Dem Tode geweiht von Bernd Frenz
Der kalte Luftzug, der unter die ausgebreiteten Schwingen fuhr, trug den Kolkraben un...
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Dem Tode geweiht von Bernd Frenz
Der kalte Luftzug, der unter die ausgebreiteten Schwingen fuhr, trug den Kolkraben ungewollt empor. An dieser Stelle der Steilküste war das nichts Ungewöhnliches. Salzhaltige Böen, die vom Meer aus herüber strichen, sorgten für ständige Turbulenzen. Geschickt stabilisierte der Vogel seine Flugbahn, sodass die in seine Brust implantierte Miniaturkamera auf das Fahrzeug gerichtet blieb, das mit hoher Geschwindigkeit durchs Gelände pflügte. Wie alle Raben der Community, so war auch Digger 5 darauf abgerichtet, ungewöhnliche Formationen und Bewegungen zu orten. In diesem Fall lockten ihn zudem die beiden gläsernen Schutzhauben, die sich zwischen den Überrollbügeln empor wölbten und geradezu unwiderstehlich in der Sonne funkelten. Wahrscheinlich war es die natürliche Neugier auf alles Glänzende, die jedem Raben innewohnt, die D5 unvorsichtig werden ließ. Ohne die Gefahr über sich zu bemerken, setzte er zum Sinkflug an.
WAS BISHER GESCHAH Auf der Suche nach Antworten, was mit der Erde und der Menschheit nach der Kometenkatastrophe vor über 500 Jahren geschehen ist, taucht die Weltrat-Expedition unter Lynne Crow und Prof. Dr. Smythe in den Kratersee hinab – und scheitert. Auch die Gruppe um Matthew Drax, der – wie Smythe – als Zeitreisender wider Willen in dieser Zukunft strandete, wagt den Vorstoß und birgt einen grünen Kometenkristall. Der Hydrit Quart’ol, Vertreter einer unterseeischen Rasse, nimmt Kontakt mit dem Kristall auf, der in Wahrheit ein Bewusstseins-Speicher ist. Sie erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa’muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tierund Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die ihre Millionen körperlose Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration und Reorganisation der Menschheit diente diesem Zweck. Der Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung – als Matt in einer Bruthöhle eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem ARET-Panzer. Als der Barbar Pieroo erkrankt, fahren der Cyborg Aiko und Honeybutt mit ihm im Beiwagen des ARET voraus. In der Hafenstadt Nydda trennen sich die Freunde. Dave und Rulfan wollen auf einem Raddampfer nach Britana, fallen im Nordmeer Piraten in die Hände und werden an einen Sklavenhändler verkauft. Matt, seine Gefährtin Aruula und Mr. Black, der Klon des letzten US-Präsidenten, nehmen im ARET den Landweg. In Perm beginnen sie die russischen Bunker auf ein Bündnis gegen die Daa’muren einzuschwören. Dabei hilft ihnen ein Serum, das nur aus Blacks Blut gewonnen werden
kann und die Immunschwäche der Technos überwindet. So werden sie in Moskau mit offenen Armen empfangen. Die hier lebenden Nosfera, mumienhafte Blutsauger, nehmen Kontakt mit Matt auf. Bei einer Prophezeiung haben sie ihn als Sohn der Finsternis erkannt. Was das bedeutet, findet er zwar nicht heraus, aber sie helfen ihm, die Mutantenarmee mit dem Reaktor eines LP-Gewehrs zu vernichten. Weiter geht die Reise durch Polen in Richtung Berlin, wo Matts früheres Crewmitglied Jennifer Jensen als Königin residiert. Dort wartet eine Überraschung auf ihn. Dass ihn die Amazonen von Berlin vor über drei Jahren zum Sex mit Jenny zwangen, hatte Folgen. Matt ist Vater geworden. Doch Jenny und ihre Tochter wurden entführt, und während Matthew unverhofft als König einspringen muss, bemühen sich Black und Aruula, sie zu finden und zu befreien. Bis sich herausstellt, dass Jenny selbst die Entführung inszeniert hat, um eine Intrige bei Hofe aufzudecken. Für Aruula ist die Begegnung und Vertrautheit zwischen Matt und Jenny eine zunehmende Belastung, und als ihre Selbstzweifel zu groß werden, läuft sie eines Nachts davon.
Was auch immer von oben nahte, es warf einen so großen Schatten, dass selbst die Glaskuppeln an Glanz verloren. Sekunden später gerieten die Luftmassen in Bewegung. Der dabei entstehende Wirbel war so gewaltig, dass er den Raben aus der Flugbahn warf. Hilflos mit den Flügeln schlagend, geriet Digger 5 ins Trudeln und fiel wie ein Stein in die Tiefe. Für Ausweichmanöver oder eine schnelle Flucht blieb keine Zeit. Schon schossen zwei riesige Fänge heran, die wie straff gespannte Fangeisen zuschnappten. Andrew Farmer, der die Szene am Bildschirm verfolgte, fühlte sich, als ob sein eigener Leib durchbohrt würde. Fassungslos starrte er auf die auseinander stiebenden Federn, die sich in mehreren Metern Umkreis verteilten, bevor sie sanft zu Boden pendelten. Die letzte Aufnahme zeigte das Innere eines aufgerissenen Schlundes, danach folgte tiefe Dunkelheit. Gleich darauf wich das Bild auf dem flachen Plasmabildschirm einem elektronischen Schneegestöber. Andrew spürte, wie sein Puls in die Höhe schnellte, als die Übertragung abbrach. Das in hartem Takt pumpende Blut ließ seine Halsschlagader vibrieren. Mühsam verbannte er den Anblick des riesigen Schlundes aus seinen Gedanken und wischte die feuchten Hände an der Uniform ab. Keine Panik, ist doch nur ein Kolk hops gegangen! Obwohl ihm der Tod des Vogels nahe ging, gelang es Andrew, die aufkeimende Unruhe zurückzudrängen. Schließlich war das nicht der erste Verlust einer mobilen Aufklärungseinheit, den er live miterlebte. Ab und zu erwischte es eines der Tiere, damit war jederzeit zu rechnen. Deshalb gab es auch die offizielle Anweisung, keinen der Raben mit individuellen Namen zu belegen. Andrew hielt sich ebenso wenig daran wie die anderen Aufklärer, die für Dressur und Pflege der Vögel zuständig waren.
Sein unsteter Blick irrte über die Plasmamonitore, die ihn halbkreisförmig umgaben. Zwei davon zeigten einander ähnelnde Luftaufnahmen einer urwüchsigen, durch hohes Gras und wilde Büsche geprägten Landschaft. Seit der NordmannInvasion vor zweieinhalb Jahren war die Küste rund um Calais nicht mehr allzu dicht besiedelt. Auch diesseits des Kanals hatten die Einheimischen hohe Verluste hinnehmen müssen, und die wenigen, die weder gefallen noch geflohen waren, lebten nun in stark befestigten Siedlungen tiefer im Landesinneren. Außer äsenden Pflanzenfressern gab es nicht viel zu sehen. Das von Digger 3 empfangene Bild wurde jedoch von Störstreifen durchlaufen. Andrew überprüfte die Anzeige des Peilsenders und stellte fest, dass sich der Rabe bereits sechs Kilometer weit entfernt hatte. Langsam aber sicher wurden die Funksignale von der CF-Strahlung überlagert. Normalerweise hätte der Aufklärer den dressierten Raben ziehen lassen, um die automatisch mitlaufende Aufzeichnung später auszuwerten, doch da sie ihren Standort sicher bald verändern würden, sandte er ein elektronisches Signal aus, das D3 zurücklockte. Ein Routinevorgang, den er täglich zwei Dutzend Mal absolvierte und der jetzt half, zu alter Gelassenheit zurückzufinden. Hier, in der Kommandozentrale der Explorer, einem der acht Earth-Water-Air-Tanks, die der Bunkergemeinschaft von London zur Verfügung standen, hatte sonst noch niemand den Verlust registriert. Neben Andrew schoben noch Captain McDuncan und Lieutenant Shaw Bereitschaft. Da der zwanzig Meter lange Koloss unter einigen hohen Eichen parkte, lümmelte sich Shaw gelangweilt im Pilotensessel, während die Kommandantin an einem Tagesbericht tippte. Nur das Klappern der Tastatur durchbrach die Stille. Von außen drangen keine Geräusche herein. Wie sicher sie doch hier drinnen saßen – geschützt von einer tonnenschweren
Titan-Carbonat-Legierung und mehrfach gehärtetem Sicherheitsglas. Andrew sah durch die von innen transparente Kuppel zum Himmel auf, der so nah wirkte und gleichzeitig so weit entfernt. Zumindest für jemanden, der sein Leben lang durch Helme oder Scheiben von der Natur getrennt sein würde. Andrew drehte sich mit dem Konturensessel zur Seite und sah zu seinen Kameraden. "Captain!", meldete er mit ruhiger Stimme. "D5 ist abgängig." Selina McDuncan sah von ihrem Display auf. "Victor?", fragte sie mitleidig. "Oh, das tut mir Leid." Farmer hob die Schultern in einer resignierten Geste. "Ein riesiger Greifvogel hat ihn im Flug geschlagen", erklärte er knapp, bevor er mit dramatischem Unterton hinzu fügte: "Kurz nachdem ein motorisiertes Landfahrzeug von der Kamera erfasst wurde." Der fürsorgliche Ausdruck wich aus dem Gesicht der EWATKommandantin. "Nordmänner?", fragte sie alarmiert und sprang aus dem Sessel, ohne eine Antwort abzuwarten. Selinas Eile war verständlich. Nicht umsonst patrouillierte die Explorer seit Tagen diesseits des Kanals, um Gerüchten über einen Schaufelraddampfer nachzugehen, der angeblich die franzosische Küste ausspähte. "Ein paar Wilde mit zerfressenen Gesichtern dürften kaum fähig sein, so ein komplexes Gefährt zu steuern", versuchte Andrew ein wenig von der Spannung zu nehmen, die plötzlich in der Zentrale lastete. Gut gemeint, aber ein hoffnungsloses Unterfangen. Schließlich mochte ein technisch versierter Gegner noch viel gefährlicher sein als die Nordmänner, die schon mit ihren primitiven Kanonen genügend Unheil angerichtet hatten. Mit schnellen Handbewegungen rief Andrew die letzte Minute der abgebrochen Übertragung auf und fror eine Aufnahme ein, die ein geländegängiges Fahrzeug mit hohen Überrollbügeln zeigte. Unter zwei ineinander übergehenden
Plexiglaskuppeln, die die Insassen vor Staub und Fahrtwind schützten, zeichneten sich insgesamt drei Gestalten ab. Ob es sich um Männer oder Frauen handelte, ließ sich trotz der Vergrößerung nicht ausmachen. Dafür war deutlich zu erkennen, dass sie weder Helme noch luftdichte Schutzkleidung trugen, sondern sich mit Hosen, Jacken und Fellen begnügten. Selina stützte ihr schlanken Hände auf Andrews Sessellehne und beugte sich weit vor in dem Bemühen, nicht die geringste Einzelheit zu verpassen. "Keine Bunkerbesatzung", kam sie zum gleichen Schluss wie er. Ihre vollen Lippen erblassten im gleichen Maße, wie sich der sanfte Tonfall festigte. "Was das wohl bedeuten mag?" Die Verwunderung in ihrer Stimme paarte sich mit einer Spur aus Neid und Unbehagen. Kein Wunder. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich unter den Technos die Meinung festgesetzt, dass jeder, der frei und ungezwungen an der Oberfläche lebte, zwangsläufig ein Barbar sein musste, der gerade genug Verstand aufbrachte, im Winter seine Hütte mit Feuer zu beheizen. Dass nun einige Personen ohne Schutzkleidung mit einem Radfahrzeug spazieren fuhren, erschien geradezu widernatürlich. Andrew hing diesem Gedanken aber nicht lange nach, sondern genoss den warmen Atem, den ihm die Kommandantin unbewusst in den Nacken hauchte. Verstohlen schielte er zur Seite. Selina McDuncan besaß ein fein geschnittenes Gesicht, dessen Symmetrie nur durch eine leicht vorspringende Nase durchbrochen wurde. Diesen Makel chirurgisch zu korrigieren, kam für sie nicht in Frage, und das war auch gut so. Er verlieh ihr eine individuelle Note, die anderen, operationsfreudigen Frauen in der Community völlig abging. Zudem scheute sich Selina keineswegs, ihre weibliche Seite zu präsentieren. Selbst im Dienst trug sie Lipgloss und dezenten Lidschatten. Fehlte nur noch die schwarze Kurzhaarperücke, die ihr so gut stand,
und ... "Alles in Ordnung, Soldat?" Ihre Frage durchfuhr Andrew wie ein Stromstoß. Verdammt, hatte er sie etwa aus den Augenwinkeln heraus angestarrt? "Geht schon", stammelte er hastig. "Es fällt mir nur schwer, mich zu konzentrieren." Sie ließ es durchgehen. Wahrscheinlich weil sie dachte, dass er noch dem Raben nachtrauerte. Andrew seufzte innerlich. Unter Captain McDuncan zu dienen bedeutete für ihn Segen und Fluch zugleich. Ein Segen deshalb, weil es kaum eine kompetentere EWAT-Kommandantin gab, die durch Sachverstand führte, ohne sich groß auf den Dienstgrad zu berufen. Gleichzeitig jedoch ein Fluch, weil damit jede Hoffnung auf eine tiefere Bindung zunichte gemacht wurde. Es war allgemein bekannt, dass Selina private Beziehungen zu Untergebenen ablehnte. "Wie lautet die letzte Position von D5?", fragte sie, diesmal leicht ungeduldig. Andrew spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Ihr Missfallen war durchaus berechtigt. Schließlich arbeitete er lange genug als Aufklärer, um zu wissen, welche Daten in dieser Situation benötigt wurden. "Zirka dreieinhalb Kilometer entfernt", erklärte er mit kurzem Blick auf die Instrumente, bevor er hinzufügte: "Achtundvierzig Grad östlich von uns." Für eine genauere Positionsbestimmung fehlte die Peilung eines zweiten EWATs, aber die vorhandenen Koordinaten genügten auch so, um nach dem Rechten zu sehen. Andrew gab sie in den Bordrechner ein, damit sie der gesamten Besatzung zur Verfügung standen. "Unbekanntes Fahrzeug gesichtet", verkündete Selina McDuncan gleichzeitig über die Sprechanlage. "Stationen besetzen und Gefechtsbereitschaft herstellen." Das Summen des Nukleargenerators schwoll an, während
Steve Bolton, der Navigator, aus dem Ruheraum herbei eilte. Damit war die Besatzung der Zentrale komplett. "Flugbetrieb?", fragte Lieutenant Shaw, sobald ein grünes Lichtermeer völlige Betriebsbereitschaft anzeigte. Selina McDuncan schüttelte spontan den Kopf. "Das war nur ein Kleinfahrzeug", lehnte sie ab, "schlimmstenfalls ein Spähtrupp. Kein Grund, gleich alle Karten auf den Tisch zu legen." Shaw wäre eine andere Antwort sicher lieber gewesen, denn er flog für sein Leben gern. Schweigend legte er beide Hände auf den Lenkkranz und setzte den EWAT in Gang. Eine sanfte Erschütterung lief durch die Zentrale, als sich die Teflonketten in Bewegung setzten. Ihre aneinanderstoßenden Glieder produzierten ein halblautes Sirren, das einem Reißverschluss ähnelte, der zusammen gezogen wurde. Behäbig rollte der EWAT unter den Bäumen hervor und hielt auf die nächstliegende Anhöhe zu. Über Land zu fahren kostete mehr Zeit, sparte aber Energie und minimierte das Risiko vorzeitiger Entdeckung. Leider waren sie so viel zu langsam, um das Schlimmste zu verhindern. Aber das konnte in diesem Moment noch keiner von ihnen wissen. * "Achtung, da kommt was auf uns zu!", warnte Aiko, als der dunkle Punkt, den er am Himmel ausgemacht hatte, schlagartig größer wurde. Ein kurzer Wechsel in den Fernsicht-Modus übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Was da mit kräftigen Flügelschlägen auf sie herabstürzte, war kein gewöhnlicher Vogel, sondern ein gefiederter Koloss, der von den Krallen bis zur Schnabelspitze gut und gerne sechs Meter maß.
Ohne sich mit langen Erklärungen aufzuhalten, packte der Cyborg das Lenkrad fester und trat aufs Gas. Das Dingi machte einen Satz nach vorn, als sich die Beschleunigung auf alle vier Reifen übertrug Die Zahlen auf dem digitalen Tacho schnellten in die Höhe. Wie ein Schiffsrumpf die Wellen teilte, so pflügten sie nun durch das gelblich ausgedörrte Meer aus wogenden, hüfthohen Grasähren. Die Fahrgastzelle begann zu vibrieren, während die Halme von außen gegen die Karosserie peitschten. Nicht gerade die angenehmste Art zu reisen, aber da es in dieser Gegend keinen Trampelpfad gab, dem sie folgen konnten, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als querfeldein zu fahren. Bei angemessener Geschwindigkeit dämpfte die Federung die meisten Stöße ab, doch nun, bei annähernd 100 km/h bedurfte es schon der Anschnallgurte, damit sie nicht von den Sitzen geschleudert wurden und mit den Köpfen gegen die Kuppeldecke knallten. Honeybutt und Pieroo, die auf der Rückbank saßen, ließen Aikos rüden Fahrstils unkommentiert. Sie wussten um die Rezeptionsverstärker des Cyborgs, deshalb zweifelten sie auch keine Sekunde daran, dass die plötzliche Eile berechtigt war. Wenige Sekunden später konnten sie dann mit eigenen Augen sehen, was da am Himmel nahte. "Ein Eluu!", rief Pieroo beim Anblick des geschuppten Federberges, der sich anschickte, die Sonne zu verdunkeln "Un zwar’n verdammt grossa’." Aiko sah über die Schulter hinweg direkt in das zugewucherte Barbaren-Gesicht, und fragte verdutzt: "Du hast schon mal so ein Vieh gesehen?" An den wenigen Stellen, an denen Pieroos Haut zwischen Bart, Augenbrauen und struppigem Haar hindurch schimmerte, wies sie einen Stich ins Gelbliche auf. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten stand. Was heillos untertrieben war. Die Krebszellen, die in seinem
Inneren wucherten, beraubten ihn zusehends der Kräfte. Aber nicht des Humors. "Gesehen, und schon zum Frühstück verspeist", versicherte er mit breitem Grinsen. "Ich komm aus diesa Gegend, schon vergess’n?" Nein, das hatte Aiko nicht. Wie auch? Schließlich war es besonders Pieroos Kenntnissen der hiesigen Örtlichkeiten und Mentalitäten zu verdanken, dass die Reise durch Euree vergleichsweise reibungslos verlaufen war. Gut, einige Aufregung hatte es schon gegeben, sogar genügend Abenteuer, um ein ganzes Buch damit zu füllen, doch insgesamt hatten sie die Strecke vom Kratersee bis zur Atlantikküste in einer passablen Zeit bewältigt. Obwohl es keiner von ihnen laut auszusprechen wagte, waren alle drei noch vor wenigen Minuten felsenfest davon überzeugt gewesen, aus dem Gröbsten heraus zu sein. Nur noch eine Schiffspassage nach Britana, mehr schien nicht mehr nötig zu sein, um alles zu einem guten Abschluss zu bringen. Zu früh gefreut, wie schon so oft ... "Zieh weiter nach links!", wies Honeybutt plötzlich den Cyborg an. "Zwischen den Felsen finden wir vielleicht Schutz!" Erst jetzt, da er in die angewiesene Richtung lenkte, nahm Aiko die zerklüfteten Formationen wahr, die sich knapp Tausend Meter entfernt auftürmten. Angesichts der hohen Geschwindigkeit war es schwer, die Gesamtübersicht zu behalten. Da halfen auch keine neurologischen Implantate, die den Sehnerv verbesserten. Immer wieder zum Himmel aufschauend, hielt er das wendige Dingi in der Spur. Selbst als sie über einen im Grasmeer verborgenen Erdhügel schrammten und mit allen vier Reifen abhoben. Völlig losgelöst, segelten sie einige Meter weit durch die Luft, bevor sie wieder hart aufsetzten. Dem dreifachen Klang der zusammenschlagenden Kiefer folgte ein metallisches Klacken – das zum Glück dem Armbruster entstammte, den
Honeybutt mit sicheren Griffen einsatzbereit machte. Wer die kaffeebraune Amerikanerin nur flüchtig kannte, ließ sich unter Umständen von ihrer zierlichen Gestalt und dem manchmal etwas schüchtern wirkenden Auftreten täuschen, doch hinter ihrer braven Fassade steckte eine voll ausgebildete Rebellin. Die entsicherte Waffe in beiden Händen, spähte sie zum Himmel empor, fest entschlossen, den Eluu aus dem fahrenden Dingi heraus unter Beschuss zu nehmen. Braves Mädchen, freute sich Aiko im Stillen. Auf dich ist Verlass. Die befürchtete Konfrontation verzögerte sich allerdings, weil der riesige Eulenvogel eine abrupte Kehrtwende einlegte, um sich vorher noch einen Kolkraben als Zwischenmahlzeit zu schnappen. Eine Wolke aus schwarzen Federn markierte weithin sichtbar den Ort, an dem die Beute geschlagen wurde. Gleich darauf ging der Eluu nieder, um sie in einem einzigen Happen zu verspeisen. Aiko entspannte ein wenig, als er sah, dass das Ungetüm zurück blieb. "Unser Dingi passt wohl nicht ins Beuteschema", gab er seiner vagen Hoffnung Ausdruck, ohne jedoch den Fehler zu begehen, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Pieroo hatte für diese Theorie auch nur ein verächtliches Schnauben übrig. "Vergisses!", stellte der zottelige Barbar klar. "So’n Eluu frisst alles, waser krall’n kann. Sogar Taratzen!" Wie um den Barbaren zu bestätigen, rannte der Vogel plötzlich los und breitete die Schwingen aus. Nur wenige Flügelschläge genügten, um die Schwerkraft zu überwinden und dem Dingi im Tiefflug hinterher zu jagen. Honeybutt stieß einen gänzlich undamenhaften Fluch aus, der an ihre Zeit als Straßenkind in Waashton erinnerte. Dadurch, dass der Eluu von hinten nahte, ließ er sich nur sehr schwer anvisieren. Ihre dunklen Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, aktivierte sie die Hydraulik der hinteren
Kuppel. Surrend fuhr das Plexiglas zurück und verschwand im Heck des Dingi. Obwohl der Vorgang nur wenige Sekunden in Anspruch nahm, kam er ihr doch quälend langsam vor. Salzgeschwängerter Fahrtwind fauchte über die vordere Haube hinweg und kühlte ihr Gesicht. Das Meer musste zum Greifen nah sein. Honeybutt löste den Gurt, um ihre Bewegungsfreiheit zu vergrößern, trotz der Gefahren, die sich daraus bei einem Unfall ergeben möchten. Sobald die Kuppel weit genug offen stand, drehte sie sich im Sitz und lehnte sich nach draußen. Mit der linken Hand fest an den silbernen Überrollbügel geklammert, brachte sie die Waffe – äußerlich eine Mischung aus Armbrust und kurzläufigem Gewehr – in Anschlag. Der Fahrtwind fuhr ihr kalt unter die Jacke und zerrte an ihrem Haar. Die krausen Strähnen peitschten ihr schmerzhaft ins Gesicht, und die holprige Fahrt tat ein Übriges, um ein genaues Anvisieren zu verhindern. Mehr als ein Deutschuss war unter diesen Umständen nicht möglich, doch angesichts des monströsen geschuppten Körpers, der unaufhaltsam näher kam, möchte das völlig reichen. Wäre da nicht das mordlüsterne Flackern in den gelben Augen gewesen, sie hätte die kraftvollen Bewegungen, mit denen der Eluu aufholte, beinahe bewundern können. Nicht einmal russische Fahrzeugtechnik vermochte diesem Wunderwerk der Natur zu trotzen. Gut, auf ebener Fläche hätten sie das ungleiche Rennen vielleicht gewonnen, doch angesichts der Schlaglochserie, die das Dingi gerade abfedern musste, kamen sie einfach nicht schnell genug voran. Zumal Aiko gerade die Geschwindigkeit reduzieren musste, um einen Überschlag zu verhindern. Von tierischer Intelligenz beseelt, erkannte der Raubvogel seine Chance. Mit schnellen, kraftvollen Flügelschlägen schloss er auf und öffnete den scharfkantigen Schnabel, der mühelos einen menschlichen Schädel zerquetschen konnte. Nur
noch fünf Meter trennten ihn von seiner Beute. Siegesgewiss verlagerte er den Körperschwerpunkt nach vorne und fixierte die offen liegenden Rücksitze, sichtlich unentschlossen, ob er zuerst Pieroo oder die Rebellin attackieren sollte. Höchste Zeit, das Biest in seine Schranken zu verweisen. Obwohl es angesichts der holprigen Fahrt beinahe unmöglich war, sich mit nur einer Hand festzuhalten, klemmte Honeybutt den Blasterschaft zwischen Hüfte und Ellbogen und feuerte in die Höhe. Wie ein Blitz schlug der Strahl aus der Blastermündung hervor und überbrückte die Entfernung im Bruchteil einer Sekunde. Ein Schlingern des Dingi verhinderte allerdings, dass der Schuss den Brustkorb des Eluu traf, stattdessen verkohlte ein tellergroßer Bereich unterhalb des Schwingenansatzes. Die plötzlich auftretende Hitze ließ den Vogel vor Schmerz schreien, doch wenn Honeybutt gehofft hatte, dass die Federn in Flammen aufgingen, so sah sie sich getäuscht. Die schuppige Beschaffenheit des Gefieders erwies sich als überraschend widerstandsfähig. Der Strahl drang nicht einmal bis zum Körper durch, sondern scheiterte an dem dicken Polster aus Federn und Luftzwischenräumen. Mutter Natur und einige Generationen Mutation hatte dem verdammten Riesenvogel einen äußerst wirksamen Schutz mitgegeben, der sich nicht so leicht durchdringen ließ. Honeybutt zog erneut den Abzug durch, doch ihre Hoffnung, die Bestie durch den Dauerbeschuss zu verscheuchen, wurde von einem jähen Sturzflug zerstört. Auch der nächste Treffer entlockte dem Eluu nur einen kurzen Schmerzlaut, ohne ihn zu stoppen. Wütend setzte er den Angriff fort. Seine Fänge flogen nach vorn und zerschnitten pfeifend die Luft. Die Rebellin warf sich in den Sitz zurück, um einer Verletzung zu entgehen Beißender Gestank brach über sie herein. Eine Mischung
aus Fäulnis, schwärendem Ausfluss und tierischer Ausdünstung, die nur unzureichend von schwachem Brandgeruch überdeckt wurde. Hastig rutschte sie in den Fußraum, um den nadelspitzen Krallen auszuweichen, die ziellos über das Dingi kratzten, bis sie sich in den Überrollbügeln verfingen. Der Eluu war nun so nahe, dass Honeybutt einige fingerlange weiße Parasiten erkennen konnte, die zwischen den Federschuppen umher krochen. Ihr Versuch, den Waffenlauf durch das Gefieder zu drücken, kam zu spät. Mit mächtigen Flügelschlägen schwang der Eluu wieder empor und riss das Dingi mit sich. Die Leichtbauweise des Fahrzeugs wurde ihm nun zum Verhängnis. Zuerst verloren die Hinterräder den Bodenkontakt, dann schwebte es völlig in der Luft. Honeybutt wurde nach vorn geschleudert, gegen den Fahrersitz. Es folgte ein Moment völliger Orientierungslosigkeit, der sich noch verstärkte, als das Dingi senkrecht nach unten kippte. Scheinbar mühelos trug sie der Eluu mehrere Meter empor, allerdings nur, um die Fänge mit triumphierendem Kreischen zu öffnen und sie wieder in die Tiefe zu entlassen. Von seiner schweren Last befreit, entschwand der Riesenvogel gen Himmel, während das Dingi einen Überschlag absolvierte. Ehe Honeybutt richtig wusste, wie ihr geschah, wurde sie schon aus der offenen Fahrgastzelle geschleudert. Instinktiv ließ sie den Armbruster fallen und streckte beide Arme aus, um ihren Aufprall zu mildern. Einer grünen Wand gleich, raste die Wiese auf sie zu. Mit den Händen voran tauchte sie in das hohe Gras und schlitterte über den weichen Boden. Weder größere Steine noch Äste kreuzten ihren Weg, trotzdem zog sie sich am ganzen Körper Blessuren zu. Den Schmerz registrierte sie allerdings erst später, lange nachdem der infernalische Lärm abgeklungen war, mit dem das Dingi wenige Meter entfernt aufschlug.
