkontrollraum.« Lesbee schob den Käfig auf einem mit Rädern ausgerüsteten Untersatz aus der Schleuse B des großen Schiffes – und sah, daß der Mann im Kontrollraum der Luftschleuse der Zweite Offizier war. Eigenartig, daß diesmal ein Offizier diese Routineaufgabe übernommen hatte. Selwyn winkte ihm mit einem verkrampften Lächeln zu, als Lesbee seine Fracht aus der Schleuse schob. Die langen Korridore waren menschenleer. Offenbar hatte die Besatzung den Befehl erhalten, diesen Teil des Schiffes vorläufig nicht zu betreten. Lesbee ging weiter, erreichte den Kontrollraum und verankerte den Käfig dort magnetisch am Fußboden. Browne erhob sich aus seinem Sitz vor dem Kontrollpult und kam auf Lesbee zu. Er lächelte gewinnend und streckte ihm die Hand entgegen. Browne war fast einen Kopf größer als Lesbee und wirkte massiv, ohne dick zu sein. Die beiden Männer waren allein. »Ich bin froh, daß Sie so offen gesprochen haben«, begann Browne. »Vermutlich wäre ich Ihnen gegenüber nicht so freimütig gewesen, wenn Sie nicht die Initiative ergriffen hätten.«
Aber als sie sich die Hand schüttelten, blieb Lesbee wachsam und mißtrauisch. Er dachte: »Browne will nur seine unüberlegte Reaktion vertuschen. Ich habe ihn wirklich schwer getroffen.« Browne sprach so herzlich wie zuvor weiter. »Mister Lesbee, ich habe unterdessen meinen Entschluß gefaßt. Eine Wahl kommt im Augenblick nicht in Frage. Innerhalb des Schiffes gibt es zu viele Unzufriedene, die einfach nur zur Erde zurückkehren wollen.« Lesbee, der den gleichen Wunsch hatte, schwieg diskreterweise. »Sie übernehmen den Posten des Bodencaptains«, erläuterte Browne, »während ich selbst Schiffscaptain bleibe. Sind Sie damit einverstanden, daß wir gemeinsam eine Erklärung über diese Vereinbarung ausarbeiten, die ich der Besatzung bekanntgeben kann?« Während Lesbee sich in den Sessel neben Browne niederließ, überlegte er: ›Was verspricht er sich davon, wenn er mich in aller Öffentlichkeit zum Bodencaptain ernennt?‹ Schließlich kam er zu der Auffassung, daß dieses Manöver nur dazu dienen sollte, sein Vertrauen zu gewinnen – er sollte beruhigt, in die Irre geführt und erst dann vernichtet werden. Lesbee sah sich unauffällig um. Der Ausweichkontrollraum bestand aus einer Kabine mit quadrati-
schem Grundriß, die unmittelbar über dem riesigen Hauptantrieb lag. Das Kontrollpult entsprach in jeder Beziehung dem auf der Brücke des Schiffs. Die Hope of Man konnte von beiden Positionen aus gesteuert werden, aber das Kontrollpult auf der Brücke besaß auf jeden Fall den Vorrang. Das war notwendig, damit der wachhabende Offizier die erforderlichen Maßnahmen treffen konnte, falls Gefahr drohte. Lesbee überlegte rasch und stellte fest, daß im Augenblick der Erste Offizier Wache auf der Brücke hatte. Miller gehörte zu den überzeugten Anhängern des Captains. Er beobachtete die Ereignisse in dem Ausweichkontrollraum vermutlich an seinem Bildschirm und würde Browne notfalls augenblicklich zu Hilfe kommen. Wenige Minuten später hörte Lesbee zu, während Captain Browne die vorbereitete Erklärung verlas, in der Lesbee zum Bodencaptain ernannt wurde. Er war überrascht und gleichzeitig erschüttert darüber, daß der Ältere solches Vertrauen zu seiner Stellung und seinem eigenen Einfluß an Bord des Schiffs hatte. Schließlich erforderte es ein gesundes Selbstvertrauen, seinen größten Rivalen in diese wichtige Position gelangen zu lassen. Brownes nächste Reaktion war ebenfalls überraschend. Als beide Männer noch auf den Bildschirmen sichtbar waren, legte Browne Lesbee freundschaftlich
den Arm um die Schultern und sagte zu den Zuschauern: »Wir alle erinnern uns in diesem Augenblick daran, daß John der einzige Nachkomme des ersten Captains ist. Niemand weiß heute noch genau, was vor fünfzig Jahren geschehen ist, als mein Großvater den Befehl an Bord der Hope of Man übernahm. Aber ich glaube, daß er davon überzeugt war, nur er und kein anderer sei dieser Aufgabe gewachsen. Ich bezweifle, daß er irgendeinem Menschen vertraute, dessen Tätigkeit er nicht selbst kontrollieren konnte. Aus diesem Grund war auch mein Vater durch dieses Gefühl der Überlegenheit eher behindert als gefördert.« Browne lächelte gewinnend. »Die damals getroffenen Entscheidungen sind nicht wieder rückgängig zu machen, aber wir können immerhin versuchen, die dabei zugefügten Wunden zu heilen.« Seine Stimme klang plötzlich wieder fest und entschlossen. »Selbstverständlich muß dabei berücksichtigt werden, daß nur ich die Ausbildung und die Erfahrung besitze, die für die Führung des Schiffs unerläßlich sind.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Captain Lesbee und ich werden jetzt den Versuch unternehmen, uns mit dem intelligenten Lebewesen zu verständigen, das unser Gefangener ist. Die Übertragungsanlage bleibt eingeschaltet; wir behalten uns jedoch das Recht vor, die Übertragung jederzeit zu un-
terbrechen, wenn es ratsam erscheint.« Er wandte sich an Lesbee. »Womit sollen wir Ihrer Meinung nach anfangen, John?« Lesbee befand sich in einem Dilemma. Er begann an seiner festen Überzeugung zu zweifeln und erwog die Möglichkeit, daß Browne vielleicht doch mit offenen Karten spielte. Diese Möglichkeit war um so bestürzender, als es nur noch wenige Minuten dauern konnte, bis ein Teil seines eigenen Plans offensichtlich wurde. Er seufzte und fand sich damit ab, daß er jetzt nicht mehr ausweichen konnte. Er dachte: ›Wir müssen alles aufdecken, bevor wir beide daran glauben können, daß unsere Vereinbarung Gültigkeit hat.‹ Laut sagte er mit fester Stimme: »Warum holen Sie den Gefangenen nicht zunächst aus dem Käfig, damit wir ihn besser sehen können?« Als Dzing von dem Kraftfeld aus dem Käfig gehoben und damit aus dem Wirkungsbereich der Abschirmung entfernt wurde, setzte er sich sofort wieder mit Alta III in Verbindung: »Ich bin in einem Käfig festgehalten worden, dessen Stäbe mit einer Abschirmung gegen Gedankenströme versehen waren. Jetzt beginne ich wie befohlen mit der Untersuchung und Beurteilung des technischen Zustands des Raumschiffs. Dabei ...« An diesem Punkt schoß Brownes Hand nach vorn
und schaltete die Übertragungsanlage ab. Nachdem er so unerwünschte Zuschauer ausgeschlossen hatte, wandte er sich anklagend an Lesbee. »Erklären Sie mir auf der Stelle, warum Sie mich nicht davon informiert haben, daß diese Lebewesen sich telepathisch verständigen.« Seine Stimme klang drohend. Die Augen blitzten vor Zorn. Der entscheidende Augenblick war gekommen. Lesbee zögerte und wies dann offen darauf hin, wie wenig Vertrauen sie bisher zueinander gehabt hatten. Er schloß freimütig: »Ich wollte das Geheimnis so lange wie möglich bewahren, weil ich dadurch ein wenig länger zu leben hoffte. Das entsprach jedenfalls nicht Ihren Absichten, als Sie mich in der Pinasse fortschickten.« »Aber wie wollten Sie ...«, begann Browne, schwieg dann jedoch. »Macht nichts«, murmelte er. Dzing berichtete weiter: »In vieler Beziehung ist das Schiff sehr fortschrittlich konstruiert. Alle automatischen Systeme funktionieren fehlerlos und offenbar ohne Wartung. Aber der Atomantrieb ist eigenartigerweise so ausgelegt, daß er mit einem verschwindend geringen Wirkungsgrad arbeitet. Die Resonanzfeldspulen, mit deren Hilfe die Teilchen beschleunigt werden, sind unzureichend abgeglichen, als seien die Grundlagen
nicht völlig bekannt. Statt bis fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt zu werden, erreichen die Teilchen nur äußerst geringe Geschwindigkeiten, bei denen ihre Masse sich kaum vergrößert. Die an Bord mitgeführten Treibstoffvorräte reichen kaum aus, um einen Bruchteil der Entfernung von einem Stern zum anderen im angetriebenen Flugzustand zurückzulegen. Ich gebe jetzt die aufgenommenen Meßwerte durch, damit unsere Elektronenrechner ...« Lesbee sprang auf. »Schnell, Captain, lassen Sie ihn in den Käfig zurückfallen, damit wir überlegen können, was das zu bedeuten hat!« Browne reagierte sofort – aber Dzing dachte noch: »Meine Analyse hat sich also als richtig erwiesen. Dann sind uns diese Wesen völlig hilflos ausgeliefert, und ...« Sein Gedanke wurde abrupt unterbrochen, als die Abschirmung des Käfigs wieder wirksam wurde. Browne schaltete die Übertragungsanlage wieder ein und sagte: »Die Unterbrechung war notwendig, weil wir nicht wußten, wie der Gefangene reagieren würde. In der Zwischenzeit haben wir festgestellt, daß wir seine Gedanken aufnehmen können, und haben die von ihm erstatteten Meldungen abgefangen. Das verschafft uns einen gewissen Vorteil.« Er wandte sich an Lesbee. »Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Captain?«
Obwohl Browne nicht darauf reagiert hatte, war Lesbee wegen Dzings letztem Gedanken besorgt. »... völlig hilflos ausgeliefert ...« Er war erstaunt, daß Browne die Bedeutung dieser Feststellung übersehen haben sollte. Browne wandte sich begeistert an Lesbee. »Diese telepathische Verständigungsweise ist wirklich bemerkenswert. Wir könnten viel dadurch gewinnen, wenn es gelänge, unsere Gedankenströme in ähnlicher Weise zu verstärken. Vielleicht besteht eine Möglichkeit dazu, wenn wir das Prinzip des ferngesteuerten Landevorgangs erweitern, das bekanntlich bereits Gedankenimpulse umsetzt und verstärkt.« Lesbee fand diesen Vorschlag durchaus interessant, denn schließlich hatte er ein Fernsteuergerät in der Tasche, das Gedankenströme umsetzte. Bisher konnte er damit nur die Pinasse steuern – aber vielleicht ergab sich jetzt eine Gelegenheit, auch die Hope of Man entsprechend zu beeinflussen? Lesbee hatte sich schon überlegt, wie dieses Ziel erreichbar war. Jetzt hatte Browne ihm den Weg dazu gezeigt. Er runzelte nachdenklich die Stirn, während er antwortete. »Captain, wenn Sie sich um die geplante Filmvorführung kümmern, übernehme ich die Programmierung des Kursrechners und des Autopiloten. Auf diese Weise sind wir für alle Notfälle gerüstet.« Browne schien ihm völlig zu vertrauen, denn er
stimmte sofort zu und ließ einen Filmprojektor hereinbringen. Der Filmvorführer und Mindel, der Dritte Offizier, der mit ihm gekommen war, nahmen ihre Plätze hinter dem Vorführgerät ein. In der Zwischenzeit setzte Lesbee sich telefonisch mit einigen leitenden Technikern in Verbindung. Nur einer der Männer versuchte zu protestieren. »Aber, John«, gab er zu bedenken, »auf diese Weise richten wir eine Doppelsteuerung ein – und die Pinasse ist dann in der Lage, die Steuerung des Schiffes zu beeinflussen. Es widerspricht jedem technischen Prinzip, eine große, zuverlässige Maschine einer kleineren unterzuordnen, die anfälliger für Störungen ist. Das ist ungewöhnlich und ...« Selbstverständlich war der Vorschlag ungewöhnlich. Aber Lesbee kämpfte um sein Leben. Und die Fernsteuerung in seiner Tasche kontrollierte die Pinasse, so daß ihm keine andere Wahl blieb. »Wollen Sie erst mit Captain Browne darüber sprechen?« erkundigte er sich deshalb. »Bestehen Sie darauf, daß er persönlich zustimmt?« »Nein, nein«, wehrte der Techniker ab, dessen Zweifel geringer geworden zu sein schienen. »Ich habe schließlich selbst gehört, daß Sie jetzt ebenfalls Captain sind, John. Keine Sorge, wir führen Ihre Anweisungen prompt aus.« Lesbee legte den Handapparat auf die Gabel und
drehte sich um. Der Film war eingelegt, und Browne hatte den Zeigefinger auf dem Knopf, mit dem das Kraftfeld aktiviert wurde. Der Ältere sah Lesbee fragend an. »Können wir anfangen?« erkundigte er sich. In diesem entscheidenden Augenblick hatte Lesbee Gewissensbisse. Gleichzeitig war er sich darüber im klaren, daß er Browne nur dadurch von seinem Vorhaben abhalten konnte, daß er sein geheimes Wissen preisgab. Er zögerte unentschlossen und bat dann: »Schalten Sie das bitte ab.« Dabei wies er auf die Übertragungsanlage. Browne wandte sich an die Zuschauer. »Die Unterbrechung dauert bestimmt nicht lange.« Er schaltete die Anlage aus und warf Lesbee einen forschenden Blick zu. Lesbee sprach mit leiser Stimme. »Captain, ich muß Ihnen mitteilen, daß ich den Karn nur deshalb an Bord gebracht habe, weil ich ihn nach Möglichkeit gegen Sie einsetzen wollte.« »Na, das nenne ich ein freimütiges Geständnis«, sagte Browne ebenso leise. »Ich habe diese Tatsache nur erwähnt«, fuhr Lesbee fort, »weil ich eine Aussprache mit Ihnen herbeiführen möchte. Falls Sie ähnliche Absichten gehegt haben, müssen wir zunächst das Kriegsbeil begraben,
bevor wir den Versuch unternehmen, uns mit dem Gefangenen zu verständigen.« Browne lief langsam rot an. »Ich weiß nicht, wie ich Sie davon überzeugen soll«, antwortete er schließlich, »aber ich hatte keinen bestimmten Plan.« Lesbee starrte den Captain an und erkannte plötzlich, daß der andere die Wahrheit gesagt hatte. Also hatte Browne den Vergleichsvorschlag tatsächlich ohne Vorbehalte akzeptiert und war mit der jetzigen Lösung einverstanden. Trotzdem schwankte Lesbee noch zwischen Freude und Zweifeln, weil er nicht wußte, ob er Browne wirklich trauen konnte. Andererseits schien die Verständigung und der Ausgleich der Gegensätze wirklich geglückt. Man konnte also doch mit dem Captain sprechen und dabei eigene Vorschläge machen – sofern sie vernünftig waren. Lesbee hatte den Eindruck, daß Browne einverstanden war. Schließlich hatte er dem Captain ein Friedensangebot unterbreitet. Selbstverständlich hatte alles seinen Preis, aber immerhin wurde dadurch eine Fehde beendet. Und Browne hatte offenbar eingesehen, daß er in dieser Notlage in einen Kompromiß einwilligen mußte. Lesbee vertraute ihm jetzt. Deshalb informierte er Browne ohne weiteres Zö-
gern von der Tatsache, daß die Wesen, die an Bord der Pinasse gegangen waren, in Wirklichkeit Roboter waren. Browne nickte nachdenklich. »Aber ich sehe nicht recht ein, in welcher Beziehung Sie von ihnen Hilfe erhofft haben«, sagte er dann. Lesbee erklärte ihm, daß die Roboter mit einem Mechanismus zur Selbstzerstörung ausgestattet waren, wobei die Möglichkeit bestand, die Explosion in eine bestimmte Richtung zu lenken. »Deshalb habe ich ihn auch in dem Käfig hereingebracht«, führte Lesbee aus. »Auf diese Weise hätte ich ihn in Ihre Richtung drehen können. Natürlich wollte ich zunächst abwarten, wie Sie reagieren würden. Außerdem habe ich dafür gesorgt, daß wir die Gedanken des Roboters aufnehmen konnten, ohne ihn dabei ...« Während er sprach, griff er in seine Tasche, weil er dem Captain die Fernbedienung zeigen wollte, mit der sich das elektromagnetische Störfeld ausschalten ließ. Dann schwieg er plötzlich und ließ gleichzeitig die Hand sinken, weil er beobachtet hatte, wie sich Brownes Gesichtsausdruck veränderte. Der Captain warf dem Dritten Offizier einen fragenden Blick zu. »Finden Sie nicht auch, daß er genügend zugegeben hat, Dan?« meinte er dabei.
Lesbee stellte erschrocken fest, daß Mindel einen winzigen Verstärker im rechten Ohr trug. Der Offizier mußte jedes Wort mitgehört haben, das zwischen Lesbee und Browne gefallen war. Mindel nickte zustimmend. »Richtig, Captain«, meinte er. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß er uns alles erzählt hat, was wir wissen wollten.« Lesbee sah sprachlos zu, wie der Captain aufstand, sich vor ihm aufbaute und mit steifer Förmlichkeit sagte: »Techniker Lesbee, Sie haben vor Zeugen folgende Verbrechen bekannt: grobe Pflichtverletzung, Anstiftung zur Meuterei, Attentatsversuch auf den rechtmäßigen Captain dieses Schiffs und weitere Vergehen, die damit im Zusammenhang stehen. Angesichts der dadurch heraufbeschworenen Krise ist die sofortige Hinrichtung ohne förmliches Verfahren statthaft. Ich verurteile Sie deshalb zum Tode und befehle dem Dritten Offizier, das Urteil unverzüglich zu ...« An dieser Stelle brach seine Stimme plötzlich ab.
16 Zwei Dinge hatten sich in der Zwischenzeit unmittelbar hintereinander ereignet. Lesbee betätigte den winzigen Schalter in seiner Tasche, durch den das elektromagnetische Feld des Käfigs ausgeschaltet wurde. Das war völlig automatisch und ohne besondere Absicht geschehen, denn Lesbee hatte keinen Grund zu der Annahme, daß sich daraus ein Vorteil für ihn ergeben könnte. Seine einzige Hoffnung beruhte vielmehr auf der Fernsteuerung des Raumschiffs in seiner anderen Tasche, deren Funktionsweise er Browne in seiner unglaublichen Vertrauensseligkeit erklärt hatte. Dann setzte Dzing seine telepathische Verständigung wieder fort: »Endlich frei – aber diesmal selbstverständlich für immer! Ich habe soeben die Antriebsrelais geschlossen, so daß die Triebwerke in wenigen Augenblicken zu arbeiten beginnen. Außerdem habe ich einige Veränderungen eingeleitet, durch die eine wesentlich vergrößerte Beschleunigung möglich wird ...« An dieser Stelle brach Browne ab. Dzing fuhr fort: »Nachdem ich den Regelmechanismus beeinflußt habe, ist das Raumschiff jetzt in der Lage, fast die Lichtgeschwindigkeit zu erreichen.
Die künstliche Schwerkraft wird dabei so verändert, daß die Beschleunigung sich deutlich bemerkbar macht. Die Menschen sind für diesen Fall keineswegs vorbereitet, so daß der Erfolg gesichert erscheint.« Lesbee schaltete die Übertragungsanlage ein und brüllte in das Mikrophon: »Achtung! In wenigen Sekunden erfolgt Höchstbeschleunigung! Alle Mann nehmen sofort ihre Plätze ein!« Dann wandte er sich an Browne. »Setzen Sie sich wieder – schnell!« Lesbee hatte auf die Gefahr völlig instinktiv reagiert, ohne zu überlegen, daß er an Brownes Überleben eigentlich kein Interesse hatte. Schließlich war der Captain nur deshalb in Gefahr, weil er aufgestanden war, damit Mindel Lesbee erschießen konnte, ohne dabei gleichzeitig seinen Vorgesetzten zu gefährden. Browne reagierte zu langsam. Als die Beschleunigung einsetzte, war er noch einen Meter von seinem Sitz entfernt und wurde hilflos an die gegenüberliegende Wand geschleudert. Nur die Tatsache, daß alle Wände des Kontrollraums dick gepolstert waren, rettete ihm das Leben. Obwohl der Captain nur noch mühsam atmen konnte, stieß er einen erstickten Hilferuf aus. »Lesbee, schalten Sie das Kraftfeld ein, damit ich nicht zerdrückt werde. Retten Sie mich! Ich mache alles wieder gut!«
Lesbee war eine Sekunde lang verblüfft. Natürlich war er ebenfalls hilflos, weil der Andruck ihn gegen die Rückenlehne des Sitzes preßte. Aber er staunte darüber, daß Browne trotz allem auf Mitleid von seiner Seite zu hoffen wagte. Dann beobachtete er, daß Dzing die Klappe des Käfigs aufhob und den Kopf herausstreckte ... Der Roboter stand weiterhin mit Alta III in telepathischer Verbindung. »Das war tatsächlich mehr als einfach«, berichtete der Karn. »Die Differenz zwischen der Beschleunigung und der künstlichen Schwerkraft an Bord des Raumschiffs beträgt vier g, wenn man die Maßeinheit der Menschen zugrunde legt. Auf diese Weise sind sie hilflos gefangen, tragen aber keine dauernden Schäden davon. Wie lange dauert es voraussichtlich noch, bis das Prisenkommando an Bord kommt?« Dann folgte eine Pause, in der Dzing eine Antwort auf seine Frage erhalten haben mußte, denn er dachte weiter: »In der Zwischenzeit kann ich den Hauptantrieb selbst untersuchen. Irgendwo ist noch eine Störung zu beseitigen, die aber so unbedeutend ist, daß ich die Geräte selbst überprüfen muß, um den Fehler zu analysieren.« Während der Roboter seinen Bericht erstattete, kletterte er ohne die geringste Anstrengung aus dem Käfig, ging zur Tür des Ausweichkontrollraums und
verschwand im Korridor. Lesbee nahm seine Gedanken noch einige Sekunden lang auf, aber dann wurden sie rasch schwächer und verstummten schließlich ganz. Browne hatte Dzings Verschwinden ebenfalls beobachtet. Jetzt starrte er Lesbee wütend an und versuchte zu sprechen, obwohl die anhaltende Beschleunigung sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrte. Lesbee verstand nur einige Satzfetzen. »... Ihre Verrücktheit ... werden alle gefangen ... alle vernichtet ...« Lesbee dachte: ›Der Teufel soll mich holen! Der Kerl macht mich tatsächlich für diese Katastrophe verantwortlich.‹ Er hatte einen Augenblick lang sogar Gewissensbisse, die aber rasch wieder verschwanden. Schließlich war die Schuldfrage in diesem Fall durchaus nicht eindeutig zu beantworten. Mit welchem Recht hatte Browne ihn überhaupt zuerst zum Leiter einer so gefährlichen Expedition ernannt, deren Mitglieder sich in höchste Lebensgefahr begeben mußten? Lesbee verschob die Beantwortung dieser Frage auf einen späteren Zeitpunkt und beschäftigte sich statt dessen mit einem dringenderen Problem. Obwohl ihm das Sprechen ebenfalls schwerfiel, wandte er sich an Browne und stieß hervor: »Wieviel Treibstoff ... noch vorrätig?«
Aus Brownes Gesichtsausdruck, der immer mehr einer schrecklichen Grimasse glich, war nicht zu erkennen, wie der Mann auf diese Frage reagierte. »Für viele ... Stunden!« antwortete der Captain dann mit geradezu übermenschlicher Anstrengung. Lesbee war zutiefst enttäuscht, denn er hatte die Frage nur gestellt, weil er sich daran erinnerte, daß ständig die Rede von einer bedrohlichen Treibstoffknappheit gewesen war. An Bord der Hope of Man waren Gerüchte im Umlauf gewesen, daß der Antrieb während der Verzögerungsperiode nur noch für eine Stunde Treibstoff besessen habe. Tatsächlich hatte Lesbee mehrere Male selbst den Auftrag erhalten, mit dem Schneidbrenner überflüssige Trennwände zu zerkleinern. Die auf diese Weise gewonnenen Metallplatten hatte er sofort in den Maschinenraum gebracht und dort dem Chefingenieur übergeben. Wie alle anderen Besatzungsmitglieder glaubte Lesbee, daß der Schiffsantrieb unersättlich war, und daß das Material sofort verbraucht werden sollte. Wie war aber der gegenwärtige Treibstoffvorrat zu erklären, wenn diese Vermutung zutraf? Lesbee erkannte, daß der Captain die Besatzung absichtlich mit falschen Informationen versorgt haben mußte. Selbstverständlich war der Treibstoff wirklich knapp. Aber Browne hatte so übertrieben und die Gefahr so drastisch ausgemalt, daß niemand mehr zu
widersprechen wagte, als er Lesbee und die anderen in der Pinasse fortschickte. Aber jetzt hatte Lesbee keine andere Wahl – er mußte Browne glauben. Die Triebwerke würden keineswegs vorzeitig ausfallen, weil nicht genügend Treibstoff vorhanden war ... Seine Hoffnung, daß sie auf diese Weise der Gefangennahme entgehen könnten, erwies sich als unbegründet. Folglich mußten sie sich auf andere Weise von dem ungeheuren Andruck befreien, um so ihrer Gefangennahme zu entgehen. Die einzige Methode, die Lesbee sich im Augenblick vorstellen konnte, war äußerst gefährlich. Andererseits mußte er jetzt so rasch wie möglich handeln, denn Minuten später gab es vielleicht überhaupt keinen Ausweg mehr ... Lesbee spannte die Armmuskeln, zwang sich förmlich zu der Bewegung und erreichte schließlich mit den Fingern der rechten Hand die Tasche. Dann griff er hinein, obwohl er dabei das Gefühl hatte, er müsse die Finger gewaltsam zwischen zwei schwere Steinbrocken zwängen. Aber Sekunden später befand sich seine Hand – die sich jetzt merkwürdig gefühllos anfühlte – im Innern der Tasche. Er sammelte seine Kräfte und konzentrierte sich darauf, die Finger zu öffnen und nach der Fernsteuerung zu greifen, die sich in der Tasche befand. Aber er drückte den ersten Knopf nicht sofort. ›Warte‹,
dachte er. ›Der Karn muß weit genug entfernt sein, bevor ich den Plan ausführe.‹ Lesbee blieb unbeweglich sitzen, atmete schwer und bemerkte, daß ihn diese eine Anstrengung bereits völlig erschöpft hatte. Diese Feststellung erschreckte ihn. Konnte es wirklich sein, daß ein Andruck von vier g seinem Körper so zusetzte, obwohl er saß? Aber wenn er Dzing sofort zerstörte, war er wieder mit Browne und dessen Schergen allein. In diesem Fall hatte er den sicheren Tod vor Augen, denn der Captain hatte das Todesurteil noch nicht rückgängig gemacht. Und wenn er nur die Beschleunigung herabsetzte, würde der Roboter sofort zurückkommen, um festzustellen, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. Beide Möglichkeiten führten zu unerwünschten Ergebnissen, aber trotzdem mußte Lesbee sich so rasch wie möglich entscheiden. Lesbee überlegte sich, daß es besser war, später zu handeln und dafür die Aussicht zu haben, weitere wichtige Informationen zu gewinnen. Zum Beispiel mußte er unbedingt herausbekommen, auf welche Weise Dzing den Schiffsantrieb verändert und so wesentlich verbessert hatte. Solange diese Frage nicht klar beantwortet war bestand die Gefahr, daß die Be-
satzung und das Schiff Schäden davontragen konnten, wenn er, Lesbee, unüberlegt handelte. Deshalb begann er jetzt mit einer genauen Untersuchung des großen Kontrollpults, das sich vor seinem Sitz erstreckte. Die Minuten vergingen endlos langsam; Lesbee starrte die Instrumente und Schalter weiter an. Die unerklärliche Müdigkeit, die ihn plötzlich befallen hatte, wurde zu seinem größten Problem. Von Zeit zu Zeit döste er sekundenlang vor sich hin, wachte dann erschrocken wieder auf und stellte fest, daß kostbare Augenblicke verloren waren. Aber dann begann er alles zu verstehen. Die Beschleunigung wirkte mit zwölf g auf das Raumschiff und die Besatzung ein; die künstliche Schwerkraft an Bord betrug im Augenblick acht g. Der Unterschied zwischen beiden Werten – vier g – stellte den Andruck dar, unter dem er zu leiden hatte. Lesbee war ehrlich verblüfft, als er über diese neuartige Methode nachdachte. Immerhin bedeutete sie, daß der Hauptantrieb und die Schwerkraftspulen von außen durch eine rein gedankliche Anstrengung des Roboters erheblich beeinflußt worden waren. Bisher war es nie möglich gewesen, die künstliche Schwerkraft während der Beschleunigungsperioden des Raumschiffs aufrechtzuerhalten. Dazu war einfach nicht genügend Energie vorhanden. Aber Dzing hatte das Problem einfach dadurch aus der Welt ge-
schafft, daß er die vorhandene Energiequelle wesentlich verbesserte; die erhöhte Beschleunigung und Ausdehnung der ausgestoßenen Partikel vervielfachte die nutzbare Energie; theoretisch mußte sie jetzt das Hunderttausendfache der früher gemessenen Werte betragen. Praktisch gesehen war sie allerdings bei niedrigen Geschwindigkeiten höchstens hundertmal größer als zuvor. Aber jedenfalls stand jetzt genügend Energie für alle Zwecke zur Verfügung. Lesbee wurde allmählich klar, was diese Tatsache wirklich bedeutete – die Hope of Man kroch seit über hundert Jahren schneckengleich durch den Raum, obwohl ihr Antrieb wesentlich höhere Geschwindigkeiten hätte erzeugen können. ›Und Doktor Tellier hat diese Möglichkeit nicht ausgenützt!‹ dachte Lesbee. Nicht ausgenützt! Und deshalb hatten Generationen von Menschen vergebens gelebt, während das Raumschiff langsam den nächsten Stern ansteuerte. Lesbee überlegte: ›Sowie ich den ersten Knopf der Fernsteuerung drücke, verliert Dzing die Kontrolle über den Schiffsantrieb und die künstliche Schwerkraft.‹ Unglücklicherweise würde der Roboter aber sofort in den Ausweichkontrollraum zurückkehren, um nach der Ursache dieser plötzlichen Veränderung zu forschen.
Lesbee erkannte, daß er in dieser Beziehung kein Risiko eingehen durfte. Er mußte zuerst auf den dritten Knopf drücken, damit der eingebaute Zerstörungsmechanismus des Karn ausgelöst wurde. Aber trotzdem zögerte er weiterhin, denn der Roboter bedeutete paradoxerweise einen wertvollen Schutz für ihn. Sowie der Karn zerstört war, hielt Browne wieder die unbeschränkte Macht an Bord des Schiffs in seinen Händen. Lesbee dachte: ›Wenn ich ein paar Minuten Zeit gewinnen kann, während ich mich hier mit Browne beschäftige ...‹ Er dachte einige Augenblicke länger über diese Möglichkeit nach. Dann erkannte er, wie gefährlich jedes weitere Zögern war, und drückte nacheinander auf den ersten und dritten Knopf des Geräts in seiner Tasche. Der Andruck ließ schlagartig nach; die künstliche Schwerkraft ebenfalls. Lesbee blieb angeschnallt sitzen und horchte aufmerksam. Falls sich irgendwo im Innern des Schiffes eine Explosion ereignet hatte, mußte die Stelle ziemlich weit entfernt sein, denn der Knall war hier nicht mehr zu hören. Er dachte erschrocken: »Mein Gott, kann es sein, daß der Zerstörungsmechanismus versagt hat?« Aber zu solchen Überlegungen blieb ihm keine Zeit
mehr, denn jetzt hatte er sich mit einem dringenderen Problem zu befassen. Browne richtete sich mühsam auf und blieb schwankend stehen. »Ich muß ... wieder in ... meinen Sitz«, murmelte er dabei. Der Captain hatte erst wenige unsichere Schritte gemacht, als ihm plötzlich auffiel, was geschehen war. Er hob den Kopf und starrte Lesbee fragend an. »Oh!« brachte er dann nur heraus, aber in diesem einen Wort lag ebenso viel wie in einem vollständigen Satz. Browne hatte begriffen, was vorgefallen war. Jetzt konnte Lesbee sich nicht mehr mit Dzing beschäftigen. Während er ein Kraftfeld aktivierte, in dem der Captain unbeweglich festgehalten wurde, sagte Lesbee: »Ganz richtig, Sie haben einen Feind vor sich. Darüber müssen wir uns beide im klaren sein, weil uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Jetzt möchte ich Ihnen einige Fragen stellen.« Browne war blaß geworden. »Ich habe nur getan, was angesichts dieser Krise erforderlich war«, behauptete er. »Jeder andere Captain hätte an meiner Stelle ebenso gehandelt.« Seine Erklärung klang reichlich unsinnig, wenn man sich gleichzeitig die geschichtliche Entwicklung an Bord der Hope of Man vor Augen hielt. Aber Lesbee machte sich gar nicht erst die Mühe, darüber mit dem Captain zu diskutieren. Im Augenblick war er
viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen, der daraus bestand, daß er gleichzeitig gegen Browne und Dzing auf der Hut sein mußte. Deshalb trat er jetzt hinter den bewegungslos vor ihm stehenden Browne und nahm ihm den Strahler ab. Lesbee fühlte sich erleichtert, als er die Waffe in der Hand hielt. Aber damit war die Gefahr noch nicht beseitigt. Er wandte den Kopf und sprach in das Mikrophon unter dem Bildschirm, der die direkte Verbindung zur Brücke darstellte. »Mister Miller, hören Sie mich?« Keine Antwort. Lesbee sagte zu Browne: »Sorgen Sie dafür, daß Miller keinen Unsinn macht. Wenn er die Steuerung des Schiffes an sich zu reißen versucht, benütze ich den Strahler. Verstanden, Miller?« Wieder keine Antwort. »Vielleicht ist er noch bewußtlos«, warf Browne unsicher ein. Lesbee hoffte verzweifelt, daß diese Vermutung zutraf, hatte aber nicht genügend Zeit, um sich davon zu überzeugen. In den nächsten Minuten brauchte er Ruhe, um den Captain ausfragen zu können.
