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Taschenbücher von ANGUS WELLS im BASTEI-LÜBBE-Programm: Die Bücher über die drei Königreiche 20146 Sendbote der Rache 20151 Der Thronräuber 20157 Der Flammengott
DAS VERSCHOLLENE
BUCH
Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Winfried Czech
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20241
Erste Auflage: Oktober 1994
© Copyright 1991 by Angus Wells All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1994 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
Originaltitel: Forbidden Magic Lektorat: Reinhard Rohn/Stefan Bauer Titelbild: Kevin Tweddell Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Hagen a T W. Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin/ La Flache, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20241-4 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
Für Liz und Laurence, Linda, Sylvia, Nick und Rob, die gemeinsam gegen die Hexe gekämpft haben …
And, after all, what is a lie? Tis but the truth in masquerade.
KAPITEL 1 Bylath den Karynth, Domm von Secca, Lord der Östli chen Gestade und der Erwählte Deras, starrte finster durch die schmale Fensteröffnung. Auf seinem Gesicht lag ein melancholischer Ausdruck, als würde der Wind, der über die Palastmauern pfiff, sein ohnehin verdrießli ches Temperament noch verstärken. Die durch den stän digen Gebrauch des Schwertes schwielig gewordenen Finger zupften an seinem löwenmähnenartigen gelben Bart, der wie sein Haar bereits von grauen Strähnen durchzogen war, dann ballte sich seine Hand zur Faust und fiel schwer auf den Fenstersims. Unter ihm auf dem sandigen Übungsplatz trainierten seine beiden Söhne unter den wachsamen Augen von Seccas Waffenmeister, Torvah Banul des Jüngeren, und das war die Ursache für seinen Mißmut. Er grunzte und nickte vor sich hin, als Tobias einen Hieb Torvahs parierte, sofort nachsetzte und mit seiner stumpfen Klinge einen sauberen Treffer auf den Rippen des älteren Mannes landete, was seinem Vater ein anerkennendes Lächeln entlockte. Tobias war aus dem gleichen Holz geschnitzt, in seinen Adern floß unverkennbar das Blut der den Karynths. Bei Calandryll war sich der Domm nicht so sicher. Es schien nur allzuoft, als entstamme der Junge einer gänz
lich anderen Familie – obwohl Bylath nicht daran zwei felte, daß er aus dem gleichen Samen entsprungen war –, als wäre er zurückgeblieben oder eine Art Wechselbalg. Er hatte das charakteristische gelbblonde Haar der den Karynths, und unter dem dick gepolsterten Übungs wams verbarg sich ein ebenso muskulöser und hochge wachsener Körper wie der seines Vaters und seines Bru ders, aber es war mehr seine Einstellung als irgendwel che körperlichen Merkmale, die ihn von beiden unter schied. Das wurde deutlich, als sich Torvah ihm zuwand te und eine auffordernde Geste mit dem Schwert machte. Während sich Tobias voller Eifer und mit unverkennba rer Begeisterung für solche männlichen Künste in den Kampf stürzte, zeigte sich Calandryll uninteressiert und nachlässig Bylath seufzte, als ihm das Wort »schwäch lich« durch den Sinn ging. Calandryll war nicht unge schickt mit dem Schwert, aber er zeigte keine Freude an seiner Handhabung, keinerlei Siegeswillen. Er beantwor tete Torvahs Attacke mit einer halbherzigen Parade, die seine linke Seite einem Hieb entblößte, dem er nur durch seine Leichtfüßigkeit entging, und erwartete Torvahs nächsten Angriff, anstatt selbst die Initiative zu über nehmen. Es schien, als wäre die Aggressivität, die so typisch für Bylaths Charakter war, nur auf Tobias über gegangen, als wäre nichts mehr für Calandryll übrig geblieben. Bylaths Hände ballten sich vor Zorn zu Fäusten, wäh rend er dem Kampf zusah. Wenn Calandryll auf dem Übungsplatz doch nur den gleichen Eifer zeigen würde,
mit dem er sich seinen Büchern widmete, wenn er die Zeit, die er mit seinen nutzlosen Studien vertrödelte, doch nur dazu verwenden würde, die Kunst des Regie rens zu erlernen, dann könnte es Hoffnung für ihn geben. Aber er zeigte keinerlei Interesse an den Pflichten, die seine Herkunft mit sich brachte. Hatte er Bylath nicht gerade erst gestern gesagt, daß es sein sehnlichster Wunsch sei, mit seinen Büchern alleingelassen zu wer den? Daß er die Archive des Palastes dem Übungsplatz vorzog? Der Domm kaute auf seinem Bart und rang sich zu einer Entscheidung durch. Die Beschäftigung mit Büchern schickte sich für Philosophen und Lehrer, nicht für Angehörige des Adelsgeschlechtes. Er wandte sich vom Fenster ab und zog die Robe en ger um sich, als er den Balkon überquerte und Torvahs verweisender Ruf wie eine Bestätigung seiner Überle gungen in seinen Ohren hallte: »In Deras Namen, Calandryll! Ihr haltet ein Schwert in den Händen, nicht ein Buch!« Bylath ging zu der Wendeltreppe, die in die tiefer ge legenen Etagen des Palastes hinabführte. Sein Ge sichtsausdruck bewirkte, daß die Diener ihm schleunigst den Weg freimachten und die Wächter auf ihren Posten in den Gängen eine stramme Haltung einnahmen. Er erreichte eine Ebenholztür, die mit scharlachroten und grünen Geheimsymbolen beschriftet war, stieß sie auf und blieb einen Moment lang im Türrahmen stehen. In dem schwachen Licht, das von neun rauchenden Fackeln
gespendet wurde, die in Halterungen aus schwarzem Metall an den Wänden der fensterlosen Kammer steck ten, zogen sich seine Augen zu schmalen Schlitzen zu sammen. Der Rauch der Fackeln biß ihm in der Nase, und in den umherhuschenden Schatten, die von den tanzenden Flammen erzeugt wurden, schienen sich Din ge zu verbergen, die besser ungesehen blieben. In der Mitte des Raumes blickte ein Mann hinter ei nem verstaubten Schreibtisch hervor, auf dem mehrere Totenschädel und die mumifizierten Überreste einer blinden Katze lagen und ein Gefäß mit dem winzigen Körper eines ungeborenen Kindes stand. Der Mann war klein und kahlköpfig, seine vogelartigen Augen über der von Warzen übersäten Nase blinzelten nervös, als er sich erhob, um den Domm zu begrüßen. »Lord Bylath? Ihr wünscht eine Weissagung?« Bylath grunzte zustimmend, wobei er sich fragte, ob das zur Schau gestellte Zubehör wirklich erforderlich oder lediglich Dekoration war. Der Mann kam hinter seinem Tisch hervor, eilte zur Tür und schloß sie. Sein schwarzes Gewand flatterte, und sofort mußte Bylath an Spinnen und Aasgeier denken. Auch wenn der Domm von Secca und damit der Herr scher der mächigsten Stadt des gesamten östlichen Lysse war, fühlte er sich in der Gegenwart des Geisterbeschwö rers unbehaglich. »Ich habe eine Entscheidung getroffen, was meine Söhne angeht, Gomus«, erklärte er. »Ich möchte diese
Entscheidung bestätigt wissen.« Gomus nickte, zog einen Hocker aus der Dunkelheit hervor und wischte mit einem Ärmel über die Sitzfläche. Bylath bedachte die ihm angebotene Sitzgelegenheit mit einem angewiderten Blick und nahm darauf Platz. Go mus kehrte auf die andere Seite des Tischs zurück und musterte den Domm über die gestapelten Totenschädel hinweg. »Und wie lautet dieser Beschluß?« fragte er. Seine Stimme klang trocken wie Papier, pergamentartig wie seine gelbliche Haut, die so aussah, als hätte sie schon viel zu lange kein Tageslicht mehr gesehen. »Tobias muß mein Erbe antreten«, sagte Bylath. »Das ist offensichtlich. Ich möchte, daß Calandryll Priester wird.« »Priester?« murmelte Gomus. »Er wird ein solches Amt nicht gerade begrüßen. Deras Priester haben keine Zeit für Bücher.« »Was er will, spielt keine Rolle«, schnappte der Domm. »Hätte er mehr Geschick im Umgang mit dem Schwert gezeigt, hätte ich ihn nach Forshold geschickt, aber er ist kein Soldat.« »Nein«, stimmte ihm der Geisterbeschwörer diploma tisch zu. »Und es ist kein Platz für einen Gelehrtenprinz im Pa last«, fuhr Bylath fort, der den kurzen Einwand des an deren anscheinend nicht bemerkt hatte. »Seine Anwe senheit würde Tobias gefährden – es gibt eine Menge
Familien, denen der Niedergang der den Karynth lieb wäre. Ich habe nicht vor, ihnen eine Marionette in die Hände zu spielen, die sie gegen meinen designierten Nachfolger einsetzen können.« »Calandryll würde sich bestimmt nicht für einen sol chen Verrat hergeben«, murmelte Gomus. »Er ist ein Bücherwurm, ja, aber auf keinen Fall ein Verräter.« Der Domm machte eine zornige Geste, worauf irgend etwas, das in der Dunkelheit verborgen war, ein Fauchen ausstieß. »Nicht absichtlich«, stimmte er zu, »aber er steckt mit dem Kopf so hoch in den Wolken, daß man ihn wahrscheinlich benutzen kann, ohne daß er etwas davon merkt.« »Ich glaube, Ihr unterschätzt ihn«, wandte Gomus ein. Bylath schnaubte, und der Geisterbeschwörer lächelte mißbilligend. »Und vor allen Dingen ist er ein Schwächling; ich will nicht erleben, daß er umgebracht wird«, fuhr der Domm fort. »Es herrscht nicht viel Zuneigung zwischen ihm und seinem Bruder, und sollte Tobias ihn als Bedrohung betrachten, würde er nicht zögern, sich der Chaipaku zu bedienen.« »Nein«, flüsterte Gomus und nickte eifrig. »Als Priester würde er keine Bedrohung darstellen«, erklärte Bylath. »Als Priester muß er allen weltlichen Dingen entsagen.« »Einschließlich seiner Bücher«, bemerkte Gomus. Dann runzelte er die Stirn. »Wie sieht es mit einer Heirat
aus, Lord Bylath? Hat er nicht Absichten in dieser Rich tung?« »Er macht Nadama den Ecvin schöne Augen. Aber das ist nicht mehr als eine kindliche Schwärmerei, und was dieses Mädchen betrifft, habe ich andere Pläne mit ihr. Tobias hat Gefallen an ihr gefunden, und sie erwidert seine Gefühle. Ich möchte sie miteinander verheiraten und die den Ecvin an die den Karynth binden.« »Eine weise Maßnahme«, lobte Gomus. Bylath grunz te, seine fleischigen Lippen verzogen sich zu einem säu erlichen Lächeln. »Weise Maßnahmen sichern die Erbfolge, Weissager. Wenn die den Ecvin durch Heirat mit uns verbunden sind, wird Tobias unangreifbar sein.« »Und Ihr wünscht von mir eine Weissagung in dieser Angelegenheit?« erkundigte sich Gomus. Bylath nickte. »Ich möchte wissen, wie die Aussichten dafür stehen.« »Euer Wunsch ist mir Befehl«, sagte Gomus unterwür fig. »Ja«, erwiderte Bylath und rieb sich die Augen, die von dem beißenden Rauch tränten. Er sah zu, wie sich der Geisterbeschwörer mit den In strumenten seiner okkulten Kunst beschäftigte, sich er hob, einen Kerzenstummel aus schwarzem Wachs von einem Regal nahm und ein mattgrünes Jadefläschchen aus einer verschlossenen Truhe und ein Stückchen schar lachroter Kreide aus einer Schublade hervorholte. Gomus
räumte eine Stelle auf der überladenen Tischplatte frei, wählte einen gebleichten Schädel aus dem Haufen aus, zog einen Kreidekreis darum und versah die äußere Rundung geschickt mit Symbolen, die er mit einem zwei ten, dickeren Kreis einschloß. Er öffnete das Fläschchen, entnahm ihm eine Prise gelben Pulvers und ließ es zwi schen die fleischlosen Kiefer und in die Augenhöhlen des Schädels rieseln. Den Kerzenstummel stellte er auf die Schädeldecke, entzündete einen Wachsstift an einer Fa ckel und setzte damit die Kerze in Brand. Blasses grünliches Licht flackerte auf, und Gomus fuhr mit den Händen durch die Flamme, wobei er leise vor sich hin murmelte. Die Kerze schmolz, schimmerndes ebenholzschwarzes Wachs lief über die Schädelknochen. Als es die Augenhöhlen und die Kiefer erreichte, began nen sie in einem düsteren Rot zu glühen, als würde in der leeren Schädelhöhle ein Feuer brennen. »Lord Bylath, Domm von Secca, bittet um Rat«, into nierte der Geisterbeschwörer. »Du, der du tot bist, hörst du ihn an?« »Ich höre ihn an.« Die Antwort war wie trostloser Wellenschlag an einer verlassenen Küste, wie ein kalter Wind, der die Zweige eines verdorrten Baumes rascheln läßt. Bylath erschau derte und fror plötzlich. »Fragt«, forderte Gomus ihn auf. Bylath räusperte sich. Es machte die Befragung kei neswegs leichter, wenn man mit den Spielregeln der
Geisterbeschwörung vertraut war. »Ich möchte meinen älteren Sohn, Tobias den Karynth, in Sicherheit wissen«, sagte er rauh. »Ich möchte ihn mit Nadama den Ecvin verheiraten.« »Er wird Nadama den Ecvin heiraten; er wird nach Euch Domm von Secca sein.« Die Stimme war überall und nirgendwo. Bylath ver nahm sie eher im Pulsieren seines Blutes, im Schlagen seines Herzens, als daß er sie mit den Ohren hörte. Sie schien in seinem Fleisch widerzuhallen; er erschauderte. »Und ich möchte, daß mein jüngerer Sohn, Calandryll, Priester wird«, sagte er. »Calandryll wird Dera dienen.« Der Tonfall der Stimme veränderte sich. Bylath fragte sich, ob er vielleicht ein verhaltenes Lachen aus ihr her aushörte. »Wird er keine Gefahr für Tobias darstellen?« »Tobias wird das erben, was Ihr ihm hinterlaßt«, klang die flüsternde Antwort auf. »Calandryll wird sich nicht gegen ihn erheben.« Bylath wurde bewußt, daß er trotz der Kälte, die er verspürte, schwitzte. »Ich danke für die Auskunft«, sagte er. »Ich wurde herbeigerufen – ich habe keine andere Wahl, als zu antworten. Ich kann nur die Wahrheit sagen – ich sage Euch, was Ihr hören wollt.« Der Kerzenstummel zerschmolz, schwarzes Wachs
überzog den Schädel. Der Docht flackerte ein letztes Mal auf und erlosch. Das rote Licht hinter den Augenhöhlen verglühte, die Stimme verklang. Bylath schüttelte sich. »Diese letzte Bemerkung«, fragte er leise. »Was hat das zu bedeuten?« Der Geisterbeschwörer zuckte die Achseln. »Die Toten sind rätselhaft.« »Aber es war die Wahrheit?« Gomus nickte. »Wie Ihr gehört habt, die Toten können nicht lügen.« »Dann steht mein Entschluß fest.« Bylath erhob sich. Er hatte es jetzt eilig zu verschwinden. »Tobias wird mein Erbe antreten, und Calandryll wird Priester wer den. Ich danke Euch, Gomus.« »Der Zweck meines Daseins besteht darin, Euch zu dienen«, murmelte der Geisterbeschwörer und lächelte unterwürfig, als Bylath aus seiner in rötliches Licht ge tauchten Kammer eilte. Obwohl der Frühling die Küste von Lysse kaum gestreift hatte und die starke Brandung des Winters noch immer heftig gegen die Hafenmauern schlug, wehte bereits eine warme Brise durch die Straßen von Secca, und so wurde sich Calandryll des Mantels, den er zur Tarnung trug, überdeutlich bewußt. Es war der schlichteste Mantel, den er in der reichhaltigen Palastgarderobe des Domms hatte finden können, auch wenn er immer noch sehr viel kost barer als die wenigen Umhänge war, die er auf seinem
verstohlenen Weg aus dem väterlichen Haus gesehen hatte. Das Fehlen vergleichbarer Kleidungsstücke in den schmalen Seitengassen des Seherviertels machte ihn noch auffälliger. Immer wieder waren Calandryll die auf ihm ruhenden Blicke aufgefallen, und er fragte sich, ob ihn irgend je mand erkannte oder seine kostbare Kleidung bemerkte. Er duckte sich und zog den dunkelblauen Mantel enger um seine Brust, während er an den Beobachtern vorbei eilte. Er verspürte den Drang, sein volles blondes Haar zu bedecken, aber ihm war klar, daß eine heruntergezo gene Kapuze an einem so warmen Tag erst recht Auf merksamkeit erregen würde. Bylath oder Tobias wären sofort erkannt worden, obwohl es äußerst unwahrschein lich war, daß sich der Domm oder sein ältester Sohn in diesen Teil der Stadt begeben würden, es sei denn, es lag irgendein offizieller Anlaß vor, und auch dann wäre es undenkbar gewesen, daß sie allein, ohne eine Eskorte bewaffneter Wachen oder Diener unterwegs sein wür den. Der jüngere Sohn war der Öffentlichkeit jedoch nicht so gut bekannt und – so glaubte er wenigstens – weniger auffällig. Der Domm hatte ihm oft genug versi chert, daß ihm, abgesehen von dem gelbblonden Haar, das er von seiner Mutter geerbt hatte, und einer allge meinen Ähnlichkeit der Gesichtszüge die typischen Merkmale fehlten, welche die den Karynth von den Be wohnern der Stadt unterschieden, über die sie herrsch ten. Und auf jeden Fall fehlte ihm die königliche Aus strahlung unerschütterlichen Selbstbewußtseins seines
Vaters oder die stolze Haltung seines Bruders. Also wür de es ihm vielleicht gelingen, sein Vorhaben unbemerkt durchzuführen, ohne daß der Domm davon erfuhr. Er hoffte es, denn Bylath würde es seinem jüngsten Sohn mit Sicherheit übelnehmen, wenn dieser sich unter dem gewöhnlichen Volk eine Wahrsagerin suchte, und er würde es ihm noch übler nehmen, wenn er den Grund dafür erfuhr. Der Gedanke ließ Calandryll nervös grin sen. Er fühlte sich zwischen zwei widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen: der Angst vor dem Zorn des Domms und dem Kitzel des Ungehorsams. Es gab genügend Seher innerhalb des Palastes. Zu kunftsdeuter, die sich der unterschiedlichsten Geheim künste bedienten, dem Lesen von Eingeweiden, dem Werfen von Runenknochen, dem Kartenlegen; es gab einen Astrologen, einen Geisterbeschwörer, einen Hand leser, und der Domm suchte bei allen Rat. Calandryll hätte zu jedem von ihnen gehen können, um sich die Zukunft voraussagen zu lassen, aber dann hätte Bylath zweifellos von seiner kleinen Rebellion erfahren, und das wollte Calandryll unter allen Umständen vermeiden. Darüber hinaus war er auch gar nicht sicher, daß eine solche Prophezeiung wirklich ehrlich ausfallen würde. Er vermutete, daß die Wahrsager ihre Prophezeiungen den Wünschen des Domms entsprechend anpassen würden, und er wollte eine ehrliche, eine unverfälschte Vorhersa ge erhalten, die nicht durch die Angst vor der Mißgunst seines Vaters verzerrt wurde.
Also hatte er einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, sich verkleidet, so gut er konnte, und war heimlich aus dem Palast geschlüpft, um sich durch die Stadt zum Seherviertel zu schleichen. Jetzt hatte er die verschachtelten Gassen unterhalb der Stadtmauern in der Nähe des Hafens erreicht, blieb kurz stehen und betrachtete die Häuser vor sich. Wie alle Gebäude innerhalb der Schutzwälle waren sie höchstens zwei Stockwerke hoch und hatten Flachdächer. Über den Begrenzungsmauern waren vom Winter kahle Kletter pflanzen und knospende Sträucher zu sehen. Die Fens terläden waren weit geöffnet, um die Vorboten des Früh lings hereinzulassen, die in der lauen Luft lagen. So nahe am Hafen mischten sich die Gerüche von Fisch und Teer in die Frühlingsluft, und auch die Abwasserkanäle, die Calandrylls Urgroßvater hatte bauen lassen, konnten nicht vollständig verhindern, daß es nach Unrat roch. Doch diese Gerüche verstärkten nur noch die Aufre gung, die Calandryll verspürte, und er kostete sie mit ebenso großer Begeisterung wie das Bouquet eines preis gekrönten aldanischen Weinjahrgangs. Die Söhne des Domms kamen kaum mit dem alltäglichen Leben in ihrer Stadt in Berührung. Ihr eigenes Leben beschränkte sich im wesentlichen auf den Palast, die endlose Vorbereitung auf ihre künftigen Pflichten und die Villen der Adelsfa milien von Secca. Calandryll war überzeugt, daß Tobias solche Gerüche als beleidigend empfunden hätte und entsetzt gewesen wäre, daß sein Bruder soviel Gefallen daran finden konnte. Diese Vorstellung entlockte ihm ein
Lächeln, und er ging entschlossen unter der Tafel ent lang, die an leicht angerosteten Ketten über der Straße hing und den Namen des Stadtviertels trug. Einige Passanten warfen ihm flüchtige Blicke zu, aber mittlerweile war Calandryll viel zu aufgeregt, um sich Gedanken darüber zu machen, daß man ihn erkennen könnte, und die meisten Leute, die er sah, waren so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß sie ihm kaum Beachtung schenkten. Er ging die schmale Straße entlang, musterte die Häuserfronten und suchte nach Rebas Zeichen. Den Aussagen der Diener zufolge, die er – diskret, wie er hoffte – befragte hatte, war sie die zuverlässigste Wahrsagerin außerhalb des Palastes, und ihr Zeichen bestand aus einem von Sternen umgebenen Halbmond. Er legte eine Hand auf den Geldbeutel an seinem Gürtel, seine Finger streiften über den unvertrau ten Griff des Kurzschwertes, das er trug, und die Berüh rung ließ ihn erneut nervös werden, erinnerte ihn wieder daran, daß es trotz der strengen Herrschaft seines Vaters in den ärmlicheren Vierteln von Secca nicht völlig sicher war. Das, dachte er, und dabei wurde sein Lächeln etwas wehmütiger, war etwas, worüber sich Tobias keine Sor gen gemacht hätte. Trotz all seiner Arroganz und Hoch mütigkeit war der älteste Sohn des Domms ein hervorra gender Schwertkämpfer, was man von Calandryll nun wirklich nicht behaupten konnte. Er schüttelte die Unsicherheit ab und ging entlang der verputzten Häuserfronten weiter. Nachdem er so weit gekommen war, würde er sich nicht durch Ängstlichkeit
aufhalten lassen, und Taschendiebe und Räuber bevor zugten bestimmt die dunkleren Stunden, in denen sie den Stadtwachen leichter entkommen konnten. Er würde Reba finden und sich von ihr die Zukunft lesen lassen. Danach hatte er Entscheidungen zu treffen, die auf soli deren Grundlagen als nur auf seinen Gefühlen beruhten. Er eilte weiter, ignorierte die Angebote der Wahrsager, die gerade keine Kundschaft hatten, und hielt Ausschau nach dem Halbmond im Sternenkreis. Er fand das Schild an einer Stelle, an der eine Gasse von der Straße abzweigte. Es hing an einer dunklen Ei senstange. Das Holz war gealtert, die silberne Farbe des Halbmondes durch die Zeit vergilbt, drei der Sterne unter weißem Vogeldreck verborgen. Es war nicht gera de ein beeindruckendes Schild, ebensowenig wie das schmale und nur ein Stockwerk hohe Haus selbst, von dessen Dach kümmerliche Ranken herunterhingen und das nur ein einziges blindes Fenster neben einer ge schlossenen Tür aus fleckigem Holz aufwies, die in rosti gen Angeln hing. Die Wand zur Gasse hatte keinerlei Fenster oder Türen und war mit obszönen Wunschvor stellungen vollgekritzelt. Die Vorderfront war in einem blassen Blauton verputzt und wie von Pockennarben entstellt, hinter denen der nackte sandfarbene Stein zu sehen war. Calandryll schluckte seine Bedenken herunter und klopfte an die Tür. »Tretet ein.«
Die leise Stimme kam aus den Tiefen des Hauses und klang irgendwie jünger, als er es erwartet hatte, sanft, fast melodisch. Er stieß die Tür auf und trat ein. Dunkelheit umfing ihn, und er tastete furchtsam nach seinem Schwert. Dicke Schwaden von Weihrauch kitzel ten in seiner Nase. Er blinzelte, bemühte sich verzweifelt, in der Düsternis irgend etwas zu erkennen, aber es ge lang ihm nicht. Er behielt die rechte Hand am Schwert griff, streckte die linke aus und fühlte rauhen Mörtel unter seinen Fingern. »Ihr wünscht, Eure Zukunft zu erfahren?« Ohne die geschlossene Tür klang die Stimme lauter, und Calandryll bewegte sich in der Dunkelheit vorsichtig darauf zu, wobei seine Hand immer noch an der Wand entlangstrich. »Das will ich«, antwortete er. »Dann tretet näher.« Das Haus war weiträumiger, als es ihm von außen er schienen war. Die Stimme wurde durch Zimmer und Flure verzerrt. »Wohin?« fragte er. »Ich kann Euch nicht sehen.« Ein Lachen antwortete ihm, und die Frauenstimme sagte: »Es tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht.« Er runzelte die Stirn, als er das Schaben von Feuerstein auf Metall hörte und einen winzigen Lichtfunken vor sich aufleuchten sah. Dann folgte ein Schimmern, als eine mit duftendem Öl gefüllte Lampe entzündet wurde, die eine Biegung im Gang und dunkle Zimmer auf der rech
ten Seite sichtbar werden ließ. »Ich bin hier. Könnt ihr mich jetzt sehen?« »Ja.« Er näherte sich dem Licht, duckte sich unter ei nem Torbogen und betrat ein kleines Zimmer voller Schatten. Die einzelne Lampe erhellte nur die Mitte des Zimmers, den niedrigen Tisch, auf dem sie stand, und das Gesicht der Frau dahinter. »Reicht das? Oder hättet Ihr lieber mehr Licht?« Er nickte, und als sie nicht antwortete, sagte er: »Mehr Licht wäre mir lieber. Es sei denn, Eure Kunst erfordert Dunkelheit.« »Ob Licht oder Dunkelheit, spielt keine Rolle.« Sie erhob sich, ergriff die Lampe, und er sah, daß sie nicht das alte Weib war, das er erwartet hatte, sondern eine Frau von höchstens mittlerem Alter, die schön hätte sein können, wäre ihr Gesicht nicht von Pockennarben entstellt gewesen. Deshalb also die Dunkelheit, dachte er, Wahrsagerinnen sind genauso eitel wie alle anderen Frauen auch. Er schüttelte den Gedanken ab und sah zu, wie sie zur Wand ging und sanft mit der Hand über eine dort eingelassene Lampe strich, deren Docht sie entzün dete. Sie ging langsam weiter, wobei sie mit der freien Hand an der Wand entlangfuhr, genau wie er es in der Dunkelheit getan hatte, und entzündete genügend Lam pen, um den Raum in helles Licht zu tauchen. Und da erkannte er an dem leeren Blick ihrer Augen, daß sie blind war. Die Diener hatten nichts davon erwähnt, und er spürte, wie er vor Verlegenheit errötete.
Er lächelte entschuldigend und sagte: »Verzeiht, ich hatte keine Ahnung.« »Ihr seid höflich, aber das ist nicht nötig. Ich sehe auf eine andere Art.« Sie kehrte zum Tisch zurück, stellte die Lampe ab und ließ sich geschmeidig in die aufgehäuften Kissen sinken. Auf eine Handbewegung hin nahm Calandryll ihr ge genüber Platz. Ihre blinden Augen beunruhigten ihn mehr als die häßlichen Narben auf ihrer Haut – in einer Stadt, die gelegentlich belagert wurde, waren Seuchen nicht ungewöhnlich –, und er bemühte sich, seine Fas sung wiederzugewinnen, indem er den Raum und ihr Kleid betrachtete. Reba schwieg, als sei sie solche Pausen gewöhnt. Ihr langes rotes Haar glänzte wie poliertes Kupfer, ihr Gewand war grün und wurde an Hals und Taille von zinnoberroten Bändern gehalten. Im Zimmer gab es keinerlei Gegenstände, die er mit der Wahrsagerei in Verbindung brachte, keine Kristallkugel, kein Vogel im Käfig, keine kabbalistischen Tabellen, keine ausge breiteten Karten, keine polierten Totenschädel. Es war nur ein einfacher, schmuckloser Raum mit weißen Wän den und einem Holzfußboden, der einen ähnlich roten Farbton wie Rebas Haar hatte. Die gesamte Einrichtung bestand aus dem Tisch und den Stapeln von schlichten, in den Grundfarben gehaltenen Kissen. »Seid Ihr enttäuscht?« Ihr Tonfall verriet Belustigung. »Bin ich für den Sohn des Domms nicht beeindruckend genug?«
»Ich … nein.« Er schüttelte den Kopf und keuchte. »Woher wißt Ihr das?« Sie lachte laut auf, und ihre Stimme wischte ihre Ver unstaltung beiseite. »Ich bin eine Wahrsagerin, Ca landryll. Ich habe Euren Besuch gestern schon gesehen.« »Gestern war ich mir noch nicht sicher, ob ich über haupt kommen würde«, sagte er langsam. »Aber ich habe es trotzdem gesehen. Sonst wäre ich schon eine ziemlich armselige Seherin. Meint Ihr nicht auch?« Er nickte und kicherte verhalten. Ihre Gelassenheit und ihre Belustigung wirkten beruhigend. »Ich denke schon«, sagte er. »Wissen noch andere davon?« Reba zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht beant worten, aber ich bezweifle es. Ein Seher kann normaler weise nur ganz bestimmte Ereignisse vorhersehen – Dinge, die unmittelbare Auswirkungen haben, oder solche Ereignisse, die eine Prophezeiung erforderlich machen. Macht Ihr Euch deswegen Sorgen?« Diesmal zuckte er die Achseln. »Es wäre mir lieber, wenn mein Vater nichts davon erfährt.« »Vermutlich auch der Grund, warum Ihr zu mir und nicht zu den Wahrsagern im Palast gegangen seid.« »Sie würden meinem Vater Bescheid sagen, und ich mißtraue ihren Prophezeiungen.« Er schwieg einen Mo ment lang, unsicher, wie er sich verhalten sollte und ob sie annahm, daß seine Zweifel auch ihre Fähigkeiten einschlossen. »Ich meine, sie wollen es dem Domm recht
machen und manipulieren ihre Vorhersagen. Zumindest glaube ich das.« Seine Worte kamen ihm selbst verworren vor, aber Reba nickte, als ob sie ihn verstehen würde und es akzep tierte. »Der Domm ist ein strenger Herr«, sagte sie sanft, »zumindest habe ich das gehört. Ihr solltet es ihnen nicht übelnehmen.« Calandryll nickte zustimmend. Diejenigen, die den Domm nicht zufriedenstellten, wurden unverzüglich aus seinen Diensten entlassen. »Ihr werdet nichts verraten?« erkundigte er sich. Reba schüttelte ernst den Kopf, ihre Heiterkeit war verflogen. »Was hier geschieht, geht außer mir und mei nem Kunden niemanden etwas an.« »Gut«, murmelte er. »Ich möchte nicht, daß irgend et was davon im Palast bekannt wird.« »Das wird nicht geschehen«, versprach sie. »Nicht durch meine Lippen.« Er erschrak ein wenig, als er feststellte, daß er ihr ver traute. Woran das genau lag, konnte er nicht sagen, aber irgend etwas in ihrem ruhigen Tonfall und dem ent spannten, vernarbten Gesicht beruhigte ihn. Er lächelte erneut und klopfte auf den Geldbeutel an seiner Hüfte. Er wußte weder, was sie für ihre Dienste verlangte, noch wie er die Frage der Bezahlung ansprechen sollte. Als Sohn des Domms kam er mit derart alltäglichen Dingen kaum in Berührung. »Es kostet einen Goldvar. Drei, sollte sich die Prophe
zeiung als schwierig erweisen.« Calandryll starrte sie an. Er war wieder überrascht und fragte sich, ob dies ein Aspekt ihres Zweiten Ge sichts war. Sie lachte, als könne sie seinen Gesichtsaus druck sehen, und sagte: »Ich habe das Geräusch der Münzen gehört. Und es ist normalerweise die erste Fra ge.« Erneut überkamen ihn Zweifel. Die Erklärung war so einfach, daß er sich sofort überlegte, ob sein Vertrauen in sie nicht ungerechtfertigt war. Die Diener, bei denen er sich erkundigt hatte, konnten sie über seine Absichten informiert haben, und vielleicht hatte ihn irgendein Auf passer auf der Straße erkannt und sie schnell von seinem Kommen unterrichtet. Trotzdem zog er einen Var aus seinem Geldbeutel und legte ihn in ihre ausgestreckte Hand. Sie schloß die Finger um die Münze und hielt sie einen Moment lang fest, bevor sie sie achtlos auf den Tisch fallen ließ. »Gebt mir Eure Hände«, sagte sie. Er streckte ihr die Hände entgegen, und sie nahm sie zwischen die ihren. Ihre Haut war weich und warm, die Berührung seltsam tröstlich. Wieder sah er sie lächeln und spürte erneut Verlegenheit in sich aufsteigen, als sie sagte: »Niemand hat mir Euer Erscheinen angekündigt, Calandryll. Es gibt keinen Späher auf dem Dach oder auf der Straße, und auch die Diener haben mich nicht infor miert. Hört mir gut zu. Ich bin durch Zufall zur Wahrsa
gerin geworden, nicht durch eigenen Wunsch. Meine Gabe wurde mir geschenkt, ich habe mich nicht darum bemüht. Vielleicht war es ein Ersatz für mein verlorenes Augenlicht, das weiß ich nicht, aber es ist eine echte Begabung. Ich war mit Drum, einem Kneipenwirt, verheiratet, bis ich ihn durch die Pocken verloren habe. Dieselben Po cken haben mich entstellt und mir das Augenlicht ge nommen. Es ist schwierig, eine Schenke zu führen, wenn man blind ist, und nur wenige lassen sich gerne ihr Bier von einer Frau servieren, die so gezeichnet ist wie ich. Ich habe die Schenke verkauft und konnte eine Weile von dem Erlös leben. Dann hat sich meine Begabung gezeigt, und ich bin hierher gekommen. Jetzt bin ich Wahrsagerin und kann Eure Zukunft vorhersehen – oder zumindest einen Teil davon. Euch wird vielleicht nicht gefallen, was ich sehe, aber ich werde Euch nur die Wahrheit erzählen, die sich mir enthüllt. Zerstreut das Eure Zweifel? Wenn nicht, dann nehmt Euren Var zurück und geht.« Sie ließ seine Hände los, und er verspürte ein plötzli ches Frösteln, als hätte die Berührung ihm zuvor Wärme gespendet. Auf einmal hatte er Angst, sie könne ihn fortschicken. »Meine Zweifel sind zerstreut«, sagte er, »aber es gibt noch ein paar Fragen, die ich Euch gerne stellen würde.« »Dann fragt.« »Ich habe die Argumente der Seher meines Vaters und die von Philosophen und Gelehrten gehört, und da gibt
es Uneinigkeit. Einige behaupten, die Zukunft sei festge legt und könne nicht verändert werden. Der Weg eines Menschen stünde vom Augenblick seiner Geburt an fest, wir alle würden einem Plan folgen. Andere behaupten, es gäbe keinen solchen Plan, und die Taten eines Menschen würden seine Zukunft bestimmen. Oder daß die Zukunft aus einer Reihe von Alternativen bestünde, die sich im mer weiter verzweigen, und einige dieser Zweige könn ten vorhergesehen werden, andere dagegen nicht. Wel che Meinung vertretet Ihr?« »Ich glaube, daß es bestimmte unabänderliche Wahr heiten gibt«, erwiderte Reba, »und daß deshalb eine Art Plan existiert, der oft verborgen bleibt, selbst den Sehern. Ich glaube, daß ein Wahrsager normalerweise einen gewissen Abschnitt dieses Plans überschauen und einige Verzweigungen erkennen kann – wie weit, das hängt von seinen Fähigkeiten ab. Aber niemand kann alles erfassen, weil der Plan einfach zu umfangreich und die Verzwei gungen zu vielfältig sind, um im Ganzen verstanden zu werden.« »Dann ist die Zukunft also ungewiß?« »Bis zu einem gewissen Grad.« »Warum bin ich dann hier? Warum sollte ich mir dann die Mühe machen, Euch um Rat zu fragen?« Ihr Lachen perlte wie die Fontäne eines Springbrun nens. Es klang belustigt, aber es enthielt keine Spur von Spott. »Weil Ihr besorgt seid und Ermutigung sucht. Weil
Euch eine schwierige und vielleicht auch gefährliche Entscheidung bevorsteht. Weil Ihr Hilfestellung sucht, die Ihr nirgendwo sonst finden könnt. Weil Ihr Euch mehr als nur ein bißchen vor Eurem Vater fürchtet.« Jedes Wort war wahr, und Calandryll gab ihr seufzend recht. »Ihr seid der jüngste Sohn des Domms von Secca«, fuhr Reba fort. »Euer älterer Bruder Tobias hat die Voll jährigkeit erreicht und wird bald zum Nachfolger des Domms ernannt werden. In zwei Jahren werdet Ihr eben falls volljährig werden, und man erwartet von Euch, daß Ihr den traditionellen Pfad beschreitet, obwohl die Aus bildung für das Amt, das zu übernehmen man von Euch verlangt, schon mit Tobias’ Ernennung beginnen muß. Ihr wollt dem Priesterorden nicht beitreten, und Ihr seid verliebt.« Alles, was sie sagte, entsprach der Wahrheit. Ca landryll starrte sie in ehrfürchtigem Schweigen an. »Ihr würdet eine Gelehrtenlaufbahn einschlagen, wenn man Euch gewähren ließe. Ihr zieht Bücher den Schwertern vor und würdet Euch gern unbehelligt Euren Interessen widmen, aber Euer Vater möchte Euch zum Priester machen, um die Möglichkeit auszuschließen, daß Ihr für Euren Bruder zum Rivalen werden könntet. Der Priesterorden unterliegt dem Zölibat, aber Ihr würdet gern heiraten – wenn sie Euch will und Ihr die Erlaubnis erhaltet. Ihr seid Euch über ihre Zustimmung nicht sicher und wißt, daß Euer Vater Einwände erheben würde.«
»Bylath wird nicht damit einverstanden sein, daß ich Gelehrter werde«, sprudelte Calandryll hervor. Er konnte sich nicht länger beherrschen, Wut klang in seiner Stim me mit. »Und Tobias möchte selbst Nadama heiraten. Die Familie der den Ecvin ist mächtig – sie würde mich unterstützen, wenn Nadama mich zum Mann nimmt, aber dann würde Tobias in mir eine Bedrohung sehen. Obwohl ich gar nicht den Wunsch verspüre, Domm zu werden.« »Ihr könntet fliehen«, sagte Reba sanft. »Nach Aldarin oder Wessyl, vielleicht nach Hyme. Secca ist nicht die einzige Stadt in Lysse.« »Aber ich bin unwiderruflich der Sohn des Domms von Secca und damit eine potentielle Bedrohung für den Thronfolger. In einer anderen Stadt würde man mich höchstwahrscheinlich als ein Werkzeug betrachten, das man gegen meinen Vater oder Tobias einsetzen kann. In jeder anderen Stadt könnte man mich als Geisel festhal ten. Oder wieder an Secca ausliefern. Und Tobias würde mich bestimmt als Rebell brandmarken.« »Und Euer Vater wird Euch nicht gestatten, Gelehrter zu werden.« Er hörte das Mitleid in ihrer Stimme, fühlte seine Ju gend schwer auf sich lasten, und seine Wut kochte in ihm hoch. »Mein Vater hat wenig übrig für Gelehrte, und noch weniger für einen Sohn, der Bücher dem Schwert kampf oder der Förderung der Interessen Seccas' vor zieht, wie er sich ausdrückt. Er weiß, daß ich kein Kämp
fer bin, und will aus mir einen Priester machen, dabei möchte ich nur in Ruhe gelassen werden. Nadama heira ten, wenn sie mich will, und studieren.« Er verstummte, als ihm bewußt wurde, daß seine Stimme immer lauter geworden war, teils aus Wut, teils aus Schmerz. Er fürchtete, daß er sich jämmerlich ange hört hatte, und wurde wieder verlegen. »Es ist nicht einfach, der Sohn des Domms zu sein«, sagte Reba mit weicher Stimme. »Nein«, stimmte er ihr zu. »Die Leute glauben, es wäre großartig – der Reichtum, die Macht, der Luxus. Aber ich würde alles zugunsten einer freieren Entscheidung op fern.« »Trotzdem kommt Ihr zu mir, und das ist doch be stimmt eine Einschränkung einer solchen freien Ent scheidung.« Calandryll dachte eine Weile nach, bevor er den Kopf schüttelte. »Das glaube ich nicht«, sagte er langsam. »Ich bitte Euch nicht, mir zu sagen, was ich tun soll, sondern mir nur die Zukunft vorauszusagen, damit ich die erfor derlichen Entscheidungen mit so viel Wissen wie mög lich selbst treffen kann.« »Wie ein wahrer Gelehrter gesprochen«, murmelte Reba. »Gebt mir Eure Hände.« Wieder streckte er die Arme aus, und sie ergriff seine Hände, aber diesmal legte sie ihre Handflächen gegen die seinen, und ihre Finger verschränkten sich auf eine merkwürdig intime Art und Weise. Seine Haut schien zu
prickeln, einen Moment lang verzerrte sich seine Sicht, ihre Züge verschwammen, und im Zimmer wurde es dunkel. Dann sah er sie wieder deutlich vor sich. Das Licht der Lampen ließ goldene Fünkchen in ihren leeren Augen tanzen, als sie zu sprechen begann. »Ich kann Euer Schicksal nicht so klar wie bei einigen anderen erkennen, aber vor Euch liegt mehr als nur eine Wahl. Da ist Liebe, wenn vielleicht auch nicht die Liebe, auf die Ihr hofft; Liebe hat viele Gestalten. Ich sehe Kampf und Enttäuschung, aber auch Glück. Ihr werdet zwei Menschen begegnen, die großen Einfluß auf Euer Leben nehmen werden. Ob im Guten oder im Schlechten, kann ich nicht sagen. Ich spüre eine Reise, eine mühevol le Suche, bei der Euch Euer Gelehrtenverstand von gro ßem Vorteil sein wird. Ihr müßt die Wut Eures Vaters und die Eures Bruders ertragen. Seid stark angesichts ihres Zorns, und Ihr wer det triumphieren. Ich…« Ihre Stimme stockte. Sie schüttelte den Kopf und löste ihre Finger aus den seinen. »Mehr kann ich nicht sehen. Wenn Ihr wollt, daß ich tiefer eindringe, kostet das nochmals zwei Varre. Und ich kann Euch keine Garantie für größere Klarheit geben.« Ohne zu zögern legte er die beiden Münzen auf den Tisch. Reba nickte, erhob sich und ging zu einer Nische, aus der sie ein verziertes, dunkelrot lackiertes Kästchen mit goldenen Beschlägen holte. Sie stellte es auf den Tisch, öffnete den Deckel und entnahm ihm einen silber
nen Weihrauchbehälter, einen Beutel und ein Salbentöpf chen. Schnell und beinahe ehrfürchtig setzte sie den Weihrauchbehälter und den Tisch zwischen ihnen ab, nahm ein Prise Puder aus dem Beutel und streute sie über die Silberschale. Sie schraubte das Salbentöpfchen auf und tauchte einen Zeigefinger hinein. »Macht den Mund auf.« Calandryll gehorchte, und sie sagte: »Eure Zunge.« Er streckte die Zunge heraus, und sie schmierte ihm einen Klumpen Salbe darauf. Er schmeckte bitter. Sie berührte ihre eigene Zunge, verschloß das Töpfchen, schob es beiseite, holte dann einen Wachsstift aus dem Kästchen und entzündete das Pulver. Calandryll rechne te mit einem dramatischen Flammenblitz und einer Rauchwolke, aber es stieg nur ein dünner weißer Rauch faden auf, der durch ihren Atem in der Luft zitterte. »Atmet tief ein«, forderte sie ihn auf. Der Rauch war geruch- und geschmacklos, und er ver spürte keinerlei Wirkung beim Einatmen. Reba jedoch begann, sich sanft hin- und herzuwiegen. Die goldenen Flecke in ihren Augen wurden lebendig und schienen in einem eigenen Rhythmus zu wirbeln und zu tanzen. Calandryll empfand sie als hypnotisch, er starrte so ge bannt in Rebas Gesicht, daß er überrascht war, als sie wieder sprach. Was ihn noch mehr verblüffte, war der tiefe Tonfall ihrer Stimme, ein dunkler Bariton, der eher männlich als weiblich klang, als würde eine unsichtbare Wesenheit durch sie sprechen und ihre Lunge, Kehle und
Lippen nur als Vehikel für ihre Worte benutzen. »Ihr werdet das begehren, was Ihr nicht bekommen könnt, und Enttäuschung finden. Aber Ihr werdet auch viel gewinnen, mehr als Ihr verliert. Ihr werdet durch die Dinge lernen, die Ihr ablehnt, und erfahren, daß Freund schaft die stärkste aller Bande ist. Da ist Wasser – hütet Euch vor dem Wasser, Ca landryll! Ihr müßt es überqueren, um zu finden, wonach Ihr sucht, auch wenn die Menschen behaupten, daß es nicht existiert. Da ist Gefahr, aber Ihr werdet Schutz haben und nicht allein sein. Da ist ein Lehrer, auch wenn Euch seine Lektionen nicht unbedingt willkommen sein werden. Vertraut ihm! Und nach ihm wird noch jemand kommen, der ebenfalls Euer Vertrauen verdient.« »Habe ich die Wahl?« erkundigte er sich. »Es gibt immer eine Wahl«, erwiderte sie. »In Eurem Fall ist sie allerdings durch Euer Verlangen beschränkt.« »Ich könnte meinem Vater gehorchen?« fragte er leise und mißmutig. »Eine Möglichkeit.« Er senkte rasch den Kopf. »Wonach suche ich auf die ser Reise?« »Das konnte ich nicht erkennen. Man glaubt, es sei verloren, auch wenn ich nicht sagen kann, was es ist. Ihr werdet es erfahren.« »Durch diesen Freund, den ich finden werde?«
»Vielleicht.« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Vieles ist vage, verschwommen. Ein großes Ziel liegt vor Euch, solltet Ihr Euch für diesen Weg entscheiden.« »Aber nicht das Leben eines Gelehrten?« Reba lächelte schwach. »Ihr könntet unbekanntes Wis sen erringen. Mehr als die größten Gelehrten von Secca. Mehr als die Philosophen von Aldarin.« Diese Vorstellung gefiel ihm, und die Aussicht ließ ihn lächeln. Hatte sie nicht gesagt, daß dieser unbekannte Freund ihn lehren würde? »Ich könnte Burash ein Opfer darbringen«, murmelte er. »Den Gott gnädig stimmen.« Reba nickte langsam. Calandrylls Stirn legte sich in Falten, als ihm ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf ging. »Was ist mit Nadama?« fragte er. »Ihr könnt sie gewinnen oder verlieren«, erwiderte die Wahrsagerin. »Ich spüre, daß Ihr Euch über ihre Ent scheidung unsicher seid. Auch Tobias wirbt um sie, und ich kann nicht voraussagen, für wen von Euch sie sich entscheidet, nicht allein durch Eure Anwesenheit.« Es war, als könne sie die Enttäuschung in seinen Au gen sehen, denn sie fügte hinzu: »Was ich von ihrer Zu kunft erkennen kann, wird durch Euer Verlangen nach ihr vernebelt. Wenn Ihr sie zu mir bringen würdet…« »Sie würde nicht kommen«, sagte er schnell. »Dann kann ich nichts machen«, murmelte Reba. Er fand sich damit ab. »Wenn ich diesen Weg beschrei te«, überlegte er laut, »werde ich es dann im Sinne mei
nes Vaters tun, als Gesandter Seccas? Oder auf eigene Verantwortung?« »Als ein Suchender«, entgegnete sie ohne Zögern. »Von Secca geächtet.« »Verbannt?« Ähnliches hatte er sich bereits gedacht; es war unver meidlich, sollte er sich den Wünschen seines Vaters wi dersetzen. Entweder das oder ein Leben als Gefangener hinter den Mauern von Deras Tempel ohne die geliebten Bücher, ein Leben der religiösen Pflichten und Riten, ein Leben in einem luxuriösen Käfig, dem Zölibat verpflich tet. Aber die Alternative laut ausgesprochen zu hören, entschlossen und ohne den Hauch von Zögern oder Zweifel, machte sie real. Real und erschreckend. »Ja«, sagte Reba. »Aber in Gesellschaft von wahren Freunden.« »Ja«, sagte sie wieder. »Wahrere Freunde als alle, die Ihr je hattet. Sie werden Euch auf den Weg bringen, wenn Ihr Euch dafür entscheidet.« »Die Alternativen sind und bleiben unerträglich«, sag te er in dem Versuch, eine Lässigkeit an den Tag zu le gen, die er nicht verspürte. »Aber vielleicht … bequemer. Auf jeden Fall ungefähr licher.« Er schnaubte geringschätzig. »Als Priester? Ich habe es erwogen und verworfen. Vielleicht sollte ich den Weg einschlagen, den Ihr mir am Anfang vorgeschlagen habt,
und fliehen. Auch wenn ich dadurch mein Leben verwir ke.« Doch das würde er ohne Nadama tun müssen. Sie würde Secca niemals verlassen. Calandryll wußte nicht, ob es Wut oder verletzter Stolz war, der aus seinen Wor ten sprach. »Hängt das nicht von Nadama ab?« fragte die Wahr sagerin. »Ja«, stimmte ihr Calandryll seufzend zu. »Wenn sie Euren Antrag akzeptiert, würde ihre Fami lie Euch beschützen. Euer Vater würde einen Bürgerkrieg riskieren, sollte er versuchen, die Heirat zu annullieren.« »Ich würde Secca niemals in einen Bürgerkrieg stür zen«, sagte er verzagt. »Es scheint, daß Eure Entscheidungsmöglichkeiten sehr eingeengt sind, wenn alles von Nadama abhängt«, sagte Reba. »Ich liebe sie«, erwiderte er, als würde das die Frage beantworten, die er aus ihrer Stimme heraushörte. »Und sollte sie sich für mich entscheiden, würde ich mit Freu den auf alle Familienbande verzichten. Vielleicht könnte mein Vater das akzeptieren.« »Dann sprecht mit ihr darüber«, riet Reba. »Ich kann nicht mehr für Euch tun, als Euch sagen, was ich sehe. Wenn sie Euch will, wird sich ein neuer Weg öffnen.« Nachdenklich gab Calandryll ein zustimmendes Grunzen von sich. Jetzt, nachdem der erste Schock über
ihre Weissagung verflogen war, wurde sein Kopf wieder klarer, und der Teil in ihm, der die Dinge analysieren, Antworten finden und über die Gründe nachdenken mußte, zwang ihn dazu, ihr weitere Fragen zustellen. »Ihr habt von sich verzweigenden Pfaden gesprochen, und ich glaube ebenfalls, daß die Zukunft so beschaffen sein muß, aber anscheinend habt Ihr nur einen Weg für mich gesehen. Bedeutet das, es ist mir vorbestimmt, ihn einzuschlagen?« »Nein.« Reba schüttelte den Kopf. »Es ist nur der wahrscheinlichste. Was Ihr mir erzählt habt, was ich über Euch und Eure Wünsche erfahren habe, das alles zu sammen erhellt die größte Wahrscheinlichkeit. Die end gültige Entscheidung liegt immer noch bei Euch.« »Dieser Freund, der mich auf den Weg bringen wird … bringen könnte«, verbesserte er sich, »zählt er nicht? Wird er keinen Einfluß auf das haben, was ich machen werde?« »Er … oder sie … möglicherweise«, gab Reba zu. »A ber Ihr könntet ihn zurückweisen. Oder sie.« »Eine Frau?« Calandryll wurde fast gegen seinen Wil len neugierig. »Wollt Ihr damit sagen, ich werde Nadama vergessen? Eine andere Frau kennenlernen?« Diesmal was es Reba, die seufzte. »Vielleicht. Ich habe in dieser Zukunft, die sich offenbart hat, zwei Freunde gesehen. Der eine war ohne jeden Zweifel ein Mann. Bei dem anderen war es nicht deutlich, Ich kann nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war.«
»Freunde, eine gefahrvolle Suche nach einem unbe kannten Ziel«, murmelte er, »Reisen in ferne Länder, Verbannung. Das sind romantische Aussichten, aber ich hatte auf eine deutlichere Weissagung gehofft.« »Wärt Ihr ein gewöhnlicherer Mann, dann hättet Ihr sie vielleicht bekommen«, gab sie zurück, »aber das seid Ihr nun einmal nicht. Ihr seid der Sohn des Domms, und das hat einen entscheidenden Einfluß auf Eure Zukunft. Ich kann Euch nichts Besseres bieten, Calandryll.« »Könnt Ihr mir nicht mehr erzählen?« wollte er wis sen. »Ich habe genügend Varre.« Reba machte eine verneinende Geste, und wieder wurde er verlegen. »Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht beleidigen.« »Das macht nichts.« Sie lächelte erneut. »Und Eure Münzen würden auch nichts ändern. Ich kann nicht mehr sehen, als ich gesehen habe. Die Wege verzweigen sich vor Euch, und nur Ihr könnt entscheiden, welchem Ihr folgen werdet.« »Also gut«, gab er nach. »Aber diese Freunde – woran werde ich sie erkennen?« »Ihr werdet es wissen, wenn Ihr sie kennenlernt«, sag te sie zuversichtlich. »Und Burash?« fragte er. »Sollte ich dem Meeresgott ein Opfer darbringen?« »Es kann nicht schaden«, meinte sie. »Das gleiche gilt für Gebete an Dera. Und jetzt entschuldigt mich bitte, aber ich bin erschöpft. Ich kann Euch nichts mehr sagen,
und Ihr solltet besser in den Palast zurückkehren, bevor man Euch dort vermißt.« Er erkannte, daß sie ihn loswerden wollte. »Ja«, sagte er. »Ich danke Euch, Reba.« Sie nickte auf eine Art, die den Eindruck erweckte, als sei sie nicht sicher, ob der Dank gerechtfertigt war. »Mögen alle Götter Euch wohlgesonnen sein«, sagte sie zum Abschied. »Ich werde zu Dera beten, daß Eure Entscheidung die richtige ist.« Er kehrte über den Flur ins Freie zurück, und seine Augen verengten sich, als er auf die Straße trat und ihn das helle Sonnenlicht ansprang. Er blickte auf, sah, daß die Sonne bereits ein Stück über den Himmel gewandert war, und schätzte, daß er etwa eine Stunde bei der Wahr sagerin verbracht hatte. Das ließ ihm noch eine Menge Zeit. Sein Vater war in einer Konferenz mit dem Bot schafter von Aldarin, bei der es um die Aktivitäten der Kandpiraten ging, die nach Einschätzung der Küsten städte mit dem Nachlassen der Winterstürme wieder zunehmen würden, und die Gespräche würden den ganzen Tag, wenn nicht gar länger dauern. Tobias würde daran teilnehmen, und es war unwahrscheinlich, daß Calandrylls Abwesenheit von irgend jemandem bemerkt werden würde, der berechtigt war, ihm deswegen Vor haltungen zu machen. Er wußte, daß er den Ruf hatte, unberechenbar zu sein – unzuverlässig, wie sein Vater meinte, und verträumt wie ein verliebtes Mädchen, wie es sein Bruder ausdrückte. Es war nicht außergewöhn
lich, daß er plötzlich verschwand, um irgend etwas zu erforschen, und dabei Verabredungen vergaß und nicht auf die Zeit achtete, bis ihn der Hunger wieder in die alltägliche Welt zurückholte. Man erwartete von ihm, zum Festessen heute abend zu erscheinen, aber bis dahin konnte er den Tag so verbringen, wie er wollte. Er entschied sich, ihn zum Nachdenken zu nutzen, und machte sich auf den Weg zur Stadtmauer, wo er vielleicht allein sein konnte. Die Gasse, in der Rebas Haus lag, führte auf der ande ren Seite der Straße weiter. Sie zog sich durch das Seher viertel in Richtung Hafen. Calandryll folgte ihr und grinste beim Anblick all der Schmierereien auf den Häu serwänden. Er begegnete nur wenigen Leuten, bis die Gasse in eine breitere Allee mündete, in eine der größe ren Hauptverkehrsadern, die sich wie die ringförmigen Fäden eines Spinnennetzes durch die Stadt zogen und durch kleinere Straßen miteinander verbunden waren. Der Palast des Domms bildete den Mittelpunkt. Die Stra ße, auf der er sich jetzt befand, bildete die Grenze des Seherviertels, dahinter begann das Händlerviertel. Hier waren die Häuser größer, hell gestreifte Markisen ragten über breite Bürgersteige, auf denen sich viele Fußgänger drängten. Auf der Straße selbst sorgten Kutschen und Karren für rege Betriebsamkeit. Lärm und Stimmenge wirr erfüllten die warme Luft, die vom Geruch nach Gewürzen, Leder, Farben, Stoffen, Metallen und nach all den anderen Abertausenden Waren, die hier feilgeboten wurden, gesättigt war. Calandryll eilte über die breite
Straße, wich dem Verkehr aus und setzte seinen Weg zwischen zwei Umschlagplätzen fort, bis er die breite Militärstraße am Fuß der Stadtmauer erreicht hatte, die im Fall einer Belagerung schnelle Truppenbewegungen zu jeder beliebigen Stelle entlang der Mauer garantierte. Hier waren kaum Zivilfahrzeuge unterwegs, und er konnte die Straße mühelos überqueren. Auf der anderen Seite ragte die Mauer auf, die die Breite eines großen Hauses hatte, um im Verteidigungsfall Rammböcken oder Katapultgeschossen widerstehen zu können, und in deren Fuß Baracken, Ställe und Zeughäuser eingebaut waren. Soldaten rekelten sich vor den Baracken in der Sonne, aber niemand hatte mehr als einen flüchtigen Blick für Calandryll übrig, als er den Wall emporstieg. Die Stufen waren schmal und steil, führten in einem schwindelerregenden Winkel zwischen einem Stall und einem Lagerhaus nach oben und endeten neben einem der zahlreichen kleinen befestigten Blockhäuser, die jeden der Aufgänge bewachten. Fünf Legionäre sahen von einem Würfelspiel auf, als Calandryll keuchend die Mauerkrone erreicht hatte und grinsend stehenblieb, um wieder zu Atem zu kommen. Der Wachhabende muster te seinen Mantel und die Kleidung und nickte ihm einen Gruß zu. »Ein schöner Tag für einen Spaziergang über die Mau er.« Anscheinend hielt er Calandryll für einen Angehöri gen des niederen Adels.
»Ja«, sagte Calandryll, erwiderte das Nicken und dachte, daß Tobias sofort erkannt worden wäre. Er ging schnell weiter, bevor der Wachhabende möglicherweise eine Ähnlichkeit entdecken konnte. Hier oben wehte der Wind kräftig von der See her, und ein intensiver Ozongeruch lag in der Luft. Ca landryll zog den Mantel enger um sich, als er sich der Außenkante der Befestigungsmauer näherte und hinab spähte. Das Ostmeer hatte die Farbe stumpfen, grauen Metalls und war dort, wo sich die Wellen brachen und Gischt über die Mole spritzte, die den Hafen abschirmte, mit weißen Flecken gesprenkelt. Schiffe schaukelten auf dem Wasser, hauptsächlich Karavellen, die den Küstenhandel mit Hyme und Forshold im Norden oder mit Aldarin im Süden und Westen betrieben und weiter nach Wessyl und Eryn fuhren, aber auch Dreimaster, die darauf war teten, daß der Wind umschlug und sie über das Enge Meer nach Eyl und Kandahar trug, und Fischerboote, die neben den größeren Schiffen winzig wirkten. Riesige Katapulte standen drohend am äußersten En de der Mole. Zu beiden Seiten des Hafens und am Tor zum Matrosenviertel bewachten große Befestigungsanla gen diesen Zugang zur Stadt. Seit Calandrylls Kindheit hatte es keine Kämpfe mehr gegeben, die Städte von Lysse bewahrten einen etwas wackligen Frieden, nach dem Bylath der letzten Belagerung durch Aldarin stand gehalten hatte, und die Kandpiraten überfielen lieber
Kaufleute, die das Enge Meer überquerten, anstatt eine befestigte Großstadt zu stürmen. Aber der Domm gestat tete kein Nachlassen der Wachsamkeit, und deshalb waren sowohl die Katapulte als auch die Befestigungsan lagen in voller Stärke besetzt. Calandrylls Blick wanderte vom Treiben im Hafen zu rück zu der schwerfälligeren Brandung der offenen See. Im Licht von Rebas Prophezeiung wirkte die graue Was seroberfläche ein wenig bedrohlich. Von diesem Element ging immer eine gewisse Gefahr aus, und obwohl man in Secca den Gott Dera verehrte, gab es im Matrosenviertel einige Tempel, die Burash geweiht waren, und nur weni ge Seeleute setzten Segel, ohne vorher dem Gott des Wassers ein Opfer dargebracht zu haben. Burash war ein unberechenbarer Gott, launisch und zu Jähzorn neigend. Falls Calandryll tatsächlich die Reise unternehmen sollte, die Reba ihm vorhergesagt hatte, würde auch er Burash ein Opfer darbringen. Falls … Sollte er sich für diesen Weg entscheiden, würde er ihn ohne Nadama beschreiten müssen; dessen war er sich sicher. Die weiteste Reise, die sie jemals unternommen hatte, hatte zum Landsitz ihrer Familie jenseits der Stadtmauern geführt, und als er einmal versuchsweise auf das Thema zu sprechen gekommen war, hatte sie ihm unmißverständlich klargemacht, daß nichts sie dazu bringen könnte, sich auf eine längere Reise zu begeben. Sollte sie also seinen Antrag annehmen, würde er in
Secca bleiben und die Feindschaft seines Bruders sowie den Zorn seines Vaters in Kauf nehmen müssen. Aber wenn er mit Nadama verheiratet war, würde er den Schutz der mächtigen den Ecvin-Familie genießen. Falls … Er war kein großer Schwertkämpfer, und die Vorstel lung, als vogelfrei zu gelten, behagte ihm nicht gerade, erst recht nicht die Aussicht, von Meuchelmördern gejagt zu werden, weil sein Bruder in ihm eine Bedrohung sah. Wenn sein Vater nur mit den Traditionen brechen und ihm erlauben würde, die Laufbahn eines Gelehrten und Forschers einzuschlagen, wäre er zufrieden. Selbst wenn Nadama ihn zurückwies, er liebte Bücher genauso – fast genauso –, wie er sie liebte, und sollte er sie an Tobias verlieren, konnte er seinen Kummer im Ozean des Wis sens ertränken. Aber das würde ihm der Domm nicht gestatten, davon war er überzeugt, und so war er wieder am Anfang des Problems angelangt, der Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten. Er stieß sich von der Brüstung zurück, schlenderte mit gesenktem Kopf gedankenverloren die Mauer entlang und bemerkte nicht, wie ihm der Wind das lange Haar zerzauste. Reba hatte von einer Suche gesprochen, ihm aber gleichzeitig gesagt, daß er sich nicht darauf einlassen mußte. Beschritt er diesen Weg, schien es automatisch auf Verbannung und den Verlust Nadamas hinauszulau fen, beschritt er ihn nicht, mußte er das Leben akzeptie
ren, das sein Vater für ihn vorsah und das aus eintönigen religiösen Verpflichtungen bestand. Es sei denn, Nadama nahm seinen Antrag an. In dieser Situation schien der einzig vernünftige Schritt der zu sein, mit seiner Entscheidung zu warten, bis Nadama ihre Wahl getroffen hatte. Aber Reba hatte gesagt, daß er einem Mann begegnen würde, der ihn auf den Weg des Abenteuers und des Lernens führen würde, und er wußte nicht, wann diese Begegnung stattfinden würde. Was, wenn sie jetzt erfolgte? Wie sollte er sich entscheiden, solange er sich über Nadamas Absichten im unklaren war? Er hob den Kopf und rechnete fast schon damit, den geheimnisvollen Mann zu erblicken, der sein Gefährte werden könnte, aber er sah nur Möwen auf der Mauer, die mit heiserem Protestgeschrei aufflogen, als er sich ihnen näherte. Die Sache duldete keinen Aufschub mehr. Er würde Nadama vor die Wahl stellen und dann seine Entschei dung treffen. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, fühlte er sich besser und schritt schneller aus. Der Mantel bauschte sich hinter ihm, als er den Kopf hob und lächel te. Aber dann stutzte er, als ihm bewußt wurde, daß er Angst hatte. Welche Antwort er auch erhielt, er würde etwas verlieren. Was hatte Reba noch gesagt? Ihr werdet nach dem Unfaßbaren suchen und Enttäuschung finden. Aber Ihr werdet auch viel gewinnen, mehr als Ihr verliert. Hieß das, er würde Nadama verlieren? Sprachen Wahrsager
immer in Rätseln? Sein Lächeln erlosch, und er blickte wieder auf die See hinaus. Die Wellen schienen ihn zu verhöhnen, und er wandte sich ab, richtete den Blick auf die Stadt. Er sah das geschäftige Treiben einer blühenden Metropole, die Straßen, die sich zu dem großen weißen Palast des Domms hin erstreckten, der von einem ringförmigen Rasenstreifen umgeben war und sich hinter hohen Mau ern verbarg. Der Sitz der Regierung, zu dem alle Ein wohner Seccas gehorsam aufblickten, der Sitz der Macht. Calandryll verspürte kein Verlangen nach Macht und auch nicht das Bedürfnis, Regierungsgewalt auszuüben. Das alles würde er Tobias mit Freuden überlassen, und doch würden weder sein Vater noch sein Bruder ihm diese Freiheit zugestehen. Er wußte, daß er für seinen Vater eine Enttäuschung war. Was sein Bruder in ihm sah, darüber war er sich unsicher. Auf jeden Fall eine potentielle Gefahr, denn Tobias wollte unbedingt den Titel des Domms tragen, und jedes andere Kind seines Vaters konnte zum Rivalen werden. Diese Überlegung schien schwerer als jedes Gefühl der Zuneigung zu wie gen, das Tobias für ihn empfinden mochte. Auch in be zug auf Nadama herrschte zwischen ihnen Rivalität; beide buhlten sie um ihre Gunst, aber bisher hatte sie sich geweigert, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Er biß die Zähne zusammen und stieß einen Fluch aus, den er in den Ställen des Palastes aufgeschnappt hatte. Woran er auch dachte, immer wieder kehrten seine Ge
danken zu Rebas rätselhafter Prophezeiung zurück. Was hatte sie zu bedeuten? Wie konnte sie ihm helfen? Calandryll verschränkte die Arme hinter dem Rücken und senkte die Schultern, während er sich zwang, seine Verstörung abzuschütteln und durch diszipliniertes Nachdenken zu ersetzen. Er mußte jetzt logisch vorge hen, seine Möglichkeiten in Betracht ziehen und zu der vernünftigsten Entscheidung gelangen, alle Fakten so leidenschaftlos wie möglich erwägen. Offenbar war ir gendeine Art von Verlust unvermeidbar, aber er hatte die Wahl: Er konnte Nadama gewinnen und dafür seine Freiheit verlieren, oder aber Nadama verlieren und dafür frei sein. Welche Möglichkeit zog er vor? Bevor er seine Entscheidung treffen konnte, mußte er die ihre kennen, daran führte kein Weg vorbei. Als er sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte, wurden seine Schritte wieder schneller. Nadama würde heute abend an dem Bankett teilnehmen. Dort würde er sie fragen und die unausweichliche Wahl treffen. Er kämpfte gegen das Gefühl der Verzagtheit an, das mit jedem Schritt zu wachsen drohte, marschierte ent schlossen auf die Treppe zu, die von der Mauerkrone zum Böttcherviertel hinunterführte, und von dort aus zurück zum Palast, der sein Zuhause war. Oder sein Gefängnis. Er war sich nicht länger sicher, welche der beiden Möglichkeiten zutraf.
KAPITEL 2 Calandryll war zu tief in Gedanken versunken, um sich daran zu erinnern, daß er eigentlich unbemerkt in den Palast hatte zurückkehren wollen. Er hatte vergessen, daß er den Palast durch den Eingang der Pferdeknechte verlassen hatte, und so näherte er sich wie selbstver ständlich dem großen Zeremonientor, das auf den Haupthof führte. Erst durch das Scheppern von Helle barden, die gegen Schilde schlugen, als die Wachen vor dem Tor ihm den formellen Gruß entboten, wurde er sich seines Fehlers bewußt, aber da war es auch schon zu spät, ihn rückgängig zu machen. Außerdem war er sich nicht einmal sicher, ob er das überhaupt wollte, trotz des Unbehagens, das er bei dem Gedanken an die Verärge rung seines Vaters verspürte, sollte dieser erfahren, daß sein jüngster Sohn sich allein in den ärmlicheren Vierteln der Stadt herumgetrieben hatte. Er erwiderte den Gruß mit einer beiläufigen Geste und überquerte den Hof, ohne die belustigten Blicke zu bemerken, die die Wachen einander zuwarfen. Wie alle anderen Bediensteten des Palastes hatten auch sie sich an die Schrullen des jünge ren Erben gewöhnt und längst die Hoffnung aufgegeben, daß er irgendwann ein disziplinierteres und würdevolle res Benehmen an den Tag legen würde.
Calandryll ist ein Träumer, flüsterten sie untereinan der, und er ist ganz anders als Tobias. Zum Glück ist er nur der Zweitgeborene, denn er würde einen jämmerli chen Domm abgeben. Calandryll selbst teilte diese Ansicht ohne Bedauern. Trotz seines geistesabwesenden Gesichtsausdrucks fühlte er sich jetzt zuversichtlich und entschlossen. Er hatte die Angelegenheit durchdacht und war zu der, wie er mein te, einzig logischen Schlußfolgerung gekommen. Was ihm Sorgen machte, war nur das, was dabei herauskom men würde. Anscheinend mußte er in jedem Fall etwas verlieren. Er nickte gedankenverloren, als andere Wächter vor ihm salutierten, betrat durch die großen kupferbeschla genen Türflügel die erste Empfangshalle des Palastes, durchquerte sie und erreichte einen Flur, durch den Diener eilten, die damit beschäftigt waren, die Säle für das bevorstehende Bankett herzurichten. Sie verbeugten sich, als er vorbeiging, vielleicht nicht so tief, wie sie sich vor Tobias oder seinem Vater verneigt hätten, aber er nahm sie kaum wahr, und es wäre ihm auch egal gewe sen, wenn er die mangelnde Ehrerbietung bemerkt hätte. Sie hatten nichts gegen ihn, und mehr verlangte er auch nicht. Calandryll ließ die emsige Geschäftigkeit hinter sich, als er die Treppe zu seinen Privatgemächern hinaufstieg, und war zufrieden, daß er in den Palast zurückgekehrt war, ohne daß sein Vater – soweit er es wußte – seine
Abwesenheit bemerkt hatte. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, stieß er ei nen erleichterten Seufzer aus, legte den Mantel ab und warf den Schwertgürtel auf den nächstbesten Stuhl. Die Vertrautheit des Zimmers wirkte tröstlich und beruhi gend. Die Bücher, Schriftrollen und Pergamente, die eine ganze Wand einnahmen, waren wie alte Freunde, die ihn in seinem Entschluß bestärkten. Auch wenn es im Au genblick lediglich der Entschluß war, überhaupt eine Entscheidung zu treffen, überlegte er. Außerdem wurde ihm bewußt, daß er so gut wie möglich aussehen sollte, wenn er Nadama seinen Antrag machen wollte. Er ging durch das Vorzimmer in sein Schlafzimmer. Die Fenster waren geöffnet, das Bett gemacht und die über den Tisch verstreuten Bücher ordentlich aufgeräumt worden. Das Zimmer war angenehm warm und frisch gelüftet. Das Sonnenlicht, das von dem großen Ankleidespiegel neben dem Kleiderschrank reflektiert wurde, überzog die wei ßen Wände mit einem goldenen Schimmer. Calandryll baute sich vor dem Spiegel auf und betrachtete sich kri tisch. Ein hochgewachsener Jüngling – nein, ein junger Mann, korrigierte er sich – blickte ihm aus dem Spiegel entgegen, schlank und recht muskulös. Sein Haar war unordentlich. Es glänzte golden im Sonnenlicht, bedurfte eines Haarschnitts und umrahmte ein längliches Gesicht, in dem die großen braunen Augen dominierten. Er war nicht unattraktiv, fand er. Vielleicht nicht so gutausse hend wie Tobias, und bestimmt weniger gebieterisch,
aber keineswegs häßlich. Seine Nase könnte breiter und sein Kinn vielleicht etwas kantiger sein, seine Ohren kleiner, aber sein Mund hatte die richtige Größe, und seine Zähne waren ebenmäßig. Er grinste sein Spiegel bild an, richtete die Schultern auf, die er, wie er wußte, ein wenig hängenzulassen neigte, und kam zu dem Schluß, daß er alles in allem nicht schlecht aussah. Er würde einen Barbier kommen und sich frisieren lassen, ein Bad nehmen und die Kleidung für den Abend aus wählen. Und dann … Seine Zweifel kehrten zurück, und er sah sein Grinsen erlöschen. Wenn er an Nadamas Stelle wäre, für welchen Bruder würde er sich entscheiden? Er wandte sich vom Spiegel ab und ging zu den großen Fenstertüren, die auf den Balkon führten. Unter ihm lag ein von Mauern einge faßter Garten. Ranken kletterten an den Steinwänden empor, die Büsche zeigten das erste Grün des Frühlings, Blumen schoben zaghaft die ersten Triebe durch die dunkle Erde, ein kleiner Springbrunnen bildete den Mit telpunkt des Gartens. Er wußte, daß dies einer der Lieb lingsplätze seiner Mutter gewesen war, und er konnte sich noch schwach daran erinnern, wie sie dort kurz vor ihrem Tod mit ihm gespielt hatte, bevor sie den Pocken zum Opfer gefallen war, vielleicht derselben Epidemie, die auch Reba verunstaltet hatte. Was hätte sie ihm geraten? Er hatte sie nicht lange genug gekannt, um eine Ver
mutung zu wagen. Bei ihrem Tod war er noch ein Kind gewesen, und alles, woran er sich erinnern konnte, war ein Gefühl von Wärme und liebevoller Geborgenheit; Arme, in die er sich geflüchtet hatte, wenn Bylath zornig geworden war. Überall im Palast gab es Bilder und Sta tuen von ihr, aber das waren formelle Porträts, die eine würdevolle Frau zeigten, auf deren vollem Haar die Adelskrone der Domme prangte. Diese Porträts verrieten ihm nur, wie sie ausgesehen und nicht, was sie gedacht hatte. Das war nicht die Mutter, an die er sich undeutlich erinnerte. Anscheinend war auch Bylath damals trotz seines hit zigen Temperaments sanfter und zugänglicher gewesen. Ihr Tod hatte ihn schwer getroffen, und er hatte sich zurückgezogen, war verschlossen und störrisch gewor den. Es schien, als fürchte er sich davor, jemals wieder irgend jemandem seine Zuneigung zu schenken, als würde er in seinen Söhnen lediglich eine Quelle für er neutes Leid sehen, das Hand in Hand mit Liebe einher geht. Calandryll glaubte, daß sein Leben und seine Zu kunft anders verlaufen wären, hätte sich sein Vater nicht so sehr abgekapselt. Tobias, der zwei Jahre älter war, hatte es akzeptiert und sich mit dem militärischen Drill, der Aussicht auf Macht und dem fehlenden Trost durch seinen Vater abgefunden. Calandryll dagegen hatte sich verletzt gefühlt und sich seinerseits von seinem Vater zurückgezogen, die emotionale Kluft zwischen ihnen dadurch noch vertieft und Zuflucht bei den Dingen ge sucht, die seine Mutter geliebt hatte, an erster Stelle Bü
cher. Er hatte gelernt und Wissen erworben, das über die Dinge hinausging, die von unmittelbarem Nutzen für Seccas Wohlergehen waren. Diese Leidenschaft war mit den Jahren gewachsen und hatte Bylath jegliche Hoff nung aufgeben lassen, aus seinem Sohn jemals einen Krieger zu machen. In gewisser Weise hatte Calandryll davon auch profi tiert. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Domm seine jüngeren Söhne nach Gannshold oder Forshold schickte, den beiden großen Festungen, die den Landweg nach Lysse schützten, denn er mußte befürchten, daß sie sich gegen ihren älteren Bruder erhoben, ihm den Titel streitig machten. Ebensowenig war es ungewöhnlich, daß der ältere Bruder Meuchelmörder damit beauftragte, den möglichen Rivalen zu beseitigen. Calandryll hatte Ge rüchte gehört, die besagten, der derzeitige Domm von Wessyl hätte sich der geheimnisvollen Chaipaku bedient, um sich zwei Geschwister vom Hals zu schaffen, wäh rend allgemein bekannt war, daß der Domm von Hyme die Bruderschaft der Assassinen angeworben hatte, um vier Familienangehörige ermorden zu lassen. In seinem Fall, dachte Calandryll, bestand keine solche Gefahr; Bylath hielt ihn für einen viel zu schlechten Krieger, um ihn in den Norden zu schicken, und Tobias zeigte nur Verachtung für seinen buchvernarrten Bruder. Wenn er in Secca blieb, würde er sein Leben als Priester beschlie ßen müssen, es sei denn, er gewann die Unterstützung von Nadamas Familie. Er seufzte, wandte sich vom Garten ab und kehrte in
seine Gemächer zurück. Ein Blick auf die Sanduhr verriet ihm, daß er noch ein paar Stunden Zeit hatte, bevor er zum Bankett erscheinen mußte, und er beschloß, sie damit zu verbringen, sich so vorteilhaft wie möglich herauszuputzen. Er zog an der Kordel neben dem Bett, die irgendwo in den Tiefen des Palastes eine Glocke läuten und einen Diener erscheinen lassen würde, und nahm mit einem Buch, in dem er schon vergangene Nacht gelesen hatte, in einem Sessel Platz. Es handelte sich um Mediths Die Geschichte Lysses und der Welt. Calandryll hatte vor, mit Hilfe des Buchs einen Einblick in die Denkweise des Botschafters zu erhalten, dem er in Kürze begegnen würde, und wenn er es auch für nicht so fundiert wie Sarniums Chroniken der Südlichen Königreiche hielt, war es doch so interessant, daß er völlig darin versank und aufschreckte, als der Diener erschien. »Mein Herr?« Der Mann betrachtete Calandryll mit weniger Ehrer bietung, als er Tobias entgegengebracht hätte. In seiner Haltung lag die Andeutung des Vorwurfs, daß er Wich tigeres zu tun hätte, als dem jüngsten Sohn des Domms zu Diensten zu sein. Calandryll markierte die Stelle, bis zu der er gelesen hatte, legte das Buch zur Seite und blickte auf. »Ein Bad. Und ein Barbier. Und gibt es irgend etwas zu essen?« »Der Domm hat bereits zu Mittag gegessen, Herr, und die Küchen bereiten mittlerweile das Festessen für heute
abend vor. Man hat Euch nicht finden können.« »Hat mein Vater nach mir gefragt?« Calandryll überlegte sich Ausreden. Ihm war bewußt, daß sich sein Gesicht gerötet hatte. Der Diener schwieg einen Moment lang, als müßte er die Sache überdenken, und schüttelte dann den Kopf. »Nein, Herr. Er hat mit dem Botschafter und Eurem Bruder gespeist. Ich könnte etwas für Euch besorgen.« »Bitte«, sagte Calandryll und dachte, wenn Tobias die Aufforderung geäußert hätte, wäre der Mann längst schon verschwunden gewesen. »In welcher Reihenfolge, Herr?« Calandryll unterdrückte ein Seufzen. Er mußte versu chen, mehr Autorität auszustrahlen. »Zuerst etwas zu essen«, sagte er. »Dann ein Bad. Danach den Barbier.« Der Mann verbeugte sich. »Sehr wohl, Herr.« Calandryll sah zu, wie er verschwand, und widmete sich wieder seinem Buch. Einer der Vorteile von Mediths Arbeit bestand in seinen aktuelleren und präziseren Karten. Secca lag im Osten von Lysse, ungefähr auf glei cher Höhe mit Aldarin. Nördlich von Aldarin folgte Wessyl, noch weiter nördlich die große Bucht mit den Werften von Eryn. Eyl und Kandahar lagen jenseits des Engen Meeres. Aldarin befand sich in einer strategisch günstigen Position für den Handel mit beiden Ländern, während sich Seccas Handelsbeziehungen hauptsächlich auf die anderen Küstenstädte und die ferne Ebene von Jesseryn konzentrierte. Aldarin könnte, wenn sein Domm
es wollte, die Handelswege nach Westen blockieren, deshalb wäre ein Abkommen mit dieser Stadt, das Seccas Seewege nach Kandahar schützte, ein erstrebenswertes Ziel. Kandahar umfaßte die Südspitze der Halbinsel, die sich in den Südlichen Ozean erstreckte, und auch wenn es sich offiziellen Frieden mit Lysse befand, gestattete es den Kandpiraten, die den gesamten Handel von Lysse durch ihre alljährlichen Plünderungen heimsuchten, an seinen Küsten Landstützpunkte zu unterhalten. Deshalb war es sowohl im Interesse Seccas als auch Aldarins, eine Allianz ihrer Seestreitkräfte einzugehen, die eine gemein same Front gegen die Raubzüge der Freibeuter gewähr leistete. Nachdem Calandryll die wesentlichen Informationen zu seiner Zufriedenheit rekapituliert hatte, ließ er seinen Blick über die Karte wandern, wobei er daran dachte, daß Reba ihm prophezeit hatte, in ferne Länder zu reisen. Weder Eyl noch Kandahar schienen ihm weit genug entfernt zu liegen, aber selbst Mediths Karten zeigten kaum mehr von der Welt. Hinter dem Ganngebirge, das Lysses Nordgrenze bildete, wurde Kern als Prärie abge bildet, die den riesigen Zentralwald von Cuan na'Dru umgab, im Westen die Valtberge und die Ebene von Jesseryn im Norden jenseits der Kess-Imbrun-Schlucht. Über dieses geheimnisvolle Land war nichts bekannt; die Händler, die so weit reisten, beschränkten sich auf Ny wan, die geschlossene Stadt an der Mündung des Marl. Die Halbinsel, auf der Eyl und Kandahar durch die Wüs
te Shann voneinander getrennt lagen, wurde durch den Gebirgszug des Kharmrhanna geteilt. Der westliche Teil war vollständig mit dem Dschungel von Gash bedeckt. Nordwestlich, von der großen Barriere des Valt bis zur See, erstreckte sich Gessyth, über das Medith lediglich sagte: »Es ist ein verbotenes Land, das man am besten meidet, ein einziger dampfender Sumpf, in dem merk würdige Kreaturen hausen, die Ausgestoßenen der Göt ter, die nichts für Menschen übrighaben. Drei Mitglieder meiner Expedition haben dort den Tod gefunden, und auch ich war sterbenskrank.« Calandryll erinnerte sich, daß es noch eine andere, de tailliertere Karte gab, die in irgendeinem verstaubten Winkel des Palastarchivs lag. Er hatte sie früher einmal gesehen, als er nach einer Küstenkarte von Lysse gesucht hatte, ihr aber kaum Beachtung geschenkt. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er sie suchen. Falls Nadama ihn zurückwies. Er klappte das Buch zu, als der Diener mit einem Tab lett aus getriebenem Kupfer zurückkehrte, auf dem eine Servierschale mit kaltem Fleisch und ein paar Früchten stand. »Das Wasser wird gerade geschöpft«, sagte er und zog sich nach einer knappen Verbeugung zurück. Calandryll bemerkte erst jetzt, wie hungrig er war. Als er in einen Apfel biß, erschienen zwei weitere Die ner, die einen Kessel mit dampfendem Wasser schlepp ten, gefolgt von zwei Frauen mit kaltem Wasser. Die
Männer gossen den Inhalt ihres Kessels in die Badewan ne, während die Frauen im Hintergrund blieben und auf seine Befehle warteten. Er schickte sie fort. Es schien ihm dekadent, sich von anderen baden zu lassen, und seine Liebe zu Nadama machte ihn für die anderen Dienste blind, die sie ihm hätten leisten könnten. Der Barbier wartete bereits, als Calandryll aus der Wanne stieg. Er nahm auf einem Stuhl Platz, sah zu, wie Haarlocken neben seinen Füßen zu Boden fielen, und beteiligte sich hier und da mit ein paar belanglosen Wor ten an dem munteren Geplaudere des Mannes. Nachdem das Haar geschnitten war, bearbeitete der Barbier Ca landrylls Wangen mit einem Rasiermesser und gestattete ihm schließlich, das Ergebnis zu begutachten. Calandryll bedankte sich, schickte ihn mit einer Handbewegung fort und musterte sein Spiegelbild. Er sah ordentlicher aus als vorher, aber auch nicht viel bes ser. Das mußte genügen, mehr würde er nur durch einen göttlichen Eingriff erreichen können. Er warf einen Blick auf die Sanduhr, stellte fest, daß ihr Inhalt fast bis zu der Markierung durchgelaufen war, die die Stunde des Es sens anzeigte, und ging zu seinem Kleiderschrank. Gewöhnlich kleidete er sich nachlässig, aber heute a bend machte er sich Gedanken über seine Erscheinung und wählte die Kleidungsstücke sorgfältig aus. Er zog ein weites Hemd aus weißer seccanischer Seide und eine dunkelblaue Keilhose an, um die er einen kastanienfar benen Gürtel schlang. Die zum Gürtel gehörende formel
le Waffenscheide war mit Silberfäden durchwirkt, der Griff des in ihr steckenden Dolchs mit Perlmutt überzo gen. Dazu silberbestickte Stiefel aus blau gefärbtem Le der, die zu der Dolchscheide paßten, und schließlich eine Tunika mit kastanienbraunen und blauen Rauten. Er musterte sich von neuem, war mit seinem ungewohnt glanzvollen Aussehen zufrieden und schenkte sich einen Pokal Aldanwein ein. Drei Gläser gaben seinem Selbstbewußtsein weiteren Auftrieb. Als der große Gong ertönte und er sich ein letztes Mal betrachtete, kam er zu dem Schluß, daß er stattlich genug aussah, um bei Nadama Eindruck zu hinterlassen. Entschlossen stieg er die Treppe hinab und widerstand dem Drang zu hasten. Er erreichte das Untergeschoß des Palastes und schritt über den gefliesten Boden zum kleineren Bankettsaal. Botschafter hatten kein Anrecht auf die überwältigenden Feiern, die zu Ehren des Besuchs eines anderen Domms oder eines Monarchen stattfanden. Heute waren nur die Adelsfamilien anwesend, die direkt mit den Verhand lungen zu tun hatten, obwohl die Anzahl der Gäste aus reichte, daß der Saal fast überfüllt wirkte. Tyras den Ecvin, Nadamas Vater, würde da sein, begleitet von seiner Frau und seiner Tochter. Bei dem Gedanken be schleunigte sich Calandrylls Herzschlag. Die Wachen, die um den Vorhof herum Posten bezo gen hatten, salutierten, als er an ihnen vorbeiging. Er erwiderte den Gruß und blieb unter der gewölbten Ein
gangstür stehen. Die Dämmerung war hereingebrochen, der Himmel wurde dunkler, und an den Wänden waren Fackeln entzündet worden. Aus Kupferpfannen stieg der aromatische Rauch von Sandelholz auf. Bylath saß am Hohen Tisch auf einem Podest aus schwarzem Marmor, das sich drei Schritte über den Boden erhob und dem Torbogen gegenüber stand, den Botschafter zu seiner Rechten, Tobias zu seiner Linken. Neben dem Botschafter stand ein leerer Stuhl. Ca landryll verharrte und überflog den Saal mit den Blicken. Die wichtigsten Berater des Domms saßen an den Ti schen am Fuß des Podestes, und dort entdeckte er Na dama. Sie sah hinreißend aus. Die Fackeln ließen goldene Lichtreflexe in ihrem herrlichen goldbraunen Haar auf blitzen, das hoch aufgetürmt war und die Blässe ihres schlanken Halses betonte. Ihre Augen funkelten. Sie hatte die Lippen zu einem strahlenden Lächeln geöffnet, und als sie sich umdrehte, um mit ihrer Mutter zu sprechen, schluckte Calandryll beim Anblick des weißen Seiden stoffes, der sich über ihren Brüsten spannte. Er atmete tief durch, versuchte, einen würdevollen Gesichtsaus druck aufzusetzen, und betrat den Saal. Bylath blickte auf, als er sich dem Hohen Tisch näher te, und sagte leise etwas zu dem Mann zu seiner Rechten. Der Botschafter war groß, selbst im Sitzen, schlank, sein scharfgeschnittenes Gesicht attraktiv, die dunklen Augen in seinem gebräunten Gesicht leuchteten. Sein Haar war
kurz und bildete einen auffallenden Kontrast zu dem blaßblauen und goldenen Gewand, das er trug. Er sah kurz in Calandrylls Richtung und nickte. Auch Tobias blickte seinem Bruder entgegen, ließ irgendeine Bemer kung fallen und lächelte. Calandryll, der annahm, daß sie über sein Zuspätkommen sprachen, spürte, wie er erröte te, und beschleunigte instinktiv seine Schritte. Er fing Nadamas Blick auf, als er an ihrem Tisch vorbeikam, lächelte ihr zu und stellte erfreut fest, daß sie seinen stummen Gruß erwiderte. »Da bist du ja endlich.« Bylath musterte seinen Sohn aus kühlen grauen Au gen. Eine Hand spielte mit seiner Amtskette. Calandryll spürte, wie sein Gesicht noch röter wurde, und murmelte eine Entschuldigung, als er seinen Platz erreicht hatte. »Mein jüngerer Sohn, Calandryll«, stellte Bylath ihn an den Botschafter gewandt vor. »Calandryll, das ist Lord Varent den Tarl von Aldarin.« »Eure Exzellenz.« Calandryll verneigte sich formell, bevor er Platz nahm, Varents Erwiderung bestand aus einem freundlichen Lächeln. »Zweifellos war er wieder in irgendein Buch vertieft«, bemerkte Tobias mit einem beiläufigen Seitenhieb. »Das Studium von Büchern ist nichts Schlechtes«, murmelte Varent, und Calandryll warf dem dunkelhaa rigen Mann einen dankbaren Blick zu. »Aber nutzlos für jemanden, der für das Priesteramt
vorgesehen ist«, gab Tobias zurück. Varents Schultern hoben sich für einen Sekunden bruchteil, und er strich sich über den dunklen Bart, als würde er über den Einwurf nachdenken. »Wissen ist Macht«, stellte er gelassen fest. »Selbst wenn seine Be stimmung das Priesteramt sein sollte, schadet er sich durch seine Studien nicht.« Tobias schnaubte, und einen Augenblick lang war er das Spiegelbild seines Vaters. Seine breiten Schultern wölbten sich vor, und ein geringschätziges Lächeln ver zog sein Gesicht. Er war genauso groß wie Bylath, der immer noch den muskulösen Körperbau seines Ältesten aufwies, und er hielt seinen Pokal mit einer großen dick fingrigen Hand. Das gelbblonde Haar wuchs voll über einem Gesicht, das aus dunklem Sandstein gemeißelt zu sein schien. Calandryll dagegen kam sich wie eine bloße Nachbildung seines Vaters vor, eine schlechte Kopie seines Bruders. Er bemühte sich, seine Verlegenheit hin ter einem Weinkelch zu verbergen. »Womit beschäftigt Ihr Euch?« erkundigte sich Varent liebenswürdig. Calandryll stellte fest, daß er den Botschafter von Al darin mochte. »Ich habe Medith gelesen«, sagte er. »Die Geschichte Lysses und der Welt?« Varent nickte. »Eine hervorragende Arbeit, auch wenn ich Sarnium für den verläßlicheren Chronisten halte.« »Medith bietet die besseren Karten«, erwiderte Ca landryll sofort. Sein Selbstbewußtsein stieg, weil er sich
auf vertrautem Terrain fühlte. »Richtig«, stimmte Varent zu. »Wir haben seine Origi nalkarten in Aldarin. Solltet Ihr unsere Stadt jemals mit einem Besuch beehren, wäre es mir eine Freude, sie Euch zu zeigen.« Die Vorstellung ließ Calandryll strahlen, aber dann ge fror ihm das Lächeln im Gesicht, als sein Vater sagte: »Seccas Priester verlassen die Stadt nie. Calandryll wird im Tempel wohnen.« Es klang, als wäre über seine Zukunft bereits entschie den worden, und das verstärkte nur noch seinen Entschluß, um Nadama anzuhalten. Er blickte zu ihrem Platz hinüber und bekam kaum mit, wie Tobias sagte: »Auf diese Weise kann ich ihn besser im Auge behalten«, aber er mußte sich gar nicht umdrehen, um zu wissen, daß ein hämisches Grinsen die Lippen seines Bruders umspielte. Nadama lächelte ihm zu, und er spürte seine Zuver sicht wachsen, vergaß Rebas Prophezeiung für den Mo ment. Wenn sie ihn akzeptierte, würde seine Zukunft glücklich verlaufen. »Ihr wirkt beunruhigt«, bemerkte Varent sanft. »Sagt Euch das Leben eines Priesters nicht zu?« Calandryll riß den Blick von Nadama los, wandte sich wieder dem Botschafter zu und wollte ihm gerade eine ehrliche Antwort geben, aber da sah er die Augen seines Vaters auf sich ruhen und sagte gehorsam: »Wie der Domm es wünscht.«
Bylath lächelte verkniffen. Varent nickte, als er be merkte, daß er hier einen strittigen Punkt berührt hatte. Als Diplomat, der er war, wechselte er das Thema. »Seht Ihr in den Kandpiraten eine Gefahr für Secca?« »Sie bedrohen alle Städte in Lysse«, entgegnete Ca landryll und zwang sich, ruhig zu sprechen. »Auch wenn ihre Plünderungen in Secca nicht so unmittelbar zu spü ren sind, brauchen wir doch das Eisen von Eyl und offe ne Handelsrouten. Sollte es den Freibeutern gelingen, die Vorherrschaft über das Enge Meer zu erringen oder die Küstenstreifen zu bedrohen, dann würden wir Aldarins Probleme teilen.« Varent nickte zustimmend. »Eine gemeinsame Seestreitkraft! Die Worte Eures Sohnes zeugen von Klugheit, Lord Bylath.« »Wir haben uns bereits darauf geeinigt«, sagte Bylath. »Ihr seid zu einer Entscheidung gekommen?« fragte Calandryll. »Heute«, bestätigte Tobias. »Aldarin stellt zwölf Galeeren«, erläuterte Varent, »und wir setzen Verträge über einen Nichtangriffspakt zwischen unseren Städten auf.« »Zwölf Galeeren von uns«, führte Tobias den Gedan ken weiter, als gebühre der Verdienst nur ihm allein, »und zwölf von unserem Verbündeten reichen mit Si cherheit aus, um unsere Seewege zu schützen. Allerdings werden wir neu Verhandeln, wenn ich Domm bin. Ich
bevorzuge ein aggressiveres Vorgehen.« »Euer Bruder möchte die Kandpiraten in ihren Stütz punkten angreifen«, erklärte Varent. »Das Risiko eines Krieges mit Kandahar wäre zu groß«, warf Bylath ein. »Obwohl die Vorstellung seinen Reiz hat.« »Wir müssen sie an der Wurzel packen!« behauptete Tobias draufgängerisch. »Den Freibeutern eine Lektion erteilen und die Bedrohung ein für allemal beenden!« Bylath bedachte seinen ältesten Sohn mit einem beifäl ligen Lächeln, sagte jedoch: »Wir sollten in dieser Ange legenheit einen Schritt nach dem anderen machen. Zuerst die Allianz, um unsere Handelsrouten zu sichern. Es wäre unklug, uns zu übernehmen.« »Natürlich«, stimmte ihm Tobias eilig zu. »Ich spre che von der Zukunft, wenn unsere gemeinsamen See streitkräfte stärker sind.« »Was ist Eure Meinung dazu?« erkundigte sich Va rent höflich. Calandryll runzelte nachdenklich die Stirn. Es war ungewöhnlich, daß jemand seine Ansichten in einer solchen Angelegenheit erfahren wollte, und er hätte lieber Nadama beobachtet und sich überlegt, wie er sie ansprechen sollte, aber er fühlte die Augen seines Vaters auf sich ruhen, als betrachte der Domm seine Antwort als eine Art Test. »Ich denke«, sagte er langsam, »daß Vorsicht die klügste Vorgehensweise ist. Sollten wir gegen Kandahar
in den Krieg ziehen, befänden wir uns in der schwäche ren Position. Die Idee, unsere Städte zu einem Bündnis zusammenzuschließen, ist schon so ungewöhnlich, daß wir erst einmal die Kriegsflotte aufbauen sollten. Wir sollten ausprobieren, welchen Nutzen uns das bringt, bevor wir uns auf ein so ehrgeiziges Vorhaben wie einen direkten Angriff einlassen.« »So vorsichtig wie immer«, brummte Tobias. Doch Calandryll stellte fest, daß er endlich einmal die Zustimmung seines Vaters hatte. Ermutigt fuhr er fort: »Es werden sich anfangs ganz zwangsläufig Probleme ergeben. Wer führt das Kommando? Wie soll die erfor derliche Steuer eingetrieben werden? Sollen die Schiffe in den Werften von Eryn oder in unseren eigenen Städten gebaut werden? Tritt Eryn dem Bund bei?« »Eryn bleibt neutral«, sagte Bylath. »Man wird unsere Galeeren zwar dort bauen, aber weder Mannschaften stellen noch sich uns anschließen.« »Eryn ist sicher im Norden«, grollte Tobias. »Die Frei beuter unternehmen keine Vorstöße, die sie so tief hinein in das Enge Meer führen, und Eryn fehlt das Rückgrat, mit uns zu kämpfen.« »Wieso sollten sie auch?« fragte Calandryll. »Die Kandpiraten stellen keine Bedrohung für Eryn dar.« »Und einen solchen Bund hat es noch nie zuvor gege ben« gab Varent ihm recht. Er wandte sich Bylath zu. »Euer Sohn hat einen wachen Verstand, Lord Bylath. Er würde einen guten Diplomaten abgeben.«
»Er wird Priester werden«, sagte Bylath knapp und brachte Calandryll damit auf den Boden der Tatsachen zurück. »Ich werde es heute abend bekanntgeben.« Calandryll sah Tobias' befriedigten Gesichtsausdruck und spürte, wie sein Mut wieder sank. Während seiner Abwesenheit waren offensichtlich Entscheidungen ge troffen worden, und wenn sie auch kaum unerwartet kamen, vergrößerte die Tatsache, daß sie feststanden, sein Dilemma. Er suchte Trost in seinen Gedanken an Nadama; wenn sie einverstanden war, ihn zu heiraten, konnte der Einfluß der den Ecvin-Familie seine Zukunft noch ändern. »Es kann gar nicht so schlimm sein«, flüsterte Varent so leise, daß nur Calandryll ihn verstehen konnte. »Selbst als Priester werdet Ihr doch bestimmt Zeit für Eure Stu dien finden.« Calandryll schüttelte traurig den Kopf. »In Secca, Ex zellenz, wird den Priestern dieser Luxus verweigert – ihre einzigen Studien betreffen die Verehrung Deras. Und ich möchte heiraten.« »Dieses entzückende Mädchen?« fragte Varent, der seinem Blick gefolgt war. »Wenn sie mich will.« Der Botschafter Aldarins nickte nachdenklich. »Und weiß Euer Vater von Eurem Wunsch?« »Nein«, murmelte Calandryll, drehte sich um und sah Varent an. »Ich möchte auch nicht, daß er etwas davon erfährt, bevor ich ihre Antwort kenne. Ihre Familie hat
genügend Einfluß, um meinen Vater vielleicht umstim men zu können.« »Damit würdet Ihr dann zwei Fliegen mit einer Klap pe schlagen«, flüsterte Varent lächelnd. »Habt keine Angst, Calandryll, Euer Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben.« »Wenn sie mich haben will«, wiederholte er. »Ihr denkt, sie könnte ablehnen?« Varent musterte ihn aufmerksam. »Ich habe einen Rivalen.« Die dunklen Augenbrauen des Botschafters hoben sich und formten eine stumme Frage. »Mein Bruder«, sagte Calandryll. Ein Schatten legte sich über Varents Augen, aber das Lächeln auf seinen Lippen blieb. Calandryll achtete kaum darauf, obwohl er den Eindruck hatte, daß Varent Tobias nicht sonderlich mochte. »Was werdet Ihr tun, wenn sie ablehnt?« Es lag ihm auf der Zunge, dem Botschafter von Rebas Prophezeiung zu erzählen. Irgend etwas an Varent flößte ihm Vertrauen ein, und er sagte sich, daß er von dem älteren Mann vielleicht einen klugen Rat würde erhalten können. War er möglicherweise der Freund, den Reba ihm vorhergesagt hatte? Aber es war noch zu früh, noch war er sich nicht sicher genug, deshalb sagte er nur: »Ich weiß es nicht, Exzellenz.« Varents dunkle Augen wirkten versonnen, als er Ca
landrylls Gesicht betrachtete, und anscheinend wollte er gerade etwas sagen, aber Bylath sprach ihn an, und er wandte sich ihm zu, um ihm zu antworten. Calandryll beschäftigte sich mit seinem Essen. Eine Weile wurde er nicht beachtet und blieb mit seinen Gedanken allein, die sich wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz hinter her jagt, im Kreis drehten und immer wieder zu Nadama zurückkehrten. Als das Essen vorbei war, fühlte er sich erleichtert, dann aber gleich wieder erschreckt, als sich Bylath erhob und Ruhe im Saal forderte. Er brauchte keinen Ausrufer, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu erhalten. Seine Größe und seine natürliche herrschaftliche Aus strahlung waren beeindruckend genug. »Wir haben uns heute auf Verträge von großer Bedeu tung geeinigt«, verkündete der Domm, »die in der Ge schichte Lysses ohne Beispiel sind. Secca und Aldarin werden ein Bündnis eingehen, um die Kandpiraten zu rückzuschlagen.« Laute zustimmende Rufe begrüßten die Erklärung. Auf eine Handbewegung Bylaths hin kehrte wieder Ruhe ein. »Eryn wird die Schiffe bauen, aber sie werden von den Kriegern unseren beiden Städte bemannt werden. Wir werden uns noch über die erforderlichen Steuern ver ständigen müssen, um das Vorhaben zu finanzieren, deshalb sollen meine Berater morgen bei mir erschei nen.« Seine Augen überflogen den Saal, drohend wie
Schwerter, als wolle er die Adligen warnen, die Einwän de gegen derartige Abgaben erheben könnten. »Aber jetzt sollen alle erfahren, daß mein Sohn Tobias Seccas Schiffe im Rang eines Admirals befehligen wird.« Applaus brandete auf. Calandryll warf Tobias einen kurzen Blick zu. Jetzt kannte er den Grund für die Zu friedenheit seines Bruders. Und er wußte, daß noch mehr kommen würde. »Als Zeichen meines Vertrauens ernenne ich Tobias offiziell zu meinem Nachfolger. Er wird nach mir Domm von Secca werden.« Er schwieg einen Moment lang, als erneuter Applaus die Ankündigung begrüßte, wartete, bis dieser abgeebt war, und fuhr fort: »Zum Fest von Dera wird er zum Erben geweiht werden. Darüber hinaus wird mein jüngerer Sohn, Calandryll, das Priesteramt übernehmen. Wisset, daß ich, Bylath den Karynth, Domm von Secca, es so beschlossen und ver kündet habe.« Er nahm wieder Platz, während Jubel im Saal ertönte. Der Lärm dröhnte in Calandrylls Ohren und hämmerte ihm mit Macht die Erkenntnis ein, daß seine Zukunft, soweit es seinen Vater und seinen Bruder betraf, be schlossene Sache war. Er hatte in der ganzen Angelegen heit keine Stimme. Das Bündnis mit Aldarin mochte etwas Neues sein, aber in Secca würde das Leben seinen gewohnten Gang nehmen. Er dachte an die endlos wie derkehrenden religiösen Pflichten, die unweigerlich folgen mußten, wenn sein Vater sich durchsetzte, und
alles, was ihm blieb, war die Hoffnung, daß Nadama seinen Antrag annahm. Er konnte sich keine Möglichkeit vorstellen, wie Rebas Prophezeiung mit den Plänen sei nes Vaters in Einklang gebracht werden könnte. »Herzlichen Glückwunsch.« Tobias' spöttische Stimme riß ihn aus seiner Grübelei, und als er aufsah, entdeckte er seinen Bruder neben sich. Er registrierte, daß die Musiker ein Stück zu spielen be gonnen hatten und die Gäste auf den Tanzboden ström ten, während die Diener noch damit beschäftigt waren, eilig die Tische aus dem Weg zu räumen, um Platz für die Tänzer zu machen. »Dir ebenfalls«, erwiderte er automatisch. »Die Entscheidung ist heute gefallen«, sagte Tobias. »Wenn du mehr Interesse gezeigt hättest, hätte Vater dich vielleicht gern dabei gehabt. Aber da dem nicht so war … Nun, es ist Tradition. Und du wirst da sein, wo ich auf dich aufpassen kann. Dich führen kann.« »Ja«, murmelte er grimmig. »Natürlich«, fuhr Tobias grinsend fort, »wirst du keine Zeit mehr für deine albernen Bücher haben. Abgesehen von denen, die sich mit religiösen Belangen beschäftigen. Dafür werde ich schon sorgen.« Er klopfte Calandryll auf die Schulter und vollführte eine gezierte Verbeugung in Richtung des Domms und des Botschafters. »Exzellenzen, würdet Ihr mich bitte entschuldigen? Eine Dame wartet auf mich.« Mit einem breiten Grinsen sprang er vom Podest, auf
dem der Hohe Tisch stand, zu Nadama hinunter. Ca landryll biß die Zähne zusammen, als er sah, wie sie aufstand und strahlend lächelte. Tobias anlächelte. Er saß wie betäubt da, als sie zum Mittelpunkt der Tanzfläche schwebten, Tobias Arm um ihre Taille gelegt, ihrer um die seine. Sie bewegten sich, als würden sie von einem einzigen Verstand gelenkt werden, und Tobias' Gesicht leuchtete unter Nadamas strahlendem Blick. Hatte er sich völlig getäuscht? Hatte er ihre Zuneigung falsch gedeutet? Daß sein Bruder ein Rivale war, hatte er gewußt, aber er hatte nicht erwartet, eine derartige Be wunderung in ihren Augen zu sehen. Nicht für Tobias. »Wir haben ein Sprichwort in Aldarin«, hörte er Va rent mitfühlend leise sagen. »›Ein Weinstock trägt viele Trauben.‹« »Aber nicht für einen Priester«, erwiderte Calandryll niedergeschlagen, ohne den Blick von dem Paar abwen den zu können. Er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen, als das Stück verklang, stand auf, ignorierte alle Regeln der Höflichkeit, verließ den Tisch, schob sich durch die Tän zer und trat vor die Frau, die er liebte. »Entschuldigst du bitte?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Nadamas Arm und ließ Tobias stehen, als die Musiker mit dem nächsten Stück begannen. Wenigstens war er ein ebenso guter Tänzer wie sein Bruder. Aber das half ihm nicht, die Worte zu finden, die aus
zusprechen er sich plötzlich fürchtete. Vielleicht hatte er ihren Gesichtsausdruck falsch gedeutet. Er schluckte und riß sich zusammen. »Meinen Glückwunsch«, sagte Nadama, bevor er seine verwirrten Gedanken ordnen konnte. »Freust du dich nicht über deine Aufgabe?« »Nein«, entgegnete er, und der Widerwille ließ seine Stimme schroff klingen. »Ich habe keine Lust, Priester zu werden.« Sofort bedauerte er seine Worte. Das war nicht die richtige Vorgehensweise. »Verzeih mir. Ich hatte gehofft…« Er brach mitten im Satz »Ich weiß nicht, was ich eigentlich gehofft habe.« »Es ist so üblich«, sagte sie und lächelte auf eine Wei se, die sein Herz schneller schlagen ließ. »Priester unterliegen dem Zölibat«, murmelte er und verfluchte seine Verwirrung. »Priester dürfen nicht heira ten, auch keine Studien betreiben, abgesehen von der Beschäftigung mit religiösen Texten.« Nadama nickte, lächelte wieder, wirbelte herum, daß ihre Röcke flogen, kehrte in seine Arme zurück, und ihr Duft überwältigte ihn, als sie sich wieder an ihn preßte. »Ich muß zugeben, du machst nicht gerade den Eindruck eines typischen Priesters.« »Ich werde nicht heiraten können«, klagte er. »Warum solltest du dir deswegen Sorgen machen?« Sie lächelte immer noch, wenn auch nicht auf die Art, in
der sie Tobias angelächelt hatte. »Gibt es nicht Möglich keiten, wie Priester solche … Bedürfnisse … befriedigen können?« Er spürte, wie sich ein Gefühl der Kälte in seinem Ma gen ausbreitete, starrte sie an und fühlte sein Herz in seiner Kehle schlagen. »Ich möchte aber heiraten.« »Du? Auf wen ist denn deine Wahl gefallen? Und wie willst du dich dem Befehl des Domms widersetzen?« War ihre Überraschung lediglich geheuchelt? Spielte sie Ihm irgend etwas vor? Begriff sie tatsächlich nicht? Die Kälte breitete sich weiter in ihm aus wie ein häßliches Geschwür. Er hatte den Eindruck, als wäre das verzwei felte Schlagen seines Herzens weithin hörbar, und war überzeugt, daß sie es auch hören mußte. Verstand sie denn nicht, was er ihr klarmachen wollte? »Meine Wahl fiel auf dich«, sagte er. »Ich möchte dich heiraten. Wenn dein Vater mit meinem über diese Pries tersache sprechen würde…« »Calandryll…« Ein warnender Tonfall klang in ihrer Stimme mit, aber er achtete nicht darauf, nachdem er einmal damit ange fangen hatte, und sprach weiter, bevor die Kälte seine Zunge lähmen konnte und er die Stimme verlor. »Ich liebe dich. Ich möchte dich heiraten. Bist du ein verstanden?« »Calandryll!« Sie schob sich so weit von ihm fort, wie es der Griff seiner Hände um ihre Arme erlaubte, und die kurze Distanz zwischen ihnen war wie ein bodenloser
Abgrund. »Du magst mich, das weiß ich … Aber das ist Irrsinn. Ich bin bereits versprochen.« »Ich liebe dich. Willst du mich heiraten?« Die Musik verklang. Tobias stand neben ihnen, eine Hand ausgestreckt. Nadama ergriff sie, bedachte Ca landryll mit einem bedauernden Blick, bevor ihr Lächeln wie eine aufgehende Sonne zurückkehrte und Tobias in ihrem Widerschein badete. Calandryll sah zu, wie sie zum Hohen Tisch gingen. Sah Tobias mit Bylath sprechen, den Domm sich erheben. Wieder machte sich Stille breit. »Wie es scheint, gibt es noch eine gute Nachricht zu verkünden«, sagte Bylath. »Heute abend hat mein Sohn seine Braut gewählt. Ich gebe dem Paar meinen Segen. Nadama die Tochter von Tyras und Roshanne den Ecvin, wird Tobias heiraten.« Calandryll starrte wie betäubt vor sich hin. Sein Herz schien ein Klagelied gegen seine Rippen zu trommeln, und er fürchtete, sich übergeben zu müssen. Tobias führ te Nadamas Hand an seine Lippen, Bylath strahlte und umarmte sie. Varent entbot seine Glückwünsche; Tyras und Roshanne stiegen mit leuchtenden Gesichtern auf das Podest. Calandryll fühlte sich von der Menge auf sie zugeschoben. Er starrte sie an. Hörte eine Stimme, die er kaum als die seine erkannte, sagen: »Möge Dera euch segnen.« Es war ein automatischer Reflex ohne jegliche innere Beteiligung; das einzige, was er empfand, war Schmerz.
Er konnte es nicht länger ertragen. Nadamas glückliches Lächeln war wie ein Messer, das in seinen Eingeweiden umgedreht wurde. Tobias, der über das ganze Gesicht grinste sagte irgend etwas, aber Calandrylls Herzschlag dröhnte so laut in seinen Ohren, daß er es nicht verstehen konnte. Er wandte sich ab, ignorierte den wütenden Aufschrei seines Vaters und die neugierigen Blicke der anderen, als er mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge aus dem Saal stolperte. Calandryll hatte keine Ahnung, wie er in das Seher viertel gekommen war. Er konnte sich nicht daran erin nern, den Palast verlassen zu haben und durch die Stra ßen gelaufen zu sein. Der beinah volle Mond stand am Himmel, von dün nen Wolkenfetzen überzogen, die ein kalter Wind vor sich hertrieb. Dieser trocknete Calandrylls Schweiß, der ihm die geschnittenen Haare in der Stirn und das Hemd am Rücken festgeklebt hatte, und ließ seine Haut eisig werden. Das mit weißem Vogelmist beschmutzte Schild quietschte in Angeln, und das Geräusch klang wie höh nisches Gelächter. Die vordere Seite von Rebas Haus war dunkel und abweisend. Ihm wurde erst bewußt, daß er mit den Fäusten gegen ihre Tür hämmerte, als die melo dische Stimme ihn bat, damit aufzuhören, und da hielt er keuchend inne, die Hände hilflos zu Fäusten geballt, sah, wie die Tür geöffnet wurde und die Wahrsagerin als dunkler Umriß vor der Finsternis des Hausflurs stand.
»Wer ist da? « »Wer klopft um diese Zeit so wütend an meine Tür ?« In seiner Wut und Verzweiflung hatte er gar nicht mehr gedacht, daß sie blind war. »Das wißt Ihr nicht?« fragte er bitter. »Calandryll?« Sie trat einen Schritt auf ihn zu in das Mondlicht hinein. Ihre Augen waren wie zwei winzige Spiegel in denen die milchige Scheibe des Mondes schwamm, »Wieso kommt Ihr zu so später Stunde hier her?« Er baute sich direkt vor ihr auf, die Fäuste erhoben, als wolle er auf sie einschlagen, doch dann ließ er sie sinken und stemmte sie mit einem vernehmbaren Geräusch in die Hüften. Reba blieb stehen und neigte den Kopf. »Ihr nennt Euch Wahrsagerin, und Ihr wißt nicht, wa rum ich gekommen bin?« »Ja, ich bin Wahrsagerin; nein, ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang ruhig. Es schien, als würde die Blindheit sie vor seinem Zorn schützen, und es war ge nau diese Gelassenheit, die ihm die Wut nahm und statt dessen nur Verzweiflung zurückließ. Er stöhnte und mußte gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Reba trat zurück. »Ihr solltet lieber hereinkommen.« Er ging vor ihr in das dunkle Haus hinein, blieb ste hen, während sie die Tür schloß, die Riegel umlegte, sich an ihm vorbeischob und ihn in das Zimmer führte, in
dem sie schon an diesem Morgen gesessen hatte. Sie griff nach der Zunderdose, zündete eine Öllampe an und schob sie ihm zu. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr auch die anderen Lampen anmachen.« Er nahm sie entgegen und entzündete damit die restli chen Lampen im Zimmer. Das Licht war weich und entriß die pockennarbige Seherin der Dunkelheit. Sie trug ein Nachtgewand, über das sie einen grünen Mantel gestreift hatte, Das Haar fiel ihr lang und glatt über die Schultern, ihr Gesicht war genauso ruhig wie ihre Stim me. »In der Küche steht Wein, falls Ihr einen Schluck brau chen solltet.« Calandryll nahm die Lampe mit und kehrte mit der gleichen Flasche und den beiden Schalen wie am Morgen zurück. Diesmal war er es, der schneller trank, wobei er sich bewußt war, daß er betrunken werden würde, wenn er sich nicht zügelte. Er hatte auf dem Fest schon einiges getrunken. Es schien eine gute Idee zu sein, sich zu be trinken, aber zuerst wollte er ein paar Fragen loswerden. »Sie hat mich zurückgewiesen. Sie wird meinen Bru der heiraten.« Reba nickte bedächtig. »Ich habe Verlust gesehen.« »Ihr habt mir nicht gesagt, daß es Nadama ist, die ich verlieren würde.« Er erstickte fast an ihrem Namen, fuhr sich mit der Hand über die Augen und füllte seine Schale von neuem.
»Ich habe Euch alles gesagt, was ich gesehen habe«, erklärte die Wahrsagerin gelassen. »Ich habe Euch ge sagt, daß Schleier vor Eurer Zukunft liegen und Ihr Euch zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden könnt.« »Die sich immer weiter einengen«, gab er sofort zu rück, die Verbitterung ließ seine Stimme rauh klingen. »Nadama wird Tobias heiraten, und mir wurde befohlen, Priester zu werden.« »Diese Möglichkeiten habt Ihr selbst dargelegt«, sagte Reba leise. »Ich habe es nicht geglaubt!« Reba seufzte. »Calandryll, Ihr seid jung, und Enttäu schungen sind neu für Euch. Ich habe Verlust gesehen – das habe ich Euch gesagt! Wart Ihr nicht darauf vorberei tet?« »Nein.« Er starrte sie an und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das war ich nicht. Ich habe gedacht…« Er verstummte und unterdrückte ein Schluchzen. »Ihr habt geglaubt, Ihr würdet bekommen, wonach Ihr Euch am meisten gesehnt habt«, fuhr Reba fort. »Deshalb habt Ihr meine Prophezeiung nur aus diesem Blickwinkel betrachtet.« Widerstrebend gab er ihr recht. »Jetzt bleibt mir gar nichts mehr.« »Jetzt müßt Ihr Euch entscheiden.« Ihr Stimme war immer noch melodisch, wurde aber härter. »Was ich für Eure Zukunft vorhergesehen habe, hat immer noch Gül
tigkeit. Es liegt an Euch, welchen Weg Ihr einschlagen wollt. Nadama hat den ihren betreten. Ermöglicht Euch das nicht auf eine gewisse Weise eine freiere Wahl?« »Ich wollte sie«, murmelte er. »Ich liebe sie.« »Und Ihr habt bisher immer alles bekommen, was Ihr wolltet.« Jetzt nahm ihre Stimme eine gewisse Schärfe an, einen herausfordernden Tonfall. »Ihr habt hinter den Palastmauern ein Leben im Luxus geführt, umgeben von Dienern. Was immer Ihr wolltet, Ihr brauchtet es nur zu verlan gen. Habt Ihr geglaubt, Nadama genauso einfach be kommen zu können?« Tränen trockneten auf seinen Wangen, sein Mund stand offen. Sie hatte recht. »Ich habe gedacht…« Er führte den Satz nicht zu Ende und schüttelte hilflos den Kopf. »Ihr habt geglaubt, nur weil Ihr sie liebt, müßte sie Eu re Gefühle erwidern. Das ist ganz normal, und dasselbe gilt für Verlust. Nadama hat sich für Tobias entschieden. Das ist eine Tatsache, mit der Ihr Euch abfinden müßt.« »Aber Ihr habt es nicht vorhergesehen«, warf er ihr ge reizt vor. »Ich habe sowohl Verlust als auch Gewinn vorherge sehen. Ihr selbst habt es in eine bestimmte Richtung aus gelegt.« »Ja«, gab er widerwillig zu. »Das ist richtig.« »Und jetzt liegt es an Euch, die Richtung zu wählen,
die Euer Leben nehmen soll. Was ich gesehen habe, deu tete darauf hin, daß Ihr jene Aufgabe, die Ihr so trostlos findet, nicht annehmen müßt.« Er lachte traurig. »Eure Prophezeiungen sind ziemlich vage, Reba.« »Wie ich Euch bereits gesagt habe, die Verzweigungen sind sehr komplex.« »Ich begreife es nicht.« Er seufzte und fragte: »Was ist mit diesem Gefährten, den ich treffen werde, mit dem ich auf die Reise gehen werde … gehen könnte? Heute abend bin ich dem Botschafter von Aldarin begegnet, und er hat davon gesprochen, mir Landkarten zu zeigen. Könnte er es sein?« »Vielleicht.« Reba zuckte die Achseln. »Vielleicht auch nicht. Ich meine, daß Aldarin nicht allzu weit entfernt ist.« Calandryll trank noch etwas Wein, diesmal aber nicht mehr so hastig. In der Gelassenheit der Wahrsagerin lag Stärke, eine Unerschütterlichkeit, die eine gewisse Ruhe in seine verwirrten Gedanken brachte. »Ich hätte es mer ken müssen, wenn er derjenige wäre, nicht wahr?« fragte er. Wieder zuckte Reba die Achseln. »Vielleicht. Ich den ke, Euer Urteilsvermögen ist heute abend getrübt.« Varents Worte fielen ihm wieder ein. »Er hat gesagt: ›Ein Weinstock trägt viele Trauben‹.« »Das ist richtig«, bestätigte sie, »und der Strand ent hält mehr als nur ein Sandkorn. Ich bin älter als Ihr, und
ich versichere Euch, daß Ihr über Nadama hinwegkom men werdet. Ich sage das nicht als Seherin, sondern als Frau. Ihr werdet es kaum glauben können, aber es ist so.« Sie hatte recht, er glaubte ihr nicht. »Ich werde sie nicht vergessen können«, behauptete er, »und deshalb muß ich sie verlassen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, sie und Tobias zusammen zu sehen.« Reba lächelte und sagte: »Vielleicht fangt Ihr gerade an, Euch zu entscheiden.« Calandryll grunzte und fragte: »Für diese Reise, die Ihr vorhergesehen habt? Für diese Suche in fernen Län dern?« »Vielleicht. Vielleicht haben Eure Füße den Pfad be reits beschritten, aber Ihr könnt es noch nicht erkennen.« »Möglich«, räumte er ein. »Was wollt Ihr jetzt tun?« erkundigte sie sich. Er dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Ich glaube, ich werde mich betrinken.« »Das ist keine Antwort. Weder auf meine noch auf Eure Fragen.« »Aber es ist eine reizvolle Alternative.« Er war mittlerweile ruhiger, auch wenn der Schmerz noch Immer da war, ein Messer, das in seinem Herzen wühlte, heiß wie Glut, kalt wie ein Grab. Reba seufzte. »Vielleicht für eine kurze Zeit, aber frü her oder später müßt Ihr wieder nüchtern werden.« »Lest Ihr mir noch einmal meine Zukunft?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Calandryll, das werde ich licht tun. Eine Prophezeiung pro Tag ist genug. Es wird nichts Neues dabei herauskommen, und Ihr wißt bereits, was Ihr wissen müßt, um Eure Wahl zu treffen.« »Darf ich dann Euren Wein trinken?« »Nein, auch das nicht.« Ihre Stimme klang leise, tief und vibrierend. »Ich möchte den Sohn des Domms nicht betrunken in meinem Haus haben. Ich kann es mir nicht leisten, den Zorn Eures Vaters auf mich zu ziehen.« Seine Wut kehrte wie eine frisch aufgebrochene Wun de zurück, und er stand auf. »Dann werde ich Euch verlassen, Wahrsagerin, und einen gastfreundlicheren Ort aufsuchen.« Reba hob den Kopf, als würde sie ihm mit ihren blin den Augen folgen. Ihre dunkle Stimme änderte den Ton fall, wurde wieder hell und eindringlich. »Calandryll! Kehrt in den Palast zurück und betrinkt Euch dort, wenn es unbedingt sein muß. Die Straßen von Secca sind nicht so sicher, daß Ihr sie gefahrlos beschreiten könntet. Es wäre vernünftiger, wenn Ihr Euch von Wachleuten nach Hause begleiten ließet.« »Zurück in diesen Palast, der mich von Eurer Welt ab schirmt?« erkundigte er sich. »Von der wirklichen Welt?« »Vorübergehend«, stimmte sie zu. »Ihr sagt, ich muß meine Entscheidungen selbst tref fen. Nun gut, diese habe ich bereits getroffen.« Er drehte sich um, achtete nicht auf die Warnungen,
die sie ihm hinterherrief, stolperte in den Flur, fand die Haustür, fummelte an den Riegeln herum und zog die Tür auf. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht, und er blieb stehen. In seinem Kopf drehte es sich. Die geschlossenen Fensterläden auf der anderen Straßenseite verschwam men vor seinen Augen. Nur wenn er sich darauf kon zentrierte und blinzelte, zeichneten sich ihre Umrisse scharf ab. »Ihr begeht eine große Dummheit«, hörte er Reba hin ter seinem Rücken sagen. Er schüttelte wortlos den Kopf und ging davon. Die Gerüche, die ihm heute morgen so aufregend vorge kommen waren, erschienen ihm im feuchten Wind schal und wurden vom Salzgeruch der See überlagert. Die Straßen sahen im nächtlichen Mondlicht verändert aus. Hauseingänge und Schilder, farbenfroh und einladend im hellen Tageslicht, wirkten düster, die Mündungen der Gassen waren gähnende Schlünde voller Dunkelheit. Sie wirkten auf unbestimmte Art bedrohlich und ließen ihn seinen Kummer vorübergehend vergessen. Er stolperte an ihnen vorbei und näherte sich instinktiv der breiteren Straße, die die Grenze zum Seherviertel bildete. Wo waren die Tavernen? Wo konnte er Wein finden, um seine Schmerzen zu betäuben? Nicht im Palast, der war jetzt mehr als je zuvor ein Gefängnis, und Calandryll verwarf die Idee sofort. Wahrscheinlich war das Fest noch in Gang.
Nadama würde in Tobias Armen liegen, mit ihm tan zen und ihm das Lächeln schenken, von dem Calandryll geglaubt hatte, es würde ihm gelten. Sein Vater und Tyras würden auf die Verlobung ihrer Kinder trinken, und Bylath würde wütend über die Art sein, in der sein jüngster Sohn das Fest verlassen hatte. Tobias würde frohlocken, und das war das letzte, das Calandryll jetzt hätte ertragen können. Nein, er würde sich eine Kneipe suchen, wo er seinen Kummer ertränken konnte, und sich morgen seinem Schmerz und dem Domm stellen. Er stieß ein bitteres Lachen aus, als ihm die Erkenntnis unterhalb des Seherviertels, jenseits des Händlerviertels, lag das Matrosenviertel, und Matrosen tranken bekannt lich. Dort befand sich auch die Hafengarnison, und Sol daten außer Dienst tranken ebenfalls. Ja, der Hafen war die geeignete Gegend, dort würde es jede Menge Taver nen finden. Auf unsicheren Beinen drehte er sich um, entdeckte die, die er bereits früher am Tag benutzt hatte, und folgte ihr durch das Händlerviertel, bis er auf die breite Haupt verkehrsstraße nach Osten einbog. Der Wind wurde stärker. Calandryll erschauderte. Die Kälte ließ ihn wieder etwas nüchterner werden, und gerade das wollte er nicht, denn dann würde er nur an Tobias und Nadama denken können und wieder das Messer in seinem Herzen spüren. Er entdeckte eine Katze, die ihn wachsam über eine to te Ratte hinweg beobachtete, blieb stehen und erwiderte
den feindseligen starren Blick des Tieres. Die sträubte den Schwanz und stieß ein Fauchen aus, als fürchte sie, er könne ihr die Beute streitig machen. Gelbe Augen stierten ihn an, dann vergrub die Katze ihr spitzen Zähne in dem blutigen Kadaver und verschwand schnell mit ihm in der Dunkelheit. Calandryll zuckte die Achseln und setzte seinen Weg entlang der geschlossenen Lager häuser fort. Stunden schienen vergangen zu sein, als er Licht vor sich sah und schneller ging, in einen unsicheren Lauf schritt verfiel, der ihn auf einen Platz brachte, auf dem Laternen die Dunkelheit vertrieben und Kneipenschilder alles anboten, was sich ein durstiger Seemann wünschen konnte. Calandryll drehte sich einmal um die eigene Achse, strauchelte beinahe und erlangte mit rudernden Armen das Gleichgewicht zurück, während er die Knei pen musterte. Er entschied sich für die nächstgelegene, strich sein Gewand glatt und fuhr sich geistesabwesend einmal mit der Hand durch das Haar, bevor er sich durch die Tür schob. Kälte und Feuchtigkeit blieben hinter ihm zurück und wurden durch Wärme und intensiven Schnapsgeruch ersetzt. Calandryll blinzelte wie eine Eule, die von der Laterne eines Jägers geblendet wurde, und sah sich um. Auf einem mit Sägespänen bestreuten Fußboden, der dunkle Flecke verschütteter Getränke aufwies, standen mehrere grob gezimmerte Holztische herum, an denen Männer hinter Bechern und Krügen hockten, die seine Musterung mit unterschiedlichem Interesse erwiderten.
Ein paar Frauen saßen bei ihnen, und ihre Aufmerksam keit war offensichtlicher, gieriger. Die Decke war niedrig, Lampen hingen von hier herab. Calandryll mußte sich bücken, um sich nicht den Kopf an ihnen zu stoßen. Ein großer offener Steinofen, in dem Holzscheite brannten, bildete eine zusätzliche Lichtquelle. Ein Junge mit nack ten schmutzigen Füßen in einem fadenscheinigen Hemd und zerschlissenen Hosen drehte lustlos einen Spieß, an dem die Überreste eines Kalbes brutzelten. Zur Rechten erstreckte sich ein langer Tresen, hinter dem ein dicker kahlköpfiger Mann in einer schmierigen Schürze stand. An der Rückwand waren Fässer gestapelt, in einem Re gal lagen Flaschen. Krüge und Becher hingen wie Tro phäen an ihren Henkeln von Holzzapfen herab. »Herr?« Der Wirt begutachtete seine Kleidung mit trä nenden Augen. »Ihr wünscht?« »Wein. Starken Wein.« »Ich habe einen guten Tropfen aus dem Aldatal, der Euch bestimmt schmecken dürfte.« Der Wirt kramte eine staubige Flasche und einen Pokal aus billigem Glas her vor, den er flüchtig mit einem schmutzigen Tuch putzte. »Kostet ihn, junger Herr.« Calandryll nippte daran. Der Wein war tatsächlich stark. Er leerte den Pokal, nickte und nahm die Flasche. Es gab genügend freie Tische, so daß er einen Platz in der Nähe des Feuers und einer niedrigen Türöffnung fand, die in die Tiefen der Taverne hineinführte. »Wünscht Ihr etwas zu essen, Herr?«
Er schüttelte den Kopf, schickte den Wirt mit einer Handbewegung weg, und der dicke Mann kehrte zum Tresen zurück, wo er planlos Gläser und Krüge polierte. Calandryll füllte seinen Pokal und stierte um sich. Ihrer Kleidung und den schweren Ohrringen nach zu urteilen waren die meisten der anderen Zecher Seeleute. Viele trugen Schwerter, jeder zumindest einen Dolch, und einige waren eindeutig betrunken. Es gab ein paar Söldner, die zweifellos in den Diensten ortsansässiger Händler standen und die in leichte Lederrüstungen ge kleidet waren, Schwerter um die Hüfte oder auf den Rücken geschnallt. Die Frauen sahen wie Flittchen aus, ihre Kleider waren tief dekolletiert und kurz. Um ihre Hälse und an ihren Fingern glitzerte billiger Schmuck. Sie musterten Calandryll mit professionellen Blicken. Er lächelte, ohne irgend jemanden dabei anzusehen, trank seinen Pokal leer, füllte ihn erneut und trank weiter. Irgend etwas zwang ihn, die Frauen mit Nadama zu vergleichen, und um diese schmerzliche Erinnerung zu vertreiben, trank er noch mehr. Nach kurzer Zeit war die Flasche leer. Er bestellte eine weitere und saß zusammengesunken in seinem Stuhl, die Beine weit von sich gestreckt, als der dicke Mann ihm die Flasche brachte. »Ist er nach Eurem Geschmack, Herr?« »Er ist nach meinem Geschmack. Ein hervorragender Wein. Mein Kompliment für Euren Keller.« Seine Stimme klang schwer. Er kicherte über ihren
Klang und seinen Scherz. Der Wirt strahlte unterwürfig und zog sich zurück. Calandryll sank tiefer in seinen Stuhl und grinste, ohne zu bemerken, daß er sich das Hemd mit Wein bekleckerte, dankbar für die Betäubung seines Kummers. Er leerte die Hälfte der zweiten Flasche und vergaß darüber, daß er betrunken war. Eine beinahe angenehme Taubheit legte sich über seine Glieder, der Pokal in seiner Hand war schwer, als er ihn hob, das Feuer wärmte ihn. Er starrte mit glasigen Augen und einem schlaffen Lä cheln vor sich hin. Die anderen Gäste wurden zu ver schwommenen Schemen, ihre Stimmen zu einem fernen Hintergrundgeräusch. Als er den Pokal absetzte, kippte das Trinkgefäß um, und Wein ergoß sich wie helles Blut über die rissige Tischplatte. Er glotzte die Lache an, sah tatenlos zu, wie sie sich ausbreitete und auf den Boden und seine ausgestreckten Beine tropfte. Ein Kichern stieg seine Kehle empor, wurde zu einem Schniefen, und er begann zu weinen. Die Tränen ließen ihn sofort wütend werden, so daß er sich gerader in seinem Stuhl aufsetzte und sich gedankenlos mit einem Ärmel über das Gesicht wischte. Er stellte den umgekippten Pokal wieder hin, füllte ihn erneut mit übertrieben vorsichtigen Bewegungen und freute sich, daß er die Aufgabe so erfolgreich bewältigte. Als er das verschmierte hohe Glas hob, bemerkte er, wie sich eine Gestalt aus der Gruppe an einem Tisch in der Nähe löste und auf ihn zukam. Der Schemen gewann Konturen und wurde zu einer Frau.
Sie war um einige Jahre älter als er. Ihr Haar war ge färbt, die Lippen zinnoberrot angemalt, die Lidschatten mit Kohle nachgezogen, die Wimpern lang und starr wie Stacheln. Ihr hellgelbes kurzes Kleid war tief ausge schnitten und wurde von einem schwarzen Lederkorsett eingeschnürt. Sie beugte sich vor, bot ihm einen genaue ren Blick auf ihre Brüste, und seine Nasenflügel zitterten, als ihm ein Schwall ihres billigen Parfüms und Schweiß geruch entgegenschlugen. Als sie lächelte, entblößte sie fleckige Zähne. »Du trinkst allein. Dabei bist du viel zu hübsch, um al lein zu trinken.« Calandryll blinzelte, zwang das Dreifachbild, das vor seinen Augen waberte, sich zu einem einzigen, klareren Bild zusammenzusetzen, und sagte niedergeschlagen: »Nadama sieht das nicht so.« Die Frau betrachtete das als Einladung und setzte sich auf einen Stuhl links neben ihn. »Dann ist Nadama dumm. Ich heiße Lara.« »Lara«, sagte er mit schwerer Zunge und versuchte, sie durch den Nebel vor seinen Augen deutlicher zu erkennen. Er sah, daß sie ein Glas in der Hand hielt, und schenkte ihr ein. Sie trank, und ihr Lächeln wurde brei ter. »Nadama war dein Schatz?« »Ich liebe sie«, murmelte er feierlich, »aber sie wird meinen Bruder heiraten.« »Dann solltest du sie am besten schnell vergessen«, empfahl Lara. »Soll ich dir dabei helfen?«
Calandryll runzelte die Stirn. Es bereitete ihm Schwie rigkeiten zu antworten. »Ich glaube, das kann ich nicht.« »Oh, doch, du kannst«, behauptete Lara. »Komm mit mir, und du wirst alle Frauen vergessen, die du bisher gehabt hast.« Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, als er sagte: »Ich habe überhaupt keine anderen gehabt. Ich habe nicht mal Nadama gehabt.« Ihr schrilles Gelächter dröhnte in seinen Ohren. Sie beugte sich weiter vor, legte eine Hand auf seinen Ober schenkel. »Eine Jungfrau? Bist du wirklich noch Jung frau?« Er spürte, daß seine Ehre irgendwie in Frage ge stellt wurde, aber er konnte nur eins sagen. »Ja.« »Also gut.« Lara rückte ihren Stuhl herum, bis sich ih re Brüste gegen seinen Arm preßten. Ihre Hand streichel te sein Bein, wanderte höher, ihr Mund schwebte dicht vor seiner Wange. »Es wird Zeit, daß du ein Mann wirst. Komm mit mir.« »Wohin?« wollte er wissen. Lara deutete mit dem Kopf zur Tür. »Es gibt da hinten ein paar Zimmer. Der alte Thorson verlangt nur fünfzig Decima für eine Nacht und ich nicht mal einen Var.« Calandryll wandte ihr das Gesicht zu und drehte es gleich wieder zur Seite, als ihm ihr Atem in die Nase stieg, der nach schalem Wein und Fäulnis roch. Ver schwommen wurde ihm bewußt, daß er kein Geld bei sich hatte, weniger verschwommen, daß er keine Lust verspürte, mit diesem billigen Flittchen zu schlafen.
»Danke«, sagte er steif, »lieber nicht.« »Sei nicht schüchtern.« Eine Hand fuhr über sein Haar, die andere glitt zwischen seine Beine. »Ich werde dir zeigen, wie du es machen mußt.« »Ich weiß, wie ich es machen muß«, behauptete er. »Dann komm«, drängte Lara und ergriff seine freie Hand. »Wir nehmen die Flasche mit, und ich beschere dir eine Nacht, die du nicht vergessen wirst. Du wirst dich noch an mich erinnern, lange nachdem du Nadama ver gessen hast.« Plötzlich stieg Panik in ihm auf, er riß seine Hand los und schüttelte den Kopf. »Nein!« Laras Hand zwischen seinen Beinen wurde herausfor dernder. »Sei nicht so schüchtern«, wiederholte sie. »Komm mit mir.« Er nahm einen großen Schluck Wein und spürte, wie er trotz seines Abscheus auf ihre Berührung reagierte. Lara kicherte und sagte: »Wenn es das Geld ist, dann mache ich es für einen halben Var mit dir. Weil du noch Jungfrau bist.« »Es ist nicht das Geld«, sagte er und bereute seine Worte gleich wieder, als er sah, wie ihr Lächeln erlosch. »Na schön, es ist das Geld.« »Ein halber Var?« Ihre Zunge fuhr kurz über ihre Lip pen. »Ein junger vornehmer Herr wie du hat doch be stimmt einen halben Var.« Calandryll lächelte entschuldigend. »Ich habe über
haupt kein Geld.« »Was?« Sie hörte auf, ihn zu streicheln, setzte sich gerade auf, und ihre von dunklen Ringen umgebenen Augen weite ten sich vor Wut. »Ich habe überhaupt kein Geld«, erklärte er. »Jeden falls nicht bei mir.« »Zechpreller!« Laras Stimme war schneidend und laut genug, um die Aufmerksamkeit der anderen Trinker zu erregen. »Für wen hältst du dich eigentlich? Du kommst hierher, zu trinken, und du hast kein Geld? Möge Dera deine Männlichkeit verrotten lassen! Glaubt ihr Adligen vielleicht, könntet hierherkommen und euch gegenüber uns ehrlichen Leuten als Herren und Gebieter aufspie len?« Thorson, der Kneipenwirt, tauchte neben dem Tisch auf. Ein besorgter Ausdruck stand auf seinem Mondge sicht. »Was gibt es hier für einen Ärger? Ich möchte hier keine Wachen haben. Ich betreibe eine anständige Knei pe.« »Anständig? Du sprichst von Anstand?« Lara war aufgesprungen, hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt, ihr Gesicht war rot angelaufen. »Frag ihn doch mal nach Anstand! Was hat er getrunken? Zwei Flaschen von die sem Alda, und er hat nicht eine Münze in der Tasche, um dafür zu bezahlen!« Thorson schien zwischen seiner Angst, Calandryll zu beleidigen, und der Angst, Geld zu verlieren, hin- und
hergerissen zu sein. »Ist das wahr, Herr?« fragte er ner vös. Calandryll nickte. »Ich fürchte, ja. Aber ich habe die sen Ring.« Er begann, an dem Siegelring herumzufummeln, aber nach einem kurzen Blick auf das Schmuckstück schüttel te Thorson den Kopf. »Damit kann ich nichts anfangen.« Von der ehrerbietigen Anrede ›Herr‹ war jetzt nichts mehr zu hören. »Wenn ich den nehme, werden mir die Wachen listige Fragen stellen. Hier wird ausschließlich mit Münzgeld bezahlt.« »Morgen«, bot Calandryll an. Mittlerweile war er doch beunruhigt. Er sah, wie sich andere Gäste zu dem Knei penwirt gesellten und drohend einen Halbkreis um ihn bildeten. »Ich kann Euch morgen das Geld bringen.« Thorson schüttelte seinen großen Kopf. Lara stieß ein zynisches Lachen aus. »Wenn du das glaubst, Thorson, dann ist dir nicht mehr zu helfen. Dieser Bastard wird dich betrügen und morgen darüber lachen.« »Ihr habt überhaupt keine Münzen dabei?« hakte Thorson nach. »Nicht eine.« Calandryll hörte das wütende Murren der Zuschauer, und seine Besorgnis wuchs. Sein Kopf begann zu schmerzen. Er versuchte ein besänftigendes, zaghaftes Lächeln aufzusetzen und sagte: »Aber ich kann Euch morgen bezahlen. Das verspreche ich.« »Die Versprechen von Adligen sind wie der Wind«, höhnte Lara. »Man kann sie nicht festhalten.«
»Ja«, gab ihr eine Stimme aus der Menge recht. »Von uns verlangst du Geld, Thorson, also solltest du von ihm dasselbe verlangen.« »Das mache ich ja auch«, schnappte Thorson, »aber er hat keins.« »Das behauptet er«, mischte sich eine andere Stimme ungehalten ein, »aber ich wette, er trägt irgendwo am Leib einen Geldbeutel.« »Durchsuch ihn«, riet wieder ein anderer. »Zieh ihn aus und durchsuch ihn.« »Ich habe nichts!« rief Calandryll jetzt voller Angst. »Ich schwöre es! Bei Dera! Ich werde morgen bezahlen!« »Scheiß auf Dera«, sagte noch ein anderer. »Dieser Bastard kommt hierher, spielt sich in seinen Klamotten als unser Herr und Gebieter auf und versucht, ehrliche Leute zu betrügen. Er braucht eine Lektion.« »Ich möchte hier drinnen keine Wachleute haben«, warnte Thorson. »Wer braucht die Wachleute?« fragte eine Stimme. »Wir erteilen ihm selbst die Lektion.« Calandryll stand auf und schob den Stuhl zurück. Er stieß gegen die Wand und spürte, wie seine Knie nach gaben. In seinem Kopf pochte es. »Bitte«, stieß er hervor, »ich schwöre, ich werde Euch morgen bezahlen. Ich wer de Geld aus dem Palast holen.« »Aus dem Palast!« keifte Lara. »Hört ihn euch an – aus dem Palast! Als nächstes wird er uns noch erzählen, er
wär' der verdammte Domm!« »Verfluchte Adlige!« »Schnappt Ihn euch!«
schrie
jemand
wütend.
»Bitte … nein!« Calandryll streckte abwehrend die Hände aus, als der Tisch weggezogen wurde. Die Flasche, der Pokal und Laras Becher fielen zu Boden und zerschellten, Glassplit ter spritzten auf. Hände verkrallten sich in seiner Tunika. Er hörte eine Stimme rufen: »Paßt auf! Er hat ein Mes ser!« Er hatte den Dolch völlig vergessen und hätte ihn wohl auch dann nicht benützt, wäre er ihm nicht aus der Scheide gezogen und beiseite geschleudert worden. Flüchtig ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Tobias sicher daran gedacht und die Waffe eingesetzt hätte, aber dann traf eine Faust seine Wange, und der Schmerz löschte alle anderen Überlegungen aus. Es wurde noch schlimmer, als er von mehreren Fäus ten getroffen wurde. Zu den Schmerzen gesellte sich ein überwältigendes Gefühl der Übelkeit in seinem Magen. Er krümmte sich zusammen und spürte kaum noch die Schläge, die auf seinen Rücken niederprasselten. Daß er auf dem Boden lag, bemerkte er erst, als sich das Blut in seinem Mund mit dem Sägemehl vermischte und ihm ein Stiefel hart in die Rippen trat. Er versuchte aufzustehen, wurde jedoch wieder niedergeschlagen, zog die Knie bis zur Brust noch und legte die Arme schützend um den Kopf. Die Kneipengäste begannen, auf ihn einzutreten.
Sie kamen richtig in Fahrt, ihre Stiefel trafen ihn im Rü cken, an den Oberschenkeln und der Brust. Dann hörten die Tritte urplötzlich auf, als er eine bar sche Stimme rufen hörte: »Das reicht!« »Wer sagt das?« knurrte jemand. »Ich.« Calandryll ließ die Arme ein wenig sinken und er spähte aus geschwollenen Augen ein Paar abgenutzter schwarzer Stiefel. Runzeln durchzogen das Leder wie Lachfältchen. Sein Blick wanderte nach oben, über eine lederne Hose, einen breiten Gürtel, an dem ein Krumm schwert und ein Langdolch hingen, zu einem Hemd aus weichem Leder unter eine Ledertunika, die genauso schwarz wie alle anderen Kleidungsstücke war. Das Gesicht des Mannes konnte er nicht erkennen, denn der Fremde hatte den Kopf zur Seite gedrehte und behielt die Meute im Auge. »Willst du uns etwa daran hindern?« fragte jemand verächtlich. »Wenn ich muß«, erfolgte die selbstbewußte Antwort. »Er hat genug. Er hat seine Lektion gelernt.« »Verpaßt ihm noch ein paar«, drängte Lara. Calandryll sah eine sonnengebräunte Hand auf den Griff des Krummschwertes sinken und keuchte, als Stahl über Leder schabte. Das Krummschwert glitt aus der Scheide, geschmeidig und schnell wie eine zustoßende Schlange. Kurz blitzte das Licht der Lampen auf der Klinge auf. Sie zuckte vor, ein Mann stieß einen Schrei
aus, und in der plötzlichen Stille polterte ein Schwert zu Boden. »Ich würde es vorziehen, dich nicht töten zu müssen.« Der Mann sprach mit Akzent, aber mit keinem in Lys se gebräuchlichen. Seine Worte klangen nüchtern, als hätte er nicht den geringsten Zweifel, die darin enthalte ne Drohung notfalls wahrmachen zu können. Calandryll hörte das dumpfe Geräusch, mit dem das Schwert wieder in die Scheide gerammt wurde. »Steh auf.« Er spuckte Blut aus und schob die Hände mit ge spreizten Fingern auf den schmutzigen Boden unter sich. Es tat weh, aber er konnte sich hochdrücken, schwankte und stöhnte, als er den Rücken aufrichtete und ihm ein brennender Schmerz durch die Seite schoß. Ein Auge schwoll zu, mit dem anderen erkannte er verschwom men, daß sein Retter etwa ebenso groß war wie er. Sein Haar war lang, genauso schwarz wie seine Kleidung und im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Au gen, die sich kurz auf ihn richteten, waren erstaunlich blau und von winzigen Fältchen umgeben, als seien sie es gewöhnt, ständig in die Sonne zu blinzeln und sich zu schmalen Schlitzen zusammenzuziehen. Sie lagen tief in einem sonnengebräunten Gesicht, das fast genauso dun kel wie das Hemd des Mannes war. Die Nase war ir gendwann durch einen Schlag gebrochen worden und flach, der Mund groß, die Zähne hinter den zurückgezo genen Lippen ebenmäßig.
»Kannst du gehen?« Calandryll machte versuchsweise einen Schritt und nickte. Die Bewegung ließ Blut aus seiner Nase tropfen. »Dann geh zur Tür. Niemand wird dich aufhalten. Eh?« Er unterstrich die geknurrte Frage mit einer Bewe gung des Krummschwertes. Calandryll schob sich zur Tür. Sein Retter wartete und musterte die Meute. Er war leicht in den Knien eingeknickt, sprungbereit, und hielt das Schwert ausgestreckt, als er sich rückwärts der Tür näherte. »Was ist mit dem Wein, den er getrunken hat?« fragte Thorson. Der Mann lachte knapp. »Nimm sein Messer als Be zahlung, es ist eine schöne Waffe. Laßt ihn jetzt in Ruhe und kommt nicht auf den Gedanken, uns zu folgen.« Er glitt schnell zur Tür, stellte fest, daß Calandryll immer noch dort stand, und stieß den jüngeren Mann grob hinaus. »Schnell!« drängte er. »Sie werden wahrscheinlich in ein paar Augenblicken ihren Mut wiederfinden, und es sind mehr, als selbst ich erledigen könnte.« Der Fremde umklammerte Calandrylls Arm und eilte mit seinem blutüberströmten Schützling über den Platz zur nächsten Gasse. Calandryll blieb nichts anderes üb rig, als ich seinen ausgreifenden Schritten anzupassen, trotz der Schmerzen, die bei jedem Schritt durch seinen Körper fuhren. Der Fremde zerrte ihn durch die Gasse,
als wütende Schreie hinter ihnen aufklangen, schlüpfte in einen schmalen Durchgang, bog erneut ab und tauchte immer tiefer in das labyrinthartige Gassengewirr ein. Schließlich blieb er stehen, und Calandryll sank gegen eine Wand, die Hände keuchend gegen seine schmer zenden Rippen gepreßt. »Es ist unklug, ohne Geld in das Matrosenviertel zu gehen«, stellte sein Begleiter fest und fügte dann leise lachend hinzu: »Und für einen Grünschnabel wie dich wohl auch nicht allzu klug, Geld dabeizuhaben.« »Ich hätte morgen bezahlt«, ächzte Calandryll und be tastete seine Zähne mit der Zunge. »Laß Thorson deinen Dolch behalten«, sagte der Mann. »Und lern, mit einer Waffe umzugehen, wenn du vorhast, eine zu tragen.« Calandryll nickte und stöhnte. »Ich schulde dir Dank.« Der Mann zuckte die Achseln. »Ist hiermit angenom men. Und jetzt sollte ich dich am besten sicher nach Hau se bringen.« Der Gedanke ließ Calandryll erneut aufstöhnen. Plötz lich war die Vorstellung, so in den Palast zurückzukeh ren, blutverschmiert, mit zerrissenen Kleidern und ohne seinen Dolch, mehr, als er ertragen konnte. »Nein«, murmelte er. »Ich meine … bitte … nicht in diesem Zustand. Morgen. Ich werde morgen zurückge hen.« Der Mann musterte ihn abschätzend, dann grinste er.
»Ich nehme an, das ist keine Gewohnheit von dir.« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf, und die Schmerzen, die von innen gegen seine Schädeldecke hämmerten, ließen ihn wieder ächzen. »Ich habe so etwas noch nie vorher gemacht.« »Am besten tust du es auch nicht wieder. Aber in ei nem Punkt hast du recht: Du siehst furchtbar aus.« Er schwieg einen Moment lang und nagte an seiner Unter lippe, dann zuckte er die Achseln. »Na schön. Ich habe ein Zimmer. Es ist groß genug, daß noch jemand auf dem Boden schlafen kann. Komm.« Er zog Calandryll von der Wand fort und stützte den jüngeren Mann, als dieser schwankte. Calandryll war sehr dankbar für den Arm, der ihn aufrecht hielt. Er war sich nicht sicher, ob er ohne Hilfe hätte weitergehen können. »Ich heiße Calandryll«, sagte er. »Und wie heißt du?« »Bracht«, erwiderte der Mann. »Ich heiße Bracht.«
KAPITEL 3 Die Sonne, die durch das Fenster hoch in der Wand schien, erzeugte eine Lichtbahn aus tanzendem Staub und ließ Calandryll widerstrebend zu Bewußtsein kom men. Der Lichtstrahl fiel ihm ins Gesicht und rief ein grellrotes Glühen hinter seinen geschlossenen Lidern hervor, das sich bis in die tiefsten Regionen seines Schä dels hineinzubrennen schien. Er stöhnte und tastete nach der Quastenkordel, mit der er einen Diener herbeirufen konnte, der ihm kühles Wasser gegen den Durst bringen würde, der seinen Mund ausgetrocknet hatte, und ein Mittel gegen das gräßliche Pochen, das in seinem Kopf hämmerte. Seine Hand berührte rauhen Putz. Der Schreck ließ ihn die Augen öffnen. Er zuckte zusammen, als das Licht in den Abgründen seines verwirrten Vers tandes einen unsichtbaren lauten Gong anschlug. Aus zusammengekniffenen Augen erkannte er, daß da keine Klingelschnur war, nur eine weißgetünchte Wand mit einem schlichten Holzfensterbrett unter der Öffnung, durch die die beißende Helligkeit fiel. Er stöhnte wieder, setzte sich auf, bereute sofort, sich bewegt zu haben, und massierte seine Schläfen, während er sich angestrengt bemühte, die Erinnerungsfetzen zusammenzufügen, die wie Glühwürmchen durch die krampfartigen Schmerzen
in seinem Kopf tanzten, in dem sich alles zu drehen schien. Er hatte in einer Taverne gesessen, da war eine Frau gewesen, und dann hatte es einen Kampf gegeben. Mit einem Keuchen wandte er sich um, um den Raum ge nauer zu betrachten. Er befand sich nicht im Palast … irgend jemand hatte ihn aus einer Schlägerei gerettet. Bracht … ja, das war der Name seines Retters. Ein dunk ler Mann, völlig in Schwarz gekleidet, ein Söldner. Und Bracht hatte sich bereiterklärt, ihn hier schlafen zu lassen, weil Calandryll Angst gehabt – oder sich geschämt – hatte, in den Palast zurückzukehren. Calandryll hatte keine Ahnung, wo er hier war. Es schien ein Zimmer in irgendeinem billigen Gasthaus oder einer Herberge zu sein. Da waren ein Bett, ordentlich gemacht, ein einzelner Stuhl, ein Waschtisch und ein kleines Schränkchen. Auf dem zerkratzten und staubigen Fußboden, der aus einfachen Holzbohlen bestand, lag kein Teppich; die Decke war niedrig, die Winkel der Tragebalken ließen darauf schließen, daß sich das Zim mer direkt unter dem Dach befand. Calandryll lag auf einer Decke, eine zweite war über ihm ausgebreitet. Von Bracht war nichts zu sehen. Er erschauderte, bereute die Ausschweifungen der vergangenen Nacht und noch mehr die Konfrontation mit seinem Vater, die ihm nach seiner Rückkehr in den Palast unweigerlich bevorstehen würde, und schob die Decke beiseite. Unter dem hellbraunen Wollstoff war er
nackt. Häßliche blaue Flecke verunzierten seinen Brust korb und die Oberschenkel. Sein Blick richtete sich auf den Waschtisch. Er betete, daß die Kanne, die dort stand, kühles sauberes Wasser enthielt, und richtete sich auf. Im gleichen Augenblick hatte er das Gefühl, daß sich Dolche zwischen seine Rippen bohrten und seine Beinmuskeln vor Qualen aufschrien. Er fiel schwer atmend zurück und drehte sich unbeholfen zur Seite, damit ihm das Licht nicht länger in die Augen stach. Es schien ihm das Klügs te, sie zu schließen, deshalb tat er das auch und schlief wieder ein. Als er erneut erwachte, war die Sonne weiter über den Himmel gewandert, und ihre Strahlen fielen nicht mehr durch das Fenster direkt in sein Gesicht. In seinem Kopf pochte es jedoch immer noch. Glühende Bänder schienen sich um seinen Körper gelegt zu haben, die bei jeder Bewegung protestierend knarrten. Sein Durst war noch schlimmer, seine Zunge pelzig und geschwollen in einem Mund, der anscheinend voller Sand war. Er biß die Zäh ne zusammen, spürte, daß sich zumindest einer gelockert hatte, und wälzte sich auf den Bauch herum. Die An strengung, sich auf Hände und Knie aufzurichten, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn; er bezweifelte, daß er aufstehen können würde. Seine Bauchmuskeln protes tierten, und als er den Rücken streckte, glaubte er, sein Rückgrat müsse brechen. Gebückt schlurfte er wie ein alter Mann auf den Waschtisch zu und ergriff die Kanne mit zitternden Händen. Das Wasser, das er in die Schüssel goß, war
lauwarm und abgestanden, aber er stürzte es hinunter, als würde sein Leben davon abhängen, füllte die Schüssel erneut und tauchte sein Gesicht hinein. Diese behelfsmäßige Morgentoilette machte seinen Kopf ein wenig klarer. Er ließ seinen Blick zum zweiten Mal durch das Zimmer wandern und fragte sich, wo seine Kleidungsstücke sein mochten. Schließlich fand er sie in dem Schränkchen, ordentlich zusammengelegt, wenn auch immer noch voller Wein- und Blutflecken. Seine tastenden Finger verrieten ihm, daß das einge trocknete Blut wahrscheinlich von seiner Nase und sei nen Lippen stammte, die sich geschwollen und wund anfühlten. Die Vorstellung, seinem Vater in diesem Zu stand unter die Augen zu treten, ließ ihn wieder er schaudern. Seufzend und unsicher, welcher Teil seines Körpers ihm am meisten weh tat, streifte er seine ver schmutzten Sachen über und stolperte zur Tür. Sie ging auf einen Gang mit niedriger Decke hinaus, der sich hufeisenförmig um drei Seiten des Gebäudes herumzog. Ein enges Treppenhaus führte zu den unteren Stockwerken. Calandryll stieg die Stufen hinab, wobei er sich mit beiden Händen am Geländer festhielt. Jeder Schritt sandte Schmerzwellen durch seinen Körper und seinen Kopf. Schließlich hatte er einen großen Flur er reicht, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte. Stimmen klangen hinter einer Tür auf. Er ging durch sie hindurch und betrat eine Küche. Der Geruch nach Essen verriet ihm, daß er hungrig war, und gleich zeitig wurde ihm davon übel. Er hielt sich am Türrahmen
fest und blinzelte. Eine große Frau, die das Haar in einem schmutzigweißen Turban hochgebunden hatte, deutete vorwurfsvoll mit einem Kochlöffel in seine Richtung. »Das Essen ist noch nicht fertig.« »Bracht?« gelang es ihm hervorzubringen. »Der Schwertkämpfer? Im Hof, mit seinen Spielzeugen beschäftigt.« Der Kochlöffel fuhr herum und zeigte zum anderen Ende des Flurs. Calandryll bedankte sich grunzend und schlurfte unbeholfen auf die offene Tür zu. Draußen schien hell die Sonne, ein erneuter Anschlag auf seinen schmerzenden Kopf. In der milden Luft lag der Geruch des herannahenden Frühlings und von Pfer deställen. Calandryll blieb stehen, hob eine Hand über die Augen, um sie gegen das blendende Sonnenlicht abzuschirmen, und stellte fest, daß sie zitterte. Kraftlos lehnte er sich an den Türrahmen und spähte auf einen kopfsteingepflasterten Hof hinaus. Vom anderen Ende starrten Pferde aus ihren Boxen gleichgültig zu ihm zu rück, leere Fässer waren an einer der hohen Mauern aufgestapelt. Bracht stand allein in der Mitte des Hofes. Das Krummschwert hatte er ausgestreckt. Die gebogene Klinge schimmerte im Sonnenlicht. Sein Oberkörper war nackt, ein Schweißfilm glänzte auf seiner dunklen Haut. Muskelstränge traten auf seinen Schultern und seinem Rücken hervor, als er eine Reihe von geschmeidigen, fast tänzerischen Schritten ausführte und mit dem Schwert
gegen einen unsichtbaren Gegner antäuschte, zustieß und einen Gegenschlag abwehrte. Er wirbelte herum, brachte einen waagerechten Hieb an und bemerkte dabei, daß er beobachtet wurde. »Calandryll!« Ihm schien gar nicht bewußt zu werden, daß er das Schwert in eine Abwehrhaltung brachte, als er die Begrüßung rief. »Du bist also endlich wach.« Calandryll nickte, und Bracht ließ das Schwert sinken. Er schob es grinsend in die Scheide zurück. »Wie geht es dir?« »Grauenhaft.« Calandryll brachte ein schwaches Grin sen zustande, und als der andere auf ihn zukam, ent deckte er eine Reihe heller Narben auf dessen Rippen und Brust. »Mein Kopf dröhnt, und mein Körper fühlt sich furchtbar an.« »Du bist übel verprügelt worden, und ich schätze, daß du nicht allzuviel Alkohol verträgst«, sagte Bracht lä chelnd, ging zu einer Tonne und bespritzte sich Gesicht und Oberkörper mit Wasser. »Aber du hast dir nichts gebrochen, deine Blessuren werden heilen.« Er nahm einen Stofffetzen, der neben der Tonne lag, trocknete sich ab und zog das Hemd an. Calandryll wartete. Er war ein wenig verstimmt, daß sein Retter überhaupt kein Mitge fühl zeigte. Bracht schnürte sein Hemd zu, näherte sich dem jüngeren Mann und musterte ihn kritisch. »Wenn dir ein Heiler etwas Salbe für deine Prellungen und Abschürfungen besorgt, wirst du dich in einer Wo che oder so wieder selbst erkennen können.«
Calandryll erschrak. »In einer Woche? Wie sehe ich denn jetzt aus?« »Als hätten dich ein paar betrunkene Matrosen als Fußball benutzt. Bis dein Mund verheilt ist, wirst du keine Mädchen mehr küssen können, obwohl ich sowieso bezweifle, daß irgendeins bei einem solchen Gesicht etwas mit dir zu tun haben wollte.« »Dera steh mir bei!« stöhnte Calandryll. »Das geht vorüber«, meinte Bracht mit einem verhal tenen Lachen. »Mein Vater wird mir das Fell über die Ohren ziehen«, murmelte Calandryll. »Er wird mich bewachen lassen! Ich werde überhaupt nicht mehr aus dem Palast heraus kommen!« »Aus dem Palast?« Neugier blitzte in den blauen Au gen auf. »Du hast gestern nacht schon etwas vom Palast gesagt. Wer bist du?« »Calandryll den Karynth, der Sohn von Bylath.« »Des Domms?« Bracht stieß einen Pfiff aus. »Dann war das also keine bloße Aufschneiderei?« Calandryll schüttelte den Kopf und stöhnte wieder, als er unsanft daran erinnert wurde, wie sehr diese Bewe gung schmerzte. »Nein«, sagte er, »mein Vater ist der Domm von Secca, und ich stecke in großen Schwierigkei ten.« »Ich vermute da eine interessante Geschichte.« Bracht deutete mit dem Finger in Richtung des breiten Flurs.
»Und Geschichten lassen sich am besten mit vollem Ma gen und bei einem Krug Bier erzählen.« »Ich kann nichts runterbringen«, widersprach Ca landryll, »und Bier … ahh.« Bracht überging den Einwand, legte ihm eine Hand auf die Schulter und dirigierte ihn in das Gasthaus zu rück, durch den Flur in einen geräumigen Speisesaal. »Vertrau mir«, meinte er, »ich schätze, ich habe in diesen Dingen mehr Erfahrung als du.« Calandryll ließ sich von ihm auf einen bequemen Stuhl drücken und sah zu, wie der Mann zu der Durchreiche ging. Das Gasthaus war sauberer als die Schenke von letzter Nacht. Das frisch auf den Boden gestreute Säge mehl roch nach Kiefernharz, und die Fenster waren ge öffnet, um den schwachen Duft des sprießenden Geiß blattes und der Ranken hereinzulassen, die sich über die Außenwand zogen. An den Holztischen saßen ein paar Frauen und Männer, die ihn nach einer anfänglichen Musterung nicht weiter beachteten. Bracht kehrte mit zwei Krügen zurück, der eine mit einer Bierschaumkrone, der andere enthielt eine dunkle Flüssigkeit. »Trink.« Er deutete auf den zweiten Krug. »Das wird dir einen klaren Kopf machen.« Calandryll hatte so seine Zweifel, aber als er an dem bitteren Getränk nippte, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß es angenehm schmeckte, das Dröhnen in seinen Kopf abebben ließ und die Übelkeit in seinem Magen
linderte. Bracht nahm einen großzügigen Schluck von seinem Bier, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Also, erzähl mir die Geschichte.« Calandryll hatte das Gefühl, daß er dem Schwert kämpfer zumindest das schuldig war, und irgend etwas an dem Mann war vertrauenerweckend. Er begann zu erzählen, nippte hin und wieder an seinem Getränk und berichtete von den Ereignissen, die ihn in das Matrosen viertel geführt hatten. Als er geendet hatte, stand Bracht auf und holte zwei weitere Krüge, denen bald zwei Schüsseln mit Eintopf folgten. Calandryll stellte fest, daß sein Appetit stärker als sei ne Übelkeit war. Außerdem schmeckte der Eintopf gut und trug dazu bei, seinen Magen weiter zu beruhigen. »Du hast ein Problem«, stellte Bracht ungerührt fest. »Was willst du dagegen unternehmen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Calandryll trübsinnig. »Dann solltest du dir am besten etwas einfallen lassen. Wenn Nadama für dich verloren ist und du nicht den Wunsch verspürst, Priester zu werden, solltest du dir etwas anderes überlegen.« »Wenn ich aus Secca fliehe – wenn mir das überhaupt gelingen sollte –, würde Tobias wahrscheinlich die Chai paku anheuern, um mich zur Strecke zu bringen.« Brachts Antwort ließ überhaupt kein Mitgefühl erken
nen, als wäre die Aussicht auf eine solche Gefahr etwas, das er als selbstverständlich betrachtete. »Das Leben in Lysse ist kompliziert, mein Freund. In Cuan na'For lau fen die Dinge einfacher.« »Cuan na'For?« Calandryll starrte den Mann an. Jetzt war seine Neugier geweckt und siegte über sein Selbst mitleid. »Bei uns heißt deine Heimat Kern. Gehörst du den Pferde-Clans an?« »Früher einmal. Ich bin von Geburt Asyther. Ich habe meinen Clan verlassen, weil…« Für einen kurzen Mo ment legte sich ein Schatten über Brachts blaue Augen und sein Gesicht. »Ich hatte meine Gründe.« Er verstummte, und Calandryll erkannte, daß er nicht über diese Gründe sprechen wollte. Egal, es war schon aufregend genug, überhaupt einen Kerner zu treffen. Das Land im Norden stellte größtenteils ein Geheimnis dar. Die Kontakte der Pferde-Clans mit Lysse beschränkten sich auf den Handel mit den Tieren, die die Kerner zu den Märkten von Gannshold oder Forshold trieben. »Wie bist du hierher gekommen?« wollte er wissen. Bracht zuckte die Achseln. »Ich wollte unbedingt die Welt kennenlernen, also habe ich ein paar Pferde gestoh len und sie in Forshold verkauft. Unglücklicherweise waren mir die Besitzer der Tiere auf den Fersen. Ich hatte die Wahl, in der eingeschlagenen Richtung weiterzuzie hen, oder mich dreißig wütenden Kriegern zu stellen, deshalb erschien es mir klüger, mein Geld einzustecken und durch Lysse zu reisen. Aber hier geht einem das
Geld ziemlich schnell aus. Ich bin in die Dienste eines Kaufmanns getreten und so nach Secca gekommen.« »Du bist ein Söldner«, murmelte Calandryll fasziniert. Bracht nickte. »Ich vermiete mein Schwert. Allerdings habe ich im Augenblick keine Angebote.« »Vielleicht…« Calandryll ging eine Idee durch den Kopf. »Vielleicht könnte mein Vater eine Aufgabe für dich finden.« »In der Palastwache?« Bracht grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, aber ich habe nichts für Zeremonien übrig, und es gefällt mir noch weniger, Be fehle auszuführen.« »Was wirst du dann tun?« fragte Calandryll. »Irgend etwas wird sich schon finden.« Bracht wischte den letzten Rest seines Eintopfs mit einem Stück Brot auf. »Wenn nicht hier, dann vielleicht in Aldarin oder in Wessyl. Vielleicht werde ich auch weiter nach Eyl zie hen.« »Varent hat gesagt, daß ich die Bibliothek von Aldarin besuchen sollte.« Calandryll blickte kurz auf, als eine Frau eine Schale mit Früchten vor ihnen abstellte und die leeren Teller wegräumte. Rebas Prophezeiung ging ihm wieder durch den Kopf. »Vielleicht könnten wir gemein sam dorthin reisen.« »Würde dein Vater das erlauben?« Der nüchterne Hinweis versetzte Calandrylls auf kommender Zuversicht einen Dämpfer, und er spürte,
wie seine Niedergeschlagenheit plötzlich zurückkehrte. Aldarin war weit weg von Nadama. Aber er hatte sie sowieso verloren, machte er sich eindringlich klar. Außer der trostlosen Zukunft, die sein Vater für ihn vorgesehen hatte, gab es nichts, was ihn an Secca band. Wenn Bracht frei reisen konnte, warum dann nicht auch er? »Ich könnte davonlaufen«, sagte er trotzig. »Wirklich?« Der Tonfall des Kerners verriet, daß er daran zweifel te, und Calandryll starrte seinen neu gewonnenen Freund an. »Wieso nicht?« »Du scheinst mir ungeeignet für ein abenteuerliches Leben«, erklärte Bracht unverblümt. »Ich bin gesund. Ich könnte eine Anstellung finden.« »Als was?« »Als…« Calandryll verstummte und runzelte die Stirn. »… vielleicht als Lehrer. Oder als Archivar.« »Ich verstehe nichts von solchen Dingen.« Bracht zuckte gleichmütig die Achseln. »Ich kann weder schrei ben noch lesen, aber ich glaube, daß ein Mann des Schwertes bessere Aussichten auf dem Markt hat.« »Du bist arbeitslos«, warf Calandryll ein. Es ärgerte ihn, mit welcher Geringschätzung der Kerner seine Fä higkeiten abtat. Bracht war keineswegs beleidigt. Statt dessen hob er die Schultern und sagte: »Im Augenblick. Das wird sich ändern.«
»Ich könnte etwas unternehmen.« »Zweifellos. Aber selbst in Lysse sind die Straßen ge fährlich, und du bist kein Kämpfer.« Die Antwort klang in Calandrylls Ohren herablassend. Er fühlte sich in seinem jugendlichen Stolz verletzt. Nahm ihn denn niemand ernst? »Ich glaube, Varent würde mir helfen«, sagte er. »Ist Varent nicht ein Gast deines Vaters? Angenom men, er wäre bereit, das Risiko einzugehen, deinen Vater vor den Kopf zu stoßen, wie willst du dich an ihn wen den, ohne vorher in den Palast zurückzukehren? Und wenn du das tust … hast du nicht selbst gesagt, daß dein Vater dich dort einsperren würde?« Die Worte waren realistisch genug, um Calandryll so fort auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Für einen kurzen Augenblick hatte er einen möglichen Aus weg aus seinem Unglück gesehen, aber Brachts schlichte Bemerkung hatte diese Lösung zunichte gemacht. »Da ist Rebas Prophezeiung«, sagte er verärgert. »Sie hat von einer Reise gesprochen … einer Suche.« »Ach, ja«, meinte Bracht. »Die Wahrsagerin.« »Du glaubst ihr nicht?« »Ich ziehe es vor, mich auf mein Schwert zu verlas sen«, erklärte der Kerner. »Ich habe die Erfahrung ge macht, daß die Wege, die ein Wahrsager aufzeigt, für meinen Geschmack etwas zu kompliziert sind.« »Vielleicht«, sagte Calandryll, der Bracht mit neu er
wachtem Interesse musterte, »bist du derjenige, von dem sie gesprochen hat.« »Nein!« Bracht hob abwehrend die Hände. »Ich bin ein freier und ungebundener Söldner, kein Lehrmeister von Grünschnäbeln. Mir geht es um eine ehrliche Anstellung, nicht um eine unbestimmte Suche nach irgend etwas Unfaßbarem. Ich werde dich sicher in den Palast zurück bringen, aber dort trennen sich unsere Wege.« »Wie du willst«, sagte Calandryll steif. Ihm kam der unangenehme Gedanke, daß sich der Kerner möglicher weise über ihn lustig machte. »Begleite mich bis zu den Toren, und ich werde dafür sorgen, daß du für deine Mühe entschädigt wirst. Sind zehn Varre genug?« »Mehr als genug.« Anscheinend fühlte sich Bracht nicht beleidigt. Warum sollte er auch? überlegte Calandryll. Schließlich war er ein Söldner. Er hatte ihn zweifellos aus einer bloßen Laune heraus gerettet, vielleicht hatte er aber auch eine mögliche Belohnung vorausgesehen. Höchstwahrschein lich war das und nichts anderes der Grund für sein Ein greifen gewesen, keine schicksalhafte Begegnung, nur die natürliche Reaktion eines käuflichen Schwertkämpfers auf eine günstige Gelegenheit. »Dann sollten wir uns jetzt wahrscheinlich auf den Weg machen«, sagte Calandryll enttäuscht. Bracht nickte, und sie standen auf. Calandryll fühlte sich wieder schwermütig. Wenn es nicht der Kerner war, den ihm Reba prophezeit hatte, dann war vielleicht Va
rent derjenige, den sie gemeint hatte. Er beschloß, in den Palast zurückzukehren und sich Bylaths Zorn zu stellen, aber danach würde er den Botschafter ansprechen. Er war sich nur einer Sache ganz sicher, und das war die Abneigung, die er bei der Vorstellung verspürte, in den Priesterstand einzutreten. Humpelnd folgte er Bracht hinaus auf die Straße. Sie befanden sich in einem ihm unbekannten Stadt viertel, und er folgte dem Kerner in verdrossenem Schweigen durch ein Labyrinth von Seitenstraßen und Gassen. Bracht schritt zielstrebig aus – wahrscheinlich in Gedanken bereits bei seiner Belohnung, dachte Ca landryll. Sie durchquerten einen Ausläufer des Händler viertels und betraten eine breitere Straße voller Freuden häuser. Beim Anblick der anzüglichen Schilder, die über den Türen hingen, fiel Calandryll wieder das Flittchen aus der Schenke ein. Die Erinnerung ließ ihn das Gesicht verziehen, und er preßte voller Abscheu seine zerschlagenen Lippen zu sammen. Wenn Bracht solche billigen Etablissements aufsuchte, sah er in Calandryll zweifellos nicht mehr als einen verweichlichten Jungen, den verwöhnten Sohn des Domms. Es war dumm von ihm gewesen zu glauben, er könnte der Kamerad sein, den Reba für ihn vorhergese hen hatte. Plötzlich wurde er durch einen Ruf aus seinen düste ren Grübeleien gerissen, und als er aufblickte, sah er einen Trupp Wachen auf sie zukommen. Sie waren zu
fünft. Auf den Umhängen, die sie über den Kettenhem den trugen, prangte das Wappen von Secca. An ihren Hüften hingen Schwerter, und die Hellebarden mit den geschwungenen Spitzen hatten sie auf die Schultern gelegt. Der Offizier schrie erneut etwas Unverständli ches, und jetzt erkannte Calandryll, daß der Ruf Bracht galt. Der Söldner hielt an, Calandryll blieb neben ihm stehen. Auf beiden Seiten der breiten Straße verharrten die Passanten, um zuzusehen. Frauen beugten sich über die Balkone und beobachteten müßig das Geschehen unter sich. Die Wachen kamen näher und bauten sich vor den beiden auf. Sie hielten die Hellebarden jetzt im Anschlag. Der Hauptmann trat mit strengem Gesicht vor. »Lord Calandryll? Dera sei gepriesen, daß wir Euch gefunden haben! Überall in der Stadt sind Suchtrupps unterwegs, die nach Euch Ausschau halten.« Es machte Calandryll verlegen, so viel Aufmerksam keit zu erregen. Er sah, daß die Leute mit den Fingern auf ihn zeigten, und hörte eine Frau rufen: »Soll ich deine blauen Flecken versorgen, Süßer?« Er spürte, wie er errö tete. »Was ist Euch zugestoßen?« erkundigte sich der Wachhauptmann. »Hat Euch dieser Halunke so zugerich tet?« Calandryll wollte gerade widersprechen, aber Bracht, sichtlich verärgert über die unbegründete Anschuldi
gung, kam ihm zuvor. »Ihr habt eine flinke Zunge.« »Haltet die Eure im Zaum«, erwiderte der Offizier barsch. »Ich rede mit Lord Calandryll.« »Er hat mich gerettet«, mischte sich Calandryll ein, als er sah, wie die Hand des Kerners auf seinen Schwertgriff sank. »Er hat mich aus einer Schlägerei gerettet.« Der Wachhauptmann musterte Bracht herausfordernd. »Ein Söldner, was? Was bist du, ein Pferdehirt?« »Ich bin Kerner«, gab Bracht verkniffen zurück. »Ja.« Der Offizier grunzte. »Schön, der junge Herr ist jetzt in Sicherheit. Du kannst ihn uns überlassen.« »Da ist noch eine Angelegenheit von zehn Varre zu klären«, sagte Bracht. »Ein Söldner«, wiederholte der Hauptmann, und diesmal sprach er das Wort voller Verachtung aus. »Und du willst dein Geld, was?« »Ja«, sagte Bracht. »Reicht es dir nicht, daß du die Ehre hattest, den Sohn des Domms retten zu dürfen?« fragte der Wachoffizier. Brachts Antwort bestand aus einem Achselzucken. »Ich habe es ihm versprochen«, erklärte Calandryll. »Er hat mir das Leben gerettet.« »Ich habe Befehl, Euch in den Palast zu bringen«, sagte der Hauptmann. »Es war keine Rede davon, einen Söld ner aus Kern zu bezahlen.« »Er kann uns begleiten«, entschied Calandryll. Dann
wandte er sich Bracht zu. »Komm mit zum Palast, und ich werde dafür sorgen, daß du dein Geld bekommst.« »In Ordnung«, erklärte sich der Kerner einverstanden. Calandryll hatte gehofft, unbemerkt in den Palast schlüpfen und wenigstens seine blut- und weinbesudelte Kleidung wechseln zu können, bevor er mit seinem Vater zusammentraf, aber es sollte nicht sein. Der Wach hauptmann marschierte mit seinem Trupp entschlossen bis zum Tor und kündigte dem Offizier der Palastgarde, der dort seinen Dienst versah, lautstark seinen Schutzbe fohlenen an. Calandryll fand sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Wachen wieder, deren Gesichter unbewegt und diszipliniert blieben, aber die Belustigung in ihren Augen war unübersehbar. Der diensthabende Offizier betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und starrte dann Bracht an. Seine gehobenen Brauen waren Frage genug. »Ich schulde ihm Geld«, murmelte Calandryll. »Er hat mir das Leben gerettet.« Bracht grinste den Offizier an, der nickte und sagte: »Würdet Ihr mir bitte folgen, Lord Calandryll?« »Ich brauche frische Kleidung«, erklärte Calandryll. »Ich habe Befehl, Euch direkt zu Eurem Vater zu brin gen«, erwiderte der Offizier. Er fuhr herum und bellte Befehle, worauf ein Trupp von fünf Soldaten erschien, eine unwillkommene Ehreneskorte, die Calandryll keine andere Wahl ließ, als sich von ihr in die Palasträume geleiten zu lassen.
