Max Allan Collins
CSI:
Das Versprechen
Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
vgs
Die Deutsche Bibliothek verz...
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Max Allan Collins
CSI:
Das Versprechen
Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
vgs
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Buch »CSI: Das Versprechen« entstand auf der Basis der
gleichnamigen Fernsehserie von Anthony E. Zuiker, ausge strahlt bei VOX.
© des VOX-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung
© 2005 CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis
Productions, Inc. CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis
Productions, Inc. are the authors of this program for the
purposes of copyright and other laws.
1. Auflage 2005
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesell schaft mbH
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Katharina Tilemann
Produktion: Sandra Pennewitz
Umschlaggestaltung: Sens, Köln
Senderlogo: © VOX 2005
Titelfoto: © 2005 CBS Broadcasting Inc. and
Alliance Atlantis Productions, Inc.
Satz: Achim Münster, Köln
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8025-3472-7
www.vgs.de
Vor 10 Jahren hat ein Serienmörder Las Vegas un sicher gemacht, der nie gefasst werden konnte. Jetzt setzt sich die bizarre Mordserie – die Opfer werden alle stranguliert und verstümmelt – plötz lich fort. Die unermüdlichen Mitarbeiter vom CSI Las Vegas vermuten, dass es sich um einen Nach ahmer handelt, da sich die neuen Morde in kleinen Details von den alten unterscheiden. Dieser Ver dacht wird zur Gewissheit, als sich der Täter von damals meldet und sich über die dilettantischen I mitationen seiner Morde beklagt. Die drehbuchhaft schnörkellos erzählten CSI-Romane sind gewiss kein literarisches Highlight; der vorliegende Band mit seinem originellen Plot ist aber stimmig aufge baut und bis zur letzten Seite enorm spannend.
Für Terri und Rod – hübsch gebunden.
Ich möchte meinem Assistenten, dem Forensikexperten und
Co-Plotter Matthew V. Clemens danken,
der mich bei diesem Buch unterstützt hat.
M.A.C.
Der kluge Denker zieht das Unwahrscheinliche ebenso in
Betracht wie das Wahrscheinliche.
(R. Austin Freemans DR. JOHN THORNDYKE)
Nichts ist einfacher, als einen Menschen zu töten; schwierig wird es, wenn man den Konsequenzen zu entgehen versucht. (Rex Stouts NERO WOLFE)
Die Panik brach über Marvin Sandred herein wie der kalte, raue Wind aus den Bergen über die Wüste von Nevada. Als er wieder zu sich kam, wurde ihm als Erstes seine abso lute Hilflosigkeit bewusst. Jemand riss ihm buchstäblich den Arsch auf, und das Seil um seinen Hals drohte ihm die Luft abzuschnüren. Sein Körper bebte und zuckte, wodurch die Schlinge sich immer enger um seinen Hals legte und mit jeder Sekunde fester zuzog. Marvin schlug um sich und versuchte zugleich, seine At mung zu kontrollieren und gleichmäßig Luft zu holen. Er hatte weder die Zeit, noch war er in der Verfassung, seine Lage einzuschätzen. Er wusste nur, er war zu Hause, im Wohnzim mer seines kleinen Hauses im Norden von Las Vegas – und lag bäuchlings auf dem Boden. Ihm taten sämtliche Knochen weh, seine Lunge brannte und sein Widersacher saß rittlings auf seinem Hinterteil. Die Schlinge schnürte ihm allmählich die Luftröhre zu, und er rang japsend nach Atem. Im Raum roch es nach seinem Schweiß, und das Seil schien ebenso viel Druck auf seine Blase auszuüben wie auf seinen Hals. Das Schlimmste aber, die größte Demütigung, war seine Nacktheit – man hatte ihm die Kleider vom Leib gerissen. Er hatte größte Mühe, seinen Harndrang zu unterdrücken. Ihm war kalt und heiß zugleich, er ruderte kraftlos mit den Armen, kämpfte gegen das Ersticken und fragte sich, ob er seine Blase nicht einfach entleeren sollte, um sich wenigstens von diesem Schmerz zu befreien. Marvin Sandred erlebte ganz real, was sich hinter einem abstrakten Begriff verbarg. Terror. Terror, dieses Wort, das täglich in den Nachrichten auf tauchte, war nichts Abstraktes, sondern eine sehr reale emotio nale und körperliche Erfahrung. Der reine Terror – Schmerz
und Hilflosigkeit und Angst und Verzweiflung – und, zu allem Übel, Hoffnung. Er war immerhin noch am Leben. Er war irgendwie in diese Sache hineingeraten, und er konnte wieder herauskommen. Er konnte überleben… Als es vorhin geklingelt hatte, war Marvin zur Tür gegan gen. Durch den Spion hatte er einen gut gekleideten Mann mit einem schwarzen Anzug gesehen, der ein Zeuge Jehovas oder ein Mormonenmissionar hätte sein können, aber diese Leute traten immer paarweise auf, und der Mann an seiner Tür war allein gewesen. Marvin hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es in dieser Welt vieles gab, worauf der Einzelne keinen Einfluss hatte. Aber bei sich zu Hause war man König. Da musste man sich nicht von Telefonwerbern und klinkenputzenden Vertretern belästigen lassen. Wozu hatte er eigentlich das »Betteln und Hausieren verboten«-Schild an seiner verdammten Tür? Marvin sah in dem Mann vor seiner Tür einen von diesen Störenfrieden, die es wagten, in seine Privatsphäre einzudrin gen, und so hatte er entrüstet die Tür aufgerissen, um dem Kerl einen Tritt in den Hintern zu geben und ihn in die Wüste zu jagen… aber er hatte kein einziges Wort sagen können, denn alles lief ganz anders, und zwar entsetzlich und ganz schreck lich. Ob man ihn unter Drogen gesetzt, ihm einen Faustschlag verpasst oder ihm eins mit einem Schraubenschlüssel überge zogen hatte, wusste er nicht. Und vielleicht würde er es auch nie erfahren. In diesem Moment lag er jedenfalls nackt auf dem Boden, und der raue Teppich scheuerte an seinen Brustwarzen, seinem stattlichen Bauch und den Genitalien, während sich die Schlinge um seinen Hals immer mehr zuzog. Er hörte auf, um sich zu schlagen und versuchte, das verdammte Seil zu lockern, aber es gelang ihm einfach nicht, seine Finger drunterzuschie ben.
Der Angreifer hatte ihn in seiner Gewalt, und Marvin wuss te, dass die Entscheidung über sein Leben einzig von ihm ab hing. Einen Hoffnungsschimmer gab es jedoch… Marvin wusste, dass auf dem Beistelltisch ein Brieföffner lag, unter der Morgenzeitung und einem Stapel Rechnungen. An den musste er irgendwie herankommen. Unter großer Mühe streckte er die linke Hand nach ihm aus, aber sein Arm war so schwer, als lastete ein ganzer Kühlschrank darauf. Augenblicklich schlug ihm sein Peiniger auf den Arm, und Marvin hatte keine Kraft mehr, ihn noch einmal anzuheben. Als das Atmen immer schwerer und das Überleben immer unwahrscheinlicher wurde, kam ihm zwischen panischen Be freiungsversuchen in den Sinn, was für eine blöde Idee es gewesen war, nach Las Vegas zu ziehen. Dann fiel ihm seine Frau Annie ein: ihr hübsches Gesicht und das Lächeln, das sie ihm so oft geschenkt hatte, bevor sie ihn im vergangenen Jahr verlassen hatte. Obwohl diese Gedanken nur kurz aufblitzten, waren sie von nachhaltiger Wirkung: Marvin merkte, dass er seine Ex-Frau immer noch vermisste. Er wünschte, er wäre so schlau gewe sen, in Eau Claire zu bleiben und seine Ehe zu kitten, statt sein ganzes Leben wegzuwerfen und in die Stadt der Träume zu ziehen… Er war ein Idiot gewesen. Und er war immer noch einer. Das war ihm klar, obwohl ihm die Luft abgedrückt wurde und er vermutlich einen seiner letzten keuchenden Atemzüge tat… Ein gottverdammter Idiot, der sich seine Rentenversicherung hatte auszahlen lassen, der Annie vertrieben hatte und ein neues Leben hatte beginnen wollen. Marvin Sandred war an der Schwelle des Todes nicht der Luxus einer längeren, gründlicheren Betrachtung seines Le bens und Scheiterns vergönnt. Viele Leute waren in die Stadt
der Träume gekommen, von Bugsy Siegel bis Howard Hughes, von Liberace bis Penn und Teller. Als ehemaliger stellvertretender Direktor von Eau Claire Steelworks war Marvin Sandred einer von hunderttausenden Träumern gewesen, die in die Neonoase gezogen waren; nicht besuchsweise, sondern um dort zu leben. Marvins Traum war vergleichsweise bescheiden gewesen, jedoch ebenso unrealistisch wie der anderer Vegas-Träumer. Als Annie in die Wechseljahre kam, setzte Marvins MidlifeCrisis ein, und der Sechsundvierzigjährige hatte das Gefühl gehabt, das Leben rinne ihm durch die Finger, er habe seine Chancen nicht genutzt und seine Träume verraten, indem er sein Leben lang danach getrachtet hatte, »das Richtige« zu tun. Er hatte begonnen, sich Pokerturniere auf ESPN anzusehen, dann hatte er selbst im Internet gespielt, bis seine Frau ein Machtwort sprach, als er gerade begann, kleine Gewinne zu machen. Danach hatte er mit einem Computerspiel für zehn Dollar geübt und sich sehr gut geschlagen; so gut, dass er schließlich beschloss, nach Las Vegas zu gehen, um professio nell Poker zu spielen. Durch die Auszahlung seiner Rente hatte Marvin gerade ge nug Geld gehabt, um nach Vegas zu reisen und eine Anzahlung für einen kleinen Bungalow zu leisten, der ein Neuanfang für ihn und seine Frau – sie waren kinderlos – sein sollte. Für sie war es jedoch das Ende gewesen. Den Rest seines Geldes hatte Marvin in die Verwirklichung seines Traums gesteckt, der nächste Amarillo Slim oder Doyle Brunson zu werden. Der Traum hatte sich allerdings ziemlich schnell zerschlagen, denn gegen den Computer hatte er viel besser abgeschnitten als gegen Spieler aus echtem Schrot und Korn. Nach zwei Turnieren nahm Sandred einen Job in der Verkaufsabteilung einer Firma für Schweißgeräte an. Von diesem Zeitpunkt an ging es mit seinem Traum bergab, und er
verspielte seine mageren Einkünfte regelmäßig im Casino beim Texas Hold’em. Dennoch hatte Marvin nicht aufgegeben, und der krankhafte Optimismus eines Spielers war ihm erhalten geblieben bis zu diesem Moment, in dem sein Traum von diesem verheerenden Albtraum verschlungen wurde und sein Peiniger noch fester an dem Seil zog… Marvin spürte, wie sein Kopf schwer wurde. Er wäre auf den Boden gesackt, aber das Seil um seinen Hals holte ihn regelmäßig wieder hoch. Nur seine Stirn streifte in dem Auf und Ab immer wieder über den rauen Teppich. Hinter seinen Augenlidern sah er ein Feuerwerk bunter Lichter, und für einen Moment war er in der Stadt, in der Glitzerschlucht, und sah auf dem großen Monitor über der Straße Frank Sinatra, der »Luck be a Lady« sang. Marvins Arme waren wie aus Gummi, und seine Tränen vermischten sich mit Schweiß, als sein Traum sich auflöste und sein Kopf von einem Albtraum erfüllt wurde, der nicht enden würde, wenn er aufwachte, sondern wenn er einschlief. Für immer. Und als die bunten Lichter schwanden und Finsternis über ihn hereinbrach, sah Marvin Sandred Annie vor sich, die trau rig lächelnd den Kopf schüttelte, wie bei ihrem Abschied, und sagte: »So ist das nun mal, Marvin. Des einen Traum ist des anderen Albtraum.«
1
Der ehemals so adrette Norden von Las Vegas wurde allmäh lich immer schäbiger. Der Funkspruch mit dem Code 420 – die Meldung eines Mordes – hatte nur ein Polizeifahrzeug nach draußen gelockt. Hätte der Tatort auf dem Strip gelegen, wären sämtliche Streifenwagen mit Blaulicht und Sirenen herbeige rast wie bei einem Präsidentenattentat. Aber dieser Polizeiwa gen parkte nun vor dem Bungalow, als wäre es das Zuhause des Officers… und nicht der Schauplatz eines Mordes. Aber es war ein Mord, der den Leiter des CSI der Las Vegas Police, Gil Grissom, in dieses leicht verkommene Wohngebiet führte, und das nicht zum ersten Mal. Noch konnte man nicht von Gewohnheit sprechen, aber die Einsätze in dieser Gegend nahmen eindeutig zu. Grissom kam in das Viertel gerauscht wie der Todesengel – wenn auch ein lässig gekleideter: Sonnenbrille, Poloshirt, Hose, Schuhe, alles in schwarz. In sein dunkles, krauses Haar mischten sich jedoch graue Strähnen. Und auch in den Bart, den er sich wachsen ließ, um Zeit zu sparen – nur um festzu stellen, was für eine Last es war, ihn regelmäßig stutzen zu müssen. Er hatte bestimmt schon zwanzig Mal mit dem Ge danken gespielt, sich das verdammte Ding wieder abzunehmen, aber der erforderliche Zeitaufwand war ihm einfach zu groß. Sein Leben war seine Arbeit, und seine Arbeit war der Tod. Nick Stokes, der am Steuer saß, parkte den schwarzen Ta hoe des CSI hinter dem Streifenwagen. Kurz darauf traf War rick Brown mit dem anderen Tahoe ein. Grissom und Stokes
waren mit dem ersten Wagen vorausgefahren, während War rick seine CSI-Kolleginnen Catherine Willows und Sara Sidle mitgebracht hatte. Nick war als ehemalige College-Sportskanone gut gebaut, hatte kurzes, dunkles Haar und meist ein unbeschwertes Lä cheln im Gesicht, das darüber hinwegtäuschen konnte, wie ernst er seine Arbeit nahm. Der Spurenermittler mit dem mar kanten Kinn trug Jeans und ein T-Shirt mit dem aufgestickten Abzeichen des Las Vegas Police Department. Warrick war groß und schlank und wirkte meistens ziemlich ernst, aber hin und wieder kam sein trockener Humor durch. Mit seinem braunen T-Shirt, das er locker über der khakifarbe nen Hose trug, wirkte der schlaksige Schwarze noch lässiger als Nick, aber Grissom wusste, dass die beiden jungen Männer Biss hatten und ausgezeichnete Experten und engagierte Mitar beiter waren. Sara Sidle macht einen resoluteren Eindruck als ihre männ lichen Teamkollegen. Sie trug ihr dunkles Haar schulterlang und war mit ihrem ockerfarbenen T-Shirt und den braunen Hosen wie immer bequem gekleidet. Dennoch war sie auf ihre Art eine ebenso beeindruckende Erscheinung wie Catherine Willows, eine Rothaarige mit den fein geschnittenen Zügen eines Models und dem schlanken Körper einer Tänzerin. Trotz ihres hellblauen Tops und den marineblauen Hosen sah sie aus, als gehörte sie eigentlich auf die Bühne, obwohl mittlerweile eine erstklassige Wissenschaftlerin aus ihr geworden war. Grissoms Team hatte eigentlich immer die Nachtschicht, doch seine Leute machten aus akutem Personalmangel Über stunden, um für die wegen Gerichtsterminen und Urlaub feh lenden Kollegen der Tagschicht einzuspringen. Normalerweise tauchten sie ja mitten in der Nacht an einem Tatort auf, aber an diesem trafen sie ein, als die Sommersonne bereits hoch am
wolkenlosen blauen Himmel stand. Die Hitze war trocken, aber nicht drückend; eigentlich das schönste Urlaubswetter. Grissom nahm seine Sonnenbrille ab und betrachtete den Bungalow. Er war winzig und in einem für die Gegend recht ordentlichen Zustand. Durch den kleinen Vorgarten mit einem Fahnenmast führte ein rissiger Gehweg zur offen stehenden Haustür. Es regte sich kein Lüftchen, und die beiden Fahnen – eine von den Green Bay Packers, darüber die amerikanische – hingen schlaff an dem Mast herunter. In der kiesbedeckten Einfahrt neben dem Bungalow stand ein dunkelblauer Chevy aus den frühen Neunzigern. Obwohl links und rechts ebenfalls Wohnhäuser standen, machte der Bungalow irgendwie einen einsamen, verlassenen Eindruck auf Grissom. Auf dem Asphalt vor dem Grundstück flirrte die Hitze, aber über dem Haus selbst lag etwas Trauri ges, Düsteres. Als der CSI-Leiter aus dem Tahoe ausstieg, bemerkte er aus den Augenwinkeln einen Ford, der gerade auf der anderen Straßenseite anhielt. Er blieb stehen und drehte sich zu dem Detective um, der aus dem Wagen stieg, einem hageren Kerl von über einsneunzig in einem schlecht sitzenden grauen An zug: Bill Damon. Er war Ende zwanzig und seit fünf, sechs Jahren beim Police Department von Nord Las Vegas. Vor knapp einem Jahr war er zum Detective befördert worden. Seine Hosen schienen immer ein paar Zentimeter zu kurz, und in seine Jacken hätte er zweimal gepasst, aber Damon leistete gute Arbeit. Obwohl ihm als Detective noch die Erfahrung fehlte, war er ein guter Cop und trug das Herz am rechten Fleck. Nord Las Vegas hatte über hunderttausend Einwohner und verfügte über ein eigenes Police Department. Die Spurener mittler der Las Vegas Police waren jedoch für den gesamten Clark County zuständig und arbeiteten daher gelegentlich mit
Detectives aus anderen Departments zusammen. Grissom hatte bereits bei mehreren Fällen mit Damon zu tun gehabt, aber noch nie mit ihm als dem verantwortlichen Detective. Der junge Polizist kam über die Straße auf Grissom zu und streckte ihm die Hand entgegen – lange, schlanke Finger mit dicken, knubbeligen Knöcheln. »Gil«, begrüßte er ihn. »Lange nicht gesehen.« »Allerdings«, entgegnete Grissom mit einem unverbindli chen Lächeln. »Waren Sie schon drin?« Der CSI-Leiter schüttelte den Kopf. »Bin gerade erst ge kommen. Wir wissen nur, dass es ein Code 420 war.« Damon zuckte mit den Schultern. »So viel weiß ich auch. Dann informieren wir uns am besten mal…« »Gute Idee.« Während Grissoms Leute ihre Ausrüstung aus den Fahrzeu gen luden, trat ein stämmiger, eher klein geratener Uniformier ter aus der Haustür. In der einen Hand hatte er einen Kugel schreiber, in der anderen ein Notizbuch. Auf seinem Namens schild stand LOGAN. Er war um die vierzig und hatte kurzes Haar, in dem hier und da ein Hauch von Grau zu sehen war. Mit seiner Größe hatte er so gerade eben noch die Vorausset zung für den Polizeidienst erfüllt. Der hoch aufgeschossene Damon wirkte neben ihm wie ein Riese. Logan nickte Grissom zu und begrüßte dann den Detective aus seinem Department. »Hey, Bill.« »Hey, Henry«, sagte Damon. Damit war der Smalltalk beendet. Logan wies auf den Bungalow. »Eine wirklich scheußliche Sache! Ein Mann wurde in seinem Wohnzimmer ermordet – und es sieht alles andere als gemütlich da drin aus.« »Waren Sie schon im Haus?«, fragte Grissom alarmiert.
Logan nickte und zuckte mit den Schultern. »Aber keine Sorge, die Beweisspuren sind alle noch da, und zwar in rauen Mengen. Ich habe lediglich das Haus kontrolliert und mich davon überzeugt, dass der Mörder weg ist. Er ist auf demselben Weg raus, wie er reingekommen ist.« »Gut«, sagte Grissom und studierte den Bungalow erneut. Kein Fliegengitter, und die Haustür stand sperrangelweit of fen. »Haben Sie die Tür aufgemacht, Officer Logan?«, fragte er. »Nein, zum Teufel! Sehe ich etwa aus wie…« »Haben Sie das schon mal gemacht, den Tatort eines Mor des gesichert?« »Im Laufe der Jahre habe ich schon jede Menge Leichen gehabt. Und diesen Toten hier kann man wahrhaftig nicht übersehen – der Typ liegt mitten im Weg, wenn man herein kommt, und ist tot wie Scheiße.« Grissoms Lächeln schwand. »Officer, wie viele Mordopfer Sie auch in der Sammlung haben, der Tote verdient auf jeden Fall mehr Respekt!« Logan sah ihn an, als käme Grissom von einem anderen Planeten. »Sind Sie sicher, dass er tot ist?«, fragte ihn jetzt Damon. Logan bedachte den Detective mit einem leicht herablassen den Blick. »Hey, ich mache das schon ziemlich lange, Bill. Wie ich sagte, der Typ ist tot wie… man nur sein kann – sonst hätte ich doch einen Krankenwagen angefordert, und er wäre schon längst abtransportiert worden. Sehen Sie ihn sich selbst an!« Aber Grissom wollte noch mehr Hintergrundinformationen. »Wer hat den Mord denn gemeldet?« »Die Nachbarin«, antwortete der Officer und wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Sie ging zum Briefkasten, um ihre Post zu holen…« Er zeigte auf die Briefkästen, die entlang
des Gehsteigs aufgestellt waren. »Dabei sah sie zufällig die Tür offen stehen. Der Mann, der in dem Bungalow wohnt…« er schaute in sein Notizbuch »… der hier gewohnt hat, Marvin Sandred, hat tagsüber meistens gearbeitet. Als die Nachbarin, die übrigens…«, Logan sah erneut in sein Notizbuch, »… Tammy Hinton heißt, also, als sie die offene Tür sah, wurde sie misstrauisch und ging nachsehen. Als sie die Leiche entdeckte, hat sie uns sofort angerufen.« »Und sie sagte, es ist Sandred?«, hakte Grissom nach. »Ja.« »Wir sollten mit ihr reden.« »Ja«, sagte Damon, und es klang, als wolle er die anderen und sich selbst daran erinnern, wer für diesen Fall zuständig war. »Wir sollten umgehend mit ihr reden!« »Ich kann das übernehmen«, sagte Logan. »Ich bin mir al lerdings nicht sicher, wie viel sie im Moment erzählen kann. Sie stand ziemlich unter Schock. Deshalb habe ich sie auch nach Hause geschickt. Sonst noch was?« »Nein, Henry«, sagte Damon. »Vielen Dank.« Logan sah Grissom stirnrunzelnd an. »Bei allem Respekt, Dr. Grissom – ich weiß, wer Sie sind; das weiß jeder –, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gegenüber nicht so überheblich wären!« »Dann sagen Sie nicht ›tot wie Scheiße‹, wenn Sie über Mordopfer sprechen«, entgegnete Grissom ungerührt. Logans Entrüstung schwand, und er sah Grissom verlegen an. »Ja, okay, verstanden. Kein Schaden, kein Foul?« »Noch nicht«, sagte Grissom. Als Logan zum Nachbarhaus rüberging, fragte Damon. »Wollen Sie loslegen?« »Ja.« Grissom ging, gefolgt von den Kollegen und dem Cop, auf das Haus zu. »Nick, du übernimmst die Rückseite«, sagte er
über die Schulter. »Und du, Warrick, kümmerst dich um den Vorgarten.« »Wird gemacht, Gil«, entgegnete Nick. Warrick nickte nur. Während die beiden sich entfernten, ging Grissom mit Ca therine und Sara – und Detective Damon im Schlepptau – die Stufen zur Haustür hoch und blieb davor stehen. »Sara«, sagte er, während sie sich die Latexhandschuhe ü berstreiften, »sieh nach, ob es an der Klingel Fingerabdrücke gibt.« Sie nickte und trat zur Seite. Wie die anderen CSI-Kollegen hatte auch sie ihren Koffer mitgebracht, den sie nun abstellte, um sich ans Werk zu machen. Grissom ging mit Catherine ins Haus, während Damon auf der Veranda blieb und Sara bei der Arbeit zusah. Er versuchte, Konversation zu machen, aber die Spurenermittlerin war nicht zum Plaudern aufgelegt. Im Haus war es dunkel; die Vorhänge waren zugezogen, und es brannte nirgends Licht. Dennoch erkannte Grissom, dass das Wohnzimmer sich rechts von ihm befand. Die Küche lag hinter dem Durchgang am Ende des Flurs, und vom Wohnzimmer führte ein weiterer Flur zu Schlafzimmern und Bad. Catherine knipste ihre Taschenlampe an, denn das Licht konnten sie erst einschalten, wenn sämtliche Schalter auf Fin gerabdrücke überprüft waren. Sie leuchtete in die Flure, dann auf die Leiche, die rechts von ihnen lag. Im Wohnzimmer roch es nach Tod, speziell nach Schweiß, Urin und Exkrementen. Mit seinem spärlichen Mobiliar – ein Sofa, ein Couchtisch und ein Fernseher in der gegenüberlie genden Ecke sowie ein paar Beistelltische – wirkte das Haus von innen genauso einsam und verlassen wie von außen. Auf dem Couchtisch lagen Zeitungen, eine Hand voll Briefe und
ein paar Fastfood-Schachteln. Ansonsten war alles ordentlich und sauber – wenn man von der Leiche absah, die mitten im Zimmer lag. Als Erstes fiel Grissom die Blutlache ins Auge, die sich um die verstümmelte Hand des Opfers gebildet hatte. Er holte seine Taschenlampe heraus und leuchtete den Boden ab, aber von dem abgeschnittenen Zeigefinger fehlte jede Spur. Viel leicht hatte ihn der Mörder als Andenken mitgenommen. »Ich kümmere mich um die Leiche«, sagte Grissom zu Catherine. »Du übernimmst den Rest des Hauses.« Catherine warf einen Blick auf das Opfer. »Er gehört dir… Seinen Tod hatte er sich wohl auch etwas anders vorgestellt.« »Hier lässt sich doch bestimmt etwas finden«, sagte Gris som, ohne auf ihre Bemerkung weiter einzugehen, während er den Boden um die Leiche ausleuchtete. Catherine zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Glaubst du?« Sie wandte sich zum Gehen, als Detective Damon endlich ebenfalls den Weg ins Haus fand. Er blieb wie angewurzelt stehen, als er den Gestank bemerkte, und hielt sich rasch die Nase zu. »Wow, also, das ist ja grässlich!« »Das Opfer hat sich beim Eintritt des Todes entleert«, erläu terte Grissom sachlich. Zwischen den gespreizten Beinen des Toten schwamm Kot in einer Urinlache. Grissom hatte sich längst an solche Dinge gewöhnt. Was ihm am meisten zu schaffen machte, war, dass der strenge Geruch möglicherweise andere subtilere, wichtige re Gerüche überdeckte. »Ich fange in der Küche an«, rief Catherine vom Flur aus und verschwand mit ihrem Koffer. Dem Detective wich die Farbe aus dem Gesicht; vielleicht war das Wort »Küche« in diesem Zusammenhang zu viel für ihn gewesen.
»Brauchen Sie mich hier?«, fragte er und schluckte hörbar. »Sie sind uns nur im Weg«, entgegnete Grissom. »Ich meine, das ist eigentlich mein Tatort…« Grissom sah ihn bestimmt an. »Nein, es ist meiner. Lassen Sie mich meine Arbeit tun, dann reden wir… Draußen.« Dem Detective lag im Moment nicht besonders viel daran, die Diskussion fortzusetzen, und er verließ fluchtartig das Haus. Grissom richtete seine Aufmerksamkeit jetzt auf die Leiche selbst und verschaffte sich einen ersten Überblick. Ein weißer Mann, schätzungsweise zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Das Opfer war nackt, hatte ein Seil um den Hals und lag auf dem Bauch. Der Zeigefinger der rechten Hand war abgetrennt und allem Anschein nach vom Tatort entfernt wor den. Der Kopf des Opfers war zur Seite gedreht, und Grissom entdeckte einen ersten aufschlussreichen Hinweis: Der Mund des Toten war mit knallrotem Lippenstift beschmiert. Der M. O. der Modus Operandi, war für den CSI bei jedem Mord ein wichtiger Aspekt, aber nur selten setzte ein Mörder so ein deutliches Zeichen wie in diesem Fall. Dem sonst so abgeklärten Grissom lief es kalt über den Rücken, aber das hatte nichts mit Angst oder Abscheu zu tun – ihm war nur klar geworden, dass er jemanden anrufen musste. Diese Sache betraf einen alten Kollegen. Aber wie es seine Art war, beschloss er, zuerst seine Arbeit zu Ende zu machen. Das Opfer war vermutlich erdrosselt worden, aber Grissom hütete sich, mehr als nur eine Arbeits hypothese daraus zu machen. Er würde das Urteil des Coroners zu der Todesursache abwarten. Er nahm seine Kamera aus dem Stahlkoffer und begann zu fotografieren. Erst das Zimmer, dann die Leiche, schließlich Nahaufnahmen von dem Toten. Es dauerte eine Weile, aber er hatte vor langer Zeit gelernt, Geduld zu haben. Und obwohl
ihm vieles durch den Kopf ging, handelte er wie immer nach dem Motto »schnell, aber nicht übereilt«. Er verdrängte erst einmal den Anruf, den er zu machen hatte, und fuhr mit der Bestandsaufnahme fort. Nach einer Weile kam Sara in den Raum. Im Unterschied zu Detective Damon reagierte sie überhaupt nicht auf das, was ein Laie als Gestank bezeichnen würde, denn als professionelle Spurenermittlerin war sie auf so etwas gefasst. »Einen unvoll ständigen Abdruck habe ich am Klingelknopf gefunden und weitere am Türgriff.« »Immerhin ein Anfang«, bemerkte Grissom. »Wo ist Catherine?« Grissom sah sie an und grinste verschmitzt. »Frauen gehö ren in die Küche.« Sara lachte spöttisch. »Träum weiter… Das hier, das ist ein ganz spezieller Fall, nicht wahr?« »In der Tat.« »Kannst du denn irgendetwas mit dem M. O. anfangen, Grissom?« »Das hier spricht eine deutliche Sprache«, entgegnete er und wies mit dem Kopf auf den Toten, ohne weitere Erklärungen zu geben. Die erwartete Sara auch nicht. Statt nachzuhaken sagte sie: »Okay, dann gehe ich nach nebenan zu unserem Detective und dem Officer. Sie befragen die Nachbarin, und ich würde mir gern ihre Fingerabdrücke holen, für den Abgleich. Der unvoll ständige Abdruck auf dem Klingelknopf könnte von ihr sein.« »Möglich. Dann mach das!« »Die Art und Weise ist einfach nie schön, oder?« »Was meinst du?« »Ermordet zu werden.« »Nein«, entgegnete Grissom. »Aber das hier scheint mir ei ne der unschönsten Möglichkeiten zu sein.«
»Allerdings«, meinte sie und ging nach draußen. Grissom war erfreut darüber, wie unbeeindruckt Sara sich vom Anblick des Tatorts gezeigt hatte, und lächelte in sich hinein. Er hatte Sara persönlich ausgewählt, als eine junge CSIKollegin im Dienst getötet wurde und ein Ersatz gefunden werden musste. Weil sie sich als ausgezeichnete Studentin in seinen Seminaren hervorgetan und ihn beeindruckt hatte, war sie seine erste Wahl für diesen Job gewesen. Und sie hatte ihn nicht enttäuscht. Von sich selbst hingegen war er manchmal enttäuscht, denn es hatte Zeiten gegeben, in denen seine Zuneigung zu der intelligenten jungen Frau über das Berufliche hinauszugehen gedroht hatte. Aber diese Grenze wollte Gil Grissom nicht überschreiten. Der CSI-Leiter wandte sich wieder der Leiche zu. Als er ei ne kleine Lache auf dem Rücken des Opfers entdeckte, beugte er sich vor, um die Flüssigkeit genauer in Augenschein zu nehmen. Schau an!, dachte er und machte ein Foto von dem Spermafleck. Dann legte er die Kamera zur Seite und nahm einen Abstrich für den späteren DNS-Test. Irgendetwas störte ihn jedoch an diesem Fleck, obwohl Spermaspuren durchaus zu dem Modus Operandi gehörten, den er hier wiederzuerkennen glaubte. Dann ging ihm ein Licht auf: Das Sperma sollte suggerieren, der Mörder habe auf den Rücken des Opfers masturbiert, aber es gab keine Spritzer, sondern nur eine kleine, saubere Lache. Es wurde gezielt auf dem Rücken platziert!, dachte Grissom mit einem grimmigen Lächeln. Hätte der Mörder bei der Tat in seinem perversen Rausch wirklich auf das Opfer ejakuliert, hätte es wohl nicht nur eine einzige kleine Lache gegeben. Höchstwahrscheinlich wären mehrere Spritzer und Tröpfchen auf dem Rücken zu finden gewesen.
Grissom tütete die Spermaprobe ein, fotografierte zu Ende, nahm einen Abstrich von dem Blut auf dem Teppich und such te die Leiche weiter nach Beweisspuren ab. Doch er fand nichts. Als Letztes entfernte er vorsichtig das Seil vom Hals des Opfers und packte es ebenfalls in einen der Plastikbeutel zur Sicherung von Beweismaterial. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und drückte eine Schnellwahltaste. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine schroffe Stimme. »Jim Brass.« »Ich habe etwas, das Sie sich ansehen müssen«, sagte Gris som, ohne ihn zu begrüßen. »Es ist zwar nicht Ihr Zuständig keitsbereich, aber die Sache dürfte Sie interessieren.« »Sehr schön, Gil, aber haben Sie es nicht gehört? Ich habe Urlaub!« »Sie wollen wirklich mal so richtig relaxen, was?« Schweigen. Nein, kein Schweigen: Gewieft, wie er war, nahm Grissom ein leises Seufzen wahr… »Sie wissen es doch genauso gut wie ich«, entgegnete der Captain des Morddezernats. »Ich langweile mich zu Tode.« »Wenn man nur für seine Arbeit lebt, sollte man sich ein schönes Hobby suchen.« »Was denn? Insektensammeln oder so? Gil, sagen Sie schon, um was geht es?« »Um eine alte, üble Geschichte – wir haben allerdings da mals noch nicht zusammengearbeitet… Es war noch vor unse rer Zeit.« »Wovon reden Sie?« »Von dem Fall, den man nie vergisst – von Ihrem alle rersten!« In der langen Pause, die nun folgte, war kein Seufzen zu hö ren. Nicht einmal ein Atemzug. Nur eisernes Schweigen. Dann: »Sie meinen aber nicht meinen ersten Fall in Jersey, oder?«
»Nein, ich habe hier einen Mord in Nord Las Vegas, der mich sehr an Ihren anderen ersten Fall erinnert.« »Du lieber Himmel! Wo sind Sie?« »Wir haben gerade erst angefangen.« »Ich meine die Adresse!« »Oh«, machte Grissom und gab sie ihm durch. »Zwanzig Minuten«, sagte Brass und beendete das Ge spräch. Er schaffte es jedoch in fünfzehn. Durch die offene Tür sah Grissom den Wagen des Captain vorfahren. Brass stieg aus und schritt quer über den Rasen, wie ein Mann, der eine Mission hat. Und die hatte er in der Tat, wie Grissom vermutete. Der stämmige Kollege mit den traurigen Augen, der sonst bei jedem Wetter Jackett und Krawatte trug, erschien heute in Jeans und einem blauen Hemd mit offenem Kragen. Officer Logan ging nach draußen, um Brass auf der Veranda abzufangen, weil er ihn für einen Zivilisten hielt. Der Krimi nalbeamte zeigte ihm seine Marke, aber Logan ließ sich davon nicht beeindrucken. »Was führt Sie denn in unsere Gefilde, Captain?« Grissom streckte den Kopf aus der Tür und rief: »Er gehört zu mir, Officer! Schon in Ordnung!« Logan wollte offenbar nicht noch einmal mit Grissom an einander geraten und ließ Brass seufzend passieren. »Sie hätten ihm sagen können, dass ich komme«, beschwer te sich Brass. »Ja, ich arbeite noch an meinen sozialen Fähigkeiten«, ent gegnete Grissom. »Tatsächlich? Und wie kommen Sie voran?« Grissom zuckte nur mit den Schultern und trat zurück, damit Brass sich die Leiche ansehen konnte.
Er warf nur einen Blick darauf, machte große Augen und schüttelte den Kopf. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Al so, das ist doch…« »Ist es CASt?«, fragte Grissom. In diesem Augenblick kam Catherine aus der Küche zurück. »Außer schmutzigem Geschirr habe ich da nichts gefunden…« Als sie Brass sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. »Sie sind nicht im Urlaub?« Brass nickte ihr zu. »Nicht mehr.« Dann sah er Grissom an. »Also, das sieht allerdings nach einer Tat von CASt aus…« »Cast?«, fragte Catherine und trat dazu. Sie hatten den To ten jetzt zu dritt umstellt, aber weglaufen konnte er ohnehin nicht mehr. Brass schloss die Augen und fasste sich mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand an die Nasenwurzel. »Sie ken nen den Fall vermutlich nicht… vielleicht waren Sie damals noch im Labor, keine Ahnung.« Catherine sah Grissom eindringlich an. Hilfe!, schien ihr Blick zu sagen. Grissom zuckte natürlich nur mit den Schul tern. »Aber ich bin mir sicher, dass Sie davon gehört haben. Es war mein erster Fall hier. Er wurde nie gelöst. Die Presse hat ausführlich darüber berichtet. Der schlimmste Serienkiller in der Geschichte von Las Vegas. Der zuständige Cop wurde als unfähiger Trottel aus New Jersey beschimpft. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?« »Die Polizei wurde übel von der Presse verspottet«, sagte Catherine nickend und dachte laut nach. »Es ist eine Abkür zung… C, A, S, t.« »Das steht für Capture, Afflict and Strangle«, erklärte Gris som. »Überwältigen, quälen und strangulieren. So hatte sich der Täter selbst genannt.«
»Ich habe damals ein paar Laboruntersuchungen für den Fall gemacht«, sagte Catherine. »Da war ich auch schon in der Nachtschicht. Aber es war ein Fall von der Tagschicht, oder?« »Ja, es ist schon zehn, elf Jahre her.« Brass rieb sich die Stirn. »Ich war gerade erst aus dem Osten hierher versetzt worden und stand immer noch unter Schock wegen meiner… Scheidung. Ich kannte mich noch nicht so gut in der Szene von Vegas aus…« »Ich kann mich nur noch sehr verschwommen an den Fall erinnern«, räumte Catherine ein. »Und eher an die Berichter stattung in den Medien als an irgendetwas Dienstliches.« »Die Medien waren ziemlich hinter der Sache her«, sagte Grissom, »aber damals konnten wir das noch besser kontrollie ren. Und zum Glück hat die Sache keine weiten Kreise gezo gen.« »Ja, wir haben uns so bedeckt gehalten, wie es ging. Mein Partner Vince Champlain wollte keinen Staub aufwirbeln.« »Guter Ansatz«, bemerkte Catherine. »Ich wünschte, das würde uns auch heute immer gelingen.« »Vince war der verantwortliche Detective«, fuhr Brass fort. »Je mehr wir an die Presse weitergeben, dachte er, desto mehr Spinner tauchen auf, mit denen wir uns herumschlagen müssen. Das alte Lied. Und trotzdem hatten wir mehr als genug davon. Wir hatten bestimmt zwanzig verschiedene Bekenner.« »Und keiner von ihnen war der Richtige?«, fragte Catherine. Brass schüttelte den Kopf. »Nein, alles nur die üblichen Verrückten. Notorische Bekenner eben.« »Aber irgendetwas hatten Sie doch in der Hand, oder?«, fragte Catherine. Brass lächelte geknickt und sah sie an. »Die Opfer, die hat ten wir. Fünf Tote, alle männlich, alle weiß, alle im mittleren Alter und alle eher von der stämmigen Sorte…«
Wie aufs Stichwort schauten er und die beiden Spurener mittler gleichzeitig auf die Leiche. »… Und alle mit einem laufenden Palstek erdrosselt.« Catherine runzelte die Stirn. »Und was genau ist das?« »Eine Schlinge, ein Laufknoten«, erklärte Grissom. »Je nachdem, an welchem Ende des Seils man zieht, schließt sich die Schlinge. Es ist ein klassischer Lassoknoten.« Catherine sah Brass an. »Gab es denn damals auch echte Verdächtige?« »Am Anfang jede Menge, aber dann haben wir uns auf drei konzentriert«, entgegnete Brass. »Einer gefiel mir besonders gut, ein anderer gefiel Vince, und es gab noch einen dritten, der ganz brauchbar schien, obwohl keiner von uns glaubte, dass er die Morde begangen hatte.« Grissom zeigte auf die Leiche. »Ich finde, wir sollten in die sem Fall vorgehen wie bei jeder anderen Ermittlung auch.« Brass nickte. »Soll ich zuerst mal die Verdächtigen von da mals unter die Lupe nehmen?«, fragte er. Grissom taxierte ihn mit prüfendem Blick. »Zuerst noch ei ne Frage.« »Dann die Antwort.« »Sollten Sie überhaupt an diesem Fall arbeiten?« »Sollte ich nicht?«, entgegnete Brass mit leicht erhobener Stimme. »Jim«, sagte Catherine, »Sie schleppen diese Sache schon ziemlich lange mit sich herum. Objektivität…« »Darauf scheiße ich!«, platzte Brass heraus, aber dann merkte man, dass ihm der Ausbruch peinlich war. Grissom sah ihn eindringlich an. »Sie wollen also einen auf Captain Ahab machen?« »Sagen wir einfach«, entgegnete Brass, »ich will das Schwein kriegen.« »Aha«, machte Grissom vielsagend.
»Und…«, fuhr Brass fort, dann schluckte er und wurde wie der leiser, »… wir werden, wie Sie sagten, vorgehen wie bei jeder anderen Mordermittlung auch.« Grissom sah Catherine an. Sie lächelte skeptisch. »Kommen Sie schon«, versuchte Brass sie zu überreden. »Sie haben mich doch im Auge. Sie werden mir helfen…« »Objektiv zu bleiben?«, warf Catherine ein. »Halten Sie das für eine gute Idee, Jim?«, sagte sie, aber ihre Frage war eigent lich an Grissom gerichtet. Grissom ging nicht darauf ein. »Besteht Ihrer Meinung nach die Möglichkeit, dass der Tote hier nur zufällig aussieht wie die ›Ge-CASt-eten‹ von damals?« »So hat die Presse die Opfer genannt, nicht wahr?« »Ja, und es ist kein Zufall.« Brass zeigte auf die Leiche. »Wenn das hier nicht die Handschrift des Kerls von damals trägt, dann muss es einen Nachahmungstäter geben, der sich ziemlich gut mit der Materie auskennt.« »Wieso?«, fragte Catherine. Brass zuckte mit den Schultern. »Wenn es ein Nachahmer ist, weiß er mehr, als damals in den Zeitungen stand.« »Sie haben Fakten zurückgehalten, damit Sie die falschen Bekenner aussortieren konnten. Natürlich!«, sagte Catherine nickend. »Ob hier die Vergangenheit grüßen lässt oder ein Vertu schungskünstler von heute, wir werden jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können«, bemerkte Grissom. Catherine seufzte. »Alt oder neu – es ist auf jeden Fall ein heimtückischer Killer.« »Können Sie sich die Leiche mal genauer ansehen, Jim? Sie sind hier der Experte.« Brass hockte sich neben den Toten und studierte ihn einge hend. Dann erhob er sich wieder. »So gern ich den alten Fall
auch noch mal aufrollen würde«, sagte er bedächtig, »aber hier handelt es sich wohl eher um einen Nachahmungstäter.« Grissom und Catherine sahen sich an. »Warum?«, fragte Grissom. »Das Ganze sieht inszeniert aus. Und vor allem gibt es nicht genug Blut.« Catherine betrachtete den Blutfleck auf dem Teppich. »Wie so?« »An den fünf Tatorten von damals«, erklärte Brass, »waren jede Menge Blutspritzer. Hier gibt es gar keine.« »Blutspritzer«, wiederholte Catherine zufrieden, denn das war ihr Spezialgebiet. »Den damaligen Opfern wurde der Finger abgeschnitten, bevor sie getötet wurden?« »Ja«, sagte Brass und freute sich über ihre rasche Auffas sungsgabe. »In diesem Fall wurde der Finger aber anscheinend postmortal abgetrennt. Hätte das Opfer noch gelebt, gäbe es Spritzer auf dem Boden, und er hätte vermutlich mit der ver stümmelten Hand herumgefuchtelt, wodurch das Blut noch weiter gespritzt wäre.« »Richtig«, sagte Brass mit einem Nicken. »Und mit dieser Spermalache auf dem Rücken des Opfers stimmt was nicht…« Grissom brachte jetzt seine Theorie zu diesem Aspekt vor. »Ejakulat am Tatort ist immer eine heikle Sache«, sagte er am Ende seiner Ausführungen. »Man muss die Position des Opfers berücksichtigen und die Körperstellung des Täters, aber das hier sieht aus wie absichtlich platziert.« »Wie bei einer Bottleparty«, bemerkte Catherine. Brass und Grissom sahen sie verdutzt an. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Jeder bringt sein eigenes Sperma mit! Der Täter hat die Probe von zu Hause mitge bracht. Oder vielleicht war es eine Frau, dann blieb ihr gar nichts anderes übrig…«
»So oder so, das ergibt Sinn«, sagte Brass. »Ein Nachahmer inszeniert ein Verbrechen ganz kalt, während die echten Morde aus Leidenschaft verübt werden: von einem Killer, der… auf so etwas abfährt.« »Ganz genau«, bemerkte Grissom. »Dennoch, dieser Mord kommt den Originalen von damals ziemlich nah, nicht wahr?« »Ja«, meinte Brass. »Abgesehen von den eben erwähnten Details schon.« »Bei einem Nachahmungstäter ist der Kreis der Verdächti gen ziemlich klein«, bemerkte Grissom. »Wer hatte so genaue Informationen über diese Morde?« Der Captain dachte nach. »Nun, der Mörder natürlich… die mit dem Fall befassten Cops, wir selbst… und ein paar Zei tungsreporter.« »Wer genau?«, fragte Catherine. »Zwei Kriminalreporter, die für den Las Vegas Banner ar beiten – Perry Bell und David Paquette. Sie bekamen seinerzeit diese Schmähbriefe von CASt. Und sie haben zusammen ein Taschenbuch über den Fall veröffentlicht.« »Ist Paquette nicht Redakteur beim Banner?«, hakte Cathe rine nach. »Inzwischen, ja. Paquette hat eindeutig mehr von dem Er folg des Buches profitiert, denn er bekam bald darauf den Redakteursposten. Aber schließlich erhielt Bell immerhin eine eigene Kolumne.« Die beiden CSI-Mitarbeiter nickten. Bell und seine Krimi nalkolumne waren den meisten bei der Las Vegas Police ein Begriff. Grissom fand zwar nicht, dass er ein besonders guter Autor war, aber das waren Walter Winchell und Larry King auch nicht. Dafür stand Bell in dem Ruf, besonders ehrlich zu sein, und man sagte ihm nach, dass er nie seine Quellen verriet und niemanden hinterging, was ausschlaggebend dafür war, dass er bei den Polizisten nach wie vor angesehen war. Wenn
ein Cop Bell etwas unter vier Augen mitteilte, behielt der Kolumnist es für sich, bis der Beamte ihm die Erlaubnis gab, es zu drucken. »Dann sollte ich mich wohl mal mit den Pressefritzen unter halten«, sagte Brass. Catherine zeigte auf die grotesk anmutende Leiche. »Glau ben Sie, Paquette oder Bell wären zu so etwas fähig?« Brass zuckte mit den Schultern. »Gacy war Clown, Bundy Jurastudent, und Juan Corona hat Leiharbeiter an Farmer ver mittelt und zwei Dutzend Leute aus Jux und Profitgier umge bracht. Schwer zu beurteilen, wozu Menschen fähig sind. Aber eines weiß ich: Wenn wir bei diesem Fall vorgehen wie bei jeder anderen Mordermittlung, dann sind Perry Bell und Dave Paquette Verdächtige… und ich muss mit ihnen reden.« Sie verließen das Wohnzimmer und trafen sich mit den an deren Cops und Spurenermittlern vor dem Haus, während die Sanitäter hineingingen, um die Leiche zu holen. Damon wirkte verärgert, als er Brass sah. »Was machen Sie denn hier, Jim?« Brass wollte etwas erwidern, aber Grissom schaltete sich vermittelnd ein. »Ich habe ihn dazugeholt«, sagte er. »Als Berater. Er hat vor Jahren einen ganz ähnlichen Fall bearbei tet.« »Wie ähnlich?«, fragte Damon. »Sehr«, entgegnete Grissom. »Genau dasselbe.« »Auch ein Mord?« »Mehrere Morde«, erklärte Brass. »Ein Serienkiller.« »Ich bitte Sie!«, fuhr Damon auf. »Sind wir hier im Kino, oder was?« »Haben Sie hier in Nord Las Vegas etwa öfter männliche Leichen mit Lippenstift im Gesicht und Sperma auf dem Rü cken?«
Damon öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. »Der Täter nennt sich CASt«, fügte Grissom hinzu. Damon sah ihn perplex an. Nach einer langen Pause schluckte er. »Heilige Scheiße… an den erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung, als ich noch am College war! Ver dammt… glauben Sie etwa, er war es?« Grissom und Brass sahen sich an, dann zuckte der CSILeiter mit den Schultern. »Wir wissen es nicht. Er war seit etwa elf Jahren nicht mehr aktiv. Wir werden sehen.« »Sie arbeiten natürlich eng mit mir zusammen«, sagte Da mon. »Ich meine, es ist mein Fall.« Brass wollte antworten, aber Grissom kam ihm erneut zu vor. »Selbstverständlich.« »Nun… dann, also gut.« Damon nickte, stemmte die Hände in die Hüften und plusterte sich ein wenig auf. »Freut mich, dass wir uns verstanden haben. Gut.« Grissom drehte sich zu seinen Leuten um. »Und?« »Im Hinterhof war nichts von Belang«, entgegnete Nick. »Der Vorgarten scheint auch sauber zu sein«, fügte Warrick hinzu. »Ich habe einen unvollständigen Schuhabdruck, aber das muss nichts bedeuten.« »Muss nicht, kann aber«, erwiderte Grissom. »Kann aber«, bestätigte Warrick grinsend. »Ich habe die Fingerabdrücke von der Nachbarin«, sagte Sa ra. »Aber sie behauptet, sie hat die Klingel und den Türgriff nicht angerührt. Sie hat nur in den Flur geschaut, die ›schreck liche Sache‹ gesehen und sofort die Polizei angerufen.« Auf Grissoms Gesicht erschien ein kleines Lächeln. »Finge rabdrücke, Schuhabdruckspuren, DNS-Proben… Wir haben schon mit weniger angefangen. Und wir haben einen M. O. der an vergangene Morde erinnert. Was meint ihr, Leute? Wollen wir unsere Netze auswerfen und den Killer an Land ziehen?«
2
Das Leben in Las Vegas hatte durchaus seine positiven Seiten. Wenn man vor allem und jedem flüchten und irgendwo unter tauchen wollte, dann konnte man das hier tatsächlich tun. Captain Jim Brass wusste dies nur zu gut. Man brauchte sich nur auf den Strip zu begeben. So verrückt es auch schien, der Teil von Vegas, wo am meisten los war, war für Einheimische das beste Versteck. Natürlich arbeiteten auch Ortsansässige in der City; aber dieje nigen, die dort keinen Job hatten, mieden die Gegend wie ein Atomwaffentestgelände in der Wüste – und diejenigen, die dort arbeiteten, taten in ihrer Freizeit genau dasselbe. Für den endlosen Geldzufluss auf dem Strip waren allein die Besucher verantwortlich. Wenn die Einwohner von Las Vegas zum Essen oder zum Spielen ausgehen wollten, hielten sie sich von diesem neonbeleuchteten Ameisenhaufen voller Touristenfallen fern und suchten Viertel auf, die nicht so trendy und teuer waren. War es Sherlock Holmes oder Poe’s Dupin, der einmal ge sagt hat, das beste Versteck befinde sich vor aller Augen? Nach diesem Prinzip erschien Brass und Grissom der Strip als der perfekte Ort für das Treffen mit Perry Bell und David Paquette vom Banner. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemandem begegneten, der sie alle vier kannte, war äußerst gering, und Brass hielt es zu diesem Zeitpunkt für das Beste, keinen Staub aufzuwirbeln.
Aber es ärgerte ihn, dass er gleich zu Beginn der Ermittlun gen mit Medienvertretern sprechen musste, denn wenn sie vernünftig arbeiten wollten, mussten sie den Fall so lange wie möglich vor der Öffentlichkeit geheim halten. Auf der Treppe des Parkhauses, das direkt an das Stra tosphere Hotel & Casino angeschlossen war, wandte sich Brass an Grissom. »Ich möchte Sie wirklich nicht von wichtigen Arbeiten im Labor abhalten.« Grissom zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Sie wollten, dass Catherine und ich Sie bei dieser Sache im Auge behal ten?« »Sie wollen also richtig auf mich aufpassen?« »Damit Sie nicht voreilig Ihre Harpunen abschießen, Cap tain.« »Jetzt halten Sie mal die Luft an, Gil! Ich bin seit einer Stunde an diesem Fall, und schon denken Sie, ich würde…« »Seit einer Stunde?« Grissoms Lächeln war freundlich und keine Spur spöttisch. »Ich würde sagen, Sie sind schon seit einem Jahrzehnt und länger an diesem Fall.« Brass empfand plötzlich eine große Zuneigung für seinen alten Kollegen. Solche Momente gab es nicht oft zwischen ihnen; zumindest erlaubten die beiden es sich nicht allzu oft, Gefühle zu zeigen. Dennoch konnte er eine gewisse Kränkung nicht verbergen, als er in scherzhaftem Ton zu Grissom sagte: »Dann sind Sie tatsächlich meinetwegen gekommen, Gil?« »Stets zu Ihren Diensten«, entgegnete Grissom wie aus der Pistole geschossen, jedoch ohne Brass in die Augen zu sehen. Das Raw Shanks Diner befand sich im hinteren Teil des Kasi nos. Hier regierte der Geist der fünfziger Jahre – von den Fies taware-Tellern über die Speisekarten bis zu den singenden Kellnerinnen und Kellnern, die den Gästen Songs von Elvis, Little Richard und Fats Domino auftischten.
Eine zierliche Kellnerin mit Cornrowsfrisur und großer Stimme schmetterte gerade den Etta-James-Klassiker »At Last«, als Brass und Grissom sich an einen Ecktisch setzten, der so weit wie möglich von der Karaoke-Kellnerin entfernt war. Ein Kellner mit einer Haartolle, auf die Frankie Avalon mit sechzehn neidisch gewesen wäre, brachte ihnen Kaffee, während die beiden Männer auf die Journalisten warteten. Ein Lokal mit derart gnadenlosem Entertainment würde kein Einheimischer besuchen, der noch halbwegs bei Sinnen war. »Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte Grissom. »Sicher.« »Ich würde nichts von der Nachahmer-Theorie erzählen.« Brass nickte. »Ja, Sie haben Recht. Erst mal sehen, was die beiden dazu sagen.« Der Captain hatte seinen Kaffee zur Hälfte ausgetrunken, als Kriminalkolumnist Perry Bell ihm vom Eingang aus zuwinkte. Hinter ihm standen zwei Männer – David Paquette, der Lokal redakteur des Banner, und Bells Rechercheassistent Mark Brower. Der Captain kannte Bell und Paquette nun schon fast elf Jahre, und Brower hatte er kennen gelernt, kurz nachdem die ser den Assistentenjob bei Bell angenommen hatte, was viel leicht sieben Jahre her war. Oder waren es acht? Brass seufzte, als ihm bewusst wurde, wie die Jahre verflogen waren und wie präsent ihm der alte CASt-Fall trotzdem noch war. Brower hatte zweifelsohne alle Geschichten über CASt ge hört, aber damals war er noch nicht bei der Zeitung gewesen. Er schien Anfang dreißig zu sein, und als die Morde gescha hen, musste er auf irgendeiner Journalistenschule oder sogar noch auf der Highschool gewesen sein. Die Empfangsdame – eine Sandra Dee nach den Vorstellun gen des Lokals (ironischerweise sang in diesem Moment ein Kellner »Splish Splash« von Bobby Darin) – sprach mit Bell,
der auf Brass zeigte, dann an der jungen Frau vorbeiging und mit Paquette und Brower im Gefolge auf ihren Tisch zukam. Der Journalist strahlte über das ganze Gesicht, ganz im Ge gensatz zu Brass: Er fragte sich, warum Brower mitgekommen war. Verdammt, er hatte Bell doch gesagt, dass er sich mit ihm und Paquette allein treffen wollte! Perry Bell war ein korpulenter Mann mit einem linksge scheitelten, dicken braunen Toupet und sah aus, als sei er in der Disco-Ära hängen geblieben: brauner Anzug mit breitem Re vers, dazu ein gelbes Hemd, dessen obere drei Knöpfe offen waren, damit man sein goldenes Davidsstern-Medaillon sehen konnte, das an einer goldenen Kette in seiner Brustbehaarung baumelte. Der breite Flatterkragen des Hemdes reichte weit über das Revers des Jacketts, als handele es sich um zwei große Flügel. Bells Kopf glich einem Betonklotz, an dem ein großer Klumpen Mörtel als Nase klebte, und seine tief liegenden dunklen Augen schauten unter breiten, dicken Brauen hervor. »Haben Sie einen heißen Tipp für mich, Jimbo?«, fragte er als Erstes und streckte Brass die Hand entgegen. Wirklich, dachte der Captain, ein Meister seiner Zunft… »Dazu kommen wir noch«, sagte er, schüttelte die feuchte Hand und ließ sie rasch wieder los. »Muss ja ‘ne große Sache sein«, bemerkte Bell und gab Grissom ebenfalls die Hand. »Wenn Sie sogar den CSI aller CSIs mitbringen – schön Sie zu sehen, Gil!« Grissom quittierte diese gewaltigen Worte mit einem knap pen Nicken. »Sie kennen ja beide meinen Boss und Kumpel Dave.« Der Redakteur wurde mit Kopfnicken begrüßt. Paquette hatte listige blaue Augen und immer ein Lächeln auf den Lippen. Sein blondes Haar war eines Winters vor langer Zeit in den Süden gezogen und machte keine Anstalten zurückzukehren.
