Olaf Schnur Demographischer Impact in städtischen Wohnquartieren
VS RESEARCH Quartiersforschung Herausgegeben von Dr. Olaf Schnur, Universität Potsdam Dr. Dirk Gebhardt, Eurocities, Brüssel Dr. Matthias Drilling, Hochschule für Soziale Arbeit, Basel
Das Wohn- oder Stadtquartier hat in unterschiedlichsten Bereichen der Stadtforschung einen wachsenden Stellenwert. Neue Schwerpunkte auf Quartiersebene sind sowohl in der Praxis, etwa in Stadtentwicklung und Immobilienwirtschaft, als auch in stärker theoretisch orientierten Bereichen zu finden. In der dazwischen liegenden Grauzone hat die wissenschaftliche Begleitforschung Konjunktur, die sich mit den immer vielfältigeren planungspolitischen Interventionen in Quartieren beschäftigt. Diese Reihe möchte sich den inzwischen existierenden pluralistischen, oft auch kritisch geführten Diskurslinien der Quartiersforschung mit ihren zahlreichen Überschneidungen und Widersprüchen widmen. Sie bietet Raum für Quartiersforschung im weitesten Sinn – von Arbeiten mit theoretisch-konzeptionellem Schwerpunkt über empirisch-methodisch orientierte Studien bis hin zu explizit praxisorientierten Arbeiten über Quartiers-Themen aus dem Blickwinkel verschiedener Paradigmen der Quartiersforschung. So soll ein Forum entstehen, in dem sich Interessierte aus allen Bereichen – vom Quartiersmanager bis zum Wissenschaftler – über das Themenfeld „Quartier“ auch über den eigenen Horizont hinaus informieren können. Quartiersforschung wird innerhalb dieser Reihe interdisziplinär und multidisziplinär verstanden, wobei geographische und sozialwissenschaftliche Ansätze einen Schwerpunkt darstellen.
Olaf Schnur
Demographischer Impact in städtischen Wohnquartieren Entwicklungsszenarien und Handlungsoptionen
VS RESEARCH
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Zugl.: Berlin, Humboldt-Universität, Habilitationsschrift 2009 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17650-5
Danksagung
Eine Habilitationsschrift wie die vorliegende entsteht weniger „im stillen Kämmerlein“ als durch einen intensiven Austausch mit Fachkollegen, Experten und Bewohnern vor Ort und nicht zuletzt mit Freunden. Es wird kaum möglich sein, hier allen Beteiligten angemessen zu danken, und jene, die sich vielleicht hier zu wenig berücksichtigt sehen oder übergangen fühlen, bitte ich um Nachsicht – es ist nicht als Ausdruck einer Geringschätzung zu verstehen. Zunächst möchte ich der Habilitationskommission und insbesondere Prof. Dr. Paul Gans (Mannheim), Prof. Dr. Franz-Josef Kemper und Prof. Dr. Elmar Kulke (beide Berlin) für ihre Bereitschaft danken, diese Arbeit zu begutachten. Prof. Kemper bin ich dabei ganz besonders dankbar: Es war nicht zuletzt die angenehme, vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre über die vielen Jahre am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und hier insbesondere in der Abteilung Bevölkerungs- und Sozialgeographie, die mir den Weg zur vorliegenden Arbeit geebnet hat. Gedankt sei weiterhin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir dieses Vorhaben über drei Jahre großzügig finanziert hat, sowie den DFG-Gutachtern, die sich dafür entschieden haben, nicht auf „Altbewährtes“, sondern auf neue Ideen zu setzen. Dank gebührt weiterhin den zahlreichen, im Anhang genannten Expertinnen und Experten, die sich in Essen, Leipzig, Brandenburg an der Havel und Berlin für zum Teil sehr ausführliche Gespräche bereit erklärt haben. Auch die namentlich nicht genannten Bewohner aus den 24 Quartieren, die mir und meiner studentischen Mitarbeiterin zwischen Tür und Angel, neben dem Müllcontainer oder auf dem Spielplatz Rede und Antwort standen, sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Besonders dankbar bin ich auch für die Beiträge der Fachkollegen und Experten im Rahmen der Delphi-Befragung. Mir war bewusst, dass diese Befragung einen sehr hohen Zeitaufwand erfordern würde. Ihr Gelingen war zentral für das Forschungsprojekt. Darüber hinaus sei dem Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. (vhw), insbesondere vertreten durch Herrn Hallenberg, für aufwändige Sonderauswertungen und die Überlassung der SinusMilieu-Daten auf der Ebene meiner Untersuchungsquartiere gedankt. Dadurch konnte der eigene Erhebungsaufwand deutlich reduziert und eine weitere Forschungsdimension hinzugefügt werden.
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Danksagung
Eine zentrale Stütze für den Erfolg des Projekts war meine studentische Mitarbeiterin Ilka Markus, die mir geräuschlos und zuverlässig große Mengen an Arbeit abnahm und – weit über ihre „Hiwi“-Aufgaben hinaus – als hartnäckigkritische, inhaltliche Diskussionspartnerin jederzeit präsent und gerade deshalb unverzichtbar war! Gedankt sei auch dem „Staff“ des Geographischen Instituts, vertreten durch Dr. Klaus Neitzel und insbesondere Jana Lahmer für deren immer so freundschaftliche und herzliche Hilfsbereitschaft. Nicht zuletzt will ich meinen lieben Freunden herzlich danken, die mir wertvolle Inputs gaben, konstruktive Kritik übten und mich in meinem Vorhaben bestärkten: Birgit Schultz für eine kurze, aber Gewinn bringende volkswirtschaftliche Mail-Diskussion, Manfred Schmitt-Bormann über ein langes Telefonat darüber, wie ein Unternehmer denkt, Thomas Franke für wichtige strukturelle Hinweise und die präzise Revision des Manuskripts unter einem kommunalpolitischen Fokus sowie Dr. Jens Kirsch für das akribische inhaltliche Lektorat, das immobilienwirtschaftliche Feintuning und einen Diskussionsabend, der mich für die Endphase enorm motiviert hatte. Ganz besonderer Dank gebührt aber meiner geliebten Frau Anna-Sophia, die die Höhen und Tiefen des Projekts gleichermaßen intensiv durchlebt hat und mir immer das so immens wichtige und wohltuende Gefühl gegeben hat, dass ich mit allem auf dem richtigen, meinem Weg bin. Auch unsere drei großen Kinder, Margaretha, Gabriel und Lennart, seien an dieser Stelle erwähnt: Sie mussten oft mit weniger von mir auskommen, als sie verdient gehabt hätten. Berlin, im März 2010
Olaf Schnur
Lesehinweis: Wenn im Text auf Interviewzitate zurückgegriffen wird, sind diese wie folgt verschlüsselt: Bewohnergespräche als anonymisiertes Kürzel beginnend mit „B_“ und Experteninterviews analog beginnend mit „E_“. Für die sprachliche Gleichstellung von Männern und Frauen existieren bislang keine einheitlich anerkannten Regelungen. Die traditionelle Schreibweise wird in der vorliegenden Studie präferiert, weil dadurch der Lesefluss nicht durch sprachliche Stolpersteine eingeschränkt wird. Selbstverständlich sind stets die Angehörigen beider Geschlechter gemeint, es sei denn, es ist explizit anders vermerkt. Darüber hinaus machte das Thema den Gebrauch von englischsprachigen Begriffen notwendig, die zum Teil kaum ins Deutsche übersetzbar sind (z.B. „Community“, „Neighbo(u)rhood“). Um diese Termini etwas abzuheben, wurden sie in der Regel groß geschrieben und kursiv gesetzt.
Inhalt
1
Einleitung: Von nebulösen Demographiedebatten und unsicheren Quartierszukünften............................................................ 19
2
Fakten: Demographischer Wandel und Quartiersentwicklung ........ 27 2.1 „Demographischer Wandel“: Was ist das? .............................................. 27 2.2 Sozialer Wandel: Von der Protomoderne über die Moderne auf dem Weg wohin? ..................................................................................... 30 2.2.1 2.2.2 2.2.3
„Lebenszyklus“ – und räumliche Implikationen im Wohnquartier .............................................................................. 33 „Lebenslage“ und „Lebensstil“ – Deutung postmoderner Wohnquartiere............................................................................. 36 „Fragmentierung“ und „Glokalisierung“ – sozialer Wandel im Quartier .................................................................................. 41
2.3 Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub? ................. 44 2.3.1
Demographischer Wandel in Deutschland: Die Pioniere der „Lowest Fertility“ ....................................................................... 44 2.3.1.1 Abnehmende Fertilität (Geburtenraten) ..................................... 45 2.3.1.2 Steigende Lebenserwartung....................................................... 52 2.3.1.3 Strukturelle Alterung der Gesellschaft ...................................... 52 2.3.1.4 Bevölkerungsrückgang und Heterogenisierung ......................... 53
2.3.2
Siedlungsstrukturelle Konsequenzen des demographischen Wandels in Deutschland .............................................................. 56 2.3.2.1 Gewinner- und Verliererregionen .............................................. 57 2.3.2.2 Was heißt „Schrumpfen“? ......................................................... 59 2.3.2.3 Ost – West? Groß – Klein? Wer schrumpft, wer wächst? ......... 60 2.3.2.4 Shrinking and Growing Cities ................................................... 62
8
Inhalt
2.3.3
Demographischer Wandel konkret: Die „Silver People“ kommen! ..................................................................................... 65 2.3.3.1 Das „neue Alter“ ....................................................................... 67 2.3.3.2 Seniorenimmobilienmärkte im Wandel ..................................... 71 2.3.3.3 Assistenzsysteme: Technologische Zukünfte des Seniorenwohnens....................................................................... 75
3
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung.......... 77 3.1 Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen ............................................................................ 79 3.1.1 3.1.2
„Neighborhood Life Cycle” nach Hoover & Vernon .................. 79 Housing Demography – Quartiere als Orte von Bevölkerungsbewegungen .......................................................... 83 3.1.2.1 „Hypothek des Todes“ – Modell der Bevölkerungswellen nach Peisert ................................................................... 83 3.1.2.2 Housing Demography Reloaded: Das Vierfelder-Quartiersmodell nach Moore & Gober ............. 85
3.2 Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier ............................................................... 88 3.2.1
Akteure am Wohnungsmarkt – Typologien und Handlungslogiken ....................................................................... 88 3.2.1.1 Wohnungswirtschaftliche Handlungsoptionen: „Endspiel schrumpfender Markt“ .............................................. 92 Kommunale Handlungsoptionen: Steuerung schrumpfender Märkte zwischen Politik und Verwaltung ................................. 99
3.2.2 3.2.3 3.2.4
Regime-Modell: Quartierswandel durch urbane (Quartiers-)Regime........................................................ 104 Sozialkapital-Modell: Quartierswandel durch nützliche Beziehungen .................................................... 110 Zwischenfazit ............................................................................ 114
9
Inhalt
4
Konzeptualisierung: Theoretische Einbettung, Methoden und Untersuchungsdesign der vorliegenden Studie.......................... 115 4.1 Demographie und Wohnungsmarktregulation im Quartier ................... 115 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
Triade Lebenszyklus/Lebenslage/Lebensstil als zentrales Nachfragesetting ........................................................ 116 „Dreifache Zyklizität“ als Marktmechanik der Quartiersentwicklung ................................................................ 117 Komplexe Quartiersregulation durch Sozialkapital und Stadtteil-Regime................................................................. 121 Synthese .................................................................................... 122
4.2 Methodische Vorgehensweise ............................................................... 123 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.4.1
Überblick................................................................................... 124 Auswahl der Modellstädte......................................................... 125 Auswahl der Untersuchungsquartiere ....................................... 127 Feldforschung und Erarbeitung von „Quartiersdossiers“ .......... 128 Desktop-Recherche ................................................................. 129
4.2.4.2 Exploration der Quartiere vor Ort ........................................... 129 4.2.4.3 Bevölkerungs-Modellrechnungen ........................................... 131 4.2.4.4 Quartiersbezogene Lebensstildaten ......................................... 132 4.2.4.5 Präszenarien............................................................................. 132 4.2.4.6 Quartiersdossiers ..................................................................... 134 4.2.5 4.2.6 4.2.7 5
Entwicklung der Quartierstypologie ......................................... 134 Delphi-Befragung...................................................................... 139 Szenariotechnik ......................................................................... 144
Szenarioentwicklung ........................................................................... 149 5.1 Aufgabenanalyse: Das „System Wohnquartier“ .................................... 150 5.2 Einflussanalyse: Welche Faktoren bestimmen die Quartiersentwicklung? ........................................................................... 154 5.3 Deskriptoren-/Szenariofeld-Analyse: Welche Faktoren sind Schlüsselfaktoren der Quartiersentwicklung? ....................................... 156 5.3.1 5.3.2
Handlung und Struktur .............................................................. 158 Erläuterung der Deskriptoren im Detail .................................... 159
10
Inhalt
5.3.2.1 Deskriptor I: Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort ........................................ 159 5.3.2.2 Deskriptor II: Quartiersbezogene Handlungslogiken der Kommune .......................................................................... 162 5.3.2.3 Deskriptor III: Demographische „Awareness“ der WU/WG ............................................................................ 163 5.3.2.4 Deskriptor IV: Demographische „Awareness“ der Kommunen ........................................................................ 165 5.3.2.5 Deskriptor V: Kooperationsbereitschaft der Akteure .............. 167 5.3.2.6 Deskriptor VI: Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner .......................................................................... 169 5.4 Szenariobildung: Zukunftsprojektionen und Rohszenariencluster – Koordinatensysteme möglicher Quartiers-Zukünfte ............................. 171 5.4.1 5.4.2 5.4.3
Erstellung einer Konsistenzmatrix ............................................ 171 Berechnung von Rohszenarien .................................................. 171 Bündelung der Rohszenarien .................................................... 172
5.5 Szenariointerpretation: Quartiere – Quo Vadis? .................................... 174 5.5.1 Analyse der Rohszenarien im Kontext der Cluster ................... 174 5.5.2 Inhaltliche Aufbereitung der Cluster ......................................... 174 5.5.2.1 Szenario .1: „Pro Quartier!“ – Konzertierte Entwicklungsstrategien („Proaktives Entwicklungsregime“)........................ 176 5.5.2.2 Szenario .2: „Pro Quartier?“ – Halbherzige Entwicklungssteuerung („Reaktives Konfliktvermeidungsregime“) ................................................. 178 5.5.2.3 Szenario .3: Markt vs. Lokalstaat – Verhandlungssache Quartier („Progressives Konfliktregime“) ............................... 180 5.5.2.4 Szenario .4: Quartiere des Kapitals – Profitorientierung & Passivplanung nach dem „Neoliberal Turn“ („Kapitalverwertungsregime“) ................................................ 181 5.5.3
Szenarienmatrix ........................................................................ 184
5.6 Störfallanalyse: Was die Quartiersszenarien ad absurdum führen könnte ......................................................................................... 186
11
Inhalt
5.7 Konsequenzanalyse: Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar? ................................................ 187 5.7.1
Stagnation als Dauererfahrung: Generelle Vorbemerkungen zum Szenarienkontext ............................................................... 188 5.7.2 Markt oder Staat? ...................................................................... 189 5.7.3 Quartiersentwicklung im Einzelnen: Strategien und Instrumente ............................................................................... 190 5.7.4 Übersicht der strukturellen Stärken und Schwächen der Quartierstypen ........................................................................... 19 5.7.5 Auswertung der Quartiersszenarien .......................................... 191 5.7.5.1 Strategien und Instrumente für Typ A (Industrie) ................... 196 5.7.5.2 Strategien und Instrumente für Typ B (Utopie) ....................... 205 5.7.5.3 Strategien und Instrumente für Typ C (Aufbau)...................... 212 5.7.5.4 Strategien und Instrumente für Typ D (Urbanität) .................. 221 5.7.5.5 Strategien und Instrumente für Typ E (Platte-Ost) .................. 233 5.7.5.6 Strategien und Instrumente für Typ F (Postmoderne) ............. 245 5.7.5.7 Strategien und Instrumente für Typ G (Wüstenrot) ................. 254 5.7.5.8 Strategien und Instrumente für Typ H (Village Revisited)...... 264 5.8 Szenariotransfer ..................................................................................... 273 5.8.1 Zusammenfassung der Quartiersentwicklungsstrategien ......... 273 5.8.1.1 Überblick: Tools für alle Quartierstypen ................................. 273 5.8.1.2 Toolbox-Anwendung: Das Beispiel Leipzig-Mölkau.............. 274 5.8.2 6
Demographisches Quartiersentwicklungsmodell ...................... 285
Fazit ...................................................................................................... 293 6.1 Untersuchungsdesign: Bekannte Theorien, bekannte Methoden – und neue Pfade der Forschung............................................................... 293 6.2 Methodik: Wissenschaftliche Erkenntnis – gewonnen aus Komplexität, Unschärfe und Konstrukten ....................................... 294 6.3 Output: Der Gebrauchswert von typisierten Szenarien, Handlungsfeldern, Tools und Modellen im Quartiersentwicklungsmananegment (QEM) ........................................ 297
12
Inhalt
6.4 Metatrends 2030: Quartiersentwicklung – quo vadis?........................... 299 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7 6.4.8
No Hood is an Island: Stadtregionale Embeddedness der Quartiersentwicklung .......................................................... 299 Mehr Qualität und Stabilität durch Heterogenität und Diversity – demographisch und (städte)baulich ........................ 300 Cooperate or Fail: Quartiers-Governance im Umbruch ............ 302 Reden ist Silber – Kommunikation ist Gold ............................. 303 Das demographische Infrastrukturdilemma .............................. 304 Sozialkapital: Garant für Nachhaltigkeit in der Quartiersentwicklung ................................................................ 305 Die Entdeckung des Raums: Quartiersorientierung – zunehmende Konvergenz in Wirtschaft und Kommunen......... 307 Die Entdeckung der Zeit: Von Weitblick, Proaktivität und Langfristigkeit ........................................................................... 308
6.5 Mehr Quartiersforschung – mehr Zukunftsforschung: Die Geographie ist gefragt..................................................................... 310 7
Literatur ............................................................................................... 313
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12:
Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17:
„Sterben die Deutschen aus?“ – Spiegel-Titel von 1975 ........ 19 E-Rollstuhl vs. Chariot – demographische Realitäten vor Ort (Leipzig-Mölkau bzw. -Schleußig) ............................ 21 Determinanten demographischer Prozesse und resultierender Strukturen ................................................. 29 Doppelte Enttraditionalisierung von der Prä- zur Spätmoderne........................................................................... 32 Lebenszyklus eines Haushalts ................................................ 34 Die Sinus-Milieus................................................................... 38 Entwicklung der TFR in Deutschland von 1871 bis 2050...... 46 Trends des sozialen und demographischen Wandels im Vergleich ........................................................................... 48 Folgen des demographischen Wandels in wachsenden und schrumpfenden Regionen ................................................ 58 Wachsende und schrumpfende Städte und Gemeinden in Deutschland ............................................................................ 64 Acht Portale zum Quartier...................................................... 78 Theoretische Entwicklung der Geburtenziffer bei 8-jähriger Dauer des ersten Geburtenhochs in einer New Town (Bevölkerungswelle) .............................................................. 84 Haushaltswandel und Fluktuation – Vierfelder-Quartiersmodell nach Moore & Gober ................................................. 86 BCG-Matrix für wachsende und schrumpfende Märkte ........ 93 Vertriebsstrategien von Wohnungsunternehmen in Essen (Katernberg) und Berlin (Märkisches Viertel) ....................... 94 Strategieoptionen auf schrumpfenden Wohnungsmärkten ..... 98 Zweidimensionales Konfliktmodell ..................................... 109
14 Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 24: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31: Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35:
Abbildung 36:
Abbildung 37: Abbildung 38: Abbildung 39: Abbildung 40: Abbildung 41:
Abbildungen
Sozialkapitalmodell des Quartierswandels ........................... 113 Wirkungsmodell des demographischen Impacts in Wohnquartieren .................................................................... 120 Konzeptualisierung der Studie ............................................. 123 Projektmeilensteine .............................................................. 125 Graphische Darstellung einer Bevölkerungs-Modellrechnung am Beispiel Brandenburg-Nord (bis 2030/2050) ................. 131 Inhalt und Struktur der 24 Quartiersdossiers ........................ 133 Dendrogramm ...................................................................... 136 Titelblätter der Delphi-Fragebögen ...................................... 141 Das Szenario-Prinzip ............................................................ 145 Konstrukte in der Szenarioentwicklung ............................... 149 Arbeitsschritte der Szenariotechnik...................................... 150 Gestaltungsfeld als „semantische Tag Cloud“ ..................... 151 Systembild Wohnquartier (Beispiel „Stadtumbau“) ............ 153 Ausschnitt aus der Vernetzungsmatrix ................................. 155 Systemgrid ........................................................................... 157 Quartiersorientierung in der Wohnungswirtschaft ............... 161 Wohnungswirtschaftliche Studien zum demographischen Wandel .................................................... 164 Publikation „Handlungsansätze für die kommunale Praxis“, Themenheft zum „Demographischen Wandel“ der Stadt Stuttgart ................................................................................ 166 Dokumentation eines Kooperationsprojekts in Dortmund, Logo der kooperierenden Wohnungsunternehmen in Essen-Vogelheim ................................................................. 168 Trends der Wohnmobilität? .................................................. 170 Szenarioverteilung nach Konsistenzmaß.............................. 172 Analyse der geclusterten Rohszenarien ................................ 173 Brainstorming Szenario .1 .................................................... 176 Brainstorming Szenario .2 .................................................... 178
Abbildungen
Abbildung 42: Abbildung 43: Abbildung 44: Abbildung 45: Abbildung 46: Abbildung 47: Abbildung 48: Abbildung 49: Abbildung 50: Abbildung 51:
Abbildung 52: Abbildung 53: Abbildung 54: Abbildung 55: Abbildung 56: Abbildung 57: Abbildung 58: Abbildung 59:
15 Brainstorming Szenario .3 .................................................... 180 Brainstorming Szenario .4 .................................................... 182 Agenda der 15 wichtigsten Problemfelder in der Quartiersentwicklung (alphabetische Reihenfolge).............. 194 Quartiersentwicklungstools – Übersicht der 9 wichtigsten strategischen Elemente (alphabetische Reihenfolge) ........... 195 Typ-A-Quartiere mit Gründerzeit-Altbauten in Leipzig (Schleußig) und als Zechensiedlung in Essen (Vogelheim) . 196 „Wächterhaus“ in Leipzig (Volkmarsdorf), Beiratssitzung des Vereins HausHalten e.V. ........................ 202 Typ A (Industrie) – Toolbox 2030 ....................................... 203 Typ-B-Quartiere in Essen (Margarethenhöhe) und Berlin (Gartenstadt Neutempelhof ) ................................................ 205 Typ B (Utopie) – Toolbox 2030 ........................................... 210 Typ-C-Quartiere mit standardsanierten Zeilenbauten in Brandenburg (Nord) sowie mit aufwendig modernisierten Gebäuden in West-Berlin (Belß-Lüdecke-Siedlung) ........... 212 Kopf-Anbau und Nachbarschaftstreffpunkt in Berlin (Belß-Lüdecke-Siedlung) ..................................................... 217 Typ C (Aufbau) – Toolbox 2030.......................................... 219 Typ-D-Quartiere in Berlin (Märkisches Viertel) und in Essen (Hörsterfeld).................................................... 221 Nicht umgestaltete Eingangsbereiche in Berlin (Märkisches Viertel)............................................................. 228 Quartiersszenen aus Berlin (Kottbusser Tor/Wassertorplatz) .......................................... 229 Typ D (Urbanität) – Toolbox 2030 ...................................... 231 Typ-E-Quartiere in Ost-Berlin (Hans-Loch-Viertel) und in Brandenburg (Hohenstücken) .............................................. 233 Neu gebaute Reihenhäuser in Berlin (am Rande des HansLoch-Viertels), Vermarktung von modernisierten
16
Abbildung 60:
Abbildung 61: Abbildung 62: Abbildung 63: Abbildung 64: Abbildung 65: Abbildung 66: Abbildung 67: Abbildung 68: Abbildung 69: Abbildung 70:
Abbildung 71: Abbildung 72: Abbildung 73: Abbildung 74: Abbildung 75:
Abbildungen
Eigentumswohnungen an jüngere Zielgruppen in Leipzig (Schönefeld-Ost) .................................................................. 240 Renaturierte Grundstücksfläche eines ehemaligen Plattenbaus in Brandenburg (Hohenstücken), „Ahrensfelder Terrassen“, Berlin (Marzahn) .................................... 241 Typ E (Platte Ost) – Toolbox 2030 ...................................... 243 Typ-F-Quartiere in West-Berlin (Pulvermühle) und in Ost-Berlin (Am Krusenick) ....................................... 245 Typ F (Postmoderne) – Toolbox 2030 ................................. 252 Typ-G-Quartier in West-Berlin (Fort Hahneberg) ............... 254 Typ G (Wüstenrot) – Toolbox 2030 ..................................... 262 Typ-H-Quartiere in Brandenburg (Kirchmöser-Dorf) und in Leipzig (Mölkau) ...................................................... 264 Typ H (Village Revisited) – Toolbox 2030.......................... 271 Synopse – „Toolscape“ für alle Quartierstypen ................... 273 Leipzig-Mölkau – alte Bebauung ......................................... 275 Alterspyramide des Quartiers Leipzig-Mölkau (Typ H „Village Revisited“) im Vergleich mit LeipzigSchleußig (Typ A „Industrie“) ............................................. 277 Entwicklung der Anteile unterschiedlicher Altersgruppen in Leipzig-Mölkau und Leipzig-Schleußig bis 2030/2050 ... 278 Sinus-Milieus in Leipzig-Mölkau im Vergleich zu LeipzigSchleußig .............................................................................. 279 Divergierende Neubaustrukturen in Mölkau ........................ 279 Entwicklungspfade für Leipzig-Mölkau? ............................. 281 Governance-Modell der Quartiersentwicklung mit vier Regimetypen für stagnierende oder schrumpfende Städte ... 291
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16:
Wohnungsnachfragemuster in Abhängigkeit des Lebenszyklus ........................................................................ 35 Die Sinus-Milieus und ihre Charakteristika im Überblick .......... 39 Erklärung der Nachwuchsschwäche als Mehr-Ebenen-Problem........................................................... 49 Entwicklung des Verhältnisses jüngerer zu älteren Menschen in Deutschland 2010 - 2050 ....................................... 53 Bevölkerungsentwicklung und Außenwanderungen in Deutschland 1991 - 2007............................................................. 55 Korrelierende Strukturindikatoren der Stadtentwicklung............ 60 Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden ............... 62 Synopse und ungefähre Zuordnung der einzelnen Alters-Typologien ....................................................................... 69 Zustimmung der Body&Mind-Typen der Jungen Alten zu verschiedenen Wohnformen ........................................................ 73 Klassisches Modell des Wohngebietswandels nach Hoover & Vernon ............................................................... 80 Typen von Wohneigentümern und sonstigen Wohnungsmarktakteuren ............................................................ 90 Umfeldmerkmale und strategische Handlungsempfehlung ......... 98 Typen kommunalen Handelns bei Stadtschrumpfung ............... 101 Öffentlich-rechtliche Instrumente zur Steuerung des Immobilienmarkts ..................................................................... 101 Regimetypen nach Stone ........................................................... 106 Untersuchungsgebiete in den Städten nach altersstruktureller Einordnung im jeweiligen städtischen Kontext ......................... 128
18 Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30: Tabelle 31: Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34: Tabelle 35:
Tabellen
Anzahl und Verteilung der Bewohner- und Experteninterviews .................................................................... 130 Merkmalsraum für die Typisierung........................................... 135 Quartierstypologie ..................................................................... 138 Struktur des Expertenpanels der ersten Welle der Delphi-Befragung nach Branchenzugehörigkeit ....................... 140 Zusammenfassung der Themenfelder der ersten Welle der Delphi-Befragung ...................................................................... 140 Ranking der Einflussfaktoren .................................................... 154 Handlungs- und strukurbezogene Schlüsselfaktoren laut Experten-Delphi ................................................................. 158 Deskriptoren .............................................................................. 159 Szenarienmatrix ........................................................................ 185 „Demographisches Risiko“ einzelner Quartierstypen ............... 188 Synopse der Stärken und Schwächen aller Quartierstypen ....... 192 Typ A (Industrie) – Maßnahmenbeispiele................................. 204 Typ B (Utopie) – Maßnahmenbeispiele .................................... 211 Typ C (Aufbau) – Maßnahmenbeispiele ................................... 220 Typ D (Urbanität) – Maßnahmenbeispiele ............................... 232 Typ E (Platte Ost) – Maßnahmenbeispiele............................... 244 Typ F (Postmoderne) – Maßnahmenbeispiele.......................... 253 Typ G (Wüstenrot) – Maßnahmenbeispiele ............................. 263 Typ H (Village Revisited) – Maßnahmenbeispiele .................. 272
1 Einleitung: Von nebulösen Demographiedebatten und unsicheren Quartierszukünften
Im März 1975 titelte das Magazin „Der Spiegel“: „Mehr Sex, weniger Babys – sterben die Deutschen aus?“ Ohne weiteres könnte diese Überschrift auch 35 Jahre später, im Jahr 2010, ein aktuelles Spiegel-Cover zieren – das „Plagiat“ würde niemandem auffallen. Abbildung 1:
„Sterben die Deutschen aus?“ – Spiegel-Titel von 1975
Quelle: DER SPIEGEL, 29. Jg, Nr. 13, vom 24.3.19751
1
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des SPIEGEL-Verlags, Hamburg.
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Einleitung
Auch schon weit vor 1975 war klar, dass unsere Gesellschaft unweigerlich auf einen demographischen Umbruch zusteuern musste, zumal nur wenige Phänomene so zuverlässig prognostizierbar sind wie die natürliche Bevölkerungsentwicklung. Und dennoch: Die Entwicklung wurde lange Zeit (politisch) verdrängt, obwohl Experten immer wieder warnten. Eine verstärkte Zuwanderung aus dem Ausland trug dazu bei, das Offensichtliche zu vernebeln. Die Bevölkerung wuchs, wozu sollte man sich mit Schrumpfung befassen? Selten hat ein Thema eine so verspätete, dann aber umso stärkere Konjunktur entwickelt wie der „demographische Wandel“. Seit Ende der 1990er Jahre wurden in der öffentlichen Debatte nach Kräften alle möglichen Positionen zwischen apokalyptischen Zukunftsvorhersagen bis zu abwiegelnden Verharmlosungen vertreten und ausgelotet (vgl. Bosbach & Bingler 2009). Inzwischen hat sich eine gewisse Professionalisierung eingestellt, und insbesondere in der Wissenschaft gehen die Diskurse über den „Megatrend Nr. 1“ (Z_punkt 2007) mehr in die Tiefe. Außerdem haben Schrumpfung und Alterung als Thema nun auch den Mainstream der Planung und Stadtforschung und damit „den Raum“ erreicht, weil insbesondere in Ostdeutschland die realen Verhältnisse ein Handeln erforderlich machten. Demographischer Wandel und „Quartier“: Zunehmende Unsicherheiten, zunehmender Regulierungsbedarf Damit sind wir mitten im Thema: Während noch einigermaßen klar prognostiziert werden kann, welche Regionen bis wann wachsen werden, ist dies auf der kommunalen Ebene bereits äußerst unsicher (siehe Kapitel 2.3.2, vgl. u.a. Bucher & Schlömer 2003), auf der Quartiersebene praktisch unmöglich. Der demographische Wandel – eine Art über allem wehender, steter „Jetstream“ – bringt auf Bodenhöhe einen Komplex unterschiedlicher Probleme mit sich, die von veränderten Infrastrukturbedarfen bis hin zu Akzeptanzproblemen in abrissbedrohten Siedlungsbereichen reichen. Es wird in Zukunft immer weniger wachsende und immer mehr schrumpfende Städte geben – und darin ein vielfältiges Mosaik wachsender und schrumpfender Quartiere, deren Schicksal von vielerlei ineinander verflochtener Rahmenbedingungen abhängig ist. Die wichtigste Arena, in welcher der demographische „Impact“ verhandelt wird, ist der Wohnungsmarkt. Dieser Marktplatz, auf dem mit dem „Wohnen“ eine wesentliche Daseinsgrundfunktion feilgeboten wird, ähnelt jedoch vielerorts eher einem Basar, in dem komplexe, teure Produkte auf der Basis einer mäßigen Informationslage, vager Vorstellungen über künftige Markttrends und einer Kultur schneller ad-hoc-Entscheidungen angeboten werden. Auch branchenübergreifende Akteursverflechtungen im Sinne von Kooperationen und Allianzen (etwa in der Bauwirtschaft) sind – ähnlich wie im Basar – gang und gäbe. Das demo-
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graphisch induzierte Wohnungsmarktproblem wird sich also nicht nur als wohnungswirtschaftliche Herausforderung, sondern auch als eine Regulierungsaufgabe der Kommunen entpuppen. Die Annahme, dass die ökonomischen Selbstregulierungskräfte dauerhaft schrumpfender Wohnungsmärkte bisweilen den kommunalpolitischen und -planerischen Zielvorstellungen entgegenwirken dürften, ist unstrittig: Die wirtschaftlich manchmal vielleicht sinnvollste Portfoliostrategie („Exit“) ist oft nicht mit stadtentwicklungspolitischen Zielen vereinbar, weil diese vielleicht das falsche Quartier zur falschen Zeit am falschen Ort trifft. Die Sicherung einer adäquaten Wohnqualität könnte so zu einer der wichtigsten und schwierigsten kommunalen Herausforderungen in schrumpfenden Städten avancieren, wie man schon heute in manchen ostdeutschen Städten beobachten kann (vgl. Pfeiffer, Simons & Porsch 2000). Neue Formen der Kooperation zwischen Akteuren der Wirtschaft und der öffentlichen Hand, aber auch der Zivilgesellschaft scheinen hier immer wichtiger zu werden. Abbildung 2:
E-Rollstuhl vs. Chariot – demographische Realitäten vor Ort (Leipzig-Mölkau bzw. -Schleußig)
Fotos: Olaf Schnur (2006/2007)
Stand der Forschung Der bisherige Forschungsstand zum demographischen Wandel auf der Quartiersebene ist ausgesprochen unübersichtlich. Insgesamt ist dieses Terrain auf der für die Wohnungsbestands- und Stadtentwicklung so wichtigen Quartiersebene bislang erstaunlich stiefmütterlich behandelt worden. Räumliche Muster des demo-
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graphischen Wandels werden meist im nationalen oder regionalen Vergleich beschrieben (vgl. etwa Heigl & Mai 1998). Mitunter werden auch Stadtregionen und deren Teilräume aufeinander bezogen (z.B. Frey 1999), sehr selten die kleinräumigen Prozesse auf der Mesoebene (z.B. Gewand 2003, Vaskovics 1981). Von einer systematischen Quartiersforschung kann in diesem Bereich nicht die Rede sein. Systematische Auftragsstudien und gesicherte Erkenntnisse sind ebenso rar wie das Angebot der Wissenschaft, was an der Komplexität der Probleme und den damit verbundenen empirisch-methodischen Herausforderungen liegen mag. Erst in jüngster Zeit beschäftigen sich wissenschaftliche Arbeiten damit, wie sich der „demographische Impact“ innerhalb unterschiedlicher Teilgebiete der Städte vollziehen könnte (z.B. Peter 2008, Knabe 2008a oder Nierhoff 2006). Im Kontext „Stadtumbau Ost/West“2 sowie anhand der Einführung von Business Improvement Districts, Housing Improvement Districts, Neighbourhood Improvement Districts (vgl. Prey 2008, Gorgol 2008, 2007) und auch Neighbourhood Branding (vgl. Fasselt & Zimmer-Hegmann 2008) wird bereits seit längerer Zeit verstärkt geforscht und konferiert (vgl. die Beiträge zum aktuellen Stand der Quartiersforschung in Schnur 2008a). Die bisherigen Aktivitäten sind teilweise überaus kreativ, oft aber theoriearm und meist beschränkt auf Fallbeispiele, „Good Practice“-Untersuchungen in Quartieren oder auf Stadtentwicklungs- oder Wohnungspolitik in Städten allgemein mit einem nur mittelbaren Quartiersbezug. Beispielhaft herauszuheben sind anwendungsbezogene Forschungsaktivitäten wie etwa das BBR-ExWoSt-Forschungsfeld3 „Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere“ (BMVBW & BBR 2007), das im Rahmen des BMBF-REFINA4-Programms durchgeführte Projekt „Nachfrageorientiertes Nutzungszyklusmanagement – ein neues Instrument für die Flächen sparende und kosteneffiziente Entwicklung von Wohnquartieren“ (Bizer et al. 2007), die Arbeit von Friedrich über Zürich (Friedrich 2004) oder das EU-Projekt „ReUrban-Mobil“, in dem innerstädtische Wohnquartiere unter dem Vorzeichen des demographischen Wandels untersucht wurden (www.re-urban.com). Weiterhin wurde seitens der Universität Leipzig ein bemerkenswertes Projekt durchgeführt 2
Vgl. stellvertretend für eine zunehmende Zahl von „Stadtumbau-Literatur“ der BMVBS-Bericht (2007), das Themenheft „Stadtumbau“ der „Informationen zur Raumentwicklung“ aus dem Jahr 2003 und hierin zum Bundeswettbewerb Stadtumbau Ost etwa Röding & Veith 2003 und zum ExWoSt Stadtumbau West z.B. Goderbauer & Karsten 2003, außerdem Monographien wie z.B. Lang & Tenz 2003, Glock 2006, Weiske, Kabisch & Hannemann 2005, Deilmann 2002 sowie Bernt 2002. 3 BBR = Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, ExWoSt = Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ 4 REFINA = Forschungsprogramm „Reduzierung der Flächeninanspruchnahme und ein nachhaltiges Flächenmanagement“
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(„Szenarien und Modellrechnungen zur Entwicklung von Stadtquartieren im Stadtumbau“ im Rahmen des ExWoSt-Forschungsfelds „Stadtquartiere im Umbruch“), in dem Wohnquartiersszenarien für vier Leipziger Quartierstypen entwickelt wurden (Weidner 2007). Außerdem ist das frühe „Demonstrativprojekt Nordweststadt“ aus Frankfurt am Main zu erwähnen (Schader-Stiftung 1998), in dessen Mittelpunkt junge Familien und Senioren und deren jeweilige Wohnbedürfnisse standen. Eine Generalisierung für unterschiedliche Quartierstypen bei gleichzeitigem Anwendungsbezug ist bisher nur ansatzweise durchgeführt worden (etwa bei Weidner 2007). Trotz der zahlreichen Veröffentlichungen kann man hier also durchaus von einem erheblichen Forschungsdefizit sprechen. Eine erweiterte, systematische wissenschaftliche Annäherung an demographierelevante kommunale Themen erscheint in jedem Fall angebracht. Insbesondere die Verknüpfung wissenschaftlicher Modellvorstellungen auf der Wohnquartiersebene mit praxisbezogenen Zielen und Ableitungen für zukünftige Stadtentwicklungspolitiken unter dem Vorzeichen des demographischen Wandels verspricht, neue Erkenntnisse zu erbringen und ein fruchtbares Forschungspotenzial zu erschließen. Einordnung und Zielsetzungen der Arbeit Die Problemstellung ist also klar: Es sind im Rahmen demographischer Umbrüche erhebliche Fehlentwicklungen und Steuerungsdefizite auf der Quartiersebene feststellbar oder zu befürchten, ohne dass eine adäquate Forschung stattfindet. Diese Arbeit soll dazu beitragen, dieses Defizit zu mindern – auch durch einen abweichenden Forschungsansatz. Sie grenzt sich vom derzeitigen Mainstream der angewandten Forschung dadurch ab, dass es hier weder um eine strukturelle Gesamtschau der Stadtentwicklungsprozesse in einer Schrumpfungsphase noch um die Ermittlung städtebaulicher Umbaupotenziale für die Kommunen gehen soll, etwa im Sinne von städtebaulich-architektonischen Lösungen oder möglichen, szenariohaften Standort- oder Flächennutzungsprofilen für Städte, die um ihre Wettbewerbsfähigkeit fürchten. Auch die Untersuchung und Auswertung von Projekten aus Kommunen, die bereits von Schrumpfungsprozessen in unterschiedlichsten Varianten betroffen sind, ist nicht das vorrangige Ziel. Es geht hier eher um das Verständnis grundlegender Zusammenhänge und die Ableitung generell anwendbarer Instrumente als um eine inkrementalistische Lösungssuche für konkrete Orte. Auf der Basis einer Kombination empirischer und zukunftsexploratorischer Methoden soll neues Wissen im Bereich des demographischen Impacts und seiner Auswirkungen auf der Wohnquartiersebene in Städten generiert werden. Dazu wird versucht, Antworten u.a. auf folgende Fragen zu finden:
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Welches Wirkungsgefüge bestimmt demographische Abläufe in Quartieren? Welche Akteure sind daran wie beteiligt? Wie wird sich der demographische Impact in Quartieren manifestieren? In welchen Quartierstypen wird dies in welchem Ausmaß stattfinden? Gibt es hier charakteristische, regelhafte Prozesse? Wie sehen typische „Quartiers-Zukünfte“ aus (Szenarien)? Gibt es charakteristische Entwicklungspfade? Wie kann man diese „Zukünfte“ gestalten? Welche nach Quartierstypen differenzierten Handlungsempfehlungen für Wohnungswirtschaft und Kommunen kann man daraus ableiten?
Dazu wird ein Instrumentarium entwickelt und vorgestellt, dessen Anwendung als Toolbox dazu geeignet ist, auch reale quartiersspezifische Steuerungsprozesse in Gang zu bringen oder zu verbessern – als Analyse-, aber auch als Kommunikationsinstrument z.B. im Rahmen von Demographie-Workshops, Zukunftswerkstätten in Quartieren o.ä. Durch den methodischen Fokus auf Zukunftsexploration sollen insbesondere mittel- bis langfristige Regulationsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Zielgruppen für diese Tools sind u.a. Kommunen (z. B. Stadtentwicklungsämter), die die gesamtstädtische Entwicklung und dabei Defizite und Potenziale einzelner Quartierstypen im Blick behalten müssen, und die Wohnungswirtschaft, die sich unter anderem im Portfoliomanagement oder bei Maßnahmen in konkreten Quartieren mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert sieht. Darüber hinaus wird daraus ein generalisiertes, politisch-geographisches und demographisch ausgerichtetes Governance-Modell der Quartiersentwicklung konstruiert, das sich auch (aber nicht nur) an die wissenschaftliche Fachwelt richtet. Als wichtiger Output des Projekts kann auch das Untersuchungsdesign gelten, das sich durch eine innovative Kombination verschiedenster empirischer Methoden auszeichnet und als Basis für weitere Studien dieser Art dienen kann. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in sechs Abschnitte: die Einleitung, jeweils ein Kapitel zu „Fakten“ und zu Theorieansätzen, ein Abschnitt zur Konzeptualisierung, ein großes empirisches Kapitel zur Szenarioentwicklung und ein generelles Fazit. Um das Thema systematisch zu strukturieren, auf die Ebene des „Quartiers“ zu fokussieren und ein inhaltliches Fundament für das Untersuchungsdesign zu schaffen, werden noch vor der eigentlichen empirischen Untersuchung (Kapitel
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4) die faktischen und theoretischen Grundlagen der Untersuchung erläutert. Nicht zuletzt sollen dadurch Missverständnisse vermieden werden, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf den „demographischen Wandel“ entstehen könnten. In dem dieser Einleitung (Kapitel 1) folgenden Kapitel 2 (Fakten: Demographischer Wandel und Quartiersentwicklung) werden also Begrifflichkeit und Natur (sozio-)demographischer Prozesse reflektiert und das Ausmaß des demographischen Wandels und der resultierenden räumlichen Implikationen dargestellt. Durch die systematische Betrachtung z.B. des zurückliegenden strukturellen Wandels, dessen Gesetzmäßigkeiten und der resultierenden Handlungslogiken können Tendenzen für zukünftige Entwicklungen abgeleitet werden. Kapitel 3 (Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung) nimmt zum einen Strukturmodelle des Wohnquartierswandels unter die Lupe, die in der Demographiedebatte als besonders nützlich erscheinen. Die Theorien und Quartiers-Zyklenmodelle werden in späteren Kapiteln u.a. zur Entwicklung eines neuen Quartiersmodells herangezogen. Zum anderen werden aus handlungstheoretischer Perspektive die Handlungslogiken und Handlungsoptionen von an der Quartiersentwicklung beteiligten professionellen oder halbprofessionellen Akteuren ausgelotet, was für die späteres Szenarienentwicklung wichtig ist (Kapitel 3). Darüber hinaus sind zwischen „Demographie“ und „Theorieansätzen“ jeweils die Missing Links zur Quartiersebene herauszuarbeiten. Nach dieser facettenreichen inhaltlichen Verortung des Untersuchungsgegenstandes widmet sich Kapitel 4 (Konzeptualisierung: Theoretische Einbettung, Methoden und Untersuchungsdesign) der darauf aufbauenden Konzeptualisierung und der Methodik. Hier werden die vorher dargestellten faktischen Erkenntnisse und theoretischen Pfade zu einer konsistenten Untersuchungseinheit verknüpft (Kapitel 4.1). Die auf den Kapiteln 2 und 3 aufbauende Konzeption einer systematischen Zukunftsexploration erfordert einen komplexen methodischen Aufbau (Kapitel 4.2). Unter anderem wird hier die Typologie von Quartieren vorgestellt, die u.a. auf „klassischer“ empirischer Arbeit in ausgewählten Untersuchungsquartieren beruht (u.a. Interviews, Fotodokumentation der Situation vor Ort etc.). Kapitel 5 (Szenarioentwicklung) widmet sich dann ausführlich dem Kern des Projekts, der Szenarienentwicklung, also dem Blick in fernere Quartiers“Zukünfte“ (hier: das Jahr 2030). Die Szenariotechnik wurde gewählt, weil quantitative Prognostik auf der kleinräumigen Ebene der Quartiere zumindest hinsichtlich längerer Projektionszeiträume erfahrungsgemäß versagt. Zur Absicherung der qualitativen, jedoch systematisch mit Hilfe der formalisierten „Szenariotechnik“ erstellten Szenarien wurde eine flankierende DelphiExpertenbefragung durchgeführt. Die in Kapitel 5.7 ausgewerteten „Quartiers-
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entwicklungsszenarien“, durchgeführt für alle Quartierstypen, stellen in die Zukunft projizierte Surrogate sämtlicher umfangreicher Voruntersuchungen dar. Diese empirisch fundierten „Erzählungen aus der Zukunft“ wiederum dienen als „quasi-empirisches Material“ zur abermaligen Auswertung für den letzten Schritt der Studie in Kapitel 5.8: Differenzierte Handlungsoptionen für die Wohnungswirtschaft und die Kommunen („Toolbox“) und ein Governance-Modell der Quartiersentwicklung mit einem demographischen Fokus zu entwickeln.5 Kapitel 6 (Fazit) fasst in einer abschließenden Interpretation die Ergebnisse zusammen und stellt sie in einen größeren Zusammenhang. Nicht unerwähnt bleiben soll außerdem der Anhang, der umfangreiche Materialien beinhaltet, u.a. die komplette Langfassung der Quartiersentwicklungsszenarien hier im Band sowie weitere Materialien, die online zur Verfügung stehen.
5 Die in der Gliederung vorangestellten Kapitel 2 und 3 kann man auch als einen (unverzichtbaren) Teil der Gesamtsystem-Analyse im Rahmen der Szenarioentwicklung verstehen.
2 Fakten: Demographischer Wandel und Quartiersentwicklung
2.1 „Demographischer Wandel“: Was ist das? Schon der Terminus „demographischer Wandel“ bedarf einer näheren Betrachtung. Als zwischenzeitlicher Modebegriff impliziert er stets mehr als bloße Deskription.6 Er wird wenig präzise, aber sehr häufig und aus unterschiedlichsten Perspektiven verwendet. Meist wird versucht, damit ein komplexes Phänomen anzusprechen, welches nicht weniger als die als krisenhaft erachtete Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts begründen soll. Nachdem der zu erwartende demographische Umbruch unserer Gesellschaft jahrelang eher totgeschwiegen wurde, wird der „demographische Faktor“ (Roloff 2003) nun immer häufiger benutzt: als Drohpotenzial, um die Lösung alter Probleme anzugehen, oder auch als Ausgangspunkt für eine Diskussion über Problemlagen und Problemlösungen der Zukunft. Aber worum geht es eigentlich genau? Bei einer „nicht-normativen“ Verwendung des Begriffs kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass hinter der Bezeichnung letztlich ein kombiniertes Phänomen aus demographischen und sozialen Veränderungen stecken muss. Der demographische ist nicht ohne den sozialen Wandel denkbar, d.h. es treten demographische Prozesse und gleichzeitig Prozesse des sozialen Wandels auf, die sich gegenseitig beeinflussen. Allein: Eine allgemein gültige Bevölkerungstheorie, die die gegenseitige Beeinflussung sozialer und demographischer Faktoren generell zu erklären in der Lage wäre, existiert nicht: „Das heißt aber auch: Deterministische Beziehungen, die sich in Kausalgesetzen formulieren ließen, gibt es beim Zusammenhang von Bevölkerungs- und Sozialstruktur ebenso wenig wie bei anderen sozialen Tatbeständen. Was es gibt, sind gegenseitig sich beeinflussende Faktorenbündel, die in ihrer Struktur und in ihrem Einfluss so gut wie möglich von den beteiligten Wissen6 Der dem Griechischen entlehnte Begriff „Demographie“ bedeutet eigentlich „Beschreibung eines Volkes“ und dessen zahlenmäßige Entwicklung anhand gängiger Indikatoren, während die umfassendere Bevölkerungswissenschaft stärker den gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2004: 7). Damit ist ein weites Themenfeld abgesteckt, das von natürlicher Bevölkerungsbewegung bis zu Migrationsvorgängen und von der bloßen Deskription (im engeren Sinne der Wortverwendung) bis hin zur detaillierten Analyse im erweiterten Sinne reicht.
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schaften kenntlich gemacht werden sollten“ (Schäfers 1990: 95). Aktuellere empirische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen demographischen und sozialen Entwicklungen liegen nicht vor, vereinzelte Bezüge sind im Wesentlichen im Bereich der Stadtforschung zu suchen (Kaufmann 2005: 100, vgl. Oswalt 2004, 2005). Dennoch lässt sich plausibel feststellen, dass der demographische Wandel ursächlich vor allem sozial-ökonomisch bedingt ist und weniger z.B. biologisch. Diese Erkenntnis lässt sich bereits Mackenroths klassischer „Bevölkerungslehre“ entnehmen (Mackenroth 1953), aus der Schäfers die fünf Bestimmungsgründe für das generatives Verhalten („Bevölkerungsweise“) wie folgt zusammenfasst (Schäfers 1990: 96f.):
„das physische Können (Zeugungs- und Gebärfähigkeit); die sozialen Schranken (Vorstellungen in der Gesellschaft über die wünschenswerte Kinderzahl, eheliche und außereheliche Mutterschaft etc.); die materielle Situation (so ist eindeutig, dass Wirtschaftskrisen zum Absinken der Kinderzahl führen, ohne dass die Zahl der Eheschließungen gleichzeitig abnimmt; aber auch das Einkommen ist - im sozialstatistischen Durchschnitt - von Einfluss auf die Kinderzahl); das persönliche Wollen (Geschlechtsverkehr, Zeugung, Anzahl der Kinder, Geburtenhilfe als Momente der Willens- und Entscheidungsfreiheit des Menschen); den sozialen Wandel („Restgröße“, die alles das zu erklären hat, was mit den übrigen Faktoren nicht aufgehellt werden kann, daher relativ unspezifisch ist).“
Letztlich ist nur der erste der fünf Punkte (das „physische Können“) nicht sozial überprägt. Interessant ist weiterhin, dass der „soziale Wandel“ als Residualgröße betrachtet wird, die vermutlich wesentlich wichtiger sein wird als es in dieser Auflistung scheint (vgl. Abbildung 3). In diese „Black Box“ fallen u.a. die gesellschaftlich vorherrschenden Werte- und Normensysteme (von Gesetzen bis hin zu gruppenspezifischen Werten) sowie die vorhandene, gesellschaftlich produzierte und gedeutete physische Umwelt (z.B. Stadtviertel, Infrastruktur). Auch biologisch-medizinische Faktoren können im gesellschaftlichen Kontext gesehen werden (z.B. die zunehmende Lebenserwartung, die Ausdehnung der fertilen Phase, die zunehmende Unfruchtbarkeit, vgl. Schäfers 2002, Hradil 2000). Der oft implizierte, begrifflich komplexe Inhalt des Ausdrucks „demographischer Wandel“ wäre deshalb wahrscheinlich durch den Terminus „sozio-demographischer Wandel“ besser repräsentiert.
'HPRJUDSKLVFKHU Wandel: :DVLVWGDV?
Abbildung 3:
Determinanten demographischer Prozesse und resultierender Strukturen
Demographische Prozesse
Biologische Determinanten
Politische Determinanten
Soziale Determinanten
Ökonomische Determinanten Quelle: Eigene Darstellung
Gesellschaftlich produziert, aber individuell gespiegelt wirken sich die Faktoren Lebenslage (bei Mackenroth die „materielle Situation“, also u.a. Bildung, Einkommen, Schichtzugehörigkeit) und Lebensstil (z.B. individuelles Werte- und Normensystem, soziokulturelle Teilhabe, Lebensentwürfe und spezifische Handlungsmuster) auf das generative Verhalten aus. Die spezifischen (demographischen) Konsequenzen zeigen sich in den jeweiligen Phasen des Lebenszyklus (zugehörige Alterskohorte, Familien- und Haushaltssituation).7 Auf die Prozesse des sozialen und demographischen Wandels soll im Folgenden in der hier gebotenen Kürze eingegangen werden.
7
Generatives Verhalten ist also keineswegs behavioristisch als Zeugungsverhalten zu verstehen, sondern als soziales, somit auch rationales und interpretierbares Handeln (Schäfers 1990: 97). Auch Kaufmann definiert „generatives Verhalten“ umfassend als „Gesamtkomplex der Verhaltensweisen, welche für die Erklärung beobachtbarer Variationen der Geburtenhäufigkeit von Belang sind“ (Kaufmann 2005: 116). Erschwert wird eine Analyse dadurch, dass alle Faktoren einer zeitlichen Dynamik und einem stetigen (sozialen) Wandel unterliegen.
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Fakten
2.2 Sozialer Wandel: Von der Protomoderne über die Moderne auf dem Weg wohin? Dass sich der soziale Wandel in unüberschaubarer Vielfalt vollzieht, ist jederzeit und überall beobachtbar, und vor allem die Auswirkungen dieses Wandels auf das soziale Zusammenleben stellen ein wichtiges wissenschaftliches Themenfeld dar. Der heutige soziale Wandel ist z.B. durch die Pluralisierung von Lebensstilen, Individualisierung, Freizeitorientierung und die Entwicklung neuer Haushaltstypen gekennzeichnet und empirisch in großem Umfang untersucht worden (vgl. etwa Schulze 2000, Huinink & Wagner 1998, Klocke 1993, Beck 1986 oder die Zusammenfassung der grundlegenden Trends in Geißler 2002: 436ff.).8 Was ist aber der Motor der Veränderungen? Und wie ist unsere heutige Situation entwicklungshistorisch einzuordnen? Mit metatheoretischen Betrachtungen des sozialen Wandels, insbesondere mit dem Wandel von protomodernen zu modernen und reflexiven, spät- oder „zweit“-modernen Gesellschaftsstrukturen, haben sich u.a. Ulrich Beck und Anthony Giddens befasst. So löste im Zeitalter der Aufklärung die Vernunft und das Fortschrittsdenken die alten Grundfesten der Gesellschaft ab: nämlich den Rückbezug auf althergebrachte Traditionen und nicht zuletzt auf die göttliche Vorsehung. Die sich mit dem Kapitalismus (Karl Marx), der Industrialisierung und Arbeitsteilung (Emile Durkheim) und der rationalistischen Bürokratisierung (Max Weber) entfaltende Moderne verursachte jedoch einen dauerhaften gesellschaftlichen Wandel und aufgrund dieser Diskontinuität eine Entleerung der Fortschrittsidee: Der Fortschritt führt letztlich nie zum Ziel, denn am Ziel wartet bereits das nächste in die Zukunft gerichtete Projekt. Die vernunftgemäße, rationalistische Tradition der Moderne wird damit wiederum in Frage gestellt („doppelte Enttraditionalisierung“). In der Stadtforschung ist dies von großer Bedeutung. Die Frage drängt sich auf, welche Rolle unter diesen Voraussetzungen die Großstadt, die Georg Simmel als die Struktur des Modernismus schlechthin, als den Schauplatz der stärksten Arbeitsteilung und Hauptsitz der modernen Geldwirtschaft erachtet hat, in einer spät- oder nachmodernen, stark ausdifferenzierten Gesellschaft einnehmen könnte. 8 Weymann definiert den „sozialen Wandel“ als „[...] Veränderung in der Struktur eines sozialen Systems [...]. Sozialer Wandel ist auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu beobachten, auf der Makroebene der Sozialstruktur und Kultur, auf der Mesoebene der Institutionen, korporativen Akteure und Gemeinschaften, auf der Mikroebene der Personen und ihrer Lebensläufe“ (Weymann, Weymann 1998: 14f.). Es lassen sich generell drei Theorieschulen nennen, die sich mit dem sozialen Wandel befassen: Die eher wachstumsbezogenen, „liberalen“ Modernisierungstheorien, die kritischmarxistischen Theorien und die Differenzierungstheorien, welche kulturelle und regionale Entwicklungsunterschiede betonen (vgl. Hradil 2000: 643f.). Darauf soll hier jedoch nicht im Einzelnen eingegangen werden.
Sozialer Wandel: Von der Protomoderne über die Moderne auf dem Weg wohin?
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Die Krise der Moderne hat eine intensive interdisziplinäre Debatte mit sich gebracht. Während die „einfache“ Moderne der Industrialisierung zumindest in ihrer Abgrenzung von der feudalstaatlichen „Prämoderne“ relativ klar eingeordnet werden kann, verläuft der Diskurs über die heutigen oder sich für die Zukunft abzeichnenden sozialen Strukturen sehr uneinheitlich. Die „Postmoderne“ markiert, so ein bekanntes Zitat Lyotards, das „Ende der Meta-Erzählungen“, womit er vor allem die Aufklärung, den Idealismus und den Historismus als übergeordnete, alles durchdringende Orientierungen meint. Das „Gebäude“ der Postmoderne zeichnet sich – im übertragenen Sinn – in Abkehr von dem durchdachten, rationalen, nach einem zentralen Masterplan erstellten „modernen“ Haus mehr durch eine kaum koordinierte Vielfalt von Bauherren, Architekten, Leitbildern und Bauteilen aus: Pluralismus, Zufall und Chaos, Instabilität oder Eklektizismus sind typisch postmoderne Qualitäten. Beck und Giddens positionieren sich dagegen als Hauptvertreter einer Postmodernismus-kritischen Strömung mit Hilfe der alternativen Begriffe „reflexive Modernisierung“ und „Zweite Moderne“ bewusst abseits der populären Mainstream-Debatte (vgl. Beck, Giddens & Lash 1996). In ihrer Kritik kommt die Idee zum Ausdruck, dass wir uns weniger auf dem Weg in eine gänzlich neue Epoche befänden, sondern eher einem Umbau der klassischen Moderne beiwohnten (und mitwirkten). Beck führt aus, was er u.a. mit dem Prozess der „reflexiven Modernisierung“ meint: „Im Zuge reflexiver Modernisierung verlieren die Institutionen der Industriegesellschaft ihre historischen Grundlagen, werden widersprüchlich, konflikthaft, individuumabhängig, erweisen sich als zustimmungsbedürftig, auslegungsbedürftig, offen für interne Koalitionen und soziale Bewegungen“ (Beck 1991: 50). Da dies eine „moderne Legitimationskrise“ darstelle, müsse, so Beck, die Moderne „modernisiert“ werden, und dies sei es, was gerade geschehe: eine Rationalisierung der Moderne, also eine Art „NeoModernisierung“ (vgl. Abbildung 4). Giddens beschreibt analog eine „Radikalisierung“ der Moderne durch Selbstreflexivität. Bei ihm wird „reflexive Modernisierung“ im Sinne von Wissen oder Reflexion über Modernisierungsprozesse verwendet, während Ulrich Beck die (nicht intendierten) Nebenfolgen der Modernisierung in den Vordergrund stellt (z.B. Naturkatastrophen, Havarien), welche mit dem Nicht-Wissen über den Strukturbruch zur Spätmoderne verbunden sind, und immer wieder Ressourcen verbrauchende korrigierende Handlungen erfordern. Mit anderen Worten: „Die meisten Individuen, aber auch Organisationen, gehen immer noch von einer einfachen Modernisierung aus, und wundern sich, dass ihr Antwortverhalten nicht mehr zur Realität passt“ (Freund 2009). Auch der demographi-
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Fakten
sche Wandel kann zu diesen nicht intendierten Modernisierungsfolgen gerechnet werden.9 Abbildung 4:
Doppelte Enttraditionalisierung von der Prä- zur Spätmoderne
Prämoderne
Hochmoderne
Spätmoderne
Industriemoderne Einfache Moderne
Postmoderne Zweite Moderne Reflexive Moderne
doppelte Enttraditionalisierung einfache Ö reflexive Modernisierung
Quelle: Eigene Darstellung
Giddens bezieht dies weiterhin auf den Raum und spricht von Entbettung und Rückbettung (vgl. Giddens 1996). Die „Entbettung“ beinhaltet Giddens zufolge die zunehmende Relativierung von Distanzen und die Implosion des Raums, die über symbolische Systeme (z.B. Geld) und technologische Expertensysteme (z.B. Telefon, Internet) zur Globalisierung führt. Lokale Ereignisse werden also mit weit entfernten verknüpft (eine Analogie zu Becks „Risikogesellschaft“ der globalen Selbstgefährdungen). Dies führt z.B. zu einer Aushöhlung der Nationalstaatsidee und zur Neudefinition lokaler und sozialer Bindungen. Es kommt beispielsweise zu neuartigen vertrauensbasierten Netzwerken etwa mit global verstreuten Freundeskreisen (statt mit den traditionalen Verwandtschaftskreisen) 9
Zu den Schlüsselbegriffen der „reflexiven Moderne“ gehören populäre Schlagworte wie Individualisierung, Standardisierung und Globalisierung. Die Individualisierung löst die Vergesellschaftungsformen der industrialisierten Moderne auf: Klassen, die klassische Kleinfamilie, die Geschlechterrollen verschwinden, die Individuen sind „freigesetzt“ und autonomer (Giddens), aber auch verunsicherter (Beck) und müssen ihre Biographie in hohem Maße selbstbestimmt zusammenpuzzeln (Becks „Bastelbiographien“). Dies nennt Beck auch eine „dreifache Individualisierung“: Die traditionellen Bindungen verschwinden, traditionelle Sicherheiten gehen verloren und ganz neue Arten sozialer Einbindung bilden sich heraus (nach Treibel 1995: 229f.). Es entsteht eine Pluralisierung der Lebensstile, die mit einer Arbeitsmarktpluralisierung einhergeht. Dabei kommt es nicht zu einer Vereinzelung, sondern zu neuen, individualisierten Identitäten, die auf neuen individuelleren Lebensformen beruhen. Paradoxerweise nimmt parallel zur Individualisierung die „Standardisierung“ in neuer Form zu, womit Beck die zunehmende Abhängigkeit hochgradig individualisierter Lebensläufe von standardisierten Institutionen und Dienstleistungen und deren Produkten meint (z.B. Windeldienst, Fitness-Studio, Psychotherapie).
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oder zu einer zunehmenden Relevanz von Face-to-face-Kontakte etwa zu Personen in Institutionen. Bei derartigen Strukturen, die Giddens als „Rückbettungs“Mechanismen bezeichnet, kommt es zu unbeabsichtigtem menschlichen Handeln, zu einer Art „automatischen“, nicht bewussten „Operation“ an der Struktur. Die industrialisierte Moderne – so Beck und Giddens – löst sich durch diese Prozesse auf und führt die Gesellschaft in eine „zweite Moderne“ (vgl. Abbildung 4).10 Die Frage nach Struktur und Entwicklungsdeterminanten der post-, zweitoder spätmodernen Stadt hat eine weitere selbstständige Debatte ausgelöst, auf die hier nur hingewiesen werden kann (vgl. etwa Dear 1995 oder Harvey 1990). Mit den Konzepten des Lebensstils, der Lebenslage und des Lebenszyklus, die als wissenschaftliche „Feinwerkzeuge“ zur besseren Analyse der neuen „spätmodernen“ gesellschaftlichen Bedingungen dienen sollen, können die Auswirkungen des sozialen Wandels konkretisiert und auch räumlich auf die Quartiersebene projiziert werden. Jene Konzepte gilt es also nachfolgend etwas genauer zu betrachten. 2.2.1 „Lebenszyklus“ – und räumliche Implikationen im Wohnquartier Das anschauliche Modell des Familienzyklus ist bis heute besonders einflussreich (Glick 1947, vgl. auch Höhn 1982, Lauterbach & Pillemer 1996). So werden verschiedene Stufen beschrieben (vom verheirateten Paar, der Familie mit Kleinkindern, mit Schulkindern, mit Jugendlichen, schließlich der Familie im „Empty-Nest“-Stadium bis hin zu Seniorenhaushalten oder auch eine Abfolge von expandierenden, konsolidierten und schrumpfenden Haushalten), die im Lebenslauf durchschritten werden und entsprechende spezifische Entwicklungsaufgaben beinhalten. Relevant hinsichtlich des Wandels von Wohngebieten ist die Tatsache, dass während der Passage des Familienzyklus vor allem aufgrund der sich verändernden Haushaltszusammensetzung und der sich verändernden Wohnpräferenzen Mobilitäts- und/oder Persistenzentscheidungen getroffen werden. So geht die klassische Theorievorstellung davon aus, dass sich Familien im Rahmen ihres Zyklus von Mietwohnungen in der Kernstadt (Familiengründung) zum Wohneigentum im suburbanen Raum (Konsolidierung des Familienlebens) bewegen und dann – theoretisch – wieder zurück in Mietwohnungen in der Kernstadt ziehen (Alter). 10 Auch das Ende der Zweiten Moderne oder Postmoderne wurde bereits postuliert – als „Hypermoderne“, „Post-Postmoderne“ und auch als „Metamoderne“ kursieren schillernde Begriffe, insbesondere in der Blogosphäre. Auf diese Diskurse soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden, zumal völlig unklar ist, ob sie nicht ohnehin ein immanenter Teil der per definitionem disparaten Postmoderne sind.
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Fakten
Diese Modellvorstellung mag sehr eingängig sein, ist aber empirisch nur mit Einschränkungen zu belegen, vor allem weil sie sich ausschließlich auf die Kernfamilie bezieht. Nur dort, wo klassische Familienhaushalte tatsächlich sehr stark dominieren, hat die Theorie einen gewissen Erklärungswert. Abbildung 5:
Lebenszyklus eines Haushalts
Quelle: Kemper 1985: 191
In allen anderen Fällen (etwa bei heterogenen Mieterhaushalten, bei ethnischen Minderheiten etc.) ist sie kaum anwendbar (vgl. Gober 1986: 546ff.). Diese „Restfälle“, also insbesondere die „neuen Haushaltstypen“, haben aber in den vergangenen 20 Jahren sehr stark zugenommen. Durch neue Lebensstile und eine
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Vielfalt an neuen Familienformen verlor der Familienzyklus also praktisch an Relevanz. Auch die Annahme der regelhaften Mobilitätsschübe in allen (Familien-)Lebenszyklusphasen ist empirisch nicht haltbar. Zwar bewirkt eine Haushaltsvergrößerung relativ häufig auch einen Umzug in eine größere Wohnung oder ein größeres Haus. Dies ist umgekehrt aber nicht bei den so genannten „Empty Nest“-Haushalten der Fall, die viel häufiger persistent bleiben, als ein „Homo Oeconomicus“ dies tun würde. Tabelle 1: Altersphase 0-17 Jahre
Wohnungsnachfragemuster in Abhängigkeit des Lebenszyklus11 Lebenszyklus
Verallgemeinerbare Nachfrageparameter keine eigenständige Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt
Kinder und Jugendliche, zum überwiegenden Teil im Elternhaus lebend Starke Nachfrage, insbesondere nach 18-29 Jahre Junge Erwachsene, Haushaltsgrünkleinen Wohnungen, schwerpunktmäßig dung für Ausbildung und Berufseinim unteren Marktsegment stieg, beginnende Familiengründung Hohe Nachfrage, insbesondere nach 30-44 Jahre Junge Familien, Singles, kinderlose größerem Wohnraum, verstärkte EigenPaare und neue Haushaltstypen mit tumsbildung, Nachfrage auf allen Teilsteigenden Ansprüchen an Wohnmärkten raum 45-59 Jahre Berufliche Konsolidierung, stabile Geringe Mobilität Lebensphase in der Regel keine Wohnungswechsel 60-74 Jahre Ruhestandsphase, ggf. Wahl eines Ruhestandsmobilität in geringem UmAlterswohnsitzes fang 75 Jahre und Verstärkter altersbedingter WohnNachfrage nach altengerechten Wohnälter ortwechsel, Umzug in altengerechte formen, Wohnraumfreisetzung v.a. Wohnungen oder Pflegeeinrichtungrößerer Wohnungen gen bzw. Umzug in den Haushalt der Kinder Quelle: www.schader-stiftung.de, angelehnt an: Niedersächsische Landestreuhandstelle für das Wohnungswesen (2001): Wohnungsprognose 2015. Berichte zu den Wohnungsmärkten in Niedersachsen, H. 7, Hannover. S. 35, Darstellung und inhaltliche Änderungen sowie Ergänzungen: Inga Uhlenbrock
Außerdem wurde festgestellt, dass die Wohnmobilität generell mit zunehmender Wohndauer zurückgeht („Axiom der kumulativen Trägheit“, McGinnis 1968). Auch in anderen Fällen wurde immer wieder aufgezeigt, dass Entscheidungen nicht „modellgemäß“ verlaufen. Wohnmobilität und Familienzyklus scheinen sich zu entkoppeln (Gober 1991). Neuere Studien befassen sich deshalb weniger mit dem Familienzyklus als mit dem offeneren individuellen Lebensverlauf (ver11 Vgl. auch Friedrichs (1977: 150f.), der die Stadtteilentwicklung bezüglich des sozioökonomischen Status (SES), Lebenszyklus und Gebäudestruktur analysiert.
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Fakten
allgemeinerter Lebenszyklusansatz, vgl. Kemper 1985 bzw. Lebensverlaufsansatz, Wagner 1989), während dessen Ereignisse auftreten können, die Mobilitätsentscheidungen auslösen (neben familienzyklischen Ereignissen kann dies auch eine Scheidung, ein Einkommenszuwachs oder ein Arbeitsstättenwechsel sein; siehe Abbildung 5). Allerdings zeigen wiederum Studien, dass auch die vielfältigen biographischen Veränderungen und Brüche im Lebensverlauf deutlich höhere Wohnmobilitätsraten zur Folge haben müssten, als es empirisch nachzuweisen ist (Gober 1991). Die räumliche Manifestation dieser manchmal synchron, manchmal asynchron verlaufenden Prozesse lässt sich in Wohnquartieren beobachten (siehe Herlyn 1990, vgl. Tabelle 1). Städtische Wohnviertel unterliegen allein durch die fortlaufenden demographischen Prozesse in situ einem gewissen Veränderungsdruck. Hinzu kommt die Dynamik des Zu- und Wegzugs von Haushalten. In gewisser Hinsicht sind auch die im folgenden diskutierten Lebensstile vom Familien- oder Lebenszyklus abhängig. 2.2.2 „Lebenslage“ und „Lebensstil“ – Deutung postmoderner Wohnquartiere Die Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Lebensstilen wird meist als eine allgemeine Begleiterscheinung des sozialen Wandels von der Moderne zur Postmoderne beschrieben.12 Diese Trends sind nicht nur in den in die Postmoderne hineingewachsenen „neuen Haushaltstypen“ zu suchen, die man mit Attributen wie jung, urban, gebildet, mobil oder elitär assoziiert, sondern auch bei älteren, immobilen und weniger expressiv-öffentlichen Menschen – und dies in einem künftig immer stärker wachsenden Maß. Diese Prozesse sind gerade im Bereich der Wohnungsversorgung und -politik relevant, weil nach wie vor die in ihrer Anzahl und Bedeutung zurückgehende „klassische Kernfamilie“ als Nachfragetyp im Mittelpunkt des Interesses von Immobilienwirtschaft und Stadtplanung steht und das Wohnungsangebot dementsprechend gestaltet und strukturiert wird. Paradoxer Weise scheint die Wohnung, deren Lage und Einrichtung gerade für die jungen, mobilen Haushalte eine größere Bedeutung zu haben als für ältere und immobilere Haushalte (vgl. www.schader-stiftung.de). Der Lebensstil-Begriff wird in der umfangreichen Literatur uneinheitlich verwendet. Aus den zahlreichen Varianten der Lebensstil-Definitionen sei hier nur die von Geißler (2002: 126ff.) herausgegriffen: „Unter Lebensstil wird ein relativ stabiles, regelmäßig wiederkehrendes Muster der alltäglichen Lebensführung verstanden - ein ´Ensemble’ von Wertorientierungen, Einstellungen, Deutungen, Geschmackspräferenzen, Handlungen und Interaktionen, die aufeinander 12
Vgl. hierzu etwa Schulze 2000 oder Dangschat 1994
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bezogen sind […]“. Solche „Ensembles“ besitzen auch für individuelle Wohnstandortentscheidungen eine große Relevanz. Als bekanntester Protagonist der Lebensstilforschung gilt Pierre Bourdieu, der in seiner Studie „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1983a) die räumliche Anordnung von Lebensstilen als Mittel der Distinktion verschiedener sozialer Gruppen untersuchte. Dabei stellte er fest, dass nicht nur die klassenmäßige, „harte“ materielle Ausstattung (das physische Kapital), sondern auch kulturelle Unterschiede (das kulturelle oder symbolische Kapital) determinierend wirken und „Territorialkämpfe“ um Wohnlagen und Wohnviertel nicht nur mit „Geld“, sondern auch mit Hilfe von Lebensstilkodierungen vorgenommen werden (vgl. auch Schneider & Spellerberg 1999).13 Die zunehmende Ausdifferenzierung der Lebensstile und Polarisierung der Lebenslagen14 bildet sich im Sozialraum der Städte ab. Zum einen entstehen Wohlstandsinseln,15 zum anderen aber kommt es durch selektive Wegzüge höherer Einkommensklassen, Konzentration von marginalisierten ethnischen Minderheiten und kollektive Abstiege („Fahrstuhleffekt“) vor allem in altindustrialisierten Quartieren zu sozioökonomischen Segregationstendenzen und Verfallsspiralen mit Selbstverstärkungseffekten. Die bekannteste und konsistenteste Anwendung von Lebensstilen stellen die kommerziellen „Sinus-Milieus“ dar, die sich in einem Koordinatensystem aus 13
In der Literatur wird auf der Aggregatebene weiterhin zwischen Makro- und Mikromilieu unterschieden. Während ein Makromilieu unter Verzicht auf räumlichen Bezug eine Gruppe mit ähnlichem Lebensstil bezeichnet (z.B. Online-Game-Community), unterliegen Angehörige eines Mikromilieus einer unmittelbaren räumlichen Interaktion. Ein Mikromilieu wiederum kann sich als „Wahl“oder „Wohnmilieu“ konstituieren. Ein Wahlmilieu bezieht sich auf einen Ort, an dem Individuen ähnlicher Lebensstile immer wieder zusammenkommen (z.B. Szenekneipe, Bioladen, Jazzclub). Ein Wohnmilieu dagegen ist ein Ort, an dem Menschen mit ähnlichem Lebensstil kontinuierlich und benachbart wohnen. 14 Vom Lebensstil abzugrenzen ist der ebenfalls immer wieder unterschiedlich gebrauchte Begriff der „Lebenslage“. Hradil bezeichnet „Lebenslage“ als „Gesamtheit (un)vorteilhafter Lebensbedingungen eines Menschen“ (Hradil 2001: 372). In der Regel werden zur Beschreibung der Lebensbedingungen sozioökonomische und demographische Strukturmerkmale (wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit o.ä.) verwendet. Dabei werden in der Regel die strukturellen Determinanten der Lebensbedingungen, ihre subjektiven Bedingungen und ihre Dynamik im Zeitverlauf betrachtet (vgl. Amann 1983). 15 Seit den 1990er Jahren werden auch in der Quartiersforschung z.B. im Zusammenhang mit Umzugsmobilität (auch Gentrification) oder Alltagsmobilität Lebensstil- bzw. Wohnmilieu-Konzepte verwendet (Dangschat 1994, Keim 1998, Schneider & Spellerberg 1999, Gebhardt & Schnur 2003, Hammer et al. 2003, Spellerberg 2004). Hier finden sich auch Anknüpfungspunkte zum Oberthema der wissensbasierten Stadtentwicklung, die sehr stark auf die Vernetzung postmoderner kreativer Milieus oder auch auf kreative soziale „Überlebenstechniken“ u.a. auch in städtischen Quartieren abhebt (vgl. etwa den programmatischen Sammelband von Matthiesen 2004 oder Merkel 2008). In diesem Sinne wird auch der Bereich der lokalen (ethnischen) Ökonomien, der sozialen Mobilität von Migranten, die Integrationsforschung sowie die Armutsforschung auf der Quartiersebene berührt (wie etwa bei Evers et al. 2000, Pott 2002 oder Friedrichs, Galster & Musterd 2005).
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Fakten
sozialer Lage und „Grundorientierung“ verorten lassen (vgl. Perry 2003, siehe Abbildung 3 sowie Tabelle 2).16 Abbildung 6:
Die Sinus-Milieus
Oberschicht/ Obere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht
Untere Mittelschicht/ Unterschicht
Soziale Lage Grundorientierung
A
B
C
Traditionelle Werte
Modernisierung
Neuorientierung
Pflichterfüllung, Ordnung
Individualisierung, Selbstverwirklichung, Genuss
Multioptionalität, Experimentierfreude, Leben in Paradoxien
Quelle: www.sinus-sociovision.de (2009)
Die Sinus-Milieus, die seit 1979 erhoben werden, wurden im Rahmen eines kommerziellen Forschungsprojekts auch auf Wohnungsfragen ausgedehnt (Schmals & Wolff 2003, Küppers 2003) und inzwischen auch auf migrantische Milieus erweitert (Beck 2008).17
16 Für das vorliegende Projekt wurden Sinus-Milieudaten aller Untersuchungsquartiere seitens des vhw Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. ausgewertet und zur Verfügung gestellt. 17 Die Pionierarbeit zur Wohnpräferenz unterschiedlicher Lebensstilgruppen in Deutschland stammt jedoch von Schneider und Spellerberg. Sie haben in einer von der Wüstenrot-Stiftung in Auftrag gegebenen wohnungsbezogenen und sozialräumlich orientierten Studie Lebensstilgruppen und ihre Wohnpräferenzen ermittelt Spellerberg 2004: 11f.).
Sozialer Wandel: Von der Protomoderne über die Moderne auf dem Weg wohin?
Tabelle 2:
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Die Sinus-Milieus und ihre Charakteristika im Überblick
Sinus-Milieutyp
Anteil
Bürgerliche Mitte Sinus B2
15 %
Charakteristika
Der statusorientierte moderne Mainstream: Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen Traditionsverwurzelte 14 % Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegsgeneration: Sinus A23 verwurzelt in der kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur Die stark materialistisch geprägte Unterschicht: Anschluss Konsum12 % halten an die Konsum-Standards der breiten Mitte als KomMaterialisten pensationsversuch sozialer Benachteiligungen Sinus B3 Hedonisten Die spaßorientierte moderne Unterschicht / untere Mittel11 % Sinus BC3 schicht: Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft Etablierte Das selbstbewusste Establishment: Erfolgs-Ethik, Machbar10 % Sinus B1 keitsdenken und ausgeprägte Exklusivitätsansprüche Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu: Liberale Grundhaltung, Postmaterielle 10 % postmaterielle Werte und intellektuelle Interessen Sinus B12 Die junge, unkonventionelle Leistungselite: intensives Leben Moderne Performer 10 % beruflich und privat, Multi-Optionalität, Flexibilität und Sinus C12 Multimedia-Begeisterung Die individualistische neue Bohème: Ungehinderte SpontaneiExperimentalisten 8% tät, Leben in Widersprüchen, Selbstverständnis als LifestyleSinus C2 Avantgarde Die resignierten Wende-Verlierer: Festhalten an preußischen DDR-Nostalgische 5% Tugenden und altsozialistischen Vorstellungen von GerechSinus AB2 tigkeit und Solidarität Konservative Das alte deutsche Bildungsbürgertum: konservative Kultur5% Sinus A12 kritik, humanistisch geprägte Pflichtauffassung und gepflegte Umgangsformen Quelle/Text: www.sinus-sociovision.de, eigene Darstellung
Die Lebensstilforschung ist gleichermaßen verheißungsvoll wie umstritten (Gebhardt 2008, Otte 2004).18 Zwar lassen sich Lebensstile nicht vollständig aus der soziodemographischen Grundstruktur ableiten und können somit als eine eigene Dimension gelten, aber die Lebenslage hat einen ähnlich hohen Erklärungswert z.B. hinsichtlich einer Wohnstandortentscheidung, was in der vorliegenden Studie eine wichtige Rolle spielt (vgl. Hammer et al. 2003, Schneider & Spellerberg 1999). Mit anderen Worten: Während sich nur ein Teil der Umzugsentscheidun18 In den letzten Jahren entstand eine Vielzahl von lebensstilorientierten, zum Teil auch raumbezogenen wissenschaftlichen Arbeiten (z.B. Klocke 1993, Dangschat 1994, Helbrecht 1997, Keim 1998, Matthiesen 1998, Schneider & Spellerberg 1999, Spiegel 2000, Schulze 2000). In empirischen Studien werden Lebensstile in Anpassung an Untersuchungsgegenstand und Methodik in der Regel immer wieder neu und anders operationalisiert (vgl. etwa die neueren Projekte von Gebhardt, Martin & Joos 2005, Hammer et al. 2003, Gebhardt & Schnur 2003 und kritisch: Gebhardt 2008).
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gen durch Lebensstile erklären lässt, sind die Lebenslagen nach wie vor eine wesentliche, vielleicht sogar die entscheidende Dimension (vgl. Gebhardt, Martin & Joos 2005, Scheiner 2005a, Hammer et al. 2003). Alter und sozialer Status gelten demnach als Merkmale, die ganz wesentlich die Wohnmobilität beeinflussen. In der gegenwärtigen Forschung wird indes darauf hingewiesen, dass Lebensstildifferenzierung ein Mittelschicht-Phänomen sei und somit andere Gruppen ausgeklammert würden. „Symbolische Distinktionskämpfe“ (Ronneberger & Schmid 1995) nehmen immer mehr Raum ein und die Lebensstildifferenzierung ist nicht nur ein Pluralisierungseffekt, sondern auch „Bestandteil einer klassifikatorischen Strategie [...], die zu neuen Formen sozialer Ungleichheit und zu einem modernisierten Klassenbildungsprozess beiträgt: Individualisierung, Pluralisierung und Flexibilisierung im Kontext der ‚Neuen Mittelklassen‘ sind somit nicht nur als Öffnungsprozesse, sondern auch als Abschließungs- und Ausschlussprozesse zu begreifen“ (Ronneberger & Schmid 1995: 369). Es kommt im Umkehrschluss zu einer Konstruktion „gefährlicher Klassen“ und „gefährlicher Orte“ (vgl. Davis 1992, Ronneberger 1997). Darüber hinaus sind Lebensstile und die jeweils präferierte oder gelebte Wohnqualität der Nachfrager häufig nicht kongruent (z.B. aufgrund finanzieller Restriktionen, vgl. Schneider & Spellerberg 1999). Auf der Angebotsseite ist die Variabilität der Wohnformen, Wohnungsqualitäten und Lagen trotz einer angenommenen Lebensstilvielfalt relativ begrenzt. In der Regel finden sich unterschiedliche Lebensstiltypen an einem Wohnort in ähnlichen Wohnformen zusammen, so dass man selten von einem zusammenhängenden „Wohnmilieu“ sprechen kann. Ein Lebensstil drückt sich außerdem nicht zwangsläufig in der Wohnlage oder -qualität aus (allenfalls bei der Entscheidung zwischen urbaner und suburbaner Lebensweise, vgl. Scheiner 2005b), sondern auch in einer spezifischen Mixtur aus Freizeit- und Reiseverhalten, Wohnambiente, präferierten Mobilitätsformen, Konsumgütern und -gewohnheiten etc. Ebenso wichtig für die Gestalt der persönlichen Wohnsituation sind sozioökonomische und demographische Merkmale. Lebensstile werden hier deshalb nicht als die entscheidende, sondern als zusätzliche distinktive Kategorie neben Lebenslage und Lebenszyklus verwendet.
Sozialer Wandel: Von der PUotRmoderne über die Moderne auf dem Weg wohin?41
2.2.3 „Fragmentierung“ und „Glokalisierung“ – sozialer Wandel im Quartier19 Die bisherigen Ausführungen haben bereits gezeigt, dass sich der soziale Wandel von der Makroebene auf die Ebene der Wohnquartiere herunterskalieren lässt. So kann in vielen westlichen Wohlfahrtsstaaten die Entwicklung auf der Quartiersebene als ein Abbild gesamtgesellschaftlicher (Makro-Mikro-)Entwicklungen interpretiert werden. Noch in der modernen (fordistischen) Phase waren durchschnittliche „Mittelschicht-Quartiere“ der Normalfall, nicht zuletzt auch durch standardisierten Massenwohnungsbau in Form von Groß- oder EinfamilienhausSiedlungen. Gemäß der Regulationstheorie geriet jedoch seit den 1970er Jahren das überkommene Akkumulationsregime aus dem Gleichgewicht und machte unter Knirschen allmählich dem „postfordistischen“ Akkumulationsregime Platz – erdacht als politisch-ökonomisches, neomarxistisches Pendant zum möglichen Beginn einer „postmodernen“ Ära.20 Der amerikanische Stadtforscher Bill Pitkin nennt im Hinblick auf die US-amerikanische Situation fünf Einflusssphären der postfordistischen Ökonomie auf der Quartiersebene: den lokalen Arbeitsmarkt, die Bevölkerungsstruktur, die gebaute Umwelt, das soziale und politische „Leben“ im Quartier sowie die Kommunalfinanzen (Pitkin 2001: 12ff.). Die lokalen Arbeitsmärkte spalteten sich im Rahmen der Tertiärisierung und Professionalisierung in hoch- und niedrigqualifizierte Segmente auf („Dual City“, vgl. Ronneberger & Schmid 1995: 367ff.). Eine damit verbundene Deregulierung der Arbeitswelt und eine zunehmende sozioökonomische Polarisierung der Gesellschaft schlugen sich in vielen Quartieren nieder („Quartered City“, „Fragmented City“, vgl. z.B. Alisch & Dangschat 1993, Häußermann 1997, Kronauer 1998). Dazu kommen – zumindest in den meisten westlichen Gesellschaften – die Symptome des selektiven demographischen Wandels in Form von Überalterungsphänomenen und einer zunehmenden Heterogenisierung von Quartieren durch Immigration, vielerorts eine regelrechte Desinvestition, die mit baulichen Verfallserscheinungen verbunden waren und erodierende lokale soziale Netz-
19
Einige Passagen dieses Kapitels entstammen der Publikation von Schnur 2008c. Zum Thema Postfordismus, Restrukturierung und Stadtentwicklung existiert eine große Menge an Veröffentlichungen insbesondere im regulationstheoretischen Zusammenhang. Es sei hier lediglich stellvertretend verwiesen auf Soja 1989, den Sammelband von Borst et al. 1990, die Zusammenfassung der regulationstheoretischen Literatur in Schnur 2003a sowie stellvertretend für neuere theoretische Strömungen Dear 1997. Kritik und weiter gehende Perspektiven der Regulationstheorie hinsichtlich der lokalen Ebene (etwa mit Hilfe des Scale-Ansatzes) finden sich zusammenfassend in Röttger & Wissen 2005. 20
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Fakten
werke bis hin zu kollektiven Resignationserscheinungen und passiven Protesthaltungen zur Folge hatten. Auch die Kommunalfinanzen sind gerade in vielen Kernstädten der großen Verdichtungsräume als prekär zu bezeichnen: Sie leiden unter dem Wegzug gut verdienender Einkommensschichten in den suburbanen Raum bei gleichen oder höheren Kosten für die Bereitstellung der Infrastruktur. Während der ökonomischen Restrukturierung in der Fordismuskrise wurden zahlreiche Industriebetriebe geschlossen, wodurch zum einen Steuerausfälle zu verzeichnen sind und zum anderen Arbeitslose wohlfahrtsstaatlich versorgt werden müssen. Darüber hinaus fallen die transnationalen Konzerne als zuverlässige Steuerzahler aus, da diese durch geschickte Investitionsstrategien und flexible Verlegung der potenziell steuerpflichtigen Erträge in „Steuerparadiese“ das Steueraufkommen zu reduzieren in der Lage sind. Die u.a. daraus resultierenden Einsparungen im öffentlichen Sektor führen letztlich dann wieder zu einer weiteren Verschlechterung der Situation gerade in ohnehin schon benachteiligten Quartieren. Der Übergang vom Fordismus zum immer mehr global aufgespannten Postfordismus hat in den Städten also deutliche Spuren hinterlassen und die Relevanz der nahräumlichen Ebene des Wohnquartiers sogar gänzlich in Frage gestellt: Welche Rolle sollte das Quartier noch spielen in Zeiten uneingeschränkter Mobilität? Spielten physische Distanzen nur eine geringe Rolle für soziale Vernetzung, würde die Wohnquartiersebene obsolet (vgl. Giddens‘ EntbettungsHypothese). Empirisch kann man jedoch (auch) das Gegenteil beobachten. So stellt Stephan Beetz fest, dass man trotz des rapiden Wandels der sozialen Rahmenbedingungen keineswegs von einer Auflösung der Nachbarschaften sprechen könne. Eher veränderten und erneuerten sich die Qualitäten dessen, was wir bislang als Nachbarschaften kannten (vgl. Beetz 2007: 242). Darüber hinaus ist vielfach festgestellt worden, „dass sich trotz fortgeschrittener Mobilität der Bevölkerung Sozialkontakte im Nahraum verdichten“ (Kemper 2007: 121). Zwar, so wird argumentiert, haben sich die Reichweiten vergrößert, nicht jedoch gleichzeitig die Bedeutung des Nahraums nivelliert (Kemper 2007: 121f., siehe auch Kemper 1980). Untersuchungen bei Migranten haben ergeben, dass „die Beziehungen zu Verwandten wie zu Freunden als sehr distanzempfindlich“ gelten können (Kemper 2007: 122). Dies wird auch in der Small World-Forschung aufgegriffen. Hier wird unterschieden zwischen „lokaler Verdichtung“ (Clusterbildung lokaler Ties als Ausgangsbasis für weiter gehende Kontakte) und „globaler Konnektivität“ (Holzer 2005: 2005). Während einerseits eine lokale Entankerung zweifelsohne festzustellen ist, werden andererseits räumliche Andockpunkte offenbar immer wichtiger.
Sozialer Wandel: Von der PUotRmoderne über die Moderne auf dem Weg wohin?43
Gelegentlich wird dieses vordergründige Paradoxon mit dem Neologismus der „Glokalisierung“ umschrieben (vgl. Robertson 1998). So werden zwar immer mehr nationalstaatliche Kompetenzen an supranationale Einheiten abgetreten, gleichzeitig kommt es aber zu einer Renaissance regionaler und lokaler Identitäten und Governance-Spielarten. Auch im ökonomischen Bereich ist dies zu beobachten. Zwar ist eine weltweit immer tiefere Integration der Märkte über alle nationalen Grenzen hinweg festzustellen, gleichzeitig ist aber das lokale Setting aus Lokalstaat, Wirtschaftsklima, Bevölkerungspotenzialen, Forschungseinrichtungen u.a. Standortbedingungen entscheidend. Dadurch wird der Wettbewerb zwischen „Lokalitäten“ angeheizt, wodurch neuer Druck, gleichzeitig aber auch eine neue Macht gegenüber dem „Globalen“ entsteht. In diesem Zusammenhang wird nicht zuletzt auch der Einfluss lokaler sozialer Bewegungen hervorgehoben (z.B. Mayer 1987). Auch kulturell ist die Glokalisierung zu beobachten, wenn internationale Migranten zunehmend in die Lage versetzt werden, ihre Heimatkultur auch im Aufnahmeland aufrecht zu erhalten oder sich gar zwischen hybriden transnationalen Lokalitäten bewegen. Weiterhin ändert sich durch immer neue Kommunikationstechnologien der Status von Einzelhaushalten, die – eingebunden in lokale und translokale Netzwerke – immer mehr zu Produktions- und Konsumtionsorten werden, etwa im Rahmen freiberuflicher Tätigkeiten im „Home Office“ (Little 2000). Zunehmend entwickelt sich eine Polarisierung räumlich-sozialer Gebilde auf unterschiedlichen Maßstabsebenen. Während sich auf der Makroebene eine differenzierte Hierarchie von mehr oder weniger in den Globalisierungsprozess involvierten Städten (Global Cities) herausgebildet hat, entstehen auch neue innerstädtische Hierarchien auf der Quartiersebene. Überspitzt formuliert entstehen zwei Quartierstypen: Den einen Typus bewohnen die Gewinner, den anderen die Verlierer der Globalisierung. Die Quartiere können für die Bewohner dementsprechend ein Raumpotenzial, aber auch eine Raumfalle darstellen. Für die einen ist das Quartier das Interface zur globalisierten Arbeitswelt, das Zentrum, an das trotz der hohen Mobilität man immer wieder zurückkehrt, die Kulisse inszenierter Erfolgsbiographien. Für die anderen ist es der alltägliche Aktionsraum, in dem die notwendigsten, oft eingeschränkten Ressourcen genutzt werden. Doch nicht nur Umzugsentscheidungen, sondern auch die Entscheidung Kinder zu bekommen, hängen mit Lebenslage, Lebensstil und Lebenszyklus eines Menschen zusammen. Der im folgenden Kapitel beschriebene demographische Wandel in Deutschland geht auf ein verändertes generatives Verhalten zurück, das direkt mit dem skizzierten sozialen Wandel verknüpft ist und mit neuen, oft kinderlosen Lebensstilen in Verbindung gebracht werden kann.
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2.3 Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub? Vielleicht findet man die Alten der Zukunft eher an der Whiskymeile von Sylt: Braungebrannte senile Spieljungen mit Baseballkappen und immer noch engen Hosen fahren mit Oldtimern oder Harleys vor, die aussehen wie XXL-Modelle von Matchbox. An ihrer Seite sitzen Frauen, bei denen dank der plastischen Chirurgie keiner mehr so genau erkennen kann, ob sie zwanzig, vierzig oder siebzig sind. Und auf hundert Meilen gibt es kein einziges Kind, das den Zauber brechen könnte, indem es lachend auf die Silberpappeln zuläuft und „Opa! Oma!“ ruft. Vor diesem Horror kann uns nur die Altersarmut bewahren. Heine 2003: 61
Wir befinden uns – zumindest in den „postmodernen“ westlichen Gesellschaften – in einer Phase, die Lesthaege als „zweiten demographischen Übergang“ beschrieben hat (vgl. Lestaeghe 1992). Die erste Transformation wurde bereits während der Industrialisierungsphase vollzogen und hatte (ohne Berücksichtigung der Zuwanderungen) ein starkes natürliches Bevölkerungswachstum zur Folge. Die auf diese Art und Weise vermehrte Population, so das Modell, stagniert am Ende der Transformation wieder am Bestanderhaltungsniveau oder wächst nur noch sehr gemächlich weiter. Dieses Gleichgewichtspostulat des „ersten“ demographischen Übergangs ist jedoch kaum haltbar (Kaufmann 2005: 55). Das Modell des zweiten demographischen Übergangs trägt der Beobachtung Rechnung, dass die Entwicklung nach der „industriellen Modernisierung“ nicht aufhörte, sondern das Bevölkerungspendel einfach weiter und immer weiter ausschlug – vom Bereich des starken Bevölkerungswachstums (erster Übergang) über die „stabile Nulllinie“ bis hin zu einer nachhaltigen Bevölkerungsschrumpfung (zweiter Übergang).21 Daran, dass diese Schrumpfung zunächst einmal eine Unvermeidlichkeit darstellt, die außerdem schon früh und präzise prognostiziert werden konnte, herrscht – anders als bei der Bewertung dessen – weitgehend Konsens in den Bevölkerungswissenschaften (vgl. Birg 2001). 2.3.1 Demographischer Wandel in Deutschland: Die Pioniere der „Lowest Fertility“ „Deutschland schrumpft und altert leise. Mit dem demografischen Wandel verhält es sich wie mit einem Kind. Seine Familie sieht es wachsen, aber das geschieht langsam und beständig, sodass es nicht auffällt. Es sind Außenstehende, Besucher, die sagen: ‚Mein Gott, ist der aber groß geworden!’ Wer den Wandel täglich erlebt, 21 Inwieweit diese Modelle haltbar und übertragbar sind, ist Gegenstand kritischer Diskussionen, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll (vgl. Kuls & Kemper 2002, Bähr 1992).
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
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hält ihn für selbstverständlich. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Deutschen so merkwürdig desinteressiert sind an dem Prozess, der das Land in den kommenden Jahren radikal verändern wird.“ Niejahr 2003: 9ff.
Die Bevölkerungsstruktur eines Staates befindet sich naturgemäß in einem stetigen Wandel. Neu an der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und anderen „modernen“ westlichen Gesellschaften, die bereits vor vielen Jahrzehnten begonnen hat und nun mehr und mehr ins Bewusstsein der politischen und wissenschaftlichen Diskussion rückt, sind jedoch die nachhaltigen Trends der Fertilität und der Lebenserwartung sowie der Immigration.22 2.3.1.1 Abnehmende Fertilität (Geburtenraten) „Die Wucht des demographischen Faktors ist umso größer, je weiter und je länger sich die Fertilität vom reproduktiven Gleichgewicht entfernt“, wie Kaufmann feststellt (Kaufmann 2005: 53). Die Fertilität geht in Deutschland tatsächlich seit vielen Jahren zurück und bleibt kontinuierlich unterhalb des Bestanderhaltungsniveaus. Dies ist im europäischen Vergleich keine Besonderheit. Gerade Mittelmeerstaaten wie Italien, Spanien, Griechenland oder Portugal haben ähnlich geringe Fertilitätsraten aufzuweisen. Für Deutschland unterscheidet man zwei Hauptphasen des Fertilitätsrückgangs, den „ersten Geburtenrückgang“ von 1908 bis 1933 (getragen von den Frauenjahrgängen in der Zeit der Hochindustrialisierung zwischen 1865 und 1905) und den „zweiten Geburtenrückgang“ ab 1965 (Frauen ab Jahrgang 1935; siehe Abbildung 7).23
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Die relevanten demographischen Prozesse wie die Alterung von Haushalten, die Änderung der Familienstrukturen und der Haushaltsgrößen (vgl. hierzu allgemein Kuls & Kemper 2002, Birg 2001, Lestaeghe 1992) wurden intensiv theoretisch und empirisch erforscht. 23 Kaufmanns Analyse bezieht sich auf die Entwicklung der CFR. Die CFR (completed fertility rate, Kohortenfertilität) gilt als guter Indikator, um das generative Verhalten zu messen. In dieser Rate werden nur die Kinder derjenigen Frauen subsumiert, die bereits am Ende des gebärfähigen Alters stehen (35- bis 40jährige). Die kurzzeitige Variabilität der Fruchtbarkeit (etwa aufgrund einer großen Elterngeneration oder eines schwankenden mittleren Gebäralters) wird durch die CFR verdeckt (Kaufmann 2005: 118).
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Fakten
Abbildung 7:
Entwicklung der TFR in Deutschland von 1871 bis 2050
Durchschnittliche Kinderzahl je Frau
1871/80
1901/10
1935
1965
1995
2025
2050
Jahre Datenquelle: K. Schwarz, Statistisches Bundesamt ab 20000 BMI 2000 Deutschland jeweiliger Gebietsstand bis 1945 Quelle: Höhn 2000
Der (erste) Geburtenrückgang wird oft mit dem veränderten Generationenverhältnis der Moderne im Vergleich zur Vormoderne erklärt (Theorie von Caldwell). Die „Macht des Clans“ wuchs „mit seiner Größe“ (Kaufmann 2005: 199f.). Dies wurde unterstützt durch die Tatsachen, dass Kinder einen „Tauschwert“ bei Verheiratungen und eine Altersvorsorge darstellten. Letzteres führte in Verbindung mit der noch hohen Mortalität der jüngeren Bevölkerung zu einem Sicherheitsdenken: Je mehr Kinder, desto besser. Die Modernisierung der Gesellschaft entzog diesem System die Basis (Kaufmann 2005: 120): „Die Verallgemeinerung der Persönlichkeitsrechte, ein vom Vertragsdenken getragenes Eherecht und die Aufhebung des alleinigen Erbrechts eines Sohnes, schließlich das Verbot der Kinderarbeit und die allgemeine Schulpflicht als institutionelle Veränderungen auf der Makroebene führen dazu, dass Kinder ihren Eltern auf der erlebbaren Mikroebene kaum mehr Vorteile bieten, dass also der ‚flow of wealth’ eher von den älteren zu den jüngeren Generationen fließt als umgekehrt“ (Kaufmann 2005: 120).
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Während der „erste Geburtenrückgang“ noch von dem sich parallel vollziehenden Mortalitätsrückgang bei Kindern und Jugendlichen ausgeglichen wurde, hatte der „zweite Geburtenrückgang“ bei gleichzeitig ansteigendem Gebäralter direkt sichtbare Auswirkungen. Die zusammengefasste Geburtenziffer (Total Fertility Rate, TFR), die in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er Jahre während des so genannten „Babybooms“ noch etwa 2,5 Kinder pro Frau betrug, fiel in den 1980er Jahren auf ca. 1,3 und bewegt sich seither um einen Wert von etwa 1,35.24 1989 hatte die DDR eine TFR von 1,6, die BRD 1,4. Die Transformation nach 1989 führte jedoch zu einem rapiden Absinken der TFR der neuen Bundesländer auf einen Wert von 0,77, den niedrigsten Wert bislang gemessenen Wert überhaupt (Daten: Statistisches Bundesamt, Stand 2006; vgl. Abbildung 7). Inzwischen stieg die TFR der neuen Bundesländer auf ca. 1,3 an (2006). Auf dem derzeitigen Geburtenniveau wird die Generation der Eltern jeweils nur noch zu ca. zwei Dritteln durch Kinder ersetzt. Eigentlich liegt die Geburtenrate bereits seit Mitte der 1970er Jahre unterhalb des Bestand erhaltenden Niveaus, so dass es sich um kein neues Phänomen handelt. Absolut betrachtet übertraf die Zahl der Sterbefälle die der Geburten jedoch lange Zeit kaum, weil die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boom-Phase in den 1980er und 1990er Jahren zu einem „Eltern-Boom“ führten (bei sinkender Fertilität, vgl. Kaufmann 2005: 118f.). Außerdem wirkten noch die z.T. höheren Fertilitätsraten bei Zuwanderern stabilisierend. Zurzeit nimmt dieser „Altersstruktureffekt“ stark ab, denn die „geburtenschwachen Jahrgänge rücken ins Elternalter ein. Es wird in den kommenden Jahrzehnten relativ wenige Eltern aus der inländischen Bevölkerung geben. Die anhaltend niedrige – und in Ostdeutschland nach der Wende nochmals drastisch gesunkene – Geburtenzahl pro Frau fällt in den kommenden Jahrzehnten mit einer wesentlich niedrigeren Elternzahl zusammen. Die Zahl der Geburten wird daher deutlich unter die der Sterbefälle sinken“ (Hradil 2000: 644f.).
Längerfristig betrachtet führt dies zu einem natürlichen Bevölkerungsrückgang, der mittelfristig allenfalls durch Zuwanderung aufgefangen werden kann. Deutschland kann als „Pionierland der lowest fertility“ bezeichnet werden, andere Länder werden jedoch dieser Entwicklung folgen (Kaufmann 2005: 40). 24 In der DDR entwickelte sich die TFR zunächst fast identisch mit der der BRD, bis dann Anfang der 1970er Jahre, als in der BRD der „Pillenknick“ spürbar wurde, die Geburten stärker anstiegen (bis 1980), auf einem relativ hohen Niveau blieben und erst Ende der 1980er Jahre wieder deutlich sanken. Der Anstieg der Geburten in den 1970er Jahren war auf die Bevölkerungspolitik der DDR zurückzuführen. So wurden u.a. finanzielle Anreize für frühe Heiraten und Geburten in Aussicht gestellt, Kinderbetreuungseinrichtungen verbessert und das sogenannte „Babyjahr“ eingeführt (Lechner 1997: 7).
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Fakten
Exkurs: Erklärungen für die Nachwuchsschwäche Macht man eine Momentaufnahme einiger gegenwärtiger Trends des sozialen und demographischen Wandels und stellt diese gegenüber, scheinen manche Zusammenhänge deutlicher zu werden, wie Abbildung 8 zeigt. Abbildung 8:
x x
Trends des sozialen und demographischen Wandels im Vergleich
Ausgewählte Trends des sozialen Wandels Konsolidierung der Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft Verringerung der sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern Verlust des Monopols der bürgerlichen Familie sowie Lockerung und Differenzierung der Formen des privaten Zusammenlebens (Individualisierung)
Trends des demographischen Wandels
Abnehmende Fertilität (Geburtenraten)
Individuell steigende Lebenserwartung
Strukturelle Alterung der Gesellschaft
Heterogenisierung (Zuwanderung)
Quelle: Eigene Darstellung
Im Folgenden wird versucht, die in der Tabelle implizierten Kausalzusammenhänge zu erläutern und in einen übergeordneten Kontext zu stellen. Fertilitätskiller Nr. 1: Opportunitätskosten vs. Konsumnutzen von Kindern Je höher das Niveau liegt, auf dem sich der gesellschaftliche Wohlstand bewegt, desto besser gestalten sich die Erwerbsmöglichkeiten und desto höher fallen die Einkünfte der Frauen und potenziellen Mütter aus. Daraus ließe sich zunächst noch kein schlüssiges Argument für Kinderlosigkeit ableiten. Will sich eine Frau (oder ein Paar) jedoch für ein Kind (und Kindererziehung) entscheiden und damit zumindest phasenweise gegen Erwerbsarbeit, kommen die dadurch entgangenen Einnahmen ins Spiel, die in der Bevölkerungsökonomie mit Opportunitätskosten umschrieben werden. Verlässt man die engere ökonomistische Perspektive, so treten noch soziale und biographische Opportunitätskosten auf. Unter sozialen Opportunitätskosten versteht man den „Verzicht auf die Teilhabe an der sozialen Welt“ vor allem im Sinne der nicht ausgeübten Erwerbstätigkeit (Birg 1997: 593). Die biographischen Opportunitätskosten werden durch die beschränkten Gestaltungsoptionen im eigenen Lebenszyklus bestimmt.
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
Tabelle 3:
Erklärung der Nachwuchsschwäche als Mehr-Ebenen-Problem
Erklärungsebene Kulturelle Ebene
Institutionelle Ebene
Paarebene
Individualebene
49
Erklärungsfaktoren
Folgen
Enttraditionalisierung, „Wertewandel“ Kulturelle Selbstverständlichkeit der Geburtenkontrolle Familie: Liberalisierung des Ehe- und Scheidungsrechts; Stärkung der Rechte der Kinder
Ehe und Elternschaft werden biographisch unverbindlich Pluralisierung der privaten Lebensformen Verstärkte Verantwortung der Eltern
Wirtschaft: Indifferenz gegenüber Elternschaft; wachsende Dynamik
Ökonomische Benachteiligung der Eltern; familialer Stress
Sozialstaat: Leistungsansprüche folgen aus der Erwerbsbeteiligung; keine Anerkennung der Erziehungsleistungen
Transferausbeutung der Familien
Erschwerung der „Nestbildung“, Veränderung der Machtbalancen
Unfreiwillige Kinderlosigkeit
Gefährdete Verlässlichkeit der Beziehungen
Erhöhtes Scheidungsrisiko
Zunehmende Opportunitätskosten von Elternschaft Zurückhaltung gegenüber langfristigen Festlegungen
Präferenz für ehe- und kinderlose Lebensformen
Quelle: Kaufmann 2005: 132
Das Nutzen-Kosten-Kalkül bei der Fertilitätsentscheidung ist ein zentrales Axiom der Bevölkerungsökonomie. Den direkten Kosten und Opportunitätskosten stehen drei Arten von Nutzen gegenüber, die aus Kindern entstehen (Zimmermann 1986: 19): der Konsumnutzen (Freude an den Kindern), der Arbeitsnutzen (Kinder als potenzielle Arbeitskräfte) und der Vorsorgenutzen (Kinder als soziale Absicherung). Der Arbeits- und Vorsorgenutzen geht mit höherem Einkommen zurück, während der Konsumnutzen konstant bleibt und die tatsächlichen und Opportunitätskosten mit dem Einkommen ansteigen.25 Ökonomische Prosperität führt also über mehr oder weniger rationale individuelle Abwägungen zu sinkenden Geburtenraten. Dies wird politisch über Alterssicherungssysteme 25
Dieser Ansatz geht in einer Theorie der Haushaltsentscheidung auf, die im Rahmen eines Familienzyklus auf der Basis rationaler Wahlhandlungen simultan über alle möglichen Haushaltsentscheidungen befindet (und damit auch über die Option Kinder zu bekommen; Zimmermann 1986: 19f.).
50
Fakten
verstärkt, mit denen „die Kosten für den Unterhalt der Nicht-mehrErwerbstätigen kollektiviert, diejenigen der Noch-nicht-Erwerbstätigen dagegen privatisiert werden“ (Kaufmann 2005: 137). Daraus resultiert das MakroPhänomen des demographisch-ökonomischen Paradoxons (Birg 2001: 42). Der schwer operationalisierbare „Value of Children“ ist heute also im Wesentlichen immaterieller Natur: So kann durch den Status der Elternschaft in bestimmten sozialen Kontexten oder durch kollektive (religiöse, verwandtschaftliche) Traditionen Anerkennung entstehen, Kinder können „sinnstiftend“ und emotional bereichernd wirken und mit Kindern kann die Hoffnung verbunden sein, im Alter „etwas zurückzubekommen“ [Kaufmann 2005: 137f.]). Jedoch, so betont Kaufmann, deuten neuere Studien darauf hin, dass der „’intrinsische Wert’ von Kindern, also ihre Eigenwertigkeit, an Bedeutung gewinnt“ (Kaufmann 2005: 138). Damit wäre ein Faktor in der Fertilitätsentwicklung von der Modernisierung (oder Post-Modernisierung) entkoppelt. In der familiensoziologischen Literatur wird die Nachwuchsschwäche als ein Mehr-Ebenen-Problem angesehen (Kaufmann 2005: 120ff.), das sich anhand kultureller, institutioneller, familiärer und individueller Dimensionen analysieren lässt (siehe Tabelle 3, vgl. Kaufmann 2005: 130ff.). Die Fertilitätskrise als Regulationskrise Die schon mehrfach erwähnte Regulationstheorie eignet sich auch zu einer erklärenden Interpretation des demographischen Umbruchs im Kontext des sozialen Wandels. Mit ihrer Hilfe lassen sich diese Prozesse als ein Übergang von einem fordistischen („modernen“) zu einem post-(oder neo-)fordistischen („postmodernen“ oder „reflexiven“) Akkumulationsregime beschreiben (vgl. Aglietta 1979, Aglietta 2000, Harvey 1990: 39, Krätke 1996: 9ff. oder auch Bathelt 1994). Jedes Akkumulationsregime benötigt komplementäre Formen der Regulation, um sich selbst zu erhalten.26 Sobald sich ein bestehendes Akkumulationsregime nicht mehr selbst erhalten kann, kommt es zu einer Regulationskrise, die den Zeitpunkt der Transformation zu einem neuen Akkumulationsregime mar26
Die so genannte Regulationsweise ergibt sich aus der konkreten Zusammensetzung verschiedener Regulationsformen, wie z.B. Maßnahmen, welche die Kapitalakkumulation gezielt einschränken, sonstige politisch-institutionelle Spielregeln, Normen, Steuerungsmechanismen und institutionelle Organisationsformen (vgl. Krätke 1991: 16, Moulaert & Swyngedouw 1990: 92). Die „Regulierung” durch den Staat, also durch die Art und Intensität staatlicher Eingriffe (vgl. Esser & Hirsch 1987: 34), ist dabei nur eine der denkbaren Regulationsformen, wie die Definition von Lipietz zeigt: Er betont die grundsätzlichen „Formen von Normen, Sitten, Gesetzen, Regulationsnetzwerken und so weiter, die die Einheit des Prozesses sichern, d.h. die annähernde Konsistenz individuellen Verhaltens mit dem Reproduktionsschema. Diesen Körper verinnerlichter Regeln und sozialer Prozesse nennt man die Regulationsweise” (zit. nach Keil 1993: 30).
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
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kiert. Der Formationswechsel vollzieht sich dabei nicht „auf Kommando“, sondern kann als eine spezifisch historische Variante der Selbststeuerung oder Selbst-“Regulation“ kapitalistischer Gesellschaften im Kontext des „sozialen Wandels“ interpretiert werden (vgl. Schnur 2003). Der Regulationskrise, deren Beginn im Allgemeinen in die 1970er Jahre datiert wird, ging eine allmähliche Herausbildung von zahlreichen Ungleichgewichten in der fordistischen Formation voraus. Krisensymptome sind als singuläre Erscheinungen außerhalb des regulationstheoretischen Erklärungskontextes allgemein bekannt (vgl. Moulaert & Swyngedouw 1990: 95f.), wie z.B. eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, der sozioökonomische Niedergang in altindustrialisierten Gebieten, das fiskalische Desaster der Kommunalhaushalte, Umwelt- und Energiekrisen und wachsende regionale Disparitäten – trotz der zentralstaatlichen Regulierungsversuche. Darüber hinaus kam es in dieser Phase zu dem beschriebenen „zweiten Geburtenrückgang“, welcher den Ausgangspunkt der heutigen demographischen Krisendebatte darstellt. Auch die erwähnten Symptome des sozialen Wandels (Pluralisierung, Individualisierung, Aufkommen neuer Haushaltstypen, Ausdifferenzierung von Lebensstilen, sozioökonomische Polarisierung, Migration etc.) lassen sich in den Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Akkumulationsregime eintakten. Weil Akkumulationsregime räumlich verankert sind, entstehen beim Übergang von einem Akkumulationsregime zu einem anderen Raum-Krisen, die unterschiedlichste Ausprägungen annehmen können: Generell kommt es zu einer ständigen Inwertsetzung und Entwertung von Raum oder - mit anderen Worten – zu einer Produktion von Raum (Schnur 2003). Mit den ersten Krisensymptomen begannen deshalb auch Experimente z.B. hinsichtlich neuer städtebaulicher Leitbilder, größerer Partizipation der Bürger im Planungsbereich oder neuer Produktionskonzepte in Unternehmen, die in ihrer räumlichen Ausprägung von Deindustrialisierung (Verlagerung von fordistischen Unternehmensteilen in Niedriglohnländer im Rahmen interner Umstrukturierungen transnationaler Konzerne) bis zur Reindustrialisierung in flexibel organisierten territorialen Produktionskomplexen reichen (vgl. etwa Leborgne & Lipietz 1990, Soja 1990, Storper & Scott 1990). Bevölkerungs- oder familienpolitisch gab es jedoch in Deutschland keine regulative Anpassung, obwohl auch hier „Raum-Krisen“ abzusehen sind. Der Geburtenrückgang als Folge des sozialen Wandels avancierte aus oben genannten Gründen (u.a. aufgrund des „Elternbooms“) in dieser Phase noch nicht zu einem Problem, das akut einer Lösung bedurfte. Dies ist jedoch heute der Fall. Es drängt sich die Frage auf, ob (post)modernen Gesellschaften eine „strukturelle Tendenz zur Kinderarmut“ innewohnt (Kaufmann 2005: 55).
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Fakten
Zwar bringt das Modell des „Zweiten Demographischen Übergangs“ – anders als die Regulationstheorie – keinen neuen regulativen Gleichgewichtszustand hervor, sondern mündet in einer dauerhaften Geburtenkrise. Dennoch kann man im Kontext der Regulationstheorie die Hypothese aufstellen, dass der Fertilitätsrückgang eine weitere, tief greifende und mit tückischer Verspätung einsetzende Regulationskrise der fordistischen Formation darstellt, eine Erbschaft, die die postfordistische Folgeformation auszuhebeln droht und wiederum zu erheblichen Re-Regulationen führen muss – und dies gegebenenfalls, als „modernistischer Kollateralschaden“ auf einem niedrigeren Wachstumsniveau. 2.3.1.2 Steigende Lebenserwartung Parallel zu den sinkenden Geburtenzahlen steigt die Lebenserwartung kontinuierlich an. Dies ist vor allem auf verbesserte medizinische und hygienische Bedingungen, eine gesündere Ernährung, verbesserte Arbeitsbedingungen, höhere Wohnqualität sowie auf den allgemein größeren Wohlstand zurückzuführen. Nach der 10. Koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung wird in einer mittleren Variante (L2) angenommen, dass im Jahr 2050 neugeborene Jungen durchschnittlich 81,1 Jahre und Mädchen 86,6 Jahre alt werden (zum Vergleich: 1910: 47 bzw. 51 Jahre). Auch die durchschnittliche fernere Lebenserwartung (wie etwa der 60jährigen im Jahr 2050) steigt an. Die zurzeit noch geringere Lebenserwartung der Bevölkerung der ehemaligen DDR wird sich bis zum Jahr 2020 an das Westniveau angeglichen haben (Statistisches Bundesamt 2003). 2.3.1.3 Strukturelle Alterung der Gesellschaft Die niedrigen Geburtenraten und die steigende Lebenserwartung führen zu einer demographischen Alterung der Gesellschaft. Dieser Prozess der altersstrukturellen Veränderungen ist nicht neu, er begann bereits im Deutschen Reich etwa ab 1910 (Kaufmann 2005: 40). Immer weniger Menschen werden geboren und die Älteren werden nicht nur immer mehr, sondern leben auch länger. So wird der Anteil der Hochbetagten (über 80 Jahre) in den nächsten Jahren stark zunehmen, der Altenquotient ebenfalls zu- und der Kinder- und Jugendquotient abnehmen (vgl. Tabelle 4).
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Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
Tabelle 4:
Entwicklung des Verhältnisses jüngerer zu älteren Menschen in Deutschland 2010 - 2050
2010
(1) Kinderquotient (0 bis < 15J. / 25 bis < 65 J.) 24,3
(2) Jugendquotient (15 bis < 25 J. / 25 bis < 65 J.) 20,5
2020
23,0
18,2
2030
24,3
2040 2050
Jahr
(3) Altenquotient (> 65 J. / 25 bis < 65 J.)
Gesamtquotient (1-3)
Hochbetagtenquotient (> 80 J. / 20 bis < 80 J. x 100)
36,1
81,0
6,5
39,1
80,3
8,7
18,3
50,7
93,2
9,0
24,0
19,5
57,8
101,2
11,6
23,7
18,5
57,3
99,5
15,6
Daten: Enquête-Kommission Demographischer Wandel 2002: 33 (nach V2 der 9. Koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung)
Die „statistischen Lebensgewinne“, welche früher vor allem die Jungen betrafen (etwa durch den Rückgang der Säuglingssterblichkeit), kommen heute aber mehr und mehr den Älteren zugute (Kaufmann 2005: 45). Dies bedeutet, dass der (jüngeren) Erwerbsbevölkerung in Zukunft eine immer größer werdende (ältere) Nichterwerbsbevölkerung gegenüberstehen wird und damit eine immer kleiner werdende Gruppe von Berufstätigen eine immer größer werdende Gruppe von Rentnern (zuzüglich der immer geringer werdenden Gruppe der Kinder) versorgen muss. Dieses Phänomen wird in der Regel angeführt, um eine dramatische Destabilisierung der Sozialversicherungssysteme zu prognostizieren und entsprechendes politisches Handeln einzufordern. Jedoch gibt es auch abweichende Auffassungen zu diesem „demographischen Fatalismus“ (Kaufmann 2005: 31). So argumentiert etwa Bosbach (2003, 2004), dass nicht nur „Alte“, sondern auch „Junge“ von der Erwerbsbevölkerung zu versorgen seien. Betrachtet man deshalb den „Gesamtquotienten“, fällt auf, dass sich dieses Verhältnis weitaus weniger drastisch entwickeln wird (siehe Tabelle 4). 2.3.1.4 Bevölkerungsrückgang und Heterogenisierung Die demographische Alterung der Gesellschaft ist zwar strukturell sehr bedeutsam, aber doch nur ein temporäres Phänomen. Am Ende der Überalterungsphase ist eine Phase erhöhter Sterbefälle und unterdurchschnittlicher Geburtenzahlen zu erwarten. Aufgrund der dann sehr schwach besetzten Alterskohorten in der Familienphase wird sich dies weitgehend unabhängig von der dann bestehenden Fertilitätsrate vollziehen, wie Birg feststellt:
54
Fakten
„Wenn es eine [...] Politik wieder zuwege brächte, die Geburtenrate schrittweise beispielsweise bis 2030 auf das bestanderhaltende Niveau von 2,1 Kindern pro Frau anzuheben, würde es bis 2080 dauern, bis die Schrumpfung zum Stillstand käme und die Geburtenbilanz wieder ausgeglichen wäre. Auch wenn außerdem 150.000 jüngere Menschen pro Jahr einwanderten, würde sich an dem hohen Zeitbedarf bis zum Ende der Schrumpfung nicht viel ändern, die Geburtenbilanz bliebe auch dann bis 2068 negativ, und selbst wenn pro Jahr 300.000 jüngere Menschen netto einwanderten, wäre die Geburtenbilanz bis 2060 defizitär“ (Birg 2002).
Im Übrigen beeinflusst eine erhöhte Zuwanderung die Altenquote tendenziell weniger als eine Erhöhung der Fertilitätsrate (Kaufmann 2005: 44). Dies zeigt die Entwicklung der Nachwendezeit, in der deutlich wird, dass die Sterbeüberschüsse trotz der darin „eingepreisten“ Zuwanderergruppen mit Geburtenüberschüssen bereits heute bemerkenswert groß sind (Enquête-Kommission Demographischer Wandel 2002: 17). Dass der Bevölkerungsrückgang bislang noch gar nicht oder sehr schwach ausgefallen ist, liegt zum einen an der steigenden Lebenswerwartung, zum anderen an der beständigen Zuwanderung aus dem Ausland. Insbesondere zu Anfang der 1990er Jahre führte der Wanderungsüberschuss trotz der rückläufigen natürlichen Bevölkerungsentwicklung zu einem beachtlichen Gesamtzuwachs. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kamen jährlich deutlich mehr als eine Million Zuwanderer ins Land, von denen ein großer Anteil Aussiedler aus Mittel- und Osteuropa sowie aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren. Ein relatives Zuwanderungstief trat in den Jahren 1997 und 1998 auf, ebenso nach 2003, wobei sich abzeichnet, dass die Zuwanderungszahlen auch künftig die hohen Sterbefallüberschüsse nicht mehr aufwiegen können und eine reale Bevölkerungsschrumpfung zu verzeichnen sein wird (vgl. Tabelle 5). Durch die Zuwanderung vollzieht sich ein Prozess gesamtgesellschaftlicher Heterogenisierung. Gleichzeitig kommt es zu einem Verjüngungseffekt, da die Zuwanderer durchschnittlich jünger sind als der Bevölkerungsbestand. Seit dem Zweiten Weltkrieg kamen im Saldo durchschnittlich etwa 200.000 Zuwanderer nach Deutschland, ein Wert, der in den gängigen Bevölkerungsprognosen als mittlere Variante für die Zukunft angenommen wird. Weil die Anzahl der Erwerbsfähigen in Deutschland zurückgehen wird, ist es nicht ausgeschlossen, dass irgendwann wieder ein größerer Arbeitskräftebedarf und damit eine neue Zuwanderungsdynamik entstehen wird. Ab 2011 ist außerdem die vollständige Freizügigkeit der Arbeitsplatzwahl innerhalb der erweiterten EU zu erwarten und damit eine erneute Verschiebung des Arbeitskräftepotenzials (Statistisches Bundesamt 2003: 22f.).
55
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
Tabelle 5:
Bevölkerungsentwicklung und Außenwanderungen in Deutschland 1991 - 2007
Zeitraum
Zuwanderung
Abwanderung
Sterbefallüberschuss
596 455
Zuwanderungsüberschuss + 602 523
- 81 226
Rechnerische Bevölkerungsentwicklung + 521 297
1991
1 198 978
1992
1 502 198
720 127
+ 782 071
- 76 329
+ 705 742
1993 1994
1 277 408
815 312
+ 462 096
- 98 823
+ 363 273
1 082 553
767 555
+ 314 998
- 115 058
+ 199 940
1995
1 096 048
698 113
+ 397 935
- 119 367
+ 278 568
1996
959 691
677 494
+ 282 197
- 86 830
+ 195 367
1997
840 633
746 969
+ 93 664
- 48 216
+ 45 448
1998
802 456
755 358
+ 47 098
- 67 348
- 20 250
1999
874 023
672 048
+ 201 975
- 75 586
+ 126 389
2000
841 158
674 038
+ 167 120
- 71 798
+ 95 322
2001
879 217
606 494
+ 272 723
- 94 066
+ 178 657
2002
842 543
623 255
+ 219 288
- 122 436
+ 96 852
2003
768 975
626 330
+ 142 645
- 147 225
- 4 580
2004
780 175
697 632
+ 82 543
- 112 649
- 30 106
2005
707 352
628 399
+ 78 953
- 144 432
- 65 479
2006
661 855
639 064
+ 22 791
- 148 903
- 126 112
2007
680 766
636 854
+ 43 912
- 142 293
- 98 381
Daten: Statistisches Bundesamt (2009), eigene Berechnungen
56
Fakten
2.3.2 Siedlungsstrukturelle Konsequenzen des demographischen Wandels in Deutschland Was der demographische Wandel für Deutschland bedeutet, lässt sich mit einem Radiergummi vorführen. Man stelle sich vor, auf einer Deutschlandkarte würde ein Ort nach dem anderen ausradiert: erst Lübeck, dann Magdeburg, schließlich Erfurt und Kassel. Ungefähr 200000 Einwohner müssten die Städte haben, denn so stark schrumpft nach Prognosen der Vereinten Nationen pro Jahr die Bevölkerung Deutschlands. Am Ende der kleinen Vorführung wäre das Jahr 2050 erreicht. Die Landkarte hätte 47 blanke Stellen. Wo Städte eingezeichnet waren, sind jetzt nur noch weiße Flecken übrig. Niejahr 2003: 9ff. Als neue Herausforderung an eine zukunftsbeständige Stadtentwicklungspolitik zeichnet sich ab, einen Paradigmenwechsel vom 'gesteuerten Wachstum' auf 'geordneten Rückzug' zu kommunizieren, anzunehmen und umzusetzen. Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 569
Die Konsequenzen des komplexen Phänomens „Demographischer Wandel“ sind prinzipiell absehbar und berühren praktisch alle sozialpolitisch relevanten Bereiche, wie Kaufmann feststellt: „Die verhängnisvolle Wirkung eines langfristigen Bevölkerungsrückgangs resultiert aus dem Umstand, dass er sich nahezu in allen gesellschaftlichen Teilbereichen in gleichsinniger Weise auswirkt und dadurch auch geeignet ist, Wechselwirkungen auszulösen oder zu verstärken. […] Der Bevölkerungsrückgang wirkt relativ unspezifisch, aber umfassend in regressiver Richtung auf wirtschaftliche, soziale und wohl auch politische Verhältnisse ein“ (Kaufmann 2005: 62).
Darüber, dass sich der demographische Wandel z.B. auf soziale Subsysteme wie das Renten- und Sozialversicherungssystem oder auf öffentliche Infrastrukturen von Verkehrs- und Abwassersystemen bis Kindertagesstätten auswirkt, besteht kein Zweifel. Uneinigkeit in der inzwischen breiten öffentlichen Debatte herrscht jedoch nicht nur über die staatlichen Gegensteuerungsmöglichkeiten, sondern auch über das Ausmaß sowie die soziale und räumliche Verteilung der Überalterungsfolgen. Hier soll sich der Fokus speziell auf siedlungsräumliche Konsequenzen richten. Warum ist es so wichtig, die räumliche Differenzierung der Effekte des demographischen Wandels zu betrachten? Die Dynamik des Wandels lässt sich auf der Struktur- bzw. Makroebene gut verdeutlichen, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben. Dennoch sind es unzählige Individualentscheidungen, die letztlich erst strukturierend wirken und damit wieder neue Individualhandlungen beeinflussen. Da der demographische Wandel besonders sensible
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Dimensionen im individuellen Lebenszyklus (Familienorientierung, Haushaltsgröße, verlängerte Seniorenphase etc.) sowie im Berufsleben betrifft (Betriebsverlagerungen, soziale Mobilität, Flexibilität), sind damit oft auch Mobilitätsentscheidungen verbunden: Die Menschen ziehen möglicherweise häufiger und auf der Basis einer anderen Motivation um. Diese Umzüge schlagen sich z.B. als Binnenwanderungen oder intraregionale Wanderungen räumlich nieder. Dabei kann es zu Selbstverstärkungseffekten und zu räumlichen Polarisierungen kommen: Städte in Wachstumsregionen wachsen weiter und Siedlungen in Schrumpfungsregionen entleeren sich und deren Bevölkerung (über)altert unaufhaltsam. Die interregionalen Unterschiede (insbesondere die Ost-West-Disparitäten) wurden in der Literatur bereits hinlänglich beschrieben und sollen hier nicht erneut wiedergegeben werden. Stellvertretend für die Vielzahl an Literatur sei hier auf die Publikationen des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBR) verwiesen. Die folgenden Ausführungen fokussieren stärker auf (inner-)städtische Prozesse. 2.3.2.1 Gewinner- und Verliererregionen Städte verändern sich kontinuierlich, insofern ist eine Stadtschrumpfung zunächst einmal nichts völlig Ungewöhnliches. Jedoch war das Städtewachstum mit Beginn der industriellen Moderne bis in die 1970er Jahre fast überall dominant und äußerte sich als Ausdehnung ins Umland und Verdichtung im Kern.27 In den 1970er Jahren („Fordismuskrise“) gab es bereits erste Publikationen, welche die Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen thematisierten (z.B. Palm 1976, vgl. Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003). Generell üben die Restrukturierungstendenzen infolge der Fordismuskrise einen starken Einfluss auf die aktuelle Stadtentwicklung und Stadtpolitik aus (nach Schnur 2003). Mayer nennt zwei wesentliche Entwicklungen (Mayer 1991: 39): Zum einen ist es die sozioökonomische Polarisierung insbesondere in den Städten, die zu einer zunehmenden Disparität zwischen hochbezahlten hochqualifizierten und niedrigbezahlten geringqualifizierten Arbeitsplätzen im tertiären Sektor ausdrückt („duale Stadt“).28 Zum anderen verändern sich die räumlich-funktionalen Aufteilungen zwischen Städten und Regionen aufgrund neuer Erfordernisse der Kapital27
Die Kategorien „Wachsen“ und „Schrumpfen“ werden meist synonym zu Bevölkerungsanstieg oder -rückgang verwendet. Hier jedoch sind damit mehrdimensionale, systemische Phänomene gemeint, die den Prozess der Bevölkerungsdynamik als einen Teil enthalten (vgl. Kaufmann 2005: 21ff.). 28 Diese Beobachtung, die vor allem auf US-amerikanische Großstädte bezogen ist, muss nicht zwangsläufig auch auf europäische Verhältnisse übertragbar sein. Hamnett hält die Hypothese einer sozioökonomischen Polarisierung in europäischen Städten z.B. für nicht stichhaltig. Er spricht im Gegensatz dazu von einer zunehmenden „Professionalisierung“ (Hamnett 1994).
58
Fakten
akkumulation. Die historisch und lokal unterschiedlich ausgeprägten Formationen produzieren ebenso unterschiedliche Stadt- und Regionstypen, die jeweils mit dem Akkumulationsregime und der Regulationsweise korrespondieren (vgl. Abbildung 9). Abbildung 9:
Folgen des demographischen Wandels in wachsenden und schrumpfenden Regionen
STRUKTURSCHWACHE REGION
SELBSTVERSTÄRKUNG
Verlierer der Restrukturierung Fordismus -> Postfordismus
Anhaltend niedrige Geburtenrate (Binnen-)Abwanderung der „Jungen“
Gewinner der Restrukturierung Fordismus -> Postfordismus
Anhaltend niedrige Geburtenrate Starke Schrumpfung
(Binnen-)Zuwanderung der „Jungen“ Außenwanderung (Immigration) überwiegend junger Menschen
Probleme: u.a. Unterauslastung IS, zerfallende soziale Netze...
SELBSTVERSTÄRKUNG
STRUKTURSTARKE REGION
Mäßige Schrumpfung oder Wachstum
Integration
Probleme: u.a. Integration von Immigranten, soziale Probleme (Polarsierung, Exklsuion)...