17 In diesem Augenblick mußte Lesbee die Wahrheit sagen und sie doch gleichzeitig wenigstens teilweise verschweigen. Er hätte viel darum gegeben, wenn er eine einzige Frage über die Schiffslautsprecher hätte stellen können, um zu erfahren, ob sich irgendwo im Innern des Raumschiffs eine Explosion ereignet hatte. Aber wenn das der Fall gewesen war – wenn Dzing zerstört war –, wußten Brownes Anhänger, daß sie es nur noch mit einem einzelnen Menschen zu tun hatten. Dann würden sie ohne Zweifel prompt handeln. Deshalb durfte Lesbee diese eine Frage auf keinen Fall zu früh stellen. Aber trotzdem bestand die Möglichkeit, daß Browne ihm tatsächlich behilflich war, solange er sich selbst noch bedroht fühlte. »Ich möchte nur wissen, wie dieser Roboter es fertiggebracht hat, den Raum zu verlassen, ohne von dem Andruck beeinflußt zu werden«, sagte Lesbee drängend. »Eigentlich ist das völlig unmöglich, aber irgendwie hat er es doch geschafft.« Er schloß mit einer Lüge: »Ich möchte nicht gern etwas gegen ihn unternehmen, solange diese Frage noch ungeklärt ist.« Er sah den Captain fragend an. Browne schien an-
gestrengt nachzudenken. Schließlich nickte er. »Schön, ich weiß, was geschehen sein muß.« »Sagen Sie es mir!« Browne wechselte das Thema. »Was haben Sie mit mir vor?« erkundigte er sich. Lesbee starrte ihn verwundert an. »Wollen Sie meine Frage wirklich nicht beantworten?« Der Captain schüttelte den Kopf. »Was bleibt mir denn anderes übrig? Solange ich nicht weiß, was aus mir werden soll, habe ich nichts zu verlieren.« »Was soll der Unsinn?« warf Lesbee mit einem ironischen Lächeln ein. »Haben Sie etwa vor, den Roboter gegen Menschen einzusetzen? Ist Ihnen die eigene Sicherheit wichtiger als die des Schiffes? Finden Sie nicht auch, daß in diesem Fall eine sofortige Hinrichtung angezeigt ist?« Browne schien erschrocken zu sein, denn er sagte rasch: »Hören Sie, Ihre Verschwörung ist doch jetzt wirklich überflüssig geworden. Sie wollen zur Erde zurück, nicht wahr? Dann müssen Sie aber auch begreifen, daß wir dieses Ziel mit dem veränderten Antrieb innerhalb weniger Monate erreichen können.« Er machte eine Pause und lächelte unsicher. »Halten Sie mich eigentlich für dumm oder vertrottelt?« fragte Lesbee wütend. »Wir sind mindestens ein Dutzend Lichtjahre von der Erde entfernt. Folglich dauert der Flug nicht Monate, sondern Jahre!«
Browne zögerte. »Schön, dann eben ein paar Jahre. Aber wenigstens nicht ein ganzes Leben lang. Wenn Sie mir also ihr Wort geben, nicht mehr gegen mich zu rebellieren, verspreche ich ...« »Sie wollen etwas versprechen!« Lesbee konnte vor Zorn kaum sprechen. Einen Augenblick lang wäre er fast auf Brownes Angebot eingegangen, aber jetzt beherrschte er die Lage wieder. Schließlich durfte er kein unnötiges Risiko eingehen, wenn sein Leben dabei auf dem Spiel stand. »Mister Browne, Sie haben noch genau zwanzig Sekunden Zeit, um sich zu überlegen, ob Sie meine Frage nicht doch lieber beantworden wollen«, sagte Lesbee deshalb. »Ich hoffe, daß Sie sich über den Ernst der Lage im klaren sind.« »Wollen Sie mich also auf jeden Fall umbringen?« fragte Browne. »Ich möchte nur wissen, was ich zu erwarten habe.« Seine Stimme klang plötzlich bittend. »Hören Sie, Lesbee, wir brauchen uns doch nicht mehr bis aufs Messer zu bekämpfen. Wir können schließlich wieder nach Hause zurück. Sehen Sie das nicht ein? Die lange Leidenszeit ist fast zu Ende. Niemand muß jetzt noch sterben. Aber nur dann nicht, wenn Sie den Roboter so rasch wie möglich zerstören!« Lesbee zögerte, weil er genau wußte, daß der andere zumindest teilweise die Wahrheit gesagt hatte. Na-
türlich waren zwölf Jahre nicht zwölf Monate oder gar zwölf Wochen, aber immerhin war dieser Zeitraum wesentlich kürzer als der jahrhundertelange Flug, den jedermann bisher als die einzige Möglichkeit angesehen hatte. ›Will ich ihn wirklich umbringen?‹ überlegte Lesbee angestrengt. Unter diesen Umständen vermutlich nicht. Aber welche andere Möglichkeit blieb sonst? Lesbee zögerte unentschlossen, während wertvolle Sekunden verstrichen. »Gut, ich verspreche Ihnen etwas«, sagte er dann. »Wenn Sie eine Möglichkeit finden, die es mir gestattet, an Bord des Schiffes unter Ihrem Befehl meines Lebens sicher zu sein, überlege ich mir Ihren Plan nochmals. Aber jetzt möchte ich meine Frage beantwortet haben.« Browne nickte zufrieden. »Ich vertraue darauf, daß Sie Ihr Versprechen halten werden.« Dann begann er mit seiner Erklärung. »Für das von uns beobachtete Phänomen gibt es zwei verschiedene Erklärungen, von denen ich die einfachere bevorzuge. Ich vermute, daß der Roboter seine Bewegungen durch rasch wechselnde Energieflüsse in verschiedener Richtung steuert, wie wir es ebenfalls tun, wenn wir unsere Muskeln bei verschiedenen Tätigkeiten beanspruchen.«
»Und wie lautet die zweite Erklärung?« wollte Lesbee wissen. »Sie ist etwas ausgefallener und beruht hauptsächlich auf der Beobachtung, daß der Roboter sich trotz des bestehenden Andrucks völlig ungehindert bewegte. Falls das zutrifft, haben wir tatsächlich ein Phänomen gesehen. Um es erklären zu können, muß man vor allem die Lorentz-Fitzgeraldsche Kontraktionstheorie heranziehen. Nach Erreichen der Lichtgeschwindigkeit wird die Masse unendlich, aber die Größe verschwindend gering. Auf diese Weise ist die Masse den Gesetzen der Schwerkraft nicht mehr unterworfen. Dieser Zustand ist unter anderen Umständen auf natürliche Weise nicht erreichbar. Aber Dzing hat ihn künstlich hervorgerufen – wenn meine zweite Erklärung zutrifft.« Lesbee schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich bin eher von der ersten überzeugt. Können wir irgendwie feststellen, welche Methode der Roboter angewandt hat?« Browne überlegte angestrengt, mußte aber verneinen. »Falls er durch wechselnde Energieflüsse gesteuert wird, müssen sie meßbar sein, wenn er wieder hereinkommt.« Lesbee war sich darüber im klaren, daß es dann für Experimente zu spät war. »Können wir noch etwas von ihm lernen?« erkundigte er sich etwas hilflos.
»Das haben wir bereits«, antwortete Browne. »Der Roboter beweist, daß seine Erbauer uns wissenschaftlich und technisch weit überlegen sind. Deshalb haben wir innerhalb dieses Sonnensystems nichts mehr zu suchen. Wir müssen so rasch wie möglich wieder verschwinden.« Lesbee erinnerte sich daran, daß die Karns an Bord der Pinasse den Eindruck zu erwecken versucht hatten, der plötzliche Andruck mache ihnen schwer zu schaffen, obwohl das nicht zutraf. »Vielleicht ist Ihre zweite Erklärung doch besser«, meinte er deshalb zweifelnd. Browne schüttelte den Kopf. »Nein, das ist unmöglich, denn sonst wäre der Roboter innerhalb weniger Sekunden hier erschienen. Bei der Lichtgeschwindigkeit haben wir es mit einer Zeitverkürzung zu tun.« »Was soll das heißen?« Browne schien zu bereuen, daß er diese Tatsache erwähnt hatte. »Damit verschwenden wir nur wertvolle Zeit«, sagte er ausweichend. »Ich will sofort wissen, was Sie damit gemeint haben!« »Unter Zeitverkürzung versteht man die Tatsache, daß die Zeit für den Roboter unter diesen Umständen wesentlich rascher zu vergehen scheint. Was für uns zehn Minuten sind, wäre für ihn vielleicht nur eine Sekunde.«
»Folglich hätte er also bereits erscheinen müssen, wenn er dazu fähig wäre?« »Genau das habe ich Ihnen zu erklären versucht.« Lesbee mußte sich mühsam beherrschen, um sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Er überlegte, daß er jedenfalls verhindert hatte, daß der Roboter so blitzschnell zurückkehrte. ›Dabei habe ich es nicht einmal getan, weil ich logisch überlegt hatte‹, dachte er, ›sondern nur deshalb, weil ich kein überflüssiges Risiko eingehen wollte.‹ Er war sehr mit sich selbst zufrieden. »Um Gottes willen, Lesbee ...« Die Stimme des Captains schreckte Lesbee aus seinen Gedanken auf. Er zuckte förmlich zusammen, als ihm einfiel, daß Browne noch immer so gefährlich wie zuvor war. »Um Gottes willen, Lesbee«, sagte Browne flehend, »der Roboter muß jeden Augenblick zurückkommen! Sagen Sie mir endlich, was Sie von mir erwarten, damit ich es tun kann!« »Ich verlange eine geheime und allgemeine Wahl«, stellte Lesbee fest. »Einverstanden«, stimmte Browne sofort zu. »Am besten übernehmen Sie gleich selbst die Organisation und die Aufsicht.« Er machte eine Pause. »Jetzt lassen Sie mich wieder frei, damit wir gemeinsam der Gefahr entgegentreten können.«
Lesbee starrte den Captain prüfend an und stellte fest, daß sein Gesicht den gleichen ehrlichen und offenen Ausdruck trug, den er bereits in den Minuten vor dem Todesurteil beobachtet hatte. Was konnte der Mann vorhaben? Nachdem Lesbee über die zahlreichen Möglichkeiten nachgedacht hatte, überlegte er schließlich: ›Browne hat den Vorteil des größeren Wissens – das ist seine stärkste Waffe. Meine einzige Hoffnung besteht eigentlich nur aus der Tatsache, daß ich die technischen Einzelheiten besser beherrsche.‹ Aber ... was konnte Browne ihm tun? »Bevor ich Sie freilasse, transportiere ich Sie zu Mindel hinüber«, teilte er dem Captain mit. »Ich möchte, daß Sie mir seinen Strahler geben.« »Wird gemacht«, antwortete Browne bereitwillig. Eine Minute später gab er Lesbee Mindels Strahler. Diese Möglichkeit schied also aus. Lesbee dachte: ›Miller ist noch immer auf der Brükke – kann es sein, daß Miller sich mit ihm in Verbindung gesetzt hat, während ich mit dem Rücken zum Bildschirm gestanden habe?‹ Vielleicht war Miller von dem plötzlichen Andruck ebenfalls überrascht worden. Lesbee mußte jetzt vor allem feststellen, in welcher Verfassung sich der Erste Offizier befand. Er schaltete die Gegensprechanlage ein. Das Ge-
sicht des Ersten Offiziers erschien auf dem Bildschirm. »Mister Miller, wie haben Sie die unerwartete Beschleunigung überstanden?« erkundigte Lesbee sich höflich. »Die Sache kam etwas überraschend, Captain. Mich hat es ziemlich erwischt – ich war sogar einige Zeit bewußtlos. Aber jetzt ist wieder alles in bester Ordnung.« »Ausgezeichnet«, meinte Lesbee. »Sie haben wahrscheinlich gehört, daß Captain Browne und ich uns geeinigt haben. Wir werden jetzt gemeinsam den Roboter zerstören, der sich im Innern des Schiffs herumtreibt. Sie werden wieder benachrichtigt.« Dann unterbrach er mit einem leichten Lächeln die Verbindung. Miller wartete also tatsächlich nur auf eine gute Gelegenheit. Damit war eine wichtige Frage jedoch noch immer nicht beantwortet – was konnte Miller von der Brücke aus tun? Natürlich lag die Vermutung nahe, daß der Erste Offizier die Kontrolle über das Raumschiff an sich reißen wollte. Aber welche Auswirkungen konnte dieser Versuch haben? Plötzlich verstand Lesbee, was Browne und der Erste Offizier vorhatten. Die beiden Männer warteten nur auf den Augenblick, in dem Lesbee sich eine Blöße gab. Dann würde Miller die Steuerung des Schiffs von der Brücke aus
übernehmen, Browne freilassen und Lesbee mit Hilfe eines Kraftfeldes festhalten. Für die beiden war es vor allem wichtig, daß Lesbee nicht die Zeit fand, seinen Strahler auf Browne zu richten. »Nachdem sie noch immer ahnungslos sind, brauchen sie sich nur davor zu fürchten«, überlegte Lesbee. Sobald Lesbee dann tot oder bewegungsunfähig war, würde Browne die Fernsteuerung aus seiner Tasche holen und auf den dritten Knopf drücken, durch den Dzing zerstört werden konnte. Lesbee erkannte, daß dieser Plan nur einen entscheidenden Fehler aufwies. Da er ihn jetzt kannte, würde er sein Wissen entsprechend ausnützen. Allerdings mußte er rasch handeln, bevor Browne mißtrauisch werden konnte. Er griff nach einem anderen Schalter und setzte die Übertragungsanlage in Betrieb. »Hier spricht Captain Lesbee«, sprach er in das Mikrophon. »Alle Besatzungsmitglieder schnallen sich sofort an. Wahrscheinlich kommt es nochmals zu einer überraschenden Krise – vielleicht schon in der nächsten Minute, deshalb ist höchste Eile geboten!« Lesbee schaltete die allgemeine Übertragungsanlage wieder aus und setzte sich mit den technischen Abteilungen in Verbindung. »An alle Techniker! Ist in den vergangenen zehn Minuten irgendwo eine Explosion bemerkt worden?«
Die Antwort kam augenblicklich. »John, hier spricht Dan«, erklang eine tiefe Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe eine Explosion gehört, die ganz in der Nähe stattgefunden haben muß. Aber das ist schon länger als zehn Minuten her.« Lesbee beherrschte seine Erregung. »Wo war das?« erkundigte er sich. »Im Planquadrat neunzehn-vier auf Deck E«, erwiderte der andere. Lesbee stellte die Sichtverbindung her und starrte einige Sekunden später sprachlos auf den Teil eines Korridors, der völlig zertrümmert worden war. Überall lagen zerfetzte und geschmolzene Metallplatten. Jetzt bestand kein Zweifel mehr an der Tatsache, daß Dzing wirklich explodiert war. Diese unglaubliche Zerstörung war nicht anders zu erklären. Lesbee seufzte erleichtert auf, vergaß aber keineswegs, daß er sich noch immer persönlich in Gefahr befand. Deshalb drückte er auf den zweiten Knopf der Fernsteuerung in seiner Tasche, bevor er sich wieder Browne zuwandte. Der Ältere schien nicht begriffen zu haben, was vorgefallen war. »Worüber haben Sie mit dem Techniker gesprochen?« erkundigte er sich. Lesbee teilte ihm mit, daß der Roboter vor mehr als zehn Minuten explodiert war. »Oh!« Browne schien darüber nachzudenken.
»Wirklich schlau von Ihnen, daß Sie mir vorher nichts davon gesagt haben«, stellte er schließlich fest. »Ich wußte es selbst nicht sicher«, erklärte Lesbee ihm. »Die vielen Zwischenwände sind daran schuld, daß der Explosionsknall nicht bis hierher zu hören war.« Browne schien mit dieser Erklärung einverstanden zu sein. »Wenn Sie noch einen Augenblick warten, bis ich diese Waffe hier verstaut habe, lasse ich, Sie wie vereinbart frei«, sagte Lesbee. Aber als er den Strahler in eine der abschließbaren Schubladen des Kontrollpults gelegt hatte, zögerte er noch einmal. Er dachte darüber nach, was Browne vorher behauptet hatte – daß der Rückflug unter Umständen nur wenige Monate in Anspruch nehmen würde. Der Captain hatte diese Tatsache später bestritten, aber Lesbees Unterbewußtsein hatte sich seitdem damit befaßt. Wenn Brownes Behauptung zutraf, brauchte wirklich niemand zu sterben. »Weshalb haben Sie vorhin behauptet, daß der Flug zur Erde vielleicht nur wenige Monate dauern würde?« fragte er. »Das hängt mit der enormen Zeitverkürzung bei der Lichtgeschwindigkeit zusammen«, erklärte
Browne ihm bereitwillig. »Wie Sie ganz richtig festgestellt haben, beträgt die Entfernung über zwölf Lichtjahre. Aber mit Hilfe dieses neuen Antriebsprinzips können wir ein Zeitverhältnis von dreihundert zu eins oder sogar mehr herstellen, so daß der Flug in Wirklichkeit weniger als einen Monat dauert. Ich habe vorhin nur deshalb nicht weiter davon gesprochen, weil ich sah, daß Sie nicht in der richtigen Stimmung für solche Zahlenspielereien waren. Zu Anfang war ich selbst noch nicht ganz davon überzeugt, weil mir alles zu phantastisch erschien.« Lesbee schüttelte verwirrt den Kopf. »Dann können wir unser Sonnensystem also wirklich innerhalb weniger Wochen erreichen – mein Gott!« Er machte eine Pause und fuhr dann mit eindringlicher Stimme fort. »Hören Sie, Browne, ich bin damit einverstanden, daß Sie Captain bleiben. Wir brauchen keine Wahl abzuhalten. Wenn der augenblickliche Zustand nicht mehr allzu lange andauert, ist eine Veränderung wirklich überflüssig. Sind Sie einverstanden?« »Selbstverständlich«, antwortete Browne sofort. »Genau das habe ich Ihnen verständlich zu machen versucht.« Während er sprach, lächelte er Lesbee gewinnend an. Lesbee starrte ihn an und dachte: ›Wo liegt hier der Fehler? Weshalb stimmt Browne nicht wirklich zu?
Will er vielleicht nur vermeiden, daß er schon so bald von seinem Posten als Captain abgelöst wird?‹ Er versuchte sich vorzustellen, wie der andere auf die Möglichkeit reagieren würde, innerhalb weniger Wochen zur Erde zurückkehren zu können. Das war bestimmt nicht leicht, aber schließlich glaubte er doch, sich erfolgreich in Brownes Lage versetzt zu haben. »Eigentlich wäre es unsinnig, zur Erde zurückzufliegen, ohne wenigstens irgendwo gelandet zu sein«, meinte er deshalb vorsichtig. »Mit diesem neuen Antrieb können wir ein Dutzend verschiedener Systeme besuchen und trotzdem innerhalb eines Jahres wieder zu Hause sein.« An Brownes Gesichtsausdruck erkannte Lesbee, daß er die Gedanken des anderen richtig erraten hatte. Aber schon im nächsten Augenblick schüttelte der Captain energisch den Kopf. »Nein, dazu haben wir jetzt wirklich keine Zeit mehr«, sagte er dabei. »Die Erforschung neuer Sternensystem muß späteren Expeditionen vorbehalten bleiben. Die Besatzung der Hope of Man hat ihren Teil getan. Wir fliegen geradewegs nach Hause.« Lesbee wußte nicht mehr, was er sagen sollte. Zwischen ihm und Browne war keine Verständigung möglich – weder jetzt noch später.
Denn der Captain wollte seinen Rivalen beseitigen, damit er eines Tages zur Erde zurückkehren und die Erfüllung des Auftrags der Hope of Man melden konnte. Diese Absicht war unverkennbar, obwohl Browne eben das Gegenteil behauptet hatte.
18 Lesbee verschob den Mittelpunkt des Kraftfeldes so, daß Browne sich jetzt etwa zwei Meter von ihm entfernt befand. Dort setzte er ihn ab und ließ ihn frei. Gleichzeitig drehte er seinen Sessel, bis er dem Kontrollpult den Rücken zukehrte. Auf diese Weise mußte er völlig hilflos erscheinen. Browne reagierte sofort. Er warf sich auf Lesbee und rief dabei: »Miller – Steuerung übernehmen!« Der Erste Offizier befolgte den erteilten Befehl. Als das Kontrollpult auf der Brücke die Steuerung übernahm, verlief der Wechsel in einer festgesetzten Reihenfolge. Das Kontrollpult in dem Ausweichkontrollraum wurde außer Betrieb gesetzt. Der veränderte Stromfluß öffnete und schloß Hunderte von Relais. Die beiden Kontrollpulte waren synchronisiert, so daß sie jeweils das fortführten, was auf dem anderen eingeleitet worden war. Aus diesem Grund war normalerweise keine Veränderung wahrnehmbar. Aber in diesem Fall konnte ein Teil des Ausweichkontrollpults nur von dem winzigen Gerät in Lesbees Tasche gesteuert werden. Im Augenblick kontrollierte
die Fernsteuerung die zwölf g des Hauptantriebs und die acht g der künstlichen Schwerkraft, was Lesbee dadurch veranlaßt hatte, daß er auf den zweiten Knopf drückte. Als Miller auf der Brücke die Steuerung zu übernehmen versuchte, traten der Antrieb und die künstliche Schwerkraft sofort wieder in Aktion. Die Hope of Man verzögerte augenblicklich – wobei die Differenz zwischen Andruck und künstlicher Schwerkraft wie zuvor vier g betrug. Lesbee wurde gegen die Rückenlehne des Sitzes gepreßt, den er bereits vor einer Minute in die entsprechende Stellung gebracht hatte. Deshalb konnte er die weitere Entwicklung der Angelegenheit in aller Ruhe abwarten. Aber Browne wurde von der plötzlichen Verzögerung überrascht. Bevor er eine Abwehrbewegung machen konnte, wirbelte sein Körper durch die Luft und prallte gegen das massive Kontrollpult. Dort blieb er unbeweglich hängen. Ein weiteres Relais, das Lesbee ebenfalls durch die Fernsteuerung in seiner Tasche beeinflußt hatte, setzte die Triebwerke ebenso plötzlich wieder außer Betrieb. Während der Schwerelosigkeit, die jetzt eintrat, schwebte Brownes Körper an Lesbee vorüber. Auf dem dunklen Tuch der Uniform breiteten sich langsam große Blutflecken aus.
19 »Willst du eine Wahl abhalten lassen?« erkundigte sich Tellier. Das Raumschiff war unter Lesbees Befehl zurückgekehrt und hatte die Besatzung der Pinasse an Bord genommen. Das Boot selbst, in dem sich noch die anderen Roboter befanden, war in der Kreisbahn um Alta III geblieben und dort verlassen worden. Die beiden Freunde saßen jetzt in der Kabine des Captains. Nachdem Tellier seine Frage gestellt hatte, lehnte Lesbee sich in seinen Sessel zurück und schloß die Augen. Er brauchte nicht erst zu überlegen, daß er nichts von diesem Vorschlag hielt, denn er hatte sich innerhalb der wenigen Stunden bereits recht gut an das mit der Position verbundene Machtgefühl gewöhnt. Schon wenige Minuten nach Brownes Tod war ihm aufgefallen, daß er ähnlich wie der verstorbene Captain zu denken begann. Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, daß er Wahlen an Bord eines Raumschiffs aus den gleichen Gründen ablehnte. Jetzt wartete er, bis Ilsa – seine dritte Frau und die jüngere von Brownes zwei Witwen – ihre Weingläser wieder gefüllt und leise die Kabine verlassen hatte. Dann lachte er und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Mein lieber Freund«, sagte er, »wir haben allen Grund zur Freude darüber, daß die Zeit bei der Lichtgeschwindigkeit kaum noch eine Rolle spielt. Bei einem Zeitverhältnis von fünfhundert zu eins benötigen wir für weitere Forschungsaufgaben bestenfalls ein Jahr. Deshalb finde ich, daß wir einfach nicht riskieren dürfen, daß der einzige Mensch an Bord, der das neue Antriebsprinzip versteht, durch eine mögliche Wahlniederlage behindert wird. Bis ich beschlossen habe, welche Sternensysteme wir aufsuchen wollen, bleibt der neue Antrieb selbstverständlich geheim. Aber ich bin trotzdem der Auffassung, daß wenigstens ein anderer wissen sollte, wo die Unterlagen über dieses neuartige Prinzip liegen. Dabei denke ich selbstverständlich zuerst an den Ersten Offizier Armand Tellier.« Er hob sein Glas. »Sowie alles schriftlich vorliegt, bekommst du eine Kopie.« »Danke, Captain«, antwortete der junge Mann. Aber er runzelte nachdenklich die Stirn, während er einen Schluck Wein nahm. »Mir wäre trotzdem wohler, wenn du dich zu einer Wahl entschließen würdest«, meinte er schließlich. »Ich bin davon überzeugt, daß du sie gewinnen würdest.« Lesbee lachte gutmütig, schüttelte aber energisch den Kopf. »Ich glaube, daß du mit den Grundsätzen des Regierens nicht ausreichend vertraut bist«, sagte
er dann. »In der Geschichte der Menschheit findet sich kein Beispiel für einen Fall, in dem der Machthaber die Regierungsgewalt freiwillig anderen überlassen hat.« Er trank wieder und schloß mit den Worten: »Ich bin jedenfalls nicht eingebildet genug, um das Beispiel dieser großen Vorbilder zu mißachten, indem ich eine Wahl ansetze.« Als Lesbee ausgesprochen hatte, ertönte der Summer an der Kabinentür im Vorraum. Lesbee nahm wahr, daß eine seiner Frauen an die Tür ging und sie öffnete. Überraschenderweise war dann kein anderes Geräusch mehr zu hören; keine Begrüßung, keine Unterhaltung – nur tiefes Schweigen. Lesbee überlegte: ›Jemand muß ihr einen Brief gegeben haben.‹ Nachdem er den geheimnisvollen Vorgang auf diese Weise zufriedenstellend geklärt zu haben glaubte, ließ er sich wieder in den Sessel sinken. Aber in diesem Augenblick ertönte eine rauhe Männerstimme unmittelbar hinter ihm. »Ganz ruhig bleiben, Mister Lesbee – Ihre kleine Rebellion ist zu Ende, aber unsere hat eben erst begonnen.« Lesbee erstarrte. Dann wandte er langsam den Kopf und musterte die Bewaffneten, die hinter dem Mann erschienen, der eben gesprochen hatte. Er
kannte keinen der Männer, sah aber, daß sie Gartenarbeiter, Küchenhelfer und andere Arbeiter waren. Also Leute, von deren Existenz an Bord des Schiffes er jetzt erstmals bewußt Kenntnis nahm. Der Führer der Gruppe ergriff wieder das Wort. »Ich heiße Gourdy, Mister Lesbee, und wir übernehmen ab sofort das Kommando – diese Männer hier und ich –, weil wir wieder nach Hause wollen, zurück zur Erde. Wenn Sie vernünftig sind, passiert Ihnen und Ihren Freunden nichts ...« Lesbee seufzte erleichtert auf, als diese Worte fielen. Immerhin war noch nicht alles verloren.
20 Gourdy war vierunddreißig, als er die Meuterei anführte, durch die John Lesbee V gestürzt wurde. Er war kräftig, untersetzt und besaß verblüffend dunkle Augen. Seit frühester Jugend war er mit dem Gedanken aufgewachsen, daß sein Vater eine Rebellion angeführt hatte. Schon damals hatte er sich vorgenommen, den gleichen Plan zu verfolgen und notfalls sogar dafür zu sterben. Seine angeborene Schläue hatte ihn gegenüber allen Informationen mißtrauisch gemacht. Deshalb war ihm sofort aufgefallen, daß die angebliche freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Browne und Lesbee in Wirklichkeit ein verborgen geführter Machtkampf war. Außerdem hatte er erkannt, daß sich ihm hier die Gelegenheit bot auf die er schon seit Jahren wartete. Jetzt bezog er selbst die Kabine des Captains. Weil ihm dort alles neu war, betrachtete er alles mit angeborenem Mißtrauen. Das Sichtbare bedeutete für ihn nur einen erhöhten Anreiz, nach dem Verborgenen zu forschen. Als er deshalb einige Bodenplatten in die Höhe hob, um sich davon zu überzeugen, daß sich darunter nichts befand, was gegen ihn verwendet werden konnte, entdeckte er das DetektaphonSystem, mit dessen Hilfe Gespräche in jedem Raum
des Schiffs abgehört werden konnten. Und als er die Wände an einigen Stellen aufbrechen ließ, fand er die Gänge, die von Technikern wie Lesbee zur Überprüfung der zahlreichen Kabel benützt wurden. Zum erstenmal konnte er jetzt rekonstruieren, wie sein Vater den Tod gefunden hatte, als er sich hinter der verschlossenen Tür des Lagerraums in Sicherheit glaubte. Diese und andere Entdeckungen überzeugten Gourdy schließlich davon, daß die Führung des Schiffs nicht so schwierig sein konnte, wie er es sich früher vorgestellt hatte. Der Captain brauchte nicht einmal selbst Wissenschaftler zu sein, aber Gourdy hatte den Verdacht, daß er einige Leute beseitigen mußte, bevor die Wissenschaftler genügend Respekt vor ihm und seinen Kameraden hatten, um Befehle von ihnen anzunehmen. Von Anfang an ging er äußerst mißtrauisch, aber gleichzeitig so vernünftig vor, wie es ein erfolgreicher Volksaufstand erfordert, wenn er nicht vorzeitig zusammenbrechen soll. Er ließ alle zweifelhaften Personen in die unteren Decks schaffen, wo sie bis auf weiteres zu bleiben hatten. Gourdy überlegte weiterhin, daß die Entscheidung über das Schicksal der wichtigen Männer weitreichende Folgen haben würde. Deshalb verhörte er jeden von ihnen persönlich, obwohl er damit viel Arbeit hatte. Die meisten Wissenschaftler schienen sich damit
abgefunden zu haben, daß sie in Zukunft für ihn arbeiten würden. Viele von ihnen waren sogar erleichtert darüber, daß sich endlich ein Captain gefunden hatte, der zur Erde zurückkehren wollte. Gourdy setzte diese Männer auf die Liste derjenigen, die ihren Arbeitsplatz wieder einnehmen sollten – allerdings nur unter strenger Bewachung. Etwa ein Dutzend Männer rief Bedenken in ihm hervor – wegen ihres Benehmens, ihrer Reaktion auf seine Fragen oder ihrer Arbeit. Diese Leute kamen auf eine zweite Liste und würden lange warten müssen, bis sie die oberen Decks wieder einmal betreten durften. Brownes und Lesbees Offizieren teilte er kurz und bündig mit, daß sie für ihn tätig sein würden – allerdings nur einzeln und jeweils unter Bewachung. Unter den fast zweihundert Männern fanden sich nur zwei unbedeutende Wissenschaftler und ein Techniker, die zu keiner Zusammenarbeit bereit waren. Sie beleidigten Gourdy, lachten offen über seine Ausdrucksweise und machten sich über seine Kleidung lustig. Gourdy überlegte und kam zu dem Schluß, daß auch diese drei einen Zweck erfüllen konnten. Er fürchtete keineswegs, daß sie einer neuen Verschwörung angehörten, denn dazu traten sie zu offen auf. Trotzdem kam ihm ihr Widerstand gegen die neue
Regierung an Bord der Hope of Man äußerst gelegen. Jetzt konnte er endlich das dringend erforderliche Exempel statuieren, um die anderen davon zu überzeugen, daß er keinen Widerspruch duldete. Er brachte die drei Männer um und gab diese Tatsache öffentlich vor Beginn der nächsten Schlafperiode über die Lautsprecheranlage bekannt. Als das geschehen war – als alle Vorbereitungen getroffen waren –, ließ er Lesbee zu sich in die Kabine bringen. Wenige Minuten später kam es so zu dem ersten Treffen der beiden Männer seit der erfolgreichen Meuterei. Gourdy erklärte seinem Gefangenen kalt entschlossen: »Ich wollte Sie nur bis zuletzt aufsparen, Mister.« Er gab keine weitere Erklärung für diese Bemerkung. Lesbee war auch gar nicht mehr neugierig, nachdem er von den drei Morden gehört hatte. Jetzt war ohnehin bereits alles zu spät. Lesbee fluchte leise über sich selbst. Er hatte schon einmal daran gedacht, Gourdy vor übereilten Maßnahmen zu warnen. Aber dann hatte er diesen Plan doch wieder aufgegeben, weil er befürchtete, daß der neue Captain sich für den Anlaß zu dieser Warnung interessieren würde. Außerdem war er über diese Verzögerung seines Verhörs froh gewesen, weil er Zeit brauchte, um sich für eine bestimmte Richtung zu entschließen. Dabei war ihm klar geworden, daß es keinen Menschen an
Bord gab, der aus einem langen Flug unter Gourdys Kommando Vorteile ziehen konnte. Deshalb hatte er ihm von dem neuen Antriebsprinzip erzählen wollen. Die Ermordung der drei Widerspenstigen hatte alles verändert. Jetzt durfte Lesbee nicht mehr von dem neuen Antrieb sprechen denn Gourdy würde bestimmt nicht zur Erde zurückkehren wollen, wo er vor Gericht gestellt werden konnte. Um diesen schweren Schock einigermaßen zu verbergen, nahm Lesbee den streng wissenschaftlichen Standpunkt ein. Er argumentierte damit, daß ein so kompliziertes Raumschiff nur von Fachleuten kommandiert werden konnte. Dann schlug er vor, einen neuen Kontrollrat zu bilden, der aus Gourdy, zwei seiner Unterführer, Tellier und ihm selbst bestehen sollte. »Auf diese Weise«, erklärte er Gourdy, »bleibt Ihnen bei jeder Abstimmung die Mehrheit erhalten, während zugleich die Verbindung zu den Männern, die das Schiff wie ihre Hosentasche kennen, nicht abreißen kann. Vergessen Sie nicht, daß die meisten von uns ebenfalls Opfer der vorherigen Hierarchie sind.« Lesbee erwartete keineswegs, daß Gourdy seinem Vorschlag zustimmen würde, hoffte aber, daß der andere etwas weniger unnachgiebig reagieren würde. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Gourdy hielt nichts von Kontrollräten, Beratern oder geteilter Ver-
antwortung und drückte sich in dieser Beziehung völlig unmißverständlich aus. Die Hope of Man hatte nur einen Captain, der Gourdy hieß. Sämtliche Besatzungsmitglieder arbeiteten entweder nach bestem Wissen und Gewissen mit ihm zusammen – oder wurden je nach dem Ausmaß ihrer Verfehlungen mehr oder weniger summarisch bestraft. Auf Sabotage oder grob fahrlässige Pflichtverletzung stand in jedem Fall die Todesstrafe. Diese Grundsätze wurden so deutlich vorgetragen, daß Lesbee plötzlich um seine eigene Sicherheit zu fürchten begann. Nachdem er sich von seinem Schock erholt hatte, versicherte er dem neuen Captain, daß er alle übertragenen Aufgaben genauestens ausführen wolle. Gourdy starrte ihn nachdenklich an und nickte dann langsam. Plötzlich veränderte sich sein Tonfall und wurde fast herzlich. »Darauf müssen wir einen Schluck trinken«, meinte er. Nachdem er Lesbee ein Glas Wein eingeschenkt hatte, hob er sein eigenes und brachte einen Toast aus. »Mister Lesbee, ich habe Sie nur deshalb bis zuletzt aufgespart, weil ich weiß, daß Sie wahrscheinlich der einzige Fachmann an Bord sind, dem ich trauen kann – obwohl ich Sie gestürzt habe.« Sie tranken beide. Lesbee fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Lage, war aber nach wie vor davon
überzeugt, daß er dem anderen nicht verraten durfte, wie schnell sie notfalls die Erde erreichen konnten. Gourdy wunderte sich zwar über Lesbees zurückhaltende Art, war aber mit sich zufrieden, weil er die einzig logische Wahl getroffen hatte. Aus seiner gehobenen Stimmung heraus versprach er Lesbee sogar: »Wenn Sie sich anständig aufführen, kann ich Ihnen vielleicht schon in wenigen Wochen eine eigene Kabine anweisen und Ihre erste Frau wieder zu Ihnen schicken.« Dann fügte er hinzu: »Bisher habe ich noch nichts in dieser Richtung unternommen, aber wahrscheinlich behalte ich die beiden anderen für mich. Meine Frau – so unglaublich das klingt – besteht nämlich darauf. Das hat mich wirklich verblüfft, weil sie früher immer so verdammt eifersüchtig war. Aber jetzt gar nicht mehr.« Gourdy runzelte die Stirn. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß unsere Frauen den langen Flug weniger gut als wir vertragen. Irgendwie werden sie alle ein bißchen hysterisch. Ich glaube, daß meine Frau der Meinung ist, ich bin erst dann richtig Captain, wenn ich mir auch Brownes Witwen zu Frauen nehme. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben – Ihre Frau bleibt Ihnen auf jeden Fall erhalten.« Lesbee schwieg und überlegte, welche Auswirkungen die Lebensverhältnisse an Bord des Schiffs auf
das Gefühlsleben der Frauen haben konnten. Dann fiel ihm ein, daß dieses Problem im Augenblick wirklich nebensächlich war. »Damit bin ich eigentlich in eine dumme Lage geraten«, fuhr Gourdy fort. »Früher haben wir alle gegen diese Vielweiberei gewettert. Wenn wir jetzt sofort über die Frauen herfallen, machen wir uns direkt lächerlich.« Er runzelte nochmals die Stirn. Dann hob er wieder das Glas und richtete sich auf. »Darüber kann ich später nachdenken. Trinken wir lieber auf das Wohl Ihrer Frau.« Nachdem sie ausgetrunken hatten, veränderte sein Benehmen sich wieder. Er stellte das Glas ab und sagte kurz: »Kommen Sie, wir müssen dafür sorgen, daß das Schiff auf Heimatkurs geht.« Er ging in den Ausweichkontrollraum voran. »Vorläufig dürfen Sie noch nicht wieder auf die Brücke«, stellte er fest. »Versuchen Sie es jetzt lieber nicht mit einem Trick!« warnte er anschließend. Lesbee ging langsam auf das Kontrollpult zu und überlegte dabei fieberhaft. Würde Gourdy den Eindruck bekommen, er könne das alles selbst, wenn Lesbee nur ein paar Schalter umlegte und einige Instrumente ablas? Wenn Lesbee die Sache andererseits zu kompliziert erscheinen ließ, konnte es passieren, daß der neue Captain einen anderen – Miller oder Mindel – holen ließ, der jede Bewegung kontrollieren mußte.