Er wurde in einen Saal gebracht und dort allein gelas sen, um auf den Domm zu warten. Bracht betrachtete den Raum mit mäßigem Interesse, als wären ihm die Paläste von Lysse ebenso vertraut wie die Schenken. Als Bylath in Begleitung von Tobias eintrat, drehte er sich ohne eine Geste der Ehrerbietung um. Ärger zeichnete sich auf dem Gesicht des Domms ab, das dunkelrot an lief, während er seinen jüngeren Sohn und dessen uner warteten Begleiter musterte. Tobias schien belustigt zu sein. »Wer, in Deras Namen, ist das?« Mühsam unterdrückte Wut schwang in seiner Stimme mit. Calandryll spürte, wie ihm der Kopf wieder weh zu tun begann, und leckte sich die Lippen, aber bevor er ein Wort hervorbringen konnte, sagte der Söldner: »Ich heiße Bracht, Krieger vom Clan der Asyther aus Cuan na'For. Euer Sohn schuldet mir zehn Varre.« »Ein Söldner aus Kern?« Tobias lachte geringschätzig. »Treibst du dich jetzt mit barbarischen Halsabschneidern herum, Calandryll?« Bracht versteifte sich, seine blauen Augen richteten sich starr auf Tobias' Gesicht. Calandryll fürchtete, er könne irgendeine Beleidigung erwidern, und fuhr hastig dazwischen: »Er hat mir das Leben gerettet! Sie haben mich zusammengeschlagen, und er hat sie davon ab gehalten. Er hat mir eine Unterkunft für die Nacht be sorgt, und ich habe ihm zehn Varre versprochen.« »Du bewertest dein Leben ziemlich gering«, sagte To
bias. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Bylath brach te ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen und starrte den Kerner finster an. »Ist das wahr?« Bracht nickte. Bylath klatschte in die Hände. Eine Tür wurde geöffnet, und ein Diener mit ausdruckslosem Gesicht trat ein. »Zehn Varre«, knurrte der Domm. »Beeil dich!« Der Diener verschwand, und die vier Männer standen schweigend da. Nur Bracht wirkte entspannt, als würde ihn die Anwesenheit dieser illustren Persönlichkeiten nicht im geringsten beeindrucken. Calandryll trat von einem Fuß auf den anderen und betastete nervös seinen lockeren Zahn. Der Diener kehrte mit einem kleinen Geldbeutel zurück; Bylath deutete auf Bracht, und die Münzen wechselten den Besitzer. »Ich danke«, sagte der Kerner und deutete eine Ver beugung an. »Danke für Eure Dienste«, grollte Bylath. »Ihr könnt gehen.« Bracht warf Calandryll einen kurzen Blick zu und lä chelte. »Leb wohl, Calandryll.« »Leb wohl«, erwiderte der Jüngere. »Und vielen Dank für alles.« Der Kerner nickte und folgte dem wartenden Diener zur Tür. Calandryll zog den Kopf zwischen die Schultern und wappnete sich gegen den Wutausbruch seines Va
ters. Er mußte nicht lange warten. »Du«, begann Bylath, und jedes Wort war wie ein Peitschenschlag, »bist der Sohn des Domms von Secca. Du hast eine Stellung in der Gesellschaft. Man erwartet von dir, ein Vorbild zu sein. Du hast Pflichten. Die wich tigste dieser Pflichten ist der Gehorsam. Ohne Gehorsam gäbe es nur Chaos. Zu diesem Gehorsam gehört auch die Einhaltung des Protokolls. Aber anscheinend ziehst du es vor, diesen Teil deiner Verpflichtungen zu ignorieren. Du bist zu einem Bankett geladen worden, das aus zweierlei Gründen von großer Bedeutung war, zum einen, um unser Abkommen mit Aldarin zu feiern, und zum ande ren, um der Verlobung deines Bruders die Ehre zu erwei sen. Du aber hast dich dafür entschieden, sowohl unsere Gäste als auch deine Familie zu beleidigen!« Er unterbrach seine Tirade und schnaubte, als würde der Zorn ihm die Zunge lähmen. Tobias stand selbstge fällig neben ihm und genoß das Unbehagen seines Bru ders. Calandryll verharrte schweigend, verängstigt und gereizt zugleich. »Du hast Nadama beleidigt, die eines Tages Domme sein wird«, fuhr Bylath fort. »Du hast ihre Familie belei digt. Fehlt dir jegliche Loyalität? Hast du keinerlei Re spekt?« Er wartete eine Weile, aber als Calandryll nicht ant wortete, tobte er weiter. »Du enttäuschst mich, Junge. Ich habe es schon vor langem aufgegeben, irgendwelche
Erwartungen in dich zu setzen. Dera weiß, was für ein Nichtsnutz du bist! Du bist kein Krieger und zeigst kein Interesse an der Staatsführung, aber in diesen Dingen – der Gottheit sei Dank! – kann ich mich auf deinen Bruder verlassen. Zumindest erwarte ich jedoch von dir keine Beleidigungen! Wenn du den Befehl erhältst, zu einem Bankett zu erscheinen, dann erwarte ich von dir, auch dort zu bleiben. Ich möchte nicht, daß du einfach ver schwindest. Oder daß du zurückkommst und aussiehst wie ein … ein…« »Wie ein gewöhnlicher Raufbold?« schlug Tobias vor. Dann lachte er leise und fügte hinzu: »Obwohl Ca landryll kaum der Typ ist, der einen Kampf sucht.« »Was ist passiert? Wo warst du?« brüllte Bylath. »Wer war dieser Söldner? Ziehst du die Gesellschaft von vaga bundierenden Schwertkämpfern der unseren vor?« Calandryll erkannte, daß sein Vater auf eine Antwort wartete. Er leckte sich die Lippen. »Ich bin ins Matrosenviertel gegangen«, sagte er. »Ich war in einer Schenke, und als die Leute dort herausge funden haben, daß ich kein Geld hatte, haben sie mich verprügelt. Bracht hat sie aufgehalten. Er…« »Was, in Deras Namen, hast du dir dabei gedacht, ins Matrosenviertel zu gehen?« unterbrach ihn Bylath. Die Vorstellung, daß sein Sohn sich unter das gemeine Volk mischte, fachte seine Wut von neuem an. »Ich war…« Calandryll stockte. Es widerstrebte ihm, seine wahren Gründe darzulegen, Tobias auch noch
diese Genugtuung zu geben und seinen Besuch bei Reba zu gestehen. »Ich war … durcheinander.« »Bei allen Göttern!« explodierte Bylath. »Du warst durcheinander? Mein Sohn hat mich beleidigt, weil er durcheinander war?« Er trat einen Schritt näher, und einen Augenblick lang dachte Calandryll, er würde zuschlagen. Statt dessen wurde seine Stimme bedrohlich leise. »Was hat dich durcheinander gebracht, Junge?« Die Art, wie er mit ihm redete, war demütigend. Tobi as' Grinsen war demütigend. Calandryll zuckte die Ach seln. Bylath hob die Hand und ließ sie wieder sinken, als Calandryll instinktiv einen Schritt zurückwich. »Was hat dich durcheinander gebracht, Junge?« »Ich liebe Nadama«, brach es aus Calandryll hervor. Sein Vater starrte ihn verblüfft an, sein Gesicht wurde dunkelrot. Tobias lachte laut auf. »Was?« fragte Bylath, als wäre die Vorstellung unfaß bar. »Ich liebe Nadama. Ich habe gedacht…« »Sie wird deinen Bruder heiraten.« Bylath schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich liebe sie trotzdem.« »Was haben deine Gefühle damit zu tun?« fragte By lath, und irgendwie traf diese kalte Frage Calandryll tiefer als der Zorn seines Vaters. Er starrte ihn wortlos an. »Du wirst das Priesteramt übernehmen.« »Nein.«
Er war überrascht, sich das sagen zu hören, fast so ü berrascht wie sein Vater. »Nein? Was, du sagst nein?« »Ich will nicht Priester werden.« Jetzt brachen die Worte wie eine Sturzflut aus ihm hervor. Die Angst wur de von seiner Wut davongespült, von der Ungerechtig keit, der Gefühllosigkeit seines Vaters und Tobias' spötti schem Grinsen. »Ich fühle keine Berufung. Warum muß ich Priester werden? Ich möchte lernen. Warum darf ich nicht lernen? Warum soll ich im Zölibat leben? Ich möch te…« Bylaths Hand fuhr dazwischen, schnitt ihm die Worte ab, ließ Calandryll zur Seite taumeln und aufschreien, als der Schlag seine wunden Lippen heftig gegen seine Zäh ne quetschte. In diesem Augenblick zerbrach etwas in ihm, nicht körperlich, und im ersten Augenblick wußte er nicht einmal, was genau der Schlag in ihm hatte zer brechen lassen und was dadurch in ihm gestärkt worden war. Er spürte, wie ihm gegen seinen Willen Tränen in die Augen traten und hörte undeutlich durch das Klin geln in seinen Ohren Tobias beiläufig sagen: »Er weint. Armer kleiner Bruder.« »Was du willst, hat mit der ganzen Angelegenheit nicht das geringste zu tun«, schnaubte Bylath. »Du wirst mir gehorchen. Hast du das verstanden, Junge? Du wirst mir gehorchen!« Calandryll schüttelte den Kopf, nicht so sehr als Reak tion auf die Forderung seines Vaters, sondern aus Empö
rung und in dem Versuch, die Tränen zu vertreiben. Dann keuchte er auf, als sein Vater ihn an seinem schmutzigen Hemd packte, ihn hochriß und so dicht zu sich heranzog, daß Speicheltröpfchen in seinem Gesicht landeten. »Du wirst mir gehorchen«, wiederholte der Domm. »Und ich sage, daß du Priester werden wirst.« Er ließ ihn los, und Calandryll taumelte zurück. »Ende der Diskussion. Es gibt nichts mehr dazu zu sa gen. Du wirst gehorchen. Geh jetzt in deine Zimmer und bleib dort, bis ich dich rufen lasse.« Calandryll blickte ihn eine Weile reglos an, drehte sich dann um und stolperte mit hängenden Schultern zur Tür. Er hatte salzigen Blutgeschmack im Mund. Kurz bevor er den Raum verlassen hatte, hörte er Bylath noch sagen: »Dera sei Dank, daß du der Erstgeborene bist«, und das letzte, was er vernahm, war Tobias' leises, zustimmendes Lachen. Den Weg zu seinen Gemächern legte er mit gesenktem Kopf zurück und ignorierte die neugierigen Blicke der Diener und Wachen. Er wollte nur noch allein sein. In seinem Zimmer angekommen, zog er an der Klingel schnur und ließ sich auf sein Bett fallen. Dem herbeiei lenden Diener trug er auf, ihm ein Bad vorzubereiten und eine Heilerin kommen zu lassen, dann zog er seine verschmutzte Kleidung aus. Draußen dämmerte der Tag dem Abend entgegen. Vom Ostmeer zogen Wolken auf.
Ihr düsteres Grau paßte zu seiner Stimmung. Als die Heilerin erschien, saß er in der Badewanne. Er stieg ungelenkig heraus, um sich von ihr behandeln zu lassen, zuckte zusammen, als sie mit betont gleichmüti ger Miene seine Rippen betastete und seinen zerschlage nen Mund untersuchte. Ihm wurde bewußt, daß mittler weile der ganze Palast von seiner Demütigung erfahren haben mußte. Die Frau legte ihre Hände auf seine Prellungen, Quet schungen und Abschürfungen. Ihre brauen Augen nah men den ausdruckslosen, starren Blick völliger Konzent ration an, während sie leise vor sich hin murmelte und die Schmerzen aus ihm herauszog, bis er nur noch leich te, vernachlässigbare Nachwirkungen verspürte. Sie trug eine Salbe auf, wickelte einen mit einer duftenden Lö sung getränkten Verband um seinen Oberkörper und riet ihm, in den nächsten Tagen größere Anstrengungen zu vermeiden. Nachdem sie gegangen war, schlüpfte er in ein Hemd und eine Hose, ließ sich mit Mediths Die Ge schichte Lysses und der Welt in einen Sessel nieder und legte das Buch aufgeschlagen in seinen Schoß. Müßig blätterte er die Seiten um. Das Durcheinander in seinen Gedanken dämpfte sein Interesse. Wenn er seinem Vater gehorchte, war er zum klösterlichen Leben eines Priesters verdammt, zu einem Leben im Zölibat, das von Ritualen bestimmt wurde, und seine Studien würden sich auf die religiösen Texte beschränken, die die Vorschriften gestatten. Was würde geschehen, wenn er
nicht gehorchte? Wenn Reba die Wahrheit gesagt hatte, lagen eine Reise und eine Suche vor ihm. Doch mit wel chem Ziel? Und wer würde ihn begleiten? Die Wahrsage rin hatte von Gefährten gesprochen, und eine Weile hatte er geglaubt, Bracht wäre derjenige, den sie gemeint hatte, aber der Kerner hatte sich lediglich für die versprochene Belohnung interessiert. Also doch Varent? Handelte es sich bei der Prophezeiung um den Botschafter von Alda rin? Dort könnte er – unter Umständen – in Sicherheit sein. Aber Aldarin war nicht allzuweit entfernt, wie Reba selbst gesagt hatte, und würde es Varent riskieren, das Bündnis aufs Spiel zu setzen und sich Bylaths Zorn zu zuziehen, indem er Calandryll half? Es schien eher un wahrscheinlich. Vielleicht waren Brachts Zweifel doch begründet gewesen. Nein! Das würde er nicht akzeptieren; er hatte die Wahl zwischen Kapitulation und Freiheit. Das Problem war nur, den Weg zu finden, den die Wahrsagerin vor hergesehen hatte, die ersten Schritte auf diesem Pfad zu machen. Aber wie? Darauf wußte er keine Antwort. Er klappte das Buch zu, legte es beiseite, stand auf und humpelte zum Fens ter. Die Abenddämmerung senkte sich herab, Fledermäu se huschten über die Palastmauern, flüchtige Schemen in der Dunkelheit. Die Wolken waren dichter geworden. Der Wind, der raschelnd durch das Gebüsch unten im
Garten fuhr, türmte sie zu hohen Säulen auf, deren Un terseiten vom zunehmenden Mond in silbriges Licht getaucht wurden. Calandryll erschauderte bei dem Ge danken, daß er sich offen seinem Vater widersetzen muß te, wenn er seinen Weg finden wollte. Daß dieser Unge horsam gleichbedeutend mit seiner Verbannung aus Secca war und zum Verlust von allem führen würde, was er kannte, von Sicherheit und Vertrautem. Es war ein gewaltiger Schritt, und das machte ihm angst. Als ein Klopfen an der Tür den Diener ankündigte, der gekommen war, um die Lampen in seinen Gemächern anzuzünden, trat er vom Fenster zurück und rief ihn hinein. Noch einer, davon war er überzeugt, der von Bylaths Zorn und allen anderen Ereignissen des Tages wußte. Er sah zu, wie der Mann die Lampen entzündete, und fragte sich, ob der Diener heimlich über ihn lachte, oder ob sich hinter seinen sanftmütigen Gesichtszügen Mitgefühl verbarg. Der Diener verschwand, ohne eine Bemerkung gemacht zu haben. Calandryll, der ihm hin terhersah, ging ein anderer Gedanke durch den Kopf. Hatte sein Vater vielleicht vor, ihn noch weiter zu demü tigen, indem er ihm das Abendessen verweigerte? Diese Vorstellung ließ seinen Ärger wie bei einem trotzigen Kind erneut aufflammen. Er würde die Rolle, die ihm aufgezwungen werden sollte, nicht akzeptieren! Er würde den Weg einschlagen, den Reba ihm gezeigt hatte! Er füllte eine Schale mit Wasser und nippte langsam daran, während er in seinen Gemächern umherwanderte, mittlerweile fest entschlossen zu rebellieren, aber immer
noch nicht klüger, was sein Vorgehen betraf. Erst als Diener mit Abendessen und Wein erschienen, brach er seine Wanderung ab. Sie vermieden es, ihm in die Augen zu sehen, stellten das Essen ab und ver schwanden ohne ein Wort wieder. Als sie sein Zimmer verließen, sah Calandryll draußen auf dem Korridor zwei Wachen stehen. Er näherte sich der Tür. Sofort bauten sich die Wachen vor ihm auf und ver sperrten ihm den Ausgang. Es waren bullige Männer mit breiten Schultern unter den Brustplatten, die den ganzen Durchgang ausfüllten. Calandryll blieb stehen und starr te sie an. »Ich möchte gehen.« »Verzeiht, Lord Calandryll, aber Ihr sollt hierblieben. Der Domm hat es so befohlen.« Der größere der beiden hatte gesprochen, wobei er sich nach Kräften bemühte, seiner Stimme einen neutra len Tonfall zu verleihen. Calandryll ballte hilflos die Hände zu Fäusten. »Was?« »Der Domm hat befohlen, daß Ihr in Euren Gemä chern bleiben sollt. Wir haben Anweisung, die Tür zu bewachen.« Die demütigende Situation ließ Calandryll erbleichen. Er knirschte mit den Zähnen und zuckte zusammen, als sich ihm ein Schmerzpfeil in den Kiefer bohrte. »Es ist mir nicht gestattet, meine Zimmer zu verlassen?« erkun digte er sich mit heiserer Stimme.
»Der Domm hat befohlen, daß Ihr in Euren Gemä chern bleiben sollt«, wiederholte der Wächter auswei chend. Zumindest besaß er den Anstand, dabei einen beschämten Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Uns wurde aufgetragen, dafür zu sorgen, daß Ihr dieser Anordnung Folge leistet.« Calandryll schlug die Tür mit Wucht zu; es war alles, was ihm dazu einfiel. Wie ein Kind, dachte er. Mein Vater sperrt mich in meinen Zimmern ein, als wäre ich ein kleines Kind. Er stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, und vielleicht hätte er tatsächlich geweint, wäre die Wut, die seinen Entschluß zur Rebellion bestärkte, nicht größer als seine Enttäuschung gewesen. Er ging zu den Fenstertüren hinüber, warf sie auf und trat auf den Balkon hinaus. Es war nur ein kurzer Sprung hinunter in den Garten, und von dort aus würde er einen Weg aus dem Palast heraus finden können. Wohin er sich dann wenden sollte, wußte er nicht; er war zu wütend und fühlte sich zu sehr gedemütigt, um über diesen Akt der Rebellion hinaus zudenken. Er legte die Hände auf den kühlen Stein der Brüstung und machte sich schon bereit, rittlings über das niedrige Geländer zu klettern, als leise Stimmen durch die nächtliche Luft zu ihm hinaufdrangen, er das Schim mern von Mondlicht auf Metall bemerkte und zwei wei tere Wachen entdeckte, die es sich in den Schatten unter dem Balkon bequem gemacht hatten. Er spähte zu ihnen hinab, konnte kaum glauben, daß er wie ein Gefangener
bewacht wurde, obwohl es genau darauf hinauslief, und die Erkenntnis ließ ihn einen Fluch ausstoßen, der die Aufmerksamkeit der Männer unter ihm erregte. Sie blick ten zu ihm hinauf, ihre Gesichter schimmerten bleich unter den gebogenen Visieren ihrer Helme. Grinste einer von ihnen? Calandryll konnte es nicht erkennen. Er wir belte herum, kehrte in das Zimmer zurück und schmet terte die Fenstertüren so heftig hinter sich zu, daß die Glasscheiben in den Rahmen klirrten. Hilflos ließ er sich in einen Sessel fallen und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Vermutlich war er bereits die Lachnummer des gesamten Palastes. Ganz Seccas, sobald die Diener und Wachen die Geschichte von sei nem Stubenarrest weitererzählten. Er schob die Teller von sich, ließ den Wein unbeachtet stehen und suchte Trost in seinen Büchern. Vielleicht fand er dort Informa tionen, die ihm in seiner Notlage helfen konnten. Mittlerweile war Calandryll mehr denn je entschlos sen, dem Schicksal zu entgehen, das sein Vater für ihn bestimmt hatte, aber wenn er aus Secca floh, würde er höchstwahrscheinlich, wie er Bracht gesagt hatte, von den Chaipaku gejagt werden. Also wandte er sich Me diths Abhandlungen über die Bruderschaft zu. »Über die Chaipaku oder die Bruderschaft der Assas sinen«, hatte der Historiker geschrieben, »ist nur weniges wirklich verbürgt, da die Sekte ihre Rituale und internen Angelegenheiten einer strengen Geheimhaltung unter wirft, während sich um ihre Aktivitäten unzählige Le
genden ranken. Daß es sich bei ihnen um Meuchelmör der handelt, die einen furchteinflößenden Ruf genießen, ist allgemein bekannt, auch wenn ihnen die ihnen zuge schriebenen Verbrechen nur selten nachgewiesen werden konnten und ihre Vorgehensweisen geheimnisumwittert sind. Die Sekte hat ihren Ursprung in Kandahar. Obwohl dieses Land eine Brutstätte von Wegelagerern und See räubern ist und wenig mit den zivilisierten Reichen von Lysse gemein hat, fürchten selbst die Einwohner von Kandahar den Orden der Chaipaku. Ursprünglich han delte es sich bei ihren Angehörigen um Priester, die dem Meeresgott Burash huldigten und mit ihren blutigen Ritualen das Mißfallen ihrer Landsleute erregten. Die Kander drängten den Tyrannen Desmus, diese Praktiken als Überschreitung der Gesetze zu brandmarken. Dar aufhin wurde die Sekte oder Bruderschaft – keine Frau kann Mitglied der Chaipaku werden – als illegal erklärt und konnte ihre Rituale nur noch im Verborgenen prak tizieren. Zu diesem kritischen Zeitpunkt sagten sich viele Mit glieder von der Sekte los, und während noch viele mehr auf Befehl des Tyrannen umgebracht wurden, versteck ten sich diejenigen, die ihrem abnormen Glauben am treusten blieben, unter dem gewöhnlichen Volk von Kandahar. Der Tyrann Manorius (der siebte, der diesen Titel trug) versuchte, die Sekte endgültig auszulöschen, und übertrug seinem Bruder Taroman diese Aufgabe, doch bedauerlicherweise hatte Taroman nur wenig Er
folg und starb an einem Fieber, das allgemein einem Chaipakugift zugeschrieben wird. Unter dem achten Tyrann, Geromius, wurde eine gewisse Ordnung herge stellt, die zumindest dazu führte, daß die Sekte den Ge setzen des Tyrannen nicht länger öffentlich trotzen konn te. Allerdings breitete sie sich heimlich in ganz Kandahar aus, gründete in allen größeren Städten Zellen und faßte – wie hin und wieder behauptet wird – auch innerhalb von Eyl und Lysse Fuß, was ich allerdings bezweifle. Fest steht jedoch, daß die Chaipaku, die sich nicht län ger ausschließlich der Verehrung Burashs widmeten, sondern sich ihre Opfer suchten, wo immer sie diese finden konnten, zu Meuchelmördern mit einem verhee renden Ruf wurden. Ihre Dienste stehen jedem offen, der ihren Preis bezahlen kann und eine Möglichkeit findet, sein Anliegen einem Mitglied der Sekte vorzutragen. Manche behaupten, daß der Kontakt zu ihnen über die Priester von Burash hergestellt werden kann, obwohl diese bestreiten, über derartige Verbindungen zu verfü gen. Daß eine Kontaktaufnahme mit den Chaipaku durch Auftraggeber möglich ist, die skrupellos genug sind, sich solcher Methoden zu bedienen, scheint jedoch durch die Morde an Männern wie Krim, Domm vom Hyme, Gareth von Wessyl, den Erben von Balthan und Rolan von Eryn bewiesen zu sein, über deren Tod an anderer Stelle in diesem Werk berichtet wird. Auch das mysteriöse Able ben Teleks, des neunten Tyrannen von Kandahar, wird den Chaipaku zugeschrieben (siehe Tyrannen von Kan dahar).
Gerüchten zufolge werden die Chaipaku heutzutage von Geburt an auf ihre Aufgaben innerhalb der Sekte vorbereitet. Die Eltern dieser Kinder treten ihre natürli chen Rechte an ihren Nachkommen an den Orden ab, damit diese ohne Kenntnis ihrer Herkunft in dem Glau ben erzogen werden können, direkt von Burash abzu stammen. Sie sind in allen bekannten Kampftechniken und im Umgang mit Giften geschult und angeblich mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet. Auf jeden Fall scheinen sie über die Fähigkeit zu verfügen, sich mit bemerkswertem Talent tarnen zu können. Sie kommen und gehen unbemerkt und schaffen es in der Regel, ihre ruchlosen Taten ungestraft auszuführen. Ihr legendärer Ruf beruht in erster Linie auf der grausigen Tatsache, daß bisher noch kein einziger Chaipaku lebendig ergriffen werden konnte. Sie sterben lieber, als sich gefangenneh men zu lassen.« Calandryll unterbrach seine Lektüre und fragte sich, ob Tobias wußte, wie er Kontakt mit der Bruderschaft aufnehmen konnte. Und dann zuckte er zusammen, als er hinter sich Finger über die Glasscheiben kratzen hörte. Er ließ das Buch fallen, fuhr so schnell aus seinem Ses sel hoch, daß die alten Seiten zerknitterten, und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zum Fenster um. Seine Nackenhärchen sträubten sich. Auf dem Balkon stand ein schwarzgekleideter Mann, ein Schatten vor dem dunklen Himmel. Der Gedanke an die Chaipaku ließ Calandrylls Hals trocken werden. Er öffnete den Mund, um die Wachen herbeizurufen, als die Gestalt
beide Hände und die Handflächen auf ihr Gesicht richte te. Licht schimmerte kurz auf, schien direkt aus den Händen herauszustrahlen, und Calandryll sah mit fas sungslosem Staunen, daß es das Gesicht von Varent den Tarl erhellte. Der Schrei erstarb in seiner Kehle, noch bevor er ihn ausstoßen konnte, als er den Botschafter von Aldarin erkannte. Varent lächelte und bedeutete ihm, die hohen Fensterflügel zu öffnen. Calandryll stand lange Zeit ein fach nur da, unfähig, irgend etwas anderes zu tun als zu glotzen. Varent gestikulierte wieder. Das Licht erlosch. Fast gegen seinen Willen näherte sich Calandryll dem Fenster, seine Hand schien wie von selbst nach der Ver rieglung zu greifen. Als er die Fensterflügel aufstieß, lag einen Moment lang Mandelgeruch in der nächtlichen Luft. »Danke.« Varent betrat das Zimmer mit einer Selbst verständlichkeit und so ungerührt, als würde er lediglich einem alten Bekannten einen Höflichkeitsbesuch abstat ten, als wäre sein Erscheinen, das eigentlich völlig un möglich war, das Natürlichste auf der Welt. »Ich halte es für keine gute Idee, die Aufmerksamkeit Eurer … Bewa cher zu erregen.« Er strahlte, ging zum Tisch, hob die Karaffe und roch an dem Wein. »Hervorragend«, murmelte er und schenkte sich einen Pokal ein. »Euer Vater besitzt zumindest einen sehr gu ten Weinkeller.«
Calandryll glotzte ihn an und bemühte sich, seine Stimme wiederzufinden. Varent nippte an seinem Wein. Er nickte anerkennend. Sein attraktives Gesicht spiegelte seine Belustigung wider. »Seid Ihr…«, Calandryll schluckte mühsam, »… ein Chaipaku? Seid Ihr gekommen, um mich zu töten?« Varent lachte leise und schüttelte den Kopf. »Ein Chaipaku? Nein, mein Freund, macht Euch deswegen keine Sorgen. Und anstatt Euch umbringen zu wollen … ganz im Gegenteil, ich bin gekommen, um Euch zu hel fen.« »Mir helfen?« Calandryll trat einen Schritt zurück und schielte nervös zur Tür. »Es besteht kein Anlaß, die Wachen zu rufen«, sagte Varent liebenswürdig. »Ich habe nicht vor, Euch etwas anzutun.« »Wie…« Calandryll schüttelte verblüfft den Kopf. »Wie seid Ihr unbemerkt auf den Balkon gelangt?« Varent zuckte die Achseln und ließ seinen schwarzen Mantel in einen Sessel fallen. Die Kleidung, die er darun ter trug, war ebenfalls schwarz – ein mattes Schwarz, das mit der Nacht verschmolz. »Magie«, sagte er beiläufig. »Einfache Magie.« »Magie?« Calandryll kam sich wie ein Idiot vor. Er konnte lediglich die Worte des Botschafters wiederholen. »Einfache Magie?« »Sofern Magie überhaupt als einfach bezeichnet wer
den kann.« Varent nickte. »Meine Kräfte sind nicht son derlich stark.« »Aber«, keuchte Calandryll, »… die Wachen … der Balkon.« »Ich wäre direkt in Eure Gemächer gekommen«, erwi derte Varent, »aber bevor ich an einem Ort materialisie ren kann, muß ich ihn gesehen haben. Glücklicherweise konnte ich von meinem Zimmer aus einen Blick auf Eu ren Balkon werfen. Deshalb bin ich dort aufgetaucht, und hier bin ich. Die Wachen haben nichts gehört, und diese Sachen, tja…« Er deutete mit einer nachlässigen Hand bewegung auf seine Kleidung. »Nicht gerade schick, aber äußerst praktisch, wenn man nicht gesehen werden will. Warum setzt Ihr Euch nicht? Ihr seht aus, als würdet Ihr gleich ohnmächtig werden.« Calandryll setzte sich. Die Bewegung machte eher den Eindruck, als wäre sie nicht bewußt erfolgt, als hätten ihm seine Knie den Dienst versagt. Varent zog einen Sessel heran und nahm ihm gegenüber Platz. »Ein bißchen Wein? Es ist wirklich ein köstlicher Trop fen.« Calandryll schüttelte hilflos den Kopf, worauf der Bot schafter sich lächelnd nachschenkte. »Ich kann mir vorstellen, daß Ihr nach den Ereignissen der letzten Nacht kaum Appetit auf Wein habt. Euer Vater hat sich ziemlich ungehalten über die Geschichte ausgelassen, und Euer Gesicht verrät mir, daß die Eska pade ihre schmerzhaften Folgen hinterlassen hat.«
»Eskadape«, wiederholte Calandryll. »Ich konnte dem Gebrüll Eures Vaters – entschuldigt bitte den Ausdruck, aber Gebrüll scheint mir das ange messene Wort dafür zu sein – entnehmen, daß die Be kanntgabe der Verlobung Eures Bruders mit der liebli chen Nadama Euch dazu verleitet hat, in den ärmeren Vierteln Seccas nach Trost zu suchen.« Varent trank ei nen weiteren Schluck Wein und schmatzte mit den Lip pen. »Wie ich weiter erfahren habe, seid Ihr von einer wütenden Meute Saufbrüdern zusammengeschlagen und von einem Söldner gerettet worden. Wirklich, Calandryll, Ihr solltet Euch Eure Gesellschaft etwas sorgfältiger aus suchen. Obwohl Ihr durch Euer Verhalten einen ansons ten langweiligen Besuch zweifellos unterhaltsamer ge macht habt.« »Langweiliger Besuch«, hörte sich Calandryll sagen. »Oh, ich habe die erforderlichen Verträge unterzeich net, und das war einer der Gründe für meinen Aufent halt in Secca. Ich bin tatsächlich Botschafter von Aldarin, falls Ihr meine Legitimation bezweifeln solltet.« Er mach te eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. »Aber ich bin noch aus einem anderen Grund gekommen, und dabei könntet Ihr mir helfen. Im Gegenzug, glaube ich, kann ich Euch helfen.« »Mir helfen?« murmelte Calandryll. »Allerdings.« Varent beugte sich vor und tätschelte Calandrylls Knie. »Seid Ihr sicher, daß Ihr nicht doch ein Glas Wein wollt? Ihr wirkt äußerst verstört.«
»Magie«, brachte Calandryll hervor. »Ah!« Varent tippte gegen seine Hakennase. »Liege ich richtig mit der Vermutung, daß Ihr nicht allzu ver traut mit den Zauberkünsten seid?« Calandryll schüttelte den Kopf, obwohl eigentlich ein Nicken die richtige Antwort auf die Frage gewesen wäre, aber der Botschafter verstand ihn auch so. »Ich bin eigentlich kein richtiger Zauberer«, sagte er bescheiden. »Meine beschränkten Fähigkeiten habe ich von einem anderen gelernt, aber auch wenn das aus meinem Mund vielleicht etwas anmaßend klingen sollte, habe ich doch eine gewisse Begabung.« Calandryll nickte zustimmend. »Ich benutze sie für bestimmte Zwecke«, erklärte Va rent strahlend. »Zum Beispiel für diesen heimlichen Besuch. Wie Ihr zweifellos schon bemerkt haben werdet, hat Euer Vater Euch in Eure Gemächer eingesperrt. Aber wußtet Ihr auch, daß Ihr keinen Besuch empfangen dürft? Oder daß es den Dienern verboten ist, mit Euch zu sprechen? Bylath ist wirklich ein etwas unangenehmer Zeitgenosse. Entschuldigt diese Kritik, aber ich finde seine Reaktion überzogen, und ich wollte wirklich mit Euch sprechen.« »Wieso?« gelang es Calandryll zu fragen. Varent griff nach der Karaffe, bevor er antwortete. In seinen dunklen Augen funkelte es, als er den Blick wie der auf Calandrylls fassungsloses Gesicht richtete. »Weil Ihr mir der einzige Gelehrte mit Charakter im
Palast zu sein scheint. Oh, da sind Eure Lehrer, ich weiß, aber sie fürchten sich vor dem Domm, und würde ich mich an sie wenden, würde Euer Vater zweifellos davon erfahren. Nein, ich brauche Eure Hilfe. Ihr seid eindeutig der einzige, an den ich mich wenden kann.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, streckte die Beine aus und legte die Füße übereinander. Calandryll starrte ihn weiter an, immer noch mehr als nur ein wenig ängstlich, aber seine Neugier war geweckt. »Ich bin gestern zu diesem Entschluß gekommen«, fuhr Varent fort. »Ihr seid mir als ein junger Mann mit einem beachtlichen Wissen aufgefallen, und Eure Bemer kungen über Medith und Sarnium haben mich beein druckt. Und was noch wichtiger ist, Ihr kennt Euch in den Palastarchiven aus.« »Die Archive?« »Allerdings. Die Archive. Sie enthalten eine Karte, die ich mir sehr gern genauer ansehen würde.« »Eine Karte?« fragte Calandryll. »Ein Karte.« Varent nickte. »Ohne Zweifel liegt sie un beachtet in irgendeinem staubigen Winkel, den vielleicht nur Ihr erforscht habt.« »Würde mein Vater sie Euch nicht zeigen?« Varents Benehmen war so ungezwungen, daß Calandryll allmäh lich seine Selbstsicherheit zurückgewann. Sein Schreck über das plötzliche Auftauchen des Mannes ließ nach und machte einem leichten Mißtrauen Platz. »Ich bezweifle, daß er ihren Aufenthaltsort kennt«,
entgegnete Varent. »Und der Botschafter einer anderen Stadt – selbst einer mit Secca verbündeten – wird kaum die Erlaubnis erhalten, ungestört die Archive zu durch forsten. Wer weiß, welche Geheimnisse er dort entdecken könnte?« »Was ist das für eine Karte?« wollte Calandryll wissen. »Eine uralte Landkarte.« Varent lächelte. »Sie ist ledig lich für Historiker von Wert. Oder für Zauberer.« Calandrylls Mißtrauen mußte sich in seinem Gesicht. widerspiegeln, denn der Mann lachte erneut verhalten und sagte: »Ich verlange nicht von Euch, Eure Heimat stadt zu verraten, mein Freund. Die Karte besitzt für Secca ausschließlich antiquarischen Wert. Und ich glau be, daß weder Euer Vater noch Euer Bruder besonderen Wert auf solche Dinge legen. Nein, man wird das Fehlen dieser Karte nicht bemerken, und Secca wird daraus kein Schaden entstehen, ganz im Gegenteil.« Er hob eine Hand, als Calandryll etwas einwerfen wollte. »Hört Euch alles an, was ich Euch zu sagen habe, und entscheidet dann, ob Ihr mir helfen wollt oder nicht. Wenn nicht, nun, dann muß ich wohl doch den Domm bitten, mir die Archive zu zeigen, und wenn er mir das verweigert, muß ich mit leeren Händen abziehen. Und Ihr müßt hierblei ben und Priester werden.« Der Hinweis reichte aus, um Calandryll aufzurütteln. Varent nickte lächelnd. »Ja, ich weiß, welches Schicksal Euch bevorsteht, und ich biete Euch meine Hilfe an, um ihm zu entgehen. Dar
über hinaus kann ich Euch den Schutz Aldarins gewäh ren, falls Ihr mir helfen wollt.« Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Buch. »Wie ich sehe, habt Ihr Euch über die Chaipaku informiert. Ihr fürchtet, Euer Bruder könn te die Bruderschaft gegen Euch einsetzen? Ich kann Euch auch einen gewissen Schutz vor ihr bieten. Helft mir, und Ihr werdet weitestgehend unangreifbar für sie sein. Seid Ihr jetzt bereit, mir zu Ende zuzuhören?« Calandryll nickte begierig. Er war jetzt sicher, daß Va rent derjenige sein mußte, den Reba ihm prophezeit hatte. »Gut.« Der Botschafter beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Pokal in beiden Händen hal tend. Seine Stimme verlor den unbeschwerten Tonfall, seine Augen richteten sich mit hypnotischer Intensität auf Calandrylls Gesicht. »Als Gelehrter kennt Ihr zweifel los die Evangelien. Habt Ihr Rassen gelesen? Hervorra gend – dann werdet Ihr alles weitere um so besser ver stehen. Wie dieser etwas langweilige Schreiber berichtet, sind die Götter unserer Welt – Dera, Burash, Brann und die anderen – relativ jung. Vor ihnen gab es das Götter brüderpaar Tharn und Balatur, und wiederum davor die allerersten Götter: Yl und Kyta. Laut Rassen waren Tharn und Balatur die Kinder von Kyta und Yl – falls Götter überhaupt Kinder haben, was ich bezweifle – und wurden in den frühen Tagen der Welt verehrt. Wie es für Menschen und Götter typisch scheint, machte sie ihre Machtfülle größenwahnsinnig,
und sie begannen, gegeneinander zu kämpfen.« Varent zuckte die Achseln und lächelte, als würde ihn die Vor stellung belustigen. »Aber das alles kennt Ihr. Ihr wißt, das Tharn eifersüchtig auf seinen göttlichen Bruder war und sich gegen ihn wandte. Dieser Kampf stürzte alle Geschöpfe ins Chaos und veranlaßte die Ersten Götter einzugreifen, als sich Tharn als siegreich abzuzeichnen begann. Sie verbannten sowohl Sieger als auch Besiegten ins Reich der Vergessenheit.« Er schwieg und musterte Calandryll, als würde er auf irgendeine Erwiderung warten. Calandryll nickte; das alles war jedem Gelehrten oder Historiker bekannt. »Gut«, sagte Varent, jetzt wieder völlig ernst, »es gibt da einen Hexer – er heißt Azumandias –, der den ver rückten Gott Tharn wiederauferstehen lassen will.« Er legte eine kurze Pause ein, als wäre die Vorstellung allein schon entsetzlich. Seine dunklen Augen glühten, während er den vor Verblüffung sprachlosen jungen Mann musterte. Die Tragweite dieses Gedankens ließ seine scharfgeschnittenen Züge hart werden. Als er wei tersprach, war seine Stimme unheilvoll leise. »Stellt Euch das vor, Calandryll – die Wiederauferste hung des verrückten Gottes! Wir sprechen hier vom Ende der Welt – Irrsinn in Verbindung mit göttlicher Macht! Selbst in seinem Wahn ist Tharn mächtiger als jeder der jüngeren Götter, auch wenn ich bezweifle, daß seine Nachfolger ihren unvermeidbaren Niedergang einfach hinnehmen würden. Sehr viel wahrscheinlicher ist es,
daß sie sich Tharn widersetzen würden. Und ein solcher Konflikt würde ohne Zweifel die Vernichtung der Welt zur Folge haben. Azumandias ist natürlich ebenfalls wahnsinnig – er glaubt, den Gott durch seine Zaubersprüche kontrollie ren zu können, aber alles, was er zustande bringen wür de, wäre, eine gewaltige Katastrophe auszulösen. Es sei denn, er wird aufgehalten.« Varent verstummte und schüttelte den Kopf. Ca landryll saß wie betäubt da. Die Idee war so gewaltig, so ehrfurchtgebietend, daß es ihm die Sprache verschlug. Er wartete darauf, daß Varent fortfuhr, und fragte sich, was für eine Rolle er dabei spielen sollte. »Es gibt allerdings noch Hoffnung«, nahm der Bot schafter den Faden wieder auf. »Azumandias kennt zwar die erforderlichen Beschwörungsformeln, um den ver rückten Gott wiederauferstehen zu lassen, aber er verfügt nicht über die Informationen, um den Ort ausfindig zu machen, an dem Tharn ruht. Ich dagegen weiß, wie man sie erhalten könnte. Es war Azumandias, der mir die magischen Künste beigebracht hat. Ich war sein gehorsamer Schüler, bis er versucht hat, mich für seine Zwecke einzuspannen, aber als ich die volle Tragweite seiner Absichten begriffen hatte, wurde mir klar, daß ich mich gegen ihn stellen mußte. Ich hatte genug von seinen Plänen erfahren, um meine eigenen Nachforschungen anstellen zu können, und so habe ich eine Möglichkeit entdeckt, seine Pläne zu
durchkreuzen.« »Die Landkarte?« flüsterte Calandryll. »Nein, auch wenn sie für unser Vorhaben unerläßlich ist«, sagte Varent. Calandryll war der Plural nicht ent gangen. »Es ist nicht so einfach. Zusammen mit meinen eigenen Dokumenten enthüllt die Karte den Schlüssel zu Azumandias' Niederlage. Als Yl und Kyta ihre Kinder verbannten, verbargen sie sie gut und fesselten sie mit Zaubersprüchen. Azumandias hat diese Zaubersprüche entdeckt, aber nicht die Gräber der Götter. Es gibt ein Buch, das Arcanum, in dem die Orte verzeichnet sind. Es liegt in Tezin-dar versteckt.« »Tezin-dar?« konnte Calandryll nur keuchen. »Ganz genau, Tezin-dar«, bestätigte Varent. »Aber Tezin-dar ist eine Legende«, widersprach Ca landryll. »Das Arcanum ist eine Legende. Das alles sind nichts als Mythen. Medith bestreitet ihre Existenz, selbst Rassen bezweifelt, daß es sie wirklich gibt.« »Sie sind real«, behauptete Varent fest. »Tezin-dar liegt irgendwo in Gessyth, tief im Sumpfland. Es ist viel leicht der unzugänglichste Ort der Welt, aber es exis tiert.« »Und die Karte zeigt, wo er liegt«, sagte Calandryll. Varent nickte feierlich und hob den Pokal, wie um ei nen Toast auszubringen. »Ihr habt eine schnelle Auffas sungsgabe. Das gefällt mir. Das ist einer der Gründe, warum ich mich an Euch gewandt habe; Ihr habt einen wachen Verstand.«
»Aber wenn das alles wahr ist, braucht Ihr doch bloß meinem Vater Bescheid zu sagen«, warf Calandryll ein. »Wenn er das alles wüßte, könnte er Euch nicht den Zugriff auf die Archive verweigern.« »Euer Vater ist ein weltlicher Mann«, gab Varent zu rück. »Meint Ihr, er würde mir glauben? Oder würde er hinter meiner Bitte nicht eher einen Trick Aldarins ver muten? Irgendeinen Schachzug, mit der meine Stadt einen Vorteil auf Kosten Seccas erringen könnte?« Er hatte recht. Calandryll nickte. »Außerdem«, fügte Varent hinzu, »selbst wenn der Domm mir glauben und Zugang zu den Archiven ge währen sollte, würde er mir kaum den Rest überlassen. Er ist ein Krieger, ein Mann der Tat. Seine Reaktion wür de darin bestehen, eine Expedition nach Gessyth zu schi cken, wahrscheinlich unter der Führung Eures Bruders. Und das würde Azumandias' Aufmerksamkeit erregen, der garantiert Magie gegen uns einsetzen würde. Aus demselben Grund wage ich es auch nicht, jemanden in Aldarin über meine Erkenntnisse zu informieren. Azu mandias hat überall seine heimlichen Spione, und sollte er auch nur ahnen, wieviel ich weiß, wäre ich noch in derselben Stunde tot. Nein, mein Freund, Waffengewalt ist in diesem Fall nicht die richtige Antwort.« »Was dann?« fragte Calandryll mit kaum verständli cher Stimme. »Das Arcanum muß zerstört werden«, erklärte Varent. »Es muß zerstört werden, bevor Azumandias seinen
Inhalt erfahren kann. Aber dazu ist Klugheit erforderlich. Der Erfolg kann dort, wo Armeen scheitern würden, durch einen wachen Verstand und Gelehrsamkeit erzielt werden. Das ist eine Aufgabe für einen oder zwei, nicht für viele. Das Buch muß gefunden und vernichtet wer den, bevor Azumandias davon erfährt. Also, werdet Ihr mir helfen? Oder Azumandias das Feld überlassen?«
KAPITEL 4 Calandryll starrte Varent an, und seine Gedanken über schlugen sich. Er zweifelte nicht daran, daß der Botschaf ter die Wahrheit sagte, aber die Konsequenzen dieser Wahrheit waren überwältigend. Ein verrückter Magier, der vorhatte, den verrückten Gott wiederauferstehen zu lassen? Das konnte nur mit einer Katastrophe gleichbe deutend sein, mit der Vernichtung der Welt. Und Varent bat ihn um Hilfe. Nicht irgendwen, sondern ihn… Ihr müßt das Wasser überqueren, um zu finden, wonach Ihr sucht, auch wenn die Menschen behaupten, daß es nicht exis tiert … Da ist ein Lehrer … Ihr werdet weit reisen und Dinge sehen, die kein Mensch aus dem Süden jemals gesehen hat… Rebas Worte klangen wieder in ihm auf… Ihr werdet das begehren, was Ihr nicht bekommen könnt, und Enttäuschung erlebe … Soviel hatte sich bereits bewahrheitet: Nadama war für ihn verloren, und Secca hatte ihm nur noch Enttäuschung zu bieten. Varent mußte ganz einfach der versprochene Lehrer sein. Bestimmt war dies die Suche, von der die Wahrsagerin gesprochen hatte. Er nickte feierlich. »Was soll ich für Euch tun?« »Ich wußte, daß Ihr der richtige Mann seid!« Varent
strahlte. »Ich möchte, daß Ihr die Karte für mich findet.« Enttäuschung: War das alles? »Ich bin in meine Zimmer eingesperrt«, erwiderte er, und die Erkenntnis dämpfte seinen Enthusiasmus. »Ich werde mich für Euch einsetzen und versuchen, Euren Vater zu besänftigen. Schließlich bin ich ein privi legierter Gast. Und sobald Ihr wieder auf freiem Fuß seid, besorgt mir die Karte.« »Woran soll ich sie erkennen?« wollte Calandryll wis sen. »Sie wurde von Orwen während der Regentschaft von Thomus gezeichnet und trägt sowohl das Siegel des Domms als auch die Signatur des Kartographs. Das Sie gel des Domms kennt Ihr bestimmt. Orwens Signatur sieht so aus…« Varent hob die Hand, streckte den Zeigefinger aus und malte ein Zeichen in die Luft. Ein silbern schim merndes Licht ging von seiner Fingerkuppe aus, wie Mondlicht, das auf Spinnenweben glänzt, und bildete ein Symbol, das vor Calandrylls Gesicht schwebte. »Werdet Ihr es wiedererkennen?« vergewisserte er sich. Als Calandryll nickte, schloß er die Faust, und das Schimmern erlosch. »Und dann?« fragte Calandryll. In diesem Spiel mußte doch bestimmt eine größere Rolle für ihn vorgesehen sein. »Dann«, sagte Varent und gab seiner Zuversicht neue
Nahrung, »werde ich Euch, wie versprochen, meinerseits einen Gefallen erweisen. Kommt in meine Gemächer, bevor ich Secca verlasse, und ich werde Euch mit mir nehmen.« »Nach Aldarin?« Nicht weiter? »Das ist nicht alles, worum ich Euch bitte.« Varents Augen funkelten voller Versprechen. »Ich kann Aldarin nicht verlassen, weil ich befürchten muß, daß Azuman dias meine Abwesenheit bemerken und mir mit seinen magischen Fähigkeiten nachspüren würde. Das wäre fatal. Nein, mein Freund, es geht um sehr viel mehr, um eine gewaltige Aufgabe, die Ihr übernehmen müßt. Ihr beherrscht die Alte Sprache – Ihr seid einer der wenigen Männer, die das Arcanum erkennen können. Ich möchte, daß Ihr Euch auf den Weg nach Tezin-dar macht.« Ihr werdet weit reisen … Dinge sehen, die kein Mensch aus dem Süden jemals gesehen hat. Es war die Prophezeiung! Es mußte sie sein! »Ja!« rief er inbrünstig. »Es wird gefährlich werden«, gab Varent zu bedenken. Calandryll tat die Warnung mit einem Achselzucken ab. Dann erinnerte er sich wieder an die Worte der Wahrsagerin. Es wird noch jemand erscheinen, der ebenfalls Vertrauen verdient… »Könnte ich mir nicht einen Leibwächter nehmen?«
wollte er wissen. »Eine hervorragende Idee«, stimmte ihm Varent zu. »Kennt Ihr jemanden? Einen vertrauenswürdigen Mann?« Bracht hatte ihn gerettet, und der Kerner war zur Zeit arbeitslos. »Da ist ein Mann namens Bracht«, sagte Calandryll, »ein ungebundener Söldner aus Kern.« »Euer Retter?« Varent schürzte nachdenklich die Lip pen, dann nickte er. »Kerner sind zuverlässig. Wo kann man ihn finden?« Calandryll runzelte die Stirn. Wie hieß die Herberge? »Er hat ein Zimmer am Rand des Händlerviertels. Ich glaube, am Platz der Reisenden.« »Ich werde mich darum kümmern«, versprach Varent. Er bedachte Calandryll mit einem warnenden Blick. »Aber er darf nichts von unseren wahren Absichten er fahren, damit Azumandias uns nicht auf die Schliche kommt. Laßt ihn glauben, daß Ihr Secca zu Forschungs zwecken den Rücken kehrt. Wird er sich damit zufrie dengeben?« »Ich denke schon«, sagte Calandryll. »Gut. Ich werde ihn ausfindig machen«, murmelte Va rent. »Und jetzt, glaube ich, sollte ich verschwinden, damit wir nicht zusammen entdeckt werden. Denkt dar an, Verschwiegenheit ist unser bester Schutz vor Azu mandias' Zauberkräften.«
Er stand auf, legte sich den dunklen Mantel um die Schultern und ergriff Calandrylls Hand. »Dera sei Dank, daß ich Euch begegnet bin, Ca landryll. Gemeinsam werden wir Azumandias besiegen.« Calandryll erwiderte lächelnd seinen Händedruck. Es tat gut, wie ein Mann behandelt zu werden. »Ja«, sagte er entschlossen. Varent nickte und ging zum Fenster. Calandryll folgte ihm zum Balkon. Der Wind bauschte den nachtschwar zen Umhang des Botschafters. Er leuchtete auf und war verschwunden. Zurück blieb ein Hauch von Mandelge ruch. Calandryll stand noch lange da und starrte auf den leeren Balkon hinaus, dann schloß er lächelnd die Fens terflügel. Der erste Schritt war getan, die Suche hatte begonnen. Er würde dem Priesterdasein entgehen. Er würde seinem Vater und Tobias zeigen, daß er kein Jun ge mehr war, sondern ein Mann, der seinem eigenen Schicksal folgte. Er würde als Held zurückkehren. Und wie würde Nadama dann über ihn denken? Er war zu aufgeregt, um an Schlaf denken zu können, warf sich in einen Sessel, griff nach dem Buch und blätterte eilig zu den Kapiteln, in denen Medith die Götter abhandelte. »Am Anfang, bevor die Welt Gestalt annahm«, las er, »gab es die Ersten Götter, und ihre Namen waren Yl und Kyta, die Allmächtigen. Sie wohnten in der Leere und waren ohne Form, bis es ihnen gefiel, Substanz und Ges talt anzunehmen und männlich und weiblich zu werden.
Darüber hinaus gefiel es ihnen, diese Welt zu formen, die Sonne und den Mond, die Sterne und alle Dinge, die im Himmel, im Wasser und auf dem Land existieren. So wurde das Nichts ausgefüllt und war nicht länger öd und leer. Da sie männliche und weibliche Gestalt angenommen hatten, vereinigten sich Yl und Kyta, und aus dieser Vereinigung entsprangen zwei Kinder, nicht so mächtig wie ihre Eltern, aber doch Götter, und sie wandelten über die Welt. Diese Kinder der Ersten Götter waren die Brüder Tharn und Balatur, und sie waren von vollkommener Gestalt. Die Kinder der Ersten Götter wuchsen, spürten die Macht, die ihnen innewohnte, und baten ihre Eltern, ihnen Untertanen zu geben, die sie anbeteten, auf daß ihre Macht und Göttlichkeit bekannt wurde. So kam es, daß Yl und Kyta ihren Kindern zuliebe Erde und Wasser nahmen und daraus die Menschen formten, so wie sich liebende Eltern stets bemühen, ihren Sprößlingen Spiel zeug zu schenken, denn nichts anderes sind die Men schen für die Götter. So wurden also die Menschen er schaffen und in eine Welt gesetzt, die ein fruchtbarer Ort war, wo niemand Hunger und Durst leiden mußte und jedermann Schutz fand. Alle lebten in einem Paradies, und sie beteten das göttliche Brüderpaar so an, wie es Tharn und Balatur von ihnen verlangten. Mit der Zeit jedoch wurden die Kinder der Ersten Göt
ter dieser Vollkommenheit überdrüssig und baten ihre Eltern, weitere Geschöpfe ihrer Art zu erschaffen, damit sie unter ihresgleichen wandeln konnten. Aber Yl und Kyta lehnten diesen Wunsch ab und sagten: ›Nein, wir haben Euch erschaffen, und damit ist es genug.‹ Und Zorn wuchs in ihren Kindern, denn nirgendwo gab es andere ihrer Art; und sie fühlten sich einsam. In ihrem Stolz versuchten sie, ihre eigenen Geschöpfe zu erschaf fen, doch das war eine Macht, die Yl und Kyta eifersüch tig hüteten, und die Geschöpfe, die so entstanden, waren seltsam und mißgestaltet und gräßlich für die Menschen anzusehen. Nun sahen die Ersten Götter, daß die Kreaturen ihrer Kinder nicht mit den Menschen zusammenleben konn ten, und verbannten sie an abgelegene Orte der Welt, damit sie den Menschen keinen Schaden zufügen und deren Gefühle nicht durch ihre Häßlichkeit und Un menschlichkeit verletzen konnten. So kam es, daß diese Kreaturen, die die Dschungel von Gash, die Sümpfe von Gessyth, den Wald Cuan na'Dru in Kern und die anderen einsamen Gegenden bevölkern, nun an diesen Orten hausen, wo sie ihr eigenes fremdartiges Leben führen und den Menschen keinen Schaden zufügen können, bis auf diejenigen, die sich in ihre Lebensräume vorwagen. Balatur, der die Weisheit seiner Eltern erkannte, ak zeptierte dies, doch Tharn war voller Wut und schrie: ›Warum stellt ihr euch gegen uns?‹ und ›Warum behaltet ihr diese Macht für euch?‹ und ›Warum können wir nicht sein wie ihr?‹ Und er beschloß, seinem Verlangen nach
zugeben, wandte sich von seinen Eltern ab und versuch te, Leben zu erschaffen, wie es die Ersten Götter getan hatten und wie es nur ihnen zusteht. Yl und Kyta jedoch nahmen ihm und Balatur diese Kräfte, damit sie keine weiteren Kreaturen mehr erschaf fen konnten, und Tharns Zorn wuchs, bis er zum Wahn sinn wurde. Er versuchte, seinen Bruder auf seine Seite zu ziehen, doch Balatur sagte: ›Nein, denn unsere Eltern sind weiser als wir, und ich werde ihnen gehorchen.‹ Da verfiel Tharn vollständig seinem Wahnsinn und stürzte sich in furchtbarem Zorn auf seinen Bruder. Und Balatur mußte sich entweder verteidigen oder sich seinem Bru der ergeben und zusehen, wie alle Völker der Welt unter Tharns Absätzen zertreten wurden. In dieser Zeit wur den Berge eingeebnet, entstanden Schluchten, wo es vorher keine gegeben hatte, und verdampften ganze Meere bis auf den letzten Tropfen, während andere an stiegen und das Land überfluteten. Und das paradiesi sche Zeitalter endete, die Menschen drängten sich angst erfüllt vor dem göttlichen Zwist zusammen und fürchte ten, unter den Füßen ihrer Götter den Tod zu finden, die einen Kampf jenseits aller Vorstellungskraft ausfochten, der schrecklich anzusehen war. Da griffen Yl und Kyta erneut ein, traten zwischen ihre Kinder, auf daß diese nicht die Welt und alle darauf lebenden Geschöpfe völlig vernichteten, und sie versuch ten, Frieden zwischen ihnen zu stiften. Doch Tharn war gänzlich dem Wahnsinn verfallen und wollte den Worten der Ersten Götter kein Gehör schenken, und Yl und Kyta
wurden von großer Trauer überwältigt, denn sie erkann ten, daß ihre Kinder für sie verloren waren und nur noch von ihrer Zerstörungswut beherrscht wurden. So suchten sie in ihren Herzen nach einer Lösung, und es schmerzte sie zu sehen, daß die Früchte ihrer Lenden den Verstand verloren hatten. Aber sie erkannten ebenfalls, daß die Welt der Vernichtung entgegengehen würde, wenn sie Tharn und Balatur gewähren ließen. Trotzdem brachten sie es nicht über das Herz, ihren Sohn Tharn zu töten, aber wenn sie ihn nicht aufhielten, würde er nicht nur die Welt zerstören, sondern auch Balaturs Ende herbeifüh ren. Und sie fürchteten, daß Balatur den Platz seines Bruders einnehmen würde, sollten sie Tharn in Fesseln legen, denn sie erkannten, daß ihre Kinder zuviel Macht besaßen, und wenn einer allein die ganze Macht besitzt, ob Mensch oder Gott, wird er davon verdorben. Lange hielten sie Rat und kamen schließlich voller Leid überein, einen mächtigen Zauber über die göttlichen Brüder zu weben, der diese in einen tiefen Schlaf fallen ließ. Sie bestatteten sie an verborgenen Orten und beleg ten ihre Ruheplätze mit Bannsprüchen, auf daß sie nie mehr erwachen, sondern in der Verbannung ihrer Ge fängnisse schlummern würden, und ihre Namen gerieten bei den Menschen in Vergessenheit, was für einen Gott eine äußerst schlimme Strafe ist. Und so zog wieder Frieden auf der Welt ein, die Men schen vermehrten sich und wanderten umher, aber sie waren ohne Götter.
Da erkannten Yl und Kyta, daß die Menschen Götter brauchen, und aus ihren Träumen schufen sie die neue ren Gottheiten, die die Jüngeren Götter genannt werden, und sie begrenzten ihre Macht, damit sie die Menschen nicht mehr so heimsuchen konnten, wie es Tharn und Balatur in ihrem Zwist getan hatten. Und diese Götter sind Dera, deren Fruchtbarkeit und Güte Lysse gedeihen läßt, Horul, der Mensch und Pferd zugleich ist und von den Völkern der Ebene von Jesseryn verehrt wird, Bu rash, der Herr der Gewässer, der in Kandahar angebetet wird, Ahrd, der Heilige Baum, dem die Menschen in Kern huldigen, und Brann, der Eisengott, von dem man sagt, daß sein Blut die Berge von Eyl mit kostbarem Ei senerz tränkt. In Gash und Gessyth aber gab es keine Götter, und auch heute gibt es dort keine, denn die Ge schöpfe dieser Länder sind fremdartige Kreaturen. Yl und Kyta erkannten, daß sie durch die Erschaffung ihrer ersten Kinder viel Leid über die Welt gebracht hat ten, und so zogen sie sich trauernd in die Verbotenen Länder zurück, in denen nur Götter wohnen dürfen, und überließen es den Menschen, den Göttern so zu huldigen, wie es ihnen gefiel. Aber bevor sie sich auf den Weg machten, ließen sie eine Gedenkschrift über ihre verlore nen Kinder verfassen, in denen ihre verborgenen Ruheor te vermerkt sind, und dieses Buch deponierten sie an einem geheimen und bewachten Ort. Und dieses Buch wird das Arcanum genannt.« Calandryll gähnte. Die eng geschriebenen Worte ver schwammen vor seinen Augen, und er legte das Buch
beiseite. Medith bot keine großen Erkenntnisse. Das Interesse des Geschichtsschreibers hatte mehr den weltli chen als den theologischen Themen gegolten, und seine Abhandlung leistete nicht viel mehr, als die religiösen Traktate der Anhänger Deras wiederzugeben. Calandryll hatte nie viel über solche Dinge nachgedacht und das Arcanum stets für eine Legende gehalten, wie auch die verschollene Stadt Tezin-dar. Jetzt aber warfen Varents Worte ein neues Licht auf die alten Schriften, und er erschauderte bei der Vorstellung, daß es Azumandias gelingen könnte, das Buch zu finden und den verrückten Gott wiederzuerwecken. Es war ein wahrhaft furchtbarer Gedanke. Ein zweites Gähnen ließ ihn den Mund weit aufreißen. Er stand auf, streckte sich, spürte den dumpfen Schmerz seiner heilenden Rippen und warf einen kurzen Blick durch das Fenster. Die Nacht war stockdunkel, der Mond nicht mehr zu sehen. Er gähnte erneut. Allmählich siegte die Erschöpfung über seine Aufregung. Calandryll zog sich aus, schlüpfte dankbar unter die Bettdecke und war innerhalb weniger Augenblicke fest eingeschlafen. Helles Sonnenlicht riß ihn aus einem Traum, auch wenn er sich schon nicht mehr erinnern konnte, wovon er geträumt hatte, nur noch daran, daß er an Bord eines Schiffes gewesen war und vor irgend etwas Angst gehabt hatte. Er rieb sich die Augen und stieß ein Grunzen aus, als eine Faust gegen seine Tür schlug und Diener – im mer noch schweigend – mit seinem Frühstück und Kes seln mit heißem Wasser hereinkamen. Er badete, wobei
er sorgfältig darauf achtete, daß seine Verbände nicht naß wurden, zog sich an und überlegte, ob er Kleidung für seine Flucht bereitlegen sollte, entschied sich dann aber dagegen, da solche Vorbereitungen seinem Vater unter Umständen seine Absichten verraten könnten. Im Licht des warmen Frühlingstages erschienen ihm Varents Worte nicht weniger bedrohlich und noch ge nauso verheißungsvoll wie am Abend zuvor. Er frühstückte tief in Gedanken versunken und fragte sich, wann er die Gelegenheit erhalten würde, die Palast archive zu durchsuchen. Noch immer standen zwei Wa chen draußen vor seiner Tür. Und unten im Garten. Abgesehen von der Heilerin, die sich zufrieden über seine Genesung äußerte, und den Dienern, die ihm das Essen brachten, bekam er keine Besucher zu Gesicht. In dieser Nacht schlief er enttäuscht ein. Die Isolierung stärkte seine Entschlossenheit, Varent zu helfen, sowohl um gegen seinen Vater zu rebellieren, als auch um Azumandias' monströses Vorhaben zu verei teln. Drei weitere Tage lang blieb er in seine Zimmer einge schlossen, dann wurde ihm befohlen, bei seinem Vater zu erscheinen. Seine blauen Flecke waren mittlerweile verheilt Und nur noch verblassende Erinnerungen an die Schlägerei. Die Verbände hatte man entfernt. Er kleidete sich mit Bedacht an, hoffte, durch ein beherrschtes Auftreten Eindruck zu hinterlassen, und begab sich aufgeregt und
mehr als nur ein bißchen nervös zu der Unterredung. Bylath wartete allein in seinen Räumen auf ihn. Ca landryll war froh, daß Tobias nicht dabei war. Auch ohne das spöttische Grinsen seines Bruders war es schon schwierig genug, dem Domm gegenüberzutreten. Er stand schweigend da, während sein Vater Sand ü ber die frische Tinte auf einem Dokument streute und sein Siegel in das Wachs drückte. Bylath trug Jagdklei dung. Er schob die Schriftrolle mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite und wandte sich seinem jünge ren Sohn mit kalten Augen zu. »Ich denke, du hast deine Lektion gelernt. Oder muß ich einen Wachhund auf dich ansetzen?« Calandryll betrachtete angestrengt den Boden unter seinen Füßen und unterdrückte ein aufgeregtes Grinsen. »Also?« hakte Bylath nach. »Ich habe meine Lektion gelernt.« Er setzte einen unterwürfigen Gesichtsausdruck auf und erwiderte den Blick seines Vaters. »Das will ich hoffen.« Bylath stand auf und ging zum Fenster. Seine Lederkleidung knarrte. »Es wird keine weiteren Eskapaden mehr geben.« »Nein«, stimmte ihm Calandryll zu. Bylath nickte. »Nun gut«, knurrte er. »Du darfst dich wieder frei innerhalb des Palastes bewegen, aber du wirst ihn nicht verlassen. Verstanden?« »Ich habe verstanden«, erwiderte Calandryll gehor
sam. »Die Torwachen haben Befehl, dich zurückzubringen, solltest du versuchen, dich aus dem Staub zu machen. Und wenn du das versuchst…« Das Gesicht des Domms wurde härter, in seinen Au gen funkelte die Bedrohung einer harten Bestrafung. Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht versuchen, fortzugehen.« »Gut. Vielleicht kann ich heute meinen Jagdausflug genießen, ohne mir Gedanken darüber machen zu müs sen, welche Schande du diesmal über unseren Namen bringst.« »Keine«, versprach sein Sohn ernsthaft. Bylath nickte wieder. »Hoffentlich. Du kannst gehen. Aber heute abend er warte ich, dich im Speisesaal zu sehen – ohne einen the atralischen Auftritt!« »Das verspreche ich«, sagte Calandryll. »Danke.« Sein Vater schickte ihn mit einer Handbewegung fort. Calandryll drehte sich um, ging über den gefliesten Fuß boden zur Tür und unterdrückte mühsam den Triumph schrei, der aus ihm herauszubrechen drohte. Er wider stand dem Impuls, sofort zu den Archiven zu eilen, und trat statt dessen auf den Balkon, der auf die große Ein gangshalle des Palastes hinausging. Dort unten stand Tobias, in eine braune Jagdtunika gekleidet, einen langen Dolch an der Hüfte, den Arm um Nadama gelegt. Sie sah
zauberhaft aus. Die moosgrüne Tunika und die weiten Reithosen paßten wunderbar zu ihrem leuchtenden kastanien-farbenen Haar. Ihre Augen funkelten, als sie etwas auf einen Scherz seines Bruders erwiderte. Tobias warf lachend den Kopf zurück, entdeckte Calandryll und murmelte Nadama etwas zu. Daraufhin sah sie ebenfalls auf, und ihr Lächeln versetzte Calandryll einen schmerz haften Stich ins Herz. Seine Hände umklammerten das Geländer so fest, daß die Fingerknöchel weiß hervortra ten. Was wird sie denken, wenn ich zurückkomme? fragte er sich. Dann wird sie nicht mehr über mich lachen. Er zwang sich zu einem Lächeln und sah, wie sich Tobias spöttisch vor ihm verneigte. In diesem Augenblick erschien Varent, farbenprächtig gekleidet, eine verwegene Mütze auf seinem Schwarzen Haar. Er sah Tobias lachen, blickte zu Calandryll auf und hob grüßend die Hand. Calandryll winkte zurück und nickte. Der Botschafter senkte den Kopf und verwickelte Nadama in ein Gespräch. Kurz darauf erschien Bylath auf dem Balkon und be dachte Calandryll mit einem warnenden Blick. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.« »Nein, Vater«, erwiderte Calandryll. Er sah zu, wie der Domm die breite Treppe hinunter schritt, die Jagdgesellschaft um sich versammelte und zu den bereitgestellten Pferden ging. Calandryll wartete, bis das Hufklappern verklungen war, und eilte dann zu den
Archiven. Es gab zwei Magazine für Schriften und Dokumente innerhalb des Palastes. Das eine war ein weiträumiger Saal, durch dessen gesamte Länge sich Regale zogen, die diejenigen Dokumente, Pergamente, Schriftrollen und Bücher enthielten, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit benutzt wurden, sei es für Verwaltungsaufgaben oder für pädagogische Zwecke. Da der Saal öfters von den Biblio thekaren, Palastschreibern oder Gelehrten aufgesucht wurde, war sein Inhalt geordnet und katalogisiert. Das andere Magazin befand sich in den Kellergewölben in der Nähe von Gomus' düsterer Kammer und wurde nur selten benutzt. Hier lagerten die alten Dokumente, die der pragmatische Bylath als wertlos betrachtete, alte Karten und verschimmelnde Bücher, die im Laufe der Jahre von den früheren Domms zusammengetragen worden waren und keine unmittelbare Bedeutung besa ßen. Sie waren planlos verstaut. Für Calandryll war es eine Schatzkammer voller Wunder. Er hatte viele glückli che Stunden hier zugebracht und in den Nischen und den von Spinnenfäden überzogenen Regalen herumge stöbert. Eine niedrige Tür führte in dieses alte Gemäuer. Die Angeln quietschen protestierend, als Calandryll die Tür aufstieß und vor dem Eingang stehenblieb, um eine La terne aus dem angrenzenden Gang zu nehmen, bevor er die steile Treppe hinunter stieg, die in die finsteren Tie fen des Palastes führte. Er konnte unsichtbare Geschöpfe zwitschernd schimpfen hören, als er die alten Lampen
anzündete, die in rostigen Halterungen entlang der Wände steckten. Ihr Licht fiel in ein höhlenartiges Ge wölbe, deren Decke von Stützpfeilern getragen wurde, die sich nach oben bogenförmig erweiterten, und von denen Spinnennetze herabhingen. In den Nischen türm ten sich die vergessenen Erinnerungen an Seccas Ver gangenheit hoch auf. Calandryll stieg in das Gewölbe hinunter, ohne auf den Staub zu achten, der sich auf seinem Gesicht und seiner Kleidung niederließ. Das Symbol, das Varent ihm gezeigt hatte, schwebte deutlich vor seinem inneren Auge. Es gab keinerlei Ordnung hier unten, kein Inhalts verzeichnis, keinen Katalog, auf den er hätte zurückgrei fen können, aber er war trotzdem zuversichtlich, ohne große Probleme die Stelle finden zu können, wo die von Thomus gesammelten Dokumente lagerten. Er erinnerte sich, daß Thomus der vierte Domm Seccas gewesen war, und begab sich deshalb zielstrebig in die hinteren Berei che des Kellergewölbes. Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Als er die uralten Schriftrollen in einer vor Schmutz starrenden Nische untersuchte, entdeckte er auf ihnen Thomus' Siegel. Wo also konnte die Karte stecken? Er begann, in den Relikten herumzuwühlen. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, jedes einzelne Dokument einer genauen Überprüfung zu un terziehen, aber er wollte seine Suche unbedingt abge schlossen haben, bevor sein Vater von der Jagd zurück
kehrte. Bis zu Varents Abreise nach Aldarin würde er vielleicht keine zweite Gelegenheit mehr bekommen, und wenn er den Botschafter begleiten wollte, mußte er die Karte bis dahin gefunden haben. Er ignorierte die Bücher und zwang sich, trotz seiner Aufregung vernünftig nach zudenken. Eine Karte würde wahrscheinlich eingerollt sein und vielleicht in einem Schutzzylinder stecken. Also wandte er sich einer Nische zu, in der Zylinder aus altem brüchigen Leder in einem unordentlichen Haufen über einandergestapelt lagen. Er begann mit der Spitze des Haufens, nahm den ers ten Zylinder herunter und zog seinen Inhalt hervor. Staub kitzelte ihm in der Nase. Er nieste lautstark, wir belte damit weitere Staubwolken auf, die seine Augen tränen ließen, und fuhr sich mit einer schmutzigen Hand über das Gesicht. Behutsam, um das alte Pergament nicht zu beschädigen, rollte er einen Plan des Kanalisationssys tems der Stadt auseinander, schob ihn in den Zylinder zurück und legte ihn auf den Boden. Der nächste enthielt einen Straßenplan, wiederum der nächste den Bauplan vom Westflügel des Palastes. Dann folgte eine Karte der Bauernhöfe, die sich um die Stadtmauern herum er streckten, eine Karte des Hafens, der Entwurf eines nie mals erbauten Tempels, eine phantasievolle Skizze eines Gebildes, dessen Zweck ihm schleierhaft war. Der Stapel zu seinen Füßen wuchs. Auf Calandrylls Haar hatte sich eine dicke Staubschicht gebildet, sein Hemd war dreckverschmiert. Aus einigen Zylindern rieselten nur noch schwarze Flocken hervor, die wie
Asche zu Boden fielen, aus anderen die Überreste längst vertrockneter Insekten. Calandryll begann langsam zu zweifeln, ob er die von Orwen gezeichnete Karte jemals finden würde. Er räumte die gesamte Nische leer, dann legte er die Zylinder aus Angst, daß jemand seine Suche entdecken könnte, eilig an ihren alten Platz zurück. Eine zweite Nische erwies sich als genauso enttäuschend, aber als er sich durch die Hälfte eines dritten Stapels gewühlt hatte, stieß er auf eine Karte, die das Siegel des Kartographen trug. Er starrte es an und verglich es im Geist mit dem Zei chen, das Varent in die Luft gemalt hatte. Soweit er es beurteilen konnte, war es die gesuchte Karte, wenn er auch keine Ahnung hatte, wie diese ihnen helfen sollte. Er wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Hose ab, ging mit der Karte näher an eine Lampe heran und strich die Rolle mit unendlicher Vorsicht auf seinem Oberschenkel glatt. Das Papier war sehr alt, und obwohl man es mit Öl bestrichen hatte, war es gefährlich brüchig, die Tinte verblaßt, und Calandryll fürchtete, es könnte unter seiner Berührung zu Staub zerfallen. Seines Wis sens nach handelte es sich um eine Karte der Welt, wie man sie zu Thomus' Zeiten gekannt hatte. Sie zeigte weder Kern noch die Ebene von Jesseryn und Lysse war übertrieben groß dargestellt. Die große Halbinsel, auf der Eyl, Kandahar und die Dschungel von Gash lagen, bilde te nur einen winzigen Zipfel. Von Gessyth war über haupt nichts zu sehen.
Verwirrt rollte Calandryll die Karte wieder zusammen und wollte sie in den Zylinder zurückschieben, aber da entdeckte er eine zweite Rolle in der Schutzhülle, die wie ein Futterüberzug auf der Innenseite des Leders aussah. Er legte die erste Karte auf den Boden und begann, an der zweite herumzuzupfen. Sie bestand nicht aus Papier, sondern aus irgendeinem feineren Material, dünner und geschmeidiger, nicht so rauh und brüchig wie das andere Pergament. Als er sie aus dem Zylinder herausgeholt hatte, erkannte er, daß es sich um eine Art Haut handelte. Sie hatte einen gelblichen Pastellton. Dünne Linien waren auf ihr eingezeichnet. Sie trug die verschnörkelten Schriftzeichen der Alten Sprache. In der rechten unteren Ecke prangte Orwens Signatur in immer noch leuchten dem Purpur. Die Proportionen der heimischen Reiche waren immer noch falsch, aber diesmal nahm Gessyth genausoviel Raum wie Lysse ein. Oben auf die Haut hatte der Kartograph geschrieben: Eine Karte der Welt, gezeichnet von Orwen für den Domm Thomus, den Günstling Deras. Calandryll leckte sich die Lippen und spuckte aus, als eine Zunge über eine dicke Staubschicht fuhr. Gerne hätte er die Karte einer sorgfältigen Untersuchung unter zogen, er widerstand der Versuchung aus Angst, sich zu verspäten und hier unten entdeckt zu werden. Später würde er Zeit genug haben, sich das Dokument in aller Ruhe anzusehen. Vorsichtig rollte er das brüchige alte Pergament wieder zusammen und schob es in seine Schutzhülle zurück. Die andere Karte verbarg er unter
seinem Hemd. Dann machte er sich daran, die verstreut herumliegenden Lederröhren wieder in der Nische zu verstauen. Nachdem er das zu seiner Zufriedenheit erle digt hatte, er sicher, daß selbst im Falle einer Entdeckung seiner Suche niemand feststellen können würde, was – oder ob überhaupt irgend etwas – entwendet worden war, machte er sich auf den Rückweg, wobei er alle Lampen wieder löschte. Er verließ das Kellergewölbe völlig verdreckt, fand den Gang, der zu den Lagerräumen führte, zu seiner Erleichterung leer vor, und eilte zu seinen Gemächern zurück. Dort angekommen, legte er die Karte beinahe ehrfürchtig auf den Tisch und betrachtete sich im Spie gel. Aufgeregte braune Augen starrten ihm aus einem staubverschmierten Gesicht unter einem klebrigen, fast schwarzen Haarschopf entgegen. Sein Hemd und die Hose vervollständigten den schmuddligen Gesamtein druck, und das braune Leder seiner Stiefel war unter einer dicken Dreckschicht verborgen. Ein kurzer Blick zum Himmel zeigte ihm, daß die A benddämmerung hereinbrach und die Rückkehr der Jagdgesellschaft bevorstand. Schnell zog er sich aus und verstaute die Kleidungsstücke in einem Schrank, bevor er an der Klingelschnur zog, um einen Diener herbeizuru fen. Der Mann, der kurz darauf erschien, musterte ihn mit unverhüllter Neugier. »Heißes Wasser!« befahl Calandryll. »Und zwar
schnell!« Er war selbst über seine herrische Art erstaunt, aller dings nicht so sehr wie der Diener, der hastig nickte und davoneilte, völlig eingeschüchtert durch den neuen, befehlsgewohnten Umgangston seines jungen Herren. Das Wasser wurde gebracht, und Calandryll schickte die Diener fort. Er stieg in die Wanne und schrubbte wie wild an seinem Haar und seiner Haut herum. Nur zu gerne hätte er sich mit der Landkarte beschäftigt, aber er wußte, daß sein Vater bald zurück sein würde, und er wollte nicht riskieren, ihn erneut vor den Kopf zu stoßen. Um einiges sauberer trocknete er sich ab und suchte frische Kleidung aus. Bylath hatte nicht erkennen lassen, ob es sich um einen offiziellen Anlaß handelte, deshalb entschied sich Calandryll für einen Kompromiß und wählte ein dunkelblaues Baumwollhemd und eine dazu passende Hose aus, kurze schwarze Lederstiefel und eine weite grüne Tunika. Er kämmte sich und lächelte, ob wohl er ein Gefühl der Wehmut bei dem Gedanken ver spürte, daß es ihm beim letzten Mal, als er sich so viel Mühe mit seinem Aussehen gegeben hatte, darum ge gangen war, Nadama zu beeindrucken. Nun, bald würde sie sich fragen, wohin er gegangen war, und vielleicht sogar traurig über sein Verschwinden sein. Und wenn er zurückkehrte – als Held! –, würde sie ihn wahrscheinlich in einem neuen Licht sehen. Die Vorstellung gefiel ihm, und sein Lächeln wurde breiter. Er lächelte noch immer, als er zum Abendessen
gerufen wurde. Es war keine formelle Veranstaltung. Der Diener, der ihn abholte, informierte ihn, daß Bylath ihn in einem der kleineren Säle erwartete. Als Calandryll dort eintraf, sah er den Domm zusammen mit Varent und Tobias an ei nem runden Tisch sitzen. Außer ihnen waren nur die engsten Berater seines Vaters anwesend, die an anderen Tischen Platz genommen hatten. Nadama war nicht dabei, und er war sich nicht sicher, ob er deswegen Ent täuschung oder Erleichterung empfand, als er sich höf lich verbeugte. Ihm wurde der Platz zwischen Varent und Tobias zu gewiesen. Der Botschafter begrüßte ihn mit einem strah lenden Lächeln, sein Bruder begegnete ihm mit Gleich gültigkeit. Bylath beäugte ihn einen Moment lang, als müsse er sich zwischen einem Verweis und einer Ermah nung entscheiden, und sagte: »Du schuldest dem Bot schafter Dank.« Calandryll runzelte verständnislos die Stirn und wandte sich Varent zu, der die Achseln zuckte und be scheiden lächelte. »Ich habe keinen besonderen Grund für deine Anwe senheit gesehen«, stellte der Domm fest, »aber Lord Va rent hat sich für dich eingesetzt.« »Vielen Dank«, murmelte Calandryll höflich. »Junge Männer neigen nun einmal zu unüberlegten Handlungen«, sagte Varent freundlich. »Ich bin sicher, daß Calandryll nicht vorhatte, irgend jemanden durch
sein Verhalten zu beleidigen.« »Was er aber trotzdem getan hat«, knurrte Bylath. »Im Namen Aldarins verzeihe ich ihm den unbedeu tenden Fauxpas«, erwiderte Varent lächelnd, »und ziehe es vor, Secca in der Gewißheit zu verlassen, daß Frieden in Eurem Haus herrscht.« Bylath schnaubte. Tobias grinste und murmelte: »Ich glaube, wenn mein Bruder eine Kränkung beabsichtigt hatte, war sie gegen mich und Nadama gerichtet.« Die Bemerkung sollte ihn verletzen, aber Calandryll, dessen Aufmerksamkeit durch die Ankündigung des Botschafters geweckt worden war, achtete nicht darauf. »Ihr werdet abreisen?« fragte er und hoffte verzwei felt, daß seine Stimme nicht seine Anspannung verriet. Varent nickte und sagte: »Allerdings. Wie großzügig auch die Gastfreundschaft Eures Vaters ist, ich muß morgen nach Aldarin zurückkehren.« »Dann sind Eure Angelegenheiten hier erledigt?« er kundigte sich Calandryll. »So ist es«, erwiderte Varent. »Das Abkommen ist un terzeichnet, und ich muß meine Heimatstadt unverzüg lich über die erfreulichen Nachrichten in Kenntnis set zen.« »Habt Ihr alles erreicht, worauf Ihr gehofft habt?« Es fiel ihm schwer, dieses doppeldeutige Gespräch mit seinen verborgenen Andeutungen zu führen; er wäre viel lieber sofort mit seinen Neuigkeiten herausgeplatzt und
hätte den Diplomaten gern direkt gefragt, wie er Secca unbemerkt verlassen sollte. Aber das würde Varent ihm noch erklären, davon war er überzeugt. Schließlich konn te der Mann jederzeit wie ein Schatten in der Nacht bei ihm auftauchen und wieder verschwinden, und es war äußerst unwahrscheinlich, daß er sich ohne die Landkar te auf den Weg machen würde. Und ohne Calandryll kam er nicht an die Karte heran. »Ich denke schon«, hörte er Varent sagen und versuch te, in dessen Gesicht zu lesen, dort eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage zu finden. »Wir haben uns geeinigt«, sagte Bylath barsch. »Die letzten strittigen Punkte sind geklärt worden.« »Vielleicht bedürfen ein oder zwei Fragen noch einer Nachbesserung«, meinte Varent lächelnd, »aber ich bin zuversichtlich, daß wir alle das erreicht haben, was wir erreichen wollten.« Die Worte waren an den Domm gerichtet, aber Ca landryll war überzeugt, daß Varents entspanntes Lächeln ihm galt und eine Frage war. Er nickte kaum merklich und sah, wie der Botschafter ganz kurz die Augen schloß, als wolle er ihm bestätigen, daß er verstanden hatte. In diesem Augenblick trugen die Diener das Essen auf, und eine Weile wurde es still am Tisch. Varent löffelte seine Suppe und lobte ihren Geschmack mit einem höf lich gemurmelten Kompliment. »Heute abend werden wir Wild essen, kleiner Bruder«
bemerkte Tobias. »Einen Bock, den ich selbst erlegt ha be.« »Ein hervorragender Schuß«, beglückwünschte Varent ihn, »und eine wirklich vergnügliche Jagd.« »Secca hat gute Jagdgründe«, nickte Bylath strahlend und wandte sich Tobias zu. »Und der zweite, den du erlegt hast! Du hast dich selbst übertroffen! Das Geweih des Bocks war einfach herrlich.« Tobias badete in dem Lob. »Wie schade, daß Ca landryll uns nicht begleitet hat«, meinte er. »Er wird kaum noch die Gelegenheit zu solchen Vergnügungen haben, wenn er erst einmal seine priesterlichen Pflichten aufgenommen hat.« Bylath lachte säuerlich. »Calandryll? Er ist alles andere als ein Jäger.« »Und wie habt Ihr Euren Tag verbracht?« erkundigte sich Varent bei Calandryll, als würde er höfliche Konver sation machen. »Was habt Ihr unternommen, während wir auf die Jagd geritten sind?« Calandryll zuckte die Achseln. »Ich habe studiert. Ich habe ein paar alte Karten untersucht.« »Studiert«, schnaubte Bylath. »Alles, was du studieren mußt, Junge, sind die Evangelien Deras.« Er bemerkte weder Varents Lächeln noch den zufrie denen Blick, den der Botschafter Calandryll zuwarf. »Fandet Ihr die Karten interessant?« »Allerdings«, erwiderte Calandryll mit einem nach
drücklichen Nicken. »Äußerst interessant.« »Mein Angebot gilt nach wie vor«, sagte Varent. »Falls Euer Vater es Euch gestattet, seid Ihr herzlich eingeladen, Euch meine eigene kleine wissenschaftliche Sammlung alter Bücher und Dokumente anzusehen.« Calandrylls Antwort bestand aus einem Grinsen, das nicht einmal das ungehaltene Grunzen seines Vaters auslöschen konnte. »Ich danke Euch für das Angebot, Lord Varent, aber Calandryll wird in die Priesterschaft eintreten – es wird ihm nicht möglich sein, Aldarin zu besuchen.« »Wie Ihr wollt«, murmelte Varent gleichmütig. »Wir müssen alle unsere Pflicht erfüllen, nicht wahr, Calandryll?« bemerkte Tobias in einem unheilverkün denden Tonfall. »Ja«, antwortete Calandryll ruhig, »das müssen wir. Wie immer sie auch aussehen mag.« Tobias und Bylath musterten ihn erstaunt. Sie schie nen von seiner Fügsamkeit überrascht. Der Domm run zelte die Stirn, aber Calandryll blieben weitere Fragen erspart, weil in diesem Augenblick das Wildbret aufge tragen wurde, dicke Scheiben appetitlich riechenden Fleischs, große Schalen mit dampfendem Gemüse und Schüsseln mit Bratensoße, die mit Blut angedickt worden war. »Das ist wirklich ausgezeichnet«, spendete Varent den Gerichten Beifall und lenkte damit die Aufmerksamkeit geschickt von Calandryll ab. »Eure Küche vervollkomm
net die Jagdgeschicklichkeit Eures Sohnes, Lord Bylath.« Der Domm strahlte, Tobias glühte vor Stolz, und die Unterhaltung kehrte, von Varent gesteuert, zu den Er eignissen des Tages zurück. Calandryll aß schweigend. Er war zufrieden damit, daß der Botschafter seine ver steckten Andeutungen verstanden und er selbst die er hoffte Antwort erhalten hatte. Nachdem das Abendessen beendet war und alle im Pa last schliefen, wartete Calandryll in seinen Gemächern voll brennender Ungeduld auf Varent. Die Nacht war wolkenlos, der mittlerweile volle Mond tauchte den Balkon in silbriges Licht. Fledermäuse flatterten lautlos umher, Nachtvögel veranstalteten unten im Garten ihr Konzert. Ihr Gesang drang laut durch die geöffneten Fenster. Die Luft war warm, die Vorboten des Frühlings hatten ihr Versprechen gehalten. Calandryll ging auf und ab, blieb nur hin und wieder stehen, um einen Blick auf die Karte zu werfen, die auf dem Tisch ausgebreitet lag. Gemessen an der Bedeutung, die Varent ihr zumaß, schien sie nicht mehr zu zeigen als die möglicherweise fragwürdigen Umrisse von Gessyths geographischer Beschaffenheit, ein scheinbar wahlloses Gespinst feiner Linien ohne irgendwelche Erläuterungen Calandryll konnte nicht erkennen, wie man damit die Lage des sagenhaften Tezin-dars bestimmen sollte. »Ist sie das?« Er keuchte, als Varent in das Zimmer trat und die
warme Luft einen Moment lang mit Mandelduft erfüllt war. Der Botschafter legte den dunklen Mantel ab und näherte sich dem Tisch. »Hervorragend! Das habt Ihr gut gemacht, mein Freund. Könntet Ihr jetzt noch etwas mehr für mich tun und mir einen Becher Wein anbieten?« Calandryll glotzte ihn an, nickte und schenkte einen Pokal Wein ein. Varent dankte ihm mit einem Lächeln, nahm einen kleinen Schluck, seufzte und sagte: »Köst lich. Das Abendessen war so ermüdend! Eins hat Euer Bruder mit den Tieren gemein, die er mit so viel Vergnü gen niedermetzelt, nämlich die geistige Trägheit. Und Euer Vater … Ich kann verstehen, warum Ihr Secca den Rücken kehren wollt.« Er leerte den Pokal, stellte ihn zur Seite und legte Ca landryll kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Aber ich schweife ab – der Fluch des Diplomaten –, und Ihr habt Erfolg gehabt.« »Ist das die Karte?« fragte Calandryll. »Die Ihr … die wir brauchen?« Varent beugte sich über den Tisch und betrachtete sie sorgfältig. »Sie trägt Orwens Signatur; sie zeigt Gessyth. Ja, mein Freund, das ist sie.« »Aber sie zeigt kaum etwas«, sagte Calandryll. »Wo ist Tezin-dar? Es sind überhaupt keine Städte zu sehen, nur Linien, die alles mögliche bedeuten könnten.« »Ah, aber sie wird uns alle Informationen liefern.« Va
rent klopfte zuversichtlich auf die gelbliche Haut. »Sie wird uns – Euch! – zum Arcanum führen. Mein Wort darauf.« »Aber es sind keinerlei Städte auf ihr verzeichnet«, protestierte Calandryll erneut. »Sie scheint völlig nichts sagend.« Varent tippte sich mit dem Finger an die Nase. »Tho mus hatte Weitblick«, erklärte er leise. »Unter allen Domms in Lysse war er der einzige, der erkannt hat, daß die Karte einmal benötigt werden könnte. Aber er war vorsichtig! Er wußte, daß eine solche Karte das Ende der Welt herbeiführen könnte, wenn sie in die falschen Hän de fiel. Deshalb hat er Vorkehrungen dagegen getroffen. Wißt Ihr, unter welchen Umständen sie entstanden ist?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Thomus schickte Orwen nach Gessyth«, berichtete der Botschafter. »Orwen und einen Trupp seiner vertrau enswürdigsten Männer. Sie brachten mehrere Jahre in dieser von den Göttern verlassenen Gegend zu, und mehr als die Hälfte von ihnen starb dort. Etliche andere starben noch nach ihrer Rückkehr an Fieber. Alle Überle benden mußten schwören, ihr Wissen für sich zu behal ten, und darüber hinaus ließ Thomus sie von Hexenmeis tern mit Zaubersprüchen belegen, damit sie niemandem verraten konnten, was sie gesehen hatten. Er war ein weiser Mann, dieser Thomus.« »Aber wie kann uns die Karte weiterhelfen?« wollte Calandryll wissen.
Varent schmunzelte. »Thomus war ein ganz außerge wöhnlich weiser Mann, mein Freund. Er ließ Orwen zwei Karten anfertigen.« Calandryll dämmerte die Erkenntnis, und diesmal schmunzelte er. »Und Ihr habt die zweite!« »Ja«, bestätigte Varent. »Für den unwissenden Bet rachter ist es nicht mehr als irgendeine rätselhafte Anti quität, eine scheinbar wahllos durcheinandergewürfelte Ansammlung kurzer Notizen, die auf einer ähnlichen Haut wie dieser niedergeschrieben wurden. Aber die zweite Haut ist feiner, dünner, sie ist sogar durchsichtig. Für sich allein ist sie nutzlos, genau wie diese, aber wenn man sie übereinanderlegt…« »… hat man die echte Karte von Gessyth«, vervoll ständigte Calandryll den Satz. Varent nickte strahlend. »Die einzige echte Karte, die es gibt, Calandryll. Eine Karte, die genau zeigt, wo Tezin-dar liegt. Und mehr noch, sie zeigt außerdem alle Gefahren, die auf dem Weg dorthin lauern. Ohne sie bleibt Tezin-dar irgendwo im Sumpfland verborgen, nicht mehr als eine alte Legende. Doch beide Karten zusammen ermöglichen es unerschro ckenen Forschern, die sagenhafte Stadt zu finden, und warnen sie vor den Gefahren, die ihnen auf der Reise drohen.« Er legte eine kurze Pause ein, und sein scharfgeschnit tenes Gesicht wurde ernst. »Ihr habt bereits viel getan. Seid Ihr Euch sicher, daß
Ihr noch mehr tun wollt? Es wäre ungefährlicher für Euch, in Secca zu bleiben, das solltet Ihr bedenken.« »Und riskieren, daß Azumandias Erfolg hat? Riskie ren, daß er den verrückten Gott wiederauferstehen läßt?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Nein, Lord Varent – ich stehe auf Eurer Seite.« Varent ergriff seine Hände. »Dera hat mich zu Euch geführt, Calandryll, und ich danke ihr, daß sie mir einen so tapferen Gefährten gegeben hat.« Calandryll lächelte. Varent ließ seine Hände los und deutete auf die Karte. »Am besten behaltet Ihr sie vorläufig. Ich bin mir nicht völlig sicher, daß Euer Vater mein Gepäck nicht durchsu chen läßt. Und nun zu Eurer … ist Flucht das richtige Wort? Ich habe Euren Söldner gefunden, und er wird hinter den Stadtmauern auf uns warten. Ich habe ihm hundert Varre bezahlt und vierhundert mehr verspro chen, wenn wir Aldarin erreichen. Und noch einmal fünfhundert nach Eurer Rückkehr aus Gessyth. Für seine Loyalität ist also gesorgt. Was Euch betrifft, stehe ich zu meinem Versprechen. Könnt Ihr ungesehen in mein Quartier kommen?« Calandryll nickte. »Gut«, sagte Varent. »Ich werde nach dem Frühstück abreisen. Kommt dann zu mir.« »Es wird eine Zeremonie stattfinden, mein Vater wird Euch bis zur Stadtmauer begleiten«, warf Calandryll nervös ein. »Wie soll ich Secca da unbemerkt verlassen
können? Es ist mir ja sogar verboten, den Palast selbst zu verlassen. Die Wachen haben Befehl…« Varent brachte ihn mit einer lässigen Handbewegung zum Schweigen. »Vertraut mir. Kommt in mein Quartier, und ich versi chere Euch, daß Ihr Secca zusammen mit mir verlassen werdet.« Seine dunklen Augen funkelten belustigt und verschwörerisch. »Wir werden ein magisches Spielchen spielen, Calandryll, und die Magie wird Euch die Freiheit bringen.« Gern hätte Calandryll ihm noch eine Menge weiterer Fragen gestellt, aber Varent lächelte ihm zu, ergriff sei nen Umhang und legte ihn sich über die Schultern, wäh rend er zum Fenster ging. Einmal mehr sah Calandryll voller Staunen zu, wie sein Besucher auf den Balkon hinaustrat und ein paar Worte murmelte, die zu leise waren, als daß er sie hätte verstehen können. Die Luft begann zu flimmern, silbrige Wellen breiteten sich um Varent herum aus, so wie auf einem See, wenn ein Fisch dicht unter der Wasseroberfläche dahinschießt, dann war er verschwunden, und der Mandelduft verwehte. Calandryll schloß die Fenstertüren, verwirrt von den magischen Fähigkeiten des Botschafters. Magie war nichts Unbekanntes in Lysse, aber doch alles andere als alltäglich, und die Zauberkunststücke, die er bisher mit erlebt hatte, waren mehr von der weltlichen Art gewesen. Er hatte Magier gesehen, die zur Belustigung des Hofes aufgetreten waren und lebende Tiere aus der Luft gezau
bert oder Gegenstände hatten verschwinden lassen. Der Geisterbeschwörer des Domms hatte mehrfach auf By laths Befehl Geister erscheinen lassen, aber Calandryll hatte noch nie gesehen, wie ein Mann so erschien und wieder verschwand, wie Varent es tat. Vielleicht wollte der Botschafter ihn auf diese Art aus Secca herausbrin gen. Mit diesem Gedanken versteckte er die Landkarte unter seinen Kleidungsstücken und ging zu Bett. Wieder träumte er, aber diesmal gab es keine Angst in seinem Traum, keine Vorahnung irgendeiner Gefahr. Diesmal flog er über die Stadt, blickte auf die geschäfti gen, überfüllten Straßen hinab, wo sein Vater und sein Bruder wie wild umherrannten und ihn suchten, aber sie kamen nie auf den Gedanken, nach oben zu sehen, wo er schwebte. Ein Gefühl der Erregung ergriff ihn, als er über die Stadtmauern hinwegglitt und über die angrenzenden Felder segelte, und als Secca hinter ihm immer kleiner wurde und er den berauschenden Geschmack der Frei heit kostete, wurde er von Gelächter geschüttelt. Der Traum war noch frisch in seiner Erinnerung, und das Licht des frühen Tages schien ihm ins Gesicht, als er erwachte. Er sprang sofort aus dem Bett und wartete schon, als die Diener ihm heißes Wasser und das Frühs tück brachten. Er badete schnell und schlang sein Frühstück herunter, während er sich anzog: eine Hose aus weichem braunen Leder und hohe Stiefel, ein weites weißes Hemd und ein
Wams aus derbem Leder, passend für eine Reise, aber nicht so auffällig, daß ein aufmerksamer Beobachter daraus auf sein Vorhaben hätte schließen können. Er überlegte, ob er sich ein Schwert umschnallen sollte, entschied sich dann aber dagegen, weil es ihm zu verrä terisch erschien. Er schob die Karte unter das Wams, setzte einen gleichmütigen Gesichtsausdruck auf und verließ seine Gemächer. In den Fluren des Palastes gingen die Diener ihren Aufgaben nach, aber sie schenkten ihm kaum Beachtung, als er in die Richtung von Varents Quartier schlenderte. Sie waren es gewohnt, daß er ziellos umherwanderte, und so erreichte er Varents Zimmer, ohne weitere Auf merksamkeit zu erregen. Vor der Tür blickte er sich schnell um. Drei Frauen schrubbten den gefliesten Fußboden, aber keine sah zu ihm herüber. Er klopfte kurz und schlüpfte durch die Tür. Varent erwartete ihn hinter einem Tisch, auf dem die Überreste eines reichhaltigen Frühstücks lagen. Er war bereits prächtig gekleidet, in Blau und Gold, die Insig nien Aldarins als Stickerei auf der Brust, das dunkle Haar geölt und mit einer silbernen Spange aus dem eindrucks vollen Gesicht gehalten. Er erhob sich strahlend, als Ca landryll eintrat. »Seid Ihr irgend jemandem begegnet?« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Dienern, aber die haben mich nicht hier hereingehen
sehen.« »Habt Ihr die Karte dabei?« Calandryll nickte und klopfte gegen sein Wams. »Gut.« Varent winkte ihn zu sich. »Dann kommt her. Es wird Zeit, Euch Eure Tarnung zu verpassen.« Er trat dicht an Calandryll heran, hob die Hände, die Handflächen nach außen gedreht, und begann, leise vor sich hinzumurmeln. Mandelduft schwebte in der Luft. Er streckte die Hände aus und umfaßte Calandrylls Wan gen, der die Berührung als irgendwie sehr persönlich empfand und sich dabei seltsam verlegen fühlte. Er spürte, wie es auf seiner Haut kitzelte und sich sei ne Haare aufstellten. Varent legte beide Hände auf Calandrylls Kopf, wobei er unablässig weitermurmelte. Ein dumpfes Dröhnen untermalte seine Stimme. Der Mandelgeruch wurde stärker und löste sich kurz danach wieder auf. Varent trat zurück. »Das war es, jetzt wird Euch niemand mehr erkennen. Bleibt dicht bei mir, und jeder, der Euch sieht, wird Euch für einen meiner Begleiter halten.« Calandryll sah an sich herab. Seine Kleidung hatte sich nicht verändert. Er blickte in den Spiegel und erkannte sich wieder. Seine Stirn legte sich in Falten. »Vertraut mir«, sagte Varent eindringlich. »Ihr seht Euch so, wie Ihr seid, weil Ihr Euch kennt. Jedem ande ren werdet Ihr jetzt als ein eher unscheinbarer Bursche
mit braunem Haar und einer beachtlichen Warze auf dem Kinn erscheinen. Irgendwie mag ich diese Varian te.« »Werde ich so bleiben?« fragte Calandryll besorgt. »Nein!« Varent schüttelte lachend den Kopf. »Sobald wir den Herrschaftsbereich Eures Vater hinter uns gelas sen haben, werde ich Euch zurückverwandeln. Verspro chen!« Calandryll nickte, trotz seiner Aufregung fühlte er sich jetzt verzagt. »Wir müssen nur noch warten, bis Euer Vater uns ru fen läßt«, sagte Varent selbstsicher, »dann sind wir ver schwunden. Kein Grund zur Besorgnis – mein Wort darauf!« Calandryll nickte wieder. Er konnte es kaum noch er warten, sich auf den Weg zu machen, die Ungewißheit zu beenden. Sein Mund war trocken, und sein Herz hämmerte heftig gegen seine Rippen. Trotz Varents hei terer Gelassenheit war er immer noch nicht völlig vom Erfolg ihres Unternehmens überzeugt. Der Diener, der ihnen mitteilte, daß der Domm den Botschafter erwarte te, erschien ihm gleichzeitig als Überbringer guter Neu igkeiten wie auch als Vorbote drohenden Unheils. Er wußte nicht, was er denken sollte. »Also, laßt uns gehen.« Varent klopfte ihm auf die Schulter und verließ das Zimmer voller Zuversicht. Calandryll blieb nichts ande res übrig, als ihm zu folgen.
Draußen im Gang wartete Varents kleine Gefolgschaft, begleitet von einer Ehrengarde der Palastsoldaten. Va rent strahlte sie an, begrüßte sie fröhlich und schlenderte lässig zur breiten Treppe, die zur Hauptempfangshalle hinunterführte. Calandryll hielt sich dicht hinter dem hochgewachsenen Mann, und sein Herz klopfte so laut, daß er glaubte, es müsse die Nachricht von seiner Flucht wie eine Warnsirene herausschreien. Bylath erwartete sie vor der Pforte. Er war in eine for melle grüne Robe gekleidet und hatte eine schwere Ze remonienkette um den Hals. Tobias stand neben ihm. Er trug eine leichte Rüstung, ein Schwert am Gürtel und einen Silberhelm in der Armbeuge. Hinter ihnen hatte sich eine Schwadron Ulanen in Habtachtstellung aufge baut und verharrte stumm und ernst, während der Domm seine Gäste verabschiedete. Calandryll lauschte dem formellen Wortgeplänkel und hielt die Augen auf den Boden gerichtet. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, schluckte krampfhaft, als der Blick seines Vaters in seine Richtung wanderte, und als er ohne das kleinste Anzeichen des Erkennens über ihn hinwegglitt, weiteten sich seine Augen in fas sungslosem Staunen. Er hob den Kopf und starrte Tobias an. Sein Bruder warf ihm einen kurzen, gleichgültigen Blick zu, nicht mehr als die beiläufige Musterung eines gesichtslosen Dieners. Calandryll hörte, wie sein Vater sich für die Abwesenheit seines jüngsten Sohnes ent schuldigte, und Varent winkte ab. Dann gingen sie durch die Pforten auf den sich anschließenden Hof hinaus, wo
ein kleiner, bunt geschmückter Wagen stand. Varents Diener luden sein Gepäck ein, und der Botschafter stieß Calandryll unauffällig den Ellbogen in die Seite. »Steigt auf den Wagen.« Calandryll kletterte auf den Sitz neben den Kutscher, der ernst dreinblickte, die Livree von Aldarin trug und von der würdevollen Zeremonie zu sehr gefangen war, um belanglose Konversation zu machen. Seine Schweig samkeit kam Calandryll gelegen, der es sich bequem machte und die Vorteile seiner Tarnung zu genießen begann. Varent bestieg einen großen Falben, der mit blauem und goldenem Zierrat geschmückt war und zur Kleidung seines Reiters paßte, flankiert von Bylath und Tobias, und die Gefolgschaft des Botschafters nahm hinter ihm Aufstellung. Die Ulanen bestiegen ihre Pferde und bilde ten zwei Reihen vor und hinter dem Zug. Bylath nickte Tobias zu, der eine Hand hob und den Befehl zum Aus rücken bellte. Der Kutscher ruckte an den Zügeln, rief den vier gleich aussehenden Schimmeln etwas zu, und die vier Tiere legten sich in ihr Geschirr. Die eisenbeschlagenen Räder des Wagens drehten sich rumpelnd über die Stein fliesen, untermalt vom Klappern der Hufe. Vor ihnen standen die Palasttore offen. Die Wächter hatten sich mit erhobenen Hellebarden zu zeremoniellen Reihen aufge baut und salutierten vor den vorbeiziehenden Reitern. Calandryll begann zu lächeln, als der Schatten des
Torbogens auf sein Gesicht fiel und er die breite Allee vor sich sah, die sich durch ganz Secca erstreckte. Bürger säumten die Straßenränder, winkten und klatschten Beifall, als die Kolonne im Schrittempo in die Stadt hi neinritt. Offensichtlich war Varents Magie tatsächlich so wirksam, wie er es versprochen hatte. Sie zogen die Allee entlang und kamen in das Adels viertel, wo die hochgestellten Persönlichkeiten die Pro zession von ihren Balkonen aus verfolgten. Dort entdeck te Calandryll auch Nadama, die in ihrem weißen Ge wand hinreißend aussah und das Haar mit einem Netz aus filigranen Goldfäden gebändigt hatte. Sein Lächeln verschwand, als Tobias sich in seinem Sattel in ihre Rich tung verbeugte und sie den Gruß begeistert erwiderte. Sie bemerkte Calandryll nicht, ihr Blick klebte entzückt an seinem Bruder, und er sank in sich zusammen; das Wissen, daß er sie bis zu seiner Rückkehr nicht mehr sehen würde, daß sie von seiner großen Aufgabe erst erfahren würde, nachdem er sie vollbracht hatte, dämpfte seine Aufregung. Doch dann … Was würde sie dann denken? Würde ihr Lächeln dann nicht ihm gelten? Er tröstete sich mit dieser Vorstellung, während der Wagen weiterrollte, durch das Pfeilmacher-, das Ge schirrmacher- und das Brauerviertel, und dann tauchten vor ihnen die Stadtmauern auf. Die Sonne schien von einem wolkenlosen blauen Himmel herab, überzog die weißen Steine der Stadtmau
er mit ihrem goldenen Schein und schimmerte auf den Rüstungen der Legionäre, die entlang der Befestigungs wälle zur Parade angetreten waren. Das massive Westtor schwang auf, und der Zug kam auf Tobias' Zeichen hin zum Stehen. Calandryll setzte sich gerade auf und ver gaß Nadama, als er von neuem von Aufregung ergriffen wurde. Er sah zu, wie sich Bylath in seinem Sattel hin überbeugte, um Varent zu umarmen, und Tobias dem Botschafter die Hand reichte. Kurz darauf setzten sie sich wieder in Bewegungen, die Ulanen zogen nach beiden Seiten ab, Varent ließ seinen Falben munter antraben, und seine persönliche Eskorte paßte sich seiner Ge schwindigkeit an. Calandryll kam direkt an seinem Vater und an Tobias vorbei und sah sie beide an, aber sie hat ten den Blick fest auf den Botschafter gerichtet. Dann blieben sie hinter ihm zurück, als der Wagen un ter den Stadtmauern hindurchrollte, einen Moment lang im Schatten lag und wieder in das Sonnenlicht hinein fuhr. Das Tor schwang zu, und der Kutscher sprach zum ersten Mal. »Gut, wieder nach Hause zu kommen, was? Secca ist nicht schlecht, aber an Aldarin reicht nichts heran.« »Nein.« Calandryll lächelte schwach und drehte sich um, um einen Blick zurückzuwerfen. Die Befestigungswälle seiner Heimatstadt erstreckten sich weit in beide Richtungen der Ebene, hoch und weiß wie die Hoffnungen seiner Kindertage. Er fühlte, daß er mehr als nur eine Stadt hinter sich ließ, und einen Mo
ment lang verspürte er einen Stich des Bedauerns. Dann wurde sein Lächeln wieder breiter, als er sich die Ratlo sigkeit vorstellte, die im Palast herrschen würde, sobald Bylath sein Fehlen bemerkte. Was würde der Domm wohl denken? Daß es seinem Sohn irgendwie gelungen war, an den Palastwachen vorbeizuschlüpfen und in der Stadt unterzutauchen? Würde es Geschrei und Gezeter geben? Würden die Wächter Secca wieder nach ihm durchstöbern? Mit Sicherheit würde niemand auf den Gedanken kommen, daß er in Varents Begleitung direkt vor ihren Nasen vorbeigezogen war. Er begann zu ki chern. »Du bist wirklich guter Laune«, sagte der Kutscher, der glaubte, daß der Gedanke an die Rückkehr nach Aldarin die Ursache für die Heiterkeit seines Begleiters war. »Aye«, erwiderte Calandryll, »das bin ich. Sehr guter Laune.« Der Fahrer grinste ihn an. »Ich kann mich nicht an dein Gesicht erinnern. Bist du schon lange bei Lord Va rent?« »Nein, noch nicht lange«, sagte Calandryll. »Hab' mir gedacht, daß du neu bist. Wie heißt du? Ich bin Shadim.« »Calandryll.« »Calandryll.« Shadim dachte einen Moment lang nach. »Hat Domm Bylath nicht einen Sohn, der genauso heißt?«
»Ja«, bestätigte Calandryll. »Seid ihr verwandt?« Shadim schmunzelte. Die Vor stellung erheiterte ihn. »Hat Bylath seinen Samen in einem fremden Garten gepflanzt und es deiner Mutter überlassen, die Früchte zu ernten?« »Nein«, erwiderte Calandryll schnell. »Das sollte keine Beleidigung sein«, beschwichtigte Shadim, der Calandrylls Tonfall mißverstanden hatte. Calandryll schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe es auch nicht als Beleidigung aufgefaßt.« »Gut. Wär' sonst auch eine ziemlich traurige Reise ge worden.« Calandryll nickte. Seine Aufmerksamkeit wurde von Varent in Anspruch genommen. Der Botschafter hatte sein Pferd gezügelt, wartete am Wegesrand und sah zu, wie die kleine Kolonne weiterzog. Als der Wagen auf seiner Höhe angekommen war, lenkte er sein Pferd näher heran und winkte Calandryll zu. »Steig ab, wir haben etwas zu erledigen.« Calandryll ignorierte Shadims neugierigen Blick, stand auf und sprang eilig zu Boden, als der Kutscher die Zü gel angezogen und das Gespann verlangsamt hatte. Va rent winkte den Wagen weiter und rief einen Reiter der Nachhut heran. »Darth, fahr eine Weile auf dem Wagen mit.« Der Mann nickte gehorsam, brachte sein Pferd zum Stehen und stieg ab. Er führte es zu Calandryll, übergab
ihm die Zügel und lief los, um den Wagen einzuholen. Calandryll bestieg erwartungsvoll das geliehene Pferd. »Wir müssen Euren Freund, den Söldner, aufsuchen«, verkündete Varent, »und Euer eigenes Aussehen wie derherstellen.« »Eure Leute…«, warf Calandryll ein, doch Varent brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Die werden annehmen, ich hätte meinen warzigen Diener auf einen Botengang vorausgeschickt«, erklärte der Botschafter, »während sich uns zwei angeworbene Männer angeschlossen haben. Sie sind an meine kleinen Spielchen gewöhnt.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, stieß er seinem Pferd die Fersen in die Weichen und ließ es galoppieren. Calandryll folgte ihm. Bald hatten sie die langsam dahinziehende Kolonne hinter sich gelassen und ritten in zügigem Tempo über die gut gepflegte Straße, die durch das umliegende Farm land führte. Am späten Nachmittag kamen sie in Sichtweite einer Karawanserei, die geschützt in einer Senke lag, und Va rent brachte sein Pferd zum Stehen. »Ich schlage vor«, sagte er lächelnd, »daß ich Euch jetzt Euer eigenes Gesicht zurückgebe. Da der Kerner Euch kennt, könnte Eure Tarnung ihn verwirren.« Calandryll neigte zum Zeichen des Einverständnisses den Kopf und schwang sich aus dem Sattel. Varent stieg ebenfalls ab und hob die Hände. Er begann, vor sich
hinzumurmeln, und Calandryll roch Mandelduft in der warmen Luft. Dann berührte Varent ihn erneut, und er spürte seine Haut kribbeln. Einen Moment lang schienen ihm die Haare zu Berge zu stehen. »Eine eindeutige Verbesserung«, stellte der Botschafter lächelnd fest. »Die Warze war ein netter Scherz, wenn auch ziemlich häßlich. Aber trotzdem eine erfolgreiche Tarnung, meint Ihr nicht auch?« »Mein Vater hat mich gesehen«, erwiderte Calandryll kopfschüttelnd, »und … irgendwie doch nicht.« »Er hat gesehen, was wir ihn sehen lassen wollten«, bemerkte Varent beiläufig. »Die Magie ist eine nützliche Kunst, Calandryll.« »Ja«, stimmte der Jüngere zu, und die Erinnerung ließ ihn schmunzeln. Varent setzte einen Fuß in den Steigbügel. »Jetzt wol len wir feststellen, ob der Kerner vertrauenswürdig ist. Oder ob er sich mit meinen hundert Varre aus dem Staub gemacht hat.« Calandryll schwang sich in den Sattel und galoppierte dem Botschafter hinterher. Die Karawanserei war um einen Brunnen herum er richtet worden. An drei der Schutzmauern waren Ställe und Lagerschuppen angebaut, an der vierten die Wohn quartiere. Ein Pferdebursche nahm ihnen die Tiere ab, und Calandryll folgte Varent in das kühle weiträumige Innere des Gemeinschaftsraums hinein. Eine Handvoll Reisenden sah bei ihrem Eintreten auf, und der Inhaber
beäugte abschätzend Varents ziemlich kostbare Klei dung. »Es werden später noch zwölf Leute hier eintreffen«, rief der Botschafter. »Wir brauchen Betten und Plätze für unsere Pferde im Stall.« »Ich werde mich darum kümmern, Herr«, versprach der Mann. Varent blickte sich um. »Wie sieht es aus, ist der Ker ner hier?« »Da drüben.« Calandryll deutete zur gegenüberlie genden Wand, wo es sich eine schwarzgekleidete Gestalt bequem gemacht und die Füße auf einen Schemel gelegt hatte. Der Kerner hatte einen Krug Bier vor sich auf dem Tisch stehen, das Krummschwert um die Hüfte ge schnallt, und musterte sie mit einer Mischung aus Über raschung und Gereiztheit. »Ihr seid meiner Bitte nachgekommen«, stellte Varent strahlend fest. »Ihr habt mich bezahlt«, erwiderte Bracht. »Ein Mann von Ehre.« Varent zog sich einen Stuhl heran. »Habt Ihr etwas anderes erwartet?« »Nein!« Varent schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ein Kerner steht jederzeit zu seinem Wort, so heißt es doch, oder?« Bracht betrachtete den Botschafter aus kalten blauen Augen. Calandryll setzte sich. Er konnte die Verärgerung
des Söldners spüren. Der Wirt brachte unaufgefordert zwei Krüge Bier. Varent ergriff einen und trank. »Ich grüße dich, Bracht«, sagte Calandryll. Der Kerner beachtete ihn nicht. »Ausgezeichnet«, murmelte Varent. »Ein gutes Bier.« »Ihr habt nichts von ihm erwähnt.« Bracht deutete mit dem Kinn in Calandrylls Richtung. »Ich habe gesagt, daß ich Euch anheuern würde, um einen Reisenden zu beschützen«, sagte Varent. »Dieser Reisende ist Calandryll.« »Der Sohn des Domms von Secca?« Bracht schüttelte den Kopf. »Wie lange wird es dauern, bis sein Vater nach ihm suchen läßt? Und wenn er mich bei Calandryll fin det, bin ich reif für den Galgen.« »Der Domm hat keine Ahnung, wo er steckt«, besch wichtigte Varent. »Noch hat er den geringsten Grund zu vermuten, daß ich ihn heimlich aus der Stadt herausge bracht haben könnte.« »Trotzdem«, beharrte Bracht. »Trotzdem habt Ihr mein Geld genommen«, erwiderte Varent. »Und Ihr könnt Euch noch eine Menge mehr dazu verdienen.« »Das ist ein Punkt«, gab Bracht zu. »Tausend Varre«, sagte Varent. »Eine ganze Menge Geld.« Bracht starrte in seinen Krug, als würde er das Für und Wider erwägen. Dann zuckte er die Achseln. »Na
schön, sei's drum.«
»Gut.« Varent lächelte. »Wollen wir jetzt essen?«
KAPITEL 5 »Warum weist du mich zurück?« wollte Calandryll wis sen. Er hatte die Gelegenheit ergriffen, sich allein mit Bracht zu unterhalten, als der Kerner in den Stall gegan gen war, um nach seinem Pferd zu sehen. Während sie auf Varents Männer gewartet hatten und auch beim darauffolgenden Essen, hatte der Söldner ihm gegenüber ein unterkühltes Verhalten an den Tag gelegt, obwohl er auf Varents Bedingungen eingegangen war. Brachts abweisendes Verhalten machte Calandryll Sorgen; er hatte eine freundlichere Begrüßung erwartet. Bracht zuckte wortlos die Achseln und fuhr mit einer Striegelbürste über die glänzende Hinterhand seines Hengstes, aber Calandryll weigerte sich, ohne Antwort abzuziehen. »Wir werden eine Menge Zeit zusammen verbringen – wenn dich etwas daran stört, solltest du es lieber jetzt sagen.« Bracht strich mit der Bürste über die Kruppe seines Pferdes und begutachtete seine Arbeit. »Ich habe Varents Geld genommen und seinen Auf trag akzeptiert. Ist das nicht genug?«
»Nein!« Calandryll war etwas überrascht über seine Selbstsicherheit, sie schien ständig zu wachsen. »Das ist nicht genug. Ich möchte nicht, daß es Verstimmungen zwischen uns gibt.« Bracht strich die Mähne des Hengstes glatt, führte ihn in seinen Verschlag und füllte den Futtertrog mit Hafer. Er schob die Striegelbürste in einen Beutel und warf ihn auf das Stroh vor dem Stall. Dann stützte er sich auf den Holm und musterte Calandryll kritisch. »Ich habe nichts gegen dich, Calandryll, nicht in der Art, wie du glaubst.« »Auf welche Art dann?« Bracht grinste knapp. »Varent ist mit einem Angebot an mich herangetreten«, sagte er. »Er hat mir tausend Varre geboten, um als Leibwächter für einen Reisenden nach Gessyth zu arbeiten. Das ist mehr, als ich in drei oder vier Jahren als selbständiger Söldner zu verdienen hoffen könnte. Ich habe den Auftrag akzeptiert, und deshalb bin ich – wie Varent gesagt hat – an mein Wort gebunden. Ich weiß nur wenig über Gessyth, aber das Wenige läßt vermuten, daß es ein gefährliches Land ist. Ich hatte erwartet, daß ich für die Sicherheit einer Han delsreise sorgen sollte, doch jetzt mußte ich feststellen, daß ich dich begleiten soll.« »Und du wärst lieber in die Dienste eines dickbäuchi gen Händlers getreten?« Bracht schüttelte mit einem leisen verhaltenen Lachen den Kopf. »Ein Händler, der nach Gessyth reist, würde
kaum ein Fettwanst sein, eher der Typ eines Söldners und Abenteurers. Ein Mann, der mit einem Schwert umzugehen versteht. Ich aber muß feststellen, daß mein Schutzbefohlener – der Sohn des Domms von Secca ist und wahrscheinlich demnächst von seinem Vater ge sucht werden wird, aber was noch wichtiger ist, es han delt sich um einen…«, er verschluckte, was er eigentlich hatte sagen wollen, und blickte direkt in Calandrylls wütende Augen, »… einen jungen Mann, der nur wenig über den Umgang mit dem Schwert weiß, jemand, der seiner Neigung nach ein Gelehrter ist.« »Genau das ist der Grund, warum Varent meine Hilfe braucht«, sagte Calandryll bissig. »Eben weil ich ein Ge lehrter bin. Weil ich die Alte Sprache beherrsche, die Schrift lesen kann und in der Lage bin zu erkennen, wie…« Er brach mitten im Satz ab. Ihm wurde plötzlich be wußt, daß er vielleicht mehr verriet, als der Söldner Va rents Meinung nach wissen durfte. »Was erkennen?« fragte Bracht, und Calandryll merk te, daß er zu weit gegangen war. Der Blick aus den blau en Augen des Kerners verlangte nach einer Erklärung. »Ein Buch«, murmelte er, genauso wütend auf sich selbst wie auf den Kerner. »Ein seltenes altes Dokument, das Lord Varent für seine Sammlung erwerben möchte. Und ich kann ein Schwert benutzen!« Bracht ignorierte den letzten Satz. Seine Augen wur den schmal.
»Varent zahlt mir tausend Varre, nur um an ein Buch zu kommen?« Calandryll nickte. »Ein äußerst seltenes Buch. Ein ein zigartiges Buch. Lord Varent«, improvisierte er schnell, »ist Sammler.« »Wieviel zahlt er dir?« wollte der Söldner wissen. Calandryll schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich unter nehme die Reise, weil ich Gelehrter bin. Und er hat mir geholfen, aus Secca zu fliehen. Bei Dera, Bracht! Mein Vater möchte mich zum Priester machen.« »Ich kann verstehen, daß du eine Abneigung gegen dieses Amt hast«, gab Bracht zu. »Aber sich nach Gessyth zu wagen, ohne dafür bezahlt zu werden?« Er schüttelte mit einem ungläubigen Grinsen den Kopf. Offensichtlich war er der Meinung, daß sich nur ein Idiot ohne Bezahlung auf eine solche Reise begeben könne, und der jüngere Mann spürte, wie sein Gesicht aus Verlegenheit und Zorn heiß wurde. »Es gibt Wichti geres als Geld«, sagte er gereizt. »Selbstverständlich«, stimmte ihm Bracht zu. »Aber nicht viel.« »Ich bin kein Söldner!« »Nein.« Das Grinsen hielt sich in Brachts Gesicht. »Das steht fest.« »Was willst du damit andeuten?« erkundigte sich Ca landryll. »Ich habe gesehen, wie du in der Schenke zusammen
geschlagen worden bist, und bemerkt, daß du dich nicht verteidigen kannst. Soweit ich gehört habe, ist Gessyth ein Land voller Ungeheuer, in dem überall Gefahr lauert. Ich würde es bevorzugen, wenn mein Schutzbefohlener wenigstens ein bißchen mit dem Schwert umgehen könn te.« »Ich kann mit einem Schwert umgehen«, beharrte Ca landryll. Bracht zog in stummem Zweifel die Augenbrauen hoch. »Ich kann« rief Calandryll mit mittlerweile zornrotem Gesicht. Der ruhige Blick des Kerners machte ihn genau so wütend wie Tobias' spöttische Art. »Ich werde es dir beweisen! Warte hier auf mich.« Er wirbelte herum, um sich ein Schwert zu borgen. Brachts ungerührte Stimme ließ ihn an der Stalltür ste henbleiben. »Das ist nicht der geeignete Ort, um deine Fechtkünste zu demonstrieren. Ich werde in der Scheune auf dich warten.« Er deutete mit dem Daumen auf das angrenzende Ge bäude. Calandryll nickte kurz und ging über den vom Mondlicht beschienenen Hof zum Gemeinschaftsraum der Karawanserei. Varent und seine Männer saßen dort und tranken. Der Botschafter musterte Calandryll inte ressiert aus seinen dunklen Augen. »Ich brauche ein Schwert«, sagte Calandryll. »Wozu?« fragte Varent neugierig.
»Bracht zweifelt daran, daß ich in der Lage bin, unsere Reise zu überstehen. Ich will ihm beweisen, daß ich mich verteidigen kann.« »Er ist ein professioneller Söldner«, gab Varent zu be denken. »Ihr solltet Euch keine Hoffnungen machen, ihn besiegen zu können.« »Ich will ihn nicht besiegen, nur überzeugen«, fauchte Calandryll. Seine Wut ließ ihn ungehalten werden. »Er wartet in der Scheune auf mich. Ist irgend jemand bereit, mir sein Schwert zu leihen?« Die Männer des Botschafters blickten ihren Herrn fra gend an. Varent schürzte nachdenklich die Lippen. In seinen Augen lag ein rätselhafter Ausdruck. Dann nickte er langsam. »Nun gut, nehmt meins.« Er zog einen Säbel aus einer mit Silberfäden durch wirkten Scheide, dessen leicht abgewinkelte Parierstange mit schneckenförmigen Verschnörklungen verziert war. Der Griff lief in einem Goldknauf aus. Calandryll be dankte sich mit einem Nicken und nahm die Waffe ent gegen. Sie lag gut in seiner Hand. Varents Männer mach ten Anstalten, ihm zu folgen, als er zur Tür ging, doch der Botschafter winkte sie zurück. »Bei dieser Angele genheit sollten keine Zuschauer anwesend sein«, mur melte er so leise, daß Calandryll ihn nicht hören konnte. »Laßt sie das allein austragen.« »Der Kerner wird ihn in Scheiben schneiden«, protes tierte Darth.
»Nein.« Varent schüttelte den Kopf. »Der Kerner wird ihm vielleicht eine Lektion erteilen, aber er wird dem Jungen nichts zuleide tun. Lassen wir sie allein und ge hen wir schlafen. Es ist schon spät, und ich möchte in der Frühe von hier verschwinden.« Calandryll atmete tief durch, als er über den Hof zurück ging, und versuchte, sich zu beruhigen. Realistisch gese hen war ihm klar, daß er Bracht nicht gewachsen war. Er war kein Soldat und erst recht kein Schwertkämpfer nach Maßstäben des Söldners, aber er hatte auf Anordnung seines Vaters oft genug üben müssen, und er hoffte, dem Kerner zumindest beweisen zu können, daß er nicht völlig hilflos war. Er betrat die Scheune. Bracht hatte mehrere Laternen entzündet, und das Mondlicht, das durch die hohen Fenster in der Vorder- und Rückwand fiel, spendete genug Helligkeit, so daß sie ohne größere Schwierigkei ten kämpfen konnten. Der mit Heuballen vollgestopfte Dachboden wurde von verstärkten Stützpfeilern getragen, der Raum dazwi schen war von einem bis zum anderen Ende frei. Der Kerner wartete an der Tür und stieß sie hinter Calandryll mit dem Fuß zu. In der rechten Hand hielt er locker das Krummschwert. »Zieh das an.« Er warf Calandryll ein gefüttertes Wams zu, wie es gewöhnlich während Übungskämpfen getragen wurde.
Der jüngere Mann fing die Jacke auf, zog ein finsteres Gesicht und legte Varents Säbel beiseite, als er die Arme in die gefütterten Ärmel schob und die Brustbänder verknotete. Bracht trug ein ähnliches Kleidungsstück über seinem schwarzen Lederhemd und hatte ein Lä cheln aufgesetzt, das Calandrylls Zorn weiter anfachte. »Denk daran, wir wollen in diesem Kampf kein Blut vergießen«, ermahnte der Kerner seinen Gegner. »Keine auf den Kopf gezielten Schläge.« »Ich habe früher schon Übungskämpfe bestritten.« Ca landryll ging in Kampfhaltung. »En guard!« Bracht schüttelte den Kopf, doch seine Augen blieben dabei unverwandt auf Calandrylls Gesicht gerichtet. »Erste Lektion: Wenn du einen Mann töten willst, darfst du ihn vorher nicht warnen.« »Ich will dich nicht töten.« »Nein.« Bracht lächelte. »Aber trotzdem.« »Es scheint mir unehrenhaft, ohne Vorwarnung an zugreifen«, sagte Calandryll. »Die Ehre muß manchmal zurückstehen, wenn es ums Überleben geht«, murmelte Bracht und ließ das Krumm schwert auf Calandrylls Brust zuschnellen. Calandryll sprang zurück und riß den Säbel hoch, um den Angriff abzuwehren. Brachts Klinge glitt über den Säbel und drückte ihn beiseite, wobei er Calandrylls Brustkorb entblößte. Das Krummschwert traf Calandryll mit der Breitseite und ließ ihn grunzen. In Erwartung
eines zweiten Angriffs machte der Sohn des Domms einen Ausfallschritt und täuschte einen Angriff an. Bracht ging in den Gegenangriff über, lenkte Calandrylls Waffe diesmal nach oben ab und ließ das Krummschwert auf seinen Bauch niederfahren. »Ich glaube«, bemerkte der Kerner gelassen, »daß dir jetzt die Eingeweide aus dem Bauch hängen würden.« Das Grinsen des Söldners raubte Calandryll jegliche Selbstbeherrschung. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er Varents Säbel niedersausen, änderte die Schlag richtung, als Brachts Schwert herumschwang, um den Schlag abzublocken, und versuchte, die Deckung des Söldners zu durchbrechen. Aber Bracht war zu schnell für ihn, seine Klinge blitzte im Licht der Laternen auf, zuckte vor, lenkte Calandrylls Säbel ab und traf den jüngeren Mann an der Brust. »Eine weitere Lektion – lerne, deine Wut zu beherr schen. Wut macht den Schwertkämpfer leichtsinnig.« Er wich zurück, ließ Calandryll die Initiative über nehmen und vereitelte jeden seiner Angriffe mit einer Mühelosigkeit, die den Zorn des Jüngeren weiter ansta chelte. Es schien unmöglich, seine Abwehr zu durchbre chen; Bracht blockte jede Attacke ab, ließ sie ins Leere laufen oder reagierte mit einem Gegenangriff. Das Krummschwert schien in seiner Hand lebendig zu wer den, flog mit einer Leichtigkeit umher, die Calandryll den Atem nahm. »Außerdem«, bemerkte Bracht liebenswürdig, »solltest
du versuchen zu lernen, die Grenzen deines Gegners in Erfahrung zu bringen. Ihn nicht einfach nur angreifen.« Calandryll wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und hielt den Säbel in Abwehrhaltung hoch. Jetzt griff Bracht an, und wieder prallten ihre Klin gen aufeinander. Calandryll wußte nicht, wie das Krummschwert diesmal bis zu seinen Rippen durchkam. Der Kampf zog sich dahin. Calandrylls Atem ging stoßweise, sein Gesicht glänzte vor Schweiß, der Säbel in seiner Hand wurde immer schwerer. Er hätte längst schon aufgegeben und seine Niederlage eingestanden, hätte die Wut ihn nicht immer weiter angestachelt. Meh rere Male war er überzeugt, einen Treffer landen zu kön nen, aber immer wieder wurde sein Schwert zur Seite gelenkt, und jeder Angriff endete damit, daß die Klinge des Söldners ihm mit der Breitseite auf die Brust oder den Bauch klatschte. »Ich glaube«, sagte Bracht nach einer Weile, immer noch entspannt lächelnd und ruhig atmend, »daß du spätestens jetzt tot wärst.« Gegen seinen Willen nickte Calandryll und ging wie der in Angriffsposition. Bracht hob die linke Hand. »Genug, mein Freund. Ich gebe zu, daß du nicht gänz lich unbegabt bist.« »Was?« Calandryll ließ den Säbel sinken und sah Bracht fas sungslos an. Er war der Meinung gewesen, der andere hätte ihm gerade seine Unfähigkeit aufgezeigt. Der Ker
ner schmunzelte und sagte: »Du mußt noch viel lernen, Calandryll, aber die Voraussetzungen sind da. Vielleicht kann ich einen richtigen Schwertkämpfer aus dir ma chen, bevor wir Gessyth erreichen.« »Du ziehst deine Vorbehalte zurück?« Bracht verneig te sich, und einen Moment lang dachte Calandryll, die höfliche Geste wäre ironisch gemeint, doch dann sagte der Kerner: »Du bist nicht das Muttersöhnchen, für das ich dich gehalten habe – ja, ich ziehe meine Vorbehalte zurück.« »Und du wirst mir den Schwertkampf beibringen?« »Ich werde mein Bestes tun«, versprach der Kerner. »Laß uns jetzt ein bißchen Bier trinken, um den Pakt zu besiegeln.« Calandryll nickte. Er spürte, daß er eine Art Prüfung bestanden hatte, und jetzt bot ihm der Söldner so etwas wie Kameradschaft an. Er war nur allzu bereit, das An gebot anzunehmen. »Ich habe wirklich Durst«, gab er zu. »Dann laß uns etwas dagegen tun«, erwiderte Bracht und hob sein Schwert in die Scheide zurück. Sie begannen, die Lampen zu löschen, wobei sie sich vom hinteren Bereich der Scheune nach vorne zur Tür vorarbeiten. Als sie die halbe Strecke hinter sich gebracht hatten und er hintere Teil bereits dunkel war, nahm Ca landryll in der staubigen Luft einen schwachen Hauch von Mandelduft wahr. Er drehte sich um, blickte nach allen Seiten, rechnete schon mit Varents Erscheinen, aber
der Botschafter war nirgendwo zu sehen. Der Geruch wurde intensiver, und jetzt konnte Calandryll ein Flim mern in der Luft auf halbem Weg zwischen sich und der Tür erkennen, als würde das silberne Mondlicht dort in substanzlose Schwingungen versetzt, die wie Quecksil ber glänzten. »Was ist das?« Bracht schien seine Anspannung zu spüren, wirbelte zu herum, die Hand auf den Griff seines Krummschwer tes gelegt, das dunkle Gesicht wachsam. »Ich bin mir nicht sicher.« Calandryll deutete auf die Stelle, an der sich das Schimmern in der Luft verfestigte. »Magie, glaube ich.« Bracht folgte seiner ausgestreckten Hand mit den Au gen, stieß einen leisen Fluch aus und zog das Schwert aus der Scheide. Calandryll keuchte und hob Varents Säbel. Die Luft schimmerte nicht mehr. An ihrer Stelle mate rialisierten Kreaturen, die einem Alptraum entsprungen zu sein schienen. Es waren vier, die auf eine obszöne Art von menschlicher Gestalt waren, ohne allerdings irgend etwas Menschliches an sich zu haben. Wolfartige Köpfe saßen auf kurzen, dicken Hälsen, die in breite Schultern übergingen. Unter der grauen Reptilienhaut zeichneten sich kräftige Muskelstränge ab. Sie hatten lange, vogelar tige, gefiederte Beine, die in gelben Füßen mit gebogenen Krallen ausliefen. Die Augen der Kreaturen waren rot, in ihren geöffneten Kiefern, aus denen schleimiger, zäher Speichel troff, saßen Reihen scharfer Fänge. Alle hielten
lange Schwerter mit schwarzen Klingen in den Händen. Der Mandelgeruch wurde vom Gestank verrottenden Abfalls überdeckt, als das gräßliche Quartett vorrückte. Calandryll starrte es voller Entsetzen an. Bracht ergriff die Laterne, die er gerade hatte löschen wollen, und schleuderte sie auf die scheußliche Erscheinung, die ihm an nächsten war. Das dünne Glas zersplitterte, Öl ergoß sich über das Ungeheuer, entzündete sich, hüllte den grauen Oberkörper ein und umgab den haarigen Kopf mit einer Feuerkrone. Das Ding warf den Kopf zurück und stieß ein ohrenbetäubendes brüllendes Bellen aus, in dem sich Wut und Schmerzen mischten. Es ließ seine mitternachtsschwarze Klinge wie einen Dreschflegel wild durch die Luft sausen und stolperte dabei gegen seine Artgenossen. Ihr Vormarsch geriet ins Stocken. Mit einem lauten Schrei sprang Bracht vor und griff an. Sein Krummschwert schlug eine tiefe Wunde in die Brust des nächsten Ungeheuers, aus der ein Strahl schwarzen Blutes hoch in die Luft spritzte. Die Bestie ignorierte die Wunde, ließ ihr Schwert in einem Bogen heruntersausen und hätte Bracht wahrscheinlich den Kopf von den Schultern getrennt, hätte dieser sich nicht im letzten Augenblick unter dem Schlag hinweggeduckt und in der gleichen Bewegung seine eigene Klinge in den gefiederten Unterleib der monströsen Gestalt gebohrt. Er verdrehte das Handgelenk, als er das Krummschwert mit einem Ruck wieder herausriß, wodurch er der gespensti schen Erscheinung einen klaffenden Schnitt im Bauch beibrachte, aus der stoßweise schwarzes klumpiges Blut
herausschoß, das dort, wo es sich auf den Boden ergoß, zu sieden begann. Die brennende Schreckensgestalt stolperte immer noch brüllend umher, während die Hitze ihre Haut aufplatzen und sich von ihren Knochen schälen ließ, und lange Zeit konnte Calandryll sie nur reglos anstarren, vor Abscheu wie gelähmt. Dann fuhr eine schwarze Klinge auf sein Gesicht zu, und er reagierte, ohne nachzudenken, riß den Säbel hoch und lenkte den Schlag ab, auch wenn die Wucht des Aufpralls seinen Arm beinahe taub werden ließ. Er schlug seinerseits zu, als das Schwert seines An greifer zur Seite schwang, trat einen Schritt vor, wobei ihn der Gestank des grauenhaften Dings würgen ließ, und zog ihm die Klinge über die Rippen. Blutspritzer trafen seine Wangen und brannten auf seiner Haut. Er duckte sich und wich tänzelnd einem weiteren Hieb aus, der große Holzsplitter aus einem der Deckenpfeiler riß und durch die Scheune regnen ließ. Rote Augen, die bis auf den Haß, der in ihnen glomm, völlig ausdruckslos waren, starrten ihn an, als die Klinge zum dritten Mal in einem Bogen auf seine Brust zuschoß. Er parierte, spürte, wie ihm die Waffe aus der Hand geschlagen wurde, und die Kreatur knurrte triumphierend, während sie mit ihrem massigen Arm weit ausholte, um ihn in zwei Teile zu spalten. Calandryll warf sich zur Seite, entging dem Schlag nur um Haaresbreite, und die ebenholzschwarze Klinge grub sich tief in den gesplitterten Stützpfeiler. Schneller, als er es für möglich gehalten hätte, bekam er seinen Säbel wieder zu fassen, hob ihn mit beiden Hän
den hoch über den Kopf und ließ ihn mit aller Kraft wie eine Axt niedersausen. Die Klinge durchtrennte das kräftige Handgelenk der Bestie. Die haarige Hand umklammerte immer noch den Griff, als das Schwert zu Boden fiel. Eine dicke Blutfon täne sprudelte aus dem Stumpf hervor, und das Unge heuer stolperte, von seinen eigenen Schwung vorange trieben, auf ihn zu. Calandryll kehrte die Schlagrichtung um, der Säbel beschrieb eine Aufwärtskurve und schlitz te die Rippen des Angreifers auf. Ein wütendes Krei schen gellte in seinen Ohren, als die Bestie vornüberkipp te, und wurde zu einem erstickten Grunzen, als er den Säbel tief in ihren ungeschützten Rücken bohrte und ihn wild herumdrehte. Das Gefühl der über Knochen scha benden Klinge erfüllte ihn mit einem heißen blutrünsti gen Vergnügen. Er wirbelte herum und sah, wie Bracht dem vierten Ungeheuer eine blutige Wunde in der Brust zufügte und zurücktänzelte, als die Bestie mit dem aufgeschlitzten Bauch ihn von der Seite her angriff. Eigentlich hätte das Ding längst tot sein müssen, seine stinkenden Eingewei de hingen ihm aus der klaffenden Bauchwunde, und sein lederhäutiger Oberkörper war durch Brachts ersten Tref fer blutüberströmt. Aber es bewegte sich immer noch und trieb den Kerner zusammen mit seinem Artgenossen unerbittlich in den hinteren Bereich der Scheune zurück. Die dritte Kreatur brannte lichterloh und heulte, hatte das Schwert fallengelassen, die Klauen in Brust und Gesicht geschlagen und riß sich die Haut in langen Strei
fen vom Leib. Ihr Blut zischte ekelerregend. Calandryll achtete nicht weiter darauf und eilte Bracht zu Hilfe. Er sah, wie der Söldner einen Angriff parierte und das Krummschwert mit Wucht in einen Reptilienbauch schlug, herumwirbelte, als das zweite Schwert auf seinen Kopf zuschoß, den Schlag ablenkte, in die Reichweite des Ungeheuers trat und ihm das Schwert zwischen die Rip pen rammte. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, riß das scheußliche Geschöpf mit sich, als er die Waffe aus diesem Brustkorb zerrte, sie hochschnellen ließ und ihm die Klinge durch das aufgerissene Maul tief in die Kehle bohrte. Calandryll griff von hinten mit einem beidhändig ge führten Schlag an, der sich tief in die Schulter des Viehs grub. Sein Gegner fuhr knurrend zu ihm herum und riß ihm dabei den Säbel aus der Hand, dessen Spitze aus seiner Brust hervorragte. Calandryll sprang zurück. Bracht, der immer noch mit dem grauenhaft zugerichte ten Scheusal beschäftigt war, rief: »Hinter dir!«, und Calandryll fuhr wieder herum und sah das Ding, das er für tot gehalten hatte, auf sich zukommen. Schwarzes Blut quoll stoßweise zwischen den durch trennten Rippen hervor und hatte die gefiederten Beine besudelt. Die Klauenfüße hinterließen schwelende Ab drücke auf dem Boden. Die Kreatur hatte beide Arme ausgebreitet. Aus dem Stumpf des einen Arms spritzten dünne Blutstrahlen auf Calandrylls Gesicht zu, die ver bliebene Hand öffnete und schloß sich, bereit, ihn zu
ergreifen und in die Reichweite der malmenden Kiefer zu ziehen. Verwesungsatem schlug ihm entgegen. Das Pfei fen des die Luft durchschneidenden Schwertes, das von hinten auf seinen Rücken zusauste, spürte er mehr, als daß er es hörte, und warf sich zur Seite. Er prallte hart gegen einen Verschlag, als die Klinge auf den Steinboden der Scheune schlug und einen Fun kenregen aufstieben ließ, und einem Moment lang stan den sich die beiden gräßlichen Kreaturen gegenüber. Dann drehten sich beide zu Calandryll um. Er stieß sich von dem Verschlag weg und rannte in den hinteren Teil der Scheune zurück. Anscheinend konnten die Wunden den Bestien nichts anhaben. Bracht kämpfte noch immer gegen eine Kreatur, die aus einer völlig zerfetzten Kehle blutete. Dort, wo sein Krumm schwert die Brust aufgerissen hatten, waren Knochen zu sehen, tiefe Schnitte zogen sich durch den Bauch. Auch die beiden anderen, die Calandryll verfolgten, hätten längst schon tot sein müssen. Die Eine war vom Bauch bis zum Brustbein aufge schlitzt, im Rücken der anderen steckte Varents Säbel. Aber alle waren immer noch am Leben. Nur die Kreatur, die Bracht in Brand gesetzt hatte, nahm nicht mehr an dem Kampf teil und hatte aufgehört zu heulen. Sie lag als verkohlter, zusammengeschrumpfter Haufen in der Mitte der Scheune. Calandryll riß eine Lampe von ihrem Haken und schleuderte sie auf das bewaffnete Ungeheu er.
Wilde Genugtuung erfüllte ihn, als sich das brennende Öl über das Scheusal ergoß und lange Flammenzungen über seinen Körper leckten. Es begann zu taumeln, öffne te die wolfartigen Kiefer und stieß ein gepeinigtes Brül len aus. Calandryll ergriff eine zweite Lampe und warf sie auf die Bestie mit der abgehackten Hand. Sie begann ebenfalls zu heulen und schlug nach den Flammen, die ihren grauen Oberkörper einhüllten. Er rannte schnell durch die langgestreckte Scheune, schnappte sich eine dritte und eine vierte Lampe und schleuderte sie in ho hem Bogen den brennenden Schreckensgestalten entge gen. Plötzlich war die Scheune in einen höllischen Glanz getaucht. Das fahle Mondlicht wurde vom Schein der lebenden gräßlichen Fackeln überstrahlt, die brüllend in einen qualvollen Tanz umhertaumelten, den Schuppen mit rotem flackernden Licht erfüllten und Schatten über die Wände zucken ließen. Das eine Ungeheuer riß sein pechschwarzes Schwert herum und traf den Körper seines unbewaffneten Artge nossen. Calandryll richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Bracht. Der Söldner war flink wie eine Katze, und seine Kunstfertigkeit mit dem Schwert stand außer Frage, aber das gespenstische Ding, das ihn bedrängte, besaß überna türliche Kräfte und zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von seinen Wunden. Nur seine Geschicklichkeit erhielt
den Kerner am Leben, aber mit der Zeit mußte auch er müde werden und den Hieben der schwarzen Klinge zum Opfer fallen. Calandryll blickte sich hastig um. Es waren keine La ternen mehr vorhanden. Das einzige, was ihm einfiel, war zu rufen »Feuer tötet sie!« Brachts Antwort bestand aus einem verkniffenen Grinsen. Er wich mit einem Seitenschritt einem Schlag aus, der einem langsameren Mann den Bauch aufge schlitzt hätte, und tänzelte zurück. Das Scheusal griff ihn an. Der Kerner parierte einen Hieb und wich weiter in den hinteren Bereich der Scheune zurück. Das Ungeheu er folgte ihm. Bracht blieb kurz stehen und lockte es. Er wehrte einen wütenden Angriff ab, lenkte einen auf sei nen Bauch gezielten Schlag zur Seite und setzte seinen Rückzug fort. Jeder tänzelnde Rückwärtsschritt brachte ihn den brennenden Kreaturen näher. »Achte auf das Feuer!« rief Calandryll und riskierte einen schnellen Blick auf die lodernden Ungeheuer. Das übriggebliebene Ding sprang vor, die pech schwarze Klinge fuhr hoch, und Calandryll schrie: »Nein!«, als Bracht auf den siedenden Boden zu stürzen schien, einen Schritt zurücktaumelte und dann auf die Knie fiel, während das schwarze Schwert herabschoß. Der Kerner rollte herum, rammte sein Krummschwert von unten in die gefiederte Leistengegend des Ungeheu ers, und die Wucht des Stoßes zusammen mit dem An griffsschwung der Bestie riß diese von den Füßen und
ließ sie über den Söldner hinweg in ihre brennenden Artgenossen hineinstolpern. Sie prallte gegen eine der Kreaturen, umarmte sie in dem Versuch, das Gleichge wicht wiederzufinden, und heulte auf, als ihre Haut von den Flammen erfaßt wurde. Das Heulen steigerte sich zu einem Brüllen, als sich die Flammen tiefer einbrannten. Das Ungeheuer wirbelte wild herum, sein schwarzes Schwert erwischte das des andern, das seinerseits sinnlos um sich schlug, so daß die beiden einen Moment lang gegeneinander kämpften. Bracht kam geschmeidig wieder auf die Füße, das Schwert erhoben, um einen Angriff abzuwehren, der nicht mehr erfolgte. Statt dessen stolperten alle drei Krea turen hilflos im Kreis herum und rissen sich selbst die Haut auf. Aus den Wunden, die sie sich zufügten, spritz te zischend dunkles Blut, das dem Feuer neue Nahrung zu geben schien, bis sie wimmernd zu Boden stürzten und zu Asche zerfielen. Über den Gestank des vergossenen Blutes hinweg nahm Calandryll wieder einen schwachen Mandelduft wahr und sah die erhitzte Luft flimmern. Und plötzlich waren die Ungeheuer genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Der Mandelduft wurde schwächer, der Gestank von verbranntem Blut löste sich auf. Klares Mondlicht erfüllte die Scheune, und die Luft roch wieder nach Heu und Leder. Es war, als hätte es nie einen Kampf gegeben. »Ahh!« seufzte Bracht und schüttelte den Kopf. »Was
waren das für Dinger?« Calandryll zuckte die Achseln. Varents Säbel lag ma kellos sauber auf dem Boden, und er bückte sich, um ihn aufzuheben. Die Klinge hätte Kerben aufweisen, die Waffe besudelt sein müssen, aber sie war gänzlich unbe fleckt. Er sah nach, wo sich das schwarze Schwert in den Pfeiler eingegraben hatte, aber es war ebenfalls ver schwunden, und das Holz war unversehrt. Calandryll starrte Bracht kopfschüttelnd an. Plötzlich drehte sich ihm der Magen um, und er krümmte sich zusammen und erbrach sein Abendessen auf den Boden. Ein krampfhaftes Zittern schüttelte ihn. Er spürte, wie Bracht ihn an der Schulter festhielt, während ihm die Tränen in die Augen traten und er bittere Gallenflüssig keit vor seine Füße spuckte. »Du hast gut gekämpft«, hörte er den Söldner sagen, »und die Situation schnell erfaßt.« Er nickte wortlos und wischte sich über die Augen. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Er war gar nicht dazu gekommen – hatte gar nicht die Zeit gehabt –, Angst zu empfinden, doch jetzt traf ihn die grauenhafte Ungeheuerlichkeit des magischen Angriffs mit ungezü gelter Wucht. Die Bestien waren auf die gleiche Weise materialisiert, in der Varent auf seinem Balkon erschie nen war, und sie hatten eindeutig beabsichtigt, ihn zu töten. Es wäre ihnen auch gelungen, hätte Bracht nicht so schnell reagiert, oder wäre er selbst nicht auf die Idee gekommen, Feuer gegen sie einzusetzen. Woher waren
sie gekommen? Waren es Azumandias' Kreaturen? Sollte das der Fall sein, dann mußte Varents Feind bereits ah nen, welche Rolle Calandryll in diesem Abenteuer spiel te, mußte er bereits wissen, wo er war – der Gedanke verursachte eine weitere Welle der Übelkeit –, und konn te ihn unter Umständen sogar sehen. Konnte das möglich sein? Er spuckte aus, schluckte, würgte den bitteren Geschmack herunter, und sah sich hastig um. »Sie sind verschwunden«, sagte Bracht, der seine Re aktion mißverstand. »Wir haben sie besiegt.« »Bei Dera!« keuchte Calandryll. »Kann er uns aufspü ren? Ich muß mit Varent sprechen.« »Kann uns wer aufspüren?« wollte der Kerner wissen. Mißtrauen klang in seiner Stimme auf. »Was hast du mir verschwiegen?« Jetzt mischten sich Schuldgefühle in Calandrylls Furcht. Bracht hatte auf jeden Fall ein Recht zu erfahren, womit sie es zu tun hatten. Aber Varent hatte ihn zur Geheimhaltung aufgefordert, und wenn Bracht den wah ren Zweck ihrer Suche erfuhr, würde er vielleicht sein Versprechen zurückziehen. Calandryll schüttelte den Kopf. »Niemand«, murmelte er. »Ich hoffe, daß Lord Varent eine Erklärung für diesen Vorfall hat, das ist alles.« Was immer er an freundschaftlichen Gefühlen in den Augen des Söldners gesehen haben mochte, verschwand. Sie wurden kalt wie Eis. Bracht krallte eine Hand in die
Schnürbänder von Calandrylls Wams und riß den jungen Mann hoch. Sein Gesicht war eine Maske der Wut. »Ich habe zugestimmt, dich nach Gessyth zu begleiten, um dieses … Buch zu suchen. Kurz darauf erfahre ich, daß derjenige, den ich beschützen soll, aus Secca geflo hen ist, und dann werde ich von Dämonen angegriffen. Sie brennen und brüllen, aber niemand kann sie hören, niemand kommt uns zu Hilfe, und du erzählst etwas davon, daß uns irgend jemand aufspüren könnte. Hier geht es um mehr, als man mir gesagt hat, und ich möchte wissen, was los ist.« Calandryll nickte hilflos, von Brachts kalter Wut ein geschüchtert. Seine Geistesgegenwart schien ihm durch die Nachwirkungen dieses magischen Gemetzels abhan den gekommen zu sein. Ihm fiel einfach keine spontane Ausrede ein. »Bitte«, flüsterte er, »bitte, Bracht, laß uns zu Lord Va rent gehen.« Der Kerner hielt ihn auf Armeslänge von sich, seine Augen waren immer noch eisig. Dann grunzte er wider willig und ließ ihn los. »Sofort.« Calandryll wankte auf wackligen Knien und konnte nur zustimmend murmeln. »Komm mit.« Brachts Tonfall war eisig und duldete keinen Wider spruch. Er ging zur Tür, und Calandryll folgte ihm, spür te kalten Schweiß auf der Stirn, als sie auf den mond
lichtbeschienenen Hof hinaustraten. »Warte«, bat er, als er den Brunnen sah. Er zog einen Eimer mit frischem Wasser hoch, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Danach fühlte er sich etwas besser und folgte dem Kerner, der immer noch grimmig dreinsah, in die Karawanserei. Der Gemeinschaftsraum war menschenleer bis auf zwei Kulis, die sich vor dem niedergebrannten Feuer zusammengerollt hatten. Ohne sie zu beachten, ging Bracht zur Treppe, die zu den Schlafräumen hinaufführte. Er fand Varents Zimmer und hämmerte gegen die Tür. Sie wurde vom Botschafter geöffnet, der einen Umhang aus glänzender blauer Seide trug und ihnen neugierig entgegensah. »Ihr hättet mir das Schwert erst morgen zurückbrin gen müssen«, sagte er, »aber bitte, tretet ein. Möchtet Ihr ein Glas mit mir trinken?« Ohne eine Antwort abzuwarten, füllte er drei Becher. Calandryll griff dankbar zu, nahm einen großen Schluck und prustete gleich darauf los, als ihm das Zeug wie Feuer in der Kehle brannte. »Weinbrand«, erklärte Varent mitfühlend. »Ein starkes Gebräu, das man am besten in winzigen Schlucken ge nießt, aber es ist ein hervorragender Schlaftrunk.« Calandryll unterdrückte den Hustreiz und nahm einen weiteren, vorsichtigen Schluck. Bracht dagegen trank sein Glas in einem Zug leer und blickte Varent an. In seinen Augen lag ein kalter und harter Ausdruck, ebenso
wie in seiner Stimme, als er sagte: »Wir wurden angegriffen, und zwar von Dämonen.« »Dämonen?« Varent runzelte ungläubig die Stirn. »Ich habe nichts davon mitbekommen.« »Es waren vier«, berichtete Calandryll, »aber wir ha ben sie zurückgeschlagen.« »Dera sei Dank!« rief Varent erleichtert aus. »Bitte, setzt Euch und berichtet mir in allen Einzelheiten, was geschehen ist.« Bracht schilderte den Überfall in knappen Worten. Va rent hörte ihm schweigend zu, dann nickte er gedanken verloren und wandte sich an Calandryll. »Könnten Euer Vater oder Euer Bruder dafür verant wortlich sein?« Calandryll war es gar nicht in den Sinn gekommen, eine derart naheliegende Erklärung überhaupt in Erwä gung zu ziehen, und er schüttelte den Kopf, ohne weiter darüber nachzudenken. »Woher sollten sie wissen, wo ich bin? Und selbst wenn, sie würden mir niemals Dämonen auf den Hals schicken. Es gibt in Secca keine Zauberer mit solchen Fähigkeiten.« »Seid Ihr da sicher?« Ihm entging der gereizte Unterton, der in Varents Fra ge mitschwang, und er sagte: »Ganz sicher.« Die dunklen Augen des Botschafters verschleierten sich einen Augenblick lang. Er griff nach der Karaffe und
füllte die Gläser auf. Sein Blick begegnete Calandryll, und dieser erkannte die Verärgerung des Diplomaten und begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte. Hätte er behauptet, daß möglicherweise Bylath oder Tobias hinter den Kreaturen steckten, wäre das Bracht gegenüber eine Erklärung dafür gewesen, warum er, Calandryll, in die sen Vorfall verwickelt war. Das hätte weitere Erklärun gen überflüssig gemacht. Er zuckte die Achseln und seufzte. Der Alkohol beruhigte seinen aufgewühlten Magen, aber anstelle der Angst verspürte er jetzt eine große Müdigkeit und das Bedürfnis zu schlafen. »Wie auch immer, jedenfalls habt Ihr den Angriff ü berlebt«, murmelte Varent. »Was nichts daran ändert, daß wir angegriffen worden sind«, sagte Bracht kalt, »und ich möchte wissen, wa rum.« »Warum?« fragte Varent. »Allerdings«, beharrte der Kerner. »Wer auch immer uns die Kreaturen auf den Hals geschickt hat, muß unse ren Tod wünschen. Warum?« Varent forderte den Söldner mit einer Handbewegung auf, genauer zu erklären, was er mit seiner Frage meinte. Er wirkte ruhig, in seinem Gesicht spiegelten sich Be sorgnis und Erleichterung wider, obwohl in seinen Au gen nach wie vor unterdrückter Ärger glomm. »Ihr seid zu mir gekommen und habt mir ein kleines Vermögen geboten«, fuhr Bracht fort, »und ich habe nicht gefragt, warum Ihr Euch ausgerechnet mich für diese
Aufgabe ausgesucht habt. Ich bin nicht auf den Gedan ken gekommen, daß der Vorschlag von dem jungen Mann kommen könnte, den ich am Abend zuvor gerettet habe. Jetzt aber muß ich erfahren, daß mein Schutzbefoh lener der Sohn des Domms von Secca ist und für Euch irgendein antikes Dokument aus Gessyth holen soll. Kaum haben wir uns getroffen, werden wir auch schon von höllischen Kreaturen angegriffen, und als wir sie besiegt haben, fragt sich Calandryll, ob uns irgendein mysteriöser Er aufgespürt haben könnte – vermutlich, um uns die Bestien auf den Hals zu schicken. Bei dieser Suche geht es um mehr, als Ihr mir verraten habt, und ich möchte wissen, womit wir es zu tun haben. Oder unsere Wege trennen sich jetzt und hier.« »Obwohl Ihr mir Euer Wort gegeben habt?« erkundig te sich Varent. »Als ich mein Wort gegeben habe, bin ich davon aus gegangen, daß wir es mit weltlichen Gefahren zu tun haben würden, nicht mit magischen Geschöpfen.« Brachts Stimme klang kalt, sein Gesichtsausdruck wirkte verschlossen. Eine Zeitlang sahen er und Varent sich unverwandt in die Augen, dann seufzte der Bot schafter. »Ihr habt Euch als tüchtiger Schwertkämpfer erwie sen«, gab er nach. »Nun gut. Calandryll ist gebildet und kann die Alte Sprache lesen. Das können nicht viele Menschen von sich behaupten, und er ist einer der Weni gen, die das, wonach ich suche, überhaupt erkennen
können. Eure Aufgabe besteht nach wie vor darin, ihn zu beschützen.« »Er hat dieses mysteriöse Buch erwähnt«, meinte Bracht nickend. »Ein wertvolles Dokument, nehme ich an.« »Für einen Sammler«, stimmte ihm Varent zu. »So wertvoll, daß irgend jemand Dämonen auf uns losläßt, um uns auszuschalten?« Varent zuckte die Achseln. »Es sieht ganz so aus«, stellte er fest. Bracht schüttelte den Kopf und musterte den Botschaf ter mit stahlhartem Blick. »Ich habe Euer Geld genommen und Euch mein Wort gegeben, aber…«, er legte eine unheilverkündende Pause ein, »… ich werde mich nicht mit Lügen abspeisen lassen! Also, erzählt Ihr mir jetzt die Wahrheit, oder sollen wir uns hier und jetzt trennen?« Calandryll sah, wie Varents attraktives Gesicht zu ei ner starren Maske gefror und seine Hand sich fest um seinen Becher schloß, und als er sprach, klang sein Ton fall genauso eisig wie der von Bracht. »Ich bin Lord Varent den Tarl von Aldarin, und nie mand nennt mich einen Lügner.« »Wenn Ihr mich zum Duell herausfordern wollt, ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung«, erwiderte Bracht mit unbewegter Miene. Sie starrten einander an und fochten einen lautlosen
Kampf der Willensstärke aus. Calandryll wurde bewußt, daß er den Atem anhielt. Dann lächelte Varent. »Für einen Söldner, dessen Schwert käuflich ist, besitzt Ihr ein erstaunliches Ehrgefühl.« Der Kerner erwiderte das Lächeln nicht. Sein Gesicht war nach wie vor verschlossen, als er entgegnete: »Ich habe einen ausgeprägten Überlebensinstinkt, Varent. Und wenn ich von Dämonen angegriffen werde, möchte ich den Grund erfahren.« »Vielleicht hatten sie es auf Calandryll abgesehen.« »Vielleicht, aber wie Ihr selbst klargestellt habt, meine Aufgabe ist es, ihn zu beschützen.« »Richtig.« Varent senkte den Kopf und seufzte. »Also gut. Ich hatte gedacht, diese Sache geheimhalten zu kön nen, aber ich sehe, daß ich es mit einem Mann zu tun habe, der um einiges klüger als der durchschnittliche Söldner ist.« »Ich möchte wissen, wer meine Feinde sind«, sagte Bracht, ohne das Kompliment zu beachten. »Euer Feind ist ein Magier namens Azumandias«, er klärte Varent, ohne sich durch die Feindseligkeit des Söldners verunsichern zu lassen. »Ein Zauberer mit be achtlichen Kräften, der es auf dieselbe Sache wie ich abgesehen hat. Es geht um das Arcanum, das den Ge rüchten zufolge in der Stadt Tezin-dar liegen soll, die – wie Ihr wahrscheinlich wißt – angeblich nur eine Legen de ist.« Er schwieg einen Moment lang und nippte an seinem
Weinbrand. Bracht wartete, immer noch nicht besänftigt. »Azumandias ist ein Fanatiker«, fuhr Varent in ein dringlichem Tonfall fort und behielt den Kerner dabei genau im Auge. »Ein Verrückter, der das Buch in seinen Besitz bringen will, um damit Tharn, den Verrückten Gott, wiederzuerwecken. Sollte ihm das gelingen, wäre das Ende der Welt gekommen. Ich versuche, diesen Irr sinn zu verhindern.« »Ein Buch soll etwas Derartiges bewirken können?« erkundigte sich Bracht scheinbar unbeeindruckt. »Das Arcanum macht es möglich«, schränkte Varent ein. »Es ist der Schlüssel zu den Ruhestätten von Tharn und Balatur. Azumandias kennt bereits die Zaubersprü che, die den Verrückten Gott erwachen lassen. Er darf das Arcanum nicht in die Finger bekommen!« »Der Verrückte Gott gehört der Vergangenheit an«, warf der Kerner ein. »Er wurde von den Ersten Göttern für immer verbannt.« Seine Stimme klang ungläubig. Varent zuckte die Achseln und spreizte die Finger. »So glaubt man allgemein, aber Azumandias und ich wissen es besser. Sollte es ihm gelingen, das Buch zu finden, wird er Tharns Ruhestätte entdecken und den Gott mit seiner Magie wiederauferstehen lassen.« Bracht starrte den Botschafter an, griff nach der Karaf fe und schenkte sich nach. »Und dieses Buch, dieses Arcanum, liegt in Tezin-dar? An einem legendären Ort? Es kommt mir so vor, als würden wir einem Phantom nachjagen.«
»Es ist keine Legende«, versicherte Varent ernsthaft. »Tezin-dar existiert wirklich, und dort befindet sich das Arcanum, dessen bin ich mir sicher. Calandryll hat mir eine Karte besorgt, die mir – zusammen mit einer ande ren, die ich bereits besitze – zeigen wird, wo Tezin-dar liegt. Reist mit Calandryll dorthin und bringt mir das Arcanum – oder seht zu, wie die Welt untergeht.« Bracht nippte an seinem Weinbrand. Calandryll be trachtete gespannt das Gesicht des Söldners und hoffte, daß der Kerner einwilligte. »Warum reist Ihr nicht selbst dorthin?« fragte Bracht. »Warum stellt Aldarin nicht eine Armee auf, um an das Buch zu kommen?« Varent lächelte flüchtig. »Euer Verstand ist genauso schnell wie Euer Schwert, mein Freund, aber das kann ich nicht tun. Wie Ihr ist auch der Domm von Aldarin keineswegs davon über zeugt, daß das Arcanum überhaupt existiert, und sollte ich versuchen, ihn zu diesem Unternehmen zu überre den, würde Azumandias zweifellos davon erfahren. Eine Armee ist ein schwerfälliges Instrument, und sie aufzu stellen würde meinem Feind genug Zeit geben, seine Magie gegen mich einzusetzen, es ihm vielleicht ermögli chen, die Karten in seinen Besitz zu bringen. Nein, dieses Risiko darf ich nicht eingehen. Meine beste Waffe ist die Geheimhaltung. Das Arcanum muß zerstört werden, und mit Eurer Hilfe könnte es Calandryll gelingen, Tezin-dar zu finden und das Buch herauszuholen, bevor Azuman
dias uns in die Quere kommen kann.« »Warum?« wollte Bracht wissen. Mißtrauen klang in seiner Stimme auf. »Warum? Ich verstehe nicht, was Ihr damit meint«, sagte Varent. »Warum das Buch aus der Stadt herausholen?« hakte Bracht nach. »Warum es nicht dort zerstören?« »Wenn es nur so einfach wäre«, murmelte Varent be dauernd, »aber das Arcanum enthält nicht nur magische Formeln, es ist selbst ein magischer Gegenstand. Zauber sprüche verhindern, daß es mit gewöhnlichen Mitteln zerstört werden kann. Es kann nur durch Magie vernich tet werden.« »Und Ihr verfügt über diese Magie?« Varent nickte. Bracht machte es sich in seinem Sessel bequem und streckte die Beine von sich. Zweifel spiegelten sich in seinem Gesicht wider. »Ihr erwartet eine ganze Menge«, stellte er fest. »Ihr verlangt von mir, den Sohn des Domms von Secca auf eine abenteuerliche Reise nach Gessyth zu begleiten – da warten schon unbekannte Gefahren auf uns –, eine Stadt zu suchen, die allgemein für eine Legende gehalten wird, und schließlich ein Buch in unseren Besitz zu bringen, von dem Ihr behauptet, man könnte damit den Verrückten Gott Tharn wieder auferstehen lassen. Wir haben uns bereits mit Dämonen herumschlagen müssen, die – Euren Worten nach – von einem verrückten Schwarzmagier ausgeschickt worden
sind, der das Buch selbst haben will. Welche anderen Gefahren könnten uns auf dem Weg nach Tezin-dar noch bevorstehen?« »Darauf kann ich Euch leider keine Antwort geben.« Varent blickte den Söldner ernst an. Ein dunkler Schatten legte sich über sein attraktives Gesicht. »Ich kann Euch nur bitten, diesen Auftrag zu erfüllen. Als Gegenleistung biete ich Euch meine ewige Dankbarkeit und fünftausend Varre.« Calandryll gelang es nicht, ein überraschtes Keuchen zu unterdrücken. Fünftausend Varre waren ein Vermö gen. Brachts Gesicht blieb ruhig und ausdruckslos. »Das ist eine sehr große Summe«, sagte er. Varent nickte. »Genug, um Euch für die zusätzlichen Gefahren zu entschädigen?« Bracht lächelte. Es war ein sparsames, humorloses Grinsen. »Ihr bietet sehr viel, Varent.« »Das Schicksal der Welt steht auf dem Spiel«, sagte der Botschafter. »Seid Ihr einverstanden?« Bracht neigte den Kopf. »Die Hälfte, sobald wir Alda rin erreichen, den Rest, wenn ich zurückkomme. Ob wir das Buch gefunden haben oder nicht.« Varent spitzte die Lippen, und einen Moment lang dachte Calandryll, er würde widersprechen, doch dann zuckte der Botschafter die Achseln, lächelte und sagte: »Einverstanden. Gebt Ihr mir Euer Wort darauf?« »Ihr habt mein Wort.«
»Ausgezeichnet.« Varent war wieder die Freundlich keit in Person. »Ich bin sehr froh, daß wir dieses … Miß verständnis beseitigen konnten.« »Ja.« Bracht stand auf. »Und jetzt möchte ich schlafen. Hoffentlich ungestört.« »Ich bezweifele, daß Azumandias uns noch einmal angreifen wird«, sagte Varent. »Zumindest nicht wäh rend der nächsten Tage. Das Beschwören solcher Kreatu ren, wie Ihr sie beschrieben habt, bedarf einer großen Anstrengung, und seine Kräfte sind höchstwahrschein lich erschöpft. Außerdem werde ich unsere Reiseroute ändern, so daß er nie wissen kann, wo wir uns gerade befinden. Und sobald wir Aldarin erreicht haben, werdet Ihr geschützt sein.« »Gut.« Bracht erhob sich und ging zur Tür. Calandryll stand ebenfalls auf, um sich ihm anzuschließen, wobei er Va rent einen kurzen Blick zuwarf. Der Botschafter verab schiedete ihn mit einer flüchtigen Handbewegung. Ca landryll folgte dem Kerner auf den dunklen Gang hin aus. Ihre Zimmer lagen nebeneinander, und als sie dort angekommen waren, runzelte Calandryll die Stirn und drehte sich zu Bracht um. »Wärst du wirklich abgesprungen?« fragte er. Brachts Gesicht lag im Schatten, so daß nicht die ge ringste Gefühlsregung darin zu erkennen war. »Ich habe weder mit Dämonen gerechnet«, gab er leise zurück,
»noch damit, daß man mich damit beauftragen würde, den Sohn des Domms von Secca zu beschützen.« »Was für einen Unterschied macht das?« wollte Ca landryll wissen. »Begreifst du denn nicht?« Jetzt hatte Calandryll den Eindruck, daß Bracht lächel te. »Was, glaubst du, hätte Varent getan, wenn ich sein Angebot abgelehnt hätte? Er hätte nur deinen Vater zu informieren brauchen, daß ich dir bei deiner Flucht ge holfen hätte, und man würde mich in Secca als vogelfrei erklären. Er ist Botschafter von Aldarin, also würde ich wahrscheinlich auch dort als vogelfrei gelten. Zwei Städ te, die einen Preis auf meinen Kopf aussetzen? Das wären schlechte Aussichten für mich, mächtige Feinde, So habe ich wenigstens einen Verbündeten in Aldarin.« Diesmal war Calandryll sicher, daß der andere grinste. »Und darüber hinaus noch fünftausend Varre.« »Geht es dir denn wirklich nur um das Geld?« Ca landryll versuchte, die Dunkelheit, die das Gesicht des Kerners verbarg, mit seinen Blicken zu durchdringen. »Läßt dich unsere Aufgabe selbst völlig kalt?« »Das Geld versüßt mir die Aufgabe«, erwiderte Bracht, und als müsse er seine Haltung erklären, fügte er hinzu: »Ich mag Varent nicht sonderlich.« Calandryll seufzte. Er war gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß die beiden Kameraden, die Reba ihm
prophezeit hatte, keine Freunde sein könnten, aber die Kälte in Brachts Stimme war unmißverständlich. Es schien, als hätte der Kerner Varent gewogen und für zu leicht befunden. Wenigstens, dachte er, akzeptierte der Söldner ihn, Calandryll, und er stellte überrascht fest, daß er dafür dankbar war. Sie hatten kaum etwas ge mein, aber ihm wurde klar, daß er die Freundschaft des Kerners wollte. Er konnte seine Müdigkeit nicht mehr verbergen und gähnte. »Leg dich schlafen«, riet Bracht in kameradschaftli chem Tonfall. Calandryll nickte schläfrig, öffnete die Tür zu seinem Zimmer und erwartete fast schon, irgend etwas Grauen haftes darin vorzufinden, aber alles, was er sah, war ein schlichter Raum mit einem äußerst einladenen Bett. Er trat ein, bemerkte, daß Bracht neben der Tür wartete, die Hand auf den Griff seines Krummschwertes gelegt, und lächelte ihm dankbar zu. Bracht nickte und sagte: »Wir sollten dir morgen am besten ein Sehwert besorgen.« »Ja.« Calandryll sah Bracht hinterher, als dieser zu sei nem eigenen Zimmer ging, und schloß die Tür. Die Schlichtheit des Zimmers half ihm, seine Befürch tungen zu vertreiben. Dies war ein Ort der Ruhe, nicht die Bühne für magische Ereignisse, und Varent hatte gesagt, daß Azumandias durch die Beschwörung der Dämonen höchstwahrscheinlich erschöpft sein würde. Calandryll verließ sich auf Varent: es würde zumin
dest heute keinen weiteren Überfall geben. Er ging über die leise knarrenden Dielen zu seinem Bett, ließ sich müde darauf nieder, beugte sich vor, um seine Stiefel aufzuschnüren, und streifte sie ab. Ein klei nes Schränkchen bot Platz für seine Kleidung und ein Versteck für die Karte. Er schlüpfte unter die kühlen Laken und sah den Vollmond geheimnisvoll aus einem dunkelvioletten, von Sternen übersäten Himmel strahlen, den gleichen Mond, dessen Licht die Scheune erhellt hatte, als sie von Azumandias' Dämonen angegriffen worden waren… Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke, und seine vor Müdigkeit schweren Augen weiteten sich. Als Varent auf dem Balkon seines Zimmers materialisiert war, hatte er ihm erklärt, daß seine Magie ihn nur dazu befähigte, an Orten aufzutauchen, die ihm vertraut waren. Also mußte Azumandias die Karawanserei kennen. Er runzelte die Stirn. Der Gedanke vertrieb den Schlaf, den sein Körper forderte. Das bedeutete, daß Azumandi as hier gewesen sein mußte … und damit vielleicht auch an jedem möglichen Rastplatz auf ihrem Weg … und überall dort seine Dämonen auftauchen lassen konnte. Einen Moment lang spürte er den eisigen Griff der Furcht. Doch dann fiel ihm wieder ein, daß Varent diese Möglichkeit vorausgesehen und erklärt hatte, daß er ihre Reiseroute ändern würde, und ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Er drehte sich in seinem Bett um, damit ihm der Mond nicht mehr direkt ins Gesicht schien, und zog die
Bettdecke bis zum Kinn hoch. Die Anspannung fiel von ihm ab, er begann, in den ersehnten Schlaf hinüberzu gleiten … bis ein zweiter Gedanke in ihm hochkroch: Woher konnte Azumandias gewußt haben, daß er zum fraglichen Zeitpunkt in der Scheune sein würde? Und warum sollte er die Dämonen auf ihn hetzen? Warum nicht auf Varent? Ohne den Botschafter würde das ganze Unternehmen mit Sicherheit zumindest ins Stocken geraten, wenn nicht gar scheitern. Calandryll und Bracht waren nur Agenten, der eigentliche Kopf war Varent. Wieso also die unwich tigeren Figuren in diesem Spiel angreifen? Diese Überlegungen beunruhigten ihn und ließen ihn trotz seiner Müdigkeit nicht einschlafen. Er fand einfach keine befriedigenden Antworten auf seine Fragen, konn te sie aber auch nicht verdrängen und wälzte sich ruhelos herum. Varent ist durch seine Magie geschützt, sagte er sich schließlich, das mußte die Erklärung sein. Oder zumindest ein Ansatz. Er überlegte immer noch, woher der Hexer gewußt haben konnte, wo er, Calandryll, sich aufhalten würde, als ihn schließlich die Erschöpfung übermannte und er in einen wohltuenden Schlaf sank. Als er erwachte, schien bereits die Sonne. Dem Lärm, der aus dem Hof heraufdrang, und dem Stand der Sonnen scheibe im wolkigen blauen Himmel nach zu urteilen, lag der Tagesanbruch noch nicht allzu lange zurück. Ca landryll schlug die Decke zur Seite, schlüpfte aus dem
Bett, wusch sich hastig und zog sich an. Die Karte lag noch dort im Schrank, wo er sie deponiert hatte. Er starr te sie eine Weile an und schob sie dann wieder unter sein Hemd. Vorläufig schien ihm das das beste Versteck zu sein. Dann eilte er hinunter in den Gemeinschaftsraum, und die Fragen, die ihn am Abend zuvor gequält hatten, gingen ihm von neuem durch den Kopf. Der große Raum war fast menschenleer. Varent, der allein an einem Wandtisch saß, begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln und winkte ihn heran. Calandryll stellte erfreut fest, daß weder Bracht noch irgend jemand aus der Gefolgschaft des Botschafters anwesend war. Er hatte das Gefühl, daß es besser wäre, seine Zweifel ohne Zeugen zur Sprache zu bringen. »Eure Feuerprobe scheint keine bleibenden Spuren hinterlassen zu haben«, begrüßte Varent ihn. »Frühstückt mit mir. Die Früchte schmecken wirklich köstlich.« Er schob eine Schale mit Äpfeln über den Tisch und rief dem Wirt zu, einen zweiten Becher zu bringen. Ca landryll bediente sich mit Früchten und frisch gebacke nem Brot, während Varent ihm dampfenden Tee ein schenkte. »Wo ist Bracht?« erkundigte sich Calandryll. »Er kümmert sich um sein Pferd«, erwiderte Varent fröhlich. »Was man über die Kerner sagt, stimmt. Sie bemühen sich mehr um das Wohlbefinden ihrer Tiere als um ihr eigenes.« Er zerteilte einen Apfel mit einem schmalen Dolch und
legte etwas Käse darauf. Der Botschafter wirkte völlig entspannt, als hätte er den Vorfall der vergangenen Nacht längst vergessen. »Ich habe mir Gedanken über die Dämonen gemacht«, sagte Calandryll. »Das überrascht mich nicht«, murmelte Varent leise, »aber wie ich Euch bereits versichert habe, ich glaube, daß wir in dieser Hinsicht eine Zeitlang nichts mehr zu befürchten haben.« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich habe mehr darüber nachgedacht, wie sie hierhergekommen sind.« »So?« Varent tupfte sich mit einem Taschentuch über die Lippen. »Eine kleine Aufmerksamkeit von Azuman dias, nehme ich an.« Calandryll runzelte die Stirn. Varent war die gelassene Höflichkeit in Person. Sein Benehmen deutete an, daß er das Thema mehr als nur ein bißchen langweilig fand. »Woher konnte er wissen, daß ich dort war?« beharrte Calandryll auf seiner Frage. »Er ist ein mächtiger Zauberer«, erklärte Varent und brach ein Stückchen Brot ab. Calandryll wollte es dabei nicht bewenden lassen. »Ihr habt die Vermutung geäußert, daß er unseren Aufent haltsort erraten hat.« »Ihr seid sehr wißbegierig, Calandryll; das gefällt mir!« Varent nickte lächelnd. »Ihr fragt Euch, woher er
wissen konnte, daß wir hier Halt machen würden? Be nutzt die Logik des Gelehrten. Dies ist die erste Raststati on auf dem Weg von Secca nach Aldarin. Auf seiner Suche nach Orwens Karten hat Azumandias ausgiebige Reisen unternommen, und zweifellos hat er vorausgese hen, daß ich hier meine erste Rast einlegen würde.« »Woher konnte er wissen, wann Ihr hier eintreffen würdet?« wollte Calandryll wissen. »Durch einen Spion.« Varent zuckte die Achseln. »Es ist gut möglich, daß er einen menschlichen Agenten in Secca beschäftigt, der ihm eine Brieftaube geschickt hat, oder vielleicht auch einen okkulten Agenten. In beiden Fällen brauchte er nur logisch nachzudenken, um daraus zu schließen, daß ich hier mit meinen Begleitern Station machen würde.« Die Falten in Calandrylls Stirn wurden tiefer, Varents Lächeln dagegen breiter. »Ihr fragt Euch, warum er nicht mich angegriffen hat? Woher er von Euch wußte? Auch hier ergibt sich die Antwort wieder durch logisches Nachdenken. Die Krea turen, die Ihr mir beschrieben habt, sind unberechenbar und hätten mich zusammen mit der Karte vernichten können. Azumandias wird davon ausgehen, daß sie sich in meinem Besitz befindet, weshalb es auch am besten ist, daß Ihr sie vorerst behaltet. Außerdem kann er nicht wissen, wie groß meine Kräfte mittlerweile geworden sind. Und was Eure Anwesenheit betrifft, auch davon dürfte er durch seinen Spion erfahren haben.«
»Dann könnte er meinen Vater über Eure Rolle bei meiner Flucht informieren.« Die Vorstellung, daß Bylath eine Schwadron berittener Legionäre losschicken könnte, um ihn zurückzuholen, ließ Calandryll erbleichen; diese Möglichkeit erschien ihm irgendwie noch schlimmer als ein erneutes Erschei nen von Ungeheuern. Doch Varents Gelächter beruhigte ihn wieder. »Nein«, sagte der Botschafter, »hätte er das vorgehabt, wären wir schon aufgehalten worden, noch bevor wir Secca verlassen konnten. Ich würde darauf wetten, daß Azumandias die Karte bei mir vermutet und möchte, daß ich sie aus Secca herausbringe. Aber er hat überhastet gehandelt! Er hat sich zu erkennen gegeben, und jetzt kann ich Vorkehrungen gegen weitere Anschläge tref fen.« Calandryll nickte. Die Erklärung schien ihm einiger maßen einleuchtend zu sein. Er wollte Varent glauben, aber ein Zweifel blieb noch immer. »Als Ihr mich in meinem Zimmer besucht habt«, sagte er vorsichtig, »habt Ihr gesagt, es wäre notwendig, den Ort zu kennen.« »Allerdings«, erwiderte Varent gleichmütig. »Ein blinder Transport ist außerordentlich gefährlich. Man könnte mitten in einer Mauer auftauchen oder beispiels weise mit einem Stuhl verschmelzen. Selbst die Magie unterliegt bestimmten physikalischen Gesetzen, von denen eins besagt, daß sich keine zwei Gegenstände an
ein und demselben Ort aufhalten können, ohne daß es zu fürchterlichen Ergebnissen kommt.« »Dann muß sich Azumandias also mit der Scheune vertraut gemacht haben.« Varent nickte. »Aber woher konnte er wissen, daß ich mich gerade dort aufhalten würde?« Für einen kurzen Moment geriet Varents Gleichmut ins Wanken. Ein Schleier legte sich über seine Augen, und er hob die Serviette an seine Lippen. »Ihr seid wirklich sehr wißbegierig und mißtrauisch«, sagte er schließlich. »Wie konnte Azumandias wissen, daß Ihr Euch in der Scheune aufhalten würdet? Nun, vielleicht war es ein Schuß ins Blaue, oder vielleicht hat er hier einen okkulten Spion zurückgelassen … Dera, Calandryll! Eure Logik ist der meinen einen Schritt vor aus! Darauf bin ich noch gar nicht gekommen! Der Göttin sei Dank, daß Ihr daran gedacht habt!« Er sprang unvermittelt auf, sein attraktives Gesicht wirkte auf einmal besorgt. Calandryll schob sein noch nicht beendetes Frühstück beiseite und folgte ihm zur Tür. Der Botschafter warf dem Wirt achtlos ein paar Münzen zu, tat seinen Dank mit einem ungeduldigen Winken ab und eilte auf den Hof hinaus. Der Wagen war bereits beladen, die Männer des Bot schafters sattelten gerade ihre Pferde. Bracht stand neben seinem Hengst und verfolgte neugierig, wie Varent, dem sich Calandryll an die Fersen geheftet hatte, zum Wagen
lief und unter die bunte Plane kletterte. Calandryll be nutzte die Gelegenheit, um sein gefüttertes Übungswams auf die Ladefläche zu werfen, während Varent einen kleinen, mit Schnitzereien verzierten Kasten hervorholte und darin herumzukramen begann. »Was ist los?« Calandryll drehte sich zu Bracht um, der mit seinem schwarzen Pferd zu ihm herüberkam. »Lord Varent befürchtet, daß Azumandias uns von ei nem magischen Spion beobachten lassen könnte.« Der Kerner sah sich schnell nach allen Seiten um, seine Hand sank auf den Griff seines Krummschwertes. Varent kam wieder aus dem Wagen hervor, führte die linke Hand an den Mund und murmelte leise vor sich hin. Er blies in seine geöffnete Hand. Rosafarbener Staub stieg auf und umgab ihn wie eine rosige Aura. Dann hob er die rechte Hand, in der er ein in einen Silberrahmen eingefaßtes dickes Glas hielt, an die Augen. Langsam und immer noch vor sich hin murmelnd, drehte er sich einmal im Kreis herum und spähte über den Hof. »Ist er ein Magier?« wollte Bracht wissen. Calandryll nickte. »Er besitzt magische Kräfte.« Der Kerner grunzte unwillig. Anscheinend ließen sol che Fähigkeiten Varent in seiner Achtung weiter sinken. »Da war etwas«, verkündete Varent, »aber jetzt ist es nicht mehr da. Dera! Daran hätte ich letzte Nacht schon denken sollen!«
»Es hätte uns einige Unannehmlichkeiten erspart«, bemerkte Bracht ruhig. Varent schien ihn nicht zu hören. Er verstaute die Glaslinse wieder im Wagen und strahlte Calandryll an. »Alles ist gut, der Göttin sei Dank. Azumandias hat zweifellos einen Spion hier zurückgelassen, aber durch Euren Sieg über seine Gesandten habt Ihr ihn vertrie ben.« Diesmal schloß sein Lächeln auch Bracht ein. »Ihr habt mir beide gute Dienste geleistet – ich danke Euch.« Calandryll erwiderte das Lächeln. Das Lob tat ihm gut, seine Zweifel waren zerstreut. Bracht dagegen nickte nur mit ausdruckslosem Gesicht. »Also, laßt uns aufbrechen«, schlug Varent vor. »Ca landryll, nehmt wieder Darths Pferd. Bracht, bleibt Ihr in seiner Nähe?« »Dafür werde ich bezahlt«, sagte der Söldner und griff nach seinem Sattel. »Hier, Calandryll, nimm das.« Er warf dem jüngeren Mann ein Schwert mit Scheide und Gürtel zu. Calandryll fing es auf und befestigte es an seiner Hüfte. Er zog das Schwert aus der Scheide und wog es in der Hand. Es war keine so gute Waffe wie Brachts Krummschwert oder Varents Säbel, aber sie lag gut in seiner Hand. Die Klinge war gerade, der Stahl mattglänzend und von der milchigen Beschaffenheit, die gute eylische Handwerkskunst auszeichnete. Die Parier stange war leicht gebogen und an den Enden abgerundet, der Griff mit abgewetztem Leder eingefaßt. Der Knauf bestand aus einer kleinen stumpfen Stahlkugel. Er
schwang das Schwert ein paarmal probehalber hin und her und schob es dann in die Scheide zurück. »Du schuldest mir fünf Varre«, sagte Bracht. »Bei Dera, Mann!« Varent sah von seinem Pferd herab. »Könnt Ihr an nichts anderes als an Geld denken?« »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt als käuflicher Söldner«, erwiderte der Kerner kühl. »Ich habe kein Geld«, entschuldigte sich Calandryll. Varent schnaubte, kramte in seiner Gürteltasche und warf Bracht gereizt ein paar Münzen zu. Der Söldner fing sie geschickt auf und ließ sie grinsend in einer Tasche verschwinden. »Ich bedanke mich«, murmelte er und schwang sich auf seinen Hengst. Calandryll stieg auf. Voller Bedauern erinnerte er sich erneut daran, daß Reba in ihrer Prophezeiung mit kei nem Wort davon gesprochen hatte, daß die Kameraden, die er finden würde, auch Freunde wären. Er stieß Darths Pferd die Fersen in die Weichen und trottete mit dem kleinen Reitertrupp durch das Tor. Varent setzte sich an die Spitze des Zuges und führte ihn auf die breite Straße hinaus, die Secca mit Aldarin verband. Die Farmen, die die Stadt mit Lebensmitteln versorgten, blieben jetzt hinter ihnen zurück. Vor ihnen lag offenes Land, und schon kurz darauf passierten sie die großen Steinhaufen, die die Grenzen von Seccas Einflußbereich markierten. Trotz Varents Zusicherungen stieß Calandryll einen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Hinweise auf das
Reich seines Vaters hinter sich immer kleiner werden sah. Jetzt fühlte er sich sicherer; jenseits dieser Markie rungen besaßen Bylaths Legionäre keine Macht, sie konn ten nicht mehr darauf bestehen, daß er zurückkehrte. Er grinste, seine Stimmung hob sich. Der Himmel über ihm war blau und mit Zirruswolken überzogen. Kreisende Vögel malten schwarze Punkte in das Azurblau, ihr Ge sang erschien ihm wie ein Freiheitschor. Vor ihm breite ten sich wogende Grasflächen aus, die von Bauminseln durchsetzt waren. Ein breiter Fluß, genauso blau wie der Himmel, schlängelte sich in weiten Windungen dahin. Die gepflasterte Straße endete an seinem Ufer und setzte sich auf der anderen Seite als einfacher Weg aus schwar zer, festgestampfter Erde fort. Sie durchquerten den Fluß, und Varent zeigte an, daß sie nach Süden abbiegen und über das offene Grasland ziehen sollten. »Sollte Azumandias weitere Überraschungen geplant haben«, erklärte er, »würden sie sich auf der Straße be finden. Wir werden die unbedeutenderen Wege nehmen und in Aldarin eintreffen, bevor er es bemerkt.« »Was ist mit seinen geheimnisvollen Spionen?« er kundigte sich Bracht. »Was soll mit ihnen sein?« erwiderte Varent fröhlich. »Nicht einmal Azumandias kann unseren Weg erraten. Vorläufig sind wir in Sicherheit. Vertraut mir.« Bracht grunzte etwas, das eine Zustimmung hätte sein können, ließ sein Pferd zurückfallen und legte einen
etwas größeren Abstand zwischen sich und Varent. Er wirkte unzufrieden. Calandryll drängte sein Pferd neben ihn. »Wieso hast du eine so große Abneigung gegen ihn?« wollte er wissen. Der Kerner schüttelte den Kopf und zuckte die Ach seln, ohne zu antworten. »Ich vertraue ihm«, ließ Calandryll nicht locker, »und er hat sich uns gegenüber immer wie ein Freund verhal ten.« »Das dient seinen Absichten«, murmelte Bracht. »Er braucht dich, weil du die Alte Sprache beherrschst, und mir scheint, daß du dich jetzt völlig in seiner Gewalt befindest.« »Wie meinst du das?« Calandryll starrte den Söldner an. »Er hat mich aus Secca herausgebracht, mich vor einem Leben als Priester bewahrt und das Risiko auf sich genommen, sich den Zorn meines Vaters zuzuziehen. War das nicht die Tat eines Freundes?« »Und wenn du dich weigerst, ihm bei seiner Mission zu helfen? Was dann?« »Die Wahrsagerin hat diese Suche prophezeit«, wider sprach Calandryll. »Varent muß einer der Gefährten sein, die ich ihren Worten nach treffen würde, und du mußt der andere sein.« »Vielleicht, aber das beantwortet meine Frage nicht«, beharrte Bracht. »Du befindest dich in seiner Gewalt.«
Calandryll runzelte verständnislos die Stirn. »Du bist vor deinem Vater geflohen«, erklärte Bracht, »und kannst nicht nach Secca zurückkehren. Du hast kein Geld – bei Ahrd! Varent mußte dieses Schwert für dich bezahlen! Das Pferd, das du reitest, hat er dir zur Verfügung gestellt. Hättest du dich nicht bereit erklärt, an seiner Suche teilzunehmen, wärst du ein Wanderer, ein heimatloser Vagabund. Du kannst nur nach Aldarin gehen, und wenn du dort ankommst, kannst du dich einzig und allein auf Varent stützen. Ohne ihn müßtest du wahrscheinlich verhungern. Würdest du mir nicht zustimmen, daß du dich in seiner Gewalt befindest?« »Und was, wenn ich es wäre?« verteidigte sich Ca landryll. »Was ist mit dir?« »Er bezahlt mich«, sagte Bracht nüchtern. War das alles, was ihre Mission für ihn bedeutete? »Ich vertraue ihm. Ich glaube an ihn.« Calandrylls Stimme klang unterkühlt. Wieder zuckte Bracht die Achseln. Der Zweifel in sei nem braungebrannten Gesicht war nicht zu übersehen. »In Cuan na'For sagt man, ein Zauberer hätte viele Ge sichter«, bemerkte er, »und würde sein wahres Antlitz verbergen.« Sein Skeptizismus machte Calandryll wütend. »Und was soll das heißen?« fragte er kurzangebunden. »Daß ich ihm mißtraue«, sagte Bracht ruhig. »Warum hast du dich dann trotzdem bereiterklärt,
mich zu begleiten?« Bracht lächelte, ohne Calandrylls verärgerten Tonfall zu beachten. »Weil er mich bezahlt«, wiederholte er.