Quelle: Eigene Darstellung
Unter „Schrumpfung“ werden je nach Kontext ganz unterschiedliche Prozesse assoziiert. Das „Schrumpfen“ der 1970er Jahre war im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen: Auf die anhaltende Suburbanisierung sowie die industrielle Restrukturierung, welche zunehmende Stadt-Stadt-Wanderungen zur Folge hatte. Die Suburbanisierung hatte in den 1970er und 1980er Jahren insofern eine besondere Qualität, als sie sich erstmals spürbar auf Kosten der stagnierenden oder schrumpfenden Kernstädte vollzog. So kann man vielleicht von schrumpfenden Kernstädten und einem Kernstadt-Umland-Ungleichgewicht sprechen, nicht aber von massiven stadtregionalen Schrumpfungsprozessen (vgl. Stadtregion Frankfurt am Main). Ein Paradebeispiel für die industrielle Restrukturierung stellt dagegen das Ruhrgebiet dar, welches neben den stadtregionalen Dekonzentrationsprozessen durch Suburbanisierung auch massive Wanderungsverluste aufgrund von Werksschließungen zu erleiden hatte. Beide Prozesse, Suburbanisierung und Arbeitsplatzwanderungen, sind bis heute aktuell. Zusätzlich gibt es in Ostdeutschland heute noch eine zusätzliche Gruppe von Städten, in
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
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denen beide oben geschilderte Prozesse geradezu erdrutschartig innerhalb kürzester Zeit im Rahmen der Transformation des staatsmonopolistischen DDRSystems zu einem marktwirtschaftlichen Gefüge auftraten. Die Faktoren „Stadtökonomie“ und „Suburbanisierung“ werden jedoch langfristig von einem tief greifenden demographischen Wandel überlagert, der – wie ein stetig Druck ausübender „Jetstream“ – die bestehenden Entwicklungen noch verstärken und zu einer Polarisierung im Siedlungssystem führen könnte. Wirtschaftlich prosperierende Stadtregionen werden die Hauptziele von Binnenund Außenwanderungen sein und weiter wachsen. Andere Stadtregionen werden von nachhaltigen Schrumpfungsprozessen betroffen sein (siehe Abbildung 9). Mehr noch: Schrumpfen und Wachsen kann sich parallel innerhalb einer einzigen Stadt oder Stadtregion vollziehen, abhängig von der lokalen Verortung der Arbeitsplätze oder von Lage- und Gebäudequalitäten bestimmter Wohnquartiere. Sollten massive Zuwanderungsgewinne (die migrationspolitisch forciert sein müssten) nicht zu einem derart drastischen Schrumpfen der Gesamtbevölkerung führen, werden diese Zuwanderer selbst den demographischen Impact mitbestimmen und neben städtebaulichen oder wohnungswirtschaftlichen Innovationen eine ganz besondere Anstrengung der Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich ihrer Integration abfordern. „Zusammen mit den Folgen dieser Prozesse auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, für die städtische Infrastruktur, die Kommunalfinanzen usw. ergeben sich neue Aufgaben und Optionen für die Stadtentwicklung: Stadtentwicklungspolitik wird nicht länger allein dadurch bestimmt sein, Wachstum räumlich zu verteilen“ (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 558). Es gilt vielmehr, „rückläufige Entwicklungen – unter sozialen, ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten – umfassend nachhaltig zu gestalten“ (ebd.).
2.3.2.2 Was heißt „Schrumpfen“? Häufig wird der Begriff „Schrumpfung“ unscharf gebraucht (vgl. Brandstetter et al. 2005). Ob es sich z.B. um Bevölkerungsrückgang oder den Verlust von Arbeitsplätzen handelt (oder um beides), bleibt oft im Dunkeln. Gatzweiler et al. haben ein Indikatorenset entwickelt, welches Schrumpfung ebenso wie Wachstum als systematischen, mehrdimensionalen Prozess begreift und klar definiert. Zu den benutzten Indikatoren gehören:29 29
Bevölkerungsentwicklung in % (1997-2001)
Bei den hier erläuterten BBR-Indikatoren-Berechnungen ist zu berücksichtigen, dass sie auf einem relativ kleinen Zeitraum basieren. Es stellt sich die Frage, ob diese kurzfristigen Trends auch auf lange Sicht Bestand haben werden.
60
Fakten
Gesamtwanderungssaldo je 1000 Ew. (1999-2001) Arbeitsplatzentwicklung in % (1997-2001) Arbeitslosenquote Durchschnitt (2000-2001) Realsteuerkraft in € je Ew. Durchschnitt (1999-2000) Kaufkraft in € je Ew. (2000)
Tabelle 6 zeigt die Korrelationen dieser Daten, anhand derer sich Interdependenzen ableiten lassen. Analog zu den oben beschriebenen Schrumpfungsfaktoren „Suburbanisierung“ (bzw. Abwanderung) und „Stadtökonomie“ haben die Indikatoren „Bevölkerungszahl/-veränderung“ sowie die „Zahl der Arbeitsplätze“ eine große Bedeutung: Wenn sich beide Faktoren negativ entwickeln, so Gatzweiler, Meyer & Milbert, könne man dies in grober Vereinfachung mit Schrumpfung gleichsetzen (2003: 561).
Kaufkraft
Bevölkerungsentwicklung * * Gesamtwanderungssaldo 0,91 Arbeitsplatzentwicklung 0,06 0,05 * Arbeitslosigkeit -0,06 * -0,47 -0,42 Realsteuerkraft 0,11 0,11 0,04 -0,21 Kaufkraft 0,04 0,35 0,38 -0,67 Quelle: Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 565, Darstellung verändert
Realsteuerkraft
Arbeitslosigkeit
Arbeitsplatzentwicklung
Korrelationskoeffizient r
Gesamtwander.saldo
Korrelierende Strukturindikatoren der Stadtentwicklung Bevölk.entwicklung
Tabelle 6:
* 0,37
*
Schrumpfung kann so als „negative Zirkularität in der Stadtentwicklung“ interpretiert werden (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 564), die mit Überalterung und Wanderungsverlusten beginnt und mit Investitionsrückgängen endet, die wiederum zu neuen Abwanderungen führen. Derartige Vorabklärungen sind notwendig, um die im folgenden Kapitel aufgestellte Frage, welche Gemeinden denn wachsen bzw. schrumpfen, überhaupt befriedigend beantworten zu können. 2.3.2.3 Ost – West? Groß – Klein? Wer schrumpft, wer wächst? Die Ausgangsbedingungen für den demographischen Wandel und die Folgen variieren in den unterschiedlichen Regionen, aber auch zwischen den verschie-
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denen Gemeindegrößenklassen. Dementsprechend sind auch disparate Entwicklungen festzustellen und zu erwarten. In Klein- und Mittelstädten (nach BBR-Klassifikation: Ober-/Mittelzentren < 100 TEW bzw. zentrale Orte unterer Stufen < 20 TEW) leben 39,9 % der Deutschen (Großstädte, Oberzentren > 100 TEW: 27,6 %; Zahlen für 2001). Sie stellen damit hierzulande die bevorzugte Siedlungsform dar. Großstädte zeichnen sich durch ein günstiges (altersstrukturelles) Abhängigkeitsverhältnis30 aus, haben das größte Arbeitsplatzangebot und das größte wirtschaftliche und finanzielle Potenzial. Jedoch sind hier auch die höchsten Arbeitslosenzahlen, die geringste Wohnungsbautätigkeit und die geringste Durchgrünung (als Indikator für den geringsten Erholungs- und Freizeitwert) zu verzeichnen. Sie müssen außerdem die stärksten Bevölkerungsverluste verkraften (das BBR nimmt Bezug auf die sog. „Normalisierungsphase“ der Stadtentwicklung nach der Transformation in Ostdeutschland = 1997-2001). Die Mittelstädte und große Landgemeinden fallen in jeder Hinsicht „gemäßigter“ und ausgewogener aus, was sie wahrscheinlich für die Menschen so attraktiv macht. Kleinstädte und kleine Landgemeinden wiederum schneiden hinsichtlich dieser Kriterien am ungünstigsten ab (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 559f.). Die Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Siedlungstypen hängt stark vom „siedlungsstrukturellen Regionstyp“, also von der Lage in einem Agglomerationsraum, einem verstädterten Raum oder dem ländlichen Raum ab (ebd.: 561). So sind die großen Landgemeinden insbesondere die Suburbanisierungsgewinner in Ostdeutschland (ebd.: 573), sie wachsen also auf Kosten der Kernstädte. Tabelle 7 zeigt indirekt, dass das dominante Phänomen der Stadtentwicklung heute nicht die Schrumpfung, sondern die Stagnation ist (ca. 78 % der Städte und Gemeinden). Außerdem wird deutlich, dass Schrumpfung zurzeit noch fast ausschließlich ein Problem ostdeutscher Städte und Gemeinden darstellt, und hier vor allem Klein- und Mittelstädte, aber auch kleine Landgemeinden betrifft (vgl. Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 565f.). Bezüglich der Bevölkerungszahl verzeichnen im Westen mit Ausnahme der Großstädte alle Gemeinden leichte Zuwächse. Wie im Westen wachsen auch im Osten vor allem die suburbanen Räume von Großstädten (sog. „große Landgemeinden“ mit einem Zuwachs von 8,1 %). Betrachtet man nur die Entwicklung der Arbeitsplätze, so wird deutlich, dass im Osten alle Gemeindetypen mit starken Verlusten zu kämpfen haben, die ostdeutschen Mittel- und Kleinstädte mit 10 % Rückgang allein innerhalb der Jahre 1997 bis 2001. Hier macht sich die drastische Deindustrialisierung und Restrukturierung in den 1990er Jahren bemerkbar. Im Westen dagegen weisen alle Gemeindetypen leichte Arbeitsplatzzuwächse auf. 30
Abhängigkeitsverhältnis: Summe von Jungen (0-15 J.) und Alten (> 65J.) in Bezug auf Erwerbsfähige.
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Fakten
Betrachtet man wiederum das komplexe Indikatorenset, sind auch einzelne westdeutsche Kernstädte, wie etwa Essen, bereits heute in einer „negativen Zirkularität“ gefangen (vgl. Abbildung 10). Tabelle 7:
Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden
Schrumpfen/Wachsen: 4 und mehr von 6 Indikatoren im unteren/oberen Quintil31 Stadt-Gemeindetyp West Ost Bund (% aller Gemeinden) (% aller Gemeinden) Schrumpfende Gemein2,6 15,3 53,5 den den> städte> Wachsende Gemeinden
8,3
0,3
6,3
Quelle: verkürzt nach Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 565; Daten: Laufende Raumbeobachtung des BBR 2003
2.3.2.4 Shrinking and Growing Cities Um zu verlässlichen Aussagen für die weitere Zukunft zu gelangen, müsste die weitere Bevölkerungs- und Arbeitsplatzentwicklung auf der kommunalen Ebene abgeschätzt werden. Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003 stellen aber fest, dass „[e]inigermaßen zuverlässige regionalisierte Langfristprognosen dieser beiden Faktoren, also Prognosen über einen Zeitraum von 20 oder gar 50 Jahren […] kaum möglich“ seien (2003: 567). Insbesondere die Abschätzung der Arbeitsplatzentwicklung ist ein schwieriges Unterfangen, weil sich der wirtschaftliche Kontext relativ rasch ändern kann. Zum Fachkonsens gehört jedoch die Auffassung, dass im Rahmen der Internationalisierung die Konkurrenz von Städten und Regionen weiter zunehmen wird. Je größer also der regionale bzw. städtische Exportanteil vor allem an höherwertigen Dienstleistungen ausfallen wird, desto größer wird deren Wachstumspotenzial sein. Während Städte mit prosperierenden tertiären und quartären Sektoren gute Entwicklungschancen haben dürften, werden Städte mit einem hohen Anteil des sekundären Sektors mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Strukturbrüchen zu leiden haben. Insgesamt erscheint es plausibel, dass vor allem Großstädte mit attraktiven Standorten als Gewinner aus dem postfordistischen Strukturwandel hervorgehen könnten. 31 Da Schrumpfung ein „kumulatives Problem“ darstellt, wurden die Indikatoren gleich gewichtet (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 565). Die Schrumpfung gilt als umso problematischer, je mehr der Indikatorenwerte sich im untersten Quintil befinden.
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Eine Prognose der Bevölkerungsentwicklung ist dagegen relativ verlässlich machbar. Die Vorausschätzungen des Statistischen Bundesamtes zeigen einen eindeutigen Trend in Richtung Schrumpfung (siehe Kapitel 2.3.1). Doch was bedeutet dies auf der räumlichen Ebene? Die regionalisierte BBR-Prognose bezieht sich auf die mittlere Variante der 10. Koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes (mit einer jährlich angenommenen Zuwanderung von 200.000 Personen). Daraus wird ersichtlich, dass zwar der Osten Deutschlands nach wie vor am stärksten von der Schrumpfung betroffen sein wird (insbesondere strukturschwache und ländlich geprägte Regionen z.B. in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern), sich das Phänomen aber weiter nach Westen ausbreiten wird, insbesondere in der Rhein-Ruhr-Region, im Saarland, in Teilen Schleswig-Holsteins und in den ehemaligen Zonenrandgebieten Hessens und Bayerns. Wachsen werden insbesondere die großen Stadtregionen, insbesondere München, Köln-Bonn, Rhein-Main, aber auch Berlin oder Dresden. Innerhalb dieser Stadtregionen gewinnt vor allem der erweiterte suburbane Raum oder „zwischenstädtische“ Areale, die nicht nur Wohn-, sondern auch umfangreiche weiterführende Funktionen und eigenständige periurbane Verflechtungen beinhalten (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 568, vgl. Sieverts 1998, Garreau 1991; vgl. Abbildung 10). Auf der Kreisebene wird deutlich, dass Schrumpfungs- und Wachstumsprozesse in Zukunft parallel ablaufen werden. Auch in den 1990er Jahren (3 % Bevölkerungswachstum) gab es bereits Schrumpfungsphänomene. 7 % „Wachstumskreisen“ standen 5 % „Schrumpfungskreise“ gegenüber. Dies wird sich bis 2020 stark zugunsten schrumpfender Kreise (insbesondere auch im Westen) verschieben (ebd.). Die Überalterung schreitet dagegen überall fort, jedoch unterschiedlich schnell. Laut BBR-Bevölkerungsprognose wird der Anteil der jungen Menschen (Personen unter 20 Jahren) im Osten bereits 2009 seinen Tiefstand erreichen (18 % Rückgang, im ländlichen Raum sogar 30 %), während diese Quote im Westen kontinuierlich bis 2020 (Ende des Prognosezeitraums) abnimmt. Die besonders produktive Alterskohorte, die erwerbsfähige Bevölkerung zwischen 20 und 60 Jahren, wird im Prognosezeitraum bekanntlich ebenfalls abnehmen. Im Westen betrifft dies zunächst nur die Kernstädte (- 5 %), während der Osten zwischen 10 und 20 % Verluste in dieser Altersgruppe in Kernstädten und Umlandkreisen sowie in ländlichen Kreisen zu verzeichnen haben wird.
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Fakten
Abbildung 10: Wachsende und schrumpfende Städte und Gemeinden in Deutschland
Quelle: BBR32
32
Der Abdruck der Karte erfolgt mit freundlicher Genehmigung des BBR.
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Die Teilgruppe der 25- bis 45jährigen, die aufgrund ihrer Lebenszyklusphase (Haushalts- und Familiengründung) als besonders wichtig für den Wohnungsmarkt gilt, reduziert sich besonders drastisch und dies auch in den Kernstädten. Die über 60jährigen dagegen werden im Prognosezeitraum überall stark zunehmen, vor allem aber in den suburbanen und ländlichen Gebieten (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003: 568f.). Gatzweiler, Meyer und Milbert merken abschließend an, dass „Schrumpfung auf mittlere Sicht nicht die alleinige Rahmenbedingung für Stadtentwicklung bleiben [muss]. Es sind auch Trendbrüche denkbar“ (2003: 569). Dies gelte gleichermaßen für die Arbeitsplatz- wie für die Bevölkerungsentwicklung. Überregionale Dienstleistungsangebote in den Großstädten könnten diesen im Schrumpfungskontext einen Wettbewerbsvorteil bieten (zusätzliche Arbeitsplätze, evtl. sogar Wachstum, auch im Sinne einer Reurbanisierung, vgl. hierzu auch Sigismund 2006 und Haase et al. 2006). Im Übrigen könne auch die Alterung als Chance für die Großstädte begriffen werden und zu Reurbanisierungsprozessen führen (z.B. durch Rückwanderung älterer Menschen aus dem suburbanen Raum). Jedoch wäre auch eine „Sun City-Urbanität“ wohl kurzlebig und damit kaum als Potenzial für eine nachhaltige Stadtentwicklungsstrategie geeignet. Nichtsdestotrotz müssen sich die Kommunen und die Wohnungswirtschaft auf eine zunehmende Anzahl älterer Nachfrager einstellen. Wer diese „Silver People“ in Zukunft überhaupt sein werden, versucht das folgende Kapitel zu klären.33 2.3.3 Demographischer Wandel konkret: Die „Silver People“ kommen! Dass der Anteil älterer Menschen an der Gesellschaft zunehmen wird, ist also klar und unabwendbar. Obwohl auch in Zukunft auf den Wohnungsmärkten der Städte alle Alterskohorten eine wichtige Rolle spielen werden, wird doch die – wie wir sehen werden: ausgesprochen heterogene – Gruppe der Älteren an Gewicht gewinnen. Die komplexe Frage, wie sich die Lebensstile alters- bzw. kohortenbedingt weiterentwickeln werden, wie also die Senioren von morgen leben und wohnen wollen, konnte bislang noch nicht beantwortet werden. Zumindest kann man einige plausible Annahmen treffen. Eine Untersuchung zu den Lebensstilen der heutigen Senioren (Infratest/Sinus, vgl. www.impuls50plus.net) zeigt einen übergeordneten Trend für alle Seniorengruppen, unabhängig von der Lebenslage: Das Bedürfnis nach einem aktiven, selbst bestimmten und selbst organisierten Leben im Alter (vgl. Schneiders 2003: 4). Und so lebt auch der Großteil der über 65-Jährigen (etwa 95 %) in privaten Haushalten - 1,5 bis 2% 33 Ilka Markus sei für die intensiven Recherchen und Zuarbeiten gedankt, durch die dieses Kapitel erst entstehen konnte.
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Fakten
davon wohnen in Privathaushalten in Kombination mit Dienstleistungen34. Die restlichen 5% leben in traditionellen Einrichtungen der Altenhilfe35 (vgl. KringsHeckemeier et al. 2006: 56). Neue Wohnformen36, sind zwar vereinzelt umgesetzt bzw. in Planung, aber quantitativ bisher noch nicht relevant (vgl. KringsHeckemeier et al. 2006: 56, Brech 1999: 30). Von den rund 2 Mio. Pflegebedürftigen (2003) leben rund drei Viertel zu Hause, 25 Prozent in Heimen. Fast 1 Mio. werden durch Angehörige betreut (vgl. Just 2005: 7). Bereits heute sind Senioren also viel stärker selbst bestimmt als gemeinhin angenommen wird (vgl. Leschinsky 2000). Es werden vier Lebensstiltypen heutiger Senioren differenziert (vgl. ebd.):
Resignierte Ältere (15%) Sicherheits- und gemeinschaftsorientierte Ältere (29%) Pflichtbewusst-häusliche Ältere (31%) Aktive „neue“ Ältere (25%)
Die Annahme, dass die letztere Gruppe der „neuen“ Älteren zunehmen und sich ausdifferenzieren wird, ist überaus plausibel. Bereits für die unmittelbar kommende Seniorengeneration wird dies bisweilen unterstellt: „Die heute 45- bis 50jährigen werden künftig das Bild des Seniors prägen. Diese Gruppe hat ‚1968’ den Gehorsam verweigert und sie wird als Senior anders handeln als heutige Senioren, die in autoritäreren Zeiten ihre Prägungen erfuhren“ (Leschinsky 2000: 50f., siehe auch ). Dass sich auch in den künftigen Seniorengenerationen die prägenden Lebensstile ihrer Juniorenphasen zum Teil niederschlagen werden, ist einleuchtend, denn dies ist auch bei den früheren und heutigen Seniorengenerationen feststellbar. Es kann davon ausgegangen werden, dass die heutigen Lebensstile/Milieus im Kern relativ konstant bleiben werden: Aus einem jungen „Experimentalisten“ wird mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kein alter „Traditionsverwurzelter“ (Sinus) im engeren Sinne werden, vielleicht jedoch eine Art „Selbstverwirklicher“ im Seniorenalter. Mit anderen Worten: Man kann den Lebensstilen plausibel eine gewisse Pfadabhängigkeit unterstellen, ohne damit behaupten zu wollen, dass aus einem progressiven Stil in der Jugend im Alter im Einzelfall nicht auch ein konservativer Typus erwachsen könnte.
34
Dies ist, was man gemeinhin unter Service-Wohnen bzw. Betreutem Wohnen versteht. Damit sind stationäre Altenpflegeheime bzw. Senioreneinrichtungen mit Heimverträgen und ambulanter Pflege gemeint. 36 Wie z.B. Haus- und Nachbarschaftsgemeinschaften, in denen gegenseitige Hilfe gemeinschaftlich organisiert wird. 35
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
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Generell ist anzunehmen, dass Lebensstile mit zunehmendem Alter an gewisse biologische Grenzen stoßen oder einem altersgemäßen Veränderungsdruck unterliegen (vgl. Spiegel 2000). Im Rahmen der Quartiersentwicklungsszenarien der vorliegenden Studie müssen solche möglichen künftigen Lebensstile „mitgedacht“ werden. Etwa ab 2020 wird die Baby-Boom-Generation zu einer neuen Generation „junger Senioren“ mit Lebensstilen avancieren, die sich im Rahmen qualitativer Szenarien noch relativ plausibel aus der Gegenwart extrapolieren lassen wird (insbesondere auf der Basis der Erkenntnisse der Markt- und Konsumforschung, die bereits heute verstärkt versucht, die Zielgruppen von morgen zu identifizieren). Bei den darauf folgenden Generationen wird diese Einschätzung in Anbetracht des kaum abzusehenden sozialen und technologischen Wandels jedoch immer schwieriger. Im folgenden Abschnitt soll ein Blick in die Zukunft gewagt werden. 2.3.3.1 Das „neue Alter“ Im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hat sich auch das Alter verändert, Tews spricht von dem Strukturwandel des Alters.37 Das sog. „neue Alter“ ist gekennzeichnet durch zunehmende Hochaltrigkeit, Entberuflichung, Feminisierung, Verjüngung und Singularisierung des Alters38. Das Alter ist breiter, differenzierter und variabler geworden (vgl. Tews 1993: 15, 42). Diese Veränderungen wirken sich auf das Wohnen und die Wohnwünsche im Alter aus. Die „neuen Alten“39 werden sich hinsichtlich Lebensstil und Wertvorstellungen von den heutigen Alten deutlich unterscheiden. Sie haben im Durchschnitt eine bessere Schul- und Berufsausbildung, als die heutigen Alten (vgl. Poding 2006: 37 Die Thematik der Singularisierung und Lebensstilpluralisierung der der Moderne entwachsenen neuen Seniorengeneration und deren Auswirkungen auf die Wohnungsnachfrage ist bereits relativ gut erforscht (vgl. Vaskovics et al. 2000 sowie Matzke 2003, stellvertretend für weitere Publikationen: Bartscherer & Leue 2003, Schneiders 2003, Leschinsky 2000, Schader-Stiftung 1998, Schneider & Spellerberg 1999, Schmals & Wolff 2003). Auch die Markt- und Konsumforschung hat bereits neue Zielgruppen entdeckt und beschrieben (Stichworte „Silver Living“ und „Silver Consumer“, vgl. Krings-Heckemeier & Feddersen 2003, Friedemann, Giger & Horx 2002, Friedrich-Ebert-Stiftung 1997) und auch die Medien spekulieren gerne über die Zukunft einer vergreisten Nation (vgl. Heine 2003: 61, Niejahr 2003: 9ff.). 38 Allerdings werden sich einige dieser Faktoren in Zukunft abschwächen: Die Feminisierung des Alters wird es zwar auch weiterhin geben, aber das Geschlechterverhältnis wird in den nächsten Jahren ausgeglichener (vgl. Ralf 2003: 233). Außerdem wird der Trend der Entberuflichung in hohen Altersstufen auslaufen – es werden zukunftig wieder mehr Ältere erwerbstätig sein (vgl. ebd.: 237, Just 2007: 34, 57). 39 Unter den „Neuen Alten“ werden die die Alten der Nachkriegsgeneration, d.h. die „Alten von Morgen“ verstanden (vgl. Poding 2006: 211).
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Fakten
211, 214). Herkömmliche Formen des Alterns werden von den zukünftigen Alten nicht übernommen (vgl. Grave 2005) – im Gegenteil, es wird von einer zunächst partiellen „Altersrevolution“ durch die 68er-Generation ausgegangen, welche die bisherigen Werte und Vorstellungen über das Alter grundlegend verändern wird (vgl. Bruns, Bruns & Böhme 2007: 9ff, 54). Hinzu kommt, dass die neuen Alten hinsichtlich ihrer Lebensstile und Wertvorstellungen stärker untereinander ausdifferenziert sind, als die Altengenerationen vor ihnen (vgl. Poding 2006: 213, Grave 2005). Es wurden bereits verschiedene Typologien erarbeitet, die dieser Ausdifferenzierung Rechnung tragen. So unterscheidet die Body&Mind-Typologie40 bei den heute über 50Jährigen drei Typen, die stark mit den Sinus-Milieus korrelieren: „Old Ager“ (v.a. „Traditionsverwurzelte“ und „DDR-Nostalgiker“), „Best Ager“ (ältere „Etablierte“ und „Postmaterielle“ sowie statushohe „Bürgerliche Mitte“) und „Old Kids“ (v.a. ältere „Hedonisten“ und „Konsummaterialisten“) (vgl. Poding 2006: 214). Eine interessante kohortenspezifische Betrachtung ist die Typologie der 68er-Generation von Bruns & Böhme, die vier Typen herausarbeiten: Die „Deprimierten“ und die „Traditionellen“ lassen sich am ehesten den Old Agern zuordnen, die „Vitalen Genießer“ den Best Agern, die „Aufmüpfigen oder Renitenten“ sind hingegen nicht in die Body&Mind-Typologie einzuordnen (vgl. Bruns, Bruns & Böhme 2007: 102ff.). Tabelle 8 zeigt eine Synopse der drei beschriebenen Typologien. Um diese Typologien zu bündeln, wurden hier die Kategorien der „Traditionellen Alten“, der „Neuen Seniorenelite“ sowie der „Hedonistischen Alten“ eingeführt. Perspektivisch werden traditionelle Milieus zu „Auslaufmodellen“41 (vgl. Poding 2006: 214). Gleichzeitig ist eine Zunahme hedonistischer Milieus zu beobachten (vgl. Poding 2006: 213, Herding 2007: 9). Es rücken auch mehr Leit- und Mainstream-Milieus „ins Seniorenalter nach“ (Grave 2005). Das wird dazu führen, dass die Alten von Morgen ganz andere Ansprüche haben werden, als die Alten von heute (vgl. Grave 2005). Traditionelle Altersbilder werden zunehmend verdrängt (vgl. Poding 2006: 213). Unterschiedliche Lebensstilgruppen haben auch unterschiedliche Wohnpräferenzen (vgl. Herding 2007: 6) – das bedeutet, dass die Wohnwünsche der Älteren eine weitere Palette umfassen werden als bisher. 40 Die Body&Mind-Typologie, entwickelt von Sinus Sociovision, soll die Analyse der 50plusGeneration ermöglichen. Die Zuordnung erfolgt über spezielle Statements, die konkret auf Wahrnehmung des Alters, Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen Rolle und Vorstellungen über das Leben im Alter abzielen (vgl. Poding 2006: 214ff). 41 Traditionelle Milieus („Traditionsverwurzelte“, „Konservative“, „DDR-Nostalgiker“) stellen bei den über 65-Jährigen einen Anteil von rund 60%; bei den 50- bis 65-Jährigen liegt der Anteil bei nur 27% (vgl. Poding 2006: 213f).
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Sinus-Milieus
Zuordnung der 68er Generation mit Anteilen an Generation in %
42
Body&Mind-Typologie mit Anteilen an Generation 50+
Tabelle 8:
Synopse und ungefähre Zuordnung der einzelnen AltersTypologien „Traditionelle Alte“
„Neue Seniorenelite“
„Hedonistische Alte“
Old Ager (51%)
Best Ager (31%)
Old Kids (18%)
traditionelle Normen und Werte, Heimatnostalgie, „Cocooning“ (Wunsch nach Schutz in einer vertrauten Gemeinschaft)
selbstbewusst, erfolgreiche Elite, wählerischer und qualitätsorientierter Konsum, Alter als Chance, Gewinn von mehr Zeitsouveränität
starke Erlebnisorientierung demonstratives „MithaltenKönnen“, ausgeprägter Konsumhedonismus – trotz teilweise sehr eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten
stark rückläufige Tendenz
weiteres Wachstum prognostiziert
„Deprimierte“ (17%)
„Vitale Genießer“ (26%)
Alter als Last, negative Einstellung zum Körper, Aldi und Lidl statt Bioladen, Urlaub im Garten oder auf dem Balkon, PolitikInteresse: Tagesschau, Lokalzeitung
Alter als Chance selbstbewusst, Elitezugehörigkeit, auch im Alter risikobereit, „Ausgeglichenheit, Zufriedenheit, Aktivität, Kontaktfreudigkeit“, „mindestens eine Scheidung hinter sich“, „qualitätsorientiert“, „kennen die Welt“, Alterssitz fern der Heimat: Südeuropa, Thailand usw.
„Traditionelle“ (48%) „Ich bin so alt, wie ich mich fühle“, „alle, die 1968 auf der anderen Seite standen oder sich später distanzierten“ Traditionsverwurzelte (>65 J) DDR-Nostalgische (>50 J)
ältere Etablierte (30-60 J) Postmaterielle (20-60 J) statushohe Bürgerliche Mitte (30-50 J)
künftig weiterer Anstieg „Aufmüpfige/Renitente“ (9%)
Nicht exakt zuzuordnen: „Ich-bezogen, auf eigenen Vorteil bedacht“, neigen zur Rebellion, besondere Form jugendlicher Sportlichkeit (Forever-YoungSyndrom), politische .RUUHNWKHLW
ältere Hedonisten (<50 J) Konsum- Materialisten (30-70 J)
Quellen: Grave 2005, Poding 2006: 214ff., Bruns, Bruns & Böhme 2007: 102ff., 195; eigene Zusammenstellung
Die Alterung der Gesellschaft führt dazu, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen erhöhen wird - von 2 Mio. (2003) auf 3,3 Mio. (2030) (vgl. Just 2005: 11). 42
„Die 68er Generation umfasst die Jahrgänge zwischen 1940 bis 1950“ (Bruns, Bruns & Böhme 2007: 11).
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Fakten
Gleichzeitig wird der Anteil der kinderlosen Rentner kontinuierlich ansteigen (vgl. Bultmann, Feddersen & Krings-Heckemeier 2003: 2). „Die (Pflege-) Verantwortung verteilt sich auf weniger Menschen“ (Niejahr 2008: 34). Hinzu kommt, dass durch die generell gestiegenen Mobilitätsanforderungen mehrere Generationen oftmals nicht mehr an einem Ort wohnen (vgl. Just 2005: 8, Niejahr 2008: 34). Das bedeutet: „Das familiäre Hilfspotential [stößt] an seine Belastungsgrenzen“ (Schneiders 2003: 4). Bereits in den letzten Jahren (1999 bis 2005) ist die Betreuung durch Angehörige gesunken (-4%), wohingegen ambulante Pflegedienste (+8%) und die Heimbetreuung (+12%) zugenommen haben (vgl. Just 2005: 8). Diese Trends werden sich weiter fortsetzen: Ambulante Pflegedienste werden zur Lasten der Betreuung durch Angehörige weiter zunehmen. Parallel dazu wird die Nachfrage nach stationären Pflegediensten besonders stark steigen (vgl. Just 2005: 9, 11) – bedingt durch die stark ansteigende Zahl der Hochaltrigen (vgl. u.a. Tews 1993: 17, Opaschowski 2005: 200). In Zukunft wird sich die Grenze für Pflegebedürftigkeit auf Grund medizinischer Fortschritte ins höhere Alter verschieben, aber dafür wird sich die Pflegebedürftigkeit auch über einen längeren Zeitraum hinziehen (vgl. Poding 2006: 11, Niejahr 2008: 34). Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist die Pflegeversicherung. Vor der Einführung 1996 gab es vor allem klassische Pflegeheime. Wohnangebote mit ambulanten häuslichen Pflegemöglichkeiten sind im Wesentlichen erst seitdem entstanden (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 56). Denn Pflegebedürftige können nun ambulante Dienste oder auch pflegende Familienangehörige (teil-)finanzieren43. Für viele Seniorenhaushalte der Mittelschicht wurde damit die ambulante häusliche Pflege finanziell erst möglich (vgl. Schneiders 2003: 4f). Die zukünftige Entwicklung bestimmter Alters-Wohnformen ist demnach auch von den gesetzlichen Regelungen und Leistungspauschalen der Pflegeversicherung abhängig (vgl. Just 2005: 10), damit aber auch von einem prekären Leistungssystem, das von Anfang an ebenso teuer wie unterfinanziert war (vgl. Blinkert & Gräf 2009). Der rein quantitative Zuwachs älterer Haushalte44, der Altersstrukturwandel, die Veränderungen der Pflegesituation Älterer, die Werteverschiebung künftiger Rentnergenerationen weg von traditionellen Milieus sowie die Ausdifferenzierung der Lebensstile eben auch bei den über 50-Jährigen werden dazu führen, 43 Dabei gilt der Grundsatz: ‚Ambulant vor stationär“. Die Notwendigkeit vollstationärer Pflege kann im Auftrag der Pflegekasse vom Medizinischen Dienst geprüft werden. Ausgenommen sind Pflegebedürftige der Pflegestufe III, da hier die Notwendigkeit stationärer Pflege vorausgesetzt wird (vgl. www.bmg.bund.de). 44 Die Zahl der über 50-jährigen Haushalte in Deutschland wird zwischen 2004 und 2020 um knapp 5 Mio. wachsen, während die Zahl der unter 50-jährigen Haushalte abnehmen wird (vgl. KringsHeckemeier et al. 2006: 8).
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dass sich der Bedarf an altersgerechten45 Wohnformen verändert sowie insgesamt ansteigt. 2.3.3.2 Seniorenimmobilienmärkte im Wandel Auf dem Markt der Seniorenimmobilien hat bereits eine Trendwende eingesetzt. Traditionelle Angebote wie Altenwohnheime, Pflegeheime und Seniorenresidenzen/Wohnstifte erleiden künftig Nachfrageeinbrüche und bleiben hinter alternativen Wohnformen zurück (vgl. Schneiders 2003: 5). Eines ist klar: Das „Wohnungsangebot für die „Alten von morgen“ (darf nicht) an den „Alten von heute“ ausgerichtet werden (Poding 2006: 217). Es zeichnet sich auch zukünftig eine hohe Wohnpersistenz ab: Viele Ältere wollen „nicht nur weiterhin an ihrem jetzigen Wohnort, sondern auch in ihrem jeweiligen Stadtteil und am besten auch in der jetzigen Wohnung (wohnen) bleiben“ (vgl. Kramer & Pfaffenbach 2007). So erfolgen die meisten Umzüge der über 50-Jährigen „innerhalb ihres gewohnten Alltagsradius“ (Krings-Heckemeier et al. 2006: 38), da über Jahre aufgebaute Netzwerke eine große Rolle spielen. Zentral für Ältere ist es, nicht in Isolation und Vereinsamung zu leben. Lösungen auf Quartiersebene wie eine gut funktionierende Unterstützung, Vereine im Quartier, Tauschringe oder Gemeinschaftsräume können dem entgegenwirken (vgl. Matzke 2003: 14, Bertelsmann-Stiftung; Kuratorium Deutsche Altershilfe 2005, Breuer & Fuhrich 1995). So wird für das zukünftige Wohnen (generell) „die Bedeutung der engeren Nachbarschaft und des Stadtteils als Lebensraum“ zunehmen (Brech 1999: 28) und „gerade für Seniorenimmobilien ist die Qualität des Mikrostandortes von besonders großer Bedeutung“ (vgl. Schneiders 2003: 5, Grimm et al. 2006). Auf der anderen Seite hat eine repräsentative InWIS-Umfrage eine beachtliche Umzugsbereitschaft Älterer ergeben: Immerhin ein Drittel der über 55Jährigen westdeutschen Mieterhaushalte würde umziehen, „wenn attraktive Angebote für das Alter und Umzugshilfen bereit gestellt werden“ (Schneiders 2003: 4). Auch eine empirica-Studie im Auftrag der LBS schreibt der Gruppe der rund 31 Mio. (2005) über 50-Jährigen hinsichtlich ihrer jetzigen Wohnsituation eine ausgeprägte Veränderungsbereitschaft zu. Danach gibt es drei „Veränderungstypen“: „Passive“46, „Bestandsoptimierer“47 und „Umzügler“48. 45
Altersgerecht = Wohnung und Wohnumfeld entsprechen den Bedürfnissen Älterer, Abrufbarkeit eines entsprechenden Dienstleistungsangebotes (vgl. Schneiders 2003: 4). 46 Unter „Passiven“ werden solche Personen verstanden, die nach „dem 50. Lebensjahr wohnen bleiben und keine größeren Modernisierungsarbeiten am bisherigen Haus oder der Wohnung durchführen“ (Krings-Heckemeier et al. 2006: 25).
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Fakten
Die beiden letzteren ergeben die so genannten „Veränderungsbereiten“, die zusammen rund 20 Mio. Personen ausmachen. Das Potenzial beider Gruppen wird aufgrund der fortschreitenden Alterung weiter ansteigen. Unter Abzug der bereits heute und bis dahin realisierten Umzüge bzw. Bestandsoptimierungen ergeben sich für 2020 rund 6,2 Mio. Umzügler und 4,6 Mio. Bestandsoptimierer (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 13, 25f., 32). Stadt oder Land? Bevorzugte Wohnlagen Beliebtester Wohnstandort49 für das Alter ist die Kleinstadt (30%). Ruhige Großstadtlagen (19%) werden belebten Innenstadtlagen in Großstädten (8%) deutlich vorgezogen. Der Trend, dass Ältere v.a. vom Land in die Stadt ziehen, ist laut empirica bisher nicht nachweisbar. Aber zukünftig kann ein Wanderungsprozess aus dem Umland in die Städte erfolgen, wenn entsprechend attraktiver und preiswerter Wohnraum in den Städten geschaffen wird (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 38). Von den Alten der 68er Generation wollen laut einer Umfrage50 70 Prozent zukünftig in der Stadt leben und nur 30 Prozent auf dem Land (vgl. Bruns, Bruns & Böhme 2007: 193), denn die „neuen Alten wollen heute wieder richtig was erleben“ (ebd.: 194). Gefragt sind jedoch auch Altersruhesitze fern der Heimat, zum Beispiel in Südeuropa (vgl. ebd.: 195). „Lebensstil zu Lebensstil“ statt „Alter zu Alter“ In Bezug auf das Wohnverhalten rückt das biologische Alter zunehmend in den Hintergrund, immer wichtiger werden hingegen Wertehaltungen und Lebensstil. So ergeben sich bei den einzelnen Alterstypen der Jungen Alten51 – also den Senioren von Morgen – sehr unterschiedliche Zustimmungen zu bestimmten Wohnformen (vgl. Tabelle 9; vgl. Poding 2006: 13):
47
„Bestandsoptimierer“ sind Bewohner, die nach „dem 50. Lebensjahr größere Veränderungsmaßnahmen (Modernisierungsarbeiten ab 10.000 Euro) am bisherigen Haus oder der Wohnung durchführen und nicht umziehen“ (Krings-Heckemeier et al. 2006: 25). 48 Als „Umzügler“ werden Menschen bezeichnet, die eine „Veränderung der Wohnsituation durch Umzug nach dem 50. Lebensjahr“ anstreben (Krings-Heckemeier et al. 2006: 25). 49 Teil der empirica-Studie im Auftrag der LBS war eine bundesweite Repräsentativbefragung von 3.004 Personen im Alter von 50 Jahren und älter, Mehrfachantworten bezüglich des gewünschtes Wohnstandortes bzw. der Wohnwünsche waren möglich (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 13). 50 Berhaus-Studie: „Zwischen Cola und Corega-Tabs“ (vgl. Bruns, Bruns & Böhme 2007: 193). 51 Junge Alte = 50- 65 Jahre (vgl. Poding 2006: 211).
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
Tabelle 9:
Best Ager Old Ager Old Kids
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Zustimmung der Body&Mind-Typen der Jungen Alten zu verschiedenen Wohnformen Seniorenwohnanlage
WG mit Gleichgesinnten
5% 20% 15%
25% 28% 35%
Quelle: Poding 2006: 216, eigene Darstellung, Werte gerundet
Zudem kann davon ausgegangen werden, dass im Alter „in der Regel ein Fortführen des aktuell bestehenden Lebensstils“ (Kramer & Pfaffenbach 2007) angestrebt wird, und somit auch der bisherigen Wohnpräferenzen der einzelnen Lebensstilgruppen. Allerdings kann das Alter nicht völlig vernachlässigt werden, da mit zunehmendem Alter die Pflegebedürftigkeit steigt und sich damit auch die Wohnnachfrage verändert. Laut einer empirica-Studie suchen
die 50-70-Jährigen vor allem Wohnangebote ohne professionelle Hilfsleistungen, die 70-80-Jährigen eher professionelle Wohnangebote in Kombination mit Hilfs-/Pflegeleistungen, allerdings keine Rundum-Versorgung bei Einzug und die über 80-Jährigen eher institutionelle Einrichtungen der Altenhilfe (klassische Pflegeheime bzw. Wohnanlagen mit Rundum-Versorgung) (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 9f).
Wohnwünsche älterer Migranten Der zunehmende Migrantenanteil insbesondere an der städtischen Bevölkerung wirft auch immer mehr Fragen nach den Wohnpräferenzen migrantischer Senioren auf. Generell gleichen sich die Wohnwünsche von Migranten mehr und mehr denen der deutschen Bevölkerung an. Konkret für ältere Migranten bedeutet dies, dass sie zunehmend nicht mehr in Großfamilien leben und ebenso wie ältere Deutsche immer weniger auf die Unterstützung der Familie bauen können. So sind allgemeine Erkenntnisse über das Wohnen im Alter im Wesentlichen auch auf ältere Migranten übertragbar (vgl. Fischer-Krapohl & Gottwald 2008: 157, 159). Andererseits gibt es jedoch spezifische Wohnbedürfnisse von Migranten. Als wichtig gelten u.a.: Ein Wohnumfeld mit Freiraumbezug, Mietergärten, Räume für Feste und religiöse Anlässe sowie Mehrraumwohnungen mit zum Teil stärker geschlechtsbezogener Strukturierung. Zudem führt das „Altern in der
74
Fakten
Fremde“ zu spezifischen Wünschen und Bedürfnissen. Hinzu kommt, dass ältere Migranten oftmals Zugangsschwierigkeiten und Vorbehalte gegenüber Angeboten der Altenhilfe haben und aufgrund überdurchschnittlich stark belastender Arbeitsverhältnisse in jüngerem Alter pflegebedürftig sind als Deutsche (vgl. ebd.: 157, 159f.). Auf diese spezifische Situation und die Wohnwünsche von (älteren) Migranten, hat sich der Wohnungsmarkt, abgesehen von einigen Pilotprojekten52, bisher gar nicht eingestellt (vgl. Brech 1999: 30). Und zuletzt kann gerade bei den älteren Migranten von einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Nachfrage ausgegangen werden, da sie als Gruppe in sich z.B. kulturell deutlich heterogener sind als die deutschen Senioren (vgl. Ralf 2003: 233). „Räumlich nah, aber selbstständig“: Generelles Wohnideal älterer Menschen Ein zentrales Ergebnis der empirica-Studie53 unter den heute über 50-Jährigen ist, dass „der Wunsch, mit anderen im Alter im engen räumlichen Kontakt zu leben, […] sehr ausgeprägt [ist], allerdings wird großer Wert auf Selbstständigkeit gelegt“ (Krings-Heckemeier et al. 2006: 11):
So möchte rund ein Drittel der Befragten gern mit den Kindern/der Familie in einer Nachbarschaft wohnen und ebenfalls ein knappes Drittel mit Freunden/Gleichgesinnten in einer Nachbarschaft leben. Das Zusammenleben in einer Wohnung/einem Haus mit den Kindern/der Familie kann sich jeder Dritte vorstellen; eine klassische WG mit Freunden/Gleichgesinnten jedoch nur jeder Zwanzigste (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 24, 30, 36, 47, eigene Berechnungen; vgl. dagegen Poding 2006, der hier zu wesentlich höheren Werten kommt, siehe Tabelle 9).
Es scheint also so, als sei die nachbarschaftliche Nähe zu Familie und Freunden für Ältere ungefähr gleich wichtig, wobei zukünftig die Bedeutung der Familie zugunsten von Freunden/Gleichgesinnten zurückgehen dürfte. Ingesamt wird von dem Großteil der Älteren gemeinschaftliches Wohnen im Haus/in der Nachbarschaft der viel diskutierten „Senioren-WG“ im engeren Sinne eindeutig vorgezogen. WG-Wohnen ist eher mit Familie als mit Freunden vorstellbar. Denkbar ist auch, dass das Modell des „Ganzen Hauses“ wieder salonfähig wird: „Wahlverwandschaften“ die im Alter neu gesucht und zusammengeführt werden, zum Beispiel via Internetplattform. Mit dem Ziel „zusammen zu wohnen, arbei52 siehe hierzu: Drei Kurzbeschreibungen von Projekten in Amsterdam, Bremen und Den Haag (vgl. Fischer-Krapohl & Gottwald 2008: 159ff). 53 vgl. Fußnote 49
Demographischer Wandel: Deutschland – ein Seniorenclub?
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ten, erziehen, leben, kommunizieren“ (vgl. Bruns, Bruns & Böhme 2007: 176). Zuspruch unter den künftigen Alten könnten aber auch die „Kinderlosen-WG“ oder die „Multikulti-Patchwork-Familie“ finden (Einkauf in eine fremde Dorfgemeinschaft z.B. in Südeuropa, vgl. ebd.: 178). Altershomogene oder Mehr-Generationen-Nachbarschaften? Betrachtet man die Wohnvorstellungen hinsichtlich der gewünschten Altersstruktur der Nachbarschaften, werden zwei gegensätzliche Trends deutlich: So möchte ungefähr jeder Fünfte in Mehrgenerationen-Nachbarschaften leben. Auf der anderen Seite will ebenso jeder Fünfte lieber nur mit Älteren zusammen in einer Nachbarschaft leben. Das heißt der Zuspruch zu beiden Formen ist ungefähr gleich hoch (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 30, 36, 47, eigene Berechnungen). Diese beiden Trends zeigt auch der Zukunftsforscher Horst Opaschowski auf: So wird es „in drei Jahrzehnten […] erschwingliche Hochburgen für Singles, Quartiere für Studenten, jüngere Senioren oder Hochaltrige (geben)“ (Focus 26/2007), also altershomogene Quartiere. Auf der anderen Seite ist zunehmend der Trend zu Mehr-Generationen-Nachbarschaften erkennbar - ein Zusammenleben in Wahlfamilien und Hausgemeinschaften. So wünschen sich 12% der Deutschen in Zukunft in einem Mehr-Generationen-Haus zu leben, bei den Älteren steigt der Zuspruch auf 15%54 (vgl. Opaschowski 2005: 183, 200). 2.3.3.3 Assistenzsysteme: Technologische Zukünfte des Seniorenwohnens Wie und wo Senioren zukünftig wohnen werden (können), wird zudem stark von der Verbreitung bestimmter technologischer Neuerungen abhängen, die den Alten von morgen ganz andere Möglichkeiten bieten werden als den Senioren heute. Wesentlich in diesem Zusammenhang sind die neuen Entwicklungen in der IuK-Technologie: im Rahmen des so genannten „Pervasive“ und „Ubiquitous Computing“55 werden „zukünftig immer mehr Alltagsgegenstände mit Mikroelektronik ausgestattet sein. Die so entstehenden „intelligenten Objekte“ („Smart Objects“) werden nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens beeinflussen“ (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik 2004: 14). 54 Zum Vergleich: In der empirica-Untersuchung gaben rund 18% an, gern in einem MehrGenerationen-Haus wohnen zu wollen (vgl. Krings-Heckemeier et al. 2006: 30, 36, 47, eigene Berechnungen). 55 „Pervasive“ = (alles) durchdringend, „Ubiquitous“ = allgegenwärtig (vgl. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik 2004: 14).
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Fakten
Im Medizin- und Gesundheitsbereich ist beispielsweise denkbar, dass der Gesundheitszustand des einzelnen Menschen mittels „Wearable Computing“ in Kleidung, Schmuck etc. über RFID-Funkchips56 permanent überwacht werden kann. Digitale Visiten werden in vielen Fällen den Gang zum Arzt ersparen. Und per Neuro-Implantat könnten eventuell Seh- und Gehörsinn wiederhergestellt werden (vgl. Micic 2006: 128, 141, 184f). Im Kommunikations- und Unterhaltungsbereich ergeben sich neue gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten für die Senioren der Zukunft: „Virtuelle Kaffeekränzchen“, Videofonie, interaktionsfähige virtuelle 3D-Umgebungen, holographische Verkaufs- und Beratungsgespräche in Lebensgröße usw.. Virtuelle „Butler“ oder Avatare – also virtuelle Assistenten – könnten zudem den Alten von Morgen vielfältige Unterstützung in den unterschiedlichsten Bereichen bieten: Einkauf, Überwachung, Medikation, Kommunikation, Beratung in Alltagsproblemen, Wartung der Haustechnik, Terminverwaltung, Weiterbildung etc. (vgl. Gaßner & Steinmüller 2009: 2; Micic 2006: 136, 141). Schon anhand dieser Auswahl wird deutlich: Ein Verbleib in den eigenen vier Wänden wird durch all diese Hilfestellungen viel länger (also bis ins höhere Alter) realisierbar sein als heutzutage. Technische Entwicklungen in diesem Zusammenhang werden unter dem Begriff Ambient Assisted Living (AAL) diskutiert. Es geht um „altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben“ – also „Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, die neue Technologien und soziales Umfeld miteinander verbinden“ (www.aal-deutschland.de). Vor allem älteren Menschen soll so die Möglichkeit gegeben werden, lange in der eigenen Wohnung zu leben. Das Forschungsfeld umfasst die vier Bereiche Gesundheit und Homecare, Sicherheit und Privatsphäre, Versorgung und Hausarbeit und Soziales Umfeld (vgl. ebd.). Ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang ist das „Smart Home“ – das „intelligente Haus“, welches in puncto Komfort, Sicherheit, Gesundheit und Entertainment ganz neue Wohnqualitäten aufzeigt (vgl. www.smarthomes.de). Dass es künftig mehr Senioren geben wird, diese ggf. aber auch ganz anders wohnen wollen als die älteren Menschen von heute, ist nun deutlich geworden.
56 RFID = Radio Frequency Identification; sinngemäß = kontaktlose Identifikation (vgl. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik 2004: 22).
3 Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung We have already acknowledged that it is impossible to separate the urban housing stock from its location and neighborhood context. Nor would we want to. The importance of the external relationships - the spatial externalities - which link the fortunes of any dwelling unit or set of units to those of his neighbor is such that any study of the housing stock must be paralleled by one which examines change in the broader neighborhood context. Bourne 1981: 20
Das im vorigen Kapitel abgehandelte Phänomen des (sozio-)demographischen Wandels nimmt vor allem in der nun zu analysierenden Verbindung mit der räumlich differenzierten Dynamik von Wohnquartieren noch an Komplexität zu. Dabei muss an dieser Stelle geklärt werden, was hier unter Quartier überhaupt zu verstehen ist. Folgende Definition soll hier zur Anwendung kommen, weil sie die alltäglichen Lebenswelten eines Quartiers betont und allzu triviale Abgrenzungen erschwert: „Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden“ (Schnur 2008b: 40).
Außer der „Lebenswelt“ für die Bewohner ist ein Wohnquartier auch der Ort, an dem Angebot und Nachfrage der städtischen Wohnungsmärkte und gegebenenfalls der staatlich subventionierten Wohnungsversorgung aufeinander treffen und sich z.B. in Leerständen oder Neubautätigkeit, in Lagequalitäten, in (städte)baulichen Qualitäten oder in komplexen Image-Projektionen Wohnungssuchender manifestieren. Soziodemographische Faktoren wie etwa Fertilität oder Wanderungsbewegungen wirken auf der räumlichen Ebene im Wohngebiet gleichermaßen zusammen. Ob ein Quartier also „boomt“, „schrumpft“, „stagniert“, aufoder abgewertet wird, hängt von einem komplexen sozialräumlichen und demographischen Kontext, einem spezifischen Wohnmilieu und einem regional eingebetteten Wohnungsmarktprofil ab. Mit anderen Worten: Der demographische Wandel bildet sich als Summe von Individualhandlungen im sozialräumlichen und (städte-)baulichen Kontext des Wohnquartiers ab und äußert sich in einer Dynamik unterschiedlicher Qualitäten und Tempi. Die Bevölkerungs-, Sozial-
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
und Stadtgeographie kann die Frage erörtern, welche sozialräumlichen Prozesse sich dabei modellhaft in unterschiedlichen Wohnquartieren abspielen. Die Ansätze der Quartiersforschung sind zahlreich, multidisziplinär, sehr heterogen und vielfach nur indirekter Output aus anderen Forschungskontexten. Aus Gründen des Umfangs wurde hier auf die Darstellung der Ansätze der Sozialökologie, die neoklassischen Modelle, soziographische Ansätze, Nachbarschaftskonzepte, lebensweltliche und aktionsräumliche Theorien verzichtet (vgl. Abbildung 11), obwohl zweifellos auch hier wichtige Bezüge zum Thema der vorliegenden Studie zu finden sind (hierzu jedoch ausführlicher: Schnur 2008b, Schnur 2008c). Abbildung 11: Acht Portale zum Quartier
Q ua rtier
Quelle: Schnur 2008c
Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen
79
Im Folgenden soll der Schwerpunkt auf jenen Konzepten liegen, die einen engeren Bezug zu demographischen Fragestellungen und/oder einen Handlungsbezug aufweisen, denn hiermit ist die Fragestellung der vorliegenden Arbeit konkret angesprochen.57 3.1 Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen Neben der lebenszyklischen Betrachtung (siehe Kapitel 2.2.1) sind auch immobilien- und nutzungszyklische Modelle für eine Analyse der Quartiersentwicklung sinnvoll. Statt einer Darstellung der bekannten ökonomischen Zyklustheorien im engeren Sinne (wie etwa der Produktlebenszyklus-Theorie oder immobilienwirtschaftlicher Zyklustheorien, zu denen auch das bekannte duale Zyklusmodell von Lichtenberger zu zählen ist) oder stadtregionaler Zyklustheorien (wie etwa der Theorien von Gaebe oder van den Berg) soll hier der Schwerpunkt auf sozioökonomischen, stärker quartiersbezogenen Ansätzen liegen.58 3.1.1 „Neighborhood Life Cycle” nach Hoover & Vernon Die theoretischen Grundlagen und Modellvorstellungen der Chicago School sind bekannt und sollen hier nicht ein weiteres Mal aufgearbeitet werden (vgl. etwa Lindner 1990 oder Friedrichs 1983, kritisch: Saunders 1987, Dear 2002). Ein in der Chicago-Tradition entstandenes Modell soll aber im Rahmen dieser Studie noch einmal eigens gewürdigt werden: das Modell des Wohnquartierswandels nach Hoover & Vernon. Der Wandel von Wohngebieten wurde 1959 von Hoover & Vernon am Beispiel New Yorker Nachbarschaften als „Lebenszyklus von Wohnquartieren“ in einem anschaulichen Modell beschrieben und anhand von Indikatoren systematisiert (siehe Tabelle 10). Dieser „Neighborhood Life Cycle“ und das bekannte Invasions-Sukzessions-Schema der Chicago School gelten als die beiden wichtigsten Modellvorstellungen des Quartierswandels, die häufig komplementär verwendet wurden. So wurden Quartierslebenszyklen oft als Abfolge mehrerer Invasions-Sukzessions-Zyklen beschrieben (Schwirian 1983: 91).
57
Teile des folgenden Textes wurden der Publikation Schnur 2008c entlehnt. Hinweise zu den genannten Zyklustheorien finden sich z.B. in Kulke 2004, Heineberg 2000, Jenkis 2001, Schnur 2008c oder Bizer et al. 2009. 58
80
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Neubau (mittlerweile durch Stadterweiterung ins Zentrum gerückt)
MFH
steigend
Bevölkerungswachstum
III
Umwandlung/ Herabstufung (downgrading)
Umbau, wenig Neubau, Schwarze ziehen in ehemalig „weiße“ Wohnungen, Verfall
Umgebaute EFH/ MFH
steigend
Verdichtung
IV
Ausdünnung (thinning out) (Gentrification Start)
Fast kein Neubau, Abriss, Zuzug von Immigranten, Verfall, Leerstände
Umgebaute EFH/ MFH
V
Erneuerung (renewal) (Gentrification Hochphase)
Sanierung, staatliche Eingriffe, Modernisierung
Umgebaute EFH/MFH, mod. Altbestand, LuxusWE
Bevölkerungsrückgang, sinkende Haushaltsgrößen Sozialstrukturelle Polarisierung, suventionierte Haushalte mit mittleren Einkommen
Prozess
Wohnqualität
Übergang (transition)
Sehr gut
II
Gut
niedrig
Bevölkerungswachstum durch Zuzug
Stark sinkend
EFH
Schlecht
Weitere demographische Merkmale
Neubau in peripherer Lage
Gut, ansteigend
Bevölkerungsdichte
Neubau (development)
Phase
Siedlungsstruktur
I
sinkend
Klassisches Modell des Wohngebietswandels nach Hoover & Vernon
stagnierend
Tabelle 10:
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Friedrichs 1995: 116f. und Bourne 1981
Nach Hoover & Vernon muss nicht jedes Wohngebiet alle fünf beschriebenen Phasen durchlaufen (siehe Tabelle 10). Als Motor der Veränderung gelten hier selektive Zu- und Abwanderungen (als Kette von Invasions- und Sukzessionszyklen) im Wohngebiet, die vor allem die Marktbedingungen verändern (veränderte Miet- und Bodenpreise, Nutzungswandel, Imagewandel etc.). Des weiteren wurden „Randbedingungen“ formuliert, von denen der Wandel abhängt (nach Friedrichs 1995: 117): Nachfrage nach dem Hausbestand, Marktoffenheit der Wohnungen Verkehrsinfrastruktur, Wohnpräferenzen der Haushalte, Lage in Bezug auf die Arbeitsstätten, Umbau- und Abrissaktivitäten im Gebiet. Neben diesen Kriterien, die im weitesten Sinne Wohnungsmarkt- und Lagekriterien
Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen
81
darstellen, werden von Hoover & Vernon explizit die demographischen Faktoren der Alters- und Haushaltsstruktur (insbesondere die Existenz von „klassischen“ Familienhaushalten) genannt. Schwirian fasst zahlreiche (vor allem US-amerikanische) Forschungsergebnisse im Kontext dieser Modellvorstellung zusammen und extrahiert vier Faktoren, die in den einschlägigen (statistischen) Untersuchungen einen großen Erklärungswert für den Wandel von Quartieren hatten (Schwirian 1983: 92): das relative Neubauvolumen und Bevölkerungswachstum, der sich verändernde Zugang der Quartiersbevölkerung zu den (inner-)städtischen Arbeitsmärkten, die individuell verfügbaren Ressourcen der Quartiersbewohner, die ihnen die Persistenz ermöglichen (also etwa: Einkommen, Vermögen), sowie das Ausmaß, mit dem die öffentliche Hand Sanierungsprojekte fördert. In der Regel geht es bei den Lebenszyklus-Ansätzen um das Wachstum von Quartieren. Die Phasen des „Downgrading“ und „Thinning Out“ sind implizit Übergangsphasen auf dem Weg zu einer Erneuerung und abermaligem Wachstum. Es gab aber auch Studien, die sich mit Schrumpfungsprozessen auseinandersetzten, wie etwa die Arbeit von Morgan zu Leerständen in Quartieren und deren spezifischen Folgen für die Wohnzufriedenheit der zurückbleibenden Bevölkerung (Morgan 1980). Ein auf Hoover & Vernon sowie auf einer sechsstufigen Erweiterung von David Birch (Birch 1971)59 aufbauendes Modell geht auf John Ottensmann zurück (Ottensmann 1975) und soll hier nicht unerwähnt bleiben. Ottensmann klassifizierte die Phasen des Wohngebietswandels durch ein Set konkreter Indikatoren, wie z.B. das Neubauvolumen, die Bebauungsdichte oder den Bestand an Einfamilienhäusern. In einer groß angelegten empirischen Studie gelang es ihm, fünf typische Phasen zu identifizieren, die im Wesentlichen die anschaulichen, deskriptiven Modellvorstellungen von Hoover & Vernon empirisch bestätigten (Ottensmann 1975: 139ff.). Adaption: Modell der Quartiersnutzungszyklen Im Rahmen des BMBF-REFINA-Programms60 wurde als Teilprojekt von Bizer et al. ein sog. „Nachfrageorientiertes Nutzungszyklusmanagement“ als „neues 59 Birch kommt im Rahmen einer Faktorenanalyse am Beispiel New Haven zu dem Schluss, dass die Stufen von Hoover & Vernon eine gute Abgrenzung darstellen. Er modifiziert diesen Ansatz und kommt zu folgenden Stufen, die hier nur benannt werden sollen: 1) rural 2) first wave of development 3) fully developed, high-quality residential 4) packing 5) thinning 6) recapture (Birch 1971: 80f.). 60 Der Förderschwerpunkt „Forschung für die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme und ein nachhaltiges Flächenmanagement (REFINA)“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurde als Baustein der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ins Leben gerufen. Zentrales Anliegen ist der effiziente Umgang mit Grund und Boden durch eine Reduktion der Flä-
82
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Instrument für die Flächen sparende und kosteneffiziente Entwicklung von Wohnquartieren“ bearbeitet (Bizer et al. 2009, www.refina-info.de). Ziel und Ergebnis dieses anwendungsorientierten Projekts, in dem 1950er- bis 1970erJahre Geschosswohnungsbauten in zwei Quartieren in Kiel und Göttingen empirisch untersucht wurden, ist ein Konzept für ein Nutzungszyklusmanagement von Wohnquartieren, das u.a. Vorschläge für ein effizientes Quartiersmonitoring beinhaltet (vgl. auch Jacob & Knieling 2008, 2009). Bizer et al. (Bizer et al. 2009) haben in ihrem Forschungsverbund darüber hinaus ein theoretisches Nutzungszyklusmodell entwickelt, welches hier von Interesse ist. Darin werden Wohnquartiere ganz in der Tradition der Chicagoer Schule und insbesondere des Modells von Hoover & Vernon als dynamische Systeme betrachtet, die zyklischen Nutzungs- und Investitionsphasen unterworfen sind. Als besonders anfällig für die Zyklizität werden homogene Quartiere erachtet, die etwa zum gleichen Zeitpunkt errichtet wurden und – an den gewählten Fallbeispielen in Kiel und Göttingen gut ablesbar – einen hohen Erstbezieheranteil aufweisen. Analog zu Hoover & Vernon werden vier Nutzungsphasen abgegrenzt (Bizer et al. 2009): a. b. c. d.
Entwicklung Wachstum und Erweiterung Alterung und Stagnation Abnutzung un Ausdünnung
In der Entwicklungsphase kommt es zum Bau und Erstbezug des Quartiers, meist durch jüngere (Familien-)Haushalte. Phase 2 ist geprägt durch natürliches Bevölkerungswachstum und Ausbau der Infrastrukturen. Die Alterungs- und Stagnationsphase kennzeichnen einen zunehmenden baulichen Modernisierungsrückstand, während dessen es zu vereinzelten Wegzügen besser verdienender Haushalte und zu einem schleichenden Abbau der Nahversorgungskapazitäten kommt. In der letzten Phase beginnt eine Abwärtsspirale: Bauliche Defizite nehmen allmählich überhand, die Zahl der alternden „Empty Nest“-Haushalte nimmt zu, prekäre Haushalte ziehen als neue Mieter in die preiswerten Wohnungen ein und Infrastrukturen verschlechtern sich weiter. Intensität und Tempo solcher Zyklen hängt, so die Autoren, vom Baualter, der initialen Bewohnerstruktur, der stadträumlichen Lage und der Entwicklung der Gesamtstadt ab. Ziel des Nutzungszyklusmanagement (NZM) ist es, die Phase der „Abnutzung und Ausdünnung“ zu verhindern, indem relevante lokale Akteure mit verchenbeanspruchung u.a. durch Flächenmanagement „mit der Vision eines Flächenkreislaufs durch Flächenrecycling“ (www.refina-info.de).
Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen
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schiedenen Instrumentarien und einem modellhaften Ablauf zu einem kooperativen Handelns motiviert werden. Der sich am Ende des Modellzyklus anschließende Wiederverwertungs- oder Desinvestitionsprozess, der im Rahmen demographisch prekärer Gesamtsituationen in manchen Quartieren schon eingetreten ist (gekennzeichnet durch Abriss, Verkauf, erneute Modernisierung o.ä.), wird nicht näher spezifiziert. 3.1.2 Housing Demography – Quartiere als Orte von Bevölkerungsbewegungen Im Modell von Hoover & Vernon kommen zwar demographische Faktoren als Sekundäreinflüsse vor, die demographische Perspektive kann aber kaum als eigenes Forschungsparadigma gelten. Dennoch verdient der demographische Fokus aus zwei Gründen eine besondere Beachtung: Erstens eröffnen demographische Analysen detaillierte Einblicke in raum-zeitliche Dynamiken, die besonders auf der Quartiersebene eminent wichtig sind (z.B. Wohnpräferenzen und mobilität im Verlauf des Lebenszyklus, Kohorteneffekte durch natürliche Bevölkerungsentwicklung etc.). Zweitens nimmt der Problemdruck während der Phase des zweiten demographischen Übergangs in vielen gesellschaftlichen Subsystemen stetig zu - demographisches Wissen wird so zu einer Schlüsselinformation. Seit den 1990er Jahren erlebt die Demographie eine Blüte in wissenschaftlichen Projekten – dies jedoch selten auf der Quartiersebene (vgl. Schnur 2006). 3.1.2.1 „Hypothek des Todes“ – Modell der Bevölkerungswellen nach Peisert Im deutschsprachigen Bereich gab es schon früher einige demographisch orientierte Studien zur Quartiersentwicklung, insbesondere auf dem in den 1960er und 1970er Jahren populären Spezialgebiet neu gebauter Großsiedlungen und Neuer Städte (New Towns, vgl. Jost 1962). In seiner klassischen Studie zur Sozialgeographie neuer Großwohngebiete am Beispiel der 1950er-Jahre-Stadtrandsiedlung Ulm-Eselsberg analysierte z.B. Franz Schaffer detailliert u.a. die demographische Entwicklung von Stadterweiterungen. Schaffer bezog sich im Wesentlichen auf den Familienzyklus und hier auf den damals tatsächlich noch dominanten „modernen individualistischen Familientyp, bestehend aus einem Gattenpaar und den unverheirateten Kindern“ (Schaffer 1968: 64). Er beschrieb die demographische Segregation und eine enorm hohe Fluktuation im Wohngebiet. Anders als die damaligen New-Town-Planungen betrachtete Schaffer die Siedlung aber nicht als geschlossenes System, was zu der Erkenntnis führte, dass sich der Altersaufbau der Stadtrandsiedlung sehr viel
84
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
schneller als im New-Town-Modell an die Altersstruktur der Stadt Ulm anpassen sollte (ebd.: 79). Schaffer griff dabei auf eine Studie von Hansgert Peisert (Peisert 1959) zurück, der modellhaft die Bevölkerungsentwicklung einer „Neuen Stadt“ skizziert und dabei in Anlehnung an die Arbeit des bekannten Regionalökonomen August Lösch (Lösch 1936) eine „Bevölkerungswelle“ beschrieben hatte (vgl. Abbildung 12). Abbildung 12: Theoretische Entwicklung der Geburtenziffer bei 8-jähriger Dauer des ersten Geburtenhochs in einer New Town (Bevölkerungswelle)
Quelle: Peisert 1959, Anhang
Die New Towns weisen eine Anomalie im Altersaufbau auf, die, so Peisert, grob vereinfacht durch eine Halbierung des Anteils der über 45Jährigen und eine Verdoppelung der mittleren (25 bis 40 Jahre) und jüngeren Kohorten (0 bis 10 Jahre) gekennzeichnet ist (Peisert 1959: 2), woraus nach wenigen Jahren der Erstbesiedlung in den New Towns extrem hohe Geburtenziffern resultierten. Die Bevölkerungswelle nähert sich aber mit der Zeit einem stabilen Geburtenniveau an. Peisert beschrieb, dass sich diese Wellen nach ca. 60 Jahren (nach zweieinhalb Wellenbewegungen bzw. drei Geburtenhochs und zwei Geburtentiefs, vgl. Peisert 1959: 10) auszugleichen beginnen und eine „‚demographische Metamorphose’ der ‚Neusiedlung’ zur ‚Altsiedlung’“ stattfindet (Schaffer 1968: 68). Als Konsequenz des einseitig jungen Altersaufbaus droht am Ende auch eine Phase
Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen
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der kohortenspezifischen Alterung, die Peisert etwas martialisch die „Hypothek des Todes“ nannte (Peisert 1959: 16f.). Schaffer plädierte deshalb schon früh zum einen für eine „intelligente“ Belegungspolitik und -planung, die soziale und demographische Monostrukturen zu vermeiden sucht. Zum anderen machte er deutlich, dass flexible Wohnformen, diversifizierte Wohnungstypen und -größen sowie ein „offenes Restbauprogramm“ notwendig sind, d. h. Bauflächen, mit denen flexibel die sich anbahnenden Bedarfsänderungen gedeckt werden können (Schaffer 1968: 79ff.).61 Damit hat diese Studie bis in die heutige Zeit wenig an Aktualität verloren. 3.1.2.2 Housing Demography Reloaded: Das Vierfelder-Quartiersmodell nach Moore & Gober Beim Thema Demographie taten sich offenbar auch in der umfangreichen amerikanischen Neighborhood-Literatur Lücken auf. So wunderte sich die amerikanische Geographin Patricia Gober noch 1986, dass im demographischen Kontext zwar alles Mögliche erforscht war, aber ein großes Forschungsdefizit auf der Quartiersebene bestehe: „Although household and family demographers have unraveled many of the causes and consequences of household change at national and regional scales, relatively little is known about how household change operates at the small scale of urban neighborhoods“ (Gober 1986: 536). Zwar erlebte die demographische Forschung auf der Makro- und auch auf der Mikro(Individual-)ebene inzwischen einen Boom, aber an der mangelnden Auseinandersetzung mit den Auswirkungen auf der Quartiersebene habe sich bis heute nur wenig geändert. Eine der Hauptfragen in Gobers Forschung ist, inwieweit der Haushaltswandel vor allem durch Bevölkerungsaustausch „in die Quartiere“ kommt bzw. inwieweit er eine Funktion des Haushaltswandels in situ sein könnte. Um die Interdependenzen zwischen Mobilitätsverhalten und demographischen Charakteristiken eines Quartiers aufzuzeigen, verwendet und modifiziert sie ein Vierfelder-Wohnquartiers-Modell von Moore, welches Mobilität und in-situHaushaltswandel miteinander in Beziehung setzt (Moore 1972, vgl. Abbildung 13). In einer darauf aufbauenden Untersuchung in Phoenix (auf Census-TractEbene) kommt Gober zu dem Ergebnis, dass ein hoher Grad an Diversität beim Wandel der Haushaltsstrukturen festzustellen sei und der in-situ-Wandel von Wohnquartieren überdacht werden müsse, denn das „Aging in Place“ nach dem individuellen Lebenslauf allein sei ebenfalls nicht als Erklärung für den Haus61
Zum Thema der New Towns vgl. auch European New Towns Platform (ed.) 2002
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
haltswandel geeignet. So gebe es einen beachtlichen Anteil an „Unstable Stayers“, die – in der Regel als „neue Haushaltstypen“ – alle Brüche (post-) moderner Haushalte durchlaufen, aber dennoch persistent bleiben: „In sum, the urban demographic landscape is in continual flux, is highly variable with respect to the components of change, and is, in general, poorly represented by simple evolutionary models of neighborhood change and mobility“ (Gober 1991: 86f., vgl. auch Gober 1990). Abbildung 13: Haushaltswandel und Fluktuation – Vierfelder-Quartiersmodell nach Moore & Gober Fluktuation/Mobilität niedrig
hoch
gering
Typ 4
Typ 2
stark
Typ 3
Typ1
Haushaltswandel
Quelle: Gober 1986: 540, verändert Typ 1-Quartieren mit hoher Fluktuation und starkem Wandel der Haushaltsstrukturen kann man im Extremfall eine Gettoisierungstendenz (oder auch eine starke Aufwertung) unterstellen. Typ 2Quartiere sind ebenfalls von starker Fluktuation betroffen, bleiben jedoch haushaltsstrukturell relativ stabil – als Beispiel werden hierfür Gebiete mit relativ unflexiblem Wohnungsbestand angeführt, in denen hochmobile Bevölkerungsgruppen wie Singles oder junge kinderlose Paare wohnen. Typ 3Gebiete wiederum zeichnen sich durch eine geringe Fluktuation und einen starken Wandel der Haushaltsstrukturen aus. Ein klassisches Beispiel für ein solches Quartier wäre ein Einfamilienhausgebiet mit Familien, die in die empty-nest-Phase eintreten. Als ein Beispiel für die am wenigsten dynamischen Typ 4-Quartiere nennt Moore gefestigte und sozial stark vernetzte ethnische Nachbarschaften (Gober 1986: 540).
Im Jahre 1990 erschien ein Sammelband unter dem programmatischen Titel „Housing Demography“ (Myers 1990a), der die Verknüpfung von Wohnforschung und Demographie als Forschungsprogramm aufgreift und insbesondere im Quartierskontext von Interesse ist: „The concept integrates household compositional processes, mobility between housing units, location in urban subareas, and housing market characteristics. This integration is conceived within a longitudinal framework of population change, individual life course behavior, housing consumption adjustments via mobility processes,
Strukturmodelle: Quartier und demographische Strukturveränderungen
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housing market changes, and changes within neighborhoods or other spatial subareas“ (Myers 1990b: 13).
Dowell Myers, amerikanischer Stadtplaner und Demograph, stellt fest, dass die Kombination von Wohnforschung und Demographie nach wie vor experimentellen Charakter habe und auf keine klare Theoriebildung zurückgreifen könne (Myers 1990b: 11). Er macht deutlich, dass der geographische Betrachtungsmaßstab entscheidend ist. Auf der Makroebene (z.B. national oder regional) könne man aus Bevölkerungsdaten einen Bedarf an bestimmten Wohnungstypen herleiten. Auf der Quartiersebene jedoch sei es der Bestand an verschiedenen Wohnungstypen, der die Nachfrage und den Zuzug bestimmter Bevölkerungsgruppen z.T. selbst generiere (Myers 1990b: 12). So werde auf der lokalen Ebene der Typ und die Qualität der Wohneinheit zur entscheidenden Variablen (hinzuzufügen wäre: die städtebauliche Qualität des Quartiers). Dadurch dass gebaute Wohneinheiten in der Regel immobil seien, komme auch den räumlich-qualitativen Verteilungsmustern von Wohnungen eine besondere Bedeutung zu (Myers 1990b: 13).62 Myers bemängelt „[...] the demography profession's general lack of concern for small-area demography, urban demography, and intraurban variation“ (Myers 1990b:18). Er äußert weiterhin die Vermutung, dass aufgrund der Komplexität des Themas kaum adäquate Studien auf der Wohnquartiersebene existierten. Die ambitionierte Konzeption der „Housing Demography“ hat bislang nur zu wenigen praktischen Arbeiten geführt und bleibt damit letztlich nicht mehr als ein Ansatz ohne ausgebautes Fundament. Im Rahmen der Quartiersforschung eröffnen sich damit jedoch gerade vor dem Hintergrund demographischer Strukturbrüche ganz besondere Potenziale (und Herausforderungen). Gerade qualitative Untersuchungen über familiäre Situationen und Umzugsmotive im Quartierskontext könnten in diesem Bereich neue Erkenntnisse erbringen. Die älteren Vorstellungen der New-Town-(Begleit-)Forschung, die in Zeiten eines starken Wohlfahrtsstaats, einer florierenden fordistischen Ökonomie und eines (bis zum Äußersten) gestaltungswilligen Planungsparadigmas entwickelt wurden, hatten für lange Zeit ihre Attraktivität eingebüßt (nicht zuletzt aufgrund des sozialen Wandels und der Veränderung der Haushaltsformen). Unter den heute völlig veränderten Rahmenbedingungen sind sie jedoch wieder hochaktuell. In einer Phase demographischer Alterung stellen sich die Fragen der Quartiersentwicklung aus bevölkerungsgeographischer Perspektive neu (vgl. Schnur 2006): Welche Auswirkungen wird eine homogene Altersstruktur in welchen 62
Darin kommt bei Myers eine gewisse statische Vorstellung von Wohnungsmärkten zum Tragen, denn die Qualität von Wohnungen kann im zeitlichen Verlauf stark variieren.
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Zeitfenstern auf ein Quartier haben? Wie kann man die demographische Struktur eines Quartiers stabilisieren (etwa durch Belegungspolitik)? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen städtebaulich-architektonischen und demographischen Strukturen in verschiedenen Quartierstypen? 3.2 Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier Nachdem bislang strukturbezogene Theorieansätze diskutiert wurden, soll es nun um die handelnden „Akteure“ gehen. Die „Quartiersakteure“ stellen eine ungemein heterogene Gruppe dar: Innerhalb der „Wohnungswirtschaft“ reicht die Palette von Selbstnutzern, Einzeleigentümern ohne strategisches Verwertungsinteresse über Genossenschaften, kommunale Wohnungsunternehmen bis hin zu internationalen Investmentfonds, Projektentwicklern, Maklern etc. Auch im „kommunalen Bereich“ ist die Akteursvielfalt groß: Zunächst erscheint die analytische Trennung von Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung wichtig, auch die Einbettung lokaler Verwaltungen in eine Verwaltungshierarchie mit gegenseitigen Abhängigkeiten. Aber auch „zivilgesellschaftliche“ und intermediäre Akteure wie etwa engagierte Einzelpersonen, Bürgerinitiativen, Quartiersmanagement-Büros oder etwa Träger sozialer Infrastrukturen tummeln sich in der kommunalen Einflusssphäre. Eine gewisse Vereinfachung wird im Rahmen dieser Arbeit trotzdem nicht zu vermeiden sein. Um sich dem Thema systematisch anzunähern, sollen zunächst handlungstheoretische Ansätze und Modelle im Quartierskontext näher betrachtet werden: Wer agiert wie, wo, warum und mit welchem Ziel? Dies ist ein in vielerlei Hinsicht nur punktuell bearbeitetes, zumindest aber ausgesprochen unübersichtliches Terrain. Hier sollen in aller Kürze die Ansätze von Friedrich (2004) sowie einige organisations- bzw. entscheidungstheoretische Konzepte vorgestellt werden, bevor konkret und abseits jener Theorien die Handlungsmöglichkeiten in der Wohnungswirtschaft und im kommunalen Bereich angesichts im demographischen Wandel stagnierender oder schrumpfender Wohnungsmärkte auszuloten sind. In einem zweiten Teil kommen die Konzepte der urbanen Regime und des Sozialkapitals als wichtige Ergänzungen zur Sprache. 3.2.1 Akteure am Wohnungsmarkt – Typologien und Handlungslogiken André Odermatt nutzt in seiner Analyse der Eigentümerstrukturen des Schweizer Wohnungsmarktes Benno Werlens Handlungstheorie und identifiziert typische
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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Handlungslogiken von Wohnungseigentümern. Erwähnenswert ist auch die wiederum darauf aufbauende Arbeit von Sabine Friedrich über Zürich (2004).63 Wenngleich hier der Raum fehlt, um diese systematischen Studien ausreichend zu würdigen, und der Anwendungsbezug von Werlens Theorie zunächst auch recht gering erscheinen mag, verspricht das Konzept im Kontext der vorliegenden Studie einen analytisch-systematischen Erkenntnisgewinn und eine Sensibilisierung für die soziale Produktion von Räumen durch wohnungswirtschaftliche Akteure (Odermatt 1997, Werlen 1987). Charakteristisch für die in den genannten Arbeiten rezipierte handlungszentrierte Geographie Werlens ist zum einen die Intentionalität des Handelns. Zum anderen wird das Setting der Akteure als eine Sammlung von Situationselementen betrachtet, von denen manche als handlungsverstärkende Instrumente wahrgenommen und genutzt, andere dagegen – insbesondere wenn keine Zugriffsmöglichkeit besteht – als „Constraints“ angesehen werden können. Wird z.B. in einem Quartier der räumliche Zusammenhang etwa durch Neubau, Umbau oder Abriss verändert, ändert sich auch das Setting aller Akteure. Werlen untergliedert die Handlung in vier prozessuale Schritte, die aus einer bestehenden Situation eine neue Ausgangssituation für die nächste Handlung machen: den Handlungsentwurf, die Situationsdefinition, die Handlungsrealisierung und das Handlungsresultat mit intendierten und nichtintendierten Konsequenzen (Werlen 1987: 14ff.). Für den Wohnungsmarkt bedeutet dies, dass Bestandsveränderungen als Resultat sozioökonomischer und hier insbesondere „pseudoobjektiver“ zweckrationaler Handlungen (etwa auf der Basis immobilienwirtschaftlicher Grundregeln) darstellbar sind. Weil bei Eigentümern von Wohnimmobilien je nach situativem Setting und individuellen Zielsystemen typische Handlungslogiken in Erscheinung treten, kann daraus auch eine gewisse prognostische Komponente abgeleitet werden – wenn auch Individualhandlungen grundsätzlich nicht vorherbestimmbar sind (Friedrich 2004: 53). Friedrich zieht in ihrer Fallstudie in Züricher Wohnquartieren Entscheidungsfindungsmodelle zu Rate, die auch im Kontext der vorliegenden Studie interessant erscheinen (2004: 54ff). Neben rationalem und begrenzt-rationalem Wahlhandeln führt sie das Politik-Modell der Entscheidung an (häufig basierend auf Machtkämpfen), das Konflikt-Modell (basierend auf einem als stimulierend angesehenen mittleren Stressniveau), das Modell des Inkrementalismus oder „Muddling Through“, das auch in der Planungstheorie immer wieder aufgegriffen wird (vgl. Hutter 2006), sowie das sog. „Mülleimer-Modell“ oder „Modell der organisierten Anarchie“, dem es an jeglicher strukturierter Entscheidungsfindung mangelt und somit die situativ vorhandene Energie, die zur Problemlösung 63
Erläuterungen und kritische Würdigungen des Konzepts von Werlen finden sich z.B. in Oßenbrügge 1997, Blotevogel 1999 oder zusammenfassend in Weichhart 2008.
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bereitsteht, ausschlaggebend ist. Nach welchem Modell Eigentümer gewöhnlich verfahren, hängt auch von der Organisationsstruktur ab, in die sie eingebettet sind (Friedrich 2004: 55f., vgl. Preisendörfer 2005), also etwa gemeinnützige oder genossenschaftlich strukturierte Unternehmen (oft basisdemokratisch organisiert), klein- und mittelständische Unternehmen (oftmals „feudal“ verwalteter „Familienbesitz“) und professionelle institutionelle Unternehmen (mit einem straffen, renditeorientierten Managementansatz). Tabelle 11:
Typen von Wohneigentümern und sonstigen Wohnungsmarktakteuren
Wohneigentümer nach der Zwecksetzung
Wohneigentümer nach persönlichen Merkmalen
Bereitstellung preiswerten Wohnraums Mittel- oder langfristige Gewinnorientierung Persönliche Motive (z.B. Alterabsicherung)
oder:
Alter Berufsabschluss Einkommen
und/oder:
selbstnutzend nicht selbstnutzend
Sonstige Akteure nach der Stellung auf dem Wohnungsmarkt Promotoren: Baubranche, Architekten etc. Vermittler: Zwischenhändler, Verwaltungen Endinvestoren: langfristige Kapitalanleger (mit unterschiedlichen Handlungszielen verbunden)
Eigennutzer Kleininvestoren zur Altersvorsorge Versicherungen und Versorgungswerke Offene Immobilienfonds Zweckgebundene Investoren (z.B. Kommunen) Developer (kurzfristige Ausrichtung) Quelle: Friedrich 2004: 65ff. (verändert)
Friedrich schlägt je nach Handlungslogik verschiedene Eigentümertypisierungen vor, die in Tabelle 11 näher erläutert werden. Die Typologien werden in der Regel kombiniert, um der Realität möglichst nahe zu kommen. In ihrer Analyse der Einflussfaktoren auf die Handlungsentscheidungen stellt Friedrich für die Quartiersebene folgende Hypothesen auf (2004: 71f.):
„Mieterschutzregelungen wirken sich investitionshemmend auf das Erneuerungsverhalten der Eigentümer aus. Bauordnungsrecht und Vergaberegularien: Je höher die technischen, organisatorischen und qualifikatorischen Anforderungen an Antragstellung, etc.
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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sind, desto hemmender wirken sie sich auf die Erneuerungsaktivitäten der Eigentümer aus. Nachverdichtungsmöglichkeiten (bereits bebauter Flächen) in den Bau- und Zonenplänen begünstigen den Umbauprozess. Insbesondere die Anzahl an Abbrüchen und Ersatzneubauten steigt mit einer höheren baulichen Dichte. Wohnungspolitische Entscheidungen, wie die Vergabe von Fördermitteln für Erneuerungsmaßnahmen, haben keinen merklichen Einfluss auf das Erneuerungsverhalten der Eigentümer. […] Bei den auf Rendite ausgerichteten Eigentümertypen begünstigen höhere Mieten und eine steigende Nachfrage die Erneuerungstätigkeit. Bei steigender Leerstandsrate sinken die Investitionen in die Erneuerung.“
Darüber hinaus formuliert sie gebäude- bzw. bestandsspezifische Hypothesen, mit denen quasi Werlens „Setting“ qualifiziert und anhand zweier Fallbeispiele in Zürich überprüft werden kann. Subjektbezogene handlungstheoretische Ansätze argumentieren jedoch meist aus der Individualperspektive und vernachlässigen dabei soziale Komponenten. Gerade im Bereich der Bestandsentwicklung im Quartiersrahmen führen „einsame Entscheidungen“ oft nicht zum intendierten Ziel. Wie noch zu zeigen sein wird, funktioniert Quartiersentwicklung viel stärker als Gruppen- und Aushandlungsprozess, als manche Theorieansätze suggerieren (vgl. Kapitel 3.2.2). Die Handlungsmöglichkeiten in schrumpfenden Marktkontexten sind darüber hinaus deutlich beschränkter als in prosperierenden Regionen. Darum werden im Folgenden für den wohnungswirtschaftlichen und kommunalen Bereich spezifische Handlungsvarianten aufgezeigt.
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
3.2.1.1 Wohnungswirtschaftliche Handlungsoptionen: „Endspiel schrumpfender Markt“ Vor etwa drei Jahren hörte ich einen irischen Wissenschaftler, der über die demographische Entwicklung der Weltbevölkerung sprach. Er verglich die Menschheit mit einem Menschen, der auf einem kleinen Hügel steht und von noch weiter Ferne eine Tsunami-Welle auf sich zukommen sieht. Die Welle war das Symbol für die demographische Entwicklung […]. In meiner Tätigkeit [als zertifizierter Demographieberater] habe ich festgestellt, dass die meisten Unternehmen mit dem Rücken zum Meer stehen und die TsunamiWelle gar nicht wahrnehmen (wollen?). Das wird spannend. Wolfgang Tast, XING-Gruppe Demographie, 24.3.2009
Nicht in allen Quartierstypen agieren mehrheitlich wohnungswirtschaftliche Akteure im engeren Sinne. Von den folgenden Ausführungen sind private Kleineigentümer ohne ausgeprägte Gewinnabsicht sowie selbstnutzende Wohneigentümer ausgenommen – wohl wissend, dass diese einen großen Teil des Wohnungsmarktgeschehens ausmachen.64 Erst wenn diese sich ggf. zu größeren Einheiten zusammenschließen (etwa, je nach Quartierstyp, im Sinne von Eigentümer-Standortgemeinschaften o.ä.), werden auch hier wohnungswirtschaftliche Aspekte im engeren Sinne ins Spiel kommen. Die meisten der folgenden Ausführungen können im Wesentlichen für größere, renditeorientierte Wohnungsunternehmen gelten. Eines ist jedoch klar: Immobilienwirtschaftliches Handeln ist erforderlich, wenn Demographie nicht zum Renditekiller werden soll (vgl. Just 2003). Um grundsätzliche immobilienökonomische Handlungslogiken anschaulicher zu machen, eignet sich die so genannte „BCG-Matrix“ (auch „Boston IPortfolio“ oder einfach Portfolio-Analyse), die von der Boston Consulting Group entwickelt wurde und auf dem Produktlebenszyklus beruht (siehe Abbildung 14). Dieses im Controlling von Unternehmen häufig eingesetzte Instrument wurde wegen seiner Wachstumsorientierung kritisiert, kann aber für schrumpfende Märkte erweitert werden (siehe ebd.).65
64 In Leipzig-Schleußig etwa beträgt der Anteil privater Kleineigentümer 89 % des Wohnungsbestands, im Altbaubestand der neuen Bundesländer mehr als vier Fünftel (BMVBS & BBR 2007a: 59, 153). 65 Die BCG-Matrix lässt sich auf Wohnungsmärkte und Wohnimmobilien übetragen, jedoch ist zu beachten, dass die Märkte oft regional begrenzt, segmentiert und staatlich beeinflusst sind. Außerdem ist das Gut Wohnung wesentlich komplexer als andere Produkte (z.B. Handy oder Auto). Ein Portfoliomanagement gilt als gemeinhin gelungen, wenn es ausgewogen ist und Querfinanzierungen zwischen den Sektoren zulässt, also z.B. „Fragezeichen“ durch „Stars“ abgesichert werden können.
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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-10
0
Marktwachstum
+10
Abbildung 14: BCG-Matrix für wachsende und schrumpfende Märkte
0
Fragezeichen
Stars
Dogs
Cash Cows
Underdogs (Unterlegene)
Buckets (Verlierer)
relativer Marktanteil*
10
* = eigener Marktanteil / Marktanteil des stärksten Konkurrenten
Quelle: Eigene Darstellung, vgl. Schawel & Billing 2009 sowie ergänzend www.de.wikipedia.org
Unter „Fragezeichen“ sind Produkte zu verstehen, die am Beginn ihres Produktlebenszyklus stehen. Im immobilienökonomischen Fall könnten das z.B. Townhouses, deren Wachstumspotenziale zwar beachtlich, jedoch aufgrund des (noch) geringen Marktanteils und einer geringen Standardisierung mit „Fragezeichen behaftet“ sind. Im Controlling-Bereich werden hier „selektive“ Strategien empfohlen, d.h. nach eingehender Prüfung sollten nur besonders aussichtsreiche Nachwuchsprodukte ausgewählt und am Markt platziert werden. Die „Stars“ zeichnen sich durch starkes Wachstum und einen großen Marktanteil aus – hier sind Umsatz- und Renditeerwartungen maximal. Zwar ist mit diese Einstufung im Portfolio ein hoher Kapitaleinsatz im Rahmen einer Investitionsstrategie verbunden, was aber angesichts des stetig hohen Cash Flows unproblematisch ist (z.B. Loftwohnungen in innerstädtischen Toplagen oder Altbaumodernisierung und –vermietung in bekannten Szenevierteln). „Cash Cows“ dagegen wachsen nur noch wenig – dies jedoch bei hohem Cash Flow, wie z.B. bei Wohnungen in Nachkriegsquartieren, solange sie noch mit einer Seniorenmittelschicht voll belegt sind. Für diesen Portfoliosektor empfiehlt die BCG allgemein eine Abschöpfungsstrategie. So genannte „Poor Dogs“ stellen das Ende des Produktle-
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
benszyklus dar. Bei geringem Wachstum und niedrigem Cash Flow ist aus unternehmerischer Sicht eine Desinvestitionsbzw. Exit-Strategie (Portfoliobereinigung) angebracht (vgl. Abbildung 15). Im Original der BCGMatrix gibt es dementsprechend nur geringes bis großes Wachstum, aber keine Schrumpfung. Für schrumpfende Märkte wurden die Kategorien „Underdogs“ (Unterlegene) sowie „Buckets“ (Verlierer) eingeführt, die bei „Minuswachstum“ jeweils einen niedrigen (z.B. nicht modernisierte Altbauten in Quartieren mit schlechtem Image) bzw. hohen Marktanteil (z.B. manche Plattenbauquartiere Ostdeutschlands) aufweisen. Abbildung 15: Vertriebsstrategien von Wohnungsunternehmen in Essen (Katernberg) und Berlin (Märkisches Viertel)
Foto: Olaf Schnur (2007)
Aus der BCG-Betrachtung wird deutlich, dass Unternehmen (je nach Größe) zwischen verschieden gut bewerteten Beständen in unterschiedlichen Quartieren abwägen (vgl. auch Kern 2001). Die Entscheidung für oder gegen die Bestände in einem speziellen Quartier wird also niemals isoliert und nie ohne die Berücksichtigung der anderen Bestände des Unternehmens (ggf. auch im globalen Maßstab) getroffen. Dass die BCG-Matrix trotzdem nur einen begrenzten Modellcharakter hat, zeigt die Situation in schrumpfenden Märkten. Verluste in schrumpfenden Märkten können zwar „bei frühzeitiger Planung vermieden oder zumindest in Grenzen gehalten werden“ (Spieker 2005: 121). Allerdings verhalten sich viele Unternehmen schlicht irrational: Sie wollen sich nicht selbst eingestehen, dass die Zeiten ungebremster Nachfrage vorbei sind und hoffen darauf, dass diese Situa-
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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tion früher oder später zurückkommen wird. Deshalb wird ein intensiviertes taktisches „Weiter so“ propagiert, das am Ende aufgrund explodierender Kosten zum Scheitern führt (Spieker 2005: 121). „Um siegreich zu sein, bedarf es daher frühzeitig einer sorgfältigen Analyse der Branchensituation. Die Fähigkeit, ein günstiges von einem ungünstigen Endspielumfeld zu unterscheiden, kann einem Unternehmen jahrelang fruchtlose Bemühungen mit geringen Gewinnen oder gar Verlusten ersparen“ (ebd.: 121).
Die Frage lautet also „Stay or Exit“, den Markt (die Bestände in Quartier X) weiter bearbeiten oder aus dem Markt austreten (also entweder die kurzfristige Liquidation oder die mittelfristige Abschöpfung bzw. Desinvestition in den Beständen im Quartier X)? Liquidation bedeutet in der Regel, dass entweder die Bestände einzeln oder blockweise an Privatpersonen, Zwischenerwerber, strategische Investoren etc. oder das Unternehmen oder Unternehmensteile z.B. an Finanzinvestoren veräußert werden. Die Bedeutung von Exit-Strategien in der Wohnungswirtschaft ist jedoch begrenzt, da es hier anders als in anderen Produktmärkten vor allem für größere Bestandshalter sehr hohe Marktaustrittsbarrieren insbesondere gesellschaftlich-politischer und sozialer Art gibt (Spieker 2005: 123ff., 126f.). Abschöpfung bedeutet theoretisch radikale Kostenreduktion und parallele Preiserhöhung mit dem Ziel eines anschießenden Marktaustritts – eine Strategie, die auf Wohnungsmärkten anders als auf Gütermärkten so kaum funktioniert (Spieker 2005: 132ff.). Bisweilen kommt es zu gelegentlichen Umnutzungen von Wohnungen als Gewerberäume (z. B. für soziale Unternehmen) oder aber für soziale Einrichtungen o.ä.: „Besonders für kommunale Wohnungsunternehmen sind sie eine gute Möglichkeit, in Kombination mit Stadtumbaukonzepten ihrem öffentlichen bzw. selbstauferlegten gemeinnützigen Auftrag besser gerecht zu werden“ (Spieker 2005: 135). Die letzte und ebenfalls eher unrealistische Option des Marktaustritts stellt schließlich der Abbruch des gesamten Wohnungsbestands dar. Mit der Beseitigung des Wohnungsbestandes sind verschiedene schwer zu prognostizierende Markteffekte verbunden. Außerdem entfallen zwar direkte Kosten, jedoch ist der Abriss sowie die Umlegung von Verwaltungskosten auf dann weniger Wohneinheiten auch mit Mehrausgaben verbunden (Spieker 2005: 136ff.). Im Rahmen dieser Studie argumentiere ich vor allem mit der Stay-Option, d.h. mit Marktbehauptungsstrategien oder auch mit diffusen Handlungslogiken, die ein klares „Stay“ oder „Exit“ auf die lange Bank schieben. Die Marktbehauptung kann über eine Marktbeherrschungs- oder eine Nischenstrategie gewährleistet werden. Darüber hinaus sind noch Kooperationsstrategien und „Abwarten“ denkbar (Spieker 2005: 143ff.).
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Mit der Marktbehauptungsstrategie wird zumindest lokal begrenzt eine „Marktführerschaft“ bzw. – abhängig von der Stadtgröße – eine gestärkte Wettbewerbsposition angestrebt, d.h. die Bestandsmieter sollen gebunden und trotz der Marktlage neue akquiriert werden. Weil Leerstände oft in den schlechtesten Beständen zuerst auftreten, muss ein Wohnungsunternehmen versuchen, diesem Marktsegment zu entgehen, d.h. es wird versuchen, seine Wohnungen qualitativ aufzuwerten, z.B. durch Modernisierung der Wohnungen, Aufwertung des Wohnumfelds oder wohnbegleitende Dienstleistungen (Spieker 2005: 144 sowie ausführlich 147ff.). Spieker verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass Informationen über Mieter, Umzugs- und Persistenzmotive und über potenzielle Zielgruppen (u.a. nach Lebensstilen differenziert) in einer solchen Situation besonders wichtig sind (2005: 144ff.): „Für Wohnungsanbieter, die die Marktführung anstreben, bedeutet dies, ein sehr differenziertes Angebot für verschiedene Zielgruppen bereit zu halten“ (Spieker 2005: 145f.). Darüber hinaus gelten klassische Marketingmaßnahmen nach dem 4P-Prinzip (Product, Pricing, Promotion, Placement) in einer solchen Phase gemeinhin als sinnvoll, auch um einen gewissen Zusatzbedarf zu generieren (z.B. junge Menschen zur Haushaltsgründung zu animieren, vgl. Spieker 2005: 147, siehe auch Erpenbach 2006). Neben solchen nachfragebezogenen Maßnahmen sind auch wettbewerbsbezogene Maßnahmen denkbar, indem z.B. Wohnungsbestände von Konkurrenten aufgekauft werden (Spieker 2005: 152f.). Derartige Strategien gelten als riskant, kamen aber Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre häufig vor und wurden öffentlich kontrovers diskutiert („Heuschreckendebatte“, vgl. Hallenberg 2008). Neben der Strategie, Marktführer zu werden, ist auch eine selektive Schrumpfung gängig („Nischenstrategie“, Spieker 2005: 153ff.). Eine der am häufigsten besetzten „Nischen“ ist derzeit das betreute Wohnen für Senioren in verschiedensten Varianten oder auch Wohnen für Studierende (ebd.). Bei starken Schrumpfungstendenzen kommt weiterhin „eine Art ökonomischer ‚Waffenstillstand‘„ in Betracht:66 Der koordinierte Kapazitätsrückbau (Spieker 2005: 157ff.) ist in besonders drastischen Stadtumbau-Situationen durchaus gängig. Die Vernichtung von Kapazitäten ist mit einem Anreizproblem beim betroffenen Eigentümer verbunden, denn die Stilllegung verursacht zunächst Kosten, der positive marktbereinigende Effekt dagegen kommt den Wettbewerbern zugute (Gefangenendilemma, in der Wohnungswirtschaft als „Sperrklinkenproblem“ bekannt; Spieker 2005: 159f., vgl. hierzu auch Bernt 2005). Im StadtumbauProzess kommt erschwerend hinzu, dass die Bestände der betroffene Wohnungs66 Theoretisch könnte – entgegen dem Wettbewerbsrecht – die ungünstige Marktlage auch durch informelle Kartelle entschärft werden, innerhalb derer trotz Leerständen Mindestmieten vereinbart würden (ebd.).
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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unternehmen meist ungleich verteilt und unterschiedlich risikobehaftet sind (beispielhaft: Brandenburg an der Havel, vgl. E_BRB2, E_BRB3, E_BRB5). Gleichzeitig verbinden Wohnungswirtschaft und Stadtplanung mit dem Kapazitätsrückbau in aller Regel unterschiedliche Zielvorstellungen. Die Aushandlung und Festlegung eines Stadtumbaukonzepts oder eines integrierten Handlungskonzepts mit klaren räumlichen Prioritätensetzungen und ggf. Ausgleichsregelungen zwischen Wettbewerbern kann z.B. als koordinierendes Medium wirken, ebenso natürlich die kommunale Bauleitplanung (z.B. über Angaben zur Höchstzahl von Wohnungen pro Gebäude, was einen Rückbau erfordern kann), die aber wiederum mit fiskalischen Risiken verbunden ist. Als beispielhafte Kooperation – ohne kommunale Institutionalisierung – kann z.B. die Restrukturierung des Untersuchungsquartiers Vogelheim in Essen gelten (vgl. E_E8, E_E3, E_E6 sowie Spieker 2005: 163), aber auch das Pilotprojekt HalleSilberhöhe ist – nicht zuletzt durch die Begleitforschung – als „Stadtumbau“und „Soziale-Stadt“-Gebiet bekannt geworden. Eine weitere beliebte, wenngleich nicht risikofreie Strategie heißt: Abwarten und auf Bewegungen der Wettbewerber reagieren, indem man es ihnen gleich tut (Spieker 2005: 171). Eine Marktbeherrschungsstrategie oder ein Marktaustritt kann dann zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, wenn sich die Bedingungen oder der Informationsstand verbessert haben. Welche Strategie nun letztlich vom Unternehmen gewählt wird, hängt von zahlreichen internen67 und externen Faktoren ab (vgl. auch Junker 2007). Wie Tabelle 12 zeigt, sind diejenigen Märkte am attraktivsten, „[…] in denen die Mieter vergleichsweise unflexibel sind, aber dennoch eine hohe Zahlungsbereitschaft und –fähigkeit aufweisen“ (Spieker 2005: 172). Im demographischen Kontext ist diese Marktattraktivität besonders tückisch, da homogen gealterte Rentnerquartiere zunächst meist genau diese Kriterien erfüllen (Beispiel Brandenburg-Nord). Untersuchungen zeigen außerdem, dass Unternehmen, die einen heterogenen Wohnungsbestand bewirtschaften, nicht nur eine geringere Anfälligkeit für Nachfrageverschiebungen, sondern auch einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung hinsichtlich zukünftiger Marktentwicklungen besitzen (Spieker 2005: 177).
67
Siehe hierzu Spieker 2005: 174f.
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Tabelle 12:
Umfeldmerkmale und strategische Handlungsempfehlung
Umfeldmerkmale Nachfrage sinkt langsam, reagiert unelastisch (§ Stagnation) Unflexible oder loyale Mieter (Persistenz)
Nachfrage sinkt schnell, reagiert elastisch (§ Schrumpfung) Flexible, umzugsbereite Mieter (Mobilität)
Existenz dauerhafter Nischen
Keine lukrativen Nischen vorhanden
Schwache Wettbewerber mit niedrigen Austrittsbarrieren
Starke Wettbewerber mit hohen Austrittsbarrieren
Hohe Eintrittsbarrieren für neue Konkurrenten
Niedrige Eintrittsbarrieren locken Spezialisten an
Keine Restriktionen durch rechtliche Bestimmungen oder die öffentliche Meinung
Rechtliche oder Imageprobleme
Investitionsteigerung
Marktaustritt
Quelle: Spieker 2005: 173, eigene Ergänzungen
In der Realität findet man in aller Regel eine Mischung dieser Faktoren vor. Durch einen Abgleich interner und externer Faktoren muss eine Entscheidungsfindung in einem Koordinatensystem herbeigeführt werden, das in Abbildung 16 modellhaft dargestellt ist. Abbildung 16: Strategieoptionen auf schrumpfenden Wohnungsmärkten Stay-Optionen
Marktführer
Verkauf Abwarten…
Unternehmens-/Objektstärken
Exit-Optionen
Abbruch
Nische Teilverkauf Koordinierter Rückbau
Attraktivität des Teilmarktes Quelle: Spieker 2005: 177; eigene, veränderte Darstellung
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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Spieker betont, dass eine frühzeitige Entscheidungsfindung der wesentliche Faktor für den Unternehmenserfolg in schrumpfenden Märkten ist. Dazu sind frühzeitige Nachfrageprognosen, eine Analyse der Angebotsentwicklung und „Eventualpläne für den sofortigen Ausstieg“ erforderlich (Spieker 2005: 177).68 Sicherlich wäre die Reduktion der wohnungswirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten auf „Stay“ oder „Exit“ verkürzt. So stellt Glatter mögliche Strategien der Wohnungswirtschaft in Mietermärkten hinsichtlich verschiedener Handlungsfelder zusammenfassend dar (Glatter 2003: 171): a. b. c. d. e.
Problembewertung und –kommunikation: Ignorieren, Leugnen, Annehmen, Ansprechen, Fordern, Abwarten, Verbergen, Handeln Marktanalysen: Bestandsanalysen, Nachfrageanalysen Marketing: Offensive Wege der Werbung, Sonderangebote bei Neuvermietungen, erweiterter Mieterservice Bestandsentwicklung: Halten, Neubau/Kauf, Umnutzung, Stilllegung, Modernisierung, Wohnungszusammenlegung, Wohnumfeldaufwertung, Teilrückbau, Abriss, Verkauf Unternehmensstruktur: Personalabbau, Rückbaugesellschaften, Fusion, Insolvenz
Jedoch muss auch die lokale Akteurskonstellation berücksichtigt werden, die es manchmal erleichtert, bisweilen aber auch erschwert, rationale und zukunftssichere Entscheidungen zu treffen (vgl. Bernt 2005). 3.2.1.2 Kommunale Handlungsoptionen: Steuerung schrumpfender Märkte zwischen Politik und Verwaltung Im Kern sind es die Wohnungseigentümer, die in einem bestimmten Marktumfeld wirtschaftliche Entscheidungen treffen und agieren müssen. Die Kommune betrifft das unmittelbar nur dann, wenn sie selbst als Eigentümer von Wohnungen auftritt, was auch bisweilen der Fall ist. Darüber hinaus hat die Kommune jedoch die Möglichkeit und Pflicht, zum Wohle der gesamtstädtischen Entwicklung Rahmenbedingungen zu setzen und zu verändern – und dies durchaus mit dem antizipierenden Blick in die (auch fernere) Zukunft. Am Beispiel ostdeut68
Spieker verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Potenziale der der SWOT-Analyse (Strengths, Weaknesses, Opportunities, Threats) für die Einschätzung künftiger Handlungsspielräume in einem Quartier (ebd: 178f.). Während die SWOT-Analyse sehr schematisch ist, stellt das komplexere Denken und Planen in Szenarien, wie in der vorliegenden Studie exemplarisch für Quartierstypen durchgeführt, ein probates und viel zu wenig genutztes Mittel für eine effiziente und flexible Entscheidungsfindung dar.
100
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
scher Städte nennen Jurczek und Köppen folgende vorrangigen kommunalen Arbeitsfelder (Jurczek & Köppen 2004: 42, vgl. auch Mäding 2003, Brandstetter 2003):
Kommunale Finanzen Beteiligung am Programm „Stadtumbau Ost“ Öffentlichkeitsarbeit für einen gemeinschaftlich akzeptieren Stadtumbauprozess Qualitative und quantitative Bedarfsveränderungen der technischen und sozialen Infrastruktur (vgl. Just 2004) Nachhaltige Kinder- und Familienförderung Neue Umlage- und Organisationsformen wegen steigender Infrastrukturaufwendungen Qualität und Attraktivität der Stadtviertel sowie von Stadtgestalt und Architektur Leerstand und Wohnungswirtschaft Integrierte Stadtentwicklung unter Einbeziehung aller relevanter Akteure Interkommunale Kooperation, Stadt-Umland-Kooperation
Das Setting für Entscheidungsprozesse ist überaus komplex, denn nicht alle Entscheidungen werden im kommunalen Bereich getroffen, sondern auch in übergeordneten legislativen und exekutiven Strukturen, wie den Ländern, dem Bund oder der EU (etwa im Hinblick auf Familienpolitik oder Verwaltungsmodernisierung, vgl. SGK 2005: 3; 6). Außerdem spielen neben den Fachverwaltungen auch die politischen Ebenen eine entscheidende Rolle. Dies hier in allen Einzelheiten aufzuarbeiten, würde zu weit führen. Dennoch sollen – ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit – einige grundsätzliche Handlungsoptionen von Städten in der Situation einer Wohnungsmarktstagnation oder schrumpfung aufgezeigt werden. Grundsätzlich stellt sich den Kommunen die Frage, ob sie weiterhin auf Wachstum setzen (also eine drohende Schrumpfung in Wachstum umkehren) oder umdenken und einen Schrumpfungsprozess akzeptieren wollen (vgl. Tabelle 13). Diese Entscheidung bedarf in jedem Fall einer intensiven öffentlichen Diskussion und einer planerisch-wissenschaftlichen Entscheidungsfindung. Sind die Perspektiven aber weniger gut, besteht die Möglichkeit, in der Schrumpfung auch positive Entwicklungspotenziale zu entdecken (vgl. Lang & Tenz 2003). Da die Anerkenntnis von Schrumpfung sachlich oft geboten, politisch aber eine unattraktive Botschaft ist, kommt es hier nicht selten zu divergierenden Meinungen zwischen kommunaler Verwaltungs- und Politikebene.
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
Tabelle 13:
Ziel
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Typen kommunalen Handelns bei Stadtschrumpfung Expansive Strategie Randwanderung im Stadtgebiet halten
Aktiv Bestandspflege Attraktivität und räumliche Strukturen erhalten
Schrumpfen planen Geordnetes Schrumpfen, Qualitäten entwickeln Infrastrukturanpassung und – rückbau, Freiflächen-entwicklung
BestandsentwickUmfangreiche lung, zielgruppenFlächenausweisung im Ein- und orientierte Programme Zweifamilienhaus-bereich Quelle: Stein 2005: 159, nach Danielzyk, Miele, Zimmer-Hegmann 2002 Maßnahmen (Beispiele)
Passiv Schrumpfen als Teufelskreis Ohne Ziele
Regionalplanung sollte restriktiver sein, kommunalen Finanzausgleich reformieren
Generell stehen die in Tabelle 14 skizzierten öffentlich-rechtlichen Instrumente zur Steuerung des Immobilienmarkts zur Verfügung. Dieser rechtliche Handlungsrahmen wird von den Kommunen selbstverständlich auch hinsichtlich neuer Herausforderungen schrumpfender Märkte ausgeschöpft. Es haben sich jedoch auch informelle Handlungsprinzipien entwickelt (z.B. integrierte Handlungskonzepte, Sondergutachten, städtebauliche Rahmenpläne, informelle Beteiligung etc., vgl. BBR 2000), die sich noch nicht in jeder Kommune gleichermaßen etablieren konnten, inzwischen aber als wichtige Form der Steuerung gelten. Tabelle 14:
Öffentlich-rechtliche Instrumente zur Steuerung des Immobilienmarkts
Marktsteuernde Instrumente Fördermittel Gesetze Kommunale StadtplaMarktebene (Bund/Land/Kommune) Verordnungen nung Allgemeiner Kommunalpolitische Entscheidung/ Rechtsanspruch fallweise Genehmigung/Bewilligung Wohngeld Wohnungsbauförderung Mietenpolitik kommunaWohnungsWohnkostenzuschuss Umzugsprämie ler Unternehmen markt Eigenheimzulage* Fördergebiete BauGB Stadtumbau Ost Baugenehmigung Bau- und BauNVO Stadterneuerung Bodenpreispolitik Bodenmarkt Bauordnung Denkmalschutz (z B. Flächennutzungsplanung) Investitionszulage KapitalVergünstigte Darlehen Sonder-AfA markt (im Sanierungsgebiet) KfW-Kredite * abgeschafft zum 31.12.2005 Quelle: Schiffers 2009: 66 (ergänzt)
102
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Insbesondere um den gesamtstädtischen Kontext nicht aus den Augen zu verlieren, können gesamtstädtisch-integrative Planungs- und Stadtentwicklungskonzepte (z.B. INSEK) als koordinierende Instrumente herangezogen werden.69 „Integrativ“ heißt, dass man nicht nur die Wohnungsmarktdimension, sondern auch wirtschaftliche, soziale, kulturelle, ästhetische, ökologische und technische Faktoren mit einbezieht. Dabei sollten die Entwicklungschancen der innerstädtischen und suburbanen Teilgebiete mit ihren unterschiedlichen Lagen und sonstigen Qualitäten möglichst realistisch und ohne Tabuisierungen eingeschätzt werden, um die Konkurrenzsituation zwischen den Quartieren ermessen und Prioritäten setzen zu können (Pfeiffer, Simons & Porsch 2000: 8). Zur Prioritätensetzung gehört nicht nur das „wann“, sondern auch das „ob“, d.h. inwieweit bestimmte Quartiere überhaupt erhalten werden müssen, um die Wohnraumversorgung der Stadt zu gewährleisten. Die Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ nennt hierzu Kategorien wie „Konsolidierte Gebiete“, „Förmlich festgelegte Sanierungsgebiete (inkl. Erhaltungssatzungsgebiete)“, „Neu zu bestimmende Investitionsvorranggebiete“ und „Stadtgebiete ohne Förderpriorität“ (Pfeiffer, Simons & Porsch 2000: 68ff.). Im Stadtumbaukonzept der Stadt Brandenburg an der Havel bedient man sich Kategorien wie z.B. stabile „Konsolidierte Gebiete“ und „Erhaltungsgebiete“ sowie prekäre „Umstrukturierungsgebiete“ (= Rückbauschwerpunkte) und „Aktivierungsgebiete“, ähnliche Benennungen verwendet man auch in Leipzig. Wie bereits aus diesen Kategorisierungen ersichtlich wird, ergeben sich zwei generelle Handlungsfelder, bei denen sich allerdings private und öffentliche Aufgaben mischen: Abriss, also Bestandsreduzierung im Quartier, und Stadterneuerung, also Bestandsaufwertung im Quartier (auch im Wohnumfeld), oft verbunden mit dem Ziel der Eigentumsbildung (Pfeiffer, Simons & Porsch 2000: 55, vgl. auch Riebel 2006). Zur Vorbereitung planerischer Entscheidungen dieser (auch politischen) Tragweite ist es erforderlich, dass möglichst viele präzise Informationen vorliegen. Dazu wird zunehmend mit quantitativen und qualitativen, zum Teil auch GIS-gestützten Monitoringverfahren gearbeitet. Sofern die Kommune nicht selbst als Eigentümerin auftritt, kann sie durch Förderanreize und die üblichen Steuerungsinstrumente des Allgemeinen und Besonderen Städtebaurechts regulierend eingreifen. Die Anpassung der technischen (z.B. leitungsgebundenen) Infrastruktur betrifft die Kommune dagegen ebenso direkt wie
69 Dabei ist einschränkend anzumerken, das INSEKs in der Realität vor allem erstellt werden, um Fördervorgaben des jeweiligen Bundeslandes zu erfüllen bzw. um den Richtlinien von Förderprogrammen zu entsprechen. Einem Expertengespräch zufolge ist es fraglich, ob eine nennenswerte Anzahl von INSEKs auf „freiwilliger“, inhaltlicher Basis entstehen würde (E_B25).
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
103
die Anpassung sozialer Infrastrukturen (z.B. Schulentwicklungsplanung; vgl. auch SGK 2005: 5 oder auch Herz & Marschke 2005). Als wichtiger diskursiver Aspekt von Stadtentwicklungspolitik in Zeiten der Schrumpfung oder Stagnation ist die Etablierung innovativer städtebaulicher Leitbilder zu nennen, die den neuen Bedingungen gerecht werden. Hier existieren ambivalente Vorstellungen zwischen „Rezentrierung“ (also ein Schrumpfen ausgehend von den Rändern mit einer Kernstadtverdichtung und Vermeidung von Brachen) und „Perforation“ (also ein punktuelles Schrumpfen in der Fläche mit der Akzeptanz von Brachen und Zwischennutzungen). Auch der Umgang mit Segregation gehört mit in diesen normativen Bereich. Kommunale Leitbildprozesse und zivilgesellschaftliche Beteiligung sind meist mit der Entwicklung integrierter Stadtentwicklungskonzepte verknüpft, die einen informellen Orientierungsrahmen für die Gesamtstadtentwicklung bieten sollen. Um diesen komplexen stadtentwicklungspolitischen Rahmen zu steuern, reichen hoheitliche Rechte allein längst nicht mehr aus. Vielmehr müssen Themen und anstehende Entscheidungen dialogisch ausgehandelt, strategisch positioniert, öffentlich lanciert und wirtschaftlich verhandelt werden. Dazu haben sich zunehmend neue Governance-Formen zwischen Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und öffentlicher Hand etabliert („Lenkungsrunden“, Beteiligungsgremien auf Quartiersebene, privat-öffentliche GmbHs, „Quangos“ etc.; vgl. auch Bernt 2007). Diese lassen sich wiederum handlungstheoretisch analysieren. In den „Theorien rationalen Wahlhandelns“ („Rational Choice“), seit jeher mehr ein loses Theoriebündel als ein konsistentes Forschungsprogramm, wird – ausgehend von einem auf einer beschränkten Informationsbasis und einem spezifischen Alltagsumfeld nutzenmaximierenden Individuum – eine Verknüpfung von Mikro- und Makroebene angestrebt. Dies geschieht letztlich über eine Kombination ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Modellvorstellungen.70 Auf70 Als Hauptvertreter des Rational Choice-Ansatzes gelten James Coleman, Hartmut Esser oder Jon Elster. Besonders prominent ist das sog. RREEMM-Modell nach Lindenberg, welches den RationalChoice-Akteur als einen „resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing man“ beschreibt (vgl. Wiesenthal 1987). James Coleman betrachtet als einer der gemäßigten Vertreter dieses Ansatzes (Coleman 1990) den rational handelnden Akteur als bloßes Konstrukt (nicht als real existierendes Wesen). Er proklamiert weiterhin, dass es im fließenden Kontinuum zwischen Mikro- und Makroebene jeweils nur der Betrachtung einer untergeordneten Aggregatebene bedarf, um eine Beobachtung erklären zu dürfen (d. h. es ist nicht zwingend notwendig, die Individualebene zu analysieren) (nach Stratmann 1999: 92). Alles was „eine Ebene höher“ stattfindet, sind Rahmenbedingungen, die eine Konsequenz des Rationalhandelns darstellen und auf dieses zurückwirken – häufig auch als nichtintendierte Konsequenzen des Handelns. Handlung und Struktur bleiben dabei jedoch Antagonismen, aber die Rational Choice-Theoretiker liefern zumindest Erklärungen für Zusammenhänge zwischen den Ebenen. Vertreter der Rational Choice-Strömung auf der einen Seite und der Strukturalisten auf der anderen Seite stehen sich zum Teil geradezu unversöhnlich gegenüber.
104
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
grund des spezifischen Fokus auf lokale städtische Entwicklungen sollen hier exemplarisch die Urban Regime Theory und das Sozialkapitalkonzept herangezogen werden, die auch im Quartierskontext interessante akteursspezifische Fragestellungen erlauben.71 Im Prinzip geht es dabei um die Frage, wer die Macht in einer Stadt (einem Quartier) (tatsächlich) ausübt und welche unterschiedlichen Steuerungstypen es gibt, denn: „Es besteht Grund zur Annahme, dass es spezifische ‚Profile‘ [von Steuerungsformen, Anm. d. Verf.] gibt, die je nach Gemeinde, Aufgabe oder Akteurskonstellation verschieden sind“ (Klemme & Selle 2008: 141). Derartige Settings aus Akteuren, Steuerungs- und Regulierungsmechanismen werden gemeinhin mit dem Sammelbegriff der Urban Governance zusammengefasst, um den sich eine eigene Forschungslandschaft herausgebildet hat (vgl. Schnur & Drilling 2009). 3.2.2 Regime-Modell: Quartierswandel durch urbane (Quartiers-)Regime Die „Urban Regime Theory“ hat ihre Wurzeln in den Pluralismus- und Elitismus-Debatten.72 Bei der Stadtregime-Theorie geht es um die Regulation städtischer Subsysteme aus der Perspektive der Schlüsselakteure. Clarence Stone, der mit seiner klassischen Studie über Atlanta als Hauptverterter des Ansatzes gilt (Stone 1989), versteht unter einem städtischen Regime „[...] an informal yet relatively stable group with access to institutional resources that enable it to have a sustained role in making government decisions“ (Stone 1989: 4, vgl. Stoker 1995: 58f.). Ohne die Verknüpfung staatlicher und privater Kapazitäten sind, so die Theorie, effektives Handeln und das Erreichen normativer Zielsetzungen unter neuen (postfordistischen) Rahmenbedingungen kaum noch möglich. Die sozioökonomische Restrukturierung der großen Städte und die in diesem Zusammenhang entstehenden sozialräumlichen Konflikte zwingen die Akteure – ob in Regierungsverantwortung oder auf privater bzw. unternehWie Stratmann zusammenfasst (Stratmann 1999: 89), geht es darum, welchen Fokus soziale Analysen letztlich haben sollten: das im Innersten zerrissene, diskursbefrachtete Individuum (und dessen mehr oder weniger rationales Handeln) oder die Struktur, die dieses fragile Handeln zu determinieren sucht? Häufig wird versucht, die Potenziale unterschiedlicher Theorieansätze mit dem Rational Choice-Ansatz zu verbinden (z.B. die Regulationstheorie - vgl. Schnur 2003a). 71 Einige Passagen der folgenden Ausführungen basieren auf einer früheren Publikation (Schnur 2003a). 72 Alan Harding zufolge stellt die Elitetheorie neben der Urban Regime Theory den ausgereiftesten Versuch dar, eine politische Ökonomie des „Ortes“ zu entwickeln (Harding 1995: 41ff.). Als Hauptvertreter des so genannten „Urban Pluralism“ gilt R. Dahl, dessen Fallstudie von New Haven („Who governs?“, 1961) als Antwort auf die Atlanta-Studie von Hunter (1953) die „Dahl-Hunter-Debatte“ (oder auch „Community-Power“-Debatte) zwischen Pluralisten (Dahl) und Elitisten (Hunter) ausgelöst hatte (vgl. Stratmann 1999: 78ff. und Schnur 2003a: 33ff.). Die Urban Regime Theory ist überwiegend der pluralistischen Strömung verhaftet.
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
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merischer Basis – Regime zu formieren, mit denen sie gemeinsam handlungsfähiger werden und letztlich mehr an Einfluss und Macht gewinnen können. Macht wird also unter den neuen städtischen Bedingungen weniger als bloße Machtausübung im Sinne von Kontrolle benutzt, sondern als ein „Ermächtigen“ anderer (Empowerment) (Stoker 1995: 55). Regime arbeiten nach dem Netzwerk-Prinzip (Stoker 1995: 59) und sind dann besonders stabil, wenn sie über umfangreiches Sozialkapital (und damit über Reziprozitätsressourcen und Kooperationskapazitäten) verfügen (Stone 1993: 25). Regime handeln weder auf der Basis formaler Hierarchien, noch auf der Ebene oft ineffizienter pluralistischer Verhandlungsprinzipien. Auch das „Parteibuch“ oder formale Positionen spielen bei der Regimebildung eine geringere Rolle. Macht erhält in einem komplexen, fragmentierten städtischen Umfeld (wie etwa in Städten, die sich mit den Auswirkungen des demographischen Wandels konfrontiert sehen, vgl. Bürkner 2005) seine neue Qualität: Sie ist das, was bestimmte Interessengruppen dazu befähigt, ihre Kapazitäten so zu bündeln, dass sie ihre gemeinsamen Ziele erreichen können (wie z.B. die Sicherung des eigenen Wohnungsbestands in einem Quartier). Stone argumentiert, dass eine „Governing Capacity“ nicht einfach „da“ sei, sondern als „Social Production“ erst von den Akteuren geschaffen werden müsse (Stone 1993: 3). Macht wird also zu einer Frage von dynamischen Kooperationen, Bündnissen und Koalitionen (Coalitions). Ein urbanes Regime wird so zu einer potenziell autonomen Kraft und zu einem zentralen kollektiven Akteur (Stone 1993: 2). Stone hat anhand amerikanischer Städte empirisch vier Regimetypen abgegrenzt (Stone 1993: 18, vgl. Stoker 1995: 61). Die Stone-Typen sind in Tabelle 15 kurz dargestellt, sollen aber hier nur als Anhaltspunkt für mögliche Quartiersentwicklungsregime dienen (siehe ausführlicher in Schnur 2003: 40ff.). In der Literatur finden sich zahlreiche weitere Typologien.73 73 Hier seien nur einige Beispiele genannt (nach Lauria 1997: 3): Fainstein und Fainstein schlugen z.B. für die USA 1983 zeitlich differenzierte Regime mit den Attributen „directive“ (1950-1964), „concessionary“ (1965-1974) und „conserving“ (1975-?) vor. Elkin (1987) formulierte pluralistische, föderalistische und unternehmerische Regime, die nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch unterschiedlich auftreten. Harvey meinte 1989, dass der „unternehmerische“ Regimetypus mittlerweile nicht mehr als geographisch begrenzt zu betrachten sei, sondern sich als generelle Form immer mehr durchsetze. Stone selbst nannte 1987 an anderer Stelle Regime mit den Bezeichnungen „corporate“, „progressive“ und „caretaker“. Franz entwickelte für Deutschland drei Typen urbaner Regime: das „Bewahrungsregime“, das „Lokale Bündnis“ sowie das „Globalisierungsregime“ (Franz 1997: 304ff.). Forschungsleitend für Franz war der „Aufbau Ost“ in den Ex-DDR-Städten auf der Basis von Privatkapital. Da die Stadt als ein vom Menschen geschaffenes „Ressourcensystem“, dessen Ressourcen (verstanden als räumlich verortete Vorteile für den Menschen) nicht allen potenziellen Nutzern gleich zugänglich sind, einer Steuerung durch das kommunale politischadministrative System bedarf, finden sich die unterschiedlichen städtischen Interessengruppen zu „urbanen Regimen“ zusammen, um die Ressourcenaufteilung nach ihren Vorstellungen beeinflussen
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Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Anforderungen
Strategien
Ziele
Tabelle 15:
Regimetypen nach Stone
ErhaltungsRegime
EntwicklungsRegime
Erhaltung des bisher erreichten Zustands
Wachstumsinduktion oder Aufhalten des Verfalls
Aufrechterhaltung der bestehenden Routinen (oder: Regulationsweisen)
Etablierung einer aktiven handlungsorientierten Politik („positive action“)
Gering: Aufrechterhaltung relativ einfacher Beziehungen zwischen Funktionären und Akteuren, die nicht aus der „Regierungsszene“ kommen
Mittel: relativ komplexe und anspruchsvolle Regierungsaufgabe mit höheren RessourcenAnforderungen
Progressive bürgerliche Regime z.B. Umweltschutz, Wachstumskontrolle und/oder eine Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am Wirtschaftswachstum Entwicklung einer komplexen, mittelschichtorientierten Regulationsform
Hoch: große Ressourcen erforderlich
UnterschichtRegime Verbesserung der eigenen Chancen als sozioökonomisch benachteiligte Gruppe in der Gesellschaft Mobilisierung einer möglichst breiten benachteiligten Bevölkerungsschicht Sehr hoch, weil häufig nur geringe Ressourcen verfügbar sind
Quelle: Schnur 2003: 44, eigene Zusammenstellung nach Stone 1993
Eine Reihe von Fragen lässt sich auf die Quartiersebene übertragen (Stoker 1995: 57) und auch empirisch untersuchen (vgl. das empirische Beispiel über Berlin-Moabit in Schnur 2003: 293ff.):
Welche Auswirkungen hat die zunehmende Komplexität der globalisierten Gesellschaft auf quartiersbezogene lokale Politikformen? Welche Machttypen bestimmen die politischen Strukturen in einem Quartier (z.B. Quartiersräte in „Soziale Stadt“-Gebieten, Bürgerinitiativen, Lokalpolitiker, lokale Unternehmer…)?
zu können. Franz differenziert seine Typologie, indem er sie als Idealtypologie betrachtet und für die Realität Mischformen mit spezifischen Tendenzen zulässt. Dabei wird ein deutlicher Bezug auf Stone sichtbar. Obwohl die „Idealtypen“ bei Franz realitätsnäher und vor allem „europäischer“ erscheinen, bleibt die Systematik von Franz unspezifischer als diejenige von Stone. In den USA wurde empirisch immer wieder festgestellt, dass grobe Regimeordnungen in der Realität kaum vorzufinden sind. Die Variation städtischer Regime scheint offenbar viel größer zu sein.
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
107
Welche Rolle spielen benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Vergleich oder in Kombination mit den „Eliten“ im städtischen oder im Nachbarschaftskontext? Welche Bedeutung kommt dem systemischen Vorteil bestimmter Interessengruppen für die Politik im Quartier zu? Welche Rolle spielen Demokratie und Partizipation in der Quartierspolitik?
Im Kontext der Quartiersforschung kann mithilfe dieses theoretischen Ansatzes außerdem überprüft werden, inwieweit lokale Akteure sich am konkreten Beispiel zu (lokalen Mikro-)“Regimen“ zusammenschließen, welcher Art die zugrundeliegenden Gemeinsamkeiten und Konkurrenzen der Akteure sind und ob konkurrierende Gruppen die Stadtteilentwicklung eher behindern oder eher befördern. Auch Regimetypen bzw. differierende „Modes of Governance“ lassen sich auf dieser Ebene ohne Weiteres abgrenzen. Regime, auch Stadtteilregime, müssen dabei immer im Gesamtkontext betrachtet werden, weil sowohl lokale als auch über-lokale Determinanten den politischen Wandel beeinflussen (z.B. auf regionaler, nationaler oder globaler Ebene, wie etwa durch die Fördermittelverfügbarkeit durch Bund/EU etc.). Außerdem entstehen immer wieder Leitbilder, denen viele Stadtregierungen für einige Zeit folgen, auch wenn rationale Gründe nicht uneingeschränkt dafür sprechen (nach Stoker 1995: 66f.). Insgesamt kommt hier also ein neues Verständnis von Governance zum Tragen: Der Lokalstaat sieht sich vor allem in einer Funktion als Katalysator und als Entwickler endogener Potenziale in städtischen Quartieren, ein in der Realität deutscher Großstädte mittlerweile geradezu typisches Phänomen. Der Einfluss von Allianzen unterschiedlichster Akteure mit divergierenden und gemeinsamen Interessen auf ein Wohnquartier, sei es nun als renditeorientiertes „WachstumsBündnis“, als „Stadtumbau-Allianz“ im Schrumpfungskontext (vgl. Bürkner 2005) oder als machtorientiertes „städtisches Regime“, ist evident, wie auch Logan und Molotch konstatieren: „[…] the major challenge to neighborhood, as a demographic-physical construct as well as a viable social network, comes from organizations and institutions (firms and bureaucracies) whose routine functioning reorganizes urban space. The stranger to fear may not be the man of different ethnicity on the street corner, but a bank president or property management executive of irrelevant ethnicity far from view“ (Logan und Molotch 1987: 111, zitiert nach Pitkin 2001:11).
Aktuelle Entwicklungen im Wohnimmobilien-Sektor wie die zunehmende (z.T. im Quartiersmaßstab erfolgte) Konzentration ehemals staatlicher Wohnungen in den Händen von global ausgerichteten Immobilienfonds stützen diese Perspektive. Insbesondere bei der Implementation von „Neighborhood Improvement
108
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Districts“ oder eines „Neighborhood Branding“-Prozesses, bei der Aufstellung von Quartiersleitbildern, in Stadtumbaukoalitionen schrumpfender Städte oder im Bereich der sozialen Stadtentwicklung spielen Netzwerke, die man als „Stadtteilregime“ bezeichnen könnte, eine ganz entscheidende Rolle. Hans-Joachim Bürkner formuliert jedoch auch die hohen Anforderungen, die an solche Netzwerke gestellt werden müssen, um nicht als „sektorale Clubs“ und „Hinterzimmerzirkel“ sämtliche Akzeptanz einzubüßen: Sie sollten „interaktive Kreativität“ besitzen und damit Verkrustungen aufzubrechen in der Lage sein, sie sollten „lokale Potenziale und Ressourcen systematisch […] entdecken und […] nutzen“, zu einer „effizienten Verhandlungskultur“ finden, das „vorhandene lokale Wissen“ nutzen und „Diskurse transparent […] gestalten“ (Bürkner 2005: 30). Die aktuellen Entwicklungen genauer zu untersuchen und den Theorieansatz damit – auch im Themenbereich des Stadtumbaus – weiterzuentwickeln, wäre ein fruchtbares künftiges empirisches wie theoretisches Forschungsprogramm (zur Kritik an der Regimetheorie siehe Fußnote 74).74 Exkurs: Kooperation vs. Zwang Auch diese neuen Formen der Zusammenarbeit basieren – wie auch Stone betont – nur selten auf „gutem Willen“. Vielmehr ist ein großes Eigeninteresse der Akteure an der Kooperation von Vorteil. Darüber hinaus müssen die Rahmenbedingungen und die Einstellungen der Akteure stimmen, wie man anhand des zweidimensionalen Konfliktmodells von Ruble und Thomas zeigen kann (Ruble & Thomas 1976: 145, vgl. Abbildung 17).