Brass fand die gute Laune der beiden irgendwie aufgesetzt. Die Freundlichkeit, mit der sie einander – aber auch ihm und Grissom – begegneten, wirkte auf ihn irgendwie gezwungen. Als ihr Buch Der Fall CASt herauskam, hatten Paquette und Bell noch auf einer Stufe gestanden, aber danach hatten sich ihre Karrieren höchst unterschiedlich entwickelt. Gelassen, gut gelaunt und mit seinem Schicksal zufrieden war Paquette nun der Vorgesetzte seines alten Kumpels, der sich nach einem Senkrechtstart vor über einem Jahrzehnt inzwischen ordentlich festgefahren hatte: Seine Kriminalkolumne hatte für kurze Zeit einen landesweiten Höhenflug angetreten, um mit einer unsanf ten Landung dann wieder auf die Lokalebene zurückzukehren. Vielleicht war es sogar ein Akt der Barmherzigkeit seines alten Freundes, dass es Bill und seine Kolumne überhaupt noch gab. Brass und Grissom schüttelten erst Paquette die Hand, an schließend Brower. Dann nahmen sie alle Platz am Tisch, Bell neben Paquette, gegenüber von Brass und Grissom, während Brower sich einen Stuhl vom Nebentisch heranzog. Der junge Assistent war kräftig gebaut und muskulös, was ziemlich ungewöhnlich für einen Bürohocker war, und hatte kurzes, dunkelbraunes Haar. Seine dunklen Augen und die Denkerfalte zwischen seinen kräftigen Brauen zeugten von einem ernsten Charakter, während sein schmaler, beinahe lippenloser Mund ihm manchmal etwas Unheimliches gab, besonders wenn er lächelte. Aber er arbeitete nun schon ziem lich lange für Bell, und Brass vertraute ihm inzwischen genau so wie seinem Boss. Dennoch war Brower in diesem Moment ein ungebetener Gast, und Brass brachte es gleich zur Sprache. »Nehmen Sie es nicht persönlich, Mark«, meinte er entschuldigend und wandte sich an Bell: »Was macht er hier?«
Das Lächeln des Reporters schwand. »Mein Gott, Jim. Er… er ist mein Assistent. Mark begleitet mich überallhin, das wis sen Sie doch.« »Dachten Sie, wir wären nett zum Essen verabredet?« Bell sah Paquette und Brower an. »Sind wir das nicht?« Brass studierte das Gesicht des Journalisten eine ganze Wei le. »Ist Ihr Frequenzen-Scanner kaputt?« »Nein, warum?« »Haben Sie heute Morgen den Code 420 in Nord Las Vegas nicht mitbekommen?« Die Zeitungsmänner kannten natürlich alle den Funkcode für Mord. Bell zuckte mit den Schultern. »Ja und? Es gab nur eine Funkmeldung, dann nichts mehr. Ich dachte, falls es eine loh nende Geschichte ist, würde ich im Laufe des Tages mehr darüber erfahren. Wollten Sie darüber mit mir reden?« »Sich einen Mord entgehen zu lassen sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Perry…« Brass versuchte, mit neutraler Stimme wei terzusprechen, und gab sich gleichgültig. »Wo waren Sie denn den ganzen Morgen?« Der Reporter schien nicht zu bemerken, dass er ausgehorcht wurde. »Überwiegend im Büro.« »Den ganzen Morgen?« Nun schien Bell zu verstehen. Aus Erstaunen wurde Ärger, und er wollte gerade etwas sa gen, als der Kellner ihm und seinen Kollegen Kaffee brachte und Brass und Grissom nachschenkte. »Möchten Sie auch etwas essen?«, fragte der Kellner. »Nein«, entgegnete Brass und winkte ab. Der Kaffee war dampfend heiß, während Bell vor Wut fast kochte. »Was zum Teufel ist das hier für eine Scheiße, Brass?«, fuhr er auf, fasste sich aber gleich wieder, weil er merkte, dass er sich im Ton vergriffen hatte. Er sah sich um,
aber in dem ganzen Lärm schien niemand von den anderen Gästen etwas mitbekommen zu haben. »Ich meine, wirklich, Jim… habe ich mich irgendwie verdächtig gemacht? Was war das überhaupt für ein Mord, heute Morgen?« Brass sagte nichts. Paquette beugte sich mit ernster Miene vor. »Hören Sie, Captain Brass, wenn Sie einem meiner Mitarbeiter etwas vor zuwerfen haben, dann gehen Sie den offiziellen Weg, statt uns mit einer fadenscheinigen Ausrede in ein Restaurant zu bestel len!« Grissom sah ihn grimmig an. »Ein Mord ist keine faden scheinige Ausrede. Es ist sehr rücksichtsvoll von Captain Brass, sich inoffiziell mit Ihnen zu treffen!« Brass hob beschwichtigend die Hand. »Nein, Gil, Perry und Dave haben Recht.« Der Redakteur und der Kolumnist atmeten hörbar aus und lehnten sich abwartend zurück. Brower beobachtete das Ganze schweigend, aber äußerst konzentriert. Brass sammelte sich, nahm einen großen Schluck Kaffee und studierte Bell. Er überlegte, wie viel er den Journalisten anvertrauen sollte. »Es tut mir Leid, Perry… Dave«, sagte er schließlich. »Dieser Fall geht mir ziemlich an die Nieren, und wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin, dann schieben Sie es auf den Stress. Ich schätze Sie beide sehr!« Die beiden Journalisten zuckten mit den Schultern, zufällig nach dem Rhythmus von »All Shook Up«, das einer der Kell ner gerade in schönster Elvis-Manier zum Besten gab. »Aber«, fuhr Brass fort, »wenn dieser Fall an die Öffent lichkeit kommt, dann gibt es eine Menge Ärger.« Besänftigt griff Bell in die Innentasche seiner Jacke, um Stift und Block herauszuholen. »Also gut, dann wollen wir anfangen…«
Brass hob verteidigend die Hände, als wollte sein Gegen über ihn ausrauben. »Das ist es doch gerade – ich will die Sache noch nicht publik machen.« Der Reporter hielt inne, dann zog er die Hand langsam wie der aus der Jacke – ohne Stift und Block. »Aber wozu sind wir hier, Jim, wenn wir nicht darüber sprechen können?« Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Brass wieder das Be dürfnis nach einer Zigarette – aber er unterdrückte den Wunsch, schließlich hatte er das Rauchen aufgegeben. »Ich muss einfach mal inoffiziell mit Ihnen reden.« »Captain Brass«, sagte Paquette gereizt, »wir kooperieren sehr gern mit den Behörden, aber genau wie Sie haben auch wir unsere Arbeit zu tun. Wir sind der Öffentlichkeit verpflich tet.« »Sie sind mir verpflichtet«, erwiderte Brass, »und das zählt in diesem Fall mehr.« Der Redakteur schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, wie so.« »Ach, nein?«, fragte Brass. »Durch meine Kooperationsbe reitschaft bei einem bestimmten Fall konnten Sie einen Bestsel ler schreiben. Und daraufhin haben Sie beide Karriere ge macht.« »Was?«, fuhr Bell auf. »Und dafür wollen Sie jetzt eine Ge genleistung?« »Ganz genau«, entgegnete Brass. Paquette überlegte eine Weile. »Wenn es wirklich so ein di ckes Ding ist«, meinte er dann, »und Sie unsere Hilfe brauchen und wir sogar der Öffentlichkeit Informationen vorenthalten sollen, auf die sie ein Recht hat… dann wollen wir etwas dafür haben. Und zwar mehr als den Hinweis, dass Sie vor langer Zeit etwas für uns getan haben.« Brass und Grissom warteten schweigend darauf, dass er fortfuhr.
»Wenn es so weit ist«, sagte Paquette und legte die Hände flach auf den Tisch, »dann wollen wir exklusiv berichten.« Brass schwoll der Kamm, aber bevor er etwas sagen konnte, legte Grissom ihm seine Hand auf den Arm. »Unmöglich«, sagte er. »Und unzulässig obendrein.« Alle am Tisch wussten, dass die Polizei bei einem großen Fall keine Exklusivrechte vergeben konnte. Paquette hatte frech den ganzen Kuchen gefordert, um am Ende zumindest ein möglichst großes Stück davon abzubekommen. Brass lenkte ein. »Vierundzwanzig Stunden Vorsprung.« Paquette dachte nach, dann nickte er. »Um was geht es also?«, fragte Bell gespannt und richtete sich auf. Abgesehen von einer Enthüllungsgeschichte über Verbrechen in der Rapperszene, als Tupac Shakur erschossen wurde, hatte Bell seit dem CASt-Buch keine überregionalen Erfolge mehr gehabt. Und Brass’ Verhalten nach zu urteilen, ging es hier offenbar um eine große Sache. »Sie müssen es mir versprechen, Perry«, sagte Brass. »Nicht mal eine Andeutung, bevor ich Ihnen das Okay gebe. Das gilt für Sie alle! Sie können ganz normal über den Fall berichten, anhand der offiziellen Pressemitteilungen… aber den wesentli chen Aspekt müssen wir noch unter Verschluss halten.« Bell sah ihn durchdringend an. Ihm standen viele Fragen ins Gesicht geschrieben, aber er sagte kein Wort und nickte nur. »Wenn Sie sich nicht daran halten«, sagte Brass mit einem Lächeln, das keine Spur freundlich war, »dann ist es mit unse rer Zusammenarbeit ein für alle Mal vorbei!« »Hey, Jim, wann hat Sie einer von uns das letzte Mal übers Ohr gehauen?« Brass wischte sich mit der Hand über die Stirn. Himmel, er machte diesen Job schon seit einer halben Ewigkeit, und nun schwitzte er wie ein Neuling. Er hatte diese Männer, die immer Verbündete gewesen waren, grundlos gegen sich aufgebracht.
»Sie haben Recht«, entgegnete er. »Sie waren immer ehr lich. Ich würde Ihnen gern eine Frage stellen. Wie lange liegt er zurück, der Fall CASt?« Paquette, der offenbar dachte, dies sei eine weitere Anspie lung auf Brass’ Hilfe bei dem Buch, zog eine Augenbraue hoch, dann zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Zehn, elf Jahre vielleicht?« Er sah Bell fragend an. Der Kolumnist nickte. »Elf, wenn man es genau nimmt.« Dann blickte er Brass verständnislos an. »Aber das fällt doch in dieser Stadt schon unter Altertumsgeschichte. Soll das eine Anspielung sein, oder was?« Brass nahm einen Schluck Kaffee, und sein Blick wanderte von Bell zu Paquette und wieder zurück. »Wir fragen uns bis heute, warum er aufgehört hat – ist er bei einem Autounfall gestorben? Wurde er irgendwo anders verurteilt? Ist er umge zogen und hat woanders weitergemacht?« »Sie wissen, dass Letzteres nicht stimmen kann«, entgegne te Bell. »Ich habe die nationale Szene ständig im Auge und hätte es mitbekommen, wenn so etwas irgendwo noch einmal passiert wäre. Ich meine, der Modus Operandi ist schon ziem lich speziell.« »Leicht wiederzuerkennen«, pflichtete Brass ihm bei. »Was würden Sie dazu sagen, wenn dieser M. O. wieder in Erschei nung getreten wäre?« »Dann wüsste ich gern, wo«, entgegnete Bell. »In welchem Staat, in welcher Stadt – in welchem Land überhaupt?« »Nevada, Nord Las Vegas, in den Vereinigten Staaten von Amerika«, entgegnete Grissom. »Blöd…«, setzte Bell an, aber dann richtete er sich abrupt auf. »Das ist kein Scherz, oder?« Brass seufzte. »Fanden Sie unser Treffen etwa bisher be sonders witzig?«
»Derselbe Täter hat wieder zugeschlagen?«, fragte Bell. »In Nord Las Vegas, heute Morgen?« Brass wies mit dem Kopf auf Grissom. »Wir kommen gera de vom Tatort, und die Sache sieht ziemlich nach CASt aus.« »Klar und deutlich«, bemerkte Grissom. Brower hatte die ganze Zeit geschwiegen, aber nun beugte er sich gleichzeitig mit Bell und Paquette vor. Die drei sahen Brass so gierig an wie Kojoten, die Blut geleckt hatten. Die Augen des Captain wanderten von Bell zu Paquette. »Wir wollten mit Ihnen beiden reden, weil niemand sonst so viel über diesen Fall, über diese Morde, weiß, wie Sie… Und, Mark, offen gesagt ist das der Grund, warum mir Ihre Anwe senheit nicht passt. Nehmen Sie es mir nicht übel.« »Kein Problem«, entgegnete Brower. Bell ging jedoch augenblicklich unter die Decke. »Deshalb behandeln Sie mich also wie einen Verdächtigen! Weil ich einer bin! Hören Sie, Brass, Sie wissen genauso viel wie wir, sogar noch mehr. Sie und Vince Champlain waren unsere Hauptinformationsquellen!« »Das stimmt«, bemerkte Paquette. »Wir wollen doch nicht anfangen, die Polizei zu verdächti gen, meine Herren!«, warf Grissom ein. »Was soll das?«, platzte Bell heraus. »Der große Gil Gris som übt sich plötzlich in Zurückhaltung? Ich dachte, Sie folgen jeder Spur, wohin sie auch führt! Anscheinend jedoch nicht, wenn sie wie in diesem Fall zu Ihrem Kumpel Brass führt…« Es war Grissom hoch anzurechnen, dass er die Ruhe behielt. Die Presse ging dem CSI-Leiter ganz generell mächtig auf die Nerven. Sie rangierte auf seiner Unbeliebtheitsliste gleich hinter Vetternwirtschaft und Politik. Brass wusste das und schaltete sich rasch ein. »Hören Sie, ja, Sie haben Recht – Vince Champlain und ich wussten mehr über diesen Fall als jeder andere.«
»Unser Buch haben Zehntausende gelesen«, entgegnete Pa quette. »Die kennen den Fall auch in- und auswendig, von den nackten Opfern bis zu diesem Laufknoten im Seil. Und Mark hat so oft dabeigesessen, wenn Perry und ich beim Bier über CASt geredet haben, dass Sie ihn ebenfalls auf die Liste der Verdächtigen setzen müssen. Und vielleicht auch diesen Hol lywood-Produzenten, der die Option auf unser Buch hat, und dann noch…« »Der Täter«, warf Brass ein, »weiß mehr als das, was in Ih rem Buch steht – er weiß auch die Dinge, die wir und Sie der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt haben.« Bell stutzte. »Wie viel weiß… dieser Täter denn genau?« »Er kennt jedes verdammte Detail«, entgegnete Brass. »Und was Mr. Brower angeht, den setze ich gern ebenfalls auf die Verdächtigenliste. Wie viel haben Sie ihm denn erzählt?« »Hey, jetzt machen Sie aber mal einen Punkt«, sagte Bro wer. »Wenn Sie wissen wollen, was ich weiß, dann fragen Sie mich!« Paquette hob beschwichtigend die Hand. »Mark weiß mehr, als in dem Buch steht, aber er weiß nicht alles. Die Dinge, die Perry und ich bis zur Ergreifung des Täters für uns behalten wollten, haben wir auch ihm nicht erzählt. Wir haben sie nie mandem erzählt!« Brass schaute den Redakteur eine Weile an, dann wandte er sich Bell zu, der Paquettes Aussage mit einem Nicken bestätig te. Bell beugte sich wieder vor. »Hat er ihm wieder einen Fin ger…« Brass brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Seine Augen wanderten zu Brower, dann zurück zu Bell, der die Botschaft offenbar verstanden hatte. »Mark ist nun mal mein Rechercheassistent«, verteidigte er sich.
Kopfschüttelnd entgegnete Brass: »Sie dürfen niemandem von den beiden Details erzählen, die wir zurückgehalten haben. Auch jetzt nicht – besonders jetzt nicht!« Bei diesen Details, die der Öffentlichkeit vorenthalten wur den, um Trittbrettfahrer zu entlarven, handelte es sich um das Sperma auf dem Rücken des Opfers und den abgetrennten (und vom Tatort entfernten) Zeigefinger. Diese entscheidenden Aspekte kannten abgesehen von Brass und Grissom nur Pa quette und Bell, niemand sonst. Und es war wichtig, den Kreis der Eingeweihten möglichst klein zu halten, deshalb musste Mark Brower unter allen Umständen außen vor bleiben. »Ich verstehe«, sagte Bell aufgebracht und frustriert zugleich. »Ich verstehe…« Durch das Lokal erschallte jetzt die Karaoke-Variante von »Who’s Sorry Now?« von Connie Francis. »Dann hat also keiner von Ihnen diese Details weitergege ben?«, fragte Brass durch den Gesang der Kellnerin hindurch ganz direkt. Paquette schüttelte den Kopf. »Nach diesem Fall hat schon seit Jahren keiner mehr gefragt. Ein alter Hut.« »Ich habe bei Lesungen mit verschiedenen Leuten über den Fall gesprochen«, erklärte Bell hingegen. »Sogar dieses Jahr noch. Wissen Sie, ich habe unser Buch noch mal nachdrucken lassen, auf eigene Rechnung. Ich habe ein paar Kisten davon im Kofferraum, und man kann es bei Amazon kaufen und…« Dann erzählte er, dass er mit dem Nachdruck sogar auf Lese reise gegangen und bis nach Los Angeles gefahren war, um das Buch unter die Leute zu bringen. Es war schon traurig: Paquette hatte durch die Erstausgabe des Buches einigen Ruhm in der Stadt erlangt, der ihm schließ lich den Redakteursposten beschert hatte, und der untersetzte Bell, der weniger telegen war als Paquette, versuchte mit einem
selbst finanzierten Nachdruck seine in den Dreck gefahrene Karriere wieder anzuschieben. Aber Brass wusste, dass eine solche Maßnahme nicht aus reichte und auch viel zu spät kam, um Bells berufliches Schicksal noch einmal herumzureißen. Doch wie der Journalist auf seinen Rundreisen noch einmal das Rampenlicht suchte, Bücher aus dem Kofferraum verkaufte und sich verzweifelt an seine Kolumne klammerte, war schon ein wenig mitleiderre gend. Denn auch Mittagessen in Rotary-Clubs, Lesungen in klei nen Büchereien und gelegentliche Veranstaltungen in Museen würden das Feuer nicht wieder entfachen können, ein Feuer, das im Grunde wahrscheinlich nie richtig gebrannt hatte. »… aber ich habe natürlich nie mit jemandem über die Din ge gesprochen, über die wir Stillschweigen bewahren wollten«, sagte Bell zum Schluss seiner Ausführungen. »Ist es eine überarbeitete Ausgabe?«, fragte Grissom. »Ich habe eine neue Einleitung geschrieben, aber ansonsten haben wir den alten Text genommen – er wurde nicht mal neu gesetzt oder so.« Brass bemerkte ein Pochen hinter den Augen, aus dem sich in kürzester Zeit solide Kopfschmerzen entwickeln würden. Sie begleiteten ihn nun schon seit Jahren, und es hatte zu der Zeit angefangen, als er mit dem Fall CASt befasst gewesen war… »Entweder hat jemand Informationen rausgegeben, oder CASt ist zurück und geht immer noch auf dieselbe Art und Weise vor«, sagte er und studierte die Gesichter der Zeitungs leute. Paquette schien über die Äußerung nachzudenken, während Bell einen völlig schockierten Eindruck machte. Browers Miene dagegen war unergründlich, denn er blickte eigentlich immer so ernst wie in diesem Moment. Eine ganze Weile sagte keiner der Männer etwas.
Schließlich brach Paquette das Schweigen. »Haben Sie schon mit Ihrem alten Kumpel Vince geredet? Vielleicht hat er etwas ausgeplaudert?« »Gute Idee«, bemerkte Brower. Brass’ Worte waren kalt und hart: »Hören Sie, Mark, Ihnen lasse ich das durchgehen, weil Vince längst in Rente war, bevor Sie beim Banner angefangen haben. Aber, Dave, Sie sollten es besser wissen. Vince war immer ein guter Cop. Er hat noch nie die Ermittlungen gefährdet, bei keinem einzigen Fall!« »Aber wir reden natürlich sofort mit ihm«, sagte Grissom gelassen. »Sie haben Recht, wenn Sie ihn auf die Verdächti genliste setzen.« Brass sah den CSI scharf an. »Wir gehen vor wie bei jeder anderen Mordermittlung auch«, fuhr Grissom fort. »Wir reden mit jedem, der uns mög licherweise weiterhelfen kann. Zum Beispiel gibt es mindes tens ein halbes Dutzend weiterer Polizisten, die eventuell Zu gang zu den zurückgehaltenen Informationen über die genaue Vorgehensweise von CASt hatten.« »Richtig!«, rief Paquette und schnippte mit den Fingern. »Wem waren Sie und Champlain seinerzeit unterstellt?« »Dem damaligen Sheriff«, entgegnete Brass. »Der inzwi schen verstorben ist.« »Was ist mit Conrad Ecklie?«, fragte Bell. »Er war der Lei ter der CSI-Tagschicht. Er wusste davon!« »Wir werden mit ihm reden«, sagte Grissom. Brass wusste, wie sehr Ecklie und Grissom sich hassten. Ir gendeiner wird mit Conrad reden, dachte er, aber Gil ganz bestimmt nicht… »Denken Sie nach, meine Herren!«, sagte er. »Ich habe mich Grissom anvertraut – er hatte damals nur am Rande mit dem
Fall zu tun. Vielleicht haben Sie sich auch jemandem anver traut, und es ist Ihnen entfallen… Denken Sie darüber nach!« Die drei Journalisten verfielen in Schweigen. »Ich versichere Ihnen«, fügte Brass hinzu, »wir drehen je den noch so kleinen Stein einzeln um, wenn es sein muss.« Paquette und Bell funkelten ihn wütend an. »Sorry… Das sollte keine Drohung sein. Ich meinte nur, wir werden alles Erdenkliche tun, um diesen Kerl zu schnappen, und zwar fix. Wenn es wirklich CASt ist… Nun, wir wissen alle, wozu er fähig ist. Wenn er seine Serie wiederholen will, stehen noch vier Morde aus…« »Jesus!«, zischte Brower. »Und wenn es ein neuer Täter ist, der ähnlich vorgeht…«, stellte Brass in den Raum und zögerte, bevor er fortfuhr. »Da mit befassen wir uns erst, wenn uns nichts anderes mehr übrig bleibt. Wie dem auch sei – wir müssen diesen Kerl kriegen, und zwar schnell. Hören Sie, ich weiß, die Geschichte ist ein Knüller, aber wir müssen wenigstens am Anfang damit hinter dem Berg halten.« Bell sah seine beiden Begleiter an, die ihm mit einem Ni cken ihre Zustimmung zu verstehen gaben. Dann sagte er: »Wenn Sie etwas brauchen, Jim, lassen Sie es uns wissen. Wir tun, was wir können.« »Danke.« »Aber«, fügte Paquette hinzu und drohte mit dem Zeigefin ger, »wir bekommen die vierundzwanzig Stunden Vorsprung, denken Sie daran!« Brass nickte. »Das tun wir«, bestätigte Grissom. Als die beiden das Restaurant verließen, sang der ElvisKellner »Jailhouse Rock«.
Vince Champlain wohnte mit seiner zweiten Frau in dem A partment-Flügel des Seniorenheims Sunny Day in Henderson, das nicht weit vom Lake Mead Drive entfernt war. Am Tor wurden Brass und Grissom von einem Wachmann angehalten, der ihre Papiere prüfte und ihre Namen auf seinem Clipboard notierte. Die beiden kannten das Heim bereits, da Catherine und Warrick kürzlich an einem Fall gearbeitet hat ten, bei dem es um Morde auf der Pflegestation ging. Auf der linken Seite gab es ein Gebäude mit Apartments und auf der rechten ein Hochhaus mit Stationen unterschiedli cher Pflegestufen. Sunny Day war für viele Alte die Krönung des Lebensabends – oder die Endstation, je nachdem, in wel chem Teil der Einrichtung sie untergebracht waren. Brass fuhr auf den linken Flügel zu und fand nicht weit vom Eingang einen Parkplatz. Er hatte die Champlains vorher ange rufen, um den Besuch anzumelden. Als er nun im dritten Stock mit Grissom den Aufzug verließ und den Flur hinunterging, streckte eine zierliche blonde Frau bereits den Kopf aus der Tür und winkte ihnen aufgeregt zu. »Jimmy!«, jauchzte sie und strahlte über das ganze Gesicht. Grissom sah Brass von der Seite an und zeigte auf ihn. »Jimmy? Sie sind… Jimmy?« »Behalten Sie das lieber für sich!« »Da verlangen Sie aber einiges!« »Sonst muss ich Sie leider erschießen.« Grissom grinste Brass an, der wiederum die kleine Frau an lächelte, die mit ausgebreiteten Armen vor ihrer Tür wartete. »Margie!«, begrüßte Brass sie und ließ sich von ihr umar men und herzen, was sie angesichts ihrer zarten Statur mit überraschender Heftigkeit tat. Margie Champlain war nicht nur klein, sondern auch schlank – und kaum gealtert, seit Brass sie zuletzt gesehen hatte. Ihr blondes Haar war seit jeher gefärbt gewesen, und
schon damals hatte sie mindestens ein Facelifting hinter sich gehabt – und seitdem mindestens noch eines. Brass hatte sie kennen gelernt, kurz bevor ihr Mann in Rente ging. Sie war damals Barkeeperin in einer kleinen Kneipe in der Nähe der Fremont Street gewesen – und ein heißer Feger, dem Vince Champlain nicht hatte widerstehen können. Die Affäre hatte zwar zum Scheitern von Vinces erster Ehe geführt, aber er und seine Ex-Frau Sheila waren nun beide besser dran. Aus Vinces Affäre mit Margie war echte Liebe geworden, und Sheila war inzwischen glücklich verheiratet mit dem pensio nierten Geschäftsführer eines Casinos, des Golden Nugget. Brass wusste, dass die beiden Paare sich sogar gelegentlich zum Dinner verabredeten. »Wieso machst du dich so rar? Wir haben uns ewig nicht gesehen, Jimmy!«, sagte Margie und trat einen Schritt zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen, hielt ihn aber weiter an den Armen fest. »Das liegt an der verdammten Nachtschicht«, entgegnete Brass. »Da hat man kein Privatleben. Du hattest Glück, dass du dir Vince erst kurz vor der Rente geangelt hast.« »Ja, der ganze Spaß, den Polizistenfrauen haben, ist mir ent gangen, nicht wahr?« Sie ließ Brass jetzt endlich los und wand te sich Grissom zu. »Sie kenne ich aus dem Fernsehen! Sie sind der, der immer die bösen Jungs zur Strecke bringt!« Brass sah Grissom von der Seite an, der nicht so recht zu wissen schien, wie er reagieren sollte. »Ich nenne ihn gern meinen kleinen Helfer«, bemerkte Brass trocken. »Das ist Gil Grissom – die Antwort unseres kriminaltechnischen Labors auf Sherlock Holmes.« Grissom runzelte die Stirn. »Ich wusste nicht, dass Sherlock Holmes eine Frage ist.« Margie lachte auf, dann fragte sie Brass: »Sollte das ein Witz sein?«
»Das weiß man bei ihm nie so genau«, entgegnete er. Margie schüttelte Grissom die Hand. »Was sind Sie für ein flotter Käfer«, säuselte sie und hielt seine Hand weiterhin fest. Der CSI-Leiter lächelte nervös und schaute auf seine Hand wie ein Tier, das mit der Pfote in eine Falle geraten war. Würde er sie abbeißen müssen, um wieder frei zu kommen? »Ist Vince schon zurück?«, fragte Brass. »Leider nicht«, entgegnete Margie und ließ Grissoms Hand los. »Wie ich schon am Telefon sagte, er ist seit dem frühen Morgen unterwegs.« »Aber er kommt bald wieder?« »Jede Minute«, meinte sie. »Kommt doch einfach rein, Kin der, und wartet auf ihn. Ich mache uns einen Koffeinfreien.« Margie hatte Brass am Telefon gesagt, dass Vince wieder zu Hause sein müsste, bis sie einträfen. Aber weil Zeit für ältere Leute häufig eine ziemlich abstrakte Größe war und sie sich oft nach Gesellschaft sehnten, überlegte Brass, ob er und Grissom tatsächlich mit hineingehen sollten. Unter Umständen ver schwendeten sie wertvolle Zeit, denn bei Mordfällen waren die ersten Stunden immer die wichtigsten. Da er wusste, dass Grissom wahrscheinlich ähnlich dachte, sah er ihn fragend an, aber der CSI zuckte nur mit den Schul tern und überließ ihm die Entscheidung. Bevor Brass gezwungen war, einen Entschluss zu fassen, tauchte ein großer, athletischer Mann mit silbergrauem Haar im Korridor auf. Vince Champlain war braun gebrannt, trug eine hellgraue Trainingshose, ein dunkelgrau-schwarz gestreiftes Poloshirt und Tennisschuhe. Mit federndem Gang ohne jedes Anzeichen von Schwäche oder Alter kam er auf sie zu. Auf seinem Gesicht, das von einem silbergrauen Schnurr bart geziert wurde, breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
Seine Zähne waren ein wenig zu weiß und zu gerade, um echt zu sein. »Jim! Du dreckiger Hu…« »Pssst!«, machte Margie. »Vince, bitte… die Nachbarn!« Dann flüsterte sie Brass und Grissom zu: »Wir haben links und rechts von uns verdammt prüde Leute. Und dann Vince mit seiner verfickten Bullen-Klappe!« Grissom machte große Augen, und Brass musste grinsen. Margie hatte sehr, sehr lange hinter der Theke gearbeitet… Champlain klopfte Brass auf die Schulter, dann nickte er Grissom grinsend zu. »Ihr Name steht ständig in der Zeitung, und Ihr strahlendes Gesicht sehe ich häufig in der Glotze, Gilbert. Sie haben echt was drauf!« Grissom zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. »Gehen wir rein«, sagte der ehemalige Cop und winkte sie zu der offenen Wohnungstür, »damit ich ›Hurensohn‹ sagen kann, ohne dass Margie eine Herzattacke kriegt.« »Vincent!«, schimpfte Margie, aber sie lächelte. Sie ging als Erste hinein, und Champlain folgte ihr. Brass sah Grissom an. »Nach Ihnen, Gilbert…« »Nein, nein – Sie zuerst…Jimmy«, entgegnete Grissom. Die beiden grinsten sich an, und Brass fragte sich, ob die Flachserei Grissom angesichts dessen, was sie an diesem Tag schon gesehen hatten, genauso gut tat wie ihm. Champlain schloss hinter ihnen die Tür, und Brass und Gris som sahen sich das Wohnzimmer an. Es war nicht besonders groß, machte aber dafür, dass es sich im Apartment-Flügel eines Altersheims befand, einen sehr gemütlichen Eindruck. In einer Ecke stand ein großer Fernseher, in der anderen ein verschlissener Klubsessel und an der Wand neben der Tür ein Sofa mit Blumenmuster. Ein zweiter Sessel und ein Beistell tisch, auf dem sich Zeitschriften stapelten, machten die Sitz
gruppe komplett. Champlain lud Grissom und Brass mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. »Wie wär’s mit einem Bier?«, fragte er. »Nein, danke«, sagte Brass. »Wir sind im Dienst.« »Ich dachte, ihr arbeitet nur nachts?« »Der Tagschicht sind die Leute ausgegangen«, erklärte Grissom. »Wir schieben Doppelschichten«, fügte Brass hinzu. »Beschwer dich nicht!«, entgegnete Champlain. Er hatte zu den Cops gehört, die mit Leidenschaft ihrem Beruf nachgingen, und war nicht besonders scharf auf die Rente gewesen. »Ich vermisse das, was ihr habt… obwohl die Rente auch ihre Vor züge hat.« Margie stand unschlüssig in der Küchentür. »Möchtet ihr jetzt einen Kaffee?« »Gern«, antwortete Brass. »Ja, danke«, sagte Grissom. »Für mich eine Flasche Wasser bitte, Schatz«, bat Champlain. Margie verschwand in der Küche. »Zwei unter Par habe ich heute geschafft«, sagte Champlain nicht ohne Stolz. »Golf ist einer von den eben erwähnten Vor zügen.« »Wo spielst du denn?«, fragte Brass pflichtschuldig. »Rio Secco«, entgegnete Champlain, als wäre der Name je dem ein Begriff. Brass nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, und Grissom machte ein Gesicht, als spräche Champlain Esperanto. »Aber«, sagte der Pensionär mit einem Blick zur Küchentür, »ihr Arbeitstiere habt sicher nicht den langen Weg ins Rent nerheim gemacht, damit ich euch was übers Golfen erzähle. Was ist los?« »Ich glaube, wir haben einen Geist«, sagte Brass.
Champlain beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor. »Die Vergangenheit rasselt mit den Ketten? Ist ein alter Kumpel von uns wieder aufgetaucht?« Margie brachte ein Tablett mit Kaffee und einer eisgekühl ten Flasche Evian für ihren Mann herein. Wieder blieb sie unschlüssig stehen und überlegte ganz of fensichtlich, ob sie sich zu den Männern setzten sollte oder ob sie unerwünscht war. »Was ist eigentlich der Grund für diese nette Überraschung?«, fragte sie schließlich. »Etwas Dienstliches«, entgegnete Champlain. »Oh«, machte Margie, und ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. »Mir fällt gerade ein, ich muss noch im Schlafzim mer Ordnung machen.« Champlain schenkte seiner Frau ein warmherziges Lächeln. »Danke, Baby.« Nachdem »Baby« von Anfang siebzig in den Flur gegangen und rechts in einem Zimmer verschwunden war, sah Champlain seine Besucher erwartungsvoll an. »Heute Morgen wurde Gil zu einem Mordfall in Nord Las Vegas gerufen. Der M. O. kam mir verdammt bekannt vor – Vince, das Ganze hat mich sehr an CASt erinnert.« Unter seiner Bräune wurde Champlain blass. »Du willst mich wohl verarschen…« Brass schwieg. Champlain blies die Backen auf und stieß die Luft aus, als stünde vor ihm eine Geburtstagstorte mit so viel Kerzen, wie er Lebensjahre zählte, die er alle auf einmal auspusten wollte. »Okay, Jim, dann erzähl mal, und zwar von Anfang bis Ende.« Das tat Brass, und diesmal ließ er nichts aus, auch nicht die Nachahmer-Theorie. Sein Ex-Partner seufzte erneut, dann schüttelte er den Kopf. »Aber wenn dieser Mord eindeutig die Handschrift von CASt
trägt, wie du sagst, kann es kein Trittbrettfahrer sein. Wir haben doch damals alles unter Verschluss gehalten.« »Einige Aspekte am Tatort deuten darauf hin, dass es sich im Gegensatz zu der Vorgehensweise des ursprünglichen Tä ters hier um eine Inszenierung handelt. Aber wir können nichts ausschließen – auch die Möglichkeit nicht, dass CASt wieder aufgetaucht ist.« »Und womit kann ein alter Rentner wie ich euch helfen?«, wollte Champlain nun wissen. Eigentlich sah der »alte Rentner« fitter aus, als Brass sich je gefühlt hatte. »Hast du mit jemandem über diesen Fall gespro chen? Mit irgendjemandem?« »Nicht mehr, seit das Thema vor Jahren aus den Zeitungen verschwand. Und du weißt doch, wie vorsichtig wir damals waren – nur der Sheriff, Gott habe ihn selig, und der CSI-Leiter der Tagschicht wussten von den zurückgehaltenen Details.« »Und in letzter Zeit?«, fragte Brass. »Ich meine, du sitzt hier doch vielleicht mal mit neuen Freunden zusammen, und ihr tauscht Geschichten aus dem Berufsleben aus.« Champlain winkte ab. »Vergiss es, Jim! Wie ihr beide wisst, gehen wir Cops nicht mit unseren Misserfolgen hausieren… und CASt war mein größter.« Nickend fragte Brass: »Und was ist mit Margie?« »Nein. Sie ist zwar nicht zimperlich, aber für die harten Fak ten meines Jobs ist sie doch zu zart besaitet. Und ich kann mich auch nicht erinnern, jemals ausführlicher mit Sheila über den Fall gesprochen zu haben. Aber das ist natürlich schon sehr lange her«, sagte Champlain mit gerunzelter Stirn. »Jungs, ich fürchte, ich kann nichts für euch tun. Gott weiß, wie gern ich euch helfen würde! CASt war der dickste Fisch, der mir durchs Netz gegangen ist.« »Ich weiß, wie dir zumute ist, Vince«, sagte Brass. »Aber wir mussten dich danach fragen.«
»Soll ich ehrlich sein?«, entgegnete Champlain. »Ich versu che es zu vermeiden, überhaupt an diesen gottverdammten Fall zu denken! Wir waren so dicht dran, den Bastard zu schnap pen! So dicht, Jim! Ich konnte die Arbeit immer ganz gut hinter mir lassen, wenn ich abends nach Hause ging. Aber dieser Fall… Diese armen Kerle, die gedemütigt und erdrosselt wur den… Die Bilder von den Tatorten haben mich nachts ver folgt…« Champlain schüttelte sich. Brass und Grissom standen auf. »Wenn er es war«, sagte Brass, »dann kriegen wir ihn. Kei ne Sorge, Vince!« »Und wenn er es nicht war?« »Wenn er es nicht war, sondern irgendein anderer kranker Bastard, dann kriegen wir ihn auch. So oder so – dieser Killer wird gefasst.« Champlain erhob sich ebenfalls und brachte sie zur Tür. Er klopfte Brass auf die Schulter. »Du bist wirklich nicht mehr der junge Kerl, der in meine Fußstapfen trat, als ich in Rente ging.« »Das waren ziemlich große Fußstapfen«, entgegnete Brass. »Und ich kann mich nicht daran erinnern, jemals jung gewesen zu sein.« »Es wird dir wieder einfallen«, versicherte Champlain ihm. »Ganz sicher!« »Das ist schon Ewigkeiten her«, erwiderte Brass. »Viele Jahre und viele Tode…« Unvermittelt schaltete Grissom sich ein. »Die Bedingung, unter der Gott dem Menschen die Freiheit gab, ist ständige Wachsamkeit.« »Wer hat das gesagt?«, fragte Brass ihn mit einem spötti schen Grinsen. »Richter John Philpot Curran«, antwortete Champlain an Grissoms Stelle.
Grissom war beeindruckt und verbeugte sich lächelnd vor dem pensionierten Cop. »Aber«, fügte dieser hinzu, »ich bezweifle, dass der Richter dabei ausgerechnet an das Morddezernat von Las Vegas dach te.« Grissom zuckte mit den Schultern. »Nun, da gibt es noch ei ne andere alte Redensart, die Sie bestimmt kennen, Vince.« »Und die wäre?« »Wem der Schuh passt, der zieht ihn sich an.«
3
Fast alle schwarzen Ledersessel an dem großen rechteckigen Tisch im Konferenzraum des CSI waren besetzt, nur der Platz am Kopfende war noch frei. Im Schein der Neonbeleuchtung wirkten die Versammelten totenbleich, und sie saßen um den Tisch wie die Angehörigen bei der Testamentseröffnung eines verblichenen reichen Patriarchen, die alle nicht damit rechne ten, auch nur einen einzigen Cent abzubekommen. Catherine Willows lehnte sich zurück, verschränkte die Ar me vor der Brust und taxierte unauffällig die Gesichter der anderen. Links von ihr saß Warrick Brown und studierte mit müden Augen und grimmiger Miene irgendwelche Papiere. Schräg gegenüber hing Nick Stokes zusammengesunken und ungewöhnlich deprimiert in seinem Sessel und starrte mit verkniffenem Mund ins Leere. Direkt gegenüber von Catherine saß Sara, die geistesabwesend mit ihrem Stift spielte. Mit hohlem Blick ließ sie ihn auf der Tischplatte rotieren. Das leistungsstarke CSI-Nachtschichtteam, das nicht nur für sein Können und sein Engagement berühmt war, sondern auch für seine Geduld, schien nach einer trostlosen Woche voller Fehlschläge am Ende seiner Kräfte zu sein. Links von Sara saß Greg Sanders, der erstklassige Experte aus dem DNS-Labor, dessen unerklärlichem Wunsch, in den schlechter bezahlten CSI-Außendienst zu gehen, Grissom kürzlich nachgekommen war. Während er einen Bericht las, wippte er auf und ab und nickte mit dem Kopf im Rhythmus eines Songs, den er offenbar im Kopf hatte. Er schien der
Einzige in der Runde zu sein, der zufrieden mit seinem Stand bei den derzeitigen Ermittlungen war. Gegenüber von Greg, rechts von Catherine, saß Dr. Al Rob bins, dessen Krückstock neben ihm am Tisch lehnte. Sein Blick war starr auf die Autopsiefotos gerichtet, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte wie ein Verliererblatt beim Kar tenspiel, aus dem er durch Sortieren doch noch etwas herausho len wollte. In seinem graumelierten Bart hatte das Grau im Laufe der Jahre die Oberhand gewonnen. Die sonst so fröhli chen Augen des Doktors wirkten trüb, während er sich noch einmal ein schreckliches Foto nach dem anderen anschaute. Dass er ebenfalls hier in der Runde saß, zeigte, wie ernst die Lage war. In der Regel war der Coroner kaum außerhalb seiner Autopsieräume anzutreffen. Links von Warrick saß Brass, der geistesabwesend in die Luft starrte, als überlegte er sich, ob er weiter sauer sein oder sich der Verzweiflung hingeben sollte. Er war als Letzter he reingekommen und hatte einen großen Karton mitgebracht, der nun neben ihm auf dem Boden stand. Gil Grissom, der das Treffen einberufen hatte, war immer noch nicht eingetroffen, und seine entmutigte Truppe wurde allmählich zappelig. Sie arbeiteten seit acht Tagen an dem Mordfall Marvin Sandred und hatten immer noch nicht viel mehr in der Hand als den Namen des Opfers. Das einzig Er freuliche war im Moment die Berichterstattung in der Presse – niemand hatte Sandred bisher mit CASt in Verbindung ge bracht. Es war ihr erstes Meeting in der Gruppe, bei dem alle ihre Erkenntnisse vorstellen und miteinander vergleichen konnten – und sie auch über die Laborergebnisse informiert werden soll ten, die gerade erst fertig geworden waren. Endlich betrat Gil Grissom den Raum. Der CSI-Leiter wirk te genauso ernst wie seine Kollegen, zeigte jedoch keinerlei
Anzeichen von Frustration. Catherine bewunderte vieles an Gil, vor allem aber seine Fähigkeit, objektive Professionalität zu bewahren, egal wie heftig es auf sie niederprasselte. Aber es gab auch Ausnahmen; selbst Grissom hatte seine schwachen Momente. Bei Gewalt gegen Kinder kam seine emotionale Seite zum Vorschein, aber in der Regel bewahrte er sich ein hohes Maß an wissenschaftlicher Distanziertheit, für das Ca therine ihn bewunderte, ohne jedoch selbst danach zu streben. Sie hatte gemerkt, dass sie besser arbeiten konnte, wenn sie sich eine gewisse Emotionalität und manchmal sogar Subjekti vität bewahrte. Es gab eben unterschiedliche Konzepte. Grissom trug einen hellblauen Laborkittel über seinem schwarzen Standardoutfit und hatte seine Brille auf. Mit einem dumpfen Schlag ließ er einen Stapel Akten auf den Tisch fal len, als er an seinem Platz angekommen war. Um seine Lippen spielte ein abschätziges Grinsen, an dem zu erkennen war, dass er sich in einer Stimmung befand, in der jeder andere das Mo biliar zertrümmert und aus dem Fenster geworfen hätte. Catherine richtete sich auf. »Lass mich raten – da oben hasst uns jemand…«, versuchte sie zu scherzen, verstummte jedoch gleich wieder. »Gut erkannt, Catherine«, entgegnete Grissom nämlich mit grimmiger Stimme. Nick stöhnte. »Atwater?« »Atwater«, bestätigte Grissom, und aus seinem Mund klang es eher wie ein Schimpfwort und nicht wie der Name eines Menschen – ihres Vorgesetzten, des Sheriffs. »Jemand hat ihn angerufen… und auf CASt angesprochen.« »Ach, zum Teufel«, sagte Warrick und schlug frustriert auf den Tisch. »Unser geschätzter Sheriff wollte meine Zusicherung, dass niemand vom CSI der Presse etwas zugespielt hat.«
»Wer nervt denn den Sheriff?«, fragte Brass scharf. »Unser Kumpel Perry Bell?« »Nein«, entgegnete Grissom. »Das Fernsehen, ein Lokal sender.« Catherine dachte nach. »Können wir unseren Kollegen aus dem Norden vertrauen? Bill Damon und Henry Logan? Du hast Logan ganz schön zugesetzt.« »Habe ich?« Grissom schien überhaupt nicht zu wissen, worauf Catherine anspielte. »Ich könnte mir eher vorstellen, dass einer unserer ›Freun de‹ vom Banner es den Jungs vom Fernsehen gesteckt hat – mit solchen Tipps werden Geschäfte gemacht«, erklärte Brass. »Sobald das Stichwort CASt in den Medien gefallen ist«, bemerkte Nick, »ist die Übereinkunft mit den Zeitungsfritzen null und nichtig, und sie können sich nach Herzenslust darüber auslassen.« »Wenn diese Clowns uns übers Ohr gehauen haben«, sagte Brass, und sein Ton war so hart wie der Tisch, auf dem seine Hände ruhten, »bekommen sie nie wieder etwas von diesem Department… Gil, wissen Sie, wer genau beim Sheriff angeru fen hat?« Für Grissom war ein Reporter wie der andere. »Jill Ganine«, sagte er achselzuckend. »Vielleicht sollten wir uns mal mit ihr unterhalten«, meinte Brass. »Ich habe nicht vor, meine Zeit mit den Medien zu vergeu den«, widersprach Grissom. »Falls die vom Banner sich nicht an die Absprache gehalten haben, kommen wir dem Mörder keinen Schritt näher, wenn wir wissen, wer genau geredet hat.« Brass verzog das Gesicht. »Richtig. Sie haben Recht«, räumte er ein.
»Wir hatten eine ganze Woche ohne den Druck der Presse, und dieser Luxus hat uns zu einem guten Start verholfen«, sagte Grissom und zog die Augenbrauen hoch. Warrick sah seinen Boss an, als wäre er nicht ganz dicht, sagte aber nichts. »Also«, sagte Grissom und setzte sich endlich auf seinen Stuhl. »Wir arbeiten konzentriert an dem Fall, und um die Medien machen wir uns in unserer Freizeit Gedanken… Und wenn einer von euch freie Zeit hat, dann soll er sich bei mir melden. So… was haben wir denn alles?« Er schaute erwartungsvoll in die Runde, aber niemand woll te freiwillig den Anfang machen. Kein gutes Zeichen, dachte Catherine. Ihr war jedoch auch nicht danach, als Erste den Finger zu heben. Grissom sah Greg an, der rechts von ihm saß. Offenbar spürte der CSI-Leiter, wer als Einziger im Raum positiv ge stimmt war. »Machen Sie mich glücklich, Greg!« »Das ganze Blut stammt von dem Opfer«, entgegnete Greg. Grissom sah keine Spur glücklicher aus als vorher. »Sonst noch was?« »Das Sperma auf dem Rücken stammt nicht von dem Opfer. Wir konnten es noch nicht identifizieren – CODIS läuft noch.« Die DNS-Datenbank wuchs zwar ständig, aber Catherine wusste nur zu gut, dass man nicht unbedingt mit einem Treffer rechnen durfte. »Catherine«, wandte sich Grissom jetzt an sie. Er wirkte schon viel gelassener, sein Zorn auf den Sheriff und die Me dien schien verflogen. »Was wissen wir über das Opfer?« Ohne den Bericht zu Hilfe zu nehmen, der vor ihr auf dem Tisch lag, sagte Catherine: »Marvin Sandred, siebenundvierzig, lebte seit etwas mehr als einem Jahr in Las Vegas. Seit sechs Monaten hat er bei einer Firma für Schweißgeräte gearbeitet.«
Sie sah Brass an, der den Faden aufnahm. »Ich habe mit Sandreds Boss und einem halben Dutzend Kollegen gespro chen. Niemand hatte etwas Schlechtes über ihn zu sagen. Al lerdings auch nichts Gutes – er war immer noch der Neuling und nicht besonders gut in den Betrieb integriert. Die anderen empfanden ihn als traurig und nicht richtig bei der Sache, als verrichte er die Arbeit nur notgedrungen, bis er sich wieder dem widmen konnte… was ihn wirklich interessierte.« Nun übernahm Catherine wieder. »Er stammte aus Eau Clai re, Wisconsin. Seine Ex-Frau wohnt noch dort. Sie heißt And rea Dean, kurz Annie, und hat wieder geheiratet, nachdem Marvin nach Las Vegas gegangen war.« Grissom horchte auf. »Wie hast du das herausgefunden?« Jetzt schaltete sich Brass wieder ein. »Ich habe Catherine gebeten, für mich anzurufen. Ich weiß, das gehört nicht zu den CSI-Aufgaben, aber ich hatte das Gefühl, bei einem Gespräch von Frau zu Frau kriegen wir mehr heraus.« »Sie ist regelrecht zusammengebrochen, als ich es ihr sag te«, erzählte Catherine. »Sie hat furchtbar geweint und mich gebeten, fünf Minuten später noch mal anzurufen. Das tat ich, und sie hatte sich gefasst und beantwortete alle meine Fragen. Aber das hilft uns nicht viel weiter.« »Hatte sie noch Kontakt zu ihrem Ex?«, fragte Grissom. »Hat sie ihn hier besucht?« »Sie haben ein paar Mal miteinander telefoniert. Sie hatten keine Kinder und haben sich im Streit getrennt, als er sich seine Rentenversicherung auszahlen ließ und hierher zog… weil er sich im Glücksspiel versuchen wollte.« »Das ist ihm also bei der Arbeit im Kopf herumgegangen«, bemerkte Warrick. Catherine und Brass nickten. »Übrigens«, sagte Brass, »die Befragung der Nachbarn war ein Reinfall. Die paar Leute, die zu Hause waren, haben keinen
Fremden in der Straße bemerkt und schon gar keinen Mörder aus dem Haus kommen sehen.« »Das war’s dann wohl mit den brauchbaren Aussagen«, sag te Grissom. »Was ist mit den Beweisspuren?« »Der unvollständige Schuhabdruck stammt von einem aktu ellen Air-Stasis-Laufschuh«, entgegnete Warrick. »Solche Schuhe haben wir weder in Sandreds Schrank noch irgendwo sonst in seinem Haus gefunden… und bei den Leuten nebenan auch nicht. Er stammt also möglicherweise von dem Täter.« »Gut, Warrick«, sagte Grissom. »Die unvollständigen Fingerabdrücke an der Klingel und der Türklinke stammen nicht von Sandred«, erklärte Sara. »Wissen wir, von wem sie sind?«, fragte Grissom. »Ich habe sie durchs AFIS gejagt, aber Fehlanzeige«, sagte Nick. »Ich habe Spielbankenkommission und Armee gecheckt… aber da war nichts zu finden«, fügte Sara hinzu. »Sonst irgendwelche Hinweise?«, fragte Grissom. »Nur diese schwarzen Fasern, die du gefunden hast«, sagte Nick. »Polyester.« Grissom sah den Coroner an. »Das Opfer starb an Asphyxie durch Strangulation«, berich tete Dr. Robbins. »Es muss versucht haben, sich zur Wehr zu setzen. Aber mehr habe ich leider nicht zu bieten.« »Haben Sie sich die alten CASt-Akten angesehen?« »Ja, die Todesursache ist dieselbe.« Grissom nickte, der Coroner ebenfalls. Dann stand er auf, hängte sich seinen Krückstock an den Arm und verließ mit seiner dicken Fotomappe den Raum. In der Tür blieb er noch einmal stehen. »Das war kein schöner Tod«, sagte er. »Es wäre nett, wenn ich mir nicht noch mehr Fotos dieser Art anschauen müsste.«
»Wir werden sehen, was wir tun können, Doc«, entgegnete Catherine. Robbins nickte mit ernster Miene und ging hinaus. »Es braucht schon einen richtig perversen Übeltäter«, sagte Nick, »um dem Coroner so die Stimmung zu vermiesen.« Grissom sah ihn an. »Du hast die Lippenstift-Datenbank durchgearbeitet…« »Ja, der vom Täter verwendete heißt ›Bright Rose‹ und ist von Ile De France. Er ist ganz ähnlich wie ›Limerick Rose‹, den CASt damals bevorzugte, aber nicht genau gleich.« »›Limerick Rose‹ ist auch von Ile De France«, bemerkte Catherine. Nick reagierte mit einem knappen Grinsen. »Da spricht die Expertin… Das Problem mit ›Bright Rose‹ ist, dass er überall verkauft wird – von den Kosmetikabteilungen der Kaufhäuser bis Walgreens. Da sind unsere Chancen kaum größer als bei einer Flasche Wasser.« »Mit dem Seil ist es genauso«, fügte Warrick hinzu. »Das kann man in jedem Haushaltswarenladen kaufen. Aber ich habe Hautzellen von beiden Enden des Seils.« »Ich bin mit der Untersuchung noch nicht fertig«, erklärte Greg. »Ich versuche herauszufinden, welche vom Opfer stam men und welche von dem Killer. Wo das Seil um den Hals des Opfers lag, war es einfach, aber was den Rest des Seils angeht, muss man rekonstruieren, wo das Opfer daran gezerrt hat, um sich zu befreien, und wo der Mörder es angefasst hat. Dann wissen wir erst, welche Zellen von wem stammen.« Grissom legte den Kopf schräg. »Und wie lange dauert das?« »Nicht mehr sehr lange.« »Gut, Greg, hängen Sie sich rein, und halten Sie mich auf dem Laufenden!«
»In diesem Zusammenhang ist Reinhängen kein schönes Wort«, meinte Greg. »Ich bin hier für Galgenhumor zuständig, Greg«, entgegnete Grissom, »und ich bin jetzt nicht in der Stimmung.« Der Laborant hob die Augenbrauen und sah überall hin, nur nicht in Grissoms Gesicht. »Um auf Ihre Arbeit zurückzukommen, Greg«, fuhr Gris som mit hinterhältigem Grinsen fort. »Haben Sie nicht drin gend etwas zu erledigen?« »Ja, doch, habe ich.« Greg erhob sich mit einem Lächeln, das zu den gequältesten in der Geschichte der Menschheit zählte. »Hab was zu erledigen. Dringend. Bis dann, Leute!« Er schnappte sich seine Akten und verließ den Raum. So viel zu dem Einzigen in der Runde, der guter Stimmung war. Grissoms Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. »Also gut, dann zu unserer Vorgehensweise.« »Sie wollen mir sagen, wie wir vorgehen, Gil?«, fragte Brass. »Ja«, entgegnete Grissom nur. Brass dachte kurz nach. »Okay.« »Wenn Sie mit dieser Reporterin reden wollen, Jim, nur zu! Aber vorher setzen Sie sich mit Catherine und Nick zusam men.« Brass nickte zögernd. »Cath«, fuhr Grissom fort, »ich möchte, dass du mit Nick die alten Akten durchgehst, alle fünf Morde, alle Verdächtigen. Findet so viel heraus, wie ihr nur könnt. Vergleicht die Fakten ganz genau mit dem aktuellen Fall. Zuerst redet ihr mit Jim. Und dann findet heraus, wo die Verdächtigen von damals sind. Ob hier in der Stadt, verzogen oder verstorben – ich will wis sen, wo sie stecken. Und mit dem Wissen, das ihr aus den Akten bekommt, entwickelt ihr Theorien dazu, ob einer der
Verdächtigen vielleicht mit einem leicht veränderten M. O. wieder im Geschäft sein könnte.« »Theorien?« Catherine traute ihren Ohren nicht. »Ganz genau. Keine wilden Vermutungen.« »Aber gern!« »Warrick, Sara und ich arbeiten an den Beweisspuren aus Sandreds Haus weiter. Vielleicht finden wir etwas, das wir bisher übersehen haben. Nennt es eine erste Theorie, aber ich sage es ganz offiziell: Der Kerl hat gerade erst angefangen.« Das war nicht aus der Luft gegriffen, wusste Catherine. Sie alle erkannten die Handschrift eines Serienkillers auf den ersten Blick, und es war ziemlich eindeutig, dass dieser Mist kerl noch mehr vorhatte. »Es gibt noch einen weiteren beunruhigenden Aspekt«, fuhr Grissom fort. »Wenn wir es – wie seinerzeit bei unserem Möchtegern-Jack-the-Ripper – mit einem Nachahmer zu tun haben, dann wird es eine bestimmte Zahl von Opfern geben … fünf, um genau zu sein, und danach hört unser mordender Performancekünstler auf und verschwindet in der Nacht.« »Wie der Original-Ripper«, sagte Nick. »Zum Teufel«, sagte Warrick, »wie der Original-CASt!« Grissom, Warrick und Sara standen auf und überließen den Konferenzraum Brass, Nick und Catherine, die sich am Kopf ende des Tischs zusammensetzten. Brass nahm sich den großen Karton vor. Geschäftsmäßig holte er die erste Akte heraus. »Der erste Mord geschah im November 1994. Das Opfer hieß Todd Henry. Er wohnte in einem Apartment im Zentrum. Keine Familie, keine Freunde. Er war fast eine Woche tot, bevor wir davon unterrichtet wur den.« »Wer hat ihn gefunden?«, fragte Nick. »Der Geruch war so schlimm, dass die Nachbarn sich bei der Polizei beschwert haben, und dann sind wir rein. Der Mann
lag mit dem Seil um den Hals im Wohnzimmer auf dem Bo den.« »War der Tathergang von Anfang an derselbe? Lippenstift, Sperma, Seil?« »Ja«, entgegnete Brass. »Der Täter hatte die Sache entweder von langer Hand geplant – vielleicht hatte er schon ewig davon geträumt –, oder er hat vorher schon woanders zugeschlagen. So oder so, seit die Mordserie in Las Vegas begann, verlief der Tathergang immer nach exakt demselben Muster.« »Natürlich haben Sie und Vince auch außerhalb von Las Vegas Erkundungen angestellt«, sagte Nick. »Landesweit, aber wir haben nirgendwo etwas gefunden. Wir haben sogar in Kanada und schließlich auch in Europa nachgeforscht. Jedenfalls tauchte einen Monat nach Todd Henrys Tod die nächste Leiche auf: John Jarvis. Alles war genauso wie bei dem ersten Fall.« »Gab es irgendeine Verbindung zwischen Jarvis und Hen ry?« »Abgesehen von äußerlichen Ähnlichkeiten? Nein«, entgeg nete Brass. »Henry stammte nicht von hier, Jarvis hat von Kindesbeinen an in Vegas gelebt. Henry war Gelegenheitsar beiter, Jarvis Buchhalter. Henry lebte allein, Jarvis hatte eine Familie – Frau und Sohn. Er wohnte in einem hübschen Haus in Boulder City, während Henry in diesem Rattenloch im Zentrum sein Dasein fristete. Die einzige Gemeinsamkeit war das äußere Erscheinungsbild. Weiße Männer um die fünfzig mit Übergewicht.« »Was ist mit den anderen?« »George Kim, das dritte Opfer, war Halbasiate, aber abge sehen davon waren alle fünf – Henry, Jarvis, Kim, Clyde Gibson und Vincent Drake – korpulente weiße Männer um die fünfundvierzig, fünfzig. Obwohl es Gemeinsamkeiten zwi
schen einzelnen von ihnen gab, war dies der einzige gemein same Nenner.« »Sonst nichts?«, fragte Nick ungläubig. Brass zuckte mit den Schultern. »Kim hat im Lucky Seven gearbeitet, Drake als Parkhauswächter, und Gibson war selbst ständiger Möbelbauer. Manche hatten Kinder, andere nicht. Manche waren verheiratet, andere nicht. Das Einzige, was variierte, war der Abstand zwischen den Morden. Ein Monat lag zwischen den ersten beiden, kaum eine Woche zwischen den letzten beiden. Der Täter kam eindeutig immer mehr in Fahrt. Und dann… hat er plötzlich aufgehört.« »Okay, so viel zu den Opfern«, sagte Catherine. »Und was ist mit den Verdächtigen?« Brass schnaubte. »Am Anfang waren es hunderte. Notori sche Bekenner riefen an, aber auch korpulente Männer, die ihre Nachbarn verdächtigten, und alle möglichen Dummköpfe. Als wir die Spinner aussortiert hatten, blieben drei übrig: ein Loser namens Dallas Hanson, ein Dreckskerl namens Phillip Carlson und dieser totale Psychopath Jerome Dayton.« »Was heißt das genau?« »Wenn ich Dayton als Psychopathen bezeichne, meine ich damit nicht ›exzentrisch‹, sondern wirklich krank. Sein Vater Thomas Dayton war ein großer Bauunternehmer, der Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger viele Verwaltungsgebäude und einige Kasinos hochgezogen hat – sagt Ihnen der Name etwas?« »Oh ja«, entgegnete Catherine. Nick pflichtete ihr mit einem Nicken bei. Brass fuhr fort. »Jerome war mein persönlicher Favorit, aber er landete in einer Privatklinik, wo er sich seit Ende 1995 aufhält. Ich hätte ein Jahresgehalt darauf gewettet, dass er der Täter war, aber Drake kam um, nachdem Dayton in die Anstalt gesteckt wurde.«
Catherine nickte nachdenklich. »Was ist mit den anderen?« »Vince hatte es auf diesen Loser Dallas Hanson abgesehen. Er war ein Cowboy aus Oklahoma. Er und seine – in Anfüh rungszeichen – ›Alte‹ kauften ein heruntergekommenes Wohnwagenhaus im Nordwesten der Stadt. Als ihr der Ver dacht kam, Dallas betrüge sie, hat sie ihn rausgeworfen. Er bezog schließlich ein Apartment in dem Haus, in dem Todd Henry wohnte. Dann tauchte er auf einem Überwachungsvideo des Lucky Seven auf, wo George Kim arbeitete.« »Klingt viel versprechend«, bemerkte Nick. »Gab es handfeste Beweise gegen Hanson?«, fragte Cathe rine. Brass schüttelte den Kopf. »Nur einen Fingerabdruck, den wir auf einer Tasse in Henrys Apartment fanden. Hanson be hauptete, er habe seinen Nachbarn besucht und lediglich etwas mit ihm getrunken, aber mehr nicht. Danach ist Henry dann umgebracht worden.« »Kein Alibi?«, fragte Nick. »Er behauptete, nach dem Besuch bei Henry sei er betrun ken in seiner Wohnung aus den Latschen gekippt. Natürlich hatte er dafür keine Zeugen.« »War er vorbestraft?«, fragte Catherine. »Nur wegen Kleinkram«, entgegnete Brass. »In Oklahoma wurde er ein paar Mal bei Kneipenschlägereien gefasst, und hier hat er kurz wegen minderschwerer Körperverletzung gesessen… aber CASt-ähnliche Neigungen hat er nie gezeigt.« »Was ist mit dem DNS-Beweis?«, fragte Nick. »Sie hatten doch das Sperma vom Tatort…« Brass schüttelte den Kopf. »Wir konnten es nicht zuordnen, aber die damalige Technologie lässt sich natürlich nicht mit der von heute vergleichen.« »Was war mit Phillip Carlson?«, hakte Catherine nach.