Ein lang anhaltendes Gewitter aus splitterndem Kunststoff und knirschendem Metall erfüllte die Luft, während das Chassis einer harten Belastungsprobe ausgesetzt wurde. Mehrere Teile des frei liegenden Frontgestänges rissen ab und wirbelten davon, bevor das kompakte Fahrzeug wieder empor federte und noch mehrere Meter überbrückte, bevor es endgültig zum Liegen kam. Als sich der Wirbel aus Erdpartikeln und ausgerissenen Pflanzenstrünken legte, bot es einen traurigen Anblick. Zahlreiche Beulen übersäten die Karosserie. Außerdem waren zwei Achsaufhängungen gebrochen, sodass beide Hinterräder flach auf dem Boden lagen. Lange, nach allen Seiten zerfasernde Sprünge durchzogen die vordere Schutzkuppel. Ein langes, dreieckig zulaufendes Stück war sogar gänzlich heraus gebrochen. Von den verbliebenen Insassen fehlte jede Spur. "Aiko!", rief die Rebellin erschrocken, ohne auch nur einen Gedanken an sich selbst zu verschwenden. Die Furcht um ihren Geliebten trieb sie in die Höhe, doch der Versuch, sich aufzurappeln, scheiterte kläglich. Heiße Schmerzwellen schüttelten ihren Körper. Überrascht schaute sie auf ihre zerschundenen Hände, die zwar bluteten, sich aber zumindest bewegen ließen. Ganz im Gegensatz zu den Beinen, die reglos vor ihr lagen. O Gott, bitte nicht. Getrieben von der Furcht, ihre Wirbelsäule könnte verletzt sein, tastete sie den Rücken entlang. Doch für ausführliche Selbstdiagnosen fehlte die Zeit. Ein flirrender Schatten, der plötzlich die Sonne verdunkelte, erinnerte Honeybutt daran, dass ihr noch weitaus Schlimmeres drohen mochte. Von eisigem Entsetzen gepackt, sah sie zu dem Eluu empor, der abwartend über ihr kreiste. Vor einem weiteren Angriff schien er noch zurückzuschrecken, doch der Armbruster, den er fürchten mochte, lag irgendwo im Gras. Selbst wenn
Honeybutt die Waffe gesehen hätte, hätte sie ihr nichts genutzt. In ihrem derzeitigen Zustand blieb alles unerreichbar, was sich nicht in unmittelbarer Griffweite befand. Hastig langte sie zu der aufgesetzten Beintasche der dunklen Cargohose und versuchte an den Driller zu gelangen. Dazu musste sie sich gehörig verrenken, was sich als äußerst schwieriges Unterfangen herausstellte. Jede einzelne Prellung ihres malträtierten Körpers schien zu protestieren, während sie mit blutigen Finger an den Knöpfen nestelte. "Aiko!", rief sie dabei, kurzatmig und gehetzt. Diesmal nicht aus Sorge um den Geliebten, sondern aus eigenem Überlebenstrieb. "Komm schon, verdammt!", forderte sie. "Hilf mir!" Eine Antwort erhielt sie darauf nicht, eine Reaktion dagegen schon. Über ihr beendete der Eluu die letzte Kreisbahn und ging zum Sturzflug über. Direkt auf Honeybutt Hardy zu. * Aiko fühlte sich wie in den lichtlosen Tiefen eines riesigen Tintenbassins gefangen, verzweifelt nach einem schwachen Sonnenreflex strebend, der ihm den Weg aus der Schwärze wies. Ein Kraft raubendes Unterfangen, denn die Finsternis saugte sich an seinen Beinen fest, wollte ihn nicht hergeben. Wie viel einfacher und angenehmer es doch wäre, sich einfach in die Bewusstlosigkeit treiben zu lassen. Ein geradezu verführerischer Gedanke – dem nur sein eigener Name entgegen stand, der wie lauter Glockenschlag in seinen Ohren hallte. "Aiko!" Die Stimme, die ihn rief, gehörte Honeybutt. Und es klang, als schwebte sie in höchster Not. Mühsam zwang er seine Lider auf. Tageslicht blendete ihn wie ein ausgerichteter Suchscheinwerfer. Einen Moment lang
fragte Aiko sich, was eigentlich geschehen war, dann erinnerte er sich wieder an den Eluu und kehrte auf einen Schlag in die Realität zurück. Verdammt, dieses Mistvieh hatte sie wirklich kalt erwischt. "Honeybutt!" Seine Stimmbänder produzierten kaum mehr als ein Krächzen. Blut perlte von seinen zerbissenen Lippen, doch ihm fehlte die Zeit, die Verletzung zu beachten. Hastig tastete er nach dem Sicherheitsgurt, musste aber feststellen, dass der Verschluss verbogen war und sich nicht öffnen ließ. Sein Blick irrte nach draußen, wo er Honeybutt entdeckte, die verzweifelt zum Himmel aufschaute. Keine Frage, welche Bedrohung dort nahte. Wie es schien, konnte Honeybutt nicht mehr aufstehen. Damit war sie dem Eluu schutzlos ausgeliefert, eine sichere Beute. Wütend packte Aiko den Gurtverschluss fester und zerquetschte ihn mit bloßer Hand. Es war nicht die Angst um seine Freundin, die ihm die nötigen Kräfte verlieh, sondern die Früchte einer fortschrittlichen Technik. Obwohl seine Arme äußerlich völlig normal aussahen, waren es doch Prothesen aus Plysterox, einem leichten aber widerstandsfähigen Kunststoff, die ihm diese übermenschlichen Kräfte verliehen. Die Hydraulik der Glashaube funktionierte noch, doch als er sich aus dem Sitz quälte, spürte er, dass der Aufprall seine Spuren hinterlassen hatte. Nacken und Rücken schmerzten erbärmlich. Vermutlich eine Stauchung oder ein Schleudertrauma. Die dunklen Kreise ignorierend, die auf seiner Netzhaut explodierten, quälte sich Aiko ins Freie. Los, weiter!, trieb er sich an, und merkte doch schon nach wenigen Schritten, dass er nicht schnell genug sein würde. Der Eluu rauschte bereits heran und fixierte die Beute. Aiko konnte sehen, dass die tellergroßen, von weißem Flaum umkränzten Augen zwischen ihm und Honeybutt hin und her blickten. Dass noch eine weitere potentielle Beute auftauchte, erschwerte dem Eluu die Wahl.
"Hierher, du Mistvieh!", forderte Aiko, während er mühsam weiter stolperte. "Leg dich mit jemanden an, der sich wehren kann!" Sein Wunsch wurde umgehend erfüllt. Vermutlich weil Honeybutt dem Eluu so gut wie sicher erschien. Seinen tierischen Instinkten folgend, wandte er sich deshalb zuerst der Beute zu, die noch laufen und also fliehen konnte. Drei Sekunden später war er heran, riss den Oberkörper empor und streckte die Fänge aus. Jeder andere unbewaffnete Mann hätte nur zur Seite hechten oder beten können, doch Aiko wartete eiskalt ab, bis die scharfen Krallen näher kamen. Kurz bevor sie sich schlossen, packte er blitzschnell mit beiden Händen zu und zerrte an ihnen wie an einem Steuerrad, das es herumzuwerfen galt. Die Wucht der Attacke riss den Cyborg zwar von den Beinen, doch die überlegene Kraft seiner künstlichen Arme überraschte selbst den Eluu. Ein lautes Knacken erklang, als die linke Kralle um 180 Grad nach hinten gebogen wurde. Gepeinigt schrie die Rieseneule auf und geriet aus dem Gleichgewicht. Ihr Auftrieb ging verloren; schwer schlug sie mit dem linken Flügel voran zu Boden. Nur mit viel Glück gelang es Aiko, nicht unter den schuppigen Federmassen begraben zu werden. Rechtzeitig stieß er sich ab und nahm dem Aufprall die Wucht, indem er sich über die linke Schulter abrollte. Am liebsten wäre er danach liegen geblieben, denn er fühlte sich so groggy wie nach einem Schwergewichtskampf über zwölf Runden. Der Absturz im Dingi hatte seine Spuren hinterlassen, doch leider hatte er keine Wahl, als sich wieder hoch zu quälen und erneut dem Gegner zu stellen. Seine Glieder fühlten sich so schwer an wie Blei, und seine Bewegungen ähnelten einer Zeitlupenaufnahme. Angefacht von Wut und Schmerz kam der Eluu rasch wieder auf die Beine. In einem Wirbel aus verlorenen Federn humpelte
er heran, den linken Flügel in einer unnatürlichen Haltung vom Körper abgespreizt. Gebrochen, kein Zweifel. Trotzdem hatte er nichts von seiner Gefährlichkeit eingebüßt. Der Angriff kam so schnell, dass dem angeschlagenen Cyborg nichts weiter blieb, als den linken Arm schützend über den Kopf zu heben. Der scharfkantige Schnabel drang durch Stoff und Haut, scheiterte aber an dem darunter liegenden Plysterox. Sekundenlang fühlte Aiko einen ungeheuren Druck, der ihn in die Knie zwang, gleich darauf wurde er in die Höhe gerissen und wie eine leblose Gliederpuppe umher geschleudert. "Halt aus!", klang es vom Dingi herüber. "Ich machet Viech von hinten alle!" Der Ausruf lenkte den Eluu kurz ab, sodass sich Aiko mit der rechten Hand festhalten und näher an den Riesenkopf heranziehen konnte. Dabei sah er zu Pieroo hinüber, der sich mit gezogenem Kurzschwert näherte. Ob die Klinge ausreichte, das aufgeplusterte Gefieder zu durchdringen, schien allerdings fraglich. "Bring Honeybutt in Sicherheit!", rief ihm deshalb Aiko zu. "Ich komme schon klar!" Der stark behaarte Barbar wirkte unschlüssig, zeigte sich aber einverstanden. So schnell, wie es sein geschwächter Körper erlaubte, eilte er zu Honeybutt, hob sie vom Boden auf und trug sie in Richtung eines Felseinschnittes. Der Eluu, der seine restliche Beute entschwinden sah, wollte den Fliehenden nachsetzen. Aiko stoppte ihn, indem er mit der rechten Faust auf das Tier einschlug. Die ersten beiden Schläge versanken im geschuppten Halsflaum, deshalb zielte er beim dritten Mal auf das rechte Auge. Dieser Hieb traf mitten ins Schwarze. Aiko konnte spüren, wie die Netzhaut unter seinen Fingerknöcheln nachgab, ohne jedoch zu zerplatzen. Fauchend bäumte sich der Vogel auf und begann den um hundertachtzig
Grad drehbaren Kopf hin und her zu schleudern. Der Flaum, in den sich Aiko erneut festkrallte, wurde einfach aus dem Hals gerissen. Ohne Rücksicht auf eigene Verletzungen zu nehmen, versuchte ihn der Eluu durch die Schleuderbewegungen zu töten. Der eingeklemmte Arm bewegte sich keinen Millimeter in dem zusammengepressten Schnabel, der genügend Druck aufbrachte, um die Knochen eines ausgewachsenen Menschen zu zertrümmern. Auch das Plysterox kerbte langsam an den Einschnittstellen ein, hielt jedoch der Belastung stand. Aiko wurde so heftig empor gerissen, das er beinahe über die Schulter des Eluu flog. Sein Schultergelenk, in dem Prothese und organisches Gewebe miteinander verbunden waren, wurde bis aufs Äußerste beansprucht. Brennender Schmerz setzte seine ganze Schulter in Flammen. So stark waren seine Implantate noch nie beansprucht worden. Für einen beängstigend langen Augenblick sah sich der Asiate schon mit ausgerissenem Arm im Gras verbluten. Ein hässliches Splittern schien diese Vision zu bestätigen, bis seine künstlichen Rezeptoren meldeten, dass es der Ellbogen war, der nicht mehr länger stand hielt. Knallend brach das Gelenk auseinander, gefolgt von der Energiezufuhr, den motorischen Leitungen und einigen inneren Verstrebungen. Zweimal schleuderte er noch umher, dann riss auch die künstlich gezüchtete Haut entzwei. So plötzlich befreit, segelte Aiko im hohen Bogen durch die Luft und landete auf dem Rücken. Schmerzen fühlte er nicht, dazu pumpte zu viel Adrenalin durch seinen Kreislauf. Die körpereigene Droge verhinderte auch den Schock, als er auf die abgerissenen Drähte starrte, die nun aus dem offenen Ellbogen ragten. Beinahe beiläufig bedauerte er den Verlust des Unterarms, während sich seine Füße schon in Gang setzten, um Pieroo und Honeybutt in die Felsspalte zu folgen. Weiter zu kämpfen war sinnlos. Er musste sich erst eine neue
Taktik zurechtlegen, mit der er der Raserei des Eluu beikommen konnte. "Schnell, hier herüber!", trieb ihn Honeybutt an. Ein Blick über die Schulter zeigte dem US-Asiaten, dass der Eluu von dem ungenießbaren Unterarm abließ. Fauchend schlug der Vogel mit der gesunden Schwinge und nahm die Verfolgung auf. Dass einer seiner Fänge gebrochen war, schien nicht weiter zu stören. Aiko zog das Tempo an ... und zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich ein Geschoss über ihn hinweg zischte. Ohne im Lauf innezuhalten, blickt er ungläubig nach vorn, zu Pieroo und Honeybutt, die gerade eine seltsame Allianz eingingen: Schwer auf den zotteligen Barbaren gestützt, hielt seine Freundin den Driller im Anschlag und feuerte zum zweiten Mal. "Willst du mich umbringen?", brüllte Aiko, während hinter ihm der Minisprengkopf explodierte. Den animalischen Lauten zufolge, die der getroffene Eluu ausstieß, entfalteten die Drillergeschosse eine bessere Wirkung als der Blaster. Keuchend erreichte Aiko den Felsspalt, der gerade breit genug war, um zwei nebeneinander stehenden Menschen Platz zu bieten. Pieroo und Honeybutt traten zurück, um ihm Einlass zu gewähren. Schweigend ließen sich alle Drei auf nacktem Stein nieder. Ein Todkranker, ein Einarmiger und eine Gelähmte. Eine geschlagene Truppe, mit der nicht viel anzufangen war. Wie aus weiter Ferne drang gleichmäßiges Meeresrauschen an ihre Ohren. Von ihrer Position aus nicht zu sehen, brachen sich irgendwo die Wellen des Atlantiks unverkennbar an einigen vorgeschobenen Klippen. Es konnte nicht mehr weit bis zur Küste sein, doch was nutzte das schon? Erst mal mussten sie mit dem verdammten Eluu fertig werden. "Das elende Vieh hat einiges abbekommen", munterte Aiko
die anderen auf, während er den Driller entgegen nahm. "Kann nicht mehr lange dauern, bis die Situation bereinigt ist." Pieroo, der ein wenig unbehaglich auf den Armstumpf des Cyborgs starrte, stieß einen mürrischen Laut aus. "Was ist?", fragte Aiko, etwas schroffer als beabsichtigt. "Passt dir was nicht?" Der Barbar zuckte zuerst nur mit den Schultern, bevor er sich doch zu einer Antwort herabließ, "’s is nur so", erklärte er missgelaunt. "Eluus jagen nich allein. Wo eina von denen auftaucht, is der andere meist nich sehr weit." * Pieroos Ankündigung war nicht dazu angetan, die allgemeine Stimmung zu heben. Zumal ein entferntes Scharren bewies, dass der verletzte Eluu weiter auf Angriff setzte. Aiko blickte vorsichtig um die Ecke. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass die Rieseneule gerade dabei war, die umliegenden Felsen zu erklimmen. Aiko versuchte noch, ihr ein Drillergeschoss aufs Federkleid zu brennen, doch es war schon zu spät. Mehr hüpfend als fliegend verschwand der Vogel zwischen scharfkantigen Vorsprüngen. "Er versucht uns zu umgehen." Aiko sah die eng beieinander stehenden Felswände empor, die sich schon nach zwei Metern trichterförmig verbreiterten. Einem in Rage geratenen Eluu mochte es durchaus gelingen, dort Halt zu finden und sie von oben zu attackieren. Weiter zu laufen hatte aber ebenfalls keinen Sinn. Tiefer im Spalt waren die Felsen noch stärker vom Regen ausgewaschen. Hier vorn, am Anfang des natürlichen Schlauchs, befand sich die engste Stelle. Besserer Schutz war nirgendwo in Sicht. Sie mussten sich gedulden und das Beste aus ihrer Situation machen.
"Wie geht es deinen Beinen?", fragte er seine Freundin, nachdem die unmittelbare Gefahr abgeklungen war. Honeybutt rang sich ein Lächeln ab, bevor sie versicherte: "Geht schon so halbwegs. Aufstehen ist zwar noch nicht drin, aber ich spüre meine Zehen wieder." Zum Beweis wippte sie mit den klobigen Kampfstiefeln, obwohl ihr diese Demonstration sichtlich Schmerzen bereitete. "Vermutlich nur eine Prellung", versuchte sie Aiko zu beruhigen. "Das wird schon wieder." Plötzlicher Steinschlag ließ alle zusammenzucken. Drei kleine Brocken, nicht größer als eine Kinderfaust, hüpften wie auf einer Kaskade herab. Ob sie durch natürliche Erosion gelöst wurden oder der Eluu dahinter steckte, ließ sich nicht sagen. Zu sehen war er jedenfalls nicht, außerdem gingen die Steine mehrere Meter entfernt nieder. Trotzdem war Vorsicht angesagt. Aiko spähte so intensiv in die Höhe, dass ihm beinahe das Kettenrasseln entgangen wäre, das plötzlich in der Ferne erklang. Es stammte von einem dunkelgrünen, viergliedrigen Panzer, der einer zu kurz geratenen Riesenschlange ähnelte. Genauso wendig und schnell schlängelte er sich über die natürlichen Erhebungen des unebenen Geländes. Dabei wurde deutlich, dass er aus vier starren Fragmenten bestand, die durch kaum erkennbare Teleskoplamellen verbunden waren. Tiefschwarze, von außen nicht einsehbare Kuppeln wölbten sich sowohl am stumpfen Heck als auch am spitz zulaufenden Bug. "Bei Wudan!", rief Pieroo aus. "Ein Schlamassel kommt selten allein." Angesichts des hochgefahrenen Geschützturms, aus dem ein Dutzend Teleskoprohre ragte, konnte Aiko gar nicht anders als dem Barbaren zuzustimmen. Er schätzte den Koloss auf gut zwanzig Meter Länge, dazu war er knapp drei Meter breit und zwei Meter fünfzig hoch. Eine wandelnde Festung, gegen die
sich mit Handfeuerwaffen nicht viel ausrichten ließ. Die unmittelbare Gefahr, in der sie schwebten, ging aber weiter von dem verwundeten Eluu aus. Das merkten sie Sekunden später, als sich der Spalt über ihnen verdunkelte. Mit einem infernalischem Kreischen rutschte der Eluu den Hang herab, bis er von den enger zusammenrückenden Felsen gestoppt wurde. Sein gesundes Bein passte mühelos durch den unteren Spalt, und so streckte er es in dem wütenden Versuch hindurch, einen der Menschen zu packen und in die Höhe zu zerren. "Hinlegen!", brüllte Aiko und warf sich schützend über Honeybutt. Gleich einem beidseitig geschliffenen Pendel sausten die Krallen halbkreisförmig durch den Spalt. An ihrem tiefsten Punkt rissen sie Furchen in den Fels, doch Pieroo, Honeybutt und Aiko lagen außerhalb seiner Reichweite. Sofort robbte der Eluu ein Stück voran, um seine Position zu verbessern. Aiko wälzte sich auf den Rücken und feuerte mit dem Driller in die Höhe. Die Sprengkörper, kaum größer als Bleistiftspitzen, explodierten bereits im Gefieder, aber die Druckwellen reichten trotzdem aus, den Riesenvogel zu verwunden. Blut regnete in die Tiefe, doch statt zu fliehen, setzte der Eluu die Attacke nur umso verbissener fort. In völliger Raserei schnappten seine Krallen unkontrolliert auf und zu. Jeder Quadratzentimeter in ihrer Reichweite wurde zur Todeszone. Auf dem Rücken liegend, schob sich Aiko aus dem Spalt. Doch bei dem Versuch, erneut in die Höhe zu feuern, kollidierte sein Arm mit den umherschwingenden Krallen. Der Driller entglitt seiner Hand und fiel klappernd zu Boden. Hilflos sah Aiko seinem Schicksal ins Auge, wie ein geschlagener Gladiator auf dem Grund der Arena, der auf den gesenkten Daumen wartete.