74
Trotz der umfangreichen Atlanta-Studie Stones (Stone 1989, Stone 2001) und einigen neueren Arbeiten (z.B. Dowding 2001, Goodwin & Painter 1997, Kleger 1997, Lauria 1997) mangelt es der Stadtregime-Theorie noch an empirischer Evidenz, die theoretische Aussagen untermauern oder präzisieren könnte: „What is certain is that the basis of that theoretical reconstruction must be empirical research focusing on the concrete social practices of urban politics in specific places and times. At the same time, that empirical research must be reflexively previsioned with careful abstractions that attempt to resolve the [...] deficiencies of the urban regime and regulation theories” (Lauria 1997: 8, siehe auch Stoker 1995: 54). Darüber hinaus ist die Übertragung des amerikanischen Theorieansatzes auf europäische Verhältnisse weder theoretisch noch empirisch fundiert worden. So wird diskutiert, inwieweit eine Kooperation zwischen der Verwaltung und der politischen Ebene z.B. in Deutschland bereits als urbanes Regime gelten könne oder ob private Akteure zwingend beteiligt sein müssten (Glock 2006: 63, vgl. auch Gissendanner 2002 sowie Gegenpositionen in Anttiroiko & Kainulainen 1998). Darüber hinaus neigen europäische „Coalitions“ dazu, einen stärker temporären und mehr sachbezogenen Charakter zu besitzen. Neben dem deutlich stärkeren Einfluss des Lokalstaats gelten auch die übergeordneten regulierenden Institutionen im Theorieansatz für europäische Verhältnisse als unterbelichtet.
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Eine Zwangssituation beispielsweise kann entstehen, wenn die Kommune „androht“, normative Ziele mit starken städtebaulichen Instrumentarien umsetzen zu wollen. Die Akteure werden dann ggf. zunächst kooperieren, um einer echten „Win-Lose“-Situation zu entgehen (es kommt zum „Lose-Win“-Verhältnis, wie es im Quadranten „Nachgeben“ dargestellt ist). Allerdings ist eine solche Konstellation fragil. Die den Konflikt unterdrückende Vermeidungsstrategie kommt in einer „Stadtumbau“-Situation zwischen ratlosen Wohnungsunternehmen und schwachen Kommunen nicht selten vor und kann in einer „Lose-Lose“-Situation enden. Abbildung 17: Zweidimensionales Konfliktmodell
Großes Durchsetzungs vermögen Geringes Durchsetzungsvermögen
Starke Bereitschaft zur Mitarbeit
Geringe Bereitschaft zur Mitarbeit
A. Zusammenarbeit
C. Zwang
B. Nachgeben
D. Vermeidung
Quelle: Ruble & Thomas 1976: 145, eigene Darstellung
Ideal in fast jeder Situation, die eine Problemlösung erfordert, und insbesondere auch in der komplexen Situation demographischer Umbrüche in Wohnquartieren erscheint die Kooperationsoption. Wenn Partner mit einem hohen Durchsetzungsvermögen und einer hohen Mitwirkungsbereitschaft zusammentreffen, sollte also es zu einer „Win-Win“-Situation kommen. Wie Matthias Bernt jedoch anhand des Gefangenendilemmas im Stadtumbauprozess überzeugend herleitet, ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen „Glücksfalls“ in der Realität ausgesprochen gering (Bernt 2005). Das Kooperationspostulat als Allheilmittel im Stadtumbau ist also zumindest mit Vorsicht zu bewerten. Die Realität im „Stadtumbau-Ost“ beschreibt Bernt wie folgt: „Träger der Wohnungsmarktbereinigung sind überwiegend die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen mit großen Beständen an industriell gefertigten Wohngebäuden. Alle anderen Eigentümertypen beteiligen sich kaum am Abriss, profitieren aber von der Sanierung des Immobilienmarkts“ (Bernt 2005: 125).
110
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Eine externe (staatliche) Marktsteuerung scheint also in den meisten Fällen nötig, um marktwirtschaftliche Handlungsdilemmata aufzulösen. 3.2.3 Sozialkapital-Modell: Quartierswandel durch nützliche Beziehungen Auch das Sozialkapital-Konzept, das zumindest in der Variante von James Coleman und Robert Putnam dem Rational Choice-Paradigma zugerechnet werden kann (im Gegensatz zum in Europa nicht minder populären, strukturalistischen Ansatz Pierre Bourdieus), bietet umfangreiche Forschungsmöglichkeiten auf der Ebene des Wohnquartiers (Bourdieu 1983b, Coleman 1988, 1990, Putnam 1993, 2000). So wirken tragfähige soziale Beziehungen in Nachbarschaften und zwischen den Generationen gerade in Quartieren, die einem demographischen Umbruch unterworfen sind, stabilisierend. Ähnlich wie bei einem Antiblockiersystem, das einen PKW trotz einer starken Abbremsung noch lenkbar macht, ist anzunehmen, dass Quartiere umso mehr steuerbar, selbstregenerierend und partizipativ sind, je besser ihre Bewohner mit Sozialkapital ausgestattet sind. Auch in Quartieren, die bei migrantischen Nachfragern beliebt sind, spielt Sozialkapital eine wichtige Rolle (vgl. Schnur 2005, 2008d). Doch was genau ist „Sozialkapital“? Unter Sozialkapital sind Coleman zufolge sozialstrukturelle Ressourcen (wie z.B. Vertrauen, soziale Normen, soziale Netzwerke) zu verstehen, die ein Individuum als Kapitalvermögen für sich nutzen (und gegebenenfalls in andere Kapitalarten umwandeln) kann. 75 Die amerikanischen Stadtforscher Kenneth Temkin und William Rohe versuchen, mithilfe ihres Sozialkapital-Modells des Wohnquartierswandels die Ansätze der Sozialökologie, des Filtering, des Subkulturalismus und der politischen Ökonomie zu verbinden (Temkin & Rohe 1998: 65ff.).76 Als Ausgangslevel für ein Wohnquartier nehmen sie einen bestimmten sozioökonomischen Gesamtstatus an. Ein Quartierswandel ist dementsprechend dann indiziert, wenn sich dieses Ausgangsniveau signifikant verändert. Temkin und Rohe nennen zwei Faktoren, die einen Wandel anstoßen können (ebd.: 67): Zum einen sind es übergeordnete (die gesamte Stadtregion betreffende) Prozesse wie etwa industrielle Restrukturierung, Arbeitslosigkeit oder Immigration, zum anderen aber auch Prozesse im Quartier selbst: „Neighborhood residents age, marry, and experience other transformations as they move through their life cycles“ (Temkin & Rohe 1998: 67).
75
Eine genaue Erläuterung des Theorieansatzes und der zahlreichen Varianten findet sich in Schnur 2003a (vgl. auch Haug 1997, Haus 2002 oder Franzen & Freitag 2007). 76 In einem früheren Aufsatz haben die Autoren ein ähnliches Modell skizziert, jedoch noch ohne Verwendung des Sozialkapital-Konzepts (Temkin & Rohe 2002, zuerst veröffentlicht im Journal of Planning Education and Research im Jahr 1996).
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Die internen oder externen Kräfte, durch die Quartiere unter Druck geraten, haben aber ganz unterschiedliche Auswirkungen – je nachdem, so Temkin und Rohe, über wie viel Sozialkapital verfügbar ist. Sie nehmen an, dass zwei von ihnen definierte Formen des Sozialkapitals – das „soziokulturelle Milieu“ und die „institutionelle Infrastruktur“ – die entscheidenden Faktoren für die Entwicklung eines Wohnquartiers seien. Das „soziokulturelle Milieu“ wird vor allem durch drei Determinanten konstituiert: durch den Grad der Identität (z.B. die Identifikation mit dem Quartier), das Ausmaß an Interaktion (z.B. gegenseitige Besuchsfrequenz der Quartiersbewohner) und die Existenz von sozialen Brücken (wie etwa die Kontakte der Bewohner zu Menschen außerhalb des Quartiers). Temkin und Rohe nehmen an, dass Quartiere mit ausgeprägtem soziokulturellem Milieu sich eher als räumliche Community betrachten, und wahrscheinlicher als andere dazu neigen, ihren Status quo gegenüber äußeren Einflüssen zu verteidigen: „[…] they choose the voice rather than exit option“ (ebd.: 69). Quartiere mit einem schwachen soziokulturellen Milieu laufen schneller Gefahr, in eine Abwärtsspirale zu geraten. Allerdings ist das vorhandene Milieu nur die halbe Miete. Temkin und Rohe betonen, dass das vorhandene Potenzial auch in „effektives kollektives Handeln“ umgesetzt werden müsse. Wie gut das kollektive Handeln funktionieren kann, hängt auch von der zweiten Modellkomponente, der „institutionellen Infrastruktur“ ab. Darunter verstehen Temkin und Rohe das Ausmaß und die Qualität formaler Organisationen im Quartier. Intermediäre Institutionen können im Idealfall effektiv zwischen Bewohnerinteressen und politischen Akteuren (bzw. kommunalen Ressourcen) vermitteln bzw. im Wettbewerb der Quartiere einen angemessenen Teil des Budgets sicherstellen (Temkin & Rohe 1998: 69f.).77 Dazu mag es notwendig sein, mit anderen Grassroots-Organisationen in und außerhalb des Quartiers strategische Allianzen zu bilden (institutionelles Sozialkapital), um mit den einflussreichen gesamtstädtischen Akteuren auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können. Je effektiver solche Organisationen im Quartier arbeiten, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich auch bei externen oder internen Störfaktoren positiv weiterentwickelt. Auch ein sehr ausgeprägtes soziokulturelles Milieu droht zu erodieren, wenn es an einer starken institutionellen Infrastruktur mangelt (Temkin & Rohe 1998: 70).78
77
Hier entsteht nicht zufällig eine Schnittstelle zu urbanen Regimen. Hier werden Bezüge zur Urban Regime Theory deutlich (vgl. etwa Stone 1993), auch wenn diese im Aufsatz von Temkin und Rohe nicht explizit erwähnt wird. Auch gilt es offenbar, Quartiere gegen feindliche äußere Übergriffe zu „verteidigen“, wodurch eine Typologie entsteht, die an diejenige von Suttles 1972 erinnert.
78
112
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
In ihrer auf diesem Modell aufbauenden quantitativen empirischen Studie am Beispiel von Pittsburgh kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass Sozialkapital als die Quartiersentwicklung beeinflussende Variable eine größere Erklärungskraft habe als traditionelle Variablen wie das Alter der Bausubstanz, der Zugang zu Hypothekenkrediten oder die Distanz zum CBD (Temkin & Rohe 1998: 84). Außerdem stellen sie fest, dass freiwilliges Engagement der Bewohner weniger zur Stabilität des Quartiers beiträgt als politische Aktivitäten (Temkin & Rohe 1998: 85). Letztlich halten sie aber doch beides für relevant: „It is a combination of politics and culture that helps to stabilize neighbourhoods” (Temkin & Rohe 1998: 70). Im Kontext demographischer Quartiersumbrüche bedeutet dies, dass man trotz aller wohnungswirtschaftlicher und kommunalpolitischer Schlüsselreize (wie etwa alarmierender Leerstandszahlen, steigender Modernisierungsbedarfe, wachsender Infrastrukturdefizite etc.) die sozialen Beziehungen und Akteursstrukturen bzw. Organisationsformen als enorm wichtige Entwicklungsfaktoren nicht außer acht lassen sollte.79 Das Modell von Temkin & Rohe ist noch einmal im Überblick in Abbildung 18 dargestellt. Neben diesem Modell wurde auch eine „Theorie des lokalen Sozialkapitals“ vorgeschlagen, die sich konkret auf die Wohnquartiersebene bezieht (Schnur 2003). Demnach stellt das lokale Sozialkapital – zusätzlich zum translokalen Sozialkapital – eine individuell verfügbare Ressource für die Bewohner dar und erweitert deren Handlungsspielraum. Wichtige zusätzliche Faktoren in diesem Theoriekontext sind die lokale Identifikation (insbesondere die soziale Ortsbindung) und die Nachbarschaft als lokale Primärgruppe, aus deren fragilem Geflecht ein spezifischer, nicht zu unterschätzender Nutzen auf der Quartiersebene entstehen kann (Absicherung, Unterstützung, Rückhalt, „Wohngefühl“...). In Anlehnung an Coleman kann lokales Sozialkapital in drei Quartiersvarianten auftreten: als lokales Sozialkapital aus generalisiertem Vertrauen (aus den gegenseitigen Verpflichtungen und Erwartungen unter Quartiersbewohnern), als sozial(räumliche) Netzwerke (aus Informationsressourcen unter Quartiersbewohnern, aus sozialen Organisationen im Quartier, als „nützliche“ Machtkonstellationen zwischen Akteuren im Quartier) sowie als ortsspezifische soziale Normen und Sanktionen (zur Kritik vgl. Fußnote 80).80 79 So gibt es einen Tipping Point, der in Mietshäusern bei 20 bis 30% Leerstand eintreten soll (nach Harms & Jacobs 2002: 26, zit. nach Glatter 2003: 154) und zu einem starken Nachfragerückgang und weiterer Leerstandsentwicklung führt. Stabile soziale Netzwerke unter den verbleibenden Haushalten könnten diesen Erosionsprozess deutlich verzögern. 80 Die umfangreiche Kritik am Sozialkapitalkonzept ist bereits hinreichend formuliert worden (vgl. Schnur 2005). Festzuhalten bleibt, dass zum einen ernst zu nehmende theoretische und methodische Probleme auftreten (u.a. Tautologien, Begrifflichkeit bzw. Operationalisierung), zum anderen jedoch auch der Fachdiskurs selbst kritiklos die neuen unternehmerischen Stadtpolitiken befördern oder dies
Handlungsmodelle: Professionelle lokale Akteure und Urban Governance im Quartier
Abbildung 18: Sozialkapitalmodell des Quartierswandels Initial Status of Neighborhood
Sources of Change – Metro Area – Neighborhood
Sociocultural Milieu of the Neighborhood (A) Present
Absent
Potential Defensive Measures of Residents (C)
Institutional Infrastructure (D)
Ecological Change (B) Weak
Strong Defended Neighborhood (F)
Stable or Gentrifying Neighborhood (G)
Status of Neighborhood Increases or Remains the Same over Time OUTCOME 2
Defeated Neighborhood (E)
Downward Succession
Status of Neighborhood Declines over Time
OUTCOME 1
Quelle: Temkin & Rohe 1998: 68 sogar beabsichtigt sein könnte (vgl. Mayer 2003). Gleichzeitig kann man dem Konzept jedoch einen großen heuristischen Nutzen und eine systematisierende Wirkung in sozialpolitischen urbanen Diskussionen bescheinigen. Durch das Sozialkapital-Konzept wurde es möglich, den gängigen Defizitanalysen auf der Quartiersebene überzeugende soziale Potenzialanalysen gegenüberzustellen.
113
114
Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
3.2.4 Zwischenfazit Was folgt nun aus den bisherigen Ausführungen für die vorliegende Studie? 1.
2.
3.
4.
Der demographische Wandel wird die zukünftigen Rahmenbedingungen der Stadt- und Quartiersentwicklungspolitik immer mehr verändern. Zukünftige Entwicklungen werden sich jedoch auf der kleinsträumigen Ebene kaum verlässlich prognostizieren lassen. Hier werden also flexible Konzepte für den Umgang mit der Zukunft benötigt. Quartiere entwickeln sich in der Regel zyklisch. Zyklen werden durch bauliche Abnutzung bzw. Modernisierung und demographische Alterungsprozesse bzw. Rejuvenation bestimmt. Durch die fortdauernde Zyklizität kommt es zu Marktreaktionen. Diese Marktreaktionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich einerseits die Angebotsseite verändert und unter Stress gerät (hinsichtlich der Qualität, der räumlichen Verteilung etc.), andererseits neue (inzwischen stark ausdifferenzierte) Nachfragergruppen für den oft veralteten Wohnungsbestand akquiriert werden müssen. Weil die Pluralisierung der Zielgruppen ein parallel verlaufender soziodemographischer Prozess ist, stellt sich eine erfolgreiche Angebotsgestaltung im Wohnungssegment als dynamisches und komplexes Unterfangen dar. Aus der Marktdynamik folgt ein Steuerungsproblem – zum einen für den Lokalstaat, der den Anspruch verfolgt, Stadtentwicklung (verlaufe sie schrumpfend, stagnierend oder wachsend) zumindest zum Wohle der Allgemeinheit sinnvoll zu gestalten. Zum anderen hat aber auch die Wohnungswirtschaft Steuerungsdefizite. Letztlich führt dies zu der Einsicht, dass nur kooperative Steuerungsformen zwischen Verwaltung, Unternehmen und Zivilgesellschaft funktionieren können (Sozialkapital, urbane Regime).
Bevor in Kapitel 5 die Quartiersentwicklungsszenarien vorgestellt werden, widmet sich der folgende Abschnitt der theoretischen Einbettung der Studie, der darin verwendeten Forschungsmethodik und dem daraus resultierenden Untersuchungsdesign. Erkenntnisse aus den beiden bisherigen Abschnitten werden hier zu einem kohärenten Konzept verschmolzen.
4
4.1
Konzeptualisierung: Theoretische Einbettung, Methoden und Untersuchungsdesign der vorliegenden Studie
Demographie und Wohnungsmarktregulation im Quartier
Die heutige Situation ist neu. Während noch zu fordistischen Zeiten Schrumpfung fast immer als unglückliche Unterbrechung dauerhaften Wachstums auftrat, hat sich inzwischen das Phänomen des demographischen Wandels in den meisten westlichen Industrieländern mehr oder weniger stark manifestiert. Wie in Kapitel 2 ausführlicher erläutert, hat der demographische Wandel dabei einen „Jetstream“-Charakter: als Megatrend, der über allem schwebt, bestimmt er zwar nicht unmittelbar das kleinräumige Geschehen, beeinflusst aber den generellen Lauf der Dinge in einer Volks- und Sozialwirtschaft – und dies durchaus räumlich ungleich verteilt. Damit ändern sich die Rahmenbedingungen der Quartiersentwicklung, die nun wesentlich häufiger auf Stagnation und Schrumpfung basieren. Die Zukunft wird ein unübersichtliches Mosaik von wachsenden und vermehrt schrumpfenden räumlichen Inseln auf allen Maßstabsebenen bringen. Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen ist also schwierig. Es wird immer wichtiger, ausgehend vom Status Quo und üblichen Bevölkerungsprognosen mögliche Quartiers-Zukünfte zu erforschen und daraus Handlungsprinzipien abzuleiten. Damit bewegen wir uns weg von der klassischen empirischen Modellbildung und hin zu einer offenen, kreativen Zukunftsexploration. Ziel dieser Studie ist es deshalb, Entwicklungsszenarien verschiedener Wohnquartierstypen im Zuge des „demographischen Impacts“ zu generieren (vgl. die einleitenden Ausführungen in Kapitel 1). Es soll ein Beitrag dazu geleistet werden, soziodemographische Prozesse, deren zukünftige Wirkung im Wohnquartierskontext sowie die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Kommunalpolitik und die Wohnungswirtschaft besser zu verstehen und in konkrete Handlungsoptionen umzuwandeln („Toolbox“). Der „demographische Impact“ soll in städtebaulich und altersstrukturell unterschiedlichen Typen von Wohnquartieren exploriert werden. Weil sich die Wohnfunktion in erster Linie in einer ganz spezifischen, zum Teil stark regulierten Marktsituation widerspiegelt,
116
Konzeptualisierung
soll sich die Studie auf dieses Marktgeschehen konzentrieren. Es geht also neben der Analyse tatsächlicher und möglicher demographischer Entwicklungen in Wohnquartieren auch um die Zusammenhänge mit lokalen und regionalen Wohnungsmärkten, also mit Wohnungsangebot und -nachfrage. In den vorangegangenen Kapiteln 2 und 3 wurden die Faktenlage, theoretische Fundamente und Modellvorstellungen bereits ausführlicher beschrieben. Im Folgenden sollen diese Erkenntnisse zu einer kohärenten Projektkonzeption zusammengeführt werden. 4.1.1
Triade Lebenszyklus/Lebenslage/Lebensstil als zentrales Nachfragesetting
In bisherigen Studien zur Wohnmobilität wurde häufig der Weg beschritten, zunächst die Lebenslagen zu erfassen, um daraufhin über das Lebensstilkonzept zusätzliche Informationen zu gewinnen. Lebenszyklische Betrachtungen, insbesondere im zeitlichen Verlauf, blieben meist gänzlich unberücksichtigt. In der vorliegenden Studie fließen alle drei Konzepte komplementär ein:
der Lebenszyklusansatz, der für das Projektthema eine zentrale Rolle spielt und insbesondere die demographischen Merkmale umfasst, der Lebenslagenansatz, welcher hier (reduziert um die lebenszyklusspezifischen Dimensionen) vor allem die sozioökonomischen bzw. SchichtMerkmale beinhalten soll sowie der Lebensstilansatz, der als zusätzliches Erklärungsmodell mit eingebunden werden soll.
Empirisch wurden diese Konzepte vor allem in die „Quartiersdossiers“ integriert (siehe Kapitel 4.2.4). Bei den Befragungen der Probanden bzw. der Quartiersbewohnerschaft wurden entsprechende Merkmale erfasst. Auch in den qualitativen Interviews spielten die individuellen sozioökonomischen und demographischen Bedingungen eine ebenso große Rolle wie Lebensstilelemente. Damit können auch Bezüge dieser Dimensionen zueinander hergestellt werden (jedoch aufgrund der beschränkten Zahl der qualitativen Interviews ohne „Repräsentativität“). Während diese Konzepte zuallererst dazu geeignet sind, die Individualmerkmale von Quartiersbewohnern systematisch zu umschreiben, geht es im Folgenden um die Betrachtung des gesamten Quartierskontextes. Dabei steht die Zyklizität der Quartiersentwicklung im Vordergrund.
Demographie und Wohnungsmarktregulation im Quartier
4.1.2
117
„Dreifache Zyklizität“ als Marktmechanik der Quartiersentwicklung
In Kapitel 3.1 wurden einige wichtige Strukturmodelle der Quartiersentwicklung vorgestellt, die meist von zyklischen Entwicklungsprinzipien ausgehen. In der Regel orientieren sich diese Modelle an der Alterung der Bausubstanz und damit an der schwindenden Wohnqualität. Während soziale Veränderungen in der Regel noch mitverhandelt werden, werden demographische Faktoren meist nur randlich erwähnt. In stark wachsenden Städten, wie etwa dem Chicago der 1920er Jahre, mögen demographische Aspekte auch wenig augenfällig gewesen sein. Spätestens aber seit der Zeit der New Town-Planungen weiß man, dass auch der Grad der demographischen Homogenität eines Wohnquartiers zu zyklischen und mitunter höchst problematischen Entwicklungen bis hin zur baulich-sozialen Abwertung führen kann. Die Im-Mobilität (der „Spatial Fix“, Harvey 1989) der Immobilien verursacht enorme Verwertungsprobleme und damit wiederum Steuerungsdesiderate. Man kann also vereinfacht davon ausgehen, dass wir es mit einer „dreifachen Zyklizität“ im Quartier zu tun haben, die in Szenarien berücksichtigt werden muss: Einem baulichen Zyklus, einem Planungszyklus und einem demographischen Zyklus. Alle Zyklen können je nach Quartierstyp, Bau- und Bezugsperiode unterschiedliche Bogenlängen und damit differierende Überschneidungen aufweisen. Wirkungsmodell des demographischen Impacts in Wohnquartieren Im Folgenden soll präzisiert werden, was unter dem bereits mehrfach erwähnten „demographischen Impact“ zu verstehen ist. Den „demographischen Impact“ definieren wir als die Effekte demographischer Prozesse in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Rahmen. Dazu gehören bevölkerungsgeographisch relevante Vorgänge wie Zu- und Abwanderungen (Umzüge, Binnen- und Außenwanderungen) und deren in einen Bezugsraum hineingetragenen soziodemographischen Strukturveränderungen sowie der in-situ-Wandel durch natürliche Bevölkerungsvorgänge in einem Gebiet als Gesamtheit der Lebensverläufe der dort ansässigen Bewohner. Die Wohnquartierseffekte des demographischen Impacts lassen sich folglich an konkreten Indikatoren ablesen (in Analogie zum Modell von Moore & Gober, vgl. Abbildung 13): an der Veränderung der Altersstruktur (z.B. Überalterung), der Haushaltsstruktur (z.B. Zunahme der Einpersonenhaushalte), der sozialen Zusammensetzung (z.B. Zunahme von Rentnern) und der ethnischen Zusammensetzung (z.B. Zunahme von Migranten). Anders als etwa im interregionalen Bezugsrahmen (der stärker von der interregionalen Ungleichverteilung des Wirtschaftswachstums, damit des Arbeitsplatzangebots und entsprechenden Wanderungsbewegungen abhängt) befinden sich Richtung und
118
Konzeptualisierung
Stärke des demographischen Impacts in einem Wohnquartier in einem gegenseitigen Wirkungszusammenhang mit Faktoren der Wohnungsnachfrage sowie des Wohnungsangebotes (Wohnungsmarktinterdependenz des demographischen Impacts). Qualität, Quantität und räumliche Muster der Wohnungsnachfrage werden – ebenso wie die Handlungen der Eigentümer (siehe Friedrich 2004) – durch die bestehende Bevölkerungsstruktur im Gebiet und in der Region bestimmt (also etwa durch Indikatoren wie Haushaltsstruktur, Altersstruktur, Einkommensstruktur, Quell- und Zielgebiete von Wanderungen und Umzügen, ethnische Zusammensetzung, Lebensstile, individuelle Präferenzen und Entscheidungsmuster etc.). Das Wohnungsangebot wird durch die Mikro- und Makrolage sowie die städtebauliche Qualität des Wohnquartiers auch im Vergleich zu anderen Wohnquartieren determiniert (z.B. durch Indikatoren wie Wohnumfeldqualität, Geschichte, Image und Atmosphäre eines Wohnquartiers, Qualität der Bausubstanz, Qualität der Erschließung, Wohnungsgrößen, Wohnungsausstattung und Zielgruppeneignung, Infrastrukturqualität etc.).81 Daraus lassen sich eine Eignung oder Nichteignung eines Quartiers für bestimmte Ziel- bzw. Nachfragegruppen auf dem Wohnungsmarkt und damit Chancen oder Gefahren ableiten, die mit dem demographischen Impact und bestimmten möglichen Entwicklungspfaden zusammenhängen könnten (z.B. evtl. zu erwartende Leerstände). Die künftige Entwicklung von Wohnquartieren bzw. das Ausmaß des dort zu erwartenden demographischen Impacts hängt von deren Anpassungsfähigkeit an künftige Markterfordernisse (also je nach Quartierstyp an eine wachsende oder schrumpfende Nachfrage sowie qualitative Nachfrageveränderungen) ab. Diese Zielgruppenadaptivität ist zum einen vom verfügbaren investiven privaten oder öffentlichen Kapital abhängig, zum anderen aber auch davon, wie schwer (oder: teuer) es – je nach Quartierstyp – aufgrund der heutigen Strukturen ist, auf künftige Entwicklungslinien flexibel zu reagieren. Im Zuge des demographischen Wandels verändern sich auch die Zielgruppen der Wohnungsnachfrage. Nicht nur die anwachsende Gruppe der Senioren, sondern auch andere Nachfrager, wie z.B. die schrumpfende, aber strategisch immer wichtiger werdende Gruppe der jungen (Familien-)Haushalte und deren 81 In der Wohnungsmarktabhängigkeit spiegelt sich eine allgemeine Maßstabsabhängigkeit des demographischen Impacts wider: Neben der globalen (Folgen der Ungleichgewichte internationaler Wanderungsbewegungen und unterschiedlicher natürlicher Bevölkerungsdynamik) und nationalen Ebene (Folgen der Ungleichgewichte in der Binnenwanderungen und interregional differierender natürlicher Bevölkerungsdynamik z.B. für Volkswirtschaften) spielen im Wohngebietsmaßstab und damit in der vorliegenden Studie vor allem die regionale (z.B. für Stadtregionen oder Peripherien), lokale (z.B. für einzelne Stadtteile oder Wohnquartiere) und objektbezogene Ebene (z.B. Einfamilienhäuser, Mietwohnungen) eine Rolle, die sich wiederum durch das Vorherrschen unterschiedlicher Wanderungsprozesse und natürliche Bevölkerungsprozesse unterscheiden.
Demographie und Wohnungsmarktregulation im Quartier
119
heutige und mögliche künftige Wohnpräferenzen sind von zunehmendem Interesse (vgl. BMVBS; BBSR 2009). Passen Nachfragepräferenzen und Angebotsstrukturen nicht mehr zusammen (z.B. wenn Bewohner eines Altbauquartiers den Familienzyklus durchlaufen), nimmt die Wohnzufriedenheit ab und die Umzugsneigung zu, was bei einem Überangebot an Wohnungen in einer schrumpfenden Stadt noch verstärkt werden kann. Während die Nachfrage allgemein relativ dynamisch ist, erweisen sich die Angebotsfaktoren als eher statisch (z.B. Wohnungsgrößen, Haustypen, Infrastruktur etc.). Die Angebotsbedingungen ändern sich nur dann plötzlich, wenn es zu größeren Investitionen etwa in Neubau, Umbau oder auch zum Abriss kommt. Diese Faktoren hängen in komplexer Weise zusammen. Zieht man nur die wichtigsten der soziodemographischen Determinanten und Effekte heran und bezieht sie explizit auf den konkreten sozialräumlichen Zusammenhang des Wohnquartiers, so kommt man zu einem in Abbildung 19 skizzierten, vereinfachten Wirkungsgefüge des demographischen Impacts. Das Modell beschreibt den sozio-demographischen Wandel in einer doppelten Differenzierung: Zum einen wird grob zwischen zwei Altersgruppen unterschieden, den „Silver People“, also den Älteren, sowie – der Einfachheit halber in Abgrenzung zu „Silver“ als „Copper“ bezeichnet – jüngere Alterskohorten. Zum anderen erfolgt eine Differenzierung nach sozialem und im engeren Sinne demographischem Wandel. So wie sich sozialer und demographischer Wandel kohortenspezifisch manifestieren (etwa sinkende Geburtenzahlen vs. steigende Lebenserwartung oder altersspezifische Lebensstilpluralisierung), sind auch die Struktur- und Handlungsfolgen des „Zweiten Demographischen Übergangs“ unterschiedlich: Sie reichen z.B. von verstärkter Mobilität („Copper“) bis zu verstärkter Persistenz („Silver“) und von Schrumpfung (durch Geburtenausfälle) bis zur strukturellen Alterung (durch die Zunahme älterer Haushalte). Je größer die demographische Homogenität ist, desto stärker wird der demographische Impact im Quartier ausfallen (im Sinne einer demographischen Welle, aber auch eines drohenden Immobilien-Abwertungszyklus). Das gesamte System ist eingebettet in entsprechende Governance-Strukturen, die im Spannungsfeld zwischen Wohnungsmarkt und Kommunalpolitik entstehen und in der Wohnquartiersentwicklung als Ganzes ihren Niederschlag finden. Abbildung 19 zeigt auch, dass die Einbettung in die lokalpolitische Ebene eine große Rolle spielt: Inwieweit planen Kommunen bereits hinsichtlich des zu erwartenden Strukturbruchs? Wie reagieren Wohnungsunternehmen? Werden „demographische Szenarien“ in der Flächennutzungs- und Bebauungsplanung bereits mitgedacht (oder nicht)? Tendieren die Akteure eher zur Kooperation oder zu Konkurrenzverhalten? Diese Regulation der Quartiersentwicklung soll im kommenden Kapitel noch einmal kurz zusammenfassend beschrieben werden.
Quelle: eigene Darstellung
Zweiter Demographischer Übergang schafft langfristiges Strukturproblem
mit Wohngebietsbezug u.a.: verändertes Wohnstandortverhalten, größere Wohnmobilität und –motilität aber auch: Persistenz
Folgen „Silver“ II (Individualhandlung)
Singularisierung, Flächenverbrauch
Zunahme „alter“ Haushalte, später Abnahme
Folgen „Silver“ I (Überalterung)
Abnahme familiären Sozialkapitals
Zunahme der Zahl der Haushalte (später Abnahme)
Zunahme kinderloser Haushalte Singularisierung, Flächenverbrauch
Folgen „Copper“ II (Geburtenausfall)
mit Wohngebietsbezug u.a.: verändertes Wohnstandortverhalten, starke Mobilität
Folgen „Copper“ I (Individualhandlung)
Einbettung in die Kommunalpolitik
Impact im Wohnquartier %%%% %%%% %%%% %%%%
Einbettung in den Wohnungsmarkt
„Copper“ = jüngere Haushalte (Nachfrager, Zielgruppen), Alter der erwachsenen Haushaltsmitglieder < 45 Jahre, entsprechende Lebensstile „Silver“ = ältere Haushalte (Nachfrager, Zielgruppen), Alter der erwachsenen Haushaltsmitglieder > 45 Jahre, entsprechende Lebensstile
Altersarmut
strukturelle Alterung (kollektiv)
ansteigende Lebenserwartung (individuell)
steigende Mortalitätsraten
Individualisierung
Ausdifferenzierung neuer Lebensstile der künftigen Generation „neuer“ Senioren („Silver Living“, „Silver Consumers“)
Demographischer Wandel „Silver“
sinkende Geburten- und Fertilitätsraten
Demographischer Wandel „Copper“
Sozialer Wandel „Silver“
verändertes generatives Verhalten
ethnische Heterogenisierung
Individualisierung Pluralisierung von Konsummustern und Lebensstilen, „neue“ Haushaltstypen
Sozialer Wandel „Copper“
120 Theorie: Quartierswandel und demographische Entwicklung
Abbildung 19: Wirkungsmodell des demographischen Impacts in Wohnquartieren
Demographie und Wohnungsmarktregulation im Quartier
4.1.3
121
Komplexe Quartiersregulation durch Sozialkapital und Stadtteil-Regime
Wie funktioniert „Quartiers“-Entwicklung, zumal wir es bei „dem Quartier“ doch mit einem Konstrukt zu tun haben, das sich nicht jeder Akteur zu eigen machen wird? Wie in Kapitel 3.2 ausführlicher dargelegt, handeln die sehr unterschiedlichen Akteure im Quartier auf der Basis ebenso differierender Logiken, die sich allein schon aus dem jeweiligen Handlungsziel ergeben: Wohnungsunternehmen konzentrieren sich in erster Linie auf Immobilienverwertung (Bestandsimmobilien, Neubau, Abriss), während die Kommunen die Stadtentwicklung als Ganzes im Blick haben (Infrastrukturen, Lebensqualität, Stadtteilentwicklung). Bewohner bzw. Nachfrager im Quartier handeln ebenfalls mehr oder weniger rational danach, ihre persönlichen Lebensziele zu erreichen, abhängig von Lebenslage, Lebensstil und Lebenszyklus sowie von einer gewissen Markttransparenz und Konsumentensouveränität. Das Gut „Wohnen“ spielt in den Lebensplanungen der Menschen eine weitaus größere Rolle als andere Konsumgüter. Eine Wohnung oder ein Haus ist in der Regel viel teurer, schwieriger zu bekommen und psychisch meist stärker verankert als andere Güter. Das individuelle Ziel, die Qualität des Wohnens und des Wohnumfelds im Rahmen des Möglichen zu maximieren, kann zum „Zankapfel“ und zum „Stein des Anstoßes“ in einem Quartier werden, das damit oft erst erfunden („sozial produziert“) wird. Wohnen kann also aktivierend wirken, auch über die eigene Wohnung hinaus. Zugespitzt auf den Gegensatz Markt- vs. Staatsakteure bedeutet dies, dass immer wieder kommunikative Probleme und Handlungsdilemmata auftreten (müssen) – und dies, wie wir gesehen haben, sogar innerhalb der gleichen Akteursgruppe. Deshalb ist es zwar wichtig, die individuellen Handlungsprinzipien der jeweils anderen zu kennen, das Quartier sollte letztlich aber als soziales Produkt und die Quartiersentwicklung als sozialer Prozess verstanden werden. Zur Analyse dieses Regulationsprozesses eignen sich insbesondere sozialkapitalund regimeorientierte Konzepte. Beim Sozialkapitalkonzept wie auch beim Ansatz der urbanen Regime dreht sich fast alles um kooperative Netzwerke, Reziprozität und den Individualnutzen, der auf der Basis der Netzwerkzugehörigkeit (im besten Fall) entsteht. Die Sozialkapitaltheorie hält im Kontext der Quartiersentwicklung auch noch einen zusätzlichen Kollektivnutzen bereit, den es über eine Erhöhung des lokalen Sozialkapitalvolumens zu erzielen gilt (etwa: Aktivierung von Bewohnern). Beide Theorien, die Urban Regime Theory wie auch die Sozialkapitaltheorie, lassen sich auf alle Akteurstypen anwenden. In urbanen Regimen, hier gedacht als Stadtteilregime, können neben Unternehmern, Politikern und intermediären Akteuren auch Bewohner (als Privatpersonen oder in der
122
Konzeptualisierung
Funktion als Vertreter eines Beirats, eine Bürgerinitiative o.ä. zivilgesellschaftlicher Institutionen) involviert sein. Sozialkapital – meist verwendet für private (z.B. nachbarschaftliche) Beziehungen – kann ebenso als Katalysator für die (letztlich doch persönlichen) Beziehungen professioneller Akteure verwendet werden.82 Die beiden Hauptbotschaften dieser Ansätze lauten also, dass erstens Quartiersentwicklung generell auf sozialen Beziehungen und Aushandlungsprozessen beruht (und nicht auf einsamen Individualentscheidungen von Immobilienmanagern oder Stadtentwicklern) und zweitens eine normativ verstandene, in irgendeiner Form nachhaltige oder „gute“ Quartiers-Entwicklung mit multiplem Nutzen für unterschiedliche Akteure auf die Etablierung entsprechender netzwerkartiger, kooperativer Governance-Strukturen angewiesen ist (vgl. hierzu etwa Kreutz & Krüger 2007, Kreutz 2007 oder Zimmer-Hegmann & Fasselt 2006). 4.1.4 Synthese Abbildung 20 fasst diese Überlegungen in einem Gesamtkonzept für die vorliegende Studie zusammen. Quer durch die Konzeption zieht sich die analytische Trennung von Struktur und Handlung, wohl wissend, dass diese sich stets gegenseitig beeinflussen. Die theoretischen Grundlagen setzen sich aus der Urban Regime Theory und dem Sozialkapitalansatz auf der Handlungsebene, sowie Quartiersentwicklungskonzepten wie dem Neighborhood Life Cycle und dem Forschungsfeld der Housing Demography auf der strukturellen Ebene zusammen. Zwei Bezugsgrößen spielen dabei eine Rolle: zum einen der Kontext „Quartier“ (eingebettet in übergeordnete Systeme wie „Stadt“ und „Stadtregion“) und zum anderen der „demographische Wandel“, der als „Jetstream“ über allem schwebt, sich aber als konkreter Impact im Quartier manifestieren kann. Daraus resultiert eine ebenfalls zweigeteilte Methodik, die im folgenden Kapitel ausführlich erläutert wird: Handlungsbezogen werden auf der Basis von Szenarien „Modes of Governance“ identifiziert, die dann auf strukturelle „Quartierstypen“ projiziert werden sollen. Als Forschungsergebnisse stehen am Ende eine handlungsbezogene „Toolbox“ sowie ein strukturelles Quartiersentwicklungsmodell mit einem spezifischen Fokus auf demographischen Aspekten.
82 Nicht zufällig hat einer der Hauptvertreter des Sozialkapitalansatzes, James Coleman, dieses Paradoxon der Beziehungen zwischen Individual- und Korporativakteuren in seiner „asymmetrischen Gesellschaft“ beschrieben (Coleman 1986).
123
Methodische Vorgehensweise
Abbildung 20: Konzeptualisierung der Studie Theorien
Bezugsgrößen
Handlung Urban Regime Theory
Multiskalare Einbettung
SozialkapitalAnsatz
Kontext „Quartier“
Neighborhood Life Cycle
„Jetstream“ Demographischer Wandel
Housing Demography
Methodik
Output
Handlung
Handlung
Szenarien „Modes of Governance“
Toolbox
Quartierstypologie
QuartiersEntwicklungsModell
Struktur
Struktur
Multiskalare Einbettung
Struktur
Quelle: Eigene Darstellung
4.2 Methodische Vorgehensweise Wer in die Zukunft sehen oder gar die Zukunft voraussagen will, muss möglichst viel vom Gegenwärtigen und Vergangenen wissen. Gehmacher (1968: 63), zitiert nach Horst W. Opaschowski 2009: 17
Weil vor dem Hintergrund der unsicheren Datenlage und komplexen Fragstellung generell bezweifelt werden darf, ob rein quantitative Methoden zu verwertbaren Ergebnissen führen würden, will sich die Studie nicht auf quantitative Datenauswertungen und deren Modellierung sowie den weitgehend praxisfernen Versuch des Nachweises soziodemographischer Prozesse und Zusammenhänge auf der Wohngebietsebene zurückziehen. Deshalb wurde die Untersuchung auf einer tragfähigen, aber dennoch pragmatischen, quantitativ und vor allem qualitativ ausgerichteten empirischen Basis aufgestellt.
124
Konzeptualisierung
Um zu flexiblen, anwendungsorientierten Instrumentarien zu kommen, müssen reale Ist-Zustände analysiert, typische, modellhafte Ist-Zustände daraus entwickelt, darin mögliche Entwicklungslinien erkannt sowie auf dieser Basis Zukünfte in Form von Szenarien abgeleitet werden. Hier sollen bestimmten, zu ermittelnden Gebietstypen Entwicklungslinien zugeordnet werden, mit deren Hilfe man mögliche Zukünfte von Quartieren einzuschätzen vermag und z.B. über Marktbeeinflussung, strategische Modernisierung oder Belegung, Neubau oder Abriss steuern kann. Um zu verhindern, dass die Betrachtungen zu spekulativ werden, sollen für alle Szenario-Analysen stets die Ergebnisse der konkreten Quartiers-Empirie als Ausgangsbasis und Diskussionsgrundlage dienen. Ziel ist es also, ausgehend von der Analyse und Kategorisierung der heutigen Vielfalt Entwicklungskorridore bestimmter Wohnquartierstypen für morgen darzustellen. Die „lebensweltliche“ Quartiersinnenperspektive spielt hierbei eine ebenso große Rolle wie die Außenperspektive. Aus der Innenperspektive (etwa die eines Bewohners) lässt sich am besten abschätzen, wie intensiv und bindend beispielsweise soziale Netzwerke in einem Quartier sind. Bei starker Ortsbindung z.B. wäre unter bestimmten Bedingungen eine geringere Fluktuation zu erwarten. Die Außenperspektive (etwa die Perspektive eines Immobilienmaklers) hat eher etwas mit Lage, Image und Marktfähigkeit eines Wohnquartiers zu tun. Trotz einzelner quantitativer Komponenten (wie etwa Bevölkerungsmodellrechnungen) sollen im Forschungsdesign deshalb qualitative oder Hybrid-Methoden eine besondere Rolle spielen (Bewohner-, Experteneinzelinterviews, Typisierung, Delphi-Befragung, Szenariotechnik). Der Versuch des Verstehens aufgrund einer großen Vielfalt von qualitativen und quantitativen Informationen soll höher bewertet werden als der Versuch des rechnerischen Nachweises. 4.2.1 Überblick Ausgehend von einer Auswahl an Untersuchungsstädten und Wohnquartieren wurden im Rahmen umfangreicher empirischer Untersuchungen sog. „Quartiersdossiers“ aufgebaut. In zwei Schritten der Komplexitätsreduktion wurde zunächst eine Quartierstypologie entwickelt, mit der dann anschließend ein Szenarioprozess sowie eine flankierende Delphibefragung durchgeführt wurden. Daraus resultieren eine „Toolbox“, also ein Instrumentenkoffer für Kommunen und Wohnungswirtschaft sowie ein erweitertes wissenschaftliches Quartiersmodell (vgl. Abbildung 21).
125
Methodische Vorgehensweise
Abbildung 21: Projektmeilensteine Auswahl Untersuchungsstädte
Auswahl Untersuchungsgebiete Reduktion I
Reduktion II
Komplexität Unübersichtlichkeit
X Städte
X*n Wohnquartiere
Generali sierung I
Generali sierung II
Fragestellung
Quartierstypologie
Ergebnis
EntwicklungsSzenarien Szenariotechnik Delphi I
“Toolbox“ “Modell“ Szenariotechnik Delphi II
Feldforschung in den Quartieren
Quartiersdossiers
Bewohnerund Experteninterviews Fotodokumentation Beobachtung Desktoprecherchen Modellrechnungen Präszenarien Meilenstein Empirie/Analyse
Quelle: Eigene Darstellung
4.2.2 Auswahl der Modellstädte Bei der Auswahl der Modellstädte spielten neben einer Größen- und Ost-WestDifferenzierung die Präsenz innovativer lokaler Governance-Formen und demographische Indikatoren eine Rolle (Kinderanteil unter 6 Jahren, Entwicklung dieses Indikators 1995-2000 sowie Status quo 2000 und Totale Fertilitätsrate 2000; Datenbasis: INKAR/BBR). Die Fokussierung auf größere Städte sollte garantieren, dass eine innere Differenzierung und damit eine Quartiersstruktur entwickelt ist. Auf diesen Indikatoren beruhende Städte-Ranglisten zeigen Essen, Berlin und Leipzig auf den Rängen 84, 87 und 91 sowie Brandenburg/Havel auf Platz 116 von 118 kreisfreien Städten. Auf den nächsthöheren Rängen vor Essen liegen – auf der Maßstabsebene der Großstädte – mit einem deutlichen Abstand von > 15 Punkten Düsseldorf, Dresden und Stuttgart. Gleichzeitig ist zwischen den ausgewählten und den nächst folgenden Städten ein deutlicher Sprung in den sog. „Zukunftsfähigkeits“-Bewertungen des Berlin-Instituts zu verzeichnen (Berlin-Institut 2004). In diese komplexe „Benotung“ gehen viele weitere Indikatoren ein, die über die rein demographische Einschätzung hinausweisen (u.a. wirtschaftliche Indikatoren). Zentral ist, dass – als Grundlage der explorativen Empirie - in den Untersuchungsgebieten der „normale“ demographische Wandel bereits spürbar oder dessen Auswirkungen in näherer Zukunft (10 bis 20 Jahre)
126
Konzeptualisierung
verstärkt zu erwarten sind. Eine solche „Laborsituation“ lässt sich mit der höchsten Wahrscheinlichkeit in bereits heute demographisch ungünstig (jedoch nicht „katastrophal“) strukturierten Städten vorfinden. Um Vergleiche zu ermöglichen und die gesamte Quartiersvielfalt abbilden zu können, wurden Städte in Ost- und Westdeutschland gewählt, darunter Berlin als Mischtyp. Darüber hinaus wurde eine Größendifferenzierung eingeführt, die von der „kleinen Großstadt“ Brandenburg bis zur Millionenstadt Berlin reicht. Während viele Parameter der Untersuchungsstädte ähnlich sind und damit konstant gehalten werden können, unterscheiden sich die Wohnungsmarktkontexte der Modellstädte in hohem Maße – nicht zuletzt aufgrund der variierenden Stadtgrößen (vgl. die ausführlichere Analyse der vier regionalen Wohnungsmärkte im Online-Anhang):
Brandenburg an der Havel: ca. 73.000 Einwohner (2007), Bevölkerungsund Beschäftigungsrückgang, starke demographische Krisensymptome am Wohnungsmarkt (Leerstände, Abrisse). Leipzig: ca. 510.000 Einwohner (2007), langjähriger Bevölkerungs- und Beschäftigungsrückgang, destabilisierter Nachfragermarkt mit starkem Wohnungsüberangebot und Leerständen, in jüngerer Zeit Reurbanisierungstendenzen beobachtbar. Essen: ca. 580.000 Einwohner (2007), Bevölkerungsrückgang trotz Beschäftigungszuwachs, Anbietermarkt mit hohem Bauland- und Mietpreisniveau für Wohnraum, geringste Neubautätigkeit aller deutschen Großstädte. Berlin: ca. 3.400.000 Einwohner (2007), Bevölkerungsstagnation, Konsolidierung des Arbeitsmarktes nach starkem Beschäftigungsrückgang, Sondersituation nachgeholte Suburbanisierung in den 1990ern, hoher Leerstand von ca. 100.000 WE (2005), jüngst starke Aufwertungstendenzen in einigen Innenstadtbereichen.
Darüber hinaus zeichnen sich alle vier Städte hinsichtlich Fragen der Quartiersentwicklung im demographischen Wandel durch innovative und/oder sensibilisierte Akteursstrukturen und Governance-Formen aus, die neben umfangreichen Aktivitäten in den Bereichen „Soziale Stadt“ und „Stadtumbau Ost/West“ z.B. in Integrierten Stadtentwicklungskonzepten (z. B. „SEKo Leipzig 2020“ oder „INSEK Brandenburg“), innovativen zivilgesellschaftlichen Stratregien (z.B. „Bürgerkommune Essen“) oder dem ressortübergreifenden Berliner „Demographiekonzept“ zum Ausdruck kommen. All diese Argumente zusammengenommen machen das Städtequartett zu einem sehr gut geeigneten Untersuchungsterrain.
Methodische Vorgehensweise
127
4.2.3 Auswahl der Untersuchungsquartiere Um eine Quartiersauswahl zu treffen, sind einige Vorüberlegungen nötig. So können Zu- und Abwanderungen das Problem des demographischen Wandels in Quartieren drastisch verstärken. Gebiete mit besonders ungünstigen Ausgangsbedingungen (z.B. lage- oder modernisierungsbedingt, städtebaulich, wirtschaftlich) leiden oft unter einer starken selektiven Abwanderung besser verdienender Haushalte (oft Familienhaushalte). Diese kann zu zwei prinzipiellen Resultaten führen: a. b.
Bei fehlender Zuwanderung kommt es zu einer Abwärtsspirale von Leerständen, Vermarktungsproblemen und Desinvestition sowie oft auch zu einer Überalterung. Wird die Abwanderung durch Zuzügler ausgeglichen, sind diese Zuzügler häufig benachteiligte und/oder migrantische Haushalte. Häufig sind solche Quartiere dann mit sozialen Problemen konfrontiert, die sich aus der kumulierten Benachteiligung ihrer Bewohner ergeben.
Derartige Gleichgewichtsverschiebungen sind auf den städtischen Wohnungsmärkten gang und gäbe. Ähnlich wie simplere Konsumprodukte drohen auch Quartiere als Vermarktungsumfeld der Wohnungsmarktakteure zu „Auslaufmodellen“ zu werden, während andere im Konkurrenzkampf um die gleichen Zielgruppen an Boden gewinnen. In stabilen Gebieten werden solche Verschiebungen permanent kompensiert oder es findet ein relativ langsam voranschreitender Wandel der Bewohnerstruktur statt. In der Untersuchung musste der Schwerpunkt weitgehend auf solche Quartiere gelegt werden, die keine „unaufhaltsam katastrophale“ Dynamik aufweisen. Der längerfristige demographische Impact wird sich dennoch als omnipräsent erweisen, insgesamt das Altersniveau und den Migrantenanteil erhöhen und langfristig zu einer strukturellen Verringerung der Gesamtwohnungsnachfrage führen. Dieser „Impact“ wird auch viele der heute noch relativ stabilen Quartiere betreffen und kommunales oder wohnungswirtschaftliches Handeln erfordern. Deshalb wurden die Quartiere zunächst nach einer aktuellen Momentaufnahme der Altersstruktur ausgewählt. Die den Quartieren heute inhärente Altersstruktur zeigt einen verlässlichen Trend der natürlichen Bevölkerungsentwicklung auf – ohne das ohnehin nicht verlässlich prognostizierbare und gegebenenfalls durch unternehmerische Entscheidungen (z.B. Abriss, Neubau, Marketing) beeinflussbare Wanderungsgeschehen zu berücksichtigen.
128 Tabelle 16:
Konzeptualisierung
Untersuchungsgebiete in den Städten nach altersstruktureller Einordnung im jeweiligen städtischen Kontext
Berlin Hans-Loch-Viertel Plänterwald Am Krusenick Karl-Marx-Allee Süd „homoFort Hahneberg gen jung“ Pulvermühle Wassertorplatz „heteroGartenstadt Neugen“ tempelhof Belß-LüdeckeSiedlung Märkisches Viertel Quelle: Eigene Darstellung „homogen alt“
Leipzig Mölkau Marienbrunn Schönefeld-Ost
Essen Fulerum-Haarzopf Überruhr-Hinsel
Brandenburg Nord Kirchmöser
Volkmarsdorf Schleußig
Katernberg Vogelheim
Hohenstücken
Margarethenhöhe Horst
Zur Auswahl der Quartiere in den Modellstädten wurden deshalb anhand der Altersstrukturen (2005) auf kleinräumlicher Ebene Ranglisten nach den Kriterien „homogen alt“ (sehr großer Anteil an Einwohnern über 65 Jahren), „homogen jung“ (relativ großer Anteil an Einwohnern unter 6 Jahren) sowie „heterogen“ (größtmögliche Annäherung an eine mit Hilfe des Excel-Moduls von Rowland [Rowland 2003] berechnete stationäre Modellbevölkerung) erstellt. Aufgrund der unterschiedlich guten Datenverfügbarkeit wurden in Berlin die Teilverkehrszellen, in Essen und in Brandenburg die Stadtteile sowie in Leipzig die Ortsteile herangezogen. Als weitere Kriterien kamen danach die städtebauliche Struktur, die Abgeschlossenheit bzw. der Quartiers-Charakter des Wohngebiets und lokale Besonderheiten (insbesondere als Ausschlusskriterien wie z.B. ein hoher Anteil an Einwohnern in Seniorenheimen oder eine insgesamt zu geringe Einwohnerzahl) zur Anwendung. Momentaufnahmen der Wanderungsverflechtungen wie auch verfügbare Zeitreihen über zehn Jahre erwiesen sich als enorm sprunghaft und insofern für die Auswahl der Quartiere (ebenso wenig wie für die Bevölkerungsmodellrechnungen, siehe Kapitel 4.2.4.3) ungeeignet. Schließlich wurden 24 Quartiere in die Untersuchung aufgenommen, von denen zehn in Berlin, sechs in Essen, fünf in Leipzig und drei in Brandenburg an der Havel liegen (siehe Tabelle 16). 4.2.4 Feldforschung und Erarbeitung von „Quartiersdossiers“ Die Feldforschung zielte darauf ab, das Verständnis der demographischen Quartiersprozesse anhand konkreter Fallbeispiele zu vertiefen. Am Ende dieser intensiven Forschungsphase mit Vor-Ort-Aufenthalten entstand pro Quartier ein sog. „Quartiersdossier“. Unter einem Quartiersdossier ist eine umfangreiche, struktu-
Methodische Vorgehensweise
129
rierte Informationsquelle für ein Quartier zu verstehen. Es handelt sich dabei um eine „Text-Daten-Bank“, in der die unterschiedlichsten und heterogensten Quellen (Kartenmaterial, Interviewzitate, statistische Kennziffern, Vor-OrtBeobachtungen etc.) gebündelt und bereits zielgerichtet ausgewertet worden sind. 4.2.4.1 Desktop-Recherche Die auf statistischer Basis ausgewählten Quartiere wurden vorab einer eingehenderen inhaltlichen Desktoprecherche unterzogen. Mit Hilfe von Literatur, grauer Literatur und Online-Quellen sowie Online-Mapping-/GIS-Möglichkeiten wurden zahlreiche Materialien zu den Quartieren gesammelt und dabei immer wieder reflektiert und die Auswahl angepasst. 4.2.4.2 Exploration der Quartiere vor Ort In Vor-Ort-Begehungen bzw. PKW-Befahrungen wurden die Quartiere genauer unter die Lupe genommen. Dabei wurde ebenfalls die Quartiersauswahl reflektiert. Gleichzeitig wurden die Quartiere fotografiert und damit eine digitale Bilddokumentation aufgebaut. Diese Exploration wurde unterstützt durch 3 bis 5 leitfadengestützte, offene Zaungespräche mit Bewohnern in jedem Quartier, in denen folgende Themen aufgegriffen wurden:83
Eigene Wohnsituation, Wohnzufriedenheit, Umzugs-/Persistenzmotive, Ortsbindung, individuell bzw. soziale konstruierte Quartiersgrenzen (vs. administrative Grenzen). Handlungsoptionen angesichts des eigenen Alterns Bewertung des Quartiers (Qualität des Wohnungsbestands, des Wohnumfelds, der Infrastruktur, der Lagequalität, Mieten- bzw. Kaufpreisentwicklung, ggf. Bewertung der vermietenden Wohnungsunternehmen oder Genossenschaften) Bewertung der Nachbarschaft, eigene soziale Einbindung in die Nachbarschaft, Verhältnis der Etablierten zu Neuzuzüglern Subjektive Einschätzungen und Bewertungen zur Fluktuation, zu den zuund wegziehenden Haushalten.
83 Ursprünglich waren etwa doppelt so viele Quartiere wie die jetzigen in der engeren Wahl, die zum Teil ebenfalls mit Vor-Ort-Begehungen, Fotodokumentationen und ersten Bewohnergesprächen voruntersucht wurden. Auf diese Art und Weise ist ein noch deutlich größeres Erfahrungsspektrum in die Studie eingeflossen (z.B. auch als Hintergrund der späteren Typisierung, vgl. Kapitel 4.2.5).
130
Konzeptualisierung
Subjektive Einschätzungen zur künftigen Quartiersentwicklung und zu möglichen Handlungserfordernissen (vgl. hierzu auch Steinführer 2002a).
Darüber hinaus wurden Leitfaden-Experteninterviews mit Vertretern der Kommunen, der Wohnungswirtschaft und des quartiersbezogenen Non-Profit-Sektors geführt, die sich den jeweiligen Quartieren, aber auch übergeordneten Fragestellungen widmeten:
Beschreibung, Einschätzung und Bewertung der heutigen Situation im Quartier (aktuelle Maßnahmen, Wohnungsgrößen, Mietniveau, Förderung, Leerstandsentwicklung, Fluktuation, Sozialstruktur, Migrantenanteile, Eigentümerstruktur - Status quo, Veränderungen in den letzten Jahren) Charakter, Atmosphäre und Image des Quartiers aus Expertenperspektive Einschätzung der Lebensstiltypen im Quartier (nach Sinus-Milieu-Standard) Zu- und Wegzüge (aktuelle Trends, Ausmaß, Altersgruppen, ethnische Gruppen, sozioökonomische Gruppen, Lebensstilgruppen) Einschätzung zukünftiger Quartiersentwicklung vor dem Hintergrund unterschiedlicher (realistischer) gesamtstädtischer Entwicklungsmöglichkeiten (Stärken-Schwächen-Analyse des Quartiers, künftige Zielgruppen für das Quartier, künftige Vermarktbarkeit der Wohnungen, erwartbare Problemfelder, notwendige politische oder wirtschaftliche Maßnahmen, Ideen für ein Quartiers-Entwicklungskonzept, Worst-Case-Szenario, „Was-wärewenn-Szenarien“, Eintrittswahrscheinlichkeiten bestimmter Ereignisse)
Die Ergebnisse sowohl der Experten- als auch der Bewohnerinterviews finden sich anonymisiert in der Szenarienentwicklung wieder (vgl. Kapitel 5). Zitate werden dort mit „B_“ (Bewohner) bzw. „E_“ (Experten) zuzüglich einer weiteren Codierung kenntlich gemacht. Tabelle 17 fasst noch einmal zusammen, wo wieviele Bewohner- und Experteninterviews durchgeführt wurden. Tabelle 17:
Anzahl und Verteilung der Bewohner- und Experteninterviews
Quartiere Experteninterviews* Bewohnergespräche Summe
Berlin
Leipzig
Essen
10 22 35 57
5 5 15 20
6 8 21 29
Brandenburg 3 5 12 17
Summe 24 40 83 123
* Im Durchschnitt konnten pro Experteninterview zwei Quartiere besprochen werden. Dies variierte jedoch je nach Stadt sehr stark. Darüber hinaus wurden die Experteninterviews oft mit zwei Gesprächspartnern geführt (häufig aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen). In dieser Tabelle ist jedoch nur die Anzahl der Gespräche verzeichnet.
131
Methodische Vorgehensweise
4.2.4.3 Bevölkerungs-Modellrechnungen Parallel dazu wurden Modellrechnungen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung für jedes der 24 Untersuchungsquartiere auf der Basis der administrativen Abgrenzungen vorgenommen. Bevölkerungsbewegungen lassen sich am einfachsten mit der demographischen Grundgleichung als Effekt des Zusammenspiels von Fertilität, Mortalität und Migration abbilden. Für diese Rechnungen wurde ein flexibel anwendbares Prognosemodell von Rowland (2003) den Bedürfnissen dieses Projekts angepasst und genutzt. Das Modell basiert auf einer einfachen Kohorten-Komponenten-Methode. Diese weit verbreitete Methode nutzt eine differenzierte demographische Grundgleichung, indem mit ihr eine zusätzliche Alters- und Geschlechtsunterscheidung vorgenommen werden kann (nach 5-Jahres-Alterskohorten). Dies hat den Vorteil, dass demographische Wellen berücksichtigt werden, die in der Altersstruktur bereits angelegt sind (also das „Durchaltern“ einzelner Kohorten, vgl. Rowland 2003: 439). Abbildung 22: Graphische Darstellung einer Bevölkerungs-Modellrechnung am Beispiel Brandenburg-Nord (bis 2030/2050) 2.500
Annahmen: TFR LE(w) LE(m) NMig CBR CDR
2.000
2005
2030
1,20 82,0 75,5 0,0 5,3 16,6
1,54 86,0 80,4 0,0 5,7 22,5
Altersstruktur NMig (Modell):
1.500 Einwohner
ohne Wanderungen
Migrationsrate (Modell): Typ 0: ohne Migration
0-19 J.
1.000
20-59 J. 60-79 J. > 80 J.
500
Datengrundlage: Amt für Statistik Stadt Brandenburg, AfS Berlin-Brandenburg (Stand: 31.12.2005 bzw. 2005), eigene Berechnungen auf der Basis des Modells von Rowland (2003)
0 2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Quelle: Eigene Berechnungen
Im Prinzip werden dabei für einen Zeitraum die künftigen alters- und geschlechtsspezifischen Kohortengrößen bestimmt, die dann wiederum als Berech-
132
Konzeptualisierung
nungsbasis für ein darauf folgendes Zeitintervall dienen. Die rechnerische Einbeziehung der kleinräumigen Wanderungsdaten in die Prognose wurde verworfen, da exemplarische Berechnungen auf der Basis der Wanderungsdaten von 1996 bis 2005 keinerlei für eine Extrapolation geeigneten Trends hervorbrachten, sondern sich im Gegenteil durch drastische Brüche auszeichneten (z.B. aufgrund von Neubau, Rückbau, Strukturbrüchen in der Stadtentwicklung oder auch Datenungenauigkeit auf kleinräumiger Ebene). Die Wahl eines eher qualitativen Untersuchungsdesigns stellt sich auch hier als die einzig sinnvolle Herangehensweise heraus. In den einfach gehaltenen Modellrechnungen wurde also die natürliche Bevölkerungsentwicklung bis 2030 prognostiziert. Die Wanderungen können jedoch je nach Fragestellung anhand von typischen Migrationsbäumen (Typ A: Trend Überalterung I [selektive Zuwanderung], Typ B: Trend Überalterung II [selektive Abwanderung], Typ C: Trend Verjüngung I [selektive Zuwanderung von Familien], Typ E: Trend intergenerationale Erneuerung, Typ D: Trend Verjüngung II [selektive Zuwanderung von jungen Erwachsenen]) als Szenarien in das Rechenmodell einbezogen werden, um verschiedene denkbare Abläufe darstellen und mit den späteren Szenarien kontrastieren zu können (siehe Abbildung 22: Darstellung ohne Migration [„Typ 0“]).84 4.2.4.4 Quartiersbezogene Lebensstildaten Durch eine Kooperation mit dem Bundesverband für Wohneigentum und Stadtentwicklung e.V. (vhw) konnte darüber hinaus auf die kommerziellen SinusMosaic-Milieudaten zugegriffen werden. Der vhw fertigte eine Sonderauswertung seiner Lebensstil-Datenbanken kleinräumig für alle Untersuchungsquartiere dieses Projekts an und stellte diese zu Forschungszwecken zur Verfügung. Diese Daten, die sonst im Rahmen dieser Studie nur mit einem nicht vertretbaren Mehraufwand zu erheben gewesen wären, konnten mit den nicht-repräsentativen Einschätzungen aus den Interviews verglichen und auf diese Art und Weise reflektiert werden. 4.2.4.5 Präszenarien Am Ende der Feldforschung entstanden für jedes „reale“ Quartier hypothesenartige Präszenarien, die in der Regel als Kontrastszenarien gestaltet sind („Worst Case“ vs. „Best Case“ oder „weiter so“). 84
Nähere Informationen zu den Wanderungstypen finden sich im Online-Anhang.
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 23: Inhalt und Struktur der 24 Quartiersdossiers
Methodische Vorgehensweise
133
134
Konzeptualisierung
Dabei wurden auf der Grundlage des neu gewonnenen empirischen Überblicks wesentliche Charakteristika der Quartiere herausgearbeitet, mit möglichen künftigen Entwicklungen in Beziehung gesetzt und zugespitzt. Diese Szenarien wurden zum Teil auch in Expertengesprächen zu den einzelnen Quartieren diskutiert. 4.2.4.6 Quartiersdossiers Am Ende dieses empirischen Prozesses lagen 24 Quartiersdossiers vor, die aus den unterschiedlichsten Quellen entsprechende Themenbereiche mit quantitativen Daten und mit qualitativen Informationen (u.a. durch Interviewzitate und Fotos) so vollständig und strukturiert wie möglich abdecken. Über die Dossiers hinaus wurde die oben bereits angesprochene aktuelle Wohnungsmarktsituation für alle vier Stadtregionen genauer herausgearbeitet. Die empirische Herangehensweise an die Quartiere wurde u.a. durch die oben beschriebene Triade „Lebenszyklus/Lebenslage/Lebensstil“ strukturiert. Weiterhin gab es auch noch andere strukturelle Aspekte, die mit der empirischen Forschung erhoben worden sind. Die Dossiers können aufgrund ihres Umfangs hier nicht abgedruckt werden. Abbildung 23 dokumentiert jedoch die generelle inhaltliche Struktur der Dossiers. 4.2.5 Entwicklung der Quartierstypologie Auf der Basis der in den Dossiers enthaltenen Daten und Informationen wurde in einem nächsten Schritt eine Quartierstypologie erarbeitet. Unter einer Typologie versteht man bekanntermaßen das „Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw.- Typen eingeteilt wird […], so dass sich die Elemente innerhalb eines Typus möglichst ähnlich sind […] und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden […]“ (Kluge 2000: 2).85
Überträgt man diese definitorischen Desiderate auf das hier gewählte Thema, so wird schnell deutlich, dass der geforderte Disjunktionsgrad der Typen kaum erreichbar sein wird. Das „Quartier“ als solches ist ein Konstrukt, das stellvertretend für ein ganzes Faktorensetting steht, insofern eine inhärente Unschärfe besitzt und gängigen Klassifikationstechniken die Grenzen aufzeigt. Darüber hinaus ist die Zahl der Untersuchungseinheiten relativ gering und der Variablenmenge groß, was zu willkürlichen Selektionen verleiten kann. Dennoch schien 85 Zur Methodik der Typenbildung allgemein vgl. auch Flick 1995: 254ff., Bohnsack & NentwigGesemann 2003
135
Methodische Vorgehensweise
eine systematische, aber auch auf deren Funktion innerhalb der Studie zugeschnittene Typisierung nicht unmöglich oder unhaltbar. Dazu war eine behutsame explorative Annäherung mittels verschiedener Techniken und die Umgehung einer „rein qualitativen“ wie einer „rein quantitativen“ Vorgehensweise notwendig. Ausgehend von quantitativen und qualitativen Indikatoren wurden zunächst diverse eindimensionale Rankings erstellt (etwa nach demographischen Daten, städtebaulichen Gesichtspunkten, Baualter etc.). Da in den vier Modellstädten nicht alle gewünschten Daten gleichermaßen verfügbar gemacht werden können, musste die Indikatorenauswahl am Ende auch auf solche Restriktionen Rücksicht nehmen. Da für zukünftiges Handeln kommunaler und wohnungswirtschaftlicher Akteure die städtebaulichen Eigenheiten der Siedlungen als besonders wichtig erscheinen (z.B. homogene Wohnungsgrößen bei bestimmten Siedlungstypen), wurde auch in der Typisierung eine städtebauliche Komponente angestrebt und entsprechende Indikatoren integriert (diese Vorgehensweise ist durchaus gängig, wie bisherige Quartierstypologien zeigen: vgl. Böltken et al. 2005: 124ff., ferner: Hoffmeyer-Zlotnik 1995, Neumann 2003; vgl. Tabelle 18). Tabelle 18:
Merkmalsraum für die Typisierung (Basisjahr: 2005)
Demographische Indikatoren
Städtebauliche Struktur Urbanität Soziale Situation Internationalität Wohnungsmarkt-Indikatoren
Quotient Jugend-/Altenquote (<15Jährige bzw. >65Jährige bezogen auf 15-65Jährige) Durchschnittliche Haushaltsgröße Totale Fertilitätsrate (TFR49, Leipzig: TFR44) Städtebau-Typ (dichotom, eigene Setzung) Städtebauliches Leitbild (dichotom, eigene Setzung) Ost-/Westdeutschland (dichotom) Einwohner pro km² Arbeitslose pro 100 Erwerbsfähige Anteile der einzelnen Sinus-Milieus an der Gesamtbevölkerung des Quartiers Anteil der Ausländer ohne deutschen Pass pro 1.000 Einwohner Lagequalität (dichotom: „eher schlecht“ / „eher gut“, eigene Setzung auf der Basis immobilienwirtschaftlicher Indikatoren)
Quelle: Eigene Darstellung
Eine auf dieser Variablen-Basis (siehe Tabelle 18) durchgeführte hierarchische Clusteranalyse der 24 Quartiere ergab zehn Cluster, die relativ konsistente städtebauliche Typen bzw. dazu gehörige städtebauliche Leitbilder umfassen (Beispiel: Neutempelhof [Berlin], Margarethenhöhe [Essen] und Marienbrunn [Leipzig] als gartenstadtähnliche Siedlungen in einem Cluster, Katernberg und Vogel-
136
Konzeptualisierung
heim [beide Essen] als überprägte Zechensiedlungen in einem Cluster oder Hans-Loch-Viertel, Karl-Marx-Allee Süd [beide Berlin] und Hohenstücken [Brandenburg a.d.H.] als große Siedlungen des industriellen Wohnungsbaus der DDR in einem Cluster; vgl. das Dendrogramm in Abbildung 24).86 Abbildung 24: Dendrogramm Hierarchische Clusteranalyse; Extraktion von 10 Clustern; VAR-Set: 36 VAR Clustermethode: Ward – Maß: Quadrierter euklidischer Abstand – Z-Standardisierung
Quelle: eigene Berechnungen
Einerseits ist dies dem relativ starken Einfluss der entsprechenden dichotomen Variablengruppe geschuldet, andererseits tendiert die metrische Variable Einwohnerdichte durchaus zu ähnlichen, jedoch weniger eindeutigen Klassifikatio86
Eine Diskriminanzanalyse mit den metrisch skalierten (unabhängigen) Variablen und der präferierten 10-Cluster-Lösung als abhängigen Variablen ergab eine korrekte Klassifikation von 95,8 % der ursprünglich gruppierten Fälle. Zur Methode der Clusteranalyse vgl. Wiedenbeck & Züll 2001 sowie die beispielhafte Anwendung im Rahmen einer Gemeindetypisiering in Behrensdorf 2007.
Methodische Vorgehensweise
137
nen. Die demographischen Faktoren treten deshalb – anders als in manchen anderen Variablenkonstellationen – in den Hintergrund, ein Effekt, der aufgrund der späteren Verwendung der Typologie in differierenden demographischen Szenarien durchaus wünschenswert ist. Aus der Perspektive dieser Untersuchung erscheint eine solche Fokussierung als notwendig: Während sich die Handlungsoptionen der Akteure um das Quartier und die Marktgängigkeit der relativ immobilen Quartiers- bzw. Bestandsausstattung gruppieren, ist die Nachfrageseite zu guten Teilen relativ mobil, flexibel und schnell – wenn sich die Bedingungen verschlechtern, sucht sie sich ein neues, passenderes Setting, also ein anderes Quartier des gleichen Typs oder einen Quartierstyp mit völlig anderem Charakter. Eine weitere Frage stellte sich nach der gewünschten Anzahl der Quartierstypen. Präferiert man wenige gut besetzte Typen, wird der Informationsverlust immer größer (z.B. ganz beschränkt auf Bauformen wie z.B. Einfamilienhausoder Blockrandbebauung, wie etwa in Iwanow 2003 oder Deilmann 2003). Strebt man eine größere Vielfalt von Typen an, muss man damit rechnen, dass gegebenenfalls auch Einzelfälle zum Typus erhoben werden müssen. Letztere Variante wurde für dieses Forschungsprojekt gewählt, weil die mit überschaubarem Aufwand ohnehin nicht adäquat abzubildende, beobachtbare Quartiersvielfalt sonst noch stärker abstrahiert worden wäre. Am Ende eines qualitativen, kreativen Abwägungsprozesses unter Zuhilfenahme der erwähnten multivariaten statistischen Methoden wurden letztlich acht Quartierstypen festgelegt, die aus städtebaulichen Leitbildern und dazugehörigen typischen Bauformen bestehen (siehe die Synopse in Tabelle 19): So bezeichnet Typ A („Industrie“) gründerzeitliche Altbauquartiere oder auch Werks- und Zechensiedlungen, Typ B („Utopie“) gartenstadtähnliche Siedlungen und Reformwohnungsbau der 1910er bis 1930er Jahre und der Typ C („Aufbau“) Quartiere der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg umfasst. Typ C, in der Regel Zeilenbauten der 1950er und 1960er Jahre, kann noch in zwei Untertypen unterteilt werden: einen West-Typus (bisweilen als „Mau-Mau“-Siedlungen bekannt) und einen Ost-Typus, der durch die überwiegende „Q3A“Plattenbauweise identifizierbar ist. Unter Typ D („Urbanität“) sind BRDGroßsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre zu verstehen (Leitbild „Urbanität durch Dichte“, häufig sozialer Wohnungsbau), während Typ E („Platte Ost“) verkürzt als das DDR-Pendant zu Typ D gelten kann – gebaut vor allem in der Formensprache der „WBS70“ bis in die 1980er Jahre hinein. Mit Typ F („Postmoderne“) sind Quartiere gemeint, die seit den 1990er Jahren vorzugsweise als Kapitalanlageprojekte entstanden sind und einen hohen Mehrfamilienhausanteil aufweisen.
Leipzig-Schleußig
LeipzigVolkmarsdorf
EssenMargarethenhöhe LeipzigMarienbrunn
BerlinNeutempelhof
EssenKaternberg
Essen-Vogelheim
C6
Gartenstadt/ Reformwohnungsbau der 1920er/1930er Jahre
Typ B: UTOPIE
C9 C10
Gründerzeitliche Stadterweiterung bis 1920, Zechensiedlungen
Typ A: INDUSTRIE
Quartierstypologie
Quelle: Eigene Darstellung
Alternative Zuordnungen:
Quartiere
Cluster
Kurzbeschreibung des Typs
Typ
Tabelle 19:
LeipzigSchönefeld-Ost BerlinPlänterwald
BrandenburgNord Essen-Horst
BerlinKotti/ Wassertorplatz
C5
BerlinMärkisches Viertel
C2
Urbanität durch Dichte (60er/70er Jahre)
Typ D: URBANITÄT
BerlinBelß-LüdeckeSiedlung
Nachkriegsstädtebau der 50er/60er Jahre (u.a. „MauMau“-ZeilenbauSiedlungen)
Typ C: AUFBAU
BerlinKarl-Marx-Allee Süd BrandenburgHohenstücken
Berlin-HansLoch-Viertel
C4
Sozialistischer industrieller Wohnungsbau (1970er/1980er Jahre)
Typ E: PLATTE OST
Berlin-Am Krusenick
BerlinPulvermühle
C1
Postmoderne Projektentwicklung (Geschosswohnungsbau ab 1990er Jahre)
Typ F: POSTMODERNE
(ÜberruhrHinsel)
(FulerumHaarzopf)
Berlin-Fort Hahneberg
C3
Antiurbane Ein- und Zweifamilienhaus-Gebiete (seit 1960er/ 1970er Jahren bis heute)
Typ G: WÜSTENROT
(Vogelheim)
(Horst)
Leipzig-Mölkau
BrandenburgKirchmöser
Essen-FulerumHaarzopf
Essen-ÜberruhrHInsel
C7 C8
Mischgebiete / Überprägte alte Dorfkerne (kontinuierlicher Wandel)
Typ H: VILLAGE REVISITED
138 Konzeptualisierung
Methodische Vorgehensweise
139
Typ G („Wüstenrot“) vereint mehrere Dekaden der Einfamilien-, Doppel- und Reihenhausquartiere seit den frühen 1960er Jahren, während Typ H („Village Revisited“) häufig vorkommende Hybrid-Quartiere bezeichnet, die – oft am Stadtrand – aus überprägten alten Dorfkernen entstanden sind und sich durch heterogene Baustrukturen und städtebauliche Gemengelagen auszeichnen (siehe Tabelle 19 sowie einige Rahmendaten und die Szenarien zu den einzelnen Quartierstypen im Anhang). Dabei ist zu beachten, dass sich kaum eines der untersuchten Quartiere vollkommen mit dem jeweiligen Typus deckt. Die Zuordnung erfolgte nach dem Grundcharakter des Stadtteils und kann in der späteren Verwendung als empirische Basis der Szenarien durchaus variiert werden. Die auf diese Art und Weise festgelegte Quartierstypologie wurde als Untersuchungsraster sowohl in der Szenarienentwicklung als auch in der DelphiBefragung (siehe folgendes Kapitel) genutzt. 4.2.6 Delphi-Befragung Ziel ist es, Zukunftsszenarien für Quartierstypen zu entwickeln. Dazu war es zum einen notwendig, die oben beschriebenen umfangreichen empirischen Explorationen in konkreten Quartieren durchzuführen. Für die realen Quartiere konnten auf dieser Basis bereits einfache „Präszenarien“ formuliert werden (s.o.). Der eigentliche Szenarioprozess, auf den das Projekt abzielt, ist jedoch ungleich komplexer, zumal die avisierten Szenariokonstruktionen ihrerseits an den konstruierten Quartierstypen ansetzen sollen. Um diesen Szenarioprozess fundiert gestalten zu können, ist die im Rahmen des Vorhabens durchgeführte Delphi-Befragung zentral. Sie dient der „Suche nach Orientierungswissen“ (Häder 2002: 16, vgl. auch Becker 1974, Masser & Foley 1987, Cuhls 2009) und hat entscheidende Vorteile gegenüber anderen Befragungsmethoden wie etwa Gruppenbefragungen oder Expertenbefragungen (vgl. van Dijk 1990): „Ein Vorteil der Delphi-Methode gegenüber einstufigen Expertenbefragungen besteht in der gezielten Auslösung von kognitiven Prozessen. Dadurch wird die Validität der Expertenurteile erhöht. […] Gleichzeitig gelingt es mit der Delphi-Technik einen größeren Kreis von Experten zu befragen, ohne dabei – wie bei Gruppendiskussionen – zu stark von Meinungsführern und Konformitätszwang beeinflusst zu werden“ (Fink & Siebe 2006: 272).
Mit dem gebündelten Expertenwissen eines Delphi-Gremiums sollten hier Einflussfaktoren der Quartiersentwicklung, Schlüsselfaktoren, typische Akteurskonstellationen sowie Rangfolgen abgeleitet, wichtige Entwicklungstrends ermit-
140 .RQ]HSWXDOLVLHUXQJ telt und Zusammenhänge beleuchtet werden. Es handelt sich hier also im Wesentlichen um ein „Typ-3-Delphi“87 zur „Ermittlung und Qualifikation der Ansichten einer Expertengruppe über einen diffusen Sachverhalt“ (Häder 2002: 32). Zweistufige Delphiverfahren gelten dabei am effizientesten, da sich der Nutzen weiterer Wellen häufig als marginal herausgestellt hat (Fink & Siebe 2006: 274). Tabelle 20:
Struktur des Expertenpanels der ersten Welle der DelphiBefragung nach Branchenzugehörigkeit
Öffentliche Hand Wissenschaft Wohnungswirtschaft Consulting Wohnungswirtschaftliche Verbände Gesamt
Gesamt 21 24 13 14 4
Rücklauf 17 16 6 6 2
Prozent Branche 81 67 46 43 50
Prozent gesamt 36 34 13 13 4
76
47
62
100
Quelle: Delphi-Befragung, Projekt „DemoImpact“ (2008)
Tabelle 21:
Zusammenfassung der Themenfelder der ersten Welle der Delphi-Befragung (in der Reihenfolge des Fragebogens)
1.
Selbsteinschätzung und Relevanzfragen
2.
Bewertungsprofil „relevante Akteure“
3.
Fiktive Systembild-Skizze „Stadtumbau Ost/West“
4.
Bewertungsprofil „Einflussfaktoren“
5.
Schlüsselfaktoren
6.
Einschätzung Reurbanisierung vs. Suburbanisierung (Städte)Bauliche Struktur 2030 (Itembatterie) Governance 2030 (Itembatterie)
7. 8.
9. Eigentümerstruktur 2030 (Itembatterie) 10. Sozialstruktur und Wohnmilieus 2030 (Itembatterie) 11. Vermarktung 2030 (Itembatterie) 12. Nachbarschaft 2030 (Itembatterie) 13. Gefährdete Quartierstypen: Einschätzung 14. Schwächen gefährdeter Quartiere 15. Stärken der robusten Quartiere 16. Abschließende Bewertung
Quelle: Delphi-Befragung, Projekt „DemoImpact“ (2007/2008)
Die Auswahl des Expertenkreises erfolgte aufgrund inhaltlicher Gesichtspunkte (Bekanntheit der Experten aus Publikationen, Tagungen o.ä. – Recherchen über 87
Neben dem hier ausgeführten Delphi zur Ermittlung von Expertenmeinungen (Typ 3) unterscheidet Häder den Typus zur Ideenaggregation (1), denjenigen zur Bestimmung eines Sachverhalts (2) sowie das „Konsens-Delphi“ (4) (Häder 2002: 36).
Methodische Vorgehensweise
141
das Internet). Die „Kandidatenliste“ wurde mit zwei weiteren Kennern der „Szene“ diskutiert und reflektiert, ergänzt und präzisiert. Am Ende kristallisierte sich ein Kreis von 76 Probanden aus den Kommunen, Ländern und Bundesinstitutionen, aus der Wohnungswirtschaft (Verbände, Unternehmen), aus dem Bereich wissenschaftlicher oder kommunaler Dienstleistungen und aus der Wissenschaft heraus, die mit einem 19-seitigen Fragebogen postalisch kontaktiert wurden. Abbildung 25: Titelblätter der Delphi-Fragebögen
Quelle: Eigene Darstellungen, Delphi-Befragung 2007/2008
Weil die Zielgruppe eher im Bereich der Entscheidungsträger angesiedelt ist, wurde bewusst auf elektronische Verbreitungswege verzichtet (sog. „Paper-andpencil-Delphi“, Fink & Siebe 2006: 273, vgl. zum Delphi-Design auch Häder 2002: 85ff.). In einer zweiten Delphi-Runde wurden die aufbereiteten Ergebnisse der ersten Welle dem Expertenfeedback unterworfen und anschließend ein weiteres Mal kalibriert. Die Rücklaufquoten der beiden 2007 und 2008 durchgeführten Befragungswellen lagen bei 61,8 % und 76,6 % (siehe Tabelle 20). Neben dem hohen Rücklauf war die Qualität der ausgefüllten Bögen bemerkenswert: Obwohl sich die Fragebögen durch einen beachtlichen Umfang, eine hohe Komplexität und zahlreiche offene Fragen auszeichneten, hatte sich
142
Konzeptualisierung
die Mehrzahl der Probanden mit den Inhalten intensiv beschäftigt und einen entsprechend differenzierten Input abgegeben. Gelegentliche Rückmeldungen zur Delphi-Befragung legen die Vermutung nahe, dass das Thema auf ein großes Interesse gestoßen ist. Tabelle 21 zeigt die Oberthemen der Delphi-Befragungen im Rahmen dieser Studie in einer Übersicht (siehe zur Illustration auch Abbildung 25).88 Kritik der Delphi-Methode Es gibt noch keine umfassende Theorie des Delphi-Konzepts (Häder 2002: 51). Vielleicht standen auch deshalb Delphi-Befragungen häufiger im Zentrum (öffentlicher und fachlicher) Kritik und dies vor allem, weil vermeintlich prognostizierte Zukünfte letztlich nicht eingetroffen waren – Experten sich also in irgendeiner Form geirrt hatten (Häder 2002: 27f.). Inwieweit eine Delphi-Befragung gelingt oder nicht, hängt jedoch auch von der Fragestellung, vom Delphi-Typ und von der Durchführung ab. Wollte man eine Delphi-Befragung evaluieren, so wäre zumindest bezüglich bestimmter Delphi-Typen eher die Frage, inwieweit die Delphi-Methode ein besseres Ergebnis erbringt als ein zufälliges Einzelurteil. Dies wurde in der Fachliteratur jahrelang kontrovers diskutiert, aber Häder zufolge letztlich durch kognitionspsychologische und sozialpsychologische Ansätze positiv bestätigt (Häder 2002: 40ff.): „Allen Expertenurteilen bei Delphi-Befragungen ist zunächst gemeinsam, dass von ihnen lediglich unter Unsicherheit ein Urteil über den erfragten Sachverhalt abgegeben werden kann. Die Vielfalt an Wahrnehmungen, an Fachwissen und an Intentionen, über die die Experten verfügen, erlaubt es diesem Personenkreis allerdings, mentale Modelle zu erstellen, auf deren Grundlage sie zu qualitativ hochwertigen Urteilen bereits in der ersten Welle einer Delphi-Befragung gelangen“ (Häder 2002: 46).
Auch in der zweiten Welle wurden in Studien weitere Lerneffekte bei den Experten festgestellt, die u.a. auf dem Informationsgewinn durch die Rückmeldung aus der ersten Welle beruhen (Häder 2002: 47). Die rückgemeldete Gruppenantwort kann als Kontexteffekt interpretiert werden, der zur Verbesserung der Einzelurteile führt (ebd.: 49). Diese Effekte konnten in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls festgestellt werden. So tendierten etwa die Standardabweichungen der
88 Teilergebnisse der Delphi-Befragung werden im Rahmen der Szenarioentwicklung (Kapitel 5) vorgestellt. Eine Detailauswertung wurde in Schnur & Markus (2009) vorgenommen. Die beiden Delphi-Fragebögen sind darüber hinaus im Online-Anhang enthalten.
Methodische Vorgehensweise
143
Antworten der zweiten Welle in fast allen Fällen dazu, geringer zu werden, d.h. dass sich in der Gruppe ein Meinungskern konsolidiert hat. Trotz des beachtlichen Rücklaufs sollte der Ausfall in der zweiten DelphiRunde diskutiert werden. Dieser Ausfall kann systematisch entstanden sein, wofür es drei generelle Erklärungsmöglichkeiten gibt (Fink & Siebe 2006: 276f.): 1. 2. 3.
Dissonanzhypothese: Die Aussteiger sind völlig anderer Meinung als die Mehrheit. Nonkonformitätshypothese: Die Aussteiger haben wesentlich extremer geurteilt als die Mehrheit. Kompetenz-Hypothese: Die Aussteiger sind unsicher und halten sich für inkompetent.
Zwar liegen hierzu keine gesicherten Erkenntnisse vor, aus den vereinzelten Rückmeldungen der Experten lassen sich aber einige Rückschlüsse ziehen. So ist anzunehmen, dass Dissonanzen insbesondere bei wohnungswirtschaftlich orientierten Akteuren auftraten, da der Fragebogen stärker auf Quartiersentwicklung als auf Bestandsentwicklung ausgerichtet war und damit automatisch eine gewisse Nähe zur Stadtentwicklungspolitik hatte. Außerdem könnte die Kompetenzhypothese zutreffen. Der hohe Komplexitätsgrad des Fragebogens und die starke Spezialisierung auf Quartiere könnte manchen Experten abgeschreckt haben, an der zweiten Runde teilzunehmen. Vereinzelt dürfte auch der befürchtete Zeitaufwand für die Beantwortung der Fragen eine Rolle gespielt haben. Die Delphi-Technik birgt einige methodische Gefahren in sich, die hier ebenfalls abgewogen werden sollen (nach Fink & Siebe 2006: 278): Die generelle Gefahr der „Unterschätzung der fernen Zukunft“ ist sicherlich auch in der hier durchgeführten Befragung relevant. Auch das Forscherteam dürfte bei aller Reflexion nicht frei von der „nahen Zukunft“ gewesen sein. Jedoch konnte dieser „zeitliche Bias“ in der anschließenden Szenarienentwicklung systematisch relativiert werden. Weiterhin wird häufig eine Vereinfachungstendenz in DelphiAussagen konstatiert. Die Erfahrungen aus der vorliegenden Befragung zeigen eher das Gegenteil. Viele der Experten antworteten sehr differenziert auf die zum Teil bewusst vereinfachenden Fragen. Fink und Siebe weisen weiterhin auf die Tendenz hin, dass „Prognosen um jeden Preis“ abgegeben würden. Dies kann ebenfalls weitgehend ausgeschlossen werden, da den Experten kaum „harte Prognosen“ abverlangt wurden. Allein bei der Einschätzung der Zukunftspotenziale der einzelnen Quartierstypen könnte ein solcher Effekt eine gewisse Rolle gespielt haben. Außerdem könnte „Scheinkompetenz“ die Ergebnisse verfälschen, etwa von Experten mit einer starken Spezialisierung. Dieser Aspekt ist
144
Konzeptualisierung
jedoch ebenso wenig nachprüfbar wie mögliche bewusste oder unbewusste Manipulationen der Probanden. Eine Verzerrung durch das Fragebogendesign – ein Hauptkritikpunkt an vielen Delphi-Befragungen – konnte durch die Integration vieler visueller Gestaltungselemente vermutlich stark minimiert werden. Die abschließende und wichtigste Frage, diejenige nach der Validität der Delphi-Ergebnisse, lässt sich kaum befriedigend beantworten. Letztlich ging es in diesem Expertendelphi ohnehin weniger um konkrete Zukunftseinschätzungen als um eine Analyse des Markt- und Politiksystems „Quartiersentwicklung“ mit dem Fokus auf demographischen Prozessen. Da viele der befragten Experten selbst Akteure dieses Systems sind und dieses auch selbst in Zukunft im Rahmen ihrer Tätigkeit zu beeinflussen gedenken, können die Ergebnisse jedoch durchaus als plausibel gelten. Darüber hinaus wurden die meisten Inhalte tendenziell auch von „unabhängigen“ Experten (etwa aus dem akademischen Bereich) geteilt. Der Output von Delphi-Befragungen kann ohnehin nicht mit wahr/falschKategorien beschrieben werden, eher in einem Sinne von „mehr oder weniger produktiv“ (Häder 2002: 38). Als Beitrag zur Szenarioentwicklung kann das hier durchgeführte Experten-Delphi als ausgesprochen produktiv gelten. 4.2.7 Szenariotechnik Weil mathematisch quantifizierende Beschreibungen der Quartiersentwicklung aufgrund der Vielfalt der zu erfassenden Einflussfaktoren wenig sinnvoll erscheinen, wurde ein eher argumentativ orientiertes Verfahren der Zukunftseinschätzung gewählt: Die Szenariomethode. Szenarien haben den Vorteil, dass z.B. auch nicht messbare Kriterien oder Faktorenbündel einbezogen und besonders relevante Zusammenhänge und „Stellschrauben“ für die Kommunalpolitik oder die Wohnungswirtschaft identifiziert werden können. Außerdem lassen sich in Szenarien auch längere Betrachtungszeiträume veranschlagen als bei quantitativen Prognoseverfahren.89 Doch was genau versteht man unter einem Szenario? Der Begriff leitet sich vom griechischen „skene“ ab, das den Schauplatz einer Handlung, eine Szenenfolge oder den Rohentwurf eines Dramas bezeichnet; im Film verwendet man den Terminus „Szenarium“ als Zwischenstufe zwischen Exposé und Drehbuch, man könnte vielleicht in der Übertragung sagen: als Zwischenstufe zwischen Vision und strategischer Umsetzung. Szenarien sind dementsprechend nichts 89
Die quantitativen Bevölkerungs-Modellrechnungen in den Quartieren erhalten damit die ihnen zugedachte Funktion einer „Argumentationshilfe“ für die Szenarienentwicklung, mit deren Hilfe generelle Trends und Mengeneffekte der kleinräumigen Bevölkerungsentwicklung besser eingeschätzt werden können.
145
Methodische Vorgehensweise
anderes als „in sich geschlossene auf bestimmten nachvollziehbaren Prämissen beruhende Zukunftsbilder“ (Burmester 2006), dürfen also nicht mit Zukunftsprognosen im herkömmlichen Sinn verwechselt werden: „[…] sie sind mögliche Annahmen und ein Instrument sich in der Gesellschaft, in Unternehmen oder auf internationaler Ebene frühzeitig darüber zu verständigen, […] wie wir darauf reagieren [können], wenn dieses Szenario eintrifft“ (ebd.).
Fink und Siebe legen Wert auf die Feststellung, dass Szenarien (im Vergleich etwa zu Trends) zukunftsoffen und vernetzt seien, also einen hohen Komplexitätsgrad aufwiesen (Fink & Siebe 2006: 15f.). Peter Weinbrenner betont darüber hinaus deren heuristischen Wert: „Szenarien verknüpfen empirisch-analytische mit kreativ-intuitiven Elementen und sind insofern ein heuristisches Instrument, ein Befragungsvehikel, ein Denkmodell für Wissenschaft, Politik und nicht zuletzt für Pädagogik, um unsere komplizierte Welt überhaupt noch begreifen zu können und entscheidungsfähig zu bleiben“ (Weinbrenner 2001, Hervorhebungen im Original).
Das Szenarioprinzip wird häufig mit einem trichterförmigen Gebilde veranschaulicht (vgl. Abbildung 26). Abbildung 26: Das Szenario-Prinzip Diskontinuität wild card
Visionen, Utopien, Zukunftsentwürfe Szenario A
empirische Daten, bisherige Entwicklung
Szenario B Szenario C Szenario B‘
Szenario-Treiber Vergangenheit
Gegenwart
Szenario D
Zukunft
Quelle: Graf & Klein 2003, eigene Darstellung
In dieser Darstellung wird deutlich, dass am Ende einer Szenarienentwicklung multiple Zukünfte und verschiedene Entwicklungsoptionen stehen. Nicht nur aus
146
Konzeptualisierung
methodischen Gründen, sondern auch aufgrund der anwendungsorientierten Zielsetzung ist es gerade für die vorliegende Quartiersstudie sinnvoll, variierende Entwicklungspfade und vor allem Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dies funktioniert mit der Szenariomethode deutlich besser als mit Ex-AnteWirkungsanalysen: „Sie [die Szenariomethode, Anm. d. Verf.] ist weit besser für die Förderung ‚indirekter Umsetzung’ geeignet, indem sie zu veränderten Argumentationen in politischen Diskussions- und Handlungsprozessen zu verhelfen vermag. Dies lässt sich allerdings nur erreichen, wenn sich die Auftraggeber auch relativ intensiv an den Arbeits- und Entwicklungsprozessen derartiger Projekte beteiligen […]“ (Stiens 1996: 91, vgl. auch Arras 1987, Hansel & Lamprecht 1993, Heinecke & Schwager 1995, Fink 2002 oder auch Fink, Schlake & Siebe 2000).
Zwar gibt es für die vorliegende Studie keine „Auftraggeber“, wohl aber Experten und Entscheidungsträger, die im Rahmen des Delphi-Befragungsprozesses die Szenarien indirekt mitgestalten konnten. Die eher akteursorientierte Szenarioentwicklung eignet sich außerdem gut, um unternehmensbezogene Perspektiven zu verdeutlichen (vgl. Fink & Siebe 2006: 9ff.). Dies erweist sich als sehr hilfreich für die vorliegende Studie, denn letztlich sind es Unternehmen (z.B. Wohnungsbaugesellschaften oder Genossenschaften), unter unternehmerischem Zwang handelnde sonstige Akteure oder „Hybrid-Akteure“ (z.B. privatwirtschaftlich organisierte Wohnungsgesellschaften, die sich jedoch in kommunalem Besitz befinden), die sich unter gegebenen Bedingungen positionieren und strategisch aufstellen müssen. Es stellt sich die Frage, wie der demographische Wandel die Umfeldbedingungen der Akteure und damit ihre Handlungsoptionen verändern wird. Die Szenariomethode ist nicht neu. Szenarien werden verstärkt seit den 1970er Jahren bis heute in den verschiedensten mikro- und makroökonomischen, ökologischen, technologischen und sozialen Anwendungsbereichen genutzt. Als Pioniere gelten die amerikanischen Futurologen Herman Kahn und Anthony Wiener (RAND Corporation), die das so genannte „Scenario Writing“ entwickelten. Ihr 1967 erschienenes Werk „The Year 2000. A Framework for Speculation on the next Thirty-Three Years“ (in deutscher Sprache: Kahn & Wiener 1971) gilt als „Geburtsstunde der Szenarienplanung“ (Fink & Siebe 2006: 15). Gleichzeitig kam die „Prospective Analysis” in der französischen Regionalplanung auf. Danach, in den späten 1960er und in den 1970er Jahren, adaptierten diverse Konzerne die Technik (u.a. General Electric, Royal Dutch/Shell, BASF, Daimler-Benz, Volkswagen; vgl. ebd.). Dabei haben sich unterschiedliche methodische Herangehensweisen bzw. vier Szenariotypen her-
Methodische Vorgehensweise
147
ausgebildet (nach Fink & Siebe 2006: 16ff., vgl. auch Kosow & Gaßner 2008 oder den Sammelband von Wilms 2006): 1.
2. 3. 4.
Szenariotechnik (regionaler Schwerpunkt: Europa): induktive Methode, Abbildung von Entwicklungsalternativen, relativ umfassende Ausgangsbasis von Strukturparametern erforderlich, ohne Berücksichtigung von Eintrittswahrscheinlichkeiten Scenario Planning (regionaler Schwerpunkt: Anglo-Amerika): deduktive Methode, Abbildung von Entwicklungsalternativen, Ausgangsbasis ist in der Regel lückenhaft, ohne Berücksichtigung von Eintrittswahrscheinlichkeiten Wechselwirkungs-Szenarien: induktive Methode, ähnlich wie Szenariotechnik, jedoch mit einer Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten der Einzelparameter und der resultierenden Gesamtszenarien Narrative Szenarios/Science Fiction: deduktive Methode, basiert i.d.R. auf Experteneinschätzungen (Genius Foresight), geringster Anspruch auf Vollständigkeit, Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten
Das „Szenario-Management“, das von Fink und Siebe als stark anwendungsbezogene und umsetzungsorientierte Variante propagiert wird (vgl. das kommunale Anwendungsbeispiel in Fink, Schlake & Siebe 1999), will diese vier Typen integrieren, ist aber am ehesten mit der Szenariotechnik verwandt. Die „Szenariotechnik“ (u.a. nach Reibnitz 1981, 1992) wurde hier als leitende Methode auserkoren, weil die Voraussetzungen und Zielsetzungen der vorliegenden Studie zu ihr am besten passen: umfassende Informationsgrundlage, Anwendungsbezug, Fokus auf Strategieentwicklung. Immer dann, wenn es darum geht, komplexe (auch in irgendeiner Form räumliche) Zusammenhänge zu verdeutlichen und in die Zukunft zu übertragen, wurde die Methode der „Szenariotechnik“ bereits mit großem Erfolg als empirisches Instrumentarium zur Analyse multipler Zukünfte eingesetzt (vgl. exemplarisch die aktuellen Studien von Beyer & Saupe 2007, Weith et al. 2007, Weidner 2007, das „NAIS“Projekt der Bertelsmann-Stiftung in Kooperation mit Kommunen wie der Stadt Altena [Stadt Altena & Bertelsmann-Siftung 2006] oder die Untersuchungen von Scholz et al. 1997 in Zürich). Darüber hinaus hat die Szenariotechnik den Charme, als ein vollkommen offener und dennoch systematisch durchstrukturierter Prozess organisiert zu sein. Die Szenariotechnik ist damit – etwa im Vergleich zu stärker narrativen Szenariomethoden – eine Art Anti-WillkürProgramm, das die Forscher in einem gewissen Rahmen von subjektiven Irrwegen fernhält (vgl. auch Kosow & Gaßner 2008: 45).
148
Konzeptualisierung
Kritik der Szenariomethode(n) Auch die Kritik an der Methode soll hier nicht unerwähnt bleiben. So suggerieren (manche) Szenariostudien eine Zukunftssicherheit, die aus der Methode nicht ableitbar ist – dies ist jedoch auf ein falsches Grundverständnis der Methode zurückzuführen und nicht ein Problem der Methode selbst. Richtig ist, dass sich die empirischen Voraussetzungen für eine Szenarioentwicklung als ausgesprochen anspruchsvoll erweisen. Allein für die Systemanalyse ist es erforderlich, so viele Informationen und Daten wie möglich darüber zusammenzutragen. Im Rahmen dieser „Materialschlacht“ ist es sicherlich noch möglich, sich ein geeignetes Bild von der Gesamtsituation zu machen. Eine Verringerung des Komplexitätsgrades ist aber bald notwendig, um die Szenarienkonstruktion noch handhabbar zu machen. So müssen z.B. Einflussfaktoren selbst bei Anwendung unterstützender Software immer weiter reduziert werden, was dazu führen kann, dass man schon früh im Forschungsprozess „versehentlich“ wesentliche Faktoren unterschlägt. Trotz der Reduktion sind Szenarien im Ergebnis in der Regel immer noch hochkomplex und vor allem qualitativ orientiert. Wollte man den Komplexitätsgrad noch weiter reduzieren, um die Szenarien überschaubarer zu gestalten, kann der Output zunehmend inhaltlich unbefriedigend, willkürlich oder sogar verfälschend wirken. Szenariomethoden nötigen dem Forscherteam also stets einen Balanceakt zwischen einer inhaltlich wünschenswerten Tiefe und einer methodisch notwendigen Oberflächlichkeit ab. Letztlich ist die Qualität der Szenarien also auch stark von der Qualifikation des Forschungsteams abhängig. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde deshalb die bereits erwähnte DelphiBefragung flankierend eingesetzt. Die Entwicklung der Quartiersszenarien mit Hilfe der Szenariotechnik wird nun im folgenden Kapitel Schritt für Schritt methodisch und inhaltlich erläutert.
5 Szenarioentwicklung
Die Darstellung des „Trichters“ (siehe vorheriges Kapitel) entspricht genau dem Forschungsdesign des vorliegenden Projekts. Am Ende der empirischen Datenerhebung, also in der Gegenwart, bündeln und strukturieren die Quartiersdossiers die gesammelten Informationen, die wiederum zu einer Typologie verdichtet werden. Auf dieser Basis beginnt dann die Entwicklung möglicher Zukünfte in Form von Szenarien. Abbildung 27: Konstrukte in der Szenarioentwicklung KONSTRUKT C
Typo-Szenarien
KONSTRUKT A
KONSTRUKT B
Rohszenarienbündel
Quartierstypen
EMPIRIE A Desktop Experten Delphi
EMPIRIE B Feldstudien in 24 Quartieren Interviews
Quelle: Eigene Darstellung
Die Ausgestaltung des Szenario-Ansatzes in der vorliegenden Studie ist neuartig: Neben der flankierend eingesetzten Delphi-Befragung werden am Ursprung der eigentlichen Szenarioentwicklung die realen Quartiere durch ein Konstrukt, nämlich die Quartierstypen ersetzt. Dies betrifft danach wiederum die Szenarien, die sich nicht auf reale Quartiere, sondern auf konstruierte Typen beziehen und hier „Typo-Szenarien“ genannt werden sollen (vgl. Abbildung 27).
150
Szenarioentwicklung
Nach Reibnitz (1981) verläuft die Szenarienentwicklung mittels der Szenariotechnik in acht Schritten: von der Aufgabenanalyse über die Einflusssanalyse, die Deskriptorenanalyse, die Entwicklung und Bündelung der Rohszenarien, deren Interpretation, einer Störfallanalyse, der Konsequenzanalyse bis hin zum Szenariotransfer (siehe Abbildung 28, vgl. auch Kosow & Gaßner 2008: 38ff.). Im folgenden Abschnitt werden diese Schritte anhand des empirischen Materials dieser Studie stufenweise näher erläutert und angewandt. Abbildung 28: Arbeitsschritte der Szenariotechnik
1. Aufgabenanalyse
8. Szenario-Transfer
Analyse des Gesamtsystems, Zeitrahmen, Zielformulierung
Strategieentwicklung, Lösungsansätze, „Toolbox“
2. Einflussanalyse Ermittlung und Strukturierung von Einflussfaktoren
7. Konsequenzanalyse Auswirkungen der Szenarien auf das Untersuchungsfeld
3. Deskriptorenanalyse Extraktion der Schlüsselfaktoren, Trendidenifik i
5. SzenarioInterpretation Veranschaulichung, ggf. Szenarienmatrix
4. Zukunftsprojektionen/Rohszenarien Konsistenzanalyse, Clusteranalyse
6. Störfallanalyse Auswirkungen von Störfaktoren, „Szenario-Test“
Quellen: Software-Manual Szenoplan (verändert), Reibnitz 1981
5.1 Aufgabenanalyse: Das „System Wohnquartier“ Das gesamtgesellschaftliche System „Demographischer Wandel und Quartiersentwicklung“ wurde bereits in den Kapiteln 2 und 3 umfassend analysiert und stellt die Grundlage der folgenden Überlegungen dar. In einem ersten Schritt
151
Aufgabenanalyse: Das „System Wohnquartier“
wird das „Gestaltungsfeld“ des konkreten „Systems Wohnquartier“ analysiert, d.h. die Zielgruppe des Szenarioprozesses definiert. In diesem Projekt umfasst das Gestaltungsfeld alle wohnungswirtschaftlichen und kommunalplanerischen Akteure auf Wohngebietsebene. Abbildung 29 verdeutlicht das Akteursmosaik des Gestaltungsfelds, das im Rahmen dieser Studie mit Hilfe der DelphiBefragung ermittelt wurde. Außerdem wird das „Szenariofeld“ bestimmt. Damit ist der Ausschnitt aus der Realität gemeint, dessen Zukunft speziell betrachtet werden soll. Fink und Siebe nennen dies die „Flughöhe“ des Szenarios (2006: 38). In unserem Fall ist das Wohnquartier gleich bedeutend mit dem Szenariofeld. Abbildung 29: Gestaltungsfeld als „semantische Tag Cloud“ Legende: Grüne Wolke:
Bewohner und Nachfrager (i. Kl.: Rang auf Skala der „wichtigsten Akteure“) Blaue Wolke: wohnungswirtschaftliche Akteure (i. Kl.: Rang) Rote Wolke: kommunale/lokalstaatliche Akteure (i. Kl.: Rang) Orangebraune Wolke: Sonstige Akteure (i. Kl.: Rang) Violette Schrift: durch Delphi-Experten neu eingeführte Akteure (röm. Ziff. i.Kl. = Anzahl der Nennungen)
Wohnungsnachfrager (1)
Private Equity Fonds/REITs (Investmentfonds) (8)
Private Wohnungsunternehmen (3) Private Kleinanbieter (VIII)
Banken (V)
Bewohner im Bestand (4)
Wohnungsgenossenschaften (5) Kommunalverwaltung (6)
Kommunale/gemeinnützige Lokale Medien (10) Wohnungsunternehmen (2) Lokalpolitik (III) Träger sozialer Infrastruktur (7)
Immobilienmakler (16)
Mieterverbände (14)
Consulting-Büros/ Wissenschaftliche Berater (15)
Webbasierte Immobilienvermittler (17)
Lokale NROs (Bürgerinitiativen etc.) Lokale Religionsgemeinschaften (12) (Kirchen, Moscheenvereine) o.ä.) (18)
Länderinstitutionen als Programmgeber (9)
Bundesinstitutionen als Programmgeber (11)
EU-Institutionen als Programmgeber (13)
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Lokale Ökonomie (II)
152
Szenarioentwicklung
Es spielen jedoch auch gesamtgesellschaftliche sowie gesamtstädtische bzw. stadtregionale Zusammenhänge eine Rolle, die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen (vgl. hierzu Abbildung 19). Weitere wichtige Vorabklärungen sind der „räumliche Fokus“ und der „Zukunftshorizont“. Den räumlichen Fokus bilden die vier Untersuchungsstädte und die 24 Wohnquartiere bzw. auf einem höheren Abstraktionsniveau die entsprechenden Quartierstypen. Der Projektionszeitraum wurde im Projekt auf das Jahr 2030 festgelegt. Auf diesen Vorarbeiten bauen die folgenden Phasen auf (Fink & Siebe 2006: 39ff.). Zunächst wird eine systemische Gliederung des Szenariofeldes erstellt. Dabei sollen „Systemebenen“ (z.B. Wohnungswirtschaft, Stadtentwicklungspolitik) und „Einflussbereiche“ (Teilsysteme) sichtbar gemacht werden. Dies wird in einem sog. „Systembild“ dargestellt. Um einen möglichst vielfältigen Input für die Systembild-Erstellung zu bekommen, wurden auch die Experten der Delphi-Befragung gebeten, Systembilder frei zu skizzieren. Eine systematische und gewichtete Zusammenfassung der Delphi-Systembilder zeigt Abbildung 30. Dabei steht eine Triade aus Nachfragern/Bewohnern im Bestand, Wohnungseigentümern und Kommunalverwaltung mit unterschiedlich starken Interdependenzen im Mittelpunkt, die ihrerseits wiederum von anderen Akteuren beeinflusst werden. Die Akteursvielfalt ist in der Realität natürlich noch deutlich größer als hier dargestellt. Auch die hier verwendeten Sammelkategorien sind zum Teil bereits problematisch, wie auch Klaus Selle und Marion Klemme betonen: „Wer Quartiers- und Stadtentwicklung insgesamt, oder die Entwicklung in einzelnen Handlungsfeldern […] verstehen will, wird mit Akteursbezeichnungen wie ‚die Kommune‘ oder ‚die Wirtschaft‘ nicht weit kommen. Völlig obsolet dürften Bezeichnungen wie ‚die Planung‘ geworden sein, sofern sie nicht mit einem konkreten Akteur innerhalb der Sphären (z.B. dem Stadtplanungsamt) oder einem klar definierten Verfahren gleichgesetzt werden“ (Klemme & Selle 2008: 145).
Dieser Aussage ist uneingeschränkt zuzustimmen. Jedoch wird es die Szenarienentwicklung manchmal erfordern, Akteursgruppen in übergeneralisierte Kategorien zu verpacken, um grundlegende Konstellationen noch in einem überschaubaren Rahmen kommunizieren zu können (etwa: „die Wohnungswirtschaft“ und „der Lokalstaat“).
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008, n = 38
Investmentf onds
Webbasierte Immobilienvermittler
Immobilienmakler
Lokale ReligionsGemeinschaf ten
MieterVerbände
Träger sozialer IS
QM
Medien
Lokale NRO‘s
EU BU LÄ
Mieterverbände
Medien
IHK
Lokale Unternehmen
Kommunalpolitik
Förderprogramme
Träger sozialer IS
Kommunalverwaltung
Consulting Büros/ Wiss. Berater
EU BU LÄ
Nachfrager/ Bewohner im Bestand
NGO‘s
Öf f entlich KWU WG
Lokale ReligionsGemeinschaf ten
Private Equity Fonds
Problemgruppen
Wohnungseigentümer
Private Private WU PEF
Immobilienmakler
Consulting Büros/ Wiss. Berater
Investoren, Kapitalanleger
Immobilienmakler
Webbasierte Immobilienvermittler
Banken
Mieterverbände
Träger Sozialer IS
Medien
Politik
Lokale NRO‘s
Kommunalpolitik
EU, BU, LÄ
Aufgabenanalyse: Das „System Wohnquartier“
153
Abbildung 30: Systembild Wohnquartier (Beispiel „Stadtumbau“)
Strich- und Rahmenstärken repräsentieren Relevanz und Einfluss der Akteure
154
Szenarioentwicklung
5.2 Einflussanalyse: Welche Faktoren bestimmen die Quartiersentwicklung? Sobald mit Hilfe des Systembilds das Szenariofeld bestimmt ist, müssen die darin wirkenden Einflussfaktoren exploriert werden. Dies geschieht durch logische Ermittlung inkl. Heranziehung diverser Quellen, durch Brainstorming, Mindmapping o.ä. und insbesondere durch die Ergebnisse der Delphi-Befragung. Die Einflussfaktoren stellen die operativen Komponenten der Einflussbereiche dar (z.B. die „Einstellung zum demographischen Wandel“ bei Akteuren im Quartier etc.) und sollten von den Trends abgegrenzt werden (z.B. „Zunahme des Problembewusstseins“ bei Akteuren im Quartier). Erfahrungsgemäß kommen oft mehr als 100 Faktoren zusammen, so auch ursprünglich in diesem Projekt. Die Faktoren müssen prägnant benannt und beschrieben werden. Es bietet sich an, ungeachtet der Verwendung einer Szenariosoftware die Vielzahl an Faktoren bereits hier vorzustrukturieren (vgl. Reibnitz 1981: 38). Im Rahmen der DelphiBefragung wurde folgende Rangliste an Einflussfaktoren ermittelt (vgl. Tabelle 22): Tabelle 22:
Ranking der Einflussfaktoren
Rang / Relevanz
Einflussfaktor
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Quartiersorientierung der WU/WG 90 lokale Marktsituation (Mieter vs. Vermietermarkt) Image des Quartiers Qualität des öffentlichen Raums im Quartier stadträumliche Lage Qualität der Wohnungen im Quartier Altersstruktur im Quartier Kooperationsbereitschaft der Akteure städtebauliche Struktur des Quartiers Milieustruktur/Lebensstile im Quartier Nahversorgungsmöglichkeiten Erreichbarkeit (ÖV/IV) Eigentümerstruktur (Kleineigentümer vs. WU/WG) Ziele der Stadtentwicklungspolitik „demographisches Problembewusstsein“ der Entscheider Quartiersatmosphäre Finanzspielraum der Kommune Finanzspielräume der WU/WG Umweltqualität des Quartiers (z.B. Lärmbelastung) lokales Sozialkapital (Nachbarschaft, Netzwerke…)
90
WU/WG = Wohnungsunternehmen/Wohnungsgenossenschaften
Einflussanalyse: Welche Faktoren bestimmen die Quartiersentwicklung? 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Verwertungslogiken von Wohnungseigentümern Quartiersorientierung der Kommune Umzugsverhalten (Persistenz oder Wegzugswunsch) Mietniveau im Quartier Soziale Infrastruktur (z.B. Gemeinschaftseinrichtungen) Ortsbindung der Quartiersbewohner Heterogenität der Wohnungsgrößen im Quartier Leerstandsquote im Quartier Wanderungsbilanz im Quartier (positiv/negativ) Einkommensniveau der Quartiersbewohner Migrantenanteil im Quartier Naherholungsqualität (Grünflächenanteil, Wassernähe) Fluktuation im Quartier (gering/hoch) Privatisierungsgrad kommunaler Wohnungsbestände Anteil selbstgenutzten Wohneigentums im Quartier Struktur und Kommunikationsfähigkeit der Verwaltung Bestandsveränderung (Abriss/Neubau) Freizeitinfrastruktur im Quartier (Sport etc.) natürliche Bevölkerungsentwicklung im Quartier Markttransparenz/Konsumentensouveränität Präsenz städtebaulicher Programme im Quartier Lokale Arbeitsmarktsituation (Erwerbsmöglichkeiten für Nachfrager) Größe/Einwohnerzahl des Quartiers Quartiershistorie
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008 (1. und 2. Welle)
Abbildung 31: Ausschnitt aus der Vernetzungsmatrix Skalierung: 0 (kein Einfluss) bis 4 (sehr starker Einfluss)
Quelle: Eigene Darstellung, Screenshot Software Szenoplan
155
156
Szenarioentwicklung
Anschließend werden die Quartiers-Einflussfaktoren vernetzt, d. h. in einer Matrix werden in einem reflexiven Prozess unter Zuhilfenahme der DelphiBefragungsergebnisse und der Fülle an Quartiersempirie (wie z.B. der Expertenund Bewohnerinterviews) die gegenseitigen Wirkungen der Faktoren gesetzt (vgl. Abbildung 31). Aus dieser Matrix entstehen Aktiv- und Passivsummen, d. h. man kann erkennen, welche Faktoren in der Summe besonders stark auf andere einwirken, und wie groß der Vernetzungsgrad, also die Einbindung des Faktors in das Gesamtsystem ist (indiziert durch das Produkt aus Aktivsumme und Passivsumme). Für diesen Schritt ist eine Szenario-Software zweckmäßig (im Projekt wurde das Programm „Szeno-Plan“ zum Einsatz gebracht). Als Input für die zu treffenden Einschätzungen dienen wiederum sämtliche bis dato gesammelten Quellen und Informationen inkl. Expertendelphi. 5.3 Deskriptoren-/Szenariofeld-Analyse: Welche Faktoren sind Schlüsselfaktoren der Quartiersentwicklung? Unter „Schlüsselfaktoren“ sind hier im Sinne der Szenariotechnik Faktoren gemeint, die einerseits einen großen Einfluss auf das System ausüben, andererseits aber auch selbst in hohem Maße von anderen Faktoren beeinflusst werden können. Anhand der Vernetzungsmatrix kann man systematisch solche Schlüsselfaktoren bestimmen. Dazu wird ein sog. „Systemgrid“ („Aktiv-Passiv-Grid“) erstellt, das nichts anderes ist als eine Visualisierung der Vernetzungsmatrix auf der Basis der Rangplätze (siehe Abbildung 32). Wenn der Vernetzungsgrad (s.o.) und die Wirkungssumme (also der Einflussgrad eines Faktors auf das System) sehr hoch sind, kann man von „sicheren Schlüsselfaktoren“ sprechen. Zentrum und rechtes oberes Drittel des Systemgrids können als die Regionen bezeichnet werden, in denen besonders häufig derlei Schlüsselfaktoren vorkommen (insbesondere Sektor III „Interaktive Knoten“).91 Darüber hinaus können auch weitere Schlüsselfaktoren als das System beschreibende „Deskriptoren“ einbezogen werden. Wichtig ist es, die umfangreiche, aber nach wie vor qualitative Datenbasis nicht zu verabsolutieren, sondern 91
Die Benennungen der einzelnen Felder im Systemgrid (römische Ziffern) machen Aussagen über den Aktivitätsgrad der dort verorteten Faktoren im Gesamtsystem. So sind etwa die „Puffer“-Zonen (IV/VII/VIII) schwer veränderliche Größen, die dem System Stabilität verleihen, und damit der Gegenpol der „Pro-/Re- oder Inter-Aktiven Knoten“ (II/III/IV), die vor allem in der Szenariotechnik ein große Rolle spielen. Systemhebel (I) und –indikatoren (V) repräsentieren die Extreme der aktiv wirkenden, ihrerseits aber kaum beeinflussten bzw. der selbst passiv bleibenden, dafür aber stark beeinflussbaren Faktoren.
VIII Unabhängige Puffer
IV Proaktive Puffer
I Systemhebel
basierend auf den Rangfolgen von 44 Einflussfaktoren (Delphi 2)
Systemgrid
45
40
35
Eigentümerstruktur Privatisierung kommunaler Bestände
30
25
20
15
10
5
Quelle: Delphi-Befragung, 1. und 2. Welle, eigene Berechnungen VII Reaktive Puffer
Abriss/Neubau VerwertungsLokale logiken Wohnungs- Bestandsveränderung markt-Situation UmzugsZiele Stadtentwick- verhalten Anteil lungspolitik Selbstnutzer Quartiersstädtebauliche Präsenz orientierung Einkommen Struktur Leerstand WU/WG städtebaulicher FinanzProgramme spielräume Migrantenanteil Quartiershistorie Struktur/ WU/WG Milieustruktur Altersstruktur KommuniMietniveau / Lebensstile Kooperationsbereitschaft Finanzkation spielräume QuartiersVerwaltung UmweltKommune Fluktuation orientierung qualität Kommunen demographisches soziale Wanderungsbilanz ProblemInfrastruktur Naherholungsbewusstsein lokales qualität Sozialkapital Lokale Ortsbindung ArbeitsErreichbarkeit Qualität des ÖV/IV marktöffentlichen natürliche Heterogenität Bevölkerungssituation Raums der Wohnungs- entwicklung Größe/ stadtImage größen Ew. räumliche WohnungsLage qualität Markttransparenz/ QuartiersNahversorgungsKonsumentenatmosphäre Freizeitmöglichkeiten souveränität Infrastruktur
50
Passivsumme (Rang)
II Proaktive Knoten 0
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
V Systemindikatoren
IV Reaktive Knoten
III Interaktive Knoten
Deskriptoren-/Szenariofeld-Analyse
157
als interpretative Grundlage zu betrachten und die in Schritt 2 identifizierten „Umfelder“ im Auge zu behalten. Abbildung 32: Systemgrid
Aktivsumme (Rang)
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Szenarioentwicklung
5.3.1 Handlung und Struktur Um die Szenarioentwicklung zu vereinfachen und handhabbar zu machen, werden Schlüsselfaktoren weiter zu „Deskriptoren“ verdichtet. Die Deskriptoren erhalten jeweils alternative Trendbeschreibungen als Ausprägungen (z.B. erwartete Zunahme vs. Abnahme von Rückbaumaßnahmen in Wohnquartieren), d.h. hier wird eine prognostische Komponente in den Szenarioprozess eingeführt. Als Informationsquellen für diesen Schritt dienen wissenschaftliche Untersuchungen, Prognosen, Gutachten, Fachartikel etc. und im vorliegenden Projekt vor allem die Experteninterviews und die Delphi-Befragung. Letztlich bleibt dieser Schritt ein subjektiver Prozess, der durch die korrektive Delphi-Befragung jedoch relativ zuverlässig durch eine Expertengruppe gefiltert werden kann. Hierzu wurde unabhängig von eigenen Überlegungen und Berechnungen auch das DelphiPanel direkt nach Schlüsselfaktoren gefragt. Die wichtigsten Schlüsselfaktoren aus der Delphi-Befragung sind in Tabelle 23 aufgeführt. Tabelle 23:
Handlungs- und strukurbezogene Schlüsselfaktoren laut Experten-Delphi
Top 8 Handlung Quartiersorientierung der WU/WG Kooperationsbereitschaft der Akteure Quartiersorientierung der Kommune Demographisches Problembewusstsein der Entscheider Präsenz städtebaulicher Programme im Quartier Verwertungslogiken von WU/WG/Wohnungseigentümern Ziele der Stadtentwicklungspolitik Umzugsverhalten (Persistenz oder Wegzugswunsch) […]
Top 8 Struktur Qualität der Wohnungen im Quartier Qualität des öffentlichen Raums im Quartier Lokales Sozialkapital Image des Quartiers Soziale Infrastruktur Freizeitinfrastruktur im Quartier Nahversorgungsmöglichkeiten Mietniveau […]
Quelle: Delphi-Befragung, 1. und 2. Welle, eigene Berechnungen
Für die Szenarienentwicklung wurde schließlich eine Unterscheidung in handlungs- und strukturbezogene Faktoren eingeführt. Weil die handlungsbezogenen Faktoren diejenigen sind, die ggf. große Systemwirkungen haben werden (u.a. auch strukturelle Faktoren verändern können), wurden allein diese als Basis für die Deskriptorenwahl herangezogen.92 Dadurch entstehen im Verlauf so genann92
Die Relevanz der Handlungsebene bei Zukunftsbetrachtungen ist ein immer wieder kontrovers diskutiertes Thema, wie auch folgendes Zitat aus einem empirica-Positionspapier belegt: „Die Ein-
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te Policy-Szenarien, die sich von Referenz-, Baseline- oder BAU- (Business As Usual)-Szenarien abgrenzen lassen (Kosow & Gaßner 2008: 26). Die – nicht minder wichtigen – strukturellen Faktoren (in der Regel quartiersbezogene Merkmale) fallen aber nicht unter den Tisch, sondern kommen im Rahmen der Anwendung der Szenarien auf die strukturell vordefinierten Quartierstypen sogar noch wesentlich differenzierter zum Tragen. Die für die Studie zentrale demographische Komponente der Altersstruktur und das stadtregionale Marktumfeld werden in diesem Zusammenhang ebenso gesondert berücksichtigt. Durch eine Zusammenfassung von einzelnen Schlüsselfaktoren, reflektiert durch das Systemgrid und die Delphi-Ergebnisse, entstanden die so genannten Deskriptoren, die wiederum die wesentlichen Teile des Systems „Quartiersentwicklung“ repräsentieren sollten (siehe Tabelle 24). Tabelle 24:
Deskriptoren
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort Quartiersbezogene Handlungslogiken der Kommune Demographische „Awareness“ der WU/WG Demographische „Awareness“ der Kommunen Kooperationsbereitschaft der Akteure Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner Datenbasis: handlung neu.des (Szenoplan)
5.3.2 Erläuterung der Deskriptoren im Detail Im Folgenden werden die gewählten Deskriptoren näher erläutert und begründet. Mögliche zukünftige Entwicklungen der Deskriptoren werden erörtert und daraus plausible Projektionsmöglichkeiten für die Szenarienbildung abgeleitet. Um die Komplexität zu reduzieren, wurden stets dichotome Projektionen gewählt und auf „teils/teils“-, „weiter-so“ oder „Status Quo“- oder eine weitere inhaltliche Ausdifferenzierung der Projektionen verzichtet. 5.3.2.1 Deskriptor I: Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort Insbesondere in den 2000er Jahren hat der Anteil „neuer“ Investoren auf dem deutschen Wohnungsmarkt deutlich zugenommen. Die Diskussion um REITs (Real Estate Investment Trusts), PEFs (Private Equity Fonds) etc. beherrschte zeitweise die Medien, jedoch werden diese neuen Akteure auch in Fachkreisen wohnerentwicklung jeder Kommune hängt viel zu sehr vom Verhalten der Kommune selbst ab, um Zukunftsaussagen treffen zu können!“ (Heising & Pfeiffer 2009: 4).
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Szenarioentwicklung
aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: Welche Auswirkungen sind auf das Mietniveau zu erwarten? Wie lange und in welcher Form werden sich die Investoren am Markt engagieren (vgl. etwa Hallenberg 2008, Just 2006, Nordalm 2006)? Konflikte zwischen verkauften „neuen“ Wohnungsunternehmen, alten kommunalen Unternehmen, Wohnungsgenossenschaften und der öffentlichen Hand sind nicht selten. So stellte ein Vertreter eines ehemals gemeinnützigen Wohnungsunternehmens im Experteninterview fest, dass die Interessen, Strategien und Handlungslogiken der an der Quartiersentwicklung Beteiligten sehr unterschiedlich seien. Sein Unternehmen handele nach rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dies könne man ihm nicht zum Vorwurf machen. Man könne nicht kommunale oder gemeinnützige Unternehmen zuerst veräußern, den Kaufpreis kassieren und dann von diesen Firmen verlangen, dass sie sich weiterhin für kommunale Steuerungsdesiderate zur Verfügung stellen (E_E19). Im Übrigen würden Bestände, die funktionieren, normal bewirtschaftet. Sobald sich „die Zahlen“ änderten (Mietrückstände, Fluktuation, Leerstände etc. aufträten), würden alternative Strategien erwogen. So würden Bestände, die als zu schwierig angesehen werden, konsequent aus dem Portfolio entfernt, also verkauft (E_E19). Während letztere zum Typus der „Exit-Strategen“ gehören (geschätzt auf 10 bis 20 % der privaten Eigentümer), sind häufiger auch „Bestandserhalter“ (60 bis 80 %) und seltener auch „Bestandsverbesserer“ vorzufinden (ca. 10 bis 20 %, nach BBR 2007a: 11). In einem anderen Interview hieß es analog: „Wir vermarkten wohnform-, nicht stadtteilbezogen“. Dabei würden für spezielle Zielgruppen geeignete Quartiere ausgewählt, dies aber nicht explizit kommuniziert (E_E4). Auch die Kurzfristigkeit von Entscheidungen scheint weit verbreitet zu sein: „Wir können nicht sagen, was in zwei oder drei Jahren ist“ (ebd.). Andererseits hat die US-amerikanische Hypotheken- und internationale Kapitalmarktkrise spätestens seit 2008 zumindest einige Skepsis aufkommen lassen, inwieweit kurzfristige Renditestrategien noch zukunftsträchtig sein können. Es ist nicht auszuschließen, dass die Kapitalmarktkrise auch in der Wohnungswirtschaft (zumindest bei größeren Unternehmen) einen Wendepunkt zu einem Umdenken in Richtung Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit markieren könnte. In den letzten Jahren mehrten sich auch in Teilen der Wohnungswirtschaft Stimmen, die zusätzlich zur Bestandsorientierung eine stärkere Quartiersorientierung, also eine integrative ganzheitliche Herangehensweise forderten (vgl. etwa für die Ruhr-Lippe-Wohnungsgesellschaft in Junker 2007, die RAG Immobilien AG in Marth 2004, die SAGA in Hamburg bei Hoppenstedt 2009, die GSW in Berlin in GSW 2009, DV 2007: 125 sowie Abbildung 33 für die degewo-Gruppe). Dies wurde auch in Experteninterviews deutlich, hier am Beispiel EssenKaterberg: „Viele [Wohnungsunternehmen, Anm. d. Verf.] sehen das [die Quar-
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tiersorientierung – Anm. d. Verf.] inzwischen als ganz wichtig an […] – aber aus wirtschaftlicher Perspektive. Da gibt es eine Riesen-Bandbreite“ (E_E6, vgl. auch Zimmer-Hegmann, Fasselt & Sucato 2004). Und ein Unternehmen betonte hier: „Wir haben immer auf den Quartierskontext geachtet“ (E_E7). Gemeinwesenorientierte Konzepte wie CSR (Corporate Social Responsibility, vgl. Gutzmer & Scheuer 2008, Siemonsen & Biermann 2009) oder auch die Idee der „Stadtrendite“ (Schwalbach, Schwerk & Smuda 2006) werden auch in der Wohnungswirtschaft seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Abbildung 33: Quartiersorientierung in der Wohnungswirtschaft
Quelle: degewo – „Stadtsicht“, Newsletter Mai 2009: 5
Aus diesen Überlegungen werden folgende Zukunftsprojektionen des Deskriptors abgeleitet: A B
Kurzfristig: Zunahme kurzfristiger Renditeorientierung, zunehmende oder reine Bestands-/Portfolio-Orientierung, Veräußerungsoptionalität statt Problemlösungsbereitschaft Längerfristig: Zunehmende Quartiersorientierung, Nachhaltigkeitsdesiderat der WU/WG, längerfristige Gewinnplanung, „Stadtrendite“, CSR etc.