Schließlich beschränkte er sich auf zwei überflüssige Dinge. Da Gourdy bei jeder Handbewegung wissen wollte, zu welchem Zweck sie erforderlich gewesen war, erläuterte Lesbee ihm auch die beiden unnötigen völlig ernsthaft. Wenige Minuten später betrug der Andruck zwölf g, während die künstliche Schwerkraft auf elf g eingestellt war, so daß ein Unterschied von einem g bestand, der den Verhältnissen auf der Erde entsprach. Als der Programmierungsvorgang abgeschlossen war, blieb Lesbee hinter Gourdy stehen, während dieser die getroffenen Maßnahmen über die Schiffslautsprecher bekanntgab. Der Captain schloß mit den Worten: »Wir fliegen nach Hause. Ja, ihr habt richtig gehört, meine Freunde, wir kehren endlich zur Erde zurück.« Dann fügte er noch hinzu: »Schlaft alle angeschnallt, weil wir nachts weiter beschleunigen wollen.« Lesbee hätte fast gegrinst, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. Diese »erhöhte« Beschleunigung bedeutete schließlich nur, daß er den Unterschied zwischen Andruck und künstlicher Schwerkraft vergrößerte, was im Grunde genommen völlig überflüssig war. Seitdem Dzing die Funktionsweise des Antriebs und der Schwerkraftspulen beeinflußt hatte, brauchte es keinen Unterschied zwischen An-
druck und künstlich erzeugter Schwerkraft mehr zu geben, selbst wenn die Beschleunigung oder Verzögerung ungeahnt hohe Werte erreichte. Das war jedoch bisher nie der Fall gewesen; Lesbee wollte alles tun, was in seiner Macht stand, um den alten Zustand aufrechtzuerhalten. Vielleicht erwies es sich eines Tages als vorteilhaft, wenn er die Bewegungsfähigkeit der Besatzung beliebig einschränken konnte. Während Lesbee dem Captain zuhörte, dachte er unwillkürlich: ›Eigentlich zu schade, daß Gourdy mich bestimmt auf der Stelle umbringt, wenn er herausbekommt, wie rasch wir die Erde mit dem neuen Antrieb erreichen können.‹
21 Als die Tage und Wochen vergingen, fiel Lesbee schließlich auf, daß er der einzige Techniker war, der freien Zutritt zu den Kontrollräumen und dem Schiffsantrieb hatte. Folglich war leicht einzusehen, daß letzten Endes alles von ihm abhing; die Verantwortung für eine Änderung des augenblicklichen Zustandes lag einzig und allein auf seinen Schultern. Er überlegte angestrengt, fand aber trotzdem keine bessere Lösung als die, an die er bereits am ersten Tag gedacht hatte. Er verwarf sie immer wieder, sah zu viele Gefahren und war nicht von ihr überzeugt. Aber am sechsundzwanzigsten Tag sprach er doch mit Tellier darüber. Das geschah in einem der seltenen Augenblicke, in denen er sicher wußte, daß er nicht belauscht wurde. Gourdy hatte eben den Kontrollraum verlassen und war offenbar in seine Kabine unterwegs. Lesbee konnte also offen mit seinem Freund sprechen. Sein Vorschlag stieß auf ungläubiges Staunen. »Du willst die Lichtgeschwindigkeit überschreiten?« wiederholte Tellier. »Bist du verrückt geworden?« »Wir tun es nicht wirklich«, wehrte Lesbee ab. »Aber ich muß wenigstens die Möglichkeit dazu schaffen und in Reserve halten. Vergiß nicht, daß Gourdy ein Mörder ist!«
Tellier seufzte. »Wenn du keine besseren Einfälle hast, können wir gleich aufgeben.« Lesbee erklärte ungerührt weiter. »Innerhalb der nächsten drei Tage erreicht die Hope of Man 99,999998 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Dann brauchen wir nur noch zwei Schiffsstunden, um die gesamte Entfernung bis zu unserem Sonnensystem zurückzulegen. Deshalb dürfen wir nicht weiter beschleunigen, weil wir sonst über das Ziel hinausschießen. Aber wie soll ich das alles tun, ohne daß Gourdy merkt, was wirklich vorgegangen ist? Der Kerl ist noch immer davon überzeugt, daß der Rückflug dreißig Jahre dauern wird!« Telliers Gesicht zeigte plötzlich einen erregten Ausdruck. Er griff nach Lesbees Arm und sagte heiser: »John, können wir während dieser drei Tage nicht einfach ein Rettungsboot nehmen und darin fliehen? Wir brauchten nur den Hauptantrieb stillzulegen und die Stromversorgung zu unterbrechen, um in der entstehenden Verwirrung verschwinden zu können.« Lesbee starrte seinen Freund verwundert an. Die Hope of Man verlassen! Obwohl er die Idee für undurchführbar hielt, fragte er sich jetzt, warum er nicht schon selbst daran gedacht hatte. Dann erkannte er die Ursache – das Schiff war zu einem Bestandteil seines Lebens geworden, von dem er sich nicht freiwillig trennen wollte.
»Die Sache mit dem Rettungsboot ist ziemlich umständlich«, sagte er jetzt, »weil die Verzögerung sehr lange dauert. Ich wollte eigentlich ein bißchen mit der künstlichen Schwerkraft herumspielen, bevor wir die Lichtgeschwindigkeit erreichen – und dann gibt Gourdy mir vielleicht die Erlaubnis, den Hauptantrieb stillzulegen.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. Tellier wollte wissen, was ihn bedrückte. Lesbee wußte, daß er seinem Freund nicht erklären konnte, wie schwierig der Umgang mit Gourdy war. Trotzdem versuchte er es und schloß mit den Worten: »Er weiß unterdessen genug über die Steuerung, um zu erkennen, ob sie arbeitet. Ich mußte ihm alles erklären, weil nur so zu verhindern war, daß er den Antrieb durch andere überprüfen ließ. Wenn ich jetzt zu ihm gehe ...« Lesbee machte eine Pause und dachte nach. »Die Verzögerung ist so wichtig, daß ich einfach keine Ablehnung von seiner Seite riskieren darf.« »Was hast du also vor?« erkundigte sich Tellier. Lesbee erklärte ihm, daß er Captain Gourdy mitteilen wollte, der Hauptantrieb arbeite nicht mehr richtig. Auf diese Weise erhielt er bestimmt die Erlaubnis, den Antrieb stillzulegen, bevor das Schiff die Lichtgeschwindigkeit erreichte. Lesbee unterhielt sich mit Tellier über diesen Plan und fügte dann hinzu: »Aber
ich programmiere die Steuerung so, daß der Antrieb nach einiger Zeit wieder einsetzt, bis das Schiff die Über-Lichtgeschwindigkeit erreicht hat. Wenn Gourdy in der Zwischenzeit mißtrauisch geworden ist und mich nicht mehr in den Kontrollraum läßt, sieht er dann, daß ich die Schwierigkeiten richtig vorausgesagt habe. Folglich hat er wieder Vertrauen zu mir.« Er merkte, daß Tellier ihn bewundernd ansah. »Du bist wirklich ein schlauer Fuchs, John«, meinte sein Freund und fügte dann besorgt hinzu: »Aber wenn Gourdy nicht mißtrauisch wird, verzichtest du doch auf die Über-Lichtgeschwindigkeit?« »Selbstverständlich. Oder hältst du mich für verrückt? Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme habe ich bereits das alte Suchgerät wieder aktiviert, das zunächst selbständig das Sonnensystem und dann die Erde ansteuert.« Die Unterhaltung der beiden Freunde schloß mit einer Vereinbarung über einen möglichen Fluchtweg und die Umstände, unter denen sie sich an einer bestimmten Luftschleuse treffen wollten. Am Nachmittag des gleichen Tages programmierte Lesbee die Steuerung entsprechend seinen Plänen und sorgte dafür, daß alle Funktionen von elektromagnetischen Geräten übernommen wurden. Ihm war unterdessen eingefallen, daß mechanische Vorrichtungen nach Erreichen der Lichtgeschwindigkeit
wahrscheinlich nicht zuverlässig genug arbeiten würden. Nachdem er diese Vorbereitungen getroffen hatte, suchte er Gourdy auf und teilte ihm mit, daß der Antrieb nicht mehr fehlerlos arbeitete. Dann erwähnte er, daß die Triebwerke stillgelegt werden müßten, damit die Fehlerquelle aufgespürt werden könnte. Gourdy zeigte sich besorgt. »Aber wir fliegen doch mit gleicher Geschwindigkeit weiter, während Sie den Antrieb untersuchen?« wollte er wissen. »Selbstverständlich«, beruhigte ihn Lesbee. »Irgendwann hätten wir ohnehin den Punkt erreicht, an dem wir den Antrieb stillegen müssen, um Treibstoff zu sparen. Aber normalerweise wäre das erst in einigen Monaten der Fall gewesen.« Lesbee hatte früher überlegt, ob er diese gewohnte Reihenfolge nicht auf jeden Fall einhalten sollte. Aber dann war ihm klar geworden, daß sein Plan unmöglich auszuführen war, je länger er selbst Gourdy ausgeliefert war. Selbst bei der unterdessen erreichten Geschwindigkeit würde der Flug noch Jahre dauern, wenn der Antrieb stillgelegt wurde. Unglücklicherweise trat die Zeitverkürzung erst unmittelbar vor Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in Erscheinung. Die beiden Männer standen auf der Brücke. Hinter ihnen leuchteten die Sterne aus dem tiefschwarzen Himmel. Gourdy kniff die Augen zusammen. Er
überlegte offenbar, ob er Lesbee wirklich trauen konnte. Lesbee schluckte trocken. »Glauben Sie, daß die Sache gefährlich ist?« erkundigte Gourdy sich schließlich. »Captain, je eher ich mit der Arbeit beginnen kann, desto besser ist es. Aber das hat Zeit bis zu Beginn der Schlafperiode.« »Nun ...« Gourdy schien einen Entschluß gefaßt zu haben. »Von mir aus können Sie anfangen. Aber wie steht es mit der künstlichen Schwerkraft?« »Sie muß ausgeschaltet werden«, log Lesbee. »Dann warten Sie lieber bis nach dem Abendessen. Wenn Sie bis dahin nichts anderes von mir gehört haben, legen Sie den Antrieb nachts still. Ich werde die Arbeiten bekanntgeben und der Besatzung Anweisung geben, nur angeschnallt zu schlafen. Wie lange brauchen Sie?« »Ein paar Tage.« Gourdy runzelte die Stirn. »Das ist lästig, aber nicht zu vermeiden. Warten Sie trotzdem, bis Sie von mir hören. Verstanden?« »Wird gemacht.« Lesbee fügte nichts mehr hinzu, weil er seiner Stimme nicht traute. Er verließ die Brücke und atmete erst wieder erleichtert auf als er Gourdy über die Schiffslautsprecher die notwendig gewordene Reparatur ankündigen hörte.
Unglücklicherweise erinnerte Gourdy sich aber in diesem Augenblick auch daran, daß Lesbee als Techniker, nicht aber als Ingenieur ausgebildet war. Der Captain bezweifelte jetzt, daß Lesbee wirklich in der Lage war, eine notwendige Reparatur an dem Schiffsantrieb zu erkennen oder auszuführen. Trotzdem hegte er keinerlei Mißtrauen gegenüber Lesbee, sondern fragte sich nur, ob es richtig war, einen Techniker mit einer Aufgabe zu betrauen, von der so vieles abhing. Nachdem er einige Minuten lang über dieses Problem nachgedacht hatte, ließ er Captain Brownes ehemaligen Ersten Offizier in den Ausweichkontrollraum kommen. Zu Miller sagte er nur: »Ich habe Grund zu der Annahme, daß der Hauptantrieb nicht einwandfrei arbeitet. Wollen Sie die Instrumente überprüfen und mir sagen, was Sie davon halten?« Miller zögerte unentschlossen. Er war seit seiner Volljährigkeit Offizier gewesen. Er verachtete Gourdy und haßte Lesbee – aber noch größer war seine Abneigung gegen das Leben in den unteren Decks. Während der Diskussion zwischen Browne und Lesbee über die Lichtgeschwindigkeit war er bewußtlos gewesen und hatte deshalb nicht verstanden, wovon später die Rede war, als die Lorentz-Fitzgeraldsche Kontraktionstheorie erwähnt wurde. Seitdem hatte er
keinen Augenblick lang vermutet, daß die Hope of Man ihre bisherige Höchstgeschwindigkeit weit überschritten hatte. Jetzt stand er zum erstenmal seit Lesbees Machtübernahme wieder an dem Kontrollpult und betrachtete die Instrumente mit echtem Interesse. Er brauchte nur Minuten, um festzustellen, daß der Antrieb hervorragend funktionierte. Als er sich an die Handbücher erinnerte, in denen theoretische Höchstwerte angegeben waren, hatte er sogar den Eindruck, der Antrieb arbeite besser als je zuvor. Aus dieser Tatsache schloß er mit der typischen Verachtung des Ingenieurs für den Techniker, daß Lesbee die Meßwerte irgendwie falsch interpretiert haben mußte. Damit stand er vor dem Problem, wie er sein überlegenes Wissen einsetzen konnte, um wieder eine bedeutendere Position zu erlangen. Sollte er Lesbee unterstützen und an den unnötigen Reparaturarbeiten teilnehmen? Oder sollte er den Kampf um die Position sofort aufnehmen und diesem Kerl energisch entgegentreten? Er entschied sich für den Kampf. Als er eben diesen Entschluß gefaßt hatte, fiel sein Blick zufällig auf die Geschwindigkeitsmesser, die in die Rückwand des Kontrollraums eingelassen waren. Die Zeiger standen ohne Ausnahme in einer Stellung, die Miller noch nie beobachtet hatte. Er blieb davor
stehen und berechnete überschlägig, was sich daraus ergab. Sein Gesicht war vor Aufregung gerötet, als er sich umdrehte. »Captain Gourdy«, begann er, »jetzt beginne ich einiges zu verstehen.« Nach dem Gespräch mit Gourdy, dem er alles erklärt hatte, suchte Miller den nichtsahnenden Lesbee auf und sagte: »Captain Gourdy hat mich vorhin gebeten, einen Blick auf den Hauptantrieb zu werfen.« Lesbee zuckte innerlich zusammen, antwortete aber trotzdem mit ruhiger Stimme: »Ich wollte den Captain ohnehin bitten, meine Vermutungen von Ihnen bestätigen zu lassen.« Miller grinste höhnisch. »Schön, wenn Sie unbedingt schauspielern wollen, kann ich Sie nicht daran hindern. Aber ich sage Ihnen gleich, daß mir alles klar geworden ist, als ich die Geschwindigkeitsmesser gesehen habe. Als Browne den Tot fand, hatte ich noch keine Ahnung davon.« Er lächelte wissend. »Gar nicht dumm von Ihnen, daß Sie heimlich, still und leise fast die Lichtgeschwindigkeit erreicht haben, ohne ein Wort davon zu sagen.« Lesbee war blaß geworden. Am liebsten hätte er sich auf Miller gestürzt, trat aber dann doch nur dicht an ihn heran und flüsterte: »Sie Narr! Ist Ihnen denn nicht klar, daß Gourdy nicht zur Erde zurückkehren kann? Jetzt sind wir alle erledigt!«
Dann beobachtete er befriedigt, daß Miller sich seinerseits verfärbte, als der ehemalige Erste Offizier erkannte, was er angerichtet hatte. Lesbee kehrte ihm wortlos den Rücken zu und war keineswegs überrascht, als er wenige Minuten später den Befehl erhielt, sich unverzüglich in der Kabine des Captains einzufinden. Allerdings erreichte er sein Ziel nicht ganz, weil er unterwegs verhaftet und in eine Arrestzelle gesteckt wurde. Gourdy suchte ihn dort auf. »Schön, Mister Lesbee, erzählen Sie mir alles, was Sie über die Geschwindigkeit des Schiffes wissen«, forderte der Captain ihn auf. Lesbee verließ sich darauf, daß seine Unterhaltung mit Miller nicht abgehört worden war. Deshalb gab er sich den Anschein, als wisse er überhaupt nicht, wovon Gourdy sprach. Seine einzige Hoffnung bestand daraus, daß er diesen Mann von seiner Unschuld überzeugen konnte. Gourdy war verblüfft. Und weil die Lage so unerhört phantastisch war, neigte er sogar dazu, Lesbee zu glauben. Er konnte sich vorstellen, daß dieser Techniker gar nicht begriffen hatte, was mit dem Antrieb geschehen war. Aber andererseits befaßte er sich auch mit der zweiten Möglichkeit – daß Lesbee die Tatsachen gekannt hatte. In diesem Fall lag der Schluß nahe, daß
der Techniker während des antriebslosen Zustands hatte fliehen wollen. Dann hätte die restliche Besatzung das Problem ohne seine Mithilfe lösen müssen. Als Gourdy darüber nachdachte, geriet er immer mehr in Zorn. »Mister Lesbee, ich warne Sie!« sagte er drohend. »Wenn Sie nicht bald den Mund aufmachen, muß ich Sie als Lügner und Saboteur ansehen und dementsprechend behandeln.« Aber schließlich kehrte er doch wieder in seine Kabine zurück. Jetzt war er nicht mehr zuversichtlich und gelassen, sondern wußte, daß die neue Entwicklung ihn persönlich gefährdete. Deshalb mußte er rasch und energisch handeln. In dieser Krisensituation ließ Gourdy sich nicht von vernünftigen Überlegungen, sondern ausschließlich von Gefühlen leiten. Zunächst mußte er sich gegen unliebsame Überraschungen sichern – das war wichtiger als alles andere. Deshalb durchsuchte er zu Beginn der Schlafperiode an der Spitze seiner zuverlässigen Anhänger die unteren Decks und verhaftete achtzehn Männer – unter ihnen auch Miller und Tellier. Die Verhafteten wurden in Einzelzellen untergebracht. Nachdem Gourdy noch einige Stunden über seine Lage nachgedacht hatte, wurde ihm allmählich klar, daß er bisher tatsächlich stets so gehandelt hatte, als
stehe ein dreißigjähriger Flug bevor. Unter anderen Umständen hätte er sich vermutlich nicht zu den Hinrichtungen durchgerungen. ›Richtig, das ist die bittere Wahrheit‹, überlegte er. ›Ich darf keine Rückkehr zur Erde riskieren, wenn ich nicht mein Leben aufs Spiel setzen will.‹ Deshalb entschloß er sich dazu, Lesbee den Auftrag zu erteilen, das Schiff so zu verzögern, daß der Flug wirklich dreißig Jahre dauern mußte. Dann würde er sich eine plausible Begründung einfallen lassen und Lesbee, Miller, Mindel und alle anderen Verdächtigen beseitigen. Dabei konnte er immer behaupten, daß diese Männer an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt gewesen waren. Aber die Details mußten sorgfältig ausgearbeitet werden, damit die restliche Besatzung nicht allzu mißtrauisch wurde und etwa neugierige Fragen zu stellen begann. Stunden später lag er noch immer schlaflos in seiner Koje und dachte angestrengt nach, als das Schiff plötzlich unter ihm erzitterte, als habe es einen schweren Schlag erhalten. Gourdy hatte deutlich das Gefühl, daß die Hope of Man beschleunigte. Lesbee hatte gespannt auf diesen Augenblick gewartet. Der plötzliche Andruck erfolgte auf die Sekunde genau und preßte ihn gegen die Konturliege. Lesbee hatte die Steuerung so programmiert, daß der Unterschied zwischen Andruck und künstlicher
Schwerkraft drei g betrug, was völlig ausreichte, um die Besatzung festzuhalten, bis das Schiff die ÜberLichtgeschwindigkeit erreicht hatte. Jetzt empfand er eine unerklärliche Angst, als er daran dachte, daß Raum und Zeit in diesem Augenblick bereits mit rasender Geschwindigkeit zusammenschrumpften. ›Schneller, schneller!‹ dachte er. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie die Veränderung sich auswirken würde, bereitete er sich innerlich auf die Sekunde vor, in der das Schiff die Über-Lichtgeschwindigkeit fast erreicht haben würde. Er hoffte, daß dieser Augenblick rasch verstreichen würde. Dann erschienen eigenartige Bilder vor seinem inneren Auge. Sie alle bewegten sich rückwärts; Lesbee sah sich und die anderen Besatzungsmitglieder, die alle rückwärts gingen, als lasse jemand einen Film in verkehrter Richtung ablaufen. Die einzelnen Szenen verschwanden blitzschnell; Tausende strömten vorüber, und dann sah Lesbee Bilder aus seiner Kindheit. Schließlich verwirrten sich die vorher so klaren Darstellungen. Lesbee hatte das Gefühl, er schwebe bewegungslos im Raum. Das war nicht gerade angenehm, aber immerhin nicht so schlimm wie das, worauf er sich innerlich vorbereitet hatte. Aber dann ... Lesbee wurde ohnmächtig.
22 Averill Hewitt legte den Telefonhörer auf und wiederholte leise den Text des Telegramms, das ihm soeben übermittelt worden war: »Ihr Raumschiff, die Hope of Man, tritt in die Erdatmosphäre ein.« Dieser Satz versetzte seinen Hoffnungen einen schweren Schlag. Hewitt stolperte durch das Zimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Seine Gedanken kreisten nur um dieses eine Thema: Nach sechs Jahren ... die Hope of Man ... nach sechs Jahren, obwohl er angenommen hatte, daß das Raumschiff in der Zwischenzeit bereits ein gutes Fünftel der Entfernung zwischen der Erde und Centaurus zurückgelegt haben würde ... Wiedereintritt in die Erdatmosphäre ... Hewitt starrte die Zimmerdecke an und dachte: ›Und ich habe zehn Jahre lang an John Lesbees Theorie geglaubt, daß unsere Sonne demnächst zu einem variablen Stern wird – innerhalb der nächsten Monate!‹ Viel schlimmer war allerdings, daß er den größten Teil seines Milliardenvermögens für den Bau des riesigen Raumschiffs ausgegeben hatte. Alle Welt hatte sich köstlich über diesen reichen Narren amüsiert; Joan hatte ihn verlassen und die Kinder mitgenom-
men; nur die Tatsache, daß die Hope of Man zur Besiedlung geeignete Planeten finden sollte, hatte die Regierung dazu bewogen, das Projekt überhaupt zu unterstützen ... Alles das fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als die Hope of Man am Vorabend der Katastrophe zurückkehrte, vor deren Folgen sie ihre Besatzung bewahren sollte. Hewitt überlegte angestrengt: »Weshalb mag John Lesbee umgekehrt sein ...?« Er schrak aus seinem dumpfen Brüten auf, als das Telefon wieder zu klingeln begann. Während er aufstand und an den Apparat ging, sagte er sich: »Ich muß sofort an Bord gehen und sie zu überreden versuchen. Sowie das Schiff gelandet ist, setze ich mich mit ...« Diesmal war ein General des Raumkorps am Apparat. Hewitt hörte aufmerksam zu und versuchte zu verstehen, was der andere ihm erklärte. Bisher war es nicht gelungen, mit der Hope of Man in Verbindung zu treten, berichtete der hohe Offizier. »Unsere Leute sind bereits in Raumanzügen an allen Bullaugen und an der Brücke gewesen, Mister Hewitt. Allerdings konnten sie nicht ins Innere des Schiffes sehen, weil das Plastiglas nur von einer Seite durchsichtig ist. Aber sie haben über eine Stunde lang an verschiedenen Stellen geklopft, ohne eine Antwort zu erhalten.«
Hewitt zögerte, weil er sich dazu nicht äußern konnte. »Welche Geschwindigkeit hat das Schiff?« erkundigte er sich schließlich. »Etwa fünfzehnhundert Stundenkilometer schneller als die Erde.« Hewitt hörte die Antwort kaum, weil er gleichzeitig angestrengt überlegte. Dann sagte er: »Ich übernehme alle Kosten, die entstehen, wenn das Schiff von außen geöffnet werden muß. In längstens einer Stunde bin ich selbst oben.« Als er zum Raumhafen fuhr, wo seine Privatjacht lag, dachte er immer wieder: »Wenn ich hineinkann, rede ich selbst mit ihnen. Vielleicht gelingt es mir, sie zu überzeugen. Notfalls zwinge ich sie sogar zur Umkehr.« Er war fest dazu entschlossen. Zwei Stunden später befand er sich an Bord des Bergungsschiffes Molly D. »Wollen Sie wirklich behaupten, daß die Luftschleuse sich nicht öffnen läßt?« fragte er, während er beobachtete, wie ein riesiger Magnet vergeblich versuchte, eine der Luken der Hope of Man aufzuschrauben. Hewitt war ungeduldig, weil er sich nicht mit der Möglichkeit abfinden wollte, daß an Bord des Schiffes Schwierigkeiten aufgetreten sein könnten. »Machen Sie weiter!« drängte er deshalb. »Vielleicht ist nur et-
was verklemmt. Die Schleuse ist so konstruiert, daß sie sich leicht öffnen läßt.« Er war nicht darüber erstaunt, daß die anderen seine Anweisungen befolgten, denn in gewisser Beziehung hatte er nichts anderes erwartet. Die Molly D war ein ziviles Bergungsschiff, das von dem Raumkorps für diesen Einsatz angefordert worden war. Da Hewitt sich jetzt selbst an Bord befand, erfüllte Commander Mardonell, der ranghöchste anwesende Korpsoffizier, nur noch die Funktion eines militärischen Beobachters. Und der Captain des Bergungsschiffs nahm seine Anweisungen selbstverständlich von dem Mann entgegen, der später für die Kosten des Einsatzes aufkommen mußte. Eine Stunde später hatte der riesige Magnet das runde Schleusenluk erst fünfunddreißig Zentimeter weit gedreht. Hewitt zog sich zu einer Beratung mit den beiden Offizieren zurück. Die Höhenmesser der Molly D zeigten einhundertfünfzig Kilometer an. Commander Mardonell warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und stellte dann fest: »In den letzten sechsundsiebzig Minuten sind wir fast siebzehn Kilometer gesunken. Nachdem wir nicht senkrecht nach unten fallen, werden wir in etwa zehn Stunden schräg auf die Erdoberfläche auftreffen.« Gleichzeitig war allen klar, daß sie wesentlich langer als zehn Stunden brauchen würden, um das Luk
mit seinem zehn Meter langen Gewinde aufzuschrauben, wenn der Magnet pro Stunde nur fünfunddreißig Zentimeter schaffte. Hewitt machte ein wütendes Gesicht. Er sah das ganze Problem noch immer als lächerliche, aber zeitraubende Kleinigkeit an. »Dann müssen wir eben einen Schweißbrenner oder Bohrer einsetzen«, entschied er. »Vielleicht kommen wir damit durch die Außenwand.« Die benötigten Geräte mußten erst von der Erde heraufgeschafft werden, so daß es über zweieinhalb Stunden dauerte, bis der Bohrer arbeitsbereit war. Hewitt beobachtete die Aufstellung der Maschine und ging dann in seine Kabine zurück. »Verständigen Sie mich, wenn Sie durchgedrungen sind«, sagte er vorher noch zu dem Captain der Molly D. In der Kabine sank er sofort auf die Couch und schlief erschöpft ein, obwohl er kaum die Augen zu schließen wagte, weil er jeden Augenblick gerufen werden konnte. Dann wachte er plötzlich wieder auf, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, daß er fast fünf Stunden geschlafen hatte. Als er die Kabine verlassen wollte, kam ihm Mardonell entgegen. Der Offizier sagte: »Ich habe Sie absichtlich nicht wecken lassen, Mister Hewitt, als feststand, daß unsere Bemühungen keinen Erfolg ha-
ben würden. Statt dessen habe ich mich mit meinem Hauptquartier in Verbindung gesetzt. Seitdem rätseln die besten Wissenschaftler an diesem Problem herum.« Mardonell zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Ich bezweifle allerdings, daß sie Erfolg haben werden. Die Bohrmaschine hat versagt und die Schneidbrenner sind wirkungslos geblieben.« »Was soll das heißen?« »Vielleicht überzeugen Sie sich lieber selbst.« Die Bohrspindel drehte sich noch immer, als Hewitt sich näherte. Er ließ sie stillegen und untersuchte dann die Außenwand der Hope of Man. Die Bohrung hatte eine Tiefe – Hewitt maß sie genau – von 0,75 Millimeter erreicht. »Aber das ist doch lächerlich!« protestierte er. »Vor sechs Jahren, als das Schiff gebaut wurde, ließ das Metall sich doch leicht bohren!« Mardonell tauchte neben ihm auf. »Wir haben nacheinander neue Bohrer eingesetzt. Selbst Diamantspitzen sind wirkungslos geblieben.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Wir haben ausgerechnet, daß das Schiff irgendwo in den Rocky Mountains aufschlagen wird. Die Bevölkerung in dieser Gegend ist bereits gewarnt und wird evakuiert.« »Und was wird aus der Besatzung?« fragte Hewitt. »Was wird aus ...« Er schwieg. Er hatte hinzufügen wollen: »Was wird aus der Menschheit?« Aber dann
stellte er die Frage doch nicht, weil er wußte, daß andere in diesem Punkt anderer Meinung waren. Er näherte sich langsam einem Bullauge und sah hinaus. Die Molly D befand sich schätzungsweise noch fünfundzwanzig Kilometer über der Erde. In weniger als zwei Stunden wurde sie auf ihr niedergehen, während die Hope of Man zerschellte. Als dieser Zeitpunkt nur noch zwanzig Minuten weit entfernt war, gab Hewitt schweren Herzens den Befehl, die Verbindung zwischen den beiden Schiffen zu trennen. Das Bergungsschiff entfernte sich langsam von der Hope of Man. Wenig später beobachtete Hewitt von einem Bullauge aus, wie sein Schiff zum erstenmal seit sechs Jahren wieder Heimaterde berührte. Mit einer Geschwindigkeit von fünfzehnhundert Stundenkilometern raste die Hope of Man in einen Hügel und wirbelte dabei eine dichte Staubwolke auf. An Bord der Molly D war kein Geräusch zu hören, aber der Aufprall mußte schrecklich gewesen sein. »Jetzt ist alles aus«, murmelte Hewitt vor sich hin. »Wenn noch jemand an Bord lebendig war, ist er in diesem Augenblick gestorben.« Wenige Augenblicke später erreichte die Schallwelle das Bergungsschiff, das von Bug bis Heck erzitterte. Die Männer an Bord erschraken unwillkürlich, denn das Geräusch war wesentlich lauter, als sie erwartet hatten.
»Das Schiff kommt wieder heraus!« rief jemand ungläubig. »Mein Gott!« sagte Hewitt. Der Hügel, dessen Masse das Zehnfache der Hope of Man betragen haben mußte, sank in sich zusammen. Dann erschien das Schiff wieder in einer Staubwolke, schlug nochmals auf dem Boden auf und flog weiter. Der Aufprall hatte keine erkennbaren Auswirkungen gehabt, denn sogar die Geschwindigkeit war unverändert. Die Hope of Man bohrte sich mit fünfzehnhundert Stundenkilometern in die Erde. Die riesige Staubwolke verzog sich nur langsam. Dann wurde ein Loch mit über vierhundert Meter Durchmesser in einer gegenüberliegenden Bergwand sichtbar. Tausende von Tonnen Fels und Gestein prasselten zu Tal. Dieser Vorgang dauerte noch an, als bereits die ersten Berichte über Funk eintrafen. In fast siebzig Kilometern Entfernung war ein ganzer Berg in sich zusammengestürzte. Ein völlig neues Tal war entstanden. Mehrere Menschen hatten den Tod gefunden. Drei kleinere Erdbeben erschütterten nacheinander die Umgebung. Während der nächsten zwanzig Minuten gingen ständig neue Hiobsbotschaften ein. Vierzehn weitere Erdbebenstöße wurden gemeldet, von denen zwei ka-
tastrophenähnliche Ausmaße erreichten. Überall taten sich Erdspalten auf. Der letzte Erdbebenstoß hatte sich zweihundert Kilometer von dem ersten entfernt ereignet – aber sie alle bildeten eine schnurgerade Linie, die genau dem Kurs der Hope of Man entsprach. Dann traf plötzlich ein neuer Funkspruch ein. Das Raumschiff war in der Wüste aufgetaucht und setzte seinen Flug weiter fort, wobei es langsam an Höhe gewann. Kaum drei Stunden später befand sich das Bergungsschiff wieder neben der Hope of Man. Der riesige Magnet drehte von neuem an dem Schleusenluk. Hewitt wandte sich an das halbe Dutzend Wissenschaftler, das in der Zwischenzeit an Bord gekommen war. »Für die ersten fünfunddreißig Zentimeter hat der Magnet eine Stunde gebraucht«, erklärte er ihnen. »Folglich kann es nicht länger als fünfunddreißig Stunden dauern, bis das zehn Meter lange Gewinde zu Ende ist. Dann müssen wir noch das innere Luk öffnen, aber damit können wir uns später beschäftigen.« Er sah von einem zum anderen. »Meine Herren, was halten Sie davon, wenn wir unterdessen das ganze Problem miteinander durchsprechen?« Die nun folgende Diskussion führte zu keinem Ergebnis. »Endlich!« stellte Hewitt zufrieden fest, als er beobachtete, daß der Magnet die letzte Umdrehung be-
endete. Während die Zuschauer hinter einem Schutzschild Deckung nahmen, wurde ein massiver Metallarm in die Schleusenkammer geschoben und drückte jetzt gegen die innere Tür. Der Mann, der die preßluftgetriebene Stange bediente, wandte sich um und warf Hewitt einen fragenden Blick zu. »Kommen Sie wieder in das Schiff zurück«, wies Hewitt ihn über Funk an. »Wir setzen die Schleuse unter Druck. Dann geht die Tür bestimmt auf.« Hewitt mußte sich mühsam beherrschen, um sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Die äußere Tür hatte sich ohne weiteres öffnen lassen, nachdem der Magnet die letzte Umdrehung beendet hatte. Eigentlich bestand also kein Grund dafür, daß die innere Tür nicht ebenso nachgab. Der Captain des Bergungsschiffs runzelte nachdenklich die Stirn, als Hewitt ihm vorschlug, die Schleusenkammer unter Druck zu setzen. »Wenn die Tür verklemmt ist«, gab er zu bedenken, »muß der Druck vielleicht ziemlich hoch sein. Sie dürfen nicht vergessen, daß die beiden Schiffe nur durch Magneten verbunden sind, Mister Hewitt. Unter diesen Umständen kann es leicht dazu kommen, daß sie getrennt werden.« Hewitt überlegte kurz. »Vielleicht ist doch kein allzu hoher Druck erforderlich«, sagte er dann. »Und wenn die Verbindung wirklich abreißt, müssen wir eben mehr Magneten anbringen. Vielleicht können
wir auch eine feste Verbindung von einer Luftschleuse zur anderen herstellen.« Kurze Zeit später beobachtete Hewitt gemeinsam mit dem Captain der Molly D den Druckmesser, dessen Nadel ständig weiter nach oben kletterte. Als sie einundneunzig Atmosphären erreicht hatte, fiel der Druck plötzlich rasch ab. Er sank bis auf sechsundachtzig und stieg dann langsam wieder. Der Captain erteilte dem Maschinenraum einen kurzen Befehl; die Nadel bewegte sich nicht weiter. Der Mann wandte sich an Hewitt. »Mehr ist nicht zu schaffen, Sir. Bei einundneunzig Atmosphären geben die Gummimanschetten nach und liegen erst wieder dicht an, wenn der Druck gefallen ist.« Hewitt schüttelte verwirrt den Kopf. »Das verstehe ich einfach nicht«, meinte er. »Schließlich bedeutet das einen Druck von einundneunzig Kilogramm pro Quadratzentimeter. Unmöglich!« Widerstrebend forderte er das benötigte Material von der Erde an, damit eine feste Verbindung zwischen den beiden Schiffen hergestellt werden konnte. Bis dahin wurden verschiedene Versuche unternommen, die innere Tür doch noch zu öffnen. Keiner brachte den gewünschten Erfolg. Damit war offenbar geworden, daß wesentlich höhere Drücke erforderlich waren, um den Zutritt gewaltsam zu erzwingen.
Schließlich war ein Druck von neunhundertvierundsiebzig Atmosphären erforderlich. Die Tür öffnete sich langsam. Hewitt beobachtete den Druckmesser und wartete darauf, daß die Nadel rasch zurückging. Die unter Druck stehende Luft mußte in das Innere des Raumschiffs strömen und sich dort wieder ausdehnen. Dabei würde sie wie ein Hurrikan wirken und alles zerstören, was ihr im Weg stand. Die Nadel ging auf neunhundertdreiundsiebzig zurück. Dort blieb sie stehen. »Wie ist das nur möglich?« fragte einer der Wissenschaftler neben Hewitt. »Der Luftdruck hat sich kaum verändert! Dabei lasten auf jedem Quadratzentimeter schon neunhundertdreiundsiebzig Kilogramm!« Hewitt wandte sich ab. »Ich muß mir einen Spezialanzug herstellen lassen«, sagte er. »Unsere Schutzanzüge sind diesem Überdruck nicht gewachsen.« Das bedeutete, daß er wieder auf die Erde zurückkehren mußte. Allerdings war damit kein allzu großer Zeitverlust verbunden, denn es gab Firmen, die einen Auftrag dieser Art innerhalb weniger Tage ausführen konnten. Aber Hewitt mußte persönlich anwesend sein, um die Herstellung zu überwachen. Während er von Bord der Molly D ging, dachte Hewitt: »Dann brauche ich nur noch zu veranlassen, daß das Schiff wieder in Richtung Centaurus startet. Viel-
leicht muß ich sogar mitfliegen – aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Für die Konstruktion eines zweiten Schiffes war es auf jeden Fall bereits zu spät. Plötzlich war er überzeugt davon, daß alles wie geplant verlaufen würde. Er ahnte nicht, was ihm noch bevorstand. Als er landete, ging über Amerika eben die Sonne auf. Gegen Mittag verließ er die kleine Fabrik, die auf Taucheranzüge spezialisiert war, und stand plötzlich einer Meute von Reportern gegenüber, die von seiner Ankunft benachrichtigt worden waren. Hewitt gab ihnen alle gewünschten Auskünfte, aber die Reporter schienen nicht zufrieden zu sein. Eine halbe Stunde später machte er einen Fehler, als er Joan von seinem Büro aus anrief. Das letzte Gespräch zwischen den beiden lag nun schon einige Jahre zurück; Joan schien neugierig zu sein, denn sie kam selbst an den Apparat. »Was hast du auf dem Herzen, Andy?« fragte sie leichthin. »Eine Versöhnung zwischen uns.« »Mein Gott, ausgerechnet das!« sagte Joan und lachte. Hewitt ließ sich nicht so leicht einschüchtern, sondern fuhr unbeirrt fort. »Ich finde den Vorschlag keineswegs lächerlich«, stellte er fest. »Was ist eigentlich aus der ewigen Liebe geworden, die du mir geschworen hast?«
Joan schwieg und antwortete dann: »Du glaubst also tatsächlich, daß wir uns wieder versöhnen, um gemeinsam mit den Kindern in deinem komischen Raumschiff nach Centaurus zu fliegen?« Hewitt hätte am liebsten aufgelegt, aber dann unternahm er doch einen letzten Versuch. »Warum läßt du mir nicht wenigstens die Kinder?« bat er. »Dann sind sie in Sicherheit, wenn ...« An dieser Stelle wurde er von Joan unterbrochen. »Siehst du«, warf sie ein, »ich habe gewußt, was du vorhast!« Dann legte sie auf. Zwei Tage später traf Hewitt wieder auf der Molly D ein und brachte den Spezialanzug mit, der bereits eingehend getestet worden war. Er legte den Druckanzug an, der einer Kugel auf elektrisch angetriebenen Rädern glich, und rollte damit in die Schleusenkammer der Hope of Man. Dann wurde der Druck langsam auf neunhundertdreiundsiebzig Atmosphären erhöht, während Hewitt den Druckmesser im Innern des Anzugs beobachtete. Als nach zehn Minuten keine Veränderung festzustellen war, legte er den ersten Gang ein und rollte durch die offene Schleusentür. Sekunden später befand er sich im Innern der Hope of Man.