»Der Typ war ein totaler Freak. Er hat Schwule überfallen. Er hat sich als Stricher ausgegeben, und wenn er mit dem Freier allein war, hat er ihn zusammengeschlagen und ausge raubt.« »Wie charmant«, bemerkte Nick. »Oh, es hätte uns gut gefallen, wenn er es gewesen wäre… Zum Teufel, er hat sogar gestanden. Aber dann stellte sich heraus, dass er ein notorischer Bekenner war, zumindest was Morde anging, denen irgendetwas Schwules anhaftete. Shrink sagte damals, Carlson sei schwul oder bi und versuche, seine Neigungen zu unterdrücken, und dass er sich selbst noch mehr hasse als die Homosexuellen, die er zusammenschlug.« »Klingt doch alles sehr verdächtig«, meinte Catherine. »Sicher«, entgegnete Brass. »Aber er war nie zur richtigen Zeit am richtigen Ort – oder am falschen Ort, besser gesagt. Er war im Lucky Seven, das hatten wir auf Video. Das Problem war nur, die Kamera hatte ihn ungefähr eine Stunde vor dem Mord an George Kim erfasst. Carlson hätte also ziemlich we nig Zeit gehabt, um zu Kim nach Hause zu fahren, denn der wohnte weit draußen auf der anderen Seite der Stadt. Es war zwar nicht unmöglich, dass Carlson die Fahrt hätte schaffen können, aber doch höchst unwahrscheinlich.« »Und wie sieht es mit seiner Beteiligung an den anderen Morden aus?«, fragte Nick. »Bei dem Mord an Henry war es das Gleiche«, sagte Brass mit einem verzweifelten und zugleich resignierten Unterton. »Carlson wurde zwar am fraglichen Tag in der Stadt gesehen, aber nicht zu der Zeit, als der Mord an Henry geschah. Als er erdrosselt wurde, war Carlson mit Zeugen am Lake Mead.« »Gute Zeugen?«, fragte Catherine. Brass grunzte. »Halten Sie sich fest – eine ganze Bikergang!«
Nick grinste grimmig. »Keine idealen Zeugen, und ich wet te, die bringt man nicht so leicht von ihrer Geschichte ab.« »Da haben Sie Recht, Nick – kein einziger ist davon abge rückt. Ein Mann, ein Wort!« »O-kay«, sagte Catherine langsam und schlug sich auf die Schenkel. »Dann nehmen wir uns den ganzen Fall noch einmal vor.« Brass schien den Tränen verdammt nahe. »Wir haben hart an dem Fall gearbeitet, Vince und ich – ich glaube einfach nicht, dass wir etwas übersehen haben…« »Sie haben bestimmt Ihr Bestes gegeben«, entgegnete Ca therine. »Aber die Zeiten haben sich geändert – die Technolo gie auch. Wurde zufällig etwas von dem Sperma aufbewahrt?« Brass’ Miene hellte sich auf. »Zum Teufel! Das habe ich ja total vergessen. Naja, ist ja auch schon lange her…« »Was?«, fragte Nick. »Vince hat das Sperma in weiser Voraussicht einfrieren las sen«, entgegnete Brass mit neuem Elan. »Der genetische Fin gerabdruck steckte damals noch in den Kinderschuhen, und wir hofften natürlich, dass die Wissenschaft Fortschritte macht. Darauf hat Vince gebaut – schließlich wird die Akte erst ge schlossen, wenn der Fall gelöst ist.« »Gut«, sagte Catherine. »Sehr gut!« Plötzlich lächelte Brass. »Wissen Sie, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht… bestimmt zehn Jahre nicht. Sehen Sie im Beweismittel-Gefrierschrank nach! Die Probe muss irgendwo da drin sein!« In dieser optimistischen Stimmung wollten sie die Unterhal tung gerade beenden, als Detective Bill Damon mit finsterer Miene in den Konferenzraum kam. »Was zum Teufel?«, fragte er nur. Diese äußerst vage Frage war an Brass gerichtet. »Was zum Teufel was, Bill?«
Damon baute sich wütend vor dem Captain auf. »Atwater glaubt, ich und meine Jungs geben Informationen an die Me dien weiter!« Brass behielt die Ruhe und erhob sich. »Nein, Bill, so wie ich das verstanden habe, weiß unser Sheriff nicht, wo die un dichte Stelle ist. Er weiß nur, dass es eine gibt.« Mit spöttischem Grinsen wies Damon auf Nick und Catheri ne. »Tja, ich würde sagen, sie ist hier – genau hier!« Nick zeigte seine Zähne, ohne wirklich zu lächeln. »Ist sie aber nicht, Bill – vielleicht hat der Sheriff ja Recht!« Brass rügte ihn mit einem strengen Blick und wandte sich wieder an Damon. »Hören Sie, Bill«, sagte er ruhig. »Der Sheriff verdächtigt weder Sie noch sonst jemanden von Ihrem Department – oder von unserem. Er will einfach nur wissen, wo die undichte Stelle ist. Das können Sie ihm nicht verübeln. Und ich persönlich glaube nicht, dass Sie etwas ausplaudern.« Damon schien sich ein wenig zu entspannen. Catherine behielt lieber für sich, dass sie Damon und Logan vorhin selbst im Verdacht gehabt hatte. Die beiden Cops waren anscheinend sehr verärgert darüber gewesen, dass Brass die Ermittlungen an sich gerissen hatte. Nachdem Damon sich vorher so aufgeregt hatte, war aber offensichtlich noch genug Wut übrig geblieben. »Wollten Sie mich nicht auf dem Laufenden halten?«, fragte er aufgebracht weiter. »Ich habe nichts von Ihnen gehört, und zwar seit drei Tagen!« Brass hob beschwichtigend die Hand. »Ich wollte Sie gerade anrufen. Seit heute Morgen kommen die Laborergebnisse rein, und jetzt haben wir endlich Informationen.« Damon schien zumindest ein wenig zufriedener zu sein. »Gut. Nun, gut… Also, dann spucken Sie es aus!« »Mache ich«, sagte Brass. »Im Wagen.«
»Im Wagen?«, wiederholte der jüngere Detective über rascht. »Ja, wir werden mit der Fernsehreporterin sprechen, die Sheriff Atwater angerufen und auf CASt angesprochen hat.« Catherine merkte, dass dem jungen Cop die Richtung, die das Gespräch nahm, langsam gefiel. »Welche Reporterin?«, fragte er. »Jill Ganine«, entgegnete Brass. »Die von KLAS.« Nun schien der Frieden endgültig wiederhergestellt. Damon und Nick lächelten sich entschuldigend an, und Brass ging mit dem Detective zur Tür. Genau in diesem Augenblick kam Grissom mit dem allzeit fröhlichen Greg Sanders im Schlepp tau zurück. Der CSI-Leiter hingegen wirkte nicht besonders heiter. Er machte ein ernstes Gesicht und schaute besorgt auf das Papier in seiner Hand. »Wer ist gestorben?«, fragte Catherine. »CODIS hat das Sperma vom Rücken des Opfers identifi ziert«, entgegnete Grissom matt. Catherine zuckte mit den Schultern. »Das ist doch eine gute Nachricht, oder?« »Das würde ich normalerweise auch sagen. Aber laut CODIS stammt die DNS von einem gewissen Rudy Orloff.« Brass sah Damon an. »Ich kenne diesen Namen irgendwo her – Sie auch?« Damon schüttelte den Kopf. »Ich kenne diesen Namen«, wiederholte Brass nachdenk lich. »Wie hier steht, kommt er aus dem Strichermilieu.« »Genau!«, rief Brass. »Jetzt erinnere ich mich. Wir haben ihn im Fall Pierce verhört – erinnern Sie sich, Gil? Dieser magere kleine Scheißkerl hat doch nicht den Mumm, jemanden umzubringen, und schon gar nicht…«
»Anscheinend«, fiel Grissom ihm ins Wort, »hat er vor ei nem Jahr in Reno den nötigen Mumm gefunden. Er hat auf einen Freier eingestochen, der beinahe an den Verletzungen gestorben wäre. Seitdem sitzt er wegen versuchten Mordes in Ely. Er hat lebenslänglich mit Chance auf Bewährung bekom men.« Catherine fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Ma gen bekommen. »Unser bester Verdächtiger sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis? Schon seit einem Jahr?« Grissom wedelte mit dem Papier. »Eigentlich erst seit zwei Monaten – die Cops von Reno haben ihn nicht gleich ge schnappt. Dann kam der Prozess, er ging in Berufung, und erst danach wurde er nach Ely gebracht. Wo er sich wohl auch aufhielt, als Marvin Sandred ermordet wurde.« Alle sahen sich verblüfft an. Wenn der Hauptverdächtige im Gefängnis war, wie kam sein Sperma dann nach Nord Las Vegas auf den Rücken eines Toten? Im hohen Bogen wohl kaum… dachte Catherine. »Und jetzt?«, fragte Brass entmutigt. »Wie geht es jetzt wei ter?« Greg meldete sich mit hoffnungsvoller Miene zu Wort. »Vielleicht helfen uns die Hautzellen weiter. Am besten mache ich mich wieder an die Arbeit.« »Tun Sie das, Greg«, sagte Grissom ohne aufzusehen. Und Greg verschwand. Brass stand da und schüttelte in einem fort den Kopf, und an seiner Schläfe trat eine Ader immer stärker hervor. »Es ist gar nicht so einfach, sich zu den größten Pechvögeln von Vegas zählen zu können«, sagte er. »Aber wir sind etwas Besonderes – uns gelingt das natürlich. Das Sperma am Tatort stammt von einem Gefängnisinsassen, und bei den Hautzellen von dem Seil stellt sich wahrscheinlich am Ende heraus, dass sie von Bugsy Siegel stammen.«
Catherine wollte eine zynische Bemerkung machen, aber da klingelte zum Glück ihr Handy. Als sie es aus der Tasche holte, fingen auch die Handys von Nick, Grissom, Brass und Damon an zu piepsen. Es war das reinste Digitalkonzert. Konfrontiert mit sechs ungelösten Mordfällen, die sich über ein ganzes Jahrzehnt erstreckten, hatte Catherine Willows nur einen Gedanken, als sie die Gesprächstaste auf ihrem Handy drückte. Aber bevor sie ihn aussprechen konnte, nahm Brass ihr die Worte aus dem Mund. »Und wie zum Teufel geht es jetzt weiter?«, hörte sie ihn sagen.
4
Als der zweite Mord geschah, rückte nicht das gesamte Team aus. Catherine und Nick blieben im Büro und arbeiteten sich durch die alten Fälle. Nur Grissom, Sara und Warrick fuhren hinaus in den Vorort Coronado Ranch. Anders als im Fall Sandred, bei dem er den Vorgarten auf Spuren untersucht hatte, arbeitete Warrick Brown diesmal drinnen. Das Haus auf dem Buried Treasure Court gehörte Enrique Diaz. Dem kürzlich verschiedenen Enrique Diaz, um genau zu sein, einem erfolgreichen Fernsehproduzenten, der für den Tourist Channel arbeitete. Der Kabelsender hatte den Themenschwerpunkt Reisen und eine besondere Schwäche für seinen Standort Las Vegas. Das Haus war schick, aber nicht pompös. Es ließ Wohlstand erkennen, ohne protzig zu wirken. Das lang gestreckte, zwei stöckige Gebäude mit Ziegeldach sah aus wie alle anderen Häuser im Viertel und war trotz Wasserknappheit von einer makellosen Rasenfläche umgeben. Während Brass und Damon loszogen, um die Nachbarn zu befragen, untersuchten Grissom, Sara und Warrick Haus und Grundstück. Sara arbeitete draußen, und Grissom nahm sich das Innere vor – bis auf das Wohnzimmer, wo sich die Tat ereignet hatte. Dort war Warrick am Werk. Da Warrick den Tatort des Sandred-Mordes mit eigenen Augen gesehen und die Fotos aus dem Haus des ersten Opfers sehr genau studiert hatte, fiel ihm sofort die verblüffende Ähn lichkeit zwischen den beiden Morden auf. Der Unterschied
bestand lediglich darin, dass es bei Diaz wesentlich schicker aussah als in Sandreds schäbigem Bungalow. Diaz’ Wohnzimmer war doppelt so groß wie das von Sandred und im mexikanischen Stil eingerichtet: Tücher in den Farben rot, grün und gelb waren leger, aber mit Bedacht auf den Sitzmöbeln drapiert, in einer sonnigen Ecke stand ein Topf mit einem Kaktus und an den Wänden und auf Beistelltischen waren Familienfotos in Rahmen aus unbehandeltem Holz verteilt. Ein Kruzifix aus dem gleichen Holz hing über dem Eingang, vermutlich eher zur Dekoration als aus religiösen Gründen. Die mexikanischen Intarsienkacheln auf dem Boden hatten nur wenig mit dem billigen Teppich gemein, auf dem sich das erste Opfer Hautverbrennungen zugezogen hatte, bevor es starb. Die großen Fenster gingen nach Süden, und – wie finster das Verbrechen auch war – der Tatort war von Sonnenlicht durchflutet. An der Wand hing ein Plasmafernseher und um die Leiche standen ein riesiges Sofa, zwei Fernsehsessel und ein Ohrensessel Wache, die alle mit dem gleichen beigen Leder bezogen waren. Mitten im Raum lag der korpulente Diaz, dessen dunkle Lo cken von einem Wet Gel in Form gehalten wurden, nackt und bäuchlings auf dem Boden. Die rechte Hand war ausgestreckt, der Zeigefinger abgetrennt, während sich der andere Arm unter dem Körper befand. Die Mordwaffe – ein Seil, dessen Länge Warrick auf fünfzig Zentimeter schätzte – lag noch um den Hals des Opfers. Die Schlinge war fest zugezogen. Wieder hatte der Täter auf dem Rücken des Opfers, ober halb des Gesäßes, eine kleine Spermalache hinterlassen. Die Augen des Produzenten waren hervorgequollen, und die Zunge hing ihm aus dem Mund. Sein Gesicht sah aus, als wollte er Warrick verspotten. Dieser Eindruck wurde auf groteske Weise
durch den schlampig aufgetragenen, knallroten Lippenstift verstärkt. Und erneut deutete das Fehlen von Blutspritzern darauf hin, dass der Finger dem Opfer erst abgeschnitten worden war, nachdem das Herz aufgehört hatte zu schlagen. Der coole, objektive Warrick gestattete sich einen kurzen Augenblick der Subjektivität und ein halbes angewidertes Grinsen. Er hatte schon viele Tatorte untersucht, und die unter schiedlichen, oftmals bizarren Arten, wie die Opfer getötet wurden, waren für ihn nicht annähernd so überraschend wie das, was sie über die Lebensart des Mörders aussagten. Diaz war zwar Hispano-Amerikaner, aber extrem hellhäutig und hätte leicht für einen Weißen durchgehen können, obwohl das Haus nicht ohne Stolz auf seine Herkunft verwies. Der Original-CASt hatte weiße Opfer bevorzugt, und Sandred hatte in dieses Schema gepasst. Ob der Täter Diaz irrtümlich für einen Weißen gehalten hatte oder ob Diaz einfach nur »weiß genug« für ihn gewesen war, musste sich noch zeigen. Vielleicht handelte es sich um einen Nachahmungstäter, dem dieser Aspekt an den Serienmorden entgangen war und der nicht wusste, dass die meisten Serienkiller bei ein und derselben Ethnie blieben, meist bei der eigenen. Dies war natürlich keine unumstößliche Regel, denn solche irren Mörder gingen nach ihren ganz eigenen Regeln vor und schrieben sie unter Umständen sogar neu, während sie ihrer Mordlust frönten. Dennoch wiesen die CASt-Morde, die immer nach demselben abartigen Ritual vollzogen wurden, auf eine Detailbesessenheit hin, die sich hoffentlich bei der Tatortanaly se als nützlich erweisen würde. Die Ähnlichkeit der beiden aktuellen Morde war in der Tat verblüffend, und Warrick zweifelte nicht daran, dass sie es in beiden Fällen mit demselben Mörder zu tun hatten – einem neuen oder dem alten CASt.
Aber obwohl Grissom überraschenderweise seinen Ver dacht, der Täter habe gerade erst angefangen, laut ausgespro chen hatte – was durch Diaz’ Leiche sogar bestätigt worden war –, wusste Warrick, dass sein Chef keine Vermutungen dulden würde, selbst in einer solchen Situation nicht. Er musste sich an die Beweise halten und Punkt. Warrick holte seine Kamera heraus und begann zu fotogra fieren. Er hatte noch nicht den ersten Film voll, als Grissom wie aus dem Nichts neben ihm auftauchte. »Der Rest des Hauses sieht sauber aus«, erklärte der CSILeiter. »Nichts Auffälliges?« »Auffällig ist nur, dass die anderen Zimmer unberührt geblieben sind – und dass es im Fall Sandred genauso war.« »Aha.« »Ich sehe mir das Haus noch einmal genauer an, aber meine Vermutung ist, dass der Mörder die anderen Räume nicht betreten hat.« »Eine Vermutung, Gris? Was kommt als Nächstes? Eine Vi sion?« »Eine dritte Leiche, wenn wir unsere Arbeit nicht besser machen als bisher.« »Schon verstanden.« Warrick machte noch ein Foto, dann schüttelte er den Kopf. »Dieser Kerl ist definitiv verrückt. Ist dir klar, was er hier stehen gelassen hat? Allein der Fernseher ist ein paar Tausender wert.« »Je nach pathologischer Veranlagung darf der Mörder gar nicht stehlen. Es käme einer Entweihung seiner Tat gleich.« »Ja, ja, ich weiß«, sagte Warrick. »Aber wenn der Typ so einen schönen Fernseher stehen lässt, dann ist er wirklich extrem verrückt!« Die beiden grinsten sich an, dann ging jeder wieder seiner Arbeit nach.
Nachdem er mit den Fotos fertig war, nahm Warrick einen Abstrich von dem Sperma. Dann entfernte er vorsichtig das Seil und drehte die Leiche auf die Seite. Und da entdeckte er etwas in der linken Hand des Opfers, die zuvor unter seinem Körper verborgen gewesen war. »Hey, Gris!«, rief er. »Das solltest du dir mal ansehen!« Kurz darauf war Grissom bei ihm. »Hast du das fotogra fiert?« Warrick hielt den Toten die ganz Zeit in der Seitenlage, und ihm wurde allmählich der Arm schwer. Aber er beklagte sich nicht. »Noch nicht«, entgegnete er nur. Grissom nahm Warricks Kamera und schoss rasch drei Bil der. »Dreh ihn ruhig ganz um«, sagte er dann. Warrick rollte den Toten auf den Rücken, nahm eine Pinzet te aus seinem Koffer und kniete sich neben das Opfer. Als er sich die Chipkarte in der Hand des Toten genauer ansah, stellte er fest, dass es sich um einen elektronischen Schlüssel handel te, wie man sie in fast allen Hotels in der Stadt und in vielen Firmen fand. Er erkannte nur die Rückseite, auf der ein Mag netstreifen und die üblichen Standardinstruktionen zu sehen waren. Warrick packte die Karte vorsichtig mit der Pinzette am Rand, um eventuelle Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Dann nahm er sie dem Toten behutsam aus der Hand und drehte sie um. Fünf Worte prangten in blauen Buchstaben auf dem weißen Plastik: EIGENTUM DES LAS VEGAS BANNER. »Also, das ist nicht gut«, bemerkte Warrick und hielt die Karte hoch. »Obwohl wir ja eigentlich sehr gerne Hinweise finden.« Grissom kniff die Augen zusammen.
Warrick rechnete mit einem trockenen Kommentar, aber sein Chef sagte nur: »Am besten rufen wir Brass an. Er muss schleunigst herkommen.« Nick Stokes war in den aquamarinblauen Fluren des CSI auf der Suche nach Catherine. Das gedämpfte Licht war der Nacht schicht eigentlich nicht besonders zuträglich, denn es machte schläfrig, aber angesichts der harten Fälle, mit denen sie häufig befasst waren, fand Nick die beruhigende Atmosphäre eigent lich ganz angenehm. Nachdem sie mit der Durchsicht der alten CASt-Akten be gonnen hatten, waren sie auf das Problem gestoßen, dass sie von den zwei Verdächtigen, die nicht in der Klapsmühle wa ren, keine aktuellen Adressen finden konnten. Nach stunden langer Suche hatte Nick endlich eine ausfindig machen können, aber nun konnte er seine Kollegin nirgends finden. Er holte gerade sein Handy aus der Gürteltasche, als Cathe rine mit einem dicken Ordner unter dem Arm aus der Damen toilette auf den Flur trat. Sie sah ihn und begrüßte ihn mit einem verlegenen Grinsen. »Das stillste Örtchen im ganzen Haus. Da kann man in Ruhe lesen.« Nick schüttelte den Kopf. Das konnte man von der Herren toilette nun wirklich nicht sagen, denn es gab einen extremen Männerüberschuss im Department. »Hast du was gefunden?«, fragte Catherine. »Wie wäre es mit der Adresse von Phillip Carlson?« »Unser Schwulenverdrescher? Wo wohnt er?« »Auf der Baltimore, nicht weit vom Stratosphere.« »Worauf warten wir?« »Auf die Rückkehr von Brass und Damon zum Beispiel?
Den Detectives gefällt es nicht besonders, wenn die vom CSI sich auf eigene Faust vom Labor entfernen und draußen rumlaufen…« Catherine dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Gris som hat uns auf die alten Fälle angesetzt, und daran arbeiten wir ja auch. Außerdem sieht Brass das nicht so eng. Glaubst du, bei der momentanen Belastung würde er zur Aufarbeitung des alten Krempels einen Detective von einem aktuellen Fall abziehen?« »Wow!«, machte Nick. »Versuchst du, mich zu überzeugen, oder dich selbst?« Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich bin auf jeden Fall schon überzeugt.« »Ich auch.« Nick grinste. Carlson hatte ein Apartment in einem zweistöckigen Gebäude, das wie ein heruntergekommenes Motel aussah, um das sich seit Jahrzehnten niemand mehr gekümmert hatte. Nick saß hinter dem Steuer. »Was für ‘ne nette Bude der Kerl hat!« Er parkte den Tahoe am Straßenrand und hoffte, dass er noch da sein würde, wenn sie zurückkamen. Dann gingen die beiden CSI-Kollegen über die Außentreppe in den zweiten Stock. Irgendwo in der Nachbarschaft hatte jemand in seinem Auto die Bässe viel zu weit aufgedreht, und obwohl Nick sich ziem lich gut mit den aktuellen Charts auskannte – worauf er auch besonders stolz war –, konnte er wegen des extremen Wum merns nicht heraushören, um welchen Rapper es sich handelte. Catherine klopfte an die Tür von Apartment 2 E, aber nie mand öffnete. Nick legte ein Ohr an die Tür, deren rissiger, orangefarbener Anstrich stark verwittert war. Es war nichts zu hören, und er
richtete sich wieder auf, sah Catherine achselzuckend an und klopfte noch einmal fester. Wieder warteten sie vergeblich. Nick hatte gerade ein drittes Mal geklopft, als die Tür des Nebenapartments aufflog. »Was zum Teufel wollt ihr?«, brüllte ein rappeldürrer Mann, der aussah wie aus den Sechzigern und ein weißes Unterhemd und Jeans trug, die völlig ausgebleicht waren – vom jahrelan gen Tragen, nicht, weil es gerade Mode war. Die Hose drohte ihm fast von den schmalen Hüften zu rutschen. Er war ein jungenhafter Typ um die fünfzig, mit ergrauender ungepflegter Hippiemähne, und von seinen verhangenen grü nen Augen konnte man auf sein benebeltes Hirn schließen. Irgendwann im Laufe des Monats hatte er sich sicher rasiert, aber innerhalb der letzten Woche war das ganz bestimmt nicht gewesen. Als Nick und Catherine auf ihn zugingen, wehte ihnen der Geruch von Marihuana entgegen. So breit wie lang, dachte Nick. Er zeigte seine Marke und sagte mit einem höflichen Lächeln: »Stokes, Willows. Wir sind vom CSI.« Die verhangenen Augen wurden groß. »Hat hier irgendeiner ein krummes Ding gedreht? Ich habe nichts mitgekriegt!« Auch Catherine hatte ein höfliches Lächeln aufgesetzt. »Würden Sie zu uns herauskommen, bitte?« Der dürre Kerl kam auf den Gang und versuchte dann, die Tür von Apartment 2 D ganz langsam zuzuziehen, ohne dass die beiden es merkten. »Wir suchen Phillip Carlson«, erklärte Catherine. Der Mann straffte die Schultern. »Stets zu Ihren Diensten! Wie kann ich der Polizei helfen?« »Indem Sie ein paar Fragen beantworten«, entgegnete Ca therine.
Carlson sah sie an und musterte sie halb amüsiert, halb irri tiert, als könnte er nicht begreifen, warum eine so gut ausse hende Frau bei den Cops war. »Ich habe nichts zu verbergen, Süße. Fragen Sie nur!« »Ich heiße Willows. Können wir irgendwo ungestört re den?« Carlson warf einen beklommenen Blick auf die Apartment tür hinter sich. »Das können wir.« Er blieb jedoch unschlüssig stehen, und Nick wies mit dem Kopf auf die Tür von 2D. »Da drin?«, fragte er. Carlson schüttelte so heftig den Kopf, als wollte er sich von Spinnweben befreien. »Da wohne ich nicht, Mann.« Nick sah ihn mit einem freundlichen Lächeln an, das nicht wirklich freundlich war. »Wer denn?« »Meine Freundin. Sie ist… äh… unpässlich.« Das konnte sich Nick sehr gut vorstellen. Carlson zeigte auf die Tür von 2E. »Sie waren schon an der richtigen Tür. Gehen wir in meine Bude.« Nick und Catherine traten einen Schritt zurück, um Carlson vorbeizulassen. Nick sah seine Kollegin amüsiert an und zog eine Augenbraue hoch, aber sie erwiderte den Blick mit einer gewissen Skepsis. »Sorry«, sagte Carlson, als er seine Tür aufschloss. »Das Dienstmädchen hat heute frei.« Er betrat das dunkle Apartment, und Catherine und Nick folgten ihm. Die Vorhänge waren zugezogen, und bis auf den Lichtstrahl, der durch die offene Tür in die Wohnung fiel, blieb alles düs ter. Carlson schaltete die Deckenlampe ein, die offenbar auch als Sammelbehälter für totes Ungeziefer diente, und das winzi ge Wohnzimmer wurde in ein schmutziggraues Licht getaucht. Nick sah sich in dem unglaublichen Chaos um und vermute te, dass in dieser Bude nicht mehr sauber gemacht worden war,
seit das Rat Pack den Strip regierte. Er hatte schon häufiger Wohnungen von Zwangsneurotikern und Messis besucht, aber was er hier sah, weckte in ihm das spontane Bedürfnis, sich sofort die Latexhandschuhe überzustreifen. Die einzigen Möbelstücke waren ein verlottertes Sofa, zwei Fernsehtische und ein Fernseher. Die Wände waren kahl, aber ansonsten sah es in dem Apartment aus wie nach einer Explo sion auf der Mülldeponie. Nicht nur die beiden Tische und der Fernseher waren mit Imbisstüten und Plastikbechern übersät, sondern auch der gesamte Boden. In einer Nische hinter dem Wohnzimmer, die früher einmal als Esszimmer gedient hatte, sah Nick einen Esstisch mit einem Berg von Fastfood-Abfällen und zwei Stühle. Links ging ein kurzer Flur ab, der vermutlich zum Schlafzimmer führte. Das Erstaunlichste in dem ganzen Chaos waren die hüfthohen Zeitungsstapel, die an den Wänden aufgereiht waren und die Wohnung noch kleiner machten, als sie ohnehin schon war. Gott möge verhindern, dass wir hier jemals nach Beweisspuren suchen müssen!, dachte Nick. »Setzen Sie sich irgendwo«, sagte Carlson und ließ sich auf das zugemüllte Sofa fallen. Nick und Catherine wollten lieber stehen bleiben – sie hät ten sowieso nicht gewusst, wo sie Platz nehmen sollten. In der Wohnung roch es nach Urin, Dope und Kotze, und Nick tränten von dem beißenden Gestank fast die Augen. Fundorte von verwesten Leichen machten ihm da weniger zu schaffen. Er nahm sich jedoch zusammen. »Mr. Carlson, kennen Sie einen Mann namens Marvin Sandred?« Carlson kniff die Augen zusammen, während er im Geist sein Adressbuch durchzublättern schien. »Nein, den kenne ich nicht«, sagte er nach einer Weile mit ausdrucksloser Miene. »Ist das alles? Das war ja einfach!« »Und Enrique Diaz?«, fragte Catherine weiter.
Plötzlich blitzte etwas in Carlsons Augen auf. Er schien wach zu werden. »Hören Sie… mit der Polizei zu kooperieren, das war 1999 mein Vorsatz für das neue Jahr. Ich versuche also wirklich zu helfen.« »Das wissen wir zu schätzen«, entgegnete Nick. »Aber bevor wir weiterreden, fände ich es fair, wenn Sie mir erklären, um was es überhaupt geht.« »Um einen aktuellen Fall«, sagte Nick nur. »Es ist keine Fangfrage, Mr. Carlson – kennen Sie jemanden namens Enri que Diaz oder nicht?« »Das kommt mir irgendwie spanisch vor.« Carlson grinste in sich hinein und genoss seinen Scherz vermutlich ebenso sehr, wie er zuvor den Inhalt der ringsum verstreuten Imbisstü ten genossen hatte. »Und was ist das für ein Fall?« »Es geht um Mord«, sagte Catherine. »Wow!« Carlson hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden umgebracht.« »Da haben Sie der Polizei aber im Laufe der Jahre was ganz anderes erzählt«, erwiderte Nick. »Sie haben einundzwanzig Morde gestanden.« »Hey, ich hatte ‘ne Macke als ich jung war, aber ich war in Behandlung. Ich nehme Medikamente.« Catherine lächelte ihn fröhlich an. »Medikamente, wie wir sie nebenan gerochen haben?« Carlson schlug die Hände vors Gesicht und ließ sie langsam die Wangen hinunterrutschen. »Ich bin clean, ehrlich! Das waren Räucherstäbchen, kein Gras.« Die erweiterten Pupillen des Mannes erzählten jedoch eine andere Geschichte. »Ich vermute mal«, sagte Nick, »Sie waren das letzte Mal clean, als die Beatles noch zusammen waren.« Carlson sprang unvermittelt mit wildem Blick vom Sofa auf und ging mit ausgefahrenen Krallen auf die beiden los.
Nick und Catherine wichen überrascht zurück, aber Nick fasste sich augenblicklich und versetzte ihm einen unsanften Stoß. »Setzen Sie sich, Sie Charlie Manson«, sagte er, »und beru higen Sie sich!« Carlson ließ die Hände fallen und sank in sich zusammen. Seine Augenlider gingen auf halbmast. Er sah aus wie eine Marionette, die nur noch an ein, zwei Fäden hängt. »Sie dür fen… nicht so mit mir reden, Mann. Das verletzt meine Gefüh le.« »Dafür entschuldige ich mich aufrichtig. Und jetzt setzen Sie sich wieder!« Carlson schluckte und tat, wie ihm geheißen. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in seine Hände. »Ich… wollte Ihnen gerade sagen, dass ich nicht mehr so bin wie früher. Es… macht mich einfach sauer, wenn Leute… schlecht von mir denken. Ich habe mich mit viel Mühe wieder auf Vordermann gebracht!« »Nun, wenn Sie nicht mehr so sind wie früher, haben Sie bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns hier umsehen.« Mit einem verstohlenen Blick in den Flur fragte Carlson: »Aber ich habe meine Rechte, nicht wahr? Oder ist das wieder so ein Patriot-Act-Schwachsinn?« »Ich bleibe bei ihm, Cath«, sagte Nick, »wenn du den Durchsuchungsbefehl besorgst.« Carlson hob erschrocken die Hände. »Hey… hören Sie… Es ist nicht so, wie es aussieht.« Catherine runzelte die Stirn. »Was ist nicht so, wie es aus sieht?« »Nichts…« Wieder schaute Carlson in den Flur, dann grins te er die Spurenermittler nervös an. »Ich leide einfach an ex tremer Geschwätzigkeit, das ist alles. Dagegen gibt es kein Mittel.«
Nick sah Catherine fragend an, und sie nickte. Während sie mit Carlson im Wohnzimmer blieb, ging Nick mit der Pistole in der rechten und der Mini-Maglite in der linken Hand in den dunklen Flur und leuchtete ihn aus. Es gab drei Türen. Die beiden, die sich links und rechts von ihm befanden, standen offen, nur die zweite auf der linken Seite war geschlos sen. Nick warf rasch einen Blick in die beiden vorderen Räume: Badezimmer links, Schlafzimmer rechts, beide schmutzig, beide leer. Der hintere Raum war jedoch abgeschlossen. »Haben Sie vielleicht einen Schlüssel für uns, Mr. Carl son?«, rief er ins Wohnzimmer. »Ich würde die Tür nur ungern eintreten.« Sekunden später hallte Catherines Stimme von den kahlen Wänden wider. »Er hat den Schlüssel. Und er rückt ihn raus!« Nick holte ihn sich ab und sah Carlson ärgerlich an. »Wa rum haben Sie ihn mir nicht gleich gegeben? Sie kriegen keine Pluspunkte, wenn Sie es uns schwer machen.« Carlson ließ den Kopf hängen und gab keine Antwort. Weil er nicht wusste, was ihn erwartete, zog Nick seine Pis tole, während er den Schlüssel mit der anderen Hand, in der er auch seine Taschenlampe hielt, ins Schloss steckte. Er machte die Tür auf und betrat mit der Pistole im Anschlag das dunkle Zimmer. Vor dem Fenster zu seiner Linken hing ein dicker Vorhang, und Nick leuchtete rasch den Raum mit der Taschenlampe aus. Aber bis auf den Lichtstrahl bewegte sich nichts. Nick betätigte den Schalter an der Wand, und die Decken lampe ging an – besser gesagt, der nächste UngezieferSammelbehälter. Nick ließ die Pistole sinken und sah sich verblüfft in dem Zimmer um.
Die Wände und sogar die Decke waren mit Artikeln aus Zei tungen und Magazinen, Fotos und Zeichnungen gepflastert, die alle dasselbe Thema hatten. Es sah aus wie in einem Mädchen zimmer, das komplett einem Popstar geweiht war. In diesem Raum gab es allerdings kein Bett, und hier wurde auch kein Sänger oder Schauspieler angebetet. Es war eine Kapelle für CASt. Ein kleiner, dunkler Holztisch in der Mitte diente als Altar für das heilige Buch – Der Fall CASt von Perry Bell und David Paquette. Auch ein paar Alben lagen auf dem Tisch. Von der Decke baumelten Schlingen an unterschiedlich langen Seilen. Als Nick das Zimmer verließ, erwartete Catherine ihn be reits im Flur. Nicks weit aufgerissene Augen sprachen Bände. Carlson saß auf dem Sofa und machte ein Gesicht wie ein Dreizehnjähriger, dessen Eltern gerade seine Pornosammlung gefunden hatten. »Also, Mr. Carlson«, sagte Nick fröhlich. »Haben Sie sich mit viel Mühe wieder auf Vordermann gebracht, bevor oder nachdem Sie das Serienmörder-Museum eröffnet haben?« Carlson sprang auf und rannte zur Tür. Catherine drehte sich ruckartig um, und Nick setzte ihm nach, aber zu spät: Carlson war bereits aus der Wohnung. Nick übernahm die Führung, als sie ihm über den Gang hin terherflitzten. Der magere Kerl lief die Treppe hinunter und nahm immer zwei Stufen auf einmal, aber bis er unten ange kommen war, hatte Nick schon aufgeholt. Carlson hätte ver mutlich gern einen Zahn zugelegt, aber das konnte er nicht: Er hatte die Kondition eines Gewohnheitskiffers, und Nick kam ihm mit jedem Schritt näher. Carlson hatte es gerade auf den Parkplatz geschafft, da be kam Nick ihn zu fassen und riss ihn zu Boden. Die beiden rollten jetzt vom Gehsteig auf die Baltimore Avenue, und
obwohl Nick sich die Haut an Händen und Ellbogen aufschürf te, hielt er den Flüchtigen fest umklammert. Catherine war auf die Straße gesprungen, um die Autos an zuhalten, aber die beiden waren inzwischen auf der anderen Seite in der Gosse gelandet – wo zumindest der Verdächtige bestens aufgehoben war. »Au, Mann!«, stöhnte Carlson, der fast von Nicks Gewicht erdrückt wurde. Aus den Schürfwunden in seinem Gesicht tropfte Blut. »Uncool! Extrem uncool!« »Sich der Verhaftung zu widersetzen ist auch nicht so toll, Kumpel«, entgegnete Nick. »Ich bin doch gar nicht… oder etwa…?« »Oh, ja!« In diesem Moment hörte Nick Sirenengeheul, und erst jetzt merkte er, dass seine Partnerin ihr Handy am Ohr hatte. Sie hatte bereits Verstärkung gerufen, und ein Streifenwagen war zum Glück irgendwo in der Nähe gewesen. Kurz darauf erschienen die Beamten und verfrachteten den ziemlich niedergeschlagenen Carlson in ihren Wagen. »Das habe ich nun vom Beten«, bemerkte Nick missmutig, als der Wagen davonfuhr. Catherine sah ihn amüsiert an. »Wie bitte?« »Ich habe den lieben Gott gebeten zu verhindern, dass wir dieses Apartment jemals untersuchen müssen. Aber während Carlson den Nachmittag über sein Mütchen in einer klimati sierten Zelle kühlt, werden wir diese furchtbare Bude wohl Zentimeter für Zentimeter durchsuchen müssen.« »Vielleicht hat Gott ja doch Humor«, bemerkte Catherine mit einem leisen Lachen. Sie gingen zurück zum Haus. »Oh ja, natürlich hat Gott Humor«, entgegnete Nick. »Er hat nur leider den gleichen wie Grissom.«
Sie kehrten in das Apartment zurück, um den CASt geweih ten Raum zu fotografieren und zu untersuchen. Und dabei versuchten sie herauszufinden, ob Carlson sich selbst einen Tempel errichtet hatte. Sara Sidle klopfte an den Rahmen von Gil Grissoms offener Bürotür. Der CSI-Leiter saß, die Brille auf der Nase, an seinem Schreibtisch und las in einer Akte. »Hey!«, sagte er, als er aufsah. »Hey«, entgegnete Sara. Sie kam herein, legte die Beweismitteltüte mit der Schlüs selkarte vom Las Vegas Banner auf seinen Tisch und setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl. »Abdrücke?«, fragte er. »Ein paar unvollständige, aber nichts, was AFIS wiederer kennt.« Das Automatische Fingerabdruck-Identifikationssystem war ein sehr nützliches Hilfsmittel, aber in der Datenbank waren natürlich nur Fingerabdrücke von Verbrechern gespeichert, die schon einmal geschnappt worden waren. »Es ist also nicht so einfach«, sagte Grissom. »Überrascht uns das etwa?« Sara schüttelte den Kopf. »Was jetzt?« »Ich rufe Brass an. Vielleicht können wir den Schlüssel mit Hilfe der Zeitungsleute identifizieren.« »Glaubst du wirklich, die Chefs vom Banner lassen uns alle Mitarbeiter kontrollieren, die einen Schlüssel haben?« Grissom dachte nach. »Wahrscheinlich nicht, wie ich die Medien kenne. Ich vermute, sie tun gar nichts, bevor sie nicht mit ihren Anwälten gesprochen haben.« »Und die Anwälte sagen?«
»Dass hier der vierte Verfassungszusatz greift«, entgegnete Grissom. »Obwohl es gar nicht um willkürliche Durchsuchung und Überwachung geht.« »Lass uns alle Anwälte töten!« »Dieses Zitat wird übrigens immer aus dem Zusammenhang gerissen«, bemerkte Grissom. »Shakespeare wollte in Heinrich VI in Wirklichkeit sagen, dass Anwälte wertvolle…« »Schon gut! Aber die Anwälte des Banner werden nicht ko operieren.« »Nein.« »Aber wir werden es trotzdem versuchen.« »Ja.« Eine Stunde später saß sie mit Grissom und Brass im Büro von James Holowell, dem Herausgeber des Banner. Und dort hörte Sara den gleichen Spruch vom vierten Verfassungszusatz noch einmal von Holowell – nur ohne die Grissom’sche Ergänzung durch Shakespeare. In der Nachrichtenredaktion hinter der großen Scheibe herrschte hektische Betriebsamkeit. Holowells Büro war spar sam möbliert. Der riesige Mahagonischreibtisch, auf dem außer einem Computermonitor nicht viel stand, beanspruchte den meisten Platz. Die Beweismitteltüte mit der Schlüsselkarte prangte auf der Schreibunterlage wie ein dreidimensionaler Tintenklecks. Grissom, Brass und Sara saßen auf drei Stühlen vor dem Schreibtisch dem breitschultrigen Holowell gegenüber, einem Schwarzen mit kahlem Kopf und einer Brille mit Schildpattge stell. Er trug ein graues Hemd, die Ärmel einmal umgeschla gen, und eine Krawatte mit blau-silbernem Frank-LloydWright-Muster. Bislang war er freundlich, professionell, aber nicht sehr hilfsbereit gewesen.
»Wie viele Mitarbeiter haben so einen?«, fragte Brass und zeigte auf die Tüte mit dem Schlüssel. Holowell zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.« »Wer weiß es denn?«, fragte Grissom. »Das weiß ich auch nicht.« »Könnten Sie es herausfinden?« »Das könnte ich vermutlich.« »Und tun Sie es auch?«, fragte Brass. »Nicht auf der Stelle, aber natürlich kümmere ich mich dar um. Ich habe die feste Absicht, Ihnen zu helfen, so weit es mir meine Verpflichtungen dieser Zeitung gegenüber erlauben.« Mit anderen Worten: nein, dachte Sara. Grissom hatte Holowells Gesicht genau studiert. »Wie viele von diesen Schlüsseln gibt es denn ungefähr?«, fragte er nun. »Vielleicht zwanzig«, antwortete der Herausgeber. »Oder dreißig.« Das kam Sara ziemlich wenig vor. Aber dennoch, wenn Ho lowell Recht hatte, waren mindestens zehn Prozent der Mitar beiter des Banner – der drittgrößten Tageszeitung der Stadt mit ein paar hundert Mitarbeitern – potenzielle Verdächtige. »Nur zwanzig bis dreißig?«, fragte Brass. »Was meinen Sie, wer bekommt denn alles so einen Schlüssel?« »Ich habe natürlich einen, und alle Redakteure und Repor ter«, sagte Holowell achselzuckend. »Und ein paar leitende Angestellte in der Druckerei.« Die Drei bedankten sich bei Holowell und standen auf. Die Hände hatten sie sich schon bei der Begrüßung geschüttelt, und niemand legte Wert darauf, das Ritual noch einmal zu wieder holen. Grissom nahm die Beweismitteltüte vom Schreibtisch und steckte sie ein, dann ging er mit Sara und dem Captain in das Großraumbüro. Die hektische Betriebsamkeit, die dort herrsch
te, vermittelte ihnen auf eigentümliche Weise das Gefühl, unbeobachtet und ungestört zu sein. Sara sah Grissom und Brass an. »Wie wäre es mit: ›Tötet alle Zeitungsfritzen!‹?« »Dazu hat Shakespeare nichts gesagt«, entgegnete Grissom. »Stehen wir denn nach diesem Gespräch besser da als vor her?«, fragte Sara den Captain. »Das wüsste ich auch gern«, entgegnete Brass. »Natürlich tun wir das«, sagte Grissom. »Zwei Schritte vor und einen zurück – das ist immerhin ein Schritt vorwärts. Als wir kamen, hatten wir an die zweihundert potenzielle Schlüs selinhaber. Wenn wir den Herausgeber beim Wort nehmen können, haben wir jetzt nur noch dreißig oder weniger. Und vielleicht bekommen wir sogar eine Liste mit Namen.« Sara verzog das Gesicht. »Aber vielleicht wurde die Karte jemandem gestohlen…« Grissom nickte. »Wenn wir feststellen können, wem sie ge stohlen wurde, dann haben wir einen Punkt, an dem wir anset zen können.« »Okay«, sagte Sara. »Und«, schaltete Brass sich ein, »wir wissen jetzt – wenn wir Holowell beim Wort nehmen können, wie Sie sagten –, dass ungefähr fünfundachtzig bis neunzig Prozent der Mitar beiter keinen Schlüssel haben.« Grissom lächelte. »Genau, Jim… Information ist unsere Währung, das weißt du, Sara. Das Guthaben wächst ganz allmählich, Stück für Stück. Aber es wächst.« »Klingt ganz nach meinem Sparkonto«, brummelte Brass missmutig. Das Trio steuerte gerade auf den Ausgang zu, als David Pa quette plötzlich aus seinem Büro kam. Er trug ein blaues Hemd mit umgeschlagenen Ärmeln und eine blau-gold gestreifte
Krawatte. Das Neonlicht spiegelte sich auf seiner Glatze, und er wirkte gestresster und derangierter als sein Chef. »Was führt die Polizei ins feindliche Lager?«, fragte er scherzhaft. »Wir hatten ein Gespräch mit Mr. Holowell«, entgegnete Grissom. Paquette winkte sie in sein Büro, das im Vergleich zu dem des Herausgebers winzig wirkte, kaum größer als eine Zelle. Sein Schreibtisch war eine klobige Metallkonstruktion mit einem wesentlich kleineren Monitor darauf und stapelweise Papier. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, setzte Paquette sich nicht an seinen Schreibtisch und bot auch seinen Gästen keinen Sitzplatz an. »Weshalb waren Sie bei James?«, fragte er ohne Umschwei fe. Er klang misstrauisch; als witterte er Verrat. ä»Was glauben Sie denn?«, fragte Brass. »Der übliche Poli zeikram natürlich.« Paquette schnaubte. »Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Ich weiß, dass noch ein Mord passiert ist!« Vorwurfsvoll zeigte er der Reihe nach auf seine drei Gesprächspartner. »Und habe ich schon einen Piep von Ihnen darüber gehört? Nein – Sie reden nicht mit mir oder Bell oder Brower darüber. Wir hatten doch eine Abmachung, oder etwa nicht?« Grissom zog leicht die Augenbrauen hoch – seine Version des Stirnrunzelns. »Wieso glauben Sie, dass es einen weiteren CASt-Mord gab?« Paquette lachte spöttisch. »Ich glaube es nicht, ich weiß es! Können Sie sich vor lauter Selbstgefälligkeit und Blindheit nicht vorstellen, dass ich noch andere Quellen im Department habe?« Grissom sagte etwas, das Paquette wahrscheinlich unlogisch vorkam: »David, haben Sie Ihren Schlüssel bei sich?«
»Was?« »Ihren Büroschlüssel!« Paquette steckte die Hand in die Hosentasche, kramte kurz herum und brachte tatsächlich seine Karte zum Vorschein. »Wozu brauchen Sie die?«, fragte er. Grissom holte die Beweismitteltüte aus seiner Tasche, verbarg aber den Inhalt in seiner Hand. »Wenn ich Ihnen dieses Beweisstück zeigen soll, brauche ich eine Bestätigung.« »Was denn für eine Bestätigung?« »Dass unsere Abmachung immer noch gilt: Sie lassen nichts verlauten, bevor wir grünes Licht geben.« »Nachdem Sie mich derart übergangen haben? Was ist das für ein…« »Hören Sie mir zu«, fiel Grissom ihm ins Wort. »Das hier ist etwas, von dem nur mein Labor weiß – das erfährt niemand sonst von den Medien. Und für Ihre Zeitung ist es von beson derem Belang.« Paquettes journalistische Neugier gewann die Oberhand. »Ich höre«, sagte er. Grissom wusste, er hatte den Redakteur, aber er hakte noch einmal nach: »Und unsere Abmachung ist nach wie vor gültig, ja?« »Ja doch!«, entgegnete Paquette. Grissom entrollte den Beutel wie eine Flagge vor der Nase des Redakteurs, so dass er die Karte mit dem BannerSchriftzug sehen konnte. »Es gab tatsächlich noch einen Mord, wie Sie sagten«, er klärte Grissom. »Aber was weder Sie noch andere Medienver treter wissen, ist, dass das Opfer diese Schlüsselkarte in der Hand hielt.« Paquette fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Wem gehört sie?« »Das wissen wir nicht«, entgegnete Brass.
»Darüber haben Sie also mit meinem Boss gesprochen?« »Wir dürfen unsere Quellen nicht preisgeben«, sagte Gris som. »Sie können mich mal, Grissom! Das… das heißt doch wohl nicht, dass jemand vom Banner für die Morde verantwortlich ist…« Aus Paquettes Stimme waren Wut, aber auch Frustration herauszuhören. »Die Karte kann doch gestohlen und am Tatort platziert worden sein.« »Was Sie nicht sagen!«, bemerkte Brass. »Wo wären wir ohne einen Kriminalexperten wie Sie, der für uns die Theorien aufstellt.« »Sie können mich auch mal, Brass!« Der Captain machte einen Schritt auf den Redakteur zu. »Sie und Ihr Kumpel Perry waren abgesehen von den Insidern des Departments und den gottverdammten Opfern dichter an dem CASt-Fall dran als jeder andere! Glauben Sie, es ist Zu fall, dass diese Karte in der kalten Hand des Opfers steckte?« Paquette wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch an ders. »Wo ist Perry?«, fragte Brass. Paquettes Blick ruhte auf der Beweismitteltüte, und er fragte sich vermutlich, ob sein Mitarbeiter zum Mörder geworden war. »Er ist… für ein paar Tage verreist. Er wollte Patty besu chen, bevor die Uni wieder anfängt.« »Patty?«, fragte Grissom. Brass und Paquette antworteten gleichzeitig. »Seine Toch ter!« »Sie ist im zweiten Studienjahr an der Universität von Los Angeles«, fügte Paquette hinzu. »Die Semesterferien sind bald zu Ende, und, hey, er ist ihr Vater – er wollte noch ein bisschen Zeit mit ihr verbringen, bevor sie wieder büffeln muss.« »Wann haben Sie Perry das letzte Mal gesehen?«, fragte Brass.