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Szenarioentwicklung
5.3.2.2 Deskriptor II: Quartiersbezogene Handlungslogiken der Kommune Seit den 1990er Jahren hat sich in bundesdeutschen Kommunen mehr und mehr der Quartiersansatz durchgesetzt. Nicht zuletzt dem Programm „soziale Stadt“ ist es geschuldet, dass sich Quartiersentwicklungspolitik und integrierte Quartierskonzepte im kommunalen Bereich vielerorts fest etabliert haben. Auch die „Stadtumbau“-Programme haben dazu massiv beigetragen. Die Kommunalverwaltungen haben mehr und mehr intersektorale Strukturen rund um das „Quartier“ implementiert und reformieren sich damit selbst, so dass bereits pointiert von „Stadterneuerungspolitik als Stadtpolitikerneuerung“ gesprochen wurde (Franke, Löhr & Sander 2000). In einer ersten Variante profitieren deshalb auch viele Kommunen, nicht zuletzt auch von den langfristig guten Aussichten in der deutschen Wirtschaft, die inzwischen weltweit marktführend in verschiedensten umwelttechnologischen Bereichen ist. Bei gleichzeitig abnehmenden Soziallasten können sich Städte und Gemeinden nach langer Zeit wieder neue finanzielle Spielräume erarbeiten und sogar darüber nachdenken, im Wohnungsbau und im infrastrukturellen Bereich punktuell neue Akzente zu setzen (vgl. Micic 2006, Opaschowski 2008). Andererseits haben zahlreiche Evaluationen gezeigt, dass z.B. das in der Quartiersentwicklung besonders einflussreiche „soziale Stadt“-Programm allenfalls ambivalent zu bewerten ist. Es konnten zwar durchaus einige Erfolge nachgewiesen werden, aber insgesamt ist doch eine „Sackgassen-Situation“ eingetreten. Über die Verstetigung des Programms ist eine breite Debatte entstanden, ohne dass daraus bislang überzeugende Lösungsvorschläge entstanden wären. Auch über gewisse Stigmatisierungstendenzen in den vom Programm bedachten Quartieren wird immer wieder geklagt. Auch die Stadtumbauprogramme werden teilweise kritisch betrachtet, vor allem am kooperativen Anspruch bzw. dessen Verwirklichung wird gezweifelt (vgl. Strauß 2009). Auch die oben erwähnte „Intersektoralität“ (nach dem „Soziale-Stadt“-Handlungsmodell) führt nicht zu einer glatten Verwaltungsrestrukturierung, im Gegenteil: Die in den Richtlinien der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) festgelegte Verwaltungsnorm der „Versäulung“ der kommunalen Ressorts ist quasi ein gleichberechtigt konkurrierendes Handlungskonzept, das zu vielen Blockaden führt. Für eine integrierende, ressortübergreifende „Matrix“-Lösung könnten in Zukunft die personellen und finanziellen Ressourcen fehlen, wodurch sich die Kommunen wiederum auf eine passivere, mehr an Einzelfällen oder Modellprojekten orientierte Rolle zurückgeworfen sehen könnten. Komplexe kommunale Finanzierungsmodelle auf den globalen Finanzmärkten, die mit spontanen Haushaltsentlastungen, aber auch unkalkulierbaren Langfristrisiken verbunden sind (z.B. Cross Border Leasing) dürften spätestens seit der internati-
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onalen Kapitalmarktkrise 2008 kaum noch vermittelbar sein und der Vergangenheit angehören. In dieser Variante steht zu befürchten, dass die finanziellen Gestaltungsspielräume der Gemeinden insgesamt immer weiter abnehmen. Aus diesen denkbaren gegenläufigen Entwicklungspfaden können folgende Zukunftsprojektionen generiert werden: A B
Punktuell: Mehr und mehr Einzelfallorientierung, passives, weniger kreatives Verwaltungshandeln (allenfalls Feuerwehrfunktion), Logik der „immer knapper werdenden finanziellen Mittel“ Ganzheitlich: Zunehmende Quartiersorientierung im Zielsystem der Stadtentwicklungspolitik, verstärkte Anwendung städtebaulicher Programme im Quartier (Soziale Stadt, Stadtumbau etc.), strategische Steuerungs- und Entwicklungslogik, neue Handlungsspielräume
5.3.2.3 Deskriptor III: Demographische „Awareness“ der WU/WG Zum „demographischen Problembewusstsein“ von Entscheidern existieren nur wenige Informationen. Anja Farke hat am Beispiel der Stadt Salzgitter feststellen können, dass bei unterschiedlichsten Akteuren vier Phasen der „Bewusstwerdung“ auftreten: Der „Phase der Negierung“ folgt die „Wahrnehmung ohne Akzeptanz“, darauf die Phase einer „gewissen Akzeptanz ohne (oder mit sehr eingeschränkter) öffentliche(r) Kommunikation“ und schließlich die „Akzeptanzphase“ (Farke 2005: 196ff.). Im Rahmen der Experteninterviews im vorliegenden Projekt entstand ein heterogenes empirisches Bild, das verdeutlicht, dass die demographische Entwicklung nicht immer zum Standardrepertoire der Entscheidungsträger gehört und selten der Eindruck entsteht, die Entscheider seien bereits in der „Akzeptanz“-Phase. Wohnungswirtschaftliche Verbände wie der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW), der Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW) oder der Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung (vhw) informierten ihre Mitglieder in den letzten Jahren jedoch zunehmend über die Konsequenzen demographischer Veränderungen (Abbildung 34). Die Wohnungswirtschaft beschäftigt sich also in der Tat mit demographischen Entwicklungen und deren betriebswirtschaftlichen Auswirkungen. So wurde beispielsweise für Essen-Horst festgestellt, dass das Auffangen demographischer Wellen „ohne zielgruppenspezifische Vermarktung ein Problem“ darstelle (E_E5). Auch in Essen-Vogelheim wurde nach Expertenaussagen von den Wohnungsbaugesellschaften eine klare, am demographischen Wandel orientierte Strategie umgesetzt (E_E6, vgl. auch Marth 2004). Das Beispiel des Berliner Hans-Loch-Viertels zeigt ebenfalls eine Demographie-
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Szenarioentwicklung
Sensibilität bei einigen Akteuren, jedoch wurden keine besonderen Planungen daraus abgeleitet. Ziel ist es, durch kontinuierliche Bestandspflege, intelligente Belegungspolitik sowie den Umbau von Wohnungsgrundrissen eine stabile demographische Entwicklung zu befördern. Weiter gehende Maßnahmen wurden als „nicht finanzierbar“ deklariert (E_B10). Abbildung 34: Wohnungswirtschaftliche Studien zum demographischen Wandel
Quelle: www.bfw-bund.de, www.vnw.de
Andere wohnungswirtschaftliche Akteure dagegen haben das Problem zwar erkannt, machen es sich aber nicht zu eigen. So hieß es in einem Gespräch über das Quartier Karl-Marx-Allee-Süd in Berlin: „Viel weiter als beim Registrieren [dessen, was da auf uns zukommt] sind wir auch noch nicht“ (E_B11). Die Geschäftsführung eines privaten Wohnungsunternehmens betonte, man handele nicht langfristig und auch nicht „nachhaltig“ oder „integrativ-quartiersbezogen“. Die Bestände im Untersuchungsquartier Essen Steele-Horst, die funktionierten, würden normal bewirtschaftet. Theoretisch wäre es besser, schon jetzt etwas zu tun, derzeit gebe es aber innerhalb des Unternehmens an anderen Stellen einen größeren Handlungsbedarf. In 5 bis 10 Jahren könnten sich die Prioritäten verschieben (E_E9). Ein klassisches Setting wurde in einem anderen Interview
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beschrieben: Während in diesem Fallbeispiel die Stadtverwaltung Pläne verfolgt, um dem demographischen Wandel gestalterisch zu begegnen (u.a. durch klassische Kommunalplanung sowie Stadtumbau-Ost, aber auch mit Hilfe der städtischen Wohnungsbaugesellschaft), bewegt sich eine sehr stark betroffene örtliche Wohnungsbaugenossenschaft nur langsam in Richtung Rückbaumaßnahmen. Obwohl laut Stadtverwaltung im entsprechenden Quartier akuter Handlungsbedarf besteht, konnten zum Zeitpunkt des Gesprächs „noch keine nennenswerten Strategien entwickelt werden, weil die [Genossenschaft] nicht bereit war, darüber zu reden“ (E_BRB2). Etwas zynisch wurde in einem anderen Interview am Beispiel des Leipziger Quartiers Schönefeld-Ost angemerkt, dass Wohnungsgenossenschaften die Neigung hätten, „lieber ihre Leerstände auf sich zurollen“ zu lassen (E_L1). Außerdem gebe es bei einigen Entscheidern auch eine Art „Nach-mir-die-Sintflut“-Einstellung. In vielen, gerade jünger strukturierten Quartieren, lässt man das Problem ebenfalls (langsam) auf sich zukommen, ohne dass hier bereits frühzeitig Szenarien entwickelt würden (ebd.). Darüber hinaus werden demographische Faktoren oft ignoriert, wenn die Quartiersentwicklung erstens von jungen Altersstrukturen ausgeht und zweitens von anderen Problemen dominiert wird (z.B. Integration von Migranten)(z.B. BerlinKotti/Wassertorplatz, E_B13, E_B1). Damit ergeben sich zwei gegenläufige Zukunftsprojektionen des Deskriptors: A B
Schwach: demographische Faktoren spielen trotz eines zunehmenden Kenntnisstands bei Unternehmensentscheidungen eine untergeordnete Rolle Stark: demographische Faktoren spielen bei Unternehmensentscheidungen eine immer größere Rolle
5.3.2.4 Deskriptor IV: Demographische „Awareness“ der Kommunen Dass sich in Deutschland neben dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, der Schader-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung viele weitere Institutionen zum Ziel gesetzt haben, mehr demographisches Know-how in die Kommunen zu tragen, kann als Indiz für einen gewissen Nachholbedarf gedeutet werden (Abbildung 35). Es muss offen bleiben, wie viel davon in den Verwaltungen tatsächlich ankommt, denn auch „Demographie“ hat sich zu einem WissensMarkt entwickelt, der zu einer Flut von konkurrierenden Fort-, Weiterbildungsund Tagungsangeboten geführt hat. Nicht selten führt dies zu einer Übersättigung und zum genauen Gegenteil von „Awareness“. Die demographische „Awareness“ im kommunalen Bereich hängt sicherlich davon ab, wie konkret sich demographisch induzierte Probleme vor Ort
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Szenarioentwicklung
manifestieren. So könnte man vielleicht von einem Typ der „Hypertension City“ sprechen, wo in pulsierenden, wachsenden Stadtregionen demographische Probleme vom Markt ohne weiteres überkompensiert werden. Dass auch hier strukturelle Alterungsprozesse im Gange sind und sich längerfristig vor allem auf der Quartiersebene deutlich auswirken werden, wird oft zugunsten akuter anderer Probleme auf die lange Bank geschoben. Insbesondere Themen wie die Integration von Migranten, aber auch die Anwerbung attraktiver Nutzungen im internationalen Standortwettbewerb dominieren oft das eher schleichende Thema der Demographie. Abbildung 35: Publikation „Handlungsansätze für die kommunale Praxis“, Themenheft zum „Demographischen Wandel“ der Stadt Stuttgart
Quelle: Bertelsmann-Stiftung 2005, www.stuttgart.de (Print-Veröffentlichung von 2003)
Andere Kommunen, vielleicht als Typ der „Hypotension City“ zu bezeichnen, haben bereits konkret mit Auswirkungen des demographischen Wandels zu tun und arbeiten mit den Programmen Stadtumbau-Ost und -West in besonders betroffenen Quartieren, die in einem mehr oder weniger starken Marktvakuum trotzdem entwickelt, um- oder abgebaut werden müssen. In Interviews wird dann nicht mehr nur von Rückbau, sondern von Abriss gesprochen und es fallen bis-
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weilen Sätze wie am Beispiel Brandenburg-Nord: „Hier tickt die [demographische Zeit-, Anm. d. Verf.] Bombe!“ (E_BRB1). Hier gibt es allenfalls unterschiedliche Herangehensweisen, nicht jedoch einen Mangel an Problembewusstsein. Alle in die Untersuchung integrierten Kommunen gehören ausnahmslos zur letzteren Kategorie (nach Farke würde man wenigstens die Phase „gewisser Akzeptanz“ oder auch die Phase der vollständigen „Akzeptanz“ bemühen, vgl. Farke 2005). Man kann davon ausgehen, dass dort, wo der demographische Problemdruck konkreter wird, alle Kommunen eine demographische „Awareness“ entwickeln. Daraus ergeben sich folgende Zukunftsprojektionen des Deskriptors: A B
Schwach: Demographische Faktoren spielen in kommunalen Handlungsstrategien eine untergeordnete Rolle Stark: Demographische Faktoren spielen in kommunalen Handlungsstrategien eine große Rolle
5.3.2.5 Deskriptor V: Kooperationsbereitschaft der Akteure In den letzten Jahren gab es einen „Kooperations-Boom“ in der Planungsliteratur, der dazu führte, dass insbesondere Kategorien wie „Vertrauen“ oder das Sozialkapitalkonzept intensiver in die Forschung eingebracht wurden (vgl. Axelrod 1988, Mössner 2009). Nicht selten wird hier ein neues Paradigma verortet, das mit den Begriffen „Cooperative Turn“ oder auch „Communicative Turn“ beschrieben wird. Zwischen dem normativen Anspruch kooperativer Stadtentwicklung und der Realität klafft zum Teil aber eine beträchtliche Lücke. Der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung schreibt in einer Pressemitteilung zu den stadtpolitischen Auswirkung des demographischen Wandel im Jahr 2008, dass eine „schlichte Aufforderung zur Kooperation durch gezielte Anreize“ zu ersetzen seien (DV 2008). Auch „Sanktionen bei Kooperationsverweigerung“ werden gefordert. Kooperationsprobleme zeigen auch einige InterviewErgebnisse in den Quartieren der DemoImpact-Studie auf. Das hat zum einen mit konkreten Schlüsselpersonen und deren Einstellungen und Handlungsmustern zu tun, zum anderen aber auch, wie im folgenden Fall aus Berlin, mit fehlenden Strukturen, innerhalb derer sich Kooperationen entwickeln könnten. So wird bemängelt, dass die öffentliche Hand und die Wohnungswirtschaft nicht zusammenfänden: „Es gibt kein Prozedere, kein Forum, mit dem man strategisch mit der Wohnungswirtschaft zusammen etwas lösen könnte“ (E_B19, E_B21, E_B11). Ein weiteres Problem sei in Berlin die Bezirksfusion gewesen: „Dabei ist alles durcheinander geraten, die Fachverwaltungen haben sich stark nach
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Szenarioentwicklung
innen ausgerichtet“ (E_B19). Seitdem seien interne Struktur- und Kommunikationsprobleme an der Tagesordnung. Kommunikationsprobleme entstehen auch mit dem Auftreten neuer Akteure am Wohnungsmarkt (E_E6), insbesondere Investmentfonds wird ein geringes Interesse an einer lokalen Kooperation nachgesagt (E_E2). Ein Vertreter eines PEF bringt es so auf den Punkt: „Je mehr Akteure, desto weniger Konsens“ (E_E9). Nicht selten kritisieren sich auch Wohnungswirtschaft und Kommunen gegenseitig, sich nicht genügend zu engagieren und zu wenig zu kommunizieren, einzuladen etc. (E_B4, E_B17, E_B11). Häufig sei eine „stark wahrnehmbare Disharmonie zwischen den Akteuren“ festzustellen (etwa zwischen Jugendamt, QM, Polizei, Bundesagentur für Arbeit). „Ein Zusammenwirken wäre hilfreich, findet aber nach unserer Wahrnehmung nicht statt“ (E_B17). Abbildung 36: Dokumentation eines Kooperationsprojekts in Dortmund, Logo der kooperierenden Wohnungsunternehmen in Essen-Vogelheim
Quelle: www.ils-forschung.de, ILS NRW (2007), www.allbau.de
Trotz dieser deutlichen aktuellen Tendenz zu Kooperationsproblemen gibt es auch positive Gegenbeispiele, wie z.B. die Entwicklung der Quartiere Dortmund-Clarenberg oder Essen-Vogelheim. In letzterem, so hieß es im Interview
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lapidar, seien die „psychohygienischen Faktoren ideal für eine Netzwerkarbeit“ (E_E6), woraus eine flexible, konzertierte Aktion wirtschaftlicher Akteure und damit eine Win-Win-Situation entstand (vgl. auch ILS NRW 2007 sowie Abbildung 36). Insgesamt ist herauszustellen, dass der Wunsch nach Kooperation und kooperativen Strukturen so oft und so nachdrücklich geäußert wird, dass – eingedenk neuerer durchweg kooperativ ausgerichteter Planungsansätze bei zunehmender Komplexität städtischer Entwicklungsaufgaben – künftige neue Wege der Zusammenarbeit ohne weiteres plausibel erscheinen. Damit liegen die Zukunftsprojektionen für den Deskriptor auf der Hand: A B
Gering: Die Akteure haben eine geringe Kooperationsbereitschaft, Konkurrenzverhalten und Intransparenz dominiert das Geschehen. Groß: Die Kooperationsbereitschaft der Akteure ist groß, es gibt kaum Berührungsängste, man bemüht sich um Transparenz und um die Schaffung von Win-Win-Situationen.
5.3.2.6 Deskriptor VI: Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner In der Literatur ist vielfach beschrieben worden, dass „Quartier“ für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen – je nach Einkommen, Lebensstil, Bildungsgrad etc. – unterschiedlich wichtig sein kann. So sagt man bildungs- und einkommensschwachen Haushalten eher einen stärkeren Quartiersbezug nach als der (meist einkommensstarken) Bildungselite. Dabei sind die Handlungsoptionen des Einzelnen selten völlig frei: Ob man lieber in einem anderen Quartierskontext leben möchte oder auch, ob man dort bleiben kann, wo man ist, hängt vor allem mit dem verfügbaren Einkommen, aber auch vielen anderen Dingen zusammen, wie z.B. der (auch nicht immer freiwilligen) beruflichen Mobilität (vgl. Abbildung 37). Generell stellt sich die Frage: Wird künftig Mobilität immer mehr zum (freiwilligen oder erzwungenen) Handlungsprinzip (vgl. Sennett 2000) oder kann auch Persistenz zu einem dominanten Handlungsprinzip avancieren (vgl. auch IZT 2003)? Im letzteren Fall setzt sich mehr und mehr der Wunsch nach lokalen Wurzeln durch. Das Wohnquartier wird zur Rückzugsoase in der globalisierten Welt, basierend auf einem Mix aus gefühlter „Entankerung“ sowie einer „Rückbettung“ mit Hilfe von lokalem Sozialkapital, Ortsbindung, Image und Atmosphäre im Quartier, selbstgenutztem Wohneigentum, allgemeiner Wohnzufriedenheit und alternativen Möglichkeiten der Mobilität oder des translokalen Kontakts. Ein Umzug innerhalb der Stadt in ein anderes Wohnviertel, um den Wohnstandard zu verbessern, ist für die Haushalte stets ein Prozess sorgfältiger Abwä-
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Szenarioentwicklung
gung. Dabei handelt es sich nicht um eine „Verdörflichung“ städtischen Lebens, sondern um den realen Ausdruck dessen, was Albrow mit Soziosphären und sozialen Landschaften gemeint hat (Albrow 2007). Abbildung 37: Trends der Wohnmobilität?
Quelle: www.lbs.de, IZT 2003
Für den Deskriptor werden dementsprechend zwei Ausprägungen angenommen: A B
Mobilität: Zunehmende Wegzugspriorität bei abnehmender Ortsbindung und zunehmender (auch erzwungener) Berufsmobilität Persistenz: Das Wohnquartier wird zur Rückzugsoase in der globalisierten Welt
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Szenariobildung: Zukunftsprojektionen und Rohszenariencluster
5.4 Szenariobildung: Zukunftsprojektionen und Rohszenariencluster – Koordinatensysteme möglicher Quartiers-Zukünfte Alles Werden ist Rekombination. Matthias Horx (Horx 2005: 15)
5.4.1 Erstellung einer Konsistenzmatrix In diesem Schritt werden alle denkbaren Deskriptorenkombinationen einer systematischen Überprüfung unterzogen. Dazu wird zunächst eine Matrix erstellt (sog. Konsistenzmatrix), in der die Wirkungen der unterschiedlichen DeskriptorAusprägungen (gegenläufige oder kongruente Trends) aufeinander bezogen und mit Hilfe eines Punktesystems bewertet werden. Die Konsistenzanalyse erfolgt – anders als die verwandte Cross-Impact-Analyse – ohne die Bestimmung von Eintrittswahrscheinlichkeiten, so dass der Aufwand und die Zahl der zu treffenden Annahmen geringer ausfallen. In der Konsistenzmatrix werden die sog. „Konsistenzzahlen“ aufgelistet, die der gängigen, von Reibnitz (Reibnitz 1981) vorgeschlagenen Skala von -2 (völlige Inkonsistenz der Deskriptorausprägungen) bis +2 (völlige Konsistenz oder sogar gegenseitige Verstärkung der Deskriptorausprägungen) folgen. Im Prinzip wird auf diese Art und Weise für alle Kombinationen ein „Plausibilitätscheck“ durchgeführt. Mit der Szenariosoftware können anschließend alle Kombinationen geprüft und bewertet werden. 5.4.2 Berechnung von Rohszenarien Die verwendete Software „Szenoplan“ erstellt daraus eine Rangliste von Deskriptorenbündeln (Rohszenarien, siehe Abbildung 38), die sich – basierend auf der Logik der Konsistenzmatrix – als besonders widerspruchsfrei herausstellen. Als Index wird ein Konsistenzmaß ausgegeben. Je höher das Konsistenzmaß ausfällt, desto „besser“ ist das Szenario (eine detaillierte mathematische Beschreibung der Konsistenzanalyse und der notwendigen Algorithmen hat Sensen 1997 vorgenommen).93 Jedoch müssen auch diese Rohszenarien Plausibilitätsüberprüfungen unterzogen werden, denn manche Projektionsbündel (mit vielen sich gegenseitig tragenden Deskriptorenausprägungen) werden sicherlich häufi93 Das Konsistenzmaß berechnet sich als Summe aller kombinierten Deskriptorausprägungen in einem Szenario (Heinecke 2006: 191f.).
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Szenarioentwicklung
ger zu erwarten sein als andere (vgl. Sensen 1997). Die sechs ermittelten Deskriptoren ergaben letztlich 59 Rohszenarien mit absteigenden Konsistenzmaßen (siehe Abbildung 38, vgl. auch Heinecke & Schwager 1995).94 Abbildung 38: Szenarioverteilung nach Konsistenzmaß Szenarioverteilung nach Konsistenzmaß 40 35
Konsistenzmaß
30 25 20 15 10 5 0 0
2
4
6
8
10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 Anzahl Szenarien
Quelle: Eigene Berechnungen, Darstellung aus Software Szenoplan
5.4.3 Bündelung der Rohszenarien Um die Zahl der Projektionen auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, werden mit Hilfe einer Clusteranalyse alle ähnlichen Projektionen zu Rohszenarien zusammengefasst. Es gilt das Prinzip: Je unterschiedlicher die Cluster und je höher das Konsistenzmaß, desto besser. In der vorliegenden Studie wurden vier Cluster festgestellt.95 Die in Abbildung 39 als „morphologische Kästen“ dargestellten Szenariencluster („Rohszenarienbündel“) mit den jeweils fünf höchsten Konsistenzmaßen werden als stellvertretend für ihr Cluster angesehen (DeskriptorAusprägungen/Trends: rot = „negativ“, grün = „positiv“).96
94 Unabhängig davon, ob es inhaltlich sinnvoll wäre, mit einer höheren Zahl an Deskriptoren zu arbeiten, stößt eine Ausweitung der Liste auf Grenzen der Computer-Hardware. Bei 20 Schlüsselfaktoren mit nur 2 Ausprägungen/Projektionen entstehen bereits 220 (mehr als eine Million) Projektionsbündel (Sensen 1997). 95 Es wurde eine hierarchische Clusteranalyse (quadriertes euklidisches Distanzmaß, Ward-LinkageVerfahren) für 59 Rohszenarien auf der Basis der sechs Deskriptoren als Variablen durchgeführt. 96 Die in der Summe fehlenden Projektionen mit geringeren Konsistenzmaßen wurden zugunsten einer besseren Übersichtlichkeit hier nicht dargestellt.
Szenariobildung: Zukunftsprojektionen und Rohszenariencluster
Abbildung 39: Analyse der geclusterten Rohszenarien Stark vereinfachte Darstellung der Deskriptor-Ausprägungen/Projektionen: rot = „eher negativ“, grün = „eher positiv“
Quelle: Eigene Berechnungen und Darstellung
Quelle: Eigene Berechnungen und Darstellung
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Szenarioentwicklung
5.5 Szenariointerpretation: Quartiere – Quo Vadis? Aus Veränderungen von Rahmenbedingungen kann […] nicht ‚automatisch‘ auf Veränderungen lokalen Handelns geschlossen werden. […] Kommunen verhalten sich bei gleichen Rahmenbedingungen verschieden. […] Es bleibt ein unaufgeklärter Rest, der möglicher Weise als lokale ‚Kultur‘ bezeichnet werden kann – als lokale ‚Planungskultur‘, ‚Kultur des Umgangs miteinander‘ und was der Bezeichnungen mehr sind. Marion Klemme und Klaus Selle (2008: 147f.)
5.5.1 Analyse der Rohszenarien im Kontext der Cluster Nun werden die wenigen verbliebenen Projektionsbündel (Rohszenarien) genauer analysiert. Dazu werden die dem Cluster zugrundeliegenden Zukunftsprojektionen verglichen, um die Charakteristika der Rohszenarien besser kennen zu lernen. Außerdem werden die Hauptunterschiede der Cluster herausgearbeitet. 5.5.2 Inhaltliche Aufbereitung der Cluster Bislang liegen nur „Gerüste“ vor, mit denen man noch nicht allzu viel anfangen kann. Die Szenarien müssen als nächstes zielgruppenspezifisch aufbereitet werden. Reibnitz empfiehlt für diesen Schritt eine Einzelperson „mit Phantasie […], [die] die Szenarien in Form einer Story schildert. Wichtig ist dabei, dass alle vorher ermittelten weichenstellenden Annahmen in den Szenarien enthalten sind und die weitere Ausgestaltung keine Inkonsistenzen zu den Annahmen aufweist“ (Reibnitz 1981: 40). Hier sind jedoch ganz unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten denkbar. Unter anderem ist es möglich, im Rahmen dieses Projekts eine Matrix aus den Endszenarien und den drei demographischen Quartiersgruppen („alt - jung - heterogen“) aufzuspannen und auf dieser Basis die Konsequenzanalyse zu betreiben (Schritt 7). Es muss letztlich aber dem kreativen Forschungsprozess überlassen werden, in welcher Gestalt, in welchem Komplexitätsgrad und mit welchen Mitteln die Szenarien letztlich konstruiert werden (zur Vielfalt von Szenariodarstellungen vgl. wiederum Stiens 1996). Im Folgenden werden die Szenarien anhand von „Rahmenstories“ zugespitzt und kontrastiert. Die Szenarioformulierung basiert auf den in Kapitel 3.2 dargestellten theoretischen Grundlagen, insbesondere auf der Urban-Regime-Theorie, in der es um verschiedene Governance-Optionen in der Stadtentwicklungspolitik geht (Policy-Szenarien). Ob urbane Regime gut funktionieren, hängt insbesondere
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von deren Kooperationsfähigkeit ab. Dementsprechend lassen sich die Szenarien inhaltlich auch entlang dieses „Kooperationsfaktors“ verorten. Im zweidimensionalen Konfliktmodell nach Ruble & Thomas (1976) würde man das Szenario .1 (Pro Quartier! / Proaktives Entwicklungsregime97) dem Quadranten A, Szenario .2 (Pro Quartier? / Reaktives Konfliktvermeidungsregime) B oder D, Szenario .3 (Markt vs. Lokalstaat / Progressives Konfliktregime) C oder D sowie Szenario .4 (Quartier des Kapitals / Kapitalverwertungsregime) den Quadranten C oder B zuordnen (siehe Abbildung 17). Um die Szenarien transparenter zu gestalten, wurden die verwendeten Deskriptoren bzw. deren inhaltlichen Ausprägungen wie folgt mit Unterstreichungen markiert, sodass sie sich in den folgenden Beschreibungen entsprechend identifizieren lassen: x x x x x x
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort Quartiersbezogene Handlungslogiken der Kommune Demographische „Awareness“ der WU/WG Demographische „Awareness“ der Kommunen Kooperationsbereitschaft der Akteure Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner
Die Entwicklung der Szenarien-„Rahmenstories“ ist ein auf den empirischen Grundlagen stattfindender, ausgesprochen kreativer Prozess, der u.a. mit Brainstorming-Techniken durchgeführt wurde. Die daraus resultierenden Flipcharts werden in den Szenariobeschreibungen als Abbildungen dokumentiert, jedoch nicht weiter kommentiert (Abbildung 40, Abbildung 41, Abbildung 42 sowie Abbildung 43 auf den folgenden Seiten). Die Texte sind jeweils in drei Teile gegliedert: Zunächst wird das „Gesamtstadt-Umfeld“ beschrieben, bevor die Handlungslogiken der (professionellen) Akteure sowie diejenigen der Bewohner dargestellt werden.
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Das Fremdwörterlexikon definiert „proaktiv“ als „vorausschauend, vorausplanend, Trends vorwegnehmend“ (Wahrig, 7. Auflage, 2004). Es wird hier also eine intiativergreifende, weitblickende Eigenschaft angenommen, die sich insbesondere von reaktivem und abwartendem Handeln abgrenzt.
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5.5.2.1 Szenario .1: „Pro Quartier!“ – Konzertierte Entwicklungsstrategien („Proaktives Entwicklungsregime“) Abbildung 40: Brainstorming Szenario .1
Quelle: Eigene Darstellung, Flipchart-Foto
A. Umfeld Gesamtstadt: statisch, langsame qualitative Umverteilung Dass das Marktumfeld nicht von übermäßiger Nervosität geprägt ist, liegt an der wirtschaftlichen Gesamtsituation. Die Gesamtstadt wächst höchstens leicht, stagniert möglicherweise oder schrumpft sogar etwas, aber die regionalen Arbeitsmärkte sind relativ stabil, weswegen beruflich bedingte Wegzugsmobilität keine große Rolle spielt. Für die Anbieter ist es kein idealer Markt, das durchschnittliche Miet- und Kaufpreisniveau stagniert in den meisten Fällen – eine Situation, die in vielen Kommunen vorzufinden ist. Am Wohnungsmarkt hält mehr und mehr eine Mikrodifferenzierung Einzug. Es treten – bei recht geringer Fluktuation – in einzelnen Lagen dauerhafte strukturelle Leerstände auf. Obwohl der Bevölkerungsrückgang nicht so dramatische Formen angenommen hat wie vor einigen Jahren noch vermutet, sind Boom-Märkte auf absehbare Zeit ebenfalls nicht zu erwarten. B. Handlungslogiken der Akteure: Klare Programmatik, Strategien und reale Erfolge Die lokale politische Konstellation ist bemerkenswert kooperativ: In bestimmten, einflussreichen Akteursnetzwerken oder urbanen Regimen, die neben Unterneh-
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men die verschiedensten Akteursgruppen umfassen, werden Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit, soziale Wohnkultur (Opaschowski 2008: 392) und strategische Kooperation groß geschrieben. Die „Darmstädter Erklärung“ von 2008 wird hier konsequent in die Tat umgesetzt: Die „Entwicklung vielfältiger, dynamischer Stadtquartiere, die Entfaltung und Beförderung individueller Lebensstile, lebendiger Nachbarschaften und kreativer Milieus“ stehen konkret auf der Tagesordnung (Schader Stiftung (ed.) 2008). Da der lokale Markt auf längere Sicht nur noch in seltenen Fällen „Selbstläufer“ hervorbringen wird, hat ein Umdenken stattgefunden. So sind Quartiers- und Demographieorientierung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit nicht nur für die Kommunen, sondern auch für die Unternehmen inzwischen Teil ihrer strategischen, proaktiven Planungen geworden. Gewinnplanungen werden auf längere Sicht gedehnt, dafür gibt es auch von staatlicher Seite entsprechende Sicherheiten (z.B. städtebauliche [Kooperations-]Verträge mit längerfristigen Laufzeiten, die Verkürzung von Amtsvorgängen, Flexibilisierung von Antragsverfahren). „Stadtrendite“ und „CSR“ sind Konzepte, die in dieser Kommune besonders intensiv diskutiert und in Modellprojekten erprobt und weiter entwickelt werden. Die verlängerten Programme „soziale Stadt“ und „Stadtumbau“ stellen gängige und häufig genutzte Steuerungsinstrumentarien dar. Es gibt viel „Konzept“ und „Überbau“, aber auch entsprechende Maßnahmen. Zwischen staatlichen, privaten und intermediären Akteuren gibt es wenig Berührungsängste. Trotz der Wettbewerbssituation kann das lokale politische Klima als kooperativ und partizipativ bezeichnet werden, was u.a. an umsichtigen Entscheidungsträgern in Verwaltung und großen Wohnungsunternehmen liegt, die das „Große und Ganze“ im Blick haben und darüber hinaus von der Idee geprägt sind, dass Quartiersentwicklung mehr sein muss als nur Bestandsoptimierung. Man möchte schwierige Situationen nach Kräften auch in ferner Zukunft vermeiden. Öffentlich-private und privat-private Kooperationen sind an der Tagesordnung, Kofinanzierungen gang und gäbe. C. Handlungslogiken der Bewohner: Fokus „Grassroots“ Der Wunsch nach dauerhafter Bleibe als Rückzugsoase in der globalisierten Welt ist dominant. Nur wenige verspüren eine „Lust auf Wohnortwechsel“ und wollen auch in Zukunft „ungern ihr gewachsenes soziales Umfeld aufgeben“ (Opaschowski 2008: 395). Der Trend ging schon seit Jahren in diese Richtung. Mietund Eigentumswohnungen in den Städten waren zunehmend gefragt. Die neue Lust am Quartier der kurzen Wege ging eindeutig auf Kosten von Wohnvierteln peripherer Gebiete wie etwa Einfamilienhaussiedlungen im weiteren Umland. Protagonisten dieser Nachfrageverschiebung sind nicht nur junge kinderlose Haushalte wie noch um die Jahrtausendwende. Vielmehr geht das Nachfragepo-
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tenzial quer durch alle Bevölkerungsgruppen: Beteiligt sind die immer rarer werdenden Familien, ebenso wie „Empty-Nest“-Haushalte, Senioren und Hochbetagte, die ihren sozialen Konvois folgen und damit dem Auslaufmodell Altersheim entgehen. Durch die Neigung zur Persistenz im Quartier erhöhen sich das lokale Sozialkapital und die Ortsbindung und stabilisieren das Quartier. Nicht selten kommt es zu einem „Incumbent Upgrading“-Prozess. 5.5.2.2 Szenario .2: „Pro Quartier?“ – Halbherzige Entwicklungssteuerung („Reaktives Konfliktvermeidungsregime“) Abbildung 41: Brainstorming Szenario .2
Quelle: Eigene Darstellung, Flipchart-Foto
A. Umfeld Gesamtstadt: Nullwachstum oder Schrumpfung, dynamischer Nachfragermarkt Die Bevölkerungsentwicklung der Stadtregion schrumpft oder stagniert ebenso wie die stadtwirtschaftliche Basis, der lokale Wohnungsmarkt kann – zumindest quantitativ – als Nachfragermarkt bezeichnet werden. Auf mittlere Sicht wird sich dieses Grundschema nicht ändern. Die Anbieter müssen sich deshalb bis auf weiteres auf eine schleppende bis mäßige, sehr qualitätsbewusste Nachfrage einstellen. Das Mietniveau stagniert, der strukturelle Leerstand ist relativ hoch, die Fluktuation ebenso.
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B. Handlungslogiken der Akteure: Klare Programmatik, diffuse Realität Die Akteure orientieren sich zunehmend an sozialräumlichen Kategorien wie dem „Quartier“. Die meisten Wohnungseigentümer, in jedem Fall aber die kommunalen Akteure sind sich der längerfristigen demographischen Entwicklung und deren Bedeutung für manche Quartiere bewusst. Innovative Quartiersentwicklungskonzepte werden erfunden, vorgestellt und in zahllosen politischen und wissenschaftlichen Fachkongressen diskutiert. An Programmatik und Ideen mangelt es nicht. Man hat keine Berührungsängste, sitzt an runden Tischen zusammen. Die Kommunen möchten proaktiv handeln, implementieren Förderinstrumente und initiieren Kooperationen. Auch auf der Unternehmensseite ist meist der Wille zur Kooperation zu spüren, jedoch gestaltet sich die praktische Umsetzung mitunter als schwierig, insbesondere weil sich keine Stabilität im Quartier einstellen will. Die Fluktuation ist nach wie vor hoch, die Quartiere sind enorm dynamisch. Dies wiederum führt zu Unsicherheiten hinsichtlich der geeigneten Quartiersentwicklungs-Instrumentarien und fördert nicht die Risikobereitschaft der Entscheider. Solche eher reaktiv ausgerichtete Wohnungsunternehmen investieren nicht unbedingt in größerem Maßstab in die Zukunft. In Kooperationen dominiert der sprichwörtliche kleinste gemeinsame Nenner und auch sonst wird eher instand gesetzt als modernisiert, eher modernisiert als abgerissen, eher umgewandelt als neu gebaut. Auch hinsichtlich der Zielgruppenorientierung bleibt man eher konservativ und abwartend: Man richtet seine Bestände eher auf einen Mainstream aus, auf möglichst alle Altersgruppen etc. Da sich in einer solchen Situation der Markt den Nachfragern als relativ diffus darstellt, kann es zu wenig vorhersehbaren „Quartiersmoden“ kommen, durch die unkalkulierbare Mikromärkte entstehen. Dadurch wird es Verlierer- und Gewinnerbestände geben, und die Akteure sind den Marktschwankungen relativ schutzlos ausgesetzt. C. Handlungslogiken der Bewohner: Wohnoptimierung statt Quartierssentimentalität Die Bewohner sind sehr mobil, zumal die Marktsituation vielen Leuten Veränderungsmöglichkeiten bietet. Diejenigen, die es sich leisten können, versuchen ihren Wohnstandard zu erhalten oder zu verbessern, indem sie in bessere Lagen ziehen. Andere, insbesondere Migranten beziehen frei werdende Wohnungen in bestimmten, preiswerten Lagen. Die Ortsbindung in den Quartieren nimmt tendenziell ab.
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5.5.2.3 Szenario .3: Markt vs. Lokalstaat – Verhandlungssache Quartier („Progressives Konfliktregime“) Abbildung 42: Brainstorming Szenario .3
Quelle: Eigene Darstellung, Flipchart-Foto
A. Umfeld Gesamtstadt: stagnierend Das Marktumfeld ist vor allem für die Anbieter schwierig. Vor dem Hintergrund einer tendenziell schrumpfenden oder im besten Fall stagnierenden Stadtregion trifft die Nachfrage auf ein mehr oder weniger großes Wohnungsüberangebot. Oft wird hohe Qualität zu knappen Preisen bzw. Mieten verlangt, die Auswahl ist groß. Manche unattraktive Bestände stehen teilweise leer und sind praktisch unvermietbar – der Verfall setzt ein. Die Fluktuation ist hoch, ebenso wie die Instandhaltungskosten der Wohnanlagen. Die wirtschaftliche Gesamtsituation der Stadt ist ebenfalls von Stagnation geprägt. B. Handlungslogiken der Akteure: Profitorientierung und ad-hoc-Planung Die Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft sind klar: Es wird überwiegend kurzfristig agiert, man orientiert sich an Mindestrenditen und wenn Bestände den unternehmensinternen Renditevorgaben nicht entsprechen, werden sie nach Möglichkeit verkauft. Im Rahmen dieser Szenario-Rahmenstory ist die Quartiersorientierung in der Wohnungswirtschaft ein rein akademisches Thema, das nur die wenigsten Entscheider handlungsrelevant beeinflusst. Strategische
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Kooperationen fallen angesichts der starken Konkurrenz schwer. Ein wenig anders ist das in manchen Kommunen, die hier doch eher einen Schwerpunkt auf Quartiersentwicklung, Nachhaltigkeit, Kooperation und Demographieorientierung legen. Doch meist beschränken sich diese Ideen auf Workshops, Gutachten, Interviews und Positionspapiere. Während man integrative und langfristige Ansätze propagiert, bleibt in der realen Politik nicht zuletzt wegen unterfinanzierter Haushalte und der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Privatwirtschaft meist nur die „Feuerwehrfunktion“: Man übt sich im Konflikt, orientiert sich aber zwangsläufig eher an „Leuchtturmprojekten“, die einen Ausblick auf Planungen geben können, die in der Stadt(teil)entwicklungspolitik wünschenswert wären. Der Lokalstaat beschränkt sich also – notgedrungen – mehr oder weniger auf PR-Kampagnen für eine Politik, die er gerne verwirklicht sehen würde, aber nicht umzusetzen in der Lage ist. In Quartieren, die einer starken Heterogenisierung und sozialen Abstiegsprozessen unterliegen, kommen vermehrt „Soziale Stadt“-Projekte zum Einsatz, weil hier immerhin Verbündete in der zivilgesellschaftlichen Sphäre zu finden sind. Konflikte zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen sind an der Tagesordnung. Für städtebauliche Anpassungen, Veränderungen des Wohnumfelds, umfangreichere Modernisierungen von Gebäuden oder gar für Neubau ist in diesem Szenario meist kein Platz. Zwar gibt es punktuell Investitionen, die zumindest den Status Quo bewahren, oft jedoch verschlechtert sich die Qualität der Quartiere aufgrund ausbleibender Investitionstätigkeit. C. Handlungslogiken der Bewohner: Persistenz Die Mobilitätsbereitschaft der Bewohner ist trotz des Drucks der Anbieter gering. Die Ortsbindung nimmt stetig zu und nachbarschaftliche Netzwerke spielen eine große Rolle. Die Bewohner haben als Verbündete die Kommune und beide einen gemeinsamen Gegner: Die Wohnungswirtschaft, vertreten durch Wohnungsunternehmen oder Wohnungseigentümer. 5.5.2.4 Szenario .4: Quartiere des Kapitals – Profitorientierung & Passivplanung nach dem „Neoliberal Turn“ („Kapitalverwertungsregime“) A. Umfeld Gesamtstadt: auch noch Wachstum möglich Die soziale Polarisierung spiegelt sich im Stadtraum wider: Mieten und Kaufpreise ziehen in manchen Quartieren deutlich an, es kommt zu Umwandlungen
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von Miet- in Eigentumswohnungen und zu Gentrification-Prozessen. In anderen Quartieren dominieren negative Segregationsprozesse und Zuzüge sozial schwächerer Bevölkerungsschichten, häufig mit migrantischem Hintergrund. In einem solchen mehr oder weniger deutlichen Vermietermarkt herrscht das sprichwörtliche Prinzip des „Anything Goes“. Der Markt wächst, die Wohnimmobilienbranche ist ein Selbstläufer, die Unternehmen versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Auch in einem Marktumfeld, welches weniger anbieterfreundlich ist, kann dieses Szenario auf einzelne Lagen oder Quartiere zutreffen. Abbildung 43: Brainstorming Szenario .4
Quelle: Eigene Darstellung, Flipchart-Foto
B. Handlungslogiken der Akteure: Profitorientierung und ad-hoc-Planung Aufgrund der Marktsituation sind die Anreize strategischer Konzeptionen bei den wirtschaftlichen Akteuren recht gering. Auch ohne langfristige Bestandsoptimierungen, Qualitätsstrategien, Demographie- und Quartiersorientierung oder auch Kooperationsmodelle lassen sich dauerhaft gute Renditen erzielen. Strategische Erwägungen beziehen sich meist nur auf interne Organisationsentwicklung, das Unternehmensportfolio, renditeträchtige Investments in viel versprechenden Lagen, innovative Finanzierungsinstrumente und vereinzelte Projektentwicklungen. Kurzfristigkeit dominiert die Unternehmensentscheidungen, Wohnhäuser wechseln schnell die Besitzer und insbesondere problematische Bestände werden schnell abgestoßen. An Problemlösungen innerhalb von Quartieren besteht oft nur wenig Interesse. Natürlich ist spürbar, dass der entfesselte Markt im Stadtraum Narben hinterlässt. So verhalten sich manche kommunalen
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Ämter gegenläufig zur Immobilienwirtschaft und streben ganzheitliche, stadtweit integrierte Quartierskonzeptionen, auch unter Berücksichtigung demographischer Entwicklungen an. Eher selten stoßen die Kommunen dabei auf offene Ohren in der Immobilienwirtschaft, denn auf dieser Seite besteht kein Handlungsbedarf. Die meisten Kommunen haben diesen wenig aussichtsreichen Kampf auch schon aufgegeben. Sie orientieren sich mehr und mehr am Einzelfall, handeln eher passiv und wenig kreativ, stets mit dem Hinweis auf immer knapper werdende finanzielle Ressourcen. In diesem dynamischen und relativ ungesteuerten Marktumfeld entfalten sich vielfältige und manchmal kontrastierende Aktivitäten, oft in unmittelbarer Nachbarschaft. Fast reine Renditeabschöpfung unter Mindestinstandhaltungsmaßnahmen bei „Cash Cows“ und Desinvestition sowie Veräußerungsoptionen bei „Poor Dogs“ stehen neuen innovativen Projektentwicklungen („Question Marks“) und „Stars“ gegenüber, Wohnungsbeständen oder Quartieren, die sich trotz hoher Preise und größerer Mengen eines reißenden Absatzes erfreuen. Häufig sind diese Aktivitäten nur wenig koordiniert und stehen so stadtentwicklungspolitischen Zielen entgegen. Konflikte zwischen den Akteuren mit unterschiedlichen Ressourcen und Handlungszwängen sind vorprogrammiert. Es hängt mehr als je zuvor von der Ausgangssituation des Quartiers ab, wie es sich in Zukunft weiter entwickeln wird. Mehr oder weniger drastische Veränderungen sind jedoch meist abzusehen. Das Quartiersschicksal wird bestimmt durch historische Pfadabhängigkeiten, Konflikte, willkürliche Aushandlungen, zufällige Akteurskonstellationen, Einzelpersonen oder Alleingänge. C. Handlungslogiken der Bewohner: Zwischen Verdrängung und Wohnoptimierung Unter dem Druck des Marktes haben sich die Menschen von der Idee verabschiedet, Wurzeln zu schlagen. Die Mobilitätsbereitschaft der Bewohner ist groß. Diejenigen, die es sich leisten können, versuchen ihren Wohnstandard zu erhalten oder zu verbessern, indem sie in bessere Lagen ziehen und ggf. andere Haushalte verdrängen. Die Ortsbindung nimmt stetig ab und das Verantwortungsgefühl für das Quartier geht verloren, selbst in Quartieren, die einst sehr beliebt waren. Nachbarschaftliche Netzwerke und lokales Sozialkapital erodieren mehr und mehr, in vielen Quartieren kommt eine Abwärtsspirale in Gang, die unter anderen Rahmenbedingungen ohne weiteres hätte vermieden werden können. Besonders in Quartieren mit gehäufter Desinvestition kommt es zum Zuzug und zur Konzentration einkommensschwacher Haushalte, häufig mit Migrationshintergrund. Dieses Downgrading schlägt sich auch im Quartiersimage und in der Quartiersatmosphäre nieder. Aber auch eine Erhaltung des Status Quo
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im Quartier ist möglich. Ein Quartiersdowngrading bei gleichzeitigem Entstehen von Wohlstandsinseln erscheint aber der plausibelste, dominierende Effekt dieses Szenarios. 5.5.3 Szenarienmatrix Wenn man den demographischen Impact als Hauptvariable innerhalb der Szenarien betrachtet, kann man daraus die in Tabelle 25 dargestellte Matrix konstruieren. Die vier Szenarien zeigen deutlich den Fokus der Delphi-Experten, die häufig handlungsorientierten Einflussfaktoren den Vorrang gegenüber strukturellen Bedingungen einräumten. In den vier Szenarien wird eine jeweils unterschiedliche perspektivische Ausrichtung des zugrundeliegenden Akteurssystems sichtbar, die von einer ganzheitlichen Orientierung über konservativere Perspektiven bis hin zu unternehmerischen Handlungslogiken sowie einer Negation der Gesamtproblematik reichen kann. Exkurs: Szenariovarianten in abweichenden städtischen Umfeldern Handlungsbezogen ergeben sich im Vergleich von kleineren und größeren Städten gewisse Unterschiede: So ist die Akteursstruktur in einer Millionenstadt wie Berlin in der Regel vielfältiger und unübersichtlicher als in kleineren Städten wie Brandenburg an der Havel. Allein die Stadtverwaltung ist deutlich komplexer aufgebaut, wodurch Entscheidungen erschwert werden können. Andererseits kann eine große Akteursvielfalt auch der Nährboden schlagkräftiger „Coalitions“ sein, die andernorts so nicht möglich wären. Deshalb kann man insgesamt davon ausgehen, dass die Grundprinzipien der hier entwickelten Szenarien von der Stadtgröße eher unabhängig sind, was sich im Übrigen auch aus den dominanten Themen der geführten Experteninterviews ableiten lässt: Trotz der abweichenden Stadtgrößen ähneln sich die Grundprobleme. Auch der Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Städten spielt eine gewisse Rolle, die aber langfristig nicht überbewertet werden sollte. Die grundlegendste und zunächst bleibende Differenz besteht in variierenden städtebaulichen Leitbildern zur Zeit der deutschen Teilung und daraus resultierenden spezifischen Städtebau- und Quartierstypen oder -subtypen. Aus diesen Kontexten entstehen sicherlich auch spezifische Handlungsnöte, -optionen und –muster. Andererseits kann man die ostdeutsche Entwicklung durchaus als frühe „Laborsituation“ dessen verstehen, was in den nächsten Dekaden das ganze Land betreffen wird. Während möglicherweise zukünftig in ostdeutschen Kommunen bereits die Talsohle erreicht sein und die Zukunft neu gestaltet wird, erleben west- und insbesondere süddeutsche Gemeinden genau diesen Schrumpfungsprozess. Be-
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trachtet man also – wie hier geschehen – einen langfristigen Prozess, nivellieren sich solche Unterschiede zunehmend. Was bleibt, sind grundsätzliche Handlungsoptionen und Handlungsprinzipien. Tabelle 25:
Szenarienmatrix
Quelle: Eigener Entwurf und Darstellung
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5.6 Störfallanalyse: Was die Quartiersszenarien ad absurdum führen könnte Einen interpretativen Zwischenschritt stellt die Störfallanalyse dar. Hier werden in einem Brainstorming mögliche (positive oder negative) Störgrößen ermittelt, welche die Entwicklung durch plötzliches Auftreten stark verändern könnten: „Durch Störereignisse lässt sich […] gut überprüfen, wie stabil oder labil bestimmte Entwicklungen gegenüber solchen Ereignissen sind“ (Reibnitz 1981: 40). Ein Beispiel für einen realistischen Störfaktor im Quartierskontext wäre etwa der vor Ort befürchtete oder tatsächlich geplante Neubau eines Autobahnverbindungsstücks durch ein Quartier – ein Fall, der z.B. in einem der Untersuchungsquartiere vorgefunden wurde. Man könnte diesen Schritt auch als „Szenario-Test“ titulieren, denn unter der Annahme von Diskontinuitäten werden Stärken und Schwächen der Szenarien besonders deutlich. Störgrößen können auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Zeithorizonten auftreten. Die US-amerikanische Immobilien- und die globale Finanzkrise, die sich seit 2006/2007 mehr und mehr manifestieren, könnten sich auch langfristig auf die städtischen Wohnungsmärkte auswirken. Sowohl die Handlungslogiken der Kommunen und Wohnungsunternehmen als auch die der Nachfrager und Bewohner könnten sich deutlich verändern (z.B. geringere künftige Bedeutung von Investmentfonds auf den Wohnungsmärkten, Renaissance eines sozialen Wohnungsbaus, Persistenz und Absicherung statt Mobilität und Risikobereitschaft, Selbstnutzung statt Kapitalanlage). Auch ein globales Scheitern des kapitalistischen Wirtschaftssystems wäre möglich, wenn vielleicht auch nicht sehr wahrscheinlich. In einem solchen Fall würden die Szenarien ihrer fundamentalen Grundannahmen beraubt, nämlich der generellen Funktionsweise der Immobilienwirtschaft im Zusammenspiel mit staatlichen Akteuren – oder allgemeiner ausgedrückt: der Funktionalität von Markt und Staat. Um den „Szenariotrichter“ nicht zu weit aufzuspannen, sollen Staatskapitalismus, Subsistenzwirtschaft oder Anarchie als mögliche gesellschaftliche Zukünfte hier nicht berücksichtigt werden. Für derartige Szenarien könnten auf der Basis der heutigen Erfahrungen auch kaum Handlungsempfehlungen für Quartiersentwicklung abgegeben werden – es wäre ein Spiel mit sehr vielen Unbekannten. Im kommunalen Bereich können sich veränderte politische Verhältnisse etwa durch eine plötzliche restriktive Bauflächenpolitik in der Flächennutzungsplanung deutlich auf die Bodenmärkte auswirken und damit entsprechende Marktbewegungen auslösen. Auf der Mikroebene können sich in vielen Quartieren mehr oder weniger wahrscheinliche drastische Änderungen ergeben, etwa durch den Bau einer Umgehungsstraße oder eines Autobahnzubringers im oder in der Nähe eines Quar-
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tiers. Allein das Auftauchen von Rahmenplänen dieser Art kann bereits Investoren und Bewohner in die Flucht schlagen und die Quartiersentwicklung zum Erliegen bringen. Es ist schwierig, solche Störfaktoren vorherzusehen, weil es eine unendliche Anzahl meist sehr unwahrscheinlicher Ereignisse gibt, die aber dennoch theoretisch eintreten könnten. Als ein gutes Beispiel für eine derart unwahrscheinliche Störgröße kann die geologisch geradezu rasante Anhebung des Innenstadtbereichs der Stadt Staufen im Breisgau gelten, die auf Probebohrungen zur Erdwärmegewinnung für das städtische Rathaus zurückzuführen war. Im denkmalgeschützten Innenstadtbereich wurden 2008 innerhalb weniger Monate durch Gebäuderisse Schäden in Millionenhöhe verursacht. Das Gebiet wurde von einem Tag zum anderen zu einer Risikozone für Investoren, da ein Ende der Hebungen nicht abzusehen war (http://www.geoberg.de/blog). 5.7 Konsequenzanalyse: Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar? Auf die vollständige Wiedergabe der recht umfangreichen Textszenarien wurde an dieser Stelle verzichtet. Die kompletten Szenarien sind im Anhang dokumentiert. Anhand von Beispielen und Zitaten aus den einzelnen Szenarien sollen hier die wesentlichen Förder- oder Hemmfaktoren herausgearbeitet und für jeden der einzelnen Quartierstypen analysiert werden. Viele Details (z.B. Ideen für bauliche oder soziale Interventionen sowie die hinter den Szenarien stehende „Story“ mit logischen Entwicklungen und einflussreichen Ereignissen) können dabei nicht erwähnt werden. Bei tiefer gehendem Interesse z.B. für bestimmte Quartierstypen sollten deren Szenarien in Gänze gelesen werden. Dabei müssen folgende Einschränkungen geltend gemacht werden: Aus Machbarkeitsgründen wurden nicht alle möglichen Szenarien erstellt. Für zwei grundlegend unterschiedliche stadtregionale Ausgangssituationen („Vakuum“ vs. „Druck“, vgl. Anhang) und zwei altersstrukturelle Ausprägungen pro Quartier entstünden bereits 128 Szenarien. Da sich dieses Projekt mit dem demographischen Wandel befasst, wurden Wachstumsszenarien („Druck“) ausgeklammert – wohl wissend, dass auch unter nationalen Schrumpfungsbedingungen die Existenz von Boomregionen nach wie vor denkbar ist. Als Entscheidungshilfe konnten u.a. die auf der Delphi-Befragung beruhenden Risikoeinschätzungen für die Quartierstypen herangezogen werden (siehe Tabelle 26). Diese besagen, dass insbesondere die großen monostrukturierten Quartiere wie die Plattenbausiedlungen, Großsiedlungen der 1970er Jahre in Westdeutschland, Nachkriegssied-
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lungen, aber auch Einfamilienhausgebiete oft zu den „demographisch heikelsten“ Quartierstypen gehören. Die weiteren genannten Quartierstypen gelten in dieser Hinsicht als relativ problemlos, als am günstigsten erachten die Experten den Typ „Utopie“. Letztlich werden vor diesem Raster bestimmte Szenarien für bestimmte Quartiere mehr oder weniger wahrscheinlich. Tabelle 26:
„Demographisches Risiko“ einzelner Quartierstypen
Rang
Quartierstyp
MW
STD
1 2 3 4 5 6 7 8
Typ E – Platte Ost Typ D – Urbanität Typ C – Aufbau Typ G – Wüstenrot Typ H – Village Revisited Typ A – Industrie Typ F – Postmoderne Typ B – Utopie Durchschnittswerte
3,58 3,21 3,03 2,50 1,97 1,91 1,69 1,17 2,38
0,705 0,863 0,887 0,670 0,836 0,793 0,688 0,671 0,764
Summe „sehr“ und „besonders betroffen“ 93,5% 83,9% 74,2% 50,0% 19,4% 19,4% 9,7% 3,2%
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008 (2. Welle, n = 31)
Auch die Stärken-Schwächen-Profile der Quartiere konnten als Entscheidungshilfen verwendet werden (vgl. Tabelle 27). Vor diesem Hintergrund wurden aus den verbleibenden 64 Varianten also besonders einleuchtende bzw. dominante (weil in verschiedenen Untervarianten auftretende) oder analytisch interessant erscheinende Szenarien (etwa mit den drastischen Implikationen eines Worst-Case) herausgegriffen, sodass insgesamt 16 Szenarien systematisch erstellt werden konnten. Dabei kommen alle Quartierstypen und alle vier Szenariovarianten in mindestens einer Kombination vor. 5.7.1 Stagnation als Dauererfahrung: Generelle Vorbemerkungen zum Szenarienkontext Wie schon eingangs in Kapitel 2.3.2 beschrieben, wird es auch in einer stagnierenden oder schrumpfenden und alternden Gesellschaft wachsende und schrumpfende bzw. stagnierende Stadtregionen geben, letztere in zunehmender Zahl. Innerhalb rückläufiger Regionen mag es hier wie da auch Selbstläufer-Quartiere in begehrten Lagen oder Vermarktungszufälle geben, aber eben auch mehr und mehr Quartiere, deren Bestände an der Gesamtsituation leiden. Vermietung, Verkauf, Projektentwicklung und Stadtentwicklungsplanung finden also in einer schrumpfenden Gesellschaft tendenziell unter Stressbedingungen statt. Einige Prinzipien bei der Betrachtung möglicher Zukünfte von (Wohnungsbeständen in) Quartieren kristallisierten sich im Verlauf dieser Studie schon bald heraus:
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Quartiersentwicklung ist kein schicksalhafter Prozess. Die Voraussetzungen für eine positiv gestaltete Quartiersentwicklung (sei es nun Prosperität im Sinne von „Wachstum“ oder „Auslastung“ oder auch von geordnetem Rückbau bei gleichzeitiger Verbesserung der Wohn- und Umfeldqualität) sind ungleich innerhalb der Stadt(region) verteilt. Nicht alle Quartierstypen haben zu jedem Zeitpunkt dieselben strukturellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung. Dies kann die Entwicklung erleichtern, erschweren oder in sehr ungünstigen Settings auch verhindern. Quartiersentwicklung ist in einem gewissen Rahmen immer steuerbar. Quartiersentwicklung hängt von der Qualität der lokalen QuartiersGovernance-Strukturen und den daraus resultierenden Handlungslogiken und Einstellungen ab (z.B. Kooperationsbereitschaft, Kreativität z.B. in der Schaffung neuer Organisationsstrukturen, demographisches Bewusstsein, Quartiersorientierung). Kommunale Quartiersentwicklung wird ebenso wie wohnungswirtschaftliche Bestandsentwicklung, Neubau- und Abrissvorhaben im Rahmen demographischer Umbrüche immer riskanter werden, wenn ohne strategische Vorausschau gehandelt wird.
5.7.2 Markt oder Staat? Auch wenn in den folgenden Ausführungen häufiger – zumindest latent – der lokalstaatliche Eingriff als probates Mittel gegen eine demographisch induzierte Marktkrise erscheinen mag, so ist dies nicht als Ausdruck einer einseitigen „marktfeindlichen“ Perspektive zu verstehen. Manches wird auch im Kontext demographischer Umbrüche allein von den Marktakteuren profitabel und zum Wohle der Allgemeinheit bewältigt werden. Doch dies dürfte sich – mit Ausnahmen (z.B. Essen-Vogelheim im Rahmen dieser Untersuchung) – weitgehend auf Wachstumsinseln beschränken. Wo – aus normativer, gesellschaftlicher Perspektive – Stagnation oder Schrumpfung möglichst nachhaltig und sozial verträglich gestaltet werden soll, dürfte mit einer eher kurzfristigen unternehmerischen Perspektive wenig Lukratives zu finden sein. Wenn die Kommune in einem derartigen Quartier aus stadtentwicklungsplanerischen oder auch fiskalischen Gründen keinen Totalausstieg der Immobilienwirtschaft möchte (was gleichbedeutend wäre mit Abriss oder Quasi-Verstaatlichung), kommt ihr eine größere Rolle als Initiatorin, Moderatorin und Ideengeberin zu. In weniger extremen Fällen kann das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen lokalen Akteuren zumindest darüber entscheiden, ob die künftige Quartiersentwicklung
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mehr oder weniger gut gelingt. Außerdem ist dies stark abhängig vom Quartierstyp. Auch hier gibt es tendenzielle „Selbstläufer“, die man ggf. aus sozialpolitischer Sicht sogar vor zu großen Markterfolg schützen möchte (z.B. Typ „Utopie“), und andere, deren generelle Ausgangsbedingungen so schlecht sind, dass eine Entwicklung ohne staatliches Zutun in vielen Fällen kaum machbar erscheint (z.B. Typ „Platte Ost“). 5.7.3 Quartiersentwicklung im Einzelnen: Strategien und Instrumente Die Vorstellungen der Bewohner sind die einzige Konstante des Wohnungs- und Städtebaus. Gerhart Laage (in Jenkis 2001: 469)
In dieser Arbeit kommt außerdem eine ganzheitliche Vorstellung von Quartiersentwicklung zum Ausdruck. Der demographische Wandel wird als besonderer und dominanter Faktor angesehen, der jedoch auch im Zusammenspiel mit anderen Entwicklungen steht. Der demographische Impact im Quartier kann sich folglich nicht auf die gängige Frage „Was tun mit den Leerständen?“ oder auf die Darstellung kreativer Zwischennutzungskonzepte reduzieren lassen. Ein weiter Punkt sei vorweg klargestellt: Die folgenden Ausführungen können – ebenso wie die dahinter stehenden ausführlicheren Szenarien – nur bruchstückhaft und unvollständig die Realität widerspiegeln. Selbst wenn es einen Anspruch auf Vollständigkeit gegeben hätte, hätte dieser niemals eingelöst werden können – zu groß ist die Vielfalt an realen Quartierssituationen, Projektideen, Maßnahmen, Akteuren, Entwicklungswegen. Die geschilderten „Zukünfte“ von Quartierstypen gehen auf Plausibilitätsüberlegungen zurück und sollten damit den Zweck erfüllen, möglichst aussagekräftig zu sein. Aber es steht fest, dass es gemäß dem Prinzip der Szenariotechnik unendlich viele andere denkbare Zukünfte für diese Quartiere und Quartierstypen gibt. Insofern bewegen wir uns in einem modellhaften Zukunftsraum, mit dessen Hilfe versucht wird, nach Quartierstypen differenziert übergeordnete Entwicklungsfaktoren herauszukristallisieren und daraus pragmatisch einen „Instrumentenkoffer“ sowie ein Quartiersentwicklungsmodell abzuleiten. Toolbox und Modell sind dazu geeignet, reale „Fälle“ einzuordnen, abzugrenzen und hinsichtlich von Handlungsoptionen und –notwendigkeiten zu bewerten.
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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5.7.4 Übersicht der strukturellen Stärken und Schwächen der Quartierstypen Die Stärken und Schwächen aller acht Quartierstypen hier im Einzelnen nachzuvollziehen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Tabelle 27 zeigt jedoch eine Übersicht der Stärken und Schwächen nach sozio-demographischen, physisch-baulichen und immobilienökonomischen Faktoren, die auf die Ergebnisse der Delphi-Befragung zurückgehen. Diese Vorabinformation ist hilfreich für das Verständnis der folgenden Ausführungen, die sich häufig auf die jeweiligen Eigenschaften der Quartierstypen beziehen. Im Rahmen der Szenarienauswertungen wird für die einzelnen Quartierstypen jeweils eine ausführlichere Beschreibung der Stärken-Schwächen-Profile vorgenommen (siehe Kapitel 5.7.5), sodass die hier kurz dargestellten Faktoren an späterer Stelle noch einmal quartiersspezifisch aufgegriffen und konkretisiert werden. 5.7.5 Auswertung der Quartiersszenarien Für die folgenden Ausführungen sind die 16 Quartiersszenarien zentral. Generell spielt sich jedes Quartiersentwicklungsszenario in einem der vier „Bühnenbilder“ ab, welche im Rahmen der Szenarienentwicklung mittels der Szenariotechnik entworfen wurden (Szenario .1 bis .4 mit unterschiedlichen GovernanceStrukturen mit dem Zielhorizont 2030). Jedes Szenario basiert auf den gebündelten empirischen Erkenntnissen, die im Rahmen der vorliegenden Studie gewonnen wurden – inklusive der Bewohner- und Experteninterviews sowie der Delphi-Befragung. Weitere Entwicklungsfaktoren der Quartiere, die in den Szenarien als fiktive, gestalterische Elemente genutzt wurden, flossen nicht ohne eine vorherige Plausibilitätsprüfung in die Texte ein (auch hierzu wurden die DelphiErgebnisse genutzt). Durch diese Mischung aus „Facts“ und „Fiction“ konnten Entwicklungen zugespitzt werden, ohne dabei ein hohes Maß an empirischer Evidenz zu verlieren. Die Szenarien haben im Rahmen dieser Studie die Funktion eines „stark veredelten, dynamisierten Datenoutputs“, d.h. sie sind nicht das Ergebnis, sondern die Grundlage einer generalisierenden Interpretation, die im Hauptteil bereits erfolgt ist. Die umfangreichen Szenariotexte sind im Anhang dokumentiert und werden im Folgenden in ähnlicher Art und Weise genutzt wie etwa transkribierte qualitative Interviews bei anderen Untersuchungen. Sie sind also die Grundlage für einen letzten analytischen Schritt, der die Umsetzung der gewonnen Erkenntnisse in Handlungsoptionen und modellhafte Vorstellungen zum Ziel hat.
192
Szenarioentwicklung
Im Sinne eines erwünschten Side Effects der vorliegenden Studie konnten typische Problemfelder („Crucial Factors“) und gängige Werkzeuge („Tools“) der Quartiersentwicklung identifiziert werden, die immer wieder von Experten genannt, in Artikeln zitiert oder in der Delphi-Befragung erwähnt wurden (Abbildung 44 und Abbildung 45). Tabelle 27:
Synopse der Stärken und Schwächen aller Quartierstypen
Faktorqualität:
Typ D: Urban
Typ E: Platte Ost
Typ F: Postmoderne
Typ G: Wüstenrot
Typ H: Village Revisited
+ o +
+ > o +
o > o +
+ < o +
o > o +
o < o +
– + + +
– + + o
– + + o
– + + o
– + + o
– o o –
– + o +
+ + + o
+ o o +
+ o o o
+ o o o
+ + + o
o – o o
o o o +
Typ B: Utopie
„Demographisches Risiko“: < unter- / > überdurchschnittlich
Typ A: Industrie
„Proaktives Veränderungspotenzial“: + = eher groß o = teils/teils, – = eher gering
Typ C: Aufbau
weiß = meist gut hellgrau = teils/teils, dunkelgrau = meist problematisch
+ < o +
+ < o +
– + + +
o + + +
Sozio-demographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital
>
Physisch-bauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität Wohnumfeld* und Städtebau Infrastrukturausstattung Qualität der Bausubstanz Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt Image (extern) Zielgruppenadaptivität**
* Senioren- und/oder Familienfreundlichkeit, Aufenthaltsqualität ** Flexibilität der Wohnungsgrundrisse, Funktionalität, Variabilität für unterschiedliche Lebensstilund Haushaltstypen Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
193
Sie können als Sammelkategorien für eine Vielzahl von Maßnahmen, Einstellungen, Konzepten und Strategien gelten. Ergänzt wurden sie durch die Erkenntnisse, die während des Scenario-Writing-Prozesses und den dadurch erzwungenen dynamischen Blick auch in weiter entfernte Zukünfte („Horizont 2030“) entstanden sind. Diese Oberkategorien (Problemfelder oder Crucial Factors bzw. Tools) sind nicht in jedem Fall voneinander abgrenzbar (so werden „Kommunikation“ und „Marketing“ oft als Paar auftreten). Auch die unterhalb der Oberkategorien beispielhaft genannten Maßnahmen erfordern vor allem im konkreten Fallbeispiel stets weitere Ergänzungen und eine tiefer gehende konzeptionelle Durchdringung. Es wurde hier kein Anspruch auf „Vollständigkeit“ verfolgt! Die besonders herausgestellten Tools haben im Rahmen der im Folgenden skizzierten Szenarien eine Relevanz erhalten, die sich in anderen Kontexten wiederum verschieben kann. Das Tool „Homogenisierung und Spezialisierung“ wird in keiner der folgenden Toolboxen als dringlich hervorgehoben. Trotzdem wurde dieser Aspekt hier prominent erwähnt, denn der Einzelfall mag – auch wenn die DelphiExperten hier skeptisch waren – auch Strategien erfordern, die die konsequente Neuausrichtung eines Quartiers etwa auf eine spezifische Altersgruppe vorsehen (z.B. reine Seniorenquartiere mit entsprechender Infrastruktur, vgl. Kapitel 6.4.2). Die vorgeschlagenen Instrumente am Ende der folgenden Ausführungen zu den jeweiligen Quartierstypen haben dementsprechend keinen Absolutheitsanspruch, obwohl sie sich durchaus von den konkreten Szenarienverläufen lösen. Die Toolboxen als Maßnahmensettings und die Zusammenfassungen der Crucial Factors, also der Hauptproblemfelder in den Quartierstypen, basieren auf der im Rahmen dieser Studie durchgeführten Empirie, die wiederum auf einer Auswahl an Fallbeispielen fußt. Alle der dargestellten Tools stellen Oberkategorien dar, die für jeden Quartierstyp jederzeit samt und sonders wichtige Handlungsfelder darstellen – eine Art „Wunschliste“ für den (unrealistischen) Fall, dass Ressourcen nicht knapp und eine Prioritätensetzung nicht nötig wären. Man könnte auch sagen: Alle Materialien und der prall gefüllte Werkzeugkasten sind vorhanden – welche Werkzeuge man aber am besten zu welchem Zweck und in welchem Zusammenhang verwendet, muss noch geklärt werden: Was fehlt, ist die Bauanleitung bzw. die Auswahl der Werkzeuge (für die einzelnen Quartierstypen).
194
Szenarioentwicklung
Abbildung 44: Agenda der 15 wichtigsten Problemfelder in der Quartiersentwicklung (alphabetische Reihenfolge)
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
Erläuterungen: BAU BEL DEM EIG ENT FIN 4S8 IMG KON KOO NAF PAP QUA SOZK WUM
Suboptimale Baustruktur: z.B. Wohnungsgrößen, Bauformen, Bausubstanz, infrastrukturelle Mängel etc., mangelhafte Zielgruppenadaptivität der Bestände Ungünstige Belegungsstruktur: u.a. problematische Belegung z.B. hinsichtlich migrantischer Haushalte, homogene demographische Belegung etc. Problematische demographische Struktur: u.a. „Langwierigkeit“ vs. „Plötzlichkeit“ demographischer Prozesse (z.B. langsame Alterung vs. demographische Welle) Ungünstige Eigentümerstruktur: z.B. Überwiegen von privaten Einzeleigentümern vs. professionellen Unternehmen Probleme der Entscheidungsfindung: u.a. Zeitpunkt der Stay-or-Exit-Entscheidung Finanzprobleme: Finanzielle Engpässe (bei Eigentümern, in den Kommunen) etc. Foresight / kaum vorausschauendes Handeln: Fehlende Weitsicht der Entscheidungen etc. Ungünstiges Image: z.B. negatives externes vs. positives internes Image Starke Konkurrenz anderer Quartiere: Konkurrenz anderer Quartiere, stadtweite absolute Wohnraum-Überkapazitäten, fixe stadträumliche Lagequalitäten o.ä. Kooperationschwierigkeiten: differierende Handlungslogiken unterschiedlicher Akteure Fehlende Ersatz-/Zusatznachfrage: u.a. die z.T. völlig offene Frage, woher eine Ersatznachfrage kommen könnte Principal-Agent-Probleme: u.a. Kurzfristigkeit von Strategien und Entscheidungen, Management- und Organisationsprobleme Geringe Quartiersorientierung: u.a. geringe Fokussierung auf Quartierskontext, Bestandsorientierung, gesamtstädtische oder überlokale Orientierung Kritisches Sozialkapital: u.a. „Etablierte-Außenseiter“-Problematik Städtebauliche und Wohnumfeld-Probleme: städtebauliche Monotonie (z.B. Einfamilienhausgebiete, Großsiedlungen), dysfunktionale Frei- und Brachflächen, Lärmemissionen, mangelhafte ÖV/IV-Anbindung
Quelle: Eigener Entwurf und Darstellung
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
195
Abbildung 45: Quartiersentwicklungstools – Übersicht der 9 wichtigsten strategischen Elemente (alphabetische Reihenfolge)
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Erläuterungen: DIV
HOM KOM MAR ORG QUO SKF STO ZUK
Diversifizierung und Heterogenisierung: von der baulichen Mono- zur Polystruktur durch Rückbau, Umbau, Neubau, Modernisierung und Instandsetzung mit dem Ziel einer demographischen Diversifizierung: nach Ethnie, nach Alter, nach Haushaltsformen (Belegungssteuerung)… Homogenisierung und Spezialisierung: bezogen auf Demographie: nach Ethnie, nach Alter, nach Haushaltsformen… Öffentlichkeit und Kommunikation: Diskursinitiativen, Pressearbeit, Beauftragung externer Gutachter, lokale Bauausstellungen etc. Marketing: z.B. Neighbourhood Branding, Imaging, stärkere Zielgruppenorientierung, Eigentumsbildung Organisation und Kooperation: z.B. Neighbourhood Improvement District (NID), Housing Improvement District (HID), Eigentümer-Standortgemeinschaft (ESG), Soziale Stadt, Stadtumbau, informelle Vereinbarungen ö.ä. Place making und Quartiersorientierung: z.B. Wohnumfeldverbesserungen, Vernetzung zu Nachbarquartieren, Freiraumplanung, gezielte temporäre Nichtnutzung von Gebäuden oder Flächen o.ä. Lokales Sozialkapital und Ortsbindung: Sozialkapitalförderung z.B. durch Nachbarschaftsprojekte, Integration von Zuzüglern, soziale Gestaltung von Schrumpfungsprozessen Standortentwicklung: z.B. Entwicklung oder Gestaltung der lokalen Ökonomie, ggf. Ansiedlung von Unternehmen Zeit und Zukunft: z.B. Monitoring, Prognosen, Szenarien zur Nutzung von Zeitvorsprüngen für gestalterische Maßnahmen künftiger Schrumpfungs- oder Wachstumsprozesse
Quelle: Eigener Entwurf und Darstellung
196
Szenarioentwicklung
Eine weitere, ausgesprochen wichtige Prämisse soll hier nicht unerwähnt bleiben: Zur Lesart der folgenden Empfehlungen gehört die Annahme, dass die einzelnen Entwicklungsszenarien dem Willen oder der Notwendigkeit unterliegen, ein Quartier nicht aufzugeben und komplett abzureißen, sondern mehr oder weniger optimal für die Zukunft aufzustellen und weiter zu entwickeln (damit kann auch ein Teilrückbau verbunden sein). Im gesamtstädtischen Kontext wird es dagegen immer auch Quartiere geben müssen, die nur eine geringe Priorität genießen und für die die hier formulierten Handlungsempfehlungen nicht gelten können. Die folgenden Ausführungen zu den Quartierstypen sind also als Solitäre zu verstehen, die im konkreten Fall in eine gesamtstädtisch integrierte Entwicklungsplanung einzutakten wären. Eine gezielte „Quartiersabwicklung“, die bisweilen durchaus sinnvoll sein mag, steht hier also nicht zur Debatte. 5.7.5.1 Strategien und Instrumente für Typ A (Industrie) Ausgangsbasis des Typs A (Industrie) Nachdem Quartiere der Industrialisierungsphase über Jahrzehnte einen schlechten Ruf genossen und zwischen Abstellgleis und Spielwiese für Randgruppen changierten, erfreuen sie sich heute großer Beliebtheit, insbesondere bei urban orientierten, einkommensstarken Lebensstilgruppen (vgl. Abbildung 46). Abbildung 46: Typ-A-Quartiere mit Gründerzeit-Altbauten in Leipzig (Schleußig) und als Zechensiedlung in Essen (Vogelheim)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Jedoch gibt es auch noch – insbesondere in schlechteren Lagen und Umfeldern – die typischen Arbeiterquartiere, die heute jedoch eher Raum für Migranten- und Arbeitslosenmilieus sowie vereinzelte experimentelle Lebensstile darstellen und fallweise in einem Exklusions-Vakuum oder unter Gentrification-Druck stehen. Die demographische Altersstruktur dieser Quartiere ist in beiden Varianten typischer Weise jung. Generell sind lokale Netzwerke relativ stark ausgeprägt und die Bewohner können über ein recht hohes Volumen an lokalem Sozialkapital verfügen. Während bei Migranten und sozioökonomisch prekären Haushalten das „Bonding Social Capital“ im Sinne von Unterstützungsnetzwerken im Quartier überwiegt, können die Menschen in „besseren Vierteln“ auf mehr „Bridging Social Capital“ als Ergänzung zu ihrem ohnehin umfangreichen translokalen Sozialkapital zurückgreifen (z.B. Quartiere im Prenzlauer Berg in Berlin). Quartiere des Typs A liegen – ausgenommen manche Zechensiedlungen – meist zentrumsnah, manchmal so zentral, dass störende Einflüsse die Umfeldqualität deutlich schmälern können (z.B. Verkehrsemissionen). Dichtestress kann sich in einigen Fällen durchaus zum Standortnachteil auswachsen. Andererseits verschafft die Zentrennähe dem Quartierstyp unschätzbare Standortvorteile, wie z.B. eine sehr gute Infrastrukturausstattung. Als ambivalent muss die Qualität der Bausubstanz eingeschätzt werden. Während sich aufwendig modernisierte oder entkernte Gebäude meist in sehr gutem technischen Zustand befinden (u.a. auch hinsichtlich der Energieeffizienz), stellen teilsanierte oder „standardmodernisierte“ Häuser oft eine Kostenfalle für Eigentümer und Bewohner dar. Außerdem trifft man häufig auf lieblos modernisierte („totsanierte“) Altbauten, die ihren eigenen Charme und damit auch die Marktattraktivität verloren haben. In Stadtumbaugebieten sind vor allem teilsanierte und totsanierte Häuser von zum Teil massiven Leerständen betroffen. Den meisten Quartieren des Typs A ist gemein, dass sie über eine ausgeprägte Zielgruppenadaptivität verfügen. Durch die flexiblen Grundrisse und die Lagequalität sind diese Quartiere theoretisch für alle möglichen Lebensstile, Haushaltstypen und Altersgruppen mehr oder weniger geeignet. Als zweischneidig muss in vielen dieser Quartiere die Eigentümerstruktur gelten (dies wiederum betrifft oft nicht die Zechensiedlungen). Die Existenz vieler Einzeleigentümer kann zwar auch zu einer gewissen Stabilität führen. Sobald aber übergeordnete strategische Entscheidungen im Quartier getroffen werden müssen, wird es schwierig, alle Akteure zum Mitwirken zu bewegen und einen Konsens herzustellen. Das „demographische Risiko“ dieses Quartierstyps insgesamt wurde vom Experten-Delphi für gering gehalten.
198
Szenarioentwicklung
Quartierszukünfte des Typs A (Industrie) Charakteristisch für diesen Quartierstyp ist dessen lange Entwicklungsgeschichte. Dadurch entsteht u.a. eine gänzlich andere demographische Ausgangslage als bei sehr jungen Quartieren, die häufig bereits zielgruppenspezifisch geplant wurden und damit eine in Alter, Lebensstilen und oft auch sozioöokonomischem Status homogene Erstbezieher-Kohorte beherbergen. Zum einen waren Quartiere des Typs A ursprünglich durchaus heterogen belegt (vom Hinterhaus bis zur Beletage, von der Arbeitermietskaserne bis zum bürgerlichen Gründerzeithaus), zum anderen unterlagen sie durch diverse sozioökonomische Umbrüche (Weltwirtschaftskrise, Weltkriege) und Image- und Leitbildverschiebungen (moderner fordistischer Städtebau bis in die 1970er Jahre) einem starken Wandel – in der Bewertung wie in der Belegung. Während die Gebiete baulich alt sind, ist die heutige Belegungssituation meist recht jung und von Migrationsströmen bzw. Gentrificationprozessen mit dem Schwerpunkt in den 1990er Jahren geprägt. Die weitere Entwicklung des Quartierstyps ist abhängig von der jeweiligen Ausgangslage. Mögliche Zukunft 1: Incumbent Upgrading Wie in Szenario Aj.1 beschrieben, kann ein junges, 2005 nicht unproblematisches migrantisch geprägtes Quartier gute Zukunftschancen haben. Gestützt auf ein proaktives, auf vielen System-Ebenen verankertes Stadtteil-Regime kommt es zu einem Heterogenisierungsprozess bezüglich Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Einkommen. A-höhe durchlebte eine geradezu ideale Entwicklung: Eine weitgehend endogene Aufwertung ohne starke Verdrängung, eine funktionierende lokale Multikultigesellschaft, eine heterogene demographische Struktur ohne drastische Brüche und ein kooperatives Stadtteilregime, das daran interessiert ist, schwierige Situationen im Quartier nach Kräften auch in ferner Zukunft zu vermeiden. Zwar durchlebte auch dieses Quartier einen demographischen Alterungsprozess. Aber die Ortsbindung war auch bei den Kindern groß, so dass diese überdurchschnittlich häufig Wohnungen oder Häuser ihrer Eltern übernahmen bzw. innerhalb des Quartiers umzogen. Die Alterung verlief also moderat und die demographische Struktur wandelte sich von „jung“ zu eher „heterogen“ – eine ideale Entwicklungsvoraussetzung [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.1).
Der endogene Aufwertungsprozess kam jedoch nicht zufällig, sondern wurde durch gezielte Förderprogramme, Maßnahmen und Projekte begleitet und gefördert:
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Unterstützt durch eine konzertierte langfristige Quartiersentwicklungspolitik der Kommune und der wohnungswirtschaftlichen Akteure ab dem Jahr 2000 kam es etwa seit 2015 zu einem bemerkenswerten, stetigen „Incumbent Upgrading“-Prozess. Vergleichsweise wenige Bewohner wollten wirklich wegziehen, es sei denn, neue berufliche Perspektiven machten dies erforderlich. Auch Veränderungen der Haushaltsgröße waren für Bestandsmieter problemlos vor Ort zu bewältigen, da A-höhe als Quartier aus den 1890er Jahren eine Vielfalt von Wohnungsgrößen bereit hielt [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.1).
Mögliche Zukunft 2: Ethnische Heterogenisierung, Desinvestition und Verfall Bei ähnlichen Ausgangsbedingungen, jedoch anderen Handlungsprinzipien der beteiligten Akteure durchläuft das Quartier einen unaufhaltsamen Abstiegsprozess. Verfallsspiralen werden durch kurzfristige Bestandsorientierung und fehlende strategische Gesamtausrichtung noch verstärkt. Weil in A-dorf viele Bestände den unternehmensinternen Renditevorgaben nicht entsprachen, standen sie auf der roten Liste: Veräußerung war das Hauptziel. Dadurch wurden oft sogar notwendige Instandhaltungsmaßnahmen verschleppt, Häuser entmietet und zum Teil leer gelassen: zunächst als Immobilien im Wartestand, später in einigen Fällen als Ruinen. So hieß es seitens eines im Gebiet engagierten PrivateEquity-Unternehmens: „Wir vermarkten wohnform-, nicht stadtteilbezogen“ (E_E4) [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.3).
Auch das zu zaghafte Agieren der Kommune spielt eine große Rolle. Der Entwicklungspfad lässt zu vielen Zeitpunkten noch ein wirksames Handeln zu, dazu ist aber eine gewisse Entschlossenheit und eine klare Prioritätensetzung vonnöten. Um die normative Entscheidung, ob vollständig segregierte Gebiete stadtpolitisch erwünscht wären, wurde in Modellstadt98 lange gerungen. Spät hatte man sich zu einer Pro-Segregations-Politik entschlossen, wollte aber zusammen mit Eigentümern und Investoren Aufwertungsstrategien entwickeln. Diese jedoch wähnten „die falsche Klientel“ in ihren Häusern und hielten sich abermals mit Investitionen zurück. 98 In den Szenarien wurden statt konkreter Namen in der Regel Platzhalter benutzt: So ist „Modellstadt“ stets die Kommune, in der sich das Quartier befindet. Die Quartiere werden oft mit Namen bezeichnet, die den Quartierstyp als Buchstaben beinhalten (z. B. „A-dorf“). Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Quartiere eine lokale Identität besitzen. Die in den Szenarien zitierten Experten- und Bewohnerinterviews sind nach dem schon vorher benutzten Schema (B_/E_) anonymisiert und codiert. Manchmal werden auch fiktive Zitate (etwa von Politikern) oder auch fiktive Zeitungsausschnitte präsentiert. Was in wörtlichen Zitaten fiktiv ist und was dokumentarisch, ist jeweils deutlich gekennzeichnet.
200
Szenarioentwicklung
Die „Kiezguerilla“, aber auch eine migrantische Stadtteilbewegung versuchen als zivilgesellschaftliche „Verbündete“ der Kommune die Wohnungswirtschaft zu entsprechenden Maßnahmen zu bewegen. So traf hier ein urbanes Regime „pro Quartier“ mit bescheidenen Ressourcen auf ein anderes Regime rein ökonomischer Rationalitäten mit beträchtlichen Ressourcen [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.3).
Ab einem gewissen Zeitpunkt greifen negative Kontexteffekte im Quartier und der Zeitpunkt des erfolgversprechenden Gegensteuerns ist vergangen. Da das gesamte Quartier in Mitleidenschaft gezogen wurde, wurde auch die Vermietung immer schwieriger und damit die Liquidität der Eigentümer belastet. Kleineigentümern fehlte in vielen Fällen das Kapital, um notwendige Investitionen vorzunehmen. Die Unternehmen wollten nicht, die Einzeleigentümer konnten nicht – für das Quartier eine fatale Kombination [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.3).
Mögliche Zukunft 3: Gentrification und konsekutive demographische Welle Quartiere des Typs A sind oftmals auch Ziel beginnender oder auch Ergebnis bereits abgeschlossener Gentrification-Prozesse. Die Altersstruktur kann dann meist als homogen jung bezeichnet werden, Sozialstruktur und Bausubstanz werden stark aufgewertet. Durch die sehr starke und dauerhafte Nachfrage von jungen Haushalten (Familien, Doppelverdiener-Paare etc.) hatte sich im A-viertel bis 2010 ein soziales Milieu urbaner Lebensstile von „modernen Performern“ und „Postmateriellen“ herausgebildet, das immer wieder mit dem inzwischen schon legendären Berliner „Prenzlauer Berg der späten 1990er Jahre“ verglichen wurde [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.4).
Zunächst einmal ist das Quartier also ein „Selbstläufer“, den weder Stadtverwaltung noch Wohnungswirtschaft oder Einzeleigentümer auf der Agenda hat. Jedoch ist die Kombination aus soziodemographischer Homogenität, hoher Wohnzufriedenheit und geringer Fluktuation ein Dilemma der Quartiersentwicklung, denn aus den „Ü30“-Haushalten werden zwangsläufig „Ü50“-Haushalte: Paradoxer Weise führte diese „Stabilität“ jedoch zwangsläufig zu einer Kohortenalterung und einer Bevölkerungswelle. So kam es, dass das im Jahr 2007 noch als harmlos eingeschätzte demographische Risikopotenzial sich mit den Jahren ins Gegenteil umkehrte. Die Bevölkerungswelle würde zu einem späteren Zeitpunkt eine erhebliche kommunalpolitische und wohnungswirtschaftliche Herausforderung darstellen [...] (Ausschnitt aus Szenario A.j4).
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
201
Die Voraussetzungen für ein steuerndes Eingreifen sind in diesem marktbetonten Szenario aber denkbar schlecht. Etwa mit dem Szenariohorizont 2030 beginnt eine problematische Entwicklungsphase, die durch frühes vorausschauendes Handeln hätte verhindert werden können. Das Problem besteht mehr in den Eigentümerstrukturen und daraus resultierenden Organisationsdefiziten als in den Standortfaktoren des Quartiers. Darüber hinaus gibt es heute, im Jahr 2030, zahlreiche „Mikro-Landlords“ und Kapitalanleger, die nur wenige Häuser oder Wohnungen im Besitz haben und vermieten. Hier ein gemeinsames Interesse für Problemlösungen auf der Quartiersebene zu wecken oder gar Entwicklungsziele zu formulieren, war schwierig. Es verwundert nicht, dass die Kommune trotz der langfristig drohenden Bevölkerungswelle diesen aufreibenden konfliktreichen Sisyphos-Kampf aufgegeben und eine eher passive Rolle eingenommen hatte. Weil die finanziellen Ressourcen der Stadt knapp waren, war der Handlungsspielraum für eigenes proaktives Gestalten – etwa für eigene bauliche Investitionen – denkbar gering [...] (Ausschnitt aus Szenario Aj.4).
Die Entwicklung verläuft jedoch keineswegs katastrophal, sondern eher suboptimal. Die notwendige Zusatznachfrage zu wecken ist schwierig, aber nicht unmöglich, zumal bei allen Altbaudefiziten auch die Altbauqualitäten wieder ihre positive Wirkung entfalten können. „State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ A (Industrie) In Quartieren des Typs A existieren zum heutigen Zeitpunkt bereits vielfältige Maßnahmen und kreative Projekte, viel mehr als man es hier darstellen könnte. Man kann jedoch sagen, dass der der Fokus zum einen auf „Soziale Stadt“Projekten in Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf liegt, die häufig migrantisch geprägt sind, wie z.B. die sozialkapitalfördernden Projekte „Bilderflut“ für Kinder- und Jugendliche (Anbringung von Kunstwerken an Fassaden und Plätzen im Quartier) (DIFU 2003a: 100ff.) oder auch das Projekt „Stadtteilgenossenschaft Wedding für wohnortnahe Dienstleistungen e.G.“, eine Zusammenführung gewerblicher und ehrenamtlicher Arbeit in ein Genossenschaftsprinzip (ebd.: 51ff.). Zum anderen stehen in „Stadtumbau“-Kontexten eher Vermarktungs-, Imageförderungs- und „Leuchtturm“-Projekte im Vordergrund, wie z.B. durch Logo- und Slogan-Wettbewerbe (DIFU 2003a: 143ff.), das Leipziger Selbstnutzerprogramm, das Gründerzeit-Altbauten und neue Stadthäuser an Kaufinteressenten vermittelt, oder auch die „Wächterhaus“-Initiative des Vereins HausHalten e.V. (siehe Abbildung 47 sowie Choa 2006: 49ff, 74f; Schmitt & Finkenbusch 2007: o.A.; vgl. auch Roser 2001).
202
Szenarioentwicklung
Quartiersorientierung ist hier oftmals – manchmal nur vordergründig – vorhanden. Potenzialorientiertes Eingreifen, etwa um Incumbent Upgrading-Prozesse gezielt zu fördern (z.B. Förderung von Modernisierungsinitiativen durch Mieter oder selbstnutzende Eigentümer), oder ein vorausschauendes und langfristiges Handeln, welches absehbare demographisch bedingte Engpässe berücksichtigt (also z.B. vorausschauendes Umzugsmanagement, strategische Belegungssteuerung), ist jedoch in vielen Fällen nicht zu erkennen. Abbildung 47: „Wächterhaus“ in Leipzig (Volkmarsdorf), Beiratssitzung des Vereins HausHalten e.V.
Fotos: Olaf Schnur (2007), HausHalten e.V. 99
Fasst man die Erkenntnisse aus den Szenarien und der empirischen Untersuchungen für diesen Quartierstyp überblicksartig zusammen, kommt man zu der folgenden Toolbox (Abbildung 48 und Tabelle 28).100 Daraus und aus den Maßnahmenbeispielen wird noch einmal deutlich, dass Kommune und Wohnungseigentümer bzw. Wohnungsunternehmen sowohl arbeitsteilig, als auch in engerer Kooperation tätig werden müssten, um die künftige Quartiersentwicklung des Typs A wirksam gestalten zu können.
99
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von HausHalten e.V., Leipzig. Die Schwerpunktsetzungen der Toolbox orientieren sich bewusst an den hier formulierten Szenarien sowie den zugrundeliegenden empirischen Untersuchungen und sind für die Anwendung an „realen Fällen“ durchaus diskutabel. Deshalb werden im Folgenden in jeder Toolbox jedes Quartierstyps auch die nicht im Vordergrund stehenden Handlungsfelder und Instrumente aufgeführt.
100
203
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Abbildung 48: Typ A (Industrie) – Toolbox 2030
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
204 Tabelle 28: Tool
Szenarioentwicklung
Typ A (Industrie) – Maßnahmenbeispiele Kommune
DIV Diversifizierung
Wohnungswirtschaft Bestandsaufwertung, Modernisierung in Maßen Eigentumsbildung/Privatisierung Energieeffizienzprojekt als Win-WinSituation (Refinanzierung durch gleichbleibende Gesamtmieten)
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
Beraterauftrag/Öffentliche Diskussion: Klärung des stadtentwicklungspolitischen Standpunkts zum Thema Segregation in Kommunalpolitik und – verwaltung, ggf. auch radikale Lösungen in Betracht ziehen („Ethnohood“)
MAR
Imageprojekte, Umbewertung
Marketing
ORG Organisation
QUO Quartiersorientierung
SKF Sozialkapitalförderung
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
Einrichtung einer EigentümerStandortgemeinschaft (ESG) oder eines Neighbourhood Improvement District (NID) Stadtteilkonferenz „Proaktive strategische Planung“, Versuch Einzeleigentümer und Unternehmen von einer gemeinsamen nachhaltigen und langfristigen „Quartiersstrategie“ zu überzeugen Nutzung der Programme „Soziale Stadt“ und „Stadtumbau“
Einrichtung eines Neighbourhood Improvement District (NID)
Umfeldaufwertung (z.B. durch Schaffung qualifizierter Freiräume auf Brachen, Kulturförderung)
Quartier statt Bestand als Handlungsfokus Umfeldaufwertung (z.B. durch Schaffung qualifizierter Freiräume auf Brachen, Kulturförderung)
Projekte zur Förderung des Sozialkapitals zwischen den einzelnen lokalen Akteuren (Kooperationsstiftung) Quartiersökonomie, klassische Standortpolitik und Wirtschaftsförderung im Quartier und im näheren Umfeld Einführung eines gesamtstädtischen Quartiersmonitorings
Quelle: Eigene Darstellung
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
205
5.7.5.2 Strategien und Instrumente für Typ B (Utopie) Ausgangsbasis des Typs B (Utopie) Meist ist in Typ-B-Quartieren bereits die demographische Ausgangssituation gut, denn in diesen Quartieren lebt oft eine altersstrukturell recht heterogene Bevölkerung. Demographische Wellen sind damit wenig wahrscheinlich. Gleichzeitig ist die Sozialstruktur gehoben und Nachbarschaften sowie Ortsbindung intensiv. Sicherlich nicht in jedem Fall, aber doch ziemlich häufig können Typ-BQuartiere mit einer hohen Qualität und Zentralität der Lage aufwarten. Zwar treten mitunter einige (meist verkraftbare oder abstellbare) Mängel hinsichtlich der Infrastruktur oder auch der Bauqualität auf (vor allem die oft als zu klein und eng kritisierten Wohnungsgrundrisse), die städtebauliche und Wohnumfeldqualität dagegen kommt für die meisten Zielgruppen einem Wohnideal gleich: Quasi dörflich anmutendes Wohnen im Grünen mitten in der Stadt (siehe Abbildung 49). Abbildung 49: Typ-B-Quartiere in Essen (Margarethenhöhe) und Berlin (Gartenstadt Neutempelhof )
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Die oft gartenstadtähnlichen Quartiere haben meist ein hervorragendes Image, sind sehr gefragt, damit recht teuer und weisen eine relativ große Flexibilität hinsichtlich möglicher Zielgruppen auf. Die Eigentümerstruktur ist dann ein gewisses Manko, wenn fast alle Häuser in Einzelbesitz sind. Manchmal zeichnen aber auch große Genossenschaften oder Stiftungen für die Quartiere als Ganze verantwortlich (vgl. Albrecht et al. 2005). Oft treten zwischen historischem Kern und Randbereichen der Quartiere erhebliche Unterschiede auf, auch in der Eigentümerstruktur.
206
Szenarioentwicklung
Quartierszukünfte des Typs B (Utopie) Quartierstyp B („Utopie“) ist der einzige Typus, zu dem nur ein Szenario, und zwar ein mögliches Negativszenario erstellt wurde. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Quartiere dieses Typs in vielerlei anderer Hinsicht sehr gute Entwicklungschancen haben, oft auch aus demographischer Perspektive (vgl. Delphi-Befragung 2007/2008). Mögliche Zukunft 1: Selbstläuferszenario Dieses „Selbstläuferszenario“ wurde nicht näher ausgeführt. Es stellt eine recht wahrscheinliche Entwicklung dieses Quartierstyps dar. Egal, welche Einflüsse hier zukünftig wirken, bleibt das Quartier doch recht stabil. Der Bevölkerungsaustausch erfolgt kontinuierlich, ebenso wie die in-situ-Alterung einer Teilgruppe der Bewohnerschaft. Durch die starke Ortsbindung und die hohe Wohnzufriedenheit kommt es zu Vererbungsketten, Komplettierungen sozialer Konvois u.ä. Aufgrund der gehobenen Sozialstruktur der Bewohnerschaft kann man davon ausgehen, dass die notwendigen Modernisierungen und Umbauten immer wieder aus den Privatbudgets erfolgen können. Mögliche Zukunft 2: „Incumbent Downgrading“ zum Durchschnittsquartier Möglicherweise kann dieser Entwicklungspfad nicht als „typisch“ bezeichnet werden. Jedoch ist dies eine mögliche Entwicklung oder eine gewisse Gefahr, wenn bestimmte Entwicklungsfaktoren dieses Quartierstyps nicht erkannt oder missachtet werden. Die Voraussetzungen sind zunächst günstig: So (inszeniert) idyllisch und zentral zugleich wohnte wohl kaum jemand in Modellstadt: „Der alte Bereich hier ist ein richtiges Dorf“, wie ein Bewohner noch 2006 zusammenfasste (B_EM3). Ein Markt für Kaufimmobilien war im Kernbereich des Quartiers praktisch nicht existent: Wer hier ein Haus hatte, veräußerte es nur im Notfall und nutzte es nach Möglichkeit selbst. Außerdem gab es noch eine Großeigentümerin im Quartier, eine genossenschaftsähnliche Industriestiftung, die sich ebenfalls keine Sorgen machen musste: Die Mietinteressenten tummelten sich auf langen Wartelisten, und „Vitamin B“ stellte sich als der beste Makler heraus. Hier zeigte sich die kleinräumige Differenzierung der Wohnungsmärkte besonders deutlich: B-dorf avancierte zu einer Wohnungsmarkt-Oase. So waren „fast jede Woche“ bei den Bewohnern „Zettel im Briefkasten von Leuten, die hier ein Haus suchen“ (B_BNT1) [...] (Ausschnitt aus Szenario Ba.3).
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Die Ausgangssituation des Szenarios variiert jedoch hinsichtlich der Altersstruktur, eine nicht untypische Situation für diesen Quartierstyp in Ostdeutschland: Bereits 2005 hatte B-dorf – anders als viele vergleichbare, demographisch deutlich gemischtere gartenstadtähnliche Quartiere – einen hohen Altersdurchschnitt, was an einer Umbruchs- und Zuzugsphase in den 1960er Jahren lag. Diejenigen, die damals eingezogen waren, leben zum Teil heute noch – meist als „empty nest“-Haushalte oder als Witwen oder Witwer – in der Siedlung. Im B-dorfer Kerngebiet hatten sich zur Zeit des Wirtschaftswunders allmählich die sozialen Milieus verändert. Die ehemalige Werkarbeiter-Siedlung wurde zu einer „Woopie“ („well off older people“)Enklave […] (Ausschnitt aus Szenario Ba.3).
Weil man sich hier in absolut sicheren Marktgefilden wähnt, liegt die Perspektive der wohnungswirtschaftlichen Akteure eher bei „Bestandsverwaltung mit geringem Aufwand und möglichst hohem Nutzen“. Die älteren Einzeleigentümer handeln nach eigenen Maßstäben, wobei mit fortschreitendem Alter die Bereitschaft zu umfassenden Modernisierungen deutlich nachlässt – das Nötigste muss reichen und nicht immer werden die Bestimmungen eingehalten. Auch bei Neubauten in Baulücken des stark nachgefragten Areals verfuhr man nach reinen Profitabilitätsgesichtspunkten. So berücksichtigte man über die wenigen Auflagen nach §134 BauGB hinaus keineswegs die historische städtebauliche Umgebung. Dass die städtebauliche Konsistenz des Quartiers dessen wahrer „USP“ war, wurde zugunsten niedriger Baukosten und schnellem Verkauf geflissentlich ignoriert. Auch im denkmalgeschützten Bereich wurden Häuser unter bewusster Inkaufnahme von Ordnungsgeldern und langwierigen Prozessen gesetzeswidrig verändert und damit meist dauerhafte bauliche Tatsachen geschaffen, die nicht zum Gesamtbild passten. Auch „Baumarktelemente“ waren gang und gäbe, obwohl die Denkmalschutzbehörde immer wieder intervenierte (E_B14). Bis heute, im Jahr 2030, hat der Gartenstadtcharakter des Quartiers dadurch stark gelitten. B-dorf hat an Attraktivität und damit auch an Marktpotenzial verloren. Ohne den Denkmalschutz wäre die Siedlung längst transformiert gewesen, wie ein Experte 2007 anmerkte, denn „die Bodenwirtschaft macht so etwas wie eine Gartenstadt kaputt“ (E_B14) [...] (Ausschnitt aus Szenario Ba.3).
Zwar schreitet die Kommune nach Kräften ein, versucht denkmalpflegerische Sünden zu unterbinden und angesichts der Alterung im Quartier auch kooperative Strukturen zu initiieren, um Zukunftslösungen für das Quartier zu erarbeiten. Was dabei herauskam, waren im Wesentlichen Workshops, Gutachten und Positionspapiere. Die Kommune war ein zahnloser Tiger. Ein chronisch unterfinanzierter Kommunalhaushalt und die Kooperationsunlust der Privatwirtschaft ließ der Stadt nur die „Feuerwehrfunktion“ als letztes Mittel übrig. Wenn es wirklich „brannte“,
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Szenarioentwicklung
sprang man ein, ansonsten musste man sich mit „Leuchtturmprojekten“ begnügen, mit denen man immerhin zeigen konnte, was in der Stadt(teil)entwicklungspolitik wünschenswert wäre [...] (Ausschnitt aus Szenario Ba.3).
Es kommt schließlich der Zeitpunkt der demographischen Welle. Innerhalb weniger Jahre kommen überdurchschnittlich viele Immobilien auf kleinem Raum auf den Markt und müssten absorbiert werden. Wenn es an Zusatznachfrage fehlt, entstehen ernsthafte Probleme für ein Quartier. B-dorf hatte in der Zwischenzeit an Attraktivität eingebüßt, und obwohl dies absehbar war, ist wenig unternommen worden, dem vorzubeugen. Die Entscheidungsträger von vor 10, 15 und 20 Jahren sind längst pensioniert. Eine Kooperationsvereinbarung und ein Zielsystem „Pro Quartier“ gab es zu keinen Zeitpunkt. In den Konkurrenzquartieren B-dorfs hatte man außerdem keineswegs geschlafen: Während Bdorf von seinem früheren guten Image zehren musste, hatten sich andere Quartiere zu attraktiven Alternativen entwickelt [...] (Ausschnitt aus Szenario Ba.3).
Am Ende führt das Szenario nicht zu einem Umkippen der Siedlung, jedoch zu einer Entwicklung weit unter Wert. Quartiersentwicklung: „State of the Art” für Typ B (Utopie) Für Quartiere des B-Typs existiert bereits heute eine Vielfalt an Projekten. Vieles beschränkt sich auf Serviceangebote, die für unterschiedliche Bewohnergruppen bereit gehalten werden (z.B. soziale Angebote für Familien innerhalb von Genossenschaften oder verschiedenste Angebote für Senioren, vgl. Albrecht et al. 2005: 138ff.). Auch hinsichtlich des Mehrgenerationenwohnens werden Projekte durchgeführt wie z.B. die Veränderung der Wohnungsgrößen und -schnitte (Effenberger & Seidel 2003) oder die Schleifung von Barrieren, was aber aufgrund der oft beengten Treppenhäuser in 1920er- oder 1930er-JahreQuartieren oft nur in Erdgeschosswohnungen funktioniert (Albrecht et al. 2005: 146ff.). Des Weiteren haben – im weitesten Sinne – sozialkapitalfördernde Projekte eine gewisse Konjunktur (Schaffung von Gemeinschaftsräumen oder – flächen, Gründung von Bewohner-AGs, partizipative Belegungssteuerung, Integration von Migranten etc., vgl. Albrecht et al. 2005: 137-147). Darüber hinaus kümmern sich insbesondere Genossenschaften, die häufiger als Eigentümer in diesem Quartierstyp auftreten, um ihr etwas angejahrtes Image (Albrecht et al. 2005: 140f.). Im Übrigen wird über diverse allgemeine Aufwertungsmaßnahmen berichtet, die etwa Dachgeschosse, Kellerräume oder die Möblierung des öffentlichen Raums betreffen (Albrecht et al. 2005: 145ff.).
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Bei dieser Auflistung, die selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, wird deutlich, dass von koordinierter strategischer Ausrichtung, Langfristigkeit und Prozesshaftigkeit der Quartiersentwicklung nicht die Rede sein kann. Viele der durchaus sinnvollen Maßnahmen wirken jetzt und in naher Zukunft, würden aber in einem komplizierten Fall wie dem zweiten hier geschilderten bei weitem nicht ausreichen. Sehr sinnvoll erscheinen die Sozialkapitalprojekte, die jedoch bisweilen eher auf „Bridging Social Capital“ ausgerichtet sein müssen, um Zuzüglern Zugang zum „Closed Shop“ der Alteingesessenen zu verschaffen – dies wäre sicherlich eine Maßnahme mit Langzeitwirkung. Entsprechend sind auch die Toolbox und die entsprechenden Beispiele für Maßnahmen konstituiert (vgl. Abbildung 50 und Tabelle 29). Auch hier zeigt sich, dass ohne ein quartiersorientiertes, kooperatives Engagement aller Akteure allenfalls eine suboptimale Quartiersentwicklung erwartet werden darf. Dies mag im Zweifel ausreichen, wenn die Probleme andernorts (und insbesondere bei anderen Quartierstypen) größer und drängender erscheinen.
210
Szenarioentwicklung
Abbildung 50: Typ B (Utopie) – Toolbox 2030
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Tabelle 29: Tool
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Typ B (Utopie) – Maßnahmenbeispiele Kommune
DIV Diversifizierung
Wohnungswirtschaft Modellprojekte, um den Bestand weiter für verschiedene Zielgruppen und Wohnformen zu qualifizieren (Barrierefreiheit, Familienfreundlichkeit, Single-Häuser, WG-Häuser für Senioren o.ä.) Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Bausubstanz (u.a. Energieeffizienz)
HOM Homogenisierung
bei möglichen Imageverlusten sind Kommunikationskampagnen hilfreich, um die günstigen Standortfaktoren herauszustellen
KOM Kommunikation
MAR Marketing
ORG Organisation
QUO Quartiersorientierung
SKF Sozialkapitalförderung
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
Förderung von Einzeleigentümern bei Umbauten unter Denkmalschutzbedingungen und bei energetischen Einoder Umbauten Initiierung von lokalen Kooperationen Bewahrung der städtebaulichen und architektonischen Eigenheiten des Quartiers aus denkmalpflegerischer Perspektive Bewohnerpartizipation Aktive Standortpolitik, wenn möglich im und um das Quartier (Zusatznachfrage nach Wohnraum durch neue Arbeitsplätze) Erarbeitung einer „soziodemographischen Roadmap“ für das Quartier (Gutachten, Zusammenarbeit mit Wohnungswirtschaft, Beteiligung von Einzeleigentümern)
Quelle: Eigene Darstellung
Initiierung von lokalen Kooperationen Bewahrung der städtebaulichen und architektonischen Eigenheiten des Quartiers aus denkmalpflegerischer Perspektive Mieter-/Mitgliederpartizipation Sozialkapitalprojekte (gezielte Maßnahmen gegen das „EtablierteAußenseiter-Problem“)
212
Szenarioentwicklung
5.7.5.3 Strategien und Instrumente für Typ C (Aufbau) Ausgangsbasis des Quartierstyps „Aufbau“-Quartiere sind meist keine aufregenden, stadtbekannten Viertel. Wenn sie überhaupt so etwas wie ein Image haben (außer vielleicht „solide“, „gestanden“ oder „gediegen“), dann manchmal auch ein negativ vom Eigenbild der Bewohner abweichendes externes Image. Das gilt insbesondere für den „WestTypus“ der C-Quartiere, deren Bewohner häufig mit dem Etikett „Mau-MauSiedlung“ konfrontiert werden. Abbildung 51: Typ-C-Quartiere mit standardsanierten Zeilenbauten in Brandenburg (Nord) sowie mit aufwendig modernisierten Gebäuden in West-Berlin (Belß-Lüdecke-Siedlung)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Die vom Delphi-Experten-Panel als demographisch riskant eingeschätzten Quartiere besitzen sehr häufig eine homogene demographische Struktur oft mit einem hohen Durchschnittsalter (West-Variante oft heterogen). Die Sozialstruktur dieser nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1950er und 1960er Jahren als Ersatzwohnungsbau für im Krieg zerstörte Wohngebiete und für Kriegsheimkehrer errichteten Quartiere kann variieren. Die C-Quartiere in Ostdeutschland werden meist von einer Senioren-Mittelschicht bewohnt (häufig noch Erstbezieher), während deren West-Pendant oft einen niedrigeren Sozialstatus und auch eine jüngere Altersstruktur aufweist. Die Ortsbindung in beiden Varianten des CTyps ist recht hoch, die Nachbarschaftsbeziehungen relativ intensiv, in der ExDDR-Variante eng und harmonisch, in der Ex-BRD-Variante oft auch konflikthaft. Häufig verkehrsgünstig und innenstadtnah gelegen, wird jedoch die Wohn-
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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umfeld- und städtebauliche Qualität oft kritisch bewertet. Zwar sind die Quartiere meist durchgrünt, ruhig gelegen und infrastrukturell versorgt, die sehr einfachen Zeilenbauten jedoch werden als unzeitgemäß, langweilig und „billig“ empfunden (vgl. Abbildung 51). Im Osten wurden hier die ersten Plattenbauten errichtet (Haustyp Q3A). Die Wohnungsgrundrisse gelten als „funktional“, sind aber sehr standardisiert. Oft wurden auch minderwertige Materialien verbaut, was eine zum Teil schlechte Wohnqualität (z.B. fehlende Trittschalldämmung, dünne Wände) und einen hohen Modernisierungsaufwand u.a. hinsichtlich moderner Energieeffizienzstandards mit sich bringt. Gleichzeitig ist das Mietniveau in diesen Quartieren günstig, so dass im Einzelfall doch ein attraktiver Wohnkompromiss entsteht. Die standardisierte Bauweise und die diversen Standortstärken dieses Quartierstyps werden im wohnungswirtschaftlichen Diskurs auch als Wettbewerbsvorteile für eine effiziente Modernisierung und Umstrukturierung hervorgehoben (Edinger & Lerch 2004). Als positiv stellt sich die Eigentümerstruktur der C-Quartiere heraus: Es handelt sich hier meist um einige wenige Großeigentümer, Genossenschaften oder Wohnungsunternehmen, die aber jeweils entsprechende materielle und organisatorische Ressourcen für eine koordinierte Quartiersentwicklung mitbringen. In vielen Fällen lassen sich hier schlagkräftige Stadtteilregime schmieden, manchmal jedoch – insbesondere im Stadtumbau-Prozess – kann es auch vorkommen, dass sich diese Akteure wegen vermeintlich prioritärer Eigeninteressen gegenseitig massiv blockieren. Quartierszukünfte Typ C (Aufbau) C-Quartiere sind ein schwieriger Fall. Generell wird deren Zukunft sehr skeptisch beurteilt (vgl. Delphi-Befragung 2007/2008). Knabe 2008b nennt zwei Entwicklungsoptionen für die ostdeutsche Variante des Quartierstyps: Zum einen könnten sich C-Quartiere als „Mehr-Generationen-Wohngebiete“ etablieren, die für alle Altersgruppen und Lebenszyklen geeignet seien. Zum anderen schlägt Knabe eine Transformation in so genannte („gereifte“ und „junge“) „Lebensabschnittswohngebiete“ vor, die Durchgangsquartiere für bestimmte Lebenszyklusgruppen darstellen, also etwa für junge und alte Singles oder für Paare mit geringem Einkommen. Auch für mögliche künftig weiter verbreitete Rentnerhaushalte mit prekärer finanzieller Ausstattung könnten C-Quartiere in Frage kommen – als „Sun Cities“ der Altersarmut. Die beiden im Folgenden skizzierten Quartierszukünfte sollen jedoch – unabhängig von speziellen Potenzialen für künftige Zielgruppen – die Grundbedingungen des Scheiterns oder Gelingens einer Quartiersentwicklung herausstellen.
214
Szenarioentwicklung
Mögliche Zukunft 1: Vom Stadtquartier zum Stadtpark Wie kritisch die Entwicklungsperspektiven des C-Typs tatsächlich sind, zeigt das Szenario von „C-feld-Süd“. Zunächst fällt die unzureichende Positionierung lokaler Akteure hinsichtlich der zu erwartenden Probleme des stark gealterten Quartiers auf: 2006 und 2007 wurde in einigen Expertengesprächen ein überraschend geringes Problembewusstsein bzw. eine Tabuisierung des demographischen Problems für Cfeld-Süd festgestellt – und dies gerade bei Entscheidern aus der Wohnungswirtschaft. Dafür waren wohl verschiedene Gründe ausschlaggebend. Bei Entscheidern eines ersten Typs dürfte der Problemdruck bereits so groß gewesen sein, dass die Realität noch bis zu dem Zeitpunkt ausgeblendet wurde, der ein unbedingtes Handeln erforderte. In der Regel war es dann schon zu spät. Bei einigen, so war zu vermuten, spielte auch die persönliche Dienstzeit oder Vertragsdauer bzw. die bevorstehende eigene Pensionierung eine Rolle. Als dritter Typus von Entscheidern wurde der „Kurzfristplaner“ angetroffen, in der Regel zu finden in der freien Wohnungswirtschaft [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.3).
Es mangelt offensichtlich mancherorts an Strategien, die über das nächste Geschäftsjahr hinausreichen – und dies trotz transparenter Informationslage und trotz sich zuspitzender unternehmensinterner Daten: Auf das Quartier rollte eine massive Bevölkerungswelle zu. Schon 2006 waren die Hauptkündigungsgründe einer vor Ort tätigen Genossenschaft „Umzug ins Altersheim“ (18%) und „Tod“ (15%) (E_B18). Dadurch dass die Lebenserwartung kontinuierlich anstieg, verschob sich der „point of no return“ noch um einige Jahre nach hinten. Parallel dazu kam es zu einem starken Anstieg hochbetagter Haushalte im Gebiet […]. „Hier tickt eine Zeitbombe“, erklärte ein Experte aus dem Modellstädter Planungsamt schon vor 25 Jahren (E_BRB2). Bereits in einem Gutachten von 2006 war zu lesen, dass der Stadtteil „unaufhaltsam überaltere“ und „ein drastischer Bevölkerungsverlust nur noch eine Frage der Zeit“ sei [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.3).
Gegengesteuert wird – wenn überhaupt – nur halbherzig und unkoordiniert. Die Interventionen der Kommunalverwaltung fruchten nicht. Die Akteure ziehen nicht an einem Strang, spekulieren womöglich darauf, als einzige gestärkt aus der Krise herauszugehen. Ab 2015 werden sie von der Realität eingeholt: Die „Hypothek des Todes“, wie es Hansgert Peisert 1959 nannte, forderte ihren Tribut. Eine Flut von Haushaltsauflösungen stellte Wohnungsunternehmen, Genossenschaften und Kommune vor unlösbare Probleme. Die Tage von C-feld-Süd waren nun endgültig gezählt. […] Nach dem Überschreiten des „demographischen
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Tipping-Points“ waren den wohnungswirtschaftlichen und kommunalpolitischen Akteuren für weitere Investitionen in den Stadtteil die Grundlagen entzogen. Es wurden fluchtartige Absetzbewegungen beobachtet, Verwahrlosung und Unsicherheitsgefühl prägten das verbliebene Ghosthood [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.3).
Nach langjährigen Diskussionen und gegenseitigen politischen Schuldzuweisungen beschließt der Stadtrat im Jahr 2025, das Quartier aufzugeben. Die ehemaligen Eigentümer waren trotz Stützungsfinanzierungen und Weiterverkäufen letztlich zwischen 2020 und 2025 in Konkurs gegangen. […]Unmengen an Fördermitteln für Modernisierungen, Um- und Rückbauprämien etc. wurden damit vernichtet. Es wurde ein Rückbau- und Renaturierungskonzept aufgestellt. Vor drei Monaten, am 1. März 2030 fiel das letzte Haus der Abrissbirne zum Opfer. In einigen Jahren wird sich der innenstadtnahe Park mit einer Promenade am Ufer des Modellstadtflusses großer Beliebtheit erfreuen [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.3).
Man kann die Entwicklung von C-feld-Süd ohne Übertreibung als ein wohnungswirtschaftliches und stadtentwicklungspolitisches Fiasko bezeichnen. Mögliche Zukunft 2: Mit Mut von der Mono- zur Polystruktur Diese mögliche Zukunft des C-Typs setzt – bei identischer Ausgangssituation wie oben – eine Akteurskonstellation voraus, die in der gemeinsamen Quartiersentwicklung keine Konkurrenz-, sondern eine Win-Win-Situation sieht. Dazu braucht es allerdings einen Anfang – und den macht in diesem Fall die Presse: Der „Modellstädter Express“ hatte seine Story. Die Wochenendausgabe vom 2. Oktober 2010 titelte mit „Rentneralarm in Modellstadt: Die C-wald-Siedlung vergreist als erste. Wohnungswirtschaft verschläft Situation. Ob auch Ihr Quartier vom Aussterben bedroht ist, erfahren Sie in unserer neuen Demographie-Serie.“ Dies löste eine intensive Debatte in Modellstadt aus. Eine Situation, die zwar vielen nicht verborgen geblieben war, trat nun ins Bewusstsein der Öffentlichkeit – und entfaltete ihre politische Wirkung. […] Die Kommune hatte schon einige Jahre zuvor an die Marktakteure appelliert: „[Das C-wald-Viertel] hat relativ gute Chancen, wenn die Eigentümer bei der Weiterentwicklung der Bestände mitziehen […]. Es ist ein zielgruppenspezifischer Umbau der Bestände nötig […]. Diversifizierung muss sein“ (E_L2). Am Ende rollten sogar Köpfe: Die Geschäftsführer der beiden größten im Gebiet tätigen Wohnungsunternehmen bzw. -genossenschaften mussten ihren Hut nehmen. Die Nachfolger brachten nun Bewegung in die verfahrene lokalpolitische Situation [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.1).
216
Szenarioentwicklung
Die schwierige Situation erfordert und begünstigt gleichzeitig Fantasie und Kreativität. Es entsteht eine offene Atmosphäre, in der nur noch wenig tabuisiert wird – ein Zeitfenster der Sachlichkeit, das die Akteure vorbildlich nutzen: Vehikel für diesen Prozess war eine kurzfristig anberaumte „Lokale Bauausstellung“ (LBA) zum Thema Quartiersentwicklung. Viele etablierte und junge Architekturund Planungsbüros beteiligten sich und präsentierten ihre Entwürfe. Schon die LBA zeigte, dass sprichwörtlich „nichts unmöglich“ war, auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.1).
In der Folge werden zahlreiche bauliche Maßnahmen durchgesetzt, die u.a. zu einer Zielgruppendiversifizierung führen sollen. Die Kommune unterstützt die Wohnungswirtschaft durch schnelle Antragsbearbeitung und durch kreative Ausschöpfung von Fördermöglichkeiten. Das Ganze wird in einen partizipativ ausgerichteten Branding-Prozess eingebettet: Als Rahmenstrategie für den Stadtteil wurde 2012 eine Leitbild- und Imagekampagne unter Beteiligung der alten und neuen Bewohner gestartet (Neighbourhood Branding-Prozess), an dessen Ende auch ein Name und ein Logo stand: „Wohninsel Cwald – mitten im Leben“. Das Quartier konnte nun als Ganzes „benannt“ und qualifiziert werden. Durch kulturelle Events und Feste, auch zusammen mit benachbarten Vierteln, wurde versucht, diese Quartiersidee weiter zu etablieren [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.1).
Die Zielgruppendiversifizierung funktionierte tatsächlich, basierend auf einem dauerhaften Megatrend: Urbanes Wohnen war zunehmend gefragt. Die Neigung, kompakt in Quartieren „der kurzen Wege“ zu wohnen, führte zu wachsenden Vermarktungsproblemen in Quartieren peripherer Gebiete, wie etwa in Einfamilienhaussiedlungen im suburbanen Raum. Die Träger dieses neuen Trends „zurück in die Stadt“ (die „Escimos“ [„essential city movers“], wie sie seit einer Debatte in einem Urbanistik-Blog seit 2012 häufiger bezeichnet wurden) waren nicht nur die jungen kinderlosen Haushalte wie noch um die Jahrtausendwende. Vielmehr waren es die immer rarer werdenden Familien, ebenso wie „empty-nest“-Haushalte, Senioren und Hochbetagte, die ihren sozialen Konvois folgen und damit langfristig dem Auslaufmodell Altersheim entgehen wollten [...] (Ausschnitt aus Szenario Ca.1).
Diese Potenziale waren zweifellos begrenzt, die „Wohninsel C-wald“ jedoch konnte sich im Wettbewerb der Lagen und Quartiere gut behaupten.
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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„State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ C (Aufbau) Zahlreiche Projekte und Maßnahmen wurden bereits in C-Quartieren durchgeführt oder für diesen Quartierstyp vorgeschlagen. Dabei wurden unterschiedliche Haushaltstypen ins Visier genommen: Familien (etwa hinsichtlich entsprechender kindbezogener Infrastrukturen, vgl. Knabe 2008b: 111, 120), kinderlose Singles und Paare (Möblierungen, Internetzugänge, ÖV-Taktung, Gastronomie und Möblierung des öffentlichen Raums, vgl. Knabe 2008b: 111) und Senioren (Serviceangebote, Kontaktpersonen, barrierefreie Umbauten, Möblierung des öffentlichen Raums etc., vgl. Knabe 2008b: 111, 120 sowie Mecklenbrauck 2008: 287). Auch hinsichtlich eines Mehrgenerationenwohnens sind Projekte dokumentiert, wie z.B. Bestandsveränderungen und die Mischung von Wohnformen (vgl. Gerlach 2005a: 264, Knabe 2008a: 110f., Krupinski 2005: 257), Nachverdichtung durch Stadtvillen, um die Altersstruktur zu mischen (Mecklenbrauck 2008: 283f.) oder ein „Generationenpfad“, der das intergenerationale Miteinander sinnlich erlebbar machen soll (Mecklenbrauck 2008: 285f.). Abbildung 52: Kopf-Anbau und Nachbarschaftstreffpunkt in Berlin (BelßLüdecke-Siedlung)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Letzteres Projekt ist sicherlich auch dazu geeignet, Kontakte zwischen Bewohnern zu fördern. Sozialkapitalfördernde Projekte werden ebenfalls schon heute durchgeführt, wie z.B. die Schaffung von Treffpunkten, Gemeinschaftsgärten (Knabe 2008a: 120, vgl. Abbildung 52) oder Wochenmärkten (Mecklenbrauck 2008: 283f.) und partizipative Projekte im Sinne der Bürgerarbeit oder der Bürgerbeteiligung in einer „sozialen Bauleitplanung“ (vgl. Knabe 2008a: 120, Gerlach 2005a: 265, Wendorf 2005: 274ff., Mecklenbrauck 2008: 283f.).
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Szenarioentwicklung
Neben sozialen werden auch bauliche Aufwertungsmaßnahmen diskutiert. Neben üblichen Modernisierungs-, Fassaden- und Wohnumfeldmaßnahmen (wie z.B. Balkonanbauten, Dachgeschossausbauten, Schaffung von MaisonetteWohnungen, Steigerung der Energieeffizienz etc., vgl. Knabe 2008a: 120, Gerlach 2005b: 47-90) wird z.B. der Anbau von „Kopfbauten“ (vgl. Belß-LüdeckeSiedlung oder Siedlung am Lupsteiner Weg in Berlin, siehe www.werkstattstadt.de/de/projekte/105, siehe Abbildung 52) und der sehr wichtige Aspekt des Lärmschutzes an Hauptverkehrsstraßen erwähnt (Knabe 2008a: 120, vgl. auch Popp 2008). Darüber hinaus werden die thematische Profilierung einzelner Siedlungsbereiche und Ankerprojekte für wichtig gehalten (z.B. Neubau eines Altenwohnprojekts auf derzeitigem Spielplatz (Schmitt & Finkenbusch 2007: o.A.). Ein weiterer Fokus ist die professionelle Vermarktung und Imageverbesserung der Quartiere. So schlägt Knabe vor, die 1960er-Jahre-Gebiete als „Marke“ zu entwickeln (Knabe 2008a: 120). Außerdem werden Teilprivatisierungen und ein kleinteiliger Mix aus Wohneigentum, freifinanzierten und geförderten Mietwohnungen thematisiert (Gerlach 2005a: 265, Krupinski 2005: 255). Dagegen sind zumeist kostenpflichtige Serviceangebote und sogenannte „Give-Aways“ (z.B. ein halbes Jahr Tageszeitung frei Haus bei Abschluss eines Mietvertrags) heute oft die einzigen Marketingmaßnahmen der professionellen Wohnungswirtschaft. Die skizzierten Maßnahmen sind a) meist an der Struktur der Quartiere orientiert (was grundsätzlich zunächst nicht falsch ist) und haben b) einen gewissen Aufforderungscharakter. Die Frage sei an dieser Stelle erlaubt, inwieweit die lokal-urbane Akteurskonstellation ein koordiniertes und planvolles Umsetzen der Vorschläge überhaupt ermöglichen würde. Vorher müssten m.E. deshalb Fragen der politischen Willensbildung und gegebenenfalls der Organisationsentwicklung geklärt werden. Am Anfang sollte also eine offene Diskussion der unterschiedlichen und gemeinsamen Interessen, eine Mobilisierung und Koordination der relevanten lokalen Akteure stehen. Wichtig erscheint auch eine öffentlich und intern zu führende, durchaus professionell gemanagte Kommunikationskampagne, damit auch dem letzten Geschäftsführer, Vorstand oder Abteilungsleiter bewusst wird, dass ernsthafte Probleme anstehen. Eine derartige Kampagne hat den Vorteil, dass damit auch öffentlicher Druck erzeugt werden kann. Nur ein kooperatives und sachorientiertes Umfeld kann unter den schwierigen Bedingungen einen Entwicklungserfolg garantieren. Ein Vorschlag, der in den Szenarien eine Rolle spielt und den Aspekt der organisatorischen und politischen Probleme einer koordinierten Quartiersentwicklung tendenziell egozentrischer Marktakteure unter schwierigen Bedingungen aufgreift, ist die Einrichtung eines „Neighbourhood/Housing Improvement Districts“.
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Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Wie die folgende Toolbox noch einmal verdeutlicht (Abbildung 53 und Tabelle 30), spielt bei diesem Quartierstyp die Wohnungswirtschaft eine entscheidende Rolle. Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften sollten sich hier vor allem auch mit investiven Maßnahmen engagieren. Ohne einen gewissen strategischen Zeitvorsprung, eine entsprechende Koordination und kooperative Arbeitsteilung der Akteure vor Ort können manche „Aufbau“Quartiere als wahrscheinliche (Total-)Rückbaukandidaten gelten. Abbildung 53: Typ C (Aufbau) – Toolbox 2030
Quelle: Eigene Darstellung
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
Tabelle 30:wichtigesTyp C (Aufbau)relevantes – Maßnahmenbeispiele kommunal und ABC
ABC
Handlungsfeld
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
ABC
wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
220 Tabelle 30: Tool
Szenarioentwicklung
Typ C (Aufbau) – Maßnahmenbeispiele Kommune
DIV
Wohnungswirtschaft Diversifizierung des Gebäude- und Wohnungsbestands
Diversifizierung
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
MAR Marketing
ORG Organisation
QUO Quartiersorientierung
ggf. gezielte demographie- und quartiersorientierte Kommunikationskampagne, Aufzeigen von Win-Win-Situationen, Initiierung einer „Lokalen Bauausstellung“ (LBA) zur Quartiersentwicklung
Start eines partizipativen „Neighbourhood Branding“Prozesses
Professionelles Quartiersmarketing, d.h. u.a. Herstellung eines guten Preis-LeistungsVerhältnisses durch angemessene bauliche Maßnahmen wie Bestandsumbau, Abrisse oder Neubauten, Einrichtung von Mietergärten o.ä., professionelle Kommunikationspolitik und effizienter Vertrieb Zielgruppendifferenziertes Marketing, spezielles Marketing für „Escimos“ („essential city movers“ = „Reurbanisierer“) und „soziale Konvois“, Beauftragung einer Zielgruppenanalyse nach Lebensstilgesichtspunkten
Ausschöpfung des Förderinstrumentariums ggf. Initiierung eines Housing Improvement Districts
Start eines partizipativen „Neighbourhood Branding“-Prozesses
Bessere Vernetzung des Quartiers mit Nachbarquartieren (wohnumfeld- und verkehrsbezogen, sozial)
SKF Sozialkapitalförderung
Chancen für Selbsthilfe und neue Genossenschaften (Delphi-Expertenbefragung 2007/2008)
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
Quelle: Eigene Darstellung
Strategische Anpassung der Unternehmen auf längerfristige Zielsysteme
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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5.7.5.4 Strategien und Instrumente für Typ D (Urbanität) Ausgangsbasis des Typs D (Urbanität) Die westdeutschen Großsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre, entstanden auf der Basis des Leitbilds „Urbanität durch Dichte“, in ihrer Erscheinung quasi das West-Pendant zum Plattenbau (Typ E) waren von Anfang an heftigster Kritik ausgesetzt. Ein klassisches Beispiel – in dieser Studie auch eines der Untersuchungsgebiete – war […] das Märkische Viertel in Berlin („Menschen im Experiment“, übernommen aus DER SPIEGEL 45/1970: 223): „[Die Modellstädter Verwaltung] wertet das Vorhaben als ‚überlegtes Experiment‘ mit ‚spürbar fanalem Anspruch‘, als ‚ersten Versuch, langgehegten Leitbildern eine andere Vorstellung entgegenzusetzen‘, als ‚[Modellstadts] anregendsten Beitrag zum Städtebau der Gegenwart‘. Doch Menschen, die dort leben, sprechen anders. Dr. [Klaus Kittel], Arzt [in D-berge], nennt die gesamte Planung der Stadtrandsiedlung ‚menschenverachtend‘; Architekten hätten sich dem ‚Rausch am Reißbrett hingegeben‘ und ‚mit Bleistift und Lineal eine Menschenmasse untergebracht‘„ [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
Abbildung 54: Typ-D-Quartiere in Berlin (Märkisches Viertel) und in Essen (Hörsterfeld)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Seitdem haben die Großsiedlungen eine kurze, aber bewegte Geschichte mit Höhen und Tiefen und vielen Umstrukturierungen hinter sich (vgl. Abbildung 54). Vielen dieser Quartiere kommen heute die Umstrukturierungen der 1980er und 1990er Jahre zugute, die sich vor allem auf das Wohnumfeld (z.B. Begrünung, Wegenetzplanung), die Nahversorgung (z.B. die Errichtung moderner
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Szenarioentwicklung
Einkaufszentren) und das soziale Miteinander (z.B. soziale Projekte) auswirken. Dennoch: Der massive städtebauliche Entwurf wiegt auch heute noch schwer: Neben der städtebaulichen Maßstäblichkeit hat man heute mit der Qualität der Bausubstanz zu kämpfen (z.B. Betonsanierungen, Wärmedämmungen etc.). Außerhalb der Innenstadt errichtet, sind die Quartiere meist gut bis sehr gut erreichbar und zum Teil in ein grünes Umfeld eingebettet. Auch an sonstigen Infrastruktureinrichtungen im Quartier mangelt es in der Regel nicht, denn dies gehörte zum planerischen Anspruch dieser Großprojekte. Licht und Schatten zeigen sich auch in der Vermarktbarkeit dieser Quartiere, die in der Regel ein nachhaltig schlechtes Außenimage haben. Wenn überhaupt, dann werden sie von sozial schwachen und migrantischen Haushalten nachgefragt, die anderswo kein Glück hatten. Auch die Zielgruppenadaptivität der Häuser und Wohnungen ist sehr begrenzt. Mieterbefragungen in Großsiedlungen in Nordrhein-Westfalen haben ergeben, dass Gebäude mit mehr als fünf Geschossen nur eine sehr geringe Akzeptanz besitzen (nach Spieker 2005: 148). In der standardisierten Massenarchitektur finden pluralisierte Lebensstile kaum Entfaltungs- und Aneignungsmöglichkeiten und bleiben fern. Dennoch ist das lokale Sozialkapitalvolumen bei manchen Bewohnergruppen groß und die lokale Identifikation sehr stark ausgeprägt, ein nicht zu unterschätzendes Potenzial. Gerade aufgrund der Attraktivität der Viertel für sozial schwächere und (durchaus auch statushöhere) migrantische Haushalte, der nicht unbeträchtlichen Fluktuation und zahlreicher „Alteingesessener“, für die das Quartier „einen guten Deal“ darstellt, ist die demographische Ausgangsbasis des Quartierstyps oft recht heterogen und demographische „Katastrophen“ in der Regel nicht wahrscheinlich. Obwohl die Eigentümerstruktur meist günstig für eine koordinierte Quartiersentwicklung ist (wenige Großeigentümer mit entsprechenden Ressourcen), ist das Delphi-Expertenpanel bei Typ D eher skeptisch. Das demographische Risiko dieses Quartierstyps besteht wohl eher in der immer schwieriger werdenden Wettbewerbssituation im Vergleich zu anderen Quartieren im Kontext von Alterung und Stagnation bzw. Schrumpfung und Lebensstilpluralisierung der Stadtbevölkerung. Quartierszukünfte Typ D (Urbanität) Siedlungen des Typs „Urbanität“ stellen generell schwierige Entwicklungsprojekte dar, obwohl sie sich hinsichtlich der Altersstrukturen als unproblematisch erweisen. Ob der demographische Aspekt der Zunahme der ethnischen Vielfalt in diesen Quartieren ein Vor- oder Nachteil ist, hängt wiederum von der konkreten lokalen Situation und Perspektive ab. Eines steht fest: Unter ungünstigen Bedingungen in den nächsten 25 Jahren könnten Großsiedlungen unter Umstän-
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den auch komplett in Frage gestellt werden – es ist auch klar, dass dies unter bestimmten (ungünstigen) Voraussetzungen eine schmerzliche, aber sinnvolle Option darstellen könnte, wie die folgende Szenario-Passage aus der Perspektive des Jahres 2030 verdeutlicht: Schon 2007 war ein Immobilienmanager im Interview davon überzeugt, dass langfristig betrachtet (2025/2030) generell klar sei, dass alle 1970er-Jahre-Siedlungen „auf den Prüfstand“ müssten. Ein „massiver Rückbau“ sei dann wahrscheinlich (ähnlich wie etwa damals schon in Bremen). Auf der Fläche, so der Experte, könnten dann 1- bis 2-Familienhäuser entstehen: „Für die Menschen [im Jahr 2007] ein Horror-Szenario“ (E_E9) […]. In einem anderen Interview wurde ebenfalls schon vor knapp 25 Jahren dieses Worst-Case-Szenario diskutiert. In diesem Gespräch wurde die Negativentwicklung dann für wahrscheinlich gehalten, wenn „sich da nur Renditegeier konzentrieren, wenn man da nicht Unmengen an Geld und Manpower reinsteckt“ und „nicht alle mit einer Zunge sprechen“ (E_E5) [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
Dennoch wird dieses Verfallsszenario hier als „Worst Case“-Szenario im Sinne eines Markt- und Lokalstaatsversagens dargestellt. Weil die unbestreitbaren Potenziale dieses Quartierstyps nur selten dargestellt werden, soll ein Kontrastszenario zeigen, wie man diese nutzen und einer Großsiedlung zumindest eine faire Entwicklungschance zubilligen könnte. Mögliche Zukunft 1: Weiterentwicklung zum altersgemischten Bürgerquartier Das Quartier D-neustadt ist ein klassischer Vertreter des D-Typs: Heterogene Altersstruktur, gemischte, aber nicht unproblematische Sozialstruktur, Baumängel und die atemberaubende städtebauliche Kolossalität: Als typische westdeutsche Großsiedlung mit ca. 25.000 Einwohnern, erbaut zwischen 1963 bis 1974 auf der Basis des Leitbilds „Urbanität durch Dichte“ zwischen Innenstadt und Stadtrand, war es eher Gegenstand von urbanen Horrorszenarien, von Vergleichen mit Pariser Banlieues und amerikanischen Gettos wie South Central LA. D-neustadt galt als „Sanierungsprojekt“, weil es eine Nachkriegs-“SquatterSiedlung“ (die sogenannten „Stadtrand-Slums von Modellstadt“) ersetzte [...] (Ausschnitt aus Szenario Dh.1).