Die Todgeweihten grüßen Euch! Statt eines aufgerissenen Brustkorbs folgte jedoch eine gewaltige Detonation, die den ganzen Spalt erbeben ließ. Ungläubig verfolgt Aiko, was sich über ihm abspielte. Um den Kopf des Tieres wuchs plötzlich eine zweite, glühende Haut. Augen, Ohren und schuppige Federn schwollen innerhalb von Sekunden an und warfen Blasen. Dann zerplatzte alles. Teile des kochenden Gewebes nach sich ziehend, kippte der Eluu hinten über und rutschte so tief in den Spalt, wie es sein Körperumfang zuließ. Noch ein paar letzte Nervenzuckungen, dann klemmte er endgültig fest. Durchdringender Gestank von verbranntem Fleisch breitete sich aus, trotzdem atmeten Aiko und seine Freunde auf. Die Panzerbesatzung hatte zu ihren Gunsten eingegriffen, das ließ für die nächsten Minuten hoffen. Zumal ihnen die Wirkungsweise der Strahlenwaffe bekannt vorkam. Genauso sah es aus, wenn man ein Laserphasengewehr abfeuerte. Ächzend stemmte sich der Cyborg in die Höhe und sah zu dem gepanzerten Fahrzeug, das zwanzig Meter entfernt stoppte. Das Kettenrasseln erstarb, trotzdem wirkte es wie ein Raubtier auf dem Sprung. Und das nicht nur wegen des Geschützturms, dessen Teleskoprohre weiter in ihre Richtung zielten. Aiko hob den rechten Arm und präsentierte die leere Handfläche zum Zeichen seiner friedlichen Absichten. "Das könnten Bunkermenschen aus der Community London sein", erklärte er den anderen. "Wollen wir’s hoffen", gab Honeybutt trocken zurück. "Das wäre die erste gute Nachricht des Tages." Pieroo strich ihr beruhigend über die Wange. "Keine Sorge. Wudan hilft den Tapf’ren." Aikos Vertrauen in die barbarische Götterwelt tendierte gegen
Null, trotzdem hoffte er, das Pieroo Recht behielt. Mit bedächtigen Schritten trat er aus dem Felsspalt und ging den Engländern – wenn es denn welche waren – entgegen. Nachdem er das havarierte Dingi passiert hatte, entdeckte er sowohl seinen Armbruster als auch den abgerissenen Unterarm im Gras. Er merkte sich genau die Stelle, an der die Waffe lag, und ging weiter auf den Arm zu. Seine Verstümmelung bereitete ihm schon einiges Kopfzerbrechen. Wobei er sich allerdings mehr um seine Wirkung auf Honeybutt als um die praktischen Folgen für den Alltag sorgte. Jonglieren und Beidhandakrobatik waren jedenfalls für die nächste Zeit gestrichen. Ich stehe noch unter Schock, analysierte er sachlich, als ginge es um eine fremde Person. Am Ziel angekommen, bückte er sich und hob den Arm auf. Er fasste ihn direkt unterhalb des Handgelenks und schwenkte ihn über seinem Kopf, wie eine Parlamentärsflagge, der das weiße Tuch fehlte. Irgendwie kam er sich in dieser Pose sogar ein bisschen cool vor. Für die Panzerbesatzung musste es jedenfalls sehr merkwürdig aussehen, dass ihnen jemand mit seinem abgerissenen Arm zuwinkte. Aiko versuchte gerade, ein aufkeimendes Kichern zu unterdrücken, als sich im zweiten Fahrzeugsegment eine Rampe herabsenkte und drei in silberne Schutzkleidung gehüllte Technos ins Freie entließ. In ihren Händen lagen Waffen, die silberglänzenden Keulen ähnelten. Sie bestanden jeweils aus einer Kugel an einem sich verjüngenden Rohr. Unter der Kugel ragte eine Art Griff hervor, den sie fest umklammerten. Britische LP-Gewehre, kein Zweifel. Die eingezogenen Teleskoprohre bewiesen aber, dass die Technos nicht auf Angriff fixiert waren. Den abgerissenen Unterarm über die rechte Schulter gelegt,
erwartete Aiko die Abordnung. Es handelte sich um eine Frau und zwei Männer, mit leichenblasser, von blau schimmernden Adern durchzogener Haut. Keinem der Drei spross auch nur das kleinste Härchen auf dem Kopf oder im Gesicht. Ihre Schutzkleidung und die transparenten Helme erinnerten stark an Boris Lewkov, den Techno, dem Aiko in den Minen der Narod’kratow begegnet war. Bei dem Gedanken daran, dass der Russe sterben musste, weil sein Helm mutwillig zertrümmert wurde, überfiel ihn ein Hauch von Wehmut. Bei aller Technik, die den Bunkermenschen zur Verfügung stand, waren sie doch nicht um ihr Schicksal zu beneiden. "Könnten sie bitte die LP-Gewehre senken", bat Aiko die Engländer, sobald er nicht mehr hatte schreien müssen, um sich verständlich zu machen. "Unsere Gruppe kommt in friedlicher Absicht, außerdem ist unser Bedarf an Kämpfen für heute gedeckt." Die Frau, die offenbar das Kommando führte, nickte ihren Begleitern zu und ging dann mit gutem Beispiel voran, indem sie den Lauf zu Boden richtete. Dass Aiko sie in fehlerfreiem Englisch angesprochen hatte und die richtige Bezeichnung der Waffen kannte, schien sie ein wenig zu beruhigen. Genau dies hatte der Cyborg auch beabsichtigt. "Captain Selina McDuncan", stellte sie sich vor. "Kommandantin der Explorer auf Patrouillenflug, im Auftrag der Community London." Sie schien noch etwas anfügen zu wollen, zögerte aber, es auszusprechen. Nach einem deutlichen Blick auf Aikos Oberarmstumpf brach es dann doch aus ihr heraus: "Sind Sie etwa eine kybernetische Persönlichkeit?" Aikos Beherrschung brach nun endgültig zusammen. Er lachte lauthals los, auch wenn das nicht sonderlich fair war. "Tut mir Leid", entschuldigte er sich sofort. "Mir ist schon klar, dass mein Anblick sehr befremdlich wirken muss. Aber ich kann sie beruhigen. Dieser Arm ist nur ein Prothese,
ansonsten bin ich ein normaler Mensch." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber anstatt die ganze Palette seiner Implantate aufzuzählen, wollte er sich lieber selbst vorstellen. Captain McDuncan machte keinen Hehl aus ihrer Überraschung, als sie gleich darauf erfuhr, dass Aiko und seine Begleiter zu der Kratersee-Expedition von Commander Drax gehörten und sie auch Rulfan und Dave McKenzie begegnet waren, die vor einem dreiviertel Jahr von London aufgebrochen waren, um Matthew Drax zur Hilfe zu eilen. Dabei konnte der Cyborg mit einigem Detailwissen aufwarten, das ihn als Eingeweihten auswies. Auf die Frage, wo die anderen Expeditionsteilnehmer wären, erklärte er nur knapp, dass ihre Gruppe die Vorhut übernommen hätte, um wichtige Daten für Queen Viktoria zu überbringen. "Außerdem haben wir einen Schwerkranken, der an den Auswirkungen einer Verstrahlung leidet", hob Aiko hervor. "Commander Drax geht davon aus, dass ihm London jede nur mögliche Hilfe gewährt." Den Technos war deutlich anzumerken, dass bei ihnen Barbaren wie Pieroo nicht allzu hoch im Kurs standen, doch Selina McDuncan nickte verstehend. "Stimmt. Der Commander hatte schon immer ein Faible für diese Wilden. Eine hat ihn sogar damals begleitet, wenn ich mich recht entsinne." So wie sie das Wort begleitet betonte, haftete ihm beinahe etwas Anrüchiges an. Aiko verstand, worauf die Kommandantin hinaus wollte, und war entsprechend verärgert. "Sie reden von Aruula", stellte er klar. "Das ist keine Wilde, sondern eine gute Freundin von mir." Captain McDuncan nahm die Zurechtweisung ohne sichtbare Regung entgegen, vermied aber von nun an jede abschätzige Bemerkung. "Wenn Sie es wünschen, eskortieren wir Ihre Gruppe
selbstverständlich zur Community London", bot sie in neutralem Tonfall an. "Allerdings bitte ich um Verständnis, dass wir bis zur völligen Klärung Ihrer Identität bestimmte Sicherheitsvorschriften einhalten müssen." "Was haben wir darunter zu verstehen?", erkundigte sich der Asiate. "Ihre völlig Entwaffnung, eine Gesundheitsüberprüfung und permanente Überwachung, sobald wir den EWAT betreten." Die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, sah Aiko zu Honeybutt hinüber, die noch immer nicht aus eigener Kraft stehen konnte. Statt hier lange zu lamentieren, hätte sie schon längst medizinisch versorgt werden müssen. "Okay", stimmte Aiko den Forderungen zu. "Vorausgesetzt, Sie kümmern sich um unsere Verletzten." * Wie gut die Techno-Besatzung aufeinander eingespielt war, zeigte sich innerhalb der nächsten Stunde, in der sie nicht nur medizinische Hilfe leistete, sondern auch das beschädigte Dingi in den großen Laderaum des EWATs verlud. Honeybutts Probleme mit ihren Beinen beruhten zum Glück nur auf einer Beckenprellung. Der Arzt, der sich um sie kümmerte, versorgte sie mit einer Salbe und legte einen festen Verband an. Danach fixierte er sie auf einer Trage, damit sie möglichst ruhig lag. Anschließend ging er daran, von Aiko, Pieroo und ihr Blutproben zu nehmen, um sie auf ansteckende Krankheiten zu untersuchen. Sicherheitsspezialisten durchsuchten indessen Kleidung und Ausrüstung des Trios. Jeder von ihnen musste eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, um sicher zu stellen, dass sie keine verborgenen Waffen einschmuggelten. Die Furcht vor einer Unterwanderung saß tief bei den Engländern. Die Durchsuchung von Aikos Beintaschen förderte unter
anderem einen faustgroßen Haufen Elektroschrott zutage, der einmal ein ISS-Funkgerät gewesen war. Mehrfarbige Drähte und einige zerquetschte Platinen ragten aus der gebrochenen Blechhülle hervor. Der Apparat war beim Kampf mit dem Eluu in die Brüche gegangen. "Verdammt", entfuhr es dem sonst so besonnenen Cyborg. Captain McDuncan war sofort alarmiert. "Was ist das?", wollte sie wissen. "Das ist ... das war unsere einzige Möglichkeit, Kontakt mit Commander Drax aufzunehmen. So ein Pech." Ein kurzes Gespräch mit Matt hätte sicher vieles vereinfacht, aber lange herumzufluchen brachte niemanden weiter. Nun musste es eben auch so gehen. Missmutig sah Aiko nach, ob noch mehr Utensilien beschädigt wurden. Zu seiner Erleichterung war wenigstens das Horn heil geblieben, das ihnen Quart’ol ausgehändigt hatte, damit sie Kontakt zu den Hydriten aufnehmen konnten. Der Techno, der ihn durchsuchte, sah sich beide Gegenstände von allen Seiten an. Anschließend händigte er Aiko das Horn wieder aus, weil er damit nichts anfangen konnte. Bei den Überresten des Funkgerätes zögerte er jedoch. Seinem Gesicht nach zu urteilen glaubte er wohl, den Zünder eines nuklearen Sprengsatzes in Händen zu halten. "Darf ich das an mich nehmen?", fragte er. "Vielleicht lässt es sich reparieren." "Von mir aus", gab sich Aiko kooperationsbereit. "Aber falls eure Elektriker an der Aufgabe scheitern, würde ich es gerne selbst einmal versuchen." Das man ihm so viele Dinge aus seinem Besitz abnahm, gefiel dem Asiaten nicht. Trotzdem war er fest entschlossen, den Technos so weit wie möglich entgegen zu kommen. Aiko hoffte aber, dass ihr Misstrauen schwand, sobald er die Kraterseedaten überspielt hatte. Der Sicherheitsspezialist sah sich noch einige andere Gegenstände an und meldete dann seinem Captain, dass alles in
Ordnung wäre. Auf die Idee, Aikos Prothesen zu untersuchen, kam er nicht. Angesichts der starken Beschädigung schienen sie ihm wohl nicht weiter gefährlich. Aiko erhielt sogar die Erlaubnis, ein Mini-Akku an die durchtrennte Energieleitung des Unterarms zu klemmen, damit die darauf befindliche Hautschicht weiter mit Nährgel versorgt wurde und nicht abstarb. Da er nur noch über eine Hand verfügte, musste ihn Pieroo bei der Reparatur unterstützten. Noch während sie die Drähte aneinander flickten, fielen Aiko mehrere Raben auf, die aus verschiedenen Richtungen herbei flogen und nacheinander im Inneren des Laderaums verschwanden. Es schien sich um dressierte Tiere zu handeln, die als mobile Späher eingesetzt wurden. Aiko bemerkte nämlich einen unnatürlichen Schimmer in ihrem schwarzen Brustgefieder, der sich bei genauerer Betrachtung als leicht konvexer, undurchsichtiger Kristall entpuppte. Nicht größer als eine Geldmünze und von graublauer Färbung. Auf seine Nachfrage hin erfuhr er, dass es sich um MiniaturKameras handelte. Die Explorer war also keineswegs zufällig im rechten Moment zur Hilfe geeilt, sondern hatte bereits von der Anwesenheit des Dingi gewusst. Nach einem letzten Blick auf den toten Eluu betrat Aiko den Frachtraum. Ein wenig unwohl war ihm schon dabei, sich waffenlos in die Hände der Technos zu begeben, doch um das Vertrauen der Community zu erlangen, musste er ihr zwangsläufig auch welches entgegenbringen. Unter leisem Zischen schloss die Schleuse luftdicht mit dem Fahrzeugsegment ab. Künstliches Licht erhellte den rechteckigen Raum, dessen Einrichtung nur aus ein paar festgeschraubten Bänken und mehreren Vogelkäfigen bestand. Der Großteil der Besatzung verschwand durch eine angrenzende Schleuse im Inneren des EWATs. Zurück blieben nur Andrew Farmer, der die Kolkraben mit Futter und Wasser
versorgte, sowie ein Wachposten, dem es gefiel, sich in Schweigen zu hüllen. Aiko stellte seine Versuche, ein Gespräch zu beginnen, rasch wieder ein, als er merkte, dass sie nicht fruchteten. Stattdessen wartete er ab, bis sich Captain McDuncan über Bordfunk meldete. Über einen in die Wand eingelassenen Monitor war zu sehen, dass sie inzwischen Helm und Schutzkleidung abgelegt hatte. Der helle Dienstoverall mit dem ausgestellten Kragen betonte ihre weiblichen Formen, sodass sie sich nun deutlicher von ihren männlichen Kollegen unterschied. "Ich wollte nur mitteilen, dass wir in wenigen Minuten abheben", erklärte sie Aiko. "Um Ihre Gruppe über das Fluggeschehen auf dem Laufenden zu halten, werden wir die Aufnahmen der Bugkamera auf diesen Bildschirm legen." Der Cyborg bedankte sich für die freundliche Geste und schlug im Gegenzug vor, bereits alle relevanten Daten zu überspielen, die er der Community aushändigen wollte. "Sie tragen das Speichermedium bei sich?", fragte Captain McDuncan, keineswegs überrascht. "Nicht nur bei mir", versicherte Aiko und tippte dabei gegen seine Schläfe. "Vielmehr in mir drin." Ein unwillkürliches Lächeln kräuselte die schmalen Frauenlippen. "Es existiert also ein externer Zugangsport zu Ihren neurologischen Implantaten?" Aha, man hatte sie also bei Betreten des EWATs gescannt. Nun, das sollte Aiko nur Recht sein. Um so weniger musste er erklären. Nachdem er bejaht hatte, zierte sich die Kommandantin noch eine Weile, dem Download zuzustimmen. Ihr fein geschnittenes Gesicht spiegelte dabei den inneren Zwist deutlich wider. Einerseits schien sie Aiko durchaus zu vertrauen. Auch wenn er mit seinem abgerissenen Kunstarm einen schauerlichen Eindruck machte, so sprach er doch fehlerfreies Englisch und bewegte sich intellektuell auf der
gleichen Ebene wie die Technos. In dieser barbarischen Welt, in der sich die menschliche Zivilisation nur in kleinen Enklaven gehalten hatte, machte ihn das zwangsläufig zu einem Verbündeten. Andererseits durfte Selina McDuncan nicht die Möglichkeit außer Acht lassen, dass er vielleicht vom selben Schlage wie der Weltrat in Washington war, von dem Dave McKenzie der Queen nichts Gutes berichtet hatte. Falls der Fremde – und als solchen musste sie Aiko nun einmal betrachten – den Download nutzte, um einen Virus in das Bordsystem zu speisen, mochte das die Sicherheit der gesamten Community gefährden. Aiko bemühte sich um einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck, der Captain McDuncan von seiner Harmlosigkeit überzeugen sollte. Komm schon, Baby, können diese kybernetisch optimierten Augen lügen? "In Ordnung", stimmte sie nach kurzer Bedenkpause zu. "Corporal Farmer, unser Aufklärer, wird Ihnen behilflich sein, die Daten auf ein gesichertes System zu übertragen." Die Sicherung sah vermutlich so aus, dass der Terminal vom übrigen Rechnerverbund abgekoppelt wurde. Aiko fragte deshalb nicht weiter nach, sondern tauschte ein paar letzte Höflichkeitsfloskeln aus, bevor der Start den Captain anderweitig in Anspruch nahm. Nachdem der Bildschirm auf die Außenaufnahme umgesprungen war, kniete Aiko neben der Trage nieder, auf der Honeybutt lag. Das Gesicht seiner Freundin zeigte einen gelösten Ausdruck, der aus den Schmerzmitteln resultierte, die ihr verabreicht wurden. "Ich kann meine Beine wieder spüren", versicherte sie mit scheuem Lächeln. "Mir tut nur alles so weh." "Das wird schon wieder", versicherte Aiko und meinte das auch völlig ernst. Alles was Honeybutt brauchte, um wieder auf den Damm zu kommen, waren ein paar Tage Ruhe und
gute Pflege. Bei Pieroo sah die Sache ganz anders aus, obwohl sich der zottelige Barbar äußerlich unversehrt auf der Bank ausstreckte. Nur wer ihn besser kannte, sah ganz genau, wie ausgemergelt er inzwischen unter der starken Körperbehaarung war. Dass er sich vorhin beim Kampf mit dem Eluu zum Rückzug hatte überreden lassen, sagte mehr über seinen Zustand aus als eine medizinische Diagnose. Hoffentlich besaß man in der Community die richtigen Medikamente und Behandlungsmethoden, sonst sah es schlecht für ihn aus. Das anschwellende Summen des Nukleargenerators trieb Aiko auf seinen Platz, dabei wäre die Eile gar nicht nötig gewesen. Das Magnetfeld, das sich unterhalb des EWATs aufbaute, produzierte nicht mehr als ein leises Zittern in der Kabine. Auf dem Bildschirm verfolgte er mit, wie das Fahrzeug senkrecht in die Höhe stieg und Richtung Küste los flog. Knapp einen Kilometer dauerte es, bis dichtes Buschwerk sichtbar wurde, hinter dem sich eine steil abfallende Felswand anschloss, die in einige vorgelagerte, von gischtenden Wellen umspülte Klippen mündete. Danach folgte die graue, aufgewühlte See, die sich zwischen Frankreich und Großbritannien erstreckte. Oder vielmehr zwischen Fraace und Britana, wie es Pieroo ausgedrückt hätte. Der gleichmäßige Wellengang, der den Bildschirm beherrschte, besaß etwas Einschläferndes. Am liebsten hätte sich Aiko auf eine der Bänke gelegt, um sich von den vergangenen Strapazen zu erholen. Da er aber selbst vorgeschlagen hatte, die Daten noch während des Fluges zu übermitteln, musste er Wort halten. Gemeinsam mit Corporal Farmer setzte er sich an das Frachtraumterminal und holte aus einer Beintasche das Verbindungskabel für die serielle Schnittstelle in seinem Nacken hervor. Ganz in Gedanken hob er den linken Arm, um seinen langen Zopf, der den Zugangsport verdeckte, zur Seite zu schieben. Als er dabei ins Leere griff, erstarrte Aiko vor
Schreck. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm wieder einfiel, dass seine linke Hand überhaupt nicht mehr existierte. In diesem Augenblick wurde ihm zum ersten Mal die ganze Tragweite der Amputation bewusst. Auch wenn es ihm schwer fiel, in nächster Zeit würde er nur noch die Hälfte leisten können. Das ließ sich nicht ändern. "Alles in Ordnung?", fragte Corporal Farmer, der sein Zögern bemerkte. "Ja, sicher", log Aiko, "mir geht es gut." Ein aufkeimendes Zittern unterdrückend, schob er den Zopf mit der Rechten zur Seite und friemelte gleichzeitig den Stecker in die offene Buchse. Nachdem die Verbindung stand, gab es noch ein paar Kompatibilitätsprobleme, doch wer sich an russische Software anpassen konnte, kam auch mit der britischen klar. Der anschließende Download war nur noch eine Sache von wenigen Minuten. Andrew Farmers Augen weiteten sich unter dem Vollglashelm, als er die ersten Zahlenkolonnen und Protokolle überflog. Was Aiko da präsentierte, waren nicht nur die ISSDaten, die Matt und Aruula von ihrem Ausflug in die Stratosphäre mitgebracht hatten, sondern auch die Berichte der russischen Expedition sowie ihre eigenen KraterseeAufzeichnungen. Das alles auszuwerten würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die Aiko anderweitig nutzen wollte. "Viel Spaß damit", wünschte er dem Corporal, der somit unverhofft als Erster in den Besitz des brisanten Materials kam. Eine außerirdische Macht, die mit "Christopher-Floyd" auf der Erde niedergegangen war, nahm schon seit Jahrhunderten Einfluss auf alles Leben und schickte sich nun an, den Planeten in neu gezüchteten Körpern zu übernehmen. Das war wirklich harter Stoff, den man niemandem schonend beibringen konnte. Deshalb versuchte es Aiko auch gar nicht
erst, sondern überließ es den Briten, die eigenen Schlüsse aus den vorhandenen Fakten zu ziehen. Als Aiko sich auf einer freien Bank niederließ, überkam ihn schlagartig bleierne Müdigkeit. Gähnend streckte er sich aus, und fiel umgehend in einen tiefen, traumlosen Schlaf. * Mit dem sicheren Instinkt eines Mannes, der gelernt hatte, in einer feindlichen Umwelt zu bestehen, erwachte der Asiate genau in dem Augenblick, als die englische Küste in Sicht kam. Ein wenig erfrischt, richtete er sich auf und verfolgte am Bildschirm, wie der EWAT der Mündung der Themse folgte und zu beiden Seiten des Ufers die Ruinen einer untergegangenen Großstadt sichtbar wurden. Aiko hatte dergleichen schon dutzendfach auf seinen Reisen gesehen, trotzdem überlief ihn ein kalter Schauer, als er die traurigen Reste der Tower Bridge entdeckte. Dieses Bauwerk war ihm aus den Datenbanken in Amarillo bekannt, und er wusste, dass seine Mutter, die bereits seit über fünfhundert Jahren lebte, sie während eines Urlaubs zwei Jahre vor der Katastrophe zu Fuß überschritten hatte. Dem Flussverlauf folgend, passierten sie noch weitere Brücken, von denen nurmehr die Fundamente aufragten. Die trüben Fluten der Themse duckten sich unter der unsichtbaren Last des Magnetfelds wie unter einem Luftkissen, während sie Southwark zur Linken und die ehemalige City of London zur Rechten passierten. Auch jetzt noch, nach Jahrhunderten der Degeneration, wurden die alten Hafenanlagen von Fischern, Matrosen und Händlern bevölkert. Motorisierte Schiffe suchte man aber vergeblich. Selbst Dampfkraft war diesen Barbaren unbekannt. Hier existierten nur kleinere und größere Segler, mit fein geschnittenen bis klobigen Rümpfen. Ruderboote fuhren
selbstverständlich ebenfalls umher. Zumeist kleine Ausleger für ein bis zwei Personen, aber auch größere Kaliber, die an Strafgaleeren erinnerten. An manchen Stellen lagen die Schiffe so dicht beieinander, dass ein Mann hundert Meter über die Themse gehen konnte, ohne einen Fuß ins Wasser zu tauchen, dann folgten wieder Abschnitte, an denen nur einzelne Kähne längs der brüchigen Kaianlagen festgemacht hatten. Sobald der Knick, den der Fluss auf Höhe der Waterloo Bridge machte, hinter ihnen lag, wurden auf der rechten Seite die Ruinen der Houses of Parliament sichtbar. Aiko war nicht weiter verwundert, als der EWAT die Geschwindigkeit reduzierte, um auf die Reste des einst goldbraunen, aber nun grau verwitterten Yorkstein einzuschwenken. Unterhalb des Gebäudes lag ein riesiger Regierungsbunker, der vermutlich die Keimzelle der Community bildete. Trotz aller Zerstörung bot die langgestreckte Flussfassade des Parlaments einen imposanten Anblick. Flankiert wurde sie von der quadratischen Masse zweier eingestürzter Türme. Dem Victoria Tower im Süden und dem schlankeren Clock Tower im Norden, der als Big Ben bekannt gewesen war, obwohl der Name ursprünglich nur der Glocke in der Turmuhr gegolten hatte. Hohe Kuppeln aus Titanpanzerglas wuchsen zwischen den Fundamenten der Ruine empor. Unter einer von ihnen verbarg sich das Hauptportal des Bunkers. Auf einem frei geräumten Platz ging der EWAT nieder und fuhr von nun an auf Ketten weiter. Ehe Aiko ausmachen konnte, welchen Teil des Gebäudes sie genau ansteuerten, wechselte das Bild auf dem Monitor und machte erneut einer Aufnahme von Captain McDuncan Platz. "Ich habe inzwischen mit der Prime und dem Oktaviat konferiert", verkündete sie, sichtlich erleichtert, die Verantwortung abgeben zu können. "Es wurde beschlossen,
Ihre Gruppe im SEF unterzubringen. Dort gibt es die Möglichkeit sie medizinisch zu versorgen und alles weitere in Ruhe zu besprechen." Aiko warf Corporal Farmer einen fragenden Blick zu, den dieser sofort richtig interpretierte. "SEF bedeutet Septisch Externes Foyer", erklärte er schnell. "Damit sind die abgeschotteten Kuppeln gemeint, die Sie gerade sehen konnten. Dort halten und trainieren wir zum Beispiel unsere Kolkraben, ohne eine Verseuchung des Bunkers zu riskieren. Sie wissen ja, dass unser Immunsystem recht instabil ist ..." Aiko nickte verstehend. Die Vorsicht der Technos ließ sich gut nachvollziehen. Schon der Atem eines normalen Menschen mochte für sie tödliche Bakterien enthalten, deshalb besaß Sterilität für die Community oberste Priorität. Aber auch für Pieroo und Honeybutt war die Unterbringung in einem septischen Bereich die einzig vernünftige Lösung. Denn wenn man sie in Schutzanzüge packte, um sie mit in den Bunker zu nehmen, konnten sie nicht mehr vernünftig behandelt werden. Eine kurze Erschütterung zeigte an, dass der EWAT stoppte. Gleich darauf öffnete sich das Schott. Durch das frei werdende Rechteck fiel sein Blick auf eine vollverglaste Schleuse, hinter der kleine schwarze Kuppeln sichtbar wurden. An ihrem Scheitelpunkt maßen sie zirka drei Meter, während die gläserne Haube, die den ganzen Komplex umschloss, einen Radius von ungefähr zwanzig Metern besaß. Irgendwie erinnerte die Szene verdammt an Sub’Sisco, nur dass hier keine Wassermassen fern gehalten wurden, sondern verkeimte Luft. "Corporal Farmer wird Ihre Gruppe begleiten und sie in die Unterkünfte einweisen", zog Selina McDuncan das Gespräch wieder an sich. "Außerdem ist bereits ein Ärzteteam auf dem Weg zur Oberfläche." Diese Vorgehensweise kam Aiko sehr entgegen, denn
Andrew Farmer, der gerade erst Anfang bis Mitte Zwanzig sein konnte, machte einen sehr umgänglichen Eindruck. Die Überwachung wurde also schon etwas gelockert. Ohne viel Zeit zu verlieren, hoben Pieroo und der junge Soldat die Trage an, auf der Honeybutt lag, und transportierten sie ins Freie. Aiko folgte ihnen bis zur Glasschleuse, die sich selbsttätig öffnete und hinter ihnen wieder schloss. Pieroo entfuhr ein trockenes Schnauben, als gleich darauf mehrere UV-Röhren ansprangen, die sie von allen Seiten bestrahlten. Instinktiv griff er zu der leeren Schwertscheide an seinem Gürtel, während er mit der anderen Hand die Augen vor dem grellen Licht abschirmte. "Wat soll’n das?", fragte er aufgebracht, als ob ihn gerade jemand ins Gesicht gespuckt hätte. Aiko erklärte schnell, dass dieser Vorgang nur dazu diente, Keime und Bakterien abzutöten, die jeder Mensch in seiner Kleidung und auf der Haut trug. Dem in speckige Fellkluft gekleideten Barbaren war deutlich anzusehen, dass er mit dieser Erklärung wenig anfangen konnte, trotzdem entspannte er sich, in dem Vertrauen darauf, dass Aiko schon wusste, wovon er sprach. "Wennes gefährlich wird, sagste Bescheid, klar?", verlangte er aber, nur für den Fall, dass noch weitere unangenehme Überraschungen auf sie lauerten. "Keine Sorge", beruhigte ihn der Cyborg. "Du bist garantiert der Erste, dem ich das Zeichen zum Losschlagen gebe." Noch während die Dekontamination in vollem Gange war, wurden die Vogelkäfige ausgeladen. Corporal Farmer würde sie später in die Freiflughalle bringen. Danach setzte sich die Explorer wieder in Bewegung. Mit geringer Geschwindigkeit rollte sie auf das Hauptportal zu und verschwand über einen Fahrzeuglift in der Tiefe. Nachdem die UV-Bestrahlung beendet war, konnten auch Aiko und seine Freunde den Weg fortsetzen. Gemeinsam
transportierten sie Honeybutt zu einem schwarzen Kuppeltrakt, der ein komplettes Lazarett enthielt. Corporal Farmer wusste zu berichten, dass hier schon Dave McKenzie gepflegt worden war. Eine flüchtige Überprüfung bestätigte Aiko, dass es hier alles gab, was des Mediziners Herz begehrte. Dies würde vor allem Pieroo zugute kommen, der dringend einer Chemotherapie bedurfte. Kaum dass sie Honeybutt in ein Krankenbett verfrachtet hatten, tauchte auch schon ein halbes Dutzend Technos auf, bei denen es sich um die hochrangigsten Ärzte in der Community handelte. Trotz der UV-Bestrahlung trugen sie Schutzanzüge, denn natürlich schieden Aiko, Honeybutt und Pieroo weiterhin Bakterien aus, die den Bunkermenschen gefährlich werden konnten. Berührungsängste kannten sie deshalb aber nicht. Im Gegenteil. Besonders Pieroos Zustand versetzte sie in Verzücken. "Wunderbar, ein wirklich hochinteressanter Fall", freute sich der Anführer des Teams, der sich als Doktor Afflek vorstellte. "Den Daten Ihrer Blutprobe zufolge leiden Sie an den Folgen einer nuklearen Verstrahlung, mein wilder Freund. So etwas gibt es heute nur noch sehr selten. Trotzdem sind wir darauf vorbereitet, schließlich wurde unsere Community jahrhundertelang mit Atomstrom versorgt." Pieroo wusste diese Ankündigung nicht recht zu schätzen. Das zeigte sich besonders, als Dr. Afflek seine Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und in die Tiefe zog, wie bei Nutztier, das auf dem Markt verkauft werden sollte. "Aha!" Triumph beherrschte die Stimme des Arztes. "Wie ich es mir dachte: Zahnfleischschwund. Ein klarer Hinweis auf den fortgeschrittenen ..." Ein Aufschrei beendete die Diagnose, weil Pieroo dem Mediziner kräftig auf die Finger schlug. Raschelnd die
behandschuhten Hände ineinander reibend, um den Schmerz zu lindern, wandte sich der Geschlagene an Aiko und forderte empört: "Würden Sie diesem Wilden bitte erklären, dass eine Untersuchung seines körperlichen Zustandes dringend ..." "Würden Sie meinen zivilisierten Freund bitte mit demselben Respekt behandeln wie Ihre übrigen Patienten?", unterbrach Aiko ungehalten. Und an Pieroo gewandt: "Bleib bitte friedlich. Auch wenn sie keine Manieren haben: Diese Männer und Frauen wollen dein Leben retten." Seine Ansprache zeigte umgehend Wirkung. Von nun an gingen die Ärzte feinfühliger vor, und auch Pieroo überwand seine Scheu, sich von den vermummten Fremden berühren zu lassen. Wohl auch unter dem Gesichtspunkt, dass in seinem Körper eine Krankheit wütete, der er nicht aus eigenen Kräften trotzen konnte. Aiko hatte leider keine Zeit, der Untersuchung beizuwohnen, da er zu einer Konferenzschaltung in einen Nebenraum beordert wurde. Corporal Farmer zeigte ihm noch den Weg, bevor er sich zur weiteren Versorgung der Kolkraben verabschiedete. Als Aiko eintrat, lief bereits ein großer Wandmonitor, auf dem sich eine Frau mittleren Alters abzeichnete. Sie trug ein mit silbernem Flitter besetztes Kleid aus blauem Brokat, dessen weit ausgestellter Kragen bis hinauf zu den Ohren reichte. Ihr kahles Haupt zierte eine blaue Perücke, die wegen der fehlenden Augenbrauen irgendwie fehl am Platze wirkte. Allein schon in der herablassenden Art, mit der sie Aiko beim Eintreten musterte, spiegelte sich wider, dass sie gewohnt war, Befehle zu erteilen und ihren Willen durchzusetzen. Gleichzeitig gab es aber auch eine unterschwellige Nervosität, die sie vergeblich zu unterdrücken suchte. Obwohl Aiko diese Frau noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, wusste er schon, dass es sich um Queen Viktoria handelte, noch ehe sie sich ihm vorstelle.