»Vorgestern«, antwortete der Redakteur. Vor dem Mord an Diaz, dachte Sara. Möglicherweise war der Pool der Verdächtigen gar nicht so groß – vielleicht hatte er eher die Größe einer Badewanne… »Wie können wir Mr. Bell erreichen?«, fragte Grissom. »Über Handy vermutlich«, sagte der Redakteur. »Die Nummer habe ich«, bemerkte Brass. »Hören Sie, so etwas würde er nicht tun«, erklärte Paquette. »Das entspricht seinem Wesen in keinster Weise.« Brass grinste spöttisch und schüttelte den Kopf. »Sie und ich, wir wissen beide, dass Perry Bell nur hier arbeitet, weil Sie wegen des Erfolgs, den Ihnen das Buch beschert hat, ein schlechtes Gewissen haben. Sie sind vorwärts gekommen, aber der gute Perry steckt in einer Sackgasse. Er ist immer noch Reporter und klammert sich an den Ruhm, der ihm noch von dem Buch geblieben ist… das ganz zufällig von dem CAStSerienmörder handelt.« Die Schmährede des Captains schien den Redakteur eher in Verlegenheit zu bringen als einzuschüchtern. Er schwieg eine Weile. »Mal angenommen, Perry hätte den Job tatsächlich meinetwegen behalten«, sagte er dann, »warum in Gottes Namen sollte er deshalb zum Killer werden?« »Vielleicht stimmt es ja nicht«, entgegnete Brass. »Aber der junge Brower macht nun den Großteil der Arbeit, und er sitzt Perry praktisch im Nacken. Wenn man lange genug denselben Job macht, fühlt man sich wie ein Dinosaurier. Wie könnte er seiner Karriere besser neuen Schwung verleihen als durch die Fortsetzung der CASt-Serienmorde, die ihm sein Viertelstünd chen Ruhm beschert haben?« Der Redakteur hielt dagegen. »Perry soll ein kaltblütiger Nachahmer sein? Zum Teufel, Jim, dann wäre er ja noch irrer als der Original-CASt! Hören Sie, ich kenne Perry, und er hat ein Herz aus Gold. Sie kennen ihn doch nun auch schon viele
Jahre, in denen Sie mit ihm kooperiert haben und er mit Ihnen. Ein guter, anständiger Junge. Ich sage Ihnen, er war es nicht!« »Gut«, sagte Brass. »Und wo war er, als Sandred ermordet wurde?« »Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Paquette achsel zuckend. »Sie sind sein direkter Vorgesetzter.« »Er war nicht im Büro.« »Der zweite Mord geschah gestern Morgen. Wissen Sie, wo er da war?« »Ich sagte es doch schon! Er besucht seine Tochter. Wie ein anständiger Familienvater das eben tut. Das können Sie und Grissom sich natürlich nicht vorstellen! Und jetzt habe ich zu tun.« Mit einer energischen Geste scheuchte er sie aus seinem Bü ro. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und die beiden Spu renermittler und der Captain vom Morddezernat standen wie der in der hektischen Nachrichtenredaktion. »Was denkst du, Gil?«, fragte Sara. »Ich denke«, meinte Grissom, »wir haben auch jede Menge zu tun.«
5
Auch nach ein paar Stunden Schlaf, einer Dusche und einem Garderobenwechsel hatte sich Grissoms Laune nicht gebessert. Sheriff Atwater machte ihm Druck – auf eine herablassende, pseudofreundliche Art, die Grissoms Augen glasig werden ließ. Der Sheriff drängte darauf, dass der Mörder gefasst werden müsse, bevor sich Panik in der Stadt ausbreite und am Ende noch die Touristen durch die Berichterstattung in den Medien abgeschreckt würden. Atwater hatte wirklich interessante Vorstellungen: Er ver langte von Grissom, »seinen Hintern zu bewegen« und etwas zu unternehmen – aber gleichzeitig schien er zu denken, der CSI-Leiter habe nichts Besseres zu tun, als an seinem Schreib tisch zu sitzen und sich am Telefon eine Gardinenpredigt anzu hören, die er sowieso schon auswendig konnte. Grissom legte auf und starrte das Telefon an, als wäre das arme Gerät schuld an Atwaters Tirade und daran, dass der Sheriff anscheinend alle seine Schnellwahltasten mit nur einer Nummer belegt hatte – mit der von Grissom. Die Fernsehsender kramten bereits Videomaterial von den alten CASt-Fällen aus den Archiven, und der CSI-Leiter wuss te, dass sämtliche Zeitungen in der Morgenausgabe darüber berichten würden. Auch der Fall Enrique Diaz war kein Ge heimnis mehr, und Grissom fragte sich, ob irgendjemand den Inhalt der beiden kurzen Gespräche beim Banner hatte durchsi ckern lassen.
Grissom verabscheute die Medien – nicht das Konzept an sich, grundsätzlich hielt er Pressefreiheit für richtig und sinn voll. Ihn nervten vielmehr die lästigen Auswirkungen auf seine Arbeit. Ebenso sehr hasste er die Politik – nicht die Regierung oder irgendeine spezielle Partei, sondern die eigennützige Heuchelei derjenigen, die – wie die Medien – vorgaben, sich für seine Arbeit zu interessieren und ihm zuarbeiten zu wollen, während sie ihn im Grunde nur behinderten. Brass kam herein und warf drei Tageszeitungen auf Gris soms Schreibtisch. »Extrablatt! Extrablatt!«, rief er spöttisch. Die Sun und die Journal-Review titelten beide mit CASt und berichteten auf der ersten Seite über die neuen Morde, im Innenteil auch ausführlicher über die alten Fälle. Dem Banner musste man hoch anrechnen, dass er lediglich über die aktuel len Morde berichtete und CASt offenbar nur der Form halber erwähnte, damit es nicht so aussah, als hätte die Redaktion keine Ahnung. Die Schlagzeile lautete jedoch: »ROMANOV VERKAUFT – DER MILLIARDENDEAL!« Das Bisschen, was über die aktuellen Mordfälle geschrieben wurde, nahm Grissom dem Blatt nicht übel. Schließlich hatte es seinen Le sern (und seinen Aktionären) gegenüber eine Verpflichtung. »Anscheinend hält sich der Banner doch an unsere Abma chung«, sagte er. »Ja, aber was nützt uns das«, entgegnete Brass, »wenn die anderen alle mit CASt titeln… Den Fernseher schalten Sie besser gar nicht erst ein. Und Dave Paquette ruft mich ungefähr alle halbe Stunde an, seit wir gestern bei ihm waren.« »Warum?« »Oh, keine Ahnung – wahrscheinlich, weil er nachhören will, ob wir etwas für ihn haben, womit er seinen Posten retten kann.« »Um ihm etwas sagen zu können, müssen wir erst mal etwas finden«, entgegnete Grissom.
Brass ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. »Apropos fin den – Bell habe ich noch nicht erwischt. Aber ich versuche gerade herauszubekommen, wo seine Tochter wohnt. Und irgendwie werde ich sie heute noch aufspüren, egal wie. Mal sehen, ob ich über sie an Perry rankomme.« »Guter Plan. Und machen Sie es sich nicht zu bequem auf diesem Stuhl…« »Gil, ich habe noch nie auf einem härteren Stuhl gesessen. Es ist fast, als wollten Sie keinen Besuch!« Grissom grinste. »Dann erheben Sie sich! Gehen wir nach sehen, wie es bei den anderen läuft.« Brass stand auf und zuckte dabei zusammen, als täten ihm sämtliche Knochen und Muskelfasern weh. »Ja… tun wir das.« Sie fanden Catherine und Nick im Pausenraum. Die beiden sahen aus, als hätten sie in den vergangenen Tagen höchstens sechs Stunden geschlafen. Nick lehnte an der Theke und warte te darauf, dass sein Bagel in der Mikrowelle fertig würde. Catherine saß am Tisch und hielt einen Pappbecher mit Kaffee in den Händen. Sie schaute in das schwarze Getränk, als würde sie versuchen, eine glücklichere Zukunft daraus zu lesen. Trost schien allein der Erdbeerplunder zu bieten, der auf einer Ser viette vor ihr lag. »Was Neues?«, fragte Grissom. »Ja und nein«, entgegnete Catherine, nahm ihren Kaffeebe cher an den Mund und pustete. »Ich hatte mir ein paar Details mehr erhofft«, bemerkte Brass. »Wie wäre es damit? Phillip Carlson ist ein totaler Freak,« wurde Nick nun etwas genauer. »Freak im Sinne von körperlich missgebildet? Oder im Sin ne von promiskuitiv? Bitte etwas präziser, Nick.«
»Freak in dem Sinn, dass er eine freakige Kapelle für einen gewissen fingerabschneidenden, spermaverteilenden Serienkil ler errichtet hat.« Grissom und Brass setzten sich zu Catherine an den Tisch, Nick kam mit seinem Kaffee und dem aufgebackenen Bagel mit Ei dazu, und die beiden erzählten ihre Geschichte. »Aha«, sagte Grissom. »So ein Freak also.« Catherine grinste freudlos und schüttelte den Kopf. »Ja, aber leider scheint er nicht der richtige Freak zu sein…« Davon wollte Brass nichts hören. »Für mich klingt das, als hätte er die Wände mit seinen eigenen Zeitungsausschnitten tapeziert!« »Er scheint nicht der Richtige zu sein, Jim. Zumindest nicht, was die neuen Morde angeht.« »Warum?«, hakte Grissom nach. »Seine DNS stimmt mit keiner der Proben von den Tatorten überein.« »Sie passt auch zu keiner Probe von den Original-CAStFällen.« »Und wir hatten jede Menge DNS-Proben zu überprüfen«, ergänzte Nick und legte seinen Bagel auf den Teller. »Wieso das?«, fragte Grissom. »Wir sind mit der Quarzlampe durch Carlsons CAStTempel gegangen…«, erklärte Catherine. Diese Lampe macht es möglich, alle eiweißhaltigen Spuren an einem Tatort sicht bar zu machen. »… und der ganze Boden war voller fluoreszie render Spritzer.« Grissom runzelte die Stirn. »Er benutzt das CASt-Material als Masturbationsvorlage?« Brass nickte mit dem Kopf. »Verdammt, das ergibt Sinn… Er ist ein notorischer Bekenner. Er identifiziert sich mit dem kranken Bastard.« »Aber er ist nicht der kranke Bastard«, erwiderte Nick.
»Nicht der, nach dem wir suchen«, fügte Catherine hinzu. »Sind alle Beweisspuren untersucht?«, fragte Grissom. »Nein«, entgegnete Catherine. »Wir warten noch auf einige Laborergebnisse, aber es ist mehr als eine Ahnung, Gil, wenn ich sage, dass Carlson nicht der Täter ist.« »Wir nehmen uns jetzt die anderen beiden Verdächtigen vor, Dallas Hanson und Jerome Dayton«, erklärte Nick. »Das solltet ihr auch«, sagte Grissom. In diesem Augenblick kam Greg Sanders herein. Er schenk te sich einen Kaffee ein und baute sich lächelnd vor Grissom auf. »Sie haben etwas gefunden«, folgerte der CSI-Leiter. Greg zog die Augenbrauen hoch. »Unser Killer… ist ein Nachahmer.« Grissoms Stimmung besserte sich augenblicklich. »Sind Sie sicher? Ist das mehr als eine wohlbegründete Vermutung?« »Ganz sicher«, entgegnete Greg. »Warum?« Greg wurde ernst und erklärte sachlich: »Ich habe die DNSProben von den Originalfällen bekommen – die eingefrorenen Spermaproben, die wir dem inzwischen pensionierten, aber immer noch hoch geschätzten Detective Champlain verdanken. Jedenfalls stimmt keine der Proben mit denen von Rudy Orloff überein, die wir auf den Opfern fanden… und mit der DNS von den Hautzellen am Seil auch nicht.« »Rudy Orloff«, sagte Brass und seufzte. »Verdammt, den hatte ich in dem ganzen Trubel um den Mord an Diaz fast vergessen!« »So ein Trubel kann ganz schön störend sein«, bemerkte Greg. »Greg!«, sagte Grissom warnend. »Sorry.« »Greg?«
»Hmmm?« »Gute Arbeit.« Von diesem Lob beflügelt, nahm Greg seinen Kaffee und verzog sich umgehend in sein Labor, damit er nicht auch gleich wieder eine Rüge kassierte. »Also gut«, sagte Grissom zu den anderen. »Besprechen wir, wie wir jetzt vorgehen.« »Ich knöpfe mir Orloff vor«, sagte Brass. »Ich werde unse rem Kollegen Damon das Gefühl geben, wichtig zu sein, und nehme ihn mit. Unterwegs könnte ich noch einmal bei dieser Fernsehreporterin Halt machen, letztes Mal haben wir sie nicht erwischt. Vielleicht können wir ja doch noch in Erfahrung bringen, wer gequatscht hat.« »Du solltest mit ihr reden, Gil«, schaltete sich Catherine jetzt ein. »Sie mag dich.« »Okay, ich rufe sie an«, meinte Grissom gequält. »Aber ich werde nur mit ihr telefonieren – wenn ein persönliches Ge spräch nötig scheint, dann…« »Ich danke Ihnen, Gil«, sagte Brass. »Nick und ich, wir machen uns über Hanson und Dayton schlau«, erklärte Catherine. »Okay«, sagte ihr Chef. »Und was habt ihr mit Carlson ge macht?« Nick grinste. »Der sitzt erst mal. Wir haben Pot in der Nachbarwohnung gefunden, die auch ihm gehört – allerdings nicht in dealerverdächtigen Mengen. Und er hat versucht abzu hauen.« Grissom dachte nach. »Haltet ihn so lange fest, bis alle La borergebnisse da sind und ihr ganz sicher seid, dass er außer Verdacht ist. Ich will auf gar keinen Fall einen Serienkiller freilassen.«
»Wenn Carlson noch sitzt, wenn der nächste Mord passiert, dann wissen wir wenigstens, dass er es nicht war«, bemerkte Brass. Alle sahen ihn mit großen Augen an. »Habe ich das gerade wirklich gesagt?«, fragte Brass ent setzt. »Ich habe doch wohl nicht angenommen, dass noch ein Mord passiert, bevor wir den Kerl kriegen…« »Ich habe nichts gehört«, sagte Catherine. »Was gehört?«, fragte Nick und knabberte an seinem Bagel. »Haben Sie inzwischen mit Perry Bell gesprochen, Jim?«, hakte Catherine nach. Der Captain schüttelte den Kopf. »Ich habe es fast bis Mit ternacht probiert«, erzählte er jetzt auch ihr. »Über Handy ist er einfach nicht zu erreichen. Aber ich habe jetzt die Nummer des Wohnheims bekommen, in dem seine Tochter lebt.« »Versuchen Sie, so viel wie möglich aus diesem Orloff he rauszubekommen«, meinte Grissom zu ihm. »Ich bleibe wäh renddessen an Bell und seiner Tochter dran.« »Was machen wir mit Paquette?«, fragte Brass. Bevor Grissom etwas sagen konnte, klingelte Brass’ Handy. Er schaute auf das Display, als er es aufklappte. »Wenn man vom Teufel spricht!«, rief er und nahm das Gespräch an. »Was gibt’s, David?« Während Brass eine ganze Weile zuhörte, spannte sich sein Gesicht immer mehr an. Sein Blick war starr und verriet Beun ruhigung. »In zehn Minuten ist jemand von uns da«, sagte er schließlich. »Fassen Sie bloß nichts an… Ja, ja, natürlich wis sen Sie das! Und halten Sie alle fest, die irgendwie damit zu tun hatten, und sperren Sie sie in einen Raum, denn wir werden von allen Fingerabdrücke brauchen.« Er lauschte weiter, und die anderen wechselten besorgte Blicke.
»Zehn Minuten«, bestätigte Brass. »Verlassen Sie sich drauf. Und noch etwas – danke, Dave!« Damit beendete er das Gespräch und sah Grissom an. »Er hat einen Brief von CASt bekommen.« »Oder von dem Nachahmer«, warf Nick ein. »Das glaube ich nicht – die Leute vom Banner haben den Brief schon gelesen, weil ihnen anfangs gar nicht klar war, um was es sich handelt. Der Witz ist, das Original ist höchst unzu frieden mit der Nachahmung.« Catherine seufzte und schüttelte den Kopf. Brass fuhr fort: »Paquette hat die Originalbriefe gesehen, die die Zeitung vor elf Jahren bekommen hat – und er sagt, er glaubt, dass der von heute echt ist.« »Alle verfahren so, wie wir es gerade besprochen haben«, erklärte Grissom. »Ich werde Warrick und Sara sofort zum Banner schicken.« »Mir wäre es lieber, wenn Dave sich irren würde«, meinte Brass. »Wir haben mit dem Nachahmer schon genug Probleme. Was wir als Letztes gebrauchen können, ist, dass der Irre von damals wieder aus der Versenkung auftaucht.« »Vielleicht um den Neuen zu toppen?«, fragte Nick mit ei nem säuerlichen Lächeln. Es war nur eine flapsige Bemerkung gewesen, aber ihr mög licherweise wahrer Kern traf alle wie ein Schlag vor den Kopf, und sie erschauderten angesichts dieser furchtbaren Vorstel lung. Sogar Gil Grissom. Als Warrick Brown mit Sara die Eingangshalle des Banner betrat, dachte er, dass es ganz ähnliche Gesichter gewesen sein mussten, die den Ermittlern entgegengeschaut hatten, als sie seinerzeit wegen der Anthrax-Briefe, die massenhaft nach dem
11. September aufgetaucht waren, in die Büros gerufen worden waren. Die Mitarbeiter, die auf der Treppe an ihnen vorbeigingen, sahen sie allerdings mehr gequält als verängstigt an. Es war klar, dass die Nachricht bereits die Runde gemacht hatte: Der berüchtigte CASt hatte erneut den Banner zu seinem persönli chen Sprachrohr auserkoren. Und als Warrick und Sara an der geschlossenen Tür des Herausgebers James Holowell vorbeikamen, der sich anschei nend in seinem Büro verbarrikadiert hatte, beobachteten die Reporter sie von ihren Schreibtischen aus, als wären sie Ge spenster, die das Gebäude heimsuchten. Verstohlen, aber unab lässig behielten sie die beiden Kriminalisten im Auge. Vor Paquettes Büro hatte sich eine Menschentraube gebildet – so ähnlich, wie man sie sah, wenn jemand vom Dach eines Hochhauses zu springen drohte. Auf der rationalen Ebene wollten solche Leute selbstverständlich, dass der Selbstmörder gerettet wurde, schließlich hatten die Passanten ja den Ret tungsdienst verständigt. Aber in ihrem Unbewussten, auf der Ebene des Es, wünschten sie sich, dass die arme Seele den Sprung ins ewige Vergessen wagte. Diese animalische Faszina tion für den Tod, der in der Tiefe des menschlichen Wesens schlummerte, würden sie sich allerdings niemals eingestehen. Dieselbe Faszination trieb auch die Leute um, die sich vor Paquettes Büro versammelt hatten, das spürte Warrick. Sie wussten, dass der Tod hinter der verschlossenen Tür lauerte. Keine Leiche, sondern etwas noch Aufregenderes: eine Bot schaft aus dem Reich des Todes… … von einem Serienmörder, dem Superstar aller Killer. Sara blieb dicht hinter Warrick, als sie auf das Büro zugin gen. Sie hatten beide ihren Stahlkoffer dabei. Warrick ahnte, dass Sara die Schwingungen ebenfalls spürte, dieses morbide Frohlocken der fiebernden Menschen.
»Paquettes Büro ist das erste rechts«, sagte sie. Da praktisch alle Augen auf diese Tür gerichtet waren, wunderte Warrick sich, warum Sara auf so etwas Offensichtli ches hinwies – aber vielleicht wollte sie einfach in der Stille, die sich im Flur ausbreitete, irgendeine Stimme hören, und sei es ihre eigene. Warrick klopfte an, und die Tür ging einen Spalt auf. Er hat te David Paquette ein, zwei Mal getroffen und erkannte ihn sofort wieder, obwohl er jetzt nur ein Stück von seinem Ge sicht zu sehen bekam. »Sie sind… Brown, Warrick Brown«, stellte Paquette fest. »Wir sind zu zweit, Mr. Paquette. Ich habe Sara Sidle mit gebracht.« Die Tür ging auf, aber Paquette stellte sich ihnen in den Weg, statt sie hineinzulassen. »Wo ist Jim Brass?«, fragte er irritiert. »Das hier ist Aufgabe des kriminaltechnischen Labors… Dürfen wir?« Paquette trat zurück und ließ sie herein. Dabei öffnete er die Tür gerade so weit wie nötig, und sobald die beiden drin wa ren, schloss er sie wieder und lehnte sich dagegen, als befürch tete er, die Menge könnte versuchen, sein Büro zu stürmen – möglicherweise mit einer Bank als Ramme und zusammenge rollten brennenden Zeitungen als Fackeln… Das Schreckgespenst Serienkiller hatte den Monstern aus Sagen und Filmen inzwischen längst den Rang abgelaufen. Und weil Las Vegas eine so einzigartige, vergnügungsreiche, sonnige Wüstenoase war, die Menschen aus aller Welt anzog, hatte die Polizei hier vermutlich mehr von diesen modernen Monstern zu Gesicht bekommen als jedes andere Department in den Vereinigten Staaten. Dennoch war es kaum mehr als eine Hand voll. Und nicht einmal für Warrick Brown – abgesehen von Grissom der abge
brühteste aller CSI-Mitarbeiter – waren die Morde, die buch stäblich monströsen Egos und die Extreme dessen zur Routine geworden, was früher einmal »das Böse« genannt wurde und mittlerweile pathologisch zu sein schien. Aber diese »Stadtleute« hier auf dem Flur, sie blieben auf Abstand, das wusste Warrick aus Erfahrung. Wie fasziniert sie auch waren, sie wollten dem Brief, den ihnen der Verrückte ins Haus geschickt hatte, nicht näher kommen als bis zu dieser Tür. In Paquettes Büro waren noch zwei weitere Männer. Der ei ne sah noch sehr jung aus, hatte strähniges, blondes Haar und große blaue Augen. Er trug ein schwarzes Slipknot-T-Shirt und hatte die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Der andere war Perry Bells Rechercheassistent Mark Brower. »Ich glaube, Sie kennen Mark«, meinte Paquette zu War rick. »Wir haben uns schon mal gesehen«, sagte Warrick nickend und schüttelte Brower die Hand. »Und Sara ist eine alte Freundin«, bemerkte Brower und schüttelte auch ihr die Hand. Nach Saras Gesichtsausdruck zu urteilen war dies stark ü bertrieben. Aber die Atmosphäre war insgesamt sehr ange spannt und irgendwie unnatürlich. Paquette ging zu seinem Schreibtisch und zeigte dabei auf den blonden Jungen. »Jimmy hat den Brief als Erster entdeckt. Jimmy Mydalson, er arbeitet in der Poststelle.« Der Junge nickte, ließ aber die Hände in den Hosentaschen stecken. Für ein ausführliches Begrüßungsritual war er viel zu beschäftigt: Er behielt den braunen Umschlag auf Paquettes Schreibtisch argwöhnisch im Auge wie eine Schlange, vor deren plötzlichem Biss er sich fürchtete. »Ist das der Brief?«, fragte Sara und machte einen Schritt auf den Umschlag zu.
»Und der Rest«, sagte Paquette. »Was für ein Rest?« Paquette brachte ein grotesk wirkendes Lächeln zustande. »Das, was in dem Umschlag ist, das ist… äh… nur ein Teil der Sendung. Das haben wir aber nicht angerührt, das Päckchen da drin.« »Oooo-kay«, machte Sara. »Der Brief liegt unter dem Umschlag. Da vor Ihnen! Wir haben ihn alle drei angefasst, und den Umschlag auch.« »Jetzt mal langsam«, meinte Warrick. »Erzählen Sie uns der Reihe nach, was passiert ist.« Paquette und Brower sahen Mydalson an. Der Junge sah aus, als wollte er weglaufen oder sich über geben oder beides gleichzeitig. Schließlich holte er tief Luft und wies mit zitternden Fingern auf den Umschlag. »Das ist heute Morgen in der Post gewesen. Ich habe den Brief gelesen, und dann bin ich sofort zu Mr. Brower gelaufen.« »Mark ist nicht mal Reporter«, sagte Sara. »Warum haben Sie sich nicht an einen Redakteur gewendet, an jemanden, der in der Nahrungskette weiter oben steht?« Mydalson zuckte mit den Schultern. »Ich vertraue Mark. Er ist immer nett zu mir.« »Okay, Mark«, sagte Warrick. »Dann zu Ihnen…« Der Junge von der Poststelle seufzte erleichtert und sah Brower erwartungsvoll an. »Jimmy hat mir den Brief gebracht«, erzählte Brower, »ich habe ihn gelesen, und dann haben wir beide ihn schnellstens hierher gebracht, um ihn David zu zeigen.« »Warum haben Sie ihn nicht Ihrem Boss gezeigt, Mark? Sie sind doch Perry Bells Assistent, nicht wahr?« »Perry ist in Kalifornien, er besucht seine Tochter. David ist der Redakteur, dem Perry unterstellt ist, also ist David im
Moment mein Boss… und ihm habe ich den Umschlag ge bracht.« »Hat außer Ihnen noch jemand den Brief angefasst?« Kopfschütteln auf allen Seiten. »Okay, kein Grund zur Panik, aber wir müssen Ihre Finge rabdrücke nehmen. Damit wir wissen, welche Abdrücke auf dem Brief von Ihnen stammen und welche möglicherweise von dem Täter sind. Okay?« Nicken auf allen Seiten. Die beiden Spurenermittler streiften sich Latexhandschuhe über. Während Warrick zuerst Fingerabdrücke von Paquette, dann von Mydalson nahm, schob Sara den Umschlag zur Seite und faltete den Brief vorsichtig mit einer Pinzette auseinander, um keine Beweisspuren zu zerstören. Das Blatt war mit einem blauen Stift beschrieben, die Handschrift war klein und sauber, und der Abstand zwischen den Zeilen extrem gleichmäßig. Sara überflog den Brief, dann begann sie, ihn Warrick vor zulesen: »Captain Brass, so viele Jahre sind vergangen, und Sie sind immer noch nicht befördert worden. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Bei Ihnen hat sich nichts verändert. In dieser Hinsicht sind wir uns durchaus ähnlich – auch bei mir hat sich nichts verändert. Auch für mich ist die Zeit stehen geblieben.« Warrick war inzwischen mit Mydalson fertig und wollte sich Brower vornehmen. »Leute, ist das wirklich nötig?«, fragte Brower. »Ich habe das Ding kaum angefasst, und ich bin im Redaktionsschluss.« Warrick lächelte den Mann an. »Entspannen Sie sich, Mark, es dauert nur ein paar Sekunden, und es hilft uns, die Finge rabdrücke des Täters zu identifizieren.« »Ach, was soll’s«, meinte Brower kichernd und trat vor. »Ich nehme es einfach als Recherche.« Er streckte die rechte Hand aus.
Sara las weiter vor: »Es heißt, Nachahmung sei das größte Lob. Aber ich fühle mich alles andere als geschmeichelt. Ich fühle mich geschändet, und so wende ich mich an Sie, Captain, damit mir Gerechtigkeit widerfährt. Sie sollen wissen, Captain James Brass, dass ich nichts mit diesen rücksichtslosen, dum men Verbrechen zu tun habe. Um Ihnen meine Aufrichtigkeit zu beweisen, trenne ich mich von einem wertvollen Erinne rungsstück.« Sara hörte auf zu lesen und sah nachdenklich den braunen Umschlag an, der ungefähr zwanzig mal dreißig Zentimeter groß war und in dem offensichtlich noch etwas Eckiges steckte. Als Warrick mit Browers Fingerabdrücken fertig war, trat er zu Sara. Er beugte sich vor, spähte in den offenen Umschlag und entdeckte eine weiße Schachtel von vielleicht zehn mal zehn Zentimetern mit einer roten Schleife drumherum. Sara warf jetzt ebenfalls einen Blick in den Umschlag und blickte Warrick auffordernd an. Vorsichtig nahm dieser die Schachtel zwischen Daumen und Mittelfinger und zog sie aus dem Umschlag, um sie sich ge nauer anzusehen. Dann machte er sowohl von der Schachtel als auch von dem Brief Fotos und untersuchte das rote Band auf Fingerabdrücke. Er fand keine und schnitt es durch. Nun kam die Bescherung: Warrick nahm den Deckel ab. In der Schachtel lag auf Watte gebettet ein mumifizierter Finger. Paquette und Brower wichen erschrocken zurück. Der Junge von der Poststelle schlug sich die Hand vor den Mund, rannte zur Tür, riss sie auf und stieß beim Hinauslaufen einige der neugierig Wartenden zur Seite wie Bowlingkegel – und das alles in ungefähr zwei Sekunden. Mach’s gut, Junge!, dachte Warrick.
Der weiße Zeigefinger war so verschrumpelt, dass Warrick sich unwillkürlich fragte, ob man davon überhaupt einen Ab druck erstellen konnte. Während er weiter fotografierte, las Sara den Brief zu Ende vor: »Wenn Sie mein Andenken identifiziert haben, werden Sie feststellen, dass ich der bin, der ich zu sein behaupte – dass ich in der Tat der einzig Wahre bin, das Original und keine billige Imitation. Ich habe nichts mit den beiden Morden zu tun, die kürzlich in unserer Stadt verübt wurden. Derjenige, der hinter diesen Taten steckt, ist ein erbärmlicher Hochstapler, der ver sucht, sich auf meine Kosten wichtig zu machen. Das kann ich nicht zulassen. Mein Ruf steht auf dem Spiel, und ich muss ihn wahren. Wenn Sie meinen guten Namen nicht schützen kön nen, werde ich es selbst tun.« Sara sah auf. »Unterschrieben ist das Ganze mit: ›Capture, Afflict, Strangle‹.« Warrick schüttelte den Kopf und wechselte vielsagende Bli cke mit Sara. Vor den Journalisten wollten sie nicht darüber sprechen, aber sie fragten sich in diesem Moment beide, wie CASt seinen guten Namen wohl schützen wollte. »Was für ein egozentrischer Irrer!«, bemerkte Paquette ent geistert. Um Warricks Lippen spielte ein kleines Lächeln. »Diese Ti tulierung war vielleicht noch nie so zutreffend wie in diesem Fall, Mr. Paquette.« Das Gespräch mit Jill Ganine verlief ungefähr so, wie Grissom es sich vorgestellt hatte. »Ms Ganine«, sagte er ins Telefon, und das Bild, das er von der attraktiven brünetten Nachrichtensprecherin im Kopf hatte, war keineswegs unerfreulich. »Wenn bei einem Mordfall wie diesem vertrauliche Informationen den Weg in die Medien finden, gibt uns das aus vielerlei Gründen Anlass zur Sorge.«
»Sie fragen sich, wem Sie vertrauen können, Gil? Um Himmels willen, nennen Sie mich Jill! Wie oft habe ich Sie schon interviewt? Habe ich je etwas falsch dargestellt, das Sie mir gesagt haben? Habe ich Ihr Vertrauen jemals miss braucht?« »Nein, Jill, das haben Sie nicht, und das weiß ich zu schät zen.« »Gut, dann werden Sie auch verstehen, dass ich meine Quel len nicht preisgeben kann.« Grissom seufzte tonlos. »Sie behindern die Ermittlungen in einem Fall, bei dem es um einen brutalen Killer geht, der im mer noch…« »Meinen Sie CASt… oder einen Nachahmungstäter?« »Jill, bei den Personen, von denen Sie Ihre Informationen haben, handelt es sich möglicherweise um Tatverdächtige!« »Interessant. Darf ich Sie zitieren?« »Dieses Gespräch führt zu nichts, oder?« »Wissen Sie, Gil, ich glaube nicht.« »Muss ich mir erst eine gerichtliche Verfügung holen?« »Damit dieses Gespräch zu etwas führt oder damit ich mei ne Quelle preisgebe? Glauben Sie wirklich, das funktioniert?« »Wahrscheinlich nicht«, räumte er ein. »Sehen Sie es doch mal so, Gil: Sie können Jim Brass sa gen, dass Sie auf Ihre unnachahmliche CSI-Art Ihr Bestes gegeben und alles versucht haben. C – S – Ei-ei-ei-ei-ei-ei… Dabei kommt eben nicht mehr raus.« »Auf Wiederhören, Jill.« Perry Bell war immer noch nicht über Handy zu erreichen, und Grissom hatte alle Mühe, die Tochter des Reporters aufzu spüren. Als er endlich jemanden in ihrem Zimmer im Wohn heim erreichte, wurde er von Pattys ehemaliger Mitbewohnerin darüber informiert, dass die junge Frau in diesem Semester ein
Apartment bezogen hatte. Grissom fragte nach der Telefon nummer, aber die Ex-Mitbewohnerin sagte, sie habe sie nicht. »Wir haben uns nicht gut verstanden«, erklärte sie. »Sie war total sauer auf mich, weil ich ihr mal auf den Teppich gekotzt habe. Ich meine, als wäre das meine Schuld!« »Es war nicht Ihre Schuld, dass Sie ihr auf den Teppich ge kotzt haben?« »Natürlich nicht! Ich war doch betrunken!« Grissom legte das Gespräch als soziologische Kuriosität zu den Akten und bedankte sich bei der jungen Frau. Dann pro bierte er auf anderen Wegen, die Nummer von Bells Tochter herauszubekommen, doch er kam nicht richtig weiter. Schließ lich gab ihm Sergeant O’Riley die Nummer seines alten Kum pels Tavo Alvarez in Los Angeles, den Grissom sofort kontak tierte. Und nach einer halben Stunde konnte dieser ihm auch schon weiterhelfen: Anscheinend hatte Patty sich unter dem Mädchennamen ihrer Mutter – Lang – an der Universität ein geschrieben. Mit dieser Information war es ein Klacks, ihre Telefonnummer ausfindig zu machen. Grissom rief zuerst in ihrem Apartment an, aber da ging niemand an den Apparat. Als Nächstes wählte er Pattys Han dynummer, und sie meldete sich beim dritten Klingeln. »Hallo?« Sie hatte eine angenehme, fröhliche Stimme. An dem ge dämpften Verkehrslärm im Hintergrund war zu erkennen, dass sie im Auto saß. »Patty Lang?« »Ja. Wer spricht da? Ich kenne Ihre Stimme nicht.« Grissom stellte sich vor und erklärte ihr, dass er versuche, ihren Vater zu finden. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Mr. Grissom. Dad dy hat mich vorgestern angerufen, um mir zu sagen, dass er nicht kommen kann.«
Der singende Tonfall des Mädchens erinnerte Grissom an Saras Art zu sprechen. Er mochte diesen California-GirlSingsang, obwohl es eigentlich keinen vernünftigen Grund dafür gab. »Hat er Ihnen gesagt, warum er nicht kommen kann?«, frag te er. »Ja. Er sagte, er sei an einer heißen Story dran, vergleichbar mit der CASt-Geschichte, und mit der würde er ganz groß rauskommen.« »Hat er gesagt, was für eine Geschichte das ist?« Sie lachte. »Wie gut kennen Sie meinen Vater, Mr. Gris som?« »Ganz gut.« »Hat er Ihnen je von einer Geschichte erzählt, bevor sie ge druckt wurde?« »Nein, da haben Sie Recht, Patty.« Plötzlich wurde sie ernst. »Stimmt etwa irgendetwas nicht? Mit meinem Vater, meine ich. Ist er in Schwierigkeiten oder in Gefahr?« Da ihr Vater Kriminalreporter war, fand Grissom Pattys Re aktion ganz normal. »Nein, ich denke nicht. Ich wollte nur über einen aktuellen Fall mit ihm sprechen. Und alle waren der Ansicht, er sei bei Ihnen in Los Angeles.« »Tja, das war ja auch geplant. Aber jetzt ist er einem Knül ler auf der Spur – was das genau ist, kann man bei meinem Vater nie wissen.« Sie lachte, und Grissom schmunzelte, aber er nahm den be sorgten Unterton in ihrer Stimme war. »Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein, Mr. Gris som?« »Nein«, entgegnete er. »Ich danke Ihnen.« »Würden Sie… mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich, Patty.« »Wenn Sie meinen Vater sehen, sagen Sie ihm, er soll mich anrufen. Sie haben mich irgendwie beunruhigt.« »Sorry, das war nicht meine Absicht.« »Aber auf der Welt geht es übel zu, nicht wahr?« Grissom wollte ihr nichts vormachen. »Ja, in der Tat, Patty. Vielen Dank und auf Wiederhören!« »Bye!« Er legt auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Wenn Bell nicht in Los Angeles war, wenn er in Vegas hin ter einer »heißen Geschichte« her war… warum war er dann seit zwei Tagen nicht im Büro gewesen? War die Geschichte vielleicht nur eine Erfindung, damit er Enrique Diaz in Ruhe umbringen konnte, während alle dachten, er sei verreist? Aber Perry kannte sich äußerst gut in Ermitt lungsfragen aus, und wenn er sich ein Alibi verschaffen wollte, dann hätte er doch vermutlich kaum eins gewählt, das so leicht zu widerlegen war? Ein Anruf bei der Tochter – und es war geplatzt. Je länger der Kolumnist unauffindbar blieb, desto mehr Fra gen stellten sich. Immerhin war Bell einer der wenigen Men schen, der möglicherweise tatsächlich Vorteile aus dem Come back des brutalen Serienkillers ziehen konnte. Und er hatte kein Alibi für den ersten Mord, unmittelbar vor dem zweiten war er abgetaucht… Und dann hatten sie eine Schlüsselkarte für seinen Arbeitsplatz in der Hand des zweiten Opfers gefun den. Hatte Diaz sie Bell geistesgegenwärtig aus der Tasche gezogen, um einen stummen Hinweis auf den Täter zu geben? Grissom hatte für solche ausgesprochen praktischen und cleveren »Hinweise« à la Ellery Queen oder Agatha Christie allerdings wenig übrig, und ihm fiel eine abgedroschene Phrase aus alten Krimis ein: »Draußen war alles ruhig…zu ruhig.« Perry Bell war verdächtig.
Zu verdächtig. Die Fahrt auf der 93 durch die Delamar Mountains war noch langweiliger, als Brass befürchtet hatte. Landschaftlich interes sierten ihn Berge überhaupt nicht; die Begeisterung, die man che Leute für Gesteinsformationen entwickelten, ging ihm völlig ab. Viel unterhaltsamer als die Berge war sein Begleiter Damon allerdings auch nicht. Der Detective vom Department Nord hatte nur zwei Themen: die Arbeit und Profi-Wrestling. Brass interessierte sich genauso wenig für das, was bei den Jungs im Norden von Las Vegas los war, wie für sportliche Wettkämpfe mit Drehbuch… Nach einer halben Ewigkeit kamen sie endlich am Haupttor des Staatsgefängnisses von Ely an. Die Hochsicherheitsanlage bestand aus acht Gebäuden, die zu vier miteinander verbunde nen Zweierblöcken gruppiert waren. Das Gelände war von einem vier Meter hohen Maschendrahtzaun mit Stacheldraht schlaufen umgeben, und in allen vier Ecken standen dreistö ckige Wachtürme. Ein Wachmann kam mit einem Clipboard in der Hand aus dem klimatisierten Häuschen neben dem Tor. In seinem Gang lag die unverwechselbare Mischung aus Amtsgewalt und Gleichgültigkeit, die charakteristisch für seine Spezies war. Er trug eine Sonnenbrille und hatte seine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, was im Klartext so viel bedeutete wie: Was soll ich hier draußen in dieser Hitze? Brass und Damon zeigten ihre Ausweise vor. »Wir müssen mit einem Häftling reden«, sagte Damon. Ohne Scherz?, schien der Blick des Wachmanns zu sagen. »Wir stehen auf der Liste«, erklärte Brass. Der Mann überflog das Papier auf dem Clipboard. »Ja, hier sind Sie! Sie kennen das Prozedere?«
»Ich schon«, entgegnete Brass. Der Wachmann schlenderte davon. »Was für ein Prozedere?«, fragte Damon. »Nun, es beginnt mit Abwarten und keinen Tee trinken.« Sie mussten fast fünf Minuten in der Sonne schmoren, bevor der Wachmann endlich wieder aus seinem Häuschen kam und sie vorbeiwinkte. Wie von Zauberhand öffnete sich das große Tor und Brass steuerte den Wagen hinein. Der Rest der Prozedur dauerte fast eine halbe Stunde, dann saßen die Kriminalbeamten endlich in einem winzigen Raum mit kahlen Betonwänden an einer Art Picknicktisch aus Stahl. Ihre Pistolen hatten sie zuvor am Eingang in Schließfächern deponieren müssen. Beide schwiegen und betrachteten die abstrakten Muster, die von den durch das vergitterte Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen auf den Tisch gemalt wurden, während sie ungeduldig auf ihren Gesprächspartner warteten. Nach einer Zeit, die Brass fast ebenso lang vorkam wie die Fahrt, hörten sie, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, dann ging die Tür auf. Der junge Mann, der gefolgt von einem Wärter hereinkam, sah eigentlich nicht wie ein Killer aus, aber Brass wusste nur zu gut, dass Mörder viele Gesichter hatten. In diesem Fall handelte es sich um einen hageren, blonden Jungen mit großen blauen Augen, der ganz gut aussehend war. Sein orangefarbener Overall war tadellos gebügelt, und obwohl ihm Handschellen angelegt worden waren, bewegte sich Rudy Orloff mit einer lässigen Anmut. Ohne Aufforderung setzte er sich den beiden Männern gegenüber an den Tisch. Er lächelte und zeigte seine gepflegten, weißen Zähne. »Ich erinnere mich an Sie«, sagte er zu Brass. »Aber Ihren Namen weiß ich nicht. Sie haben mir vor ein paar Jahren zusammen mit diesen Angebern vom CSI wegen irgendeinem Mord die Hölle heiß gemacht.« Dann bedachte er Damon mit einem
unverschämten Blick. »Sie sind niedlich, aber Sie kenne ich nicht… Das ist nicht fair, oder? Sie wissen, wer ich bin.« Brass und Damon zeigten ihre Ausweise vor. »Muss ja wichtig sein, wenn Sie extra von Vegas nach Ely kommen«, sagte Orloff. »Wenn auch nur für einen Nachmittag. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, dieser Ort ist das dreckigste Loch der Welt.« »Rudy, wir haben den weiten Weg gemacht, nur um Sie zu sehen. Um mit Ihnen zu reden.« »Was für eine große gottverdammte Ehre! Und wen, glau ben Sie, habe ich getötet, den ich gar nicht getötet habe?« »Ihre DNS wurde an den Tatorten zweier Morde gefunden«, erklärte Damon. »Meine DNS?«, fuhr Orloff auf. »Was denn? Haare? Haut?« »Sperma«, entgegnete Brass. Orloff setzte ein gehässiges Grinsen auf. »Ihr seid doch echt pervers, was?« »Passen Sie mal auf, Sie Besserwisser«, entgegnete Brass. »Ihr Sperma wurde an den Leichen zweier ermordeter Männer gefunden – in Vegas, letzte Woche.« Der Häftling stutzte und lächelte irritiert. »Wie bitte?« Brass erklärte es ihm noch einmal. Nun wirkte Orloff amüsiert, wenn nicht gar interessiert. »Ich bin seit fast einem Jahr im Bau – wie soll ich das denn ge schafft haben? Per Fax aus der Knastbücherei? Mit viel Ziel wasser?« »Wir haben es bereits überprüft. Sie waren auf keiner Beer digung und hatten auch sonst keinen Freigang. Sie haben Ihren Hintern nicht aus diesem Gefängnis bewegt.« »Sie sind hier der Kriminale, Captain Brass. Was glauben Sie, wie es dazu gekommen ist?«
Die beiden Polizeibeamten schwiegen eine ganze Weile, dann sagte Brass: »Wir haben gehofft, das könnten Sie uns sagen.« »Warum sollte ich Ihnen helfen?« »Ich rede mit dem Direktor und schreibe einen Bericht, der Ihnen ein paar Sternchen für Ihr Führungszeugnis einbringt.« »Nun… das ist doch schon was…« »Wir sind hinter einem brutalen Typen her.« Orloff wich zurück und hob die Hände wie Al Jolson, wenn er »Mammy« sang. »Wow, brutal! Das ist ja mal ganz was Neues!« »Wir reden von einem Serienkiller. Erinnern Sie sich an CASt?«, fragte Brass. »Der startet ein Comeback? Und ich sitze hier und hoffe auf die Fortsetzung von Seinfeld.« Brass’ Mund lächelte, seine Augen jedoch nicht. »Ihre Soße – wie ist die dahin gekommen?« Orloff zuckte mit den Schultern. »Was ich sicher weiß, ist, dass ich die zwei nicht umgebracht habe. Darüber hinaus kann ich nur spekulieren.« »Dann spekulieren Sie!«, entgegnete Brass. Orloff schien sich irgendwie geschmeichelt zu fühlen. Er richtet sich auf, faltete die Hände und fragte in verschwöreri schem Ton, wie von Experte zu Experte: »Sind Sie sicher, dass es meine DNS ist?« »CODIS irrt nie.« »Dann hat es jemand eingefroren.« »Mensch, daran hatten wir noch nicht gedacht! Haben Sie Ihr Sperma an eine Klinik verkauft?« »Nein, und mein Blut auch nicht, obwohl ich das früher schon mal versucht habe. Sehen Sie, man muss vorher in einen Becher pinkeln, und ich bin mit meinen Testergebnissen ein fach nicht durchgekommen.«
»Was uns zu der Frage führt«, meinte Brass, »wer Spaß dar an haben könnte, Rudy Orloffs Sperma einzufrieren.« Der junge Mann lehnte sich nachdenklich zurück. Brass versuchte, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Hören Sie, Sie sind jetzt schon eine Weile im Knast, das wissen wir. Aber wir wissen nicht, wann Sie zuletzt in Vegas waren.« »Das ist bestimmt achtzehn Monate her, mehr oder weni ger.« »Sie haben Männern Ihre Dienste angeboten. Irgendwas Ungewöhnliches?« Orloff schnaubte. »Wenn ein Mann einen anderen für Sex bezahlt, was könnte da schon Ungewöhnliches passieren?«, fragte er ironisch. »Hat Ihnen vielleicht jemand… das Zeug abgekauft?« Orloff verschränkte lächelnd die Arme vor der Brust. »Sie meinen, ein Sammler?« »Gibt es so etwas?« Orloff beugte sich wieder vor, und sein Grinsen war längst nicht so hübsch wie sein Gesicht. »Da draußen gibt es nichts, was es nicht gibt.« »Das will ich gern glauben. Wie war das in Vegas…« Der Häftling zuckte mit den Schultern und lehnte sich wie der mit verschränkten Armen zurück. »Ich habe damals einen Haufen Leute kennen gelernt. Aber ich kann mich nicht mehr so gut erinnern. Wenn was für mich drin wäre, dann fällt mir vielleicht was ein.« Brass klopfte Damon auf die Schulter und die beiden erho ben sich. »Was?« »Wir sind weg«, sagte Brass. »Was, Sie wollen nicht handeln?«, fragte Orloff erstaunt und fing regelrecht an zu schmollen. »Ich dachte, Sie sind zum Spielen gekommen!«
»Wir sind zum Arbeiten gekommen«, entgegnete Brass. »Und ich glaube sowieso, Sie haben nichts zu verkaufen.« »Jetzt seien Sie doch nicht beleidigt! Setzen Sie sich! Wenn ich Ihnen etwas an die Hand gebe, bekomme ich dann auch etwas dafür?« Die beiden Cops setzten sich wieder. »Zum Beispiel?«, fragte Brass. »Einzelhaft.« »Sie wollen Einzelhaft?«, fragte Damon verblüfft. »Hören Sie, ich hoffe, ich komme wegen guter Führung frü her raus. Ich sitze wegen versuchten Mordes, nicht wegen Mord, Leute! Ich sehe Licht am Ende des Tunnels, und wenn ich Ihnen helfe, wird das positiv in meiner Akte vermerkt. Aber wir haben hier Fernsehen und wir haben Zeitungen. Wenn diese Tiere hier herausfinden, dass ich den Bullen geholfen habe, auch wenn es um einen irren Serienmörder geht, dann ist die Jagdsaison eröffnet. Das werde ich nicht überleben, wenn Sie mich nicht schützen.« Brass nickte. »Sie geben mir etwas, das mir weiterhilft, und ich verschaffe Ihnen Einzelhaft.« »Und während ich in Einzelhaft bin, lassen Sie mich verle gen.« »Rudy, ich weiß nicht, ob mir das gelingt.« »Es gibt viel angenehmere Orte als diesen. Ich habe hier in der dünnen Gebirgsluft Atemprobleme.« Brass überlegte, ob Orloff sich vielleicht in Ely Feinde ge macht hatte, denen er zu entkommen suchte. Vielleicht konnten sie sich das zunutze machen… »Ich tue, was ich kann«, sagte er. Orloff sah ihm prüfend ins Gesicht. »Ich glaube Ihnen. Und ich zähle auf Sie. Aber denken Sie daran, wenn Sie mich als Zeugen wollen, dann brauchen Sie mich lebendig! Leichen können im Zeugenstand nichts mehr ausrichten.«
»Ist klar.« »Okay. Also, da waren mal zwei Typen. Die Namen kenne ich leider nicht.« »Au, super Anfang, Rudy«, bemerkte Brass. »Hey, wo ich herkomme, da nennt man keine Namen«, sag te Orloff. »Wenigstens nicht die richtigen. Dachten Sie etwa, ich sage Ihnen: ›Suchen Sie Smith und Jones‹?… Jedenfalls, da waren diese beiden Typen. Einer war schon älter.« »Wie alt?« Orloff zuckte mit den Schultern. »Fünfzig vielleicht, so um den Dreh.« »Wie sah er aus?« »Glatze, Brille – und Klamotten, als wäre er seit Saturday Night Fever nicht mehr Shoppen gegangen.« »Glatze?« »Ja, er hatte nur noch… ein paar Strähnen auf dem Kopf, mehr nicht. Er trug jede Menge Polyester. Sie wissen schon: Schöne Jacke, wäre auch ein hübscher Sofabezug!« »Okay«, sagte Brass. »Und der war ein… Sammler?« »Ja. Er stand darauf, mir beim Wichsen zuzugucken. Er hat mir den Becher gehalten, und dann… hat er es mit nach Hause genommen. Was er damit gemacht hat, kümmerte mich nicht. Mich hat nur der Hunderter interessiert, den er mir gab. Der andere Typ hat das Gleiche gewollt. Er hat sich nur mehr… daran beteiligt. Mir geholfen.« »Was war das für einer?«, fragte Brass. »Um die dreißig, dunkles Haar. Er gefiel mir – gut gebaut, schöne Augen.« »Farbe?« »Braun, glaube ich. Ja, irgendwie braun. Man konnte sich verlieren in seinem Dackelblick.« »Narben oder Tattoos?«
Orloff schüttelte den Kopf. »Nicht, so weit ich sehen konn te. Keiner von beiden hat sich ausgezogen – das waren meis tens solche Spannergeschichten. Ich habe gewichst, der Typ hat zugeguckt, hier hast du den Becher, hier hast du deinen Hut – und das war’s.« »Die beiden Kerle waren nicht zusammen?«, fragte Damon. »Nein, sie hatten nur zufällig den gleichen Spleen. Das ist… ungewöhnlich, aber es kommt vor.« Schicken Sie Ihre Frage einfach an Dr. Orloff, und er be antwortet sie in der nächsten Ausgabe von Bizarre Brieffreunde aus aller Welt, dachte Brass. »Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein, Rudy?« »Zwei Spermasammler genügen Ihnen nicht?« Brass stand auf und winkte dem Wärter. Dann sagte er zu dem Häftling: »Ich kümmere mich sofort darum – Sie kommen innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Einzelhaft. Danke, Rudy, das waren wertvolle Infos.« »Danke«, entgegnete Orloff ungerührt. »Sagen Sie mir viel leicht, was genau an meinen Äußerungen so wertvoll für Sie war?« »Nein.« Sie saßen bereits wieder im Wagen, da fragte Damon: »Ich komme einfach nicht dahinter – was hat er denn Nützliches gesagt?« Brass ließ den Motor an und fuhr rückwärts aus dem Park platz. »Die Beschreibungen, die er von den beiden Kerlen gegeben hat, passen fast auf jeden.« »Eben«, sagte Damon ratlos. »Bei dem Älteren könnte es sich allerdings um Perry Bell handeln, ohne Toupet.« »Ohne…?« Damon stutzte. »Verdammt! Ich habe Perry nie ohne Toupet gesehen – ich hatte ganz vergessen, dass er darun ter ‘ne Glatze hat.«
»Ja, und vielleicht verbirgt sich unter dem Toupet auch ein Mörder. Ich rufe in Vegas an, damit sie ein Foto von Bell rüberfaxen und man es unserem kleinen Helfer Rudy Orloff vorlegt. Wenn er Bell erkennt, haben wir unseren Täter… jedenfalls den Nachahmungstäter.«
6
Catherine Willows und Nick Stokes hatten die ganze Nacht versucht, Dallas Hanson ausfindig zu machen. Sie hatten sich von einer ungültigen Adresse zur nächsten gehangelt, bis sie schließlich am frühen Morgen zu einem Obdachlosenheim in Nord Las Vegas fuhren. Nick saß am Steuer des Tahoe, und während sie sich durch den ersten Berufsverkehr kämpften, bemerkte Catherine: »Ist schon merkwürdig, oder?« »Was denn?«, fragte Nick. Er hatte einen Plastikbecher mit Kaffee in der Hand, denn sie kamen gerade von einem hekti schen, ungesunden Fünf-Minuten-Frühstück. »Wie dieser Job das Alltägliche mit dem Ungewöhnlichen verbindet.« »Du bist müde…« »Nein, im Ernst. Ich meine: Kommt jetzt wieder eine Sack gasse wie bei Carlson? Oder steht uns die Konfrontation mit einem irren Mörder bevor?« »Ich verstehe, was du meinst«, entgegnete Nick. »Aber ich muss sagen, ich fand diese Serienkillerkapelle nicht besonders alltäglich.« Catherine lachte auf. »Vielleicht habe ich schon zu viel die ser Art gesehen.« Nick nahm einen Schluck Kaffee, ohne die Straße aus den Augen zu lassen, und wechselte das Thema. »Ist es schwer für dich? Zu wissen, dass sich deine Tochter jetzt für die Schule fertig macht und du nicht bei ihr sein kannst?«
»Für einen unverheirateten Kerl mit einem kleinen schwar zen Büchlein voller Telefonnummern«, entgegnete sie mit einem liebevollen Grinsen, »haben Sie wirklich Tiefgang, Mr. Stokes! Sehr sensibel!« Er grinste wie Jack Nicholson und imitierte Elvis’ Stimmla ge, als er sich für das Kompliment bedankte. »Die Antwort ist Ja«, sagte Catherine. Sie hatte unterwegs vom Imbissrestaurant aus noch mit Lindseys Babysitterin telefoniert. »Irgendwann in nächster Zeit muss ich wohl zur Tagschicht wechseln.« Sie fuhren schweigend weiter. »Glaubst du wirklich, wir finden im Obdachlosenheim einen Serienmörder?«, fragte Nick etwas später. »Das passt irgendwie nicht, oder?« »Wenn die Opfer Landstreicher oder Penner wären, sähe es anders aus.« »Wie bei Jack the Ripper«, sagte Catherine. »Oder bei dem irren Schlachter von Cleveland.« »Aber die Opfer von CASt sind weiße Männer aus der Mit telschicht oder der gehobenen Mittelschicht.« »Ich weiß, ich weiß. Aber wir überprüfen ihn – wir müssen einfach jedem Verdacht nachgehen.« »Ganz deiner Meinung, Cath.« Sie wussten beide, dass die meisten Serienmörder es vorzo gen, in abgelegenen Häusern zu wohnen, um ungestört ihrer speziellen Tätigkeit nachgehen zu können. Und in einem Wohnheim der Heilsmission hatte Dallas Hanson so gut wie null Privatsphäre. Andererseits war CASt nicht wie die meisten Serienmörder. Er drang in die Wohnungen seiner Opfer ein. Er nahm keine Anhalter mit wie Bundy, und lockte auch keine jungen Männer zu sich nach Hause, wie Gacy es getan hatte. Nur weil Hanson
in einem Heim wohnte, hieß das noch lange nicht, dass er als Täter nicht in Frage kam. Eigentlich war es – aus der Sicht eines geisteskranken Tä ters – gar keine schlechte Idee, sich bei den namenlosen Un glückseligen der Stadt zu verstecken. Catherine hoffte, dass die anderen inzwischen mit den aktu ellen Morden weitergekommen waren. Dieser Fall drohte außer Kontrolle zu geraten, und Sheriff Rory Atwater – eine noch ausgebufftere Politbestie als sein Vorgänger Brian Mobley – würde ihnen pausenlos im Nacken sitzen. Sie respektierte den neuen Sheriff zwar, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, ihn zu mögen – das mochte sich viel leicht noch ändern, aber sein Stil missfiel ihr ziemlich: Er war ein noch viel gewiefterer Politiker als Mobley, der seine Bür germeisterkandidatur seinerzeit in den Sand gesetzt hatte. Catherine hatte guten Grund zu glauben, dass der neue Sheriff nicht zögern würde, das CSI oder Brass und seine Männer als Sündenböcke zu benutzen, wenn es seinem beruflichen Fort kommen diente. »Meinst du, wir sollten von hier aus gleich zu dem Dritten im Bunde fahren?«, fragte Nick. Catherine zuckte mit den Schultern. »Nicht so voreilig! A ber wenn Hanson tatsächlich eine Niete ist, können wir uns überlegen, ob wir Dayton besuchen. Überstunden sind in die sem Fall genehmigt. Bist du motiviert?« »Motiviert ist gar kein Ausdruck.« »Faszinierend, was eine kleine Tasse Kaffee bei einem strammen Burschen wie dir bewirken kann.« Nick grinste nur. »Glaubst du wirklich, wir hätten eine Chance, diese zehn, elf Jahre alten Morde aufzuklären?«, fragte er kurz darauf. »Ich meine, CASt kommt immer wieder in diesen Sendungen über ungelöste Mordfälle vor. Er steht zu sammen mit Judge Crater und Jon Benet auf einer Liste.«
Catherine dachte kurz darüber nach. »Ja«, meinte sie dann. »Ich glaube, wir haben eine echte Chance. Wir sind besser ausgerüstet als Brass und Champlain es damals waren, als die Morde geschahen.« »Ja, und viele alte Fälle werden mit Hilfe der modernen Technologie gelöst – aber Cath, abgesehen von diesen DNSProben, die Champlain zum Glück aufbewahren ließ, haben wir nur eine sehr, sehr kalte Spur.« »Du hast natürlich Recht, Nick, aber andererseits sind wir auch sehr, sehr gut.« Nick kicherte. »Ja, das hätte ich fast vergessen…« Als sie in der Miller Avenue angekommen waren, parkte Nick den Tahoe vor einem flachen, einstöckigen Gebäude, das an der Westseite kirchturmartig um eine Etage aufgestockt war. In dem vorderen flachen Teil war ein großes Fenster, auf dem in dicken Buchstaben »OBDACHLOSENHEIM DER HEILSMISSION« stand. An dem aufgestockten Teil prangte ein Wandgemälde: die idealisierte Darstellung eines betenden Jesus, die reichlich dilettantisch anmutete und vielleicht von einem Missionsmitglied gemalt worden war. Dennoch war Catherine von der Eindringlichkeit des Bildes für einen kurzen Augenblick gerührt. Sie gingen durch den Haupteingang und betraten einen Raum, der aussah wie die Empfangshalle eines herunterge kommenen Hotels: Stühle und Sofas vom Sperrmüll und Ti sche, auf denen sich Zeitschriften häuften, die so alt waren, dass sie mit weniger Eselsohren bestimmt Sammlerwert beses sen hätten; dazwischen hier und da eine Bibel. Im Stil des Film noir fiel das Sonnenlicht im schrägen Winkel durch das halb heruntergelassene Rollo, dessen Lamellen lang gezogene Schatten warfen. Rechts befand sich ein breiter Treppenauf gang aus Holz mit Eichengeländer, der vermutlich das einzig
Rettenswerte war, wenn dieser Schuppen eines Tages abgeris sen werden würde. In einem Sessel saß ein hagerer Mann um die sechzig mit silbergrauem Haar, dessen Sechs-Tage-Stoppeln fast schon lang genug für einen Bart waren. Er war in den Sportteil der Morgenzeitung vertieft und trug ein verwaschenes, möglicher weise echtes Star-Wars-T-Shirt und ausgebleichte Jeans. Allem Anschein nach hatte er ihr Kommen nicht bemerkt. Am Emp fangsschalter gegenüber dem Eingang stand eine eher un scheinbare junge Frau mit braunem Haar und einer Brille mit schwarzem Rand. Als Nick und Catherine eintraten, blickte sie von einer religiösen Zeitschrift auf, in der sie gerade las. Ihr ovales, ungeschminktes Gesicht war nicht unattraktiv. Sie trug ein frisch gestärktes, weißes Herrenhemd und eine schwarze Hose. Das einfache goldene Kreuz an ihrer Halskette sprach Bände. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie freundlich. Catherine trug auch eine Kette um den Hals und hielt der Frau den daran befestigten Ausweis hin. »Catherine Willows, Nick Stokes.« »Oh«, sagte die Frau. »Vom kriminaltechnischen Labor? Nun, wir hatten hier seit langer Zeit keine Vergehen mehr. Wir haben nichts… Unerwünschtes gemeldet.« »Normalerweise wäre ein Detective zu Ihnen gekommen«, sagte Catherine. »Aber das Department ist momentan etwas dünn besetzt, und wir arbeiten an einem wichtigen Fall.« »Verstehe.« Die Frau faltete wie zum Gebet die Hände auf dem Tresen. »Nun, die Mission ist natürlich bestrebt, den Behörden auf jede erdenkliche Weise zu helfen, aber wir res pektieren auch die Privatsphäre und Würde unserer Gäste.« »Wir wollen ja niemanden festnehmen«, erklärte Catherine. »Wir stellen lediglich Nachforschungen zu einem alten Fall an, der vielleicht in Zusammenhang mit einem aktuellen steht.«
Nick zuckte mit den Schultern und schenkte der jungen Frau ein freundliches Lächeln. »Wir möchten nur mit einem Ihrer Gäste reden. Ein paar Auskünfte einholen.« Diplomatie und Charme – mit vereinten Kräften gelang es den beiden, die Frau zu überzeugen. »Mit wem möchten Sie denn sprechen?« »Mit Dallas Hanson«, antwortete Catherine. Die Frau schaute zu dem Sessel, in dem der alte Herr mit der Zeitung gesessen hatte, aber als Catherine sich umdrehte, war er verschwunden. »Wo ist Obi-Wan Kenobi denn hin?«, fragte sie Nick. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung – wir haben ihm den Rücken zugekehrt. Vielleicht hat er sich rausge beamt.« »Da verwechselst du was«, sagte Catherine und drehte sich wieder zu der Frau um. »War das Dallas Hanson?« »Unsere Gäste…« »Ich weiß schon, Privatsphäre und Würde. Aber wir ermit teln in einem Mordfall. War er das nun oder nicht?« Die Frau atmete tief durch und versuchte, sich als Respekts person zu behaupten, aber innerhalb von drei Sekunden knickte sie unter Catherines durchdringendem Blick ein. »Nein. Nein, das war er nicht.« Die beiden Spurenermittler entfernten sich vom Empfang. »Geh du nach draußen«, sagte Catherine zu Nick und wies zur Tür. »Wenn Obi-Wan jemanden warnen wollte, macht derjenige vielleicht einen überstürzten Abgang aus dem Fens ter.« »Was ist mit der Treppe?« »Die nehme ich.« Nicks Miene verriet, dass ihm dieser Plan nicht schmeckte, aber Catherine war seine Vorgesetzte, und so verschwand er nach draußen.