Zwar gibt es kaum Vorkommnisse im Quartier, die sich von anderen städtischen Wohnlagen unterscheiden würden, aber vereinzelte Straftaten und Vandalismus, ein daraus resultierendes Unsicherheitsgefühl und ein überaus schlechtes externes Image sind durchaus vorhanden und erschweren die weitere Entwicklung bis heute. Neben den zahlreichen Mängeln, die immer wieder kommuniziert werden,
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an deren Abschwächung aber schon seit den 1980er Jahren gearbeitet wird, gibt es auch eine Menge an Potenzialen, die nicht nur infrastruktureller oder baulicher Natur sind (z.B. Barrierefreiheit, Existenz von Aufzügen o.ä.). Dazu gehört nicht zuletzt auch ein ausgeprägtes „Wir-Gefühl“ der Bewohner: „So ein Wir-Gefühl ist schon da“, wie von einer Expertin 2006 (E_B3) im Interview vermutet und in Bewohnerinterviews immer wieder bestätigt wurde: „Die Leute reden hier immer miteinander. Wenn sie hier auf der Parkbank sitzen kommen sie unweigerlich ins Gespräch. Ist eben ein Kiez, ein Dorf mit hohen Häusern“ (B_BMV4). Oder: „Oben im Vierzehnten, die kümmern sich auch, klopfen und fragen, wie es mir geht“ (B_BMV2). Insbesondere alteingesessene Bewohner hatten eine starke Ortsbindung: „Für die ist das die Heimat“ (E_B3, Bewohnerinterviews B_BMV1-4). Viele Bewohner nannten sich „die Neustädter“, was ebenfalls auf eine ausgeprägte lokale Identifikation hindeutete [...] (Ausschnitt aus Szenario Dh.1).
Vielleicht ist es ein historischer Zufall, vielleicht auch eine Folge einer über Jahre besonnenen und proaktiven Stadtentwicklungspolitik: Trotz der starken und zunehmenden Konkurrenz zwischen Quartieren bzw. Lagen einerseits und zwischen Wohnungsunternehmen andererseits war das lokale politische Klima Modellstadts seit den 2010er Jahren geprägt von Kooperation und Sachorientierung, was u.a. an umsichtigen, jüngeren Entscheidungsträgern in Verwaltung und großen Wohnungsunternehmen lag, die das „Große und Ganze“ im Blick hatten. […]Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit, „soziale Wohnkultur“ […] und strategische Kooperation standen im Vordergrund und wurden als Programmatik offensiv nach außen kommuniziert. Die Beteiligten waren von der Idee geprägt, dass Quartiersentwicklung sich nicht nur auf Bestandsoptimierung beschränken durfte. Die „Darmstädter Erklärung“ von 2008 sollte hier konsequent in die Tat umgesetzt werden [...] (Ausschnitt aus Szenario Dh.1).
Die lokalen Wohnungsunternehmen gründeten die „Konzertierte Aktion pro Dneustadt (KpD)“. Es wurde schnell klar, dass man mit einer dezidierten Zielgruppen- und Imagekampagne an die künftige Quartiersentwicklung herangehen musste. Erstaunlicher Weise „wurde [vorher] darauf nicht geachtet“ (E_B4, E_B5). Eine stadtweite Zielgruppenkampagne für das Quartier auf der Basis von Lebensstilen, professionell und provokant von einer Werbeagentur umgesetzt (z.B. „Loveshack für Senioren? Wir haben, was ihr sucht!“, „Wir lieben Kinder – Lärmschutz inklusive“, „Stromproduzenten gesucht! Nullenergie-Single-Appartements in D-neustadt“), sorgte für Sekundärberichterstattung in den Medien und damit als „side effect“ für eine positive Öffentlichkeit und einen beginnenden Imagewandel. Davon unabhängig wurde eine professionelle Imagekampagne durchgeführt, die einem „Neighbour-
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hood Branding“-Prozess ähnelte. Die Akteure waren überzeugt: „AllwetterKonzepte passen nicht bei solchen Siedlungen. […] Nur über den Preis geht das irgendwann nicht mehr. […] Man muss eine Geschichte erzählen können, das ist der Schlüssel zum Quartier“ (E_E5) [...] (Ausschnitt aus Szenario Dh.1).
Neben allen möglichen baulichen Veränderungen zur Diversifizierung des Bestands, die u.a. auf externen Input eines Universitätsinstituts zurückgehen, wird auch das Modellprojekt „Grüner Block“ initiiert, ein ökologischer Komplettumbau eines Hochhausbereichs, der trotz einigem unternehmerischem Risiko ein großer Erfolg wird. Darüber hinaus wurden alle Register der „Sozialen Stadt“ gezogen und in partizipativen Projekten auch das vorhandene Sozialkapital genutzt und ausgebaut. Es klang wie eine stadtentwicklungspolitische Utopie: Durch die aktive Mitwirkung einiger aufgeschlossener Wohnungsunternehmen, des innovativen Modellstädter Planungsamts und der lokalen Politikszene, einiger kreativer Architekten und eines anwendungsorientiert arbeitenden universitären Instituts wurde aus einer frühen Offenheit gegenüber Zukunftskonzepten ein visionärer Rahmenplan und daraus die Quartiersrealität des Jahres 2030. D-neustadt hatte eine bemerkenswerte und von vielen nicht für möglich gehaltene Metamorphose von einer stigmatisierten Großsiedlung zu einem stadtweit respektierten Wohnquartier durchlebt [...] (Ausschnitt aus Szenario Dh.1).
Der Vorteil von D-neustadt ist das stabile Quartiersregime, das über Jahre eine stabile koordinierte Entwicklung ermöglicht hat. Dennoch bleibt das Quartier für Politik und Wirtschaft eine Daueraufgabe. Mögliche Zukunft 2: Ein Quartier im freien Fall D-berge hat die gleichen Ausgangsvoraussetzungen wie D-neustadt. Praktisch von Anfang an stand das Quartier im Fokus von Nachbesserungs- und Restrukturierungsprojekten, so ist es kein Wunder, dass auch 2005 entsprechende Maßnahmen gefordert wurden, obwohl Potenziale und Defizite einigermaßen ausgeglichen schienen: Schon früh orakelten Experten, dass trotz der relativen Quartierstreue der Bewohner ohne umfangreichere Modernisierungen (massive) Leerstände und letztlich sogar Teilabrisse zu befürchten seien: „Wenn es woanders passiert, warum soll es nicht auch hier irgendwann so weit kommen?“ (E_B3) [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
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Eine langfristige strategische Planung und ein koordiniertes Vorgehen aller beteiligten lokalen Akteure wäre essenziell. Jedoch sind die Handlungsprinzipien der lokalen Akteure vollkommen anders gelagert: Die D-wobag und zwei der kleineren Bestandshalter in D-berge arbeiteten klar nach renditeorientierten Prinzipien. Kurzfristige Planungen und schnelle Alleingänge waren en vogue. Quartiersorientierung galt in diesen Kreisen als rein akademisches Thema, wie in Interviews noch 2007 deutlich gemacht wurde. Bestände, die funktionierten, so hieß es, würden „normal bewirtschaftet“. Sobald sich die Zahlen änderten (Mietrückstände, Fluktuation, Leerstände etc.), würden Strategien überlegt. Bestände, die als zu schwierig angesehen würden, würden aus dem Portfolio entfernt, also verkauft (E_E9). Die Immobilienmanager bezeichneten sich zwar selbst als durchaus „sensibel für die quartiersumfassende Problematik“ von D-berge, verfuhren aber weder „langfristig“ noch „nachhaltig“ oder „integrativ-quartiersbezogen“ [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
Zwar versucht die Kommune zu intervenieren, die Ideen fruchten bei den wohnungswirtschaftlichen Akteuren jedoch nicht. Das Modellstädter Stadtentwicklungsamt kämpfte gegen Windmühlen. Quartiersentwicklung, Nachhaltigkeit, kooperative Stadtentwicklung und Demographieorientierung waren Begriffe und Konzepte, die man unermüdlich predigte. 2006 erläuterte eine Mitarbeiterin des Amts im Interview zum Thema D-berge: „Alles hängt damit zusammen, wie viel investiert werden kann.“ Ohne Bekenntnis zum Quartier gab es aber auch keine nennenswerten Investitionen. […] Im Zuge des langfristig zu befürchtenden Bevölkerungsrückgangs nehme ohnehin die Konkurrenz zu anderen Quartieren zu, die viel attraktiver seien. „Wenn man da locker lässt, dann geht die Siedlung den Bach runter“ (E_B3). Doch die Kommune war ein „zahnloser Tiger“. Während man integrative und langfristige Ansätze propagierte, blieb in der realen Politik nicht zuletzt wegen unterfinanzierter Haushalte und der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Privatwirtschaft meist nur die „Feuerwehrfunktion“ [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
Nicht nur wohnungswirtschaftlich, sondern auch sozial treten zunehmend Probleme auf. Auch die Integration der zahlreichen zugezogenen Haushalte mit Migrationshintergrund ist kein Prozess, der sich selbst trägt. In den 2000er Jahren patrouillierten – finanziert über eine Betriebskostenumlegung – Sicherheitsdienste in D-berge, weil, so die D-wobag, die Polizei mit dieser Aufgabe überfordert sei. Als problematisch wurden insbesondere Jugendgruppen erachtet, die im Quartier wohnten, zum Teil aber auch von außerhalb ins Quartier kamen. Es kam zu Vandalismus, Verschmutzung, Lärmbelästigung und kleinkriminellen Delikten. […] Ab 2015 wurde es schwierig: Inzwischen war allen Akteuren klar, dass
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man irgendwie handeln musste, aber wie? Während dieser Orientierungsphase wurde die D-wobag an einen Investor veräußert, der alles erneut auf den Prüfstand stellte. So verging die Zeit, während sich in D-berge die Situation immer mehr zuspitzte [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
Letztlich bewahrheitet sich die Warnung einer Expertin 2007 im Interview, auf keinen Fall „das Bauliche ohne das Soziale zu denken“. Die sozialen Probleme und damit verbundenes sozial deviantes Verhalten nehmen Überhand. […] Die Polizei war ebenso überfordert wie die privaten Sicherheitsdienste. In einer lauen Sommernacht 2021 kam dann der große Knall: Eine marodierende Jugendgang, deren Mitglieder nicht nur aus D-berge kamen, verbarrikadierte die Hauptverkehrsachse, die D-berger Chaussee, zündete 23 PKWs, zahlreiche Mülltonnen und elektronische Werbetafeln an und lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei. Auch nach dieser Nacht beruhigte sich die Situation noch nicht, im Gegenteil. Die Proteste fanden immer mehr Anhänger und zogen sich schließlich über 10 Tage hin – eine nicht gewaltfreie soziale Bewegung, ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft, die bis dato allenfalls pro forma an der „Quartiersentwicklung“ beteiligt wurde. Dieser Vorfall, der in der Modellstädter Presse und bundesweit bald die „D-bergeRiots“ hieß und an die Zustände in den französischen Banlieues in den 1990er Jahren erinnerte, führte nicht nur zu einer Generaldebatte über Stadtentwicklungspolitik in Deutschland inkl. des Rücktritts des amtierenden Bundesstadtentwicklungsministers, sondern auch dazu, dass das Stadtviertel nun unwiderruflich kippte. […] Das wuchtige, aber sozial immer schon fragile Quartier befand sich in einem Prozess der Desintegration. Investoren hatten unter Inkaufnahme hoher Verluste längst die „Exit“-Strategie genutzt, die D-wobag war pleite. Hohe und noch steigende Leerstände und ein viel zu hoher Aufwand für Instandsetzungen, Gebäude- und Wohnumfeldpflege machten dem Quartier den Garaus [...] (Ausschnitt aus Szenario Dj.3).
Gut sechzig Jahre nach dem Bau der Siedlung fällt diese seit 2030 Stück für Stück der Abrissbirne zum Opfer. „State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ D (Urbanität) Dem Quartierstyp der Großsiedlungen, die schon von ihren Anfängen an einem ständigen Restrukturierungsdruck ausgesetzt waren, mangelt es auch heute nicht an aktuellen Entwicklungs- und Steuerungsideen (vgl. Droste & Knorr-Siedow 2005). Das Potenzial der heterogenen Bevölkerungsstruktur wird z.B. durch Konzepte genutzt, die innerhalb von Hochhäusern intergenerationales Wohnen ermöglichen, indem differenzierte Stockwerkumbauten und -belegungen mit Dienstleistungen und Alltagshilfen kombiniert werden (BMVBW & BBR 2007: 98f.). Weiterhin werden sozialkapitalfördernde Maßnahmen dokumentiert, die
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Szenarioentwicklung
insbesondere sozialen Desintegrationstendenzen wirksam vorbeugen können. Dazu gehören z.B. die Einrichtung von Quartiersmanagement-Büros, ein aktives und partizipatives Belegungsmanagement (Zimmer-Hegmann & Fasselt 2006: 206, DIFU 2003b: 100ff., Thiel 2005) oder die Aufwertung von Hochhauseingangsbereichen zu „Kommunikationsräumen“ (DIFU 2003b: 135f., vgl. Abbildung 55). Abbildung 55: Nicht umgestaltete Eingangsbereiche in Berlin (Märkisches Viertel)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Neben vereinzelten Vorschlägen zu Abriss (z.B. von Punkthochhäusern mit Nachnutzung als Mietergärten), Teilrückbau und sogar Neubau (vgl. ZimmerHegmann & Fasselt 2006: 205, DIFU 2003b: 108ff.) liegt der Fokus vor allem auch auf Umwidmungen und Umbauten. So wird die Umwidmung von Wohnungen in Gewerbeflächen oder Büroraum (vgl. Zimmer-Hegmann & Fasselt 2006: 205, DIFU 2003b: 77ff.) sowie die Einrichtung von Mietergärten und Concierge-Logen, der Umbau von Wohnungen bis hin zur individualisierten Gestaltung von Wohnungstüren vorgeschlagen (vgl. Zimmer-Hegmann & Fasselt 2006: 205, DIFU 2003b: 131, 136). Ein Hauptthema heutiger Entwicklungskonzepte für den D-Typ stellt darüber hinaus die Imageförderung sowie die Integration von Migranten dar (vgl. Abbildung 56). Neben Imagekonzepten (u.a. mit Stadtteilzeitungen, Logoentwürfen, Umbenennungen etc. [DIFU 2003b: 112ff.], hierzu kitisch: Aehnelt 2005) sowie Maßnahmen wie Quartiersfernsehen, Fotowettbewerben und Quartiersrundgängen (Eberle 2006: 22, vgl. auch Eberle 2009) ist es vor allem der Ansatz des „Neighbourhood Branding“, der intensiv diskutiert wird (Schmitt & Finkenbusch 2007: o.A., Fasselt & Zimmer-Hegmann 2008).
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Abbildung 56: Quartiersszenen aus Berlin (Kottbusser Tor/Wassertorplatz)
Fotos: Olaf Schnur (2006)
Der Problemdruck in Großsiedlungen hat zu einer Vielfalt an Entwicklungskonzepten geführt. Man kann eine Art bundesweiten Wettbewerb der Kommunen und Wohnungsunternehmen um das innovativste und erfolgreichste Rezept für die Zukunftssicherung dieser Siedlungen beobachten – sicherlich schon für sich genommen ein strategischer Vorteil dieser Quartiere im Vergleich zu anderen, die heute nicht so sehr im Fokus von Politik, Planung und Wissenschaft stehen. Allein, ein Patentrezept dürfte es auch beim Typ „Urbanität“ nicht geben. Aus der Szenarienperspektive erscheinen detaillierte Zielgruppenanalysen, Maßnahmen zur Imageverbesserung und die Inwertsetzung vorhandener Potenziale, die häufig angesichts der Defizite übersehen werden, als besonders wichtig. So stellen sich die demographischen Ausgangsbedingungen in D-TypQuartieren oft günstiger dar als in anderen (Altersmischung) und auch die Zukunftsfähigkeit hinsichtlich demographischer Veränderungen ist bisweilen bemerkenswert gut (z.B. hinsichtlich Barrierefreiheit, Infrastrukturen etc.). Wichtig wird es sein, bauliche und soziale Maßnahmen sinnvoll, am besten synergetisch miteinander zu verknüpfen. Anders als bei vielen anderen Quartierstypen ist bei Typ D die Quartiersorientierung (von den Delphi-Experten als einer der Hauptfaktoren künftiger Quartiersentwicklung genannt) häufig nicht das Hauptproblem, oft, bei einem Groß-
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Szenarioentwicklung
eigentümer auch nicht unbedingt die Kooperation. Es kommt dann darauf an, die Prioritäten richtig zu setzen und „das Richtige zu tun“. Die Hinzuziehung externer wissenschaftlicher Beratungsleistungen ist hier besonders wichtig. Die Quartiersentwicklungsaufgabe sollte generell, hier aber ganz besonders als „lernendes System“ begriffen werden. Es ist also unabdingbar, ein Stadtteilregime flexibler, transparenter und zur Rückkoppelung geeigneter (und bereiter) Organisationsstrukturen zu schaffen. Die folgende Toolbox stellt noch einmal zusammenfassend heraus, dass bei Großsiedlungen für die Wohnungswirtschaft wie auch für die Kommunen zahlreiche Stellschrauben und Anknüpfungspunkte vorhanden sind (vgl. Abbildung 57 und Tabelle 31). Die Koordination von Maßnahmen steht hier im Mittelpunkt.
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Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Abbildung 57: Typ D (Urbanität) – Toolbox 2030
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
232 Tabelle 31: Tool
DIV Diversifizierung
Szenarioentwicklung
Typ D (Urbanität) – Maßnahmenbeispiele Kommune
Ausbau der Infrastrukturen im Hinblick auf mögliche künftige Zielgruppen
Wohnungswirtschaft „das Bauliche nicht ohne das Soziale denken“, „Monostrukturen neu denken“ Differenzierte Zielgruppenorientierung (z.B. auf Lebensstilbasis) und entsprechende Ausgestaltung des Wohnungsangebots u.a. durch bauliche Maßnahmen Einzelprivatisierung von Wohnungen und Veräußerung von Beständen an Genossenschaften (statt „Immobilienhandel“)
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
MAR Marketing
ORG Organisation
Kommunikation der Quartierspotenziale
„Gutes tun und darüber reden“: Kommunikationsstrategien entwickeln Entdeckung und Kommunikation des demographischen Potenzials Initiierung von Modellprojekten und „Testballons“
Entwicklung einer Imagekampagne, die „Story zum Quartier“ erzählen
Entwicklung einer Imagekampagne, die „Story zum Quartier“ erzählen
Einsatz klassischer „Soziale-Stadt“Instrumente (QM) in Kooperation mit dem „starken Partner“ vor Ort Konzertierte strategische Kooperation mit Wohnungswirtschaft (ggf. Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsgesellschaft)
Konzertierte strategische Kooperation mit der Kommune (ggf. Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsgesellschaft)
QUO Quartiersorientierung
Partizipative Projekte, Nutzung und Ausbau des vorhandenen lokalen Sozialkapitals
SKF Sozialkapitalförderung
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
Priorisierung einzelner Quartiersentwicklungsvorhaben auf der Basis eines stadtweiten Quartiersmonitorings (auch externe Beratung denkbar)
Quelle: Eigene Darstellung
Die Entdeckung der Langfristigkeit
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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5.7.5.5 Strategien und Instrumente für Typ E (Platte-Ost) Ausgangsbasis des Typs E (Platte Ost) Die DDR-Plattenbauten unterlagen seit 1989 einem bemerkenswerten Präferenzund Wertewandel. Zählten die Plattenbauten und ihre Quartiere vor der Wende noch zu den beliebtesten und standardhöchsten Wohnzielen der Nachfrager, hat sich die Situation heute beinahe umgekehrt. Jedoch muss man differenzieren: So ist die Wohnzufriedenheit bei DDR-sozialisierten (meist älteren) Nachfragern oder Bewohnern im Bestand sehr hoch. Die Akzeptanz dieses in hohem Maße standardisierten Bau- und Quartierstyps bei jüngeren Haushalten und bei BRDBiographien ist dagegen gleichermaßen gering, möglicherweise noch geringer als für das westdeutsche Plattenbau-Pendant, den Typ „Urbanität“. Mehr noch als beim D-Typ wird die Zielgruppenadaptivität der „Platte“ als gering eingeschätzt. Damit geht auch ein schlechtes externes Image der Siedlungen einher, die vielen uniform, langweilig und unmaßstäblich vorkommen (vgl. Abbildung 58). Abbildung 58: Typ-E-Quartiere in Ost-Berlin (Hans-Loch-Viertel) und in Brandenburg (Hohenstücken)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Deshalb ist es fraglich, welche Maßnahmen nötig wären, um ein Quartier des Typs E, insbesondere in peripherer Lage für möglichst unterschiedliche Zielgruppen attraktiv zu machen. Dazu kann man an den Potenzialen dieser Quartiere anknüpfen, angefangen bei der Standardisierung, die in vielerlei Hinsicht nachteilig wirkt (etwa hinsichtlich ihres Aneignungspotenzials für ausdifferenzierte Lebensstile), aber in Bezug auf effiziente Modernisierung, Rückbau- und Umbaumaßnahmen durchaus Vorteile hat. Oft ist auch die Infrastruktur der
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Szenarioentwicklung
Quartiere relativ gut ausgebaut (u.a. die Verkehrsanbindung) und die vielen Freiflächen bieten sich für neue Nutzungen an (z.B. Mietergärten, Spielplätze oder qualitativ hochwertige Aufenthaltsorte etc.). Um neue Nutzungen nachhaltig etablieren zu können, werden – als State of the Art – in der Regel die Bewohner eingebunden. Auch dies ist ein Plus vieler Typ-E-Quartiere, die neben einer starken lokalen Identifikation der (meist älteren) Bewohner auch ein hohes lokales Sozialkapitalvolumen mitbringen und damit Partizipationserfolge begünstigen. In die Situation, eine nicht unerhebliche Ersatznachfrage wecken zu müssen, werden die wohnungswirtschaftlichen Akteure in den Typ-E-Quartieren aufgrund der in-situ-Alterung eben jener oben erwähnten alternden DDRMittelschicht zwangsläufig kommen. Das Delphi-Panel im Rahmen der vorliegenden Studie schätzte den Typ E als am stärksten von demographischen Effekten betroffen ein. Vielerorts ist das Leerstandsproblem jedoch ohnehin schon virulent, weil die Wegzugsdynamik seit der Wende der natürlichen Schrumpfung bereits vorausgeeilt ist. Leer stehende Wohnungen wurden entweder an Zuwanderer vermietet (z.B. an Russlanddeutsche wie in Berlin-Marzahn) oder im Rahmen des Programms „Stadtumbau-Ost“ rückgebaut bzw. abgerissen. Dass in vielen Plattenbaugebieten schon so früh gehandelt wurde, lag natürlich zuallererst am starken Problemdruck. Neben der schon früh bestehenden Förderkulisse ist als weiterer Faktor die Eigentümerstruktur zu nennen. Sie ist durch wenige Großeigentümer gekennzeichnet, von denen manche sogar noch unter kommunaler Ägide handeln. Die daraus entstehenden politischökonomischen Stadtteilregime wirken bisweilen begünstigend auf eine koordinierte Umbaustrategie, weil die Menge divergierender Handlungslogiken klein und unfruchtbare Blockaden damit minimiert sind. Inwieweit die mancherorts früh begonnenen Projekte hinsichtlich der unübersehbaren Nachteile des Quartierstyps langfristig fruchten werden, wird erst aus der Retrospektive zu beantworten sein. Quartierszukünfte Typ E (Platte Ost) Typische Entwicklungen für E-Quartiere stellen in stagnierenden bis schrumpfenden Märkten z.B. starke Abwanderungstendenzen andere Regionen (z.B. westdeutsche Stadtregionen) oder in andere Wohnungsbestände (z.B. in den Quartierstyp „Wüstenrot“), eine ethnische Heterogenisierung (verstärkt bei innerstädtischen Plattenbaugebieten) oder eine in-situ-Alterung mit demographischer Welle (eher an ruhigen Innenstadtrand-Zonen). Die beiden hier skizzierten Szenarien befassen sich mit letzterem, also mit Typ-E-Quartieren, die einer homogenen demographischen Alterung unterworfen sind. Bei diesen Varianten
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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herrscht oft eine trügerische „Ruhe vor dem Sturm“. Die Gefahr ist groß, dass hier die mittelfristigen Auswirkungen des demographischen Wandels unterschätzt werden. Mögliche Zukunft 1: Stadtentwicklungspolitische Erfolgsstory Das E-viertel scheint noch 2005 kaum gefährdet: Quasi voll vermietet an Haushalte mit meist zwei Rentenbezügen, bereits in den 1990er Jahren weitgehend durchmodernisiert, große Quartiersbindung, mäßige Fluktuation, wenig Kosten und stabile Renditen. Die Ortsbindung war vor allem bei den alteingesessenen Bestandsmietern sehr stark (E_B8). Darüber hinaus spielten die genossenschaftlichen Bindungen eine große Rolle (E_B10). Auch von Bewohnern wurde die lokale Identifikation generell eher als hoch eingeschätzt (B_BKMA2, B_BKMA3), wie auch ein Rentner im Interview 2006 für sich befand: „Hier tragen sie mich mit der Kiste raus. […] Ich würde hier nie ausziehen, auch meine Frau nicht“ (Bewohnerinterview B_HLV2). Auch das nachbarschaftliche Miteinander wurde immer wieder positiv hervorgehoben. Dies – und das wurde nicht nur von den Verantwortlichen, sondern auch von Mietern und Mitgliedern erkannt – war aber zugleich das Damoklesschwert für das E-viertel: „Das [Ableben] kommt bei den Kündigungsgründen gleich nach Miethöhe“ (E_B8). In manchen Häusern war es schon Mitte der 2000er Jahre der ausschließliche Fluktuationsgrund. Das wird auch von einer Bewohnerin die seit 1958 im Quartier lebt, bestätigt: „Die Leute sterben weg. Ich bin fast die Einzige, die noch übrig ist“ (B_BKMA1). Eine massive demographische Welle drohte. Ab 2015 nahm die Zahl der Hochbetagten drastisch zu [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.1).
Es fällt schon in den 2000er Jahren auf, dass die enge Verbundenheit der Menschen mit ihrem Quartier auch Nachteile mit sich bringt. Für vereinzelte jüngere Zuzügler, vor allem diejenigen mit Kindern, stellt das Quartier einen „Closed Shop“ dar, was zunehmend als Problem erkannt wird. Die Geschäftsführungen der Wohnungsunternehmen und Genossenschaften beauftragten 2011 gemeinsam ein Gutachten, das eine alltagsweltliche Analyse des Quartiers und eine lebensstilorientierte Zielgruppenanalyse zum Inhalt hatte. Das Ergebnis: Die homogenen Alterskohorten des „DDR-Milieus“ – bis dato noch als großes Plus des E-viertels angesehen – wurden als Entwicklungshemmnis bewertet. Eine „soziale Gebietsblockade“, so die Gutachter, konnte man sich angesichts der drohenden massiven demographischen Welle nicht leisten. Die starke Überalterung würde dazu führen, dass viele Wohnungen in relativ kurzer Zeit am Markt platziert werden müssten. Mit Blick auf potenzielle Zuzügler forderten die Gutachter u.a. Maßnahmen, die das „Etablierte-Außenseiter-Problem“ von DDR-Plattenbausiedlungen ins Visier nehmen sollten, und schlugen eine „intergenerationale Kampagne“
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Szenarioentwicklung
vor. Außerdem hielten die Gutachter es für unabdingbar, dass sich die Wohnungsunternehmen des Gebiets, weitere im Quartier tätige Akteure sowie die öffentliche Hand Kooperationsstrukturen schafften, die es ermöglichen, in der Zukunft nicht nur auf kurze Frist die eigenen Bestände, sondern auf lange Sicht das Gesamtquartier im Auge zu behalten [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.1).
Aus diesem Gutachten entsteht letztlich ein intensiver öffentlicher Diskurs, der am Ende sehr positive Effekte mit sich bringt. „Die Mauer in den Köpfen der Berater“ titelten die Modellstädter Neuesten Nachrichten. Auch die Modellstädter Yellow Press ließ dieses Thema nicht aus: „BRD 2011: Rentner-Bashing für 1800 Euro Tagessatz! Auch Modellstadt befürwortete Anti-DDR-Schmuddel-Papier“. Die Wogen glätteten sich nach einigen Wochen, als die Verantwortlichen immer wieder klar machten, dass es nicht um die Diffamierung der Etablierten, sondern um eine vermittelnde Position zwischen einer aussterbenden Kohorte und potenziellen Neuzuzüglern ginge, die völlig andere Lebensstile zu haben pflegten. Aufgrund des öffentlichen Aufsehens entstand ein gewisser Druck, die Empfehlungen des Gutachtens auch in die Tat umzusetzen – als Beleg für die Rationalität des Ansinnens [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.1).
Es wurde zunehmend deutlich, dass über die Jahre wider besseres Wissen eine für alle unbefriedigende Situation entstanden ist: Auch den Wohnungsbaugesellschaften war klar, dass „wir [die WU, die WG, die Verwaltung] untrennbar miteinander verbunden sind. […] Wenn wir die Wohnungen nicht voll kriegen, dann haben nicht nur wir ein Problem“ (E_B11). Während die Wohnungswirtschaft eine stärkere kommunale Einbindung forderte („Wir werden schon gerne mal vergessen bei Diskussionsveranstaltungen z.B. zum Gemeinwesen-Papier oder ähnlichem“ [E_B11]), wünschte sich das Modellstädter Planungsamt umgekehrt mehr Aufmerksamkeit und Transparenz von den Unternehmen. Vieles scheiterte allein daran, dass es kein Forum gab, „in dem sich Vermieter und andere Akteure treffen und diskutieren“ konnten (E_B11). So gründete sich kaum drei Monate später das Konsortium „Pro E-viertel“, eine Koalition der Vernunft, der alle relevanten Akteure des Gebiets angehörten. […] Im schriftlichen „Commitment“ der Gruppe wurden freiwillig Handlungsmaximen einer „Neighbourhood Improvement Coalition“ festgelegt, die einem „Neighbourhood Improvement District“ nicht unähnlich waren. Quartiers- und DemographieOrientierung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit war nicht nur für die Kommune, sondern auch für die Unternehmen inzwischen Teil ihrer strategischen, proaktiven Planungen geworden [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.1).
Das Konsortium lässt schließlich Taten folgen: Im Rahmen eines zielgruppenbasierten Quartiersumbaus werden u.a. Vermietungsleitbilder entwickelt, bauliche Differenzierungsmaßnahmen durchgeführt, eine gemeinsame quartiersbezogene
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Imagekampagne gestartet, eine Quartiers-Web-Community „E-viertel 2.0“ gegründet, sozialkapitalorientierte, intergenerationale Maßnahmenpakete geschnürt und teilweise Bestände privatisiert. Auch die Genossenschaften im Quartier versuchen ihr „angestaubtes“ Image loszuwerden und ihre Stärken in die Postmoderne zu übersetzen: Die WG „Wohnidyll 1954 eG“ benannte sich zum sechzigsten Jubiläum 2014 in „WG Forever Young – Wohnen am Cityrand“ um und buhlte um neue, auch experimentellere Milieus, die durchaus an der partizipativen Grundidee der Genossenschaften Gefallen fanden [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.1).
2030 stellt sich die Situation im früheren „Plattenbaugebiet“ freundlich dar. Das Image hat sich vollständig gewandelt, ebenso wie die Bevölkerungsstruktur. Der demographische Umbruch hatte zwar vorübergehend Leerstände und erhöhte Fluktuationsraten mit sich gebracht – wirtschaftlich eine heikle Phase, die jedoch durch die Einrichtung und die umsichtige Arbeit des Konsortiums entschärft werden konnte –, führte am Ende aber zu einer altersstrukturell und sozial gemischten Bevölkerungsstruktur, die heute von den meisten Bewohnern als angenehm empfunden wird. 2029 erhielt man den vom Bundesamt für Bauwesen, Raumordnung, Stadtund Quartiersentwicklung (BBRSQ) ausgelobten „Golden Governance“-Preis, den „Oscar“ für innovative Quartiersentwicklung. Die historische Zeitung mit der Headline „Die Mauer in den Köpfen der Berater“ hängt nun gerahmt in der Vorstandsetage des kommunalen Wohnungsunternehmens – direkt neben einem aktuellen Artikel aus dem selben Blatt mit der Schlagzeile im Lokalteil: „Modellstadts E-viertel – eine stadtentwicklungspolitische Erfolgsstory“ [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.1).
Mögliche Zukunft 2: Gepflegter Stillstand – schneller Niedergang Die Situation in E-hausen ist derjenigen des oben skizzierten E-viertels sehr ähnlich. Das Quartier hat in den 2000er Jahren insbesondere bei der dort lebenden Klientel einen guten, soliden Ruf und gilt als „Paradies für das Wohnen am Lebensabend“ (E_B10). Das soziale Milieu, so die Pressesprecherin des größten Wohnungsunternehmens in E-hausen im Interview 2006, war sehr speziell: „viel ehemalige DDR-Intelligenz“, die einerseits kulturell aufgeschlossen, andererseits aber nicht besonders weltoffen sei, sondern eher „gutbürgerlich-piefig“ (E_B11). „Das sind die alten Genossen, die hier wohnen“, es sei eine ausgeprägte „Blockwartmentalität“ feststellbar (E_B9). „Die [E-hausen-Bewohner] sind ein Völkchen, an dem kann man sich die Zähne ausbeißen“ (E_B9). Gleichzeitig führte die starke soziale Kontrolle und enge lokale Gemeinschaft zu einem intensiven sozialen Miteinander, zu einer starken Ortsbin-
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dung, hoher Verbindlichkeit und intensiver Nachbarschaftshilfe – Kiezqualitäten, die man an anderen Orten vergeblich aufzubauen versuchte: „Die Leute hier identifizieren sich sehr stark mit dem Wohngebiet“ (E_B9). Es war ein ausgeprägtes Bürgerengagement entstanden, und bei Veranstaltungen der Modellstädter Verwaltung war „immer volles Haus“ (E_B9). Dies wurde u.a. durch die starke Ortsgruppe der Partei „Die Linke“ unterstützt [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.3).
Dieses Milieu ist polarisierend und kann als klassisches „EtablierteAußenseiter“-Problem bewertet werden. Bei vereinzelten Versuchen, junge Familien in die Hausgemeinschaften zu integrieren, gilt das Prinzip „not in my backyard“. Die gemeinschaftliche Atmosphäre im Quartier weicht allmählich einem Misstrauen allem Neuen gegenüber sowie zunehmenden Konflikten zwischen „Aktiven“ und „Trittbrettfahrern“. Diese komplizierte soziale Situation macht es den Wohnungsunternehmen und –genossenschaften zusätzlich schwer, den demographischen Wandel aktiv zu gestalten. Obwohl die Stadtverwaltung das Problem erkennt und immer wieder informiert, initiiert und interveniert, bleibt alles wie es ist: Die Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft in E-hausen orientierten sich […] am Bestand und weniger am Quartier („Viertel vermarkten? So weit sind wir noch nicht!“ [E_B11]). Man agierte überwiegend kurzfristig und betrachtete die eigenen Bestände als „Cash Cows“, die ohne weitere nennenswerte Investitionen die gewohnten auskömmlichen Renditen abwarfen. Strategische Kooperationen waren angesichts dieser Konstellation keine echte Option. Der drohende demographische Impact wurde bewusst oder unbewusst ignoriert oder ausgeblendet. So war es kaum verwunderlich, dass eine Vertreterin eines Wohnungsunternehmens in E-hausen in einem Interview 2007 für die nächste Dekade „keine großen Veränderungen“ vermutete: „Wir haben kein Problem und sehen auch keines in der Zukunft. Das ist ein gestandenes Wohngebiet“ (E_B8). Mitunter wurde die Vorstellung geäußert, dass familienpolitische Maßnahmen auf Bundesebene die Vergreisung innerhalb der nächsten 20 Jahre aufhalten und damit das Problem lösen könnten (E_B11). Durchhalteparolen („Unsere Häuser können noch hundert Jahre stehen“ [E_B7]), kuriose Selbsteinschätzungen („Man redet immer [über die Überalterung], aber man hat sich noch nicht richtig darauf eingestellt“ [E_B8]), eine konservative, nach hinten absichernde Geschäftspolitik statt proaktiver strategischer Orientierung, mangelhaftes Krisenmanagement, Verunsicherung ob der zu erwartenden Veränderungen, ein gefährlicher Hang zum Altbewährten oder auch der Glaube, man könne sich durch den Umbruch vielleicht sogar einen Wettbewerbsvorteil sichern („Wir sind nicht die Vorreiter, aber wir sind hier in Lauerstellung“ [E_B7]) – das war die Mischung, die dem Quartier zum Verhängnis wurde. […] Folgende Interviewaussage aus der Wohnungswirtschaft im Jahr 2007 illustrierte die lähmende lokale Lethargie: Wenn ein Investor von außen käme – immerhin neue Konkurrenz – „wäre [das] gut für das Gebiet, weil dann mehr Frische und
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Bewegung reinkommt“ (E_B8). Von kommunaler Seite wurde festgestellt, dass das Gebiet „von den Visionen her stagniert“ und Anstöße für die weitere Entwicklung wohl von außen kommen müssten (E_B9). […] Es ist kaum verwunderlich, dass Konflikte zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen an der Tagesordnung waren. Gegenseitiges Misstrauen beherrschte die lokale Akteursszene. „Mit [Modellstadt] kann man nicht reden“, hieß es 2007 kurz und bündig von Seiten der Wohnungswirtschaft (E_B7) [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.3).
In den 2010er Jahren nimmt die Sterberate im Quartier deutlich zu, es kommt zu vermehrtem Leerstand, einem sinkenden Mietniveau, weil das Quartier für andere, auch jüngere Zielgruppen nicht aufgestellt ist, und zum Zuzug benachteiligter, sozial schwacher Haushalte. Das allerseits praktizierte passive „Standardmarketing“ brachte nicht viel, aber zu mehr sah sich keiner der relevanten Akteure in der Lage. Ein interviewter Akteur aus der Wohnungswirtschaft brachte es auf den Punkt: „Die Bedingungen, die jetzt herrschen, werden junge Leute nicht dazu animieren, herzuziehen“ (E_B11) […]. Das städtebaulich ohnehin für viele unattraktive Quartier wurde mit „4A‘s“ assoziiert: alten Altsozialisten, Armen und Ausländern. Die eigentliche Gunstlage am Cityrand kehrte sich in einen Standortnachteil um. E-hausen wurde mehr und mehr zu einer „transition zone“ für „Zugvogel-Haushalte“. Die Fluktuation nahm deutlich zu, damit auch wiederum die Instandhaltungskosten. Eine alte E-hausener Genossenschaft musste infolge eines massiven Mitgliederschwunds und explodierenden Ausgaben bereits Insolvenz anmelden. Der Zustand E-hausens verschlechterte sich aufgrund sozialer Erosion und ausbleibender Investitionstätigkeit zusehends. Ab 2015 wurde E-hausen – immer noch gegen den Willen mancher Wohnungsunternehmen – zum Soziale-Stadt-IIGebiet deklariert, hier immerhin mit Verbündeten auf der Grassroots-Ebene, wie z.B. Migrantenvereinen, Mieterbeiräten und der seit 2012 im Quartier tätigen, stadtweit bekannten Aktionskünstlergruppe „E-norm urban“ [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.3).
Die Negativspirale im Quartier kann damit etwas gebremst werden, ist aber nicht mehr substantiell umzukehren. E-hausen wurde mit den Jahren zu einer Art unfreiwilligem Freiluftmuseum einer längst vergangenen Bauperiode und wurde immer beliebter bei alternativen Stadtführungen à la „Modellstadt – wo es richtig weh tut“ […]. Heute denken Stadt und Investoren darüber nach, das Quartier zurückzubauen und Schritt für Schritt ein neues Viertel mit hochwertigen, der Lage angemessenen Eigentumswohnungen und Townhouses zu errichten [...] (Ausschnitt aus Szenario Ea.3).
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Szenarioentwicklung
„State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ E (Platte Ost) Zum Quartierstyp „Platte Ost“ existieren bereits heute mehr Projekte zum Thema altengerechtes Wohnen als etwa im städtebaulich ähnlichen Typ „Urbanität“. Das spiegelt die heutigen differierenden Altersstrukturen wider. Gleichzeitig ist das Thema Rückbau und Abriss viel dominanter als in den Großsiedlungen West, wo diese Variante der Exit-Strategien eher tabuisiert wird (vgl. Droste & Knorr-Siedow 2005). Abbildung 59: Neu gebaute Reihenhäuser in Berlin (am Rande des Hans-LochViertels), Vermarktung von modernisierten Eigentumswohnungen an jüngere Zielgruppen in Leipzig (Schönefeld-Ost)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
So werden z.B. auch detailliert Handlungsempfehlungen gegeben, wie man Rückbaumaßnahmen sozial gestalten und ggf. Mieter im Quartier halten kann. Dabei geht es um die Schaffung verlässlicher Rahmenbedingungen des Stadtumbaus für die Mieter, um die Einhaltung von Mindeststandards im Wohnumfeld etc. (Peter 2008: 165). Darüber hinaus wird mehr Realitätsbezug beim altersgerechten Umbau von Häusern und Wohnungen gefordert, denn nicht alle wünschenswerten Maßnahmen seien vor dem Hintergrund künftiger statusschwächerer Seniorengenerationen machbar. Außerdem stellten Preis, Größe und Lage für viele Ältere wichtigere Kriterien dar als der Grad der Behindertenfreundlichkeit (Peter 2008: 167f.). Für Hochbetagte dagegen sollten individuellere, innovativere Lösungen angestrebt, darüber hinaus Netzwerke für Senioren initiiert und die intergenerationale Solidarität gefördert werden (ebd.: 168ff.). Während Peter einen Generationenmix auf der Ebene der Häuser kritisch sieht, wird im ExWoSt-Programm „Familien- und altengerechte Stadtquartiere“ das Leben mehrerer Generationen unter dem Dach eines Hochhauses vorgeschlagen
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(BMVBW & BBR 2007: 98f.). Auf jeden Fall sollten sich aber auf der Ebene des Gesamtquartiers in Zukunft unterschiedliche Lebenszyklusgruppen etablieren können (Peter 2008: 170f., vgl. auch Abbildung 59). Viele Maßnahmen, die für Großsiedlungen des West-Typs D propagiert werden, können auch für die „Platte-Ost“ gelten, wie etwa eine intelligente Kombination aus baulichen Innovationen und Marketing (Beispiel „Photovoltaikfassade“ [www.werkstatt-stadt.de/de/projekte/45], das bundesweit bekannte Hochhaus-Rückbauprojekt „Ahrensfelder Terrassen“ [WBM o.D., vgl. auch Dubach & Behrens 2007, siehe Abbildung 60], beides in Berlin-Marzahn, oder auch die Komplettdemontage eines Plattenbaus und Errichtung von Stadtvillen unter Verwendung der Bauteile an derselben Stelle in CottbusSachsendorf-Madlow [www.werkstatt-stadt.de/de/projekte/58], vgl. IEMB 2005). Auch die Schaffung von Gewerberäumen in schwer vermietbaren Erdgeschosswohnungen oder die Einrichtung von Concierge-Services erscheinen als probate Mittel gegen eine schleichende Destabilisierung der Plattenbaugebiete (vgl. DIFU 2003b: 56ff. und www.werkstatt-stadt.de/de/projekte/45, vgl. auch Büro Analyse & Konzepte 2004). Abbildung 60: Renaturierte Grundstücksfläche eines ehemaligen Plattenbaus in Brandenburg (Hohenstücken), „Ahrensfelder Terrassen“, Berlin (Marzahn)
Fotos: Olaf Schnur (2007, 2006)
Auch für die Wohnumfelder sind verschiedenste Projekte bereits durchgeführt oder vorgeschlagen worden, wie z.B. die Renaturierung von Abriss- oder Abstandsflächen (Beispiel Halle-Waldstadt-Silberhöhe, www.werkstattstadt.de/de/projekte/138) oder die Umwidmung etwa eines Kita-Geländes in Kleingartenanlagen für die Mieter (Beispiel Berlin-Marzahn-Hellersdorf „Auerbacher Ring“, www.werkstatt-stadt.de/de/projekte/65).
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Szenarioentwicklung
Auffällig an dieser Auswahl von Vorschlägen ist, dass zum Teil auch hier die Prozesshaftigkeit des demographischen Wandels unterschätzt und die Maßnahmen sehr stark auf die heutige Seniorengeneration ausgerichtet sind. Positiv ist, dass viele Projekte durchaus „zukunftsoffen“, also flexibel für die sehr wahrscheinlichen Änderungen in der Nachfragestruktur erscheinen. Was beim Typ „Platte-Ost“ aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung wichtig erscheint, zeigt abschließend die Toolbox und dazu gehörende Maßnahmenbeispiele (Abbildung 61 und Tabelle 32).
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Abbildung 61: Typ E (Platte Ost) – Toolbox 2030
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
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Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
244 Tabelle 32: Tool
DIV Diversifizierung
Szenarioentwicklung
Typ E (Platte Ost) – Maßnahmenbeispiele Kommune
Infrastrukturanpassung
Wohnungswirtschaft Abschied von der „Standardmodernisierung“, kreative Neuausrichtung, wider den „gefährlichen Hang zum Altbewährten“ Vielfältige, zielgruppenspezifische Um-, Aus-, Rück- und/oder Neubaumaßnahmen
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
Externe Beratung als Diskussionsbeitrag oder „Krampflöser“
Medienwirksame Modellprojekte als synchrone Bau- und Marketingmaßnahme Quartiersbezogene Imagekampagne Vermietungsleitbilder
MAR Marketing
ORG Organisation
QUO Quartiersorientierung
SKF Sozialkapitalförderung
Externe Beratung als Diskussionsbeitrag oder „Krampflöser“ (u.a. längerfristige Analyse künftiger Zielgruppen)
Initiierung neuer Kooperationsstrukturen
Initiierung neuer Kooperationsstrukturen
Quartiere als Ganzes denken, Demographieorientierung
die Quartiere als Ganzes denken, Demographieorientierung
z.B. Aufbau einer Infrastruktur für Quartiers-Web-Communities
Fokus „Quartierssoziographie“, gezielte Sozialkapitalstrategien (bonding vs. bridging / Etablierte vs. Außenseiter) Aufbau einer Quartiers-WebCommunity
Aufbau eines stadtweiten Quartiersmonitorings
Entwicklung eines proaktiven, gestaltenden Selbstverständnisses Systematisches kleinräumiges Bestandsmonitoring und Auswertung ohne Tabus
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
Quelle: Eigene Darstellung
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5.7.5.6 Strategien und Instrumente für Typ F (Postmoderne) Ausgangsbasis des Typs F (Postmoderne) Quartiere der „Postmoderne“ gelten gemeinhin als gesichtslos und eintönig (vgl. Experten-Delphi 2007/2008). Allerdings gibt es doch eine gewisse Variationsbreite. Hier soll eine Mischung aus Kapitalanlegerprojekten und gefördertem Wohnungsbau im Mittelpunkt stehen, d.h. typische Projektentwicklungen aus den 1990er Jahren, die als Investmentprodukte bevorzugt auf ehemaligen Industriebrachen in hochqualitativen Wasserlagen mit ansprechendem Umfeld an Stadt- oder Innenstadtrand errichtet wurden (Abbildung 62). Auch die Infrastrukturausstattung lässt meist keine Wünsche offen. Die Bausubstanz ist neuwertig, meist auf dem neuesten technischen Stand und insofern ein großer Entwicklungsbonus. In der Regel findet man einen deutlichen Preisgradienten mit zunehmender Uferferne und entsprechende professionelle quartiersbezogene Marketingstrategien vor. Häufig können die Quartiere dieses Typs mit einem guten Image aufwarten. Die an der Studie beteiligten Delphi-Experten bescheinigten dem Typ F nach dem Typ B (Utopie) das geringste demographische Risiko. Abbildung 62: Typ-F-Quartiere in West-Berlin (Pulvermühle) und in Ost-Berlin (Am Krusenick)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Dies ist jedoch nicht unbedingt nur der demographischen Ausgangslage geschuldet, denn neben einer homogen jungen Bevölkerungsstruktur (z.B. bei hohen Anteilen geförderten Wohnungsbaus) und (seltener) homogen alten Bewohnerschaften können auch altersgemischte, heterogene Strukturen vorkommen. Während die Sozialstruktur je nach Förderanteilen von sehr gehoben bis durchschnittlich changiert und damit unproblematisch ist, sind Ortsbindung und das lokale
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Szenarioentwicklung
Sozialkapitalvolumen noch nicht sehr stark ausgeprägt, ein Umstand, der sich leicht mit dem noch jungen Baualter und der daraus resultierenden kurzen durchschnittlichen Wohndauer erklären lässt. Die Eigentümerstruktur des Typs „Postmoderne“ stellt sich als ebenso vielfältig heraus wie die Erscheinungsformen der Siedlungen selbst. Neben selbstnutzenden Wohnungseigentümern treten Einzeleigentümer als vermietende Kapitalanleger auf, ebenso wie Immobilienunternehmen, die größere Bestände innerhalb des Quartiers bewirtschaften. Die Wohngrundrisse gelten als funktional und modern, jedoch erscheint die Flexibilität hinsichtlich anderer Zielgruppen in künftigen Marktsituationen begrenzt. Das Delphi-Experten-Panel prognostiziert diesem Quartierstyp keine gute Zukunft: Die zeitabhängige, modische Ästhetik dieser Quartiere werde in der Mehrheit der Fälle in 10 bis 15 Jahren sehr viel negativer eingeschätzt werden als heute. Vermarktungsprobleme seien vorprogrammiert und ein Schicksal wie bei den Typen „Aufbau“ und „Urbanität“ in fernerer Zukunft zu erwarten (Delphi-Expertenbefragung 2007/2008). Quartierszukünfte Typ F (Postmoderne) Quartiere des Typs F waren in der Untersuchung in zwei gegenläufigen Varianten vertreten: Zum einen als besonders junges, zum anderen als stark überaltertes Quartier. Beide demographische Varianten sollten in Szenarien durchgespielt werden. Dabei wurde im einen Fall ein Kapitalverwertungsregime, im anderen ein quartiersorientiertes Regime angenommen. Mögliche Zukunft 1: Vermarktungsrisiko „normales Wohnquartier“ Das „Hafenquartier F“ ist ein typisches Kapitalanlegerprojekt, wie sie vor allem im Ostdeutschland der 1990er Jahre vielfach entstanden waren. Es wurde gebaut und geplant in einer Zeit starker Zuwanderung, eines Wohnungsbaubooms, als man von weiterem Wachstum ausging und der demographische Wandel zwar bekannt, aber noch nicht öffentlich als Megatrend und Zukunftsherausforderung diskutiert wurde. Entsprechend verhielt sich die Wohnungswirtschaft: Man beobachtete die Märkte genau, kassierte im Austausch gegen Belegungsbindungen staatliche Förderhilfen, holte sich gutachterlichen Rat, verfuhr aber ansonsten nach der Devise: „Anything goes“. Das neue „Hafenquartier F“ mit gut 2.500 Wohnungen wurde durch zwei große Wohnungsunternehmen, A-WoBau und B-WoBau, und einen Projektentwickler (FInvest AG) realisiert, der auch Wohnungen einzeln an Selbstnutzer und an private Kapitalanleger veräußern wollte, die in den 1990er Jahren mit umfangreichen Son-
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derabschreibungen gelockt wurden. Ein Großteil der Mietwohnungen war aufgrund öffentlicher Förderung zunächst belegungsgebunden, zum Teil im damaligen „1. Förderweg“, also als klassische Sozialwohnungen, zum Teil aber auch im „2. Förderweg“, der vor allem Mittelschichthaushalte bevorzugte. Das „Hafenquartier F“ war eines der letzten Neubauprojekte Modellstadts, das noch in den Genuss von Fördermitteln kam […]. Nicht zuletzt die Förderkulisse, die Teilen des Bestands zu Grunde lag, war für die ausgesprochen junge Altersstruktur des Quartiers verantwortlich, das 2005 einen Altenquotienten von nur 13 und den für deutsche Verhältnisse beachtlichen Jugendquotienten von 31 aufwies und damit auch innerhalb von Modellstadt eine Ausnahmestellung einnahm […]. Der Förderkulisse war in gewisser Weise auch das doch recht gemischte soziale Milieu im „Hafenquartier F“ geschuldet. Im Gebiet wohnten vor allem Familien mit Kindern, die dort auch eine relativ gute Infrastruktur vorfanden (Grundschulen, Kitas). Zumindest bei der AWoBau dominierten untere soziale Schichten (die Arbeitslosenquote im Gebiet lag 2002 bei gut 15 %), jedoch sind im Quartier bis zur Mittelschicht alle Einkommensschichten vertreten (E_B13). Der Anteil von Haushalten mit Migrationshintergrund stieg stetig an […] (E_B13) [...] (Ausschnitt aus Szenario Fj.4).
Auf diese Weise entsteht eine doppelte Quartiersgeschichte: Eine Geschichte vor und eine nach dem Auslaufen der Belegungsbindungen. Die Marktsituation war für die Anbieter […] nicht ungünstig. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis sich die Bestände konsolidierten und höhere Renditen abwarfen. Die Wohnungswirtschaft arbeitete mit zwei Zeitrechnungen: Die Zeit vor und die Zeit nach 2015. Dann würden die letzten Bestände endgültig aus der Belegungsbindung fallen – der Startschuss für die freie Vermarktung der hochwertigen Wohnanlage. Die Anreize strategischer Konzeptionen waren bei den wirtschaftlichen Akteuren in beiden Zeitrechnungen recht gering: Vorher tat man nur das Nötigste, kurz vor und nach 2015 versuchte man, sich eigene Vorteile zu verschaffen. Langfristige Bestandsoptimierungen, Qualitätssicherung, Demographie- und Quartiersorientierung oder auch Kooperationsmodelle schienen unnötig: Auch ohne derartig „anstrengende“ Konzepte sollten sich gute Renditen erzielen lassen. Gute Lage plus gute Bausubstanz schienen zu genügen […]. Kurz vor dem Ablaufen der Belegungsbindungen begannen die beauftragten Hausverwaltungen hart durchzugreifen und zu selektieren. Das Quartier sollte langsam auf den freien Markt vorbereitet werden: „Wir haben in den letzten Jahren rigoros das Pack [gemeint sind problematische Haushalte inkl. Althaushalte aus der früheren Mau-Mau-Sieldung] rausgeschmissen“ (E_B13). Bei Neubewerbern wurde eine verschärfte Solvenzprüfung eingeführt. […] Die A-WoBau versuchte, den Ausländer-(und Aussiedler)-Anteil zu reduzieren, damit „das Gebiet nicht zu einem Getto absackt“ (E_B13). Darüber hinaus wollte man im „Hafenquartier“ mit Hilfe der „Verdrängungstaktik“ eine soziale Mischung erhalten, d.h. man versuchte, „gute Leute zwischenrein zu setzen“, und hoffte, dass diese dann regulierend wirkten und nicht gleich wieder wegzogen (E_B13). Erschwert wurde die zähe Akquisition „er-
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Szenarioentwicklung
wünschter“ Haushalte durch den Wohnungsschlüssel, der solide Einpersonenhaushalte oder Senioren praktisch ausschloss. Jedoch füllte die Nachfrage mit der Zeit auch die letzten leer stehenden Wohnungen [...] (Ausschnitt aus Szenario Fj.4).
Um die Jahrtausendwende ist in dem jungen Quartier von einem demographischen Umbruch nichts zu spüren, dies ändert sich in den 2020er Jahren – mit erheblichen Folgewirkungen. Um 2020 war der Höhepunkt erreicht. Seitdem ging es mit dem „Hafenquartier F“ langsam, aber stetig bergab. Der frühere Charme des Neubauquartiers war nach mehr als 20 Jahren verflogen, erhebliche Baumängel traten auf, die Wohnzufriedenheit nahm ab. Seitens der Wohnungsunternehmen und Vermieter wurden die Bestände als „Cash Cow“ betrachtet, man investierte nur noch das Nötigste und freute sich über die historisch gewachsenen Renditen. Auch die strukturelle demographische Alterung erreichte nun allmählich das ehemals junge Quartier. Todesfälle und Haushaltsauflösungen häuften sich. Seit 2025 begannen die Leerstandszahlen langsam anzusteigen, ohne jedoch die Wohnungsunternehmen zu alarmieren [...] (Ausschnitt aus Szenario Fj.4).
Im Jahr 2030 ist es offensichtlich, dass das baulich junge „Hafenquartier“ bereits seine beste Zeit hinter sich hat. In den „fetten Jahren“ wurde zu wenig investiert und das Quartier von einem „Premium-Standort“ zu einem „normalen Wohnquartier“ degradiert. Jetzt wiegen die Schwächen des Quartiers in der Konkurrenz mit anderen Vierteln der Stadt besonders schwer. Die „Hafenquartier“-Entwicklung war eine Art „Blindflug im Markt“. Das Quartiersschicksal war bestimmt durch historische Pfadabhängigkeiten, Konflikte, willkürliche Aushandlungen, zufällige Akteurskonstellationen, Einzelpersonen und einsame Entscheidungen. Ein riskantes Spiel, das relativ glimpflich auszugehen scheint und doch eine vertane Chance, weil man viel mehr daraus hätte machen können. […] Abgesehen von der Wasserlage reiht sich das „Hafenquartier F“ nun in die Riege der „normalen Wohngebiete“ ein – heute ein zunehmendes Vermarktungsproblem (Ausschnitt aus Szenario Fj.4).
Mögliche Zukunft 2: Konsequente Weiterentwicklung zur intergenerationalen Nachbarschaft Der „Wohnpark Halbinsel F-holz“ ist ein typisches „Kind der 1990er Jahre“, geboren aus einer immobilienwirtschaftlichen Goldgräberstimmung, angeheizt durch Subventionen und Sondernachfrage. Teure Stadtvillen am Wasser und nüchterner, postmoderner Zeilenbau auf den angrenzenden Arealen lassen den Wohnpark sehr dicht wirken und sprechen unterschiedliche Zielgruppen an.
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Durch die komplexe Projektentwicklung als Kapitalanlegerobjekt entsteht eine komplizierte, zersplitterte Eigentümerstruktur. So typisch das Quartier aus baulicher Perspektive auch sein mag, so untypisch ist dessen demographische Struktur: Ein Kuriosum vorweg: Der „Wohnpark Halbinsel F-holz“ war 2005, zehn Jahre nach dem Richtfest, mit einem Altenquotient von knapp 64 und einem Jugendquotient von ca. 8 bereits eines der ältesten Quartiere der Stadt – eine historische Anomalie […]. Das wurde auch vor Ort sofort deutlich: Rollatoren und Fahrzeuge von mobilen Pflegediensten gehörten zum alltäglichen Quartiersbild. Eine interviewte Seniorin erzählte 2007, dass in ihrem Aufgang drei Erwerbstätige lebten – und neun Rentner-Haushalte (B_BAK3). In anderen Gesprächen hieß es analog: „Circa 80% der Leute sind über sechzig“ oder „Hier wohnen Leute von 67 bis 95“ (B_BAK1, B_BAK4) [...] (Ausschnitt aus Szenario Fa.2).
Dazu passt die gediegene Sozialstruktur, die sich vor allem durch traditionalistische sowie Mainstream-Milieus auszeichnet. Es gibt vielfältige Gründe für die starke Überalterung des baulich so jungen Quartiers: Eigentlich wäre die postmoderne Architektur am Wasser für jüngere bis mittelalte Haushalte prädestiniert gewesen. Das Quartier lag aber nicht direkt im innerstädtischen Bereich, sondern am Innenstadtrand – und die Anbieterkonkurrenz war groß. Dazu kam eine hohe Nachfrage aus dem unmittelbaren Mikroumfeld, insbesondere von (damals) jungen Senioren in ihren 50ern, die eine Chance gekommen sahen, vor der dritten Lebensphase noch einmal ihren Wohnstandard entscheidend zu verbessern. […]Die Wohnungen waren aufgrund ihres damals hohen allgemeinen Standards (Barrierefreiheit, Balkone, Aufzüge), der ruhigen Lage am Wasser und der günstigen Infrastruktur gut für Senioren geeignet (wenn auch nicht unbedingt als „Seniorenwohnungen“ konzipiert)(E_B20). […] Da es keine zentrale Vermarktung gab, bildete sich im „Wohnpark Halbinsel F-holz“ ein Mikromarkt in einem Mikrozeitfenster ab [...] (Ausschnitt aus Szenario Fa.2).
Zunächst ist diese Situation für alle Akteure komfortabel, aber dass diese Phase von begrenzter Dauer sein wird, ist allen Beteiligten klar. Neben dem demographischen Impact kommt eine erste bauliche Qualitätskrise auf die Anbieter und die Kommune zu. Dennoch kommt es nicht zu einem frühzeitigen Einschreiten und vorausschauendem Handeln, weil die zersplitterte Eigentümerstruktur mit ihren ebenso stark differierenden Interessenlagen dies nicht zulässt. Die Stadtverwaltung sah andernorts dringenderen Handlungsbedarf. Innerhalb weniger Jahre, etwa zwischen 2015 und 2020 kam es so zu einem massiven demographischen Impact, weil die zwanzig Jahre zuvor eingezogene homogene Alterskohorte nun ins Hochbetagten-Alter kam. In dieser Zeit wandelte sich die so-
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ziodemographische Struktur des Gebiets komplett […]. In den 2010er Jahren, vermehrt ab 2015, als das Wohngebiet knapp 20 Jahre alt wurde, zeigten sich die ersten baulichen Abnutzungserscheinungen und auch Unzufriedenheit bei manchen Bewohnern, die recht hohe Mieten zahlten und keinen Topstandard mehr vorfanden. Inwieweit die Wohnungen oder Häuser modernisiert wurden, hing von den komplizierten Eigentümerverhältnissen ab, sodass hier die Entwicklungen im Quartier stark differierten. […] Auch die quartiersinternen Mikrolagen machten sich nun stärker bemerkbar: Von Anfang an waren die am Wasser liegenden Wohngebäude besonders attraktiv. Der wasserabgewandte Bereich unterlag einer öffentlichen Förderung (2. Förderweg), die zwar in den 2010er Jahren auslief, aber bereits eine gewisse Stigmatisierung verursachte. So kam es zu einer leichten, aber gefährlichen Polarisierungstendenz: Die Wasserlagen fanden immer ihre Mieter und Käufer und dies durchaus auch zu gehobenen Preisen. Zunehmende Leerstände im wasserabgewandten Bereich brachten diese Bestände mehr und mehr in Misskredit. [...] (Ausschnitt aus Szenario Fa.2).
Die Initiative zur Quartiersentwicklung geht vom einzigen größeren Wohnungseigentümer des Wohnparks sowie vom nun aktivierten Stadtentwicklungsamt aus. Kleineigentümer gründen einen Verein „Aktion pro Halbinsel F-holz e.V.“. Schnelles Handeln und ein geeignetes Entwicklungsinstrument sind jetzt gefragt. Nach kurzer Zeit wurde die zentrale Idee geboren, die griffig und machbar erschien und alle mehr oder weniger integrieren konnte: Ein „Neighbourhood Branding“Ansatz sollte – so die Idee, die auf einer von der Kommune in Auftrag gegebenen Quartiers-Expertise beruhte – die demographische Restrukturierung und die damit verbundene rasche Neuvermarktung größerer Wohnungsbestände im Quartier begleiten. Man versprach sich davon natürlich eine Imagekonsolidierung des 1990erJahre-Quartiers, viel positive Öffentlichkeit (kostenlose Werbung) und hoffte gleichzeitig auf einen relativ geringen Aufwand und Mitteleinsatz, falls man alle Interessenten mit verpflichten konnte. Jedenfalls würde dieser Prozess billiger werden als bauliche Maßnahmen und effektiver als Alleingänge [...] (Ausschnitt aus Szenario Fa.2).
Durch das stark partizipativ und intergenerational ausgerichtete „Branding“ werden konsequent neue Zielgruppen akquiriert. So kam es beispielsweise zu Zuzügen von jüngeren Verwandten von Hochbetagten, also zu einer Komplettierung zerrissener sozialer Konvois. In Kombination mit kostengünstig und niedrigschwellig im Quartier angebotenen Dienstleistungen (z.B. Pflegedienstleistungen, Kinderbetreuung für Familien etc.) war das Wohngebiet für viele Nachfrager „ein guter Deal“ und somit tatsächlich der „ideale Kompromiss“. Auch von der Bezeichnung „Wohnpark Halbinsel F-holz“ rückte man im Rahmen des „Branding“-Prozesses ab. Von vielen Vorschlägen setzte sich die neue Bezeichnung „Wir am Wasser – Quartier F-holz“ durch. […] Heute steht das Quartier wie-
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der in voller Blüte, es hat sowohl die beginnende Imageerosion als auch den demographischen Impact überlebt. Die Wohnungen sind nach wie vor wirtschaftlich, sowohl für Mieter als auch für Selbstnutzer, die Ortsbindung ist im Gegensatz zu vielen anderen Quartieren im Jahr 2030 ausgesprochen hoch und das Gebiet wurde als funktionierende intergenerationale Nachbarschaft immer wieder modellhaft herangezogen [...] (Ausschnitt aus Szenario Fa.2).
„State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ F (Postmoderne) Modellprojekte oder Empfehlungen für gängige Handlungsoptionen für Quartiere des Typs „Postmoderne“ sind selten (z.B. Drews 2008). Dies ist der Ausdruck eines sehr jungen Quartierstyps ohne großen Problemdruck. Je nach Sozialstruktur gibt es mehr oder weniger umfangreiche Serviceleistungen, die in den Quartieren angeboten werden: Betreuungsdienste für Senioren, soziale Infrastruktur für Familienhaushalte oder weitere Dienstleistungen für gehobene Einkommensgruppen (Urlaubsservice, Conciergedienste, Bootsservice o.ä.). Entsprechend „licht“ erscheint auch die dazugehörige Toolbox (Abbildung 63 und Tabelle 33). Hier wird auf einige Faktoren hingewiesen, die für eine tragfähige längerfristige Entwicklung der Quartiere dieses Typs zu beachten sind. Hervorzuheben ist sicherlich der „Organisations“-Aspekt: So lange sich die Eigentümer auf der räumlichen Basis des Quartiers noch nicht strukturiert haben, sind koordinierte Maßnahmen für das Quartier eher unwahrscheinlich. Sollten sich die Eigentümer in einer krisenhaften Situation in einigen Jahren erst noch organisieren müssen, gehen Zeit und damit wertvolle Handlungsspielräume verloren.
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Abbildung 63: Typ F (Postmoderne) – Toolbox 2030
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EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Tabelle 33: Tool
DIV Diversifizierung
253
Typ F (Postmoderne) – Maßnahmenbeispiele Kommune Neuausweisung von Einfamilien- oder Reihenhäusern (auch im Umfeld), falls möglich
Wohnungswirtschaft Demographische Heterogenisierung als nachhaltiges Ziel Diversifizierung des Wohnungsschlüssels (ggf. durch Umbauten, Grundrissänderungen etc.) Kontinuierliche Instandhaltung der Gebäude („Scheckheft-Pflege“)
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
Frühzeitige Interventionen, falls das Image der 1990er-Jahre-Quartiere kippen sollte (ggf. „Neighbourhood Branding“) Je nach demographischer Ausgangssituation gezieltes Marketing (neue Zielgruppen [z.B. migrantische Mittelschichten], Präsentation des Quartiers als Ganzes)
MAR Marketing
ORG Organisation
Etablierung tragfähiger Strukturen, in denen sich auch Einzeleigentümer artikulieren können
Etablierung tragfähiger Strukturen, in denen sich auch Einzeleigentümer artikulieren können
Nutzung des lokalen Sozialkapitals für partizipative Projekte im Quartier
Nutzung des lokalen Sozialkapitals für partizipative Projekte im Quartier (intergenerationale Bewohnerpartizipation) Vermeidung einer zu starken Polarisierung in Mikrolagen Vorhandene Ortsbindung der jungen Quartiere in echte „Quartiersbindung“ transformieren
QUO Quartiersorientierung
SKF Sozialkapitalförderung
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
Umfassendes Quartiersmonitoring
Quelle: Eigene Darstellung
254
Szenarioentwicklung
5.7.5.7 Strategien und Instrumente für Typ G (Wüstenrot) Ausgangsbasis des Typs G (Wüstenrot) Typ „Wüstenrot“ stellt das Wohnideal (mindestens) einer ganzen Generation dar (Abbildung 64). Die Besonderheit dieses Typs ist die Eigentümerstruktur. Bei einer Vielzahl, meist selbstnutzender Kleineigentümer ist es schwierig, eine „konzertierte Aktion“ zu organisieren wie z.B. in den A-Szenarien. Auch dürfte es – trotz des hohen Anteils an Wohneigentümern – nicht selten an Kapitalressourcen mangeln. Dieser Quartierstyp tritt in unterschiedlichen Altersvarianten auf. Neben den jungen familiendominierten Varianten sind die zunehmenden Fälle überalterter Quartiere der „Empty Nesters“ oder auch der „Witwen“ besonders interessant. Falls das Quartier etwa zur gleichen Zeit bezogen wurde und wenig Fluktuation verzeichnete (z.B. bei hohen Eigenheimanteilen) steht am Ende eines Zyklus in der Regel eine homogene Alterskohorte mit allen Vor- und Nachteilen, die damit verbunden sind. Deshalb wurde in der Delphi-Befragung dieser Quartierstyp auch als demographisch besonders riskant qualifiziert. Wenig riskant ist dagegen die Sozialstruktur, die sich durch gehobene Milieus und Einkommen auszeichnet und – je nach lokaler Situation – auch mit beträchtlichem lokalem Sozialkapital aufwarten kann. Abbildung 64: Typ-G-Quartier in West-Berlin (Fort Hahneberg)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Der zur Zeit des Erstbezugs positive Standortfaktor schlechthin, nämlich die ruhige periphere Stadtrandlage, erweist sich im Laufe des demographischen Wandels als schwere Hypothek, denn die Infrastrukturen (z.B. ÖV, Nahversorgung) sind für die auf PKW-Nutzung ausgelegten Siedlungen meist nicht gut
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
255
ausgebaut. Die weitläufigen Anlagen lassen auch manchmal Aufenthaltsqualität vermissen, da sich vieles privat hinter Zäunen abspielt. Das Image dieses einstigen Wohnideals ist inzwischen auch arg lädiert. Letztlich liegt das auch an der Qualität der Bausubstanz. Die Einfamilienhäuser entsprechen oft – je nach Baujahr – nicht mehr dem technischen Status Quo und auch architektonischästhetisch können sie mit den heutigen Standards und Stilen kaum konkurrieren. Die Vermarktbarkeit von Häusern in solchen Quartieren dürfte sich also als nicht einfach herausstellen, zumal die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit alter Einfamilien- oder Reihenhäuser hinsichtlich neuer, anderer Zielgruppen und deren Wohnpräferenzen sehr begrenzt ist. Quartierszukünfte Typ G (Wüstenrot) Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund zwei mögliche Zukünfte des Typs „Wüstenrot“ näher beleuchtet werden. Zum einen soll ein junges Quartier ins Visier genommen werden, dem durch vorausschauende Planung auch der demographische Impact wenig anhaben kann, zum anderen ein überaltertes Quartier, das durch gut gemeinten, aber halbherzigen Aktivismus nicht vor dem Verfall gerettet werden kann. Mögliche Zukunft 1: „Modellquartier Wüstenrot 2.0“ Während die Bevölkerungszahl der Gesamtstadt tendenziell eher stagniert, wird die schleichende demographische Alterung immer mehr zum Problem. Die Alterung ist räumlich ungleich verteilt: Innerhalb der Stadt existieren „Inseln der Jugend“ und des Alters. Das Einfamilienhausquartier G-walde zählt zu den jungen Enklaven und steht zunächst nicht im Fokus der Stadtentwicklungspolitik. Am Jugendquotient von 31 (2005) konnte man bereits ablesen, dass hier viele Familien mit Kindern wohnen mussten, die klassische Klientel für den Quartierstyp „Wüstenrot“. Es handelte sich überwiegend um „Akademikerfamilien (keine Beamten), Mittelschicht, ein bis zwei Kinder im Grundschulalter“, die sich „den Traum vom eigenen Häuschen im Grünen verwirklichen wollen“ (E_B16). […] Es herrschten „typisch bürgerliche Einstellungen“ vor (E_B16), die vor allem durch Mainstream-Milieus („Bürgerliche Mitte“ und „Konsum-Materialisten“) und rund ein Fünftel gesellschaftlicher Leitmilieus (v.a. „Moderne Performer“) geprägt wurden (vhw, Sinus/Mosaic 2005) [...] (Ausschnitt aus Szenario Gj.1).
Weil die Wohnzufriedenheit groß, die Umzugsbereitschaft und Fluktuation gering sind, ist jedoch zu erwarten, dass in diesem Quartier eine kontinuierliche insitu-Alterung stattfinden wird.
256
Szenarioentwicklung
„Das Gebiet wird klassisch überaltern“ (E_B16). Probleme würden zunächst im Bereich der Mobilität und der Nahversorgung auftreten. 2007 sei das Quartier völlig auf motorisierten Individualverkehr ausgerichtet, aber auch das sei nicht ausreichend. Schon in 10 Jahren (also 2017), wenn die aktuellen Kinder 18 wären und Partys feiern wollten, würden die Parkmöglichkeiten knapp werden und neue Nachbarschaftskonflikte aufkeimen, so der Experte aus der Verwaltung (E_B16). Und tatsächlich: Seit den 2010er Jahren begann sich das Bild allmählich zu wandeln. Die ersten Kinder zogen aus, die ersten „empty-nest“-Haushalte entstanden, die „jungen Senioren“ unter den Bewohnern nahmen stark zu. All dies war zu diesem Zeitpunkt noch völlig problemlos, im Gegenteil: Die „empty-nester“ verfügten über steigende Einkommen (fortgeschrittene Karrieren, Erbschaften) bei gleichzeitig sinkenden Ausgaben (abbezahlte Hypotheken, erwachsene Kinder) [...] (Ausschnitt aus Szenario Gj.1).
Obwohl es noch keine Leerstände gibt, wird allmählich klar, dass es im Quartier bald problematisch werden könnte, denn die Bauqualität ist sowohl hinsichtlich der architektonischen Qualität als auch im Hinblick auf die Bausubstanz alles andere als „up to date“. Weil im Quartier fast nur Einzeleigentümer vertreten sind, beschließt die Stadtverwaltung knapp 30 Jahre nach der Bauleitplanung die Quartiersentwicklung erneut selbst zu steuern. In einem Pilotprojekt sollte am Beispiel G-walde ausgelotet werden, inwieweit Einfamilienhausquartiere mit vielen Einzeleigentümern durch neue Steuerungsinstrumente und innovative Maßnahmen vor strukturellen Brüchen bewahrt werden könnten. „Das Quartier braucht Unterstützung, auch wenn es derzeit nicht den Anschein hat“, ließ der Modellstädter Bauderzernent verlauten [...] (Ausschnitt aus Szenario Gj.1).
Alle relevanten lokalen Akteure, auch ein Verein, der die Eigenheimbesitzer vertritt, werden zu einem Szenarioworkshop über die Zukunft G-waldes zusammengeholt. Kontrastszenarien entstehen – auch eines, das keine erstrebenswerte, aber nicht unwahrscheinliche Zukunft für das Quartier vorsieht. Dieses Negativ-Szenario machte Schlagzeilen in der Modellstädter Presse – und führte dazu, dass nun frühzeitig gehandelt wurde. Auf der Basis von Untersuchungen des gesamten Haus- und Wohnungsbestands wurde in einem dreijährigen Prozess ein gemeinsames Handlungskonzept „Modellquartier Wüstenrot 2.0“ erarbeitet (Ziele: Aufwertung des Stadtteils, stärkere Durchmischung der Bewohner, Familienund altengerechte Strukturen weiter fördern etc.). Darauf aufbauend wurden Grundsatzstrategien für den gesamten Stadtteil entwickelt. […] Die Initiatorin des Projekts – die Modellstädter Verwaltung – wurde auch selbst zum Ziel von Forderungen seitens der Eigentümer. U.a. wurde die Verlegung von Zufahrten, der Erhalt der Ver-
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sorgungssituation an Schulen und Kitas, die Aufwertung der Musterstraße sowie der Aufbau eines Stadtteilbüros verlangt. Im Rathaus war man jedoch durchaus offen für diese Ideen, wenngleich auch hier keine unbegrenzten Mittel zur Verfügung standen und nach kreativen Kompromissen gesucht wurde. Nach einem Jahr keineswegs konfliktfreier, aber lösungsorientierter Veranstaltungen (Workshops, Konferenzen, Planungszellen etc.) kristallisierte sich eine wohnungswirtschaftliche Strategie heraus, der „Zukunftsplan G-walde 2040“, ratifiziert auf der abschließenden großen Quartierskonferenz [...] (Ausschnitt aus Szenario Gj.1).
Insbesondere die Frage nach der Zukunft alter gebrauchter Eigenheime wird intensiv diskutiert. Die Frage „Was ist mein Haus in Zukunft noch wert?“ beschäftigt viele Eigenheimbesitzer und führt zu verschiedenen unkonventionellen Ideen. Am Ende eines langen Prozesses entstand der „Marketingfonds G-walde (MfG)“, der später stadtweit als „Marketingfonds für Quartiere mit Einzeleigentum (MfQ)“, ansässig bei der Stadtentwicklungsbehörde, adaptiert wurde. Alle Eigentümer vor Ort zahlten nach einem festgelegten Einkommensschlüssel einen MfG-Jahresbeitrag. Das Startkapital kam von der Kommune. Aus dem Fondsvermögen wurde das Quartier stadtweit als sozialräumliche Identität vermarktet. Wenn Häuser auf den Markt kamen, wurden seitens des Fonds Vermarktungsoptionen und Zielgruppenkonzepte angeboten. Gleichzeitig öffnete man sich direkt als Suchplattform Nachfragern, die sich mit der Absicht trugen, ein gebrauchtes Eigenheim zu erwerben. Es wurden Kontakte zu Architekten, Landschaftsgärtnern, Maklern etc. vermittelt. Der Fonds – begleitet durch ein großes Medienecho – erfreute sich sofort großer Beliebtheit, denn der Wunsch nach dauerhafter Bleibe als Rückzugsoase in der globalisierten Welt wurde bei den Menschen immer dringlicher. […] [Als Nachfrager beteiligt] waren die inzwischen selten gewordenen Familien, „empty-nest“-Haushalte, Senioren und Hochbetagte, die ihren sozialen Konvois folgten. Durch die Neigung zur Persistenz im Quartier konnten sich das lokale Sozialkapital und die Ortsbindung erhöhen und das Quartier stabilisieren. Der Fonds war besonders interessant für die Vermietung von Häusern. Dabei sollten die Häuser mit Vermietungsoption in drei Gruppen differenziert werden: Ein Teil des Bestandes sollte zu geringen Mieten einfach instand gehalten werden. Ein weiterer Teil sollte aufwendiger modernisiert werden, dies jedoch bei entsprechenden Mieten. Dabei sollte das Angebot von Einliegerwohnungen und alternativen Wohnformen (Wohngemeinschaften etc.) erweitert werden. Unter anderem schaffte man auch Anreize für Senioren, ihre zu großen Häuser bereits frühzeitig am Markt anzubieten und in nahegelegene, attraktivere Mehrfamilienhäuser aus den 1990er Jahren mit betreutem Wohnen umzuziehen – vorgezogene Umzüge entschärften die Effekte der demographischen Welle. Die zentrale Vermarktung mit Quartiersbezug übernahm der Fonds, sofern das vom Eigentümer gewünscht war [...] (Ausschnitt aus Szenario Gj.1).
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Szenarioentwicklung
Heute, im Jahr 2030, ist G-walde ein recht gut funktionierendes MehrGenerationen-Wohnquartier, in dem sich nicht zuletzt durch die stark partizipativ ausgerichtete Erneuerungsstrategie stabile Nachbarschaftsstrukturen herausgebildet haben und dessen Häuser sich meist in einem guten und nachfrageadäquaten Zustand befinden. Mögliche Zukunft 2: Downgrading zum Problemquartier Im selben Umfeld wie bei G-walde gibt es auch G-heim zunächst keine Probleme. Das Quartier selbst wartet mit zwei Spezifika auf: Erstens ist es demographisch homogen gealtert, d.h. die „Empty-Nest“-Phase ist bereits heute eingetreten – man könnte von einem „Woopie“-Quartier sprechen, dessen Bewohner eine starke Ortsbindung aufweisen. Außerdem ist die Bausubstanz aus den 1970er Jahren bereits heute mehr als diskutabel. Neben der „Selbstlos“ eG, die über einigen Grundbesitz verfügte und eine kleine Reihenhaus-Projektentwicklung im Quartier realisierte, gab es noch den Bürgerverein G-heim e.V., in dem sich engagierte Anwohner austauschten. Ansonsten wohnten im Quartier fast ausschließlich selbstnutzende Einzeleigentümer. G-heim, seit jeher solide und problemlos, stand nach der B-Plan-Aufstellung kaum noch im Fokus stadtentwicklungspolitischer Überlegungen. […] „Das ist so dort: In den 60er Jahren war das alles jung, jetzt sind sie alle alt geworden“ (B_EM3). Diese Bewohneraussagen werden durch den damaligen Altenquotienten von 0,44 bestätigt […]. Entsprechende Lebensstile waren hier auch vertreten: Die inzwischen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft in dieser Form kaum noch nachweisbaren „traditionellen Milieus“ und verschiedene „Mainstream-Milieus“ waren hier schwerpunktmäßig versammelt (vhw, Sinus/Mosaic 2005, […])[...] (Ausschnitt aus Szenario Ga.2).
Das Quartier weist einen Stärken-Schwächen-Mix auf, der es am Ende dann doch als suboptimal erscheinen lassen – ein Vermarktungsproblem. […] Aber die Lage und das defizitäre Wohnumfeld waren sicherlich nicht die Hauptprobleme. Erst in der Kombination mit dem Gebäudebestand stimmte – jedenfalls für potenzielle, wählerische Nachfrager – das „Gesamtpaket G-heim“ nicht mehr. Manche Häuser verfielen in den 2010er Jahren zunehmend. Ein enormer Sanierungsbedarf entstand für Immobilien, die sich architektonisch ohnehin keiner großen Beliebtheit bei nachrückenden Haushalten erfreute. Dazu kamen punktuell noch Kontaminationen von Fertighäusern aus den frühen 1970er Jahren, die eine Modernisierung fast unmöglich machten. Zu dem tristen Gesamteindruck trug auch die fehlende städtebauliche Qualität bei: Auf einem schlichten B-Plan ohne Gestaltungsauflagen beruhend, konnten sich die Nutzer individuell „austoben“, was zu teilweise bizarren städtebaulichen Situationen führte. Nur in der kleinen Reihen-
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haussiedlung war dies nicht der Fall. Hier – ganz anders als in vielen anderen Fällen – empfand man die Reihenhausmonotonie als geradezu wohltuend [...] (Ausschnitt aus Szenario Ga.2).
Entgegen gesamtgesellschaftlicher Trends und anders als viele Konkurrenzquartiere nimmt der Stillstand in diesem Quartier absolute Formen an: Keine Fluktuation, keine Veränderung. Auch Baulandausweisungen auf Nachbararealen werden blockiert – aus Angst vor Veränderungen. An Programmatik und Ideen mangelte es in Modellstadt nicht. Man hatte keine Berührungsängste, saß an runden Tischen zusammen. Die Modellstädter Verwaltung wollte „irgendwie proaktiv“ handeln. Die zersplitterte Eigentümerseite von G-heim war zwar „willig“, aber machtlos. Es gab keinen Sprecher, keine Organisation, mit Hilfe derer man die Interessen hätte bündeln können. G-heim war ein Diskurs- und Organisationsproblem. Den kommunalen Worten folgten demnach kaum Taten. Mangels Bauflächenausweisung und Neubaumöglichkeiten konnte sich das Gebiet nicht kontinuierlich weiterentwickeln und verjüngen. Der einzige, eigentlich richtige Versuch Modellstadts, das Areal um die zentrale G-heimer Landstraße neu zu gestalten, geriet zu einer Lokalposse [...] (Ausschnitt aus Szenario Ga.2).
Die halbherzige und zu lange abwartende Stadtentwicklungspolitik ist teilweise mit dafür verantwortlich, dass nun der demographische Tipping Point überschritten wird und ein Verfallsprozess einsetzen kann. G-heim wurde zunehmend zu einer Altenenklave – mit alten Seilschaften, vergammelnden Spielplätzen, renovierungsbedürftigen und altmodischen Häusern. Das Problem der Zusatznachfrage löste sich darüber hinaus nicht von selbst: Die Konkurrenz der Quartiere in Modellstadt war beträchtlich, die Attraktivität G-heims für jüngere Zielgruppen war ebenso gering wie für ältere Nachfrager. Dass das Quartier nun mehr oder weniger „als Ganzes“ vom Markt absorbiert werden konnte, war ausgesprochen unwahrscheinlich. Aber auch eine Teilabsorption erschien als ganz besonders schwierig, weil die Entwicklung des Gesamtquartiers nicht gesichert schien – und wer wollte sich schon ein Haus von vorgestern in einem Quartier ohne Zukunft zulegen? […] Die demographische Welle machte ab 2015 aus Häusern Ruinen. Innerhalb von fünf Jahren stieg der Anteil leer stehender Einfamilienhäuser von drei auf über 20 % mit rasch steigender Tendenz, d.h. jedes fünfte Haus und bald schon jedes vierte stand leer. Es gab keine Straße mehr, die nicht davon betroffen war. […] In den 2020er Jahren verschlimmerte sich die Situation noch weiter. Zwangsversteigerungen, Neuzuzügler, die im Quartier „keiner wollte“ und weiter steigende Leerstände waren die Folge. 2026 wurde G-heim zum „Sozialer Stadtumbau“-Gebiet deklariert und stieg damit in der Prioritätenliste der Stadtentwicklungsbehörde ganz nach oben – mindestens 15 Jahre zu spät [...] (Ausschnitt aus Szenario Ga.2).
260
Szenarioentwicklung
„State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ G (Wüstenrot) Zur Restrukturierung von alternden Einfamilienhausquartieren sind gerade in jüngster Zeit einige Arbeiten erschienen und Maßnahmenkataloge formuliert worden (z.B. Nierhoff 2006, Rosenbohm 2006, Schuhmann 2008). Wie bei anderen Quartieren, die fordistischen Städtebauprinzipien unterliegen (Typen „Aufbau“, „Urbanität“, „Platte Ost“), liegt auch hier der Fokus auf baulicher Diversifizierung und seniorengerechten Umbauten. Klassische Umbauideen beschränken sich meist auf Bestandsmodernisierungen, also etwa die Konzeption barrierefreier Einliegerwohnungen, barrierefreier Umbauten oder Ausstattungen im Haus (z.B. sanitäre Anlagen) (vgl. Rosenbohm 2006: 123, Schuhmann 2008: 252ff.) oder die Teilung eines Einfamilienhauses in zwei altersgerechte Wohnungen („Aus eins mach zwei“, Nierhoff 2006: 122, Schuhmann 2008: 255), wobei es fraglich erscheint, in einem stagnierenden oder schrumpfenden Marktumfeld die Zahl der Wohneinheiten zu erhöhen. Auch das Wohnumfeld soll barrierefrei umgestaltet werden, wofür nicht zuletzt Baurechtsvorschriften gefordert werden (Rosenbohm 2006: 122, Schuhmann 2008: 257). Ebenfalls auf das Wohnumfeld bezogen ist die Forderung nach dem Aufbau kleinteiliger dezentraler Versorgungsstrukturen in den Quartieren (Rosenbohm 2006: 122). Diese soll flankiert werden durch wohnbegleitende Dienstleistungen (etwa: Einkaufs-, Hausmeister- oder Gartenservice), die zum Teil kollektiv genutzt werden könnten (Rosenbohm 2006: 123), diverse Serviceangebote für ältere Menschen (wie z.B. Pflegedienstleistungen, Haushaltshilfen, Angebot eines Umzugsmanagements bzw. einer Wohnberatung auf gesamtstädtischer Ebene) (vgl. Nierhoff 2006: 130 und Schuhmann 2008: 259) sowie die Anpassung des öffentlichen Nahverkehrs an die Bedürfnisse von Senioren (Schuhmann 2008: 257). Inwieweit altersgerechte Umbauten allerdings eine nachhaltige Zukunftsstrategie für Typ-G-Quartiere darstellen, kann bezweifelt werden. Vereinzelt werden auch netzwerkorientierte Maßnahmen vorgeschlagen wie etwa die Kooperation mit den vereinzelt existierenden Siedlergemeinschaften der 1950er Jahre oder das Instrument eines Housing Improvement Districts (HID), um Einzeleigentümer zur Mitarbeit an quartiersübergreifenden Projekten zu bewegen (Nierhoff 2006: 134ff., siehe auch Lerz 2007). Letztlich könnte das Interesse eines Kleineigentümer-HIDs oder einer Eigentümer-Standortgemeinschaft (vgl. Baba, Fryczewski & Grimm 2008) in einem G-Typ-Quartier auch eine koordinierte Vermarktung des Gebiets sein. In diesem Zusammenhang existieren auch bereits vielfältige Ideen, wie z.B.
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
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Kommunikations- und Marketingkampagnen (Plakataktionen und Werbemaßnahmen, um Quartierspotenziale zu präsentieren) (Nierhoff 2006: 120) Informations- und Beratungsmaßnahmen (z.B. Veröffentlichung zu verkaufender EFH auf städtischer Website, Veranstaltung von Umbau-Messen) (ebd.: 121f.) Vermarktung seniorengerechter Wohnformen mittels Flyer, Radio, Veranstaltungen etc. (ebd.: 123) Anpassung der Bebauungspläne an geänderten Anforderungen (etwa um An- und Umbauten zu ermöglichen) (ebd.: 127) Schaffung finanzieller Anreize zur Umlenkung der Nachfrage von Neubau auf den Bestand (ebd.: 127f.) Vereinfachung von Verwaltungsabläufen bei Immobilienverkäufen für „Lebensabschnittsimmobilien“, um Transaktionskosten zu minimieren „Fertig-Umbau-Haus“ als Geschäftsidee, bei der Bestandsimmobilien im Paket mit Umbauplänen veräußert werden (ebd.: 131f.)
Hinsichtlich einer Diversifizierung wird zum Beispiel über die Nachverdichtung von „Wüstenrot“-Quartieren mit altengerechten Wohnformen (z.B. barrierefreien Eigentumswohnungen mit optionalen Serviceleistungen) und über die Ermöglichung des Mehrgenerationenwohnens durch An- und Umbauten nachgedacht (Rosenbohm 2006: 122, Schuhmann 2008: 256, 259). Über die Umnutzung von Einfamilienhäusern auch für Singles oder Paare ohne Kinder, z.B. als Wohn- und Arbeitsbereich für Freiberufler wird bislang kaum nachgedacht. Allerdings wurden bereits kostengünstige horizontale oder vertikale Erweiterungen von Reihenhäusern angeregt, um damit größere Haushalte anzusprechen (BBR 2007b: 10). Ferner wird angeregt, die Programme Stadtumbau Ost und West so zu gestalten, dass diese auch in Einfamilienhausquartieren greifen (Rosenbohm 2006: 122). Die von Nierhoff und den weiteren zitierten Autoren angeführten Maßnahmen haben durchaus ihre Berechtigung, jedoch ist es bei einigen Vorschlägen mehr als fraglich, inwieweit diese bei ausbleibender Nachfrage faktisch etwas ändern könnten (z.B. B-Plan-Änderungen oder Verwaltungsvereinfachungen). Wie groß die Handlungsbedarfe, aber auch -möglichkeiten in den vermeintlich „harmlosen“ Einfamilienhausquartieren sind bzw. künftig sein werden, fasst die folgende Toolbox noch einmal zusammen (Abbildung 65 und Tabelle 34).
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Szenarioentwicklung
Abbildung 65: Typ G (Wüstenrot) – Toolbox 2030
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Tabelle 34: Tool
DIV Diversifizierung
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Typ G (Wüstenrot) – Maßnahmenbeispiele Kommune
Wohnungswirtschaft
Behebung der Infrastrukturdefizite
(übliche) bauliche Maßnahmen
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
Wettbewerb „Modellquartier Wüstenrot 2.0“ Konzeption einer Vermietungsstrategie für Einfamilienhäuser mit starker Preisdifferenzierung
MAR Marketing
ORG Organisation
QUO Quartiersorientierung
SKF Sozialkapitalförderung
STO Standortentwicklung
ZUK Zukunftscheck
ggf. Einrichtung eines HID (statt ESG) Gründung des stadtweiten „Marketingfonds für Quartiere mit Einzeleigentum“ (MfQ) Quartierskonferenzen Kommune als „FluktuationsDynamo“ ggf. Ausweisung neuer Bauflächen oder Modernisierungsschwerpunkte in direkter Nachbarschaft Fokus auf Projekte, die lokales Sozialkapital fördern
Versuch, Umfeld zu entwickeln (Beispiel Golfplatz) Erstellung eines Handlungskonzepts (Zukunftsplan 2040) frühzeitiges, proaktives, konsequentes Eingreifen Schaffung von Anreizen für frühzeitige Umzüge junger Senioren („Anti-Impact-Taktik“) Szenarioworkshop „Zukunft Quartier Typ G“
Quelle: Eigene Darstellung
Etablierung eines quartiersbezogenen Marketingfonds („MfQ“)
Nutzung des lokalen Sozialkapitals Gründung einer Vereinigung der Hauseigentümer (z.B. Eigentümerstandortgemeinschaft)
264
Szenarioentwicklung
5.7.5.8 Strategien und Instrumente für Typ H (Village Revisited) Ausgangsbasis des Typs H (Village Revisited) Idealer Weise müsste eine Typologie disjunkte Kategorien aufweisen. Dies ist bei Quartieren ohnehin wenig sinnvoll, weil zu realitätsfern. Der Quartierstyp „Village Revisited“ ist nicht – wie andere Quartierstypen – in der Wirklichkeit durch untypische Charakteristika „verunreinigt“, sondern stellt per se einen Hybridtypus dar. Dieser kommt jedoch so häufig vor und weist so spezielle Entwicklungscharakteristika auf, dass er eine besondere Beachtung verdient hat. Abbildung 66: Typ-H-Quartiere in Brandenburg (Kirchmöser-Dorf) und in Leipzig (Mölkau)
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Typ H ist gekennzeichnet durch heterogene städtebauliche Strukturen: Hier können alte Industriebrachen, Waldflächen, Gewerbeareale, kleine Reihenhaussiedlungen, Bauerwartungsland, Mehrfamilienhausanlagen, ein alter Dorfkern und 1930er-Jahre-Villen unmittelbar benachbart liegen – und dies in einer peripheren Stadtrandlage (vgl. Abbildung 66). Dadurch entsteht einerseits eine große Vielfalt, andererseits aber findet man zahlreiche ungeordnete städtebauliche Gemengelagen vor. Auch die Infrastrukturausstattung ist in einem solchen Umfeld oft suboptimal und auf motorisierten Individualverkehr ausgerichtet. Ähnlich heterogen wie der Wohnungsbestand ist auch die Eigentümer- und Bewohnerstruktur. Zum Teil befinden sich Wohnparks im Besitz von Immobilienunternehmen, zum Teil treten auch kleine Kapitalanleger als vermietende Wohnungseigentümer auf. Die größte Gruppe dürfte aber die der selbstnutzenden Wohneigentümer darstellen, die mit für die gehobene Sozialstruktur verantwortlich sind.
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
265
Häufig lebt in diesen Quartieren eine überdurchschnittlich alte, lokal identifizierte und vernetzte Bewohnerschaft, auch wenn in manchen Beständen durchaus jüngere Familienhaushalte zu finden sind. Alte und neue Bewohner treffen hier schon heute aufeinander, was oft einen Anlass für Konflikte darstellt. Trotz ihrer Heterogenität werden diese Gebiete von vielen Bewohnern als Zusammenhang wahrgenommen, was u.a. auch in der Quartiershistorie begründet ist, die die unterschiedlichen Subquartiere vereint: Manches ist wohl hinzugekommen, immer nur aber als Addition zu dem schon immer dagewesenen – d.h. auch Neubauprojekte stehen hier in einer „Quartierstradition“. Es sind wohl die Flexibilität des Wohnungsbestands hinsichtlich künftiger Zielgruppen und die Gestaltungsmöglichkeiten in der Fläche, welche die DelphiExperten im Rahmen dieser Studie optimistisch machten, was die künftige, stark von demographischen Faktoren geprägte Entwicklung des H-typs angeht. Außerdem ist die Qualität der Bausubstanz meist recht gut (entweder relativ neu oder modernisiert), ebenso wie das Image der Quartiere, die als gediegen, ruhig und trotz ihres grünen Suburb- oder mitunter auch Gartenstadt-Charakters als relativ zentrennah und gut erreichbar gelten. Quartierszukünfte Typ H (Village Revisited) Für den Quartierstyp H „Village Revisited“ wurden zwei Szenarien für jeweils eine überdurchschnittlich alte Bevölkerung entwickelt. Das eine Szenario basiert auf einer fragilen Koalition aller lokalen Akteure mit einer starken Kommune, das andere auf kurzfristigen Marktlogiken mit einer schwachen öffentlichen Hand. Mögliche Zukunft 1: Überwindung der drohenden demographisch induzierten Krise Quartier H-nau hat die bewegte Geschichte eines „überprägten Dorfs“ hinter sich: Industrialisierung und Deindustrialisierung, Wohnungsbau verschiedener Perioden, neuere Immobilienprojekte und Gewerbeansiedlungen. Insgesamt ist das Quartier demographisch alt, wenngleich die durchschnittlichen Werte etwas darüber hinwegtäuschen, dass neben vielen Hochbetagten inzwischen auch jüngere Haushalte hier wohnen, vor allem in den neu gebauten Reihenhäusern der 1990er Jahre. Durch die räumliche Isolation am Stadtrand wirkte H-nau wie eine selbstständige Kleinstadt, nicht zuletzt auch wegen der direkten, aber in der Regel nicht störenden Nachbarschaft von Industrie- und Wohnfunktion. Dazu kamen die aus der industriellen Entwicklung entstandenen attraktiven städtebaulichen und architektonischen
266
Szenarioentwicklung
Formen der 1920er Jahre. H-nau bot also interessante Kombinationsmöglichkeiten von Arbeiten, Wohnen und Freizeitmöglichkeiten. Die Betonung lag aber auf der Kombination dieser Faktoren. Allein die landschaftlich reizvolle Lage machte das Quartier im Wettbewerb um Einwohner nicht attraktiv genug (E_BRB2), denn die Defizite waren ebenfalls nicht zu übersehen. Vielfach wurde die mangelhafte ÖVAnbindung beklagt, ein Problem, das H-nau mit vielen Quartieren am Stadtrand teilte. Der Bus, so berichteten Bewohner, fuhr weder am Wochenende noch abends, „das ist ein Problem für bestimmte Jobs“ (B_BRBKM4). „Nach 19:00 Uhr kommt man nicht mehr weg“ (B_BRBKM3). Außerdem fehlten jegliche kulturelle Angebote, was einen Bewohner zu der Aussage verleitete, er fühle sich in H-nau „am Arsch der Welt“ (B_BRBKM3) [...] (Ausschnitt aus Szenario Ha.2).
Zwar ist nach wie vor die die ungeordnete städtebauliche Situation als Problem präsent, die bisweilen unattraktive Mikrostandorte mit sich bringt. Dennoch ist um 2010 die Lage stabil und die im Quartier vertretenen größeren Bestandshalter beschränkten sich auf die bloße Verwaltung ihrer Wohnungen. In dieser Zeit war den Verantwortlichen der Kommunalverwaltung klar, dass H-nau zwar noch ein problemloser Stadtteil war, die Zukunft jedoch nicht so rosig aussehen würde. Deshalb begann man früh, zumindest punktuell in den öffentlichen Raum zu investieren (Verbesserung der Nahversorgung, Möblierung des öffentlichen Raums für Kinder und Senioren etc.), so dass der Stadtteil auch für Interessenten von außen etwas attraktiver erschien. Doch die Modellstädter Stadtentwicklungsbehörde wollte mehr und versuchte, die lokalen Akteure aufzurütteln. Ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten zur demographischen Zukunft der Modellstädter Wohnquartiere trug erheblich zur Verunsicherung der Wohnungswirtschaft bei. Die Gutachter formulierten klar und deutlich, dass die bisherigen Maßnahmen, die mit besten Absichten durchgeführt waren, jegliche strategische Orientierung vermissen ließen. Ziellose Standardmodernisierungen jedoch konnten, so die Expertise weiter, vielleicht noch die alte Klientel zufriedenstellen, die künftigen Zielgruppen jedoch nicht mehr. Die demographische Welle, die die Gutachter u.a. H-nau in Aussicht stellten, drohte zu einem wohnungswirtschaftlichen Debakel zu werden [...] (Ausschnitt aus Szenario Ha.2).
Danach findet ein gewisses Umdenken im Stadtteil statt und verschiedene innovative Projekte wurden gestartet. Während die Kommune mit Eifer voranschreitet, wollen sich die wohnungswirtschaftlichen Akteure aktiv beteiligen, aber nicht allzu proaktiv engagieren, sodass es nicht zu einem „Neighbourhood Branding“ oder einen „Neighbourhood Improvement District“ kommt, wie von der Stadtverwaltung angeregt. Es regieren der „kleinste gemeinsame Nenner“, Konservatismus und Mainstream-Orientierung.
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
267
2011 einigten sich die lokalen Akteure jedoch auf eine „Long-term Roadmap Stadtumbau 2030“, eine langfristige Zielvorstellung, die die „Modellstädter Neue Tageszeitung“ abschätzig auf „Science Fiction-Freaks“ in der Stadtverwaltung zurückführte [...] Doch der nicht bindende Plan hatte durchaus positive Effekte z.B. hinsichtlich der Akteursorganisation. H-nau wies eine komplexe Eigentümerstruktur auf. […] Nach Ankündigung der Roadmap gründete sich in H-nau eine „Interessengemeinschaft Einzeleigentum (IGE) e.V.“, in der nach kurzer Zeit etwa die Hälfte der Einzeleigentümer H-naus vertreten waren. Die Wohnungsunternehmen und die Genossenschaft planten für die nähere Zukunft relativ hohe Leerstände als Sicherheitsreserve ein und entwickelten Szenarien für ihre Bestände im Kontext des Gesamtquartiers (E_BRB4). Dabei folgten sie den Empfehlungen der Roadmap und beteiligten sich auf intensives Drängen der Modellstädter Planungsverwaltung an städtebaulichen Ordnungsmaßnahmen im gesamten Quartier. […] Ein eigens eingerichtetes Quartiersbüro koordinierte Aktivitäten und diente als Seismograph bei Problemen. Durch regelmäßige Quartiersfeste wurden Zuzügler und Alteingesessene miteinander konfrontiert und die dadurch in Gang gesetzte Kommunikation tat ihr übriges […] (Ausschnitt aus Szenario Ha.2).
Trotz am Ende kaum koordinierter Bau- und Umbauprojekte im Quartier ist es gelungen, die demographische Welle abzuschwächen und beherrschbar zu machen. Die Quartiersentwicklung verläuft nach einer schwierigen Zwischenphase weiterhin positiv. Für das nächste Jahrzehnt soll H-nau auch noch in anderer Hinsicht zu einem Modell der Postmoderne avancieren: Die heterogenen städtebaulichen Strukturen (alte Dorfstrukturen, Neubaugebiete, Gewerbegebiete) als Potenzial aufgreifend, wurde seitens der Stadtverwaltung versucht, das Nebeneinander und das Integrationserfordernis von „Altem“ und „Neuem“ in den Mittelpunkt der Anstrengungen zu rücken („H-nau: Ort für jung & alt, alt & neu“). Durch eine stark geförderte Vereins- und Gemeindearbeit sollen nicht nur Zuzügler und Alteingesessene erfolgreich zueinander gebracht werden. Darüber hinaus soll das ohnehin schon gelegentlich existente Mehr-Generationen-Wohnen als Spezifikum des Quartiers hervorgehoben und bekannt gemacht werden […] (Ausschnitt aus Szenario Ha.2).
Trotz vereinzelter Ordnungsversuche bleibt die Hypothek der städtebaulichen Unordnung jedoch auch in der Zukunft bestehen. Dieses Problem hätte man durch konsequenteres und koordiniertes Handeln aller Akteure deutlich entschärfen können.
268
Szenarioentwicklung
Mögliche Zukunft 2: Vom marktwirtschaftlichen Selbstläufer zum stadtentwicklungspolitischen Pflegefall In der stagnierenden Gesamtstadt kristallisiert sich immer stärker eine Mikrodifferenzierung des Wohnungsmarktes und eine Polarisierung von Quartieren heraus. Das zwangseingemeindete H-bach, ein deutlich überaltertes „WoopieVillage“, steht in den 2000er Jahren noch auf der Gewinnerseite. Bis in die 2010er Jahre werden Neubauprojekte als Cash Cows für Kapitalanleger umgesetzt, die vereinzelt auch jüngere Haushalte, mehr aber ältere „Wohnstandardverbesserer“ aus Altbeständen der nächsten Umgebung anlocken. Die stetige Nachfrage täuscht etwas über die Schwachpunkte des Gebiets hinweg, wie etwa die Vielzahl städtebaulicher Gemengelagen und die dysfunktionalen Freiflächen. Der Optimismus in den 2000er Jahren war groß. „H-bach kommt!“ orakelte der damalige Bürgermeister Karl Alt kurz vor seiner Pensionierung beim Richtfest eines Fertighausanbieters. Bewohner befanden, die zukünftige Entwicklung würde sich nicht von der damaligen unterscheiden: „Jeder kennt [H-bach], es hat einen guten Ruf als eigenständiges Dorf“ (B_LM2). „Wir sind hier alle eng verwurzelt, die ganzen (sozialen) Bindungen sind da, das geht immer so weiter“ (B_LM3). Experten standen dem in nichts nach. So galt die Anbindung an das Zentrum als Basis für Neuzuzüge. „Die großen Verlierer liegen weiter draußen - in Orten, in denen es heute schon 2,8 PKWs pro Haushalt gibt. […] Große, homogene Gebiete wie [F-berge, Typ „Postmoderne“], die kriegen Probleme“ (E_L2). Zwar wollte die Modellstädter Verwaltung weitere Neubauprojekte in H-bach vermeiden, jedoch gab es bereits umfangreiche bestehende Planungsrechte, die nur unter größten Anstrengungen rückgängig zu machen gewesen wären (E_L2). Die Kommunalplanung sah im Quartier keinen kurzfristigen Handlungsbedarf und wandte sich anderen akuten Problemen zu. Das kommunale Selbstverständnis war mehr und mehr das einer „Feuerwehr“, die eher einzelfallorientiert, reaktiv und wenig kreativ agierte und dies stets mit dem Hinweis auf immer knapper werdende finanzielle Ressourcen. Aufgrund der Marktsituation waren die Anreize strategischer Konzeptionen bei allen wirtschaftlichen Akteuren recht gering, bei vielen Einzeleigentümern ohnehin kaum ausgeprägt […] (Ausschnitt aus Szenario Ha.4).
Der demographische Impact jedoch lässt nicht mehr lange auf sich warten – und er trifft auf ein Quartier mit heterogenen wohnungsbezogenen Akteuren, die bislang das herannahende Problem schlicht ignoriert haben. H-bach ist eine strategie- und kooperationsfreie Zone. H-bach musste eine veritable demographische Welle verkraften, denn die Nachkriegsgeneration, die hier besonders stark vertreten war, war kollektiv alt geworden. Nachdem der Remanenzeffekt als retardierendes Moment spätestens seit 2015 nicht mehr eintrat und aus Haushaltsverkleinerungen Haushaltsauflösungen wurden, war
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
269
der lokale Markt überfordert. Manche Kinder waren zwar in die Häuser der Eltern nachgezogen, diese Vererbungsketten fanden aber nicht flächendeckend statt. Viele hatten inzwischen anderswo Arbeit und ihren Lebensmittelpunkt gefunden, die Idee des „Drei-Generationen-Wohnens“ stellte sich als pure Sozialromantik heraus. Außerdem: Wer wollte schon in den bürgerlichen, traditionellen Wohnfantasien der Elterngeneration leben? Komplette Modernisierungen älterer Häuser im „Ikea-Stil“, die man vereinzelt beobachten konnte, waren nur Ausnahmen […] (Ausschnitt aus Szenario Ha.4).
Auch Hoffnungen, die nahegelegene Entwicklung eines Gewerbeparks könnte Arbeitsplätze und damit eine Ersatznachfrage für das Quartier bringen, zerschlagen sich. Die erhoffte Nachfrage nach Wohnraum gab es also nicht – und auch sonst blieb der Zuzug neuer Anwohner hinter den Erwartungen zurück. Bei der für H-bach so wichtigen Entwicklungsgröße der Zusatznachfrage hieß es: Fehlanzeige! Leerstände wurden unvermeidbar. Bald gab es die ersten „unverkäuflichen Ecken“. Es kam zu einem schleichenden Imageverfall, der die Situation noch verschlimmerte. Eine Abwärtsspirale war in Gang gesetzt worden, die unter anderen Rahmenbedingungen und mit vorausschauenden, proaktiven Planungen hätte abgemildert oder vermieden werden können. In manchen Straßen verwildern heute wie Fanale alte Einfamilienhäuser, was die Stadtteilatmosphäre deutlich verändert. Von den meisten Bewohnern wird dieser zunehmend marode Charme als negativ empfunden. Die Wegzugsbereitschaft der Bewohner stieg damit ebenso an, wie Ortsbindung und Verantwortungsgefühl für das Quartier abnahmen. Nachbarschaftliche Netzwerke und das lokale Sozialkapital, für das H-bach so bekannt war, erodierten mehr und mehr. Die misstrauischen Dispute zwischen „Alten“ und „Neuen“ wurden schlimmer. Vereinzelt kam es zum Zuzug einkommensschwacher Haushalte, zum Teil mit Migrationshintergrund, die gerade von älteren Bewohnern kritisch beäugt und diskriminiert wurden […] (Ausschnitt aus Szenario Ha.4).
Die Verfallsspirale nimmt ihren Lauf, auch spät eingesetzte kommunale Gegensteuerungsmaßnahmen bringen keine entscheidenden Verbesserungen mehr. Die periphere Lage des Quartiers, einst als „USP“ betrachtet, stellte sich mehr und mehr als Standortnachteil heraus: Das Quartier wirkte zunehmend isoliert im Schatten der Kernstadt und konkurrierte erfolglos mit Quartieren in zentraleren Lagen. Es leidet bis heute unter seiner diffusen städtebaulichen Struktur: Weder Dorf noch Stadt, weder besonders idyllisch noch besonders urban […] (Ausschnitt aus Szenario Ha.4).
270
Szenarioentwicklung
Am Ende bleibt von einem beinahe „wartungsfreien“, hochidentifikativen und beliebten Quartier nur noch die vage Hoffnung, es als „Standard-Wohngebiet“ zu re-etablieren. „State of the Art“ der Quartiersentwicklung für Typ H (Village Revisited) Für diesen Quartierstyp sind kaum Hinweise in der Literatur zu finden, was mit dessen Unscheinbarkeit und städtebaulichen „Strukturlosigkeit“ zusammenhängen dürfte. Je kompakter städtebauliche Strukturen eines Quartiers sind, desto eher scheint es Vorschläge für Quartiersentwicklungskonzepte oder – maßnahmen zu geben. Letzteres kann durchaus auch mit der tendenziell höheren Problemhaftigkeit monostrukturierter Wohngebiete korrelieren. Ein weiterer Grund ist in der Eigentümerstruktur zu sehen: Zu unterschiedlich sind die Interessenlagen und zu gering die Bestände größerer Unternehmen in solchen Quartieren, als dass hier nähere Untersuchungen angestellt würden. Auch der derzeitige Problemdruck ist noch gering. Zumindest kann man aber die „State of the Art“-Hinweise der Quartiersentwicklung des Typs „Wüstenrot“, aber auch partiell der Typen „Utopie“, „Aufbau“ und „Postmoderne“ heranziehen. Eine bloße Addition von Maßnahmen würde jedoch zu kurz greifen. Die folgende, aus der vorliegenden Studie generierte Toolbox geht einen Schritt weiter und berücksichtigt die Quartiersentwicklung als Ganzes und nicht nur als Addition seiner Teile. Aufgrund der Vielfalt des Quartierstyps liegt es auf der Hand, dass es auch viele unterschiedliche „Baustellen“ geben kann (siehe Abbildung 67). Bei möglichen Maßnahmen sind Kommunen wie Eigentümer gleichermaßen als Akteure gefragt (siehe Tabelle 35).
271
Welche Entwicklungspfade sind in den verschiedenen Quartierstypen denkbar?
Abbildung 67: Typ H (Village Revisited) – Toolbox 2030
BAU
BEL
DEM
EIG
ENTS
Baustruktur
Belegung
Demographie
Eigentümerstruktur
Entscheidung
FIN
4S8
IMG
KON
KOO
Finanzen
Foresight
Image
Quartierskonkurrenz
Kooperation
NAF
PAP
QUA
SOZK
WUM
Nachfrage
PrincipalAgentProblem
Quartier
Sozialkapital
Wohnumfeld
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
ABC
wichtiges Handlungsfeld
ABC
ABC
untergeordnetes Handlungsfeld oder Tool
ABC
Quelle: Eigene Darstellung
relevantes wohnungswirtschaftliches Tool relevantes kommunales Tool
ABC
Übergeordnete Problemfelder im Quartier
Angepasste Tools
kommunal und wohnungswirtschaftlich relevantes Tool
Legende
272 Tabelle 35: Tool
DIV Diversifizierung
Szenarioentwicklung
Typ H (Village Revisited) – Maßnahmenbeispiele Kommune Auffangen von infrastrukturellen Defiziten
Wohnungswirtschaft Bau-, Rückbau-, Anbau-, Umbaumaßnahmen je nach lokaler Situation Hinzuziehen externer Beratung („Black Box Ersatznachfrage“)
HOM Homogenisierung
KOM Kommunikation
MAR Marketing
ORG Organisation
QUO Quartiersorientierung
Hinzuziehen externer Beratung (auch als Kommunikationstool zur Integration der heterogenen Akteursstruktur) Entwicklung eines Quartiersleitbilds Etablierung des Gesamtquartiers als „Marke“ (Neighbourhood Branding)
Entwicklung eines Quartiersleitbilds Etablierung des Gesamtquartiers als „Marke“ (Neighbourhood Branding)
Einrichtung eines Quartiersbüros als Koordinationsinstanz und „Sozialseismograph“ ggf. Initiierung und Einrichtung eines „Neighbourhood Improvement District“ (NID)
Aktive Beteiligung an städtebaulichen Ordnungsmaßnahmen Anerkenntnis der Notwendigkeit zur Kooperation ggf. Initiierung und Einrichtung eines „Neighbourhood Improvement District“ (NID) ggf. Zusammenschluss von Kleineigentümern als Interessengemeinschaft
Städtebauliche Ordnungsmaßnahmen (Inwertsetzung dysfunktionaler Freiflächen, Beseitigung von Gemengelagen, Erhöhung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum etc.)
„Anti-Cash-Cow-Strategien“ Differenzierung und Integration der unterschiedlichen Bestände
SKF Sozialkapitalförderung
Klassische Standortpolitik auf (benachbarten) Industriebrachen, um Arbeitsplätze und StandortentwickWohnungsnachfrage zu generielung ren Erarbeitung einer Long-TermRoadmap 2030 ZUK Wahrnehmung des QuartiersZukunftstyps als sozialräumliches Gebilcheck de stadtweites Quartiersmonitoring Quelle: Eigene Darstellung
„Genossenschaftsriester“ u.ä. Projekte, um Mieter zu binden Nutzung des lokalen Sozialkapitals, Projekte zur Überwindung des „EtablierteAußenseiter“-Problems (Schaffung von bridging social capital)
STO
aktive, vorausschauende Belegungssteuerung mit Langzeitwirkung Berücksichtigung möglicher demographischer Strukturbrüche in den strategischen Planungen der Unternehmen
273
Szenariotransfer
5.8 Szenariotransfer Der Szenariotransfer bezieht sich im Rahmen der vorliegenden Studie zum einen auf die Zielgruppen der Wohnungswirtschaft und der Kommunen, also auf die „Praxis“, zum anderen aber auch auf die Stadtforschung. So werden im Folgenden zunächst die bisher in den Szenarien erarbeiteten Handlungsempfehlungen (die genau genommen ebenfalls zum „Szenariotransfer“ gehören) kurz zusammengefasst und an einem Beispiel demonstriert, bevor abschließend ein Quartiersentwicklungsmodell unter besonderer Berücksichtigung demographischer Faktoren vorgestellt wird. 5.8.1 Zusammenfassung der Quartiersentwicklungsstrategien 5.8.1.1 Überblick: Tools für alle Quartierstypen Eine sehr kurze Zusammenfassung der im vorangegangenen Kapitel diskutierten Handlungsempfehlungen bietet Abbildung 68. Abbildung 68: Synopse – „Toolscape“ für alle Quartierstypen Typ A: Industrie
Typ B: Utopie
Typ C: Aufbau
Typ D: Urbanität
DIV
HOM
KOM
DIV
HOM
KOM
DIV
HOM
KOM
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
MAR
ORG
QUO
MAR
ORG
QUO
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
SKF
STO
ZUK
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
DIV
HOM
KOM
DIV
HOM
KOM
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
DIV
HOM
KOM
Diversifizierung
Homogenisierung
Kommunikation
MAR
ORG
QUO
MAR
ORG
QUO
MAR
ORG
QUO
MAR
ORG
QUO
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
Marketing
Organisation
Quartiersorientierung
SKF
STO
ZUK
SKF
STO
ZUK
SKF
STO
ZUK
SKF
STO
ZUK
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Sozialkapitalförderung
Standortentwicklung
Zukunftscheck
Typ E: Platte-Ost
Typ F: Postmoderne
Typ G: Wüstenrot
Typ H: Village Revisited
Quelle: Eigene Darstellung
So einfach diese Abbildung erscheinen mag, macht sie jedoch auch auf den ersten Blick die Komplexität der Fragestellung deutlich. Hinter jedem der in der
274
Szenarioentwicklung
Abbildung gezeigten und markierten Symbole verbirgt sich ein großes potenzielles Maßnahmenbündel, das wiederum in ein quartiersspezifisches Setting eingebettet ist (vgl. die Erläuterungen in Abbildung 45): „Diversifizierung und Heterogenisierung“, „Homogenisierung und Spezialisierung“, „Lokales Sozialkapital und Ortsbindung“, „Marketing“, „Öffentlichkeit und Kommunikation“, „Organisation und Kooperation“, „Place making und Quartiersorientierung“, „Standortentwicklung“ sowie „Zeit und Zukunft“. Im Vergleich zu den zentralen Ansatzpunkten anderer Systematisierungsvorschläge ist dies ein deutlich differenzierteres Instrumentarium. Als Instrumentenkoffer für Kommunen und Wohnungswirtschaft wäre dies aber auch in dieser Form immer noch zu abstrakt. Die in den Abbildungen durch Symbole repräsentierten Kategorien müssen durch konkrete Maßnahmenbeispiele und spezifisch für jeden Quartierstyp mit Leben gefüllt werden (wie in den tabellarischen Darstellungen der Tools in den vorangegangenen Kapiteln ansatzweise geschehen). Darüber hinaus soll hier noch einmal betont werden, dass der gesamtstädtische Kontext mit einzubeziehen ist und hier – in der Realität – bereits Vorentscheidungen über die Zukunftschancen einzelner Quartiere getroffen werden (müssen). Darüber hinaus sollte es selbstverständlich sein, dass das Instrumentarium nicht eindimensional und starr angewendet werden sollte: Es müssen immer wieder reflexive Schleifen möglich gemacht werden, die auch zu einer Änderung der eingeschlagenen Strategie führen können. Im folgenden Kapitel soll die Anwendung der Toolbox kurz an einem Beispiel demonstriert werden. 5.8.1.2 Toolbox-Anwendung: Das Beispiel Leipzig-Mölkau Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorweg angemerkt: Normalerweise wäre für die Anwendung des Tools auf ein konkretes Quartier mindestens ein zeitnaher Workshop oder intensive zielgerichtete Interviews mit lokalen Experten und eine darauf basierende gutachterliche Stellungnahme erforderlich – also eine eigene, umfassende Untersuchung des konkreten Settings. Dies war im Rahmen dieses Projekts nicht möglich. Deshalb können hier auch keine konkreten, präzisen Vorschläge z. B. zu Umnutzungen der Fläche X, zur Diversifizierung der Wohnungsbestände des Unternehmens Y oder zum Rückbau der Straße Z gemacht werden. Dennoch sollte die Anwendung der Toolbox in der gebotenen Kürze (und in reduzierter „Tiefenschärfe“) exemplarisch in ihren Grundzügen dargestellt werden. Um zumindest über eine gewisse empirische Basis zu verfügen, wurde eines der Untersuchungsgebiete als Beispiel ausgewählt, nämlich das Quartier Mölkau (Typ H: „Village Revisited“) in Leipzig. Mölkau wurde mit Bedacht herangezo-
Szenariotransfer
275
gen: Zum einen sollte das Quartier kein verfängliches Stadtentwicklungspolitikum darstellen (wie etwa das nicht minder interessante Untersuchungsquartier Brandenburg-Nord), weil eine zielgenaue Strategiediskussion im Rahmen eines solchen kurzen Buchkapitels in meinen Augen trotz der umfangreichen empirischen Vorarbeiten in den Untersuchungsquartieren ebenfalls nicht ohne weiteres möglich wäre (siehe oben). Zum anderen gehört das Quartier zu einem Typus, der bislang noch nicht so sehr in den Fokus von Planung und Forschung geraten ist: Ein nur vermeintlich problemloser und deshalb besonders interessanter Fall. Da Mölkau (und das entsprechende Dossier) als eines von drei Quartieren auch der Szenarienentwicklung für den Typus H („Village Revisited“) zugrunde liegt, sind etwaige Parallelen zu den oben skizzierten Szenarien natürlich nicht zufällig. Bei der Anwendung an einem gänzlich neuen Quartier würden die Abweichungen zum hier definierten Typus vermutlich stärker ins Gewicht fallen. Leipzig-Mölkau: Status Quo Eine Quartiers-Website lobt Mölkaus Qualitäten: „Großstadtnähe und ländliche Beschaulichkeit, attraktive Wohnbebauung und denkmalgeschützte Gebäude, funktionierende Infrastruktur und moderne Gewerbesiedlungen – all das bietet Mölkau“ (www.moelkau.de, 2007, siehe Abbildung 69). Abbildung 69: Leipzig-Mölkau – alte Bebauung
Fotos: Olaf Schnur (2007)
Jedoch muss man dies wesentlich differenzierter betrachten: Das knapp 700 Jahre alte Dorf Mölkau wurde ebenso wie viele andere frühere Gemeinden auf
276
Szenarioentwicklung
dem Leipziger Stadtgebiet durch die Industrialisierung vollkommen umstrukturiert. Die Bevölkerung wuchs, Mietwohnungen wurden gebaut. In den 1920er und 1930er Jahren, als in und um Leipzig starke Wohnungsnot herrschte, wurden v.a. kommunale und genossenschaftliche Mietwohnungen errichtet. Damals wurde auch das benachbarte Zweinaundorf mit Mölkau zusammengelegt. Zweinaundorf war früher als reiche Gemeinde bekannt, während Mölkau dem gegenüber deutlich abfiel (B_LM1). Gerade bei den älteren Bewohnern ist diese Unterscheidung auch heute noch präsent. Heute genießt das erweiterte Mölkau insgesamt einen guten Ruf als Wohnstandort. Die grüne, ruhige Lage und die gute Verkehrsanbindung ans Zentrum übte insbesondere nach 1990 Anziehungskraft auf Haushalte aus, die Wohneigentum bilden und aus der Innenstadt wegziehen wollten. Insbesondere durch die verstärkte Bautätigkeit in dieser Zeit wuchs die Mölkauer Bevölkerung wiederum an (vgl. www.moelkau.de). Insbesondere aufgrund der umfangreichen Neubautätigkeit in den 1990er Jahren in Mölkau entstanden zum Teil bizarre städtebauliche Gemengelagen, in denen sich Freiflächen mit Gewerbeparks, historischen Gebäuden (Stadtgut, Kirche), Neubau- und Altbauwohnungen, Gartenstadt, Gründerzeit, Postmoderne und alte Dorflagen abwechseln (vgl. auch Abbildung 73). Bisweilen ist der Versuch zu erkennen, Neubauflächen an bestehende Baustrukturen anzugliedern. Mölkau wurde gegen den Widerstand der Bevölkerung im Rahmen des sächsischen Stadt-Umland-Gesetzes 1999 in die Stadt Leipzig eingemeindet – Unmut bei den Einheimischen war vorprogrammiert: „Das hat keiner gewollt. Wir galten hier so als der Fettgürtel von Leipzig und wurden dann abgeschöpft“ (B_LM1). 2005 hatte das Quartier gut 6.200 Einwohner (Amt für Statistik und Wahlen Leipzig). Mölkau zeigt heute deutliche und zunehmende Überalterungstendenzen, obwohl in Einfamilien-/Reihenhäuser der 1990er Jahre durchaus auch Familien eingezogen waren (siehe Abbildung 70 und Abbildung 71). Viele Bewohner Mölkaus sind in ihrem Lebenszyklus weit fortgeschritten, was der Vergleich mit anders strukturierten (konkurrierenden) Stadtteilen eindrücklich zeigt. Geringe Arbeitslosigkeit und überdurchschnittliche Einkommen bestimmen die Lebenslage der meisten Mölkauer. Dazu gehören auch entsprechende bürgerliche Lebensstile, die sich auch in einer zum Teil starken Ortsbindung und in familiären Nachbarschaftsnetzwerken niederschlagen. Dadurch kommt es mitunter zu einer konflikthaften Polarisierung zwischen Alteingesessenen und Neuzuzüglern, die entwicklungshemmend wirkt und in anderen Quartieren aufgrund offenerer Milieus so nicht anzutreffen ist (vgl. Abbildung 72). Die Eigentümerstruktur kann als sehr heterogen bezeichnet werden und reicht von größeren Wohnungsunternehmen bis zu klassischen Kleineigentümern. Immobilien, die verkauft oder vermietet werden, sind aktuell gefragt und
277
Szenariotransfer
relativ hochpreisig. 2005 sind anders als etwa im Leipziger Stadtkern kaum Leerstände und eine nur sehr geringe Fluktuation festzustellen.
5-Jahres-Alterskohorten
Abbildung 70: Alterspyramide des Quartiers Leipzig-Mölkau (Typ H „Village Revisited“, links) im Vergleich mit Leipzig-Schleußig (Typ A „Industrie“, rechts) (31.12.2005) über 85 J.
über 85 J.
60 bis unter 65 J
60 bis unter 65
40 bis unter 45
40 bis unter 45
20 bis unter 25 J
20 bis unter 25 J
0 bis unter 5 J.
0 bis unter 5 J.
-500 -400 -300 -200 -100
0
100
200
300
Bevölkerungszahl männliche Bevölkerung
w eibliche Bevölkerung
400
500
-1200
-900
-600
-300
0
300
600
900
1200
Bevölkerungszahl männliche Bevölkerung
w eibliche Bevölkerung
Quelle: Eigene Berechnungen, Datenbasis: Amt für Statistik und Wahlen, Leipzig; OT 26 und 50
Dennoch ist eines klar: Die demographische Alterung könnte mit einiger Wahrscheinlichkeit einen stärkeren Strukturbruch in Mölkau verursachen, der – abhängig von der gesamtstädtischen Bevölkerungs- und Wohnungsmarktentwicklung und stadtentwicklungspolitischen Zielen – das Szenario Ha.4 („Abschied von ehrgeizigen Zielen“) oder auch Szenario Ha.2 („Überwindung der drohenden demographisch induzierten Krise“) oder auch ganz andere Zukunftsvarianten zur Folge haben könnte. Hier wird davon ausgegangen, dass die Weiterentwicklung des Quartiers auch im Rahmen gesamtstädtischer Prioritätensetzungen von den meisten Akteuren erwünscht ist und deshalb negativ empfundene, ungeordnete Entwicklungen vermieden werden sollen. Eine geordnete, gesteuerte Quartiersentwicklung muss im Übrigen nicht unbedingt mit Expansion gleichgesetzt werden, sondern kann auch in einem gewissen Umfang „Rückbau“ bedeuten.
278
Szenarioentwicklung
Abbildung 71: Entwicklung der Anteile unterschiedlicher Altersgruppen in Leipzig-Mölkau und Leipzig-Schleußig bis 2030/2050 (Modellrechnung, hier: Typ 0, ohne Berücksichtigung von Wanderungen)101 Mölkau 1.800
Annahmen: 1.600
TFR LE(w) LE(m) NMig CBR CDR
1.400
Einwohner
1.200
1.000
2005
2030
1,27 82,6 76,1 0,0 6,4 15,0
1,63 86,4 80,9 0,0 6,4 18,2
Altersstruktur NMig (Modell):
800
ohne Wanderungen 600
Migrationsrate (Modell): Typ 0: ohne Migration
400
200
0 2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Schleußig 4.000
3.500
3.000
Einwohner
2.500
0-19 J. 20-59 J.
2.000
60-79 J.
1.500
> 80 J. 1.000
Datengrundlage: Amt für Statistik Stadt Leipzig, Statistisches Landesamt Sachsen (Stand: 31.12.2005 bzw 2005), eigene Berechnungen auf der Basis des Modells von Rowland (2003)
500
0 2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Quelle: Eigene Berechnungen und Darstellung, Abgrenzung: OT 26 und 50 101
Einzelheiten zu den Bevölkerungsmodellrechnungen sind im Online-Anhang erläutert.