23 Die Veränderung hatte sich in dem Augenblick bemerkbar gemacht, als Hewitt in das Innere des Raumschiffs rollte. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das herrschende Halbdunkel, bis er wenigstens wieder Umrisse sah. Diese Erscheinung verblüffte ihn, denn von außen war deutlich zu sehen gewesen, daß der Korridor hell erleuchtet war. Dann fiel ihm auf, daß der breite Hauptgang, in dem er sich jetzt befand, nicht mehr so breit wie früher war. Die Höhe war unverändert geblieben, aber die Breite betrug nur noch fünf Meter – und früher waren es zwanzig gewesen. Das war unerklärlich. Jetzt mußte er sich entscheiden, ob er weiter in das Innere des Schiffs vordringen wollte. Allerdings konnte es daran keinen Zweifel geben, denn sonst hätte er sich selbst untreu werden müssen. Er drehte sich um und schloß die Schleusentür. Dabei erhielt er den dritten Schock, denn die Tür veränderte ihre Form, als er sie bewegte. Ihr normaler Durchmesser verringerte sich von vier auf einen Meter. Diese Veränderung war so ungeheuerlich, daß Hewitt der Schweiß ausbrach. Er dachte: ›Das ist genau der Effekt, der in der Lorentz-Fitzgeraldschen Kontraktionstheorie beschrieben wird.‹
Dann fiel ihm ein, daß diese Veränderungen nur unter bestimmten Umständen möglich waren – wenn das Schiff die Lichtgeschwindigkeit fast erreicht hatte! Hewitt verwarf diesen Gedanken sofort wieder, weil er ihm unsinnig erschien. Für das beobachtete Phänomen mußte es eine andere Erklärung geben. Er ließ sein druckfestes Fahrzeug langsam weiterrollen und lenkte es zunächst in Richtung auf die Kabine des Captains. Während er sich durch die Gänge bewegte, wichen die Schatten zögernd vor ihm zurück. Erst als er die Rampe zum nächsten Deck schon fast erreicht hatte, wurde sie vor ihm sichtbar. Dieses Erscheinen vertrauter Dinge beruhigte ihn in gewisser Beziehung. Noch wichtiger war allerdings, daß alles noch die gleiche Entfernung voneinander aufzuweisen schien wie früher. Zuerst die Luftschleuse, dann die Rampe, dann die zahlreichen Arbeitsräume. Der Korridor verengte sich zwar sofort im Anschluß an die Rampe, aber seine Länge schien unverändert. Hewitt hatte erwartet, daß die Tür der Kabine des Captains für den unförmigen Druckanzug zu eng geworden sein würde. Als er sie jedoch erreichte, konnte er feststellen, daß ihre Breite sich nicht verändert hatte. Er nickte schließlich und dachte: »Natürlich, selbst nach der Lorentz-Fitzgeraldschen Kon-
traktionstheorie verändern sich nur Gegenstände, die in Flugrichtung liegen.« Da die Tür im rechten Winkel zu der Flugrichtung lag, hatte sie sich nicht verändert. Aber die Schwelle war vermutlich weniger breit. Er hatte richtig vermutet – die Breite der Schwelle betrug kaum noch fünf Zentimeter. Hewitt starrte sie sprachlos an und spürte, daß er plötzlich blaß geworden war. »Irgendwie stimmt das alles nicht«, murmelte er vor sich hin. »Der Verkleinerungsmaßstab beträgt überall vier zu eins – aber der Luftdruck hat sich im Verhältnis neunhundertdreiundsiebzig zu eins verändert.« Dann versuchte er sich wieder einmal einzureden, daß die berühmte Kontraktionstheorie in diesem Fall unmöglich zutreffen konnte. Schließlich schien die Geschwindigkeit des Schiffs in dieser Situation keine Rolle zu spielen. Die Hope of Man schwebte praktisch bewegungslos im Raum, was keinen Schluß auf etwa erreichte Geschwindigkeiten mehr zuließ. »Das ist alles nur Zeitverschwendung!« ermahnte Hewitt sich schließlich selbst. »Ich muß endlich etwas unternehmen!« Vor allem mußte er berücksichtigen, daß er sich nur kurze Zeit im Innern des Raumschiffs umsehen sollte, um dann wieder an Bord der Molly D zurückzukehren, wo er den Wissenschaftlern seine Beobachtungen mit-
teilen konnte. Deshalb schaltete er jetzt wieder den Elektromotor ein und fuhr durch die Kabinentür. Der Vorraum war leer. Hewitt rollte weiter und steuerte durch den behaglich ausgestatteten Wohnraum auf das Schlafzimmer zu. Die Tür war geschlossen, aber er öffnete sie mit einem der zangenförmigen Griffe, in die seine Handschuhe ausliefen. Hewitt wagte sich nur zögernd weiter, weil er das Privatleben anderer nicht stören wollte. In dem Schlafzimmer stand ein breites Doppelbett. Eine Frau lag in dem vorderen, war aber fast völlig von der Bettdecke verhüllt, so daß Hewitt nur ihren Kopf und einen Arm sah. Auf den ersten Blick erschien sie völlig normal, so daß er seine Aufmerksamkeit statt dessen auf den Mann in dem anderen Bett konzentrierte. Der Mann lag dicht an das Kopfende des Betts gepreßt – in der typischen Haltung eines Menschen, der von einer plötzlichen Beschleunigung oder Verzögerung überrascht worden ist. Sein Körper war teilweise normal geblieben, aber einige Gliedmaßen schienen verändert, was auf die merkwürdige Haltung zurückzuführen sein mochte. Hewitt rollte um das Bett herum und stellte fest, daß der Mann von vorn gesehen völlig normal wirkte. Aber von der Seite aus glichen sein Kopf und der ganze Körper den grotesken Verzerrungen eines Menschen in einem Spiegelkabinett.
Hewitt konnte sich nicht daran erinnern, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Jedenfalls wies er keinerlei Ähnlichkeit mit Captain John Lesbee auf, der die Hope of Man bei ihrem Start vor sechs Jahren kommandiert hatte. An dieser Stelle erkannte Hewitt, daß die Erklärung für diese Phänomene nicht leicht zu finden sein würde. Einige der Erscheinungen ließen sich vielleicht mit Hilfe der Kontraktionstheorie verständlich machen. Aber die anderen waren eigentlich nur möglich, wenn das Schiff gleichzeitig verschiedene Geschwindigkeiten erreichte. Unmöglich. Hewitt begann seinen Rückzug aus der Kabine des Captains. Er konnte kaum noch klar denken, nahm sich aber doch die Zeit zu einem Blick in das zweite Schlafzimmer. Als er die drei Betten mit den drei jungen Frauen sah, wich er hastig zurück. Diese weiblichen Zerrbilder wirkten noch schrecklicher als der Mann, den er vorher gesehen hatte. Als er wieder durch die Gänge rollte, zwang Hewitt sich bewußt dazu, seine neue Umgebung mit anderen Augen anzusehen und diese verrückte Wirklichkeit zu akzeptieren. Er beobachtete jetzt genauer und glaubte, was er sah. In den für die Schiffsoffiziere bestimmten Appartements bot sich ihm überall das gleiche Bild – eine Frau in dem größeren Schlafzimmer und Kinder in dem kleineren.
Aber wo waren die Männer? Hewitt entdeckte die ersten in einer Kabine, die in einem Seitengang rechts von der des Captains lag. Die drei grobschlächtigen Kerle mit den brutalen Gesichtszügen lagen ebenfalls in ihren Betten, aber da sie nicht alle in Flugrichtung schliefen, boten sie einen überraschenden Anblick. Als Hewitt die erste Bettdecke hob, sah er einen Körper, der buchstäblich dünn wie eine Bohnenstange war, so unglaublich das auch erschien. Der zweite Mann war zu einer zwergenhaften Gestalt zusammengedrückt worden, als sei er unter einen Schmiedehammer geraten. Der dritte, der auf der Seite lag, war schmal wie ein Handtuch, obwohl die normale Körperbreite erhalten geblieben war. Bis auf diese drei Männer fand Hewitt keine anderen mehr auf dem Offiziersdeck. Als er jedoch einige Minuten später in die Mannschaftsdecks vorgedrungen war, fand er dort in den kleinen Schlafsälen Hunderte von Männern in verschiedensten Stadien der Verzerrung. Aber keine einzige Frau, was ihn einigermaßen in Erstaunen versetzte. Schließlich sah er keinen Grund, daß die Männer hier unten versammelt sein sollten, während Frauen und Kinder in den Kabinen auf den oberen Decks schliefen. Hewitt war unterdessen immer nachdenklicher geworden. Während er auf den Maschinenraum zurollte, überlegte er sich, daß die Hope of Man Kinder,
Frauen und Männer verschiedener Altersstufen an Bord hatte – und daß er nicht einen dieser Menschen kannte. Obwohl er vor dem Start des Raumschiffs persönlich mit allen Kolonisten gesprochen hatte, erkannte er jetzt nicht einen einzigen wieder. Dann erreichte er den Maschinenraum und erschrak, als er einen Blick auf die zahlreichen Meßgeräte warf, mit denen die Wände bedeckt waren. Der Atommeiler wies unwahrscheinliche Betriebstemperaturen auf. Die Ausgangsspannung der Transformatoren blieb trotzdem überraschenderweise völlig gleichmäßig. Der Beschleunigungswiderstand mußte ungeheuer sein, denn die Instrumente zeigten nur eine verschwindend geringe Beschleunigung an. Während Hewitt die Meßgeräte überprüfte, erinnerte er sich an ein Gespräch mit Tellier, der behauptet hatte, das Schiff könne die Lichtgeschwindigkeit erreichen. Dann runzelte er plötzlich die Stirn. Die Anzeige des Geschwindigkeitsintegrators war doch bestimmt falsch: 299 792 865 Meter pro Sekunde ... Schneller als das Licht! Hewitt dachte: »Das kann aber doch bestimmt nicht heißen, daß die Hope of Man noch immer ...« Dann führte er diesen unglaublichen Gedanken aber doch nicht zu Ende, sondern begann seinen Rückzug in Richtung auf die Luftschleuse, hinter der das Bergungsschiff Molly D auf ihn wartete.
24 Während Hewitts Abwesenheit war einer der größten lebenden Wissenschaftler an Bord des Bergungsschiffs gekommen. Er hörte gemeinsam mit den anderen zu, als Hewitt seinen Bericht erstattete, und schwieg während der nun folgenden Diskussion nachdenklich. Seine Gegenwart wirkte auf die übrigen Wissenschaftler in gewisser Beziehung einschüchternd, denn plötzlich hatte keiner von ihnen mehr etwas zu sagen. ›Sollen die anderen sich doch aufs Glatteis begeben‹, schien jeder zu denken. Deshalb war es kein Wunder, daß die Diskussion »auf dem Boden der Tatsachen« blieb. Immer wieder war von »natürlichen Ursachen« die Rede. Als Hewitt lange geduldig zugehört hatte, warf er schließlich aufgebracht ein: »Aber das ist doch alles wirklich geschehen! Welche natürlichen Ursachen meinen Sie überhaupt, meine Herren?« Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Augenblick räusperte sich der große Mann und ergriff erstmals das Wort. »Meine Herren«, begann er mit einem leichten Lächeln, »wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, möchte ich jetzt den Versuch unternehmen, mit dem Unsinn aufzuräumen, der sich zu Beginn dieses Hindernisrennens angesammelt hat.«
Dann wandte er sich an Hewitt. »Ich muß Ihnen zunächst gratulieren, Sir. Zum erstenmal in der Geschichte der exakten Wissenschaften ist der menschliche Beobachter – eigentlich bestenfalls eine mathematische Wahrscheinlichkeit – tatsächlich zum Leben erweckt worden. Sie haben Phänomene beobachtet, die bisher nur als Formeln und Gleichungen auf dem Papier standen.« Ohne weitere Vorreden brachte der Wissenschaftler dann seine Erklärung für die verblüffenden Ereignisse vor, wobei er ausdrücklich darauf hinwies, daß »bestimmte Aspekte der Lichtgeschwindigkeit« dabei eine Rolle spielen mußten. Dann fuhr er fort: »Im Augenblick brauchen wir uns noch nicht mit dem Problem zu befassen, wie diese Erscheinung überhaupt möglich ist, obwohl Spekulationen ohne Zweifel angebracht erscheinen. Ich möchte sogar selbst eine Theorie beisteuern. Mister Hewitt hat berichtet, daß der Geschwindigkeitsmesser einen Wert anzeigt, der über der Lichtgeschwindigkeit liegt. Könnte es also sein, daß das Schiff uns nach Erreichen dieser Geschwindigkeit mit einem Raum-Materie-Zustand konfrontiert, der bisher für unmöglich gehalten wurde? Ich vermute, daß das Schiff mit ÜberLichtgeschwindigkeit durch eine separate Existenzzone fliegt, die sich parallel zu unserem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum erstreckt.«
Selbstverständlich mußte der Fall zunächst eingehender untersucht werden. Aber das konnte bis später warten. Vorläufig machte der Wissenschaftler einen anderen Vorschlag: »Meine Herren, Sie sind sich vermutlich alle darüber im klaren, daß hier eine praktische Lösung des Problems vordringlich ist. Falls einer von Ihnen glaubt, einen zweckmäßigen Vorschlag machen zu können, kann er ihn gleich jetzt vorbringen.« Er machte eine Pause. »Niemand? Schön, dann stelle ich meinen eigenen zur Diskussion. Wir müssen einen sorgfältig abgefaßten Brief in mehreren Exemplaren an Bord der Hope of Man verteilen. Auf diese Weise erreichen wir alle entscheidenden Männer gleichzeitig, nachdem sie wieder aufgewacht sind. Der Brief muß eine Beschreibung der Verhältnisse enthalten, die Mister Hewitt beobachtet hat. Außerdem werden die Verantwortlichen aufgefordert, den Antrieb und den Autopiloten außer Betrieb zu setzen. Wenn das nach einer bestimmten Frist – wobei die Zeitdifferenz zu berücksichtigen ist – nicht durchgeführt worden ist, müssen wir annehmen, daß der Inhalt des Schreibens mißverstanden wurde. In diesem Fall müßte Mister Hewitt sich nochmals an Bord der Hope of Man begeben und dort selbst den Versuch unternehmen, den Autopiloten abzuschalten
und den Hauptantrieb stillzulegen. Trotzdem wäre zu empfehlen, daß er daß Alarmsystem des Schiffs in Betrieb setzt, bevor er nach Verteilung des Schreibens wieder von Bord geht, damit die Besatzung so rasch wie möglich aufwacht.« Hewitt runzelte nachdenklich die Stirn, während er über den Vorschlag des Wissenschaftlers nachdachte. Im Grunde genommen konnte er keinen logischen Fehler in diesen Überlegungen entdecken. Aber nachdem er selbst ins Innere des unheimlichen Schiffs vorgedrungen war, dessen Atommeiler dicht an der Sicherheitsgrenze arbeiteten und dessen verzerrte Besatzung in einem todähnlichen Schlaf lag, hatte er das unbestimmte Gefühl, daß ein entscheidender Faktor vernachlässigt worden war. Er erinnerte sich wieder an den Mann, den er in der Kabine des Captains gefunden hatte. Dergleichen unerklärliche Beobachtungen mußten irgendwie erklärt werden können. Aber der Wissenschaftler hatte ihn auch auf einige praktische Dinge hingewiesen. Sein Druckanzug mußte umgebaut werden, damit er darin zusätzliche Arbeiten ausführen konnte, die vielleicht notwendig wurden. Außerdem würde er Wasser und Verpflegung mitnehmen müssen, falls tatsächlich ein dritter Besuch an Bord der Hope of Man erforderlich war. Es hatte fünfunddreißig Stunden gedauert, bis die
Luftschleuse sich öffnen ließ, wozu normalerweise nicht mehr als fünf Minuten benötigt wurden. Deshalb war es möglich, daß die Stillegung des Antriebs und die damit verbundene Verzögerung wochenlange Anstrengungen erforderte. Im Grunde genommen war es also besser, wenn die Besatzung diese Aufgabe selbst übernahm. Einer der Wissenschaftler machte den Vorschlag, den Druckanzug zusätzlich mit Instrumenten auszurüsten, die automatisch den Antriebszustand bei Über-Lichtgeschwindigkeit registrierten. Daraufhin wurden rasch nacheinander zahlreiche Veränderungen diskutiert, bis Hewitt schließlich ein Machtwort sprach: »Meine Herren, ich möchte feststellen, daß der Druckanzug nicht unbegrenzt aufnahmefähig ist. Deshalb darf ich Sie bitten, gemeinsam mit mir in das Werk zurückzukehren, wo Sie dann alle möglichen Zusatzgeräte einbauen lassen können. In der Zwischenzeit wird das vorgeschlagene Schreiben abgefaßt und vervielfältigt. Auf diese Weise sind wir bald wieder zurück, so daß ich nochmals an Bord gehen kann.« Die Wissenschaftler stimmten zu und flogen in Hewitts Begleitung zur Erde. Dort blieben sie in der Fabrik, um die notwendigen Arbeiten selbst zu überwachen. Hewitt schätzte, daß er spätestens in einer Woche
an Bord der Molly D würde zurückkehren können. Die ersten Stunden dieser langen Wartezeit wollte er verschlafen. Deshalb fuhr er jetzt geradewegs in sein Hotel, wo ein Appartement für ihn bereitstand.
25 An Bord der Hope of Man erwachte Lesbee V aus seiner Bewußtlosigkeit. Er blieb ruhig liegen und konnte sich im Augenblick nicht daran erinnern, was sich ereignet hatte. Einige Minuten lang starrte er in der Dunkelheit vor sich hin und dachte angestrengt nach. Dann kam die Erinnerung zurück. »Mein Gott!« rief er leise aus. Zuerst hatte er noch Angst, aber plötzlich fühlte er sich unendlich erleichtert, weil er noch immer atmete und lebte. Die Über-Lichtgeschwindigkeit war also für Menschen nicht tödlich. Der gefürchtete Augenblick, in dem das Schiff diese Geschwindigkeit erreichte und sogar überschritt, war gekommen, war erlebt worden und lag jetzt hinter ihnen. Lesbee fragte sich, wie lange er bewußtlos gewesen sein mochte. Diesem Gedanken folgte die Überlegung, daß er so rasch wie möglich in den Maschinenraum zurückkehren mußte, um dort die Verzögerung einzuleiten. Er dachte an Gourdy. »Vielleicht ist er tot?« murmelte er hoffnungsvoll vor sich hin. Lesbee griff nach dem Schalter neben seiner Koje und drückte ihn nieder. Das war eine völlig automatische Reaktion; erst als das Licht die kleine Zelle
überflutete, nahm er wahr, daß elektrische Impulse, Lichtwellen und künstliche Schwerkraft so normal wie üblich funktionierten. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Aber dann fiel ihm ein, daß Lichtwellen sich theoretisch auch bei Lichtgeschwindigkeit mit gleicher Geschwindigkeit ausbreiteten. Lesbee öffnete seine Gurte und setzte sich mühsam auf. Dann hörte er Geräusche vor seiner Zelle. In dem Schloß drehte sich ein Schlüssel. Jenseits der Eisenstäbe wurde eine Tür geöffnet Gourdy, der einen Verband um den Kopf trug, sah durch den Spalt. Hinter dem Captain tauchte die riesenhafte Gestalt eines Küchenhelfers namens Harcourt auf. Als Lesbee den Captain erkannte, war er einen Augenblick lang enttäuscht Eigentlich hatte er nichts anderes erwartet; seine Vermutungen hatten sich nur bestätigt. Aber trotzdem zerstörte die Wirklichkeit – daß Gourdy nicht tödlich verletzt worden war – eine Hoffnung, die er im stillen gehegt hatte. Er überwand seine Enttäuschung jedoch rasch wieder und sah Gourdy neugierig entgegen. Ihm war eingefallen, daß Gourdys Kommen allein schon einen Sieg bedeutete. Lesbees Niedergeschlagenheit verflog augenblicklich, als er darüber nachdachte. Er hatte das Ziel er-
reicht, das ihm vorgeschwebt hatte, als er die Steuerung des Schiffs programmierte – dieser gefährliche kleine Mann war endlich zu ihm gekommen, um ihn um Hilfe zu bitten. Er sprach hastig, weil er von Anfang an keinen falschen Verdacht aufkommen lassen wollte. »Ich bin bewußtlos geworden und erst vor wenigen Minuten wieder aufgewacht. Was ist eigentlich passiert? Sind wir noch in Gefahr?« Er beobachtete Gourdys verblüfften Gesichtsausdruck. »Dann hat es Sie also auch erwischt!« stellte der Captain überrascht fest. Lesbee starrte ihn nur wortlos an. Er wußte, daß er nicht übertreiben durfte, denn allzu viele Wiederholungen konnten seine Glaubwürdigkeit unter Umständen in Frage stellen. »Lesbee, können Sie beschwören, daß das alles nichts mit irgendeiner Meuterei zu tun hat?« Lesbee setzte sich sofort energisch gegen diese Unterstellung zur Wehr und brauchte dabei nicht einmal zu lügen, weil sein Plan nur bis zu diesem Augenblick gereicht hatte. Was man daran als Versuch einer Meuterei bezeichnen konnte, gehörte bereits der Vergangenheit an. Jetzt stand die Besatzung der Hope of Man neuen Problemen gegenüber – den Phänomenen der Über-Lichtgeschwindigkeit. Gourdy schien davon überzeugt zu sein, daß Les-
bee die Wahrheit gesagt hatte. Er zögerte zwar noch, aber nur einen Augenblick lang. Dann sagte er rasch: »Einmal riskiere ich es noch mit Ihnen, Lesbee. Sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich in den Maschinenraum kommen! Aber seien Sie vorsichtig – Harcourt begleitet Sie. Versuchen Sie es also lieber nicht mit dummen Tricks!« Der Captain mußte sich aber doch überlegt haben, daß er hier mit Drohungen nichts ausrichten konnte. »Hören Sie, Lesbee«, bat er, »stellen Sie fest, was passiert ist, bringen Sie die Sache wieder in Ordnung – und dann reden wir noch einmal miteinander. Einverstanden?« Lesbee traute ihm nicht; konnte es nicht. Er war sich darüber im klaren, daß Gourdys Lage sich nicht verändert hatte, daß der neue Captain nach wie vor nicht zur Erde zurückkehren durfte. Aber laut antwortete er trotzdem: »Einverstanden. Selbstverständlich, Captain.« Gourdy rang sich ausnahmsweise ein fast freundliches Lächeln ab. »Schön, dann erstatten Sie mir also später Bericht, Mister Lesbee«, entschied er, bevor er wieder ging, um auch die übrigen Verhafteten zu verhören. In dem Augenblick, in dem er sich davon überzeugt hatte, daß Lesbee offenbar keine Schuld an den geheimnisvollen Vorfällen traf, fiel Gourdys Verdacht
logischerweise auf Miller. Wer wäre denn sonst noch in Frage gekommen, nachdem nur diese beiden Männer im Maschinenraum gewesen waren? Er erinnerte sich jetzt daran, wie genau Miller die Instrumente überprüft hatte – und daß er einige sogar berührt hatte. Dabei mußte alles geschehen sein, entschied Gourdy. »Direkt vor meinen Augen!« Allein der Gedanke an diese unglaubliche Frechheit genügte, um ihn rot sehen zu lassen. Lesbee kehrte in Harcourts Begleitung in den Ausweichkontrollraum zurück. Er überzeuge sich mit einem kurzen Blick auf die Bildschirme, daß die Hope of Man sich nicht in gefährlicher Nähe eines Himmelskörpers befand. Dann machte er sich rasch an die Arbeit, wobei er das aufgeregte Zittern seiner Hände gewaltsam unterdrücken mußte, und programmierte die Steuerung so, daß eine Verzögerung von zwölf g wirksam werden mußte, die durch eine Erhöhung der künstlichen Schwerkraft auf elf g ausgeglichen werden sollte. Als er die Programmierung abgeschlossen hatte, griff er nach dem Hauptschalter, legte die Hand darauf und ... Und zögerte unentschlossen. In diesem entscheidenden Augenblick durfte er nicht voreilig handeln, sondern mußte alle Möglichkeiten berücksichtigen. Die Beschleunigung auf Über-Lichtgeschwindigkeit
hatte den Zweck erfüllt, den er ihr zugedacht hatte. Er war aus der Zelle befreit worden. Aber seine Lage hatte sich im Prinzip keineswegs verändert oder gar verbessert. Vorläufig befand er sich nicht in Gefahr, aber wenn er versagte oder auch nur einfach gar nichts unternahm, würde Gourdy ihn ermorden lassen. An dieser Tatsache war nicht zu rütteln, deshalb mußte er seine weiteren Anstrengungen danach ausrichten. ... Harcourts Strahler an sich reißen, den Mann bewegungsunfähig machen ... fesseln, irgendwie festhalten ... vielleicht sogar töten, falls kein anderer Ausweg erkennbar war ... Aber unbedingt dafür sorgen, daß er nicht eingreifen konnte. Dann Tellier befreien ... und mit ihm in einem der Rettungsboote das Schiff verlassen, wie sie es vereinbart hatten. Als Lesbee diese Entscheidungen getroffen hatte, griff er nochmals nach dem Hauptschalter. Aber diesmal zog er die Hand zurück, ohne den Hebel zu berühren. Ihm war etwas anderes eingefallen, das zwar nicht ihn persönlich betraf, aber doch viel wichtiger sein konnte. Er dachte: ›Weshalb sind wir am Übergangspunkt bewußtlos geworden? Das muß geklärt werden.‹ Menschen wurden nicht leicht bewußtlos. Diese Erfahrung hatte sich in der Vergangenheit oft genug be-
stätigt. Bei den an Bord nicht allzu seltenen Unfällen hatte sich immer wieder gezeigt, daß Menschen selbst starke Schmerzen ertragen konnten, ohne dabei das Bewußtsein völlig zu verlieren. Lesbee wandte sich an seinen Leibwächter und erkundigte sich: »Sind Sie eigentlich auch ohnmächtig geworden, Harcourt?« »Ja.« Der Riese nickte langsam. »Erinnern Sie sich noch an etwas?« »Nein. Ich bin einfach umgefallen. Dann wurde ich wieder wach und dachte: ›Menschenskind, sieh lieber nach, was aus Gourdy geworden ist!‹ Er lag am Kopfende seines Betts und ...« Lesbee unterbrach ihn. »Keine merkwürdigen Gedanken?« fragte er. »Keine Bilder, keine Träume, Vorstellungen oder Erinnerungen? Bevor Sie das Bewußtsein verloren haben, meine ich.« Er selbst erinnerte sich nur an vage Sinneseindrükke und an den rückwärts ablaufenden Traum, in dem er sein Leben gesehen hatte. »Hmm«, meinte Harcourt nachdenklich. »Wenn ich mir die Sache recht überlege, glaube ich doch, daß ich etwas geträumt habe. Aber das ist jetzt alles ziemlich verschwommen.« Lesbee wartete. Der Gesichtsausdruck des anderen verriet, daß Harcourt sich zu erinnern versuchte, so daß jedes Drängen sinnlos war.
»Wissen Sie, Mister Lesbee«, sagte Harcourt schließlich, »wenn man es recht nimmt, hat doch jeder Mensch die ganze Wahrheit in sich.« Lesbee seufzte innerlich. Der Kerl dachte und sprach wirklich zu langsam! »Ich muß jetzt die Verzögerung einleiten, Harcourt«, sagte er deshalb rasch. »Dann können wir uns später weiter über dieses Thema unterhalten.« Mit diesen Worten griff er zum drittenmal nach dem Schalter und legte ihn vorsichtig um. Dann ließ er sich in den Sessel fallen, drückte auf den Knopf der Übertragungsanlage und kündigte an daß die Verzögerung in weniger als einer Minute beginnen würde. Nachdem er diese Warnung ausgesprochen hatte, wollte Lesbee sich schon anschnallen, als er zufällig einen Blick in Harcourts Richtung warf und feststellte, daß der Mann seinen Gurt bereits befestigt hatte. In diesem Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke – sollte er den anderen jetzt angreifen? Lesbee sank atemlos in den Sessel zurück. ›Nicht jetzt!‹ überlegte er. Vorläufig hatte er noch zu viele Unbekannte zu berücksichtigen. Wenn innerhalb der kommenden Minute ein Kampf entbrannte, würde er durch die einsetzende Verzögerung unterbrochen werden. ›Abwarten!‹ ermahnte Lesbee sich selbst. Er schnallte sich mit zitternden Fingern an. Dann beobachtete er die Zeiger der Instrumente
auf dem Kontrollpult vor seinem Platz. Plötzlich gingen die Zeiger zurück. Lesbee machte sich unwillkürlich auf einen Stoß gefaßt. Aber nichts dergleichen geschah. Kein Wunder, denn schließlich hatte er den Antrieb so programmiert, daß der Unterschied zwischen Andruck und künstlicher Beschleunigung ein g betrug. Dieser Wert wurde genau eingehalten. ›Funktioniert das alles etwa auch bei ÜberLichtgeschwindigkeit einwandfrei?‹ dachte Lesbee erstaunt. Die Zeiger gingen weiter zurück. Harcourt machte sich nochmals bemerkbar. »Wissen Sie, Mister Lesbee«, begann er, »der Traum war wirklich komisch. Ich habe tatsächlich geträumt, daß ich plötzlich so groß wie der ganze Weltraum war. Und überall bewegten sich diese merkwürdigen kleinen Lichtflecken; nur waren sie nicht mehr klein und blieben dann stehen und drehten sich rückwärts weiter. Ich hatte auch das Gefühl, als bewegte ich mich in Wirklichkeit rückwärts. Und dann muß ich das Bewußtsein verloren haben.« Lesbee hatte aufmerksam zugehört, während der andere seine Erfahrungen beschrieb. Dabei hatte er das Gefühl, Harcourt schildere eine innere Vision, die von keinen nachträglichen Überlegungen beeinflußt war.
»... so groß wie der ganze Weltraum ...« Das entsprach genau der Theorie – nach Erreichen der Lichtgeschwindigkeit wurde die Masse unendlich groß, der Umfang jedoch unendlich klein. ›... merkwürdige kleine Lichtflecke ...‹ Elektronen, die plötzlich ihre Kreisbahnen änderten ... Natürlich. Phantastisch, aber trotzdem natürlich. Und natürlich war das auch der Punkt, an dem die Bewußtlosigkeit einsetzen mußte. Genau in dem Augenblick, in dem sich die Bewegungsrichtung umkehrte. Lesbee stellte sich begeistert vor, daß das Schiff in dieser Sekunde Raum und Zeit besiegt haben mußte, daß die Struktur der Materie ... Dann schrak er wieder aus seinen Gedanken auf und wartete gespannt auf den entscheidenden Augenblick, in dem das Schiff die Lichtgeschwindigkeit wieder unterschreiten wurde. Er wartete auf die Rückkehr zu dem gewohnten Normalzustand. Die Sekunden vergingen rasch. Die Zeiger gingen langsam weiter zurück. Nichts ...
26 Auf der Erde waren unterdessen drei lange Wochen verstrichen. Hewitt unternahm alles, um die notwendigen Vorbereitungen rascher voranzutreiben. Was mit Geld zu erreichen war, hatte er längst erreicht. Aber der menschliche Faktor ließ sich kaum beeinflussen. Das geplante Schreiben erwies sich als eines der größten Hindernisse. Hewitt hatte es so rasch wie möglich verfaßt und die zwanzig Abschriften den Männern zugeschickt, die es genehmigen und unterzeichnen sollten. Unglücklicherweise mußten jedoch immer wieder Änderungswünsche berücksichtigt werden, die sich als äußerst zeitraubend erwiesen. Schließlich ging die letzte Fassung fast eine Woche lang in den Amtsräumen des Außenministers »verloren« und wurde nur durch Zufall wiedergefunden. Dann hielt Hewitt endlich alle zwanzig Ausfertigungen unterschrieben in den Händen und brauchte nur noch seine eigene Unterschrift darunterzusetzen – an erster Stelle, denn die übrigen Unterzeichner hatten höflicherweise beschlossen, ihm diesen Platz nicht zu nehmen. Der kurze Text des Schreibens lautete: An die gesamte Besatzung der Hope of Man!
Euer Raumschiff, die Hope of Man, hat unser Sonnensystem in einem eigenartigen Zustand erreicht. Averill Hewitt, der Schiffseigner, ist zweimal an Bord gewesen und hat dabei Beobachtungen gemacht, die den Schluß nahelegen, daß die Hope of Man die Lichtgeschwindigkeit erreicht oder sogar überschritten haben muß. Unsere besten Wissenschaftler sind sich über die Ursachen dieser Erscheinungen nicht einig, aber sie alle schlagen die gleiche Lösung vor: Verzögert sofort und so rasch wie möglich, um die Auswirkungen der Über-Lichtgeschwindigkeit herabzusetzen! Nehmt dann unverzüglich Funkverbindung mit der Erde auf! Da in diesem Fall vermutlich die LorentzFitzgeraldsche Kontraktionstheorie anwendbar ist, nach der auch Zeitverzerrungen möglich sind, teilen wir Euch noch mit, daß seit dem Start der Hope of Man auf der Erde sechs Jahre verstrichen sind. Diese Information soll Euch einen Anhalt für Eure Berechnungen geben. Handelt sofort, denn Euer Schiff scheint Kurs auf die Erde zu nehmen und prallt wahrscheinlich auf den Planeten auf, wenn die Flugrichtung nicht geändert wird! Dringendst ...
Zu den Unterzeichnern des Schreibens gehörten außer Hewitt selbst auch der Außenminister der Vereinigten Westlichen Großmächte, der Kommandierende General des Raumkorps und drei Wissenschaftler – Peter Linden, der »größte lebende Physiker«, ein führender Astronom und der Präsident der Nobelpreisträger-Vereinigung. Ein ganzes Dutzend hoher Beamter und Wissenschaftler begleitete Hewitt, als er wieder an Bord der Molly D zurückkehrte: Raumkorpsoffiziere, ein Arzt, ein Minister, der Botschafter der Afro-Asiatischen Allianz, drei Raumphysiker ... Die Hope of Man hatte die Entfernung zwischen sich und der Erde innerhalb dieser drei Wochen erwartungsgemäß auf über achthunderttausend Kilometer vergrößert. Dazu kam aber noch die Tatsache, daß die Anziehungskraft der Sonne sich nicht auf das Schiff auswirkte, so daß es die Bewegung des Sonnensystems in Richtung Aries nicht mitmachte. Aus diesem Grund entfernte es sich zusätzlich mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Kilometern pro Sekunde in diagonaler Richtung von der Sonne, wodurch die Entfernung auf über fünfzehn Millionen Kilometer angewachsen war. In der Zwischenzeit hatte das Raumschiff allerdings zweimal eine größere Kurskorrektur vorgenommen, so daß es sich später wieder der Erde nähern würde.