Catherine stürzte die Treppe hoch und nahm je zwei Stufen auf einmal, bis sie im zweiten Stock ankam. Sie spähte um die Ecke. Nichts. Nichts außer einer offenen Tür auf der linken Seite des Kor ridors. Die Zimmer auf dieser Seite gingen vermutlich auf den Hinterhof hinaus, und Catherine hoffte, dass Nick inzwischen auf der Rückseite des Gebäudes angekommen war. Für einen allein war es ziemlich schwierig, ein Haus von allen vier Seiten gleichzeitig zu bewachen… Instinktiv legte sie die Hand auf ihr Pistolenholster und ging den Flur hinunter. Der stechende Geruch von Desinfektions mittel brannte ihr in der Nase. Als sie die geöffnete Tür erreichte, streckte sie den Kopf hinein und sah, wie der grauhaarige Mann aus der Eingangshal le sich über ein Bett beugte, das links an der Wand stand und in dem ein Mann lag. Am Fenster standen ein kleiner zer schrammter Holztisch und zwei Küchenstühle, an der Wand rechts befand sich eine niedrige Kommode. Catherine hörte, wie der Grauhaarige den Mann im Bett fra ge: »Bist du sicher, dass du das willst, Dal?« Der bettlägerige Mann nickte anscheinend, denn der Grau haarige zuckte mit den Schultern. »Wie du willst, Kumpel.« Als er einen Schritt zurücktrat, konnte Catherine den Mann in dem Bett zum ersten Mal sehen. Er sah aus wie eine ausge mergelte Vogelscheuche und hatte fast genauso graue Haare wie sein Freund. Allerdings schien er sich kürzlich noch rasiert zu haben, vielleicht sogar erst am Vortag. Aber seine Haut war so grau wie sein Haar, und seine Augen flehten förmlich um Gnade – um Gottes Gnade. »Dallas Hanson?«, fragte Catherine. Der Mann in dem Bett nickte angestrengt. »Ich würde gern mit Ihnen reden.«
Seine Wangen waren eingefallen und er hatte eine hervor stehende Stirn, durch die sein schmales Gesicht aussah wie ein kantiges, verzogenes Metallgestell, das mit sehr dünner Haut bespannt war. »So eine hübsche Frau wie Sie?«, sagte Hanson freundlich und mit überraschend tiefer Stimme. »Warum nicht. Ich be komme nicht viel Besuch von Ihrem… Kaliber.« Unter der weißen Decke wirkte er sehr klein und knochig. Catherine zog ihr Funkgerät aus der Tasche und drückte ei nen Knopf. »Nick, unser Mann ist nicht weg. Wir sind in…« Sie schaute zur Tür, auf deren Plastikschild »218« stand. Ca therine gab Nick die Nummer durch, und er machte sich sofort auf den Weg. Dann blickte sie den grauhaarigen Mann mit dem Star Wars-T-Shirt an, der einen verlegenen Eindruck machte. »Sie wollten Ihrem Freund wohl helfen, durch die Hintertür zu verschwinden, hm?« »Es ist ja wohl nicht verboten, bei einem Kumpel vorbeizu schauen«, entgegnete der alte Mann mit zitternder Stimme. »Oder ist bei uns schon der Faschismus eingekehrt?« »Wir ermitteln in einem Mordfall. Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, uns bei der Arbeit zu behindern?« Er gab keine Antwort, schlug die Augen nieder und ging mit gesenktem Kopf zur Tür. »Ihretwegen hätten viele Leute verletzt werden können«, bemerkte Catherine, als er an ihr vorbeiging. Der Mann blieb stehen und sah sie mit seinen blutunterlau fenen, wässrigen Augen an. »Verletzungen haben sich die Leute hier schon vor langer Zeit zugezogen. Sie haben eine Marke und wirklich hübsche Klamotten, Lady. Wir haben uns.« Catherine wollte etwas erwidern, aber dann dachte sie daran, was die Frau am Empfang über Privatsphäre und Würde der
»Gäste« gesagt hatte, und schwieg. Der alte Mann verließ mit gebeugtem Haupt den Raum. »Nehmen Sie es Bruce nicht übel«, sagte Hanson. Er stützte sich mühsam auf die Ellbogen und zeigte lächelnd seine gelben Zähne. »Die meisten von uns hatten schon mal Ärger mit der Polizei – wir passen sozusagen aufeinander auf.« »Ich verstehe.« »Wirklich?« »Ja, wirklich. Möchten Sie sich hinsetzen?« »Das würde ich sehr gern.« Er warf die Decke zurück, und Catherines Blick fiel auf seine Beine, die wie geschwärzte Zahnstocher aussahen. »Aber der Krebs macht es mir so gut wie unmöglich, wenn mir nicht jemand hilft.« Sie half ihm beim Aufsitzen, und in diesem Moment kam Nick auch schon ins Zimmer. »Das ist mein Partner«, sagte Catherine und zeigte Hanson ihren Ausweis. »Catherine, Nick. Wir sind vom kriminaltech nischen Labor. Wir möchten gern mit Ihnen reden, über…« »CASt«, warf Hanson ein. Nick stemmte überrascht die Hände in die Hüften. »Sie wis sen davon?« »Der Krebs frisst meinen Körper auf, nicht mein Gehirn. Ich kann immer noch Zeitung lesen, und wir haben mehrere Fern seher in diesem Jesusladen. Und nachdem irgendjemand den alten CASt wieder hat aufleben lassen, habe ich mir schon gedacht, dass die Bullen bald wieder auftauchen und rumschnüffeln.« »Wann haben Sie das letzte Mal Ihr Bett verlassen?«, fragte Catherine. »Abgesehen von Mahlzeiten und Toilettengang? Ich glaube, bei meiner letzten Chemotherapie. Das muss vor ungefähr drei Wochen gewesen sein.« »Wie kommen Sie zur Chemo?«
»Lori, das Mädchen vom Empfang, hat mich hingebracht. Wissen Sie, ich kann seit sechs Monaten nichts mehr allein machen, und wenn ich Glück habe – oder Pech –, dann habe ich noch mal sechs vor mir. Ich habe weder die Zeit noch die Energie für so ein anstrengendes Hobby wie Morden.« Catherine nickte. »Und vor elf Jahren?« Hanson schüttelte den Kopf. »Ich war damals unschuldig, und ich bin es heute. Dieser Cop, Champlain, der hatte es auf mich abgesehen. Er hatte nichts in der Hand außer ein paar Indizien. Ich habe Todd Henry nicht umgebracht, und die anderen auch nicht. Der Bulle war ein scharfer Hund. Er muss te irgendjemanden festnageln, wahrscheinlich hat er Druck von oben gekriegt. Und da hat er gedacht, er probiert es mit mir.« »Mr. Hanson«, sagte Nick. »Wenn Sie Zeitung lesen, wissen Sie, dass man spekuliert, die neuen CASt-Morde seien mögli cherweise das Werk eines Nachahmungstäters.« »Ach, dann stehe ich wegen der alten Fälle also immer noch unter Verdacht? Was für ein Schwachsinn!« Catherine hielt ein Wattestäbchen hoch. »Wie würde es Ih nen gefallen, wenn Sie sich von diesem Verdacht befreien könnten?«, fragte sie. Hanson sah das Wattestäbchen skeptisch an. »Wie denn?« »DNS.« »Wollen Sie mich ent- oder belasten?«, fragte Hanson mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. Catherine sah ihm in die Augen. »Ich will nur die Wahrheit herausfinden.« »Ich weiß nicht…« »Darf ich Sie freundlich darauf hinweisen, Sir«, sagte Nick, »dass Sie es angesichts Ihrer Krankheit vielleicht in Erwägung ziehen sollten zu kooperieren.« »Warum denn das?«
Nick zuckte mit den Schultern. »Wie Sie im Moment daste hen, wird die Nachwelt Sie als mutmaßlichen berüchtigten Serienmörder in Erinnerung behalten. Sie können sich von diesem Makel befreien, und dann haben Sie eine weiße Wes te.« Hanson seufzte. »Hm, das ist natürlich ein Argument, Mann. Ich habe irgendwo da draußen ein paar Kinder, vielleicht sogar Enkelkinder. Es passt mir natürlich nicht, dass meine Nachfah ren mich für einen irren Mörder halten. Okay, gekauft – was muss ich tun?« »Öffnen Sie den Mund«, entgegnete Catherine. »Sie müssen nicht mal ›Aaah‹ machen…« Gil Grissom saß immer noch an seinem Schreibtisch, als sein Handy klingelte. Er griff danach und drückte auf die Ge sprächstaste. »Grissom.« »Ich bin’s«, sagte Brass. »Wo?« »Auf dem Rückweg.« Grissom hörte Motorenlärm im Hintergrund. Die Sirene war nicht eingeschaltet, aber Brass fuhr eindeutig einen heißen Reifen. »Irgendwas erfahren?« »Gut möglich, dass Perry Bell unser Trittbrettfahrer ist.« »Und warum?« Brass legte ihm seine Theorie dar. Es dauerte eine Weile, bis er das Gespräch mit Orloff zusammengefasst hatte. »Das klingt alles sehr gut«, sagte Grissom. »Aber wo ist der Beweis?« »Ich dachte, es sei Ihr Job, Beweise zu finden!«, entgegnete Brass etwas gereizt. »Nein, das ist Ihrer. Ich untersuche die Beweise.« »… Sorry.«
»Kein Problem. Dafür habe ich vorhin mit Bells Tochter ge sprochen.« »Gut! Sehen Sie, Sie finden doch Beweise!« »Wenn Sie so wollen. Aber ich habe auf alle Fälle Informa tionen.« Grissom erzählte Brass, was Patty Lang ihm gesagt hatte. »Haben wir genug für einen Durchsuchungsbefehl?«, fragte der Captain. »Dafür reicht es noch nicht. Aber ich versuche, Bell aufzu treiben, bis Sie wieder hier sind.« »Danke! Gott segne Sie!« »Ich höre auch mal nach, wie weit die anderen sind. Warrick und Sara untersuchen gerade diesen Brief an den Banner, Catherine und Nick machen Jagd auf die Verdächtigen von damals. Bis Sie zurück sind, haben wir vielleicht genug für einen Durchsuchungsbefehl zusammen.« Grissom verbrachte die nächsten zwei Stunden mit der Su che nach Perry Bell. Er rief die Freunde und Mitarbeiter des Reporters an, gab eine Fahndung nach seinem Auto heraus und beorderte einen Streifenwagen zu seinem Haus. Der Polizist, der diesen Auftrag bekam, traf niemanden an, obwohl er es auch an der Hintertür probierte, und meldete, dass alle Vorhän ge zugezogen waren und Bells Wagen nicht in der Garage stand. Grissom gab ihm die Anordnung, sich bis auf weiteres vor dem Haus zu postieren. Da kein hinreichender Tatverdacht bestand, konnten sie nicht gewaltsam in das Haus eindringen. Wenn Bell drinnen war, mussten sie ihn fassen, wenn er herauskam. Und falls er tatsächlich der Täter war, stand nicht zu befürchten, dass er sich mit einem Opfer im Haus aufhielt. Der Trittbrettfahrer hatte zwei Mal zugeschlagen, aber wie der Original-CASt immer nur in den Wohnungen der Opfer.
Wenn Bell unterwegs war, dann hatten sie allerdings schlechte Karten. Der Reporter konnte überall sein, und wenn sie nicht zufällig einen heißen Tipp bekamen, würden sie nicht erfahren, was Bell im Schilde führte, bis… tja, bis sie schluss endlich an den nächsten Tatort gerufen wurden. Grissom fiel noch eine dritte, beunruhigende Variante ein: Bell war möglicherweise unschuldig. Der Kriminalkolumnist arbeitete unter Umständen tatsächlich an einer großen Ge schichte, wie er seiner Tochter gesagt hatte, und diese Ge schichte musste nicht unbedingt mit dem CASt-Fall zu tun haben. Aber falls es zutraf, wo war der Reporter dann? Warum war er nirgends aufzufinden? Nachdem er alles erledigt hatte, was er vom Schreibtisch aus tun konnte, verließ Grissom sein Büro und suchte als Erstes die Gerichtsmedizin auf, wo Dr. Robbins gerade die Autopsie an Enrique Diaz beendete. »Zwei Tage musste Diaz warten?«, fragte Grissom mit ei nem leicht verblüfften Gesichtsausdruck. Der Coroner warf ihm einen genervten Blick zu und arbeite te weiter. »Ich weiß, dass Sie nur diesen Serienkiller im Kopf haben, aber in den zwei Tagen haben in dieser Stadt abgesehen von Mr. Diaz fast zwei Dutzend Menschen ihr Leben unter verdächtigen Umständen gelassen!« Der CSI-Mann hatte Robbins gar nicht angreifen wollen. Dass der Doktor seine Frage in den falschen Hals bekommen hatte, lag wohl an Grissoms Art, mit Leuten umzugehen – für die er ständig von allen kritisiert wurde. »Haben Sie etwas gefunden?«, fragte er. »Vorläufig kann ich nur sagen, dass Diaz mit der Schlinge, die Sie an seinem Hals gefunden haben, erdrosselt wurde. Alles andere ist wie bei dem Mord an Sandred… außer, dass es diesmal keine durch Teppich verursachten Verbrennungen gab. Ansonsten alles identisch.«
»Gar nichts Neues?« Robbins reichte ihm einen kleinen Umschlag. »Das hier ha be ich gefunden.« Grissom nahm den Umschlag und machte ihn vorsichtig auf. Er sah dunkle Fasern oder Haare. »Und was ist das?«, fragte er und verschloss den Umschlag wieder. »Künstliche Haare… Mein Tipp? Sie sind von einem schlechten Haarteil.« »Inwiefern schlecht?« »Billig… aber dazu kann Ihnen Greg mehr sagen als ich.« Grissom horchte auf. »Stammen sie von dem Mörder?« »Vielleicht«, entgegnete Robbins. »Haben Sie Zweifel?« Der Coroner zuckte mit den Schultern. »Eher ein ungutes Gefühl.« »Nach Locard gibt es keinen sauberen Kontakt zwischen zwei Objekten oder Körpern. Es gibt immer einen Austausch von Spuren.« Robbins trat von der Leiche zurück und sah sich um, als sei er nicht sicher, ob er und Grissom wirklich allein waren – vielleicht waren ja ein, zwei Leichen im Raum, die nur simu lierten. »Gil, Sie und ich, wir kennen Perry Bell. Er ist in Ordnung, wahrscheinlich der ehrlichste, hilfsbereiteste Mann bei den Medien, was unsere Arbeit angeht. Ganz bestimmt harmlos.« »Das ist kein Argument.« »Durch die künstlichen Haare wird der Verdacht auf ihn ge lenkt.« »Ja. Wir ermitteln ohnehin schon in diese Richtung, Al.« Robbins schüttelte den Kopf. »Einen Serienmörder nachah men, um seine Karriere wieder anzukurbeln? Dazu wären ein genialer Geist und die Weltanschauung eines Soziopathen
nötig. Gil, mal ehrlich – finden Sie, das klingt nach Perry Bell?« »Nein, das tut es nicht. Aber ich bin immer noch ein Student der Psychologie und kein Experte. Und im Augenblick zählt für mich nur, ob die Beweise auf Perry Bell hindeuten. Und das tun sie. Und mein nächstes Anliegen ist, dafür zu sorgen, dass niemand in Gefahr gerät.« Robbins legte Grissom eine Hand auf den Arm. »Ich verste he. Aber hören Sie bei dieser Sache nicht auf Ihren Kopf. Sie haben ein gutes Herz, Gil. Haben Sie keine Angst, auch darauf zu hören.« »Das… haben Sie nett gesagt, Al. Aber ich höre nur auf die Beweise.« »Nein, Sie interpretieren sie. Und bei inszenierten Verbre chen sind die Beweise ebenso verdächtig wie die Verdächti gen.« Grissom dachte kurz darüber nach. »Ob ich auf mein Herz hören werde, weiß ich nicht, Doc, aber ich werde niemals den Fehler machen, nicht auf Sie zu hören.« Die beiden Männer lächelten sich an, dann verließ Grissom den Raum. Die Indizienbeweise gegen Perry Bell mehrten sich von Se kunde zu Sekunde, und Grissom glaubte, dass er nun genug in der Hand hatte, um bei einem Richter einen Durchsuchungsbe fehl zu erwirken. Obwohl er Bell nicht direkt mit den Morden in Verbindung bringen konnte, deutete alles, was er hatte, auf den Journalisten hin: künstliche Haare, die möglicherweise mit Bells Toupet übereinstimmten, die Schlüsselkarte für das Ban ner-Büro und das Sperma, das von einem »Sammler« kam, dessen Beschreibung auf Bell passte. Wenn man hinzunahm, dass der Reporter vor dem zweiten Mord verschwunden war und niemand – weder Freunde noch Kollegen, noch seine
Tochter – wusste, wo er steckte, und er obendrein kein Alibi für den ersten Mord hatte, waren in der Tat alle Voraussetzun gen für einen Durchsuchungsbefehl erfüllt. Einzeln betrachtet waren diese Dinge zwar keine zwingen den Beweise, aber in ihrer Gesamtheit fügten sich die Puzzle teile zu einem Bild zusammen, das bislang verdammt nach Perry Bell aussah. Richter Goshen war wie immer sehr beschäftigt. Und wie immer wollte er nach allen Regeln der Kunst überzeugt wer den, bevor er den Durchsuchungsbefehl herausrückte. Das Gute an einer Anordnung von ihm war, dass sie auch einer genaueren Überprüfung standhielt, falls der Fall vor Gericht kam – das Schlechte daran war, dass man den Fall verhandeln musste, als wäre er bereits vor Gericht… Außerdem war Bell im ganzen Strafrechtssystem bekannt und beliebt, und auch Richter Goshen schätzte ihn sehr. Letzt lich setzte Grissom sich jedoch durch, obwohl es ganze zwei Stunden dauerte, bis er das Amtszimmer des Richters mit dem kostbaren Papier verlassen konnte. Kaum war er draußen, rief er Brass auf seinem Handy an. »Sind Sie bald da?« »Ja. Was gibt’s?« Grissom setzte Brass ins Bild, und die beiden verabredeten, sich eine halbe Stunde später vor Bells Haus zu treffen. Der CSI-Leiter wollte Warrick und Sara mitnehmen, und deshalb fuhr er vom Gericht zurück zum Labor, wo die beiden an dem CASt-Brief arbeiteten. Sara saß am Tisch und untersuchte die Schachtel, während Warrick sich mit dem mumifizierten Fin ger beschäftigte. Grissom wandte sich zuerst an ihn. »Irgend welche Hinweise?« Grinsend hielt dieser die rechte Hand hoch. »Er zeigt in jede beliebige Richtung…«, meinte er. Warrick hatte sich die Haut des abgeschnittenen Fingers über seinen latexgeschützten
Zeigefinger gestülpt. »Ich habe die Haut rehydriert, so gut es ging, dann habe ich sie abgezogen und mir übergestreift.« »Und bestimmt einen schönen, sauberen Abdruck hinge kriegt.« »Oh ja. Der Finger stammt von Vincent Drake, dem letzten Opfer von damals.« Grissom spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Also ist die Botschaft wirklich von CASt.« »Man kann es kaum anders interpretieren.« »Der Original-Killer ist also immer noch irgendwo da drau ßen. Und das bedeutet, wir müssen ihn finden, bevor der Nach ahmer ihn dazu anstachelt, mit ihm zu wetteifern. Bleib dran und ruf mich an, wenn du noch etwas findest.« Warrick nickte. Grissom ging zu Sara, die ohne Aufforderung loslegte. »Es handelt sich um eine ganz normale weiße Schachtel, wie man sie in jeder Drogerie, in jedem Geschenkladen und einem halben Dutzend anderer Läden in jedem Einkaufszentrum kaufen kann. Das Gleiche gilt für das Band – ganz normales Rot, überall erhältlich. Der Umschlag ist auch nichts Besonde res, aber er wird gerade noch auf Fingerabdrücke untersucht.« »Was ist mit der Watte?« »Daran arbeite ich noch.« Grissom nickte. »Sara, leg das erst mal auf Eis und schnapp dir deinen Koffer – ich brauche dich.« Sie lächelte ihn erfreut an, denn sie mochte zwar das Labor, aber der Außendienst war ihre wahre Leidenschaft. »Wo geht’s denn hin?« »Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für Perry Bells Haus.« Saras Lächeln schwand. »Ich hatte fast gehofft, wir lägen mit ihm falsch. Irgendwie mag ich den Kerl. Er tut mir Leid.«
»Wenn er unser Killer ist«, entgegnete Grissom, »dann heb dir dein Mitgefühl für die Opfer auf.« Bell hatte ein hübsches zweistöckiges Häuschen am Beacon Point, nicht weit von der Gilmore Road und gleich in der Nähe des El Capitan Way. Ein paar Blocks weiter südlich war der Durango-Hills-Golfplatz, auf dem er häufig anzutreffen war. Er hatte das Haus behalten, als seine Frau nach der Scheidung nach Los Angeles gezogen war, und es war sehr gut in Schuss. Der Vorgarten war ganz nach der Devise des Wassersparkon zepts Xeriscape mit speziellen Wüstenpflanzen verschönert worden, die die Trockenheit wesentlich besser vertrugen als Gras und mittlerweile in vielen Mittelklassevierteln von Las Vegas die Rasenflächen ersetzten. Vor dem Haus stand ein Streifenwagen und der uniformierte Polizeibeamte lehnte mit dem Rücken zum Haus am Kotflügel und rauchte eine Zigarette. Als der Tahoe hinter ihm anhielt, warf er den Stummel rasch hin, trat ihn aus und kam an das Fahrerfenster. »Hier hat sich nichts gerührt«, meldete er. Grissom kannte Carl Carrack von vielen Einsätzen und wusste, dass er ein guter Streifenpolizist und genauer Beobach ter war. Carrack war um die fünfunddreißig, knapp einsachtzig groß und die hundert Kilo, die er auf die Waage brachte, waren gut auf seinen kompakten Körper verteilt. »War irgendjemand hier?«, fragte Grissom. »Keine Nachbarn, keine Vertreter, nicht mal der Zeitungs junge.« Grissom und Sara luden noch ihre Ausrüstung aus, als Brass’ Taurus hinter ihnen anhielt. Brass und Damon stiegen aus, und der Captain warf einen Blick auf das Haus. »Ist Bell zu Hause?«
»Anscheinend nicht. Carrack ist seit zwei Stunden hier, und es hat sich nichts gerührt.« »Und er ist nirgendwo aufgetaucht?« Grissom schüttelte den Kopf. »Ich habe leider nichts Neues gehört.« »Was ist bei der Fahndung nach seinem Wagen herausge kommen?«, fragte Damon. »Noch nichts«, entgegnete Grissom. »Vielleicht hat er sich zum Schreiben in sein Haus verkrochen, oder er ist irgendwo auf Sauftour oder… oder… Warum hören wir nicht auf zu spekulieren und gehen einfach rein?« Der Eingang befand sich an der Seite des Hauses und war durch eine Doppelgarage vor den Blicken der Nachbarn ge schützt. Vor der Tür streifte Grissom Latexhandschuhe über, Sara ebenfalls. Die Cops nicht. Brass baute sich neben Grissom auf, hinter ihnen standen Damon und Carrack, und Sara bildete die Nachhut. Dann klopfte Grissom an die grüne Tür. »Wie wäre es mit Klingeln?«, fragte Damon. Grissom schüttelte den Kopf. »Nein, dabei könnten Finge rabdrücke draufgehen.« Der Detective runzelte die Stirn. »Wieso? Ist das denn ein Tatort?« »Wissen wir, dass es keiner ist?« Darauf hatte Damon keine Antwort. Und auf Grissoms Klopfen reagierte niemand. Er klopfte erneut, diesmal fester, und stellte dann mit einem Griff an den Knauf fest, dass die Tür abgeschlossen war – keine wirkliche Überraschung. Sie warteten kurz, dann rückten Carrack und Grissom dem Eingang mit einer Ramme zu Leibe. Das Schloss barst, der Rahmen splitterte und die demolierte Tür flog auf.
Vom Flur aus ging es rechts in das Wohnzimmer, zur Lin ken befand sich eine Treppe. Geradeaus sah Grissom direkt die Küche. Brass trat als Erster ein, aber er kam nicht sehr weit. Er zeig te auf einen dunklen Fleck auf dem Boden. »Blut! Alles stehen bleiben!«, rief er. Es war dunkel im Haus, und Grissom holte seine Taschen lampe heraus und leuchtete auf den Boden: Tatsächlich, ein kleiner Tropfen geronnenes Blut auf den Dielen! »Sehr gut, Jim! Sieht trocken aus.« Brass zog mit der rechten Hand seine Pistole und schaltete mit der linken jetzt auch eine kleine Taschenlampe ein. »Wie immer – wir checken das Haus, bevor Sie reinkönnen.« »Aber es ist niemand rein- oder rausgegangen, Captain«, be tonte Carrack noch einmal. »Ich schwöre!« »Checken wir erst mal das Haus«, sagte Brass zu dem Strei fenpolizisten und zog seine Pistole. »Hinterher haben Sie noch genug Zeit, sich rauszureden…« Damon und Carrack zogen ebenfalls ihre Waffen, dann gin gen sie die Treppe hoch und nahmen sich den oberen Stock vor. Grissom und Sara betraten zögernd das Haus. »Stehen bleiben!«, rief Brass ihnen zu, dann verschwand er im Wohnzimmer, um das Erdgeschoss zu prüfen. Grissom kniete sich hin und betrachtete den Blutfleck im Schein seiner Taschenlampe. »Das Blut ist in der Tat getrocknet«, sagte er. »Was immer hier passiert ist, es ist schon eine Weile her, oder?«, meinte Sara. Von oben waren die Stimmen von Carrack und Damon zu hören. Die Männer gingen von Raum zu Raum, und ein Wort flog hin und her wie ein Tennisball: »Sauber!«
»Sauber!« »Sauber!« »Sauber!« Brass kam aus der Küche. »Vom Wohnzimmer geht es ins Esszimmer, dann nach links in die Küche – alles sauber.« Vom oberen Ende der Treppe meldete Damon ebenfalls: »Alles sauber!« Grissom ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe über den Boden Richtung Küche wandern. Er fand einen weiteren Blut fleck, dann noch einen, und so weiter. Die Spur – nicht aus Brotkrumen wie bei Hänsel und Gretel, sondern aus Blut – führte in die Küche und von dort nach links zu einer Tür. »Was ist hinter der Tür?«, fragte Grissom. »Sie ist verschlossen«, entgegnete Brass. »Wahrscheinlich kommt man von hier in eine Art Wirtschaftsraum und die Garage.« »Sehen wir nach!« Brass war nicht sehr angetan von diesem Vorschlag. »Viel leicht sollte ich erst mal mit einem bewaffneten Officer vorge hen…« »Ist schon in Ordnung«, sagte Grissom. »Unter einer Bedingung«, willigte Brass ein. Grissom wusste, was die Bedingung war: Er nahm seine Ta schenlampe in die linke Hand und zog seine Pistole. Sara folgte seinem Beispiel. Rechts von der Küche war hinter einem offenen Durchgang das Esszimmer zu sehen. Grissom wandte sich nach links und öffnete die Tür zu einem kleinen Raum, in dem an der gegenü berliegenden Wand zwischen zwei Türen eine Waschmaschine, ein Trockner und ein kleiner Tisch zum Wäschelegen standen. Grissom vermutete, dass die zweite Tür in die Garage führ te.
Da Carrack zuvor schon durch das Garagenfenster geschaut hatte, konnten sie relativ sicher sein, dass sich dort niemand aufhielt. Die Blutspur endete vor der ersten Tür zu Grissoms Linken. Er zögerte, bevor er die Tür öffnete. Ihm ging es immer in erster Linie darum, beim Betreten ei nes Raumes keine Beweisspuren zu zerstören, aber darauf durfte er in diesem Moment keine Rücksicht nehmen, denn es befand sich möglicherweise jemand hinter dieser Tür, der vielleicht noch am Leben war. Vergiss die Abdrücke!, dachte Grissom, legte seine latexge schützte Hand auf die Klinke und öffnete die Tür. Er sah eine Holztreppe mit einem Geländer an der rechten Seite, die nach unten führte. Ohne zu zögern drückte Grissom auf einen Schal ter an der Wand, und das Licht ging an. »Verdammt, Gil«, rief Brass von hinten. »Da hat noch kei ner nachgesehen!« Grissom drehte sich zu Sara um. »Bleib erst mal hier!« Dann ging er, die Warnung des Captains ignorierend, mit der Pistole in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand die Treppe hinunter. Es gab nur wenige Häuser in Las Vegas, die einen Keller hatten, und der CSI-Leiter war überrascht, dass Bells Haus zu diesen Ausnahmen zählte. Als er langsam und vorsichtig die knarrenden Stufen hinunterstieg, entdeckte er noch mehr Blut – mehr als nur kleine Tropfen –, und auf dem Boden links vor der Treppe war eine kleine Pfütze zu sehen. Grissom achtete darauf, nicht in das Blut zu treten, und als er im Keller ankam, fand er eine noch größere Lache, die sich vor der Nische unter der Treppe gebildet hatte. Es sah fast so aus, als blutete die Erde. Aber die rote, gerinnende Flüssigkeit hatte einen ganz ande ren Ursprung.
Gil Grissom leuchtete mit der Taschenlampe in die Ecke – und strich Perry Bell von der Verdächtigenliste.
7
Nachdem er Officer Carrack und Detective Damon im Erdge schoss postiert hatte, kam Jim Brass in den Keller. Sein sechs ter, in fünfundzwanzig Dienstjahren geschärfter Polizistensinn verriet ihm nichts Gutes, und er bemühte sich wie Grissom, keine Beweisspuren zu zerstören. Sein Radar registrierte keine Gefahr; er verspürte vielmehr ein Kribbeln, das ihm verriet, dass etwas nicht in Ordnung war. Zwar hielt er die Pistole in der Hand, aber er ahnte, dass er keinen Gebrauch von ihr ma chen würde, denn das, was nicht in Ordnung war, war bereits geschehen. Und aufgrund der ritualisierten Vorgehensweise des Täters, mit dem sie es bei diesem Fall zu tun hatten, ahnte er, noch bevor er das Ende der Treppe erreichte, was ihn erwartete. Unten angekommen, leuchtete er in die Nische unter der Treppe. Der Lichtstrahl fiel auf eine große Blutlache, dann wanderte er zu dem abgeschnittenen rechten Zeigefinger und von dort über den fülligen, nackten, toten Körper. Als Nächstes erfasste er das Gesicht von Perry Bell. In diesem Moment erkannte Brass, dass er sich getäuscht hatte. Er hatte gedacht, er wisse ganz genau, wie der Tatort aussehen würde, denn die Morde an Sandred und Diaz waren sorgfältig inszeniert gewesen. Der Anblick der Leiche versetzte Brass jedoch regelrecht einen Schock. Es bestand kein Zweifel: Der echte CASt war zurück! Der Mund des Reporters war mit Lippenstift beschmiert, der sich mit dem Blut vermischt hatte, das ihm aus der gebroche
nen Nase gelaufen und inzwischen getrocknet war. Bell war fast bis zur Unkenntlichkeit verprügelt worden und hatte ein deutig mehr gelitten als alle anderen Opfer von CASt oder dem CASt-Nachahmer. Auf seinem Rücken befanden sich Sper maflecken, und anders als bei den Amputationen, die der Nachahmer durchgeführt hatte, war hier das Blut im ganzen Keller verspritzt. »Gott-ver-dammt!«, platzte es Brass heraus. Er hätte vor Wut fast seine Taschenlampe in die Ecke geknallt, hielt jedoch im letzten Moment inne, schaltete sie aus und steckte sie in die Tasche. »Ich habe die Tatorte damals ja nicht untersucht, Jim«, sagte Grissom ruhig. »Aber hier war wohl das Original am Werk.« Brass schüttelte schwer atmend den Kopf und stieß noch ein paar Flüche aus. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass er immer noch da draußen ist«, sagte er dann. »Und zwar in unserem Zuständigkeitsbereich. Er ist weder weggezogen noch überfah ren worden, noch… Scheiße, Gil, das…« Grissom fasste Brass unbeholfen am Arm. »Konzentrieren Sie sich auf die Arbeit, Jim. Sie müssen alles andere verdrän gen.« Brass nickte und schluckte. »Das hier ist noch brutaler als die alten Morde. Es ist, als wäre CASt… besonders wütend auf Perry gewesen. Immerhin war er der Reporter, der ein Buch über die Mordserie geschrieben hat. Er hat mit CASt Geld verdient und ›böse‹ Sachen über ihn gesagt.« Grissom zuckte mit den Schultern. »Da ist er nicht der Ein zige.« Brass hatte bereits sein Handy aus der Tasche gezogen und eine Kurzwahltaste gedrückt. »Hier ist Captain Jim Brass – wer ist da?« Eine weibliche, ruhige Stimme meldete sich. »Laurel Thompson, Captain.«
Brass war erleichtert. Laurel war durch nichts aus der Ruhe zu bringen – sie war einer der besten Dispatcher in der ganzen Stadt. »Laurel, Sie müssen einen Streifenwagen zum Banner schicken. Die Beamten sollen David Paquette in Gewahrsam nehmen. Es geht um den CASt-Fall. Wenn er nicht im Büro ist, schicken Sie einen Wagen zu seinem Haus.« »Ja, Sir. Mordanklage?« Brass sah Grissom in die Augen und kämpfte mit dem Ver langen, ja zu sagen. Das Problem war, er hatte keinen richtigen Beweis, obwohl es nach dem Mord an Bell logisch schien, dass Paquette der Nachahmungstäter sein musste. Wer außer den beiden käme sonst in Frage? Brass wünschte sich in diesem Moment, Gris som würde einen Beweis finden, damit sie den Redakteur festnehmen konnten – aber er sprach es nicht laut aus, um nicht das Missfallen des CSI-Leiters zu erregen. »Sie sollen ihn in Schutzhaft nehmen«, meinte er stattdessen zu der Beamtin in der Funkzentrale »Pardon?« »Laurel, sagen Sie den Männern, dass Paquette ein wichti ger Zeuge ist und ich um seine Sicherheit besorgt bin… Inzwi schen rufe ich David an und sage ihm selbst, was los ist.« »Der Wagen wird sofort rausgeschickt. Roger, Captain.« »Danke, Laurel.« Brass schaltete sein Handy aus. »Ein wichtiger Zeuge?«, fragte Grissom. »Haben wir genug, um ihn festzunehmen?« »Nein.« »Der Punkt ist, ich will ihn von der Straße haben, bis wir Bescheid wissen. Wenn Bell nicht der Nachahmer ist, dann ist Paquette der nächstbeste Tipp.« »Ein kleiner Vorschlag meinerseits«, bemerkte Grissom. »Keine Tipps und Vermutungen!«
»Dann finden Sie einen verdammten Beweis für mich!«, fuhr Brass auf. »Das sollte eigentlich nicht so schwer sein…« Grissom beugte sich vor, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Die Unterschiede zwischen diesem Mord und den Taten des Nach ahmers waren subtil, aber vielfältig. »Als der Finger abgetrennt wurde, lebte das Opfer noch«, erklärte er und ging in die Hocke. Das hatte auch Brass bereits erkannt. Bells Herz hatte defi nitiv noch geschlagen, als ihm der Finger abgeschnitten wurde. »Was Sie nicht sagen«, entgegnete er. »Hier ist mehr Blut als an den beiden anderen Tatorten zusammen.« »Die Farbe des Lippenstifts scheint mir etwas dunkler als bei Sandred und Diaz«, sagte Grissom. »Aber ob das wirklich stimmt, wird sich im Labor zeigen. Vielleicht spielen die Lichtverhältnisse und das viele Blut meiner Wahrnehmung einen Streich.« »Ich würde auch sagen, er ist dunkler«, erklärte Brass. Grissom zeigte auf die Leiche und fuhr fort. »Die gebroche ne Nase hat er sich wahrscheinlich geholt, als er dem Mörder die Tür öffnete. Doc Robbins wird Genaueres dazu sagen können, aber so brutal haben weder CASt noch der Nachahmer bisher zugeschlagen. Aus unbekannten Gründen – wenn man von unseren Spekulationen in Bezug auf seinen Groll gegen den Autor von Der Fall CASt einmal absieht – hat CASt Bell viel härter angefasst als die anderen Opfer.« Brass nagte schweigend an seiner Unterlippe. Grissom sah ihn an. »Können Sie sich vorstellen, wie es ab gelaufen ist, Jim?« Bell ist allein zu Hause. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer und studiert seine alten Unterlagen über CASt. Er freut sich, dass der alte Fall seine eingeschlafene Karriere zu neuem Leben
erweckt. Als es an der Tür klingelt, geht er die Treppe hinunter. Beim zweiten Klingeln ist er unten und öffnet. Die Haustür liegt in einer dunklen Nische, die vom Nach barhaus nicht einsehbar ist. Entweder schlägt der Mörder sofort zu, oder Bell kennt ihn und bittet ihn hinein, und er schlägt zu, sobald er im Haus ist. Capture – Überwältigen. An der Tür oder im Flur bekommt Bell also einen Schlag ins Gesicht – einen heftigen Schlag, der ihm die Nase bricht und zu den Blutstropfen führt, von denen die Polizei später in den Keller gelockt wird. Während ihm das Blut aus der Nase läuft, wird Bell von dem Mörder in den Keller geschleppt. Bell ist nackt. Afflict – Quälen. Die Schlinge liegt um seinen Hals und zieht sich langsam zusammen. Als sie ihm die Luft abschnürt, verliert Bell das Bewusstsein. Er kommt wieder zu sich, als er einen Schlag ins Gesicht bekommt, auf den weitere folgen, immer schneller, bis die Schläge nur so auf ihn niederprasseln. Er duckt sich und versucht, sich ganz klein zu machen, um den Schlägen zu ent gehen, aber der Mörder reißt an dem Seil, die Schlinge zieht sich fester zu, und Bell muss sich notgedrungen fügen. Der Mörder zieht Bells Kopf mit dem Seil hoch und verpasst ihm einen weiteren heftigen Schlag ins Gesicht. Nun verliert der Reporter endgültig das Bewusstsein; die Schmerzen sind einfach zu stark. Er kommt nach einer gewissen Zeit wieder zu sich, als er merkt, wie sich etwas um seinen Zeigefinger schließt. Der Mörder hält Bells Finger mit einer Blechschere fest. Bell fühlt die Kälte des Stahls, dann drückt der Mörder zu. Ein warmer Blutschwall. Bell spürt einen glühend heißen Schmerz, und der Finger ist ab. Bell sieht ihn zu Boden fallen, bevor er verzweifelt die Augen zukneift. Solche Schmerzen hat er noch
nie in seinem Leben gehabt, und er vergisst sogar für einen Moment das Seil um seinen Hals, aber der Täter erinnert ihn mit einem festen Ruck wieder daran, und die Schlinge schließt sich um seinen Hals. Strangle – Strangulieren. Er versucht vergeblich, sich zu wehren. Er bekommt keine Luft mehr. Seine ganze Brust brennt und schmerzt, während seine Lunge um die letzten Sauerstoffmoleküle kämpft. Dann gibt es keine mehr; jede Faser seines Körpers brennt. Langsam schwindet nun jedoch der Schmerz, das Brennen lässt nach, und ihn umfängt eine warme, angenehme Finsternis. Bell treibt in einem tiefschwarzen Meer, und die Wärme, die ihn zunächst in Wellen, dann dauerhaft überkommt, beruhigt ihn. Er lässt sich fallen. Nun erfüllt die Finsternis auch sein Inne res, und Bell driftet davon. Kampf und Schmerzen sind vorbei. Alles ist vorbei. Sara kam zu Brass und Grissom in den Keller. Sie kniff die Augen zusammen, als sie sich umschaute. »Das… sieht gleich und doch anders aus.« Grissom kniete noch neben der Leiche und sah auf. »Ganz genau.« »Wir müssen seine Telefonate überprüfen«, sagte Brass zu sammenhanglos. Grissom nickte. »Vielleicht können wir herausfinden, ob der Mörder ihn gezwungen hat, seine Tochter anzurufen, oder ob er wirklich von sich aus abgesagt hat, um an seiner Geschichte zu arbeiten.« »Vielleicht hat die Geschichte ihn bearbeitet.« »Wie es aussieht, war der Täter eine ganze Weile mit Bell beschäftigt«, sagte Grissom und erhob sich. »Sobald uns Al den Todeszeitpunkt nennt, können wir prüfen, wie dicht Bells
Anruf bei seiner Tochter und der Überfall zeitlich zusammen liegen.« »Daran hatte ich gedacht«, sagte Brass. »Sieh in seinem Schlafzimmer nach«, sagte Grissom zu Sa ra, »ob er vielleicht beim Packen war.« »Okay. Und dann… Fingerabdrücke?« Grissom nickte. »Nimm dir alles im Erdgeschoss vor, was der Täter vielleicht angefasst hat – das Treppengeländer zum Beispiel.« »Ich versuche es auch an der Haustür.« »Sag Carrack und Damon, sie sollen sich nicht vom Fleck rühren und nichts anfassen, damit uns möglichst viele Beweisspuren erhalten bleiben.« Brass hatte bereits wieder sein Handy am Ohr und rief Da vid Paquette an. Der Redakteur meldete sich beim zweiten Klingeln. »David, Jim Brass hier. Ich habe einen Streifenwagen losge schickt, der Sie abholen soll.« »Warum das denn?« »Wir nehmen Sie als wichtigen Zeugen in Schutzhaft.« »Den Teufel werden Sie tun! Ich habe eine Zeitung heraus zubringen!« »Die Lage ist ernst, David. Da müssen Sie die Arbeit schon hintenanstellen.« »Nennen Sie mir einen guten Grund!« »Perry Bell ist tot.« Paquette sagte kein Wort, aber an seinem stockenden Atem erkannte Brass, dass diese Nachricht ein Schock für ihn war… es sei denn, er zog nur eine Show ab. »CASt hat wieder zugeschlagen«, erklärte Brass. »Oh, mein Gott…« Einen Moment lang hatte Brass den Eindruck, Paquette habe angefangen zu weinen. Er und Bell waren Freunde gewesen,
Kollegen. Und der Mord stand in direktem Zusammenhang mit dem Buch, das sie zusammen geschrieben hatten und das sie bekannt gemacht hatte. »Hören Sie, Dave«, fuhr er fort, »machen Sie den Beamten keine Schwierigkeiten. Lassen Sie sich mitnehmen. Wir kön nen Sie schützen. Und vielleicht können Sie uns helfen.« »Oh… okay.« »Keine Sorge, das ist völlig in Ordnung.« »Das… das glaube ich nicht, Jim. Wir sind für die Bericht erstattung zuständig und sollten nicht selbst in die Schlagzeilen geraten.« »Nun, dann kooperieren Sie mit uns, und wir halten Sie da raus!« Mit diesen Worten unterbrach Brass die Verbindung. »Glauben Sie wirklich, er war es?«, fragte Grissom. Brass schüttelte den Kopf. »Seine Reaktion hat mich ver wundert – ich glaube, er hat geweint, Gil.« »Sie waren befreundet.« »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll! Ich glaube, ich werde mir von jetzt an gar nichts mehr zu diesem gottver dammten Fall überlegen, bis Sie mich dazu anhalten.« »Denken ist erlaubt. Nur vor Vermutungen und Spekulatio nen sollten wir uns hüten.« In diesem Moment klingelte Brass’ Handy. Es war O’Riley. Brass lauschte, bedankte sich bei dem Sergeant und sagte zu Grissom: »Orloff hat gesagt, das Foto von Bell, das wir nach Ely gefaxt haben, zeige keinen der beiden ›Sammler‹, mit denen er zu tun hatte… Dann war Bell wohl nicht der Nach ahmer…« »Geben Sie uns ein bisschen Zeit, damit wir den Tatort un tersuchen können«, sagte Grissom. »Wir werden etwas fin den.« Selbst für Vegas-Verhältnisse hatten sie erbärmlich viel Pech.
Welche Richtung sie auch wählten, der CASt-Fall schlug immer neue Haken. Irgendwie war es dem Killer – einem Verrückten, der seine Mordserie beendet hatte, als Nick Stokes noch ans College ging – gelungen, eine Zeitreise von der Ver gangenheit in die Gegenwart zu machen und die aktuellen Ermittlungsbemühungen völlig zu vereiteln. Nach dem unergiebigen Besuch bei Dallas Hanson in der Mission waren Nick und Catherine kurz ins Labor gefahren, um Hansons Speichelprobe abzugeben und den DNS-Test zu veranlassen. Doch Nick ging eigentlich davon aus, dass sie das gleiche Ergebnis zu erwarten hatten wie bei Phillip Carlson – keine Übereinstimmung –, aber in ihrem Job ging es um Be weise, nicht um Glauben. Inzwischen waren sie auf der Blue Diamond Road Richtung Pahrump zur Sundown-Klinik unterwegs. Im Unterschied zu Sunny Day auf der anderen Seite des Tals in Henderson, wo Warrick und Catherine kürzlich dem »Todesengel« das Hand werk gelegt hatten, war Sundown jedoch eine geschlossene Anstalt. Nick saß hinter dem Steuer. »Also, was haben wir überse hen?«, fragte er irgendwann. »Mir fällt nichts ein«, meinte Catherine. Sie schwieg eine Weile und dachte nach. »Wir haben die Beweise durchgearbei tet«, resümierte sie. »Vielleicht waren Brass und Champlain damals komplett auf der falschen Fährte, und der echte CASt steht gar nicht auf ihrer Verdächtigenliste.« »Ja, aber Brass und Champlain sind erstklassige Cops…« »Natürlich! Aber uns ist das auch schon mal passiert. Das geht schnell – man beginnt, an seine Theorien zu glauben, bevor die Beweise vorliegen.« »Kommt vor«, räumte Nick ein. »Und wenn keiner von die sen drei Verdächtigen tatsächlich CASt ist, was haben wir dann zu den Ermittlungen beigetragen?«
»Wir haben sie als Verdächtige ausgeschlossen«, entgegnete Catherine. »Das ist auch wichtig.« Ihr Kollege nickte widerstrebend. Als sie über die Amargosa Road die Last Chance Range er reichten, musste Nick unwillkürlich über den Standort der Anstalt grinsen. Letzte Chance, wie treffend!, dachte er. Die meisten Patienten von Sundown waren entweder für sich selbst oder für andere eine Gefahr und verbrachten daher den Groß teil ihrer Zeit hinter verschlossenen Türen. Sie nahmen sogar die Mahlzeiten in ihren Räumen, die im Grunde Zellen waren, ein und hatten nur einmal am Tag Ausgang, um – einer nach dem anderen – in einem kleinen Hof eine Viertelstunde lang ein paar Runden zu gehen. Nick fuhr auf den Parkplatz, auf dem ungefähr ein Dutzend Autos standen, die meisten davon in der Nähe des Mitarbeiter eingangs am anderen Ende des lang gestreckten, einstöckigen Gebäudes. Die Einrichtung war größer, als sie von vorn aussah. Das wusste Nick, weil er die riesige fünfeckige Anlage einmal mit dem Hubschrauber überflogen hatte. Er hatte bei einem früheren Besuch auch das Innere des Gebäudes gesehen, das ihm wie ein immenses Labyrinth mit endlos langen Flügeln vorgekommen war, wie aus einem bizarren Albtraum. Wenn man bei der Einlieferung noch nicht geisteskrank war, dann hatte man alle Chancen, es im Laufe der Zeit zu wer den… Sie stiegen aus dem Auto und gingen zum Haupteingang. »Wenn ich irgendwann durchdrehe«, sagte Catherine, »er schieß mich bitte, falls man mich hier einliefern will.« »Einverstanden – würdest du das im umgekehrten Fall auch für mich tun?« »Abgemacht«, entgegnete Catherine.
Die Flügeltür war aus Sicherheitsglas mit eingelegtem Drahtnetz – und natürlich fest verschlossen. Nick versuchte vergeblich, sie zu öffnen. Catherine zeigte auf das Schild an der Tür: BITTE KLINGELKNOPF AN DER SPRECHANLAGE DRÜCKEN! »Okay, du hast eine bessere Beobachtungsgabe als ich«, bemerkte Nick. Catherine ging zu der Sprechanlage neben der Tür und drückte auf den Knopf. Nach einer Weile sah sie Nick stirnrunzelnd an, als wollte sie fragen, ob sie noch einmal klingeln sollte, doch da meldete sich eine weibliche Stimme. »Sie wünschen?« »Catherine Willows und Nick Stokes für Dr. Jennifer Royer. Wir sind vom kriminaltechnischen Labor.« »Haben Sie einen Termin?« »Nein, aber ich habe ihr eine Nachricht auf Band gespro chen.« »Einen Moment, bitte!« Es folgte eine lange Pause, und Nick und Catherine sahen sich unentschlossen an. Waren sie abserviert worden? Endlich meldete sich die Frau zurück. »Kommen Sie herein und halten Sie Ihre Ausweise bereit.« Der Summer ertönte, und Nick hielt Catherine die Tür auf. Als sie im Gebäude waren, hörte er hinter sich das Klicken eines elektronischen Schlosses. »Und wir sind freiwillig hergekommen«, kommentierte er. »Das ist kein schöner Ort…«, entgegnete Catherine mit gro ßen Augen. Die Eingangshalle war leer und sauber; die Wände waren in einem zarten Minzgrün gekachelt, die Böden in Hellgrün, und das einzige dekorative Element war der Bauplan der Anlage, der in einem schlichten Rahmen an der Wand hing.
Alles schien von einer dicken Patina aus Traurigkeit über zogen zu sein. Obwohl das Sonnenlicht durch die Glastür hereinfiel, war die Halle in ein trübes, graues Licht getaucht, was zum Teil sicher an den Neonröhren in den verfärbten Kunststoffhauben unter der Decke lag. Am anderen Ende der Halle standen ein dunkelgrünes Sofa, ein paar dazu passende ungepolsterte Stühle und ein niedriger Tisch, auf dem Ausga ben der Zeitschrift Psychology Today lagen. In der Luft lag Kiefernnadelduft, der jedoch den Geruch von Krankheit und Tod nicht verdrängen konnte, den die Wände, die Luftschächte, ja sogar die Möbel zu verströmen schienen. Diese Eindrücke waren natürlich subjektiv, aber Nick sah an Catherines stummem Entsetzen, dass sie ähnlich empfand wie er. Dies bestätigte sie ihm, als sie ihm zuraunte: »Hier ist man kein Gast, nicht einmal ein Insasse – hier ist man ein Gefange ner.« Eine stämmige Frau in Weiß saß hinter dem Empfangsschal ter. Sie hatte rot gefärbtes Haar und trug mit ihrer schroffen, finsteren Ausstrahlung ihre ganze Unzufriedenheit mit dem Schicksal nach außen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie, aber es klang eher wie eine Drohung. Catherine erkannte die Stimme aus der Sprechanlage wie der. »Wir sind von der Las Vegas Police und möchten zu Dr. Jennifer Royer«, sagte sie. Sie traten vor und hielten der Frau ihre Dienstausweise hin. Die Empfangsschwester beugte sich vor und studierte sie. Dann sah sie skeptisch auf. »Haben Sie noch etwas anderes?« Gehorsam zeigten Nick und Catherine der Pförtnerin auch ihre Personalausweise und ihre Marken.