279
Szenariotransfer
Abbildung 72: Sinus-Milieus in Leipzig-Mölkau im Vergleich zu LeipzigSchleußig (Angaben in %) EXP
2,1
HED
Mölkau
4,0
MAT
6,6
BÜM
46,0
DDR
10,4
TRA
10,3
KON
7,8
PER
2,4
PMA
0,5
ETB
9,9 0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
5,9
EXP
Schleußig
7,2
HED MAT
60,0
4,5 5,1
BÜM DDR
1,4
TRA
1,2
KON
1,3
PER
EXP
Experimentalisten
HED
Hedonisten
MAT
Konsum-Materialisten
BÜM
Bürgerliche Mitte
DDR
DDR-Nostalgiker
TRA
Traditionsverwurzelte
KON
Konserative
PER
Moderne Performer
PMA
Postmaterielle
ETB
Etablierte
24,1 41,1
PMA 8,2
ETB 0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
Quelle: Eigene Darstellung, Datenbasis nach vhw/Sinus 2005, Abgrenzung: OT 26 und 50
Abbildung 73: Divergierende Neubaustrukturen in Mölkau
Fotos: Olaf Schnur (2007)
280
Szenarioentwicklung
Anwendung der Toolbox Nach einer solchen Bestandsaufnahme (die im Prinzip dem entspricht, was in den „Quartiersdossiers“ im Rahmen dieser Studie zusammengetragen wurde, jedoch durch weitere intensivere lokale Empirie konkretisiert werden müsste), würde man das Quartier Mölkau schließlich dem Typ H zuordnen und hier die entsprechende Toolbox vorfinden (siehe Abbildung 67). Was ließe sich daraus in einem ersten Wurf für Mölkau ableiten? Unter Bezugnahme auf die in dieser Studie erarbeiteten Typ-H-Szenarien ergeben sich die in Abbildung 74 skizzierten beiden Entwicklungspfade. Darin wird deutlich, dass Mölkau noch 2005 ein problemarmes Quartier darstellt, dessen Zukunft sich dann je nach Szenario unterschiedlich darstellen könnte (in der Abbildung dargestellt: Ha.2 und Ha.4 mit den entsprechenden Governance-Formen, vgl. hierzu die Szenarienmatrix in Tabelle 25). In der Abbildung wird weiterhin impliziert, dass das Quartier kein „Selbstläufer“ sein wird: Eine stetige Weiterentwicklung ohne größere Brüche wird allein schon durch die demographische Struktur erschwert („a“-Szenarien mit homogen überalterter Struktur). Die typenbasierte Diagnose ergibt u.a. folgende zentrale „Knackpunkte“ (Crucial Factors), die im konkreten Fall sicherlich noch zu präzisieren wären:
die demographische Alterung, die drohende demographische Welle und die Frage, woher eine Ersatznachfrage kommen soll, die periphere Lage und die Frage, inwieweit das Quartier konkurrenzfähig gegenüber anderen Quartieren sein wird, das „Etablierte-Außenseiter“-Problem, die damit verbundene Netzwerkproblematik und die Frage, inwieweit man die vorhandene Ortsbindung und exkludierenden Netzwerke aufbrechen und nutzen kann, die diffuse städtebauliche Struktur und die Frage, wie man nutzbare Freiflächen maximieren und nutzlose Brach- und Abstandsflächen minimieren könnte, um dem Quartier mehr Kompaktheit, Struktur und auch für zukünftige Nachfrager erkennbare Identität zu verleihen.
Inwieweit diese allgemeinen, noch typenbasierten Faktoren für das konkrete Quartier Mölkau im Einzelnen zutreffen, wäre nun zu diskutieren. Darauf soll hier verzichtet bzw. dies als bekannt vorausgesetzt werden. Betrachtet man die typenspezifischen Toolboxen, kann man für Wohnungswirtschaft und Kommunen bereits einige Handlungsschwerpunkte ableiten.
Szenariotransfer
Abbildung 74: Entwicklungspfade für Leipzig-Mölkau?
Quelle: Eigene Darstellung
281
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Szenarioentwicklung
So kann man – in Absprache mit der Kommune – Bau-, Rückbau-, Anbau- und Umbaumaßnahmen empfehlen, wo auch immer diese möglich und sinnvoll sein könnten. Es ist wichtig für die Wohnungseigentümer, die eigenen Bestände bereits heute Schritt für Schritt für neue Zielgruppen zu qualifizieren, denn diese werden sich von der bisherigen Klientel deutlich unterscheiden. Die Kommune sollte flankierend prüfen, inwieweit infrastrukturelle Defizite vorliegen (z.B. hinsichtlich sozialer Infrastruktur für Familien wie Senioren, Freizeitmöglichkeiten für potenzielle jüngere Nachfrager) und welche Möglichkeiten bestehen, diese Defizite auszugleichen. Im Sinne von Place Making und „Quartiersorientierung“ müsste die Wohnungswirtschaft von reinen Abschöpfungsstrategien in Mölkau absehen (also durchaus investieren, indem z.B. Baulücken geschlossen oder minderwertige Bestände systematisch abgerissen werden etc.), während die Kommune im Gegenzug städtebauliche Ordnungsmaßnahmen durchführen muss (z.B. durch die Inwertsetzung dysfunktionaler Freiflächen durch Zwischennutzungen, die Erhöhung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum durch Möblierungen, Anlage von Rad- oder Skatewegen etc.). Damit lässt sich langfristig das städtebaulich gestörte Stadtrandidyll Mölkaus deutlich aufwerten und dessen Vorteile gegenüber konkurrierenden, attraktiven Innenstadt- oder klarer definierten Stadtrandlagen sichtbarer machen. Weil unklar ist, wo die Ersatznachfrage nach einer möglichen demographischen Welle in einigen Beständen (z.B. in den Einfamilienhäusern der 1960er Jahre) herkommen könnte (insbesondere wenn man einen Reurbanisierungstrend für die Zukunft unterstellt), bietet es sich an, externe Gutachter hinzuzuziehen, um ggf. mit Hilfe empirischer Evidenz Licht ins Dunkel der „Black Box Ersatznachfrage“ zu bringen. Insbesondere eine lebensstilorientierte Nachfrageanalyse ist in diesem Zusammenhang hilfreich. Die Kommune sollte sich auch als aktiver Wirtschaftsförderer einbringen und auf den reichlich vorhandenen gewerblichen (Brach-)Flächen Unternehmen (ergo Arbeitsplätze und potenzielle Wohnungsnachfrager) anzusiedeln versuchen. Darüber hinaus sind die Wohnungsunternehmen in ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse aufgefordert, sich Gedanken über die Nutzung und Förderung des lokalen Sozialkapitals zu machen, um das „Etablierte-Außenseiter“Problem zu überwinden. Insbesondere Strategien zur Generierung von Bridging Social Capital sind vonnöten, um eine Beziehung zwischen alteingesessenen und zuziehenden Bewohnern herzustellen – dies wäre vielfach gleichbdeutend mit einer Stärkung intergenerationaler Beziehungen in einer Mehrgenerationennachbarschaft im Quartier (vgl. Krings-Heckemeier & Schwedt 2006, KringsHeckemeier & Heckenroth 2008). In Bereichen, in denen es keine „Wohnungs-
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wirtschaft“ im Sinne handlungsfähiger professioneller Akteure gibt, muss die Kommune einspringen. Gegebenenfalls muss die Stadt auch versuchen, die heterogene Akteursstruktur in geeigneter Weise zu integrieren, sodass auch Kleineigentümer ein Mitspracherecht erhalten. Hier kann sich die Einrichtung eines Neighbourhood Improvement Districts als nützlich erweisen, innerhalb dessen sich Kleineigentümer zu einer Interessengemeinschaft zusammenschließen (etwa in einer Eigentümer-Standortgemeinschaft). Die Kommune sollte in Erwägung ziehen, ein Quartiersbüro oder einen weithin sichtbaren „Infokubus“ auf einer der prominenten Brachflächen als Koordinationsinstanz und „Sozialseismograph“ bereitzustellen – oder wenigstens eine niedrigschwellige, zentrale amtliche Anlaufstelle für Quartiersentwicklungsfragen in Leipzig einzurichten. Gemeinsame Strategien der Wohnungswirtschaft und der Stadtverwaltung sind auch beim Thema Marketing gefragt. Um die Identität von Mölkau zu schärfen und das Quartier als nach außen wahrnehmbare Marke zu etablieren, ist die Initiierung eines Leitbildprozesses oder eines Neighbourhood Brandings für Mölkau sinnvoll. Es ist wichtig, diesen Prozess partizipativ zu gestalten, sodass bereits währenddessen identifikative Fortschritte bei den Bewohnern gemacht und Sozialkapital generiert werden können. Am Ende sollte es gelingen, Mölkau „als Marke“ z.B. für bestimmte Wohnformen (Drei-Generationen-Nachbarschaften) oder für städtebaulich-landschaftliche Vielfalt und Flexibilität zu etablieren, um damit als konkurrenzfähiges Quartier wahrnehmbarer zu werden und neue Zielgruppen als Nachfrager zu gewinnen. Das wichtigste Tool aber, welches alle Akteure in gewisser Weise nutzen sollten, ist die „Zeit“. Während auf wohnungswirtschaftlicher Seite demographische Strukturbrüche in den Beständen frühzeitig, langfristig und strategisch wirksam vorausgedacht und gesteuert werden müssen, erscheint es angebracht, dass kommunale Ämter eine Long Term Roadmap für Mölkau (oder als stadtweite Quartiersentwicklungsstrategie) entwickeln und ein Quartiersmonitoring betreiben – ein Instrumentarium, das es in Leipzig bereits ansatzweise gibt. Das dadurch entstehende Zeitfenster für vorausschauendes Handeln ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen günstigen Entwicklungsverlauf. Dazu sollte noch die Einsicht seitens der Akteure kommen, dass (richtig verstandene) Kooperation längerfristig zu einer Win-Win-Situation führen kann, ein Verzicht auf Aushandlung und ein Mangel an Kompromissbereitschaft jedoch allen Beteiligten (auch wirtschaftlich) schaden könnte.
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Nutzen der Toolbox: Quartiersentwicklungsmanagement (QEM) Im Gegensatz zu einer selektiv betriebenen Bestands- oder Portfolioentwicklung unterliegt eine „ganzheitlich“ und nachhaltig verstandene Quartiersentwicklung stets dem Zwang, unterschiedlichste Interessen zu koordinieren und zu integrieren. Quartiersentwicklung ist damit per definitionem ein kommunikatives Projekt. Dazu müssen Akteure zunächst einmal das Problem erkennen und aktiv aufeinander zugehen. Vielfach mangelt es jedoch am Problembewusstsein, was demographische Prozesse angeht (nach dem Motto: „Uns trifft das nicht, das trifft nur die anderen“), aber auch an einer Auffassung von „Quartier“ als erweiterter Kontext des eigenen Wohnungsbestands. Darüber hinaus sind Debatten über demographische Prozesse politisch ausgesprochen unbeliebt. Die Toolbox kann hier als griffiger Türöffner sowie als schneller und substanzieller Diskussionseinstieg z.B. im Rahmen von Workshops genutzt werden. „Grundlage einer aktiven Strategie ist immer ein Selbstklärungsprozess von Planung und Politik“, wie Ursula Stein schreibt (Stein 2005: 161), hinzuzufügen wäre noch die Wirtschaft. Diese „Selbstverständigungen über die gewandelten Bedingungen“ seien wichtig, so die Autorin weiter, „um die Möglichkeiten des Handelns auszuloten“ (Stein 2005: 162f., vgl. auch Klein 2009). Genau hier setzt das vorgestellte Instrumentarium systematisch und differenziert an. Um die hier vorgestellte Toolbox kann ein „Quartiersentwicklungsmanagement“ (QEM) aufgebaut werden, das im Vergleich etwa zu dem bereits zitierten REFINA-Nutzungszyklusmanagement (vgl. Bizer et al. 2009) wesentlich detaillierter ist, bereits spezifische Angebote für verschiedene Quartierstypen macht und an einem ganzheitlichen, über die rein wohnungswirtschaftlichen Belange hinausgehenden Quartiersbegriff ansetzt. Wesentliche Elemente eines Quartiersentwicklungsmanagements sind 1. 2.
3. 4.
die Analyse des Ist-Zustandes (z.B. anhand von Monitoringdaten), Prioritätensetzungen im gesamtstädtischen Kontext bzw. im Gesamtbestand eines Unternehmens, die Meinungsbildung und Zielfindung durch die professionellen und nichtprofessionellen Akteure (etwa mit Hilfe von Instrumenten wie der hier dargestellten Szenariotechnik oder Leitbilddiskurse mit stark partizipativen Komponenten), die Schaffung kooperativer Strukturen (institutionell oder informell) sowie die konkrete Umsetzung der Ergebnisse in den Zielquartieren.
Letztlich geht es darum, innerhalb eines inhaltlich orientierten Kommunikationsprozesses einen schlagkräftigen Governance-Modus zu entwickeln oder ein ur-
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banes Regime zu schmieden, mit Hilfe dessen soziale, unternehmerische und stadtentwicklungspolitische Ziele erreicht werden können. Es versteht sich von selbst, dass Quartiersentwicklung stets einen situativen und kreativen Prozess darstellt, für den die hier vorgestellten „vorstandardisierten“ Instrumente nicht als Ultima Ratio, sondern als eine Möglichkeit effizienter Annäherung – etwa bei der Ist-Analyse oder im Meinungsbildungsprozess – dienen sollen. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass doch – bei aller Einzelfallspezifik – gewisse Regelhaftigkeiten bei der Quartiersentwicklung auftreten, nicht zuletzt durch immer wiederkehrende Handlungsmuster der beteiligten Akteure. Deshalb wird im Folgenden versucht, in einem letzten Abstraktionsschritt ein demographisch fokussiertes Quartiersentwicklungsmodell zu skizzieren. 5.8.2 Demographisches Quartiersentwicklungsmodell „Demographische Wellen“ können in vielen Bereichen – zumindest theoretisch – eintreten. Zwei auf den ersten Blick eher abwegige Beispiele seien hier genannt: Zum einen denke man an einen Fußballverein, dessen Spieler ein recht homogenes Alter aufweisen und möglicherweise überwiegend aus der eigenen Jugendförderung stammen. Der Verein wird mit der jungen Mannschaft zunächst Erfahrungen sammeln, dann mit der homogen gereiften Mannschaft große Erfolge feiern (Homogenitätsvorteil) und schließlich mit einem gealterten Kader einen allmählichen sportlichen Abstieg erleben (Homogenitätsnachteil). Wenn ein Durchschnittsalter der Spieler von etwa 34 Jahren erreicht ist, trifft innerhalb zweier Spielzeiten einer nach dem anderen die (absehbare) Entscheidung, seine Fußballstiefel an den Nagel zu hängen. Danach steht der Verein ohne Spieler da und wird vermutlich aufgrund von Lizenzproblemen einen Zwangsabstieg hinnehmen müssen. Es sei denn – und das ist selbstverständlich die Realität – der Verein arbeitet vorausschauend und erneuert seinen Kader kontinuierlich. Ein zweites Beispiel: Ein Speditionsbetrieb. Nehmen wir an, bei der Unternehmensgründung würde ein Fuhrpark angeschafft, der aus zehn nagelneuen LKWs besteht (Homogenitätsvorteil). Nach einigen Jahren bereits ist der Fuhrpark etwas gealtert, es kommt verstärkt zu Reparaturen, aber der Spediteur scheut aufgrund des schwierigen Wettbewerbsumfelds im Logistikmarkt, seine Flotte allmählich durch Neufahrzeuge zu verjüngen (staatliche Interventionen wie Abschreibungen und das Ansparen von Steuervorteilen seien hier einmal außer Betracht gelassen). Weitere Jahre später leidet seine Konkurrenzfähigkeit zunehmend, da seine Fahrzeuge nicht mehr den aktuellen Transportstandards entsprechen, zu viele Ressourcen verbrauchen und auch die Kunden nicht akzeptieren wollen, dass ihre Waren mit unsicheren Alt-LKWs befördert werden (Homogenitätsnachteil). Binnen kürzester Zeit bricht dem Spediteur ein Teil
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seines Kundenstamms weg, damit hat er Einnahmeneinbußen, die Neuinvestitionen unmöglich machen. Kurze Zeit später meldet der Unternehmer Insolvenz an. Beide Fälle kommen in der Realität so nicht vor, denn die hier beschriebenen „Managementfehler“ in den grob vereinfacht beschriebenen BeispielSettings „Profisport“ bzw. „Logistik“ erscheinen als zu offensichtlich und zu gravierend. Die wesentlich komplexere Realität scheint jedoch trotzdem „demographische Fallstricke“ bereit zu halten. Auch im Bereich der Wohnimmobilien und Quartiersentwicklung trifft man nicht selten auf Einstellungen, die denen der Clubverantwortlichen oder des Spediteurs ähneln. Gleichzeitig sind auch die zugrunde liegenden Prozesse der Kohortenalterung, bei der Homogenitätsvorteile (also etwa Kosteneinsparung durch Standardisierung, geringe Verletzungsanfälligkeit oder Reparaturkosten) zu Homogenitätsnachteilen avancieren (unflexible Standards, hohe Kosten), durchaus mit denen der genannten Beispiele vergleichbar. Es stellt sich die Frage, ob man diesen Ablauf für das hier im Mittelpunkt stehende „Quartier“ nicht in einem Modell vereinfacht darstellen und nach unterschiedlichen „Modes of Governance“, also im Kontext kollektiver Handlungen unterschiedlicher Akteure ausdifferenzieren könnte. In Kapitel 3 wurden einige Quartiersentwicklungsmodelle vorgestellt, die auf dynamischen zyklischen Prozessen und/oder Phasen beruhen. Meist liegt dieser Vorstellung im weitesten Sinne die Idee eines Produkt-Lebenszyklus zugrunde, der auf Immobilienverwertung angewendet wird. Für ein Quartiersentwicklungsmodell mit einem demographischen Fokus ist es sinnvoll, neben der baulichen weitere zyklische Dimensionen einzuführen: die der Planung sowie der demographischen Alterung und Erneuerung. Dabei hängt die Quartiersentwicklung (am Ende auch die Immobilienverwertung) unter anderem auch davon ab, wie homogen die Alterskohorten und Haushaltstypen in einem Quartier sind. Ein Modell soll einen komplizierten Sachverhalt einfach darstellen und gegebenenfalls bestimmte, besonders wichtige Aspekte zum Vorschein bringen. Weil die Realität der Quartiersentwicklung überaus komplex ist, müssen notwendigerweise Modellprämissen formuliert werden. Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit das Modell gelten kann: x x x
Neubau und Modernisierung des Wohnungsbestands erfolgt in einer homogenen Bauweise (standardisierte Wohnungen) der Angebotsqualität q0. Die Nachfrager zum Zeitpunkt t0 bestehen aus einer homogen jungen Alterskohorte a0 mit einem ebenso homogenen Lebensstil l0. Die Bewohner bleiben persistent, denn es ist ihr „perfektes Quartier“. Es gibt keinerlei Fluktuation, auch nicht externen Einflüssen geschuldet.
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Die Bewohner durchlaufen einen vereinfachten Lebens- und ggf. Familienzyklus mit der Konsequenz einer demographischen Welle im Quartier. Zum Zeitpunkt t1 am Ende des Zyklus haben sich die Lebensstile der potenziellen externen Nachfrager zu einem Lebensstil l1 gewandelt. Diese präferieren die Wohnangebotsqualität q1. Die Bevölkerungszahl der Stadtregion bleibt ebenso wie ein strukturell vorhandener Wohnungsüberhang konstant (Nachfragermarkt).
Das in Abbildung 75 verkürzt dargestellte Modell geht von einem dreifachen Quartiersentwicklungszyklus aus, der die drei Hauptakteursgruppen des Systembilds „Wohnquartier“ umfasst (vgl. Kapitel 4.1 sowie Abbildung 30). Quartiersentwicklungszyklus der Akteurs-Triade Zum einen durchlaufen die Bewohner einen – hier im Modell stark vereinfachten – Lebenszyklus vom Singlehaushalt über einen wachsenden bis schrumpfenden (Familien-)Haushalt bis hin zum Tod und der Haushaltsauflösung. Parallel dazu ist in einem Quartier ein Immobilienzyklus denkbar, der von der Projektplanung, darauffolgenden baulichen Maßnahmen über die Bestandsalterung bis zum Leerstand führt. Als dritter Akteur begleitet der Lokalstaat die Quartiersentwicklung mit Planaufstellungen, Genehmigungsverfahren, Wohnumfeld- und Infrastrukturmaßnahmen sowie schließlich der Überprüfung der Stadtentwicklungsplanung unter den neuen Bedingungen. Geht man davon aus, dass die Stadtentwicklungspolitik sich für die Weiterentwicklung des Modellquartiers (und nicht für dessen Aufgabe) entscheidet, greifen die in der vorliegenden Studie verwendeten Modes of Governance oder Regimetypen, die – hier repräsentiert durch die vier Szenariovarianten – eine große Bandbreite an relativ realistischen Handlungsmöglichkeiten und wahrscheinlichen Akteurskombinationen umfassen (ggf. wäre das Modell für gänzlich andere städtische Bedingungen auch noch erweiterbar). Für einen möglichen nächsten Quartiersentwicklungszyklus werden nun die Weichen gestellt. Weichenstellungsphase: Quartierstyp und Governance-Modus 1.
Proaktive Entwicklungsregime: In proaktiven Entwicklungsregimen (Szenario .1) versucht die Wohnungswirtschaft, mit gezielten Investitionen die tendenziell persistente Nachfrage qualitativ gut zu bedienen. Kommunale Vertreter (etwa des Stadtplanungsamtes) wirken aktiv und moderierend, was ihnen relativ leicht fällt angesichts starker, motivierter und weitsichtiger Partner in der Wohnungswirtschaft, sei es in kommunalen Unternehmen, aber
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2.
3.
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eben auch in Genossenschaften und privaten Wohnungsunternehmen. Das aus dieser Konstellation resultierende Quartiersentwicklungsmanagement (QEM) ist geradezu mustergültig. Im Modell führt das zu einer vollständigen Vermarktung des Quartiers an neue Bewohner, je nach Quartierstyp wahrscheinlich sogar zu einem Upgrading des Quartiers, auf jeden Fall aber zu einem Neustart des Quartiersentwicklungszyklus mit einer – gemessen am Rahmen des Rahmen des Möglichen – optimalen Weiterentwicklung. Reaktive Konfiktvermeidungsregime: Diese Konstellation, im Rahmen der vorliegenden Studie als Szenariovariante .2 geführt, ist von abwartenden, taktierenden Handlungslogiken der Wohnungswirtschaft geprägt. Es gelingt nicht, die tendenziell eher mobile, nervöse Nachfrage vollständig zu bedienen. Die kommunale Seite unternimmt alle Anstrengungen, ein Aktivposten der Quartiersentwicklung zu sein, wird jedoch durch die zwar gesprächsbereiten, aber passiven Vertreter der Wohnungswirtschaft gebremst. Am Ende des Quartiersentwicklungszyklus – also in der Tabula Rasa-Situation des Modells – läuft die Neu- bzw. Wiedervermarktung schrittweise ab. Ein Quartiers-Upgrading ist – je nach struktureller Ausgangsbasis – möglich. Wahrscheinlich ist, dass sich der Status Quo zumindest halten lässt oder ggf. eine suboptimale Entwicklungsphase beginnt. In jedem Fall wird ein neuer, in der Regel stabiler Zyklus beginnen. Progressive Konfliktregime: In progressiven Konfliktregimen stehen sich Markt und Staat antagonistisch gegenüber. Beide verfolgen relativ klare, aber divergierende Ziele mit dem Modellquartier. Während die Wohnungsunternehmen hier – analog zur Szenariovariante .3 – eher Abschöpfungsoder auch Exit-Strategien im Sinn haben, also kurzfristige Verwertung präferieren, möchte die Kommune aktiv gegensteuern. Konflikte sind hierbei vorprogrammiert, koordiniertes Handeln erschwert bis unmöglich. Da aufgrund unzureichender Investitionen die neue postzyklische Nachfrage qualitativ nicht bedient werden kann, versucht man, den Markt rigoros über den Preis zu regeln, also durch Miet- und Kaufpreissenkungen. Aus diesem Setting entsteht ein „Pseudo-Quartiersentwicklungs-Management“, in dem mit den Eigentümern die wichtigsten Partner fehlen. Der Output für das Quartier ist unklar: Es kann – je nach struktureller Ausgangsbedingung – trotz der divergierenden Akteursauffassungen zu einer langfristigen Konsolidierung des Quartiers kommen. Wahrscheinlich ist, dass ein Wechsel von Auf- und Abwertungsperioden auftritt, der stark an allgemeinen Marktschwankungen orientiert sein wird. Auch ein langfristiges Downgrading des Quartiers und sogar ein Abbruch des Quartiersentwicklungszyklus sind nicht ausgeschlossen.
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Kapitalverwertungsregime: Selbstverständlich ist es in allen GovernanceModi das Ziel der Wohnungseigentümer, mit ihren Immobilien Geld zu erwirtschaften. Im „Kapitalverwertungsregime“ (analog zur Szenariovariante .4) konzentrieren sich die wohnungswirtschaftlichen Akteure jedoch auf eine kurzfristige, kompromisslose Abschöpfung und ggf. auf schnelle Verkaufserlöse. Die tendenziell eher flüchtige Nachfrage wird rigoros über Preisnachlässe gesteuert. Wo dies nicht mehr hilft, wird das Angebot reduziert, also Bestände vom Markt genommen oder veräußert. Kommunalbehörden und Kommunalpolitik reagieren mit Passivität und Hilflosigkeit angesichts der Tatsache, dass die wohnungswirtschaftlichen Akteure kein Interesse an einer koordinierten Quartiersentwicklung haben. Ein QuartiersentwicklungsManagement ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. In vielen Fällen (nicht jedoch in ausgesprochen lagebegünstigten Hochpreisquartieren) kann eine solche Situation zu einem Downgrading des Quartiers, zu Wegzügen und ggf. sogar zu einem langfristigen Verfall und Abriss eines Quartiers führen. Ob es angesichts der bis dahin entstandenen Investitionsrückstände und Imageprobleme zu einem neuen Quartiersentwicklungszyklus kommen wird, ist angesichts der Modellprämissen in Frage zu stellen. Ein Zyklusende ist hier keineswegs auszuschließen.
Wie schon angedeutet kann sich das Resultat der „Weichenstellungen“ letztlich trotz gleicher Governance-Form unterscheiden. Quartierstypen, Mikrolagen und besondere Marktsituationen entscheiden über die Zukunft eines Quartiers. Jedoch kann modellhaft folgende Regel unterstellt werden: Je prekärer die Situation in einem Quartier, desto „kooperativer“ und „proaktiver“ sollte der Governance-Modus ausfallen. Mit zunehmender Problemfreiheit eines Quartiers (also etwa: durch heterogene, „resistente“ Altersstrukturen, Neuem gegenüber aufgeschlossene Lebensstilgruppen, heterogenen Wohnungsschlüssel etc.) nimmt die Toleranz gegenüber „Managementfehlern“ (bezogen auf ein „QEM“) oder gegenüber durchaus logischen, aber einseitigen und kurzfristigen Strategien mancher Akteure (z.B. reine Kapitalverwertung) deutlich zu. Deshalb sind die vier Governance-Modi auch nicht unbedingt als eine Abstufung „von gut nach böse“ zu verstehen. In bestimmten Quartierskontexten können eine Abschöpfungsstrategie oder eine abwartende Haltung durchaus Sinn machen. Auch Konfliktregime können für alle Beteiligten gewinnbringend sein, wenn durch sie verkrustete Strukturen aufgebrochen werden können. Die vermeintlich uneingeschränkt positiven „proaktiven Entwicklungsregime“ dagegen könnten sich in manchen Quartieren als eine Form ineffizienter Überregulierung und damit als Ressourcenverschwendung herausstellen. Da sich das Modell auf stagnierende
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und schrumpfende Städte bezieht, dürften jedoch die naheliegenderen Interpretationen, wie sie auch in Abbildung 75 impliziert sind, wahrscheinlicher sein. Für eine Quartiersentwicklungspolitik unter Wachstumsbedingungen müsste die Modellvorstellung weiter angepasst werden, ebenso wie für sehr starke, „katastrophale“ Schrumpfungssituationen, in denen es quasi „keinen Markt“ mehr gibt. Beide Varianten waren jedoch nicht der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, die sich auf künftig häufiger auftretende Situationen konzentriert. Das Modell zeigt, dass die Quartiersentwicklung durch gezieltes Handeln auch unter schwierigen Ausgangsbedingungen beeinflusst werden kann. Managementfehler führen im besten Fall zu suboptimalen Entwicklungen, können jedoch auch zu Abwärtsspiralen führen, die gerade in Nachfragermärkten irreversibel zu werden drohen. Dies ist dann nicht nur mehr ein Problem der Unternehmen, sondern auch der öffentlichen Hand. Damit eine solche unkontrollierte Negativdynamik nicht entstehen kann, sind frühzeitige, dynamische Kommunikationsstrategien erforderlich, die relevante Akteure für mögliche problematische Entwicklungen sensibilisieren (vgl. Klein 2009). Dabei kann sich die Anwendung der oben dargestellten Quartierstypologie sowie der herausgearbeiteten Toolbox als Produktivitäts- und Zeitgewinn erweisen.
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Abbildung 75: Governance-Modell der Quartiersentwicklung mit vier Regimetypen für stagnierende oder schrumpfende Städte
6 Fazit Zur Stabilisierung der Städte ist besonderes Augenmerk auf die Quartiersebene zu legen, d.h. Initiierung von Pilotprojekten, Installierung von Quartiersdialogen zwischen den Akteuren, neuer Umgang mit Prozesshaftigkeit (Unfertigkeit und Zwischennutzungen) […]. DV - Deutscher Verband für Wohnungswesen Städtebau und Raumordnung; BMVBS 2007: 125 Wer heute Wohnraum schaffen und erhalten will, muss soziodemographische Veränderungen antizipieren und angemessene Antworten auf die Erfordernisse des Marktes finden. Neben einer kontinuierlichen Optimierung des Wohnungsbestands kommt dabei der Stadt- und Quartiersentwicklung eine immer größere Bedeutung zu […]. Hermann Marth, RAG Immobilien AG, 2004
Die vorliegende Studie „demographischer Impact in städtischen Wohngebieten“ verfolgte das Ziel, mögliche Zukünfte für typische Wohnquartiere systematisch zu ermitteln und daraus Handlungsempfehlungen für Kommunen und Wohnungswirtschaft sowie ein wissenschaftliches Quartiersentwicklungsmodell abzuleiten. Dazu wurde ein umfangreiches empirisches Programm ausgearbeitet.
6.1 Untersuchungsdesign: Bekannte Theorien, bekannte Methoden – und neue Pfade der Forschung Der Zugang zu den 24 ausgewählten Quartieren der Städte Berlin, Leipzig, Brandenburg/Havel und Essen wurde über klassische sozialgeographische Feldarbeit vor Ort gesucht. Neben Desktop- und Datenrecherchen gehörten auch zahlreiche Bewohner- und Experteninterviews dazu, mit Hilfe derer konkrete Quartierssituationen erörtert werden konnten, wie etwa die Wohnungsmarktlage, die Vor- und Nachteile der jeweiligen Eigentümerstrukturen, lokalpolitische Debatten, Förderkulissen, die Nachbarschaftssituation, persönliche Sichtweisen möglicher Quartierszukünfte und vieles andere mehr. Aus diesen empirischen Materialien entstanden sog. „Quartiersdossiers“. Auf deren Grundlage konnte eine Typologie von Quartieren erarbeitet werden, die im Laufe der Studie eine immer zentralere Rolle als Untersuchungsraster bekommen sollte. Anhand der daraus hervorgegangenen acht Quartierstypen, in die auch die realen Untersuchungsgebiete eingeordnet werden können (von Typ A [Industrie] bis Typ H [Village Revisited]), wurde eine zweistufige Delphi-Experten-
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Fazit
befragung durchgeführt, deren Aufgabe es war, allgemeinere Quartiersentwicklungs-Trends zu ermitteln und die empirischen Fallbeispiele zu reflektieren. Das eigentliche Ziel dieser umfangreichen Vorarbeiten war die Entwicklung von Szenarien mit Hilfe der „Szenariotechnik“. In einem systematischen, mehrstufigen Verfahren wurden dabei Einflussfaktoren ausgewählt, gewichtet, zu Deskriptoren verdichtet, daraus Rohszenarien ermittelt, die wiederum zu vier Szenarioclustern zusammengefasst werden konnten. Die vier Szenariocluster beschreiben jeweils einen Mode of Governance in der Quartiersentwicklung (oder auch ein quartiersbezogenes urbanes Regime). Mit diesen vier Modi wurden nun – basierend auf den Quartiersdossiers, ergänzenden Bevölkerungsmodellrechnungen und verteilt über alle Quartierstypen – 16 Quartiersentwicklungsszenarien beschrieben. Diese auf dem Typenkonstrukt basierenden Szenariotexte waren schließlich – wie etwa transkribierte qualitative Interviews – die Grundlage für differenzierte Handlungsempfehlungen („Toolbox“) sowie die Entwicklung eines wissenschaftlichen Quartiersmodells. Die entstandenen Instrumente können in der strategischen Kommunikation (also z. B. im Rahmen von Workshops o.ä. im kommunalen oder wohnungswirtschaftlichen Bereich) genutzt werden, um ein Bewusstsein für demographische Vorgänge und einen zügigen Einstieg in demographische Quartiersentwicklungsdebatten und in ein zielgerichtetes Quartiersentwicklungsmanagement (QEM, vgl. Kapitel 5.8) zu ermöglichen. Das Quartiersmodell soll dazu dienen, heutige kleinräumige städtische Entwicklungen stärker als bisher als zyklische Demographie-, Markt- und Steuerungsvorgänge im Sinne neuer Formen von Quartiers-Governance zu verstehen. 6.2 Methodik: Wissenschaftliche Erkenntnis – gewonnen aus Komplexität, Unschärfe und Konstrukten Das beschriebene methodische Vorgehen – insbesondere der spezifische Methodenmix – war neu und insofern explorativ. Insbesondere die Szenariotechnik ist nicht unproblematisch, weil hier bei einem hochkomplexen Thema zahlreiche Setzungen auf der Basis „intuitiven Wissens“ erforderlich waren (vgl. Klein 2009). Häufig werden dafür größere Forschungsteams engagiert oder in Workshop-Reihen eine Handvoll ausgewählter Experten befragt. Jedoch sind auch die aus solchen direkten Gruppenprozessen entstehenden Vereinbarungen nicht zweifelsfrei reliabel und mit aller methodischer Vorsicht zu genießen. Hier wurde ein anderer Weg beschritten: Die direkte Diskussion mit relativ wenigen Experten wurde mit Hilfe der Delphi-Methode durch eine indirekte Diskussion mit vielen Experten zu substituiert. Dies hat im Vergleich zu der
Methodik: Komplexität, Unschärfe und Konstrukte295
oben beschriebenen herkömmlichen Vorgehensweise neben der größeren Variationsbreite weitere Vorteile:
Eine Delphi-Befragung ist niedrigschwelliger und kostengünstiger. Es sind keine Terminierungen und Dienstreisen notwendig. Die Experten kennen sich untereinander nicht. Die Gefahr, dass auf dem Rücken einer wissenschaftlichen Untersuchung Scheingefechte ausgetragen oder Meinungen zurückgehalten werden, ist im Gegensatz etwa zu Workshops minimal. Die Ergebnisse sind von vornherein (auch bei qualitativen, offenen Fragen) hochgradig standardisiert und besonders gut auszuwerten. Die Delphi-Methode beinhaltet – anders als herkömmliche Befragungen – die Möglichkeit, Ergebnisse mindestens in einer zweiten Welle zu reflektieren.
Die Erfahrung des vorliegenden Projekts hat gezeigt, dass die Kombination von Delphi-Methode und Szenariotechnik funktionieren kann. Zwar kann manchen Erfordernissen der Szenariotechnik (wie etwa die Erstellung der Konsistenzmatrix, vgl. Kapitel 5.4.1) aufgrund des für jeden Beteiligten exorbitanten zeitlichen Aufwands nur näherungsweise begegnet werden. Dieses Problem wäre jedoch auch bei alternativen Expertenbefragungen aufgetreten. Es wäre möglich, hier bei einer erneuten Anwendung dieses Untersuchungsdesigns stärkere Vereinfachungen und Standardisierungen einzuführen, sodass der Gesamtaufwand verringert werden könnte (vgl. hierzu Kosow & Gaßner 2008: 63ff.). Letztlich bleibt (auch in der vorliegenden Studie) am Ende eine empirische Unschärfe überall dort, wo Setzungen vorgenommen werden müssen: Dies beginnt bei der Auswahl und Typisierung der Quartiere und setzt sich in der Szenariotechnik fort. Die Auswertung der Szenarien wiederum führt zu einer gewissen Selbstreferentialität: Szenarien, die u.a. auf der Basis von Setzungen induktiv entwickelt werden, dienen am Ende wiederum als Grundlage einer Deduktion von Handlungsempfehlungen in einer „Quasi-Ex-Post“-Zukunftssituation. Dies ist aber bei einer behutsamen Auswertung unproblematisch, denn hinter allen Setzungen und Deduktionen stecken eine intensive, an konkreten Quartiersrealitäten angedockte Empirie sowie die abermalige Reflexion im Rahmen der parallel laufenden Delphi-Befragung. Die Reliabilität der Aussagen kann sich meines Erachtens mit denen anderer qualitativer oder quantitativer Studien ohne weiteres messen lassen (vgl. hierzu Klein 2009: 295, der Studien zitiert, die belegen, dass „Bauchentscheidungen […] ebenso tragfähig wie rationale Entscheidungen“ seien).
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Fazit
Eine weitere methodische Spezifik erscheint an dieser Stelle erwähnenswert: Hier wurde erstmals der Versuch unternommen, Szenarien anhand von Typen zu bilden. Dadurch entstehen „Typo-Szenarien“, d.h. Zukunftsentwürfe, die sich von realen Quartieren zugunsten typischer Entwicklungen abgrenzen. Auch dieses „Experiment“ darf als geglückt bezeichnet werden. Durch die Delphi-Befragung konnten Metatrends der Quartiersentwicklung – auch differenziert nach Quartierstypen – noch einmal diskutiert und klar herausgestellt werden. Hier verbarg sich auch die vielleicht größte Schnittstelle zwischen Szenariotechnik und Delphi-Befragung. Die Verwendung der endgültigen Szenarien als Rohmaterial zur Entwicklung von generalisierten „Kommunikationstools“ und modellhaften Vorstellungen wurde durch diesen methodischen Kniff sogar effizienter. Alles in allem kann man konstatieren: Die konzeptionelle Trennung zwischen realen Quartieren und Quartierstypen hat sich bewährt. Auch „Struktur“ und „Handlung“ wurden konzeptionell gesondert veranlagt. Unter Struktur fällt im Wesentlichen das „physische Quartier“ sowie bestehende Institutionen, in den Bereich „Handlung“ die handelnden Akteure vom Bewohner bis zum Immobilienmanager. Damit konnten über die Quartierstypologie strukturelle „Bühnen“ aufgebaut werden, in denen sich die unterschiedlichen handlungsbezogenen Szenarien abspielen konnten. Auch diese Vorgehensweise hat sich bis zum Schluss überaus bewährt. Kritisch ist anzumerken, dass im Falle des vorliegenden Projekts allein aus der umfassenden Darstellung aller Quartierstypen ein enormer quantitativer Aufwand entstanden ist, für den man normalerweise ein größeres Forschungsteam beauftragen würde. Für weitere Forschungsprojekte dieser Art könnte jedoch die Quartierstypologie bereits übernommen oder als Grundlage für eine Überarbeitung genutzt werden. Falls man sich in zukünftigen Untersuchungen auf bestimmte Quartierstypen beschränken wollte, würde sich der Umfang des Vorhabens ebenfalls deutlich verringern lassen.
Typisierte Szenarien, Handlungsfelder, Tools und Modelle im QEM
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6.3 Output: Der Gebrauchswert von typisierten Szenarien, Handlungsfeldern, Tools und Modellen im Quartiersentwicklungsmananegment (QEM) Wollen wir menschlichere, lebendigere, produktivere Lebensumstände schaffen - und dies ist die große Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte - dann ist das Erfinden, Durchdenken und experimentelle Durchspielen möglicher, wünschbarer, humaner Zukünfte von erstrangiger Bedeutung. Wir sollten Werkstätten und Probebühnen schaffen, in denen die "Welt von morgen" in ersten Strichen skizziert, kritisiert, in verbesserter Form modelliert, abermals diskutiert und derart auf vielfache Weise dargestellt werden könnte. Ohne Furcht vor Interessenverbindungen, ohne Bindung an Routine und falsche Vorsichten, ohne jede "Vernünftigkeit", die sich stets am schon Gewussten, schon Gekonnten ängstlich orientiert und so zur Unvernunft wird. Robert Jungk, In: Sonderbeilage der Salzburger Nachrichten, 25.7.1970 Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen. Antoine de Saint-Exupéry, 1948 (Ausgabe 2009)
Aus den 16 Quartiersszenarien, die allein bereits den Blick für mögliche Quartierszukünfte zu schärfen in der Lage sind, wurden für die einzelnen Quartierstypen spezifische Instrumentensettings entwickelt. Es soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, diese Toolboxen noch einmal für alle Quartierstypen zusammenzufassen. Diese wurden in den Kapiteln 5.7 und 5.8 bereits ausführlich und auch synoptisch als Handlungsoptionen dargestellt. Auch wurde an einem konkreten Beispiel eine Toolbox demonstriert (Kapitel 5.8.1.2). Die Toolboxen dienen einem doppelten Zweck:
Zum einen fassen sie wesentliche Erkenntnisse aus dem hier durchgeführten empirischen Projekt zu Entwicklungsoptionen und Handlungsmöglichkeiten in acht Quartierstypen zusammen. Dabei wird auch systematisch in großer inhaltlicher Breite aufgezeigt, was aktuell in der Quartiersentwicklung getan wird. Wie bereits betont, stellen die Toolboxen keine starren Empfehlungen dar, sondern sind bewusst offen, diskutabel und erweiterbar angelegt. Es liegt in der Natur der typenbasierten Vorgehensweise, dass sich reale Fälle darin normalerweise nur unvollständig abbilden lassen.
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Fazit
Zum anderen geht es auch darum, in Diskussionen über die demographische Zukunft von konkreten Quartieren anhand der hier präsentierten Instrumente zu einem schnelleren, gezielteren Debatteneinstieg und zu einer strukturierten Argumentation zu gelangen. Die Toolboxen verstehen sich also nicht nur als generalisierte Handlungsoptionen für Quartierstypen, sondern und auch als Kommunikationsinstrument für eine Auseinandersetzung mit längerfristigen zukünftigen Entwicklungen im Rahmen des Quartiersentwicklungsmanagements (QEM). Zwar ist allenthalben die Rede vom „demographischen Wandel“, aber dennoch – so die hier mehrfach vertretene Hypothese – mangelt es manchem Verantwortlichen noch am Bewusstsein, der Awareness für die Thematik, insbesondere für die Dimensionen des demographischen Impacts, die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, z.B. strategischvorausschauend und kooperativ zu handeln.
Darüber hinaus wurde ein demographisches Quartiersentwicklungsmodell erstellt. Dabei ist deutlich geworden, dass ältere Zyklusmodelle auch heute noch einen Erklärungswert besitzen, jedoch Erweiterungen vonnöten sind. So schien die Urban Regime Theory geeignet, um Governance-Aspekte in die Modellvorstellung einzubringen. Mit dem Governance-Modell der Quartiersentwicklung ist eine fruchtbare Verbindung von Governance-Theorien und herkömmlichen zyklischen Vorstellungen unter besonderer Berücksichtigung demographischer Faktoren gelungen. Damit wird das Modell einer zunehmend dominanten Situation gerecht: Die privatwirtschaftlichen und öffentlichen Handlungsziele klaffen unter dem Eindruck des bereits eingetretenen oder kommenden demographischen Wandels bisweilen stärker auseinander als unter Wachstumsbedingungen. Unter Schrumpfungsbedingungen geht es – zumindest in drastischen Fällen – nicht um mehr oder weniger Profit, sondern um die gänzliche Aufgabe von Vermögenswerten. Die Stadtentwicklungspolitik hat aber möglicher Weise mit manchen Quartieren andere Pläne als die Bestandshalter. Vieles spitzt sich dann auf die Frage zu: Exit und Abwärtsspirale oder Stay und Stabilisierung. Je nach lokalem Politikklima führt dies zu Kooperationen oder Konfrontationen und damit zu mehr oder weniger optimalen Entwicklungsergebnissen für Quartiere. Zur Analyse dieser Prozesse liefert das Modell einen ersten Beitrag, weitere Forschungen auf diesem bislang noch zu wenig beachteten Gebiet sind wünschenswert und erforderlich. Dies schließt auch eine Weiterentwicklung des Modells ein, das als ein erster Ansatz auf diesem Forschungsfeld verstanden werden sollte. Neben diesen Modellvorstellungen und den konkreten Handlungsfeldern bzw. Instrumentarien für die einzelnen Quartierstypen sollen im Folgenden einige zentrale Trends und Erkenntnisse aus dieser Studie zusammengefasst
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werden, die für ein zukünftiges Quartiersentwicklungsmanagement (QEM) handlungsleitend sein könnten oder sollten. 6.4 Metatrends 2030: Quartiersentwicklung – quo vadis? Natürlich wissen wir heute nicht, wie die (Quartiers-)Welt des Jahres 2030 aussehen wird. Dennoch kann man versuchen, mit Fantasie und Sachkenntnis den Blick für die inhärente Veränderlichkeit von Quartieren zu schärfen (vgl. Schwartz 1995). Es ist jedoch anzunehmen, dass die Grundprinzipien der Quartiersentwicklung – irgendwo verortet zwischen privatwirtschaftlicher/kapitalistischer und kommunaler Regulierung – bis 2030 nicht zu sehr von den heutigen Strukturen abweichen werden. Bei der Durchsicht der Literatur fällt auf, dass sich die vorgeschlagenen Maßnahmenpakete zur Quartiersentwicklung in der Regel stark am Status Quo (also an der Situation heute) orientieren und kaum darüber hinausgehen – von einem „Long View“ (Schwartz 1995) kann meist keine Rede sein. Außerdem ist festzustellen, dass die bei weitem meisten Quartiersentwicklungs-Ideen, die vorgeschlagen werden, struktureller Natur sind (also etwa bauliche Maßnahmen). Im vorliegenden Projekt spielen selbstverständlich auch diese Aspekte eine Rolle. Zusätzlich jedoch kommen akteurs- und handlungsbezogene Empfehlungen sowie eine prozesshafte, auch an längeren Fristen orientierte Betrachtung hinzu. Letztlich steht die Analyse der „Stellschrauben“ der Quartiersentwicklung im Vordergrund. 6.4.1 No Hood is an Island: Stadtregionale Embeddedness der Quartiersentwicklung Allein an der Debatte um einen möglichen Reurbanisierungstrend zeigt sich, wie abhängig Quartiersentwicklung von übergeordneten Strukturen und Dynamiken ist. Schon der Sozialökologe Ernest Burgess stellte fest: „To think neighborhood or community in isolation from the rest of the city is to disregard the biggest fact about neighborhood“ (Burgess 1973: 43, zit. n. Hunter 1979: 269). Hunter betont die Embeddedness von Quartieren mindestens bis zum nationalen, heute würde man zweifellos sagen: auch bis zum globalen Kontext (ebd.: 267). Die Wechselwirkungen der unterschiedlichen räumlichen Skalen sind vielfältig. Betrachtet man alleine die Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt, so wird klar, dass Reurbanisierung im innerstädtischen Bereich Druck erzeugt (Anbietermarkt) und Suburbanisierung ein Vakuum (Nachfragermarkt). Die Delphi-
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Experten merkten dazu an, dass eine wahrscheinlich sich anbahnende Reurbanisierung (vgl. Siebel 2007: 14f.) nicht als Kernstadt-Umland-Disparität, sondern als ein nach Lagen und Quartierstypen differenziertes kleinräumliches Bild darstellen würde (Delphi-Befragung 2007/2008). Dieser Gegensatz verschärft sich zusätzlich, wenn die gesamte Stadtregion schrumpft oder stagniert. Je mehr ein Vakuum entsteht, desto stärker greift die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Quartieren, Quartierstypen und Lagen. In diesem stadträumlichen Mosaik kommt es zu Prioritätensetzungen, Aushandlungen und punktueller Verteilung von Fördermitteln oder investiven Maßnahmen. Gewinner- und Verliererquartiere entstehen. Die Nachfrage wird innerhalb der Stadt quasi umverteilt, wie beim Prinzip der kommunizierenden Röhren. Auch in einer wachsenden Stadt kann es zu solchen Polarisierungen kommen, jedoch sind die Handlungsoptionen vielfältiger. Die Embeddedness eines Quartiers entscheidet jedenfalls schon im Vorhinein darüber, ob bestimmte Handlungsoptionen denkbar sind oder nicht. 6.4.2 Mehr Qualität und Stabilität durch Heterogenität und Diversity – demographisch und (städte)baulich Die Szenarien haben anschaulich gezeigt, dass „Heterogenität“ eines der Schlüsselkonzepte der Quartiersentwicklung darstellt: Je größer heute die Heterogenität des Quartiers hinsichtlich demographischer Merkmale ist, desto flexibler lässt es sich an die Erfordernisse veränderter Demographie anpassen (z.B. Typ B [„Utopie“]). Je homogener die Altersstruktur eines Quartiers bereits heute ist, desto drastischer wird der demographische Impact ausfallen, der dazu führen kann, dass innerhalb eines relativ kurzen Zeitfensters in der Zukunft eine große Zahl (meist recht ähnlicher) Wohneinheiten von einem lokalen Markt resorbiert werden muss (z.B. Typ C [„Aufbau“]). Je eher und je wahrscheinlicher dies geschieht, desto teurer und wuchtiger fallen die notwendigen Gegensteuerungsmaßnahmen aus (die im Extremfall auch jenseits der Machbarkeitsgrenze liegen können). Beim Faktor „Heterogenität“ wird die Verquickung (städte)baulicher und demographischer Merkmale deutlich. Baulich monostrukturierte Quartiere sind nicht selten auch demographisch homogen. Gründe dafür liegen z.B. im Baualter, im kollektiven Erstbezug und einer resultierenden Kohortenalterung sowie im einseitigen Angebot an Wohnungstypen – häufig Attribute, die Quartiere des fordistischen Städtebaus auszeichnen. Baulich monostrukturierte Wohnquartiere mit einem derartig unflexiblen, standardisierten Wohnungsbestand sind zwar meist gut und kostengünstig zu verwalten und instandzuhalten,
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in Zukunft aber schwieriger an neue Nachfrageerfordernisse anzupassen als vielfältigere, gewachsenere oder bereits für eine pluralistische Zukunft geplante Quartiere. Auch die Delphi-Experten deklarierten städtebauliche Homogenität als hemmend für die Quartiersentwicklung, städtebauliche Heterogenität als förderlich (Delphi-Befragung 2007/2008). Nachkriegsquartiere, „klassische“ Großsiedlungen, Plattenbaugebiete oder Einfamilienhausgebiete (Typ C [„Aufbau“], Typ D [„Urbanität“], Typ E [„Platte Ost“], Typ G [„Wüstenrot“]) leiden unter den Auswirkungen des demographischen Impacts – je nach Altersstruktur – stärker als andere. Die Delphi-Experten wiesen jedoch mit Recht darauf hin, dass „städtebauliche Homogenität […] bei hoher städtebaulicher Qualität“ (z. B. in manchen Quartieren des Typs A [„Industrie“] oder auch des Typs B [„Utopie“]) durchaus vorteilhaft sein kann (Delphi-Befragung 2007/2008). Zudem „können homogene Strukturen sehr stabilisierend wirken, wenn es innerhalb der Gebäude (eine) Heterogenität der Angebote gibt“ (ebd.). Als Nachteil entpuppt sich Homogenität jedoch immer „bei geringer Qualität/Monotonie“ (ebd.). Obwohl dies hier nicht nachgewiesen werden konnte, ist zu vermuten, dass auch bei stark polarisierten (asymmetrischen) Altersstrukturen solche Entwicklungsprobleme in abgeschwächter Form auftreten können. Strategisch ist die Botschaft klar: Die Zukunft gehört der Diversität – also etwa Quartieren mit heterogener Altersstruktur, gegebenenfalls auch mit sozialer (auch ethnischer) Vielfalt. Diese soziale Zukunft muss sich auch baulich und infrastrukturell niederschlagen. Mit Kreativität ist hier vieles machbar (z.B. sog. „Würfelhäuser“, Beck 2006). Die Akzeptanz von mehr Heterogenität in Mieterschaft und Wohnungsbestand könnte in manchem Wohnungsunternehmen einen Strategiewechsel auslösen (u.a. auch hinsichtlich einer Langfristigkeit von Planungen, weil bestimmte Dinge nicht von heute auf morgen umsetzbar sind). Vorstellungen, die etwa in manchen Wohnungsgenossenschaften verbreitet sind, dass man durch eine Art von „Seniorenwirtschaft“ die Zukunft meistern könne, sind gefährlich. Die Zielgruppe der „jungen Alten“, die heute so heftig umworben wird, um bestehende Strukturen ohne größere Investitionen zu konservieren, kann sich schon morgen in ein Prekariat verwandeln (Stichwort „Altersarmut“). Ohnehin steht „Seniorenwohnen“ m.E. viel zu sehr im Fokus der Entscheider. Wohnraum für Senioren bereit zu halten ist natürlich richtig, hat aber noch nichts mit langfristig nachhaltiger Bestandsentwicklung oder gar mit einer Bewältigungsstrategie für den demographischen Umbruch in einem Quartier zu tun. Im Gegenteil: Die Silver Ager sind eigentlich schon eine Zielgruppe von gestern. Zukunftsträchtiger und nachhaltiger erscheint es, den Konkurrenzkampf um die immer weniger werdenden Familien und junge kinderlose Haushalte schon heute aufzunehmen, neuartige Wohn- und Betreuungsangebote für meist polyzentral
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wohnende Patchwork-Familien zu schaffen und/oder z.B. intergenerationale Quartiers- und Wohnkonzepte mit einer konfliktminimierenden „Nähe auf Distanz“ (Siebel 2007: 18) zu entwickeln und zu erproben: „Der Erfolg liegt in den Nischen“, wie Eichener treffend formuliert hat (2004). Um von einer baulichen Mono- zu einer Polystruktur zu kommen, ist gezielt über Rückbau, Umbau, Neubau, Modernisierung und Instandsetzung nachzudenken. Ziel kann es nicht sein, abwechslungsreich anmutende Quartiere zu designen, sondern durch die baulichen Diversifizierungen auch eine demographische Diversifizierung zu erreichen. Natürlich kann auch im begrenzten Rahmen versucht werden, mit Belegungssteuerung oder Imagekampagnen in diese Richtung zu steuern. Allein: In standardisierte Zeilenbau-Quartiere der 1950er Jahre werden sich im individualisierten, postfordistischen 21. Jahrhundert auch durch Belegungssteuerung oder Marketing kaum gänzlich neue Zielgruppen verirren. Die Akzeptanz pluralisierter Lebensstile und eine Zielgruppendifferenzierung dürfte in vielen Fällen also die beste Zukunftsstrategie darstellen. Dabei dürfte sich insbesondere in Schrumpfungskontexten Qualität zunehmend gegenüber Quantität bzw. niedrigen Preisen durchsetzen (vgl. Beier 2003). 6.4.3 Cooperate or Fail: Quartiers-Governance im Umbruch Zwar gibt es berechtigte Zweifel, ob angesichts fehlender Anreize gerade in stark schrumpfenden Quartieren Kooperationen – Altruismus sei einmal ausgeschlossen – überhaupt möglich sind. Dennoch haben die Untersuchungen im Rahmen dieser Studie gezeigt, dass an Kooperation zwischen Akteuren der Wohnungswirtschaft, kommunalen und sonstigen Akteuren kaum ein Weg vorbeiführt. Denn nicht nur angebots-, sondern auch nachfrageseitig deuten sich in vielen Quartieren Abwärtsspiralen an: Je ungesteuerter und heftiger sich der demographische Umbruch in einem Quartier vollzieht, desto mehr leiden lokale Identitäten und (noch bestehende) soziale Netzwerke. Mit dieser Netzwerkerosion bröckelt auch die Ortsbindung der Bewohner, was wiederum eine Kette von destabilisierenden Prozessen auslösen kann. Wenn, wie die Szenarien hier verdeutlichen konnten, eine derartige Entwicklung droht, ist seitens der Kommunalplanung dringend gegenzusteuern. Außerdem können bei ungesteuerter Schrumpfung Stigmatisierungstendenzen auftreten. Schrumpfung heißt im Quartier zunächst einmal: sichtbarer Leerstand von Wohnungen. Der Schrumpfungsprozess beginnt mit vereinzelten leerstehenden Objekten. Häufen sich die Leerstände, wird ein schleichender Stigmatisierungsprozess oder auch ein rasantes Downgrading (vgl. Tipping-PointHypothese) in Gang gesetzt. Der Umgang der Kommunen und Eigentümer mit
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beginnenden demographischen Leerungsprozessen wird über die Zukunft des gesamten Quartiers entscheiden. Kommunen und/oder Eigentümer, die zum Zeitpunkt der ersten Leerstände konzeptionslos sind und keine Perspektive aufzeigen können, haben es schwer, den „Wüstungsprozess“ oder ein einsetzendes Downgrading umzukehren. Wichtig ist der Zeitpunkt: Je frühzeitiger kooperatives Handeln greift, desto eher wird für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation entstehen können. Allein: Die „Kooperationsnotwendigkeit nimmt [zwar] zu, die -bereitschaft leider nicht immer“ (Delphi-Befragung 2007/2008). Ob Kooperation gelingt, hängt auch von der Eigentümerstruktur ab. Die Präsenz vieler Kleineigentümer oder rein investiv ausgerichteter Immobilienakteure wie Private Equity Fonds kann eine vernetzte Entwicklung stark behindern, weil die Verwertungslogiken stark differieren. Falls die Zeit drängt, die Strukturen schwierig erscheinen oder die Akteure kein Interesse daran zeigen, aufeinander zuzugehen, ist es auch für Kommunen möglich, auch mehr oder weniger sanften Druck auszuüben – etwa durch die Initiierung von Eigentümer-Standortgemeinschaften sowie NID- oder HID-Initiativen, die als Anti-Freerider-Instrumente eingesetzt werden können. Gut funktionierende Kooperation setzt ein gewisses Maß an Vertrauen zwischen den Akteuren voraus. Aus vertrauensvollen, sozialkapitalreichen Kooperationsbeziehungen kann sich so etwas wie ein „Stadtteilregime“ entwickeln – im besten Fall eine stabile Koalition für eine stabile Quartiersentwicklung. Das Delphi-Panel betonte in diesem Zusammenhang den zentralen Aspekt, dass für eine solche Entwicklung in jedem Fall ein integriertes Handlungskonzept und eine zivilgesellschaftliche Beteiligung vonnöten sei (Delphi-Befragung 2007/2008). Ein interessantes Forschungsfeld könnte sich eröffnen, wenn man wirtschaftswissenschaftliche, organisationstheoretische oder psychologische Ansätze heranzöge: Wie etwa organisieren große Unternehmen Mergers & AcquisitionsProjekte und was kann man aus solchen halb freiwilligen, halb gezwungenen Kooperationen lernen? Oder: Mit welchen Methoden oder Anreizen kann man Mitarbeiter (Schüler, Kindergartenkinder) von einem gemeinsamen Ziel (Umsatzziel, Ausflugsziel) überzeugen? 6.4.4 Reden ist Silber – Kommunikation ist Gold Viel wird geredet über den demographischen Wandel. „Demographischer Wandel“ ist ein populärer Konferenz-, Beratungs- und Publikationsmarkt. Jedoch ist auch eine Awareness, also eine bewusste Anerkenntnis dahingehend nötig, welche Auswirkungen der demographische Wandel auf die Bestands- und Quartiers-
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entwicklung haben kann und welche Einflussmöglichkeiten seitens der Kommunen oder der Wohnungseigentümer bestehen. Der demographische Wandel muss deshalb in Fachkreisen kommuniziert werden, wie dies etwa die BertelsmannStiftung tut, aber auch bei Bewohnern oder Kleineigentümern. Wie die Szenarien gezeigt haben, sind dazu z.B. Diskursinitiativen, gezielte Pressearbeit oder lokale Bauausstellungen etc. gut geeignet. Auch die Beauftragung externer Gutachter kann als Kommunikationsinstrument genutzt werden, um verkrustete Akteursstrukturen oder verfestigte Meinungsmuster in der Quartiersentwicklung aufzubrechen. Mit engem Quartiersbezug sind auch Marketingmaßnahmen denkbar und sinnvoll, wie etwa Imaging, eine stärkere Zielgruppenfokussierung von Beständen (z. B. mit Hilfe von Diversity Marketing) oder ganzen Quartieren oder die Förderung der Eigentumsbildung zur Stabilisierung von Quartieren mit überwiegender Mietstruktur. Besonders interessant ist hierbei auch der Ansatz des Neighbourhood Branding, mit dem versucht wird, eine ganzheitliche und partizipative Imagekorrektur und „Sichtbarmachung“ eines Quartiers zu erreichen. Eines muss jedoch klar sein: Die Wohnungsnachfrager sind aufgeklärt, der Markt zunehmend transparent. Es reicht nicht, einem Quartier einen verheißungsvollen Namen zu verpassen und Hochglanzexposés zu drucken. Das „Branding“ muss zum Quartier passen, wenn nicht, muss ein anderes Branding entwickelt oder die Quartiersstruktur angepasst werden. Beides kann sinnvoll sein. Vollkommen sinnlos und sogar kontraproduktiv sind jedoch Imagekampagnen ohne reale Entsprechungen im Quartier. 6.4.5 Das demographische Infrastrukturdilemma Je mehr Alterung und Schrumpfung voranschreiten, desto wichtiger werden demographisch relevante Infrastrukturen als Wohnstandortfaktor (soziale Infrastruktur, Verkehrsinfrastruktur etc.). Auch das Delphi-Panel bestätigte, dass die Infrastrukturausstattung mehr und mehr mitbestimmend für die Zukunft von Wohnquartieren wird (Delphi-Befragung 2007/2008). Das ist sofort einleuchtend: Junge Familien werden trotz der verfügbaren großen Wohnflächen nicht unbedingt dazu bereit sein, z.B. in „alternde“ Einfamilienhausgebiete zu ziehen, da sie befürchten werden, dass das Wohnumfeld wenig kinderfreundlich ist. Des weiteren werden sie vielleicht feststellen, dass die Infrastrukturen nicht für Familien geeignet oder unzeitgemäß sind. Man könnte sogar fragen, ob nicht in Zukunft der vergleichsweise nüchterne „Infrastrukturfaktor“ sogar den heute als
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besonders wichtig erachteten „Lebensstilfaktor“ (Umfeldqualität, Viertelsstruktur, Lage, Bautypus) ablösen wird. Es ist ein Dilemma der Stadtentwicklungsplanung, eigentlich schon die nächste Kita versprechen, planen und finanzieren zu müssen, während gerade der erste Spatenstich für die Seniorenfreizeiteinrichtung zelebriert wird. Dennoch: Die zunächst unrentable kommunale Vorleistung von Infrastrukturen für bestimmte Gruppen wird mit darüber entscheiden, ob homogen alternde Gebiete eine Verjüngung oder Durchmischung erfahren können. Das heißt auch, dass Wohnquartiere in wohlhabenden, investitionsbereiten Kommunen bessere Entwicklungschancen haben könnten.102 Zwischen der wohnquartiersnahen Ausstattung mit und dem Bedarf an sozialer Infrastruktur wird sich eine Schere öffnen. Dem können die Kommunen Rechnung tragen, indem sie entweder Infrastruktur für bestimmte Gruppen bündeln und/oder abbauen oder möglichst flexible Einrichtungen planen, deren Umwidmung für andere Zielgruppen keine größeren Investitionen nach sich zieht. Ein Gedankenspiel: Rational wäre es, Infrastrukturen zu bündeln, qualitativ aufzuwerten und räumlich zu konzentrieren (nach dem Motto: konzentrierte Qualität statt dekonzentrierte Quantität). Gäbe es eine Bildung von „Infrastrukturzentren“, würden „demographische Gruppen“ versuchen, ihre Wege zu „ihrer“ Infrastruktur zu minimieren, d.h. es ist eine sich verstärkende demographische Segregation anzunehmen („Familienenklaven“, „Seniorenenklaven“ o.ä.). Überspitzt gesagt: Statt die Struktur der Quartiere immer wieder den Lebenszyklen der (tendenziell eher immobilen) Nachfrager anpassen, werden die (tendenziell eher mobilen) Nachfrager dazu gezwungen, sich das passende Lebensabschnittsquartier zu suchen. Diese neue demographische Segregation könnte gleichzeitig neue (erwünschte oder unerwünschte) Heterogenitäten (Desegregation) in anderer Hinsicht hervorbringen (z.B. hinsichtlich des Einkommens). Vermutlich würden die gesellschaftlichen Kosten insgesamt überwiegen, die etwa aus dem Verlust urbaner Vielfalt, dem Mangel an intergenerationalem Austausch oder der vermutlich zunehmenden Tendenz zu Gated Communities etc. entstehen könnten. Auch die Experten der hier durchgeführten Delphi-Befragung halten spezialisierte familien- oder altengerechte Quartiere mit sozial homogenen Wohnmilieus weder für wahrscheinlich noch für erstrebenswert. Bezüglich der Anpassung technischer und sozialer Infrastrukturen im Rahmen des demographischen Wandels gibt es bereits umfangreiche, spezialisierte Fachliteratur, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.
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Einschränkend ist hinzuzufügen: Da reiche Gemeinden oft überalterte Gemeinden mit gleichzeitig hohen Bodenpreisen sind, kann sich die Anwerbung junger Familienhaushalte jedoch trotz allem als problematisch herausstellen.
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6.4.6 Sozialkapital: Garant für Nachhaltigkeit in der Quartiersentwicklung Nicht ohne Grund wurde bereits im theoretischen Teil auf die Relevanz des lokalen Sozialkapitals für die Quartiersentwicklung hingewiesen. Sozialkapital hat als Idee gerade in der Stadtentwicklung einen zunehmenden Stellenwert erhalten – nicht nur im Rahmen politischer Rhetorik, sondern auch als gewinnbringendes analytisches Konzept. Dessen Karriere ist nicht zuletzt auf reale demographische Tatsachen zurückzuführen, wie Walter Siebel trefflich argumentiert: „Das Einzelkind zweier Einzelkinder hat nach dem Tod seiner Eltern keinerlei direkte Verwandte: keine Geschwister, keine Cousinen, keine Onkel und Tanten, keine Nichten und keine Enkel. Ähnliches gilt für den lebenslangen Single oder die kinderlose Witwe [...]. Umso wichtiger wird es, dass diesen Menschen Anknüpfungspunkte geboten und Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme in ihrem Quartier eröffnet werden“ (Siebel 2007: 16f.)
Aber auch post- oder spätmoderne gesellschaftliche Veränderungen haben beobachtbare Effekte, die letztlich auf die zunehmende Relevanz lokalen Sozialkapitals hindeuten: Während einerseits unbedingte Mobilität und Globalisierung auf eine lokale Entankerung hinwirken, gibt es – zumindest bei vielen Menschen – auch eine Gegenbewegung auf der lokalen Ebene: die Sehnsucht nach einem (zumindest temporären) Fixum in der Freizeit, nach „kleinen“, oft nachbarschaftlichen, unkomplizierten Beziehungen. Quartiere, die einen hohen Anteil eines solchen lokalen Sozialkapitals besitzen, können als besonders identifikativ und partizipativ, somit trotz einer gewissen Fluktuation als besonders stabil gelten. Dieser Aspekt gewinnt gerade in Quartieren im demographischen Umbruch an Bedeutung:
Der demographische „Tipping Point“, der zu fluchtartigen Absetzbewegungen führt, wird durch Netzwerke und lokale Identifikation nach hinten verschoben. Intergenerationales Sozialkapital kann helfen, den sozio-demographischen Wandel im Quartier besser und sogar mit einem Gewinn für alle Beteiligten zu bewältigen. In sozialkapitalreichen Quartieren sind auf Mitwirkung angelegte Maßnahmen wie Neighbourhood Branding o.ä. wesentlich Erfolg versprechender.
Lokales Sozialkapital kann aber auch negativ wirken, wie das in den Szenarien immer wieder zitierte „Etablierte-Außenseiter-Problem“ zeigt. Dann verbündet sich eine mit „Bonding Social Capital“ ausgestattete Gruppe von Alteingesessenen gegenüber nicht eingebundenen Neuzuzüglern – ein enormes Entwicklungs-
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hemmnis. Hier kommt es auf maßgeschneiderte Interventionen an. Auch die Delphi-Experten waren der Meinung, dass man nachbarschaftlichem Sozialkapital in der Quartiersentwicklung künftig ganz besondere Beachtung schenken sollte, insbesondere wenn es um die Nachhaltigkeit der Entwicklung gehen soll (Delphi-Befragung 2007/2008). Denkt man über künftige Quartiersentwicklungsstrategien im Kontext demographischer Umbrüche nach, ist es also unzureichend, sich nur auf städtebauliche, soziale und demographische Mischungsgrade zu konzentrieren (vgl. Beer & Kirchhoff o.D.). Lokales Sozialkapital, nachbarschaftliches Miteinander oder offene soziale Strukturen für Neuzuzügler erscheinen als mindestens ebenso wichtig für eine erfolgreiche Zukunft. Fördern kann man dies durch Nachbarschaftsprojekte, integrative Projekte für Zuzügler oder auch durch die Schaffung kommunikativer Strukturen im Wohnumfeld etc. Dabei kann man ohne weiteres auf den Erfahrungsschatz der Programms „Soziale Stadt“ zurückgreifen. Darüber hinaus ist zu überlegen, ob man nicht die Genossenschaftsidee stärken sollte. Während sich alternde traditionelle Genossenschaften erneuern müssen, gibt es positive Beispiele junger, neu gegründeter Genossenschaften, die über viel lokales Sozialkapital und Ortsbindung ihrer Mitglieder verfügen und für die Quartiersentwicklung stabilisierend wirken können (vgl. HabermannNieße & Klehn 2007, Simbriger 2007). Auch der Verkauf städtischer Wohnungsunternehmen an Genossenschaften mit geringeren Renditeerwartungen statt an private Investoren (der sog. „Flensburger Weg“) ist zu erwägen. 6.4.7 Die Entdeckung des Raums: Quartiersorientierung – zunehmende Konvergenz in Wirtschaft und Kommunen Was hier mit „Quartiersorientierung“ gemeint ist, stellt gleichermaßen eine Beobachtung eines aufkeimenden Trends wie eine Handlungsempfehlung dar. Dass in den Kommunen die Quartiersorientierung im Kielwasser der Programme „Soziale Stadt“ und „Stadtumbau“ Einzug gehalten hat, ist nichts Neues. Jedoch auch in der Wohnungswirtschaft wird diese Phasenverschiebung vereinzelt sichtbar. Dies konnte in Experteninterviews im Rahmen dieser Studie festgestellt und durch das Delphi-Panel bestätigt werden (Delphi-Befragung 2007/2008). Zu Bestandsorientierung und Portfoliodenken kommt in einigen Unternehmen nun auch das gesamte Quartier als Unique Selling Point mehr und mehr zum Tragen. Damit öffnet sich eine Schnittstelle für mehr Kooperation mit der wohnungswirtschaftlichen Konkurrenz, mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und mit kommunalen Stellen.
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Dieser veränderte Fokus ist ausgesprochen nützlich, und es sollte zumindest kommunikativ immer wieder darauf hingewirkt werden, dass sich weitere Unternehmen (insbesondere solche mit großen Wohnungsbeständen) diese Sichtweise zu eigen machen. Das hier schon häufiger genannte Neighbourhood Branding könnte als komplexes und partizipativ angelegtes Marketing-Instrument gerade für Unternehmen eine gute Methode sein, neue Wege in Richtung Quartiersorientierung zu gehen. Darüber hinaus sind auch Maßnahmen im Sinne von Place Making wichtig, wie z. B. Wohnumfeldverbesserungen (etwa Möblierung von Abstandsflächen), Vernetzung mit Nachbarquartieren, Freiraumplanung, gezielte temporäre Nichtnutzung von Gebäuden oder Flächen o.ä. Für den kommunalen Bereich stehen natürlich die oben genannten Programme im Raum, aber auch klassische Standortentwicklung, also etwa die Entwicklung oder Gestaltung der lokalen Ökonomie, eventuell auch die Ansiedlung von Unternehmen, etwa um neue Wohnungsnachfrage zu generieren, ist kein Instrumentarium vergangener Tage. 6.4.8 Die Entdeckung der Zeit: Von Weitblick, Proaktivität und Langfristigkeit Ein Quartiersentwicklungsmanagement (QEM) im demographischen Wandel muss strategisches, d.h. vorausschauendes, proaktiv planendes Handeln mit Weitblick bedeuten. Das mag für einzelne Akteure gelten (wie etwa das Stadtplanungsamt, das Wohnungsunternehmen XY), aber auch für kooperierende Akteursallianzen unterschiedlichster Zusammensetzung. Je mehr Akteure in das QEM eingebunden sind und je weiter das Problem zeitlich entfernt scheint, desto schwieriger wird es sein, einen strategischen Konsens herzustellen. Beide Faktoren sind jedoch trotz ihrer vermeintlich hemmenden Wirkung eminent wichtig: Es sollten sich möglichst viele unterschiedliche Akteure mit möglichst vielen unterschiedlichen Ressourcen und Ideen möglichst frühzeitig zu einer möglichst verbindlichen Strategieentwicklung zusammenfinden. Ein ganz wesentlicher Aspekt, der quasi auf der Hand liegt, aber selten wirklich geschätzt wird, ist das aktive Generieren von Zeitvorteilen in der Stadtentwicklung. Dass die „Zeit“ wenig populär ist, dürfte auch an der Natur politischer Ämter und wirtschaftlicher Posten liegen: So führen die bevorstehende Kommunalwahl, die absehbare Pensionierung oder auch kurzfristige Renditeziele oft nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Problemen in der mittleren oder ferneren Zukunft, selbst wenn diese bereits heutiges Handeln erforderten. Unter Nachhaltigkeitsaspekten betrachtet ist eine derartige Entscheidungsstruktur als katastrophal zu bezeichnen. Am wahrscheinlichsten kann man in
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manchen Stadtverwaltungen, in denen kontinuierlich und (weitgehend) unabhängig von politischen Entwicklungen engagierte fachliche Arbeit geleistet wird, ein ausgeprägtes Bewusstsein für Langfristiges ausmachen. Aber auch die Rechtslage lässt vorausschauendes Handeln offenbar nicht immer zu: Beim „Stadtumbau Ost“, der über städtebauliche Entwicklungskonzepte (quasi „Quartiersumbaukonzepte“) abgewickelt wird, sieht § 171a Abs. 3 BauGB im Wesentlichen nur reaktive Aufgaben vor – die frühzeitige Vermeidung künftiger Fehlentwicklungen ist hier nicht berücksichtigt. Das Kind muss also schon (fast) in den Brunnen gefallen sein, ehe man handeln kann. Eine weitere Quasi-Rechtfertigung für kurzfristiges Denken liefert die Wissenschaft: Langfristprognosen (herkömmlicher Art) sind naturgemäß unsicher, im Bereich der Stadtentwicklung, wo es auch auf kleinräumige Entwicklungen ankommt, sehr aufwendig oder sogar unbrauchbar. Andere Angebote, wie z.B. Entwicklungsszenarien gibt es auch aus der Wissenschaft wenige – und was nicht irgendwo gemacht wird, wird auch selten beauftragt. So kommt es dazu, dass im Bereich der Quartiersentwicklung – wenn man überhaupt in die Zukunft blickt – Zukunftshorizonte von einem bis zwei Jahren die Regel sind, als weit vorausschauend gelten bereits fünf Jahre. Für demographische Entwicklungen sind derartige Horizonte strategisch unbrauchbar: Es ist, als würde man den Klimawandel mit einem Aufforstungsprojekt im folgenden Geschäftsjahr in den Griff bekommen wollen, ohne sich Gedanken über weitere künftig erforderliche Maßnahmen zu machen. Die „Aufforstung“ wird sicherlich nicht schaden, die Frage ist aber, ob sie etwas bringen wird. Was aber bringt frühzeitiges Handeln in Quartieren im demographischen Umbruch? Frühzeitig steuernd einzuwirken wird sicherlich nicht sämtliche Fehlentwicklungen verhindern können (dazu ist das Gesamtsystem „Stadt“ viel zu komplex), aber es kann helfen, schwierige Zukunftssituationen zu minimieren. Ansätze zu kleinräumigem Monitoring, wie sie in einigen Städten bereits durchgeführt werden, sind eine wichtige Grundlage. Allerdings müssen auf dieser Grundlage mit Nachdruck auch Zukunftsentwürfe und entsprechende Strategien entwickelt werden, insbesondere für Quartiere mit absehbar problematischen Entwicklungen (wie etwa einer drohenden demographischen Welle). Vor dem Hintergrund solcher Zukunftsentwürfe, zu deren Kommunizierbarkeit das vorliegende Projekt einen bescheidenen Beitrag zu leisten in der Lage war, können im Rahmen eines Quartiersentwicklungsmanagements (QEM) die Weichen frühzeitig richtig gestellt werden: etwa durch beginnenden behutsamen Umbau von Wohnungen, allmähliche Wohnumfeldverbesserungen, gut vorbereitete Imagekampagnen o.ä. Ein ganz entscheidender Vorteil ist, dass die nötigen investiven Mittel über einen längeren Zeitraum gestreckt werden können und dass man aufgrund des
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geringeren Handlungsdrucks im QEM auch immer wieder „Testballons“ steigen lassen und Rückkoppelungsschleifen einbauen kann. Nicht alle Projekte oder Ideen werden fruchten, weil nicht alles genau vorauszusehen sein wird. Aber es muss nicht alles auf eine Karte gesetzt werden: Diversität entsteht dann allein durch kluges, reflexives inkrementalistisches Planen und Bauen und dadurch, dass man mehr und mehr in „verschiedenen Zukünften“ zu denken lernt. 6.5 Mehr Quartiersforschung – mehr Zukunftsforschung: Die Geographie ist gefragt Die Studie hat gezeigt, dass die inhaltliche Weiterführung der Quartiersforschung ein lohnendes, notwendiges und durchaus herausforderndes Unterfangen darstellt. Sowohl in der Grundlagenforschung als auch im Bereich der angewandten Geographie bietet allein die vorliegende Studie vielfachen Anlass zu einer fruchtbaren Vertiefung (etwa in Einzelstudien zu bestimmten Quartierstypen). Auch die systematische Einbettung der Quartiersforschung in den Kontext der Stadt- und Sozialgeographie ist wünschenswert. Als ein besonders zukunftsrelevant ist die intensivere geographische Auseinandersetzung mit Quartieren unter Schrumpfungsbedingungen anzusehen. Das Wachstumsparadigma hat die (meist wirtschafts- und sozialwissenschaftliche) Theorie- und Modellentwicklung in der Quartiersforschung bislang stark dominiert. Praktisch alle klassischen Theorieansätze arbeiten mehr mit Druck- als mit Vakuumsituationen. Die Frage stellt sich, welchen Erklärungswert die bisherigen Ansätze unter Bedingungen des demographischen Wandels haben und inwieweit sie Möglichkeiten zur Umdeutung bieten. Die vorliegende Arbeit hat weiterhin gezeigt, dass von Entscheidern mitunter auch die Richtung eines möglichen Quartierswandels oft zu einseitig antizipiert wird. Überspitzt formuliert könnte die Botschaft lauten: Je nach Ausgangsbedingungen kann der „Fahrstuhleffekt der Alterung“ ein Quartier gleichermaßen zu einer Wohlstandsoase wie zu einem Krisengebiet machen – ein Umstand, der nicht nur die Bewohner, sondern auch die Eigentümer betrifft (vgl. Schnur 2006). Wenn es einen verbreiteten Mangel an Vorstellungskraft oder -willen gibt, besteht zweifellos ein Forschungsbedarf hinsichtlich unterschiedlicher Entwicklungspfade, für den insbesondere die geographische Wissenschaft prädestiniert erscheint. Auch der ganzheitliche Blick auf das Quartier (die hier so häufig angeführte „Quartiersorientierung“) muss weiter geschärft werden, gerade auch von Seiten der Geographie. Eingehendere Forschungen zu einem „demographischen Tipping Point“ sowie zu einem alterungsbedingten „Incumbent Upgrading“ oder „Downgrading“ und deren Determinanten wären ebenfalls
Mehr Quartiersforschung – mehr Zukunftsforschung
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wünschenswert und wichtig. Im Rahmen der vorliegenden Studie aufgeworfene Quartiers-Themen wie die Bedeutung der Zuwanderung, lokaler Identifikation, der Ortsbindung und des lokalen (auch intergenerationalen) Sozialkapitals sollten zudem in Zukunft vertieft werden (zur Relevanz der Quartiersforschung vgl. auch Schnur 2008b, 2008c). Eine bedeutende Forschungsfrage wäre auch, wie die häufig in Stadtentwicklungsdebatten implizierte „Rejuvenation“ (als demographisches Gentrification-Pendant) gezielt zu erreichen und inwieweit eine solche „Jugendlichkeitsnorm“ gesellschaftlich überhaupt erstrebenswert wäre? Weil der „Fokus Quartier“ in seiner Relevanz so klar erscheint, möchte ich dieses Fazit dazu nutzen, auch noch einen anderen Schwerpunkt dieser Arbeit in den Vordergrund zu rücken: die geographische Beschäftigung mit der (entfernteren) Zukunft. Widmet man sich – wie hier geschehen – kleinräumigen Fragestellungen, etwa in einem Zeithorizont von 20 bis 30 Jahren, stößt man mit der herkömmlichen Methodik und Theorie sehr schnell auf sehr enge Grenzen. „Normale“ quantitative Prognosen sind dann in einem sich ständig verändernden Umfeld wie einer Großstadt das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt werden. Potenziale dagegen bieten sich, wenn man sich etwa mit Szenarien befasst. Dabei gibt es außer der hier dargestellten Szenariotechnik auch noch weitere, weniger standardisierte Möglichkeiten, Szenarien zu entwickeln. Hier ist bislang nur wenig exploriert worden. Insbesondere kann die Geographie von den heute in vielen Unternehmen gängigen Methoden des Zukunftsmanagements lernen. Dort wurden bereits effiziente Methoden entwickelt und erprobt. Zukunftsforschung als angewandte Wissenschaft dürfte gesellschaftlich zunehmend relevant werden (vgl. Kreibich 2008). Es ist also Mut zur methodischen Kreativität gefragt. Aber auch inhaltlich spannt sich ein interessantes Forschungsfeld auf: So könnte eine „Zukunftsgeographie“ z.B. die Vorstellungen der Menschen über ihre „möglichen Zukünfte“ (etwa des Wohnens und des Wohnumfelds, Wohnkarrieren als Szenarien) erforschen. Allgemein herrscht in der Wissenschaft die Meinung vor, die Menschen wüssten grundsätzlich nicht, was sie in der Zukunft wirklich tun würden (was natürlich völlig korrekt ist), weshalb Empirie, die in diese Richtung gehe, unhaltbar sei. Dies ist m.E. aber nur die halbe Wahrheit: Die Vorstellungen der Menschen über mögliche Zukünfte bringen – unabhängig von deren Eintrittswahrscheinlichkeit – einen enormen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der individuellen Wünsche, Ideale, Selbsteinschätzungen und privaten Utopien. Systematisch z. B. nach Lebensstilgruppen untersucht, bedeutete dies, dass man z.B. geographische „Wohnwünsche“-Szenarien inklusive möglicher Verortungen dieser Sozialstratigraphie in die Zukunft projizieren und daraus zielgruppenspezifische Planungen ableiten könnte. Gerade qualitative Forschung wäre hier sehr sinnvoll.
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Fazit
Elisabeth Lichtenberger monierte schon 1989, „daß die geographische Forschung bisher den Schritt in die Zukunft nicht getan und die Zukunftsforschung den Vertretern systematischer Disziplinen und Statistikern überlassen“ (Bähr et al. 1992: 117) hätte. Die Situation ist unverändert: Die Geographie sollte sich intensiv in unsere Zukunft einmischen.
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Material- und Szenarienanhang
Inhalt Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 1
Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen . . . . . . . . . . . . . 347
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1 1.4.2 1.5 1.5.1 1.5.2 1.6 1.6.1
1.7 1.7.1 1.7.2 1.8 1.8.1 1.8.2
Typ A: Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A-höhe (Typ Industrie – Szenario Aj.1: Pro Quartier!) . . . . . . . . . . . . . . A-dorf (Typ Industrie – Szenario Aj.3: Markt vs. Lokalstaat) . . . . . . . . A-viertel (Typ Industrie – Szenario Aj.4: Quartier des Kapitals) . . . . . . Typ B: Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B-dorf (Typ Utopie – Szenario Ba.3: Markt vs. Lokalstaat) . . . . . . . . . . Typ C: Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C-feld-Süd (Typ Aufbau – Szenario Ca.3: Markt vs. Lokalstaat) . . . . . . C-wald-Siedlung (Typ Aufbau – Szenario Ca.1: Pro Quartier!) . . . . . . . Typ D: Urbanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D-neustadt (Typ Urbanität – Szenario Dh.1: Pro Quartier!) . . . . . . . . . . D-berge (Typ Urbanität – Szenario Dh.3: Markt vs. Lokalstaat) . . . . . . Typ E: Platte-Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E-viertel (Typ Platte-Ost – Szenario Ea.1: Pro Quartier!) . . . . . . . . . . . E-hausen (Typ Platte-Ost – Szenario Ea.3: Markt vs. Lokalstaat) . . . . . Typ F: Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hafenquartier F (Typ Postmoderne – Szenario Fj.4: Quartier des Kapitals) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnpark Halbinsel F-holz (Typ Postmoderne – Szenario Fa.2: Pro Quartier?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typ G: Wüstenrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G-walde (Typ Wüstenrot – Szenario Gj.1: Pro Quartier!) . . . . . . . . . . . G-heim (Typ Wüstenrot – Szenario Ga.2: Pro Quartier?) . . . . . . . . . . . . Typ H: Village Revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H-nau (Typ Village Revisited – Szenario Ha.2: Pro Quartier?) . . . . . . . H-bach (Typ Village Revisited – Szenario Ha.4: Quartier des Kapitals)
2
Ausgewählte Strukturdaten der Quartiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
3
Liste der Experteninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
4
Delphi-Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
1.6.2
349 350 358 366 374 375 383 384 393 401 402 413 423 424 435 445 446 457 467 468 478 486 487 499
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Synopse für Szenario Aj.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 2: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp A Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Katernberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 3: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Katernberg, ST 39, Angaben in %, 2005) . Abbildung 4: Synopse für Szenario Aj.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 5: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Volkmarsdorf, OT 21, Angaben in %, 2005) . . . Abbildung 6: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp A Typ I: deutliche Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Kottbusser Tor) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 7: Synopse für Szenario Aj.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 8: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Schleußig, OT 50, Angaben in %, 2005) . Abbildung 9: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp A Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Schleußig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 10: Synopse für Szenario Ba.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 11: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp B Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Marienbrunn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 12: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Neutempelhof, Kerngebiet, TVZ 06812, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 13: Synopse für Szenario Ca.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 14: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp C Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Nord) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 15: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp C (hier: Modellquartier Nord, OT 5, Angaben in %, 2005) . . . . . . Abbildung 16: Synopse für Szenario Ca.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 17: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp C (hier: Modellquartier Plänterwald, Kerngebiet, TVZ 12021, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 18: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp C Typ III: deutliche Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Plänterwald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 19: Synopse für Szenario Dh.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
350
352 354 358 360
361 366 368
369 375
377
378 384
386 387 393
395
396 402
342
Material- und Szenarienanhang
Abbildung 20: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp D Typ II: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Hochhausbereich) . . Abbildung 21: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp D (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Kerngebiet, TVZ 09631, 09632, 09633, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . Abbildung 22: Synopse für Szenario Dj.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 23: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp D Typ II: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Hochhausbereich) . . . Abbildung 24: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp D (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Kerngebiet, TVZ 09631, 09632, 09633, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . Abbildung 25: Synopse für Szenario Ea.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp E Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Karl-Marx-Allee-Süd) . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 27: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Hans-Loch-Viertel, Kerngebiet, TVZ 14725, 14731, 14732, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . Abbildung 28: Synopse für Szenario Ea.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 29: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp E Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Hans-Loch-Viertel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 30: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Karl-Marx-Allee-Süd, Kerngebiet, TVZ 10512, 11711, 11712, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . Abbildung 31: Synopse für Szenario Fj.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 32: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp F Typ I: deutliche Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Pulvermühle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 33: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp F (hier: Modellquartier Pulvermühle, Kerngebiet, TVZ 03312, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 34: Synopse für Szenario Fa.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 35: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp F Typ III: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Am Krusenick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 36: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp F (hier: Modellquartier Am Krusenick, TVZ 13014, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 37: Synopse für Szenario Gj.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405
406 413
415
416 424
426
426 435
437
437 446
449
450 457
459
460 468
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 38: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp G Typ II: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Fort Hahneberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 39: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp G (hier: Modellquartier Fort Hahneberg, Kerngebiet, TVZ 03734, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 40: Synopse für Szenario Ga.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 41: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp G Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Fulerum-Haarzopf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 42: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp F (hier: Modellquartier Fulerum-Haarzopf, ST 15, 28, Angaben in %, 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 43: Synopse für Szenario Ha.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 44: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp H Typ I: deutliche Zuwanderung, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Kirchmöser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 45: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp H (hier: Modellquartier Kirchmöser, OT 4, Angaben in %, 2005) . Abbildung 46: Synopse für Szenario Ha.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 47: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp H Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Mölkau) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 48: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp H (hier: Modellquartier Mölkau, OT 26, Angaben in %, 2005) . . .
343
471
471 478
480
481 487
489 490 499
502 503
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14:
Übersicht der ausformulierten Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ A – Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ B – Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ C – Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ D – Urbanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ E – Platte-Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ F – Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ G – Wüstenrot . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken-Schwächen-Profil Typ H – Village Revisited . . . . . . . . . . . Quartiers-Strukturdaten (Teil 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quartiers-Strukturdaten (Teil 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quartiers-Strukturdaten (Teil 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der Experteninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der beteiligten Delphi-Experten (1. Welle) . . . . . . . . . . . . . . .
348 349 374 383 401 423 445 467 486 509 510 511 513 515
1
Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Die im Folgenden dokumentierten ausführlichen Quartiersentwicklungsszenarien sind fiktiv. Dennoch entstanden sie u.a. auf der Basis der umfangreichen empirischen Erkenntnisse aus den Dossiers der Untersuchungsquartiere sowie der in diesem Zusammenhang durchgeführten Bewohnergespräche (im Folgenden als anonymisiertes Kürzel beginnend mit „B_“) und Experteninterviews (beginnend mit „E_“) in realen Kontexten. Dabei wurden Beispiele, Zitate und Daten aus den unterschiedlichen konkreten Quartieren eines Typs genutzt und oft innerhalb der Szenarien mosaikartig zusammengesetzt, ohne dass diese jedoch inhaltlich entstellt wurden. Die in den Szenarien im Hauptteil ausführlicher diskutierten Stärken und Schwächen der Quartierstypen gehen u. a. auf die Ergebnisse der Delphi-Befragung zurück. Hier wurden diese ebenfalls in die Textszenarien einfließenden Informationen noch einmal zu jedem Quartierstyp in einer Überblickstabelle unkommentiert vorangestellt. Jedes Szenario wird durch eine Synopse eingeleitet, die u. a. mit Hilfe einer suggestiven Farbgestaltung szenariotypische Tendenzen zusammenfasst (schwarz = problematisch, grau = teils/teils, weiß = unproblematisch). Aus Machbarkeitsgründen konnten hier nicht alle wünschenswerten Szenarien für alle Quartierstypen ausgeführt werden. Zunächst einmal wurden mit Rücksicht auf das Oberthema der Studie Szenarien für deutlich wachsende Stadtregionen ausgeschlossen. Alle hier entwickelten Szenarien beruhen also auf Stagnation oder leichter Schrumpfung. Tabelle 1 zeigt die ausgewählten Szenarien. Es wurde darauf Wert gelegt, dass zu jedem Quartierstyp mindestens ein Szenario („Szene“) vorliegt und außerdem alle vier Szenario-Varianten („Bühnenbilder“) vorkommen. Darüber hinaus wurden die Altersstrukturen, die Sozialstruktur und die Bausubstanz zum Zeitpunkt 2005 variiert. Auf diese Art und Weise entstanden insgesamt 16 Textszenarien.
Annahmen 2005
Szenario .3: Markt vs. Lokalstaat
Szenario .2: Pro Quartier?
Szenario .1: Pro Quartier!
× = l a ngfri s ti ge Aufwertungs tendenz Ö = Auf- und Abwertungs peri oden, offener Entwi ckl ungs pfad Ø = l a ngfri s ti ger Abwertungs trend
alt
alt
jung
alt
jung
jung
alt
heterogen
jung
alt
alt
heterogen
Fiktive Namen
Marienbrunn, ferner: Neutempelhof, Margarethenhöhe
Neutempelhof, Margarethenhöhe
Vogelheim, Volkmarsdorf, Kottbusser Tor, Katernberg
Schleußig, Katernberg
Mölkau, Überruhr-Hinsel, Kirchmöser, ferner: Fulerum-Haarzopf, Horst
Fulerum-Haarzopf, ferner: Überruhr-Hinsel
Fort Hahneberg, ferner: Vogelheim
Krusenick
Pulvermühle
Hohenstücken
Karl-Marx-Allee Süd, Hans-Loch-Viertel
Märkisches Viertel, Horst (Teilbereich Hörsterfeld), Kottbusser Tor
Belß-Lüdecke-Siedlung
= Szenari en i n der nä heren Unters uchung
H-na u | H-ba ch
G-hei m
G-wa l de
Wohnpa rk Hal bi ns el F-hol z
Ha fenquarti er F
E-vi ertel | E-ha us en
D-neus ta dt | D-berge
C-wa l d-Si edl ung | C-fel d-Süd B.-Nord, Schönefeld-Ost, Plänterwald
B-dorf
A-höhe | A-dorf
A-vi ertel
Referenzen
Beispiele aus den Modellquartieren
jung
+ + o o + + + o o
Szenario .4: Quartier des Kapitals
+ = gut o = mittel - = schlecht
Typische Altersstruktur
+ + o o o + + + + +
Szenario .1: Pro Quartier!
j j h a a j h a j j a j a a
Bauqualität (Varianten)
jung
Stadtregionales Vakuum - Stadtregionaler Druck Quartierstrend 2030 Quartierstrend 2030
Szenario .2: Pro Quartier?
Typ A Typ A Utopie Typ B Typ B Aufbau Typ C Typ C Urbanität Typ D Platte Ost Typ E Typ E Postmoderne Typ F Typ F Wüstenrot Typ G Typ G Village Revisited Typ H
Soziales Level (Varianten)
Industrie
Quartierstypen
Tabelle 1: Übersicht der ausformulierten Szenarien
348 Material- und Szenarienanhang
Szenario .4: Quartier des Kapitals
Szenario .3: Markt vs. Lokalstaat
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.1
349
Typ A: Industrie
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ A
Tabelle 2: Stärken-Schwächen-Profil Typ A – Industrie
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt (über/unter Durchschnitt) Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
+ < o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲ und/oder FamilienfreundlichͲ keit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, Variabilität für unterschiedliche LebensstilͲ und Haushaltstypen)
– + + +
o + + +
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Typische Quartiere dieser Kategorie sind demographisch jung (j-Varianten der Szenario-Matrix), entweder sozial prekär oder starkem Aufwertungsdruck und in diesem Kontext unterschiedlichen Steuerungsformen ausgesetzt (Szenarien Aj.1, A j.3, Aj.4).
350 1.1.1
Material- und Szenarienanhang
A-höhe (Typ Industrie – Szenario Aj.1: Pro Quartier!)
Modellquartiere: Essen-Vogelheim, Leipzig-Volkmarsdorf, Berlin-Kottbusser Tor/ Wassertorplatz, Essen-Katernberg Abbildung 1: Synopse für Szenario Aj.1 Typ SzenarioVariante
A .1
Industrie Pro Quartier!
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
j
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: z.T. problematisch
Bausubstanz: z.T. problematisch
niedriges Mietniveau, demographische Heterogenisierung, MultikultiMilieu, viel Sozialkapital, Partizipation, „Mieter als Eigentümer“, Neighbourhood Improvement District, Imageverbesserung, Incumbent Upgrading
+
langfristig aufgewertet ohne Verdrängung – aktives, lebendiges Quartier mit weiterem Zukunftspotenzial
351
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Raus aus der zweiten Liga Modellstadt war durch jahrelange Stagnation geprägt. Es kam zwar nicht so schlimm wie manche Auguren noch um die Jahrtausendwende zu wissen glaubten, aber eine strukturelle demographische Alterung und eine mehr oder weniger „rote Null“ bei der Einwohnerentwicklung waren die Realität. Der Modellstädter Wohnungsmarkt war dadurch tendenziell eher ein Nachfragermarkt, in dem die Qualität der Immobilien und der Lage (u. a. des Quartierstyps) ganz besonders entscheidend war. Die Modellstädter A-höhe gehörte nie zu den problemlos vermarktbaren Altbauquartieren. Das im Rahmen der Industrialisierung schnell gewachsene Viertel war durch ein ständiges Auf und Ab geprägt. Die vorwiegend gründerzeitlichen Wohnungen und kleinen Wohnhäuser erwiesen sich zwischenzeitlich als stark unterausgestattet und marode, dann jedoch wieder als erstaunlich flexibel hinsichtlich unterschiedlicher Zielgruppen. Seit den 1990er Jahren kristallisierten sich in Modellstadt bei einem konstanten leichten Nachfragermarkt viele (gute) konkurrierende Lagen heraus. Geringfügige Imagedifferenzen, einige medienwirksame Vorkommnisse und Pfadabhängigkeiten entschieden über die Konkurrenzfähigkeit eines Quartiers. So galt A-höhe im Vergleich zu anderen Innenstadtquartieren als relativ „öde“, was u. a. am geringen Grünanteil lag. Dies wiederum ist historisch zu begründen, denn die Straßenzüge des Arbeiterquartiers hatten einen recht engen Querschnitt, der einen Baumbestand verhinderte. Dazu kam z. B. die bundesweit Schlagzeilen machende migrantische Jugendgang „Triple A“, die für etwa zwei Jahre im Viertel ihr Unwesen trieb und es in Verruf brachte. A-höhe war von Beginn an auch ein Wohnort von Migranten – ein Nukleus für die weitere Entwicklung des Viertels. Vor gut 35 bis 40 Jahren, ab 1990, begann der Trend zur stärkeren Konzentration migrantischer Haushalte, zunächst verbunden mit massivem Leerstand in einem Quartier, das zunächst ein Verlierer der städtischen Mikrodifferenzierung des Wohnungsmarktes war. Die „Modellstädter Neuesten Nachrichten“ unkten bisweilen, A-höhe befinde sich auf dem direkten Weg in „die zweite Liga“ der städtischen Viertel. Weil jedoch die regionalen Arbeitsmärkte relativ stabil blieben, konnte sich das Vakuum ab 2010/2015 langsam wieder abbauen (ohne dass man von einem Boom hätte sprechen können). Das war höchste Zeit, denn die länger leer stehenden Gebäude mussten nun dringend einer Instandsetzung und Wiedernutzung zugeführt werden, wollte man nicht beginnen, mehr und mehr abzureißen. Bereits 2006 war in der Wohnungswirt-
Modellstadt: „Rote Null“
Industrialisierung
Konkurrenz der Quartiere A-höhe als „öder Ort“ Negativpresse
Migrantenquartier
Leerstände
352
Material- und Szenarienanhang
schaft bereits ein gewisser Optimismus zu verspüren: „Wir haben da kein Problemgebiet und keine Verslumung“ (E_E4). Und weiter: „Ende der 1980er Jahre war [A-höhe] am Boden, jetzt ist es der erste Stadtteil, der wieder auferstanden ist“ (E_E4). Sozio-demographische Entwicklung: Multikultikiez statt Ausländerviertel Junge Zuwanderer
Das Quartier war demographisch jung. Dies lag vor allem an den überdurchschnittlich kinderreichen migrantischen Haushalten, aber auch an Studierenden-Haushalten, sonstigen Haushaltsgründern und expandierenden Familien, die große, zentral gelegene Wohnungen zu günstigen Preisen nachfragten (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2:
Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp A Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Katernberg)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Niedriges Mietniveau
So blieb das Quartier über einige Jahre „unterentwickelt“, weil aufgrund der niedrigen Mieten kaum Investitionsanreize existierten. Dafür konnte sich aber auch ein relativ stabiles, multikulturelles Milieu aus den genannten Haushaltsgruppen herausbilden und anwachsen, wie auch Bewohner bereits im Jahr 2006 betonten: „Rassismus spüre ich hier nicht. […] Ich hab hier noch nie gehört: Du Kanake. Die Kinder sind ja schließlich auch in der schule zusammen“ (B_EK4). Durch
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
die Persistenz der Bewohner im Quartier wurden die Nachbarschaftsbeziehungen gestärkt, das lokale Sozialkapital und die Ortsbindung erhöht und das Quartier mehr als stabilisiert. Von Wegzugswellen infolge der angeblich prekären sozialen Situation in A-höhe konnte nach Angaben von Experten 2006 nicht mehr gesprochen werden, im Gegenteil: „Das ist ein Trugschluss, der gerne verbreitet wird. Viele kommen sogar wieder zurück. Diese Mär, dass aus solchen Stadtteilen die Leute fliehen, das können wir nicht feststellen“ (E_E4). Dies wurde auch in Bewohnergesprächen angedeutet: „Hier will keiner weg, warum auch? Im Gegenteil, viele würden gerne zuziehen“ (B_EK4). Unterstützt durch eine konzertierte langfristige Quartiersentwicklungspolitik der Kommune und der wohnungswirtschaftlichen Akteure ab dem Jahr 2000 kam es etwa seit 2015 zu einem bemerkenswerten, stetigen „Incumbent Upgrading“-Prozess. Vergleichsweise wenige Bewohner wollten wirklich wegziehen, es sei denn, neue berufliche Perspektiven machten dies erforderlich. Auch Veränderungen der Haushaltsgröße waren für Bestandsmieter problemlos vor Ort zu bewältigen, da A-höhe als Quartier aus den 1890er Jahren eine Vielfalt von Wohnungsgrößen bereit hielt. Weil der allgemeine Trend seit Jahren in Richtung städtischen Wohnens ging, gab es auch den einen oder anderen Zuzug von außen, jedoch waren es andere Gebiete wie B-heim oder A-berg, die hier die Nase vorn hatten. Bis heute hat auch A-höhe einen gewissen Alterungsprozess durchlaufen, der u. a. auf die positiv zu bewertende Persistenz und „Quartierstreue“ zurückzuführen ist und durch Zuwanderung doch immer wieder abgemildert worden ist. Durch die in vielen Häusern und Blöcken intakten Nachbarschaftsbeziehungen haben sich sozialkapitalreiche „soziale Konvois“ herausgebildet, die für die älter werdenden Menschen in Form gegenseitiger Hilfeleistungen und Unterstützung in allen Lebenslagen von unschätzbarem Wert sind. Während die „Traditionsverwurzelten“ im Quartier ausstarben, ist die Quartiersgesellschaft geprägt durch die in die Jahre gekommenen „Experimentalisten“, die ihre Lebensideale im Kern weiter auslebten, die „Bürgerliche Mitte“ sowie die „Konsum-Materialisten“, die sich mit den Jahren mehr und mehr etablieren konnten (Abbildung 3). Außerdem verlor A-höhe immer mehr das Etikett „Ausländer“ zugunsten des Attributs „Multikulti“. Die vielfältige ethnische Zusammensetzung, die typischen Lebensstile und der lokale Organisationsgrad der Menschen mit Migrationshintergrund boten für diese Imageverschiebung gute Voraussetzungen. Besonders die sehr aktiven ethnischen Kirchengemeinden beförderten diesen Wandel.
353
Sozialkapital
Incumbent Upgrading
Alterungsprozess
Mitgealterte Lebensstile
Imagewandel zu „Multikulti“
354
Material- und Szenarienanhang
Abbildung 3: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Katernberg, ST 39, Angaben in %, 2005) 17,6
EXP 2,2
HED
34,9
MAT 27,6
BÜM 2,1
DDR
14,0
TRA 0,4
KON
0,6
PER PMA
0,2
ETB
0,3 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Incumbent Upgrading mit Muskelhypothek
Förderanreize zur Modernisierung
Energieeffizienz Partizipation
A-höhe war früher ein Ort der Minimalinvestitionen. Leer stehende Häuser wurden so weit instand gehalten, dass sie nicht verfielen. Bewohnte Gebäude wurden allenfalls punktuell modernisiert. Um den Modernisierungsprozess zu beschleunigen, bot die Kommune über diverse Förderprogramme Anreize, die seit 2010 langsam griffen und das Quartier veränderten. Die Veränderungen waren bewusst auf Langfristigkeit ausgelegt und sollten auch unter weit gehender Einbeziehung der Bewohner gestaltet werden. So wurden insbesondere Programme zur Energieeffizienz der Gebäude sowie zur haushaltsnahen Energiegewinnung kombiniert mit partizipativen Projekten, die sich mit Fassaden- und Hofgestaltung sowie dem öffentlichen Raum befassten, um nur einige Themen zu nennen. Darüber hinaus wurde versucht, anonymes Immobilieneigentum in Selbstnutzereigentum umzuwandeln, indem man zwischen Bestandshaushalten und Eigentümern Kaufverhandlungen anregte. Aus einer Kooperation mit Unternehmen der Bauindustrie und des Bauhandels sowie einer Sozialbank gelang es, einige „Leuchtturm“Projekte zu finanzieren, in denen ehemalige Mieter u. a. mit „Muskel-
355
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
hypothek“ zu Wohnungseigentümern wurden. Bewusst wurden hier auch Migrantenhaushalte angesprochen. So gab es schon früh einkommensstärkere A-höher Haushalte, die innerhalb A-höhes ihren Wunsch nach (sehr preiswertem) Wohneigentum befriedigten, wie ein Experte 2006 betonte: „Das spricht für eine Stabilisierung des Stadtteils“ (E_E6). Auch unter Migranten nahm die Wohneigentumsbildung entsprechend zu: „Die erwerben etwas schlichtere Eigenheime“ und präferierten die Nähe migrantischer Infrastruktur (z. B. Moschee, E_E7). Jedoch hatte eine unabhängige Studie gezeigt, dass AdaptionsWohnungsnachfrage generell weniger ethnisch als milieubezogen war prozess (E_E6). Letztlich führten Maßnahmen dieser Art zu einer neuen Verantwortlichkeit im Kiez und zu zahlreichen Kleininvestitionen und Gestaltungsaktivitäten der Bewohnerhaushalte. Dieser langsame und gleichmäßige endogene Aufwertungsprozess des „Incumbent upgrading“, geht anders als das Pendant der „Gentrification“ ohne größere sozialstrukturelle Veränderungen vonstatten und führt dazu, dass die bauliche Struktur eines Quartiers einer langsamen Adaption an höhere Ansprüche unterliegt (vgl. auch Friedrichs 1995: 121).
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Proaktivität und Partizipation im Neighbourhood Improvement District Dass man A-höhe nicht sich selbst überlassen konnte, war den Entscheidungsträgern in Stadt und Wohnungswirtschaft schon in den 1990er Jahren klar, als die ethnische und soziale Segregation stark zunahm und sich entsprechende Probleme häuften. Bereits in dieser Zeit entstand ein ausgesprochen kooperatives lokales Klima in A-höhe und in Modellstadt insgesamt, was u. a. an starken Einzelpersönlichkeiten lag. Gerade die Rolle der Stadtentwicklungsverwaltung wurde als außerordentlich wichtig erachtet: „Ohne [den Leiter des Stadtentwicklungsbüros] wäre hier vieles nicht entstanden, das ist die Leitfigur schlechthin“ (E_E4). Das Verhältnis zur Modellstädter Verwaltung wurde seitens der Wohnungswirtschaft in Interviews 2006 als sehr gut bezeichnet (E_E4). Dies führte zur Herausbildung eines einflussreichen urbanen Stadtteilregimes, das neben Unternehmen die verschiedensten Akteursgruppen umfasste. Demographieorientierung, Nachbarschaftsorientierung, Ganzheitlichkeit und strategische Kooperation standen von Beginn an auf der Agenda der Entscheider, die nicht durch Altruismus, sondern durch die Überzeugung motiviert waren, in der gegebenen lokalen Marktsituation auf diese Art und Weise langfristig den besten Output zu erzielen. Im Rahmen der ersten
Proaktivität
Kooperatives lokales Klima
Stadtteilregime
Ganzheitlichkeit
356
Soziale Stadt
Nüchterne Standortpolitik NID Neue Freiräume
Eigentumsbildung
Aufwertung
Modernisierung als Win-WinSituation
Material- und Szenarienanhang
Stadtteilkonferenz im Jahre 2010 zogen deshalb auch alle relevanten Akteure an einem Strang: Es sollte aufwärts gehen mit A-höhe. „Proaktive strategische Planung“ und „Corporate Social Responsibility“ waren die Schlüsselbegriffe dieser Tagung. Dem konzeptionellen Überbau und den Absichtserklärungen folgten entsprechende Maßnahmen. Mit hohem und kontinuierlichem kommunalem Aufwand im Rahmen bewährter und weiterentwickelter Instrumentarien („soziale Stadt“, Entwicklung der lokalen Ökonomie) wurde versucht, eine dauerhafte Stabilisierung des Quartiers zu erreichen. Vor allem die „Soziale Stadt“ wurde von der Wohnungswirtschaft für A-höhe positiv gesehen, weil viele Vernetzungen und Vorteile für alle Beteiligten entstanden: „Das ist unentbehrlich“ (E_E4). Darüber hinaus versuchte die kommunale Wirtschaftsförderungsagentur, nüchterne Standortpolitik zu betreiben. Man schuf Anreize für Gewerbeansiedlungen entlang der zentralen Y-straße und initiierte mit Investoren und Wohnungsunternehmen vor Ort einen selbstverpflichtenden Neighbourhood Improvement District, in dem u. a. lokalökonomische und wohnungswirtschaftliche Belange integriert wurden. In diesem Rahmen wurden auch Wohnumfeldverbesserungen durchgeführt und vereinzelt nicht modernisierte Häuser zugunsten neuer Freiräume im Quartier abgerissen oder auch Gebäude barrierefrei gemacht. Das punktuell entstandene und auch gezielt initiierte Einzeleigentum trug außerdem zu einer allmählichen Konsolidierung bei, so dass ein relativ robustes soziales Patchwork entstehen konnte. Die Konzepte zur sozialen Stadtteilentwicklung und der Kulturförderung wurden miteinander verschränkt, so dass sich eine ganz besondere lokale Identität der A-höhe-Bewohner herausbilden konnte. Der noch 2008 festgestellte „sozialräumliche Stadtteiltypus“, der das Gebiet als Wohnort „unterprivilegierter Familien“ auswies, musste in einer Folgeuntersuchung im Jahr 2018 bereits revidiert werden. Aufwertungen und eine langsame Umdeutung des Quartiers waren zu beobachten. Die erwähnten Energieeffizienz-Maßnahmen waren attraktiv für Hauseigentümer, weil höhere Kaltmieten bei gleich bleibender oder nur gering steigender Gesamtmiete erzielt werden konnten. Für die meisten Bewohner stellte sich diese Verabredung ebenfalls positiv dar, weil davon auszugehen war, dass die Preise für Energie weiter steigen würden und somit eine gewisse Zukunftssicherheit hinsichtlich der monatlichen Lebenshaltungskosten entstand – eine klassische „WinWin-Situation“ also. So betonte der damalige Präsident des Mieterbundes schon 2008 anlässlich eines entsprechenden Förderprogrammstarts für Großsiedlungen: „Wohnen wird auf Dauer nur dann
357
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
bezahlbar bleiben, wenn die Kosten für Wohnungswärme und Warmwasser durch Nutzung aller Einsparungspotenziale, effizientere Heizungstechnik und Gebäudedämmung und gezielten Einsatz erneuerbarer Energie eingegrenzt werden können“ (Pressemitteilung BMVBS 5. 12. 2008).
Bewertung und Ausblick 2030: Gut aufgestellt für die weitere Zukunft A-höhe durchlebte eine geradezu ideale Entwicklung: Eine weitgehend endogene Aufwertung ohne starke Verdrängung, eine funktionierende lokale Multikultigesellschaft, eine heterogene demographische Struktur ohne drastische Brüche und ein kooperatives Stadtteilregime, das daran interessiert ist, schwierige Situationen im Quartier nach Kräften auch in ferner Zukunft zu vermeiden. Zwar durchlebte auch dieses Quartier einen demographischen Alterungsprozess. Aber die Ortsbindung war auch bei den Kindern groß, so dass diese überdurchschnittlich häufig Wohnungen oder Häuser ihrer Eltern übernahmen bzw. innerhalb des Quartiers umzogen. Die Alterung verlief also moderat und die demographische Struktur wandelte sich von „jung“ zu eher „heterogen“ – eine ideale Entwicklungsvoraussetzung.
Ideale Entwicklung …
… trotz Alterung
358 1.1.2
Material- und Szenarienanhang
A-dorf (Typ Industrie – Szenario Aj.3: Markt vs. Lokalstaat)
Modellquartiere: Essen-Vogelheim, Leipzig-Volkmarsdorf, Berlin-Kottbusser Tor/ Wassertorplatz, Essen-Katernberg Abbildung 4: Synopse für Szenario Aj.3 Typ
A
Industrie
SzenarioVariante
.3
Markt vs. Lokalstaat
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
j
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: problematisch
Bausubstanz: z.T. problematisch
Destabilisierung durch bauliches und soziales Downgrading, Imageverfall, soziale Homogenisierung auf niedrigem Niveau
–
Langfristig abgewertet, Verfall, fragliche weitere Zukunft („Detroiter Verhältnisse“ vs. „qualifiziertes Ethnohood“)
359
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Von Kiezguerilleros und Turbo-Kapitalisten Alles geschah vor dem Hintergrund eines für die Anbieter schwierigen Marktumfelds. Die Stadtregion schrumpfte oder stagnierte und hielt ein mehr oder weniger großes Wohnungsüberangebot bereit. Oft wurde gute Qualität zu knappen Preisen bzw. Mieten gefordert, die Auswahl war groß. Unattraktive Häuser standen teilweise über Jahre leer und waren praktisch unvermietbar. Die Fluktuation war hoch, ebenso wie die Instandhaltungskosten der Wohnanlagen. Modellstadt profitierte ab ca. 2015 von einer langjährigen, stabilen wirtschaftlichen Phase, die zumindest weitere Abwanderungen minimierte und damit den Bevölkerungsrückgang gering hielt. Das Quartier A-dorf ist ein typisches Produkt der Industrialisierung, das von der Moderne überprägt wurde. Das gründerzeitliche Gebiet wurde im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört. Ein kleinerer Teil fiel einer Sanierungsphase in den 1970er Jahren zum Opfer. Heute, im Jahr 2030, ist A-dorf stadtweit bekannt – nicht als gute Wohnlage, sondern als Quartier der negativen Schlagzeilen. Noch kürzlich titelten die „Modellstädter Neuesten Nachrichten“ in ihrem Internet-Lokalteil mit dem „Ausbluten der Innenstadt-Kieze“ und „verantwortungslosen Nach-mir-die-Sintflut-Kapitalisten“. Die Hausbesitzer wiederum führten seit Jahren einen aussichtslosen Kampf gegen urbane Aktivisten, die als „Modellstädter Kiezguerilla“ ihrem politischen Unmut mit der Spraydose und einem überregional beachteten Stadtpolitik-Blog Aufmerksamkeit verschafften. Die Stadtverwaltung versuchte – mehr oder weniger erfolgreich – zu vermitteln und obendrein noch eigene normative stadtentwicklungspolitische Ziele durchzusetzen. „Das ist so ziemlich der problematischste Stadtteil in [Modellstadt]“, konstatierte ein Experte schon 2007 (E_L2).
Schwieriges Marktumfeld
Negative Schlagzeilen
KiezKonflikte
Sozio-demographische Entwicklung: Ethnisierung und sozialer Abstieg A-dorf stand über Jahre auf der Kippe. Noch in den 1990er Jahren fürchtete man einen baulich-sozialen Gentrifizierungs-Prozess, wie ihn viele innerstädtische Gründerzeitquartiere und baulich attraktive Zechensiedlungen durchlebt hatten. Jahrelang wurde gar über die Einführung einer Milieuschutzsatzung diskutiert – eine Gespensterdebatte, die von den eigentlichen Problemen ablenkte. Die gesamtstädtische Entwicklung, die räumlichen Investitionsschwerpunkte von Firmen und die kommunale Fokussierung auf an-
Gentrification? Milieuschutz? Leerstände!
360
Zuzug von Migranten
Material- und Szenarienanhang
dere Quartiere führten schließlich zu völlig anderen Realitäten. Die langwierigen Leerstände bewegten die Eigentümer dazu, ihre Wohnungen Schritt für Schritt punktuell anderen sozialen Schichten zu niedrigeren Preisen anzubieten. Das vielfach heraufbeschworene „A-dorf-Milieu“ – eine Art Prenzlauer Berg Modellstadts – konnte nie entstehen (vgl. Abbildung 5). Für die spezifische (und ohnehin immer kleiner werdende) Zielgruppe der relativ wohlhabenden Familien wurde A-dorf immer gewöhnlicher, und andere Stadtteile konkurrierten erfolgreich. Zwar waren dadurch keine Verdrängungen oder ähnliche Nebeneffekte zu beklagen, die Quartiersentwicklung aber kehrte sich seit den 2000er Jahren ins andere Extrem um. Abbildung 5: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Volkmarsdorf, OT 21, Angaben in %, 2005) EXP
11,5
HED
10,5
MAT
10,6
BÜM
25,0
DDR
7,5
TRA KON
2,2 0,4
PER
25,0
PMA
5,1
ETB
2,3 0,0
EXP EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Gettoisierungstendenzen
Insbesondere Haushalte mit türkischem und arabischem Hintergrund, aber auch Asiaten, osteuropäische Migranten und Spätaussiedler prägten zunehmend das Stadtteilbild. Inzwischen sind – infolge umfangreicher Segregationsprozesse – ernsthafte Gettoisierungstendenzen erkennbar. Bereits 2007 wurde man in Bewohnerinterviews mit Aussagen wie „das ist ein Getto“ konfrontiert (B_EK4). Mittlerweile ist das Quartier beinahe vollständig durch eine junge Altersstruktur (siehe auch Abbildung 6) sowie sozial schwächere und bildungsferne Schichten geprägt.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
361
Abbildung 6: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp A Typ I: deutliche Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Kottbusser Tor)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Während andernorts in Modellstadt die Ortsbindung stetig zunahm und nachbarschaftliche Netzwerke immer wichtiger wurden, hatte Adorf vor allem unter sozialer Erosion zu leiden. Der eigentliche Trend zur Persistenz der Haushalte kam hier lange Zeit nicht zum Tragen – im Gegenteil, wahre Fluchtreaktionen konnten hier beobachtet wer- Soziale den. Allerdings stellte sich das neue Migrantenmilieu als sehr stabil Erosion und persistent heraus, was gleichermaßen die Chance und das Problem der Weiterentwicklung des Stadtteils darstellte. Neben einer regen Vereinstätigkeit waren es schon immer die intensiven Nachbarschaftskontakte, die das Quartier auszeichneten. Zwar wohnten „die Ausländer mehr für sich, so straßenweise“ (B_EK4), aber im Falle direkter Nachbarschaft wurde doch das friedliche Miteinander betont: „Es gibt keinen Zoff“ (B_EK4). Die Wohnzufriedenheit der Migranten war besonders hoch, die „Bevölkerung im [A-dorf] ist tolerant“ (E_L1). Dennoch waren Nachbarschaften und das lokale Sozialkapital durch die latent hohe Fluktuation gefährdet. Der Stadtteil hatte kein gutes Image in Modellstadt und löste bisweilen Entfremdungsfurcht aus: „So eine diffuse Angst ist da“, betonte ein professioneller Quartiersakteur bereits 2007 (E_L3). Heraus kam eine Destabilisierung, die nun auch im Monitoring der Stadt sicht- Imageverlust bar wurde und eigentlich zu ersten Maßnahmen hätte führen müssen.
362
Material- und Szenarienanhang
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Von Modernisierungsstau, Leuchttürmen und Simultanpolitik Keine schlechten Ausgangsbedingungen
Modernisierungsstau
Abwärtsspirale
Die zentrale Lage und gute Anbindung A-dorfs waren im Grunde positive Standortfaktoren, ebenso wie die Altbauarchitektur und die verbreitete Nutzungsmischung im Quartier. Dieser klassische Nährboden für Gentrification und Aufwertung funktionierte jedoch ebenso als Katalysator für die Ansiedlung statusniedriger migrantischer Haushalte. Dadurch dass die innerstädtische Konkurrenz von Altbaugebieten in Modellstadt groß war, entstanden Gewinner- und Verliererquartiere. Verliererquartiere wie A-dorf litten unter mangelnden Investitionen und damit einem Modernisierungsstau. Das heruntergekommene Wohnumfeld trug dazu bei, dass die Abwärtsspirale ab 2015 auch mit „Soziale Stadt 2020“-Projekten und weiteren punktuellen Eingriffen nicht mehr aufzuhalten war. Der Leerstand von Läden und Wohngebäuden war nicht nur ein Strukturproblem, sondern auch ein Imageschaden, „das größte Problem des Stadtteils“ (E_L3). So wurde immer wieder die Musterstraße als Beispiel hervorgehoben, der ehemalige „Broadway von Modellstadt“, der heute quasi „tot“ sei (B_LV2, E_L1, E_L3). Darüber hinaus stiegen trotz der relativ jungen Altersstruktur mit der Zeit auch hier die Infrastrukturbedarfe für (migrantische) Senioren. Jahr für Jahr traten neue räumliche Problemzonen und infrastrukturelle Engpässe im Kiez auf, die mit geringem Mittelaufwand nur oberflächlich gelindert werden konnten.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Exit und Ad hoc Kurzfristund ExitStrategien
Kontexteffekte
Profitorientierung und ad-hoc-Entscheidung – das sind die Prämissen der wohnungswirtschaftlichen Akteure bis heute. Investive Maßnahmen kamen nur dann und dort in Frage, wo sich kurzfristig sichere und auskömmliche Renditen erzielen ließen. Dort wurden dann sogar Mieten erhöht, was von den kieztreuen Bewohnern als arrogant empfunden wurde: „Die springen mit den Leuten um, als wären sie Dreck“ (B_EK4). Weil in A-dorf viele Bestände den unternehmensinternen Renditevorgaben nicht entsprachen, standen sie auf der roten Liste: Veräußerung war das Hauptziel. Dadurch wurden oft sogar notwendige Instandhaltungsmaßnahmen verschleppt, Häuser entmietet und zum Teil leer gelassen: zunächst als Immobilien im Wartestand, später in einigen Fällen als Ruinen. So hieß es seitens eines im Gebiet engagierten Private-Equity-Unternehmens: „Wir vermarkten wohnform-,
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
nicht stadtteilbezogen“ (E_E4). Da das gesamte Quartier in Mitleidenschaft gezogen wurde, wurde auch die Vermietung immer schwieriger und damit die Liquidität der Eigentümer belastet. Kleineigentümern fehlte in vielen Fällen das Kapital, um notwendige Investitionen vorzunehmen. Die Unternehmen wollten nicht, die Einzeleigentümer konnten nicht – für das Quartier eine fatale Kombination. Eine ganzheitliche Quartiersorientierung hätte zu anderen strategischen Entscheidungen führen können, war aber nicht existent. Auch strategische Kooperationen fielen angesichts der starken Konkurrenz und der unterschiedlichen Handlungsoptionen der Akteure schwer. Anders die Stadtverwaltung: Hier gab es wohl einen Schwerpunkt in Quartiersentwicklung und Nachhaltigkeit, Kooperation und Demographieorientierung. Neben der schon frühen Einrichtung eines Quartiersmanagements im Jahr 1999 wurden Workshops durchgeführt, Partizipationstechnologien erprobt, Gutachten beauftragt, Interviews gegeben und Positionspapiere verfasst. Doch am Ende zählen die Erfolge: Hier haperte es stets, nicht zuletzt aufgrund der extrem begrenzten Haushaltsmittel und weil die privaten Akteure sich nicht zum Mitwirken bewegen lassen wollten. So stellte man seitens der Kommune fest: „Als es die [gemeinnützigen Wohnungsunternehmen] noch gab, war die Kooperation wesentlich besser. […] Die Kommunikationsstränge sind weitgehend gerissen, auch mit [anderen Wohnungsunternehmen] […] Die waren früher wunderbare Partner fürs Quartiersmanagement“ (E_E6). So blieb meist nur die „Feuerwehrfunktion“: Man scheute keinen Konflikt, orientierte sich an „Leuchtturmprojekten“, die wenigstens einen Ausblick auf Planungen geben konnten, die in der Stadt(teil)entwicklungspolitik von Modellstadt wünschenswert gewesen wären. Außerdem versuchte man die städtebauliche Förderkulisse zu instrumentalisieren. A-dorf bot sich natürlich an, um dort „Soziale Stadt 2020“-Projekte einzusetzen, auch weil sich hier in den letzten Jahren zunehmend eine zivilgesellschaftliche Protestkultur etabliert hatte. Allein: Die Umverteilung der im Wahljahr 2013 mit großem medialen Getöse angekündigten und im Jahr darauf tatsächlich etwas angehobenen Bundesmittel für soziale Stadtentwicklung auf eine größere Anzahl von Programmquartieren machte es auch in A-dorf zunehmend erforderlich, dass man mit weniger Mitteln auf wachsende Probleme reagieren musste. Die Ausdünnung verschiedener Angebote insbesondere für die Integration von jungen Migranten führte zu den bekannten Symptomen in „Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf“, wie z. B. sozial unerwünschtes Verhalten, Drogenkriminalität und Vandalismus. Durch die de-facto-Mittelkürzungen hatte sich auch der Staat in den Augen vieler diskreditiert – das Thema „soziale Stadt“
363
Kommune als Feuerwehr
Soziale Stadt 2020
De factoMittelkürzungen
364
Simultanpolitik
Tabu Segregation?
Material- und Szenarienanhang
schien nur ein Vehikel einer „Simultanpolitik“ gewesen zu sein. Mittlerweile, mitten im langjährigen wirtschaftlichen Aufschwung gegen Ende der 2010er Jahre, kümmerte man sich mehr um „kreative Milieus“ und die Mittelschichten. So nahm die Konzentration von Problemgruppen in A-dorf weiterhin zu. Auch die letzten Besserverdiener suchten das Weite (u. a. auch kürzlich Zugezogene und die in den letzten Jahren erstarkte türkische Mittelschicht). Um die normative Entscheidung, ob vollständig segregierte Gebiete stadtpolitisch erwünscht wären, wurde in Modellstadt lange gerungen. Spät hatte man sich zu einer Pro-Segregations-Politik entschlossen, wollte aber zusammen mit Eigentümern und Investoren Aufwertungsstrategien entwickeln. Diese jedoch wähnten „die falsche Klientel“ in ihren Häusern und hielten sich abermals mit Investitionen zurück. Die „Kiezguerilla“, aber auch eine migrantische Stadtteilbewegung versuchen als zivilgesellschaftliche „Verbündete“ der Kommune die Wohnungswirtschaft zu entsprechenden Maßnahmen zu bewegen. So traf hier ein urbanes Regime „pro Quartier“ mit bescheidenen Ressourcen auf ein anderes Regime rein ökonomischer Rationalitäten mit beträchtlichen Ressourcen.
Bewertung und Ausblick 2030: „Detroiter Verhältnisse“ oder „qualifiziertes Ethnohood“? A-dorf als Chinatown?
Kooperation? Partizipation?
Es hätte nicht viel gefehlt und A-dorf wäre zur Modellstädter Chinatown geworden, nachdem in den 2010er Jahren Investorenpläne bekannt wurden, dieses Gebiet gezielt als eine Art Enklave für asiatische Haushalte und Geschäftsleute und nicht zuletzt als Touristenattraktion zu entwickeln. Aus diesem Projekt wurde jedoch nichts, da sich die Investoren nicht auf ein gemeinsames Konzept einigen konnten. In den letzten Jahren wurden jedoch erneut in größerem Stil marode Altbestände für wenig Geld an migrantische Investoren verkauft, u. a. an global agierende Investmentfonds aus Ankara und Shenzhen sowie an mittelständische Unternehmer aus der prosperierenden Region um Odessa. Dem Vernehmen nach planen die neuen Eigentümer systematische Investitionen insbesondere für die Klientel ihres eigenen Kulturkreises. Die Stadtverwaltung versucht, mit diesen neuen Akteuren zu vertrauensvollen, kooperativen Strukturen zu kommen, die Entwicklung zu fördern und im Hinblick auf Stadtentwicklungsziele zu beeinflussen. Darüber hinaus sollte auch die Kiezguerilla in den planerischen Prozess integriert und Bewohnerpartizipation weit über das Baugesetzbuch hinaus ermöglicht werden. Insbesondere der Zuzug von Studierenden könnte ein Zukunftspotenzial darstellen. Schon
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
365
2007 wurde erkannt: „Die Zukunft liegt in Multikulti und Studenten“ (E_L1) und „Das wird kein angesagtes Viertel werden, aber ein bisschen Subkultur könnte sich etablieren“ (E_L3). Allein: Bis 2030 ist in dieser Richtung nicht viel geschehen. Die Voraussetzungen sind – nach den Erfahrungen der letzten Jahre Verfall oder – eher schlecht, zumal nicht nur unterschiedliche Handlungslogiken, Stabilisiesondern auch noch divergierende kulturelle Hintergründe aufeinan- rung? derprallen. Sollten die Revitalisierungsbemühungen für A-dorf scheitern, muss man für die Zukunft nach 2030 für das Quartier weiteren Verfall, eine weiter gehende Gettoisierung und Destabilisierung und letztlich so etwas wie „Detroiter Verhältnisse“ befürchten. Eine erfolgreiche und gezielte Konzentration auf Migranten im Sinne eines positiv verstandenen „qualifizierten Ethnohoods“ könnte andererseits sogar dazu führen, dass die Quartiersbevölkerung zunähme und sich damit Leerstände verringerten (vgl. Abbildung 6) – getreu dem Motto: „Lieber ein geordnetes ‚Chinatown‘, nicht nur für Asiaten, als ein chaotisches ‚Klein-Wedding‘“ (E_L3).
366 1.1.3
Material- und Szenarienanhang
A-viertel (Typ Industrie – Szenario Aj.4: Quartier des Kapitals)
Modellquartiere: Leipzig-Schleußig, Essen-Katernberg
Abbildung 7: Synopse für Szenario Aj.4 Typ
A
Industrie
SzenarioVariante
.4
Quartier des Kapitals
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: gering
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: eher ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: eher stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: mobil
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
j
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: Bausubstanz: ehergehoben problemlos
Bausubstanz: unproblematisch
Komparationsvorteile durch „Innenstadtlage + Altbaucharme + Urbanität“, Quartier als Ziel selektiver Mobilität, Gentrification (sozio-demographische Homogenisierung), akteursspezifische Heterogenisierung, Ausbleiben strategischer Planungen im Boom für die Krise
O
kurzfristig aufgewertet („Strohfeuer“), langfristig suboptimaler Entwicklungsverlauf, aber nicht ohne neue Entwicklungschancen
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
367
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Softwareschmieden und urbane Eliten Das frühere Arbeiterquartier A-viertel hat eine dynamische Entwick- Gesamtstadt lung hinter sich, die u. a. mit der Gesamtstadtentwicklung zu begründen dynamisch ist. Beispielhaft dafür ist die in unmittelbarer Nachbarschaft A-viertels angesiedelte Softwareschmiede CRITS („Creative IT Solutions AG“), die seit den 2010er Jahren mit innovativen Web 3.0-Anwendungen stetig expandierte. Solche Beschäftigungsmagneten innerhalb der Stadt sorgten über einige Jahre für einen Zuzug von hoch qualifizierten Arbeitssuchenden aus anderen Regionen und aus dem Ausland, den neuen urbanen Eliten. Damit ließ sich zwar quantitativ die Einwohnerzahl der Gesamtstadt kaum dauerhaft stabilisieren, aber es fand ein qualitativer Umbruch statt: Höhere Einkommen nahmen zu, gleichzeitig aber auch die Anzahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Dienstleistungssektor. Unter ungünstigeren Rahmenbedingungen hätte das Quartier in diesem dynamischen, nervösen Umfeld auch eine gegenläufige, krisenhafte Entwicklung nehmen können. Bis ins 19. Jahrhundert wurde das Areal des A-viertels vor allem landwirtschaftlich genutzt, in der Mitte des Jahrhunderts auch als Ausflugsziel. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man im Rahmen der Industrialisierung, die Siedlungsfläche systematisch durch Wohnungsbau auszuweiten. 1893 wurde das A-viertel nach Mo- Gründerzeit dellstadt eingemeindet. Auch in den 1920er und 1930er Jahren entstanden neue Erweiterungsbauten und eine Villenkolonie am Quartiersrand. Industrieareale entstanden nur in Randbereichen des A-viertels, typisch für das Quartier waren jedoch kleinere Gewerbebetriebe und Werkstätten in Hinterhäusern. Im Zweiten Weltkrieg wurde A-viertel kaum in Mitleidenschaft gezogen, sodass heute noch ein relativ vollständiges Gründerzeitensemble erhalten ist.
Sozio-demographische Entwicklung: Homogenisierungseffekte Die zunehmende soziale Polarisierung auf der Makroebene spiegelte Soziale Polasich im Stadtraum wider. Diejenigen, die es sich leisten konnten, ver- risierung suchten bis weit in die 2010er Jahre hinein, ihren Wohnstandard zu erhalten oder zu verbessern, indem sie in bessere Lagen zogen. A-viertel war ein Quartier, das ein Zielgebiet dieser Mobilität darstellte, es hatte ein geradezu blendendes Image. Wegzüge generierten sich hier Gutes Image meist aus berufsbedingter Mobilität oder aus Haushaltsveränderungen (z. B. Auszug der Kinder). Das Gebiet war so etwas wie ein „interner Geheimtipp“ in Modellstadt (E_L2).