Für die Wissenschaftler war diese Tatsache der Beweis dafür, daß die Suchgeräte an Bord der Hope of Man noch immer auf die Erde ausgerichtet waren. Hewitt ließ sofort starten. Eine Woche später lag das Bergungsschiff wieder längsseits der Hope of Man. Obwohl unterdessen fast ein Monat vergangen war, zeigten die Uhren an Bord des Raumschiffs nur eine halbe Stunde mehr an ... Hewitt legte den Druckanzug an und begab sich so rasch wie möglich in das Innere des großen Schiffs. Er suchte die Kabine des Captains auf – und machte eine überraschende Entdeckung. Der schwarzhaarige Mann, der so verkrümmt in seinem Bett gelegen hatte, war verschwunden. Nur die Frau lag noch in dem zweiten Bett. Trotzdem ließ Hewitt sich nicht beirren, sondern verteilte einzelne Exemplare seines Schreibens an verschiedenen Stellen des Schiffs. Die letzten beiden legte er den Männern auf den Schoß, die in dem Ausweichkontrollraum angeschnallt saßen. Er hatte seinen unförmigen Anzug nur deshalb in den Kontrollraum gelenkt, weil er die Instrumente fotografieren wollte. Die Physiker an Bord der Molly D hatten ihn darum gebeten, weil sie auf wertvolle Informationen hofften. Hewitt machte die Bilder. Als er die Kamera wieder in den Schutzbehälter zurückschnappen ließ, fiel ihm
plötzlich etwas auf. Die Geschwindigkeitsmesser! Ihre Zeiger standen jetzt an einer ganz anderen Stelle als bei seinem ersten Besuch an Bord. Fast genau an dem roten Strich, der die Lichtgeschwindigkeit bezeichnete. Hewitt stand wie gelähmt. Die Steuerung des Raumschiffs war also bereits für eine Verzögerung programmiert. Seine Geschwindigkeit war im Augenblick nur noch wenige Kilometer höher als die des Lichts. Er war davon überzeugt, daß der Übergangspunkt für ihn gefährlich sein würde und verließ deshalb den Kontrollraum so rasch wie möglich. Die Besatzung der Hope of Man hatte den Übergang in der entgegengesetzten Richtung bereits einmal überstanden – aber sie war auch ein Teil des Ganzen. Wie würde sich der umgekehrte Vorgang auf einen Menschen auswirken, der bisher nicht von der Verzerrung betroffen war? Etwas schien völlig sicher: Hewitt hatte nicht mehr genügend Zeit, um sich noch in Sicherheit zu bringen, indem er an Bord der Molly D zurückkehrte. Als er in den langen Korridor einbog, an dessen Ende er undeutlich die rettende Luftschleuse erkannte, erfaßte ihn erstmals ein Schwindelgefühl. Er konnte sich nicht vorstellen, was geschehen würde. Aber er wußte, daß die Entscheidung bevorstand. Hewitt bremste ab und schaltete den Elektromotor
aus. Er nahm noch wahr, daß der gepanzerte Druckanzug ausrollte. Und dann ... Irgend etwas griff von rückwärts nach seinem Körper und drückte ihn erbarmungslos zusammen. Das Gefühl, von einer riesigen Faust zerquetscht zu werden, war so realistisch, daß Hewitt verzweifelt auszuweichen versuchte. Die riesige Faust glitt ab. Hewitt glaubte sich plötzlich in einem unendlich großen Raum wiederzufinden, den sein Körper nicht mehr ausfüllte. Dann verlor er das Bewußtsein.
27 Lesbee zuckte zusammen. Der Schmerz kam von innen heraus, breitete sich langsam durch den ganzen Körper aus und umhüllte ihn dann völlig. Der Vorgang nahm nicht einmal eine Sekunde in Anspruch. Aber Lesbee empfand jeden schmerzerfüllten Augenblick überdeutlich. Er mußte eine Art Wachtraum gehabt haben – diesmal jedoch ohne Phantasien –, denn er kam plötzlich wieder zu Bewußtsein und stellte fest, daß das Schiff den Übergang geschafft hatte. Er spürte deutlich, daß die Verzögerung weiterhin anwuchs. Lesbee hätte am liebsten einen Siegesschrei ausgestoßen. »Geschafft!« murmelte er aber dann nur leise vor sich hin. Mit einer instinktiven Handbewegung öffnete er seinen Gurt, wobei er nicht einmal hinzusehen brauchte, und stand schwankend auf. Er konzentriere sich so auf die Instrumente an der gegenüberliegenden Wand, daß Hewitts Schreiben unbemerkt von seinem Schoß zu Boden fiel. Lesbee starrte wie gebannt auf die Meßgeräte und ging langsam darauf zu. »He, was ist denn das!« fragte Harcourt. Lesbee wandte den Kopf und sah etwas Unsinniges. Harcourt schien in diesem Augenblick nichts
Besseres zu tun zu haben, als irgendeinen Brief zu lesen. Lesbee wandte sich schulterzuckend wieder den Instrumenten zu.
28 Als Hewitt nach einiger Zeit aus seiner Ohnmacht erwachte, stellte er fest, daß der Druckanzug schräg gegen eine Wand gelehnt stand. Allerdings war ihm nicht klar, wie das passiert sein konnte. Er hatte den Eindruck, als habe sich außerdem noch etwas anderes verändert – aber im Augenblick konnte er sich nicht damit befassen. Vor allem fürchtete er, daß der schwere Schutzanzug umstürzen könnte. Deshalb griff er hastig nach den Bedienungshebeln, schaltete den Elektromotor ein und lockerte die Bremse. Der Anzug rollte näher an die Wand heran und stand dann wieder auf allen vier Rädern. Hewitt atmete erleichtert auf und dachte: »Der Übergang zu Unter-Lichtgeschwindigkeiten scheint ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen zu sein. Jedenfalls habe ich keine bleibenden Schäden davongetragen.« Dann fiel ihm plötzlich auf, daß der Korridor, in dem er sich befand, strahlend hell erleuchtet war. Er sah sich überrascht um und stellte fest, daß die Wände wieder die Entfernung voneinander hatten, an die er sich zu erinnern glaubte. In diesem Augenblick erkannte Hewitt die ganze Wahrheit. Er war kein unbeteiligter Beobachter mehr, sondern
zu einem Teil des Ganzen geworden! Für jemand, der von der Molly D kam, würde er jetzt ebenfalls wie eine verzerrte Karikatur seiner selbst wirken. Aber die Besatzung der Hope of Man würde ihn als völlig normal ansehen, weil sie alle der gleichen Veränderung unterworfen waren. Hewitt erinnerte sich an das Gefühl, in einer riesigen Faust zerquetscht zu werden. Das mußte die Verzerrung gewesen sein. Er dachte wieder an den Schmerz und zuckte zusammen. »Ich möchte wissen, wo wir jetzt sind«, murmelte er vor sich hin. Seit er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war, konnten an Bord der Hope of Man nicht mehr als eine oder zwei Minuten vergangen sein. Das entsprach sechzehn bis dreißig Stunden auf der Molly D. Aber Hewitt wußte, daß ihm noch weitere Überraschungen bevorstanden. Vielleicht waren bereits Jahre vergangen. Wenn diese Vermutung zutraf, mußte die Hope of Man in der Zwischenzeit bereits einige Lichtjahre weit von der Erde entfernt sein. Hewitt überlegte sich, daß er jetzt durch einen Zufall genau das erreicht hatte, was er sich vorgenommen hatte. Seine Absicht war es gewesen, an Bord des Raumschiffs zu gehen und mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß die Besatzung wieder Kurs auf Centaurus nahm.
Aus dem Lautsprecher über Hewitts Kopf erklang eine Stimme: »Achtung, Achtung! Hier spricht Captain Gourdy. Mister Lesbee aus dem Kontrollraum hat mich soeben informiert, daß die Verzögerung bis auf weiteres ein g nicht überschreiten wird. Anschnallgurte sind also nicht mehr erforderlich.« Hewitt hatte plötzlich Tränen in den Augen. Er wußte auch, weshalb er sie nicht zurückhalten konnte – endlich wieder eine menschliche Stimme! Wichtiger war allerdings, daß sie einen normalen Vorgang ankündigte und einen bekannten Namen erwähnte. »... Mister Lesbee aus dem Kontrollraum ...« Lesbee! ... Hewitt erinnerte sich an die beiden Männer, die er in dem Kontrollraum gesehen hatte. Beide waren bestimmt fast dreißig, was ein neues Licht auf die Zeitverhältnisse an Bord des Schiffs seit dem Start warf. Aber vor allem wußte Hewitt jetzt endlich, wo sich ein Mann aufhielt, den er dem Namen nach kannte. Wenige Augenblicke später fuhr er um eine Ecke – und betätigte sofort die Bremse. Vor ihm trat ein Mann aus einer der Kabinen, schloß die Tür hinter sich und blieb wie erstarrt stehen, als er Hewitt sah. Hewitt rollte den Druckanzug näher an ihn heran und sagte über den eingebauten Lautsprecher: »Sie brauchen keine Angst zu haben!« Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf.
»Während das Schiff mit Über-Lichtgeschwindigkeit geflogen ist, hat es unser Sonnensystem durchquert«, erklärte Hewitt ihm. »Ich bin von einem Bergungsschiff aus an Bord gekommen. Mein Name ist Averill Hewitt, und ich bin der Eigner der Hope of Man.« Der Mann schien kein Wort verstanden zu haben, denn er blieb stocksteif stehen und starrte den Unbekannten an. »Wie heißen Sie?« fragte Hewitt freundlich. Keine Antwort. Hewitt erkannte, daß der Mann einen Schock erlitten haben mußte. »He!« rief er deshalb mit scharfer Stimme. »Wachen Sie auf! Wie heißen Sie?« Der scharfe Tonfall schien zu helfen. »Von der Erde«, krächzte der Mann. »Sie kommen von der Erde!« »Richtig«, stellte Hewitt fest. »Berichten Sie, was an Bord der Hope of Man vorgefallen ist! Was geht hier eigentlich vor?« Die Auskunft kam nur zögernd und bruchstückweise. Der Mann schien nicht zu begreifen, daß Hewitt von nichts wußte. Aber sein Name war Lee Winance, und Hewitt erfuhr von ihm einen Teil der Ereignisse an Bord. Wieviel Zeit vergangen war. Daß Lesbee den Befehl an Gourdy hatte übergeben müssen. Das waren Vorfälle, an die Winance sich klar erinnerte. Hewitt erhielt sogar einen Abriß der sozialen Ver-
hältnisse an Bord – die Vielweiberei der Offiziere und das starre Kastensystem bis zu Gourdys Machtübernahme. Alle diese Informationen komplizierten das Problem so sehr, daß Hewitt den Mann hilflos anstarrte, ohne weitere Fragen zu stellen. ›Fünf Generationen!‹ dachte er. Diesen Menschen war die Erde völlig fremd. Während Hewitt noch überlegte, rannte Winance plötzlich an ihm vorüber und verschwand um die nächste Ecke. Hewitt rief ihm nach: »Richten Sie Captain Gourdy aus, daß ich mit ihm sprechen möchte. Aber zunächst muß ich in den Kontrollraum.« Der Mann blieb nicht stehen. Im nächsten Augenblick war er in einem Seitengang untergetaucht. Im Kontrollraum hatte Harcourt sich bereits mit Gourdy in Verbindung gesetzt, der unterdessen wieder in seine Kabine zurückgekehrt war. Gourdy hörte sich seinen Bericht mit gerunzelter Stirn an und sah nachdenklich auf das Schreiben, das der andere vor den Bildschirm hielt. Konnte es sich dabei um den Beginn einer neuen Verschwörung handeln? Gourdy entschied rasch: »Bringen Sie das Ding sofort zu mir, Harcourt.« Er war noch nicht wieder in seinem Schlafzimmer gewesen und hatte deshalb das dort liegende Schreiben nicht gefunden.
Hewitt hatte unterdessen den Kontrollraum ohne weiteren Aufenthalt erreicht und dort John Lesbee V allein vorgefunden. Lesbee beobachtete den Eindringling aus dem Augenwinkel heraus, wollte schon einen überraschten Schrei ausstoßen und beherrschte sich dann aber doch mühsam. Später konnte er sich nur an eine Bemerkung erinnern, die er gemacht haben mußte, als der erste Schock überwunden war. »Wieder ins All zurück? Niemals ...«, hatte er Hewitt ins Gesicht geschleudert, nachdem dieser den Zweck seines Kommens erläutert hatte. Völlig ruhig wurde er allerdings erst wieder, als er sah, daß ein rotes Lämpchen auf dem Kontrollpult blinkte. Dabei handelte es sich um eine Sicherheitsvorrichtung, die er selbst installiert hatte. Das Blinken bedeutete, Saß die Abhöranlage in der Kabine des Captains in Betrieb gesetzt worden war. Gourdy! Lesbee konnte nicht beurteilen, wie lange das Lämpchen bereits blinkte. Aber er fuhr innerlich zusammen, als er sich an die zuvor gemachte Bemerkung erinnerte, die der stets mißtrauische Captain als Beweis gegen ihn verwenden würde. In diesem Augenblick reagierte Lesbee wieder wie gewohnt – er dachte weiter als andere und überlegte,
welche Folgen diese Entwicklung haben konnte. Schon jetzt machte er den Versuch, Hewitts zukünftige Rolle in dem Kosmos zu beurteilen, den die Hope of Man darstellte. Er dachte: ›Der Mann kann sich unmöglich rasch genug auf die hier herrschenden Verhältnisse umstellen. Folglich ist er als Unterpfand benutzbar.‹ Damit war allerdings die Frage noch nicht beantwortet, wie Lesbee dieses wertvolle Unterpfand für seine Zwecke nutzbar machen könnte. Lesbee entschied, daß Hewitt vorläufig in erster Linie als Informationsquelle Wert besaß. Ob er als Waffe im Kampf gegen Gourdy eingesetzt werden konnte, mußte sich später entscheiden. Hewitt überlegte seinerseits angestrengt. Falls er sich unterdessen tatsächlich bereits in der Zukunft befand, mußte die vorausgesehene Katastrophe entweder nicht eingetreten sein oder andernfalls die Erde zerstört haben. Sie konnten in das Sonnensystem zurückkehren und sich mit eigenen Augen davon überzeugen, was wirklich geschehen war. Dann – aber nicht früher – mußte er die nächste Entscheidung treffen. Die Entscheidung über Landung oder Weiterflug war leicht zu treffen, wenn handgreifliche Beweise für oder gegen seine Theorie vorlagen. Hewitt seufzte erleichtert auf und sagte mit fester
Stimme: »Als Eigner der Hope of Man gebe ich Ihnen hiermit den Befehl, das Sonnensystem anzusteuern und alles zu tun, was sich als notwendig erweist, um die augenblickliche Lage auf der Erde durch eigene Beobachtung festzustellen.« Lesbee schüttelte den Kopf, bevor er antwortete. »Tut mir leid, Mister Hewitt, diesen Befehl darf ich nur von Captain Gourdy persönlich entgegennehmen. Er ist Kommandant der Hope of Man.« Diese Worte bereiteten Lesbee eine gewisse Erleichterung. Er hoffte, daß Gourdy nun wenigstens vorläufig beruhigt sein würde. Hewitt war verblüfft, als der andere diesen Einwand vorbrachte. Andererseits mußte er einsehen, daß die Bemerkung gerechtfertigt war. Gleichzeitig fiel ihm etwas auf, an das er bisher noch nie gedacht hatte – alle seine Ansprüche als Schiffseigner hingen von dem Rückhalt ab, den er auf der Erde hatte. Andererseits gehörte er aber zu den eifrigsten Verfechtern der Theorie, daß es inzwischen keine Erde mehr geben könne, von der er Unterstützung zu erwarten hatte. In dieser Sekunde fühlte er seine Bedeutung schwinden und erkannte, daß seine Sonderaufgabe undurchführbar geworden war, bevor er damit hatte beginnen können. Lesbees Vorschlag klang wie ein Echo seiner Ge-
danken: »Warum suchen Sie nicht einfach Captain Gourdy auf, um mit ihm zu sprechen?« Mit Gourdy sprechen. Mit dem augenblicklichen Machthaber verhandeln ... Aber vorsichtig! Schließlich hatte er unterdessen einen Begriff davon bekommen, daß Gourdy die Entscheidung über Leben und Tod in seinen Händen hielt ... Hewitt stellte überrascht fest, daß er seine Maschine bereits auf die Tür zusteuerte. Als er den Korridor erreichte, wandte er sich jedoch nicht in die Richtung, in der die Kabine des Captains lag. Statt dessen fuhr er eine Rampe hinab, die auf ein Deck mit zahlreichen großen Lagerräumen führte. Er rollte durch die Tür des ersten Lagerraums und nahm befriedigt wahr, daß dort überall hohe Kistenstapel standen, die bis fast zur Decke reichten. Hewitt hielt im Schatten zwischen zwei Stapeln an und betätigte den Öffnungsmechanismus seines gepanzerten Druckanzugs. Zwischen den Metallplatten entstand ein schmaler Spalt, als das Oberteil hydraulisch von dem unteren Teil getrennt wurde, der den Antrieb enthielt. Hewitt wartete, bis die Teleskoparme bis zur vollen Länge ausgefahren waren, und stieg dann aus dem Anzug. Er schwankte leicht vor Anstrengung – aber vielleicht auch vor Angst, denn er hatte deutlich erkannt, wie gefährlich seine Lage wirklich war. Immerhin be-
saß er noch genügend Kraft, um einen der Kistenstapel zu erklettern und sich dicht unter der Decke des Lagerraumes zu verstecken. Dort wartete er atemlos ab, bis das rote Warnlicht auf dem Instrumentenbrett seiner Maschine zu blinken aufhörte. Erst dann wußte er sicher, daß er nicht mehr belauscht oder auf andere Weise beobachtet wurde. Er kletterte so rasch wie möglich wieder nach unten, schloß sich in den massiven Druckanzug ein und rollte mit höchster Geschwindigkeit davon.
29 Nachdem er vor Hewitt die Flucht ergriffen hatte, rannte Lee Winance geradewegs in Captain Gourdys Kabine und berichtete atemlos von seinem Zusammentreffen mit Hewitt. Gourdy hörte mit gerunzelter Stirn zu, während der Mann seine unwahrscheinlich klingende Geschichte vorbrachte. Er hatte den Verdacht, daß dieser Winance, den er bisher stets als eine absolute Null angesehen hatte, irgendwie etwas mit einer Verschwörung gegen ihn zu tun hatte. Dann erkannte er jedoch, wie absurd diese Vorstellung war. »Augenblick!« sagte er rasch. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Er ging auf die Tür zu, die in das Arbeitszimmer führte. Sowie er außer Sicht war, stürzte er in sein Schlafzimmer, in dem die Abhöranlage installiert war. Dann beobachtete er den Ausweichkontrollraum auf dem winzigen Bildschirm. Zunächst starrte er Hewitt und seinen unförmigen Druckanzug sprachlos an, aber wenige Sekunden später hörte er aufmerksam zu, was die beiden Männer – der Unbekannte und Lesbee – miteinander sprachen. Als Hewitt hastig davonrollte, verfolgte
Gourdy ihn mit Hilfe der versteckt angebrachten Aufnahmegeräte und beobachtete, daß der Eindringling sich in einem der Lagerräume versteckte. Dabei überlegte er immer wieder: ›Soll ich ihn umbringen – oder für meine Zwecke gebrauchen?‹ Dann fiel ihm plötzlich ein, daß er auf jeden Fall den Mann in dem Druckanzug erst einmal fangen mußte, bevor er sich für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden konnte. Als er die Abhöranlage abschaltete, weil er in den anderen Raum zurückgehen wollte, stellte er fest, daß die ältere von Captain Brownes Witwen unbemerkt hereingekommen war und jetzt hinter ihm stand. »Wer war das?« fragte sie überrascht. Die Frau hieß Ruth. Sie sah sehr gut aus und wirkte trotz ihrer fast dreißig Jahre eher wie ein junges Mädchen. Gourdy fühlte sich zu ihr hingezogen und hatte sich bisher nur deshalb beherrscht, weil sein politischer Ehrgeiz stärker als alle anderen Überlegungen war. Deshalb behandelte er sie jetzt mit dem Respekt eines Mannes, der sich seines Sieges zwar sicher ist, aber trotzdem nichts vorzeitig verderben will. Gourdy erklärte ihr, wer Hewitt war, fügte aber sofort hinzu, daß seine Ankunft vermutlich bedeute, daß die Erde zerstört worden sei. »Vielleicht kommt es schon bald zu wichtigen Entscheidungen«, schloß er. Ruth nickte verständnisvoll und ging wieder.
Gourdy betrat den Nebenraum, in dem Winance ungeduldig auf ihn wartete. Der Captain warf ihm einen Strahler zu. Winance fing die Waffe ungeschickt auf. »Mitkommen!« befahl Gourdy kurz. Er ging auf die Tür zu. Winance folgte nur langsam. »Wohin gehen wir, Sir?« erkundigte er sich ängstlich. »Wir wollen den Kerl fangen, den Sie gesehen haben.« »Aber er ist bestimmt bewaffnet.« »Wir auch.« »Oh!« Gourdy lächelte unwillkürlich. Die Reaktion des anderen bestätigte seine Auffassung von der Natur des Menschen. Angst war der beste Ansporn, denn seltsamerweise ließen selbst ängstliche Gemüter sich von anderen mitreißen, die keine Furcht zeigten. »Sie bleiben einfach im Hintergrund und tun, was ich sage«, wies er den anderen an. »Okay, Boß.« Als sie in den Korridor hinaustraten, tauchte Harcourt vor ihnen auf. Gourdy blieb abwartend stehen, bis der Mann herangekommen war. Eine Minute später ging das Trio auf den nächsten Aufzug zu. In der Kabine des Fahrstuhls las Gourdy schweigend den Brief, den Harcourt ihm in die Hand gedrückt hatte.
Der Inhalt des Schreibens bestätigte das Gesehene und überzeugte Gourdy davon, daß er auf keinen Fall voreilig handeln durfte. Trotzdem blieb er bei der Absicht, Hewitt so rasch wie möglich zu fangen. Als die drei Männer den Lagerraum erreichten, in dem Hewitt Zuflucht gesucht hatte, schlich Gourdy voraus. Er wollte sich dem Mann in dem wenig beweglichen Druckanzug von hinten nähern und ihn zur Übergabe auffordern. Deshalb war er höchst erstaunt und fast erschrocken, als die Maschine nicht mehr sichtbar war, obwohl er mit seinen beiden Helfern jeden Winkel des Lagerraums durchsuchte. Zehn Minuten später war er endlich zu der Einsicht gekommen, daß Hewitt verschwunden war. Gourdy wunderte sich selbst darüber, mußte aber zugeben, daß er hereingelegt worden war, ohne erkennen zu können, wie der andere das fertiggebracht hatte. ›Wenn wir uns aber tatsächlich in der Zukunft befinden‹, überlegte er dann, ›kann er unmöglich entkommen.‹ Unterdessen war ein anderer Wunsch immer stärker geworden und beherrschte Gourdys Gedanken. Er wollte unbedingt auf die Brücke, um sich davon zu überzeugen, ob die Sonne und die Erde wirklich zu sehen waren. Dorthin machte er sich jetzt auf den Weg.
30 Nachdem Hewitt den Kontrollraum verlassen hatte, kehrte Lesbee wieder an die begonnene Arbeit zurück und überprüfte eines der Geräte, das seiner Meinung nach nicht zuverlässig genug arbeitete. Aber in Wirklichkeit beobachtete er das blinkende Warnlämpchen. Plötzlich blinkte es nicht mehr. Lesbee wartete noch eine Minute. Als er dann völlig sicher wußte, daß er nicht mehr beobachtet wurde, rannte er auf den nächsten Bildschirm zu, stellte die Verbindung zur Brücke her und warf einen Blick auf das Sonnensystem. Die Sonne war ein leuchtender Stern erster Größe. Lesbee berechnete ihre Entfernung, wobei er sich nach ihrer Helligkeit richtete, und stellte fest, daß sie etwas weniger als ein Hundertstel Lichtjahr entfernt war. Dann berücksichtigte er, was Hewitt ihm über die Bewegung der Hope of Man durch das Sonnensystem erzählt hatte, und rechnete aus, daß das Raumschiff fünfzig bis einhundertfünfzig Jahre weit in die Zukunft vorgedrungen sein mußte. Diese Information war äußerst wertvoll. Sie bewies, daß Hewitt keine Aussichten hatte, seine Ansprüche auf die Befehlsgewalt an Bord erfolgreich durchzusetzen.
Lesbee stellte daraufhin die Verbindung zu dem automatisch arbeitenden Funkempfänger auf der Brücke her und hörte jetzt zum erstenmal eine menschliche Stimme von außerhalb des Raumschiffs. Der Funkspruch begann mit einem Läutzeichen, dem zwei Sätze folgten: »Erde an alle, Erde an alle. Landende Schiffe setzen sich auf einundsiebzigkommazwo Meter mit dem Kontrollzentrum in Verbindung und melden voraussichtliche Ankunftszeit.« Lesbee unterbrach die Verbindung, schaltete den Bildschirm aus – und rannte zur Tür. Er mußte sich darauf verlassen, daß Gourdy so sehr mit Hewitt beschäftigt war, daß er im Augenblick keine Zeit für Lesbee hatte. Obwohl damit ein zusätzliches Risiko verbunden war, benützte Lesbee einen der Expreßaufzüge, um rascher auf die Brücke zu gelangen. Dort löste er hastig die Schrauben an der Rückwand des Empfängers, griff hinein und riß die Drähte ab, durch die das Gerät mit den riesigen Antennen verbunden war. Dann schraubte er den Empfänger wieder zu und rannte in den Ausweichkontrollraum zurück. Er verließ sich weiterhin darauf, daß Gourdy ausreichend beschäftigt war, und setzte sich mit der Zelle in Verbindung, in der Tellier gefangengehalten wurde.
Auf dem Bildschirm beobachtete er, daß Tellier in seiner Koje lag. Als Lesbee ihn mit leiser Stimme anrief, stand Tellier auf und trat vor den Bildschirm. »Hör gut zu«, sagte Lesbee eindringlich. »Wahrscheinlich müssen wir das Schiff demnächst so rasch wie möglich verlassen.« Er erklärte, was er bisher unternommen hatte, und versprach seinem Freund, daß er ihn notfalls rechtzeitig befreien würde. »Wir haben jetzt keine Zeit für lange Unterhaltungen«, schloß er. »Ich muß nur etwas wissen – kommst du mit?« Tellier nickte bereitwillig. »Du hast dich nicht verändert«, meinte er bewundernd. Aber dann machte er doch ein besorgtes Gesicht. »John, die Sache ist bestimmt ziemlich riskant ... Aber wenn du keine andere Möglichkeit siehst, komme ich selbstverständlich mit.« Lesbee trennte die Verbindung und rannte nochmals durch die Korridore. Als er den Maschinenraum erreicht hatte, mußte er sich einige Minuten lang setzen, bis er wieder zu Atem gekommen war. Dann machte er sich an die völlig vergebliche und überflüssige Arbeit, die er vorher unterbrochen hatte – er »reparierte« die einwandfrei funktionierenden Triebwerke.
31 Nachdem Hewitt den Lagerraum verlassen hatte, machte er sich auf den Weg zu Gourdys Kabine. Dort traf er die vier Frauen an, die das Frühstück vorbereiteten. Alle vier drehten sich um, als er in seinem Druckanzug hereinrollte, und standen dann wie erstarrt vor Schreck. »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, erklärte Hewitt ihnen freundlich. »Ich bin nur gekommen, um Captain Gourdy zu sprechen.« Die Frauen wurden ruhiger, als er ihnen klarmachte, wer er war. Ruth hatte ihnen offenbar bereits erzählt, was sie auf dem kleinen Bildschirm gesehen hatte. »Ist die Erde wirklich zerstört, wie unser Mann behauptet?« fragte sie jetzt. Seitdem Hewitt mit Lesbee über dieses Thema gesprochen hatte, war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß der Captain diese Feststellung nur zu Propagandazwecken verbreitete. Jetzt befand er sich selbst an Bord der Hope of Man und deshalb in einer seltsamen Lage. Vor Jahren hatte er sich fast an den Rand des finanziellen Ruins gebracht und seinen Ruf aufs Spiel gesetzt, weil er davon überzeugt war, daß die Erde wegen einer Veränderung der Sonne in Gefahr war. Aber hier auf dem Schiff konnte es sich nur als vor-
teilhaft erweisen, wenn seine damalige Voraussage nicht eintraf. Um in dem augenblicklich stattfindenden Machtkampf, an dem er unfreiwillig teilnahm, den Sieg davonzutragen, mußte er diese Menschen in dem Glauben lassen, daß die Erde und ihre militärische Macht nach wie vor existierten. Nur dann konnte er hoffen, daß seine Rechte als Schiffseigner anerkannt werden würden. Plötzlich erschien ihm dieses Thema so gefährlich, daß er am liebsten jede Diskussion darüber vermieden hätte. »Unser Mann ...?« fragte er deshalb ausweichend. »Captain Gourdy!« betonte die älteste der vier Frauen, die sich ihm als Ruth vorgestellt hatte. Sie fuhr mit Stolz in der Stimme fort: »Wir sind die Frauen des Captains. Ilsa und ich waren mit Captain Browne verheiratet. Nach seinen Tode wurden wir die zweiten und dritten Frauen von Mister Lesbee, als er Captain war.« Sie wies auf die schlanke Blondine, deren blaue Augen Hewitt an Joan erinnerten. »Das ist Ann, Mister Lesbees erste Frau. Soweit ich informiert bin, soll sie wieder zu ihm zurückgeschickt werden.« Die Blondine zuckte mit den Schultern, schwieg aber. Ruth deutete auf die Brünette neben sich. »Marianne ist Captain Gourdys erste Frau. Aber natürlich übernimmt er jetzt auch Ilsa und mich.«
Hewitt schwieg diskret. Aber als er von einer Frau zur anderen sah, stellte er fest, daß sie alle mit Ruths Erklärungen einverstanden waren. Er beobachtete dieses Phänomen so nüchtern wie ein Wissenschaftler, der einen Eingeborenenstamm mit interessanten Gebräuchen entdeckt hat. Dann hatte er plötzlich einen Einfall. »Ich werde Captain Gourdy ablösen«, sagte er. »Deshalb sind Sie später alle meine Frauen. Wenn ich mich also an Sie um Hilfe wende, unterstützen Sie mich sofort.« Er fügte hinzu: »Keine Angst, Sie kommen dabei nicht in Gefahr.« Nach einer kurzen Pause schloß er: »Selbstverständlich erzählen Sie niemand – nicht einmal Captain Gourdy –, was ich eben gesagt habe, ohne daß ich meine Erlaubnis dazu gebe.« Die vier Frauen waren plötzlich wieder blaß geworden. »Sie haben nicht richtig verstanden, Sir«, antwortete Ruth schließlich atemlos. »Eine Frau trifft keine Auswahl unter den Männern und tut auch sonst nichts, was darauf schließen läßt, daß sie einen bestimmten Mann allen anderen bevorzugt – bis ein Mann sie zur Frau nimmt. Dann bevorzugt sie selbstverständlich ihren Gatten.« Hewitt sah von einer zur anderen. Er war gleichzeitig fasziniert und erschüttert, obwohl er durchaus mit der geschichtlichen Entwicklung der Beziehungen
beider Geschlechter zueinander vertraut war. Aber der Unterschied zwischen dem theoretischen Wissen, daß Frauen sich früher fast als Leibeigene betrachteten, und der hier deutlich zutagetretenden Praxis war doch erschütternd. Dabei schienen sich die Frauen nicht einmal darüber im klaren zu sein, welche Erniedrigung in der Tatsache lag, die Ruth eben beschrieben hatte. Hewitt erkannte in diesem Augenblick, daß er die Situation an Bord besser als irgendein anderer überblickte, weil nur er die Vergangenheit zu kennen schien. Deshalb sagte er jetzt mit fester Stimme: »Tut mir leid, meine Damen, aber diesmal werden Sie Ihre Wahl unter zwei Männern treffen müssen. Wen ich von Ihnen als Frau behalte, nachdem ich Captain geworden bin, hängt einzig und allein davon ab, wie Sie reagieren, wenn ich Sie in irgendeiner Sache um Hilfe bitte.« Seine Worte wirkten wie ein Schock. Auf Ruths Gesicht erschien ein leichtes Lächeln. Ilsa blickte schüchtern zu Boden. Ann Lesbee war sehr blaß geworden. Marianne starrte ihn neugierig an. Hewitt hatte den Eindruck, daß seine Feststellung die gewünschte Wirkung erzielt hatte. Er nickte zufrieden und fuhr fort: »Wenn Captain Gourdy zurückkommt, können Sie ihm ausrichten, daß ich hier
gewesen bin und daß ich jetzt in den großen Aufenthaltsraum der Besatzung gehe. Dort bleibe ich vorläufig und warte auf ihn.« Als Gourdy diese Nachricht eine halbe Stunde später erhielt, ging er sofort in sein Schlafzimmer und schaltete die Abhöranlage ein. Auf dem Bildschirm erschien eine unglaubliche Szene. Der Aufenthaltsraum war voller aufgeregter Männer, die ganz offensichtlich glaubten, die Hope of Man werde innerhalb kürzester Zeit auf der Erde landen. Gourdy war besonders darüber wütend, daß auch seine eigenen Leute, die er als Wachtposten eingesetzt hatte, so aufgeregt wie alle anderen wirkten. Sie hatten sich unter die Gefangenen gemischt und ließen deutlich erkennen, daß sie jetzt alle Probleme als gelöst betrachteten. Während Gourdy dieses Bild in sich aufnahm, fiel ihm – allerdings etwas zu spät – plötzlich ein, daß er nicht genügend berücksichtigt hatte, welche ungeheure Wirkung Hewitts Erscheinen an Bord der Hope of Man auf die Besatzung haben mußte. Dieser falsche Eindruck mußte umgehend korrigiert werden. Er überlegte angestrengt, was sich dagegen tun ließe. Dann rief er Harcourt zu sich und zeigte ihm die Szene auf dem Bildschirm. »Sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich in den Aufenthaltsraum kommen«, befahl er ihm. »Fah-
ren Sie gleich mit dem Aufzug. Warten Sie, bis niemand in Ihre Richtung sieht, damit Sie unbemerkt in den Raum schlüpfen können. Dann sprechen Sie nacheinander mit jedem der Männer. Machen Sie Ihnen klar, daß wir uns in einer äußerst gefährlichen Lage befinden. Wir müssen an der Macht bleiben, bis wir die Erde erreicht haben. Wenn wir jetzt die Zügel schleifen lassen, kann es dazu kommen, daß die Gefangenen sich an uns zu rächen versuchen. Unsere Männer sollen sich einzeln und unauffällig entfernen; ich warte in dem kleinen Konferenzraum neben meiner Kabine auf sie. Sagen Sie ihnen, daß ich ihnen nichts übelnehme. Alles ist in bester Ordnung, wenn sie sofort kommen.« Gourdy fühlte sich erleichtert, als Harcourt zustimmend nickte und rasch die Kabine verließ. Dann drehte er den Wahlschalter der Abhöranlage und beobachtete einige Sekunden lang Lesbee, der im Maschinenraum arbeitete. Dabei empfand er ein gewisses Bedauern. Lesbee war ihm durchaus nicht unsympathisch, aber Gourdy war allmählich davon überzeugt, daß der ehemalige Captain immer sein Gegner bleiben würde – und daß er deshalb wie Hewitt beseitigt werden mußte. Aber das hatte selbstverständlich Zeit bis später. Im Augenblick ... Er setzte sich mit Lesbee in Verbindung. »Mister Lesbee, ich weise Ihnen die Kabine des
Dritten Offiziers zu und möchte, daß Sie gleich dorthin gehen, weil ich Ihre Frau hinüberschicke. Welche der Offiziere könnten Ihrer Meinung nach angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen freigelassen werden?« Gourdy setzte voraus, daß Lesbee wußte, welche Entwicklung er meinte. Lesbee, der seine eigenen Pläne verfolgte, antwortete sofort: »An Ihrer Stelle würde ich Brownes Offiziere auf keinen Fall freilassen Sir.« Leise fügte er noch hinzu: »Jedenfalls erst dann, wenn ich mit dieser unsinnigen Arbeit hier fertig bin.« Laut fuhr er dann fort: »Und nachdem Sie aus offensichtlichen Gründen auch meine inmitten der allgemeinen Verwirrung nicht freilassen wollen, schlage ich vor, daß Mister Tellier mir bei der Arbeit hilft.« Lesbee beendete seine Antwort mit der Frage: »Woraus bestehen eigentlich die gegenwärtigen Entwicklungen, Sir?« Gourdy schilderte ihm, was sich im Augenblick in dem Aufenthaltsraum ereignete. »Wir dürfen aber nicht riskieren, daß Hewitt jetzt die Macht an sich reißt«, schloß er. »Was halten Sie davon?« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stimmte Lesbee sofort zu. »Darf ich einen Vorschlag machen?« »Natürlich.« »Hewitt hat in den Männern eine bestimmte Hoffnung erweckt. Deshalb ist nicht mehr zu umgehen,
daß wir die Erde tatsächlich ansteuern. Die Besatzung traut nämlich jetzt nur noch ihren eigenen Augen. Andererseits liegt es in Ihrem Interesse, den ursprünglichen Zweck der Expedition weiterhin zu verfolgen. Aus diesem Grund schlage ich vor, daß Sie sich vorläufig Hewitts Anweisungen fügen, ohne ihm zu widersprechen. Stimmen Sie zu, wenn er Kurs auf die Erde befiehlt. Dadurch stehen Sie zunächst nicht mehr unter Druck und können sich später noch immer überlegen, was Sie wirklich tun wollen.« Gourdy war erleichtert, als der andere so freimütig über die Lage an Bord sprach. Er bedauerte wieder einmal, daß es unumgänglich war, Lesbee früher oder später zu beseitigen. Aber ihm blieb kein anderer Ausweg, denn Mitleid konnte in diesem Fall lebensgefährlich sein. Gourdy entschied sich rasch. »Mister Tellier erhält ebenfalls eine Offizierskabine zugewiesen und bekommt seine Frau zurück. Ich werde mich an Ihren Vorschlag halten, sowie ich meine Männer informiert habe.« Er brach die Verbindung ab und stand auf. Sein früheres Selbstvertrauen war bereits wieder zurückgekehrt, als er in den Wohnraum zurückkehrte, wo die vier Frauen eben ihr Frühstück beendeten. Er teilte Ann Lesbee sofort mit, daß sie zu ihrem Mann zurückgehen werde.