KAPITEL 6 Zu Anfang entpuppte sich die Reise trotz des Abenteu ers, das sie versprach, als Alptraum, der nicht einmal durch den erhabenen Zweck, dem sie diente, gelindert wurde. Calandryll hatte selten mehr als ein paar Stunden hintereinander auf einem Pferderücken zugebracht, wenn er beispielsweise an einem Jagdausflug oder an einer zeremoniellen Parade teilgenommen hatte. Jetzt aber wachte er tagtäglich vor dem Sonnenaufgang unter freiem Himmel auf, mußte sein geborgtes Pferd eigen händig satteln und noch im Morgengrauen losreiten. Sie legten nur einmal gegen Mittag eine kurze Rast ein, um zu essen und sich ein bißchen auszuruhen, und zogen dann bis zur Abenddämmerung weiter. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper schien gegen die Strapazen zu protestieren, und dazu kamen noch die Nächte, die er im Freien auf dem harten Boden mit nur einer Decke als Schutz gegen die Kälte verbringen mußte. Er hatte bisher noch nie eine Nacht im Freien verbracht, ja, nicht einmal außerhalb der Stadt. Das Fehlen jeglicher Bequemlichkeit machte ihm schwer zu schaffen, und Brachts stumme Mißbilligung seiner Unbeholfenheit machte die Sache noch schlimmer. Der Stolz hielt ihn jedoch davon ab, sich zu beklagen, und so ertrug er schweigend sein Elend.
Die Ausweichroute, die Varent gewählt hatte, bedeu tete, daß sie die Rastplätze der markierten Straße nicht benutzen konnten, und der Wagen, kaum groß genug für die Bedürfnisse einer Person, blieb Varent vorbehalten. Wie der Rest der Gruppe mußte Calandryll auf einer Satteldecke als Unterlage schlafen. Die Nächte waren zwar nicht allzu kalt, die Vorboten des Frühlings hatten nicht getrogen, und in den Waldgebieten, die sie durch querten, fanden sie genügend Feuerholz, aber der harte Boden war nun einmal nicht mit der Gemütlichkeit sei nes gewohnten Bettes zu vergleichen. Schon bald stellte Calandryll fest, daß die Aufregung über ein solches A benteuer durch die Unebenheiten des Bodens, die sich in seine Rippen bohrten, oder den Tau, der ihm jeden Mor gen ein nasses Gesicht und nasse Haare oder manchmal auch feuchte Kleidung bescherte, wenn er seine Decke im Schlaf weggestrampelt hatte, mehr als nur ausgeglichen wurde. Er wünschte sich, das alles mit der stoischen Gelassenheit Brachts ertragen zu können. Der Kerner wickelte sich einfach jede Nacht in seine Decke und schlief fest und tief, wobei er sein Schwert wie eine Ge liebte im Arm hielt. Soweit Calandryll es beurteilen konnte, wurde er nicht von beunruhigenden Träumen heimgesucht. Seine eigenen Träume hielten sich noch längere Zeit hartnäckig in seinem Gedächtnis, wenn er aufstand, sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht rieb, beim Protestieren seiner Muskeln ächzte, wenn er sich streckte und sein Rücken schmerzte und ihm der Gedanke an einen weite
ren Tag im Sattel wie eine Bestrafung erschien. Einige dieser Träume blieben vage, so verschwommen, daß sie nur ein Gefühl der Bedrohung in ihm hinterließen, einer nicht zu fassenden Gefahr, doch andere blieben klar und lebhaft. Anfangs drehten sie sich um wolfköpfige Ungeheuer, um Alptraumgestalten mit zähnestarrenden Mäulern und haßerfüllten roten Augen, um Feuer und Kampf, aber diese Träume konnte er verstehen und nach dem ersten Schreck, der dem Erwachen folgte, verdrängen. Andere beunruhigten ihn jedoch weitaus mehr. An erster Stelle stand ein Traum, in dem er Varents attraktives Gesicht lächeln sah, während der Botschafter ihm die Einzelheiten der gefahrvollen Mission erklärte. Doch bevor er sich umdrehen konnte, um zu gehen, verwandelte sich Varents vertrautes Gesicht, und an seiner Stelle erschien auf einmal ein verborgenes Gesicht, das knurrte und lachte und zu der Fratze der wolfähnli chen Dämonen wurde. Sein schwarzer Umhang wirbelte hoch und verwandelte sich in ein Paar riesiger dunkler Schwingen, die die Luft aufpeitschten, als die Gestalt aufstieg, eine Fledermaus mit einem Wolfskopf, die sich spiralförmig in den Himmel emporschraubte, und ihr höhnisches Lachen hallte noch lange hinter ihr her. Manchmal hörte er dann Bracht sagen: »Ein Zauberer hat viele Gesichter«, und manchmal sah er den Söldner mit dem Krummschwert in der einen Hand, während er mit der anderen Geld scheffelte, und seine blauen Augen waren voller Verachtung und Anklage. Manchmal
träumte er von Reba, die mit ihrer melodischen Stimme die Worte der Prophezeiung wiederholte, und dann sah er sowohl Varent als auch Bracht aus der Dunkelheit hinter der blinden Seherin heraustreten, und beide wink ten sie ihm zu und forderten ihn auf, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Dann wandte er sich wieder an Reba, um sie um Rat zu bitten, aber sie schüttelte nur den Kopf, löste sich in eine Kerzenflamme auf und ließ ihn allein zurück, um seine Wahl zwischen den wartenden Gestal ten ohne fremde Hilfe zu treffen. Weniger häufig, mit einer Unregelmäßigkeit, die ihn überraschte, träumte er von Nadama. Er erblickte sie irgendwo im Palast, in einem Garten oder einem leeren Saal. Sie streckte lächelnd die Arme aus, und wenn er zu ihr laufen wollte, stellte er fest, daß seine Beine schwer wie Blei waren. Er kam nur schleppend voran, während er zu rennen versuchte und Tobias an ihm vorbeischlen derte, sie umarmte und hochhob. Der Anblick, wie sie sich küßten, war wie ein Schlag ins Gesicht für ihn, und dann schob sich plötzlich die massige Gestalt seines Vaters vor ihre eng aneinandergepreßten Körper, und Bylath hob eine Hand, deutete unheilvoll auf ihn, die löwenartigen Züge wutverzerrt… Nach jedem dieser Träume erwachte Calandryll schweißgebadet. Er fand dann stets die Decke zu seinen Füßen zusammengeknüllt oder zur Seite geworfen, starr te in den Nachthimmel, hörte das Schnarchen von Va rents Männern und die leisen Geräusche der angepflock ten Pferde und sehnte einerseits den Schlaf herbei, nach
dem sein Körper verlangte, während er sich andererseits davor fürchtete, wieder in die Abgründe seines Unter bewußtseins hinabzutauchen. Er wünschte sich, er könn te einen Traumdeuter aufsuchen, aber er wußte, daß er erst in Aldarin die Gelegenheit dazu erhalten würde. Wenn er sich schließlich so weit beruhigt hatte, daß er wieder einschlafen konnte, kam es ihm jedes Mal so vor, als würde das Lager erwachen, nachdem er die Augen gerade erst geschlossen hatte. Dann stand er auf, konnte sich nicht dazu durchrin gen, über die verstörenden nächtlichen Visionen zu spre chen, und aß teilnahmslos sein Frühstück, während er sich anstrengen mußte, freundlich auf Varents diplomati sche Entschuldigungen wegen des mangelnden Komfort einzugehen. Stets war er sich Brachts kritischer Blicke bewußt, wenn er müde das geborgte Pferd sattelte und nicht gerade begeistert in den Sattel stieg. Die beiden Männer wechselten kaum ein Wort miteinander, da sich Varent meistens bei dem kleinen Zug aufhielt, während Bracht ständig an Calandrylls Seite blieb. Der Söldner benahm sich einigermaßen höflich, und Varent schien zufrieden mit ihm zu sein, aber wenn sie rasteten, wirkte das Schweigen des Kerners, auch wenn Varent es igno rierte, bewußt unfreundlich. Calandryll hatte das Gefühl, daß Bracht Varent ständig im Auge behielt und geradezu auf einen Vorfall wartete, der sein Mißtrauen rechtfertig te.
Als sie etwa eine Woche unterwegs waren, stellte Ca landryll zu seiner freudigen Überraschung fest, daß seine Schmerzen nachzulassen begannen und sich seine Gliedmaßen geschmeidiger anfühlten, wenn er morgens sein geborgtes Pferd sattelte und aufstieg, und auch das Reiten selbst bereitete ihm immer mehr Vergnügen. Gleichzeitig begann sich auch seine Laune zu heben, und im gleichen Maße wurden seine Träume seltener und sein Schlaf tiefer, so daß seine natürliche Fröhlichkeit wieder die Oberhand gewann. »Du wirst langsam zäher«, bemerkte Bracht eines Ta ges, als Calandryll sein Pferd zu einem kurzen Galopp antrieb, dem Reitertrupp vorausritt und ihn der Söldner wie immer pflichtbewußt begleitete. »Ja«, stimmte er zu, ohne allerdings zugeben zu wol len, wie unbehaglich er sich bisher gefühlt hatte. Bracht drückte es unverblümt aus: »Du warst ziemlich verweichlicht.« »Ich bin es nicht gewöhnt, im Freien zu schlafen«, räumte Calandryll ein. »Nein, du bist daran gewöhnt, nur in weichen Betten zu schlafen«, erwiderte der Kerner. »An Städte und Die ner, an ein Leben im Luxus.« Daran gab es nicht das geringste zu deuteln, aber Ca landryll weigerte sich, diese Tatsache vor sich selbst einzugestehen. Seine Gefühle dem Kerner gegenüber waren zwiespältig, er verspürte einerseits das Bedürfnis, sich ihm gegenüber zu beweisen; das Gefühl, von ihm
akzeptiert zu werden, das er nach dem Kampf gegen die Dämonen empfunden hatte, zu vertiefen. Doch anderer seits konnte er nicht vergessen, daß der Söldner nur mit ihm ritt, weil Varent ihn dafür bezahlte. Daß Bracht Va rent mißtraute, wurmte ihn, denn er, Calandryll, vertrau te dem Botschafter, und das unterkühlte Verhältnis zwi schen ihnen, dessen Ursache seiner Meinung nach einzig und allein in Brachts unbegründeter Abneigung gegen Varent lag, bereitete ihm Verdruß. Er stieß die Fersen heftig in die Weichen des Wallachs und trieb ihn zu ei nem schnelleren Galopp an. Das Pferd steigerte nur zu bereitwillig das Tempo, aber gegen den großen Hengst des Kerners hatte es keine Chance. Bracht hielt ohne jede Schwierigkeit mit ihm mit. Er saß im Sattel, als sei er mit seinem Tier verwachsen. »Aber jetzt wirst du härter«, rief er über den rau schenden Fahrtwind hinweg. Es klang beinahe nach einem Kompliment. Calandryll blickte ihn grinsend an. Bracht lächelte zurück, und Ca landryll spürte ein Aufwallen von Freude, das ihn in seinem Wunsch bestärkte, den Respekt des Söldners zu gewinnen. Sie preschten über eine weite, von Grüppchen schlan ker Birken eingerahmte Wiese. Im hellen Licht des Mor gens schimmerten die Bäume silbern. Die Sonne schien warm aus einem klaren blauen Himmel. Im Westen, wo sich Land und Meer trafen, türmten sich weiße Kumu luswolken auf. Vögel sangen in den Bäumen, flatterten
im Gras vor ihnen auf, und Calandryll gab sich ganz dem Vergnügen des schnellen Rittes hin. Es war, als würde er die beängstigenden Träume mit der Reiterkolonne zu rücklassen, die hinter ihnen immer kleiner wurde; als würde der unbeschwerte Galopp all seine Zweifel da vonspülen. Vor ihm lag nur noch die Suche nach dem Arcanum, und Brachts willkommene Bemerkung ließ seine Zuversicht wachsen, bestärkte ihn in seiner Ent schlossenheit. Er duckte sich flach über den langgestreck ten Hals des Wallachs und trieb ihn zu noch größerer Geschwindigkeit an. Vor ihnen rückten die Waldränder dichter zusammen, die Grasebene wurde zu einer breiten grünen Schneise. Dort, wo die Sonnenstrahlen durch die Zweige fielen, malten sie helle Tupfer auf den dunkleren Untergrund, über den die beiden Reiter Kopf an Kopf dahinjagten. Calandryll warf einen kurzen Blick zu Bracht hinüber und sah, daß der Kerner aufrecht im Sattel saß, die Zügel fast nachlässig in der linken Hand hielt, und sein dichtes, glänzendes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, flatterte wie ein schwarzes Band hinter ihm in der Luft. Er lächelte immer noch, seine sonst so strengen Gesichts züge waren entspannt und spiegelten deutlich seine Freude an dem schnellen Ritt wider. Als das Gelände abfiel und die lichten Birkenhaine von dichter zusammenrückenden, älteren Bäumen ver drängt wurden, tauchten sie aus dem Sonnenlicht in Schatten ein. Vor ihnen lag eine breite, mit Eschen, Bu
chen und Eichen bestandene Senke, die sich zu den Hän gen hinaufzogen und mit ihren weit ausladenden Kronen den Himmel verdeckten. Bracht zügelte seinen Hengst, ließ ihn im Schritt gehen und bedeutete Calandryll, seinem Beispiel zu folgen, als sich der Weg zu einem gewundenen Pfad verengte, in den knorrige Äste hineinragten, die einen unvorsichtigen Reiter leicht aus dem Sattel hätten fegen können. Der Untergrund bestand aus schwarzem weichem Humus boden, der das Klappern der Pferdehufe dämpfte, und das Geräusch, das sie verursachten, paßte sich dem dämmrigen Licht an. Der Wald verströmte eine Atmo sphäre der Feierlichkeit, die Luft war still. Das Halbdun kel wurde nur hier und da von hellen Lichtbahnen durchbrochen, die in Calandryll sofort die unbehagliche Erinnerung an einen Tempel hervorriefen, dessen düste res Inneres nur durch die hohen schmalen Fenster erhellt wurde. Das Vogelgezwitscher klang fern und gedämpft, schien von der Masse der großen Bäume fast verschluckt zu werden. Calandryll wurde bewußt, daß er den Atem anhielt, als würde die wie ein Gewicht auf ihm lastende, fast körperlich spürbare Präsenz all der Bäume ein Ge fühl der Ehrfurcht in ihm hervorrufen, und als er einen kurzen Blick zu Bracht hinüberwarf, sah er, daß der Ker ner nicht weniger beeindruckt war. Sie ritten langsam durch einen von Buchen gebildeten Tunnel, und als sie auf eine Lichtung stießen, standen sie genauso plötzlich im hellen Sonnenlicht, wie sie am An fang des Waldes in den Schatten eingetaucht waren.
Bracht zügelte sein Pferd, brachte es neben Calandrylls Wallach zum Stehen und starrte den gewaltigen Baum an, der die Lichtung beherrschte. Es war eine Eiche, schon durch ihre riesigen Ausmaße beeindruckend, mit einer mächtigen Krone über einem Stamm, der dick ge nug war, daß man ihn hätte aushöhlen können, um in ihm Zimmer unterzubringen. Der Boden unter der aus ladenden Krone war mit einer dicken Schicht herabgefal lener Blätter des letzten Winters bedeckt, ein Teppich aus fahlem Gelb, das einen deutlichen Kontrast zu dem fri schen Grün der Frühlingstriebe bildete, die sich der Son ne entgegenreckten. Bracht stieg ab, band seinen Hengst fest und näherte sich dem Baum zu Fuß. Calandryll folg te seinem Beispiel. Trockenes Laub knisterte unter ihren Stiefeln, aber das war das einzige Geräusch. Kein Vogelgezwitscher durchbrach die Stille, kein Summen von Insekten oder das leise Rascheln von Blättern in einem Windhauch. Es war, als würde allein die massive Präsenz des Baumes jeden Laut um ihn herum verschlucken. Auf dem Gesicht des Kerners lag ein Ausdruck, den Calandryll noch nie bei ihm gesehen hatte, ein Ausdruck von Demut und Ehrfurcht. Er sah zu, wie Bracht an die riesige Eiche he rantrat, die Arme wie in einer Geste der Huldigung er hoben, die Handflächen auf die gefurchte Rinde legte und in einer Sprache vor sich hin murmelte, die Ca landryll als die Muttersprache der Kerner erkannte, die er aber nicht verstand. Das einzige Wort, das er auf schnappte, war »Ahrd«.
Bracht stand lange so an den Baum gestützt da, wäh rend Calandryll schweigend wartete. Dann richtete er sich wieder auf, drehte sich mit feierlichem Gesicht zu seinem Begleiter um und sagte: »Ich habe den Cuan na'Dru nie betreten, habe nie den Heiligen Baum gesehen, aber ich glaube, daß dieser mit Ahrd verwandt sein muß. Ich glaube, daß dies ein Zei chen ist, auch wenn ich nicht sagen kann, was für eine Art von Zeichen.« Calandrylls Stirn legte sich in Falten. Er wußte, daß das Volk der Kerner den Baum Ahrd als seinen Gott verehrte, aber er war nie auf den Gedanken gekommen, sich Bracht als religiösen Menschen vorzustellen, und es erschien ihm merkwürdig, einem seelenlosen Gebilde zu huldigen. Trotzdem konnte er die Macht, die von diesem riesigen Baum ausging, nicht verleugnen. Auf dieser sonnigen Lichtung war sie spürbar; ihm schien, als wür de er sie mit der würzigen, erdigen Luft einatmen, sie in dem grünlichen Licht fühlen, das sein Gesicht umspielte. Er nickte wortlos. Und dann keuchte er auf und umklammerte sein Schwert, als er eine Stimme sagen hörte: »Bracht hat verstanden.« Es war, als würde der Baum selbst spre chen, oder der Wald, denn die Worte klangen so sanft wie das Rascheln von Blättern im Wind, wie das leise Geräusch übereinanderreibender Zweige. Calandryll spürte ein Prickeln auf der Haut und sah, wie der Kerner sein Krummschwert aus der Scheide zog. Die polierte
Klinge schimmerte im Licht, als er herumwirbelte, bereit, einen Angriff abzuwehren, und Calandryll wurde be wußt, daß er sein Schwert ebenfalls gezogen und in Ver teidigungshaltung erhoben hatte. Sanftes Gelächter schwebte flüsternd über die Lich tung, und diesselbe Stimme sagte: »Ich habe nicht vor, euch etwas anzutun. Ganz im Gegenteil, ich möchte euch beschützen.« Beide drehten sie sich um, ließen ihre spähenden Bli cke über den Ring der sie umgebenden Buchen kreisen und konnten niemanden entdecken. Calandryll sah wie der zu der Eiche hinüber. Er rechnete fast damit, dort einen versteckten Bogenschützen zu erblicken, einen Schwall heranfliegender Pfeile. »Steckt eure Schwerter ein, hier seid ihr in Sicherheit«, meldete sich die Stimme wieder. Bracht ließ seine Waffe sinken und musterte den Baum. »Ahrd?« fragte er mit gesenkter Stimme. Calandryll, im Glauben an Dera erzogen, war weniger bereit, eine solche Erklärung zu akzeptieren. Wieder klang die Stimme auf, von nirgendwo her und doch von allen Seiten gleichzeitig. Sie schien aus der Luft selbst zu kommen, aus der Eiche, aus dem Sonnenlicht. »Steckt eure Schwerter ein. Hier gibt es keine Gefahr, nicht für euch.« Bracht schob sein Krummschwert in die Scheide zu rück, Calandryll tat das gleiche mit seinem Schwert, wenn auch etwas zögerlich. Gleich darauf schien die
Sonne heller zu strahlen, fiel durch die weit ausladenden Äste und tauchte die Lichtung in einen grünlichen Schein. Calandryll schnupperte in Erwartung des Man delgeruchs, dieses untrüglichen Warnzeichens für Magie, konnte aber nur die vielfältigen Düfte des Waldes wahr nehmen. Sie wurden in dem Maße intensiver, in dem die Hel ligkeit zunahm, die ihn einen Augenblick lang so sehr blendete, daß er sich nicht mehr sicher war, ob das, was er sah, Wirklichkeit war. Er rechnete noch immer mit irgendeinem Trick. Der große Stamm der Eiche schien sich zu verändern, als sei er von Leben erfüllt. Das runz lige Holz beulte sich aus, Wurzeln zogen sich aus der Erde. Eine Gestalt schälte sich aus dem Baum heraus und kam zielstrebig auf sie zu. Calandryll griff nach seinem Schwert und fühlte, wie sich Brachts Hand um seinen Arm legte und ihn festhielt. Die Gestalt kam näher, wur de mit jedem Schritt deutlicher, und er starrte sie fas sungslos an. Sie hatte eine annähernd menschliche Form, bestand jedoch eindeutig nicht aus Fleisch und Blut, sah aus, als wäre sie grob aus der Eiche herausgeschnitzt worden, ein Holzwesen. Seine Haut wies das geriefte Grau uralten Holzes auf, dünne Zweige mit grünen Blättern sprossen aus dem knorrigen Rund des Kopfes, die Augen und der Mund bestanden aus Spalten, der Körper aus einem Holzstamm, aus dem zwei dünne Äste als Arme heraus ragten, die in kleinen Zweigen ausliefen, und die Beine sahen wie Wurzeln aus, an deren Enden dicke Erdklum
pen und abgestorbene Blätter klebten. »Ihr seid in Frieden zu mir gekommen, und in Frie den werde ich euch auch wieder ziehen lassen«, sagte die Gestalt. »Ahrd?« wiederholte Bracht leise seine Frage. »Nicht Ahrd«, erwiderte das Wesen, »aber mit Ahrd verwandt, wie du vermutet hast.« Bracht hob eine Hand und spreizte die Finger in einer Geste, die Calandryll als Zeichen der Ehrerbietung er kannte. Wieder klang das sanfte Lachen auf, so ruhig und heiter, wie die Eiche selbst wirkte, und auch genauso kräftig. Es umspülte sie, warm und beruhigend wie Son nenlicht. Calandryll fühlte, wie sich seine Zweifel zer streuten. Das Wesen blieb vor ihnen stehen, und er sah, daß sich seine Beine tatsächlich in den Boden gruben, daß es Wurzeln durch die Krume schob, als brauchte es eine direkte Verbindung mit der Erde, die seine Lebensgrund lage war. Er starrte den Teil des Wesens an, den er für das Gesicht hielt, und es schien zu lächeln, aber das konnte auch eine Täuschung sein, die das Spiel von Licht und Schatten auf der runzligen Oberfläche hervorrief. »Hört mir zu«, verlangte das Wesen, »und beherzigt meine Warnung. List und Tücke verschleiern euren Weg, und ihr müßt eure Freunde mit Sorgfalt wählen. Hütet euch vor dem Antlitz der Lüge und habt keine Geheim nisse voreinander, denn ihr seid miteinander verbunden wie Ast und Zweig, und das, was euch bevorsteht, wird
der eine ohne den anderen nicht überleben. Erinnert euch daran, wenn der Betrüger seine Netze spinnt. Vertrauen ist euer Verbündeter und eure Stärke.« »Sprichst du von Varent?« fragte Bracht. »Ich spreche von Zauberern und von Göttern«, erwi derte das Wesen. »Du sprichst in Rätseln«, sagte Calandryll. »Kannst du dich nicht klarer ausdrücken?« Die Zweige am oberen Ende des Dings raschelten, als würde es den Kopf schütteln. »Das kann ich nicht«, er klärte es. »Es gibt … Beschränkungen. Wäre Bracht nicht in Cuan na'For geboren, könnte ich überhaupt nicht zu euch sprechen. Und jetzt geht – ich kann euch nicht mehr sagen.« Die Stimme verklang so sanft wie ein Lufthauch. Das Baumwesen drehte sich um, zog die Wurzeln aus der Erde zurück und ging davon. Calandryll sah ihm reglos hinterher, als es schwerfällig auf die Eiche zustapfte, den gewaltigen Stamm umarmte, in ihn eindrang, und mit ihm verschmolz, als wäre es nie dagewesen, während das helle Licht erneut aufleuchtete. Er blickte Bracht an, der wieder die Hände in Richtung des Baumes hob, die Fin ger spreizte, sich dann verneigte und zu den Pferden zurückging. »Dies ist ein heiliger Ort«, murmelte der Kerner. »Es ist ein merkwürdiger Ort«, räumte Calandryll ein. »Du hast die Seele des Baumes gesehen«, sagte Bracht. »Du hast einen Abkömmling Ahrds sprechen gehört.«
»Ich habe ein durch Magie geformtes Wesen gesehen.« Calandryll warf einen Blick zurück. Die Eiche stand er haben auf der Lichtung, aber jetzt kam sie ihm nur noch wie ein sehr alter Baum vor, und seine Zweifel kehrten wieder. »Aber ich habe in letzter Zeit eine ganze Menge Magie gesehen.« »Du zweifelst an seiner Warnung?« erkundigte sich Bracht. »Ich habe nur rätselhafte Worte gehört.« »Es hat von Varent gesprochen.« Brachts Stimme klang fest. Calandryll musterte sein Gesicht und zuckte die Achseln. »Oder von Azumandias.« »Du stammst aus Lysse«, sagte Bracht. »Was weißt du von Ahrd?« »Ich weiß, daß es – er? – von den Stämmen Kerns an gebetet wird, obwohl nur wenige den Baum gesehen haben«, antwortete Calandryll. »Nennt ihr ihn nicht den Heiligen Baum? Es oder er soll im Cuan na'Dru stehen, nicht wahr? Und niemand wagt sich dort hinein.« »Du betest zu Dera«, konterte Bracht. »Hast du sie je mals gesehen?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Nein, aber Dera ist ein Kind der Ersten Götter – wer könnte an ihrer Existenz zweifeln?«
»Sie ist die Göttin von Lysse«, sagte Bracht. »Ahrd ist der Gott von Cuan na'For.« »Wir sind in Lysse«, erinnerte ihn Calandryll. »Willst du damit sagen, dies wäre keine Warnung, die uns Ahrd geschickt hat?« Calandryll konnte die Überzeugung aus Brachts Wor ten heraushören, sah sie in dessen Augen. Er schüttelte hilflos den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, was es war. Vielleicht hat uns Azumandias dieses Ding geschickt, um uns zu verwir ren.« »Varent hat gesagt, Azumandias könne uns nicht aus findig machen. Woher hätte er wissen sollen, daß wir zu diesem Ort kommen würden?« »Ich weiß es nicht.« Calandryll fühlte sich verunsi chert. »Du behauptest, es hätte uns vor Varent gewarnt?« »Aye, das behaupte ich.« Bracht nickte mit Nachdruck. Calandryll starrte ihn mit wachsender Verunsicherung an. »Warum mißtraust du ihm?« wollte er wissen. Diesmal zuckte Bracht die Achseln. »Er hat so eine Art – da ist etwas an ihm…« »… das dir nicht gefällt. Ist das Grund genug für dein Mißtrauen?« »Mein Mißtrauen hat mir schon öfters das Leben ge rettet«, sagte Bracht. »Aber du nimmst trotzdem sein Geld.«
Calandrylls Stimme klang anklagend. Bracht achtete nicht darauf. »Warum nicht? Er bezahlt mich gut.« Calandryll schnaubte. Sein Ärger wuchs. »Also akzeptierst du seinen Auftrag. Obwohl du ihm mißtraust.« »Ich könnte mich täuschen«, gab Bracht zu. »Aber jetzt … ich habe den Byah sprechen gehört.« »Den Byah?« Calandryll runzelte die Stirn. »Den Geist des Baumes. Die Manifestation Ahrds.« »Ahrd ist ein Gott Kerns«, wiederholte Calandryll sei nen Einwand, »und wir befinden uns hier in Lysse. Du kannst dir nicht sicher sein, daß nicht Azumandias dieses Ding geschickt hat.« »Ich weiß es«, sagte Bracht einfach. »Dera!« Calandryll warf resigniert die Arme in die Luft. »Wer immer es geschickt hat – Ahrd, Azumandias, meinetwegen sogar Dera –, es hat in Rätseln gesprochen, und du hast dich entschieden, seine Worte gegen Varent auszulegen. Wie kannst du mit Sicherheit behaupten, daß es uns nicht vor Azumandias gewarnt hat?« Bracht zuckte die Achseln, und Calandryll seufzte. »Wenn du das glaubst, warum kündigst du ihm dann nicht den Dienst auf?« »Ich habe ihm mein Wort gegeben«, sagte Bracht und hob die Brauen, als würde er die Frage für völlig über flüssig halten.
»Einem Mann, dem du nicht traust?« Bracht nickte. »Ich stehe so lange dazu, bis er meinen Verdacht bestätigt.« »Ich verstehe dich nicht.« Der Kerner grinste verkniffen. »Gibt es in Lysse keine Ehre?« »Natürlich«, erwiderte Calandryll steif. Er fühlte sich beleidigt. »Ich habe ihm mein Wort gegeben und dafür sein Geld angenommen«, erklärte Bracht. »Bis er sich als Betrüger erweist, bin ich daran gebunden.« »Dann könnte es allerdings schon zu spät sein«, gab Calandryll zu bedenken. »Mag sein.« Bracht nickte. »Aber wie dem auch sei – ich habe ihm mein Wort gegeben.« »Und das verpflichtet dich.« »Ja«, bestätigte Bracht. »Das verpflichtet mich. Was wäre ich, wenn ich nicht zu meinem Wort stehen wür de?« Calandryll musterte das Gesicht seines Gefährten. Der Kerner erwiderte den Blick offen, und nach einer Weile schüttelte der Jüngere den Kopf, als er erkannte, daß an Brachts Einstellung nicht zu rütteln war. Seine Ehre band ihn an seine Zusage, und er würde Varent so lange die nen, bis sich dieser als Betrüger erwies. Aber dazu würde es nicht kommen, davon war Calandryll überzeugt. Va rents Absichten waren ehrenhaft, und das würde auch
Bracht früher oder später akzeptieren müssen. Was die Absichten des Byahs betraf, war sich Calandryll weniger sicher. Er hatte keinerlei Zweifel gehabt, als das Baum wesen zu ihnen gesprochen hatte, aber jetzt, nachdem es wieder verschwunden war, war er längst nicht mehr so überzeugt. Die Warnung war mehrdeutig gewesen und hatte keinen direkten Hinweis darauf enthalten, daß sie auf Varent gemünzt war. Warum also sollte der Byah nicht Azumandias gemeint haben? Das schien Calandryll die logischere Erklärung zu sein, wenn es sich wirklich, wie Bracht glaubte, um eine Manifestation Ahrds gehan delt hatte. Aber wie war es möglich, daß der Heilige Baum hier in Lysse Macht besaß? Konnte es sich bei dem Vorfall nicht doch um einen weiteren Trick von Azu mandias handeln? Er war fest entschlossen, sich so bald wie möglich mit Varent über die Erscheinung zu unter halten. »Komm.« Brachts Stimme riß ihn aus seinen Grübeleien. Er stieg auf seinen Wallach und folgte dem Kerner durch den Wald zurück zum Hang der Senke bis zu der Stelle, an der sie in das dichte Gehölz geritten waren. Die kleine Reiterkolonne war näher gekommen und schlängelte sich durch die von den Birken gesäumte Schneise. Varent ritt neben dem Wagen und war in ein Gespräch mit Darth vertieft. »Ich glaube«, murmelte Bracht, als der Wagen näher kam, »wir sollten meinen Verdacht lieber für uns behal
ten.« Calandryll nickte zustimmend. Falls Varent vom Mißtrauen des Kerners erfuhr, war es durchaus denkbar, daß er ihn aus seinen Diensten entließ, und Calandryll wollte die Gesellschaft des unabhängigen Söldners nicht missen. »Aber ich möchte mit ihm über den Byah sprechen«, sagte er. »Wie du willst«, erklärte sich Bracht einverstanden. »Aber nicht über meine Interpretation seiner Warnung.« Calandryll nickte. Sie warteten, bis der Wagen sie er reicht hatte, dann deutete Bracht auf den Wald. »Die Bäume stehen dort unten sehr dicht. Es wird schwer für den Wagen werden.« »Ich kenne einen Weg.« Varent lächelte. »Habt Ihr Eu ren Ausritt genossen?« »Ja«, erwiderte Calandryll, »er hat … Spaß gemacht.« »Aber?« Varents dunkle Augen musterten sein Gesicht. Ca landryll runzelte die Stirn, warf Bracht einen kurzen Blick zu, und als der Kerner nichts erwiderte, sagte er: »Wir sind auf etwas Magisches gestoßen.« Varents Augenbrauen stiegen interessiert in die Höhe. Calandryll lenkte sein Pferd neben ihn. Bracht blieb an seiner Seite. »Da war eine Lichtung mit einer großen Eiche in der Mitte«, begann Calandryll. »Ein Wesen – Bracht nennt es
einen Byah – ist aus dem Baum herausgekommen und hat zu uns gesprochen.« »Ich habe von den Byah gehört.« Varent beugte sich im Sattel vor. Sein Blick ging an Calandryll vorbei und rich tete sich auf den schweigenden Kerner. »Sind das nicht Manifestationen von Ahrd?« »Ja«, erwiderte Bracht einsilbig. Varent strahlte, als wäre er über die Bestätigung ent zückt. »Ein Byah! Wenn ich Euch doch nur begleitet hät te!« rief er sehnsüchtig. »Soweit ich weiß, erscheinen sie nur den Menschen, die die Eiche verehren. Wenn ich mich richtig erinnere, handelt es sich um göttliche Ge schöpfe, die den Menschen gute Ratschläge geben. Habt Ihr einen solchen Ratschlag erhalten?« »Er hat uns geraten, uns vor Lügen in acht zu neh men«, erwiderte Calandryll. »Er hat gesagt, daß List und Tücke unseren Weg verschleierten und wir einander vertrauen sollen.« »Wirklich ein weiser Rat«, stellte Varent lächelnd fest, »wenn Ihr es mit den Lügen eines Menschen wie Azu mandias zu tun bekommt. Ich glaube, die Byah erschei nen nur äußerst selten, und ich bezweifle, daß sich dieser noch einzeigen wird. Was meint Ihr, Bracht?« »Ich denke, er hat uns alles gesagt, was er uns sagen wollte«, entgegnete der Kerner. »Er wird nicht noch einmal erscheinen.« »Wie schade«, seufzte Varent. »Ich würde liebend gern einmal ein solches Geschöpf sehen. Aber der Baum ist ja
noch da – würdet Ihr mich zu ihm führen?« »Ihr scheint überhaupt nicht überrascht zu sein«, warf Calandryll ein, den es etwas verunsicherte, mit welch fröhlicher Bereitwilligkeit der Botschafter die Existenz des Wesens akzeptierte. »Nein«, sagte Varent. »Wieso sollte ich? Soweit ich ge lesen habe, ist Ahrd der Vater der Wälder und überall dort anwesend, wo die großen Eichen wachsen. So wie Burash alle Meere beherrscht, lebt Ahrd in allen Wäl dern.« »Aber Lysse ist doch ohne jeden Zweifel Deras Reich«, widersprach Calandryll. »Das ist richtig«, stimmte ihm Varent zu, »aber es bleibt immer noch Raum für andere Götter. Ich habe in meiner Bibliothek eine äußerst interessante Arbeit zu dem Thema Götterkunde. Sie stammt von Marsius – kennt Ihr sie?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich werde sie für Euch heraussuchen, wenn wir Al darin erreicht haben«, versprach Varent. »Könnte der Byah nicht von Azumandias heraufbe schworen worden sein?« fragte Calandryll. »Nicht hier.« Varent deutete auf die Bäume, die jetzt ihren Weg säumten. »Woher sollte er wissen, wo wir uns gerade befinden? Nein, meine Freunde, vorläufig sind wir vor seinem Zauber sicher.« Calandryll warf Bracht einen raschen Seitenblick in
der Hoffnung zu, daß der Söldner mit dieser Erklärung zufrieden sein würde. Varent akzeptierte die Erschei nung der Manifestation viel zu bereitwillig, als daß er sie hätte fürchten können, und sein Interesse an ihr war lediglich das eines Forschers. Hätte er geglaubt, das We sen hätte sie vor ihm gewarnt, dann hätte er bestimmt irgendein Anzeichen von Beunruhigung gezeigt und sich nicht gewünscht, den Ort seines Erscheinens aufzusu chen. Und er schien äußerst zuversichtlich, daß es sich nicht um einen Trick seines Rivalen handelte. Im Gegen teil, seine Worte stimmten mit Brachts Glauben überein – abgesehen von der unterschiedlichen Auslegung der Warnung. Für Calandryll stand fest, daß der Kerner sich irrte. Wie er bereits vermutet hatte, wurde Brachts Urteilsver mögen durch seine Abneigung Varent gegenüber ge trübt. Nachdem seine letzten Zweifel beseitigt waren, lächelte er. Er hatte Glück gehabt, daß er Varent begegnet war. »Also, werdet Ihr mir diesen wunderlichen Baum zei gen?« fragte der Botschafter noch einmal. Wieder sah Calandryll Bracht an. Er war nicht ganz bereit, ohne Brachts Zustimmung einzuwilligen, aber der Kerner nickte und scherte mit seinem Hengst aus der Kolonne aus. Varent rief seinen Männern zu, weiterzu ziehen, und folgte dem Söldner in den Wald hinein. Sie erreichten die Lichtung und stiegen von ihren Pferden. Die Eiche erhob sich majestätisch in ihrer Mitte,
aber jetzt schien es nur noch ein Baum zu sein, riesig und beeindruckend aufgrund seines Alters und seiner Größe, doch davon abgesehen ein ganz normaler Baum. Das Sonnenlicht wirkte hier nur deshalb heller, weil in einem breiten Ring um die Eiche herum keine anderen Bäume standen, und statt der Stille, die vorher auf der Lichtung geherrscht hatte, statt der feierlichen Ruhe, waren nun Vogelgezwitscher und das leise Rascheln von Laub zu hören, das sich in einer schwachen Brise bewegte. Varent ging auf die Eiche zu und blickte zu den ausla denden Ästen hinauf. Calandryll bemerkte, daß Bracht den Mann genau beobachtete, als erwartete er irgendei nen Beweis für dessen Falschheit, irgendeine Bestätigung seines Verdachtes, aber Varent machte lediglich den Eindruck eines Forschers, der von diesem gewaltigen Wuchs fasziniert war. Er trat näher an den Baum heran, berührte den Stamm, lächelte, als ein Eichhörnchen auf einem Zweig ein Schnattern ausstieß, und umrundete den Stamm langsam. »Glaubst du immer noch, der Byah hätte uns vor ihm gewarnt?« fragte Calandryll flüsternd. Bracht nickte wortlos. Calandryll grunzte. Die unver nünftige Dickköpfigkeit des Kerners machte ihn ratlos. »Großartig!« Varent kam zu ihnen zurück und strahlte begeistert. »Wenn ein Byah irgendwo erscheinen sollte, dann bestimmt bei einem so herrlichen Baum wie die sem.« Er blieb stehen und drehte sich um, um den Baum
noch einmal zu betrachten. »Ihr scheint Euch mit den Gepflogenheiten in Cuan na'For bestens auszukennen«, bemerkte Bracht. Varent nickte geistesabwesend. Er war immer noch in seine Beobachtungen vertieft. »Ich habe Studien über die meisten Religionen betrie ben. Wie ich Calandryll schon gesagt habe, Marsius ist sehr faszinierend, Ihr solltet ihn einmal lesen.« Er lachte kurz auf und machte eine entschuldigende Handbewe gung. »Verzeiht, ich hatte vergessen, daß Ihr gar nicht lesen könnt.« Bracht erwiderte nichts darauf, und Varent ging zu seinem Pferd zurück. »Faszinierend. Ich freue mich, den Baum gesehen zu haben, aber jetzt sollten wir uns wieder zu den anderen gesellen.« Er bestieg seinen Falben, schenkte der Lichtung einen letzten Blick, als hoffe er, daß sich doch noch irgend etwas ereignete, dann führte er sein Pferd wieder in den Buchenwald. Calandryll folgte ihm, Bracht bildete den Abschluß. Sein dunkles Gesicht war ausdruckslos, als sie zurück zu der Reiterkolonne trabten. Zweieinhalb Tage lang ritten sie durch den Wald, bis sie an einem Berghang herauskamen, der mit vereinzelten Birkengruppen übersät war. Je weiter der Hang abfiel,
desto spärlicher wuchsen die Bäume und gingen schließ lich in eine Grasebene über, auf der wilde Rinder und Pferde weideten. Als sie näher kamen, stoben die Tiere auseinander, die Rinder mit drohend erhobenen Hör nern, die Pferde mit wehenden Mähnen. Die Männer durchquerten drei flache Bäche, brachten den Wagen über einen tieferen Fluß und verbrachten den Rest des Tages an seinem Ufer, wo sie ihre Kleidung und Ausrüs tung trocknen ließen. Die Pferde rupften zufrieden das saftige Gras, während Varents Leute die Ruhepause genossen. Calandryll wurde keine Erholung gegönnt, denn Bracht verkündete, daß es an der Zeit wäre, die Fechtkunst seines Schützlings zu verbessern, und da Calandryll nicht mehr an Muskelkater litt, hatte er keine Ausrede. Schließlich kamen sie Aldarin und damit dem eigentlichen Beginn ihrer Mission immer näher, bei der sie sich unter Umständen auf ihre Schwerter würden verlassen müssen. Vom Mittag bis zum Abend, und danach bei jeder Rast, drillte der Kerner ihn in den Feinheiten des Schwertkampfes, während Varent und seine Männer zusahen, gute Ratschläge erteilten und ihm Ermutigun gen zuriefen. Calandryll stellte erfreut fest, daß er mit jedem Tag schneller und geschmeidiger wurde. Er war, wie Bracht gesagt hatte, zäher geworden, und er gab sich die größte Mühe, wenn er mit dem Söldner übte. Brachts Lob über seine Fortschritte tat ihm gut. Zu seiner Überra schung bereiteten ihm ihre Kämpfe ein Vergnügen, wie er es unter der Anleitung von Torvah Banul auf dem
Übungsplatz im Palast seines Vaters nie angefunden hatte. Auch der Schlaf war jetzt wieder erholsam, denn seit sie den Wald verlassen hatten, hatten seine Alpträu me gänzlich aufgehört. Er hatte früher schon einmal geglaubt, diese Alpträu me wären verschwunden, aber nach der Erscheinung des Byahs waren sie zurückgekehrt, als hätten ihm die Bäume selbst die Visionen geschickt, auch wenn ihm nie klarge worden war, was sie bedeuteten. Immer war er ent spannt eingeschlafen und hatte sich dann auf der Wald lichtung wiedergefunden, über der in seinen Träumen der Mond schien. Silbriges Licht sickerte durch die Äste und Zweige der großen Eiche, die Nacht war still und friedlich. Dann löste sich der Byah aus dem Baumstamm und kam mit erhobenen Armen auf ihn zu, die dünnen Zweige seiner Finger weit gespreizt, so daß sich Ca landryll nie sicher war, ob die Geste eine Warnung oder eine Bedrohung darstellte. Das Baumwesen sprach zu ihm, aber jedesmal wurden seine Worte von dem plötz lich aufkommenden Wind verschluckt, der so kalt und heftig blies, daß das Baumgeschöpf durchgeschüttelt wurde, sich langsam zurückzog und wieder in der Eiche aufging. Während es mit ihr verschmolz, traten Bracht und Varent aus den Schatten hinter ihr hervor. Ein jeder winkte ihm zu und forderte ihn auf, zu ihm zu kommen, auf die rechte oder die linke Seite des Stammes, und er stand unentschlossen da, wußte, daß er sich zwischen ihnen entscheiden mußte, aber nicht, zu wem er gehen sollte.
Der Traum war jede Nacht wiedergekehrt, bis sie das Grasland erreicht hatten, als würde die Macht der Bäume dort enden, aber nachdem sie den Wald verlassen hatten, konnte er wieder ungestört schlafen. Schließlich kam er zu dem Schluß, daß ihm der Traum nicht von dem Byah geschickt worden war, sondern den Tiefen seines Unterbewußtseins entstammte und das Ergebnis seines sich verschärfenden Loyalitätskonfliktes war. Er war nach wie vor überzeugt, daß Varents Absich ten ehrenhaft waren, aber Brachts Mißtrauen blieb uner schütterlich, und das machte ihm weiter zu schaffen. Zwischen ihm und dem Kerner hatte sich eine Verbun denheit entwickelt, die ihren Beginn mit ihrem gemein samen Kampf gegen die Dämonen genommen hatte, die durch Calandrylls Verschwiegenheit Varent gegenüber, was die Zweifel des Kerners betraf, gefestigt worden war und die durch die Stunden, die sie gemeinsam verbrach ten, ständig wuchs. Er sah in dem Söldner nicht länger lediglich einen angeheuerten Mann, der es nur auf Va rents Geld abgesehen hatte, sondern einen Freund, und Bracht hatte aufgehört, gelinde Verachtung für seine Verweichlichung und Unerfahrenheit zu zeigen und schien ihn zunehmend als einen Gleichberechtigten zu betrachten, als Kamerad. Es war, als hätte Calandryll dadurch, daß sie die Warnung des Byahs teilten, eine weitere unausgesprochene Prüfung bestanden und wäre in Brachts Achtung gestiegen. Und das war ihm sehr wichtig. Auf der anderen Seite vertraute er Varent, genoß die
geistreiche Gesellschaft des Botschafters nicht weniger als die des Kerners. Abends, nachdem sie ihre Schwert kampfübungen beendet hatten, und oft während des Rittes, erzählte Varent von Lysses Geschichte oder den Religionen ihrer Welt. Es waren unzählige Themen, in denen der Botschafter mindestens so gut wie irgendein Pädagoge bewandert war, und Calandryll fand seine Gelehrsamkeit ebenso anregend wie Brachts mehr kör perlich betonten Unterricht. Es war eine Zeit, an die er sich später mit einer gewis sen Nostalgie zurückerinnern würde, eine Zeit der Arg losigkeit, fast eine Idylle. Sie durchquerten die Ebene, und vor ihnen tauchten flache Hügel auf. Das Gras verschwand, der Boden wur de trockener, ging in harte, rötlichbraune Erde über, die von grauen und schwarzen Felsen durchbrochen wurde, als wäre das Land von der Erosion zernagt worden. Noch immer waren keine Anzeichen menschlicher Be siedlung zu sehen, und es kam auch zu keinen magi schen Begegnungen mehr, während sie einem gewunde nen abgelegenen Pfad durch die Hügel folgten, der im mer weiter anstieg, bis sie nach drei Tagen auf einer windgepeitschten Hochebene herauskamen. Varent brachte den Trupp durch einen Ruf zum Stehen und deutete nach vorn. »Aldarin liegt hinter diesen Weiden«, verkündete er. »Am Alda.«
Calandryll spähte aus zusammengekniffenen Augen in die Ferne, wo das Land in der Hitze flimmerte. Ein kräftiger Wind, der den Geruch des Meeres mit sich trug, zerzauste sein länger werdendes Haar, peitschte Mähne und Schweif seines Pferdes. Weit im Westen fiel das Land zum Engen Meer hin ab. Das frische Grün des Weidelandes ging in das Blau der See über. Vor ihnen erstreckte sich die mit saftigem Frühlingsgras bewachse ne Hochebene. Er entdeckte mehrere Gebäude, die in einen blauen Farbton gestrichen waren, der Varents Tu nika ähnelte. Sie waren gedrungen und von Mauern umgeben wie kleine Festungen. Die Flachdächer leuchte ten hell unter dem leicht bewölkten Himmel. »Viehfarmen«, erklärte Varent. »Sie versorgen die Stadt mit Fleisch.« Er wirkte begeistert und schien es eilig zu haben, in seine Heimatstadt zurückzukehren, genau wie seine Männer, und sie ritten in zügigem Tempo weiter. Sie begegneten Viehtreibern, sonnengebräunten Män nern in Tuniken und Hosen aus wettergegerbtem Leder, die lange Lanzen trugen, auf kräftigen Ponys ritten und ihnen Grüße zuriefen, als sie die Embleme auf dem Wa gen erkannten, aber Varent führte seinen Trupp an den Viehfarmen vorbei und ließ ihn während der zwei Tage, die sie brauchten, um das hochgelegene Weideland zu durchqueren, noch einmal im Freien lagern. Am späten Vormittag des dritten Tages ging die Hochebene in einen weitgestreckten Hang über und fiel
zu einem breiten Tal ab. Bauernhöfe und Weinberge zogen sich auf beiden Seiten des Tales entlang. Der Alda war ein blaues Band, das silbern glitzerte. Dort, wo er ins Meer mündete, lag Aldarin. Wie Secca – wie alle Städte in Lysse – war auch Alda rin von hohen Schutzwällen umgeben. Calandryll erblickte eine gepflasterte Straße, die am Ufer des Flusses entlangführte und hinter großen metall verstärkten Holztoren verschwand, neben denen sich drohend Katapulte erhoben. Auf der anderen Seite der Stadt, von ihrem erhöhten Standpunkt am Rande des Hanges gut sichtbar, erstreckte sich der Hafen über die gesamte Länge der durch das Flußtal geformten Bucht von einer Mauer zu anderen. Dort lagen Schiffe vor An ker, die aus der Entfernung klein wie Spielzeuge aussa hen. Die Stadtmauern umgaben die Bucht wie zwei ge bogene Hörner, an deren Enden befestigte Wachhäuser standen. Die Stadt war gut zu verteidigen, konnte zwei fellos einer Belagerung standhalten, trotzdem wirkte sie freundlich, die Häuser waren bunt, und auf den hellen Straßen herrschte reger Betrieb. Die Luft war frisch, vom Duft der Weinstöcke und dem Salzgeruch der blaugrauen See erfüllt, als sie einem gewundenen Viehtreiberweg folgten, der den Hang hin ab zur Hauptstraße führte. Gegen Mittag hatten sie die Stadttore erreicht und hielten an. Ein Trupp Soldaten in Kettenhemden unter dem Kommando eines Hauptmanns hob die Piken, um
Varent zu begrüßen. »Willkommen, Lord Varent!« rief der Offizier und verbeugte sich. »War Eure Reise erfolgreich?« »Äußerst erfolgreich«, erwiderte Varent. »Der Domm wird mit den Ergebnissen sehr zufrieden sein.« Der Offizier nickte. »Wünscht Ihr eine Eskorte, Herr?« »Das wird nicht nötig sein.« Varent lächelte. »Meine eigene Gefolgschaft ist ausreichend, und ich werde zuerst zu meinen Palast reiten, bevor ich den Domm aufsuche.« »Wie Ihr wünscht, Herr.« Der Hauptmann bellte einen Befehl, die Soldaten nahmen in Reihen Aufstellung und gaben den Weg in die Stadt frei. Varent setzte sich an die Spitze des Zuges und führte ihn, gefolgt von Bracht und Calandryll, durch den Tor bogen in der breiten Mauer auf einen großen geschäfti gen Marktplatz voller bunter Stände. Die Leute machten eine Gasse frei, um die Reiter durchzulassen. Eine mit blauen Steinplatten gepflasterte Allee führte hinter dem Marktplatz weiter durch Lager häuser hindurch, genauso schnurgerade wie die Straßen, die Secca durchzogen. Sie durchschnitt mehrere große Plätze, die hell und freundlich unter der Mittagssonne lagen, und lief weiter durch dichtbevölkerte Wohnviertel, in denen reger Betrieb herrschte und die Calandryll an seine Heimatstadt erinnerten. Als sie sich dem Stadtzentrum näherten, bog Varent in
eine etwas schmalere Seitenstraße ab, und schon bald ritten sie durch Parkanlagen und an von Mauern umge benen Häusern vorbei, die die gehobene gesellschaftliche Stellung ihrer Besitzer verrieten und nach den engen und belebten Straßen kühl und geräumig wirkten. Varent zügelte sein Pferd vor einem prächtigen Gebäude, dessen Dach und oberes Stockwerk hinter einer weißgetünchten Ziegelsteinmauer zu sehen waren. Die Tore waren in einem leuchtenden azurblauen Farbton gestrichen. Er rief einen Befehl, worauf Männer in blaugoldenen Tuniken die Torflügel aufstießen. Sie verbeugten sich, murmelten ehrerbietige Grüße, und Varent ritt durch das Tor auf den Vorhof. »Willkommen in meinem Haus«, sagte er und stieg ab. Calandryll und Bracht glitten aus den Sätteln. Diener eilten herbei, um ihrem Herrn behilflich zu sein. Varent wandte sich Bracht zu. »Ihr wollt Euch doch bestimmt die Ställe ansehen, ob wohl ich Euch versichere, daß gut für Euer Pferd gesorgt werden wird.« Er warf seine Zügel einem Diener zu. Calandryll sah, daß ein anderer Diener darauf wartete, ihm das Pferd abzunehmen, aber nach einem kurzen Augenblick des Zögerns schüttelte er den Kopf, was dem Botschafter ein Schmunzeln und Bracht ein anerkennendes Nicken ent lockte. »Ich warte im Haus auf Euch.« Varent schien sich über Calandrylls Verhalten zu a
müsieren, und der junge Mann verspürte einen Anflug von Verlegenheit, als hätte er gerade die Seiten gewählt. Schließlich war das Tier nicht einmal sein eigenes Pferd, aber er hatte es seit dem ersten Tag in der Karawanserei gepflegt und versorgt – eine der Lektionen, die Bracht ihm beigebracht hatte. Er lächelte entschuldigend und folgte dem Kerner über den Hof. Die Ställe waren auf der Rückseite des Hauses unter gebracht, eine lange Reihe geräumiger Boxen in einer gekachelten Säulenhalle, in der es angenehm nach fri schem Heu und Pferden roch. Varents Männer überlie ßen es den Dienern, den Wagen zu entladen, und den Pferdeknechten, sich um ihre Tiere zu kümmern, und verschwanden im Haus. Calandryll nahm seinem Wal lach den Sattel ab, rieb ihn sorgfältig trocken, vergewis serte sich, daß Futter- und Wassertrog ausreichend ge füllt waren, und mußte grinsen, als ihm bewußt wurde, daß er einem Pferd noch nie so viel Zeit gewidmet hatte. Anscheinend färbte der Umgang mit Bracht auf ihn ab. Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war, folgten er und Bracht einem Diener, der geduldig auf sie gewartet hatte, ins Haus. Es war kleiner als der Palast des Domms von Secca, aber vielleicht sogar noch luxuriöser. Hohe Fenster ließen die frische Seeluft herein, in der Eingangshalle duftete es nach den Pflanzen, die in großen Töpfen aus Jade und Malachit wuchsen. Der Fußboden war mit goldenen und blauen Mosaiken verziert, die Wände waren mit hell blauer Farbe gestrichen, die allmählich in das Dunkel
blau der Decke überging und so den Eindruck erweckte, als würde man durch einen Unterwassergarten spazie ren. Hinter der Halle schloß sich ein Gang an, in dem Marmorbüsten in Wandnischen standen, die durch kunstvoll angebrachte Fensterschlitze in der gegenüber liegenden Wand von der Sonne angestrahlt wurden. Der Gang endete vor einer kupferbeschlagenen Tür. Diener öffneten ihnen die Türflügel und führten sie in einen kühlen, luftigen Raum, wo Varent auf sie wartete. Hier waren die Wände weiß, der Fußboden bestand aus poliertem winkelförmigem Parkett. In einer Wand war ein Kamin eingelassen, in dem Holzscheite lagen, in der anderen Wand waren Fenster. Varent saß in einem Sessel mit hoher Lehne. Er hatte die Beine ausgestreckt und die staubigen Stiefel auf einen lackierten Holzsche mel gelegt. Das Licht betonte seine scharfgeschnittenen Züge. Er lächelte, als sie eintraten, stand auf, füllte drei Silberpokale mit edlem roten Wein und machte eine einladende Handbewegung in Richtung einer in einem Halbkreis vor dem Kamin angeordneten Sesselgruppe. »Ein Willkommenstrunk auf unsere sichere Ankunft in Aldarin«, sagte er. »Hier kann uns Azumandias nichts mehr anhaben.« Calandryll nahm den einen Pokal entgegen, Bracht den anderen. »Ich schlage vor, wir essen«, sagte Varent. »Oder wür det Ihr lieber zuerst baden?« »Zuerst essen«, entschied Bracht. Calandryll nickte zu
stimmend. »In Ordnung.« Varent machte es sich bequem und trank einen Schluck Wein. »Die Diener werden Euch zu Euren Zimmern führen und Euch mit allem versorgen, was Ihr benötigt. Ich muß Euch eine Weile allein lassen – der Domm möchte die Ergebnisse meiner Verhandlun gen mit Secca erfahren, und ich werde erst spät in der Nacht zurückkommen, vielleicht auch erst morgen. Auf eins möchte ich Euch noch nachdrücklich hinweisen: Solange Ihr Euch innerhalb der Grundstücksmauern aufhaltet, kann Euch Azumandias keinen Schaden zufü gen.« Er warf Bracht einen Blick zu, halb Warnung, halb Entschuldigung, als verstünde er dessen Abneigung gegen Zauberei. »Ich habe mein Anwesen durch Zauber sprüche geschützt, aber außerhalb davon befindet Ihr Euch in Gefahr. Azumandias wird mit Sicherheit von meiner Ankunft erfahren haben und dieses Haus beo bachten. Verlaßt es nicht, das wäre lebensgefährlich für Euch!« »Hält sich Azumandias in Aldarin auf?« erkundigte sich Bracht. »Vielleicht.« Varent hob die Schultern. »Auf jeden Fall aber seine Agenten – und wie Ihr bereits erfahren habt, besitzt er beachtliche Kräfte.« »Warum töten wir ihn nicht?« fragte Bracht gerade heraus. »Wir stoßen ihm ein Schwert zwischen die Rip pen, und die Sache ist erledigt.«
Varent lachte. »Wenn das nur so einfach wäre, mein Freund. Aber das ist es nicht! Azumandias ist ein mächtigerer Zaube rer, als ich es jemals zu werden hoffen kann, und er schützt sich mit Magie. Außerdem gibt es Gesetze in Aldarin – auf Mord steht die Todesstrafe durch den Gal gen.« »Der Mann, der uns diese Dämonen auf den Hals ge schickt hat, respektiert keine Gesetze«, gab Bracht zu rück. »Nein«, stimmte ihm Varent geduldig zu, »aber wel chen Beweis haben wir, daß Azumandias sie geschickt hat? Außer Euch und Calandryll hat sie niemand kom men und gehen gesehen. Und sollte ich Euch als Zeugen berufen, hätte Azumandias die Gewißheit, das Ihr hier seid. Im Augenblick kann er das nur vermuten, zumin dest weiß er nicht mit Sicherheit, wo Ihr Euch aufhaltet.« »Man braucht kein Zauberer zu sein, um zu erraten, wo wir sind«, behauptete Bracht. »Wahrscheinlich nicht«, stimmte ihm Varent zu, »aber er kann sich nicht sicher sein. Ich besitze auch Grundstü cke und Häuser außerhalb der Stadt und könnte Euch dort versteckt haben. Solange Ihr Euch innerhalb dieser Mauern aufhaltet, ist er auf Vermutungen angewiesen.« »Und Eure Diener?« wollte der Söldner wissen. »Die Männer, die mit uns geritten sind? Sie könnten reden.« Varent strahlte anerkennend. »Eure Vorsicht ist be wundernswert«, gratulierte er, »aber darüber braucht Ihr
Euch keine Sorgen zu machen. Meine Leute sind vertrau enswürdig, sie werden nichts verraten.« »Und wenn wir Aldarin verlassen?« Varent hob verschwörerisch einen Finger. »Wenn Ihr aufbrecht, werdet Ihr Euch auf dem kürzesten Weg zum Hafen begeben. Dort wird ein Schiff auf Euch warten, und mit etwas Glück werdet Ihr fort sein, bevor Azu mandias von Eurem Verschwinden erfährt.« »Wann wird das sein?« fragte Bracht. »Bald«, versprach Varent. »Ich muß ein geeignetes Schiff mit einem vertrauenswürdigen Kapitän finden, bevor Ihr sicher abreisen könnt.« »Also sind wir bis dahin Eure Gefangenen«, sagte Bracht langsam. »Wohl kaum Gefangene«, schmunzelte Varent. »Eher geehrte Gäste. Ich glaube, Ihr werdet einen sehr ange nehmen Aufenthalt haben.« Bracht grunzte und leerte seinen Pokal. »Was ist mit den Landkarten?« wollte Calandryll wis sen. »Die Karten.« Varent lächelte. »Ja, die Karten. Sobald ich meine Besprechung mit dem Domm abgeschlossen habe, müssen wir uns damit beschäftigen. Danach muß ich ein Schiff finden. Wahrscheinlich werde ich den größ ten Teil des Abends im Palast gebraucht. Wie wäre es mit morgen früh?« Calandryll nickte zufrieden. »Wollen wir jetzt essen?« fragte Varent. Er stand auf
und führte sie in den Speisesaal. Lord Varent war ein guter Gastgeber. Während des Essens lenkte er das Gespräch geschickt auf unverfängli che Themen, die weitere Erörterungen ihrer Pläne aus schlossen. Calandryll fühlte sich entspannt, genoß den scharfen Verstand und den geistreichen Witz des Bot schafters. Bracht blieb schweigsam, aber das war nicht ungewöhnlich, und er hatte keine Einwände, als Varent erklärte, daß er jetzt den Domm aufsuchen müsse, und sie der Obhut seiner Diener überließ. Sie wurden zu angrenzenden Zimmern geführt, wo bereits Bäder für sie eingelassen worden waren und Frauen kostbaren Seidengewändern darauf warteten, ihnen Behilflich zu sein. Sie waren hübsch, aber Ca landryll schickte die beiden fort, die ihn baden wollten, und stieg allein in die Wanne. Ihre ebenmäßigen Gesich ter und die makellosen Körper versetzten ihn in Unruhe und erinnerten ihn an Nadama. Es war merkwürdig, dachte er, als er in das heiße Wasser glitt, daß er seit Tagen nicht mehr an sie gedacht hatte, und doch war es ihre Ablehnung gewesen, die den Ausschlag für seine Reise gegeben hatte. Er fragte sich, was sein Vater jetzt tat. Durchforsteten Wachleute die Stadt? Suchten Patrouillen die umliegen den Landstriche nach ihm ab? Vielleicht hatte Bylath Nachrichten aus der Karawanserei erhalten, aber was, wenn das zutraf? Würde er eine Abordnung nach Alda rin schicken und die Herausgabe seines geflohenen Soh
nes verlangen? Würde selbst Bylath es wagen können, Varent zu beschuldigen, seinem Sohn zur Flucht verhol fen zu haben? Es schien unwahrscheinlich. Bestimmt würde politische Rücksichtnahme den Vorrang vor einer solchen Brüskierung haben. Und Varent brauchte den Vorwurf nur als unbegründet zurückzuweisen. Der Domm Aldarins würde seinem Botschafter wohl kaum mißtrauen. Also befand sich Calandryll unter Varents Schutz in Sicherheit. Er mußte grinsen, als er sich die Wut seines Vaters vorstellte, doch dann schwand sein Lächeln. Er war nur so lange in Sicherheit, wie er unter Varents Schutz stand, genau wie Bracht gesagt hatte. Ohne Varent war er verlo ren, nicht mehr als ein Flüchtling, der von seiner Heimat stadt gesucht und vielleicht von den Chaipaku gejagt wurde. Der letzte Gedanke ließ ihn erschaudern. Er stieg aus der Wanne. Wasserspritzer klatschten auf den Boden. Dann schüttelte er den Kopf in dem Bemühen, einen Anflug von Panik zu bekämpfen. Da ist ein Lehrer … Vertraut ihm … und nach ihm wird noch einer folgen … Er hinterließ eine Spur nasser Fußabdrücke, während er sich auf Rebas prophetische Worte konzentrierte. Sie mußten sich auf Varent und Bracht beziehen. Der eine hatte ihm eine Fluchtmöglichkeit, Unterschlupf und die Erfüllung von Rebas Prophezeiung geboten, der andere war ein Kamerad, dessen Schwert seinen Rücken deckte.
Brachts hartnäckige Warnungen beruhten auf seiner Abneigung gegenüber Varent, das war alles. Er, Ca landryll, war in Sicherheit, solange Varent ihn beschütz te. Er knurrte, verärgert über sich selbst und wütend darüber, daß Brachts Mißtrauen solche Zweifel in ihm wecken konnte. Was hatte der Byah gesagt? Vertrauen ist euer Verbündeter und eure Stärke, Nun, er vertraute Varent. Wenn Bracht das nicht tat, dann war es seine Angelegenheit. Ihr müßt eure Freunde mit Sorgfalt wählen. Auch das hatte das Baumwesen gesagt, und er hatte sich Varent ausgesucht. Für jedes pessimistische Argu ment, das Bracht anführte, gab es ein positives; es kam nur auf den Standpunkt des Betrachters an. Zufrieden mit der Logik seiner Überlegungen, verließ er das Bade zimmer, kehrte in sein Schlafzimmer zurück und suchte nach frischer Kleidung. Seine eigene, von der Reise verschmutzte Kleidung hatten Varents Diener mitgenommen, um sie zu reinigen, aber in seinem Zimmer stand ein gut gefüllter Kleider schrank. Er suchte sich ein Hemd aus feiner weißer Baumwolle aus, eine dunkelblaue Hose, Stiefel und eine weite Tunika aus grauer Seide. Da er überzeugt war, daß der Karte hier keine Gefahr drohte, verstaute er sie im Kleiderschrank und machte sich auf die Suche nach Bracht. Auf sein Klopfen hin hörte er eine gedämpfte Stimme
eine unverständliche Antwort murmeln, die er für eine Aufforderung hielt, hereinzukommen. Er öffnete die Tür und betrat Brachts Zimmer. Der Kerner und ein honig blondes Mädchen blickten aus einem Durcheinander von Laken zu ihm auf. Er fühlte seine Wangen heiß werden und murmelte eine Entschuldigung. Der Söldner grinste. »Varent hat wirklich nicht übertrieben, als er uns seine Gastfreundschaft angepriesen hat.« Calandryll errötete und zog sich eilig zurück, schloß die Tür und fühlte sein Gesicht noch heißer werden, als ihm das schrille Kichern des Mädchens in den Ohren hallte, untermalt von dem tieferen Gelächter des Kerners. Er fluchte, wütend auf sich selbst, unsicher, ob er sich wieder einmal über Bracht ärgerte oder einfach nur nei disch war, und beschloß, die Bibliothek aufzusuchen, von der Varent ihm so oft erzählt hatte. Ein Diener führte ihn in einen Raum voller Bücher. Lange Regale reichten von einem polierten Kiefernholz fußboden bis zu einer weißgetünchten Decke hinauf, und durch das einzige Fenster der Bibliothek fiel Licht auf einen Mahagonischreibtisch, vor dem ein ledergepolster ter Sessel stand. Rechts und links eines Kamins, in dem zur Zeit kein Feuer brannte, standen zwei weitere Leder sessel. Die Bücher waren katalogisiert, so daß Calandryll oh ne Schwierigkeiten den Band fand, den Varent erwähnt hatte, Marsius' Vergleich der Religionen. Er setzte sich an den Schreibtisch und vertiefte sich sofort in das Buch. So
fand ihn Bracht, als die Dämmerung hereinbrach, völlig in seine Lektüre versunken. Der Kerner grinste fröhlich. Calandryll klappte das Buch zu. »Die Diener unseres Gastgebers sind äußerst zuvor kommend«, sagte Bracht und stützte sich auf den Schreibtisch. »Rytha bietet eine gewisse Entschädigung dafür, daß ich hier eingesperrt bin.« »Es freut mich, daß du…«, Calandryll suchte nach den richtigen Worten, »… zufrieden bist.« »Mit ihr, ja«, nickte Bracht, ging zum Fenster und spähte hinaus. »Mit anderen Dingen nicht.« »Was stört dich denn jetzt schon wieder?« wollte Ca landryll wissen. Bracht drehte sich um und musterte das Gesicht seines Gefährten neugierig mit gerunzelter Stirn. »Hast du etwas gegen das Mädchen?« »Nein«, entgegnete Calandryll ein wenig zu hastig. »Warum solltest du die gebotenen … Annehmlichkeiten nicht ausnützen?« Bracht schüttelte den Kopf. Ein belustigtes Grinsen entblößte seine weißen Zähne. »Hast du das denn nicht getan?« fragte er. »Nein. Ich … Nein, habe ich nicht.« Der Kerner schien etwas erwidern zu wollen, überleg te es sich dann aber anders und zuckte die Achseln. Ca landryll versuchte das Thema zu wechseln; seine Uner fahrenheit in diesen Dingen machte ihn verlegen.
»Was stört dich?« wiederholte er seine Frage. »Daß ich eingesperrt bin.« Bracht ging zu einem der Sessel und ließ sich hineinfallen. »Varent hat uns erklärt, warum wir hierbleiben müs sen«, sagte Calandryll. »Allerdings«, bestätigte Bracht. »Und das äußerst ü berzeugend.« »Warum beschwerst du dich dann?« Bracht zuckte erneut die Achseln. »Wir sind heimlich nach Aldarin gekommen, und in der Stadt müssen wir hinter diesen Mauern bleiben. Das riecht mir ein bißchen zu sehr nach Gefängnis.« »Wohl kaum ein Gefängnis«, widersprach Calandryll, »und Lord Varent hat uns seine Gründe erläutert.« »Ist dir schon einmal aufgefallen, daß du immer sei nen Titel benutzt, wenn du für ihn Partei ergreifst?« Er hatte die Frage in einem beiläufigen Tonfall gestellt, aber Calandryll spürte trotzdem, wie er errötete und wieder gereizt wurde. Er tat Brachts Vorwurf mit einem Kopfschütteln ab. »Er versucht nur, uns vor Azumandias zu schützen. Bei Dera, Bracht! Du hast gesehen, was uns der Hexer auf den Hals schicken kann!« »›List und Tücke verschleiern euren Weg, und ihr müßt eure Freunde mit Sorgfalt wählen‹«, zitierte Bracht. »Du hast die Worte des Byah gehört, Calandryll.« »Ja!« fauchte er. »Und ich glaube, er hat Azumandias
damit gemeint.« »Ich glaube, er hat von Varent gesprochen«, gab Bracht zurück. Seine Stimme klang immer noch friedlich. Calandryll schüttelte seufzend den Kopf. »Wir drehen uns ständig im Kreis. Hast du irgendein Anzeichen für Verrat entdeckt? Was hat Lord Varent getan, um dein Mißtrauen zu erwecken?« »Vielleicht nichts«, murmelte Bracht. »Vielleicht täu sche ich mich, aber ich denke, daß ein Mann, der Dämo nen ausschickt, um seine Arbeit zu erledigen, einen recht geraden Weg einschlägt. List und Tücke wären weniger offensichtlich.« »Das ist doch reine Sophisterei«, hielt ihm Calandryll vor. Bracht runzelte verständnislos die Stirn. »Haarspalterei«, erklärte Calandryll. »Deine Argu mente stolpern über ihre eigene Spitzfindigkeit. Wer sonst außer Azumandias hätte die Dämonen auf uns hetzen können? Gerade daß sie erschienen sind, beweist Lord Varents Vertrauenswürdigkeit.« »Ich bin mir nur einer Sache sicher«, sagte Bracht. »Va rent will das Arcanum, davon bin ich überzeugt, aber das ist auch schon alles. Er spielt sein eigenes Spiel, und darin sind wir nur seine Bauern.« Calandryll schüttelte resigniert den Kopf. Er hatte das ewige Mißtrauen des Kerners gründlich satt. »Ich spiele meine Rolle aus freiem Willen«, sagte er. »Genau wie ich, wenigstens im Augenblick«, gab Bracht zurück und fügte grinsend hinzu: »Fünftausend
Varre haben mein Vertrauen erkauft. Solange, bis ich mehr weiß.« »Und wenn du mehr erfährst?« fragte Calandryll. »Was wäre, wenn du wirklich recht hättest?« Brachts Lächeln wurde raubtierhaft. »Dann haben wir das Buch, und das muß der Schlüs sel zu diesem Rätsel sein. Sobald wir das Buch in den Händen halten, werden wir sehen, was Varent vorhat.« Calandryll seufzte. Er wußte nicht, was er noch hätte sagen können, um den Söldner von Varents Aufrichtig keit zu überzeugen.
KAPITEL 7 An diesem Abend kehrte Varent nicht mehr zurück, und so nahmen Calandryll und Bracht das luxuriöse Abend essen allein ein. Die Diener verhielten sich höflich und ehrerbietig und begegneten Brachts Fragen nach ihrem Herrn mit taktvollen Unverbindlichkeiten. Alles, was er aus ihnen herausbekommen konnte, war, daß Lord Va rent den Tarl der Sprößling einer der ältesten Familien Aldarins war, ledig und ein Vertrauter des Domms, der Rebus hieß. Über Azumandias wußten sie überhaupt nichts, und nach den okkulten Fähigkeiten Varents be fragt, gaben sie nichtssagende Antworten, die den Söld ner auch nicht klüger machten. Zu Calandrylls Erleichte rung gab es Bracht schließlich auf und konzentrierte sich auf das ausgezeichnete Mahl, zumindest so lange, bis sie das Essen beendet und die Diener sie zusammen mit einer Karaffe Weinbrand in einem gemütlichen Neben zimmer des Speisesaals zurückgelassen hatten. »Sie decken ihn«, verkündete Bracht halsstarrig. Calandryll schüttelte resigniert den Kopf. Da er wußte, daß sie bald nach Gessyth aufbrechen und auf solche Annehmlichkeiten würden verzichten müssen, genoß er den Luxus in Varents Anwesen. Er hätte es vorgezogen, den Schnaps in entspannter Atmosphäre zu trinken.
»Es gibt nichts, was sie dir hätten erzählen können«, erklärte er. Bracht starrte ihn aus seinen blauen Augen an und sagte: »Du bist zu leichtgläubig.« »Und du zu mißtrauisch«, gab Calandryll zurück. Der Kerner zuckte die Achseln, stand auf, ging zu ei nem Fenster und sah hinaus. Die Nacht war dunkel, der Mond verbarg sich hinter Kumuluswolken, die der Wind von der See her landein wärts trieb. Die Geräusche der Stadt drangen nur ge dämpft durch die Grundstücksmauern. Lampen tauchten das Zimmer in weiches Licht, das Reflexe auf den auf Hochglanz polierten Möbeln hervorrief. Im Kamin brannte ein Feuer und erinnerte Calandryll an die Annehmlichkeiten seines Zuhauses. Er überlegte, ob er sich ein Buch aus Varents reich bestückter Biblio thek holen und sich ein oder zwei Stunden lang darin vertiefen sollte, bevor er ins Bett ging, aber Bracht gab ihm keine Gelegenheit dazu. Der Söldner wandte sich vom Fenster ab, ging zur Tür und blieb dort stehen, als Calandryll fragte: »Gehst du schlafen?« Calandryll hatte eigentlich vermutet, daß der Kerner nach Rytha oder irgendeinem anderen willfährigen Mäd chen suchen würde, aber Bracht schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nein, ich werde einen Spaziergang unter nehmen.« »Wo?« wollte Calandryll wissen. Eine Runde durch Varents Gärten könnte angenehm sein.
»In die Stadt«, sagte Bracht. »Du hast doch gehört, was Lord Varent gesagt hat«, protestierte Calandryll. »Er hat uns davor gewarnt, daß Azumandias wahrscheinlich dieses Haus beobachtet.« »Und uns noch mehr Dämonen auf den Hals schicken könnte?« erkundigte sich Bracht. »Ich habe über den ersten Vorfall nachgedacht, und mir scheint, daß seine Dämonen ziemlich unbeholfen waren. Sie waren zu viert und konnten uns trotzdem nicht besiegen. Außerdem waren es recht langsame Kreaturen. Sollte ich welchen begegnen, werde ich ihnen einfach davonlaufen.« »Dera!« Calandryll sprang auf. »Kannst du nicht noch ein bißchen warten?« »Nein«, erwiderte Bracht und verließ das Zimmer. Calandryll eilte ihm hinterher. Seine Proteste stießen auf taube Ohren, als der Kerner sein Zimmer betrat und sich das Krummschwert um die Hüfte band. Calandryll ergriff seine eigene Waffe, wobei er sich fragte, ob er das aus Loyalität gegenüber Bracht oder gegenüber Varent tat, aber er war fest entschlossen, den Kerner nicht allein losziehen zu lassen. »Vielleicht solltest du lieber hierbleiben«, schlug Bracht vor. »Nein.« Jetzt wurde Calandryll störrisch. »Wenn ich dich schon nicht davon abhalten kann, Lord Varents Wünsche zu ignorieren, werde ich dich wenigstens be gleiten.« Bracht nickte und trat wieder auf den Flur hinaus. Ca
landryll folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie erreichten die Eingangshalle und gingen auf den Hof. Die Luft war kalt und roch salzig und nach nächtlichem Regen. Ein einzelner Nachtvogel schickte sein Lied in den sternenlo sen Himmel. Als sie das Tor erreicht hatten, traten zwei Männer aus dem Schatten hervor und bauten sich vor dem Portal auf. Das Licht, das aus der Villa fiel, schimmerte auf ihren Kettenhemden und den Halbhelmen. »Ich möchte in die Stadt gehen«, sagte Bracht. »Es tut mir leid, aber Lord Varent hat befohlen, daß niemand das Grundstück verlassen soll.« Der Mann hatte höflich gesprochen, aber in seiner Stimme klang ein unnachgiebiger Tonfall mit. »Macht Platz«, verlangte Bracht. »Lord Varent hat uns Befehle erteilt«, wiederholte der Wächter. »Ich glaube, sie dienen Eurer eigenen Sicher heit.« Calandryll konnte hören, wie der Kerner verärgert tief einatmete, und befürchtete schon, sein Gefährte könne die Wachen angreifen. Statt dessen fragte der Söldner: »Dann sind wir also Gefangene?« »Ich befolge nur Lord Varents Befehle«, erklärte der Mann verbissen. »Soweit ich es verstanden habe, ist es in der Stadt für Euch gefährlich.« »Ich denke, ich kann auf mich selbst aufpassen«, schnappte Bracht.
»Zweifellos.« Der Wächter blieb unerbittlich und rühr te sich nicht vom Fleck. »Aber meine Befehle sind ein deutig.« Der Kerner musterte die beiden Männer in ihren Rüs tungen, als wägte er seine Chancen ab, sie zu überwälti gen. Sie ihrerseits bauten sich Schulter an Schulter vor ihm auf, die Hände auf ihre Schwertgriffe gelegt. »Bracht!« rief Calandryll warnend. »Was ist denn hier los?« klang eine andere Stimme auf. Calandryll drehte sich um und sah, wie Darth in Be gleitung dreier Männer aus Varents Gefolge auf sie zu kam. »Man verbietet uns, in die Stadt zu gehen«, entgegnete Bracht. Darth lachte leise, zuckte die Achseln und sagte: »Lord Varent will dich nur schützen, Mann.« »Ich kann mich selbst beschützen«, knurrte der Söld ner. »Vor Schwertern zweifellos. Aber auch vor Magie?« Darth senkte die Stimme und warf einen kurzen Blick zu den Torwächtern hinüber. »Ich glaube, Lord Varent hat Feinde, die es auf dein Leben abgesehen haben. Komm zurück ins Haus und trink mit uns, wenn du Lust hast. Und ich glaube, Rytha freut sich schon darauf, dein Bett wärmen zu können.« Er begleitete seine Worte mit einem Augenzwinkern
und grinste. Seine Begleiter lächelten, aber Calandryll bemerkte, daß sie sich – scheinbar ganz zufällig – zwi schen Bracht und die Torwächter schoben. »Komm schon«, drängte Darth und deutete mit dem Kinn auf die beiden Wachen. »Diese Burschen tun nur ihre Pflicht.« »Und du?« wollte Bracht wissen. »Ich diene Lord Varent«, sagte Darth. »Und er hat be fohlen…« Brachts Finger glitten über den Griff seines Schwertes, dann zuckte er die Achseln. »Meinetwegen.« Calandryll stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als der Söldner sich widerstandslos von Darth durch den Hof und ins Haus zurückzuführen ließ. Er folgte ihnen, aber als Darth ihm vorschlug, ihnen Gesellschaft zu leis ten, schüttelte er den Kopf und sagte, daß er vorhätte, sich mit einem Buch zu beschäftigen, und ging in die Bibliothek. Er nahm das Exemplar von Marsius aus dem Regal und kehrte damit in sein Zimmer zurück. Er hoffte, in dem umfangreichen Band weitere Informationen über das Arcanum zu finden, konnte aber nichts entdecken, was er nicht bereits wußte, und nach einer Weile legte er das Buch zur Seite, gähnte und fiel auch schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Das Sonnenlicht weckte ihn. Er stand auf und fragte sich, ob Varent inzwischen aus dem Palast zurückgekehrt war.
Als Diener ihm heißes Wasser brachten und ihm mit teilten, daß sein Gastgeber ihn erwartete, badete er und zog sich schnell an, begierig zu erfahren, welche Nach richten Varent mitgebracht hatte. Der Botschafter saß entspannt im Speisesaal und frühstückte frisch gebackenes Brot und Früchte. Er lä chelte, als Calandryll eintrat, und forderte den jüngeren Mann durch eine Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Calandryll setzte sich und griff zu. »Ich habe gehört, daß es gestern abend ein kleines Mißverständnis gegeben hat«, bemerkte Varent. »Bracht wollte sich unbedingt die Stadt ansehen.« Ca landryll überlegte kurz, ob er Varent über die Befürch tungen des Kerners informieren sollte, verwarf den Ge danken aber gleich wieder. Das wäre einem Verrat an Brachts Vertrauen gleichgekommen. Varent seufzte, als betrachte er Bracht als ein lästiges, wenn auch für ihr Vorhaben notwendiges Übel. »Unser Freund aus Kern hat ein unabhängiges Wesen«, stellte er fest. »Ich habe doch bestimmt erklärt, warum das nicht möglich ist.« Er betrachtete prüfend Calandrylls Gesicht; seine Mie ne spiegelte eine Mischung aus Resignation und leichter Verärgerung wider. »Ja«, gab ihm Calandryll recht, »aber Bracht gefällt es nicht, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein.« »Das ist bedauerlicherweise unvermeidlich«, erklärte
Varent. »Zumindest solange, bis ich Eure Überfahrt gere gelt habe. Je schneller, desto besser, nehme ich an.« In diesem Moment betrat Bracht den Saal. Calandryll fiel auf, daß die Augen des Söldners ein wenig blutunter laufen waren und halbmondförmige dunkle Ränder aufwiesen. Varent begrüßte ihn. Bracht antwortete mit einem Grunzen und ließ sich in einen Stuhl fallen. »Ich habe gehört, daß Ihr Gefallen an Rytha gefunden habt«, bemerkte Varent lächelnd. Calandryll hatte den Eindruck, als versuche der Bot schafter, die Kluft zwischen sich und dem Kerner zu überbrücken, indem er ihn mit größerer Zuvorkommen heit behandelte, als es ihre unterschiedlichen Positionen erforderten. Wenn es so war, schien Bracht die Geste entweder nicht zu bemerken, oder aber er zog es vor, sie zu ignorieren. Er nickte und sagte: »Eure Wachen haben sich geweigert, uns gehen zu lassen.« »Ich dachte, wir hätten uns darauf verständigt, daß Ihr hierbleiben würdet«, erwiderte Varent ungerührt. »Ich hatte nicht gedacht, daß ich mich als Gefangener wiederfinden würde.« »Als Gast«, sagte Varent sanft. »Dessen Wohlergehen mir am Herzen liegt.« Bracht warf ihm einen flüchtigen Blick zu und schenk te sich eine Schale mit aromatischem Tee ein. »Wie ich Calandryll gerade gesagt habe, ich werde so schnell wie möglich ein Schiff auftreiben.« Varent betupf te seine Lippen mit einer Serviette. »Und sobald Ihr Euer
Frühstück beendet habt, werden wir die Karten untersu chen.« »Da ist auch noch die Frage meines Geldes«, sagte Bracht. »Allerdings. Die Hälfte nach unserer Ankunft in Alda rin, wie wir es vereinbart haben.« Bracht nickte. »Abzüglich der hundert Varre, die Ihr mir bereits gezahlt habt.« »Nebensächlich«, winkte Varent ab. »Ganz und gar nicht«, beharrte Bracht. »Ihr nehmt es sehr genau.« Varent lächelte. »Eine Fra ge der Ehre?« »Aye.« Bracht nickte erneut, während er den Botschaf ter anstarrte. »Ehre ist wichtig. Seid Ihr nicht meiner Meinung?« In seiner Stimme lag die Andeutung einer Herausfor derung, und Varent erwiderte sie mit einem frostigen Lächeln. Dann neigte er den Kopf. »Aye, das ist sie.« »Werden wir auf direktem Weg nach Gessyth segeln?« fragte Calandryll in dem Bemühen, die sich anbahnende Konfrontation zu entschärfen, bevor sie sich explosions artig entladen konnte. »Das glaube ich nicht.« Varent schüttelte den Kopf. »Um diese Jahreszeit ist kaum ein Kapitän bereit, Kap Vishat'yi zu umsegeln, deshalb werde ich Euch eine Überfahrt nach Mherut'yi besorgen. Von dort aus könnt Ihr auf dem Landweg nach Nhurjabal und weiter nach
Kharasul reisen. Die Kander unterhalten einen Handels weg von Kharasul nach Gessyth. Es gibt eine Siedlung auf einer Landspitze, von der aus Ihr in die Sümpfe auf brechen könnt.« Er schwieg einen Moment lang, um mit äußerster Sorgfalt eine Orange zu schälen, dann warf er Bracht einen Blick zu, wobei seine Mundwinkel ein Stückchen nach oben wanderten. »Ich werde Euch Geld geben, um die Kosten für Eure Reise zu bestreiten. Und wenn Ihr den Grenzposten er reicht habt, könnt Ihr bestimmt Männer anwerben, die Euch ins Sumpfland übersetzen.« »Wer lebt dort?« erkundigte sich der Kerner. »Häutejäger«, erwiderte Varent. »Sie erlegen Sumpf drachen und verkaufen die Häute an Kaufleute aus Kan dahar. Die Häute lassen sich zu hervorragenden Rüstun gen verarbeiten.« Bracht runzelte die Stirn und fragte: »Sind es Men schen?« »Einige«, erklärte Varent. »Hauptsächlich Vertriebene aus Kandahar.« »Und der Rest?« »Halblinge.« Calandryll hatte noch nie einen Halbling gesehen. »Wie sehen die aus?« wollte er wissen. »Seltsam, glaube ich«, sagte Varent. »Einige wirken äußerlich sehr menschlich, aber andere…«
Er hob die Schultern.
»Die Geschöpfe der jüngeren Götter«, knurrte Bracht.
»Genau.« Varent nickte. »Aber Ihr werdet bestimmt
mit ihnen zurechtkommen.« »Bestimmt«, sagte Bracht, als gäbe es daran nicht den geringsten Zweifel. Er schob seinen Teller von sich. »Können wir uns jetzt diese Karten ansehen?« Varent lächelte zum Zeichen, daß er einverstanden war. »Aber zuerst Eure Bezahlung. Ich möchte, daß Ihr in diesem Punkt zufrieden seid.« »Gut«, sagte Bracht und grinste zum ersten Mal. Varent führte sie aus dem Speisesaal in ein kleines holzvertäfeltes Zimmer. Durch das einzige, hoch in der Wand angebrachte Fenster fiel Licht auf einen überlade nen Schreibtisch, an dem ein kahlköpfiger Mann in der blaugoldenen Tunika der Hausbediensteten saß. Er sah auf, als sie eintraten, und blinzelte kurzsichtig über die Gläser einer großen Brille hinweg. »Zweitausendundvierhundert Varre, Symeon«, ver langte Varent. Der Kahlköpfige rümpfte die Nase. Calandryll sah, daß er mit seiner Feder Tinte verspritzt hatte. »In einzel nen Münzen oder in Decuris?« Varent warf Bracht einen fragenden Blick zu. »Decuris«, entschied der Kerner. Symeon betrachtete den Söldner einen Moment lang prüfend, als müsse er sich überlegen, ob er diesem Befehl
nachkommen sollte. Dann wischte er sich die tintenfle ckige Hand an der Tunika ab, erhob sich aus seinem Stuhl und kniete sich vor eine in die Wand eingelassene Metalltür. Er kramte einen Schlüssel aus der Hosenta sche, öffnete die Tür und zog eine Kassette hervor, die er auf dem Boden absetzte und mit seinem Körper ab schirmte, bevor er damit begann, die schweren Gold münzen abzuzählen und in einen Ledersack zu stecken. Schwerfällig verschloß er die Kassette wieder, schob sie in die Wandaussparung zurück, verriegelte die Tür und richtete sich dann leise schnaufend wieder auf, den Ledersack in den Händen. »Vierundzwanzig Decuris. Ihr könnt gerne nachzäh len.« Er reichte Bracht den Sack. Der Kerner schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe keinen Grund, Euch zu mißtrauen.« Calandryll spürte, daß die Bemerkung eigentlich an Varent gerichtet war. Und daß zwei Worte fehlten: noch nicht. Falls Varent irgend etwas davon bemerkt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Und jetzt«, sagte er, »wollen wir uns die Karten ansehen.« Sie überließen Symeon seinen Abrechnungen und gin gen in die Bibliothek. Dort verriegelte Varent die Tür und räumte mehrere Bücher aus einem Regal. Er schien nur ein ebenes Wandstück freizulegen, aber als er einen aus der Vorderseite des Regals herausgeschnitzten Knopf
umdrehte, sprang eine Holztafel auf, und aus einem dahinter sichtbar werdenden Hohlraum zog er ein Päck chen aus Wachspapier hervor, das mit einem scharlach roten Band verschnürt war. Er trug das Päckchen zum Tisch und entfernte das Band. In dem Wachspapier kam ein Blatt zum Vorschein, das der Karte ähnelte, die Calandryll in den Archiven von Secca entdeckt hatte, aber es war feiner, praktisch völlig durchsichtig und mit einer hauchdünnen Schrift versehen. Am unteren Rand prangte Orwens Signatur in leuchtendem Scharlachrot. Varent schob die Schutzhülle beiseite und strich die Karte mit ehrfürchtigen Bewegungen glatt. Er blickte Calandryll an und hatte die Augenbrauen zu einer stummen Frage erhoben. Calandryll knüpfte sein Hemd auf, zog die andere Karte hervor und reichte sie Varent. Der Botschafter legte sie übereinander, beschwerte die Ecken und lächelte triumphierend. »Bei Deras Blut, meine Freunde, wir haben sie!« Calandryll und Bracht drängten sich näher heran und betrachteten die Karten. Übereinandergelegt gaben beide Teile Gessyth genauer wieder als irgendeine Karte in den Büchern von Medith oder Sarnium, detaillierter als jede Karte, die Calandryll jemals gesehen hatte. Orwen hatte die westliche Küstenlinie und das Innere von Gessyth mit äußerster Sorgfalt aufgezeichnet, hatte die Stellen der Küste von Gash markiert, an denen ein
Schiff ankern und frisches Wasser aufnehmen konnte, die geschwungenen Buchten, die das Sumpfland in weiten Bögen umgaben. Auch die Landzunge, auf der die Sied lung der Häutejäger lag, war eingezeichnet. Es war eine Landkarte von größter Präzision, versehen mit Anmer kungen und Erläuterungen in der Alten Sprache. Ca landryll betrachtete sie voller Ehrfurcht. »Es ist da«, murmelte er und berührte einen winzigen scharlachroten Fleck, neben dem Tezin-dar stand. »Habt Ihr daran gezweifelt?« Varent tippte auf die Doppelkarte. »Seht Ihr? Wie ich Euch versprochen habe, zeigt Orwen die Route, die man nehmen muß. Und er warnt vor den Gefahren.« Calandryll starrte sie an, mindestens ebenso vom Al ter der Karte wie von den Details beeindruckt, mit denen sie der längst verstorbene Kartograph versehen hatte. Sie war ein wahres Wunder, schon allein für sich genommen ein unbezahlbarer Schatz. Und darüber hinaus zeigte sie den Weg zum legendären Tezin-dar. »Dera«, flüsterte er und berührte erregt eine Schriftzei le mit der Fingerspitze. »Er warnt vor mehr als genug Gefahren.« »Kannst du es übersetzen?« Brachts Frage riß ihn aus seinem Staunen, und er sagte geistesabwesend: »Fleischfressende Bäume.« Er ignorier te das Schnauben des Kerners, so versessen war er dar auf, diese phantastische Karte weiter untersuchen zu können. Schließlich fuhr er fort: »Sumpfdrachen, ver
schiedene Insektenarten, giftige Blumen, fleischfressende Fische.« Der Kerner grunzte. Er war weniger vom Alter der Karte als vielmehr von den Informationen beeindruckt, die sie enthielt. »Sehr nützlich«, stellte er fest. »Können wir sie mitnehmen?« »Es wäre besser, alles auf ein einzelnes Blatt zu über tragen«, schlug Varent vor. »Calandryll, wollt Ihr diese Aufgabe übernehmen? Während ich versuche, ein Schiff für Euch zu finden?« Calandryll nickte stumm, immer noch im Bann der sa genhaften Karte. »Ich werde Euch Papier und Stifte besorgen«, ver sprach Varent. Die nächsten drei Tage wurde Calandryll völlig von seiner Aufgabe in Anspruch genommen. Varent stellte ihm die benötigten Materialien zur Verfügung und sorg te dafür, daß er in der Bibliothek ungestört blieb. Währenddessen streifte Bracht verdrossen auf dem Anwesen umher oder vergnügte sich mit der willigen Rytha. Calandryll widmete sich mit Leib und Seele der Über tragung der beiden Kartenteile. Der Vorgang war sehr viel komplexer, als er geglaubt hatte, und mehrfach ver nichtete er die Kopien wieder, weil sie ihm zu ungenau erschienen. Sein und Brachts Leben konnten von der Präzision seiner Arbeit abhängen, und er war fest ent
schlossen, Orwens phantastische Karten bis ins kleinste Detail genau zu übertragen. Allerdings fehlte ihm die Geschicklichkeit des alten Kartenmachers, und jedesmal, wenn er gerade glaubte, Erfolg gehabt zu haben, ent deckte er irgendeine Linie, die ein wenig vom Original abwich, übergab das Ergebnis seiner Bemühungen mit einem enttäuschten Stöhnen dem Kamin und begann von neuem. Schließlich kam er auf die Idee, es mit Papier zu versuchen, das dünn genug war, um die Karte durch das Blatt hindurch erkennen und die Linien zu seiner Zufrie denheit nachziehen zu können. Danach benutzte er einen stumpfen Federkiel, mit dem er alle Einzelheit durch Druck auf ein dickeres Blatt Papier übertrug, zog die schwachen Abdrücke mit Tinte nach und fügte Orwens Anmerkungen später hinzu. Endlich war er mit der Genauigkeit seiner Kopie zu frieden, und obwohl sein Kopf pochte und seine Augen durch das endlose Starren auf die Karte schmerzten, frohlockte er. An diesem Abend zeigte er Varent seine Arbeit. Der Botschafter betrachtete lange Zeit die Originalkar ten und die Kopie. Seine Augen flogen immer wieder von der einen zur anderen, bevor er lächelnd nickte. »Großartig! Ihr habt jede Einzelheit genauestens erfaßt.« Calandryll stieß einen erleichterten Seufzer aus. Bracht, pragmatisch wie immer, fragte: »Gibt es Neu igkeiten über das Schiff?« »Ein Handelsschiff aus Kandahar hat gestern im Ha
fen festgemacht«, bestätigte Varent. »Ich habe mit dem Kapitän gesprochen, und heute nacht werden wir uns wieder treffen. Wenn er einverstanden ist, könnt Ihr mit ihm segeln.« »Wie lange dauert es noch?« fragte Bracht, der es nicht mehr erwarten konnte, endlich aufzubrechen. »Drei Tage, vielleicht.« Varent zuckte die Achseln. »Er muß seine Ladung verkaufen und neue Waren einkau fen. Könnt Ihr Eure Ungeduld noch solange zügeln?« Bracht gab ein zustimmendes Grunzen von sich und starrte den Botschafter mit einem seltsamen Ausdruck auf seinem dunkelhäutigen Gesicht an. »Also«, stellte er nachdenklich fest, »haben wir wahr scheinlich ein Schiff. Wir haben die Karte, und Ihr werdet die Mittel zur Verfügung stellen, damit wir Kandahar durchqueren und weiter nach Gessyth reisen können. Wenn nicht die Halblinge, die Sumpfdrachen oder all die anderen vielfältigen Gefahren uns umbringen, von denen Ihr gesprochen habt, werden wir Tezin-dar vermutlich finden. Und was dann?« »Dann stellt Ihr fest, wo das Arcanum liegt«, sagte Va rent, »und bringt es heraus.« Bracht stieß ein schnaubendes, zynisches Lachen aus. »Wird ein solches Ding denn unbewacht sein?« fragte er. »Können wir es so einfach mitnehmen?« Varents Gesicht wurde ernst. Er beugte sich in seinem Sessel vor, und seine dunklen Augen richteten sich ein dringlich auf die des Kerners.
»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Ich weiß nicht mehr über Tezin-dar als das, was ich Euch bereits mitgeteilt habe. Ich kann nicht sagen, was Euch dort erwartet oder wie schwierig es werden könnte, das Buch an Euch zu bringen. Ich weiß nur, wenn Ihr scheitert, wird Azuman dias es irgendwann entdecken und in Besitz nehmen. Und wenn ihm das gelingt…« Er verstummte und schüttelte den Kopf, als würde ihn der bloße Gedanke entsetzen. »Ihr müßt Euren Verstand benutzen«, fuhr er schließ lich fort. »Einen anderen Rat kann ich Euch nicht geben.« »Sollte sich uns irgend jemand in den Weg stellen«, sagte Bracht, »würden wir wahrscheinlich in eine äußerst heikle Situation geraten.« »Dera weiß, wie recht Ihr habt«, erwiderte Varent leise und ernst. »Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Sollte Azumandias das Arcanum in die Hände bekom men, wird er den Verrückten Gott wiedererwecken und die Welt der Zerstörung preisgeben.« »Wir müssen es versuchen«, drängte Calandryll. »Könntest du einfach untätig zusehen, wie die Welt zer stört wird?« Bracht bedachte ihn mit einem kurzen Blick, und ein verkniffenes Lächeln umspielte seine Lippen. Er schüttel te den Kopf. »Ich sage nicht, daß wir aufgeben sollten. Ich sage nur, daß wir vielleicht scheitern werden.« »Wir müssen unser Bestes geben«, meinte Calandryll. »Laß uns die Probleme angehen, wenn sie sich uns stel
len.« »Erinnerst du dich noch an den ersten Übungskampf, den wir ausgetragen haben?« fragte Bracht nachsichtig. »Damals habe ich dir gesagt, daß ein guter Kämpfer stets die Schwächen seines Gegners in Erfahrung zu bringen und ihn nicht einfach anzugreifen versuchen würde.« »In diesem Fall gibt es kaum eine Alternative«, protes tierte Calandryll. »Wir wissen nichts über Tezin-dar. Wie sollen wir also unsere Gegner studieren können?« »Unglücklicherweise hat Calandryll recht«, warf Va rent ein. »Bis Ihr Gessyth erreicht habt, gibt es keine Möglichkeit herauszufinden, auf welchen Widerstand Ihr stoßen könntet.« Bracht knurrte zustimmend. »Es gefällt mir ganz ein fach nicht«, murmelte er. »Du bist zu weit gekommen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen«, sagte Calandryll. Brachts blaue Augen waren kalt, als sie sich starr auf Calandryll richteten. »Ich spreche nicht davon, einen Rückzieher zu machen«, erklärte er. »Ich habe mich be reit erklärt, dich zu begleiten, und das werde ich auch tun. Aber es sieht so aus, als würden wir blind nach Tezin-dar gehen.« »Ihr seid meine einzige Hoffnung«, sagte Varent. Seine Stimme war genauso ernst wie der Blick, mit dem er Bracht bedachte. »Das Arcanum muß zerstört werden.« Der Kerner nickte und wandte sich wieder der Karte zu. »Angenommen, wir schaffen es, das Buch an uns zu
bringen … Es ist ein langer Weg von Tezin-dar bis zur Küste, falls wir verfolgt werden sollten.« »Müssen wir denn überhaupt zur Küste zurückkeh ren?« Calandryll tippte mit einem Finger auf Tezin-dar und ließ ihn weiter zu den Valt-Bergen wandern. »Könn ten wir nicht zum Geff-Paß fliehen und von dort nach Kern? Den Bergen bis nach Gannshold folgen und weiter südlich durch Lysse ziehen?« »Der Geff?« Bracht hob die Schultern und ließ sie wie der fallen. »In Cuan na'For nennt man ihn das Höllen maul. Er ist das Reich von Kreaturen, deren bloßer An blick einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Und dahinter liegt das Gebiet der Lykard.« Er lachte einmal. Es war ein kurzes kaltes Bellen. »Ich bin nicht gerade sehr … beliebt … bei den Lykard.« Calandrylls Blick forderte ihn auf, das Problem genau er zu erläutern, aber Bracht schüttelte nur den Kopf. »Es ist am besten, auf einem Weg zurückzukehren, den wir bereits kennen. So kommen wir schneller voran.« »Also werdet Ihr es tun?« fragte Varent. »Ich habe mein Wort gegeben«, erklärte Bracht schlicht. Varent entspannte sich sichtlich, und sein Lächeln kehrte wieder. »Es gibt einen kleinen Schutz, den ich Euch anbieten kann«, sagte er, »falls Ihr bereit seid, Ma gie als Hilfe zu akzeptieren.« Bracht musterte ihn einen Moment lang, dann nickte er. »Ich denke, wir werden jede Hilfe brauchen, die Ihr
uns geben könnt.« »Wartet hier.« Varent sprang auf und eilte davon. Schweigen machte sich breit, nachdem er verschwunden war. Bracht starrte mit unbewegter Miene vor sich hin, Calandryll war in seine eigenen Gedanken versunken. Ihm wurde bewußt, daß er sich von einer Welle der Begeisterung hatte voran treiben lassen, die ihm wenig Zeit gegeben hatte, sich Gedanken über das zu machen, was ihm bevorstand. Der Zweck ihrer Mission war ehrenhaft – daran zweifelte er nicht im geringsten –, und Varent hatte ihm eine Flucht möglichkeit vor dem eintönigen Leben geboten, das sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Mit Bracht an seiner Seite und seinem wachsenden Geschick im Umgang mit dem Schwert war er davon ausgegangen, daß sie einfach Tezin-dar betreten, das Arcanum herausholen und im Tri umph nach Lysse zurückkehren würden. Das war der Stoff, aus dem Legenden gemacht wurden, aus dem die Lieder der Balladensänger bestanden, aber wenn er jetzt in Brachts nüchternes Gesicht blickte, vergaß er diesen romantischen Optimismus. »Du glaubst, wir könnten sterben«, sagte er leise. »Ja«, erwiderte Bracht. Dann begann er zu grinsen. »Aber alle Menschen müssen irgendwann sterben. Das ist kein Grund aufzugeben.« Calandryll nickte. Eine böse Vorahnung lag ihm wie ein kalter harter Klumpen im Magen. »Hast du Angst?« fragte Bracht, immer noch grinsend.
Calandryll dachte eine Weile darüber nach. »Ja«, gab er schließlich zu. »Gut«, sagte der Söldner. »Ein bißchen Angst wird dich vorsichtig machen.« »Und eine Menge Angst?« »Würde dich wahrscheinlich umbringen«, verkündete Bracht fröhlich. »Kontrolliere deine Angst, und sie wird zu deinem Verbündeten. Laß dich von ihr überwältigen, und du bist tot.« Calandryll war sich nicht mehr so sicher, wie groß sei ne Angst tatsächlich war. Die Gefahren, die auf ihrem Weg lauerten, erschienen ihm jetzt real, was an Brachts nüchterner Einstellung und der Erkenntnis lag, daß sie letztendlich nicht wußten, was ihnen bevorstand. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen, er konnte nicht um kehren, jetzt nicht mehr. Das Schicksal der Welt lag in ihren Händen; wenn sie versagten, würde Azumandias das Buch in seinen Besitz bringen und den Verrückten Gott auferstehen lassen. Das durfte nicht geschehen! Er straffte die Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde meinen Teil der Aufgabe erfüllen«, ver sprach er. »Ohne Zweifel«, sagte Bracht. Er schien zu Calandrylls Enttäuschung unbeeindruckt. In diesem Augenblick wurde die Tür wieder geöffnet, und Varent kam herein. Er hielt ein kleines Kästchen aus dunklem Holz mit silbernen Einlegearbeiten in der Hand. Er stellte es auf den Tisch und ließ den Deckel
aufspringen. Das Kästchen war mit purpurrotem Samt ausgekleidet, auf dem ein unscheinbar aussehender Stein lag, der eine Bohrung aufwies, durch den ein einfaches Lederband gezogen war. Varent nahm ihn heraus und hielt ihn an dem Lederband hoch. Der Stein drehte sich langsam. Es war ein matter Karneol, abgesehen von ei nem schwachen Glühen, das in seiner Mitte aufzufla ckern schien. »Dieser Stein wird Euch in zweifacher Hinsicht die nen«, erläuterte Varent. »Die Begabung, die für die Aus übung von Magie erforderlich ist, ist etwas äußerst Selte nes, und selbst diejenigen, die diese Gabe besitzen, kön nen sie nur nach einer langen und anstrengenden Zeit des Lernens anwenden. Dieser Stein allerdings dient dazu, latente Fähigkeiten zu kanalisieren und es seinem Träger zu ermöglichen, einfache Zaubersprüche zu be nutzen. Mit diesem Stein werdet Ihr in der Lage sein, Euch unsichtbar zu machen. Darüber hinaus wird das Feuer in ihm heller leuchten, und der Stein wird warm werden, sobald Ihr auf Magie trefft. Sobald das passiert, werdet Ihr wissen, daß in der Nähe irgendein Zauber wirkt. Ich möchte Euch dringend raten, den Stein ständig zu tragen.« Calandryll nickte. Bracht runzelte verständnislos die Stirn. Varent lächelte, hängte sich den roten Stein um den Hals und murmelte leise gutturale Worte. Dort, wo er stand, begann das Licht zu flimmern, schillerte einen Augenblick lang in den Regenbogenfar
ben, dann war er verschwunden, und Mandelduft schwebte durch die Luft. Calandryll starrte konzentriert auf die Stelle, an der der Botschafter eben noch gestanden hatte. Er konnte die Wand der Bibliothek und das Fenster sehen, doch davor entdeckte er einen kleinen Bereich mit einer Unregelmäßigkeit, als würde das Licht selbst um hergewirbelt, als wäre die Luft irgendwie in Bewegung. Wenn er nicht gewußt hätte, daß Varent dort stand, hätte er es wahrscheinlich nicht bemerkt, aber wenn er seine müden Augen zusammenkniff und genau auf die Stelle richtete, konnte er gerade noch die Umrisse eines Man nes erkennen. Varent sagte irgend etwas, und erneut erfüllte Mandelduft die Bibliothek, als er wieder erschien. »Vielleicht ist das der Weg zum Arcanum«, meinte er. »Nützlich«, räumte Bracht zurückhaltend ein. »Perfekt!« rief Calandryll begeistert. »Ihr müßt die Worte kennen«, erklärte Varent und lös te den Stein von seinem Hals. »Ihr müßt sie Euch genau einprägen, und Eure Aussprache muß exakt sein. Solltet Ihr den Talisman verlieren, ist der Zauber natürlich ver wirkt.« Er wiederholte langsam beide Beschwörungen und be tonte die fremdartigen zungenbrecherischen Silben ein zeln und deutlich. Calandryll versuchte, sie nachzuspre chen, und brachte etwas zustande, das ähnlich klang. »Gedämpfter«, wies ihn Varent an. »Die Worte müs sen ineinander übergehen, und die Betonung liegt immer auf der zweiten Silbe.«
Calandryll versuchte es von neuem, bemühte sich eif rig, den Zauberspruch zu lernen. Bracht zeigte dagegen weniger Begeisterung. Seine angeborene Abneigung gegen Magie machte ihn zu ei nem widerwilligen Schüler, aber auf Calandrylls und Varents Drängen tat er sein Bestes, um die geheimnisvol len Worte richtig auszusprechen. Es war nicht einfach. Die Konsonanten waren rauh, die Vokale langgezogen. Die Sprache war anscheinend nicht für menschliche Kehlen gedacht. Sie übten, bis Varent zufrieden war, dann durfte sich Calandryll an der Magie versuchen. Er war aufgeregt, als er sich den Stein um den Hals hängte und die Worte murmelte. Und dann spürte er, wie seine Haut prickelte und ihm der Duft von Mandeln in die Nase stieg. »Ausgezeichnet«, spendete ihm Varent Beifall. Calandryll grinste erfreut und begann, in der Biblio thek herumzugehen. Weder fühlte er sich anders als zuvor, noch wurden seine Sinne durch die Magie getrübt, aber Brachts Augen, die den Raum absuchten, verrieten ihm, daß der Kerner ihn nicht sehen konnte. Mit einem Grinsen trat er direkt vor ihn und sprach den Zauber spruch aus, der die Wirkung aufhob. Wieder spürte er das merkwürdige Prickeln und roch den Mandelduft, als er unmittelbar neben Bracht sichtbar wurde. Der Söldner zuckte erschrocken zurück. Calandryll nahm den Stein ab und reichte ihn seinem Gefährten. Der Kerner nahm den Talisman mit spitzen Fingern
entgegen. Es war unübersehbar, daß er den Zauber nur widerwillig ausprobieren würde. »Er könnte Euch das Leben retten«, sagte Varent. Bracht nickte und streifte sich das Lederband über den Kopf. Er rezitierte den Spruch. Nichts passierte. Er wie derholte die fremdartigen Worte, blieb aber immer noch sichtbar. Auch der dritte Versuch schlug fehl. Er zuckte die Achseln, und der Ausdruck auf seinem gebräunten Gesicht wirkte beinahe erleichtert. »Versuch es noch einmal«, drängte Calandryll, aber Varent schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Eurem Gefährten fehlt die für den Zau berspruch erforderliche Grundbegabung. Aber das spielt keine Rolle, Ihr seid derjenige, der die Alte Sprache be herrscht, und wenn Ihr Tezin-dar erreicht, werdet Ihr es sein, der das Arcanum erkennt. Außerdem habe ich nur diesen einen Stein.« »Nimm ihn.« Bracht löste den Stein von seinem Hals und reichte ihn Calandryll. »Ich verlasse mich ohnehin lieber auf mein Schwert.« Er beäugte das magische Artefakt zweifelnd. Offen sichtlich war er froh, es los zu sein. Es war, dachte Ca landryll, das erste Mal, daß er Bracht nervös gesehen hatte. Seine eigenen Zweifel waren von seiner Begeisterung hinweggespült worden, und er drehte sich strahlend zu Varent um. »Damit werden wir erfolgreich sein«, ver kündete er überzeugt. »Wir werden das Arcanum aus
Tezin-dar herausholen und Azumandias' Pläne durch kreuzen.« »Hoffen wir es«, sagte Varent und erwiderte das Lä cheln. »Vergeßt diese Worte nicht, mein Freund. Übt sie, denn der Erfolg Eurer Mission könnte von ihnen abhän gen.« »Das werde ich«, versprach Calandryll. »Wie soll er das Buch erkennen?« fragte Bracht. »Der Stein wird es Euch sagen. Eben jene Magie, die das Arcanum verbirgt, wird es auch verraten. Wenn das Buch in der Nähe ist, wird der Stein glühen. Und jetzt«, Varent warf einen kurzen Blick auf den dunkler werden den Himmel, »sollte ich Euch besser verlassen. Der Kan der erwartet mich, und ich möchte Eure Überfahrt regeln, bevor er so betrunken ist, daß er sich später nicht mehr daran erinnern kann.« Er vollführte eine formelle Verbeugung, die Ca landryll auf die gleiche Weise erwiderte, während Bracht ihm nur kurz zunickte. Kurz darauf war er verschwun den. Calandryll hängte sich voller Freude über seine neuen magischen Fähigkeiten den Stein wieder um den Hals und rezitierte den Zauberspruch. Doch dann brach er mitten in der Beschwörung ab, als er Brachts mürrischen Gesichtsausdruck bemerkte. Seine Begeisterung ebbte ab. »Was beunruhigt dich?« fragte er. »Dera! Lord Varent hat uns die Antwort auf deine Befürchtungen gegeben, eine Möglichkeit, Tezin-dar unbemerkt zu betreten, und
du ziehst ein Gesicht, bei dem Milch sauer werden wür de.« »Ich habe nichts übrig für Magie«, erwiderte Bracht düster. »Auch wenn sie uns hilft, ich mag sie trotzdem nicht.« »Wie Lord Varent gesagt hat, ich bin derjenige, der den Stein benutzen wird.« Calandryll wiederholte den Zauberspruch, lief in der Bibliothek umher und lachte leise in sich hinein. »Magie führt zu nichts Gutem«, brummte Bracht ins Leere hinein. Calandryll wurde wieder sichtbar. »Dann laß uns et was essen gehen«, schlug er vor. »Vielleicht bessert das deine Laune auf.« Bracht nickte, und sie machten sich auf den Weg zum Speisesaal. Zwei Tage später brachen sie auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, dicker Nebel lag über dem Hof von Varents Anwesen und machte ihre Abreise zu einer ge spenstischen, verstohlenen Angelegenheit. Calandryll fand, daß die Atmosphäre ihrem Vorhaben eher angemessen war. Aldarin lag immer noch im Schlaf, als sie ihr spärliches Gepäck in die Kutsche luden, die Varent besorgt hatte, und auf den Botschafter warteten. Calandryll trug den roten Stein an seinem Lederband um den Hals und die Karte in einer kleinen Umhängetasche
auf dem Rücken. Das Geld, das Varent ihnen gegeben hatte – ausreichend für ihre Bedürfnisse –, hatten sie untereinander aufgeteilt. Bracht hatte seinen Lohn in einem gefütterten Gürtel verstaut, den er unter seinem Wams trug. Sie sahen zu, wie der Botschafter einen Zauber wirkte, der, wie er versprochen hatte, Azumandias' Spione ver wirren würde. Er malte undeutliche Symbole mit blauer Kreide auf beide Seiten der Kutsche und auf die Hufe der Pferde. Dann besprühte er sowohl die Tiere als auch das Gefährt mit einer farblosen Flüssigkeit. Befriedigt wandte er sich Calandryll und Bracht zu. »Der Kapitän heißt Rahamman ek'Jemm, sein Schiff ist die Seetänzerin. Er segelt mit der Morgenebbe los. Darth kennt den Ankerplatz.« Er nickte in Richtung des Kut schers. »Ich habe ek'Jemm fünfzig Varre gegeben. Ihr müßt ihm noch einmal die gleiche Summe zahlen, wenn Ihr in Mherut'yi gelandet seid.« Er ergriff Calandrylls Hand mit beiden Händen. Sein scharf geschnittenes Gesicht war feierlich, als er hinzu fügte: »Ihr begebt Euch auf eine heroische Mission. Fin det Tezin-dar und bringt mir das Arcanum, und wir werden diese Bedrohung für immer beenden. Das Schicksal der Welt liegt in Euren Händen! Möge Dera Euch beide schützen!« Sein Blick schloß auch Bracht ein, der ungerührt zu rückstarrte. »Vertraut uns, Lord Varent«, sagte Calandryll.
»Das tu ich«, erwiderte der Botschafter. »Und nun geht, damit Ihr nicht die Ebbe verpaßt. Ich bleibe hier, um die Aufmerksamkeit möglicher Spione unseres Fein des auf mich zu lenken.« Er zog seine Hände zurück, und Calandryll stieg in die Kutsche, dicht gefolgt von Bracht. Varent hob zum Ab schied die Hand, Darth ruckte an den Zügeln und steuer te das Gespann auf das geöffnete Tor zu. Sie bogen auf die Straße ein. Nebel oder Magie – Ca landryll war sich nicht sicher, was dafür verantwortlich war – dämpfte das Klappern der Pferdehufe. Nebel schwaden verschleierten die breite Straße, Varents An wesen verschwand hinter ihnen im dichten Dunst. Beide schwiegen sie, als würde die Bedeutung ihrer Mission ihre Zungen lähmen, als würden sie sich erst jetzt, da die eigentliche Reise begonnen hatte, der gewal tigen Tragweite ihres Vorhabens bewußt werden. Ca landryll dachte an Rebas Prophezeiungen, die sich bisher alle bewahrheitet hatten. Er hatte Nadama verloren, dafür aber zwei Gefährten gewonnen, und schon bald würde er sehr weit reisen… … über Wasser. Hüte dich vor Wasser. »Dera!« stöhnte er. »Das habe ich vollkommen verges sen!« »Was?« Bracht blickte auf, aus seinen eigenen Gedan ken gerissen. »Die Wahrsagerin hat mich vor Wasser gewarnt. Ich hatte mir vorgenommen, Burash ein Opfer darzubrin
gen.« Bracht zuckte die Achseln. »Vielleicht gibt es auf dem Schiff des Kanders einen Altar.« »Vielleicht.« Calandryll fummelte nervös an dem roten Stein her um. »Ich hoffe es.« Er blickte aus den Kutschenfenstern heraus und sah nichts als Nebel, der hier und da von einem schwachen Lichtschimmer durchdrungen wurde. Die ersten Leute waren aufgestanden und hatten in ihren Häusern Lam pen entzündet. Er hörte einen Hund bellen und roch die feuchte, salzhaltige Luft. »Es wird mehr als genug Burashtempel in Kandahar geben«, sagte Bracht. »Trotzdem, ich wollte, ich hätte vorher daran ge dacht.« Er wandte sich ab und betrachtete wieder die vorbei ziehenden Umrisse der Gebäude, die geheimnisvoll vom Nebel verhüllt wurden. Die Straße war leer, der Sonnen aufgang noch nicht einmal zu ahnen. Tautropfen hingen wie Edelsteine an den knospenden Trieben der Bäume, und als sie an einem Park vorbeikamen, schimmerte der Rasen silbern phosphoreszierend im unheimlichen Licht. Daß sie die Stadtmauern erreicht hatten, bemerkte Ca landryll erst, als die Kutsche anhielt und Soldaten wie Totengeister aus der Dunkelheit hervorkamen. Darth wechselte ein paar Worte mit ihnen, ein Dokument wur de überprüft, Calandryll hörte, wie Varents Name fiel,
dann wurde ein kleines Seitentor geöffnet, und die Kut sche rollte durch einen von lodernden Fackeln in rötli ches Licht getauchten Tunnel. Das vertraute Geräusch von Wellen, die sich an Stein brachen, verriet ihm, daß sie an der Mole entlangfuhren. Eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche. Der Salzgeruch wurde stärker, vermischt mit den typischen Gerüchen des Hafens nach Teer, nassen Tauen und Fisch. Der Nebel begann aufzureißen und ließ wippende Mas ten und die Aufbauten von Schiffen erkennen, die knar rend an ihren Tauen und Ankerketten zogen, als wären sie gerade erwacht und könnten es nicht mehr erwarten loszusegeln. Die Kutsche blieb erneut stehen, und Darth sprang zu Boden. »Dort drüben liegt die Seetänzerin.« Er deutete auf eine dunkle Masse, die frei im wirbeln den grauen Dunst zu schweben schien. Drei Masten ragten in die Höhe, die Segel schlugen träge in der auf kommenden Brise. Calandryll und Bracht stiegen aus der Kutsche und betraten das glitschige Kopfsteinpflaster. Ihr Gepäck hatten sie über die Schultern geworfen. »Mein Pferd«, wandte sich Bracht an Darth. »Sollte ich nicht zurückkommen, gehört es dir.« »Ich danke dir.« Der Mann nickte ihm zu. »Möge Dera dich beschützen.« »Mein Gott ist Ahrd«, sagte der Kerner. Darth zuckte die Achseln.
»Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?« fragte Ca landryll. Darth neigte den Kopf. Calandryll zog einen Var aus der Tasche und reichte ihn dem Mann. »Bringt Burash ein Opfer für mich dar. Bittet ihn, uns auf unserer Reise wohlgesonnen zu sein.« Er hätte es vorgezogen, sich selbst darum zu kümmern, aber vielleicht ging es auch so. »Wie Ihr wünscht«, erwiderte Darth und drehte sich um, als eine massige Gestalt auf sie zukam. »Seid ihr meine Passagiere?« Die Stimme des Mannes klang unwirsch, sein Lyssia nisch hatte einen starken kandischen Akzent. Er war klein und dick, und seine Leibesfülle wurde noch durch den schweren grünen Umhang betont, den er um die Schultern trug. Er hatte einen schwarzen Bart, an seinen Ohren baumelten große Goldringe. Um den Kopf hatte er ein weißes Tuch geschlungen. »Seid Ihr Rahamman ek'Jemm?« fragte Calandryll. »Schiffseigentümer Rahamman ek'Jemm«, verbesserte ihn der Kander. »Solange ihr an Bord meines Schiffes seid, habt ihr mich mit Kapitän anzusprechen.« »Wir sind deine Passagiere«, sagte Bracht. »Kapitän.« Ek'Jemm grunzte, musterte sie, als würde er ihr Ge wicht abschätzen, und nickte dann. »Kommt an Bord. Wir haben Gezeitenwechsel, und ich möchte endlich loskommen.«
Ohne weitere Umschweife drehte er sich um und ging davon. Calandryll bemerkte seinen wiegenden Gang. Er wollte ihm gerade folgen, als ihm auffiel, daß Bracht zögerte. Der Söldner wirkte nervös, betrachtete widerwil lig die Laufplanke, die im sich auflösenden Nebel sicht bar wurde. »Ich bin noch nie auf einem Schiff gewesen«, brummte er. Calandryll unterdrückte ein Lachen. Zumindest in dieser Beziehung war er dem anderen gegenüber im Vorteil. »Du wirst dich bald schon daran gewöhnen«, ver sprach er. »Möge Burash euch verfaulen lassen! Kommt ihr jetzt an Bord, oder soll ich ohne euch in See stechen?« Die Stimme des Kapitäns dröhnte von oben zu ihnen herab, und Calandryll winkte seinen Gefährten aufmun ternd zu. Bracht seufzte vernehmlich und kletterte die Laufplanke hinauf. Rahamman ek'Jemm nahm sie am Bug in Empfang und deutete zum hinteren Teil des Schiffes. »Wartet dort. Ich muß die Ebbe ausnutzen, also lauft mir nicht im Weg rum.« Und als sei es ihm gerade erst eingefallen, fügte er hinzu: »Ihr teilt euch eine Kajüte, aber die zeige ich euch später.« Er hastete davon, und jetzt wirkte sein Gang nicht mehr komisch, sondern war dem schwankenden Deck
besser angepaßt als der seiner Passagiere und Landrat ten. Calandryll führte Bracht nach achtern, vorbei an Mat rosen, die vom Gebrüll ihres Kapitäns zu hektischer Betriebsamkeit angetrieben wurden, und fand einen ruhigen Platz unter dem hohen Heckaufbau. Er ließ sein Gepäck fallen und setzte sich auf die Planken. Bracht ließ sich neben ihm nieder. Die Seetänzerin war ein ziemlich großes Schiff von ty pisch kandischer Bauart. Sie hatte einen breiten Rumpf und ein erhöhtes Vorder- und Achterdeck, die das Hauptdeck überragten und auf denen jeweils eine Arm brust montiert war. Die drei Masten trugen rechteckige Segel, die jetzt zu den Schreien ek'Jemms hochgezogen wurden und sich im Wind blähten. Schwerfällig drehte das Schiff bei, entfernte sich von der Mole und begann sofort, stärker zu schwanken. Calandryll hörte Bracht stöhnen, drehte sich zu ihm um und sah, daß der Kerner unter seiner sonnengebräun ten Haut blaß wurde. »Seekrankheit geht schnell vorbei«, erklärte er fröh lich. Er hatte nicht vor, sich seine wachsende Begeiste rung durch das Unbehagen des Söldners verderben zu lassen. Brachts einzige Antwort bestand aus einem abgrund tiefen Seufzen, und Calandryll stand auf, um zuzusehen, wie Aldarin hinter ihnen zurückblieb. Über der Stadt hingen immer noch Nebelfetzen, aber
mittlerweile konnte man die Mauern erkennen, die aus dem grauen Dunst herausragten. Hinter ihnen hellte sich der Himmel auf; die Sonne näherte sich langsam dem Horizont. Am fernen Ende des Flußtals spannte sich bereits ein rötlichgoldener Streifen von Berghang zu Berghang. Darüber erschien eine blaue Lücke im grauen Himmel, die sich immer weiter ausbreitete und den Dunst ver schluckte. Dann ergoß sich strahlende Helligkeit durch das Alda tal, als die Sonne emporstieg, die letzten Nebelreste ver trieb und die Stadt in goldenem Licht badete. Calandryll drehte sich um, blickte in Fahrtrichtung und sah den Mond tief über dem westlichen Horizont stehen. Dort war der Himmel noch dunkel, doch der hereinbrechende Tag vertrieb bereits die Finsternis. Schon bald war der gesamte Himmel blau, von strahlend weißen Wolkenstreifen durchzogen, die derselbe Wind vor sich hertrieb, der sie nach Kandahar brachte. Ein Gefühl der Erregung erfaßte Calandryll; jetzt hatte ihre Reise tatsächlich begonnen. Brachts Stöhnen riß ihn aus seinen Betrachtungen, und er sah, wie der Kerner mühsam auf die Beine kam, zur Reling taumelte, sich weit darüber beugte und sich seine Schultern krampfhaft hoben und senkten, als er sein Frühstück in die wogende See erbrach. »Landratte.« Rahamman ek'Jemms barsche Stimme klang verächtlich. »Was ist er, ein Kerner?«
Calandryll nickte. »Dir geht es nicht schlecht?« wollte der Kapitän wis sen. »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich bin frü her schon gesegelt, wenn auch noch nie auf einem so großartigen Schiff.« Das schien dem Kander zu gefallen. Sein grobschläch tiges Gesicht verzog sich zu einem flüchtigen Lächeln, und er nickte zustimmend. »Die alte Seetänzerin ist schon ein stolzer Kahn, keine Frage. Worauf bist du gefahren? Auf diesen kleinen Spielzeugen, die ihr Lyssianer Schiffe nennt?« Calandryll dachte an die kleinen Boote, auf denen er in Seccas Hafen gesegelt war, und sagte: »Auf Dingis. Und einmal auf einer Karavelle.« Ek'Jemm schnaubte. »Küstenkähne. Man braucht schon ein Schiff mit Herz, wenn man das Enge Meer überqueren will.« Er deutete in Brachts Richtung. »Wenn er sich ausgeleert hat, wird euch einer meiner Männer eure Kabine zeigen.« »Vielen Dank«, sagte Calandryll. »Führt Ihr einen Bu rashaltar mit, Kapitän?« Der Kander zeigte sich überrascht. Seine grünen Au gen verengten sich zu schmalen Schlitzen, bis sie fast in den Fleischwülsten seines Gesichts verschwanden. »Du glaubst an Dera, wenn du aus Lysse stammst. Und du bist kein Seemann. Warum willst du Burash
etwas opfern?« »Ich reise über Wasser, und die See ist sein Reich.« Die Erklärung klang einleuchtend genug. Der Kander grunzte und deutete auf den Ozean. »Wir brauchen keine Altäre, wenn er überall um uns herum ist. Der Ozean ist sein Tempel.« Calandryll nickte. »Gibt es Formen, die ich beachten muß? Was könnte er akzeptieren?« »Die Priester haben bestimmte Rituale«, polterte ek'Jemm, »aber Burash wird dich hören, wenn er in der richtigen Stimmung ist, und wir haben keinen Priester an Bord. Das Opfer? Was ist dir wichtig? Gib ihm etwas, das dir wichtig ist.« Calandryll dachte einen Moment lang nach. Ein Buch wäre etwas Kostbares für ihn, aber er hatte kein Buch dabei. Die Karte und der rote Stein, aber die waren zu wichtig, um sie wegzuwerfen. Auch das Schwert würde er vielleicht noch brauchen. »Könnte er das akzeptieren?« fragte er und zog den Siegelring vom Finger. Ek'Jemm hob die Schultern. Calandryll entschied, daß der Ring den Zweck erfüllen mußte. Er trat an die Reling, auf die Luvseite Brachts, der immer noch würgte, und hielt den Ring mit ausgetrecktem Arm über die Wellen. »Hör mich an, Burash«, intonierte er. »Ich bitte dich, dieser Reise deine Gunst zu schenken. Wir durchqueren dein Reich, und ich bitte dich, uns eine sichere Überfahrt über alle deine Gewässer zu gewähren.«
Er öffnete die Hand. Glitzernd fiel der Ring in die Wel len. Calandryll hoffte, daß das Opfer ausreichte. Es war alles, was er tun konnte. Als er sich umdrehte, sah er Brachts Augen auf sich ruhen. Das Gesicht des Kerners hatte einen grünlichen Farbton angenommen, und er sog die Luft so gierig ein, als würde er befürchten, daß jeder Atemzug sein letzter sein könnte. Calandryll rechnete schon mit einer abfälli gen Bemerkung, aber alles, was Bracht sagte, war: »Hilft das auch gegen meine Übelkeit? Bei Ahrd, ich hätte nie gedacht, daß eine Seereise so grauenhaft sein könnte.« Calandryll wollte etwas darauf erwidern, aber da hatte sich der Söldner auch schon wieder abgewandt, beugte sich erneut über die Reling und würgte. »Ich habe ein Spezialmittel, das ihm helfen könnte«, verkündete ek'Jemm, der den Kerner ungerührt betrach tete, »und ich werde dafür sorgen, daß ein Kübel in eure Kabine gebracht wird.« »Danke«, erwiderte Calandryll an Brachts Stelle, der im Augenblick nicht in der Lage war, ein Wort hervorzu bringen. Der Kapitän grunzte irgend etwas und kletterte den Niedergang zum Achterdeck hinauf. Die Seetänzerin wurde schneller, rollte und stampfte, als sie das offene Meer erreichte. Ihre Segel schwollen weiter an, die Wimpel am Marsmast knallten wie trocke ne Peitschenschläge im Wind. Möwen kreisten wie eine fliegende Eskorte über ihnen. Ihr schrilles Kreischen
durchbrach das eintönige Klatschen der Wellen, die ge gen den Bug schlugen, und das unablässige Knattern der Segel. Calandryll hielt sich an einem Stag fest, stemmte sich gegen das Rollen des Schiffes, sein Haar flatterte im Wind. Er fühlte sich aufgedreht. Die Seereise erfüllte ihn mit einer Freude, die ihn den Mund zu einem breiten Lächeln verziehen ließ, als ihm salzige Gischt ins Gesicht spritzte, und er atmete die ozonhaltige Luft tief ein. Er drehte sich wieder zu Bracht um, der immer noch in jämmerlicher Haltung über die Reling gebeugt hing. Der Kerner würgte trocken, mittlerweile war sein Magen leer. Wenn er noch länger so weitermachte, konnte er sich innere Verletztungen zuziehen, und ek'Jemm hatte kein Wort von einem Schiffsheiler erwähnt. Calandryll legte Bracht eine Hand auf die Schulter. »Wir sollten besser nach unten gehen. In deiner Koje wirst du dich bald besser fühlen.« Bracht nickte schwach, und Calandryll fügte hinzu: »Warte hier auf mich.« Er ließ ihn stehen und stieg den Niedergang hinauf. Rahamman ek'Jemm stand breitbeinig hinter dem Ru der, ein Steuermann wartete neben ihm, bereit, jederzeit das Steuerrad zu übernehmen. Der Kapitän hatte seinen Umhang abgelegt und trug nur noch seine prachtvolle gelbschwarze Seemannskleidung. Die Zipfel seines Stirnbandes flatterten. Er warf Calandryll einen flüchti gen, leicht gereizten Blick zu, als wären Passagiere in diesem erhöhten Teil des Schiffes nicht willkommen. »Ich würde meinen Gefährten gerne in seine Koje
bringen«, sagte Calandryll. Ek'Jemm nickte und bellte: »Mehemmed!« Calandryll spürte ein Zupfen an seinem Ärmel, drehte sich um und erblickte einen etwa gleichaltrigen jungen Burschen mit nacktem Oberkörper, der mit unbeküm merter Gewandtheit die steile Treppe hinter ihm herauf geklettert war. Ein dunkelbraunes Gesicht, das zu einem breiten Grinsen verzogen war, betrachtete ihn neugierig. Der junger Kander schob sich an ihm vorbei und sprang auf das Achterdeck. »Kapitän?« »Bring den Kerl hier und seinen kotzenden Freund in ihre Kajüte. Und sorge dafür, daß sie einen Kübel be kommen.« Mehemmed neigte den Kopf und wandte sich Ca landryll zu, der sagte: »Ihr habt uns auch ein Spezialmit tel versprochen, Kapitän.« Rahamman ek'Jemm runzelte erstaunt die Stirn. »Du verstehst Kandisch?« »Und ich spreche es auch«, erwiderte Calandryll in der gleichen Sprache. Ek'Jemm schnaubte und sagte: »Geh in meine Unter kunft und hol das blaue Fläschchen aus meinem Medi zinschrank, nachdem du unsere Passagiere in ihre Kajüte gebracht hast. Drei Tropfen in etwas Wasser, morgens, mittags und abends.« Die letzten Worte waren an Calandryll gerichtet, der
sich mit einem Lächeln bedankte und, dicht gefolgt von Mehemmed, wieder zum Unterdeck hinabstieg. Sie zogen Bracht von der Reling fort und halfen ihm die Deckluke hinunter. Calandryll sammelte ihr Gepäck zusammen, während Mehemmed den bleichen Kerner in die Tiefen des Schiffes führte. Die Luft roch muffig, und Calandryll stellte erfreut fest, daß ihre Kabine ein Bull auge hatte. Er öffnete es. Mehemmed ließ Bracht auf die Koje unter dem Bullauge sinken. »Ich werde das Spezialmittel und den Kübel holen«, versprach er. »Oh, Ahrd steh mir bei«, stöhnte Bracht. »Hätte ich gewußt, das es so werden würde…« »Ihr solltet hoffen, daß die See so ruhig bleibt«, grinste Mehemmed und duckte sich unter dem niedrigen Ein gang hindurch. Calandryll warf ihre Ausrüstung auf die zweite Koje und sah sich um. Die Kajüte war eng. Die beiden Kojen, durch einen schmalen Gang voneinander getrennt, nah men den größten Teil des Raumes ein. Unter ihnen wa ren Kästen für das Gepäck. Die Decke war so niedrig, daß er nur gebückt stehen konnte, deshalb nahm er auf seiner Koje Platz. Brachts Zustand erfüllte ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Mitleid. Mehemmed kehrte mit einem Kübel, einem kleinen Fläschchen aus blauem Glas, einem Krug und einem Becher zurück. Er füllte den Becher mit Wasser, gab vorsichtig drei Tropfen aus dem Fläschchen dazu und
reichte Bracht das Heilmittel. Der Kerner trank es und schnitt eine Grimasse. »Es schmeckt ekelhaft«, schmunzelte Mehemmed, »a ber es wird Euch helfen.« »Falls ich nicht vorher sterbe«, stöhnte Bracht und ließ sich auf die Koje zurücksinken. »Er sollte besser eine Kleinigkeit essen«, riet der junge Kander. »Ich werde Euch etwas besorgen.« Er brachte ihnen einen großen Teller mit Brot und kal tem Schweinefleisch. Bracht warf nur einen kurzen Blick darauf, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Er muß etwas in den Magen kriegen.« Mehemmed sah Calandryll hilfesuchend an. »Könnt Ihr ihn dazu bringen, etwas zu essen?« Calandryll nickte und nahm ihm den Teller ab. Der Kander schien noch nicht gehen zu wollen und verweilte mit einem neugierigen Ausdruck auf seinem schmalen Gesicht neben der Tür. »Ist er Euer Leibwächter?« fragte er. Das war die einfachste Erklärung; Calandryll nickte. »Und wer seid Ihr?« »Ich heiße Calandryll.« Er hielt es für besser, seinen Familiennamen zu verschweigen, da er befürchtete, sein Vater könne eine Nachricht nach Aldarin geschickt ha ben. Es war durchaus möglich, daß er eine Belohnung für die Rückkehr seines Sohnes ausgesetzt hatte. »Seid Ihr ein Kaufmann?«
Sie hatten sich mit Varent abgesprochen und waren zu dem Schluß gekommen, daß sie ihre Reise als Handels mission ausgeben sollten. Demnach war Calandryll ein Abgesandter, der den Auftrag hatte, Handelsverbindun gen zu den Kaufleuten in Kandahar zu knüpfen, und Bracht sein Leibwächter. Das erzählte er Mehemmed auch. Der junge Bursche grinste. »Er gibt einen armseligen Leibwächter ab, wenn Ihr über das Meer reisen wollt. Ihr hättet besser einen Kander anheuern sollen. Burash hat unser Blut mit Salz versetzt.« »Er ist sehr tüchtig«, verteidigte Calandryll seinen Ge fährten. »Zumindest auf dem Land.« »Dann solltet Ihr hoffen, daß keine Seeräuber unseren Kurs kreuzen«, meinte Mehemmed fröhlich und ver schwand. Calandryll verstaute ihr Gepäck, setzte sich neben Bracht und versuchte, ihn dazu zu überreden, etwas zu essen. Der Kerner brachte ein paar Bissen herunter, bevor er den Teller beiseite schob und sich über den Kübel beugte. »Wir hätten über Land reiten sollen«, stöhnte er, nachdem sein Magen wieder leer war. »Das hätte Monate gedauert«, protestierte Calandryll. »Wir hätten halb Lysse durchqueren und südlich nach Eyl umschwenken müssen. Und dann hätten wir die Shann-Wüste vor uns gehabt. So werden wir in rund einer Woche Mherut'yi erreichen.«
»Eine Woche!« stieß Bracht mit erstickter Stimme her vor. »Werde ich noch so lange leben?« »Du wirst es überstehen«, versprach Calandryll. Bracht stöhnte erneut und drehte sich der Wand zu. Nach einer Weile war er eingeschlafen, und Calandryll kehrte an Deck zurück. Die Seetänzerin kam zügig voran, Lysses Küste ver schwamm hinter ihr, wo sich See und Himmel trafen. Der Wind wehte beständig aus Nordost, und ek'Jemm hatte alle Segel gesetzt, um ihn voll auszunutzen. Welche Fracht er auch immer nach Kandahar zurückbrachte, sie war ziemlich schwer; das Schiff lag tief im Wasser, und Calandryll mußte grinsen, als er sich vorstellte, wie es Bracht wohl ergangen wäre, wenn das Schiff ohne La dung unterwegs gewesen wäre und wie ein Korken auf den Wellen geschaukelt hätte. Er bemühte sich nach Kräften, den Matrosen nicht im Weg zu stehen, obwohl ihn seine natürliche Neugier dazu trieb, das Schiff so gründlich wie möglich zu erforschen, und er durchstreif te das Deck und die unteren Ebenen, bis ihm der Schiffs gong mitteilte, daß es Essenszeit war. Er aß zusammen mit der Mannschaft auf dem Haupt deck, während Rahamman ek'Jemm seine Mahlzeit allein auf dem Achterdeck einnahm, und spürte die neugieri gen Blicke der anderen auf sich ruhen, wenn auch Me hemmed als einziger versuchte, ein Gespräch mit ihm anzufangen, das sich in erster Linie um die Städte von Lysse drehte. Calandryll wurde sich bewußt, daß diese
Männer den größten Teil ihres Lebens auf dem Meer verbrachten und die Handelswege zwischen Kandahar und seinem Heimatland oder die Küstenrouten der gro ßen Halbinsel befuhren. Gemessen an der luxuriösen Verpflegung, die sie auf Varents Anwesen genossen hatten, war das Essen einfach, aber es schmeckte ihm, die Seeluft hatte seinen Appetit angeregt, und nachdem er satt war, stieg er mit einem Teller zu Bracht hinter. Der Söldner war wieder wach, nahm eine weitere Do sis des Wundermittels ein und konnte sogar ein paar Bissen Rindfleisch bei sich behalten. Seine Stimmung hatte sich allerdings nicht verbessert, und als er erklärte, daß er keinen weiteren Bissen herunterbringen könnte, ließ ihn Calandryll wieder einschlafen. Er ging zurück an Deck und wünschte sich, er hätte zumindest ein Buch mitnehmen können, denn da die Mannschaft mit ihrer Arbeit beschäftigt war und keine Zeit hatte, sich um den Passagier zu kümmern, wurde ihm klar, daß ihm eine lange Zeit der Müßigkeit bevor stand. Also holte er sein Schwert aus der Kajüte und beschäftigte sich mit den Übungen, die Bracht ihm beige bracht hatte, ignorierte die belustigten Blicke der Matro sen, während er gegen einen unsichtbaren Gegner kämpfte. Doch dann wurden seine Übungen durch Mehemmed unterbrochen. »Der Kapitän möchte Euch sehen«, informierte ihn der junge Bursche. »Sofort.«
Neugierig geworden, schob Calandryll das Schwert in die Scheide und stieg aufs Achterdeck hinauf. Ek'Jemm hatte das Ruder dem Steuermann übergeben und stand mit einem Fernrohr neben der Armbrust. »Lord Varent hat mir erzählt, ihr wärt seine Gesand ten«, sagte er. »Daß ihr aus geschäftlichen Gründen nach Mherut'yi reisen würdet.« »Richtig«, bestätigte Calandryll. »Um über Verträge zu verhandeln.« »Ja.« Calandryll fragte sich, was den Kapitän beunruhigte. »Geheime Geschäfte?« »Ja.« »Wäre es möglich, daß ihr dabei Rivalen habt? Könn ten sie von eurer Abreise erfahren haben?« Calandryll starrte in das grobschlächtige Gesicht des Mannes. Eine unangenehme Ahnung begann in ihm aufzusteigen. Er zuckte die Achseln. »Möglich. Wieso?« Ek'Jemm reichte ihm das Fernrohr und deutete auf das Meer hinter dem Heck. »Kannst du es sehen?« Calandryll spähte durch das lederverkleidete Fern rohr. Die Linsen erzeugten ein verwaschenes helles Bild, mit dem seine ungeübten Augen anfangs nicht zurecht kamen. Dann entdeckte er einen dunklen Umriß, der tief im Wasser lag, und je länger er sich darauf konzentrierte, desto schärfer wurde das Bild. Ein einzelner Mast trug
ein rechteckiges Segel, der Bug war aufwärts gebogen und hatte die Form eines Seeungeheuers. Das Boot war flach und schlank. Es sah sehr schnittig aus, als wäre es für hohe Geschwindigkeiten gebaut worden. »Es hat die Form eines Kriegsbootes«, erklärte ek'Jemm. »Anscheinend werden wir von Seeräubern ver folgt.« Calandryll ließ das Fernrohr sinken und wandte sich dem Kapitän zu. Das Herz klopfte ihm dumpf in der Brust. »Gehen Seeräuber schon zu dieser frühen Jahres zeit auf Kaperfahrt?« fragte er. »Nein.« Der Kander schüttelte den Kopf. »Mein Schiff ist das erste, das die Frühjahrsüberfahrt macht. Und nach mir ist kein Piratenschiff losgesegelt. Dieses Kriegsboot ist von Lysse aus in See gestochen.« »Vielleicht hat es uns hier aufgelauert.« Calandryll hoffte, daß der Kapitän ihm zustimmen würde. Wenn nicht, dann war das Boot wahrscheinlich von Azumandias geschickt worden. Vielleicht war sogar der Hexer selbst an Bord. Aber Rahamman ek'Jemm machte seine Hoffnung zunichte. Er schüttelte erneut den Kopf und sagte: »Nein. Es kommt von Lysse. Ich glaube, es jagt euch.« Calandryll gab ihm das Fernrohr zurück. »Was werdet Ihr tun?« »Zu Burash beten, daß wir es abhängen können. Wenn nicht, werden wir kämpfen, oder…« Er ließ den Rest offen und musterte Calandryll nach
denklich. »Oder was?« »Oder wir geben ihnen, worauf sie es abgesehen ha ben«, sagte ek'Jemm ruhig. »Ich werde mein Schiff nicht für hundert Varre aufs Spiel setzen.«
KAPITEL 8 »Ihr habt ein Abkommen getroffen!« Calandryll starrte den Mann ungläubig an. Er bemerkte, daß seine Stimme schrill klang, ob aus Wut oder Empörung, konnte er nicht sagen. Er räusperte sich und zwang sich zu einem tiefe ren Tonfall. »Ihr habt Euch verpflichtet, uns sicher nach Kandahar zu bringen.« Ek'Jemm nickte mit dem Kopf in Richtung des Kriegs bootes, das ohne das Fernrohr nicht mehr als ein winzi ger Punkt am blauen Horizont war. »Ich habe mich ver pflichtet, zwei Passagiere nach Mherut'yi zu bringen. Es war nie die Rede davon, daß man uns verfolgen würde.« Calandryll umklammerte den Griff seines Schwertes. Er fragte sich, ob er die Waffe ziehen, dem Kander die Klingenspitze auf die Kehle setzen und ihn notfalls zum Kämpfen zwingen sollte. Aber er verwarf die Idee als sinnlos. Wenn Bracht bei ihm wäre, könnten sie damit vielleicht durchkommen, aber auch wenn es dem Kerner gut genug ginge, um ihn zu decken, müßten sie sich immer noch mit ek'Jemms gesamter Mannschaft und ihren Verfolgern herumschlagen. Er erwog flüchtig, dem Kapitän eine zusätzliche Prämie anzubieten, verwarf aber auch diese Idee. Sie brauchten das Geld, das Varent ihnen zur Verfügung gestellt hatte, um nach Gessyth zu
kommen. Ohne Geld wären sie Gestrandete in einem fremden Land, und was er bei sich trug, war kaum ge nug, um ek'Jemm dafür zu entschädigen, sein Schiff aufs Spiel zusetzen. Außerdem bestand die Gefahr, daß der Kapitän ihnen ihr gesamtes Geld abnehmen würde, wenn er erfuhr, wieviel sie mit sich führten. Anscheinend war seine einzige Zuflucht die Diplomatie. »Lord Varent würde es Euch übelnehmen, wenn Ihr uns seinen Feinden ausliefert«, sagte er und bemühte sich nach Kräften, seiner Stimme einen kalten und drohenden Tonfall zu verleihen. »Man würde Euch wahrscheinlich nie mehr in den Hafen von Aldarin einlaufen lassen.« Der Kander betrachtete ihn eine Weile mit geschürzten Lippen und fragte dann: »Wie sollte Lord Varent davon erfahren?« »Er würde es erfahren«, versicherte Calandryll. »Dar auf gebe ich Euch mein Wort.« Ek'Jemm lachte in sich hinein und blickte nach ach tern. »Nerven hast du, das muß ich dir lassen. Aber uns bleibt noch eine Menge Zeit, ehe wir eine Entscheidung treffen müssen. Dieser Seeräuber ist zwar schnell, aber wenn der Wind anhält, wird er uns frühestens in ein oder zwei Tagen einholen können. Vielleicht gelingt es uns, ihn abzuhängen. Wenn nicht … nun, das entscheiden wir, wenn es soweit ist.« »Es würde sich für euch auszahlen zu kämpfen«, ver sprach Calandryll schnell. »Lord Varent würde Euch
großzügig dafür belohnen.« Ek'Jemm nickte. »Möglich. Aber was habe ich von ei ner Belohnung, wenn ich bei Burash bin?« Calandryll fiel keine passende Antwort ein, und der Kander stieß wie der ein kurzes humorloses Lachen aus. »Erkennst du mein Dilemma? Ich muß an mein Schiff und an meine Mannschaft denken. Du solltest besser beten, daß wir unseren Verfolger abschütteln können.« Calandryll verzog das Gesicht und spähte wieder nach achtern. Der Himmel wurde dunkel, die Sonne berührte bereits den Horizont im Westen, und die hereinbrechen de Dämmerung hatte das Kriegsboot verschluckt. »Die Seetänzerin ist ziemlich schnell«, sagte ek'Jemm ein wenig freundlicher. »Vielleicht können wir den ande ren in der Nacht entkommen. Vielleicht können wir sie uns auch mit den Armbrüsten vom Leib halten.« Er tät schelte liebevoll den großen Bogen und kehrte ans Steu errad zurück. »Und jetzt räum das Deck. Steh meiner Mannschaft nicht im Weg, wir haben eine Menge zu tun. Und mach kein Licht.« Calandryll verließ das Achterdeck und kehrte in die Kajüte zurück, wo Bracht immer noch schlief. Es stank in dem geschlossenen Raum. Calandryll trug den Kübel an Deck und leerte ihn über der Reling, bevor er den Söld ner weckte. Es schien bereits eine gewisse Anspannung auf der Mannschaft zu liegen. Mehrere Männer blickten anklagend in seine Richtung, als er zur Deckluke zu
rückging, aber niemand sagte ein Wort. Das Zwielicht, das den Verfolger verschluckt hatte, verdämmerte, die Nacht senkte sich herab, im Westen verriet noch ein orangeroter Streifen, wo die Sonne untergegangen war. Im Osten herrschte bereits Finsternis, der Mond war aufgegangen, und am Himmel erschienen Sterne wie hell funkelnde Diamanten. Die Seetänzerin fuhr ohne Beleuchtung, aber im phosphorisierenden Widerschein des Meeres und dem schwachen Sternenlicht konnte Calandryll erkennen, daß sich einige Männer an der Bugarmbrust aufhielten und sie schußbereit machten. Er duckte sich, schlüpfte durch die Luke und stieg zu ihrer Kabine hinunter. Bracht rührte sich, als er eintrat, ein dunkler Umriß in der Finsternis. Calandryll stellte den Kübel ab und fluch te, als er sich wieder aufrichtete und sich dabei den Kopf an der niedrigen Decke stieß. »Gibt es hier keine Lampe?« fragte der Kerner. »Wir fahren ohne Licht«, erwiderte Calandryll und schilderte die Situation. »Azumandias?« brummte Bracht. »Hat Varents Magie also nicht unsere Spuren verwischt?« Er schien sich beinahe über das Versagen des Botschaf ters zu freuen, als rechtfertige dies das Mißtrauen, das er Magie gegenüber empfand. Calandryll hob die Schultern, was Bracht in der Dunkelheit nicht sehen konnte, fand das Wundermittel und träufelte eine Dosis in den Becher. Bracht trank die Mischung und schwang ächzend die
Beine auf den Boden. Er war eindeutig zu schwach für einen Kampf, und Calandryll drückte ihn auf die Koje zurück. »Es gibt nichts, was du tun könntest«, sagte er. »Ek'Jemm meint, wenn der Wind anhält, würde es ein oder zwei Tage dauern, bis uns das Kriegsboot eingeholt hat, und es könnte unsere Spur während der Dunkelheit verlieren. Ruh dich besser noch aus.« Der Kerner seufzte und ließ sich wieder auf die Koje fallen. »Wären wir geritten, wie zivilisierte Menschen…« »… wäre wahrscheinlich das gleiche passiert«, unter brach ihn Calandryll. »Wenn Azumandias dieses Boot geschickt hat, dann hätte er uns bestimmt auch auf dem Land verfolgt.« »Wo ich kämpfen könnte«, knurrte Bracht starrsinnig, »und nicht mit dieser verfluchten Seekrankheit flachlie gen würde.« »Vielleicht wird ek'Jemms Wundermittel dich kurie ren, bevor uns das Kriegsboot eingeholt hat«, versuchte Calandryll ihn zu trösten. »Vielleicht ist es auch gar nicht Azumandias' Boot. Wenn nicht, dann ist es hinter der Seetänzerin her, und ek'Jemm wird kämpfen müssen.« Bracht wollte sich einfach nicht besänftigen lassen. »Also habe ich die Wahl, mich entweder von diesem fetten Kander an Azumandias ausliefern zu lassen oder im Kampf gegen die Freibeuter ein nasses Grab zu fin den«, murrte er. »Mir gefällt weder das eine noch das andere.«
Seine Stimme klang klagend und jämmerlich. Er war so weit von dem stolzen Reiter entfernt, als den Ca landryll ihn kennengelernt hatte, daß es ihm trotz ihrer mißlichen Lage schwerfiel, nicht in Gelächter auszubrechen. Er widerstand der Versuchung und sagte: »Wir könn ten den Kampf gewinnen. Das Schiff hat je eine Armbrust an Bug und Heck.« »Wenn sich Azumandias an Bord des Kriegsbootes be findet, wird er Magie einsetzen«, hielt ihm Bracht vor. »Falls sich ek'Jemm überhaupt zum Kampf entschließt.« »Gemeinsam könnten wir ihn dazu bringen«, schlug Calandryll vor. »Wenn wir ihm das Schwert auf die Brust setzen, könnten wir ihn dazu zwingen.« »Und wozu?« erkundigte sich Bracht mutlos. »Ich nehme an, daß Azumandias diese Büchse mit seiner Magie versenken kann.« »Dann würde er die Karte verlieren.« Calandryll klopfte auf seine Umhängetasche. »Und auf die muß er es abgesehen haben. Wenn das Kriegsboot hinter uns her ist und Azumandias die Karte haben will, muß er uns lebend in die Hände bekommen.« Bracht nickte, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Du denkst einen Schritt weiter als ich. Wenn du recht hast, haben wir vielleicht eine Chance.« »Ja«, verkündete Calandryll mit mehr Zuversicht, als
er wirklich verspürte. Wie er sich bereits vorher schon überlegt hatte, würden sie sich die gesamte Mannschaft vom Hals halten müssen, wenn sie ek'Jemm das Schwert auf die Brust setzten, und das wahrscheinlich mitten in einem Seegefecht. Vernünftig betrachtet war es eine ver gebliche Hoffnung, aber wenigstens munterte es den Kerner auf. Er streckte sich bequemer auf seiner Koje aus, umklammerte die Schwertscheide, als würde das Krummschwert ihm Kraft verleihen, und nickte vor sich hin. »Ja, das ist es. Wir müssen dieses … wie heißt das Ding, auf dem das Steuerruder steht?« »Das Achterdeck«, half ihm Calandryll aus. »… das Achterdeck stürmen und ek'Jemm klarma chen, daß wir ihm die Kehle durchschneiden, sollte er versuchen, uns auszuliefern. Das ist deine Aufgabe, ich werde mich um die Mannschaft kümmern. Wenn du recht hast, wird es Azumandias nicht wagen, uns zu versenken, weil er weiß, daß die Karte mit uns unterge hen würde. Auf diese Weise könnten wir Mherut'yi doch noch lebend erreichen.« »Und hätten Azumandias immer noch auf den Fer sen«, stellte Calandryll pragmatisch fest. »Richtig«, räumte Bracht ein, »aber sobald wir einmal gelandet sind, stehen unsere Chancen besser. Und was bleibt uns sonst?« »Nichts«, stimmte ihm Calandryll zu. In diesem Augenblick erschien Mehemmeds Kopf in
den Tür. Er rümpfte die Nase, als er den Gestank in der Kajüte roch. »Ich habe Euch etwas zu essen gebracht«, sagte er mit starkem Akzent auf Lyssianisch. »Und ich werde etwas besorgen, um diesen Gestank zu vertrei ben.« Er stellte zwei Teller auf den Boden, verschwand und kehrte kurz darauf mit mehreren Räucherstäbchen zu rück, Ein paar davon steckte er in eine Ritze zwischen den Planken und entzündete sie mit einem Funken aus einer Zunderdose. Süßlicher Rauch stieg von den glü henden Spitzen auf und überdeckte schnell den säuerli chen Geruch von Brachts Erbrochenem. »Das ist besser«, stellte der junge Kander grinsend fest. »Wie fühlt Ihr Euch?« »Unruhig«, grunzte Bracht. Mehemmed lachte leise in sich hinein. »Es ist aufre gend, nicht wahr? Ich habe jetzt schon fünf Fahrten mit dem Kapitän gemacht, und wir sind noch nie gejagt worden.« Calandryll starrte ihn an und bemerkte erst jetzt den langen Dolch, der in seiner Schärpe steckte. Die Begeiste rung es jungen Burschen überraschte ihn. »Hast du denn keine Angst?« wollte er wissen. »Ich denke schon.« Mehemmed zuckte die Achseln. »Aber es ist trotzdem aufregend. Ich bezweifle sowieso, daß uns das Kriegsboot einholen kann – schließlich fah ren wir unter vollen Segeln, und der Kapitän glaubt, daß der Wind noch eine Weile anhält. Wahrscheinlich wird
das Kriegsboot unsere Spur heute nacht verlieren.« Er nickte ihnen voller Zuversicht zu und ließ sie al lein. Calandryll stellte fest, daß er guten Appetit hatte, und freute sich, daß Bracht zumindest eine kleine Portion des Eintopfs aß, ohne sie gleich wieder zu erbrechen. Als sie fertig waren, brachte er die Teller in die Kom büse und reichte sie einem grimmig dreinblickenden Kander, der sie mit einem Grunzen entgegennahm, ohne ihn anzusehen. Anscheinend war Mehemmed der einzige Freund, den sie in der Mannschaft hatten, denn als Calandryll wieder an Deck ging, machten die Matrosen beharrlich einen Bogen um ihn, als fürchteten sie, er könne ihnen Unglück bringen, und er schnappte mehrere geflüsterte Bemer kungen über Passagiere auf, die Unheil verursachten. Er war froh, daß er sein Schwert trug, Und ihn über raschte die Sicherheit, die ihm die Waffe verlieh. Es war noch nicht lange her, da hatte er ein Schwert als ein lästi ges Ärgernis betrachtet, die Übungsstunden mit Torvah Banul als eine unangenehme Unterbrechung seiner Stu dien. Aber jetzt vermittelten ihm der feste lederumwi ckelte Schwertgriff und das Gewicht des Stahls an seiner Hüfte ein Gefühl der Beruhigung. Natürlich hoffte er nach wie vor, daß die Seetänzerin das Kriegsboot in der Nacht abhängen würde, aber wenn nicht … Dann würden sie, wie er es mit Bracht abgespro chen hatte, Rahamman ek'Jemm dazu zwingen, sich einem Kampf zu stellen.
Calandryll blickte zum Achterdeck hinauf, aber aus diesem Winkel versperrte ihm die Kante des Aufbaus die Sicht auf den Kapitän. Alles, was er sehen konnte, waren der sternenübersäte Himmel und der zunehmende Mond. Er drehte sich um und betrachtete die straff ge füllten Segel, die Wipfel an den Mastspitzen, die im Nordostwind in Fahrtrichtung flatterten, hörte das Knal len der sich straffenden und lockernden Haltetaue wie Peitschenschläge durch das monotone Klatschen der gegen den Bug schlagenden Wellen. Vor dem Sternenhimmel sah er die Silhouetten zweier Männer, die an der Armbrust lehnten, und er fragte sich, ob ek'Jemm wirklich vorhatte, sie einzusetzen, oder ob es nur so aussehen sollte. Es gab nichts, was er hätte tun können, also kehrte er in die Kajüte zurück, warf sich auf seine Koje und war schon kurz darauf eingeschlafen. Zum ersten Mal seit Wochen träumte er wieder. Ein flaches schlankes Boot mit einem mitternachtschwarzem rechteckigen Segel verfolgte ihn erbarmungslos, ahmte jede seiner Richtungsänderungen nach und kam bestän dig näher, wie sehr er sich auch bemühte, ihm zu ent kommen. Am Bug stand ein Mann in einem schwarzen Mantel, der sich hinter ihm bauschte, und zielte mit einer Armbrust auf ihn. Calandryll schien sich nicht an Bord eines Schiffes zu befinden, sondern im Wasser zu schwimmen, selbst ein Schiff zu sein, vielleicht ein Dingi oder eine Karavelle, jedenfalls irgend etwas, das nicht
schnell genug war, um dem Bolzen auszuweichen, der von dem großen Boot abgeschossen wurde und hell glitzernd über das Wasser auf ihn zuraste… … ihn aus dem Schlaf riß und sich durch seine Augen lider bohrte, so daß er aufschrie und hochfuhr, im ersten Moment nicht wußte, wo er war, bis er blinzelnd den Kopf schüttelte und die Kajüte erkannte. Durch das Bull auge fiel das vom Wasser reflektierte Sonnenlicht. Es war blendend hell wie die scharfe Spitze des Bolzens aus seinem Traum. Bracht schlief noch. Calandryll erhob sich leise von seiner Koje und ging an Deck, wo die Matrosen Eimer mit Seewasser an Bord zogen und sich wuschen. Es war ein klarer Tag, am strahlendblauen Himmel zeigte sich nicht eine Wolke, und die Sonne, die eine Handbreit über dem Horizont stand, schien bereits heiß. Calandryll wusch sich ebenfalls und fühlte den Wind, der immer noch die Segel blähte, kühl über seine Haut streichen. Er streifte sein Hemd über und stieg den Niedergang hin auf. Rahamman ek'Jemm stand am Steuerruder, als hätte er die ganze Nacht dort verbracht und würde auch die gesamte Reise über dort stehenbleiben, obwohl jetzt ein Breitschwert an seiner umfangreichen Hüfte hing. Seine grünen Augen wurden schmal, als Calandrylls Kopf über dem Deck auftauchte. »Mit Eurer Erlaubnis, Kapitän«, sagte Calandryll und sprang gleichzeitig an Deck, ließ dem Kander gar nicht
erst die Gelegenheit, ihn zurückzuweisen. Ek'Jemm zuck te die Achseln und winkte ihn zu sich. »Es ist immer noch da.« Er deutete mit dem Daumen nach Nordosten. Ca landryll blinzelte in die Helligkeit, konnte aber nichts erkennen. »Hier.« Ek'Jemm reichte ihm das Fernrohr. »Der Rumpf liegt noch hinter dem Horizont. Wir haben nur den Abstand gehalten, mehr nicht.« Calandryll nahm das Fernrohr entgegen und sah hin durch, zuckte zusammen, als er es auf die Sonne richtete, und suchte den Horizont ab, bis er das dunkle Rechteck des Segels entdeckt hatte. Er fand, daß der Kander zu pessimistisch war. Das Kriegsboot war doch bestimmt ein wenig zurückgefallen. »Wenn wir weiter den Abstand halten können, müß ten wir Mherut'yi vor ihnen erreichen«, meinte er. »Wenn der Wind weiter so anhält«, stimmte ihm ek'Jemm zu, »aber auch nur dann.« »Glaubt Ihr, er wird anhalten?« Er hatte nicht den Eindruck, als hätte sich etwas an der Windstärke geändert. Die Segel waren immer noch straff, und die Wimpel an den Mastspitzen flatterten waagrecht in Fahrtrichtung. »Kann sein.« Der Kander war nicht so zuversichtlich. »Aber ich rieche einen Wetterumschwung.« »Wenn wir Fahrt verlieren, muß doch auch das
Kriegsboot langsamer werden.« Ek'Jemm bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. »Wenn der Wind dreht oder abflaut, müssen wir kreuzen, um weiter Fahrt zu machen. Der Pirat hat Rude rer, er wird den geraden Kurs halten.« »Können Ruderer uns einholen?« fragte Calandryll ungläubig. »Ja«, erwiderte ek'Jemm nüchtern. »Wenn sie dicht genug herankommen, werden sie uns überholen.« Calandryll deutete auf die Armbrust. »Wenn sie Rude rer einsetzen müssen, könnt Ihr sie dann nicht damit aufhalten?« Der Kander hob die Schultern und ließ sie wieder fal len. »Wenn wir Glück haben, aber ein Kriegsboot ist schwer zu bremsen. Du solltest lieber hoffen, daß Burash deine Gabe angenommen hat.« »Ja«, stimmte Calandryll zu und verließ das Achter deck, um frühstücken zu gehen. Er kehrte mit zwei Tellern in die Kajüte zurück. Bracht war bereits wach und träufelte eine Dosis des Wunder mittels in einen Becher mit abgestandenem Wasser. »Es geht mir schon besser«, verkündete er. »Wir müs sen unbedingt mehr von diesem Zeug besorgen, bevor wir nach Gessyth segeln.« Er schien wieder mehr der alte zu sein. Die grünliche Blässe war aus seinem Gesicht verschwunden, seine Augen waren klarer. Calandryll sah, daß der Eimer leer
war, und als er die Teller abstellte, nahm Bracht den seinen ohne Widerrede. Er warf die Scheibe gepökeltes Schweinefleisch aus dem Fenster, aß aber das Brot und den Käse und behielt es tatsächlich im Magen. Nachdem er sein Frühstück beendet hatte, erklärte er, an Deck gehen zu wollen. Während er das Krummschwert um schnallte, entzündete Calandryll ein weiteres Räucher stäbchen und ging dann voran. Bracht zögerte kurz vor der Luke, atmete einmal tief durch und trat auf das Deck hinaus. Gleich darauf blieb er wieder stehen und sah sich wild nach irgendeinem Halt um, als er das Rollen der Seetän zerin unter seinen Füßen spürte. Calandryll ergriff ihn am Arm und führte ihn zur Reling, die Bracht fest umklam merte. »Bei Ahrd«, preßte er grimmig hervor, »das ist keine Art für einen Mann zu reisen.« Calandryll grinste. Es freute ihn, daß sein Kamerad die Fassung wiedergewonnen hatte. »Und jetzt«, sagte Bracht, »möchte ich das Kriegsboot sehen, das uns folgt.« Ek'Jemm reagierte gereizt auf ihr Erscheinen, reichte dem Kerner aber das Fernrohr und grinste maliziös, als Bracht unsicher zur Armbrust stolperte und sich daran abstützte, bevor er durch das Fernrohr spähte. »Das ist also ein Kriegsboot«, murmelte er. »Was ist das für eine Schnitzerei am Bug?« »Am Bug?« Calandryll riß ihm das Glas aus den Hän
den. »Du kannst den Bug sehen?« Er beugte sich ein wenig vor, um die Neigung des Decks auszugleichen, und erkannte, daß das schlanke Boot aufgeholt hatte. Es lag jetzt nicht mehr halb hinter dem Horizont, und die zu einem Drachenkopf geformte Bugspitze war deutlich zu sehen. »Gib mir das Glas.« Ek'Jemms barsche Stimme dröhnte ihm in den Ohren, und Calandryll reichte das Fernrohr an den Kander wei ter. Der Kapitän stand lange da, das lederverkleidete Rohr ans Auge gepreßt, dann grunzte er, drehte sich um und spähte zu den Segeln hinauf. »Möge Burash sie verrotten lassen«, murrte er. »Es ist so, wie ich es befürchtet habe.« »Der Wind flaut ab«, erklärte Calandryll, an Bracht gewandt. »Und das Kriegsboot hat Ruderer.« Bracht folgte dem Blick des Kapitäns, nickte und dreh te sich zu Calandryll um, der ebenfalls auf die Segel starrte. Es schien, als hätte der Wind in der kurzen Zeit, seit sie aus ihrer Kabine gekommen und auf das Achter deck gestiegen waren, bereits nachgelassen. Er wehte noch immer, aber schon verlor die Seetänzerin an Fahrt. Ek'Jemm bellte Befehle, worauf Matrosen die Wanten hinaufkletterten und an den Segeln herumhantierten. Der Kapitän stieß einen Fluch aus und befahl eine Kursände rung. Das Schiff schwenkte etwas nach Steuerbord, die Segel füllten sich wieder.
»Geht nach unten«, sagte Ek'Jemm. »Wir würden lieber hier bleiben«, entgegnete Bracht. Der Kander starrte sie wütend an. Bracht lächelte ver kniffen, seine linke Hand lag locker auf dem Schwert griff, mit der rechten hielt er sich an der Armbrust fest. Ek'Jemm lachte schnaubend. Calandryll trat zur Seite, unsicher, was als nächstes passieren würde, ob Bracht schon in der Lage war, auf dem schwankenden Deck zu kämpfen. »Ihr droht mir?« Ek'Jemm schien hin- und hergerissen zwischen Fas sungslosigkeit und Wut. »Wir werden uns nicht ausliefern lassen wie Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird«, erklärte Bracht. »Ich glaube, wenn du das Schwert ziehst«, sagte der Kapitän, »wirst du umkippen.« Wie um seine Behauptung zu untermauern, bellte er einen weiteren Befehl in seiner Muttersprache. Die See tänzerin schwenkte nach backbord, das Deck legte sich schief. Calandryll stemmte sich gegen die Neigung und blieb auf den Beinen. Bracht stieß einen Schrei aus, verlor den Halt an der Armbrust, fiel auf das Deck und schlit terte über die Planken, bis er gegen die Heckreling prall te. Ek'Jemm lachte leise. Bracht zog sich hoch. Er war wieder bleich geworden, und Calandryll erkannte, daß sich der Söldner längst nicht so gut von seiner Übelkeit erholt hatte, wie er vorgab. Es war allein seine Willens stärke, die ihn auf das Achterdeck gebracht hatte, und es
war nur seine Entschlossenheit, die ihn in die Lage ver setzte, die Reling mit der linken Hand und den Griff seines Krummschwertes mit der rechten zu umklam mern. Seine stechendblauen Augen loderten wütend in dem bleichen Gesicht, als er das Schwert zog. Ek'Jemm schien sich über ihn zu amüsieren. Seine di cken Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und er nickte, als würde er den Mut des Kerners anerkennen. Dann sah Calandryll, wie er mit der linken Hand ein Zeichen gab, und der Steuermann drehte das Ruder noch ein Stückchen weiter. Es war nur eine Kleinigkeit, aber der Neigungswinkel des Deck wurde noch steiler. Auch Calandryll stolperte und kämpfte mit rudernden Armen darum, das Gleichgewicht wiederzufinden. Bracht wurde heftig gegen die Reling geschleudert und verlor beinahe sein Schwert, als er über das Geländer in die Wellen zu stürzen drohte. Calandryll ließ sich über das Deck rut schen, krallte die Hand in Brachts Lederhemd und zog ihn zurück. Aus der Nähe betrachtet, hatte das gebräunte Gesicht des Kerners wieder einen grünlichen Farbton angenommen, auf seiner Stirn und Oberlippe glänzte ein dünner Schweißfilm. »Ich glaube«, sagte ek'Jemm mit seltsam sanfter Stim me, »du solltest dein Schwert lieber wieder wegstecken, bevor du noch über Bord gehst.« Bracht stieß einen Fluch aus und versuchte, sich über das schräge Deck zu dem Kander hochzukämpfen. Ek'Jemm schüttelte den Kopf, als würde er ein trotziges
Kind verweisen, und bellte einen Befehl. Die beiden Matrosen an der Armbrust huschten leichtfüßig über die Planken. Sie hielten breite gebogene Schwerter in den Händen. Bracht wandte sich ihnen zu, riß sich aus Calandrylls Griff los und rutschte auch schon wieder rückwärts. »Ohne Zweifel könnte ein Schwertkämpfer wie du meine beiden Männer an Land in Stücke hauen«, sagte ek'Jemm, dessen Stimme jetzt nicht mehr sanft klang, »aber du befindest dich an Deck meines Schiffes, und hier hast du nicht die geringste Chance. Und jetzt steck dieses burashverdammte Schwert weg!« Calandryll sah ein, daß es sinnlos war, zu protestieren oder zu kämpfen. Er nickte Bracht zu und streckte eine Hand aus, um ihn zu stützen. Widerwillig – und nicht ohne Schwierigkeiten – schob Bracht das Krummschwert in die Scheide zurück. Ek'Jemm sagte etwas zu seinem Steuermann, und die See tänzerin richtete sich auf, das Deck wurde wieder eben. Calandryll und Bracht standen Schulter an Schulter mit dem Rücken zur Heckreling, die Gesichter den beiden bewaffneten Matrosen zugewandt. Auf einen Ruf ek'Jemms kamen zwei weitere Seeleute mit Schwertern den Niedergang hinaufgeeilt. »Nach den Seegesetzen von Kandahar könnte ich euch dafür hängen«, stellte der Kapitän fest, »aber das werde ich nicht tun. Ich bewundere euren Mut, wenn auch nicht eure Dummheit. Und jetzt legt die Schwerter ab.«
Vier drohend erhobene Waffen verliehen seinem Be fehl Nachdruck. Calandryll und Bracht lösten die Schwertgurte und warfen sie auf das Deck. »Die Schwerter bleiben hier«, sagte ek'Jemm und fuhr auf Kandisch fort: »Bringt sie runter, Männer. Sperrt sie in ihre Kabine.« Calandryll übersetzte die Worte für Bracht. Die vier Matrosen stießen sie die Stufen hinunter und weiter in die Tiefen des Schiffes. Die Kajütentür wurde hinter ihnen zugeschlagen, und sie hörten, wie ein Riegel vor geschoben wurde. Bracht warf sich voller Wut auf seine Koje. Die Zornesröte überdeckte die Blässe seines Ge sichts. Calandryll beugte sich über ihn, um durch das Bullauge zu spähen. Der Kurs der Seetänzerin gestattete ihm einen Blick auf das Kriegsboot. Es war noch näher herangekommen, nicht mehr lediglich ein formloser Fleck am Horizont. Mittlerweile konnte man seine Umrisse mit dem bloßen Auge deutlich erkennen, und Calandryll fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis es sie eingeholt hatte. Er ließ sich auf seine eigene Koje fallen und musterte Bracht. Der Kerner hatte die Hände über seinem Magen gefal tet und den Blick starr auf die Deckenplanken gerichtet. Seine raubvogelartigen Züge wirkten wie gemeißelt. »Wir hätten nichts anderes machen können«, sagte Ca landryll. »Er hat mir das Schwert abgenommen.« Brachts Stimme klang tonlos, unversöhnlich.