"Sie sind also Aiko Tsuyoshi", stellte sie danach fest, wie um sicher zu gehen, dass sie mit der richtigen Person sprach. "Ein Wegbegleiter von Commander Drax, wie man uns berichtet hat." Aiko bestätigte, dass er Matthew Drax, den die Barbaren Maddrax nannten, inzwischen seit zwei Jahren kannte und mit ihm und Aruula zu einer Kratersee-Expedition aufgebrochen war. Noch während er überlegte, wie ausführlich er die Umstände ihrer Freundschaft schildern sollte, prasselten weitere Fragen auf ihn ein, die nur zum Teil von der Queen gestellt wurden. Ein Zoom in die Totale zeigte schnell, dass die Prime von drei Männern und einer Frau umgeben war, die offensichtlich das Oktaviat bildeten. "Bitte nicht alle durcheinander", bat Aiko. "Ich kann verstehen, dass Ihnen viele Frage auf der Seele brennen, aber wir haben genügend Zeit, um alles in Ruhe zu besprechen." Die Prime übernahm daraufhin wieder die alleinige Gesprächsführung, obwohl das einigem Widerspruch unter ihren Ratsmitgliedern auslöste. "Wir konnten die übermittelten Daten bisher nur oberflächlich sichten", entschuldigte sie sich, während sie einen der Ratsherren, der sich besonders erboste, noch mit kühlem Blick strafte. "Aber was unsere Experten bisher ausgewertet haben, erscheint doch recht ... unglaubhaft. Wie es scheint, existieren da Berichte über außerirdische Individuen, deren Lebensauren angeblich in Kristallen gespeichert sind. Und die gerade dabei sind, sich Körper zu schaffen, um noch aktiver wirken zu können." Aiko bejahte, ohne lange zu zögern. Mit dem anschließend losbrechenden Protest hatte er gerechnet, jedoch nicht mit der damit verbundenen Lautstärke. "Unglaublich!", ereiferte sich der Erste in der Runde. "Eine Unverschämtheit", rief der Nächste. "Man will uns für dumm verkaufen!"
"Nie und nimmer hat dieser schadhafte Roboter etwas mit Commander Drax zu tun!" In diesem Tonfall ging es noch eine Weile weiter. Aiko hörte sich alles vollkommen ruhig an. Erst als ihm vorgeworfen wurde, dass er für den Weltrat arbeiten könnte, wurde es ihm zu bunt. Die Zornesröte, die ihm daraufhin ins Gesicht stieg, überzeugte die meisten davon, dass er keineswegs vollständig aus Plysterox bestand. Die aufgebrachte Ansprache, die er danach vom Stapel ließ, sorgte für ein Übriges. Mit präzisen Formulierungen legte er dar, was Commander Drax seit seinem Shuttleflug an Daten gesammelt hatte, die Stück für Stück die Existenz der Daa’muren belegten. Je länger Aiko seine Argumente ausführte, desto stiller wurden die Ratsmitglieder, die deutlich spürten, dass da jemand sprach, der von seiner Sache völlig überzeugt war. Und damit die Technos gar nicht erst vor Angst erstarrten, legte Aiko auch gleich dar, was getan werden musste, um der sich abzeichnenden Gefahr zu begegnen. Die Verteidigung musste vorbereitet werden, solange sie noch Zeit dazu hatten. Nicht nur hier, sondern überall in Euree und auch Meeraka. Und um das Licht am Ende des Tunnels noch etwas mehr zu erhellen, weihte er sie noch gleich in die Existenz von Mr. Black ein – einem Mann, aus dessen Blut ein Serum hergestellt werden konnte, das die Immunschwäche in den Bunkergesellschaften beheben konnte. Diese Ankündigung löste, wie beabsichtigt, eine wahre Flut von neuen Fragen aus. Plötzlich redeten alle wild durcheinander. Selbst Queen Viktoria war diesmal nicht in der Lage, für Ruhe zu sorgen. Ehe Aiko noch weitere Einzelheiten mitteilen konnte, wurde das Stimmengewirr im Lautsprecher allerdings von lautem Geschrei aus dem Nebenraum übertönt.
"Lasst mich los, ihr Taratzenärsche!", brüllte eine tiefe Stimme. "Das lass ich nich mit mir machen! Lieber krepier ich!" Aiko wirbelte alarmiert auf dem Absatz herum. Verdammt. Das klang ja wirklich so, als ob es Pieroo diesmal ans Leder ging. Ohne weiter auf die Queen und ihre Ratsmitglieder zu achten, rannte er ins Lazarett, um dem Barbaren beizustehen. * In der Krankenstation angelangt, bot sich Aiko eher ein Bild der Komik denn des Schreckens. Triefnass und nur mit einem Handtuch um den Lenden, stand Pieroo inmitten des Raumes und hielt mit kreisenden Fäusten zwei Mediziner auf Distanz, die elektrische Schermaschinen in Händen hielten. Den feuchten Fußspuren nach zu urteilen, die zu einer nahe gelegenen Nasszelle führten, hatte der Barbar gerade geduscht, schien jetzt aber nicht gewillt, noch weitere Pflegemaßnahmen über sich ergehen zu lassen. "Ihr blöden Kahlköppe seidja nur neidisch auf meine Haare!" Für diese Behauptung erntete er von den Ärzten empörten Widerspruch. Anfangs redeten alle durcheinander, bis sich Dr. Afflek, der alles aus sicherer Entfernung verfolgte, Gehör verschaffte. "Nehmen Sie doch Vernunft an, Mr. Pieroo", forderte er mit einer Leidenschaft, die nur echte Vollblutmediziner aufbringen. "Für den Erfolg der Behandlung ist es nicht nur aus hygienischen Gründen unerlässlich, dass wir Ihren Körper rasieren. Dermaßen zugewuchert, wie Sie sind, können wir ja nicht mal Sensoren auf Ihrer Haut anbringen!" In einer hilflosen Geste zeigte er auf die pechschwarze Behaarung, die den Barbaren wie ein dichtes Fell umhüllte. "Geschweige denn Infusionen legen!" "Ist diese Prozedur wirklich notwendig?", mischte sich Aiko
ein, der nur zu genau wusste, wie viel Wert Pieroo auf seinen natürlichen Schutzmantel legte. Der Versuch, die Angelegenheit mit ein paar Worten von der Tür aus zu regeln, scheiterte jedoch kläglich. Sowohl die Ärzte als auch der widerspenstige Patient sahen in Aiko eine willkommene Schützenhilfe, um die eigene Position zu stärken. So musste er näher treten und sich genau in die Behandlungsmethoden einweihen lassen. Wie es schien, plante Dr. Afflek eine komplette Blutwäsche in Kombination mit einer Chemotherapie, die Pieroos wuchernde Krebszellen in einer mehrtägigen Kur abtöten sollte. Angesichts der wohl dosierten Gifte, die dabei den Stoffwechsel überschwemmen, mussten Herz, Kreislauf und Atmung des Patienten rund um die Uhr kontrolliert werden. Dabei konnte der dichte Pelz durchaus hinderlich sein. "Warum beschränken Sie die Rasur nicht auf den Bereich oberhalb des Bauchnabels?", versuchte sich Aiko in einem salomonischem Urteil, das zwar keine Partei richtig zufrieden stellte, aber letztendlich von allen angenommen wurde. Die beiden Assistenzärzte, die dem Haar zu Leibe rücken sollten, trauten sich zwar nur zögernd näher, schritten dann aber mutig zur Tat. Unter leisem Summen fielen die ersten Büschel zu Boden. Pieroo sah der schwarz gelockten Pracht wehmütig nach, wie ein Vater, der sein eigen Fleisch und Blut verlor. Zufrieden mit der raschen Lösung, kehrte Aiko in den Nebenraum zurück, um die Videokonferenz fortzuführen. Die Unterbrechung besaß durchaus ihr Gutes. Mittlerweile hatten sich die Gemüter beruhigt und Neugier die Unruhe abgelöst. In dieser Atmosphäre fiel es leichter, die Wirkung des Serums und seine tröpfchenweise Verabreichung durch einen unter der Kleidung getragenen Beutel zu erklären. Von kleinen Behinderungen abgesehen, ermöglichte diese Prozedur ein normales Leben. Außenstehende bekamen nicht einmal mit,
dass die Betroffenen unter einer Immunschwäche litten. Aus diesem Grund hatte auch Dave McKenzie während seiner kurzen Begegnung mit dem Weltrat nichts von dem Serum erfahren. Queen Viktoria schien von der Aussicht auf die neue Bewegungsfreiheit besonders fasziniert zu sein. In Gedanken malte sie sich wohl schon den ersten Ausflug an die Oberfläche aus, als sie mit glänzenden Augen fragte: "Befindet sich die entsprechende Formel unter den überspielten Daten?" "Nein", musste Aiko sie enttäuschen. "Der Weltrat mag inzwischen eine Möglichkeit kennen, das Serum synthetisch herzustellen. Ihre Community wird dagegen vorerst auf Mr. Blacks Blutspenden angewiesen sein. Aber keine Sorge, es kann nicht mehr allzu lange dauern, bis er und die anderen eintreffen. Der ARET, mit dem sie unterwegs sind, kommt gut voran. Während unseres letzten Funkkontakts befanden sich Matt, Aruula und Mr. Black bereits in Moskau, um eine dortige Bunkergemeinschaft über die Gefahr vom Kratersee aufzuklären." Das Mutantenheer, das vor der russischen Metropole sein Ende gefunden hatte, ließ er noch unerwähnt. Aiko wollte die Engländer nicht gleich am ersten Tag mit Informationen überhäufen. Für Matthew war dieser Sieg jedoch Grund genug gewesen, einen Funkruf zu wagen. Und dies, obwohl bei jedem Gespräch über das ISS-Relais die Gefahr bestand, dass es vom Weltrat abgehört wurde. Trotzdem war die Neugier der Prime und ihrer Ratsmitglieder lange nicht befriedigt. Aiko musste noch eine weitere Stunde Rede und Antwort stehen, bis sein Hals langsam rau wurde. Er schlug deshalb eine Pause vor, in der sich die Community weiter mit den überspielten Daten befasste, damit er nicht alles doppelt und dreifach erklären musste. Schlussendlich einigten sich alle darauf, dass er am kommenden Tag an einer Ratssitzung teilnehmen sollte, zu der bereits Vertreter der
Community Salisbury eingeladen waren. Besonders Sir Leonard, Rulfans Vater, schien begierig darauf, mehr über die Vorkommnisse am Kratersee zu erfahren. Dass man Aiko – natürlich mit entsprechender Schutzkleidung ausgestattet – in den Bunker einlassen wollte, wertete er als Vertrauensbeweis. Zufrieden mit der bisherigen Kontaktaufnahme, nahm er Abschied von den Diskussionsteilnehmern, innerlich froh, sich wieder seinen Freunden widmen zu können. Zuerst stattete er Pieroo einen Besuch ab, der inzwischen ausgestreckt auf einem mit weißen Laken bezogenen Bett lag. Brustkorb, Ohrläppchen und Unterarme des Barbaren waren mit Elektroden gepflastert, die seine Körperwerte an umstehende Geräte übermittelten. Leise piepsende Kurvendiagramme dokumentierten von nun an lückenlos den Zustand des unglücklich dreinschauenden Patienten. Im Kampf gegen die Schermaschinen hatte Pieroo zwar einen kleinen Sieg davongetragen, weil es ihm gelungen war, den struppigen Bart mit Klauen und Zähnen verteidigen, trotzdem fühlte er sich merkwürdig nackt. Ein überraschend empfindsames Verhalten, wenn man bedachte, dass seine Haut schon wieder von dunklen Schatten überzogen wurde. Auch wenn es biologisch unsinnig sein möchte, beschlich Aiko der Eindruck, förmlich dabei zusehen zu können, wie das Haar aus den Poren spross. Nach ein paar aufmunternden Worten ging der Cyborg wieder. Angesichts des geschäftigen Ärzteteams, das alles für die erste Blutwäsche vorbereitete, hätte er sowieso nur im Wege gestanden. Eins musste man den Londoner Technos wirklich lassen: Sie scheuten keine Mühen, um Pieroo zu helfen. Matthew musste wirklich hohes Ansehen genießen. Vor allem bei der Queen, wie es schien. Sein letzter Blick galt Dr. Afflek, der einen Ständer herbei
rollte, an dem ein mit klarer Flüssigkeit gefüllter Tropf hing. B Rhesus positiv, verkündete ein handschriftlicher Aufkleber. Plasma, für den Fall, dass bei der Blutreinigung etwas schief ging. Obwohl Pieroo nur ungefähr ahnen konnte, was die Behandlung mit sich brachte, wirkte sein Gesicht äußerst angespannt. Eins hatten ihm die Technos deutlich gemacht: Bei der nun bevorstehenden Prozedur war er auf sich gestellt. Er musste die Folgen der Chemotherapie allein ertragen, dabei konnte ihm niemand helfen. Auch wenn dieser Kampf im Bett liegend ausgefochten wurde, so würde es vermutlich doch der schwerste seines barbarischen Lebens werden. * "Vater, wo bleibst du denn?" Der kleine, von nachtblauem Samt umgebene Junge, der nach ihm rief, sah viel größer aus als in seiner Erinnerung, aber die Ähnlichkeit zu Wyllem blieb unverkennbar. Pieroo glaubte beinahe in sein eigenes Antlitz zu schauen, so wie damals, wenn er es als Kind in einem ruhigen Teich oder Brunnen gesehen hatte. Wyllem, sein eigen Fleisch und Blut. Wie sehr er die Familie doch vermisste. Und wie gerne er sie wieder in die Arme schließen würde! Sein geliebtes Weib und den geliebten Sohn. "Komm doch zu uns", lockte Wyllem, als ob er Gedanken lesen könnte. Pieroo hatte jedoch längst den Versuch aufgegeben, weiter zu laufen. Zu oft hatte er schon probiert, dieses trennende schwarze Nichts zu überwinden, das zwischen ihnen lag. Er wusste, dass sich die Entfernung doch bloß wieder mit jedem Schritt weiter ausdehnen würde. "Lass deinen Vater", tadelte auch Samtha, die plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, neben dem Jungen stand. "Ihm geht es nicht gut."
Sie trug ein kostbares blutrotes Gewand, das Pieroo bislang nicht kannte, und wirkte wie die Anmut in Person. Gut, vielleicht ein wenig bleich im Gesicht, gerade so, als ob sie in Milch gebadet hätte, doch unglaublich schön. Nur dass sie das eureeische Amulett nicht trug, den Halbmond, in dem der Bernstein so schön glänzte, schmerzte ihn ein wenig. Pieroo versuchte Mutter und Kind anzusprechen, um zu erklären, warum sie so lange auf seine Rückkehr warten mussten. Sie sollten unbedingt wissen, dass die Expedition länger als geplant gedauert hatte und dass er über die andere Seite der Welt zurückkehren musste. Leider gab es dabei das gleiche Problem wie immer. Er brachte kein einziges Wort heraus. Und wie jedes Mal, wenn er dann wild zu gestikulieren begann, um sich wenigstens per Zeichensprache mitzuteilen, erschien ein dritte Gestalt, die von hinten auf Samtha und Wyllem zutrat und schützend die Arme um die beiden legte. Ein kräftiger wilder Geselle war das, mit struppigem, feuerroten Haar und einer weißen Narbe, die über das linke erblindete Auge lief. Pieroo hasste diesen in Fell und Leder gekleideten Muskelprotz, weil er Frau und Kind stets mit sich nahm. Ein kurzes wehmütiges Winken, mehr Zeit blieb nicht, bevor sie alle drei verblassten. Dann waren sie fort. Bis zur nächsten Begegnung im nächsten Fiebertraum, der so sicher kommen würde, wie der Schmerz nach einem Schlag über den Kopf folgt. Lange Zeit fragte sich Pieroo, wer dieser neue Mann in Samthas Leben sein möchte, ohne eine Lösung für dieses Rätsel zu finden. Doch als ihm dann, wie aus heiterem Himmel, ein Licht aufging, schreckte er auf dem Bett empor und schrie sein Entsetzen in die Nacht heraus. *
Übelkeit, Dämmerschlaf und Ermattung. Das waren die drei Zustände, die Pieroo während der Behandlung in unendlicher Abfolge durchlief. Seine eiserne Konstitution, die früher jeder Krankheit widerstanden hatte, schien endgültig geschwunden. Dickflüssiger, klebriger Schweiß bedeckte seine Haut, während er sich stöhnend in den Laken wälzte. Statt Blut brodelnde Lava durch seine Adern. Die beiden Einstiche, durch die der roten Strom seinen Körper verließ und gereinigt zurückkehrte, juckten so schlimm, dass er die Kanülen mehrmals heraus riss. Dass ihn die Ärzte daraufhin ans Bett fesselten, machte die Prozedur nicht angenehmer. Wären nicht immer wieder Aiko und Honeybutt an seiner Seite erschienen, um zu versichern, dass alles zu seinem Besten geschah, hätte er wohl lieber seine angeschwollene Zunge verschluckt, um gnädig zu ersticken, als diese von unablässigen Qualen geprägte Existenz noch weiter zu ertragen. An Schlaf war in dieser Zeit nicht zu denken. Es gab nur Phasen der Dämmerung, in denen sein Geist in fremde Gefilde abdriftete. Mochten es auch Fieberträume sein, in denen er Samtha und Wyllem zu sehen bekam, so waren sie doch das einzig Gute, das ihm in dieser Zeit widerfuhr. Fünf Tage dauerte der Marsch durch die feurigen Höllen der Unterwelt, dann wurden endlich die Nadeln aus seinen Armen gezogen. Natürlich wäre er auch gerne die Kabel losgeworden, die weiter auf dem Brustkorb und an den Ohren klebten, doch im Prinzip störten sie kaum. Vor allem nicht, als etwas eintrat, mit dem er schon nicht mehr gerechnet hatte. Sein Zustand besserte sich. Pieroo konnte förmlich spüren, wie er nach Beendigung der Blutwäsche gesundete. Obwohl er von nun an kleine geschmacklose Kugeln schlucken musste, die sich nur mit Wasser herunterwürgen ließen.
Zusammen mit seinen Kräften wuchs auch die Sehnsucht nach Samtha und Wyllem. Die Träume, in denen sie ihm begegnet waren, boten da keinen Ersatz, sondern heizten seine Unruhe nur noch weiter an. Besonders der letzte, in dem er erkannt hatte, dass es sich bei dem Mann an ihrer Seite um Wudan selbst handeln musste. "Nehmt mich doch mit!", hatte er gerufen, als sie wieder zu entschwinden drohten. Da hatte sich der oberste aller Götter umgewandt und gesagt: "Die Zeit an meinem Tisch ist für dich noch nicht gekommen!" Es dauerte eine Weile, bis Pieroo die Tragweite dieser Worte aufging. Danach hatte er die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Alleine und wach im Bett zu liegen, bedeutete viel Zeit zum Grübeln zu haben. Im ersten Morgengrauen reifte dann ein Entschluss heran. Und Dr. Afflek war der Erste, den Pieroo damit konfrontierte. "Ich will zurück nach Meeraka, sofort." Der Kahlkopf machte anfangs ein Gesicht, als hätte Pieroo eine unsittliche Gefälligkeit erbeten, schüttelte dann aber belustigt den Kopf. "Sieh an, ihr Wilden habt ja richtig Sinn für Humor. Lieber Mann. Nur weil Ihre Medikamention auf Tabletten zurückgefahren wurde, sind Sie noch langst nicht vollständig geheilt." "Aber ich fühle mich gut", begehrte Pieroo auf. "Viel besser als am Kratersee." Die Lippen des Kahlkopfs umspielte ein stolzes Lächeln, das durch den gewölbten Helm noch weiter vergrößert wurde. "Nun ja, die Therapie hat wirklich gut angeschlagen, das lässt sich schon sagen. Aber ...", plötzlich wurde die Stimme übergangslos streng, "... es kann immer noch zu Ruckfällen kommen. Dagegen müssen wir gewappnet sein. Also immer schön die Tabletten einnehmen, die hier stehen. Morgens zwei von den grünen, abends drei von den roten. Das können Sie sich doch merken, oder?"