Zu seiner Überraschung brach die Frau daraufhin in Tränen aus und zeigte deutlich, daß sie nicht damit einverstanden war. Auch die anderen drei begannen zu weinen. Ruth und Ilsa begleiteten sie in das zweite Schlafzimmer, wo sie ihr persönliches Eigentum zusammenpacken sollte. Marianne schalt ihren Mann. »Das ist wirklich unfair!« schluchzte sie, aber in ihrer Stimme lag Ärger. »Wir Frauen haben so wenig. Du hättest sie nicht fortschicken dürfen.« Da Gourdy nur einen von vielen Schachzügen gemacht hatte, interessierte er sich kaum für diese eigenartige Reaktion. »Hör zu«, meinte er, »ich schicke sie zu ihrem gutaussehenden Mann zurück. Was kann eine Frau denn mehr verlangen?« »Du redest Unsinn!« antwortete Marianne mit Tränen in den Augen. Gourdy hatte keine Zeit für weitere Fragen. Aber als er hastig die Kabine verließ, um die Katastrophe abzuwenden, die durch Hewitts Ankunft heraufbeschworen worden war, überlegte er sich, daß es wohl nie einen Mann geben würde, der die Frauen wirklich verstand. Weshalb mußten sie denn auch bei jeder Gelegenheit losheulen?
32 ›Welchen Grund kann er dafür gehabt haben?‹ überlegte Lesbee. ›Warum will Gourdy, daß ich sofort in meine Kabine gehe, obwohl dort nur meine Frau auf mich wartet?‹ Er würde den Befehl mißachten und die Kabine nicht aufsuchen, beschloß er. Dort oben konnte er leicht festgesetzt werden, ohne daß seine Freunde davon erfuhren. Lesbee war davon überzeugt, daß Captain Gourdy ihn vorläufig zu neutralisieren versuchte, bis die Lage in dem Aufenthaltsraum wieder unter Kontrolle war. Sowie das geglückt war, konnte Gourdy in Ruhe überlegen, wer beseitigt werden mußte. Selbstverständlich brauchte er jemand, der ihm bei der Schiffsführung behilflich war. Lesbee überlegte sich, daß Gourdy eher Miller und andere Offiziere aus Brownes Zeit heranziehen würde, als ihm und seinen Freunden zu trauen. Miller hatte nicht nur die bessere Ausbildung und die größere Erfahrung für sich, sondern auch die Tatsache, daß er nie nach der Position des Captains gestrebt hatte. Das mußte für Gourdy den Ausschlag geben. Lesbee ahnte, daß er und seine Freunde nicht mehr allzu lange zu leben haben würden. Wenn die Morde unauffällig und rasch im An-
schluß an den allgemeinen Aufruhr erfolgten, und wenn Miller tatsächlich die ihm zugedachte Rolle übernahm, woran kein Zweifel bestehen konnte, hatte der ehemalige Gärtner seine Gegner durch einen geschickten Schachzug auf einen reduziert: Averill Hewitt, der mit den Verhältnissen an Bord keineswegs vertraut war. Andererseits konnte man annehmen, daß Hewitt vorläufig noch seines Lebens sicher war, solange die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf seine Person konzentrierte ... Lesbee war der Meinung, der Grad von Gourdys Verzweiflung sei daran zu erkennen, wie rasch Tellier freigelassen wurde ... Lesbee hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als Tellier bereits den Maschinenraum betrat. Die beiden Freunde gaben sich schweigend die Hand. Lesbee überzeugte sich davon, daß die rote Warnlampe nicht blinkte und fragte dann halblaut: »Fertig?« Tellier starrte ihn erschrocken an. »Du meinst doch nicht etwa ... jetzt gleich?« »Jetzt!« »Aber du hast doch selbst gesagt, daß die Entfernung etwa ein Hundertstel Lichtjahr beträgt. Und wir fliegen doch immer noch fast mit Lichtgeschwindigkeit.« »Das Rettungsboot verzögert bestimmt langsamer
als das große Schiff«, gab Lesbee zu. »Trotzdem haben wir keine andere Wahl.« »Oh!« Dann: »Was wird aus unseren Frauen?« Lesbee war ehrlich verblüfft, weil er keine Einwände in letzter Sekunde erwartet hatte. Jetzt griff er ungeduldig nach dem Arm des Freundes und zog ihn mit sich. »Wir können nicht länger warten!« Tellier blieb unentschlossen stehen. »Ich lasse Lou ungern zurück ...« »Sie verliert dich auf jeden Fall. Wenn wir bleiben, wirst du ermordet!« »Das wird sie nie verstehen.« Lesbee verstand nicht, weshalb ein Mann sich wegen einer Frau so viele Sorgen machen konnte. »Seit wann verstehen Frauen überhaupt etwas?« erkundigte er sich wütend. Tellier schien ähnlich zu denken, denn er nickte widerstrebend. Trotzdem zögerte er noch immer und wirkte niedergeschlagen. »Wahrscheinlich kann ich es einfach nicht über mich bringen, die Hope of Man zu verlassen«, bekannte er schließlich. »Warum bleiben wir nicht an Bord und setzen den Kampf gegen Gourdy mit wissenschaftlichen Mitteln fort?« »Weil Gourdy den größten Teil der Besatzung hinter sich hat.« »Du könntest ihn einfach umbringen. Schließlich hat er gegen dich gemeutert.«
»Dann müßte ich mich aber trotzdem noch mit seinen Anhängern herumschlagen. Außerdem bestünde in diesem Fall die Gefahr, daß ich mich vor einem Gericht auf der Erde wegen Mordes verantworten muß. Und das will ich nicht riskieren. Außerdem habe ich das Leben an Bord allmählich gründlich satt.« »Aber es gibt doch bestimmt eine Methode, mit der wir einem technisch völlig ungebildeten Mann wie Gourdy beikommen können. Schließlich steckt das Schiff voller Geräte und Maschinen, von denen er keine Ahnung hat!« »Hör zu«, antwortete Lesbee ruhig. »Ohne die Unterstützung anderer kannst du nichts unternehmen – gar nichts! Fast die gesamte Besatzung war mit meiner Rebellion gegen Browne einverstanden. Gourdys Meuterei stellte eine große Überraschung dar. Aber die Besatzung war erleichtert und damit einverstanden, als Gourdy ankündigte, er wolle die Erde ansteuern. Die Leute haben noch immer nicht begriffen, daß ihr geliebter Captain sich dort gar nicht blicken lassen darf – und wir können sie nicht zu dieser Ansicht bekehren. Solange diese Überzeugung sich nicht allgemein durchgesetzt hat, unterstützt kein Mensch eine neue Rebellion ...« »Du bist also der Meinung, daß wir davon abhängig sind, was der Mob in den unteren Decks glaubt oder für richtig hält?« warf Tellier erstaunt ein.
»Wenn man weiß, was die Leute wollen, ist man ihnen bereits um eine Nasenlänge voraus.« »Warum haben sie sich dann jahrelang mit dem ganzen Unsinn abgefunden?« »Weil sie nicht wußten, daß ihnen Unsinn vorgesetzt wurde.« »Dann sind sie aber nicht gerade intelligent.« »Richtig. Aber jetzt wollen sie zur Erde zurück und werden sich durch nichts davon abhalten lassen. Ich persönlich möchte nicht zwischen die Fronten geraten, wenn der Mann, der nicht zurückdarf, sie daran zu hindern sucht. Gourdy ist zwar nicht dumm, aber er wird trotzdem nie an einen spontanen Volksaufstand glauben. Wenn er uns bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus anderen Gründen umgebracht hat, tut er es bestimmt dann – weil er glaubt, daß wir die Besatzung gegen ihn aufgewiegelt haben. Komm, verschwinden wir lieber rechtzeitig!« Telliers Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß die logischen Argumente ihn beeindruckt hatten. Er griff plötzlich nach Lesbees Arm. »Du hast alles überlegt«, meinte er bewundernd. »Darauf wäre ich nicht so schnell gekommen, John.« Er zögerte nicht länger, sondern ging auf die Tür zu. »Wenn du recht hast, landet die Hope of Man demnächst auf der Erde – und dann sehe ich auch Lou wieder.«
Im Korridor griff Lesbee nach Telliers Arm und zog ihn mit sich. Die beiden Männer rannten auf die Luftschleuse zu und kletterten in das Rettungsboot, das Lesbee für ihre Flucht vorbereitet hatte. Das Boot ruhte wie alle anderen Pinassen in einer Nische neben der großen Schleuse. Nachdem sie die beiden Pilotensitze eingenommen hatten, drückte Lesbee auf den Knopf, dessen Betätigung den automatischen Startablauf einleitete. Die äußere Schleusentür öffnete sich langsam, nachdem die innere zur Seite geglitten war. Das kleine Boot rollte auf seinem Katapult in die Schleusenkammer, deren innere Tür sich sofort wieder schloß. Dann wurde die Luft aus der Schleuse gepumpt. Als die äußere Schleusentür eine Minute später offenstand, katapultierte eine starke Feder das Boot in den Raum. In einer Entfernung von einigen Kilometern setzte Lesbee die Bugtriebwerke in Betrieb. Das Rettungsboot verzögerte augenblicklich, während die kaum noch sichtbare Hope of Man plötzlich ruckartig vorwärtszuschießen schien. Lesbee wußte, daß, jetzt auf den beiden Kontrollpulten des Raumschiffes orangerote Blinklichter aufflammten. Aber er wußte auch, daß keiner der Männer auf der Brücke oder in dem Ausweichkontrollraum erkennen würde, was diese Lichtsignale bedeuteten.
Tellier, der bisher ruhig neben ihm gesessen hatte, brach jetzt das Schweigen. »Sieh dir die Sterne an«, flüsterte er. »Anscheinend drehen wir eine Rolle nach der anderen.« Lesbee warf einen raschen Blick auf den Fluglageanzeiger. Alles in bester Ordnung. Er runzelte die Stirn, während er auf den Bildschirm starrte. Irgend etwas stimmte nicht. Die »festen« Sterne schienen sich tatsächlich zu bewegen. Er griff nach dem Steuerknüppel und bewegte ihn langsam nach beiden Seiten. Das Rettungsboot beschrieb zuerst eine Kurve nach Backbord, dann eine nach Steuerbord. Lesbee ließ den Steuerknüppel los. Das Boot kehrte sofort in seine elektronisch stabilisierte Fluglage zurück. Trotzdem bewegten die Sterne sich weiter. Lesbee war völlig überrascht, denn er beobachtete dieses Phänomen zum erstenmal, obwohl er sein ganzes Leben im Raum zugebracht hatte. Schließlich gehörte es zu den Unannehmlichkeiten des Daseins hier draußen, daß kaum jemals eine Veränderung feststellbar war. Während die Jahre vergingen, änderten nur die »nächsten« Sterne ihre Position um wenige Grad. Sonst schienen sie sich nur zu bewegen, wenn das Raumschiff sich um die eigene Achse drehte. Aber jetzt war deutlich eine Bewegung der Sterne festzustellen. Jedenfalls war das Lesbees erster Ein-
druck. Als er jedoch länger auf den Bildschirm gesehen hatte, fiel ihm auf, daß die großen Nebel nicht davon ergriffen worden waren. Das bewies, daß die Sterne sich tatsächlich bewegten. Selbst wenn die großen Nebelhaufen sich mit gleicher Geschwindigkeit wie die nächsten Sterne bewegten, würde die Veränderung nicht bemerkbar sein. Sie waren viel zu weit entfernt. Nicht einmal eine Bewegung von einigen Lichtjahren pro Sekunde wäre sofort aufgefallen. Da ein fehlerhaftes Instrument alle Sterne in Bewegung zeigen würde, bewies die unveränderte Position der Nebel, daß die nächsten Sterne sich wirklich bewegten. Aber wie ließ sich diese erstaunliche Tatsache erklären? Die einzige Erklärung – oder jedenfalls die naheliegendste – schien zu sein, daß die Sterne sich im Verhältnis zu dem Rettungsboot tatsächlich rascher bewegten ... Lesbee runzelte die Stirn und erwähnte Tellier gegenüber nichts von dieser schrecklichen Möglichkeit. Eine Stunde verging. Zwei. Viele. In der Dunkelheit vor ihnen schwebte ein Stern, den Lesbee für die Sonne der Erde hielt. Beunruhigend war nur, daß er immer schwächer leuchtete. Obwohl sie sich ihm angeblich näherten, wurde er
kleiner. Lesbee war einige Minuten lang verblüfft, als er feststellte, daß der Stern nicht nur kleiner wurde, sondern gleichzeitig auch über den Bildschirm wanderte. Er brachte ihn mehrere Male in den Mittelpunkt zurück – aber die seitliche Bewegung blieb und wurde immer deutlicher. Lesbee war sprachlos. Schließlich zeigten die Instrumente an, daß sie sich dem Sonnensystem noch immer fast mit Lichtgeschwindigkeit näherten. Trotzdem wich die Sonne sichtbar zurück, als sei ihre Eigengeschwindigkeit im Verhältnis zu der des Rettungsbootes höher. Das konnte nur bedeuten, daß das Sonnensystem sich in einem bestimmten Winkel von dem Kurs des Rettungsbootes entfernte. Während Lesbee wie gebannt auf den Bildschirm starrte, bewegten die Sterne sich immer rascher. Da sie aber nicht alle die gleiche Richtung einhielten, entstand der Eindruck eines völligen Wirrwarrs. Das Bild wurde von Minute zu Minute chaotischer.
33 Gourdy hatte Hewitt eingeladen, ihn auf der Brücke aufzusuchen. Ebenfalls anwesend waren einige der früheren Offiziere, die unter Captain Browne gedient hatten – einschließlich Miller, Selwyn und Mindel –, und ein halbes Dutzend Wissenschaftler. Zu ihnen gehörten auch Clyde Josephs, der Chefastronom der Hope of Man, und sein Assistent Max Hook. Im Hintergrund der Brücke standen fünf von Gourdys zuverlässigsten Männern. Jeder von ihnen war mit zwei Strahlern bewaffnet. Nachdem sie alle eine Minute lang die kreisenden Sterne beobachtet hatten, bemerkte Hewitt, daß die Augen des Chefastronomen zu glänzen begannen. »Wunderbar!« sagte der Mann schließlich ehrfurchtsvoll. »Wir sind Zeugen eines Ereignisses, das sich kein Mensch hätte träumen lassen – jedenfalls kein Astronom, der mit den Unveränderlichen des Raum-Zeit-Universums zu arbeiten gewohnt ist.« Er schien gemerkt zu haben, daß die Anwesenden ihn gespannt anstarrten, denn er nickte verständnisvoll. Dann sah er Hewitt fragend an, wandte sich aber doch an Gourdy. »Was wollten Sie von mir wissen, Captain?«
Gourdy stieß einen Knurrlaut aus. »Was geht dort draußen vor?« erkundigte er sich barsch. »Das gesamte Universum scheint sich mit einer Geschwindigkeit von mehreren Millionen Lichtjahren pro Sekunde zu bewegen ...« Der Astronom machte eine Pause, als sei ihm erst jetzt klargeworden, was er eben gesagt hatte. Dann sprach er langsam weiter: »Captain Gourdy, ich hoffe, daß Sie mir Gelegenheit geben werden, dieses Phänomen eingehend zu untersuchen.« An Gourdys wütendem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, daß er dieses Verlangen für überflüssig und unsinnig hielt. Schließlich kam es hier nicht auf die Ursache, sondern auf die Auswirkungen an. Josephs hatte anscheinend endlich begriffen, weshalb die Anwesenden ihn so gespannt ansahen, denn er machte jetzt eine beruhigende Handbewegung. »Keine Angst, meine Herren«, erklärte er gleichzeitig. »Sie brauchen nicht zu befürchten, daß uns die Sterne und die Zeit davonlaufen. Der ganze Vorgang ist wahrscheinlich erst in einigen Milliarden Jahren beendet.« Der Astronom machte wieder eine Pause. Dann schien ihm aufgefallen zu sein, daß die anderen ihn noch immer unzufrieden ansahen. Endlich lächelte Hewitt und sagte in freundlichem
Ton: »Mister Josephs, Sie haben eben eine Zahl gebraucht – Millionen von Lichtjahren –, die darauf schließen läßt, daß wir in einer Klemme sitzen, die in der Geschichte der Menschheit einmalig ist. Ich gebe ehrlich zu, daß ich Angst habe. Sehen wir die Erde jemals wieder? Und wie erreichen wir sie? Das sind die Fragen, die uns alle in diesem Augenblick beschäftigen.« Josephs stand stocksteif und runzelte die Stirn. »Oh!« sagte er dann leise, als er begriffen hatte, was von ihm verlangt wurde. »Die Sonne entfernt sich nur langsam von uns«, fuhr er laut fort. »Aus diesem Grund bin ich fast davon überzeugt, daß wir es nicht nur mit einem Geschwindigkeitsphänomen zu tun haben.« »Aber das setzt doch eine Zeitexpansion von geradezu unglaublichen Ausmaßen voraus!« warf Hewitt erstaunt ein. »Können Sie sich diese plötzliche Veränderung erklären?« Josephs schüttelte den Kopf und antwortete fast entschuldigend: »Je eher ich natürlich meine Untersuchung beginnen kann ...« »Aber wo sind die Planeten geblieben?« brüllte Gourdy. »Das möchten wir von Ihnen erfahren, Josephs! Wo sind Erde, Mars, Venus, Jupiter und ... und ... die anderen? Sie sind einfach nicht mehr da.« Diese Frage beschäftigte Gourdy mehr als das mit
der Geschwindigkeit verbundene Problem. Auch er wollte zur Erde zurück. Allerdings machte es seine Lage erforderlich, daß er sich dabei mehr Zeit als die anderen ließ. Aber die Erde sollte wenigstens an Ort und Stelle sein, wenn er sich endlich dazu entschloß, sie doch anzusteuern. Josephs zuckte hilflos mit den Schultern. »Die Planeten sind vermutlich noch da, Sir«, antwortete er. »Aber sie kreisen mit so hoher Geschwindigkeit um die Sonne, daß sie nicht zu erkennen sind. Ich könnte mir vorstellen, daß wir von hier aus nur Lichtringe an ihrer Stelle sehen würden. Unsere Hochleistungskameras müßten allerdings imstande sein, bessere Bilder zu liefern.« »Machen Sie die Aufnahmen sofort«, wies Gourdy ihn an. »Fotografieren Sie alles, verdammt nochmal, und schicken Sie mir die Bilder!« Die Fotografien, die wenige Stunden später auf Gourdys Schreibtisch lagen, zeigten alle Planeten. Josephs hatte eine kurze Notiz beigefügt: Captain! Das Sonnensystem entfernt sich in einem Winkel von uns. Diese Erscheinung beruht auf der Tatsache, daß es sich in Richtung Aries bewegt, während wir aus einer anderen Richtung kommen.
In diesem Zusammenhang müssen wir Mister Hewitts Bericht über das Auftauchen der Hope of Man in der Erdatmosphäre berücksichtigen, demzufolge das Schiff nur eine geringe Geschwindigkeit zu besitzen schien. Trotzdem hatte es jedoch bereits die Über-Lichtgeschwindigkeit erreicht. Nachdem wir jetzt verzögert haben, entfernt sich das Sonnensystem von uns. Das ist aus der oben getroffenen Feststellung leicht zu erklären, weil es eine logische Schlußfolgerung darstellt. Die Verzögerung hat offenbar bewirkt, daß unsere Zeitorientierung verändert wurde, obwohl kein räumlicher Unterschied erkennbar ist. Damit wir jedoch die Sonne nicht aus den Augen verlieren, schlage ich vor, die Geschwindigkeit des Schiffs heraufzusetzen – und erst dann zu entscheiden, welche Maßnahmen noch erforderlich sein könnten. Clyde Josephs Gourdy blätterte die Fotografien ungeduldig durch. Er wollte sie bereits wieder zur Seite legen, als ihm auffiel, wie sehr eines der Bilder sich von den übrigen unterschied. Er zog es aus dem Stapel und starrte es mit nachdenklich gerunzelter Stirn an. Die Kamera hatte einen Teil des Weltraums erfaßt, der von der Brücke der Hope of Man aus nur undeut-
lich und verschwommen zu sehen war. Auf dem tiefschwarzen Hintergrund leuchteten Tausende von Lichtpunkten – Tausende von Sonnen. Auf die Rückseite der Fotografie hatte Josephs geschrieben: »Der Blick in Richtung Aries – also in Bewegungsrichtung unseres Sonnensystems.« Das war verständlich genug. Aber am unteren Rand des Bildes war neben einem Teil der Außenhülle des Raumschiffes ein weißlicher Fleck zu erkennen. Die Kamera hatte die Erscheinung nicht deutlicher erfaßt, weil sie an der äußersten Grenze des Bildfeldes lag, aber trotzdem war erkennbar, daß es sich bei dem Fleck um einen Gegenstand handeln mußte, der irgendwie mit dem Schiff selbst in Verbindung gebracht werden konnte. Josephs hatte sich über dieses Phänomen folgendermaßen geäußert: »Ich kann mir nicht vorstellen, was dieser halbkreisförmige Fleck bedeutet. Vielleicht war das Filmmaterial fehlerhaft. Auch eine versehentlich erfolgte nachträgliche Belichtung ist nicht auszuschließen. Angesichts unseres ungewöhnlichen Materiezustands wollte ich jedoch nicht automatisch annehmen, daß hier nur ein gewöhnlicher Defekt vorliegt.« Gourdy wußte ebenfalls nicht, was er davon halten sollte. Deshalb zuckte er mit den Schultern und legte die Aufnahme beiseite. Er wußte, daß er selbst nicht
kompetent genug war, um unter diesen Umständen eigene Theorien aufzustellen. Aber er war nach wie vor davon überzeugt, daß er die Untersuchungen selbst überwachen und verfolgen mußte. Die Wissenschaftler würden ihm die Ergebnisse vortragen, damit er entscheiden konnte, was wann getan werden sollte. Jetzt wandte er sich an Harcourt, der ihm die Fotografien in die Kabine gebracht hatte, und stellte fest: »Gott sei Dank haben wir genügend Wissenschaftler an Bord, die sich mit unseren wissenschaftlichen Problemen befassen können.« Auf diese Weise wischte er mit leichter Hand ein Problem vom Tisch, zu dem es in der menschlichen Erfahrung keine Parallele gab. Gourdy hatte erkannt, daß sich ihm jetzt die Gelegenheit bot, auf die er gewartet hatte. »Rufen Sie die gesamte Besatzung in den Versammlungsraum«, befahl er Harcourt. »Unsere Leute erscheinen selbstverständlich bewaffnet. Sorgen Sie dafür, daß sie sich so benehmen und den Eindruck machen, als könnten sie es mit allem und jedem aufnehmen.« »Die gesamte Besatzung?« fragte Harcourt erstaunt. »Auch die Gefangenen aus den unteren Deck?« »Alle. Die Versammlung beginnt sofort nach dem Abendessen.«
Gourdy ließ als erstes die Fotografien durch ein Episkop auf die Leinwand werfen, wobei Clyde Josephs die Bedeutung der einzelnen Aufnahmen erläuterte. Dann trat der Captain selbst vor. »Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen«, begann er, »denn bevor wir dieses Problem nicht gelöst haben, können wir nicht an eine Landung auf der Erde denken. Aber ich kann Ihnen versprechen, daß die besten Ingenieure und Wissenschaftler an Bord sich mit der Aufgabe befassen werden.« Er wies auf Hewitt, der in der ersten Reihe Platz genommen hatte. »Ich bin zudem davon überzeugt, daß Mister Hewitt uns bereitwillig mit Rat und Tat zur Seite stehen wird.« Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Wollen Sie nicht zu mir auf die Bühne kommen, Sir?« fragte er höflich. Hewitt stieg mit finsterem Gesicht die wenigen Stufen hinauf. Er war besorgt, weil ihm nicht entgangen war, wie geschickt Gourdy die Versammlung zu seinen Gunsten beeinflußte. Jetzt sah er den Captain fragend an. Gourdy sprach laut weiter. »Mister Hewitt, wollen Sie so freundlich sein, uns allen zu beschreiben, wie und unter welchen Bedingungen Sie an Bord gekommen sind?« Als Hewitt seine Erlebnisse geschildert hatte, fuhr
Gourdy fort: »Besteht Ihrer Meinung nach die Aussicht, Ihr Verfahren in umgekehrter Reihenfolge zu benutzen, um uns alle auf die Erde zurückzubringen?« Selbst wenn diese Möglichkeit bestanden hätte, wäre Hewitt – der selbst andere Pläne hatte – nie auf die Idee gekommen, die Tatsache zuzugeben. »Da wir nicht genau wissen, was eigentlich geschehen ist, muß ich Ihre Frage leider verneinen«, antwortete er deshalb rasch. »Ich habe bereits versucht, mir die Raum-Zeit-Verhältnisse vorzustellen, die existiert haben müssen, als ich an Bord der Hope of Man gekommen bin. Aber bisher sind meine Bemühungen in dieser Richtung vergeblich geblieben. Aus diesem Grund schließe ich mich Mister Josephs' Vorschlag an – am besten holen wir zunächst unser Sonnensystem ein und entscheiden erst dann, was zu tun ist.« Gourdy lächelte zustimmend, obwohl sein stets reges Mißtrauen wieder einmal erwacht war. Der Vorschlag schien harmlos genug, aber trotzdem vermutete der Captain plötzlich wieder eine Verschwörung, weil Hewitt und Josephs offenbar der gleichen Auffassung waren. Gourdy hatte die Wissenschaftler in Verdacht, sie verstünden etwas, von dem er selbst keine Ahnung hatte. Im Augenblick blieb ihm jedoch keine andere Wahl, als den Vorschlag anzunehmen. Deshalb sagte
er jetzt laut: »Hiermit erhalten Mister Hewitt und Mister Miller die Erlaubnis, das Schiff so zu beschleunigen, daß seine Geschwindigkeit der des Sonnensystems entspricht.« Er wandte sich an Hewitt und fragte geradeheraus: »Wie steht es mit den Reparaturen, die Mister Lesbee an den Triebwerken vornehmen wollte?« Hewitt hatte den Hauptantrieb bereits untersucht und dabei sofort erkannt, was die angeblich wichtigen Reparaturen zu bedeuten hatten. Deshalb antwortete er jetzt mit einem leichten Lächeln: »Bisher sind nur einige Instrumente ausgebaut worden, die wir ohne große Schwierigkeiten bis zu Beginn der Schlafperiode wieder einbauen können.« »Tun Sie das!« befahl Gourdy ihm in dem entschlossenen Tonfall, den er für erforderlich hielt, um die Besatzung in dieser kritischen Situation zu beruhigen und von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Damit löste sich die Versammlung auf. Als Gourdy wieder seine Kabine erreicht hatte, ließ er sich zufrieden in seinen Sessel fallen und sah zu Harcourt auf. »So, das wäre geschafft«, stellte er fest. »Jetzt müssen wir nur noch diesen Hewitt beseitigen. Er hat vorher nicht viel erreicht, aber immerhin hat er es versucht.« Sein vorheriger Verdacht war in der Zwischenzeit zu einer Gewißheit geworden.
»Hewitt ist augenblicklich der gefährlichste Mann an Bord, seit Lesbee freiwillig geflohen ist«, fügte er noch hinzu. Während er an Lesbee dachte, schüttelte er verwundert den Kopf. »Dieser Lesbee war wirklich nicht dumm. Er wußte genau, was ich mit ihm vorhatte. Aber ich freue mich trotzdem irgendwie, daß er lebend davongekommen ist – falls er wirklich noch lebt; vielleicht hat er sich dort draußen verirrt.« Er machte eine Pause und forderte den anderen mit einer Handbewegung zum Trinken auf. »Hier, nehmen Sie einen Schluck, Harcourt!« Ilsa hatte Wein eingeschenkt, während Gourdy seine kleine Rede hielt. Er ignorierte sie völlig. Sein Benehmen gegenüber den Frauen hatte sich im Gegensatz zu früher völlig verändert. Deshalb beachtete er Ilsa nicht im geringsten, als er weitersprach: »Hewitts Tod muß unbedingt wie ein Unfall aussehen. Trotzdem dürfen wir keine Zeit verlieren, Harcourt. Bringen Sie ihn gegen Morgen um. Meiner Meinung nach wäre es am besten, wenn die Sache so aussieht, als sei seine Maschine nach einem Kurzschluß explodiert.« »Das ist aber bestimmt nicht leicht zu schaffen«, meinte Harcourt zweifelnd. Gourdy machte eine wegwerfende Handbewegung. »Reden Sie doch keinen Unsinn. Die Art und
Weise spielt keine Rolle, solange Sie sich dabei ein Hintertürchen offenlassen. Wir brauchen etwas, das die Trottel an Bord in Verwirrung bringt. Und dann braucht man nur noch dafür zu sorgen, daß jeder um sein Leben fürchten muß, wenn er laut einen Verdacht äußert.« Harcourts Gesichtsausdruck zeigte deutlich genug, daß der Mann anderer Meinung war. Gourdy warf ihm einen wütenden Blick zu. »Hewitt muß beseitigt werden«, wiederholte er dann. »Daran gibt es keinen Zweifel – und ich möchte keinen Widerspruch hören!« »Ich widerspreche gar nicht, Boß«, protestierte Harcourt. »Ich denke nur über die beste Methode nach. Schade, daß Sie nie kontrolliert haben, was der Kerl alles in seinem Druckanzug hat. Ich möchte ihn einfach in die Luft sprengen, weiß aber nicht, wie ich es anfangen soll.« »Ich habe ihm alles gelassen, weil er nicht den Verdacht bekommen sollte, daß wir etwas gegen ihn unternehmen wollen.« »Mir ist eben eingefallen, wie ich die Sache aufziehen werde«, erklärte Harcourt mit zuversichtlicher Stimme. »Ich hole einige unserer Leute zusammen und erkläre ihnen, was getan werden muß. Dann gehe ich in den Maschinenraum, wenn Hewitt und Miller die Beschleunigung einleiten. Von dann ab
bleibe ich Hewitt ständig auf den Fersen und warte in dem Gang vor seiner Kabine, bis die anderen zu mir stoßen. Ich stelle mir vor, daß wir im letzten Drittel der Schlafperiode zu ihm eindringen und ihn im Bett erledigen. Einverstanden, Boß?« »Völlig«, antwortete Gourdy. In diesem Augenblick verließ Ilsa leise den Raum. Obwohl sie fast unhörbar gegangen war, wurde Gourdy jetzt auf sie aufmerksam. »Sobald Hewitt uns nicht mehr lästig werden kann, übernehme ich diese Frauen. Lesbees habe ich bereits wieder zurückholen lassen. Da sie von Anfang an nur ungern gegangen ist, habe ich mich entschieden, ihr den Status einer Frau des Captains zurückzugeben. Wenn sie dadurch glücklich wird, bin ich nur zufrieden.« Er sah Harcourt abschätzend an. »Hören Sie gut zu. Ich gebe Ihnen und den anderen zuverlässigen Leuten hiermit die Erlaubnis, eine zweite Frau zu nehmen. Das heißt aber noch lange nicht, daß sie sich einfach eine aussuchen dürfen. Sagen Sie den Männern, daß Sie sich umsehen und dann gemeinsam zu mir kommen sollen. Wir entscheiden dann, wer welche Frau bekommt. Dabei ist es wichtig, daß wir die Frauen der Männer, die wir für unsere Zwecke brauchen, auf jeden Fall in Ruhe lassen. Und wenn wir uns nur an die Mädchen halten, gibt es Schwierigkei-
ten. Deshalb müssen wir gemeinsam überlegen – und vor allem zunächst den Mund halten!« Harcourt grinste verständnisvoll. »Die Frau von diesem Tellier! Kann ich sie haben?« »Sie gehört Ihnen – übermorgen«, versicherte Gourdy ihm. »Verschwinden Sie jetzt!« Harcourt verschwand.
34 Überraschenderweise verstand Hewitt sich ausgezeichnet mit Miller. Die beiden Männer ließen alle persönlichen Empfindungen und Aversionen beiseite, während sie gemeinsam die Geheimnisse des veränderten Antriebs der Hope of Man enträtselten. Sie untersuchten die ans Wunderbare grenzende Umstellung, die Dzing bewerkstelligt hatte, wodurch die Teilchen jetzt so sehr beschleunigt werten konnten, daß sie sich tatsächlich ausdehnten. Das bedeutete, daß endlich genügend Energie zur Verfügung stand, um die künstliche Schwerkraft bei jeder beliebigen Beschleunigung aufrechtzuerhalten. Hewitt und Miller waren von dieser Entdeckung begeistert, wußten aber, daß sie äußerst vorsichtig vorgehen mußten, um nicht die Kontrolle über diese unvorstellbaren Energien zu verlieren. Sie wiederholten Lesbees ersten Test und steigerten die Beschleunigung langsam auf zwölf g, während die künstliche Schwerkraft bei elf g konstant blieb. Als sie die Progammierung beendet hatten, waren sie über das Ergebnis so erfreut, daß sie sich begeistert die Hände schüttelten. Dann erklärte Miller, daß er Captain Gourdy Bericht erstatten müsse, und verließ den Raum. Wegen
Harcourt, der vor einiger Zeit hereingekommen war, wollte Hewitt noch nicht so rasch auf die Sicherheit des Maschinenraums verzichten. Der Riese war ihm unheimlich, obwohl Hewitt keinen stichhaltigen Grund für seine Befürchtungen hatte ... Um sich notfalls verteidigen zu können, steckte er einen kleinen Schraubenschlüssel in die Tasche. Dann gab er vor, er wolle das Innere eines Schaltpults untersuchen, dessen Rückwand Lesbee abgeschraubt hatte. Dabei zog er eine Röhre aus ihrem Sockel und ließ sie ebenfalls in die Tasche gleiten. Die Röhre war mit einem Gas gefüllt, das selbst in kleinsten Mengen betäubend auf Menschen wirkte. Falls Harcourt ihn angriff, konnte Hewitt ihm die Röhre vor die Füße werfen. Als Hewitt den Maschinenraum verließ, um in die Offizierskabine zu gehen, die Gourdy ihm zugewiesen hatte, bemerkte er, daß Harcourt ihm in einiger Entfernung folgte ... Hewitt blieb schließlich stehen und wartete, bis der andere ihn eingeholt hatte. Dann fragte er: »Weshalb gehen wir nicht gemeinsam?« Der Mann murmelte etwas. Aber er lehnte nicht ab, als Hewitt sich seinem langsameren Gehtempo anpaßte. Als sie Hewitts Kabine erreicht hatten, schloß Hewitt die Tür auf und beobachtete dabei, daß der andere ebenfalls stehengeblieben war und im Korridor wartete.
»Wollen Sie noch etwas von mir?« erkundigte Hewitt sich geradeheraus. Harcourt spielte den Ehrlichen. »Offen gestanden soll ich ein bißchen auf Sie aufpassen, Mister Hewitt, damit Sie nicht aus Versehen in Schwierigkeiten kommen – oder uns absichtlich welche machen. Ich halte mich in der Kabine auf, die Ihrer gegenüberliegt, und lasse die Tür offen. Einverstanden?« Dagegen war eigentlich nichts einzuwenden. Aber Hewitt fühlte sich trotzdem unbehaglich, als er die Kabine betrat. Vermutlich blieb ihm nicht mehr allzu viel Zeit. Er dachte angestrengt nach, wie er dieser neuen Bedrohung begegnen könne. Dann entschied er, daß er einfach seinen Druckanzug anlegen und damit in den Korridor hinausrollen würde. Wenn Harcourt auf ihn schoß, würde er ihn überfahren. Der Druckanzug bot ausreichend Schutz gegen Handfeuerwaffen oder kleinere Strahler. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, ging er auf das zweite Schlafzimmer zu, in dem der Anzug stand – und blieb wie angenagelt stehen! Ein leises Geräusch ...! Aus seinem eigenen Schlafzimmer! Hewitt griff nach dem Schraubenschlüssel, ließ aber die Hand wieder sinken, als Ruth auf der Schwelle erschien. Sie legte den Finger auf die Lippen und mahnte Hewitt dadurch zur Vorsicht.