»Wir hatten keine Wahl.« Calandryll zuckte die Ach seln. »Er hätte Befehl gegeben, uns zu töten, wenn wir uns widersetzt hätten.« »Niemand nimmt mir mein Schwert ab«, fauchte Bracht. »Niemand!« Wenigstens spürt er vor Wut seine Übelkeit nicht mehr, dachte Calandryll. »Er wird es dir bestimmt zu rückgeben«, sagte er. »Wenn wir dem Kriegsboot ent kommen.« »Bei abflauendem Wind?« Bracht schnaubte, drehte sich zur Seite und kehrte Ca landryll den Rücken zu. Der Jüngere wollte etwas erwi dern, überlegte es sich dann aber anders und streckte sich schweigend auf seiner Koje aus. Hilflos starrte er die Deckenplanken über sich an. Es schien nichts mehr zu geben, was sie tun konnten, nur noch warten. Warten und beten. Der Tag schleppte sich dahin. Immer wieder änderte die Seetänzerin den Kurs, schwenkte nach steuerbord und zurück nach backbord. Mit jeder Richtungsänderung verschwand das Kriegsboot für kurze Zeit außer Sicht und tauchte dann wieder auf. Es war immer noch ziem lich weit entfernt, schloß aber eindeutig auf. Gegen Mittag brachte ihnen ein schweigsamer Me hemmed frisches Wasser und etwas zu essen. Bracht nahm eine weitere Dosis des Spezialmittels. Calandryll wünschte sich, ein Buch zu haben, mußte sich aber mit
einer sorgfältigen Betrachtung der Karte zufriedengeben. »Du verschwendest nur deine Zeit«, meinte Bracht ir gendwann gereizt. »Vielleicht«, gab Calandryll zurück, seinerseits über das mürrische Verhalten seines Kameraden verärgert. »Vielleicht aber auch nicht.« Bracht stützte sich auf einem Ellbogen auf, um durch die Fensterluke zu spähen. »Es kommt näher«, sagte er. »Nicht mehr lange, dann hat es uns überholt, und dieser fette Feigling liefert uns aus.« Calandryll legte die Karte beiseite und kniete sich auf Brachts Koje, um das Kriegsboot zu betrachten. Es war tatsächlich näher gekommen und sah genau wie das Schiff aus seinem Traum aus. Er konnte das schwarze rechteckige Segel und den schlanken Rumpf mit der hochgeschwungenen Bugspitze, aus der eine Figur her ausgeschnitzt worden war, deutlich vor dem klaren blauen Himmel erkennen. »Es ist ein Seedrache«, murmelte er. »Was?« Bracht runzelte die Stirn. »Der Bug. Sie haben ihm die Form eines Seedrachen gegeben.« Bracht grunzte. »Wenn uns ek'Jemm an sie ausliefert«, sagte Ca landryll leise, »werde ich die Tasche über Bord werfen. Die Münzen in ihr sind schwer genug, um sie untergehen zu lassen. So wird die Karte wenigstens nicht Azumandi
as in die Hände fallen.« »Statt dessen wird er uns erwischen«, bemerkte Bracht. »Und dann?« Calandryll kehrte zu seiner Koje zurück, während die Seetänzerin wendete, kämpfte gegen die Angst an, die er bei der nüchternen Feststellung des Kerners verspürte, und tat so, als sei er ganz ruhig. »Du hast die Landkarte studiert«, erklärte Bracht, »und zweifellos hat sie sich deinem klugen Kopf genau eingeprägt. Azumandias ist ein Hexer – ein sehr mächti ger Hexer, wie Varent gesagt hat. Glaubst du nicht, daß er Magie benutzen wird, um die Informationen aus dir herauszuholen?« Calandryll schluckte schwer; an diese Möglichkeit hat te er überhaupt nicht gedacht. Er leckte sich nervös über die Lippen. Es gab weise Männer, die behaupteten, ein Mensch würde alles im Gedächtnis behalten, was er jemals gesehen hatte, jede Erfahrung, die er in seinem Leben machte, würde in irgendeinem unerklärlichen geistigen Speicher verankert bleiben. Und er hatte sein Bestes gegeben, sich die Karte einzuprägen. Wenn die Weisen – und Bracht – recht hatten, dann würde Azu mandias diese Informationen aus ihm herausholen. Ge gen Magie konnte er sich nicht wehren. Er nickte, nahm all seinen Mut zusammen und sagte: »Dann muß ich zusammen mit der Karte untergehen.« Bracht starrte ihn an. »Das ist leichter gesagt als ge tan.«
»Azumandias darf die Karte nicht bekommen«, erklär te Calandryll mit wilder Entschlossenheit. »Er darf den Weg zum Arcanum nicht finden. Er würde uns wahr scheinlich sowieso töten. Entweder das, oder Schlimme res. Ich werde eher ertrinken als zulassen, daß er den Verrückten Gott wiedererweckt.« »Was für eine noble Geste«, murmelte Bracht, und ei nen Moment lang fragte sich Calandryll, ob sich der andere über ihn lustig machte, »aber vielleicht gibt es einen anderen Ausweg.« »Welchen? Wir sind hier gefangen und unbewaffnet. Welche andere Möglichkeit bleibt uns?« »Der Stein«, sagte Bracht, »und Varents Zauber spruch.« Calandryll runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wozu sollte die Unsichtbarkeit gut sein?« »Wenn ek'Jemm vorhat, uns Azumandias zu überge ben, wird er uns höchstwahrscheinlich an Deck bringen lassen. Der wahrscheinlichste Ort ist das … Achterdeck, richtig? Von dort aus wären wir gut zu sehen. Benutz den Stein und verschwinde! Diese Büchse ist groß genug, um einem Unsichtbaren ein Versteck zu bieten.« »Und was ist mit dir?« Bracht zuckte die Achseln und entblößte seine weißen Zähne zu einem kalten Grinsen. »Ich bin nur ein freier Söldner aus Kern, der zu deinem Schutz angeheuert worden ist. Ich kann nicht lesen. Ich habe die Karte nicht studiert. Was könnte ich Azumandias verraten, das er
nicht selbst schon weiß?« »Er wird dich umbringen«, sagte Calandryll. »Wahrscheinlich, aber es sieht so aus, als werde ich ohnehin sterben, egal was ich tue.« »Er würde es wissen«, protestierte Calandryll. »Er würde wissen, daß Magie im Spiel ist.« Bracht zuckte erneut die Achseln. »Aber vielleicht ge lingt es ihm nicht, dich aufzuspüren. Wer weiß? Viel leicht schickt er ek'Jemm mitsamt seinem Schiff auf den Meeresgrund, und du ertrinkst sowieso. Vielleicht ent schließt er sich aber auch, das Schiff weiterfahren zu lassen und hofft, dich in Kandahar erwischen zu können. Es scheint die einzige Chance zu sein, die uns bleibt.« »Die mir bleibt«, stellte Calandryll richtig. »Dann also die einzige Chance, Azumandias daran zu hindern, die Karte in die Hände zu bekommen. Der Ver such lohnt sich.« Widerstrebend nickte Calandryll. »Ja.« »Halte dich bereit«, sagte der Kerner, streckte sich wieder auf seiner Koje aus und schloß die Augen. Calandryll betastete den roten Stein auf seiner Brust. Er fühlte sich kalt an, und als er ihn hochhob, sah er wie ein einfaches glasiges Oval aus, wie eine überdimensio nale karmesinrote Träne, in deren Tiefen der schwache Schimmer eines Feuers glomm. Er schob den Stein wie der unter sein Hemd zurück, faltete die Karte zusammen, verstaute sie in der Tasche und dachte über Brachts Vor
schlag nach. Es war ein verzweifelter Plan, und dazu noch einer, der seiner Meinung nach wenig Aussicht auf Erfolg hatte, aber es war – wie der Kerner dargelegt hatte – die einzige Alternative zu seinem Selbstmord. Viel leicht würde es ihm gelingen, sich auf der Seetänzerin zu verstecken, und wenn Azumandias es auf die Karte ab gesehen hatte, würde er es kaum riskieren, sie zusammen mit dem Schiff zu versenken. Aber konnte er der Magie des Zauberers entgehen? Konnte der Zauberspruch, den Varent ihm beigebracht hatte, ihn auch vor magischen Sondierungen schützen? Das würde er erst erfahren, wenn die Zeit gekommen war. Er betrachtete Bracht, und sofort wurde ihm schwer ums Herz. Anscheinend war der Söldner bereit zu ster ben, um ihm die Möglichkeit zu geben, zu überleben und ihre Mission fortzusetzen, und der Gedanke, ohne den unkomplizierten Kerner weiterzuziehen, deprimierte ihn. Trotz aller Zweifel und des Mißtrauens, das Bracht Va rent gegenüber hegte, hatte er den Kerner liebgewonnen. Calandryll war felsenfest davon überzeugt, daß Bracht einer der Kameraden war, die Reba in ihrer Vision gese hen hatte. Er seufzte, als er sich an Rebas Warnung erin nerte, daß vom Wasser Gefahr ausging. Wenn er Burash ein ordnungsgemäßes Opfer dargebracht hätte, hätten sie dann diese verfahrene Situation vermeiden können? War es seine Nachlässigkeit, die sie an diesen Punkt gebracht hatte? Er seufzte erneut und streckte sich auf seiner Koje aus, die Tasche als Kopfkissen unter den Nacken gelegt. Erst als die Tür geöffnet wurde und Mehemmed mit
dem Abendessen hereinkam, wurde ihm bewußt, daß er geschlafen hatte. Es war dunkel in der Kajüte. Ein Blick durch das Bullauge zeigte ihm, daß die Nacht das Kriegsboot verschluckt hatte. »Es ist immer noch da«, sagte der junge Matrose, »jetzt schon näher. Ich glaube, daß sie um die Morgendämme rung auf Rufweite herangekommen sein dürften.« Seine Stimme klang bewußt emotionslos, als fürchtete er, vor dem Seemann, den Calandryll jetzt direkt hinter der Tür stehen sah, ein Anzeichen von Schwäche erken nen zu lassen. Aber in seinen Augen flackerte Mitgefühl auf, als er das Tablett abstellte. »Wird der Kapitän die Armbrüste einsetzen?« fragte Bracht. Mehemmed deutete mit einem Achselzucken an, daß eine solche Entscheidung allein in der Verantwortung des Kapitäns lag, und duckte sich unter der niedrigen Türschwelle hindurch. Die Tür wurde zugeworfen, der Riegel wieder vorgeschoben. Calandryll sah, daß unter anderem auch eine Flasche Wein auf dem Tablett stand. Er füllte ihre beiden Becher und reichte Bracht einen. Der Kerner bedankte sich mit einem Grunzen und verpaßte sich eine Dosis des Wundermittels, bevor er den Becher in einem Zug leerte. »Wenigstens versorgt er uns ordentlich«, sagte Ca landryll. Bracht nickte und begann zu essen. Danach konnten sie nichts weiter tun, als auf ihren Ko jen zu liegen und sich zu unterhalten, bis sie die Müdig
keit überkam. »Erzähl mir von Kern«, bat Calandryll. Bracht rümpfte die Nase und sagte: »Kern ist eure Be zeichnung für unser Land, ein Südländerwort. Wir nen nen es Cuan na'For, was Land der Pferde bedeutet.« »Der Wald ist der Cuan na'Dru, nicht wahr?« hakte Calandryll nach, als sein Gefährte schwieg. »Was heißt das?« »Das Herzland«, erwiderte Bracht. »Der Cuan na'Dru ist der große Wald, in dessen Zentrum Ahrd steht. Es ist ein heiliger Ort, der von den Gruagach gehütet wird, die in der Frühzeit der Welt erschaffen worden sind. Die Leute von Cuan na'For wagen sich nur selten dort hinein, denn die Gruagach sind äußerst aufmerksame Wächter, die sehr unfreundlich mit Eindringlingen umspringen.« Er lachte kurz auf und goß den Rest der Flasche in sei nen Becher. »Sie neigen dazu, die Menschen zu töten. Es sind selt same Geschöpfe – ihr Lebenszweck besteht nur darin, den Heiligen Baum zu bewachen –, aber sie sorgen für Ahrd. Und sonst?« Er seufzte liebevoll. »Oh, es ist ein schönes Land, ein freies Land, anders als deine Heimat. Bei uns gibt es keine Städte, wir leben in Zelten und folgen unseren Herden über die Weiden. Jetzt ist Fohlen zeit, das Gras ist saftig. Die Sonne scheint, der Wind weht, die Flüsse strömen klar dahin, und mein Clan folgt den Pferden nach Norden.« »Du hast gesagt, du wärst Asyther«, sagte Calandryll
in die Dunkelheit hinein. »Soweit ich weiß, gibt es bei euch fünf Stämme.« »Die Asyther, die Lykard, die Valan, die Helim und die Yelle«, zählte Bracht auf. »Die Asyther züchten die besten Pferde und besitzen die stärksten Krieger.« »Befindet ihr euch im Krieg mit den Lykard?« fragte Calandryll. »Nicht, als ich aus Cuan na'For weggegangen bin«, erwiderte Bracht. »Wieso?« »Als ich vorgeschlagen habe, Gessyth über den GeffPaß zu verlassen, hast du die Lykard als Feinde bezeich net.« Bracht lachte verhalten. »Als meine Feinde. Aber die Asyther sind auch nicht gerade gut auf mich zu spre chen.« »Warum nicht?« Es folgte ein langes Schweigen, dann sagte der Kerner: »Das ist eine persönliche Sache.« Calandryll runzelte die Stirn, versuchte aber nicht, ihn zu bedrängen. Es war offensichtlich, daß Bracht nicht darüber sprechen wollte. Statt dessen fragte er: »Warst du ein Krieger?« »Bei uns ist jeder ein Krieger«, sagte Bracht. »Manch mal bekämpfen sich die Clane untereinander, wir stehlen uns gegenseitig die Pferde – das ist in Cuan na'Dru üb lich –, und manchmal überqueren die Jesseryter die Kess Imbrun, um in den Krieg zu ziehen.«
»Es ist merkwürdig, daß die Bewohner von Kern … von Cuan na'For«, berichtigte sich Calandryll, »einen Baum verehren, obwohl ihr die besten Pferde züchtet, während die Jesseryter Horul anbeten.« »Den Pferdegott?« Bracht rümpfte erneut abfällig die Nase. »Die Jesseryter sind ein merkwürdiges Volk. Man sagt, sie würden ein Pferd verehren, weil sie es mit Pfer den treiben, aber ich denke, das könnte auch eine Lüge sein. Wir verehren Ahrd, weil wir schon immer Ahrd verehrt haben.« Er gähnte schläfrig. »Hast du jemals mit ihnen gekämpft?« wollte Ca landryll wissen. »Aye, hin und wieder«, sagte Bracht. »Wenn es sie ü berkommt, überqueren sie die Kess Imbrun, um unsere Pferde und Frauen zu stehlen. Dann tun wir uns zusam men und schlagen sie zurück. Oder verfüttern sie an die Krähen. Aber das sind kaum mehr als kleine Scharmüt zel. Wir haben keine große Schlacht mehr geschlagen, seit der Hohe Khan Tejoval damals, als mein Großvater noch ein junger Mann war, versucht hat, uns zu unter werfen. Er hatte eine Armee über die Schlucht geführt und geschworen, den Cuan na'Dru und Ahrd mit ihm niederzubrennen. Damals haben alle Clane Krieger ge schickt, und wir haben die Armee der Jesseryter vernich tet. Die Alten sagen, es war eine gewaltige Schlacht, und der Fluß in der Kess-Imbrun-Schlucht war rot vom Jesse ryterblut. Sie sagen, die Krähen waren hinterher so fett gewesen, daß sie nicht mehr fliegen konnten.«
Die Koje knarrte, als er sich umdrehte und wieder gähnte. Calandryll verstand nicht, wie Bracht nur müde sein konnte. Er selbst war viel zu nervös, um auch nur an Schlaf denken zu können. »Bist du jemals verliebt gewe sen?« fragte er. Bracht seufzte und fragte zurück: »Denkst du an deine Nadama?« Diesmal war es Calandryll, der verblüfft schwieg. Die Frage war ihm ganz spontan über die Lippen gekommen, und ihm war nicht ganz klar, warum er sie überhaupt gestellt hatte. Ihm wurde bewußt, daß er nicht mehr an Nadama gedacht hatte, seit … Wann hatte er das letzte Mal an sie gedacht? Vor ihrer Begegnung mit dem Byah? Als er auf dem Weg nach Aldarin von Alpträumen heimgesucht worden war? »Nein«, sagte er. »Ich habe einmal geglaubt, ich wäre verliebt«, gestand Bracht. »Einmal. Aber … es ist etwas dazwischenge kommen.« Seine Stimme wurde tonlos, und Calandryll spürte, daß er ein weiteres Tabu berührt hatte. »Ich glaube«, sagte er leise, »ich habe akzeptiert, daß Nadama für mich verloren ist. Vielleicht ist sie jetzt schon mit Tobias ver heiratet, auf jeden Fall aber wird sie verheiratet sein, wenn ich zurückkomme.« Falls ich zurückkomme. Es überraschte ihn, wie leicht er dies akzeptierte. Der schmerzhafte Stich, den ihm jeder Gedanke an sie ver
setzt hatte, war verschwunden. Es schien, als hätte die drohende Gefahr, die Möglichkeit, daß er bald sterben würde, die Wunde verheilen lassen. Er versuchte, ihr Bild vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören, aber es war verschwommen, als würden die verstrichene Zeit und die zurückgelegte Entfernung die Konturen unscharf werden lassen. Er verspürte ein Gefühl der Erleichte rung; irgend etwas tief in ihm hatte sich befreit, und er lachte leise. »Gut«, sagte Bracht. »Aye«, bestätigte er, »das ist es.« »Und Schlaf ist auch gut«, sagte der Kerner. Calandryll nickte in der Dunkelheit, hörte die Koje quietschen, als sich Bracht umdrehte. Durch das Bullauge drang beruhigend das stetige Klatschen der Wellen ge gen den Rumpf. Das Holz knarrte und ächzte leise. Er schloß die Augen. Er träumte, er würde an Deck der Seetänzerin stehen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, der Wind war fast völlig eingeschlafen, die Segel hingen wie nasse Laken von den Quermasten herab. Überall um das Schiff herum gleißte das Enge Meer, glatt wie die Oberfläche eines Mühlteichs, und die Mannschaft lief an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen. Rahamman ek'Jemm stand hinter dem Steuerrad, Bracht an seiner Seite. Die Hände des Söldners waren gefesselt, und er reagierte nicht, als Calandryll seinen Namen rief, hielt den Blick starr auf das schwarze Boot gerichtet, das beständig näher kam, von großen
schwarzen Rudern vorangetrieben, die lautlos das Was ser durchschnitten. Am Bug stand eine in einen schwar zen Mantel gehüllte Gestalt und streichelte den Drachen kopf. Das Boot legte längsseits an, und die Gestalt sprang an Deck der Seetänzerin. Calandryll konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Sie winkte ek'Jemm zu. Der Kapitän verbeugte sich und schob Bracht zum Niedergang. Die schwarzgekleidete Gestalt überragte den Kerner, der grob in ihre Richtung gestoßen wurde, dann streckte sie die Arme aus, packte ihn an der Hüfte und riß ihn in die Höhe. Calandryll versuchte loszurennen, als die monst röse Gestalt Bracht über ihren Kopf hob und sich zur Reling umdrehte, aber seine Beine schienen aus Gummi zu bestehen, die Deckplanken unter seinen Füßen nach zugeben. Er schrie auf, aber niemand hörte ihn, und er konnte nur zusehen, wie Bracht auf das Kriegsboot ge schleudert wurde, das jetzt kein Boot mehr war, sondern ein riesiger schwarzer Drache, der ein zähnestarrendes Maul aufriß, um den ihm angebotenen Körper zu ver schlingen. Calandryll schrie wieder, und diesmal wandte sich ihm die schwarze Gestalt zu, und er konnte rote Augen in einem aus rauchigen Schatten bestehenden Gesicht sehen. Er zerrte krampfhaft an seinem Schwert, aber die Klinge klebte so fest in ihrer Scheide, wie seine Füße auf dem Deck klebten, und als die erbarmungslose Gestalt sich ihm näherte, konnte er nur abwehrend die Hände heben. Er spürte Finger, die sich wie Stahlklam mern um seine Handgelenke schlossen, ihn hochhoben, wie sie Bracht hochgehoben hatten, Bracht…
… der schrie: »Du träumst, Calandryll! Es ist nur ein Traum!« und Calandrylls heftig um sich schlagenden Arme auf die Koje preßte. Calandryll öffnete die Augen und sah das Gesicht des Kerners, dessen Atem nach ek'Jemms Spezialmittel roch, dicht vor sich. »Dera!« flüsterte er und spürte Schweiß auf seiner Stirn. »Ich dachte schon…« Er schüttelte den Kopf. Der Traum verblaßte bereits, die Bilder lösten sich auf, wie sich der Nebel im Hafen von Aldarin aufgelöst hatte, begannen zu wirbeln und undeutlicher zu werden, selbst als er versuchte, sie fest zuhalten. Bracht ließ seine Arme los und deutete auf das Bullau ge. »Ich glaube, du solltest dich jetzt besser bereitma chen.« Calandryll trat an das Bullauge heran, blinzelte in die Helligkeit des neuen Tages und stöhnte. Das Kriegsboot befand sich achtern auf der Steuerbordseite. Das Segel war gerefft. Es wurde nur noch von den langen Rudern vorangetrieben, die wie gigantische Trommelstöcke in einem gnadenlosen Rhythmus auf die Wasseroberfläche schlugen. Deutlich konnte er den Kopf der Bugfigur sehen, die vorquellenden roten Augen, die geblähten Nüstern, die weißgestrichenen geschnitzten Zähne, die geringelte scharlachrote Zunge zwischen den schwarzen Lefzen. An der Schiffswand hingen phantasievoll bemal te Rundschilde mit den unterschiedlichsten Motiven. Am
Bug und zwischen den Ruderern standen Bogenschüt zen, die ihre Pfeile auf die Sehnen gelegt hatten. Plötzlich verspürte Calandryll vom Deck her ein Vib rieren, hörte ein dumpfes, surrendes Geräusch und sah einen Bolzen durch die Morgenluft schießen, der klat schend backbords des Kriegsbootes ins Wasser schlug. »Ek'Jemm setzt die Armbrust ein!« rief er. »Vielleicht will er doch kämpfen!« »Vielleicht habe ich ihn falsch eingeschätzt«, sagte Bracht. »Vielleicht kann er sie mit seinen Geschossen abschrecken – wenn es nur gewöhnliche Seeräuber sind.« Ein zweiter Bolzen ließ eine glitzernde Wasserfontäne aufsteigen. Er war auch nicht näher am Ziel gelandet, und das Kriegsboot scherte schnell nach steuerbord aus, glitt mit einer Wendigkeit hinter dem Heck der Seetänze rin vorbei, die das größere Schiff niemals würde errei chen können. Calandryll sah, wie die Bogenschützen ihre Bögen hoben. Die Pfeile waren kurze dunkle Blitze vor dem blauen Himmel. Er hörte einen Mann aufschreien, ein schriller Laut wie das Kreischen einer Möwe, und das dunkle Boot verschwand aus seinem Blickfeld. Er wirbelte herum, als die Tür hinter ihm geöffnet wurde und ein stämmiger Seemann mit einem Entermes ser in der Hand den Durchgang versperrte. Hinter dem Mann standen drei weitere Matrosen. Calandrylls Hoff nung schwand. »Ihr sollt heraufkommen.« Der Mann trat zurück, hielt das Entermesser aber wei
ter auf sie gerichtet. Sein Befehl bedurfte keiner Überset zung; Bracht blickte Calandryll an und lächelte. »Mögen Ahrd und deine Göttin mit dir sein.« »Und mit dir.« Calandryll wollte noch irgend etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Er hängte sich die Tasche über die Schulter und berührte kurz den unter seinem Hemd verborgenen Talisman, dann trat er auf den schmalen Gang hinaus. Bracht folgte ihm, von den schweren Waffen der Matro sen in Schach gehalten. So stiegen sie an Deck und von dort über den Niedergang hinauf zum Achterdeck. Rahamman ek'Jemm hatte sich mit verschränkten Armen und grimmigem Gesicht neben seinem Steuermann auf gebaut. Ein Kander mit nacktem Oberkörper stand un glücklich an der Armbrust, ein weiterer lag wimmernd auf dem Boden. Aus seinem rechten Bein ragten zwei Pfeile hervor. Das Kriegsboot hatte das Handelsschiff bereits halb umrundet, glitt in einem weiten Bogen um seinen Bug herum und war auch schon vorbei, bevor die dort montierte Armbrust hätte zielen und feuern können. »Ich habe es versucht«, sagte ek'Jemm, »und das ist das Ergebnis.« Er deutete auf den verwundeten Matrosen und die Pfeile, die überall im Deck, in den Masten und den Se geln steckten. Bracht grunzte und bemerkte: »Du gibst schnell auf, Kapitän.«
Der Kander betrachtete den Söldner aus kalten grünen Augen. »Wie ich deinem Gefährten bereits gesagt habe, ich werde mein Schiff nicht wegen lausiger hundert Var re verlieren. Wenn ihr es seid, worum es den Piraten geht, dann können sie euch jetzt sehen, und ich werde euch ihnen übergeben. Wenn nicht…« Er zuckte die Achseln. »Dann werden wir kämpfen.« Wie zur Bestätigung schoß ein zweiter Schwall Pfeile in den azurblauen Himmel. Sie schienen einen Moment lang am höchsten Punkt ihrer Flugbahn zu verharren, dann stürzten sie auf das Deck der Seetänzerin herab. »Nur eine Warnung«, murmelte ek'Jemm und betrach tete die dunklen Schäfte, die aus den Planken ragten. Das Kriegsboot kam auf ihre Backbordseite zurück, tanzte durch den gleichmäßigen Ruderschlag vorange trieben über die Wellen. Calandryll sah, daß das Heck in die Höhe ragte. Es hatte die Form eines Drachenschwan zes. Am Schwanzansatz war ein großes Steuerruder angebracht, das wie ein Paddel aussah. Zwei Männer deckten den Steuermann mit ihren Schilden ab. Die Bo genschützen standen auf einem kleinen Deck direkt hin ter dem Bug und auf einem erhöhten Steg, der sich wie ein Rückgrat über die gesamte Länge des Bootes erstreck te. Rechts und links davon saßen die Ruderer auf niedri gen Bänken. Anscheinend folgten sie den Befehlen einer schlanken Gestalt, die ein feinmaschiges silbernes Ket tenhemd trug, das prächtig in der Sonne schimmerte. Das Gesicht lag im Schatten eines Schnabelhelms verborgen.
»Ist das der Kapitän?« fragte Bracht, und als ek'Jemm bestätigend knurrte, fügte er hinzu: »Gib mir einen Bo gen, und ich lege ihn um.« Der Kander musterte ihn prüfend, als würde er den Vorschlag ernsthaft erwägen, dann schüttelte er den Kopf. »Ein verwundetes Tier ist gefährlicher als ein gesun des.« »Höchstens zwei Pfeile«, sagte Bracht zuversichtlich, »und er ist tot.« »Das Deck eines Schiffes ist kein fester Boden«, erwi derte ek'Jemm. »Der Rücken eines Pferdes auch nicht«, sagte Bracht. »Ich würde es schaffen.« Ek'Jemm lächelte flüchtig und schüttelte erneut den Kopf. »Nein«, sagte er mit Nachdruck. »Ich möchte sie nicht reizen. Wenn ihr alles seid, was sie wollen, komme ich billig davon.« Verachtung flammte in Brachts Augen auf. Der Kan der ignorierte ihn, wandte sich wieder nach steuerbord und beobachtete das Kriegsboot. Das dunkle Boot vollführte eine eindrucksvolle Kehre nach backbord und glitt dicht unter das Heck des Han delsschiffes. Calandryll starrte die Gestalt in der Rüstung an, die die Bogenschützen befehligte. Er fragte sich, ob es Azumandias war, den er dort sah, und dann fragte er sich, warum ein Magier, der statt mit Pfeilen doch be stimmt viel leichter mit Magie zum Ziel kommen würde,
einen derart normalen Angriff durchführen sollte. Irgend etwas stimmte nicht an der Haltung der Gestalt, der Art, wie ihre Halsberge Falten warf, und er keuchte auf, als ihm die Erkenntnis dämmerte. »Das ist eine Frau!« rief er. »Der Kapitän ist eine Frau!« »Kein kandisches Kriegsboot wird von einer Frau kommandiert«, knurrte ek'Jemm. »Und kein Piratenschiff sticht von Lysse aus in See«, schnauzte Calandryll. »aber dieses hat es getan, und das ist eine Frau.« Fast gleichzeitig mit seinen Worten hob die Gestalt die Hände, nahm den Helm ab, und Calandrylls Behauptung erwies sich als richtig. Dichtes flachsblondes Haar fiel locker herab, umrahmte ein ausdrucksstarkes Gesicht, aus dem zwei Augen, die so grau wie sturmgepeitschte Wellen waren, die Seetänzerin musterten. Ihre vollen Lippen öffneten sich, als sie einen Befehl gab, und das Kriegsboot wurde langsamer. »Da soll mich doch Burash holen!« stieß ek'Jemm her vor. »Du hast recht!« »Und sie ist wunderschön«, sagte Bracht leise. »Ahrd, was für eine Schönheit!« Die Frau schien weder ihre gebannten Blicke noch die Armbrust zu bemerken und die Gefahr, in der sie schwebte, geringschätzig zu ignorieren, obwohl ek'Jemm sie breitseits hätte rammen oder von Bogenschützen abschießen lassen können. Ein weiterer Befehl von ihr
brachte das Boot fast zum Stillstand. Es trieb dicht vor dem Heck des Handelsschiffes, wo es nicht mehr von der Armbrust erreicht werden konnte. Die Frau warf den Helm auf das Deck und legte die Hände trichterförmig um den Mund. »Ihr habt zwei Passagiere an Bord, Kapitän! Ich möch te sie haben!« Ihre Stimme war melodisch und überbrückte klar und mühelos den Abstand zwischen den Schiffen. »Laßt Ihr mein Schiff dann in Ruhe?« rief ek'Jemm. »Ich habe keinen Streit mit Euch!« rief die Frau zu rück. »Ich möchte nur Eure Passagiere. Übergebt sie mir, und Ihr könnt unbehelligt weiterfahren.« »Ich habe einen Verwundeten«, erwiderte der Kander. Einen Moment lang legte sich ein Schatten über das Gesicht der Frau, dann rief sie: »Das tut mir leid, aber Ihr habt zuerst geschossen.« Calandryll war unfähig, den Blick von ihr abzuwen den, und es wäre ihm auch nicht anders ergangen, wenn sie keine solche Bedrohung für ihn dargestellt hätte; ihre Schönheit erregte einfach Aufmerksamkeit. Er zuckte zusammen, als Bracht seinen Arm umklammerte. »Mach dich bereit«, ermahnte ihn der Kerner. Calandryll nickte. Seine Hand griff automatisch nach dem Stein auf seiner Brust. Er öffnete den Mund, um den Zauberspruch aufzusagen, doch dann weiteten sich seine Augen, als er die glatte Oberfläche des Steines unter
seinen Finger brennen spürte. Er blickte an seiner Brust herab und sah, daß das matte Rot aufgeflammt war, als hielte er ein Feuer in der Hand. Auf einmal begann die Luft um ihn herum zu schim mern und war von einem durchdringenden Mandelge ruch erfüllt, intensiver als er ihn jemals gerochen hatte, so stark, daß er ihm beinahe den Atem nahm. Die Luft schien zu strahlen, als wäre die Sonne vom Himmel gestürzt und würde jetzt zwischen den beiden Schiffen schweben. Calandryll hörte Bracht etwas rufen und ek'Jemm aufschreien. Dann schrie er ebenfalls, als er die See kochen sah und eine riesige Welle sich zwischen dem Kriegsboot und dem Handelsschiff auftürmte, als würde ein riesiges unsichtbares Ungeheuer voller Wut aus der Tiefe emporschießen. Das Wasser brodelte und bildete eine wirbelnde glitzernde Säule, die in die Höhe wuchs und Himmel und Meer zu vereinen schien. Ein Wasser vorhang legte sich über das Achterdeck und ließ einen Regenbogen über dem Heck der Seetänzerin entstehen. Calandryll spürte, wie ihm von einer Windbö, die ihn aus dem Nichts heraus ansprang, das Haar aus dem Gesicht gepeitscht wurde. Undeutlich sah er durch die sprühende Gischt, wie die Flutwelle das Kriegsboot er griff und wie einen Korken herumwarf, es um die eigene Achse wirbeln ließ, sah die Bogenschützen wie Kegel nach einem Volltreffer umkippen und gegen die Bord wand fallen. Er sah, wie die Frau auf die Bugspitze ge schleudert wurde, die Arme um den Drachenhals schlang und sich an der Holzfigur festklammerte, als ihre
langen Beine über die Bordwand rutschten. Einen Mo ment lang war er überzeugt, daß sie den Halt verlieren und in den Mahlstrom stürzen würde, dann aber wurde sie durch die Drehbewegung des Bootes auf das Deck zurückgeschleudert und rollte unbeholfen über die Plan ken, bis sie gegen die entsetzten Ruderer prallte. Das Kriegsboot wurden von der Woge hochgerissen, die Ruder gerieten durcheinander, das gereffte Segel riß sich los und flatterte wie ein zerfetzter Lumpen im Griff der entfesselten Naturgewalten. Dann ließ ein ohrenbe täubendes Dröhnen die Luft erzittern, und die riesige Woge war verschwunden. Das Kriegsboot fiel in die See zurück und nahm Was ser auf, als es auf die Wellen klatschte. Der Wind wurde stärker, und Calandryll wurde Zeuge eines unmöglichen Naturphänomens. Die Segel der Seetänzerin blähten sich, knallten im Rhythmus der Windstöße, und das Handels schiff nahm Fahrt auf und schoß davon, während das Kriegsboot von einer mindestens ebenso heftigen Wind bö in die entgegengesetzte Richtung geschleudert wurde. Wellen brachen über den tief ins Wasser gedrückten Bug. Das schwarze Segel, das mittlerweile völlig zerfetzt war, flatterte waagerecht in der Luft, die Ruderer waren machtlos. Calandryll hörte ek'Jemm wieder etwas rufen und sah, wie der beleibte Kander zum Steuerrad stolper te und seine gesamte Körpermasse einsetzte, um dem Steuermann dabei zu helfen, den Bug der Seetänzerin im wilden Sturm auf geradem Kurs zu halten.
Innerhalb weniger Augenblicke war das Kriegsboot nur noch ein zusammenschrumpfender Fleck, dann ein undeutlicher Punkt am Horizont und schließlich gänzlich verschwunden. Calandryll wurde sich bewußt, daß er noch immer den roten Stein umklammert hielt, ließ ihn los, und der Sturm ebbte ab. Er blickte sich um. Bracht krallte sich völlig durchnäßt an die Armbrust. Auf der anderen Seite der Waffe tat ein Matrose mit weit aufgerissenen Augen das gleiche. Die vier bewaffneten Matrosen lagen lang ausgestreckt mit fassungslosen Gesichtern am Fuß der Heckreling auf den Planken. Ek'Jemm und der Steuermann umklammerten das Steuerrad, als fürchteten sie, sie könnten losgerissen und über Bord gefegt werden. Der verwundete Seemann lag zu ihren Füßen, murmelte ein an Burash gerichtetes Gebet, und überall an Deck hielten sich Männer, die der plötzlich hereinbrechenden Ruhe immer noch nicht trau ten, an den Masten und der Reling fest. Nur Calandryll hatte keinen Halt gesucht. Er stand breitbeinig auf dem Achterdeck, wie betäubt von der Magie, die sie gerettet hatte. »Burash beschütze uns«, sagte ek'Jemm langsam mit ehrfürchtig gesenkter Stimme, während er Calandryll anstarrte. »Wer oder was seid Ihr?« Calandryll schüttelte den Kopf. Weder die Flutwelle noch der Sturm waren durch sein bewußtes Zutun ent standen; er wußte ebensowenig wie der Kapitän, was eigentlich geschehen war. Er wollte gerade etwas sagen,
aber Bracht kam ihm zuvor. »Es wäre besser gewesen, du hättest auf ihn gehört, Kapitän«, sagte der Söldner schnell und warf Calandryll einen warnenden Blick zu. »Aber könnten wir vielleicht jetzt, nachdem du gesehen hast, wozu er in der Lage ist, unsere Waffen wiederhaben?« Ek'Jemm nickte stumm und gab den glotzenden Mat rosen ein Zeichen. »Ihre Schwerter. Und zwar schnell!« Die Waffen wurden eilig herbeigeschafft. Calandryll und Bracht schnallten sie sich wieder um, während die Matrosen sie mit einem ganz neuen Respekt beäugten, der an offene Angst grenzte. Calandryll starrte Bracht mit vor Verblüffung geweiteten Augen an, und der Kerner blinzelte ihm zu. Der Wind wehte immer noch, zwar nicht mehr stürmisch, aber kräftig genug. »Seid Ihr ein Magier?« fragte ek'Jemm verwundert. Calandryll bemerkte Brachts Blick und zuckte die Achseln. »Möchtest du, daß er dir eine weitere Demonstration gibt?« erkundigte sich der Söldner. Der Kander schüttelte den Kopf und schluckte. »Die eine hat mir gereicht. Warum habt Ihr mir nichts davon gesagt?« »Ich ziehe es vor, inkognito zu reisen«, improvisierte Calandryll. Das war nicht einmal ganz gelogen. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich nicht … Ver
zeiht mir … Lord Varent hat nichts davon erwähnt … Ich konnte ja nicht wissen…« Calandryll stellte fest, daß er das Unbehagen des Mannes genoß. Es war eine kleine Entschädigung für seine Gefangenschaft. »Ich möchte nicht, daß dieser Vorfall überall herumer zählt wird«, sagte er. »Ich vertraue darauf, daß Ihr den Mund haltet. Und sorgt dafür, daß auch Eure Männer den Mund halten.« Die Aussicht darauf war verschwindend gering. Daß eine Mannschaft, die gerade Zeuge eines derart wunder baren Ereignisses geworden war, darüber schweigen würde, war … genauso unwahrscheinlich wie die Flut welle und der Sturm selbst, entschied Calandryll. Trotz dem nickte ek'Jemm voller Eifer. »Wie Ihr befehlt.« »Wir sind nur zwei Passagiere, die in Privatangele genheiten nach Kandahar reisen«, fuhr Calandryll fort. »Das ist alles. Habt Ihr verstanden?« »Aye. Allerdings, aye!« Ek'Jemms Kopf hüpfte so un gestüm auf und nieder, daß es ihm das Genick zu bre chen drohte. »Nur zwei Passagiere. Sonst nichts.« »Gut. Und jetzt werden wir Euch allein lassen.« Er grinste Bracht zu und stieg vor ihm auf das untere Deck hinab. Die Matrosen gingen ihnen immer noch aus dem Weg, aber diesmal aus Respekt, als befürchteten sie die Entfesselung weiterer magischer Ereignisse.
Sie fanden einen Platz mittschiffs, wo sie sich unge stört unterhalten konnten. Calandryll war überrascht, Wut und Mißtrauen in den Augen des Kerners zu entde cken. Seine Belustigung über ek'Jemms plötzliche Unter würfigkeit verflog und machte Verwirrung Platz. »Wie hast du das gemacht?« fragte Bracht scharf. »Bist du ein Magier? Hast du deine Fähigkeiten bis jetzt vor mir geheimgehalten?« »Dera, nein!« erwiderte Calandryll. »Ich weiß ebenso wenig wie du, wie das passiert ist. Ich habe den Stein berührt, und dann hat die See gekocht – mehr weiß ich auch nicht.« Bracht starrte ihn eine Weile an. »Gibst du mir dein Wort darauf?« fragte er schließlich. »Mein Ehrenwort«, versicherte Calandryll. »Ich bin kein Zauberer, wenn du das befürchtest.« »Aber wie ist es dann passiert?« Bracht runzelte die Stirn. Sein natürliches Mißtrauen gegenüber Zauberei stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Calandryll hob hilflos die Schultern. »Ich wollte gera de die Beschwörungsformel aufsagen – wie du selbst vorgeschlagen hast! –, und dann hat die See gekocht, das ist alles, was ich weiß. Dera, Bracht! Wäre ich ein Zaube rer, hätte ich Magie eingesetzt, um ek'Jemm zu überre den, uns nicht auszuliefern. Oder ich hätte das Kriegs boot versenkt, bevor es uns erreicht hatte. Ich hätte meine eigene Magie benutzt, um aus Secca zu fliehen! Ich be
greife diese ganze Sache genausowenig wie du.« »Aber du hast den Stein berührt«, beharrte Bracht. »Um mich zu verstecken«, erwiderte Calandryll. »Nur deshalb.« »Was hat dann die Magie ausgelöst?« Die Wut des Söldners hatte sich etwas gelegt, aber noch immer klang Mißtrauen in seiner Stimme mit. Seine blauen Augen starrten Calandryll kalt an. Calandryll dachte eine Weile nach, dann sagte er zö gernd: »Lord Varent hat davon gesprochen, daß ich die Fähigkeit hätte, Magie anzuwenden – erinnerst du dich noch? –, als er mir den Stein gegeben hat. Vielleicht wird etwas von dieser Kraft in Augenblicken der Gefahr frei gesetzt. Aber wie, das kann ich nicht sagen. Ich wollte nur unsichtbar werden, wie wir es abgesprochen hatten.« »Varent hat dir gezeigt, wie man unsichtbar wird«, stellte Bracht fest. »War das alles?« »Der einzige Zauberspruch, den ich kenne, ist der, den er uns beigebracht hat«, sagte Calandryll ernst. »Das schwöre ich dir. Vielleicht hat die Magie des Steins ir gendwie auf Azumandias' Magie reagiert. Ich schwöre, ich weiß nicht, wie das alles passiert ist.« »War Azumandias an Bord dieses Kriegsbootes?« Brachts Augen wurden schmal. »Und wer war diese Frau?« »Lord Varent hat gesagt, Azumandias wäre ein Mann. Ich habe keine Ahnung, wer die Frau war.«
Calandryll breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. Bracht starrte ihn nachdenklich an. »Wenn Varent uns benutzt, dann benutzt Azumandias vielleicht die Frau.« »Möglich«, stimmte Calandryll zu. »Aber selbst wenn, sie ist jetzt weit hinter uns. Oder untergegangen.« Bracht nickte. »Aber aus welchem Grund sollte er die Frau benutzen?« fragte er dann. »Varents Erklärung, warum er sich unserer Hilfe bedient, bestand darin, daß er befürchtet, entdeckt zu werden. Daß Azumandias ihm auf die Schliche kommen könnte. Azumandias selbst hat keine solchen Vorsichtsmaßnahmen nötig.« »Dera!« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich habe auch keine bessere Erklärung, warum er so etwas tun sollte. Aber es muß so sein. Die Frau war keine gewöhn liche Piratin. Sie hat gewußt, daß wir an Bord waren. Wer hätte sie sonst geschickt haben können? Sie muß eine Agentin von Azumandias gewesen sein.« »Wahrscheinlich war sie das«, stimmte ihm Bracht zu. »Und ist uns von Aldarin aus gefolgt. Aber ich verstehe trotzdem immer noch nicht, warum uns Azumandias nicht selbst folgt.« »Ich auch nicht«, gestand Calandryll. »Vielleicht hält ihn Lord Varent irgendwie in Lysse fest.« Brachts Finger trommelten kurz auf dem Griff seines Krummschwertes. »Möglich«, räumte er ein. »Wenigstens sind wir ihr entkommen«, sagte Ca landryll.
»Mit Hilfe von Zauberei.« Das Gesicht des Kerners verdüsterte sich wieder. »Ich habe nichts übrig für Ma gie.« »Du warst es, der mir vorgeschlagen hat, Magie an zuwenden«, prostestierte Calandryll. Bracht zuckte die Achseln und grinste, als er seine In konsequenz einsah. »Als letzte Möglichkeit«, sagte er. »Um dich vor einem nassen Tod zu bewahren.« »Aus welchem Grund auch immer, die Magie hat uns alle gerettet.« »Aye, das hat sie«, gab der Kerner zu, und sein Grin sen wuchs sich zu einem breiten Lächeln aus. »Und ek'Jemm begegnet uns jetzt mit mehr Respekt. Aber ich frage mich trotzdem immer noch, wer diese Frau war.« »Wahrscheinlich werden wir das nie herausfinden«, meinte Calandryll. Er sollte sich täuschen, aber zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, daß ihrer beider Schicksal untrennbar mit der geheimnisvollen Frau verbunden war.
KAPITEL 9 Das Zwielicht lag wie ein weicher Vorhang aus blauem Samt über der Küste von Kandahar, als die Seetänzerin den Hafen von Mherut'yi anlief. Die Sonne war bereits hinter die Barriere des Zentralgebirges gesunken, der Gebirgskamm leuchtete in feurigem Orangerot, und im Osten hatte die hereinbrechende Nacht den Himmel verfinstert. Die Stadt erstreckte sich tief geduckt entlang der flachen Küste. Sie war dunkel, nur hier und da strahl ten vereinzelt helle Lichtpunkte, wo Lampen hinter Fens tern brannten. Calandryll, der an die von hohen Mauern umgebenen Städte Lysses gewöhnt war, war überrascht. Abgesehen von einem kleinen Fort, das von den flackernden Signal feuern entlang der Mole beleuchtet wurde, die die An kerplätze schützte, waren keine Befestigungsanlagen zu sehen, keine Schutzwälle, Wachtürme oder irgendwelche anderen Verteidigungsvorrichtungen. Er hatte gewußt, daß Mherut'yi keine Großstadt war, aber die Siedlung, die sich seinen Augen bot, als sie langsam an der Mole entlangtrieben, war im Vergleich zu Secca oder Aldarin winzig, kaum mehr als ein Außenposten am Rande der Shann-Wüste. Er hörte Rahamman ek'Jemm eine Reihe von Befehlen rufen und Anker an Bug und Heck ins
Wasser klatschen. Das Handelsschiff kam gemächlich zum Stillstand und schaukelte sanft an seinen Ankerket ten. Der günstige Wind, der sie seit ihrer Begegnung mit dem Kriegsboot gleichmäßig über das Enge Meer getrie ben hatte, kämpfte kurz gegen die Brise an, die von der Wüste her wehte, und gab dann auf. Die Wipfel an den Mastspitzen hingen schlaff herab, das Schiff knarrte leise. Mit dem Erlöschen des Windes wurde die Luft sofort heiß und trocken. Man konnte den Sand riechen, der sich weit nach Norden erstreckte. Calandryll zahlte den Kapi tän aus und stieg hinter ihm, gefolgt von Bracht, eine Strickleiter zu einem Boot hinunter, das neben der See tänzerin angelegt hatte. »Braucht Ihr eine Unterkunft?« fragte der Kander, der sie zum Dock ruderte. »Ich kann Euch eine gute Gaststät te empfehlen. Im Seemannsheim gibt es saubere Betten, und man serviert dort anständige Mahlzeiten.« »Danke für den Tip.« Calandryll warf Bracht einen kurzen Blick zu, der in stummer Ablehnung die Stirn runzelte und gebannt Richtung Land sah, als würde ihn die Aussicht, endlich wieder festen Boden betreten zu können, in Entzücken versetzen. »Ich steige selbst dort ab, wenn ich mich in Mherut'yi aufhalte«, sagte ek'Jemm. Seit er Zeuge von Calandrylls angeblichen magischen Fähigkeiten geworden war, gab er sich zuvorkommend bis hin zur Unterwürfigkeit. »Ich kann Euch die besten verfügbaren Quartiere verspre
chen.« Calandryll nickte geistesabwesend. Er hatte nicht vor, die Gaststätte aufzusuchen. Bracht und er waren zu dem Entschluß gekommen, daß es am besten wäre, ihre Spu ren von Anfang an zu verwischen. Ek'Jemm ging nur deshalb allein an Land, weil er sein Schiff bei den Hafen behörden zuerst anmelden mußte. Sobald er diese For malität erledigt hatte, würde auch die Mannschaft von Bord der Seetänzerin gehen, und die Männer würden sofort über ihre Abenteuer reden. Es konnte nicht lange dauern, bis die Nachricht von den beiden geheimnisvol len Reisenden im Hafenviertel die Runde machte und sich dann weiter in der ganzen Stadt herumsprach. Ca landryll und Bracht hatten vor, eine verschwiegene Un terkunft zu finden, wo sie die Nacht verbringen konnten, sich dann am Morgen Pferde zu kaufen und unverzüg lich über die Straße des Tyrannen landeinwärts auf den Weg nach Nhurjabal zu machen. »Vielen Dank«, wiederholte er, »aber wir haben bereits … Pläne.« Ek'Jemm zuckte die Achseln. In seinem grobschlächti gen Gesicht spiegelten sich Neugier und der Wunsch wider, es seinen Passagieren recht zu machen. »Wie Ihr wünscht. Erledigt Ihr Eure Geschäfte hier in Mherut'yi oder woanders? Ich segle mit der Morgenebbe weiter nach Ghombalar. Wenn Ihr in dieselbe Richtung müßt…« »Unsere Angelegenheiten sind Privatsache, Kapitän«,
sagte Bracht, der am Bug des Bootes saß, ohne sich um zudrehen. »Und wir möchten, daß es auch so bleibt.« Das Gesicht des Kanders verhärtete sich kurz bei Brachts Rüge, doch dann kehrte das unterwürfige Lä cheln zurück. »Natürlich. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.« Bracht grunzte nur. »Die Verträge, über die wir in Lord Varents Auftrag verhandeln, erfordern ein behutsames Vorgehen, Kapi tän«, erklärte Calandryll. »Je weniger von unserer An kunft erfahren, desto besser.« »Ja, natürlich.« Ek'Jemm nickte eifrig. »Ich verstehe.« Calandryll unterdrückte ein Lächeln und beobachtete das Dock, das sich aus den Schatten schälte. Der Fährmann sprang auf den Kai, vertäute das Dingi, und seine Passagiere stiegen die in den Stein gehauenen Stufen hinauf auf den Pier. Bracht seufzte, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und drehte sich um, als ein Trupp Soldaten in Lederrüstungen aus dem nahe gelegenen Fort auf sie zumarschiert kam. »Wenn Ihr gestattet«, sagte ek'Jemm und schob sich an ihnen vorbei. »Man kennt mich hier.« Er trat vor den befehlshabenden Offizier. »Ich bin Ra hamman ek'Jemm, Eigentümer des Handelsschiffes See tänzerin«, verkündete er förmlich, »mit einer Ladung Aldanwein auf dem Weg nach Ghombalar. Diese Herren sind mit mir gereist. Sie wollen im Auftrag von Lord
Varent den Tarl aus Aldarin Gespräche über ein Han delsabkommen führen.« Der Offizier nahm die Papiere von ek'Jemm entgegen, sah sie flüchtig durch und richtete seinen Blick dann auf Calandryll und Bracht. Er war groß und dünn, das Ge sicht unter dem konischen Helm mit dem scharlachroten Gesichts- und Nackenschutz war dunkel. Er trug einen Brustpanzer und Beinschienen aus steifem roten Leder und ein gebogenes Schwert an der Hüfte. Seine Männer waren mit Piken bewaffnet, derer Spitzen Widerhaken aufwiesen. »Wer seid Ihr?« Calandryll rief sich das angemessene Verhalten einem Beamten der unteren Ränge gegenüber ins Gedächtnis zurück. Er neigte kurz den Kopf, breitete die Hände aus und gab sich geschäftsmännisch. »Ich bin Calandryll, Beauftragter von Lord Varent. Das ist mein Leibwächter.« Der Offizier musterte Bracht kurz und wandte sich dann wieder ek'Jemm zu. »Könnt Ihr Euch für sie verbürgen?« »Auf jeden Fall«, erwiderte der Kapitän. Der Offizier beäugte sie noch einmal mit gelangweilter Gleichgültigkeit, dann nickte er. »In Ordnung, Ihr könnt gehen.« »Vielen Dank.« Calandryll verbeugte sich und lächelte ek'Jemm zu. »Wir danken Euch, Kapitän. Sollten unsere
Verhandlungen erfolgreich verlaufen, werde ich Euch Lord Varent empfehlen.« »Ich danke Euch.« Der Kander strahlte und verneigte sich tief. »Und denkt daran, wenn Ihr Euch doch noch für das Seemannsheim entscheiden solltet, braucht Ihr nur meinen Namen zu erwähnen.« Calandryll nickte ihm ein letztes Mal zu und ging mit Bracht an den Soldaten vorbei stadteinwärts. Es verunsi cherte ihn ein wenig, daß der Boden unter seinen Füßen nicht mehr schlingerte und wackelte. Vor ihnen lag eine Reihe von Lagerhäusern, die aus mattglänzendem Stein gemauert waren. Anscheinend war ganz Mherut'yi aus den gleichen gelblichen Steinen erbaut worden, mit Ausnahme der Docks, der Mole und des Forts, die aus einem härter aussehenden grauen Fels bestanden. Die Gebäude waren niedrig und hatten flache Schindeldächer, die Fensterläden waren geschlossen, um den heftigen Wind abzuhalten. Rechtwinklig angelegte Schotterstraßen durchzogen die Stadt. Die Lichter, die Calandryll und Bracht von der Seetän zerin aus gesehen hatten, wurden jetzt von den Lager häusern verdeckt. Als sie die Gebäude hinter sich gelas sen hatten, kamen sie auf einem freien Platz heraus, in dessen Mitte ein paar verkümmerte graue Bäume wuch sen. Fünf dürre Hunde lagen unter den Bäumen und begrüßten die beiden Männer mit einem lustlosen Kläf fen. Die Laternen und die Musik, die aus den umliegen den Häusern drang, legten die Vermutung nahe, daß sie
die Tavernen von Mherut'yi gefunden hatten. Die weni gen Leute, die sie sahen und ihrer Kleidung nach zu urteilen Matrosen und Fischer waren, betrachteten die Reisenden uninteressiert, als wären Fremde hier nichts Ungewöhnliches. Es gab kein Anzeichen dafür, daß die Stadt eine Wachpatrouille unterhielt, und die Straßen waren unbeleuchtet. Calandryll und Bracht beschlossen, sich in einer Taverne nach einer Unterkunft zu erkundi gen. Die Schenke, für die sie sich entschieden, hieß Die Meerjungfrau. Der Boden war mit Sägemehl bestreut. Süßlicher Rauch, der aus vielen Pfeifen aufstieg, hing in dichten wallenden Schwaden unter der niedrigen Decke. Die berauschten Raucher lächelten träge vor sich hin. Mehrere geschmacklos gekleidete Frauen, die eine Men ge getriebenen Goldschmuck trugen, musterten die Neu ankömmlinge mit abschätzenden Blicken, als diese zu einem Holztresen gingen. Sie erinnerten Calandryll an das Flittchen, das Bracht mit ihrem wütenden Geschrei zum ersten Mal auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Anscheinend dachte auch der Kerner daran zurück, denn er grinste und murmelte: »Such dir deine Gesell schaft diesmal etwas vorsichtiger aus.« Calandrylls einzige Antwort bestand aus einem ver schämten Lächeln. »Was darf es sein, Freunde?« Der Wirt war noch beleibter als ek'Jemm, aber auch größer. Unter dem schütteren eingeölten Haar glänzte
Schweiß auf seiner Kopfhaut. Er wischte sich die dicken Finger an seinem hellgelben Hemd ab und entblößte strahlend eine Reihe vergilbter Zähne. Er benutzte das Envah genannte Kauderwelsch, die Verkehrssprache des Engen Meeres. »Bier«, antwortete Bracht im gleichen Dialekt. »Und eine Auskunft.« Der Mann nickte und zapfte zwei Krüge dunkles Bier. Calandryll bemerkte, daß die Krüge aus dem gleichen lederartigen Material wie die Rüstungen der Soldaten bestanden. Er nahm an, daß es sich dabei um die Haut der Sumpfdrachen handelte. »Das wird den Staub aus Euren Kehlen spülen.« Der Wirt strich den Schaum von den Krügen. »Der Gaheen hat zu wehen begonnen, und das macht einen Mann durstig.« Calandryll begriff, daß der Kander den heißen trocke nen Wind aus der Shann meinte. Sowohl Medith als auch Sarnium berichteten, daß der Norden Kandahars im Frühling vom Gaheen heimgesucht wurde. Er trank einen kleinen Schluck von seinem Bier. Es war warm. »Ihr seid keine Kander«, stellte der Wirt leutselig fest. »Woher kommt Ihr? Aus Lysse?« Calandryll nickte. »Cuan na'For«, sagte Bracht. »Kern?« Das Lächeln des Wirtes wurde noch breiter. »Kerner lassen sich hier nur selten sehen. Ihr seid Kauf leute?«
Bracht grunzte eine Bestätigung und fragte: »Wo fin den wir eine gute Unterkunft?« Der Mann zuckte die Achseln. »Kommt darauf an, was Ihr darunter versteht.« »Saubere Laken. Keine Wanzen.« »Ein Gutes hat der Gaheen, er tötet die Wanzen«, sagte der Wirt mit einem leisen Lachen. »Er bereitet uns zwar andere Probleme, aber wenigstens tötet er die Wanzen. Also, eine Unterkunft für die Nacht. Habt Ihr Geld?« Bracht nickte. Der andere schürzte die Lippen und sagte: »Bei Mutter Raimi gibt es weiche Betten, und sie ist ein wahrer Putzteufel. Außerdem eine gute Köchin. Sagt ihr, Hammadrar hätte Euch geschickt. Ihr findet ihr Haus drei Straßen weiter geradeaus und eine Straße links. Das Pfauenauge. Wollt Ihr noch etwas trinken?« Bracht schüttelte den Kopf. Calandryll sah, daß der Söldner seinen Krug bereits geleert hatte. Er trank sein eigenes Bier aus und stellte den Krug auf den Tresen. »Und vergeßt nicht, ihr zu sagen, Hammadrar hätte Euch geschickt!« rief ihnen der Wirt hinterher, als sie die Taverne verließen. Der Wind war stärker und sehr trocken geworden, als sie den Platz erneut überquerten. Er ließ ihre Haut pri ckeln und wirbelte den Staub in den engen Straßen zu Miniaturwindhosen auf. Calandryll spuckte Sand, der ihm immer wieder in den Mund geriet. Eine Passage aus Mediths Buch fiel ihm plötzlich wieder ein: »Vom Gaheen (dem Teufelswind) wird behauptet, er
würde die Leute verrückt machen, und es ist zweifellos ein äußerst unangenehmer Wind, der einen körperlich spürbaren Vorgeschmack der Shann-Wüste mit sich bringt. Zum Glück beschränkt er sich auf den Norden Kandahars.« Nun, sie würden schon bald landeinwärts reiten und den Gaheen hinter sich lassen. Bisher waren sie noch keinem Verrückten begegnet. Trotzdem atmete Ca landryll dankbar auf, als die dichter zusammenrücken den Gebäude den prickelnden Sturm abhielten. Sie ließen das Kneipenviertel hinter sich zurück und kamen an einer Reihe geschlossener Geschäfte vorbei. Die Straßen waren menschenleer und wirkten in der Dunkelheit gespenstisch. Dann tauchten vor ihnen Lich ter auf, die immer heller wurden, als sie in die von Hammadrar beschriebene Straße abbogen. An den Häu serwänden angebrachte Schilder, auf denen Betten, Essen und Badegelegenheiten angepriesen wurden, schepper ten und klapperten im Wind. Eins trug unter einer Staub schicht in verblassender Farbe die verschnörkelte Abbil dung eines Pfaus. Sie betraten das Haus. Die Fensterläden waren geschlossen. An den Wänden eines großen Raumes brannten Lampen in Glaszylindern. Der Boden war mit bunt gemusterten Teppichen ausge legt. An den Wänden standen leere Stühle und Tische, auf einer Seite befand sich ein kleiner Tresen. Als die Tür hinter ihnen ins Schloß fiel, klingelte ein Glöckchen.
Hinter dem Tresen wurde ein Vorhang aus Perlenschnü ren zur Seite gezogen, und es erschien eine kleine, sehr dunkelhäutige Frau in einem schreiend-zinnoberroten und dunkelblauen Gewand. Ihr graues Haar, das von einem feinmaschigen Goldnetz gehalten wurde, bildete einen starken Kontrast zu ihrem gebräunten Gesicht. »Willkommen im Pfauenauge«, begrüßte sie die Män ner. Ihre Stimme klang dünn und hoch wie die eines Vogels. »Ich bin Mutter Raimi.« Calandryll verbeugte sich höflich und sagte: »Ham madrar hat Euch uns empfohlen.« Mutter Raimi nickte und fragte: »Ihr sucht Zimmer?« »Wenn Ihr welche frei habt.« Ihre Antwort war ein trillerndes Lachen. »So viele, wie Ihr wollt«, sagte sie fröhlich. »Wenn der Gaheen weht, ist Mherut'yi wie ausgestorben. Ihr könnt frei wählen.« Calandryll übersetzte Bracht ihre Worte, und die Frau wechselte in den Küstendialekt über. »Ein Zimmer mit Essen kostet einen Var pro Person. Ein Bad fünfzig Decimi.« »Wir sind einverstanden«, sagte Calandryll. »Gut. Bitte folgt mir.« Die Frau verschwand durch den Vorhang, kam durch eine Seitentür wieder heraus und winkte ihnen zu, ihr in einen langen Flur zu folgen, der sich durch das gesamte Haus erstreckte. »Speisesaal. Badezimmer.« Sie deutete mit dem Kopf
auf die jeweiligen Türen, und das Nicken ließ ihre Hals kette klingeln. »Ich gebe Euch die rückwärtigen Zim mer«, sagte sie. »Es sind die ruhigsten Räume des Hau ses.« So verschlafen, wie sich die Stadt präsentierte, brauch te man sich über eine mögliche Ruhestörung wirklich keine Gedanken zu machen, aber Mutter Raimi führte sie zu zwei Zimmern, die durch den Flur getrennt einander gegenüberlagen, und teilte ihnen mit, daß sie die Bäder einlassen und ihnen ein Abendessen servieren würde, sobald sie gebadet hätten. Im Gegensatz zu Hammadrar zeigte sie keinerlei Interesse an der Herkunft ihrer Gäste oder dem Zweck ihres Aufenthalts in Mherut'yi. Sie öffnete ihnen nur die Türen und entzündete die Zimmer lampen mit einer anderen, die sie aus einer Halterung an der Wand des Flurs nahm. Calandryll bedankte sich mit einem Lächeln und begutachtete sein Zimmer. Nach der winzigen Kabine auf der Seetänzerin erschien es ihm geräumig. Ein kaum abgewetzter Teppich bedeck te den größten Teil des Bodens, die Fensterläden waren geschlossen, und die Zimmerlampe warf lange Schatten über das breite Bett. Neben ihm stand ein kleiner Tisch mit einem Wasserkrug, diesem gegenüber eine Kommo de, und an einer Wand ein Kleiderschrank. Die Luft roch ein wenig muffig. »Ist schon lange nicht mehr benutzt worden«, erklärte Mutter Raimi, »und wenn der Gaheen weht, hält man die Fensterläden am besten geschlossen.« Sie eilte geschäftig davon.
Calandryll warf sein Gepäck auf das Bett und setzte sich. Er fragte sich, ob wohl alle Städte Kandahars so trocken, staubig und öde wie Mherut'yi waren. Kurz darauf klopfte es an der Tür, und Mutter Raimis schrille Stimme verkündete, daß das Bad eingelassen wäre. Calandryll nahm das Schwert und die Umhängeta sche mit und traf Bracht auf dem Flur. Befriedigt regist rierte er, daß Bracht die gleichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte und das Krummschwert an der Hüfte trug. Sie folgten der Frau zum Badezimmer, in dem eine einzelne riesige Badewanne die Luft mit Dampf erfüllte. Nach dem kalten Salzwasser, mit dem sie sich auf der Seetänzerin hatten begnügen müssen, war ein heißes Bad der reine Luxus, und die leichte Verlegenheit, die Ca landryll bei dem Gedanken verspürte, die Badewanne mit Bracht teilen zu müssen, verging sofort wieder, als er in dem dampfenden Wasser versank. »Morgen machen wir uns auf die Suche nach einem Stall«, sagte Bracht. »Wie weit ist es bis Nhurjabal?« Calandryll strich sich das nasse Haar aus der Stirn und zuckte die Achseln. »Ein paar Wochen werden wir brau chen. Zumindest bis Kharasul.« Bracht nickte und grinste. »Wenigstens werden wir diesmal auf zivilisierte Art reisen. Es wird schön sein, wieder auf einem Pferd zu sitzen.« »Ein Schiff könnte Kharasul schneller erreichen«, be merkte Calandryll leise. »Du denkst an das Kriegsboot?«
Calandryll nickte. »Der Sturm hat es vom Kurs abgetrieben«, sagte Bracht. »Und selbst wenn es mit diesem Orkan doch zurechtgekommen wäre, woher sollte die Frau wissen, daß wir unterwegs nach Kharasul sind?« Seit er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war Brachts Zuversicht zurückgekehrt, und Calandryll emp fand ein leichtes Schuldgefühl wegen seiner ver schwommenen Vorahnungen. »Und woher hat sie dann gewußt, daß wir an Bord der Seetänzerin waren?« fragte er. »Durch Azumandias Spione«, meinte Bracht, der sich seine gute Laune nicht verderben lassen wollte. »Das Kriegsboot hat irgendwo an der Küste von Lysse gelauert und ist uns gefolgt, nachdem die Frau eine entsprechen de Nachricht erhalten hatte. Und jetzt ist sie wahrschein lich wieder nach Lysse zurückgetrieben worden.« »Du hast vermutlich recht«, stimmte Calandryll ihm zu. »Wenn nicht«, sagte Bracht, »werden wir uns mit ihr befassen, sobald die Zeit gekommen ist. Aber bis dahin sollten wir das Beste aus den Umständen machen. Nach ek'Jemms Fraß habe ich Hunger auf ein anständiges Essen.« Er kletterte aus der Wanne, trocknete sich gutgelaunt ab, und Calandryll folgte seinem Beispiel. Nachdem sie frische Hemden angezogen hatten, begaben sie sich in den Speisesaal, wo sie feststellten, das Hammadrars Lob
über Mutter Raimis Kochkünste berechtigt gewesen war. Sie brachte ihnen eine reichhaltige Fischsuppe und da nach dicke Scheiben Wildpastete mit kaltem Gemüse. Als Nachspeise gab es Käse und Früchte, und dazu tranken sie drei Flaschen eines würzigen Kandweines. Schließlich fühlten sie sich beide angenehm gesättigt und mehr als nur ein bißchen schläfrig. Ein Streifzug durch Mherut'yi erschien nicht gerade vielversprechend, und da sie so wieso unerkannt bleiben wollten, beschlossen sie, auf ihre Zimmer zu gehen und am nächsten Tag in aller Frühe aufzubrechen. Calandryll zog sich aus, lehnte sein Schwert an das Bett und verstaute seine Umhängetasche unter dem Kopfkissen. Er blies die Lampen aus und schlüpfte zu frieden unter die Decke. Die Laken waren sauber und staubfrei. Von Tag zu Tag machte er sich weniger Ge danken über solche Annehmlichkeiten oder den Luxus, an den er im Palast seines Vaters gewöhnt gewesen war – und in Anbetracht des Weges, der noch vor ihm lag, war das auch sehr vernünftig –, aber es war trotzdem ange nehm, wieder in einem Bett zu schlafen, das größer als die schmale Pritsche auf der Seetänzerin war, mit frischen Leinenlaken und einem weichen Kopfkissen. Er gähnte, lauschte dem leisen Heulen des Gaheen vor den ge schlossenen Fensterläden und war schon kurz darauf eingeschlafen. Er wußte nicht, was ihn aufgeweckt hatte. Zuerst glaubte
er, er wäre aus einem Alptraum aufgeschreckt, und dreh te sich seufzend wieder auf die Seite. Er öffnete die Au gen einen schmalen Spalt, vergewisserte sich, daß kein Lichtschimmer durch die geschlossenen Fensterläden fiel, der das Morgengrauen ankündigte, grunzte behag lich und wollte wieder in den Schlaf zurückgleiten. Doch dann riß ihn ein leises Geräusch ins Wachsein zurück. Er grunzte erneut, diesmal nicht so behaglich, und hob mühsam die schweren Lider. Es war dunkel im Zimmer, aber nachdem sich seine Augen langsam auf die Finsternis eingestellt hatten, konnte er undeutlich die Umrisse des Fensters, des Was serkruges auf dem Tisch, des Kleiderschranks und der Kommode erkennen. Der Gaheen fegte durch die ver schlafenen Straßen. Durch die geschlossenen Fensterlä den klang das Heulen wie ein gedämpftes Murmeln, und Calandryll kam zu dem Schluß, daß er davon erwacht war. Er vergrub den Kopf tiefer im Kissen, schob eine Hand darunter und berührte die Umhängetasche. Und dann hörte er eine Diele knarren… Kalte Finger schienen über sein Rückgrat zu streichen. Seine Nackenhärchen stellten sich auf, als er sich schließ lich eingestehen mußte, daß sich irgend jemand – oder irgend etwas – in seinem Zimmer befand. Der Gedanke an die wolfköpfigen Kreaturen, die Azumandias in die Karawanserei geschickt hatte, drängte sich ihm auf und ließ ihn erschaudern, und völlig unpassenderweise fiel ihm ein, daß er nackt war. Er zwang sich dazu, still zu liegen, widerstand dem Impuls, nach seinem Schwert zu
greifen, und sog die Luft durch die Nase ein. Sie war heiß, roch aber nicht nach Mandeln. Würde sie noch nach Mandeln riechen, nachdem sich die Erscheinung voll ständig manifestiert hatte? Calandryll biß die Zähne zusammen und tat so, als wäre er wieder eingeschlafen, während er die Augen einen winzigen Spalt weit öffnete und in die Dunkelheit spähte. Im Zimmer herrschte wieder Stille, es war nichts zu sehen, das nicht dort hineingehörte. Vielleicht hatte er tatsächlich alles nur geträumt. Da bewegte sich ein Schatten zwischen Kleiderschrank und Tür, löste sich aus dem Winkel, den die Kommode mit der Wand bildete. Der Schatten hatte die Gestalt eines Menschen, war noch schwärzer als seine Umge bung und glitt auf ihn zu. Calandryll konnte sich nicht länger beherrschen. Mit einem Schrei, teils aus Wut, mehr aber aus Angst, ließ er sich aus dem Bett kippen und ergriff sein Schwert. Seine Finger schlossen sich um den Griff, rissen es hoch, und der Schwung ließ die Scheide durch das Zimmer fliegen. Sie prallte gegen die Wand und fiel zu Boden. Der Schat ten befand sich auf der anderen Seite des Bettes. Stahl schimmerte kurz auf, als er über das Bett auf ihn zuhech tete, geschmeidig wie eine Raubkatze. Er rollte sich über die zerknautschten Laken, kam direkt vor Calandryll wieder auf die Füße und stieß mit einem langen schma len Dolch nach seinen Rippen. Calandryll ließ das Schwert herumfahren, hörte Stahl auf Stahl klirren und
sprang zurück, als die kürzere Klinge auf seinen Bauch zuzuckte. Er zog den Bauch ein, bückte sich, drehte sich zur Seite und spürte einen kurzen schmerzhaften Stich, den er sofort wieder vergaß, als die Klinge diesmal in Richtung seines Halses schoß. Er wich tänzelnd aus. Die Panik verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Er wehrte den Stoß ab, prallte heftig mit dem Rücken gegen die Fensterlä den, und der Fenstergriff bohrte sich hart zwischen seine Schulterblätter. Die Läden wurden einen Spalt weit aufgedrückt und ließen fahles silbriges Mondlicht in das Zimmer fallen. Calandryll erblickte eine schlanke, in ein pechschwarzes Hemd und eine weite Hose der gleichen Farbe gekleidete Gestalt, die eine Art Kapuze trug, die nur die Augen frei ließ, kalt, dunkel und erbarmungslos. Er wich zurück. Der Angreifer näherte sich ihm halb in der Hocke mit lautlosen, eiligen kurzen Schritten und vollführte mit dem Dolch hypnotische wischende Bewegungen vor seinem Gesicht. Calandryll hob abwehrend das Schwert und spürte, wie es von dem Dolch zur Seite gefegt wur de. Er konnte gerade noch den Kopf abwenden, um dem Stoß zu entgehen, der auf seine Augen gezielt war. Da er dem Attentäter jetzt die Körperseite zuwandte, konnte er dem Tritt nach seinem Knie nicht mehr aus weichen oder ihn wenigstens ablenken. Er schrie auf, als der Fuß den Knochen mit Wucht traf. Ein feuriger Schmerz explodierte in seinem Knie und lähmte sein Bein, so daß es unter ihm nachgab und er seitlich weg kippte. Er prallte gegen den Kleiderschrank, stürzte zu
Boden und versuchte mühsam, das Schwert zu heben, als erneut den Dolch aufblitzen sah. Doch dann flog die Tür auf, der Dolch verharrte mitten in der Bewegung, und Bracht stürmte in das Zimmer. Der Kerner war nackt, das lange Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Er hielt das Schwert ausgestreckt vor sich, sah Calandryll hilflos auf dem Boden liegen, die schwarz gekleidete Gestalt über ihn gebeugt, stieß einen brüllen den Kampfschrei aus und stürzte sich auf den Meuchel mörder. Der Dolch fuhr hoch, um den Angriff zu parie ren, aber der Schwung von Brachts Schlag trieb die Ges talt zurück und von Calandryll fort. Funken sprühten auf, als Krummschwert und Dolch aufeinanderprallten. Der Attentäter wich weiter zurück, um eine größere Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Bracht folgte ihm – oder vielleicht auch ihr, das wußte Calandryll nicht genau – durch das Zimmer. Ein zweites, drittes und viertes Mal lenkte der Dolch die Hiebe des Söldners ab. Calandryll kam unbeholfen auf die Beine. Ein feuriger Schmerz loderte in seinem Knie. Er spürte eine warme Flüssigkeit über seinen Bauch rinnen, achtete aber nicht darauf und lehnte sich gegen die Tür, das Schwert ab wehrend ausgestreckt. Er sah, wie Bracht nach dem Kopf des Attentäters schlug, die Gestalt sich duckte und ver suchte, den Bauch des Kerners aufzuschlitzen. Bracht wich leichtfüßig aus, schlug erneut zu, und wieder wur de sein Hieb abgeblockt. Der Schattenumriß rollte sich über das Bett zurück und schnellte auf Calandryll zu, während das Krummschwert hinter ihm die Laken zer
teilte. Chaipaku, hämmerte es in Calandrylls Kopf. Er hob das Schwert, wußte, daß er keine Chance gegen ein Mit glied der Bruderschaft hatte, und schrie unterdrückt auf, als der glühende Schmerz in seinem Knie wieder auf flammte und sein Bein einknickte. Auf einmal schien sich die Zeit zu verlangsamen, und er nahm das tödliche Schauspiel nur noch wie ein unbe teiligter Zuschauer wahr. Die Gewißheit, daß er gleich sterben würde, löschte seine Angst aus. Er stürzte zu Boden, als der Attentäter zustieß, und sah, wie sich der Dolch tief in die Holztäfelung der Wand bohrte, wie sich Bracht mit der gleichen Behendigkeit wie der Chaipaku über das Bett rollte, hinter dem Meuchelmörder auf die Füße kam und das Schwert mit aller Kraft niederfahren ließ, sah, wie der Mörder mit unmenschlicher Geschwin digkeit herumwirbelte, die linke Hand herabriß, um den Schlag zur Seite zu lenken, und mit den steifen Fingern der rechten Hand nach Brachts Gesicht stieß. Aber selbst der Chaipaku war nicht schnell genug, um den Kerner auszuschalten. Brachts Kopf ruckte zur Seite. Er entging dem mörde rischen Schlag um Haaresbreite, stieß sein Schwert in das Zwerchfell des Mörders und trieb es durch seinen Brust korb. Calandryll sah die Spitze des Krummschwertes aus dem Rücken des Attentäters hervordringen. Die Tür erzitterte in ihren Angeln, als der Körper gegen das Holz geschleudert wurde. Er hörte Bracht mit animalischer Wildheit grunzen, sah ihn das Handgelenk verdrehen, die Klinge gleichzeitig wieder herausreißen, und zuckte
zusammen, als heißes Blut auf seine nackte Brust spritzte. Ein ersticktes Stöhnen drang unter der Kapuze hervor, und die Gestalt machte einen Schritt vorwärts. Bracht schwang das Krummschwert waagrecht herum, und wieder spritzte eine Blutfontäne aus dem Bauch des Attentäters hervor. Der Kerner schlug noch einmal zu, die Gestalt stieß ein Grunzen aus, erschlaffte plötzlich, ihre Knie gaben nach, und die zu Klauen geformten Hände fielen herab. Schwer stürzte der Meuchelmörder zu Boden. Bracht bohrte ihm das Krummschwert tief in den Rücken, der Körper zuckte, die nackten Füße trom melten kurz auf den blutverschmierten Teppich. Dann lag die Gestalt still. Bracht zog das Schwert zurück und drehte sich zu Calandryll um. »Bist du verwundet?« »Ich … ja … ich weiß nicht…« Er schüttelte hilflos den Kopf. Die Zeit nahm wieder ihre normale Geschwindigkeit an. Erst jetzt nahm er das Trommeln von Fäusten gegen die Tür wahr und hörte Mutter Raimi mit ihrer flötenden Stimme Einlaß begeh ren. Bracht warf das Krummschwert achtlos auf den Boden und zog Calandryll hoch, der stöhnte, als er sein verletz tes Bein belastete. Der Kerner legte ihn auf das Bett. Ca landryll registrierte verschwommen, daß er immer noch sein Schwert umklammert hielt. Die Tür öffnete sich, und Mutter Raimi erschien. Sie trug ein weites grünes Nacht gewand, das im Licht der Lampe schillerte, die sie in der
Hand hielt. Der Lichtschein fiel auf den reglosen Körper auf dem Boden, die beiden nackten Männer und den blutbesudel ten Teppich. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. Hinter ihr tauchten zwei weitere Gesichter auf, ein männliches und ein weibliches. Die zweite Frau stimmte im Mutter Raimis Schrei ein, der Mann preßte einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. »Er wurde überfallen«, sagte Bracht und deutete auf Calandryll. »Surinim, hol den Liktor!« rief Mutter Raimi. »Schnell!« Bracht nahm ihr die Lampe aus der Hand, hielt sie dicht vor Calandryll und untersuchte dessen blutbe spritzten Körper. »Nur ein Kratzer, das ist alles«, stellte er fest. Er be rührte Calandrylls Knie. »Ein Tritt?« Calandryll nickte. Bracht sah über die Schulter und sagte: »Bringt Verbandszeug und kaltes Wasser. Gibt es einen Heiler in diesem götterverlassenen Nest?« Mutter Raimi nickte wie betäubt. »Dann laßt ihn kommen.« »Sie«, korrigierte die silberhaarige Frau automatisch mit starrem Blick. Calandryll wurde auf einmal klar, wie das ganze auf sie wirken mußte. Gerade noch hatte sie fest geschlafen, und jetzt fand sie sich urplötzlich in ei nem Zimmer mit einer Leiche auf dem Boden und zwei
nackten Männern wieder, von denen einer blutver schmiert war. Er setzte sich im Bett auf und begann zu lachen. Bracht schlug ihn ins Gesicht und rief: »Na los! Ver bandszeug, kaltes Wasser und dann die Heilerin! Macht schon!« Die alte Frau zuckte zusammen, als hätte Bracht die Ohrfeige ihr und nicht Calandryll verpaßt. Sie nickte der gaffenden Frau hinter sich zu und sagte mit tonloser Stimme: »Geh, Lyhanna.« Calandryll hörte auf zu lachen und begann zu zittern. Bracht schlang ihm ein Laken um den Bauch, und Ca landryll sah, wie sich das weiße Leinen langsam dunkel färbte. Der Kerner erhob sich, ohne auf seine Nacktheit zu achten, und ergriff sein Schwert. »Ich werde mich anziehen«, sagte er und verließ das Zimmer. Mutter Raimi starrte Calandryll aus riesigen Augen an. Ihr Mund bewegte sich lautlos. »Man hat mich überfallen«, sagte Calandryll und stell te fest, daß seine Zähne wie im Fieber aufeinanderschlu gen. »Ich habe geschlafen, und als ich aufgewacht bin, war er schon hier.« Er deutete auf die Leiche. »Er hat versucht, mich umzubringen.« Lyhanna kam mit Verbandszeug und einem Krug Wasser zurück. Sie deponierte alles neben der Tür auf dem Boden. Offensichtlich wollte sie das Zimmer nicht betreten. »Er hat versucht, mich umzubringen«, wiederholte Ca
landryll. »Und es wäre ihm auch gelungen, wenn Bracht ihn nicht aufgehalten hätte.« Mutter Raimi nickte, ohne die Augen von seinem Ge sicht zu nehmen. Es schien, als wage sie nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, als fürchtete sie, er könne aus dem Bett springen und sich auf sie stürzen. Bracht kehrte zurück und schob sie sanft zur Seite. Er trug seine schwarze Lederkleidung, das Krummschwert an der Hüfte und das schwarze Haar auf die übliche Weise zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trat an das Bett, tauchte einen Stoffstreifen in das Wasser und drück te ihn auf Calandrylls Knie. »Halt ihn dort fest«, befahl er. Er entzündete die Zimmerlampen und kniete sich ne ben die Leiche. Calandryll sah zu, wie er den Körper umdrehte. Mutter Raimi keuchte auf, als der aufge schlitzte Bauch des Toten sichtbar wurde. »Er war ziemlich zäh, nicht leicht zu töten«, sagte Bracht. »Ich frage mich, wer er war.« Er zog die Kapuze vom Kopf des Toten, und Ca landryll ächzte, als er Mehemmeds Gesicht erkannte. »Das ist ja noch ein Junge«, flüsterte Mutter Raimi. »Es ist ein toter Meuchelmörder«, entgegnete Bracht. »Warum?« fragte Calandryll. »War er ein Chaipaku?« Bracht zuckte die Achseln. »Ich möchte keinen Ärger in meinem Haus haben«, sagte Mutter Raimi. »Nicht mit den Chaipaku. Es wäre
besser, wenn Ihr gleich am Morgen verschwindet.« Bracht warf Calandryll einen Blick zu. »Wenn er gehen kann«, sagte er. Calandryll erwiderte nichts darauf, seine Gedanken überschlugen sich. »Warum hat er bis jetzt gewartet?« murmelte Bracht. »Warum hat er nicht schon auf der See zugeschlagen? Und die Frau auf dem Kriegsboot – kannte sie ihn?« Calandryll leckte sich über die trockenen Lippen. Ein unangenehmer Verdacht keimte in ihm auf. »Auf See hätte man ihn entdecken können«, schlug er eine Erklärung vor. »Vielleicht hat er bis jetzt gewartet, um fliehen zu können, sobald ek'Jemm Segel setzt. Viel leicht hatte er nichts mit der Frau zu tun. Vielleicht ist er nur auf mich angesetzt worden, nicht auf die…« Er schob eine Hand unter das Kopfkissen und berühr te die Umhängetasche. Bracht runzelte die Stirn. »Dein Bruder?« fragte er. »Dein Vater?« »Könnte sein«, bestätigte Calandryll. »Und die Frau arbeitet für Azumandias. Also werden wir möglicherweise sowohl von einem Zauberer als auch von den Chaipaku gejagt.« Bracht grinste humorlos. »Sieht so aus, als würde ich mir mein Geld redlich ver dienen müssen.« Calandryll betrachtete erneut die Leiche. Mehemmed war ungefähr in seinem Alter, wahrscheinlich sogar noch
jünger. Hatte Tobias ihn geschickt? Er wollte gerade etwas sagen, als draußen auf dem Flur Stiefelschritte aufklangen und der Offizier, der ihnen schon am Kai begegnet war, in Begleitung von sechs Soldaten eintrat. Surinim spähte neugierig über ihre Schultern. Mutter Raimi bedachte ihn mit einem dankbaren Blick, als fühle sie sich endlich wieder sicher. »Wer hat ihn getötet?« fragte der Liktor knapp. »Ich«, sagte Bracht. »Er hat versucht, mich umzubringen«, erklärte Ca landryll. Der Offizier musterte sie beide mit ausdruckslosem Gesicht, dann stieß er Mehemmed mit dem Fuß an. »Chaipaku«, sagte er nachdenklich. »Aus welchem Grund könnte es die Bruderschaft auf Euch abgesehen haben?« Calandryll hob hilflos die Schultern. »Unsere Rivalen – Lord Varents Rivalen«, sagte Bracht. »Wahrscheinlich haben sie ihn angeheuert.« Der Liktor nickte. »Rahamman ek'Jemm hat gesagt, Ihr wärt auf einer Geheimmission im Auftrag von diesem Lord aus Aldarin. Tragt Ihr jetzt Eure Handelskriege nach Kandahar hinein?« »Wir haben keinen Ärger gesucht«, gab Bracht zurück. »Calandryll ist im Schlaf überfallen worden.« »Aber trotzdem habe ich hier jetzt eine Leiche«, erwi derte der Liktor. »Und auch, wenn es sich um einen
Chaipaku handelt, sind noch einige Fragen zu klären. Ihr solltet besser mit mir kommen.« »Er ist verletzt«, sagte Bracht schnell und warf Ca landryll einen Blick zu. »Er kann nicht laufen.« Calandryll stöhnte zustimmend. Der Liktor drehte sich zu Mutter Raimi um, die sagte: »Ich habe Lyhanna losge schickt, um die Heilerin zu holen.« »Wir werden warten«, entschied der Liktor. »Wenn Suleimana bestätigt, daß er nicht laufen kann, darf er hier bleiben.« »Und Bracht?« wollte Calandryll wissen. »Der kommt solange in einer meiner Zellen unter«, er klärte der Liktor. »Bis sich der Bezirksrichter mit seinem Fall befaßt hat.« »Was für ein Fall?« erkundigte sich Bracht wütend. »Man hat mich angeworben, diesen Mann zu beschützen. Ein Meuchelmörder hat versucht, ihn umzubringen – ich habe nur meine Pflicht getan, sonst nichts.« Der Liktor zuckte die Achseln, drehte sich um und zog den Dolch aus der holzvertäfelten Wand. »Das ist wahrscheinlich richtig, aber auch ich habe meine Pflicht zu erfüllen. Und die verlangt von mir, Euch hier festzuhalten, bis der Richter die Angelegenheit un tersuchen kann.« Er lächelte flüchtig. »Auf diese Weise werdet Ihr wenigstens den einen oder anderen Var für Unterkunft und Verpflegung sparen.« »Wir haben Geschäfte zu erledigen«, protestierte Ca
landryll. »Wenn Ihr nicht laufen könnt, könnt Ihr auch nicht reisen«, entgegnete der Offizier unnachgiebig. »Der Rich ter müßte innerhalb der nächsten drei Wochen hier ein treffen, und wahrscheinlich steht es Euch dann frei zu gehen, wohin Ihr wollt. Aber bis dahin…« Er hob in einer bedeutungsvollen Geste die Arme. Calandryll und Bracht wechselten einen Blick. Der Kerner lächelte kalt. »Es scheint, wir müssen warten«, sagte er und nickte in Richtung der wachsamen Soldaten. Calandryll verfluchte in Gedanken Tobias oder Azu mandias, wer auch immer den Chaipaku auf ihn ange setzt hatte. Er hatte nicht geglaubt, daß sie ihren Aufent haltsort so schnell herausfinden würden, und der Ge danke, in Mherut'yi Däumchen drehen zu müssen, bis der Richter eintraf, ließ ihm erneut einen kalten Schauder über den Rücken kriechen. Wenn Mehemmed ihn trotz aller Vorkehrungen Varents hatte ausfindig machen können, dann konnte das auch einem anderen Mitglied der Bruderschaft gelingen. Oder der geheimnisvollen Frau. In diesem Augenblick traten die Soldaten zur Seite, um eine Frau mit einem strengen Gesicht durchzulassen, die einen leichten Umhang und eine große Ledertasche in der Hand trug. Als sie die Kapuze zurückschlug, kam darunter ein dichter kastanienbrauner Haarschopf zum Vorschein. Sie wandte sich dem Liktor zu. »Also, Philomen, für den einen, den ich da sehe,
kommt jede Hilfe zu spät. Um wen soll ich mich also zu dieser götterlosen Stunde kümmern?« Der Liktor verneigte sich und deutete auf Calandryll. »Der da, Suleimana. Angeblich hat er eine Knieverlet zung.« Die Frau nickte und legte ihren Umhang ab. Darunter trug sie ein einfaches braunes Kleid, dessen Falten sie glättete, als sie sich neben Calandryll auf das Bett setzte. Sie warf einen kurzen Blick auf sein Bein und sagte: »Das könnte jetzt weh tun.« Sie betastete sein Knie, und er zuckte zur Bestätigung zusammen, dann stöhnte er, als sie sein Fußgelenk mit beiden Händen ergriff und sein Bein hin- und herdrehte. »Es ist nicht gebrochen«, verkündete sie, lächelte flüchtig und fügte hinzu: »sonst würdet Ihr jetzt schreien. Das Knie ist ein empfindlicher Körperteil.« »Kann er laufen?« fragte der Liktor. »Burash, nein!« Die Frau schüttelte den Kopf. »Nicht in den nächsten ein oder zwei Tagen, und danach wird er noch eine Zeitlang humpeln. Ich werde ihm einen Druckverband anlegen, aber er sollte am besten die nächsten zwei Tage hier im Bett bleiben. Danach werde ich weitersehen.« Sie krempelte die Ärmel hoch, legte die rechte Hand fläche auf die Schnittwunde an seinem Bauch, schloß die Augen und murmelte vor sich hin. Calandryll verspürte ein leichtes Stechen, dann zog die Frau die Hand zurück, und der Schmerz war verschwunden.
»Kein Gift«, bemerkte sie beiläufig und umfaßte sein Knie mit beiden Händen. Wieder schloß sie die Augen. Auf ihrem Gesicht er schien ein Ausdruck völliger Konzentration. Calandryll ächzte, als sie den Druck verstärkte, aber dann ließen die Schmerzen nach, und er seufzte erleichtert. Sie ließ sein Knie los, öffnete die lasche, kramte darin herum und holte eine Dose hervor, aus der sie eine scharf riechende Salbe auf seine Prellungen schmierte. Es brannte ein bißchen, dann machte sich eine angenehme Wärme in seinem Knie breit. Die Frau legte ihm einen Verband an. »Trinkt das.« Sie reichte ihm ein kleines Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit. »Habt Ihr Geld?« Calandryll nickte und trank die Flüssigkeit. Sie schmeckte bitter. »Gut, Ihr schuldet mir zwei Varre«, sagte Suleimana. »Und je einen Var für jeden weiteren Besuch. Laßt mich jetzt den Schnitt verbinden.« Sie strich etwas von der Salbe über die Wunde und wickelte ihm einen Verband um die Taille. »Wascht Euch das Blut ab«, riet sie, »und dann legt Euch schlafen. Bleibt hier, bis ich Euch sage, daß Ihr wieder laufen könnt. Raimi wird Euch das Essen ans Bett bringen.« Mutter Raimi nickte, als hätte sie einen Befehl erhal ten. »Ich danke Euch«, sagte Calandryll.
Wieder huschte ein Lächeln über das Gesicht der Hei lerin. Sie schüttelte den Kopf. »Euer Geld ist Dank genug für mich.« Sie schloß die Tasche und erhob sich. »Wenn sonst niemand mehr meine Hilfe braucht, werde ich wieder schlafen gehen.« »Das war alles«, bestätigte der Liktor und trat einen Schritt zur Seite, als sie würdevoll an ihm vorbeiging. Er bedachte Calandryll mit einem strengen Blick. »Ihr bleibt hier. Euer Begleiter kommt mit mir.« Seine Männer rückten näher an ihn heran, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. »Was ist … damit?« fragte Mutter Raimi und deutete nervös auf die Leiche. »Schafft ihn raus«, befahl der Liktor zwei seiner Män ner. Calandryll sah zu, wie der Tote achtlos aus dem Zim mer geschleift wurde. Mutter Raimi starrte entsetzt auf den ruinierten Teppich. »Ihr kommt mit mir«, sagte der Liktor an Bracht ge wandt. »Und laßt Euer Schwert hier.« Der Kerner zog ein finsteres Gesicht, und einem Mo ment lang befürchtete Calandryll, er könne sich weigern, dem Befehl nachzukommen. Dann seufzte er erleichtert, als Bracht den Schwertgürtel löste und ihn samt dem Krummschwert wütend auf den Boden warf. Der Liktor machte eine auffordernde Handbewegung. Seine Männer hoben drohend die Piken. Bracht senkte ergeben den Kopf, ohne sich weiter zu sträuben, und drehte sich noch
einmal zu Calandryll um. »Besuch mich, wenn du wieder laufen kannst.« Calandryll nickte ihm zu; er hatte die Botschaft ver standen. Die nächsten beiden Tage vergingen nur langsam. Ein mal versuchte Calandryll aufzustehen, aber der Schmerz fuhr wie ein Messer durch sein lädiertes Knie und zwang ihn, Suleimanas Diagnose anzuerkennen. Widerwillig fügte er sich ihrem Rat und blieb auf dem Rücken im Bett liegen. Am Morgen erschien eine nervöse Lyhanna, um den besudelten Teppich zu schrubben. Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen und beantwortete seine Fra gen mit einsilbigem Murmeln, bis er schließlich den Versuch aufgab, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Mutter Raimi brachte ihm sein Essen in Begleitung von Surinim, der sich mit einem kräftigen Prügel in der Hand hinter ihr hielt. Beide benahmen sich genauso abweisend wie Lyhanna. Anscheinend durfte er nur bleiben, weil sich die Heilerin gegen eine Verlegung ausgesprochen hatte, und er verbrachte den Tag damit, abwechselnd seine Unbeweglichkeit zu verfluchen und sich Sorgen wegen des Überfalls zu machen. Er hatte mehr als genug Zeit, um nachzugrübeln, und seine Ge danken drehten sich immer wieder im Kreis, wie ein verrückter Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Wer hatte den Chaipaku beauftragt? Azumandias? Aber warum hätte der Hexer dann das Kriegsboot
schicken sollen, um die Seetänzerin zu jagen? Hatte er seine Erfolgschancen erhöhen wollen, indem er sowohl den Chaipaku als auch die Frau eingesetzt hatte? Oder hatte Tobias den Meuchelmörder geschickt? Würde sein Vater zu derartigen Methoden greifen? Er war sich nicht sicher, ob sein Vater so tief sinken könnte, aber Tobias … Ja, sein Bruder würde nicht zö gern, eine Bedrohung seiner Thronfolgerschaft mit allen Mitteln auszuschalten. Das aber bedeutete, daß Tobias von seinem Aufenthalt in Aldarin gewußt haben mußte. Konnte er das überhaupt so schnell herausgefunden haben? Oder besaßen die Chaipaku die Möglichkeit, Informationen so schnell weiterzugeben? Mit Hilfe von Brieftauben oder vielleicht auch von Magie? Calandryll forschte in seiner Erinnerung, konnte darin aber keinen Hinweis darauf entdecken, daß die Bruderschaft sich der Magie bediente. Er lag in seinem Bett, starrte durch das offene Fenster auf den kleinen Hof hinter dem Gasthaus und spürte die trockene Hitze des Gaheen. Er war völlig im Labyrinth seiner beunruhigenden Gedanken gefangen. Hatte Me hemmed ihn vielleicht rein zufällig als einen von der Bruderschaft gesuchten Mann erkannt und die Gelegen heit ergriffen, um ihn auszuschalten? Das würde bedeu ten, daß alle Chaipaku sein Gesicht kannten. Dieser Ge danke ließ ihn frösteln, denn wenn er zutraf, nahmen die Gefahren seiner Reise geradezu schreckliche Dimensio nen an. Bisher war er stets von Bracht oder von Magie
gerettet worden. Aber schon beim nächsten Mal würde der Kerner vielleicht nicht so schnell zur Stelle sein. Je denfalls nicht, solange er im Gefängnis des Liktors einge sperrt war. Calandryll umklammerte das Schwert, das er sich in den Schoß gelegt hatte, und verfluchte seine Ver letzung. Selbst unverletzt war er kein ernstzunehmender Gegner für den Mörder gewesen. Jetzt aber, da er nicht einmal laufen konnte, hätte er nicht den Hauch einer Chance, sollte ein zweiter Attentäter auftauchen. In dieser Nacht schlief er unruhig mit dem Schwert in den Armen. Seine Hand umklammerte immer noch den Griff der Waffe, als Suleimana zurückkehrte. »Ich bin keine Chaipaku«, versicherte ihm die Heile rin. »Wenn ich Euch hätte umbringen wollen, wäre in der Medizin, die ich Euch zum Trinken gegeben habe, Gift gewesen. Philomen ist nicht allzu klug, und ich hätte mich damit herausreden können, daß die Klinge, die Euch geschnitten hat, vergiftet war.« Calandryll nickte und ließ das Schwert los. Suleimana nahm auf seinem Bett Platz. Sie öffnete ihre Tasche. »Wieso sind sie hinter Euch her?« Während sie sprach, entfernte sie den Verband und musterte sein Knie kritisch. Er sah, daß ihr volles kasta nienfarbenes Haar bereits von grauen Strähnen durchzo gen war. »Ich bin in einer geschäftlichen Geheimmission un terwegs«, erwiderte er ausweichend. »Es geht um den Abschluß von Handelsvereinbarungen.«
Die Frau schnaubte und blickte ihn zweifelnd an. »Die Handelszentren von Kandahar sind Ghombalar oder Vhisat'yi, und die Seetänzerin ist gestern nach Ghombalar gesegelt.« Calandryll zuckte die Achseln und sah zu, wie sie sei ne Kniescheibe betastete. Die Berührung tat mittlerweile kaum noch weh. »Wir reisen über Land.« Suleimana bestrich sein Knie mit frischer Salbe. »Im Landesinneren gibt es nichts außer ein paar Bau ernhöfen. Es sei denn, Ihr reist nach Nhurjabal.« »Das haben wir vor.« Er zögerte, das zuzugeben, dachte sich aber, daß wei tere Ausflüchte ihr jetzt schon offensichtliches Mißtrauen nur noch vergrößern würden. Sie nickte und wickelte einen sauberen Verband um sein Bein. »Laß mich jetzt Euren Bauch sehen.« Er beugte sich vor, damit sie den Stoffstreifen entfer nen konnte. Die Wunde heilte bereits, die Haut um den Schnitt war runzlig und rosafarben. »Nur ein wenig tiefer…« Die Frau lachte verhalten. Calandryll errötete. »Aber Ihr hattet Glück. Es ist kaum mehr als ein Kratzer. In ein oder zwei Tagen wird er schon zu einer Erinnerung geworden sein, von der Ihr später einmal Euren Kindern erzählen könnt.« Sie schmierte eine Schicht Salbe über den Schnitt und schlang ihm einen sauberen Leinenstreifen um den
Bauch. »Und mein Knie?« »Das ist ernster«, sagte die Heilerin kurz. »Ich werde Surinim anweisen, Euch eine Krücke zu schnitzen, und morgen könnt Ihr ein wenig laufen. Aber nicht zu viel! Sobald das Knie zu schmerzen beginnt, müßt Ihr Euch ausruhen. Wenn Ihr es überanstrengt, werdet Ihr für den Rest Eures Lebens humpeln. Ihr hattet Glück, daß es nicht gebrochen ist.« »Wie lange noch, bis ich wieder reisen kann?« erkun digte er sich. »Ihr Lyssianer.« Sie schüttelte den Kopf. »Könnt Ihr an nichts anderes als an Geschäfte denken?« »Wie lange noch?« beharrte er auf seiner Frage. »Mindestens eine Woche, bis Ihr wieder ohne Hilfe gehen könnt. Wahrscheinlich drei Wochen, bis das Knie völlig ausgeheilt ist.« Der Schreck zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Su leimana hob die Schultern und verstaute ihre Salben wieder in der Tasche. »Euer Kamerad wird bis dahin sowieso in Philomens Gewahrsam verbleiben. Der Richter macht seine Rund reise, und er ist nicht gerade dafür bekannt, es besonders eilig zu haben. Und er wird mit Euch sprechen wollen.« »Drei Wochen«, murmelte Calandryll verdrossen. Suleimana nickte. »Gibt es Pferdeställe in Mherut'yi?« fragte er. »Wo ich
Pferde kaufen kann?« »Der alte Dahamman verkauft Pferde«, sagte die Frau, »aber es wird Eurem Knie nicht gut bekommen, wenn Ihr jetzt schon reitet. Und Philomen wird Euch nicht erlau ben, die Stadt zu verlassen.« »Ist er der einzige hier in Mherut'yi, der etwas zu sa gen hat? Hat er keinen Vorgesetzten?« Die Heilerin schmunzelte. »Nein. Philomen ist unser Liktor, und ein Liktor ist der ranghöchste Beamte, dessen wir uns hier rühmen könnt. Ihr hättet an Bord der Seetän zerin bleiben und mit ihr weiter nach Ghombalar fahren sollen, wenn Ihr es so eilig habt.« »Aber das habe ich nun mal nicht getan.« »Nein, und deshalb müßt Ihr jetzt hierbleiben, bis der Richter entscheidet, daß Ihr frei seid.« »Glaubt Ihr, er wird das tun?« Suleimana schürzte die Lippen und legte den Kopf schief. »Der Kerl, den Euer Gefährte getötet hat, war ein Chaipaku, und es ist kein Verbrechen, einen Chaipaku zu töten. Aye, der Richter wird Euch freilassen, sobald die Formalitäten erledigt sind. Aber bis dahin wird Euch Philomen hier festhalten. Er demonstriert gern von Zeit zu Zeit seine Autorität.« »Könnte er es sich vielleicht anders überlegen?« fragte Calandryll. Er zögerte einen Moment lang, weil er nicht sicher war, wie sie seine Worte auffassen oder ob sie
Philomen davon berichten würde. »Könnte man seine Einstellung vielleicht mit etwas Geld ändern?« »Nein. Philomen ist zwar nicht allzu klug, aber er ist ehrlich. Versucht nicht, ihn zu bestechen.« Calandryll nickte. Suleimana lächelte und stand auf. »Zügelt Eure Ungeduld. Drei Wochen sind keine so lange Zeit.« Sie sind ein ganzes Leben, dachte er. Mehr als ausrei chend für die Chaipaku, um mich aufzuspüren, oder für das Kriegsboot, um Mherut'yi zu erreichen. »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte er. »Ja«, stimmte sie zu und wurde wieder geschäftsmä ßig. »Und jetzt schuldet Ihr mir drei Varre.« Er gab ihr die Münzen. »Danke«, sagte die Heilerin. »Ich würde Euch vor schlagen, mich in zwei Tagen wieder aufzusuchen. Und achtet darauf, daß Ihr Euch nicht überanstrengt.« Calandryll nickte, und Suleimana verließ sein Zimmer. Er war wieder mit sich allein. Drei Wochen! So lange konnte er unmöglich warten. Er mußte feststellen, wie es seinem Knie ging. Und wenn er laufen konnte, würde er Pferde kaufen und Bracht befreien. Er ließ sich zurücksinken und überlegte, wie er vorgehen sollte. Wahrscheinlich wurde Bracht in dem kleinen Fort an der Mole festgehalten. Mit Hilfe von Varents Magie müß te es ihm gelingen, dort hineinzugelangen, Bracht zu
finden, den Schlüssel … Ob der Söldner wohl in eine Zelle eingesperrt war? Wie sollte er ihn herausbringen? Der Talisman würde nur einen von ihnen unsichtbar machen… Calandryll schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht einschüchtern lassen. Er würde es schaffen! Ihm blieb gar nichts anderes übrig, denn das Schicksal der Welt hing davon ab. Sobald er humpeln konnte, würde er in das Fort eindringen und sich dort eine Strategie zurechtlegen. Etwas zuversichtlicher wartete er auf das Abendessen. Am nächsten Morgen erschien Surinim mit einem langen Stab. Anscheinend hatte Suleimana ihn beruhigt, denn diesmal hatte er keinen Knüppel dabei und lächelte sogar scheu, als er die Krücke neben Calandrylls Bett an die Wand lehnte. Calandryll dankte ihm, und nachdem Suri nim gegangen war, zog er sich an und stand unbeholfen auf. Es pochte dumpf in seinem Knie. Er stützte sich schwer auf die Krücke, und es gelang ihm, durch den Flur zum Eingangsraum des Gasthauses zu hinken. Mut ter Raimi beobachtete ihn, als er am Türgriff herumhan tierte. Er lächelte ihr zu, und sie zog sich eilig hinter den Schutz des Perlenschnurvorhangs zurück. Calandryll humpelte auf die Straße hinaus. Die Sonne strahlte aus einem Himmel, der durch den erbarmungslosen Gaheen einen metallisch silberblauen Farbton angenommen hatte. In seinem Zimmer war Ca landryll nicht aufgefallen, wie heftig der Wind war, jetzt
aber bekam er seine volle Hitze und Stärke zu spüren und verstand, warum er der Teufelswind genannt wur de. Er brannte beim Atmen in seiner Kehle und bombar dierte ihn mit Sand, so daß Calandryll blinzelte, spuckte und das Gesicht zur Seite drehte. Er begann sofort zu schwitzen, spürte, wie ihm das länger werdende Haar um den Hals gepeitscht wurde und der Gurt der Trage tasche unangenehm in seine Brust schnitt. Ganz Mherut'yi schien wie ausgestorben, ein verwais ter Ort, in dem der Staub durch die schmalen Gassen gewirbelt wurde und sich die Menschen vor dem bei ßenden Sturm versteckten. Calandryll wischte sich den Sand von den Lippen und machte sich daran, die Stadt zu erforschen. Er brauchte nicht lange dazu. Obwohl er immer wie der anhalten und sich ausruhen mußte, wenn sein Knie nachzugeben drohte, hatte er bei Anbruch der Abend dämmerung die gesamte Stadt durchstreift. Er fand den Stall, von dem Suleimana gesprochen hatte, kaufte von Dahamman zwei Pferde mit Sätteln und Zaumzeug und erklärte dem Alten, daß er die Tiere abholen würde, sobald der Richter Bracht wieder auf freien Fuß gesetzt hatte. Später aß er in einer verstaubten Gaststätte ein eher karges Mahl und hinkte dann zum Ufer, wo er zu seiner Enttäuschung feststellen mußte, daß auch die Nähe des Meeres die Auswirkungen des Gaheen nicht linderte. Abgesehen von ein paar Fischerbooten war der Hafen leer. Calandryll lehnte sich an die Wand eines Lagerhau
ses und betrachtete den grauen Klotz des Forts. Mit sei nen zwei gemauerten Stockwerken war es das höchste Gebäude Mherut'yis. Das Erdgeschoß wies nur schmale Fensterschlitze auf, die Fensteröffnungen des oberen Stockwerks waren größer und vergittert. Das Dach war flach. Die einzige Tür lag auf der dem Meer abgewand ten Seite. Dort saßen ein paar Soldaten müßig herum, die ihm jedoch nur einen flüchtigen Blick zuwarfen. Er fragte sich, wo Bracht festgehalten wurde, entschied sich aber, das Fort jetzt noch nicht zu betreten, und humpelte rechtzeitig zum Abendessen zum Pfauenauge zurück. Am nächsten Morgen stand er bereits früh auf und durchstreifte erneut die Stadt, machte sich mit ihr ver traut, bis er sicher war, den kürzesten Weg aus ihr hinaus zu kennen. Die Leute verschliefen gewöhnlich die Zeit der schlimmsten Hitze und setzten in den ersten Nach mittagsstunden keinen Fuß vor die Tür. Trotz Suleima nas Warnungen entschied Calandryll, daß er sich beeilen mußte. Er durfte keine Zeit vergeuden, sonst würden ihn Azumandias oder die Chaipaku aufspüren. Wenn es ihm gelang, Bracht zu befreien, mußten sie davonreiten, be vor Philomen überhaupt erfuhr, daß sie verschwunden waren. Er hatte das Gepäck des Kerners bereits in sein Zim mer bringen lassen. Jetzt mußte er ihn nur noch aus dem Gefängnis herausholen. Am vereinbarten Tag suchte er Suleimana auf. Die Heilerin untersuchte sein Knie und bestätigte, daß es auf
dem Weg der Heilung war. Der Schnitt über seinem Magen war fast verschwunden, von der Wunde war nur eine schmale rote Linie zurückgeblieben. »Bewegt Euer Knie«, riet die Frau, »aber übertreibt es nicht. Ihr braucht nicht mehr zu mir zu kommen. Die Salbe könnt Ihr selbst auftragen. Reibt Euch alle zwei Tage die Prellungen damit ein, wechselt jedesmal den Verband, und spätestens wenn der Richter Euch freiläßt, werdet Ihr wieder gesund sein.« Calandryll dankte ihr, ohne ihr zu verraten, daß er nicht so lange warten würde, und bezahlte sie. Dann kehrte er in das Gasthaus zurück, wobei er seine wach sende Aufregung kaum verbergen konnte. Es war die heißeste Zeit des Tages, die die Einwohner von Mherut'yi hinter geschlossenen Fensterläden verbrachten, und die Straßen würden menschenleer bleiben, bis die schlimms te Hitze nachgelassen und der Gaheen etwas von seiner Heftigkeit verloren hatte. Calandryll aß zu Mittag, verkündete seine Absicht, sich der örtlichen Gepflogenheit anzupassen und den Nachmittag zu verschlafen, und bat darum, nicht gestört zu werden. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schnürte er sein und Brachts Gepäck zu einem einzigen Bündel zusammen und zählte das Geld ab, das er Mutter Raimi schuldete. Sein eigenes Schwert hatte er sich bereits um die Hüfte gebunden und nun hängte er sich auch noch Brachts Krummschwert über die Schulter. Dann sagte er den Zauberspruch auf, den Varent ihm
beigebracht hatte, fühlte das Prickeln auf der Haut, und intensiver Mandelgeruch stieg ihm in die Nase. Da er sich immer noch nicht an den Geruch von Magie ge wöhnt hatte, fiel es ihm schwer zu glauben, daß er wirk lich unsichtbar war, als er zur Tür ging. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr hinkte, und er blieb ste hen. Sein Knie schmerzte nicht mehr. Im Gegenteil, es fühlte sich so gesund wie früher an. Calandryll grinste und warf die Krücke auf das Bett. Anscheinend strömte das schwache Feuer des roten Steines heilend und kräfti gend durch das lädierte Gewebe. Immer noch lächelnd durchquerte er den Flur und schlüpfte leise auf die men schenleere Straße hinaus. Mherut'yi döste unter der Mittagssonne, selbst die Hunde hatten Schutz vor der brütenden Hitze gesucht, und Calandryll war froh, daß niemand auf den Straßen unterwegs war, als er eilig zum Stall lief. Von Hadam man war nichts zu sehen, und der Alte tauchte auch nicht auf, als Calandryll die Pferde sattelte, sie an den Zügeln aus dem Stall führte und sich auf den Weg zum Hafen machte, wobei er sowohl Dera als auch Burash ein stummes Dankgebet schickte. Eine schmale Gasse zwischen zwei Lagerhäusern bot ein Versteck für die Tiere. Aus dem Schatten der Ein mündung heraus beobachtete Calandryll das kleine Fort. Neben der offenen Tür stand ein einzelner Soldat auf seine Pike gelehnt, der die Enden seines scharlachroten Hals- und Nackenschutzes über Mund und die Nase geschlungen hatte. Calandryll atmete einmal tief durch
und lief über das Kopfsteinpflaster auf ihn zu. Der Wachposten hielt sich in dem kümmerlichen Schatten auf, den die Wand des Forts spendete. Ca landryll schlich näher. Er fürchtete fast, daß sein Herz laut genug schlug, um den Soldaten auf sich aufmerksam zu machen, blieb so dicht vor ihm stehen, daß er ihn hätte berühren können, und starrte ihn an. Der Kander starrte gelangweilt zurück, ohne ihn zu sehen. Ca landrylls Lippen verzogen sich wieder zu einem Grinsen, als er auf Zehenspitzen an dem Soldaten vorbeihuschte und einen großen, halbdunklen Raum betrat, der den größten Teil des Erdgeschosses einnahm. Anscheinend handelte es sich um eine Art Bereitschaftsraum. In der Mitte standen Tische mit Essensresten, an den Wänden zogen sich Pritschen entlang, in denen Soldaten lagen und schliefen. Eine schmale Steintreppe führte in das zweite Stockwerk hinauf, wo Bracht vermutlich einge sperrt war. Calandryll stieg die Stufen empor. Am Ende der Treppe blieb er wieder stehen und ließ den Blick über die zweite Etage wandern. Von einem kahlen Mittelraum aus, der von grauen Steinmauern mit schweren, tief in die Wände eingelassenen Türen umge ben war, führte eine weitere Treppe zum Dach hinauf. Eine der Türen wies eine kleine vergitterte Öffnung auf, und Calandryll vermutete dahinter die Zelle, in der Bracht saß. Er schlich darauf zu, blieb dann aber wieder stehen, als eine Tür seitlich davon geöffnet wurde und Philomen herauskam.
Der Liktor trug einen weiten scharlachroten Morgen mantel, der farblich zu seinem Hals- und Nackenschutz paßte, hatte den Helm aber abgelegt. Das geölte schwar ze Haar hing ihm lose auf die Schultern. Er war barfuß. In der geöffneten Tür blieb er kurz stehen, drehte sich um und sagte irgend etwas. Calandryll hörte eine Frau enstimme antworten, und die Worte, die er nicht verste hen konnte, riefen ein Lächeln bei Philomen hervor. Immer noch lächelnd durchquerte der Offizier den Zent ralraum. Calandryll preßte sich flach gegen die Wand und hielt den Atem an, als der Liktor dicht an ihm vorü berging. Die Augen des Mannes blickten ihn direkt an – durch ihn hindurch –, und Calandryll dankte Varent stumm für den Zauberspruch. Er verharrte reglos und beobachtete Philomen, der hinter einer anderen Tür verschwand, kurz darauf mit einer Weinflasche wieder auftauchte und damit in das Zimmer zurückkehrte, aus dem er gekommen war. Das Lachen der Frau wurde von der ins Schloß fallenden Tür abgeschnitten, und Calandryll stieß den angehaltenen Atem in einem langen leisen Seufzen aus. Er lief zu der vergitterten Tür und spähte durch die Öffnung. Helles Sonnenlicht fiel durch die Stäbe vor dem Fenster in einen spartanisch eingerichteten Raum mit Etagenpritschen. Bracht lag schlafend auf einer Pritsche neben dem Fenster. Calandryll untersuchte die Tür. Sie war durch ein schweres Schloß gesichert, ein Schlüssel war nirgendwo zu sehen. Leise rief er Brachts Namen und betete, daß niemand sonst ihn hören würde. Bracht
richtete sich auf. »Calandryll?« Calandryll nickte und hob einen Finger an die Lippen, bevor ihm einfiel, daß der Kerner ihn nicht sehen konnte. »Aye«, flüsterte er. »Hier.« Bracht glitt von der Pritsche und kam zur Tür. Außer seiner Freiheit schien ihm nichts zu fehlen; er wirkte gesund und munter, nur ein bißchen gereizt. »Hast du Varents Zauberspruch benutzt?« »Aye«, bestätigte Calandryll. Bracht knurrte und sagte: »Dann hol mich hier raus.« »Ich brauche den Schlüssel.« »Den hat der Liktor. Er trägt ihn an seinem Gürtel.« »Verdammt!« flüsterte Calandryll. »Du bist unsichtbar«, sagte Bracht. »Aber Philomen steckt hinter einer geschlossenen Tür. Bei einer Frau.« Der Kerner starrte finster in die Luft hinter dem Gitter. Seine blauen Augen funkelten böse. »Dann hat er andere Dinge im Kopf. Und ich habe keine Lust, noch länger hier zu schmoren. Hol mich raus!« Calandryll nickte seufzend. »Warte hier.« »Etwas anderes könnte ich auch kaum machen«, gab Bracht zurück. »Ich werde es versuchen«, versprach Calandryll und
lief zu der Tür, hinter der der Liktor verschwunden war. Er preßte das Ohr gegen das Holz, konnte durch die dicke Tür aber nichts hören. Über einem Schloß wie dem, das vor Brachts Zelle hing, entdeckte er einen Türknauf und hoffte, daß die Tür nicht von innen verschlossen war. Er legte die Hand auf den Knauf, atmete tief ein und drehte ihn halb herum. Das leise Klicken des zurück schnappenden Riegels schien laut von den Steinwänden widerzuhallen. Calandryll hielt die Luft an, bereit zu rückzuspringen, sollte der Liktor auftauchen. Dann drückte er die Tür mit klopfendem Herzen vorsichtig einen Spalt weit auf. Lichtbahnen durchzogen einen abgedunkelten Raum. Calandryll erblickte die Ecke eines Bettes, zwei nackte, ineinander verschlungene Beine, hörte das Keuchen der Frau und Philomens schwerere Atemzüge. Er öffnete die Tür noch etwas weiter und schlüpfte hindurch. Im gleichen Augenblick überkam ihn ein Gefühl größ ter Verlegenheit. Er verspürte das irrationale Bedürfnis zu kichern, als er ein stoppeliges Hinterteil sah, das sich rhythmisch über den helleren Schenkel der Frau auf- und abbewegte. Sie hatte die Arme fest um den Liktor ge schlungen, ihr Gesicht schaute über seine Schulter her vor. Calandryll registrierte, daß sie auf unbestimmbare Art hübsch war. Ihre Augen waren geweitet und vor Leidenschaft blicklos. Philomens scharlachrote Robe lag zerknüllt auf dem Boden neben einem purpurfarbenen und weißen Ge
wand. Die Rüstung des Liktors hing an einem Gestell neben dem geschlossenen Fenster, der Schwertgürtel mit dem Schlüsselbund an einem Haken. Calandryll schluck te und schlich vorsichtig darauf zu. Er hörte, wie sich Philomens Atem beschleunigte und die Frau stöhnte: »Oh, Philomen! Philomen!« Mit heißen Wangen warf Calandryll einen kurzen Blick über die Schulter zurück und löste die Schlüssel vom Gürtel. Er erstarrte, als sie leise klirrten, aber das Paar auf dem Bett war viel zu tief in ihre Beschäftigung versunken, um das kaum hörbare Geräusch wahrzu nehmen. Er schob den Schlüsselbund unter seinen eige nen Gürtel. »Philomen!« Die Stimme der Frau war lauter geworden, als er zur Tür zurückkehrte. »Philomen!« Gleichzeitig mit Philomens Stöhnen schlüpfte Ca landryll durch den Türspalt, und das letzte, was er sah, war das haarige Hinterteil des Kanders. Philomens heftige Atemzüge wurden zu einem wol lüstigen Keuchen, das das Geräusch der sich schließen den Tür übertönte, und Calandryll eilte zu Brachts Zelle zurück. Er brauchte drei Versuche, bevor er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, dann endlich stieß er die Tür auf. Bracht sprang zurück, als sie ihm beinahe ins Gesicht schlug, und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, Calandrylls Umrisse auszumachen.
Calandryll warf Brachts Krummschwert auf die schmale Liege. Es wurde sofort wieder sichtbar, als er es losließ. Der Kerner grinste und legte es sich um. »Ahrd«, murmelte er, »ich hätte nicht geglaubt, einmal so dankbar für Varents Magie zu sein.« »Wir müssen erst noch hier rauskommen«, dämpfte Calandryll den Optimismus des Söldners. »Und der untere Raum ist voller Soldaten.« »Sind sie wach?« Bracht ging zur Tür. »Der Liktor befindet sich auf der anderen Seite des Raumes«, erwiderte Calandryll und mußte trotz seiner Anspannung grinsen, »aber er ist beschäftigt. Die Wa chen schlafen unten. Ein Mann steht vor der Tür.« Bracht nickte und grinste grimmig. »Mit einem werde ich problemlos fertig.« »Ich möchte nicht, daß du ihn tötest«, sagte Ca landryll. »Wenn ich ihn anders zum Schweigen bringen kann…« Bracht zuckte die Achseln. »Er ist nicht unser Feind.« Die Vorstellung, einen Un schuldigen sterben zu sehen, bereitete Calandryll Unbe hagen. »Möchtest du, daß unsere Mission hier endet?« fragte Bracht. »Glaubst du, du könntest Kandahar allein durch queren? Mit den Chaipaku auf den Fersen?« »Trotzdem«, protestierte Calandryll. »Du hast ein empfindliches Gewissen«, murmelte der
Söldner, »aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber zu streiten. Hast du Pferde besorgt?« Calandryll nickte, ohne an seine Unsichtbarkeit zu denken, und sagte dann: »Ja. Sie stehen auf der anderen Seite des freien Platzes.« »Gut«, gab Bracht leise zurück. »Komm.« Er zog sein Schwert und verließ die Zelle. Calandryll zog behutsam die Tür hinter sich zu, verriegelte sie, verschloß dann leise die Tür zum Zimmer des Liktors und warf den Schlüsselbund in die Zelle. Bracht blieb kurz vor der Treppe stehen und winkte ihn zu sich. Ca landryll trat dicht an ihn heran. »Unsichtbarkeit hat ihre Vorteile«, flüsterte der Ker ner, »aber ich kann nicht sehen, wo du bist. Bleib in mei ner Nähe.« »Ich bin direkt hinter dir«, erwiderte Calandryll. Langsam stiegen sie Stufe um Stufe zum Mannschafts raum hinunter. Calandryll spürte sein Herz heftig gegen die Rippen schlagen. Sein Blick flog über die schlafenden Soldaten und beschwor sie, nicht aufzuwachen. Sie erreichten den Fuß der Treppe. Im hellen Sonnen licht zeichnete sich das Rechteck des Ausgangs deutlich ab. Plötzlich hallte ein wütender Schrei von oben durch das Fort, und eine verschlossene Tür wurde lautstark in ihrem Rahmen gerüttelt. Die schlafenden Wachposten regten sich. »Philomen hat es gemerkt!« stieß Bracht hervor.
Die Soldaten erhoben sich benommen von ihren Prit schen, als das wütende Gebrüll des Liktors lauter wurde, und beim Anblick des Gefangenen mit dem Schwert in der Hand, der auf unerklärliche Weise aus seiner Zelle entkommen war, weiteten sich ihre Augen. »Nimm du den Mann an der Tür!« rief Calandryll. »Ich werde sie aufhalten!« Bracht zögerte einen Moment lang, und Calandryll stieß den Kerner vorwärts. »Sie können mich nicht se hen«, keuchte er. »Lauf!« Bracht grunzte zustimmend, stürzte sich auf den über raschten Wachposten, duckte sich unter einem unge schickten Hieb der Pike hinweg und schlug dem Kander den Schwertgriff unter das Kinn. Calandryll registrierte erleichtert, daß der Söldner seinem Wunsch nachkam und den Mann am Leben ließ. Er riß eine Hellebarde aus einem Ständer an der Wand, ließ sie in einem weiten Bogen herumschwingen und gegen die Knöchel von drei angreifenden Soldaten prallen. Sie stürzten mit rudern den Armen zu Boden, und ihre langsameren Kameraden, die das an sich Unmögliche geschehen sahen, nämlich eine Hellebarde, die sich wie von selbst bewegte, stimm ten in ihren Schrei mit ein. »Hexerei!« schrie einer. Mehrere Männer blieben mit angstverzerrten Gesichtern stehen und vollführten schützende Abwehrgesten. Calandryll schleuderte ihnen die Hellebarde entgegen, rannte zu einem Tisch und kippte ihn um. Teller, Essen und Weinflaschen purzelten
zu Boden. Die Panik in den Augen der Männer ermutigte ihn, und so flitzte er im Mannschaftsraum umher, warf wahllos Gegenstände durch die Luft. Für die Soldaten mußte es so aussehen, als wäre irgendeine okkulte Macht Bracht zu Hilfe gekommen, und Calandryll versuchte, den Eindruck noch zu verstärken, indem er ein durch dringendes Heulen ausstieß. Einige der Wachen duckten sich voller Entsetzen zu Boden, doch ein paar mutigere wollten Bracht verfolgen. Calandryll sah, daß der Kerner den Mann an der Tür überwältigt hatte und jetzt in Richtung des Lagerhauses lief. Er ergriff eine weitere Pike und schwang sie in Hüft höhe den heranstürmenden Soldaten entgegen. Zwei stolperten und stürzten, die Nachfolgenden fielen über sie und blieben in einem Haufen vor der Tür liegen. Calandryll kippte einen zweiten Tisch um und setzte dann über die gestürzten Wachsoldaten hinweg. Einer wollte gerade wieder aufstehen. Ohne darüber nachzu denken, trat Calandryll ihm in die Brust und rannte Bracht hinterher. Der Söldner saß bereits auf einem der Pferde und hielt die Zügel des anderen in der Hand, während er den Tumult im Fort nicht aus den Augen ließ. Calandryll kam vor ihm zum Stehen und sagte den Zauberspruch auf. Die Luft begann zu schimmern, erfüllte sich mit Mandelduft, und er wurde wieder sichtbar. Bracht reich te ihm die Zügel, und Calandryll schwang sich in den Sattel.
»Kannst du reiten?« fragte der Kerner drängend. »Ist dein Knie wieder verheilt?« »Ja«, gab Calandryll zurück. »Offensichtlich ist der Stein dafür verantwortlich.« »Na schön.« Bracht nickte ihm zu. Obwohl er mit Hilfe von Magie befreit worden war, blieb seine Abneigung gegen jede Form von Zauberei bestehen. »Dann laß uns jetzt losreiten – und zwar schnell und weit weg.« Calandryll bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Die Furcht der Soldaten vor Magie und die Verwirrung, die er ausgelöst hatte, wurden von der unmittelbareren Angst vor dem Zorn ihres Vorgesetzten verdrängt, und schon stürmten sie wütend aus dem Fort. »Mir nach!« rief Calandryll, stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen und trieb es zum Galopp an. Sie preschten durch die leeren Straßen. Wegen der üb lichen Mittagssiesta blieb ihre Flucht unbeobachtet. Sie durchquerten Mherut'yi und erreichten den Stadtrand unbehelligt. »Reiten wir nach Nhurjabal?« fragte Bracht. »In wel che Richtung?« Calandryll deutete auf die Straße, die aus der kleinen Stadt herausführte, ein schmutziges Band festgetretener Erde, das sich ins Landesinnere Kandahars hineinschlän gelte. Bracht nickte. »Das hast du gut gemacht!« rief er über das Trommeln der Pferdehufe hinweg. »Ich bin dir zum Dank verpflichtet.«
Calandryll strahlte. Das Lob des Söldners schmeichelte ihm. Er war stolz auf sich selbst.
KAPITEL 10 Sie ritten so schnell, wie sie es in der drückenden Hitze zu verantworten glauben konnten, und zogen eine Staubwolke hinter sich her. Bracht bestimmte die Ge schwindigkeit. Die Flanken ihrer Pferde glänzten vor Schweiß, als sie Mherut'yi mit donnernden Hufen hinter sich ließen. Nachdem die Stadt im Dunst hinter ihnen verschwunden war, drosselte Bracht das Tempo, aber erst als die Sonne den Kamm des fernen KharmrhannaGebirges berührte und bläuliche Schatten über das Land krochen, genehmigte er eine Rast. Er bog von der staubi gen Straße ab und fand eine Senke in dem wüstenartigen Gelände, die zumindest ein wenig Schutz vor dem Ga heen bot. Trotzdem trieb ihnen der Wind auch weiter den Schweiß auf die Stirn, ließ ihnen die Hemden am Rücken kleben und überzog sie mit einer Schicht aus feinem Staub. Sand setzte sich auf ihrer feuchten Haut fest, nistete sich in ihre Augenbrauen, drang ihnen in den Mund und unter die Kleidung. Sie dachten sehnsüchtig an den Luxus von Wasser und Seife, als sie sich hungrig niederließen und zusahen, wie die Pferde an dem küm merlichen Gras zupften, das in der Senke wuchs. Ca landryll hatte zwei Feldflaschen mit Wasser gefüllt, aber keine Lebensmittel eingepackt, weil ihm das zu auffällig
erschienen war und seine Pläne hätte verraten können. Sein Magen knurrte protestierend, als er sich in den Windschatten der Bodenmulde kauerte. »Wir werden während der Nacht weiterreiten«, ent schied Bracht, der scheinbar unbeeindruckt von den widrigen Umständen war. »Vielleicht können wir mor gen irgendwo etwas zu essen kaufen oder jagen.« »Können wir es riskieren, einzukaufen?« fragte Ca landryll. »Was ist mit Philomen?« »Der Liktor?« Bracht lachte leise. »Wenn kein zweiter Schlüssel aufgetrieben werden kann, wird er mehr Zeit als geplant mit seiner Frau verbringen müssen. Dann muß er seine Leute organisieren, und ich bezweifle, daß er sich allzu weit von Mherut'yi entfernen wird. Er wird eine halbherzige Verfolgung aufnehmen und dann wie der umkehren. Wenn wir heute nacht eine ausreichende Strecke zurücklegen, müßten wir in Sicherheit sein.« »Zumindest vor ihm«, stimmte Calandryll zu. »Aber was ist mit den Chaipaku?« Der Kerner zuckte die Achseln. »Vor denen müssen wir auf der Hut sein«, sagte er, und sein Lächeln erlosch. »Mit dem Eingreifen der Bruderschaft hatte ich nicht gerechnet.« »Tobias muß sie angeheuert haben.« Calandryll er schauderte. »Aber wie konnten sie uns nur so schnell ausfindig machen?« Das Hochgefühl, in das ihm ihre Flucht versetzt hatte, ebbte ab, als er an Mehemmed dachte. Die Aussicht,
Kandahar mit den Chaipaku auf den Fersen zu durch queren, war erschreckend. Bracht warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Die Methoden der Bruderschaft sind geheimnisvoll. Wer weiß, wie sie sich verständigen? Aber es hat wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« Calandryll rupfte düster an dem dürren Gras. Er sah besorgt aus. »Aber wenn wir auf unserem Weg Nhurjabal und die anderen Städte Kandahars durchqueren müssen, wie können wir dann verhindern, ihnen in die Quere zu kommen?« »Vielleicht können wir das nicht«, meinte Bracht, »a ber wir brauchen uns ihnen nicht zu ergeben. Wir haben schon einen von ihnen besiegt – das können wir wieder tun.« »Du kannst das«, sagte Calandryll bedrückt. »Hättest du mich nicht gehört, wäre ich jetzt tot.« »Aber du bist nicht tot«, gab Bracht zurück. »Du hast Mehemmeds Anschlag überlebt.« »Mit Mühe und Not.« Calandryll berührte den roten Stein, der unter dem Hemd um seinen Hals hing. »Und ohne Lord Varents Magie wäre ich kaum in der Lage zu reiten.« »Und ohne dich würde ich immer noch in Philomens Zelle sitzen«, erwiderte der Söldner. »Bei Ahrd, Mann! Wir sind der Gefangennahme durch das Kriegsboot ent kommen und haben den Anschlag eines Chaipaku über
standen. Wir haben Mherut'yi hinter uns gelassen. Wenn wir vorsichtig sind, können wir Kandahar durchqueren.« »Und wenn wir Kharasul erreicht haben?« wollte Ca landryll wissen. »Was dann?« »Dann nehmen wir ein Schiff, das uns nach Norden bringt«, sagte Bracht. »Genau wie wir es geplant haben. Wir segeln weiter nach Gessyth und finden Tezin-dar. Wir holen uns das Arcanum und…« Er verstummte. Calandryll runzelte die Stirn, als sein Gefährte auf den roten Stein deutete. »Und?« hakte er nach, verärgert über das ewige Mißtrauen des Kerners. »Ich muß noch von Varents Aufrichtigkeit überzeugt werden«, fuhr Bracht fort. »Ich glaube immer noch, daß die Warnung des Byah auf ihn gemünzt war. Ich schlage vor, wir behalten das Arcanum so lange, bis wir sicher sein können, daß er es wirklich zerstören will, wie er behauptet.« Calandryll seufzte enttäuscht. Er hatte geglaubt, Brachts Zweifel wären mittlerweile ausgeräumt. »Ohne Lord Varent würde ich mich immer noch in der Gewalt meines Vaters befinden«, sagte er. »Ohne Lord Varent wären wir jetzt als Gefangene auf diesem Kriegs boot – oder tot. Ohne Lord Varent würdest du immer noch in Mherut'yi festsitzen.« »Er braucht uns«, behauptete Bracht. »Er braucht dich, um das Arcanum zu finden, und mich, um dich zu be schützen. Wir sind ihm von Nutzen.«
»Dera!« fauchte Calandryll. »Deine Verdächtigungen sind grundlos.« »Ich habe den Byah gehört«, sagte Bracht halsstarrig. »Der uns vor Azumandias gewarnt hat. Oder vor To bias, soweit ich das beurteilen kann.« Bracht zuckte die Achseln. Sein Blick blieb unnachgie big. »Glaubst du etwa, er würde das Buch benutzen, um den Verrückten Gott wiederauferstehen zu lassen?« Ca landryll schüttelte hilflos den Kopf. »Nur ein Geistes kranker würde so etwas Irrsinniges versuchen, und Lord Varent ist offensichtlich geistig gesund.« Bracht zuckte erneut die Achseln, schwieg, legte sich auf den Rücken und starrte in den dunkler werdenden Himmel. Calandryll seufzte. »Was schlägst du also vor? Was sollen wir machen, nachdem wir das Buch in unseren Besitz gebracht ha ben?« »Ich weiß es nicht«, gab Bracht zu. »Aber solange Va rent mich nicht von seiner Aufrichtigkeit überzeugt hat, werde ich ihm keinen so mächtigen Gegenstand wie das Arcanum aushändigen.« Calandryll riß eine zweite Handvoll Gras aus, warf sie in die Luft und sah zu, wie der Wind die gelblichen Halme davonwirbelte. »Glaubst du vielleicht, daß er uns durch den Talisman nachspioniert?«
Bracht ignorierte den sarkastischen Tonfall und schüt telte den Kopf. »Nein«, sagte er ungerührt. »Ich glaube, der Stein ge winnt seine Kraft aus seinem Träger.« »Und was bringt dich zu dieser Schlußfolgerung?« fragte Calandryll verdrießlich. »Du besitzt die Gabe«, erklärte Bracht ruhig. »Ich konnte den Stein nicht benutzen, du erinnerst dich? Va rent hat gesagt, mir würde diese Begabung fehlen. Du aber kannst dich damit unsichtbar machen, du hast ihn getragen, als dieser Sturm losgebrochen ist, und er hat dein Knie geheilt. Ich glaube, du kanalisierst seine Ma gie.« Calandryll stierte ihn fassungslos an. »Willst du damit sagen, ich wäre ein Magier?« »Ich glaube, daß du okkulte Kräfte besitzt. Diese Be gabung, von der Varent gesprochen hat.« »Dann mißtraust du mir also, so wie du jedem Magier mißtraust?« Bracht schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Ich ver traue dir, Calandryll, und ich glaube, daß du es ehrlich meinst.« Aber irgend etwas klang in seinen Worten mit. Ca landryll starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Aber?« »Macht korrumpiert.« »Du hältst mich für korrupt?«
»Nein.« Bracht stützte sich auf einen Ellbogen und lä chelte seinen Gefährten an. »Aber ich denke, du könntest dich durch Varents Versprechen verführen lassen.« Einen Moment lang spürte Calandryll, wie wieder der Ärger in ihm hochstieg. Er hatte das Gefühl, als würde ihn der Kerner abschätzen. Brachts nüchterne Feststel lung legte den Verdacht nahe, daß er irgend etwas an Calandryll vermißte. Doch dann verdrängte Calandryll den Gedanken wieder. Durch seine Herkunft stand er Varent und dessen Lebensstil sehr viel näher, als es Bracht verstehen konnte. Das war der einzige Grund für Brachts Zweifel. Schließlich war er ein umherziehender Söldner, den man aus seinem eigenen Land verstoßen hatte, fast ein Barbar. Wahrscheinlich betrachtete er ganz Lysse mit dem gleichen Mißtrauen wie Varent. Trotzdem war er ein Freund, daran hatte Calandryll nicht den ge ringsten Zweifel – Reba hatte sein Kommen prophezeit, wie auch das von Varent –, aber noch immer gab es Dif ferenzen zwischen ihnen, und daran würde sich wahr scheinlich nie etwas ändern. Calandryll berührte den Stein. Er war dankbar für die Heilung, die er seinem Knie gebracht hatte, beschloß aber sicherheitshalber, zusätzlich die Heilsalbe aufzutragen, rieb sie auf sein Knie und erneuerte den Verband, wäh rend sich Bracht um die Pferde kümmerte. Die Dämmerung ging jetzt schnell in die Nacht über, der Gaheen ließ nach, und damit nahm auch die Gluthit ze allmählich ab. Über dem östlichen Horizont hing ein
fast voller Mond, im tiefblauen Himmel erschienen die ersten Sterne. Das Land nahm ein gespenstisches Ausse hen an, die Straße war ein schwarzes, von silbrigem Gras gesäumtes Band. Die Gefährten bestiegen ihre Pferde und ritten weiter Richtung Nhurjabal. Bracht legte ein gleichmäßiges, zügiges Tempo vor. Die beschlagenen Hufe trommelten eintönig über die festgestampfte Erde, während der Mond ruhig seine Bahn zog. Die Entfernungen, die Calandryll auf den Karten so unbedeutend erschienen waren, nahmen auf dem nächtlichen Ritt ganz andere Dimensionen an. Die Entfernung von Mherut'yi nach Nhurjabal war – sofern sie der Straße folgten – in etwa die gleiche wie die von Secca nach Aldarin, und die Strecke von Nhurjabal nach Kharasul war ungefähr genausolang. An die Reise von der Westküste bis zu den Sümpfen von Gessyth wollte Calandryll lieber gar nicht denken. Nur wenige Seccaner entfernten sich weit von den Mauern ihrer Stadt, und er begann sich sehr einsam zu fühlen, als er dem schweig samen Kerner durch die Nacht folgte. Das Land war flach und eintönig, und die Dunkelheit ließ es noch unermeßlicher erscheinen. Calandryll kam es vor, als würden sie die Vorhölle durchqueren und wären die einzigen Lebewesen in diesem endlosen Landstrich oder Geister, die dazu verflucht waren, ewig so weiter zureiten und ihrem Ziel nie näher zu kommen. Nach einer Weile ließ Bracht die Tiere im Schritt ge hen, um ihnen eine kurze Erholungspause zu gönnen,
dann beschleunigte er das Tempo wieder und hielt den ständigen Wechsel von gemäßigtem Galopp und Schritt bei, bis der Mond im milchigen Grau der Morgendäm merung untergegangen war. Dann entfernte er sich ein Stückchen von der Straße und hielt neben einer kleinen Ansammlung von ver krüppelten windgepeitschten Bäumen an, wo sie abstie gen und dafür sorgten, daß sich die Pferde nicht allzu weit von ihrem Lager entfernen konnten. Anscheinend hatten sie den Gaheen hinter sich gelassen, denn die Luft war still, kein Windhauch bewegte den aufsteigenden Morgennebel. Calandryll rieb sein Pferd trocken, ließ es am spärli chen Gras rupfen, wickelte sich in die Satteldecke und streckte sich auf dem harten Boden aus. Als er erwachte, schien ihm die Sonne ins Gesicht, und obwohl sie noch tief am Himmel stand, war es bereits warm. Fünf Vögel betrachteten ihn neugierig von den Ästen der verkrüppelten Bäume und flogen davon, als er sich aufrichtete und über die vom langen Reiten ver krampften Muskeln stöhnte. Bracht war bereits wach und kämmte sein langes Haar. Calandryll fragte sich, wie der Kerner nur so unbekümmert den bohrenden Hunger ignorieren konnte, während er selbst sehnsüchtig an Mutter Raimis Frühstück denken mußte. Er streckte sich und massierte seine steifen Gliedmaßen. Als er sich um sah, stellte er fest, daß sie sich immer noch auf der weiten Ebene befanden.
Das Land war karg und trocken, wahrscheinlich ein Ausläufer der Wüste im Norden. Es gab keinerlei Anzei chen menschlicher Besiedlungen, die einzige Abwechs lung in der Einöde waren gelegentliche Ansammlungen von Bäumen, die verglichen mit den fruchtbaren Wäl dern Lysses geradezu traurig aussahen. Er trank ein bißchen Wasser, rieb sich mit den nassen Händen über das Gesicht und tröstete sich damit, daß zumindest der Gaheen nicht mehr wehte. Auch von Verfolgern war nichts zu sehen, und als sie sich wieder auf den Weg machten, schlug Bracht ein gemäßigteres Tempo ein. Nach einigen Stunden überquerten sie einen Bach, wo sie die Pferde tränkten, ihre Feldflaschen auffüllten und sich die Zeit nahmen, ihre Kleidung abzulegen und sich den Staub vom Körper zu waschen, bevor sie weiter nach Westen zogen. Nach einiger Zeit begann sich die Umgebung fast un merklich zu verändern. Das Gras wuchs dichter, das Grün wurde kräftiger. Die Straße stieg allmählich an und fiel dann wieder ab, die Ebene ging in eine Hügelland schaft über. Die vereinzelten kleinen Haine wurden zahl reicher, die Bäume waren nicht mehr durch karstigen Boden und trockenen Wind verkümmert. Hier und da überzogen Wildblumen die Erde mit bunten Teppichen. Am Nachmittag erblickten sie in der Ferne weidende dunkle Rinder mit weit ausladenden Hörnern. Von ei nem Hügel aus bewachte ein Bulle seine Herde und brüllte den Reitern angriffslustig zu, worauf sie ihr Tem
po beschleunigten. Als die Sonne dem Horizont entge gensank, tauchte vor ihnen ein einzelnes Gebäude auf, dessen weiße Mauern vom schwindenden Licht mit ei nem rosafarbenen Schein überzogen wurden. Es sah aus wie eine Mischung aus Bauernhaus und Festung, flach und rechteckig, mit niedrig angebrachten Fenstern und verstärkten Fensterläden, und es war von einem brusthohen, aus dicken Pfählen bestehenden Zaun um geben. »Wir werden sie bitten, uns Gastfreundschaft zu ge währen«, entschied Bracht. Calandryll, der an kühles Wasser und heißes Essen dachte, bekundete seine Zustimmung durch eifriges Nicken. Sie ritten langsam auf das Gebäude zu, um seine Be wohner nicht zu beunruhigen, und hielten vor dem Tor an. Durch die Öffnung im Zaun konnten sie einen Brun nen und eine gemauerte Scheune hinter dem Haus er kennen. Schweine und Hühner trieben sich auf dem Hof herum, und ein riesiger roter Hund bellte ihnen von der Veranda her aufgeregt entgegen. Ein Mann trat aus dem Haus und brachte den Hund mit einigen leisen Worten zum Schweigen. Zwei junge Burschen, die dem Mann so ähnlich sahen, daß es sich nur um seine Söhne handeln konnte, erschienen auf der Veranda und nahmen rechts und links neben ihm Aufstellung. Beide hielten stark gekrümmte Bögen in den Händen und hatten rotgefie derte Pfeile auf die Sehnen gelegt. Der Mann betrachtete
die Neuankömmlinge eine Weile, dann winkte er sie heran und ging ihnen entgegen, dicht gefolgt von seinem großen Hund. Sie trafen sich in Höhe des Brunnens. Die Burschen mit den Bögen blieben auf der Veranda stehen. Der Mann war groß und dünn. Sein wettergegerbtes Gesicht hatte die Farbe und Beschaffenheit von altem Leder, Seine unter struppigen Brauen tief in den Höhlen liegenden Augen musterten die Besucher mißtrauisch und neugierig zugleich. Er trug ein Messer mit breiter Klinge in einem Gürtel, der ein ausgebleichtes grünes Gewand zusammenhielt. Seine linke Hand lag locker auf dem Griff der Waffe. »Seid mir gegrüßt, Fremde.« Seine Stimme klang so, wie sein Gesicht aussah: hart und rauh. »Wir grüßen Euch«, erwiderte Calandryll in der Spra che Kandahars. »Wir sind lange geritten und würden uns über ein anständiges Essen und eine Schlafstelle für die Nacht freuen. Wir können bezahlen.« »Aus Mherut'yi?« Das Gesicht des Bauern blieb ausdruckslos. Calandryll nickte. »Nicht viele reisen von Mherut'yi aus über Land.« Calandryll zuckte die Achseln. »Wir haben Geschäfte im Landesinneren zu erledigen.« »Es ist günstiger, mit dem Schiff nach Mhazomul oder Ghombalar zu fahren und von dort aus mit einem Fluß
boot ins Landesinnere.« »Unsere Geschäfte sind … vertraulicher Natur. Wir ziehen es vor, die gewöhnlichen Handelswege zu umge hen.« Die Augen des Mannes wurden schmal. »Ihr seht nicht wie Kaufleute aus.« »Wir sind unterwegs, um Handelsabkommen abzu schließen. Ich heiße Calandryll. Das«, er deutete auf seinen Gefährten, »ist Bracht.« »Ihr stammt aus Lysse?« »Ich schon. Mein Kamerad kommt aus Cuan na'For.« »Spricht er unsere Sprache?« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Aber er ver steht das Envah.« Der Mann nickte und wandte den Kopf ein wenig zur Seite. »Denphat, sieh auf dem Dach nach.« Der jüngere der beiden Burschen verschwand im Haus. Kurz darauf tauchte er auf dem Dach wieder auf und ging langsam an seinem Rand entlang, wobei er nach allen Seiten Ausschau hielt. »Ich kann nichts entdecken!« rief er. »Dann komm wieder runter.« Der Mann deutete auf den Brunnen. »Eure Pferde brauchen Wasser. Bedient Euch. Ich heiße Octofan.« »Wir danken Euch, Octofan«, sagte Calandryll lä chelnd und stieg ab. Der Bauer nickte, ging an ihnen vorbei zum Tor, zog
es zu und legte einen Riegel vor. Denphat und der ande re Bursche musterten sie weiterhin schweigend über die Pfeile hinweg. Der rote Hund ließ sie nicht aus den Au gen, als wäre er bereit, auf einen Befehl oder bei einer plötzlichen Bewegung sofort anzugreifen. »Ihr seid sehr vorsichtig«, bemerkte Bracht, während er einen Eimer Wasser in den Trog neben dem Brunnen leerte. Octofan zuckte wortlos die Achseln, wartete, bis die Pferde getrunken hatten, und führte seine Besucher dann zu der langgestreckten niedrigen Scheune. Der rote Hund folgte ihm auf den Fersen. Die beiden Burschen bildeten den Abschluß und blieben in der offenen Tür stehen, während ihr Vater auf zwei Verschlage deutete. »Dort könnt Ihr die Pferde unterbringen. Es ist genug Heu da.« Er zog sich etwas zurück und wartete geduldig, wäh rend Calandryll und Bracht den Pferden die Sättel ab nahmen, sie in die Verschlage führten, trockenrieben und die Krippen mit Heu füllten. Als sie die Tiere versorgt hatten, sagte er: »Auf der Rückseite findet Ihr eine Waschgelegenheit. Das Essen wird bald fertig sein.« Sie wuschen sich unter den wachsamen Augen seiner Söhne, dann winkte ihnen Octofan zu, ihm zu folgen, und führte sie in das Haus hinein. Es war kühl und ge räumig. Der Boden bestand aus dem gleichen dicken Stein wie die Wände. Eine grauhaarige Frau in einem zerschlissenen blauen Kleid stand an einem Herd und
rührte in Töpfen, aus denen es nach Gemüse und Fleisch duftete. Sie drehte sich um und betrachtete die Fremden. Ihr Gesicht war genauso ausdruckslos wie das Octofans. Calandryll verbeugte sich. Bracht neigte den Kopf. »Ich dulde keine Schwerter an meinem Tisch«, sagte sie. »Meine Frau, Pilar.« Octofan deutete auf eine Reihe von Haken neben der Tür. »Hängt Eure Schwerter dort auf. Das sind meine Söhne, Denphat und Jedomus.« Die jungen Männer hatten ihre Bögen beim Eintreten bereits gesenkt. Jetzt lösten sie die Sehnen, legten die Bögen auf einen Tisch an der Wand und nickten den unerwarteten Gästen schweigend zu. Bracht und Ca landryll schnallten die Schwertergürtel ab und hängten sie an die Haken. »Setzt Euch. Jedomus, bring uns den Bierkrug.« Sie nahmen an dem langen Tisch in der Mitte des Raumes Platz, Octofan an einer Schmalseite, seine Söhne rechts und links von ihm. Der Hausherr füllte Tonkrüge mit dunklem Bier. Calandryll und Bracht tranken dank bar. »Sie kommen aus Mherut'yi«, teilte Octofan seiner Frau mit, als sie einen dampfenden Laib Brot vor ihn auf den Tisch legte. »Es geht um irgendwelche lyssianischen Geschäfte.« »Sie sind keine…?« erkundigte sich Pilar mit fragend erhobenen Brauen. »Sie haben angeboten, uns zu bezahlen.«
Die Frau nickte, als würde das irgend etwas bestäti gen, Calandryll zog eine Münze aus seiner Umhängeta sche. »Ist ein Var genug? Und könnten wir auch noch etwas Reiseproviant von Euch kaufen?« Octofan schnitt das Brot mit dem Messer, das er im Gürtel getragen hatte. »Drei Varre reichen für Essen und Proviant«, sagte er. Calandryll schob die Münzen über den Tisch. Octofan hob sie auf, untersuchte sie und ließ sie in einer Tasche seines Umhangs verschwinden. Pilar brachte einen Kes sel mit Eintopf vom Herd und füllte ihn in Schüsseln. Calandryll lief das Wasser im Mund zusammen, als ihm der würzige Duft in die Nase stieg. Sein Magen knurrte vernehmlich, und er lächelte entschuldigend. »Ihr reist ohne Proviant?« erkundigte sich Octofan, während er seinen Eintopf löffelte. Calandryll aß eben falls. Er war viel zu hungrig, um sich Sorgen über gute Manieren zu machen, und außerdem fiel ihm keine pas sende Erklärung ein, warum sie ohne Verpflegung un terwegs waren. »Wir sind angegriffen worden«, half ihm Bracht aus der Verlegenheit. »Dabei haben wir unsere Vorräte verlo ren.« Der Bauer und seine Frau wechselten einen schnellen Blick. »Die Straße von Mherut'yi nach Kesham-vaj wird von Briganten heimgesucht«, stellte Octofan fest.
Bracht nickte.
»Sathoman«, sagte Pilar böse mit leiser Stimme.
»Ihr Anführer heißt Sathoman?« fragte Bracht.
»Aye«, knurrte Octofan. »Sathoman ek'Hennem, möge
Burash seine Seele verrotten lassen.« »Ist er der Grund für Eure Vorsicht?« Bracht deutete auf die Bögen, die Denphat und Jedomus weggelegt hatten. Octofan nickte. »Sathoman ek'Hennem ist ein Adliger, zum Banditen geworden ist. Hat Euch der Liktor von Mherut'yi nicht vor ihm gewarnt?« Bracht schüttelte den Kopf. »Wir fanden den Liktor recht … unfreundlich.« »Philomen«, sagte Pilar abfällig. »Er ist um keinen Deut besser als Cenophus. Die Liktoren sollten die Stra ßen bewachen und Menschen wie uns beschützen, und was tun sie? Sitzen sicher in ihren Schlupflöchern und wagen sich höchstens einmal hervor, um für den Tyrannen die Steu ern einzutreiben. Und wenn sie das tun, fressen sie uns gleich noch die Haare vom Kopf. Nicht, daß sie jemals etwas dafür bezahlt hätten.« Bei diesen Worten lächelte sie Calandryll kurz zu. »Ist Cenophus ein Liktor?« erkundigte sich Bracht bei läufig. »Der Liktor von Kesham-vaj«, bestätigte Octofan. »Er behauptet, daß unser Land in Philomens Zuständigkeits
bereich liegt. Es sei denn, die Steuer wird wieder fällig.« »Und dieser Sathoman ist ein Brigant aus der Gegend hier?« »Der Sohn von Mandradus ek'Hennem«, berichtete Octofan. »Mandradus war der Herrscher der Fayne, bis er sich im Krieg der Zauberer für die falsche Seite ent schied. Er ist in der Schlacht auf dem Steinfeld gefallen, und der Tyrann hat alle seine Ländereien und seinen Besitz beschlagnahmt. Sathoman hat geschworen, den Tod seines Vaters zu rächen, und sich zum rechtmäßigen Herrscher über die Fayne erklärt. Er behauptet, er hätte das Recht, eine Abgabe von Reisenden zu erheben. Und auch von Viehtreibern. Burash möge ihn verfluchen!« »Sowohl der Liktor als auch Sathoman erheben ihre Steuern«, fügte Pilar verbittert hinzu. »Unternimmt der Tyrann denn nichts gegen Bandi ten?« wollte Calandryll wissen. Octofan warf seiner Frau einen Blick zu und lachte säuerlich. »Der Tyrann sitzt bequem und sicher in seinem Palast, und es ist ein weiter Weg von Nhurjabal bis in die Fayne. Solange er seine Steuern bekommt, überläßt er alles an dere am liebsten seinen Liktoren.« »Und weder Cenophus noch Philomen haben Lust, sich auf einen Kampf einzulassen?« fragte Bracht leise. Plötzlich flackerte Mißtrauen in Octofans Augen auf. Er musterte den Kerner aufmerksam. »Ihr habt nicht vom Krieg der Zauberer gehört?«
»Ich stamme aus Cuan na'For und habe Lysse bereist«, erwiderte Bracht. »Von Kandahar weiß ich nur sehr we nig.« »Der Tyrann Iodrydus hat Zauberei verboten«, melde te sich Calandryll zu Wort. »Er hat strenge Auflagen erlassen, die für alle Zauberer gelten sollten, abgesehen von denen, die er selbst beschäftigt. Die Fürsten von Kandahar wurden aufgefordert, ihre Hofmagier zu ent lassen, woraufhin sie rebelliert haben. Dieses Ereignis nannte man den Krieg der Zauberer.« Bracht nickte nachdenklich. »Hat dieser Sathoman noch einen Zauberer in seinen Diensten?« fragte er. »Einen Magier namens Anomius«, sagte Octofan. »Weder Cenophus noch Philomen wollen das Risiko eingehen, etwas mit seinen magischen Kräften zu tun zu bekommen. Ihr habt Glück gehabt, ihm nicht begegnet zu sein, als Euch Sathomans Halsabschneider angegriffen haben.« »Allerdings«, murmelte der Kerner. »Und Sathomans Stützpunkt liegt in der Nähe?« woll te Calandryll wissen. »Im Norden«, antwortete Octofan. »Obwohl er sein Netz weit über die ganze Fayne ausgebreitet hat« »Hoffentlich begegnen wir ihm nicht…«, sagte Ca landryll und fügte im letzten Augenblick hinzu, »… noch einmal.« »Nur wenige überleben ein Zusammentreffen mit Sathoman, ob Anomius dabei ist oder nicht«, stimmte
ihm Octofan zu. »Ein zweites Mal würdet Ihr ihm be stimmt nicht entkommen.« »Müssen wir damit rechnen, daß er sich auf der Straße aufhält?« fragte Bracht. Octofan zuckte die Achseln und schob den leeren Tel ler von sich. Pilar stand auf und räumte das Geschirr ab. »Wer weiß, wo Sathoman sich herumtreibt? Vielleicht begegnet Ihr ihm, vielleicht auch nicht. Ihr solltet zu Burash beten, daß Ihr ihm nicht über den Weg lauft.« Er erhob sich und holte eine Pfeife und einen Beutel mit berauschendem Tabak. Denphat und Jedomus scho ben ihre Stühle zurück und verließen den Raum. Ca landryll bemerkte, daß beide ihre Bögen mitnahmen. Er schüttelte den Kopf, als Octofan ihm eine Pfeife anbot. Bracht lehnte ebenfalls ab. »Warum schickt der Tyrann den Liktoren nicht seine eigenen Zauberer zur Unterstützung?« fragte der Kerner. Octofan sog den Rauch tief ein und hielt ihn eine Wei le in den Lungen, bevor er ihn wieder in einer süßlichen blauen Wolke ausstieß und sagte: »Die meisten sind nach Iodrydus' Edikt geflohen, und den Rest möchte der Ty rann in seiner Nähe behalten. Einige wenige behüten die größeren Städte, aber der Tyrann bräuchte eine Armee von Zauberern, um Sathoman aus der Fayne-Festung zu vertreiben. Ich nehme an, daß er keinen Sinn in einer solchen Anstrengung sieht, solange die Liktoren auch weiterhin die Steuern für ihn eintreiben.« »Und deshalb müssen Menschen wie wir leiden«, warf
Pilar ein, die das Geschirr abwusch. »Cenophus kassiert die Steuern, Sathoman nimmt sich, was er will. Wenigs tens läßt er uns genug zum Leben. Gerade genug.« »Ist es nicht überall so?« fragte Octofan. Seine Stimme klang etwas undeutlich. »Die Bauern müssen immer leiden.« »In Lysse ist es anders«, widersprach Calandryll. »Ihr lebt in Städten, die von Mauern umgeben sind.« Es klang wie ein Vorwurf. Calandryll fiel keine Erwi derung darauf ein. Er zuckte die Achseln. Octofan sackte in seinem Stuhl zusammen, sog kräftig an seiner Pfeife und erfüllte den Raum mit Rauch. Pilar hatte den Ab wasch beendet, schob einen Stuhl neben den ihres Man nes und stopfte sich ihre eigene Pfeife. Bracht schenkte sich noch etwas Bier ein. Calandryll gähnte. Er fühlte sich angenehm gesättigt und schläfrig. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und Denphat und Jedomus erschie nen wieder. Sie legten ihre Bögen beiseite und bedienten sich mit dem Tabak ihres Vaters. Draußen warf der Mond silbriges Licht auf den Hof. Der rote Hund kratzte sich auf der Veranda, die Schweine grunzten. Irgendwo muhte eine Kuh, schnaubte ein Bulle. Schließlich legte Octofan seine Pfeife weg und erhob sich auf etwas unsi cheren Beinen. »Ihr könnt in der Scheune schlafen. Den Proviant wer de ich Euch morgen bringen.« »Vielen Dank.« Calandryll war froh über Octofans Worte; er wollte jetzt nur noch schlafen. Er verbeugte
sich in Richtung des Tisches. »Ich bedanke mich für das ausgezeichnete Essen, gute Frau.« Pilar nickte, lächelte träge und sagte nichts. Bracht reichte ihm den Schwertgürtel. Octofan ergriff eine Lam pe und öffnete die Tür, worauf sich der rote Hund regte und knurrte. Der Bauer brachte ihn mit einer Handbewe gung zum Verstummen und ging voraus zur Scheune. Er führte seine Gäste hinein und ließ sie dann allein. Es roch nach Heu und süßlichem Pferdeschweiß. Durch hohe schmale Fenster in der Vorderwand fiel Mondlicht auf das Stroh, das im hinteren Teil der Scheune aufgetürmt lag. Calandryll und Bracht breiteten ihre Decken aus und machten es sich darauf bequem. Nach dem harten Boden der Fayne war das Stroh äußerst einladend. Calandryll schloß die Augen, aber Brachts leise Stimme hinderte ihn daran, auf der Stelle einzuschlafen. »Zu den Gefahren, die uns durch die Chaipaku und Azumandias drohen, können wir jetzt also noch einen Briganten und einen abtrünnigen Zauberer hinzuzäh len.« »Wenigstens ist die Zauberei hier in Kandahar verbo ten«, erwiderte Calandryll. »Das müßte dir doch gefal len.« »Dann solltest du diesen roten Stein lieber möglichst gut verstecken.« Bracht lachte leise in sich hinein. »Oder aber Wir nehmen den Tyrannen auch noch in unsere Liste auf.« »Aye«, nuschelte Calandryll und wühlte sich tiefer in
das Stroh. Im ersten Augenblick wußte er nicht, was ihn geweckt hatte. Einen Moment lang glaubte er, die Sonne wäre aufgegangen und würde ihm ins Gesicht scheinen, dann, daß ihm irgendwer eine Lampe dicht vor die Augen halten würde. So dicht, daß er das rötliche Licht der Flamme durch die geschlossenen Lider wahrnehmen und die Wärme im Gesicht spüren konnte. Er rührte sich und legte abwehrend einen Arm über seine Augen. Der Mor gen konnte doch sicher noch nicht angebrochen sein … War vielleicht Octofan gekommen, um ihn zu wecken? Er grunzte unwillig und öffnete die Augen, Dunkelheit und die samtblaue Stille, die der Morgendämmerung vorausgeht, umgaben ihn, aber trotzdem war da ein schwaches rotes Schimmern. Nicht vor seinen Augen, sondern unter ihnen. Es kam von seiner Kehle! Von dort, wo der rote Stein hing! Er keuchte, tastete mit der rechten Hand nach dem Schwertgriff und rollte sich von seiner Decke, während alles in ihm schrie: Chaipaku! Noch bevor Calandryll völlig erwacht war, stand er schon mit gezogenem Schwert in der Hockstellung, die Bracht ihm beigebracht hatte, ein wenig unsicher auf dem schwankenden Stroh. Er sah den Mittelgang der Scheune, die schlafenden Pferde in ihren Verschlägen und den Hof draußen vor der Tür, auf den der unterge hende Mond sein weiches Licht warf. Calandryll wirbelte herum, kam im Stroh fast ins Stol
pern und erblickte die dunklen Umrisse des Kerners. Einen Moment lang durchzuckte ihn die gräßliche Furcht, sein Gefährte wäre im Schlaf erschlagen worden, und er hätte vor Erleichterung fast laut aufgelacht, als er Brachts leises Schnarchen hörte. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, konnte aber nichts Beunruhigendes entdecken, nicht das geringste Anzeichen einer drohen den Gefahr. Keine schwarzgekleidete Gestalt, die im Begriff war, sich auf ihn zu stürzen, keine Soldaten des Liktors. Ein Pferd furzte leise; draußen vor der Scheune heulte eine Eule in der Nacht. Calandryll blinzelte, während sich seine rasenden Ge danken etwas beruhigten, und berührte den Stein mit der linken Hand. Er fühlte sich warm unter seinen Fingern an, und als er ihn unter dem Hemd hervorzog, sah er ihn feurig glühen. Calandryll ließ ihn los. Varents Worte hallten wie ein Echo in seinen Ohren nach: Solltet Ihr auf irgendeine Form von Zauberei stoßen, wird die Flamme in dem Stein hell brennen, und er wird warm werden. Wenn das passiert, wißt Ihr, daß Magie in der Nähe ist. Er schnupperte in der Luft, konnte aber nur die Pferde und das Heu riechen, keine Spur von Mandelduft. Ca landryll ging einen Schritt auf Bracht zu und trat ihn unsanft in die Seite. Die regelmäßigen Atemzüge des Kerners stockten kurz, dann beschleunigten sie sich. Plötzlich sprang er von seiner Decke auf. Die Klinge des Krummschwertes schimmerte im schwindenden Mond licht, als sie aus ihrer Scheide sprang, und der Söldner
stand auf den Beinen, die Waffe in Abwehrhaltung erho ben. Er sah sich hastig um, erblickte Calandrylls weit aufgerissene Augen und runzelte fragend die Stirn. »Magie«, sagte Calandryll leise. »Es ist Magie irgend wo in der Nähe.« Erneut berührte er den Stein. Bracht bemerkte das Glühen und nickte. »Wo? Ich kann nichts entdecken.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber der Stein…« »Aye.« Bracht trat von dem Strohhaufen auf den festeren Bo den zwischen den Verschlägen. Seine blauen Augen huschten über die Pferde, kehrten zu Calandryll zurück und wanderten dann zum Dachboden hinauf, der sich unter der Last von Strohballen bog. »Dort oben! Bei Ahrd, was ist das?« Seine Stimme klang gedämpft. Calandryll folgte dem ausgestreckten Krummschwert mit dem Blick und keuch te. Im finstersten Winkel der Scheune, weit von der Tür entfernt, dort, wohin das Mondlicht nicht mehr drang, glühte irgend etwas. Es war wie das Elmsfeuer, das Ca landryll kurz vor einem Sturm zwischen Schiffsmasten hatte tanzen sehen, silbrig wie eine polierte Klinge, aber ohne zu flackern, irgendwie kompakt und reglos. Das Glühen ging von einer Gestalt aus, die eine Kreuzung
aus Mensch und Vogel zu sein schien, und je mehr sich Calandrylls Augen auf die Dunkelheit einstellten, desto klarer wurden die Konturen dieser Gestalt. Das Ding hockte am Rand des Dachbodens, die Greifklauen in die Kante gekrallt. Die gebeugten Knie verbargen den Groß teil des Körpers, der nach vorn geneigt war, als würde das Gewicht des kugelförmigen Kopfes an ihm zerren. Die hauchdünnen, auf dem Rücken gefalteten Hügel ragten bis zum Schädel hinauf, der nur aus Augen zu bestehen schien, riesig, rund und pechschwarz. Es gab kein Anzeichen für eine Nase, aber unterhalb der das Gesicht dominierenden Augen erblickte Calandryll eine schlitzartige Mundöffnung. Große fächerförmige Ohren saßen auf beiden Seiten des Kopfes. Er glotzte es an. Das Ding starrte zurück. Plötzlich er hob es sich lautlos und stürzte sich von der Kante des Dachbodens. Die Schwingen entfalteten sich wie silbrige Segel. Sie waren geschwungen und gezackt, so daß sie eher an Fledermausflügel als an Vogelflügel erinnerten. Das Geschöpf streckte die Beine wie einen Schwanz nach hinten aus und faltete die verkümmerten Arme vor der Brust. Es stieß auf Calandryll herab, der sich duckte und das Schwert erhob, als wolle er eine Fliege erschlagen. Die Kreatur wich ihm mühelos und blitzschnell aus, ohne ihre ausdruckslosen Augen auch nur einen Moment lang von seinem Gesicht zu nehmen, schwang sich in die Höhe und sauste dann wieder herab, diesmal über Brachts Kopf hinweg.
Der Kerner schlug mit dem Krummschwert zu, und wieder entging das unheimliche Geschöpf dem Hieb. Calandryll glaubte, ein Pfeifen aus dem lippenlosen Mund zu hören, fast jenseits des für menschliche Ohren wahrnehmbaren Frequenzbereichs. Dann schlug das Ding mit den Flügeln, schoß auf die Tür zu und in die Nacht hinaus. Calandryll sah Bracht herumwirbeln und dem Wesen hinterherlaufen. Er folgte ihm und erreichte die Tür gerade noch rechtzeitig, um es in den Himmel über dem schlafenden Bauernhaus steigen zu sehen, wo es in der sternengesprenkelten Schwärze verschwand. Calandryll warf einen Blick auf den Talisman, der jetzt nicht mehr glühte. »Es ist verschwunden«, sagte er und stellte fest, daß seine Stimme zitterte. »Was war das?« Bracht ließ das Krummschwert sin ken. »Hast du so etwas schon einmal gesehen?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Nicht gesehen, aber ich habe von solchen Geschöpfen gelesen. Man nennt sie Quyvhal – magische Kreaturen, die von Zauberern als Spione benutzt werden.« Von der Veranda her knurrte der rote Hund warnend. Bracht starrte noch eine Weile in den Himmel, dann drehte er sich um und kehrte in die Scheune zurück. »Ich könnte mir vorstellen, daß Azumandias uns gefunden hat«, sagte er. »Oder dieser andere Zauberer namens Anomius.« »Sathomans Zauberer?« Calandryll runzelte die Stirn. »Wieso sollte er nach uns suchen? Und woher könnte er
wissen, daß wir hier sind?« »Unsere Reise wirft mehr Fragen auf, als ich beant worten kann«, erwiderte Bracht achselzuckend. »Viel leicht hat der Magier unsere Anwesenheit irgendwie gespürt, oder er hat seine eigenen Gründe, nach uns zu suchen. Vielleicht hat er sich mit Azumandias verbündet oder meinetwegen sogar mit Varent.« »Sollen wir verschwinden?« Bracht schüttelte den Kopf. »Ich denke, das hätte kei nen Sinn. Wenn derjenige, der dieses Ding geschickt hat, uns hier finden konnte, dann kann er – oder auch sie, wer weiß? – uns auch ein zweites Mal finden. Und wir brau chen den Proviant, den Octofan uns versprochen hat. Also können wir auch noch bis zum Tagesanbruch war ten.« Calandryll warf einen kurzen Blick in die Himmel. Der Morgen schien noch in weiter Ferne zu liegen. »Wenigs tens hat uns das Ding nicht angegriffen«, sagte er. »Richtig«, erwiderte Bracht. »Aber wieso hat es uns ausspioniert? Von jetzt an sollten wir besonders wach sam sein.« »Vielleicht kann Octofan etwas Licht ins Dunkel brin gen«, schlug Calandryll vor. »Möglich, daß Octofan ihm von uns erzählt hat«, meinte Bracht. »Und wenn er den Absender dieses We sens kennt, könnte er uns feindlich gesonnen sein. Ich glaube, wir sollten lieber den Mund halten.« Calandryll nickte zustimmend und streckte sich auf
dem Stroh aus, obwohl er jetzt nicht mehr an Schlaf den ken konnte. Anscheinend mußten sie alles, was ihnen begegnete, voller Mißtrauen, jeden Kander als potentiel len Feind betrachten. Eine bedrückende Vorstellung. Er war froh, als die samtene Schwärze in das dunstige Grau des Morgens überging, und noch froher, als die ersten Sonnenstrahlen aufleuchteten und ein Hahn den anbre chenden Tag mit schrillem Krähen begrüßte. Pilar erschien auf dem Hof, nickte ihnen kurz zu und begann, die Eier einzusammeln. Dann tauchte Octofan auf und streckte sich gähnend, dicht gefolgt von Denphat und Jedomus. Sie winkten Calandryll und Bracht eben falls einen Gruß zu, bevor sie ihrer Arbeit auf dem Hof nachgingen. Alle verhielten sie sich völlig unbefangen, während sich ihre Gäste hinter der Scheune wuschen, die Pferde sattelten und Vorbereitungen für die Weiterreise trafen. Etwas später ritten Octofans Söhne davon, um die Rinder zu hüten. Pilar hatte ein reichhaltiges Frühstück zubereitet, und ihr Mann brachte Calandryll und Bracht genug Proviant für den Ritt nach Kesham-vaj: Trocken fleisch, einen Sack Gemüse, Mehl, Salz und ein bißchen Zucker. »In Kesham-vaj könnt Ihr Euch mit mehr Proviant eindecken«, sagte er, »falls Euch Sathoman nicht den Weg versperrt. Wenn Ihr zügig reitet, müßtet Ihr die Stadt in drei bis vier Tagen erreichen,« »Gibt es weitere Ansiedlungen auf dem Weg?« wollte Bracht wissen.
Octofan schüttelte den Kopf. »Nicht in der Nähe der Straße. Es gab eine Karawanserei, aber die ist von Sathoman niedergebrannt worden, und Anomius hat sie verflucht. Sie ist nie mehr aufgebaut worden. Die Leute meiden sie.« Calandryll betrachtete das Gesicht ihres Gastgebers genau, konnte aber kein Anzeichen von Hinterlist in den tiefliegenden Augen entdecken. Er dankte dem Bauern, und sie trugen die Säcke zu den wartenden Tieren. Octo fan schob den Riegel beiseite und öffnete ihnen das Tor. »Burash möge Euch beschützen«, sagte er zum Abschied. Calandryll und Bracht ließen den Hof hinter sich und folgten dem schmalen Pfad zurück zur Straße. Der Himmel war hellblau und klar bis auf den Nord osten, wo Wolkentürme den Rand des Gebirges anzeig ten. Die Sonne war eine goldene Scheibe, die noch tief im Osten stand. Von dem lästigen Gaheen war nichts mehr zu spüren. Statt dessen ließ ein sanfter, angenehm kühler Wind das Gras, das die Straße säumte, leise rascheln. Nichts erinnerte mehr an den unheimlichen nächtlichen Vorfall, der strahlende junge Tag hatte die Magie vertrie ben. Vögel sangen in den Bäumen, die hier und da in der Hügellandschaft wuchsen, andere zogen ihre Kreise vor dem Blau des Himmels. Das sanfte Land schien keinerlei Gefahren zu beher bergen, obwohl die vielen Hügelkämme und Täler eine gute Deckung boten, hinter der sich mit Leichtigkeit Reiter hätten verstecken können.
Calandryll bemerkte, daß Bracht ständig die Hand in der Nähe des Schwertgriffes hielt, den Blick auf den Weg vor sich gerichtet hatte und sich von Zeit zu Zeit im Sat tel umdrehte, um die Straße hinter ihnen zu beobachten. Außer Denphat und Jedomus, die ein paar Rinder zu ihrer Farm zurücktrieben und ihnen von einem flachen Hang aus zuwinkten, bis sie hinter den Hügeln außer Sicht verschwunden waren, begegneten sie niemandem und entdeckten keinerlei Anzeichen menschlicher An siedlungen, sahen nur vereinzelt weidende Rinder, wachsame Hasen und kreisende Vögel. Gegen Mittag legten sie eine Rast ein, um etwas zu es sen und den Pferden ein wenig Ruhe zu gönnen. Der weitere Ritt verlief bis zum späten Nachmittag ereignis los. Die Sonne sank dem Horizont entgegen, lange Schatten krochen über das Land. Der Wind war eingeschlafen. Abgesehen vom Summen der Insekten herrschte Stille. Am Himmel kreisten noch immer Vögel, schraubten sich vor ihnen in einer abfallenden Spirale aus dem Azurblau herab und landeten irgendwo hinter einem Hügelkamm. Die Straße führte über den Osthang hinauf, zwischen einem kleinen Gehölz hindurch, in dem schwarze Vögel hockten, und verschwand hinter der Kuppe außer Sicht. Bracht zügelte sein Pferd. »Aasfresser.« Er deutete auf die Spirale aus schwarzen Vogelleibern. Seine Augen verengten sich mißtrauisch
und angewidert. »Wir sollten lieber äußerst vorsichtig sein und nicht auf geradem Weg weiterreiten.« Er lenkte sein Pferd von der Straße und ritt durch das hohe Gras parallel zum Hügelkamm voraus. Calandryll folgte ihm, wobei er wachsam den roten Stein auf seiner Brust im Auge behielt. Der Anhänger blieb matt, kein Glühen warnte vor Zauberei. Sollte vor ihnen irgendeine Gefahr lauern, dachte Calandryll, dann war sie jedenfalls nicht magischen Ursprungs. Er legte eine Hand auf den Schwertgriff und lockerte die Klinge in der Scheide, be reit, die Waffe sofort zu ziehen. Vor ihm hielt Bracht sein Pferd an, und Calandryll lenkte das seine neben ihn. Der Kerner bedeutete ihm mit einer Geste abzusteigen und drückte ihm die Zügel beider Tiere in die Hand. »Du wartest hier«, sagte er so leise, daß seine Stimme im Rascheln des Grases fast nicht zu hören war. »Ich klettere den Hang hinauf.« Calandryll wollte widersprechen, aber der Söldner brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Es ist meine Aufgabe, für deine Sicherheit zu sorgen. Vielleicht wartet Sathoman auf der anderen Seite, viel leicht liegt da auch nur eine tote Kuh, aber diese Vögel fressen irgend etwas, und ich werde nachsehen, was es ist. Warte auf mein Zeichen. Und wenn du fliehen mußt, dann spring auf dein Pferd und reite zurück zu Octofans Bauernhof. Hast du das verstanden?« Calandryll nickte wortlos und sah zu, wie der Kerner den flachen Hang hinaufstieg. Als Bracht nicht mehr weit
von der Hügelkuppe entfernt war, ließ er sich auf den Bauch nieder und robbte weiter, bis er hinüberspähen konnte. Nach einer Weile stand er wieder auf und winkte seinem Gefährten zu, ihm zu folgen. Calandryll bestieg sein Pferd und ritt den Hügel hinauf, Brachts Tier am Zügel führend. Der Kerner kam ihm entgegen und nahm ihm die Zü gel ab. Beide Tiere begannen unruhig zu werden, rissen mit angelegten Ohren und rollenden Augen an ihrem Zaumzeug und schnaubten nervös. »Steig ab«, befahl Bracht wortkarg. Calandryll gehorchte. »Was ist los?« Statt einer Antwort führte Bracht ihn einfach zur Hü gelkuppe und deutete mit einem Kopfnicken auf die dahinter liegende Senke. »Das Blut ist noch so frisch, daß sie es riechen können. Halte dein Pferd fest, sonst geht es durch.« Noch während der Kerner das sagte, begann Ca landrylls Pferd auch schon auszuschlagen, und er konnte es nur mit Mühe beruhigen, während er den Hügel hin abstarrte. Er war sich nicht sicher, ob das Beben, das durch seinen Körper lief, von ihm oder von seinem Tier stammte. Raben und Krähen flatterten aus dem Himmel herab und stolzierten dort, wo die Straße zwischen den Hügeln abfiel, im niedergetrampelten Gras herum. Die Luft war mit ihrem Krächzen erfüllt, ihre Schwin gen verdunkelten den Boden. Sie hüpften zwischen den
Leichen von etwa zwanzig Männern und ebensovielen Pferden umher, hockten auf pfeilgespickten Brustkörben und blutverschmierten Rüstungen und rissen und zerr ten an den Kadavern herum. Sie waren viel zu tief in ihren Festschmaus versunken, um die Zuschauer auf der Hügelkuppe zu beachten. Schwerter und Lanzen mit scharlachroten Wimpeln, viel leuchtender als das geron nene Blut auf den Pferden und Soldaten, ragten wie Grabsteine und Grabkreuze aus der Erde. Calandryll sah, daß die Toten den typischen scharlachroten Hals- und Nackenschutz, der sie als Soldaten des Liktors auszeich nete, und die gleichen konischen Helme und lederartigen Brustpanzer wie Philomens Leute trugen. »Was ist hier passiert?« fragte er leise und verzog das Gesicht, als der Wind ein wenig drehte und ihm der Leichengeruch in die Nase stieg. »Ich könnte mir vorstellen, daß Cenophus die Steuern eintreiben wollte oder vielleicht Sathoman gesucht hat«, erwiderte Bracht. »Ich denke, er hat ihn gefunden.« Er näherte sich den Bäumen und streckte die Hand aus. »Siehst du die beiden dort drüben?« Er deutete auf zwei Soldaten, die zusammen mit ihren Pferden, aus deren Leibern eine Menge Pfeile ragten, dicht neben der Straße lagen. »Das waren die Späher. Sie sind in einen Hinter halt bei den Bäumen geraten. Dreißig bis vierzig Männer haben sich zu beiden Seiten der Straße versteckt gehal ten. Als sich die Soldaden der Senke genähert haben, sind sie angegriffen worden.«
Calandrylls Blick folgte dem ausgestreckten Arm. Er sah hinter den Leichen zertrampeltes Gras und Pferde mist, der von Fliegen wimmelte. Bracht schlug die Handflächen zusammen. »Sie haben gleichzeitig von beiden Seiten zugeschlagen. Mit Bogen schützen, die sich im Gehölz versteckt hatten. Diese dort«, deutete auf drei Männer in der Mitte des Hanges und fünf weitere, die etwas weiter nördlich in der Senke lagen, »haben einen Fluchtversuch unternommen. Der Rest hatte nicht die geringste Chance.« »Sie sind regelrecht niedergemetzelt worden«, flüster te Calandryll. »Ihr Offizier war unvorsichtig«, sagte Bracht. »Er hat sie in einen Hinterhalt geführt.« Calandryll riß seinen Blick von dem Blutbad los und betrachtete das Gesicht des Kerners. Es wirkte kalt, das Massaker schien ihn nicht zu berühren. Er erschauderte. Bracht hatte so etwas bestimmt früher schon gesehen, für Calandryll hingegen war es das erste Mal, und ganz plötzlich sprang ihn der übelkeiterregend süßliche Ge ruch des Todes an, drang ihm das Geräusch von Schnä beln, die Fleischfetzen aus den Leichen herausrissen, in die Ohren. Er spuckte aus, schluckte mühsam und kämpfte gegen den bitteren Geschmack an, der ihm in der Kehle hochstieg. »Der Überfall ist nicht länger als einen Tag her«, sagte Bracht. »Woher weißt du das?« Calandryll hoffte, daß seine
Stimme fester klang, als sie ihm vorkam. Er zwang sich dazu, den Blick nicht abzuwenden, sich nicht umzudre hen und zu übergeben. »Die Leichen sind noch frisch. Sie haben immer noch Fleisch auf den Knochen.« Calandryll ächzte. »Was sollen wir tun?« »Wahrscheinlich war es Sathoman, der sie überfallen hat. Wir sind ihm nicht auf der Straße begegnet, also befindet er sich entweder auf der Straße zwischen hier und Kesham-vaj, oder irgendwo da draußen.« Bracht deutete auf die hügelige Landschaft. Jetzt, da die Sonne tief am Himmel stand, lagen die Senken bereits im Schat ten. »Wir werden versuchen, ihm nicht über den Weg zu laufen. Warte hier.« Bevor Calandryll widersprechen konnte, hatte sich der Kerner in den Sattel geschwungen und trabte den Hü gelkamm entlang. Bei den Bäumen hielt er an. Die vollge fressenen Krähen krakelten protestierend, als er sich langsam der Straße näherte und ihr dann ein Stück lang folgte. Calandryll hielt sein unruhiges Pferd fest. Er war jetzt selbst nervös, rechnete fast schon damit, die Wege lagerer wieder auftauchen zu sehen, und wartete unge duldig auf Brachts Rückkehr. Voller Sorge sah er zu, wie der schwarz gekleidete Mann den Hang hinab- und auf der anderen Seite wieder hinaufritt, und seine Nervosität wurde noch größer, als Bracht außer Sicht verschwand. Doch schon bald tauchte der Kerner wieder auf der Hü gelkuppe auf, und Calandryll stieß einen langen Seufzer
der Erleichterung aus. Bracht wartete auf dem Hügel und winkte Calandryll zu sich. Calandryll stieg in den Sattel und schlug einen Bogen, um nicht mitten zwischen den Leichen hindurchreiten zu müssen. Krähen und Raben protestierten schrill, als er in ihre Nähe kam. Einige flatterten auf, die meisten aber waren viel zu vollgefressen, um noch fliegen zu können. Er erreichte die Straße und brachte das Pferd auf der Hügelkuppe neben Bracht zum Stehen. »Sie sind vor uns.« Bracht deutete nach Südwesten. »Sie haben sich in der Senke gesammelt und sind der Straße nach Kesham-vaj gefolgt.« »Dera!« keuchte Calandryll. »Sie lagern irgendwo zwi schen uns und der Stadt?« »Möglich.« Bracht hob die Schultern. »Vielleicht sind sie auch abgebogen. Octofan hat gesagt, die FayneFestung liegt irgendwo im Norden.« »Bei Dera – und bei Burash! –, hoffentlich haben sie das getan«, sagte Calandryll inbrünstig. »Ich werde merken, ob sie abgebogen sind oder weiter der Straße folgen«, versicherte Bracht. »Bis dahin sollten wir besser weiterreiten.« Calandryll war nur allzu glücklich über diesen Vor schlag. Er wollte eine möglichst große Strecke zwischen sich und den Schauplatz des Blutbades bringen, bevor sie ihr Nachtlager aufschlugen.
Den Pferden schien es ähnlich zu gehen, denn sie fie len bereitwillig in einen Galopp und wurden erst wieder ruhiger, als die blutgetränkte Senke weit hinter ihnen lag. Der Sonnenuntergang stand unmittelbar bevor. Im Os ten wurde der Himmel bereits dunkel, und der Voll mond war aufgegangen. Von der dunklen Spirale lan dender Vögel über der Senke war in der hereinbrechen den Dämmerung nichts mehr zu sehen, und Calandryll fühlte sich einigermaßen erleichtert, bis Bracht sein Pferd in den Schritt fallen ließ und nach oben starrte. »Ich glaube, wir werden beobachtet«, sagte er lang sam. Calandryll legte den Kopf in den Nacken, konnte aber nur den wolkenlosen Himmel und die Silhouette eines dort kreisenden Vogels sehen. Er schüttelte verständnis los den Kopf. »Seit wir den Bauerhof verlassen haben, haben wir Vögel am Himmel gesehen«, erklärte Bracht. »Den gan zen Tag lang. Jetzt sind alle verschwunden. Bis auf die sen da.« »Und?« fragte Calandryll. »Die Nacht bricht herein, und die Vögel suchen sich ihre Schlafplätze«, erwiderte Bracht. »Nur dieser nicht.« Calandryll hob erneut den Kopf. Der Vogel schwebte noch immer über ihnen, die Schwingen weit ausgebreitet, um den Auftrieb auszunutzen. Calandryll zog den roten Stein unter dem Hemd hervor und sagte: »Er glüht nicht. Er zeigt keine Spur von Magie an.«
»Trotzdem.« Bracht sah sich um. »Heute nacht werden wir abwechselnd Wache halten.« Sie fanden eine Stelle, wo ein bewaldeter Hügel einen scharfen Knick beschrieb. Die Hügelflanken boten nach zwei Richtungen Schutz und versperrten den Blick auf die Straße. Bracht beauftragte Calandryll damit, Brenn holz zu sammeln, während er selbst die Umgebung er forschte. Kurz darauf kehrte er zurück, berichtete, daß keine Gefahr drohte, und hockte sich nieder, um eine kleine Feuerstelle vorzubereiten, so klein, daß man den Feuerschein über den Hügelkuppen nicht würde sehen können. Zwielicht lag über dem Einschnitt zwischen den Hängen, und der Himmel wurde dunkel. Calandryll spähte nach oben, aber wenn der Vogel, den Bracht ent deckt hatte, noch da war, konnte er ihn in der heraufzie henden Nacht jedenfalls nicht mehr erkennen. »Sie sind immer noch vor uns«, sagte Bracht. »Unge fähr vierzig Mann, die der Straße folgen, als wäre ihr Ziel Kesham-vaj.« »Wie weit vor uns?« fragte Calandryll, während der Kerner mit einem Feuerstein Funken schlug und in den dürren Zweigen ein kleines Flämmchen zum Leben er weckte. »Einen Tagesritt«, sagte Bracht. »Vielleicht auch zwei. Sie reiten in einem gemächlichen Tempo.« Calandryll sah zu, wie der Söldner Wasser in einen Topf goß und Gemüse hineinwarf. Bald köchelte ein einfacher Eintopf, und über dem Feuer buken Brotfladen.