Dr. Afflek hielt tatsachlich die jeweilige Anzahl von Fingern hoch, um Pieroo den Unterschied zwischen zwei und drei zu demonstrieren. Der Barbar, dem es langsam gewaltig stank, wie ein hilfloser Idiot behandelt zu werden, strafte den Arzt fortan mit Missachtung. So viel stand fest, von den Bunkermenschen brauchte er kein Verständnis zu erhoffen. Also wartete er lieber darauf, dass ihn seine Freunde besuchten. Honeybutt ließ nicht lange auf sich warten. Seit ihre Prellungen abgeklungen waren, humpelte sie regelmäßig in sein Zimmer, um ihm und sich selbst die Zeit zu vertreiben. Aiko bekam er dagegen nur selten zu sehen. Ständig wurde der Einarmige zu irgendwelchen Besprechungen in den Bunker gerufen. Dann zog er einen Schutzanzug an, ließ die obligatorische UV-Bestrahlung über sich ergehen und verschwand durch eine Schleuse in der Tiefe. Wenn er zurückkehrte, berichtete Aiko meist davon, wie geschäftig es in der Community zuging. Derzeit war alles darauf ausgerichtet, die Abwehr der Daa’muren und ihrer Mutanten- und Rochen-Armeen vorzubereiten. Aiko wurde derart eingespannt, dass er nicht einmal dazu kam, sich um die Reparatur seines defekten Armes zu kümmern. Honeybutt war da schon weitaus weniger gefragt, und was ihn selbst anging – nun, Pieroo machte sich keine Illusionen darüber, wie gerne die Kahlköpfe einen Wilden in ihren heiligen Hallen beherbergten. Pieroo war deshalb nicht böse. Schließlich wollte er ohnehin so schnell wie möglich fort von hier. "Ich muss na Hause", eröffnete er seinen Freunden, sobald sie unter sich waren. "Meine Familie brauch mich, ich spür’s genau." Aiko nickte verständnisvoll. "Klar. Sobald es dir besser geht." Zwei buschige Augenbrauen rückten ärgerlich über Pieroos
Nasenwurzel zusammen. "’s geht mir schon wieda gut. Besser denn je." "Das kommt dir nur so vor", wiegelte Aiko ab. "Ich habe mit Dr. Afflek gesprochen. Du musst dich noch schonen." Ja, verdammt, war dieser einarmige Zopfträger plötzlich genauso vernagelt wie die Kahlköpfe? Verärgert setzte Pieroo sich auf. Die Geräte neben seinem Bett beschleunigten den Piepton im gleichen Maße, wie das Blut in seinem Kreislauf in Wallung geriet. "Du verstehs nich", beschwerte er sich, ein dunkles Knurren in der Stimme. "Ich hab keine Zeit zu verlier’n." Jeder Bunkermensch wäre angesichts dieser Drohgebärde erschrocken. Aiko rang sie dagegen ein mildes Lächeln ab. "Nur die Ruhe", bat er. "Vergiss nicht, ich habe meine Leute in Amarillo auch schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen. Glaub mir, ich würde sie lieber heute als morgen vor dem warnen, was am Kratersee vorgeht. Aber die Community London ist auf unsere Hilfe angewiesen. Die Daten aus der ISS und dem ARET bieten nur ein Grundgerüst an Informationen. Was wir persönlich erlebt haben, ist durch nichts zu ersetzen. Eins musst du bedenken: Die Qualität der jetzt laufenden Vorbereitungen entscheidet vielleicht einmal über das zukünftige Schicksal der gesamten Menschheit!" Aiko besaß einen wachen Geist, und was er vorbrachte, entsprach den Tatsachen. Trotzdem brannte Pieroo die Zeit unter den Nägeln. "Dann geh ich halt allein", schlug er trotzig vor. "Honeybutt und du, ihr werdet hier vielleicht gebraucht. Ich steh eh nur im Weg." "Du bist noch gar nicht in der Lage, allein aufzubrechen", hielt Aiko dagegen. "Außerdem gibt es nur einen schnellen Weg nach Meeraka – die unterseeischen Transportröhren der Hydriten. Und die Kontaktaufnahme mit ihnen muss wohl überlegt sein. Wer weiß, wie sie reagieren, wenn plötzlich
Fremde nach ihnen rufen." "Dafür", begehrte Pieroo auf, "haste doch die Muschel von diesem Quarz ... Quarl’ ..." "Quart’ol", stellte Aiko richtig. "Aber die ist keine Freifahrtkarte, sondern soll nur den ersten Kontakt erleichtern. Außerdem war sie für Matt bestimmt." Pieroo maß dem Argument keine Bedeutung zu. Ihm war etwas ganz anderes wichtig. Tränen stiegen in ihm auf, und er schämte sich ihrer nicht. "Ich bin sicha, dass mein Weib und mein Kind auch krank sin", sagte er ungewöhnlich leise. "Vielleicht werd’n sie wieda gesund, wenn ich diese Medizin mitbring." Er deutete auf die weißen Plastikdosen mit den roten und grünen Tabletten. Dann wischte er das salzige Nass von seinen Wangen, bevor es in den Bart perlen konnte. Aiko und Honeybutt sahen sich betreten an. Schweigen breitete sich in dem Zimmer aus und erstickte jeden Laut wie ein schweres Kissen über einem Gesicht. Selbst die Maschinen schienen zu verstummen. Zwei, drei Herzschlage lang glaubte Pieroo schon, die anderen überzeugt zu haben, doch die Hoffnung trog. Er wusste es im gleichen Moment, da Aikos Blick den seinen suchte. Der feste Glanz in den mandelförmigen Augen zeigte eine Entscheidung an, die Pieroos Wunsch entgegen stand. Ohne lange zu zögern, versuchte Aiko etwas zu sagen, musste sich jedoch räuspern und danach erneut ansetzen. "Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es doch nicht mehr an. Wir müssen nur aushalten, bis Maddrax und die anderen eintreffen. Das verspreche ich dir. Dann machen wir drei uns auf den Weg nach Meeraka und suchen deine Angehörigen. Und wenn sie wirklich krank sind, sorge ich dafür, dass sie in Amarillo behandelt werden. Was hältst du davon?" Nichts. Pieroo hielt ganz und gar nichts davon, obwohl er
Aikos Argumente nachvollziehen konnte. Doch für ihn überwog der Wunsch, Samtha und Wyllem wiederzusehen, alles andere. Deshalb fällte Pieroo in diesem Moment eine Entscheidung. Einsam, still und leise. Nur ganz für sich allein. "Vermutlich haste Recht", log er Aiko an und verspürte deshalb kein schlechtes Gewissen. Er tat einfach, was notwendig war. "Ich kurier mich aus, dann gehen wir gemeinsam los." Erleichterung zeichnete sich auf Aikos Gesicht ab. Pieroo gönnte sie ihm. Schließlich meinte er es ja nur gut. "Das ist vernünftig!", lobte Aiko und klang dabei ein wenig wie Dr. Afflek, wenn er die Finger gebrauchte, um den Unterschied zwischen zwei und drei zu erklären. Honeybutt Hardy sagte dagegen kein Wort, sondern fixierte ihn aus dunklen, unergründlichen Augen, in denen sich sowohl Mitleid als auch Misstrauen verbergen konnte. Pieroo spürte, dass er ihr gegenüber vorsichtig sein musste. Frauen sind die besseren Lügner, hatte ihn sein Vater stets gewarnt Das ist eigentlich nicht weiter schlimm, wenn es nicht gleichzeitig bedeuten würde, dass sie lügende Männer leicht durchschauen ... * Mit einem festen Ziel vor Augen erscheint vieles leichter, selbst wenn man dafür ein falsches Spiel treiben muss. Nach diesem Gespräch fühlte Pieroo jedenfalls neue Kräfte durch seinen Körper fließen. Die Zeit des Grübelns und der Ängste war vorüber. Das gab ihm Auftrieb. Den Abend verbrachte er damit, Reisepläne zu schmieden, danach fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Den ersten seit Beginn der Behandlung. Am nächsten Tag erwachte er erst, als Dr. Afflek zur Visite herein sah, und er fühlte sich
dabei so frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. "Gut sehen Sie aus", lobte denn auch der Mediziner nach einem Blick auf die piepsenden Geräte. Pieroo zauberte die freundlichste Miene zu Tage, zu der sich sein knorriges Gesicht formen ließ. Das gehörte zu dem anstehenden Plan, war aber auch eine Art Abschiedsgeschenk für den freundlichen, wenn auch manchmal überheblichen Kahlkopf, dem er sein Leben verdankte. "Ich fühl mich ech’ gut", bekräftige er, um jeden Zweifel an der Genesung auszuräumen. "Mir fehlt nur’n bisschen Bewegung. Könnwa nich langsam die Drähte wegnehmen?" Er deutete auf die verblieben Sensoren, die weiterhin Puls- und Atemfrequenz kontrollierten. Der Techno runzelte zuerst die Stirn, zeigte sich jedoch nach einer Überprüfung der letzten Werte einverstanden. "Ihr Zustand hat sich kontinuierlich stabilisiert. Ein kleiner Spaziergang kann da nicht schaden. Bleiben Sie aber innerhalb des Septisch Externen Foyers. Ihre Abwehrkräfte sind noch geschwächt. Und falls Ihnen übel wird, alarmieren Sie die Krankenstation!" Dr. Afflek erklärte rasch die Bedienung einer Sprechverbindung, die per Knopfdruck aktiviert wurde. "Schon klar", versicherte Pieroo mit freundlichem Lächeln. "So’n Dingens gabs auch im ARET. Außerdem is ja Honeybutt da." "Nein, leider nicht." Der Mediziner schüttelte den Kopf unter dem Vollglashelm. "Zur Zeit findet eine Konferenz des Oktaviats statt, und Miss Hardy fühlte sich heute in der Lage, Mr. Tsuyoshi zu begleiten. Leider kann ich Ihnen auch keine Gesellschaft leisten. Wegen der anlaufenden Mobilmachung geht es in der medizinischen Sektion drunter und drüber." Wenn das kein gutes Omen ist! Pieroo hatte alle Mühe, seine Freude zu verbergen, doch die Not machte ihn zu einem guten Schauspieler. "Is scho okee", versicherte er, einen Hauch echt wirkender
Traurigkeit in der Stimme. "Ich komm auch allein klar." Unter der gestrengen Aufsicht des Doktors nahm er zwei grüne Kugeln ein und spülte sie mit viel Wasser herunter. Danach wurde er von den Drähten befreit und durfte sich frei bewegen. Statt gleich in den Küchentrakt zu stürmen, um sich an den dort eingelagerten Köstlichkeiten zu bedienen, begleitete er Dr. Afflek zur Außenschleuse. Der Arzt zeigte sich ganz gerührt von so viel Höflichkeit und wäre wohl auch nie im Leben darauf gekommen, dass Pieroo nur an seiner Seite blieb, um den Sicherheitscode in Erfahrung zu bringen. Die Symbole auf den Tasten waren ihm zwar fremd, doch die Reihenfolge, in der sie gedruckt wurden, konnte sich der Barbar problemlos merken. Und zwar ohne die Finger zu gebrauchen. Einem inneren Instinkt folgend blieb er an der Glasschleuse stehen, bis Dr. Afflek im Hauptportal verschwand. Danach hatte er es sehr eilig, ins Lazarett zurückzukehren. Seine Kleidung fand Pieroo fein säuberlich zusammengelegt in einer Kommodenschublade. Fellstiefel, Lederweste und Fellhose, alles frisch gereinigt. Sogar die beiden Ledermanschetten, die er um seine Unterarme schnallte. Pieroo ließ das dünne Nachthemd, das er im Bett getragen hatte, achtlos zu Boden gleiten, und zog sich in aller Eile an. Bereits diese kleine Anstrengung trieb ihm dicke Schweißperlen auf die Stirn, doch der Wille zum Aufbruch war stärker als die Mattheit in seinen Gliedern. Auf eine morgendliche Wäsche verzichtete er, auf den Besuch in der Küche dagegen nicht. An die undefinierbaren Speisen der Technos hatte er sich in den vergangenen Tagen gewöhnt, sodass er bedenkenlos alles in sich hineinstopfte, was er in einem ungewöhnlich kühlen und beleuchteten Schrank fand. Fürs erste gesättigt, folgte nun der schwierigste Teil der Vorbereitungen. Um Samtha und Wyllem so schnell wie
möglich zu erreichen, musste er mit den seltsamen Fischwesen Kontakt aufnehmen, die sich Hydriten nannten, ein grausig anzusehendes, aber eigentlich ganz friedliebendes Meeresvolk. Pieroo wusste, dass schon Rulfan und McKenzie in ihren riesigen Tunnelsystemen zum Kratersee gereist waren. Um ihr Vertrauen zu erlangen, brauchte er aber das Horn, das Quart’ol Maddrax überlassen hatte und das nun in Aikos Obhut war. Es handelte sich um eine Art Muschel, in die man blasen musste. Alles hing nun davon ab, ob Pieroo dieses Horn an sich bringen konnte. Nervös wie ein Knabe auf dem Weg zum nächtlichen Rendezvous trat er aus der Küche und sah den links und rechts umlaufenden Gang hinab. Bisher hatte er sich völlig unverdächtig verhalten, doch mit dem, was nun folgte, missbrauchte er das Vertrauen seiner Weggefährten. Gefährten, die ihn selbstlos vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Sie nun zu bestehlen war nicht Recht, doch er musste es tun. Samtha und Wyllem wegen. Und auch für Yuli, Samthas Freundin, die damals ebenfalls die Explosion des "Sonnenkorns" in Nuu’ork miterlebt hatte. Von neuer Entschlossenheit durchströmt, suchte Pieroo alle angrenzenden Räume ab, bis er auf das Zimmer stieß, in dem Aiko und Honeybutt wohnten. Pieroo erkannte es nicht nur an den benutzten Betten, sondern auch an den wenigen Habseligkeiten, die im Quartier verstreut lagen. Ein wenig Wäsche zum Wechseln, einige persönliche Gegenstände ... und die Waffen, die man ihnen in Fraace abgenommen hatte. Selbst das Kurzschwert lag auf einem Beistelltisch. Pieroo gurtete es sofort um. Danach steckte er ein kleines, sehr nützliches Gerät ein, mit dem sich blitzschnell eine Flamme entfachen ließ. Feuerzeug nannte Honeybutt das. Eine Erfindung, die sich Pieroo für die Dauer seiner Reise ausleihen wollte.
Das nächste, was er entdeckte, war Aikos abgerissener Arm, der sich erst bei näherem Hinsehen als künstliche Nachbildung entpuppte. Dass der Weggefährte zum Teil aus geschmiedeten Teilen bestand, fand Pieroo weiterhin recht unheimlich. Deshalb versank er auch nicht lange in der Betrachtung der Prothese, sondern machte sich auf die Suche nach dem Horn. Wenn der schmalbrüstige Metallmann es bei sich trug, würde das den Diebstahl wesentlich erschweren. Doch wie von Pieroo erhofft, lag es sicher verwahrt in einer Schublade. Vermutlich weil Aiko verhindern wollte, dass es genauso zu Bruch ging wie das Ding, das er Funkgerät genannt hatte. Tja, so spielt das Leben. Für jede Gefahr, die man ausgeschaltet glaubt, erwächst eine neue, mit der vorab nicht zu rechnen ist. Äußerlich ähnelte das Horn einer gedrehten Muschel. Es besaß ein leicht gebogenes Gehäuse, das auf der einen Seite spitz zusammen lief, während es sich zur anderen trichterförmig verbreiterte. Die raue Oberfläche fühlte sich ungewöhnlich warm an, als ob das Material eine eigene Körpertemperatur besäße. Tropfenförmige Verwerfungen säumten das Innere des Trichters, wie Haare, die in einem Gehörgang wucherten. Pieroo setzte das Mundstück an die Lippen und blies hinein. Ein dunkler, durch Mark und Bein dringender Ton erfüllte den Raum. Erschrocken hielt er inne. Du meine Güte! Nie hätte er für möglich gehalten, dass so ein kleines, kaum faustgroßes Instrument solch einen Lärm veranstalten konnte! Zufrieden hängte er es sich mit der daran befestigten Kordel um den Hals und wollte aus dem Raum eilen, hielt jedoch erschrocken inne, als er eine Gestalt ausmachte, die in der offenen Tür stand. Honeybutt Hardy! Sie trug einen silbernen Schutzanzug, wie ihn die Kahlköpfe benutzten, hielt aber den Helm am
ausgestreckten Arm. Ihre braunen Augen, in denen sich ein Mann verlieren konnte, schimmerten traurig. "Wolltest du fort, ohne dich zu verabschieden?", frage sie. Mehr nicht. Kein Vorwurf wegen des gestohlenen Horns, aber das war auch unnötig. Pieroo fühlte sich ohnehin wie ein gemeiner Dieb. Unbehaglich sah er zuerst auf seine Stiefelspitzen und dann wieder in die Höhe. "Der Kahlkopp meinte, du wärs im Bunker." Das war natürlich keine Entschuldigung, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. "Dr. Afflek hat uns angefunkt, um von deinen Fortschritten zu berichten", erklärte sie die frühe Rückkehr. "Da bin ich gekommen, um dir Gesellschaft zu leisten." Pieroo hatte sich inzwischen wieder gefangen. "Ich kann nich länger wartn", legte er seinen Standpunkt dar. "Was du un Aiko macht, is bestimmt wichtig, füre ganze Welt un so. Aber mein Platz is bei mei’m Weib un dem Kind." Der traurige Zug um die Lippen der schwarzen Frau erhielt etwas Verständnisvolles, trotzdem protestierte sie: "Es geht doch nur noch um ein paar Tage! Höchstens ein bis zwei Wochen!" Wut kochte in Pieroo hoch. Brennender Zorn, geboren aus Schmerz und Verzweiflung. So ein Quatsch!, hätte er am liebsten gerufen. Keiner von uns weiß, wann die anderen eintreffen! Geschweige denn, ob sie es überhaupt schaffen! Die Gefühlsaufwallung verpuffte jedoch schneller, als er sie in Worte fassen konnte. So beherrschte er sich und sagte einfach nur: "Samtha un Wyllem sin mir im Traum erschien’." Und nach einer kurzen Pause: "Wudan war bei ihnen." "Aber das ist doch gut!" Freude blitzte in Honeybutts dunklem Gesicht auf. "Wenn dein Gott sie beschützt, kann ihnen doch gar nichts ..." Ihre Stimme erstarb mitten im Satz, als sie sah, wie Pieroo den Kopf hängen ließ.
"Du verstehst nicht", sagte er. "Wenn Wudan die beiden zu sich holt, dann ..." "Ins Jenseits, meinst du?" Nun hatte sie verstanden. Allerdings fehlte ihr der rechte Glauben, um daraus die gleichen Schlüsse wie er zu ziehen. Denn gleich darauf fuhr sie fort: "Das darfst du nicht überbewerten, Pieroo. In deinen Träumen siehst du nur das, was dich insgeheim beschäftigt. Nicht, was wirklich geschieht. Wenn jemand so wie du mit dem Tode ringt, ist es ganz natürlich, dass er um das Leben seiner Lieben bangt." Pieroo mochte Honeybutt. Sie besaß ein freundliches Wesen und bemühte sich stets darum, mit anderen gut auszukommen. Und zwar nicht etwa, weil sie Streit fürchtete, sondern weil sie in ihrer Jugend so viel Schlimmes durchgemacht hatte, dass sie sich einfach nach Harmonie sehnte. Nur manchmal spiegelte sich die harte, entbehrungsreiche Vergangenheit in ihrem Blick. In solchen Momenten wirkten ihre Augen dann wie die einer alten Frau. Pieroo wusste, was er da sah, denn er war ebenfalls nie auf Wollgras gebettet worden. In diesem Moment redete Honeybutt aber fast schon genauso daher wie die Kahlköpfe, oder wie Aiko, wenn der mal wieder etwas besser wusste. Gut, vielleicht waren die anderen auch schlauer als ein dummer Barbar. Wenn es um die Kahlköpfe mit den Glashelmen ging, oder um fliegende Maschinen. Was jedoch für Pieroo und seine Familie am besten war, das brauchte ihm keiner zu erklären. "Ich muss zu Samtha und Wyllem", unterbrach er Honeybutts Vortrag ungehalten. "Jetzt und keinen Tag später." Er setzte sich in Bewegung, in der Hoffnung, dass sie zur Seite trat. Er hätte sonst nicht gewusst, wie er reagieren sollte. Sie niederzuschlagen kam nicht in Frage, das wäre gegen seine
Ehre gewesen. Zum Glück gab Honeybutt den Weg frei. "Hast du an die Medikamente gedacht?", fragte sie, als er schon im Flur stand. "Muss ich noch holen", gestand er brummend und war doch froh, dass sie ihn daran erinnert hatte. Weniger um seiner selbst willen als wegen Samtha und Wyllem, denen die gepressten Kräuter vielleicht das Leben retten konnten. Eilig marschierte er in die Krankenstation und stopfte die Behälter mit den grünen und den roten Pillen in seine Taschen. Danach machte er sich auf den Weg zur Schleuse. Honeybutt wartete bereits, um ihn zum Abschied in den Arm zu nehmen. Vielleicht aber auch, um den Code einzutippen, doch das schaffte er ganz alleine. Pieroo war zwar ein Barbar, aber keineswegs dumm. Er sah, was um ihn herum geschah, und lernte entsprechend dazu. Und wenn er vielleicht auch nie richtig verstehen würde, wozu diese Schleusen mit dem merkwürdigen Licht taugen sollten, so war er doch fähig, sie zu bedienen. Nachdem er die durchsichtige Kuppel verlassen hatte, wandte er sich noch einmal um und winkte Honeybutt wehmütig zu. Dann machte er sich eilig davon. Nur für den Fall, dass sie es sich noch einmal anders überlegte ... * Kaum dass Pieroo ihrem Sichtfeld entschwunden war, überkam Honeybutt die große Reue. War es wirklich richtig gewesen, den Barbaren ziehen zu lassen? Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand mit Sicherheit einen neuen Ausbruch der Krebsgeschwüre ausschließen, und Pieroo selbst war der Letzte, der seine Situation objektiv beurteilen konnte. Sicher, die Sorge um seine Familie war verständlich, doch was nützte es Frau und Kind, wenn er auf dem Weg zu ihrer
Rettung starb? Manchmal muss man Opfer bringen, um wenigstens einen Teil der Ressourcen zu retten. Das ist nicht immer leicht, aber besser, als alles zu verlieren. Dieser Lehrsatz von Mr. Black sickerte plötzlich in ihre Gedanken. Wie schön wäre es doch gewesen, jetzt ihren Mentor, der stets einen Rat wusste, an ihrer Seite zu haben. Das hätte die Entscheidung leichter gemacht. Aber auch ohne die Running Men gab es einen Weg, diese Last auf mehrere Schultern zu verteilen. Entschlossen rannte Honeybutt ins Lazarett und ließ sich über die interne Kommunikation mit Aiko verbinden. "Ja? Was gibt es?", antwortete ihr Freund alarmiert. Trotz der angespannten Lage registrierte sie seine Unruhe mit einer gewissen Freude. Bewies sie doch das Gespür, das die beiden in den letzten Monaten füreinander entwickelt hatten. "Komm bitte sofort herauf", bat Honeybutt. "Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen." Kurzes Ätherrauschen. Vermutlich begegnete er gerade den fragenden Blicken der Technos mit einem Schulterzucken. Dann: "Soll ich Dr. Afflek benachrichtigen?" "Nein", stellte sie unmissverständlich klar. "Das ist weder ein medizinischen Problem, noch eines der Community. Das geht nur Pieroo und uns beide an." "In Ordnung. Ich bin gleich da." Keine weiteren Fragen, kein Ich-komme-sobald-ich-hierfertig-bin. Aiko vertraute darauf, dass sie die Lage richtig einschätzte. Das gefiel ihr. Auch wenn es der falsche Zeitpunkt für solche Gefühle sein möchte. * "Meine Fresse, das darf doch wohl nicht wahr sein!" Aikos Gesicht glühte vor Zorn. "Wieso hast du Pieroo überhaupt
gehen lassen? Das gefährdet sein Leben, bringt seine Familie kein Stück weiter und verdirbt uns womöglich die Koalition mit den Hydriten." Mit allem hatte Honeybutt gerechnet, aber nicht damit, dass ihr Freund so heftig reagieren würde. So viel zu dem gegenseitigen Gespür, das sie füreinander entwickelt hatten. "Er wird sich schon richtig verhalten", versicherte sie, überzeugt davon, dass Pieroo alles vermeiden würde, was einem baldigem Wiedersehen mit Samtha und Wyllem schaden könnte. Aiko sah das ganz anders. "Soll das ein Witz sein?", fragte er aufgebracht. "Falls es jemanden gibt, der den Ausdruck undiplomatisch geradezu personifiziert, dann ist das doch wohl Pieroo! Der Kerl nennt die Hydriten wahrscheinlich Fischköppe und drohte ihnen die Gräten zu brechen, falls sie ihn nicht schleunigst nach Meeraka schaffen." Honeybutts Miene vereiste. "Wenn er wirklich so minderbemittelt ist, wie du ihn darstellst, wie hat er dann den Zugangscode der Schleuse herausgefunden?" Ihr Freund erschrak bei diesen Worten. Unübersehbar. Das überschüssige Blut wich aus seinem Gesicht und er begann mit seinem Armstumpf in der Luft herum zu fuchteln. Ein Reflex, denn er normalerweise tunlichst unterdrückte. Sekundenlang fehlten ihm die Worte, dann fing er sich wieder. "Ich halte Pieroo nicht für dämlich", stellte er klar. "Aber ich mache mir Sorgen, das etwas schiefgeht. Und die sind berechtigt, das weißt du genau. Sonst hättest du mich nicht gerufen." Damit hatte er Recht, das konnte seine Freundin nicht leugnen. "Warum folgen wir Pieroo dann nicht und sorgen dafür, dass alles reibungslos verläuft?", schlug sie vor. "Allzu weit kann er noch nicht sein."
Aiko antwortete nicht, sondern drückte sein Einverständnis aus, indem er sich des silbernen Schutzanzugs entledigte. Honeybutt holte inzwischen den Armbruster und ihren Driller. Als sie zurückkehrte, erschrak sie ein wenig über die Schatten, die Aikos Miene umwölkten. Er versuchte zwar umgehend, sich ein Lächeln abzuringen, doch es gelang ihm nicht. Irgendeine unsichtbare Last schien auf seinen Schultern zu lasten. "Was ist los?", fragte sie. "Bist du noch sauer?" "Quatsch", wiegelte er ab. "Es ist nur ... glaubst du vielleicht, es ist leicht, mit der Community zu verhandeln und hier alles in die richtigen Wege zu leiten?" Mehr brauchte er nicht zu sagen, um seine Anspannung offenzulegen. Sein Gesicht sprach längst Bände. Statt ebenso in Trübsinn zu verfallen, schenkte ihm Honeybutt jedoch ein Lächeln. "Das Leben besteht eben nicht nur aus Prügeleien mit Eluus", flachste sie. "Besonders für einen Einarmigen." "Sehr witzig." Er bemühte sich um einen verärgerten Ausdruck, der von einem kurzen Zucken seiner Mundwinkel untergraben wurde. Als sich Honeybutt dann auch noch liebevoll bei ihm einhängte, konnte er ihr nicht mehr böse sein. "Du machst das alles ganz toll", versicherte sie, halb im Spaß – und halb im Ernst. Und mit einer echten Spur Aufmunterung in der Stimme. "Die englischen Communitys sind über die anstehenden Gefahren informiert, die Vorbereitungen laufen und du schlägst dich tapfer, wenn es darum geht, bürokratische Hürden abzubauen. Wenn die Erde gerettet wird, ist es ganz allein dein Verdienst. Und falls nicht, sind die Anderen schuld, weil sie nicht auf dich gehört haben." "So, jetzt reicht es aber", schimpfte er und schlug Honeybutt auf den süßen Hintern. "Sehen wir lieber zu, dass wir Pieroo, den alten Zottelwolf, noch einholen."