Sie bedachte die beiden mit einem Lächeln, als wollte sie sagen: Gratuliere zur bestandenen Einlassprüfung, aber werden Sie nicht übermütig – Sie wollen ja auch wieder raus! Es war aber auch möglich, dass dieser Eindruck nur einer gewissen Paranoia entsprang… »Auf der linken Seite des Korridors«, sagte die Pförtnerin, ohne sie noch einmal anzusehen. »Die dritte Tür.« Die Tür stand offen und Nick klopfte an den Rahmen. Eine Frau um die vierzig mit – echten – roten Haaren und einer aparten Kurzhaarfrisur sah von ihrem Schreibtisch auf, der mit Akten überhäuft war. Allem Anschein nach ging sie nicht oft an die Sonne, aber das war bei ihrem hellen Teint wahrscheinlich auch ganz vernünftig. Sie hatte ein schmales Gesicht, eine lange, gerade Nase, blaue, mandelförmige Augen und einen breiten Mund – ausgeprägte, aber attraktive Züge. »Ah, Sie sind die Leute vom kriminaltechnischen Labor«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein leiser Südstaaten akzent. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten, aber ich konnte Sie noch nicht anrufen. Gut, dass Sie dem vorgegriffen haben und gleich gekommen sind… Setzen Sie sich!« Nick und Catherine nahmen auf den zwei Chromstühlen vor dem Schreibtisch Platz. Das Büro war klein und ordentlich – bis auf den Schreib tisch, der auf ein enormes Arbeitspensum schließen ließ. Er war wie die beiden Aktenschränke an der Wand aus Stahl. Der Sessel der Ärztin wirkte bequem, aber nicht übertrieben ku schelig. Die Ausstattung in Sundown war nicht luxuriös, aber ausreichend. »Ich bin Catherine Willows und das ist Nick Stokes.« Die Frau lächelte sie an, und es wirkte echt – von Profi zu Profi. »Ich bin Dr. Jennifer Royer, die Chefärztin. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir würden gern mit einem Ihrer Patienten reden«, sagte Catherine. »Herzlichen Glückwunsch«, entgegnete die Ärztin mit ei nem Hauch von Belustigung. »Damit gehören Sie zu einem illustren kleinen Kreis.« »Wie bitte?« Catherine runzelte die Stirn. Dr. Royer schürzte die Lippen. »Die Patienten von Sundown bekommen in der Regel überhaupt keinen Besuch, nicht einmal von der Polizei.« »Und von der Familie?«, fragte Nick. »Das variiert von Fall zu Fall«, entgegnete Dr. Royer. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Ihr trockener Humor war offensichtlich ihre Art, mit diesem deprimierenden Ort fertig zu werden. »Die Patienten werden aus den unterschiedlichsten Gründen hier eingewiesen. Aber in Wahrheit gibt es nur einen Grund, weshalb unsere Patienten sich hier aufhalten: weil irgendjemand – vielleicht sogar die Gesellschaft – will, dass sie eingesperrt werden.« »Ausgelagert«, warf Catherine ein. Die Ärztin, deren überraschende Offenheit äußerst erfri schend war, nickte. »Genau – weggeschlossen, damit man sie nicht sieht.« »Aber wenn sie schon hier sind, versuchen Sie, ihnen zu helfen.« Dr. Royer gefror das Lächeln. »Wir versuchen es.« »Wie ist Ihre Erfolgsquote?« Mit einem abschätzigen Schulterzucken entgegnete die Ärz tin: »Dazu machen wir generell keine Angaben – es handelt sich schließlich um eine private Einrichtung.« Nick wechselte einen viel sagenden Blick mit Catherine. Ei ne Erfolgsrate, die so niedrig war, dass man sie der Öffentlich keit vorenthielt?
»Sicherlich wird ein beachtlicher Prozentsatz Ihrer Patienten als geheilt entlassen und findet in ein normales Leben zurück«, sagte Catherine. »Manche schon. Die meisten von ihnen verlassen uns je doch in einem Zustand, mit dem Sie sich beim CSI bestens auskennen sollten… Aber wie kann ich Ihnen helfen?« Catherine rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Wie ich schon sagte, wir würden gern mit einem Ihrer Patienten spre chen.« »Mit wem?« »Mit Jerome Dayton.« »Einen Jerome Dayton gibt es hier nicht«, entgegnete Dr. Royer wie aus der Pistole geschossen. Catherine traute ihren Ohren nicht. »Pardon… Wie bitte?« Dr. Royer schüttelte den Kopf. »Wir haben hier niemanden mit diesem Namen.« »Wissen Sie das ganz genau?«, fragte Nick. »Das sollte ich – ich bin verantwortlich für alle Patienten von Sundown.« Catherine sah Nick an, dem sofort auffiel, dass seine Partne rin sich ärgerte. »Wir hatten die Information, Dayton sei hier Patient.« »Nun, jetzt ist er jedenfalls nicht hier.« Nick bemerkte die Zweideutigkeit ihrer Aussage und hakte nach. »Aber er war hier? Jerome Dayton war Ihr Patient?« Das Lächeln von Dr. Royer war längst verschwunden. Ihre Miene war versteinert. »Wir haben zur Zeit um die hundert Gäste hier in Sundown, und keiner von ihnen heißt Jerome Dayton.« »Hat er die Anstalt in einem Leichensack verlassen, wie Sie vorhin andeuteten?« Die Ärztin dachte kurz nach, dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Tut mir Leid.«
»Könnten Sie die Krankenakten prüfen?« »Nein.« Die Bestimmtheit in der zuvor so freundlichen Stimme der Ärztin war nicht zu überhören. »Das wäre eine Verletzung der Rechte unserer Patienten.« »Aber wenn er kein Patient mehr ist…« »Wir wahren auch die Rechte ehemaliger Patienten.« Catherine schüttelte den Kopf und lächelte gezwungen. »Dr. Royer, es geht um Mord. Wir haben gerade von dem dritten Mord im Zeitraum von etwas mehr als einer Woche erfahren.« Die Miene der Ärztin blieb versteinert. »Jerome Dayton zählte zu den Tatverdächtigen im Fall CASt… Vielleicht erinnern Sie sich? Und wenn er jetzt nicht in diesem Krankenhaus ist… dann ist er in Bezug auf die Morde, die sich gerade in Las Vegas ereignet haben, der Hauptver dächtige!«, erklärte Nick. Dr. Royer schien nicht sehr beeindruckt von Nicks leiden schaftlicher Argumentation zu sein. »Das gibt weder der Poli zei von Las Vegas noch mir die Befugnis, die Rechte dieses Patienten zu verletzen«, sagte sie nur. Catherine nickte mit eisiger Miene. »Da haben Sie Recht. Also besorgen wir uns eine richterliche Anordnung.« Die Ärztin nahm achselzuckend eine Visitenkarte zur Hand, notierte eine Nummer darauf und gab sie Catherine. »Das ist unsere Faxnummer«, sagte sie. »Lassen Sie das Pa pier direkt hierher schicken. In der Zwischenzeit sehen wir schon mal, ob wir Mr. Daytons Akte finden.« Catherine stutzte und hätte wohl ein ebenso verblüfftes Ge sicht gemacht, wenn Dr. Royer ihr eine Ohrfeige verpasst hätte. »Sie… wollen uns helfen?« »Besorgen Sie die richterliche Anordnung«, entgegnete die Ärztin knapp, »und während wir darauf warten, suchen wir die Akte.« »Ich verstehe nicht…«
»Natürlich tun Sie das. Sie sind beide Profis, das sehe ich. Nun, und ich bin auch einer… und ich nehme es sehr genau mit den Rechten unserer Patienten, Ms Willows.« Catherine wirkte fast verlegen, als sie sagte: »Selbstver ständlich, Frau Doktor.« »Gibt es einen Grund anzunehmen, dass Sie das Papier nicht bekommen könnten?« »Nein, das ist kein Problem.« »Also gut«, meinte die Ärztin. »Wenn dieser Mann ein Mörder ist, dann haben wir keine Zeit zu verlieren.« Während Catherine den Anruf erledigte, beobachtete Nick Dr. Royer dabei, wie sie einen der Aktenschränke durchsuchte. Anscheinend waren die alten Akten noch nicht in den Compu ter eingelesen worden – was nicht sonderlich überraschend war. Als Catherine den Anruf beendet hatte, saß die Ärztin be reits wieder an ihrem Schreibtisch und studierte mit nachdenk licher Miene den Inhalt eines Aktenordners. »Sobald der Richter unterschrieben hat«, sagte Catherine, »wird die Anordnung rübergefaxt.« »Vielleicht reine Zeitverschwendung«, bemerkte Dr. Royer ohne aufzusehen. »Warum?«, fragte Nick. Die Ärztin sah ihn an. »Ich glaube nicht, dass Jerome Day ton der gesuchte Killer ist.« »Warum?«, fragte Catherine. »Jerome Dayton kam vor ungefähr zehn Jahren hierher. Das war übrigens lange vor meiner Zeit.« »Nun, das deckt sich mit dem, was wir über Dayton wissen – er wurde in der Tat vor zehn Jahren hier eingeliefert.« »Ja, und zwar mit paranoider Schizophrenie.« »Das heißt, er hat Stimmen gehört?«, fragte Nick.
»Das ist nur ein Symptom von vielen«, erklärte die Ärztin. »Halluzinationen, sowohl akustische als auch visuelle, können ebenfalls Symptome von Schizophrenie sein. Aber die Patien ten leiden unter Umständen auch an Verfolgungswahn.« »War das bei Jerome Dayton der Fall?«, fragte Catherine. »Ja, er litt unter solchen Wahnvorstellungen.« Dr. Royer las konzentriert weiter. Es waren inzwischen schon gut fünf Minuten vergangen, ohne dass sie irgendetwas sagte. Nick und Catherine warteten geduldig. Weitere zehn Minu ten verstrichen, bevor die mürrische Schwester mit dem Fax hereinkam, es auf Dr. Royers Schreibtisch legte und wieder verschwand. Die Ärztin warf einen Blick auf das Papier, nickte und widmete sich wieder ihrer Lektüre. Nach ein paar Minuten sah sie endlich auf. »Jerome hat of fenbar geglaubt, dass sein Vater ihn erniedrigt und missbraucht hat.« »Wissen wir, ob es sich dabei tatsächlich um Wahnvorstel lungen handelte?«, fragte Catherine. Nick nahm den Faden auf. »Wurde er auf sexuellen Miss brauch untersucht?« »Dieser Akte zufolge gab es solche Untersuchungen«, sagte Dr. Royers, »und es wurde nichts gefunden, was die Behaup tungen des jungen Mannes gestützt hätte. Der Vater, Thomas Dayton, war damals einer der größten Bauunternehmer der Stadt.« Nick runzelte die Stirn. »Seit wann ist Schizophrenie eigent lich heilbar?« »Vier von fünf unserer Patienten sprechen gut auf bestimm te Medikamente an«, erklärte Dr. Royers. »Jerome konnte mit Haldol geholfen werden. Der Akte zufolge wurde er, während er hier war, in Einzel- und Gruppentherapie behandelt.«
Catherine wirkte beunruhigt. »Dann war er also unter Kon trolle… wenn schon nicht geheilt.« »Ja.« »Und er wurde entlassen?« »Das wurde er«, bestätigte Dr. Royer. Nick schüttelte ungläubig den Kopf. »Wann war das?« »Vor sieben Jahren.« Nick richtete sich auf. »Er wurde innerhalb von drei Jahren geheilt?« Dr. Royer sah die beiden an. »Ich sagte ja bereits, dass er nicht ›geheilt‹ war. Aber er bekam Medikamente und hatte seine Krankheit unter Kontrolle. Wie ich der Akte entnehme, hat er unglaubliche Fortschritte gemacht, nachdem mein Vor gänger das Problem diagnostiziert hatte. Jerome durfte sogar Tages- und Wochenendbesuche bei seinen Eltern machen.« »Ist das normal?«, fragte Catherine. Zum ersten Mal, seit sie auf Jerome Dayton zu sprechen ge kommen waren, lächelte die Ärztin wieder. »›Normal‹ ist kein wissenschaftlicher Begriff, Ms. Willows. Und da Sie selbst Wissenschaftlerin sind, können Sie sich denken, wie selten das Wort ›normal‹ in einer Anstalt wie dieser Erwähnung findet… Nein, solche Besuche sind nicht ›normal‹, aber auch nicht ausgeschlossen. Bedenken Sie, dass Jerome freiwillig herge kommen ist. Er hat kooperiert, als seine Eltern ihn zu uns brachten.« »Wurde er vielleicht auf eigene Verantwortung entlassen?« »Das ist möglich, obwohl es dazu keinen Vermerk in der Akte gibt… Manchmal braucht ein Patient nur die richtige Diagnose und Medikation, um genesen zu können, Ms. Wil lows, und es tritt bemerkenswert schnell Besserung ein. Zeit mit der Familie zu verbringen – einzelne Tage und Wochenen den – kann sich positiv auf den Heilungsprozess auswirken.«
»Sieben Jahre«, sagte Nick und schüttelte wieder den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass keiner von seiner Entlassung wusste.« Dr. Royer zuckte mit den Schultern. »Wenn er ein Verdäch tiger im Fall CASt war… Wann endete die Mordserie? Vor elf Jahren?« »Zehn«, sagte Catherine. »Er kam kurz vor dem letzten Mord hierher.« »Und deshalb glaube ich auch nicht, dass er der Gesuchte ist«, erklärte Dr. Royer. »Außerdem ist er jetzt seit sieben Jahren draußen, und es gab keine Morde.« »Bis vor kurzem«, bemerkte Catherine. »Natürlich«, sagte die Ärztin nickend, »bis vor kurzem. A ber Sie sind die Kriminalisten – sagen Sie es mir: Machen Serienmörder normalerweise Pausen von sieben Jahren?« Catherine schüttelte den Kopf. »Nein, aber als Wissen schaftler verwenden wir das Wort ›normalerweise‹ auch nicht sehr oft bei unserer Arbeit… Wissen Sie, wo wir Jerome Day ton finden können?« Royer blätterte in der Akte. »Ah, hier ist es… Wahrschein lich bei seinen Eltern. Er wurde in ihre Obhut entlassen.« »Der Vater ist tot«, sagte Nick. »Starb vor zwei, drei Jahren. Die Presse hat groß darüber berichtet.« »Daran erinnere ich mich«, entgegnete die Ärztin. »Mr. Dayton war ein berühmter Mann, wenigstens hier in der Ge gend. Dann wird Jerome Dayton vermutlich noch bei seiner Mutter leben.« »Kann man sicher sein, dass er seine Medikamente nimmt?«, fragte Catherine. »Relativ sicher. In den ersten Jahren hat er noch weiter Ein zel- und Gruppentherapien gemacht und seine Medikamente von uns bekommen. Danach hat er sich die Medikamente bei
einer Schwestereinrichtung abgeholt, und damit endet unsere Akte. Am besten holen Sie sich die Akte von dort.« Nun las die Ärztin die richterliche Anordnung aufmerksam durch. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Akte kopiere, bevor ich sie Ihnen aushändige?« »Überhaupt nicht«, entgegnete Catherine. »Wer weiß, wie lange wir sie behalten.« »Richtig… Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen, aber alles, was ich hier lese, deutet auf Jeromes Unschuld hin. Und wie Sie sehen werden, gab es keine Hinweise auf Gewalttätig keit in seiner Vorgeschichte.« »Soweit bekannt«, bemerkte Catherine. Die Ärztin wiederholte Catherines Worte, dann verließ sie das Büro, um die Akte zu kopieren. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Nick zu Catherine. »Die ser Typ wurde vor sieben Jahren entlassen – wahrscheinlich der verdächtigste aller CASt-Verdächtigen –, und niemand wusste, dass er draußen war!« »Nun… vielleicht spielt das gar keine Rolle.« »Keine Rolle?« »Ja, Nick. Ich meine, er war hier eingesperrt, als der letzte der CASt-Morde geschah.« Dr. Royer kam zurück und händigte Catherine die Original akte aus. »Vielen Dank für Ihr Verständnis und Ihre Mühe.« »Wir tun, was wir können.« Als sie das Gebäude verließen, fragte Nick: »Weißt du noch das genaue Datum des Mordes an Drake?« »Das habe ich mir aufgeschrieben«, sagte Catherine, holte ihr Notizbuch hervor und zeigte ihm das Datum. Nick zog den Autoschlüssel aus der Tasche. »Und was steht zu diesem Datum in der Akte?«
Catherine blätterte, dann fand sie es und sah Nick entsetzt an. »Oh… mein… Gott! Da war Jerome übers Wochenende bei seinen Eltern.« Nick war zwischen Übelkeit und Siegesfreude hin und her gerissen. »Vielleicht sollten wir Jerome Dayton aufsuchen und mal gucken, wie es ihm heute geht. Vor allem, wie es mit den Medikamenten klappt.« »Ja, tun wir das«, sagte Catherine. »Von einer Sache können wir ihn auf jeden Fall heilen.« »Und zwar?« »Er ist nicht paranoid. Wir sind wirklich hinter ihm her.«
8
Sara Sidle saß auf einem Hocker an der Arbeitsplatte im Labor und nahm den Packen Testergebnisse, den Greg ihr überreich te, wie ein Geburtstagsgeschenk in Empfang. »Das wird dir gefallen«, sagte er und ging zur Tür. »Mir gefällt alles, was konkret ist«, meinte Sara. »Ich bin es leid, immer nur Luft zu verarbeiten…« »Nimm dich dabei bloß vor Wasserstoff in Acht!« Sara grinste. »Danke für den Tipp!«, sagte sie, und dann war Greg auch schon wieder verschwunden. Endlich!, dachte sie und machte sich über den Stapel Papier her. Auf dem ersten Blatt stand, dass der Lippenstift, der bei Diaz verwendet wurde, exakt mit dem Farbton übereinstimmte, der bei Marvin Sandred gefunden worden war: »Bright Rose« von Ile De France. Dieses Ergebnis bestätigte die Theorie, dass es sich um ein und denselben Täter handelte, was außerdem dadurch gestützt wurde, dass – wie auf dem nächsten Blatt zu lesen war – die Seile, die in beiden Mordfällen verwendet worden waren, exakt dieselbe chemische Zusammensetzung hatten. Als Nächstes fand Sara ein Foto, das zeigte, dass die Enden der Seile, mit denen Diaz und Sandred erdrosselt worden wa ren, auch noch ganz genau zusammenpassten. »Besser geht’s ja gar nicht!«, rief sie in das leere Labor. »Was?«, fragte Grissom, der in diesem Augenblick herein kam.
»Wir wissen, dass Sandred und Diaz von ein und derselben Person umgebracht wurden.« Grissom trat zu Sara, und sie zeigte ihm die Testergebnisse. »Unser wichtigstes Produkt«, sagte er. »Fortschritt.« Dann holte er sich einen Stuhl. »Und was ist mit dem Umschlag vom Banner?« »Die Fingerabdrücke stammen von den drei Mitarbeitern David Paquette, Mark Brower und Jimmy Mydalson. Ihre Abdrücke wurden auch auf dem Brief gefunden. Das bestätigt natürlich nur, was wir bereits wussten. Und wie läuft’s bei dir? Irgendwas über die Handschrift rausgefunden?« »Ich bin gerade auf dem Weg zu Jenny. Willst du mitkom men? Dann können wir beide unseren Wortschatz erweitern.« Jenny Northam war die Handschriftenexpertin, die jahrelang freiberuflich für den CSI gearbeitet hatte, kürzlich aber fest angestellt worden war. Früher hatte sie ständig wie ein wüten der Hafenarbeiter geflucht, aber in den Räumen des CSI musste sie sich, wie Grissom ihr nahe gelegt hatte, in Zurückhaltung üben. Auf dem Weg zu Jennys Kabuff war Grissom tief in Gedan ken versunken, was bei ihm nicht ungewöhnlich war. Sara machte das Schweigen nichts aus – auch ihr ging so manches durch den Kopf. Plötzlich blieb sie jedoch stehen. »Bell wurde nicht von demselben Täter getötet wie Sandred und Diaz, nicht wahr?« Grissom horchte auf und bedachte sie mit einem Blick, aus dem eine leise Hoffnung sprach. »Haben wir Beweise dafür?« »Ja – die Brutalität der Schläge und die große Menge Blut. Hat Doc Robbins bestätigt, dass der Finger abgeschnitten wurde, als das Opfer noch lebte?« »Hat er.« »Und auf den Fotos kann man sehen, dass das Sperma eher willkürlich verspritzt wurde und nicht wie bei den vorangegan
genen beiden Morden sorgfältig hingegossen, wie du es so treffend beschrieben hast.« Grissom nickte. »Alles gute Beobachtungen, Sara, aber nur Indizien. Wir brauchen bessere Ergebnisse, bevor wir unsere Schlüsse ziehen können. Zum Beispiel müssen wir wissen, ob das Sperma, das bei Bell sichergestellt wurde, nicht wie in den anderen beiden Fällen von Orloff stammt.« »Und ich nehme an, daran arbeitet Greg schon.« »Ja, aber der DNS-Test braucht seine Zeit.« »Schade, dass wir nicht in einer Fernsehserie sind«, entgeg nete Sara. »Dann hätten wir die Ergebnisse gleich nach der Werbung…« Kurz darauf erreichten sie die offen stehende Tür der CSIGraphologin Jenny Northam. Grissom klopfte und betrat ohne abzuwarten den Raum. Jenny jagte auf ihrem Bürostuhl durch das kleine Labor wie ein besoffener Rennfahrer, dessen Gaspedal klemmte. Sie war zierlich, gerade mal einsfünfzig groß, wog vielleicht fünfzig Kilo und hatte dunkles Haar. Die Handschriftenexpertin herrschte über diverse teure Geräte, die an den Wänden aufge reiht waren und auch den meisten Platz auf dem großen Leuchtpult in der Mitte des Raums einnahmen, dem Innenfeld von Jennys improvisierter Rennstrecke. »Was gefunden?«, fragte Grissom ohne lange Vorrede. »Ja, verflucht«, entgegnete Jenny mit einer Stimme, die viel zu tief für ihre zierliche Statur war. »Oder lieber: Ja, verflixt?« »Beides ist besser als die dritte Alternative«, sagte Grissom. »Aber eigentlich wären mir Ergebnisse am liebsten.« »Ergebnisse kannst du verdammt noch mal haben!«, ent gegnete Jenny. Sara schmunzelte und hielt sich rasch die Hand vor den Mund. Jenny gab ihr Bestes, um sich in ihr zuweilen politisch
sehr korrektes CSI-Arbeitsumfeld einzufügen, aber gelegent lich hatte sie immer noch Ausrutscher. »Ich habe den aktuellen Brief an den Banner mit den Brie fen verglichen, die der CASt-Täter seinerzeit geschrieben hat.« »Und?«, fragte Grissom. »Das Papier ist unterschiedlich, obwohl es sich in beiden Fällen um normales Kopierpapier handelt, und der Verfasser hat mit Kugelschreiber geschrieben. Die Schrift ist klein und ordentlich, aber kindlich – wie bei einem genialen Wunderkind oder so.« »Ich habe den Brief als Erste gelesen«, sagte Sara, »und mir sind sofort die akkuraten Abstände und die geraden Zeilen aufgefallen.« »Verdammt gerade! Dabei ist das Papier nicht liniert! Da hinter verbirgt sich eine Art… Genialität.« »Das ist doch bestimmt übertrieben«, bemerkte Grissom. »Also, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich noch nie so eine eindeutige Übereinstimmung gesehen habe. Dieser Beweis hält vor jedem Gericht stand. Dass der Verfasser der selbe ist, würde euch sogar ein blinder Affe bestätigen.« »Nicht nötig, Jenny«, sagte Grissom. »Dein Urteil genügt mir voll und ganz.« Während die Graphologin noch über seine Worte nachdach te, verließ Grissom bereits wieder den Raum. Sara eilte hinter ihm her. »Du wusstest, dass die Briefe von demselben Verfasser stammen!«, sagte sie. »Wenn nicht«, entgegnete Grissom, »dann wäre es eine aus gezeichnete Fälschung… Und wie viele Leute hatten ausrei chend Zugang zu den Originalbriefen, um so etwas zustande zu bringen?« Sie gingen zurück in sein Büro, wo Warrick bereits auf sie wartete.
»Ich habe die Liste der Telefonate von Bell«, sagte er. »Al hatte anhand der noch nicht eingetretenen Leichenstarre festgestellt, dass Bell seit ungefähr achtundvierzig Stunden tot war.« Warrick nickte. »Todeszeitpunkt zirka eine Stunde nach dem Telefonat mit seiner Tochter.« »Wenn er gezwungen wurde, sie anzurufen«, bemerkte Sara, »muss seine Nase schon gebrochen gewesen sein. Hat sie nicht gesagt, dass er merkwürdig klang?« »Wenn Perry bei dem Gespräch mit seiner Tochter bereits wusste, dass CASt ihn töten würde… hat er es vielleicht ge schafft, ihr irgendeinen versteckten Hinweis zu geben«, über legte Warrick. »Ruf sie an und finde es heraus«, sagte Grissom zu Sara, zog sein Notizbuch aus der Tasche, blätterte eine Weile und riss dann eine Seite heraus. »Hier!«, sagte er. »Grissom«, sagte Sara, »ich halte es nicht für angemessen, wenn das arme Ding vom CSI erfährt, dass ihr…« »Sie weiß es schon. Brass hat sie angerufen.« Damit verließ Grissom den Raum. Sara sah Warrick an, der mit einem schiefen Grinsen rea gierte. »Ich kann das erledigen«, sagte er, »wenn es dir unan genehm ist.« »Nein, danke, das schaffe ich schon. Ich muss es schaf fen…« Sara ging zurück ins Labor, holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer, die Grissom ihr gegeben hatte. Patty Lang reagierte beim ersten Klingeln. Sie klang müde – und etwa auch eine Spur verärgert? »Hallo?« »Ms Lang?« »Ja.«
»Hier ist Sara Sidle. Ich bin vom kriminaltechnischen La bor. Ich belästige Sie nur ungern in dieser schweren Stunde.« »Sie belästigen mich nicht«, erwiderte Patty mit einem ge reizten Unterton. »Sie arbeiten an dem Mord an meinem Vater, nicht wahr? Nun, das höre ich gern.« Sara schluckte. »Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich Ihren Verlust bedauere. Wir alle hier mochten Ihren Vater. Nicht jeder Journalist hat einen Fanclub bei der Polizei, wissen Sie? Aber Ihr Vater war einer von den Guten.« »Ich danke Ihnen. Wie kann ich Ihnen helfen, diesen Scheißkerl zu finden, der meinen Vater umgebracht hat?« »Hat ihr Vater am Telefon normal geklungen, als er seinen Besuch absagte?« »Ich fürchte, ich verstehe Ihre Frage nicht. Was meinen Sie mit ›normal‹?« »Wie klang seine Stimme?«, fragte Sara. »Wie war seine Verfassung? Kam Ihnen irgendetwas an dem Anruf ungewöhn lich vor oder anders als sonst?« Patty Lang schwieg eine Weile, bevor sie antwortete. »Das ist gar nicht so leicht zu beantworten«, sagte sie schließlich. »Wissen Sie, Ms Sidle, ich habe schon oft erlebt, dass mein Vater nicht ›normal‹ klang, wenn ich mit ihm telefonierte. Manchmal war er total aufgedreht wegen einer Geschichte, an der er arbeitete, und manchmal deprimiert wegen seiner festge fahrenen Karriere oder der Trennung von Mom. Und es kam häufiger vor, dass er mich anrief, wenn er ein paar Cocktails zu viel intus hatte.« »Klang er bei seinem letzten Anruf betrunken?« »Nein«, antwortete Patty. »Eigentlich nicht. Aber er klang ein bisschen… seltsam, wenn ich es mir recht überlege. Ir gendwie steif. Geradezu gestelzt.« »Als hätte man ihm vorgegeben, was er sagen sollte?«
»Das ist ein merkwürdiger Gedanke… Glauben Sie, der Mörder war bei ihm?« Sara sah keinen Grund, Patty etwas vorzuenthalten. »Unse rer Vermutung nach wusste der Täter, dass Ihr Vater verreisen wollte und dass Sie ihn erwarteten.« »Und er hat ihn gezwungen, mich anzurufen und abzusa gen?« »Ja.« »Aber warum?« »Um den Fund der Leiche hinauszuzögern, Ms Lang. Um uns die Arbeit zu erschweren.« »Sie meinen, ich wäre besorgt gewesen, wenn mein Vater nicht aufgetaucht wäre, und Sie hätten früher angefangen, nach ihm zu suchen?« »Ja.« »Ms Sidle, ich habe das Buch meines Vaters über diesen… diesen Bastard gelesen. Ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon, wie er vor seinem Tod gelitten haben muss. Und ich… ich komme damit nur klar, weil ich weiß, dass mein Vater nun in Frieden ruht und diese Kreatur geschnappt wird!« »Wenn jemand CASt stoppen kann, dann wir.« »Das… das höre ich sehr gern. Aber… Oh mein Gott! Jetzt verstehe ich…« »Was verstehen Sie, Ms Lang?« Aber die junge Frau hatte angefangen zu weinen. Sara schluckte und wartete ab. Schließlich ergriff Patty wieder das Wort. »Als er sich von mir verabschiedet hat, am Ende des Gesprächs, da hat er mich Pat-Pat genannt. Das… das war mein Spitzname, als ich noch klein war. Ich fand es merkwürdig, dass er mich so genannt hat, nach all den Jahren.« »Ich verstehe.«
»Wirklich? Ms Sidle, er hat mir auf diese Weise Lebewohl gesagt… für immer.« Patty begann wieder zu weinen, und Sara sagte ein paar tröstende Worte, bevor sie sich schließlich voneinander verab schiedeten. Catherine Willows saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, Brass zu erreichen. Sie hoffte, dass sie nicht den Anrufbeant worter erwischte. »Ich bin’s!«, platzte sie gleich heraus, als Brass an den Ap parat kam. »Was haben Sie in dieser Anstalt erfahren? Wie heißt sie noch?… Sundown?« »Wir haben herausgefunden, dass Jerome Dayton dort nicht mehr zu Gast ist.« »Was?« »Schon lange nicht mehr. Seit sieben Jahren.« Das war Brass offensichtlich neu, wie das lange Schweigen am anderen Ende der Leitung zeigte. Catherine fuhr fort. »Anscheinend ist er therapiert und me dikamentiert worden und wurde wieder in die Freiheit entlas sen, als es ihm besser ging.« »Schön für ihn«, sagte Brass kühl. »Ich nehme an, sein Va ter hat ihn rausgeholt?« »Bingo! Er wurde in die Obhut seiner Eltern entlassen.« »Zum Teufel… Aber eigentlich überrascht mich das nicht. Tom Dayton war ein einflussreicher Mann in dieser Stadt.« »Wie Sie natürlich wissen, ist er inzwischen tot. Ich nehme an, Jerome lebt bei seiner Mutter«, sagte Catherine. »Aber nur, wenn er jetzt einen auf Norman Bates macht«, erwiderte Brass. »Sie ist vor sechs, sieben Monaten gestorben. Es stand dick in der Zeitung. Haben Sie das nicht mitbekom men?«
Catherine lief es kalt über den Rücken. »Soll das heißen… Jerome steht nicht mehr unter Aufsicht?« »Sieht nicht so aus.« Der Zorn des Captains darüber, dass Dayton frei herumlief und er es nicht gewusst hatte, schien allmählich zu verrauchen. Aus seiner Stimme klang Hoffnung: »Cath, das bedeutet, wir haben einen Verdächtigen für die Nachahmungstaten. Einen verdammt guten Verdächtigen…« »Vielleicht. Vielleicht müssen Sie aber auch noch weiter in die Vergangenheit zurückgreifen.« Sie atmete tief durch. »Jim, da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.« »Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Catherine!« »Als Dayton eingewiesen wurde, hat er tage- und wochen endweise Freigang bekommen, um seine Familie besuchen zu können.« »Gott-ver-dammt! Wollen Sie damit sagen, er war…« »Nicht in Sundown, als sich der letzte CASt-Mord ereignete, ganz genau. Er war in der Stadt, als Vincent Drake ermordet wurde.« Wieder Schweigen in der Leitung. Catherine befürchtete fast, Brass habe aufgelegt oder das Telefon an die Wand ge worfen. »Jim?«, fragte sie zögernd. »Ich bin noch da.« »Hat Dayton Geschwister?« »Nein, er ist ein Einzelkind.« »Dann hat er ja alles geerbt? Zum Beispiel das Haus seiner Eltern?« »Das steht in der Proud Eagle Lane.« Ein Lächeln huschte über Catherines Gesicht. »Tatsächlich? Und wo zum Teufel ist die Proud Eagle Lane?« »In der TPC-Anlage direkt am Canyons-Golfplatz.« »Ah, die Gegend kenne ich. Da kostet eine Runde Golf mehr als ein armer CSI in der Woche verdient.«
»Cath, stellen Sie sich vor, was für ein Haus das sein muss, das an so einem Golfplatz liegt!« »Das würde ich mir gern ansehen, Jim!« »Gut, dann schnappen Sie sich Nick, und wir treffen uns dort. Aber Sie brauchen Ihre Schläger nicht mitbringen – wir werden nicht zum Golfen kommen.« »Was ist mit einem Durchsuchungsbefehl?« »Es gibt keinen Richter im ganzen Bezirk, der uns zu die sem Zeitpunkt Gehör schenken würde.« Brass’ Laune besserte sich, oder er tat zumindest so. »Sehen wir einfach mal nach, wie Jerry Dayton zurechtkommt, so ganz allein. Es war be stimmt ein schwerer Schlag für den Jungen, Mom und Dad zu verlieren.« Catherine fand Nick bei Greg Sanders im Labor. Sie nickte ihrem Partner von der Tür aus zu und er kam zu ihr in den Flur. »Strike Nummer zwei«, sagte er statt einer Begrüßung. »Bei?« »Bei der DNS. Dallas Hanson ist weder der Nachahmungs täter noch der Original-CASt.« »Das wussten wir.« »Das dachten wir. Greg hat es bewiesen.« Catherine erzählte Nick von ihrem Gespräch mit Brass. »Hey, super!« Nick grinste. »Ich habe schon öfter daran ge dacht, Mitglied im TPC zu werden. Dann könnte ich mir da ein Haus kaufen und hätte den Golfplatz direkt vor der Tür.« »Guter Plan! Du könntest als Caddie anfangen.« Sie grins ten sich an und gingen beschwingt zum Parkplatz. Vielleicht gelang ihnen nun endlich der Durchbruch in diesem verdamm ten Fall… Das Wachhäuschen an der Einfahrt zum TPC war nicht ganz so groß wie Catherines erstes Apartment, jedoch wesentlich bes ser ausgestattet. Die Klimaanlage summte leise, und der
Wachmann, der zu ihnen an den Wagen kam, trug eine Hose mit messerscharfen Bügelfalten und ein perfekt gebügeltes Hemd ohne das geringste Anzeichen von Transpiration. Er war groß, muskulös und mit seinem kantigen Kinn recht gut ausse hend. Er sah eher wie ein Golfprofi als wie ein Wachmann aus. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, aber sein Blick war streng und kalt. »Schöner Tag, was? Und was kann ich für Sie tun?« Nick zeigte seinen Ausweis und stellte sich und Catherine vor. Wie die Empfangsschwester in Sundown wollte auch der Wachmann noch mehr Referenzen, und Nick sah Catherine verstohlen an und rollte mit den Augen. Sie lachte, und sie reichten die gewünschten Ausweise aus dem Fenster. »Alles in Ordnung«, sagte der Wachmann. »Tut mir Leid, dass ich so pingelig sein muss, aber wir haben hier ein paar sehr wichtige Leute unter den Clubmitgliedern und Anwoh nern. Wo wollen Sie denn genau hin?« Nick nannte Daytons Adresse. »Vielleicht sollte ich Sie anmelden«, sagte der Wachmann. Wie aus dem Nichts tauchte Brass neben dem Wagen auf und hielt dem Mann seinen Dienstausweis vor die Nase, der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Melden Sie uns nicht an!«, sagte Brass. »Also, äh… Captain Brass? Das ist bei uns Usus.« »Bei uns nicht.« Catherine schaute in den Seitenspiegel und sah den Taurus von Brass hinter ihnen in der Einfahrt stehen. »Sir, wir sind nicht nur ein Country Club. Wir sind eine be wachte Wohnanlage, und unsere Anwohner…« »Wenn Sie uns anmelden, komme ich zurück und verhafte Sie wegen Behinderung. Haben Sie das verstanden?«
Der Wachmann nickte widerstrebend, zog sich in sein kli matisiertes Häuschen zurück und öffnete das Tor, um sie in die Anlage zu lassen. Hier im Inneren sah alles nach Wohlstand aus – die Häuser, die Rasenflächen, die Autos, sogar die Briefkästen. Alles war größer, schöner, teurer, protziger. Sie kamen am Clubhaus vorbei, vor dem Golfcarts standen, die ungefähr so viel koste ten wie Catherines Auto. Nick fuhr rechts ran und ließ Brass vorbei, um dann dem Taurus des Captain durch die Anlage hinterherzufahren, bis sie die Proud Eagle Lane erreichten. Die Redewendung »My home is my castle« war für ge wöhnlich eine Übertreibung, aber in Jerome Daytons Fall traf es die Sache auf den Kopf: Das ausgedehnte zweistöckige Haus war doppelt so groß wie die Häuser, die Catherine bisher in den Wohnanlagen von Las Vegas gesehen hatte, immerhin einer Stadt, in der es mehr als genug reiche und berühmte Leute gab. Das riesige Haus hatte einen blasskorallenroten Putz und hob sich allein dadurch schon von den anderen Häusern ab, die allesamt etwas kleiner und einheitlich sandfarben ver putzt waren. Mit Brass an der Spitze ging das Trio zur Haustür. Der Cap tain hatte schon seit Tagen größte Mühe damit, seine Wut und Frustration im Zaum zu halten und die CASt-Morde als das zu sehen, was sie waren: nämlich als Morde, und nicht als einen persönlichen Affront. Nun war er jedoch regelrecht zornig und enttäuscht von sich selbst – als hätte er wissen müssen, dass Jerry Dayton schon vor Jahren aus der Anstalt entlassen wor den war. Aber Einrichtungen dieser Art mussten die Polizei nicht über die Gefahren informieren, die sie auf die Welt los ließen. Und den Daytons war es offenbar gelungen, ihren Sohn in Schach zu halten. Vielleicht war er in einem Zimmer dieser Burg eingesperrt gewesen wie der Mann mit der Eisenmaske
und hatte als medikamentierter, wenn auch verwöhnter Gefan gener in seinem eigenen Haus gelebt. Aber was war in jüngster Zeit passiert? Nachdem seine bei den »Gefängniswärter« das Zeitliche gesegnet hatten? Nun war der Verrückte der Anstaltsleiter, wenn man so wollte. Es konnte natürlich Zufall gewesen sein, dass Dayton an dem Wochenende Freigang hatte, als Vincent Drake ermordet wurde. Aber Brass glaubte ebenso wenig an Zufälle wie Gris som. Zufälle waren Gottes Art, einem Kriminalbeamten zu sagen, dass er Mist gebaut hatte und ihm wahrscheinlich etwas ent gangen war, etwas Wichtiges. Vor allem aus diesem Grund war Captain Brass stinksauer, als er den geschwungenen Gehweg zu der großen zweiflügeligen Eingangstür von Daytons Haus hinaufstürmte. Er ignorierte die Klingel und hämmerte mit der Faust gegen die Eichentür. Als nicht gleich jemand öffnete, hämmerte er weiter. Er merkte, dass Nick und Catherine hinter ihm standen, und er merkte auch, dass ihre Anspannung wuchs. Dachten sie etwa, er sei dabei, die Nerven zu verlieren? Nun, vielleicht stimmte es ja – und verdammt, vielleicht stand ihm das auch zu. Acht Männer waren im Laufe von elf Jahren getötet worden, und was hatte er dagegen getan? Er und Vince Champlain, sie hätten CASt schon vor einem Jahrzehnt schnappen müssen, und sie hatten total versagt! Und nun war dieser irre, bösartige Dreckskerl wieder unter wegs. Aber möglicherweise stand Brass jetzt doch an der Schwelle zur Lösung des Falls. Er wollte gerade wieder loshämmern, als die Tür unvermit telt aufgerissen wurde. Ein großer, dünner, dunkelhaariger Mann mit dem Gesicht eines Raubvogels, grünen Augen und
stechendem Blick trat ihnen entgegen. Er trug ein blaues But ton-down-Hemd und schwarze Jeans. Jerome Dayton. In all den Jahren hatte er sich kaum verändert. Das schmale Gesicht war weitgehend faltenfrei; in seinem Haar zeigten sich keine grauen Strähnen. Die einzige Veränderung, die Brass auffiel, war ein Ohrring an Daytons linkem Ohrläppchen: ein »D« aus kleinen Diamanten. Dayton kniff die Augen zusammen, schürzte verächtlich die Lippen und sagte nur ein einziges Wort. »Brass!« Sein Ton sprach Bände. »Lange nicht gesehen, Jerry«, sagte Brass lässig, obwohl ihm der Magen brannte wie verrückt. »Wie sind Sie am Tor vorbeigekommen?«, fragte Dayton. Seine Stimme war ebenso eisig wie der Blick, mit dem er Catherine und Nick bedachte, bevor er Brass wieder ins Visier nahm. »Wissen Sie, Jerry«, begann Brass, »es schmeichelt mir, dass Sie sich an mich erinnern. Ihr Anwalt war immer darauf bedacht, uns voneinander fernzuhalten, nicht wahr?« »Wer sind Ihre Lakaien?« »Das sind Spurenermittler vom kriminaltechnischen Labor, Catherine Willows und Nick Stokes. Ich habe ihnen alles über Sie erzählt. Wir möchten mit Ihnen über… die alten Zeiten reden. Und die neuen.« »Nicht ohne meinen Anwalt«, sagte Dayton und wollte dem Captain die Tür vor der Nase zumachen. Brass stemmte sich dagegen und konnte es im letzten Mo ment verhindern. Daytons Augen verengten sich zu Schlitzen und auf seinem Gesicht erschien ein höhnisches Lächeln. »Und ich glaube, ich sollte umgehend mit meinem Anwalt sprechen – wegen einer Belästigungsklage.«
Brass setzte sein typisches zerknittertes Lächeln auf. »Kommen Sie, Jerry, Sie müssen es doch in den Zeitungen und im Fernsehen gesehen haben. Sie wissen bestimmt, weshalb wir hier sind. Früher oder später müssen Sie sowieso mit uns reden. Wir streichen nur die alten Namen von unserer Liste, und das können Sie genauso gut sofort hinter sich bringen und…« »Die alten Verdächtigen, meinen Sie.« Das spöttische Ad lergesicht sah sie der Reihe nach an, bevor es sich mit einem hämischen Lachen erneut Brass zuwandte. »Glauben Sie, ich wüsste nicht, was Sie wollen? Sie sind wegen C – A – S – t hier. Hat es Ihnen nicht gereicht, mir einmal das Leben zu ruinieren?« Brass reagierte mit einem knappen Lächeln. »Der Ohrring ist wirklich hübsch, Jerry«, bemerkte er dann. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auf solchen Glitzerkram abfahren.« Daytons Lächeln wurde breiter, und er zeigte seine perfek ten weißen Wolfszähne. »Er ist von meiner Mutter – ein Ring, den ich umarbeiten ließ. Normalerweise habe ich für Protziges nichts übrig, das wissen Sie, Captain. Aber ich habe meine Mutter geliebt.« »Und Ihren Vater?« Dayton runzelte die Stirn. »Das Gespräch ist beendet.« Catherine trat einen Schritt vor. »Mr. Dayton, die Taten, die Ihnen angelastet wurden, stehen nicht im Zentrum unserer Ermittlungen. Wir sind nicht hinter dem echten CASt her – viele glauben sowieso, dass er tot ist oder zumindest weit weg von Las Vegas lebt.« »Wirklich«, sagte Dayton denkbar uninteressiert. »Wir sind hinter dem neuen Killer her – dem Trittbrettfah rer.« »Ja, hinter dem neuen, verbesserten CASt sozusagen«, warf Nick ein.
»Aber wir mussten uns natürlich noch einmal die alten Ak ten vornehmen. Alles nur Routine.« Brass begriff, worauf Catherine und Nick hinauswollten: Wenn Dayton der echte CASt war, dann hatten sie ihn ganz schön geärgert. Dayton taxierte Catherine und kratzte sich mit der rechten Hand am Kinn. Der Handrücken war angeschwollen und mit einem violetten Bluterguss verunziert. Brass wies mit dem Kopf darauf. »Da haben Sie aber ein schönes Ehrenabzeichen, Jer.« Dayton ließ die Hand sinken. »Hab ich mir in der Autotür eingeklemmt.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man zer streut ist, dann passiert einem manchmal so was Blödes. Ihnen etwa nicht, Captain?« »Doch, doch, das kommt mir bekannt vor. Aber warum las sen Sie sich nicht von uns helfen? Einer von meinen Kollegen hier schießt ein Foto von Ihrer Pfote, wir stellen uns als Zeugen zur Verfügung, und Sie können den Autohersteller verklagen.« »Lahmer Versuch«, sagte Dayton und schüttelte den Kopf. »Viel zu lahm. Sind wir fertig?« »Wenn Sie uns eine DNS-Probe nehmen lassen, ja«, sagte Nick. »Dann sind Sie ein für alle Mal sauber«, fügte Catherine hinzu. Die Adleraugen nahmen Catherine ins Visier. »Mein Name brauchte gar nicht reingewaschen zu werden, wenn der Captain es sich nicht zum Hobby gemacht hätte, mich zu jagen, als ich noch ein wehrloser Jugendlicher war. Dieser Kerl hat schon damals meine Familie schikaniert. Ich bin fast froh, dass meine Eltern tot sind, damit sie diese Demütigung nicht noch einmal ertragen müssen.« »Apropos«, sagte Brass. »Wer betreut Sie denn jetzt? Sie schlucken immer noch Medikamente, nehme ich an…«
»Ich bin ein großer Junge, Captain. Ich kann selbst auf mich aufpassen, und ja, ich nehme Medikamente – und zwar seit ich Ihretwegen in diese Anstalt gesteckt wurde.« »Wenn Sie so dagegen waren«, sagte Catherine, »warum nehmen Sie die Medikamente dann überhaupt noch?« Dayton hob sein spitzes Kinn. »Ich streite ja nicht ab, dass ich gewisse gesundheitliche Probleme habe. Ich leide an einer Störung der Gehirnchemie, die sich gelegentlich durch etwas äußert, das Sie Schwachköpfe Geisteskrankheit nennen. Aber ich überwache meinen Zustand jetzt selbst.« »Und wie läuft das so?« »Sehr gut. Es funktioniert. Ich nehme meine Tabletten täg lich zu festen Zeiten. Ich habe eine Pillendose mit Fächern für die einzelnen Tage, wie ein alter Rentner.« »Dafür muss man sich nicht schämen«, bemerkte Nick. Daytons grüne Augen blitzten auf und er blähte die Nasen flügel. »Wer zum Teufel schämt sich denn hier?« Nick hob beschwichtigend die Hände. »Wow, wir sind wohl ein bisschen empfindlich, was?« Ihr widerspenstiger Gesprächspartner schluckte. Dann sagte er gefasst: »Ich habe meine Eltern verloren. Sie haben sich nie von dieser CASt-Katastrophe erholt. Ich habe sie alle beide sterben sehen, ganz langsam, und dieser Prozess begann bereits lange bevor sie tatsächlich aufhörten zu atmen.« Dayton richte te seinen Blick wieder auf Brass. »Er begann, als sie mich in diese… Anstalt einweisen mussten. Nun, ich will Ihnen sagen, welche Fortschritte ich im Kampf gegen meine Krankheit gemacht habe, Captain. Ich habe Sie lange für den Tod meiner Eltern verantwortlich gemacht.« Er zeigte mit seinem violett verfärbten Finger auf den Captain. »Aber jetzt weiß ich… dass Sie nur Ihre Arbeit gemacht haben. Sie haben versucht, das Beste für die Gesellschaft zu tun, wie irregeleitet und fehlin
formiert Sie auch waren. Mein Psychiater hat mich mittlerweile fast davon überzeugt, dass es nicht Ihre Schuld war.« »Dann sind Sie nicht mehr sauer auf mich, Jerry?« Dayton zuckte mit den Schultern. »Nun… die Therapie ist noch nicht zu Ende.« »Wie heißt eigentlich Ihr Psychiater?« »Dass muss ich Ihnen nicht sagen.« Brass’ schmallippiges Grinsen teilte sein Gesicht beinahe in zwei Hälften. »Ich kann auch eine richterliche Anordnung besorgen, Jerry, und dann kommen wir wieder.« »Sie wollen einen Namen? Ich gebe Ihnen einen!« »Danke.« Brass holte sein Notizbuch aus der Tasche und zückte den Stift, um mitzuschreiben. »Carlisle Deams. D-E-A-M-S. Mein Anwalt.« Brass steckte das Notizbuch wieder weg. »Und ich garantiere Ihnen, Captain«, fuhr Dayton mit einem breiten Grinsen fort, »er ist schneller im Gericht als Sie. Wäh rend Sie sich um die Anordnung bemühen, um an meine DNS zu kommen, wird mein Anwalt bereits eine gerichtliche Verfü gung erwirken, damit Sie mich nicht weiter belästigen.« »Wann haben Sie so viel über das Justizsystem gelernt, Jer ry?« »Ich habe in Sundown angefangen zu studieren. Ich hatte viel Zeit – und Motivation.« Brass studierte den Mann. »Was halten Sie davon, wenn ich einen Streifenwagen vor dem Haus abstelle, bis wir mit unserer richterlichen Anordnung wieder da sind?« Dayton holte sein Handy aus der Hosentasche und drückte eine Taste. Während er wartete, sagte er: »Captain, Captain… So einfach geht das alles nicht!« Brass machte auf dem Absatz kehrt, drängte sich an Cathe rine und Nick vorbei, die ihn verdutzt ansahen, und marschierte davon. Schweigend gingen sie hinter ihm her.
Auf dem Weg zum Wagen hörte Brass Dayton sagen: »Car lisle? Jerry Dayton.« Dann, nach einer Pause: »Ausgezeichnet. Ich rufe nur an, um Sie daran zu erinnern, warum Sie so ein saftiges Honorar von mir bekommen…« Brass war froh, dass er es geschafft hatte, den Kerl nicht windelweich zu prügeln. Als er den Tahoe erreichte, waren Nick und Catherine zu seiner Überraschung direkt hinter ihm. »Er wirkt gar nicht so verrückt«, sagte Nick. »Er ist clever«, bemerkte Catherine. Brass schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht darüber reden – wir kommen im Labor darauf zurück, okay?« Er stieg in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Einen Block weiter rief er in der Zentrale an und beor derte einen Streifenwagen vor Jerry Daytons Haustür. Wenn der Junge dachte, Brass hätte es nicht ernst gemeint, dann war er verrückt… Warrick fand Grissom und Sara im Büro des CSI-Leiters. Sie sahen sich noch einmal die Tatortfotos von dem Mord an Bell durch. Warrick ließ sich auf den Stuhl vor Grissoms Schreib tisch fallen und seufzte laut und vernehmlich. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, verkün dete er. »Welche willst du?« »Die gute«, sagte Grissom. »Ich habe endlich die Fingerabdrücke auf der BannerSchlüsselkarte identifiziert.« »Sie sind von Perry Bell.« Grissoms Feststellung nahm Warrick den Wind aus den Se geln. »Woher weißt du das?« »Ich weiß auch, dass die schlechte Nachricht lautet, dass keine anderen Fingerabdrücke auf der Karte sind.« Warrick setzte sich auf. Es machte ihn wahnsinnig, wenn Grissom so mit ihm redete, und das tat der CSI-Leiter sehr oft
– nicht nur mit ihm. »Hat Greg dir schon die Ergebnisse ge bracht?« Grissom schüttelte den Kopf. Das war die zweite Sache, die Warrick kirre machte: Gris som sagte ihm nie, wie er auf diese Dinge kam. Er ging zur Tür, drehte sich um und drohte seinem Boss mit dem Finger. »Wehe, wenn das wieder geraten war…« Auf Grissoms Gesicht erschien ein jungenhaftes Grinsen. »Kein Grund, sauer zu sein.« Warrick ging wieder ins Labor und knöpfte sich die restli chen Fingerabdrücke von den Tatorten vor. Er musste sie auseinander sortieren und herausfinden, welche von wem stammten. Und das wollte er wissen, bevor Grissom es wuss te… Er las alle Abdrücke in den Computer ein und ließ das Pro gramm klären, welche gleich waren. Während er wartete, arbeitete er die Ergebnisberichte auf. Er begann mit dem Be richt von Greg, in dem stand, dass das getrocknete Blut in Bells Haus komplett von Bell stammte. In dem nächsten Bericht stand, dass die künstlichen Haare, die bei Enrique Diaz gefunden wurden, mit denen vom Toupet des ermordeten Perry Bell übereinstimmten. Wenn Bell wirklich der Nachahmer gewesen war – worauf seine Banner-Schlüsselkarte, die am Tatort gefunden wurde, und die künstlichen Haare an Diaz’ Leiche hindeuteten –, mussten sie dann nur noch nach einem Mörder suchen? Hatte CASt sich eingeschaltet, um dem Trittbrettfahrer zu zeigen, wer in dieser Stadt der Böseste der Bösen war – und um ihm das Handwerk zu legen? Warrick wusste nicht, was er denken sollte. Zum Glück hatte er keine Zeit, sich weiter den Kopf zu zer brechen. Sein Telefon klingelte und Grissom bat ihn, mit sei
nem Koffer vorbeizukommen. Ein Polizist hatte das Auto von Perry Bell gefunden. Das Parkhaus des Big Apple Casino & Hotel lag auf der Rück seite des Hauptgebäudes, das sich an der Kreuzung von Tropi cana und Las Vegas Boulevard befand. Das sechsstöckige Parkhaus war der perfekte Ort, um unauffällig ein Auto loszu werden. Der Wagen mit einheimischem Kennzeichen, der fast mutterseelenallein auf der sechsten Etage stand, war einem Polizisten erst nach Tagen bei einer Routinerunde durch das Parkhaus aufgefallen. Als der Beamte das Kennzeichen über prüfte, war er auf Brass’ Fahndung gestoßen und hatte den Fund sofort gemeldet. Der blaue 2003er Cadillac stand einsam in einer Ecke, als die drei eintrafen. Während Grissom sich den Kofferraum vornahm, widmete Sara sich dem Rücksitz, und Warrick arbei tete vorn. Er fand mehrere Haare, die sich in den Nähten der Kopfstüt ze verfangen hatten. Vorsichtig nahm er sie mit der Pinzette ab und tütete sie ein. Dann suchte er das Zündschloss, das Arma turenbrett, das Lenkrad und das Handschuhfach nach Finger abdrücken ab, staubsaugte sorgfältig den Boden wegen mögli cher Fasern und anderer Rückstände und stellte mit Hilfe von elektrisch aufgeladenen Mylarfolien die Schuhabdrücke an Gas- und Bremspedal sicher. Als er damit fertig war, untersuchte er noch einmal die Sit ze. An der Vorderkante des Fahrersitzes fand er einen rötlich braunen Fleck vom Durchmesser eines Bleistifts, den man nur sehen konnte, wenn man auf alle Viere ging. Zuerst fotografierte er den Fleck, dann kratzte er das ge trocknete Blut in einen Beweismittelumschlag. Er hoffte, es stammte nicht von Bell.
Als er Grissom zeigte, was er gefunden hatte, sagte sein Chef: »Guter Fang!« Warrick musste grinsen. Aus Grissoms Mund war dies ein wahrhaft überschwängliches Lob. »Ist doch mein Job.« »Fahr zurück ins Labor und mach weiter mit deinem Job! Finde etwas, das uns hilft, den Mörder von Perry Bell aufzu spüren!« »Wird gemacht, Gris.« Als sie ihre Ausrüstung in den Tahoe luden, bedachte Sara ihn mit einem schiefen Lächeln. »Schleimer!«, zischte sie. Aber Warrick grinste nur.
9
Nachdem er von dem Ausflug ins Parkhaus zurückgekehrt war, katalogisierte Warrick Brown zunächst die Beweisspuren aus Bells Wagen und schickte die Tüten in die entsprechenden Labors. Anschließend verglich er den Schuhabdruck von Bells Bremspedal mit dem Abdruck, den er im Vorgarten von Mar vin Sandred sichergestellt hatte. Fehlanzeige. Er verglich den Abdruck vom Bremspedal mit Bells Schu hen. Fehlanzeige. Er verglich Bells Schuhe mit dem Abdruck aus Sandreds Garten. Fehlanzeige. Gut Ding will Weile haben, redete er sich zu. Hatte Grissom nicht gesagt, Ausdauer sei entscheidend für gute kriminaltechnische Arbeit? Andererseits hatte der CSILeiter mit Sicherheit nichts für die so genannte »Spielerlogik« übrig, jene Volksweisheit, die Warrick erworben hatte, bevor er mit dem Zocken Schluss gemacht hatte: Je länger man nicht gewann, desto näher war man dem nächsten Gewinn. Was unter Spielern ein weit verbreiteter Trugschluss war, war für Warrick eine Theorie. Sara kam herein und winkte mit einem Bericht. Sie wirkte putzmunter, was angesichts der Doppelschichten, die sie leiste ten, entweder ein Wunder war oder pure Hysterie.