»Warum reiten sie nach Kesham-vaj?« wollte er wis sen. »Wegelagerer würden es doch bestimmt nicht wa gen, eine Stadt zu überfallen.« Bracht rührte den Eintopf um. Der Feuerschein fiel auf sein Gesicht und betonte seine scharfen Gesichtszüge. In seinen blauen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. »Wenn das da hinten Cenophus war, dann ist Kesham-vaj jetzt vielleicht ohne Schutz. In Mherut'yi hatte Philomen nicht mehr als zwanzig Mann unter seinem Kommando. Es wäre möglich, daß alle Soldaten von Kesham-vaj hier auf der Straße gestorben sind und Sathoman jetzt vorhat, die Stadt zu erobern.« »Dann stellt Kesham-vaj für uns ein Hindernis dar«, murmelte Calandryll. »Wenn Sathoman die Stadt bela gert – oder sogar schon eingenommen hat –, wird er uns kaum unbehelligt durchziehen lassen.« »Nein«, stimmte ihm Bracht zu, »aber die Straße ist der kürzeste Weg nach Nhurjabal. Ein Umweg würde uns viel Zeit kosten. Hast du Varents Karte da?« Calandryll nickte, zog sie aus der Umhängetasche und breitete sie neben dem Feuer aus. »Die Karawanserei liegt hier.« Er tippte mit dem Fin ger auf die entsprechende Markierung und ließ ihn die dunkle Linie entlangwandern, die die Straße des Tyran nen darstellte. »Und hier ist die Hauptstraße. Da ist Kesham-vaj, und von dort aus führt die Straße weiter nach Nhurjabal.« »Und das hier?« fragte Bracht. Er deutete auf die feine
Beschriftung, die die Gegend umgab. »Was steht da?« Calandryll las die Anmerkungen. »Das Gelände steigt beständig an«, sagte er. »Die Karawanserei liegt am Fuß einer Hochebene. Kesham-vaj ist nicht weit von ihrem Rand entfernt. Die Hochebene erstreckt sich bis hier«, er folgte einer Linie mit dem Finger, »und fällt dann zu einem hügligen Landstrich ab. Vor Nhurjabal steigt das Gelände dann wieder an.« »Das ist die Straße?« Bracht fuhr mit dem Finger an einer dunkleren Linie entlang. Calandryll murmelte zustimmend. »Wenn Sathoman also Wachposten am Rand der Hochebene postiert hat, werden sie uns kom men sehen. Ein Wachposten würde so angelegt sein, daß die Straße deutlich sichtbar ist und in Reichweite von Bogenschützen liegt. Was ist das da?« Er deutete auf eine abgedunkelte sichelförmige Fläche, die die Hälfte des südwestlichen Randes der Hochebene umschloß. »Wald«, sagte Calandryll. »Und auf der Karte sind keine Pfade verzeichnet, die hindurchführen.« »Also würden wir eine Menge Zeit brauchen, um das Gebiet zu durchqueren«, knurrte Bracht. »Ist das Nhurja bal?« Er legte den Finger auf eine Stelle, an der ein Ausläu fer des Kharmrhanna-Gebirges in das Kernland von Kandahar hineinragte. »Ja«, bestätigte Calandryll. »Siehst du? Von Kesham vaj aus führt die Straße pfeilgerade nach Nhurjabal. Die
Gegend dazwischen ist nicht einheitlich, Wald- und Hügelland wechseln sich ab. Es könnte durchaus kleinere Wege geben, aber sie sind nicht auf der Karte verzeich net.« Bracht knurrte erneut, hockte sich auf seine Fersen und starrte ins Feuer. »Wir werden es mit der Straße versuchen«, entschied er nach einer Weile, »aber bei Nacht. Mit etwas Glück wird Sathoman mit der Belagerung oder Eroberung der Stadt beschäftigt sein, und wir können das Hochland unbemerkt erreichen. Dann reiten wir um Kesham-vaj herum.« »Und wenn sie uns trotzdem entdecken?« wollte Ca landryll wissen. Bracht grinste. »Dann ziehen wir den Schwanz ein und rennen, was das Zeug hält. Den Hang hinunter, dann nach Süden und im Bogen durch den Wald. Wenn sie eine Stadt einnehmen wollen, werden sie sich kaum die Mühe machen, zwei Leute zu jagen.« Er schien mit seinem Plan zufrieden zu sein, und da Calandryll keinen besseren Vorschlag zu machen hatte, nickte er zustimmend. Der Kerner probierte den Eintopf und verkündete, daß das Essen fertig sei. Sie aßen, und Bracht schlug Calandryll vor, die erste Wache zu über nehmen. Die Nacht war recht warm, und obwohl das Feuer nur klein war, verbreitete es doch eine behagliche Atmosphä re. Calandryll machte es sich bequem, das Schwert über
die Knie gelegt, und sah zu, wie die Sterne am Himmel erschienen. Ab und zu warf er einen Blick auf den roten Stein, aber nichts deutete darauf hin, daß Magie in der Nähe war, und er kam zu dem Schluß, daß der Vogel, den Bracht entdeckt hatte, nichts anderes als eben ein gewöhnlicher Vogel war. Der innere Aufruhr, den er beim Anblick des Massakers empfunden hatte, klang allmählich ab, und mit der Zeit begann er, sich zu lang weilen. Also stand er auf, stieg auf den Hügelkamm hinauf und ließ den Blick über das Land schweifen, das sich in der Dunkelheit vor ihm ausbreitete. Er konnte kein Lebenszeichen entdecken, kein Lagerfeuer von den Männern, die sich irgendwo vor ihnen befanden, kein Geräusch, das eine Gefahr ankündigte, und so kehrte er zu seinem Wachposten am Feuer zurück und weckte Bracht zur vereinbarten Zeit. Der Kerner riß ihn aus dem Schlaf, als der Einschnitt zwischen den Hügeln noch im grauen Dämmerlicht lag. Er reichte ihm einen Becher Tee und eine Schüssel mit aufgewärmtem Eintopf. Sie frühstückten, sattelten ihre Pferde und kehrten mit dem Sonnenaufgang auf die Straße zurück. »Er ist immer noch da.« Bracht deutete nach oben, wo der einsame dunkle Punkt scheinbar bewegungslos vor dem heller werdenden Himmel schwebte. Calandryll kniff die Augen zusammen und versuchte, die Umrisse zu erkennen, aber der Vogel flog zu hoch. Er konnte lediglich undeutlich ein Paar Flügel und einen fächer förmigen Schwanz ausmachen. Auch der Talisman gab
keinen Hinweis auf Zauberei. Calandryll zuckte die Ach seln und sagte sich, daß sein Gefährte wohl übervorsich tig war. Gegen Mittag allerdings begann er, Brachts Befürch tungen zu teilen, denn der Vogel folgte ihnen immer noch. Ein gewöhnliches Tier hätte eigentlich längst das Interesse an ihnen verlieren müssen. In dieser Nacht lagerten sie an einem Bach im Schutz von Trauerweiden. Wieder hielten sie abwechselnd Wa che, und als der Morgen graute, war der Vogel immer noch da. Das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, beunruhigte Calandryll zunehmend. Daran änderte sich auch nichts, als sie auf die rauch geschwärzten Ruinen der Karawanserei am Rande der Straße stießen. Die ehemals weißen Steinmauern waren rußverschmiert, das Dach in sich zusammengefallen, die Fenster dunkle, gähnende Öffnungen. Geschmolzenes Glas war über die Fensterbänke gelaufen und zu gefro renen Tränen erstarrt. Unkraut und Gras hatten den Hof erobert und waren von Pferdehufen zertrampelt worden. Der herumliegende Pferdemist war noch so frisch, daß ihn Fliegen umschwirrten. Ein längst verwester Kadaver hatte den Brunnen vergiftet. Bracht betrat das verwüstete Gebäude zu Fuß. Nach einer Weile kam er wieder zum Vorschein und berichte te, daß Sathomans Leute – falls es wirklich sie waren, denen sie folgten – letzte Nacht zwischen den eingestürz ten Mauern ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Calandryll betrachtete die Ruine und fragte sich, was für eine Art von Mann der Rebellenlord wohl sein moch te, wenn er eine Raststätte nicht nur zerstörte, sondern auch noch den Brunnen vergiftete. Die menschenleere Gegend ließ die Überreste der Karawanserei noch trauri ger aussehen, und er war froh, als sie sie endlich hinter sich gelassen hatten. Am späten Nachmittag sahen sie die Hochebene vor sich aufragen. Die Straße führte gerade darauf zu und schlängelte sich dann in Zickzackkurven den steilen Hang hinauf. Sie war breit genug, um mit Wagen befah ren werden zu können, größtenteils gepflastert und auf ihrer gesamten Länge in Reichweite von Bogenschützen, falls welche am oberen Rand des Steilhangs Posten bezo gen hatten. Die Wolkentürme, die Calandryll und Bracht über dem Kharmrhanna gesehen hatten, waren näher gezo gen, und mit etwas Glück würden sie sich vor den ab nehmenden Mond schieben. In einem Hain schlanker Birken zügelte Bracht sein Pferd und musterte die Straße. Der Wind, der die Wolken vor sich hertrieb, ließ die blassen Blätter rascheln. »Es wäre mir lieber, der Mond würde untergehen«, bemerkte er, »aber wenn alles gutgeht, könnten uns die Wolken helfen. Wir werden hier warten, bis es völlig dunkel ist, und dann weiterreiten. Bis dahin solltest du versuchen, so viel Schlaf wie möglich zu bekommen.« Calandryll nahm seinem Pferd den Sattel ab, band es
fest, streckte sich im Gras aus, lauschte dem Summen der Insekten und starrte zwischen den Bäumen hindurch in den Himmel. Der Vogel war immer noch da, ein lautlo ser, allgegenwärtiger Beobachter, aber als sich Calandryll umdrehte, um Bracht darauf anzusprechen, schlief der Kerner bereits. Calandryll zuckte seufzend die Achseln. Er selbst war viel zu nervös, um einschlafen zu können. Bei Einbruch der Dunkelheit aßen sie kaltes Fleisch und Brotfladen, zurrten ihr Gepäck fest und opferten eine Decke, um damit das Zaumzeug und die Hufe ihrer Pferde zu umwickeln. Die Wolken waren über den Rand der Hochebene ge trieben und sahen im Mondlicht silbern aus. Sie überzo gen die Straße mit einem filigranen Muster aus Schatten und wechselndem Licht. »Langsam und leise«, mahnte Bracht, als sie in die Sättel stiegen, »und kurz bevor wir den Rand der Hoch ebene erreichen, gehen wir zu Fuß weiter. Achte darauf, daß dein Pferd ruhig bleibt.« Calandryll nickte. Sein Mund war trocken. Er folgte dem Söldner, der die Deckung der Bäume verließ und sich dem Berghang näherte. In der Dunkelheit kam ihm die Strecke viel länger und er sich wie eine Zielscheibe für Bogenschützen vor. Er fragte sich müßig, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, einen Umweg und damit eine Verzögerung in Kauf zu nehmen. Nein, beantworte te er sich seine Frage selbst, sie mußten Kharasul so schnell wie möglich erreichen und ein Schiff finden, das
nach Gessyth segelte. Wenn Azumandias ihnen die ge heimnisvolle Frau hinterhergeschickt hatte, würde sich ihr Kriegsboot – vorausgesetzt, sie hatte den magischen Sturm überlebt – jetzt wahrscheinlich bereits Cape Vishat'yi nähern, und wenn sie Kharasul vor ihnen erreich te… Er verdrängte diesen beängstigenden Gedanken. Di rekt vor ihnen lauerte Gefahr. Er mußte sich jetzt voll auf diese Aufgabe konzentrieren und durfte sich nicht von anderen Problemen ablenken lassen. Die Straße wand sich in Rechts- und Linkskehren den Hang hinauf. Zwei Rinnen liefen durch den Straßenbe lag, wo die Pflastersteine von den Wagenrädern tiefer in den Boden eingedrückt worden waren. Die umwickelten Hufe der Pferde klopften gedämpft auf das Pflaster. Neben der Straße ragten kleine Bäume und Büsche aus dem abschüssigen Gelände hervor, die ein wenig De ckung boten. Der Wind war stärker geworden und hatte Wolkenfet zen vor den Mond getrieben, so daß Calandryll und Bracht durch ein Wechselbad aus Licht und Schatten ritten wie zwei Geisterreiter, die sich einem Ungewissen Schicksal entgegenmühten. Ewigkeiten schienen zu vergehen, während Calandryll jeden Augenblick damit rechnete, einen Warnschrei, das Sirren einer Bogensehne, das Zischen eines Pfeils zu hören und den scharfen Schmerz einer Pfeilspitze zu spüren, die sich in sein Fleisch bohrte. Und doch, auf eine
Weise, die er nicht vollständig erfassen konnte, war diese Anspannung leichter zu ertragen, als sich Magie ausge setzt zu sehen. Auch wenn er Lord Varents Stein benutz te, blieb die Zauberei doch ein Geheimnis für ihn, ein dunkles und unerklärliches Phänomen. Als er damals in Lysse den Dämonen begegnet war, hatte er sich hinterher übergeben müssen, und auch das Ding in Octofans Scheune hatte ihn zutiefst verunsichert, obwohl es sich nicht als Bedrohung erwiesen hatte. In der Magie lag etwas Unberechenbares verborgen, die Ah nung, daß sich dunkle Kräfte erheben und ihm Schlim meres als nur körperliche Verletzungen zufügen könn ten. Als er sich jetzt hinter Bracht die Steigung hinaufmüh te, dachte er nur an körperliche Gefahren, an einen An griff gegen den er sich, wie unvollkommen auch immer, irgendwie wehren konnte. Und so ritt er weiter, bis der Kerner sein Pferd zum Stehen brachte und abstieg. Ca landryll glitt ebenfalls aus dem Sattel Und nahm die Zügel beider Pferde, während Bracht zu Fuß weiter schlich. Calandryll wartete eine unbestimmbare Zeitspanne lang im pfeifenden Wind, der in dieser Höhe kühl blies. Dann kehrte Bracht zurück, tauchte wie ein kompakter Schatten aus der Finsternis auf. Durch sein dunkles Haar, seine Haut und seine Kleidung war er für solche Unter nehmungen sehr viel besser geeignet als Calandryll. Seine Stiefel verursachten kein Geräusch, als er näher
kam und seinen Mund dicht an Calandrylls Ohr brachte. »Da waren zwei Wachen.« Waren zwei Wachen? »Der Rest lagert ein Stück weiter weg vor der Stadt. Wir werden direkt am Rand der Böschung entlang in südlicher Richtung um sie herumreiten.« Bracht nahm Calandryll die Zügel aus der Hand, und sie legten die letzte Strecke des Aufstiegs zurück. Die Straße führte an einer Felssäule vorbei und weiter in das ebene Hochland hinein. Ein Mann saß gegen die Felssäule gelehnt, als würde er schlafen. Ein Bogen lag auf seinen ausgestreckten Beinen und das Kinn war ihm auf die Brust gesunken. Als ein Mondstrahl ihn einen Moment lang aus der Dunkelheit riß, bemerkte Ca landryll einen schwärzlichen Fleck auf der Brust des Briganten. Auf der anderen Seite der Straße entdeckte er einen zweiten Mann zwischen ein paar Büschen. Auf den ersten Blick schien es, als würde der Wachposten gemüt lich mit dem Rücken an einem Baum lehnen, einen Arm lässig über einen Ast gelegt, doch bei genauerem Hinse hen erkannte Calandryll, daß die Beine des Mannes schlaff waren, sein Oberkörper nur mit Hilfe der Bogen sehne an dem Baumstamm aufrecht gehalten wurde und sich unter dem ebenfalls auf die Brust gesunkenen Kinn der gleiche dunkle Fleck wie bei seinem Kameraden abzeichnete. »Du hast sie beide getötet«, flüsterte Calandryll. »Ja, sonst hätten sie uns entdeckt.« Bracht warf ihm ei
nen irritierten Blick zu, als würde er diese Feststellung für überflüssig halten. »Komm jetzt, da entlang.« Calandryll riß den Blick von den beiden Toten los, als der Kerner am Rand der Hochebene entlangschlich und sein Pferd am Zügel führte. Sathomans Männer waren viel zu nahe, als daß er es gewagt hätte, aufzusteigen und loszugaloppieren. Kesham-vaj lag nicht weit entfernt, eine Ansammlung niedriger Steinhäuser. Die Stadt erinnerte an Mherut'yi, war aber größer und wurde von den Feuern erhellt, die in und außerhalb der Stadt brannten. Die Briganten hat ten in einem Kreis um die Stadt herum ihre Zelte aufge schlagen und große Lagerfeuer entfacht. Von unten war davon nichts zu sehen gewesen, aber hier oben spende ten die Feuer genug Licht, daß Calandryll die ange pflockten Pferde und Gruppen von Männern erkennen konnte, die die Stadt belauerten. Sie wirkten wie ein Rudel hungriger Wölfe, das nur darauf wartete, daß seine Beute müde wurde. Die Flammen schleuderten Funken in den Himmel und erzeugten eine der Situation völlig unangemessene heitere Atmosphäre. Calandryll konnte laute Rufe hören, die zwischen den Lagerfeuern und der Stadt hin und her hallten. »Wir müssen einen Bogen schlagen.« Brachts flüstern de Stimme riß ihn aus seinen Betrachtungen. »Wahr scheinlich brauchen wir dazu die ganze Nacht. Aber bis zum Tagesanbruch müßten wir es geschafft haben. Soll ten sie uns entdecken, dann spring in den Sattel und
galoppier nach Westen.« Calandryll nickte und folgte dem Kerner durch das Gestrüpp, das an der Abbruchkante der Hochebene wuchs, wobei er ständig die Lagerfeuer im Auge behielt. Er war so sehr darauf konzentriert, sich lautlos zu bewe gen, und seine Aufmerksamkeit wurde so sehr von der Nähe der Briganten abgelenkt, daß er weder an den roten Stein dachte noch sein Glühen bemerkte. Als er die Wärme auf seiner Brust spürte und den Mandelduft roch, flammte auch schon ein helles Licht vor ihnen auf, als wäre urplötzlich ein einzelnes Lager feuer auf ihrem Weg entzündet worden. Er fluchte, als sein Pferd scheute und mit einem schrillen Wiehern auf die Hinterhand stieg, sah, wie Brachts Pferd das gleiche tat, der Söldner die Zügel mit eisernem Griff umklam mert hielt, das Krummschwert aus der Scheide zerrte und sich gleichzeitig in den Sattel schwang. Ein heißer Windstoß sprang Calandryll an und schleuderte ihn zu Boden. Das Pferd riß ihm die Zügel aus der Hand, preschte voller Panik mit trommelnden Hufen davon und wurde von der Nacht verschluckt. Bracht drehte sich auf der Stelle, kämpfte mit seinem völlig verängstigten Pferd und wurde plötzlich wie von einer unsichtbaren riesigen Hand gepackt und aus dem Sattel gehoben. Er landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Bo den, wurde von dem gleichen heißen Wind erfaßt und wirbelte sich immer wieder überschlagend, über den
Boden, bis er gegen Calandryll prallte. Dann drehte der Wind, kam von oben und nagelte sie mit unbarmherziger Gewalt am Boden fest. Aus der Richtung der Lagerfeuer erhob sich wildes Geschrei, Männer stürzten auf sie zu, das helle Licht erlosch, der Wind erstarb. Von allen Seiten wurden Schwerter dro hend auf sie gerichtet, und dann sagte eine sanfte Stimme in fehlerlosem Lyssianisch: »Ich habe euch erwartet. Ich bin Anomius.«
KAPITEL 11 »Interessant«, fuhr Anomius fort, als wäre keine Zeit vergangen, in der man ihnen die Hände gefesselt und sie grob zu den verfallenen Überresten eines Gebäudes ge zerrt hatte, das dem Geruch nach einmal ein Kuhstall gewesen war und von den draußen brennenden Feuern mit tanzenden Schatten erfüllt wurde. »Ein Krieger aus Cuan na'For und ein junger Adliger aus Lysse, sofern ich mich nicht täusche, die zusammen reisen. Mit einem magischen Stein, einem kleinen Vermögen in Gold und einer Karte von Gessyth, die unter anderem die Lage des legendären Tezin-dars zeigt. Interessant, äußerst interes sant.« Er schwieg einen Moment lang und musterte seine Ge fangenen abschätzend. Er war ein kleiner Mann, der in seiner schmutzigen schwarzen Robe nicht gerade beein druckend wirkte. Unter seiner Kopfbedeckung quollen Strähnen altersgrauen Haares hervor, die sich in ein gelblich blasses Gesicht mit wäßrigen, zu dicht beieinan derstehenden Augen und einer dicken Knollennase kräu selten. »Seid ihr Abenteurer? Sucht ihr das Gold der verschol lenen Stadt? Oder etwas anderes? Es geht das Gerücht, daß in Tezin-dar Geheimnisse verborgen liegen, die seit
dem Krieg der Götter in Vergessenheit geraten sind. Sucht ihr also Macht? Die Zauberformeln der Alten?« Er grinste, verzog seine blassen Lippen zu einem Lächeln und entblößte verfärbte Zähne. In seinen Augen funkelte etwas, das Belustigung oder auch Wahnsinn sein konnte. Anscheinend erwartete er keine Antwort, hing statt des sen seinen eigenen Überlegungen nach. »Und trotzdem seid ihr nicht mit den okkulten Küns ten vertraut – auf keinen Fall Hexer. Sind der Stein und die Karte also gestohlen? Trophäen? Habt ihr sie irgend einem lyssianischen Magier in der Hoffnung abgenom men, sie könnten euch Glück bringen? Und das Geld – stammt es aus derselben Quelle?« Er lachte leise, ein zwitscherndes, vogelartiges Geräusch, und schüttelte den Kopf. »Dieser Stein hätte dich retten können, Junge, wenn du besser damit hättest umgehen können. Er hat dich vor meinem kleinen Späher gewarnt, nicht wahr? Damals, in der Scheune des Rinderhirten. Du hast ihn erschreckt, mußt du wissen, denn er ist ein furchtsames Geschöpf. Aber meinem Vogel konntest du keine Angst machen. Hast du überhaupt bemerkt, wie er euch beo bachtet hat, wie ich durch seine Augen gesehen habe? Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ihr seid hierherge kommen, und jetzt werdet ihr mir antworten müssen.« »Arrhiman und Laphyl sind tot.« Eine Gestalt füllte die Tür aus und verdeckte das Licht. Ihre Stimme klang ungehalten. Anomius zuckte gleichgültig die Achseln und trat zur Seite.
»Mein Herr Sathoman ek'Hennem, Lord der Fayne.« »Burash!« schnaubte Sathoman. »Mach mir Licht! Bin ich vielleicht eine Fledermaus, die im Dunklen sehen kann?« »Ich habe nicht daran gedacht, daß Euch meine Fähig keiten fehlen, Herr.« Anomius hob einen Arm. In seiner Handfläche begann es zu funkeln, und Helligkeit breitete sich in dem Schup pen aus. Calandryll starrte den abtrünnigen Lord an. Sathoman war riesig, vielleicht der größte Mann, den er jemals gesehen hatte, sein Kopf stieß beinahe an die Überreste des Daches. Er trug keine Kopfbedeckung. Eine rötliche Haarmähne hing ihm in das wutverzerrte Gesicht und schien mit seinem dichten Vollbart verwachsen zu sein, was ihm das Aussehen eines wilden und angriffslustigen Tiers verlieh. Unter seinen struppigen Brauen funkelten tiefliegende schwarze Augen im Licht der magischen Fackel des Zauberers. Er trug einen Küraß aus Drachen haut, der von der gleichen roten Farbe wie sein Haar war, und farblich dazu passende Arm- und Beinschienen an seinen stämmigen, muskelbepackten Gliedmaßen. An seinem Gürtel hingen ein Langschwert und eine Hand axt. Er beäugte die Gefangenen, und Calandryll fühlte sich wie ein Schaf unter dem prüfenden Blick eines Schlachters. »Töte sie.« Sathoman drehte sich um und wollte gehen, doch die
leise Stimme des Zauberers hielt ihn zurück. »Das wäre unklug, Herr. Noch nicht.« »Was?« Der große Kopf schwang herum. Sathoman musterte Anomius. Seine behaarten Lippen teilten sich in einem Knurren von tierischer Wildheit. Der Zauberer lächelte unbeeindruckt. »Herr, ich habe Euch gewarnt, daß sie kommen würden. Arrhiman und Laphyl waren unvorsichtig – sie hätten den Kerner nicht so nah herankommen lassen dürfen.« »Der Kerner hat sie umgebracht? Dann töte ihn. Mit dem anderen kannst du machen, was du willst.« »Ich glaube nicht, daß ich das tun sollte«, widersprach Anomius. »Ich spüre eine Verbindung zwischen ihnen, ein gemeinsames Vorhaben und noch irgend etwas. Ich glaube, daß der eine ohne den anderen nutzlos ist.« »Rätsel!« bellte Sathoman. »Bei Burashs Augen, Ma gier, warum mußt du immer in Rätseln sprechen?« »Das ist nun mal meine Art«, gab Anomius ungerührt zurück. »Und es ist meine Art, diejenigen hinzurichten, die meine Leute töten!« brüllte der Riese. »Arrhiman und Laphyl liegen mit aufgeschlitzten Kehlen im Staub, und ich muß eine Stadt einnehmen. Burash, Mann, wir haben das lange genug geplant! Es war deine Magie, die diesen verfluchten Liktor herausgelockt hat, so daß wir ihn töten konnten, und ich brauche dich jetzt, um mir den
Weg nach Kesham-vaj zu ebnen. Töte sie, oder ich erledi ge das.« Er zog sein Schwert. Die Klinge schimmerte im unna türlichen Licht. Calandryll spürte, wie sich ihm der Ma gen verkrampfte und sein Mund trocken wurde. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß sich Bracht anspannte, und er wußte, daß der Kerner sich sogar gefesselt nicht ohne Gegenwehr in sein Schicksal ergeben würde. »Wartet, Herr!« Anomius mußte den Kopf in den Na cken legen, um dem Riesen in die Augen sehen zu kön nen, aber in seiner Haltung lag keine Spur von Unter würfigkeit. Calandryll hatte vielmehr das Gefühl, daß der Magier seine ganze Willenskraft auf Sathoman kon zentrierte. »Ob heute oder morgen, welche Rolle spielt es schon, wann sie sterben? Sie sind in unserer Gewalt und werden uns nicht entkommen. Darauf habt Ihr mein Wort – und Ihr wißt, daß Ihr Euch auf mein Wort verlas sen könnt.« Ein harter Klang schwang unterschwellig in seinem sanften Tonfall mit. Sathoman zögerte und kaute auf seinem Schnurrbart. Calandryll leckte sich die Lippen. »Sie stellen keine Bedrohung für uns dar, jetzt nicht mehr«, sagte der Zauberer. »Kesham-vaj wird Euch ge hören, und von Kesham-vaj aus kontrolliert Ihr die Stra ße, beherrscht den Zugang in die Fayne. Ihr werdet den Tyrannen in Schach halten – Kesham-vaj ist das Tor zu den östlichen Regionen, wie ich Euch gesagt habe. Ich werde Euch Kesham-vaj geben, und danach Mherut'yi.
Ihr werdet die Fayne und die gesamte Küste von der Shann bis nach Mhazomul unangefochten regieren. Un ser Plan wird durch diese beiden nicht gefährdet.« Das Schwert sank herab. Sathoman blickte den kleinen Magier finster an, dann schob er das Schwert in die Scheide zurück. »Warum setzt du dich für sie ein?« »Ich bitte nicht um ihr Leben, Herr. Ich bitte lediglich um ein wenig Zeit. Ich möchte erfahren, warum ein Ker ner und ein Lyssianer zusammen durch Kandahar reisen. Habt Verständnis für meine Neugier – sie wird Euch nichts kosten und Euch vielleicht sogar einen Vorteil bringen.« »Du wirst dafür sorgen, daß mir Kesham-vaj in die Hände fällt?« »In den nächsten Tagen, Herr. Mein Wort darauf.« Der Riese knurrte und zuckte die Achseln. »Danach…« Anomius lächelte, »werde ich sie auf Eu ren Wunsch hin töten.« Sathoman nickte langsam. Seine Augen hefteten sich voller Zorn auf die Gefangenen. »Nun gut, Magier. Vor läufig gehören sie dir. Aber später werde ich ein Exempel an ihnen statuieren.« »An ihnen und an Kesham-vaj, Herr.« Anomius neigte den Kopf ein wenig. Sathoman bedachte ihn mit einem kurzen raubtierhaften Grinsen, drehte sich auf dem Ab satz um und verschwand in der Nacht. Der Zauberer
wandte sich wieder Calandryll und Bracht zu. »So ungeduldig, voller wilder und ungezügelter Lei denschaft. Genau wie sein Vater vor ihm. Bei Burash, ich habe lange genug gebraucht, um ihn von diesem Plan zu überzeugen, und seit der Erfolg in Reichweite ist, will er ihn am liebsten sofort. Immer alles sofort! Er würde euch umbringen und den Verlust kurze Zeit darauf bedauern – wenn er dazu fähig wäre, etwas zu bedauern.« Er seufzte traurig, schüttelte den Kopf, als würde er über ein verstocktes Kind sprechen, vergrub die Hände in seinen weiten Hemdsärmeln und sah dabei genau wie ein Lehrer aus. »Aber wir haben nur wenig Zeit, und es gibt noch so viel zu erfahren. Sollen wir mit den Namen beginnen? Wer seid ihr?« Calandryll starrte ihn an, verunsichert durch sein Be nehmen. Anomius schnalzte mit der Zunge. »Weißt du das denn nicht?« fragte Bracht. »Reicht dei ne Macht nicht dazu aus, etwas so Einfaches herauszu finden?« Anomius seufzte erneut. Ein bekümmerter Ausdruck erschien auf seinem pergamentartigen Gesicht. »Die Leute von Cuan na'For waren schon immer sehr widerspenstig. Du hast gesehen, was ich tun kann – möchtest du, daß ich deinen Namen mit Magie aus dir heraushole? Das könnte eine sehr unangenehme Erfah rung für dich werden.« »Ich finde es auch nicht angenehm, gefesselt zu sein
und mit dem Tod bedroht zu werden«, fauchte Bracht trotzig. »Wie du willst.« Anomius zog eine Hand aus den Ärmeln, hob einen Finger mit einem stumpfen kurzgeschnittenen Nagel in Höhe von Brachts Gesicht und murmelte leise vor sich hin. Der Kerner keuchte und öffnete den Mund. Ca landryll spürte den roten Stein heiß auf seiner Brust pulsieren und bemerkte das Leuchten, obwohl er seinen Kameraden fassungslos anstarrte. Bracht kämpfte gegen den Willen des Zauberers an. Seine Lippen zogen sich von seinen zusammengebissenen Zähnen zurück, die Sehnen traten aus seinem Hals hervor, Wangen und Stirn überzogen sich mit Schweiß, und gegen seinen Willen drang ein ersticktes Grollen aus seiner Kehle, das sich allmählich zu Worten formte: »Ich bin … Bracht … ni Errhyn … vom … Clan der … Asyth … aus … Cuan na'For.« »Ausgezeichnet«, murmelte Anomius und ließ die Hand wieder sinken. Bracht hustete und spuckte aus. Seine Brust hob und senkte sich schwer. »Und du?« wandte sich der Hexer an Calandryll. »Ich heiße Calandryll«, sagte der Jüngere schnell. Er sah keinen Sinn darin, gegen diese Macht anzukämpfen. »Ich stamme aus Secca.« Anomius' Stirn legte sich in Falten.
»Deine Familie?« »Ich wurde ausgestoßen«, erklärte Calandryll. »Ich habe keine Familie.« »Komm schon«, sagte Anomius sanft, »wir alle haben eine Familie. Wer sind deine Eltern?« »Weigere dich!« krächzte Bracht. »Kämpfe gegen ihn! Sobald er weiß, was er will, werden wir sterben!« Der Zauberer ließ die Hand lässig herumschwingen, bis sie auf den Kerner zeigte, und Bracht schrie auf. Sein Hinterkopf schlug hart gegen die rauhe Steinwand. Er begann zu zittern, sein Rücken bog sich zurück, die Beine streckten sich, und seine Fersen trommelten wie wild auf den Lehmboden. Speicheltröpfchen sprühten von sein Lippen, das Weiße seiner Augen leuchtete hell und ließ die blaue Iris stärker hervortreten. Anomius schloß die Hand zur Faust, und Bracht brüllte. Sein Rücken bog sich noch stärker, bis er den Boden nur noch mit den Fersen und dem Hinterkopf berührte und es schien, als müsse jeden Augenblick sein Rückgrat brechen oder sein Herz zerplatzen. »Nein!« schrie Calandryll. »Hör auf! Ich sage es dir!« Anomius nickte, vollführte eine Geste, und Bracht sackte in sich zusammen. Schwer atmend lag er lang ausgestreckt auf dem Boden. »Calandryll den Karynth. Mein Vater ist Bylath, der Domm von Secca.« Interesse blitzte in den kleinen Augen des Zauberers auf. Sein Kopf wippte wie der eines Vogels hin und her.
Er strich sich mit einem Finger über die geschwollene Nase. »So, also der Sohn des Domms von Secca. Aber ausge stoßen, sagst du?« »Ja.« Calandrylls Augen huschten zwischen dem keu chenden Bracht und dem Zauberer hin und her. »Mein Vater wollte mich zum Priester machen. Diesem Schick sal bin ich mit meinem Gefährten entkommen. Wir sind mit einem Schiff nach Kandahar geflohen. Das Geld, der Stein … das habe ich gestohlen.« Die wäßrigen Augen näherten sich seinem Gesicht. Mißtrauen flackerte in ihnen. Der Hexer hob in stummer Drohung einen Finger. »Und die Karte? Wie bist du in den Besitz einer Karte gekommen, die angeblich gar nicht existiert?« »Die habe ich ebenfalls gestohlen«, improvisierte Ca landryll. »Ich war … ich bin ein Forscher und Gelehrter. Ich habe von Tezin-dar gelesen und wollte die verschol lene Stadt suchen, um Ruhm zu erlangen.« Anomius schnaubte lautstark und berührte Ca landrylls Kinn, um seinen Kopf in den Nacken zu drü cken. Plötzlich zuckte er zusammen und riß die Hand zurück, als hätte er sich an einer unsichtbaren Flamme verbrannt. Er musterte den jungen Mann unter gesenkten Lidern. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glauben soll. Ich spüre okkulte Kräfte in dir, aber keine dazu passenden Fähigkeiten.«
»Ich bin kein Zauberer«, versicherte Calandryll schnell. »Nein«, stimmte ihm Anomius zu. »Ein Magier wäre mir nicht so leicht in die Falle gegangen. Aber trotzdem … Du verschweigst mir etwas. Erzähl mir von diesem Stein.« »Ich habe ihn gestohlen«, wiederholte Calandryll. »Von einem Palastmagier.« Der Hexer schnalzte wieder mit der Zunge. Er schüt telte den Kopf und hob den Finger. »Sag mir die Wahrheit.« Calandryll verspürte ein Gefühl, als würde ihn eine heftige Windbö anspringen. Forschende Finger schienen über seine Gehirnwindungen zu tasten und die Wahrheit aus ihm herauslocken zu wollen, sanft, aber doch be drohlich. Sein Mund öffnete sich wie von allein, seine Zunge bewegte sich, um Worte zu artikulieren. Doch dann spürte er, wie der Stein auf seiner Brust warm wurde und ein rötliches Glühen sein Gesicht überzog. Der Druck in seinem Schädel ließ nach und verschwand schließlich völlig. Anomius runzelte die Stirn. »So.« Seine Stimme klang nachdenklich und hörte sich an wie das leise Zischen einer Schlange. »So, der Stein beschützt dich also. Und ich kann weder ihn noch dich berühren. Jetzt zumindest noch nicht. Aber bald … wer weiß? Bis dahin genießt dein Kamerad allerdings keinen derartigen Schutz. Möchtest du schweigend zusehen, wie er leidet? Möchtest du zusehen, wie er stirbt? Ich spüre
ein Band zwischen euch. Miteinander verknüpfte Schick sale. Könnte er der Schlüssel sein, der deine Zunge löst?« Er richtete einen Finger auf Bracht. »Wenn du ihn umbringst, gibt es keinen Grund für mich, dir zu antworten«, sagte Calandryll. »Ich brauche ihn nicht umzubringen, Calandryll den Karynth, ich muß ihn nur ein wenig quälen. Ich glaube, seine Schreie könnten deine Einstellung ändern.« »Wegen einem bezahlten Handlanger?« Calandryll bemühte sich, seine Stimme verächtlich klingen zu las sen. »Einem käuflichen Söldner aus Kern? Er ist ein Söldner, nichts weiter als mein Leibwächter. Und dazu noch einer, der mich in deine Falle geführt hat. Warum sollte mich sein Leid kümmern?« »Es kümmert dich aber«, erwiderte Anomius. »Das spüre ich, und wie hartnäckig du es auch bestreitest, du kannst mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Ich glaube, ich werde seine Lunge mit Feuer füllen und mir eine Weile seine Schreie anhören. Oder soll ich lieber seine Augen schmelzen lassen? Was würdest du dir lieber ansehen, Calandryll den Karynth?« Verzweifelt suchte Calandryll nach einer Antwort, nach irgendeiner Verzögerungstaktik, um den Hexer hinzuhalten. Er bezweifelte weder, daß Anomius in der Lage war, seine Drohung wahrzumachen, noch daß er dazu bereit war. Wenn er schwieg, würde er zusehen müssen, wie sich Bracht voller Qualen wand oder starb, aber den Grund ihres Aufenthalts in Kandahar zu verra
ten, bedeutete wahrscheinlich, daß ihre Mission hier endete, in einem nach Kuhmist stinkenden Stall. Wenn Anomius auch nur ahnte, daß sie nach dem Arcanum suchten, würde er mit Sicherheit selbst versuchen, das Buch in seinen Besitz zu bringen oder sich mit Azuman dias zu verbünden. Bereits jetzt war klar, daß dem Hexer menschliches Leid so gut wie nichts bedeutete. Ca landrylls Gedanken rasten. Er war der Panik nahe, mußte Zeit gewinnen, aber die würde ihm der Hexer nicht ge ben. In diesem Augenblick erschien ein Brigant in der Tür, der zuerst die Gefangenen mit einem kurzen aber wach samen Blick musterte und dann nervös den Zauberer betrachtete. »Lord Sathoman möchte, daß Ihr zu ihm kommt, Ma gier.« »Warum?« erkundigte sich Anomius. Seine Stimme klang sanft, aber sie trieb den Briganten sofort einen Schritt zurück. »Die Verteidiger unternehmen einen Ausfall. Lord Sathoman möchte, daß Ihr Euch um sie kümmert. Ein Exempel, sagt er.« Anomius seufzte und wandte sich wieder Calandryll zu. »Es scheint, als müßte unser … Gespräch … noch ein bißchen warten. Während ich fort bin, solltest du an das denken, was du gesehen hast und was ich tun kann.« Er schickte den Boten mit einem Wink zurück, blieb im
Türrahmen stehen und murmelte einen Zauberspruch. Calandryll roch Mandelduft und spürte, wie sich der Stein kurz erwärmte. »Dieser Stall ist durch Magie versiegelt«, fuhr Anomi us fort. »Versucht nicht, ihn zu verlassen, es würde euch das Leben kosten. Denkt daran, daß Sathoman euch nicht so nachsichtig wie ich behandeln würde.« Er ging davon und ließ sie in der Dunkelheit zurück. Calandryll seufzte erleichtert und sah zu Bracht hinüber, der auf dem Boden lag. »Bist du verletzt?« Die Frage schien der Situation unangemessen, aber Bracht stieß ein Knurren aus und brachte ein Grinsen zustande. »Nein. Obwohl ich das nicht noch einmal durchma chen möchte. Und du?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Anscheinend be schützt mich der Stein.« Er musterte das Gesicht des Kerners. »Aber wenn Anomius seine Drohung wahr macht…« »Ein bezahlter Handlanger?« Bracht stemmte die Füße auf den Boden und schob sich an der Wand in eine sit zende Position hoch. »Nichts weiter als ein Leibwäch ter?« »Mir ist nichts anderes eingefallen. Ich habe mir ge dacht, so würde er dich vielleicht in Ruhe lassen.« Bracht schnaubte und lachte grimmig. »Leider hat das
nicht funktioniert. Der verfluchte Zauberer hat dich durchschaut. Ich glaube, daß er seine Antworten bald bekommen wird – auf die eine oder andere Weise.« »Wenn ich ihm sage, was er wissen will«, überlegte Calandryll laut, »was dann? Was könnte er tun?« »Uns beide umbringen, schätze ich«, sagte Bracht. »Der Mann ist verrückt. Wahrscheinlich wird er sich die Karte nehmen und selbst nach dem Arcanum suchen.« »Würde Sathoman ihn denn einfach gehen lassen? Wie es scheint, braucht dieser Möchtegernlord seine magi schen Fähigkeiten.« Bracht schüttelte den Kopf. »Du hast gehört, was A nomius gesagt hat. Sathoman möchte sich zum Lord der Fayne aufschwingen. Wie es aussieht, ist Kesham-vaj das Tor zum Osten. Sathoman erobert die Stadt, um die Stra ße zu kontrollieren, und sobald er sich hier eingerichtet hat, werden ihm wahrscheinlich noch mehr Abtrünnige zulaufen. Danach erobert er Mherut'yi und kontrolliert die Küste. Was wir hier miterleben, ist der Beginn eines Bürgerkrieges, und ein nächster Schritt wird sein, nach der Krone des Tyrannen zu greifen. Sathoman wird den Magier nicht ziehen lassen.« »Dann sollten wir Sathoman alles erzählen«, schlug Calandryll vor. »Er würde keinen Grund haben, uns zu verschonen. Wir würden sterben.« »Und wenn ich mich weigere, Anomius zu antworten, wirst du sterben.«
»Wir sitzen in der Klemme.«
Bracht stemmte sich unbeholfen hoch und ging zur
Tür. Calandryll folgte ihm. »Denk an die Magie«, warnte er. Der Kerner nickte grimmig. »Ich habe Grund genug dazu. Aber ich möchte sehen, was dort draußen vor sich geht.« Sie starrten zusammen in die Nacht hinaus, die sich ih rem Ende entgegenneigte. Jenseits der Zelte erleuchteten die Feuer der Belagerer eine Stadt ohne Schutzmauern, die aber verbarrikadiert war. Zwischen den Häusern hatten die Stadtbewohner Karren, Wagen, Möbel, Ton nen und alles, was sie tragen konnten, übereinanderge türmt und so sämtliche Zugänge versperrt. Die Gruppe, der Calandryll und Bracht über die Straße des Tyrannen gefolgt waren, konnte nicht mehr als eine Bande von Plünderern gewesen sein, denn Kesham-vaj war von einer ganzen Horde bewaffneter Männer in Rüstungen umzingelt. Sie waren überall, drängten sich aber beson ders dicht dort zusammen, wo die Straße in die Stadt mündete, und dort machte sich Anomius auch an die Arbeit. Der Zauberer befand sich inmitten einer Gruppe von Männern, die ihn mit ihren Schildern schützten und sich langsam einem Haufen von Verteidigern näherten, die hinter ihrer Barrikade hervorgekommen waren. »Sie haben versucht, die Pferde davonzutreiben.«
Bracht deutete mit dem Kopf zu den Vorposten, wo die Tiere, durch das Feuer und den Kampflärm verängstigt, nervös schnaubten und stampften. »Es ist ihnen nicht gelungen.« Calandryll sah, daß sich die Verteidiger inmitten eines Pfeilhagels zurückzogen, der auf einen Befehl Anomius' hin augenblicklich aufhörte. Der Zauberer hob beide Arme, die Mauer aus Schilden teilte sich vor ihm, und die kleine schwarz gekleidete Gestalt trat hervor. Entwe der beachtete der Mann die Gefahr überhaupt nicht, oder aber er war vollkommen von seiner Unverwundbarkeit überzeugt. Einen Moment lang stand er mit hoch erho benen Händen da, dann erblühte über ihm ein Feuerball, der langsam vorwärts schwebte und dabei wuchs. Die Verteidiger wandten sich um und begannen zu rennen. Der Feuerball wuchs weiter, wurde schneller und erfaßte die Männer. Sie schrien auf und stürzten zu Boden. Das Feuer erreichte die Barrikade, kam ins Stocken, als würde es von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten werden, und erlosch dann. Auf der Straße blieben schwelende verkohlte Gestalten zurück. »Warum brennt er die Barrikade nicht nieder?« wun derte sich Calandryll. Bracht zuckte die Achseln. »Vielleicht will Sathoman die Stadt unversehrt einnehmen. Eine ausgebrannte Rui ne taugt nicht viel als befestigte Operationsbasis.« »Aber Anomius kann doch bestimmt andere Zauber sprüche einsetzen.« Calandryll behielt den Zauberer, der
jetzt mit dem riesigen Rebellen sprach, unverwandt im Auge. »Ich denke, daß Kesham-vaj womöglich durch Magie geschützt wird.« »Octofan hat gesagt, daß der Tyrann Zauberei verbo ten hat.« Bracht hüpfte in den hinteren Bereich des Stalls zurück und ließ sich an der Wand auf den Boden gleiten. Ca landryll setzte sich mit einem nachdenklichen Ge sichtsausdruck eben ihn. »Abgesehen von den Zauberern, die der Tyrann selbst beschäftigt. Was, wenn einer davon in Kesham-vaj wäre? Wenn es eine strategisch so wichtige Stadt ist und der Tyrann – wie zu erwarten ist – weiß, daß Sathoman den Magier Anomius für seine Zwecke benutzt, dann hat er dort vielleicht einen Zauberer postiert, um die Stadt zu schützen.« »Möglich«, räumte Bracht ein, »aber was nützt uns das?« »Ich weiß es nicht«, gestand Calandryll. »Es sei denn, es führt zu Sathomans Niederlage.« »Was wahrscheinlich gleichbedeutend mit unserem Tod wäre«, meinte Bracht. »Ich bezweifele, daß er sich mit Gefangenen belasten würde, wenn er sich zurückzie hen muß.« Calandryll nickte und kämpfte gegen die Angst, Panik und Niedergeschlagenheit an, die ihn zu überwältigen drohten. Er bemühte sich, ruhig zu werden und nachzu
denken, seine rasenden Gedanken in logische Bahnen zu lenken. Aus dieser verzwickten Lage würden sie sich nicht mit ihren Schwertern befreien können, deshalb blieb ihm nur noch sein Verstand, um einen Ausweg zu finden. »Anomius weiß, daß ich lüge«, sagte er langsam und hangelte sich geradezu an den Worten entlang, um die Idee, die in ihm aufkeimte, weiterzuentwickeln, »und wenn ich damit nicht aufhöre, wird er dich foltern.« Bracht wollte widersprechen, aber Calandryll brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. »Hör mir zu. Wir können nur entkommen, wenn uns der Hexer oder Sathoman freilassen, und das ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber Anomius ist an der Karte inte ressiert. Vielleicht ist das der Weg aus der Falle.« »Wie das?« wollte Bracht wissen. »Erzähl ihm von un serer Suche, und er wird die Karte entweder selbst neh men – und uns töten –, oder uns für unsere Dummheit auslachen – und uns töten.« »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.« Calandryll run zelte konzentriert die Stirn. »Er hat von verschollenen Zauberformeln gesprochen, und aus welchem Grund sollte er Sathoman helfen, wenn nicht aus Machtgier? Er hat sich mit einem Rebellenlord zusammengetan, der vorhat, die Fayne und wahrscheinlich – wie du selbst gesagt hast! – ganz Kandahar zu beherrschen. Wieso sollte Anomius das tun, wenn es ihm nicht darum geht, selbst Macht zu erringen? Und wenn das zutrifft, dann
müßten ihm doch die Geheimnisse von Tezin-dar eine größere Macht ermöglichen, als er es sich auch nur hätte träumen lassen können.« »Du willst ihm die Mittel in die Hand geben, den Ver rückten Gott wiederauferstehen zu lassen? Da könnte ich das Buch genausogut Varent geben.« Bracht starrte Calandryll aus schmalen Augen an. Ca landryll schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Buch, aber vielleicht das Versprechen unvorstellbarer Macht.« »Und damit einen guten Grund für unseren Tod.« »Nicht, wenn er glaubt, daß er uns braucht. Er kann den Stein nicht berühren, vergiß das nicht. Und der Stein schützt mich vor seiner Magie. Vielleicht schützt er mich so weit, daß ich ihn in Versuchung führen kann, indem ich ihm die Zauberformeln von Tezin-dar als Gegenleis tung für unser Leben verspreche. Ich muß ihn davon überzeugen, daß er uns braucht, daß es besser für ihn ist, sich uns anzuschließen, als Sathoman zu helfen.« »Das ist ein verzweifelter Plan«, sagte Bracht leise. »Ein anderer fällt mir nicht ein«, erwiderte Calandryll. »Mir auch nicht«, gab der Kerner zu, »aber dadurch bleiben wir in jedem Fall in seiner Gewalt – falls er den Köder überhaupt schluckt.« »So könnten wir zumindest Sathoman entkommen«, sagte Calandryll. »Während wir hierbleiben und die Zeit vergeht, könnte Azumandias vielleicht den Weg nach
Tezin-dar finden.« Bracht nickte und zischte dann eine Warnung. Als sich Calandryll umdrehte, sah er Anomius zurückkommen. Der Zauberer vollführte eine Handbewegung vor der Tür, trat ein und erfüllte den Schuppen erneut mit Licht. Calandryll hatte den Eindruck, daß seine Schultern etwas herabgesunken waren. Vielleicht hatte ihn der Einsatz seiner magischen Kräfte ermüdet. Auf jeden Fall wirkte er weniger lebhaft, und auf seinem pergamentartigen Gesicht lag ein verdrießlicher Ausdruck. »So ungeduldig«, murmelte er. »Jetzt, jetzt, jetzt. Alles muß immer gleich jetzt geschehen. Er kann einfach nicht warten, und ich muß Magie benutzen, wo man mit Pfei len das gleiche erreichen könnte. Ich habe ihm Kesham vaj versprochen – das habt ihr doch gehört, nicht wahr? – , aber er möchte die Stadt jetzt haben. Nicht morgen oder bald, sondern jetzt!« »Die Tugend der Geduld ist eine seltene Gabe«, sagte Calandryll. »Ein Philosoph, was?« Anomius hob fragend eine Au genbraue. »Zweifellos der Vorteil eines Lebens im Palast. Du hast Bildung genossen, was? Davon besitzen diese Männer der ek'Hennem so wenig. Sie sind nichts weiter als Banditen, um die Wahrheit zu sagen.« »Warum dienst du einem Hinterhoflord?« wagte Ca landryll einen Vorstoß. »Der Tyrann selbst würde dir deine Treue doch bestimmt vergelten.« »Ein Hinterhoflord?« Anomius lachte verhalten. »Laß
ihn das besser nicht hören, Bursche. Aber, ja, im Augen blick ist er wenig mehr als das. Wenn er aber erst einmal Kesham-vaj eingenommen hat … ah, dann wird er mehr sein. Sehr viel mehr!« »Vielleicht sogar Tyrann?« fragte Calandryll. Anomius starrte ihn mit geschürzten Lippen an, dann lächelte er und nickte vor sich hin. Seine Laune besserte sich wieder. Er drehte sich um, rief nach draußen, daß ihm ein Hocker gebracht werden sollte, setzte sich vor seine Gefangenen und ordnete umständlich die Falten seiner verschmutzten Robe. »Mein Lord Sathoman ek'Hennem ist ein mächtiger Krieger«, verkündete er, als er endlich bequem saß. Jetzt benahm er sich wieder wie ein Lehrer. »Deshalb laufen die Leute zu ihm über, nicht wegen seines Titels. Als sein Vater auf dem Steinfeld starb, war es der junge Sathoman – er war damals nicht älter als du –, der die Armee der ek'Hennem um sich scharte und schwor, Iodrydus den Zugriff auf die Fayneburg zu verweigern. Und er war erfolgreich. Dreimal hat er einer Belagerung standgehal ten – natürlich mit meiner Hilfe! –, und danach hat der Tyrann ihn in Ruhe gelassen. Jetzt beherrscht er die Fay ne, zumindest beinahe. Noch erheben die Liktoren des Tyrannen Anspruch auf die Städte, aber auch das wird bald vorbei sein. Sobald Kesham-vaj gefallen ist, kontrol lieren wir die Straße. Und befindet sich Mherut'yi erst einmal in unserem Beitz, haben wir den Rücken frei. Dann wird die gesamte Fayne Sathoman anerkennen.
Mhazomul, Ghombalar und Vishat'yi können wir in aller Ruhe einnehmen und Nhurjabal isolieren! Ja, ich werde Sathoman noch vor meinem Tod zum Tyrannen von Kandahar machen.« Er verstummte, kratzte sich hektisch unter seiner Robe und lächelte verträumt. Es war das Lächeln eines Wahnsinnigen. »Und damit dürfte auch deine zweite Frage beantwor tet sein. Natürlich würde mir der Tyrann meine Dienste vergelten – falls er mich nicht dafür hinrichten läßt, daß ich die Familie ek'Hennem früher unterstützt habe –, aber dann wäre ich nicht mehr als ein weiterer seiner Hofzauberer. Doch wenn ich Sathoman zum Herrscher von ganz Kandahar mache, werde ich der Oberste Zau berer sein. Ganz Kandahar wird mir huldigen, und die Marionettenmagier des Tyrannen werden sich vor mir verneigen!« »Warum hast du dein Feuer vor der Barrikade auf gehalten?« fragte Calandryll. »Du hättest die Stadt doch bestimmt dem Erdboden gleichmachen können.« Die Miene des Hexers wurde um eine Nuance finste rer. Er schnaubte und rieb sich die Knollennase. »Du hast es gesehen, was? Was glaubst du?« »Bracht meint, du hättest keine Verwendung für eine Ruine.« Calandryll lächelte entschuldigend. »Ich habe mich allerdings gefragt, ob nicht vielleicht Magie bei der Verteidigung der Stadt im Spiel sein könnte.« Anomius warf dem Kerner einen kurzen Blick zu und
nickte. »Bracht ist kein Dummkopf. Kesham-vaj be herrscht diesen Teil des Hochlandes, und Sathoman hat den Großteil seiner Armee hier zusammengezogen. Eine solche Streitmacht benötigt eine Operationsbasis. Wir müssen Kesham-vaj unbeschädigt einnehmen. Was die Magie betrifft, ja, es gibt einen Zauberer mit unbedeu tenden Fähigkeiten in der Stadt. Anscheinend hat der verstorbene Cenophus irgendwie von unseren Plänen erfahren und den Tyrannen benachrichtigt, der auf Wunsch des Liktors einen Magier geschickt hat. Ich könnte ihn natürlich besiegen, aber unsere aufeinander prallenden Kräfte würden wahrscheinlich ganz Kesham vaj zerstören. Ich ziehe es vor, ihn langsam zu zermürben und Sathoman eine intakte Stadt zu übergeben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, eine Sache von wenigen Ta gen.« »Aber Sathoman wird ungeduldig«, bemerkte Ca landryll, ermutigt durch die Geschwätzigkeit des Zaube rers. »Er ist immer ungeduldig.« Anomius nickte. »Hätte ich ihm nicht geraten, seine Streitkräfte aufzuteilen, hätte er seine gesamte Armee hier versammelt. Aber wenn es um seinen eigenen Vorteil geht, beugt er sich meinen vernünftigen Vorschlägen, und deshalb wird in diesem Augenblick auch Mherut'yi belagert.« »Ein weiser Rat«, lobte Calandryll. »So ist es«, stimmte Anomius zu. »Du wirst der größte Zauberer Kandahars sein«, sagte
Calandryll. »Vielleicht sogar der ganzen Welt.« »Ohne Zweifel.« Der Zauberer strahlte, doch dann runzelte er plötzlich die Stirn. »Vielleicht? Was meinst du mit vielleicht?« Calandryll schwieg einen Moment lang und ordnete seine Gedanken. Er spürte, daß der Köder angenommen worden war, aber es würde äußerste Behutsamkeit erfor dern, die Leine einzuholen. Denn wie eitel und größen wahnsinnig Anomius auch sein mochte, er war nicht so dumm, einfach in eine so durchsichtige Falle zu tappen. »Ich habe über deine Worte nachgedacht«, erklärte Ca landryll, »und ich möchte nicht zusehen müssen, wie Bracht leidet. Ich bezweifle, daß ich mich dir längere Zeit widersetzen könnte, auch nicht durch den Schutz des Steines.« »Eine kluge Einsicht«, murmelte Anomius beifällig. »Dieser Stein ist für einen Mann mit meinen Fähigkeiten nur ein kleineres Hindernis.« »So ist es«, stimmte Calandryll ihm zu, »und er darf auch nicht beschädigt werden, denn er ist ein Schlüssel zur Macht und mit Schutzzaubern versehen.« Die schmalen Augen des Magiers wurden noch schmaler. »Sprich weiter, Calandryll den Karynth. Du beginnst, mein Interesse zu wecken.« »Ich habe vorher gelogen, wie du ja schon festgestellt hast. Ich wollte dich täuschen, aber das ist eindeutig unmöglich.«
»Richtig.« »Ich habe den Stein nicht gestohlen, er wurde mir von einem Zauberer aus Lysse gegeben, von Lord Varent den Tarl. Er hat mir geholfen, aus Secca zu fliehen, und als Gegenleistung führen wir eine Mission für ihn durch. Du hast die Karte ja bereits gesehen. Würdest du sie dir noch einmal anschauen?« Anomius' pergamentartiges Gesicht begann, vor Fas zination zu glühen. Er machte eine Geste in die Richtung, in der ihr Gepäck lag. Die Umhängetasche erhob sich in die Luft und schwebte in seine Hände. Er zog die Karte hervor und strich sie über seinen Knien glatt. »Du weißt natürlich über den Kartographen Orwen Bescheid«, fuhr Calandryll fort. »Natürlich«, bestätigte Anomius ein bißchen zu hastig, wie Calandryll fand. Es sah so aus, als würde der häßli che kleine Mann versuchen, seine Unwissenheit zu über spielen. »Er wurde von dem Domm Thomus damit beauftragt, eine Karte von Gessyth anzufertigen. Eine Karte, auf der Tezin-dar verzeichnet ist.« »Behauptest du etwa, das wäre sie?« Anomius tippte auf das Blatt. »Das ist keine antike Karte. Diese hier ist neu.« »Eine Kopie«, sagte Calandryll schnell. »Es ist die Ko pie zweier Karten. Eine davon habe ich aus den Archiven Seccas entwendet. Beide zusammen zeigen den Weg nach Tezin-dar. Ich habe die Kopie selbst angefertigt.«
»Und dieser Varent den Tarl hat dich und den Kerner nach Tezin-dar geschickt? Aus welchem Grund? Warum reist er nicht selbst dorthin?« »Nicht alle Magier sind so mutig wie du«, erklärte Ca landryll. »Lord Varent zieht es vor, im sicheren Lysse zu bleiben, während wir seine Mission ausführen.« Anomius schnaubte verächtlich. »Und wenn ihr es schafft, was sollt ihr ihm dort besorgen?« Jetzt war der entscheidende Moment gekommen. Ca landryll konnte es in der Stimme des Hexers hören und in seinen Augen sehen. Er leckte sich über die Lippen, wußte, daß Brachts und sein Leben davon abhingen, wie geschickt er den Faden seiner Worte spann, daß der Lohn für sein Versagen ihr Tod sein würde. Es war schwierig, das richtige Mittelmaß zwischen Wahrheit und Lüge zu finden. Dem Magier vom Arcanum zu erzählen, würde bedeuten, ihm zuviel zu verraten und zu riskieren, daß ein weiterer Spieler in dieses welterschütternde Spiel eintrat – dazu noch einer, der im Augenblick die Ober hand besaß. Aber er mußte Anomius etwas anbieten, das wertvoll genug war, um den Magier in Versuchung zu führen, Sathoman den Rücken zu kehren und sie zu befreien. Er hatte keine Übung in solchen Dingen, der Vermischung von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen, aber er mußte einen Köder finden, der Anomius' Interesse weckte. Und das schnell, denn ihr Leben hing davon ab. »Es gibt ein Zauberbrevier«, sagte er vorsichtig und
scheinbar widerwillig, »von dem Lord Varent behauptet, es sei so alt wie die Zeit selbst. Ein Buch voller Zauber formeln, das am Anfang der Welt geschrieben wurde, als noch die Alten Götter herrschten. Lord Varent glaubt, daß es in Tezin-dar liegt und längst in Vergessenheit geratene Zaubersprüche enthält. Er sagt, daß der Zaube rer, der es findet, unvorstellbare Macht besitzen wird.« »Ah!« Anomius hob eine Hand, um ihn zum Schwei gen zu bringen. »Ich wiederhole: Warum sollte er euch mit einer solchen Mission betrauen?« »Ich beherrsche die Alte Sprache«, sagte Calandryll ei lig. »Deshalb kann ich die Karte lesen.« »Die Alte Sprache?« Anomius lehnte sich vor. Die Ell bogen hatte er auf die Knie gestützt und das Kinn in den Händen vergraben. »Das ist eine lange verlernte Kunst.« »Aber ich beherrsche sie trotzdem«, erwiderte Ca landryll. »Und du?« Anomius schüttelte den Kopf. Wut blitzte in seinen Augen auf. Calandryll zuckte die Achseln, so gut er es mit den auf dem Rücken gefesselten Händen fertigbrach te. »Da ich die Alte Sprache beherrsche und Lord Varent nicht deinen Wagemut besitzt, hat er es vorgezogen, mich die Reise in seinem Auftrag unternehmen zu lassen. Bracht begleitet mich als Leibwächter.« Er sah, daß die Wut in Anomius' Augen wieder faszi niertem Interesse Platz machte, und fuhr schnell fort: »Die eine Hälfte der Karte habe ich tatsächlich gestohlen –
aus den Palastarchiven meines Vaters. Mein Vater wollte, daß ich Priester werde, und Lord Varent hat mir einen Tauschhandel vorgeschlagen. Ich sollte ihm die erste Hälfte der Karte bringen, damit er sie der anderen Hälfte hinzufügen konnte, die er bereits besaß. Dafür hat er mich sicher aus Secca herausgebracht. Aber als er dann gesehen hat, wie gefährlich der Weg nach Tezin-dar ist, wollte er die Reise nicht mehr selbst unternehmen. Er hat mich gedrängt, sie zusammen mit Bracht zu machen und ihm das Buch zu bringen.« »Er vertraut euch?« Anomius' gelbliche Stirn legte sich in Falten. Er rieb sich mit einem Finger über die ge schwollene Nase. »Hat er nicht befürchtet, ihr könntet das Buch selbst behalten?« »Aus welchem Grund?« fragte Calandryll. »Ich besitze kein magisches Wissen, wie du selbst schon bemerkt hast. Wenn ich irgendeine okkulte Gabe besitzen sollte, dann weiß ich nichts davon.« »Und trotzdem trägst du den Stein eines Zauberers«, wandte Anomius ein. »Den hat mir Lord Varent gegeben. Ich kann nicht mit Magie umgehen.« Anomius lächelte, als würde er es genießen, diesen unbedeutenden Sieg errungen zu haben. »Dieser Varent scheint mir ein ziemlicher Feigling zu sein, wenn er an dere ausschickt, um ihm das zu besorgen, was er selbst haben will«, murmelte er. »Aber wie auch immer, erzähl mir von dem Stein.«
»Lord Varent hat mir gesagt, er würde mich beschüt zen«, behauptete Calandryll. Er unterdrückte seine Zwei fel und seine Anspannung und konzentrierte sich auf seine Lügengeschichte. »Du hast ja selbst schon gesehen, wie er wirkt. Man kann ihn mir nur mit Hilfe von sehr starker Magie wegnehmen.« »Soviel kann ich erkennen«, stimmte ihm Anomius zu. »Obwohl ich es tun könnte. Die dazu erforderlichen magischen Mittel würden den Stein dann allerdings wertlos machen. Aber er erfüllt noch eine andere Aufga be, nicht wahr?« »Ich glaube, du bist ein größerer Magier als Lord Va rent«, schmeichelte ihm Calandryll. »Aye, der Stein wird mich zu dem Zauberbrevier führen. Lord Varent sagt, das Buch wäre durch mächtige Zauber gesichert. Sobald ich es gefunden habe, wird mich der Stein davor schüt zen.« »Also«, sagte Anomius leise mit sanfter Stimme, »wenn du nicht gelogen hast, bist du die Kompaßnadel, die auf das Buch deutet.« »Aye«, bestätigte Calandryll eifrig. »Und das Buch verleiht dem Magier, der es besitzt, unbegrenzte Macht.« »Das behauptet zumindest Lord Varent.« »Um also an das Buch zu kommen, wirst du benötigt.« »Aye.« »Aber nicht der Kerner.«
Calandryll blieb die Antwort im Halse stecken. Ano mius hing zwar wie ein Fisch am Haken, aber er kämpfte immer noch mit List und Tücke, und der Angler mußte sein ganzes Können einsetzen, um ihn an Land zu holen. »Doch, er auch.« Denk nach! Schinde irgendwie Zeit, aber denk nach! Gib diesem kleinen gefährlichen Mann keinen Grund, Bracht umzubringen – denk nach! »Es besteht eine Bindung zwischen uns«, begann er langsam und sprach dann schneller, als ihm die Logik zu Hilfe kam. Logik und eine Erweiterung des fragilen Ge spinsts aus Halbwahrheiten, das er wob. Diesmal konnte er auf die reine Wahrheit zurückgreifen. »Du hast es selbst gesehen, unsere Schicksale sind miteinander ver bunden. In Secca habe ich eine Wahrsagerin aufgesucht – sie hieß Reba und war blind –, und sie hat mir vorherge sagt, daß ich einen wahren Gefährten finden würde, eben Bracht. Sie hat mir prophezeit, daß wir gemeinsam reisen würden. Ich glaube, uns zu trennen, würde bedeuten, das Netz von Ereignissen, das sie gesehen hat, zu zerrei ßen und unsere Reise zum Stillstand zu bringen. Ohne Bracht werde ich das Zauberbrevier nicht finden.« »Ich habe eine Verbindung gespürt«, gab Anomius zu, »und mit ehrlichen Prophezeiungen sollte man nicht spaßen.« »Und«, fügte Calandryll schnell hinzu, »sie hat gesagt, ich würde noch jemanden treffen. Könnte sie dich damit gemeint haben?«
Die wäßrigen Augen saugten sich an Calandrylls Ge sicht fest. Wie Blutegel, fuhr es ihm durch den Kopf. »Vielleicht«, sagte Anomius, und Calandryll spürte, daß er die Leine etwas weiter eingeholt hatte. »Ich habe Varent nie getraut.« Daß Bracht sich zu Wort meldete, überraschte Ca landryll, und er drehte sich zu ihm um. »Ein Mann, ob Zauberer oder nicht«, fuhr der Kerner fort, »sollte seine Angelegenheiten selbst erledigen und sich nicht hinter Stadtmauern verkriechen, während andere ihr Leben für seine Interessen riskieren. Ich habe mehr Respekt für einen Mann, der sich selbst seinen Feinden stellt.« Ein Mann wie du. Der Rest des Satzes hing unausge sprochen im Raum. Anomius nickte. Calandryll leckte sich über die trockenen Lippen. Schweigen machte sich in dem Schuppen breit, während die farblosen Augen des Zauberers von einem zum anderen wanderten. »Was wollt ihr mir damit sagen?« fragte er schließlich. »Bietet ihr mir dieses Zauberbrevier an?« Der Fisch hatte die Wasseroberfläche durchbrochen, die Leine war straff. Mit klopfendem Herzen hielt Ca landryll das Netz bereit. »Ich habe dir nur die Wahrheit gesagt, denn offen sichtlich kann ich sie sowieso nicht vor dir verheimli chen. Ich habe gesagt, daß wir versuchen, das Zauber brevier aus Tezin-dar herauszuholen. Daß es eine Macht bietet, die die kühnsten Träume eines Zauberers über
trifft – aber daß nur wir es finden können.« »Eure Loyalität diesem Varent gegenüber ist etwas…«, Anomius zuckte die Achseln, »… unstet.« »Lord Varent schläft sicher in Aldarin, während wir hier gefesselt in einem Kuhstall sitzen und den Tod vor Augen haben. Was würdest du tun?« »Ich hätte mich vor allen Dingen nicht einem bartlosen Jüngling und einem käuflichen Söldner aus Kern anver traut«, sagte Anomius. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Du sagst, du beherrschst die Alte Sprache, und du hast diesen Stein. Das gibt mir zu denken. Ein Mann, der dem Tod gegenübersteht, neigt dazu, die wildesten Verspre chungen zu machen, aber was du gesagt hast, klingt so interessant, daß ihr noch ein bißchen länger leben dürft, während ich mir Gedanken über eure Zukunft mache.« Seine schwarze Robe raschelte, als er sich erhob. In der Tür blieb er noch einmal stehen. »Es wäre für euch am besten, wenn ihr niemandem sonst von diesem Gespräch erzählt.« In seinen wäßrigen Augen lag eine unverhüllte Dro hung. Calandryll nickte, Bracht grunzte zustimmend. Anomius verließ den Stall, und das Licht erlosch hinter ihm. Am Himmel, der jetzt wieder sichtbar wurde, stan den keine Sterne mehr. Er hatte die absolute Schwärze angenommen, die der Dämmerung unmittelbar voraus geht. Calandryll blickte auf den roten Stein und fragte sich, ob Anomius vielleicht irgendeinen unsichtbaren Lau
scher zurückgelassen hatte, aber der Stein pulsierte nur schwach, weil er die Magie anzeigte, die die Tür ver sperrte. Er drehte sich zu Bracht um und stieß die Luft in einem langen Seufzen der Erleichterung aus, als die Spannung von ihm abfiel. »Was meinst du? Hat er den Köder geschluckt?« Die vor dem Stall brennenden Feuer überzogen die strengen Züge des Kerners mit flackerndem Licht. Er lächelte, und seine Zähne blitzten hell in seinen rötlichen Gesicht. »Ich glaube, du hast ihm einen Grund gegeben, uns noch eine Weile am Leben zu lassen. Und ich denke, du bist ein begabterer Lügner, als ich es für möglich gehal ten hätte.« »Dera!« Calandryll erwiderte das Lächeln. »Ich habe befürchtet, er würde uns jeden Augenblick umbringen. Oder den Köder ausspucken und uns Sathoman überlas sen.« »Diese Gefahr dürfen wir nicht aus den Augen verlie ren«, meinte Bracht leise, und sein Lächeln erlosch. »Sathoman ist entschlossen, die Fayne zu erobern und Tyrann zu werden.« »Ein Hexer mit einem Zauberbrevier, das ihm – was habe ich gesagt? – unvorstellbare Macht verleihen würde, wäre ein nützlicher Verbündeter für ihn.« Calandryll lehnte den Kopf erschöpft gegen die rauhe Steinwand und starrte in Richtung der Tür. »Vielleicht wird Satho man das bedenken. Oder Anomius entschließt sich, ihn
zu verraten.« »Was auch immer passiert, wir werden in jedem Fall weiter in der Klemme sitzen«, sagte Bracht. »Sollte Sathoman damit einverstanden sein, daß der Hexer sich auf die Suche nach dem angeblichen Zauberbrevier macht, dann wahrscheinlich erst, nachdem er sowohl Kesham-vaj als auch Mherut'yi eingenommen hat. Und dann wird er uns bestimmt eine Eskorte mitgeben. Wir würden unter Bewachung reisen, während Azumandias dem Arcanum in der Zwischenzeit womöglich näher kommt. Wenn Anomius aber vorhaben sollte, seinen Herrn zu verlassen, muß er uns irgendwie heimlich hier herausbringen. Und dann würden wir mit einem ver rückten Zauberer unterwegs sein, der das Arcanum am Ziel unserer Reise höchstwahrscheinlich in seinen per sönlichen Besitz bringen würde.« »Mein Plan erstreckt sich bisher nur darauf, von hier zu entkommen«, gab Calandryll zu, »und ich habe kei nen anderen Ausweg gesehen.« »Ich auch nicht«, räumte Bracht ein. »Es sei denn, der Stein könnte uns durch irgendeine Magie befreien.« »Anscheinend tut er nichts dergleichen«, murmelte Calandryll. »Außer Anomius daran zu hindern, die Wahrheit aus mir herauszuholen.« »Wenigstens werden wir nicht Sathoman ausgelie fert«, sagte Bracht. »Wir werden zumindest noch einen Tag leben. Und solange wir leben, können wir hoffen.« Er gähnte, rutschte in eine bequemere Position an der
Wand hinab und schloß die Augen. Auch Calandryll versuchte zu schlafen, aber die Erholung blieb ihm ver sagt. Die Stricke schnitten tief in seine Handgelenke, und nachdem er sich auf nichts anderes mehr konzentrieren mußte, merkte er, wie die Taubheit in seinen Händen einem schmerzhaften Kribbeln Platz machte. Sie waren angeschwollen, und die Arme taten ihm ebenfalls weh. Die Wand in seinem Rücken war hart, der rauhe Stein und unzählige kleine Vorsprünge bohrten sich in seine verkrampften Muskeln. Wie er sich auch drehte und wand, er fand keine Erleichterung. Nach einer Weile gab er seine sinnlosen Bemühungen auf und starrte blicklos durch die Tür. Irgendwann wurde der schwarze Himmel grau. Ein paar Vögel begannen zu zwitschern. Der Wind drehte, und Calandryll hustete, als Rauch von den Lagerfeuern in den Stall drang. Das Tageslicht wurde heller und zeigte einen blauen Himmel. Am Horizont ballten sich dicke Wolken zusammen, die Regen versprachen. Calandryll sah, daß die Soldateska von ek'Hennem in Bewegung geriet. Die Männer, die Nachtwache gehalten hatten, strebten zu ihren Zelten oder ließen sich einfach im Freien auf die Erde sinken, während andere ihre Pos ten um Kesham-vaj herum übernahmen. Sathoman kam in voller Rüstung und mit wildem Haar und Bart aus einem prächtigen, ganz in Grün, Weiß und Gold gehalte nen Zelt heraus, streckte sich ausgiebig und bellte Befeh
le. Anomius, der anscheinend nicht mehr Schlaf als seine Gefangenen gefunden hatte, gesellte sich zu ihm. Sie wechselten ein paar Worte, und der Möchtegernlord der Fayne warf einen kurzen finsteren Blick in Richtung des Kuhstalls. Dann klangen Rufe auf, die seine Aufmerk samkeit in Anspruch nahmen. Er drehte sich um und rannte auf die Stadt zu. Anomius raffte seine Robe hoch und trottete ihm auf bleichen Spindelbeinen hinterher. Eine kleine schwarze Wolke hing tief über Kesham vaj, und Calandryll hatte den Eindruck, daß Blitze in ihr zuckten. Sie trieb von der Stadt auf das nächste Feuer zu, wurde langsamer, blieb darüber stehen, und dann be gann es so heftig aus ihr zu regnen, daß die Flammen augenblicklich erloschen. Die Männer starrten zu ihr empor und schrien auf, als grelle verästelte Blitze hinab zuckten und sie zu Boden streckten. Donnerschläge hall ten über das Lager der Angreifer. Die Wolke trieb von Feuer zu Feuer, schüttete ihre Wassermassen über ihnen aus, silberweiße Blitze fällten weitere Männer, und der Morgen war von ohrenbetäubendem Donner erfüllt. Sathoman blieb stehen und wartete, bis Anomius ihn eingeholt hatte. Der Riese war unübersehbar wütend. Er deutete mit wilden Bewegungen auf die Wolke. Der Magier machte eine beschwichtigende Geste. Calandryll sah, wie er die Hände hob und seine bleichen Arme unter der Robe zum Vorschein kamen. Über ihm begann die Luft zu schimmern. Kurz darauf schien ein Wind an der Wolke zu zerren wie Wölfe, die sich auf ein Schaf stür
zen, und schwarze Fetzen aus ihr herauszureißen. Die Blitze erloschen, und schließlich war von der Wolke nicht mehr als eine Ansammlung dunkler Schwaden übrig geblieben, die vor dem blauen Himmel verblaßten und sich gänzlich auflösten. »Vielleicht ist der Magier des Tyrannen stärker, als Anomius behauptet hat«, meinte Bracht. »Vielleicht ste hen Sathomans Männer vor der Niederlage.« »Wäre das gut für uns?« fragte Calandryll. »Wer weiß?« Der Kerner bewegte seine verkrampften Schultern und grunzte. »Ich glaube, das klügste, was wir tun können, ist, Anomius weiter in unserem Sinne zu beeinflussen.« »Dabei könnte uns Azumandias helfen«, murmelte Ca landryll. »Wie das?« »Wenn Anomius sich entscheidet, das Zauberbrevier in seinen Besitz zu bringen, wird er nicht gerade erfreut über Rivalen sein, denke ich. Beim nächsten Mal werde ich ihm von Azumandias erzählen und ihn warnen, daß noch jemand hinter dem Buch her ist.« »Das könnte ihm etwas Dampf machen«, stimmte Bracht grinsend zu. »Du hast ein Gespür für Intrigen, mein Freund.« Calandryll erwiderte das Lächeln seines Gefährten, aber in seinen Augen lag ein besorgter Ausdruck. Es war nicht viel mehr als eine wacklige Hoffnung, darauf zu vertrauen, daß sich Sathomans Zauberer entscheiden
würde, seinen Herrn im Stich zu lassen und sich auf eine gefahrenvolle Reise nach Tezin-dar zu begeben, um nach einem fiktiven Zauberbrevier zu suchen, das seine Exis tenz lediglich einem zerbrechlichen Gebilde aus Lügen und Halbwahrheiten verdankte. Aber es war ihre einzige Hoffnung. »Sieh mal«, riß Bracht ihn aus seinen Gedanken. »Was macht er jetzt?« Sie schoben sich auf die Füße und näherten sich der Türöffnung, um das Geschehen besser verfolgen zu kön nen. Anomius stand mit Sathoman neben einem qualmen den Feuer. Die schwarze Wolke hatte das Holz durch näßt, und jetzt stiegen dunkle Rauchwolken aus dem Haufen auf. Der Zauberer bewegte die Hände, und der Rauch wurde noch dichter. Dunkle Fäden krochen wie Schlangen über den Boden, wanden und vereinten sich zu einem kompakten Band, das sich unheilverkündend auf die Stadt zuschlängelte. Anomius ging zu einem zweiten durchnäßten Holz haufen und vollführte das gleiche Ritual, erzeugte weite re ölige Rauchfäden, die sich mit den ersten vermischten. Das Band wurde breiter und näherte sich unerbittlich Kesham-vaj. Der Zauberer wiederholte die Prozedur mit einer dritten und vierten Feuerstelle, bis zwei Rauch schlangen an den Barrikaden zusammentrafen. Schon bald war der improvisierte Schutzwall im öligen Qualm verschwunden. Der Rauch floß wie Wasser weiter, si
ckerte durch Lücken zwischen den übereinandergesta pelten Hindernissen, quoll über sie hinweg, ergoß sich in die dahinter liegenden Straßen und erfüllte sie mit bei ßender Schwärze. Fackeln leuchteten verschwommen in der Dunkelheit, verängstigte Schreie klangen auf. Satho man begann zu lachen und schlug Anomius vor Begeis terung so heftig auf die Schulter, daß der kleine Hexer vorwärtsstolperte. Dann machten beide Männer kehrt und verschwanden im Zelt des Riesen. Calandryll und Bracht setzten sich wieder mit dem Rücken an die Wand. Der Morgen schleppte sich träge dahin. Ihre knurrenden Mägen erinnerten sie daran, daß sie schon seit längerer Zeit nichts mehr gegessen und auch kein Wasser bekommen hatten. Die ständigen Schmerzen in ihren gefesselten Händen und den ver krampften Schultern nahmen sie mittlerweile kaum noch wahr. Gegen Mittag begannen die Rauchschlangen dünner zu werden, lösten sich schließlich wie die Wolke vor ihnen auf, und Anomius kehrte in den Stall zurück. »Habt ihr meinen kleinen Trick gesehen?« fragte er stolz. »Ich empfinde es als besonders befriedigend, die Magie eines Gegners auf ihn zurückfallen zu lassen. Mittlerweile wird es jede Menge rote Augen und wunde Kehlen in Kesham-vaj geben. Könnte euer Varent den Tarl so etwas zustande bringen?« »Das glaube ich nicht«, sagte Calandryll. »Ich denke, Lord Varent ist ein schwächerer Magier.«
»Und dein Vater«, strahlte Anomius geschmeichelt, »hat der Domm von Secca Zauberer mit solchen Kräften an seinem Hof?« »Keine, die es mit dir aufnehmen könnten.« Anomius nickte und lächelte noch immer. Er war hochzufrieden mit sich selbst. »Ich kenne jetzt seine Stär ke«, verkündete er. »Ich glaube, ich werde ihn heute nacht noch ein wenig prüfen. Vielleicht wird Sathomans Ungeduld morgen ein Ende haben.« »Ihr werdet die Stadt stürmen?« Der Zauberer strahlte und tippte sich gegen die Knol lennase. »Ich glaube, es wird Zeit. Wir haben lange genug ge zögert, und wahrscheinlich werden sich diese Ereignisse bald schon bis nach Nhurjabal herumgesprochen haben. Vielleicht schickt der Tyrann eine Armee. Ich möchte, daß Kesham-vaj gegen einen solchen Angriff abgesichert ist.« »Und was wird dann aus uns?« fragte Calandryll. Anomius' Lächeln machte einem nachdenklichen Stirnrunzeln Platz. Unzählige Fältchen erschienen in der pergamentartigen Haut seines Gesichts. Seine Lider senk ten sich halb über die wäßrigen Augen. »Ich habe mir eure Geschichte durch den Kopf gehen lassen«, sagte er, »aber noch keine Entscheidung über euer weiteres Schicksal getroffen. Sathoman hätte euch längst schon hinrichten lassen, wenn ich ihn nicht über redet hätte, noch eine Weile damit zu warten.«
»Es gibt da etwas, das ich dir noch nicht gesagt habe.« Calandryll zögerte einen Moment lang und fuhr sich mit einer vor Durst pelzigen Zunge über die trockenen Lip pen. Sein Herz hämmerte wie wild. »Lord Varent ist nicht der einzige, der das Zauberbrevier sucht.« »Was?« Die Augen des Hexers blitzten wütend auf. »Hast du mir etwas verschwiegen? Du solltest mir lieber alles sagen, Calandryll den Karynth, damit nicht der Körper deines Kameraden dazu herhalten muß, deinem fehlerhaften Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.« »Noch jemand weiß von dem Buch und der Karte. Ein Magier namens Azumandias.« Calandryll schluckte. Seine Kehle war ausgedörrt, seine Gedanken überschlu gen sich. »Er ahnt, wo Tezin-dar liegt, aber er braucht den Stein – und mich! –, um an das Zauberbrevier heran zukommen.« »Ein Wettrennen? Willst du damit sagen, daß es ein Wettrennen um dieses sagenhafte Buch gibt?« »Ja.« Calandryll bemühte sich, die Schmerzen in sei nen gefesselten Handgelenken und die Auswirkungen des Hungers, die seine Gedanken zu verwirren drohten, aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Jetzt kam es auf geschicktes Taktieren an, und er sagte sich, daß ihm die Wahrheit – oder zumindest ein Teil der Wahrheit – in diesem tödlichen Spiel den größten Vorteil bringen wür de. »Auf dem Weg nach Aldarin hat unser Gegner uns mit Dämonen angegriffen. Und kaum waren wir in See gestochen, wurden wir von einer seiner Agentinnen
verfolgt. In Mherut'yi bin ich dann von der Bruderschaft angegriffen worden.« »Die Chaipaku haben sich in diese Sache einge mischt?« hakte Anomius nach. »Es scheint so.« Calandryll nickte, was er gleich wie der bereute, denn sofort wurde ihm schwindlig, und sein Kopf begann zu schmerzen. »Zumindest hat mich einer von ihnen in meinem Zimmer im Schlaf überrascht.« »Und du hast es überlebt?« Anomius wirkte ungläubig. Calandryll wollte wieder nicken, überlegte es sich dann aber anders und sagte: »Ja, wie du siehst. Bracht ist mir zu Hilfe gekommen.« »Du hast einen Chaipaku besiegt?« Der Zauberer wandte sich dem Kerner zu, der seinen Blick kühl erwiderte. »Ja, ich habe ihn getötet. Aber er war noch ein Junge.« »Trotzdem eine beeindruckende Leistung«, stellte A nomius fest. »Es ist nicht leicht, gegen einen Chaipaku zu bestehen.« »Wenigstens sind wir hier in Sicherheit«, sagte Ca landryll. »Obwohl Azumandias in der Zwischenzeit eine andere Möglichkeit finden könnte, dem Zauberbrevier auf die Spur zu kommen.« »Ohne die Hilfe der Karte oder des Steines?« Mißtrauen funkelte in Anomius' kleinen Augen auf. Calandryll verfluchte sich für seinen Fehler und suchte verzweifelt nach einer überzeugenden Antwort.
»Vielleicht braucht er sie nicht«, erwiderte er. »Ich weiß nur, was mir Lord Varent gesagt hat – daß die Karte den Weg nach Tezin-dar weist und der Stein den Weg zum Buch. Ich bin kein Zauberer, ich weiß nicht, über welche Kräfte Azumandias verfügt.« »Aber wie Varent hat er es auf das Buch abgesehen?« fragte Anomius. »Aye. Und Lord Varent hatte Angst vor ihm. Er hatte Angst, Azumandias könne ihm zuvorkommen. Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten, vielleicht weisen der Stein und die Karte nur den schnellsten Weg zum Ziel.« »Das gibt mir noch einiges zu bedenken«, murmelte Anomius. »Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen.« Er stand unvermittelt auf und ver schwand. »Meinst du, er schluckt den Köder?« fragte Calandryll. Bracht runzelte die Stirn. »Ich nehme an, du hast ihn in Versuchung geführt. Ich weiß es wirklich nicht, aber du hast getan, was du konntest.« Die Zeit verging. Die Wolken am Horizont zogen näher und bildeten weiße Finger und Arme, die hoch in den Himmel wuchsen. Wind kam auf und brachte den Ge ruch der Kochfeuer mit, was Calandrylls und Brachts Hunger noch verschlimmerte. Sathomans Krieger setzten die Belagerung der Stadt fort, und am späten Nachmittag kehrte Anomius in Begleitung eines Soldaten zurück. Es erschien ihnen als gutes Vorzeichen, daß der Mann ihnen
etwas zu essen mitgebracht hatte: kaltes Fleisch, Brot, ein wenig Käse und eine Flasche Wasser. Er stellte alles auf den Boden und wartete im Hintergrund, die Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt, während der Zauberer vor die Gefangenen trat. »Ich werde eure Fesseln entfernen, damit ihr essen könnt«, verkündete Anomius. »Der Schutzzauber vor der Tür bleibt. Versucht nicht, die Schwelle zu übertreten.« Er deutete nacheinander auf sie und murmelte etwas Unverständliches, worauf sich die Stricke von ihren Handgelenken lösten. Calandryll ächzte, als ihm frisches Blut wie Feuer in die Finger strömte. Neben ihm öffnete und schloß Bracht die Hände und bewegte die ver krampften Schultern. Sie rührten das Essen und das Wasser erst an, nachdem sich ihre Arme und Schultern einigermaßen gelockert hatten, dann aber tranken sie in langen und tiefen Zügen und verschlangen das Essen mit einem Heißhunger, der ihnen keine Zeit für eine Unter haltung ließ, bis sie auch den letzten Krümel vertilgt hatten. »Ich bezweifle, daß er sich die Mühe machen würde. Todgeweihten etwas zu essen zu bringen«, sagte Bracht mit vorsichtigem Optimismus. »Er hat uns auch unser Gepäck gelassen.« Calandryll deutete auf die Umhängetasche und die Schwerter, die achtlos in einer Ecke lagen. »Was immer uns das auch nützt.« Bracht schnallte sich das Krummschwert um. »Aber vielleicht hat das ja etwas
zu bedeuten.« »Wir können nur warten«, sagte Calandryll und ergriff sein eigenes Schwert. »Warten und hoffen.« Die ganze Nacht über ertönte der Schlachtlärm, der sowohl irdischer als auch magischer Natur war. Sie hör ten das Zischen durch die Nacht fliegender Pfeile, die Schreie der Angreifer und der Verteidiger, das Klirren von Stahl auf Stahl. Zweimal schien der Himmel über Kesham-vaj in Flammen aufzugehen, und zweimal erhob sich ein brüllender Wind nicht natürlichen Ursprungs und blies das Feuer wieder aus. Dreimal rollten laute Donnerschläge über die Hochebene, und einmal sahen sie geisterhafte Bestien im Himmel kämpfen. Es waren aus den unterschiedlichsten Teilen zusammengesetzte Gebilde, die aneinander rissen, bis nur noch schimmern de Fetzen übrigblieben, die in der Nacht verblaßten. Die Luft war mit süßlichem Mandelgeruch erfüllt, und der Talisman auf Calandrylls Brust pulsierte glühend. Mit geröteten Augen beobachteten sie, wie die Dämmerung hereinbrach und schließlich Sonnenstrahlen durch die dichten Wolkenbänke fielen und das weiche Zwielicht vertrieben. Irgendwann kam Anomius wieder zu ihnen. Dunkle Ringe lagen um seine Augen, und seine gelbliche Haut hatte eine ungesunde wächserne Blässe angenommen, aber er schien mächtig stolz auf sich zu sein. »Ein eindrucksvolles Schauspiel, meint ihr nicht auch?« fragte er liebenswürdig und ließ sich auf einem
Hocker nieder, ohne sich um die Schwerter zu kümmern, die sie jetzt wieder trugen. »Der Magier des Tyrannen steht kurz vor dem Zusammenbruch. Er ist bis an die Grenzen seiner Kraft gegangen. Heute werde ich den Sieg erringen, und Sathoman ek'Hennem wird als Erobe rer in Kesham-vaj einziehen. Wie mir mein kleiner Spion mitgeteilt hat, ist Mherut'yi bereits gefallen. Also wird mein Lord der wahre Herrscher der Fayne sein, sobald wir auch diese Stadt eingenommen haben. Wie viele Streitkräfte der Tyrann auch immer schickt, Sathoman wird eine starke Ausgangsposition haben, wenn sie kommen. Bei Burash, bin ich nicht ein Gigant unter den Zauberern?« »Das bist du wirklich«, pflichtete Calandryll ihm bei. »Und ihr tragt eure Schwerter, als wärt ihr aufbruch bereit«, sagte Anomius mit einem leisen Lachen. »Oder als wolltet ihr euer Leben so teuer wie möglich verkau fen.« »Welche von beiden Möglichkeiten wird es sein?« wollte Bracht wissen. »Ungestüm«, tadelte der Zauberer, »so ungestüm. Die Krieger von Cuan na'For haben fast genausowenig Ge duld wie Sathoman.« »Wenn ich sterben muß«, sagte Bracht ruhig, »möchte ich es wenigstens vorher wissen.« Anomius lachte erneut, ein flüsterndes Geräusch. Sei ne Heiterkeit war von bedrohlicher Kälte. Er kratzte sich eine Achselhöhle und starrte sie an.
»Wenn Kesham-vaj erst gefallen ist«, murmelte er, »kann Sathoman die Fayne auch ohne meine Hilfe halten. Zumindest für eine Weile. Und mit dem Zauberbrevier werde ich so viel Macht besitzen, daß sich die Marionet ten des Tyrannen vor mir verneigen müssen. Ja! Und auch der Tyrann selbst!« Er schwieg einen Augenblick und musterte sie nach einander. Draußen vor dem Stall bereiteten sich Satho mans Leute auf den Angriff vor, überprüften ihre Rüs tungen und schärften ihre Klingen. Calandryll erwiderte Anomius' Blick, spürte sein Herz wie wild schlagen. Ihm war klar, daß ihr Leben – und wahrscheinlich das Schick sal der gesamten Welt – von der Entscheidung dieses kleinen Mannes abhing. »Ich glaube«, sagte Anomius schließlich, »daß ich Sathoman eine Weile sich selbst überlassen kann. Ich glaube, ich sollte mit euch nach Tezin-dar reisen.« Calandryll hörte sich den Atem in einem langen Seuf zer ausstoßen und wurde sich erst jetzt bewußt, daß er ihn angehalten hatte. »Ja«, fuhr Anomius fort. »Ich glaube, euer Varent den Tarl ist dieses Buches nicht würdig. Ebensowenig dieser Azumandias. Es wird mir gehören! Und ihr werdet mich zu ihm bringen. Seid ihr dazu bereit? Als Gegenleistung biete ich euch euer Leben.« »Wir nehmen an«, sagte Calandryll. Anomius lächelte und wandte sich Bracht zu. »Den Männern von Cuan na'For ist ihr Wort heilig –
gibst du mir das deine? Daß du alles in deiner Macht Stehende tun wirst, um mich sicher zu diesem Zauber brevier zu bringen?« Bracht starrte den Hexer an, und einen langen atemlo sen Moment fürchtete Calandryll, sein Gefährte könne ablehnen, weil ihm sein Ehrgefühl verbot, diese Mög lichkeit des Überlebens zu akzeptieren. Aber dann neigte der Kerner den Kopf. »Ich werde mein Möglichstes tun, um dich zu dem Zauberbrevier zu bringen.« »Gut«, sagte Anomius befriedigt. »Ich muß wohl kaum hinzufügen, daß jeder Versuch, mich zu hinterge hen, meinen Zorn erregen würde, und dieser Zorn wäre furchtbar.« »Wir haben gesehen, wozu du in der Lage bist«, bestä tigte Calandryll. »Dann wißt ihr auch, was ich euch antun kann«, strahlte der Zauberer. »Und jetzt muß ich euch verlassen – ich habe noch eine Stadt einzunehmen. Ihr werdet noch eine Weile hierbleiben müssen, aber haltet euch bereit, auf ein Wort von mir zu fliehen.« Sie nickten wortlos und sahen ihm hinterher, als er zu Sathomans Zelt ging. Schließlich wandte sich Calandryll Bracht zu und betrachtete ihn besorgt. »Du hast ihm dein Wort gegeben, und wie du selbst sagst, stehst du dazu. Du hast es Lord Varent trotz deiner Zweifel gegeben und dafür sein Geld genommen.« Bracht nickte und grinste. »Ich habe ihm versprochen,
ihn zu dem Zauberbrevier zu bringen«, sagte er. »Nichts sonst.« »Und?« fragte Calandryll verwirrt. »Verpflichtet dich das nicht dazu, ihm zu dienen?« »Das Zauberbrevier ist eine Erfindung«, entgegnete Bracht. »In seiner Überheblichkeit hat Anomius es ver säumt, dich danach auszufragen. Wie könnte ich ihn zu einem Gegenstand bringen, den es gar nicht gibt? Au ßerdem hat er mir keinen Lohn für meine Dienste ange boten.« Calandryll starrte den Kerner an, der seinen Blick mit ernster Miene erwiderte. Dann brachen sie beide in Ge lächter aus.
KAPITEL 12 Den ganzen Morgen lang konnten sie beobachten, wie Sathomans Männer mehrere riesige Feuer vorbereiteten. Arbeiterkolonnen brachten frisch geschlagenes Holz in Karren oder behelfsmäßigen Zugschlitten aus allen Rich tungen der Hochebene herbei und schichteten es gerade außer Reichweite der Bogenschützen vor den Barrikaden zu gewaltigen Haufen auf. Die Verteidiger, die anschei nend ahnten, daß irgendein magischer Angriff bevor stand, unternahmen einen Ausfall, der aber von den vor Kesham-vaj verbliebenen Bogenschützen der Belagerer zurückgeschlagen wurde, während der Rest der Brigan tenarmee weiter damit beschäftigt war, Holz heranzu schaffen und gemäß den Anweisungen des Hexers auf zustapeln. Am frühen Nachmittag, als wahrscheinlich kein einziger Baum mehr auf der Ebene stand, ließ Ano mius die Arbeit beenden, und die Rebellen zogen sich zurück. Die Gefangenen erhielten Wasser und etwas zu essen. Anomius erschien und hob den Versiegelungs bann vor der Tür auf, sagte aber kein Wort, sondern lächelte nur und tippte in einer verschwörerischen Geste gegen seine gewaltige Nase. Calandryll und Bracht aßen direkt an der Tür, von wo aus sie fasziniert die Vorberei tungen für den Überfall verfolgten.
Er begann am späten Nachmittag. Geschützt von einem Trupp schildtragender Krieger und Bogenschützen, ging Anomius von einem Holzsta pel zum nächsten, sprach unhörbare Worte und vollführ te eine Reihe komplexer Gesten mit den Händen, die die Luft um ihn herum flimmern ließen. Calandryll bemerk te, daß der rote Stein stärker glühte, während der Zaube rer seine Rituale vollzog. Sathoman stand unter dem schattigen Vordach seines Zeltes. Seine riesige Hand schloß und öffnete sich unablässig über dem Griff seines Schwertes, sein Blick war fest auf den schmächtigen Zauberer gerichtet. Auf seinem bärtigen Gesicht lag ein Ausdruck wilder Vorfreude. Anomius beendete seine Rituale und nickte einem Soldaten zu, der einen Befehl bellte, worauf ein Mann mit einer Fackel in der Hand von Holzstoß zu Holzstoß lief. Die übereinandergestapelten Scheite entzündeten sich, Flammen fraßen sich gierig in das Holz und kletterten in die Höhe, die zunehmende Hitze ließ die Luft flirren und wabern. Bläulicher Rauch stieg, vom Wind zerfetzt, in den blauen Himmel. Anomius ging zu Sathoman. Sie unterhielten sich kurz, dann nickte der Riese, setzte sich einen Drachenhelm auf den Kopf, winkte seinen Unter führern zu, ihm zu folgen, und begab sich zum größten Trupp seiner Streitkräfte. Anomius wartete, bis Satho man seinen Platz an der Spitze des Zuges eingenommen hatte, dann hob er die Arme und breitete sie weit aus, die Handflächen nach außen gerichtet.
Der Stein pulsierte stärker. Calandryll zog ihn unter seinem Hemd hervor, als er ihm die Brust zu versengen drohte. Mandelduft stieg ihm betäubend in die Nase. Plötzlich schossen Flammen aus Anomius' Handflächen hervor und verdichteten sich über ihm in der Luft zu zwei identischen Feuerbällen, so daß es aussah, als hätten sich seine Hände in lebendige Fackeln verwandelt. Er senkte die Arme, rief ein einzelnes Wort, und weißglü hende Flammenzungen zuckten auf die brennenden Holzstöße zu. Das Fauchen der Flammen veränderte sich, und aus dem Knistern und Prasseln brennenden Holzes schien das kehlige Knurren lebendiger Wesen zu werden. Die Feuer wuchsen weiter in die Höhe und begannen wilder zu lodern, wurden zu großen Flammenwänden, die sich wanden, als wären sie von einer vernunftbegab ten Energie erfüllt. Und dann traten Kreaturen aus rei nem Feuer aus den Brandherden hervor, mißgestaltete Chimären, teils Mensch, teils Tier, die blinde Wut und Bösartigkeit ausstrahlten. Die brennenden Köpfe drehten sich auf ihren säulenartigen Hälsen hin und her, als such ten sie nach Opfern, um ihren furchtbaren Hunger zu stillen. Wieder sagte Anomius irgend etwas, und obwohl sei ne Worte im Tosen der Flammen untergingen, schienen die Feuerbestien ihn verstanden zu haben, denn alle wandten sie sich in Richtung Kesham-vaj und stapften schwerfällig auf die Stadt zu. Wo sie auftraten, begann der Boden zu brennen, das niedergetrampelte Gras schwelte, und sie ließen eine Spur rauchender schwarzer
Erde hinter sich zurück. Der süßliche Mandelgeruch wurde so intensiv, daß er Übelkeit hervorrief, der rote Stein strahlte so grell, als wäre er ebenfalls von dem Feuer erfaßt worden. Calandryll sah fassungslos zu, wie die Verteidiger einen Pfeilhagel auf die Angreifer ab schossen, der keinerlei Wirkung zeigte. Die Pfeile gingen in Flammen auf, noch bevor sie die brennenden Erschei nungen erreichen konnten. Die Feuerbestien marschier ten unaufhaltsam auf die Barrikaden zu, die alle Zugänge nach Kesham-vaj versperrten. Haushoch überragten sie die wenigen Verteidiger, die tapfer – oder verzweifelt – genug waren, um die Stellung zu halten. Sie fanden den Tod, als die magischen Kreaturen mit ihren feurigen Pranken Zugriffen und die Barrieren aus einanderrissen. Holz und Fleisch gingen bei ihrer Berüh rung in Flammen auf. In kürzester Zeit waren die Barri kaden zwischen den Häusern zerstört. Das Holz verkohl te und zerfiel zu Asche, die in den Flammengestalten hochwirbelte und sie mit schwarzen und grauen Streifen durchzog. Wo die Bestien auftauchten, schmolz Metall, zerrannen Speerspitzen und Schwerter wie Eis in der Sonne und ergossen sich in zischenden Lachen auf den verbrannten Boden. Die Verteidiger, die den magischen Angriff bisher überlebt hatten, flohen in heller Panik. Eine Trompete schmetterte, und Calandryll sah, wie Sathoman sein großes Schwert in die Höhe reckte, einen Schlachtruf ausstieß und auf die ihm nächste Feuerbestie zurannte.
Einen kurzen Augenblick lang dachte Calandryll, der Brigantenführer würde sich in den Tod stürzen, aber als er sich der Kreatur näherte, drehte sie sich um und und marschierte weiter, trieb die Verteidiger vor sich her, und Sathoman, immer noch den Schlachtruf auf den Lippen, führte seine Männer nach Kesham-vaj hinein. Kampflärm brandete auf. Die Krieger strömten wie ei ne menschliche Flut auf den Fersen der Feuerbestien von allen Seiten her in die Stadt hinein. Calandryll sah, wie Anomius erneut die Hände hob, und die brennenden Gestalten, die er erschaffen hatte, loderten noch einmal hell auf und waren dann verschwunden. Jetzt gehörte das Schlachtfeld allein den menschlichen Kämpfern, der betäubende Mandelgeruch verflog und machte dem Geruch von brennendem Holz Platz. Der Zauberer sackte in sich zusammen, seine Schul tern fielen unter der schäbigen Robe herab, seine Brust hob und senkte sich schwer. Ein Mann brachte ihm einen Hocker, und der Hexer ließ sich mit hängendem Kopf darauf fallen. So blieb er reglos sitzen, offenbar von sei ner Beschwörung erschöpft, bis ein Trupp von Satho mans Männern eine in einen weiten Umhang gekleidete Gestalt aus der Stadt zu ihm trieb. Da richtete er sich wieder gerade auf und wartete reglos, bis der Mann zu ihm gebracht worden war. Calandryll nahm an, daß es sich um den Zauberer handelte, den der Tyrann geschickt hatte, um Kesham-vaj zu verteidigen. Der Mann sah eindrucksvoller als Ano
mius aus. Er war größer, hatte ein schmales Gesicht, und obwohl er offensichtlich von seiner Tätigkeit nicht weni ger erschöpft als sein Gegner war, stand er in trotziger Haltung vor ihm. Seine Hände waren gefesselt, sein Mund mit einem verknoteten Lederband geknebelt. Graues Haar fiel ihm in losen Strähnen ins Gesicht und auf die Schultern. Er trug einen silberfarbenen Umhang, der rußverschmiert und an den Säumen angesengt war. Als wäre er sich ihrer unterschiedlichen Größe bewußt, blieb Anomius sitzen und musterte den gegnerischen Zauberer mit zur Seite gelegtem Kopf. Dann machte er eine Geste und murmelte den Soldaten etwas zu, worauf sie sich zurückzogen und einen weiten Halbkreis um den gefesselten Mann bildeten. Wieder vollführte Anomius eine Geste, und urplötzlich war der andere Zauber in Feuer gehüllt. Ein einzelner erstickter Schrei kam über seine Lippen. Anomius hatte den Zauberspruch kaum ausgesprochen, da war das Feuer auch schon wieder verschwunden – und sein Rivale mit ihm. Eine Handvoll Asche rieselte durch die Luft, wurde von einem Wind stoß erfaßt und davongeweht. Anomius sagte etwas zu den Soldaten, die auf dem Absatz kehrt machten und in das Schlachtgetümmel zurückkehrten, anscheinend er freut, aus der Nähe des Hexers verschwinden zu können. Der Kampf zog sich bis zur Abenddämmerung hin. Das Klirren von Stahl auf Stahl und die Schreie wurden allmählich leiser, bis wieder Stille auf der Hochebene einkehrte. Dann schmetterte die Trompete erneut, und in Kesham-vaj klang ein gewaltiger Schrei auf.
»Ich glaube«, sagte Bracht, »daß Sathoman jetzt nicht nur dem Namen nach Lord der Fayne ist.« »Und jetzt hat er Zeit, sich an uns zu erinnern«, erwi derte Calandryll. »Anomius sollte lieber schleunigst handeln, falls er es sich nicht wieder anders überlegt hat.« Bracht nickte zustimmend. Sein raubvogelartiges Ge sicht wirkte nachdenklich. »Wenn er seine Meinung nicht geändert hat«, sagte er, »wäre heute nacht die beste Ge legenheit zu verschwinden, solange Sathoman seinen Triumph feiert. Und wenn wir verschwinden, sollten wir uns am besten eine Strategie für die nächste Zeit einfallen lassen.« Calandryll blickte ihn fragend an. »Anomius ist unsere einzige Hoffnung, von hier zu entkommen«, stellte Bracht fest und machte eine weit ausholende Handbewegung, die den Stall und die Stadt umfaßte, »und wahrscheinlich kann uns ein Zauberer die Reise durch Kandahar erleichtern. Was aber, wenn wir in Kharasul ankommen? Sollen wir mit ihm ein Schiff besteigen? Sollen wir ihn als Begleiter nach Tezin-dar mitnehmen?« »Dera, nein!« Calandryll schüttelte heftig den Kopf. »Wenn Anomius von dem Arcanum erfährt, würde er es in seinen Besitz bringen, und ich glaube, dann könnten wir es genausogut gleich Azumandias überlassen.« »Dann müssen wir ihn abhängen«, sagte Bracht. »Wenn wir können«, stimmte Calandryll zu.
»Selbst Hexer müssen irgendwann einmal schlafen.« Bracht tippte auf den Griff seines Schwertes. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen. »Und bestimmt können auch Hexer getötet werden.« Calandryll starrte den Kerner an. Ihm war klar, daß sie hier über einen kaltblütigen Mord sprachen. Es war ein langer Weg von Secca bis zu diesem Punkt gewesen, und die Veränderungen, die sein Leben erfahren hatte, waren vielleicht mehr, als er zu akzeptieren bereit war. Aber der Preis in diesem Spiel war das Arcanum – und damit die Rettung der gesamten Welt. Er nickte widerwillig. »Wenn uns nichts anderes übrigbleibt.« Von Kesham-vaj her drang der Lärm der ek'HennemArmee herüber, die ausgelassen ihren Sieg feierte, und im Augenblick verschwendete offensichtlich niemand auch nur einen Gedanken an die Gefangenen. Der Vollmond war mittlerweile aufgegangen und schien gelegentlich durch Lücken in der Wolkendecke. Ein leichter Regen erstickte die Feuer. Der Zauberbann, den Anomius über den Stall gelegt hatte, schützte nicht gegen den Regen, und Calandryll und Bracht kauerten sich müde und klamm unter den spärlichen Schutz des zerstörten Daches. Irgendwann brachte ihnen ein verdreckter, grinsender Soldat etwas zu essen. Anomius hob den Schutzzauber gerade lange genug auf, damit der Mann das Essen in den Stall werfen konnte. Calandryll hatte gedacht, der Zauberer würde mit ihnen sprechen, aber er warf ihnen
nur wie beim letzten Mal einen flüchtigen Blick zu und drehte sich um. Im Mondlicht wirkte sein Gesicht einge fallen, seine blutunterlaufenen und von dunklen Ringen umgebenen Augen ließen nicht erkennen, was er vorhat te. Während Calandryll und Bracht aßen, lauschten sie dem Geschrei der betrunkenen Sieger und fragten sich, ob der Zauberer seine Zusage vielleicht doch noch zu rückziehen würde. Von Sathoman ek'Hennem war nichts zu sehen. Nun, das war wenigstens ein gutes Zeichen. Also machten sie es sich so bequem wie möglich und schliefen mit den Schwertern in den Händen ein, das Gepäck vorsorglich in Reichweite. Bracht wachte vor Calandryll auf, als Anomius wieder erschien. Er stieß seinen Gefährten in die Seite und riß ihn aus einem unruhigen Traum voller Feuerungeheuer und sprechender Bäume. Als Calandryll die vom Schlaf verklebten Augen öffnete, sah er die kleine Gestalt des Hexers in der Tür stehen. Instinktiv warf er einen schnel len Blick auf den roten Stein, der kein Glühen zeigte, woraus er schloß, daß der Zauberbann vor der Tür auf gehoben war. Anomius hob warnend einen Finger an seine fleischi gen Lippen und bedeutete den Gefangenen mit einer Geste aufzustehen. »Sathoman feiert immer noch seinen Sieg«, sagte er leise, »und die meisten seiner Männer sind betrunken. Ich glaube, dies ist der günstigste Zeitpunkt, um zu ver schwinden. Aber vorher…«
Er hob die Hand, richtete einen Finger auf Bracht und murmelte irgend etwas vor sich hin. Der Kerner sprang zurück und stieß einen Fluch aus, dann wurden seine Augen einen Moment lang glasig. Anomius lächelte liebenswürdig. Calandryll sah, daß der Stein kurz auffla ckerte. »Nur ein einfacher Zauberbann«, erklärte der Hexer. »Wir drei haben eine längere Reise vor uns, und ich möchte nicht das Risiko eingehen, daß ihr euren Schwur vergeßt.« »Du sollst verdammt sein!« fauchte Bracht. »Was hast du mit mir gemacht?« »Eine kleine Schutzmaßnahme, sonst nichts«, erwider te Anomius. »Ich hätte das gleiche mit Calandryll ge macht, wenn der Stein ihn nicht schützen würde.« »Was hast du mit mir gemacht?« wiederholte Bracht wütend. Seine Hand umklammerte den Griff des Krummschwertes. »Wenn du versuchen solltest, dein Schwert oder ir gendeine andere Waffe gegen mich zu erheben«, sagte der Zauberer strahlend, »wirst du sie unwillkürlich auf Calandryll lenken. Versuche, mich umzubringen, und dein Gefährte wird sterben.« Der Kerner starrte ihn mit wutverzerrtem Gesicht an. »Und ich?« fragte Calandryll. »Was ist, wenn ich dich angreife?« »Dein Moralempfinden ist … nicht so pragmatisch wie das der Bewohner von Cuan na'For, Calandryll den Ka
rynth. Ich bezweifle, daß du der Typ bist, der mir im Schlaf die Kehle durchschneiden oder mir ein Messer in den Rücken stoßen würde, wenn ich mich umdrehe.« »Du beleidigst mich«, preßte Bracht rauh hervor. »Ich habe lediglich ein paar verständliche Vorsichts maßnahmen getroffen«, entgegnete Anomius ruhig. »Habt ihr etwa nicht Varent den Tarl verraten? Ihr braucht mich, um Sathomans Rache zu entgehen, aber was dann? Welche andere Garantie außer eurem Wort – das ihr zweifellos auch eurem früheren Auftraggeber gegeben habt – habe ich denn, daß ihr nicht auch mich verraten werdet?« Sein Argument war mehr als begründet, bedachte man, daß sie gerade erst darüber gesprochen hatten, ihn zu ermorden. Calandryll fiel keine passende Erwiderung ein. Brachts Lippen bildeten einen schmalen Strich, in seinen Augen funkelte es gefährlich. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über diese Angelegenheit zu diskutieren«, erklärte Anomius. »Wir werden gemeinsam reiten, und ich muß mich schützen. Entweder ihr akzeptiert das, oder ihr bleibt hier. Satho man wird sich bestimmt an euch erinnern, sobald er wieder nüchtern ist. Wenn ihr es vorzieht, auf seinen Gerechtigkeitssinn zu bauen…« Er zuckte die Achseln. »Wenn nicht, dann laßt uns endlich verschwinden. Ich habe Pferde besorgt, und ich möchte eine größere Entfer nung zwischen mich und Kesham-vaj gebracht haben, bevor mein Gebieter von meiner Abreise erfährt. Also
entscheidet euch.« Calandryll warf Bracht einen Blick zu. Der Kerner zuckte ergeben die Achseln. »Laß uns losreiten.« »Dann kommt«, sagte Anomius und winkte ihnen zu. Sie verließen den Stall und folgten ihm. Die Feuer, die jetzt keinen Nachschub mehr durch Anomius' Magie bekamen und dem gleichmäßigen Re gen ausgesetzt waren, qualmten vor sich hin. Eine dicke Wolkendecke hatte den Himmel über der Hochebene überzogen und den Mond verschluckt. Das Land um Kesham-vaj war dunkel. Die wenigen Männer ek'Hennems, die sich nicht an dem Gelage in der Stadt beteilig ten, hatten Schutz in den Zelten gesucht, und die drei Flüchtigen erreichten ihre Pferde unbemerkt. Brachts Brauner und Calandrylls Rotschimmel begrüßten ihre Herren mit einem leisen Wiehern. Sie verstauten ihr Gepäck hinter den Sätteln. Der Kerner nahm sich die Zeit, jedes Tier einzeln zu untersuchen, bevor sie aufsa ßen. Anomius zog sich mühsam in den Sattel eines dun kelgrauen Wallachs und führte sie aus dem Lager heraus. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, ritten sie im Schritttempo an leeren Zelten, einer qualmenden Feuer stelle und einer Reihe angepflockter Pferde vorbei, die mißmutig im Regen stampften. Das Wetter und die Dun kelheit waren ihre Verbündeten, und durch den Sieg hatte die Wachsamkeit der Briganten nachgelassen. Der nasse Boden und das Rauschen des Regens dämpfte die Schritte der Pferde. Die wenigen Wachen, die noch auf
ihren Posten waren, kauerten unter ihrem Regenschutz und trösteten sich mit Bier und Wein, das ihnen ein paar mitfühlende Kameraden aus der Stadt gebracht hatten. Calandryll, Bracht und Anomius schlugen einen Bo gen um die Zelte, bis Kesham-vaj hinter ihnen lag, und überquerten die Felder, von denen die Bauern beim Her anrücken der Rebellenarmee geflohen waren. Die Umris se verlassener Bauernhäuser zeichneten sich undeutlich in der Dunkelheit ab. Das Vieh war längst schon von Sathomans Männern verzehrt worden. Als die Stadt nur noch als verschwommener Lichtfleck hinter ihnen zu sehen war, hielten sie schräg auf die Straße zu und be schleunigten das Tempo. »Wie lange wird es dauern, bis man uns vermißt?« rief Bracht über das Rauschen des Regens und das dumpfe Klopfen der Pferdehufe hinweg. Anomius, der nicht gerade glücklich über das zügige Tempo zu sein schien, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sagte: »Wahrscheinlich am Morgen. Wenn wir Glück haben, vielleicht auch erst gegen Mittag oder sogar noch später.« »Werden wir die Hochebene bis dahin verlassen ha ben?« wollte der Kerner wissen. Der Zauberer nickte. »Wenn wir die ganze Nacht durchreiten. Und wenn wir an den Wachen vorbeikom men.« »Wachen?« Bracht lenkte seinen Braunen näher an den Schimmel heran. »Was für Wachen?«
»Sathoman hat zwanzig Männer am Westrand der E bene postiert«, erklärte der Zauberer. »Um die Straße im Auge zu behalten und ihn vor einem möglichen Angriff zu warnen.« »Möge Ahrd dich verfluchen!« rief Bracht. »Du hast kein Wort davon gesagt, daß dort Posten stehen.« »Kannst du keine Magie gegen sie einsetzen?« erkun digte sich Calandryll. »Keine größeren Beschwörungen.« Anomius schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Feuerdämonen gerufen, und das fordert seinen Tribut. Das, und das Zurückschlagen der Zaubersprüche meines Gegners. Ich kann erst wieder stärkere Magie anwenden, wenn sich meine Kräfte erho len.« »Du hast mich mit einem Bann belegt«, sagte Bracht. »Oder war das eine Lüge?« »Keine Lüge«, erwiderte Anomius, »aber es war nur ein einfacher Zauberspruch. Mehrere Männer auf einmal zu überwältigen oder uns ungesehen an ihnen vorbeizu bringen, ist mehr, als ich jetzt schaffen könnte.« »Gibt es noch einen anderen Weg von der Hochebene ins Tiefland?« Calandryll sah ihre Flucht schon wieder enden, kurz nachdem sie begonnen hatte, als der Zauberer den Kopf schüttelte und sagte: »Nicht von dieser Ebene. Nur die Straße des Tyrannen. Aber es gibt eine andere Möglich keit … vielleicht.« Er zog die linke Hand, mit der er das Sattelhorn ängst
lich umklammert hielt, gerade lange genug zurück, um damit auf den Packen hinter seinem Sattel zu deuten. »Ich habe einen Bogen mitgebracht. In der Nacht … sie werden nicht mit einem Überfall aus dieser Richtung rechnen.« »Du würdest zulassen, daß deine Kameraden getötet werden?« Calandryll starrte dem Zauberer ins Gesicht, das im Regen glänzte, und verspürte Abscheu vor diesem uner wünschten Verbündeten in sich aufsteigen. »Ich will das Zauberbrevier«, gab Anomius ungerührt zurück. »Wenn eine Handvoll Banditen dafür sterben muß, dann wird es geschehen.« »Und wenn Sathoman davon erfährt?« Bracht schien keinerlei Bedenken wegen Anomius' Vorschlag zu haben, und Calandryll erkannte, daß der Zauberer recht gehabt hatte, was ihr unterschiedliches Moralempfinden betraf. »Das wird frühestens in einem Tag der Fall sein«, sag te der Hexer. Dann grinste er maliziös. »Und wenn er davon erfährt – und feststellt, daß wir verschwunden sind –, wird er wahrscheinlich glauben, daß es euch ge lungen ist, mich zu zwingen, euch zu befreien.« »Und er wird uns ein paar Männer auf den Hals schi cken«, fauchte der Kerner. »Wenn wir dann noch leben.« »Natürlich«, stimmte ihm Anomius zu, »aber bis da hin werden wir das Hochland verlassen haben, und im Tiefland gibt es genügend Verstecke. Außerdem werden
meine Kräfte dann wiederhergestellt sein. Ihr müßt euch nur um die Männer vor uns kümmern.« »Du hast viel Vertrauen in meine Fähigkeiten als Schwertkämpfer«, knurrte Bracht. »Wir werden eine Möglichkeit finden«, erwiderte A nomius ruhig. »Gemeinsam werden wir einen Ausweg finden.« Bracht stieß einen Fluch aus, der ungehört in der Nacht verhallte. Calandryll, der zu Anomius' Linken ritt, warf dem Kerner einen Blick zu. Brachts Gesicht war kalt, hart und entschlossen, als hätte er sich schon damit abgefunden, zwanzig Mann anzugreifen, und würde sich nur noch Gedanken über die beste Vorgehensweise ma chen, über die Strategie und die Notwendigkeit, von dieser offenen Hochebene in das Tiefland mit seinen zahllosen Versteckmöglichkeiten zu gelangen. Sie ritten weiter. Bracht gab das Tempo vor. Anomius wurde im Sattel seines Schimmels durchgeschüttelt, ein jämmerliches Bündel dunkler, vom Regen vollgesogener Kleidungsstücke. Jetzt, nachdem die Entscheidung gefal len war, blieb er stumm. Calandryll dachte über seine Worte nach: ›Ich kann keine größeren Zauber wirken, bis meine Kräfte wiederhergestellt sind.‹ Vielleicht eröffnete sich ihnen dadurch eine Möglichkeit, seinen Klauen zu entkommen. Wenn ihn größere Beschwörungen so stark erschöpften, daß er nur noch zu einfachen Zaubersprü chen fähig war, dann konnten sie möglicherweise fliehen, sobald seine magischen Kräfte sich irgendwann wieder
auf dem Tiefpunkt befanden. Vielleicht… Jetzt aber ging es erst einmal darum, sich zu überle gen, wie sie an den Wachen vorbeikommen konnten. Es waren zwanzig, hatte Anomius gesagt. Bracht würde kaum zwanzig Gegner allein mit dem Bogen erledigen können; höchstwahrscheinlich würde es zu einem Schwertkampf kommen. Calandryll wurde sich plötzlich bewußt, daß er noch nie einen Menschen getötet hatte, und er begann sich zu fragen, ob er dazu überhaupt in der Lage sein würde. Er sollte es im Morgengrauen he rausfinden. Kesham-vaj war in der Dunkelheit hinter ihnen ver schwunden. Das Land breitete sich flach um sie herum aus, nur hier und da waren undeutlich die Umrisse windgepeitschter Bäume zu sehen. Der Rand der Hoch ebene lag unsichtbar im weichen grauen Licht verborgen, das der Morgendämmerung vorausging. Der Regen hatte aufgehört. Die Luft war kühl und frisch und duftete angenehm nach nassem Gras. Anomius zügelte sein Pferd und hob warnend die Hand. »Wir nähern uns dem Hang. Sathomans Männer könn ten die Pferde hören.« Der Kerner brachte sein Pferd zum Stehen und sprang zu Boden. Calandryll folgte sofort seinem Beispiel. »Gib mir den Bogen«, verlangte Bracht. Anomius ächzte, als er ungeschickt ein Bein über den Sattel hob, vom Pferd hinunterrutschte und den Bogen
aus der Hülle hinter dem Sattel zog. Dieser war stark gekrümmt, wie die Bögen von Denphat und Jedomus, kurz genug, um von einem Pferderücken aus abgeschos sen zu werden. Bracht nahm ihn entgegen, spannte ihn über dem Knie und legte die schlaffe Sehne ein. Anomius reichte ihm einen Köcher mit zwölf Pfeilen. Der Kerner untersuchte jeden einzelnen, überprüfte die Schäfte und die Befiederung. Er zeigte sich zufrieden und wandte sich dem Zauberer zu. »Wo stecken die Wachen?« »Die Stelle, an der der Steilhang beginnt, ist durch eine Steinsäule markiert«, sagte Anomius. »Wie die, an der du auf Arrhiman und Laphyl gestoßen bist. Hinter der Säule fällt die Straße steil ab und führt durch einen Einschnitt. Vor dem Rand der Ebene ist das Gelände etwa einen halben Bogenschuß weit offen. Dort sind die Männer.« »Tragen sie Rüstungen?« »Ja.« Anomius nickte. »Aber mit diesem Bogen kann man durch Rüstungen schießen.« »Nicht schnell genug, um alle zu erledigen«, grunzte Bracht, »aber vielleicht reicht es aus, um sie auseinander zutreiben. Kannst du irgendeine Form von Magie gegen sie einsetzen?« »Ein wenig«, räumte der Hexer ein, »aber nur kleinere Zauber, die ich auch nur auf kurze Distanz und gegen einzelne Männer anwenden kann.« »Dann müssen wir durch sie hindurchreiten.« Brachts Gesicht wirkte im matten grauen Licht grimmig. »Ca
landryll, deine Aufgabe besteht darin, ihre Pferde weg zutreiben. Wahrscheinlich befinden sie sich bei einem Vorposten und sind an einem Längsseil angeleint. Ver such, möglichst nahe heranzukommen, und jag sie da von. Dann kommst du hierher zurück. Zauberer, du wartest hier und hältst unsere Pferde bereit. Sobald Ca landryll zurückkommt, reitet ihr so schnell los, wie ihr könnt.« »Und du?« fragte Calandryll. »Ich tue mein Möglichstes, um sie zu verwirren, und warte am Rand des Abhangs auf euch. Reitet im vollen Galopp. Anomius, du setzt deine Magie ein, sobald du kannst.« Der Zauberer nickte. »Was ist, wenn du … dich verspätest?« wollte Ca landryll wissen. Bracht grinste und zuckte die Achseln. »Laß das meine Sorge sein, mein Freund. Wenn die Pferde erst einmal durchgegangen sind, mußt du nur noch die Straße hinter dich bringen. Sollten unerwartete Schwierigkeiten auftre ten, treffen wir uns weiter unten. Wenn nicht … dann reitet ihr allein weiter.« Er schnitt Calandrylls Protest mit einer knappen Geste ab und wandte sich Anomius zu. »Du wartest hier, Zauberer. Versuch, die Pferde ruhig zu halten.« Er winkte Calandryll, ihm zu folgen, und legte einen Pfeil auf die Sehne. Calandryll zog sein Schwert. Sein Mund war trocken, und sein Magen zog sich zusammen.
Bracht lächelte verkniffen und folgte der Straße. Kurz darauf hörten sie die gedämpften Geräusche ei nes erwachenden Lagers, das Schnauben von Pferden und die leisen Gespräche der Wachposten, sahen das schwache Flackern eines Lagerfeuers und die dunklen Umrisse der Felssäule vor dem heller werdenden Him mel. Bracht streckte eine Hand aus und deutete auf den Punkt, wo die Straße abfiel. »Da drüben sind die Pferde. Benutze Varents Zauber spruch, wenn du willst, aber du mußt sie losbinden und wegjagen. Ich werde mich von der anderen Seite an schleichen.« Calandryll nickte stumm. Bracht legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn eindringlich an. »Sie würden uns nicht freiwillig vorbeilassen, ist dir das klar?« Seine Stimme klang sanft aber bestimmt. »Wahrscheinlich bilden sie jetzt noch eine Gruppe, aber sobald ich schieße, werden sie sich verteilen, und einige könnten zu den Pferden laufen. Töte sie. Die Überleben den würden sich an unsere Fersen heften – oder Satho man informieren.« Calandryll nickte einmal. Er wußte nicht, ob er jetzt ein Wort hätte hervorbringen können. »Laß mir Zeit, näher an sie heranzukommen«, sagte Bracht, »und mach die Pferde erst los, nachdem ich den ersten Mann erwischt habe.« Er huschte die Straße entlang und verschwand im Un terholz. Calandryll sagte den Spruch auf, den Varent ihm
beigebracht hatte, und spürte, wie seine Haut kribbelte. Mandelduft mischte sich in die frische Morgenluft. Ge bückt schob er sich durch die Büsche, auf denen Regen tropfen silbern schimmerten, das Schwert in der Hand, alle Sinne bis zum Zerreißen angespannt. Die ersten Vögel stimmten ihr Morgenlied an, und die aufgehende Sonne malte den östlichen Himmel golden und rot, vertrieb das substanzlose Grau und entriß die dunkle Felsnadel, hinter der die Straße in der Tiefe ver schwand, dem Zwielicht. Das Feuer am Fuß der Säule loderte heller auf, als Zweige nachgeschoben wurden. Die Wachposten erwachten und schüttelten ihre nas sen Decken aus. Einer der Männer ging um die Felsnadel herum und machte sich an seiner Hose zu schaffen. Ca landryll hörte ihn seufzen, als er sich erleichterte. Zwei andere Männer kümmerten sich um das Feuer, und die jenigen, die die letzte Wache gehabt hatten, legten sich davor nieder. Nicht weit von der Feuerstelle entfernt waren die Pferde angebunden, die das Tageslicht mit leisem Wiehern begrüßten. Calandryll schlich auf sie zu. Brachts Angriff erfolgte ohne jede Vorwarnung. Das dumpfe Geräusch des Pfeils, der den Mann an der Fels nadel zwischen die Schulterblätter traf, war kaum zu hören. Der Mann stieß den Atem aus, kippte gegen den Stein und fiel seitlich ins Gebüsch. Das Strauchwerk fing ihn auf, so daß er in den Zweigen hängenblieb, einen Arm in einer Geste ausgestreckt, die flehend und ankla gend zugleich aussah. Ein vor dem Feuer sitzender Sol
dat hob den Kopf. Die Felssäule versperrte ihm die Sicht auf den Getroffenen. Calandryll konnte ihn deutlich erkennen, einen kleinen untersetzten Mann mit einem von grauen Strähnen durchzogenen Bart, der einen mit blauen Seepferdchen verzierten Brustpanzer trug. Er runzelte die Stirn, stand auf, trat ein paar Schritte zur Seite und spähte in die Richtung seines gefallenen Kame raden. Calandryll sah, wie sich seine Augen vor Schreck weiteten und er den Mund öffnete, um einen Warnruf auszustoßen, der ihm jedoch in der Kehle steckenblieb, weil ihm plötzlich ein Pfeil aus der Brust hervorragte. Der Mann stolperte zurück und stürzte in das Feuer. Funken wirbelten hoch in die Luft. Seine Kameraden schrien auf und zogen die Schwerter. Calandryll brach aus dem Gebüsch hervor und rannte auf die Pferde zu. Die Tiere spürten seine Anwesenheit, begannen zu stampfen und zerrten an der Halteleine. Calandryll durchtrennte sie mit einem Schlag, hieb wild um sich und zerschnitt auch die Seile, mit denen jedes Pferd an dem Längsseil festgebunden war, ohne auf die auskei lenden Hufe der erschreckten Tiere zu achten. Er fuchtel te mit den Armen in der Luft herum, erinnerte sich, daß die Pferde ihn nicht sehen konnten, und schlug mit der Breitseite seines Schwertes nach ihnen, um sie davon zutreiben. Ein Kander stieß einen gellenden Schrei aus, als sich ihm ein Pfeil in den Hals bohrte, ein zweiter stürzte mit einem Pfeil zwischen den Rippen zu Boden. Drei weitere rannten auf die durchgehenden Pferde zu, und einem
gelang es, die schleifende Halteleine zu packen. Ca landryll stürzte sich auf ihn, das Schwert erhoben, durch trennte die Hand, die die Leine umklammert hielt, ließ die Klinge einen Bogen beschreiben, schickte den Mann mit blutüberströmten Gesicht zu Boden und wirbelte herum, um die beiden anderen anzugreifen, die fas sungslos um sich stierten und mit ihren Schwertern blindlings auf den unsichtbaren Feind einschlugen. Er tötete sie ohne Erbarmen. Die sich überstürzenden Ereignisse ließen ihn nicht einen Moment lang an einen ehrenhaften Kampf denken, und erst als er sie tot zu seinen Füßen liegen sah, fiel ihm wieder ein, daß sie ihn gar nicht hatten sehen können. Calandryll fühlte sich von Übelkeit gepackt, sagte den Gegenspruch auf, wurde wieder sichtbar und rannte die Straße entlang zurück zu Anomius, dessen dunkler Umriß sich im frühen Morgen licht jetzt deutlich abzeichnete. Plötzlich sprang ihm ein stämmiger Kander in den Weg, der einen Säbel schwang und einen Schild aus Drachenhaut vor seinen Körper hielt. Er stieß ein Knur ren aus und ließ seinen Säbel mit aller Kraft auf Ca landrylls Kopf niedersausen. Unter einem grünen Kopf tuch blitzten seine Augen wütend auf. Calandryll parier te den Hieb und schlug zurück, aber der Schild lenkte sein Schwert zur Seite. Er wehrte einen zweiten Schlag ab, ließ seine Klinge über die des Kanders gleiten und stieß nach der ungeschützten Schulter seines Gegners. Der Brigant wich zurück, hob den Schild, und Calandryll ging in die Offensive über.
Jetzt spürte er keinerlei Gewissensbisse mehr, kein Zögern. Dies war ein ehrenhafter Kampf, Mann gegen Mann, beide sichtbar. Mit wilder Entschlossenheit stürzte er vor, nur darauf bedacht, dieses Hindernis auf seinem Weg in die Freiheit zu beseitigen. Er hieb nach dem Kopf des Briganten, duckte sich unter dem Gegenschlag hin weg und stieß die Schwertspitze in Richtung des Bauches seines Gegners, wo der Küraß endete. Der Kander wich tänzelnd zurück. Calandryll täuschte eine Attacke vor, damit der Kander den Schild hochriß und seine Brust enblößte. Calandrylls Schwert traf die Lederrüstung, und er wich blitzschnell aus, als der Säbel seitlich auf ihn zuschoß, vollführte eine halbe Drehung, wirbelte herum und schlitzte den Schwertarm seines Gegners auf. Als der Arm nach unten sank, stieß er dem Kander das Schwert mit aller Kraft in die Seite. Der Bri gant schrie auf, als sich der Stahl in seinen Körper bohrte. Calandryll verdrehte die Klinge, riß sie wieder heraus, hieb sie dem Mann tief in den Hals und sprang zurück. Helles Blut spritzte aus der klaffenden Wunde. Er sah, wie der Brigant auf Hände und Knie fiel und den Kopf schüttelte, als hätte er Mühe zu begreifen, daß er starb, und vielleicht hatte er es immer noch nicht begriffen, als er erschlaffte, mit dem Gesicht voran auf den Boden fiel und still lag. Calandryll ließ ihn liegen, rannte auf den Zauberer zu, der bereits im Sattel saß, sprang auf den Rotschimmel, ergriff die Zügel von Brachts Pferd und stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen. Der Wallach sprang
vorwärts, und der Braune schnaubte protestierend, als sich die Zügel mit einem Ruck spannten. Calandryll jagte sein Pferd in vollem Galopp auf die Felsnadel zu und registrierte am Rande, daß der Zaube rer neben ihm war. Er sah Bracht aus den Büschen her vorbrechen, und während der Kerner zur Straße rannte, blitzte sein Krummschwert auf und schickte zwei Brigan ten zu Boden. Calandryll verlangsamte das Tempo ein wenig, damit Bracht aus dem Lauf heraus in den Sattel springen konnte, und dann galoppierten sie weiter auf den Rand der Hochebene zu, wo die Straße abfiel und aus ihrem Blickfeld verschwand. Weitere Briganten versperrten ihnen den Weg, und ei nen endlos scheinenden Moment lang herrschte ein heil loses Durcheinander. Männer gingen schreiend zu Bo den, von den voranstürmenden Pferden umgerissen, von Calandrylls und Brachts Schwertern und dem Feuer, das von Anomius' Hand ausging, niedergestreckt. Dann hatten sie die Steinsäule passiert und jagten mit don nernden Hufen die Straße entlang, die nach der Ab bruchkante der Hochebene steil abfiel. Die rasende Flucht erforderte höchste Konzentration, denn die Pferde rissen schrill wiehernd an den Zügeln und waren gefährlich nahe daran, auf dem abschüssigen Weg zu straucheln. Pfeile pfiffen ihnen um die Ohren, prallten an den glatten Felswänden zu beiden Seiten ab, und die Reiter duckten sich tief über die Pferdehälse, bis sie eine langgezogene Biegung hinter sich gebracht hat
ten und der unmittelbaren Gefahr entkommen waren. Mittlerweile war die Sonne im Osten über den Hori zont der Hochebene gestiegen, und sie sahen, daß die Straße tief in den nackten Fels eingeschnitten war. Rechts und links wuchsen hohe Wände empor, die dort, wo das Gefälle weniger steil wurde, in einer sanften Wölbung zurückwichen. Die Straße wand sich den Berghang zu einem breiten Fluß hinab, der am Fuß der Hochebene dahinfloß. Sie nahmen sie im Galopp und drosselten das Tempo erst, als Bäume ihren Rücken abschirmten. Irgendwann erklärte Bracht, daß sie außer Reichweite der Bogen schützen seien, und sie brachten die ausgepumpten Tiere zum Stehen. Hier war die Vegetation üppiger als am Osthang der Hochebene. Bäume säumten Wiesen mit hohem, saftigem Gras. Bäche stürzten den Hang hinunter und ergossen sich in den breiten Fluß. Sie sahen das Kernland von Kandahar unter sich aus gebreitet: dichte Wälder wie ein Flickwerk aus unzähli gen Grüntönen, von Flüssen durchzogen, die wie silber graue Bänder schimmerten. In der Ferne erstreckten sich weite Savannen, bis sie im Dunst verschwanden. Das Kharmrhanna-Gebirge war eine schwarze Linie zwischen Himmel und Erde. Es war ein wundervoller Anblick, der Calandryll mit plötzlicher Trauer erfüllte. Er drehte sich im Sattel um, und wie von einem uner bittlichen fremden Willen gelenkt, wanderte sein Blick
zurück und den Berghang hinauf, wo der Schauplatz des Gemetzels unsichtbar jenseits der Böschung lag. »Ich habe noch nie…«, er stockte und schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der in seiner Kehle auf stieg, »… noch nie einen Menschen getötet.« Bracht nickte. »Beim nächsten Mal wird es leichter.« Calandryll war sich nicht sicher, ob er wollte, daß es beim nächsten Mal leichter war, ob er überhaupt ein nächstes Mal erleben wollte. Er spuckte aus und schüttel te den Kopf, als könne er dadurch die Erinnerungen an Stahl vertreiben, der sich in menschliches Fleisch grub, an das Blut und die Schreie sterbender Menschen, und gleichzeitig machte er sich klar, daß es dumm gewesen war, anzunehmen, er könnte das Arcanum ohne Blutver gießen finden, scheinheilig zu denken, nur Bracht würde sich die Hände schmutzig machen. Doch auch diese Erkenntnis half ihm nicht weiter; das Wissen, daß Men schen durch sein Schwert gestorben waren, ließ seinen Magen rebellieren. »Denk nicht mehr daran«, riet ihm Bracht. »Glaubst du, sie hätten einen Gedanken an dich verschwendet?« »Ich bin nicht sie«, erwiderte Calandryll. »Nein, das bist du ganz bestimmt nicht.« Bracht lä chelte und wiederholte das, was Calandryll eben durch den Kopf gegangen war. »Hast du geglaubt, wir würden Tezin-dar ohne Blut an unseren Schwertern erreichen? Warum hast du mit dem Schwert geübt, wenn nicht, um es irgendwann auch zu benutzen?«
»Ich habe nicht gedacht, ich müßte…« Calandryll schüttelte den Kopf. »… es gegen Menschen einsetzen?« vervollständigte Bracht den Satz. »Sathoman hätte uns getötet, seine Männer hätten uns getötet. Und keiner hätte einen zwei ten Gedanken darauf verschwendet. Die Welt, in der wir leben, ist ein gewaltätiger und blutiger Ort, und ein Mann muß tun, was er tun muß, um darin zu überleben.« Die Stimme des Kerners war sanft und ernst zugleich. Calandryll warf ihm ein kurzes Lächeln voller Dankbar keit zu. Er wußte, daß der andere nur versuchte, ihn zu trösten, seine Schuldgefühle zu lindern. »Aber sie waren nicht unsere Feinde«, murmelte er. »Sie waren nur zufäl lig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.« »Ja«, sagte Bracht. »Sie standen uns im Weg. Sie hätten uns nicht vorbeigelassen. Sie hätten uns getötet oder zu Sathoman zurückgebracht, wo wir ebenfalls den Tod gefunden hätten. Und dann hätte Azumandias Tezin-dar erreichen und das Buch herausholen können. Wäre dir das lieber gewesen?« »Nein.« Calandryll schüttelte widerwillig den Kopf. »Das nicht.« »Dann hatten wir keine andere Wahl, oder?« »Nein«, wiederholte Calandryll. »Aber trotzdem … durch unsere Hände sind Menschen gestorben.« »Und wahrscheinlich nicht zum letzten Mal«, erwider te Bracht. »Es war etwas, das wir tun mußten. Ich glaube, deine Göttin wird dir verzeihen.«
Aber kann ich mir selbst verzeihen? Calandryll unter drückte den Gedanken und musterte seinen Gefährten eindringlich. »Machst du dir keine Gedanken darüber?« »Nein«, sagte Bracht schlicht. »Habt ihr vor, hier Wurzeln zu schlagen und philoso phische Debatten abzuhalten, bis Sathomans Leute ihre Pferde wieder eingefangen haben und uns jagen?« Ano mius' Frage erinnerte Calandryll wieder daran, daß sie längst noch nicht in Sicherheit waren. Er warf Bracht einen hilfesuchenden Blick zu. Der Kerner nickte. »Werden sie uns verfolgen oder Sathomans Befehle abwarten?« »Wie viele sind übriggeblieben?« fragte der Zauberer. »Ich habe fünf getötet, glaube ich«, antwortete Bracht. »Und einige mehr verwundet.« »Vier«, sagte Calandryll. »Dann werden sie wahrscheinlich auf Sathomans An weisungen warten.« Anomius strahlte und wischte sich mit den Zipfeln seines Kopftuchs den Schweiß aus dem gelblichen Gesicht. »Ihr habt gute Arbeit geleistet, meine Freunde, aber ich würde trotzdem vorschlagen, daß wir so zügig wie möglich weiterreiten.« »Wir werden einen Tag brauchen, um dort hinunter zukommen.« Bracht lenkte sein Pferd zur Straßenbö schung und betrachtete den vor ihnen liegenden Weg. »Und bis dahin wird Sathoman wissen, daß wir ent kommen sind.«
»Er wird uns wahrscheinlich zuerst in Kesham-vaj su chen«, sagte Anomius, »aber sobald er von den Männern dort oben benachrichtigt wird, weiß er, welchen Weg wir eingeschlagen haben. Er wird es zwar nicht riskieren, uns allzuweit in das Kernland hinein zu folgen, aber ich wer de mich trotzdem sicherer fühlen, wenn wir erst einmal in den Wäldern sind.« Der Kerner nickte. »Also haben wir einen Vorsprung von einem Tag und noch mehr, falls er seine Leute nicht schon in der Nacht losschickt. Wie viele könnte er uns hinterherschicken?« Anomius zuckte die Achseln. »Er muß die Fayne si chern. Es könnte sein, daß die Armee des Tyrannen ge gen ihn ins Feld zieht. Er wird nicht allzu viele entbehren wollen.« Bracht verlieh seiner Ungeduld mit einer gereizten Geste Ausdruck. »Wie viele sind ›nicht allzu viele‹? Ver dammt, Zauberer, ich möchte wissen, wie unsere Chan cen stehen!« »Einen Trupp könnte er erübrigen«, erwiderte Ano mius gleichmütig. »Vielleicht dreißig Mann.« »Dreißig Verfolger auf unseren Fersen!« Die Wut machte Brachts Stimme tonlos. Der Zauberer lächelte und entblößte vergilbte Zähne. »Du vergißt, daß ihr jetzt einen Verbündeten habt«, sagte er. »Einen, der leicht mit dreißig Mann fertig wird.« »So, wie du mit den zwanzig da oben fertig geworden bist?« Bracht deutete mit dem Daumen in Richtung der
Hochebene. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß du uns eine große Hilfe gewesen bist.« »Wie ich euch bereits gesagt habe, es erfordert seinen Tribut, Feuerdämonen zu beschwören.« Anomius ließ sich seine Selbstzufriedenheit nicht durch Brachts Ärger verderben. »Aber morgen früh werden sich meine Kräfte wieder vollständig regeneriert haben. Ich kann … Wäch ter hinter uns zurücklassen.« Er lächelte, als er das sagte, und seine Zuversicht ver lieh diesem Grinsen etwas Entsetzliches. Calandryll frag te sich, welche Gestalt die Wächter des Zauberers wohl annehmen mochten, zog es jedoch vor, sich nicht danach zu erkundigen. »Also, wollen wir uns jetzt an den Abstieg machen?« fragte Anomius so freundlich, als würde er über einen vergnüglichen Tagesausflug sprechen. »Dort unten gibt es jede Menge Verstecke.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er seinem Pferd die Fersen in die Weichen. Als es sich in Bewegung setz te, hüpfte er wie ein Bündel schwarzer Lumpen, das nachlässig auf dem Rücken des Schimmels festgezurrt worden war, im Sattel auf und nieder. »Er mag zwar ein Zauberer sein«, knurrte Bracht, »a ber ein richtiger Reiter wird er nie werden.« Sie benötigten den größten Teil des Tages, um den Fluß zu erreichen, den sie von oben gesehen hatte. Das schwindende Licht ließ das Wasser dunkel erscheinen,
als die Dämmerung langsam über das Tiefland kroch und den Wald in ein düsteres verwunschenes Land ver wandelte. Die Straße führte am Flußufer entlang und endete abrupt vor einer Ansammlung von Häusern, in deren Fenstern Licht schimmerte. Die Ankunft der drei Reiter wurde mit Hundegebell begrüßt. Sie brachten ihre Pferde zum Stehen und musterten die Ansiedlung. »Es gibt hier eine Fähre und eine Taverne«, sagte A nomius. »Wir haben einen Vorsprung vor Sathoman. Ich möchte die Nacht hier verbringen. Bis morgen früh wer den sich meine Kräfte regeneriert haben.« »Morgen früh könnte Sathoman bereits den Abhang herunterkommen«, hielt Bracht dagegen, »und ich möch te unseren Vorsprung nicht verschenken.« Der kleinwüchsige Zauberer hob eine Hand und sagte in nörgelndem Tonfall: »Ich bin es nicht gewohnt zu reiten, und ich möchte mich hier ausruhen.« »Und ich möchte heute noch den Fluß überqueren«, widersprach Bracht. »Morgen«, beharrte Anomius. Seine Hand schwenkte herum, bis sie auf Bracht gerichtet war. »Ich werde mich nicht mit dir darüber streiten.« Calandryll entging die Drohung in der Stimme des Hexers nicht, und er erinnerte sich an die Männer, die von dem seltsamen Feuer aus Anomius' Fingern nieder gestreckt worden waren. Er drängte sein Pferd zwischen seine Begleiter und warf Bracht einen warnenden Blick zu. »Eine Nacht Ruhe und Erholung klingt verlockend«,
sagte er. »Und Sathoman kann bestimmt nicht so schnell aufholen.« »Sehr diplomatisch«, lobte Anomius und wandte sich mit einem öligen Lächeln wieder Bracht zu. »Komm schon, mein Freund, was ist schon eine Nacht? Wir über nachten hier und setzen morgen in der Frühe über. Und ich werde dafür sorgen, daß Sathoman den Fluß nicht nach uns überqueren kann.« Bracht bedachte Calandryll mit einem kurzen Blick und zuckte schließlich die Achseln. »Meinetwegen, aber wir brechen im Morgengrauen auf.« »Gut«, murmelte Anomius. Er sah den Kerner aus sei nen wäßrigen Augen an. »Abenteurer wie wir sollten sich nicht streiten. Ich werde mich um unsere Unterkunft kümmern und euch die Pferde überlassen. Damit habt ihr mehr Erfahrung.« Er ritt in gebieterischer Haltung auf den Hof der Her berge, auf dem die Hunde wild zu kläffen begannen. Der Zauberer musterte sie mit dem gleichen Gesichtsaus druck, mit dem er zuvor Bracht angesehen hatte, und richtete einen Finger auf sie. Die Hunde zogen die Schwänze ein und liefen jaulend davon. »Er hätte dir wahrscheinlich Schlimmeres angetan«, bemerkte Calandryll, während er und Bracht zusahen, wie der kleine Mann aus dem Sattel rutschte. »Das soll ten wir nicht vergessen.« »Oder ihn abhängen«, knurrte der Kerner. »Wie?« Calandryll deutete auf die Fähre, die am Ufer
dümpelte. »Er würde es merken, wenn wir versuchen würden, den Fluß zu überqueren, und seine Magie gegen uns einsetzen.« »Dann hängen wir ihn eben ab, sobald sich uns die erste Gelegenheit bietet«, meinte Bracht. »Ja, sobald wir können«, stimmte Calandryll zu, »aber zuerst soll er seine Kräfte benutzen, um uns zu helfen. Lassen wir ihn diesen Zaubertrick anwenden, mit dem er unseren Weg schützen kann, und dann machen wir uns bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub.« Bracht fügte sich mit einem widerwilligen Grunzen, und sie führten die Pferde zum Stall. Ein junger Stallbur sche erschien. Er musterte sie mit unverhohlener Neu gier. »Gehört Ihr zu ek'Hennems Leuten?« fragte er nervös. »Es heißt, der Rebellenlord wäre da oben unterwegs.« Sein Blick wanderte zum Rand der Hochebene empor, die von den Strahlen der untergehenden Sonne rot ge färbt wurde. Rot gefärbt von Blut, dachte Calandryll. Laut sagte er: »Nein. Wir sind nur drei harmlose Reisen de, die ein Bett für die Nacht suchen.« »Ich dachte…« Der junge Bursche grinste entschuldi gend. »Ihr seht wie Krieger aus, Ihr beide.« Bracht schmunzelte und warf ihm eine Münze zu. »Reib die Pferde ordentlich ab«, wies er ihn an, während er und Calandryll das Gepäck abluden. »Sei sorgfältig. Und gib ihnen Hafer zu fressen.« Der Junge nickte und griff nach den Zügeln. Ca
landryll und Bracht überquerten den Hof unter den wachsamen Blicken der Hunde, die auf der Veranda lauerten. Es war angenehm kühl in der Taverne. In einem Ka min lagen Holzscheite, die noch nicht entzündet worden waren. Abgesehen von Anomius und dem Inhaber, ei nem dicken Mann, dessen von roten Äderchen durchzo gene Wangen und Nase verrieten, daß er selbst sein bes ter Kunde war, hielt sich niemand in der Wirtsstube auf. Der Wirt brachte ihnen drei Krüge mit dunklem Bier und blieb neben ihrem Tisch stehen. Er war genauso neugie rig wie der Stallbursche, aber seine Neugier ließ sich nicht so leicht befriedigen. »Kommt Ihr aus Kesham-vaj?« erkundigte er sich. »So ist es«, erwiderte Anomius schnell und liebens würdig. Er blinzelte Calandryll und Bracht aus blassen Augen verstohlen zu und forderte sie damit wortlos auf, ihm das Reden zu überlassen. »Hab gehört, es gäbe Ärger da oben. Hab gehört, Sathoman ek'Hennem wäre in den Krieg gezogen.« »Von wem?« Der Wirt machte ein gleichmütiges Gesicht. Er wischte sich geistesabwesend die Hände an der fleckigen Schürze ab. »Von allen möglichen Leuten.« Er zuckte die Achseln. »Man erzählt sich, er hätte eine Armee aufgestellt und würde planen, die Fayne zu übernehmen. Als ob die ihm nicht sowieso schon gehören würde. Mehr oder weni ger.«
»Und was haltet Ihr von seinem Vorhaben?« »Ich habe nichts dagegen.« Der Wirt musterte sie, als versuche er abzuschätzen, wo ihre Sympathien lagen. »Sein Vater war Lord der Fayne, und nun steht ihm der Titel durch sein Geburtsrecht zu. Ob Schlacht am Stein feld oder nicht.« Anomius lächelte liebenswürdig. »Natürlich sieht der Tyrann das anders«, fuhr der Mann, durch das Lächeln des Zauberers ermutigt, fort, »und wie ich gehört habe, läßt er eine Armee gegen Sathoman marschieren. Letzte Woche war der Liktor aus Bhalusteen da und hat davon geredet, Soldaten anzu werben.« »Mit Erfolg?« Der Wirt beantwortete die Frage mit einem Augen zwinkern und legte einen Finger an die rotgeäderte Nase. »Hier unten kümmern wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten. Wenn der Tyrann gegen Sathoman in den Krieg ziehen will, dann sollen sie es allein unter sich ausmachen, sagen wir hier. Der Tyrann kann sich auf seine Hexer stützen, wozu braucht er gewöhnliche Leu te?« »Beschäftigt Sathoman nicht ebenfalls einen Zaube rer?« fragte Anomius. Sein pergamentartiges Gesicht strahlte arglose Neugier aus. »Das tut er, und zwar einen äußerst mächtigen, hab' ich gehört.« Die Antwort ließ Anomius' Lächeln noch breiter werden. »Man sagt, er wär ein Riese. Er spuckt
Feuer und kämpft gleichzeitig mit einer riesigen Axt und mit Magie. Wenn Ihr aus Kesham-vaj kommt, habt Ihr Glück gehabt, daß Ihr ihm nicht über den Weg gelaufen seid. Ihr habt doch gesagt, daß Ihr von da kommt, oder?« »Das haben wir. Aber es gab keine Spur von Kämpfen. Es war ruhig in der Stadt.« »Da sieht man mal wieder, was?« meinte der Wirt kopfschüttelnd. »Gerüchte machen die Runde, und die Leute fangen an, sich grundlos Sorgen zu machen. Ich hab Euch hier reinkommen sehen und mich gefragt, ob Ihr nicht zu ek'Hennems Leuten gehört, so wie Ihr aus seht. Sollte keine Beleidigung sein, Freunde.« »Haben wir auch nicht so aufgefaßt«, sagte der Zaube rer lächelnd. »Wir sind nur Reisende. Ich hoffe, Geschäfte in Nhurjabal machen zu können, und das sind meine Leibwächter.« »Also, sie sehen ziemlich fähig aus, und wenn sie Euch sicher durch die Fayne gebracht haben, müssen sie was von ihrer Arbeit verstehen. Ihr habt nichts von Sathoman gesehen?« »Nein. Vielleicht versteckt er sich in der FayneFestung und wartet dort auf die Armee des Tyrannen.« »Wird schwer werden, ihn aus dieser Festung rauszu holen. Aber trotzdem, wenn eine Armee auf dem Weg ist, könnt' ich die ein oder andre Münze verdienen.« »Allerdings«, murmelte Anomius, »und noch mehr von uns, wenn Ihr uns ein Bad anbietet. Wir werden uns den Reiseschmutz abwaschen und die Nacht hier
verbringen. Morgen brauchen wir die Fähre.« »Ich habe Zimmer und Bäder, und die Fähre setzt am frühen Morgen über.« Das Doppelkinn des dicken Man nes wackelte, als er eifrig nickte. Die Aussicht auf Profit ließ ihn seine Neugier vergessen. »Ich kann Euch ein besseres Essen servieren, als Ihr es irgendwo in Kesham vaj bekommen könntet. Außerdem habe ich eine gute Auswahl an Weinen.« »Ich wußte, daß dies der richtige Gasthof ist, um die Nacht zu verbringen«, sagte Anomius und strahlte Ca landryll und Bracht an. »Der einzige zwischen Kesham-vaj und Bhalusteen«, schmunzelte der Wirt. »Es sei denn, Ihr gebt Euch mit einem Bett in irgendeinem Försterhaus zufrieden.« Damit eilte er geschäftig davon, um die Bäder und das Essen für seine Gäste vorzubereiten. Anomius' Lächeln erlosch, und seine gelbliche Stirn legte sich in Falten. »Wenn an seinen Worten etwas dran ist«, sagte er, »müssen wir dieser Armee aus dem Weg gehen. Der Tyrann wird sie von Zauberern begleiten lassen, und Zauberer würden mich als einen der ihren erkennen.« »Einen feuerspuckenden Riesen?« fragte Bracht mit sanfter Stimme. »Einen Axtschwinger?« »Gerüchte haben ihre Vorteile«, erwiderte der Zaube rer, ohne auf den Spott des Söldners einzugehen, »aber ein Magier würde mich sofort erkennen, und wenn ich es mit mehreren gleichzeitig zu tun bekomme, könnte selbst ich den Kampf verlieren. Wir müssen diese Armee um
gehen, falls es sie überhaupt gibt.« »Wenn es sie gibt, muß sie aus Nhurjabal kommen«, stellte Calandryll fest, »und für eine so große Streitmacht gibt es nur diese eine Straße. Wie sollen wir ihr aus dem Weg gehen, wenn wir über Nhurjabal reiten müssen, um Kharasul zu erreichen? Es sei denn, du kannst Magie einsetzen.« »Wie das?« wollte Anomius wissen. »Gerade durch den Einsatz von Magie würde ich mich ja verraten.« »Lord Varent hat einen Zauberspruch benutzt, mit dem er ohne Zeitverlust reisen konnte«, erklärte Ca landryll. »Unbemerkt von einem Ort zum anderen.« Anomius schnaubte geräuschvoll und zog die Mund winkel nach unten. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Magie zu benut zen«, erwiderte er, »und kein Magier besitzt genau die gleichen Kräfte wie der andere. Meine eigenen Fähigkei ten liegen – wie ihr gesehen habt – in der offensiven Magie. Nach dem, was ihr mir von Varent erzählt habt, würde ich vermuten, daß seine Fähigkeiten mehr auf dem defensiven Gebiet liegen, was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, daß er gezögert hat, selbst nach dem Zauberbrevier zu suchen. Nein, ich kann uns nicht mit Hilfe von Magie nach Kharasul bringen.« »Dann müssen wir vorsichtig reiten«, schlug Bracht vor. »Und uns vor den Marionetten des Tyrannen hüten«, sagte Anomius nickend und wandte sich mit einem Lä
cheln Calandryll zu, »denn sie würden die Magie in diesem Stein unseres jungen Freundes genauso schnell wie die meine spüren. Und er würde das gleiche Schick sal erleiden.« »Aber ich bin kein Magier!« protestierte Calandryll. »Aber du besitzt latente magische Kräfte«, beharrte der Zauberer, »und man wird sie bei dir bemerken und dir das gleiche Angebot machen, das man mir gemacht hat und das ich ausgeschlagen habe: deine Fähigkeiten für den Rest deines Lebens in die Dienste des Tyrannen zu stellen. Wenn du ablehnst, wird man dich auf der Stelle hinrichten.« Calandryll runzelte die Stirn. Die Worte des Zauberers beunruhigten und faszinierten ihn gleichermaßen. Da mals auf der Seetänzerin, nachdem der Wirbelsturm das Kriegsboot fortgerissen hatte, hatte Bracht etwas ähnli ches gesagt, und er, Calandryll, hatte ihm widerspro chen. Jetzt behauptete auch Anomius, er besäße eine magische Begabung, und obwohl er nicht völlig davon überzeugt war und nicht die geringste Ahnung hatte, wie er diese Begabung nutzen konnte – immer vorausgesetzt, sie existierte tatsächlich –, mußte er zugeben, daß allein die Möglichkeit schon ein Risiko darstellte. Er wandte sich dem Zauberer zu und wollte mit ihm darüber spre chen, doch in diesem Moment kehrte der Wirt zurück und kam damit einem möglicherweise gefährlichen Ge spräch zuvor. Die Suppe, die er ihnen brachte, trug wie seine Anwe
senheit dazu bei, ihre Unterhaltung abzuwürgen. Der köstliche, würzige Duft erinnerte sie wieder daran, wie hungrig sie waren, und sie aßen schweigend und kon zentriert. Nach der Suppe gab es frisch gefangene Forel len aus dem nahen Fluß, gefolgt von dicken Scheiben Wildbraten, und zum Schluß wilde Erdbeeren. Dazu tranken sie einen Wein, der, wie der dicke Mann ver sprochen hatte, ein hervorragender Tropfen war. Wäh rend sie aßen, füllte sich die Taverne mit den Bewohnern der kleinen Siedlung, die die Privatsphäre der Fremden respektierten, bis diese ihr Essen beendet hatten. Dann aber überhäuften sie sie mit Fragen über die Lage in der Fayne. Calandryll und Bracht waren damit zufrieden, die Rolle zu spielen, die ihnen Anomius zugewiesen hatte, und überließen es dem Magier zu antworten. Sie tranken ihren Wein, hörten zu und erfuhren so eine ganze Menge über die Zustände in Kandahar. Das Gebiet, das Sathoman für sich beanspruchte, en dete am Rand der Hochebene. Sie befanden sich hier in der Provinz Ryde mit der Hauptstadt Bhalusteen. Die nächste Provinz auf ihrem Weg war Kyre mit Nhurjabal als Sitz des Tyrannen. Ryde bestand größtenteils aus Wäldern und wurde von Jägern und Waldbauern be wohnt, die anscheinend sowohl den Tyrannen als auch Sathoman mit vorsichtiger Geringschätzung betrachte ten. Über den Versuch des Liktors, Soldaten anzuwerben, hatten sie zwar gelacht, aber die Vorstellung, eine Armee könnte durch die Wälder marschieren, beunruhigte sie doch. Sie waren überrascht, daß es Anomius und seinen
›Leibwächtern‹ gelungen war, die Fayne ohne Schwie rigkeiten zu durchqueren, erklärten es sich jedoch damit, daß die Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg un begründet waren, und begannen statt dessen, sich über die Unruhe zu beschweren, die die Armee des Tyrannen in ihre Provinz bringen würde. Daß die Armee kommen würde, schien kein Gerücht zu sein. Irgendwann hatten sie ihre Neugier befriedigt, und endlich konnten die Reisenden in Ruhe ein Bad nehmen und schlafen gehen. Calandryll hatte gehofft, eine Gelegenheit zu finden, sich ungestört mit Bracht zu unterhalten und einen Plan auszuarbeiten, wie sie Anomius loswerden konnten, aber der Wirt führte sie gemeinsam zu einem einzigen Zim mer, in dem drei Betten vorbereitet worden waren, und der Zauberer erklärte sich damit einverstanden. Nach dem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schritt er lächelnd von der Tür zum Fenster, murmelte vor sich hin und malte dabei mit den Händen eine Reihe komplizier ter Muster in die Luft, worauf der rote Stein auf Ca landrylls Brust zu flackern begann und Mandelduft das Zimmer erfüllte. »Jetzt sind wir sicher«, verkündete er strahlend. »Ich nehme zwar an, daß ihr nichts gegen meine Vorsichts maßnahmen einzuwenden habt, aber selbst wenn, ich möchte nicht riskieren, daß ihr während der Nacht flieht.« »Was hast du gemacht?« verlangte Bracht zu wissen. Seine Abneigung gegen Magie stand ihm deutlich ins
Gesicht geschrieben. »Nur ein paar einfache Zaubersprüche, mein Freund«, erklärte Anomius und zog seine schmierige Robe aus, unter der ein nicht minder schmieriges Hemd zum Vor schein kam. »Jetzt kann niemand das Zimmer betreten oder verlassen. Und noch etwas; nachdem ich unseren jungen Begleiter beim Kampf beobachtet habe, bin ich nicht mehr so zuversichtlich, was seine ethische Einstel lung betrifft. Deshalb habe ich für den Fall, daß er seine natürlichen Skrupel überwinden und versuchen sollte, mich im Schlaf umzubringen, den Zauberspruch, mit dem ich dich belegt habe, so erweitert, daß du mich vor ihm beschützen mußt.« »Vor Calandryll?« Bracht schüttelte den Kopf. »Ich würde mein Schwert nie gegen Calandryll richten.« Anomius streifte seine Stiefel ab. Seine Beine waren noch bleicher als sein Gesicht und wirkten wie altes Per gament, das zu lange in einem lichtlosen Raum gelegen hatte. Unter seinem Hemd wölbte sich ein Kugelbauch, bei dessen Anblick Calandryll sofort an eine häßliche kleine Kröte denken mußte. »Aber du würdest es tun«, behauptete der Hexer zu versichtlich, »denn dir bleibt gar nichts anderes übrig. Sollte Calandryll versuchen, mich anzugreifen, wirst du ihn erschlagen.« Bracht starrte ihn an. Er hatte das sonnengebräunte Gesicht haßerfüllt verzogen. Calandryll sah, wie sich seine Hand dem Krummschwert näherte, und sagte
schnell: »Ich werde dich nicht angreifen, Anomius. Brau chen wir uns nicht gegenseitig?« »Ich brauche euch, damit ihr mich zu diesem Zauber brevier führt«, bestätigte der Zauberer nickend, »und ohne mich hättet ihr kaum eine Chance, Kandahar sicher zu durchqueren. Aber trotzdem…« »Ich habe nicht viel übrig für Magie«, sagte Bracht wü tend, »und noch, weniger für Zaubersprüche, die sich gegen mich richten.« »Vielleicht werde ich ihn irgendwann entfernen, wenn ich dir vertraue«, erwiderte Anomius. »Aber bis dahin, fürchte ich, wirst du dich damit abfinden müssen. Und jetzt wünsche ich euch eine gute Nacht.« Er schlüpfte unter die Decke, und kurz darauf war das Zimmer von seinem lauten Schnarchen erfüllt. Ca landryll sah Bracht an und zuckte hilflos die Achseln. Der Kerner preßte einen Fluch zwischen den Zähnen hervor und warf sich auf sein Bett. Zu müde, um sich mit ihm zu streiten oder über die Situation zu diskutieren, streifte Calandryll seine Kleidung ab und kroch dankbar in sein eigenes Bett. Nach den Entbehrungen während ihrer Gefangenschaft und dem beschwerlichen Ritt von der Hochebene ins Tiefland fiel Calandryll sofort in einen tiefen Schlaf voller verwirrender Träume. Noch einmal durchlebte er das Scharmützel am Rand der Hochebene, sah die entsetzten Gesichter der Briganten, als sie starben, ohne zu wissen,
wer ihnen den Tod brachte, wer das unsichtbare Schwert führte, und im Augenblick ihres Todes verwandelten sie sich in Sathoman, der sein riesiges Schwert hob, einen Schlachtruf brüllte und zu der flachsblonden Frau wur de, die vom Deck des Kriegsbootes aus ihr Schwert auf ihn richtete und ihm etwas zurief, das im Tosen der wir belnden Wassermassen unterging, die sie immer höher trugen, bis sie nur noch ein verschwommener Fleck in einem Himmel war, der plötzlich vom Feuer einer bren nenden Stadt erfüllt wurde. Und durch diese schritten monströse Kreaturen, die sich zu ihm herabbeugten und nach ihm griffen, während er Varents Zauberspruch hervorsprudelte und davonlief – aus ihren zupackenden Klauen direkt in die Arme Anomius', der ihm lachend eröffnete: »Ich bin dein wahrer Gefährte, derjenige, von dem Reba gesprochen hat.« Calandryll riß sich los und taumelte durch den bei ßenden Rauch, jetzt von schwarzgekleideten Männern verfolgt, die so maskiert waren, daß nur ihre kalten, erbarmungslosen, haßerfüllten Augen zu sehen waren. Seine Lungen brannten, seine Beine erlahmten und wur den langsamer, bis er wußte, daß er nicht mehr von der Stelle kam und seine Verfolger ihn erwischen würden, wenn es ihm nicht gelang, irgendwie die große Eiche zu erreichen, die vor ihm in den Himmel wuchs und deren Zweige, von dem heulenden Wind geschüttelt, ihm eine Botschaft mitteilten, die er nicht entziffern konnte. Er kämpfte sich darauf, wußte, daß sie ihm die Sicherheit der Wahrheit bieten würde, aber plötzlich brach der
Boden unter ihm weg, und er fiel und fiel, stürzte in eine bodenlose Grube und auf einen Lichtpunkt zu, hell wie die Sonne… … oder wie das schwache Licht der Morgendämme rung, das durch die Fensterläden sickerte, ein willkom mener Bote des neuen Tages. Calandryll lag schwer at mend da, und die Erkenntnis, daß er wach im Zimmer einer Herberge in Kandahar lag, daß sich Bracht im Bett neben ihm bewegte und Anomius noch immer schnarch te, wenn auch nicht mehr so laut, dämmerte ihm erst, als er die Augen öffnete und die zerknautschte Decke zur Seite schlug. Er rieb sich die Augen, stand auf, ging zum Fenster und berührte die Fensterläden. Sein Aufschrei ließ Bracht blitzschnell mit erhobenem Krummschwert aus dem Bett springen, bereit, sich zu verteidigen oder anzugreifen. Calandryll schüttelte den Kopf und massierte seine Hand, die immer noch von den Nachwirkungen durch Anomius' Schutzzauber brannte. »Ich hatte nicht mehr daran gedacht«, sagte er und grinste reumütig. Bracht knurrte, schob das Schwert in die Scheide zu rück, goß Wasser in eine Schüssel und spritzte es sich ins Gesicht. »Hast du das Fenster berührt?« Anomius blickte aus verquollenen Augen zu ihnen hinüber und gähnte ge räuschvoll. Calandryll nickte. Der Magier hob eine Hand, und wieder schwebte Mandelduft in der kühlen Luft.
»Jetzt ist der Bann aufgehoben.« Anomius setzte sich auf und richtete den Blick seiner wässrigen Augen auf den Kerner. »Aber nicht der andere – das solltest du lieber nicht vergessen.« Bracht ignorierte ihn. Calandryll stieß die Fensterläden auf. Nebel lag über dem Fluß. Der junge Pferdeknecht schlurfte verschlafen zu den Ställen und kratzte sich am Kopf. Hinter ihm stieg der dichtbewaldete Hang in die Höhe und verlor sich im grauen Dunst. Calandryll wand te sich ab, wusch sich über der Wasserschüssel, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und überlegte, daß er es bald wie Bracht im Nacken würde zusammenbinden müssen: Er zog sich an und wartete mit seinem Gefähr ten, während Anomius seine schmierige Robe überstreif te. Die Morgenwäsche des Zauberers war nur flüchtig, und schon kurz darauf saßen sie im Speisesaal und nah men ein Frühstück aus ofenwarmem Brot und dampfen dem Tee zu sich. Der Wirt legte ihnen die Rechnung vor, und nachdem sie gezahlt hatten, gingen sie zu den Stäl len, sattelten die ausgeruhten Tiere und brachten sie zur Fähre hinunter. Der Nebel begann langsam sich aufzulö sen, als die Sonne über den Horizont kletterte und ein leichter Wind aufkam. Sie führten die Pferde auf die in der Strömung düm pelnden Fähre. Der Fährmann, ein drahtiger Kander, der trotz der morgendlichen Kälte kein Hemd trug, nahm das Geld entgegen und schlug seinen Passagieren vor,
die Überfahrt zu beschleunigen, indem sie ihm an den Zugseilen halfen. Anomius hielt die Pferde, während Calandryll und Bracht je eins der Seile packten und das flache Boot über den Fluß zu ziehen begannen. Der Nebel hatte sich vollständig aufgelöst, und der Himmel war blau, als sie das andere Ufer erreichten und zusahen, wie der Fährmann den Rückweg antrat. Er hatte gerade die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als Bracht auf die Straße deutete, die sich von der Hochebe ne herabschlängelte. »Reiter!« Die Stimme des Söldners klang drängend. »Zwanzig oder dreißig.« »Sathoman muß unser Verschwinden früher bemerkt haben, als ich gedacht habe«, stellte Anomius fest. »Und diese Männer müssen die ganze Nacht lang durchgeritten sein. Verdammt, Zauberer! Ich habe dir ja gesagt, es wäre dumm, Zeit zu vertrödeln!« fauchte Bracht wütend. Anomius lächelte bloß und rieb sich die Knollennase. »Hier sind wir vor ihnen in Sicherheit. Habe ich euch nicht versprochen, daß meine Kräfte nach einer ungestör ten Nachtruhe wiederhergestellt sein würden?« »Sie brauchen nur die Fähre zu erreichen und überzu setzen«, sagte Bracht. »Unser Vorsprung ist stark zu sammengeschrumpft, und wenn wir überhastet reiten, laufen wir wahrscheinlich Hals über Kopf der Vorhut der Armee des Tyrannen in die Arme.«
»Sie werden über diesen Punkt nicht hinauskommen«, erwiderte der Zauberer. »Vertraust du mir nicht?« Der Gesichtsausdruck des Kerners war Antwort ge nug. Anomius zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf, als würde ihn Brachts mangelndes Vertrauen ent täuschen. »Paßt auf«, sagte er ruhig. »Jetzt werdet ihr erfahren, wozu ich fähig bin.«
KAPITEL 13 Der Zauberer drückte Bracht die Zügel seines Pferdes in die Hand und ging zum Flußufer, beugte sich vor und grub die Hände in den Lehm. Er zog einen Klumpen hervor und begann ihn zu kneten, während er gemäch lich zu seinen Begleitern zurückschlenderte. Calandryll sah, daß Anomius dem Lehmklumpen eine grobe menschliche Form verlieh, bevor er ihn an einer trockenen Stelle auf den Boden legte, wo er die Arbeit an der Figur fortsetzte. Ihre Verfolger waren im Wald des Berghangs aus ih rem Blickfeld verschwunden, aber der Magier arbeitete ohne Hast weiter. Er hatte sich über die kleine Figur gehockt, spuckte sie an und rieb den Speichel über das formlose Gesicht. Dann zog er einen kleinen Dolch aus den Falten seiner Robe hervor, stach sich damit in den Daumen, quetschte einen Blutstropfen hervor und ließ ihn auf die Lehmpuppe fallen. Mit seinen rissigen Fin gernägeln ritzte er ein Augenpaar und einen Mund in das Gesicht, hob einen dünnen Zweig auf und steckte ihn der Figur in die rechte Hand. Schließlich murmelte er einen Zauberspruch. Calandryll sah, daß der Stein auf seiner Brust hell zu glühen begann und roch den mitt lerweile so vertrauten Mandelduft. Schließlich richtete
sich Anomius wieder auf, wischte sich die Hände an der Robe ab und wandte sich lächelnd seinen unfreiwilligen Gefährten zu. »Paßt auf«, sagte er und deutete auf die Statuette. Flammenzungen zuckten aus seinen Fingerspitzen hervor und hüllten die Figur ein, die in dem übernatürli chen Feuer augenblicklich trocknete und hart wurde. Die Pferde scheuten, zerrten mit zurückgelegten Ohren und rollenden Augen an den Zügeln, und einen Moment lang wurde Calandrylls Aufmerksamkeit abgelenkt. Er beru higte den Rotschimmel, so gut er konnte, hielt das Zaumzeug fest umklammert und richtete den Blick dann wieder auf die kleine Lehmfigur. Aber mittlerweile war sie gar nicht mehr so klein, und er konnte sehen, wie sie weiter wuchs, in die Länge und in die Breite. Und mit ihr wuchs auch der Zweig, den sie in der Hand hielt. Schon bald hatte sie die Größe eines Kindes erreicht, eines Ju gendlichen, eines Mannes, und noch immer wuchs sie. Sie setzte sich auf. Getrocknete Lehmplättchen rieselten von ihrem Rücken. Die nur angedeuteten Augen hatten sich in tiefe Höhlen verwandelt, in denen ein unheiliges Feuer glühte, der Zweig war zu einem Knüppel gewor den. Wieder sagte Anomius etwas Unverständliches, und das Ding erhob sich, stand zuerst unsicher und schwan kend mit rudernden Armen da, so daß der Knüppel durch die Luft pfiff, und dann wuchs es weiter. Es blickte um sich, ein massiger, rotäugiger Golem, der mittlerweile größer war als Sathoman und die verängstigten Pferde
überragte. Der Knüppel war so dick geworden, daß kein normaler Mensch ihn in der Hand hätte halten können. Der Golem machte einen Schritt, dann noch einen, als müsse er erst seine Bewegungsfähigkeit prüfen, hob den großen Knüppel und schwang ihn durch die Luft. Von der anderen Flußseite her starrte der Fährmann ehrfürch tig zu ihnen hinüber, dann schrie er auf, wirbelte herum und rannte in Richtung der Herberge davon. Der Golem hörte den Schrei. Langsam und schwerfällig drehte er den kugelförmigen Kopf und starrte über das im Sonnen licht glitzernde Wasser. Ein unartikuliertes Brüllen, das weder tierisch noch menschlich klang, drang aus der unregelmäßigen Furche, die sein Mund war, als er die Keule hob und sie so heftig in den Fluß schmetterte, daß eine silberne Fontäne aufstieg. Anomius sagte etwas in einer Sprache, die für mensch liche Kehlen kaum beherrschbar war, worauf die Kreatur aufhörte zu brüllen und sich ihm zuwandte. Die Pferde schnaubten und wieherten schrill. Der Zauberer bedeute te seinen Begleitern, sie wegzubringen, und winkte den Golem zu sich heran. Calandryll und Bracht führten die Tiere in den Schat ten des Waldes, ohne das Ungeheuer aus den Augen zu lassen. Auf dem Berghang jenseits des Flusses wurden wieder Sathomans Männer sichtbar, die ihre Pferde im Galopp die Straße entlang jagten. Anomius lockte das Ungeheuer vom Ufer in den
Schatten einer mächtigen Zypresse, wo es mit dem Kopf bis zu den unteren Ästen reichte. Inzwischen hatte es aufgehört zu wachsen. Der Hexer mußte den Kopf in den Nacken legen, als er zu den brennenden Augen aufsah und leise mit der Kreatur sprach. Der Golem gab einen grunzenden Laut von sich, dreh te sich um, so daß er den Fluß überblickte, und nahm mit erhobener Keule Aufstellung, ein mißgestalteter Koloß. »Wir müssen nicht länger hierbleiben.« Der Zauberer bedachte seine Schöpfung mit einem letzten bewundern den Blick und ging dann zu Calandryll und Bracht hin über. »Niemand wird an ihm vorbeikommen.« Er nahm dem nervösen Kerner die Zügel aus der Hand und bestieg sein Pferd. Calandryll und Bracht stiegen ebenfalls auf, überließen Anomius die Führung und folgten der Straße, die in den Wald hineinführte. »Es sind zwanzig, vielleicht dreißig Mann!« rief Bracht. »Wie kannst du dir sicher sein, daß keiner von ihnen an diesem … Ding vorbeikommen wird?« Anomius kicherte fröhlich. »Die Fähre faßt höchstens … wie viele? Sechs Reiter auf einmal? Mein kleiner Lieb ling wird sie alle erschlagen, und ich bezweifle, daß sie danach noch einen zweiten Versuch wagen werden. Sollten sie es dennoch versuchen…«, er lachte wieder, »nun, dann wird er sie jeweils in Sechsergruppen er schlagen. Vertraut mir, meine Freunde, ihr seid mit dem größten Zauberer von Kandahar unterwegs. Ich bedauere nur, daß wir nicht die Zeit haben, dazubleiben und dem
Golem bei der Arbeit zuzusehen. Er ist ein hervorragen des Geschöpf, meint ihr nicht auch?« Er erhielt keine Antwort, lachte leise in sich hinein und trieb sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Die Straße wurde auf beiden Seiten von hohen Bäu men gesäumt: Eichen, Buchen und Eschen, deren Äste weit überhingen. Es war schattig, der Boden mit Sonnen flecken gesprenkelt, und hier und da fielen ein paar Lichtbahnen durch die fast geschlossene Laubdecke. Üppige Farne wuchsen am Wegesrand, das Gras war saftig und dick, die Luft roch frisch und war von Vogel gezwitscher erfüllt. Wildwechsel von Rehen, Hasen und den Raubtieren, die ihnen nachstellten, durchschnitten das Unterholz. Sie ritten zügig und schweigend dahin, bis sie am spä ten Vormittag auf einen Bach stießen, über den eine alte moosbewachsene Steinbrücke führte. Frösche hüpften vom Ufer ins Wasser, als sie ihre Pferde zum Saufen an den Bach führten. Ein großer Reiher schimpfte laut krächzend über ihr Eindringen und flatterte mit schwe ren Flügelschlägen stromabwärts zu ungestörteren Jagd gründen. Sie legten eine Rast ein, aßen die in der Herberge ge kauften Früchte und den Käse und füllten ihre Wasser flaschen auf, während die Pferde das am Ufer wachsende Gras rupften. Dann ritten sie weiter. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war warm. In diesen südlichen Breiten war der Sommer bereits mit Riesenschritten auf
dem Vormarsch. Die Reise gestaltete sich angenehmer als der Ritt durch die Fayne. Es gab weder einen Gaheen, der der Luft die Feuchtigkeit raubte und die Gemüter erhitzte, noch die sengende Hitze, die auf der Strecke zwischen Mherut'yi und Kesham-vaj geherrscht hatte, statt dessen aber eine Menge Bäche und saftiges Gras für die Tiere. Mehrfach sahen sie Hirsche, die bei ihrem Anblick von der Straße sprangen und blitzschnell in der Deckung des Dickichts untertauchten. Bracht versprach ihnen, frisches Fleisch zu besorgen, falls Anomius ihm Zeit genug ließ, um auf die Jagd zu gehen. Calandryll ritt die meiste Zeit tief in Gedanken versunken dahin. Er vertraute darauf, daß Bracht sie früh genug vor einer möglichen Gefahr warnen würde, wäh rend er über das Problem nachgrübelte, das der Zauberer für sie darstellte. Die Erschaffung des Golems hatte ihn davon überzeugt, daß Anomius' Kräfte wieder vollstän dig hergestellt waren, und er hegte kaum einen Zweifel, daß der Hexer sie mit Zaubersprüchen an sich binden und sich gleichzeitig vor ihnen schützen würde, sobald sie ihr Lager aufschlugen. Eine Flucht schien unmöglich – und Anomius' Anwesenheit brachte ihnen unbestreitbar auch Vorteile –, aber trotzdem war ihm klar, daß sie sich irgendwie des Magiers entledigen mußten, bevor sie Tezin-dar erreichten. Calandryll hegte die Überzeugung, daß sich Azuman
dias und Anomius vom Charakter her ähnlich waren. Der eine blieb vorläufig noch geheimnisvoll, der andere aber hatte seine Skrupellosigkeit bereits auf unmiß verständliche Weise demonstriert. Unter seiner geheu chelten Leutseligkeit und dem unscheinbaren Äußeren verbarg sich in Anomius ein harter Kern rücksichtsloser Selbstsucht und der eiserne Wille, sich selbst zum eigent lichen Herrscher über Kandahar aufzuschwingen. Er hatte Sathoman ek'Hennem betrogen, hatte erbarmungs los Männer umgebracht, die er vermutlich beim Namen kannte, nur weil er auf die Lüge vom Zauberbrevier hereingefallen war und glaubte, der Besitz dieses imagi nären Buches würde ihm unermeßliche Macht bescheren. Sollte er das Arcanum in seinen Besitz bringen, dann würde er wahrscheinlich, davon war Calandryll über zeugt, das gleiche Vorhaben wie Azumandias verfolgen: Er würde versuchen, den Verrückten Gott wiederzuer wecken, und damit die Welt zerstören. Er ist geisteskrank, dachte Calandryll, und wir müssen ihn mit allen verfügbaren Mitteln abhängen. Oder ihn vernichten. Dieser Gedanke schrillte wie ein Glocke in seinem Kopf: Anomius muß vernichtet werden. Die eiskalte Klarheit seiner Überlegungen ließ ihn er schaudern, denn er erkannte allein schon an der Formu lierung der logischen Schlußfolgerung und der instinkti ven Bereitschaft, mit der er sie akzeptierte, wie sehr er sich verändert hatte. Anomius hatte es ebenfalls gespürt
und gesagt, daß Calandryll ihn bedenkenlos töten würde, aber bisher war Calandryll nicht bereit gewesen, anzuer kennen, daß der Zauberer recht hatte. Jetzt aber gestand er sich ein, daß es stimmte; sollte er die Gelegenheit dazu bekommen, würde er den Hexer ohne Gewissensbisse umbringen. Er war nicht länger der sanftmütige Bücherwurm, ü ber den sich Tobias lustig gemacht hatte und an dem sein Vater verzweifelt war. Diese Reise hatte ihn verändert. Es war nicht nur die unvermeidliche körperliche Abhärtung durch das anstrengende Leben, nicht nur, daß er im Kampf getötet hatte, die Reise hatte auch sein grundle gendes Moralempfinden verändert. Den jungen Mann, der von Nadama geträumt hatte – ihm wurde bewußt, daß er sich nicht einmal mehr deutlich an ihr Gesicht erinnern konnte, und diese Erkenntnis erschreckte ihn –, gab es nicht mehr. Der Junge, der unter Tobias' Stichelei en gelitten hatte, war verschwunden. Er war in mehr als nur in körperlicher Beziehung hart geworden. Der Ge danke, daß Bylath an seiner Wandlung Gefallen finden und wie sehr Tobias sich darin bestätigt sehen würde, daß er seinen Bruder tatsächlich zu fürchten hatte, ließ ihn ein zynisches Lachen ausstoßen. Mittlerweile er schien ihm Secca wie eine ferne Erinnerung, ein Leben, das er hinter sich gelassen und von sich abgestreift hatte, wie eine Schlange ihre alte Haut abstreift. Er war gewiß nicht der Meinung, daß der Zweck die Mittel heiligte, aber er war davon überzeugt, daß er Anomius daran hindern mußte, das Arcanum zu finden. Und wenn die
einzige Möglichkeit, das zu erreichen, darin bestand, daß er den Zauberer umbrachte, würde er ihm auch im Schlaf die Kehle durchschneiden und sich hinterher mit seinen Gewissensbissen herumquälen. Aber wie? Anomius hatte sich gut abgesichert, und es war unwahrscheinlich, daß er in seiner Wachsamkeit nachlassen würde. Wenn er, Calandryll, ihn tötete, wür de der auf Bracht liegende Zauberbann diesen zwingen, sich auf seinen Gefährten zu stürzen, und bei einem solchen Kampf konnte es nur einen Sieger geben, näm lich Bracht. Aber auch wenn er bereit wäre, sich selbst zu opfern, würde Bracht das Arcanum ohne seine Hilfe nicht finden können. Das Buch würde in seinem Versteck bleiben und auf Azumandias warten. Es war eine Sack gasse, eine von Anomius geschickt konstruierte Zwick mühle, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Ca landryll knirschte vor Wut und Frustration mit den Zäh nen, während er das Problem hin- und herwälzte. Brachts Stimme riß ihn aus seinen Überlegungen. Er hob den Kopf und sah, daß sie gerade über eine von Eichen eingerahmte Wiese ritten, die ihre knorrigen Äste wie flehende Hände nach ihnen auszustrecken schienen. »Ich habe gerade gesagt«, wiederholte der Kerner, »daß wir vorsichtig reiten sollten, wenn die Armee des Tyrannen auf die Fayne vorrückt. Mit offenen Augen.« Calandryll grinste entschuldigend und zügelte sein Pferd etwas, um einen größeren Abstand zwischen sich und Anomius zu legen. Mit gesenkter Stimme sagte er:
»Ich habe über den Hexer nachgedacht. Darüber, wie wir ihn loswerden könnten.« »Ich auch«, gab Bracht zurück. Er betrachtete die schwarzgekleidete Gestalt, die im Sattel des Schimmels durchgeschüttelt wurde. »Aber mir ist keine Lösung eingefallen. Und dir?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich würde ihn töten, wenn ich könnte, aber…« Bracht nickte verständnisvoll. »Und ich kann es nicht tun. Also müssen wir ihm irgendwie entfliehen.« »Und zwar so, daß er uns nicht folgen kann.« »Ich glaube, daß uns vorläufig nichts anderes übrigbleibt, als abzuwarten und die Augen offenzuhal ten«, sagte Bracht. »Sobald sich eine Gelegenheit er gibt…« »Aye«, stimmte ihm Calandryll zu, obwohl er glaubte, daß diese Hoffnung vergeblich war. »Wenigstens hilft er uns auf unserer Reise durch Kan dahar. Vielleicht können wir ihn in Kharasul oder auf See loswerden.« »Es sei denn, er erregt die Aufmerksamkeit der Magier des Tyrannen, und wir finden uns als dessen Gefangene wieder.« »Wäre möglich«, murmelte Bracht. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber wir hatten schon zu Beginn unserer Reise kaum die Aussicht, ohne Probleme bis nach Tezin-dar zu gelangen.«
»Ich hatte nicht mit einem Bürgerkrieg gerechnet«, erwiderte Calandryll. »Und auch nicht damit, daß wir die Zauberer des Tyrannen gegen uns haben würden.« Anscheinend waren Anomius ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen, denn als sie am Abend auf einer von hohen Buchen gesäumten Lichtung Rast mach ten, traf er einmal mehr seine magischen Schutzvorkeh rungen. Die Schatten der hereinbrechenden Nacht krochen durch den Wald. Vögel flogen zu ihren Schlafplätzen. Vom Rand der Lichtung aus spähten wachsame Kanin chen zu ihnen hinüber, und Eichhörnchen lugten ver stohlen durch die Zweige, während der Hexer mit aus gebreiteten Armen dastand, die Stimme zu einem Sing sang erhoben. Calandryll und Bracht hatten die Pferde versorgt und sahen nun zu, wie Anomius unter seine Robe griff und einen kleinen Lederbeutel hervorzog. Noch immer sin gend, löste er die Schnürbänder, hielt den Beutel über eine Handfläche und drehte ihn um. Etwas Blasses, das wie Rauhreif im frühen Morgenlicht schimmerte, fiel in seine Hand. Er blies sanft über das leuchtende Ding und setzte es dann vorsichtig auf dem Boden ab. Es wuchs, so wie der Golem am Flußufer gewachsen war, bis Ca landryll und Bracht schließlich wieder das Geschöpf erblickten, das sie in Octofans Scheune beobachtet hatte. Es hockte auf seinen kurzen stämmigen Beinen, die Ar me, die so dünn wie die eines unterernährten Kindes
waren, um die Knie geschlungen, ließ den Kopf von einer Seite auf die andere pendeln und richtete seine riesigen schwarzen Augen schließlich auf Anomius. Der Zauberer deutete in den Himmel, worauf das Geschöpf die silber nen Schwingen ausbreitete, sich erhob und ungeschickt zu laufen begann, um die zum Abheben erforderliche Geschwindigkeit zu erreichen. Seine Schwingen schlu gen, trugen es in die Höhe, und jetzt war es kein unbe holfenes Wesen mehr, sondern ein elegantes Geschöpf der Lüfte. Es umkreiste den Zauberer zweimal, dann schwang es sich in den rasch dunkler werdenden Him mel, stieg schnell über die Baumwipfel und schrumpfte zu einem schimmernden Fleck zusammen, der kurz darauf hinter den Buchen verschwunden war. »Er wird uns sagen, wo die Armee steht«, versprach Anomius und machte es sich im Gras bequem. »Und damit die Zauberer des Tyrannen wissen lassen, daß sie auf ihrem Weg mit Magie rechnen müssen?« fragte Calandryll. Anomius zuckte unbekümmert die Achseln. »Vermut lich würden sie ihn für einen Spion Sathomans halten. Schließlich wissen sie, daß ich mit dem Lord der Fayne zusammenarbeite, und werden deshalb glauben, daß er vom Hochland ausgeschickt worden ist.« »Und wenn sie ihre eigenen Quyvhal losschicken?« »Aha!« Anomius klatschte voller Begeisterung in die Hände. »Du weißt über die Quyvhal Bescheid?« Calandryll ließ seinen Sattel zu Boden fallen und brei
tete die Decke auf dem Gras aus. »Ich habe von ihnen gelesen. Sie werden sowohl von Sarnium wie von Medith erwähnt, außerdem noch von Corrhum.« Anomius nickte und lächelte. »Ich habe ja gewußt, daß du ein bemerkenswerter junger Mann bist«, sagte er anerkennend. »Wir müssen uns unbedingt darüber un terhalten. Sathoman und seine Gefolgsleute sind mehr an Eroberungen als an Forschungen interessiert, und ich sehne mich nach einem zivilisierten Gespräch.« Früher – in einem lange zurückliegenden Leben – hät te ein solches Kompliment Calandryll geschmeichelt. Es hatte ihm geschmeichelt, als es von Varent ausgesprochen worden war, aber jetzt sagte er nur: »Wir müssen ein Feuer machen.« »Auf jeden Fall«, stimmte ihm der Zauberer zu, »aber danach sollten wir uns unterhalten. Vielleicht während eines Wildbratens?« Das Letztere war an Bracht gerichtet, der auf den tak tischen Vorschlag mit Überraschung reagierte. »Hast du keine Angst, daß ich fliehen könnte?« Anomius schüttelte den Kopf. »Erstens hast du mir dein Wort als Krieger aus Cuan na'For gegeben, und zweitens glaube ich nicht, daß du deinen Gefährten im Stich lassen würdest.« Er lachte leise in sich hinein und grinste herausfordernd. »Außerdem würde dich der Bann zurückbringen, mit dem ich dich belegt habe. Wenn du dich zu weit von mir entfernst, wirst du Schmerzen erleben, die weit über deine Vorstellungskraft hinausge
hen.« »Und wenn meine Beute keine Rücksicht auf meinen begrenzten Aktionsradius nimmt?« Calandryll sah die Wut in den blauen Augen des Ker ners aufblitzen. Anomius zuckte die Achseln und sagte: »Dann mußt du dir eben eine innerhalb der Grenzen suchen, die dir mein Bann auferlegt.« Bracht starrte ihn noch eine Weile an, dann nickte er wortlos und spannte den Bogen. Calandryll ging zu ihm, um ihn zu begleiten, aber der Zauberer winkte ihn zu rück. »Wir brauchen nicht mehr als einen Hirsch, und du hast keinen Bogen.« Calandryll fügte sich in sein Schicksal. Während er Bracht im Dickicht untertauchen sah, kehrten seine Ge danken zu den Überlegungen zurück, mit denen er sich an diesem Nachmittag beschäftigt hatte. Gab es für den Wunsch des Zauberers, ihn in seiner Nähe zu behalten, möglicherweise einen triftigeren Grund als nur den Wunsch, sich mit ihm zu unterhalten? Sie konnten nichts gegen ihn unternehmen, ohne gegeneinander zu kämp fen, aber war es ihnen vielleicht doch irgendwie möglich, seinem Einflußbereich zu entkommen? Konnte es sein, daß seine Bannsprüche dann ihre Wirkung verloren? »Ich werde Brennholz sammeln«, verkündete er, und als Anomius nickte, suchte er die Lichtung nach trocke nen Zweigen und Ästen ab. Kurz darauf brannte ein munteres Feuer. Anomius
deutete auf die Decke. Calandryll ließ sich in die Hocke nieder und stellte einen Kessel in die Glut, um Wasser für Tee zu erhitzen. »Du hast also die Klassiker gelesen«, begann der Zau berer im Plauderton. Sein Tonfall war liebenswürdig, als wären sie zwei Freunde, die sich die Zeit bis zum Schla fengehen mit einem entspannten Gespräch vertrieben. »Secca besitzt eine umfangreiche Bibliothek«, murmel te Calandryll, »und ich liebe Bücher.« »Mandradus hatte ebenfalls eine beachtliche Biblio thek zusammengetragen.« Anomius Stimme klang sehn süchtig. »Aber Sathoman interessiert sich nicht für Bü cher. Hast du Dashirrhan gelesen?« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf und beschäf tigte sich mit dem Kessel. »Allerdings habe ich schon von ihm gehört. War er nicht ein Magier?« »Einer der größten«, bestätigte Anomius, »und dazu noch ein Historiker. Seine Abhandlung über Magie und Zaubersprüche ist ein wunderbares Buch. Natürlich wird darin auch Tezin-dar erwähnt, merkwürdigerweise aber nichts von dem Zauberbrevier, nach dem wir suchen.« Seine Stimme klang freundlich, aber Calandryll ent ging der harte Tonfall hinter der scheinbaren Liebens würdigkeit nicht. Er hob die Schultern und streute eine Kräutermischung in das Wasser. »Trotzdem hat euer Lord Varent den Tarl euch auf die Suche nach dem Buch geschickt. Obwohl es nicht von Dashirrhan erwähnt wird. Auch nicht von Sarnium oder
Medith.« Calandryll setzte einen, wie er hoffte, arglosen Ge sichtsausdruck auf. »Ich weiß nur das, was ich dir bereits erzählt habe«, behauptete er. Anomius kratzte sich nachdenklich die gewaltige Na se. Die Augen, die er auf Calandryll gerichtet hatte, und in denen sich das Feuer widerspiegelte, schienen zu glü hen und erinnerten plötzlich an die des Golems. »Vielleicht hat Varent euch belogen. Oder ihr mich.« »Würdest du es nicht merken, wenn ich dich belüge?« Calandryll zwang sich, den Blick des Zauberers zu erwi dern, und eine Weile starrten sie einander unverwandt an. Schließlich begann Anomius leise zu lachen. »Der Stein umgibt dich mit einer Art Schutzschirm, Junge, den ich nicht durchdringen kann. Wenn du ihn allerdings abnehmen würdest…« »Das kann ich nicht!« Calandryll schüttelte schnell den Kopf und begann verzweifelt zu improvisieren. »Das hat mir Lord Varent in Secca klargemacht, als er mir erklärt hat, was wir tun müssen. Der Stein ist magischer Natur und von Lord Varent mit weiteren Zaubersprüchen ver sehen worden. Er hat mir eingeschärft, daß ich das Zau berbrevier nicht finden könnte, wenn ich ihn auch nur einmal abnehmen oder ihn mir von jemand anderem abnehmen lassen würde. Den Stein zu entfernen würde bedeuten, das Buch zu verlieren.« Anomius schwieg eine Zeitlang. Calandryll rührte im Kessel und hoffte, daß die Lüge überzeugend geklungen
hatte. Irgendwann schnaubte der Zauberer. »Nun gut. Ich werde nicht versuchen, mit Gewalt wei ter nachzuforschen.« Er lachte erneut leise vor sich hin, und seine Stimme klang wieder entspannt. »Aber erzähl mir mehr von diesem geheimnisvollen Zauberbrevier.« »Ich weiß nur das, was ich von Lord Varent erfahren habe«, sagte Calandryll und unterdrückte das Verlangen, einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. »Er hat gesagt, daß das Zauberbrevier zu den vergessenen Bü chern gehört und Zaubersprüche enthält, die die Götter selbst benutzt haben. Wer das Buch besitzt, erhält damit unvorstellbare Macht. Er hat den Zorn meines Vaters und vielleicht sogar einen Krieg zwischen unseren Städ ten riskiert, als er mich aus Secca herausgebracht hat. Und wie du bereits weißt, hat er unsere Reise finanziert. Ich habe ihm geglaubt.« Anomius' Augen blitzten kurz auf und verschleierten sich. Calandryll hoffte, daß es die wiedererwachte Gier war, die er in ihnen sah. »Und so habt ihr euch auf den Weg nach Gessyth ge macht. Nur du und der Kerner.« »Lord Varent hat befürchtet, eine größere Gruppe könnte Azumandias' Aufmerksamkeit erregen.« »Du hast den Stein vergessen. Du sagst, ohne den Stein könne niemand das Buch finden.« »Azumandias braucht ihn nicht. Lord Varent sagt, Azumandias hätte solche Kräfte, daß er das Zauberbre vier auch ohne die Hilfe des Steines finden könnte.«
»Dann könnte ich das vielleicht ebenfalls.« Trotz der Wärme des Feuers spürte Calandryll, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief und sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Er zuckte die Achseln und kämpfte gegen die Angst an, versuchte, sich eine Antwort einfallen zu lassen, die logisch genug klang, um den Zauberer zu überzeugen. »Vielleicht. Aber wenn nicht…« Anomius stieß ein dünnes zwitscherndes Gelächter aus, und als er antwortete, klang seine Stimme kalt und drohend. »Wenn dieser Azumandias den Stein nicht braucht, dann brauche ich ihn wahrscheinlich auch nicht. Und wenn ich auf den Stein verzichten kann, kann ich auch auf dich oder den Kerner verzichten.« »Richtig«, stimmte ihm Calandryll zu, und jetzt wurde der kalte Schauder von einem Schweißausbruch beglei tet, »aber ich denke, daß es ohne den Stein schwieriger werden würde, das Zauberbrevier zu finden. Und Tezin dar wird bestimmt geschützt. Medith spricht von Wäch tern, Sarnium von Dämonen vor den Toren.« »Aye«, bestätigte Anomius, »das stimmt.« »Also würde die Suche durch den Stein wahrschein lich erleichtert werden.« Wieder nickte der Zauberer. »Du trägst deine Sache gut vor, Calandryll den Karynth. Und jetzt hör auf zu zittern, denn ich werde dich auch weiter mitnehmen. So lange, bis ich feststelle, daß du mich belogen hast.« Calandryll neigte den Kopf und leckte sich über die
plötzlich trocken gewordenen Lippen. »Und wenn du das Buch hast?« »Wenn das, was du sagst, stimmt, werde ich der mächtigste Zauberer der Welt sein.« »Und was wird dann aus uns?« Anomius schüttelte den Kopf und machte eine weg werfende Handbewegung. »Ihr werdet feststellen, daß ich sehr großzügig sein kann. Warum sollte ich den bei den Menschen schaden wollen, die mir zu einer derarti gen Macht verholfen haben? Ihr würdet unter meinem Schutz stehen.« »In Kandahar?« wollte Calandryll wissen. »Was ist mit Sathoman? Was mit den Chaipaku?« »Wenn ich eine solche Macht besitze, werdet ihr vor beiden in Sicherheit sein«, versprach Anomius. »Ich würde Sathoman zum Tyrannen machen und dich von der Bruderschaft freikaufen. Vielleicht würde ich dich zum Domm von Secca und Bracht zum Herrscher über Cuan na'For machen. Siehst du? Ihr könnt bei dieser Sache genausoviel wie ich gewinnen. Wir sind Verbünde te, wir drei.« Anscheinend war der Moment der Gefahr vorüber; der Zauberer hatte sich von seinen Machtgelüsten ver führen lassen. Calandryll lächelte und sagte: »Und doch traust du uns nicht.« Wieder klang Anomius' dünnes zwitscherndes Lachen auf. »Unser Bündnis ist durch die Umstände und nicht aus freiem Entschluß entstanden«, kicherte der Hexer.