368
Mietanstieg und Gentrification
Material- und Szenarienanhang
Damit hatten sich mikroräumliche Verhältnisse etabliert, die vollkommen gegenläufig zur unruhigen gesamtstädtischen Entwicklung waren. Vor allem in den zentralen Quartieren A-viertel, A-heim, und A-berg zogen die Mieten und Kaufpreise deutlich an, es kam zu Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen und zu Gentrification-Prozessen, die mit einem massiven Bevölkerungsaustausch und Verdrängungsprozessen verbunden waren. In anderen Quartieren wie C-kolonie (Typ „Aufbau“) und E-viertel (Typ „Platte Ost“) dominierten negative Segregationsprozesse und Zuzüge sozial schwächerer Bevölkerungsschichten, häufig mit migrantischem Hintergrund. Abbildung 8: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Schleußig, OT 50, Angaben in %, 2005) EXP
5,9
HED
7,2
MAT
4,5
BÜM
5,1
DDR
1,4
TRA
1,2
KON
1,3
PER
24,1
PMA
41,1
ETB
8,2 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Urbane Lebensstile
Durch die sehr starke und dauerhafte Nachfrage von jungen Haushalten (Familien, Doppelverdiener-Paare etc.) hatte sich im A-viertel bis 2010 ein soziales Milieu urbaner Lebensstile von „modernen Performern“ und „Postmateriellen“ herausgebildet, das immer wieder mit dem inzwischen schon legendären Berliner „Prenzlauer Berg der späten 1990er Jahre“ verglichen wurde (vgl. Abbildung 8). Die „demographische Jugendlichkeit“ des Quartiers war zunächst kein Problem, im Gegenteil: Sie wurde sehr positiv bewertet. Familien und junge Menschen bereicherten das Stadtbild und strahlten Offen-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
369
heit und Dynamik aus. Das Quartier hob sich von vielen alternden Konkurrenzlagen deutlich ab: „Insgesamt sind hier alle so Ü30“, sagte ein Bewohner 2007 (B_LS3). Abbildung 9: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp A Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Schleußig)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Bei den seit Ende der 1990er Jahre eingezogenen Haushalten war die Ortsbindung entgegen dem städtischen Trend groß. Das hing mit dem relativ homogenen sozialen und demographischen Milieu zusammen, das lokale soziale Netzwerke, gruppenspezifische Normen und Sanktionen, nachbarschaftliches Engagement etc. hervorgebracht hatte. So erklärte eine junge Mutter 2007 im Interview: „Bei uns im Haus gibt es sehr viele Nachbarschaftskontakte zwischen den Familien, mit Grillen usw. Ältere Leute sind da aber nicht dabei, das passt nicht so, da gibt es auch mal etwas Zwist“ (B_LS2). Paradoxer Weise führte diese „Stabilität“ jedoch zwangsläufig zu einer Kohortenalterung und einer Bevölkerungswelle. So kam es, dass das im Jahr 2007 noch als harmlos eingeschätzte demographische Risikopotenzial sich mit den Jahren ins Gegenteil umkehrte (vgl. Abbildung 9). Die Bevölkerungswelle würde zu einem späteren Zeitpunkt eine erhebliche kommunalpolitische und wohnungswirtschaftliche Herausforderung darstellen.
Starke Ortsbindung
Drohende Bevölkerungswelle
370
Material- und Szenarienanhang
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Schnelle Aufwertung – und dann? Die Umfeld- und Aufenthaltsqualität des innenstadtnah gelegenen Quartiers ist auch heute im Jahr 2030 noch geprägt durch attraktive Architektur („Altbaucharme“), einen lebendigen öffentlichen Raum und Nutzungsmischung aus Wohnen und (meist freiberuflichem) Arbeiten. Die Qualität der Bausubstanz ließ noch vor 35 Jahren, also um Aufgewertete 1995, zu wünschen übrig, bisweilen war auch die Wohnungsqualität Bausubstanz hinsichtlich der Ausstattung und des Modernisierungsgrads eher mangelhaft. Jedoch löste sich der Investitionsstau mit den Jahren mehr und mehr auf. Zwischen 2005 und 2020 befand sich die Bausubstanz vieler Gebäude in einem optimalen Zustand, wenngleich es auch eine Reihe schwer vermarktbarer „totsanierter“ Gebäude gab (B_LS2, E_L2). Darüber hinaus nutzte man Gelegenheiten, die sich auf Industriebrachen anboten (wie z. B. in der alten Weberei), um Themenlofts zu errichten und an Kapitalanleger zu verkaufen (E_L2). Gleichzeitig waren auch typische innerstädtische Defizite unüberDefizite sehbar: starke Lärm- und Immissionsbelastungen, hohe Bebauungsinnenstadtdichte, geringe Durchgrünung, hohe Verkehrsdichte, Parkplatznot und nahen eine geringe Kinderfreundlichkeit. In diesem Zusammenhang konnten Wohnens in einigen Punkten Verbesserungen erreicht werden, insbesondere durch die Einführung weiterer verkehrsberuhigter Zonen, den Rückbau Wohnumfeld- von Straßen und die Anlage von Taschenparks. Was für Familien und Kinder gedacht war, kommt heute den „empty nest“-Haushalten gleichverbesseermaßen zugute. Die gute Nahversorgung des Quartiers hatte sich im rungen Laufe der Zeit noch verbessert, indem – insbesondere in der zentralen Musterstraße des A-viertels – immer mehr zielgruppenspezifische Angebote hinzugekommen sind. Der Trend war schon 2007 zu spüren: „Es Gute Nahist lebendiger geworden, gibt mehr Cafés“ (B_LS2). Insgesamt stagversorgung nierte die Bedeutung solcher Angebote im Quartier, weil zwar einerseits die Kaufkraft und die Lust am Urbanen groß waren, sich die überdurchschnittlich wohlhabenden und gebildeten Haushalte aber auch mehr und mehr über Internetdienstleister versorgen ließen. Ab 2020 änderte sich langsam die Gesamtsituation: Investitionen Zweiter in den Bestand waren weniger kontinuierlich und systematisch, so Downdass zwischenzeitliche bautechnologische Innovationen (z. B. hingradingsichtlich der Wärmedämmung, der Telekommunikationstechnologien, Zyklus der dezentralen Energiegewinnung etc.) im Quartier nicht greifen konnten. Damit wurde der Anschluss an neue Standards verpasst und ein langsamer baulicher Downgrading-Zyklus setzte ein. Auch in A-höhe bildeten sich migrantische Enklaven heraus (v. a. Migrantische Nischenwirt- Libanesen und Palästinenser), deren Bewohner jedoch heute als NiAltbaucharme
371
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
schendienstleister die wohnortnahe Versorgung und Gastronomie für schaft die in die Jahre gekommenen Bewohner gewährleisten. Sie sind im bildungsbürgerlichen A-viertel-Kiez heute so beliebt und integriert wie in den 1970er und 1980er Jahren der „Italiener an der Ecke“, den alle kannten, nutzten und duzten.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Strohfeuer-Kapitalismus und Eigentümer-Heterogenisierung Die zentrale Lage des Quartiers mit guter Verkehrsanbindung kam den Bestrebungen der Immobilienwirtschaft sehr entgegen, gerade den Innenstadtbereich mehr und mehr aufzuwerten und zu verdichten. Avierteler Wohnimmobilien waren ab 2000 praktisch Selbstläufer, und die Unternehmen versuchten, hier die Gunst der Stunde zu nutzen. In diesem Mikro-Vermietermarkt herrschte das Prinzip des „anything goes“. Anfängliche hartnäckige Leerstände verschwanden, Mieten und Kaufpreise zogen an. Für die Anbieter in A-viertel – Einzeleigentümer, Kleininvestoren, aber auch Wohnungsunternehmen und Investmentsgesellschaften – bot sich ein lukrativer und recht einfach zu bewirtschaftender Markt. Strategiedenken und langfristige Bestandsoptimierungen schienen ebenso unnötig zu sein wie Demographieoder gar Quartiersorientierung. Durch problemlose Bestandsbewirtschaftung oder Immobilienhandel ließen sich dauerhaft gute Renditen erzielen. Größere Unternehmen konzentrierten sich vor allem auf interne Fragen der Organisationsentwicklung, das Unternehmensportfolio, auf renditeträchtige Investments in viel versprechenden Lagen, auf innovative Finanzierungsinstrumente und vereinzelte Projektentwicklungen. Die attraktiven Wohnhäuser der Gründerzeit wechselten schnell die Besitzer, es kam zu Luxusmodernisierungen und Umwandlungen von Mietwohnungen in Wohneigentum. Vom früheren Arbeiterwohngebiets-Image ist nichts mehr übrig. A-viertel galt nunmehr als „besseres Viertel“. Zwar verhielt sich das Amt für Stadtentwicklung gegenläufig zur Immobilienwirtschaft und war bemüht, ganzheitliche, stadtweit integrierte Quartierskonzeptionen, auch unter Berücksichtigung demographischer Entwicklungen zu entwickeln. Die Resonanz auf diese Ideen und die Bereitschaft der Wirtschaft zur Kooperation waren aber denkbar gering. Das lag auch an der Eigentümerstruktur, die sich seit den 1990er Jahren deutlich verändert hatte. Während zu Beginn noch Projektentwickler und größere Aufkäufer als Eigentümer (und professionelle „Gentrifier“) fungierten, waren inzwischen viele der Wohnungen als
Lagevorteil Zentralität
Mikro-Vermietermarkt: „anything goes“
Investment statt Bestandsorientierung
Imagewandel
Mühen der Stadtplanung
Zersplitterte Eigentümerstruktur
372
Rückzug der Kommune
Material- und Szenarienanhang
Einzeleigentum verkauft worden. Darüber hinaus gibt es heute, im Jahr 2030, zahlreiche „Mikro-Landlords“ und Kapitalanleger, die nur wenige Häuser oder Wohnungen im Besitz haben und vermieten. Hier ein gemeinsames Interesse für Problemlösungen auf der Quartiersebene zu wecken oder gar Entwicklungsziele zu formulieren, war schwierig. Es verwundert nicht, dass die Kommune trotz der langfristig drohenden Bevölkerungswelle diesen aufreibenden konfliktreichen Sisyphos-Kampf aufgegeben und eine eher passive Rolle eingenommen hatte. Weil die finanziellen Ressourcen der Stadt knapp waren, war der Handlungsspielraum für eigenes proaktives Gestalten – etwa für eigene bauliche Investitionen – denkbar gering.
Bewertung und Ausblick 2030: Das Ende des „Home Runs“ – von ausgelassenen und neuen Chancen Suboptimale Weiterentwicklung
Ü30 A Ü50: Kollektive Alterung Schwierige Zusatznachfrage
Neue AltbauDefizite
Alte Altbauqualitäten
Die neue (nichtsdestotrotz längst absehbare) Herausforderung für den Stadtteil kündigte sich etwa ab 2020 in der Realität an: Da sich das junge Milieu nach dem Umbruch in den 1990ern relativ homogen entwickelt hatte, stand dem Boom-Quartier nun eine Bevölkerungswelle bevor. Bis 2030 wurde das Gros der Kinder flügge und die ehemaligen „Ü30“, für die das Quartier so bekannt war, wurden zu „Ü50“, also zu den „jungen Alten“ – persistent in familiengerechten, relativ großen Wohnungen in ihrem nach wie vor geliebten A-viertel. Das Gebiet alterte kollektiv. Um auch in den kommenden Jahren noch weiter zu prosperieren, müsste eine erhebliche Zusatznachfrage generiert werden. Allein: Seit den 2020er Jahren begann allmählich die Vorliebe jüngerer Wohnungsnachfrager für modernisierte Gründerzeitbauten abzunehmen. Beliebt waren inzwischen z. B. auch Gebäude der 1970er und 1980er Jahre. Weiterhin hat die Gesamtstadt mit struktureller Alterung zu kämpfen, ganz abgesehen vom unzeitgemäßen Zustand vieler Häuser im Quartier. Als problematisch stellen sich auch heute wiederum die typischen Altbau-Defizite heraus: Oft haben die Gebäude auch 2030 noch keine Fahrstühle und auch das Wohnumfeld ist alles andere als barrierefrei. Für eine alternde Bevölkerung wird dies mehr und mehr zu einem ernsten Problem avancieren. Die Investitionen der Zwischenzeit stellten sich als Strohfeuer heraus. Hier hätte in den Boom-Phasen bereits vorgesorgt werden können, was aber das politisch-ökonomische Setting nicht zuließ. Dennoch: Die Häuser, seien es Gründerzeitbauten oder Gebäude aus historischen Werkssiedlungen sind nach wie vor nicht unattraktiv
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
für unterschiedliche Haushaltstypen und gut geeignet für soziale Heterogenisierung. So wird immer wieder auf die flexible Bau- und Wohnungsstruktur und deren Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Bedürfnisse und Milieus hingewiesen. Auch A-viertel hat diese Qualitäten, die Frage ist jedoch, ob überhaupt der theoretische quantitative Ersatzbedarf gedeckt werden könnte, zumal junge Haushaltsgründer und Familienhaushalte inzwischen die am stärksten umworbene und zahlenmäßig am weitesten geschrumpfte Zielgruppe darstellen (vgl. beispielhaft die moderate Modellrechnung in Abbildung 9, die sogar eine mäßige bimodale Zuwanderung jüngerer Haushalte beinhaltet). Wenngleich A-viertel heute ein Leerstandsproblem wie bereits Anfang der 1990er Jahre droht, bietet es als in jeder Hinsicht flexibles Innenstadtquartier auch jetzt noch mehr Vermarktungspotenziale als manch anderes Quartier. Mit „katastrophalen“ Entwicklungen muss also nicht unbedingt gerechnet werden.
373
374 1.2
Material- und Szenarienanhang
Typ B: Utopie
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ B
Tabelle 3: Stärken-Schwächen-Profil Typ B – Utopie
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
+ < o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– + + +
+ + + o
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Oft sind Quartiere dieses Typs demographisch heterogen (h-Varianten der SzenarioMatrix). In der Regel unterliegen städtebauliche Ensembles dieses Typs Denkmalschutzauflagen bzw. sind generell „sperrig“, was flexible Kapitalverwertung angeht. Deshalb erscheinen die Szenarien Bh.1, Bh.2 bzw. Bh.3 (Markt vs. Staat) als wahrscheinliche Varianten. Da man all diesen Szenariovarianten aber vermutlich einen positiven Verlauf bescheinigen würde (zu sehr dominieren die positiven Entwicklungsfaktoren), soll hier lediglich ein durchaus realistisch erscheinendes Szenario mit einer älteren demographischen Struktur durchgespielt werden (Ba.3). An dieser möglichen Zukunft wird deutlich, dass auch vermeintliche „Selbstläufer“ oft nicht ohne eine gewisse Steuerung auskommen.
375
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.2.1
B-dorf (Typ Utopie – Szenario Ba.3: Markt vs. Lokalstaat)
Modellquartiere: Leipzig-Marienbrunn, ferner: Berlin-Neutempelhof, Essen-Margarethenhöhe Abbildung 10: Synopse für Szenario Ba.3 Typ
B
Utopie
SzenarioVariante
.3
Markt vs. Lokalstaat
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: gehoben
Bausubstanz: mittel
„Woopisierung“, gute städtebauliche Basis und zentrale Lage, ambivalente Qualitäten der Bausubstanz und des Wohnumfelds, fehlende Belegungssteuerung, qualitative Verschlechterung des Gartenstadtcharakters, der nachbarschaftlichen Atmosphäre und des Images, nach Bevölkerungswelle nur schleppende Zusatznachfrage
O
Langfristig suboptimale Entwicklung, verschenkte Potenziale, „Incumbent Downgrading“ zum Durchschnittsquartier
376
Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Vom sozialen Kleinod zur Woopie-Enklave Kompliziertes Das Marktumfeld war kompliziert. Die wirtschaftliche GesamtsituaMarktumfeld tion Modellstadts stagnierte. Die gesamte Region verlor langsam, aber stetig an Einwohnern, wodurch ein Wohnungsüberhang entstand. Unattraktive Bestände standen teilweise leer, waren praktisch unvermietLeerstände bar und wurden nicht selten abgerissen. Und trotzdem: Noch 2005 war der Optimismus recht groß im GarIdyll und tenstadtquartier B-dorf. So (inszeniert) idyllisch und zentral zugleich Zentralität wohnte wohl kaum jemand in Modellstadt: „Der alte Bereich hier ist ein richtiges Dorf“, wie ein Bewohner noch 2006 zusammenfasste (B_EM3). Ein Markt für Kaufimmobilien war im Kernbereich des Quartiers praktisch nicht existent: Wer hier ein Haus hatte, veräußerte es nur im Notfall und nutzte es nach Möglichkeit selbst. Außerdem gab es noch eine Großeigentümerin im Quartier, eine genossenschaftsähnliche Industriestiftung, die sich ebenfalls keine Sorgen machen musste: Die Mietinteressenten tummelten sich auf langen Wartelisten, und „Vitamin B“ stellte sich als der beste Makler heraus. Hier zeigte sich die kleinräumige Differenzierung der Wohnungsmärkte besonders deutlich: B-dorf avancierte zu einer Wohnungsmarkt-Oase. So waren „fast jede Woche“ bei den Bewohnern „Zettel im Briefkasten von Leuten, die hier ein Haus suchen“ (B_BNT1). Anders verhielt es sich am Quartiersrand, der sich auch baulich Kern-RandPolarisierung vom historischen Gartenstadt-Kern aus den 1920er Jahren unterschied und im wesentlichen von Mehrfamilienhäusern der 1960er Jahre geprägt war: Hier war die Fluktuation deutlich höher. Gerade in den 1990er und 2000er Jahren kam es hier – gebilligt durch die Eigentümerin, die 2003 privatisierte ehemals gemeinnützige Modellstädter Wohnungsbaugesellschaft (MWG) – zu einem Zuzug von Bewohnern mit niedrigerem sozioökonomischem Status, häufig auch von Migrantenhaushalten.
Sozio-demographische Entwicklung: „Woopisierung“ und „Closed Shop“-Tendenzen Demographischer Sonderfall
Bereits 2005 hatte B-dorf – anders als viele vergleichbare, demographisch deutlich gemischtere gartenstadtähnliche Quartiere – einen hohen Altersdurchschnitt, was an einer Umbruchs- und Zuzugsphase in den 1960er Jahren lag. Diejenigen, die damals eingezogen waren, leben zum Teil heute noch – meist als „empty nest“-Haushalte oder als Witwen oder Witwer – in der Siedlung. Im B-dorfer Kerngebiet hatten
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
sich zur Zeit des Wirtschaftswunders allmählich die sozialen Milieus verändert. Die ehemalige Werkarbeiter-Siedlung wurde zu einer „Woopie“ („well off older people“)-Enklave, geprägt durch die Lebensstiltypen der „Bürgerlichen Mitte“ und „Traditionsverwurzelten“ sowie durch Leitmilieus wie den „Etablierten“ und „Postmaterialisten“. Ab 2025 reduzierte sich der Anteil der „Traditionsverwurzelten“ sehr stark, weil dieses Milieu mit seiner dominanten Alterskohorte quasi ausstarb (vgl. Abbildungen 11 und 12). Die Mobilitätsbereitschaft der Bewohner war gering. Die Ortsbindung nahm stetig zu und „gute Nachbarschaft“ bis hin zu Formen ausgeprägter sozialer Kontrolle spielten stets eine große Rolle und machten die Integration vereinzelter (jüngerer) Neuzuzügler zum Teil nicht einfach. Bewohnerkommentare wie „natürlich kennen wir hier unsere Nachbarn alle“ (B_BNT3) oder „manchmal ist das auch sehr beengt hier“ (B_EM3) waren typisch. Letztlich waren es in dieser „Closed Shop“-Situation auch oft Vererbungsketten und nicht der „freie Markt“, die für Zuzüge etwa ab 2020 sorgten. Die große Nachfrage nach Häusern in B-dorf seit den späten 1990er Jahren setzte sich aus wohlhabenden Familien, häufig Architekten, Planern und anderen Akademikern zusammen, die die EinzigAbbildung 11: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp B Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Marienbrunn)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
377
Leitmilieus
Hohe Ortsbindung und Closed Shop
378
Material- und Szenarienanhang
Abbildung 12: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Neutempelhof, Kerngebiet, TVZ 06812, Angaben in %, 2005) 6,1
EXP
12,7
HED 6,6
MAT
27,6
BÜM DDR
0,0 1,2
TRA
7,0
KON 2,7
PER
19,9
PMA 16,1
ETB 0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
artigkeit der Gartenstadt zu würdigen wussten – eine stadtweit umworbene Klientel, deren Lebensstile sich schon damals perfekt in dieser Siedlung hätten verwirklichen lassen (wenn es damals ein entsprechend großes Angebot gegeben hätte). Bereits am äußeren Saum der eigentlichen Gartenstadt, wo es ja durchaus Vakanzen gab, verblasste das Interesse dieser gesellschaftlichen Leitmilieus merklich.
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Profaner Abschied vom USP Abwertung des Saums
Es konnte kaum überraschen, dass der städtebaulich einfacher gestaltete und dichter bebaute „Ring“ um den Kernbereich einen baulichen und sozialen Abwertungsprozess durchlief, beschleunigt noch durch die globale Rezession in den Jahren 2009 bis 2011. Die Privatisierungserfolge zunächst der MWG, danach diverser Investmentgesellschaften, waren bescheiden. Bei der Bausubstanz der inneren Gartenstadt gingen die MeinunAmbivalente Qualitäten … gen sowohl bei Experten als auch bei Nachfragern auseinander: Einerseits galt die architektonische und städtebauliche Qualität seit jeher
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
als gut, die stadträumliche Lage sowieso. Andererseits wurden immer dann, wenn es um Details ging, doch Zweifel laut: Für Familien waren die Wohnungen bzw. Häuser – zumindest gemessen an den Ansprüchen der Zeit – relativ beengt. Darüber hinaus stellte sich die eigentlich attraktive Bausubstanz nicht selten als tückische Kostenfalle heraus. Oft wurde nur billig instand gesetzt oder Modernisierungen lagen zu weit zurück bzw. waren nicht professionell durchgeführt worden. Auch die omnipräsenten Denkmalschutzauflagen machten es nicht einfach, die Häuser eigenen Wünschen und Erfordernissen entsprechend umzubauen. Die gleiche Ambivalenz zeigte sich beim Wohnumfeld: Einerseits als familienfreundliche, grüne und dörfliche (anti-urbane) Umgebung gepriesen, waren andererseits doch auch die Infrastrukturdefizite (z. B. Versorgungsinfrastruktur) und die relativ hohe Einwohnerdichte bei oft kleinen Grundstücksgrößen unübersehbar. Während viele der Meinung waren, die Architektur ließe sich gut an unterschiedliche Bedürfnisse anpassen, vertraten andere eine gegenteilige Auffassung, etwa hinsichtlich mangelnder Barrierefreiheit. Von Bewohnern wurde außerdem der Zustand der Parkanlagen kritisiert („sahen noch nie so schlecht aus“, B_BNT3). Defizite und Potenziale waren außerdem ungleich verteilt. Oft waren eher die in Einzeleigentum befindlichen Gebäude defizitär, während die im von der Stiftung und der MWG bzw. ihren Nachfolgern bewirtschafteten Gebäude zumindest nach und nach die allernotwendigsten Modernisierungen erhielten. Aufgrund der Persistenz der Bewohner und der bereit stehenden Nachfrage wohlhabender Haushalte im Kernbereich und migrantischer Haushalte im Saum machte man sich jedoch wenig Mühe, strukturelle Änderungen herbeizuführen. Man ging den Weg des kleinsten Aufwands und des geringsten Widerstands.
379
… der Bausubstanz …
… und des Wohnumfelds!
Barrierefreiheit? Fehlanzeige!
Minimierung des Aufwands
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Polarisierung Kern vs. Rand und drohende Leerstände Zwar war „Quartiersorientierung“ in der Gartenstadt-Siedlung B-dorf schon rein städtebaulich ein gewisses Thema, schließlich stand das gesamte Ensemble unter Denkmalschutz. Jedoch hatte dies im wohnungswirtschaftlichen Bereich wenig Handlungsrelevanz. Entschieden wurde meist nach rein wirtschaftlichen Kriterien oder nach dem Prinzip des geringsten Widerstands, selten aber strategisch, nachhaltig und vorausschauend. Die Stiftung z. B. vermietete stets an den solventesten Haushalt, ohne Rücksicht auf demographische oder soziale Mi-
Quartiersorientierung in der Theorie …
380
Material- und Szenarienanhang
schung. Die Stiftung, so wurde seitens einiger Bewohner vermutet, „bevorzugt studierte Leute“ B_EM2). … und in der Ähnliche Handlungslogik, gegenteiliger Effekt: Der Mietbestand Praxis im Ring um die Gartenstadt gehörte zu den Problembereichen im Portfolio. Hier glaubte man, wenig gewinnen zu können, investierte nicht viel und nahm eine ungesteuerte Konzentration von Haushalten mit Migrationshintergrund in Kauf – ganz nach dem Motto: Lieber kurzfristig vermietet als langfristig leer stehend. Diese Entwicklung im direkten Wohnumfeld wurde von der Gartenstadt-Klientel kritisch beäugt. Aufgrund der Laissez-faire-Politik durch die wohnungswirtImageschaftlichen Akteure wurde der sozialräumliche Abstand zwischen probleme dem Gartenstadtkern und dem Saum immer größer. Dieser Effekt und wurde durch eine divergierende Dynamik des Stadtteil-Images begleiAbschottung tet, so dass insbesondere die Bewohner des „reichen Kerns“ Abschottungstendenzen gegenüber „Draußen“ an den Tag legten. So wollten viele Bewohner nicht tolerieren, dass „lauschige Ecken mit Bank […] zum Wasserpfeifenrauchen, Dealen etc.“ genutzt würden. Außerdem wurde befürchtet, dass „türkische Großfamilien rüberschwappen“ (B_BNT1). Wider den Auch bei Neubauten in Baulücken des stark nachgefragten Areals Gartenstadt- verfuhr man nach reinen Profitabilitätsgesichtspunkten. So berückcharakter sichtigte man über die wenigen Auflagen nach § 134 BauGB hinaus keineswegs die historische städtebauliche Umgebung. Dass die städtebauliche Konsistenz des Quartiers dessen wahrer „USP“ war, wurde zugunsten niedriger Baukosten und schnellem Verkauf geflissentlich ignoriert. Auch im denkmalgeschützten Bereich wurden Häuser unter bewusster Inkaufnahme von Ordnungsgeldern und langwierigen Prozessen gesetzeswidrig verändert und damit meist dauerhafte bauliche Tatsachen geschaffen, die nicht zum Gesamtbild passten. Auch „Baumarktelemente“ waren gang und gäbe, obwohl die Denkmalschutzbehörde immer wieder intervenierte (E_B14). Bis heute, im Jahr 2030, hat der Gartenstadtcharakter des Quartiers dadurch stark gelitten. B-dorf hat an Attraktivität und damit auch an Marktpotenzial verloren. Ohne den Denkmalschutz wäre die Siedlung längst transformiert gewesen, wie ein Experte 2007 anmerkte, denn „die Bodenwirtschaft macht so etwas wie eine Gartenstadt kaputt“ (E_B14). Das Modellstädter Planungsamt verfolgte diese Entwicklung mit Sorge. Immer wieder suchte man das Gespräch und nicht selten auch den offenen, über die lokalen Medien ausgetragenen Konflikt mit wohKooperanungswirtschaftlichen Akteuren und Einzeleigentümern. Dazu nahm tionsman sich gerne auch Bewohner mit ins Boot, die dieses Partizipationsinitiativen angebot aus unterschiedlichen Motivationen heraus gerne annahmen: der Kommune Mietwucher, mangelhafte Infrastruktur, Zustand der Parkanlagen, so-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
ziale Spannungen zwischen „Kern und Saum“ oder die Nutzung des öffentlichen Raums im Gartenstadtbereich durch „Quartiersfremde“ waren nur einige Andockpunkte, die zu lebhaften Debatten führten. Die Stadtverwaltung setzte sich zum Ziel, anhand dieser Themen Konflikte auszuloten, zu moderieren und Kooperationen anzustoßen und den Quartiersbezug, Nachhaltigkeitsaspekte und eine Orientierung an demographischen Entwicklungen (etwa eine drohende demographische Welle im Quartier) als Themen stärker zu etablieren. Was dabei herauskam, waren im Wesentlichen Workshops, Gutachten und Positionspapiere. Die Kommune war ein zahnloser Tiger. Ein chronisch unterfinanzierter Kommunalhaushalt und die Kooperationsunlust der Privatwirtschaft ließ der Stadt nur die „Feuerwehrfunktion“ als letztes Mittel übrig. Wenn es wirklich „brannte“, sprang man ein, ansonsten musste man sich mit „Leuchtturmprojekten“ begnügen, mit denen man immerhin zeigen konnte, was in der Stadt(teil)entwicklungspolitik wünschenswert wäre. Im Saumbereich des Gebietes richtete man ab 2012 ein Quartiersmanagement ein. Die wichtige Integration auch des inneren Gartenstadtbereichs konnte man gegen den Widerstand der Bewohner nicht durchsetzen, so dass man sich letztlich auf sozialarbeiterische Projekte am Quartiersrand konzentrierte. Im Kernbereich gründete sich eine von konservativen Bewohnern getragene „Neighbourhood Watch“, die – von der Kommune rigoros abgelehnt – in den Abendstunden Patrouillen lief und unerwünschte Zaungäste vergraulte. Auch über eine Abschottung des Quartiers als „Gated Community“ wurde debattiert. 2020 löste sich diese Initiative, die bundesweit Schlagzeilen machte (BILD-Modellstadt titelte nach wiederholten Vorfällen im Juli 2017: „Nächtliche Übergriffe der Selfmade-Sheriffs – schon wieder Privatjustiz im Bonzenviertel“), mangels Beteiligung auf. Dafür wurden jedoch private Wachdienste engagiert. Was noch 2005 niemand glauben mochte, wurde langsam, aber sicher Realität: Eine Bevölkerungswelle ging durch das innere Quartier, viele ältere Haushalte lösten sich auf. Nachdem in den 2020er Jahren immer mehr der Häuser der Gartenvorstadt frei wurden, spürte man im Quartier, dass es inzwischen schlicht an einer ausreichend großen Nachfrage einer geeigneten Klientel mangeln sollte. Für ältere Menschen waren nur wenige der doch recht engen und keineswegs barrierefreien Häuser gut geeignet, und die immer kleiner werdende Gruppe junger Familien konnte auf ein großes Wohnungsangebot in Stadt und Umland zurückgreifen, auch auf Neubauten mit aktuellen technischen und energetischen Standards. Die Entwicklung einer benachbarten Industriebrache des ehemals zur Siedlung gehörenden Walzwerks durch hochwertige Büronutzun-
381
Feuerwehr und Leuchttürme
Neighbourhood Watch
Zusatznachfrage bleibt hinter den Erwartungen zurück
382
Veränderte Quartiersatmosphäre
Material- und Szenarienanhang
gen ließ ebenfalls auf sich warten, so dass auch aus diesem Bereich nicht der erhoffte Nachfragedruck entstand. B-dorf hatte in der Zwischenzeit an Attraktivität eingebüßt, und obwohl dies absehbar war, ist wenig unternommen worden, dem vorzubeugen. Die Entscheidungsträger von vor 10, 15 und 20 Jahren sind längst pensioniert. Eine Kooperationsvereinbarung und ein Zielsystem „Pro Quartier“ gab es zu keinen Zeitpunkt. In den Konkurrenzquartieren B-dorfs hatte man außerdem keineswegs geschlafen: Während B-dorf von seinem früheren guten Image zehren musste, hatten sich andere Quartiere zu attraktiven Alternativen entwickelt. Die Quartiersatmosphäre ist heute, im Jahr 2030, nicht mehr mit der noch vor 25 Jahren zu vergleichen. Anonymität und Misstrauen haben zugenommen. Eine „Stimmung wie in der guten Stube“, wie sie noch 2007 ausgemacht wurde (E_L1), kann jedenfalls derzeit nicht mehr aufkommen.
Bewertung und Ausblick 2030: „Incumbent Downgrading“ – von der Top-Adresse zu einem gewöhnlichen Quartier Kein Umkippen, aber verschenktes Potenzial
Trotz der negativen Entwicklung sollte man die heutige Situation nicht dramatisieren: Die Wohnzufriedenheit ist immer noch über-durchschnittlich, viele Anwohner jedoch wünschen sich „die alten Zeiten“ zurück. Der Ring um die Enklave ist von einer dauerhaften Instabilität, hoher Fluktuation und von Leerständen geprägt. Hier wird inzwischen über Rückbau nachgedacht. So jedenfalls ist die Aussage des neuen Geschäftsführers der MWG, Leon Muster, kürzlich im Interview mit RTL_lokal zu interpretieren: „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“. Dennoch: B-dorf profitiert von seinem nach wie vor recht guten Ruf (zumindest der Kern-Gartenstadt) und der unbestrittenen städtebaulichen Qualität, sodass es nicht zu massiven Leerständen und keinesfalls zu einem „Umkippen“ der Siedlung kommen wird.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.3
383
Typ C: Aufbau
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ C
Tabelle 4: Stärken-Schwächen-Profil Typ C – Aufbau
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
+ > o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– + + o
+ o o +
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Nachkriegsquartiere (insbesondere diejenigen der ehemaligen DDR) haben oft unter einer starken demographischen Alterung zu leiden. Meist stehen Quartiere dieser Art nicht im Fokus von Investoren. Wahrscheinliche Szenarien wären hier Ca.1 sowie Ca.3 (ein zurückhaltender Markt trifft auf einen fordernden Staat).
384 1.3.1
Material- und Szenarienanhang
C-feld-Süd (Typ Aufbau – Szenario Ca.3: Markt vs. Lokalstaat)
Modellquartiere: Brandenburg-Nord, Leipzig-Schönefeld-Ost, Berlin-Plänterwald, ferner: Berlin-Belß-Lüdecke-Siedlung Abbildung 13: Synopse für Szenario Ca.3 Typ
C
Aufbau
SzenarioVariante
.3
Markt vs. Lokalstaat
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: mittel
Bausubstanz: problematisch
homogene demographische Alterung und (städte)bauliche Monostruktur, geringe Variabilität der Wohnungsgrößen, starke Ortsbindung, Leerstände, überforderter Markt
–
langfristiger Abwärtstrend, kompletter Verfall des Quartiers
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
385
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Jahrzehntelang kultivierter Durchschnitt Modellstadt war ein typischer Fall: Nennenswerte Einwohnerzuwächse konnten auf lange Sicht nicht erwartet werden, eher versuchte man, durch Attraktivitätssteigerung die Stadt für Zuwanderung interessant zu machen, um das Einwohnerniveau zumindest einigermaßen zu halten oder den Rückgang abzuschwächen. Die Gesamtstadt durchlief einen steten demographischen Alterungsprozess. Deshalb war auch der Wohnungsmarkt ein umkämpftes Terrain. Unattraktive Bestände standen leer, waren praktisch unvermietbar und wurden zum Teil im Rahmen des Stadtumbau-Programms abgerissen. Die Fluktuation war beträchtlich, was Instandhaltungskosten und strukturelle Mietausfälle in den Wohnanlagen in die Höhe trieb. Auch die wirtschaftliche Gesamtsituation der Stadt war ambivalent. Während manche Branchen durchaus Zuwächse verzeichneten, gab es Insolvenzen und Arbeitsplatzabbau an anderer Stelle. C-feld-Süd war auf der Quartiersebene ein ebenso typischer wie schwerer Fall: Im städtischen Vergleich wohnte hier die „bei weitem älteste Bevölkerung“, wie im Modellstädter Stadtumbaukonzept bezüglich dieses Quartiers 2005 festgestellt wurde. Jahrelang führten die Bewohner und die Wohnungsunternehmen ein sorgenfreies Leben in einem unauffälligen Durchschnittsquartier, das nach dem zweiten Weltkrieg zum Teil von den Bewohnern durch Eigenarbeit selbst mitgebaut worden war. Die Wohnzufriedenheit war ebenso hoch wie die Persistenz, und die Zahlungsmoral der „kleinen Leute“ war stets vorbildlich. Doch dramatische Umbrüche waren schon 2005 absehbar, gebremst nur durch ein retardierendes Moment: die steigende Lebenserwartung.
Stagnation der Gesamtstadt
Ein schwerer Fall
Sozio-demographische Entwicklung: „Hier tickt eine Zeitbombe!“ Ein Blick ins Jahr 2005: Die Mobilitätsbereitschaft der Bewohner war gering, die Ortsbindung hoch und nachbarschaftliche Netzwerke hatten eine enorme Bedeutung, was mit der außerordentlichen Wohnkontinuität ganzer Hausnachbarschaften zu tun hatte. Im Interview 2006 erklärte eine Bewohnerin, die Nachbarschaft sei „konstant geblieben“ (B_BRBN1). „Damals [nach dem zweiten Weltkrieg, Anm. d. Verf.] wohnten in einem Aufgang 16 Kinder, jetzt alles Rentner“ (B_BRBN3). Trotz einiger Kritik an der Entwicklung des Quartiers in den letzten Jahren wurden kaum noch Umzugspläne geschmiedet: „Ich, wo soll ich denn noch hin mit meinen 66 Jahren? Unter die Erde
Starke Ortsbindung und Wohnkontinuität
Starke demographische Alterung
386
Material- und Szenarienanhang
oder ins Altersheim“ (B_BRBN4). Die soziale und demographische Struktur von C-feld-Süd war ausgesprochen homogen: Das Durchschnittsalter betrug 2005 bereits über 62 Jahre (vgl. Abbildung 14). Abbildung 14:
Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp C Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Nord)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Hohe Kaufkraft – traditionelle Lebensstile
Lokales Sozialkapital
Bevölkerungswelle
Ein Großteil der Haushalte gehörte dem „Mittelstand“ an und viele bezogen auskömmliche (Witwen-)Renten (B_BRBN3). C-feld-Süd konnte folgerichtig noch 2005 die höchste Kaufkraft aller Modellstädter Stadtteile auf sich vereinen (E_BRB2). Die mit Abstand meisten Bewohner ließen sich traditionellen, konservativen Lebensstilen zuordnen („typisches Genossenschafts-Klientel“, E_BRB3, vgl. Abbildung 15). So gestaltete sich auch das Leben in C-feld-Süd. Die nachbarschaftlichen Beziehungen, zumindest unter den Alteingesessenen waren vertraut: „Wir kennen uns alle. […] Bei uns ist es noch familiär, Einer hilft dem Anderen“ (B_BRBN3), nach dem Motto „… warst du schon eine Zeitung holen? Ich bring dir eine mit“ (B_BRBN4). Viele Kontakte intensivierten sich auch erst mit dem Eintritt ins Rentenalter (B_BRBN2). Auf das Quartier rollte eine massive Bevölkerungswelle zu. Schon 2006 waren die Hauptkündigungsgründe einer vor Ort tätigen Genossenschaft „Umzug ins Altersheim“ (18%) und „Tod“ (15%) (E_B18). Dadurch dass die Lebenserwartung kontinuierlich anstieg, verschob
387
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Abbildung 15: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp C (hier: Modellquartier Nord, OT 5, Angaben in %, 2005) 3,3
EXP 0,8
HED
7,2
MAT BÜM
5,7 38,6
DDR TRA KON
31,7 0,5
PER
3,7
PMA
4,5
ETB
4,1 0,0
EXP EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
sich der „point of no return“ noch um einige Jahre nach hinten. Parallel dazu kam es zu einem starken Anstieg hochbetagter Haushalte im Gebiet. „Hier tickt eine Zeitbombe“, erklärte ein Experte aus dem Modellstädter Planungsamt schon vor 25 Jahren (E_BRB2). Bereits in einem Gutachten von 2006 war zu lesen, dass der Stadtteil „unaufhaltsam überaltere“ und „ein drastischer Bevölkerungsverlust nur noch eine Frage der Zeit“ sei. Zwischen 2015 und 2020 war es so weit. Die „Hypothek des Todes“, wie es Hansgert Peisert 1959 nannte, forderte ihren Tribut. Eine Flut von Haushaltsauflösungen stellte Wohnungsunternehmen, Genossenschaften und Kommune vor unlösbare Probleme. Die Tage von C-feld-Süd waren nun endgültig gezählt. Die geradezu prototypische Entwicklung von C-feld-Süd zu einer Geisterstadt war sogar SPIEGEL-Online einen größeren Artikel wert. Im Februar 2022 schilderte der Urbanist und Journalist Noah Winter in einer Reportage seine Eindrücke von einem Rundgang durch Cfeld-Süd: „2022, eine gewöhnliche Stadt in Deutschland: Ein eisiger Wind pfeift durch die staubigen Durchgangsstraßen. Hier, wo einst nach dem zweiten Weltkrieg neue Hoffnung und Leben einzog, wo die Menschen mit bloßen Händen ihre neue Bleibe errichten halfen. Hier, wo Nachbarschaft und soziales Miteinander groß geschrieben wurden, ist die Tristesse kaum mehr auszuhalten. Leer stehende Häuser-
388
Material- und Szenarienanhang
zeilen, noch in den 1990er Jahren modernisiert, verfallen. Die Scheiben sind eingeschlagen, die Türen vernagelt. Klingelleisten zeugen von Bewohnern, die es schon lange nicht mehr gibt. Nachmieter? Fehlanzeige! Musterstraße 10 – auch hier sieht es aus wie in einer Ghosttown. Nur an einem Fenster sehe ich Gardinen und Licht. Die letzte Witwe oder eine vietnamesische Familie, die sich keine bessere Wohnung leisten konnte. Vielleicht die letzten C-felder. Nach ihnen wird hier nichts mehr sein und nichts mehr kommen. Ein Stadtteil stirbt und mit ihm sämtliche Geschichten und Schicksale. In einigen Jahren, wenn hier auf der renaturierten Fläche Kinder spielen, wird sich kaum noch jemand an diesen Friedhof des Städtischen erinnern.“
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Niedergang einer Notlösung Lage „im Nichts“
Mangelhafte Bausubstanz
Hohe Energiekosten Grünes Wohnumfeld
Mangel an Atmosphäre
Die stadträumliche Lage von C-feld-Süd – umgeben von größeren Ausfallstraßen, im „städtebaulichen Nichts“ zwischen Innenstadt und Stadtrand – war nicht besonders attraktiv. Allerdings war die Erreichbarkeit durch Individual- und öffentlichen Personennahverkehr sehr gut, auch Richtung Innenstadt. Die Lage hatte also durchaus „praktischen“ Nutzen. Nach dem Krieg schnell hochgezogen, machte die minderwertige Bausubstanz trotz umfassender früherer Sanierungen immer mehr Probleme: Die Gebäude waren mangels geeigneter Schalldämmung oft sehr hellhörig und hatten infolge defizitärer Wärmedämmung eine geradezu groteske Energiebilanz aufzuweisen. Im Zusammenhang mit allgemein steigenden Energiepreisen für traditionelle Energiearten kletterten die Wohnnebenkosten innerhalb weniger Jahre in astronomische Höhen. Aufgrund der grundlegenden Baumängel waren die Häuser auch nur eingeschränkt re-modernisierungsfähig. Vielfach gab es auch einen Instandhaltungsrückstau, der zu einer mangelnden Wohnungsqualität beitrug. Das Wohnumfeld zeichnete sich durch viel Grün aus, Durchgangstraßen zwischen den Häusern waren eher selten und die Umgebung war ruhig, in den Anfangsjahren kinder- und familien-, um 2005 gleichermaßen seniorenfreundlich. Gleichzeitig jedoch wies das Wohnumfeld unübersehbare Defizite auf: Trotz oder wegen des pseudo-städtischen Ambientes der Zeilenbauten fehlte es an Atmosphäre (so konnte in C-feld-Süd weder das Gefühl von „Urbanität“ noch der „Dorfidylle“ aufkommen), und funktionale Defizite waren unübersehbar (z. B. infrastrukturelle Mängel, dysfunktionale Wegesysteme, fehlende Balkone und Aufzüge o. ä.). Für junge Senioren funktionierte der
389
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
für Familien ausgelegte öffentliche Raum noch leidlich, die zunehmende Gruppe der Hochbetagten jedoch konnte sich hier nicht mehr zurechtfinden: Wege waren zu weit, die Möblierung zu spärlich, die Infrastrukturangebote unattraktiv. Fehlende Durchgangsstraßen im Gebiet wurden erkauft durch viel befahrende Straßen am Quartiersrand, die die hier befindlichen Zeilenbauten als erste unvermietbar machten. Das gravierendste Problem stellte die städtebauliche Monostruktur dar. Auf diese Monostruktur ließen sich alle möglichen Folgeprobleme zurückführen: die unattraktive Architektur und städtebauliche Qualität, und vor allem die zwar funktionalen, aber unattraktiven Wohnungsgrundrisse und die homogenen und zu kleinen Wohnungsgrößen. „Nichtssagend“ war das Quartiers-Image, das 2007 mit den Kategorien „schon immer etabliert“ (E_BRB2), „gestanden“ (E_BRB3) oder „hat überhaupt kein Image“ (E_L2) charakterisiert wurde. All dies stellte eine schwere Hypothek für die zukünftige Entwicklung des Wohnquartiers dar. Das Quartier hatte denkbar geringes adaptives Potenzial für andere Zielgruppen als die jetzt darin wohnenden Bestandsmieter. Um hier eine positive künftige Entwicklung zu befördern, hätte man frühzeitig und vorausschauend handeln müssen.
Funktionale Defizite
Städtebauliche Monostruktur
Quartier ohne Image
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Im demographischen Wachkoma „Wir profitieren im Moment noch von der historischen Entwicklung“ (E_B18, 2007). Diese Erkenntnis, die einige Experten in den 2000er Jahren teilten, führte nicht zu einer sofortigen strategischen Neuorientierung. Im Gegenteil: Die kurzfristig agierenden Wohnungsunternehmen und Genossenschaften, die sich untereinander misstrauisch beäugten, schoben das existenzielle Problem auf die lange Bank. Durch die steigende Lebenserwartung hatte man sogar noch einige wenige Jahre an Handlungsspielraum hinzu gewonnen – ließ diesen aber ebenso ungenutzt verstreichen. Man hätte das Quartier schon in den 2000er Jahren fit machen Die „lange müssen für andere Zielgruppen. Die alternden Bestandsbewohner hät- Bank“ te man – den nötigen Weitblick vorausgesetzt – durchaus mit einbinden können. So gab es in C-feld-Süd viele Flächenpotenziale für bewohnerorientierte Aufwertung (etwa durch Mietergärten, die später auch für jüngere Zielgruppen interessant gewesen wären), Chancen für Selbsthilfe und die Gründung neuer Genossenschaften (ebenfalls für jüngeres Klientel). Umbauten wie etwa Balkonanbauten oder Aufzugsinstallationen, eine Verbesserung des öffentlichen Raums oder die Ausdifferenzierung des zu einseitigen Wohnungsschlüssels durch
390
Material- und Szenarienanhang
Teilungen und Zusammenlegungen wären möglich gewesen, wenn auch vielleicht nicht als Großinvestition, so doch – im Rahmen einer langfristigen und im Quartierskontext integrierten Strategie – häppchenweise. Den zeitlichen Vorsprung bis zum „demographischen Impact“ hätte man durchaus nutzen können. Allein: Eine Zielgruppenstrategie war oft nicht einmal angedacht, wie dieses Interviewzitat von 2007 zeigte: „Das ist vollkommen egal, Hauptsache Mieter“ (E_BRB3). Andere wiederum setzten vollkommen auf die Zielgruppe der Ü50 als „nachwachsende“ Ersatzkohorte Blindflug für die „herausgealterten“ Haushalte, von der man erwartete, dieim Markt selben Ansprüche an Wohnungen zu haben wie die alte Generation (E_B18). Auch in der Kommune gab es solche Auffassungen: „Einen Generationswechsel wird es in diesem Quartier wohl nicht geben“. Cfeld-Süd wäre auf das Alter zwischen 50 und 90 Jahren ausgerichtet, wie es hieß, das wäre „typisch für diese […] Bebauung“ (E_B19). Dem Beobachter stellte sich jedoch die Frage: Würden künftige Seniorengenerationen auch noch so wohnen wollen? Die einzigen „Strategien“, die zur Anwendung kamen und immer wieder als innovativ verkauft wurden, waren Angebote von Service„Giveleistungen für Senioren, einige kostengünstige Wohnumfeldverbesaways“ statt serungen, die Einführung von Bonussystemen und „give-aways“ Strategie (mit denen ernsthaft eine „langfristige Wirkung angestrebt“ wurde, E_BRB3) oder immerhin auch der vereinzelte seniorengerechte Ausbau von Wohnungen. Natürlich waren Kooperationsverträge mit der Arbeiterwohlfahrt o. ä. wichtig und notwendig, aber für eine langfristige Bestandssicherung war das angesichts der zu erwartenden demographischen Welle und dem darauffolgenden Marktvakuum nicht im geringsten ausreichend. Letztlich verschlechterte sich die Qualität des Quartiers sogar aufgrund unzureichender Investitionstätigkeit. KooperaKooperationen zwischen den Akteuren waren allenfalls unter tionen – nur Zwangsbedingungen möglich. Jeder wartete implizit darauf, dass der zur Not Konkurrent als erster ins Straucheln kommen würde. Die Kommune, deren Schwerpunkt klar auf integrierter Quartiersentwicklung, Nachhaltigkeit, Kooperation und Demographieorientierung lag, arbeitete sich an dieser Akteurskonstellation ab. Vielfach wurden neben „persönlichen“ Problemen auch institutionelle Defizite beklagt. So gebe es etwa „kein Prozedere, kein Forum, mit dem man strategisch mit der Wohnungswirtschaft zusammen etwas lösen könnte“ (E_B19, Kommunale E_B21). Doch seitens der Kommune war im Jahr 2007 immerhin das Einsichten … Problem bereits klar umrissen: C-feld-Süd „hat gute Chancen, wenn die Eigentümer bei der Entwicklung der Bestände mitziehen. […] Es ist ein zielgruppenspezifischer Umbau der Bestände nötig. […] Diversifizierung muss sein“ (E_L2). Verpasste Chancen
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Zwar wurden im Rahmen des Stadtumbauprozesses kleine Erfolge erzielt, jedoch war C-feld-Süd hier immer auch der Konkurrenz anderer Quartiere innerhalb der Stadt ausgesetzt, in denen innovativere Akteure am Werk oder einfach die Ausgangsbedingungen günstiger waren. Letztlich wurde außer Workshops, Gutachten, Interviews und Positionspapieren wenig Verwertbares zustande gebracht. Es gab stadtweit das eine oder andere Leuchtturmprojekt, durchaus mit Vorbildfunktion für C-feld-Süd – jedoch kam man auch unter Inkaufnahme von Konflikten und Konfrontationen nicht gegen die egozentrischen Marktakteure an. Stadtweit hatte die Kommune an vielen Orten die Bewohner als Verbündete und beide einen gemeinsamen Gegner: Die Wohnungswirtschaft, vertreten durch Wohnungsunternehmen oder Wohnungseigentümer. In C-feld-Süd, dem Quartier der Hochbetagten, war dieses Machtpotenzial jedoch geringer als anderswo und konnte nicht zur Geltung gebracht werden. Spätestens ab 2015/2020 wäre in starkem Maße die Akquisition eines neuen Mieterklientels und neuer Nachbarschaften notwendig gewesen. All dies hätte in kürzester Zeit geschehen und vom Markt wie auch sozial „bewältigt“ werden müssen. Doch die starke demographische Überalterung und der monostrukturierte Wohnungsschlüssel waren eine zu große Belastung. Der erste Faktor führte zu einem drastischen Leerstand innerhalb weniger Jahre. Der zweite Faktor engte die in Betracht kommende Nachfrageschicht so stark ein, dass aus einem kurzfristigen ein Dauerleerstand wurde. Die dann zügig durchgeführten Abrisse und Rückbauten konnten den Stadtteil nicht mehr retten. Zuviel war geschrieben worden über das Aussterben des Quartiers in direkter Nachbarschaft zur Innenstadt. Nach dem Überschreiten des „demographischen Tipping-Points“ waren den wohnungswirtschaftlichen und kommunalpolitischen Akteuren für weitere Investitionen in den Stadtteil die Grundlagen entzogen. Es wurden fluchtartige Absetzbewegungen beobachtet, Verwahrlosung und Unsicherheitsgefühl prägten das verbliebene Ghosthood. Insbesondere die Genossenschaften, die noch in den 2000er Jahren die bequeme Situation einer soliden Vollvermietung hatten, waren von der Vehemenz dieser Entwicklung überrascht, davon besonders betroffen und schließlich in die Insolvenz abgerutscht: Der unvermeidliche demographische Zyklus brachte es mit sich, dass im Jahr 2030 alle „Altmieter“ und Pioniere der ersten Jahre, die über Dekaden hinweg für so viel Stabilität gesorgt hatten, verstorben waren. Die diesen Haushalten folgende Nachfrage war nicht groß genug, um die Häuser wieder zu füllen. Bei hohen Leerständen wurden zunehmend problematische Haushalte eingemietet. Eine nur schwer aufzuhaltende Abwärtsspirale hatte eingesetzt.
391 … vs. realer Output
Egozentrische Marktakteure
Demographischer Tipping Point
Abwärtsspirale zum „Ghosthood“
392
Material- und Szenarienanhang
Bewertung und Ausblick 2030: Vom Quartier zum Stadtpark 2006 und 2007 wurde in einigen Expertengesprächen ein überraschend geringes Problembewusstsein bzw. eine Tabuisierung des demographischen Problems für C-feld-Süd festgestellt – und dies gerade bei Entscheidern aus der Wohnungswirtschaft. Dafür waren wohl verschiedene Gründe ausschlaggebend. Bei Entscheidern eines ersten Typs dürfte der Problemdruck bereits so groß gewesen sein, dass die Realität noch bis zu dem Zeitpunkt ausgeblendet wurde, der ein unbedingtes Handeln erforderte. In der Regel war es dann schon zu spät. Bei einigen, so war zu vermuten, spielte auch die persönliche Dienstzeit oder Vertragsdauer bzw. die bevorstehende eigene Pensionierung eine Rolle. Als dritter Typus von Entscheidern wurde der „Kurzfristplaner“ angetroffen, in der Regel zu finden in der freien Wohnungswirtschaft. Doch die Ausgangslage war höchst problematisch und C-feld-Süd schließlich nicht mehr zu retten. Die Entscheider, die sich in den wesentlichen Jahren zwischen 2000 und 2010 strategischen Neuausrichtungen und kooperativen Modellen weitgehend verschlossen hatten, waren längst nicht mehr in der Verantwortung. Die ehemaligen Eigentümer waren trotz Stützungsfinanzierungen und Weiterverkäufen letztlich zwischen 2020 und 2025 in Konkurs gegangen. Die Stadtverwaltung von Modellstadt hatte – eingedenk der rückläufigen Gesamtstadtentwicklung – 2025 beschlossen, den Stadtteil endgültig aufzugeben. Unmengen an Fördermitteln für Modernisierungen, Um- und Rückbauprämien etc. wurden damit vernichtet. Es wurde ein Rückbau- und Renaturierungskonzept aufgestellt. Vor drei Monaten, am 1. März 2030 fiel das letzte Haus der Abrissbirne zum Opfer. In einigen Jahren wird sich der innenstadtnahe Park mit einer Promenade am Ufer des Modellstadtflusses großer Beliebtheit erfreuen.
393
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.3.2
C-wald-Siedlung (Typ Aufbau – Szenario Ca.1: Pro Quartier!)
Modellquartiere: Brandenburg-Nord, Leipzig-Schönefeld-Ost, Berlin-Plänterwald, ferner: Berlin-Belß-Lüdecke-Siedlung Abbildung 16: Synopse für Szenario Ca.1 Typ
C
Aufbau
SzenarioVariante
.1
Pro Quartier!
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: z.T. problematisch
Bausubstanz: problematisch
starke Ortsbindung, Neuanfang mit neuen Akteuren, Win-Win-Strategien, gezielte bauliche Diversifizierung gegen Monostruktur und Monotonie, Neighbourhood Branding, Quartiersorientierung von Eigentümer und Kommune
O
solide – grün – praktisch – Stabilisierung durch langfristigen Umbau, offener Entwicklungspfad
394
Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Von Stagnation und „Escimos“ Modellstadt stagniert
Strukturelle Leerstände in einzelnen Lagen Stagnierendes Mietund Kaufpreisniveau
„Escimos“
Soziale Konvois
Preiswerter Nachkriegsstädtebau
In den 2000er Jahren erschienen fast quartalsweise neue Gutachten mit Kartendarstellungen des demographischen Wandels in deutschen Städten und Kreisen. Modellstadt fand man dabei immer auf der Seite der stagnierenden oder „mäßig schrumpfenden Städte“. Tatsächlich verlor die Stadt phasenweise an Bevölkerung, konnte sich aber im langjährigen Durchschnitt stabilisieren. Aufgrund der recht konstanten Arbeitsplatzentwicklung in der Region spielte beruflich bedingte Wegzugsmobilität nur eine untergeordnete Rolle, sodass – bei geringer Fluktuation – nur in einzelnen Lagen hartnäckige strukturelle (aber recht gut kalkulierbare) Leerstände auftraten. Obwohl der Bevölkerungsrückgang nicht so dramatische Formen angenommen hatte wie in den 2000er Jahren noch teilweise vermutet wurde, war klar, dass auf absehbare Zeit Boom-Märkte nicht zu erwarten waren. Für die Anbieter war es also keine ideale Ausgangslage. Das durchschnittliche Miet- und Kaufpreisniveau stagnierte in den meisten Fällen – eine Situation, die in vielen Kommunen vorzufinden war. Am Wohnungsmarkt hielt mehr und mehr eine Mikrodifferenzierung Einzug. Leicht marktstabilisierend wirkte sich der Wandel der Nachfragerpräferenzen aus: Urbanes Wohnen war zunehmend gefragt. Die Neigung, kompakt in Quartieren „der kurzen Wege“ zu wohnen, führte zu wachsenden Vermarktungsproblemen in Quartieren peripherer Gebiete, wie etwa in Einfamilienhaussiedlungen im suburbanen Raum. Die Träger dieses neuen Trends „zurück in die Stadt“ (die „Escimos“ [„essential city movers“], wie sie seit einer Debatte in einem UrbanistikBlog seit 2012 häufiger bezeichnet wurden) waren nicht nur die jungen kinderlosen Haushalte wie noch um die Jahrtausendwende. Vielmehr waren es die immer rarer werdenden Familien, ebenso wie „empty-nest“-Haushalte, Senioren und Hochbetagte, die ihren sozialen Konvois folgen und damit langfristig dem Auslaufmodell Altersheim entgehen wollten. Zahlenmäßig war dieses Potenzial jedoch begrenzt. Das Quartier C-wald-Siedlung kannte zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung keine Nachfrageprobleme. Das Gebiet entstand zum Teil in den 1930er Jahren, wurde aber erst in der Nachkriegszeit zu dem, was es heute ist: Durch weitere Verdichtung entlang großer Ausfallstraßen entstand ein Quartier mit dringend benötigtem preiswertem Wohnraum. Ein größerer Teil des Quartiers befindet sich im Eigentum der WBG C-wald-Siedlung, die 2004 ihr 50-jähriges Bestehen feierte und in den folgenden Jahren große Herausforderungen auf sich zukommen sah.
395
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Sozio-demographische Entwicklung: C-wald-Siedlung – extrem, aber kein Einzelfall Die C-wald-Siedlung hatte in vielerlei Hinsicht extreme Charakteristika: Sie war nicht sonderlich urban, hatte nur Standardwohnungen zu bieten und eine mangelhafte Bausubstanz aufzuweisen. Das Quartier lag damit vollkommen außerhalb des Blickfelds und des Vorstellbaren für die Nachfragergruppe der „Escimos“. Außerdem war das Quartier demographisch sehr alt. Ein hoffnungsloser Fall? Auch 2005 war den meisten Akteuren nicht bewusst, wie fragil inzwischen dort die Bevölkerungsstruktur geworden war. Seit jeher wohnte hier „ein normales, einfaches Klientel“ mit soliden Rentenbezügen (E_B17). Die soziale Zusammensetzung war über die Jahre in etwa konstant geblieben, weder Auf- noch Abwertungstendenzen waren feststellbar (E_B17).
Ein hoffnungsloser Fall?
Die „kleinen Leute“
Abbildung 17: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp C (hier: Modellquartier Plänterwald, Kerngebiet, TVZ 12021, Angaben in %, 2005) EXP
0,0
HED
0,0
MAT BÜM
5,9 0,1
DDR
50,4
TRA
39,2
KON PER
4,3 0,0
PMA
0,2
ETB
0,0 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
20,0
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Es verwundert deshalb nicht, dass die lokale Identifikation der Bewohner z. T. recht hoch war, insbesondere bei alteingesessenen Genossenschaftlern, die seit den 1950er Jahren hier wohnten, beim Bau selbst Hand angelegt hatten, nach der Modernisierung ihrer Häuser Starke lokale eine hohe Wohnzufriedenheit zum Ausdruck brachten (B_LSO1) und Identifikation das Quartier geradezu als ihre Heimat betrachteten (B_LSO2). Aller- („Heimat“)
396
Material- und Szenarienanhang
dings sei es „auch nicht so wie auf dem Dorf“, womit die urbane Komponente des Quartiers gemeint war (Bewohnerinterview LSO1). Die meisten der Bewohner aus den 2000er Jahren gehörten zu dem im Laufe der Spätmoderne verschwindenden Lebensstiltypus der „Traditionsverwurzelten“ (vhw/Sinus Mosaic 2005, siehe Abbildung 17). Daraus resultierten auch recht intensive Nachbarschaftskontakte, wie Bewohner in Interviews im Jahr 2005 bestätigten: „Hier im Haus, da gibt’s keinen Krach … ich fahr in Urlaub, kannst Du den Schlüssel nehmen, dann ist gut. […]. Oder wenn man einen lange nicht gesehen hat, dann guckt man auch mal und sagt, ist was Besonderes?“ (B_PLÄ1). Aber auch die Singularisierung vor allem unter den Älteren war zunehmend spürbar: „Es gibt welche, die sind sehr einsam“ (B_BPLÄ1).
Traditionsverwurzelte
Gute Nachbarschaft
Abbildung 18:
Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp C Typ III: deutliche Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Plänterwald)
2.500
Annahmen: TFR LE(w) LE(m) NMig CBR CDR
2.000
2005
2030
1,21 81,6 76,0 37,3 7,3 16,7
1,55 85,7 80,8 37,3 6,8 16,6
Altersstruktur NMig (Modell):
1.500 Einwohner
bimodal
Migrationsrate (Modell): Typ III: Zuwanderung
0-19 J.
1.000
20-59 J. 60-79 J. > 80 J.
500
Datengrundlage: Statistisches Landesamt Berlin (Stand: 31.12.2005 bzw. 2005), eigene Berechnungen auf der Basis des Modells von Rowland (2003)
0 2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Demographische Alterung
Der demographische Wandel war schon 2005 im Gange und wurde von den Bewohnern auch so wahrgenommen (Abbildung 18). „Wenn Sie jetzt in einer Woche zwei [haben], die verstorben sind, die man lange kennt. Natürlich ist das jetzt meine Generation, die jetzt nun mal stirbt, aber man will’s halt nicht wahr haben […]“ (B_BPLÄ1). Das demographisch homogen alte Quartier mit einem Altersdurchschnitt von ca. 61 Jahren (2008) steuerte geradewegs auf eine drastische demographische Welle zu. Vereinzelte Zuzügler (u. a. „Escimos“) konn-
397
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
ten in den 2000er Jahren die Erhöhung des Durchschnittsalters von 57 auf 59 Jahre nicht kompensieren (E_B18). Seit 2015, spätestens aber seit 2020 nahm die Anzahl der Hochbetagten und der Haushaltsauflösungen ähnlich stark zu und viele Wohnungen kamen gleichzeitig auf den Markt. Diese demographische Entwicklung und deren mikroräumliche Wohnungsmarktfolgen waren sicherlich extrem, aber in deutschen Kommunen (insbesondere in Ostdeutschland) auf Quartiersebene keineswegs ein Einzelfall. Durch die frühen vorausschauenden Maßnahmen der Wohnungseigentümer und der Kommune konnte jedoch hier das Schlimmste verhindert werden (s. u.). Heute, im Jahr 2030, sehen wir uns mit einer erneuerten, sozial heterogenen Bewohnerschaft konfrontiert, in der Mehr-Generationen-Wohnen einen wesentlichen Stellenwert einnimmt.
Demographische Welle
Demographische Heterogenisierung
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Mit Mut von der Mono- zur Polystruktur Die C-wald-Siedlung hatte schon immer den Vorteil einer relativ zentralen Lage mit guter ÖV-Anbindung, wenn auch nicht alle – trotz des stillgelegten Modellstädter Schifffahrtskanals und des C-walder Forstes in erreichbarer Nähe – das erweiterte Wohnumfeld attraktiv fanden. Das Wohnumfeld war durchgrünt, auch wenn das „Grün“ zum Teil aus reinen Abstandsflächen bestand. Hauptverkehrsstraßen gab es an den Rändern des Quartiers, weshalb es in den Innenbereichen insgesamt ruhig, senioren-, kinder- und familienfreundlich war. Auch die Wohnungsgrundrisse waren durchaus funktional – zumindest aus der Perspektive der Altmieter, denn in der Zwischenzeit hatten sich die Ansprüche deutlich verändert. Experten wiesen jedoch immer wieder auf die negativen Faktoren hin. In der Delphi-Befragung zur Quartiersentwicklung (2007/2008) wurden z. B. die mangelhafte Bausubstanz (Hellhörigkeit, schlechte Energiebilanz, hohe Wohnnebenkosten, eingeschränkte Modernisierungsfähigkeit und Instandhaltungsrückstau), die mangelnde Wohnungsqualität (schlechter Standard) und das defizitäre Wohnumfeld (fehlende Urbanität, funktionale Defizite, Monostruktur) als Negativfaktoren für Quartiere dieser Art besonders herausgestellt – und auch auf die C-waldSiedlung trafen praktisch all diese Faktoren zu. In Bewohnerinterviews 2005 wurde es fast als Normalität angesehen, dass das Quartier kaum über kulturelle Einrichtungen, Cafés oder auch Einkaufsmöglichkeiten verfügte oder dass man zum Teil weite Wege gehen musste. Der Bedarf an Zerstreuungsmöglichkeiten schien aber auch gerade bei den dominanten älteren „Traditionsverwurzelten“ relativ gering
Zentrale Lage
Grünflächen
Funktionalität
Mangelhafte Bausubstanz
Defizitäres Wohnumfeld
398
Monostruktur und einseitiger Wohnungsschlüssel
Material- und Szenarienanhang
zu sein, da sie eher häuslich ausgerichtet waren. Insbesondere die für andere Zielgruppen als die Bestandsbewohner unattraktiven Grundrisse und die homogenen und zu kleinen Wohnungsgrößen waren ein großes Manko für die Weiterentwicklung des Quartiers. So klagten Experten eines vor Ort ansässigen Wohnungsunternehmens über den „monostrukturierten“ Bestand und die überwiegend kleinen 2- bis 3Zimmer-Wohnungen, die meist keinen Balkon besaßen (E_B17). Die bauliche Entwicklung war aber in den 2000er Jahren nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Durch die Interventionen der proaktiven Eigentümer und der Kommune in den 2010er Jahren konnte das Wohnungsangebot stark diversifiziert und damit für differierende Zielgruppen („Escimos“) attraktiv gestaltet werden.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: „Wohninsel C-wald – mitten im Leben“ Schlechte Presse
Ein Neuanfang
Der „Modellstädter Express“ hatte seine Story. Die Wochenendausgabe vom 2. Oktober 2010 titelte mit „Rentneralarm in Modellstadt: Die C-wald-Siedlung vergreist als erste. Wohnungswirtschaft verschläft Situation. Ob auch Ihr Quartier vom Aussterben bedroht ist, erfahren Sie in unserer neuen Demographie-Serie.“ Dies löste eine intensive Debatte in Modellstadt aus. Eine Situation, die zwar vielen nicht verborgen geblieben war, trat nun ins Bewusstsein der Öffentlichkeit – und entfaltete ihre politische Wirkung. „Bestandsentwicklung in Maßen“ war bislang „das höchste der Gefühle“. Nun wurde den Beteiligten bewusst, dass es damit nicht getan sein würde. Die Kommune hatte schon einige Jahre zuvor an die Marktakteure appelliert: „[Das C-wald-Viertel] hat relativ gute Chancen, wenn die Eigentümer bei der Weiterentwicklung der Bestände mitziehen […]. Es ist ein zielgruppenspezifischer Umbau der Bestände nötig […]. Diversifizierung muss sein“ (E_L2). Am Ende rollten sogar Köpfe: Die Geschäftsführer der beiden größten im Gebiet tätigen Wohnungsunternehmen bzw. genossenschaften mussten ihren Hut nehmen. Die Nachfolger brachten nun Bewegung in die verfahrene lokalpolitische Situation. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich die Akteurskonstellation bemerkenswert kooperativ: Es entstand ein urbanes Regime aus öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren, das auf Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit, „soziale Wohnkultur“ Opaschowski 2008: 392) und strategische Kooperation setzte. Quartiers- und Demographieorientierung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit waren auch für die Unternehmen jetzt Teil der strategischen, proaktiven Pla-
399
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
nungen geworden. Quartiersentwicklung sollte mehr sein als nur Bestandsoptimierung. Es wurde viel „Konzept“ und „Überbau“ entwickelt (etwa im Rahmen von soziale Stadt oder Stadtumbau), aber auch entsprechende Maßnahmen durchgesetzt. Trotz der allgegenwärtigen Konkurrenzsituation war das lokale politische Klima kooperativ und partizipativ, was u. a. an den umsichtigen Entscheidungsträgern in Verwaltung und großen Wohnungsunternehmen lag. Alle hatten das „Große und Ganze“ im Blick, ohne dabei den eigenen Vorteil aus den Augen zu verlieren. „Corporate Social Responsibility“ (CSR) blieb nicht länger eine Worthülse. Oft waren es auch klassische Win-Win-Situationen, die die Beteiligten an einen Tisch brachten. Ziel aller war es, schwierige Situationen nach Kräften auch in ferner Zukunft vermeiden. Vehikel für diesen Prozess war eine kurzfristig anberaumte „Lokale Bauausstellung“ (LBA) zum Thema Quartiersentwicklung. Viele etablierte und junge Architektur- und Planungsbüros beteiligten sich und präsentierten ihre Entwürfe. Schon die LBA zeigte, dass sprichwörtlich „nichts unmöglich“ war, auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Ab 2012 wurde das Quartier umgekrempelt. Es wurde in Balkonanbauten, Verbesserungen des Wohnumfeldes und Außenmöblierung investiert, dabei wurden mit Sponsoring-Modellen, Patenschaften, Eigenbau etc. neue Wege der Finanzierung und Verwirklichung beschritten. Wichtig war auch der Rückbau entlang der Hauptverkehrsachsen und die Neugestaltung dieser Areale mit lärmreduzierenden Maßnahmen. Darüber hinaus wurden Barrieren beseitigt und damit senioren- und familienfreundlicher Wohnraum geschaffen. Eines der anspruchsvollsten, aber auch wichtigsten Vorhaben war es, den Wohnungsschlüssel zu diversifizieren: So wurden viele der recht kleinen Wohnungen zusammengelegt, Maisonette-Wohnungen geschaffen, Gebäude abgerissen oder eine Bestandsergänzung durch Neu- oder Anbau in Betracht gezogen. Prämisse war stets: „Es muss wirtschaftlich vertretbar sein“ (E_B18). Hier zeigte auch die Kommune vollen Einsatz, indem sie dabei mitwirkte, das Förderinstrumentarium von EU, Bund und Ländern kreativ anzuwenden und auszuschöpfen. In Gebäuden, in denen bauliche Strukturen Veränderungen im Wege standen, wurden die bisherigen Wohnungsschnitte, die für viele Haushalte nach wie vor nicht unattraktiv waren, beibehalten – auch sollte eine Geringverdienernachfrage etwa von Senioren mit niedrigen Rentenansprüchen weiterhin im Quartier bedient werden. Gleichzeitig wurde durch die oben genannten Maßnahmen das C-wald-Viertel für andere Zielgruppen, z. B. Haushaltsgründer, junge Familien etc. attraktiver.
Ganzheitliches kooperatives Regime
Win-WinSituationen
Lokale Bauausstellung (LBA)
Baumaßnahmen
Förderkulisse
Zielgruppen diversifizierung
400 ServiceAngebote
Neighbourhood Branding Mieterbindung Umfeldvernetzung
Mietergärten
Material- und Szenarienanhang
Neben der baulichen Diversifizierung wurden auch im Bereich der Serviceangebote für Mieter vielerlei Angebote etabliert. Hierzu wurden sowohl Kooperationspartner für Seniorendienste als auch Partner für verschiedenste andere haushaltsnahe Dienstleistungen (z. B. Urlaubsservice, Wohnungsreinigung, Brötchendienst etc.) gewonnen. Als Rahmenstrategie für den Stadtteil wurde 2012 eine Leitbild- und Imagekampagne unter Beteiligung der alten und neuen Bewohner gestartet (Neighbourhood Branding-Prozess), an dessen Ende auch ein Name und ein Logo stand: „Wohninsel C-wald – mitten im Leben“. Das Quartier konnte nun als Ganzes „benannt“ und qualifiziert werden. Durch kulturelle Events und Feste, auch zusammen mit benachbarten Vierteln, wurde versucht, diese Quartiersidee weiter zu etablieren. Nicht zuletzt dadurch nahm auch die Mieter- bzw. Mitgliederbindung bei Wohnungsunternehmen und -genossenschaften zu. Außerdem wurde eine stärkere Vernetzung des Quartiers mit dem benachbarten attraktiven Gründerzeitquartier A-hain angestrebt, das interessante Einkaufsmöglichkeiten und besser nutzbare Grünbereiche bieten konnte als die C-wald-Siedlung. Gleichzeitig versuchte man, über partizipative Projekte die in der C-wald-Siedlung untergenutzten Flächenpotenziale für bewohnerorientierte Aufwertung zu nutzen (u. a. durch den Aufbau von Mietergärten).
Bewertung und Ausblick 2030: Erfolg durch langen Atem
Umbau erfolgreicher als geplant
Kleiner, aber feiner
Praktisch in letzter Sekunde und mit einer großen gemeinsamen Anstrengung hatten die Verantwortlichen ab 2010 das Ruder noch herumgerissen. Mit den Jahren wurde das Quartier allmählich immer beliebter, weil es letztlich auch lagebedingt verschiedenste Lebensstile unterschiedlicher Altersstufen ermöglichte. Durch den umfassenden und erfolgreichen Branding-Prozess gelang es, sowohl eine neue Nachfrage zu generieren, als auch Alteingesessene und Neuzuzügler zu integrieren. Diese ganzheitliche Langfriststrategie fruchtete schneller, als die Beteiligten zu hoffen gewagt hatten. Bereits ab 2016 veränderten sich die öffentliche Außenwahrnehmung und die Innensicht auf das Quartier erheblich, wie ein Auftragsgutachten zeigte. Das Wohnviertel, das zwar heute nur noch knapp zwei Drittel der Einwohner von vor 25 Jahren aufweist, dafür aber mit ganz neuen städtebaulichen und Umfeldqualitäten aufwarten kann, konsolidierte sich langsam, aber sicher. „Solide – grün – praktisch“ waren die Attribute, welche die „Wohninsel C-wald“ erfolgreich im Konkurrenzkampf der Lagen und Mietniveaus für eine untere bis mittlere Klientel bestehen ließen.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.4
401
Typ D: Urbanität
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ D
Tabelle 5: Stärken-Schwächen-Profil Typ D – Urbanität
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
+ > o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– + + o
+ o o o
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Der Urbanitäts-Typus, quasi die „Platte West“, ist durchweg von großen Wohnungsunternehmen als Eigentümern geprägt, die schon seit vielen Jahren große Vermarktungsbemühungen auf sich nehmen müssen und in eine unsichere Zukunft blicken. Reine Marktszenarien sind deshalb kaum denkbar, eher schon konfliktäre Szenarien zum Thema Ressourcen- und Verantwortungsverteilung zwischen privater Wirtschaft und öffentlicher Hand. In der Regel sind diese Gebiete altersstrukturell jung bis heterogen, so dass die Szenarien Dh.1 sowie Dh.3 als besonders interessant erscheinen.
402 1.4.1
Material- und Szenarienanhang
D-neustadt (Typ Urbanität – Szenario Dh.1: Pro Quartier!)
Modellquartiere: Berlin-Märkisches Viertel, Essen-Steele-Horst (Hörsterfeld)
Abbildung 19: Synopse für Szenario Dh.1 Typ
D
Urbanität
SzenarioVariante
.1
Pro Quartier!
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
h
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: eher problematisch
Bausubstanz: problematisch
günstige (Groß-)Eigentümerstruktur, investive Maßnahmen gegen bauliche Monostrukturen und homogene Wohnungsschlüssel (Einfamilienhäuser, Rückbau, Bestandserneuerung), zielgruppenorientierte QuartiersImagekampagne, Modellprojekt als Initiationsereignis
O
Metamorphose zum „Bürgerquartier“, Polystruktur, relative Stabilität, offener Entwicklungspfad
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
403
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Modellstadt ist nicht Frankfurt, D-neustadt nicht South Central LA Weder boomte Modellstadt wie Frankfurt am Main, noch schrumpfte es so stark wie Frankfurt/Oder – es war stets ein Pendeln um den Nullpunkt, jeder Pendelschlag begleitet von Prognosen, die überzogene Erwartungen oder übertriebene Befürchtungen zur Folge hatten. Letztlich waren es die regionalen Arbeitsmärkte, die Modellstadt eine langfristige Stabilität bescherten. Dass die regionale Wirtschaftsförderung noch in Erdölzeiten auf Entwicklung und Produktion von damals exotischen Solartechnologien setzte, zahlte sich seit den 2010er Jahren aus. Trotz des demographischen Schwunds und diversen Pleiten größerer lokaler Arbeitgeber konnte mit dem Zuwachs in der innovativen Solarbranche inklusive der Zulieferindustrien einiges kompensiert werden. Für die Anbieter von Wohnimmobilien und Wohnungsunternehmen war Modellstadt deshalb noch lange kein idealer Markt. Mieten und Kaufpreise stagnierten ebenso wie die Bevölkerungsentwicklung der Gesamtstadt. Seit 2015 verpuffte auch der Remanenzeffekt in der Haushaltsentwicklung, sodass hier auch noch einmal ein Schub in Richtung Nachfragermarkt entstand. Mikrodifferenzierung war das Stichwort, wollte man den Modellstädter Wohnungsmarkt beschreiben. Neben strukturellem Dauerleerstand in einzelnen Lagen gab es durchaus auch beliebte Quartiere, in denen sich gute Renditen erzielen ließen. D-neustadt gehörte nicht zu dieser Kategorie – im Gegenteil. Als typische westdeutsche Großsiedlung mit ca. 25.000 Einwohnern, erbaut zwischen 1963 bis 1974 auf der Basis des Leitbilds „Urbanität durch Dichte“ zwischen Innenstadt und Stadtrand, war es eher Gegenstand von urbanen Horrorszenarien, von Vergleichen mit Pariser Banlieues und amerikanischen Gettos wie South Central LA. D-neustadt galt als „Sanierungsprojekt“, weil es eine Nachkriegs-„Squatter-Siedlung“ (die sogenannten „Stadtrand-Slums von Modellstadt“) ersetzte. Die Wohnsituation der Menschen in der großdimensionierten, monofunktionalen und anfangs auch noch infrastrukturell schlecht ausgestatteten Siedlung war jedoch nie befriedigend und sehr bald war die städtebauliche Konzeption von D-neustadt (ähnlich wie in anderen Wohngebieten dieser Art) heftiger Kritik ausgesetzt. Aufgrund der wachsenden Wohnunzufriedenheit und des Imageproblems erfolgte in den 1980er und 1990er Jahren eine schrittweise Umstrukturierung des Quartiers. Zunächst standen umfangreiche Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes auf dem Programm, die einen partizipativen Ansatz verfolgten. Dazu gehörten Begrünungen und Baumpflanzun-
Glücksfall Stagnation
Suboptimaler Markt für Anbieter
Typische westdeutsche Großsiedlung …
… mit typischen Problemen …
404 …und Maßnahmen. Junges Quartier – bewegte Historie
Material- und Szenarienanhang
gen, die Umgestaltung von Eingangsbereichen und Aufzügen, Fassadenverschönerungen, die Einrichtung von dezentralen Mieterbüros, Mietercafés und Mietergärten. Darüber hinaus wurden eine Stadtteilzeitung und neue Einrichtungen für Kinder und Jugendliche etabliert sowie eine Genossenschaft gegründet (E_B3). Obwohl das Quartier stadthistorisch relativ neu war, hatte es bis 2005 also schon beachtliche Umstrukturierungen durchlaufen.
Sozio-demographische Entwicklung: Heterogenisierung verhindert demographische Welle Wir-Gefühl
Ortsbindung
Wandel der Nachbarschaften
Migrantischer Einfluss
„So ein Wir-Gefühl ist schon da“, wie von einer Expertin 2006 (E_B3) im Interview vermutet und in Bewohnerinterviews immer wieder bestätigt wurde: „Die Leute reden hier immer miteinander. Wenn sie hier auf der Parkbank sitzen kommen sie unweigerlich ins Gespräch. Ist eben ein Kiez, ein Dorf mit hohen Häusern“ (B_BMV4). Oder: „Oben im Vierzehnten, die kümmern sich auch, klopfen und fragen, wie es mir geht“ (B_BMV2). Insbesondere alteingesessene Bewohner hatten eine starke Ortsbindung: „Für die ist das die Heimat“ (E_B3, Bewohnerinterviews B_BMV1-4). Viele Bewohner nannten sich „die Neustädter“, was ebenfalls auf eine ausgeprägte lokale Identifikation hindeutete. Allerdings gab es, je nach Größe und Lage der Häuser, Unterschiede: So berichtete eine Bewohnerin, dass sich das Verhältnis zu den Nachbarn nach einem Umzug innerhalb von D-neustadt verbessert hätte: „Wo wir wohnen da ist es sehr gut [6 Etagen, am Rand des Quartiers]; nur 12 Mieter im Haus. Davor [15 Etagen, mehr im Zentrum des Quartiers], das war eine Katastrophe, da ist man anonym“ (B_BMV1). Im Vergleich zu den Anfängen D-neustadts hatten sich die Nachbarschaftsverhältnisse jedoch in den 1990er und 2000er Jahren verändert: „Früher als Kind hatte ich viel mehr Kontakt als die Kinder heute, aber viel liegt auch an der Sprache“ (B_BMV3). Hier wurde auf den recht hohen Anteil migrantischer Haushalte verwiesen, wodurch im Quartier auch immer wieder Konflikte entstanden. Jedoch hatte gerade der migrantische Einfluss im Quartier die demographische Struktur „gerettet“: Ursprünglich als Familien-Wohnort geplant, hat auch hier mittlerweile ein demographischer Alterungsprozess stattgefunden. Durch die nicht unbeträchtliche Fluktuation mit dem Schwerpunkt in den 1980er Jahren und den parallelen Zuzug junger migrantischer Haushalte bis weit in die 1990er Jahre hinein hatte das Quartier 2005 eine beinahe ideale demographische Verteilung zwischen Jung und Alt (vgl. Abbildung 20).
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
405
Immer wieder wurde berichtet, dass junge Menschen, die bei ihren Eltern ausgezogen waren, entweder direkt in D-neustadt eine eigene Bleibe suchten oder nach einiger Zeit nach D-neustadt zurückgekommen wären. Die ausgeglichene Altersstruktur war also auch das Resultat einer Pfadabhängigkeit, hatte „etwas mit 30 bis 40 Jahren Entwicklung, aber nichts mit Belegungspolitik zu tun“ (E_B4). In den 2010er und 2020er Jahren dominierte als genereller Trend Trend zur zunehmend der Wunsch nach dauerhafter Bleibe als Rückzugsoase in Persistenz der globalisierten Welt. Wohnortwechsel wurden eher zur Not in Kauf genommen. Durch die Neigung zur Persistenz im Quartier erhöhten sich das lokale Sozialkapital, die Ortsbindung und die Partizipationsbereitschaft. Abbildung 20: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp D Typ II: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Hochhausbereich)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Auch hinsichtlich der Lebensstile und Haushaltseinkommen wurde D-neustadt als „gemischt“ wahrgenommen (B_BMV3, B_BMV4). Lebensstil-Statistiken von 2005 zeigten neben migrantischen Milieus eine polarisierte Struktur v.a. aus Hedonisten und Experimentalisten sowie in gewissem Umfang auch gesellschaftlichen Leitmilieus (Etablierte), die vom relativ niedrigen Mietniveau profitierten und eine recht hohe Wohnzufriedenheit an den Tag legten (vhw, Sinus/Mosaic
Soziale Mischung par excellence
406
Kriminalität, Unsicherheitsgefühl und schlechtes Image
Material- und Szenarienanhang
2005): Für viele Haushalte war D-neustadt ein „guter Deal“ (Abbildung 21). Kriminalität und Vandalismus im öffentlichen Raum waren bis in die 2000er Jahre immer wieder ein Thema. Die Meinungen gingen hier auseinander: „[D-neustadt] hat hier nicht das Gewaltpotenzial, wie man das von woanders kennt […] Das ist kein Gebiet, wo Sozialarbeiter rumlaufen müssen“ (E_E9). „Das war früher, so um 1987, einmal das Problemgebiet“ (E_E7) – ein Image, das jedoch schwer abzuschütteln war. Abbildung 21: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp D (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Kerngebiet, TVZ 09631, 09632, 09633, Angaben in %, 2005) 28,4
EXP
29,6
HED 12,5
MAT 4,0
BÜM DDR
0,0
TRA
0,3
KON
0,0 6,4
PER PMA
0,1 18,7
ETB 0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0 Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
20,0
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Potenziale der „Betonklotzarchitektur“ Defizite – allseits bekannt und immerzu reproduziert
Baulich und städtebaulich war D-neustadt schon immer problematisch, aber auch pauschaler ideologisch-ästhetisierender Kritik ausgesetzt, die mit der Lebenswelt der D-neustädter bisweilen nur wenig zu tun hatte. Zweifellos gab es vieles zu bemängeln, wie die Bausubstanz („nicht für Ewigkeiten gebaut“, mit hohem Instandhaltungsrückstau, Problemen in der Betonsanierung und hohen Energiekosten) und die architektonische und städtebauliche Qualität, die sich durch Monoto-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
nie, hohe Dichten, inhumane Maßstäblichkeit, „ästhetische Scheußlichkeit“ auszeichnete (Quelle: Experten-Delphi 2008). Dazu kam die fehlende Individualität und Nutzungsvielfalt (wenig Gestaltungs-, Veränderungs- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten für Bewohner, die Wohnung als Massenprodukt), die oft unattraktiven Grundrisse „kleiner Standardwohnungen mit hierarchischer Raumstruktur“, ein suboptimales Dienstleistungs- und Versorgungsangebot sowie die eingeschränkte Erreichbarkeit (Quelle: Experten-Delphi 2008). Viel seltener als die Nachteile von D-neustadt wurden dessen Potenziale kommuniziert. Die Lage „im urbanen Nichts“ am Innenstadtrand hat z. B. Vorteile, weil Pendlerdistanzen, die Wege ins Umland und Emissionsbelastungen in einem effizienten Verhältnis gehalten werden – ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur individuellen Lebensqualität, wie auch Interviewzitate zeigten: „Man ist schnell irgendwo draußen“ (B_BMV1). „Wo haben sie sonst einen Reiher vor der Haustür sitzen? […] Wir haben eine wunderschöne Umgebung hier“ (B_BMV4). Insbesondere von Bewohnern wurde der hohe Grün- und Freiflächenanteil gelobt und die Tatsache, dass zwischen den Häusern keine Durchgangstraßen verlaufen. Experten hoben die Wohnungsqualität hervor (Quelle: Delphi-Befragung 2008): Die Grundrisse seien funktional, die Wohnungen schon (fast) barrierefrei und der Wohnungsschlüssel breit gefächert, wodurch eine heterogene Nachfrage aufgefangen werden könne. Im Falle von D-neustadt wurde das Zentrum bereits 1998 zu einer Shopping-Mall umgewandelt und der ÖV-Anschluss verbessert, sodass auch hier ein gutes Angebot in urbaner Atmosphäre vorhanden war. Insgesamt konnte man schon Anfang der 2000er Jahre feststellen, dass D-neustadt mehr als viele andere Quartiere Entwicklungspotenziale für alle Altersgruppen bereit hielt. Vor allem das schlechte Image und der 1960er-Jahre-Städtebau führten dazu, dass D-neustadt trotz der Potenziale von Anfang an als Quartier galt, dessen Förderung in Zeiten schrumpfender Nachfrage eine geringe Priorität haben würde.
407
Potenziale – wenig bekannt und selten genannt
Shop until you drop – auch in D-neustadt Demographische Flexibilität des Quartiers
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Nichts ist unmöglich – „Konzertierte Aktion pro D-neustadt (KpD)“ Trotz der starken und zunehmenden Konkurrenz zwischen Quartieren Kooperatives bzw. Lagen einerseits und zwischen Wohnungsunternehmen anderer- lokales seits war das lokale politische Klima Modellstadts seit den 2010er Klima Jahren geprägt von Kooperation und Sachorientierung, was u. a. an umsichtigen, jüngeren Entscheidungsträgern in Verwaltung und gro-
408
Günstige Eigentümerstruktur
Gutes tun …
… und darüber reden.
Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit, soziale Wohnkultur und strategische Kooperation
Material- und Szenarienanhang
ßen Wohnungsunternehmen lag, die das „Große und Ganze“ im Blick hatten. D-neustadt selbst hatte eine günstige Wohneigentümerstruktur. Es gab drei große „Landlords“: Eine ehemalige gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft, ein inzwischen privatisiertes Unternehmen sowie eine junge Wohnungsgenossenschaft. Weil mit politischen Entscheidungen pro D-neustadt im Ernstfall mangels ausreichender finanzieller Ressourcen nicht und in D-neustadt schon gar nicht zu rechnen war, nahmen die Wohnungseigentümer ihr aufs Engste mit dem Stadtteil verknüpfte Schicksal selbst in die Hand. Der Vorstandsvorsitzende des größten Eigentümers, der D-wobag, Hans Wohnbach, kommentierte die Ergebnisse einer Mieterbefragung 2000 in einer Pressemitteilung mit einem vergleichsweise optimistischen Blick in die Zukunft: „Eine gesunde Sozialstruktur in Großsiedlungen zu erhalten ist durchaus im Bereich des Möglichen. Wir sehen das an D-neustadt. Dass hier die Entwicklungen der letzten Jahre positiv verliefen, ist alles andere als Zufall. Hier wirkt das koordinierte Arbeiten unseres Mieterservice zusammen mit einer vernünftigen Belegungspolitik, Verbesserungen der Wohnqualität und Maßnahmen zur Mieterbindung“. Ähnliches war von der „Konkurrenz“ zu hören: „Ich kenne kaum ein Wohnquartier […], in dem so viele verschiedene Institutionen zusammenarbeiten und sich um das soziale Leben kümmern“ (Zitate übernommen und auf das Szenario übertragen aus: vdw Rheinland/Westfalen, VerbandsMagazin 4/07: 39, Artikel Giesen, Fa. Allbau). Man verstand sich als „urbaner Vernetzer“, der sich intensiv vor Ort mit den Bewohnern auseinandersetzt. So hieß es weiter: „Das Gelingen dieses flächendeckenden Ansatzes ist ein wichtiger Beitrag dazu, den Stadtteil [D-neustadt, Veränderung d. Verf.] in der Wahrnehmung seiner Bewohner und über seine Grenzen hinaus wieder zu einem ansprechenden Wohn- und Lebensort mit einer an den tatsächlichen Bedürfnissen orientierten Infrastruktur zu entwickeln“ (Zitate übernommen und auf das Szenario übertragen aus: ebd., Artikel Goldmann, Fa. Allbau). Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit, „soziale Wohnkultur“ (Opaschowski 2008: 392) und strategische Kooperation standen im Vordergrund und wurden als Programmatik offensiv nach außen kommuniziert. Die Beteiligten waren von der Idee geprägt, dass Quartiersentwicklung sich nicht nur auf Bestandsoptimierung beschränken durfte. Die „Darmstädter Erklärung“ von 2008 sollte hier konsequent in die Tat umgesetzt werden: Die „Entwicklung vielfältiger, dynamischer Stadtquartiere, die Entfaltung und Beförderung individueller Lebensstile, lebendiger Nachbarschaften und kreativer Milieus“ standen auf der Tagesordnung (Darmstädter Erklärung 2008). Die Kommune war
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
dabei mit im Boot: Quartiers- und Demographie-Orientierung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit wurden Teil gemeinsamer strategischer, proaktiver Planungen. Während die Wohnungsunternehmen mit Finanzierungsmodellen auf Stadtrendite-Basis in der Modellstädter Verwaltung auf offene Ohren und kreative Beamte stießen, stellten sich umgekehrt die Unternehmen einer „Corporate Social Responsibility“ (CSR) und brachten damit das Quartier, aber auch ihr Unternehmensimage und langfristig ihre Bilanzen auf Vordermann. Institutionelle Basis der Kooperation war die neu gegründete „Konzertierte Aktion pro D-neustadt (KpD)“. Seit 2006 wurde in der D-wobag auch erstmals systematisch zielgruppenorientiert gearbeitet und über zielgruppenorientierte Belegungsstrategien nachgedacht. Erstaunlicher Weise „wurde [vorher] darauf nicht geachtet“ (E_B4, E_B5). Eine stadtweite Zielgruppenkampagne für das Quartier auf der Basis von Lebensstilen, professionell und provokant von einer Werbeagentur umgesetzt (z. B. „Loveshack für Senioren? Wir haben, was ihr sucht!“, „Wir lieben Kinder – Lärmschutz inklusive“, „Stromproduzenten gesucht! Nullenergie-SingleAppartments in D-neustadt“), sorgte für Sekundärberichterstattung in den Medien und damit als „side effect“ für eine positive Öffentlichkeit und einen beginnenden Imagewandel. Davon unabhängig wurde eine professionelle Imagekampagne durchgeführt, die einem „Neighbourhood Branding“-Prozess ähnelte. Die Akteure waren überzeugt: „Allwetter-Konzepte passen nicht bei solchen Siedlungen. […] Nur über den Preis geht das irgendwann nicht mehr. […] Man muss eine Geschichte erzählen können, das ist der Schlüssel zum Quartier“ (E_E5). Doch es musste auch baulich einiges geschehen. Modernisierungen und Instandsetzungen unter Nutzung der verfügbaren Förderkulisse waren das Rückgrat der Konsolidierung des Quartiers. „Am wichtigsten wird die Instandhaltung der Häuser sein. Wenn wir die Häuser so lassen, dann geht’s bergab“, hieß es 2007 im Interview (E_B4, E_B5). Die alteingesessenen Erstmieter waren ab 2025 praktisch nicht mehr existent. Das Wohnungsangebot musste sich also in irgendeine Richtung qualitativ verändern. Das „teure Experiment“ (E_B5) der ökologischen Komplettsanierung eines kompletten Subquartiers („Grüner Block“ genannt) mit etwa 1.000 Einwohnern in den Jahren 2007 bis 2009 stellte für die „Konzertierte Aktion pro D-neustadt“ eine Art Seismograph dar: Man wollte sehen, wer dort hinziehen bzw. wohnen bleiben würde, was bis zu diesem Zeitpunkt eine völlig offene Frage war (E_B4). Der Erfolg dieses Modellprojekts, das bis 2010 komplett vermietet werden konnte und in Mieterumfragen hohe Wohnzufriedenheitsquoten erzielte,
409
Stadtrendite und CSR
(Endlich) Zielgruppenorientierung
Imagekampagne – die Story zum Quartier ModInst als Rückgrat
Das Experiment „Grüner Block“ …
410
Material- und Szenarienanhang
gab den Verantwortlichen Recht und war ein Ankerpunkt für die „KpD“. Auf der Basis dieses Erfolgsmodells wurde bis heute ein Subquartier nach dem anderen in ähnlicher Weise modernisiert. Einige … als sehr problematische Bestände wurden dabei auch systematisch zuStartschuss rückgebaut. Auf geeigneten Flächen wurden außerdem Einfamilienfür eine häuser angeboten. Für wichtig hielt ein Experte 2007 im Interview „Konzertierte einen „Mix von beidem [Rückbau und Erhaltung sowie EinfamilienAktion pro haus-Bau], keine Massiv-Lösung“ (E_E9). Aufgrund dieses immer D-neustadt“ attraktiver werdenden Angebots bildete sich insgesamt eine altersstrukturell, aber auch sozial gemischte Bevölkerungsstruktur heraus („nicht nur Hartz IV, auch Selbstzahler“ und darüber hinaus Eigentumsbildner, für die ebenfalls flexible Angebote offeriert wurden) (E_B5). Externe Um neue Anregungen hinsichtlich der (überwiegend) baulichen Ideen – Weiterentwicklung des Quartiers zu bekommen, konsultierte man eine willkommen Architektengruppe, die im wesentlichen aus Studierenden bestand und schon 2007 frische, wegweisende Ideen präsentierte. Insbesondere wurden der schwierige Baustoff Beton und die monolithische Architektur ins Visier genommen und dazu Teilprojekte präsentiert, die etwa die „Evolution der Blöcke“, die sozialen Block-Identitäten und intelligente Belegungssteuerung, die Barrierefreiheit der modernen Wohnungen als „USP“ und die Lagequalitäten des Quartiers zum Inhalt hatten (Quelle: Präsentationen Architektengruppe Gothe 2007). DemoWährend die baulichen Herausforderungen eine zunächst überaus graphisches risikoreiche und potenziell durchaus ruinöse Hypothek darstellten, Potenzial war die günstige demographische Struktur immerhin eine glückliche Ausgangsbedingung und auch ein spezieller neuer Fokus für eine künftige Entwicklung. Eine weitere zentrale Zukunftsaufgabe lag in der Integration unterschiedlicher Kulturen und Lebensstile und letztlich auch im Belegungsmanagement der Wohnungsunternehmen in Kooperation mit Modellstadt. In einem frühen Gutachten zu diesem Thema hieß es: „In der kontroversen Diskussion ‚Ghetto versus Kolonie‘ zeichnet sich ab, dass eine gemischte Bewohnerstruktur für die gesamte Siedlung bzw. Stadtteil von Bedeutung ist, aber nicht unbedingt für einzelne Häuser“ (übernommen aus: ARGE Essener Oststadt 2002: 38). InfrastrukturDarüber hinaus wurden via „Soziale Stadt“ und später „Soziale entwicklung Stadt 2020“ auch die „Basics“ der Quartiersentwicklung berücksichtigt, indem man die die soziale Infrastruktur ausbaute und verdichtete (z. B. durch Kirchen und Sozialverbände) und u. a. auch eine Außenstelle der Polizei einrichtete. Dies hatte dazu geführt, dass die Situation „lange nicht mehr so wie in den 80er Jahren“ war (E_E2). Probleme waren nach wie vor existent, kamen aber und gingen in Wel-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
411
len (z. B. Drogenhandel, Alkoholismus, Jugendgruppen, LibanesenGangs) (E_E2). Darüber hinaus wurde von den Eigentümergemeinschaften der Läden und der Eigentumswohnungen in D-neustadt ein privater Sicherheitsdienst engagiert (E_E2). Innovative und weitreichende partizipative Strukturen (inkl. eines SozialkapitalStadtteilbudgets) machten es möglich, dass sich unterschiedlichste bildung und Bewohnergruppen und professionelle Akteure mit all ihren Interes- Partizipation senlagen an einem Tisch zusammenfanden.
Bewertung und Ausblick 2030: Ökologisch gestapelte (Beinahe)Bürgerlichkeit Es klang wie eine stadtentwicklungspolitische Utopie: Durch die aktive Mitwirkung einiger aufgeschlossener Wohnungsunternehmen, des innovativen Modellstädter Planungsamts und der lokalen Politikszene, einiger kreativer Architekten und eines anwendungsorientiert arbeitenden universitären Instituts wurde aus einer frühen Offenheit gegenüber Zukunftskonzepten ein visionärer Rahmenplan und daraus die Quartiersrealität des Jahres 2030. D-neustadt hatte eine bemerkenswerte und von vielen nicht für möglich gehaltene Metamorphose von einer stigmatisierten Großsiedlung zu einem stadtweit respektierten Wohnquartier durchlebt. Bei den Neuzuzüglern in D-neustadt handelte es sich um kleine Familien, Alleinerziehende, junge Paare mit mittleren bis niedrigeren Einkommen oder Grundeinkommen-Bezieher, aber auch bürgerliche Haushalte mit eher gehobenen Einkommen, wenngleich man sich letztere in noch größerer Zahl erhofft hätte. Meist waren es 2- bis 3Personen-Haushalte. Die grüne Stadtrandlage mit Zugang sowohl zur Stadt als auch zum Umland war offenbar ein entscheidender Pull-Faktor für diese Zielgruppen (E_E9). Für die „KpD“ war der Erfolg des „Grünen Blocks“ der entscheidende Impuls. Die Gewissheit, dass sich die vorher testweise komplett „ökologisch durchmodernisierte“ Wohnhausgruppe sehr gut vermieten ließ, war auch für kreditgebende Banken ein Signal für Investitionen in weitere Subquartiere. Die auslaufenden Belegungsbindungen wurden außerdem nicht für massive Mieterhöhungen genutzt – hier setzte das Wohnungsunternehmen auf eine Langfriststrategie. D-neustadt hatte nicht zuletzt aufgrund einer kontinuierlichen Imagekampagne durch das die D-wobag eine über Jahre hinweg gute Presse. Dass das Quartier dauerhaft im Wesentlichen von einigen wenigen Großeigentümern verwaltet wurde, war der Quartiersentwicklung sehr zuträglich.
Kaum für möglich gehaltene Metamorphose
Viele Zuzügler, strukturell nicht ganz wie erhofft
Projekt „Grüner Block“ als „Inititiationsereignis“ für proaktive Strategien
Faktor Eigentümerstruktur
412
Einzelprivatisierungen und Genossenschaft 2030: recht stabil …
… dennoch: Quartier als Daueraufgabe
Material- und Szenarienanhang
Die relativ stetige Nachfrage nach den Wohnungen im Quartier war intergenerational, auch international und sozial recht gemischt. Es kamen sogar wieder bürgerliche Haushalte mit mittleren Einkommen in den Stadtteil, beinahe wie in den Anfangsjahren. Die Wohnungsunternehmen versuchten gezielt, genau diese Gruppen anzusprechen. Darüber hinaus wurden in der Zwischenzeit Einzelprivatisierungen vorgenommen, sodass sich in D-neustadt verstreut inzwischen etwa 800 selbstgenutzte Eigentumswohnungen und einige Einfamilienhäuser befinden. Eine Besonderheit stellen Blockbereiche dar, die an eine Mietergenossenschaft übergegangen sind. Die Situation heute, im Jahr 2030, ist recht stabil. Allerdings stellte sich die Weiterentwicklung des Quartiers als eine Daueraufgabe heraus. Angesichts notwendiger Betonsanierungen und erneuter Nachfragebrüche sollte man auch heute nicht locker lassen: Die Erfolgsgeschichte von D-neustadt ist von ausgesprochen fragiler Natur. Nur ein stabiles kooperatives Quartiersregime konnte diese Aufgabe bewältigen und der personelle Wandel durch anstehende Pensionierungen auf der Entscheidungsebene kann sich entscheidend für den weiteren Bestand des Quartiers auswirken.
413
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.4.2
D-berge (Typ Urbanität – Szenario Dh.3: Markt vs. Lokalstaat)
Modellquartiere: Berlin-Märkisches Viertel, Essen-Steele-Horst (Hörsterfeld)
Abbildung 22: Synopse für Szenario Dh.3 Typ
D
Urbanität
SzenarioVariante
.3
Markt vs. Lokalstaat
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
h
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: problematisch
Bausubstanz: problematisch
städtebauliche Monostruktur, Baumängel und Instandhaltungsrückstand, günstige Eigentümerstruktur, schlechtes Image, Akteurskonflikte, soziale Unruhen
–
Langfristige Abwertung, Verfall und „Problemlösung mit der Abrissbirne“
414
Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Großsiedlung-West im Nullwachstum Wechselhaftes Marktumfeld
Expansive Sektoren
Typische Großsiedlung
„Rausch am Reißbrett“
D-berge – ein Dauerprojekt
Das Marktumfeld machte es den Wohnungsanbietern nicht leicht. Modellstadt stagnierte und schrumpfte phasenweise sogar leicht in Jahren, in denen die Zuwanderung von Migranten etwas nachließ. Einerseits traf die Wohnungsnachfrage letztlich immer auf ein gewisses Wohnungsüberangebot, die Auswahl war beachtlich. Unattraktiven Beständen drohte dauerhafter Leerstand und Unvermietbarkeit. Andererseits konnte man mit diesen Bedingungen sogar zufrieden sein: Dank einiger innovativer Wirtschaftszweige, wie z. B. dem expansiven Green-IT-Sektor, konnte sich die gesamte Modellstädter Region im Vergleich zu einigen sehr strukturschwachen Konkurrenzregionen in Deutschland recht gut behaupten, wenngleich sie mit Boomregionen wie München nicht annähernd mithalten konnte. D-berge war eine typische westdeutsche Großsiedlung der 1960er und 1970er Jahre, früh in die Kritik geraten wie seinerzeit das Märkische Viertel in Berlin („Menschen im Experiment“, übernommen aus DER SPIEGEL 45/1970: 223): „[Die Modellstädter Verwaltung] wertet das Vorhaben als ‚überlegtes Experiment‘ mit ‚spürbar fanalem Anspruch‘, als ‚ersten Versuch, langgehegten Leitbildern eine andere Vorstellung entgegenzusetzen‘, als ‚[Modellstadts] anregendsten Beitrag zum Städtebau der Gegenwart‘. Doch Menschen, die dort leben, sprechen anders. Dr. [Klaus Kittel], Arzt [in D-berge], nennt die gesamte Planung der Stadtrandsiedlung ‚menschenverachtend‘; Architekten hätten sich dem ‚Rausch am Reißbrett hingegeben‘ und ‚mit Bleistift und Lineal eine Menschenmasse untergebracht‘“. Nach umfangreichen Modernisierungen und Wohnumfeldverbesserungen schwerpunktmäßig in den 1980er Jahren wandelte sich die Situation in D-berge jedoch zusehends. Das Außenimage war nach wie vor nicht gut, aber die Wohnzufriedenheit hatte zugenommen. Zur Ruhe kam das Quartier bis 2005 allerdings auch nicht. Kriminalität und gefühlte Unsicherheit im öffentlichen Raum, zunehmende Arbeitslosigkeit und die massive Zuwanderung von Migranten in den 1990er Jahren mussten gesteuert und bewältigt werden. „Soziale Stadt“-Projekte waren ein wichtiges Hilfsmittel, um diesen erneuten, bis in die 2010er Jahre hineinwirkenden Wandel dauerhaft zu begleiten. In diesen Jahren entstanden auch wieder neue, teure Herausforderungen: Eine weitere Modernisierungswelle kündigte sich an, insbesondere hinsichtlich der Wärmedämmung der Betongebäude. D-berge – ein Dauerprojekt.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
415
Sozio-demographische Entwicklung: Galoppierende soziale Erosion Die Altersstruktur in D-berge war vergleichsweise ideal: Haushalts- Ideale Altersgründern und jungen Familien standen 2005 auch ältere Bewohner struktur gegenüber (vgl. Abbildung 23). Der Zuzug von Migranten führte zu einer Art Gleichgewicht, das keine einseitigen künftigen Entwicklungen befürchten ließ. Die Sozialstruktur war jedoch teilweise problematisch, insbesondere in manchen Blöcken. Während noch in den frühen 2000er Jahren eine relativ gute Mischung vorherrschte (die u. a. durch die Streichung der Fehlbelegungsabgabe konsolidiert werden konnte), machte sich durch den demographischen Wandel allmählich ein soziales Downgrading bemerkbar. Abbildung 23: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp D Typ II: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Hochhausbereich)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Während um 2005 noch „Hedonisten“ und „Experimentalisten“, migrantische Milieus sowie zu einem gewissen Grad gesellschaftliche Leitmilieus („Etablierte“) das Quartier dominierten, nahmen in der Lebensstile Folgezeit Milieus wie das der „Konsum-Materialisten“ zu (Quelle: im Wandel vhw, Sinus/Mosaic 2005, Abbildung 24). Nachrückende Haushalte waren in der Regel ärmer und hatten einen niedrigeren Bildungsgrad als ausscheidende. Diese Selektivität hatte auch damit zu tun, dass das
416
Material- und Szenarienanhang
Gebiet in den 2000er Jahren eine Phase des Instandhaltungsstaus durchlief und sich viele Gebäude nicht in gutem Zustand befanden. Eine strategische Belegung der Häuser war unter diesen Umständen schwer und wurde oft gar nicht erst versucht. Darüber hinaus entstanden zunehmend Defizite im Dienstleistungs- und Versorgungsangebot für Jugendliche und Senioren. Abbildung 24: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp D (hier: Modellquartier Märkisches Viertel, Kerngebiet, TVZ 09631, 09632, 09633, Angaben in %, 2005) 28,4
EXP
29,6
HED 12,5
MAT 4,0
BÜM DDR
0,0
TRA
0,3
KON
0,0 6,4
PER PMA
0,1 18,7
ETB 0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0 Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
20,0
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
„WirGefühl“ trotz widriger Umstände
Obwohl sich das Quartier nicht zum besten entwickelte, nahm in den 2010er Jahren die Mobilitätsbereitschaft der Bewohner – einem generellen gesellschaftlichen Trend folgend – ab. Dadurch wuchs die Ortsbindung und nachbarschaftliche Netzwerke konnten sich entwickeln, zumindest in unproblematischen Blöcken. Dieses Wir-Gefühl war auch nötig, denn die D-berger hatten kein einfaches Lebensumfeld. 2007 stellten Experten im Interview fest: „[In D-berge] abends, da sind schon schräge Vögel, […] du fühlst Dich wie auf so einer AsiInsel“ (E_E5). Das Problem sei bereits „die Stigmatisierung vom Namen her. Das Außenimage ist ‚beschissen‘ (‚[Ausländer]siedlung‘), das Innenimage ist okay“ (E_E5). „Das negative Image kommt von der Belegungsstruktur“, wie es hieß (E_E9). Auch der „Soziale-StadtStempel“ wurde als stigmatisierend erachtet (E_E5).
417
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Ein Quartier im freien Fall Schon früh orakelten Experten, dass trotz der relativen Quartierstreue der Bewohner ohne umfangreichere Modernisierungen (massive) Leerstände und letztlich sogar Teilabrisse zu befürchten seien: „Wenn es woanders passiert, warum soll es nicht auch hier irgendwann so weit kommen?“ (E_B3). Zwar hatte D-berge einiges an Stärken aufzuweisen (z. B. das durchgrünte Wohnumfeld, die Funktionalität der Wohnungsgrundrisse), jedoch wurden die Problemzonen des Quartiers mit den Jahren immer virulenter. Besonders schwer wog die schlechte Bausubstanz, verbunden mit hohen Energiekosten und einem Instandhaltungsrückstau. Darüber hinaus konnten sich viele Bewohner mit der städtebaulichen Monotonie, der architektonischen Ästhetik und der hohen Wohndichte nie richtig anfreunden. Die Bewohner des „Massenprodukts D-berge“ hatten nur wenig Gestaltungs-, Veränderungs- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Von Bewohnern wurde der Modernisierungsstand der Wohnungen bereits in den 2000er Jahren immer wieder bemängelt: „Seit der Wende wird nichts mehr an den Wohnungen gemacht“ (B_BMV3). Eine 2007 interviewte Bewohnerin zog innerhalb des Viertels um, weil die alte Wohnung feucht war (B_BMV1). Andere wiederum klangen beinahe resigniert: „Wir haben sehr viel selber gemacht. Die [D-wobag] macht nichts […]. Alte Fenster, da regnet es durch. Man muss sehr lange kämpfen, um was zu bekommen“ (B_BMV2). Wie die Interviews zeigen, wurde seitens der Vermieter trotz der offensichtlichen Probleme nur zögerlich oder gar nicht gehandelt. Im sogenannten „Grünen Block“ startete man ein – letztlich wenig erfolgreiches und kostspieliges – ökologisches Modernisierungsprojekt in der Größenordnung von ca. 400 Wohnungen, das als Blaupause für weitere Maßnahmen dienen sollte. Der „Grüne Block“ war kein Flop, aber die Vermietung lief schleppend. Für die restlichen Teile von D-berge blieb nur noch wenig übrig. Im Laufe der Jahre wurden aus einigen Häusern Ruinen. Wegzüge und Leerstände breiteten sich aus, der Instandhaltungsaufwand explodierte und der Gestaltungsspielraum ging weiter gegen Null.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Kurzsichtigkeit mit weitreichenden Folgen Insbesondere aufgrund der für ein koordiniertes Handeln noch passablen Eigentümerstruktur (es gab nur einen großen und drei kleinere
Uniform – Homogen – Dicht
ModInstStau
Zunehmende Leerstände
418
Quartier der Chancen?
Kurzfristplanungen und Alleingänge
Prioritätensetzung gegen D-berge
Material- und Szenarienanhang
Eigentümer) und dem starken kommunalen Engagement und Willen, im Quartier etwas zum Besseren zu wenden, wäre noch Anfang der 2000er Jahre zumindest verhaltene Zuversicht angebracht gewesen. Eine engagierte Architektengruppe hatte schon 2007 das Quartier trefflich analysiert und wies u. a. auf Probleme wie den Instandhaltungsrückstand, die Eintönigkeit, das Prinzip der Stapelung, die geringe Eignung der Baustrukturen für Menschen mit viel Zeit hin (Präsentation Gothe 2007). Als Chancen wurden z. B. genannt: das viele Grün, „Licht – Luft – Sonne“, die Lagequalität, die attraktiven und vielseitigen Grundrisse, die Eignung der Wohnungen als Rückzugsort. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass mit geringem Nachbesserungsaufwand die Barrierefreiheit ein Markenzeichen von Dberge hätte werden können – eine demographische Adaptivität, die nur wenige andere Quartiere hätten vorweisen können (Präsentation Gothe 2007). Alles in allem gab es also eine ganze Reihe von Ansatzpunkten und Stellschrauben – bauliche und auch soziale, wobei „die baulichen ohne die sozialen allerdings kaum etwas bringen würden“, wie eine Mitarbeiterin der Wohnungsgesellschaft 2007 konstatierte (E_B4). Es kam aber ganz anders. Die D-wobag und zwei der kleineren Bestandshalter in D-berge arbeiteten klar nach renditeorientierten Prinzipien. Kurzfristige Planungen und schnelle Alleingänge waren en vogue. Quartiersorientierung galt in diesen Kreisen als rein akademisches Thema, wie in Interviews noch 2007 deutlich gemacht wurde. Bestände, die funktionierten, so hieß es, würden „normal bewirtschaftet“. Sobald sich die Zahlen änderten (Mietrückstände, Fluktuation, Leerstände etc.), würden Strategien überlegt. Bestände, die als zu schwierig angesehen würden, würden aus dem Portfolio entfernt, also verkauft (E_E9). Die Immobilienmanager bezeichneten sich zwar selbst als durchaus „sensibel für die quartiersumfassende Problematik“ von D-berge, verfuhren aber weder „langfristig“ noch „nachhaltig“ oder „integrativ-quartiersbezogen“. Gemäß dieser Handlungslogik wurden drei kleinere Gebäudekomplexe modernisiert und privatisiert: „Das sind auch die schönsten Anlagen“, wie es im Interview hieß (E_B5). Der D-wobag-Vorstand hatte 2007 noch keinerlei einheitliche Vorstellung über zukünftige Verkaufsstrategien von Beständen. Theoretisch, so gab man zu, hätte man schon zum damaligen Zeitpunkt proaktiv handeln müssen, innerhalb des Unternehmens wurde aber an anderen Stellen ein „größerer Handlungsbedarf“, also einträglichere kurzfristige Verwertungsmöglichkeiten festgestellt. Man konnte sich damals vorstellen, dass D-berge in 5 bis 10 Jahren (also etwa 2012 bis 2017) eine höhere Priorität bekommen würde (E_E9). Für den damaligen Zeitpunkt gab es drei Handlungsvarianten: a) Man würde den
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Bestand verwalten und nichts unternehmen. b) Man würde auf „den großen Investor“ warten, oder c) Man würde auf kleinteilige Einzelprivatisierungen setzen, also Teilbestände an Privatpersonen oder Investmentsfonds verkaufen (E_B5). Letztlich hielt man sich noch bis 2021 an eine „Misch-Strategie“, die von allem etwas beinhaltete. Diese Misch-„Strategie“ hatte den Vorteil, dass die D-wobag keine komplizierten Kooperationen mit Partnern eingehen musste, die völlig anderen Handlungslogiken verpflichtet waren, wie z. B. der Kommune oder der Genossenschaft im Gebiet. Ein „Runder Tisch“, der in den 2000er Jahren vom Stadtplanungsamt initiiert wurde und nicht nur Wohnungswirtschaft, sondern auch andere Stadtteilakteure umfassen sollte, hatte sich de facto aufgelöst. Seitens der Wohnungswirtschaft wurde die Langwierigkeit und Unverhältnismäßigkeit des Gremiums beklagt. „Die Mieter hätten eine schnellere Entschlusskraft verdient“ (E_E9). Zwar konnte hier nicht unbedingt das Prinzip „Je mehr Akteure, desto weniger Konsens“ (E_E9) gelten, aber die Interessen, Strategien und Handlungslogiken der Beteiligten waren doch zu unterschiedlich. Das Modellstädter Stadtentwicklungsamt kämpfte gegen Windmühlen. Quartiersentwicklung, Nachhaltigkeit, kooperative Stadtentwicklung und Demographieorientierung waren Begriffe und Konzepte, die man unermüdlich predigte. 2006 erläuterte eine Mitarbeiterin des Amts im Interview zum Thema D-berge: „Alles hängt damit zusammen, wie viel investiert werden kann.“ Ohne Bekenntnis zum Quartier gab es aber auch keine nennenswerten Investitionen. Auch die Belegungspolitik des Unternehmens sei essentiell, insbesondere auch unter Marktbedingungen nach Wegfall der Belegungsbindungen. Relativ betrachtet seien die Wohnungen nicht gerade billig, insbesondere die Nebenkosten drohten zu einer „zweiten Miete“ zu werden. Die Frage sei, inwiefern die D-wobag diese Kostensteigerungen an die Mieter weitergeben wolle: „So etwas kann das i-Tüpfelchen sein“ (E_B3). Im Zuge des langfristig zu befürchtenden Bevölkerungsrückgangs nehme ohnehin die Konkurrenz zu anderen Quartieren zu, die viel attraktiver seien. „Wenn man da locker lässt, dann geht die Siedlung den Bach runter“ (E_B3). Doch die Kommune war ein „zahnloser Tiger“. Während man integrative und langfristige Ansätze propagierte, blieb in der realen Politik nicht zuletzt wegen unterfinanzierter Haushalte und der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Privatwirtschaft meist nur die „Feuerwehrfunktion“. In D-berge, das einer starken Heterogenisierung und sozialen Abstiegsprozessen unterlag, kamen vermehrt „soziale Stadt“-Projekte zum Einsatz, zumal hier einerseits Fördermittel und andererseits Verbündete in der zivilgesellschaftlichen Sphäre zu finden und zu nutzen waren.
419
MischStrategie als Solo-Projekt
Stadtverwaltung vs. Wohnungswirtschaft
420 Security gegen sozialen Niedergang
Wohnungswirtschaft vs. Stadtverwaltung
Standardmarketing
Material- und Szenarienanhang
Die wohnungswirtschaftliche Situation wurde begleitet durch die Besorgnis erregende soziale Entwicklung im Gebiet. In den 2000er Jahren patrouillierten – finanziert über eine Betriebskostenumlegung – Sicherheitsdienste in D-berge, weil, so die D-wobag, die Polizei mit dieser Aufgabe überfordert sei. Als problematisch wurden insbesondere Jugendgruppen erachtet, die im Quartier wohnten, zum Teil aber auch von außerhalb ins Quartier kamen. Es kam zu Vandalismus, Verschmutzung, Lärmbelästigung und kleinkriminellen Delikten. Wenn dieser Sicherheitsdienst wegfiele (z. B. aus wirtschaftlichen Gründen), so damals die Befürchtung, konnte das Viertel sehr schnell umkippen. Es wäre eine Fluchtbewegung der „guten“ Mieter bei gleichzeitigem verstärkten Nachzug von „problematischen“ oder migrantischen Neumietern zu erwarten. In diesem Punkt wurde auch seitens der Wohnungswirtschaft der Kooperationswille der Kommune in Frage gestellt und als kritisch betrachtet: „Die [D-wobag] macht viel zu viel“ im Vergleich zu Modellstadt, so hieß es im Interview. Die Siedlung habe immerhin 25.000 Einwohner, eine solche Aufgabe könne man nicht einer Wohnungsbaugesellschaft überlassen (E_B5). Obwohl die Modellstädter Oberbürgermeisterin Karla von Amtswegen im Aufsichtsrat der D-wobag sitze, „hält sich [Modellstadt] aus vielen Problemen raus, was uns nervt“ (E_B5). Dies betreffe besonders das Thema Polizei bzw. private Sicherheitsdienste: „Das sind Themen, mit denen uns [Modellstadt] alleine lässt“ (E_B5). Man könne außerdem nicht kommunale Unternehmen wie die D-wobag zuerst privatisieren und dann verlangen, dass sie sich weiterhin für staatliche Steuerungsdesiderate zur Verfügung stellen (E_E9). Ein kleiner Vorfall aus dem Jahr 2007 illustrierte das gestörte Verhältnis zwischen Kommune und Wohnungswirtschaft eindrücklich: Zu einer Präsentation städtebaulicher Entwürfe zur Umgestaltung von D-berge war zwar der D-wobag-Vorstand, nicht aber der eingeladene Bürgermeister für Quartiersentwicklung, Bauen und Wohnen, Bernd Baumann, anwesend. Eine stärkere Kooperation zwischen Stadt und Wohnungswirtschaft sei jedoch vonnöten, um gemeinsam eine Art „Masterplan Perspektive D-berge“ zu entwickeln. Generell entstehe der Eindruck: „Die [D-wobag] wird’s schon richten“ (Zitat eines Vorstandsmitglieds, 22. 2. 07). Obwohl es klar war, dass für D-berge kein „Standardmarketing“ aussichtsreich sein konnte, wurde letztlich dennoch mangels Fantasie, Visionen, Weitblick und später mangels Gestaltungsspielräumen Standardmarketing gemacht. Zwar wollte man gerne u. a. die PremiumZielgruppe ansprechen, die immer rarer werdenden jungen Familien. Aber, wie ein Experte aus der Wohnungswirtschaft sagte: „Es kommt immer darauf an, wie verzweifelt Sie sind“ (E_E5). Infolgedessen ka-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
men nach und nach aus wohnungswirtschaftlicher Sicht problematischere Gruppen als Zielgruppen in Betracht (in der Regel gering verdienende Migranten). Für Wohnungswechsler gab es zwar Informationsangebote in D-berge, aber kein wirklich aktives Bemühen dahin gehend, die Menschen im Quartier zu halten. Das soziale Downgrading und die Konzentration sozial schwacher und bildungsferner Haushalte nahm damit weiter zu. Ab 2015 wurde es schwierig: Inzwischen war allen Akteuren klar, dass man irgendwie handeln musste, aber wie? Während dieser Orientierungsphase wurde die D-wobag an einen Investor veräußert, der alles erneut auf den Prüfstand stellte. So verging die Zeit, während sich in D-berge die Situation immer mehr zuspitzte. Insbesondere die zum Teil kriminellen Aktivitäten von Jugendlichen im öffentlichen Raum nahmen zu. Der Sicherheitsaspekt wuchs den Entscheidern in Modellstadt und Wohnungswirtschaft über den Kopf: Die Polizei war ebenso überfordert wie die privaten Sicherheitsdienste. In einer lauen Sommernacht 2021 kam dann der große Knall: Eine marodierende Jugendgang, deren Mitglieder nicht nur aus D-berge kamen, verbarrikadierte die Hauptverkehrsachse, die D-berger Chaussee, zündete 23 PKWs, zahlreiche Mülltonnen und elektronische Werbetafeln an und lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei. Auch nach dieser Nacht beruhigte sich die Situation noch nicht, im Gegenteil. Die Proteste fanden immer mehr Anhänger und zogen sich schließlich über 10 Tage hin – eine nicht gewaltfreie soziale Bewegung, ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft, die bis dato allenfalls pro forma an der „Quartiersentwicklung“ beteiligt wurde. Dieser Vorfall, der in der Modellstädter Presse und bundesweit bald die „D-berge-Riots“ hieß und an die Zustände in den französischen Banlieues in den 1990er Jahren erinnerte, führte nicht nur zu einer Generaldebatte über Stadtentwicklungspolitik in Deutschland inkl. des Rücktritts des amtierenden Bundesstadtentwicklungsministers, sondern auch dazu, dass das Stadtviertel nun unwiderruflich kippte. Als dann auch noch das Einkaufszentrum in Dberge, die D-Arcaden, wegen abnehmender Kaufkraft aufgegeben wurde, war „das für uns hier der Todesstoß“, wie eine Expertin für diesen Fall schon 2007 mutmaßte (E_B5). Es kam in den Folgejahren zu Wegzugsketten und explodierenden Leerstandszahlen.
Bewertung und Ausblick 2030: Problemlösung mit der Abrissbirne Gegen die rasante Abstiegsspirale nach den Riots von 2021 war kein Kraut mehr gewachsen. Das wuchtige, aber sozial immer schon fragile
421
Handlungsdruck und Eigentümerwechsel
D-bergeRiots 2021
422 ExitStrategie, Insolvenz und Totalabriss
Horrorszenario wird Realität
Material- und Szenarienanhang
Quartier befand sich in einem Prozess der Desintegration. Investoren hatten unter Inkaufnahme hoher Verluste längst die „Exit“-Strategie genutzt, die D-wobag war pleite. Hohe und noch steigende Leerstände und ein viel zu hoher Aufwand für Instandsetzungen, Gebäude- und Wohnumfeldpflege machten dem Quartier den Garaus. Schon 2007 war ein Immobilienmanager im Interview davon überzeugt, dass langfristig betrachtet (2025/2030) generell klar sei, dass alle 1970er-Jahre-Siedlungen „auf den Prüfstand“ müssten. Ein „massiver Rückbau“ sei dann wahrscheinlich (ähnlich wie etwa damals schon in Bremen). Auf der Fläche, so der Experte, könnten dann 1- bis 2-Familienhäuser entstehen: „Für die Menschen [im Jahr 2007] ein Horror-Szenario“ (E_E9), das nun tatsächlich eingetreten ist – nur ohne Einfamilienhäuser. In einem anderen Interview wurde ebenfalls schon vor knapp 25 Jahren dieses Worst-Case-Szenario diskutiert. In diesem Gespräch wurde die Negativentwicklung dann für wahrscheinlich gehalten, wenn „sich da nur Renditegeier konzentrieren, wenn man da nicht Unmengen an Geld und Manpower reinsteckt“ und „nicht alle mit einer Zunge sprechen“ (E_E5). Heute, gut 60 Jahre nach dem Bau der Großsiedlung, gibt es nach langer Zeit wieder eine echte Strategie für das Quartier: Die Abrissplanungen. Bis 2035 soll alles vorbei sein.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.5
423
Typ E: Platte-Ost
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ E
Tabelle 6: Stärken-Schwächen-Profil Typ E – Platte-Ost
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
o > o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– + + o
+ o o o
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Der Typus „Platte-Ost“ dürfte ähnlichen Rahmenbedingungen unterliegen wie die West-Variante. Auch hier dürften insbesondere Szenarien realistisch sein, bei denen verstärkte Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren eine große Rolle spielen. Plattenbaugebiete mit sehr jungen Altersstrukturen sind häufig migrantisch und durch starke Fluktuation geprägt, ähneln deshalb soziostrukturell eher manchem prekären Altbauquartier (vgl. Brandenburg-Hohenstücken). Dieser Fall soll hier jedoch nicht weiter berücksichtigt werden, er findet sich zum Teil in einer späteren Phase des Szenarios Ea.3 wieder. In der Regel haben wir es beim Typ E mit hohen Altersdurchschnitten zu tun, weshalb hier die Szenarien Ea.1 sowie Ea.3 (Markt vs. Staat) weiter ausgeführt wurden.
424 1.5.1
Material- und Szenarienanhang
E-viertel (Typ Platte-Ost – Szenario Ea.1: Pro Quartier!)
Modellquartiere: Berlin-Karl-Marx-Allee-Süd, Berlin-Hans-Loch-Viertel, ferner: Brandenburg-Hohenstücken Abbildung 25: Synopse für Szenario Ea.1 Typ
E
Platte-Ost
SzenarioVariante
.1
Pro Quartier!
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: eher unproblematisch
Bausubstanz: teilmodernisiert
einseitiges traditionsverwurzeltes Milieu, günstige Innenstadtrand-Lage, städtebauliche Monostruktur, Imagewandel durch aktives Eingreifen, Mobilisierungseffekte durch externe Gutachter, Abschied von Tabus
O
Qualitative Aufwertung und neue Chancen nach umfangreichen Umbaumaßnahmen , offener Entwicklungspfad
425
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Stagnierende Märkte im Postsozialismus Die Wohnungsmarktsituation von Modellstadt war ebenso von einer langsamen, qualitativen Umverteilung gekennzeichnet wie die regionale Arbeitsmarksituation. Umbrüche und Umstrukturierungen waren gang und gäbe, aber unter dem Strich kam mehr oder weniger eine Stagnation heraus. Damit hatte Modellstadt im Vergleich zu vielen anderen Kommunen, die im demographischen Wandel nicht nur alterten (das tat Modellstadt auch), sondern auch zum Teil massiv schrumpften, bereits einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Am Wohnungsmarkt hielt mehr und mehr eine Mikrodifferenzierung Einzug. Bei recht geringer Fluktuation kristallisierten sich dauerhafte strukturelle Leerstände in manchen Lagen und Quartieren heraus, während in anderen Arealen durchaus auch Mietzuwächse zu verzeichnen waren. Das Quartier E-viertel schien im Jahr 2005 noch alles andere als gefährdet, was unter anderem mit dessen Historie zusammenhing. Ziel dieses großen DDR-Wohnungsbauprojekts aus den 1960er Jahren war es, hochqualifizierten Fachleuten moderne, komfortable Wohnungen zu bieten und ihnen damit den Umzug nach Berlin schmackhaft zu machen. Neben staatlichen Wohnungsunternehmen waren zur damaligen Zeit neu gegründete Wohnungsgenossenschaften am Aufbau der gut 5.000 Wohnungen in Plattenbauweise an einem Standort am Innenstadtrand beteiligt. Das Kerngebiet wird arrondiert von etwas älteren Plattenbauten (Q3A) sowie von einigen Erweiterungen aus den 1970er Jahren (WBS 70). Im Jahr 2005 waren viele der Bewohner alteingesessene Pioniere, die als junge Menschen eingezogen waren und von Anfang an hier gewohnt hatten (E_B9). Seit 1990 kam es zu einer gewissen Fluktuation, weil nach der „Wende“ für die Bewohner neue und andere Wohnoptionen entstanden, wie z. B. das „Eigenheim im Grünen“ oder moderne Neubauwohnungen.
Sozio-demographische Entwicklung: Gealterte DDR-Milieus in Auflösung Das E-viertel war stark gealtert. Dies konnte man Mitte der 2000er Jahre an jeder Ecke beobachten (Bewohnerzitat 2007: „Was heute hier in den ganzen Blöcken an Kindern ist, war früher in einem Aufgang“ [B_ BHLV2]). Die durchschnittliche Wohndauer lag in einigen Beständen bei über 30 Jahren (vgl. Abbildung 26).