* Im Schutz einiger nicht gänzlich eingestürzter Mauerreste ließ Pieroo die Titanglaskuppeln hinter sich. Obwohl das Flussufer nur zwei Steinwürfe von der Außenfassade entfernt lag, wollte er zuerst einige hundert Schritte zwischen sich und die Kahlköpfe bringen, bevor er das Instrument der Hydriten ausprobierte. Modriger Brackwassergeruch zog von der Themse herüber. In diesem Bereich, in dem die salzige Meeresströmung bis tief in die Mündung drückte, gab es nur wenig Fische. Dafür umso mehr abgestorbene Algen, Fäkalien und anderen Unrat, der träge auf dem Fluss dahin trieb. Über einen sanft ansteigenden Schutthaufen hinweg bahnte sich Pieroo seinen Weg zu einer Mauerlücke, die ihn, in der Nähe eines eingestürzten Turmes, aus dem riesigen Gebäude entließ. Rechter Hand ragten die Reste einer Steinbrücke bis zum zweiten Bogen in den Fluss. Danach brach die Fahrbahn abrupt ab, als hätte ein Riese mit der stumpfen Seite seiner Axt auf ihr herum gehämmert. Links der Brücke wuchsen knorrige Bäume mit ausladenden Kronen, deren Blattwerk sich langsam zu verfärben begann. Pieroo hielt auf sie zu, denn das Dickicht, das sie umgab, bot einen idealen Sichtschutz für sein Vorhaben. Zielstrebig schlängelte er zwischen Kletterpflanzen, Brennnesseln und nadelspitzen Dornenranken hindurch, bis er, knapp zweihundert Schritte flussabwärts, einen von Tollkirschbüschen umgebenen Platz fand, der einen direkten Blick aufs Wasser ermöglichte. Um eine mögliche Entdeckung zu erschweren, ging er in die Hocke, bevor er mit voller Kraft ins Horn stieß. Der tiefe Ton, den er dabei erzeugte, trug weit übers Wasser und hielt noch eine ganze Weile an, nachdem er das Instrument längst wieder abgesetzt hatte. Die Blätter in den umliegenden Bäumen
erzitterten unter dem durchdringen Klang. Nicht weit vom Ufer entfernt bildeten sich konzentrische Kreis, die nach außen liefen, obwohl nicht einmal der kleinste Stein die Oberfläche durchbrochen hatte. Pieroo zweifelte keinen Moment daran, dass sich der Klang auch unter Wasser fortpflanzte. Er setzte das Horn erneut an die Lippen und blies hinein. Und dann wieder und wieder, in der festen Hoffnung, dass sein Ruf von den Hydriten erhört würde. Dass auch Mensch und Tier auf ihn aufmerksam wurden, ließ sich nicht vermeiden. Von seinem Platz aus konnte Pieroo gut erkennen, dass einige Fischer am gegenüberliegenden Ufer die Hälse reckten, um zu erkunden, wer da so ein Spektakel veranstaltete. Der zottelige Barbar legte eine Pause ein, um sein Versteck nicht vorzeitig zu verraten. Die dicht belaubten Büsche, die schon vor Urzeiten das Straßenpflaster durchbrochen hatten, reichten bis ans senkrecht abfallende Kai heran. Vorsichtig kroch Pieroo zur Kante, um zu sehen, was sich im Wasser tat. Mehr als ein paar auslaufende Wellen gab es aber nicht zu sehen. Unter ihm plätscherten sie gegen die algenbesetzte Mauer. Leise, aber stetig, und von gelegentlichem Glucksen durchsetzt. Letzteres kam von einer zerbrochenen Röhre, die schräg unter ihm aus der Kaimauer ragte. Ein halb voll Wasser stehender Regenablauf, der zu einem alten Kanal gehörte. Pieroo hatte so etwas schon in anderen Städten gesehen. Falls es einmal ein Gitter gegeben hatte, um die Röhre zu verschließen, hatte es längst der Rost gefressen. Pieroo überlegte. Da unten roch es zwar nicht gerade angenehm, aber er wäre vor neugierigen Blicken geschützt. Außerdem konnte er versuchen, den Muscheltrichter ins Wasser zu halten. Vielleicht übertrug sich der Ton so noch besser? Voller Tatendrang suchte Pieroo nach einer Möglichkeit,
trockenen Fußes hinunter zu kommen, konnte aber weit und breit keinen Steg oder ein unbeaufsichtigtes Boot entdecken. Sich hinab zu hangeln war ebenso wenig praktikabel. In diesem Fall hätte er das letzte Stück mit einem Sprung überwinden müssen, und ob die marode Röhre diese Belastung aushielt, schien eher unwahrscheinlich. Dazu kam die Gefahr, auf dem glitschigen Untergrund auszugleiten und in den Fluss zu stürzen. Nein, so viel Aufmerksamkeit konnte Pieroo nicht brauchen. Deshalb fasste er einen anderen Plan. Nach zwei weiteren Fanfaren, die er übers Wasser schickte, zog er sich zurück, bis er, vom Dickicht geschützt, ungesehen aufstehen konnte. Suchend tastete Pieroo mit den Händen durchs Gras, bis er auf einen jener runden, rostigen Deckel entdeckte, die in regelmäßigen Abständen überall im Boden eingelassen waren. Aus Erfahrung wusste er, dass man an diesen Stellen, Kanaal genannt, in den Bauch der Erde hinabsteigen konnte. Die Schächte stammten noch aus der Alten Zeit. Pieroo wusste nicht, wozu sie einst gedient hatten – jetzt würden sie ihn jedenfalls näher ans Wasser heranbringen. Aber es war stockdunkel dort unten; er brauchte eine Fackel. Pieroo durchforstete das Gestrüpp, bis er auf eine abgebrochene Astgabel stieß, die den Sommer über ausgedörrt war. Mit seinem Kurzschwert hieb er das Holz entzwei und stutzte es auf Länge. Einen der Scheite umwickelte er mit einen Fellstreifen, den er aus seiner ohnehin schon kurzen Hose abtrennte, und sicherte ihn mit einem Stück Lederriemen von seinem rechten Stiefel. Den anderen Scheit spitzte er an einem Ende an. Da drangen fremde Stimmen an sein Ohr. "Heekomme. Krache irgenwoher!", nuschelte ein brummender Bass mit kaum verständlichem Akzent. Die anderen Person klang wesentlich heller, die Stimme gehörte aber ebenfalls zu einem Mann: "Isse bestimm
Eineleckertier!" Zwei Einheimische. Vermutlich von der Sorte, die von den Kahlköpfen Socks genannt wurde und als recht gefährlich galt. Da sie auf der Suche nach Nahrung waren und Pieroo sich in ihrem Revier aufhielt, war es ratsam, nicht mit ihnen aneinander zu geraten. Hastig machte sich der Barbar daran, den Kanaaldeckel freizulegen. Der Rost hatte dem Eisen zwar schon ordentlich zugesetzt, trotzdem war er verflucht schwer und ließ sich kaum mit bloßen Händen anheben. Pieroo steckte die Spitze seines Kurzschwertes in eines der korrodierten Löcher und setzte die Waffe als Hebel ein. Knirschend ruckte der Deckel in die Höhe, rutschte dann aber von der Klinge und knallte zurück. Der dabei entstehende Lärm war weitaus geringer als ein Fanfarenstoß, doch er reichte aus, um die umherstreifenden Socks zu alarmieren. "Komme hieher! Da issewas!" Weitere Schritte wurden laut. Mindestens ein halbes Dutzend. Jetzt wurde es brenzlig. Diesmal schob Pieroo die Klinge zwischen Deckel und Betonrand und fasste mit der Spitze sofort nach, als sich die rostige Scheibe lockerte. Stück für Stück ruckte sie weiter empor, bis eine lichtlose Fuge aufklaffte, die Pieroo mit seiner Stiefelspitze füllte. Derart gesichert, konnte er das Schwert wegstecken und den Deckel mit beiden Händen greifen. Einen Laut der Anstrengung unterdrückend, wuchtete er ihn zur Seite. Noch zu Beginn des Sommers wäre das keine besondere Last für ihn gewesen, doch die Krankheit hatte alles verändert. Nun überzog ein feines Netz aus Schweißperlen die Stirn, beinahe so, als hätte er eine Scheune voll Holz gehackt. Sein Körper war noch geschwächt, das musste er sich eingestehen. Doch für eine Umkehr war es längst zu spät. Krampfhaft um Atem ringend, warf er den angespitzten Stock in den schwarzen Abgrund zu seinen Füßen. Langsam zählte er
mit, wie lange es dauerte, bis er unten aufprallte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, Platsch. Ah, es stand also Wasser im Kanaal. Vermutlich halbhoch wie in der Röhre, die in den Fluss ragte. Außerdem entfernte sich leises Quieken von irgendwelchem Getier, dass das einfallende Sonnenlicht scheute. Pieroo war das nur Recht. Schließlich wollte er im Dunkeln keiner Ratze auf den Schwanz treten. Hastig entzündete er die provisorische Fackel mit dem Feuerzeug, ergriff einen der eisernen Stege, die aus der Wandung des Schachtes ragten, und schwang sich in die Tiefe. Die Stimmen der Socks waren schon recht nahe, er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Vorsichtig, Sprosse um Sprosse, tastete er sich den Einstieg hinab. Der warme, aber unstete Feuerschein reichte nur bis zu seinen Füßen. Alles was darunter lag, blieb im Dunkel verborgen. Er bemerkte ein paar flirrende Schatten, die noch schwärzer waren als die sie umgebende Finsternis. Leises Flappen, wie von im Wind wehendem Leder, brach sich als Echo an den Wänden. Pieroo ahnte den Ursprung des Geräusches, trotzdem umklammerte er Fackel und Eisenstrebe mit einer Hand, während er mit der anderen den Rand des Deckel zu zwei Dritteln über den Einstieg zerrte. Das musste reichten, um ihn vor den Socks zu verbergen. Aber selbst wenn sie das Versteck entdeckten, würden sie ihm vermutlich nicht in die Tiefe folgen. Die brennende Fackel hin und her schwingend, hangelte sich Pieroo weiter die Sprossen hinab. Feuer jagte den meisten Tieren eine instinktive Furcht ein, deshalb vertraute er darauf, gefahrlos in den Kanaal hinabsteigen zu können. Das Flattern in der Tiefe gewann an Hektik, doch statt sich zu entfernen, wurde es plötzlich lauter. Einen Herzschlag später
schossen zwei Schatten empor, die seinen Arm mit ledernen Schwingen berührten. Bateras! Er hatte es doch geahnt! Pieroo zog mit der Fackel einen gleißenden Halbkreis, um sich die Biester vom Leib zu halten. Von unten angeleuchtet, wirkten ihre langen angelegten Ohren noch spitzer als sonst. Beinahe Hörnern gleich, dazu geschaffen, den Gegner aufzuspießen. In Wirklichkeit attackierten Bateras aber mit ihren weit vorstehenden, rasiermesserscharfen Zahnreihen, die aus den schmal zulaufenden Mäulern ragten. Grässlich waren diese Viecher anzusehen, und obendrein extrem gefährlich. Vor allem wenn es ihnen gelang, ein Opfer mit ihren hohen Schreien, die an der Grenze des Hörbaren lagen, zu betäuben. Funken sprühten auf, als Pieroo einen der Bateras am Hals traf. Der enge Schacht behinderte die Blutsauger, die sich sonst durch geschickte Flugmanöver auszeichneten. Statt zu wenden und von oben auf Pieroo niederzustürzen, jagte das gepeinigte Tier steil empor und verschwand durch den verbliebenen Spalt ins Freie. Einer weniger! Doch zum Jubeln war es noch zu früh. Aus dem Dunkel kamen weitere Bateras heran. Da sich die Fackel bewährt hatte, schlug Pieroo weiter um sich, verzweifelt darum bemüht, den Tieren keine Gelegenheit zu geben, ihre verhängnisvollen Schreie einzusetzen. Die räumliche Enge erwies sich dabei weiterhin als Vorteil. Während sie um den Barbaren herum flatterten, behinderten sie sich gegenseitig. Zwei stießen in der Luft zusammen, ein dritter wich derart scharf aus, dass er gegen die gemauerte Wand knallte. Pieroo nutzte das Durcheinander, um seine Fackel immer wieder auf die Tieren niederfahren zu lassen. Fauchend jagten
sie schließlich in die Höhe und versuchten gemeinsam in Freie zu entkommen. "Ja, verpisst euch!", rief ihnen Pieroo hinterher, während sie sich flatternd vor dem schmalen Spalt drängten. "Mit mir is nich zu spaße!" Derart mit seinem vermeintlichen Triumph beschäftigt, entging dem Barbaren völlig, dass sich ihm von unten her mit peitschenden Bewegungen ein schmaler Strunk entgegen reckte. Erst als der mit dünnen Auswüchsen besetzte Tentakel seinen Bauch umschlang, erkannte Pieroo schlagartig, dass die Bateras nicht etwa vor ihm geflohen waren ... sondern vor etwas weitaus Schrecklicherem, das im Dunkel der Tiefe lauerte. * Gemeinsam betraten Aiko und Honeybutt die Luftschleuse und warteten, bis das äußere Schott zur Seite glitt. Nach einer Woche gefilterter Luft atmeten sie tief ein, als sie die Ruine der ehemaligen Houses of Parliament betraten. Auch wenn von der Themse ein eher unangenehmer Geruch herüber wehte. Anfangs folgten sie der Richtung, in die Pieroo verschwunden war. Von Wind und Regen gezeichnete Mauern ragten dort auf, einige bis zu zwei Stockwerken hoch. Einstmals Innenwände, hatten sie längst ihren Putz verloren und präsentierten nur noch nackten Ziegel. Zwischendecken gab es nicht mehr. Sie waren im Laufe der Jahrhunderte durchgeweicht und eingestürzt. Egal wo sie gingen, die Sonne drang bis zu ihnen herab. Nachdem sie einige nur noch rudimentär erhaltene Räume durchquert hatten, gestaltete sich die Suche langsam schwieriger. Zum Glück fanden Aiko und Honeybutt ein paar Fußspuren, die eindeutig von Fellstiefeln stammten. Ihnen folgten sie über einen Schutthaufen ins Freie.
Links von ihnen wuchs Big Ben in die Höhe, rechts ragten die Reste der Westminster Bridge in die Themse hinein. "Da vorn ist das Gras niedergetrampelt!" Honeybutt deutete auf eine Stelle, an der sich die Halme gerade wieder aufrichteten. "Hier ist vor wenigen Minuten jemand lang gegangen." In ihrer Zeit als Rebellin musste Honeybutt eine gute Fährtenleserin gewesen sein. In diesem Fall wurde ihr geübtes Auge aber gar nicht gebraucht, um Pieroo aufzuspüren. Denn plötzlich ertönte flussabwärts ein dunkler und weittragender Ton. Honeybutt erkannte ihn wieder. Es war der gleiche, den sie gehört hatte, als Pieroo das Muschelhorn ausprobierte. "Der verliert wirklich keine Zeit", brummte Aiko. "Na ja, hat ja auch sein Gutes. Umso schnell finden wir ihn." Entschlossen fasste er den Armbruster fester und ging weiter, froh über die Waffe. Denn Pieroos Signale mochten noch andere Leute anlocken. Hiesige Barbaren etwa, wie die Socks. Seite an Seite mit Honeybutt schritt er auf den dschungelartigen Abschnitt zu, der sich zwischen Themse und überwucherten Ruinen im Bereich der ehemaligen Viktoria Street ausbreitete. Unterwegs wechselte die Richtung, aus der die Signale kamen, und sie korrigierten entsprechend ihr Ziel. Ausgerechnet als sie sich einen Weg durchs Dickicht bahnen mussten, verstummten die Töne. "Weiter hier lang", einigten sie sich auf einen gemeinsamen Kurs und gingen unbeirrt weiter. Die Tierwelt verstummte mit einem Mal. Irgendetwas ging vor. Eine Weile war nur das Rascheln zu hören, wenn sie die Zweige zur Seite bogen. Dann wurden Stimmen laut. "Hekomme. Krache irgenwoher!" und "Isse bestimm Eineleckertier!"
Aiko und Honeybutt sahen sich alarmiert an. Beide dachten dasselbe. Socks, kein Zweifel. * Pieroo versuchte noch mit der Fackel nach dem Fangarm zu schlagen, doch es war schon zu spät. Mit einem scharfen Ruck wurde er in die Tiefe gerissen. Zu hart und zu fest, um sich noch festzuklammern. Ungewollt drang ein Schrei über Pieroos Lippen. Der Schrecken war einfach zu groß, um den Sturz schweigend hinzunehmen. Seine verschwitzten Haare schlugen ihm ins Gesicht, während er kopfüber durchs Dunkel sauste. Instinktiv versuchte er sich auf den Aufprall vorzubereiten, doch zu seiner Überraschung wurde er von zwei weiteren Tentakel, die ihm entgegen kamen, sanft gebremst. Pieroos Beine tauchten zwar ins Wasser, im Rücken wurde er jedoch gestützt und aufrecht gehalten. So blieb er größtenteils trocken. Die Hand, mit der er die Fackel trug, wurde allerdings gewaltsam ins Wasser getaucht. Es zischte. Auf einen Schlag umgab ihn Dunkelheit wie eine zweite Haut. Pieroos Herz begann zu rasen, denn in dem kurzen Augenblick, bis die Fackel erloschen war, hatte er in der Katakombe das formlose, schwammige Wesen gesehen, aus dem die Tentakel wuchsen. Wie eine fette Qualle blockierte es die unterirdische Röhre und zog ihn jetzt langsam näher heran. Voller Panik versuchte Pieroo die vielfache Umklammerung zu lösen, doch gegen die Muskelkraft der mit Saugnäpfen bewehrten Fangarme kam er nicht an. Hilflos musste er über sich ergehen lassen, dass die Tentakel jeden Fingerbreit seines Körpers abtasteten, bis sie das Muschelhorn an der Kordel um
seinen Hals berührten. Danach ließen die meisten Strünke von ihm ab, während ihn die beiden, die ihn an Armen und Beinen fesselten, näher zogen. Eisiger Schrecken durchfuhr Pieroo, als er sah, wie sich vor ihm ein runder Schlund öffnete, der von innen heraus leuchtete. Zähne oder eine mahlender Kiefer waren nicht auszumachen, aber wie es schien, sollte er bei lebendigem Leib verschlungen werden! So sehr Pieroo sich auch wand, der Kraft der Tentakel war er nicht gewachsen. Problemlos bugsierten sie ihn durch die Öffnung und ließen ihn auf weichen, glitschigen Untergrund fallen. Danach verschwanden sie, und das Loch, das er für ein gefräßiges Maul gehalten hatte, wuchs fugenlos wieder zu. Eine Serie von Erschütterungen folgte. Pieroo spürte, wie sich das runde Quallending erst aus der Röhre zog, dann auf die Wasserfläche schlug und schließlich glucksend abtauchte. Seine Furcht, durch eindringendes Wasser ertränkt zu werden, erwies sich zum Glück als unbegründet. Anstatt zu sterben, trieb er ins Meer hinaus. Während die Aufregung in ihm ein wenig abklang, nahm Pieroo die Tauchqualle näher in Augenschein. Auf seinen Wanderungen war ihm ja schon viel untergekommen, aber ein von innen beleuchteter Tiermagen ...? Nein, da stimmte etwas nicht! An einige weiß hervorstehende Auswüchse geklammert, dämmerte ihm allmählich, was wirklich vor sich ging. Mit dem Muschelhorn hatte er anscheinend dieses Ding herbei gelockt, das ihn nun zu den Hydriten brachte. Ganz so rabiat hatte Pieroo sich die Kontaktaufnahme zwar nicht vorgestellt, aber diese blau geschuppten Kreaturen waren schließlich nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen. Nicht gerade entspannt, aber doch wesentlich ruhiger als zuvor harrte er von nun an der Dinge, die da kommen möchten. Was blieb ihm auch anderes übrig?
* Mit erhöhter Vorsicht schlichen Aiko und Honeybutt weiter. Der Cyborg hielt den Armbruster schussbereit in der Rechten. Statt den Blaster zu aktivieren, entsicherte er einen halbrunden Behälter auf dem Gewehrschaft, der die Form eines gespannten Bogens besaß. Es handelte sich um ein Magazin für Bolzen, die dem Druckluftkanal von beiden Seiten zuführt wurden. Die linke Hälfte war mit regulären Pfeilen gefüllt, die rechte enthielt präparierte Bolzen mit Phosphor, Betäubungsgas oder Nebelkerzen. Letztere schienen ihm derzeit besonders geeignet. Die Socks gebärdeten sich inzwischen immer lauter. "Komme hieher! Da issewas!", rief einer, worauf die anderen geräuschvoll durchs Unterholz brachen. Aiko vermutete, dass sie Pieroo aufgespürt hatten, und beschleunigte seine Schritte. Er hoffte, die Barbaren mit seiner Waffe vertreiben zu können, bevor es zu einer handfesten Auseinandersetzung kam. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass das Hydritenhorn in falsche Hände geriet. Ehe es zum Kampf kommen konnte, brach jedoch ein riesiger Tumult los. Zwischen tief hängenden Trauerweiden hindurch konnten Aiko und Honeybutt sehen, wie einige in Lumpen und Felle gehüllte Gestalten einen Bodenspalt umkreisten, aus dem unversehens ein Schwarm Bateras hervor schoss. Ihr Anblick überraschte die Socks völlig, und als sie auch noch mit Ultraschalltönen attackiert wurden, machten sie auf dem Absatz kehrt und rannten davon. "Elendeviiiche machebrummton!", brüllte einer wütend, während er mit einem Riesensatz über den nächsten Dornenbusch setzte. Dabei dachten die Bateras gar nicht daran, die Fliehenden weiter zu attackieren, sondern stoben in verschiedene Richtungen davon.
Aiko und Honeybutt warteten ab, bis die Luft rein war, und traten dann näher. Dabei erkannten sie, dass es sich bei dem Bodenspalt um einen halb zugedeckten Kanalschacht handelte. Die Waffe unter den Armstumpf geklemmt, zerrte Aiko den schweren Deckel zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, um einen Schrei in der Tiefe widerhallen zu hören, der eindeutig von Pieroo stammte. "Da haben wir es", schimpfte Aiko. "Es ist etwas schief gegangen! Dass der Kerl aber auch nicht warten konnte, um sich helfen zu lassen!" Ohne lange nachzudenken, hängte er sich den Armbruster auf den Rücken, packte die oberste Leitersprosse und sprang in die Tiefe. Kein leichtes Unterfangen für einen Einarmigen, doch er hatte ja noch den Oberarmstumpf, mit dem er sich festklammern konnte, sobald er die Hand löste. Die schnalzenden und schleifenden Geräusche aus der Tiefe trieben Aiko zu größter Eile an. Sein in vielen Kämpfen geschulter Instinkt warnte ihn, dass er zu spät kommen könnte. Hastig ging es zwei Sprossen tiefer, ohne dass er mit dem Armstumpf richtig Halt fand. "Vorsicht!", rief Honeybutt, die mit einer Taschenlampe hinab leuchtete, doch es war schon zu spät. Aiko verlor die Balance und kippte hinten über, ehe er mit der intakten Hand zugreifen konnte. Der Sturz war nicht allzu tief und wurde durch das Wasser gebremst. Das Einzige, was verletzt wurde, als die schmutzigen Fluten über ihm zusammenschlugen, war sein Stolz. "Mist!" Prustend tauchte Aiko empor und wischte sich das Wasser aus den Augenwinkeln. Nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals. Er konnte kaum glauben, was er da am Ende der Röhre sah. "Dass du aber auch nicht warten kannst und dir helfen lässt", hänselte ihn Honeybutt, die auf einem trockenen Absatz neben
ihm landete. "Du hast zurzeit nur einen Arm zur Verfügung, gewöhn dich bitte daran." "Ja ja." Aiko spürte keine Lust, etwas zu bestätigen, was ohnehin offensichtlich war. "Leuchte lieber mal in diese Richtung." Seine Freundin kam der Aufforderung nach – und schrak sichtlich zusammen, als der Lichtkegel eine klobige runde Masse erfasste, die sich mit Hilfe sechs bis sieben Meter langer Tentakel aus der Röhre drückte und unter lautem Klatschen in der Themse verschwand. "Was war das denn?", fragte Honeybutt in die anschließende Stille hinein. "Sah so ähnlich aus wie die Transportqualle am Kratersee, die Quart’ol, Mer’ol, Rulfan und Dave McKenzie zur Anreise benutzt haben", erklärte er. "Wie es scheint, hat Pieroo sein Ziel erreicht. Und wir müssen jetzt warten, bis die Hydriten Kontakt zu uns aufnehmen. Falls sie es nach der Begegnung mit ihm noch tun wollen ..." * Ein wenig mulmig war Pieroo schon zumute, als ihn die Qualle in einen feuchten Raum entließ, in dem bereits ein halbes Dutzend Hydriten auf ihn wartete. Gedrungene, geschuppte Gestalten waren das, mit wuchtigen Brustkörben und langen Extremitäten, die in breite Flossenhände und -füße übergingen. Von ihren Unterarmen standen kleine Quasten ab, die im Wasser das Manövrieren erleichterten und nun nervös hin und her zuckten. Was Pieroo überraschte, war ihre Größe. Erst hatte er vermutet, Quart’ol und Mer’ol wären zwei besonders kleine Vertreter ihrer Spezies gewesen, aber nun erkannte er, dass offenbar keiner der Hydriten größer als fünfeinhalb Fuß war. Sie reichten ihm gerade mal bis zum Brustbein.
Unterwegs auf dem Tauchgang war Pieroo von dem ganzen Geschaukel mehrfach speiübel geworden, doch er hatte sich jedes Mal zusammengerissen. So wie er sich auch jetzt im Zaum hielt angesichts der Metallstäbe in den Händen der Hydriten. Pieroo wusste, dass sie schmerzhafte Blitze aussenden konnten. "Hallo", grüßte er unbeholfen. "Ich bin’n Freund von Maddrax." Die erwarteten Begeisterungsstürme blieben aus. Und nicht nur das. Eisiges Schweigen schlug ihm entgegen. Obwohl Pieroo den Hydriten körperlich überlegen war, geriet er doch langsam ins Schwitzen. Vorsichtig nahm er die Muschel in die Rechte und hielt sie in die Höhe. "Die is von Quart’ol!" Das Empfangskomitee geriet in helle Aufregung. Mit klackenden Lauten, die nicht für menschliche Stimmbänder bestimmt waren, sprachen alle durcheinander und deuteten abwechselnd auf das Horn. "Oje, ihr könnt garnich in der Menschensprache red’n, wa?" Pieroo kratzte sich am Kopf. Mit diesem Problem hatte er nicht gerechnet. "Nein, dafür bin ich zuständig." Die kratzige Stimme ließ ihn zusammenfahren, obwohl er erleichtert war, mit jemanden reden zu können. Neugierig sah er zu der Hydritin hinüber, die gerade durch ein rundes Schott eintrat. Wie die männlichen Vertreter ihrer Spezies trug sie ein dunkelrotes Lendentuch, verzichtete aber auf deren einseitigen Schulterharnisch. Dafür hing eine Muschelkette um ihren Hals, breit genug, um auch die Brüste zu bedecken. "Ich heiße Tula", stellte sie sich vor. "Entschuldige, dass ich dich nicht eher begrüßen konnte, aber dein Eintreffen hat alle überrascht. Wir mussten erst diesen Raum leer pumpen, um
dich empfangen zu können. Sly’tar, unsere OBERSTE ist schon auf den Weg hierher." "Entschuldigt die ganze Mühe", bat Pieroo, bestrebt, sich möglichst korrekt auszudrücken. Das ein verdammter Fischkopf akzentfreier sprach als er selbst, ärgerte ihn schon ein wenig. Trotzdem fuhr er freundlich fort: "Ich bin ein Freund von Quart’ol. Der hat mir auch diese Muscheltröte gegeben." Tulas Miene hellte sich schlagartig auf, wodurch sie jetzt nicht mehr wie ein finsteres, sondern wie ein grinsendes Monster aussah. "Du bringst Nachrichten von der Kratersee-Expedition?", fragte sie begeistert. Pieroo schaltete sofort. "Ja", log er, "deshalb bin ich hier. Ich wurde mit einigen andern vorgeschickt, um den Kahlköppen und euch zu erzählen, was am See vor sich geht." "Phantastisch!" Je zufriedener Tula strahlte, desto mehr entblößte sie ihre spitzen Zahnreihen. "Warst du mit am See? Dann kennst du sicher auch den anderen Hydriten, der Quart’ol begleitet hat?" "Mer’ol? Klar. Rulfan und Dave McKenzie war’n auch noch dabei." Allein dass er Mer’ols Namen kannte, versetzte Tula in Begeisterung. Aufgeregt tippelte sie auf ihren Fußflossen umher. Pieroo schwante Übles. Und da kamen sie auch schon, die Fragen, die er befürchtet hatte: "Wie geht es Mer’ol?", wollte Tula wissen. "Doch hoffentlich gut? Wir sind nämlich liiert, weißt du? Wann kehren er und Quart’ol zurück?" Liiert? Das hieß wohl eng befreundet. Pieroo musste hart schlucken. Bevor sein Schweigen zu lange dauerte, rettete ihn das Erscheinen der OBERSTEN und ihres Gefolges. Zum Glück
beherrschten Sly’tar und die Wissenschaftler in ihrer Begleitung ebenfalls die Sprache der Menschen. Das vereinfachte das Gespräch immens. Pieroo sprudelte sofort drauf los, ehe überhaupt Fragen nach seiner Legitimation aufkommen konnten. Schließlich hatte er Aiko im EWAT lange genug zugehört, um zu wissen, worauf es ankam. In kurzen Sätzen umriss er die Situation am Kratersee und erzählte von der Gefahr durch die Daa’muren. Dass er während der WCA-Expedition Sprachunterricht bei Jed Stuart genommen hatte, kam ihm zugute; wenn er sich genügend konzentrierte, konnte er sich ganz vernünftig ausdrücken. Erst als er zu dem Tauchgang kam, an dem Quart’ol und Mer’ol teilgenommen hatten, geriet er mehrmals ins Stocken. Immer wieder glitt sein Blick zu den Bullaugen, die den kuppelförmigen Raum rundum säumten. Hinter den Scheiben zeichnete sich eine von Sonnenlicht durchflutete Korallenbank ab, in der blaue, gelbe und rote Fische umher schwammen. Die Tatsache, dass er sich in einem Gebäude auf dem Meeresgrund befand, flößte Pieroo bei weitem nicht so viel Furcht ein wie das, was er Tula bislang vorenthalten hatte. Schließlich fasste er sich ein Herz und berichtete, dass Mer’ol nicht von dem Tauchgang zurückgekehrt war. "Dasis auch der Grund, warum sich Quart’ol von uns getrennt hat", schloss er seinen Bericht ab. "Er wollt irgendwie versuchn, Mer’ol zu retten." Tulas Reaktion kam mit einiger Verspätung. Zuerst sah sie Pieroo nur verständnislos an, als hätte sie nicht richtig verstanden. Erst allmählich sickerte die ganze Tragweite seiner Worte in ihren Verstand. Als es dann so weit war, begann sie unkontrolliert zu zittern. "Aber ...", stieß sie fassungslos hervor, " ... das kann doch nicht sein!"