»Ihr scheint beide nicht gerade überglücklich über meine Anwesenheit zu sein. Würdest du an meiner Stelle nicht ebenfalls Vorsichtsmaßnahmen treffen?« »Das würde ich«, gab Calandryll aufrichtig zu. »Trotzdem bleiben wir Verbündete, und deshalb soll ten wir auch das Beste daraus machen.« »Aye«, sagte Calandryll. »Wir reisen also zusammen, und dabei bleibt es. Dient mir gut, und ihr werdet reich belohnt werden. Versucht, mich zu betrügen, und…« Der Zauberer machte eine Bewegung mit der rechten Hand, und das Feuer loderte hoch auf, der Kessel begann zu summen. Die Demonstration war deutlich genug. Calandryll sprang zurück, fiel der Länge nach ins Gras, und Anomius lachte. »Aber laß uns jetzt diese unerfreulichen Dinge verges sen und uns über Bücher und Forschungen unterhalten«, sagte er fröhlich. »Vertreiben wir uns die Zeit bis zu Brachts Rückkehr mit gelehrten Gesprächen. Was hältst du von Sarniums Behauptung, daß das Leben nördlich des Borrhun-maj-Gebirges entstanden ist?« Erleichtert wandte sich Calandryll diesem harmlose ren Thema zu, und sie unterhielten sich, bis Bracht mit einer blutigen Hirschkeule über der Schulter zurückkehr te. »Sehr gut«, lobte ihn Anomius. »Das ganze Gerede hat mich wirklich hungrig gemacht.«
Der Kerner zog sein Messer, zerteilte die Keule, spieß te Fleischstreifen auf und legte sie über das Feuer. »Ist deine Kreatur wieder da?« erkundigte er sich. »Wenn nicht etwas besonders Wichtiges passiert, wird er erst im Morgengrauen zurückkommen«, erwiderte Anomius. »Die Quyvhal haben eine große Reichweite, und sie lieben die Nacht.« »Und wenn er die Armee des Tyrannen entdeckt?« »Er wird mir berichten, wo sie sich befindet, und wir werden ihr ausweichen.« »Hast du Calandrylls Frage beantwortet?« »Welche Frage?« wollte Anomius wissen. »Was ist, wenn die Hexer des Tyrannen ihre eigenen Quyvhal schicken?« »Diese Geschöpfe verfügen über keine eigenen magi schen Fähigkeiten«, erklärte der Zauberer strahlend. »Sie sind nichts weiter als Augen in der Nacht. Sollte uns ein Quyvhal entdecken, würde er nur drei Reisende sehen, die Wildbraten essen, keine Spur von Magie.« »Du hast durch deine Kreatur von Calandrylls Stein erfahren«, hakte Bracht nach. »Nachdem sie uns in Octo fans Scheune gefunden hatte.« »Damals hat Calandryll den Stein erwähnt, und der Quyvhal hat mir davon erzählt«, entgegnete Anomius. »So habe ich davon erfahren.« Bracht grunzte zufrieden und nahm einen Becher Tee von Calandryll entgegen. Er nippte daran und wandte
sich dann wieder dem Zauberer zu. »Die Armee befindet sich wahrscheinlich zwischen uns und Nhurjabal«, sagte er nach einer Weile. »Wenn wir ihr nicht begegnen wollen, müssen wir also auf die Waldpfade ausweichen. Kennst du sie?« »Ich habe meine Möglichkeiten, sie zu entdecken«, erwiderte Anomius leichthin, der sich jetzt mehr für das brutzelnde Fleisch als für die Fragen des Söldners inte ressierte. »Und der kürzeste Weg zur Küste ist die Straße des Tyrannen«, fuhr Bracht fort, »aber die führt durch Nhur jabal.« »Richtig«, bestätigte Anomius geistesabwesend. »Was meinst du damit?« »Werden alle Hexer des Tyrannen die Armee beglei ten?« »Das bezweifle ich«, murmelte der Zauberer und schnaubte verächtlich. »Der Tyrann ist ein vorsichtiger Mann. Er wird in der Sicherheit seines Palastes bleiben und seine Nerven schonen, indem er sich mit einer aus reichend großen Anzahl seiner Hexer umgibt.« »Wie sollen wir dann an ihnen vorbeikommen?« woll te Bracht wissen. »Sie werden doch bemerken, daß du ein Zauberer bist, oder?« »So vorsichtig wie immer«, schmunzelte Anomius. »Ja, du hast recht, würde ich Nhurjabal durchqueren, würden sie meine Anwesenheit spüren.«
»Wie wollen wir dann Kharasul erreichen?« »Die Straße ist nur ein Weg.« Anomius tippte sich lä chelnd an die Nase. »Nhurjabal liegt in den Vorbergen des Kharmrhanna, wo der Tannyth aus dem Gebirge herunterkommt. Der Fluß verzweigt sich oberhalb und unterhalb der Stadt. Der Yst fließt nach Süden zum Cape Vishat'yi, der Shemme westwärts nach Kharasul. Wir müssen südlich von Nhurjabal übersetzen und den Shemme hinabfahren.« Bracht legte die Stirn in Falten und wendete das Fleisch. »Ein Boot?« fragte er. »Auf einem Boot gibt es keine Möglichkeit wegzurennen.« »Wenn wir Nhurjabal umgehen, werden wir keinen Grund haben, vor irgend etwas wegzurennen«, erklärte Anomius. »Der Shemme fließt schnell, und wir werden die Gegend um Nhurjabal hinter uns gebracht haben, bevor irgend jemand davon erfährt. Vertrau mir, mein Freund. Und wenn das Fleisch gar ist, dann gib mir ein Stück. Ich werde allmählich schwach vor Hunger.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, grollte sein Magen in diesem Augenblick dumpf. Bracht nahm einen Fleischstreifen vom Feuer und reichte ihn dem Zauberer. Anomius nahm ihn entgegen und begann unverzüglich, geräuschvoll darauf herumzukauen, ohne auf den Saft zu achten, der ihm über das flache Kinn lief und auf seine Robe tropfte. Calandryll und Bracht benahmen sich gesit teter, zerteilten das Fleisch mit ihren Dolchen und be nutzten Brotfladen als behelfsmäßige Teller.
Mittlerweile war der Mond über der Lichtung aufge gangen und stand als abnehmende gelbliche Scheibe im sternenübersäten Blauschwarz des Himmels. Von dem Quyvhal war nichts zu sehen, und nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, rollten sie sich in ihre Decken und legten sich zum Schlafen nieder. Anscheinend hatte sich Calandryll mit den blutigen Gewalttätigkeiten abgefunden, die die Reise mit sich brachte, denn sein Schlaf verlief traumlos und friedlich, bis das rote Glühen des Steines durch seine Augenlider drang. Er erwachte, öffnete die Augen und sah Anomius vor der silbrigen Gestalt seines magischen Spähers kau ern. Die Morgendämmerung stand kurz bevor, der Mond war untergegangen und die Sterne im trüben Grau ver schwunden, das das dunkle Samtblau der Nacht ersetzt hatte. Tautropfen glitzerten auf dem Gras, und er hörte ein Pferd schnauben und einmal kurz aufstampfen. Der Quyvhal hatte sich auf die Fersen gehockt, die rie sigen schwarzen Augen auf das Gesicht des Zauberers gerichtet, und aus seinem geöffneten Mundschlitz dran gen hohe pfeifende Laute, aus denen Calandryll keine verständlichen Wörter heraushören konnte. Er bemerkte, daß Bracht ebenfalls wach war und genau wie er die merkwürdige Unterhaltung verfolgte. Das Flöten brach ab, Anomius streckte eine Hand aus und tätschelte den überdimensionalen Kopf des Quyv hals, der wie eine Katze, die von ihrem Herrn gestreichelt
wird, den Rücken wölbte. Dann öffnete der Zauberer den Lederbeutel und murmelte leise vor sich hin, worauf der Quyvhal zusammenschrumpfte, bis er wieder zu einem glimmenden bleichen Licht geworden war und in den Beutel zurückhüpfte. Anomius zog die Schnürbänder zu und verstaute den Beutel unter seiner Robe. Er kehrte zum Feuer zurück, legte frisches Holz nach und bemerk te, daß er beobachtet wurde. »Die Armee befindet sich zwischen uns und Nhurja bal«, berichtete er, als das Feuer wieder aufloderte, »nach der Schätzung meines kleinen Lieblings vielleicht drei Tagesreisen von hier entfernt. Die Vorhut eilt ihr einen halben Tagesritt weit voraus. Sie besteht aus einem Ka vallerietrupp, der von Waldläufern geführt wird.« Calandryll gähnte und streckte sich. Bracht hockte sich vor die Feuerstelle und setzte Wasser auf. »Der Wirt der Herberge hat von einer Stadt gespro chen – Bhalusteen –, die ein paar Tagesritte entfernt liegt«, sagte er. »Müssen wir sie umgehen?« Anomius nickte. »Die Armee wird Bhalusteen heute erreichen.« Er kratzte sich hektisch unter der Robe. »Ja, deshalb sollten wir lieber die Waldpfade benutzen.« »Wir brauchen Reiseproviant«, gab Bracht zu beden ken. »Wir werden unterwegs auf kleinere Dörfer und Wei ler stoßen.« Anomius wirkte unbesorgt. Bracht wandte sich an Calandryll. »Kannst du uns mal die Karte zeigen?«
Calandryll holte die Landkarte von Kandahar aus sei ner Tasche und breitete sie über seinen Knien aus. Bracht und Anomius bauten sich hinter ihm auf und blickten ihm über die Schulter. »Wir sind hier.« Der Zauberer legte einen rissigen Fin gernagel auf einen Punkt ein Stückchen unterhalb des Narns, unter die schraffierte Fläche, die die Hochebene darstellte. »Bhalusteen ist hier, Nhurjabal dort. Wir müs sen nach Süden reiten und wieder nach Westen schwen ken, sobald wir die Armee hinter uns gelassen haben.« Er beschrieb mit dem Finger einen weiten Bogen, der durch den großen Zentralwald führte, der kleinere An siedlungen und eingezeichnete Pfade umging und weit entfernt von der Straße verlief. Calandryll sah, daß die Route sie südlich von Nhurjabal in das Vorgebirge des Kharmrhanna führen würde, wo der Shemme vom Tan nyth abzweigte. »Wir werden eine Menge Zeit verlieren«, stellte Bracht fest. »Warum stoßen wir nicht direkt hinter Bhalusteen wieder auf die Straße?« »Weil wahrscheinlich in jedem größeren Dorf entlang der Straße ein Magier zurückbleiben wird«, erwiderte Anomius. »Und auch wenn ich jeden einzelnen von ih nen zweifellos besiegen könnte, würden uns diese Kämp fe länger als ein Umweg aufhalten.« Und deine Kräfte schwächen, dachte Calandryll. Laut sagte er: »Auf der Route, die du vorschlägst, sind keine Wege verzeichnet.«
Der Zauberer grinste ihn selbstgefällig an. Er rückte näher an das Feuer heran und sagte: »Wie ich euch be reits gesagt habe, ich habe meine Möglichkeiten, sie zu finden.« Wie, das zeigte er ihnen nach dem Frühstück. Die Pferde waren gesattelt, das Feuer ausgetreten und das Gepäck für die Weiterreise verstaut. Die Tiere des Waldes begannen sich zu rühren, als die Sonne auf die Lichtung fiel. Der graue Himmel wurde wieder blau, und ein warmer Südwind trieb weiße Wolken vor sich her. Anomius kramte in seinen Satteltaschen herum und förderte ein kleines Fläschchen zutage, aus dem er ein wenig bräunliches Pulver in seine linke Hand rieseln ließ, die er dann zur Faust schloß. Er hob die rechte Hand und stimmte einen monotonen Gesang an. Für einen kurzen Moment verstummte das Zwitschern und Trällern, mit dem die Vögel den neuen Tag begrüßten, doch dann klang es doppelt so laut wieder auf, als die Tiere von den Bäumen herabgeflogen kamen und den Zauberer um schwirrten. Innerhalb weniger Augenblicke war er von einer aus bunten Vogelleibern bestehenden Wolke um geben. Finken, Drosseln, Heckenbraunellen, Kuckucke, Wasserpieper, Tauben, Singvögel, Kleiber, Spechte und Baumläufer, alle waren durch seinen Ruf angelockt wor den. Doch gleich darauf stoben sie wie auf ein Komman do wieder auseinander, als ein Hühnerhabicht auf den kleinen schwarzgekleideten Mann herabstieß und sich
wie ein gut abgerichteter Falke auf seinem ausgestreck ten Arm niederließ. Anomius gab leise gurrende Laute von sich, öffnete die linke Hand, hielt sie dem Vogel dicht vor die Augen und blies dann über seine Handfläche, so daß der bräun liche Staub den Kopf des Vogels umschwirrte. Der Hüh nerhabicht stieß einen einzelnen krächzenden Schrei aus und schwankte auf dem Arm des Zauberers langsam hin und her, als ob er kurzfristig betäubt worden wäre. A nomius murmelte leise vor sich hin und warf den Arm wie ein Falkner, der seinen Vogel auf die Jagd schickt in die Höhe. Der Habicht breitete seine blaugrauen Schwin gen aus, stieg in die Luft, umkreiste einmal die Lichtung und verschwand dann in westlicher Richtung hinter den Bäumen. Der Magier lächelte, blickte dem Vogel hinter her und ging zu Bracht, der die Zügel seines Pferdes hielt. Calandryll bemerkte, daß die wäßrigen Augen des Zauberers ungewöhnlich hell und gleichzeitig seltsam blicklos wirkten, als würden sie über seine unmittelbare Umgebung hinaussehen und irgend etwas beobachten, das gewöhnlichen Augen verborgen blieb. Er bestieg sein Pferd noch unbeholfener als sonst und lächelte auf Ca landryll und Bracht hinab. »Jetzt werden wir die Wege finden und wissen, wo sich die Armee aufhält. Folgt mir.« Er ruckte an den Zügeln und lenkte sein Pferd von der Straße fort quer über die Lichtung. Bracht und Calandryll
folgten ihm gespannt. Anscheinend war der Hühnerhabicht ihr Führer, denn an diesem Tag sahen sie ihn mehrmals voraus über dem dichten Wald kreisen, und der Zauberer führte sie unbe irrt über Waldwege, die sie sonst übersehen hätten, über Wildwechsel und Bachläufe, die unter dem überhängen den Laubdach verborgen waren, ritt ohne zu zögern auf Dickichte zu, die undurchdringlich schienen, bis er ein paar Zweige zur Seite schob und die schmalen versteck ten Pfade des Waldes sichtbar wurden. Calandryll beg riff, daß Anomius durch die Augen des Habichts sah, denn als sie gegen Mittag an einer Quelle Halt machten, die einen kleinen Bach speiste, der zwischen jungen Ei chen dahinplätscherte, teilte er ihnen mit, daß die Armee, die von mindestens sechs Zauberern begleitet wurde, Bhalusteen erreicht hatte und dort rastete. »Der Tyrann schmeichelt mir«, verkündete er stolz. »Sechs Hexer gegen einen. Ich glaube, mein Ruhm wächst.« »Und was passiert, wenn sie das Hochland errei chen?« wollte Calandryll wissen. Er staunte, wie leicht es dem kleinen Mann fiel, seine Loyalität zu vergessen. »Was geschieht dann mit Sathoman?« Anomius zuckte die Achseln. Es war eine wegwerfen de und gleichgültige Geste. »Selbst mit sechs Hexern wird sich die Eroberung des Hochlands schwierig gestal ten«, sagte er. »Eine Handvoll Männer kann den Rand der Ebene halten und sich – falls es nötig werden sollte –
nach Kesham-vaj zurückziehen. Und als letzte Zuflucht bleibt ihm immer noch die Fayneburg, die durch Bann sprüche geschützt wird, mit denen die sechs Hexer eine Menge Probleme haben dürften. Sathoman muß eine Weile ohne mich zurechtkommen.« »Trotzdem wird er dir nicht gerade dankbar für dein Verschwinden sein«, meinte Calandryll. »Sollte er die Schlacht verlieren, wird er feststellen, daß es nur ein vorübergehender Rückschlag ist«, erwi derte der Zauberer. »Sobald ich das Zauberbrevier in meinen Besitz gebracht habe, werde ich zurückkehren und mein Versprechen ihm gegenüber erfüllen. Er wird zum Herrscher über ganz Kandahar werden, und dafür wird er mir dankbar genug sein.« Bis zum Anbruch der Nacht blieb er schweigsam, kon zentrierte sich völlig auf die merkwürdige Verbindung mit dem Hühnerhabicht, und so fanden Calandryll und Bracht eine weitere Gelegenheit, sich leise über eine Flucht zu unterhalten. »Er hat uns eine Belohnung für unsere Hilfe verspro chen«, teilte Calandryll Bracht mit. »Und wenn er herausfindet, daß das Zauberbrevier nur in deiner Phantasie existiert?« gab der Kerner zu rück. »Was dann? Bekommen wir dann seinen Zorn zu spüren? Oder – was noch schlimmer wäre – müssen wir zusehen, wie er sich das Arcanum schnappt?« »Dazu darf es auf keinen Fall kommen«, sagte Ca landryll entschlossen.
»Wie sollen wir das verhindern, wenn er uns bis nach Tezin-dar begleitet?« wollte Bracht wissen. »Wenn wir ihn in die Stadt hineinbringen, wird er garantiert heraus finden, daß es dort kein Zauberbrevier, sondern eine viel bedeutendere Beute gibt. Und ich vertraue ihm nicht mehr als Varent.« Calandryll schüttelte hilflos den Kopf. »Wie können wir ihm nur entkommen? Du kannst weder fliehen noch ihn umbringen, und sollte ich es versuchen, müßtest du mich töten.« Bracht nickte grimmig. »Die Hexer des Tyrannen könnten ihn vielleicht besiegen, wenn es uns gelingt, ihn in ihre Nähe zu bringen.« »Und falls Anomius nicht gelogen hat«, erwiderte Ca landryll, »würden sie bei dieser Gelegenheit meine Kräfte – wie immer die auch aussehen – erkennen und mich in den Dienst des Tyrannen zwingen – oder mich hinrich ten.« »Es muß irgend etwas geben, das wir tun können.« Brachts Tonfall machte allerdings klar, daß er nicht wuß te, was das war. »Irgendein Weg, ihm zu entkommen.« »Ich kann keinen sehen.« Calandryll warf einen Blick auf den Zauberer, der unbeholfen auf seinem Schimmel schaukelte. »Er hat uns in der Hand.« »Das hatte das Kriegsboot auch«, erinnerte ihn Bracht, »aber wir sind ihm entkommen.« Dabei sah er Calandryll an, und in seinen Augen lag ein Ausdruck von Hoffnung und fast schon von Erwartung.
»Du meinst diese magische Begabung, die ich seinen Worten nach besitze?« fragte Calandryll. »Ich habe dir damals schon gesagt, daß ich nichts davon weiß, und daran hat sich nichts geändert. Ich verstehe nicht, was damals passiert ist. Wenn du von mir verlangst, Magie gegen ihn einzusetzen – ich wüßte nicht, wie ich das tun sollte.« »Es scheint unsere einzige Hoffnung zu sein«, meinte Bracht. »Es sei denn, irgendeine andere Macht würde eingreifen.« Calandryll stieß ein kurzes und zynisches Lachen aus. »Wie zum Beispiel Azumandias? Oder die Hexer des Tyrannen? Es hat den Anschein, als könnten wir auf dieser Reise immer nur vom Regen in die Traufe gera ten.« »Und trotzdem kommen wir unserem Ziel ständig nä her«, stellte Bracht fest. »Wäre Anomius nicht gewesen, würden wir jetzt an Sathomans Galgen baumeln. Hätten wir ihn nicht als Führer durch diesen Wald, würden wir der Armee des Tyrannen direkt in die Armee laufen. Zumindest dieser Trost bleibt uns.« »Willst du damit etwa sagen, daß das alles irgendei nem Plan folgt?« fragte Calandryll. Er grinste, aber sein Gesichtsausdruck wirkte eher ungläubig als belustig. Bracht zuckte die Achseln und sagte: »Vielleicht nicht, aber wir kommen wirklich schnell durch Kandahar vor an.« Das war richtig, sie kamen genausoschnell voran, als
würden sie über die Straße reiten. Sogar noch schneller, bedachte man, daß sie auf der Straße unweigerlich der Armee begegnet wären und das Zusammentreffen sie zumindest Zeit gekostet, wenn nicht gar das Ende ihrer Reise bedeutet hätte. Anomius war, dank seiner magi schen Fähigkeiten, ein hervorragender Führer. Während der folgenden Tage lenkte er sie um die Truppen des Tyrannen herum, wich den Spähern aus, die die Armee flankierten, und umging die Magier, die in den Ansied lungen entlang der Straße zurückgeblieben waren. Zweimal mußten sie sich vor Vorauskommandos ver stecken, und dreimal verließen sie ihre geplante Route, um Banditenbanden auszuweichen, aber dabei kamen sie ständig weiter in südwestlicher Richtung voran und ihrem Ziel immer näher. Tagsüber ritt der Zauberer voraus, wobei er durch die Augen seines geflügelten Spähers sah, nachts schickte er den Quyvhal aus. Das gespenstische Geschöpf kehrte stets mit der Mor gendämmerung zurück und erstattete Anomius mit seiner seltsamen flötenden Stimme Bericht. Was sie an Proviant brauchten, erhielten sie in kleinen Weilern, auf die sie tief im Wald stießen. Es waren kleine Ansammlungen von Holzhäusern, in denen Jäger und Köhler hausten, die jeweils ein paar Schweine oder Scha fe auf speziell dafür gerodeten Weideflächen hielten, sowie eine oder zwei Milchkühe. In kleinen Gärten wur de Gemüse angebaut. Die Menschen, die sie trafen, wa
ren nicht neugierig und gaben sich mit der Auskunft der drei Reiter zufrieden, daß sie unterwegs nach Nhurjabal seien und keine Lust hätten, der Armee des Tyrannen auf der Straße zu begegnen. Dafür schienen die Waldbewoh ner sogar viel Verständnis aufbringen zu können, denn sie lebten selbst zurückgezogen, hatten herzlich wenig für solche Herrscher wie den Tyrannen oder Sathoman ek'Hennem übrig und zogen es vor, ihr abgeschiedenes Leben fern von der Hektik Nhurjabals und den Rivalitä ten der Adelsfamilien führen zu können. Ihre Gast freundschaft war schlicht aber offenherzig, und die Rei senden kamen zügig voran. Als der Frühling in den Sommer überging, lag Nhur jabal in Sichtweite vor ihnen. Das Gelände war zerklüfteter geworden. Vor ihnen ragte das Kharmrhanna-Gebirge wie eine riesige felsige Woge auf, deren Ausläufer sich in das Herz Kandahars er streckten. Das bisher flache bewaldete Land wurde von Hügeln und Senken durchzogen, und schließlich erreich ten sie den Rand eines großen Flußtales. Dort, wo das Tiefland endete, wurde der Wald lichter und brach sich wie ein grünes Meer an den blauschwar zen Granitfelsen des Kharmrhanna. Die große Bergkette, die Kandahar von dem Dschungel von Gash trennte, bildete eine dunkle Barriere vor dem westlichen Himmel. Die höchsten Gipfel wurden noch vom Licht der unter gegangenen Sonne angestrahlt und widersetzten sich mit
ihrem feurigen Glühen hartnäckig der vom Osten heran kriechenden Nacht. Das tiefer gelegene Land war bereits von der Dunkelheit verschluckt worden, die nur von den funkelnden Lichtern der am Ufer des Tannyth gelegenen Städte und Dörfer durchbrochen wurde. Vor ihnen fiel das Gelände zum breiten Band des nach Süden fließen den Yst hin ab. Im Westen und Norden konnte man ver schwommen die Umrisse des Vorgebirges erkennen. Jenseits des Flusses, als würden sie im nächtlichen Him mel schweben, erblickten sie die Lichter Nhurjabals. Sie schlugen ihr Lager an einer Stelle auf, wo das Ge hölz ihnen ausreichend Deckung bot, und am nächsten Morgen betrachteten sie die Stadt im hellen Tageslicht. Anomius hatte den Hühnerhabicht aus seinem Zau berbann entlassen. Der weitere Weg lag so deutlich vor ihnen, daß sie keinen fliegenden Späher mehr benötigten, nur noch einen wachen Verstand und ein wenig Glück. Die Straße des Tyrannen verlief nördlich von ihnen. Sie kam aus dem Wald heraus, überquerte den Tannyth auf einer massiven Steinbrücke und führte durch das Vorgebirge nach Nhurjabal hinein. Die Stadt selbst lag auf einer Steilklippe, die das Flußtal beherrschte. Ihre Rückseite wurde durch die Hänge des Kharmrhanna geschützt, und über ihr thronte die Zitadelle des Tyran nen. Die Felsklippe, auf der sich die Steinhäuser anei nanderdrängten, fiel auf beiden Seiten wie ein erstarrter steinerner Wasserfall fast senkrecht in die Tiefe und erweckte durch ihre Unzugänglichkeit den Eindruck
einer Festung. Der Palast mit seinen Mauern und Wehr türmen lag auf einem aus der Bergflanke hervorsprin genden Felssims und war nur über Zugbrücken zu errei chen. Der Tannyth floß am Fuß der Steilklippe nach Os ten, und auf der anderen Seite des Tales konnten sie den Einschnitt erkennen, wo der Shemme abzweigte und schwach im Morgenlicht glitzerte. »Hinter dem Paß liegt eine Stadt.« Calandryll gab Bracht die Karte. Der Söldner nickte und musterte das vor ihm liegende Gelände. »Dort werden wir ein Boot finden und den Fluß hinab nach Kharasul fahren«, sagte Anomius. »Und von da weiter nach Gessyth und Tezin-dar.« Die Vorfreude verlieh seiner Stimme einen ungewohnt schneidenden Klang, und als Calandryll einen Blick in das gelbliche Gesicht des Zauberers warf, sah er das gierige Glühen in den wäßrigen Augen. »Können die Hexer des Tyrannen dich so nahe an Nhurjabal nicht spüren?« fragte er, während er das Tal wachsam im Auge behielt. Anomius zuckte die Achseln und zappelte unruhig herum, als könne er es gar nicht mehr erwarten, aufzu brechen und den Fluß trotz aller Gefahr zu überqueren. An die große Stadt, die so dicht vor ihnen lag, schien er keinen weiteren Gedanken zu verschwenden. »Wir brauchen eine Fähre, um überzusetzen«, sagte Bracht. Er deutete auf das Tal. »Es gibt Ansiedlungen zu beiden Seiten des Ufers. Wenn wir entdeckt werden,
könnten uns Reiter aus Nhurjabal am Paß abfangen.« Anomius machte eine ungeduldige, wegwerfende Handbewegung und verzog gereizt das pergamentartige Gesicht. »Wenn wir jetzt trödeln, werden wir alles verlie ren«, beschwerte er sich ärgerlich. »Wir haben keine andere Wahl, als eine Fähre zu besteigen, wenn wir den Paß erreichen wollen. Kommt, wir reiten los.« »Warte!« Bracht hob beschwichtigend eine Hand. »Wenn der Tyrann so vorsichtig ist, wie du behauptest, dann hat er dort unten wahrscheinlich Soldaten postiert. Und wenn seine Hexer erfahren, daß du hier bist…« »Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen«, unter brach ihn Anomius scharf. »Kommt jetzt!« »Es wäre klüger, es während der Nacht zu versu chen«, widersprach der Kerner. »In der Nacht ist die Fähre vertäut«, erwiderte der Zauberer. »Und wir werden noch mehr Aufmerksamkeit erregen, wenn wir versuchen, nachts überzusetzen.« Bracht musterte das Tal mit dem erfahrenen Blick ei nes Strategen. »Ein Tagesritt, um auf die andere Seite zu gelangen«, murmelte er, ohne Anomius' wütendes Ge sicht zu beachten. »Wir brauchen mindestens den Vor mittag bis zur Fähre und den Nachmittag bis zum Paß, und die Pferde könnten eine Ruhepause vertragen. Vom Fluß bis zum Paß führt der Weg ständig bergauf, und ich bezweifle, daß unsere Pferde in diesem Zustand eine Verfolgungsjagd durchhalten würden.« »Das Risiko nehmen wir in Kauf!« bellte der Zauberer.
»Ich habe zuviel zu verlieren, um jetzt meine Zeit zu vergeuden.« »Und ich bleibe dabei, daß die Nacht günstiger für uns wäre«, erklärte Bracht. Er machte keine Anstalten, in den Sattel zu steigen. Calandryll starrte ihn an und bemerkte den störri schen Ausdruck in dem gebräunten Gesicht. Ein kurzer Blick auf Anomius verriet ihm, daß der Zauberer vor Wut fast kochte. Ihm kam der Verdacht, daß der Kerner den Hexer absichtlich provozierte, und er fragte sich, was Bracht damit bezweckte. Anomius hob die Hand und richtete drohend einen Finger auf Bracht. »Steigst du jetzt endlich auf, oder willst du meinen Zorn kennenlernen?« »Die Pferde sind müde«, sagte Bracht. »Wir haben sie lange durch den Wald gehetzt, und falls es dazu kom men sollte, daß wir vor Reitern mit ausgeruhten Tieren fliehen müssen, brauchen sie dazu einen Tag, um sich erholen zu können.« »Verdammter Söldner!« knurrte Anomius, und im gleichen Augenblick wurde Bracht zurückgeschleudert. Er stolperte gegen den Braunen, der scheute und ein erschrecktes Wiehern ausstieß. Calandryll sah den roten Stein aufflackern, und die feuchte Morgenluft roch plötz lich nach Mandeln. Er eilte an Brachts Seite, als der Ker ner zu Boden fiel, keuchte und seine Brust umklammerte. »Soll ich dich umbringen?« erkundigte sich Anomius. »Soll ich dich hier tot den Krähen zum Fraß zurücklas
sen?« Bracht richtete sich mühsam auf Händen und Knien auf und preßte mit rauher Stimme zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor: »Die … Pferde … brauchen … eine … Ruhepause…« Er schrie auf, als der Zauberer erneut seine brutale Magie einsetzte, fiel aufs Gesicht, die Hände fest gegen die Brust gepreßt, die Knie bis zum Bauch hochgezogen, vor Schmerzen zitternd. »Nein!« schrie Calandryll. »Denk an die Prophezei ung! Die Wahrsagerin hat gesagt, daß wir miteinander verbunden wären, Bracht und ich! Ohne ihn werde ich Tezin-dar nicht erreichen!« »Das ist richtig«, gab Anomius zu, und diesmal klang seine Stimme nicht mehr so schneidend. »Nun gut, hilf ihm auf sein Pferd. Aber denk daran, Söldner, wenn du dich noch einmal gegen mich auflehnst, wirst du weitere Schmerzen erleiden. Und zwar noch schlimmere Schmerzen!« Bracht grunzte und richtete sich langsam auf, als der Zauberer die Hand sinken ließ. Seine Stirn war schweiß bedeckt, ein Schauder lief durch seinen Körper, und er klammerte sich, von Calandryll gestützt, mit schmerz verzerrtem Gesicht am Sattel des Braunen fest. Er schob einen Fuß in den Steigbügel und zog sich noch unbehol fener als Anomius in den Sattel. Calandryll reichte ihm die Zügel und bemerkte, daß der andere grimmig grins te. Er wollte sich nach dem Grund erkundigen, aber
Bracht schüttelte nur den Kopf und bedeutete ihm mit einer verstohlenen Geste, seinen Rotschimmel zu bestei gen, ohne Fragen zu stellen. Calandryll kam seiner Aufforderung nach. Er war jetzt davon überzeugt, daß Bracht den Hexer tatsächlich ab sichtlich provoziert hatte, und fragte sich, was der Kerner zu gewinnen glaubte, indem er die Geduld des Zaube rers auf die Probe stellte. »Kommt!« rief Anomius, jetzt wieder fröhlich. »Wir reiten zur Fähre.« Ein breiter und schlammiger Holzfällerweg, der von den Stümpfen geschlagener Bäume gesäumt wurde, führte durch den Wald zum Yst hinunter. Überall waren Baumstämme zu großen Stapeln aufgetürmt worden und warteten auf ihren Abtransport. Etwas weiter unten kamen sie an einem Trupp von Holzfällern vorbei, die ihre Grüße mit gutgelauntem Winken erwiderten. Sie ritten weiter durch den immer lichter werdenden Wald, bis sie Weideland erreichten, auf dem Schafe grasten und einsame Schäferhütten neben roh gezimmerten Pferchen standen. Gegen Mittag hielten sie ihre Pferde am Flußufer an. Ein paar einfache Holzhäuser bildeten ein kleines Dorf. Aus den Schornsteinen kräuselte sich Rauch und stieg träge in die warme Luft. Vor ihnen lag der Yst. Er war viel breiter als alle Flüsse, die sie bisher überquert hatten. An seinem Ufer waren Lastkähne vertäut, die unter dem Gewicht bereits zugeschnittenen Holzes tief im Wasser
lagen. Die Fähre hatte am Nordufer festgemacht, und sie ritten direkt darauf zu, ohne auf die Herbergen und Gasthäuser zu achten, in die sich anscheinend die meis ten der Anwohner zum Mittagessen, zurückgezogen hatten. Ein bärtiger Kander hatte es sich an der Anlegestelle bequem gemacht. Er kaute mit vollen Backen auf Brot und kaltem Braten herum. Auf ihre Bitte, sie überzuset zen, teilte er ihnen mit, daß zwei Männer erforderlich wären, um die Winden zu bedienen, und sein Partner sich gerade den einen oder anderen Krug Bier gönnte. Anomius warf Calandryll einen Blick zu und bedeutete ihm mit einer Geste, das Geld hervorzuholen. Calandryll zog einen Var aus der Tasche und warf ihn dem Fähr mann zu. »Hol deinen Partner«, befahl er und war selbst über seinen herrischen Tonfall verblüfft. »Er kann später wei tertrinken, und bei dieser Bezahlung auch etwas Besse res.« Der Kander biß in die Münze, beäugte die drei Reiter neugierig, zuckte dann die Achseln, packte sein Essen ein und machte sich ohne Eile auf den Weg zur nächsten Taverne. Sie stiegen aus den Sätteln, führten ihre Pferde auf die Fähre und warteten auf den Fährmann. Bracht schien sich in der Zwischenzeit wieder von Anomius' magi schem Anschlag erholt zu haben. Er starrte mit aus druckslosem Gesicht nach Norden, wo Nhurjabal wie
eine greifbare Bedrohung auf der Steilklippe thronte. Calandryll beobachtete ihn schweigend. Er spürte, daß hier irgend etwas vor sich ging, und fragte sich neugie rig, was der Kerner vorhatte. Anomius zappelte gereizt herum. Calandryll wußte nicht, ob vor Ungeduld oder Besorgnis. Dann tauchte der Kander in Begleitung eines zweiten Mannes wieder auf. Die beiden sprangen an Bord und begannen ohne ein weiteres Wort, die Winden zu drehen. Langsam strafften sich die schweren Kabel, und die Fäh re glitt vom Dock auf den Strom hinaus. Jetzt drehte sich auch Calandryll um und behielt die Stadt im Auge. Er wußte nicht, was ihn mehr beunruhigte: die Vorstellung, daß ihnen ein Reitertrupp entgegengaloppieren könnte, oder daß sie es mit Magie zu tun bekommen könnten. Die Fähre schwankte in der Strömung und riß an ihren Kabeln. Sie kam nur langsam voran. Das Plätschern der Wellen und das Quietschen der Winden klang eintönig und gleichmäßig und zog die Zeit der Überfahrt in die Länge. Noch schien das gegenüberliegende Ufer nicht näher gekommen zu sein, die Gebäude wirkten genauso klein wie zuvor. Es war, als würde die Fähre mitten auf dem Strom festhängen, gefangen in der Zeit, bis die He xer des Tyrannen von ihrer Anwesenheit erfuhren und Soldaten schickten oder sie mit magischen Mitteln angrif fen. Doch irgendwann rückten das andere Flußufer und die Gebäude dann doch allmählich näher, und die Fähre glitt quälend langsam aber beständig auf die Mole zu. Sie legte an, und ihre Passagiere führten die Pferde die Lan
derampe hinauf, die so tief im Wasser lag, daß kleine Wellen ihre Stiefel umspülten. Die schweigsamen Kander sahen ihnen hinterher. Der Ausläufer des Kharmrhanna, über den der Paß führte, war jetzt deutlicher zu erkennen. Die bewaldeten Hänge stiegen dunkelgrün unter der Sonne des frühen Nachmittags an, und der Einschnitt, den der Shemme in den Höhenzug gegraben hatte, zeichnete sich hell davor ab. Er war das Tor, das aus Kandahar hinausführte. A nomius machte Anstalten, in den Sattel zu steigen. »Können wir nicht vorher etwas essen?« fragte Bracht. Der Zauberer blickte den Kerner verärgert an. »Möch test du meine Macht noch einmal zu spüren bekom men?« »Ich würde gerne etwas essen«, erwiderte Bracht. »Wir haben einen langen Ritt vor uns, und mein Magen knurrt.« Anomius hob drohend die Hand, überlegte es sich dann aber anders und lächelte. »Später. Vielleicht, wenn wir den Paß erreicht haben.« Bracht sah zu dem Vorgebirge empor und zuckte die Achseln, ohne jedoch sein Pferd zu besteigen. »Vergiß nicht«, sagte Anomius mit geheuchelter Lie benswürdigkeit, »wenn du dich von mir entfernst, wirst du Schmerzen erleiden.« Er zog sich in den Sattel des Schimmels, stieß dem Pferd die Fersen in die Weichen und trabte durch das verschlafene Dorf.
Calandryll wandte sich Bracht zu. »Dera! Möchtest du, daß er wieder seine Magie gegen dich einsetzt? Willst du ihn absichtlich wütend machen?« »Ich habe seinen Befehlston satt.« Bracht grinste und schwang sich ohne weitere Erklärungen auf den Rücken seines Pferdes. Calandryll stieg ebenfalls auf und folgte ihm. Mittlerweile machte er sich ernsthafte Sorgen, fürch tete, Anomius' Hexereien könnten den Verstand des Kerners in Mitleidenschaft gezogen haben. Sie durchquerten das Dorf, ritten durch Ackerland und erhöhten das Tempo, als sich der Weg durch einge zäunte Felder wand. Das Gelände stieg beständig an. Schließlich ließ Anomius seinen Schimmel galoppieren, und Bracht trieb sein Pferd noch etwas schneller an, um zu dem schwarzgekleideten Mann aufzuschließen. »Langsamer«, beschwor er ihn, »du wirst dein Pferd überfordern.« Als wolle er seiner Forderung Nachdruck verleihen, zügelte er seinen Braunen, was den Hexer sofort zu ei nem wütenden Schnauben veranlaßte. »Ein erschöpftes Tier ist nutzlos!« rief der Kerner ihm hinterher. »Reite langsamer!« Statt einer Antwort drehte sich Anomius im Sattel um und streckte erneut die Hand aus. Calandryll wollte Bracht eine Warnung zurufen, aber die Worte waren ihm kaum über die Lippen gekommen, da fuhr der Söldner mit einem Ruck kerzengerade auf und konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten. Seine Lippen zogen sich zu
rück, seine Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander, seine plötzlich unkontrolliert zuckenden Arme ließen den Braunen tänzeln und eine Pirouette drehen. Als Anomius den Arm wieder sinken ließ, sackte Bracht im Sattel zusammen. Sein Pferd schüttelte den Kopf und schnaubte nervös. »Jetzt reicht es mir langsam!« schrie der Zauberer mit schriller Stimme. »Versuchst du, mich aufzuhalten? Möchtest du, daß ich dich mit noch mehr Zaubersprü chen belege?« Bracht schüttelte den Kopf, und Calandryll sah ihn wieder verstohlen lächeln. Vielleicht waren es aber auch nur die Schmerzen gewesen, die die Lippen des Söldners zu der Karikatur eines Lächelns verzerrt hatten. Sie ritten weiter. Der von hohen Bäumen gesäumte Weg war steiler geworden und wand sich zwischen Bergwiesen hindurch der Baumgrenze entgegen. Die kleine Straße lag im Schatten, nur hier und da fanden die Strahlen der Sonne einen Weg durch das Laub. »Müssen wir weiter hungern?« erkundigte sich Bracht irgendwann. »Du hast uns versprochen, wir würden Rast machen und etwas essen.« Und wieder schleuderte ihm Anomius seine Magie entgegen, schüttelte ihn in seinem Sattel durch, bis Bracht nachgab und stöhnend zustimmte, daß sie weiterritten. Calandrylls Sorge, die Attacken des Zauberers könn ten seinen Gefährten geistig verwirrt haben, wuchs, denn er konnte sehen, daß Bracht immer noch grinste. Ein
wölfischer Ausdruck lag auf dem Gesicht des Kerners, als würden ihm die Qualen eine heimliche Befriedigung bereiten. Dann brachten sie eine Kehre hinter sich und sahen, daß sie sich auf einem Felsvorsprung befanden, der über den Shemme ragte. Unter ihnen glitzerte der Fluß in der Sonne. Auf beiden Seiten war er von hohen schwarzen Felswänden umgeben. Der Gebirgsausläufer, den sie überquerten, bog nach Nordwesten ab und vereinigte sich dort, wo Nhurjabal auf der Steilklippe thronte, mit dem Kharmrhanna-Gebirge. Die Stadt wachte sowohl über dieses wie über das hinter ihnen liegende Tal. Von dem Felsvorsprung aus schlängelte sich der Weg in Spitzkehren über den baumlosen Nordhang wieder hin ab und auf eine Ansammlung von Häusern zu. Anomius kicherte leise vor sich hin und trieb sein Pferd an. Bracht hielt die Zügel fest, rührte sich nicht von der Stelle und rief: »Du solltest lieber vorsichtig sein, Magier!« Wieder ließ Anomius ihn seine magischen Kräfte spü ren, und wieder grinste der Kerner sein furchtbares Grin sen. Als sie das Flußufer erreichten, näherte sich die Sonne den Berggipfeln. Das Tal war bereits von Schatten erfüllt, aber noch war es hell. An den Ufern lagen mehrere Boo te. Anomius hielt direkt auf die Ankerplätze zu. Die Hufe seines Pferdes klapperten laut über das Kopfsteinpflaster der Straße.
Plötzlich tauchten drei Männer vor ihm auf. Der Zau berer riß heftig an den Zügeln und stieß einen Fluch aus. Der Schimmel zuckte zurück, und Anomius hielt sich nur mit Mühe im Sattel, brachte das Pferd zum Stehen und sprang ungewohnt behende zu Boden. Calandryll erstarrte. Er hörte Bracht lachen, warf ihm einen schnellen Blick zu und sah sein Gesicht vor Vor freude aufleuchten. Seine Lippen waren zu einem hämi schen Grinsen verzogen. Doch dann wurde Calandrylls Aufmerksamkeit nur noch von den drei Männern in Anspruch genommen, die Anomius gegenüberstanden. Zwei von ihnen waren hochgewachsen, der dritte klein. Alle trugen sie Roben in Schwarz und Silber, die mit kabbalistischen Zeichen übersät waren, und schwar ze, mit einem silbernen Stern verzierte Kopfbedeckun gen. Sie hatten keine Waffen und benötigten auch keine, denn als sie die Arme hoben, entstand vor ihnen ein funkelnder Lichtvorhang. Der Stein auf Calandrylls Brust pulsierte heiß, und plötzlich war die Luft von durchdrin gendem Mandelduft erfüllt. »Glaubst du, du könntest dich ungestraft dem Tyran nen widersetzen?« Calandryll hätte nicht sagen können, welcher der drei gesprochen hatte. Ihre Lippen bewegten sich synchron, und die Frage klang wie ein Donnergrollen. »Glaubst du, du könntest seiner Strafe entgehen?« »Glaubst du, du könntest an uns vorbeikommen?« Calandrylls Pferd begann zu tänzeln. Er fühlte, wie
sich Brachts Hand um seinen Arm schloß und ihn grob aus dem Sattel zerrte, während Anomius wütend auf schrie und sein eigenes Feuer dem Licht entgegenschleu derte, das aus den sechs ausgestreckten Händen hervor brach. Calandryll stolperte dem Söldner hinterher. Ein Feuerball blähte sich auf, wo das fahle Licht und das rote Feuer aufeinandertrafen. Die Pferde wieherten voller Panik und stoben davon. Ein scharfer Geruch nach Ver branntem lag in der Luft. Bracht stieß Calandryll in die Deckung übereinandergestapelter Ballen nahe dem Was ser. Calandryll hatte das Gefühl, die Hitze würde seine Lungen versengen. Gestank stieg ihm in die Nase, der Stein brannte heiß auf seiner Haut. Und dann brach plötzlich eine unnatürliche Nacht herein, senkte sich eine übelkeiterregende und nach Verwesung stinkende Dunkelheit über sie herab. Und in ihr bewegte sich etwas: bösartige sich windende und fauchende Gestalten mit nadelspitzen aufeinanderschla genden Fängen und glühenden roten Augen. Eine magische Wolkendecke verschluckte die Sonne, und nur das strahlend weiße Licht, das über den drei Magiern brannte, erhellte das Geschehen. Das Leuchten wurde immer greller, und aus ihm schälten sich Gestal ten heraus, die gegen die von Anomius heraufbeschwo renen Schattenbestien vorrückten und mit ihnen zusam menprallten. Die Luft hallte von ihrem unirdischen Ge schrei wider. Licht und Dunkelheit stießen aufeinander und fochten einen schrecklichen Kampf.
Calandryll spürte, wie Bracht seine Schulter umklam merte und ihn aus der Deckung der Ballen näher zum Wasser zerrte. Er hörte Anomius brüllen und hätte nicht sagen können, ob es Schmerz- oder Wutschreie waren. Dann schienen schwarze Fetzen vom Himmel zu reg nen und zischend auf das Kopfsteinpflaster zu fallen. Das Licht wurde heller, bis die Sonne wieder zu sehen war, orangerot und eben im Begriff, hinter den Bergen zu versinken. Calandryll sah die Zauberer des Tyrannen vor Ano mius stehen. Der größte von ihnen hatte die Hände auf die Seite gepreßt, als ob er verwundet wäre. Anomius stieß ein wildes Knurren aus. Sein pergamentartiges Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Plötzlich hob er beide Arme. Feuer schoß aus seinen Fingerspitzen hervor. Der ver letzte Mann schrie auf, wurde vom Feuer eingehüllt und so vollständig verzehrt, daß nur noch ein paar dunkle Ascheflocken zu Boden rieselten. Die beiden anderen Zauberer erwiderten den Angriff mit blendendem Licht, das den kleinen Mann mit der Knollennase durch den Hafen zurückweichen ließ. Nun befand er sich in der Verteidigungsposition und hielt das Licht mit einer Feuerwand von sich fern. Er schien innerhalb dieses Feuers zu wachsen und so groß und massig wie der von ihm erschaffene Golem zu wer den, eine gewaltige Bestie in Menschengestalt mit bren nenden Haaren und Händen, die weißglühendes Feuer
schleuderten. Und auch seine Kraft schien zu wachsen, denn jetzt waren es wieder die Hexer des Tyrannen, die stolpernd zurückwichen und sich mit Schutzzaubern gegen die Magie ihres Gegners umgaben, der weiter brüllend vorrückte. Wieder prallten Licht und Feuer aufeinander. Ca landryll sah die Ballen, hinter denen er Schutz gesucht hatte, in Flammen aufgehen. Funken stoben hoch in die Luft und setzten die Strohdächer der nächsten Gebäude in Brand. Er spürte, wie Bracht ihn zurückstieß, noch näher an den Fluß heran, sah, wie Anomius sich mit wutverzerrtem Gesicht zu ihm umdrehte und mit einer Hand auf ihn zielte. Feuer schoß aus seinen Fingern hervor, und Calandryll riß in einer instinktiven Abwehr geste die Hände hoch, ohne zu bemerken, daß er den roten Stein wie einen Schutztalisman umklammert hielt, der aber gegen die furchtbaren Kräfte des Zauberers nutzlos sein mußte. Er schrie auf, als sich das Feuer über ihn ergoß und hörte Anomius über den tosenden Lärm hinweg brüllen: »Ihr werdet mir nicht entkommen! Das Buch gehört mir, und ich werde es mir holen!« Calandrylls Lungen füllten sich mit Feuer, seine Ohren mit dem Fauchen der Flammen, seine Nase mit dem Gestank verschmorten Fleisches, von dem er wußte, daß es sein eigenes war. Der rote Stein brannte wie eine glü hende Kohle in seiner Hand. Er wußte, daß er starb, und er hieß die Dunkelheit, die
ihn umfing und gnädig von seinen Qualen erlöste, voller Dankbarkeit willkommen.
KAPITEL 14 Das war also der Tod, dieses sanfte Aufhören aller Schmerzen. Es erstaunte Calandryll, obwohl er nie allzu oft über den Tod nachgedacht hatte. Man würde in Frie den bei Dera leben, hatten die Priester gesagt, und das war dann meistens auch schon alles gewesen. Wenn man etwas nachhakte, hieß es, man würde eins mit der Göttin sein, ihr dienen und für alle Ewigkeit von ihrer Liebe umfangen werden, kein Leid und keine Not mehr ken nen, keine Bedürfnisse mehr empfinden und wunschlos glücklich sein. Die Aussagen waren stets vage gewesen, und jetzt hatte er den Eindruck, daß sich das Leben nach dem Tod gar nicht so sehr von seinem früheren unter schied. Über ihm erstreckte sich ein blauer Himmel, durch den weiße Wolken zogen, die wie ein Pferdeschweif aussahen, der im Wind flatterte. Er konnte diesen Wind warm über sein Gesicht streichen spüren und hatte das Gefühl, irgendwohin zu treiben, hörte in der Ferne ein Geräusch wie von fließendem Wasser, als würde er von einem substanzlosen Gefährt einem unbekannten Ziel entgegengetragen werden. Vielleicht, dachte er, war dies der Übergang, die Reise aus der Welt des Fleisches in die des Geistes, an deren Ende Dera auf ihn wartete.
Er atmete die Luft ein, die nicht anders als die roch, die er früher gekannt hatte, außer daß sie nicht mehr verbrannt stank. Calandryll seufzte. Im Augenblick war er damit zufrieden, zwischen den Welten zu reisen, und dankbar, daß die Qualen, die Anomius ihm mit seinem furchtbaren Feuer gebracht hatte, vorüber waren. Er hob eine Hand und sah, daß sie unversehrt war, obwohl er befürchtet hatte, verbranntes Fleisch und durch Magie geschwärzte Knochen vorzufinden. Dabei wurde ihm bewußt, daß er auf dem Rücken lag. Er setzte sich auf … und stieß einen Schrei aus, als er Bracht sagen hörte: »Also bist du endlich aufgewacht. Ich habe schon ge dacht, du würdest schlafen, bis wir das Meer erreichen.« Calandryll drehte sich um und erblickte seinen Ge fährten, der ein Stückchen über ihm saß und ihn anlä chelte. »Hat er dich auch erwischt?« fragte er mit weit aufgerissenen Augen. »Dann sind wir also beide tot.« Brachts Gelächter erstaunte ihn nicht weniger als die Ähnlichkeit des früheren Lebens mit dem nach dem Tod, und er runzelte verständnislos die Stirn. »Wir sind nicht tot«, sagte der Kerner. »Sieh dich um.« Langsam ließ Calandryll den Kopf herumwandern. Steile, zerklüftete Granitwände stiegen zu beiden Seiten empor. Auf Felsvorsprüngen, auf denen sich genügend Erde angesammelt hatte, wuchsen hohe Pinien, und zwischen diesen Felswänden floß ein Fluß dahin, der ziemlich groß war, wenn auch nicht so breit wie der Yst. Und dann erkannte Calandryll, daß sie in einem kleinen
Boot den Fluß hinuntertrieben. Er saß auf dem Boden, Bracht an der Ruderpinne. Er zog sich an der mittleren Ruderbank hoch und brachte das Boot dabei zum Schau keln. »Paß auf!« rief Bracht. »Ich habe keine Ahnung, wie man ein Boot steuert, und bei Ahrd, ich habe keine Lust zu ertrinken.« Calandryll starrte den Söldner an und blinzelte. Ihm kam der Gedanke, daß dies irgendeine von Anomius oder den Zauberern des Tyrannen erzeugte Illusion sein könnte, und er tauchte vorsichtig eine Hand ins Wasser. Es fühlte sich kalt und naß an, eben wie richtiges Wasser, soweit er es beurteilen konnte. Er führte die Hand an die Lippen, kostete das Wasser, spritzte es sich ins Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht umgekommen?« »Wir leben«, versicherte Bracht mit Nachdruck. Er lä chelte immer noch. »Wir fahren den Shemme nach Kha rasul hinunter – wenn alles gutgeht.« »Und Anomius?« keuchte Calandryll. »Und die Zau berer des Tyrannen?« »Sind zwei Nächte und einen Tag hinter uns«, sagte Bracht. »Falls sie überhaupt noch am Leben sind. Nach dem, was ich gesehen habe, könnten sie auch tot sein. Du hast die ganze Zeit über wie ein kleines Kind geschlafen. Ich hatte schon befürchtet, mein Plan wäre fehlgeschla gen, aber dann habe ich dich atmen gesehen.« »Plan?« murmelte Calandryll verwirrt. »Du hast einen
Plan gehabt?« Bracht nickte grinsend. »Und wie es scheint, hat er auch funktioniert. Jedenfalls habe ich noch keine Spur von Verfolgern entdeckt.« Nachdem Calandryll akzeptiert hatte, daß er noch am Leben war, erschien ihm alles, die Felswände, der Fluß und der Himmel, plötzlich wieder wirklich. »Erzähl mir davon«, bat er. Bracht lachte leise und zuckte die Achseln. Sein Ge sichtsausdruck wirkte gleichzeitig zufrieden und ein wenig verlegen. »Ich hätte dich früher eingeweiht«, sagte er, »wenn ich nicht befürchtet hätte, meinen Plan da durch zu gefährden.« Calandrylls Augen wurden schmal. »Du hast seinen Zorn mit voller Absicht erregt«, stellte er fest und be merkte, daß seine Stimme vorwurfsvoll klang. »Das stimmt«, gab Bracht zu. »Ich habe lange darüber nachgedacht, und es schien mir die einzige Möglichkeit zu sein, um endlich diesen verfluchten Zauberer loszu werden. Es war riskant, das ist mir klar, aber ich habe keine andere Möglichkeit gesehen.« »Erklär es mir«, forderte Calandryll. »Damals auf der Seetänzerin, als wir dem Kriegsboot begegnet sind, hast du behauptet, keine Ahnung zu ha ben, was passiert ist. Aber wir haben beide gesehen, wie die Frau mit dem Boot davongespült worden ist, als ob uns irgendeine Kraft zu Hilfe gekommen wäre, um uns – oder dich – zu beschützen. Nach dem Anschlag des
Chaipaku in Mherut'yi ist deine Verletzung geheilt, nachdem du den Stein umgelegt hattest. Und als wir von Sathoman gefangengehalten worden sind, hat Anomius gesagt, er könnte dich nicht mit seiner Magie beeinflus sen, weil der Stein dich schützt.« »Er hätte ihn mir abnehmen können«, warf Calandryll ein, schwieg aber, als Bracht die Hand hob und fortfuhr. »Aber das hat er nicht getan. Er hat ihn dir gelassen und dir deine Geschichte über das Zauberbrevier ge glaubt, obwohl er noch nie von einem solchen Buch ge hört hatte und anscheinend genauso belesen war wie du.« »Woher weißt du das?« fragte Calandryll erstaunt. »Als ich damals im Wald zum ersten Mal auf die Jagd gegangen bin«, erzählte Bracht grinsend, »habe ich den Hirsch sehr schnell erlegt. Ich wäre schon früher mit dem Fleisch zurückgekommen, aber dann habe ich euch reden gehört und beschlossen, euch zu belauschen – in Cuan na'For sind die Leute von Natur aus vorsichtig. Anomius hat über Bücher und Bibliotheken gesprochen und bestritten, daß irgendwo das Zauberbrevier erwähnt wird. Trotzdem hat er dir geglaubt, daß es existiert, und nie daran gedacht, dich genauer darüber auszufragen. Das ist mir merkwürdig vorgekommen. Zuerst habe ich gedacht, es wäre nur die Gier, die ihn gepackt hatte, sein Wunsch nach absoluter Macht, aber dann habe ich mich allmählich zu fragen begonnen, ob er nicht von dem Stein, den du trägst, beeinflußt worden ist. Erinnerst du
dich, daß ich von einem großen Plan gesprochen habe? Daß wir Kandahar in Begleitung des Zauberers wahr scheinlich schneller durchquert haben, als wir es ohne ihn geschafft hätten? Ich war mir zwar nicht sicher, ob wirklich irgendein großer Plan existierte, aber davon, daß dich der Stein mit einer Kraft erfüllt, die wir beide nicht verstehen, war ich überzeugt. Ein vorsichtigerer Mann als Anomius hätte nicht so überhastet gehandelt und es nicht riskiert, sich Nhurjabal so weit zu nähern, jedenfalls kein Mann, der wußte, daß es dort Hexer gibt, die ihm ebenbürtig sind und die – worauf Anomius selbst hingewiesen hat – die Anwesen heit von Magie spüren können. Wir hätten den Fluß auch ein Stückchen stromabwärts überqueren und über einen unbedeutenden Umweg zum Shemme gelangen können, aber ich hatte den Eindruck, als würde Anomius von seiner Gier übermannt werden und in seiner Hast sämtli che Vorsichtsmaßnahmen außer acht lassen. Da habe ich beschlossen, es zu versuchen. Indem ich seinen Zorn erregt habe, habe ich ihn dazu gebracht, Magie zu benutzen, die man in Nhurjabal spüren konnte. Als wir dann das Tal erreicht hatten, habe ich mir über legt, daß uns die Hexer des Tyrannen, von Anomius selbst angelockt, wahrscheinlich am Paß oder unten am Fluß erwarten würden.« Er schwieg einen Moment lang, sein Grinsen ver schwand, und er musterte Calandryll mit einem Ge sichtsausdruck, der beinahe schon verlegen wirkte.
»Der Rest war ein Risiko, von dem ich das Gefühl hat te, daß wir es eingehen mußten. Die Sache mit dem Kriegsboot und dem Chaipaku, die Tatsache, daß Ano mius dich nicht berühren konnte, das alles hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß der Stein immer dann, wenn dir Gefahr droht, irgendwelche Kräfte in dir frei setzt. Ich habe darauf vertraut, daß er dich schützen würde, und das hat er auch getan.« Calandryll glotzte ihn mit offenem Mund an. Er wußte nicht, ob er lachen oder dem Kerner dafür Vorwürfe machen sollte, daß er mit einer derartigen Gefahr gespielt hatte. Ihm wurde bewußt, daß Bracht noch nie so lange hintereinander gesprochen hatte, daß sein dunkel ge bräuntes Gesicht ihn ernst anblickte, als wolle er ihn um Verzeihung bitten, und daß er sich die Sache wohl lange und sehr genau überlegt haben mußte, um dann die seiner Meinung nach einzige Möglichkeit zu ergreifen, Anomius zu entkommen. »Und was ist dann passiert?« fragte Calandryll. »Du hast noch mitbekommen, wie Anomius und die Zauberer ihren magischen Kampf ausgefochten haben?« vergewisserte sich Bracht. Als Calandryll nickte, fuhr er fort: »Anomius hat sich verwandelt und ist wie einer der Dämonen geworden, die er in Kesham-vaj beschworen hat. Er hat damals gesagt, daß solche magischen An strengungen seine Kräfte erschöpfen würden. Ich habe mir überlegt, daß auch die Zauberer des Tyrannen diese Schwäche spüren müßten, und mich darauf verlassen.
Darauf und auf den Stein. Anomius hat die Hand nach dir ausgestreckt, und du bist von seinem Feuer eingehüllt worden. Ich habe gese hen, wie der Stein geglüht und das Glühen dich wie eine Muschel umgeben hat. Einen Moment lang habe ich schon geglaubt, wir müßten sterben, aber dann wußte ich, daß ich recht gehabt hatte und wir überleben wür den. Ich nehme an, daß ich nur deshalb ebenfalls ge schützt worden bin, weil ich dich festgehalten habe. Ich habe dich in das nächstbeste Boot geworfen und die Haltetaue durchgeschnitten. Wir sind davongetrieben, während die Zauberer gekämpft haben, und das letzte, was ich von ihnen gesehen habe, war Feuer im Himmel. Ich schätze, das ganze Dorf hat gebrannt.« Calandryll starrte seinen leichtsinnigen Gefährten fas sungslos an. Was hatte der Kerner gerade erst gesagt? In Cuan na'For sind die Leute von Natur aus vorsichtig. Er lächelte, als er Brachts angesengtes Haar sah. Das Leder hemd des Kerners hatte Risse bekommen, als wäre es großer Hitze ausgesetzt gewesen. »Du hast eine Menge riskiert«, sagte er. »Ich war si cher, ich würde sterben.« »Das hatte ich auch schon befürchtet«, erwiderte Bracht ernst, doch dann kehrte sein Grinsen zurück. »Aber dann habe ich dich atmen gesehen und keine Brandwunden entdeckt. Da wußte ich, daß du beschützt worden bist.« »Also hältst du mich jetzt für einen Magier?«
»Nein.« Bracht schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß du Kräfte besitzt, die du selbst nicht verstehst. Ich jeden falls verstehe sie nicht. Der Stein scheint sie freizusetzen, und er hat uns beiden das Leben gerettet. Deshalb habe ich meine Einstellung der Magie gegenüber geändert, soweit sie dich betrifft.« »Vielen Dank«, sagte Calandryll trocken. Bracht grinste. »Der Stein hat uns gute Dienste geleis tet, und wenn sich irgend etwas Magisches an uns heran schleichen sollte, wird er uns warnen. Gessyth ist höchstwahrscheinlich noch ungemütlicher als Kandahar, also könnte er uns auch dort sehr wohl wieder helfen.« Calandryll nickte, dann fragte er: »Du sagst, wir trei ben seit zwei Nächten und einem Tag diesen Fluß hinun ter?« »Aye«, bestätigte Bracht, »und das ohne etwas zu es sen. Das bißchen Proviant, das wir noch hatten, ist mit den Pferden zurückgeblieben. Unser Gepäck ebenfalls.« »Die Karte?« Calandryll spürte plötzlich wieder Angst in sich auf steigen. »Das Geld?« »Die Tasche ist da.« Bracht deutete auf den Boden des Bootes. Die Tasche hatte Calandryll als Kopfkissen ge dient. Der Kerner klopfte auf seinen Bauch. »Und Va rents Lohn trage ich auch noch bei mir. Außerdem haben wir noch unsere Kleidung und die Schwerter. Alles ande re ist verloren.« Das war ein geringer Preis dafür, Anomius entkom men zu sein. Calandryll tat den Verlust mit einem Ach
selzucken ab. »Was wir brauchen, können wir in Khara sul kaufen. Mit der Karte, dem Geld und dem Stein ha ben wir vorläufig genug.« »Abgesehen von etwas zu essen«, sagte Bracht. »Es war nicht einmal gelogen, als ich Anomius gesagt habe, ich hätte Hunger.« »Es gibt doch bestimmt Dörfer am Shemme.« »Gestern sind wir an einem vorbeigekommen«, bestä tigte Bracht, »aber ich habe keine Ahnung, wie man mit Booten oder Kähnen umgeht. Ich kann dieses Ding nicht anhalten.« Da begann Calandryll zu lachen, und sein Heiterkeits ausbruch ließ das Boot schwanken. Sie lebten und hatten Anomius abgehängt, und die Vorstellung, daß Bracht einen Tag und zwei Nächte lang am Ruder des kleinen Bootes zugebracht hatte und den Shemme hinabgetrie ben war, ohne zu wissen, wie man das Dinghi anhielt, erschien ihm plötzlich urkomisch. »Ich übernehme das Ruder«, sagte er. »Ich kenne mich ein bißchen aus mit Booten.« Bracht tauschte vorsichtig den Platz mit ihm, verkün dete, daß er erst einmal schlafen würde, und streckte sich auf dem Boden des Bootes aus. Calandryll setzte sich auf die Heckruderbank und sorgte dafür, daß ihr Gefährt auf Westkurs blieb. Ein Blick in den Himmel verriet ihm, daß es kurz vor Mittag war, und als die Sonne den Zenith überschritten hatte, entdeckte er eine kleine Siedlung am Ufer. Er steu
erte das kleine Boot an eine Steinmole und weckte Bracht. Sie fanden eine Taverne, wo sie frischen Fisch aus dem Fluß aßen, und besorgten sich anschließend genug Provi ant für die Weiterfahrt nach Kharasul. Weder in der Taverne noch sonst irgendwo im Ort hörten sie etwas über magische Vorfälle. Niemand hatte ein Boot des Tyrannen gesehen, das nach Flüchtlingen suchte, und sie kamen zu der Überzeugung, daß ihnen die Flucht geglückt war. Die Zauberer des Tyrannen schienen Anomius entweder getötet oder gefangenge nommen zu haben. Im letzteren Fall würde er höchst wahrscheinlich hingerichtet werden, ein Schicksal, daß Calandryll und Bracht nicht bedauerten. Sie bekamen keine in Schwarz und Silber gekleideten Magier mehr zu Gesicht. Vermutlich hielt man sie für tot, in der magi schen Schlacht ums Leben gekommen. Das konnte ihnen nur recht sein, und angenehm gesättigt machten sie sich guten Mutes an die Weiterfahrt. Nach einer Woche hatten sie Kharasul erreicht und betraten den nächsten Schauplatz auf ihrer gefahrvollen Reise. Die Stadt lag auf einer Landzunge zwischen den Mün dungen des Shemme im Süden und des Ty im Norden. Die letzten Ausläufer des Kharmrhanna endeten eine halbe Tagesreise weiter östlich. Das Land zwischen den Hügeln und dem Meer war flach. Der Fluß, den Ca landryll und Bracht hinuntergefahren waren, wurde
breiter und mündete in eine Bucht, in der ein buntes Gemisch verschiedener Schiffe lag. Handelsschiffe wie die Seetänzerin von Rahamman ek'Jemm ankerten neben Karavellen aus Lysse und schlan ken Kriegsbooten, wie sie die Kandpiraten bevorzugten. Fischerboote waren auf den Strand gezogen worden. Die Ankerplätze wimmelten von kleinen Booten, die dicht an ihnen vorbeiglitten, als Calandryll die letzte Strömung des Shemme ausnutzte, um das Dinghi an den langge streckten Steinkai treiben zu lassen. Die Luft war schwül und trug den Geruch des Dschungels mit sich, der Gash jenseits des Ty bedeckte. Die tief stehende Sonne ließ das Meer glänzen und tauch te Kharasul in Gold- und Orangetöne. Seemöwen zogen kreischend ihre Kreise über ihnen, als sie anlegten. Sie stiegen die vom Seetang schlüpfrigen Steinstufen auf den Kai hinauf, ließen eine Reihe von Lagerhäusern hinter sich und machten sich auf den Weg in die Stadtmitte. Kharasul war Secca nicht unähnlich. Die Hafenstadt schützte sich durch Stadtmauern gegen die gelegentli chen Raubzüge der merkwürdigen Dschungelbewohner, wirkte aber ein wenig schmuddelig und besaß anschei nend keine Stadtwache. Die Gebäude, die sich auf der Landzunge aneinanderdrängten, waren höher als die in Secca. Calandryll und Bracht erblickten ein paar Soldaten, von denen sie jedoch nicht aufgehalten wurden. Kharasul war kleiner als Secca, aber genauso geschäf
tig, und sie stellten schon bald fest, daß die Stadtviertel ähnlich angelegt waren. Die Anwesen des Adels, dessen sich Kharasul rühmen konnte, lagen im Osten, die Häu ser der Geschäftsleute dicht an der Bucht, dahinter die Tavernen und Kneipen. Die ärmeren Stadtviertel und die Garnison schmiegten sich an den Ty, und dazwischen, im Stadtzentrum, lag das Marktviertel. Kharasul war allerdings nicht so planvoll wie die Städ te Lysses entworfen. Die Straßen verliefen kreuz und quer in ständig wechselnden Richtungen. Schon bald fanden sich die Neuankömmlinge in einer schmalen Gasse zwischen hohen Häusern mit geschlossenen Fens terläden wieder, die bei Tageslicht wie harmlose Ge schäftsgebäude aussahen, jedoch irgendwie immer be drohlicher wirkten, je länger die Schatten wurden. Sie erinnerten sie daran, daß sie durch die Straßen ei ner ihnen unbekannten Stadt wanderten. Calandryll dachte an die vor Anker liegenden Kriegs boote und an die Chaipaku und legte instinktiv die Hand auf den Schwertgriff. Nach der frischen Luft auf dem Fluß ließen die schweren, süßlichen Gerüche, die vom Dschungel herüberkamen und aus den Rinnsteinen auf stiegen, seine Nase kribbeln. Hier unten im Süden ging die Sonne schnell unter, und fast übergangslos war es völlig dunkel. Sie kamen auf einem mit Palmen bewachsenen Platz heraus, der von einem niedrigen Gebäude mit einem hohen schlan ken Turm beherrscht wurde, aus dessen bunten Glasfens
tern Licht fiel. Calandryll erkannte das Gebäude als einen Burash tempel, zog Bracht zur Seite und drängte ihn in eine andere Richtung. »Ich dachte, du wolltest den Gott gnädig stimmen«, meinte der Kerner, aber Calandryll, der sich an Mediths Ausführungen erinnerte, schüttelte mit Nachdruck den Kopf. Schließlich gab es Vermutungen, daß die Bu rashpriester Agenten der Chaipaku wären. »Ich habe ihm bereits auf der Seetänzerin geopfert«, erwiderte er. »Das sollte genügen. Ich möchte keine un nötige Aufmerksamkeit erregen.« Bracht zuckte nur die Achseln. Sie verließen den Platz, und nachdem sie mehrere Gassen zwischen überhängen den Gebäuden hinter sich gebracht hatten, erreichten sie das Kneipenviertel. Sie fanden eine Gaststätte namens Der Schiffsjunge. Wie alle Gebäude in Kharasul war es ein hohes und schmales Haus. Der Speisesaal und die Küche nahmen das gesamte Erdgeschoß ein. Die restlichen Räume lagen in den oberen Stockwerken und waren nur über knar rende Treppen und schmale, an den Gebäudeaußenseiten entlanglaufende Gänge zu erreichen. Ihr Zimmer lag im dritten Stock. Es war nicht gerade groß, aber recht ge mütlich, mit zwei Betten, zwischen denen ein bißchen Platz war, einem Fenster und einer Kommode. Das Bade zimmer lag im ersten Stock. Das Wasser wurde von keu chenden Dienern herbeigeschafft.
Calandryll und Bracht badeten und begaben sich dann zum Abendessen in den Speisesaal. Calandryll entdeckte mehrere Lyssianer, die zwischen dunkelhäutigen Kandern und fast völlig schwarzen Leu ten mit riesigen gelblichen Augen und breiten Nasen saßen, die er für die Bewohner von Gash oder Mischlinge hielt, aber keiner seiner Landsleute schien ihn zu erken nen. Er bemerkte, daß alle Anwesenden gut bewaffnet waren. Nicht nur die Seeleute und Söldner, von denen man das ohnehin erwartete, sondern auch Händler und Kaufleute aßen mit ihren Schwertern an der Hüfte, und mehrfach sah er Dolche und Messer unter ihren Gewän dern aufschimmern. Er und Bracht fanden einen Tisch neben einem Pfeiler etwas abseits des Hauptraumes, und während sie aßen, lauschten sie den Gesprächen und bemühten sich, Neu igkeiten aufzuschnappen. Wie sie erfuhren, hatte Sathoman ek'Hennem Mherut'yi eingenommen und geschworen – genau wie es Anomius vorausgesagt hatte –, die gesamte Ostküste zu erobern. Der Liktor von Kharasul hatte zivile Handelsschiffe unter den Befehl der Flotte des Tyrannen gestellt, und eine Armee marschierte auf die Fayne zu, aber bisher waren noch keine Meldungen über einen Erfolg oder Mißerfolg eingetroffen. Es hieß, Secca und Aldarin wür den in den Werften von Eryn eine Kriegsflotte bauen lassen und hätten feierlich verkündet, die Handelsrouten
von den Freibeutern zu säubern, wozu ihnen der Tyrann seinen Segen gegeben hätte. Das rief lautes Gelächter unter den Kandern hervor. Die allgemeine Meinung war, daß der Tyrann den Kandpiraten ebenfalls seinen Segen gab, weil sie ihr Gold in Kandahar ausgaben und es so schließlich irgendwann in seinen Schatzkammern lande te. Ein lyssianischer Seemann gab lautstark sein Mißfallen über diese Haltung zum besten und äußerte sich abfällig über doppelzüngige Herrscher im besonderen und Kan der im allgemeinen, worauf man ihn mit einer gebroche nen Nase und einer häßlichen Stichwunde in der Seite aus dem Speisesaal schaffte, was – nachdem der Kampf vorbei war – niemanden sonderlich zu interessieren schien. Über Gessyth wurde kaum gesprochen, nur, daß es noch zu früh im Jahr wäre, um in diese Richtung zu segeln. Trotz der Gefahr, daß der Liktor ihre Schiffe kon fiszieren könnte, wollten die Kaufleute lieber die Som mermonate abwarten, in denen günstigere und regelmä ßigere Windströmungen vorherrschten. Das klang nicht gerade vielversprechend, was ihre Mission betraf. Eine unverzügliche Weiterreise schien ihnen ratsam, wenn sie Azumandias zuvorkommen wollten. Und sollte Anomius den Kampf doch irgendwie überlebt haben, würde er sich zweifellos sofort an ihre Fersen heften; entweder er oder die Zauberer des Tyran nen. Zudem ging Calandryll davon aus, daß es in Khara
sul Chaipaku gab, die es auf ihn abgesehen hatten – und auch auf Bracht, um sich an ihm für Mehemmeds Tod zu rächen. Sie leerten ihre Teller und eine Flasche Wein und zogen sich auf ihr Zimmer zurück, wo sie sich unbe lauscht über ihre weiteren Pläne unterhalten konnten. Es war warm in ihrem Zimmer. Allerdings herrschte nicht die trockene Hitze des Gaheens im Norden, der die Haut prickeln ließ, sondern eine schwüle, schwere, nach Dschungelvegetation riechende Luft erfüllte den Raum. Der kaum merkliche Wind, der von See her kam, brachte kaum Linderung. Calandryll und Bracht legten ihre Ledersachen ab und wischten sich den Schweiß von Brust und Gesicht. In Kharasul kehrte anscheinend keine Nachtruhe ein, von den Straßen drang Lärm zu ihnen herauf, und die Lichter der Kneipen und Gaststätten brannten hell. Calandryll blickte aus dem Fenster über den Ty auf den Dschungel, der merkwürdig phosphoreszierend schimmerte. Das Meer glitzerte im Licht des abnehmen den Mondes. »Morgen sollten wir uns sofort auf die Suche nach ei nem Schiff machen«, murmelte er. »Wenn wir überhaupt eins finden können«, erwiderte Bracht. Er streckte sich auf seinem Bett aus. »Nach dem, was wir gehört haben, bezweifle ich, daß ein Handels schiff nach Norden segelt.« »Die Kriegsboote müssen nicht auf günstige Winde warten«, stellte Calandryll fest. »Sie haben Ruderer.«
»Und gehören wahrscheinlich Piraten«, gab der Ker ner zu bedenken, »die bereit sind, uns die Kehlen durch zuschneiden, um an unser Geld zu kommen.« »Wir müssen eben vorsichtig sein«, räumte Calandryll ein. »Und schließlich haben wir unsere Schwerter, um uns zu verteidigen.« Bracht gab ein mürrisches Grunzen von sich. »Dann sollte ich mir am besten eine größere Menge von ek'Jemms Wundermittel besorgen. Wenn ich wieder see krank werde, ist mit mir nicht viel anzufangen.« Calandryll wandte sich vom Fenster ab und nickte. »Was bleibt uns sonst übrig?« fragte er und beantwortete seine Frage selbst, als Bracht nur die Schultern hob. »Wenn wir darauf warten, daß die Winde umschlagen, wird uns der eine oder der andere Magier zuvorkom men. Und wenn wir noch länger hier bleiben, könnten wir es wieder mit den Chaipaku zu tun bekommen.« »Das ist richtig«, stimmte ihm Bracht zu. »Dann also ein Kriegsboot, wenn uns keine andere Möglichkeit bleibt.« Sie beendeten ihr Gespräch und versuchten zu schla fen, so gut es die bald schweißgetränkten Laken, der Lärm der Nachtschwärmer und die seltsamen Schreie zuließen, die vom Dschungel herüberklangen. Gegen Sonnenaufgang kam ein leichter Wind auf und brachte ihnen ein wenig Erleichterung, die aber nur kurz währte, denn schon bald darauf machte sich wieder die drückende Hitze breit. Also begaben sie sich in den Spei
sesaal, nahmen ein Frühstück aus Brot, Früchten und Käse zu sich und machten sich dann auf den Weg zum Hafen. Sie sahen zwei Handelsschiffe mit geblähten Segeln die Bucht in südöstlicher Richtung verlassen, begleitet von drei Kriegsbooten, die die Flaggen des Tyrannen gesetzt hatten. »Die sind vom Tyrann' eingezogen worden. Die Leute sagen, im Norden herrscht Bürgerkrieg.« Calandryll und Bracht drehten sich um und erblickten einen grauhaarigen Mann mit einem Holzbein, der auf einem Poller saß und sie angrinste. Zwischen seinen bärtigen Lippen steckte eine Pfeife, aus der der schwache Geruch des berauschenden Tabaks drang, der bei den Kandern so beliebt war. Er nickte ihnen freundlich zu, zog die Pfeife aus dem Mund und klopfte die Tabakreste heraus. »Wie es scheint, marschiert Sathoman ek'Hennem auf Mhazomul, und der Tyrann will die dortige Garnison verstärken. Schlechte Nachrichten für die Kaufleute. Auf einmal werden ihre Schiffe zum Nachschub und Trup pentransport eingezogen, und sie kriegen kaum eine Entschädigung für ihre Verluste.« »Was verlieren sie denn?« wollte Calandryll wissen. »Sie werden ihre Fracht doch bestimmt vorher wieder ausladen und ihr Geld zurückbekommen, oder?« »Klar«, bestätigte der alte Mann, »aber die Kapitäne, die so früh Cape Vishat'yi umsegeln, ankern hier so lan
ge, bis die Winde drehen, und kehren dann mit Drachen häuten beladen zurück. Jetzt segeln sie leer, zumindest bis Ghombalar, und was der Tyrann ihnen dafür bezahlt, ist ein dürftiger Ausgleich für leere Frachträume.« »Und wann werden die Winde drehen?« erkundigte sich Calandryll beiläufig. Der alte Mann schnupperte in der Luft, als könne er den Wind riechen. »Dauert mindestens noch 'nen Monat. Vielleicht auch länger.« »Und vorher segelt kein Schiff weiter nach Norden?« »Nicht gegen die Sumpfwinde«, versicherte der Alte und stopfte frischen Tabak in seine Pfeife. Calandryll betrachtete die schlanken Rümpfe der Kriegsboote, die in der Gezeitenströmung schaukelten. »Die können dem Wind doch bestimmt trotzen«, meinte er. Der alte Mann setzte seine Pfeife in Brand und sog ein paarmal kräftig daran, bevor er antwortete. »Stammt Ihr aus Lysse?« Als Calandryll nickte, fuhr er fort: »Die meisten dieser Seewölfe segeln unter der Flag ge des Tyrannen. Sie sind hier, um den Handelsschiffen entlang der Küste Geleitschutz zu geben. Und um die widerspenstigen Kapitäne an ihre Pflicht zu erinnern. Die anderen sind Freibeuter. In Gessyth gibt es nichts für sie zu holen. Außerdem würde kein Mann, der noch bei Verstand ist, freiwillig in diese götterverlassene Gegend reisen. Seht Ihr das?« Er klopfte gegen sein Holzbein. »Das hab' ich 'nem Drachen zu verdanken. Ich bin mit
Johannen ek'Leman auf der Windstolz gesegelt. Die Lade räume voll mit Häuten, hat er uns versprochen, und 'nen Anteil davon für jedes Mitglied der Mannschaft. Ich hab' mit meinem Bein für mein' Anteil bezahlt! Ein burash verdammter Drache hat sich auf unser Langboot gestürzt und sieben von uns ins Wasser geschleudert. Vier von uns sind gestorben, und das verfluchte Biest hat mir das Bein abgerissen, bevor Johannen es verjagen konnte.« Er schüttelte den Kopf, inhalierte tief und beruhigte sich wieder, als die berauschende Wirkung des Tabaks einsetzte. »Nein, kein Mann, der bei Sinnen ist, würde freiwillig nach Gessyth segeln. Es sei denn, der Profit ist von Anfang an garantiert.« »Angenommen«, sagte Calandryll, »es gäbe eine Be lohnung dafür?« »Ihr wollt ein Boot mieten, um in diese Hölle zu fah ren? Wieso?« Calandryll lächelte und zuckte die Achseln, ohne et was darauf zu erwidern. Der alte Mann spuckte aus und starrte ihn an, als würde er an seinem Verstand zweifeln. »Ihr werdet niemanden finden, der Euch nach Gessyth bringt«, versicherte er feierlich. Sein wettergegerbtes Gesicht war ernst. »Und wenn Ihr die Summe bietet, die ein Seeräuber dafür verlangen würde, werdet Ihr ein Messer zwischen die Rippen bekommen und Euer Geld verlieren. Ihr wollt wirklich nach Gessyth segeln? Dann wartet, bis die Win de drehen, und nehmt ein Handelsschiff – falls dann
überhaupt noch welche da sind.« »Wie es aussieht, werden dann keine mehr da sein«, vermutete Calandryll. »Wahrscheinlich nicht«, sagte der alte Mann liebens würdig, »und deshalb werdet Ihr wahrscheinlich auch länger leben.« Calandryll lächelte verkniffen. Die Worte des einbei nigen Mannes bestätigten Brachts Befürchtungen, aber Gessyth war und blieb ihr Ziel, und irgendwie mußten sie an eine Überfahrt kommen, wie groß die Gefahr auch sein mochte. Er nickte dem Mann zum Abschied zu, und als er und Bracht davongingen, rief ihm der Alte hinter her: »Ihr werdet nichts in Gessyth finden außer den Tod, wenn Ihr es doch versucht!« »Nicht gerade eine erfreuliche Prophezeiung«, be merkte Bracht. »Wir haben keine andere Wahl«, erwiderte Calandryll. »Nein«, gab der Kerner zu. Schweigend gingen sie den Kai entlang und musterten die Schiffe, die in der Bucht vor Anker lagen. Jetzt wurde die allgegenwärtige Präsenz der Soldaten des Tyrannen auffälliger. Gruppen von Männern in Rüstun gen, die den scharlachroten Hals- und Nackenschutz an ihren Helmen trugen, standen am Ufer herum. Ihre Offi ziere redeten – manchmal recht hitzig – auf Kapitäne ein,
die gegen die Beschlagnahmung ihrer Schiffe protestier ten oder sich resigniert damit abfanden. Auf jedes Schiff wurde ein Trupp Bogenschützen geschickt, und je weiter der Tag voranschritt, desto deutlicher wurde Calandryll und Bracht klar, daß es schwer werden würde, eine Mit fahrgelegenheit zu finden. Gegen Mittag gingen sie in eine Taverne, besprachen die Situation und kamen zu dem Schluß, daß es das beste sein würde, den Rest des Tages damit zu verbringen, einen Freibeuter zu suchen, der bereit war, die Reise zu unternehmen. Der Vorsatz war leichter getroffen, als in die Tat um gesetzt. Die Kriegsboote, die nicht die Flagge des Tyran nen trugen, waren unbemannt, und auf ihre Fragen, wo sich die Eigentümer aufhielten, begegnete man ihnen mit Ausflüchten oder gab ihnen überhaupt keine Antwort. Als die Dämmerung hereinbrach, waren sie kaum ei nen Schritt weitergekommen und hatten lediglich erfah ren, daß sie – wenn überhaupt – in den Kneipen des Bettlerviertels einen Kapitän finden würden, der viel leicht bereit wäre, sich ihren Vorschlag anzuhören. Sie nahmen ihr Abendessen im Schiffsjungen ein und wechselten ihre verschwitzten Hemden, bevor sie sich wieder auf ihre mühevolle Suche machten. Das Viertel, in das man sie schickte, lag im äußersten Westen Kharasuls, als hätte man es aus der Stadt ausge stoßen, ein Labyrinth aus schmalen Gassen und kleinen Plätzen, in dem es nach billigem Schnaps und überquel
lenden Rinnsteinen stank. Trotz der Menschenmengen, die sich in den Straßen drängte, huschten Ratten in dem überall herumliegenden Unrat herum. Die Tavernen waren verqualmt, auf den Fußböden standen Lachen verschütteter Getränke. Die Männer an den Tischen hat ten harte, verschlossene Gesichter, und die Frauen stan den ihnen darin in nichts nach. Calandryll wurde sich bewußt, daß er die linke Hand auf die Schwertscheide und die rechte auf den Griff gelegt hatte, bereit, die Waf fe sofort zu ziehen, und er sah, daß sich Bracht genauso verhielt und sich ständig wachsam umblickte. In drei Kneipen ernteten sie mit ihren Fragen brüllen des Gelächter und die Aufforderung, keine vernünftigen Leute mit diesem Unsinn zu belästigen, sondern sich lieber einen Kapitän zu suchen, der verrückt genug wäre, um eine solche Reise zu unternehmen. In einigen ande ren Kneipen bedachte man sie mit mitleidigen Blicken, aus denen der Zweifel an ihrem Verstand sprach. In einer Kaschemme versprach ihnen ein Mann, daß er sie nach Gessyth bringen würde; sie brauchten ihm nur ein Boot zu kaufen, und in der nächsten riet ihnen der Wirt zu verschwinden, da er befürchtete, man könne ihnen die Kehlen durchschneiden. Gegen Mitternacht fanden sie sich auf einem etwas ruhigeren Platz wieder, der auf einer Seite von der Stadtmauer und auf den drei anderen von Häuserwän den begrenzt und vom abnehmenden Mond in blasses Licht getaucht wurde. Sie betraten die erstbeste Kneipe und bestellten Bier. Mittlerweile hatten sie die Erfahrung
gemacht, daß es besser war, sich still zu verhalten und zu warten, bis sie jemanden entdeckten, bei dem sich ein Versuch überhaupt lohnte. Die Zecher schienen sich in nichts von denen in den anderen Kneipen zu unterscheiden. Sie trugen Schwerter und machten den Eindruck, als würden sie ihre Waffen auch schon bei der geringsten Provokation benutzen. Dunkelhäutige Gesichter musterten die beiden Fremden mit verhaltener Neugier oder offener Feindseligkeit, als ob allein schon die Anwesenheit zweier Männer, die offensichtlich keine Landsleute waren, ein ausreichender Grund für einen Streit wäre. Calandryll war sich sicher, daß er längst schon um sein Leben hätte kämpfen müssen, wäre Bracht nicht bei ihm gewesen, denn es hielten sich keine anderen Lyssia ner in diesem Viertel auf, und er unterschied sich in seinem Aussehen deutlich von den dunkelhäutigen Be wohnern des Bettlerviertels. Er nippte nur an seinem dunklen Bier, weil sein Bauch bereits prall damit gefüllt war. Verkniffen spähte er durch den dichten Qualm. Die berauschenden Rauchschwaden, die durch die übelrie chende Luft trieben, drohten ihn schwindlig zu machen. Doch als sich ein Mann in ihre Nähe schob, richtete er sich rasch an seinem Platz an der Theke gerade auf und bemerkte, daß auch Bracht den Bierkrug abstellte und sich seine Hand wie zufällig auf den Griff seines Krummschwertes senkte. Der Mann war klein und dünn. Er hatte sich ein dun
kelgrünes Seidentuch um den Kopf geschlungen und trug eine weite Tunika von gleicher Farbe, die von einem Gürtel zusammengehalten wurde, in dem ein Krumm dolch und ein Kurzschwert steckten. Eine blasse bläuli che Narbe zog sich von der Schläfe quer über die Wange bis zum Kinn, wo sie unter seinem Bart verschwand. Das vernarbte Gewebe ließ sein Auge ein wenig schief ausse hen. Er entblößte lächelnd eine Reihe bräunlicher Zähne und nickte ihnen einen Gruß zu. Calandryll rechnete damit, daß der Mann ihnen einige recht exotische Vergnügungen anpreisen würde, die ihnen diese Kneipe nicht bieten konnte, so wie sie es schon mehrmals an diesem Abend erlebt hatten, aber statt dessen sagte der Kander mit heiserer Stimme: »Ihr sucht eine Überfahrt nach Gessyth.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ca landryll bemühte sich, seine Erwiderung betont gleich gültig klingen zu lassen. »Habt Ihr eine anzubieten?« Der Mann winkte ihn näher zu sich heran, und als sich Calandryll vorbeugte, schlug ihm ein Schwall nach scha lem Wein riechender Atem entgegen. »Das ließe sich einrichten.« Die Augen des Mannes wanderten leicht schielend durch den Schankraum. »Für einen Preis, über den wir uns am besten woanders unter halten sollten.« Bracht baute sich auf der anderen Seite des Mannes auf. »Und warum nicht hier?« wollte wissen.
Das Mann schloß kurz das verzerrte Auge zu einem grotesken Zwinkern, und sein Lächeln wurde breiter. »Zu viele Ohren, zu gierige Ohren. Der Preis ist ziem lich hoch, und sollten die hier…«, er machte eine weit ausholende Handbewegung, die die gesamte überfüllte Kneipe umfaßte, »… erfahren, daß Ihr Gold besitzt…« Er hob vielsagend die Schultern. Bracht warf Calandryll einen kurzen Blick zu und hob fragend die Augenbrauen. Calandryll nickte knapp. »Sie könnten versuchen, es uns abzunehmen«, meinte Bracht an den Mann gewandt. »Genau wie Ihr, sollten wir Euch in irgendeine dunkle Gasse folgen, wo bereits ein paar Diebe auf uns lauern.« »Aber meine Herren!« Ein Ausdruck verletzten Stolzes huschte über das narbige Gesicht. »Ich bin ein ehrlicher Mann. Ich bin Euch nur hierher gefolgt, um Euch das anzubieten, wonach Ihr sucht, denn ich habe gehört, wie Ihr Euch anderswo danach erkundigt habt. Wenn Ihr mich für einen gewöhnlichen Dieb haltet, sollte ich Euch besser allein lassen.« Er machte Anstalten zu gehen, doch Bracht hielt ihn an der Schulter fest. »Wo sollen wir uns unterhalten?« fragte er. Der Kander blickte zu dem größeren Kerner auf, ließ den Blick zu Calandryll hinüberwandern und lächelte wieder. »Es gibt da eine Taverne namens Der Pfau«, sagte er leise. »In der Nähe des Hafens. Wenn Ihr wirklich ein Schiff sucht, das Euch nach Gessyth bringt, werde ich
Euch morgen mittag dort erwarten.« »Ehrliche Geschäfte macht man am besten bei Tages licht«, erwiderte Bracht. »Und außerdem mit Männern, deren Namen man kennt.« »Ich heiße Xanthese«, sagte der Mann. »Fragt im Pfau nach mir, und Ihr werdet ein Schiff bekommen.« »Am Mittag«, bestätigte Bracht. »Und, meine Herren«, fügte Xanthese hinzu, »ich rate Euch, von hier zu verschwinden. Eure Erkundigungen haben einiges … Interesse erregt, und es könnte passie ren, daß weniger ehrliche Leute als ich versuchen, Euch um Euer Geld zu erleichtern. Seid vorsichtig, meine Her ren!« Er berührte seine Stirn mit der Hand, tauchte so leicht füßig wie eine huschende Ratte in der Menge unter und war durch die Tür geschlüpft, bevor Bracht oder Ca landryll ihn aufhalten konnten. Calandryll sah seinen Gefährten fragend an. »Können wir ihm trauen?« »Ich glaube, es ist am klügsten, niemandem zu trau en«, erwiderte Bracht. »Allerdings hat er uns einen ver nünftigen Rat gegeben. Laß uns von hier verschwinden und auf dem Rückweg die Augen offenhalten.« »Aber sollen wir uns morgen mit ihm treffen?« fragte Calandryll. »Schließlich hat er uns ein Schiff in Aussicht gestellt und nicht versucht, uns in eine dunkle Gasse zu locken.«
»Es scheint unsere einzige Chance zu sein«, bestätigte Bracht. »Wir sollten diese Taverne morgen mittag aufsu chen und uns anhören, was er uns zu sagen hat.« Sie leerten ihre Krüge und schoben sich durch die Menschenmenge zur Tür. Niemand folgte ihnen, als sie den Platz überquerten und eine schmale Gasse betraten. Die Häuserwände ragten zu beiden Seiten so hoch auf, daß vom Himmel über ihnen nur ein schmales Band zu sehen war und die Gasse selbst im Dunkeln lag. Sie war so schmal, daß sich ihre Schultern berührten, als sie ne beneinander durch die Finsternis gingen, die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter gelegt, und auf die verräteri schen Schritte eventueller Verfolger lauschten. Die Gasse mündete in eine breitere Straße, wo ihnen schlampig aussehende Frauen von Balkonen aus eindeu tige Angebote zuriefen und Scharen von Zechern aus Kneipen hervorquollen, aber niemand trat ihnen in den Weg, um sie aufzuhalten, und soweit Calandryll es beur teilen konnte, wurden sie auch nicht verfolgt. Als sie im Schiffsjungen angekommen waren, wartete der Inhaber bereits mit einer Nachricht auf sie. Eine Frau, die einen blonden jungen Mann aus Lysse und einen dunkelhaarigen Söldner aus Kern suchte, hatte nach ihnen gefragt. »War es eine blonde Frau?« erkundigte sich Bracht scharf. »Mit Haar wie geschmolzenes Gold und Augen so grau wie ein sturmgepeitschter Himmel?« Es überraschte Calandryll, daß sich sein Gefährte so
genau an die Frau auf dem Kriegsboot erinnerte, aber die blumige Beschreibung überraschte ihn mindestens ge nauso. Der Besitzer des Schiffsjungen nickte eifrig. »Eine wah re Schönheit. Aber mit einem Temperament wie ein Marktweib. Ich habe ihr gesagt, daß die Gäste des Schiffs jungen Wert darauf legen, nicht belästigt zu werden, und sie hat mich ziemlich unfreundlich abgefertigt.« Er grins te und kratzte sich am Kinn. »Ich habe noch nie eine Frau wie sie gesehen – habe sie für eine Kriegerin aus Lysse oder Kern gehalten. Von mir hat sie nichts erfahren.« »Gut«, sagte Bracht. »War sie allein oder in Beglei tung?« »Sie war allein«, erwiderte der Besitzer des Schiffsjun gen und lachte. »Sie brauchte keine Begleiter. Die nicht! Zarian – das ist ein Fischer – hat mal wieder getrunken und sie eingeladen, ihm Gesellschaft zu leisten. Er hält sich für einen unwiderstehlichen Weiberheld. Sie wollte nichts von ihm wissen, aber er hat darauf bestanden. Da hat sie ihm seine Männlichkeit genommen.« Calandryll stieß ein Keuchen aus, worauf der Mann wieder lachte und den Kopf schüttelte. »Oh, nein, sie hat ihm nichts abgeschnitten.« Er hob demonstrativ das Knie. »Hat ihm nur für eine Weile sein Lieblingsspielzeug lahmgelegt. Aber so, wie sie ausgesehen hat, zweifle ich nicht daran, daß sie auch mit ihrem Schwert umgehen kann.« »Hat sie sonst noch irgend etwas gesagt?« hakte
Bracht nach. Der andere schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte nur wissen, ob ich Euch gesehen hätte.« »Und Ihr habt das bestritten«, vergewisserte sich Bracht noch einmal. »Genau«, bestätigte der Wirt. »Hier in Kharasul küm mern wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten. Oder hätte ich es ihr sagen sollen?« »Nein«, sagte Bracht. »Und sollte sie wiederkommen, dann bleibt dabei, daß Ihr uns nicht gesehen habt.« »Ihr könnt Euch auf mich verlassen«, versprach der Besitzer des Schiffsjungen. »Wir danken Euch«, sagte Bracht lächelnd und winkte Calandryll, ihm zu folgen. Sie zogen sich in ihr Zimmer zurück und verriegelten die Tür. Calandryll spähte zum Fenster heraus, aber wenn das Gasthaus beobachtet wurde, konnte er jeden falls nichts davon bemerken. Er drehte sich wieder um und sah Bracht an. Der Kerner zog sich die Stiefel aus. Sein Gesicht wirkte nachdenklich. »Also ist uns die Frau schon wieder dicht auf den Fer sen. Wir sollten uns das Schiff besorgen, das uns dieser Xanthese versprochen hat, und so schnell wie möglich aus Kharasul verschwinden.« »Ich war mir sicher, wir hätten sie nach diesem magi schen Sturm abgehängt«, murmelte Calandryll. »Wer ist
sie nur? Ob sie für Azumandias arbeitet?« Bracht zuckte die Achseln. »Ob für Azumandias oder für sich selbst, was für eine Rolle spielt das schon? Sie ist ein weiterer Bluthund, der uns nachstellt.« »Ein Bluthund mit einem Kriegsboot«, sagte Ca landryll düster. »Dann sollten wir hoffen, daß Xantheses Schiff schnel ler ist«, meinte Bracht, streckte sich auf seinem Bett aus und verschränkte die Hände im Nacken. Ein verträumtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Aber sie war wunderschön, nicht wahr?« Calandryll starrte ihn mit gerunzelter Stirn an, als er die aufrichtige Bewunderung aus Brachts Stimme her aushörte. »Du hörst dich an, als hättest du dich in sie verliebt«, sagte er vorwurfsvoll. »Sie hat mich … beeindruckt«, gestand Bracht, ohne auf Calandrylls anklagenden Tonfall einzugehen. »Es gibt eine Menge Kriegerinnen in Cuan na'For, aber ich habe noch nie eine wie sie gesehen. Und sie ist keine Clansfrau.« »Sie stammt auch nicht aus Lysse«, sagte Calandryll, »und auf keinen Fall aus Kandahar. Könnte sie eine Jes seryterin sein?« »Die Jesseryter sind klein, dunkel und häßlich«, be hauptete Bracht. »Ich weiß nicht, woher sie kommt.« »Vielleicht aus dem Land hinter dem Borrhun-maj«, schlug Calandryll vor. Er fühlte sich durch Brachts Ton fall etwas verunsichert. Es schien fast, als sehnte sich der
Kerner danach, die Frau zu treffen. »Vielleicht aus Va nu.« »Dann wäre sie eine Göttin«, erwiderte Bracht. Er lach te. »Zumindest sieht sie wie eine Göttin aus.« »Vor wenigen Augenblicken war sie noch ein Blut hund. Du hast sie ziemlich schnell befördert.« Calandryll warf gereizt seine Stiefel in die Ecke und lehnte das Schwert neben das Bett. Bracht schmunzelte und grinste ihn an. »Ich habe nur eine Tatsache festgestellt. Sollte sie versuchen, uns Hin dernisse in den Weg zu legen, werde ich mit ihr kämp fen, wie ich mit einem Mann kämpfen würde. Aber ich gestehe, daß sie mich neugierig gemacht hat. Und du mußt zugeben, daß sie um einiges schöner als die ande ren ist, die bisher versucht haben, uns aufzuhalten.« Das war unbestreitbar. Calandryll dachte an Anomius' unansehnliches Gesicht und nickte. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »In diesem Punkt gebe ich dir recht.« »Also sind wir einer Meinung«, stellte Bracht fest. »Und morgen mittag, werden wir versuchen, das Schiff zu finden, von dem Xanthese gesprochen hat, und – wenn unsere Götter es wollen – diese Frau hier zurück lassen.« Kurz darauf legten sie sich mit den Schwertern in Griffweite schlafen. Sie wußten beide, daß ihr Schlaf nur leicht sein würde, denn die Dinge spitzten sich zu, und mit jeder Stunde, die sie in Kharasul blieben, wuchs die Gefahr.
Es war stickig in ihrem Zimmer, die Luft war von den Gerüchen erfüllt, die vom Dschungel herüberwehten und aus den Straßen aufstiegen. Die Fensterläden schlossen nicht dicht genug, um alle Nachtinsekten fernzuhalten. Eine beachtliche Menge schlüpfte durch die Ritzen, schwirrte summend um Calandrylls Kopf herum und hielt ihn noch lange wach. Im Halbschlaf ließ er die Er eignisse der vergangenen Tage noch einmal Revue pas sieren, versetzte sich in Gedanken auf den kleinen Kahn zurück, mit dem sie den Shemme hinabgetrieben waren, dann noch weiter zurück auf die Seetänzerin, und als er in den Schlaf hinüberdämmerte, erschien vor seinem inne ren Auge wieder das Gesicht der geheimnisvollen Frau. Sie war wunderschön, aber gleichzeitig war sie ein Hin dernis, eine weitere Spielerin in diesem welterschüttern den Spiel. Und noch im Traum fühlte er sich hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für ihre Schönheit und Bedauern, daß sie nicht in dem Wirbel ertrunken war, der ihr Boot davongeschleudert hatte. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er von dem vielen Bier und den berauschenden Dämpfen, die er eingeatmet hatte, einen dicken Kopf, und durch den ungenügenden Schlaf waren seine Augen verquollen. Bracht, der mehr Übung darin hatte, sich die Nacht in Kneipen um die Ohren zu schlagen und nur wenig zu schlafen, war sowohl in besserer körperlicher Verfassung als auch besserer Laune und schlug vor, daß sie ein Bad nehmen sollten, bevor sie frühstückten. Auf Anraten des
Wirtes nahm Calandryll eine Haferschleimsuppe zu sich und trank Wasser, worauf er sich etwas besser fühlte, und nachdem sie gegessen hatten, saßen sie müßig in dem Gasthaus herum und warteten darauf, daß es Mittag wurde und sie sich mit dem geheimnisvollen Xanthese treffen konnten. »Wenn er vorhätte, uns zu betrügen, hätte er es be stimmt nicht so eingerichtet, daß unser Treffen bei Tag stattfindet«, vermutete Calandryll. »Wahrscheinlich nicht«, sagte Bracht und spielte mit einem Becher Wein. »Vielleicht versucht er aber auch nur, auf diese Weise unser Mißtrauen zu zerstreuen.« »Vertraust du eigentlich niemandem?« erkundigte sich Calandryll. Der Kerner grinste gutgelaunt, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nur wenigen. Sehr wenigen.« Calandryll wollte gerade auf Varent zu sprechen kommen, aber als er den roten Stein auf seiner Brust berührte und die kühle glatte Oberfläche unter seinen Fingern spürte, erinnerte er sich an ihre stillschweigende Übereinkunft und hielt den Mund. Statt dessen fragte er: »Sollen wir uns langsam auf den Weg machen?« Bracht blickte zum Fenster hinaus, schätzte den Stand der Sonne ab und sagte: »Mittag ist erst in einer Stunde, aber aye, gehen wir zu dieser Taverne und sondieren wir das Terrain.« Der Pfau lag nur ein paar Straßen entfernt in einer
Gasse, die das Kneipenviertel mit dem Hafen verband. Die Taverne machte einen recht ordentlichen Eindruck, der Fußboden war mit frischem Sägemehl bestreut, und die Krüge hinter dem Tresen waren sauber. Die Kund schaft bestand aus Matrosen, Händlern und Soldaten, und der Anblick der letzteren wirkte beruhigend, denn solange Soldaten anwesend waren, würde wohl niemand versuchen, Bracht und Calandryll in eine Falle zu locken. Sie fanden einen freien Tisch an der rückseitigen Wand, von wo aus sie die Tür im Auge behalten konnten, und bestellten Wein. Als die Hafenglocke die Mittagsstunde schlug, betrat Xanthese die Taverne. Er blieb kurz stehen, sah sich mit zusammengekniffe nen Augen um, entdeckte sie und durchquerte den Schankraum. »Guten Tag, verehrte Herren«, begrüßte er sie, nahm ihnen gegenüber Platz und bedankte sich mit einem Lächeln, als der Wirt ein drittes Glas brachte und Ca landryll ihm Wein einschenkte. »Auf Euer Wohl und auf den Erfolg Eurer Unternehmungen – wie immer die auch aussehen mögen.« »Habt Ihr Neuigkeiten für uns?« fragte Bracht. Der narbengesichtige Mann blinzelte, trank einen großzügigen Schluck und schmatzte mit den Lippen, bevor er antwortete. »Allerdings, meine Herren, und zwar gute. Ein Kapi tän aus meinem Bekanntenkreis – ein zuverlässiger Mann – ist bereit, Euch für einen angemessenen Preis nach
Norden zu bringen.« »Wieviel?« wollte Bracht wissen. »Ah, meine Herren, da wäre zuerst noch die Frage ei nes kleinen Vermittlungshonorars für mich zu klären.« Xanthese lächelte entschuldigend. »Das ist bei solchen Geschäften üblich.« »Wieviel?« wiederholte Bracht. »Zehn Varre.« Bracht warf Calandryll einen kurzen Blick zu und nickte knapp. Calandryll holte die Münzen aus seiner Umhängetasche und schob sie über den Tisch. »Ich danke Euch, werte Herren«, sagte Xanthese und ließ das Geld unter seiner Tunika verschwinden. »Was den Kapitän angeht, er verlangt fünfhundert. Dafür ver spricht er, Euch nach Gessyth und wieder zurückzubrin gen.« »Er würde auf uns warten?« fragte Bracht mißtrauisch. Xanthese nickte eifrig. »Wenn er hierbleibt…« Er senk te die Stimme und beobachtete verstohlen die Soldaten mit dem scharlachroten Nackenschutz. »Irgendwann würde sein Schiff für sehr viel weniger Geld beschlag nahmt werden, ohne daß er etwas dagegen unternehmen könnte. Außerdem könnte ihm alles mögliche zustoßen, falls der Lord der Fayne auf die Idee kommen sollte, selbst eine Flotte aufzustellen. Da würde mein Bekannter schon lieber vor der Küste von Gessyth ankern.« Bracht nickte.
»Welche Garantie haben wir, daß er sich an die Ab sprache hält?« erkundigte sich Calandryll. »Woher sollen wir wissen, daß er uns nicht ausraubt, sobald wir auf See sind?« »Meine Herren!« rief der kleine Mann, und auf seinem verunstalteten Gesicht erschien ein gekränkter Ausdruck. »Ich gebe Euch mein Wort, daß er ein ehrenhafter See mann ist, der nie auf einen solchen Gedanken kommen würde!« »Das reicht uns nicht«, erwiderte Bracht. »Wie ich sehe, seid Ihr äußerst vorsichtig«, murmelte Xanthese, »und das kann ich Euch nicht einmal verden ken. Dürfte ich einen Vorschlag machen, um Euer Mißtrauen zu zerstreuen? Es gibt hier in Kharasul Kauf leute, die für ihre Ehrlichkeit berühmt sind, und ich glaube, ich kann meinen Kapitän überreden, sich mit einer kleineren Anzahlung zufriedenzugeben. Ihr könn tet den Rest der Bezahlung bei einem Kaufmann hinter legen und vereinbaren, daß das Geld erst nach Eurer Rückkehr an den Kapitän ausgezahlt wird. Würde das Eure Bedenken ausräumen?« Er sah sie hoffnungsvoll an. Bracht und Calandryll wechselten einen kurzen Blick. »Das scheint mir ein vernünftiger Vorschlag zu sein«, sagte Calandryll. Als auch Bracht zustimmend nickte, strahlte Xanthese wieder. »Geschätzte Herren, um Euch einen weiteren Beweis meiner Aufrichtigkeit zu liefern, werde ich es Euch über
lassen, selbst den Kaufmann auszusuchen, bei dem Ihr Euer Geld hinterlegen wollt.« Er hob die Hand, als müsse er einem Protest zuvorkommen, und schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde Euch keinen Namen nennen. Nein, erkundigt Euch bei jemand anderem, damit Ihr wißt, daß Xanthese nicht lügt.« »Das werden wir tun«, versicherte Bracht. »Also, wie heißt dieser Kapitän, und wo können wir ihn finden?« Der Mann mit dem Narbengesicht beugte sich tiefer über den Tisch und senkte die Stimme, als fürchtete er, die Soldaten könnten von ihrem Geschäft erfahren. »Er heißt Menophus ek'Lannharan, und sein Schiff ist die Seekönigin. Er wartet schon im Hafen auf Euch.« »Wann kann er aufbrechen?« fragte Calandryll. »Mit dem Gezeitenwechsel, wenn Ihr wollt«, erwider te Xanthese. »Er möchte so schnell wie möglich ver schwinden, bevor der Liktor ihn zwangsverpflichtet.« »Und was für ein Schiff befehligt er?« »Ein Kriegsboot«, sagte Xanthese. »Ein schnelles Kriegsboot mit kräftigen Ruderern, um gegen den Wind zu fahren, und großer Segelfläche für eine schnelle Rück fahrt.« »Und der Liktor wird ihm erlauben, den Hafen zu ver lassen?« Xanthese grinste verschwörerisch. »Muß der Liktor überhaupt davon erfahren? Kommt mit mir, ich werde Euch dem Kapitän vorstellen. Danach werdet Ihr be
stimmt die Angelegenheit mit dem Kaufmann regeln wollen. Sobald Ihr das erledigt habt, steht Euch Me nophus zur Verfügung, und Ihr könnt den Hafen von Kharasul noch vor Sonnenuntergang verlassen haben.« Calandryll vergewisserte sich noch einmal mit einem Blick bei Bracht. Der Söldner lächelte kurz. »Also gut«, sagte Calandryll. »Sehen wir uns diesen Kapitän an.« »Wie Ihr wünscht, werte Herren.« Xanthese erhob sich, leerte sein Glas und ging voraus. Er führte sie die Gasse entlang, bog an der nächsten Kreuzung ab und folgte den verschlungenen Wegen des Hafenviertels. Calandryll schob sich die Tasche auf den Rücken und legte die Hand auf die Schwertscheide. Die Häuserwän de ragten zu beiden Seiten hoch auf, die Fensterläden waren geschlossen, um die Mittagshitze fernzuhalten. Es war still, vom Himmel über ihnen war lediglich ein schmaler Streifen dunstigen Blaus zu sehen. Unten am Wasser kreischten die Möwen. Hier, in der schmalen Gasse, waren nur die Schritte ihrer Stiefel auf dem Pflas ter und das Summen der Insekten zu hören. Xanthese eilte voraus, gefolgt von Calandryll. Bracht bildete den Abschluß. Ihr Weg verlief in etwa parallel zum Kai. Die Gassen waren ebenso gewunden wie die im Bettlervier tel, zu dieser Tageszeit aber menschenleer. »Es ist klüger, den Männern des Liktors aus dem Weg zu gehen!« rief ihnen Xanthese über die Schulter zu.
»Menophus ist es lieber, wenn sie ihm keine Fragen stel len. Und Euch wohl auch, wenn ich mich nicht täusche.« Weder Calandryll noch Bracht gaben ihm eine Ant wort, und der narbengesichtige Mann führte sie immer tiefer in das Labyrinth hinein, bis sie schließlich auf ei nem freien Platz herauskamen. Zu allen Seiten ragten die glatten Steinwände von Lagerhäusern in die Höhe und bildeten ein Rechteck, zu dem es nur den einen Zugang gab, durch den sie gekommen waren. Die Fenster saßen hoch oben in den Wänden und waren geschlossen, als wären sie Augen, die nicht Zeugen eines Verbrechens werden wollten. Das Kopfsteinpflaster glänzte im hellen Sonnenlicht. Xanthese eilte zum anderen Ende des Platzes. Plötzlich hielt er sein Kurzschwert in der Hand. Jetzt wirkte sein Gesicht nicht mehr unterwürfig, sondern hart und von unverhülltem Haß verzerrt. Calandryll hörte Stahl über Leder schaben, als Bracht sein Krummschwert aus der Scheide riß, und kaum einen Lidschlag später hatte er seine eigene Waffe gezogen. »Zur Seite! Mit dem Rücken zur Wand!« Brachts Stimme duldete keinen Widerspruch oder Zö gern, und Calandryll folgte seinem Befehl unverzüglich. Plötzlich vernahm er das Tapsen leiser Fußschritte hinter sich. Aus der Gasse kamen fünf Männer hervor, die wie Xanthese in weite Tuniken und Hosen gekleidet waren, wie Matrosen oder Hafenarbeiter aussahen und jeweils
ein Kurzschwert in der Hand hielten. Sie verteilten sich vor dem einzigen Ausgang. Xanthese gesellte sich zu ihnen. »Dafür wirst du sterben!« rief Bracht dem Verräter zu, der seiner Drohung mit einem verächtlichen Lächeln begegnete. »Glaubst du wirklich?« Xanthese war völlig verwan delt. Von seiner kriecherischen Art war nichts mehr üb riggeblieben. Er wirkte auf einmal größer und sogar regelrecht herrisch, als hätte er bisher nur eine Rolle gespielt und würde erst jetzt sein wahres Ich zeigen. »Du wirst es sein, der hier stirbt, Kerner. Du und dieser junge Geck aus Secca.« »Durch die Hand einer dreckigen Ratte?« fragte Bracht lachend. »Das glaube ich kaum.« »Eine dreckige Ratte?« Xanthese kicherte. Einen Mo ment lang nahm er wieder seine frühere unterwürfige Haltung an und machte sich über den Söldner lustig. Doch dann veränderten sich seine Haltung und seine Züge langsam aber stetig, bis er wieder gefährlich aus sah. »Du hast es jetzt mit Chaipaku zu tun, Kerner!« Calandryll keuchte auf, unfähig, die nackte Panik zu unterdrücken, die über ihm zusammenschlug. Jetzt konnte er es sehen: in ihren kalten Augen, in der fach männischen Art, in der sie ihre Schwerter hielten. Dies war kein von einem verräterischen Dieb inszenierter Hinterhalt; diese Männer gehörten der Bruderschaft an. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und seine
Handflächen glitschig wurden, während ihm gleichzeitig ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. »Aye, das macht dir angst«, sagte Xanthese jetzt an ihn gewandt. »Und so soll es auch sein.« »Warum?« hörte sich Calandryll mit heiserer Stimme flüstern. »Dein Bruder hat unsere Dienste in Anspruch ge nommen.« Ein Dolch, kaum kürzer als sein Schwert, erschien in Xantheses linker Hand. »Anscheinend sieht er eine Bedrohung in dir. Aber dann hast du einen der un seren getötet: Mehemmed. Er war noch jung, er hatte den Auftrag, dich zu beobachten und herauszufinden, wohin du woll test. Du hast ihn getötet, und jetzt wirst du dafür bezah len.« »Ich habe ihn getötet«, stellte Bracht richtig. »Er war unvorsichtig, und ich habe ihn wie ein Schwein aufge schlitzt. So wie er es verdient hat.« Wieder lachte Xanthese, und seine Stimme hallte von den hohen Wänden wider. »Versuchst du, mich wütend zu machen, Kerner? Ver suchst du, mich unvorsichtig zu machen? Das schaffst du nicht. Ich bin älter als Mehemmed. Ich werde dir die Eingeweide herausreißen und zusehen, wie du stirbst. Und ich werde es genießen.« Aus den Augenwinkeln heraus sah Calandryll, wie Bracht die Zähne zu einem Lächeln entblößte, das gleich zeitig belustigt und bösartig wirkte.
»Ich habe nicht viel Übung gehabt in letzter Zeit«, sag te der Kerner und sprang vor. Er war schnell – sein Angriff kam völlig überraschend für Calandryll –, aber die Chaipaku waren genauso flink. Die Kurzschwerter und die Dolche fuhren hoch und blockten den Angriff ab, Stahl klirrte laut auf Stahl. Bracht sprang mit einem Schnitt in seinem Hemd in den Schutz der Mauer zurück, das Krummschwert in Ab wehrhaltung erhoben. Xanthese wischte sich einen Blut faden von der vernarbten Wange. Er nickte anerkennend, und sein Lächeln wurde raubtierhaft. »Gut. Aber nicht gut genug. Und ich bezweifle, daß die kleine Memme auch so geschickt ist.« Die blanke Verachtung in seiner Stimme durchbrach Calandrylls Panik und erregte seine Wut. Der Chaipaku hatte recht, Calandryll wußte, daß er keine Chance gegen diese Meuchelmörder hatte – auch nicht an Brachts Seite – und hier sterben mußte, aber er spürte, wie die Wut heiß in ihm aufstieg, heiß wie die Sonne, und seine Furcht vertrieb. Er stellte keine Bedrohung für Tobias dar, er hatte nie vorgehabt, seinen Bruder zu stürzen, und doch war es diese Fehleinschätzung, die dazu führen würde, daß er auf diesem verlassenen Platz starb und Azumandias ungehindert das Arcanum an sich nehmen konnte. Er verfluchte seinen Bruder und die Chaipaku mit einer Wut, die aus tiefstem Herzen kam, und war fest entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkau fen.
Die sechs Chaipaku rückten vor. »Benutz deine Magie jetzt«, sagte Bracht leise. »Ver nichte sie mit einem Sturm oder mit Feuer – aber vernich te sie.« Calandryll schüttelte hilflos den Kopf. Sein Blick schoß zwischen dem Kerner und den Meuchelmördern hin und her. »Ich weiß nicht, wie ich sie auslösen soll!« stieß er hervor. »Selbst ich kann nicht sechs Mitglieder der Bruder schaft besiegen.« Das Krummschwert wirbelte wie ein Lebewesen in der Hand des Söldners herum. »Wenn uns keine Magie zu Hilfe kommt, werden wir hier sterben. Wenn dir nichts anderes übrigbleibt, dann mach dich unsichtbar.« Calandryll zögerte. Er wollte seinen Gefährten nicht allein lassen. Auch mit dem Zauberspruch, den Varent ihm beigebracht hatte, schien es unwahrscheinlich, daß er so viele Chaipaku würde erschlagen können, und der Zauberspruch bot nur ihm eine Möglichkeit zu entkom men. »Benutz den Spruch!« drängte Bracht. »So kann viel leicht wenigstens einer von uns überleben.« Noch immer zögerte Calandryll. Obwohl er in Versu chung war, diesen Ausweg zu wählen, sagte er: »Ich lasse dich nicht im Stich.« »Besser das, als sterben!« fauchte Bracht. »Los, benutz ihn!« Calandryll öffnete den Mund, um den Zauberspruch
aufzusagen, aber er hatte kaum die ersten der fremdarti gen Silben hervorgebracht, als die Meuchelmörder so schnell vorstürmten, daß ihm die Stimme versagte und er beim Aufblitzen der Klingen in der hellen Mittagssonne nur noch ein Krächzen ausstoßen konnte. Er vergaß den Zauberspruch und riß instinktiv sein Schwert hoch, konnte an nichts anderes mehr denken als daran, sich zu verteidigen. Stahl prallte auf Stahl, Funken stoben auf. Er tänzelte zurück und spürte einen flüchtigen Schmerz über seinen Rippen, fühlte etwas Warmes und Feuchtes über seine Brust rinnen und wußte, daß es sein Blut war, während er gleichzeitig die Schläge parierte. Wieder wuchs die Furcht in ihm, und mit ihr der Zorn. Er steigerte sich zu einer grenzenlosen Wut darüber, daß die unbegründete Eifersucht seines Bruders seine Mission bedrohen und ihn jetzt und hier in Kharasul würde sterben lassen, nachdem er so viele Gefahren überstanden hatte. Und immer wilder und verzehrender wurde diese Wut, bis sie die Angst überdeckte, die die grinsenden Gesichter der Chaipaku in ihm hervorriefen, als sie in der festen Über zeugung, ihn töten zu können, näher rückten. Calandryll brüllte auf und stürzte sich ihnen entgegen. Sein Schwert wirbelte und durchschnitt die Luft, als würde es von einer fremden Macht geführt, die er nicht verstand. In diesem Augenblick schien er besessen zu sein. Er wußte nicht mehr, was er tat, sah die Chaipaku nur noch zurückweichen, als wären sie von einem lautlo sen Sturm erfaßt worden, der so stark war, daß er sie
rückwärts über den Platz stolpern ließ. Plötzlich hatten sich die Rollen vertauscht, war die Beute zum Jäger ge worden. Calandryll setzte ihnen nach, angetrieben durch den magischen Wind, und jetzt waren es die Meuchel mörder, die ihre Schwerter abwehrend erhoben hielten. »Berserker!« bellte Xanthese. »Dylus, du bewachst die Gasse! Ihr anderen kümmert euch um ihn! Überlaßt mir den Kerner!« Er sprang auf Bracht zu, während die anderen seinen Befehl befolgten. Das Krummschwert des Söldners lenkte seinen Schlag zur Seite und wurde selbst von der zweiten Klinge des Chaipaku abgeblockt. Bracht tänzelte seitlich an der Wand entlang. Calandryll eilte an seine linke Seite und rückte von dort auf die restlichen Chaipaku zu, trennte sie so von Bracht und Xanthese. Einer der Angrei fer stieß mehr aus Überraschung als vor Schmerzen ein Grunzen aus, als Calandrylls Schwert über seine Rippen fuhr. Er wirbelte herum, ließ die Klinge vorzucken, und Calandryll schlug darunter weg, sah, wie in der Tunika des Chaipaku ein Riß entstand, unter dem das matte Rot der Drachenhautrüstung sichtbar wurde, das jetzt einen helleren karmesinroten Farbton annahm. Welche Magie Calandryll auch immer zu Hilfe gekommen war, das Blut schien ihr neue Nahrung zu geben, und er warf sich mit erhobenem Schwert auf den Meuchelmörder. Der Mann trug einen Helm unter dem Kopftuch. Ca landryll hörte den dumpfen Aufprall, als sein Schwert abgelenkt wurde. Sofort riß er es wieder hoch und ließ es
auf den ungeschützten Hals des Chaipaku niedersausen, der durch den Schlag auf den Kopf für einen Augenblick betäubt worden war, so daß es ihm nicht mehr gelang, sich unter der Klinge wegzuducken. Der Stahl grub sich tief in sein Fleisch, helles Blut ergoß sich über seine Schultern. Calandryll schlug ein zweites Mal mit aller Kraft zu, und diesmal trennte er den Kopf vom Rumpf und sah ihn zwischen die Füße der anderen rollen, die ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrten und sich gegen die unsichtbare Kraft stemmten, die sie zurück drängte. Der enthauptete Chaipaku wankte, und sein Schwert arm bewegte sich noch eine Weile, bevor er zusammen brach und seine Kameraden mit seinem Blut bespritzte. Wieder sprang Calandryll vor und ließ einen Hagel aus Schlägen auf die Köpfe und Schultern seiner Feinde niederprasseln, den diese durch ihre Kampferfahrung jedoch abwehren konnten. Selbst im Angesicht von Ma gie waren die Chaipaku noch gefährliche Gegner. Zwei schwärmten nach rechts und links aus, der dritte schlug einen Bogen, um in Calandrylls Rücken zu gelan gen. Calandryll sah die ersten beiden wie menschliche Blätter in einem magischen Sturm rückwärts taumeln. Er wirbelte herum, um sich auf den dritten zu stürzen, und er wußte nicht, ob es Angst, Wut oder Magie war, die seinen Arm führte. Er schlug das Schwert des Mannes zur Seite und hieb ihm das eigene mit einer solchen Wucht in die Brust, daß es in die Drachenhautrüstung
eindrang, die Rippen des aufkreischenden Chaipaku durchtrennte und sich tief in sein Fleisch grub. Ein zwei ter Hieb traf den Halsansatz direkt oberhalb der Rüs tung. Der Chaipaku zuckte noch einmal krampfartig zusammen, das Kurzschwert entglitt seinen Händen, und seine dunklen Augen wurden stumpf. Blut sprudelte aus seiner klaffenden Wunde, als er zuerst auf die Knie und dann auf das Gesicht fiel. Als Calandryll herumfuhr und sich den Überlebenden zuwenden wollte, sah er, wie sich Dylus, der Mann, der die Einmündung der Gasse bewacht hatte, versteifte. Das Schwert und der Dolch entfielen seinen Händen, die sich gegen die blutende Wunde in seiner Kehle preßten. Dann wurde er zur Seite gestoßen und fiel schlaff zu Boden, wo mit seinem Blut auch das Leben aus ihm herausfloß. An seiner Stelle stand plötzlich die rätselhafte Kriegerin da, barhäuptig, das goldene Haar wie Bracht im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. Soweit Calandryll es beurteilen konnte, trug sie keine Rüstung unter der Tunika aus weißer Seide und keine gepanzer ten Schienen an den langen Beinen. In den Händen hielt sie einen Säbel mit blutiger Klinge, und als sie auf den Platz hinauseilte, sah Calandryll in ihren Augen – die in der Tat so grau wie ein Sturmhimmel waren – wilde Befriedigung aufblitzen. Ihr Säbel war genauso schnell wie Brachts Krummschwert und genauso tödlich. Der eine der übriggebliebenen Chaipaku sprang ihr in den Weg, der andere wandte sich Calandryll zu. Doch jetzt wirkte der Attentäter nicht mehr zuversichtlich,
sondern kämpfte mit einer Verzweiflung, aus der Entset zen und das Wissen sprachen, daß er es mit einer Macht zu tun hatte, die er nicht begreifen konnte. Calandryll verstand ebensowenig, was hier vor sich ging, er wußte nur, daß sich wieder einmal eine unbe greifliche Magie zwischen ihn und eine drohende Nie derlage geschoben hatte. Er duckte sich unter einem waagrecht geführten Hieb weg, erwiderte den Angriff mit einem Schlag, der den Meuchelmörder zurücktau meln ließ, und er hätte nicht sagen können, ob es die geheimnisvolle Macht oder seine eigene Kraft war, die den Mann gegen die blutbespritzte Wand schleuderte. Die Frau blickte kurz in seine Richtung, und die Klin ge ihres Gegners zuckte gefährlich dicht an ihrer Seite vorbei. Sie lenkte sie mit einer beinahe lässig wirkenden Eleganz zur Seite, wirbelte herum, blockte den nächsten Hieb ab und trat dem Chaipaku gleichzeitig zwischen die Beine, wo er durch keine Rüstung geschützt war. Er stieß einen winselnden Laut aus, krümmte sich zusammen, und der Säbel der Frau grub sich in seinen ungeschützten Hals. Mit einem letzten Grunzen brach er auf den Pfastersteinen zusammen. Die Frau lächelte grimmig und hob den Säbel zum Gruß in Calandrylls Richtung, der gerade einen Angriffs schlag seines Gegners abblockte, ihm das Schwert unter halb der Rüstung in den Bauch stieß und den Arm ver drehte. Er riß die Klinge wieder heraus und trat einen Schritt zurück.
Der Chaipaku stieß einen schrillen Schrei aus, und die Schmerzen ließen sein Gesicht kalkweiß werden. Ein nahezu beiläufig geführter Schlag Calandrylls traf den Attentäter seitlich in den Hals, und der Schrei endete wie abgeschnitten. Der Kopf des Chaipaku kippte zur Seite. Er fiel rücklings gegen die Wand, und sein Blut mischte sich mit dem seiner Kameraden. Calandryll drehte sich um und sah, wie Bracht auf der anderen Seite des Platzes Xantheses Schwert zur Seite lenkte, tänzelnd dem Dolch in der linken Hand des Chaipaku auswich und einen Gegenstoß ausführte. Das Krummschwert bohrte sich tief in den Hals des Meu chelmörders und durchtrennte seine Luftröhre. Xanthese gab ein Grunzen von sich, ein furchtbarer erstickter Laut, und spuckte Blut. Er machte keinen Versuch, sich zu rückzuziehen, schien nicht wahrhaben zu wollen, daß er tödlich getroffen rar, und griff erneut an. Bracht parierte den Schlag, wich zurück und lockte den Chaipaku, aus dessen tiefer Halswunde Blut quoll und seine Brust und Hose rot tränkte, hinter sich her. Er schien nur noch von seinem Haß auf den Beinen gehalten zu werden. Calandryll konnte ihn in den Augen des Meuchelmör ders brennen sehen und aus dem gräßlichen Pfeifen heraushören, das aus den geöffneten Lippen und der klaffenden Halswunde drang. Immer weiter lockte Bracht Xanthese über den Platz, und mit jedem Schritt strömten Blut und Lebenskraft aus dem Chaipaku her aus. Dann blieb der Kerner plötzlich stehen, täuschte einen Angriff vor, parierte den Gegenschlag und stieß
seinem Gegner das Krummschwert in den Bauch. Xanthese schrie auf, soweit seine durchtrennte Luftröhre das noch zuließ, und sackte in die Knie. Bracht trat ihm das Schwert aus der Hand und hieb ihm das Krumm schwert in den Hals. Der Chaipaku kippte vornüber und fiel in sein eigenes Blut. In der Mitte des kleinen Platzes hob die Frau anerken nend die Hand. »Du kämpfst gut.« Bracht drehte sich zu ihr um, das Schwert immer noch in der Hand. In seinen Augen lagen Mißtrauen und Be wunderung zugleich. »Du auch.« Calandryll registrierte, daß die Frau zwischen ihnen und der Einmündung der Gasse stand. Er hoffte, daß sie nicht versuchen würde, sie aufzuhalten. Sie stand da wie zuvor, den Säbel kampfbereit erhoben, die grauen Augen unverwandt auf den Kerner gerichtet. Wie zwei wach same Tiere, die einander abschätzen, ging es Calandryll durch den Kopf. Undeutlich spürte er, daß irgend etwas nicht mehr da war. Ein Gefühl der Schwäche, das einer Übelkeit nahe kam, erfaßte ihn, und da wußte er, daß die unbekannte Macht, die ihm geholfen hatte, jetzt verschwunden war. Er konnte das in der Hitze dampfende Blut riechen und spuckte aus. Sein Blick wanderte über die Leichen und blieb an der Frau hängen. »Ich habe euch gesucht«, sagte sie ruhig. »Es war Glück, daß ich euch gerade jetzt gefunden habe.«
»Kann sein«, räumte Bracht ein. »Die Chaipaku hätten euch getötet«, sagte die Frau. »Irgendwann.« Der Kerner zuckte die Achseln. »Trotz der Magie deines Freundes. Chaipaku sind nur schwer zu töten.« »Aye«, erwiderte Bracht, »aber ich glaube, wir hätten es auch ohne deine Hilfe geschafft.« »Jetzt werden sie euch Blutrache schwören.« Die Frau lächelte flüchtig. »Wenn ihr in Kharasul bleibt, werdet ihr wahrscheinlich nicht mehr lange leben.« »Wir haben nicht vor, in Kharasul zu bleiben.« »Nein. Ihr wollt nach Gessyth. Nach Tezin-dar. Ihr seid auf der Suche nach dem Arcanum.« Sie lächelte erneut, als Brachts Krummschwert ein we nig zur Seite ruckte. Der Söldner versteifte sich leicht, sein Gesicht wurde starr und verriet so seine Überra schung. Dera! schickte Calandryll ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Müssen wir jetzt auch noch jemanden töten, der uns geholfen hat? »Wir brauchen nicht zu kämpfen«, sagte die Frau. »Du hast versucht, uns aufzuhalten«, gab Bracht zu rück, eine Stimme klang angespannt. »Nein. Ich suche das Arcanum.« Die grauen Augen ruhten voller Ernst auf Bracht und wanderten ein Stück chen zur Seite, um auch Calandryll einzubeziehen. »Ich
schlage euch ein Bündnis vor. Ich verfüge über ein Kriegsboot.« »Warum sollten wir dir trauen?« wollte Bracht wissen. »Ich habe euch geholfen.« Sie ließ den Säbel herum schwingen und richtete ihn auf die Toten. »Und in Kha rasul – überall in Kandahar – werden die Chaipaku jetzt Jagd auf euch machen. Mit vereinten Kräften haben wir bessere Chancen, das zu erreichen, was wir wollen.« »Oder aber wir sterben«, sagte Bracht. »Auf deinem Kriegsboot.« Die Frau ließ ihren Säbel in die Scheide zurückgleiten und sagte: »Das wäre möglich, wenn ihr nicht mein Wort hättet.« Bracht neigte kurz den Kopf, ohne die Augen auch nur einen Moment lang von ihrem Gesicht zu nehmen, und überraschte Calandryll, indem er sein Krummschwert ebenfalls in die Scheide schob. »Ich bin Bracht ni Errhyn vom Clan der Asyth«, sagte er. »Aus Cuan na'For.« »Und ich bin Katya.« Bracht warf Calandryll einen Seitenblick zu, hob die Schultern und sagte: »Dann laß uns darüber reden, Ka tya.«
KAPITEL 15 Sie folgten Katya zum Hafen und beeilten sich, den Kampfplatz hinter sich zu lassen, denn es bestand die Gefahr, daß weitere Chaipaku auftauchten und versuch ten, sie zu töten, oder daß Soldaten des Tyrannen er schienen und ihnen unangenehme Fragen stellten. Keiner sprach ein Wort, bis sie den Kai erreicht hatten, wo sie in Gegenwart der Soldaten mit dem typischen scharlachroten Nackenschutz vor weiteren Überfällen sicher zu sein glaubten. Die Schuldgefühle, die das Blut bad in Calandryll hervorgerufen hatte, wurden schon bald wieder durch die Fragen, die ihm auf den Nägeln brannten, und durch sein Mißtrauen der geheimnisvollen Frau gegenüber verdrängt. Als er Bracht einen prüfenden Blick zuwarf, bemerkte er den nachdenklichen Gesichtsausdruck des Kerners, der die Frau nicht einen Moment lang aus den Augen ließ, als grübelte auch er über den Grund für ihr Eingrei fen nach und suchte vergeblich nach einer befriedigen den Antwort. Aber beide Männer schwiegen, bis die Frau direkt an der Kaimauer und außerhalb der Hörweite eines Soldatentrupps stehenblieb und auf ein schlankes schwarzes Boot deutete, dessen zu einem Drachenkopf geformter Bug ihnen vertraut vorkam.
»Damit kann ich euch nach Gessyth bringen«, sagte sie, ließ sich auf einem Poller nieder und legte ihren Säbel über ihre Knie. Calandryll betrachtete das Boot genauer und erkannte jetzt, daß es sich von den Kriegsbooten der Kander un terschied. Die Unterschiede waren zwar nur gering, aber für einen Betrachter, der zumindest ein wenig Erfahrung mit Segelschiffen hatte, stammte es aus keiner ihm be kannten Baureihe. Sein Blick kehrte zu der Frau zurück, neugierig und mehr als nur ein bißchen wachsam. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte Bracht. »Warum?« Katya lächelte und zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß ihr ein anderes finden würdet, das euch nach Norden bringt.« Ihr Blick wanderte über den Hafen. Mittlerweile an kerten deutlich weniger Schiff in der Bucht, und gerade in diesem Moment setzten zwei Handelsschiffe die Segel und glitten, begleitet von vier Kriegsbooten, die die Flag ge des Tyrannen gehißt hatten, auf das Meer hinaus. Ein Trupp Soldaten marschierte an ihnen vorbei und geleite te eine Schiffsbesatzung zu den Langbooten, um sie auf einen weiteren konfiszierten Frachter zu bringen. Welchem der noch verbleibenden Kriegsboote könn ten wir uns wohl anvertrauen? fragte sich Calandryll. »Du drückst dich vor einer eindeutigen Antwort«, sag te Bracht. »Dann stellt mir eure Fragen und entscheidet nach
meinen Antworten, ob ihr mir glauben wollt«, schlug ihm Katya vor. »Aber eins kann ich euch gleich sagen, ihr werdet keinen vertrauenswürdigen Kapitän finden, der euch nach Norden bringt, und wenn ihr in Kharasul bleibt, werdet ihr mit Sicherheit sterben. Ich glaube nicht, daß ihr eine andere Wahl habt, als auf mein Angebot einzugehen.« Bracht nickte. Die Andeutung eines Lächelns huschte über seine Lippen. Er setzte sich Katya gegenüber auf eine Kiste und betrachtete ihr Gesicht. »Wer bist du?« fragte Calandryll. »Wie ich euch schon gesagt habe. Ich bin Katya.« Sie zögerte kurz, dann lachte sie leise und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Bracht hat recht. Ich weiche tatsäch lich aus. Das ist bei mir zu einer Angewohnheit gewor den.« »Eine Angewohnheit, die nicht gerade dazu beiträgt, Vertrauen zu erwecken«, stellte Bracht fest. Katya nickte. »Aye, aber bist du in deinem Leben im mer völlig offen gewesen?« Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst, und sie sagte: »Ich komme aus Vanu, von jenseits des Borrhun-maj.« »Vanu?« Der Zweifel in Calandrylls Stimme war un überhörbar. »Vanu ist das Land der alten Götter. Willst du etwa behaupten, du wärst eine Göttin?« »Nein«, entgegnete sie ruhig. Ihre grauen Augen rich teten sich fest auf die seinen. »Ich bin wie du ein Mensch aus Fleisch und Blut, und im Gegensatz zu dir kenne ich
nicht einmal deinen Namen.« »Calandryll«, erwiderte er automatisch. »Und wieso wollen die Chaipaku dich umbringen?« »Mein Bruder hat sie geschickt.« Er schilderte mit knappen Worten, wie Tobias die Bruderschaft angewor ben hatte, unterbrach seinen Bericht jedoch, als er Bracht die Stirn runzeln sah. »Das hilft uns kaum, unser Mißtrauen auszuräumen«, sagte der Kerner. »Du hast uns Antworten versprochen, also beantworte diese Frage: Warum suchst du das Arca num?« »Ich glaube, wir verfolgen das gleiche Ziel«, antworte te Katya. »Das Arcanum ist der Schlüssel zum Verrück ten Gott. Wer auch immer das Buch besitzt, kann ihn wiederauferstehen lassen – sofern er es lesen kann und die dafür erforderlichen Zaubersprüche kennt. Und das würde kein vernünftiger Mensch wollen.« Eine Falte erschien auf ihrer Stirn. Sie seufzte. »Ich glaube, er be ginnt bereits, sich zu rühren. Irgendwie scheint er in seinem Gefängnis zu spüren, was hier vor sich geht. Habt ihr davon gehört, daß Lysse eine Flotte aufstellt? Und daß ein Bürgerkrieg in Kandahar droht? Sind das nicht bereits die ersten Vorboten des Chaos?« »Die Aufgabe der lyssianischen Flotte ist es, die Kand piraten zu bekämpfen«, sagte Calandryll. »Und das dient eindeutig der Ordnung und nicht dem Chaos.« Katya lächelte bitter und schüttelte erneut den Kopf. »Eine Kriegsflotte ist eine Kriegsflotte, und der richtige
Weg, die Angriffe der Kander zu beenden, wären Ver handlungen mit dem Tyrannen. Wer hat die Gründung dieser Flotte vorgeschlagen?« »Aldarin«, antwortete Calandryll sofort. »Lord Varent den Tarl ist als Botschafter Aldarins nach Secca gekom men. Tobias soll das Kommando führen.« »Während sich der Tyrann von Kandahar im Krieg mit dem Lord der Fayne befindet.« Katya nickte, als würden diese Worte sie in ihrer Einschätzung der Lage bestärken. »Und nach dem, was du mir von deinem Bruder erzählt hast, scheint er nicht gerade ein vernünftiger Mann zu sein.« Calandryll mußte an Tobias' kriegslüsternes Verhalten denken, an seinen Vorschlag, die Flotte solle Kandahar selbst angreifen. Er runzelte verwirrt die Stirn. »Willst du damit sagen, Lord Varent würde einen Krieg planen?« »Ich würde sagen, es gäbe gar keinen besseren Zeit punkt, Kandahar anzugreifen.« Katya zuckte die Ach seln. »Und einige Menschen fallen dem Chaos leichter anheim als andere. Wer hat euch auf diese Mission ge schickt?« Calandryll wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber Bracht hob die Hand und brachte ihn zum Schwei gen. »Fragen über Fragen, und noch immer kaum Ant worten. Wer hat dich geschickt?« Katya senkte kurz den Kopf, ihre grauen Augen ver schleierten sich. Eine Weile starrte sie auf den Hafen hinaus, dann kehrte ihr Lächeln zurück.
»Ich überstürze alles«, murmelte sie. »Ich kann spüren, wie sich das Chaos zusammenbraut, und ich möchte Tezin-dar so schnell wie nur irgend möglich erreichen. Die Angst macht mich ungeduldig. Also gut, hört mir zu. Ich werde euch alles erzählen, was ich weiß.« Ihre sonnengebräunten Hände schlossen sich fest um die Säbelscheide, während sie Calandrylls und Brachts zweifelnde Blicke ruhig erwiderte. »Die Heiligen Männer von Vanu haben in einer Pro phezeiung von der Wiederauferstehung des Verrückten Gottes gesprochen und mich ausgesandt, um das zu verhindern. Die Prophezeiung spricht von einem Zaube rer aus Lysse, der die Möglichkeit hat, Tharn ins Leben zurückzuholen, aber um das zu erreichen, braucht er das Arcanum. Die Heiligen Männer haben vorhergesehen, daß ich zwei Begleiter treffen würde, die das gleiche Ziel wie ich verfolgen. Sie haben mir den Auftrag gegeben, das Buch zu finden und nach Vanu zu bringen, damit sie es zerstören können und der Verrückte Gott für immer in seinem Gefängnis bleibt. Wir aus Vanu haben mit den südlichen Königreichen nichts zu tun. Trotzdem ist dieses Boot gebaut worden, und ich bin nach Lysse gereist, wo ich von einem blon den jungen Mann und einem Krieger aus Cuan na'For erfahren habe, die sich auf die Suche nach dem Buch…« »Wie das?« fiel ihr Bracht grob ins Wort. »Die Heiligen Männer haben mir einen Talisman mit gegeben«, erklärte Katya. Sie griff unter ihr Hemd und
zog eine Silberkette hervor, an der ein roter Stein hing, der genau wie der aussah, den Calandryll trug. »Er be sitzt Macht und reagiert wie ein Kompaß auf Magie. Er hat mich nach Aldarin geführt, wo ich von einem Magier mit großen Ambitionen gehört habe.« »Azumandias!« Diesmal war es Calandryll, der ihr ins Wort fiel. Er glotzte sie verständnislos an, als sie den Kopf schüttelte. »Azumandias ist tot«, sagte sie. Calandryll stieß ein Keuchen aus. »Schon lange«, fuhr sie fort. »Er hatte ver sucht, Orwens Karte an sich zu bringen, als die Tinte auf dem Pergament noch nicht richtig getrocknet war, aber er wurde von jemandem erschlagen, dem er vertraut hatte – von seinem eigenen Sohn, der nach derselben Macht wie sein Vater trachtete.« Calandryll konnte sich nicht länger beherrschen. Ohne nachzudenken, sprudelte er hervor: »Aber Lord Varent hat seine Fähigkeiten von Azumandias gelernt! Das ist völlig unmöglich!« Katyas graue Augen richteten sich auf die seinen, und er konnte nur Aufrichtigkeit in ihnen sehen. »Wenn dieser Lord Varent von Azumandias gelernt hat, dann lebt er schon sehr viel länger als gewöhnliche Menschen und ist ein Zauberer mit außergewöhnlicher Macht. War er es auch, der euch geschickt hat?« Calandryll ignorierte ihre Frage und sagte statt dessen: »Azumandias hat uns Dämonen auf den Hals geschickt.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Wie sollte das mög
lich sein, wenn er tot ist?« »Weißt du sicher, daß es Azumandias war?« erkundig te sich Katya. »Wer denn sonst?« fauchte Calandryll. »Varent«, sagte Bracht. Seine nüchterne Feststellung ließ Calandrylls Kopf herumrucken. Er starrte den Ker ner ungläubig an. »Lord Varent? Hast du den Verstand verloren? Wa rum sollte er so etwas tun?« »Wir haben uns damals gestritten«, erklärte Bracht. »Erinnerst du dich? Ich hatte herausgefunden, daß ich angeheuert worden war, um den flüchtigen Sohn des Domms von Secca zu beschützen, und ich hatte wenig Lust, diesen Auftrag zu übernehmen. Ich habe deine Fähigkeiten in Frage gestellt, und du hast dir Varents Säbel ausgeliehen, um mir das Gegenteil zu beweisen. Er hat gewußt, was wir vorhatten, und die Dämonen sind genau im richtigen Augenblick erschienen – und waren leicht zu besiegen. Zu leicht, wie mir schien.« »Na und?« fragte Calandryll mit finsterem Gesicht. »Das beweist gar nichts.« »Es sei denn, Varent hätte sie heraufbeschworen, um mich von deinen Qualitäten zu überzeugen«, gab Bracht zu bedenken. »Nach dem Kampf hatte ich eine bessere Meinung von dir. Außerdem solltest du die Warnung des Byah nicht vergessen.« Calandryll schüttelte den Kopf. Diese Behauptung war einfach grotesk. Der Byah hatte sie zweifellos vor Katya
gewarnt. »Also hat euch dieser Varent geschickt«, sagte sie. »Und er hat dir gesagt, er hätte seine Fähigkeiten von Azumandias gelernt?« Calandryll konnte nur nicken, war vor Verwirrung vo rübergehend sprachlos. »Dann ist Varent vielleicht Azumandias' Sohn. Ob wohl er sich damals Rhythamun genannt hat.« »Das ist doch Irrsinn!« Calandryll fuhr mit der Hand durch die Luft, als könne er ihre Behauptung damit wegwischen. »Lord Varent ist Botschafter von Aldarin. Ein Adliger. Vertrauter und Ratgeber des Domms. Du behauptest, er wäre ein Vatermörder? Und hätte zu Or wens Zeiten gelebt? Wie viele Jahrhunderte sind seit damals vergangen? Lord Varent hat uns ausgesandt, um das Arcanum zu holen, damit er es vernichten kann. Es ist Azumandias, der versucht, den Verrückten Gott wiederauferstehen zu lassen.« »Azumandias ist schon längst zu Staub zerfallen«, er widerte Katya, ohne sich von Calandrylls entschiedener Ungläubigkeit beirren zu lassen. »Und es gibt viele Mög lichkeiten, wie ein Mensch – ein Zauberer – seine norma le Zeit bei weitem überleben kann.« »Lord Varent zeigt keine Spur von Alter«, entgegnete Calandryll wütend. »Und wie hätte er in Aldarin diese hohe Position erlangen können, wenn er dort nicht auf gewachsen wäre?«
»Er hat dein Aussehen verändert«, sagte Bracht leise. Sein Blick wanderte zwischen Calandryll und Katya hin und her. »Und ich habe ihm nie getraut.« »Du hast versucht, uns zu töten«, warf Calandryll der Frau vor. Er starrte sie an, ohne Brachts Einwurf zu be achten. »Du hast die Seetänzerin verfolgt und versucht, uns auszuschalten.« »Ich hatte es nur auf eure Karte abgesehen«, wider sprach Katya. »Oder was immer es ist, das euch den Weg nach Tezin-dar weist. Ich wollte euch nicht töten. Hätte ich das vorgehabt, dann hätte ich euch mitsamt dem Schiff versenkt.« »Ein Mann ist verwundet worden, und es hätten viele sterben können, als deine Bogenschützen geschossen haben«, fauchte Calandryll. »Die Kander haben ihre Armbrust eingesetzt«, gab Ka tya zurück, »und meine Bogenschützen haben nur darauf geantwortet. Es wäre mir lieber gewesen, wenn niemand verletzt worden wäre, ich wollte keinen Streit mit den Kandern. Auch nicht mit euch, wenn ihr mir gegeben hättet, was ich haben wollte.« Calandryll lachte schnaubend. Es war unübersehbar, daß er ihr nicht glaubte. »Wenn ich euren Tod wollte, hätte ich euch dann ge gen die Chaipaku geholfen? Ich hätte einfach abwarten können, bis sie euch getötet hätten, und ihnen dann alles abzukaufen, was ihr bei euch tragt. Ihnen geht es schließ lich nur um euren Tod.«
»Das ist wahr«, murmelte Bracht. »Das ist nichts als eine Lüge!« fauchte Calandryll. »Dera, Bracht! Du berufst dich auf die Warnung des Byah und bestehst darauf, daß Lord Varent der Betrüger ist. Ich sage, daß sie es ist – sie wirkt ein Lügengespinst aus Worten, in dem wir uns verfangen sollen. Sie hat be fürchtet, die Chaipaku könnten die Karte an sich neh men, das ist alles. Sie möchte das Arcanum aus ihren eigenen Gründen haben.« »Um es zu vernichten«, sagte Katya. »Lord Varent hat das gleiche vor«, erwiderte er. »Wa rum sollten wir dir und nicht ihm trauen?« »Warte.« Bracht hob besänftigend die Hand. »Denk darüber nach, Calandryll. Du weißt, daß ich Varent mißtraue, aber was diese Sache mit den Dämonen an geht, habe ich da nicht früher schon gesagt, daß es mir so vorkam, als wären sie sehr leicht zu besiegen gewesen? Und Katya hätte die Seetänzerin versenken, uns halb ertrunken aus dem Wasser fischen und uns dann alles abnehmen können, was sie wollte. Und die Chaipaku, aye, warum hätten sie ihr die Karte nicht verkaufen sol len? Xanthese hat selbst gesagt, daß es ihnen nur darum gegangen ist, uns umzubringen.« »Du vertraust ihr?« Calandryll schüttelte hilflos den Kopf. »Ich schlage vor, wir hören uns ihre Geschichte bis zum Ende an«, sagte Bracht. »Ich kann euch sonst nicht mehr viel sagen«, gestand
Katya. »Ich bin aus Vanu aufgebrochen, um das Arca num zu suchen, damit es zerstört und die Bedrohung endgültig beendet wird. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen könnte, um euch zu überzeugen.« »Überlaß es uns, das Arcanum zu finden«, sagte Ca landryll finster. »Wir werden es Lord Varent bringen, damit er es zerstören kann.« »Dein Gefährte traut ihm nicht.« Katya sah Bracht an, der mit ausdruckslosem Gesicht die Achseln zuckte. »Wenn er wirklich Rhythamun ist, dann hat er nicht vor, das Buch zu zerstören, sondern es zu benutzen, um den Verrückten Gott wiederauferstehen zu lassen.« »Wir haben uns darauf geeinigt«, warf Bracht leise ein, »das Buch so lange zu behalten, bis Varent uns seine lauteren Absichten bewiesen hat.« »Und jetzt willst du es ihr überlassen?« Calandryll wandte sich ab, ging zur Kante des Kais, warf die Hände in einer hilflosen Geste in die Luft und ließ sie wieder fallen. Bracht folgte ihn, blickte ihn ernst und eindringlich an und sagte mit leiser Stimme: »Ich finde, daß das, was sie uns erzählt hat, ziemlich glaubwürdig klingt. Und Kha rasul ist für uns zweifellos zu einem gefährlichen Pflaster geworden. Sie bietet uns zumindest eine Möglichkeit, nach Gessyth zu gelangen.« »Und bekommt so die Gelegenheit, uns die Kehlen durchzuschneiden«, erwiderte Calandryll. »Möglich«, räumte der Kerner ein.
Calandryll löste den Blick vom Hafen, drehte sich zu Bracht um und musterte das Gesicht seines Freundes. Seine Augen wurden schmal. »Du vertraust ihr tatsäch lich!« stieß er hervor. Bracht erwiderte seinen Blick und hob die Schultern. »Sie hat Blut vergossen, um uns zu helfen. Nach den Maßstäben Cuan na'Fors hat sie sich damit ein gewisses Vertrauen verdient.« »Dein Urteilsvermögen hat Schaden genommen! Du siehst ein hübsches Gesicht, und schon vergißt du jede Vorsicht. Hat dich dein Verlangen blind gemacht?« »Nein«, sagte Bracht gelassen, »und obwohl sie unbe streitbar ein wunderschönes Gesicht hat, sehe ich in ihr vor allen Dingen eine Möglichkeit, nach Gessyth zu kommen.« »Oder zu sterben«, gab Calandryll zurück. »Oder das Arcanum Azumandias' in die Hände fallen zu lassen.« »Wenn sie die Wahrheit sagt, ist Azumandias tot«, stellte Bracht fest. »Und damit wäre Varent der Lügner.« Calandryll ballte die Hände zu Fäusten. Er fühlte sich angesichts dieser verdrehten Logik hilflos. Alles hing einzig und allein von Katyas Worten ab, von dem Ver trauen in eine Frau, die schon einmal versucht hatte, sie aufzuhalten, und die – soweit er es beurteilen konnte – diesmal nur behutsamer vorging, um an die Karte zu gelangen. »Ich kann ihr nicht trauen«, murmelte er mürrisch. »Sie geht geschickt mit den Worten um. Sie manipuliert
uns … manipuliert dich genauso, wie wir Anomius ma nipuliert haben.« »Ich neige dazu, ihr zu trauen«, sagte Bracht, ohne auf den Vorwurf Calandrylls einzugehen. Dann runzelte er die Stirn. »Und vielleicht gibt es eine Möglichkeit, ihre Behauptungen zu beweisen – oder zu widerlegen.« »Wie?« fragte Calandryll. »Du hast doch in Secca eine Wahrsagerin aufgesucht«, begann Bracht langsam und wählte seine Worte mit Bedacht. »Sie hat dir von dieser Suche erzählt, nicht wahr? Sie hat von zwei Gefährten gesprochen, oder?« Calandryll nickte. »Von dir und von Lord Varent.« »Vielleicht«, sagte Bracht. »Vielleicht aber auch von Katya.« »Das ist Irrsinn«, wies Calandryll die Vorstellung mit einem heftigen Kopfschütteln zurück. »Es gibt bestimmt auch in Kharasul Wahrsagerinnen«, fuhr Bracht fort. »Laß uns eine aufsuchen und dort um Rat fragen.« Calandryll musterte den Kerner mit zweifelnd gerun zelter Stirn. »Sonst stehen wir wieder vor dem Problem, ein Boot zu finden«, drängte Bracht. »Zu allem Überfluß mit der Bruderschaft auf den Fersen, die Blutrache nehmen will, und mit immer weniger zur Verfügung stehenden Schif fen. Ist das nicht die Antwort auf unsere Fragen? Wenn eine Wahrsagerin die Frau ablehnt, lassen wir sie hier
zurück und versuchen, Gessyth auf anderem Wege zu erreichen.« »Wenn wir uns ein anderes Boot besorgen, würde sie uns wahrscheinlich folgen«, sagte Calandryll. »Wahrscheinlich«, stimmte ihm Bracht zu, »aber mit Hilfe der Wahrsagerin würden wir wissen, ob sie uns freundlich oder feindlich gesonnen ist.« Sein Vorschlag klang vernünftig, und sie mußten ihre nächsten Schritte mit Bedacht unternehmen. Calandryll sah auf die Bucht hinaus und erblickte ein weiteres Han delsschiff, das gerade den Anker einholte und in den Wind drehte, flankiert von tiefliegenden Kriegsbooten. Sechs tote Chaipaku lagen in der Sackgasse und würde bald entdeckt werden; in Kharasul zu bleiben bedeutete den Tod. Eine Wahrsagung würde zumindest beweisen, daß Katya eine Agentin Azumandias' war und Brachts verrücktes Vertrauen in sie beseitigen. Calandryll nickte zustimmend. »Und was, wenn sie sich als unsere Feindin heraus stellt?« fragte er und warf der wartenden Frau einen versteckten Blick zu. Brachts Gesicht war feierlich, als er die Hand auf den Griff seines Krummschwertes legte. »In Aldarin habe ich Varent gefragt, warum er seinem Feind nicht die Kehle durchschneiden würde. Sollte sich erweisen, daß sie für Azumandias arbeitet, wird sie mir die Frage beantworten müssen, warum ich es nicht tun sollte.« »Dein Wort darauf?«
»Mein Wort darauf«, versprach Bracht. »Dann laß uns eine Wahrsagerin suchen.« Der Kerner grinste verkniffen, und sie kehrten zu Ka tya zurück, die geduldig und mit ernster Miene auf sie gewartet hatte. »Wir möchten einen Beweis, den du uns nicht geben kannst«, sagte er. »Wärst du mit einer Weissagung ein verstanden?« Katya legte den flachsblonden Kopf in den Nacken und richtete ihre grauen Augen zuerst auf Bracht und dann auf Calandryll. »Und was, wenn sie bestätigt, daß ich die Wahrheit gesagt habe?« »Dann segeln wir nach Gessyth und suchen gemein sam nach dem Arcanum«, sagte Bracht. »Und wenn nicht?« Calandryll hätte nicht sagen können, ob in Brachts Grinsen Ironie oder Bedauern lag, aber er sah, wie sich Brachts Hand statt einer Antwort auf den Schwertgriff senkte. Katya nickte und stand auf. »Einverstanden. Unter zieht mich eurem Test. Je eher wir von hier verschwin den können, desto besser.« Sie kehrten schweigend zum Schiffsjungen zurück, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Calandryll über legte, was passieren würde, wenn die Wahrsagerin bestä tigte, daß er recht hatte, und Katya als Lügnerin entlarv
te, als Agentin. Azumandias' Lord Varent ein Vatermör der, Jahrhunderte alt? Das war eine monströse Unterstel lung, eine ungeheuerliche Lüge, die aber gerade durch ihr Ausmaß plausibel wirkte, ein so unglaublicher Vor wurf, daß er fast schon wieder glaubhaft erschien, weil es keine vernünftige Erklärung dafür gab. Und doch schien Bracht ihr zu glauben. Allerdings hatte er schon immer eine Abneigung gegen Varent gehabt, und außerdem war da noch seine unverhüllte Bewunderung für Katya. Ca landrylls Gesicht wurde immer finsterer, als er sich alles durch den Kopf gehen ließ, was sie gesagt hatte, für jede ihrer Behauptungen ein Gegenargument fand und sich dadurch in seiner Überzeugung, daß sie gelogen hatte, bestätigt sah. Die Chaipaku – sie hatte nicht mit Sicherheit wissen können, ob die Bruderschaft ihr Orwens Karte verkaufen würde. Daß sie die Seetänzerin nicht versenkt hatte – vielleicht hätte sie es getan, wenn ihnen nicht Magie zu Hilfe gekommen wäre. Die Worte des Byah – damit konn te er sie und nicht Lord Varent gemeint haben. Die Heili gen Männer von Vanu und ihre Prophezeiung – er wußte nichts über Vanu, es war ein Land, das irgendwo jenseits des Borrhun-maj lag. Und außer ihren Worten gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, daß sie auch wirk lich von dort gekommen war. Seine Miene wurde noch düsterer. Schon bald würde sie entlarvt sein, Bracht würde wieder zur Vernunft kommen und … sie töten? Er war sich nicht sicher, ob er das wollte. Sie hatten auf ihrem Weg durch Kandahar
schon eine Menge Blut vergossen, und sie war ihnen zu Hilfe gekommen, wenn auch vielleicht nur aus ihrem eigenen Interesse. Er mußte an die toten Chaipaku denken, und obwohl sie Meuchelmörder gewesen waren und ihn erbarmungs los umgebracht hätten, erschauderte er bei der Erinne rung an die wilde Befriedigung, die er empfunden hatte, als sich sein Schwert in ihr Fleisch gegraben hatte. Beim nächsten Mal wird es leichter sein, hatte Bracht gesagt, und damit hatte der Söldner recht behalten. Er, Calandryll, hatte sich verändert – veränderte sich immer noch –, und er wußte nicht, ob ihm gefiel, was aus ihm wurde. Er verdrängte diese unangenehmen Gedanken, als sie das Gasthaus betraten und sich bei dem Wirt nach dem Wahrsagerviertel und einer vertrauenswürdigen Hellse herin erkundigten. Der Wirt beschrieb ihnen den Weg und nannte einen Namen. Es war noch früher Nachmit tag, als sie das zentral gelegene Stadtviertel erreichten. Hier waren die Straßen etwas sauberer und ruhiger. Die Leute, denen sie begegneten, waren nüchtern und wirkten ordentlich. Der Wirt hatte ihnen den Weg zu einer Wahrsagerin namens Ellhyn beschrieben, deren Zeichen die Vereinigung von Sonne und Mond war. Sie entdeckten es auf einem Schild, das an einer blaugestri chenen Stange hing, die aus dem obersten Stockwerk eines hohen Hauses herausragte: das Tagesgestirn und die Scheibe des Mondes, die sich vor einem azurblauen Hintergrund trafen. Zwei Kinder, dem Aussehen nach
Bruder und Schwester, saßen auf den Stufen vor der offenen Tür und spielten mit Runenknochen. Sie blickten auf, als Calandryll, Bracht und Katya näher kamen. Ca landryll wollte an ihnen vorbeigehen, aber der Junge erhob sich und stellte sich ihm wie ein kleiner Wächter in den Weg. »Was wollt Ihr?« fragte er. »Wir suchen die Wahrsagerin Ellhyn«, erwiderte Ca landryll. »Ist das ihr Zeichen?« Der Junge nickte, schickte seine Schwester mit einer Handbewegung in das Haus und forderte die Besucher auf zu warten. Kurze Zeit später kam das Mädchen zu rück und flüsterte ihm etwas zu. Er winkte sie hinein. »Mutter wird Euch gleich empfangen. Wartet hier.« Er führte sie in ein schlicht eingerichtetes Zimmer, dessen einziges Fenster auf die Straße hinausging. Entlang der blaugetünchten Wände standen einfache Holzstühle. »Vielen Dank.« Calandryll verbeugte sich. Der Junge erwiderte die höfliche Geste mit einem Grinsen und kehrte zu seiner Schwester und ihrem Spiel zurück. Nach einer Weile hörten sie Schritte und sahen einen Mann das Haus verlassen. Der Junge kehrte zurück und geleitete sie durch einen kühlen, schattigen Gang, in dem es angenehm nach Kräutern roch. Am Ende des Ganges führte eine offenstehende Tür in ein Zimmer, das in Blau, Gold und Silber gekachelt war und damit die Farben des Zeichens draußen widerspiegelte. Sitzkissen lagen auf
dem Mosaikboden verstreut herum. In der Mitte des Raumes stand ein niedriger dunkelblauer Holztisch, hinter dem eine lächelnde Frau saß und sie hereinwinkte. Sie trug ein mit Sonnen und Monden gemustertes Ge wand. In ihrem ergrauenden Haar waren kleine Metall plättchen eingewoben, die ebenfalls Sonnen und Monde darstellten und im Licht funkelten, das durch das einzige Fenster fiel. Ihr reizloses Gesicht, das die typische dunkle Hautfarbe der Kander hatte, wirkte fröhlich, verdüsterte sich aber im gleichen Augenblick, als ihre Besucher die Türschwelle überschritten. »Durch die Magie, die Ihr bei Euch führt, kann ich Euch nicht weissagen«, erklärte sie. »Wenn Ihr eine ehrli che Weissagung wünscht, müßt Ihr diese Magie entfer nen.« Calandryll nickte, nahm den roten Stein ab und sah Katya an. Sie folgte seinem Beispiel. Die Wahrsagerin klatschte in die Hände, worauf ihr Sohn erschien. »Jirrhun wird die Steine für Euch sicher aufbewah ren«, sagte sie. Calandryll und Katya übergaben ihre Talismane dem Jungen, der sie lächelnd entgegennahm und nach kurzen Zögern damit hinauseilte. »Zaubersteine«, murmelte Ellhyn, »und beide besitzen Kräfte. Der eine, diese Kräfte zu finden, der andere, sie freizusetzen. Nehmt Platz.« Sie setzten sich, und die Frau musterte sie nacheinan der. Ihre Augen waren ruhig und schwarz wie die Nacht.
Schließlich blieben sie an Calandryll hängen. »Es ist Macht in Euch«, sagte sie, »die Ihr auch ohne den Stein benutzen könntet, wenn Ihr wüßtet, wie. Noch aber braucht Ihr den Stein. Und da sind Zweifel, ich spüre starke Zweifel. Die Angst vor Verrat.« Sie wandte sich Katya zu. »Ihr seid weit gereist auf Eurer Suche und fürchtet, ein anderer könnte Euch zu vorkommen.« Und an Bracht gewandt, sagte sie: »Eure einzige Magie ist Eure Aufrichtigkeit. Euer Vertrauen ist ein kostbares Gut.« Danach schwieg sie eine Weile, ihr Blick schien in die Ferne gerichtet zu sein. Dann lächelte sie wieder und sagte: »Meine Dienste kosten Euch zehn der Goldvarre, die Ihr bei Euch tragt.« Calandryll klaubte die Münzen aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Ellhyn öffnete ein lackiertes Käst chen, das dort stand, ließ die Münzen hineinfallen und zog eine aus Silberfäden gewirkte Quastenkordel hervor, die sie feierlich auf dem Tisch ausbreitete. Sie ergriff je ein Ende mit jeder Hand und forderte ihre Besucher auf, ihre Hände um die Kordel zu legen. »Fragt mich jetzt, was Ihr wissen wollt«, sagte sie und schloß die Augen. Katya warf Calandryll einen kurzen herausfordernden Blick zu. Er sah Bracht an, der ihn mit einem Achselzu cken aufforderte, seine Fragen zu stellen. »Ich möchte wissen«, begann Calandryll langsam und legte sich die Worte sorgsam zurecht, »ob diese Frau die Wahrheit sagt. Sie behauptet, aus Vanu zu kommen und
uns nichts Böses zu wollen.« Das Sonnenlicht schimmerte golden auf dem Gesicht der Wahrsagerin und ließ die Fältchen auf ihrer Stirn und ihren Wangen deutlicher hervortreten. Sie nickte einmal, und die Metallplättchen in ihrem Haar klimperten leise. »Ihr Name ist Katya, und sie kommt von jenseits des Borrhun-maj. Aus Vanu. Sie sucht das, wonach auch Ihr sucht, und das ist…« Plötzlich glitzerte Schweiß auf ihrer Stirn. Sie erschauderte und preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Bei Burash, da ist eine zerstö rerische Kraft! Was Ihr sucht, sollte lieber nie gefunden werden, denn es könnte die Welt zerstören. Da sind noch andere, die danach suchen, und sollten sie es finden…« Ihre Stimme zitterte und verstummte. »Will sie uns schaden?« fragte Calandryll. »Nein!« Ellhyns Stimme klang rauh. »Von ihr kommt keine Gefahr – eher Hilfe. Hat Euch nicht schon eine Angehörige meiner Zunft gesagt, daß zwei Gefährten Euch auf Eurem Weg begleiten würden?« »Wie heißen sie?« fragte er in einem Tonfall, als würde er sich vor der Antwort fürchten. »Der Krieger an Eurer Seite, Bracht«, stöhnte die Wahrsagerin, »und die Frau, an der Ihr zweifelt. Katya. Diese Zweifel sind grundlos! Sie sagt die Wahrheit, und Euer Weg ist derselbe. Vertraut ihr!« Auf ihrer Schläfe begann eine Ader zu pochen. Ein Muskel zuckte, so daß ihr Augenlid flackerte.
Calandryll starrte sie an, seine Gedanken überschlu gen sich. Ihr vertrauen? Katya zu vertrauen, würde be deuten, alles zu glauben, was sie gesagt hatte. Und das wiederum hieß, jemand anderem nicht mehr zu glauben. »Lord Varent den Tarl«, sagte er drängend. »Ist er auf richtig?« »Der Name ist mir nicht bekannt.« Die Wörter schie nen Ellhyn in der Kehle steckenzubleiben. Sie spuckte jedes einzelne wie bittere Bissen mühsam aus. »Aber da ist ein Schatten hinter Euch, der Euch durch Täuschung in die Irre führt. Er hat Euch belogen … nicht sie … Ein Fürst der Lügen, er würde … Nein, ich kann es nicht!« Das letzte Wort schrie sie. Sie warf den Kopf zurück, ihre Hände ließen die Kordel los und klammerten sich um ihren Hals, als ob ihr die letzten Wörter in der Kehle brannten, und ihr Oberkörper schaukelte vor und zu rück. Jirrhun und das Mädchen tauchten in der Tür auf. Der Junge schoß an ihnen vorbei und schlang beschüt zend die Arme um seine Mutter. Wut zeichnete sich auf seinem jungen Gesicht ab. Das Mädchen stand mit gro ßen Augen da und blickte die Fremden anklagend an. »Hol Wein, schnell!« rief Katya dem Mädchen zu. Das Kind sah seinen Bruder fragend an, und als er nickte, rannte es aus dem Zimmer und kehrte kurz dar auf mit einem bis an den Rand gefüllten Becher zurück, den es auf dem Tisch absetzte. Jirrhun hob ihn an die Lippen seiner Mutter und sagte kalt: »Geht jetzt.« Ellhyn schüttelte den Kopf. Ein paar rote Spritzer fie
len auf ihr Gewand. »Nein, bleibt.« Sie nippte ein wenig an dem Wein, und das Zittern ließ nach. Dann nahm sie Jirrhun den Becher aus der Hand, und ihre Schlucke wurden kräftiger, bis sie ihren Sohn anlächelte. »Danke, das habt ihr gut gemacht. Alle beide. Aber jetzt laßt uns bitte allein.« Jirrhun zögerte einen Moment lang, die Unsicherheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, aber dann nahm er seine Schwester an der Hand und verließ mit ihr das Zimmer. Ellhyn trank den Becher aus, setzte ihn ab und seufzte. »Bei Burash, da lauert Finsternis.« Wieder schüttelte die Wahrsagerin den Kopf, als müsse sie ihre Gedanken ordnen. »Eine Finsternis, die die ganze Welt verschlingen könnte.« »Wer hat sie erschaffen?« fragte Calandryll. »Diejenigen, die schon lange tot sind«, erwiderte Ell hyn mit einem kraftlosen Seufzen. Eine ihrer immer noch zitternden Hände fand wie von selbst das lackierte Käst chen, während ihr Blick weiterhin auf Calandryll gerich tet blieb. »Und es wäre besser, wenn sie tot blieben.« Calandryll sah zu, wie sie eine silberne Pfeife hervor zog, den Pfeifenkopf füllte und ihn entzündete. Der süße Rauch des berauschenden Tabaks durchzog die warme Luft, und das Zittern der Wahrsagerin hörte gänzlich auf, als sie die Droge inhalierte. »Das sind Rätsel«, sagte er, und ihm wurde bewußt, daß er genau dieselben Worte schon einmal ausgespro
chen hatte, an einem fernen Ort und vor langer, langer Zeit. »Mehr kann ich Euch nicht sagen.« Ellhyn atmete tief ein und gab ein zufriedenes Grunzen von sich. »Ich kann Euch nur vorhersagen, was sich mir enthüllt.« »Nennt Ihr Lord Varent einen Betrüger?« wollte er wissen. »Ich kenne diesen Namen nicht.« Ellhyn deutete mit dem Pfeifenstiel auf Katya. »Aber ich versichere Euch, daß sie die Wahrheit sagt. Sie ist der zweite Gefährte, der Euch prophezeit worden ist.« Sie sagt die Wahrheit. Seine Logik fiel in sich zusammen. Sein gesamtes sorg fältig aufgebautes Gedankengebäude zerschellte an den Worten der Wahrsagerin. Eine furchtbare Kälte machte sich in ihm breit. Calandryll schlang die Arme um seine Brust und wiegte sich wie ein Erfrierender hin und her. Er gestand sich ein, daß er Ellhyns Worten Glauben schenkte und es genau das war, was die Kälte in ihm verursachte. Undeutlich hörte er Bracht sagen: »In Lysse hat uns ein Byah vor Betrug gewarnt. Bezog sich diese Warnung auf Varent?« Ellhyn schüttelte erneut den Kopf. »Ich kenne diesen Namen nicht«, wiederholte sie. »Katya, Bracht, Ca landryll den Karynth – diese Namen habe ich gesehen, nicht aber diesen anderen. Die Baumgeister sagen immer die Wahrheit, das weiß ich. Hat Euch der Byah diesen
Namen genannt?« »Nein«, sagte Bracht, »er hat uns nur vor Betrug ge warnt.« Ellhyn zuckte die Achseln und sog tief an ihrer Pfeife. »Ihr habt keine Falschheit in Katya entdecken kön nen?« »Nur Aufrichtigkeit. Ihr drei seid auf eine Art mitein ander verbunden, die ich nicht begreife.« Sie sagt die Wahrheit. Und deshalb mußte ein anderer lügen. Die Kälte wur de beißender. Calandryll begann zu zittern und bemerkte nicht, daß Bracht ihm eine Hand auf die Schulter legte. Durch sein Schwert waren Menschen gestorben, weil er die Lügen geglaubt hatte, und nun war sein eigenes Le ben verwirkt. Aus dem Zittern wurde ein bitteres La chen. Wie stolz er doch darauf gewesen war, Anomius getäuscht zu haben, auf das Netz aus Halbwahrheiten, das er so geschickt gesponnen hatte, auf dieses Gespinst aus Worten, Versprechungen und Ehrgeiz, in dem sich der Hexer wie eine unvorsichtige Fliege verfangen hatte. Und die ganze Zeit war er selbst nicht mehr als eine Fliege in Varents Netz gewesen. Der Retter der Welt? Er war der Laufbursche Varents gewesen, nicht mehr. Er stöhnte auf, gepeinigt durch diesen schmerzhaften Betrug, in den Grundfesten seines Glaubens und Selbstbewußtseins erschüttert. Sie sagt die Wahrheit.