»Ich habe die Ergebnisse von den Haaren, die du an der Kopfstütze in Bells Wagen gefunden hast«, sagte sie und setzte sich neben ihn. Er sah sie fragend an und zog eine Augenbraue hoch. »Bis auf eins passen alle zu Bells Toupet.« »Und was ist mit dem einen kleinen haarigen Teufel?« Sara zuckte mit den Schultern. »Unbekannt.« »Stammt vielleicht von dem Mörder.« »Wir wissen mehr, wenn Greg mit dem Haar fertig ist – die Wurzel war noch dran.« »Sehr schön.« Sara nickte fröhlich. »Greg vergleicht die DNS mit der von dem Blutfleck, den du an dem Sitz gefunden hast.« »Der vielleicht auch von unserem Mörder stammt. Mensch, kaum zu glauben! Wir kommen ja tatsächlich weiter.« Warrick rutschte auf seinem Stuhl hin und her und runzelte nachdenk lich die Stirn. »Sara, vergleicht Greg diese DNS auch mit den Proben von den Original-CASt-Morden?« »Ja, aber es wird dauern, bis wir die Ergebnisse haben.« Sie lächelte ihn an. »Ich mache mich auch wieder an die Arbeit. Ich wollte dich nur schnell informieren.« »Das freut mich«, sagte er, und das war ehrlich gemeint, denn es war sehr leicht, sich im Labor in seine Arbeit zu vertie fen und sich nicht die Zeit zu nehmen, die anderen auf den neusten Stand zu bringen. Tunnelblick und das Arbeiten im luftleeren Raum waren erklärliche, aber viel zu häufig auftre tende Störfaktoren in jedem CSI-Labor. Warrick widmete sich wieder seiner Arbeit und startete das AFIS zur Überprüfung der Fingerabdrücke aus dem Cadillac. Während das Programm lief, stattete er Greg Sanders einen kleinen Besuch ab. Es schadete nie, ein wenig Druck zu ma chen.
Greg lümmelte sich auf seinem Schreibtischstuhl, hatte die Füße auf dem Tisch, den Rolling Stone auf dem Schoß und die Ohrhörer seines iPods in den Ohren. Warrick wedelte mit beiden Händen wie ein Fluglotse, und als Greg ihn endlich bemerkte, warf er seine Zeitschrift hin, nahm die Füße vom Tisch und die Ohrhörer aus den Ohren. »Und das willst du alles aufgeben, um mit uns in den Au ßendienst zu gehen?«, fragte Warrick. Greg verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Weißt du, Warrick, wenn man in seinem Beruf ein Ass ist und das Ende der Fahnenstange erreicht hat, muss man damit aufhören und sich neue Herausforderungen suchen… damit man nicht versauert.« »Stimmt.« Warrick nickte und lehnte sich an eine Arbeits platte. »Das tust du also im Moment? Versauern?« »Ich arbeite. Und zwar schwer.« »Vielleicht solltest du mal Pause machen. Sonst überarbei test du dich noch.« Greg legte den Kopf schräg und zog die Augenbrauen hoch. »Im Augenblick checke ich deine DNS-Proben.« »Und was hast du gefunden?« »Noch nichts. Perfektion braucht ihre Zeit.« »Verstehe.« »Die DNS ist noch in der Replikation.« Warrick nickte und ging zur Tür. »Ich komme in einer Stunde oder so noch mal vorbei.« »Sicher, komm nur. Dann können wir noch ein paar Gehäs sigkeiten und Witzchen austauschen.« Warrick blieb in der Tür stehen. »Dann in zwei Stunden?« »Eher morgen – gegen Schichtende. Aber auch das ist ziem lich knapp kalkuliert.« Warrick verzog das Gesicht. »Und was hast du heute für mich?«
»Wie wäre es damit: Das Seil, mit dem Perry Bell erdrosselt wurde, ist anders als die Seile von den vorangegangenen bei den Morden. Nützt dir das was?« Warrick kam noch einmal zurück. »Ja, das muntert mich er heblich auf… Inwiefern anders?« »Es ist vor allem älter.« Warrick runzelte die Stirn. »Ein älteres Seil?« »Wahrscheinlich gut zehn Jahre alt. Mit dem Lippenstift ist es das Gleiche: Die Marke ist zwar auch Ile De France, aber der Farbton heißt ›Limerick Rose‹, und genau den hat damals der Original-CASt verwendet.« »Ich dachte, so was könnte man heute gar nicht mehr kau fen.« Greg nickte. »Ist schon seit mindestens sieben Jahren nicht mehr auf dem Markt. Der Nachahmer hat den Farbton ›Bright Rose‹ verwendet – ein neueres Produkt, aber sehr ähnlich.« Warrick stutzte. »Willst du mir weismachen, dass man einen zehn Jahre alten Lippenstift noch verwenden kann?« Greg zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wenn ihn jemand gut aufbewahrt hat – fachgerecht gelagert unter kon trollierten Bedingungen –, dann ist alles möglich.« »Warum sollte jemand so etwas tun?« »Warum sollte jemand ein Opfer ausziehen, quälen und er drosseln, es mit Lippenstift beschmieren und das Ganze mit einer DNS-Probe garnieren?« »Ich habe noch eine bessere Frage: Warum sollten zwei Leute so etwas tun?« »Diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Ich kann dir nur sagen: altes Seil und alter Lippenstift bei dem neuen Mord… Glaubst du, der alte Drecksack ist wieder in der Stadt? Der Original-CASt, meine ich?«
Warrick zuckte mit den Schultern. »Sieht ganz danach aus. Oder kannst du dir erklären, wieso der Nachahmer plötzlich zu altem Seil und altem Lippenstift greift?« »Sag bloß nicht, wir haben hier so etwas wie Freddy gegen Jason!« »Greg, das könnte wirklich sein.« »Vielleicht solltest du Ash holen, damit er für Ordnung sorgt.« »Wen?« »Tanz der Teufel? Kettensäge? Warrick, du hast wirklich keine Ahnung von großem Kino!« »Allerdings«, sagte Warrick und verließ den Raum. Als er wieder im Labor für Fingerabdrücke war, sah er sich die Ergebnisse des ersten Schwungs Abdrücke an, die er in den Computer eingelesen hatte. Auf dem Umschlag des CAStBriefs an den Banner waren natürlich die Abdrücke von Pa quette, Brower und Mydalson. Bells Abdrücke fanden sich in seinem ganzen Haus und auf der Schlüsselkarte. Abgesehen von den Fingerabdrücken des Eigentümers gab es keine Finge rabdrücke im Haus von Diaz; das Gleiche galt für Sandreds Haus. Aber das war alles keine Überraschung. Dann verpasste der Computer Warrick jedoch einen regel rechten Schlag ins Gesicht. Die Abdrücke auf den Klingelknöpfen von Sandred und Di az stimmten überein. Und das Schockierende daran war, von wem sie stammten… Warrick nahm das Ergebnisprotokoll aus dem Drucker und machte sich im Eiltempo auf den Weg zu Grissom. Er wusste nicht, was ihn mehr begeisterte: die Hoffnung, dass der Fall endlich geknackt war, oder die Tatsache, dass er etwas in der Hand hatte, das Grissom noch nicht wissen konnte. Gil Grissom und Jim Brass saßen David Paquette an dem Tisch im Verhörraum gegenüber. Der Redakteur sah ebenso
zerknittert und mitgenommen aus wie sein grauer Anzug. Seine roten Augen ließen erkennen, dass Schlaf ein Luxus war, den er sich nicht gegönnt hatte, seit er in Schutzhaft war. »Weshalb glauben Sie, dass Perry nicht dem Nachahmungs täter zum Opfer gefallen ist?«, fragte er. »Warum halten Sie den echten CASt für seinen Mörder?« Brass und Grissom sahen sich an. Grissom nickte und gab Brass eine Mappe. Der Captain stand auf und reichte sie an Paquette weiter. »Ich weiß«, sagte er, »dass ein alter Kriminalreporter wie Sie schon viele Tatortfotos gesehen hat… aber diese sind wirk lich heftig. Das erste Päckchen ist Sandred, dann kommt Di az… und dann Perry Bell. Er war ein guter Freund von Ih nen…« Paquette öffnete die Mappe und wurde totenblass, als er die Fotos durchsah. Bei dem letzten Päckchen angekommen, schüttelte er den Kopf und stammelte: »Perry… Oh Gott, Perry…« Dann schloss er die Mappe und gab sie Brass, der wieder auf dem Stuhl neben Grissom Platz nahm. »Ich… Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Paquette. »Die ersten beiden Morde sind… eindeutig inszeniert. Und der letzte… Der letzte ist mir nur allzu… vertraut.« Der Redakteur stützte sich auf einen Ellbogen, schlug die Hand vors Gesicht und fing an zu weinen. Brass stand wieder auf und schob eine Packung Taschentü cher über den Tisch. Dann warteten er und Grissom ein paar Minuten. Paquette nahm zwei Taschentücher, tupfte sich die Augen ab und putzte sich die Nase. Dann sammelte er sich und fragte: »Wie kommen Sie zu der Annahme, dass dieser… dieser Wahnsinnige es auch auf mich abgesehen haben könnte?«
»Sie sind der Koautor des CASt-Buchs! Und nachdem der Täter sich an Perry vergriffen hat, ist es nur wahrscheinlich, dass Sie auch auf seiner Liste stehen.« Brass ließ seine Worte bei Paquette sacken. »Aber es ist natürlich auch möglich«, fuhr er dann fort, »dass Perry der Trittbrettfahrer war.« Paquettes gerötete Augen wurden riesengroß. »Ist das Ihr Ernst? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Perry? Perry Bell?« »Perry war ein guter Reporter, der schon bessere Zeiten er lebt hatte, und anscheinend hatte er ein Alkoholproblem«, erklärte Grissom. »CASt wieder in die Schlagzeilen zu bringen, hätte ihm zu neuem Ruhm verholfen. Verzweifelte Menschen sind zu allem fähig.« »Gil«, entgegnete Paquette, »Sie kannten Perry. Er war ein guter Mensch. Er hatte gar nicht den nötigen Irrsinn und schon gar nicht den Mumm, um diese zwei Morde zu verüben.« »John Wayne Gacy hat Kinder im Krankenhaus besucht und sie mit seiner Clownnummer aufgeheitert. Und er war bei der Industrie- und Handelskammer«, bemerkte Brass. »Nein, Perry war es nicht. Auf keinen Fall.« »Dave, ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen. Gil vermutlich auch. Aber das ist vielleicht zu kurz gedacht.« Der Redakteur stutzte. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, der echte CASt könnte, als er merkte, dass ein Nachahmer ihm die Schau stahl, zu der logischen Annahme gelangt sein, dass Sie oder Perry dahinter stecken.« »Perry als Trittbrettfahrer? Oder ich? Warum, zum Teufel?« »Abgesehen von einer kleine Schar Polizisten wussten Sie und Perry mit Abstand am meisten über die CASt-Morde… zum Beispiel das mit dem abgeschnittenen Finger und dem Sperma.« Paquette wusste nicht, was er sagen sollte. Nachdenklich rieb er sich das stoppelige Kinn. »Dann… glauben Sie wirk lich, dass ich der Nächste auf seiner Liste bin?«
In diesem Moment betrat Warrick leise den Raum. Grissom sah ihn scharf an, denn dies war nicht nur eine un zulässige Störung, sondern auch ein Verstoß gegen die Etikette, aber Warrick kam auf ihn zu und raunte ihm ins Ohr: »Ich weiß, ich weiß, tut mir Leid… aber das hier kann nicht war ten.« Er warf Paquette einen Blick zu, dann übergab er seinem Chef den Ausdruck. Grissom überflog das Blatt und reichte es an Brass weiter, der sich ebenso rasch mit dem Inhalt des Berichts vertraut machte. Warrick verließ inzwischen wieder den Raum. Brass sah Paquette an. »Reden wir über Mark Brower.« »Was ist mit Mark?«, fragte Paquette. »Ist es möglich, dass er Zugang zu den zurückgehaltenen Details der Originalmorde hatte?« »Meines Wissens nicht – er war ja damals, als die Morde geschahen und als Perry und ich das Buch geschrieben haben, noch gar nicht dabei.« »Hat Mark Bell vielleicht unauffällig ausgehorcht… als Bell betrunken war oder so?« Paquette dachte darüber nach. »Möglich. Als Perry das Buch nachdrucken lassen wollte, war die Rede davon, es zu überarbeiten, aber dazu kam es nicht, weil die Sache so schon kostspielig genug für ihn war.« Nach kurzer Überlegung fragte Grissom: »Dann haben Per ry und Mark, als die Überarbeitung noch im Raum stand, mög licherweise über die Details gesprochen, die in der ersten Aus gabe nicht erwähnt wurden?« »Das weiß ich nicht, Gil. Aber es ist möglich. Sie verdächti gen doch jetzt nicht Mark?« »Warum nicht?«, entgegnete Brass. »Er ist einer meiner besten Mitarbeiter. Er ist ein verlässli cher Kerl.«
Grissom legte den Kopf schräg und zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Vielleicht können Sie mir erklären, wie seine Fingerabdrücke auf die Klingel von Marvin Sandred gelangt sind?« »Und auf die von Enrique Diaz?«, ergänzte Brass. Paquette sah sie ungläubig an und schüttelte den Kopf. »Oh nein, das ist einfach zu verrückt… das glaube ich keine Sekun de!« »Überlegen Sie es sich noch mal«, entgegnete Brass und gab dem Redakteur den Bericht. David Paquette beugte sich vor und hielt sich das Blatt mit beiden Händen vor die Nase. In seinem Gesicht spiegelte sich erst Fassungslosigkeit, dann Wut, während er den Bericht las, der die Übereinstimmung der Fingerabdrücke von beiden Klingelknöpfen mit denen bestätigte, die Warrick im Büro des Banner genommen hatte. »Verfluchter kleiner Bastard!«, rief Paquette und wedelte mit dem Papier. »Dieser psychotische, miese Dreckskerl!« Grissom und Brass wechselten vielsagende Blicke. Sie fan den beide, dass die Meinung des Redakteurs über Brower ziemlich rasch umgeschlagen war. »Wie erklären Sie sich das?«, fragte Brass. »Was könnte Mark Brower dazu gebracht haben, CASt nachzueifern?« »Soll das ein Scherz sein?«, fuhr der Redakteur auf. »Das ist ja wohl sonnenklar! Mark wollte CASt reaktivieren und Perry die Schuld in die Schuhe schieben.« »Wozu denn?«, fragte Brass. »Denken Sie doch mal nach! Er übernimmt die Kolumne und bringt sich in die perfekte Position, um selbst die Fortset zung des Buchs zu schreiben… als der Kriminalreporter, der mit Perry ›dem CASt-Nachahmer‹ Bell zusammenarbeitete.«
Insgeheim entsetzt fragte Grissom: »Für etwas Vergängli ches und Bedeutungsloses wie Ruhm wäre Brower zu derart bizarren, bösartigen Taten in der Lage?« »Sie sind doch nicht naiv, Gil. Natürlich wäre er das.« Brass verzog angewidert den Mund. »Kein Wunder, dass Ihnen Insekten lieber sind«, raunte er Grissom zu. »Ich würde gern, äh… noch eine Weile in Schutzhaft blei ben, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Ganz und gar nicht«, entgegnete Brass. In diesem Moment klingelte sein Handy. Er verließ den Raum, um ungestört zu telefonieren. »Perry Bells Kolumne war auf dem absteigenden Ast. Wa rum sollte Mark Brower sie als Aufstiegschance sehen, für die es zu töten lohnt?«, setzte Grissom die Befragung fort. Paquette schüttelte traurig lächelnd den Kopf. »Bell war am Ende seiner Karriere, seines Lebens. Für Brower wäre es ein Sprungbrett. Man muss bedenken, dass wir heute in einer anderen Welt leben als damals, als Perry und ich das Buch geschrieben haben. Heute hat man viel größere Chancen bei Film und Fernsehen, und zusätzlich zu dem Gewinn aus dem Buchverkauf bekäme er Redehonorare, die Talkshows würden das Thema aufgreifen, und er würde vielleicht sogar bei Leno oder Letterman landen. Mark Brower wäre – wenn der Plan aufgegangen wäre – ein Star gewesen!« »Das wird er vielleicht auch«, bemerkte Grissom leise, »wenn wir ihn festnehmen.« »Verdammt richtig!«, entgegnete der Redakteur. »Siehe Ri chard Ramirez, David Berkowitz, Aileen Wuornos. Mit all den Filmen, Dokumentationen, Fernsehsendungen und Büchern, die es über sie gibt, haben sie mehr Publicity als so mancher Mega-Star!«
Grissom fragte sich, ob er nun in der Grauzone der Infamie angekommen war, und sah zur Tür, als Brass auch schon wie der hereinkam. Er machte ein stinksaures Gesicht. »Was ist?«, fragte Grissom. Brass war beinahe außer sich vor Wut. »Ich hatte doch einen Streifenwagen zur Beobachtung von Dayton abgestellt! Er ist ihnen entwischt! Er ist aus dem Haus gekommen und wegge fahren, und unsere Männer wurden lange genug am Tor auf gehalten, damit Dayton sie abschütteln konnte. So ein Mist!« Paquette faltete die Hände und schlug die Augen nieder. Sein Verhalten – dieses Bemühen, sich unsichtbar zu ma chen – war Brass verdächtig. Er ging auf den Redakteur los. »Sie wussten, dass er draußen war! Nicht wahr, Dave?« Der Redakteur zuckte mit den Schultern und schaute auf seine Hände. »Sie wussten es!«, schrie Brass, und seine Stimme hallte von den Wänden wider. Paquette wandte sich ab, dann platzte er heraus: »Also gut! Ja!« Er warf die Hände in die Luft. »Ja, verdammt, ich wusste es!« Brass atmete tief durch. »Hat Perry Bell gewusst, dass einer der Hauptverdächtigen im Fall CASt frei herumlief?« »Nein.« »Und Brower?« »Soweit ich weiß, nicht. Aber bei diesem Bastard ist an scheinend alles möglich.« »Wie lange wussten Sie, dass Dayton draußen war?« Paquette ließ den Kopf hängen. »Ich erfuhr es… nicht lange nach seiner Entlassung. Vielleicht einen Monat später.« »Sieben Jahre«, bemerkte Grissom. Der Redakteur nickte. »Und es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, es uns zu sa gen?«
»Ich dachte nicht, dass es für Sie von Belang ist.« Brass schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und Pa quette zuckte zusammen. »Nicht mal, als es wieder mit den Morden losging?«, fragte der Captain. »Wir dachten doch alle, es wäre ein Nachahmer.« Der Re dakteur zuckte mit den Schultern. »Sehen Sie, die Morde hat ten aufgehört. Dayton kam aus dem Irrenhaus, und es passierte nichts Schlimmes. Sie wissen vielleicht noch, was in unserem Buch stand. Sie haben es doch gelesen?« »Ich habe es gerade noch einmal gelesen«, entgegnete Gris som. »Sie hielten Dayton nicht für tatverdächtig. Sie haben ihm ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem Sie schilderten, dass die Polizei auf der falschen Fährte war.« Brass stützte sich auf den Tisch. »Oh… Dave, das hätte ich fast vergessen. Sie haben geschrieben, Vince und ich… Wie war noch die Formulierung? Wir würden Jagd auf Jerome Dayton machen, einen Unschuldigen mit psychischen Proble men, oder so?« Paquette richtete sich mit rotem Gesicht auf. »Verdammt, Brass, Dayton ist unschuldig! Das wissen Sie. Er war schließ lich schon in Sundown, als Drake ermordet wurde.« Grissom hatte noch nie ein furchtbareres Lächeln bei Brass gesehen. »Wirklich, Dave? Ihr Enthüllungsjournalisten wisst ja immer alles besser, was? Aber leider ist euch ein nicht unwe sentliches Detail entgangen: Jerome Dayton hatte an dem Wochenende Freigang, als Drake getötet wurde.« »Was? Oh nein! Oh, zum Teufel… nein…« »Doch, zum Teufel, Dave.« Paquette sank erschüttert auf seinem Stuhl zusammen, und ihm kamen erneut die Tränen. »Ich schwöre, Jim, ich dachte, er sei unschuldig.« Brass reagierte nicht.
»Wo ist Brower jetzt, Dave? Ist er im Büro?«, fragte Gris som. Der Redakteur seufzte. »Normalerweise schon… Aber wenn er an einer Geschichte arbeitet, kann er auch irgendwo unter wegs sein.« »Um Bericht zu erstatten?«, fragte Brass sarkastisch. »Oder um selbst Schlagzeilen zu machen?« Dann schickte er den kreidebleichen Reporter zurück in sei ne Zelle. Als er mit Grissom den Korridor hinunterging, holte er sein Handy heraus und setzte Detective Sam Vega darauf an, Bro wer beim Banner ausfindig zu machen. Dann forderte er zwei Streifenwagen an. »Wollen Sie sich Brower schnappen?« »Allerdings. Falls er der Nachahmer ist, schreit sein Haus förmlich nach einem Besuch des CSI. Würden Sie Sara und Warrick zusammentrommeln und mitkommen?« »Nichts lieber als das!« Mark Brower wohnte in Paradise in der Boca Grande, nicht weit von der Hacienda Avenue. Boca Grande – Großmaul, dachte Brass. Wer kam eigentlich auf die Idee, einer Straße so einen Namen zu geben? Den kleinen Bungalow mit angebauter Garage hätte ein Makler vermutlich als gemütlich bezeichnet und auf die Nähe zur Tomiyasu-Grundschule verwiesen; ein potenzieller Käufer hingegen fände ihn wahrscheinlich winzig. Von der Straße sah es so aus, als sei niemand zu Hause. Die Vorhänge waren zugezogen, alle Türen verschlossen. Der Rasen vor dem Haus war seit einiger Zeit nicht gemäht worden, aber das spielte im Grunde keine Rolle, denn er war braun und vertrocknet. Brass blockierte die Einfahrt mit dem Taurus, während War rick den Tahoe des CSI am Straßenrand parkte. Er und Gris
som stiegen aus und gingen zu Brass, der an seinem Wagen wartete. Die beiden Streifenwagen waren bereits eingetroffen, und die uniformierten Beamten kamen rasch zu ihnen herüber. »Sie übernehmen die Rückseite!«, wies Brass die beiden Po lizisten an, aber bevor er fortfahren konnte, klingelte sein Handy. »Brass.« »Vega hier. Brower ist nicht im Büro, und seit gestern Mit tag hat ihn niemand mehr gesehen.« Brass stieß einen Fluch aus. »Gut, Sam – danke! Hoffen wir, dass er zu Hause ist.« Er beendete das Gespräch und setzte die anderen ins Bild. »Dann haben wir wohl hier die zweitgrößte Chance«, sagte Warrick. Die beiden Streifenpolizisten – Carl Carrack und ein anderer Veteran namens Ray Jalisco – waren links und rechts um den Bungalow nach hinten verschwunden. Jalisco gab über Funk durch, dass er in das Garagenfenster geschaut habe und Bro wers Auto weg sei. Brass wartete, bis die beiden Männer auf der Rückseite des Hauses angekommen waren und sich erneut gemeldet hatten, bevor er mit Warrick, Sara und Grissom zum Haus ging. Sara und Grissom blieben an der Garage stehen, während Brass und Warrick zur Tür vorrückten. Warrick stellte sich links davon auf, Brass auf der anderen Seite. Dann klopfte Brass kräftig an die Tür. »Mark Brower, ma chen Sie auf! Polizei!« Nichts rührte sich. »Irgendwas gesehen?«, fragte Brass in sein Funkgerät. Carrack meldete sich sofort. »Nichts, Captain, ziemlich tote Hose hier hinten.« Brass klopfte erneut an die Tür. Sie warteten. Nichts geschah.
Warrick wies mit dem Kopf Richtung Tür, um Brass zu sig nalisieren, dass er prüfen wollte, ob sie abgeschlossen war. Brass gab nickend seine Zustimmung. Er hielt seine Pistole mit beiden Händen und richtete den Lauf in den Himmel. Warrick hatte seine Pistole in der linken Hand und legte die rechte an den Türknauf. Zu ihrer Überraschung war die Tür nicht abgeschlossen und ließ sich mühelos öffnen. Warrick gab ihr einen kleinen Schubs, und Brass betrat mit der Pistole im Anschlag als Erster das Haus. Durch die offene Tür und die zugezogenen Vorhänge drang nur wenig Licht in den dunklen Raum, aber Brass sah auf den ersten Blick, dass sich das Haus in einem chaotischen Zustand befand. Scheiße!, dachte er. Der nächste verdammte Tatort… Warrick war dem Captain gefolgt und knipste sofort den Lichtschalter neben der Tür an. Wenn Gefahr im Verzug war, durfte man auf eventuelle Fingerabdrücke keinerlei Rücksicht nehmen. Als die Deckenlampe anging, offenbarte sich ihnen ein klei nes Wohnzimmer mit umgekippten, zertrümmerten Möbeln und verstreut herumliegenden Zeitschriften, Zeitungen, Bilder rahmen und Nippes. Auch der Fernseher war demoliert und umgestoßen worden. Brass lauschte, lauschte und lauschte, aber außer dem Ti cken von ein, zwei Uhren war nichts zu hören. Vom Wohn zimmer ging es geradeaus ins Esszimmer, wo drei umgekippte Stühle um einen runden Tisch lagen. Der vierte Stuhl war komplett aus dem Leim und vermutlich als Waffe benutzt worden. Brass und Warrick schlichen mit ihren Pistolen im Anschlag schweigend durch das Wohnzimmer. Vom Esszim mer ging ein Flur nach links ab, und die Tür auf der anderen Seite führte in die Küche.
Sie bemühten sich, keine Beweisspuren zu zerstören, doch zunächst bestand ihre Aufgabe darin, das Haus komplett zu kontrollieren und Brower – falls er da war – in Gewahrsam zu nehmen. Brass bedeutete Warrick, den Flur im Auge zu behal ten, und bewegte sich auf die Küche zu. Warrick folgte ihm. Er achtete darauf, wohin er seine Füße setzte, beobachtete aber sorgsam den Flur, damit sie nicht überraschend von dort ange griffen werden konnten. Die Küche, in die durch die Fenster über der Spüle das Son nenlicht hereinfiel, sah noch chaotischer aus als die anderen Zimmer. Es war fast, als sei ein Tornado durch das Haus ge fegt, ohne Wände und Dach zu beschädigen. Brass entdeckte auch Blutflecken auf dem Boden und den Arbeitsflächen – die jedoch eher auf eine Schlägerei hindeuteten als auf einen abge hackten Finger. Und er kam nicht umhin, den Geruch von verdorbenem Essen wahrzunehmen, der aus dem offen stehen den Kühlschrank kam. Rechts befand sich eine geschlossene Tür, vermutlich zur Garage, und die Tür links führte möglicherweise in ein Schlaf zimmer. Da Jalisco bereits in das Garagenfenster geschaut hatte, ging Brass zuerst auf die andere Tür zu. Während Warrick Küche und Flur im Auge behielt, öffnete Brass die Tür und betrat ein aufgeräumtes Gästezimmer, in dem auf der einen Seite ein Einzelbett stand, auf der anderen, neben dem Fenster, ein Schreibtisch mit Computer. Brass sah im Schrank nach, fand aber nur ein paar Kleiderbügel und eine Kiste Kopierpapier. »Sauber!«, rief Brass und kam wieder in die Küche. Als Nächstes nahmen sie sich die Garage vor, aber auch dort war niemand. Sie gingen durch das Esszimmer wieder zurück in den Flur und kontrollierten die beiden Schlafzimmer, das Badezimmer und sämtliche Schränke und Abstellkammern. Mark Brower war nicht zu Hause, aber es war mehr als eindeu
tig, dass irgendjemand dort gewesen war – zwei Personen, um genau zu sein. Als sie sich vor dem Haus mit den anderen trafen, sagte Brass: »Es hat eine üble Schlägerei da drin gegeben, aber jetzt ist niemand mehr im Haus… Und wie es in der Küche riecht, war auch schon eine ganze Weile niemand mehr da.« »Glauben Sie, CASt hat herausgefunden, dass Brower der Nachahmer ist?«, fragte Warrick. Brass zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, aber ir gendetwas war hier los… oder der Kerl ist noch schlechter in Haushaltsführung als ich. Wir werden weiter nach ihm suchen. Ich erkundige mich bei der Kfz-Zulassungsstelle nach seinem Auto und gebe eine Fahndung raus.« Grissom wandte sich an Warrick und Sara. »Wo wir schon mal da sind, nehmen wir uns das Haus vor. Vielleicht finden wir etwas. Sara, Schlafzimmer und Bad. Warrick, Ess- und Wohnzimmer. Ich helfe euch, sobald ich die Küche erledigt habe.« Brass ging zu seinem Wagen, während Grissom seine Aus rüstung aus dem Tahoe lud. Als die drei Spurenermittler auf das Haus zugingen, sagte Grissom: »Warrick, du warst schon drin, also geh du bitte nach hinten und mach das Garagentor auf, damit ich von dort in die Küche kann.« »Sofort.« Es waren schon genug Leute durch das Haus getrampelt, und weil auch Sara nichts anderes übrig blieb, als den Vorder eingang zu nehmen, um ihre Aufgabe zu erledigen, wollte wenigstens Grisson nicht auch seine Abdrücke noch an unnöti gen Stellen im Haus hinterlassen. Keine Minute später öffnete sich langsam das Garagentor, und Grissom schlüpfte mit eingezogenem Kopf darunter hin durch. Die Garage war sauber und aufgeräumt. An der rechten Wand hing ein Fahrrad, hinten stand eine kleine Werkbank,
links standen ein Rasenmäher und ein Mülleimer aus Plastik. Wo normalerweise das Auto stand, prangte ein frischer Ölfleck von der Größe eines Softballs auf dem Betonboden. Grissom betrat die Küche und machte sich ein Bild von dem Ausmaß der Zerstörung. Ein kleiner Tisch, gerade groß genug für zwei, war von sei nem Platz am Fenster in die Ecke geschoben worden, ein Stuhl war umgekippt. Ein anderer, dessen Lehne abgebrochen und unter den Kühlschrank gerutscht war, lag neben der Tür zur Garage. Außerdem standen die Schranktüren offen, und Un mengen von Gewürzen und Pülverchen waren auf den Boden und die Arbeitsflächen verschüttet worden. Auch ein Glas Gelee war zu Bruch gegangen, und man hätte fast meinen können, in der Küche sei eine rote Splitterbombe hochgegan gen. Der geflieste Boden war eine erstklassige Fundgrube für Schuhabdrücke, und Grissom packte hochmotiviert seine My larfolien aus. Er breitete die erste auf dem Boden aus und legte die beiden Elektroden an. Insgesamt verbrauchte er fünf lange Folien, bis er mit der Küche fertig war. Als Nächstes fotografierte er den Raum aus unterschiedli chen Perspektiven, bevor er auf alle Viere ging und die Dinge unter die Lupe nahm, die bei dem Kampf auf dem Boden ge landet waren. Dann sammelte er Glasscherben ein, auf denen sich möglicherweise Fingerabdrücke befanden, und packte auch Teile des kaputten Mobiliars und den Toaster ein. Er stellte Proben von den Blutflecken sicher und pickte akribisch Fasern und diverse Pülverchen auf, bei denen es sich jedoch vermutlich nur um Gewürze handelte. Dann sah er sich noch einmal aufmerksam um. Er hatte den Boden untersucht, die Arbeitsflächen, den kleinen Tisch und die Stühle und hatte sogar in den offenen Schränken nach Fingerabdrücken gesucht. Nachdem er bereits alles zusammen
gepackt hatte und gehen wollte, fiel sein Blick auf die Spüle. Er hatte doch hineingeschaut, oder etwa nicht? Grissom ging seine Arbeitsschritte noch einmal in Gedanken durch, und dabei wurde ihm klar, dass er sich in der Hoffnung auf Finge rabdrücke ganz auf die Blutschmierer auf der Arbeitsfläche konzentriert hatte. Er zog seine Mini-Maglite aus der Tasche und ging noch einmal an die Spüle. Auf der Seite, wo sich der Mülleimer befand, war der Abfluss mit einem fest sitzenden Plastikdeckel verschlossen. Das Becken selbst war leer, und der Mülleimer, in den die ganze Schweinerei gehört hätte, war vollkommen unberührt, aber Grissom waren schon ganz andere Merkwür digkeiten begegnet. In dem rechten Spülbecken befand sich ein Mikrowellenge fäß mit Hühnersuppe, das offenbar von dem Abtropfbrett hin eingekippt war. Den Siebkorb hatte Grissom auf der anderen Seite der Küche gefunden und bereits eingepackt. Wahrschein lich hatte ein Kontrahent den anderen damit beworfen. Als Grissom den Klumpen Nudeln betrachtete, der den Ab fluss verstopfte, sah er plötzlich etwas glitzern. Vorsichtig schob er die Nudeln zur Seite und leuchtete mit der Taschenlampe in die Spüle, während er den glitzernden Gegenstand mit der Pinzette zu fassen versuchte. Das Ding durfte ihm auf keinen Fall in den Abfluss rut schen. Er würde natürlich den Siphon abschrauben, wenn es sein musste, aber darauf konnte er gut verzichten. Langsam, ganz behutsam drückte er die Pinzette zusammen, und als er das Fundstück hochhob, stellte er fest, dass es sich um ein kleines, mit Diamanten besetztes »D« handelte. Er drehte es um und sah auf der Rückseite eine Stelle, an der offenbar ein Metallstift abgebrochen war. Das war wohl mal ein Ohrstecker, dachte er. Aber warum hatte Brower einen Ohrring mit einem »D«?
Grissom tütete das Schmuckstück ein. Jerome Dayton war ein möglicher Kandidat für dieses »D«, aber es war ein unge wöhnliches Schmuckstück für einen Mann. Er würde es Brass später zeigen. Nun brauchten Sara und Warrick erst einmal seine Hilfe bei den restlichen Zimmern.
10
Jim Brass ging nervös vor Browers Haus auf und ab. Zum ersten Mal hatte er bei diesem Fall, der bis an die Anfänge seiner Laufbahn in Las Vegas zurückreichte, das Gefühl, dass das Ende in Sicht war. Zwar hatten sie in Browers Haus weder den Trittbrettfahrer noch den echten CASt gestellt, aber die Kampfspuren deuteten darauf hin, dass alle beide dort gewesen waren. Würde ihm CASt noch einmal entwischen? Würde er in zehn Jahren immer noch mit diesem Fall beschäftigt sein? Bisher war ihnen jedes Mal, wenn sie der Lösung näher ge kommen waren, der Teppich unter den Füßen weggezogen worden… Und so schritt Jim Brass auf und ab, wütend und euphorisch zugleich, frustriert und zufrieden, besorgt und hoffnungsvoll. Als die Kollegen vom CSI ihre Ausrüstung im Wagen verstau ten, blieb Brass schließlich neben dem SUV stehen. Grissom nahm eine Beweismitteltüte aus seinem Koffer und kam nachdenklich auf ihn zu. »Du kennst Brower doch«, sagte er. »Steht ihm irgendjemand nahe, dessen Name mit ›D‹ an fängt? Jemand, der so etwas tragen könnte?« Brass warf einen Blick auf die Tüte: Der glitzernde Dia mantohrring war beschädigt, aber er erkannte ihn auf Anhieb wieder. »Die einzigen Namen, die mir im Zusammenhang mit CASt einfallen, sind David Paquette und Jerome Dayton«, sagte Grissom. »Aber das hier sieht mir eher nach einer Frau aus.«
»Es gehörte Daytons Mutter«, entgegnete Brass. »Unser Sonnyboy hat sich einen Ohrring davon machen lassen… und ich habe das Ding heute noch an seinem Ohr gesehen.« Die beiden Männer sahen sich eine Sekunde lang in die Au gen, um ihre Lippen spielte ein leises Grinsen, und sie nickten sich entschlossen zu… und dann setzten sie sich in Bewegung. Grissom knallte die Hecktüren des Tahoe zu, Brass lief zu seinem Taurus und befahl Carrack und Jalisco, ihm zu folgen. Die anderen Polizisten ließen sie zur Bewachung des Hauses zurück. »Einsteigen!«, rief Grissom Warrick und Sara zu. »Kann sein, dass CASt jetzt vor den Vorhang tritt!« Die Fahrzeugkolonne – Brass mit seinem Tahoe, der SUV des CSI und ein Streifenwagen – raste mit heulenden Sirenen durch die Stadt; Hacienda, Sandhill, dann nach Norden Rich tung Tropicana und wieder nach Osten auf die 1-515. Brass forderte Verstärkung an und jagte mit 130 Sachen die Auto bahnauffahrt hoch. Als er in nördlicher Richtung davonbretter te, hatte er fast 160 drauf. Auf der Höhe von Pecos Road und Steward Avenue machte die Interstate einen Bogen nach Westen, und Brass schlängelte sich im Eiltempo durch den Verkehr auf Daytons Prachtbude zu. Inzwischen hatten sich hinter Grissom zwei weitere Strei fenwagen der Kolonne angeschlossen. Brass fegte mit über 80 die Abfahrt zum Town Center Drive hinunter, flitzte am Town Center vorbei und erreichte endlich das TPC am CanyonsGolfplatz. Der Wachmann am Tor war so weise, die Schranke zu öffnen, als er die Sirenen hörte und ihm klar wurde, dass die heranbrausenden Wagen nicht das Tempo drosseln, geschwei ge denn an seinem Häuschen anhalten würden. Als sie sich der Wohnanlage des Clubs näherten, schaltete Brass die Sirene ab; Grissom und die Beamten in den Streifen wagen folgten umgehend seinem Beispiel. Brass kam als Erster
mit quietschenden Reifen vor Daytons Einfahrt zum Stehen. Das Garagentor war zu, und vor dem palastähnlichen Gebäude parkte ein ihm wohlbekannter schwarzer SUV. Als Brass quer über den Rasen auf das Haus zulief, spran gen Sara und Warrick aus dem Tahoe und rannten hinter ihm her. Grissom schlug einen anderen Weg ein und lief die Ein fahrt hoch. Auf der Veranda vor der Haustür standen Catherine und Nick, die sich verblüfft zu ihren Kollegen umdrehten. Brass blieb an der Treppe stehen und sah die beiden fragend an. Er dachte, sie hätten seinen Funkspruch mit der Bitte um Verstärkung gehört. »Wie haben Sie es geschafft, vor mir da zu sein?« »Wir wussten gar nicht, dass Sie hierher unterwegs waren«, sagte Catherine und zog die Augenbrauen hoch. »Wir wollten uns eine DNS-Probe von Dayton holen.« »Haben Sie denn eine richterliche Anordnung?«, fragte Brass erstaunt. »Ja, von Richter Landry«, entgegnete Catherine. Brass runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wir hat ten doch nur die verletzte Hand…« »Und die Info, dass Dayton an dem Wochenende Freigang hatte, als Vincent Drake getötet wurde.« »Daytons Vater hat seinerzeit dafür gesorgt, dass dem Rich ter eine Position am Bundesgericht verwehrt blieb«, bemerkte Nick. »Und Carlisle Deams, der Anwalt der Daytons, hatte auch seine Finger im Spiel.« Brass musste unwillkürlich grinsen. »Sehr pfiffig, Cath.« Sie lächelte verschmitzt. »Gil hasst zwar solche Winkelzü ge, aber ich bin in dieser Hinsicht sehr flexibel, Jim.« »Ich habe schon geklopft und geklingelt«, sagte Nick und wies mit dem Daumen zur Tür. »Der Knabe scheint nicht da zu sein. Weshalb sind Sie eigentlich hergekommen?«
»In Browers Haus gab es eine üble Schlägerei«, erklärte Brass. »Und Grissom hat bei der Spurensuche Daytons Ohrring gefunden.« »Was? Das ›D‹ mit den Diamanten?« »Genau das«, entgegnete Brass. Nick drückte wieder auf die Klingel, aber nichts rührte sich. Sie warteten, und Brass ließ Carrack und Jalisco mit der Ram me heraufkommen. Grissom rief von der Straße: »Spuren von frischem Öl! An scheinend hat Mark Brower seinen Wagen noch nicht reparie ren lassen.« Carrack und Jalisco stießen die Ramme jetzt mit Schwung gegen die Tür, die mit einem geräuschvollen Knirschen auf flog. »Ich möchte, dass alle Handschuhe anziehen«, sagte der CSI-Leiter streng zu Brass. »Es handelt sich vielleicht um einen Tatort. Wir wollen doch keine Beweisspuren verwischen, mit denen wir einen Serienkiller hinter Gitter bringen können.« »Sehe ich auch so«, entgegnete Brass, und alle streiften sich Handschuhe über, bevor sie mit den Pistolen im Anschlag das Haus betraten – auch Grissom, der bekanntlich nichts für Waf fen übrig hatte. Hinter einem überraschend kleinen Eingangsflur tat sich ein Wohnzimmer mit hoher Decke auf, das in schlichtem Weiß mit teuren, jedoch merkwürdig nichtssagenden Möbeln eingerichtet war. Hinter einem offenen Durchgang lag rechts eine große Küche, links führte ein Flur zu der Treppe, die nach oben und in den Keller ging. Durch die Tür auf der linken Seite gelangte man wahrscheinlich in die Garage, und am Ende des Flurs befand sich ein Badezimmer, das fast so groß wie ein Ballsaal war. Ein weiterer Flur ging nach rechts ab. Sara und Nick gingen in die Küche, Jalisco und Catherine nach oben. Warrick und Carrack übernahmen das Wohnzim
mer, und Brass und Grissom stiegen die Treppe in den Keller hinunter. Beim Betreten der Küche hielt Nick in leicht geduckter Hal tung die Pistole im Anschlag und sah sich um, während Sara aufrecht stehen blieb und in die entgegengesetzte Richtung zielte. Die große, modern eingerichtete Küche war leer, und sie kam Sara extrem sauber vor, obwohl ihre eigene, die allerdings erheblich kleiner war, auch schon immer sehr ordentlich aus sah. Die auf Hochglanz polierten Chrom- und Stahlflächen erinnerten eher an einen Operationssaal, und das war keine besonders angenehme Assoziation. Links befanden sich eine Durchreiche und eine Tür zum Esszimmer. Das einzig Ungewöhnliche in der Küche war ein Handtuch mit roten Flecken, das in der Spüle lag. Sarah hörte Nicks schnelles Atmen; natürlich war er ebenso angespannt wie sie. Sie wies mit dem Kopf auf das Handtuch. »Blut?« »Kann sein«, entgegnete er leise. Dann sagte er in sein Funkgerät: »Küche sauber.« Sie traten den Rückzug an, und Sara ging Nick voran durch den Flur zur Garagentür. Im oberen Stockwerk schaute Jalisco in das Zimmer zur Linken, während Catherine Willows die beiden Türen auf der rechten Seite im Auge behielt – das fehlte noch, dass ihnen ein wahnsinniger Serienmörder von hinten ins Kreuz sprang. Oder gab es auch Serienmörder, die nicht wahnsinnig wa ren? »Gästezimmer sauber«, meldete Jalisco. Catherine ging an der Treppe vorbei zu der ersten Tür auf der rechten Seite. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie bewahrte einen kühlen Kopf und hielt ihre Pistole fest um
klammert. Sie war in solchen Situationen immer ein wenig nervös – Respekt vor möglicher Gefahr war grundsätzlich nicht verkehrt –, Angst hatte sie jedoch nie. Von allen CSIMitarbeitern, die in der Nachtschicht arbeiteten, hatte sie am häufigsten im Dienst von ihrer Waffe Gebrauch machen müs sen und auch einige Todesschüsse zu verbuchen, obwohl sie beileibe nicht stolz darauf war. Sie war gut ausgebildet und trainiert und fühlte sich der Situation gewachsen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sich hinter der nächsten Ecke oder der nächsten Tür verbarg. Zum Beispiel hinter der zu ihrer Rechten, die offen war. Catherine ging rasch mit der Pistole im Anschlag hinein und sah sich in einem großen Badezimmer. Alles war weiß – Wän de, Handtücher, Armaturen, Teppich – und von erlesener Qua lität. Es war nichts Auffälliges zu entdecken. Catherine schob den weißen Duschvorhang zurück, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Wanne lag. »Sauber!«, rief sie Jalisco zu. Der letzte Raum in der oberen Etage war das Arbeitszim mer. Die Hälfte der Fläche wurde von einem L-förmigen Schreibtisch beansprucht, unter dem ein riesiger Computer verstaut war. Der ebenfalls gewaltige Monitor stand auf der Arbeitsplatte. Jalisco kontrollierte den Schrank, während Catherine sich im Zimmer umsah. Die Wände waren kahl und weiß, der Schreibtisch und der Computer hellgrau, und es sah nicht so aus, als würde der Raum häufig benutzt. Ein paar Wörterbü cher und Lexika standen ordentlich zwischen zwei Buchstüt zen, daneben eine Kiste Papier. Die Atmosphäre war reichlich unpersönlich, fast institutionell, als hätte Dayton sie sich von Sundown mit nach Hause gebracht. Jalisco zog seinen Kopf wieder aus dem Wandschrank her aus. »Sauber!« Dann drückte er auf den Sprechknopf seines Funkgeräts und meldete: »Obere Etage sauber!«
Warrick Brown und Carrack drehten sich wie bewaffnete Tänzer in dem riesigen Wohnzimmer im Kreis. Warrick er blickte zu seiner Rechten ein elegantes Esszimmer. Zu seiner Linken checkte Carrack einen Kamin, der keine feste Rück wand hatte und in ein Schlafzimmer führte. Warrick bewegte sich nach rechts und warf einen Blick hinter die weiße Leder couch, um sich davon zu überzeugen, dass niemand im Raum war. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal ein derart farb loses Zimmer gesehen zu haben: Teppiche, Möbel, Wände, Decke – alles war weiß. Die einzige Ausnahme bildeten der schwarze Plasmafernseher an der Wand und die schwarze, teure Stereoanlage mit roten LEDs. Die Leere und Ausdruckslosigkeit der Einrichtung erschüt terte Warrick, und er war nicht leicht zu erschüttern. Hatten die Daytons etwa so gelebt? Oder hatte Jerome sich vielmehr nach dem Tod seiner Eltern neu eingerichtet, um sich diesen Palast ganz zu Eigen zu machen? In diesem Augenblick bemerkte Warrick, dass etwas fehlte: Familienfotos. Weder im Eingangsflur noch im Wohnzimmer, wo solche Fotos üblicherweise aufgehängt oder -gestellt wur den, gab es Andenken an die Eltern. Wie teuer die Ledermöbel und die Video- und Stereoanlage auch waren, Warrick hatte schon Hotelsuiten mit mehr Charak ter gesehen. Entweder hatte Jerome keine Persönlichkeit, oder er wusste sie sehr gut zu verbergen… sogar zu Hause. »Sauber!«, meldete Carrack, dann setzten sie ihren Kon trollgang fort.
Brass stürmte so schnell die Treppe in den Keller hinunter, dass Grissom kaum mitkam. Sie gelangten in einen kleinen Flur, von dem Türen nach links und rechts abgingen. Brass drehte den Knauf der linken Tür, und Grissom blieb zurück, während der Captain den Raum betrat: ein Wohnzimmer mit dickem, braunem Teppich und braunen Anbaumöbeln unter einer Fensterreihe, die auf den Garten hinausging. An der Wand rechts stand ein 80-cm-Fernseher auf einem Podest. An der Wand zur Linken standen Regale voller Ta schenbücher, und auf der gegenüberliegenden Seite befand sich noch eine Tür. Zum Teufel!, dachte Brass, hier gibt es mehr Zimmer als in manchen Hotels auf dem Strip… Und sie mussten alle kontrollieren. Sara öffnete die Tür zur Garage und tippte mit dem latexge schützten Handballen auf den Lichtschalter, wie sie es sich angewöhnt hatte, um eventuelle Fingerabdrücke nicht zu ver wischen. Zwei Autos waren dort abgestellt: ein weißer Lexus neueren Baujahrs, und ein älterer blauer, sehr schmutziger Dodge. Sara wunderte sich, dass noch niemand auf die Idee gekommen war, mit dem Finger »Wasch mich!« auf die Motorhaube zu schrei ben. Sie und Nick sahen sich aufmerksam um und schauten auch hinter Kisten und unter der Werkbank nach, um sicherzu gehen, dass sich dort niemand versteckte. Schließlich kniete Nick sich auf den Boden, um unter den Dodge zu schauen. »Der verliert Öl«, stellte er fest. Er stand wieder auf und öffnete die Beifahrertür. »Schlüssel steckt!«, rief er über seine Schulter, dann klappte er das Hand schuhfach auf und nahm den Fahrzeugbrief heraus. Laut las er den Namen des Besitzers vor: »Mark Brower!«
Sara drückte auf den Sprechknopf ihres Funkgeräts. »Gara ge sauber. Wir haben Browers Wagen, einen sehr schmutzigen Dodge.« Brass nahm Saras Meldung mit einem Nicken zur Kenntnis. Er drehte sich kurz zu Grissom um, der ihm inzwischen gefolgt war; dann ging er zu der Tür auf der anderen Seite des Raumes, atmete tief durch, hob seine Pistole und drehte den Türknauf. Warrick und Carrack waren inzwischen an der Garagentür vorbei durch den Flur gegangen und bogen nach rechts in das Zimmer ab, das sie bereits durch die Kamintür gesehen hatten. Hier hielt sich ebenfalls niemand auf, zumindest sah es auf den ersten Blick so aus. Es handelte sich offensichtlich um das Schlafzimmer, und auch in diesem Raum war alles weiß: Schrank, Kommode, Himmelbett. Carrack kontrollierte den begehbaren Kleiderschrank, wäh rend Warrick in das angrenzende riesige Badezimmer ging. Es dauerte nicht lange, bis er den fleckigen Waschlappen in der Duschkabine entdeckte. Auch ohne Labortests wusste der CSIMitarbeiter sofort, dass es sich um Blutflecken handelte. »Warrick!«, rief Carrack aus dem begehbaren Schrank. Als Warrick zu ihm kam, zeigte er auf einen Kleiderhaufen neben dem Wäschekorb: eine Jeans und ein blaues T-Shirt mit dunklen Flecken, die ebenfalls Blut zu sein schienen. Carrack meldete über Funk: »Schlafzimmer sauber!« Danach griff Warrick zu seinem Funkgerät. »Gris, hörst du mich? Wir haben hier Kleidung mit Blutflecken.« »Verstanden«, entgegnete Grissom. Nach Warricks Nachricht über die blutbefleckte Kleidung schaltete Brass sein Funkgerät aus. Er hätte zwar gern den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Teams aufrecht
erhalten, aber es war besser, wenn er und Grissom sich still verhielten und ihre Position nicht verrieten. Von dem Wohnzimmer in Braun war er inzwischen in ein Schlafzimmer gelangt. Aber es war nicht irgendein Schlafzim mer und es war auch nicht in unschuldigem Weiß gehalten wie die anderen Räume in diesem nichts sagenden Haus. »Gil!«, rief Brass. »Das wird dir gefallen…« Dieses »Schlafzimmer« glich eher einem Verlies. Es stand zwar tatsächlich ein Bett darin – ein einfaches, schwarzes Bett mit schwarzen Seidenla ken mitten im Raum –, aber es gab keine Fenster, und als die Männer ihre Taschenlampen einschalteten, trat die Schwärze des Raums nur noch deutlicher zu Tage. Die Wände waren schwarz angestrichen, auf dem Boden lag ein schwarzer Kunststoffteppich. Von den vier Bettpfosten hingen Fesseln herunter, und an der Wand zur Linken gab es eine unglaubliche Ansammlung von Rough-TradeGerätschaften – das komplette Werkzeuglager eines Sadisten. Auf der anderen Seite des Raums sahen sie die Klinken von zwei Türen schimmern. Grissom kam näher und stellte sich neben Brass. »Tür Nummer eins«, flüsterte Brass ihm zu, »oder Tür Nummer zwei?« »Schöne Lady oder hungriger Tiger?«, entgegnete der CSILeiter mit einem Furcht erregenden Grinsen. Aber Brass wurde die Entscheidung abgenommen. Die linke Tür ging auf, und Jerry Dayton betrat blutbe schmiert den Raum. Bis auf eine knappe Unterhose war er nackt und blieb wie angewurzelt stehen, als er sich zwei Pisto lenläufen gegenüber sah. Er schirmte seine Augen mit der linken Hand gegen das grelle Licht der Taschenlampen ab. Die rechte Hand versteckte er hinter dem Rücken. »Nehmen Sie die Hände hoch, Jerry!«, sagte Brass be stimmt.
»Lampe weg!«, erwiderte Dayton. »Ich kann überhaupt nichts sehen!« Die Taschenlampen bewegten sich nicht. »Ich will Ihre verdammten Hände sehen!«, rief Brass und machte einen Schritt auf den Verdächtigen zu. Dayton hob die Hand, aber dann schleuderte er unvermittelt etwas durch den Raum… … etwas Warmes, Klebriges, das Brass an der Wange traf. Der Captain feuerte augenblicklich. Der Schuss klang wie ein Donnerschlag, und Dayton sprang nach rechts. Das Wurfge schoss landete derweil auf dem Boden. Grissom suchte mit der Taschenlampe nach dem Ding, das dem Captain ins Gesicht geflogen war, und der Lichtstrahl erfasste einen abgetrennten, blutigen menschlichen Zeigefin ger, der auf den CSI-Leiter zu deuten schien. In diesem Moment sah Brass, wie Dayton durch die rechte Tür flitzte, ohne sie hinter sich zu schließen. »Stehen bleiben!«, brüllte Brass. Aber der Verdächtige war bereits verschwunden. »Dayton gehört Ihnen«, sagte Grissom und ging an ihm vor bei durch die linke Tür. Brass leuchtete mit der Taschenlampe in die rechte Tür, dann nahm er die Verfolgung auf. Noch bevor die blutbeschmierte, fast nackte Gestalt in den schwarzen Raum gekommen war, hatte Gil Grissom ein Stöh nen gehört. Obwohl seine Waffe schussbereit war, hatte er nicht gefeu ert, als Dayton Brass den Finger an den Kopf geworfen hatte, weil er befürchtete, Brass zu treffen, der in diesem Moment zurückgezuckt und in die Schusslinie geraten war.
»Grissom! Grissom!«, hörte er Sara über Funk rufen. »Wir haben einen Schuss gehört – alles in Ordnung bei dir? Was ist los?« »Bleibt, wo ihr seid!«, antwortete Grissom. »Brass ist hinter Dayton her – blockiert alle Ausgänge!« Dann schaltete er ab. Ihm hallte noch der Schuss in den Ohren, als er den schwar zen Raum verließ, aber das Stöhnen hörte er trotzdem. Das Zimmer, in das er gelangte, war nicht schwarz. Es war rot. Die Wände, der Boden und die Decke – und sogar die Roh re, die daran entlangliefen – waren in einem glänzenden Knall rot gestrichen. Die einzige Lichtquelle war eine rote Glühbirne an der linken Wand. Von der gegenüberliegenden Seite ging, wie in jedem anderen Zimmer in diesem Haus, eine Tür ab. Mitten in dem roten Zimmer, über einem Abfluss im Boden, hing Mark Brower – nackt, mit dem Kopf in einer Schlinge, die gerade so stramm war, dass er sich nicht bewegen konnte, aber nicht eng genug, um ihm die Luft komplett abzuschnüren. Seine Hände waren offenbar auf dem Rücken gefesselt. Blut tropfte hinter ihm auf den Boden, aber auf dem roten Boden war die Lache kaum zu sehen. Gil Grissom brauchte keinen weiteren Beweis, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Finger, den Brass ins Gesicht bekommen hatte, von Mark Brower stammte. Der junge Mann hatte den Mund geöffnet und schien irgendetwas zu sagen, das Grissom mit seinen klingenden Ohren jedoch nicht hören konnte. Mit vor Angst geweiteten Augen flehte Brower jetzt seinen Retter an. »Hilfe!«, brachte er mühsam hervor, aber Grissom konnte das Wort nur als schwaches Flüstern wahrnehmen. Außer Brower hielt sich niemand in dem roten Raum auf, aber Grissom wollte seine Waffe nicht wegstecken, es wäre ja möglich, dass Dayton durch die andere Tür wieder hereinkam.