Dann erzählte sie ihm flüsternd, was Ilsa gehört hatte – daß Hewitt in Gourdys Auftrag von Harcourt ermordet werden sollte. »Wir mußten unsere Wahl treffen«, schloß sie ihren Bericht. »Ich habe dich gewählt!« Hewitt starrte sie sprachlos an, als ihm einfiel, was diese Worte bedeuteten. Gleichzeitig schämte er sich, weil er diese Frauen für seine Zwecke benutzte, obwohl er selbst streng monogam dachte. Aber Ruth gab ihm durch ihr Verhalten deutlich genug zu verstehen, daß sie das alles nicht nur als Spiel betrachtete. Sie sprach weiter: »Ich mußte kommen, bevor Harcourt dich hierher begleiten konnte – und du mußt dir jetzt überlegen, was ich tun soll ... Ich habe dir etwas mitgebracht!« Ruth griff in die Tasche ihrer weiten Jacke, holte einen kleinen Strahler heraus und hielt ihn Hewitt entgegen. Hewitt nahm die Waffe dankbar an. Sowie er sie in der Hand hielt, verflog der größte Teil seiner Angst vor dem Mordanschlag, von dem er eben gehört hatte. Dadurch änderten sich auch seine Pläne. Er erklärte Ruth so rasch wie möglich, was sie tun sollte. Sie würde sich in seinem Schlafzimmer versteckt halten, bis er mit Harcourt den zweiten Raum betreten hatte, und dann wieder aus der Kabine
schleichen. »Noch etwas«, schloß Hewitt, »zieh auf jeden Fall die Schuhe aus, damit er dich nicht hört ...« Ruth ging gehorsam auf die Schlafzimmertür zu; dann blieb sie noch einmal stehen. Sie wandte sich zögernd um und fragte einfach: »Hast du mich gewählt?« Hewitt erkannte instinktiv, daß Worte in dieser Situation nicht genügen würden. Ruth brauchte mehr als bloße Versicherungen, daß sie auf ihn vertrauen könne. Er trat dicht an sie heran und nahm ihre Hände in seine. »Ja, ich habe dich gewählt!« sagte er eindringlich. Ruths Lächeln zeigte, wie sehr erleichtert sie sich jetzt fühlte. Plötzlich verwandelte sie sich wieder in das ruhige, praktisch veranlagte Wesen, das sie vorher gewesen war. »Dann gehe ich lieber!« sagte sie. Mit einem fragenden Blick auf die Tür fügte sie hinzu: »Wirst du allein mit allem fertig?« Hewitt ließ ihre Hände los. »Ich werde mir Mühe geben«, versicherte er ihr. »Wir sehen uns später wieder.« »Wir warten alle auf dich!« flüsterte Ruth. Dann wandte sie sich um und verschwand in dem Schlafzimmer, wobei sie die Tür einen winzigen Spalt breit offenließ, um verfolgen zu können, was nun geschehen würde. Hewitt steckte den Strahler in die gleiche Tasche
wie den Schraubenschlüssel, ging auf die Kabinentür zu und öffnete sie. Harcourt saß in einem Sessel unmittelbar neben der offenen Tür seiner Kabine. »Würden Sie so freundlich sein, mir einen Augenblick behilflich zu sein, Mister Harcourt?« rief Hewitt zu ihm hinüber. Der Riese erhob sich langsam, überquerte den Gang und blieb an der Tür stehen, von wo aus er Hewitt fragend ansah. »Was wollen Sie von mir?« erkundigte er sich mürrisch. »Ich brauche jemand, der mir bei meiner Maschine behilflich ist.« »Wollen Sie fort?« fragte Harcourt. Er war mißtrauisch geworden, gehörte aber nicht zu den Menschen, die einen einmal gefaßten Plan ohne weiteres umstoßen und durch einen neuen ersetzen können. Deshalb kam er jetzt gehorsam Hewitts Aufforderung nach und betrat das zweite Schlafzimmer. »He!« sagte er überrascht, als er den Strahler sah, den Hewitt auf ihn richtete. Sein Gesichtsausdruck zeigte, daß er Angst hatte. Wenige Minuten später steuerte Hewitt den Druckanzug mit höchster Geschwindigkeit durch die Gänge. Er hatte es wirklich eilig.
35 In seiner Aufregung schüttelte Lesbee seinen Freund Tellier wach. »Ich habe die wahre Natur des Universums entdeckt!« Telliers schmales Gesicht schien wieder etwas mehr Farbe zu bekommen. Die blasse Haut rötete sich. »Was hat du eben gesagt?« Während Tellier sich schlaftrunken aufsetzte, wiederholte Lesbee seine Behauptung und fügte hinzu: »Jetzt können wir endlich alles – auf der Erde landen, das Schiff zurückerobern ... einfach alles.« Tellier lief rot an. »John«, flüsterte er, »meinst du das wirklich ernst?« »Hör gut zu ...«, sagte Lesbee. »Befassen wir uns zuerst mit den Tatsachen, die wir selbst beobachtet haben oder die genau beschrieben worden sind ...« Dann erläuterte er die Aspekte des langen Fluges und dessen physikalische Grundlagen: die anfangs nicht verwirklichte Möglichkeit, die Partikel bis auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, die Veränderung des Hauptantriebs durch den Roboter ... Er setzte seine Zusammenfassung fort: »Hewitt hat berichtet, daß die Hope of Man das Sonnensystem in einem eigenartigen Materiezustand erreicht hat. Die
einzig mögliche Erklärung dafür lautet, daß das Schiff mit Über-Lichtgeschwindigkeit in einem Parallelraum geflogen sein muß. Als die Geschwindigkeit dann der Lichtgeschwindigkeit angeglichen wurde, konnte Hewitt das Schiff nicht mehr rechtzeitig verlassen ... Das sind doch alles Tatsachen, nicht wahr?« fragte Lesbee herausfordernd. Tellier nickte sprachlos. »In Wirklichkeit sind noch einige andere Punkte zu berücksichtigen«, erklärte Lesbee weiter. »Zum Beispiel hatten Zeit und Luftdruck sich im Verhältnis von neunhundertdreiundsiebzig zu eins verändert. Aber die Außenhülle der Hope of Man blieb wie zuvor. Und die Korridore im Innern des Schiffs hatten sich nur im Verhältnis von vier zu eins verengt. Das verstehe ich jetzt alles.« »Aber welchen praktischen Nutzen haben wir davon?« Wollte Tellier wissen. »Sieh nur!« sagte Lesbee. Er verschwand. Der Sitz neben Tellier war plötzlich leer – und das an Bord eines Rettungsbootes, das wie eine winzige Motte Millionen von Kilometern von jedem Planeten entfernt im Weltraum schwebte ... Tellier sah sich verzweifelt um, als er ein leises Geräusch hinter sich hörte. Lesbee stand dort und lächelte triumphierend.
Dann verschwand das Lächeln und machte einem entschlossenen Ausdruck Platz. »Wir kehren zu der Hope of Man zurück!« stellte Lesbee fest. »Wozu?« fragte Tellier erstaunt. Die grauen Augen seines Freundes verengten sich. »Um deine Frau zurückzuholen ... um meine zurückzugewinnen ... Um sicherzustellen, daß das Schiff auf der Erde landet ... Das mußten wir alles zurückstellen, als es um Leben oder Tod ging. Aber jetzt sind diese Überlegungen nicht mehr erforderlich.« Tellier drückte ihm dankbar die Hand. »Wunderbar!« rief er begeistert. Dann trat er einen Schritt zurück. »Aber jetzt möchte ich endlich hören, was du entdeckt hast.« »Starten wir lieber erst«, antwortete Lesbee und wandte sich dem Kontrollpult zu. »Theoretisch können wir die Hope of Man schon im nächsten Augenblick erreichen. Die Maschine könnte es jedenfalls. Aber ich erinnere mich an Hewitts Schilderung – er hatte das Gefühl, von einer riesigen Faust zerquetscht zu werden. Der Mensch ist dieser ungeheuren Belastung nicht lange gewachsen. Deshalb müssen wir uns damit abfinden, daß alles im Leben seine Zeit braucht.« »Aber ...« »Das Universum ist eine große Lüge«, stellte Lesbee einige Augenblicke später fest. »Das ist das ganze Geheimnis! Hör zu ...«
Er beschrieb seinem Freund seine subjektiven Vorstellungen, nach denen der gesamte Kosmos im Grunde genommen aus verschiedenen Bewegungsebenen bestand. Innerhalb dieses Universums hatte das Leben seinen Anfang auf winzigen Splittern toter Materie genommen. Von diesem schwankenden Beobachtungspunkt aus beobachtete es das All und sich selbst obwohl es bestenfalls einem Käfer glich, der sich in einem Strudel verzweifelt an einen Strohhalm klammert. Allmählich erforschten die Menschen die großen Bewegungsströme, von denen sie umgeben waren, und umgaben sich zu diesem Zweck mit luftdicht verschlossenen Behältern, um so die auftretenden Energien in den tieferen Ebenen, den höheren und jenseits der Lichtgeschwindigkeit aushalten zu können. In dieser Umgebung aus unendlich großer Masse und verschwindend geringer Größe fand sich die wahre Norm, nach der Raum und Zeit ausgerichtet waren. »Unten« lag die abgrundtiefe Dunkelheit der erstarrten Bewegung und der toten Materie. »Oben« war das unendliche, zeitlose Licht der Ewigkeit. Als die Menschen in ihren luftdichten Behältern – Raumschiffen – die letzte Grenze überschritten hatten, fiel das einzige Hindernis zwischen ihnen und der Norm. Ihre Lage glich nun der eines Mannes, der nach langer Zeit endlich aus einem dunklen Brunnen-
loch geklettert ist und nun auf der Wiese steht, von wo aus er staunend den Himmel betrachtet. Die Gesetze, die auf der Wiese gelten, sind zwar denen des Brunnenlochs ähnlich – aber trotzdem verschieden. Lesbee sagte: »Theoretisch könnten wir innerhalb eines Augenblicks aus dem Stillstand bis zur millionenfachen Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Aber daran hindert uns die Trägheit unseres eigenen Körpers. Wir fürchten uns vor übermäßig hohen Geschwindigkeiten und klammern uns dann irgendwo schutzsuchend an.« Er fuhr fort: »Meiner Meinung nach müssen wir diese natürliche Regung respektieren und uns langsam fortbewegen – aber immerhin fortbewegen.« Tellier starrte ihn verwundert an. »Das verstehe ich nicht«, meinte er dann. »Schön, dann ist der Materiezustand jenseits der Lichtgeschwindigkeit also die Norm. Ich habe ihn bereits selbst erlebt. Aber dabei ist mir keine Veränderung aufgefallen.« »Das kommt daher, weil du dich während dieser Zeit kaum bewegt hast«, erklärte Lesbee ihm. »Außerdem hattest du keine Verbindung mit einem Autopiloten, der durch Gedankenimpulse gesteuert werden kann.« Tellier sah ihn erschrocken an. »Willst du etwa behaupten, daß das Ding die ganze Zeit über in Betrieb war?« erkundigte er sich dann.
»Nein«, antwortete Lesbee. »Aber ich habe es sofort wieder in Betrieb genommen, als ich angeblich den Antrieb repariert habe.« Er erklärte seinem Freund, daß er alle nur denkbaren Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, bevor sie das Schiff verließen. Deshalb war er frühzeitig auf den Gedanken gekommen, daß sich die Hope of Man von dem Rettungsboot aus steuern ließ, wenn er das Gerät benutzte, das sie alle bereits einmal vor Dzing geschützt hatte. »Eigentlich wollte ich nur Vorsorge für einen Notfall treffen«, gab Lesbee zu. »Ich stellte mir vor, daß Gourdy vielleicht Miller mit unserer Verfolgung beauftragen würde – und deshalb setzte ich das Gerät wieder in Betrieb, das uns im entscheidenden Augenblick wertvolle Hilfe leisten konnte. An etwas anderes habe ich dabei gar nicht gedacht. Auf die andere Idee bin ich erst gekommen, als ich mir überlegte, was mit Dzing geschehen sein mußte, als ich damals auf den Knopf drückte.« »Ist er nicht einfach explodiert?« »Danach sah es jedenfalls aus.« »Der Korridor war an dieser Stelle völlig zertrümmert; die Explosion hatte den Roboter in seine Bestandteile zerlegt. Die wenigen Stücke, die später gefunden wurden, wogen fast nichts und fühlten sich wie Watte an.«
»Ist dir daran nichts aufgefallen?« Lesbee lächelte herausfordernd. »Nun ...« Tellier zuckte verständnislos mit den Schultern. Während Lesbee seinen Freund beobachtete, fiel ihm wieder einmal auf, wie schwer fast allen Menschen schöpferisches Denken fiel. Im Gegensatz dazu hatte sein eigenes Gehirn diese Fähigkeit in den langen Jahren unter Brownes Herrschaft offenbar zu einer gewissen Perfektion entwickelt. Es war durch Angst, Wut, Neid und gerechtfertigte Entrüstung in einen Zustand versetzt worden, in dem es intuitiv Dinge verstand, die anderen nicht einmal aufgefallen wären. Tellier, dem diese besondere Begabung fehlte, mußte sich alles mühsam erklären lassen. Lesbee zögerte, als ihm diese Unfähigkeit seines Freundes zum erstenmal klar zu Bewußtsein kam. Er zögerte, weil er daran zweifelte, ob es richtig war, alles mit Tellier zu teilen. Er hatte in seinem Sessel gesessen. Jetzt stand er auf und ging ruhelos auf und ab, während er sich überlegte, was er sagen sollte. Im Grunde genommen war die Erklärung einfach zu geben, obwohl sie zunächst phantastisch klingen mochte. Als er den Zerstörungsmechanismus des Roboters aktiviert hatte, war Dzing vernichtet worden.
Der Beweis dafür bestand aus dem zertrümmerten Korridorabschnitt, in dem das passiert war. Aber der Karn hatte sich in einer Norm-Umgebung aufgehalten. Dzing war von Anfang an außerhalb der RaumZeit-Grenzen der Hope of Man tätig gewesen. Selbst eine Beschleunigung von vier g hatte den Roboter nicht behindert. Diese Tatsache ließ sich nicht allein durch Energieströme erklären. Noch wichtiger war allerdings, daß das äußerst geringe Gewicht seiner Überreste genau zu dem paßte, was Browne über die Natur der Materie bei Lichtgeschwindigkeit gesagt hatte. In diesem Fall traf alles zu, was in der LorentzFitzgeraldschen Kontraktionstheorie vorausgesetzt wurde. Deshalb hatte Lesbee – während Tellier schlief – auf den Knopf der Fernsteuerung gedrückt, durch die der Autopilot gesteuert wurde; er hatte seine Gedankenimpulse durch dessen Energie verstärkt. Im gleichen Augenblick befand er sich im Normzustand des Universums – bei ÜberLichtgeschwindigkeit. Er hatte das Zeitverhältnis auf neunhundertdreiundsiebzig zu eins festgesetzt, weil er auf Hewitts Erfahrungen aufbaute. Lesbee glaubte zu wissen, daß der menschliche Körper sich bei diesem Verhältnis in einem natürlichen Gleichgewichtszustand befand. Außerdem wollte er sich nicht in un-
bekannte Gefahren begeben, ohne vorher einige Versuche angestellt zu haben. Nach diesem ersten Mal hatte er Tellier bereits aufwecken wollen, um ihm von seiner großen Entdeckung zu erzählen. Er hatte ihn tatsächlich wachgerüttelt, aber jetzt war ein Teil der Aufregung bereits verflogen, so daß er seine Meinung änderte. Lesbee wandte sich zu seinem Freund um und sagte ruhig: »Armand, ich sehe deutlich, daß du im Augenblick genügend damit zu tun hast, die Informationen zu verarbeiten, die ich dir bereits gegeben habe.« Tellier antwortete nicht. Seine vorherige Erregung hatte nüchterner Beobachtung Platz gemacht. In dem Verhalten seines Freundes glaubte er eine gewisse Härte und Entschlossenheit zu erkennen, die ihn schon seit einiger Zeit überraschte und bedrückte. Auch jetzt war er darüber erstaunt. Plötzlich sah er ein, daß diese ungeheure Entdeckung in den Händen eines Mannes, der trotz seiner liebenswerten Eigenschaften im Grunde genommen ein Diktator war, zu einer Waffe werden konnte. Und das war nicht gut ... Lesbee sprach weiter. Seine Stimme klang so freundlich wie immer; seine Art hatte sich ebenfalls nicht verändert, als er sagte: »Alles andere erzähle ich dir gelegentlich später.« Dieses Versprechen wurde nie erfüllt.
36 Ein heller Lichtstrahl wurde auf Gourdys Augen gerichtet. Der Captain bewegte sich unruhig im Halbschlaf und wachte dann schließlich mit einem leisen Schrei auf. Sein Schlafzimmer war hell beleuchtet. Gourdy rieb sich die Augen und erkannte Hewitt, der vor seinem Bett stand. Hinter ihm erschienen fünf oder sechs Männer in der Uniform des ... Gourdy schüttelte verwirrt den Kopf, als er das blaugraue Uniformtuch erkannte, das in alten Filmen so oft gezeigt worden war: ... Raumkorps ...! Einer der Uniformierten, ein weißhaariger Offizier, trat vor und sagte mit tiefer Stimme: »Mister Gourdy, Sie sind verhaftet und werden jetzt von Bord geschafft.« Zwei Uniformierte griffen nach Gourdys Armen und hielten sie fest, während ein dritter die Handschellen zuschnappen ließ. Der Verhaftete zuckte bei diesem Geräusch zusammen. Endlich setzte Gourdy sich im Bett auf, obwohl er noch immer mit dem Schlaf zu kämpfen hatte. Als er die kalte Metallfessel anstarrte, glaubte er einen schlechten Traum zu haben. Der Offizier wandte sich an Marianne. »Sie dürfen
Ihren Gatten selbstverständlich zur Erde begleiten, falls Sie Wert darauf legen.« »Nein, nein ...« Ihre Stimme klang unnatürlich hoch. »Nein, ich bleibe lieber an Bord ...« »Wie Sie wünschen, Madam. Mister Hewitt hat entschieden, daß der Flug fortgesetzt wird. Sie gehören zu den wenigen Menschen an Bord der Hope of Man, die selbst entscheiden dürfen, ob sie bleiben oder gehen wollen.« Gourdy wurde jetzt von starken Händen aus dem Bett gezogen. »Mitkommen!« befahl jemand. In diesem Augenblick leistete er zum erstenmal wirklich Widerstand. »He!« sagte er und versuchte sich loszureißen. Der Offizier gab den beiden Männern einen Wink. Die Uniformierten hoben Gourdy wortlos hoch und trugen ihn aus dem Schlafzimmer in den nebenliegenden Wohnraum hinüber. Als Gourdy sich dort neugierig umsah, bemerkte er, daß die übrigen drei Frauen – Ruth, Ilsa und Ann – in Morgenröcke gehüllt in der Tür des zweiten Schlafzimmers standen. Während er die drei beobachtete, erschien ein weiblicher Offizier des Raumkorps und sagte: »Ziehen Sie sich bitte an, meine Damen!« Ruth nickte und zog die beiden anderen Frauen mit sich in das Schlafzimmer. Dann schloß sich die Tür.
Gourdy wandte den Kopf und stellte fest, daß zwei weitere Uniformierte an der Tür zum Korridor Wache hielten. Sie traten beiseite. Wenige Augenblicke später wurden Harcourt und ein zweiter von Gourdys Männern von vier Uniformierten hereingebracht. Die beiden Männer waren aneinandergefesselt. Sie schienen beide völlig verwirrt und nahmen zunächst gar nicht zur Kenntnis, daß Gourdy anwesend war. Die Uniformierten unterhielten sich leise mit Hewitt; dann verließen sie gemeinsam die Kabine. Innerhalb der nächsten Stunde wurden alle achtzehn Männer verhaftet, die Gourdy unterstützt hatten. Als sie alle in der Kabine versammelt waren, trat Hewitt vor und hielt eine kleine Ansprache. »Die angeblich fehlerhafte Fotografie, die einen Lichtfleck zeigte, erwies sich als wertvoller Hinweis«, erklärte er. »In Wirklichkeit war sie nämlich keineswegs fehlerhaft, was ich damals sofort vermutet habe. Als ich die Vergrößerung sah, die Mister Josephs auf die Leinwand projizierte, glaubte ich mein Bergungsschiff zu erkennen. Und als ich die Luftschleuse öffnete, nachdem ich meinen Druckanzug angelegt hatte, fand ich die Molly D tatsächlich dort vor.« Hewitt fuhr fort: »Die wissenschaftlichen Grundlagen für derartige Parallelerscheinungen des RaumZeit-Kontinuums müssen noch erforscht werden.
Aber aus dieser Situation ergeben sich einige merkwürdige Tatsachen. Zum Beispiel schien unser Sonnensystem einige Trillionen Kilometer weit entfernt zu sein, als ich es gestern von der Brücke der Hope of Man aus beobachtete. Aber wenn man durch die Bullaugen der Molly D blickt, hat man den Eindruck, sich sehr wohl innerhalb dieses Systems zu befinden. Ich konnte sogar die Erde erkennen, die sich so normal wie immer zu bewegen schien. Wir können annehmen, daß die anderen Lebewesen, die auf verschiedenen Planeten beobachtet worden sind, diese Raum-Zeit-Konfusion gelöst haben. Daraus ergibt sich, daß die Hope of Man im Raum bleiben muß, bis dieses Problem auch für die Menschen zufriedenstellend gelöst ist. Einige der besten Wissenschaftler haben sich freiwillig an Bord gemeldet, um bei der Beantwortung der damit verbundenen Fragen zu helfen. Mit ihnen kommen zahlreiche andere Wissenschaftler – und eine Abteilung des Raumkorps, die für Ruhe und Ordnung sorgen wird. Einige dieser Männer bringen ihre Familien mit. Andere sind noch ledig. Sobald alle an Bord sind, legt die Molly D ab. Dann sind wir wieder allein. Was jedoch Sie, meine Herren, betrifft ...« Hewitt machte eine kurze Pause, um sich davon zu
überzeugen, daß Gourdy und seine Männer ihm aufmerksam zuhörten. Erst dann fuhr er fort: »Soviel ich weiß, soll keiner von Ihnen vor Gericht gestellt werden. Die Ereignisse an Bord der Hope of Man werden als soziologische, nicht aber als kriminelle Erscheinungen betrachtet. Trotzdem wollen wir Sie nicht mehr an Bord haben.« Hewitt wandte sich an den Offizier und sagte ruhig: »Das wäre vorläufig alles, nehme ich an.« Nachdem Gourdy und seine Spießgesellen aus der Kabine geführt worden waren, wandte Hewitt sich an die Frauen des ehemaligen Captains, die sich in der Zwischenzeit angezogen hatten. »Keine Aufregung«, sagte er beruhigend. »Alles ist in bester Ordnung. Wie wäre es jetzt mit einem guten Frühstück? Ich habe noch viel zu tun.« Er verließ den Raum, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Selbstverständlich war klar, daß die Frauen zunächst Anpassungsschwierigkeiten haben würden. Andererseits würden es die übrigen auch nicht gerade leicht haben. Recht und Gesetz sollten wieder einmal an Bord der Hope of Man Einzug halten. Während der gesamten Transformationsperiode, die nun folgte, erschien Hewitt nicht mehr in der Kabine des ehemaligen Captains ... Am achten Tag legte ein Schiff des Raumkorps an und brachte die ersten neuen Passagiere.
Unter ihnen befand sich auch der berühmte Peter Linden. »Junger Mann«, sagte er mit einem leisen Lächeln zu Hewitt, »die unvermutete Existenz so vieler ungewöhnlicher Raum-Zeit-Veränderungen hat mich endlich dazu gebracht, die Berechnungen von John Lesbee I genauer zu überprüfen. Nachdem ich diese Arbeit beendet hatte, habe ich die Regierung der Vereinigten Westlichen Großmächte davon in Kenntnis gesetzt, daß Lesbees Theorie und seine dafür angeführten Beweise mein Vertrauen erschüttert haben. Ich bin jetzt ebenfalls davon überzeugt, daß irgend etwas geschehen wird. Vielleicht weist die Sonne wirklich eines Tages – wie heißt noch das Zitat, das damals in allen Zeitungen erschien? – ›einige der Aspekte der eruptiv Veränderlichen‹ auf. Allmählich ist es höchste Zeit, daß wir uns eingehend mit dieser Möglichkeit beschäftigen.« Hewitt, der jahrelang einen vergeblichen Kampf um die Anerkennung dieser Theorie geführt hatte, schwieg jetzt. Aber er konnte sich vorläufig keine Lösung dieses Problems vorstellen.
37 Lesbee und Tellier erreichten die Hope of Man in wenigen Augenblicken. Lesbee hatte das Zeitverhältnis an Bord des Rettungsbootes im Verhältnis neunhundertdreiundsiebzig zu eins verändert, so daß ihre Ankunft von dem Raumschiff aus nicht feststellbar war. Als sie die Luftschleuse passiert hatten, setzte er das Verhältnis wieder auf eins zu eins herab. Aber er war nervös geworden. Sowie das kleine Boot wieder in der Nische verstaut war, öffnete er die eingebaute Luftschleuse, ließ Tellier zurück und stieg selbst aus. Dann ging er sofort wieder auf das höhere Zeitverhältnis über. In diesem Zustand ging er geradewegs auf die Brücke und setzte zunächst das Relais außer Betrieb, das sich sonst schloß, wenn eines der Rettungsboote in seine Halterung zurückkehrte. Dann machte er sich auf den Weg zu Telliers Kabine und tauchte urplötzlich vor den erstaunten Augen von Telliers Frau Lou auf. Er brauchte einige Minuten, um sie davon zu überzeugen, daß er kein Geist war, und ihr klarzumachen, was er wollte; Lou erholte sich wesentlich langsamer von ihrem Schock, als Lesbee vorausgesehen hatte. Sie schloß immer wieder
die Augen und öffnete sie dann plötzlich, als erwarte sie, daß die Erscheinung unterdessen verschwunden sei. Gleichzeitig sprach sie davon, wie sehr sie Tellier vermißte. Als sie sich endlich einigermaßen beruhigt hatte, überfiel sie Lesbee mit einem neuen Wortschwall. Erst jetzt erfuhr er, daß Fremde an Bord gekommen waren. Am liebsten hätte er sich eingehend danach erkundigt, aber das wäre nur Zeitverschwendung gewesen. Fragen dieser Art konnten bis später warten. Schließlich hatte Lou sich verausgabt. Sie lächelte müde und fragte: »Was soll ich also tun?« Lesbee sagte ihr, sie solle ihre Habseligkeiten zusammenpacken und ihn zu dem Rettungsboot begleiten. Das nahm ebenfalls einige Zeit in Anspruch, aber kurz danach hatte er Lou in das Rettungsboot verfrachtet. Dort ließ er sie in Gesellschaft Telliers zurück. Lesbee ging nochmals durch das Schiff. Diesmal bemerkte er die Neuankömmlinge. Er beobachtete sie neugierig, denn Lou Tellier hatte sich nur sehr verschwommen ausgedrückt, als er fragte, wer an Bord gekommen sei. ... Raumkorpsangehörige und Zivilisten ... Lesbee stellte fest, daß sie von der Molly D gekom-
men waren, untersuchte die Situation an Bord des Bergungsschiffes mit großem Interesse und versuchte zu erkennen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. Aus der Tatsache, daß sich einige neue Familien an Bord der Hope of Man befanden, schloß er sehr zu seiner Überraschung, daß die Expedition fortgesetzt werden sollte. Lesbee versteckte sich in einem leeren Frachtbehälter und wurde auf diese Weise von einem Landungsboot der Molly D auf die Erde zurückgebracht. Dann stand er zum erstenmal in seinem Leben auf dem festen Boden eines Planeten. Am ersten Tag ging er im normalen Zustand spazieren, beobachtete das Treiben auf den Straßen und las Zeitungen. Nachmittags versetzte er sich für kurze Zeit in den beschleunigten Zustand und drang in ein Bankgebäude ein, wo eben Geld gezählt wurde. Lesbee bediente sich ohne Gewissensbisse und verschwand mit über tausend Dollar. Vermutlich würde es einige Zeit dauern, bis das Fehlen dieser Summe bemerkt wurde. Er kehrte wieder in den vorherigen Zustand zurück, nahm sich ein Zimmer in dem besten Hotel der Stadt und bestellte das beste Essen seines Lebens. Abends machte er in der Hotelbar die Bekanntschaft einer hübschen jungen Dame, die zufälligerweise in dem gleichen Hotel wohnte. Gegen Mitternacht zogen sie sich in sein Appartement zurück. Dort unter-
hielt Lesbee sich einige Stunden lang mit ihr und hörte sich geduldig ihr belangloses Geschwätz an, um sich mit den Verhältnissen auf der Erde vertraut zu machen. Am nächsten Morgen frühstückten sie gemeinsam; er machte ihr ein großzügiges Geschenk und ging seiner Wege. Die entgegenkommende junge Dame schien mit dieser Lösung einverstanden zu sein, denn sie erhob keine Einwände. Die Morgenblätter verkündeten in großen Schlagzeilen, daß Gourdy nochmals verhaftet worden wäre. Lesbee las erschrocken, welche Begründung für die Festnahme angegeben wurden. Die Regierung hatte beschlossen, ihre Autorität über ein Jahrhundert und fünf Generationen zu verlängern; sie behauptete, daß nur dadurch erreicht werden könne, daß in der Raumfahrt alles nach Recht und Gesetz zuging. Selbst wenn eine Expedition Dutzende von Jahren dauerte, müßten die Teilnehmer sich darüber im klaren sein, daß sie die natürliche Entwicklung der Autorität an Bord des Raumschiffs zu akzeptieren hätten. Aus dieser Argumentation ergab sich, daß Lesbee sich vermutlich ebenfalls durch seine Rebellion strafbar gemacht hatte. Brownes Machtübernahme stellte im Grunde genommen nichts anderes als eine »natürliche« Entwicklung dar. Plötzlich stand Lesbee vor der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Er konnte auf der Erde bleiben, ir-
gendwo ruhig und zurückgezogen leben und alles vermeiden, was die Aufmerksamkeit anderer auf ihn lenken würde ... Er konnte aber auch an Bord der Hope of Man zurückkehren, Hewitt absetzen und die Expedition weiterführen ... Da ein Mensch mit seinem Spezialwissen niemals ruhig und zurückgezogen leben konnte, schied die erste Möglichkeit von Anfang an aus. Den Ausschlag gab jedoch ein Zeitungsartikel, in dem berichtet wurde, daß Peter Linden endlich zu der Auffassung gelangt war, John Lesbee I habe vielleicht doch recht gehabt ... Linden war allerdings vorsichtig genug, um hinzuzufügen, daß vorläufig noch keine unmittelbare Gefahr bestehe. Lesbee erinnerte sich jedoch deutlich, daß sein UrUr-Großvater vorausgesagt hatte, die Veränderung der Sonne würde innerhalb der kommenden sechs bis zehn Jahre stattfinden. Also vielleicht schon im nächsten Augenblick! Lesbee schaltete auf das höhere Zeitverhältnis um und besuchte Gourdy in seiner Zelle. Nachdem der ehemalige Captain sich von seinem Schrecken erholt hatte, sprachen die beiden Männer längere Zeit ernsthaft miteinander. Schließlich kam es zu einer Vereinbarung: die Hope of Man sollte zurückerobert werden! Lesbee würde Captain, Gourdy Erster Offizier werden. Dieser
Kompromiß war für Lesbee nicht ungefährlich, aber trotzdem notwendig. Ein Mann allein konnte das Raumschiff nicht in seine Gewalt bringen. Dann nahm Lesbee Gourdy und dessen Männer in das höhere Zeitverhältnis mit und brachte sie auf diese Weise unbeobachtet an Bord der Molly D. Dort entluden sie in harter Arbeit einige große Packkisten, schafften den Inhalt von Bord und versteckten sich dann selbst in den Kisten. Als das Bergungsschiff an diesem Abend startete, hatte es zwanzig blinde Passagiere an Bord. Aus diesem Grund bekam Lesbee die Abendblätter nicht mehr zu Gesicht, in denen stand, daß Hewitt gegen Gourdys Verhaftung protestiert hatte. Die Leitartikel aller Zeitungen unterstützen seinen Standpunkt ... Kurz vor Mitternacht gab die Regierung bekannt, daß der Fall nochmals einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden sollte. Aber dazu war es jetzt bereits zu spät. An Bord der Hope of Man versteckte Lesbee Gourdy und die anderen Männer in einem Lagerraum, dessen Inhalt frühestens dann benützt wurde, wenn eine Landung auf einem anderen Planeten bevorstand ... Die Gruppe sollte sich ruhig verhalten, bis die Verbindung zwischen dem Raumschiff und der Molly D endgültig abgebrochen war. Der Techniker Lesbee spürte das Aufnahmemikro-
phon und den Bildübertrager in den Wänden des Lagerraums auf und sorgte dafür, daß beide Geräte nicht mehr in Betrieb genommen werden konnten. Er versorgte die Männer mit Essen, Feldbetten, Decken, Spielen und Büchern – die Bibliothek des Raumschiffs enthielt fast hunderttausend neue Bücher. Lesbee fühlte sich nie ganz wohl, wenn er mit Gourdys Leuten zusammen war und ihre Unterhaltung verfolgte. Trotzdem ließ er sich von diesen Zweifeln nicht beeinflussen, weil er genau wußte, daß es keine andere Möglichkeit gab. Er sah keinen Unterschied zwischen der Verhaltensweise der Regierung, die Gourdy wegen Mordes vor Gericht stellen wollte, und Gourdys Entscheidung, die beiden Techniker und den Wissenschaftler ermorden zu lassen. Die Regierung wollte zukünftige Raumfahrer dazu zwingen, sich der Herrschaft ernannter Könige zu beugen. Gourdy hatte nur die abschrecken wollen, die vielleicht dagegen rebelliert hätten, daß er sich zum König aufgeschwungen hatte ... Folglich konnte es keinen Unterschied zwischen beiden Methoden geben, schloß John Lesbee V. Deshalb war er mehr denn je dazu entschlossen, sich von seinem Plan durch nichts abbringen zu lassen. Während er darauf wartete, daß die Molly D endlich wieder ablegte, beobachtete Lesbee die Ereignisse an Bord der Hope of Man ...
Unterdessen hatte sich viel verändert. Wissenschaftler waren an Bord gekommen. Psychologen hielten Vorträge. Soziologen erläuterten die bisherige Entwicklung für diejenigen, die zu sehr mit der Wirklichkeit verbunden waren, um ihre Bedeutung zu erkennen. Die von militärischen Erwägungen bestimmte Führung des Raumschiffs – die damals buchstäblich in letzter Minute vor dem Start Form angenommen hatte – wurde durch ein anderes System ersetzt das nicht von Militärs, sondern von Wissenschaftlern entworfen worden war. Lesbee versteckte sich auf dem Balkon des Versammlungsraums und hörte von dort aus Hewitts Erläuterungen über den Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen und anderen Systemen. Unter anderem führte Hewitt aus: »Wissenschaftler sind in vieler Beziehung überraschend. Einerseits können sie mit Recht konservativ genannt werden. Aber innerhalb der Grenzen, die durch Ausbildung und Spezialisierung bestimmt sind, erreichen sie ein erstaunliches Maß an Selbstkritik, Fortschrittlichkeit und Erfindungsgabe, das sie befähigt, neue Probleme unvoreingenommen zu betrachten und auf Lösungsmöglichkeiten zu untersuchen.« Hewitt verglich die ungeheuren Schwierigkeiten, die das Anwerben erstklassiger Wissenschaftler vor
dem ersten Start gemacht hatte, mit dem Andrang der besten Kräfte beim zweitenmal. Er gab auch den Grund dafür an – ein Raumschiff, das nach hundert Jahren aus dem All zurückkehrt, stellt ein klares und vor allem dringendes Problem da. Sämtliche Aspekte dieses Problems hatten das Interesse und den Enthusiasmus der Wissenschaftler erweckt ... Lesbee beobachtete die Ergebnisse dieses Interesses. Die Schiffsgesetze wurden geändert und ergänzt. Plötzlich gab es an Bord eine Polizei, Richter und Schöffen. Natürlich auch einen Captain – Hewitt –, der aber nur als oberster Verwaltungsbeamter fungierte. Er hatte bestimmte Rechte, aber ebenso viele Pflichten ... Viel wichtiger war jedoch, daß von nun an jedes Kind an Bord die Gelegenheit haben würde, eine gute Ausbildung zu erhalten, wobei die Stellung seiner Eltern keine Rolle mehr spielen sollte. Lesbee hörte von seinem Versteck aus zu, als Hewitt in einem weiteren Vortrag erklärte, weshalb ein so perfektes System sich nur an Bord eines Schiffes verwirklichen ließ. Hewitt führte aus, daß die Staaten der Erde sich noch nie in ihrer Geschichte in der glücklichen Lage befunden hätten, daß ein von außen kommender altruistischer Einfluß das bestehende System veränderte. Bisher hatten die Menschen nur dann einen Ein-
fluß von außen zu spüren bekommen, wenn ein Land das andere im Krieg besiegte. Dann ergaben die Besiegten sich gezwungenermaßen ihrem Schicksal, speicherten ihren Haß auf und warteten auf eine günstige Gelegenheit zur Rache, die früher oder später durch die Ränke und Winkelzüge der internationalen Politik geschaffen werden konnte. Lesbee hielt Hewitt zunächst für geradezu unglaublich naiv. Hewitt schien gar nicht bemerkt zu haben, daß die ursprüngliche Besatzung zwar bereitwillig von ihren Rechten Gebrauch machte, aber gleichzeitig wegen der damit verbundenen Pflichten murrte. Ebenfalls schien ihm entgangen zu sein, daß die Männer sich durch die Neuankömmlinge beleidigt fühlten, die ihnen zu verstehen gaben, daß die Frauen an Bord bisher nicht richtig behandelt worden waren. Dann fragte Lesbee sich, ob Hewitts Ahnungslosigkeit nicht nur eine geschickte Tarnung darstellte, hinter der sich ein neuer Umsturzversuch verbarg. Wenig später legte die Molly D endgültig ab. In diesem Augenblick vergaß Lesbee alles andere und konzentrierte sich auf seine Absicht. Der Weg zur Macht schien frei.