Katya war aufrichtig, nicht Varent. List und Tücke verschleiern euren Weg, und ihr müßt eure Freunde mit Sorgfalt wählen. Hütet euch vor dem Antlitz der Lüge … Erinnert euch daran, wenn der Betrüger seine Netze spinnt… Der Byah hatte Varent gemeint, so wie es Bracht immer geglaubt hatte. Sie sagt die Wahrheit. Dann stimmte wahrscheinlich auch alles andere, was sie gesagt hatte. Varent war kein Adliger aus Aldarin, sondern ein unzählige Jahrhunderte alter Hexer, der sich dem Bösen verschrieben hatte und selbst von dem Ehr geiz beherrscht wurde, den er Azumandias zugeschrie ben hatte. Er wollte das Arcanum nicht, um es zu zerstö ren, sondern um damit den Verrückten Gott wiederzu erwecken. Er wollte Chaos über die Welt bringen, und wie nahe – so nahe! – war er seinem Ziel gekommen dank des unbedarften, ahnungslosen Tölpels, der Ca landryll gewesen war. Katya war seine wahre Gefährtin, nicht Varent. Die Erkenntnis ließ seinen Schädel dröhnen und die innere Kälte noch beißender werden. Er hatte Bracht wegen seines Vertrauens in Katya als verrückt bezeich net. Welch eine Ironie! Er hatte sich von Varents – Rhythamuns! – falschen Versprechungen und geschick ten Lügen blenden lassen, während Bracht die Täu schung durchschaut hatte. Er hätte Katyas Tod befürwor tet und das Arcanum Varent übergeben … nein, nicht
Varent. Dieser Mann war nicht Varent den Tarl, und wahrscheinlich war auch sein Gesicht nur eine Maske. Er hätte das Arcanum Rhythamun ausgehändigt, einem Mann, dessen wahres Gesicht er nicht einmal kannte. Calandryll spürte einen wachsenden Druck auf seinen Lippen und öffnete sie. Irgendeine Flüssigkeit lief ihm in den Mund, und er schluckte, ohne darüber nachzuden ken, schmeckte Wein und begann zu husten. Eine Hand klopfte ihm auf den Rücken, eine andere wischte ihm den Mund ab. Wieder spürte er den Becher an seinen Lippen und trank. Allmählich klärte sich sein Blick wie der. Er sah Ellhyn hinter dem Tisch ihm gegenüber, die ihn besorgt musterte. Bracht kniete neben ihm und hatte einen Arm um ihn gelegt, als Trost und Stütze zugleich. Calandryll drehte sich zu Katya um, und seine Augen baten sie stumm um Vergebung. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln. In ihren grauen Augen war kein Triumph zu erkennen, nur ehrliche Sorge. »Verzeih mir«, murmelte er leise. »Verzeih mir mein Mißtrauen.« Sie nickte kurz, legte ihm eine Hand auf den Arm, und der Druck ihrer Finger war Antwort genug. Calandryll versuchte ein Lächeln und hatte das Gefühl, daß dabei ein Totenkopfgrinsen herauskam, ein gequältes Lächeln ohne jegliches Selbstbewußtsein, denn das hatte er durch die Worte der Wahrsagerin verloren. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, spürte, daß es naß war, rieb sich verlegen die Augen und zwang sich zu einer aufrechten
Haltung, als er sich wieder Ellhyn zuwandte. »Der Stein, den Varent mir gegeben hat«, sagte er rauh. »Verleiht ihm dieser Stein Macht über mich? Könn te er mich damit kontrollieren?« »Der Stein ist nur ein Werkzeug«, erwiderte die Frau. Der berauschende Tabak ließ ihre Stimme heiser klingen. Sie deutete auf die geflochtene Kordel. »Genau wie das. Er setzt die Kräfte frei, die Ihr bereits besitzt.« »Kräfte?« fragte Calandryll wie betäubt. Er wollte kei ne solchen Kräfte, er wollte nichts mehr mit Magie und Magiern zu tun haben. »Wollt Ihr damit sagen, ich wäre eine Zauberer?« »Nein.« Die Wahrsagerin lachte einmal kurz auf. »Mit der Magie ist es nicht so einfach. Es ist eine Begabung – eine Fähigkeit –, die manche besitzen und andere nicht. Um sie zu benutzen, muß man lange lernen und Wissen erlangen. Es ist viel Übung erforderlich. Ihr besitzt diese Fähigkeit, und der Stein kann diese Kräfte vielleicht manchmal bündeln, aber ich glaube nicht, daß Ihr sie kontrollieren könnt.« Er nickte und mußte daran denken, für wie klug und gebildet er sich gehalten hatte, und doch war es Bracht gewesen, der mehr als er gesehen hatte. Der Kerner hatte die Wahrheit von Anfang an erkannt. »Azumandias«, krächzte er, »kennt Ihr diesen Na men?« Die Wahrsagerin schüttelte den Kopf. »Und Rhythamun?«
Wieder das Kopfschütteln. »Vieles war verborgen«, sagte sie mit etwas schleppender Stimme, »und ich wer de nicht noch einmal versuchen, in diese Dunkelheit vorzustoßen. Sie verbirgt viel zu schreckliche Dinge, vielleicht auch diese Namen. Ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch sagen, daß das, wonach Ihr sucht, lieber ver schollen bleiben sollte.« »Damit andere es finden können?« Diesmal war er es, der den Kopf schütteltete. Der Wein hatte die Kälte ver trieben, und er spürte Hitze und Wut in sich aufsteigen. »Damit die Lügner und Betrüger es finden und benutzen können? Nein. Niemals.« »Dann zerstört es, wenn Ihr könnt«, riet die Wahrsage rin. »Dieser Gegenstand öffnet die Pforten zu unvorstell barem Greuel.« »Das ist der Zweck unserer Mission«, hörte er Katya sagen. »Es zu finden und zu zerstören.« »Dann wünsche ich Euch alles Gute«, sagte Ellhyn. »Ich werde Burash ein Opfer darbringen und ihn bitten, Euch beizustehen. Ich glaube, Ihr werdet solche Hilfe brauchen, denn Ihr seid nicht die einzigen, die diesen Gegenstand suchen.« »Wer sonst noch?« wollte Katya wissen. »Das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte die Wahr sagerin. »Die Dunkelheit verbirgt sie.« Da war zum einen Varent, dachte Calandryll, falls er irgendwie herausgefunden hat, daß wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Dann möglicherweise Anomi
us, falls er überlebt hat. Vielleicht auch noch andere, und in diesem Fall sollten wir am besten unverzüglich nach Tezin-dar aufbrechen. Er stand auf und stellte überrascht fest, wie schwach sich seine Beine anfühlten. Ihm wurde schwindlig, und er stützte sich dankbar auf Brachts Arm ab. »Ich danke Euch für Eure Mühe«, sagte er und ver neigte sich. Ellhyn schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Ich glaube, Ihr geht in den Tod«, sagte sie. Ihre dunklen Augen wanderten von einem zum anderen. »Aber was auch geschieht, Ihr tretet diese Reise in Begleitung wah rer Gefährten an, und ich wünsche Euch viel Erfolg.« Calandryll nickte ihr zu und drehte sich um. Katya stand dicht neben ihm. Er lächelte sie an, und diesmal lag Wärme in seinen Augen. »Bist du bereit, in See zu stechen?« Sie neigte kurz den Kopf und erwiderte sein Lächeln. »Mit der Ebbe. Oder auch früher, wenn es sein muß.« »Dann lieber früher.« Er fühlte sich wieder sicherer auf den Beinen und schob Brachts Arm sanft zur Seite, als sie langsam durch den Korridor auf die Straße zu rückkehrten. Draußen war es heiß und hell, und in der Luft lag der Geruch des Dschungels. »So bald wie mög lich.« Katya nickte. Jirrhun reichte ihr die Steine, und sie schob die Kette von Calandrylls Talisman über seinen gebeugten Kopf.
Sie machten sich auf den Rückweg zum Hafen, die Hän de immer in der Nähe ihrer Schwerter. Jetzt erschien ihnen Kharasul doppelt so gefährlich, denn zu der Be drohung durch die Chaipaku hatte sich die Dunkelheit gesellt, von der Ellhyn gesprochen hatte. Selbst die Luft schien dicker zu sein, als würde der Wind, der über den Ty wehte, die Vorboten des Unheils mit sich bringen. Calandryll musterte wachsam die Passanten und frag te sich, ob sich unter den teils gleichgültigen, teils neu gierigen Gesichtern unfreundlichere Gefühle verbargen, ob die Augen, die den seinen begegneten, ihn erkannten und ihn seinen Häschern verraten würden. Er beschleu nigte seine Schritte. Jetzt war das Kriegsboot aus Vanu plötzlich zu einem Zufluchtsort geworden, zu einem Versteck vor der Rache der Meuchelmörder und der Vergeltung durch Zauberer. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Stein, sah, daß er matt war, und straffte die Schultern. Allmählich kehrte seine Entschlossenheit zu rück. Bei Dera, Reba hatte nicht gelogen, als sie ihm seine Reise vorausgesagt hatte. Jetzt würde es keine Rückkehr nach Lysse geben, er würde das Arcanum nicht Varent übergeben, sondern nach Vanu reisen, in ein Land, das genauso sagenhaft wie Tezin-dar war. Zuerst nach Ges syth, von dort in die Sümpfe, um die legendäre Stadt zu finden, dann das Buch herausholen und es den Heiligen Männern von Vanu bringen, damit sie es zerstören konn
ten. Varent – Rhythamun – würde es nicht bekommen! Nicht, solange er, Calandryll, lebte. Er würde eher ster ben, als es diesem Lügner in die Hände fallen zu lassen. Er bemerkte, daß sich mittlerweile weniger Menschen in den Straßen drängten. Sie näherten sich dem Hafen. Das Ende der Gasse zeichnete sich dort, wo sich Meer und Himmel trafen, als blauer Fleck ab. Der Nachmittag ging seinem Ende zu, die Sonne sank dem westlichen Horizont entgegen, und die Schatten wurden bereits länger, als sie die Gasse verließen und zielstrebig zum Kai gingen. Die Luft war vom Lärm marschierender Soldaten und den Schreien der Möwen erfüllt, die durch die ungewohnte Hektik aufgeschreckt worden waren. Die Anzahl der Schiffe, die in der Bucht ankerten, schrumpfte wie der Sand in einer Sanduhr. Es waren deutlich weniger als noch gegen Mittag, und gerade fuhr ein weiteres weg. Lediglich drei lyssianische Schiffe und einige kandische Kriegsboote waren zurückgeblieben. Bald, dachte Calandryll, würde überhaupt kein Schiff mehr da sein, und er mußte grinsen, weil sie Katya auf ihrer Seite hatten. Als sie das Ende des Piers erreicht hatten, zog sie eine silberne Pfeife unter ihrem Hemd hervor und blies drei mal hinein. Das schrille Pfeifen erweckte ihr Boot zu hektischem Leben. Ein Ruderboot wurde zu Wasser gelassen und näherte sich, von zwei hochgewachsenen Männern mit kräftigen Ruderschlägen vorangetrieben, schnell dem Kai. Ein Offizier, dem Abzeichen auf seinem
Nackenschutz nach ein Liktor, sah in ihre Richtung, und als er erkannte, was sie vorhatten, bellte er einen Befehl, worauf sich sechs Pikenträger zu einem kleinen Zug um ihn gruppierten. Das Ruderboot und die Soldaten erreichten die drei Gefährten zur gleichen Zeit. Der Liktor hob gebieterisch die Hand und forderte sie auf, stehenzubleiben. Ca landryll lockerte das Schwert in der Scheide. Er hatte nicht vor, sich jetzt noch aufhalten zu lassen. »Habt Ihr die Erlaubnis, Kharasul zu verlassen?« »Wir brauchen keine Erlaubnis«, erwiderte Katya so brüsk, daß sich das Gesicht des Liktors sofort verfinster te. »Mein Boot kommt aus Vanu, meine Begleiter aus Cuan na'For und Lysse. Also können wir auch nicht eingezogen werden.« Der Gesichtsausdruck des Liktors wurde noch stren ger. »Jeder, der im Hafen von Kharasul vor Anker liegt, untersteht dem Tyrannen und den Gesetzen Kandahars.« »So ist es«, stimmte ihm Katya zu, »aber er muß nicht gegen seinen Willen der Flotte des Tyrannen beitreten.« Der Liktor zuckte die Achseln und musterte das Kriegsboot, bevor er sich wieder der Frau zuwandte. »Ihr befehligt ein tüchtiges Schiff«, sagte er. »Ein Schiff, das uns gegen die Rebellen aus der Fayne gute Dienste leis ten könnte. Ich denke, Ihr solltet Eure Abreise verschie ben, während ich mich beim Praetor erkundige, ob wir Euer Boot brauchen.« Da trat Calandryll vor, richtete sich zu seiner vollen
Größe auf, ahmte den Tonfall seines Vaters nach, den dieser Untergebenen gegenüber anschlug, und sagte: »Ich bin Calandryll den Karynth, der Sohn des Domms von Secca, und ich habe dieses Boot angeheuert, mich nach Hause zu bringen. Ich habe dringende Geschäfte zu erledigen und wünsche nicht, aufgehalten zu werden.« Der Liktor beäugte ihn einen Moment lang und voll führte dann eine halbherzige Verbeugung. »Entschuldigt, bitte … Herr … aber Ihr seht nicht gerade wie der Sohn eines Domms aus, und wir benötigen gute Kriegsboote.« »Ich reise inkognito«, fauchte Calandryll auf die un wirsche Art, die für seinen Bruder so selbstverständlich war. Er erwiderte den zweifelnden Blick des Offiziers mit kalter Arroganz. »Und ich kann Euch versichern, daß weder mein Vater noch der Tyrann erfreut darüber sein werden, wenn Ihr mich aufhaltet.« Der Liktor zeigte erste Anzeichen der Verunsicherung und räusperte sich. »Ihr benötigt Kriegsboote für Eure Flotte?« fragte Ca landryll. »Warum holt Ihr Euch dann nicht diese Freibeu ter dort draußen? Dann würden zumindest unsere See fahrtslinien sicherer werden.« »Ich…« Der Liktor räusperte sich erneut. »Ich glaube, ich sollte mich lieber beim Praetor erkundigen.« »Und ich glaube, Ihr solltet Euch am besten darauf vorbereiten, Eures Kommandos enthoben zu werden!« bellte Calandryll. »Secca hat nicht viel für unbedeutende Offiziere übrig, die seine Gesandten behindern. Ich wer
de den Tyrannen davon in Kenntnis setzen!« Der Liktor trat unwillkürlich einen Schritt zurück, und für einen Moment war er sprachlos. Calandryll nutzte die Gelegenheit und winkte Bracht und Katya weiter. »Kommt, wir haben schon genug Zeit vergeudet.« Er ging die Stufen hinunter und stieg in das Ruder boot, gefolgt von Katya und Bracht. Der Liktor starrte ihnen mit hochrotem Gesicht hinterher, dann schüttelte er den Kopf, machte auf der Stelle kehrt und zog sich mit seinen Leuten zurück. Calandryll stieß einen Seufzer aus. »Dera!« murmelte er. »Ich dachte schon, wir wären verloren.« »Noch haben wir die Bucht nicht verlassen«, dämpfte Katya seinen Optimismus. Er nickte und sah zu dem schlanken Kriegsboot hin über, dem sich das kleine Ruderboot zügig näherte. Die Ruderer trieben es schweigend voran, große schlanke Männer, die in ihrer äußeren Erscheinung Katya sehr ähnlich waren. Ihre Tuniken spannten sich über den muskulösen Schultern, ihr beinahe weißes Haar war im Nacken kurzgeschnitten. In ihren Gürteln steckten Mes ser mit breiten Klingen. Man half ihnen an Bord, das kleine Ruderboot wurde schnell hochgezogen, Bug- und Heckanker eingeholt und die langen Ruder auf Katyas Befehl hin ausgefahren. Der Bug schwang nach Süden, als der Steuermann die Ru derpinne zur Seite zog, und das Kriegsboot glitt dunkel und majestätisch auf die offene See hinaus.
Katya führte sie zum Heck. Es lag etwas höher als das Mitteldeck, das zwischen den Ruderbänken entlanglief und von dem geringelten Drachenschwanz überragt wurde, an dem das Steuerruder befestigt war. An Bord wirkte das Boot größer, als es von der Seetänzerin aus ausgesehen hatte. Zwischen den Ruderbänken gab es Stauraum, und an Bug und Heck waren kleine Kabinen untergebracht. Katya unterhielt sich kurz mit dem Steu ermann in einer Sprache, die weder Calandryll noch Bracht verstanden, worauf der Mann nickte und die beiden breit anlächelte. »Ihr seid also die Männer, die uns fast versenkt hät ten«, sagte er mit starkem Akzent auf Lyssianisch. »Ich habe schon gedacht, wir würden ertrinken, als Ihr diesen Strudel erzeugt habt.« »Das ist Tekkan«, stellte Katya vor. »Er war es, der uns gerettet hat.« »Es war eher Glück«, erwiderte Tekkan bescheidend lächelnd und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Er war eindeutig ein Meister seines Fachs. Von den rhythmischen Schlägen der Ruderer angetrieben, glitt das Kriegsboot geschmeidig zwischen den größeren Han delsschiffen hindurch. Anscheinend brauchten die Rude rer niemanden, der ihnen den Takt vorgab, sie begnügten sich mit den Anweisungen Tekkans und eines zweiten Mannes, der am Bug stand und sie vor eventuellen Hin dernissen warnte, die der Steuermann übersehen hatte. Calandryll zählte dreißig Ruderer, fünfzehn auf jeder
Seite. Alle hatten fahlgoldenes oder beinahe weißes Haar. Ihre nackten Rücken waren sonnengebräunt, die Haut jedoch heller als die der Kander oder die von Bracht, und ihre Augen waren entweder so grau wie die von Katya oder von einem fast hypnotischen Hellblau. Sie sangen beim Rudern, nicht laut, aber in perfekter Harmonie. Ihre Stimmen waren melodisch, und das Lied klang auf eine Weise fremdartig, wie Calandryll es nie zuvor gehört hatte. Zwischen den Ruderern saßen Frauen, die er für die Bogenschützen hielt. Sie waren so groß wie die Männer, trugen das Haar jedoch länger, im Nacken zu Pferde schwänzen zusammengebunden oder hochgesteckt. Neben jeder Ruderbank hing ein Rundschild an der Bordwand, das Schutz vor der Gischt bot, und unter jeder Bank war ein verschließbarer Kasten. Das Längs deck überragte die Ruderbänke so weit, daß man dort Hängematten anbringen konnte und so ein wenig vor dem Wetter geschützt war. Calandryll entdeckte Schwerter, in Planen eingewi ckelte Bögen und Äxte von ungewöhnlicher Form. Die Vanuer waren gut ausgerüstet für ihr Unternehmen, und er spürte, wie seine wiedergefundene Zuversicht weiter wuchs, während Kharasul schnell hinter ihnen zurück blieb. Als das Boot die Zone erreichte, in der die herein kommende Flut auf das herausströmende Wasser des Shemme traf, begann es ein wenig zu schaukeln. Calandryll hörte Bracht stöhnen und drehte sich zu
ihm um. Der Kerner hielt die Reling fest umklammert, sein Gesicht war bleich geworden, und seine Augen, die er starr auf das offene Meer gerichtet hatte, spiegelten deutlich seine Befürchtungen wider. »Was ist los mit dir?« fragte Katya und trat neben ihn. »Das da.« Bracht deutete mit dem Kinn auf das Meer, stöhnte erneut, als das Kriegsboot schlingerte, und klammerte sich an der Reling fest, als hinge sein Leben davon ab. Katya schmunzelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm mit«, sagte sie. »Ich habe ein Mittel dagegen.« Bracht ließ die Reling widerstrebend los, strauchelte und hielt sich in Ermanglung eines anderen Halts an Katya fest. Er legte die Arme um sie, so daß sie einen Augenblick lang eng umschlungen dastanden. Calandryll sah, wie Tekkan einen schnellen und nicht allzu freundlichen Blick in ihre Richtung warf, dann löste sich Katya aus der Umklammerung. In ihren grauen Augen lag ein undefinierbarer Ausdruck, als sie Bracht am Arm ergriff und ihn von dem erhöhten Achterdeck hinunterführte. Calandryll folgte ihnen und entdeckte jetzt niedrige Türen zu beiden Seiten der Treppe. Katya öffnete die linke und schob Bracht hinein. Die Kajüte war eng. Achtern gab es eine einzelne Koje, darüber eine kleine Luke. Unter der Koje befand sich eine Kommode, eine zweite war in die Trennwand eingebaut, und ihr gegenüber stand eine dritte mit offenen Schubfä
chern, in denen Seekarten verstaut waren. Katya zog ein Fläschchen und einen silbernen Becher daraus hervor und warf Calandryll einen fragenden Blick zu, der lä chelnd den Kopf schüttelte und sagte: »Ich werde nicht seekrank. Bracht dagegen fühlt sich auf einem Pferderü cken wohler.« »Wenn wir doch nur nach Gessyth reiten könnten«, ächzte Bracht. »Wir Leute aus Cuan na'For sind nicht für das Meer geschaffen.« »Trink das.« Katya füllte den Becher und reichte ihn ihm. »Das und eine Nacht Schlaf, und du wirst dich wie ein alter Seemann an Deck bewegen.« Brachts Augen verrieten, daß er nicht daran glaubte, aber er grinste schwäch, leerte den Becher und verzog das Gesicht. »Du wirst gleich einschlafen«, versprach Katya. »Und wenn du wieder aufwachst, wird die Übelkeit ver schwunden sein.« »Dein Wort darauf?« fragte Bracht und streckte sich nur zu bereitwillig auf der Koje aus. »Und in wessen Bett liege ich hier eigentlich?« »Mein Wort darauf«, erwiderte sie lächelnd. »Und es ist mein Bett.« »Um so besser werde ich schlafen.« Bracht gähnte. »Obwohl ich…« Was immer er hatte sagen wollen, ging in einem Seuf zen unter. Mit der trägen Benommenheit eines Mannes, der kurz vor dem Einschlafen steht, löste er den
Schwertgürtel, schloß das Schwert in die Arme und dreh te sich auf die Seite. Er gähnte noch einmal, dann war er eingeschlafen. »Es wirkt schnell.« Katya verschloß das Fläschchen und verstaute es zusammen mit dem Becher wieder in der Kommode. »Er wird bis zum Morgengrauen durch schlafen, aber danach wird ihm nicht mehr übel sein. Laß uns jetzt gehen, wir haben einiges zu besprechen.« Sie schob Calandryll aus der Kabine und führte ihn zum Vorderdeck, wo sie sich gegen die Reling lehnten und zusahen, wie Kharasul auf der Steuerbordseite zu rückblieb. Dahinter glänzte die Mündung des Ty und wiederum dahinter die dunklen Dschungel von Gash. »Vertraust du mir jetzt?« fragte Katya und sah ihn of fen an. »Aye«, entgegnete er und erwiderte ihren Blick. »Ich habe mich wie ein Trottel benommen.« Seine Stimme klang bitter. Katya zuckte die Achseln und wandte ihre Aufmerk samkeit wieder dem Dschungel zu. »Das würde ich nicht sagen«, meinte sie. »Aber erzähl mir jetzt, wie du zu dieser Mission gekommen bist.« Sie blieben dicht an der Küste und ruderten nordwärts gegen den Wind an, der jetzt noch stärker mit den Gerü chen des nahen Urwalds geschwängert war. Die exoti sche Pflanzendecke erstreckte sich in lebhaften Grüntö nen direkt bis ans Wasser und überwucherte auch den
Strand. Calandryll begann, offen zu erzählen, ohne ir gend etwas zurückzuhalten. Es war wie eine Art Beichte und zugleich ein Vertrauensbeweis. Er erzählte ihr, wie sein Vater ihn zum Priester hatte machen wollen, von seinen Hoffnungen Nadama gegenüber, von Tobias, seiner ersten Begegnung mit Varent, den Versprechun gen des Botschafters und dem Fund der Landkarte Or wens. Er berichtete, wie er Bracht kennengelernt hatte, erzählte von Varents Magie, mit deren Hilfe er aus Secca entkommen war, und teilte ihr alles mit, was er von Va rent erfahren hatte. Er schilderte ihr die Begegnung mit den Dämonen und dem Byah, erzählte von Brachts Mißtrauen, dem roten Stein und der Überfahrt auf der Seetänzerin. An dieser Stelle lachte Katya leise und erzählte ihrerseits, wie der Sturm, den er ausgelöst hatte, sie beinahe versenkt hätte, und wie sie danach beständig nach Süden gerudert wa ren und sich darauf verlassen hatten, daß er Kharasul erreichen würde. Danach war wieder Calandryll an der Reihe und be richtete von dem ersten Anschlag der Chaipaku, der Flucht aus Mherut'yi, von Sathoman ek'Hennem und Anomius, wie sie dem Zauberer entkommen waren – wobei sich ihr Gesicht verfinsterte – und schließlich von den Ereignissen, die sie zu dem verlassenen Platz in der Stadt geführt hatten, wo sie sich begegnet waren. Katya schwieg lange Zeit, nachdem er geendet hatte. Ihr Blick war auf den vorbeiziehenden Dschungel gerich
tet, dann sagte sie: »Ich glaube, daß dieser Varent tat sächlich Rhythamun ist und sich nicht so leicht geschla gen geben wird.« »Wenn das stimmt«, murmelte Calandryll und beo bachtete die dunklen Vögel, die über den Bäumen kreis ten, »wie alt ist er dann?« »Azumandias hat die Krönung von Thomus miter lebt«, antwortete Katya, »und Rhythamun seinen Tod.« »Fünfhundert Jahre?« fragte Calandryll mit ehrfürch tig gesenkter Stimme. »Wie ist das möglich?« »Es gibt immer irgendwelche Mittel.« Sie schüttelte sich angewidert. »Sie sind nicht gerade angenehm und nur wenigen Menschen bekannt.« »Wie?« beharrte er auf seiner Frage. Katya wandte ihm den Kopf zu, sah ihn besorgt an und blickte dann wieder weg. »Dazu muß man das Le ben eines anderen Menschen übernehmen«, sagte sie leise. »Das ist nicht einfach und mit vielen Gefahren verbunden, aber es ist möglich. Zumindest solchen Män nern wie Rhythamun. Wahrscheinlich hat er es mit die sem Varent getan, und irgendwann wird er sich ein neu es Opfer suchen.« Die Vorstellung ließ Calandryll erschaudern, und sei ne Angst wurde noch größer, als ihm ein Gedanke durch den Sinn ging. »Dann kann er sich unerkannt überall hinbewegen«, keuchte er. »So könnte er jede beliebige Gestalt annehmen.« »Aye«, bestätigte Katya, »aber ich glaube, er hat seine
Gründe, vorerst Varent zu bleiben. Hast du nicht gesagt, daß er das Vertrauen des Domms von Aldarin besitzt? In einer solchen Position verfügt er über beachtliche Machtmittel, und die müßten ihm sehr gelegen kommen. Um den Verrückten Gott wiederauferstehen zu lassen, bedarf es mehr als nur Zaubersprüche – es sind Opfer erforderlich, viel Blut muß vergossen werden, um ihn rufen zu können.« Calandryll starrte sie an. »Mit der Flotte?« fragte er. Katya nickte. »Wahrscheinlich. Du hast gesagt, dein Bruder hätte sich für einen Krieg mit Kandahar ausge sprochen und würde das Flottenkommando überneh men. Sollte es Rhythamun gelingen, den Domm Aldarins zu einem Krieg zu überreden, würde sich Secca anschlie ßen?« »Nicht mein Vater«, entgegnete Calandryll, »aber To bias, ja. Tobias würde so ein Unternehmen befürworten.« »Und Tobias hat bereits die Bruderschaft eingeschal tet.« Die unausgesprochene Schlußfolgerung hing wie eine dunkle Wolke zwischen ihnen. Calandrylls Augen weite ten sich vor Abscheu. »Um unseren Vater umzubringen? Nein! Das ganz bestimmt nicht! Um mich umzubringen, nun gut, aber nicht unseren Vater.« »So etwas ist schon vorgekommen«, sagte Katya leise, »und sollte Tobias auf Rhythamuns Versprechungen hereinfallen … Du hast selbst erfahren, was für ein ge schickter Lügner und Betrüger er ist.«
»Dera!« stöhnte Calandryll. »Würde er Lysse und Kandahar in den Krieg treiben? Nur um seine eigenen Pläne voranzutreiben?« »Wenn es ihm hilft, den Verrückten Gott auferstehen zu lassen, aye«, erwiderte sie. »Wenn er dadurch die Macht erlangen kann, nach der es ihn verlangt. Er muß zwei Voraussetzungen erfüllen – die verborgenen Orte finden und in den Besitz der Zaubersprüche gelangen –, um sein Ziel zu erreichen. Wenn sich aber Lysse und Kandahar bekriegen würden, würde der Blutzoll die Wiederauferstehung erleichtern. Rhythamun strebt un begrenzte Macht an, und so verrückt, wie er ist, würde er die Welt in den Abgrund führen, um das zu erreichen.« »Das wird nicht geschehen«, flüsterte Calandryll. »Das darf nicht geschehen!« Seine Worte ließen Katya lächeln, und ihr Ge sichtsausdruck erinnerte ihn an den von Bracht, wenn der Kerner einen spielerischen Übungskampf bestritt. »Wir haben Orwens Karte«, sagte sie, »und werden schon bald Gessyth erreichen. Dann müssen wir nur noch das Arcanum finden und es sicher nach Vanu brin gen. Dort kann es dann ein für allemal zerstört werden.« »Eine lange Reise«, murmelte Calandryll zweifelnd. »Und die Rückreise führt an der Küste Lysses entlang. Was, wenn Varent bis dahin Tobias' Vertrauen errungen hat? Wir würden es garantiert mit der Flotte zu tun be kommen.« »Die Gefahr besteht«, gab sie zu. »Aber welche andere
Möglichkeit bleibt uns? Wir haben nicht die Mittel, um selbst das Buch zu zerstören.« »Die haben dir die Heiligen Männer nicht gegeben?« fragte er. »Nein.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf, und ihr windzerzauster Pferdeschwanz flog hin und her. »Ich besitze keine Magie außer diesem Stein, und der hat nur dazu gedient, mich zu dir zu führen. Es ist große Macht erforderlich, um das Arcanum zu zerstören, okkultes Wissen, das nur wenige besitzen.« »Warum haben sie dich dann nicht begleitet, diese Heiligen Männer?« fragte Calandryll. »Sie besitzen keine Macht jenseits der Grenzen von Vanu«, erklärte Katya. »Sie haben beschlossen, sich nicht in die Geschicke der Welt einzumischen, und deshalb haben sie ihre Macht freiwillig begrenzt. Erst nach der Prophezeiung haben sie entschieden, in dieser Angele genheit tätig zu werden, denn sie wußten, daß sie sonst tatenlos würden zusehen müssen, wie die Welt in Blut und Zerstörung versinkt.« Auf der Backbordseite berührte die Sonne den westli chen Horizont, eine riesige karmesinrote Scheibe, die das Meer mit flüssigem Feuer überzog. Es kam Calandryll so vor, als würde sich dort eine Wunde im Meer öffnen, aus der sich Ströme von Blut ergossen. Er verdrängte den Gedanken mit einem Kopfschütteln und wandte sich wieder der unzugänglichen Küste Gashs zu. Der Dschungel lag jetzt dunkel vor ihm, bereits von den
Schatten der hereinbrechenden Nacht erfaßt, und mit dem Wind drangen schrille fremdartige Schreie leise zu ihnen herüber. Der Mond stand tief im Osten, und ob wohl die Luft immer noch warm war, ließ der Gedanke an die gewaltige Aufgabe, die vor ihnen lag, Calandryll erschaudern. Er ließ den Blick über das Kriegsboot schweifen und sah, wie die Frauen kleine Kohleöfen aufbauten, um das Abendessen vorzubereiten. Sie holten Lebensmittel aus den Kästen, während die Männer gleichmäßig weiterruderten und das schlanke Boot wie fröhliche Automaten scheinbar unermüdlich gegen den Wind nach Norden vorantrieben. »Sind sie Krieger?« fragte Calandryll. »Alle«, bestätigte Katya. »Sowohl die Frauen als auch die Männer.« Plötzlich erschienen es ihm viel zu wenige Mitstreiter für ihr Vorhaben zu sein, denn sollten sich Katyas Be fürchtungen bewahrheiten, würden sie auf ihrer Rück kehr wahrscheinlich sehr viel größeren Gefahren ausge setzt sein, als er es sich bisher vorgestellt hatte. Vielleicht spiegelten sich seine Zweifel auf seinem Ge sicht wider, vielleicht las Katya aber auch seine Gedan ken, denn sie sagte: »Wir müssen erst einmal das Arca num finden, bevor wir uns Gedanken darüber machen, was sonst noch alles geschehen könnte. Und ich glaube, schon das allein wird schwierig genug werden.« »Aye«, stimmte er ihr zu und lächelte verkniffen. »Was weißt du über Gessyth?«
»Daß es im Norden und Tezin-dar weiter im Inland liegt«, sagte sie. »Tief in den Sümpfen. Das ist alles.« »Und damit bist du von Vanu aus losgesegelt?« fragte er, erstaunt über ihren Wagemut. »Ihr hattet auch nicht viel mehr.« Sie zuckte die Ach seln. »Du und Bracht.« »Wir haben immerhin Orwens Karte«, gab er zu be denken. »Und den Stein, der uns zu dem Buch führt.« »Das ist nicht gerade sehr viel.« Ihre weißen Zähne blitzten im schnell verdämmernden Licht auf. »Aber ich würde mir die Karte gerne einmal ansehen. Zeigst du sie mir beim Abendessen?« »Und erzählst du mir etwas über Vanu?« fragte er zu rück. »Das Land jenseits des Borrhun-maj ist für uns ein Geheimnis.« Er hatte das Gefühl, als würde sie zögern, als wäre es ihr nicht recht, aber ihr Gesicht lag im Schatten, und er konnte ihre Miene nicht deutlich erkennen, sah sie nur nicken, als sie mit ihm zu den Kohleöfen ging. Beim Geruch des Essens wurde ihm bewußt, wie hungrig er war, und schon bald hatte er ihr kurzes Zögern wieder vergessen.
KAPITEL 16 Abgesehen von Katya und Tekkan beherrschten die Mit glieder der Schiffsbesatzung nur ihre Muttersprache, und diese Sprache unterschied sich von allen anderen, die Calandryll jemals gehört hatte. Es war eine verwirrende, trällernde und fast musikalische Abfolge von Lauten, mit denen er, so sehr er sich auch bemühte, kaum etwas anzufangen wußte. Trotzdem hieß ihn die Mannschaft sehr freundlich willkommen, als er sich auf den Planken niederließ. Eine lächelnde Frau reichte ihm eine Schüssel mit einem aus Fisch und Gemüse bestehenden Eintopf, ein Mann drückte ihm einen Krug in die Hand, den ein anderer mit einem hellen Wein füllte, aber als Calandryll mit ihnen reden wollte, lächelten sie nur noch breiter und zuckten die Achseln, und ihre Antworten klangen in seinen Ohren wie die Strophen eines Liedes, von dem er kein Wort verstand. Ein Treibanker war ausgeworfen worden, um das Boot im Wind zu halten, solange die Ruderer sich erholten. Katya und Tekkan gesellten sich zum ihm und ließen sich mit übereinandergeschlagenen Beinen neben ihm nieder. Calandryll bestürmte sie zwi schen den Bissen mit Fragen über ihre Heimat, während sie wiederum etwas von der seinen erfahren wollten. Katya war die gesprächigere von beiden, stellte ihm
eine Frage nach der anderen und unterbrach das Ge spräch öfters, um seine Worte Tekkan und den anderen zu übersetzen. Immer wieder mußte er auf ihre Erwide rungen warten, bevor er antworten konnte, so daß er nie wußte, wer aus der Schiffsmannschaft was gesagt hatte, obwohl ihm das im Augenblick auch nicht besonders wichtig erschien. Wie er bereits wußte, lag Vanu hinter dem Borrhun-maj, wohin sich, wenn er den Legenden Glauben schenken wollte, die Ersten Gottheiten Yl und Kyta zurückgezogen hatten. Katya lachte darüber und versicherte ihm, daß ihre Heimat von Menschen und nicht von Göttern bewohnt wurde, und brachte ihre Landsleute ebenfalls zum Lachen, als sie es ihnen über setzte. Ja, es war eine abgelegene Gegend, stimmte sie ihm zu. Die große Bergkette bildete eine Barriere im Süden, und auch in den anderen Himmelsrichtungen wurde das Land durch Gebirge vom Rest der Welt abgeschnitten. Gelegentlich reisten Seefahrer nach Nywan am Rande der Ebene von Jesseryn, aber das geschah nur selten. Die Vanuer zogen es vor, unter sich zu bleiben, und die ge birgige Küste schreckte andere Seefahrer ab. Er erfuhr, daß es Städte in den Bergen und der zentra len Grasebene von Vanu gab, die untereinander Handel trieben. Jede größere Stadt wurde von einer Ratsver sammlung verwaltet, aus der jeweils drei Vertreter ge wählt wurden, die zusammen mit den Vertretern der anderen Städte so etwas wie eine Zentralregierung bilde ten, die zweimal im Jahr zusammentrat, im Frühling und
im Herbst. Daß eine derart lockere Konstellation funktionieren könnte, überraschte Calandryll, der selbst mehr mit den autokratischen Herrschaftssystemen der Domms Lysses oder der Alleinherrschaft der Tyrannen von Kandahar vertraut war. Würden die Städte in seiner Heimat sich denn nicht bekämpfen? hielt Katya dagegen. Und was wäre mit dem Bürgerkrieg, der sich in Kandahar zusammenbraute? In Vanu gäbe es keine solchen Konflikte, sagte sie, was ihm angesichts der um ihn herum versammelten Krieger etwas fragwürdig erschien. Er kam aber nicht mehr dazu, näher auf diesen Punkt einzugehen, denn sie wechselte behutsam das Thema und lenkte das Gespräch auf alltäglichere Dinge, erzählte von den Bergen und den strengen Wintern, den Wäldern und den weiten Grasebenen, und noch bevor sie geendet hatte, wurde er schläfrig und streckte sich dankbar auf dem Strohsack aus, der für ihn auf dem Deck ausgebrei tet worden war. Als er erwachte, schien ihm die Sonne warm ins Ge sicht. Er stand auf, nahm ein aus Brot und Käse beste hendes Frühstück zu sich, das er mit kühlem Wasser herunterspülte, und als er es beendet hatte, kam Bracht aus der Kabine hervor. Der Kerner näherte sich ihm vor sichtig, wobei er mißtrauisch das Meer beäugte, als er warte er jeden Moment einen neuen Anfall von Übelkeit. Aber seine Blässe war verschwunden, und er glich das
Schlingern des Kriegsbootes wie ein alter Seebär aus. »Ahrd, was immer Katya mir auch gegeben hat, es hilft«, stellte er gutgelaunt fest, als er sich neben Ca landryll niederließ und seine Worte dadurch unterstrich, daß er einen Laib Brot und ein beachtliches Stück Käse vertilgte. »Wo ist sie?« Calandryll deutete zum Heck, wo sich die Frau mit Tekkan unterhielt. Bracht nickte, nahm noch etwas Käse und wandte den Blick nach Osten, wo sich die Küste Gessyths deutlich im Licht des frühen Morgens abzeich nete. »Habt ihr euch letzte Nacht unterhalten, als ich ge schlafen habe?« wollte er wissen, und als Calandryll nickte, fügte er hinzu: »Worüber?« Calandryll erzählte es ihm, und Bracht grunzte nach denklich. In seiner üblichen praktischen Art machte er sich keine weiteren Gedanken über irgendwelche Speku lationen und wandte sich statt dessen den Punkten zu, die ihre unmittelbare Situation betrafen. »Ich würde gerne mehr über die Heiligen Männer er fahren«, murmelte Calandryll. »Sie haben beschlossen, in diese Sache einzugreifen, also müssen sie über die Au ßenwelt informiert sein. Ob sie das Arcanum wirklich zerstören können?« Bracht zuckte die Achseln, stand auf und ergriff ein Halteseil. Das offene Meer schien ihn nicht mehr zu be unruhigen. »Die Wahrsagerin hat uns geraten, Katya zu vertrauen«, sagte er, »und das tue ich. Also haben wir
keine andere Wahl, als auch den Heiligen Männern zu vertrauen.« Calandryll musterte das Gesicht seines Gefährten und fand, daß dieses rückhaltlose Vertrauen untypisch für ihn war. Seit sie sich kennengelernt hatten, war Bracht ständig mißtrauisch gewesen, während Calandryll allzu vertrauensselig gewesen war. Das Wesen des Söldners schien darin bestanden zu haben, jeden, der ihnen be gegnete, mit Argwohn zu betrachten, und jetzt machte er den Eindruck, als wäre er Katya regelrecht verfallen. Noch bevor Ellhyn ihnen gewahrsagt hatte, daß ihr Schicksal miteinander verbunden sei, hatte er die Bereit schaft gezeigt, der Kriegerin zu glauben. Calandryll frag te sich, ob Brachts unübersehbare Bewunderung für Katya seine übliche Skepsis verdrängte, und schob diesen Gedanken dann von sich. Katya hatte ihnen gegen die Chaipaku beigestanden, und die Wahrsagerin hatte sie zu ihrer Gefährtin erklärt. Wahrscheinlich hatte die Erkenntnis, daß es Varent ge lungen war, ihn so erfolgreich an der Nase herumzufüh ren, sein eigenes Urteilsvermögen beeinträchtigt. Und doch konnte er das Gefühl, daß Katya ihnen irgend etwas verschwieg, nicht völlig abschütteln. Zwar hatte sie sich letzte Nacht ganz offen mit ihm unterhalten – zumindest war es ihm so vorgekommen –, aber trotzdem gab es noch einige unbeantwortete Fragen, die er ihr auch ge stellt hätte, wenn das Gespräch nicht durch sie oder Tek kans Bemerkungen in eine andere Richtung gelenkt wor den wäre.
»Ich werde mit ihr sprechen.« Brachts Ankündigung ließ ihn aufstehen, und er folgte ihm zum Achterdeck, wo Katya neben dem Steuermann stand. »Hast du gut geschlafen?« erkundigte sie sich lä chelnd. Bracht nickte. »Ja, und jetzt habe ich mich auch daran gewöhnt.« Er machte eine weit ausholende Armbewe gung, die das Boot und das Meer umfaßte. »Ich hätte nie gedacht, daß ich mich auf dem Wasser jemals wie zu Hause fühlen könnte. Ich bin dir zu Dank verpflichtet«, sagte er und sah ihr dabei direkt ins Gesicht. Sein Lä cheln drückte sowohl ein Kompliment wie auch Dank barkeit aus. Und Calandryll mußte zugeben, daß ihr Anblick das Blut eines Mannes tatsächlich in Wallung bringen konn te. Die Sonne zauberte silberne Lichtreflexe auf ihr Haar, und die Art, wie sie es zurückgebunden hatte, betonte ihre stolzen Gesichtszüge, die von den grauen Augen beherrscht wurden. Sie hatte die Hose abgelegt und trug nur ihre lange Tunika, die über der Hüfte von ihrem Schwertgürtel zusammengehalten wurde. Der weiße Stoff bildete einen lebhaften Kontrast zu ihren langen gebräunten Beinen. Seit sie an Bord war, ging sie barfuß. Sie sah hinreißend aus. Als sie die unausgesprochene Botschaft in Brachts Lächeln entdeckte, verdunkelten sich ihre Augen einen Moment lang, und ihr eigenes Lächeln verblaßte. Tekkan runzelte kurz die Stirn und murmelte ihr irgend etwas in seiner Muttersprache zu. Katya nick
te. »Ich möchte nicht, daß du seekrank in Gessyth an kommst«, sagte sie. »Und es ist gut möglich, daß wir deine Fechtkünste schon vorher brauchen werden.« »Rechnest du mit einem Angriff?« Calandryll spähte nach achtern. Das Meer breitete sich leer vor ihm aus. »Werden wir verfolgt?« »Die Gefahr lauert dort drüben«, antwortete Tekkan an ihrer Stelle und ließ die Ruderpinne los, um landein wärts zu deuten. »In Gash.« »Wir müssen frisches Wasser aufnehmen«, erklärte Katya. »Unsere Vorräte reichen nicht ewig, weder das Wasser noch die Lebensmittel. Irgendwann müssen wir vor Anker gehen und in den Dschungel eindringen, und die Bevölkerung von Gash ist nicht gerade für ihre Gast freundschaft berühmt.« »Ein Hinterhalt?« Bracht lächelte sie weiterhin an. »Gegen einen bewaffneten Landungstrupp?« »Vielleicht kommt es nicht dazu«, erwiderte Katya achselzuckend, »aber dort droht uns jedenfalls Gefahr.« »Genau wie da«, sagte Bracht und deutete nach vorn und dann nach hinten, »und dort. Ich denke, uns droht von allen Seiten Gefahr.« »Ich möchte kein Menschenleben verlieren«, stellte Tekkan fest, »und auch keine Zeit vergeuden, indem wir uns mit den Kreaturen von Gash herumschlagen.« Bracht lachte unbekümmert. Calandryll fragte sich, ob
seine Zuversicht ein Nebeneffekt des Medikaments war oder ob er damit nur Katya beeindrucken wollte. »Wie lange noch, bevor wir an Land gehen müssen?« fragte er. »In zehn Tagen, wenn wir sparsam mit dem Wasser umgehen«, erwiderte Tekkan, »und danach alle zehn Tage wieder, während der gesamten Reise nach Gessyth. Dieses Boot ist für die Küstengewässer gebaut worden, nicht für die Hochsee.« In seiner Stimme klang eine Spur nicht gänzlich un terdrückter Reserviertheit mit, und seine Augen richteten sich auf Bracht. Calandryll wußte nicht, ob der Kerner den Tonfall bemerkt hatte, aber Brachts Lächeln erlosch, und sein Gesicht wurde ernst, als er den Blick des Steuermanns erwiderte. »Mein Schwert steht zu Eurer Verfügung«, sagte er formell, und dann an Katya gewandt: »Ich habe dich aus deiner Kabine vertrieben und möchte dir noch einmal dafür danken. Soll ich mir heute nacht eine ande re Schlafstätte suchen?« Er sah sie offen an, und Calandryll glaubte zu erken nen, daß eine leichte Röte ihre Wangen überzog. Er be merkte, daß Tekkan die Lippen schürzte und sein Blick kälter wurde. »Du hast sie letzte Nacht dringender als ich ge braucht«, gab Katya zurück. »Heute kannst du zwischen dem Deck und einer Hängematte wählen.« Ihre Stimme klang kühl. Bracht verbeugte sich und grinste. Tekkan
sagte wieder irgend etwas in seiner Muttersprache, und Katya nickte. »Ich muß mir ein paar Seekarten ansehen. Fühlt euch wie zu Hause an Bord. Wir unterhalten uns später wei ter.« Sie ging an ihnen vorbei und stieg den Niedergang hinunter. Ihr Blick streifte kurz Brachts Gesicht, ihre grauen Augen wirkten etwas dunkler als sonst. Bracht sah ihr hinterher, bis sie in ihrer Kabine verschwunden war. »Ich möchte nicht, daß Ihr meiner Mannschaft im Weg steht«, sagte Tekkan. Das war eine unmißverständliche Aufforderung, das Achterdeck zu verlassen. Sie gingen zum Bug, wo sie allein waren, da die Männer wieder auf den Ruderbän ken Platz genommen hatten und die Frauen mit den vielen kleinen Arbeiten beschäftigt waren, die auf jedem Schiff anfielen. Bracht setzte sich auf die sonnengewärm ten Planken und begann, sein Schwert mit einem Wetz stein zu schärfen. Calandryll ließ sich neben ihm nieder. Er war etwas beunruhigt und wußte nicht so recht, ob er lieber schweigen oder mit Bracht sprechen sollte. Dann aber sagte er sich, daß ihre Reise nach Gessyth ziemlich lange dauern würde und zuviel auf dem Spiel stand. Es würde vernünftiger sein, die Sache jetzt hinter sich zu bringen. »Du bedrängst sie zu stark«, sagte er. Bracht warf ihm einen kurzen Blick zu und grinste.
»Wenn du nicht nur sie angestarrt hättest, wäre dir Tekkans Gesichtsausdruck aufgefallen«, ließ Calandryll nicht locker. »Aber ich habe nur Katya angesehen«, gab Bracht zu rück. »Und das war auch der erfreulichere Anblick.« »Wie ein bis über beide Ohren verliebter Jüngling«, stellte Calandryll fest. Bracht musterte ihn mit einem prüfenden Ge sichtsausdruck, dann nickte er. »Bei Ahrd, sie ist aber auch wirklich hübsch, nicht wahr? Und dazu noch eine Schwertkämpferin. So etwas findet man nur selten.« Calandryll seufzte geduldig. »Deine Gefühlsaufwal lungen haben Tekkans Mißfallen erregt. Möchtest du ihn dir zum Feind machen?« »Ich würde unsere neue Gefährtin nur gerne besser kennenlernen«, sagte Bracht unbeeindruckt. »Wenn sie mir nur die Freude machen würde!« »Irgendein Band besteht zwischen ihnen«, behauptete Calandryll. »Vielleicht sind sie ein Paar.« »Glaubst du?« Bracht ließ das Schwert sinken und be trachtete nachdenklich den Steuermann. »Meinst du, ich habe einen Rivalen?« »Einen Rivalen? Dera!« Calandryll senkte die Stimme, als sich mehrere Gesichter in ihre Richtung drehten. »Wir segeln durch unbekanntes Gewässer, suchen das Arca num, haben die Kannibalen von Gash zu unserer Rech ten, Varent hinter uns, die Göttin allein mag wissen, was noch alles vor uns liegt, und du denkst nur daran, Katya
ins Bett zu bekommen.« »Die Reise wird lange dauern«, sagte Bracht friedfer tig, »und wahrscheinlich ziemlich langweilig werden. Und ich bin noch nie einer Frau wie ihr begegnet.« »Würdest du unsere Mission dafür gefährden?« wollte Calandryll wissen. »Nein«, entgegnete Bracht in einem ernsthafteren Ton fall. Dann grinste er wieder. »Aber es würde mir mehr Spaß machen, diese Frau zu erobern.« Calandryll starrte den Söldner verärgert an, aber dann erkannte er, daß Bracht die Sache ernst nahm, schüttelte den Kopf und sagte: »Was für eine Beziehung auch im mer zwischen Katya und Tekkan existiert, der Steuer mann nimmt dir deine Annäherungsversuche übel. Wenn mehr daraus wird…« Er ließ den Satz unbeendet. »Ich werde mir Tekkan nicht zum Feind machen«, ver sicherte Bracht. »Dann zügle deine … Begeisterung.« Bracht blickte ihm in die Augen und fragte direkt: »Begehrst du sie?« »Nein«, erwiderte Calandryll, und als Bracht ihn auch weiterhin prüfend betrachtete, schüttelte er den Kopf und sagte noch einmal mit Nachdruck: »Nein.« »Gut«, stellte Bracht leise fest. »Dann wird es keine Ri valität zwischen uns geben.« »Nein«, wiederholte Calandryll, »aber du solltest trotzdem nicht riskieren, Tekkan mit deinen … Kompli
menten zu verärgern. Ich rate dir, dich ihm – und Katya – gegenüber vorsichtig zu verhalten.« Bracht seufzte demonstrativ. »In Ordnung, aber das wird nicht so einfach sein.« Durch sein Versprechen ermutigt, fuhr Calandryll fort: »Dein Benehmen ist ganz untypisch für dich. Während unserer Reise habe ich dich noch nie so unbeherrscht erlebt.« »Hast du im Laufe unserer Reise irgendeine andere Frau wie Katya gesehen?« fragte Bracht. »Aber du kannst dich beruhigen, ich werde meine Zunge im Zaum halten und niemandem Grund zur Verärgerung geben.« »Ein kluger Vorsatz«, sagte Calandryll erleichtert. Bracht grunzte zustimmend, schob das Krumm schwert in die Scheide zurück und beschäftigte sich mit der Schneide des Dolchs. Ein versonnenes Lächeln um spielte seine Mundwinkel. Calandryll lehnte sich mit dem Rücken gegen den ge schwungenen Hals der Galionsfigur. Er war zufrieden mit dem Versprechen des Kerners, streckte bequem die Beine aus und lauschte dem ständigen Klatschen der Wellen gegen den Bug. Er war sich weder sicher, was er in Tekkans Augen gesehen hatte (außer daß Brachts Annäherungsversuche den Steuermann gereizt hatten), noch wußte er, wie er Katyas Antwort deuten sollte. Irgend etwas verband Katya und Tekkan, davon war er überzeugt, aber er hatte keine Ahnung, was das war. Es überraschte ihn, daß sich Bracht so plötzlich – und
anscheinend aufrichtig – in sie verliebt hatte. Der Kerner hatte sich nur zu bereitwillig mit Varents Dienstmädchen vergnügt, aber das hier schien etwas ganz anderes zu sein. Trotz seiner unverblümten Annäherungsversuche hatte es den Anschein, als fühle sich der Kerner ganz spontan und mit einer Ernsthaftigkeit zu Katya hingezo gen, die aus den Tiefen seiner Seele kam und nicht nur schlichte Leidenschaft war. Und das konnte ihre Mission gefährden, dachte Calandryll, als er wieder Tekkans Gesichtsausdruck vor seinem inneren Auge sah. In diesem Augenblick klang der Ruf des Steuermanns auf und beendete abrupt alle weiteren Überlegungen zu diesem Thema. Er sprang gleichzeitig mit Bracht auf und hörte Tek kan erneut etwas rufen. Es schien sich um einen Befehl zu handeln, denn das Boot wurde schneller, und die Bogenschützen legten die Sehnen in die Bögen. Ca landryll warf einen Blick zurück und rechnete damit, ein kandisches Schiff über dem südlichen Horizont auftau chen zu sehen, bemerkte dann aber, daß die Aufmerk samkeit der Besatzungsmitglieder auf die Küste gerichtet war, und wandte sich dem Dschungel zu. Auf der Steuerbordseite in Fahrtrichtung lauerten drei riesige Kanus, die im ersten Augenblick vor dem Hinter grund des dichten Ufergehölzes kaum zu erkennen wa ren, dann aber deutlicher sichtbar wurden, als sie schnell auf das Kriegsboot zu glitten. Sie bestanden aus großen, hellgestrichenen ausgehöhlten Baumstämmen und wur
den von Ruderern angetrieben, die ihre Paddel mit wil der Energie durch das Wasser zogen. Zwischen ihnen kauerten Bogenschützen und stießen ein lautes Heulen aus. Die Einbäume schossen vorwärts, um den Kurs des Kriegsbootes zu kreuzen. Calandryll sah, daß die Haut der Angreifer schwarz, aber so dicht mit bunten Tätowierungen übersät war, daß sie leuchtend hell wie die bunten Vögel aussahen, die in dichten Trauben in den Bäumen am Ufer hockten. Ge sichter, Brustkörbe, Arme und Beine – alle sichtbaren Körperteile waren von leuchtenden Streifen überzogen. Ihr langes, glänzend schwarzes Haar war mit Federn und Muscheln geschmückt, in Nasen und Ohrläppchen steck ten Knochen, und noch mehr Knochen hingen an ihren Halsketten oder klapperten an den Lendenschurzen, die ihre einzigen Kleidungsstücke darstellten. Katya kam aus ihrer Kabine hervor, warf einen kurzen Blick in Richtung der Kanus und eilte zu Tekkan aufs Achterdeck. Der Steuermann zog das Ruder herum und versuchte, den Abstand zu den Einbäumen zu vergrö ßern. Die Ruderer erhöhten ihre Schlagzahl, das vanui sche Boot beschleunigte, aber die leichteren Kanus paß ten sich problemlos der Geschwindigkeit an. Die heulen den schwarzen Ruderer waren ausgeruhter, und die Einbäume flogen auf einem Kurs über das Wasser, der nach Calandrylls Einschätzung zu einer Kollision mit dem Kriegsboot führen würde. Er trat an die Reling. Noch waren die Einbäume außer
Schußweite, aber schon hatten die Bogenschützen die Pfeile auf die Sehnen gelegt. Einer oder zwei schossen ihre Pfeile in hohen Bögen durch den Morgenhimmel, aber die Geschosse landeten harmlos im Wasser. Eins der Kanus setzte sich von den anderen ab. Calandryll sah einen Krieger auf der Bugspitze stehen, der einen mit bösartig aussehenden Widerhaken bestückten Speer schüttelte, als wolle er die Ruderer zu noch größeren Anstrengungen antreiben. An seinem Hals baumelte eine Kette aus winzigen Totenschädeln, und die Federn in seinem Haar waren prächtiger als die der anderen. Als Calandryll sich umdrehte, sah er, wie sich Katya zu den Bogenschützen gesellte, die immer noch nicht schossen, obwohl er annahm, daß sie die Kannibalen mit ihren stärkeren Bögen mittlerweile hätten erreichen kön nen. Tekkan schwenkte das Ruder um ein bis zwei Grad weiter herum und strebte in einem flachen Winkel von den Kanus weg, um einen Kampf zu vermeiden. Bei Südwind und gesetztem Segel hätten sie die Einbäume vielleicht abhängen können, so aber mußten sie gegen den Wind rudern, und das Kriegsboot lag tiefer im Was ser als die Kanus. Die heulenden Wilden begannen auf zuholen. »Ich glaube, jetzt bekommen wir die Gelegenheit, uns Kost und Logis zu verdienen«, sagte Bracht neben ihm. »Katyas Bogenschützen allein reichen gegen die Angrei fer nicht aus.« Calandryll nickte und fummelte an seinem Schwert
herum. Er war längst nicht so kampflustig wie sein Ge fährte. Tekkan schien es ähnlich zu gehen. Wieder rief er et was in seiner Muttersprache, und das Kriegsboot schwenkte unvermittelt nach steuerbord. Calandryll wurde von der abrupten Kursänderung überrascht, prall te mit dem Bauch gegen die Reling, suchte verzweifelt nach einem Halt und sah direkt unter sich die schäu mende Bugwelle. Doch bevor er über Bord stürzen konn te, spürte er, wie sich Brachts Hand um seinen Gürtel krallte, ihn unsanft zurückriß und zu Boden stieß, als eine Wolke grüngefiederter Pfeile auf sie zuschoß. Ein Pfeil schlug zitternd nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt in die Galionsfigur ein, und im gleichen Moment tönte ein lauter Schreckensschrei aus dem Ein baum auf, als die Kannibalen erkannten, was Tekkan vorhatte. Zu spät versuchten sie, den Kurs zu ändern. Calandryll sah, wie das Kanu verzweifelt seitlich aus scherte und vom Drachenkopf des Kriegsbootes wie von einem bösartigen Meeresungeheuer überragt wurde. Dann klang ein Krachen und Splittern auf, als Holz ge gen Holz prallte, die Schreie wurden noch wilder, und das vanuische Boot schob sich knirschend über den Ein baum. Schwarzhäutige Gestalten stürzten ins Wasser. Bracht stieß einen begeisterten Schrei aus. Das Kriegsboot schoß weiter vor, die Ruder fuhren wie riesige Keulen auf die Kannibalen nieder. Einige versuchten vergeblich, sich daran festzuhalten, glitten wieder ab und wurden vom
Kielwasser des schwarzen Bootes davongewirbelt. Plötzlich erschien ein verzerrtes Gesicht wie eine far bige Teufelsmaske mit glühenden Augen über der Re ling, und eine dazugehörige Hand hielt eine stachelbe wehrte Keule umklammert. Bracht schwang sein Krummschwert, und der Kannibale schrie auf und stürz te ins Wasser. Gleich darauf tauchten weitere Wilde über der Steuerbordreling auf und wurden von den Frauen zurückgeschlagen, die ihre Bögen fallengelassen und zu Schwertern und Äxten gegriffen hatten. Auf einen Befehl Tekkans hin legten sich die Ruderer erneut in die Riemen und versuchten, die durch das Rammen verlorene Fahrt wieder aufzunehmen. Das beschädigte Kanu, an dem sich die überlebenden Kannibalen festklammerten, trieb mit zersplitterter Bug spitze kieloben im Wasser. Die beiden verbliebenen Ein bäume jagten parallel zu dem größeren Boot über die Wellen, ohne sich um die Schiffsbrüchigen zu kümmern. Eine zweite Pfeilwolke flog heran, und diesmal antworte ten die Bogenschützen des Kriegsbootes. Unter ihren gezielten Schüssen brachen mehrere der schwarzhäuti gen Bogenschützen zusammen. »Ihr Leben scheint ihnen nicht viel zu bedeuten«, be merkte Bracht grimmig, als die Pfeile der Frauen weitere Opfer forderten. Calandryll konnte nur wortlos zusehen, wie die Rei hen der Angreifer dezimiert wurden. Er hörte, wie Katya etwas schrie, und sah, daß sich die vanuischen Bogen
schützen jetzt auf die bemalten Ruderer der Kannibalen konzentrierten. Die Einbäume fielen achtern zurück, als tote und verwundete Ruderer über die noch lebenden fielen und die Kannibalen aus dem Rhythmus gerieten. Tekkan brachte das Kriegsboot wieder auf Kurs, und allmählich verklangen die Wutschreie der Angreifer hinter ihnen in der Ferne. Bracht schob das Krummschwert in die Scheide zu rück. Er hatte immer noch einen wilden Ausdruck im Gesicht. Calandryll hatte den Eindruck, daß der Kerner die Kürze des Kampfes bedauerte. Er selbst war froh, daß es vorbei war, bemerkte auf einmal, daß er sein Schwert immer noch in der Hand hielt, und steckte es wieder ein, als er Katya näher kommen sah. »Seid ihr unverletzt?« fragte sie. Calandryll nickte. »Das war nicht gerade ein ernstzunehmender Kampf«, stellte Bracht fest. »Es wäre mir lieber gewesen, wir hätten überhaupt nicht kämpfen müssen.« Katya riß den grüngefiederten Pfeil aus der Galionsfigur und betrachtete die Spitze voller Abscheu. »Das sind häßliche Dinger – und sie verursachen häß liche Wunden.« Calandryll starrte auf die Widerhaken, erinnerte sich, wie dicht der Pfeil neben seinem Kopf eingeschlagen war, und fragte: »Warum haben sie uns angegriffen? Wir haben sie doch überhaupt nicht bedroht.«
»Sie brauchen keinen Grund«, erwiderte Katya. »Sie sind von Natur aus angriffslustig.« Sie warf den Pfeil über Bord, und ihre ebenmäßige Stirn legte sich in Falten. Bracht starrte sie an. Seine Au gen wanderten über ihre nackten Beine und den dünnen Stoff ihrer Tunika. Er wirkte besorgt. »Du trägst keine Schutzkleidung«, sagte er beinahe anklagend. Katya zuckte die Achseln. »Ich habe gedacht, wir könnten einen Konflikt vermeiden.« »Wie es aussieht, folgen uns die Konflikte auf Schritt und Tritt«, stellte Bracht fest. »Und du solltest eine Rüs tung tragen.« Sie lächelte flüchtig. »Kümmer du dich um deine eige ne Sicherheit«, gab sie zurück. »Ich kann mich gut genug selbst verteidigen.« »Auch gegen Pfeile?« Bracht schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie du mit dem Schwert umgehen kannst, und dafür bewundere ich dich, aber wenn wir es mit Pfeilen zu tun bekommen, möchte ich dich in einer Rüs tung sehen.« Für einen langen Moment sahen sie einander in die Augen. Katyas Gesicht war undurchschaubar, Brachts dagegen leicht zu lesen. Schließlich lachte sie – ein wenig nervös, wie Calandryll fand. »Du erwartest eine Menge von mir«, sagte sie sanft. »Aye«, erwiderte Bracht leise.
»Wir haben eine Mission zu erfüllen, wir drei.« Sie zö gerte einen Augenblick lang und sah auch Calandryll an. »Und wir sind nicht allein.« Wieder schwieg sie eine Weile, als müsse sie nach den richtigen Worten suchen. »Nein«, sagte Bracht, »aber wenn wir es wären…« »Das sind wir aber nicht«, fiel sie ihm eilig ins Wort, und ihre grauen Augen verschleierten sich kurz. »Und dieses … dein … Interesse … ist eher hinderlich als hilf reich.« Bracht nickte und sagte: »Ich habe mein Wort gegeben, mir alle Mühe zu geben, Calandryll sicher aus Gessyth wieder herauszubringen, und das gilt auch weiterhin. Obwohl sich mein Auftraggeber mittlerweile als Verräter erwiesen hat. Jetzt bist du ein Teil dieser Abmachung, und ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.« »Ist das der einzige Grund?« fragte sie. »Nein«, sagte Bracht einfach. »Dann möchte ich dich bitten, das … was da sonst noch ist … zurückzustellen.« Dabei sah sie ihn fest an. Ihr Gesicht war ernst. »Das werde ich«, erwiderte Bracht genauso ernst. »Bis wir das Arcanum sicher aus Tezin-dar herausgeholt haben. Aber danach … es gibt Dinge, die wir zwischen uns klären müssen.« »Wir werden erst in Sicherheit sein, wenn wir nach Vanu zurückgekehrt sind und das Arcanum zerstört ist«,
sagte Katya. »Läßt du mir bis dahin Zeit?« Er sah ihr in die Augen und nickte. »Bis das erledigt ist.« »Dein Wort darauf?« »Du hast mein Wort.« »Dann … danke ich dir.« Sie lächelte, und Calandryll glaubte, Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen. »Wir werden bald essen. Und wir sollten uns eure Karten ansehen. Unsere eigenen sind vielleicht nicht so zuver lässig.« Sie drehte sich um und verließ das Vorderdeck. Bracht starrte ihr hinterher und seufzte. »Kannst du dein Versprechen halten?« fragte Ca landryll. »Für sie, aye.« Bracht lächelte. Calandryll mußte grinsen. Er hatte das Gefühl, daß Bracht bei dieser Vereinbarung etwas übersehen hatte. »Das war ein … ziemlich weitreichendes Versprechen«, murmelte er. »Wie meinst du das?« wollte Bracht wissen. »Dein ursprünglicher Auftrag lautete, mich nur bis zu meiner Rückkehr nach Lysse zu beschützen. Jetzt sieht es so aus, als würdest du dein Versprechen bis zu den Grenzen der Welt ausdehnen müssen.« »Für sie bin ich dazu bereit«, erwiderte Bracht lä chelnd. Dann schlug er Calandryll gutgelaunt auf die Schulter. »Und für dich, mein Freund. Oder hast du etwa
geglaubt, ich würde dich die Mission ohne mich zu Ende führen lassen?« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf und mußte grinsen. Er hatte, so erkannte er jetzt, tatsächlich nie daran gezweifelt, daß Bracht bis zum Ende des Weges bei ihm bleiben würde. »Nein, das habe ich nicht.« Sie aßen auf dem Vorderdeck. Katya und Tekkan gesell ten sich zu ihnen. Sie hatten die Karten, nach denen Tek kan steuerte, und die, die Varent Calandryll mitgegeben hatte, zwischen sich ausgebreitet. Calandrylls Karten erwiesen sich als zuverlässiger, da sie jüngeren Datums waren und die Wasserstellen entlang der Küste Gessyths genauer zeigten. Die nächste lag nach Tekkans Schätzung etwa drei Tagesreisen weit entfernt. Sie beschlossen, dort vor Anker zu gehen und einen Landungstrupp auszu schicken. »Mit Rüstungen«, sagte Bracht mit Blick auf Katya. »Mit Rüstungen«, stimmte sie zu. »Wenn wir die Wahl hätten, würde ich solche Konflik te vermeiden«, meinte Tekkan. Ein Schatten legte sich über sein wettergegerbtes Ge sicht; er wirkte niedergeschlagen. Es lag nicht daran, daß er den Kampf selbst fürchtete, stellte Calandryll fest, der das Gesicht des Steuermannes aufmerksam beobachtete, Tekkan bedauerte den Verlust eines jeden Menschenle bens. Bracht schmunzelte und sagte: »Ein paar Kämpfe
würden uns helfen, uns auf das vorzubereiten, was uns noch bevorsteht.« Tekkan bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick und schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir nicht, Blut zu vergießen. Weder das unsere noch das von anderen.« Bracht runzelte verblüfft die Stirn. »Und doch segelt Ihr in eine Gegend, in der Gefahren lauern«, stellte er zurückhaltend fest, bemüht, den Steuermann nicht zu reizen. »Und Ihr habt diesen Einbaum sehr geschickt gerammt.« Tekkan nickte. »Ich hätte sie lieber abgehängt, aber sie haben mir kaum eine andere Möglichkeit gelassen. Auf diese Weise sind zumindest weniger ums Leben gekom men.« Brachts Stirnrunzeln vertiefte sich. »Wir unterscheiden uns voneinander«, sagte er vorsichtig. »Ihr aus Vanu und wir aus Cuan na'For.« »Aber trotzdem verfolgen wir das gleiche Ziel«, erwi derte Tekkan und fügte mit einem Seitenblick auf Katya hinzu: »Und nicht alle von uns unterscheiden sich so sehr von Euch.« »Nein«, stimmte Bracht ihm fröhlich zu, »das denke ich auch. Und ich glaube, wir werden noch genügend Gelegenheiten zum Kämpfen bekommen, bevor unsere Mission beendet ist.« »Aye«, murmelte Tekkan traurig. »Da bin ich ganz Eu rer Meinung.« Schon kurz darauf sollten sich seine Befürchtungen
bewahrheiten. Gegen Abend dieses Tages kamen wieder zwei Kanus aus dem Dschungel hervor, die jedoch nicht versuchten, sie abzufangen, sondern ihnen nur hartnäckig nach Nor den folgten. Tekkan hielt den Kurs, bis es völlig dunkel geworden war, bevor er, weiter als sonst von der Küste entfernt, vor Anker ging und Wachposten aufstellte. Die Kannibalen versuchten keinen Angriff, aber am Morgen lagen die Kanus immer noch auf ihrer Steuerbordseite – wie Wölfe, die ein zu großes Beutetier verfolgten. Gegen Mittag stieß ein dritter Einbaum dazu und am Nachmit tag ein vierter, so daß das Kriegsboot von einer kleinen Eskorte begleitet wurde. Mit Sonnenaufgang des nächs ten Tages war noch ein fünfter Einbaum dazugekommen und ein sechster gegen Sonnenuntergang. Als sie sich der Mündung des Baches näherten, wurde die Absicht ihrer Verfolger deutlich. Sieben Einbäume lagen zwischen ihnen und der Frischwasserquelle und verwehrten ihnen den Zugang. Angesichts dieser Gefahr gelang es selbst Bracht nicht, die Vanuer zu einer Lan dung zu überreden, und so fuhren sie mit ihrer Kanues korte weiter nach Norden. Sieben Tage später war selbst Tekkans Geduld er schöpft. Er gab Befehl, den Mast aufzurichten und das Segel zu setzen. »Wozu soll das gut sein?« wollte Bracht wissen. »Was nützt uns das, solange wir den Wind gegen uns haben?« Calandryll erläuterte ihm die Technik des Kreuzens,
während das Kriegsboot auf das offene Meer hinausfuhr. Durch das Manöver kamen sie zwar langsamer als bisher nach Norden voran, aber zumindest wurden sie so ihre Verfolger los. Sie kreuzten, bis die Wasserfässer fast leer waren und dringend aufgefüllt werden mußten. Die Karten zeigten eine weitere Süßwasserquelle zwei Tages reisen entfernt, und da sie keine andere Wahl hatten, näherten sie sich wieder der Küste. Tekkan rief eine Konferenz auf dem Achterdeck ein, an der neben ihm, Katya, Calandryll und Bracht noch eine Frau namens Quara und ein Mann namens Urs teilnahmen. Sie kamen überein, sich der Küste im Schutz der Nacht zu nähern und im Morgengrauen mit dem Beiboot an Land zu gehen. Dieses konnte nur drei Was serfässer auf einmal transportieren, und so würden meh rere Fahrten erforderlich werden, um ihre geschrumpften Vorräte aufzufüllen. Gleichzeitig würde eine Gruppe von Jägern versuchen, Wild zu erlegen, denn auch das Fleisch wurde allmählich knapp. Katya sollte die Jäger anführen. »Ich werde dich begleiten«, verkündete Bracht. »Ich habe es satt, tatenlos hier herumzusitzen.« Katya und Tekkan wechselten einen kurzen Blick, worauf der Steuermann den Kopf schüttelte. »Das ist zu gefährlich.« »Dann solltet Ihr jemand anderen als Katya schicken«, sagte Bracht. »Das kann ich nicht zulassen«, erklärte sie. »Ich habe diese Leute weit von ihrer Heimat fortgeführt und kann
jetzt nicht etwas von ihnen verlangen, was ich selbst zu tun nicht bereit bin.« Bracht zuckte die Achseln. Er akzeptierte ihr Argu ment, zeigte sich aber nach wie vor um ihre Sicherheit besorgt. »Dann komme ich mit«, sagte er störrisch und lächelte Tekkan zu. »Und ich werde mich durch nichts davon abbringen lassen.« Sein Tonfall machte deutlich, daß er keinen Wider spruch duldete. Tekkan nickte zögernd. »Dann komme ich ebenfalls mit«, meldete sich Ca landryll zu Wort. »Das ist nicht nötig«, meinte Bracht. »Nicht für dich.« »Du vergißt die Worte der Wahrsagerin«, widersprach Calandryll. »Sind wir drei nicht miteinander verbun den?« »Du brauchst nicht mitzukommen«, versuchte Bracht ihn zurückzuhalten. Er deutete auf das leere Meer. »Von dort droht wahrscheinlich keine Gefahr.« »Und wenn doch?« wollte Calandryll wissen und sah die anderen der Reihe nach an. »Was, wenn wir ausei nandergerissen werden sollten? In der Prophezeiung war von drei Gefährten die Rede. Wenn ihr geht, werde ich mitkommen. Sonst gefährden wir unsere Mission.« »Ich muß gehen«, sagte Katya, »aber für euch beide gibt es keinen Grund, euch dieser Gefahr auszusetzen.« Bracht stieß ein trockenes Lachen aus und fuhr mit der Hand durch die Luft. Die Geste war endgültig. »Ich wer
de mich nicht darüber streiten. Ich begleite dich, und damit basta.« »Dann wäre das geklärt«, sagte Calandryll. »Entweder wir gehen zu dritt, oder keiner von uns geht.« Katya und Tekkan sprachen mit Quara und Urs, dann nickte der Steuermann. »Also gut«, gab Katya nach und wandte sich grinsend Bracht zu. »Aber mit Rüstungen.« Sie trafen ihre Vorbereitungen für das Landeunter nehmen, während Tekkan das Kriegsboot mit Hilfe des Segels vorsichtig und leise näher an die Küste brachte. Der Mond hing wie eine bleiche silberne Scheibe am Himmel, die nur wenig Licht spendete, so daß ihre Chancen günstig standen, unbemerkt landen zu können. Unter den Ausrüstungsgegenständen fanden sich zwei passende Kettenhemden für Bracht und Calandryll, mit Metallringen verstärkte Hosen aus dickem Leder und zwei Helme. Nach der langen Zeit in leichter Kleidung fühlte es sich seltsam und trotz der Beweglichkeit der Schutzkleidung unangenehm an, mit so viel Gewicht am Körper herumzulaufen, aber angesichts der Gefahr, mit Pfeilen beschossen zu werden, beschwerte sich niemand über diese Vorsichtsmaßnahmen. Jetzt konnten sie nur noch warten, während die dunk le Silhouette des Dschungels vor ihnen in die Höhe wuchs. Calandryll stellte eine Ruhe zur Schau, die er nicht wirklich empfand. Unter Tekkans leisen Befehlen wurde das Segel eingeholt. Das letzte Stück legten sie mit
den Rudern zurück, und schließlich dümpelten sie auf den Wellen und warteten auf die dunkelste Stunde zwi schen Monduntergang und Sonnenaufgang. Der Wind, der tagsüber gleichmäßig geweht hatte, war fast völlig eingeschlafen. In der Luft lagen die Gerü che der üppig wuchernden Vegetation. Die Nacht war ruhig aber nicht still. Aus dem Wald drang ein unabläs siges Quietschen und Schnattern zu ihnen herüber: die Angriffsschreie der Raubtiere und das Kreischen ihrer Beute. Die Wellen plätscherten leise gegen den Rumpf, und das Boot knarrte und ächzte. Diese Geräusche erschienen den Männern und Frauen am lautesten. Die Minuten zogen sich in die Länge, dann wurde endlich das Beiboot zu Wasser gelassen. Urs und seine Männer nahmen leise ihre Plätze ein, Quara gesellte sich mit vier Jägerinnen dazu. Damit war das Boot gefüllt und glitt zum Strand. Kurz darauf kehrte es zurück und nahm Katya, Bracht und Calandryll auf. Urs flüsterte ein einziges Wort, die Ruderer tauchten die Paddel ein und brachten das Bei boot lautlos zum Strand zurück. Die Gerüche des Dschungels wurden intensiver, die Luft feucht und heiß. Calandryll starrte angestrengt in die Dunkelheit und hielt nach lauernden Kanus oder Wilden Ausschau. Das knirschende Geräusch, mit dem der Holzkiel sich auf den schmalen Strand neben der Bachmündung schob, dröhnte geradezu in Calandrylls Ohren. Er ließ sich über
die Bordwand gleiten und watete die letzten Schritte bis zum Strand, das Schwert in der Hand. Der Schweiß lief ihm den Oberkörper hinunter, das Gewicht der Rüstung zerrte unangenehm an seinen Schultern, und es war heiß unter dem Helm. Bracht gesellte sich zu ihm. Seine blau en Augen schienen in der Dunkelheit unter dem Helmvi sier unternehmungslustig zu leuchten. Katya winkte ihnen zu, weiterzugehen, und sie verließen zusammen mit Quara und den anderen Frauen den schmalen Strei fen des Strandes. Urs und seine Leute zogen das Beiboot unter den Schutz einer hohen Palme und luden die Fässer aus. Katya und Urs sprachen kurz miteinander, dann ver sammelte sie ihre Truppe um sich und übersetzte Bracht und Calandryll ihre Anweisungen. »Urs und seine Männer werden die Fässer füllen und auf das Boot zurückbringen. Wir dringen landeinwärts vor. Wenn wir dem Bach folgen, müßten wir eigentlich Wild finden. Bleibt dicht zusammen.« »Ich bin direkt neben dir«, flüsterte Bracht. Katya sah Quara an und deutete auf die Bäume. Leise drang die Gruppe in den Dschungel ein. Im Wald war es noch finsterer. Das spärliche Licht des Nachthimmels wurde von den Baumkronen verschluckt, ihre einzige Orientierungshilfe war der Bach. Sie folgten seinem Ufer und mußten immer wieder Ranken und großen Felsbrocken ausweichen. Der süßliche Duft von üppig gedeihenden exotischen Pflanzen vermischte sich
mit dumpfem Modergeruch. Sie stießen auf einen Wild wechsel und folgten ihm in der Hoffnung, gegen den Wind an der Wasserstelle herauszukommen. Sie kamen nur langsam voran, der Boden unter ihren Füßen war schwammig, die Bäume standen dicht, und zwischen ihnen hingen Lianen, die von unangenehm klebrigen Spinnennetzen überzogen waren, aber schließlich sahen sie, daß sich der Bach zu einem Tümpel erweiterte, der von einer Quelle gespeist wurde. Pfade führten durch das dichte Bambusgebüsch, das den Tümpel umgab. Direkt um das Wasser herum war der Boden frei von Pflanzenwuchs und morastig, wo Hufe und Pfoten ihn aufgewühlt hatten. Quara und die anderen bezogen unaufgefordert in Windrichtung um die Wasserstelle herum Aufstellung. Katya setzte sich neben einen Baum auf die Erde, Bracht und Calandryll nahmen links von ihr Platz. Die Zeit verstrich, und mit ihr wich allmählich auch die Dunkelheit. Das Stückchen Himmel über dem Tüm pel nahm die graue Färbung an, die der Morgendämme rung vorausgeht. Eine Affenherde schwang sich aus den Bäumen herab, um zu trinken, und kehrte eilig in den Schutz der hohen Äste zurück, als eine gestreifte Wild katze erschien. Das prächtige Tier löschte ungestört sei nen Durst und verschwand wieder genauso geschmeidig und lautlos im Unterholz, wie es gekommen war. Kurz darauf tauchte ein grunzender Keiler mit mächtigen Hauern auf, gefolgt von zwei Bachen, und dann lösten sich neun fette Hirsche aus den Schatten, angeführt von
einem Bock mit einem ausladenden Geweih. Er witterte mit nervös zuckendem Stummelschwanz in der Luft und näherte sich wachsam dem Tümpel. Sein Harem folgte ihm. Im nächsten Augenblick schossen fünf Pfeile über das Wasser, und fünf Hirschkühe fielen zu Boden. Der Rest der Herde stob in panischer Hast davon, mit ihr die Schweine, und plötzlich senkte sich eine bedrohliche Stille über den Dschungel. Die Frauen eilten platschend durch das seichte Was ser, zogen die Pfeile aus den Tierkörpern und schlugen ein paar Bambusstangen ab, an denen sie drei der erleg ten Hirsche befestigten. Calandryll und Bracht steckten ihre Schwerter ein, legten sich die beiden anderen Tiere über die Schultern und folgten Katya stromabwärts. Alle hatten es jetzt eilig, zum Strand zurückzukehren, und niemand achtete auf den Lärm, den sie dabei verursach ten. Fünf Hirsche schienen nicht allzuviel Proviant für die gesamte Schiffsbesatzung, aber der Himmel wurde be reits heller, das Grau löste sich schnell auf, und der be vorstehende Sonnenaufgang erschien ihnen eher wie eine Bedrohung als eine Verheißung. Sie trafen Urs am Strand, wo er und seine Leute sich unter dem Gewicht der vollen Fässer abmühten, eilten an ihnen vorbei durch das seichte Wasser und warfen ihre Beute in das Beiboot. Der Himmel hatte mittlerweile eine silberne Färbung angenommen, und das Kriegsboot war wie eine Hinweistafel für mögliche Beobachter deutlich
auf dem Meer zu erkennen. Urs und seine Männer schleppten die Fässer heran und luden sie ein. Während sich das Beiboot auf den Rückweg machte, teilte Katya ihren Gefährten mit, daß bereits drei Fässer an Bord gebracht worden wären und die Wasservorräte nach einer weiteren Fahrt wieder ausreichend aufgefüllt sein würden. »Dann bleibt uns genug Zeit, um noch einmal auf die Jagd zu gehen«, sagte Bracht und grinste, als sich Zweifel auf Katyas Gesicht abzeichneten. »Komm schon, es gibt keinerlei Anzeichen für irgendeine Gefahr, und diese fünf Hirsche sind kaum genug für die gesamte Besat zung.« Katya dachte einen Moment lang nach, hin- und her gerissen zwischen dem Wunsch, am Strand auf die Rückkehr des Beibootes zu warten, und der Aussicht, mehr Fleisch besorgen zu können. »Urs muß die Fässer umfüllen und wieder damit zu rückkommen«, drängte Bracht. »Solange müssen wir sowieso warten. Vielleicht haben wir noch einmal Jagd glück.« Katya schürzte nachdenklich die Lippen, aber dann nickte sie und sprach mit Quara, worauf die Jagdgruppe einen weiteren Vorstoß in den Dschungel unternahm. Ihre Mühe wurde mit vier Schweinen belohnt, und als sie zurückkehrten, hatte Urs bereits die Fässer verstaut und wartete auf sie. Sie warfen die Schweine eilig ins Beiboot, das sich sofort auf den Rückweg machte, zu schwer bela
den, um auch die Jäger mitnehmen zu können. Sie blie ben am Strand zurück, die Pfeile auf die Sehnen gelegt, während der Himmel blau wurde und wieder frischer Wind aufkam. Quara und ihre Frauen behielten den Dschungel im Auge, Katya und die beiden Männer das Meer. Das Beiboot bewegte sich quälend langsam voran. Ca landrylls Blick wanderte ständig zwischen Norden und Süden hin und her. Er spürte eine zunehmende Span nung in sich aufsteigen und war überzeugt, daß jeden Augenblick Einbäume auf dem Wasser auftauchen oder Pfeile aus dem Dschungel fliegen würden. Er sah nervös zu, wie das Beiboot das Kriegsboot erreichte, die Fässer mit Seilen hochgehievt und die Schweine per Hand an Bord gezogen wurden. Alles schien sich furchtbar lang sam abzuspielen, während sein Herz immer schneller schlug und ihm der Schweiß unangenehm über das Ge sicht lief, das jetzt auch noch von den ersten Insekten des anbrechenden Tages umschwirrt wurde. Endlich war das Beiboot entladen und machte sich auf den Rückweg zum Strand. Die Ruderer tauchten ihre Paddel tief ins Was ser… … und Bracht stieß einen Warnschrei aus. Von Süden her näherten sich zwei Einbäume. Ein zweiter Schrei ertönte in Calandrylls Rücken, be gleitet von einem Pfeilhagel. Er wirbelte herum. Das Schwert in seiner Hand war nutzlos gegen die Wolke aus grüngefiederten Pfeilen, die
ihnen aus dem Unterholz entgegenschoß. Calandryll spürte etwas gegen seine Brust prallen und ihm den Atem rauben und stolperte zurück. Er sah das Geschoß zu Boden fallen. Sein Kettenhemd hatte die Spitze des Pfeils verbogen. Die Frauen erwiderten das Feuer, konn ten aber nur blind zielen, solange die Angreifer in ihrer Deckung blieben. Ein zweiter Pfeil glitt an seinem Helm ab. Das Metall verhinderte eine schwerere Verletzung, aber der Aufprall ließ es wie eine Glocke dröhnen, und Calandryll drehte sich der Kopf. Eine Frau schrie auf und stürzte mit einem Pfeil im Auge zu Boden. Quara rief irgend etwas. Die Frauen zogen sich weiter zum Wasser zurück und gingen in Verteidigungsstellung. Das Beiboot und die Kanus jagten auf sie zu, und es war völlig offen, wer sie zuerst erreichen würde. Das Beiboot war zwar näher, wurde aber nur von vier Rude rern angetrieben, während die Einbäume mit ihren zwanzig oder dreißig Ruderern deutlich schneller waren. Calandryll hörte Katya einen Fluch in ihrer Mutterspra che ausstoßen, den er nicht verstehen mußte, um die Bedeutung zu begreifen, und auch Bracht schrie wieder, als der Pfeilbeschuß aufhörte und die tätowierten Wilden aus dem Unterholz hervorbrachen. Der Kerner erwiderte den Ansturm mit einem Gegen angriff. Calandryll war nicht einmal allzusehr überrascht, als er sich an seiner Seite wiederfand. Daß er sein Schwert erhoben hatte, wurde ihm erst bewußt, als er ein schwarzes Gesicht direkt vor sich auftauchen sah und ein Speer nach seinem Bauch stieß.
Er drehte den Körper mitten im Schritt zur Seite, ließ den Speer an seiner gepanzerten Brust abgleiten und hieb sein Schwert in das wildverzerrte Gesicht. Der Kannibale stürzte zu Boden, Calandryll wirbelte herum und wehrte den auf seinen Kopf gezielten Schlag einer gezackten Keule mit einem Aufwärtshieb ab, der beinahe die Hand, die die Keule umklammert hielt, von ihrem Handgelenk trennte. Er ließ das Schwert auf die Brust des Mannes herabfahren, parierte den Stoß eines zweiten Speers und durchbohrte den Angreifer. Ein Schlag traf seinen Rü cken und ließ ihn vorwärts taumeln. Er rieß das Schwert aus dem Körper seines Gegners, wich gleichzeitig zur Seite aus und entging so einem auf seine Rippen geziel ten Hieb einer stachelbewehrten Keule. Drei Wilde stürz ten sich auf ihn. Er wich vor ihnen zurück. Einer fiel durch Katyas Säbel, der zweite durch Brachts Krumm schwert. Auch den dritten streckte der Kerner nieder, und für einen Moment kehrte eine trügerische Ruhe ein. Calandryll erblickte einen Halbkreis tätowierter Ge sichter vor sich. Die Kannibalen trugen einen grotesken Schmuck aus Knochen um die Hälse, Handgelenke und Hüften, und entsetzt erkannte er, daß es hauptsächlich Menschenknochen waren. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihm, daß sich das Beiboot dem Strand näherte. Die Kanus befanden sich etwas weiter südlich. Im Hintergrund wendete das Kriegsboot schwerfällig und näherte sich, von den Ruderern angetrieben, lang sam dem Ufer. Die Bogenschützen hatten auf dem Vor derdeck und zwischen den Ruderern Position bezogen.
Tekkan versuchte, in Schußweite an die Einbäume he ranzukommen, aber es war aussichtslos. Die Kanus wür den den Strand vorher erreichen, und auch Urs mit sei nem Beiboot würde zu spät kommen. Es gab keine Mög lichkeit zu fliehen, und Calandryll wußte, daß er sterben mußte, daß seine Knochen bald die Halskette eines Kan nibalen schmücken würden. Er spürte, wie ihn eine selt same Ruhe überkam. Er war schon einmal gestorben, hatte es zumindest geglaubt, und plötzlich erschien ihm die Tatsache selbst bedeutungslos. Nur wie er starb, war jetzt noch wichtig. Vielleicht würde Tekkan die Reise nach Gessyth fortsetzen, Tezin-dar erreichen und das Arcanum nach Vanu bringen. Er hoffte, daß es so sein würde. Calandryll riß das Schwert hoch und stürzte sich mit einem Kampfschrei in die Reihen der Wilden. Überraschung zeichnete sich auf den barbarischen Ge sichtern ab, Überraschung und Respekt und dann Schmerz, als Calandryll, von einer berserkerhaften Rase rei ergriffen, wild rechts und links um sich schlug und eine Schneise in die Reihen der Kannibalen mähte. Un deutlich vernahm er einen vertrauten Schrei, wußte, daß Bracht neben ihm war, und sah durch die herabsausen den Keulen und die vorzuckenden Speere, daß Katya mit ihnen kämpfte. Und er sah plötzlich die schwarzen vanu ischen Pfeile aus den Oberkörpern der Wilden hervorra gen, als die Bogenschützen auf dem Kriegsboot ihre
Salven abfeuerten. Besinnungslose Wut packte ihn, machte ihn unempfindlich gegen die Schmerzen der Schläge, die unablässig auf sein Kettenhemd und den Helm niederprasselten. Das Schwert in seiner Hand triefte vor Blut und schien fast nichts zu wiegen. Und dann war Bracht vor ihm, schrie irgend etwas und deute te auf das Meer, und er spürte, wie Katya ihn am Arm ergriff, herumriß und in Richtung Wasser stieß. Das Beiboot trieb dicht vor dem Ufer. Vom Kriegsboot aus feuerten die Bogenschützen ununterbrochen in die Reihen der Kannibalen. Die tätowierten Männer wichen zurück, und Calandryll ließ sich von seinen Gefährten ins Wasser zerren. Er kletterte über die Bordwand und kau erte sich auf eine Sitzbank, gefolgt von seinen Mitstrei tern. Auf einen von Urs gebellten Befehl hin tauchten die Ruderer ihre Paddel ein, und das Boot, das unter seiner menschlichen Last tief im Wasser lag, setzte sich langsam in Bewegung. Währenddessen vollführte das Kriegsboot eine Wende, und die Pfeile regneten auf die näherkom menden Einbäume nieder. Langsam begriff Calandryll, daß er vielleicht doch überleben würde, und er spürte, wie ihn die rasende Wut verließ und sich mit der auf keimenden Hoffnung gleichzeitig Angst in ihm ausbrei tete. Die Kannibalen hatten sich vom Strand in die De ckung des Dschungels zurückgezogen und beobachteten von dort aus das Geschehen. Calandryll fragte sich, ob er
das Kriegsboot noch rechtzeitig erreichen würde, oder ob die Wilden im letzten Augenblick doch noch den Sieg davontragen würden. Plötzlich fühlte er sich völlig er schöpft. Sein Kopf dröhnte, und in seinen Rippen und seinem Schwertarm schien ein Feuer zu lodern. Er sah drei Gestalten in Rüstungen leblos zwischen den schwarzhäutigen Leichen am Strand liegen und trauerte um den Tod der Frauen. Das Kriegsboot glitt näher heran. Die Kanus scherten aus und versuchten, seinen Bug zu umfahren. Eines von ihnen konnten die Bogenschützen zurückschlagen, das andere aber schaffte das Manöver und schoß auf das Beiboot zu. Speere und Pfeile stiegen in den azurblauen Himmel. Das Kriegboot trieb wie eine dunkle Barriere vor ihnen, hinter der sie sichere Deckung finden konnten, wenn sie es schnell genug erreichten, und die Angst schlug wie eine Woge über Calandryll zusammen, als er erkannte, daß der Einbaum ihnen zuvorkommen würde. Er hob die Hand wie zu einem nutzlosen Protest. Plötzlich wurde der Einbaum wie von einer unsichtba ren Hand aus dem Meer gehoben und schlug um. Die Kannibalen stürzten schreiend ins Wasser, und das Kanu wurde auf das Ufer zugetrieben, als wäre es nur ein dür rer Zweig, der von einem unsichtbaren Sturm erfaßt worden war. Der gleiche unmögliche Sturm ergriff auch den anderen Einbaum, wirbelte ihn herum, fegte die Kannibalen über Bord und trieb sie zusammen mit ihrem
Kanu landeinwärts. Tätowierte Gesichter hüpften wie Bälle auf den Wogen auf und nieder, aber jetzt wirkten sie nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch entsetzt. Die Wilden warfen sich herum und schwammen zum Ufer, um sich in Sicherheit zu bringen. Vom Strand her klang ein Heulen auf, kein Kriegsgeschrei, sondern ein Weh klagen. Die Kannibalen zogen sich in den Dschungel zurück, und die anderen, die den Strand erreicht hatten, folgten ihnen eilig. Calandryll roch einen Moment lang Mandelduft in der Luft, der aber wie seine Angst schnell wieder verflog und nur ein Gefühl völliger Erschöpfung zurückließ. Er sank gegen eine Schulter, ohne zu wissen, zu wem sie gehörte, und schloß die Augen. Kurz darauf umrundete Urs das Heck des Kriegsboo tes, so daß der Rumpf schützend zwischen ihnen und der Küste lag. Calandryll wurde an Bord gezogen. Tekkan brüllte eine Reihe von Befehlen und zog das Steuerruder herum. Der Drachenkopf richtete sich wieder nach Nor den, und die Küste blieb hinter ihnen zurück. Calandryll löste die Riemen seines Helmes und legte ihn auf die Planken. Er sah, daß das Metall an drei Stellen eingebeult war, und als er seinen Kopf betastete – mit der linken Hand, da sein rechter Arm steif war und er ihn nicht einmal heben konnte –, fühlte er schmerzhafte Schwellungen unter seinem Haar. Seine Rippen schmerz ten, und er bemerkte, daß das Blut, das in der warmen Morgenluft schnell trocknete, seine Hände mit einer
roten Schicht überzogen hatte. Er begann wie ein Wilder, an ihnen herumzuscheuern, nicht so sehr entsetzt wegen der Menschenleben, die er ausgelöscht hatte, sondern weil ihm erst jetzt richtig bewußt wurde, daß er ohne Mitleid und ohne nachzu denken getötet hatte. Er schloß die Augen und öffnete sie gleich darauf wieder, weil sich in seinem pochenden Kopf alles zu drehen begann und er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Eine Frau reichte ihm ein Fläschchen. Calandryll trank einen Schluck und keuchte, als ihm Feuer durch die Kehle zu rinnen schien. Dann begann er zu husten. Die Frau forderte ihn mit einer Geste auf, mehr zu trinken. Diesmal nahm er nur einen kleinen Schluck. Das Feuer in seiner Kehle erlosch, und statt dessen breitete sich in seinem Bauch eine angenehme Wärme aus, die seinen gesamten Körper und die schmer zenden Muskeln durchströmte. Er spürte, wie die Schmerzen allmählich nachließen, lächelte dankbar und gab die Flasche weiter. Neben ihm trank auch Bracht einen kleinen Schluck und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Einen Moment lang habe ich schon gedacht, wir wä ren verloren«, gestand der Söldner. Er betrachtete Ca landryll neugierig und bewundernd. »Aber dann hast du … losgelegt. Bei Ahrd, hast du ihnen Angst eingejagt!« Calandryll schüttelte den Kopf. Er wußte nicht genau, was er getan hatte; die Erinnerung an den Kampf verblaßte bereits wie ein Traum.
»Die Wahrsagerin Ellhyn hat von einer Kraft in dir ge sprochen«, sagte Katya leise. Ihre Stimme klang respekt voll. »Ich habe schon einmal gesehen, wie du sie einge setzt hast, aber damals habe ich gedacht, wir wären ver loren. Es ist eine beängstigende Macht.« Er nickte, zu erschöpft, um zu sprechen, und er hätte auch nicht gewußt, was er darauf antworten sollte. Er begriff weder, wie er diese Magie entfesselte, noch gefiel es ihm, daß er diese Fähigkeit besaß, auch wenn sie sie gerettet hatte. Wie Bracht gesagt hatte, schien er diese Kräfte nur in Augenblicken höchster Gefahr freisetzen zu können. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, begann, an den Verschlüssen seines Kettenhemdes her umzufingern, und sah, daß es genauso blutverschmiert wie seine Hände war. Bracht kam ihm zu Hilfe. Ihn schien das Blutbad nicht zu belasten. Seinem vergnügten Grinsen nach zu schlie ßen, hatte ihm der Kampf sogar Spaß gemacht. »Du hast deine Lektionen nicht umsonst gelernt«, sag te er fröhlich. »Ahrd! Wie du auf sie losgegangen bist … Was ist nur in dich gefahren?« Calandryll machte eine ratlose Geste und zuckte zu sammen, als ihm ein schmerzhafter Stich durch die Schultern fuhr. Bracht streifte ihm den Kettenpanzer ab und knöpfte die Bänder seines Hemdes auf. Er musterte die Prellungen auf Calandrylls Brust und Rücken mit erfahrenem Blick und tastete ihn nach eventuellen Kno chenbrüchen ab, worauf Calandryll unterdrückt auf
stöhnte. »Deine Verletzungen werden schon bald wieder ver heilt sein«, stellte der Kerner knapp fest. »Du wirst dich eine Weile etwas steif fühlen, aber das ist auch schon alles.« »Ich fürchte, Tekkans Stimmung wird schlimmer sein«, bemerkte Katya und schälte sich aus ihrer Rüs tung. »Er wird einiges zu dieser Angelegenheit zu sagen haben.« Bracht grinste. »Aber es war ein guter Kampf, oder? Und wir haben sowohl die Wasserfässer als auch die Speisekammer wieder aufgefüllt.« »Wir haben drei Leute verloren«, erwiderte sie traurig, »die wir nicht hätten verlieren müssen, wenn wir früher zurückgekehrt wären. Ich trauere um sie.« Brachts Gesicht wurde ernst, und er legte seine Hand auf die ihre. »Das war meine Schuld. Wären wir nicht in den Dschungel zurückgegangen…« Katya schüttelte den Kopf und zog ihre Hand behut sam zurück. »Ich hätte nicht auf dich zu hören brauchen. Ich hatte die Verantwortung für sie.« Ihre grauen Augen verschleierten sich und wurden vor Kummer dunkel. »Es war mein Fehler.« »Ich habe dich überredet«, sagte der Kerner. »Nimm nicht die Schuld allein auf dich.« Katya seufzte und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Mast. Ein müdes Lächeln umspielte kurz ihre Lip pen. »Drei sind gestorben«, murmelte sie, »und das kann
ich nicht mehr rückgängig machen.« »Nein«, sagte Bracht, »und es werden wahrscheinlich noch mehr sterben, bevor wir unsere Mission beendet haben. Willst du um jeden einzelnen trauern? Willst du zulassen, daß jeder wie eine Last auf deinem Gewissen liegt?« Katya blickte ihm ins Gesicht und nickte. »Aye, jeden einzelnen«, bekräftigte sie voller Kummer. »So ist es in Vanu üblich, und wie du schon zu Tekkan gesagt hast, wir unterscheiden uns voneinander. Trauert ihr in Cuan na'For nicht um die Gefallenen?« »Doch, das tun wir«, erwiderte Bracht, »aber wir schleppen die Trauer nicht wie eine Last mit uns herum. Ein Krieger weiß, daß der Tod sein ständiger Begleiter ist, und er – oder sie! – akzeptiert diesen dunklen Freund. So ist das nun einmal, und wer das nicht akzeptieren kann, sollte kein Schwert in die Hand nehmen.« Ein Schatten fiel zwischen sie, und als Calandryll auf blickte, sah er Tekkan über sich stehen. Das Gesicht des Steuermannes war vor Zorn dunkel angelaufen. Er deu tete mit einer herrischen Geste in Richtung des Vorder decks und zischte irgend etwas in seiner Muttersprache. »Tekkan möchte mit uns sprechen«, übersetzte Katya. »Und er will, daß es unter uns bleibt.« Calandryll fiel es schwer, sich auf den Beinen zu halten, er stemmte sich mühsam hoch und folgte dem Steuermann zusammen mit Katya und Bracht zum Bug. Tekkan blieb neben der Galionsfigur stehen.
Der Wind zerzauste sein silbergraues Haar, seine Au gen waren fast schwarz vor Zorn, und sein Gesicht war gerötet. Als er mit seinem starken Akzent sprach, klang seine Stimme scharf. »Wenn ihr mit Urs zurückgekehrt und nicht noch einmal in den Dschungel gegangen wärt, würden Yvra, Tomel und Ayrtha vielleicht noch leben.« Katya nickte bekümmert und sagte: »Ich trage die Schuld an ihrem Tod, und ich trauere um sie.« »Es war mein Vorschlag, zurückzugehen«, warf Bracht in. »Katya wollte am Strand warten. Wenn Ihr jemandem die Schuld geben müßt, dann gebt sie mir.« Tekkan machte eine knappe wegwerfende Handbe wegung. »Katya hatte die Verantwortung, es war ihre Schuld. So regeln wir das in Vanu, und wir riskieren das Leben unserer Kameraden nicht ohne guten Grund.« »Wir wollten Fleisch besorgen«, erwiderte Bracht, und jetzt schwang unterdrückter Ärger in seiner Stimme mit. »Teures Fleisch!« fauchte Tekkan. »Mit vanuischen Leben bezahlt!« »Woher hätten wir wissen sollen, daß die Wilden uns angreifen würden?« versuchte Calandryll, dem nicht entgangen war, wie sich Brachts Schultern spannten, einen drohenden Streit zu vermeiden. »Es war ein Risiko, ja, aber diese Gefahr bestand von Anfang an.« »Ein sinnloses Risiko.« Tekkan fuhr zu ihm herum, und die Wut in seinen Augen überraschte Calandryll. »Wir hatten schon vier Hirsche an Bord, und damit wä ren wir eine Weile ausgekommen. Wenn Ihr sofort zu
rückgekommen wärt, hätte niemand sterben müssen.« »Vielleicht«, sagte Bracht. »Vielleicht hätten die Ein bäume uns aber auch früher gefunden, und vielleicht hätten uns die Kannibalen im Dschungel überfallen, und wir wären alle dort gestorben.« »Heißt es bei Euch in Cuan na'For immer vielleicht?« fragte Tekkan scharf. »Oder haltet Ihr Euch manchmal auch an Tatsachen? Tatsache bei diesem Unternehmen ist, daß drei Frauen ihr Leben verloren haben. Und die Schuld dafür trägt Katya.« Calandryll sah, daß sich Brachts Hand um den Griff seines Krummschwertes schloß, und rückte näher an ihn heran. Katya schob sich zwischen ihn und den Steuer mann. »Es war meine Schuld«, sagte sie leise. »Ich nehme sie auf mich.« »Du solltest in Zukunft lieber deinem Gewissen als den Überredungskünsten dieses Kriegers folgen«, riet ihr Tekkan kalt. »Wenn du seinen Ratschlägen folgst, wer den wir wahrscheinlich bei unserer Ankunft in Gessyth die gesamte Mannschaft verloren haben.« Brachts Wangenmuskeln traten hervor. Calandryll umklammerte das Handgelenk seines Gefährten. Tekkan bemerkte es und lächelte bitter. »Beantwortet Ihr alle Meinungsverschiedenheiten mit dem Schwert?« »Damit Bracht.
beantworte
ich
Beleidigungen«,
knurrte
»Bracht wollte uns nur mehr Fleisch besorgen«, sagte Katya eilig. »Wenn wir auf einem Ausflug genug Wild erlegen, verringern wir die Gefahr bei einer späteren Landung. Ich habe die Risiken gegeneinander abgewo gen und beschlossen, seinem Rat zu folgen. Die letzte Entscheidung habe ich allein getroffen, und ich bin trau rig, daß sie falsch war. Aber gib nicht Bracht die Schuld. Laß diesen Vorfall nicht zwischen euch stehen.« Tekkan betrachtete lange ihr Gesicht und neigte dann einmal knapp den Kopf. »Also gut. Mach das mit deinem Gewissen aus, aber es wird keine weiteren Ausflüge dieser Art geben, jedenfalls nicht mehr mit so wenigen Leuten, Und ihr drei werdet nicht mehr an Land gehen.« Damit wandte er sich Calandryll zu. Langsam wich der Zorn aus seinem Gesicht. »Ihr habt diese Kanus wie Blätter Wind davongewirbelt«, sagte er, »genauso leicht, wie Ihrs schon einmal mit uns gemacht habt. Warum habt Ihr diese Kraft nicht schon früher eingesetzt?« »Ich beherrsche sie nicht.« Calandryll schüttelte hilflos den Kopf. »Ich verstehe nicht, wodurch sie freigesetzt worden ist, weder hier noch damals im Engen Meer, noch bei irgendeiner der anderen Gelegenheiten, als sie mir zu Hilfe gekommen ist. Sie ist einfach da, das ist alles, was ich darüber sagen kann.« Tekkans Gesicht wirkte nachdenklich. »Wenigstens habt Ihr damit Menschenleben gerettet«, knurrte er. »Es hätte noch mehr Tote gegeben, wenn Ihr diese Kräfte nicht entfesselt hättet.«
Calandryll nickte. Sein Blick wanderte zu Bracht, der immer noch angespannt und wütend dastand, und dann wieder zurück zu Tekkan. »Ist der Streit damit geschlich tet?« fragte er. »Ich glaube, daß die Aufgaben, die noch vor uns liegen, keine Meinungsverschiedenheiten zwi schen uns zulassen.« Der Steuermann warf Bracht einen zweifelnden Blick zu und nickte dann langsam. »Weise Worte«, stellte er fest. »Ich möchte nicht, daß dieser Streit zwischen uns steht. Wir sind grundverschieden, und das ist ein … Hindernis. Aber ich würde dieses gerne beseitigen. Kön nen wir uns darauf einigen, Krieger?« Einen Moment lang befürchtete Calandryll, Bracht würde widersprechen und Genugtuung für das fordern, was er als Beleidigung empfand, aber dann nickte auch er und nahm die Hand von seinem Schwert. Die Span nung wich aus seinem Gesicht. »Wir sind uns einig.« Tekkan lächelte flüchtig, aber es war ein freudloses Lächeln. Sein Blick richtete sich auf Katya, die neben Bracht stand. Er musterte sie unschlüssig. »Jetzt solltet ihr euch um eure Verletzungen kümmern«, knurrte er und ließ sie allein. Calandryll entspannte sich und sah zu, wie der Steu ermann auf das Achterdeck zurückkehrte und den gold haarigen Mann am Steuerruder ablöste, der ihn kurzfris tig vertreten hatte. Dabei wirkte er wie ein Vater, der sein Kind von jemandem zurückbekommt, dessen Obhut er es
kurzfristig anvertraut hatte. »Er hat ein sehr empfindliches Gewissen«, murmelte Bracht. »Er sorgt sich um jeden an Bord«, verteidigte Katya Tekkan. »Jeder Verlust geht ihm sehr nahe.« »Trotzdem hätte er dich nicht so hart zurechtweisen müssen«, sagte Bracht. »Ich hatte die Verantwortung«, erwiderte sie. »Er war im Recht.« »Der Steuermann gibt dem Kapitän Befehle?« Bracht runzelte die Stirn. »In Vanu herrschen wirklich merk würdige Sitten.« »Er kommandiert dieses Boot«, erklärte Katya, wobei sie den Blick auf das Achterdeck gerichtet hielt. »Meine Aufgäbe ist es, das Arcanum zu holen, seine, für die Sicherheit des Bootes zu sorgen.« »Trotzdem«, beharrte Bracht. »Er nimmt sich eine Menge heraus.« »Die Angst hat ihn die Beherrschung verlieren lassen«, entgegnete sie leise. »Er hat befürchtet, mir könnte etwas zugestoßen sein, deshalb war er so erregt.« »Es gefällt mir nicht, wenn er seine Wut an dir aus läßt.« Brachts Stimme klang sanft. Katya drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. Sie wirkte beunruhigt, stellte Calandryll fest, als würde sie mit irgendeinem Problem ringen. Die Falten auf ihrer Stirn verrieten ihre
Unentschlossenheit. Dann seufzte sie, strich sich ein paar blaßgoldenen Haarsträhnen aus dem Gesicht und schüt telte langsam und resigniert den Kopf. »Das kannst du nicht verstehen«, sagte sie ruhig. »Du lobst meine Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert, aber in Vanu ist das etwas Ungewöhnliches. In Vanu hält man mich für … anders.« »In Cuan na'For würde man dich bewundern«, versi cherte ihr Bracht galant. »Das kannst du nicht verstehen«, wiederholte sie. »Ich habe dir erzählt, daß wir keine Kriege in Vanu führen. Dort schätzt man Friedfertigkeit höher als Kampfge schicklichkeit. Wir kämpfen nur, wenn uns nichts ande res übrig bleibt, wenn wir dazu gezwungen werden. Du fragst nach Quara und ihren Frauen? Sie sind Jägerinnen. Sie würden ihre Pfeile lieber auf Tiere als auf Menschen abschießen. Und niemand unter ihnen kann so gut wie ich mit einem Schwert umgehen.« Sie verstummte, und ihr Blick wanderte über das in der Sonne glitzernde Meer. Calandryll betrachtete ihr Gesicht. Er konnte ihren inneren Konflikt spüren. Bracht musterte sie schweigend und wartete darauf, daß sie weitersprach. Als sie es tat, hatte sie die Stimme gesenkt. Sie klang traurig, als würde sie gerade die Ei genschaften bedauern, die Bracht an ihr so sehr bewun derte. »Man hat mich wegen dieser Begabung für diese Mis sion ausgewählt«, sagte sie. »Weil ich mich besser als alle
anderen für die vor mir liegenden Aufgaben eigne. Schon das allein verursacht Tekkan … Unbehagen. Und dazu kommt noch seine Sorge um mich.« »Und wenn schon«, meinte Bracht störrisch. »Was gibt ihm das Recht, in diesem Tonfall mit dir zu sprechen?« »Tekkan ist mein Vater«, erwiderte sie.
KAPITEL 17 »Kein Wunder, daß er dir gegenüber so argwöhnisch ist«, stellte Calandryll fest. Sein Blick kehrte von Tekkan, der seit dem Morgen am Ruder stand, zu Bracht zurück. »Er entdeckt, daß ein fremder Krieger seiner Tochter den Hof macht und sie auch noch zu riskanten Unterneh mungen überredet – kannst du es ihm da übelnehmen, wenn er sich um sie sorgt?« »Willst du damit sagen, ich wäre ihrer nicht würdig?« fragte Bracht. Er starrte düster auf die Küste, wo sich die Bäume wie dunkle Scherenschnitte im schnell schwin denden Licht des Tages abzeichneten. Sein Gesichtsaus druck war genauso finster wie der Wald. Calandryll schüttelte den Kopf. »Nein, ich sage nur, was du ebenfalls schon festgestellt hast: daß ihr euch sehr voneinander unterscheidet. Und deshalb ist es verständ lich, wenn Tekkan mit Beunruhigung auf deine Absich ten gegenüber seiner Tochter reagiert.« »Ich habe mein Wort gegeben«, erwiderte Bracht steif, »und ich stehe dazu. Habe ich seitdem auch nur einen einzigen weiteren Annäherungsversuch gemacht oder irgend etwas gesagt?« »Nein, das hast du nicht.« Calandryll seufzte und lehnte sich gegen die Reling. Er konnte spüren, wie die
Salben auf seinen Prellungen ihre Wirkung entfalteten und die Schmerzen linderten. »Aber man sieht es in dei nen Augen. In der Art, wie du ständig versuchst, sie zu … verteidigen.« »Ich kann einfach nicht anders.« Bracht schüttelte den Kopf. »Und wieso sollte Tekkan etwas dagegen einzu wenden haben?« »Ich glaube, er hat Angst.« Calandryll runzelte die Stirn, als er über einen Gedanken nachdachte, der ihm seit dem Streitgespräch auf dem Vorderdeck nicht mehr aus dem Kopf ging. »Keine Angst vor körperlichen Ge fahren, sondern vor dem, was du bist, wofür du stehst.« »Hält er mich für unwürdig?« Der aufgegangene Mond und die Sterne warfen ihr silbriges Licht auf das scharfgeschnittene Gesicht des Kerners. Es wirkte verschlossen und vorwurfsvoll. »Nein, das nicht«, erwiderte Calandryll, »aber er sieht eine Bedrohung in dir. Ich glaube, diese Vanuer sind wirklich ganz anders als wir. Hat Tekkan nicht gesagt, wenn er die Wahl hätte, würde er lieber Konflikten aus dem Weg gehen, anstatt zu kämpfen? Hat uns Katya nicht erzählt, daß es in Vanu keine Kriege gäbe? Und daß man sie für anders hält, weil sie gut mit einem Schwert umgehen kann und auch bereit ist, es zu benutzen? Ich glaube, wenn Tekkan die Wahl gehabt hätte, hätte er diese Reise gar nicht unternommen. Er hat sie nur ange treten, weil ihm nichts anderes übriggeblieben ist, nicht weil er Spaß an Kämpfen hat oder abenteuerlustig ist. Du
aber liebst die Gefahr, und das ist eine Versuchung für Katya. Ich denke, Tekkan hat ganz einfach Angst davor, seine Tochter zu verlieren.« Bracht stutzte. Seine Miene wurde wieder freundli cher, und in der tropischen Dunkelheit blitzten seine Zähne weiß auf. »Du glaubst, sie teilt meine Gefühle?« fragte er. »Ich denke, sie fühlt sich von dir angezogen«, bestätig te Calandryll. »Tekkan spürt das und fürchtet, daß seine Tochter das friedliche Leben Vanus für ein Leben mit dir aufgeben könnte, sobald diese Mission beendet ist.« »So ist nun mal der Lauf der Dinge«, stellte Bracht fest. »Irgendwann müssen alle Eltern ihren Kindern Lebewohl sagen.« »Und was ist mit dem Frieden? Müssen sie auch taten los zusehen, wie ihre Kinder ein Land verlassen, in dem es keine Kriege gibt, um mit einem Krieger fortzuziehen, dessen Landsleute ständig kämpfen?« »So ist eben das Leben in Cuan na'For«, sagte Bracht. »Es ist ehrenvoll zu kämpfen.« »Warum hast du dein Land dann verlassen?« wollte Calandryll wissen. Brachts Gesicht wurde abweisend. Er wandte den Kopf ab und starrte auf den dunklen Dschungel und das phosphoreszierende Schimmern der Wellen, die sich vor dem schmalen Strandstreifen brachen. »Es ging um ein paar Pferde«, sagte er schließlich leise und zögernd. »Um eine … Meinungsverschiedenheit.«
»Und noch einiges mehr«, vermutete Calandryll. »Aye.« Bracht stieß ein schnaubendes Lachen aus. »A ber darüber möchte ich nicht reden. Da spielte auch noch eine Frau eine Rolle.« »Hast du sie geliebt?« ließ Calandryll nicht locker. »Hast du deshalb deine Heimat verlassen? So wie ich Secca verlassen habe, weil ich … dachte, ich würde Na dama lieben?« »Du bedrängst mich«, murmelte Bracht. »Ich würde das niemand anderem durchgehen lassen, aber … ja. Ich habe Cuan na'For aus ähnlichen Gründen und fast auf die gleiche Weise verlassen, wie du Secca den Rücken gekehrt hast. Aber das gehört der Vergangenheit an, genau wie deine Nadama, und ich möchte nicht mehr darüber sprechen.« »Ich werde dich nicht weiter bedrängen«, versprach Calandryll. »Aber kannst du Tekkans Befürchtungen nicht verstehen?« Bracht senkte den Kopf, bis sein Kinn die Brust be rührte. Sein langes Haar fiel herunter und verbarg sein Gesicht. Dann richtete er sich wieder auf und nickte. »Ich verstehe ihn. Aber das wird mich nicht abhalten … Wie es nach unserer Mission mit uns weitergeht, entscheidet Katya, nicht er.« »Bis dahin solltest du dich ihm gegenüber vorsichtig verhalten«, riet Calandryll. »Wir brauchen dieses Boot, denk immer daran. Das Boot und seinen Befehlshaber.« »Glaubst du, Tekkan könnte uns betrügen?« Brachts
blaue Augen richteten sich eindringlich auf Calandryll. »Ich glaube es eigentlich nicht«, erwiderte dieser, »a ber trotzdem … Wenn es uns gelingen sollte, das Arca num aus Gessyth herauszuholen, wozu brauchte Tekkan uns dann noch? Seine Aufgabe ist es, das Buch nach Vanu zu bringen, und dabei wären wir ihm kaum noch eine Hilfe.« »Katya würde das nicht zulassen. Und du vergißt die Prophezeiung.« »Was Tekkan darüber weiß, hat er von Katya und von uns gehört«, gab Calandryll zu bedenken, »nicht mit seinen eigenen Ohren. Und wenn er in dir eine Bedro hung sieht, wie könnte er sie leichter aus dem Weg räu men, als uns in Gessyth zurückzulassen?« »Du entwickelst ein beachtliches Mißtrauen«, schmunzelte Bracht und grinste seinen Gefährten an. »Ich habe das bisher für meine Spezialität und dich für einen Laien auf diesem Gebiet gehalten.« »Ich lerne«, erklärte Calandryll. Sein Gesicht verdüs terte sich, als er an Varents Verrat dachte. »Ich habe ge lernt, daß Vertrauen keine Sache blinden Glaubens ist, sondern ein langsamer Prozeß. Und darüber hinaus et was, woraus sich Kapital schlagen läßt.« »Du wirst zynisch«, sagte Bracht leise. »Ich werde erwachsen«, behauptete Calandryll. Der Kerner musterte ihn einen Augenblick lang und nickte dann. »Das auch. Aber trotzdem, was Tekkan auch für Ge
fühle mir gegenüber haben mag, ich glaube nicht, daß er uns verraten würde. Auch wenn er mich nicht mag, halte ich ihn doch für einen ehrenwerten Mann. Und ich wie derhole noch einmal: Katya würde das nicht zulassen.« »Du hast viel Vertrauen in sie und ihren Einfluß«, stellte Calandryll nüchtern fest. »Allerdings«, bestätigte Bracht genauso nüchtern. »Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte Calandryll zu, »aber ich bin trotzdem nach wie vor der Meinung, daß du dich Tekkan gegenüber respektvoll verhalten solltest.« »Wie du befiehlst.« Bracht vollführte eine Verbeu gung, die nicht nur spöttisch gemeint war. »Ich beuge mich deiner Weisheit.« »Und was Katya betrifft, es wäre genauso ratsam, wenn du dir deine Bewunderung nicht allzu deutlich anmerken lassen würdest.« »Das wird mir schon schwerer fallen.« »Es dürfte dir weniger ausmachen, als dich in Gessyth ausgesetzt wiederzufinden«, gab Calandryll zurück. Erst als das Mondlicht auf Brachts Gesicht fiel, wurde ihm bewußt, wie scharf seine Stimme geklungen hatte. Er hob die Schultern und bemühte sich zu lächeln. »Ich möchte nicht, das unsere Mission grundlos in Gefahr gerät.« »Ich auch nicht«, erwiderte der Kerner sanft, und plötzlich schämte sich Calandryll. »Verzeih mir«, bat er.
»Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müßte«, sagte Bracht nachsichtig. »Du kannst dich beruhigen, ich wer de Tekkan nicht vor den Kopf stoßen.« Calandryll nickte und gähnte. Er bemerkte, daß das Kriegsboot den Kurs änderte und weiter auf das offene Meer hinausglitt, wohin sich kaum ein Kanu der Einge borenen wagen würde. Nach einer Weile war der Urwald zu einer verschwommenen Linie zwischen Himmel und Meer zusammengeschrumpft, die Ruder wurden einge zogen und die Anker geworfen. Das Boot schaukelte sanft auf der Dünung, die Vanuer spannten ihre Hänge matten auf. Calandryll streckte sich auf den Planken aus, die immer noch warm von der Sonne waren und starrte in den silberblauen Sternenbaldachin. Er war erstaunt, ja sogar erschreckt über seine eigenen Worte und sein Mißtrauen. Glaubte er wirklich, Tekkan könne sie verraten? Er war sich nicht sicher, wußte nur, daß er alles um sich herum mit Mißtrauen betrachtete, seit ihm Ellhyn Varents Verrat offenbart hatte. Bracht traute er immer noch uneingeschränkt, und das gleiche galt für Katya, denn die Wahrsagerin hatte sich für die Aufrichtigkeit der Schwertkämpferin verbürgt. Aber Varent hatte ihn benutzt, Tobias hatte die Chaipaku damit beauftragt, ihn umzubringen, und das hatte einen bisher unbekannten Zynismus in ihm geweckt. Wahrscheinlich beurteilte Bracht Tekkan richtig, aber trotzdem wollte Calandryll kein Risiko eingehen. Die Wut in Tekkans Augen war echt gewesen, und Katya
hatte die Erklärung dazu geliefert. Es war richtig gewe sen, danach mit Bracht zu sprechen, anstatt zu riskieren, daß es zu Spannungen kam, denn sobald sie das Arca num einmal an Bord gebracht hatten, waren sie von Tek kan abhängig. Sie würden keine andere Möglichkeit haben, Gessyth zu verlassen, bis die jahreszeitlich be dingten Winde umschlugen und die Handelsschiffe er schienen, und sollte Tekkan versuchen, seine Tochter und Bracht voneinander zu trennen, gab es für ihn keine bessere Gelegenheit, als den Söldner in Gessyth zurück zulassen. Und auch seinen jüngeren Begleiter, denn Ca landryll wußte, daß er es niemals fertigbringen würde, seinen Kameraden im Stich zu lassen. Eine Sternschnuppe schoß über den Himmel. Die Wahrsager des Palastes behaupteten, Sternschnuppen wären Vorboten künftiger Ereignisse, und Calandryll fragte sich, welche Ereignisse diese Sternschnuppe an kündigte. Wurde Kandahar bereits vom Bürgerkrieg zerrissen? Wer würde als Sieger daraus hervorgehen, der Tyrann oder der rebellische Lord der Fayne? Und wel chen Einfluß würde das Ergebnis auf seine Rückkehr haben, wohin auch immer die ihn führen mochte, nach Lysse oder nach Vanu? In beiden Fällen war er auf das Kriegsboot angewiesen, und deshalb mußte er Tekkan davon überzeugen, daß Katya nicht in Gefahr war, sich von ihrem Volk zu entfremden. Sollte Sathoman ek'Hennem den Sieg davontragen, konnte es durchaus passieren, daß Calandryll und Bracht in Kandahar geächtet wurden, und auch von den Chai
paku drohte ihnen nach wie vor Gefahr, sowohl in Kan dahar wie in Lysse, denn Tobias würde in seinem Bruder mit Sicherheit immer noch eine Bedrohung sehen. Also war Secca keine sichere Zuflucht für Calandryll, ebenso wenig wie Aldarin, denn irgendwann mußte Varent von den Absichten seines ehemaligen Schützlings erfahren und den Domm Aldarins zweifellos in seinem Sinne beeinflussen. Calandryll begriff mit plötzlichem Erschrecken, daß er heimatlos geworden war. All seine Träume über eine ruhmreiche Rückkehr als Held waren nicht mehr als die Wunschphantasien eines naiven Jünglings gewesen, und er war kein Jüngling mehr. Er war zu einem Mann mit Blut an den Händen geworden, von allem entfremdet, was sein Wesen früher bestimmt hatte; nicht mehr der blauäugige Jüngling, der Varent so bereitwillig – so ver trauensselig! – gefolgt war und hehre Träume geträumt hatte, sondern ein Mann, der zynisch geworden war, genau wie Bracht festgestellt hatte; ein Mann, der selbst seinen geschworenen Verbündeten nicht mehr zu ver trauen bereit war. Er lächelte bitter zu den Sternen empor, als er erkann te, daß er Tekkan nur aus dem einzigen Grund brauchte, weil er auf das Kriegsboot angewiesen war, um den Gefahren zu entgehen, die ihm in diesem Teil der Welt drohten. Bürgerkrieg in Kandahar und vielleicht ein Krieg zwischen Lysse und Kandahar. Also würde Vanu sein Ziel sein. Dort würde er das Arcanum den Heiligen Männern von Katyas Heimatland übergeben. Danach …
aber das lag viel zu weit in einer Ungewissen Zukunft. Darüber würde er sich Gedanken machen, sobald die Zeit gekommen war. Er seufzte, gähnte, schloß die Augen und wartete dar auf, daß der Schlaf seine Sorgen vertrieb. Er tat, was er konnte, und mehr konnte er nicht von sich verlangen. Mit der Morgendämmerung setzten sie ihre Reise fort, und Calandryll verdrängte seine Zweifel. Die Sonne stieg sengend heiß über dem Dschungel auf, der Wind nahm zu. Die Ruderer nahmen ein eiliges Frühstück zu sich und kehrten auf ihre Bänke zurück. Tekkan übernahm wieder das Steuer und unterhielt sich mit Katya. Calandryll war sich nicht zu schade, Quara und den anderen Frauen dabei zu helfen, das Frühstücksgeschirr einzusammeln und mit Seewasser zu waschen, das sie mit Segeltucheimern an Bord zogen, bevor er sich zu Bracht auf das Vorderdeck gesellte. Der Kerner schien guter Laune zu sein, auch wenn Ca landryll nicht entging, daß er den Blick öfters zum Ach terdeck schweifen ließ, wo Katya neben ihrem Vater stand. Als es offensichtlich wurde, daß sie nicht die Ab sicht hatte, zu ihnen zu kommen, schlug Bracht vor, ein wenig mit den Schwertern zu trainieren. »Wir haben keine Übungsharnische«, wandte Ca landryll ein. »Und auch keine stumpfen Schwerter.« »Es sind Rüstungen an Bord«, erwiderte Bracht, »und vielleicht leihen uns die Vanuer ein paar Waffen. Erkun dige dich bei Tekkan, und wenn er keine Einwände hat,
borgen wir uns aus, was wir brauchen.« Calandryll nickte, betrat das Achterdeck und trug Tekkan seine Bitte vor. Der Steuermann erklärte sich einverstanden, wandte sich an Katya und schlug ihr vor, sie solle sich darum kümmern. Calandryll nahm an, daß Vater und Tochter ein ähnliches Gespräch wie er und Bracht geführt hatten, denn Tekkans Gesicht blieb ruhig, und er machte auch keine Einwände, als Katya erklärte, daß sie an der Übung teilnehmen wollte. »Tekkan … dein Vater scheint heute besserer Laune zu sein«, meinte Calandryll, als sie zu den Verschlägen am Vorderdeck gingen, wo die Schutzkleidung verstaut war. »Wir haben uns unterhalten«, erwiderte Katya, »und ich habe ihm von Brachts Versprechen erzählt. Er akzep tiert es.« »Und auch, wie Bracht ist? Wie wir sind?« Katya bedachte ihn mit einem Lächeln. »Und wie seid ihr, Calandryll?« »Anders«, erklärte er und mußte grinsen, als er merk te, daß sie ihn mit ihrer Frage aufziehen wollte. »Ich glaube, dein Vater hat nicht viel für Leute wie uns übrig. Wir greifen zu schnell zum Schwert, und er fürchtet, wir könnten dich … verderben.« Sie nickte, immer noch lächelnd, aber ihre Stimme klang ernst, als sie antwortete: »Du bist ein aufmerksa mer Beobachter. Genau das ist es, was er fürchtet. Daß ich die Lebensweise meiner Heimat vergessen könnte, weil ich mich von euren merkwürdigen Sitten angezogen
fühle.« »Und trifft das zu?« fragte er direkt. Diesmal flackerte ihr Lächeln. »Aye«, gab sie wider willig zu. Doch gleich darauf grinste sie wieder und fügte hinzu: »Aber ich habe dir ja schon gesagt, daß mich meine eigenen Landsleute für etwas merkwürdig hal ten.« Calandryll hätte noch länger und wahrscheinlich auch offener mit ihr gesprochen, aber mittlerweile hatten sie die Verschläge erreicht, und Bracht, der direkt darüber auf dem Vorderdeck stand, nickte ihr höflich zu. »Dein Vater hat nichts gegen unser Training einzu wenden?« »Er ist ein praktisch denkender Mann.« Sie kramte Wämser und dicke Hosen aus dem Verschlag hervor und reichte sie an Calandryll weiter. »Er sieht ein, daß Fähig keiten, die zum Überleben erforderlich sind, trainiert werden müssen.« Bracht hob die Brauen, als er sah, daß sie drei Rüstun gen und drei Schwerter aus dem Verschlag geholt hatte. »Und er hat auch nichts dagegen, daß du mit uns übst?« »Was immer er auch von meinen … Fähigkeiten hält, er möchte, daß ich überlebe.« »Dann heiligt für ihn also der Zweck die Mittel?« Katya sprang geschmeidig auf das Vorderdeck und begann, sich mit den Schnallen und Bändern der Schutz kleidung zu beschäftigen. Sie wich Brachts Blick aus, als
sie entgegnete: »Nein, das nicht. Das ist das Argument von Fanatikern, und Tekkan ist kein Fanatiker. Die Mittel müssen dem Zweck angemessen sein. Aber es wäre ein Zeichen von Dummheit, wenn wir die vor uns liegenden Aufgaben unvorbereitet lösen wollten, und Tekkan ist auch kein Dummkopf.« »Das habe ich nicht damit gemeint«, versicherte Bracht schnell. »Ich wollte nicht respektlos sein.« Seine Entschuldigung ließ Katya aufblicken. Sie lachte. »Wollen wir uns hier in philosophischen Debatten oder im Schwertkampf üben?« »Im Schwertkampf«, erwiderte Bracht grinsend. »Dar in bin ich besser als in Wortgefechten.« Auch er und Calandryll legten die dicken Hosen und die Wämser an. Die Waffen, die ihnen Katya besorgt hatte – sie wollten vermeiden, daß ihre eigenen Schwer ter stumpf wurden –, waren vom gleichen Typ wie die ihren, offensichtlich das in Vanu gebräuchliche Modell. Es waren Säbel, stärker gebogen als Brachts Krumm schwert und etwas leichter als Calandrylls lyssianisches Schwert mit der geraden Klinge. Calandryll nahm an, daß sie für den Kampf vom Pferderücken aus gedacht waren, aber sie waren auch recht gut für den Einsatz auf dem Boden geeignet. Er wog den Säbel in der Hand und führte ein paar Bewegungen damit aus, um sich mit Gewicht und Schwungverhalten vertraut zu machen. Das geschah ganz instinktiv, es war Teil der neuerworbenen Erfahrung, die ihn verändert hatte.
»Also gut«, sagte Bracht und lächelte Katya zu. »Greif mich an, und wir werden sehen, ob du eine Überlebens chance hast. Calandryll zählt die Treffer.« Calandryll trat zurück, als sie einander gegenüber Aufstellung nahmen. Plötzlich wurde ihm klar, daß ihr Duell eine Art von Werbung war, und die Erkenntnis amüsierte ihn, denn er vermutete, daß Katya das von Anfang an bewußt gewesen war. Bracht versuchte, sie zu beeindrucken. Bei einem schwächeren Gegner wäre ihm das auch gelungen, aber Katya war ihm ebenbürtig, und Calandryll kam gar nicht dazu, Treffer zu zählen. Er begnügte sich damit, zuzuse hen, wie Bracht Katyas Angriffe abwehrte, die wiederum seine Gegenstöße abblockte, so daß keine Klinge die Rüstung des Gegners berührte. Er beobachtete mit wachsender Belustigung, wie sich der Gesichtsausdruck des Kerners von lässigem Selbstbewußtsein zu konzentrierter Entschlossenheit und schließlich zu ehrlicher Überraschung wandelte, wäh rend auf Katyas Gesicht ständig ein Lächeln lag. Ihre Freude darüber, einem so geschickten Schwertkämpfer gewachsen zu sein, war unverkennbar. Bald begann Schweiß auf ihren Gesichtern zu glänzen, und um die Kämpfenden versammelten sich immer mehr Zuschauer, die dem Schwertkampf offensichtlich mit weniger Abneigung als Tekkan begegneten, dessen Mie ne, wie Calandryll mit einem kurzen Blick feststellte, streng und nicht gerade erfreut wirkte.
Endlich gelang es Bracht, einen Treffer zu landen, in dem er Katyas Säbel mit seinen größeren körperlichen Kräften zur Seite drückte und ihren Brustkorb mit seiner Klinge berührt. Sie machte sich sofort zu einem zweiten Durchgang bereit, aber er hob abwehrend eine Hand und ließ seine Waffe schwer atmend sinken. »Es gibt wohl kaum noch etwas, das ich dir beibringen könnte«, stellte er voller Bewunderung fest. »Bei Ahrd, Katya! In Cuan na'For würdest du deinem Vater eine ganze Herde Pferde als Brautpreis einbringen! Und zwar nur gute Tiere!« Katyas Gesicht war bereits von den Anstrengungen des Kampfes gerötet, aber Calandryll glaubte zu erken nen, daß ihre Wangen noch etwas dunkler wurden. Wenn sie allerdings verlegen war, überspielte sie es mit einem Stirnrunzeln und fragte: »In Cuan na'For kaufen sich die Männer also ihre Bräute?« Auch Brachts Gesicht wurde jetzt etwas dunkler und sein Lächeln dünner. »Es ist bei uns üblich, daß ein Brautpreis entrichtet wird, ja«, murmelte er. »Und die Frauen erhalten eine Mitgift.« »In Vanu suchen sich die Frauen und Männer ihre Partner selbst aus«, sagte Katya, und sofort wurde Brachts Lächeln wieder breiter. »Und die Väter?« wollte er wissen und sah ihr dabei direkt in die Augen. »Was haben sie dazu zu sagen?« Sie erwiderte seinen Blick und sagte ruhig: »Man be müht sich um ihre Zustimmung.«
»Und wenn man sie nicht bekommt?« Katyas Blick wurde unstet. Sie schlug einen Moment lang die Augen nieder und richtete sie dann wieder auf die seinen. »Man sollte sie lieber gewinnen.« Bracht nickte. Seine Miene war ernst, und seine Stim me klang feierlich, als er sagte: »So soll es sein.« Und als würde er jetzt erst erkennen, daß sie sich auf dünnem Eis bewegten, wechselte er abrupt das Thema, indem er sich Calandryll zuwandte. »Was ist, möchtest du jetzt dein Glück probieren?« Calandryll merkte schon nach kurzer Zeit, daß er, ge messen an Bracht und Katya, der schwächste Schwert kämpfer war. Er war nicht schlecht – hätten Torvah Ba nul oder auch sein Vater ihm jetzt zusehen können, dann hätten sie ihm höchstwahrscheinlich Beifall gespendet –, aber auch wenn er die meisten Angriffe parieren konnte, stand es doch nach Punkten bald drei zu eins für Bracht. Er erkannte die Überlegenheit des Söldners mit einer Verbeugung an, und nach einer kurzen Ruhepause trat er Katya gegenüber. Gegen ihre schnelle Klinge schlug er sich zwar auch kaum besser, aber zumindest verlor er diesen Kampf nur mit zwei Treffern gegen drei. Als die Öfen für das Mittagessen hervorgeholt wur den, ließen sie keuchend die Säbel sinken, halfen sich gegenseitig aus ihrer Schutzkleidung und ließen sie auf dem Vorderdeck liegen. Ihre Hemden waren naß geschwitzt und klebten ihnen am Körper. Katya ging in ihre Kabine, um sich umzuziehen, und Bracht sah ihr
verträumt hinterher. »Du siehst wie ein verliebter Junge aus«, sagte Ca landryll leise und deutete mit dem Kinn auf das Achter deck, wo Tekkan stand und sie stirnrunzelnd beobachte te. »So fühle ich mich auch«, seufzte Bracht. Dann grinste er. »Aber ich habe mein Versprechen nicht vergessen.« »Denk an Tekkan«, mahnte Calandryll. »Aye.« Bracht nickte, und sein Gesicht wurde unver mittelt wieder ernst. »Ich glaube, es ist an der Zeit für ein Gespräch.« Calandryll öffnete den Mund, um ihm davon abzura ten, aber da war der Kerner bereits aufgesprungen und näherte sich zielstrebig dem Achterdeck, so daß Ca landryll ihm nur noch nacheilen und sich bereithalten konnte, vermittelnd einzugreifen, sollte es zwischen den beiden Männern zu einem Streit kommen. Er erreichte gerade den Niedergang, als Bracht das Achterdeck betrat und sich höflich vor Tekkan verbeugte. Tekkan schien über die ehrerbietige Geste überrascht zu sein, noch mehr allerdings über die Worte des Ker ners. »Wir sollten diese Angelegenheit klarstellen, damit es zwischen uns zu keinen Mißverständnissen kommt«, sagte Bracht. »Was?« fragte Tekkan knapp, obwohl seine Augen verrieten, daß er wußte, worum es ging.
»Ich habe nicht gewußt, daß Ihr Katyas Vater seid«, erklärte Bracht, »aber selbst wenn ich es gewußt hätte, hätte ich mich nicht anders verhalten. Weder was die Kannibalen noch was die anderen Dinge betrifft.« »Ihr seid zumindest…«, Tekkan lächelte flüchtig, »… ehrlich.« »Es ist in meiner Heimat üblich, offen zu sprechen«, erwiderte Bracht. Er blickte dem stämmigen Steuermann ruhig und fest ins Gesicht. »Und ich denke, Ihr wißt über … meine Gefühle Katya gegenüber Bescheid.« Tekkan nickte. »Und über mein Versprechen«, fuhr Bracht fort, »daß ich sie nicht bedrängen werde, bis wir das Arcanum sicher nach Vanu gebracht haben.« »Sie hat mir davon erzählt«, bestätigte Tekkan. »Aber dann werde ich sie bitten, meine Frau zu wer den, und sie muß mir selbst darauf antworten. Daß Ihr es lieber anders hättet, ist eine Angelegenheit, die Ihr mit Eurer Tochter ausmachen müßt. Aber ich möchte Euch versichern, daß ich bis dahin weder etwas tun noch sa gen werde, was sie oder Euch beleidigen könnte. Wenn wir jedoch in Vanu angekommen sind und das Arcanum zerstört ist, werde ich offen sprechen.« Tekkan schwieg. Er starrte den Kerner nachdenklich an, und sein Gesicht war undurchschaubar. Dann neigte er den Kopf. »Ihr folgt dem Weg des Schwertes, Bracht, und ich kann nicht behaupten, daß meine Wahl auf Euch fallen
würde, wenn ich Katyas Mann aussuchen könnte, aber Ihr seid ein ehrenhafter Mann, und ich danke Euch für Eure Offenheit. Laßt mich genauso offen antworten: Sollte Katya meinen Rat in dieser Angelegenheit einho len, wird meine Antwort nein lauten, aber die letzte Entscheidung wird sie allein treffen, nicht ich.« »Und es wird keine Verstimmungen zwischen uns ge ben?« Tekkan lächelte wieder, diesmal wärmer, und schüt telte den Kopf. »Nein. Wir sind grundverschieden, Ihr und ich, aber wir verfolgen dasselbe Ziel, und unsere Aufgabe verbindet uns. Es wird kein böses Blut zwischen uns geben.« »Das ist gut.« Bracht streckte ihm die Hand entgegen, und Tekkan ergriff sie. Calandryll spürte, wie er sich entspannte. Er bemerkte, daß Katya vom Mitteldeck aus zugesehen hatte und lächelte. Wahrscheinlich hatte sie genug ge hört, vermutete er, um das Wesentliche verstanden zu haben, und sie schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Er jedenfalls war es. Er konnte spüren, wie sich die Spannung legte und sein eigenes Mißtrauen nachließ. Brachts offene Worte und die ebenso offene Erwiderung des Vanuers vertrie ben seine unterschwellige Angst, Tekkan könne sie hilf los in Gessyth zurücklassen. Genauso wie Tekkan be fürchtet hatte, seine Tochter könne sich durch die in seinen Augen falsche Lebensweise des Kerners verführen
lassen, war er, Calandryll, von Varents Ränkespiel ver führt worden. Jetzt erkannte er, daß er Schatten gesehen hatte, wo keine waren, außer denen, die Varents Lügen geworfen hatten. Aber das lag nun hinter ihm. Jetzt be fand er sich unter Freunden, unter Gefährten, die sich geschworen hatten, Varents verrückte Pläne zu vereiteln, und vor ihm lag eine stolze Aufgabe. Gefährlich, ja, aber er stellte sich ihr aus freiem Willen und nicht, weil er durch ruchlose Magie oder die leisen Einflüsterungen eines jahrhundertealten Zauberers verführt wurde, der den irrsinnigen Plan verfolgte, den Verrückten Gott wie derauferstehen zu lassen. Varent – Rhythamun – saß sicher in Aldarin wie eine Spinne in ihrem Netz, die darauf wartete, daß die Fliegen, die sie mit falschen Ver sprechungen geködert hatte, zu ihr zurückkehrten. Aber er wußte nicht, daß diese Fliegen seine Fäden mittlerwei le sehen und ihnen ausweichen konnten. Die Bedrohung durch Varent lag hinter ihm, der Zauberer konnte ihn nicht mehr erreichen, weder hier auf dem Kriegsboot noch in Tezin-dar. Calandryll lächelte erleichtert. Er sollte erst sehr viel später erfahren, wie sehr er sich getäuscht hatte. Sie setzten ihre Reise entlang der Küste Gashs fort. Manchmal wurden sie von Einbäumen verfolgt, die sich allerdings nie nah genug für einen Angriff an sie heran wagten, als hätte sich unter den Dschungelbewohnern die Botschaft verbreitet, daß dies keine geeignete Beute
wäre und lieber in Ruhe gelassen werden sollte. Dreimal gingen Expeditionen an Land, um die Was servorräte aufzufrischen und zu jagen, und nie wurden sie überfallen. Die Jäger kehrten mit Hirschen, Rehen und Schweinen zurück und reicherten damit ihren Spei seplan an, der ansonsten aus Fisch und den schnell schwindenden, in Kharasul gekauften Vorräten bestand. Sie sichteten keine anderen Schiffe, während der Sommer allmählich in den Herbst überging, und die größte Ge fahr bestand in der Langeweile, die sich durch den eintö nigen Tagesablauf breitmachte. Sie lenkten sich ein wenig durch das Schwerttraining ab, das zu ihrer täglichen Gewohnheit wurde. Unter Brachts Anleitung nahm Calandrylls Geschicklichkeit weiter zu, und mit der Zeit – und mit Tekkans etwas widerwilligem Einverständnis – nahmen auch andere Mitglieder der Schiffsbesatzung daran teil, wenn auch niemand unter ihnen an Katyas Fähigkeiten oder Begeis terung heranreichte. Bracht hielt sein Versprechen – woran Calandryll nie gezweifelt hatte – und äußerte Katya gegenüber kein Wort über seine Hoffnungen. Er begegnete ihr mit einer merkwürdig formellen Höflichkeit, die ihr mehr als ein mal ein Lächeln entlockte, das er dann erwiderte, wobei seine Augen sagten, was sein Mund verschwieg. Was ihm auf der Seele lag, blieb für Calandrylls Ohren reser viert, der manchmal nur mit Mühe die erforderliche Geduld aufbringen konnte, um sich Brachts endlose
Lobpreisungen über Katya anzuhören, wenn sie müßig in der Sonne herumsaßen oder abends auf den Planken lagen und die Sternbilder betrachteten. Er fragte sich, ob er damals genauso überschwenglich von Nadama geschwärmt hatte, an deren Gesicht er sich immer schwerer erinnern konnte. Diese Liebe, falls es wirklich Liebe und nicht nur eine jugendliche Verliebt heit gewesen war, gehörte einer anderen Zeit und einem vergangenen Leben an, das er abgestreift hatte, wie eine Schlange ihre alte Haut abstreift. Und wie eine Schlange nach ihrer Häutung war auch er in gewisser Weise wie dergeboren worden. Was er an leisem Bedauern über das Wissen verspürte, daß er seine Heimat vielleicht nie wiedersehen würde, wurde durch die vor ihm liegende Herausforderung ausgeglichen. Er gönnte Tobias die Herrschaft über Secca – das war für ihn nie ein Problem gewesen –, aber nun gönnte er ihm auch Nadama. Und wenn Bylath einst in den Gewölben unter dem großen Tempel Deras seine letzte Ruhestätte fand, ohne zu wissen, wohin es seinen jüngsten Sohn verschlagen hatte, nun, dieses Schicksal hatte er selbst herausgefordert, als er die Entschlossen heit Calandrylls durch seine gefühllose Ohrfeige noch verstärkt hatte. Jetzt, nach seiner Wiedergeburt, konnte Calandryll diese Dinge akzeptieren. Er hatte sich verändert, geistig wie körperlich. Er war härter geworden, die tägliche Arbeit an Bord und die Schwertkämpfe kräftigten seine
Muskeln. Bracht unterwies ihn im Ringkampf. An die sem Kräftemessen nahmen auch die Ruderer teil. Solche friedlichen Wettkämpfe waren in Vanu sehr beliebt, wie Katya ihnen erzählte. Quara brachte Calandryll das Bo genschießen bei, bis er fast genausogut wie die Frauen mit den zum Fischfang benutzten Pfeilen umgehen konn te und seinen Anteil am täglichen Fang beisteuerte. Die Vanuer lobten ihn in ihrer weichen melodischen Sprache, die zu beherrschen er sich große Mühe gab. Das fiel ihm zwar bedeutend schwerer als das Bogenschießen, aber mit der Zeit lernte er, wenigstens einfache Sätze zu verstehen und sich selbst verständlich zu machen, wenn seine Zuhörer genug Geduld aufbrachten. Er übte verbis sen mit Katya, aber schließlich warf sie protestierend die Hände in die Luft und versicherte ihm lachend, daß er sich gedulden müßte, bis er einen besseren Lehrer fand – wahrscheinlich erst in Vanu. Er erfuhr mehr über dieses geheimnisvolle Land und wünschte sich, er hätte sein Wissen aufzeichnen können. Daß er keine Bücher und kein Schreibmaterial hatte, war das einzige, was er bedauerte, aber es wog nicht allzu schwer gemessen an dem Wissen, das er sammelte. Allmählich verstand er, daß Vanu tatsächlich frei von solchen kriegerischen Auseinandersetzungen war, wie sie die südlichen Königreiche ständig heimsuchten. Die Mannschaftsmitglieder des Kriegsbootes wurden von ihren Landsleuten als Sonderlinge betrachtet, denn auch wenn sie ihm oder Bracht sanftmütig erschienen, galten
sie in ihrer Heimat als ungewöhnlich kriegerisch. Es schien ein idyllisches Land zu sein, ein friedlicher Zu fluchtsort in einer Welt, die vor allen Dingen von Kampf und Ehrgeiz beherrscht wurde. Nur ein Punkt ließ ihn mißtrauisch werden. Katya sprach nur vage und mit kaum verhohlener Zu rückhaltung über die Heiligen Männer, die sie auf diese Reise geschickt hatten, und überhaupt nicht über ir gendwelche Gottheiten. Es schien, als gäbe es keine Göt ter in Vanu, höchstens als Konzepte, eher als Verkörpe rungen von Gut und Böse, nicht wie die klar definierten Gottheiten von Lysse, Kandahar oder Eyl. Auch schienen die Heiligen Männer weniger Priester als vielmehr Wei sen zu sein, die sich genauso um das körperliche Wohl ergehen der Menschen wie um spirituelle Belange küm merten – vielleicht sogar mehr um das erstere. Dies zu akzeptieren fiel Bracht leichter als ihm, denn der Baumgott von Cuan na'For war eine Gottheit, die selten einmal direkt in das Leben der Menschen eingriff. Die Manifestation des Byah begründete Bracht mit Va rents Bösartigkeit. Der Baumgeist sei ihnen nur deshalb erschienen und habe sie gewarnt, weil das Ausmaß von Varents Bösartigkeit es verlangte, vergleichbar der Pro phezeiung der Heiligen Männer von Vanu. Calandryll stellte fest, daß er sich damit zufriedenge ben mußte, denn als er Katya in diesem Punkt weiter auszufragen versuchte, wurden ihre Antworten immer verschwommener, und sie lenkte das Gespräch in eine
andere Richtung. Zwar tat sie das behutsam, aber nicht so geschickt, daß er nicht ihren Widerwillen bemerkt hätte. Er beschloß, sich damit abzufinden, da er vermute te, daß sie von irgendeiner Vorschrift gezwungen wurde, nicht näher auf dieses Thema einzugehen, und er nahm sich vor, die Heiligen Männer selbst darauf anzuspre chen, sobald er ihre Heimat betreten hatte. Er erinnerte sich noch lebhaft an Rebas Worte: Ihr wer det weit reisen und Dinge sehen, die noch kein Mensch aus dem Süden gesehen hat, vielleicht sogar kein Mensch zuvor. Diese Prophezeiung bewahrheitete sich mit jedem Tag, den sie weiter nach Norden fuhren, weiter als es irgend ein lyssianisches Schiff seit Orwens Expedition getan hatte. Und Orwen hatte weder die Erscheinung eines Byah miterlebt, noch hatte er, soweit Calandryll wußte, mit Dämonen gekämpft oder die Beschwörung solcher Feuerbestien gesehen, wie sie Anomius auf Kesham-vaj gehetzt hatte. Niemand war je nach Vanu gereist, und in dieses Land setzte er seine ganze Hoffnung, sah es als das letzte Ziel der Reise an, die den Beginn seines neuen Lebens markiert hatte. Er zweifelte nicht daran, daß er zusammen mit Bracht und Katya Tezin-dar erreichen und das Arcanum herausholen würde, als sie sich der Küste Gessyths näherten. Eines Tages schienen sie plötzlich auf das offene Meer hinauszufahren, ohne daß sie den Kurs geändert hatten. Der Dschungel blieb hinter ihnen zurück und ver
schwamm in der Ferne. Die Karten zeigten, daß sie den großen namenlosen Einschnitt passierten, der Gash von Gessyth trennte, und zwei Tage später erhaschten sie ihren ersten Blick auf das Land, dem ihre lange Reise gegolten hatte. Es war ein unerfreulicher Anblick. Sie konnten keine klare Küstenlinie erkennen. Meer und Sumpf gingen ineinander über. Das blaue Meerwas ser wurde zum Land hin immer dunkler und nahm eine lehmigbraune Färbung an. Überall trieben riesige grünli che Teppiche aus Seerosen mit leuchtendgelben und fahlweißen Blüten. Weiter landeinwärts erhoben sich dicke Bäume, große, graue, mit dunklem Moos überwucherte Mangroven, zwischen denen sich breite Ströme schlammigen Wassers aus den Sümpfen träge ins Meer ergossen. Tagelang zog die düstere Küste auf der Steuerbordsei te des Kriegsbootes dahin, und es war keine Verände rung durch den Wechsel der Jahreszeiten erkennbar. Hin und wieder wurden die eintönigen Seerosenfelder von Schilfgras und Binsen durchbrochen, die träge im heißen Wind schaukelten und leise raschelten. Es roch nach Verfall, Moder und ungestümer Fruchtbarkeit. Sie erblickten prächtig bunte Vögel und Kreaturen, die eine Kreuzung aus Vögeln und Echsen zu sein schienen, Tiere, die sowohl Schuppen als auch Federn und Schnä bel voller Zähne hatten, und die Sumpfdrachen, aus deren Haut die Rüstungen der Soldaten Kandahars gefer
tigt wurden. Oft sahen sie wie Baumstämme aus, die zwischen den Seerosen oder dem Schilf trieben, bis sie sich plötzlich aufrichteten und das Kriegsboot röchelnd anbellten, die riesigen, vor scharfen Fängen starrenden Kiefer weit aufrissen, und das schlammige Sumpfwasser mit ihren peitschenden, stachelbewehrten Schwänzen zu braunem Schaum aufwirbelten. Die kleinsten waren etwa so groß wie ein Mensch, die größten erreichten die drei fache Länge, und anscheinend mochten sie das salzigere Seewasser nicht, denn obwohl sich einige von ihnen laut fauchend dem Kriegsboot näherten, wagte sich keiner weit genug auf das Meer hinaus, um ihnen gefährlich zu werden. Alle kehrten sie nach ihren Drohgebärden wie der in den Schutz der Seerosen oder Binsen zurück und brüllten ihnen von dort gereizt hinterher. Es war eine unangenehme Zeit. Die heiße, feuchte und stinkende Luft ließ ihnen die Hemden am Körper kleben, und die Haut schien nie richtig trocken zu werden. Moos und Algen setzten sich über Nacht an Tauen, Segeltuch und Stoffen fest und erschwerten die tägliche Arbeit. Die Nahrungsmittel verdarben schneller, Metall mußte täglich eingeölt werden, Leder drohte zu verrotten, und ständig wurden sie von Insekten heimgesucht, die der Wind aus den Sümpfen zu ihnen herübertrieb und deren Stiche manchmal Fieber verursachten. Die Vanuer, die an das kühlere Klima der nördlichen windgepeitschten Breiten gewöhnt waren, litten am stärksten, aber in der schwülen, von Insekten wimmeln
den Luft erinnerten sich selbst Calandryll und Bracht beinahe sehnsüchtig an den gesünderen Gaheen oder die langen Tage vor der Küste Gashs. Endlich, als ihr Wasser fast zu Neige ging und auch die Lebensmittel knapp wurden, erblickten sie den Landzipfel, auf dem der Außenposten der Häutejäger lag. Er stieß auffällig aus den endlosen Weiten des Sumpflandes hervor, als hätte der unbekannte Gott, der diese Einöde geschaffen hatte, nur diesen kleinen Zipfel festen Landes geduldet oder lediglich versäumt, ihn ebenfalls in diesen fieberverseuchten Morast zu verwan deln. Es war wie ein grauer Daumen, der mitten in ihren Weg hineinragte, ein wenig höher gelegen als die ihn umgebenden Sümpfe. An seinem Ufer standen niedrige Hütten, und im mo rastigen Wasser dümpelten flache Boote vor sich hin, an verrottenden Stegen vertäut, die sich auf Pfählen über dem Schilfrohr erhoben. Als sie näher kamen, sahen sie, daß auch die Hütten auf Pfählen standen. Es waren bau fällige Schuppen aus Holz, Drachenhäuten und Binsen, die eher wie gewachsen als wie durch Menschenhand errichtet wirkten. In den modrigen Geruch mischte sich ein schärferer Gestank. Calandryll, der auf dem Vorderdeck stand, verschlug der Gestank beinahe den Atem. Er deutete angeekelt auf die blutigen Häute, die zwischen den Hütten aufge spannt waren. Bracht, der den Mund ebenfalls fest zusammengeknif
fen hatte, nickte und zeigte seinerseits auf die Drachen kadaver, die im Wasser trieben. Katya stand neben ihnen, sagte kein Wort und wickel te sich ein Tuch um das Gesicht, das ihren Mund und die Nase bedeckte. Tekkan befahl, das Beiboot zu Wasser zu lassen und ständig die Tiefe zu loten. Er brachte das Kriegsboot so nahe wie möglich an die Landzunge heran, während sich am Ufer eine Menschenmenge versammelte und die unerwartete Ankunft mit der vorsichtigen Begeisterung beobachtete, die allen Menschen zueigen ist, die eine längere Zeit nur unter ihresgleichen verbracht haben und deshalb allen Neuankömmlingen mit Mißtrauen begeg nen. Tekkan ließ die Anker werfen und rief Calandryll, Bracht und Katya zu einer kurzen Unterredung auf das Achterdeck. Sie hatten sich bereits darauf geeinigt, daß sie sich mit acht von Quaras Jägerinnen und so vielen Ruderern, wie sie benötigten, anhand von Calandrylls Karte auf den Weg nach Tezin-dar machen würden. Sie wollten versuchen, unter den Häutejägern einen Führer anzuheuern, der sich in den Sümpfen auskannte, wäh rend Tekkan mit dem Großteil der Mannschaft vor der Küste auf ihre Rückkehr wartete. »Es sind hauptsächlich Kander«, stellte Tekkan fest, der die dunkelhäutigen Gesichter am Ufer aufmerksam musterte. Seine Miene spiegelte seinen Abscheu wider. »Calandryll beherrscht ihre Sprache am besten, deshalb
soll er mit ihnen wegen eines Führers und eines Bootes verhandeln. Und Katya … ich schätze, daß bei diesen Jägern nur wenig Frauen sind und sie wahrscheinlich noch nie eine wie dich gesehen haben. Schärfe Quaras Frauen ein, daß sie sich in ihrer Nähe vorsichtig verhal ten. Und das gleiche gilt für dich.« »Keiner wird sie berühren«, sagte Bracht sofort, was Tekkan zu einem kurzen Nicken und einer Warnung veranlaßte. »Zügelt Euer Temperament, Kerner. Sie sind uns zah lenmäßig überlegen.« Bracht brummte zustimmend. Calandryll, der allmählich ungeduldig wurde, fragte: »Gehen wir jetzt endlich an Land?« »Aye«, sagte Tekkan, und sie kletterten in das Beiboot. Als sie am nächstgelegenen Bootsteg anlegten, wurden sie sofort von den Jägern umringt, die ihnen eine Menge Fragen zuriefen. Calandryll beantwortete sie, so gut er konnte, während er darauf wartete, daß das Beiboot die restlichen Vanuer übersetzte. Sie seien weder Kaufleute noch Freibeuter, erklärte er ihnen, sondern Abenteurer, die vorhätten, landeinwärts zu reisen. Diese Ankündigung ließ die versammelten Kander in Hohngelächter ausbrechen. Wozu das? woll ten sie wissen. Es gäbe im Landesinneren nichts zu fin den als weitere Sümpfe und die Aussicht auf einen häßli chen Tod. In den inneren Sümpfen würden weitaus schlimmere Geschöpfe hausen als die Drachen, sagten
sie, fremdartigere Kreaturen als sie irgendein Mensch je gesehen hätte. Jetzt bemerkte Calandryll, daß im Hintergrund der Menge ein paar Gestalten herumlungerten, von denen er nicht mit Sicherheit hätte sagen können, daß sie voll kommen menschlich waren, und die von den Kandern wie Kinder oder neugierige Tiere zurückgedrängt wur den. Er sah einen Mann – zumindest hielt er ihn für einen –, dessen Gesicht geschuppt zu sein schien wie das einer Eidechse, und einer Frau mit grünlicher Haut, deren am Hinterteil aufgebauschter Rock auf einen rudimentären Schwanz schließen ließ. Eine dritte Gestalt, deren Ge schlecht er nicht bestimmen konnte, hatte ein flaches schweineartiges Gesicht, das aus schlecht modelliertem Lehm zu bestehen schien. Es gab noch mehr dieser Ge schöpfe, aber sie waren hinter den Menschen versteckt, die in ihren hohen Stiefeln aus Drachenleder, aus Zähnen bestehenden Halsketten und der bunt zusammengeflick ten Kleidung selbst einen barbarischen Anblick boten. Sie trugen ihre breiten Messer und schweren Schwerter auffällig zur Schau. Calandryll erkannte, daß viele Frau en unter ihnen waren, die aber die gleiche Kleidung wie die Männer trugen und ebenso nach Blut und Schweiß rochen. Etlichen, sowohl Männern als auch Frauen, fehl ten Körperteile, Finger oder ganze Hände, manche hatten ein Holzbein oder einen leer herabbaumelnden Hemds ärmel. Einer von ihnen schob sich in den Vordergrund, ein kleiner breitschultriger Mann mit silbernen und schwar
zen Bartsträhnen, dem drei Finger an der rechten Hand fehlten und der eine schwere Kette aus Drachenzähnen um seinen dicken Hals trug. Er stellte sich als Thyrrin ek'Salar vor und brachte die Menge zum Schweigen, als er mit erhobenen Händen Ruhe forderte. Entweder be kleidete er eine Art Amt unter ihnen, oder aber sie akzep tierten ihn als ihren Sprecher. Er schlug vor, daß sie sich in einen Schuppen begeben sollten, den er als ihre Kneipe bezeichnete, damit alle die Neuigkeiten aus Kandahar hören konnten, und führte sie – anscheinend daran gewöhnt, daß seine Anweisungen befolgt wurden – zu einem langgestreckten Gebäude. Es bestand aus Holz, Binsen und Drachenhäuten, die die Wände bildeten, und ragte zur Hälfte über den Sumpf. Im schlammigen Wasser darunter trieben Abfälle, abge häutete Drachenkadaver und Eingeweide, um die herum kleine Aasfresser wuselten. Es stank in der Kneipe, was die Jäger allerdings nicht mehr zu bemerken schienen. Die Einrichtung war eine bunt zusammengewürfelte Ansammlung von rohge zimmerten Möbeln und Notbehelfen, wobei Knochen ebenso wie Holz verwendet worden waren. Calandryll stellte fest, daß die Halblinge gar nicht erst versuchten einzutreten. Sie versammelten sich um den Fuß der Leiter, während sich die Menschen in die Kneipe drängten. Man brachte ihnen Krüge mit einem scharfen Schnaps, der, wie ek'Salar ihnen erklärte, aus einer der wenigen
eßbaren Pflanzen in Gessyth gebrannt wurde. Die Kneipe gehörte ihm, und er war enttäuscht, als er erfuhr, daß sie weder Wein noch Bier mitgebracht hatten. Seine Vorräte gingen zur Neige und würden erst wieder aufgefüllt werden können, wenn die Handelsschiffe nach Norden segelten. Um nicht unhöflich zu erscheinen, tranken sie etwas von dem Selbstgebrannten Gebräu, während die Jäger, froh über die Unterbrechung ihres eintönigen Lebens, kräftig zechten. Fragen schwirrten lautstark durch den Raum, bis ek'Salar schließlich für etwas Ordnung sorgte und Ca landryll aufforderte, aufzustehen und die Neuigkeiten zu erzählen. Calandryll erhob sich, bemühte sich nach Kräften, die Insekten zu ignorieren, die sein Gesicht umschwirrten, und berichtete von den Ereignissen in Kandahar und dem Aufstand in der Fayne. Daß der Tyrann Schiffe requirierte, führte zu einem Aufbranden wütenden und erschrockenen Geschreis. Er verschwieg die Gründung der lyssianischen Flotte und hielt es auch für klüger, die Kander in dem Glauben zu belassen, daß die Variuer aus seiner Heimat stammten. Nachdem er geendet hatte, konnte er sich endlich mit ek'Salar unterhalten. »Ihr wollt tatsächlich ins Landesinnere reisen?« fragte der Kander und sah Calandryll dabei genau an. Durch eine lange Narbe schien sein linkes Auge etwas ver rutscht zu sein, wodurch sein Blick verunsichernd wirk te. »Warum?«
»Gessyth ist noch nicht kartographiert, und ich bin Forscher«, erklärte Calandryll. Sie hatten sich bereits auf dem Kriegsboot auf diese Geschichte geeinigt. »Ich möchte eine Karte des Landesinneren anfertigen.« Lautes Gelächter erhob sich, als seine Worte von den Leuten, die um ihren Tisch herumstanden, an die im Hintergrund weitergegeben wurden. Ek'Salar deutete mit den zwei verbliebenen Fingern seiner rechten Hand in Richtung der Sümpfe und entblößte grinsend schwärz liche Zähne. »Es gibt dort nichts aufzuzeichnen, mein Freund. Es sieht dort genauso aus wie hier: Sümpfe und noch mehr Sümpfe.« »Die Legenden berichten von einer Stadt«, erwiderte Calandryll. »Von einer sagenhaften Stadt tief im Sumpf land.« Ek'Salar lachte schnaubend und schüttelte den Kopf, als zweifele er nicht nur an dieser unglaublichen Ge schichte, sondern auch am Verstand dessen, der sie ihm erzählte. »Die Legenden behaupten auch, die Städte in Lysse wären mit Mauern aus purem Gold umgeben«, sagte er. »Aber Ihr als Lyssianer wißt es wahrscheinlich besser.« Calandryll lächelte zustimmend. Dieser Mann, davon war er überzeugt, hielt den Schlüssel zu ihrem Weiter kommen in der Hand. Sollte sich ek'Salar gegen ihre Expedition aussprechen, würden sie von niemandem Hilfe bekommen. Er mußte sich der Unterstützung des
Kanders versichern. »Man merkt, daß Ihr weit gereist seid und deshalb nicht gleich jeder Legende glaubt«, sagte er. »Das ist richtig.« Ek'Salar unterbrach sich kurz, um ein Insekt zu zerdrücken, das auf seiner Wange gelandet war, und die verschmierten Überreste achtlos an seiner Tunika abzuwischen. »Und deshalb weiß ich auch, daß Tezin-dar nicht existiert.« »Ihr kennt den Namen?« fragte Calandryll. Ek'Salar kicherte und nippte an seinem scharfen Schnaps. »Ich kenne den Namen«, bestätigte er grinsend, »und ich weiß, daß sich früher schon Menschen auf die Suche danach gemacht haben. Ich weiß aber auch, daß keiner jemals wiedergekommen ist.« »Ortan!« rief ein Jäger. »Erzähl ihm von Ortan!« »Genau«, sagte ek'Salar, »Ortans Geschichte könnte eine heilsame Lehre für Euch sein. Er war einer von uns, dieser Ortan, ein Drachenjäger, und zwar ein guter. Aber er hat von Tezin-dar geträumt, das – wie Ihr als Gelehrter zweifellos wißt – angeblich mit kostbaren Metallen ge pflastert ist, mit Gold, Silber und anderen Metallen, die kein Mensch kennt. Die Mauern der Stadt sollen mit unbezahlbaren Edelsteinen verziert sein, die Fenster aus Juwelen bestehen, so groß und makellos, daß sie ganze Glasscheiben ersetzen. Und das alles würde nur darauf warten, daß jemand käme, um es aufzusammeln, hat Ortan gesagt, und er wäre derjenige, der es finden wür de. Nun, Ortan konnte noch ein paar andere Verrückte
überreden, ihn auf dieser Wahnsinnsreise zu begleiten. Mit ihm waren es zehn, alles gute Männer, die sich in den Sümpfen auskannten. Und trotzdem ist nicht einer von ihnen zurückgekehrt. Obwohl wir Ortan später noch einmal gesehen haben…« Er legte eine kurze Pause ein, lachte leise vor sich hin und hob seinen Krug, die Augen fest auf Calandryll gerichtet. »Zumindest glauben wir, daß es Ortan gewe sen ist, denn er trug einen Ring, den wir an einer Hand im Magen eines Drachen wiedererkannt haben. Den Ring und sein Messer, das ebenfalls in dem Drachenmagen gelegen hat.« Seine Geschichte rief erneut Gelächter hervor. Calandrylls Blick blieb ausdruckslos, als er erwiderte: »Und wenn schon, das beweist noch nicht, daß die Stadt nicht existiert.« »Vielleicht nicht«, gab ek'Salar nachsichtig zu, »aber es beweist, daß jeder, der sie sucht, ein Dummkopf ist.« »Ich glaube nicht, daß ich ein Dummkopf bin«, gab Calandryll zurück und warf seinen Begleitern einen kurzen Blick zu. »Und meine Gefährten sind ebenfalls nicht dumm.« »Wenn Ihr Euch auf die Suche nach Tezin-dar macht«, stellte ek'Salar ruhig fest, »dann seid Ihr alle Dummköp fe. Und Ihr werdet dort draußen sterben.« »Wir sind schon weit gekommen«, sagte Calandryll. »Wir haben mit den Kannibalen von Gash gekämpft, um hierherzukommen.«
»Die bemalten Leute?« Ek'Salar machte eine gering schätzige Handbewegung. »Das ist gar nichts. Habt Ihr die Drachen gesehen?« Calandryll nickte. »Ihr habt nur die Jungen gesehen. Die ausgewachse nen Drachen hausen in den Sümpfen tiefer im Landesin neren, und sie können ein Boot in einem Stück verschlin gen. Sie haben eine besondere Vorliebe für Menschen fleisch.« »Wir werden sie überleben«, behauptete Calandryll. »Wir kennen ihre Gewohnheiten, und selbst wir wa gen uns nicht dorthin, wo die voll ausgewachsenen Dra chen jagen.« Der Kander schüttelte den Kopf, und sein dunkles Gesicht wurde plötzlich ernst. »Ich versichere Euch, mein Freund, daß Euch nur der Tod in den Sümp fen erwartet. Die Drachen sind schon gefährlich genug, aber dort lauern noch eine ganze Menge anderer Gefah ren. Es gibt dort fleischfressende Bäume, Insekten, die den Körper eines Mannes oder einer Frau« – dabei sah er Katya an – »für eine hervorragende Eiablage halten. Und aus diesen Eiern schlüpfen Larven, die ihren Wirt bei lebendigem Leib auffressen. Ein äußerst qualvoller Tod! In den Sümpfen hausen Kreaturen, gegen die diese da draußen wie ganz normale Menschen aussehen – und sie sind den Menschen nicht freundlich gesonnen.« »Ich bin bereit, einen Führer zu bezahlen«, sagte Ca landryll. »Großzügig.« »Mein Freund, mein Freund«, seufzte ek'Salar. »Habt
Ihr mir denn gar nicht zugehört? Es gibt niemanden hier, der bereit wäre, Euch in die Sümpfe im Landesinneren zu führen. Euer lyssianisches Gold wird nichts daran än dern. Glaubt mir! Ihr habt Geld? Dann kauft unsere Häu te! Ihr seid vor allen anderen hier angekommen, deshalb habt Ihr die einmalige Gelegenheit, Euch die besten Stü cke auszusuchen. Kehrt damit nach Kandahar zurück, und Ihr könnt die Preise auf dem Markt selbst bestim men. Wenn es stimmt, was Ihr über den Bürgerkrieg erzählt habt, dann wird in Kandahar ein großer Bedarf an Rüstungen bestehen, und Ihr werdet reich nach Lysse zurückkehren. Reich und lebend.« »Ich danke Euch für das Angebot«, sagte Calandryll freundlich, »aber ich bin kein Händler. Ich bin hierherge kommen, um Tezin-dar zu finden, und das werde ich auch weiterhin versuchen.« Ek'Salar schüttelte resigniert den Kopf. »Ihr stempelt Euch selbst zum Dummkopf, mein Freund. Und Ihr wer det den Tod eines Dummkopfes sterben, wenn Ihr wirk lich versucht, was Ihr vorhabt.« »Wie dem auch sei«, murmelte Calandryll und lächel te, um dem Kander zu zeigen, daß er sich nicht beleidigt fühlte, »ich möchte trotzdem einen Führer anwerben. Einen Führer und ein Boot, das für die Sümpfe geeignet ist. Werdet Ihr mir dabei helfen? Natürlich bin ich bereit, Euch für Eure Mühe zu entschädigen.« »Ich verlange keine Bezahlung«, sagte der Kander, »denn Ihr werdet keinen Führer finden. Aber ich will
trotzdem fragen.« Er stand auf, fuchtelte mit den Armen, und der Lärm verstummte. »Hört mir zu! Diese Leute sind zu uns gekommen, weil sie Tezin-dar suchen, und sie möchten einen Führer. Einen, der die Sümpfe im Hinterland kennt. Sie sind bereit, ihn gut zu bezahlen – großzügig zu bezahlen! Ja, ich glaube sogar, daß derjenige, der ihren Auftrag an nimmt, den Preis selbst bestimmen kann. Ist hier irgend jemand, der an ihrem Angebot interessiert ist?« Eine Zeitlang herrschte Stille, dann begann ein Mann zu lachen, ein weiterer fiel ein, und schließlich brandete ein Orkan brüllenden Gelächters auf. »Tezin-dar?« rief irgend jemand. »Ich könnte diesen Frauen süßere Träume bescheren.« »Schlitzt Euch doch lieber gleich die Adern auf!« schrie ein anderer. »Das ist ein angenehmerer Tod!« Die meisten schüttelten ungläubig die Köpfe und mus terten die Fremden mit einer Mischung aus Mitleid und Fassungslosigkeit, als hätten sie es mit Wahnsinnigen zu tun. Calandryll ließ seinen Blick über seine Gefährten schweifen. Bracht starrte die Häutejäger mit versteiner tem Gesicht an. In Katyas Augen lag ein besorgter Aus druck. Tekkan umklammerte verbissen seinen Krug. In seinem wettergegerbten Gesicht war keine Regung zu erkennen. Ek'Salar drehte sich wieder zu ihnen um, setzte sich
und lächelte sie an. »Seht Ihr? Und diese Männer sind keine Feiglinge. Sie blicken jedesmal dem Tod ins Auge, wenn sie auf Drachenjagd gehen, aber sie sind klug ge nug, ihr Leben nicht für einen Traum wegzuwerfen.« Calandryll nickte widerstrebend. »Wie sieht es dann mit einem Boot aus?« erkundigte er sich. »Können wir wenigstens ein Boot kaufen?« »Habt Ihr immer noch vor, Eure Reise zu unterneh men?« fragte der Kander ungläubig. »Ohne Führer? Nach allem, was Ihr gehört habt?« »Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren«, erwiderte Calandryll. »Ob mit oder ohne Führer, wir werden aufbrechen.« Ek'Salar beugte sich vor, ergriff Calandrylls Arm mit seiner unversehrten Hand und drückte fest zu, als könne er seiner Warnung dadurch mehr Nachdruck verleihen. In seinem gesunden Auge schien ein Feuer zu lodern, als er Calandryll eindringlich fixierte. »Habt Ihr denn völlig den Verstand verloren, mein Freund? Seid Ihr diesem Wahnsinn derart verfallen, daß Ihr nicht mehr verstehen könnt, was ich Euch begreiflich zu machen versuche?« Calandryll verspürte ein überwältigendes Bedürfnis, das Gesicht abzuwenden, um dem stinkenden Atem des Mannes zu entgehen, aber er beherrschte sich. »Ich bin bei klarem Verstand«, sagte er. »Und ich bin entschlos sen, nicht umzukehren.« »Ihr!« Ek'Salar lockerte seinen Griff, und sein Kopf
ruckte herum. Sein Blick saugte sich an Tekkan fest. »Ihr seid älter und deshalb – vielleicht – auch klüger. Unter stützt Ihr diesen Wahnsinn?« »Ja«, erwiderte Tekkan ernst. Der Kander stieß geräuschvoll den Atem aus. Sein Blick wanderte weiter und richtete sich auf Bracht, aber als er das ausdruckslose Gesicht des Kerners sah, wandte er sich schließlich an Katya. »Ihr scheint mir eine ungewöhnlich hübsche Frau zu sein. Wollt Ihr, daß dieses Gesicht von Würmern zerfres sen wird? Möchtet Ihr zwischen den Zähnen eines Dra chen sterben? Oder als Spielzeug der Sumpfleute en den?« »Nein«, erwiderte sie ruhig, ohne seinem Blick auszu weichen. »Aber wir müssen trotzdem weiterziehen.« »Burash!« Ek'Salar richtete die Augen auf das riedge deckte Dach. »Seid Ihr denn wirklich alle verrückt?« »Werdet Ihr uns ein Boot verkaufen?« fragte Ca landryll noch einmal drängend. Der Kander zuckte hilflos die Achseln. »Wenn ich Euch nicht von Eurem Vorhaben abbringen kann, ja. Ich werde Euch ein Boot und die Vorräte verkaufen, die Ihr brauchen werdet. Aber das erledigen wir später. Heute abend seid Ihr bei mir zum Essen eingeladen.« »Das ist sehr freundlich von Euch.« Calandryll deutete eine höfliche Verbeugung an. Ek'Salar lachte leise, schüttelte ergeben den Kopf und
sagte: »So werdet Ihr wenigstens nicht mit leerem Magen in den Tod gehen.« Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Man drängte sie, mehr von dem bitteren Schnaps zu trinken, und nachdem die Jäger ihre anfängliche Neugier befrie digt hatten, scharten sie sich um die Frauen und über häuften sie mit aufdringlichen Komplimenten und ein deutigen Angeboten. Calandryll bemerkte Brachts Anspannung, als mehre re Männer Katya umringten, und stellte zu seiner Erleich terung fest, daß der Söldner sein hitziges Temperament im Zaum halten konnte, während die Frauen sich erfolg reich der unerwünschten Aufmerksamkeit der Jäger erwehrten. Tekkan verhandelte über die Aufstockung seiner Le bensmittel- und Wasservorräte, erhielt die Zusage, daß ihm die gewünschten Dinge am nächsten Tag geliefert werden würden, und irgendwann verkündete ek'Salar, daß es Zeit für das Abendessen wäre. Calandryll hatte erwartet, daß sie hier essen würden, und die Aussicht auf eine Mahlzeit, wie sie in einer sol chen Spelunke wahrscheinlich serviert werden würde, weckte nicht gerade seine Begeisterung. Deshalb war er angenehm überrascht, als ek'Salar aufstand und sie aus der Kneipe führte. Die Sonne berührte fast schon den Horizont, und das Sumpfland nahm eine unheimliche Schönheit an. Rot
goldenes Licht funkelte auf dem Brackwasser. Das Moos, das sich um die Mangroven rankte, sah wie ein filigranes Gespinst aus, und die Bäume selbst schimmerten wie poliert. Frösche quakten ihr Abendlied, und in der Ferne klang das heisere Bellen der Drachen auf, während ein Schwarm Vögel – oder Tiere, die an Vögel erinnerten – zu ihren Schlafplätzen in den Baumkronen flogen. Die um die Kneipe versammelten Halblinge machten schweigend eine Schneise frei und musterten die Frem den mit ihren seltsamen ausdruckslosen Gesichtern. Einige wirkten eher tierisch als menschlich, andere ein fach nur deformiert, als säßen die verschiedenen Teile nicht an den richtigen Stellen. Ek'Salar schenkte ihnen keinerlei Beachtung, wie ein Mann, der eine Viehherde durchquerte und es als selbst verständlich erachtete, daß die Tiere ihm den Weg frei gaben. Er führte seine Gäste zu einem Gebäude am äußersten Rand des Landzipfels, das ein Stückchen von den restli chen Hütten entfernt lag und im Gegensatz zu diesen vollständig aus Holz erbaut worden war. Anstelle von Glas war eine gelbliche Membrane über die Fensterrah men und die Seitenwände einer überdachten Veranda gespannt. Der Kander stieg eine steile Treppe hinauf, winkte seinen Gästen, ihm zu folgen und öffnete mit einer theatralischen Geste die Tür. Sie fanden sich in einem Raum wieder, der groß genug war, um allen Anwesenden Platz zu bieten. An den
Wänden hingen Häute, die so bemalt waren, daß sie den Eindruck erweckten, mit den in Kandahar bevorzugten Kacheln gefliest zu sein. Die Mitte des Raumes wurde von einem langen Holztisch mit beängstigend großen Rippenknochen als Beinen beherrscht, vor dem aus Kno chen und Leder gefertigte Stühle standen. An den Wän den waren polierte Messingpfannen befestigt, in denen Talgkerzen brannten, deren Licht von Spiegeln reflektiert wurde und die den Raum mit einem weichen Schein erfüllten. Ek'Salar schlug seinen Gästen vor, sich erst einmal frisch zu machen und deutete auf eine Tür, die in ein Badezimmer führte, in dessen Mitte sich ein Brunnen befand. »Das Wasser ist frisch«, versicherte er. »Ihr lebt gut hier«, sprach ihm Calandryll ein Kom pliment aus und ließ den Blick durch den Raum wan dern. Der Kander hob in einer bescheidenen Geste die Schultern. »Ich habe es hier zu einem gewissen Reichtum gebracht«, sagte er, »und diese Menschen betrachten mich als ihren Anführer. Es sind größtenteils einfache Leute, die sich von den Händlern übers Ohr hauen lassen würden, wenn ich nicht für sie die Verhandlungen füh ren würde.« Er klatschte in die Hände, und eine Halblingsfrau trat aus einer Tür im hinteren Teil des Raumes hervor. »Gäste.« Er betonte jedes einzelne Wort sorgfältig.