Einer der Wissenschaftler eilte näher und sprach mit klackenden Lauten behutsam auf sie ein. Die OBERSTE zeigte sich ebenfalls sehr bewegt, ohne jedoch die Haltung zu verlieren. "Wir alle danken dir für deine offenen und ehrlichen Worte", sagte sie an Pieroo gewandt. "Der Hohe Rat von Vernon wird umgehend beraten, wie wir auf die Bedrohung aus dem Kratersee reagieren. Außerdem entsende ich eine Abordnung ins Nordmeer, die nach unseren verschollen Wissenschaftlern suchen soll." Die letzten Worten waren vor allem an Tula gerichtet, die große Mühe hatte, ihr Entsetzen zu bezähmen. Der Flossenkamm, der sich von ihrer Stirn bis in den Nacken zog, glühte in einem dunklen, ungesunden Rot. Ein Zeichen äußerster Gefühlsaufwallung. Pieroo konnte die Reaktion gut verstehen, schließlich quälte auch ihn die Sorge um seine Liebsten. "Richte bitte Queen Viktoria aus, dass wir mit den anderen Städten dies- und jenseits des Allatis konferieren werden", riss ihn Sly’tar aus seinen Gedanken. "Möglicherweise ist die Zeit gekommen, da Hydriten und Menschen enger zusammenrücken müssen. Doch um das zu entscheiden, müssen wir erst Quart’ols Bericht abwarten." Pieroo nickte beflissen, obwohl er überhaupt nicht daran dachte, nach Landän zurückzukehren. "Eure Nachricht willich gern überbringen", sagte er, "doch um ehrlich zu sein, hab ich noch eine Bitte an euch. Mein Weib un mein Kind sind in Meeraka, und ich fürchte um ihr Leben. Der Weg übers Meer ist aba lang und beschwerlich. Es wär deshalb sehr freundlich, wennich durch eure Quallenröhren nach Waashton reisen dürfte." Die OBERSTE ließ sich nicht anmerken, was sie von diesem Wunsch hielt, sondern zog sich mit ihrem Gefolge einige Schritte zurück. Die Beratung verlief ruhig und ohne größere
Gesten. Da sich alle nur in Klacklauten unterhielten, ließ sich nicht einmal erahnen, wer für oder gegen Pieroo Partei ergriff. Der Barbar suchte inzwischen den Blick von Tula, die mit feucht glänzenden Augen vor ihm stand. "Ich muss Samtha und Wyllem so schnell wie möglich finden, um ihnen diese Medizin zu geben, verstehst du?" Er holte die Dose mit den grünen Kugeln hervor und zeigte sie ihr. Tula nickte verständnisvoll, brachte aber kein Wort hervor. Dann kehrte auch schon Sly’tar zurück. Nach einem kurzen Blick auf die Medikamentendose sah sie Pieroo fest in die Augen und sagte: "In Ordnung. Wir müssen ohnehin eine Abordnung nach Hykton entsenden. Du darfst sie begleiten." * Innerhalb des Septisch Externen Foyers wartete eine TechnoAbordnung bereits ungeduldig auf Aikos und Honeybutts Rückkehr. Unter einem der Helme zeichnete sich sogar das Gesicht von Queen Viktoria persönlich ab. Ihr hastiger Aufbruch hatte wohl einige Aufregung gestiftet. Darauf ließen auch die bewaffneten Trupps schließen, die zwischen den Trümmern der Ruine patrouillierten. Während der unvermeidlichen UV-Bestrahlung überlegte Aiko fieberhaft, wie sich Pieroos Verschwinden am besten erklären ließ. Doch wie er es auch drehte und wendete, jede Ausrede barg gleichzeitig die Gefahr, später als Lüge enttarnt zu werden. Deshalb war es wohl am besten, wenn er bei der Wahrheit blieb, so unangenehm sie auch sein möchte. "Was ist denn geschehen?", empfing sie die Prime voller Bestürzung. "Gab es einen Überfall? Oder eine versuchte Entführung?" Eigentlich ziemlich sinnlose Fragen. Die Schleusenprotokolle mussten ja eindeutig belegen, dass nur drei Abgänge, aber keine Besuche verzeichnet waren. Aikos durchnässte Kleidung
und der Armbruster, den er bei sich trug, schienen jedoch ihre Phantasie zu beflügeln. In Gedanken malte sich die Queen wohl schon die fürchterlichsten Kämpfe aus, während sie fortfuhr: "Unsere Überwachungseinrichtungen haben keine unbefugte Annäherung gemeldet! Wir fürchteten schon, die Daa’muren ..." "Oh." Jetzt verstand Aiko ihre Sorge. "Nein, nein", wiegelte er ab. "Ich glaube nicht, dass wir jetzt schon mit einem Angriff der Aliens rechnen müssen." Wirklich nicht? Wer wusste denn, was inzwischen am Kratersee vorging? "Für die Community besteht kein Grund zur Sorge." Er räusperte sich und rückte mit der Wahrheit heraus: "Es ist nur so, dass unser Begleiter Pieroo überhastet aufgebrochen ist, um seine Familie aufzusuchen. Wir hätten ihn gern davon abgehalten, weil sein Heilungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, aber wir kamen zu spät. Er hatte schon eine Passage gefunden." Innerhalb der Community war die Existenz der Hydriten nur einem kleinen, handverlesenen Zirkel bekannt. Aiko betonte den letzten Satz deshalb auf besondere Weise, um der Queen einen verdeckten Hinweis zu geben, der von den anwesenden Sicherheitskräften und Wissenschaftlern nicht gedeutet werden konnte. Viktoria verstand ganz genau, was er ihr sagen wollte. "Gut", beendete sie die Befragung. "Dann reinigen Sie sich erst mal gründlich. Später wird das Oktaviat zusammentreten, um einen genauen Bericht des Vorfalls entgegenzunehmen. Ich hoffe, Sie können uns davon überzeugen, dass der überstürzte Aufbruch Ihres Begleiters kein Risiko für unsere Gemeinschaft darstellt. Falls er für eine gegnerische Seite arbeitet, wären die Folgen ja gar nicht abzusehen." Aiko wollte sofort versichern, dass Pieroo sein absolutes Vertrauen genoss, wurde aber schon nicht mehr beachtet. Die Prime gab noch laut und deutlich den Befehl, den Sicherheitscode des SEF zu ändern, dann rauschte sie mit
ihrem Gefolge ab. Zurück blieb nur Dr. Afflek, der in Ruhe wartete, bis alle Technos ausgeschleust waren, bevor er sagte: "Machen Sie sich keine Sorgen. Die Prime ist zwar sehr impulsiv, aber sie regt sich auch schnell wieder ab." "Wollen wir’s hoffen." Aiko fühlte sich schon ein wenig unbehaglich angesichts des neu entflammten Misstrauens. Wie viel einfacher wäre es doch, wenn endlich Matt, Rulfan oder Dave McKenzie hier auftauchen würden. Sie müssten sicher gegen weniger Hindernisse ankämpfen als ein Fremder wie er, den viele obendrein für einen defekten Halbroboter hielten. "Wenigstens hat Pieroo seine Medikamente mitgenommen", fuhr Dr. Afflek fort. "Falls er die regelmäßige Einnahme aber versäumt, sehe ich keine Hoffnung für ihn." Echte Besorgnis klang aus der Stimme des Mediziners. Pieroos Zustand lag ihm tatsächlich am Herzen. "Pieroo kommt schon durch", machte ihm Honeybutt Mut. "Der ist ein zäher Bursche." Afflek nickte nur stumm, als wäre ihm sein Mitgefühl plötzlich peinlich. Schon halb auf dem Weg zur Schleuse, um den anderen Technos zu folgen, blieb er aber noch einmal stehen. "Die elektronischen Bauteile Ihres Armes, um die Sie uns gebeten hatten ...", wandte er sich an Aiko. "Unsere Spezialisten haben noch einige Schwierigkeiten damit. Vielleicht kommen Sie nach der Befragung durch das Oktaviat in der medizinischen Sektion vorbei und unterstützen uns ein wenig?" "Sehr gern", bedankte sich der Cyborg. Nicht nur, weil er das Zeichen des Vertrauens zu schätzen wusste, das ihm der Doktor da entgegen brachte, sondern vor allem, weil er seinen verlorenen Arm wirklich schmerzlich vermisste. Ohne es verhindern zu können, gingen seine Gedanken zurück zu dem Desaster im Schacht, als er es nicht einmal geschafft hatte, eine Stiege hinab zu klettern.
Honeybutt war zwar zu feinfühlig, um ihm das unter die Nase zu reiben, trotzdem fühlte er sich beschämt, dass sie ihn so hilflos gesehen hatte. "Wie wäre es mit einer warmen Dusche?", fragte sie, während Dr. Afflek durch die Schleuse entschwand. Die Art und Weise, wie sich seine Freundin dabei an ihn schmiegte, machte Aiko klar, dass es keinen Streit um die Reihenfolge geben würde. Zumindest die Sorge, dass er an Attraktivität verloren hatte, wurde dadurch ein wenig gedämpft. Im Raum vor der Nasszelle legten sie die verdreckten Sachen ab und genossen dann gemeinsam, wie das warme Wasser über ihre Körper perlte. Nach all der vergangenen Aufregung ein wunderschöner Augenblick voller Intimität. Die Zeit der Entspannung endete jedoch abrupt, als Honeybutts Schultern unkontrolliert zu beben begannen. Aiko wusste, dass sie weinte, noch ehe er ihr Kinn anhob. "Was hast du denn?", fragte er besorgt. "Ich ... weiß es selbst nicht genau." Sie drehte das Gesicht zur Seite und lehnte sich gegen seinen Brustkorb. "Irgendwie fühlte ich mich hier nicht wohl. Diese Technos sind so ... so distanziert und abweisend. Vielleicht habe ich Pieroo deshalb gehen lassen. Ich konnte seine Beweggründe gut verstehen." "Schon in Ordnung." Aiko strich behutsam über ihr nasses Haar. "Mir gefällt es hier auch nicht besonders, aber das wird sicher besser, wenn die anderen kommen; du wirst schon sehen. Und wenn sie erst das Serum haben, müssen wir auch nicht dauernd in diese dummen Glashelme starren." Seine Worte zeigten Wirkung, obwohl sich noch kein Lächeln auf ihre Lippen stahl. "Und die Hydriten?", fragte sie. "Da mach dir mal keine Sorgen", munterte er sie weiter auf. "Matt findet bestimmt eine Möglichkeit, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, auch ohne diese Muschel. Schließlich hat er einige Wochen bei ihnen gelebt und beherrscht ihre Sprache."
"Ja", flüstere Honeybutt so leise, dass es beinahe im Wasserrauschen unterging. "Wenn Matt wiederkommt." Damit brachte sie ihrer beider Ängste genau auf den Punkt. Was, wenn keiner der Anderen die Rückkehr schaffte? Wenn Aiko und Honeybutt allein blieben, hier in Britana? Unter Fremden, fern von allen Freunden und Verwandten? Schweigend umarmten sie sich. Die gegenseitige Nähe war alles, was ihnen in dieser unfreundlichen Welt noch geblieben war. Dies – und die Hoffnung. * Vier Tage später, in der Kanalisation von Waashton Begleitet von vier Hydriten, teils aus Hykton, teils aus Vernon, erreichte Pieroo die geheime Beobachtungsstation. Zuerst sah er nur eine verwitterte Betonwand, die sich durch nichts von den übrigen Röhren dieses unterirdischen, von übelriechenden Abwässern durchflossenen Systems unterschied. Selbst Kug’or, ein kräftiger Fischmensch mit flammend rotem Flossenkamm, ließ den eng umgrenzten Strahl seiner Tauchlampe mehrmals hin und her wandern, bis er die richtige Stelle fand. "Hier müsste es sein", sagte er und presste seine Flossenhand an die Mauer. Als er feststellte, dass sie wärmer als die Umgebung war, hellten sich seine Züge auf. "Volltreffer." Pieroo wusste inzwischen, dass die Hydriten ihre Gebrauchsgegenstände aus einem Material züchteten und formten, das Korallenbänken ähnelte. Bionetik nannte sich das. Die klobigen Tauchlampen, ihre einzige Lichtquelle in diesem Reich der Finsternis, bestanden aus dem gleichen Grundstoff wie die graue Wand, obwohl beide Oberflächen völlig verschieden aussahen. Das einzige Merkmal, das sie miteinander verband, war die Eigenwärme, die sie abstrahlten. Bionetische Gegenstände besaßen so etwas wie eine
Körpertemperatur, ähnlich einem lebendigen Wesen. Irgendwie ein wenig unheimlich, fand Pieroo, aber für ihn grenzte die Existenz der Hydriten ohnehin an Zauberei. Deshalb war er längst dazu übergegangen, alles als gegeben hinzunehmen und nicht jede Kleinigkeit zu hinterfragen. Kug’or fand inzwischen eine Stelle, hinter der ein verborgener Druckpunkt lag. Die Flosse gespreizt, übte er in einem bestimmten Rhythmus Druck gegen den Stein aus, worauf sich ein mannshoher Felsblock geräuschlos nach hinten schob und zur Seite schwenkte. Pieroo bewunderte die Präzision, mit der diese verborgene Tür eingepasst war, denn in geschlossenem Zustand verriet nicht die geringste Fuge den dahinter liegenden Raum. Drinnen schimmerten quadratische Steine, die ein unnatürlich gelbliches Licht ausstrahlten. Viele von ihnen lagen in ausgedehnten Pfützen oder wurden von verborgenen Leitungen berieselt, denn das Plankton, dem sie ihre Leuchtkraft verdankten, benötigte zum überleben Wasser. "Herzlich willkommen im vorgeschobenen Beobachtungsposten Waashton", begrüßte sie eine Hydritin, die aus den hinteren Räumen näher trat. "Mein Name ist Bel’ar." Pieroo wusste aus verschiedenen Gesprächen, dass sie eine große Fürsprecherin der Koalition zwischen Land- und Wasserbewohnern war. Ihr Angebot, sich die geheime Station näher anzusehen, lehnte er trotzdem ab. Die Zeit brannte ihm unter den Nägeln, vor allem nach den vier Tagen Tunnelfahrt, in denen er nichts hatte tun können als zu schlafen oder vor sich hin zu starren. Und nachzugrübeln. Das war das Schlimmste gewesen. "Danke", sagte er höflich, "aba ich will nach meiner Familie sehn. Unser Stamm lebte zuletzt vor’n Toren von Waashton." Bel’ar zeigte Verständnis für diese Haltung und beauftragte Kug’or damit, Pieroo zu begleiten. Gemeinsam machten sich
das ungleiche Paar auf den beschwerlichen Weg, der auf dem ersten Teilstück von rostigen und geborstenen Rohren gesäumt wurde. Pieroo war heilfroh, den hydritischen Führer an seiner Seite zu wissen. Auf sich alleine gestellt, hätte er sich in diesem unterirdischen Labyrinth hoffnungslos verlaufen. Immer wieder gerieten sie an verschüttete oder überflutete Abschnitte, die sie zu Umwegen zwangen, doch Kug’or verlor niemals die Orientierung. Schließlich erreichten sie einen aufstrebenden Schacht, der über einige rostige Sprossen in die Höhe führte. Sonnenlicht fiel durch ein klobiges Gitter und zerschnitt die Dunkelheit mit drei grellen Schneisen. Hell genug, um den Weg nach oben zu finden. Kug’or schaltete die Lampe aus und blieb im Gang zurück. "Ab hier musst du alleine weiter", verabschiedete er sich. "Aber ich werde auf dich warten, egal wie lange es dauert." "Danke", antwortete Pieroo, immer wieder erstaunt über die Freundlichkeit dieser kleinen, aber so monströs wirkenden Wesen. Ohne weitere Worte kletterte er dann in die Höhe, löste das Gitter aus der Verankerung und stieg an die Oberfläche. Seine Furcht, dass ihn jemand sehen könnte, erwies sich als unbegründet. Um ihn herum gab es nur zerfallene, von Strauch und Kraut überwachsene Ruinen. Die Natur hatte das Stadtviertel, das hier einmal gestanden hatte, schon vor Jahrhunderten zurückerobert. Nur ein paar Einsiedler mochten hier irgendwo leben. Wer jedoch nach Zivilisation strebte, wandte sich dem Teil Waashtons zu, der von einer hohen Stadtmauer umgeben war. Andere, die lieber in der freien Natur lebten, zog es in die Wälder. So wie den Nuu’orker Stamm, der nach der Explosion des "Sonnenkorns" nach Süden gezogen war und dem sich Samtha, Yuli und er nach ihrem unfreiwilligen Flug im Ballon angeschlossen hatten.
Pieroo folgte der nächst größeren Straße und fand schon bald einige markante Punkte, an denen er sich orientieren konnte. Immerhin hatte er einen Sommer lang in dieser Gegend gelebt. Da fiel es ihm nicht schwer, sich zurecht zu finden. Zielstrebig marschierte er Richtung Norden. Hin zu den Wäldern, in denen der Stamm campierte. Die Schatten wurden bereits länger, als er die Stätte ihres letzten Lagerplatzes erreichte. Zu seiner Enttäuschung war die Lichtung leer. Weit und breit keine Spur von einem Zelt oder auch nur den Resten eines Lagerfeuers. Hier hatte sich schon seit Monden keiner mehr aufgehalten. Kein Wunder; seit seinem Aufbruch waren immerhin anderthalb Jahre vergangen. Doch wohin möchten sie gezogen sein? In bessere Jagdgebiete? Oder hatte der Stamm die Gegend um Waashton ganz verlassen? Lebte Samtha vielleicht schon mit einem neuen Mann zusammen, der sie und das Kind ernährte, während sie Pieroo längst im Reich der Toten wähnte? War der Fremde, den er im Traum gesehen hatte, doch nicht Wudan gewesen, sondern ein Nebenbuhler? Seinen ersten Hoffnungen beraubt und von Zweifeln geplagt, begann der Barbar die Umgebung abzusuchen. Falls der Stamm noch in den hiesigen Wäldern lebte, konnte er nicht allzu weit entfernt sein. Denn für den großzügigen Expeditionssold, der Pieroo und einigen anderen ausbezahlt worden war, hatte ihr Stamm eine Genehmigung erworben, die ihnen die Jagd erlaubte. Und diese Permit, das wusste Pieroo genau, galt nur für eng abgesteckte Reviere. Sich an einige Rauchsäulen orientierend, die kerzengerade in den Himmel stiegen, spürte er mehrere Blockhütten an einer Flussbiegung auf. Ihre Bewohner ernährten sich von der Jagd und dem Fischfang. Das erkannte er an den Kanus, die gerade mit vollen Netzen den Strom herab fuhren.
Pieroo trat auf einen roh gezimmerten Steg, an dem sie anlegen wollten, grüßte höflich und fragte, ob einer von ihnen etwas über den Stamm aus Nuu’ork wüsste, der noch im vergangenen Jahr hier in der Nähe gelagert hatte. Zu seinem Erstaunen stieß diese Frage auf wenig Gegenliebe. Die Mienen der Kanuten verfinsterten sich augenblicklich. Statt anzulegen, stießen sie sich wieder mit den Paddeln ab, um Abstand zu gewinnen. "Redest du von den Aussätzigen?", wollte ein graubärtiger Jäger mit dunkler, von Wind und Sonne gegerbter Haut wissen. Er schien der Älteste der Gruppe zu sein und deshalb für alle zu sprechen. Pieroo fühlte sich von der schroffen Antwort in seiner Ehre verletzt, doch wenn er das zeigte, brachte ihn das nicht weiter. Im Gegenteil würde es besser sein, seine Zugehörigkeit nicht preiszugeben. Deshalb gab er sich gebührend überrascht und versicherte: "Als ich mit ihrem Schamanen sprach, galt der Stamm nicht als aussätzig. Im Gegenteil. Seine Mitglieder waren gerade zu einigen Bax gekommen und haben mir eine bescheidene Summe geliehen. Nun bin ich zurückgekehrt, um die Schuld zu begleichen." Der Graubärtige entspannte sich bei diesen Worten, während in die Augen einiger anderer ein begehrliches Funkeln trat. Vielleicht hätte Pieroo nicht andeuten sollen, dass er Geld mit sich herumschleppte. "Du hast viel Glück gehabt", antwortete Graubart etwas versöhnlicher. Dass Pieroo aus der Fremde kam, schien ihn zu beruhigen. "Du kannst dir dein Geld sparen, und wie es aussieht, hast du dich auch nicht bei ihnen angesteckt." Pieroo rann es eiskalt den Rücken hinab. Was hatte das zu bedeuten? War der ganze Stamm krank geworden? Von plötzlicher Redseligkeit erfasst, erklärte der in Fell und Leder gekleideten Alte: "Die Nuu’orker waren zu Reichtum gekommen, weil sie viele ihrer Söhne in die Fremde sandten,
um dort für die heimlichen Herrscher von Waashton zu kämpfen. Mit den Bax, in denen alle plötzlich schwammen, konnten sie sich ein Revier leisten, das unseren Familien schon seit Generationen zusteht, doch der Zauber, den ihr Schamane dafür wirkte, hat ihnen kein Glück gebracht." Der Alte lachte gehässig, bis ihn ein Hustenanfall unterbrach. Rau und krächzend klang es, wie das Bellen eines tollwütigen Lupa. Angesichts des dunklen Schleimauswurfs, den er ins Wasser spuckte, hatte der Kerl wohl selbst nicht mehr lange zu leben. "Ein Fluch kam über den Stamm", fuhr Graubart fort, nachdem er wieder atmen konnte. "Einer nach dem anderen ist gestorben. Und die Nuu’orker, die überlebten, zogen fort, weil keiner mehr etwas mit ihnen zu tun haben wollte." Pieroo spürte, wie ihm alles Blut aus den Wangen wich. Kälte stieß in die leeren Zonen nach, bis es sich anfühlte, als würde er im Gesicht erfrieren. "Is denn gar keiner mehr da?", fragte er fassungslos. Nicht unbedingt die Reaktion eines Schuldners, der gerade einen Batzen Geld sparte. Das schien auch den Kanuten zu dämmern. "Ja, alle sind fort oder tot", beschied ihm Graubart. "Und jetzt verschwinde von unserem Grund und Boden!" Einige der Männer griffen bereits zu ihren Waffen, sodass es besser schien, den Rückzug anzutreten. Nur einer von ihnen zeigte Mitleid mit Pieroo: ein hagerer Kerl mit wild wucherndem Bart und zerschlissener Kleidung, die derart um seinen Leib schlotterte, als wäre es nicht mal die eigene. "Ein paar Frauen und Kinder könnten noch in den Pesthügeln leben, nahe des Friedhofs!", rief er Pieroo nach. "Dort mussten alle Nuu’orker hin, die nicht mit fortziehen wollten!" Die übrigen Kanuten murrten verärgert, aber das schien den Hageren nicht zu stören. Pieroo nickte ihm dankbar zu und machte sich mit neuer Hoffnung auf den Weg.
Die Pesthügel ... davon hatte er schon damals gehört. Das war ein Quarantänegebiet nördlich der Stadtmauern, nicht weit entfernt vom Potomac. Wenn er sich beeilte, konnte er den Weg noch vor der Dämmerung schaffen. Hoffentlich waren Samtha, Wyllem und Yuli dort, damit er ihnen von der Medizin in seinen Taschen geben konnte! Sicher litten sie – und der ganze Stamm – an der gleichen Krankheit, die auch ihn von innen heraus zerfressen wollte. Schließlich hatten sie damals alle das Licht des "Sonnenkorns" und die pilzförmige Wolke am Horizont gesehen, die Maddrax für ihre Leiden verantwortlich machte. Pieroos Herz klopfte so schnell, dass es ihm in der Brust schmerzte. In diesem Augenblick wünschte er sich Flügel herbei, die ihn schnell zum Pesthügel tragen würden. Er musste endlich Gewissheit haben! Dann jedoch hielt er abrupt inne, weil das Knacken von Zweigen an sein Ohr drang. Irgendjemand folgte ihm, kein Zweifel. Alarmiert wirbelte er herum und zog sein Kurzschwert halb aus der Scheide. Zum Glück entdeckte er nur einen einzelnen Mann. Es war der Hagere mit den viel zu weiten Hosen. Um seine friedlichen Absichten zu demonstrieren, hob er die Hände über den Kopf und drehte die leeren Innenseiten nach vorne. "Nur die Ruhe! Krolpo ist hier, um dir zu helfen!", versicherte er. "Was willste?", fragte Pieroo misstrauisch, obwohl er bereits einen beistimmten Verdacht hegte. Dem gierigen Funkeln in Krolpos Augen nach zu urteilen ging es hier um Bax und nichts anderes. Krolpos nächste Worte wiesen jedoch in eine andere Richtung.