38 Lesbee hätte am liebsten Tellier aufgesucht, bevor er etwas unternahm. Aber dann fiel ihm ein, daß dieser Wunsch eine Schwäche bedeutete. ›Vielleicht will ich nur, daß er mir alles ausredet‹, überlegte er sich. Deshalb setzte er sich nicht mit Tellier in Verbindung. Er versuchte sich einzureden, daß Hewitt ebenso machtgierig wie seine unmittelbaren Vorgänger sei. Gourdy entging der träumerische Ausdruck in Lesbees Augen keineswegs. Dies war der Augenblick, in dem Lesbee sich die Blöße gab, auf die Gourdy bereits seit Tagen gewartet hatte. Jetzt warf er Harcourt einen auffordernden Blick zu, den der andere sofort richtig deutete, weil Gourdy ihm aufgetragen hatte, die Unterhaltung genau zu verfolgen. Lesbee seufzte. ›Am besten unternehmen wir den Angriff so rasch wie möglich‹, überlegte er, ›damit wir die Sache hinter uns haben.‹ In diesem Augenblick nahm er Harcourts Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahr; seine Finger verkrampften sich um die Fernsteuerung, die er stets bei sich in der Tasche trug. Dann kam das Ende für John Lesbee V.
Der Feuerstrahl aus Harcourts Waffe traf ihn am Kopf und der rechten Schulter. Ohnmacht! ... Tod! ... augenblicklich. Gourdy sah auf den verkrümmten Körper hinab. Er hatte einige Male beobachtet, was Lesbee tat, bevor er wieder einmal auf geheimnisvolle Weise verschwand – Lesbee steckte die Hand in die Tasche. Das war die einzige Bewegung, die sich regelmäßig wiederholte. Aus dieser Tatsache hatte Gourdy geschlossen, daß Lesbee in seiner Tasche ein Gerät trug, mit dessen Hilfe er sich unsichtbar machen konnte. »Dreht ihn auf den Rücken«, befahl er seinen Männern. »Ich möchte sehen, was er in der Tasche gehabt hat.« Wenige Sekunden später übergab Harcourt ihm mit einem triumphierenden Lächeln das kleine Gerät mit den drei Knöpfen. Gourdy drückte sie nacheinander und schließlich sogar gleichzeitig. Trotzdem geschah nichts. Sie durchsuchten Lesbees Taschen und hofften, irgendeinen anderen Mechanismus zu finden. Ebenfalls ohne Erfolg. Dann versuchte Gourdy es nochmals mit den drei Knöpfen. Da das Gerät jedoch einen Verstärker darstellte, der nur auf bestimmte Gedanken ansprach, erfolgte keine wahrnehmbare Reaktion. Gourdy starrte seinen toten Gegner verblüfft an und wandte sich schließlich schulterzuckend ab.
»Schon gut! Schon gut!« schnauzte er Harcourt an. »Dann erobern wir das Schiff eben wie beim erstenmal – aber vorläufig warten wir die nächste Schlafperiode ab, damit wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Wir haben noch zehn Stunden Zeit, in denen wir uns ausruhen können.« Als die nächste Schlafperiode begonnen hatte, befahl Gourdy: »Bringt nur die Kerle vom Raumkorps um – und Hewitt. Die restlichen Besatzungsmitglieder sind zu wertvoll. Wir brauchen sie später noch.« Der Überfall auf das Schiff begann, als eine Reihe von Männern hintereinander durch die langen Korridore schlich. Dann lösten sich drei Gestalten aus der Reihe und gingen auf den Maschinenraum zu. Zwei weitere Trios entfernten sich ebenfalls; sie sollten die Brücke und den Ausweichkontrollraum besetzen. Die übrigen Männer begleiteten Gourdy auf die oberen Decks. Lesbee hatte berichtet, daß die Männer des Raumkorps in der Kabine des ehemaligen Ersten Offiziers und den drei oder vier gegenüberliegenden Kabinen schliefen. Zwei Gruppen zu je drei Männern wurden in diese Kabinen geschickt, wo sie überraschend auftauchen und keinen Pardon geben sollten. Gourdy und die beiden übrigen Männer näherten sich vorsichtig der Kabine des Captains. Lesbee hatte
ihnen den Schlüssel verschafft, mit dem Gourdy jetzt leise die äußere Tür aufschloß ... Eine Minute später sah er zwei Frauen vor sich, die in den beiden Betten des ersten Schlafzimmers saßen und ihn erstaunt anstarrten – Marianne und Ruth. Einer der beiden Männer, der in dem zweiten Schlafzimmer gewesen war, kam zurück und berichtete, daß dort Ilsa und Ann schliefen. Kein Hewitt ... Der Mann war nie hier gewesen! Weshalb hatte Lesbee ihm nie davon erzählt? Gourdy war wütend, beherrschte sich aber sofort wieder, weil er wußte, daß jetzt die Zeit drängte. Er verließ das Schlafzimmer und schaltete die Abhöranlage im Vorraum ein. Alle Appartements waren besetzt. Gourdy erkannte, daß die Suche nach Hewitt auf diese Weise zuviel Zeit in Anspruch nehmen würde. Er stellte fest, daß die Schlafsäle auf den unteren Decks verlassen waren. Die Männer waren also wieder bei ihren Familien. Er beobachtete die Kabinen, in denen die Angehörigen des Raumkorps untergebracht waren, und grinste zufrieden, als er überall Leichen sah. Offenbar war die Überraschung nicht völlig geglückt, denn zwei der Kabinen lagen in Trümmern. Einer von Gourdys Männern war gefallen – aber neben ihm lag ein toter Unbekannter. Gourdy rieb sich höchst zufrieden die Hände und
betrat wieder den Wohnraum. Seine beiden Männer hielten an der Tür Wache und sahen furchtsam in den Gang hinaus. Die vier Frauen standen dicht nebeneinander in der Mitte des ersten Schlafzimmers. »Nun, meine Damen«, meinte Gourdy mit einem breiten Grinsen, »vielleicht bin ich bald wieder Captain.« Er erhielt keine Antwort und wurde wütend, als er den gleichen trübseligen Ausdruck auf allen vier Gesichtern sah. »Der Teufel soll mich holen!« sagte er. »Aber wenn ihr nicht bald ein bißchen mehr Interesse zeigt, setze ich euch alle an die Luft!« In Ruths Augen erschienen Tränen. Dann schluchzte sie plötzlich leise. Das Geräusch wirkte wie ein Signal. Alle vier Frauen begannen zu weinen. Gourdy bekam einen neuen Wutanfall. »Verschwindet in dem Zimmer dort drüben!« brüllte er. Dabei wies er auf das zweite Schlafzimmer. »Und heult euch gefälligst dort drinnen aus! Ich will euch hier nicht mehr sehen!« Das Schluchzen wurde leiser. Die vier Frauen gingen in das zweite Schlafzimmer und schlossen die Tür hinter sich. Die beiden Männer waren hereingekommen. Einer erkundigte sich nervös: »Was ist los, Captain?« »Wir siegen auf der ganzen Linie«, antwortete Gourdy zuversichtlich.
Trotzdem eilte er an die Abhöranlage zurück, um sich davon zu überzeugen. Der Maschinenraum erschien auf dem winzigen Bildschirm. Auch dort ein Sieg. Miller, der ehemalige Erste Offizier, saß gefesselt auf seinem Platz. Gourdy setzte sich über die Gegensprechanlage mit ihm in Verbindung. »Wo steckt Hewitt?« fragte er sofort. Miller war sichtlich erschrocken und schwer mitgenommen, aber seine Antwort klang ehrlich. »In einer der Kabinen auf dem obersten Deck. Ich weiß nicht, in welcher er schläft – wirklich nicht!« Gourdy nickte kurz. »Wir erwischen ihn bestimmt!« stellte er fest. Und brach die Verbindung ab. Unglücklicherweise befanden sich auf dem obersten Deck mehr als hundert Appartements. Gourdy war enttäuscht darüber, daß er nicht schon vorher aus Zufall die richtige gefunden hatte, in der Hewitt sich aufhielt. Dann befaßte er sich wieder mit wichtigeren Dingen, als seine Männer nacheinander hereinkamen, um Bericht zu erstatten. Der Sieg auf der ganzen Linie schien gesichert zu sein. »Aus Versehen sind wir auch in einige falsche Kabinen geraten«, sagte Harcourt. »Als wir dann sahen, daß dort nur alte Besatzungsmitglieder waren, warnten wir sie wie befohlen, damit sie nicht auf dumme
Gedanken kamen ... Aber jetzt wissen sie natürlich, was wir vorhaben.« Auch die anderen meldeten ähnliche Vorkommnisse. Gourdy zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Nur keine Angst – schließlich wissen wir genau, daß die Kerle nichts wert sind, wenn es hart auf hart geht«, meinte er verächtlich. Ein Glockenzeichen ertönte als Signal dafür, daß die Gegensprechanlage in Betrieb gesetzt worden war. Gourdy hörte das Rufzeichen und ging sofort auf den Bildschirm zu. Dann blieb er plötzlich verblüfft stehen. »Wer kann das sein?« fragte er unsicher. Er runzelte die Stirn, während er das Gerät einschaltete. Hewitt! Die beiden Männer starrten sich gegenseitig an. Gourdy kniff die Augen zusammen; Hewitts Augen blickten ernst. Hewitt sprach zuerst. »Ich habe eben erfahren, daß Sie eine Machtübernahme versucht haben, Gourdy. Ich weiß zwar nicht, wie Sie überhaupt an Bord gekommen sind, aber jedenfalls haben Sie damit den größten Fehler Ihres Lebens gemacht.« Gourdy hatte nur ein Wort deutlich gehört. »Erfahren ...!« »Von wem haben Sie das erfahren?« erkundigte er
sich wütend. »Warten Sie nur, bis ich den Kerl erwische ...« Hewitt überging die Frage und die Drohung. »Im Augenblick steht ein Dutzend Männer hinter mir. Von Minute zu Minute kommen mehr ...« Gourdy spürte, daß ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. »Wir sind alle bewaffnet!« fuhr Hewitt eindringlich fort. »In wenigen Minuten beginnen wir unseren Gegenangriff. Ergeben Sie sich also lieber rechtzeitig, solange Sie noch Gelegenheit dazu haben.« Gourdy hatte sich unterdessen wieder von seinem Schrecken erholt. »Passen Sie nur gut auf, daß Ihre Leute nicht vor Angst in die Hosen machen!« rief er wütend in das Mikrophon und brach die Verbindung ab.
39 Der Kampf um die Hope of Man begann etwa eine Stunde später. Auf der einen Seite standen achtzehn entschlossene Männer, die mit Strahlern, Revolvern und zwei Schrotflinten bewaffnet waren. Ihre Gegner waren vor allem Wissenschaftler und Techniker, deren Waffen aus Strahlern, Revolvern, Tränengasgranaten und der Ausrüstung ihrer Laboratorien bestanden. Gourdy hielt sie alle noch immer für Feiglinge, weil sie sich bereits einmal in Gefangenschaft begeben hatten, ohne einen Verteidigungsversuch zu unternehmen. Hewitt wußte, daß diese Annahme jetzt nicht mehr zutraf, denn in der Zwischenzeit war ein neuer Faktor wirksam geworden. Die früheren Besatzungsmitglieder hatten unterdessen am eigenen Leibe erlebt, wie sehr sich das neue System von dem vorherigen unterschied. Hewitt bezweifelte nicht, daß diese Männer sich mit einigen Veränderungen nur widerwillig abgefunden hatten. Aber für jeden der Männer war es einfach unvorstellbar, daß Gourdy jetzt wieder an die Macht kommen sollte. Sobald diese Entscheidung getroffen war – und offenbar waren viele gleichzeitig zu ähnlichen Schluß-
folgerungen gekommen –, gab es praktisch keine Probleme mehr. Die Männer versammelten sich instinktiv um Hewitt. Und als er die Physiker, Chemiker und Ingenieure fragte, was sich ihrer Meinung nach als Angriffswaffe verwenden ließe, schlugen die Fachleute verschiedene Lösungen vor: Eine Weiterentwicklung des Lasers, dessen feingebündelter Lichtstrahl eine elektrische Ladung trug. Ein Kraftfeld, das die Nerven beeinflußte, wodurch die Muskeln sich verkrampften. Eine kleine Kugel, die in den Maschinenraum rollte, an einem der Triebwerke hängenblieb, Energie in sich speicherte und Hitze ausstrahlte. Als die Temperatur des Maschinenraums auf über achtzig Grad gestiegen war, schickten Gourdys Männer Miller zu Hewitt und ließen ihn fragen, ob sie sich ergeben durften. Hewitt stimmte zu. Von den Gefangenen erfuhr er jetzt, daß Lesbee ermordet worden war. Hewitt hörte aufmerksam zu, als der Mann die Flucht aus dem Gefängnis beschrieb und dabei erwähnte, daß alles um sie herum unbeweglich erschienen war. Er erkannte sofort, daß dieses Erlebnis dem glich, das er damals an Bord der Hope of Man gehabt hatte. Hewitt mußte seine Aufregung mühsam beherrschen, als ihm klar wurde, daß ihre Probleme sich lö-
sen ließen, wenn ein Gerät zur Verfügung stand, mit dessen Hilfe das Zeitverhältnis geändert werden konnte. Aber dann fiel ihm ein, daß Gourdys Männer ihm dabei kaum behilflich sein konnten. Sie hatten selbst nie richtig begriffen, was um sie herum vorgegangen war. Roscoe, einer der jungen Wissenschaftler an Bord, hatte plötzlich einen guten Einfall: Wenn Lesbee auf das Schiff zurückgekehrt war, mußte auch Tellier mitgekommen sein. Hewitt ließ die Rettungsboote durchsuchen. Tellier wurde tatsächlich dort gefunden. Er weinte, als er von Lesbees Tod hörte. Er wußte kaum etwas über die Erfindung seines Freundes. Die Wissenschaftler führten den Kampf keineswegs mit neuen oder ungewöhnlichen Waffen. Keines der verwendeten Geräte stellte eine Erfindung dar, die an Bord der Hope of Man gemacht worden war. Die Verfahren waren bekannt – aber nur Fachleute konnten ihre Möglichkeiten ausnützen. Für die Wissenschaftler glich der Kampf fast einer Schachpartie. Allerdings mit dem einen Unterschied, daß sie ständig neue Züge erfanden ... Gourdys Mann auf der Brücke wurde zur Übergabe aufgefordert. Als er sich weigerte, begann der Lautsprecher an der Decke zu klirren. Das Geräusch
wurde ständig lauter, bis das Trommelfell des Mannes zu platzen drohte. Nachdem er sich ergeben hatte, sahen die beiden Männer in dem Ausweichkontrollraum sich plötzlich Flammen gegenüber, die aus den Wänden zuckten. Dabei handelte es sich um ein Laserphänomen, mit dessen Hilfe Lichtwellen aus den Metallkristallen der Wände angezogen wurden. Die Flammenzungen reichten fünf oder sechs Meter weit in den Raum hinein und flackerten an allen möglichen Stellen auf. Obwohl sie nicht sehr heiß waren, erzeugten sie den gleichen psychologischen Effekt wie wirkliches Feuer. Schon wenige Minuten später kamen Gourdys Männer mit erhobenen Händen heraus und ergaben sich willenlos. Als das Ende der offiziellen Schlafperiode bevorstand, hatten Hewitts Männer den Korridor vor der Kabine des Captains hermetisch abgeriegelt. Der Angriff war nur deshalb verschoben worden, weil noch nicht feststand, was aus den vier Frauen werden würde. Eine Gruppe von Wissenschaftlern unter Lawrences Führung kam zu Hewitt. »Ich fürchte, daß wir die Frauen opfern müssen«, sagte ihr Sprecher ernst. »Andernfalls kostet der direkte Angriff uns vielleicht dreißig oder vierzig Männer.« Auch Hewitt hatte sich bereits darüber Gedanken
gemacht. Jetzt schlug er vor, Gourdy die Möglichkeit zu geben, straffrei auszugehen, falls er den Widerstand aufgab. »Obwohl er so viele Menschen auf dem Gewissen hat!« protestierten einige Männer sofort. Hewitt fühlte Zorn in sich aufsteigen. Er war der Meinung, daß jedes Menschenleben gerettet werden mußte, falls überhaupt eine Möglichkeit dazu bestand. »Gourdy hat diese Menschen aus politischen Gründen umbringen lassen«, sagte er erklärend. »Es war trotzdem Mord!« warf Lawrence ein. Hewitt beherrschte sich mühsam und wies auf die Tatsache hin, daß Morde aus politischen Gründen schon früher als Ausnahmefälle angesehen und behandelt worden waren. »Das Wesen einer menschlichen Gesellschaft läßt sich schon daran erkennen, welche Arten von Mord sie zuläßt und rechtfertigt«, führte er aus. »Und wenn wir die Menschen betrachten, die für den Vollzug der Todesstrafe verantwortlich sind, stellen wir fest, daß sie mit Zustimmung der politischen Führer handeln, die ihrerseits von der breiten Masse unterstützt werden.« Er fuhr fort: »An Bord der Hope of Man finden sich ähnliche Verhältnisse in verkleinertem Maßstab wieder. Vergessen Sie nicht, meine Herren, daß Sie sich alle in einem Übergangsstadium von einem System
zum anderen befinden. Etwas mehr Toleranz wäre deshalb durchaus angebracht, wenn es um Dinge geht, die mit dem alten System zusammenhängen. Falls einer unter Ihnen damals aktiven Widerstand geleistet hat, bin ich gern bereit, seine Vorschläge anzuhören.« Die Anwesenden schwiegen betroffen, aber der ehemalige Erste Offizier hob die Hand. »Ich bin gegen das alte System aufgetreten«, sagte er. Einer der Wissenschaftler lachte kurz auf. »Mister Miller, diese Behauptung ist ohne Beweise nicht annehmbar«, stellte er dann fest. »Ich habe Gourdy von Anfang an nicht ausstehen können«, behauptete Miller erregt. »Aber was halten Sie davon, wenn ich sage, daß Sie Brownes williger Lakai waren?« fragte der Wissenschaftler. Miller starrte ihn überrascht an. »Mister Browne war der rechtmäßige Captain der Hope of Man!« widersprach er. Hewitt brachte die beiden mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. Dann wandte er sich wieder an die übrigen. »Ich hoffe, daß Sie jetzt überzeugt sind«, meinte er. Roscoe zuckte unwillig mit den Schultern. »Schön, dann versprechen wir also Gourdy völlige Straffreiheit. Und was geschieht dann mit ihm?«
»Wir helfen ihm bei der Anpassung an das neue System«, antwortete Hewitt. »Und wenn er sich nicht anpassen will?« »Das müssen wir eben riskieren«, entschied Hewitt. »Sind Sie alle damit einverstanden, daß ich mit ihm zu verhandeln versuche?« Einige der Männer sahen unbehaglich zu Boden, als Hewitt sie fragend anblickte, aber keiner von ihnen widersprach. Gourdy lachte höhnisch, als Hewitt sich mit ihm in Verbindung setzte. »Hören Sie«, sagte er, »jetzt haben wir endlich den Punkt erreicht, an dem sich die Männer von den Jüngelchen scheiden. Allerdings stehen die Männer ausschließlich auf meiner Seite. Mit den Vorräten, die in den angrenzenden Lagerräumen aufgestapelt sind, können wir es hier jahrelang aushalten.« Hewitt gab zu bedenken, daß die Angreifer über wissenschaftlich verfeinerte Waffen verfügten, die sich entscheidend auswirken konnten. »Ich muß also annehmen, daß Sie meinem Angebot nicht trauen«, schloß er. »Habe ich recht?« »Doch, doch; ich traue Ihnen.« »Warum ergeben Sie sich dann nicht?« fragte Hewitt. »Wenn Sie mein Angebot ausschlagen, haben Sie endgültig verspielt.« »Ihr wissenschaftlicher Kram stört mich wenig –
Sie wissen ganz genau, daß die Kabine des Captains gegen solche Scherze gesichert ist.« »Die Sicherung bestand aber immer nur daraus, daß die Wissenschaftler auf der Seite des jeweiligen Captains standen«, erklärte Hewitt ihm. Gourdy zuckte gleichgültig mit den Schultern, obwohl er innerlich erschüttert war. Er ahnte, daß das Ende unmittelbar bevorstand, wollte sich aber trotzdem nicht mit dieser Tatsache abfinden. Vielleicht gab es noch eine Chance. Welche? Das wußte er nicht. Aber eine Kapitulation erschien undenkbar. Hewitt sagte eindringlich: »Mein Angebot bleibt auf jeden Fall bestehen, bis der erste Schuß gefallen ist. Sie und Ihre Männer können sich bis dahin ergeben und gehen wie versprochen straffrei aus. Überlegen Sie sich meinen Vorschlag gut, Gourdy!« Mit diesen Worten brach er die Verbindung ab. Die Wissenschaftler hatten Hewitts Gespräch mit Gourdy verfolgt. Jetzt sagte einer von ihnen: »Anscheinend sind Sie nicht mehr so objektiv wie zuvor, wenn man Ihrem Gesichtsausdruck glauben will.« »Gourdy wird immer schwieriger«, gab Hewitt zu. »Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er ebenfalls mit den Nerven herunter ist.« Hewitt wurde wieder ruhiger, als er seinen Druckanzug aus dem Lagerraum holen ließ und den anderen erklärte, was er vorhatte. Dann schickte er die
Wissenschaftler auf ihre Posten und rollte selbst in dem Druckanzug durch den Korridor, an dessen Ende die Kabine des Captains lag. Die erste Kugel prallte surrend von dem superharten Plastiglas vor seinen Augen ab! Hewitt bremste und blieb einen Augenblick lang zitternd stehen. Aber dann hatte er sich von dem Schock erholt und rollte unbeirrt weiter. Eine blitzende Perlenkette aus bläulichen Funken lief von oben nach unten über den Druckanzug – ein Strahler! Der Effekt war so geisterhaft, daß Hewitt mehr verwundert als erschrocken war. Dann fiel der erste Schuß aus einer Schrotflinte. Die kleinen Geschosse richteten keinen Schaden an, aber der Knall wirkte sekundenlang betäubend. Hewitt war unverletzt geblieben und rollte weiter. Als er nur noch wenige Meter von der Kabinentür entfernt war, hörte er Gourdys Stimme: »Der Teufel soll Sie holen, Hewitt, was wollen Sie überhaupt?« »Ich will mit Ihnen sprechen.« »Das können Sie auf dem Bildschirm.« »Ein persönliches Gespräch ist mir lieber.« Gourdy zögerte. »Schön, kommen Sie herein«, sagte er dann. Hewitt fuhr langsam weiter. Er und seine Berater waren zu dem Schluß gekommen, daß Gourdys Männer vermutlich versuchen würden, den Druckan-
zug umzukippen, sowie Hewitt sich im Innern der Kabine befand. Das war bestimmt nicht leicht. Der Anzug allein wog fast zweihundertfünfzig Kilogramm, zu denen noch die fünfundachtzig kamen, die Hewitt wog. Trotzdem war es durchaus möglich, daß drei oder vier kräftige Männer ihn umkippten. Aus diesem Grund hielt Hewitt auf der Türschwelle an, wo Gourdys Leute ihn nicht erreichen konnten. Weil er vor allem die vier Frauen retten wollte, ignorierte er vorläufig die Männer und sah zu den Schlafzimmertüren hinüber. Eine der Türen wurde einen Spalt breit geöffnet. Dann erschien ein Auge in dem Schlitz. Hewitt konnte allerdings nicht erkennen, welche der Frauen ihn beobachtete. Aber jetzt brauchte er nicht länger zu warten. Er löste die Bremse und ließ den Druckanzug mit Höchstgeschwindigkeit durch die Kabine rollen. Gourdys Männer wollten ihn aufhalten, wichen aber schreiend zurück, als sie den elektrisch geladenen Anzug berührten. »Aus dem Weg, meine Damen!« warnte Hewitt durch den Lautsprecher, als er die Schlafzimmertür fast erreicht hatte. Im nächsten Augenblick prallte der Druckanzug gegen die Tür und hätte sie zersplittert, wenn sie noch verschlossen gewesen wäre. Aber sie stand be-
reits halb offen und flog jetzt ganz auf. Hewitt bremste auf der Schwelle und stellte mit einem kurzen Blick fest, daß alle vier Frauen sich in dem Raum aufhielten. Er fühlte sich erleichtert, denn für diesen Augenblick hatte er zwei verschiedene Signale vereinbart. Jetzt sprach er in sein Helmmikrophon: »Feuer!« Dadurch gab er zu erkennen, daß er sich in einer Position befand, von der aus er die vier Frauen beschützen konnte. Die Wissenschaftler reagierten sofort. Aus einer Stelle der Kabinenwand kam ein Blitzstrahl, schlug in den Anzug ein und entlud sich krachend im Innern der Kabine hinter Hewitts Rücken. Dort ertönte ein vielstimmiger Schmerzensschrei. Dann hörte Hewitt, daß ein Körper nach dem anderen zu Boden fiel.
40 »Kommt schnell!« rief Hewitt in sein Helmmikrophon. »Keine Eile«, antwortete Lawrence gelassen. »Die Kerle sind unschädlich gemacht worden.« Der Tonfall des anderen erschreckte Hewitt. Er schwieg betroffen, drehte den Anzug herum und rollte in den Hauptraum hinein. Ein Dutzend Männer lag in verschiedenen Stellungen auf dem Boden. Sie lagen so eigenartig ruhig, daß Hewitt in diesem Augenblick unwillkürlich zusammenzuckte, während ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. »Lawrence«, sagte er mit zitternder Stimme, »wir hatten uns doch geeinigt, daß ...« Lawrence lachte grimmig. »Offenbar haben wir ihnen aus Versehen eine tödliche Dosis verpaßt, Mister Hewitt. Zu schade, nicht wahr?« Hewitt sah rot vor Wut. »Sie sind auch nur ein ganz gemeiner Mörder!« brüllte er. Lawrence blieb ungerührt. »Und Sie sind übermäßig erregt, Mister Hewitt. Aber keine Angst – ich nehme Ihnen nichts übel.« Hewitt beherrschte sich mit einer gewaltigen Anstrengung. Trotzdem mußte er dem anderen seine
Meinung sagen, um sich irgendwie abzureagieren. »Vielleicht ist es ganz gut, daß Sie so gehandelt haben«, sagte er. »Das beweist, daß Sie noch immer an dem alten System hängen und die Bedeutung des neuen nicht begriffen haben. Ich finde, daß Sie ...« »Sie haben doch nicht etwa geglaubt, daß wir die Kerle laufen lassen würden!« unterbrach Lawrence ihn wütend. »Schon gut, schon gut«, meinte Hewitt resigniert. »Gehen wir lieber schlafen. Ich bin todmüde.« Er bemerkte, daß eine der Frauen hinter ihm in der Tür erschienen war, und schaltete den Außenlautsprecher ein. »Bitte, bleiben Sie in dem Schlafzimmer und schließen Sie die Tür«, wies er sie an. Wenige Stunden später wachte Hewitt auf, als der Summer an der Tür seiner Kabine ertönte. Er zog sich rasch einen Morgenrock an und öffnete. Vor der Tür stand Roscoe, der junge Wissenschaftler. »Wir treffen uns im Versammlungsraum, Sir«, sagte er höflich. »Ihre Anwesenheit ist ebenfalls erwünscht.« Hewitt starrte ihn an; sein Lächeln verschwand allmählich. Aber er antwortete nur: »Ich komme in zehn Minuten.« Während er sich hastig rasierte und anzog, überlegte er, was Roscoes Aufforderung zu bedeuten haben konnte. Vielleicht mußte er sich jetzt mit der Tatsache
abfinden, daß die Zeit der plötzlichen Änderungen und Verbesserungen an Bord vorüber war. Was in Zukunft erreicht wurde, hing davon ab, wie gut die Menschen zusammenarbeiteten, die erst allmählich begreifen würden, welche Möglichkeiten das neue System bot, das Hewitt einzuführen versucht hatte. Der Erfolg seiner Bemühungen mußte sich innerhalb der kommenden Stunde zeigen ... Hewitt hatte versucht, ein neues System zu verwirklichen, das jedem Beteiligten die Möglichkeit gab, sich stets und überall für das Wohl der Allgemeinheit verantwortlich zu fühlen. Die Fortführung dieser Absichten lag im Interesse jedes einzelnen an Bord. Aber dieses System konnte auf festgelegte Regeln oder einen bestimmten Führer verzichten. Und Hewitt stand jetzt Menschen gegenüber, die tun und lassen konnten, was sie wollten. Als Hewitt in der Tür des Versammlungsraumes erschien, drehten sich einige Männer nach ihm um. Einer von ihnen sprang auf und rief: »Er kommt!« Das war eine unerwartete Begrüßung. Hewitt blieb stehen. Während er noch zögernd in der Tür stand, erhoben sich die fast fünfhundert Männer von ihren Plätzen und klatschten zu seiner Überraschung begeistert. Hewitt sah, daß William Lawrence auf der Bühne stand und ihn zu sich heranwinkte ...
Hewitt ging vorsichtig weiter. Er spürte, daß er noch längst nicht alle Schwierigkeiten überwunden hatte, war aber trotzdem erleichtert und in besserer Stimmung. Sobald Hewitt die Bühne erreicht hatte, hob Lawrence die Hand, bis der Beifall verklungen war. Dann sprach er mit lauter, klarer Stimme: »Mister Hewitt, wir alle hoffen, daß Sie nun davon überzeugt sind, daß Sie hier nur Freunde haben. Die Art und Weise, in der Sie sich freiwillig an Bord der Hope of Man begeben haben; das System, dessen Einrichtung wir Ihnen verdanken; die Methoden, die Sie angewandt haben – das alles sind Dinge, die unserer Auffassung nach beweisen, daß Sie sich von höchst ethischen Grundsätzen leiten lassen. Aus diesen und anderen Gründen möchten wir ausdrücklich feststellen, daß wir Sie für den natürlichen Führer unserer Expedition halten.« Lawrence mußte eine Pause machen, bis der Beifall abgeklungen war. Als wieder Ruhe herrschte, fuhr er fort: »Die Führung dieses Schiffs bringt jedoch einige Probleme mit sich, und bevor wir Sie als Captain akzeptieren, möchten wir uns vergewissern, daß Sie sich nicht in Dinge einmischen, die keineswegs zum Aufgabenkreis eines Captains gehören. Mister Hewitt, dürfen wir Sie um Auskunft bitten,
welche Absichten Sie mit den Frauen Ihres Vorgängers haben?« Der Wechsel vom Allgemeinen zum Besonderen erfolgte so rasch, daß Hewitt einen Augenblick brauchte, bevor er verstanden hatte, daß Lawrence ihm tatsächlich eine so direkte Frage gestellt hatte. Während er langsam einige Schritte weit vortrat, wurde ihm klar, wieviel von seiner Antwort abhing. Deshalb mußte er auf jeden Fall bei der Wahrheit bleiben. »Meine Herren«, begann er, »ich weiß nicht, wie lange wir noch an Bord der Hope of Man bleiben werden. Aber ich nehme an, daß etliche Jahre vergehen werden, bis wir die Grundlagen unseres Raum-Zeit-Kontinuums erforscht haben. Selbstverständlich geht das Leben in dieser Zeit seinen gewohnten Gang. Dabei treten die verschiedensten Probleme auf – Ehen, Geburten, Todesfälle, Erziehungsprogramme und viele andere ...« Hewitt schwieg plötzlich, weil ihm eingefallen war, wie wenig sich seine weiteren Ausführungen für ein so großes Publikum eigneten, das ausschließlich aus Männern bestand. Trotzdem sprach er schließlich mit fester Stimme weiter. »Ich empfinde eine starke Zuneigung für die älteste der vier Frauen, die Mister Lawrence erwähnt hat, und hoffe, daß sie meine Gefühle erwidert. Deshalb beabsichtige ich, ihr einen Heiratsantrag zu machen.«
Die Zuhörer schienen beeindruckt, denn als Hewitt zu Ende gesprochen hatte, herrschte tiefes Schweigen. William Lawrence sah zu Boden und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann stand Roscoe auf. »Mister Hewitt«, sagte er, »seit einigen Jahrzehnten – genauer gesagt seit John Lesbee III – war es üblich daß der Captain der Hope of Man mehr als eine Frau hatte. Wollen Sie mit dieser Tradition brechen und sich auf eine Frau beschränken?« Hewitt schwieg und betrachtete die Gesichter der Zuhörer, die erwartungsvoll zu ihm aufblickten. Er fand es lächerlich, daß diese Idioten ihn dazu bringen wollten, mehr als eine Frau zu nehmen. Vermutlich glaubten sie, daß sich dadurch die männliche Vorherrschaft an Bord der Hope of Man für alle Zeiten bestätigen ließe. Dergleichen Absichten konnte er nicht unterstützen. Deshalb antwortete er einfach: »Ja – ich werde nur eine Frau heiraten.« Auf den Gesichtern der Zuschauer zeigte sich plötzlich ein erleichtertes Grinsen. Lawrence kam zu Hewitt und schüttelte ihm herzlich die Hand. Roscoe sagte: »Captain Hewitt, Sie haben den Test bestanden. Wir vertrauen Ihnen und werden Sie auch in Zukunft nach besten Kräften unterstützen. Habe ich recht, Männer?« Hewitt erhielt die zweite Ovation.
41 An Bord der Hope of Man waren acht Jahre vergangen. Die Wissenschaftler hatten nach unzähligen Versuchen endlich entdeckt, was John Lesbee V in einem glücklichen Augenblick gefunden hatte. Aber sie waren nicht seiner Auffassung, daß das Universum eine »Lüge« sei. Es war im Gegenteil wirklich und wahr – und die Menschen erforschten jetzt diese Wahrheit, entdeckten ihre Prinzipien, machten Voraussagen und fanden sie bestätigt. Im Lauf der Zeit lernten sie auf diese Weise, wie auch die letzten Hindernisse durch allmähliche mechanisch gesteuerte Veränderungen der Über-Lichtgeschwindigkeit überwunden werden konnten. Beim erstenmal war die Hope of Man nur aus »Versehen« in eine frühere Zeit zurückgekehrt. Jetzt bewegte das große Raumschiff sich ständig mit ÜberLichtgeschwindigkeit durch das zeitlose Universum. Obwohl unterdessen an Bord über vierhundert Wochen vergangen waren, erschien die Hope of Man nur eine Woche nach dem Tag wieder in dem Sonnensystem, an dem die Molly D abgelegt hatte, um zur Erde zurückzufliegen. Die beiden Schiffe traten mit nur einem Tag Abstand in die Erdatmosphäre ein. Für das Bergungs-
schiff waren sieben Tage verstrichen; für das Raumschiff fast dreitausend ... Auf der Erde kam es daraufhin zu hastig einberufenen Konferenzen, an denen Regierungsmitglieder, Botschafter und Wissenschaftler teilnahmen. Als diese Besprechungen zu keinem Ergebnis geführt hatten, wandten Peter Linden und Averill Hewitt sich an die Bevölkerung der Erde. Der Physiker sprach zuerst und vermittelte die wissenschaftlichen Informationen. Zusammengefaßt lauteten sie: die Hope of Man hatte die Zukunft des Sonnensystems erforscht und dabei beobachtet, daß die Sonne tatsächlich für kurze Zeit das charakteristische Erscheinungsbild eines eruptiv veränderlichen Sterns bieten würde. Während er diese Erklärung abgab, wurde im Fernsehen ein Film gezeigt, der die künftige Entwicklung illustrierte – die plötzliche Eruption, die Hitzewelle, die eine Seite der Erde traf ... Der Wissenschaftler betonte immer wieder, daß der Film ein tatsächlich geschehenes Ereignis aus der Zukunft zeigte. Es beruhte – wenn es eintrat – auf der Veränderung einer Gaswolke, die sich auf einer Front von mehreren Lichtjahren mit ÜberLichtgeschwindigkeit durch den Raum bewegte. Diese Bewegung, die sich wellenförmig fortpflanzte, würde die Sonne etwa vier Sekunden lang erschüt-
tern und die einhundertneunundvierzig Millionen Kilometer zwischen der Sonne und der Erde in weniger als sieben Minuten zurücklegen. Der auf der Erde entstehende Schaden würde ausschließlich durch Wärme verursacht werden, die der Sonne während des vier Sekunden langen Kontakts entzogen wurde. »Der sonnennächste Planet Merkur wird erheblich in Mitleidenschaft gezogen«, führte Peter Linden aus, »aber auf allen anderen Planeten bleiben die Schäden erträglich.« Trotzdem mußten Schutzbauten errichtet werden, weil die Menschen in den betroffenen Gebieten die Hitzewelle nur unter der Erde ertragen konnten. Zum Glück würde der Stille Ozean den größten Teil der Wärme absorbieren ... Als Hewitt anschließend vor die Kameras und Mikrophone trat, sagte er: »Gott sei Dank habe ich bessere Nachrichten für Sie, meine Damen und Herren.« Im Laufe der Jahre hatte die Hope of Man mit ÜberLichtgeschwindigkeit unzählige andere Sonnensysteme angeflogen. Dabei waren drei Planeten entdeckt worden, die von Menschen besiedelt werden konnten. Jetzt wurden Kolonisten gebraucht, die gemeinsam mit den ersten Siedlern die Planeten erschließen würden. »Meine eigene Familie – meine Frau Ruth und un-
sere vier Kinder – lebt auf einem dieser Planeten«, berichtete Hewitt. »Wir werden auch weiterhin dort bleiben und hoffen, daß unser Beispiel bei Ihnen rasch Schule machen wird.« Mit diesen Worten begann Hewitt seinen Werbefeldzug, während die Welt gespannt und begeistert zuhörte.