»Essen für alle.« Die Frau verneigte sich, wobei ihr ein paar Strähnen makellos weißen Haares, die ein Eigenleben zu führen schienen, ins Gesicht fielen, und zog sich zurück. Ek'Salar öffnete ein mit verschnörkelten Figuren ver ziertes Schränkchen aus rotem Holz und holte aus Kno chen geschnitzte Kelche und zwei Karaffen Wein hervor. »Für eine passende Gelegenheit aufbewahrt«, erklärte er. »Wie zum Beispiel für die Besieglung eines Vertrages.« »Wir möchten Euch nicht Euren letzten Wein weg nehmen«, protestierte Calandryll. »Und der Verkauf eines Bootes scheint mir einen derartigen Verlust kaum zu rechtfertigen.« Der Kander lächelte und füllte die Kelche. »Wie viele von Euch wollen ins Landesinnere fahren?« fragte er. »Wir drei«, sagte Calandryll, deutete auf Katya, Bracht und sich selbst, »sowie acht Bogenschützen und so viele Ruderer, wie wir für das Boot benötigen.« »Ein einzelnes Boot faßt höchstens zwölf Personen«, erklärte ek'Salar, »und wenn Ihr zwei nehmt, bleibt im mer noch eine ausreichend große Mannschaft für Euer Kriegsboot zurück. Wer führt dort das Kommando?« »Ich«, sagte Tekkan. »Und Ihr werdet auf ihre Rückkehr warten? Wie lan ge?« Tekkan zuckte die Achseln. »Spielt auch keine Rolle.« ek'Salar strich sich über den
Bart und fuhr in beiläufigem Tonfall fort: »Sie werden sowieso nicht wiederkommen, und irgendwann werdet Ihr Euch damit abfinden und Euch auf die Heimreise machen. Wenn der Tyrann Handelsschiffe für seinen Krieg gegen die Fayne einzieht, werden nur wenige nach Norden segeln, und Ihr seid schon hier. Ihr könnt Häute nach Süden transportieren. Und während Ihr auf Eure Freunde wartet, können wir uns damit amüsieren, über die Preise zu feilschen. Laßt uns darauf anstoßen.« »Ich stoße auf ihre glückliche Rückkehr an«, sagte Tekkan. Der Kander zuckte die Achseln und hob seinen Kelch. »Wie auch immer – Ihr werdet schon sehen. Es wird eine traurige Lektion sein, aber Ihr werdet sie lernen.« »Auf ihre Rückkehr«, sagte Tekkan. »Auf Gewinn für uns alle«, erwiderte ek'Salar und fügte dann leiser hinzu: »Auf die Lebenden.« Es war ein unheilverkündender Trinkspruch, und Ca landryll schickte ein stilles Gebet an Dera. Er trank seinen Wein langsam und kostete jeden einzelnen Schluck aus, denn er sagte sich, daß es wahrscheinlich für lange Zeit der letzte sein würde. Anscheinend stand ihr Tod für ek'Salar fest, und das führte zu einer schwermütigen Stimmung, bis die Halblingsfrau und zwei andere mit vollen Servierschalen erschienen und der Kander seine Gäste aufforderte, sich zu setzen und zuzulangen. Zu Calandrylls Überraschung war das Essen gut. Ek'Salar erzählte ihnen, daß die Halblinge die Siedlung mit
Gemüse aus den Sümpfen und Fisch aus dem Meer ver sorgten und dafür Handelsgüter eintauschten. Das Fleisch war Drachenfleisch, die Hauptnahrung der Jäger, und Calandryll fand, daß es genauso schmackhaft wie Rindfleisch war. Der Kander plauderte während des Essens, unver kennbar erfreut darüber, einmal andere Gesellschaft zu haben, und wenn auch das meiste dazu gedacht war, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, vermittelte er ihnen doch eine Menge wichtiger Informationen über das un gastliche Land, das sie bald betreten würden. Es war erschreckend, was er über Würmer, die sich ei nem ins Fleisch bohrten, tödliche Insekten, Sumpfdra chen, fleischfressende Bäume oder die gestaltwandleri schen Kreaturen in den tief im Hinterland gelegenen Sümpfen erzählte, aber er versprach auch, ihnen Boote und die für ihre Expedition erforderliche Ausrüstung zu besorgen. Es war schon spät in der Nacht, als sie endlich sein Haus verließen. Keiner von ihnen sprach viel, als sie zum Kriegsboot zurückruderten, und auch nicht, als sie sich zum Schlafen hinlegten. Es schien wenig zu geben, was sie noch hätten sagen können; sie hatten sich bereits entschieden. Mit dem Morgengrauen waren sie aufbruchbereit. Sie ruderten an Land, wo sie von ek'Salar begrüßt wurden, der sie zu einem anderen Gebäude brachte und sie dort ausstattete. Hohe Stiefel aus Drachenhaut – wasserdicht
und undurchdringlich für die kleineren Sumpfkreaturen, wie er ihnen erklärte – und leichte, aus einer grünlichen Faser locker gewobene Tuniken, die seinen Worten nach im Gegensatz zu Baumwolle oder ähnlichen Materialien im feuchten Sumpfklima nicht so schnell verrotteten. Außerdem verkaufte er ihnen Lebensmittelvorräte, Was serschläuche, Salben, um Insekten abzuschrecken, andere Salben für die Bisse und Stiche von den Insekten, die sich nicht hatten abschrecken lassen, und Harpunen, um sich gegen die Drachen zu wehren. Dann führte er sie zu einem Steg, an dem mehrere Boote vertäut lagen. Sie hatten sich entschieden, ihre Gruppe auf zwei Boo te zu verteilen. Calandryll würde zusammen mit Bracht, Katya, Quara, vier anderen Frauen und vier kräftigen Ruderern das erste Boot nehmen. Das zweite würde die vier restlichen Frauen und wiederum vier Ruderer sowie den größten Teil ihrer Vorräte transportieren. Die Boote hatten breite Rümpfe, flache Kiele und niedrige Seiten wände. Es waren eher Flöße als Boote, die mit langen Stangen vorangetrieben wurden und gut für die Fahrt durch Seerosenfelder und Schilfrohr geeignet waren. Tekkan überprüfte beide sehr sorgfältig und war mit ihnen zufrieden. Calandryll händigte ek'Salar den vereinbarten Preis aus, und der Kander befahl einer Gruppe herumstehen der Halblinge, die Fahrzeuge zu beladen. Die seltsamen Geschöpfe gehorchten schweigend und schlurften zwischen Lagerhaus und Mole hin und her.
Vier von ihnen stiegen ins Wasser, und anscheinend konnte ihnen das überall herumschwimmende Getier nichts anhaben. Unter ek'Salars lauten Anweisungen beluden sie die Boote und kletterten dann auf das tro ckene Land zurück, wo sie herumstanden, ohne die auf ihnen herumkrabbelnden Insekten zu beachten, und zusahen, wie die Vanuer die Boote bestiegen. Calandryll, Bracht und Katya standen neben Tekkan und ek'Salar. Sie hatten es jetzt eilig aufzubrechen. »Ihr werdet einander Lebewohl sagen wollen«, sagte der Kander, »und dabei will ich Euch nicht stören. Ich wünsche Euch alles Gute.« Er vollführte eine formelle Verbeugung, ein Mann, der überzeugt war, daß sie in ihren Tod zogen, und machte sich auf den Weg in seine Kneipe. Tekkan seufzte und blickte ihnen nacheinander in die Augen. Sein Gesicht war ernst und feierlich. »Mögen eure Götter mit euch sein«, sagte er mit heiserer Stimme. »Findet das Arcanum und bringt es aus Tezin-dar her aus. Ich werde hier auf euch warten.« Er gab Calandryll und Bracht die Hand. Dann umarm te er Katya und flüsterte ihr etwas in ihrer eigenen Spra che ins Ohr, zu leise, als daß Calandryll es hätte verste hen können. Katya lächelte und eilte zur Treppe. Bracht folgte ihr auf den Fersen. Calandryll wollte sich ebenfalls gerade in Bewegung setzen, blieb dann aber stehen, als eine Hand vorsichtig an seinem Hemdsärmel zupfte. Er drehte sich um und sah sich einem Halbling gegenüber,
einem haarlosen Mann mit gelben Augen, die viel zu weit auseinanderstanden. Über den Augen wölbten sich Knochenwülste. Seine Nase war breit und flach, der Mund ein lippenloser tiefsitzender Schlitz über einem kaum vorhandenen Kinn. Calandryll dachte instinktiv an einen Fisch, und tat sächlich entdeckte er jetzt auch die Andeutung von Schuppen auf der blaßgrünen Haut und Schwimmhäute zwischen den Fingern, die in spitzen gebogenen Nägeln endeten. Das Wesen – es fiel schwer, es sich als Mann vorzustellen – trug eine weite, aus Pflanzenfasern gewo bene Tunika ohne Ärmel, die von einem Strick zusam mengehalten wurde. Es hatte kräftige Arme und musku löse Beine. Es … er ließ Calandrylls Ärmel los, als be fürchtete er einen Verweis, aber seine merkwürdigen Augen blieben starr auf Calandrylls Gesicht gerichtet. »Du gehen Sumpf.« Die Worte drangen zischend und langsam aus seinem lippenlosen Mund hervor, als berei tete es ihm große Schwierigkeiten, sich in einer mühsam erlernten Sprache verständlich zu machen. »Du suchen Führer … Ich hören dich sprechen … mit ek'Salar … Er sagen nein … kein Führer … aber ich dich nehmen … zeigen dir Weg…« Calandrylls Unsicherheit spiegelte sich in seinem Ge sicht wider. Ek'Salar hatte ihm erzählt, daß die Halblinge für die Jäger arbeiteten, sie machten sauber und kochten, bewachten die Häuser oder häuteten Drachen ab. Aber er hatte kein Wort davon gesagt, daß sie als Führer dienten.
»Ich heißen Yssym.« Zumindest klang es wie Yssym, ganz sicher war sich Calandryll nicht. »Ich dich führen … ich kennen Sumpf…« Er deutete auf die Boote und dann ins Landesinnere. »Glaubt Ihr, Ihr könnt ihm vertrauen?« fragte Tekkan. »Mir vertrauen … Yssym dich führen…«, sagte der Halbling. »Yssym kennen Sumpf … vertrauen Yssym.« Calandryll musterte das Gesicht. Es war unmöglich zu lesen. Die Form und die Augen waren einfach zu fremd artig, nicht dazu geschaffen, menschliche Gefühle auszu drücken. Er starrte unschlüssig in die großen gelben Augen. Und dann sagte der Halbling: »Ich dich bringen nach Tezin-dar … Yssym wissen wie … dich bringen nach Tezin-dar … Yssym versprechen…« Calandryll drehte sich zu den floßartigen Booten um und blickte auf Bracht und Katya hinunter. »Ein Halbling – Yssym – bietet sich uns als Führer an. Sollen wir sein Angebot annehmen?« Die beiden tauschten einen kurzen Blick. Katya zuckte die Achseln, und Bracht sagte: »Gut möglich, daß er die Sümpfe kennt. Nimm ihn mit.« »Also komm«, forderte Calandryll den Halbling auf und hoffte, daß er das richtige tat.
KAPITEL 18 Yssym schwang sich geschmeidig in das erste Boot, dicht gefolgt von Calandryll. Die stämmigen Vanuer ergriffen die langen Stangen und stakten die flachen Boote über die schmale, von Wasserpflanzen freie Fahrrinne, die sich zwischen den Binsen landeinwärts der fernen Linie der Mangroven entgegenschlängelte. Der Halbling kauerte im Bug und ließ die Hände mit einem beifälligen Nicken über Harpunen gleiten. Calandryll bemerkte, daß Yssym einen schwachen Fischgeruch verströmte, aber es war auch nicht schlimmer als der Gestank, der von den Jä gern ausging, und so nahm er neben ihm Platz und zog Orwens Karte aus seiner Tasche hervor. »Das ist von einem Mann gezeichnet worden, der vor langer Zeit hier gewesen ist«, sagte er langsam auf Kan disch und berührte die Karte. »Wir sind hier, Tezin-dar ist dort. Kennst du die Sümpfe dazwischen?« Yssym starrte die Karte an und neigte seinen merk würdigen Kopf. Das Nicken wurde von einem klicken den Geräusch begleitet. »Alte helfen Orwen…« – es klang wie Auheen – »… Karte machen. Dort keine Jäger … Sumpf gehören…« Es folgte ein pfeifender Laut, der für Calandryll wie Syfal heen klang. »Sumpf verändert … Aber Tezin-dar dort.« Er
tippte mit einem Klauenfinger auf die Karte, hob ihn und deutete in Fahrtrichtung auf einen unsichtbaren Punkt irgendwo jenseits des Mangrovenwaldes. »Ihr – die Syfalheen – habt Orwen gekannt?« fragte Calandryll überrascht. Er drehte sich zu seinen Gefährten um und warf ihnen einen kurzen Blick zu. »Alte kennen, ja«, bestätigte Yssym. »Syfalheen ken nen ganzen Sumpf.« »Diese Syfalheen, sind sie es, vor denen uns ek'Salar gewarnt hat?« fragte Bracht über Calandrylls Schulter hinweg. Yssym drehte seinen glatthäutigen Kopf schwerfällig in Brachts Richtung. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich Syfalheen«, zischte er, »alle Sumpfleute Syfalheen. Manchmal Jäger töten Syfalheen, und Syfalheen kämpfen mit Jäger. Aber Yssym bringen euch zu Clanältesten … Sie euch helfen, finden Tezin-dar … wenn ihr die, Yssym warten auf. Alte sagen, Menschen kommen, suchen Tezin-dar … wollen finden Buch … Syfalheen auf sie war ten…« »Ihr habt auf uns gewartet?« Calandryll starrte den Halbling erschrocken an. »Wie konntet ihr – die Alten – von uns wissen?« »Alte wissen.« Yssym zuckte die Achseln, eine seltsam menschlich wirkende Geste. »Alte gut, weise … Schicken viele Beobachter.« Er hat im Plural gesprochen, dachte Calandryll und fragte: »Du bist nicht der erste?«
Yssyms Mund verzog sich zu einer Grimasse, die viel leicht ein Lächeln sein sollte. Er schüttelte den Kopf. »Immer Beobachter. Alte sagen, müssen immer Beobach ter da sein.« »Wer sind diese Alten?« wollte Calandryll wissen. »Sind es auch Syfalheen?« Der Halbling schüttelte erneut den Kopf. »Alte wie ihr … Menschen … Freunde von Syfalheen.« »Und wo wohnen die Alten?« Calandryll bemerkte, daß sich Bracht und Katya dicht an ihn herangeschoben hatten und die seltsame Unterhaltung gespannt verfolg ten. »Tiefe Sümpfe.« Yssym deutete in Fahrtrichtung und sah Calandryll ins Gesicht. »Tezin-dar … Alte wohnen in Tezin-dar … Bewachen Buch…« »Hast du sie schon einmal gesehen? Mit ihnen gespro chen?« »Syfalheen nicht gehen nach Tezin-dar. Das heiliger Ort … Aber Alte sprechen vor langer, langer Zeit … Sagen mein Vatervater, sein Vater … noch früher … müssen Beobachter schicken. Jetzt Yssym Beobachter.« »Woher weißt du, daß wir diejenigen sind, auf die ihr gewartet habt?« fragte Calandryll. »Alte sagen, drei kommen.« Er hob eine Hand, und als er auf Calandryll, Bracht und Katya deutete, konnte man die Schwimmhäute zwischen seinen Fingern sehen. »Alte sagen, auf drei warten und in Sumpf bringen … Alte wissen … Ich glauben, ihr diese drei … Wenn nicht, ihr
sterben in Sumpf.« »Eine Prüfung«, murmelte Bracht. »Varent hat gesagt, das Buch würde bewacht werden.« Calandryll nickte. Er sah, wie die Bäume vor ihm scheinbar in die Höhe wuchsen. Seine Gedanken über schlugen sich. Es war ärgerlich, daß sie sich auf Kandisch unterhalten mußten, denn Yssym hatte große Mühe, sich verständlich zu machen. Seine Kehle und seine Zunge kamen mit der Aussprache kaum zurecht, und sein Wortschatz war begrenzt. Was er sagte, klang ermuti gend und bedrohlich zugleich. »Wenn wir nicht die wären, auf die du gewartet hast«, sagte er langsam, »warum sollten wir dich dann nicht einfach zwingen, uns zu unserem Ziel zu bringen?« »Ihr nicht kennen Sumpf«, antwortete Yssym tonlos. »Selbst Jäger nicht gehen so tief in Sumpf, wo Syfalheen leben … Menschen dort sterben, wie ek'Salar sagen. Ihr nicht die richtigen, ihr dort sterben.« »Aber wir haben dich«, stellte Calandryll fest. »Ihr mich nicht zwingen«, sagte Yssym schlicht. »Ihr mich können töten, aber nicht zwingen. Ich sterben, egal … Ihr falsch, ihr sterben in Sumpf … Drachen euch fres sen … Bäume … Ich bringen euch zu Würmer … Kein Mensch…« – Calandryll fragte sich, ob in Yssyms zi schender tonloser Stimme bei dem Wort Mensch eine gewisse Verachtung mitgeklungen war – »… leben in tiefen Sumpf. Nicht ohne Hilfe von Syfalheen.« »Also liegt unser Leben in deinen Händen«, sagte er.
»Ja«, erwiderte Yssym einfach. Calandryll akzeptierte diese anscheinend feststehende Tatsache mit einem Lächeln, aber trotzdem gingen ihm noch eine Menge anderer Fragen durch den Kopf. Varent hatte mit Wächtern gerechnet, damit, daß das Arcanum auf magische Weise geschützt wurde, aber nicht mit diesen Sumpfbewohnern. Er hatte weder die Prüfung erwähnt, von der Yssym gesprochen hatte, noch daß die geheimnisvollen Alten die Syfalheen als Beobachter ein setzen würden. Wer waren diese Alten, die in Tezin-dar lebten? Wie lange warteten Yssyms Leute schon? Der Halbling hatte sich nicht klar ausgedrückt. Wahrschein lich unterschied sich sein Zeitverständnis von dem eines Menschen. Vielleicht schickten die Syfalheen schon seit Generationen ihre Leute auf diesen elenden Landzipfel, um auf die Ankunft der Fremden zu warten. Anschei nend hatten die Alten vorausgesehen, daß Menschen kommen würden, die das Arcanum suchten, und ihnen einen Weg geebnet. Aber wieso? Wenn sie das Buch hüteten, warum versperrten sie dann nicht einfach den Zugang zu ihm? Es war so schon schwierig genug, in den Sumpf vorzudringen, und sollten sich seine Bewohner den Eindringlingen entgegenstellen, konnten diese kaum damit rechnen, die Reise zu überleben. Und trotzdem schien ein Weg nach Tezin-dar absichtlich offengehalten worden zu sein. Eine Falle? Calandryll warf Yssym einen Seitenblick zu. Der Halbling hockte mit ausdruckslosem Gesicht im Bug des Bootes, und nichts wies darauf hin, daß er einen Verrat
plant. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht kann te, hatte Calandryll das Gefühl, daß er ihm vertrauen konnte. In diesem Punkt hätte er zwar sowieso keine andere Wahl gehabt, aber er glaubte trotzdem nicht, daß Yssym ihnen etwas antun wollte. Der Halbling folgte den Anweisungen der Alten – die, wie er sagte, Menschen waren, auch wenn er sie selbst nie gesehen hatte – und würde seine Schutzbefohlenen zu seinem Clan bringen, wo sie irgendeiner Prüfung unterzogen werden würden. Es schien so etwas wie ein Plan zu existieren, den Ca landryll nicht verstand. Drei würden kommen, hatte Yssym gesagt. Also mußte jemand ihre Ankunft vorher gesehen haben, wenn Calandryll auch schleierhaft blieb, wie das möglich sein sollte. Alle Wahrsagerinnen und Zukunftsdeuter – sämtliche Geisterbeschwörer oder Hellseher am Hof seines Vaters – konnten lediglich die unmittelbare Zukunft deuten, und die in der Regel auch nur, soweit sie das Schicksal einer einzelnen Person be traf. Konnten die Alten ihr Netz also sehr viel weiter spinnen? Katya hatte gesagt, die Heiligen Männer Vanus hätten Varents Versuch, den Verrückten Gott wiederauf erstehen zu lassen, vorausgesehen und sie ausgeschickt, um die beiden Männer zu suchen, die sie in ihrer Pro phezeiung ebenfalls erblickt hatten, aber diese Ereignisse bezogen sich auf die Gegenwart. Yssym dagegen sprach von einer uralten Prophezeiung, als hätten die Alten schon vor langer Zeit Vorbereitungen getroffen, die drei Sucher zum Arcanum zu führen. Calandryll verstand nicht, wie so etwas möglich sein konnte.
»Das alles ist mir einfach unbegreiflich«, murmelte er. »Das ist auch nicht nötig«, meldete sich Katya zum ersten Mal, seit sie die Boote bestiegen hatten, zu Wort. »Wir suchen das Arcanum, und Yssym wird uns zu ihm bringen.« Calandryll nickte mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Aber woher konnten sie wissen, daß wir kommen wür den? Wieso schicken sie uns einen Führer?« »Wir sind nur Spielfiguren in einem Spiel«, sprach sie seine eigenen Gedanken aus, »das wahrscheinlich zu groß ist, als daß wir es verstehen könnten. Unsere Auf gabe besteht darin, das Arcanum nach Vanu zu bringen, wo es vollständig zerstört werden kann. Das ist alles, was wir darüber wissen müssen.« »Aber Calandryll ist ein Gelehrter«, warf Bracht grin send ein, »und möchte immer wissen, warum und wie etwas funktioniert.« »Machst du dir denn überhaupt keine Gedanken dar über?« erkundigte sich Calandryll. »Ich mache mir Gedanken über diese Prüfung«, gab der Kerner achselzuckend zurück. »Ich mache mir Ge danken über die Gefahren, die vor uns liegen, und das ist genug für mich.« Calandryll seufzte und schlug geistesabwesend nach einem leuchtendgrünen fliegenden Ding, das sich lebhaft für sein Gesicht zu interessieren schien, obwohl er es ausgiebig mit ek'Salars Schutzsalbe eingeschmiert hatte. »Wahrscheinlich werden wir die Antworten auf deine
Fragen in Tezin-dar finden«, meinte Katya. »Aye«, stimmte ihr Bracht zu, »genug Antworten, da mit du für den Rest des Weges beschäftigt bist.« Calandryll nickte und wünschte sich, er könnte ihre pragmatische Einstellung teilen, aber in seinem Kopf schwirrten auch weiterhin mindestens genauso viele beunruhigende Gedanken herum wie Insekten um sein Gesicht. Er tat sein Bestes, beides zu ignorieren, was ihm dank ek'Salars Salbe bei den Insekten erheblich leichter fiel. Die Mangroven waren mittlerweile näher gerückt und wurden von der Sonne angestrahlt, gewaltige Baum stämme, die sich auf ihren weitverzweigten Wurzeln wie auf gigantischen Spinnenbeinen aus dem Sumpf erhoben. Sie waren grau und grün und von Schmarotzerpflanzen überwuchert, die unheimlich aussehende Blüten trugen. Ihr exotischer Duft vermengte sich mit dem fauligen Geruch des Brackwassers. Das Moos, das aus der Ferne wie ein dünnes Gespinst ausgesehen hatte, hing jetzt wie ein dicker Vorhang zwischen den verschlungenen Pfahl wurzeln, auf dem unzählige Tiere herumkrabbelten. Es verschloß die Lücken zwischen den einzelnen Bäumen, als versuchten sich die tiefer im Landesinneren gelege nen Sümpfe damit vom Rest der Welt abzuschotten. »Kleine Drachen hier«, warnte Yssym und nahm eine Harpune zur Hand. »Große Drachen später.« Die Boote durchstießen den Moosvorhang und gelang ten in eine Welt sich ständig ändernden Dämmerlichts,
das sich wie Schwaden grünen, blauen und goldenen Dunstes durch eine Landschaft zog, die so unwirklich wie ein Traum war. Die Luft wurde sofort dicker, wär mer und feuchter und hallte vom Summen und Zirpen unzähliger Insekten wider. Vor den Himmel hatte sich ein Baldachin aus Moos und Schlingpflanzen geschoben. Unter den von den Mangrovenwurzeln geformten Kuppeln herrschte ein grünliches Zwielicht, und dort, wo das Wasser frei von Pflanzenwuchs war, schimmerte es ebenfalls grünlich oder blau. Hin und wieder fielen helle Lichtbahnen durch Lücken im dichten Laubdach und überzogen das morastige Wasser mit einen goldenen Glanz. Dunkle Schemen trieben gemächlich durch das Dämmerlicht, die für den unerfahrenen Beobachter auf den ersten Blick wie Baumstämme aussahen und erst als Drachen erkennbar wurden, als sie den Booten auswichen, mit ihren langen Schwänzen das Wasser peitschten, es zu bräunlichem Schaum aufwirbelten und wütend brüllten. »Klein«, wiederholte Yssym mit beängstigender Un bekümmertheit. »Verstecken vor Jägern … Große Dra chen nicht verstecken.« Calandryll ergriff eine Harpune und sah, daß Bracht seinem Beispiel folgte. Die Vanuerinnen hielten die Bö gen schußbereit in den Händen, die Pfeile auf die Sehnen gelegt. Ein Drache schwamm näher heran und starrte sie aus kalten grünen Augen an, die unter den gezackten Au
genwülsten weit hervorquollen und einen auffälligen Kontrast zu seinem rötlichen Hautpanzer bildeten. Yssym gab den anderen Zeichen, sich zurückzuziehen, balancierte auf der Bugspitze und stach mit seiner Har pune nach der Bestie, wobei er nicht versuchte, ihren Panzer zu durchstoßen, sondern ihr nur einen kräftigen Schlag auf die Schnauze versetzte. Der Drache schnaubte und tauchte unter, das Boot schaukelte auf dem aufge wühlten Wasser. Yssym beobachtete wachsam die Um gebung und deutete schließlich auf einen Punkt in eini ger Entfernung, wo das Ungeheuer wieder auftauchte. »Hier weich.« Er tippte sich gegen seine flache Nase und stieß ein Bellen aus, das Calandryll für Gelächter hielt. »Da treffen, kleiner Drache verschwinden. Überall anders hart … wie Rüstung. Ihr lassen Drachen für Ys sym.« Er hockte sich wieder hin, legte sich die Harpune über die Schultern und benutzte sie gelegentlich, um die neu gierigeren Drachen zu vertreiben, während er die Boote immer tiefer in die Sümpfe hineinführte. Schon bald wurde deutlich, daß er als Führer unver zichtbar war, denn die Landschaft hatte sich verändert, seit Orwen Gessyth kartographiert hatte. Die Karte, die Calandryll mit so viel Mühe kopiert hatte, gab zwar Tezin-dars Lage und die Küstenumrisse recht gut wieder, aber das Landesinnere war einer ständigen Wandlung unterworfen. Immer wieder stießen sie auf flache Inseln, die von umgestürzten Bäumen und verrottenden Pflan
zen gebildet wurden und nur dort von der Wasserober fläche unterschieden werden konnten, wo Sonnenlicht durch das Laubdach fiel und den etwas anderen Farbton erkennen ließ. Ohne den Halbling hätten sie sich noch vor Sonnenuntergang hoffnungslos verirrt, da sie weder die verschiedenen Orientierungspunkte noch die Gefah ren erkannt hätten, um die er sie herumsteuerte. Er benannte sie in seiner eigenen Sprache, wenn sie daran vorbeifuhren. Die ölig blauen Blumen, die in dich ten Büscheln auf den Schilfinseln wuchsen, hießen Feshyn und setzten ihr Gift schon bei einer leichten Berührung frei. Wo das Wasser einen ungesunden gelben Farbton aufwies, schwammen Yennym, fleischfressende Würmer. Die Lianen waren der Lebensraum der stechenden Insek ten, die Yssym Grishas nannte, und deren Stiche oft töd lich endeten. Zwischen den Mangrovenwurzeln versteck ten sich die Estifas, die ihre Opfer stachen, um ihre Eier in deren Fleisch abzulegen. Aus den Eiern schlüpften Lar ven, die ihre Wirte bei lebendigem Leib von innen auf fraßen. Einmal deutete er auf eine aufgewühlte Wasserober fläche und erklärte ihnen, daß dies ein Zeichen für die Anwesenheit von Shivim sei. Soweit sie seine Worte ver standen, handelte es sich dabei um Raubfische, die von Blut oder heftigen Bewegungen angelockt wurden und selbst einen kleinen Drachen innerhalb weniger Augen blick bis auf das Skelett abnagen konnten. Ohne seine Hilfe hätten sie wahrscheinlich nicht lange
überlebt, wie ek'Salar es ihnen prophezeit hatte. Sie hät ten sich entweder vergiftet, wären gestochen oder aber von der einen oder anderen Kreatur aufgefressen wor den, denn es schien kaum ein harmloses Lebewesen in diesen Sümpfen zu geben. Wer sich hier nicht auskannte, befand sich in ständiger Lebensgefahr. Auch die Auswahl eines geeigneten Landeplatzes war nicht ungefährlich. Als das Licht schwächer zu werden begann, deutete Bracht auf eine größere Insel und schlug vor, dort zu halten, bevor die Sonne endgültig unterging, aber Yssym schüttelte den Kopf und machte sie auf ein paar Löcher am Rand der Insel aufmerksam, die Wohn höhlen von Drachen, wie er ihnen erklärte. Er führte sie zu einer anderen flachen Erhebung, die aus ineinander verflochtenen Wurzeln und verrottetem Schilf bestand und mit einem rötlichbraunen Gras bewachsen war. Das Gras verströmte einen scharfen Geruch, der zwar unan genehm war, dafür aber sowohl Insekten als auch Dra chen abhielt, wie Yssym ihnen versicherte. Sie steuerten die Insel an, zogen die Boote aus dem Wasser und schlu gen ihr Lager auf. Yssym nahm ein Messer und schnitt Binsen ab, die er über dem Gras ausbreitete. Sie dienten nicht nur als leidlich bequeme Unterlage, sondern hielten auch die Feuchtigkeit ab, die aus dem schwammigen Boden aufstieg. Es war ein ungemütliches Lager. Sie konnten kein Feuer entzünden, da nirgendwo auch nur halbwegs trockenes Brennholz zu finden war. Die Insel schwankte ständig unter ihrem Gewicht, so daß sie sich alle in ihre
Mitte zurückzogen. Hemden und Hosen klebten ihnen schweißnaß am Körper und saugten den Geruch ihrer Umgebung auf. Obwohl sich Yssyms Versprechen be wahrheitete, daß das stinkende Gras Drachen und Insek ten fernhielt, stellten sie vorsichtshalber Wachen auf. Der Halbling war der einzige, der sich nach dem Essen ent spannt hinlegte und einschlief, als wäre die Nacht nicht von beängstigendem Bellen und Brüllen erfüllt, von schrillen Schreien und platschenden Geräuschen, den Lauten der unzähligen unsichtbaren Kreaturen, die im unheimlich wirkenden Halbdunkel jagten und starben. Überall um sie herum glühten das Wasser und die Bäu me seltsam phosphoreszierend. Das Laubdach über ih nen wurde vom Mond in silbernes Licht getaucht, auch wenn der Mond selbst hinter dem Moos- und Blättervor hang unsichtbar blieb. Zwischen den Bäumen flackerten gespenstische Lichter, als versuchten geisterhafte Er scheinungen unvorsichtige Eindringlinge in eine Falle zu locken. »Mir gefällt diese Gegend nicht sonderlich«, bemerkte Bracht trübsinnig, und diese Untertreibung entlockte Calandryll ein leises Kichern. Es ging ihm nicht anders. »Vielleicht wird es bald wieder besser«, murmelte er, während er einen gelblichgrün glühenden Fleck beobach tete, der um den silbern schimmernden Stamm einer Mangrove zu tanzen schien. »Schlimmer kann es ja kaum noch werden«, meinte Bracht.
»Du hast die Drachen vergessen«, sagte Katya lä chelnd. »Yssym hat uns größere Exemplare verspro chen.« »Aye, die hatte ich doch glatt vergessen.« Der Kerner grinste kläglich. »Die Drachen und die Yennym, Grishas, Estifas … habe ich irgendeine der entzückenden Überra schungen ausgelassen, die Gessyth zu bieten hat?« »Die Feshyn«, sagte Calandryll. »Und die Shivim«, fügte Katya hinzu. »Und dabei sind wir noch nicht einmal auf die fleischfressenden Bäume gestoßen.« »Dein Optimismus muntert mich auf«, knurrte Bracht. »Ich würde mir fast wünschen, ich wäre damals in Secca nicht in diese bestimmte Taverne gegangen.« »In diesem Fall hättest du leider auf unsere heroische Mission verzichten müssen«, stellte Calandryll grinsend fest. »Das Schicksal hat uns hierher geführt«, sagte Katya nachdenklich. »Es war uns drei bestimmt, zusammenzu treffen, und ich glaube, wir hätten es gar nicht verhin dern können.« Bracht starrte sie eine Weile an. Schließlich lächelte er und sagte: »Dann danke ich dem Schicksal.« Sie erwiderte sein Lächeln einen Moment lang, bevor sie den Blick abwandte und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, die in dem merkwürdigen Licht wie Silber leuchtete.
»Wir wurden … werden erwartet«, sagte Calandryll, »und das verstehe ich nicht. Wie konnten diese Alten wissen, daß wir kommen würden?« Katya nickte. »Und nicht nur wir drei. Yssym hat noch von anderen gesprochen, deren Kommen die Alten vor hergesehen haben.« »Varent«, sagte Bracht. »Möge seine Seele verrotten!« »Die Alten müssen mächtige Propheten sein«, vermu tete Calandryll, »wenn sie das alles schon vor so langer Zeit vorhergesehen haben. Ich kenne keinen Wahrsager, der so weit in die Zukunft blicken könnte.« »Es gibt Magie, die in Vergessenheit geraten ist«, be hauptete Katya, »Künste, die schon alt waren, als die Welt, wie wir sie kennen, noch jung war; Magie von den Älteren Göttern. Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn diese Künste auch in Vergessenheit bleiben wür den.« »Aye«, stimmte Bracht ihr zu. »Ich möchte meine Zu kunft nicht deutlich vor mir ausgebreitet sehen, ich möchte sie lieber selbst erleben.« »Unsere Zukunft liegt hier.« Calandryll deutete auf die unheimliche Landschaft, die ihre kleine Insel umgab. »Bei den Syfalheen und den Alten.« »Und im Schlaf«, sagte Bracht. Er streckte sich auf der Unterlage aus Schilfrohr aus. »Falls man hier überhaupt schlafen kann.« Sie schliefen tatsächlich ein, auch wenn der unaufhör liche Lärm und das unbequeme Lager sie immer wieder
aufschrecken ließen. Als der Morgen dämmerte, standen sie in feuchter Kleidung und unausgeruht auf, nahmen ein kaltes Frühstück zu sich, stiegen wieder in die Boote und folgten weiter dem gewundenen Wasserweg. Der Mangrovenwald erstreckte sich tief nach Gessyth hinein. Tagelang fuhren sie unter den großen Bäumen dahin und waren ständig vor den Feshyn und den Grishas auf der Hut, die in furchterregenden Schwärmen über die Ranken und Schlingpflanzen huschten. Eine von Quaras Jägerinnen wurde gestochen und fiel ins Delirium, obwohl Yssym ihr Heilpflanzen auf die Stichwunden legte und eine Trinklösung zubereitete, die er ihr einflößte. Mit dem Einbruch der Nacht hörte die Frau auf, sich zu bewegen. Ihr Atem ging nur noch flach und mühsam, und im Morgengrauen war sie tot. Die anderen ließen ihre Leiche nur widerstrebend zurück, da sie wußten, daß sie schon bald von den unzähligen Raub tieren des Sumpflandes aufgefressen werden würde. Es war ihr erster Todesfall, und schon bald verloren sie zwei weitere Gefährten. Ein Ruderer, der nicht sorg fältig genug auf die düsteren blauen Blumen achtete, die büschelweise auf einer aus dem Wasser ragenden Wurzel wuchsen, duckte sich zu spät, um den Feshyn auszuwei chen. Eine Blüte streifte seine Wange, und er schrie auf, als er die leichte aber verhängnisvolle Berührung der giftigen Blütenblätter auf seiner Haut fühlte. Yssym forderte sie auf, unverzüglich anzuhalten, hielt
nach Shivim Ausschau, und als er keine entdecken konn te, watete er ein Stückchen durch das Wasser zurück und sammelte eine Handvoll kleiner gelber Knospen, die er zu einem Brei zerrieb und dem Vanuer auf die Wange schmierte, auf der sich ein schlimmer Ausschlag gebildet hatte. »Vielleicht er leben«, verkündete der Halbling. »Viel leicht nicht … müssen ruhen … Gift nicht ausbreiten…« Sie betteten den Ruderer, dem die Angst in die blaßblauen Augen geschrieben stand, zwischen das Rei segepäck und setzten die Fahrt fort. Am Abend bereitete Yssym mehr von seiner Salbe zu. Der Mann schien sich zu erholen und protestierte gegen die verordnete Ruhe. Gegen Mittag des nächsten Tages hörte Calandryll einen Schrei aus dem zweiten Boot. Als er sich umdrehte, sah er, daß der Mann wie verrückt in seinem Gesicht herum rieb und am ganzen Körper zitterte. Plötzlich wurde er von einem Krampf erfaßt. Alles geschah so schnell, daß seine Kameraden nicht mehr dazu kamen, ihn festzuhal ten, und er kippte über Bord. Yssym schrie eine War nung, als eine der Frauen ins Wasser sprang und zu dem wild um sich schlagenden Mann watete, aber sein Schrei war noch nicht verklungen, da kräuselte sich auch schon die Wasseroberfläche und begann zu brodeln, als ein Schwarm Shivim, von den hektischen Bewegungen ange lockt, heranschoß. Innerhalb weniger Augenblick war sie von den blau grauen Geschöpfen umgeben und begann zu kreischen.
Um sie herum schien der Sumpf zu kochen. Fische schos sen aus dem Wasser und gruben ihre Zähne in die Tuni ka und das Fleisch der Frau, andere zerfetzten die zähen Stiefel, und noch bevor ihre vor hilflosem Entsetzen er starrten Kameraden Zeit fanden, irgend etwas zu unter nehmen, war sie von einer dichten Schicht zappelnder Fischleiber wie in einen lebenden Mantel eingehüllt. Das Wasser wurde rot, und sie brach zusammen. In einem automatischen Reflex wollte Calandryll ihr zu Hilfe eilen, widerstand jedoch dem Impuls, als er Yssyms Hand auf seiner Schulter spürte. Er wußte, daß für sie und den Mann jede Hilfe zu spät gekommen wäre, und konnte nur fassungslos zusehen, wie von beiden nur noch die blanken Knochen übrigblieben und die Shivim auf der Suche nach weiterer Beute rastlos umherschossen. Als sie in dieser Nacht wieder auf einer Insel aus ver rottenden Pflanzen lagerten, herrschte bedrücktes Schweigen. Die Vanuer trauerten um ihre Toten, und Katya starrte mit feuchten Augen unglücklich in die phosphoreszierende Dunkelheit, als fühle sie sich für die Vorfälle verantwortlich. Selbst Brachts unerschütterliche Zuversicht schien einen Dämpfer erhalten zu haben. Er legte Katya mitfühlend eine Hand auf die Schulter, ent hielt sich aber jeglichen Kommentars. Am nächsten Tag setzten sie ihre Reise noch vorsichti gerer fort und umfuhren alle blauen Blumen und herab hängenden Lianen in so weiten Bögen, wie es in diesem Labyrinth aus Wurzeln und Schlingpflanzen möglich war.
Am darauffolgenden Tag erblickten sie vor sich eine offene Wasserfläche, und die Aussicht, endlich den Mangrovenwald verlassen zu können, ließ ihre Stim mung wieder steigen. Vor ihnen breitete sich ein Seerosenteppich aus, durch den sich schmale Streifen freien Wassers zogen. Aus den grünen Blättern wuchsen dicke Stengel hervor, die je weils eine einzige cremfarbene, in der Mitte gelbe Blüte trugen. Die Luft wurde von ihrem Duft erfüllt und roch frischer. Jetzt konnten sie auch wieder den Himmel über sich sehen. Er war hellblau, und die Sonne stand bereits ziem lich hoch. Nach dem düsteren Dämmerlicht unter den Bäumen war es schon eine Erlösung, einfach wieder im Freien zu sein. Yssym dämpfte die gute Stimmung, als er verkündete: »Hier große Drachen.« Er deutete auf die formlosen Klötze, die zwischen den Seerosen aus dem Wasser ragten, und Calandryll stieß ein Keuchen aus, als ihm die Größe der Bestien bewußt wurde. Sie waren sehr viel größer als alle, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte, einige so groß wie kleine Inseln. Auf ihren gezackten Rücken stolzierten farben prächtige Vögel oder gefiederte Flugechsen herum. »Schlafen in Sonne«, erklärte der Halbling. »Wir war ten, dann fahren langsam … Wenn Drache angreifen, stechen Harpune in Nase oder Auge … Nur Bauch weich genug … nur dort können töten…«
Katya gab seine Worte an ihre Landsleute weiter, und dann kauerten sie nervös in den Booten und warteten, bis die Sonne direkt über dem Seerosenteppich stand. Schließlich entschied Yssym, daß die Zeit gekommen wäre, um weiterzufahren. Calandryll und Bracht ergriffen Harpunen, Quara und ihre Frauen legten die Pfeile auf die Sehnen, und die Ruderer schoben die Boote mit ihren langen Stangen langsam aus dem Schutz der letzten Bäume hervor. Als sie die schwimmende Wiese überquerten, erschien ihnen der Wald auf einmal längst nicht mehr so bedroh lich. Die Drachen dort waren Zwerge verglichen mit diesen Ungeheuern, und die weite Wasserfläche bot keine Deckung. Trotz der unzähligen Gefahren, die in den Bäumen gelauert hatten, hatte es zwischen den Mangroven wenigstens Inseln gegeben, eine Art von festem Boden, auf dem sie nicht so schutzlos wie in die sen floßähnlichen Boote gewesen waren. »Ahrd!« flüsterte Bracht und starrte mit geweiteten Augen einen gewaltigen roten Rücken an. »Wie töten die Jäger diese Viecher?« »Jäger nehmen nur kleine Drachen«, erwiderte Yssym leise. »Vier Boote … ein Drache. Jetzt nicht sprechen … sonst Drachen dich hören und angreifen.« Sein haarloser Schädel schwang langsam hin und her, seine gelben Augen musterten besorgt die riesigen Lei ber. Die Harpune in seiner Hand war stoßbereit. Ca landryll hob die eigene Harpune und betete stumm um
eine sichere Überfahrt. Auf seiner Stirn sammelte sich Schweiß, rann ihm in kleinen Bächen über das Gesicht und brannte ihm in den Augen. Er blinzelte. Ihm war nur zu deutlich bewußt, daß jeder dieser Giganten die Boote mit Leichtigkeit zertrümmern und sie alle über Bord schleudern könnte, und dieser Gedanke zog sofort die Frage nach sich, ob es hier auch Shivim gab oder dieser See das alleinige Reich der Drachen war. Sie fuhren im Schneckentempo weiter auf den schwimmenden Pflanzenteppich hinaus. Die Ruderer tauchten ihre Stangen mit traumwandlerisch gleichmäßi gen Bewegungen ins Wasser, um es so wenig wie mög lich aufzuwühlen. Die Frauen kauerten mit gespannten Bögen in den Booten, und das leise Seufzen ihrer Atem züge klang übermäßig laut in Calandrylls Ohren. Das sanfte Rascheln der Seerosen, die von den Booten zur Seite gedrückt wurden, erschien ihm wie das Krachen umstürzender Bäume. Alle kaum wahrnehmbaren Ge räusche, die die Boote verursachten, kamen ihm unnatür lich laut vor, so laut, daß die Ungeheuer einfach auf merksam werden mußten. Plötzlich war er überzeugt, daß sich eins der runden grünen Augen nur auf ihn richtete, und er hielt den A tem an. Das Auge war so groß wie seine Hand und hatte eine geschlitzte, senkrecht verlaufende indigofarbene Pupille. Eine Armlänge davon entfernt ragte eine warzi ge Nase auf der Schnauze auf, und als sich die Kiefer des Drachen öffneten, erblickte Calandryll zwei Zahnreihen, die so lang und spitz wie Dolche waren. Sofort begann
sein Herz heftiger zu klopfen, und ohne sein Zutun bog sich sein Arm zurück, bereit, die Harpune zu schleudern. Doch der Drache gab lediglich ein dumpfes Grollen von sich und tauchte unter. Calandrylls angehaltener Atem entwich in einem langgezogenen Seufzer. Er warf einen kurzen Blick in Fahrtrichtung und versuchte, die Entfernung bis zu den nächsten Bäumen abzuschätzen. Bei der langsamen Ge schwindigkeit, zu der sie durch die Drachen gezwungen wurden, würde es dunkel sein, bevor sie die Mangroven erreichten, und er begriff, daß sie unter Umständen die Nacht in den Booten würden verbringen müssen. Die Aussicht war alles andere als erfreulich, aber wenn sie schneller fuhren, würden sie zwangsläufig die Aufmerk samkeit der Drachen erregen. Also zwang er sich zur Geduld und konzentrierte sich wieder auf die unmittel baren Gefahren. Auf einen leisen Ruf Yssyms hin kamen die Boote schließlich vollständig zum Stillstand, und Calandryll spürte, wie sich sein Herzschlag erneut beschleunigte, als eine rötliche Masse direkt in ihrem Weg auftauchte. Es war zwar nicht der größte Drache in ihrer Nähe, aber er trieb genau zwischen ihnen und ihrem Ziel, und um ihn herumzustaken, würde bedeuten, die dichten Seerosen felder zu durchqueren, wo die größeren Artgenossen des Ungeheuers dösten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Der Drache schien sie nicht zu bemerken. Er lag wie
ein riesiger Baumstamm in ihrem Weg. Zwar hatte er die Augen geöffnet, aber sie wirkten blicklos und uner gründlich, als träumte er irgendeinen Drachentraum. Calandryll zählte neun Vögel auf seinem Rücken, die emsig in den Runzeln seines Panzers herumhackten, und drei in seinem geöffneten Maul, die geschäftig die Zwi schenräume seiner Zähne säuberten. Er hätte nicht sagen können, wie lange die Vögel brauchten, um ihre Aufgabe zu beenden. Die Zeit schien sich endlos zu dehnen, die einzige Maßeinheit waren die hämmernden Schläge ihrer Herzen und das langsame Herabtropfen von Schweiß perlen, aber schließlich hüpften die Vögel aus dem Maul des Drachen auf seinen Rücken. Das schien ein Signal gewesen zu sein, denn die Riesenechse bewegte träge den langen Schwanz und glitt gemächlich aus dem Weg. »Weiterfahren.« Yssyms Stimme klang drängend. Er legte den Kopf in den Nacken und spähte zum Himmel empor. »Drachen bald aufwachen.« Calandryll blickte ebenfalls auf und sah, daß die Son ne ihren Höhepunkt längst überschritten hatte und dem Horizont entgegensank. Katya flüsterte ein paar Befehle, und die Vanuer be gannen erneut, die Boote mit ihren Stangen durch das Seerosenfeld zu schieben. Unter dem Gewicht der Harpune begann sich Ca landrylls Arm zu verkrampfen. Er bog ihn ein wenig, wagte aber nicht, ihn sinken zu lassen, obwohl er sich danach sehnte, seine schmerzenden Muskeln zu massie
ren. Sie glitten mit quälender Langsamkeit dahin, während sich die Drachen wie zur Bestätigung von Yssyms un heilverkündender Warnung zu rühren begannen. Ihre sich schlängelnden Schwänze und die untertauchenden Leiber ließen Wellen über das Wasser laufen, auf denen sich die Seerosenteppiche hoben und senkten. Die Vögel stiegen mit überraschender Eile in die Höhe. Zuerst wa ren es nur eine Handvoll, die sich von ihren schwim menden Landeplätzen erhoben, aber in kürzester Zeit stießen immer mehr dazu, und bald bildeten sie einen Schwarm, der mit schrillen Schreien im Tiefflug über der Wasseroberfläche kreiste und dann in Richtung der fer nen Bäume davonflatterte. Yssym richtete sich aus seiner Hocke auf, und Ca landryll sah, wie sich die Schultern unter der locker ge wobenen Tunika des Halblings wölbten, als er die Har pune hob. Ein Drache schwamm dicht an ihrem Boot vorbei und brachte es zum Schaukeln. Calandryll hatte größere Mühe als Yssym, das Gleichgewicht zu halten, und er fragte sich, wie zielgenau er seine Waffe würde werfen können, falls er sie benutzen mußte. Er betete, daß es nicht dazu kommen würde, denn er konnte sich nicht vorstellen, wie sie den Angriff eines Drachen über leben sollten. Langsam rückten die Bäume näher. Sie waren immer noch zu weit entfernt, um ihnen Schutz vor einem an greifenden Sumpfdrachen zu bieten, aber der graugolde
ne Halbkreis, der die Grenze des Seerosenfeldes bildete, war wenigstens ein verheißungsvolles Ziel. Die Ruderer schoben die Boote mit ihren Stangen im mer näher an diese Sicherheit heran, und im freien Was serkanal vor ihnen schwammen keine Ungeheuer mehr. Die einzelnen Bäume wurden immer deutlicher erkenn bar. Allmählich begann Calandryll zu glauben, daß sie auch den Rest der Strecke unbeschadet überstehen wür den. Und dann erfolgte der Angriff. Ein Vanuer im ersten Boot stieß einen leisen Warnruf aus, als sich ihnen ein Drache auf Kollisionskurs näherte. Yssym gab Zeichen, die Geschwindigkeit ihres Bootes zu erhöhen, und winkte dem anderen Boot zu, zurückzu bleiben, damit der Drache zwischen ihnen hindurch schwimmen konnte. Niemand hätte hinterher sagen können, ob die Mann schaft des zweiten Bootes die Gesten des Halblings miß verstanden oder geglaubt hatte, dem Drachen zuvor kommen zu können, aber das Boot wurde schneller und befand sich plötzlich direkt vor dem Drachen. Zuerst schien es, als würde das Ungeheuer das Boot überhaupt nicht bemerken, und einen Moment lang glaubte Calandryll, die Vanuer würden es schaffen, doch dann stieß die knorrige Schnauze gegen die Seitenwand. Der Drache schnaubte und tauchte unter. Die Vanuer hantierten wie wild mit ihren Stangen, das Boot schau
kelte auf dem aufgewirbelten Wasser. Der Drache tauch te auf der anderen Seite wieder auf und machte kehrt. Yssym stieß einen überflüssigen Warnschrei aus, denn die Ruderer hatten die Stangen bereits fallen gelassen, die Harpunen ergriffen, und die verbliebenen drei Frau en zielten mit ihren Pfeilen auf das Ungeheuer. Seine furchtbare Kraft offenbarte sich, als sein Schwanz durch das Wasser peitschte und den gewaltigen Echsenkörper wie einen riesigen roten Rammbock dem zerbrechlichen Boot entgegenschleuderte. Drei Pfeile schossen durch die Luft und bohrten sich in die Schnauze. Der Drache brüll te auf, und sein weit geöffnetes Maul schirmte die ver wundbaren Augen und die empfindliche Nase vor weite ren Treffern ab. Seine Kiefer schlossen sich um die Sei tenwand des Bootes. Holz splitterte, als er ein gezacktes Loch herausriß, durch das Wasser eindrang. Eine Har pune stieß auf ihn herab, und wieder brüllte er bellend. Ein Mann schrie auf, stürzte über Bord und schrie ein letztes Mal, als sich die Kiefer des Drachen wie eine ü berdimensionale Fußangel um seine Hüften schlossen. Drei weitere Bestien näherten sich dem Boot. »Fahren! Schnell!« rief Yssym, und Katya schrie zu rück: »Nein! Hilf ihnen!« Es gab kaum etwas, das sie tun konnten. Quara und ihre Gefährtinnen schossen in rascher Folge Pfeile auf die Drachen ab. Ein Geschoß bohrte sich einem der Unge heuer ins Auge, und der Drache brüllte vor Schmerzen auf, wälzte sich herum, und mehrere Pfeile fanden ihr
Ziel in seinem Bauch. Die restlichen Bestien näherte sich dem beschädigten Boot von allen Seiten, und durch den Tumult angelockt, schwammen noch mehr heran. Wieder fiel ein Mann über Bord, stand bis zu den Schultern im Wasser und stieß seine Harpune in das geöffnete Maul einer Riesenechse, bevor sich die Kiefer um ihn schlossen. Mann und Bestie tauchten im gleichen Moment unter, als sich ein anderer Drache zur Hälfte aus dem Wasser katapultierte und auf das Heck des havarier ten Bootes niederkrachen ließ. Das Seerosenfeld hallte vom Bellen der wutentbrann ten Drachen und den Schreien der unter Wasser gezerr ten Vanuer wider. Calandryll umklammerte seinen Ta lisman, beschwor seine Magie in dem Versuch, die Un geheuer zurückzutreiben, aber der Stein reagierte nicht, lag kalt und nutzlos in seiner Hand. »Nicht helfen«, drängte Yssym. »Wir bleiben, wir auch sterben … müssen erreichen Bäume … schnell…« »Er hat recht!« stieß Bracht hervor. »Möge Ahrd uns vergeben, aber das ist unsere einzige Chance.« Calandryll sah Tränen in Katyas Augen. Eine Frau wa tete auf sie zu, wurde von einem Drachen gepackt, und ihr Schrei verstummte abrupt, als sie unter die Wasser oberfläche gezogen wurde. Katya nickte wie betäubt und bellte den Ruderern Befehle zu. Die Männer ließen ihre Harpunen fallen und ergriffen die Stangen. Als sie den Schutz der Mangroven erreicht hatten, hielten sie an und blickten zurück. Die Seewiese lag jetzt
wieder ruhig da. Zwischen den Seerosen trieben ein paar zerfetzte Holzstücke, aber von den Vanuern des zweiten Bootes und ihren Vorräten war nichts mehr zu sehen. »Große Drachen nicht kommen hier«, sagte Yssym lei se. Katya sah ihn an und schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren vor Kummer dunkelgrau und verschleiert. Quara strich ihr über die Schulter und sprach leise auf sie ein. Katya antwortete ebenso leise und sank kraftlos zwi schen den Ruderbänken zu Boden. »Yssym traurig«, sagte der Halbling. »Wie viele noch?«. flüsterte Katya. »Wie viele müssen noch sterben?« »Leichter jetzt«, versuchte Yssym, sie zu trösten. »Wir bald finden Syfalheen … ich bringen euch sicher zu Clan…« »Zu spät für die anderen.« Katya starrte zurück auf die Seewiese. »Wir müssen weiter«, sagte Bracht. »Die Nacht bricht bald herein.« Katya nickte wortlos, ohne den Blick von der Stelle ab zuwenden, wo ihre Gefährten gestorben waren. »Sicherer Platz in Nähe«, versprach Yssym. »Finden sicheren Platz … Du dort trauern.« Sie wischte sich über die Augen, hob den Kopf und sprach kurz mit den Ruderern. Die Männer nahmen wieder ihre Stangen auf und stakten das Boot tiefer in
den Wald hinein. Hinter ihnen blieb die Seewiese zurück. Die Schatten wurden länger, als die Sonne unterging, und die Mangroven rückten dichter zusammen, düster und von grauem Moos überzogen wie stumme Trauern de. In den folgenden Tagen hatten sie nicht nur unter dem Verlust ihrer Gefährten zu leiden. Mit dem zerstörten Boot war auch der größte Teil ihrer Vorräte untergegan gen, und was übriggeblieben war, reichte nicht mehr lange. Yssym zeigte ihnen eßbare Pflanzen und fing ein paar Fische, aber es war eine karge Kost, die sie zudem auch noch roh essen mußten, weil es nirgendwo brennbares Holz gab. Sie fühlten sich elend, ihre Körper wurden nie trocken. Nur die Sachen, die sie von ek'Salar gekauft hatten, wi derstanden dem zerstörerischen Klima, während alles andere Schimmel ansetzte und zu verrotten begann. Grünspan überzog Schnallen und Spangen, Leder wurde von Pilzen befallen, die Bogensehnen wurden weich und dehnten sich. Jede Nacht ölten sie ihre Waffen ein. Die Stimmung sank immer weiter. Nur Yssym blieb optimistisch, was allerdings eher da zu beitrug, ihre Stimmung weiter zu verschlechtern, denn es schien, als würde der Halbling ihre Verluste mit einem Achselzucken abtun. Er trieb sie unermüdlich mit dem Versprechen an, daß es nicht mehr weit bis zu sei
nen Leuten wäre, wo sie Nahrung und ein Dach über dem Kopf finden und freundlich aufgenommen werden würden. Ihr einziger Trost war, daß sie keine weiteren Todes fälle mehr beklagen mußten, denn sie hatten aus den Fehlern der anderen gelernt und vermieden es, mit gifti gen Pflanzen und tödlichen Insekten in Kontakt zu kommen, und wenn sie auf Drachen stießen, bewegten sie sich langsam und unendlich vorsichtig. Sie stießen auf Gruppen von Bäumen, die wie von einem bösartigen Aussatz befallen aussahen und die sie in respektvollem Abstand umfuhren, nachdem Yssym ihnen erklärt hatte, daß es sich um fleischfressende Bäume handelte, die jedes Lebewesen verschlangen, das in die Reichweite ihrer tentakelähnlichen Äste geriet. Irgendwann begann der Mangrovenwald sich zu lich ten. Die mit Seerosenteppichen bedeckten Wasserflächen wurden kleiner und seltener und allmählich von Schilf rohr und Binsen abgelöst, die Inseln größer und zahlrei cher, bis sie schließlich das Boot zurücklassen und zu Fuß weitergehen mußten. Der Boden war schwammig und schwankte beängstigend unter ihren Füßen. »Keine Drachen mehr«, versprach Yssym. »Schlimms tes hinter uns … bald finden Syfalheen.« Sie schulterten die kümmerlichen Reste ihrer Ausrüs tung und folgten dem Halbling durch eine monotone Landschaft, die von hohem Schilfrohr beherrscht wurde, das leise im heißen Wind raschelte. Der Pfad schlängelte
sich in unzähligen Windungen dahin, größtenteils von einer dünnen Schicht brackigen Wassers bedeckt, die einen schlammigen Untergrund verbarg, auf dem sie nur mühsam vorankamen. Calandryll stapfte mechanisch und in trübselige Ge danken versunken dahin, so daß er die leichte Steigung des Pfades gar nicht bemerkte, bis er auf einmal feststell te, daß das Schilf um ihn herum nicht mehr bis in Kopf höhe ragte, sondern unter ihm lag. Er blieb stehen, blick te sich um und sah, daß Yssym nach vorn deutete, wo sich ein niedriger graubrauner Erdwall durch die Land schaft zag. »Dort Syfalheen«, verkündete der Halbling zuversicht lich. »Kommen.« Der Pfad führte von der flachen Erhebung wieder ab wärts, und das Schilf versperrte ihnen eine Zeitlang die Sicht auf den Wall, aber plötzlich sahen sie ihn direkt vor sich. Er bestand aus schlammiger Erde und war nicht natürlichen Ursprungs, sondern ein künstlich aufge schütteter Deich, und als sie ihn erklommen hatten, sa hen sie, daß er sich weit nach beiden Richtungen er streckte und die Schilfwiesen vom trockenen Land trenn te. In langen Reihen wuchsen dort merkwürdige ver kümmerte Bäume, die durch breite Schneisen voneinan der getrennt waren, wodurch der Eindruck einer plan vollen Ordnung entstand, und Calandryll fühlte sich sofort an die Obstplantagen seiner Heimat erinnert. Seine Vermutung bestätigte sich, als Yssym purpurfarbene
kugelförmige Früchte von den Bäumen pflückte und jedem seiner Begleiter eine reichte. Unter der Schale verbarg sich ein saftiger süßer Kern. Sie machten sich gierig darüber her. Nach der eintönigen, aus rohem Fisch und fasrigen Sumpfpflanzen bestehenden Kost, mit der sie sich so lange hatten begnügen müssen, schmeckten ihnen die Früchte um so besser, und ihre Stimmung hob sich wieder. »Kommen … jetzt wir finden Clan«, sagte Yssym. »Dort Nahrung.« Er schlug ein zügiges Tempo an. Anscheinend wollte er sie so schnell wie möglich zu den versprochenen An nehmlichkeiten bringen. Nach einer Weile wurden die Bäume von eingezäunten Wiesen abgelöst, auf denen Tiere weideten, wie sie keiner von ihnen jemals zuvor gesehen hatte. Es gab immer noch viel Wasser, aber hier war es kanalisiert und floß durch uralte Steinkanäle in Teiche und Gräben, über die bogenförmige, in einem altertümlichen Stil erbaute Brücken führten. Der Pfad verbreiterte sich zu einer mit großen Stein platten gepflasterten Straße, und Calandryll beschleunig te seinen Schritt, um den Halbling einzuholen. »Diese Straße«, sagte er, »die Kanäle … wer hat sie er baut?« »Alte«, erwiderte Yssym. »Lange, lange her … Alte bauen.« Calandryll beobachtete seine Umgebung genauer. Ys syms beiläufige Worte hatten seine Aufmerksamkeit
geweckt, und jetzt entdeckte er überall die Beweise einer untergegangenen Zivilisation. Dieser Felsen dort neben der Straße war kein natürlicher Geröllblock, sondern ein Megalith, von der Zeit zernagt und moosbewachsen, aber auch wenn er jetzt schief stand, war er doch eindeutig von Menschenhand aufgestellt worden. Der scheinbare flache Felsenhügel in dem Feld dahinter war ein Dolmen, und dahinter … ragten dort nicht die eingestürzten Mau ern eines großen Gebäudes aus dem Gras hervor? Überall um sich herum erblickte er antike Bauwerke, von denen Geschichtsforscher wie Medith oder Sarnium nicht ein mal geträumt hatten: die Überreste einer in Vergessen heit geratenen Zivilisation. Er tippte dem Halbling auf die Schulter. »Ist das Tezin-dar?« Yssym stieß sein bellendes rauhes Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Das Platz von Syfalheen … mein Clan Heimat … nicht Tezin-dar. Das meine Heimat … Du treffen Syfaba … Älteste … sie dir zeigen Weg nach Tezin-dar…« »Wie weit noch?« fragte Calandryll. »Wir finden … wenn dunkel.« Yssym blickte auf und deutete auf die untergehende Sonne. »Sonne runtergehen … wir da.« »Und dann müssen wir uns der Prüfung der Ältesten stellen«, bemerkte Bracht. »Prüfung, ja«, bestätigte Yssym. »Aber erst ausruhen … essen, baden … trockene Kleidung.«
»Luxus«, sagte der Kerner lächelnd. »Und Bier, Ys sym? Gibt es dort auch Bier?« »Nicht Bier«, entgegnete der Halbling. »Chrysse trin ken … du mögen, ich glauben.« Bracht schmunzelte und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Nach diesem stinkenden Sumpf, mein Freund, würde ich alles mögen.« Seine gute Laune war wiederhergestellt. Er drehte sich lächelnd zu Katya um. »Essen, hast du das gehört? Etwas zu trinken und tro ckene Kleidung. Kann man noch mehr verlangen?« »Ich wünschte, andere könnten diese Dinge mit uns teilen«, erwiderte sie schwermütig. Bracht gesellte sich zu ihr und betrachtete ihr Gesicht mit sorgenvoller Miene. »Laß die Toten hinter dir«, sagte er sanft. »Du hast um sie getrauert, aber du kannst sie nicht mehr lebendig machen. Laß sie los. Wir ziehen weiter, und unser Erfolg wird ihr Ehrenmal sein.« Katya warf ihm einen kurzen Blick zu. Einen Moment lang wirkte sie verbittert, als ärgere sie sich über seinen Pragmatismus, aber dann kehrte ihr Lächeln zurück und wurde noch breiter, als er sie angrinste. Sie neigte den Kopf. »Ich glaube, ich lerne von dir, Bracht aus Cuan na'For. Du hast recht, wir ziehen weiter nach Tezin-dar.« »Wenn wir die Prüfung der Ältesten bestehen«, mur melte Calandryll. »Worin auch immer die bestehen mag.« »Das werden wir«, sagte Bracht zuversichtlich. »Wir müssen sie bestehen! Wir sind schon zu weit gekommen,
um jetzt noch zu scheitern.« Seine gute Laune war ansteckend, und Calandryll stellte fest, daß er ebenfalls grinste. Bracht hatte recht. Rebas Weissagung, Ellhyns Prophezeiung und selbst Varents betrügerische Machenschaften, das alles hatte sie zu diesem Ort geführt. Die geheimnisvollen Alten hatten Yssym ausgeschickt, um auf ihre Ankunft zu warten, und jetzt standen sie dicht vor ihrem Ziel. Wie konnten sie da noch scheitern? Sie würden die Prüfung bestehen und weiter nach Tezin-dar ziehen, und wenn die Alten ihr Kommen vorausgeahnt hatten, dann würden sie ihnen auch bestimmt das Arcanum aushändigen, damit es zerstört werden konnte – warum sonst hätten sie Be obachter aussenden sollen? Er lachte, blickte zum Him mel empor, der jetzt nicht mehr von Moos und Schling pflanzen verhangen war, sondern sich blau und klar über ihm wölbte. Die Luft war frisch, auch wenn noch ein Hauch aus den Sümpfen, die diesen Ort umgaben, bis hierher wehte. Sie würden Erfolg haben! Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Sie wanderten weiter, vorbei an Feldern und Teichen. Die Sonne sank dem Horizont entgegen, und als sie ihn gerade berührte, erreichten sie Yssyms Zuhause. Eine Mauer herabgestürzter Steine, vermutlich die Über reste eines Schutzwalls, lag vor ihnen. Die Straße führte zwischen den Säulen eines längst zerbrochenen Torbo gens hindurch, hinter dem sich ein breiter, mit hellem
Gras und dichten Büschen bewachsener Streifen erstreck te. Die Büsche trugen eine Unmenge leuchtend schar lachroter, azurblauer und purpurfarbener Blüten, die in fröhlicher Fülle durcheinanderwuchsen, die Luft mit ihrem lieblichen Duft erfüllten und die letzten Geruchs spuren des Sumpfes überdeckten. Auf der gegenüberlie genden Seite des Gartens standen windschiefe Hütten, die denen in der heruntergekommenen Siedlung der Häutejäger ähnelten, aber hier verschmolzen sie in einem harmonischen Durcheinander mit ihrer Umgebung. Die Umrisse dieses Ortes ließen Calandryll vermuten, daß hier einst eine Burg gestanden hatte. Die meisten Wände waren in sich zusammengefallen, aber einige standen immer noch und waren von einer dichten Schicht üppig blühender Kletterpflanzen überwuchert. Die Gebäude, die in den ehemals großen Hallen standen, waren aus Stein, Holz und Drachenhäuten errichtet und paßten sich den Konturen der Ruinen an. Die früheren Gänge waren jetzt Straßen, auf denen Halblinge zusam menströmten, um ihre Besucher zu begrüßen. Sie sahen genauso fremdartig aus wie Yssym, aber da sich die Menschen mittlerweile an den Halbling gewöhnt hatten, erschraken sie nicht mehr bei ihrem Anblick. Und es schienen friedfertige Gesellen zu sein, die scheu aus den Türen ihrer Häuser lugten und ihre Kinder hochhiel ten, damit auch ihr Nachwuchs die Ankunft der Fremden beobachten konnte. Wahrscheinlich, dachte Calandryll, wirkten die Men
schen für sie genauso fremdartig, wie die Halblinge am Anfang auf ihn gewirkt hatten. Er lächelte ihnen zu, während er Yssym über eine schmale, mit kostbaren Fliesen ausgelegte Straße zu einem runden Gebäude folgte, das größer als alle anderen war. Es handelte sich um einen Kuppelbau aus Holz und Häuten, der mit farbenprächtigen Blüten geschmückt war und in der Mitte einer freien Fläche stand, die früher einmal ein riesiger Hof gewesen war. Dort warteten fünf Halblinge auf sie. Soweit Ca landryll es beurteilen konnte, waren sie alt. Ihre grünli che Haut war dunkler als die von Yssym, anscheinend auch trockener, und sie wies die Andeutung von Runzeln auf. Sie musterten ihre Besucher aus ausdruckslosen gelben Augen. Gekleidet waren die Halblinge in weiß und karmesinrot gefärbte Gewänder. Alle hielten lange Stäbe aus dunklem Holz, deren Enden versilbert waren, in den Händen. Das, vermutete Calandryll, mußten die Ältesten sein, die Syfaba. Yssym blieb vor ihnen stehen, verneigte sich und sprach in seiner zischenden Sprache mit ihnen, wobei er auf seine Begleiter deutete. Die Ältesten hörten schweigend zu, die anderen Be wohner dieses seltsamen Ortes versammelten sich etwas entfernt in einem Halbkreis um sie. Alle waren still, als wären sie begierig zu erfahren, welche Neuigkeiten der Beobachter zu erzählen wußte. Nachdem Yssym geendet hatte, sprachen die Ältesten kurz mit ihm, und der
Halbling verneigte sich erneut. Dann wandte er sich wieder den Menschen zu. »Ich jetzt zeigen euch Platz … wo ausruhen … Ihr es sen, schlafen … Syfaba sagen, müssen sein stark für Prü fung … Morgen ihr machen Prüfung.« Obwohl er müde war, hätte Calandryll sich am liebs ten sofort der Prüfung unterzogen, aber er beugte sich der Entscheidung der Ältesten, die sie mit unbewegten Gesichtern musterten, und ließ sich von Yssym davon führen. Die Menge teilte sich vor ihnen, um die Besucher vorbeizulassen. Yssym geleitete sie zu einem Gebäude, das zwischen riesigen herabgefallenen Steintafeln errichtet worden war. Die Decke bestand aus einem dichten Gewirr blü hender Ranken, die das Innere mit einem angenehmen Duft erfüllten, der Boden aus einem exotischen Mosaik bunter Fliesen. In der Mitte des Raumes brannte ein kleines Feuer in einer Grube und verbreitete eine behag liche Atmosphäre. Der Rauch zog durch ein Loch im Pflanzendach ab. Entlang der Wände waren Kissen und Felle aufgehäuft worden. »Ihr hier schlafen«, erklärte Yssym. »Kommen, ich zei gen Bad … dann ihr essen.« Sie folgten ihm durch das Dorf zu einem ehemaligen Badehaus, dessen Decke längst eingefallen war, so daß die riesigen Becken unter dem offenen Himmel lagen, der mit dem Einbruch der Nacht eine samtweiche dun kelblaue Färbung angenommen hatte.
Die Sichel des zunehmenden Mondes leuchtete in hel lem Silber und warf ihr Licht auf das frische Wasser, das aus Kanälen in den zerborstenen Wänden sprudelte. Die Frauen wurden zu einem Becken geführt, das von dem der Männer durch eine Wand aus Steinen und ge flochtenen Weidenmatten getrennt war. Einfache Seife und weiche Handtücher lagen griffbereit, und schon bald hallte die Nacht vom Gelächter der Badenden wider, die den fast schon vergessenen Luxus von sauberem Wasser aus vollen Herzen genossen und eifrig ihre verschwitzte Haut und das verfilzte Haar schrubbten. Während sie badeten, wurde ihre Kleidung wegge schafft, und als sie aus den Becken stiegen, fanden sie statt dessen kurze Gewänder und Sandalen vor, dunkel blaue für die Männer und weiße für die Frauen. Auch ihre Waffen waren verschwunden, worüber sie zuerst erschraken, bis Yssym ihnen erklärte, daß niemand im Dorf Waffen trug und die ihren in ihre Schlafquartiere gebracht worden wären. Dann führte er sie zum Zentralhof zurück, wo Feuer brannten und Fleisch auf Spießen brutzelte. Die gesamte Dorfbevölkerung kam zusammen. Männer, Frauen und Kinder drängten sich neugierig um sie herum, um die Fremden aus nächster Nähe betrachten zu können. Man reichte ihnen Krüge mit dem Getränk, das Yssym als Chrysse bezeichnet hatte – eine helle Flüssigkeit, die an Wein erinnerte, aber stärker war –, und reichlich ge füllte Tonschalen mit Fleisch und Gemüse. Nach der
kärglichen Nahrung der letzten Wochen war es ein wah rer Festschmaus, und die fröhliche Hilfsbereitschaft ihrer seltsamen Gastgeber trug das ihre dazu bei. Sie ent spannten sich, dankbar dafür, endlich wieder trockene Kleidung zu tragen und ohne die ständige Furcht vor Drachen, Insekten oder Raubfischen essen zu können. Die Halblinge überschütteten Yssym mit Fragen, wo hingegen Calandryll bemerkte, daß die Ältesten, die ihnen im Kreis gegenübersaßen, lediglich zuhörten und die Fremden aufmerksam beobachteten. Vielleicht, dach te er, war das schon ein Teil ihrer Einschätzung, aber eben nur ein Teil. Morgen würden sie sich der Prüfung unterwerfen müssen, die sie, wenn sie sie überstanden, nach Tezin-dar bringen würde. Deshalb – und auch wegen der Wirkung des Chrysses und seines seit Wochen erstmals wieder angenehm ge füllten Bauches – war er froh, als sich die Ältesten erho ben und die Versammlung aufgelöst wurde. Yssym und mehrere andere Halblinge ergriffen Fackeln und geleite ten ihre Gäste zu deren Quartieren. »Jetzt schlafen«, riet er ihnen. »Clanälteste euch mor gen rufen.« Calandryll nickte und gähnte herzhaft, worauf der Halbling bellend lachte. »Besser als Insel in Sumpf«, sagte er fröhlich. »Ihr hier sicher schlafen.« »Sehr viel besser«, stimmte Calandryll zu. Er spürte, wie seine Augen schwer wurden. »Wir danken dir, Ys sym.«
Der Halbling neigte den Kopf, zog sich zurück und ließ den Vorhang aus Drachenhaut vor den Eingang fallen. Calandryll gähnte erneut gewaltig, suchte sich einen Platz auf den Kissen, und auch die anderen legten sich zum Schlafen nieder. Bracht ging noch einmal zum Eingang zurück, wo ihre Waffen lagen, und zog sein Krummschwert aus dem Haufen hervor. »Glaubst du, du wirst es brauchen?« fragte Calandryll. Die Kissen waren äußerst bequem, und er verspürte nicht die geringste Lust, noch einmal aufzustehen. »Diese Burschen haben doch bestimmt nicht vor, uns etwas zuleide zu tun.« Der Söldner zuckte die Achseln und warf Calandryll dessen Schwert zu. »Ich schlafe besser, wenn ich nicht allein im Bett liege, und wenn ich keine anschmiegsame re Gesellschaft finde, muß eben das hier herhalten.« Dabei grinste er Katya an, und sie errötete, was jetzt, nachdem ihr Gesicht und ihr Haar wieder sauber waren, hübsch aussah. »Du hast etwas versprochen«, sagte sie leise. »Bringst du mir bitte auch meinen Säbel?« Der Kerner nickte, immer noch lächelnd, und reichte ihr den Säbel mit einer galanten Verbeugung. »Ich halte mein Versprechen. Bis wir Vanu erreicht haben.« Sie nahm die Waffe entgegen und legte sie neben sich auf die Fliesen. »Bis Vanu, Bracht.«
Er seufzte und machte es sich auf den Fellen und De cken bequem, die Arme um das Krummschwert gelegt. »Übrigens, Calandryll«, flüsterte er absichtlich zu laut, »wußtest du, daß Frauen härter als Stahl sein können?« Calandryll hörte Katyas leises Lachen. Er lächelte in der Dunkelheit und überlegte sich eine geistreiche Erwi derung, aber ihm fiel keine passende ein. Seine Gedan ken verwirrten sich, als ihn die Müdigkeit übermannte und er sanft in einen tiefen und traumlosen Schlaf hin überglitt. Er erwachte ohne den Gestank und die Geräusche des Sumpfes und wußte einen Moment lang nicht, wo er war. Es war völlig ungewohnt, in trockener Kleidung auf weichen Kissen zu liegen. Keine Insekten umschwirrten ihn, keine Drachen bellten in der Nähe, und er fuhr er schrocken auf, öffnete die Augen und erblickte einen Raum, der von hellen Flecken gesprenkelt war, wo Son nenstrahlen durch das Dach aus Schlingpflanzen fielen. Bracht war bereits wach und bearbeitete liebevoll die Schneide seines Krummschwertes mit einem Wetzstein. Katya streckte sich gähnend, als sich Calandryll rührte. Draußen konnte er die Geräusche des Dorfes und das Lachen der Kinder hören, die in ihrer zischenden Sprache krakelten. Er blickte Bracht an, der seine unausgespro chene Frage mit einem Kopfschütteln beantwortete. »Yssym war schon einmal da. Anscheinend haben es die Ältesten nicht eilig, ihr Urteil über uns zu fällen. Sie warten, bis wir von selbst aufstehen.«
»Ich möchte nicht länger warten«, sagte Katya. »Wir haben schon genug Zeit in den Sümpfen verloren und sind immer noch nicht in Tezin-dar. Wer weiß, was uns dort noch erwartet. Und Tekkan wird sich allmählich Sorgen machen.« »Aye.« Calandryll glättete sein Gewand, überlegte, ob er sein Schwert umschnallen sollte, und entschied sich dagegen. »Sollen wir uns jetzt der Prüfung stellen?« »Ich möchte vorher noch etwas essen«, sagte Bracht. »Und ich möchte baden«, fügte Katya hinzu. In der Zwischenzeit waren auch die anderen Vanuer aufgewacht. Sie begaben sich gemeinsam ins Dorf, wo sie Yssym fanden, der, in ein Gespräch vertief, bei den Ältes ten hockte. Als sie sich ihnen näherten, standen die Halblinge auf. Wie bei ihrer ersten Begegnung blieben die Ältesten auch diesmal stumm und nickten ihnen nur zur Begrüßung zu. »Ihr jetzt essen?« fragte Yssym. »Baden?« »Essen«, sagte Bracht. »Baden«, sagte Katya. »Wann werden wir der Prüfung unterzogen?« wollte Calandryll wissen. »Bald«, erwiderte Yssym. »Älteste vorbereiten … Ihr erst baden, essen … dann Zeit für Prüfung.« Sie suchten das Badehaus auf und kehrten anschlie ßend in den Hof zurück. Anscheinend wurden alle Mahlzeiten hier gemeinsam eingenommen. Die Halblin
ge saßen bereits da und reichten den Fremden Schalen mit einem süßlichen Brei, Tonkrüge mit heißem Kräuter tee, Scheiben eines brotähnlichen Gebäcks und Käsestü cke, die scharf schmeckten. Im Licht des Tages konnte Calandryll seine Umgebung besser erkennen, und jetzt war er endgültig davon überzeugt, daß die Halblinge ihr Dorf in den Ruinen einer riesigen uralten Festung errich tet hatten. »Haben die Alten das hier gebaut?« fragte er. »Alte, ja«, bestätigte Yssym. »Lange, lange her. Alte hier bauen.« »Wann sind sie hier weggezogen?« Calandryll fragte sich, wie viele Jahrhunderte vergangen sein mochten, seit die Mauern eingestürzt waren, und was zu dieser Zerstö rung geführt hatte. »Lange, lange her.« Yssym hob hilflos die Schultern. Menschen und Halblinge schienen ein anderes Zeitver ständnis zu haben. »Wie sind die Gebäude zerstört worden?« »Alte sagen, Götter kämpfen.« Yssym malte mit den Fingern ein Zeichen in die Luft. Eine Schutzgeste, vermu tete Calandryll. »Alles schlecht dann … Götter böse … Vater und Mutter von Göttern böse … Sie Krieg beenden … aber alles hier dann schon kaputt…« »Er spricht von dem Krieg zwischen Tharn und Bala tur«, flüsterte Katya. Calandryll nickte und fragte: »Haben die Alten damals hier gewohnt?«
»Hier, ja«, sagte Yssym. »Andere Orte auch … Sumpf noch nicht Sumpf … keine Drachen, keine Grishas, keine Yennym, keine Shivim … Götter diese machen, wenn kämpfen … Alte dann hier, auch später hier … aber dies hier dann schon kaputt … Alte sagen, jetzt gehören Sy falheen … dann gehen nach Tezin-dar … Sagen, Syfal heen nicht gehen dort … Syfalheen besser nicht kennen Menschen…« »Aber trotzdem haben sie euch aufgetragen, Beobach ter auszuschicken.« Calandryll war verwirrt. »Sie haben euch gesagt, daß Menschen kommen würden, die das Arcanum suchen, das Buch.« Yssym nickte. »Sagen Syfalheen, aufpassen auf Men schen … Menschen kommen, wollen Buch … Vielleicht Menschen böse, vielleicht gut … Sagen, gute Menschen sein drei … wie ihr … zeigen Ältesten, wie können wis sen … Sagen, bringen gute Menschen nach Tezin-dar.« »Und die bösen Menschen?« »Sagen, alle prüfen … Wenn böse Menschen nicht sterben in Sumpf, sterben in Prüfung … oder sterben auf Straßen nach Tezin-dar … Syfalheen für Alte bewachen Tezin-dar lange, lange Zeit.« »Kein Wunder, daß Tezin-dar immer eine Legende geblieben ist«, murmelte Calandryll vor sich hin. Die Vorstellung, wie unglaublich lange das alles schon her war, erfüllte ihn mit Staunen. Wenn Yssyms Behauptun gen der Wahrheit entsprachen, stammten diese Ruinen aus der Zeit des Götterkriegs, und Menschen hatten hier
gewohnt. Hier und überall in Gessyth. Er ließ seine Fin ger über die Steine gleiten, auf denen er saß, und blickte sich ehrfürchtig um. Wenn er diese Aufgabe erfüllt hatte, also sobald das Arcanum zerstört war, würde er dies alles niederschreiben. Bei Dera, Reba hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, er würde weit reisen! Eine Bewegung auf der anderen Seite des Hofes riß ihn aus seinen Grübeleien. Die Ältesten kamen aus dem Rundbau hervor. Jeweils zwei bauten sich rechts und links des Eingangs auf, der fünfte winkte sie zu sich. »Älteste sagen, ihr jetzt kommen«, teilte ihnen Yssym mit. »Drei, die gehen nach Tezin-dar.« Calandrylls Mund wurde trocken. Er leerte seinen Be cher und stand auf. Bracht und Katya erhoben sich eben falls, Bracht zu seiner Rechten, Katya zu seiner Linken. Die Vanuer wollten ihnen folgen, aber Katya winkte sie zurück und sprach kurz in ihrer melodischen Sprache mit ihnen. Sie blieben stehen, als die drei Gefährten Ys sym über den Hof zu den wartenden Ältesten folgten. Der Clanälteste vor dem Eingang sagte irgend etwas zu Yssym, worauf der Halbling erklärte: »Älteste euch jetzt nehmen … ihr ihnen gehorchen.« Er verneigte sich und drehte sich um. Der Älteste hob seinen Stab und deutete auf die dunkle Türöffnung. Calandryll warf Bracht und Katya einen kurzen Blick zu, atmete einmal tief ein und betrat den kuppelförmigen Bau. Er konnte nicht das geringste erkennen. Um ihn her
um herrschte völlige Dunkelheit. Intensiver Geruch nach Räucherwerk lag in der Luft. Calandryll spürte Panik in sich aufsteigen, begleitet von dem instinktiven und bei nahe übermächtigen Verlangen, nach seinem Schwert zu greifen, das er in ihrem Schlafquartier zurückgelassen hatte. Er kämpfte gegen das Zittern an und blieb reglos stehen, bis er hörte, wie hinter ihm die anderen den Raum betraten. Die langen Roben der Ältesten raschelten leise. Das schabende Geräusch aneinanderreihenden Feuersteins klang auf, und ein Funke entzündete einen Docht. Der Geruch nach Räucherwerk wurde noch durchdringender, als vor ihm ein mattes goldenes Flämmchen zu flackern begann. Es war nicht groß genug, um die Wände zu erhellen, reichte gerade aus, um der Dunkelheit das Gesicht eines Clanältesten zu entreißen, das ihn über den schwachen Schein hinweg musterte. Calandryll blickte kurz nach rechts und links und sah undeutlich Bracht und Katya neben sich stehen. Ihre Gesichter lagen im Schatten, wirkten flach und langgezo gen. Katyas Haar umgab ihren Kopf wie ein schimmern der Heiligenschein. Schatten bewegten sich entlang der Wände, und er erkannte, daß sich die anderen Ältesten zu dem ersten gesellten. Sie hatten ihre Stäbe waagrecht vor die Brust gehoben, bildeten einen Kreis um sie und kamen langsam näher, bis sich die silbernen Spitzen der Stäbe berührten. Calandryll roch den Duft von Katyas frisch gewasche nem Haar, vernahm Brachts nervöse Atemzüge und fragte sich, ob seine Gefährten das dumpfe Pochen seines
Herzens hörten konnten. Er spürte einen Stab in seinem Rücken und machte einen Schritt nach vorn, als der Äl teste, der ihm gegenüberstand, zurückwich. Sie wurden tiefer in den Kuppelbau hineingetrieben, bis die Ältesten stehenblieben und ihre Stäbe sinken ließen. Die Spitzen erzeugten ein leises, melodisch klapperndes Geräusch auf den Bodenfliesen. Einer der Ältesten machte eine Geste, und Calandryll sah eine Öffnung vor seinen Fü ßen, glatte Steinstufen, die sich in absolute Finsternis hinunter wanden. Der Älteste wiederholte seine auffor dernde Geste. Calandryll schluckte und machte sich an den Abstieg. Hinter ihm erlosch die Flamme. Seine Finger glitten über kühlen Stein, der glitschig und gewölbt war. Er konnte nichts sehen, spürte Katyas Hand auf seiner Schulter, hörte Bracht gedämpft fluchen. Vorsichtig schob er einen Fuß vor, ertastete die erste Stufenkante, die zweite, die dritte … Die Wand unter seinen Fingern war glatt, sein Herzschlag hallte wie Donner in seinem Brustkorb. Der Duft nach Räucherwerk ließ nach und machte einem modrigen Geruch Platz. Die Treppe wand sich um eine steinerne Mittelsäule in die Tiefe, die Wän de rückten enger zusammen. Calandryll blickte zurück, konnte aber nur undurchdringliche Schwärze erkennen und setzte den Abstieg in die uralten Gewölbe der Fes tung fort. Als sein Fuß ebenen Steinboden berührte, schrak er so heftig zusammen, daß ihm ein Schauder über den Rü cken lief. Katya prallte gegen ihn und keuchte auf. Er
hörte Bracht fragen: »Bei Ahrd, wo sind wir hier?« und ging etwas weiter, um ihm Platz zu machen. Auf einmal glomm ein schwaches silbriges Licht vor ihm auf. Es sah aus wie ein Irrlicht, das inmitten der Dunkelheit schwebte und immer größer wurde, bis er erkannte, daß sie in einer Kammer aus gewachsenem Fels standen, in einem runden Raum, dessen Wände, Decke und Boden ineinander übergingen. Überall waren Ni schen in den Fels geschlagen worden, und in ihnen lagen Knochen, die in dem unwirklichen Licht schwach schimmerten. Auf dem Boden lagen noch mehr Knochen herum, wirr durcheinander und nicht so alt wie die in den Felsnischen. An einigen hingen noch Fetzen längst verrotteter Kleidung. In der Mitte des Raumes, wo das Licht am hellsten war, stand eine Totenbahre – eine rechteckige Steinplatte –, auf der ein Körper lag. Ca landryll sah, daß es sich um einen Mann handelte, der älter geworden war, als es ein gewöhnlicher Mensch jemals werden konnte. Vom Alter vergilbtes Haar reichte ihm über die Schultern, die Fingernägel der über der Brust gefalteten Hände waren lang und gebogen. Der Körper steckte in einem einfachen Gewand aus grobem blauen Stoff mit einem weißen Strick als Gürtel. Die Füße waren nackt, und auch die Zehennägel waren lang und gebogen. Calandryll betrachtete das Gesicht, sah eine stolze Nase, die durch das Alter schmal geworden war, eingefallene Wangen und einen dünnlippigen Mund über einem Bart, der bis zum Gürtel des Mannes reichte. Und dann schrie er auf, als die Gestalt die Augen öff
nete. Katya gab einen unterdrückten Laut von sich, halb ein Schrei, halb ein Quietschen. Bracht stieß einen leisen Fluch aus. Der Körper knarrte, als er sich aufrichtete, als wären seine Gelenke durch die verstrichene Zeit eingerostet und protestierten gegen die Bewegung. Das Haar ra schelte leise wie verdorrtes Laub, Staub rieselte lautlos von dem Gewand zu Boden. Calandryll bemerkte, daß die Augen ihn durchbohr ten. Sie mußten einmal blau gewesen sein, dachte er, jetzt aber waren sie milchigweiß wie die eines Blinden, und doch wußte er irgendwie, daß sie ihn direkt anblickten, ihn sahen. Er hielt den Atem an. Der mumienhafte Körper – einer der Alten, nahm er an – gab ein Seufzen von sich, ein Wispern so trocken wie Staub. Wie unter Schmerzen schob er – es – sich von der Bahre, schwankte ein wenig, als drohte allein der Atem der drei Gefährten sein empfindliches Gleichgewicht zu stören, und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wo bei die leeren Hüllen toter Insekten aus seinem Gewand und Haar fielen. Die blutleeren Lippen öffneten sich. »Ich habe euch erwartet.« Die Stimme war ein Rasseln, als klapperten Knochen aufeinander. »Wie lange? Exis tiert Gessytha noch?« Calandryll registrierte wie betäubt, daß der Greis in der Alten Sprache gesprochen hatte. Er räusperte sich und sagte in der gleichen Sprache: »Die Menschen nen
nen es jetzt Gessyth, und es ist ein Sumpf. Das Reich der Syfalheen.« »Ah«, seufzte der Alte. »Dann wohnen sie also immer noch hier. Das ist gut. Und ihr … Warum seid ihr ge kommen und stört meine Ruhe?« »Wir wollen das Arcanum finden«, erwiderte Ca landryll. »Wir suchen Tezin-dar.« Leises Gelächter, als krabbelten unaussprechliche Din ge über die Gebeine der Toten, hallte durch das Gewölbe. »Das Arcanum, so, so. Warum?« »Damit es zerstört werden kann. Wir sind gekommen, um es von Tezin-dar nach Vanu zu bringen, wo es die Heiligen Männer dieses Landes zerstören sollen.« »Das Arcanum ist ein Gegenstand von gewaltiger Macht – verderblicher Macht. Mit dem Arcanum könnte der Verrückte Gott wiedererweckt werden. Ist das euer Ziel?« »Nein!« rief Calandryll beschwörend. »Aber es gibt ei nen Mann, der das will. Ein Magier namens Rhythamun – obwohl er sich jetzt Varent nennt und einen anderen Körper bewohnt – möchte den Verrückten Gott ins Leben zurückrufen.« »Irrsinn!« »Aye, Irrsinn. Und doch würde er es versuchen. Aus diesem Grund will er das Buch, und wir drei möchten ihn daran hindern. Er hat versucht, uns zu betrügen, mich und Bracht«, dabei deutete er automatisch auf den
Kerner, »für seine Zwecke zu mißbrauchen. Katya wurde von den Heiligen Männern ihres Volkes aus Vanu ausge sandt. Sie hat uns vor Rhythamuns wahrem Wesen ge warnt. Jetzt kämpfen wir gemeinsam.« »Oder ihr sterbt gemeinsam, wenn ihr lügt. Stell mir dich und deine Gefährten vor.« »Ich bin Calandryll den Karynth aus Secca in Lysse. Mit mir sind Bracht vom Clan der Asyther aus Cuan na'For und Katya aus Vanu gekommen.« »So ist also eingetreten, was wir vorhergesehen ha ben.« Die milchigen Augen richteten sich nacheinander auf alle drei. »Drei sind erschienen. Nun kommt zu mir, damit ich mein Urteil über euch fällen kann. Doch seid zuvor gewarnt: Sollte Falschheit in euch sein, werdet ihr diesen Ort nicht mehr verlassen! Dann werdet ihr hier bei den anderen Betrügern ruhen, die glaubten, das gleiche Wissen wie wir zu besitzen. Und dieses Wissen bewah ren wir eifersüchtig – wie sie erfahren mußten.« Die verdorrte Hand machte eine kreisförmige Bewe gung, die die gesamte Kammer umfaßte. Calandryll starrte auf die Knochen, die dort lagen, und er wußte, wie das Urteil bisher gelautet hatte. »Richtet über uns«, verlangte er. »Ihr werdet feststel len, daß wir die Wahrheit sagen.« »Wenn ihr jetzt geht, werdet ihr am Leben bleiben. Unterwerft ihr euch aber dieser Prüfung, und ich entde cke Falschheit in euch, dann wird euch hier euer Schick sal ereilen. Eure Knochen werden bei den anderen lie
gen.« »Wir sprechen die Wahrheit«, sagte Calandryll. »Fällt Euer Urteil.« »So sei es.« Die Hand mit den langen klauenartigen Fingernägeln winkte ihn zu sich heran. Calandryll trat vor das uralte Geschöpf. Der Alte hob die Hände und legte sie um Ca landrylls Gesicht, die toten Augen sahen tief in die sei nen, schien bis auf den Grund seiner Seele vorzudringen. Nicht der geringste Atemhauch strömte aus den geöffne ten Lippen, auch nicht, als der Alte seinen knochenwei ßen Schädel neigte und sich seine Lippen wieder beweg ten. »Ich habe keine Falschheit in dir gefunden, Calandryll den Karynth. Nun sollen deine Gefährten zu mir kom men.« Calandryll wurde sich bewußt, daß keiner von beiden verstanden hatte, was hier gesagt worden war, und be deutete ihnen, vorzutreten. Er beobachtete gespannt, wie der Alte zuerst Katya und dann Bracht in die Augen blickte und schließlich auch sie als aufrichtig befand. »So ist es also vollbracht. Endlich gewährt ihr mir meine letzte Ruhe, und ich danke euch für diese Erlö sung. Kehrt zu den Syfalheen zurück. Sie werden euch nach Tezin-dar bringen. Dort liegt das Arcanum verbor gen, und die Wächter werden wissen, wer ihr seid. Nehmt dieses verfluchte Buch und vernichtet es mit dem Segen von Yl und Kyta.«
Er schickte sie mit einer Handbewegung fort. Das silb rige Licht begann zu erlöschen. Bracht drängte Katya zu den Stufen. Als Calandryll die Wendeltreppe erreicht hatte, blickte er noch einmal zurück und stieß ein Keu chen aus. Das Gesicht des Alten fiel ein, die weiße Robe sackte in sich zusammen, und alles zerfiel zu Staub, der einen Moment lang im ersterbenden Licht aufwirbelte und in der unbewegten Luft schwebte. Dann senkte sich wieder undurchdringliche Finsternis über die Gruft, und sie stiegen durch die Schwärze nach oben, dem dämmrigen Licht des Kuppelbaus und den wartenden Ältesten entgegen.
KAPITEL 19 Tageslicht erhellte den Eingang des Rundbaus und schien sie in der Welt der Lebenden willkommen zu heißen, als sie die Gruft verließen. Die Ältesten, die dort auf sie gewartet hatten, begrüßten sie, und diesmal spra chen sie in ihrer zischenden Sprache zu ihnen und be rührten sie der Reihe nach an der rechten Schulter, als segneten sie sie. Ihre gelben Augen blickten nicht länger ausdruckslos, sondern leuchteten freudig. Man führte sie feierlich auf den Hof hinaus, wo sich das gesamte Dorf versammelt hatte. Als sie erschienen, klang ein vielstim miger Schrei auf. Yssym und die gespannten Vanuer liefen ihnen entgegen und bestürmten sie mit Fragen. Calandryll berichtete seinen Gefährten, was der Alte in der Gruft gesagt hatte, und überließ es Katya, die Neuig keiten ihren Landsleuten mitzuteilen. Er brannte darauf, Yssym ein paar Fragen zu stellen. »Wir waren nicht die ersten«, sagte er, als man ihn ü ber den Hof führte und ihm einen Krug Chrysse in die Hand drückte. Yssym schüttelte feierlich den Kopf. »Ihr nicht erste … Andere kommen, falsch … nicht mehr herauskommen … Alte urteilen, Falsche bleiben bei Alten.« Er lachte bel lend. »Aber ihr nicht falsch, und jetzt Yssym haben Ehre
… sein Beobachter, wer bringen Richtige…« Calandryll nickte und fragte sich, was für ein Tod die se falschen Sucher ereilt haben mochte. Laut fragte er: »Hast du die Gruft gesehen? Den Alten?« »Nur Älteste sehen Alten«, erwiderte Yssym. »Bewa chen Ruhestätte … jetzt versiegeln.« »Er hat gesagt, du … die Syfalheen würden uns nach Tezin-dar bringen. Und die Wächter würden uns zum Arcanum führen.« »Wir zeigen euch Weg«, bestätigte Yssym. »Syfalheen nicht betreten Tezin-dar … aber ihr dort gehen.« »Und diese Wächter?« fragte Bracht und setzte sich neben sie. »Gehören die auch zu den Alten, oder sind das andere?« »Yssym nicht wissen«, sagte der Halbling. »Älteste nicht wissen … Syfalheen nicht gehen nach Tezin-dar … verboten.« »Es müssen die Alten sein«, murmelte Calandryll. »A ber, Dera! Wie alt?« »Wie wollt ihr uns in die Stadt bringen, wenn euch der Zutritt verboten ist?« erkundigte sich Bracht, pragma tisch wie eh und je. »Zeigen euch Straße«, versprach Yssym. »Sichere Stra ße … ihr gehen, keine Gefahr … Straße sicher für euch.« »Wann?« wollte Bracht wissen. »Morgen … früh«, sagte Yssym. »Heute wir feiern … Ihr Richtige … Syfalheen lange auf euch warten.«
Man ließ ihnen gar keine andere Wahl. Die Vorberei tungen für das Fest waren bereits in vollem Gang. Die Feuerstellen, an denen die Halblinge das Frühstück zube reitet hatten, wurden vergrößert und Fleisch an Dreh spießen darüber gebraten. Frisches Brot wurde gebacken und die Krüge der Fremden so oft mit Chrysse nachge füllt, bis die Gefährten lachend protestierten und erklär ten, daß sie bald viel zu betrunken sein würden, um eine Reise anzutreten, die sie weiter als bis zu ihren Betten führte. Die Halblinge holten kleine Harfen und Knochen flöten hervor und begannen, seltsame Melodien anzu stimmen, die, wie Calandryll vermutete, seit unzähligen Jahrhunderten kein Mensch mehr gehört hatte. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß wir Vorgänger haben könnten«, bemerkte er irgendwann. »Die Knochen?« Bracht zuckte die Achseln und wisch te sich Fleischsaft vom Kinn. »Ein so mächtiger Gegens tand wie das Arcanum ist bestimmt nicht nur VarentRhythamun bekannt.« »Sie waren schon sehr alt«, meinte Katya, runzelte plötzlich die Stirn und fügte hinzu: »Allerdings ist auch Varent sehr alt und versucht schon seit langem, das Ar canum in seinen Besitz zu bringen.« »Er hat nichts von anderen Suchern erwähnt«, sagte Calandryll. »Obwohl er von Wächtern gesprochen hat.« »Vielleicht hat er gedacht, eine Warnung würde nur unser Mißtrauen erregen«, vermutete Bracht. »Er hat uns vom ersten Tag an betrogen.«
»Wahrscheinlich«, pflichtete ihm Calandryll nach kur zem Nachdenken bei. »Und das dürfte auch der Grund sein, warum er nicht selbst hierhergekommen ist. Er wußte, daß er die Prüfung des Alten nicht überstehen würde.« »Aye, und weil er das wußte, hat er sich ein paar Trot tel gesucht.« Bracht stieß ein leises zynisches Lachen aus. »Unschuldige, die die Prüfung bestehen und für ihn das Arcanum aus Tezin-dar herausholen würden, nur um es dann ihm auszuhändigen. Nun, dazu wird es nicht kommen!« »Aber«, warf Calandryll stirnrunzelnd ein, »der Alte hat davon gesprochen, daß in ihrer Prophezeiung von drei Suchern die Rede war, und Varent hat nur uns beide ausgeschickt. Er konnte nicht wissen, daß Katya zu uns stoßen würde.« »Vielleicht wußte er nichts von dieser Weissagung«, sagte Bracht und lächelte einer Halblingsfrau, die noch mehr Fleisch auf seinen Teller häufte, dankbar zu. »Er ist eben nicht unfehlbar.« »Die Wege der Götter sind rätselhaft«, murmelte Ka tya. »Mir scheint, es existiert ein Plan und ein Ausgleich. Die Alten haben vorhergesehen, daß die Zeit kommen würden, in der das Arcanum zerstört werden muß, und deshalb haben sie solchen Leuten wie Rhythamun diese Hindernisse in den Weg gelegt. Wahrscheinlich wollten sie nicht, daß diese Dinge bekannt werden, damit Leute von Rhythamuns Art nicht einen Weg zu dem Buch fin
den können.« Bracht nickte und sagte: »Sie haben ihren Plan schon vor Äonen geschmiedet, und wie es aussieht, mit mehr Geschick als Varent den seinen.« »Aye«, stimmte Calandryll zu, »aber noch haben wir das Buch nicht nach Vanu gebracht.« »Das werden wir«, versicherte Bracht und trank einen Schluck Chrysse. »Wir haben jetzt einen sicheren Über gang nach Tezin-dar. Wir holen das Buch heraus, Yssym führt uns zurück zur Küste, und Tekkan bringt uns nach Vanu. Wir können gar nicht scheitern.« »Wir dürfen nicht scheitern«, sagte Katya. »Nein.« Calandryll lächelte, obwohl ganz tief in ihm immer noch ein leiser Zweifel zurückblieb. Er verdrängte ihn und lauschte den fremdartigen Liedern der Syfal heen. Ihre Stimmen schraubten sich im Chor wie Vogel gezwitscher empor, zwischendurch sang eine einzelne Stimme eine Strophe, und manchmal sang das gesamte Dorf. »Sie von euch singen«, erklärte Yssym. »Lied sehr alt … erst jetzt singen, weil bis jetzt nicht Richtige kommen … Hören … jetzt singen von Beobachter … von mir.« Wären seine fischartigen Gesichtszüge in der Lage gewesen, menschliche Gefühle auszudrücken, dann hätte er jetzt vor Stolz gestrahlt, davon war Calandryll über zeugt. Er legte dem Halbling eine Hand auf die Schulter, lächelte und sagte: »Wir sind dir zu großem Dank ver pflichtet, Yssym.«
Yssym neigte den Kopf und legte seinerseits die Hand mit den Schwimmhäuten auf Calandrylls Schulter. »Ihr die Richtigen«, sagte er. »Syfalheen versprechen Alten … bringen euch nach Tezin-dar, wenn kommen … Dies guter Tag.« »Er wäre noch besser, wenn wir das Buch schon hät ten«, meinte Calandryll. »Morgen«, versprach Yssym. »Morgen ihr nehmen Straße … am Ende Tezin-dar … dort Alte warten.« Das Fest ging den ganzen Tag lang weiter, und mehr als ein Vanuer erlag der trügerischen Leichtigkeit des Chrysse. Die drei Gefährten hielten sich allerdings zu rück, denn sie hatten keine Lust, die Straße nach Tezin dar mit einem dicken Kopf zu betreten. Als die Dunkel heit hereinbrach, wurden Fackeln entzündet. Anschei nend hatten die Syfalheen vor, die ganze Nacht durchzu feiern, denn als Calandryll, Bracht und Katya zu ihrem Schlafquartier zurückkehrten, konnten sie immer noch die Musik der Halblinge hören. Sie fanden ihre alte Klei dung neben den Waffen vor, und als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durch das verflochtene Ranken dach fielen, zogen sie sich an und schnallten ihre Schwer ter um. Draußen hatte sich wieder das gesamte Dorf versam melt, und Yssym wartete mit den Ältesten vor dem kup pelartigen Rundbau. Sie frühstückten, auch wenn nach dem Gelage kaum jemand großen Appetit hatte, und kurz darauf waren sie aufbruchbereit.
Katya verabschiedete sich von ihren Leuten. Die Va nuer traten einzeln vor, schüttelten Calandryll und Bracht die Hände und sagten irgend etwas in ihrer Spra che zu ihnen. »Sie wünschen euch alles Gute«, übersetzte Katya, »und versprechen, hier auf uns zu warten.« Yssym reichte jedem ein Proviantpaket und eine Feld flasche mit frischem Wasser. »Ich nicht weitergehen«, sagte er. »Älteste euch bringen zu Straße … ihr folgen … Nicht verlassen Straße! Straße sicher.« Sie gaben ihm zum Abschied die Hand und folgten den Clanältesten durch das Spalier, das die Dorfbewoh ner gebildet hatten. Die Rufe der Syfalheen verklangen allmählich hinter ihnen, als sie den Hof verließen und den sich anschließenden gartenähnlichen Streifen betra ten. Die Ältesten marschierten wie üblich schweigend dahin. Ihr Weg führte sie genau nach Norden, die Sonne stand noch tief zu ihrer Rechten und schien aus einem wolkenlosen Himmel, der wie polierter Stahl leuchtete. Trotz ihres Alters legten die Syfaba ein zügiges Tempo vor. Die silbernen Spitzen ihrer Stäbe klapperten munter auf der gepflasterten Straße, und so dauerte es nicht lange, bis sie die eingestürzten Mauern erreicht hatten, die die äußerste Grenze der Siedlung bildeten, und unter einem weiteren Torbogen durchgingen. Dieser Bogen stand noch. Verwitterte große Steinblöcke wölbten sich dunkel vor
dem blauen Himmel. Tiefe Löcher auf der Innenseite verrieten, daß sich hier einst die Türangeln befunden hatten. In der Nähe war eine Zisterne gegraben worden. Calandryll sah, daß die uralten Türflügel ihr Dach bilde ten. Es waren zwei riesige Metallplatten, so dick wie die Hüfte eines Mannes, die keinerlei Spuren von Verwitte rung auf wiesen. Er fragte sich, wodurch sie auf ihren Verankerungen gerissen worden waren, und nahm sich vor, eines Tages auf diese seltsame Insel des Friedens inmitten des Sumpfes zurückzukehren und die Geschich te von Yssyms Volk niederzuschreiben. Irgendwann – heute riefen ihn dringendere Angele genheiten weiter. Jenseits des Torbogens erstreckten sich Obsthaine und Felder, auf denen weitere der merkwürdigen Tiere gras ten und ruhig zu den Wanderern aufblickten, die ziel strebig der schnurgeraden Straße folgten. Calandryll überlegte, ob auch Orwen diesen Weg genommen hatte, und zog im Gehen die Karte aus seiner Umhängetasche. Sie zeigte nichts als Sumpf an dieser Stelle, und er fragte sich, ob die Syfalheen den Kartographen um ihr Dorf herumgeführt hatten, oder ob er auf einer anderen Route nach Tezin-dar gekommen war. Er bemerkte, daß einer der Ältesten langsamer geworden war, neben ihm her ging und die Karte anstarrte. »Ahwhen«, sagte der Halbling, stieß ein kurzes bel lendes Lachen aus und forderte Calandryll gestenreich auf, die Karte wieder einzustecken. Dann deutete er nach
vorn und sagte: »Tezin-dar … Tezin-dar.« »Die Karte belustigt ihn«, stellte Bracht fest, als der al te Halbling wieder zu seinen Artgenossen aufschloß und leise mit ihnen sprach, was erneut Gelächter hervorrief. »Sie kennen Orwens Namen«, sagte Calandryll. »Aber worüber hat er gelacht?« Darauf wußte niemand eine Antwort, und so folgten sie weiter den Syfaba, die keine Anstalten machten, eine Ruhepause einzulegen, auch nicht, als die Sonne ihren Zenith erreicht hatte. Es schien, als wollten sie jetzt, nachdem diejenigen, auf die sie so lange gewartet hatten, endlich erschienen waren, ihr Versprechen so schnell wie möglich einlösen. Sie hielten ihr flottes Tempo bei, bis am späten Nach mittag der Deich vor ihnen aufragte, der das Land der Syfalheen umschloß. Dort endete die Straße, die uralten Steinplatten verschwanden unter dem Erdhügel. Der Wind trug den Geruch des Sumpfes zu ihnen herüber. Die Ältesten rafften ihre langen Gewänder, stiegen die Böschung hinauf und winkten Calandryll und seinen Gefährten zu, ihnen zu folgen. Als sie oben angekommen waren, blieben sie stehen. Vor ihnen breitete sich ein weites Binsenfeld aus. Zwi schen den dicken Halmen schimmerte brackiges Wasser. Von einer Straße war nichts zu sehen. Hinter dem Bin senfeld, weit in der Ferne, konnte man undeutlich im Dunst die grauen Umrisse von Mangroven erkennen. Calandryll runzelte verwirrt die Stirn.
»Ahrd!« rief Bracht. »Yssym hat uns versprochen, daß eine Straße nach Tezin-dar führt.« »Tezin-dar!« Der Älteste, der schon einmal mit ihm gesprochen hatte, berührte Calandrylls Arm und nickte eifrig. »Tezin-dar!« Er deutete mit seinem Stab auf den äußeren Fuß des Deichs, der jetzt, da die Sonne dicht über dem Horizont stand, im Schatten lag. Calandryll starrte in die angegebene Richtung, suchte in den Ried feldern nach Hinweisen auf eine Straße und fand keine. Die Ältesten kletterten die steile Böschung des Damms hinunter, bis sie zwischen dem Schilf standen und sich der Saum ihrer Gewänder mit Wasser vollsog und dun kel färbte. Calandryll, Bracht und Katya folgten ihnen. Etwas weiter beschrieb der Deich eine Kurve und verlief mehr nördlich als westlich, so daß sein Fuß in tiefem Schatten lag. »Da ist irgend etwas.« Katya deutete mit zusammen gekniffenen Augen auf den Knick im Erdwall. »Ich kann aber nicht erkennen, was es ist.« »Was auch immer, jedenfalls haben sie uns zu keiner Straße gebracht«, knurrte Bracht. In seiner Stimme klang jetzt ein Anflug von Mißtrauen mit, und seine Hand näherte sich instinktiv dem Griff seines Krummschwer tes. »Haben die etwa vor, uns ohne einen Führer in die Sümpfe zurückzuschicken?« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Calandryll. »Seht.« Die Ältesten wateten entschlossen durch die Binsen auf die schattige Stelle zu, auf die Katya gedeutet hatte.
Ihre nackten Füße machten schmatzende Geräusche im Morast. Dann blieben sie stehen und winkten die ande ren zu sich heran. Calandryll ging zu ihnen, dicht gefolgt von Bracht und Katya. Die Ältesten hatten sich in einem Halbkreis vor dem dunkelsten Bereich des Schattens aufgebaut und starrten mit seltsamer Ehrfurcht auf den finsteren Fleck. Ca landryll sah an ihnen vorbei und erblickte eine flache Höhle, in der er undeutlich die Umrisse uralter Steine ausmachen konnte. Es waren drei dicke, aufrecht stehen de, von Erde umgebene Basaltsäulen, auf denen ein Steinbalken lag. Sie standen direkt vor der an dieser Stelle senkrecht abfallenden grauen Wand des Deichs, ein Tor, das nirgendwo hinführte. »Wollen die uns irgendein Monument zeigen?« fragte Bracht. »Oder ist das der Weg?« überlegte Katya laut. »Ich sehe keine Straße«, erwiderte der Kerner. »Vielleicht ist sie das«, sagte Katya. »Eine magische Straße.« »Wie sollte das möglich sein?« wollte Bracht wissen. »Selbst wenn das ein Portal ist, es zeigt in die falsche Richtung.« »Gäbe es eine bessere Tarnung?« fragte Calandryll. Er wandte sich den Ältesten zu, die Brauen fragend erho ben. Die Syfalheen traten auseinander, zwei nach rechts, zwei nach links. Der fünfte winkte sie heran, deutete mit
seinem Stab auf das Monument und machte Zeichen, daß sie weitergehen sollten. Calandryll warf seinen Gefährten einen kurzen Blick zu, zuckte die Achseln und trat vor. Der Älteste hob die Hand, bedeutete ihm, stehen zubleiben, und forderte Bracht und Katya in seiner Zei chensprache auf, sich neben ihren Gefährten zu stellen. Dann traten die Ältesten an sie heran und schlugen je dem auf die Schulter, wie sie es schon einmal getan hat ten, als die drei aus der Gruft zurückgekommen waren. Die fünf Syfaba drehten sich mit den Gesichtern zu den Steinsäulen, hoben die Stäbe hoch und stimmten einen monotonen Gesang an. Zuerst waren ihre Stimmen tief und leise, wurden aber heller und lauter, als die unterge hende Sonne den Himmel rot färbte und ihre Strahlen den oberen Rand des Deichs kurz mit feurigem Licht überzogen. Calandryll hörte ein Summen, das wie eine Antwort auf den Gesang klang, legte den Kopf schief und ver suchte, den Ursprung des Geräusches auszumachen. Und dann begriff er, daß es die Steinsäulen selbst waren, die summten. Er sah ein Licht im Inneren des Portals flackern und glaubte einen Moment lang, eine breite goldgepflasterte Straße zu erkennen, die sich zwischen prächtigen Bäumen dahinzog, und in der Ferne undeut lich stolze Stadtmauern in Gold, Silber und Karmesinrot. Die Ältesten drückten ihnen die Stäbe in die Rücken und schoben sie vorwärts. Das Licht erlosch, zurück blieb eine Dunkelheit, die so greifbar wie die Erdwand wirkte. Der Druck der Stäbe verstärkte sich, und Calandryll machte
einen weiteren Schritt nach vorn. Er hörte Bracht grun zen, als seine ausgestreckten Hände die Erde berührten, die feucht war und sumpfig roch. Um ihn herum vibrier te die Luft. Und dann war der Druck plötzlich verschwunden, sowohl der Druck der Stäbe in seinem Rücken, als auch der Druck der Erde auf seinem Gesicht. Einen Moment lang verspürte er ein Gefühl, das er nicht genau be schreiben konnte, ein Gefühl von Kälte, so intensiv, daß ihm das Mark in den Knochen zu gefrieren schien, ein Gefühl des Fallens, als stürze er durch unvorstellbare Weiten in eine Finsternis, die undurchdringlich und gleichzeitig von Myriaden durcheinanderwirbelnder Sterne erfüllt zu sein schien. Er bekam keine Luft und glaubte, seine Lungen müßten platzen, und dann atmete er plötzlich wieder, stand auf festem Boden und keuchte auf. Trotz aller Erfahrungen, die er in der letzten Zeit mit Magie gemacht hatte, fiel es ihm schwer, seinen Augen zu trauen. Er stand auf einer mit glatten Steinplatten gepflasterten Straße. Sie wurde von einer Sonne, die nicht mehr dicht vor dem westlichen, sondern ein Stückchen über dem östlichen Horizont stand, in goldenes Licht getaucht. Ein neuer Tag hatte den alten abgelöst. Die Straße war so breit, daß bequem zwei große Wagen nebeneinander hätten vorbeifahren können und trotzdem noch genug Platz für Fußgänger gewesen wäre, aber es gab keine
Fahrspuren, die auf einen solchen Verkehr hindeuteten. Die Platten waren makellos sauber und so genau einge paßt worden, daß nicht einmal ein Haar in den Zwi schenräumen Platz gefunden hätte. Die Straße verlief eben und schnurgerade nach Norden – falls Himmels richtungen hier überhaupt noch eine Bedeutung hatten – und verlor sich in der Ferne im Dunst. Dort funkelte die Luft, als würden die Sonnenstrahlen von feinen Wasser tröpfchen reflektiert. Zu beiden Seiten der Straße er streckten sich Binsenfelder und braune Wasserflächen, die von einem leichten Luftzug bewegt wurden. Das leise Rascheln der Binsen klang wie ein Willkommensgruß. Als Calandryll sich umdrehte, sah er, wie sich Bracht und Katya ehrfürchtig umblickten. Direkt vor ihm erhob sich ein grauer Deich – vielleicht derselbe, den er gerade durchquert hatte –, in den die drei Steinsäulen eingebet tet waren, ein dunkles Tor, das direkt in die Erde führte. Weder die Ältesten noch die Felder der Syfalheen waren zu sehen. »Ich glaube«, sagte er mit vor Verwunderung leiser Stimme, »daß wir auf der Straße nach Tezin-dar stehen.« »Kein Wunder, daß die Stadt eine Legende ist«, flüs terte Katya. Bracht schulterte sein Reisegepäck und nickte. »Dann laßt uns weitergehen.« Sie marschierten los. Zeit und Entfernung schienen hier anderen Gesetzen unterworfen zu sein, denn die Sonne stand immer noch
an derselben Stelle, als ihre Beinmuskeln ihnen verrieten, daß mittlerweile eigentlich schon die Nacht hätte herein gebrochen sein müssen. Der dunstverhangene Horizont war nicht näher gerückt, und als sich Calandryll umdreh te, waren der Deich und die Steinsäulen nicht mehr zu sehen. Sie lagen hinter dem gleichen funkelnden Nebel vorhang verborgen, wie er sich vor ihnen in der Ferne erstreckte. Es war ein unheimliches Gefühl, als wären sie dazu verdammt, für alle Ewigkeit unter einer unbarm herzigen Sonne dahinzuziehen, gefangen auf einer Stra ße, die zwischen den ständig gleichbleibenden Binsenfel dern in einer Endlosschlaufe immer wieder in sich selbst zurückführte. Stille herrschte. Die einzigen Geräusche waren das Ra scheln des Schilfrohrs und das gleichmäßige Trommeln ihrer Stiefel auf dem Straßenpflaster. Es waren keine Insekten oder Vögel, keine Spur von Drachen oder ir gendwelchen anderen Raubtieren zu sehen. Aus den Binsenfeldern stieg kein Geruch auf, kein Wölkchen zog sich über den unveränderlichen Himmel, und mit der Zeit wirkte das Fehlen jeglicher Abwechslung bedrü ckend und niederschmetternd, so daß sie sich, obwohl sie zu dritt waren, einsam und verlassen vorkamen. Und doch, so machte Calandryll sich selbst Mut, lag Tezin-dar unmittelbar vor ihnen. Es mußte einfach so sein, denn sie hatten die Prüfung des Alten bestanden, und die Syfaba hatten sie zu dem Tor geführt. Vielleicht, überlegte er, war dies eine weitere Prüfung, die dazu gedacht war, die Verzagten abzuschrecken, sie in die Flucht zu schlagen
und zu den Felssäulen und dem Übergang in eine ver trautere Welt zurückeilen zu lassen. Er hatte den Gedanken gerade zu Ende gedacht, als – wie zum Beweis für die Richtigkeit seiner Überlegungen – ein Gebäude vor ihnen auftauchte. Calandryll war sich sicher, daß es vor wenigen Au genblicken noch nicht da gewesen war, es sei denn, die Entfernungen in dieser fremdartigen Landschaft waren über jedes Vorstellungsvermögen hinaus verzerrt. Er sah seine Gefährten stirnrunzelnd an. »Ich habe es auch gerade erst gesehen«, beantwortete Bracht seine Frage, »aber jetzt ist es da.« »Hoffentlich bietet es uns eine Gelegenheit, uns auszu ruhen«, sagte Katya. »Dieser endlose Marsch ermüdet mich.« »Vielleicht gibt es da auch einen Stall und drei Pferde für uns«, schmunzelte Bracht. »Ahrd, was würde ich jetzt für ein gutes Pferd geben!« »Vielleicht ist dort der Übergang nach Tezin-dar«, sag te Calandryll. Bracht grinste. »Das werden wir bald genug heraus finden. Wir können ihm gar nicht ausweichen, es sei denn, wir kehren um.« Sie gingen weiter, und je näher sie kamen, desto deut licher wurden die Umrisse des Gebäudes. Es schien ein einziger, kompakter rosafarbener Stein block zu sein, der die Straße wie ein überdimensionales
Wachhaus blockierte. Der Klotz hatte ein Flachdach, eine Tür in der Mitte und Fenster zu beiden Seiten. Die Fens terscheiben bestanden aus einer glasartigen Substanz, die in der Sonne schimmerte und den Blick in das Gebäude versperrte. Die Tür war eine konturlose Metallplatte, silbern und schwarz zugleich. Türangeln waren nicht zu sehen. Es gab keine Klinken, Griffe oder irgend etwas anderes, um sie zu öffnen. Calandryll legte die Hand dagegen und drückte. Die Tür schwang lautlos nach innen und gab den Blick auf einen Raum frei, dessen Ausmaße im Widerspruch zu seinen äußeren Abmessungen standen. Der Boden war mit einem exotischen Mosaik aus blauen und weißen Fliesen ausgelegt, die Wände waren bis auf die Maserung des Marmors schmucklos, die Decke war gewölbt, glatt und blau. Die gegenüberliegende Wand wurde von einer Tür und zwei Fenstern unterbrochen, und zwei weitere Türen zweigten von den Seitenwänden rechts und links ab. Calandryll betrat den Raum, gefolgt von Bracht und Katya. Die Tür schwang hinter ihnen wieder zu und öffnete sich nicht mehr, als Bracht dagegendrückte. »Sieht so aus, als wäre uns der Rückweg versperrt«, murmelte er. »Möchtest du denn jetzt noch umkehren?« fragte Ka tya. »Nein«, erwiderte er, »obwohl es mir lieber wäre, wenn ich wüßte, daß ich es notfalls könnte.«
»Zu spät«, stellte Calandryll fest. Er durchquerte den Raum und spähte durch die Fenster in der gegenüberlie genden Wand. Auf der anderen Seite erblickte er Sumpfland, aller dings nicht mehr die Binsenfelder, sondern düstere Mangroven voller Moos, das von krabbelnden Insekten wimmelte, verflochtene Schlingpflanzen und dazwischen die zuckenden, bleichen Tentakeln der fleischfressenden Bäume. Die Nacht war über den Sumpf hereingebrochen, aber ein Blick zurück zeigte ihm, daß dort, von wo sie hergekommen waren, noch immer die Sonne am Himmel stand. Vor ihm verlief die Straße zwischen Bäumen hin durch, auf beiden Seiten von Wasser umspült, das im Mondlicht glänzte und in dem sich Drachen tummelten. Die Tür zwischen den Fenstern wies einen Ring aus sil bernem Metall an einer Seite auf, und als Calandryll versuchsweise daran drehte, schwang sie mühelos auf. Ein Schwall übelriechender Sumpfluft drang durch den Spalt. Calandryll stieß die Tür wieder zu und wandte sich zu seinen Begleitern um, »Dort draußen herrscht Nacht, und ich denke, die sollten wir lieber hier verbrin gen.« »Nichts lieber als das«, stimmte ihm Bracht zu. »Viel leicht gibt es hier ja sogar Betten.« »Zumindest sind wir hier in Sicherheit«, sagte Katya. Sie trat zu Calandryll an die Fenster. »Das sind die größ ten Drachen, die ich bis jetzt gesehen habe.« »Yssym hat gesagt, die Straße wäre sicher«, meinte Ca
landryll. »Hoffen wir, daß er die Wahrheit gesagt hat.« »Darüber können wir uns morgen den Kopf zerbre chen«, sagte Bracht. »Kommt, mal sehen, was für Wun der wir hier sonst noch entdecken.« Sie blieben zusammen, als sie ihren merkwürdigen Zufluchtsort erforschten. Eine der beiden Seitentüren – sie hatten Klinken – führte in einen Flur, von dem Schlafzimmer abzweigten. Es waren drei Zimmer mit bogenförmigen Türöffnungen, in denen jeweils ein mit frischen Leinen bezogenes Bett stand. Die Zimmer hatten Fenster, und als Calandryll hindurchspähte, sah er eine Hügellandschaft mit Wiesen und Büschen, durch die sich ein mondbeschienener Bach schlängelte. Der Anblick erinnerte ihn an die ländliche Umgebung Seccas, obwohl er wußte, daß es sich dabei um ein Produkt von Magie handeln mußte. Er teilte seine Entdeckung den anderen mit. »Ich sehe die Ebenen von Cuan na'For«, sagte Bracht und stieß dann einen überraschten Ruf aus. »Da! Seht ihr diese Pferde?« »Ich sehe die Hügel von Vanu«, sagte Katya ver träumt. »Ich sehe die schneebedeckten Berggipfel und die herabstürzenden Flüsse.« »Wir sehen genau das, was die Alten uns zeigen wol len«, vermutete Calandryll. »Wir befinden uns an einem magischen Ort, und ich glaube, sie wollen, daß wir uns hier wohlfühlen.« »Ich hoffe, daß es hier auch etwas zu essen gibt«, sagte
Bracht und wandte sich fast widerwillig von den Fens tern ab. »Und vielleicht auch Bäder«, fügte Katya hinzu. »Sol len wir nachsehen?« Sie verließen die Schlafzimmer, durchquerten die Vorhalle und öffneten die zweite Seitentür. Sie führte in ein Badehaus mit einem Becken, in dem heißes Wasser dampfte, und einem zweiten, das mit kaltem Wasser gefüllt war. Seife und Handtücher lagen auf Marmor bänken bereit. Dahinter schloß sich ein fensterloses Eß zimmer an, das von weichem Kerzenlicht erhellt wurde. In der Mitte stand ein runder Tisch mit drei Stühlen. Der Tisch war mit einer Mahlzeit, Wein und drei Kristallkel chen gedeckt. »Drei und drei und drei«, murmelte Bracht. »Aber keine Spur von Dienern oder irgendwelchen anderen Menschen.« »Man hat uns erwartet«, stellte Katya fest. »Schon seit langem«, sagte Calandryll. »Und wir haben Hunger«, schloß Bracht. »Laßt uns es sen.« Sie stellten ihr Gepäck beiseite und schnallten ihre Schwerter ab, behielten sie aber vorsorglich in Reichwei te. Dann setzten sie sich an den Tisch. Bracht goß etwas Wein in einen Kelch, schnupperte mißtrauisch daran und probierte schließlich vorsichtig einen kleinen Schluck. »Scheint in Ordnung zu sein«, erklärte er.
»Hast du geglaubt, er könnte vergiftet sein?« erkun digte sich Calandryll grinsend. »Ich bezweifle, daß dieje nigen, die so etwas erschaffen können, es nötig hätten, zu solchen Mitteln zu greifen.« »Wahrscheinlich nicht«, gab der Söldner zu und be diente sich mit Fleisch und Brot. Beides war warm, als wäre es gerade erst aus dem Ofen gekommen. »Ich denke, das muß so etwas wie eine Raststätte sein und gleichzeitig irgendeine Grenze darstellen«, vermute te Katya. »Auf jeden Fall die Grenze zwischen Tag und Nacht«, sagte Calandryll, »und jeder, der diese Straße beschreitet, muß hier eintreten oder umkehren. Und wie es aussieht, kann man nicht mehr umkehren, sobald man einmal eingetreten ist.« »Wenigstens schicken uns die Erbauer mit vollen Bäuchen weiter«, stellte Bracht fest, »und dafür bin ich ihnen dankbar.« Er hob seinen Kelch zu einem Trink spruch, und die anderen schlossen sich ihm lachend an. »Auf die Alten.« »Auf eine sichere Rückkehr.« »Auf die Zerstörung des Arcanums.« Calandryll hatte den Eindruck, als strahlten die Ker zen in diesem Augenblick etwas heller, als klänge von irgendwoher leises beifälliges Gelächter auf, als würde das Gebäude selbst ihnen Mut für ihre Mission zuspre chen. Vielleicht war es nur eine Täuschung, aber mit Sicherheit verspürte er ein Gefühl des Wohlbefindens,
der Befriedigung, so weit gekommen zu sein, und der Aufregung über den bevorstehenden Höhepunkt ihrer Reise. Zumindest des ersten Teils ihrer Reise, korrigierte er sich in Gedanken, denn noch mußten sie mit dem Arcanum zu Tekkan zurückkehren und dann weiter nach Vanu segeln. Aber das schien jetzt das kleinere Problem zu sein. Den schwierigsten Teil hatten sie hinter sich gebracht, nachdem die legendäre Stadt nun in Reichweite am Ende dieser merkwürdigen Straße lag. Er seufzte zufrieden, aus dem Seufzen wurde ein Gähnen, und er schob den vollen Teller von sich und verkündete, daß er schlafen gehen wollte. »Aye«, sagte Bracht. »Wenn ich auch nicht die gerings te Ahnung habe, wie weit wir heute gelaufen sind, sehne ich mich ebenfalls nach meinem Bett.« Katya nickte zustimmend, und sie kehrten in den Sei tenflügel mit den Schlafzimmern zurück. Calandryll hatte schon befürchtet, daß es zu leichten Spannungen kommen könnte, falls Bracht Katya erneut einen Antrag machte, aber der Kerner wünschte ihr nur höflich eine gute Nacht und verschwand in seinem eigenen Zimmer. Calandryll fragte sich, ob er auf Katyas Gesicht einen Anflug von Enttäuschung entdeckt hatte. Er ging zu seinem Bett, lehnte sich einen Moment lang auf den Fens terrahmen und starrte hinaus. Wieder sah er die vertrau te Landschaft vor sich, und diesmal glaubte er auch, undeutlich die Befestigungsanlagen einer Stadt zu er kennen. Sie wirkten wie die weißen Stadtmauern Seccas, wenn man sie aus der Ferne sah. Erfreut stellte er fest,
daß er keine Trauer oder Sehnsucht nach seiner verlore nen Heimat empfand. Er zog sich aus und schlüpfte dankbar unter die kühlen Laken. Sonnenlicht weckte ihn, und als er aufstand, hatte sich das Panorama hinter dem Fenster nicht verändert (abge sehen davon, daß dort jetzt der Tag angebrochen war und er die Stadtmauern deutlich erkennen konnte. Er schlang sich ein Laken um den Körper und ging ins Ba dehaus, wo Bracht bereits im Becken mit dem heißen Wasser saß und eifrig an sich herumschrubbte. »Ich habe wieder Pferde gesehen«, berichtete der Ker ner, »eine ganze Herde der prächtigsten Tiere.« »Und ich Secca«, erwiderte Calandryll. »Zumindest hat es wie Secca ausgesehen.« »Vermißt du deine Heimat?« »Nein. Und du?« »Ein bißchen, aye«, gestand Bracht. Dann grinste er. »Aber ich muß nur an unsere Mission denken – und an Katya –, und schon bin ich dafür entschädigt.« »Wo ist sie überhaupt?« »Noch im Bett«, sagte Bracht. »Ich habe ihr geraten, noch eine Weile zu schlafen, damit sie ungestört baden kann.« »Du entwickelst allmählich kultivierte Umgangsfor men.« Bracht lachte aus vollem Hals. »Der Einfluß einer Frau«, erklärte er, stieg aus dem Becken und stürzte sich
Hals über Kopf in das kalte Wasser. Calandryll stieg ebenfalls in das Becken, dann trockneten sie sich ab, kehrten in den Seitenflügel mit den Schlafzimmern zu rück, teilten Katya mit, daß sie jetzt ungestört baden könne, und zogen sich an. Erfrischt und ausgeruht begaben sie sich in das Eß zimmer. Die Überreste des Abendessens waren ver schwunden und durch ofenwarmes Brot, eine Schüssel mit Obst, Scheiben kalten Fleisches und drei Tassen Ha ferschleim ersetzt worden. »Meine Abneigung gegen Magie läßt ebenfalls nach«, sagte Bracht lächelnd, »solange sie uns solche Annehm lichkeit beschert.« »Ebenfalls?« erkundigte sich Katya neugierig. »Calandryll hat festgestellt, daß ich mir kultivierte Umgangsformen aneigne«, erklärte Bracht. »Ich habe ihm gesagt, daß das an deinem guten Einfluß liegt.« Katya errötete ein wenig und beschäftigte sich damit, Brot zu schneiden. »Bist du denn früher anders gewe sen?« »O ja«, versicherte der Kerner ernst, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen. »Ganz anders.« »Und ich würde gerne woanders sein«, meinte Ca landryll. »Zum Beispiel wieder auf der Straße nach Tezin-dar.« »Aye«, sagte Bracht lächelnd. »Sobald Katya fertig ist, brechen wir auf.«
Bevor sie ihre seltsame Herberge verließen, trat Ca landryll noch einmal an die Fenster, die in die Richtung gingen, aus der sie gekommen waren. Jetzt herrschte dort Nacht, die Binsenfelder schimmerten silbern unter dem Vollmond, die Straße war ein goldenes Band, das sich in der Dunkelheit verlor. Er kehrte zur zweiten Tür zurück und stieß sie auf. Helles Tageslicht drang herein, die Luft wurde augenblicklich heiß und feucht und trug den Gestank des Sumpfes mit sich. Ein riesiger Drache richte te sich neben der Straße auf, brüllte ihn angriffslustig an, und Calandryll zuckte zurück, die Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt. Bracht war noch im selben Mo ment mit gezogenem Krummschwert neben ihm, Katya hinter ihnen, den Säbel in Abwehrhaltung erhoben. »Ich bezweifle«, übertönte Bracht das Brüllen des Dra chen, »daß Schwerter etwas gegen dieses Vieh ausrichten könnten.« Calandryll verharrte im Schutz der Tür und starrte die Bestie an. Neben ihr wirkten alle anderen Drachen, die er bisher gesehen hatte, wie Zwerge. Sie ragte neben der Straße auf Beinen wie Baumstämmen empor. Ihr roter Panzer, der von schleimigen Streifen überzogen war, glänzte in der Sonne. Die Fänge im weit geöffneten Maul des Drachen erinnerten eher an Schwerter als an Dolche, und sein fauliger Atem schlug ihm wie eine übelkeiterre gende Welle entgegen. Der große Schwanz peitschte das Sumpfwasser wütend zu stinkendem Schaum auf.
»Wir müssen an ihm vorbei«, sagte Katya angespannt, »obwohl ich nicht weiß, wie wir das schaffen sollen.« »Yssym hat behauptet, die Straße wäre sicher.« Ca landryll schob das Schwert in die Scheide zurück und deutete auf den Drachen. »Seht ihr? Er berührt die Straße nicht einmal.« »Das hat er auch gar nicht nötig«, erwiderte Bracht. »Er muß sich nur runterbeugen, um uns alle mit einem einzigen Biß zu verschlingen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Calandryll und trat auf die Straße hinaus. Er hörte Brachts Aufschrei, entwand sich der zupa ckenden Hand des Kerners und näherte sich trotzig dem Ungeheuer. Es starrte ihn aus jadegrünen erbarmungslo sen Augen an und brüllte immer noch. Ein zweiter, nicht minder großer Drache erhob sich aus dem Sumpf, dann ein dritter. Sie säumten seinen Weg mit aufgerissenen Kiefern und bedrohlich glänzenden Fängen. Calandryll spürte die Schritte hinter sich mehr, als daß er sie hörte, und als er einen kurzen Blick zurück über seine Schulter warf, sah er, daß ihm Bracht und Katya mit gezogenen Waffen eilig folgten. »Ich hoffe bei Ahrd, daß du recht hast«, preßte der Kerner zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Calandryll sah, wie sich die Tür, die ihren einzigen Fluchtweg darstellte, von selbst schloß. Auch sie wies, wie die Tür auf der anderen Seite, keinen Öffnungsme chanismus auf.
»Wirst du den Stein benutzen?« fragte Bracht. Calandryll hatte fast schon vergessen, daß der rote Stein immer noch um seinen Hals hing. Er zuckte die Achseln, da er nicht wußte, wie er mit dieser Kraft um gehen konnte, und außerdem glaubte er auch nicht, daß er sie brauchen würde. Yssym hatte gesagt, daß die Stra ße sicher sei, solange sie auf ihr blieben. »Habt Vertrauen«, beschwor er sie. Brachts Antwort wurde vom donnernden Brüllen der Drachen verschluckt. Calandryll ging weiter. Stinkender Atem machte die ohnehin schon übelrie chende Luft unerträglich. Das Brüllen hallte ohrenbetäu bend in Calandrylls Kopf. Er sah, wie die weit aufgeris senen Mäuler auf ihn herabstießen und dann plötzlich verharrten, als zöge sich eine unsichtbare Barriere zwi schen dem Sumpf und dem Straßenrand entlang. Die gewaltigen Kiefer schlugen geräuschvoll aufeinander, die stumpfen Nasen schnaubten, und die riesigen Schwänze peitschten wütend und wirbelten das Sumpfwasser zu großen Wellen auf, aber Calandryll sah, daß sie die Stra ße nicht erreichten, nicht erreichen konnten. Die Pflaster steine blieben trocken. Die Straße näherte sich den Bäu men, deren Kronen den Himmel verbargen, und gegen seinen Willen beschleunigten sich trotz allem seine Schritte. Schließlich begann er zu laufen, wobei er immer wieder nervös zu den Drachen aufblickte, die die Straße säumten und vergeblich versuchten, nach ihm zu schnappen. Und dann war er unter den Bäumen, wohin
die Drachen aufgrund ihrer Größe nicht hätten vordrin gen können, selbst wenn es keine unsichtbare Barriere gegeben hätte. Er blieb stehen und lachte und keuchte gleichzeitig. »Habt Vertrauen«, wiederholte er. »Yssym hat die Wahrheit gesagt.« Bracht und Katya schoben ihre Schwerter in die Schei den zurück. Beide waren blaß geworden. »Man braucht schon Vertrauen, um so etwas zu riskie ren«, stieß der Kerner heiser hervor. Er blickte zurück, wo die Drachen neben der Straße standen und gereizt in ihre Richtung schnappten. Ihr Brüllen klang wie fernes Donnergrollen. »Man muß Vertrauen haben oder wahnsinnig sein. Ahrd! Ein falscher Schritt…« »Ich vermute, diese Straße ist sowohl ein sicherer Weg als auch eine Prüfung«, sagte Calandryll. »Solange wir uns auf ihr befinden, kann uns nichts geschehen, aber wenn wir zulassen, daß die Bestien uns in Panik verset zen … Wie du gesagt hast, ein einziger falscher Schritt…« »Sind es also nur magische Erscheinungen?« fragte Katya. »Oder richtige Lebewesen?« »Mir kommen diese Mäuler echt genug vor«, knurrte Bracht. »Aber wartet, ich werde es überprüfen.« Er kramte in seinem Reisegepäck herum, zog ein Stückchen Trockenfleisch hervor und warf es in den Sumpf. Ein Drache fuhr, von der Bewegung angelockt, herum. Seine Schnauze zuckte vor, und seine Kiefer schlossen sich über dem Brocken.
»Ich würde sagen, sie sind wirklich«, stellte Bracht fest. »Ist dann auch alles andere hier wirklich?« fragte Ka tya und deutete auf die Mangroven, die sich undeutlich in der Ferne abzeichneten. »Durchqueren wir Gessyth? Und wenn ja, könnte man diese Straße nicht auch ohne das Tor finden?« »Diese Drachen haben Substanz und Zähne«, sagte Bracht. »Deshalb halte ich das hier auch für das richtige Gessyth. Was die Straße betrifft, ich weiß es nicht.« »Ich glaube, daß wir tatsächlich Gessyth durchque ren«, sagte Calandryll, »aber auf einem Weg, den man nur durch das Tor erreichen kann. Und das kann man nur mit Hilfe der Syfaba durchschreiten, die es wiederum nur denen zeigen, die die Prüfung des Alten bestanden haben. Ich glaube, daß wir durch eine magische Dimen sion wandern.« »Oder darin herumstehen«, meinte Bracht. »Wie weit, glaubst du, ist es noch bis Tezin-dar?« Calandryll zog die Karte hervor, kniete sich nieder und strich sie auf dem trockenen und ebenen Straßen pflaster glatt, wobei er wieder an das Gelächter der Ältes ten denken mußte. »Ich schätze, das Dorf der Syfalheen befindet sich hier«, sagte er und deutete auf einen Punkt auf dem Pergament. »Ein Tagesmarsch würde uns bis hierher bringen.« Er zeigte auf ein Gebiet, das Orwen als »gar übles Sumpfland, welches beheimatet gräßliche Ungeheuer von allerlei erschröcklicher Gestalt, eines
jeden Menschen furchtbar Pein und Gefahr« bezeichnet hatte. »Tezin-dar liegt hier.« Bracht sah sich die Karte an und knurrte: »Es wird Winter werden, bis wir so weit gelaufen sind.« »Das wäre richtig, wenn wir nicht einem magischen Pfad folgen würden«, erwiderte Calandryll, »der uns wahrscheinlich schneller, als wir glauben, an unser Ziel bringen wird.« »Ich hoffe, du hast recht«, sagte der Kerner. »Das werden wir schon bald herausfinden«, meinte Calandryll und faltete die Karte wieder zusammen. Sie gingen weiter, schritten durch einen Tunnel, der von überhängenden moosbewachsenen Ästen gebildet wurde. Das Licht nahm einen unwirklichen blaugrünen Farbton an, das Wasser, das die Straße auf beiden Seiten umgab, schimmerte schwarz, die Bäume waren riesige graue Säulen. Wie die Drachen waren auch die kleineren Geschöpfe hier ins Riesenhafte vergrößert. Sie sahen Grishas von der Größe einer Hand durch das Moos hu schen, Yennym wie Schlangen, die sich zwischen den spinnenbeinartigen Wurzeln wanden. Große Schwärme von Shivim wühlten die Wasseroberfläche auf, und die Blüten der tödlichen Feshyn hatten die Ausmaße von Tellern. Doch keine dieser Gefahren drang bis auf die Straße selbst vor, und die Gefährten hielten sich in ihrer Mitte und marschierten zügig weiter, bis der Hunger sie zu einer Rast zwang. Sie aßen etwas von den Lebensmitteln, die die Syfal
heen ihnen eingepackt hatten, und ruhten sich eine Weile aus, bevor sie sich erneut auf den Weg machten. Die Straße wurde nach wie vor von den Mangroven gesäumt, die einen Tunnel aus Laub über ihnen bildeten und den Blick auf den Himmel und die Sonne versperrten. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt für die verstreichende Zeit zu haben, konnten sie sich nur an der Müdigkeit ihrer Beine und den schmerzhaften Stichen des Hungers in ihren Bäuchen orientieren. Calandryll hatte gehofft, daß sie auf eine weitere Raststätte stoßen würden, bevor sie die Erschöpfung zu einer Ruhepause zwang, aber es kam kein Gebäude in Sicht, und so mußten sie schließlich ihren schmerzenden Muskeln Tribut zollen und ließen sich in der Mitte der Straße nieder, um zu essen und zu schlafen. Nichts deutete darauf hin, daß die Nacht hereinbre chen wollte. Der blaugrüne Dunst blieb unverändert, ein bedrückendes Zwielicht, das für alle Ewigkeit irgendwo zwischen Tag und Nacht zu hängen schien. Die Luft war vom Summen der riesigen Insekten, dem Plätschern der Raubfische im Wasser und dem fernen Bellen der Dra chen erfüllt. Nur die bleierne Müdigkeit ließ sie trotz des Lärms schließlich doch noch einschlafen, aber sie erwach ten steif und nicht ausgeruhter als zuvor, standen auf und massierten ihre verknoteten Muskeln, bevor sie sich wieder auf den Weg machten. Auch dieses Mal hätten sie nicht genau sagen können, wieviel Zeit verging. Sie marschierten so lange, bis ihre Körper sie zur nächsten Rast zwangen, und zählten die
einzelnen Wach- und Schlafperioden in Ermanglung einer anderen Zeiteinteilung als jeweils einen Tag. Dem nach dauerte es fünf Tage, bis sie das zweite Gebäude erreichten. Wie sein Vorgänger stand es mitten auf der Straße, als wäre es wie ein einziger Steinblock vom Himmel gefal len, und es besaß die gleichen unmöglichen Dimensio nen, war drinnen größer als draußen. Sie betraten es, ohne zu zögern, fanden sich in einem Spiegelbild des ersten wieder und gingen sofort zu den gegenüberlie genden Fenstern, um den weiteren Weg zu inspizieren. Soweit sie sehen konnten, erstreckte sich voraus ein Was serrosenfeld voller Drachen. Die Straße war ein zerbrech lich aussehendes Band aus Stein, das immer noch schnurgerade durch das Wasser führte und von einer Sonne, die dicht vor dem westlichen Horizont stand, in rotgoldenes Licht getaucht wurde. »Wieviel Zeit ist vergangen?« überlegte Calandryll laut. »Als wir die Straße betreten haben, war die Sonne gerade aufgegangen, und jetzt steht sie kurz vor dem Untergang. Ein Tag? Wirklich nicht mehr?« »Meine Beine behaupten, daß mehr Zeit vergangen ist«, murrte Bracht. »Wie du selbst gesagt hast, durchqueren wir eine ma gische Dimension«, erinnerte ihn Katya. »Allerdings ist der Schmutz an meinem Körper alles andere als magisch. Ihr findet mich im Badehaus.« Sie überließ es ihnen, das Gebäude zu erforschen, das
sich als Ebenbild des ersten erwies, und nachdem sich auch die beiden Männer den Schweiß und Dreck der Reise vom Körper gewaschen hatten, aßen sie und tran ken den guten Wein, bevor sie sich dankbar in ihre wei chen Betten zurückzogen. Als sie erwachten, fanden sie ihre Kleidung auf wun derbare Weise frisch und sauber und den Tisch erneut gedeckt vor. Sie frühstückten, füllten ihre Feldflaschen auf und machten sich auf den Weg durch das riesige Seerosenfeld. Ohne den Drachen, die überall um sie herum brüllten, die geringste Beachtung zu schenken, legten sie ein zügiges Tempo vor. Die Sonne stand tief zu ihrer Linken, und sie fragten sich, ob ihr bevorstehender Untergang das Ende ihrer Reise oder nur das Ende des magischen Tages ankündigte. Die Aussicht auf eine der art lange Nacht hatte etwas Furchteinflößendes. Aber jetzt schien die Zeit oder die Entfernung – oder auch beides – zu schrumpfen, denn sie hatten das Gefühl, höchstens einen Tag lang marschiert zu sein (auch wenn sich die Sonne nicht bewegt hatte), als sie den dritten markanten Punkt ihres Weges erreichten. Diesmal war es keine Raststätte, sondern ein Dolmen aus schwarzem Stein. Zwei massive Säulen, über denen ein großer Querbalken lag, wuchsen aus dem Straßenbe lag empor. Der Raum zwischen ihnen war kaum breit genug, um sie gleichzeitig hindurchtreten zu lassen. Hinter dem Portal herrschte eine Dunkelheit, die so voll kommen war, daß sie greifbar wirkte. Sie blieben vorsich tig stehen.
Calandryll ging ein paar Schritte zurück, um an dem Monument vorbeizuspähen, konnte jedoch keinen Weg entdecken, der um das Hindernis herumführte. Auch die Straße schien dort zu enden, denn hinter dem Dolmen setzte sich nur die von Drachen bevölkerte Seerosenwie se fort. »Es gibt keinen anderen Weg«, sagte er, während er die großen schwarzen Säulen zweifelnd betrachtete. »Das muß ein zweites Tor sein.« »Die Ältesten haben uns durch das erste gesungen«, stellte Bracht fest. »Können wir dieses denn ohne ihre Hilfe unbeschadet durchschreiten?« »Wir müssen«, sagte Katya, »oder aber wir kehren um.« Ein gequälter Ausdruck erschien auf Brachts Gesicht. Er schüttelte heftig den Kopf. »Ahrd, nein! Nicht mehr marschieren, ich flehe dich an!« Katya lachte. »Dann also weiter. Nach Tezin-dar, wie ich hoffe.« »Aye«, stimmte ihr Calandryll zu. »Auf nach Tezin dar, wo das Arcanum wartet.« Er schob sich an Katyas rechte Seite. Bracht stand be reits links neben ihr. Und dann traten sie gemeinsam in die Leere zwischen den Felssäulen. Dunkelheit, so kalt, daß sie wie mit Eismessern ins Fleisch schnitt. Kälte, so dunkel, daß sie den Atem lähm
te. Das Gefühl zu fallen, wie ein zerbrechliches Geschoß durch die Ewigkeit geschleudert zu werden. Um auf dem harten Stein der Wirklichkeit aufzuschlagen? Oder doch eine weichere Landung? Auf Gras? Aye, duftendes Gras und kleine Blumen mit zarten, weißen, von purpurroten Äderchen durchzogenen Blü tenblätter wurden unter Stiefeln zerquetscht, um die sich eine schimmernde Reif Schicht gebildet hatte. Das Eis schmolz bereits wieder unter der Wärme einer Sonne, die in einem strahlend azurblauen Himmel stand, durch den sich weiße Wolkenstreifen zogen. Die Luft war von Vo gelgezwitscher, dem trägen Summen pollenbeladener Bienen und dem Zirpen von Grillen erfüllt. Calandryll blickte sich mit offenem Mund um, sprachlos vor Ver wunderung. War das wirklich noch Gessyth? Nein, die ser seltsame Ort war alles andere als das stinkende, sumpferfüllte Gessyth! Er erhob sich aus dem Gras und sah, daß sich seine Gefährten genauso staunend wie er auf der Wiese, auf der sie gelandet waren, umblickten. Hinter ihnen ragte der Dolmen empor, ein düsteres Monument inmitten des grünen, von unzähligen kleinen Blumen gesprenkelten Rasens. Calandrylls Kopf schwang herum, und er blin zelte, als eine Vision wie flüchtige Traumfragmente vor seinen Augen aufflackerte. Er erblickte die Türme einer großen Stadt, stolz und hoch, ohne Stadtmauern, ein Bild des Friedens – und dann zerfallene Ruinen, eingestürzte
Türme, zerstörte Gebäude, deren Trümmer sich auf brei te Alleen ergossen, die von schönen lachenden Menschen bevölkert wurden – und dann wieder leer waren, die Steine bloße Grabmäler einer untergegangenen Pracht. Calandryll seufzte, schüttelte den Kopf, und die Vision begann zu wabern, schimmerte wie Wasser in der Sonne, über das, durch einen Luftzug oder einen Stein verur sacht, Wellen laufen. Sie verblaßte wie Nebel, der sich in der Sonne auflöst, war verschwunden, und an ihrer Stelle bot sich ein anderes Bild, nicht so einladend, aber sehr viel wirklicher. Jenseits der Wiese erhoben sich die Rui nen von Tezin-dar. Es muß ganz einfach Tezin-dar sein, sagte sich Ca landryll und seufzte von neuem, denn dieser Ort war uralt und zerstört, und nichts deutete darauf hin, daß hier Alte, Menschen, Syfalheen oder irgendwer sonst lebte. Aber während er schweigend auf die zerfallenen Hallen und die eingestürzten Türme starrte, überlegte er, daß die Straße sie wohl nicht umsonst hierhergeführt hatte. Der Alte aus dem Dorf der Syfalheen hatte sie hierhergeschickt und die Syfaba hatten sie auf die lange Straße gebracht, die an diesem Ort endete, und deshalb konnte dies nur Tezin-dar sein, und das Arcanum mußte irgendwo in diesem Durcheinander aus Geröll und Trümmern liegen. »Ich habe einen Moment lang geglaubt, ich hätte…«, hörte er Katya flüstern, »ich dachte, ich hätte gesehen…« »Wie es früher aussah?« fragte Calandryll genauso lei
se. »Wie die Stadt früher einmal gewesen ist?« Sie nickte sprachlos. »Yssym hat behauptet, die Alten würden immer noch hier wohnen«, sagte Bracht, »aber das sind nur noch Ruinen … auch wenn ich einen Augenblick lang Leute durch die Straßen laufen gesehen habe.« »Nichts als Steine«, hauchte Katya traurig. »Ich glaube, wir haben eine Erinnerung gesehen«, sag te Calandryll. »Das Tezin-dar, wie es gewesen ist, bevor die Götter Krieg gegeneinander geführt haben.« »Und die Alten?« fragte Bracht. »Die uns zu dem Ar canum führen sollen, wo sind sie?« »Yssym hat gesagt, es wäre den Syfalheen verboten, die Stadt zu betreten«, murmelte Calandryll, »und nie mand hätte die Alten gesehen.« »Müssen wir dann dies alles hier durchsuchen?« Bracht deutete auf das Trümmerfeld der toten Stadt. »Ahrd, wir könnten unser gesamtes Leben damit zubrin gen!« »Varent hat gesagt, der Stein würde mir den Weg wei sen«, gab Calandryll zu bedenken und berührte den Anhänger auf seiner Brust. »Er würde mich zum Arca num führen.« »Varent hat auch gesagt, die Mauern würden noch stehen«, erwiderte Bracht. »Und er hat geglaubt, Orwens Karte würde uns hierher führen. Er hat sich geirrt.« »Das Buch muß hier sein«, sagte Katya, »und wir müs
sen es finden.« »In diesem ganzen Durcheinander?« Bracht deutete erneut auf die zerfallene Stadt. »Wenn Varent sich in bezug auf den Stein getäuscht hat, ist diese Suche für uns aussichtslos.« Katyas Augen wurden dunkel wie der Himmel vor ei nem hereinbrechenden Sturm. Sie ballte die Fäuste, und sofort hob der Kerner beschwichtigend die Hände und lächelte ihr entschuldigend zu. »Ich habe nicht gedacht, daß ich Varent noch einmal würde vertrauen müssen, aber uns bleibt wohl nichts anderes übrig. Hol deinen magischen Stein heraus, Ca landryll, und laßt uns anfangen.« Calandryll nickte und zog den roten Stein unter sei nem Hemd hervor. Der Anhänger baumelte leblos vor seiner Brust. Weder glühte magisches Feuer in seinem Inneren, noch lag Mandelduft in der Luft, der auf Zaube rei hindeutete. »Wahrscheinlich müssen wir näher herankommen«, sagte er vorsichtig. »Dann kommt«, erwiderte Bracht und marschierte auf die Ruinen zu. Sie fanden eine kaum noch zu erkennende grasbe wachsene Allee, die durch einen zusammengestürzten Torbogen führte. Dahinter schlossen sich die angeseng ten Überreste von Gebäuden an. Alle waren nach innen gefallen, als wären die Wände von Katapultgeschossen oder Blitzen getroffen worden. Der Stein war durch un
vorstellbare Kräfte geschmolzen und zu glänzenden Lachen und Strömen erstarrt. Sie umgingen eine Barriere scharfkantiger Blöcke, kletterten über eine andere und kamen auf einem offenen Platz heraus, auf dem einmal ein Springbrunnen gestanden hatte. Die Ränder des Be ckens wiesen große Lücken auf, das Becken selbst war mit fauligem Wasser gefüllt, auf dem ein Algenteppich trieb. Wandreste ragten wie zerbrochene Zähne in chao tischem Durcheinander in den wolkigen Himmel. Die Straßen zwischen den Gebäuden waren mit Löchern und Schutthaufen übersät, in denen sich Gras, Unkraut und ein paar Blumen angesiedelt hatten. Calandryll, Bracht und Katya wanderten ziellos um her. Es war nicht mehr möglich, in diesen Ruinen ein logisches Muster zu entdecken, nach dem man eine planvolle Suche hätte beginnen können, denn ganze Straßenzüge waren verschüttet, und immer wieder zogen sich tiefe Spalten durch die Alleen, die zu breit waren, um sie zu überspringen. Sie stiegen über Wände, über querten Höfe und fanden Pfade durch Gebäude, in denen die verkohlten Überreste von Möbeln herumlagen und geschmolzenes Metall glänzte. Zu ihrem Erstaunen – und zu ihrer Erleichterung – entdeckten sie unter dem ganzen Durcheinander keinerlei menschliche Knochen. Die Son ne, die zu Beginn ihrer Suche noch nicht lange aufgegan gen gewesen war, wanderte über den Himmel, sank dem westlichen Horizont entgegen und warf lange unregel mäßige Schatten über die Straßen, in denen sich tücki sche Löcher und Spalten oder eingestürzte Keller verbar
gen. Als die Gefahr immer größer wurde, sich irgendwo die Knochen zu brechen, beschlossen die Gefährten wi derwillig, ihre Suche für heute abzubrechen und statt dessen eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Ein Türbogen und die Überreste der angrenzenden Wände versprachen ein wenig Schutz, und sie entzünde ten ein Feuer, dessen Wärme sie kaum aufmuntern konn te. Ihre Hoffnung schwand, und sie kauerten trübselig vor den Flammen und kauten auf dem Trockenfleisch herum, das die Syfalheen ihnen mitgegeben hatten. Der Mond war aufgegangen und übergoß die tote Stadt mit unheimlichem Silberlicht. Wind kam auf und strich seuf zend durch die Ruinen, ein Klagelied für das unterge gangene Tezin-dar. Plötzlich sprang Bracht auf. Die Klinge seines Krumm schwertes glitzerte im Feuerschein. Ein unerwartetes Geräusch hatte ihn aus seiner Versunkenheit gerissen. Katya und Calandryll erhoben sich ebenfalls, die Waf fen in den Händen, zogen sich instinktiv aus dem verrä terischen Lichtkreis der Flammen zurück und spähten in die Dunkelheit, als das Geräusch langsamer Schritte über das Flüstern des Windes an ihre Ohren drang. »Weiter zurück«, forderte sie Bracht leise auf, »wo wir unsere Schwerter unbehindert benutzen können.« Sie schlichen wachsam in die Mitte des ehemaligen Saales und bauten sich Rücken an Rücken auf, die Schwerter erhoben, um abzuwehren, was auch immer sich ihnen näherte. Das Feuer flackerte im Wind und ließ
Schatten über die eingestürzten Wände tanzen. Eine Wolke schob sich vor den Mond, und Dunkelheit senkte sich herab. Calandryll spürte ein Prickeln auf seiner Brust, sah den roten Stein pulsieren und schob ihn unter sein Hemd zurück, damit das Leuchten sie nicht verriet. Die Schritte kamen näher, verharrten, klangen von neuem auf, und dann tauchte eine Gestalt unter dem Torbogen auf und blieb dort stehen. Augen, von unzähligen Jahren blaß geworden, mus terten die drei Gefährten. Das Feuer ließ Schatten über ein eingefallenes Gesicht zucken, über trockene Lippen, die das Alter zu einem ständigen Lächeln von gelben Zähne zurückgezogen hatte, über hohle Wangen und eine pergamentartige dünne Haut, die sich über scharf hervortretende Knochen spannte. Weißes Haar fiel schlaff über schmale Schultern auf eine blaue Robe. Aus den Ärmeln ragten skelettartige, von Altersflecken über säte Hände hervor, von denen sich eine hob und hinter sich winkte. Zwei weitere Gestalten schlurften langsam in den zer störten Saal hinein, die eine in Blau, die andere in Weiß gekleidet, und beide so alt, daß sie schon wieder gerade zu alterslos aussahen. Sie stellten sich in einer Reihe vor den drei Fremden auf. Calandryll ließ sein Schwert sin ken, als die mittlere der Gestalten sprach. »Steckt eure Schwerter ein. Dieser Ort hat schon genug Blutvergießen erlebt.«
Die Stimme klang staubig vor Alter, raschelnd und dünn, traurig wie der Wind, der klagend durch die Stadt strich. »Die Alten«, sagte Bracht leise. »Yssym hat die Wahr heit gesagt.« »So nennen uns die Syfalheen also«, stellte die Gestalt fest, ein Mann, wie Calandryll jetzt erkannte, und als die Wolke den Mond wieder freigab, konnte er die drei ge nauer voneinander unterscheiden. Die blaugekleideten Gestalten waren Männer, die weißgekleidete eine Frau. »Und sie haben die Wahrheit gesagt. Dieser Yssym, war er der derzeitige Beobachter?« »Aye«, bestätigte Calandryll. Im Vergleich zum Flüs tern des anderen klang seine Stimme unverhältnismäßig laut. »Er hat uns in sein Dorf gebracht, wo wir uns auf Geheiß der Ältesten – der Syfaba – von einem der Euren einer Prüfung unterziehen lassen mußten.« »Sennethym.« Der totenkopfartige Schädel nickte bes tätigend. »Er hatte die schwerste Aufgabe von uns. Er mußte ganz allein warten.« »Hat er euch zu der Straße geschickt?« erkundigte sich die Frau. »Wie hätten sie denn sonst hierherkommen sollen?« fragte der zweite Mann. »Vielleicht durch Zauberei«, sagte sie. »Wir haben so lange gewartet. Woher sollen wir wissen, welche Zau berkünste es jetzt in der Welt dort draußen gibt?« »Keine, mit denen man die Straße finden könnte«, er
widerte der Mann. »Darauf würde ich wetten. Wenn ein solches Wissen existierte, wären vor diesen drei schon andere hier erschienen.« Der Mann in der Mitte hob eine Hand und brachte sie zum Schweigen. »Ihr seid also über die Straße gekom men?« fragte er. »Ja«, sagte Calandryll. »Nachdem … Sennethym … uns fortgeschickt hat, haben uns die Ältesten der Syfal heen zu einem Dolmen geführt, durch den wir auf die Straße gelangt sind. Auf dem Weg haben wir zwei Rast stätten passiert und dann einen zweiten Dolmen erreicht, der uns hierhergebracht hat.« »Siehst du?« fragte der zweite Mann die Frau. »Wenn es dort draußen immer noch Zauberei gibt, dann ist sie von einer jüngeren Art als die unsere und nicht in der Lage, die Straße aufzuspüren. Außerdem könnte man damit nicht unversehrt die Tore durchqueren. Sen nethym hat sie geprüft und keine Falschheit in ihnen gefunden.« »Tereus, Ayliss, wollt ihr euch darüber unterhalten, wie sie hierhergekommen sind, oder ihre Eignung beur teilen?« Die beiden anderen verstummten. Der erste Mann be rührte seine Brust und sagte: »Ich bin Denarus, meine Gefährten sind Tereus und Ayliss. Wer seid ihr?« »Ich bin Calandryll den Karynth und stamme aus Sec ca in Lysse.« »Ich bin Katya aus Vanu.«
»Bracht vom Clan der Asyther aus Cuan na'For.« »Es ist viel Zeit vergangen«, stellte Ayliss fest. »Ihr Götter, wieviel Zeit!« »Lysse, Cuan na'For … beides war noch Wildnis, be vor diese Stadt zerstört wurde.« Denarus' Stimme klang merkwürdig bedauernd. »Das Reich kleiner behaarter Wesen, mehr Tiere als Menschen. Wie Ayliss gesagt hat, seither ist viel Zeit vergangen.« »Aber Vanu«, sagte Tereus, »von Vanu wissen wir nichts.« »Es liegt hoch im Norden«, erklärte Katya, »hinter den Bergen des Borrhun-maj.« »Hat Janax also doch Erfolg gehabt?« überlegte Tereus laut. »Ihr Götter, hat er tatsächlich sein gelobtes Land gefunden?« »Sie hat das Aussehen des Volkes«, sagte Ayliss. »Was meinst du, Denarus?« »Aye.« Der bleiche Kopf nickte langsam. »Sie sieht aus, als wäre sie von diesem Blut. Woher stammt dein Volk, Katya aus Vanu?« »Einige sagen, von Wanderern, die ein Land gesucht haben, in dem es keinen Krieg gibt«, erwiderte sie. »An dere behaupten, wir seien das Erste Volk und alle ande ren Menschen auf der Welt unsere Nachkommen. Was auch immer zutreffen mag, unser Ursprung liegt weit in der Vergangenheit, und mit Sicherheit weiß ich nur, daß Vanu mein Heimatland ist.«
»Ich glaube, daß Janax sein Ziel erreicht hat«, sagte Denarus, »und das freut mich. Aber jetzt erzählt uns – jeder für sich selbst –, warum ihr hierhergekommen seid.« Calandryll warf Katya einen Blick zu, aber sie forderte ihn mit einer Geste auf, den Anfang zu machen, und auch Bracht nickte ihm zu. Also erzählte Calandryll den Alten seine Geschichte: wie er Varent-Rhythamun ken nengelernt hatte und der Zauberer ihn auf diese Mission geschickt hatte, von seiner Begegnung mit Bracht und all ihren Abenteuern, bevor und nachdem sie sich mit Katya zusammengetan hatten. »Jüngere Magie«, stellte Tereus fest, nachdem Ca landryll geendet hatte, »aber immer noch mächtig. Und gerissen trotz ihres Irrsinns.« »Ob dieser Varent-Rhythamun wohl die Straße finden könnte?« überlegte Ayliss. »Das glaube ich nicht«, sagte Denarus. »Warum hätte er dann diese drei schicken sollen? Wenn er es könnte, wäre er bestimmt selbst gekommen.« »Wir müssen uns noch die Gründe der Frau anhören«, sagte Ayliss. »Sprich du jetzt, Katya aus Vanu, und er zähl uns, warum du eine derart weite Reise unter nimmst.« »Die Heiligen Männer von Vanu haben geweissagt«, berichtete sie, »daß Rhythamun, von dem sie schon seit Generationen wissen, versuchen würde, Tharn mit Hilfe des Arcanums wiederauferstehen zu lassen. Die dafür
erforderlichen Zaubersprüche kennt er bereits, aber ohne das Buch, das ihm zeigt, wie er sie anwenden muß, nüt zen sie ihm nichts. Die Heiligen Männer haben ebenfalls geweissagt, daß er Leichtgläubige aussenden würde«, dabei warf sie Calandryll und Bracht einen kurzen Blick zu und ließ ein entschuldigendes Lächeln aufblitzen, »und sie haben mich geschickt, um sie zu finden und von ihrer Aufgabe abzubringen oder sie zu töten, sollte das erforderlich werden. Der Talisman, den sie mir gegeben haben, hat mir den Weg zu ihnen gewiesen. Er ist auf eine Weise, die ich nicht verstehe, mit dem verbunden, den Rhythamun Calandryll gegeben hat. So habe ich die beiden gefunden und dazu überreden können, sich mit mir zu verbünden.« »Warum wurdest du ausgewählt?« wollte Tereus wis sen. »Bei Calandryll aus Lysse und Bracht aus Cuan na'For verstehe ich, warum dieser Zauberer sich für sie entschieden hat. Aber aus welchem Grund hat man ge rade dich geschickt?« »Mein Volk ist … größtenteils friedlich«, erklärte Ka tya beinahe zögernd, als mache sie dieses Geständnis etwas verlegen, »und ich gelte dort als merkwürdig, weil ich … weniger friedfertig bin. Nur wenige meiner Lands leute würden Vanu gerne verlassen, während ich immer schon neugierig auf den Rest der Welt gewesen bin. Und ich möchte Rhythamun nicht triumphieren sehen.« »Das möchte, von Verrückten einmal abgesehen, nie mand erleben«, sagte Denarus.
»In ihr fließt wahrhaftig das Blut«, behauptete Ayliss. »Das ist der Grund, warum sie ausgewählt wurde.« »Das Blut?« fragte Katya mit gerunzelter Stirn. »In der Morgendämmerung der Welt waren wir aus Gessytha die einzigen wahren Menschen«, erklärte Dena rus. »Während überall um uns herum die Welt wuchs und von jüngeren Völkern besiedelt wurde, blieben wir hier in unserem eigenen Land, das uns Balatur geschenkt hatte. Als Tharn und Balatur zu kämpfen begannen, richtete Tharn seine furchtbare Macht auch gegen unsere Städte und machte sie zu dem, was ihr jetzt vor euch seht. Aber bevor Tezin-dar in Schutt und Asche fiel, machte einer der unseren, Janax, den Vorschlag zu flie hen. Er war der Klügste von uns, denn er sah, was gewe sen war und noch kommen würde, und er traf Vorkeh rungen, um solchen Menschen wie Rhythamun zuvorzu kommen. Er versammelte alle um sich herum, die seine Hoff nungen teilten – und das waren wenige, denn wir waren dumm in unserem Stolz und wollten nicht glauben, daß ein so schönes Land wie das unsere verwüstet werden könnte –, und ging fort, um ein Land zu suchen, das frei von Göttern und nicht ihren Gelüsten unterworfen war. Ich glaube, dieses Land ist dein Vanu, und in deinen Adern fließt das Blut von Janax. Deshalb konnten die Heiligen Männer diese Mission vorhersehen, und des halb bist du ausgewählt worden.« Calandrylls Blick wanderte von den pergamentartigen
Gesichtern der Alten zurück zu Katya. Viele Fragen hat ten ihre Erklärung gefunden, aber eines machte ihm immer noch zu schaffen. »Das Arcanum«, sagte er, »wieso wurde es überhaupt erschaffen? Ihr habt den Götterkrieg erlebt und gesehen, wie Eure Städte zerstört wurden, und doch habt Ihr das Buch erschaffen. Habt Ihr – hat Janax – denn nicht vor hergesehen, daß Menschen von Rhythamuns Schlag eines Tages danach suchen würden?« Die Alten blickten einander an, und Calandryll glaub te fast, Schuldbewußtsein oder sogar Verzweiflung in ihren Gesichtern zu entdecken. Es war schwer zu sagen, sie waren so alt, und die Haut spannte sich so straff über den Knochen, daß ihren Gesichtern keine Gefühlsregun gen mehr anzusehen war. »Wir haben es nicht erschaffen«, sagte Denarus, »und sein Ursprung ist etwas, das selbst wir – so lange wir auch darüber nachgedacht haben – nicht richtig verste hen können. Es war auf einmal da. Vielleicht haben es die Ersten Götter zum Andenken an ihre Kinder gemacht, vielleicht hat es Tharn selbst erschaffen, um Vorsorge für eine mögliche Niederlage zu treffen. Wir wissen ledig lich, daß es jetzt existiert, und wir hüten es.« »Janax war schon fort, bevor es erschien«, nahm Te reus den Faden auf, »aber er hat es vorhergesehen und uns davor gewarnt. Wir haben weder gewußt, ob er noch lebte, noch wohin er gegangen war. Vielleicht hätte er ein Mittel gefunden, um es zu zerstören. Wir konnten es
nicht, wie sehr wir es auch versuchten. Alles, was wir tun konnten, war, es mit Schutzzaubern zu umgeben. So kann es diesen Ort weder verlassen, noch kann es an ihm aufgespürt werden, bevor wir nicht selbst diese Schutz zauber wieder entfernen.« »Aber Janax hat Vorbereitungen für den Fall getroffen, daß das Arcanum erscheint«, sagte Ayliss, »und das muß die Grundlage sein, auf der die Weisen von Vanu ihre Weissagung getätigt haben.« »Aye«, bestätigte Denarus. »Nachdem es erst einmal erschienen war, stellte es eine endlose Gefahr dar, denn alle unsere Bemühungen, es zu zerstören, sind fruchtlos geblieben.« »Und doch wollt Ihr es uns anvertrauen«, sagte Ca landryll. »Und Ihr verlaßt Euch darauf, daß es in Vanu zerstört werden kann.« »Die Heiligen Männer sind zuversichtlich, das voll bringen zu können«, versicherte Katya. »Und euer Erscheinen spricht dafür, daß sie recht ha ben«, sagte Denarus. »Aber wir unterhalten uns hier über Dinge, die über das Verständnis eines Menschen hinaus gehen, und das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß das Arcanum zerstört werden muß, denn selbst wir altern, und unsere Magie wird schwächer. Wir sind müde geworden und sehnen uns nach Ruhe. Ich glaube, daß Rhythamun deshalb versucht, uns dazu zu bringen, unsere Aufgabe zu vernachlässigen, weil er weiß, daß wir dieser Last überdrüssig sind. Mit der Zeit muß selbst
die Wirksamkeit unsere Zaubersprüche nachlassen.« »Warum wartet Rhythamun dann nicht einfach bis dahin ab und holt sich das Buch selbst?« meldete sich Bracht zum ersten Mal zu Wort. »Vielleicht befürchtet er, ein anderer könne ihm zu vorkommen«, sagte Denarus. »Zum Beispiel dieser A nomius, von dem ihr erzählt habt. Oder er fürchtet, daß ehrlichere Menschen als er, Menschen wie die in Vanu, von der Gefahr erfahren könnten. Leute seines Schlages sind schon immer gierig gewesen und haben stets ver sucht, sich mit Gewalt zu holen, was ihnen mit der Zeit von selbst in die Hände gefallen wäre.« »Wir haben gespürt, daß etwas in Bewegung geraten ist«, fuhr Tereus fort, als Denarus schwieg. »Wir haben gefühlt, daß sich das Muster verändert hat und verschie dene Kräfte darauf einwirken. Deshalb haben wir uns bemüht, euch hierherzubringen.« »Warum Katya kommen mußte, verstehe ich«, sagte Calandryll, »aber wieso wurden Bracht und ich auser wählt?« »Weil ihr für diese Aufgabe geeignet seid. Besser kann ich das auch nicht erklären«, bekannte Denarus. »Die Wege der Götter sind geheimnisvoll, und allein daß ihr hier erschienen seid, ist Beweis genug, daß ihr die Richti gen seid.« »Ihr müßt das Arcanum mit euch nehmen«, sagte Ay liss, »und uns den langersehnten Frieden bringen.« »Sonst würde der Tod selbst uns irgendwann besie
gen«, fügte Tereus hinzu, »und der Weg stünde Men schen mit weniger ehrenhaften Motiven offen. Unsere Zeit ist gekommen, und wir möchten diese Bürde nicht mehr tragen.« »Kommt«, beendete Denarus die Diskussion. »Wir werden euch zu dem Buch führen, und ihr werdet es aus Tezin-dar herausbringen. Kehrt über die Straße zu den Syfalheen zurück. Sie werden euch zu eurem Schiff zu rückbringen. Aber ihr müßt euch beeilen, denn die Straße wird schon bald nach unserem Ende verschwinden.« Calandryll runzelte verständnislos die Stirn. »Unsere Existenz ist an die Zaubersprüche gebunden, die das Buch schützen«, erklärte Tereus. »Wenn wir sie auflösen, werden wir unsere Ruhe finden. Dann wird die Straße und alles, was wir erschaffen haben, vergehen.« »Endlich«, murmelte Ayliss. »Oh, wie ich mich danach sehne!« »Also kommt«, sagte Denarus. »Wir könnten endlos über diese Dinge sprechen und würden doch nie eine Antwort finden. Bringt das Arcanum fort von hier und führt es seiner Zerstörung zu.« Er drehte sich um und ging zusammen mit Tereus und Ayliss durch den Torbogen in die Nacht hinaus. Sie durchquerten die Stadt auf einem verschlungenen Weg, vorbei an umgestürzten Wänden, eingefallenen Hallen, zerschmetterten Türmen, klaffenden Spalten und zer borstenen Wasserkanälen, bis sie schließlich eine dunkle
Nische mit einer glatten Metalltür erreichten, die Spuren großer Hitze aufwies. Die Alten blieben davor stehen, legten der Reihe nach eine Hand auf die Metalloberfläche und murmelten in einer längst vergessenen Sprache vor sich hin. Die Tür öffnete sich, und sie stiegen eine Treppe in die finsteren Tiefen der Stadt hinab. Die Stufen ende ten vor einer zweiten Tür. Sie bestand aus schwarzem Metall, in das tiefe Runenzeichen eingraviert waren, die in fahlem Licht glühten. Denarus, Tereus und Ayliss sprachen erneut, und die Tür schwang nach innen auf. Eine weitere Treppe schloß sich an. Sie war steiler als die erste, wurde aber von einem kalten weißen Licht erhellt, das aus Fackelhaltern an den Wänden kam, in denen kein Feuer brannte. Calandryll, der direkt hinter den Alten herging, konnte die Altersflecken auf ihren Hinterköpfen unter dem silbergrauen Haar erkennen. Die Adern unter der pergamentartigen Haut verrieten ihren langsamen Pulsschlag. Sie kamen in einer Kammer heraus, deren Wände voll ständig mit Runenzeichen übersät waren, die in dem fremdartigen Licht wie aus schwarzem Blut gemalt aus sahen. In der Mitte stand ein Silberpodest. Flammen loderten um es herum auf und verbargen die Sicht auf das, was auf ihm lag. Auf ein Zeichen Denarus' blieben Calandryll, Bracht und Katya stehen. Die Alten schlurften am Feuer vorbei und nahmen dort Aufstellung. Ihre Gesichter hatten sie den drei Gefährten zugewandt.
Calandryll fühlte sich von großer Aufregung und tie fer Ehrfurcht ergriffen, denn die Macht, die von den Flammen ausging, war beinahe greifbar und schien seine Knochen vibrieren zu lassen und in seinen Adern zu kribbeln. »Seid ihr wirklich bereit zu schwören, das Arcanum nach Vanu zu bringen, auf daß es dort zerstört werde?« fragte Denarus. »Aye, das sind wir«, antworteten die drei wie aus ei nem Mund. »Auch wenn ihr wißt, daß ihr verflucht sein werdet, wenn ihr dieses Vertrauen mißbraucht?« fragte Ayliss. »Aye.« »Auch wenn ihr wißt, daß eure Seelen verdammt sein werden, solltet ihr scheitern?« fragte Tereus. »Aye, auch dann.« Darauf sagten die Alten im Chor: »Dann bringt das Arcanum von hier fort, auf daß es für immer verschollen bleibe.« Denarus trat einen Schritt vor und streckte die Hände in die Flammen. Ayliss und Tereus gesellten sich zu ihm. Gemeinsam intonierten sie Sätze in der gleichen fremdar tigen Sprache, mit der sie die Türen geöffnet hatten. Die Flammen fauchten und schossen blendend hell bis zur Decke der Kammer empor. Calandryll zuckte zurück, hob einen Arm vor sein Gesicht, als ihn die Hitze an sprang, und als sie wieder nachließ, hörte er Bracht keu chen und Katya scharf einatmen.
Die Flammen waren verschwunden und mit ihnen die Alten. Wo sie gestanden hatten, rieselte feiner Staub langsam herab und überzog den glatten und makellos sauberen Boden mit einer dünnen Schicht. Auf dem Po dest lag ein dünnes Buch mit einem schwarzen Einband wie aus uraltem Leder, auf dem nur ein einziges Wort in roter Schrift geschrieben stand: Arcanum. Es war ein kleiner, unbedeutend aussehender Gegenstand, von dem allerdings eine Macht ausstrahlte, die wie eine eiskalte Glocke in dieser heißen Kammer hing. Calandryll trat darauf zu. Auf einmal widerstrebte es ihm, das Relikt aus grauer Vorzeit zu berühren. Und dann schrie er auf, als ihm ein heißer Schmerz die Brust zu versengen drohte. Er zerrte an seinem Hemd herum und sah helles Feuer in dem roten Stein pulsieren, wäh rend Mandelgeruch die Luft erfüllte. »Ahrd!« hörte er Bracht rufen. »Was ist das?« Das Krummschwert des Kerners sprang aus seiner Scheide, Katyas Säbel blitzte auf. Calandryll stöhnte, schloß die Hände um das Lederband des brennenden Steins, zerriß es und schleuderte den Talisman von sich. An der Stelle, an der der Stein aufschlug, begann die Luft zu flimmern. Calandryll spürte, wie eine furchtbare Angst in ihm aufstieg, und obwohl er ahnte, daß es wahrscheinlich eine sinnlose Geste war, zog er sein Schwert. Das Flimmern nahm Konturen an, der Geruch der Magie ließ nach, und dann erblickte Calandryll das ver
traute Gesicht, das ihn über das Podest hinweg trium phierend anstrahlte, während der Mann eine Hand nach dem Buch ausstreckte. »Ich danke euch«, sagte Varent-Rhythamun. »Ihr habt mir gute Dienste geleistet.« Bracht stieß einen wilden Schrei aus und sprang so schnell wie eine zustoßende Schlange vor. Sein Krumm schwert schwang auf den Kopf des Zauberers hinab. Varent-Rhythamun hob mit einer beinahe lässigen Bewe gung eine Hand und hielt die Klinge so mühelos fest, wie ein Mann eine fallende Feder auffängt. Katya griff ihn von links an, und er blockte auch ihren Schlag ab und lächelte, als die beiden Krieger von seiner Magie gelähmt erstarrten. Calandryll näherte sich ihm mit größerer Vorsicht. Der Magier lachte, und seine Hände zuckten vor, so daß der Kerner und die Vanuerin zur Seite ge schleudert wurden. »Ihr könnt mich nicht berühren«, sagte er. Ein verächt liches Lächeln huschte über seine scharfgeschnittenen Züge. »Glaubt ihr etwa, einfache Klingen könnten je mandem wie mir Schaden zufügen? Nein, meine Macht ist größer, als ihr ahnt, und schon bald wird sie noch viel größer sein.« Calandryll stieß sein Schwert in Richtung des hämisch grinsenden Gesichts, spürte, wie es festgehalten und er selbst zurückgeschleudert wurde. Er schlug mit dem Kopf hart auf den Steinboden, und um ihn herum wirbel te das, was von den Alten übriggeblieben war, zu einer
Staubwolke auf. Einen Moment lang verschwamm das unterirdische Gewölbe vor seinen Augen. »Dera verfluche dich!« stöhnte er hilflos, als er sah, wie die langen schlanken Finger des Magiers über den schwarzen Einband strichen – so zärtlich wie die Hand eines Liebenden. »Dera?« Varent-Rhythamun schüttelte den Kopf und lachte leise und bösartig in sich hinein. »Diese schwächli che, winselnde Göttin kann mich nicht mehr erreichen. Genausowenig wie ihr drei Trottel! Nachdem ich jetzt dies hier habe, habe ich alles, was ich wollte. Ich halte den Schlüssel in der Hand, der Tharn befreien ihm sein Reich zurückgeben wird.« »Du bist verrückt!« schrie Calandryll. Er mühte sich verzweifelt aufzustehen und stellte fest, daß er es nicht konnte. Varent-Rhythamuns Magie nagelte ihn unbarm herzig auf dem Boden fest. »Du wirst die Welt ins Chaos stürzen!« »Ich werde meinem Herrn das zurückgeben, was ihm gehört«, erwiderte der Magier, »und ich werde zu seiner Rechten stehen, wenn der Tag kommt. Oh, ihr armen traurigen Dummköpfe! Wie gut habt ihr eure Rollen in meinem Spiel gespielt. Ohne eure Hilfe hätte ich wahr scheinlich niemals in diese Kammer vordringen können, wäre ich niemals an den magischen Fallen vorbeige kommen, die Denarus und die anderen hier aufgebaut hatten.« »Der Stein«, keuchte Calandryll. »Du hast den Stein
dazu benutzt.« »Zusammen mit der Kraft, die ich in dir gespürt ha be«, bestätigte Varent-Rhythamun. »Aye, der Stein ist wie ein Brennglas für meine Kräfte. Ich konnte diese Kammer nicht selbst betreten, aber ihr, meine vertrau ensseligen Diener, habt ihn hierhergebracht, und nach dem ich wußte, daß die Wächter nicht mehr da waren, habe ich nur noch meine magischen Künste anwenden müssen.« Er nahm das Arcanum an sich, schloß es wie einen Schatz in seine Arme und entblößte die Zähne zu einem furchtbaren Lächeln. »Und jetzt nehme ich es mit mir, um Tharns Ruhestätte zu suchen, während ihr hier zu rückbleibt. Lebt wohl, meine Freunde.« An der Stelle, an der er stand, begann die Luft zu flimmern, und wieder durchzog der so vertraute – so verhaßte! – Mandelduft die Kammer. Und dann war er verschwunden – und mit ihm das Arcanum. »Dera möge ihn verfluchen!« stöhnte Calandryll. »Und mich, weil ich so ein Idiot gewesen bin. O Göttin, was haben wir getan?« »Wahnsinn über die Welt gebracht«, sagte Katya bit ter, als sie unter Schmerzen aufstand und nach ihrem Säbel griff. »Wir waren nicht mehr als Bauern in seinem Spiel.« Bracht stemmte sich hoch und hob sein Krumm schwert auf. Ein grimmiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Kalte Wut loderte in seinen blauen Augen. »Die
Alten haben gesagt, die Straße würde noch eine Weile Bestand haben«, knurrte er. »Sollen wir sie noch einmal beschreiten oder wollen wir hier sterben?« »Wozu?« Calandryll schüttelte den Kopf. Der Kum mer ließ seine Stimme verbittert klingen. »Rhythamun hat das Buch, und du hast gehört, was er vorhat. Was für eine Rolle spielt es noch, ob wir hier in dieser Kammer sterben oder in einer Welt, die im Chaos versinkt?« »Das Arcanum weist den Weg zu Tharns Grab«, sagte Bracht, »und dieser Ort ist wahrscheinlich nicht leicht zu finden. Rhythamun muß ihn erst noch aufsuchen, bevor er den Verrückten Gott wiedererwecken kann.« Katya starrte ihn an, und in ihren sturmgrauen Augen flackerte Hoffnung auf. »Glaubst du, daß wir ihn viel leicht noch aufhalten können?« »Bevor ich meine Gebeine hier verrotten lasse, will ich es wenigstens versuchen«, gab Bracht zurück. »Können wir unsere Hoffnung so hoch schrauben?« fragte Calandryll. Er stand auf, holte sein Schwert und schob es in die Scheide zurück. »Ich habe gesehen, wie er den Stein mitgenommen hat«, sagte Bracht. »Hast du nicht gesagt, Katya, daß dein Talisman wie ein Wegweiser in seine Richtung zeigt?« »Aye«, erwiderte sie, »das ist richtig.« »Dann gibt es noch Hoffnung für uns«, verkündete der Kerner wild. »Und es gibt eine Schlacht zu schlagen, wenn wir nur den Mut dazu aufbringen.«
Katya nickte. »Ich werde dir folgen, Bracht.« »Und ich ebenfalls«, sagte Calandryll, der von der Entschlossenheit seiner Gefährten angesteckt wurde. Er spürte wieder Zuversicht in sich aufkeimen. »Bis ans Ende der Welt!« »Wahrscheinlich werden wir es erleben, bevor wir un ser Ziel erreicht haben«, sagte Bracht mit einem grimmi gen Lächeln. »Kommt!« Sie rannten die Stufen hinauf und weiter durch die Trümmer der Stadt, über der ein neuer Morgen herauf dämmerte. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, stürzten sie dem Dolmen entgegen, der einsam auf der Wiese stand, und tauchten in die Dunkelheit zwischen den Säulen ein. Die Verfolgungsjagd hatte begonnen.
ENDE