"Ich weiß, wer du wirklich bist", behauptete er. "Pieroo, ein Freund von Yuli, stimmt’s? Du bist einer von denen, die mit der Expedition nach Norden gezogen sind." Woher der Kerl Yuli kannte, war nicht schwer zu erraten. Sie war als "Bordschwalbe" bei der langen Überfahrt für die Bedürfnisse der Mannschaft zuständig gewesen und hatte auch hier in Meeraka regelmäßig ihren Körper verkauft, um zu überleben. Der versonnen lächelnde Krolpo gehörte offensichtlich zu denen, die dafür bezahlt hatten. "Schön, du weiß also, dasich zum Stamm gehör", knurrte Pieroo. "Komm mir also bessa nich zu nah, sonst steckst du dich auch noch an." Krolpo machte ein wegwerfende Handbewegung, als ob er der Krankheit nicht allzu viel Beachtung schenkte. "Yuli und ihre Freundin gehören zu denen, die am Pesthügel leben", sagte er leise, dabei einen Blick über die Schulter werfend. "Ein kleines Kind ist auch dabei. Das wollte ich dir nur sagen. Und sei ganz beruhigt, von mir erfährt niemand was." Nach diesen Worten drehte er sich um und ging davon. Pieroo schob sein Schwert zurück in die Scheide und sah dem Hageren verdutzt hinterher. Wie es schien, hatte er sich in Krolpo geirrt. * Waashton, Pentagon Seit der letzten Meldung seiner Tochter waren die Tage für Arthur Crow grau geworden. Es hatte eine Meuterei gegeben an diesem verdammten Kratersee. Keine schöne Situation, aber für einen Offizier von Lynnes Format zu bewältigen. Danach – beim Vorstoß zum Kometen am Grunde des Kratersees – musste jedoch etwas fürchterlich schief gegangen sein. Ihre letzten Worte, die von dem ISS-Relais aufgezeichnet worden
waren, klangen dem General bis heute in den Ohren: "Gott im Himmel! Es war alles geplant!" Das Formular in seinen Händen, das er eigentlich unterzeichnen sollte, formte sich knisternd zu einem Papierball. Der General bemerkte seine unbewusste Reaktion und wollte gegensteuern, indem er die Erinnerungen, die auf ihn einstürzten, zu verdrängen versuchte. Es gelang ihm nicht. Wieder und wieder erlebte er die Stationen der vergangenen Schrecken. Wie in einer Endlosschleife, in der verschiedene Höhepunkte als kurze Bilderfragmente aufblitzten. Lynne, seine geliebte Lynne, wie sie zu dieser verfluchten Expedition aufbrach, überhastet – nur aus dem einen Grund, Commander Drax zuvorzukommen. Die Monate des Bangens, in denen ihre Funksprüche ein schwacher Trost waren. Und dann die ersten Schreckensmeldungen. Von der Meutererei, der Begegnung mit Matthew Drax und ihrem letzten Tauchgang, der im Desaster endete. Gott im Himmel! Es war alles geplant! Vierundzwanzig Stunden lang hatte das ISS-Relais diesen schreckenserfüllten Ruf rund um die Welt gesandt, nur um ihn zu quälen, wie es schien. Er hatte versagt, so viel stand fest. Als Vater, als kommandierender Offizier und als Mann, der es gewohnt war, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Nun aber waren Arthur Crow die Hände gebunden. Eine neue Expedition kam nicht in Frage, dazu reichten die Ressourcen nicht. So blieb ihm nichts weiter übrig, als nach unerlaubten Heimkehrern zu fahnden und die ISS-Frequenzen abzuhören. Letzteres hatte schon einigen Erfolg gebracht, denn Commander Drax, der Offizier, den er für den Tod seiner Tochter verantwortlich machte, besaß tatsächlich die Frechheit, das orbitale Relais für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Seit einigen Wochen wimmelte es nur noch von verschlüsselten Funksprüchen auf allen Frequenzen, die seinen
besten Dechiffrierspezialisten Rätsel aufgaben. Es schien sich dabei um ein System auf kyrillischer Basis zu handeln, das sie bislang noch nicht knacken konnten. Die Russen also! Ein weiterer Schlag ins Gesicht der WCA. Dazu passte auch die einzige klare Meldung, die seither eingegangen war und die allen stark zu denken gab: "Matt an Aiko! Mutantenheer vor Moskau vernichtet. Versorgen hiesige Communitys mit Serum. Folgen so schnell wie möglich." Der feuchte Schimmer in Crows Augen verdunstete, als die Worte in seinen Ohren widerhallten. Zorn kochte in ihm hoch. Unbändige Wut auf die Männer, die ihm nicht nur die Tochter genommen hatten, sondern auch noch eine weltweite Verschwörung planten. Mutantenheer. Niemand wusste, wofür dieses Codewort stand, doch es enthielt sicher eine gegen den Weltrat gerichtete Botschaft. Verdammt, diese Kerle schreckten ja nicht einmal davor zurück, sich mit den Russen zu verbünden! Wohin das führte, bewiesen die Archiv-Aufzeichnungen des WeltratBunkers, in erster Linie aus den Jahren 1950-1960. Ein Rufsignal riss Crow aus seinen Betrachtungen. Hastig wischte er über seine Augen und aktivierte die Bild-TonVerbindung. "Was gibt’s?", fragte er unwirsch. Auf dem Tischmonitor erschien das Gesicht eines Agenten im Außeneinsatz, der direkt zu ihm durchgestellt wurde. "Equalizer 5 in Sektor 2/1!", meldete der Offizier, den Arthur Crow als Lieutenant Granger identifizierte. "Wir haben hier einen Informanten mit einer äußerst interessanten Meldung." Die mobile Helmkamera, die das Gespräch aufzeichnete, schwenkte auf einen halb verhungert aussehenden Barbaren, dem Jacke und Hose am Körper schlotterten. Ein trauriger Anblick, wie alle Degenerierten, denen die CF-Strahlung das Hirn gebraten hatte.
"Wieso belästigen Sie mich damit, Equalizer 5?", brauste Crow auf. "Dafür ist die Einsatzzentrale zuständig." Obwohl es mit der Bildqualität nicht gerade zum Besten stand, war gut zu sehen, wie Lieutenant Granger das Blut aus dem Gesicht wich. "Aber Sir", stammelte er hilflos, "ich handele auf Ihren persönlichen Befehl! Unser Informant hat einen der Barbaren gesehen, die wir vor anderthalb Jahren als Hilfskraft für die Kratersee-Expedition angeheuert hatten. Dem Namen nach scheint es einer der Meuterer zu sein. Ich dachte, das sollten Sie sofort wissen." Der General fuhr aus seinem Sessel hoch und beugte sich so weit über den Schreibtisch, das er förmlich mit der Nase am Monitor klebte. "Ist das Ihr Ernst?", fragte er schnaufend. "Worauf warten Sie dann noch? Schaffen Sie diesen Deserteur heran, aber sofort!" * Der Pesthügel war eine von Bäumen befreite, nackte Höhenkette, die zahlreiche Erdlöcher und Gruben aufwies. Die meisten davon waren mit bloßen Händen gegraben worden, denn wer hierher ausgestoßen wurde, hatte schon alles andere verloren. Schmale Rauchsäulen zeigten an, wo es noch Leben gab. Pieroo hatte diese Stellen rasch abgesucht, denn es waren insgesamt nicht mehr als ein Dutzend. Die halb verhungerten, in Lumpen gehüllten Menschen, die er vor ihren primitiven Behausungen antraf, besaßen nicht die geringste Ähnlichkeit mit Samtha, Yuli oder Wyllem. Die meisten waren Männer; Kinder gab es schon gar nicht. Auf seine Fragen konnte ihm niemand eine Antwort geben, nicht einmal, als er den Aussätzigen mit Bax vor der Nase herum wedelte. Pieroo warf ihnen die zerkratzten Kreditkarten trotzdem zu, denn auf mildtätige Seelen, die hier etwas zu
essen vorbei brachten, warteten die Unglücklichen vergeblich. So ernährten sie sich von dem, was auf den Bäumen des nahe gelegenen Friedhofs wuchs, oder von Abfällen, die außerhalb der Stadtmauern abgeladen wurden. Entmutigt wollte sich Pieroo schon wieder auf den Rückweg machen, als er ein dürres kahles Männlein entdeckte, das gerade einen Toten aus einer Erdgrube zerrte und auf seine Schubkarre lud. Der Holzreifen versank tief im Schlamm, trotzdem schob er die schwere Last eine Anhöhe hinauf, hinter der sich der Armenfriedhof befand. Oben angekommen, musste der Dürre eine Pause einlegen. Pieroo nutzte die Gelegenheit, um zu ihm aufzuschließen. Im Näherkommen bemerkte er, dass der Mann eher drahtig als dürr war. Unter der runzligen Haut zeichneten sich feste Muskelpakete ab. Zwei graue, wissend glänzende Augen dominierten sein Gesicht. Noch ehe Pieroo eine Frage stellen konnte, sagte er ihm auf den Kopf zu: "Du suchst wohl nach Freunden oder Angehörigen?" "Genau", bestätigte der Barbar. "Sie ham zu dem Stamm aus Nuu’ork gehört, von denen so viele krank geworden sin. Zwei Frauen un ein kleiner Junge. Samtha, Yuli und Wyllem. Hast du von ihnen gehört?" "Weiß nicht", sagte der Drahtige. "Hier sterben so viele. Manchmal mehr, als ich an einem Tag unter die Erde bringen kann. Ach, ich muss mich noch vorstellen: Ich bin Freik. Hab den Job übernommen, die Toten zu verscharren." "Dann weiß du doch am besten Bescheid hier", drängte Pieroo. "Sag schon, kennste die Namen?" Freik überlegte kurz. "Hm, ja, Nuu’orker waren hier, vor allem Frauen, die auf die Rückkehr ihrer Männer warten wollten. Die hatten alle eine schlimme Krankheit, aber ansteckend war die nicht. Manche, die kräftig genug waren, sind dann bei Nacht fortgelaufen. Sie wussten ja nicht, ob ihre Männer überhaupt noch leben."
Pieroo hoffte, dass Samtha genauso gehandelt hatte. Schaudernd stellte er sich vor, sie hätte unter diesen Bedingungen auf ihn warten müssen. "Weiß du, ob’s noch irgendwo überlebende Nuu’orker gibt?", fragte er dann. "Ich hab gehört, zwei Frauen und ein Kind soll’n noch hier sein." Freik schüttelte den Kopf. "Nicht hier in den Hügeln. Vielleicht in der Stadt, oder in den umliegenden Wäldern. Tut mir Leid, dass ich dir nicht weiterhelfen kann. Aber ich kenne meist nur die Gesichter der Aussätzigen, nicht ihre Namen." Seine Worte klangen niedergeschlagen, wie die eines Mannes, der schon zu viel Leid gesehen hatte. "Nichts ist so vergänglich wie das Leben", sinnierte er noch und wollte die Karre anheben. "Lass ma", hielt ihn Pieroo zurück. "Ich helf dir." Ächzend schob er die Karre zu einem mit Bäumen und Büschen bewachsenen Flecken, den eine Feldsteinmauer umgab. Der Armenfriedhof. Freiks Reich. Einfache Holzlatten markierten die frischen Gräber, doch Inschriften suchte man vergebens. Das hätte auch nichts genutzt. Pieroo konnte ebenso wenig lesen, wie Freik schreiben. An anderen Stellen gab es sogar eingefasste Stätten mit marmornen Abdeckungen. Die stammten jedoch aus längst vergangenen Zeiten. An einer flach ausgehobenen Grube setzte Pieroo die Karre ab. Freik bedankte sich für die Hilfe, und machte sich daran, die Lumpen des Toten zu durchsuchen. Ein paar schön geformte Muscheln und ein Taratzenzahn an einem Lederband, mehr fand er nicht. "Das muss ich tun", entschuldigte er sich beschämt. "Es ist der einzige Lohn für meine Arbeit, und die Toten können sowieso nichts mehr damit anfangen." Pieroo nickte mit vollem Einverständnis. Wer sich so viel Mühe machte, die Toten würdig zu bestatten, war kein Leichenfledderer.
Gemeinsam betteten sie den Verblichenen in seine letzte Ruhestätte, doch als Pieroo zur Schaufel greifen wollte, lehnte Freik entschlossen ab. "Nein, das ist meine Aufgabe", sagte er, und dann etwas leiser: "Du willst doch bestimmt weiter nach deiner Frau suchen." Ja, das wollte Pieroo in der Tat. Gerührt von so viel Verständnis, verabschiedete er sich und ging zurück zur Stadt. Der Weg führte über die Pesthügel, doch so weit kam er gar nicht mehr. Kaum das er den Friedhof hinter sich gelassen hatte, tauchte ein bekanntes Gesicht hinter der nächsten Anhöhe auf. Krolpa. "Hey, du hast dich wohl verlaufen?", rief ihm der Jäger zu und wies mit dem Daumen über seine Schulter. "Deine Frauen sitzen da hinten!" "Was?" Pieroo war völlig perplex. "Aber ... das is nich möglich. Freik hat gesagt ..." "Ach, der alte Spinner! Der ist doch nicht ganz richtig im Kopf." Krolpa verdrehte die Augen und streckte die Zunge heraus, in dem erfolgreichen Versuch, eine völlig bescheuerten Eindruck zu hinterlassen. "Komm schon, ich habe mit den beiden gesprochen. Sie freuen sich schon auf dich." Ehe Pieroo auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, packte ihn Krolpa am Ärmel und zerrte ihn hinter sich her. An der Kuppe angekommen, deutete er auf das Gelände hinab. "Siehst du die beiden Hübschen da hinten? Das sind sie." In der Verlängerung seines Zeigefingers waren tatsächlich zwei Gestalten auszumachen, die kurz zuvor noch nicht an dieser Stelle gesessen hatten. Ob es wirklich Frauen waren, ließ sich auf diese Entfernung nicht genau erkennen. Sie trugen lange Umhänge, die sie von Kopf bis Fuß verschleierten. "Los, wink mit", forderte Krolpa aufgekratzt. "Damit sie wissen, dass ich dich gefunden habe." Die Stimme des Jägers
klang viel zu schrill für jemanden, den die ganze Angelegenheit eigentlich nur am Rande berührte. Den Arm bekam Krolpa noch in die Höhe, doch ehe er einen Begrüßungsschrei ausstoßen konnte, hämmerte ihm Pieroo die geballte Faust von hinten in die Nieren. Mehr als ein Keuchen brachte Krolpa nicht mehr hervor, dann lag er am Boden, ein schweres Knie auf der Brust, zwei haarige Pranken an der Kehle. "Wer wartet wirklich da unten, du Wisaau?", fauchte Pieroo. Krolpa versuchte verzweifelt, den schweren Barbaren von sich zu stoßen, hatte jedoch keine Chance gegen den wütenden Pieroo. Seine Augen traten bereits aus den Höhlen hervor, als er keuchte: "Dein Weib ... und Yuli ..." Weiter kam er nicht. Pieroo hämmerte ihm die Rechte ins Gesicht. Einmal. Zweimal. Dreimal. Krolpas Nasenbein brach, die Haut platzte auf. "Bitte nicht ...", flehte er. "Red kein Scheiß! Samtha un Yuli würden nich so ruhig dasitzen, wenn sie wüssten, dass ich hier bin! Sach mir, wer da unten is, oder ich schlach dich tot!" In Anbetracht der funkelnden Augen und des von Wut und Schmerz verzerrten Gesichts zweifelte der Jäger keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit dieser Drohung. Und damit irrte er auch nicht. "Die ... die heimlichen Herrscher von Waashton", gestand Krolpa in Todesangst. "Sie haben einen Preis auf alle Barbaren ausgesetzt, die von der Expedition zurückkommen. Ich weiß nicht genau, warum. Es soll eine Meuterei gegeben haben." "Das is also eine Falle", folgerte Pieroo. "Sach mir, wo die Soldaten versteckt sind!" "Unten, am Fuß des Hügels", sprudelte es aus dem Geschundenen hervor. "Sie haben sich eingegraben, in der Nähe des Steinhaufens." Er wollte noch mehr erzählen, doch Pieroo bremste den Redestrom, indem er seine schwere Stirn niedersausen ließ.
Knochen knallte auf Knochen, doch Pieroos Schädel war härter. Krolpa kippte ächzend zur Seite und verdrehte die Augen. Danach war Ruhe. * Jede Deckung des unebenen Geländes ausnutzend, arbeitete sich Pieroo zwischen zwei Hügeln hinab. Eine beklemmende Stille lag über der Landschaft. Außer den verschleierten Frauen hatten sich alle Aussätzigen in die Höhlen zurückgezogen. Sie spürten wohl, dass sich etwas Gefährliches anbahnte, und wollten nicht in die Schusslinie geraten. Pieroo schlich vorsichtig näher und suchte den von Krolpa bezeichneten Graben mit seinen scharfen Augen ab. Zuerst konnte er nichts entdecken, dann brachten ihn zwei leise Stimmen auf die richtige Spur. "Hier Equalizer 5", drang es unter einem ausgehöhlten Baumstück hervor. "Situation unverändert. Lockvögel in Position, Zielobjekt noch nicht in Sicht." "Was, wenn er schon wieder fort ist?", fragte eine zweite, leicht quäkende Stimme. "Unwahrscheinlich, General. Wir sind sofort aufgebrochen und es ist ein unübersichtliches Gelände. Dieser Pieroo kommt sicher noch. Vielleicht hat er sich auch erst am nahe gelegenen Friedhof umgesehen. Unser Informant überprüft das gerade." Pieroo wusste, dass sein Plan gefährlich war, trotzdem löste er sich aus seiner Deckung und lief auf die Weltrat-Stellung zu. Angst fühlte er nicht vor den Soldaten, schließlich hatte er lange genug für sie gearbeitet. Außerdem gab es etwas, das er unbedingt wissen musste. "Gut, Lieutenant Granger", quäkte die Stimme. "Bleiben Sie im Hintergrund, bis Sie die sichere Möglichkeit haben, den Kerl lebend zu fassen. Tot nutzt er uns nichts."
Mit einem weiten Satz katapultierte sich Pieroo in den Graben hinein. Direkt auf den Baumstumpf zu, der unter seinen wuchtig herabstoßenden Sohlen zersplitterte. Die beiden Männer, die sich darunter verbargen, wurden zur Seite geschleudert. Pieroo ließ ihnen keine Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen. Wütend packte er ein Holzstück und drosch auf die am Boden Liegenden ein. Dem Linken, der nach seinem Driller greifen wollte, brach er glatt den Arm. Den anderen, den die unsichtbare Stimme Lieutenant Granger genannt hatte, packte er am Kragen seiner Uniform und schleuderte ihn quer durch den Graben. Das Schmerzgeheul des Verletzten hallte von den umliegenden Hügeln wider, aber in seinem unheiligen Zorn war Pieroo das völlig egal. Er wollte endlich die Wahrheit wissen. Mit einem Sprung war er über Granger, packte ihn mit einer Hand an der Kehle und fuhr mit der anderen unter dessen Anorak. Pieroo wusste, wo die Serumsbeutel der Weltratleute saßen, und so fiel es ihm nicht schwer, die Zuleitung zu packen und mit einem harten Ruck aus dem Körper zu reißen. Der Agent unter ihm heulte vor Schmerz und Angst. Die Furcht vor einer Verseuchung begleitete die Bunkermenschen von Kindesbeinen an. Auch wenn der Verlust des Serums nur langsam wirkte, stand ihm doch nackte Panik in den Augen. "Wills du sterben?", brüllte Pieroo aufgebracht. "Nein? Dann erzähls’ du mir, wasich wissen will!" "Halten Sie durch, Granger! Die übrigen Gruppen werden alarmiert!", meldete sich die fremde Stimme erneut. Diesmal hörte Pieroo, dass sie aus einem Helmbügel drang, an dem auch eine kleine runde Linse glänzte. Wütend riss er den Bügel vom Helm und schleuderte ihn zur Seite. Danach packte er Granger beim Kragen.
"Was habter mit meiner Familie gemacht?", fragte er, mühsam um Beherrschung ringend. "Habter se entführt, um mich inne Falle zu locken?" "Wovon redest du überhaupt?", keuchte Granger entsetzt. "Samtha, Wyllem un Yuli", zählte der Barbar auf. "Sach nich, dasde se nich kennst!" "Aber es ist so", schwor Granger. "Ich habe die Namen noch nie gehört. Ich führe doch bloß Befehle aus!" "Du lügst!" "Nein! Ich ... ich ..." Granger verlor alle Fassung und brach in Tränen aus. Enttäuscht ließ Pieroo den Weinenden zu Boden sinken. Verdammt, die Weltrat-Bande war seine letzte Hoffnung gewesen. Er wusste beim besten Willen nicht mehr, wo er noch suchen sollte. Zum ersten Mal überkam ihn Reue, weil er nicht auf Aiko oder Maddrax gewartet hatte. Die beiden hatten Ideen und verfügten über Fähigkeiten, die sein Können bei weitem überstiegen. "Macht das Schwein fertig!", brüllte der Kerl mit dem gebrochenen Arm hinter ihm. "Er hat Granger umgelegt!" Das stimmte zwar nicht, aber die Männer und Frauen, die gerade lautstark heran stürmten, interessierten sich für diese Feinheiten wahrscheinlich ohnehin nicht. Pieroo sprang auf und rannte geduckt durch den Graben davon. Etwas fauchte über seinen Kopf hinweg. Einen Herzschlag später platzte vor ihm das Erdreich auseinander. Drillergeschosse! Pieroo hatte sie schon so oft explodieren sehen, dass er sich nicht mehr von ihrer Wirkungsweise irritieren ließ. Mit einem Hechtsprung brachte er sich in Sicherheit und kroch im Schutz des nächsten Hügels weiter. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm nicht nur die beiden Frauen, die aufsprangen, ihre langen Umhänge fallen ließen und sich als
Weltrat-Agentinnen entpuppten, sondern auch das blutrote Rund der Sonne, das langsam am Horizont versank. Wenn die Dunkelheit rasch hereinbrach, konnte er vielleicht entkommen. Er war ein Kind der Natur. Die Bewegung im freien Gelände war ihm von Kindesbeinen an vertraut. Dies war sein Vorteil gegenüber den Technos. Sein Nachteil war die Erschöpfung, die sich nun mit Macht seiner bemächtigte. Er hatte sich bei dem Kampf im Graben völlig verausgabt. Keuchend kletterte er einige aus dem Hang ragende Metallteile empor. Er wollte hinauf zum Friedhof, und dann ab in die Wälder. Dort würden sie ihn nicht finden. Auf halbem Weg lugte plötzlich ein Gesicht zwischen den Trümmern hervor. Es gehörte Freik. "Hierher, schnell", verlangte der Totengräber und deutete in einen runden Gang, der aussah, als hätte ihn ein Tier mit seinen Krallen ins Erdreich gegraben. Pieroo folgte der Aufforderung ohne Zögern. Was hatte er schon zu verlieren? Gemeinsam krochen sie weiter hinauf, bis der Gang unter einer Baumwurzel endete. Verdreckt aber lebend wühlten sie sich ins Freie. Pieroo fand sich auf dem Friedhof wieder. "Danke. Von hier aus schaff ich’s allein innen Wald", keuchte er, doch Freik packte ihn am Ärmel und zerrte ihn einfach weiter. Hin zu einer mit Marmor eingefassten Grabstätte, die nur halb von einer schweren Platte abgedeckt wurde. Freik bedeutete ihm, über eine wacklige Holztreppe hinab zu steigen, und folgte dann sofort nach. Nach wenigen Schritten hängte er sich an einen Seilzug, der neben den Stufen hin und her pendelte. Knirschend rückte die Platte an ihre ursprüngliche Stelle. Die Sonne wurde ausgesperrt, doch einige Talgkerzen spendeten weiter ein fahles Licht. "Das war knapp." Pieroo sah sich erleichtert in dem Versteck um, das Freik offensichtlich als Behausung diente. Der unterirdische Raum sprengte bei weitem die Abgrenzungen eines Grabes und maß gut und gerne zehn mal zehn Schritte.
"Hier bist du sicher", versprach der Einsiedler. " Meine Gruft hat noch niemand gefunden. Nicht in zwanzig Sommern." Ob das so blieb, wurde kurze Zeit später auf die Probe gestellt, als oben Schritte laut wurden. Durch einen Luftschacht, der durch einen hohlen Baumstumpf getarnt in die Höhe führte, konnten sie die Unterhaltungen einiger WeltratAgenten hören, die mal näher und mal weiter entfernt klangen und sich schließlich in Richtung Wald verloren. Pieroo war außer Gefahr. Sein Interesse richtete sich auf das rückwärtige Erdreich der Gruft, aus dem in gleichmäßigen Abständen Holzpflöcke ragten. Sie dienten Freik als Haken, an denen er Kleidung, Schmuck und skurrile Kleinigkeiten aufbewahrte. "Sind das die Dinge, die du den Toten abgenommen hast?", fragte Pieroo. Seine Stimme bebte. "Ja", bestätigte der Einsiedler. "Sie sind mein Lohn dafür, das ich sie begraben habe. Warum fragst du?" Der Barbar deutete auf ein eureeisches Amulett. Ein Halbmond, in dem ein Bernstein glänzte. Tränen füllten plötzlich Pieroos Augen, ohne dass er sich dessen bewusst wurde. "Weil ich das hier kenn", sagte er. Ja, selbst durch den Tränenschleier hindurch gab es gar keinen Zweifel. "Das hat meinem Weib gehört ..." * "Das ist es", sagte Freik leise und mit belegter Stimme. In all den Jahren, die er hier schon seinen Dienst verrichtete, war nie jemand zu ihm gekommen, um sich die Ruhestätte eines Toten zeigen zu lassen. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut. Pieroo sagte kein Wort. Er starrte auf die flachen Erdhügel; zwei große und einen kleinen zwischen ihnen. Dies war wohl
auch das einzige Merkmal, durch das der Totengräber die Lage des Grabes noch hatte ausmachen können. "Sie sind vor zwei Monden gestorben", fuhr Freik fort. "Wenn es dich tröstet: Ich glaube nicht, dass sie lange leiden mussten. Es ging schnell." Pieroo verzieh ihm die Lüge. Der Mann meinte es gut. Doch er hatte schließlich am eigenen Leib erfahren, welche Schmerzen Samtha, Wyllem und Yuli in ihren letzten Monaten ertragen mussten. Ohne ärztliche Hilfe. Ohne Beistand. Zum Sterben auf einen kargen Acker verbannt. Pieroo sank vor den Erdhügeln auf die Knie. Tränen rannen ihm über die bärtigen Wangen. Lautlos nahm er Abschied. Zwei Monde. Hätte er es verhindern können, wenn er sich früher auf den Heimweg gemacht hätte? Wenn er Aiko und Honeybutt zu schnellerer Fahrt angetrieben hätte? Wohl kaum. Er öffnete die Hand und betrachtete Samthas Amulett darin. Er hatte die Faust so fest geballt, dass ihm der Halbmond ins Fleisch gedrungen war. Er hatte es nicht einmal bemerkt. Blut benetzte den Bernstein. Es erschien ihm wie ein Omen. Wie viele Tote waren auf dem Weg zurückgeblieben, den er in den letzten anderthalb Jahren beschritten hatte? Wie viel Blut war vergossen worden? Zu viele Tote. Zu viel Blut. Dann erhob er sich, mit mühsamen, ungelenken Bewegungen, innerlich um Jahre gealtert. Er hatte einen Entschluss gefasst. * Draußen herrschte schon tiefe Nacht, als Pieroo den Kanalschacht hinab kletterte. Unten angekommen, verharrte er einen Moment und lauschte in die Dunkelheit hinein. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte kein Geräusch ausmachen.
"Kug’or, bist du noch da?" Ein leises Klicken war die Antwort, dann ein auf den Boden gerichteter Lichtstrahl, in dessen Schein die Gestalt des Hydriten sichtbar wurde. "Natürlich. Ich habe doch versprochen, dass ich warte, bis du zurückkommst." Kug’or winkte, zum Zeichen, dass Pieroo folgen sollte, doch der hielt ihn zurück. "Nein", erklärte er. "Du musst allein gehen. Ich bin nur gekomm’, um dir zu sagen, dass ich in Meeraka bleib. Richte das bitte mein’ Freunden Maddrax, Aruula, Aiko und Honeybutt aus. Sie soll’n nich nach mir suchen. Ich war ihnen sowieso keine große Hilfe. Ich bring nur allen, die ich liebe, den Tod." "Deine Familie ...?", fragte der Hydrit, begleitet von dem typischen Klacken. Pieroo nickte. "Ich werd um sie trauern. Un mein Leben überdenken. Wie lang es dauert, weiß ich nich." Dann stieg er wieder die Stiege hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen ...
ENDE
Der Gen-Mutant von Bernd Frenz Warum nur hat sie Maddrax verlassen? War es die Eifersucht auf Jenny, die ihm eine Tochter schenkte? War es Wut, weil sie sich von Maddrax im Stich gelassen fühlte? Oder der bohrende Selbstzweifel, niemals geben zu können, was eine zivilisierte Frau seiner Zeit ihm bieten konnte? Aruula ist hin und her gerissen zwischen Umkehr und Flucht – da trifft das Schicksal die Entscheidung für sie. In Form einer fliegenden Maschine. Und Menschen, die ihre Hilfe brauchen. Skrupellose Menschen, die nicht bitten, sondern fordern. Und sie in tödliche Gefahren stürzen ... Dieser Roman war die Vorlage für das geplante – aber leider nicht realisierte – MADDRAX-PC-Game!