Aber er musste Brower helfen, auch wenn nicht zu befürchten war, dass er an einer durchtrennten Fingerarterie verblutete. Aber jede schwerere Verletzung konnte zu einem Schock führen. Außerdem würde Brower sich definitiv verletzen oder gar umbringen, wenn er nicht aufhörte, mit der Schlinge um seinen Hals herumzuzappeln. Grissom nahm die Pistole in die linke Hand und zückte mit der rechten sein Taschenmesser. Er klappte es auf und fing an, das Seil über Browers Kopf durchzuschneiden. »Hilfe, Hilfe!«, stöhnte der CASt-Nachahmer die ganze Zeit wie die Fliege mit Menschenkopf in dem alten Horrorfilm, und genauso fern klangen die Worte für Grissom mit seinem Knall trauma im Ohr. Aber je länger der CSI das Seil bearbeitete, je mehr das E cho des Schusses und auch das Klingeln in seinen Ohren nach ließ, desto lauter und eindringlicher wurden Browers Rufe. »Still!«, raunte Grissom ihm leise zu. »Wir wissen nicht, wo er ist.« »Sie haben doch eine verdammte Waffe, Grissom!«, sagte Brower mit schmerz- und angstverzerrtem Gesicht. »Holen Sie mich endlich hier raus!« Grissom sägte weiter mit seinem Taschenmesser. Als er den letzten Strang durchschnitten hatte, plumpste Brower zu Boden und rollte sich zusammen. »Gris!«, ertönte Warricks Stimme jetzt aus dem Funkgerät. »Bitte melden! Brauchst du Hilfe?« Grissom steckte das Messer ein und nahm das Funkgerät von seinem Gürtel. »Ich habe Brower gefunden. Er lebt, aber ihm fehlt ein Finger.« »Ich komme mit Carrack und Jalisco runter…« »Nein!«, unterbrach Grissom leise, aber mit Nachdruck. »Bleibt oben! Hier unten ist es dunkel, da erschießen wir uns am Ende noch gegenseitig. Umstellt das Haus und überwacht
Türen und Fenster – alle Ausgänge. Brass ist immer noch hinter Dayton her, der nackt und blutbeschmiert ist… aber wahrscheinlich inzwischen bewaffnet und gefährlich.« »Gris, willst du wirklich…«, schaltete Nick sich ein. »Nein!«, sagte Grissom und stellte sein Funkgerät ab. Dann holte er einen Standardschlüssel für Handschellen aus der Tasche und befreite den Mann auch an den Handgelenken, obwohl er ihn lieber gefesselt gelassen hätte, nicht zuletzt, um bei der Verhaftung Zeit zu sparen. »Setzen«, sagte er dann. Brower blieb wimmernd liegen – wie es vermutlich auch Sandred und Diaz getan hatten, dachte Grissom, als dieser Fiesling seine grausamen Performance-Künste an ihnen voll führt hatte. »Setzen!«, sagte er noch einmal mit Nachdruck. »Helfen Sie mir…« Grissom wollte Brower nicht anfassen, denn schließlich war auch sein Körper Beweismaterial. Es war also nicht nur man gelndes Mitgefühl, das Grissom veranlasste, nein zu sagen. Mühevoll richtete Brower sich schließlich auf, und Grissom reichte ihm ein Taschentuch. »Was soll ich damit?«, fragte Brower benommen. »Üben Sie Druck auf Ihren Finger aus.« »Auf welchen Finger? Dieser Irre hat mir den verdammten Finger abgeschnitten!« »Üben Sie Druck auf die Wunde aus… und bleiben Sie hier!« Aufgebracht entgegnete Brower: »Wo soll ich denn auch hin?« »Nun, wenn Sie nach oben gehen, werden Sie wahrschein lich mit Dayton verwechselt und erschossen.« Eine kuriose Vorstellung angesichts der Tatsache, dass Brower Dayton mordenderweise nachgeeifert hatte.
»Ich gehe nirgendwohin«, wimmerte er. »Nur ins Gefängnis«, entgegnete Grissom. Dann ging er zu der Tür auf der anderen Seite des Raums, lauschte angestrengt und hoffte, dass es das letzte Zimmer in diesem Gruselkabinett war. Er griff nach dem Türknauf. Auf der Jagd nach Dayton arbeitete Brass sich langsam durch die Dunkelheit vor und leuchtete mit der Taschenlampe den Weg aus. Er wäre gern schneller vorgegangen, weil er befürchtete, dass Dayton ihm entkam, andererseits aber waren die anderen ja alle oben postiert, und etwas Vorsicht konnte nicht schaden, wenn er am Leben bleiben wollte. Vermutlich lag Dayton irgendwo auf der Lauer… Der Captain ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe über die Wände wandern. Er befand sich in einer Art Abstellkammer – leere Kartons, Regale mit kleineren Kisten ohne Aufschrift, aber kein Ver dächtiger. Brass durchquerte den Raum und stieß… auf noch eine ver dammte Tür. Sie stand offen. So leise wie möglich schlüpfte Brass hindurch und sah im Schein seiner Taschenlampe eine Werkstatt mit einer Werk bank zu seiner Linken. Rechts befanden sich eine Lochwand mit Werkzeugen, eine Standbohrmaschine, eine Tischkreissäge und eine kleinere Werkbank mit einer Schleifmaschine und einem Schraubstock. Hinter der Werkbank auf der linken Seite befand sich am anderen Ende des Raums… eine weitere Tür, was sonst? Brass roch Sägemehl und war schon fast an der Werkbank vorbei, als er einen Schlag gegen das linke Bein verspürte, dicht unterhalb des Knies, dann einen unglaublichen Schmerz.
Pistole und Taschenlampe fielen ihm aus den Händen. Die Waffe schlug rechts von ihm klappernd auf dem Boden auf, die Taschenlampe prallte von irgendetwas ab, bevor sie zu Boden fiel. Sie drehte sich im Kreis und blieb schließlich so liegen, dass der Lichtstrahl ihn erfasste. Er schaute an sich herunter auf das Messer, das in seinem Bein steckte. Ein dunkler Fleck verfärbte seine graue Hose. Brass verlor das Gleichgewicht, aber bevor er einknickte, kam Dayton unter der Werkbank hervor und verpasste Brass einen Kopfstoß, durch den er mit Sternen vor den Augen nach hinten stürzte. Er krachte gegen etwas Hartes, dann ging er zu Boden. Als er sich aufzurappeln versuchte, klickte es, und ein Teil des Raumes wurde in grelles Licht getaucht. Dayton stand an der Werkbank – mit roten Spritzern im Ge sicht, die wie Ketchup aussahen, weit aufgerissenen Augen und einem animalischen Knurren, bei dem er seine weißen Wolfs zähne bleckte – und hatte gerade eine Arbeitsleuchte einge schaltet. Brass war im Laufe seines Arbeitslebens schon von vielen Tätern mit Missfallen beäugt worden, aber noch nie mit so viel Verachtung und Hass. »Du… du nerviger, idiotischer Scheißkerl… du miese, klei ne Bullenzecke… du bist mir zum letzten Mal in die Quere gekommen!« Dayton stürzte sich wie ein verrückt gewordener Zahnarzt, der seinem Patienten einen Zahn ziehen will, auf ihn und riss ihm das Messer aus dem Bein. Brass durchzuckte von Kopf bis Fuß ein glühend heißer Schmerz, aber es gelang ihm dennoch, mit seinem unverletzten Bein nach der blutbeschmierten Gestalt zu treten. Dayton taumelte rückwärts, und Brass gelang es immerhin, sich auf ein Knie zu stützen, bevor er erneut attackiert wurde.
Als der Angriff kam und Dayton mit dem Messer ausholte, duckte Brass sich. Die Klinge schoss auf ihn zu, und er hechte te nach links, so dass das Messer nur sein Sakko streifte – und Dayton das Gleichgewicht verlor. In diesem Moment rammte Brass das Knie des Killers mit seiner Schulter. Zufrieden nahm er das Knirschen wahr, als Daytons Knie nachgab und der Killer vor Schmerz gekrümmt zu Boden ging. Dann stürzte sich Dayton jedoch mit einem lauten Schrei auf Brass, und sie kämpften keuchend und ineinander ver schlungen um das Messer. Grissom gelangte erneut in ein dunkles Zimmer und schaltete die Taschenlampe ein. Dieser Raum war klein, ungefähr wie ein Vorratskeller, und die Regale an der Wand zur Linken erinnerten in der Tat an einen Lagerraum. Drei von den fünf Regalen waren jedoch mit Büchern, Magazinen und Alben gefüllt, darunter mehrere Exemplare von Der Fall CASt, auch in der nachgedruckten Version von Perry Bell. Grissom gestattete sich die Vermu tung, dass die anderen Bücher und Zeitschriften Kapitel oder Artikel über die Morde enthielten, und die Alben natürlich Zeitungsausschnitte zum Thema CASt. Auf dem Regalbrett darüber lagen mehrere Rollen Seil und ein Dutzend Lippenstifte des Farbtons »Limerick Rose«. Und auf dem obersten Regalbrett standen mehrere kleine Gläser, wie man sie in einem normalen Vorratskeller wohl nicht finden würde, außer vielleicht auf der Farm von Ed Gein. In jedem Glas lag nämlich ein vertrockneter, verschrumpel ter Zeigefinger. Moment, nicht in jedem. Einer der Finger sah ziemlich frisch aus. Wahrscheinlich war er von Perry Bell.
Und das fünfte Glas von links war leer – vermutlich war Vincent Drakes Finger darin gewesen, bevor CASt ihn an den Banner geschickt hatte, um seine Ehre zu retten. Während Grissom dieser Gedanke durch den Kopf ging, hörte er plötzlich Geräusche. Er schaute in die Richtung, aus der sie kamen – wieder eine Tür. Was blieb ihm anderes übrig, als sie zu öffnen? Mit drei Schritten hatte er den kleinen Raum durchquert, drückte die Klinke runter – und erblickte im Schein einer Lampe den nack ten, blutigen Dayton und Brass, die mit dem Rücken zu ihm um ein Messer rangen, das sie beide umklammert hielten. Brass war ebenfalls voll Blut, und möglicherweise stammte es nicht nur von Dayton. Grissom stürzte in die Werkstatt, als Dayton Brass gerade einen Kinnhaken verpasste und der Kopf des Captains auf dem Betonboden aufschlug. Brass schien nicht bewusstlos zu sein, aber er war zumindest kurzzeitig außer Gefecht gesetzt, und Dayton konnte das Messer an sich reißen. Er hielt Brass an seinem linken Handgelenk fest und drückte dessen Hand auf den Boden. Als er gerade die Klinge an der Wurzel des Zeige fingers ansetzte, hielt Grissom ihm die Pistole an den Kopf. »Messer fallen lassen!«, sagte er. Dayton hielt Brass das Messer an die Kehle. »Zurück!«, rief er, »sonst steche ich zu!« »Wenn ich abdrücke«, entgegnete Grissom gelassen, »ma chen Sie gar nichts mehr!« Dayton erstarrte. »Das ist kein leeres Gerede«, sagte Grissom. CASt legte das Messer weg. Grissom wich zwei Schritte zurück. »Aufstehen und Hände hinter den Kopf legen!« Dayton erhob sich langsam und breitete die Arme wie für eine Kreuzigung aus. Dann legte er langsam die Hände hinter
den Kopf und verschränkte die Finger, während er Grissom trotzig angrinste. »Umdrehen!«, sagte Grissom. Dayton folgte dem Befehl. Grissom steckte die Waffe weg und holte die Handschellen heraus, um Dayton die Hände zu fesseln, aber der duckte sich, wirbelte um die eigene Achse und brachte den CSI mit einem gezielten Tritt aus dem Gleichgewicht. Grissom stürzte und schlug hart auf dem Boden auf. Mit rasenden Schmerzen im Bein rappelte Brass sich jetzt auf, rutschte jedoch aus und stieß mit den Fingern gegen etwas Kaltes… Seine Pistole! Er umklammerte sie und stemmte ein Knie fest auf den Bo den. Dayton schlug Grissom ins Gesicht, einmal, zweimal, aber als der nackte Killer zu seinem dritten Schlag ausholte, kam Brass wieder auf den Beinen, und Jerome Dayton hatte schon wieder den Lauf einer Pistole am Hinterkopf. »Wissen Sie übrigens«, sagte Brass, »was der Unterschied zwischen mir und Grissom ist? Er hat sich alle Mühe gegeben, Sie nicht zu erschießen… Jerry, Jerry, Jerry – ich wünschte, Sie gäben mir einen Grund!« Dayton schluckte. Die Vernunft gewann die Oberhand über den Verrückten. Er hob die Hände und machte keine Schwierigkeiten mehr.
11
Während er im Verhörraum saß, spürte Jim Brass unentwegt den Druck des Verbands unter seinem Hosenbein und das Pieksen der genähten Wunde. Links und rechts von ihm am Tisch saßen Sara und Warrick, die mit allen Facetten des Falls vertraut waren: mit den alten und den neuen. Zum ersten Mal seit dem Fund von Marvin Sandreds Leiche hatte Brass weder mit Wut noch Frustration zu kämpfen. Ihm ging es gut – er war ruhig und gelassen und wollte seine Re vanche genießen, denn schließlich schmeckte Rache kalt ser viert am besten. Ihm gegenüber saß Jerry Dayton in einem orangen Gefäng nisoverall und mit Handschellen. Missmutig schweigend, drohte er den Captain mit seinen Blicken förmlich zu erdol chen, aber darüber konnte Brass nur schmunzeln. Neben Day ton saß sein Anwalt Carlisle Deams, der so ehrbar und distin guiert aussah wie ein Universitätsdekan, von Kopf bis Fuß in Grau, inklusive Haare und Schnurrbart. Er blätterte immer wieder in den Papieren, die er vor sich liegen hatte, und konnte anscheinend gar nicht genug reden, um Brass klarzumachen, dass sein Klient nicht reden würde. Die Augen des Anwalts jedoch waren verräterisch, wie ExZocker Warrick sofort bemerkte: Sie waren schwarz und tot und sahen aus wie die eines Hais. »Mein Klient hat Ihnen nichts zu sagen – verstehen Sie? Gar nichts.«
Daytons Hände waren nicht auf die übliche und sicherere Methode am Rücken gefesselt, sondern vor dem Bauch, da sein Anwalt anwesend war. »Vor einer Weile war er noch ziemlich gesprächig«, ent gegnete Brass. »Als er mit nicht viel mehr als Mark Browers Blut am Körper herumrannte und mir das Messer ins Bein gestochen hat.« »Nun, Sie werden sich wohl mit Ihren Erinnerungen zufrie den geben müssen, Captain Brass«, sagte Deams mit einem gehässigen Grinsen. Brass parierte mit einem kalten Lächeln. »Wie ich Ihren Klienten einschätze, hat er dazu eine eigene Meinung. Dieses Gespräch ist nur ein höfliches Angebot.« Die toten, schwarzen Augen des Anwalts blinzelten. »Ein höfliches Angebot?« »Ja, um Jerry die Gelegenheit zu geben, sich zu erklären und das Ganze aus seiner ganz persönlichen Sicht zu schildern.« »Mr. Dayton ist offensichtlich stolz auf sein… Hobby«, er gänzte Warrick. »Wir dachten, er würde uns gern dabei helfen, seine Taten und die von diesem… dahergelaufenen Nachahmer auseinander zu sortieren.« »Wenn Sie uns nicht helfen, Mr. Dayton«, warf Sara ein, »kommt es unter Umständen zu Verwechslungen.« Dayton runzelte die Stirn, und der Anwalt klopfte seinem Klienten beschwichtigend auf den Arm. »Sehr clever!«, sagte er. »Aber Ihre Bemühungen, an den Stolz meines Klienten zu appellieren, werden an seinem Entschluss nichts ändern. Er hat Ihnen nichts zu sagen, und uns interessiert auch nicht, was Sie zu sagen haben.« Brass zuckte mit den Schultern. »Nun, dann lassen wir die Beweise sprechen… vor Gericht.« Deams kicherte verächtlich. »Ich freue mich schon auf die Auseinandersetzung mit dem Staatsanwalt!«
»Gut.« Brass strahlte ihn an. »Sie sind zufrieden. Ich bin zu frieden.« Deams grinste. »Sie haben doch nicht mehr gegen meinen Klienten in der Hand als eine Anklage wegen ganz banaler Körperverletzung.« »So banal ist die nicht«, bemerkte Warrick. »Er hat Mark Brower gekidnappt, ihm einen Finger abgeschnitten und ihn in seiner Folterkammer aufgehängt.« »Mark Brower kam zu meinem Klienten nach Hause und hat ihn angegriffen.« Sara lächelte. »Wirklich? Dann hat Mr. Dayton ihm den Finger aus Notwehr abgeschnitten? Und seinen Kopf in eine Schlinge gesteckt? Ich bin gespannt, wie Sie das vor Gericht durchkriegen wollen.« Dayton sah seinen Anwalt stirnrunzelnd an. Doch der beug te sich nur etwas weiter nach vorne. »Was immer Sie im Fall Brower vorzuweisen haben, ist nebensächlich. Sie glauben doch nicht, dass Sie meinen Klienten für Taten belangen kön nen, die ein Jahrzehnt zurückliegen?« »Die DNS von Mr. Dayton hat sich in den zehn Jahren nicht verändert – und wir haben seine DNS von damals und heute«, entgegnete Brass. »Aufbewahrt unter welchen Bedingungen?«, fragte Deams und machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Mücke verscheuchen. »Wir haben jede Menge handfester Beweise, Mr. Deams«, sagte Warrick. »Zum Beispiel die Finger, die Ihr Klient von seinen Opfern erbeutet hat. Wir haben sie aus seinem kleinen Kellermuseum geholt.« Sogar das tat Deams ab. »Wir glauben, dass Mark Brower diese Beweisstücke im Haus meines Klienten platziert hat.«
»Nun, dann hat Brower sich von Ihrem Klienten aber helfen lassen«, entgegnete Warrick, »denn an den Gläsern waren nur die Fingerabdrücke von Jerome Dayton.« Der Anwalt hob die Hände. »Alles Indizien. Sie haben über raschend wenig zu bieten. Sonst noch was?« »Sie meinen, abgesehen davon, dass Ihr Klient unbekleidet und blutverschmiert herumlief«, entgegnete Brass, »und auf einen Polizeibeamten eingestochen hat, der das Haus mit einem Vollziehungsbefehl betrat?« Deams verzog spöttisch den Mund. »Mein Klient… hat es nicht leicht. Er ist in psychiatrischer Behandlung und nimmt Medikamente, mit denen er… sein Problem ganz gut im Griff hat.« »In letzter Zeit nicht«, bemerkte Brass. »Wir werden zeigen, dass meinem Klienten von ärztlicher Seite empfohlen wurde, die Medikamente für eine gewisse Zeit abzusetzen. Das ist ein übliches Verfahren bei Patienten mit veränderter Gehirnchemie, die jahrelang Medikamente neh men. Aber mein Klient war offenbar mit dieser Pause schlecht beraten.« »Schlecht beraten?«, fragte Brass. »Dann sollten wir dem Arzt Ihres Klienten vielleicht auch eine Giftspritze verschrei ben?« »So etwas Barbarisches wird meinem Klienten nicht wider fahren, Captain Brass. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass dieser Fall niemals vor Gericht kommt.« »Ihr ›armer‹ Klient wurde in eine Anstalt eingewiesen«, sagte Brass, »aber nach drei Jahren war er wieder draußen. Und nun, da Mama und Papa ihn nicht mehr mit Medikamenten benebeln können, ist sein ›barbarisches‹ Naturell wieder zum Vorschein gekommen. Selbst wenn es Ihnen gelingt, Richter und Geschworene davon zu überzeugen, dass unser Jerry nicht den Unterschied zwischen Recht und Unrecht kennt – und er ist
in der Tat ein gemeingefährlicher Soziopath –, wird er in eine staatliche Einrichtung gesteckt, neben der Sundown sich aus nimmt wie der Club Med.« Endlich machte Dayton den Mund auf. Drei Worte schleu derte er Brass entgegen: »Ich hasse Sie!« »Nun, das können Sie demnächst zu Ihrem Hobby machen, Jerry«, entgegnete Brass. »In Ihrer neuen Gummizelle.« Das war’s. Trotz der Handschellen machte Dayton einen Hechtsprung über den Tisch auf Brass zu, aber der war auf den Angriff gefasst gewesen und wich rasch zur Seite aus. Der Killer trat seinen Anwalt versehentlich gegen den Kopf, bevor er mit der Nase voran vom Tisch stürzte. Deams kippte vom Stuhl und ging ebenfalls zu Boden. Ein uniformierter Beamter fegte in den Raum, aber Brass schickte ihn wieder fort. Er packte Dayton am Kragen und hob ihn auf wie einen großen Müllsack. Warrick kam dazu und half ihm, den benommenen Häftling wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Sara hatte inzwischen dem aufgebrachten Anwalt auf die Beine geholfen. Deams bedankte sich knurrig und klopfte seinen teuren grauen Anzug ab, als wäre er von dem Ausflug auf den Boden des makellos sauberen Verhörraums furchtbar schmutzig geworden. Die beiden Spurenermittler und der Captain vom Mordde zernat schienen nicht sonderlich beeindruckt von diesem für einen bekannten Serienmörder vergleichsweise lahmen An griff. Sie wirkten eher amüsiert. »Jerry«, sagte Brass in mahnendem Tonfall, als rede er mit einem widerspenstigen Kind, »Sie müssen Ihr Temperament zügeln – sonst tun Sie eines Tages etwas richtig Schlimmes, und wer weiß, in was für Schwierigkeiten Sie sich dann brin gen.«
»Einspruch!«, rief der Anwalt. Er hatte endlich aufgehört, sich den nicht vorhandenen Staub vom Anzug zu klopfen. »Sie sind hier nicht vor Gericht, Herr Anwalt«, entgegnete Brass. »Setzen Sie sich!« Deams holte mit zusammengebissenen Zähnen Luft, aber er setzte sich. Leise sagte er zu Dayton: »Sie müssen nichts sagen. Wir können dieses Gespräch jederzeit beenden.« Dayton schmollte regelrecht. Er sah aus wie ein Sechsjähri ger, der gegen die Tränen ankämpft. Mit einem Blick in Brass’ Richtung murmelte er: »Ich habe keine Angst vor ihm.« Deams drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Das sollten Sie aber!« Dayton hielt die Hand des Anwalts fest und biss ihm kräftig in den Finger. Deams schrie, und Warrick und Brass stürzten sich auf Day ton. Der Uniformierte, der vor der Tür postiert war, kam wie der herein, diesmal mit der Pistole im Anschlag. Erst als Warrick ihn von hinten packte, gab Dayton den Fin ger des Anwalts wieder frei, der entsetzt seine Hand fortzog. Die Haut war durchgebissen, aber immerhin war der Finger noch dran. »Sie sind nicht mein Vater!«, schrie Dayton. Seinem Anwalt standen Angst und Schmerz ins Gesicht ge schrieben. »Jerry, Sie müssen sich beruhigen… Beruhigen Sie sich…« »Sie sind so was von gefeuert!« »Jerry, bitte…« »Ich habe Ihnen gesagt, was er mir angetan hat, Deams, und Sie haben nichts dagegen getan!« Dayton wollte auf seinen Anwalt losgehen, aber Warrick hielt ihn an den Schultern fest. »Sie hätten mir helfen können! Aber Sie haben mich wieder in dieses Haus geholt. Sie können von Glück sagen, dass ich nicht
auch an Ihnen ein Exempel statuiert habe! Gehen Sie mir aus den Augen!« Deams hob beschwichtigend seine unverletzte Hand. »Be ruhigen Sie sich, Jerry – Sie wissen ja nicht, was Sie tun und sagen. Ihre Gefühle gehen mit Ihnen durch. Sie müssen sich beruhigen und Vernunft annehmen. Es steht so viel auf dem Spiel…« »Dass Sie mich weiter schröpfen können, steht auf dem Spiel, Sie mieses Arschloch!« Dayton sah Brass an. »Werfen Sie ihn raus – sofort!« Sara trat neben den Anwalt. »Wir sollten den Finger verarz ten lassen, was meinen Sie?« Deams schluckte und nickte. Nachdem er sich Papiere und Aktenmappe unter seinen unverletzten Arm geklemmt hatte, ließ er sich von Sara zur Tür führen. Dort blieb er jedoch noch einmal stehen. »Wenn Sie trotz der momentanen seelischen Verfassung meines Klienten das Gespräch in meiner Abwesen heit fortsetzen, werde ich…« »Er ist nicht Ihr Klient«, bemerkte Brass. »Ja, genau!«, rief Dayton wie ein Kind, als wäre er plötzlich der beste Kumpel von Brass. »Ich bin nicht Ihr Klient!« Der Anwalt streckte die Hand mit dem verletzten Finger aus, als wollte er ein Taxi heranwinken. »Morgen kommt er wieder zur Vernunft. Dann wird er mich wieder engagieren!« »Aber heute vertreten Sie ihn nicht«, entgegnete Brass. »Al les Gute für den Finger!« Sara brachte den Anwalt hinaus. Brass nickte dem uniformierten Beamten kurz zu, und der Mann verließ ebenfalls den Raum. Nun waren sie nur noch zu dritt. Brass, Dayton und Warrick. Dayton hatte gekeucht wie ein Sprinter an der Ziellinie, aber nun verlangsamte sich seine Atmung, und seine Schultern
entspannten sich unter Warricks Händen. Es machte fast den Eindruck, als massiere der CSI den Häftling. »Ich bin okay«, sagte Dayton mit einem Blick über seine Schulter. Warrick ließ ihn los. Dayton sank etwas in sich zusammen und legte die gefessel ten Hände auf den Tisch. Er wirkte nun ganz friedlich und ein bisschen müde. »Sie und ich«, sagte er zu Brass. »Wir sind zwar Gegner, aber… wir verstehen uns. Wir respektieren uns… oder?« Brass und Warrick wechselten viel sagende Blicke. »Sicher, Jerry«, entgegnete Brass. »Ich werde mit Ihnen reden. Ich sage Ihnen, was Sie wissen wollen. Von Anfang bis Ende, okay?« »Dafür wäre ich Ihnen dankbar.« »Aber nur Ihnen, Captain. Ich will nicht…« Dayton sah Warrick an. »Nichts für ungut, aber Sie kenne ich nicht. Der Captain und ich, wir kennen uns schon sehr lange.« »Kein Problem«, sagte Warrick. Er nickte Brass zu und verließ den Raum. Er würde auf der anderen Seite des Spionspiegels warten, und der Uniformierte wachte immer noch vor der Tür. Außerdem schien Daytons Widerstand gebrochen. Er wollte reden. »Ich hasse diesen Kerl«, sagte er, kaum dass der CSIMitarbeiter aus dem Raum war. »Warrick?« »Was, den Langen? Nein, nein – diesen verdammten Anwalt von meinem Vater. Er hat dafür gesorgt, dass ich in Sundown eingewiesen wurde. Das war der reinste Albtraum für mich.« »Wirklich.«
»Man wird eingesperrt und unter Drogen gesetzt, nach zehn gibt es kein Fernsehen mehr, und es wurde alles kontrolliert, was man las – die haben sogar mein Hustler-Abo gekündigt!« »Das klingt nach einer ungewöhnlich grausamen Strafe, Jer ry«, sagte Brass, und seine Stimme klang keine Spur ironisch. »Wissen Sie, was das Schlimmste war?« »Sagen Sie es mir.« »Da waren nur Verrückte. Jeder Einzelne war ein verdamm ter… Irrer! Wissen Sie, wie es ist, wenn man den ganzen Tag nur mit Wahnsinnigen zu tun hat?« »Ich kann es mir vorstellen.« »Das glaube ich nicht.« »Aber Ihr Vater und sein Anwalt, die haben Sie doch aus der Anstalt rausgeholt. Warum sind Sie dann so wütend?« Dayton schüttelte den Kopf und starrte ins Leere. »Ich habe Deams erzählt, was mein Vater mir angetan hat, und er hat gesagt, er glaubt mir. Aber das war gelogen. Sonst hätte er mich doch nicht wieder nach Hause geholt.« »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater.« »Muss ich?« »Nein. Aber dann verstehe ich Sie vielleicht noch besser.« Brass beugte sich vor. »Wir zwei verstehen uns, Jerry – Sie haben es selbst gesagt. Und ich glaube wirklich, dass Sie mich verstehen. Ich musste jemanden stoppen, der sehr raffiniert und clever vorging und Leute getötet hat. Es ist mein Job, solche Sachen zu unterbinden.« »Sicher. Ich… Ich war nur sauer auf Sie, weil… Ich will Sie nicht beleidigen, Captain.« »Nein, Jerry. Wir können ehrlich zueinander sein.« »Ich komme nicht gut klar mit… Respektspersonen.« »Wie Ihrem Vater?« Dayton stützte die Ellbogen auf und schlug mit klirrenden Handschellen die Hände vors Gesicht. Dann stieß er einen
langen Seufzer aus. »Sagen wir einfach, er war jemand, dem man es nicht recht machen konnte.« Brass nickte. »Ja, das kenne ich.« »Ihr Vater war gemein zu Ihnen?« »Sehr streng. Und wie Sie sagten, Jerry, man konnte es ihm nie recht machen.« »Ich wette, er war nicht so schlimm wie meiner!« Dayton richtete sich auf und zeigte über den Tisch auf Brass. »Du bist eine Enttäuschung junger Mann«, ahmte er seinen Vater nach, »eine Enttäuschung!« Ihm stiegen die Tränen in die Augen. »Wir versorgen dich mit allem, du hast alle Chancen, und du enttäuschst uns immer wieder! Du bist ein richtiger Schwäch ling… ein schwaches kleines Mädchen. Und weißt du, was schwache kleine Mädchen brauchen, Jerry? Weißt du, was sie brauchen?« Die ganze Zeit fuchtelte Dayton mit dem Zeigefinger vor Brass’ Nase herum, und der Captain brauchte kein psychiatri sches Gutachten, um zu begreifen, warum Dayton seinen Op fern diesen Finger abgeschnitten und als grausiges Andenken an seinen Triumph über sie aufbewahrt hatte. Dayton lehnte sich erschöpft zurück. Die Tränen kullerten ihm über die Wangen und zeichneten feuchte Linien in sein Adlergesicht. »Er hat Sie geschlagen?«, fragte Brass. »Auf den… nackten Hintern?« Dayton lachte bitter. »Oh, so etwas hat Ihnen Ihr ›schlim mer‹ Vater angetan, Captain? Da hatten Sie aber Glück! Ich musste mich nämlich bücken… Viele, viele Male musste ich mich vor meinem Vater bücken…« Brass runzelte die Stirn. Catherine und Nick hatten ihm be richtet, was die Ärztin in Sundown über Daytons Missbrauchsvorwürfe gesagt hatte. »Ihr Vater… hat Sie missbraucht?«
»Das ist eine nette Umschreibung!« Dayton beugte sich vor und schrie: »Er hat mich gefickt!« Brass schüttelte den Kopf. Dann sagte er etwas, das er nicht im Traum für möglich gehalten hätte, aber er meinte es ehrlich: »Jerry, es tut mir sehr Leid, was Sie erleiden mussten.« Thomas Dayton, der Vater des Mörders, war Jahrzehnte lang eine Säule der Gesellschaft gewesen, und niemand wäre auf die Idee gekommen, ihm kriminelle Neigungen zu un terstellen. Dies war allerdings nicht ungewöhnlich – es gab einige hoch angesehene Leute, die Leichen im Keller hatten. Je größer das Geheimnis, desto aufwändiger die Vertuschung. Und als Brass sich Tom Dayton in Erinnerung rief – er war ihm nur wenige Male begegnet, zum Beispiel bei dem alljährli chen Gebetsfrühstück des Bürgermeisters –, wurde ihm plötz lich klar, dass der korpulente weiße Bauunternehmer die Vor lage für sämtliche CASt-Opfer geliefert hatte. »Ihre Opfer«, sagte er, »die waren alle Ihr Vater.« »Ja…ja. Diese Bastarde, ich habe sie alle fertig gemacht!« »Aber dann haben Sie aufgehört. Als Sie von Sundown nach Hause zurückkehrten. Hat Ihr Vater Sie in Ruhe gelassen, oder weshalb?« »Er hat tatsächlich damit aufgehört. Ich war zu alt. Und… Nun, er wusste, was ich getan hatte, und er hatte irgendwie Angst vor mir. Zumindest diese Genugtuung hatte ich. Aber ich bekam weiterhin diese Medikamente, und ich war wie ein Hund mit einem Elektroschock-Halsband, wissen Sie?« »Haben Sie deshalb aufgehört, die Medikamente zu neh men, Jerry?« »Vielleicht. Und wegen der Ärzte. Ich meine, ich habe nie wirklich offen über das gesprochen, was ich getan habe, nicht wirklich. Aber wie Sie sagten, ich bin raffiniert und clever. Ich habe bestimmte Dinge herausgefunden, indem ich einfach
hypothetisch mit den Ärzten redete. Und ich habe tatsächlich etwas gelernt bei der Therapie.« »Und das war?« »Dass ich es nicht richten kann. Dass ich nicht ungeschehen machen kann, was mein Vater getan hat, selbst wenn ich tausende Männer wie ihn erledige.« »Haben Sie jemals daran gedacht, ihn zu erledigen?« »Captain, haben Sie nicht richtig zugehört? Jeder der Män ner war mein Vater!« »Ich meine… in echt, Jerry. Haben Sie nie daran gedacht, ihn zu töten?« »Daddy umbringen?« Dayton stutzte. Er schien verwirrt. »Wie hätte ich das tun können? Er war mein Daddy. Haben Sie Ihren Daddy nicht geliebt, Captain?« »Doch, Jerry, das habe ich. Aber hören Sie, wenn selbst das Töten von tausenden Ersatz-Vätern Sie nicht heilen konnte, vielleicht… ist es ja ein Anfang, darüber zu reden.« »Mit Ihnen? Sie sind kein Arzt!« »Möchten Sie mit einem Arzt reden, Jerry?« Dayton schnaubte. »Wohl kaum. Die stecke ich doch alle in die Tasche.« »Dann reden Sie mit mir.« Brass zuckte mit den Schultern. »Kann doch nicht schaden. Sehen Sie, wir wissen beide, dass Sie für eine lange Zeit verschwinden werden. Wollen Sie in eine Klinik oder ein Gefängnis? Vielleicht kann ich Ihnen bei dieser Entscheidung helfen.« »Klinik!«, sagte Dayton mit einem höhnischen Lachen. »Das kenne ich schon… Darf man im Gefängnis abonnieren, was man will?« »Das hängt von der jeweiligen Einrichtung ab. Sagten Sie nicht, Ihr Vater wusste, was Sie getan haben? Dass Sie CASt waren?« »Natürlich wusste er das!«
»Woher?« »Er… er hatte mich mal wieder wegen irgendetwas zusam mengestaucht. Er hatte aufgehört… diese Sache mit mir zu machen. Ich war zu groß, zu alt und viel stärker als er. Aber er hat mir immer noch gesagt, was ich zu tun habe und was für eine Enttäuschung ich bin. Davon hatte ich die Nase voll, und da habe ich gesagt: ›Sieh dich vor, Alter!‹, aber er hat mich nur ausgelacht. Also habe ich es ihm gesagt. Und gezeigt.« »Was haben Sie ihm gezeigt?« »Die Finger. In den Gläsern. Ich hatte vier, glaube ich, als ich es ihm gesagt habe.« »Also wusste er es.« »Er wusste es sehr genau.« »Und er und Ihr Anwalt haben Sie in eine Anstalt gesteckt, wo die Justiz nicht an Sie herankam.« »Ja. Sehen Sie, der Alte dachte, dass Sie mir dicht auf den Fersen wären. Dass Sie mich schnappen würden. Er sagte, Sie seien ein richtig guter, cleverer Kriminaler, und zwar aus dem Osten, wo die Cops noch hart wären. Und in diesem Punkt muss ich ihm tatsächlich zustimmen – Sie sind gut. Und dieser Grissom auch.« »Danke. War Ihr Vater… böse auf Sie wegen der Taten, die CASt begangen hat?« Dayton schloss die Augen. »Er wusste, was ich getan hatte, und er hat wohl auch begriffen, warum ich es gemacht habe. Aber das Einzige, was ihm Sorgen bereitete, war der drohende ›Skandal‹. Sie wissen schon, die Schande. Also hat er mich in dieses Dreckloch gesperrt, bis sich die Aufregung wieder ge legt hatte.« »Und dann hat er sie heimlich wieder rausgeholt.« Dayton fing an, den Oberkörper hin und her zu wiegen. »Ja. Das war nicht schwer, weil die Einweisung auf freiwilliger Basis erfolgt war.«
»Hat außer den Ärzten noch jemand gewusst, dass Sie tageund wochenendweise Freigang hatten?« Dayton überlegte. »Deams ganz bestimmt. Ich meine, er hat meinem alten Herrn geholfen, mich da rauszuholen – die Ärzte waren dagegen.« »Aber sie wussten nichts von Ihrem Hobby?« »Bitte nennen Sie es nicht Hobby, Captain. Damit beleidi gen Sie mich. Es ist ein Statement und eine Art… Katharsis.« »Tut mir Leid, Jerry.« »Nein, die Ärzte wussten nicht, dass ich CASt bin. Ich habe ihnen erzählt, was mein Vater mir angetan hat, aber ich denke, sie haben mir nicht geglaubt. Wem würden Sie glauben? Einem der wichtigsten Männer der Stadt oder seinem verrückten Sohn? Jedenfalls fanden sie, dass ich noch zu krank war, um entlassen werden zu können. Sie wollten mich dabehalten, bis sie besser über das Bescheid wussten, was mir fehlte.« Brass reimte sich allmählich die ganze hässliche Geschichte zusammen. »Und Ihr Vater wollte Sie natürlich möglichst schnell dort herausholen, weil er nicht wollte, dass die Ärzte die Ursache für Ihre Erkrankung erfuhren.« Dayton machte endlich die Augen wieder auf und sah Brass überrascht an. »Deshalb also?« Brass seufzte. »Jerry, ich bin Ihnen dankbar für Ihre Offen heit.« »Ich war ehrlich zu Ihnen, nicht wahr?« »Das will ich meinen.« »Dann darf ich Ihnen jetzt vielleicht eine Frage stellen, Cap tain?« »Okay.« »Waren Sie derjenige?« »Derjenige, der… was?« »Ich meine, Sie sind clever. Richtig gut. Aber ich konnte nie glauben, dass Sie derjenige sind… Sie wissen schon.«
Brass richtete sich auf. »Nein, ich weiß es nicht, Jerry. Ehr lich.« Dayton seufzte. Dann lächelte er. »Gut. Das hätte mir auch nicht gefallen.« »Jerry, bitte erklären Sie mir, wovon Sie reden!« Dayton rieb sich die von den Handschellen wund gescheuer ten Gelenke. »Irgendein Cop wusste über mich Bescheid. Ich meine, einer muss etwas gewusst haben. Mein alter Herr hat sich nämlich jahrelang darüber beschwert, dass er Geld abdrü cken musste, ›für den Witwen- und Waisenfonds‹, wie er im mer sagte.« Brass zog sich der Magen zusammen. »Was, glauben Sie, hat er damit gemeint?« Dayton zuckte mit den Schultern. »Irgendeiner von Ihrer Truppe muss vor Jahren herausgefunden haben, dass ich CASt bin… und mein Vater hat demjenigen Schweigegeld gezahlt. Ich habe lange geglaubt, Sie wären es, Captain. Und ich bin froh, dass es nicht wahr ist.« Brass spürte, wie in seinem tiefsten Innern etwas starb. »Wollen Sie sonst noch was wissen, Captain?«, fragte Day ton. »Warum haben Sie wieder angefangen? Und Perry Bell ge tötet?« »Sie wissen warum. Jemand hatte mir etwas sehr Kostbares geraubt – meine Identität. Meine… wie bei Superman! Meine geheime Identität.« »Warum ausgerechnet Perry?« »Also… Ich bin kein cleverer Kriminaler wie Sie. Ich gehö re wohl eher auf die andere Seite des Zauns. Aber ich war mir ganz sicher, dass Perry der Trittbrettfahrer wäre.« »Aber er war es nicht.« »Mein Fehler«, sagte Dayton. »Wollen Sie die Geschichte hören?«
»Ja«, antwortete Brass, obwohl er am liebsten nein gesagt hätte. »Ich bedauere diesen Fehler nicht besonders«, erklärte Day ton. »Perry Bell war ein fetter, alter Alkoholiker ohne Stolz. Das Bisschen, was er hatte, habe ich ihm gegeben… weil er sich mit seinem Buch an meine ruhmreiche Geschichte drange hängt hat. Er hatte nicht den Mumm, das zu tun, was ich getan habe.« Während er sprach, kam immer stärker CASt zum Vorschein und Jerry Dayton trat in den Hintergrund. Er richtete sich auf und seine Augen leuchteten. Zum ersten Mal seit sie den Verhörraum betreten hatten, hatte Brass das Gefühl, dem blutbeschmierten Widersacher gegenüberzusitzen, der ihm ins Bein gestochen hatte. »Er hat natürlich um sein Leben gebettelt«, erklärte CASt kalt und unbeteiligt. »Er hat gesagt, er sei unschuldig… dass jemand anders es getan haben musste. Das Witzige ist, er wusste im Grunde, wer der Nachahmer war, aber der blöde Alki hat nicht mal gewusst, dass er es wusste.« »Ich glaube, ich kann Ihnen nicht folgen.« »Nun, er hat Brower erst verdächtigt, als ich ihm… auf die Sprünge geholfen habe.« »Wie haben Sie das gemacht?« »Wie wohl? Ich habe ihm den Finger abgeschnitten. So ma che ich das doch immer.« »Aber warum haben Sie weitergemacht, Jerry, wenn Sie gemerkt haben, dass Bell nicht der Nachahmer war?« »Captain, wenn Sie etwas anfangen, bringen Sie es doch auch zu Ende, oder? Ich hasste Bell für die Dinge, die er in seinem Schundbuch über mich geschrieben hat. Bei ihm klang es, als hätte ich sie nicht alle.« »Das Buch hat Sie berühmt gemacht.«
»Stimmt. Und vielleicht habe ich ihn deshalb so schonend behandelt… Sie haben doch an einem der Tatorte eine Schlüs selkarte gefunden, nicht wahr?« CASt warf diese Frage so beiläufig ein, als bitte er den Cap tain, ihm das Salz zu reichen. »Ja«, antwortete Brass. »Sie war natürlich von Bell. Aber erst als ich mit ihm sprach, begriff er, dass Brower sie ihm geklaut haben musste.« Brower war Bells Assistent gewesen und hatte die Karte oh ne Probleme an sich bringen können. »Warum haben Sie Bell verdächtigt und nicht seinen Kolle gen Paquette? Er war doch auch an dem Buch beteiligt.« CASt schüttelte den Kopf. »Bell ist derjenige, der durch die Gegend gerannt ist und Lesungen gehalten hat. Er ist mit dem beschissenen alten Schinken hausieren gegangen. Paquette war erfolgreich, er ist weitergekommen. Aber ich habe immer vermutet, dass mein Vater auch ihn bestochen hat, genau wie diesen Cop.« »Ihr Vater hat nie erwähnt, wer dieser Cop war?« »Nein. Aber wir beide wissen es, nicht wahr, Captain?« Brass antwortete nicht. CASt sank auf seinem Stuhl zusammen und wurde wieder Jerome Dayton. Er wirkte erschöpft. Das konnte Brass ihm gut nachempfinden, auch er war ziemlich kaputt. »Habe ich alles gesagt, was Sie hören wollten?«, fragte Dayton. »Das haben Sie sehr gut gemacht, Jerry.« »Sie sind nicht enttäuscht?« »Nein. Ich würde gern wieder mit Ihnen reden. Die Sache ist ziemlich umfangreich. So viele alte Fälle.« »Kein Problem. Ich rede gern mit Ihnen.« »Gut. Das freut mich«, sagte Brass.
»Wissen Sie, was mir an Ihnen gefällt, Captain?« »Was denn, Jerry?« »Dass Sie mir nie mit dem Finger drohen.« »So etwas würde ich niemals tun, Jerry«, entgegnete Brass. Der behandelnde Arzt gewährte Grissom und Catherine nur ungern Zugang zu seinem Patienten. Obwohl er ziemlich viel Blut verloren hatte, war Brower jedoch außer Lebensgefahr und durfte sprechen. Der Arzt beschränkte die Zahl der Besu cher allerdings auf zwei, und so blieb Nick auf dem Flur bei dem Polizeibeamten, der vor der Tür Wache schob. Als sie das kahle weiße Krankenzimmer betraten, fühlte sich Grissom auf seltsame Weise an das Zuhause des echten CASt erinnert. Der CASt-Nachahmer lag unter einer weißen Decke, auf der seine dick verbundene linke Hand ruhte wie eine riesige Gaze keule. Abgesehen davon schien Brower körperlich keine weite ren Schäden von seinem Besuch in CASts Schloss davongetra gen zu haben. Als sie hereinkamen, hatte Brower sich zum Fenster umge dreht, das nach Süden hinausging, auf den Strip. »Glauben Sie wirklich, dass es etwas nützt, wenn Sie in die andere Richtung schauen, Mark?« Der Patient antwortete nicht und starrte schweigend aus dem Fenster. Catherine ging um das Bett, machte die Jalousie ganz zu und stellte sich in sein Blickfeld. Brower sah sie finster an, dann drehte er sich um, aber auf der anderen Seite des Betts stand Grissom mit verschränkten Armen und einem freundlichen Lächeln. Nun schaute der Patient stur geradeaus, hob die rechte Hand, in der er die Fernbedienung hielt, schaltete den Fernse her ein und drehte die Lautstärke auf.
Grissom nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand und schaltete das Gerät ab. Brower starrte unverwandt auf die schwarze Mattscheibe. »Sie müssen uns nicht ansehen, Mark«, sagte Grissom. »Ich habe damit kein Problem. Aber Sie müssen mit uns reden.« »Ich habe nichts zu sagen.« Catherine beugte sich über ihn. »Nun, aber wir haben Ihnen etwas zu sagen.« »Ich muss Ihnen nicht zuhören. Ich bin hier das Opfer, und Sie behandeln mich, als hätte ich etwas Unrechtes getan.« »Sie sind der CASt-Nachahmer, Mark«, entgegnete Catheri ne. »Und das ist etwas sehr Unrechtes.« »Ich habe die alten Fälle untersucht«, sagte er. »Sie sollten mir eine Belohnung dafür geben, dass ich Ihnen geholfen habe, den echten CASt zu schnappen.« »Danke«, sagte Grissom ungerührt, »aber ich fürchte, die Zweitbesetzung hat keine Chance, noch mal auf die Bühne zu kommen und berühmt zu werden. Sehen Sie, Mark, wir waren in Ihrem Haus. Wir haben die Blechschere gefunden – an der sich Blutspuren befanden –, mit der Sie Ihren Opfern die Fin ger abgeschnitten haben. Wir haben das Seil, das Sie benutzt haben, den Lippenstift, das komplette CASt-Zubehör.« Brower entgleisten die Gesichtszüge, aber dann spielte er den Empörten. »Was zum Teufel nützt Ihnen das ohne Durch suchungsbefehl?« »Deshalb sind wir hier, Mark«, sagte Grissom freundlich und hielt Brower das Dokument hin, der es entgeistert ansah. »Auf welcher Grundlage?«, fragte er. Grissom warf die Papiere auf das Bett, während Catherine den Patienten mit einem besänftigenden Lächeln bedachte. »Wir haben Ihre Fingerabdrücke an den Klingelknöpfen von Marvin Sandred und Enrique Diaz gefunden.«
»Die… Die muss jemand dort platziert haben. Ich bin Kri minalreporter! Ich würde doch nie so etwas…« »Dummes tun?«, warf Grissom ein. »Wollen Sie uns davon erzählen?« »Nein.« »Also gut. Dann erzähle ich es Ihnen. Paquette wollte Bell nicht feuern, und solange der auf seinem Posten saß, konnten Sie nicht weiterkommen. Wenn Mark Brower es jemals zu einer eigenen Kolumne bringen und sich einen Namen machen wollte, dann musste Perry Bell verschwinden. Aber warum haben Sie nicht nur Bell getötet?« Brower antwortete nicht. Catherine schaltete sich ein: »Dann hätten Sie ihn ja nur zum Märtyrer gemacht! Aber Sie wollten ihn diskreditieren, Mark, und sich zugleich einen Logenplatz bei einer großen Kriminalstory sichern und Ihr eigenes CASt-Buch schreiben.« Plötzlich begann Brower zu sprechen; leise, sehr leise. »Ich habe diesen fetten, besoffenen Bastard die letzten fünf Jahre mitgeschleppt. Jetzt war ich an der Reihe… Ich wollte endlich als Starreporter zum Zuge kommen.« »Das können Sie vielleicht immer noch«, bemerkte Grissom fröhlich. »Die Ely Hard Times sucht immer nach guten Schrei bern!« Brower wusste offensichtlich nicht, wovon Grissom redete. Catherine tätschelte dem Patienten behutsam die bandagierte Hand. »Die Gefängniszeitung, Mark. Sie könnten den Posten des Todestrakt-Korrespondenten übernehmen… für eine Wei le.« Brass hatte keine Ahnung, wie lange er schon durch die Ge gend fuhr. Es war inzwischen dunkel geworden, und er hatte immer noch nicht den Weg nach Hause gefunden.
Die Dinge hatten sich geklärt, und Grissom hatte die Bewei se zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammengesetzt. Mark Brower würde wahrscheinlich die Giftspritze bekom men, obwohl er kooperiert und vor Catherine und Grissom ein komplettes Geständnis abgelegt hatte – durch das er vielleicht auch nur in den Genuss eines lebenslänglichen Mietvertrags für eine Zelle im Hochsicherheitstrakt von Ely kam. Vielleicht. Jerry Dayton würde vermutlich nicht die Höchststrafe erhal ten, zumindest nicht die, die man in dieser Welt bekommen konnte. Mindestens sechs Männer waren tot, aber Dayton würde den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbringen, und zwar in einer, die ihre Wochenendfreigänge nicht so verschleuderte wie ein Supermarkt seine Gratisproben. Obwohl er es selbst kaum glauben konnte, hatte Jim Brass Mitleid mit Dayton und hoffte, dass der Mann innerhalb der Mauern, in denen er sein Leben fristen würde, echte Hilfe bekommen und ein gewisses Maß an Frieden finden würde. Es kam wahrlich nicht jeden Tag vor, dass ein Cop zwei Se rienkiller auf einmal festnehmen konnte, aber statt zu feiern, fuhr der Captain ziellos in Henderson umher, ohne die Adresse anzusteuern, die er eigentlich aufsuchen wollte. Irgendwann gab er jedoch auf und fuhr am Wachhäuschen von Sunny Day vor. Der Wachmann meldete ihn an, und als Brass das Gebäude am anderen Ende der Anlage erreichte, saß sein alter Partner in einem dunklen Bademantel und Latschen auf der Eingangs treppe und rauchte eine Zigarette. »Willst du eine?«, fragte er Brass. Der Captain schüttelte den Kopf. »Hab aufgehört.« »Ich hätte oben auch was zu trinken für dich.« »Damit habe ich auch aufgehört.« »Du bist verdammt langweilig geworden, Jim.«
Brass studierte das Gesicht von Vince Champlain. In dem schwachen Licht, das aus den Fenstern neben dem Eingang fiel, sah er sehr alt aus, fast gebrechlich. Seltsam, wie sich das Blatt gewendet hatte. Champlain war Brass immer so stark vorgekommen, als sie noch Partner waren. Er war fast eine Vaterfigur für ihn gewesen. Aber der Mann, der ihm jahrelang den Rücken gedeckt hatte, wirkte nun sehr schwach. Brass setzte sich neben seinen alten Freund. Vince nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er blies den Rauch aus und kicherte, dann hustete er. »Margie hat mir verboten, in der Wohnung zu rauchen. Ich muss nach draußen. Sie behandelt mich manchmal wie ein Kleinkind.« »Wir haben Dayton heute eingesperrt.« »Habe ich gehört. War schon im Fernsehen. Und Mark Brower. Wer hätte das gedacht!« »Ja, wer hätte das gedacht!!« Champlain sah Brass von der Seite an. »Dann nehme ich mal an, du hast den irren Dayton selbst verhört?« »Habe ich.« »Unglaublich, was diese Spinner einem für Behauptungen auftischen, nicht wahr?« »Ist das deine Art, es zu leugnen?« Der pensionierte Cop zuckte mit den Schultern. »Wenn du glaubst, du weißt es, dann glaubst du es eben. Was kann ich dagegen tun?« »Bis jetzt habe ich immer noch gedacht, dass ich mich viel leicht irre. Wir waren nicht die Einzigen, die an diesem Fall gearbeitet haben.« »Aber fast. Also…« Champlain holte noch einmal tief Luft und atmete langsam aus. Er sah Brass nicht an. »Was willst du jetzt machen?« Brass schaute in die Sterne. »Weiß noch nicht.«
»Du könntest es vergessen. Es als Hirngespinst eines Irren abschreiben.« Brass senkte den Blick und sah seinem ehemaligen Partner in die Augen. »Sorry«, sagte Champlain und schaute weg. »Ich hätte es besser wissen sollen.« »Wusste Margie davon?« Champlain schüttelte den Kopf. »Warum? Willst du es ihr sagen?« »Das steht mir nicht zu.« »Aber was willst du jetzt machen? Ich habe ein Recht dar auf, es zu erfahren?« »Du hast das Recht zu schweigen und dir einen Anwalt stel len zu lassen, wenn du dir keinen leisten kannst. Obwohl du mit dem Geld, das Tom Dayton dir im Laufe der Jahre gegeben hat, bestimmt einen guten bekommst. Vielleicht sogar Carlisle Deams.« In Champlains Gesicht spiegelten sich Wut, Enttäuschung und Empörung. »Dann… willst du mich festnehmen? Obwohl wir so lange Partner waren?« »Vielleicht will ich es dir nur in Erinnerung rufen. Ich weiß nicht, wie du erfahren hast, dass Dayton CASt war, und wie du es geschafft hast, ohne dass die Presse – oder ich – Wind davon bekam. Aber du hattest offenbar genug in der Hand, um Tom Dayton trotz seines großen Einflusses unter Druck setzen zu können.« »Seit wann bist du so verdammt selbstgerecht?«, fragte Champlain und trat seinen Zigarettenstummel aus. Dann steck te er sich sofort eine neue an. »Nenn es, wie du willst, Vince. Ich habe einen Eid ge schworen, und ich bekam eine Marke. Ich habe keine Frau. Ich habe außerhalb der Arbeit nur wenige kostbare Freunde. Es
gibt also nicht viel, was mir abgesehen von einem ruhigen Schlaf etwas bedeutet. Aber das genügt mir.« »Hör doch auf, Jim! Es geht doch nur um ein bisschen Geld, verdammt.« »Wenn dir das beim Einschlafen hilft, ist das deine Sache. Aber es sind Menschen umgekommen, Vince. Vincent Drake und Perry Bell wurden beide von dem echten CASt getötet, nachdem du Tom Daytons Geld genommen und weggesehen hast. Diese Morde hätten verhindert werden können… Warum, Vince? Nur für einen komfortablen Ruhestand?« Champlain warf seine Zigarette fort und Funken stoben in die Nacht. Er sah Brass durchdringend an. »Ja.« »So einfach?« »Eine einfache Entscheidung: mit Daytons Geld als kleinem Polster in den Ruhestand gehen oder nach dreißig Jahren mit einer Rente aufhören, von der ich kaum allein leben könnte, geschweige denn meine Frau ernähren. Ich habe nämlich eine Frau. Und ein Leben.« »Ein Leben, für das mehrere Menschen sterben mussten?« Champlain starrte in die Dunkelheit. »Stolz bin ich darauf nicht. Ich dachte, der Dreckskerl wäre einfach nur ein Beklopp ter, den man wegsperrt und von dem man nie wieder etwas hört.« »Du hast dich geirrt.« »Denkst du, das weiß ich nicht? Aber als ich es merkte, war es zu spät. Ich konnte nichts mehr tun!« »Wirklich? Oder hast du dir von Daddy Dayton einfach ein höheres Taschengeld auszahlen lassen? Was kosten diese Apartments eigentlich? Ihr seid hier gesundheitlich rundum versorgt, richtig?« »Richtig. Was willst du denn jetzt machen, Jim?« Brass dachte nach. »Gib mir eine Zigarette.«
Champlain entsprach seiner Bitte und gab ihm Feuer. »Ich dachte, du hättest aufgehört.« »Habe ich auch. Aber deinetwegen will ich nicht wieder mit dem Trinken anfangen. Das bist du nicht wert.« Der Captain nahm mehrere tiefe Züge. »Was willst du machen, Jim?«, fragte Champlain erneut. Brass sah seinen ehemaligen Partner scharf an. »Ich werde darüber schlafen. Wer weiß, was die Nacht bringt. Du weißt doch, wie es in unserer Branche ist, Vince – man weiß nie, was als Nächstes passiert, wann das nächste Geständnis zur Tür hereinspaziert kommt oder wann irgendein armer Bastard beschließt, in seine Pistole zu beißen… Was willst du denn jetzt machen?« Damit schnippte Brass die Zigarette fort, stand auf und ent fernte sich, ohne Vince noch einmal anzusehen. Champlain sprang auf. »So willst du mich hier stehen las sen? Nach all den Jahren? Nachdem ich dich immer unterstützt habe?«, rief er Brass hinterher. Aber Brass gab keine Antwort. Er ging einfach weiter. Und Vince Champlain sah seinem alten Partner entgeistert hinterher, bis er in der Dunkelheit verschwunden war.
Es ist eitel, etwas mit mehr zu erreichen, was mit weniger zu erreichen möglich ist. William Ockham