Stagnierende Märkte
Mikrodifferenzierung
Q3A und WBS 70
426 Abbildung 26:
Material- und Szenarienanhang
Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp E Typ II: moderate Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Karl-Marx-Allee-Süd) Süd)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Abbildung 27: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Hans-Loch-Viertel, Kerngebiet, TVZ 14725, 14731, 14732, Angaben in %, 2005) EXP
0,0
HED
0,0
MAT BÜM
1,9 0,3 38,4
DDR
51,4
TRA 5,1
KON PER
0,8
PMA ETB
2,1 0,0 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
50,0
60,0
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Jedoch verlieh es dem Quartier auch Stabilität: Die älteren Bewohner waren oft materiell gut gestellt (E_B9), denn es handelte sich meist um Paare, die nicht reich waren, aber über zwei auskömmlichen Renten verfügten (E_B11). Genossenschaften im E-viertel bescheinigten ihren Mitgliedern seinerzeit im Interview eine hohe Zuverlässigkeit und eine gute Zahlungsmoral (E_B10, E_B7). Aufgrund der Historie des Gebiets war ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Bewohner einem höher qualifizierten, akademischen Bürgertum zuzurechnen (E_B7, E_B9). Charakteristisch für die Bewohner waren „Bücher, Bücher, Bücher“ und eine „Kultur der 50er Jahre“ (E_B7). Die Sinus-Milieudaten von 2005 zeigten eine entsprechend einseitige Struktur v. a. aus „Traditionsverwurzelten“ und „DDR-Nostalgikern“ (siehe Abbildung 27). Die heute bereits so gut wie „ausgestorbenen“ „Traditionsverwurzelten“ galten als in ihrem Umfeld stark verankerte Menschen, die traditionelle Wohnstile pflegten und Umfeldveränderungen gegenüber generell skeptisch waren. Die ebenfalls heute nicht mehr nennenswert in Erscheinung tretenden „DDRNostalgiker“ stellten im Prinzip eine Variante der „Traditionsverwurzelten“ dar. Auch sie waren stark in ihrer alten Umgebung verwurzelt, bevorzugten aber ein typisch ostdeutsches Wohnumfeld („Platte“). Das Wohnquartier zeichnete sich entsprechend durch eine hohe Konstanz aus: „Sie merken hier kaum Veränderungen“ (E_B10). Auch die Zusammensetzung der Bewohnerschaft blieb bis dato zumindest in den meisten Beständen weitgehend stabil (ebd.), wie auch eine Bewohnerin zu ihrer Nachbarschaft anmerkte: „Immer gleich bleibend. Wenn man älter ist, möchte man das ja, dass es immer stabil bleibt“ (B_BHLV1). Natürlich hatten die unterschiedlichen Bestände auch differierende Bewohnerstrukturen. So entstand eine abweichende Situation in einer Genossenschaft, die sich durch einen deutlich geringeren Altmieteranteil, dafür aber durch stabile Familienstrukturen auszeichnete: „Hier wohnen ganze Familienclans. […] Eigentlich haben wir eine gute soziale Durchmischung“ (E_B7). In den kommunalen Wohnungsbau-Beständen lebten mitunter auch sozial schwache Haushalte: „Die oben sind mal ausgezogen worden. Konnten die Miete nicht mehr bezahlen. Das war traurig, die hatten auch Kinder“ (B_BHLV1). Im Experteninterview hieß es: „Das war nach 1990 noch nie so eine reiche Ecke“ (E_B8). Mindestens 50% der Neumieter bezogen das frühere Hartz IV: „Das ist aber ein gesamtgesellschaftliches Problem“ und kein quartiersspezifisches (E_B8). Häufig waren sozial schwache Haushalte gleichzeitig migrantische Haushalte. Jedoch wurden im gesamten Areal nur ca. 6 bis 8% Migranten geschätzt, dazu kamen noch in etwas größerer Zahl Aus-
427 Ex-DDRRentner: stabil, solide, zuverlässig Kultur der 1950er Jahre
Lebensstile, die es heute, im Jahr 2030, so nicht mehr gibt
Sozial schwache Neumieter
428
Serviceangebote für Senioren
Ortsbindung und Persistenz
Damoklesschwert „Demographische Welle“
Material- und Szenarienanhang
siedler, die häufiger zum Ziel von Nachbarschaftsbeschwerden wurden. Dass „die Russen wie in ihren Kolchosen draußen zum Karten spielen und Saufen zusammensitzen“, wurde trotz aller Solidarität mit Migranten aus früheren „Bruderländern“ in einem Bewohnerinterview als Störfaktor genannt (B_BHLV4). Neben den Aussiedlern stellten Türken und Vietnamesen noch größere Migrantengruppen im Gebiet (E_B9). Von anderen Bewohnern wurden Migranten zwar kaum wahrgenommen, aber auch nicht als Nachbarn gewünscht: „Es gibt keine Ausländer und das ist auch gut so, deswegen ist es schön ruhig“ (B_BHLV2). Um der drohenden Vereinsamung älterer Menschen zu begegnen, wurden vor allem von den Genossenschaften schon früh ehrenamtlich organisierte Veranstaltungen (z. B. Wandern, Skat etc.) und Dienstleistungen (z. B. Seniorenberatung, Mitgliedertreff und Gästewohnungen) angeboten. „Es gibt hier eine sehr intensive genossenschaftliche Demokratie“, die durch die Arbeit zahlreicher Beiräte zum Ausdruck kam (E_B7). Die Beiräte waren meist „ältere Herrschaften“ (E_B8). Die Ortsbindung war vor allem bei den alteingesessenen Bestandsmietern sehr stark (E_B8). Darüber hinaus spielten die genossenschaftlichen Bindungen eine große Rolle (E_B10). Auch von Bewohnern wurde die lokale Identifikation generell eher als hoch eingeschätzt (B_BKMA2, B_BKMA3), wie auch ein Rentner im Interview 2006 für sich befand: „Hier tragen sie mich mit der Kiste raus. […] Ich würde hier nie ausziehen, auch meine Frau nicht“ (Bewohnerinterview B_HLV2). Auch das nachbarschaftliche Miteinander wurde immer wieder positiv hervorgehoben. Dies – und das wurde nicht nur von den Verantwortlichen, sondern auch von Mietern und Mitgliedern erkannt – war aber zugleich das Damoklesschwert für das E-viertel: „Das [Ableben] kommt bei den Kündigungsgründen gleich nach Miethöhe“ (E_B8). In manchen Häusern war es schon Mitte der 2000er Jahre der ausschließliche Fluktuationsgrund. Das wird auch von einer Bewohnerin die seit 1958 im Quartier lebt, bestätigt: „Die Leute sterben weg. Ich bin fast die Einzige, die noch übrig ist“ (B_BKMA1). Eine massive demographische Welle drohte. Ab 2015 nahm die Zahl der Hochbetagten drastisch zu. Die Aussage „Die Alten machen hier was los“ (E_B11) galt nun nicht mehr. Rollatoren und Pflegedienste prägten zunehmend das Quartiersbild. Hätte man diese deutlich absehbare Entwicklung nicht schon einige Jahre zuvor mit aller Offenheit zur Kenntnis genommen, wäre es spätestens zu diesem Zeitpunkt um das E-viertel schlecht bestellt gewesen.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
429
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Teilabrisse und Neubau – ohne Tabus Im Vergleich zu den Plattenbaugebieten am Stadtrand hatte das Eviertel mit seiner Innenstadtrand-Lage durchaus Vorteile: „Sie wohnen im Prinzip auf dem Dorf und sind in einer Viertelstunde [im Zentrum]“ (B_BHLV3). Anders als in Quartieren vom Typ C („Aufbau“) oder Typ D („Urbanität“) war der Modernisierungsgrad schon in den 2000er Jahren hoch. Zwar wurden immer wieder die unattraktive architektonische und städtebauliche Qualität (Uniformität, Monotonie, Dichte, Mangel an Maßstäblichkeit, Ästhetik, Urbanität) und die fehlenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten beklagt. Aber das E-viertel galt auch immer schon als kinder- und familienfreundlich (grünes Wohnumfeld, Nähe zu Landschaftsräumen, keine Durchgangstraßen zwischen den Häusern, Freiflächen) und später, nach der Jahrtausendwende als ebenso seniorengeeignet (Ruhe, infrastrukturelle Einrichtungen, Nahversorgung). Von den Bewohnern wurden das viele Grün sowie die ruhige Lage immer wieder hervorgehoben (B_BHLV1 bis 4). Die Vorgärten wurden zum Teil von den Bewohnern selbst gestaltet und gepflegt (B_BHLV1). Die Wohnungsgrundrisse galten als funktional, die kompakten Wohnungsgrößen waren beliebt und nach den Modernisierungen der 1990er Jahre waren viele Wohnungen mehr oder weniger barrierefrei und teilweise sogar mit Fahrstühlen ausgestattet – und das alles bei einem moderaten Mietniveau. Jedoch war den Akteuren aus Wohnungswirtschaft und dem kommunalen Bereich schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass das nicht reichen würde. „Das Wohnungsangebot ist für eine bestimmte Klientel langfristig nicht angemessen“ (E_B11). Als Risiko wurde von Unternehmensberatern der im Vergleich zu Wettbewerbern homogene, auf engem Raum konzentrierte Wohnungsbestand gesehen (E_B11). In Erwartung eines starken demographischen Umbruchs ab den 2010er Jahren begann man vorzusorgen und den Bestand so zu differenzieren, dass künftig auch andere Zielgruppen als Senioren in Frage kommen würden. Denn: So geeignet die Wohnungen für Familien der 1960er Jahre gewesen sein mögen, so wenig kam das E-viertel den Lebensstilen jüngerer Haushalte in den 2010er Jahren entgegen: Die weitgehend standardisierten Grundrisse, die in manchen, vor allem genossenschaftlichen Beständen durchgehend „mittelgroßen“ Wohnungen und nicht zuletzt das Image und die bestehende Sozialstruktur bzw. die alten Milieus waren ernsthafte Zuzugsbarrieren. Mit „Standardmarketing“ kam man hier nicht weiter, so viel war klar.
Relativ hoher Modernisierungsgrad
Flexibles Wohnumfeld
Generationenriss und LebensstilClash
430
Material- und Szenarienanhang
Abschied von Alle Akteure setzten mehr oder weniger auf bauliche Veränderunder Standard- gen, wie z. B. Grundrissänderungen (Vergrößerungen und Verkleinemodernirungen von Wohnungen, um den Wohnungsschlüssel aufzuspreizen), sierung Balkonanbauten sowie Einzäunungen gegen Vandalismus, der ab und an von außen in das Gebiet hineingetragen wurde – alles gemäß dem Credo: „Wir wissen, wir müssen uns verändern“ (E_B7). Die Kreative bauGenossenschaften hatten ihre Modernisierungsinvestitionen der liche Verän1990er Jahre um 2010 bewältigt und durchaus investive Mittel zur derungen als Verfügung. Es gab keine Tabus. Auch über Teilabrisse und Neubauten Investitionen wurde beraten. „Wir agieren viel, wir analysieren viel […]. Wir üben in die Zukunft jetzt die Routinen ein, die wir brauchen, wenn wir höheren Leerstand des Quartiers haben werden“ (E_B7). Es mussten schon frühzeitig Konzepte für (und der Vermietungsschwierigkeiten entwickelt werden, hieß es weiter im eigenen Vorstand einer lokalen Genossenschaft: „Was kann man aus WohnunBestände) gen machen, die am Markt nicht mehr so gefragt sind?“ (E_B7). Auch medienwirksame Projekte, wie z. B. eine Photovoltaikfassade, Medienwirk- ein Mehrgenerationen-Hochhaus oder die Umwandlung von Erdgesame Modell- schosswohnungen in Büros für Startup-Unternehmen, wurden verprojekte wirklicht.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Integrierte Quartiersstrategien durch eine „Neighbourhood Improvement Coalition“
Gutachten als Stein des Anstoßes
Alltagsweltliche Quartiersanalyse: Intergenerationale Kampagne gegen
Man erkannte schon in den 2000er Jahren, dass die Bindung der Anwohner an ihr Quartier immer brüchiger wurde. Die Geschäftsführungen der Wohnungsunternehmen und Genossenschaften beauftragten 2011 gemeinsam ein Gutachten, das eine alltagsweltliche Analyse des Quartiers und eine lebensstilorientierte Zielgruppenanalyse zum Inhalt hatte. Das Ergebnis: Die homogenen Alterskohorten des „DDR-Milieus“ – bis dato noch als großes Plus des E-viertels angesehen – wurden als Entwicklungshemmnis bewertet. Eine „soziale Gebietsblockade“, so die Gutachter, konnte man sich angesichts der drohenden massiven demographischen Welle nicht leisten. Die starke Überalterung würde dazu führen, dass viele Wohnungen in relativ kurzer Zeit am Markt platziert werden müssten. Mit Blick auf potenzielle Zuzügler forderten die Gutachter u. a. Maßnahmen, die das „Etablierte-Außenseiter-Problem“ von DDR-Plattenbausiedlungen ins Visier nehmen sollten, und schlugen eine „intergenerationale Kampagne“ vor. Außerdem hielten die Gutachter es für unabdingbar, dass sich die Wohnungsunternehmen des Gebiets, weitere im Quartier tätige Akteure sowie die öffentliche Hand Koopera-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
tionsstrukturen schafften, die es ermöglichen, in der Zukunft nicht nur auf kurze Frist die eigenen Bestände, sondern auf lange Sicht das Gesamtquartier im Auge zu behalten. Der öffentliche Aufschrei war groß, als Einzelheiten des Gutachtens bekannt wurden. „Die Mauer in den Köpfen der Berater“ titelten die Modellstädter Neuesten Nachrichten. Auch die Modellstädter Yellow Press ließ dieses Thema nicht aus: „BRD 2011: Rentner-Bashing für 1800 Euro Tagessatz! Auch Modellstadt befürwortete Anti-DDRSchmuddel-Papier“. Die Wogen glätteten sich nach einigen Wochen, als die Verantwortlichen immer wieder klar machten, dass es nicht um die Diffamierung der Etablierten, sondern um eine vermittelnde Position zwischen einer aussterbenden Kohorte und potenziellen Neuzuzüglern ginge, die völlig andere Lebensstile zu haben pflegten. Aufgrund des öffentlichen Aufsehens entstand ein gewisser Druck, die Empfehlungen des Gutachtens auch in die Tat umzusetzen – als Beleg für die Rationalität des Ansinnens. In diesem Kontext wurde allmählich klar, dass sowohl Wohnungswirtschaft als auch Verwaltung selbst unzufrieden mit der damaligen Akteurskonstellation waren: „Strategisch ist die Partnerschaft [zwischen Modellstadt und Wohnungsbaugesellschaften] noch lange nicht da“ (E_B11). Auch den Wohnungsbaugesellschaften war klar, dass „wir [die WU, die WG, die Verwaltung] untrennbar miteinander verbunden sind. […] Wenn wir die Wohnungen nicht voll kriegen, dann haben nicht nur wir ein Problem“ (E_B11). Während die Wohnungswirtschaft eine stärkere kommunale Einbindung forderte („Wir werden schon gerne mal vergessen bei Diskussionsveranstaltungen z. B. zum GemeinwesenPapier oder ähnlichem“ [E_B11]), wünschte sich das Modellstädter Planungsamt umgekehrt mehr Aufmerksamkeit und Transparenz von den Unternehmen. Vieles scheiterte allein daran, dass es kein Forum gab, „in dem sich Vermieter und andere Akteure treffen und diskutieren“ konnten (E_B11). So gründete sich kaum drei Monate später das Konsortium „Pro E-viertel“, eine Koalition der Vernunft, der alle relevanten Akteure des Gebiets angehörten. Trotz der Wettbewerbssituation war das lokale politische Klima kooperativ, was u. a. an umsichtigen Akteuren in Verwaltung und Wohnungswirtschaft lag, die das „Große und Ganze“ im Blick hatten. Man wollte schwierige Situationen wie die damalige nach Kräften auch in ferner Zukunft vermeiden. Im schriftlichen „Commitment“ der Gruppe wurden freiwillig Handlungsmaximen einer „Neighbourhood Improvement Coalition“ festgelegt, die einem „Neighbourhood Improvement District“ nicht unähnlich waren. Quartiers- und Demographie-Orientierung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit war nicht nur für die Kommu-
431 soziale Gebietsblockaden
„RentnerBashing“?
Neue Kooperationsstrukturen
Konsortium „Pro E-viertel“
432 Quartiersund DemographieOrientierung
Material- und Szenarienanhang
ne, sondern auch für die Unternehmen inzwischen Teil ihrer strategischen, proaktiven Planungen geworden. Man ging bis 2030 von einer eher positiven Modellstädter Marktentwicklung aus, insbesondere weil man mit einer langfristigen Stärkung der Kernstadt gegenüber dem Umland rechnete (vgl. Delphi-Expertenbefragung 2007/2008). Die eigenen Bestände und die Lage schätzte man als für die neuen Marktverhältnisse konkurrenzfähig ein. Trotz allem gab es ein gewisses Unwohlsein und die Ahnung, dass das Wohnquartier trotz der vermeintlich guten Ausgangsbedingungen demographisch „kippen“ könnte, wenn man nicht steuernd eingriff: „Links liegen lassen als ‚cash cow‘ oder ‚pure dog‘ geht nicht!“, konstatierte ein Genossenschaftsvertreter (E_B10]. Ab 2011 begann die gemeinsame Planungs-, ab 2012 bereits die Planung und Umsetzungsphase für Projekte. Eine erste Reihe von Projekten betraUmsetzung fen die vorhandenen zivilgesellschaftlichen Potenziale. Diese sollten besser genutzt und kanalisiert, jüngere Zuzügler durch veränderte intergenerationale Strukturen integriert werden, sodass der inzwischen unvermeidbare Bruch doch deutlich moderater ausfallen konnte. Man testete mit mehr und weniger Erfolg verschiedene neue Beteiligungsformen und baute dazu u. a. eine Quartiers-Web-Community E-viertel 2.0: „E-viertel 2.0“ auf, über die Kontakte geknüpft, gepflegt oder gehalten werden konnten, via Tauschbörsen nicht nur Güter, sondern auch Die WebDienstleistungen innerhalb des Quartiers ihre Abnehmer fanden etc.. Community Alles in allem wurde an sozialkapitalorientierten Maßnahmenpaketen gearbeitet, wobei man versuchte, das exkludierende „bonding social Fokus Sozial- capital“ des älteren Milieus in Richtung der differierenden Milieus der Zuzügler zu öffnen. Ob die Hauptunterschiede zwischen den „Etabkapital lierten“ im Quartier und den „Neuen“ demographisch, sozial oder auch ethnisch-kulturell waren, spielte im Prinzip keine Rolle. Ein großes Verdienst des „Linke“-nahen Stadtteilmanagements (eingerichtet vom Konsortium) war es, die alte DDR-Funktionärs-Community in den Erneuerungsprozess zu integrieren. Doch wer sollten die „Zuzügler“ sein? Woher sollte man sie nehmen und womit anlocken? Zunächst einmal verständigte man sich darauf, dass Vielfalt im Quartier erwünscht sei. Von einem Downgrading Vielfalt wollte zwar trotz deutlicher selektiver Abgänge und Zuzüge (Migranerwünscht! ten, Hartz IV) in den 2000er Jahren niemand öffentlich sprechen. Dennoch hatte man von Anfang an versucht, die Belegungssteuerung zum einen unternehmensintern zu optimieren und zum anderen, dafür einen Kooperationsmodus zu entwickeln. Auf keinen Fall wollte man nach dem Motto verfahren: „Wenn wir Leerstand haben, dann ist uns jeder Mieter recht“. Eher war das Prinzip: „Jeder ist willkommen, aber nicht immer, nicht überall, nicht in jedem Block und nicht in jedem
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Haus“. So wurden zum Teil Belegungskonzepte für einzelne Häuser und Blöcke entwickelt, die nicht unumstritten waren: Es gab gemischte, aber auch homogene Häuser. Eine Genossenschaft beispielsweise entwickelte für jede ihrer Wohnanlagen ein eigenes Vermietungsleitbild (E_B10). Dabei wurden Flexibilität und Pragmatismus groß geschrieben. Nachdem ein ursprünglich geplantes Service-Hochhaus mit Einraumwohnungen für ältere Menschen wider Erwarten die Nachfrage von Studenten weckte, wurde kurzerhand umgeplant. Weil z. B. „Für ‚Moderne Performer‘ die Wohnungen zu klein [sind] und die ‚Etablierten‘ […] in den Altbau“ gingen (E_B11, oder wie es ein Bewohner ausdrückte: „Platte ist doch 08/15“ [B_BKMA3]), begann man ab 2013 mit baulichen Veränderungen. Auch hier bediente man sich einer Marktanalyse, die nachfrageseitig auf einer detaillierten Lebensstiluntersuchung beruhte. Auf dieser Basis versuchte man das Wohnungsangebot weiter zu diversifizieren, insbesondere in den homogeneren genossenschaftlichen Beständen. Die Genossenschaften änderten auch ihre jahrelange Strategie, vor allem auf ältere Menschen setzen und nach der Nachwendemodernisierung kein Fremdkapital mehr aufnehmen zu wollen. Trotz des durchaus wichtigen Potenzials der Seniorenzielgruppe würde zwangsläufig eine Verjüngung stattfinden müssen – auf den Ersatz Hochbetagter durch andere Hochbetagte konnte man nicht ernsthaft setzen (E_B10). Die WG „Wohnidyll 1954 eG“ benannte sich zum sechzigsten Jubiläum 2014 in „WG Forever Young – Wohnen am Cityrand“ um und buhlte um neue, auch experimentellere Milieus, die durchaus an der partizipativen Grundidee der Genossenschaften Gefallen fanden. Partielle Rückbauten, Wohnumfeldverbesserungen, Wohnungsumbauten und eine quartiersbezogene (nicht bestandsbezogene) Imagekampagne für Modellstadt und Umland waren einzelne Komponenten dieser umfassenden Strategie. An der Musterstraße kaufte die Genossenschaft die Grünflächen zwischen Straße und Häusern. Ab 2011 entstanden dort 25 WE in 1- bis 3-geschossigen Häusern (B_BHLV2). Trotz der Umbauten blieb es insgesamt bei einem Schwerpunkt auf kleineren Wohnungen, denn bei vielen galt die Überzeugung: „Die Zwei-Zimmerwohnung mit Balkon ist die Wohnung der Zukunft“ (E_B10). Teile der kommunalen Bestände wurden von Investoren übernommen, die diese Wohnungen umbauten und für die Zielgruppe der Geschäftsleute modifizierten, die zum Teil nur ihren Zweitwohnsitz im Quartier hielten (Slogan „Ihr Business-Flat am neuen Zentrum!“). Der Lagevorteil in direkter Nachbarschaft zur Modellstädter City machte das Quartier aber auch für jüngere Leute attraktiv. Miet- und Eigen-
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Vermietungsleitbilder
Zielgruppenbasierter Quartiersumbau
WG „Forever Young – Wohnen am Cityrand“ Quartiersbezogene Imagekampagne
434
Material- und Szenarienanhang
tumswohnungen in den Innenstädten waren seit den 2010er Jahren generell gefragt. Das Nachfragepotenzial ging tatsächlich quer durch alle Bevölkerungsschichten und umfasste die immer rarer werdenden Familien, ebenso wie „empty-nest“-Haushalte, Senioren und Hochbetagte, die ihren sozialen Konvois folgten und damit dem Auslaufmodell Altersheim entgehen wollten.
Bewertung und Ausblick 2030: „Stadtentwicklungspolitische Erfolgsstory“
„Golden Governance“Preis für innovative Quartiersentwicklung
Heute erscheint das Quartier mehr und mehr als offener und freundlicher Ort, ein Image, das seinen Ursprung in der Alltagswahrnehmung hat. Bei Zuzüglern trägt dies schnell zu einer Neubewertung des Quartiers, zu mehr Identifikation und Ortsbindung bei: Der demographische Umbruch hatte zwar vorübergehend Leerstände und erhöhte Fluktuationsraten mit sich gebracht – wirtschaftlich eine heikle Phase, die jedoch durch die Einrichtung und die umsichtige Arbeit des Konsortiums entschärft werden konnte –, führte am Ende aber zu einer altersstrukturell und sozial gemischten Bevölkerungsstruktur, die heute von den meisten Bewohnern als angenehm empfunden wird. 2029 erhielt man den vom Bundesamt für Bauwesen, Raumordnung, Stadt- und Quartiersentwicklung (BBRSQ) ausgelobten „Golden Governance“-Preis, den „Oscar“ für innovative Quartiersentwicklung. Die historische Zeitung mit der Headline „Die Mauer in den Köpfen der Berater“ hängt nun gerahmt in der Vorstandsetage des kommunalen Wohnungsunternehmens – direkt neben einem aktuellen Artikel aus dem selben Blatt mit der Schlagzeile im Lokalteil: „Modellstadts E-viertel – eine stadtentwicklungspolitische Erfolgsstory“.
435
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.5.2
E-hausen (Typ Platte-Ost – Szenario Ea.3: Markt vs. Lokalstaat)
Modellquartiere: Berlin-Karl-Marx-Allee-Süd, Berlin-Hans-Loch-Viertel, ferner: Brandenburg-Hohenstücken Abbildung 28: Synopse für Szenario Ea.3 Typ
E
Platte-Ost
SzenarioVariante
.3
Markt vs. Lokalstaat
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: mittel
Bausubstanz: teilsaniert
exkludierende soziale Milieus, unattraktive Architektur, bauliche Monostruktur, relativ einseitiger Wohnungsschlüssel
–
langfristiger Abwärtstrend, Stigmatisierung, gescheiterte Quartiersentwicklung im „Hinterhof der City“
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Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Modellstadt stagniert
Sozialistisch wohnen für 15.000 Bürger
Modellstadt stagnierte seit Jahren. An Wachstum glaubte schon bald niemand mehr, die einstigen Befürchtungen aber, die Stadt könne deutlich an Einwohnern verlieren, haben sich nicht bewahrheitet. Innerhalb der Stadtregion saßen die Verlierergemeinden im Speckgürtel, wo ältere Siedlungen unterschiedlichen Typs mehr und mehr mit Leerstandsproblemen zu kämpfen hatten. Für die Wohnungsanbieter in Modellstadt war der Markt also nicht schlecht, aber kompliziert. Die Auswahl an freien Wohnungen war relativ großzügig, und mäßige Qualität zu hohen Preisen bzw. Mieten ließ sich nicht vermarkten. Manche unattraktive Bestände standen teilweise leer und sind praktisch unvermietbar, wenn nicht schon abgerissen. Das ca. 80 ha umfassende E-hausen wurde zwischen 1962 und 1967 am Innenstadtrand im Stile des sozialistischen Städtebaus neu erbaut. Mit ca. 5.000 WE für mehr als 15.000 Einwohner hatte es etwa die Größenordnung von prominenten Stadterweiterungen der 1990er Jahre wie etwa Neu-Karow im Nordosten Berlins. Die dominierenden, meist viergeschossigen Zeilenbauten wurden aus der Großplatte „Typ QX“ hergestellt. Zusätzlich wurden einige 17-geschossige Punkthochhäuser und einige achtstöckige Wohnscheiben errichtet. Zum Teil wurde hier für privilegierte DDR-Bürger gebaut, wie etwa für die Arbeiter der damaligen Großbaustelle im Modellstädter Zentrum und für Staatsangestellte. Im Gebiet lagen auch Bestände von Genossenschaften, die ein paar Jahre vorher z. T. unter Eigenbeteiligung der Genossenschaftsmitglieder und künftigen Bewohner entstanden waren.
Sozio-demographische Entwicklung: Trügerische Eintracht Alte Genossen …
E-hausen hatte noch in den 2000er Jahren ein positives Image (E_B9), zumindest für die Zielgruppen der „DDR-Nostalgiker“ und der „Traditionsverwurzelten“ im Seniorenalter: „klassisch-konservativ“, ein „Paradies fürs Wohnen am Lebensabend“ (E_B10, vgl. Abbildungen 29 und 30). Das soziale Milieu, so die Pressesprecherin des größten Wohnungsunternehmens in E-hausen im Interview 2006, war sehr speziell: „viel ehemalige DDR-Intelligenz“, die einerseits kulturell aufgeschlossen, andererseits aber nicht besonders weltoffen sei, sondern eher „gutbürgerlich-piefig“ (E_B11). „Das sind die alten Genossen, die hier wohnen“, es sei eine ausgeprägte „Blockwartmentalität“ feststellbar (E_B9). „Die [E-hausen-Bewohner] sind ein Völkchen, an dem kann man sich die Zähne ausbeißen“ (E_B9).
437
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Abbildung 29: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp E Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Hans-Loch-Viertel) (
q
)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Abbildung 30: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp A (hier: Modellquartier Karl-Marx-Allee-Süd, Kerngebiet, TVZ 10512, 11711, 11712, Angaben in %, 2005) EXP
0,0
HED
0,0
MAT
0,1
BÜM
0,0
DDR
42,0 45,2
TRA KON
7,0
PER
0,8 4,9
PMA ETB
0,0 0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
60,0
438
Material- und Szenarienanhang
… und starke Gleichzeitig führte die starke soziale Kontrolle und enge lokale GeOrtsbindung meinschaft zu einem intensiven sozialen Miteinander, zu einer starken Ortsbindung, hoher Verbindlichkeit und intensiver Nachbarschaftshilfe – Kiezqualitäten, die man an anderen Orten vergeblich aufzubauen versuchte: „Die Leute hier identifizieren sich sehr stark mit dem Wohngebiet“ (E_B9). Es war ein ausgeprägtes Bürgerengagement entstanden, und bei Veranstaltungen der Modellstädter Verwaltung war „immer volles Haus“ (E_B9). Dies wurde u. a. durch die starke Ortsgruppe der Partei „Die Linke“ unterstützt. Entsprechend gering war auch die Wegzugsneigung dieser Bewohnergruppe: „Wenn hier einer weggeht, dann zieht er entweder zu den Kindern, oder hat sich ein Haus gebaut“ (B_BHLV2). Junge Neben der starken demographischen Alterung in großen Teilen der Zuzügler? Bestände gab es auch gegenläufige Entwicklungen. Unter den jüngeren Not in my Zuzüglern waren überdurchschnittlich viele ärmere sowie migrantische backyard! Haushalte. Der einzige Grund, warum junge Leute hierher zogen, so ein Bewohner im Interview 2007, seien günstige Mieten (B_BKMA3). Zwar wurde in Umfragen der Zuzug jüngerer Haushalte begrüßt, aber „not in my backyard“ und am liebsten „ohne Kinder“ (B_BKMA2): „Da gibt es schon mal Nachbarschaftsklagen, wenn Leute mit Kindern einziehen“ (E_B11). Es war mehr als deutlich, dass nicht bei allen Senioren Kinder und Jugendliche im Stadtteil und die damit verbundenen Etablierte vs. „Unannehmlichkeiten“ erwünscht waren (E_B9): „Auf der StadtteilAußenseiter: konferenz hat es einer von ihnen drastisch ausgedrückt und gesagt: Demographi- ‚Das interessiert uns einfach nicht‘. Das sind ehemalige Ministerialbesche Polari- amte der DDR, die für soziale Ideale einstanden. […] Das ist das, was sierung ich ihnen übel nehme, so eine Art Altersstarrsinn“ (E_B9). Eine 2007 interviewte Bewohnerin fühlte sich z. B. durch die Lärmbelästigung einer vietnamesischen Familie gestört, die unter ihr wohnte: „Und wenn man was sagt, werden die frech und pampig. […] Aber das darf man ja nicht laut sagen, sonst ist man ja gleich ausländerfeindlich“ (B_BHLV4). Auch bei anderen Bewohnern wurden ethnisierende Ressentiments festgestellt. Die Wohnungsunternehmen betrieben eine eher halbherzige Belegungssteuerung („wir versuchen, eine entsprechende Belegungspolitik zu machen, so dass nicht drei Vietnamesen in einen Hausaufgang ziehen“ [E_B8]) oder wie im Falle einer Genossenschaft, die Zugangsbarrieren für migrantische Nachfrager hinaufzuschrauben. Es war eine erste Tendenz zur Polarisierung in „wohlhabende Alte“ (Woopies) und arme „Junge/Familien“ festzustellen. Innerhalb des Quartiers kristallisierten sich mikro-sozialräumliche Problemkonzentrationen heraus (z. B. benachteiligte Haushalte um die Musterstraße, kleinräumige Zunahmen von Schulverweigerungen, Vandalismus und
439
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Gewaltdelikten). Dies wurde auch von den Wohnungsunternehmen erkannt und im Interview 2006 wenig selbstkritisch formuliert: „Es gibt bestimmte Ecken hier, da würde ich nicht hinziehen“ (E_B8). Oder: „In Plattenbauten ist einfach ein bestimmtes Klientel […]. Das ist aber kein Problemgebiet oder so“ (E_B8). Bewohner sahen das damals schon anders: So wurde vor allem in den Hochhäusern mit der Entstehung sozialer Brennpunkte gerechnet (B_BHLV2). Immerhin erkannte man in den 2000er Jahren die Relevanz der schleichenden sozialen Erosion: „Der soziale Aspekt macht uns mehr Sorgen als die Häuser“ (E_B7). Deshalb wurde in dieser Zeit u. a. ein soziales Wohnungsmanagement etabliert, mit dem Mitglieder, die in Schwierigkeiten waren, intensiv „betreut“ wurden. Aber auch dieses Instrument war nicht ausreichend, zumal man im Wesentlichen eine individuelle Schuldnerberatung vornahm, sich von anderen Bereichen jedoch strikt abgrenzte: „[…] Wir lösen die soziale Frage in [Modellstadt] nicht und wir sind auch nicht die Caritas“ (E_B7). Die Modellstädter Verwaltung mahnte schon 2006 an, man müsse ein Klima fördern, das jungen Familien den Eintritt ins Quartier und die alteingesessene „Community“ erleichtern würde (E_B9), zumal das demographisch stark gealterte Gebiet einer Bevölkerungswelle entgegensteuerte. Dieses „Etablierte-Außenseiter“-Problem beeinflusste auch die Nachbarschaftsverhältnisse nachhaltig. Im Jahr 2006 interviewte Bewohner hatten – im Vergleich zu früher, wo alles intimer gewesen sei und „alle gleich alt waren“ (B_BKMA2) – kaum oder nur noch begrenzten Kontakt zu direkten Nachbarn: „Aber [mehr] will ich auch nicht“. Zum einen wurde das der anonymen Bauweise zugeschrieben („Die Häuser sind zu groß, vor allem die Elf-Geschosser“ [E_B8]). Des weiteren schien es ein beiderseitiges Desinteresse zwischen jüngeren und älteren Bewohnern zu geben. „Zugezogene kennt man kaum, die wollen das auch nicht, die jungen Leute“ (B_BKMA2). Ein 2006 zugezogener Bewohner hatte sich „bisher nur mit einer vietnamesischen Familie unterhalten, die sind nett“, und auch die einzigen anderen Jüngeren im Haus. Die Alten seien dagegen „fürchterlich verkniffen und unfreundlich“ und grüßten im Fahrstuhl nicht zurück (B_BKMA3). Jüngere Mitglieder und Mieter gaben an, sie hätten aus beruflichen Gründen keine Zeit, sich in der Genossenschaft oder im Quartier zu engagieren. Arbeitslosen Mietern fehlte – so die Auffassung in der Geschäftsführung einer Genossenschaft – das Interesse an ehrenamtlichen Tätigkeiten gänzlich (E_B7). So entstand zusätzlicher Zwist zwischen „Aktiven“ und „Trittbrettfahrern“. Zum Teil gab es in den Genossenschaften sogenannte Schlichtungskommissionen, die
„… sind nicht die Caritas“
Bröckelnde Nachbarschaften
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zwar einzelnen Streitigkeiten beikommen, aber letztlich die feindliche Grundstimmung im Quartier nicht beeinflussen konnten. Dass die „Weisheit der älteren Bewohner […] als ‚Reichtum‘ im Stadtteil“ aufgefasst wurde, so der Wortlaut eines Statements auf einer Quartierskonferenz, schien nur auf den ersten Blick eine vertretbare Position zu sein.
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Gepflegter Stillstand, schneller Niedergang Noch bis in die 2010er Jahre glaubten die Verantwortlichen in der Wohnungswirtschaft, E-hausen könnte „so weiterlaufen wie bisher“ – bisher gab es schließlich keinen Grund zur Klage: Keine Mietausfälle, keine Leerstände. Außerdem besaß das Quartier ja nicht unbeträchtliche Potenziale, wie etwa den hohen Modernisierungsgrad (z. B. im Vergleich zu Quartieren des Typs „Aufbau“ oder „Urbanität“), das grüne Wohnumfeld, die funktionalen Wohnungsgrundrisse, teilweise Barrierefreiheit mit Fahrstuhl, die gute Infrastruktur, die engen soziaVorteil len Bindungen etc. und im Falle E-hausens die Tatsache, dass es nicht Innenstadtam äußeren Stadtrand wie andere Plattensiedlungen (die meisten lage Quartiere des Typs „Platte-Ost“, die am Stadtrand gelegen waren, sind inzwischen zumindest teilweise rückgebaut worden), sondern noch innenstadtnah gelegen war. All dies waren aber nicht unbedingt Alleinstellungsmerkmale bei Vielfältige gleichzeitigen, nicht zu übersehenden Schwächen des Quartiers, die Schwächen von Bewohnern, aber auch von potenziellen Nachfragern häufig und präzise benannt wurden: So genügte die Bausubstanz – trotz der 1990er-Jahre-Modernisierungen – schon ab 2015 nicht mehr den üblichen Energieeffizienz-Standards. Die fehlenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten wirkten unattraktiv für junge Menschen, Familien und Singles. In großen Beständen fand man einseitige Wohnungsschlüssel und unattraktive Grundrisse vor, insgesamt gab es viele 2bis 3-Zimmer-Wohnungen und deutlich weniger große Wohnungen als im Modellstädter Durchschnitt (E_B9, E_B11). Ohne größere Eingriffe blieb es im Wesentlichen bei der von vielen Nachfragern (weniger von alteingesessenen Bewohnern) als uniform, monoton, zu dicht und zu unmaßstäblich empfundenen Ästhetik des industriellen sozialistischen Städtebaus. DemographiObwohl aufgrund der wörtlich „ins Haus stehenden“ demographische Welle: schen Welle akuter Handlungsbedarf bestand, gab es Mitte der 2000er unterschätzt Jahre weder bei Wohnungsunternehmen noch bei Genossenschaften nennenswerte Bau-, Umbau- oder Abrisspläne. Man verwies auf die
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zurückliegende Standardmodernisierung und fehlende Investitionsmittel: „Wir denken nicht über Abriss nach […]. Wir werden in den nächsten 10 Jahren auch nicht bauen, denn die Zeiten sind zu unsicher“ (E_B7). Man müsse mindestens 8 “ pro m2 für eine Neubauwohnung verlangen, um kostendeckend zu bleiben, was am damaligen Markt nicht zu realisieren war. Vielmehr liege die Zukunft in unteren Marktsegmenten: „Solider, preiswerter Wohnraum wird knapp in [Modellstadt]“ (E_B7). Es gab weitere wirtschaftliche Hindernisse, an denen man scheiterte: Eine Genossenschaft plante in ihren Beständen keine Aufzüge, da ihre Viergeschosser zu wenig Wohnfläche zur Amortisierung aufwiesen (E_B10). Nach neuen, auch radikaleren Wegen wurde jedoch nicht gesucht – vermutlich, weil man das heraufziehende Problem unterschätzte. So kam es ab 2012 vermehrt zu Leerständen, sinkenden Mieten, zu vereinzelten Zuzügen sozial schwächerer Haushalte und zu einer weiteren Quartiersstigmatisierung: Das städtebaulich ohnehin für viele unattraktive Quartier wurde mit „4A’s“ assoziiert: alten Altsozialisten, Armen und Ausländern. Die eigentliche Gunstlage am Cityrand kehrte sich in einen Standortnachteil um. E-hausen wurde mehr und mehr zu einer „transition zone“ für „Zugvogel-Haushalte“. Die Fluktuation nahm deutlich zu, damit auch wiederum die Instandhaltungskosten. Eine alte E-hausener Genossenschaft musste infolge eines massiven Mitgliederschwunds und explodierenden Ausgaben bereits Insolvenz anmelden. E-hausen wurde mit den Jahren zu einer Art unfreiwilligem Freiluftmuseum einer längst vergangenen Bauperiode und wurde immer beliebter bei alternativen Stadtführungen à la „Modellstadt – wo es richtig weh tut“.
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Sprunghafter Anstieg der Leerstandsquoten „4AQuartier“
„Modellstadt – wo es richtig weh tut“
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Realitätsverweigerung mit Folgen 2007 gab es in E-hausen praktisch keinerlei Leerstände – eine trügerische Ruhe, der auch die meisten Entscheider zum Opfer fielen. Die Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft in E-hausen orientierten sich dementsprechend am Bestand und weniger am Quartier („Viertel vermarkten? So weit sind wir noch nicht!“ [E_B11]). Man agierte überwiegend kurzfristig und betrachtete die eigenen Bestände als Bestände als „Cash Cows“, die ohne weitere nennenswerte Investitionen die ge- „Cash Cows“ wohnten auskömmlichen Renditen abwarfen. Strategische Kooperationen waren angesichts dieser Konstellation keine echte Option. Der drohende demographische Impact wurde bewusst oder unbewusst ignoriert oder ausgeblendet. So war es kaum verwunderlich, dass eine
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Vertreterin eines Wohnungsunternehmens in E-hausen in einem Interview 2007 für die nächste Dekade „keine großen Veränderungen“ vermutete: „Wir haben kein Problem und sehen auch keines in der Zukunft. Das ist ein gestandenes Wohngebiet“ (E_B8). Mitunter wurde die Vorstellung geäußert, dass familienpolitische Maßnahmen auf Bundesebene die Vergreisung innerhalb der nächsten 20 Jahre aufhalten und damit das Problem lösen könnten (E_B11). Durchhalteparolen („Unsere Häuser können noch hundert Jahre stehen“ [E_B7]), kuriose Selbsteinschätzungen („Man redet immer [über die Überalterung], aber man hat sich noch nicht richtig darauf eingestellt“ [E_B8]), eine konservative, nach hinten absichernde Geschäftspolitik statt proaktiver strategischer Orientierung, mangelhaftes Krisenmanagement, Verunsicherung ob der zu erwartenden VeränGefährlicher derungen, ein gefährlicher Hang zum Altbewährten oder auch der Hang zum Glaube, man könne sich durch den Umbruch vielleicht sogar einen Altbewährten Wettbewerbsvorteil sichern („Wir sind nicht die Vorreiter, aber wir sind hier in Lauerstellung“ [E_B7]) – das war die Mischung, die dem Quartier zum Verhängnis wurde. Zu den notwendigen Erneuerungen, die eine konzertierte, gemeinsame Aktion erfordert hätten, sah man sich seitens der Wohnungswirtschaft nicht in der Lage. Folgende Interviewaussage aus der Wohnungswirtschaft im Jahr 2007 illustrierLähmende te die lähmende lokale Lethargie: Wenn ein Investor von außen käme lokale – immerhin neue Konkurrenz – „wäre [das] gut für das Gebiet, weil dann mehr Frische und Bewegung reinkommt“ (E_B8). Von kommuLethargie naler Seite wurde festgestellt, dass das Gebiet „von den Visionen her stagniert“ und Anstöße für die weitere Entwicklung wohl von außen kommen müssten (E_B9). Ganz anders die Modellstädter Stadtentwicklungsverwaltung: Sie Aktive Stadtentwicklungs- legte einen besonderen Wert auf Quartiersentwicklung, Nachhaltigkeit, Kooperation und Demographieorientierung. Unter anderem wurverwaltung de seitens des Stadtentwicklungsamts Modellstadt in Kooperation mit … einem beauftragten Forschungsinstitut ein aufwendiges Dossier erstellt, das ein Quartiersmonitoring für die Gesamtstadt und konkrete Empfehlungen für E-hausen enthielt. Ziel der Modellstädter Verwaltung war es u. a., das Image E-hausens in Richtung eines „familienfreundlichen Stadtteils“ umzuwandeln. … vs. halbDie Wohnungswirtschaft begrüßte dies einerseits, handelte andererherzige seits aber nur halbherzig. Gerne wollte man seitens des kommunalen WohnungsStadtteilmanagements mit den Wohnungsbaugesellschaften und Genoswirtschaft senschaften kooperieren, was aber nicht funktionierte: „Im Moment habe ich auch nicht den Eindruck, dass die Wohnungsbaugesellschaften die treibende Kraft sind. Die beobachten eher“ (E_B9). Es gab in den 2000er Jahren noch eine nicht unbeträchtliche Nachfrage von Familien-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
haushalten, die aber wegen des ungünstigen Wohnungsschlüssels nicht bedient werden konnte (E_B9) – Maßnahmen? Fehlanzeige! Außerdem hatte man gerade in den Genossenschaften offenbar Probleme, sich Zugänge zu „den Jungen“ zu verschaffen: „Die Jungen sind nicht so eine kompakte Gruppe, das ist schwierig“ (E_B7). So wurde versucht, Projekte für Jugendliche zu initiieren, dies jedoch ohne Erfolg, weil es – so wörtlich im Experteninterview – „nicht klappte“ oder „nicht ankam“ (E_B7). Vor allem ältere Menschen ab 50 Jahren wurden vor dem demographischen Impact als Zielgruppe für besonders interessant erachtet, wobei man „mit 70 noch kein alter Mensch“ sei (E_B7). Weiterhin wähnte man sich mit einer tendenziell auf eine ältere Klientel ausgerichteten Unternehmensphilosophie auf dem richtigen Weg: „Je höher der Anteil der Alten in der Bundesrepublik zukünftig sein wird, desto stärker werden die bestimmen, was läuft. Wir üben das schon heute ein bisschen vor Ort“ (E_B7). Eine andere Genossenschaft setzte voll auf eine Ersatznachfrage aus dem eigenen Bestand, die durch Vererbung der Genossenschaftsanteile an die Kinder der Mitglieder entstehen sollte. Zielgruppe waren also mittelalte Paare (40 bis 50 Jahre, oft „empty nest“-Haushalte mit zwei Einkommen), die man wiederum binden und bis ins Seniorenalter halten wollte (E_B10, B_BHLV2). Obwohl durch die Lagequalität am Innenstadtrand neben jungen Haushalten und Senioren auch weitere Zielgruppen hätten angesprochen werden können (z. B. mit Apartment-Hotels, Business-Wohnungen etc.), wurde darüber nicht ernsthaft nachgedacht: „Man könnte natürlich mehr draus machen. […] Visionen sind okay, aber das geht nicht. […] Wir konzentrieren uns auf Vermietung und Verwaltung“ (E_B8). Das größte Wohnungsunternehmen im Quartier wollte versuchen, Mieter in den Wohnungen zu halten und z. B. Kooperationen mit ambulanten Pflegediensten eingehen, um die Kunden durch Dienstleistungen (das „Drumherum“ [E_B8]) zu binden. Auf bestimmte Bevölkerungsgruppen wollte man sich keinesfalls konzentrieren, sondern breit aufgestellt bleiben: „Ich muss für jedes Klientel Angebote schaffen und mich gleichzeitig auf mehr Ältere vorbereiten, damit die nicht wegziehen müssen“ (E_B8). Um sich neue Zielgruppen zu erschließen, wäre ein strategisches, langfristiges Marketing notwendig gewesen. Wie ein neues Automodell hätte man das gesamte Quartier als „Story“ für bestimmte Zielgruppen vermarkten müssen, etwa in einem „Neighbourhood Branding“-Prozess. Das allerseits praktizierte passive „Standardmarketing“ brachte nicht viel, aber zu mehr sah sich keiner der relevanten Akteure in der Lage. Ein interviewter Akteur aus der Wohnungswirtschaft brachte es auf den Punkt: „Die Bedingungen, die jetzt herrschen, werden junge Leute nicht dazu animieren, herzuziehen“ (E_B11).
443
„Die Jungen“ – unbekannte Wesen
„Man könnte natürlich mehr draus machen …“
Nutzloses Standardmarketing
444 Konflikte und Misstrauen
Trotz „Soziale Stadt II“ im freien Fall
Material- und Szenarienanhang
Es ist kaum verwunderlich, dass Konflikte zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen an der Tagesordnung waren. Gegenseitiges Misstrauen beherrschte die lokale Akteursszene. „Mit [Modellstadt] kann man nicht reden“, hieß es 2007 kurz und bündig von Seiten der Wohnungswirtschaft (E_B7). Der Zustand E-hausens verschlechterte sich aufgrund sozialer Erosion und ausbleibender Investitionstätigkeit zusehends. Ab 2015 wurde E-hausen – immer noch gegen den Willen mancher Wohnungsunternehmen – zum Soziale-Stadt-II-Gebiet deklariert, hier immerhin mit Verbündeten auf der Grassroots-Ebene, wie z. B. Migrantenvereinen, Mieterbeiräten und der seit 2012 im Quartier tätigen, stadtweit bekannten Aktionskünstlergruppe „E-norm urban“. Die 2020er Jahre: Leerstände häuften sich, einige Blöcke wurden zu Ruinen. Die sozialen Probleme wurden stärker, auch die Kriminalitätsrate nahm zu. Das E-hausener Image war so schlecht wie nie zuvor. Das Quartier befand sich auf einer steilen Abwärtsspirale.
Bewertung und Ausblick 2030: Der Hinterhof der City Ob es den an der Quartiersentwicklung beteiligten Akteuren 2007 insgeheim vielleicht doch klar war, dass es im soliden, an Fluktuation und Leerstand armen E-hausen dennoch einen erheblichen Handlungsbedarf gab, sei einmal dahingestellt. So einseitig der Wohnungsschlüssel und die Altersstruktur mit Seniorenanteilen von z. T. über 70% waren, müsste man eigentlich davon ausgehen. Doch aufgrund der bequemen Gesamtsituation kam es zu keiner umfassenden Kooperation und gemeinsamen Quartiersorientierung. Auch das kommunale Stadtteilmanagement scheiterte als Vermittlungsinstanz. Jeder suchte seinen eigenen Vorteil, und die Gesamtperspektive ging verloren. Der Knock-Out-Faktor für das Quartier war jedoch das alte DDR-Funktionärsmilieu, das hervorragend als Gemeinschaft funktionierte, jedoch systematisch sämtliche Innovationen und zum Teil auch jüngere Zuzügler verhinderte oder vergraulte. Dieses feindliche soziale Umfeld blieb auch der lokalen Öffentlichkeit nicht verborgen. Durch das negative Image wurde eine demographische Verjüngung des Gebiets stark behindert. Die demographischen Welle entstand in einem schwierigen Marktumfeld. Es traten massive Leerstände auf und „Problemhaushalte“ etablierten sich nun endgültig im Wohngebiet. „E-hausen“ wurde zum Synonym für Hartz IV, Kriminalität, Migration und Verfall. Heute denken Stadt und Investoren darüber nach, das Quartier zurückzubauen und Schritt für Schritt ein neues Viertel mit hochwertigen, der Lage angemessenen Eigentumswohnungen und Townhouses zu errichten.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.6
445
Typ F: Postmoderne
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ F
Tabelle 7: Stärken-Schwächen-Profil Typ F – Postmoderne
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
+ < o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– + + o
+ + + o
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Postmoderne Quartiere können demographisch nur schwer eingeordnet werden. Allein in der zugrundeliegenden empirischen Untersuchung gab es hier stark kontrastierende Beispiele. Als Szenarien bieten sich hier deshalb die Vergleichsvarianten Fj.4 vs. Fa.2 an.
446 1.6.1
Material- und Szenarienanhang
Hafenquartier F (Typ Postmoderne – Szenario Fj.4: Quartier des Kapitals)
Modellquartiere: Berlin-Pulvermühle, Berlin-Am Krusenick
Abbildung 31: Synopse für Szenario Fj.4 Typ SzenarioVariante
F .4
Postmoderne Quartier des Kapitals
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: gering
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: eher ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: eher stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: mobil
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
j
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: Bausubstanz: ehergemischt problemlos
Bausubstanz: hochwertig/neu
Stadtrand-Lage, infrastrukturelle Mängel, homogener Wohnungsschlüssel, pfadabhängiges Imageproblem, sich etablierende soziale Problematik, Preisanstieg nach Auslaufen von Belegungsbindungen, ausbleibende Investitionen, Vermarktungsprobleme
O
langfristig suboptimaler Entwicklungsverlauf, Stillstand und „Abstieg“ zum Normalquartier, offene weitere Zukunft
447
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Kapitalanlegerprojekt einer früheren Boomphase Allen demographischen Veränderungen in anderen Regionen zum Trotz schrumpfte Modellstadt nicht massiv, sondern konnte langfristig seine Einwohnerzahl auf einem etwas geringeren Niveau stabilisieren. Das lag vor allem an einem Cluster einiger weniger innovativer Umwelttechnologieunternehmen (u. a. im expandierenden Green-IT-Sektor), die die Bevölkerungsverluste durch leichte Abwanderung und vor allem durch die ansteigende Zahl der Todesfälle im Rahmen der demographischen Alterung abmildern konnten. Stadtweit gesehen war das Leerstandsrisiko vergleichsweise gering. In einigen Quartieren kam es zu einem Anstieg der Mieten und Kaufpreise und zu Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen. Andere Lagen hatten dagegen mit negativen Segregationsprozessen und Zuzügen sozial schwächerer Bevölkerungsschichten, häufig mit migrantischem Hintergrund, zu kämpfen. Die zunehmende soziale Polarisierung der Gesellschaft bildete sich im Sozialraum Modellstadts ab. „Anything Goes“ betitelte das Stadtmagazin „Der Modellstädter“ Anfang 2011 einen kritischen Artikel über gängige Praktiken der lokalen Immobilienbranche. In diesem zeitlichen Kontext musste sich das neue Viertel „Hafenquartier F“ positionieren. Das gesamte Areal der Neubausiedlung war früher eine heterogene Gemengelage aus Wohn-, Industrie- und Gewerbe- und Freizeitnutzung – eine gewisse Unordnung, die auch 2005 noch in den Randbereichen zu spüren war. Auf einem Teil des Geländes existierte seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine Kleinraumsiedlung in sehr schlichter Zeilenbauweise und minimalen Standards, die Flüchtlingen, Vertriebenen und not leidenden Familien eine Bleibe sichern sollte. Im Volksmund wurde dieser Bereich „Mau-MauSiedlung“ oder auch als die „Favelas von Modellstadt“ bezeichnet: „Das war fast rechtsfreier Raum“ (E_B13). Die Gebäude wurden im Rahmen der Projektentwicklung abgerissen. Den Bewohnern der Altsiedlung stand nach § 180 BauGB (Sozialplan) die Option offen, in das Neubauquartier zurückzukehren, was einige wenige auch tatsächlich nutzten. Das führte dazu, dass das „Getto-Image von früher […] der Siedlung noch deutlich“ anhaftet (E_B13). Der relativ hohe Migrantenanteil trug ebenfalls dazu bei („neue“ Mau-Mau-Siedlung). Das neue „Hafenquartier F“ mit gut 2.500 Wohnungen wurde durch zwei große Wohnungsunternehmen, A-WoBau und B-WoBau, und einen Projektentwickler (F-Invest AG) realisiert, der auch Wohnungen einzeln an Selbstnutzer und an private Kapitalanleger veräußern wollte, die in den 1990er Jahren mit umfangreichen Sonderabschreibungen gelockt wurden. Ein Großteil der Mietwohnungen war aufgrund öffent-
Stabilisierung der Stadtregion
Anything goes
Quartier als Projektentwicklung
Sonder-AfA und „Förderwege“
448
Material- und Szenarienanhang
licher Förderung zunächst belegungsgebunden, zum Teil im damaligen „1. Förderweg“, also als klassische Sozialwohnungen, zum Teil aber auch im „2. Förderweg“, der vor allem Mittelschichthaushalte bevorzugte. Das „Hafenquartier F“ war eines der letzten Neubauprojekte Modellstadts, das noch in den Genuss von Fördermitteln kam.
Sozio-demographische Entwicklung: Pfadabhängigkeiten eines Neubauviertels 1. Phase: Soziale Probleme
Was historische Pfadabhängigkeit bedeutet, konnte man nur an wenigen Quartieren so gut beobachten wie im „Hafenquartier F“. Trotz des Komplettabrisses „lebte“ ein Teil des alten „Outlaw-Milieus“ am selben Ort in gewisser Weise weiter. Gleich 1997, nach Vollendung und Bezug des ersten Bauabschnitts, traten die ersten ernsthaften sozialen Probleme im Gebiet auf, die sich u. a. in Vandalismus und Kriminalität niederschlugen. Damit begann die erste Phase der Quartiersentwicklung. Die A-WoBau plante in dieser Zeit entsprechende Maßnahmen (z. B. Kontrolle der sozialen Mischung im Gebiet, Initiierung eines Mieterbeirats, Videoüberwachung, Verstärkung der Präsenz von Kundenbetreuern vor Ort und damit stärkere Kundennähe, Verbesserung der Nahversorgung, Kampfhundverbot etc.). Darüber hinaus war die A-WoBau bemüht – auch in Zusammenarbeit mit der B-WoBau, lokalen Institutionen, sozialen Trägern und Vereinen – die Gemeinwesenarbeit in dem neu errichteten und nicht gewachsenen Quartier zu verbessern. Darüber hinaus wurden „Quartierskonferenzen“ ins Leben gerufen, in denen von der Modellstädter Verwaltung bis zum Sportverein verschiedenste Träger öffentlicher Belange an einen Tisch zusammengerufen wurden. In den folgenden zehn Jahren konnte die Situation dadurch etwas entschärft werden. Soziale Konflikte und häufige Polizeieinsätze erschwerten die Vermarktung zusätzlich. In einer Immobilienzeitschrift hieß es 2002: „Die Leerstände bei den frei finanzierten Wohnungen und bei den Wohnungen der ‚vereinbarten Förderung‘ sind erheblich. Zu den hohen Leerständen kommt der alarmierende Befund hinzu, dass die Fluktuation unter den Bewohnern hoch ist“ (übernommen aus: Wohnungsmarkt [Modellstadt] – Hoffnungsloser Fall oder Markt voller Chancen? LBS/empirica 2002: 19f.). Die Kriminalitätsquote war inzwischen deutlich abgesenkt und der früher im Quartier übliche Drogenhandel „mit Hilfe des LKA entsorgt“ (E_B13). Nicht zuletzt die Förderkulisse, die Teilen des Bestands zu Grun2005: Demode lag, war für die ausgesprochen junge Altersstruktur des Quartiers graphische verantwortlich, das 2005 einen Altenquotienten von nur 13 und den Jugend des für deutsche Verhältnisse beachtlichen Jugendquotienten von 31 aufQuartiers
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
449
wies und damit auch innerhalb von Modellstadt eine Ausnahmestellung einnahm (vgl. Abbildung 32). Abbildung 32: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp F Typ I: deutliche Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Pulvermühle)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Der Förderkulisse war in gewisser Weise auch das doch recht gemischte soziale Milieu im „Hafenquartier F“ geschuldet. Im Gebiet wohnten vor allem Familien mit Kindern, die dort auch eine relativ gute Infrastruktur vorfanden (Grundschulen, Kitas). Zumindest bei der A-WoBau dominierten untere soziale Schichten (die Arbeitslosenquote im Gebiet lag 2002 bei gut 15%), jedoch sind im Quartier bis zur Mittelschicht alle Einkommensschichten vertreten (E_B13). Der Anteil von Haushalten mit Migrationshintergrund stieg stetig an (1998 waren es noch knapp 25% Bewohner ohne deutschen Pass, 2007 ca. 31% zuzüglich einer unbekannten Quote an Aussiedlern und anderen Migranten mit deutschen Papieren) (E_B13). Was ein Bewohner im Interview über seine Nachbarn lapidar mit „Normalos“ meinte (B_BPM2), zeigten auch differenziertere Lebensstildaten 2005 für das Quartier: Im „Hafenquartier F“ lebten überwiegend Mainstream-Milieus (z. B. „Bürgerliche Mitte“ und „KonsumMaterialisten“) und ein paar Experimentalisten und Hedonisten (vhw, Sinus/Mosaic 2005). Während etwa die „Bürgerliche Mitte“ Wohnungen als Heim und Zuflucht vor der Außenwelt versteht und hetero-
Starke soziale Mischung
Hoher Migrantenanteil
Quartier des Mainstreams …
450
Material- und Szenarienanhang
gene Umfelder wie das des „Hafenquartiers“ akzeptiert, haben die so genannten „Konsum-Materialisten“ bei begrenzten finanziellen Mitteln nur eine geringe Ausgabebereitschaft für das Wohnen im Vergleich zu anderen Konsummöglichkeiten. Die „Experimentalisten“ suchen urbane, sozial und ethnisch heterogene, postmoderne Quartiersumfelder und die sehr mobilen „Hedonisten“ haben nur eine schwache Ortsbindung. Abbildung 33: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp F (hier: Modellquartier Pulvermühle, Kerngebiet, TVZ 03312, Angaben in %, 2005) 11,4
EXP 7,9
HED
43,4
MAT 28,6
BÜM DDR
0,0
TRA
0,0 1,6
KON
4,2
PER
2,7
PMA 0,1
ETB
0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Innerhalb des Quartiers tat sich außerdem ein strukturelles Gefälle … und der zwischen Straßenbestand und Wasserlage auf. So waren die meist Widersprüche wohlhabenderen Bewohner der Wassergrundstücke oft zufrieden: „Das ist eine ruhige, gepflegte Wohnanlage. […] Parkähnlich und direkt am Wasser“ (B_BPM1). „Ruhig und am Wasser“ (B_BPM2). Und: „Hier wohnt man auf dem Dorf und kann trotzdem sehr gut auswärts wohin gehen“ (B_BPM3b). Bewohner der vom Wasser abgewandten Gebäudeteile äußerten sich weniger zufrieden. Es gab auch eine weitere Mikrodifferenzierung innerhalb der Bestände des Quartiers zwischen neu Hinzugezogenen und Altmietern aus der „Mau-Mau-Siedlung“, eine Front zwischen sozial Bessergestellten vs. sozial Schwachen, häufig mit Migrationshintergrund (B_BPM3 und B_PM2). Fluktuation Dementsprechend war auch die Fluktuation relativ hoch. Nach … Bewohnerangaben gab es zwar einen harten Kern treuer „Stammmie-
451
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
ter“ (B_BPM3), aber auch viele, die wegzogen, weil die Mieten zu hoch waren und es kaum Läden gab (B_BPM2 und B_BPM4). Eine Bewohnerin, die zum Befragungszeitpunkt 2007 seit einem Jahr in dem Quartier wohnte, meinte: „In meinem Haus sind schon fünf Familien weggezogen. Die wohnen da drei bis vier Monate und ziehen wieder weg“ (B_BPM4). Darüber hinaus gab es „einen sehr großen Tourismus innerhalb des Gebietes“, der auf Trennungen beruhte (E_B13). Das bestätigte sich auch in den Bewohnerinterviews: „Ich hatte mich mal informiert für eine 2-Raum-Wohnung, weil ich mich von meinem Mann trennen wollte. Da bin ich auf einer Warteliste seit zwei Jahren“ (B_BPM3). Aufgrund des für Stadtrandverhältnisse hohen Migrantenanteils in den Schulklassen (um 40%) zogen auch viele junge Familien weg (E_B13). Die Mobilitätsbereitschaft der Bewohner war groß, zumal der Druck des Marktes deutlich spürbar war. Diejenigen, die es sich leisten konnten, versuchten ihren Wohnstandard zu erhalten oder zu verbessern, indem sie in bessere Lagen zogen und ggf. andere Haushalte verdrängten. Entsprechende Beobachtungen konnte man bei der Ortsbindung der Bewohner machen: Zwar war bei den (relativ wenigen) Altmietern der Mau-Mau-Siedlung die lokale Identifikation noch sehr hoch, bei den neu Hinzugezogenen aber gering. Die nachbarschaftlichen Kontakte wurden von den Bewohnern überwiegend positiv gesehen: „Alle sind sehr nett“ (B_BPM4). „Die Ausländer die bei uns wohnen sind nett“ (B_BPM2). „Der soziale Kontakt stimmt hier schon. Man passt hier aufeinander auf. […] Eigentlich kenne ich im Haus alle. Man geht sich besuchen, zum Kaffee trinken oder zu ‚Kerzen-Parties‘, die sind wie Tupper-Parties – das ist hier gerade voll in“ (B_BPM3). Zudem wohnten ganze Familienclans im Quartier. Zwei interviewte Bewohnerinnen zogen in das Gebiet, weil bereits Familienangehörige hier lebten. „Meine Mutter hat schon hier gewohnt“ (B_BPM3). Ein anderer 2007 interviewter Bewohner zog hierhin, weil „hier meine beiden Söhne [und die Enkelkinder] wohnen“ (B_BPM4), bei einem anderen war es die Schwester (B_BPM1). Phase 2 begann ab 2010: In den 2010er Jahren wurden die Belegungsbindungen gelockert, weil Tendenzen zu einem sozialen Downgrading festzustellen waren. Man wollte eine gemischte Bewohnerstruktur erhalten und insbesondere die attraktiven Wasserlagen durch eine problematische Sozialstruktur nicht entwerten. Zwar führte die Fluktuation dazu, dass sich die Altersstruktur des Quartiers ein wenig heterogenisierte und damit keine echte demographische Welle zu befürchten war, aber dennoch war seit den 2020er Jahren eine deutliche Alterung der Bewohnerschaft festzustellen. Man sah sich mit ähn-
… aber auch „gute Nachbarschaft“
2. Phase: Aufhebung der Belegungsbindungen
2020er Jahre:
452 Demographische Alterung
Material- und Szenarienanhang
lichen infrastrukturellen Problemen konfrontiert wie z. B. die Quartiere des Typs „Aufbau“ in den 1990er Jahren: Für junge Menschen geplant, aber in die Jahre gekommen. So wurde die gute Ausstattung für Familien in der Pionierphase des Quartiers immer wieder hervorgehoben: „Schöne Spielplätze, schöne Schule, viele Freizeitangebote für Kinder“ (Bewohnerinterview BPM3), „für Kinder sehr gut“ (Bewohnerinterview BPM4). Inzwischen war fraglich geworden, wie man diese Ausstattung auch für Senioren attraktiver gestalten könnte. Dennoch veränderte sich die Sozialstruktur in dieser Zeit, weil mehr besserverdienende Haushalte zuzogen.
Physisch-bauliche Entwicklung: Problemlose Bausubstanz vs. architektonische Mängel
Barrierefreiheit und Umfeldqualität
Monostrukturierter Wohnungsschlüssel und weitere Schwächen
In die Jahre gekommen ist heute, im Jahr 2030, auch die Bausubstanz des „Hafenquartiers F“. Allerdings erfüllte die Neubauqualität der 1990er Jahre (etwa hinsichtlich der Wärmedämmung) auch für die Zukunft einen akzeptablen Standard, sodass Modernisierungen gut machbar und wirtschaftlich waren. Die A-WoBau-Bestände zeichneten sich durch einen Anteil rollstuhl- und altengerechter Wohnungen aus, was auch von den Bewohnern goutiert wurde: „Fast jedes Haus hat ebenerdige Fahrstühle. Man kann sich eine Klingel anbringen lassen für den Seniorendienst“ (B_BPM3b). Diese Wohnungen, die zum Teil auch in Wassernähe liegen, waren von Anfang an „immer voll vermietet“ (E_B13) und stellten auch für die Zukunft ein gutes Potenzial dar. In den 2010er Jahren weitete man diese Qualität punktuell auch auf andere Wohnungen im Quartier aus. Gleichzeitig war der urbane, aufgelockerte städtebauliche Entwurf attraktiv für jüngere Haushalte, in den Wasserlagen auch für Eigentumsbildung. Als große Schwäche des Quartiers stellte sich aber der monostrukturierte Wohnungsschlüssel heraus. So fehlten Alternativangebote kleinerer Wohnungen (2 Zimmer), um z. B. sich verkleinernde Haushalte im Gebiet auffangen zu können. Zwar kam die postmoderne Vielfalt gut an („toll, dass jede Wohnung anders geschnitten ist“ [B_BPM3], aber viele Wohnungen hatten gleichzeitig eine angesichts der Preise und der Neubauqualität nicht nachvollziehbare Ausstattungsmängel (z. B. fehlende Balkone), die in den 2020er Jahren zumindest in den besseren Mikrolagen allmählich korrigiert werden sollten. Die Nahversorgung war von Anfang an mangelhaft und wurde vielfach kritisiert. Die im Gebiet vorgesehenen Gewerberäume wurden häufig in Sackgassen platziert und waren praktisch unvermietbar (E_B13). Dieses Problem ist bis heute virulent.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
453
Die Lage des „Hafenviertels“ war ausgesprochen ambivalent: Ambivalenz Zum einen hatte man – zumindest in Teilen des Bestands – eine wun- der derbare Wasserlage. Zum anderen wurde die Wasserlage mit einer Peripherie Stadtrandlage erkauft, die unter einer unzureichenden ÖV-Anbindung (B_BPM4) und Infrastruktur, einem defizitären standardisierten Wohnumfeld und unter einer geringen Nutzungsvielfalt litt. So schrieben die Modellstädter Neuesten Nachrichten in einem Artikel über das Modellstädter „Hafenquartier F“ am 29. 4. 2002 (übernommen aus „Tagesspiegel“, verändert): „[Hafenquartier F]: Im einstigen Vorzeigequartier „[Hafenquartier F]“ in [Modellstadt] schleppt eine junge Mutter mit ihren beiden Kindern prall gefüllte Tüten zur Haustür. Ein- bis zweimal pro Woche fährt sie zum Einkaufen. Wer hier ohne Auto lebt, hat ein Problem, der nächste Supermarkt ist einen guten Kilometer entfernt. Ein Bäcker, ein Zeitungsladen und ein türkisches Lebensmittelgeschäft bilden das gesamte Versorgungsangebot. Fünf Jahre nach dem Einzug der ersten Mieter steht noch immer rund ein Dutzend Läden zwischen [Muster]-Straße und [Mittel]-Promenade leer. Viele Nachbarn sind schon weggezogen, wegen der hohen Mieten und der viel zu eng gebauten Häuser, von deren Balkonen man ‚dem Nachbarn auf den Teller‘ blickt“. Bis 2030 waren keine größeren baulichen Veränderungen im Quartier vorgenommen worden.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Kurzfrist-Strategien mit Langzeit-Wirkung Es war deutlich zu erkennen, dass sich im bestehenden, im Vergleich zu anderen Regionen anbieterfreundlichen Markt Modellstadts sozialräumliche Polarisierungen, Segregationstendenzen und eine Mikrodifferenzierung der Märkte ihren Weg bahnten. Die Modellstädter Stadtentwicklungsbehörde versuchte hier zunächst gegenzusteuern, indem sie ganzheitliche, stadtweit integrierte Quartierskonzeptionen, auch unter Berücksichtigung demographischer Entwicklungen propagierte. Gerade das neue „Hafenquartier F“ sollte besser ins städtische Gesamtgefüge integriert werden. Auf Seiten der Immobilienwirtschaft stießen die Beamten jedoch auf taube Ohren. Für die Anbieter lief es gut, auch ohne langwierige Strategierunden, runde Tische und Abstimmungsorgien. Nach 2015, als die Belegungsbindungen ausgelaufen waren, hatte die Kommune überhaupt kein Instrument mehr, hier steuernd einzugreifen und handelte seitdem zunehmend passiv, wenig kreativ und stets mit dem Hinweis auf die „immer knapper werdenden finanziellen Mittel“.
Egoistische Anbieter – zunehmend passive Kommune
454
2 Zeitrechnungen
Harte Selektion als „Verdrängungstaktik“
Material- und Szenarienanhang
Das Image des Quartiers war indifferent: Zum einen gab hier einige Schwierigkeiten und soziale Probleme, zum anderen war das „Hafenquartier F“ ein recht beliebter Wohnstandort, insbesondere weil die Gebäude neu, die Lage und die soziale Infrastruktur für Familien gut geeignet waren: „Alles schön und ruhig“ und zudem noch am Wasser (E_B13). Obwohl der WBS-Nachweis schon bald freigestellt wurde, war das Gros der Nachfrage in den 2000er Jahren nach wie vor durch sozial schwache Haushalte bestimmt – der Ruf der Siedlung zeigte auch hier noch seine Wirkung. Die Marktsituation war für die Anbieter dennoch nicht ungünstig. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis sich die Bestände konsolidierten und höhere Renditen abwarfen. Die Wohnungswirtschaft arbeitete mit zwei Zeitrechnungen: Die Zeit vor und die Zeit nach 2015. Dann würden die letzten Bestände endgültig aus der Belegungsbindung fallen – der Startschuss für die freie Vermarktung der hochwertigen Wohnanlage. Die Anreize strategischer Konzeptionen waren bei den wirtschaftlichen Akteuren in beiden Zeitrechnungen recht gering: Vorher tat man nur das Nötigste, kurz vor und nach 2015 versuchte man, sich eigene Vorteile zu verschaffen. Langfristige Bestandsoptimierungen, Qualitätssicherung, Demographie- und Quartiersorientierung oder auch Kooperationsmodelle schienen unnötig: Auch ohne derartig „anstrengende“ Konzepte sollten sich gute Renditen erzielen lassen. Gute Lage plus gute Bausubstanz schienen zu genügen. Strategische Erwägungen bezogen sich vor allem auf interne Organisationsentwicklung, das Unternehmensportfolio, renditeträchtige Investments in viel versprechenden Lagen, innovative Finanzierungsinstrumente und vereinzelte Projektentwicklungen. Kurz vor dem Ablaufen der Belegungsbindungen begannen die beauftragten Hausverwaltungen hart durchzugreifen und zu selektieren. Das Quartier sollte langsam auf den freien Markt vorbereitet werden: „Wir haben in den letzten Jahren rigoros das Pack [gemeint sind problematische Haushalte inkl. Althaushalte aus der früheren Mau-MauSieldung] rausgeschmissen“ (E_B13). Bei Neubewerbern wurde eine verschärfte Solvenzprüfung eingeführt. „Die, die wir am liebsten hätten, kamen auch wegen des WBS nicht“ (E_B13). Die Nachfrage ausländischer Bewerber war deutlich höher als die damaligen Bewohneranteile: „[Das ‚Hafenquartier F‘] war schon immer ein Migrantenquartier, das hat sich tradiert“ (E_B13). Die A-WoBau versuchte, den Ausländer-(und Aussiedler)-Anteil zu reduzieren, damit „das Gebiet nicht zu einem Getto absackt“ (E_B13). Darüber hinaus wollte man im „Hafenquartier“ mit Hilfe der „Verdrängungstaktik“ eine soziale Mischung erhalten, d.h. man versuchte, „gute Leute zwischenrein zu setzen“, und hoffte, dass diese dann regulierend wirkten und nicht gleich
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
wieder wegzogen (E_B13). Erschwert wurde die zähe Akquisition „erwünschter“ Haushalte durch den Wohnungsschlüssel, der solide Einpersonenhaushalte oder Senioren praktisch ausschloss. Jedoch füllte die Nachfrage mit der Zeit auch die letzten leer stehenden Wohnungen. Dadurch dass das Mietniveau relativ hoch war und Belegungsbindungen abgebaut wurden, wertete sich das Quartier relativ schnell auf. Die Wohnungsunternehmen nutzten die Gunst der Stunde und erhöhten die Mieten stetig weiter. Auch die Kapitalanleger zogen mit, wie Bewohner schon 2007 zu spüren bekamen, aber (damals noch) durchaus als gerechtfertigt empfanden: „Alles nach oben gegangen.“ (B_BPM2). „Sehr erhöht. Sind ja schöne Wohnungen, man zahlt die Miete gern. […] Das ist hier schon eine bessere Wohngegend“ (Bewohnerinterview BPM3). Um 2020 war der Höhepunkt erreicht. Seitdem ging es mit dem „Hafenquartier F“ langsam, aber stetig bergab. Der frühere Charme des Neubauquartiers war nach mehr als 20 Jahren verflogen, erhebliche Baumängel traten auf, die Wohnzufriedenheit nahm ab. Seitens der Wohnungsunternehmen und Vermieter wurden die Bestände als „Cash Cow“ betrachtet, man investierte nur noch das Nötigste und freute sich über die historisch gewachsenen Renditen. Auch die strukturelle demographische Alterung erreichte nun allmählich das ehemals junge Quartier. Todesfälle und Haushaltsauflösungen häuften sich. Seit 2025 begannen die Leerstandszahlen langsam anzusteigen, ohne jedoch die Wohnungsunternehmen zu alarmieren. Erst heute, im Jahr 2030, wird deutlich, dass das baulich junge „Hafenquartier“ seine beste Zeit bereits hinter sich hat und in den Jahren der Blüte versäumt wurde, behutsam weiter zu investieren, um sich auf Dauer ein sozial und ökonomisch gut funktionierendes, nachhaltiges Quartier zu erhalten. Im vergangenen Jahr bat die A-WoBau (inzwischen mit der B-WoBau fusioniert) in der Modellstädter Verwaltung um einen offenen Ideenaustausch, was die Weiterentwicklung des „Hafenquartiers“ anging. „Public Private Partnership“ war das Stichwort, und auch wenn es dazu vermutlich keine Alternative gab, reagierte die Kommune auf diesen Vorschlag zunächst reserviert.
455
Rasche Aufwertung
Ab 2020: zunehmende Unzufriedenheit mit der „Cash Cow“
Demographische Alterung
Bewertung und Ausblick 2030: Vermarktungsrisiko „normales Wohnquartier“ Die „Hafenquartier“-Entwicklung war eine Art „Blindflug im Markt“. „Blindflug Das Quartiersschicksal war bestimmt durch historische Pfadabhän- im Markt“ gigkeiten, Konflikte, willkürliche Aushandlungen, zufällige Akteurs-
456
Verpasste Chancen
Material- und Szenarienanhang
konstellationen, Einzelpersonen und einsame Entscheidungen. Ein riskantes Spiel, das relativ glimpflich auszugehen scheint und doch eine vertane Chance, weil man viel mehr daraus hätte machen können. Bereits 2007 hieß es im Experteninterview im Hinblick auf die nächsten zwanzig Jahre fantasielos: „Das läuft immer so weiter wie jetzt, die Strukturen sind da“ (E_B13). Einen möglichen Wendepunkt sah man auch damals schon um 2015, wenn der „freie Markt“ kommen würde: „Das liegt dann an der Miethöhe, da kommt es auf das Marktumfeld an“ (E_B13). Hier hatte man Glück, der Markt war recht günstig und der Bestand „passte“ zum Markt. Und dennoch: Was betriebswirtschaftlich kurzfristig erfolgreich war, hinterließ aus einer ganzheitlichen Quartiersentwicklungsperspektive einen weniger als suboptimalen Eindruck: Die Ortsbindung nahm stetig ab, das Verantwortungsgefühl der Bewohner für das Quartier ging verloren. Nachbarschaftliche Netzwerke und lokales Sozialkapital erodierten unaufhörlich und durch ausbleibende Investitionen beraubte man das Quartier seines postmodernen Neubaucharmes. Viele Dinge hätte man in den letzten 30 Jahren tun können, um die heutige Entwicklungstendenz, um ein „history repeating“ zu vermeiden: Man hätte von Anfang an mit einem stark partizipativen „Neighborhood Branding“ arbeiten können und auf diese Weise auch eine neue Nachfragerklientel etwa für (neu auszuweisende, arrondierende) Einfamilien- und Reihenhäuser im Quartier erschließen können, die nicht „Mau-Mau-typisch“ gewesen wäre. Die A-WoBau hätte beschließen können, stärker als bisher auf Privatisierung zu setzen, um stabile, am Quartier interessierte Haushalte ins Gebiet zu locken. Dazu hätten jedoch flexible Umbauangebote erarbeitet werden müssen (z. B. Angebote für Maisonette-Wohnungen, für Balkonanbauten, Gartenabgrenzungen, Wohnungsteilungen etc.), die den einen oder anderen Käufer hätten überzeugen können. Auch im Mietwohnungsbereich hätte man viel gezielter daran arbeiten können, mittlere Einkommensschichten zu generieren. Dabei hätte man insbesondere die türkische Mittelschicht ins Visier nehmen können, für die das Gebiet eine echte Alternative zu innerstädtischem Wohnen dargestellt hätte. Dadurch dass sich die Bewohnerschaft langsam stabilisiert und die Kaufkraft zugenommen hätte, hätte es sich auch für den Einzelhandel gelohnt, sich stärker zu engagieren. Die Nahversorgung hätte sich dadurch bis heute spürbar verbessern können. All dies ist jedoch nicht geschehen. Abgesehen von der Wasserlage reiht sich das „Hafenquartier F“ nun in die Riege der „normalen Wohngebiete“ ein – heute ein zunehmendes Vermarktungsproblem.
457
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.6.2
Wohnpark Halbinsel F-holz (Typ Postmoderne – Szenario Fa.2: Pro Quartier?)
Modellquartiere: Berlin-Pulvermühle, Berlin-Am Krusenick
Abbildung 34: Synopse für Szenario Fa.2 Typ SzenarioVariante
F
Postmoderne
.2
Pro Quartier?
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: mobil mobil
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: eher unproblematisch
Bausubstanz: hochwertig
gute Mikrolage, aber auch starke Mikrodifferenzierung, komplizierte Eigentümerstruktur, gute Wohnungsausstattungen (Barrierefreiheit etc.), Neighbourhood Branding
+
demographisch heterogenisiert, Aufwertung und positive Weiterentwicklung, Modellquartier für intergenerationale Nachbarschaften
458
Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Postmoderner Wohnpark – Boom-Phänomen auf Bewährung Stagnation
1990er: Goldgräberstimmung
Prototypisches „Kind der 1990er“
Komplizierte Eigentümerstruktur
Im Jahr 2030 kann die Stadtregion Modellstadt nicht gerade als dynamisch bezeichnet werden. Die Region schrumpfte oder stagnierte über lange Perioden seit der Jahrtausendwende, dabei war das Umland stärker betroffen als die Kernstadt – ein relativer Reurbanisierungseffekt. Der lokale Wohnungsmarkt tendierte – zumindest quantitativ – zu einem Nachfragermarkt. Anbieter haben sich über die Jahre deshalb auf eine schleppende bis mäßige, qualitätsbewusste Nachfrage eingestellt. Das Mietniveau wuchs mit der Inflation, der strukturelle Leerstand war insgesamt recht hoch, ebenso wie die Fluktuation. Mitte der 1990er Jahre sah das noch ganz anders aus: In einer Zeit des Wohnimmobilienbooms in Modellstadt wurde der „Wohnpark Halbinsel F-holz“ mit knapp 1.000 Wohnungen auf einem alten Industrieareal errichtet. Es herrschte geradezu eine Goldgräberstimmung, denn eine rege Nachfrage stand bereit und hohe Renditen winkten. Die Entwicklung war auch in der Modellstädter Verwaltung gern gesehen, zumal man die städtischen Wasserlagen mehr und mehr für Wohnnutzungen erschließen wollte. Das Quartier weist bis heute eine hohe Wohndichte auf. Dies ist auf die notwendige Refinanzierung der Dekontaminierung der altlastenbehafteten Böden in der Bauphase zurückzuführen (E_B21). Das Wohnquartier war mit seiner nüchternen MehrfamilienhausArchitektur im wasserabgewandten Bereich, den mehrstöckigen Villen am Wasser und der insgesamt enormen Bebauungsdichte ein typisches „Kind der 90er“, wie eine Modellstädter Expertin 2007 feststellte (E_B21). Doch nicht nur die postmoderne Architektur, sondern auch die Zielgruppen der Projektentwicklung waren typisch für diese Phase. Es wurde weniger auf Selbstnutzer gesetzt als auf vermietende (Privat-)Kapitalanleger, die von den damaligen enormen Sonderabschreibungen profitieren konnten. Dies führte zu einer prototypischen Situation: ein Wohngebiet wie aus einem Guss, entwickelt durch ein einziges Unternehmen, veräußert an viele kleine Kapitalanleger, die meistens eine oder zwei, manchmal auch 10 bis 15 WE kauften und vermieteten. Darüber hinaus hatte sich noch ein Wohnungsunternehmen mit einer Tranche von ca. 250 öffentlich geförderten Wohnungen eingekauft. Aufgrund dieser Eigentümerstruktur gab es zunächst auch keine zentrale Vermarktung des Quartiers (E_B22). Noch bis 2007 war es tatsächlich allen befragten Experten unbekannt, wie viele Eigentümer es im Quartier eigentlich gab. Dazu kam, dass um 2007 etliche Zwangsversteigerungen durchgeführt wurden, sich die Eigentümer-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
459
struktur also erneut verändert hatte (E_B22). Immerhin war es gelungen, mit dem Wohnpark einen ganz eigenen Bereich zu schaffen, der schon nach einigen Jahren eine eigene, unverwechselbare Identität aufwies (E_B21).
Sozio-demographische Entwicklung: Kaltstart in die demographische Welle Ein Kuriosum vorweg: Der „Wohnpark Halbinsel F-holz“ war 2005, zehn Jahre nach dem Richtfest, mit einem Altenquotient von knapp 64 und einem Jugendquotient von ca. 8 bereits eines der ältesten Quartiere der Stadt – eine historische Anomalie (vgl. Abbildung 35).
Homogene demographische Überalterung –
Abbildung 35: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp F Typ III: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Am Krusenick)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Das wurde auch vor Ort sofort deutlich: Rollatoren und Fahrzeuge von mobilen Pflegediensten gehörten zum alltäglichen Quartiersbild. Eine interviewte Seniorin erzählte 2007, dass in ihrem Aufgang drei Erwerbstätige lebten – und neun Rentner-Haushalte (B_BAK3). In anderen Gesprächen hieß es analog: „Circa 80% der Leute sind über sechzig“ oder „Hier wohnen Leute von 67 bis 95“ (B_BAK1, B_BAK4).
eine(nicht untypische) historische Anomalie
460 Gediegene Sozialstruktur konservative Milieus
Material- und Szenarienanhang
Entsprechend gediegen war auch die Sozialstruktur. Bei unterdurchschnittlicher Arbeitslosenquote bewegten sich die Einkommen auf einem stabilen mittleren Niveau. Die Lebensstile waren sehr konservativ und recht homogen ausgerichtet auf traditionalistische und Mainstream-Milieus (u. a. „DDR-Nostalgiker“, da sich das Quartier im Bereich der ehemaligen DDR befindet, siehe Abbildung 36). Abbildung 36: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp F (hier: Modellquartier Am Krusenick, TVZ 13014, Angaben in %, 2005) EXP
0,0
HED
0,0
MAT BÜM
21,0 0,0
DDR
49,5
TRA
27,1
KON
2,3
PER
0,0
PMA
0,0
ETB
0,0 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Wohnstandardverbesserer Ü50
Im Vergleich zu ähnlichen Wohnparks kamen hier verschiedene Aspekte zusammen: Eigentlich wäre die postmoderne Architektur am Wasser für jüngere bis mittelalte Haushalte prädestiniert gewesen. Das Quartier lag aber nicht direkt im innerstädtischen Bereich, sondern am Innenstadtrand – und die Anbieterkonkurrenz war groß. Dazu kam eine hohe Nachfrage aus dem unmittelbaren Mikroumfeld, insbesondere von (damals) jungen Senioren in ihren 50ern, die eine Chance gekommen sahen, vor der dritten Lebensphase noch einmal ihren Wohnstandard entscheidend zu verbessern. Der Wohnpark versprach einen „modernen Touch“, besseren Wohnkomfort und eine bessere Lage zu „gerade noch akzeptablen“ Einstiegsmieten oder Kaufpreisen. Die Wohnungen waren aufgrund ihres damals hohen
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
allgemeinen Standards (Barrierefreiheit, Balkone, Aufzüge), der ruhigen Lage am Wasser und der günstigen Infrastruktur gut für Senioren geeignet (wenn auch nicht unbedingt als „Seniorenwohnungen“ konzipiert) (E_B20). Für eine interviewte Rentnerin waren die Behindertengerechtigkeit der Wohnungen, aber auch die Möglichkeit ausgedehnter Spaziergänge am Wasser die Hauptgründe, in dieses Gebiet zu ziehen (B_BAK1). Da es keine zentrale Vermarktung gab, bildete sich im „Wohnpark Halbinsel F-holz“ ein Mikromarkt in einem Mikrozeitfenster ab. Das häufige Problem neu gebauter, „monolithischer“ Quartiere, nämlich die Aneignung durch die Bewohner, stellte sich hier gar nicht: Aufgrund des Alters und der vertretenen Milieus waren die neu Hinzugezogenen stark auf ihre Wohnungen fixiert, weniger auf das Umfeld. Die Möglichkeit, am Ufer Spazieren zu gehen, sowie die Ruhe und Sauberkeit im Quartier wogen alle anderen Defizite (wie etwa das Fehlen einiger Dienstleistungen im Quartier) mehr als auf, wie man 2007 erfahren konnte: „Die Lage am Wasser ist herrlich“ (B_BAK1). „Kein Krach. Nicht zu fassen, wie ruhig es hier ist“ (B_BAK2). Auch die Nachbarschaften gestalteten sich weniger Neubau- als Lebensstil-typisch: Bewohnerinterviews ließen 2007 den Schluss zu, dass es in manchen Häusern ein hohes Sozialkapitalvolumen unter den Nachbarn gab (B_BAK1, B_BAK4). Kleine Hilfsdienste, Kaffeerunden oder auch Bootsfahrten waren offenbar gang und gäbe, ohne dass dafür spezielle Serviceangebote hätten bereitgestellt werden müssen: „Einer hilft dem anderen, ich kann klingeln, wo ich will“ (B_BAK1). „Wir kennen uns und sprechen untereinander und gehen auch zu Beerdigungen und alles“ (B_BAK4). In anderen Häusern kannte und grüßte man seine Nachbarn, hatte aber keine engeren Kontakte (B_BAK2, B_BAK3). Vereinzelt gab es auch gegenteilige Wahrnehmungen. So berichtete 2007 ein Rentner, dass „später viele Russen und Vietnamesen“ zugezogen wären (dies vor allem im geförderten Wohnungsbestand), und: „Die Störenfriede von gegenüber sind ein Glück weggezogen. Das waren Asoziale, die die Leute beschimpft haben, da kam auch öfter die Polizei“ (B_BAK4). In einer bundesweiten Untersuchung wurde festgestellt, dass in den letzten 25 Jahren, also etwa von 2005 bis 2030, die Ortsbindung in Quartieren eher abgenommen hatte. Beim „Wohnpark Halbinsel Fholz“ trat hier ein weiteres Paradoxon auf. Die Erstbezieher-Seniorengeneration hatte eine hohe Bindung an den Modellstädter Südosten („Die Menschen hier haben ein merkwürdiges Heimatverhalten“ [E_B21]), weniger aber an das artifizielle, neue Quartier. Diese latente Mobilität in einem gewissen territorialen Rahmen verstärkte sich noch in den Folgejahren.
461
Mikromarkt im Mikrozeitfenster
Lokales Sozialkapital
Orts-, weniger Quartiersbindung
462
Alles neu: demographischer Impact
Material- und Szenarienanhang
Mitte der 2000er Jahre gab es nicht nur die erwähnten Eigentümerwechsel (Zwangsversteigerungen), sondern auch leicht zunehmende Umzüge. Bedingt durch die Altersstruktur mehrten sich die Sterbe- fälle und die damit verbundenen Wohnungsauflösungen (B_BAK4). Gleichzeitig erschienen einigen Bewohnern die in der Boomphase festgesetzten Mieten als zu hoch im Vergleich zum Umfeld (B_BAK1-4). „Viele ziehen ins [nahegelegene Quartier E-bach]. Da zahlt man 200,– “ weniger Miete“ (B_BAK3). Andere blieben jedoch auch im Wohnpark, da ihnen ein erneuter Umzug im Alter als zu anstrengend erschien. Innerhalb weniger Jahre, etwa zwischen 2015 und 2020 kam es so zu einem massiven demographischen Impact, weil die zwanzig Jahre zuvor eingezogene homogene Alterskohorte nun ins Hochbetagten-Alter kam. In dieser Zeit wandelte sich die soziodemographische Struktur des Gebiets komplett: Sie wurde jünger und bunter.
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Erste Abnutzungserscheinungen im „Hochglanz-Wohnpark“ Suboptimales Die Qualität der Bausubstanz galt über lange Jahre als relativ hochWohnumfeld wertig, ebenso wie die urbane, aufgelockerte städtebauliche Struktur, das Wohnumfeld und die Wohnungen, die den zeitgenössischen Wohnungsgeschmack bedienten und mit modernen Grundrissen und hochwertigen Ausstattungen aufwarteten. Manchen war das Wohnumfeld zu eintönig, zu monostrukturiert und zu aufgeräumt, andere wiederum fanden die Infrastruktur (Nahversorgung, ÖV-Anbindung) als suboptimal: „Schade, dass sich die Geschäfte (Weinhandlung, Käseladen, Blumenladen, Schlecker) nicht gehalten haben, aber das lohnt sich nicht“ (B_BAK3), ebenso wenig wie Hausarzt, Physiotherapie, Sauna oder Gastronomie (B_BAK1). Der Lack ist In den 2010er Jahren, vermehrt ab 2015, als das Wohngebiet ab knapp 20 Jahre alt wurde, zeigten sich die ersten baulichen Abnutzungserscheinungen und auch Unzufriedenheit bei manchen Bewohnern, die recht hohe Mieten zahlten und keinen Topstandard mehr vorfanden. Inwieweit die Wohnungen oder Häuser modernisiert wurden, hing von den komplizierten Eigentümerverhältnissen ab, sodass hier die Entwicklungen im Quartier stark differierten. Imagewandel Genau in dieser Phase, zum Zeitpunkt der demographischen Welle, der 1990erwurden in der Fach- und Lokalpresse immer wieder negative Artikel zu Jahre1990er-Jahre-Bauten veröffentlicht, die als „gesichtslos“, „kalt“, „unQuartiere inspiriert“, „kapitalgesteuert“ etc. tituliert wurden und zur neuen Zielscheibe der Architekturkritik avancierten. Die ehemals „schicken,
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
463
neuen Quartiere“ erlitten mehr und mehr einen Imageschaden. Schon 2008 prophezeiten Experten dieser „zeitabhängigen Wohnungsmode“ eine Baisse „in 10–15 Jahren“ und warnten vor punktuellem Leerstand und künftigen Vermarktungsproblemen (Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008). Der neu gebaute Wohnpark gab zunächst keinen Anlass zu baulichen Weiterentwicklungen. Die Wohnzufriedenheit der Erstbezieher war ohnehin hoch (B_BAK2, B_BAK3, B_BAK4). Doch der demographische Umbruch und damit auch eine neue Vermarktungsperiode standen vor der Tür.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Präventives „Neighbourhood Branding“ Seitens der Stadtverwaltung setzte man ähnlich wie ein Standortgutachten aus den 1990er Jahren zunächst vor allem auf umfeldinduzierte Nachfrage- und Verjüngungseffekte, wie etwa auf einen neuen Regionalbahnhof in der Nähe sowie eine weitere hochwertige Projektentwicklung in unmittelbarer Nachbarschaft (E_B21, E_B22), so dass man vorerst keinen direkten Handlungsbedarf sah. Befragte man 2007 die Bewohner zur zukünftigen Entwicklung des Quartiers, gingen die Meinungen auseinander. Während die einen glaubten, dass die Altersstruktur – nicht zuletzt wegen der seniorengerechten Wohnungen (B_BAK3) – auf dem damaligen Stand bliebe (B_BAK1, B_BAK2), war eine Seniorin der Meinung, dass sich das Quartier verjüngen würde, weil es aufgrund der Spielplätze und der ruhigen Lage durchaus auch interessant für Familien sei (B_BAK3). Damit war der Kernpunkt der künftigen Entwicklung des „Wohnparks Halbinsel F-holz“ umrissen: Leerstand, dauerhafte Seniorenenklave oder Verjüngung? Die stadträumliche Lage war Stärke und Schwäche zugleich: Für einen Standort zwischen Zentrum und Stadtrand war das Quartier relativ urban, nicht zuletzt aufgrund der hohen Bebauungsdichte. Für jemanden, der eher dörfliche Idylle suchte, kam der Wohnpark nicht in Frage, ebenso wenig für jemanden, der einen Wohnstandort inmitten pulsierenden urbanen Lebens bevorzugte. Darüber hinaus gab es auch mehrere Einfamilienhausgebiete in der Nähe, die vor allem für Familien Alternativen darstellten (E_B22). Der „Wohnpark Halbinsel Fholz“ war in jeder Hinsicht so etwas wie ein gebauter Kompromiss, für manchen Nachfrager aber vielleicht der ideale Kompromiss zwischen Stadt und Land. Herausragend erschien insbesondere die Mikrolage am Wasser.
Leerstand, Seniorenenklave oder Verjüngung?
Ambivalenz der Lage
Idealer Kompromiss?
464
Material- und Szenarienanhang
Obwohl Probleme absehbar waren, gab es in den 2000er Jahren niemanden, der hier die Initiative ergriffen hätte – zu zersplittert war die Eigentümerstruktur, zu unterschiedlich Handlungslogiken und Interessen. Die Modellstädter Stadtentwicklungsverwaltung hatte in diesen Jahren vermeintlich dringlichere Anliegen, wie z. B. die StandPrioritäten- ortförderung für Unternehmensansiedlungen und die Entwicklung einiger sozial schwacher Innenstadtquartiere, und setzte die Prioritäsetzung ten entsprechend. Während sich in den 2000er Jahren Leerstände mehr oder weniger Zunahme der auf Erdgeschosswohnungen beschränkten („Es sind immer WohnunLeerstände gen frei, viele in Parterre“ [B_BAK1]), begann ab 2010 die demograund Polariphische Krise virulent zu werden. Auch die quartiersinternen Mikrosierung der lagen machten sich nun stärker bemerkbar: Von Anfang an waren die Mikrolagen am Wasser liegenden Wohngebäude besonders attraktiv. Der wasserabgewandte Bereich unterlag einer öffentlichen Förderung (2. Förderweg), die zwar in den 2010er Jahren auslief, aber bereits eine gewisse Stigmatisierung verursachte. So kam es zu einer leichten, aber gefährlichen Polarisierungstendenz: Die Wasserlagen fanden immer ihre Mieter und Käufer und dies durchaus auch zu gehobenen Preisen. Zunehmende Leerstände im wasserabgewandten Bereich brachten diese Bestände mehr und mehr in Misskredit. Das einzige mit größeren Beständen (zum großen Teil im damals Kooperation noch geförderten Bereich) vertretene Wohnungsunternehmen im Geunter Ungleichen? biet, die InterReal AG, suchte jetzt den Dialog – nicht ohne Eigennutz, denn kommende Lasten sollten möglichst auf vielen Schultern verteilt und Trittbrettfahrer möglichst vermieden werden. Die meisten Wohnungseigentümer, in jedem Fall aber die kommunalen Akteure waren sich der demographischen Entwicklung sowie des Quartierskontexts und deren Bedeutung für den „Wohnpark Halbinsel F-holz“ bewusst. Das Modellstädter Amt für Stadtentwicklung betrachtete sich als Vorreiter, war darauf bedacht proaktiv zu handeln und verstand sich als Initiator von Kooperationen. Auch die Wohnungseigentümer wollten kooperieren, jedoch gestaltete sich die praktische Umsetzung bei so vielen unterschiedlichen Interessen mitunter als schwierig. Dazu kam, dass mancher bereits mehr, mancher weniger von der Leerstandskrise des Quartiers betroffen war und vor allem extrem unterschiedliche Ressourcen vorhanden waren. Mehrere Eigentümergemeinschaften gründeten deshalb einen ge„Aktion Pro meinsamen Verein, den „Aktion Pro Halbinsel F-Holz e.V.“, um auf Augenhöhe operativ tätig werden und auch Spenden- und SponsorenHalbinsel gelder einwerben zu können. Trotz der kooperativen ZusammenkünfF-holz e.V.“ te war die Risikobereitschaft der Entscheider begrenzt, auch domiMainstream nierte der sprichwörtliche kleinste gemeinsame Nenner. „Mainstre-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
am“ war das Stichwort, möglichst alle Altersgruppen etc. sollten angesprochen werden. Nach kurzer Zeit wurde die zentrale Idee geboren, die griffig und machbar erschien und alle mehr oder weniger integrieren konnte: Ein „Neighbourhood Branding“-Ansatz sollte – so die Idee, die auf einer von der Kommune in Auftrag gegebenen Quartiers-Expertise beruhte – die demographische Restrukturierung und die damit verbundene rasche Neuvermarktung größerer Wohnungsbestände im Quartier begleiten. Man versprach sich davon natürlich eine Imagekonsolidierung des 1990er-Jahre-Quartiers, viel positive Öffentlichkeit (kostenlose Werbung) und hoffte gleichzeitig auf einen relativ geringen Aufwand und Mitteleinsatz, falls man alle Interessenten mit verpflichten konnte. Jedenfalls würde dieser Prozess billiger werden als bauliche Maßnahmen und effektiver als Alleingänge. Der Geschäftsführer des ansässigen Wohnungsunternehmens sagte in einem vertraulichen Gespräch im Jahr 2012: „Es geht um Marketing, d. h. kostet nicht viel, tut nicht weh, jeder kann sich damit schmücken. Außerdem ist das Image eines der Hauptprobleme hier. Genau da gehen wir ran.“ Mit einem runden Tisch wurden etwa 40% der Kleineigentümer – Selbstnutzer ebenso wie Kapitalanleger – erreicht. Insgesamt waren unter Einbeziehung des Wohnungsunternehmens somit also etwa zwei Drittel des Quartiersbestands am „Branding“-Prozess beteiligt. Durch das „Branding“, in das die Bewohner konsequent einbezogen wurden, und die begleitende Kommunikationsstrategie konnten neue Zielgruppen erschlossen und Bestandsbewohner mehr an das Quartier gebunden werden. So kam es beispielsweise zu Zuzügen von jüngeren Verwandten von Hochbetagten, also zu einer Komplettierung zerrissener sozialer Konvois. In Kombination mit kostengünstig und niedrigschwellig im Quartier angebotenen Dienstleistungen (z. B. Pflegedienstleistungen, Kinderbetreuung für Familien etc.) war das Wohngebiet für viele Nachfrager „ein guter Deal“ und somit tatsächlich der „ideale Kompromiss“. Auch von der Bezeichnung „Wohnpark Halbinsel F-holz“ rückte man im Rahmen des „Branding“-Prozesses ab. Von vielen Vorschlägen setzte sich die neue Bezeichnung „Wir am Wasser – Quartier F-holz“ durch.
465 und Minimalrisiko
Neighbourhood Branding
Intergenerationale Bewohnerpartiziptaion
Bewertung und Ausblick 2030: Neuer Name, neue Bewohner – „Wir am Wasser – Quartier F-holz“ Eigentlich hatte man erst recht spät die Zeichen der Zeit erkannt und Qualität und sich zum Handeln durchgerungen. Doch die bauliche Qualität und die Lage: gute Lagevorteile des ehemaligen „Wohnparks“ waren im Vergleich unschlagbar
466
Problem Eigentümerstruktur
Intergenerationale Nachbarschaft
Material- und Szenarienanhang
zu anderen Quartieren mit demographischer Überalterung unschlagbare Wettbewerbsfaktoren. Die Eignung der Wohnungen für alle Altersgruppen stellte sich als ideale Voraussetzung für die Bewätigung des demographischen Strukturbruchs heraus. Es waren praktisch keinerlei Investitionen nötig, außer die üblichen Instandsetzungen und Modernisierungen aufgrund Abnutzung und Verschleiß. Ein weiterer Vorteil war es sicherlich, dass das Quartier deutlich kleiner ist als etwa Plattenbausiedlungen (Typ E). Durch die geringe Quartiersgröße wirkte sich der Absorptionsbedarf durch die entstandene Bevölkerungswelle weniger drastisch aus. Ein großer Nachteil war die Eigentümerstruktur. Durch die Kooperation im „Neighbourhood Branding“-Prozess jedoch konnten hier sehr viele Akteure nach ihren Möglichkeiten eingebunden werden, eine Grundvoraussetzung für den Erfolg des ganzen Projekts. Letztlich hat diese „schlanke“ Begleitung der Restrukturierung das Terrain für die Zukunft gesichert. Heute steht das Quartier wieder in voller Blüte, es hat sowohl die beginnende Imageerosion als auch den demographischen Impact überlebt. Die Wohnungen sind nach wie vor wirtschaftlich, sowohl für Mieter als auch für Selbstnutzer, die Ortsbindung ist im Gegensatz zu vielen anderen Quartieren im Jahr 2030 ausgesprochen hoch und das Gebiet wurde als funktionierende intergenerationale Nachbarschaft immer wieder modellhaft herangezogen.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.7
467
Typ G: Wüstenrot
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ G
Tabelle 8: Stärken-Schwächen-Profil Typ G – Wüstenrot
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
o > o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– o o –
o – o o
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Gerade Quartiere vom Typ „Wüstenrot“ zeichnen sich durch homogene Altersstrukturen aus. Man kann davon ausgehen, dass hier in vielen Fällen mehr oder weniger „klassische“ Familienzyklen durchlebt werden. Aufgrund sich wandelnder Infrastrukturansprüche ergibt sich im Umfeld dieser Siedlungen in periodischen Abständen Handlungsbedarf. Was den Generationenübergang der Häuser sowie die Quartiersentwicklungsplanung angeht, wird man für unterschiedliche Phasen des Zyklus ebenfalls zu differierenden Handlungsempfehlungen kommen. Deshalb erschien es hier sinnvoll, ein Szenario für ein demographisch junges (Gj.1) sowie eines für ein demographisch altes Quartier dieses Typs (Ga.2) durchzuspielen. Dabei wurde jeweils angenommen, dass ein allgemeines Interesse an einer geregelten Fortentwicklung der Quartiere besteht.
468 1.7.1
Material- und Szenarienanhang
G-walde (Typ Wüstenrot – Szenario Gj.1: Pro Quartier!)
Modellquartiere: Berlin-Fort Hahneberg, ferner: Essen-Vogelheim
Abbildung 37: Synopse für Szenario Gj.1 Typ
G
Wüstenrot
SzenarioVariante
.1
Pro Quartier!
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: persistent
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
j
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: gehoben
Bausubstanz: meist problemlos
stark differierende Baustile und Bauqualitäten, fast ausschließlich Einzeleigentum, ambivalente Lagequalität, ambivalente Nachbarschaft
+
langfristig aufgewertet , gut gerüstet für die weitere Zukunft
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
469
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Demographischer Wandel und individuelle Wohnträume Der demographische Wandel wurde auch in Modellstadt mehr und mehr spürbar. Zwar nahm – und das konnte als Erfolgsstory Modellstadts gewertet werden – die Gesamtbevölkerung nicht stark ab, die demographische Alterung jedoch war signifikant und führte zu Veränderungen im Markt. Für die Anbieter war die Situation bei durchschnittlich stagnierendem Miet- und Kaufpreisniveau und einer überaus sensiblen Nachfrage keineswegs ideal. In vielen Kommunen jedoch war dies eine typische Ausgangssituation, die vor allem zu einer Mikrodifferenzierung des Wohnungsmarktes führte. In einzelnen schlechteren Lagen traten dauerhafte strukturelle Leerstände auf und es stellte sich vielfach die Frage, wie mit den entsprechenden Quartieren verfahren werden sollte. Im Jahr 2005 jedoch spielten diese Themen im Einfamilienhausquartier G-walde überhaupt keine Rolle. Dort, am Stadtrand, wohnten junge bis mittelalte Familien, die sich hier ihren individuellen Traum des Häuschens im Grünen verwirklichten, ohne die Stadt gänzlich verlassen zu müssen. Alle Häuser waren bewohnt, und es war kein baldiges Ende dieser Situation abzusehen. G-walde geht auf einen Bebauungsplan von Anfang der 1990er Jahre zurück. Diesen stellte die Modellstädter Verwaltung nach einiger Diskussion für ein Wohngebiet mit sehr geringer Dichte auf, auch um der befürchteten weiteren Suburbanisierung an dieser Stelle etwas entgegen zu setzen. Auf dem B-Plan-Areal wohnten bereits einige Menschen in etwas älteren Einfamilienhäusern, bei denen der neue Plan auf Widerstand stieß (z. B. wegen der Straßenbreiten, Grundstücksarrondierungen, Verkehrsbelastung, Erschließungskosten etc.) (E_B16). In diesem Zusammenhang entstand eine Bürgerinitiative (später entstand noch eine zweite, die eine andere Auffassung vertrat als die erste). Typische Nimby-Effekte kamen zum Vorschein (z. B. wg. eines geplanten Kita-Baus), der B-Plan konnte aber nicht verhindert werden. Die Nachfrage war kaum zu bändigen, sodass letztlich die B-Plan-Vorgaben irrelevant waren: „Das Gebiet ist während der B-Plan-Erstellung vollgelaufen. Der B-Plan kam zwei Jahre zu spät“ (E_B16). 2007 gab es praktisch keinerlei Fluktuation, nur noch wenige freie Grundstücke und damit auch kaum noch Bautätigkeit: „Da ist Schluss“ (E_B16). G-berg war also „auf das Gleis gesetzt“, und man konnte davon ausgehen, dass aufgrund des überwiegend selbst genutzten Wohneigentums („Ich habe noch keinen gesehen, der hier weggezogen ist“ [B_BFH1]) nun ein stetiger in-situ-Alterungsprozess einsetzen würde.
Demographischer Wandel und Bevölkerungsstagnation
Gesundes G-walde …
470 … mit in-situAlterung!
Material- und Szenarienanhang
Die Bewohner erwarteten für die Zukunft, dass die restlichen Grundstücke noch verkauft und bebaut würden (B_BFH1, B_BFH2) und ansonsten würde „sich nichts wesentlich verändern“ (B_BFH3).
Sozio-demographische Entwicklung: In-situ-Alterung von Mainstream-Milieus „Wüstenrot“Klientel
Solide Einkommen
Verortete Lebensträume
Intensive Nachbarschaft
Am Jugendquotient von 31 (2005) konnte man bereits ablesen, dass hier viele Familien mit Kindern wohnen mussten, die klassische Klientel für den Quartierstyp „Wüstenrot“. Es handelte sich überwiegend um „Akademikerfamilien (keine Beamten), Mittelschicht, ein bis zwei Kinder im Grundschulalter“, die sich „den Traum vom eigenen Häuschen im Grünen verwirklichen wollen“ (E_B16). Die alteingesessenen Bewohner, die gegen den B-Plan stritten, waren gleichzeitig die etwas Älteren und auch ein „etwas einfacheres Volk“ (E_B16, B_BFH1). Entsprechende Aussagen wurden auch von Bewohnern getroffen: „Gemischt, vom Angestellten bis zum Ingenieur“ (B_BFH2). Es herrschten „typisch bürgerliche Einstellungen“ vor (E_B16), die vor allem durch Mainstream-Milieus („Bürgerliche Mitte“ und „Konsum-Materialisten“) und rund ein Fünftel gesellschaftlicher Leitmilieus (v. a. „Moderne Performer“) geprägt wurden (vhw, Sinus/Mosaic 2005). Die Einkommen waren entsprechend solide und die Arbeitslosigkeit niedrig. Der Migrantenanteil war gering, dennoch war es bemerkenswert, dass einige Mittelschicht-Haushalte mit migrantischen Hintergrund im Quartier Wohneigentum gebildet hatten. Obwohl viele erst in den 1990er Jahren zugezogen waren, war die Ortsbindung der Bewohner aufgrund der ausgeprägten Selbstverwirklichungstendenz, die in den Eigenheimen erkennbar war, groß. Viele Leute wollten sich hier den Traum ihres Lebens buchstäblich verorten: „Wenn das gesundheitlich klappt, will ich hier bleiben“ (B_BFH1). Durch die Bürgerinitiativen entstand ein intensiver nachbarschaftlicher Austausch, insbesondere zu den Zeiten, als es „gegen [Modellstadt]“ und „gegen den Bebauungsplan“ ging: „Das schweißte die Leute zusammen“ (E_B16). So erklärten interviewte Bewohner: „Wir feiern zusammen, sehr gute Nachbarschaft. Keine Konflikte“ (B_BFH1) oder: „Mal ein gemeinsames Grillen“ (Bewohnerinterview BFH2). Doch eine hohe soziale Intensität hat oft auch ihre Schattenseiten: In den 2000er Jahren änderte sich die nachbarschaftliche Atmosphäre zunehmend. Streitigkeiten „à la Maschendrahtzaun“ waren an der Tagesordnung und teilweise übernahmen Anwälte die nachbarschaftliche Kommunikation („die zweite Stufe“, „der Klassiker“ [E_B16]).
471
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Abbildung 38: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp G Typ II: Zuwanderung, bimodal, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Fort Hahneberg)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Abbildung 39: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp G (hier: Modellquartier Fort Hahneberg, Kerngebiet, TVZ 03734, Angaben in %, 2005) 1,2
EXP
6,3
HED
45,1
MAT 22,6
BÜM DDR
0,0
TRA
0,0
KON
0,5 17,1
PER 7,2
PMA ETB
0,0 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
60,0
472
Material- und Szenarienanhang
Die Nachbarschaft war also phasenweise – zumindest für ein Quartier dieses Charakters – als intensiv, aber eher konflikthaft zu bezeichnen. Eine Bewohnerin berichtete auch von kleinen Konflikten, die sich einvernehmlich lösen ließen: „Wir haben uns zusammengesetzt und konnten das ohne Rechtsanwalt lösen. Meiner Ansicht nach alles Lappalien“ (B_BFH2). Die Modellstädter Verwaltung erwartete 2007 keine Fluktuation Fluktuation im Quartier, auch nicht in der Zukunft. Die Kinder, die 2007 praktisch = Null = Demographi- durchweg im Grundschulalter waren, würden ebenfalls wie die Eltern studieren und nicht wieder ins elterliche Haus zurückkommen wollen, sche Welle so hieß es: „Das Gebiet wird klassisch überaltern“ (E_B16). Probleme würden zunächst im Bereich der Mobilität und der Nahversorgung auftreten. 2007 sei das Quartier völlig auf motorisierten Individualverkehr ausgerichtet, aber auch das sei nicht ausreichend. Schon in 10 Jahren (also 2017), wenn die aktuellen Kinder 18 wären und Partys feiern wollten, würden die Parkmöglichkeiten knapp werden und neue Nachbarschaftskonflikte aufkeimen, so der Experte aus der Verwaltung (E_B16). Und tatsächlich: Seit den 2010er Jahren begann sich das Bild all„empty mählich zu wandeln. Die ersten Kinder zogen aus, die ersten „emptynests“ nest“-Haushalte entstanden, die „jungen Senioren“ unter den Bewohnern nahmen stark zu. All dies war zu diesem Zeitpunkt noch völlig problemlos, im Gegenteil: Die „empty-nester“ verfügten über steigende Einkommen (fortgeschrittene Karrieren, Erbschaften) bei gleichzeitig sinkenden Ausgaben (abbezahlte Hypotheken, erwachsene Kinder). Im Jahr 2020 hätte man sich über das Quartier ggf. bereits wegen einer bevorstehenden demographischen Welle akute Sorgen machen müssen – die G-walder Geschichte war jedoch eine andere, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Last Exit „Maschendrahtzaun“
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Wenig Dynamik bei suboptimalen Grundstrukturen Ruhige Stadt- Als eine Stärke des Quartiers galt bei Experten die Modellstädter Stadtrandlage, die „attraktiver als eine x-beliebige Umlandlage im randlage Speckgürtel ist“ (E_B16). Zuzügler um die Jahrtausendwende schätzten den Quartierscharakter einer „ruhigen Waldsiedlung“ (B_BFH1, B_BFH2, E_B16), quasi als ultimative Verwirklichung des Ideals „Wohnen im Grünen“. Die ruhige Stadtrandlage hatte aber auch Nachteile. So mussten Infrastrukturdie G-walder jahrelang mit einer schlechten ÖV-Anbindung vorlieb defizite nehmen und blieben damit abhängig vom Auto. Für viele war eine
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
ÖV-Anbindung aber auch gar keine Option: „Wir fahren nur mit dem Auto. Nahverkehr? Keine Ahnung“ (B_BFH3). Nahversorgung und soziale Infrastruktur waren zwar in einem Mindestmaß existent, aber durchaus auch Gegenstand von Kritik (E_B16): Eine Bewohnerin konnte sich beispielsweise gut vorstellen, wegen der kürzeren Wege und der Nähe zu Ärzten als Rentnerin wieder weiter in die Stadt zu ziehen (B_BFH2). Letztlich war es die mangelnde Urbanität, die zunächst die Familien anzog und einige in späteren Lebenszyklen am Quartier störte. Die städtebauliche Qualität von G-walde (von einem Beratungsunternehmen in einem Gutachten einst als „Wildschweinsiedlung“ bezeichnet, weil hier die verschiedensten und auch zum Teil skurrile Baustile zusammengewürfelt wurden) wurde von vielen kritisch betrachtet, insbesondere von potenziellen Nachfragern nach Häusern im Quartier. Maklerunternehmen monierten, man könne theoretisch die Grundstücke prima verkaufen, nicht aber die darauf stehenden Gebäude (E_B24). Doch nicht nur die Vielfalt an Architekturen und Baustilen vom Schwarzwaldhaus bis zur Schwedenvilla war das Problem, sondern auch die Bauqualität. Bei manchen Häusern in G-walde entstand aufgrund der schlechten Bausubstanz und der Kontamination von Fertighäusern mit den Jahren ein erheblicher Sanierungsbedarf. Alles in allem drohte dies in einem ernsthaften Problem zu münden, nämlich einer Wirkungskette aus fehlender Ersatznachfrage und hohen Wertverlusten bei überhöhten Werterwartungen (Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008).
473
Vom Schwarzwaldhaus zur Schwedenvilla: Kritik der (städte-) baulichen Qualität
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: „Modellquartier Wüstenrot 2.0“ und „Zukunftsplan G-walde 2040“ Da der Modellstädter Wohnungsmarkt auf längere Sicht kaum noch „Selbstläufer“ hervorbringen würde, hatte bei den lokalen Akteuren ein Umdenken stattgefunden. Quartiers- und Demographieorientierung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit waren für die Kommunen (aber auch für einige Wohnungsunternehmen) inzwischen Teil ihrer strategischen, proaktiven Planungen geworden. Schwer steuerbare Situationen sollten nach Kräften auch in ferner Zukunft vermieden werden. Seit 2020 wurde die Modellstädter Stadtentwicklungsbehörde aktiv. In einem Pilotprojekt sollte am Beispiel G-walde ausgelotet werden, inwieweit Einfamilienhausquartiere mit vielen Einzeleigentümern durch neue Steuerungsinstrumente und innovative Maßnahmen vor strukturellen Brüchen bewahrt werden könnten. „Das Quar-
Umdenken der Kommune
Pilotprojekt G-walde
474
SzenarioWorkshop
„Architektonische Stilblüten“ … … führen zu Schlagzeilen
Handlungskonzept „Modellquartier Wüstenrot 2.0“
Material- und Szenarienanhang
tier braucht Unterstützung, auch wenn es derzeit nicht den Anschein hat“, ließ der Modellstädter Bauderzernent verlauten. Eine schon 2007/2008 befragte Delphi-Expertengruppe, die sich auch mit diesem Quartierstyp befasste, hob hervor, dass Einfamilienhaussiedlungen wie G-walde ein Potenzial hätten, wenn zukunftsorientierte städtebauliche Strukturen realisiert würden. Aber was konnte das im Falle von G-walde bedeuten? Die kommunalen Vertreter holten sich einen Projektentwickler und Immobilienmakler, der im Gebiet lange Jahre sehr aktiv war, an den Tisch, darüber hinaus die Selbstständige Handelsvertretung der FERTIG-Haus GmbH, die Einzelhändler aus der näheren Umgebung und vor allem die Hauseigentümer aus G-walde: Selbstnutzende Wohneigentümer, ein neu gegründeter Anwohner-Eigentümerverein, beauftragte Notare etc. Mittels der Szenariomethode wurde in einem Workshop u. a. folgendes Szenario für G-walde umrissen: „Familie 2000, Senioren 2030 – und dann? G-walde war ein solides, junges Quartier, welches nach der Wende am Modellstädter Stadtrand entstand und sich einer hohen Nachfrage erfreute. Nachdem der B-Plan endlich festgesetzt war, schenkte die Modellstädter Verwaltung der klassischen Einfamilienhaus-,Wildschwein‘-Siedlung, in der viele Einzeleigentümer individuell gebaut hatten, nur wenig Aufmerksamkeit – verständlicher Weise. Dennoch ist heute, im Jahr 2020, eine Situation aufgetreten, die man 20 Jahre zuvor bereits in den Einfamilienhaus-Gebieten der 1970er Jahren erlebt hatte. Plötzlich kamen alte, baulich nicht mehr attraktive Einfamilienhäuser in allen Stilvarianten zwischen ,Schwarzwaldhaus‘, ,Bungalow‘ und ,American Dream‘ in relativ großer Zahl und relativ kurzer Zeit auf den Markt. Dieser Markt reagiert nun heute auch hier überfordert. Woher soll bei einer immer stärker zurückgehenden Anzahl von Familienhaushalten die Nachfrage kommen? Wer hat ein Interesse daran, architektonische Stilblüten zu erwerben? Zwar sind die Grundstücke nach wie vor attraktiv, aber die Immobilien stellen sich als eine schwere Entwicklungshypothek heraus.“ Dieses Negativ-Szenario machte Schlagzeilen in der Modellstädter Presse – und führte dazu, dass nun frühzeitig gehandelt wurde. Auf der Basis von Untersuchungen des gesamten Haus- und Wohnungsbestands wurde in einem dreijährigen Prozess ein gemeinsames Handlungskonzept „Modellquartier Wüstenrot 2.0“ erarbeitet (Ziele: Aufwertung des Stadtteils, stärkere Durchmischung der Bewohner, Familien- und altengerechte Strukturen weiter fördern etc.). Darauf aufbauend wurden Grundsatzstrategien für den gesamten Stadtteil entwickelt. Nicht zuletzt strebte man eine enge Zusammenarbeit aller Akteure (wie Politiker, Kirche, Vereine, öffentliche Einrichtungen etc.) an. Die Initiatorin des Projekts – die Modellstädter Verwaltung –
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
wurde auch selbst zum Ziel von Forderungen seitens der Eigentümer. U. a. wurde die Verlegung von Zufahrten, der Erhalt der Versorgungssituation an Schulen und Kitas, die Aufwertung der Musterstraße sowie der Aufbau eines Stadtteilbüros verlangt. Im Rathaus war man jedoch durchaus offen für diese Ideen, wenngleich auch hier keine unbegrenzten Mittel zur Verfügung standen und nach kreativen Kompromissen gesucht wurde. Nach einem Jahr keineswegs konfliktfreier, aber lösungsorientierter Veranstaltungen (Workshops, Konferenzen, Planungszellen etc.) kristallisierte sich eine wohnungswirtschaftliche Strategie heraus, der „Zukunftsplan G-walde 2040“, ratifiziert auf der abschließenden großen Quartierskonferenz. In diesem Plan ging es zum einen um (städte-)bauliche Maßnahmen (für die akut nicht genügend Geld, aber ein hinreichend langer Verwirklichungszeitraum vorhanden war), etwa um die Verbesserung der Wegesituation, Verschönerung von Plätzen, Quartiersmöblierung und infrastrukturelle Maßnahmen. Zum anderen ging es auch darum, soziale Infrastruktur für verschiedene Zielgruppen möglichst effizient (z. T. mobil) vorzuhalten. Der dritte Teil des Plans war eine Marketingstrategie für das gesamte Quartier. Weil es keinen Großeigentümer gab, der ein solches Interesse von sich aus verfolgt hätte, wollte man den Einzeleigentümern Anreize schaffen, daran aktiv mitzuwirken. In Informationsveranstaltungen wurde z. B. darüber aufgeklärt, welche Verkaufschancen unterschiedliche Objekte in 20 Jahren haben würden etc. Die Hausbesitzer, die meist ihre Häuser ohne finanzielle Langfristplanung gekauft hatten („zur Alterssicherung“) wurden mit den konkreten Marktbedingungen einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft und damit mit der Gefahr der Entwertung ihrer Immobilie (auch für die Erben) konfrontiert. Auch waren Vermietungen im Quartier bislang unüblich. Man war sich einig, dass hierin ein Potenzial liegen musste, insbesondere bei günstigen Mietpreisen. Am Ende eines langen Prozesses entstand der „Marketingfonds G-walde (MfG)“, der später stadtweit als „Marketingfonds für Quartiere mit Einzeleigentum (MfQ)“, ansässig bei der Stadtentwicklungsbehörde, adaptiert wurde. Alle Eigentümer vor Ort zahlten nach einem festgelegten Einkommensschlüssel einen MfG-Jahresbeitrag. Das Startkapital kam von der Kommune. Aus dem Fondsvermögen wurde das Quartier stadtweit als sozialräumliche Identität vermarktet. Wenn Häuser auf den Markt kamen, wurden seitens des Fonds Vermarktungsoptionen und Zielgruppenkonzepte angeboten. Gleichzeitig öffnete man sich direkt als Suchplattform Nachfragern, die sich mit der Absicht trugen, ein gebrauchtes Eigenheim zu erwerben. Es wurden Kontakte zu Architekten, Landschaftsgärtnern, Maklern etc. vermittelt. Der Fonds – begleitet durch ein großes Medienecho – er-
475
„Zukunftsplan G-walde 2040“
Was ist mein Haus wirklich wert?
„Marketingfonds G-walde (MfG)“
Quartiersvermarktung
476
Vermietungsoption
Vorgezogene Umzüge als „AntiImpact“Taktik
Material- und Szenarienanhang
freute sich sofort großer Beliebtheit, denn der Wunsch nach dauerhafter Bleibe als Rückzugsoase in der globalisierten Welt wurde bei den Menschen immer dringlicher. Dabei stand zwar mehr und mehr das eher städtische „Quartier der kurzen Wege“ im Mittelpunkt, eine Präferenz, für die G-walde am Stadtrand jedoch durchaus einen Kompromiss darstellte. Protagonisten dieser Nachfrageverschiebung waren nicht nur junge kinderlose Haushalte wie noch um die Jahrtausendwende. Vielmehr ging das Nachfragepotenzial quer durch alle Bevölkerungsgruppen: Beteiligt waren die inzwischen selten gewordenen Familien, „empty-nest“Haushalte, Senioren und Hochbetagte, die ihren sozialen Konvois folgten. Durch die Neigung zur Persistenz im Quartier konnten sich das lokale Sozialkapital und die Ortsbindung erhöhen und das Quartier stabilisieren. Der Fonds war besonders interessant für die Vermietung von Häusern. Dabei sollten die Häuser mit Vermietungsoption in drei Gruppen differenziert werden: Ein Teil des Bestandes sollte zu geringen Mieten einfach instand gehalten werden. Ein weiterer Teil sollte aufwendiger modernisiert werden, dies jedoch bei entsprechenden Mieten. Dabei sollte das Angebot von Einliegerwohnungen und alternativen Wohnformen (Wohngemeinschaften etc.) erweitert werden. Unter anderem schaffte man auch Anreize für Senioren, ihre zu großen Häuser bereits frühzeitig am Markt anzubieten und in nahegelegene, attraktivere Mehrfamilienhäuser aus den 1990er Jahren mit betreutem Wohnen umzuziehen – vorgezogene Umzüge entschärften die Effekte der demographischen Welle. Die zentrale Vermarktung mit Quartiersbezug übernahm der Fonds, sofern das vom Eigentümer gewünscht war. Darüber hinaus wurden Pläne eines Investors, eine nahegelegene Brachfläche zu einem Golfplatz umzunutzen, seitens der Modellstädter Verwaltung unterstützt, die das als Zukunftspotenzial für G-walde und weitere benachbarte Quartiere sah. Dadurch werde das Gebiet „immer attraktiv bleiben“ (E_B16).
Bewertung und Ausblick 2030: Vorausschauendes Handeln beschert G-walde glänzende Zukunft In G-walde gab es über zwei Jahrzehnte hinweg keine nennenswerte Fluktuation und auch keine Leerstände. Dennoch hatte sich die Modellstädter Verwaltung dieses Quartiers speziell angenommen. Zwar gab es von Anfang an Gegenstimmen, die zu Bedenken gaben, die gegebene Altersstruktur führe eher zu einem langsamen Ausdünnen als zu demographischen Wellen, und man solle sich voll und ganz auf die
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
problematischsten Modellstädter Quartiere konzentrieren. Andere jedoch behaupteten, eine „klassische Überalterung“ sei hier ebenso vorprogrammiert wie ein späterer, möglicher Weise drastischer Quartierswandel mit völlig offenem Ausgang. Im Sinne einer vorausschauenden, flexiblen Stadtentwicklungsplanung wurde das Gebiet unter Einbeziehung aller relevanten Akteure zum „Modellquartier Wüstenrot 2.0“ gemacht. Damit wurde der Versuch unternommen, den demographischen Wandel aktiv zu gestalten als ihn über sich ergehen zu lassen, um am Ende festzustellen, was vom Quartier übrig geblieben wäre. In G-walde gelang jedoch noch viel mehr: Hier wurde ein Quartier durch eine Mischung aus kleinteiliger dezentraler Modernisierungstätigkeit und zentraler Koordination kontinuierlich weiter entwickelt, für neue Märkte qualifiziert und diversifiziert. Dies war vor allem eine Moderationsaufgabe, die in diesem Fall durch Beharrlichkeit und Geduld zum Erfolg geführt hat. Heute, im Jahr 2030, ist G-walde gut aufgestellt: Es herrscht eine recht heterogene Altersstruktur, so dass man fast von einer Mehrgenerationennachbarschaft sprechen kann. Die meisten Gebäude sind über die Jahre aus privaten Rücklagen modernisiert, zum Teil auch stark umgebaut worden und entsprechen zumindest überwiegend dem, was die zeitgenössische Nachfrage wünscht. Das Quartier hat ein gutes Image und die Nachbarschaftsverhältnisse hatten sich nicht zuletzt durch die starke Partizipation der Bewohner in der Quartiersentwicklung der letzten 15 Jahre gefestigt. Was „Sozialkapital“ bedeutet, wird einem heute in G-walde vorgelebt.
477
Proaktiver Gestaltungswille
Heterogene Altersstruktur Gutes Image
Wachsendes Sozialkapital
478 1.7.2
Material- und Szenarienanhang
G-heim (Typ Wüstenrot – Szenario Ga.2: Pro Quartier?)
Modellquartiere: Essen-Fulerum-Haarzopf, ferner: Essen-Überruhr-Hinsel
Abbildung 40: Synopse für Szenario Ga.2 Typ
G
Wüstenrot
SzenarioVariante
.2
Pro Quartier?
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: mobil
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: gehoben
Bausubstanz: heterogen
Periphere Lage, Umfelddefizite, Organisations- und Entscheidungsschwäche der Akteure, massive demographische Welle, Leerstände und fehlende Ersatznachfrage
–
Suboptimale Entwickung, „Problemquartier G-heim“, Abwertung
479
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Unauffälliges Nachkriegsquartier Modellstadt schwankte zwischen Nullwachstum und Schrumpfung bei gleichzeitiger Überalterung. Aus dieser Situation heraus entstand ein relativ dynamischer Nachfragermarkt. Die Anbieter hatten sich schon bald auf eine dauerhaft schleppende bis mäßige, qualitätsbewusste Nachfrage einzustellen. In vielen Kommunen war dies eine typische Ausgangssituation, die vor allem zu einer Mikrodifferenzierung des Wohnungsmarktes führte. Einzelne Lagen und/oder Quartierstypen waren durch strukturellen Leerstand bedroht. Das Quartier G-heim geht auf einen mittelalterlichen Dorfkern zurück und war lange Zeit landwirtschaftlich geprägt. 1932 wurde hier die Siedlung „Selbstlos“ vor allem durch Eigenarbeit der Siedler verwirklicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg war G-heim nur noch ein Torso. Erst in den späten 1960er Jahren entstand die Einfamilienhaussiedlung G-heim im Rahmen einer Neuordung der Modellstädter Flächennutzungsplanung als klassische B-Plan-Siedlung, die sich nach und nach mit Architektenhäusern, zunehmend aber auch Fertighäusern gefüllt hatte. Neben der „Selbstlos“ eG, die über einigen Grundbesitz verfügte und eine kleine Reihenhaus-Projektentwicklung im Quartier realisierte, gab es noch den Bürgerverein G-heim e.V., in dem sich engagierte Anwohner austauschten. Ansonsten wohnten im Quartier fast ausschließlich selbstnutzende Einzeleigentümer. G-heim, seit jeher solide und problemlos, stand nach der B-Plan-Aufstellung kaum noch im Fokus stadtentwicklungspolitischer Überlegungen.
Stagnation und Nachfragermarkt
1960erJahre-Einfamilienhaussiedlung: solide und problemlos
Sozio-demographische Entwicklung: Haupttrend demographische Alterung Im Modellstädter „Quartiersmonitoring“ erhielt G-heim 2004 den so- Woopiezialen Rang „hoch“ – bei unterdurchschnittlichem Arbeitslosenanteil Quartier (um 5%), geringem Migrantenanteil (um 2,5%) und niedrigem Jugendquotient (um 10). Das Quartier wurde als Sozialraum-Typ V eingestuft, der vor allem ältere, wohlhabende Bewohner umfasste („Woopies“). Die Nachbarn wurden im Interview als Besserverdiener und Bildungsbürger („z. B. Lehrer“) bezeichnet (B_EFH2). „Hier wohnen normale Leute, keine ‚Reichen’“ (B_EFH3). Diese Struktur war natürlich auch abhängig vom Entwicklungspfad des Quartiers und somit wenig überraschend: „Die Leute in [G-heim] sind überwiegend älter, denn ein Großteil der Siedlung ist in den 60er Jahren ge-
480
Kollektive Alterung
Abbildung 41:
Material- und Szenarienanhang
baut worden – die Leute wohnen größtenteils noch da drin, manchmal auch schon die Kinder. […] [Im benachbarten] [G-walde] wurde […] später gebaut, die sind […] jünger“ (B_EÜ2). Eine weitere, 2007 interviewte Bewohnerin, die heute in [B-lage (Typ „Utopie“)] lebt, war in G-heim aufgewachsen und stellte fest: „Das ist so dort: In den 60er Jahren war das alles jung, jetzt sind sie alle alt geworden“ (B_EM3). Diese Bewohneraussagen werden durch den damaligen Altenquotienten von 0,44 bestätigt (vgl. Abbildung 41). Entsprechende Lebensstile waren hier auch vertreten: Die inzwischen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft in dieser Form kaum noch nachweisbaren „traditionellen Milieus“ und verschiedene „Mainstream-Milieus“ waren hier schwerpunktmäßig versammelt (vhw, Sinus/Mosaic 2005, vgl. Abbildung 42). Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp G Typ 0:ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Fulerum-Haarzopf)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Starke lokale Identifikation und hohes SozialkapitalVolumen
Damit war auch zu erklären, warum in Bewohnerinterviews seinerzeit eine hohe Ortsbindung und gute Kenntnisse der lokalen Situation vermittelt wurden (B_EFH1, B_EFH2). Ein im Stadtteil 1968 geborener Interviewpartner konstatierte, dass er, wenn er einmal umzöge, dies auf jeden Fall in G-heim tun würde (B_EFH2). In den Resten der alten Siedlung „Selbstlos“ war die Ortsbindung besonders hoch: „Ich wohne hier sogar lieber als ich das in [B-berge (Typ „Utopie“) oder F-viertel
481
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
(Typ „Postmoderne“)] täte“ (B_EFH3). Auch die Nachbarschaftsverhältnisse waren relativ eng: Im Stadtteil-Kurzporträt von Modellstadt wurde auf eine „intensive Vereinsarbeit mit lokalen Veranstaltungen“ in G-heim hingewiesen, was auf mehr oder weniger dichte Netzwerke und lokales Sozialkapital sowie die Arbeit des oben angesprochenen Bürgervereins hindeutete. Zwischen Alteingesessenen und den (wenigen) Zuzüglern gab es offenbar kaum Kontakte (B_EFH1). Abbildung 42: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp F (hier: Modellquartier Fulerum-Haarzopf, ST 15, 28, Angaben in %, 2005) 2,4
EXP
0,0
HED MAT
4,4 29,8
BÜM 0,0
DDR
31,4
TRA 15,5
KON PER
2,8 8,7
PMA 5,0
ETB 0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
In G-heim dachte man nicht über Veränderungen nach, zumal dort Demographiauch 2007 noch alles war „wie immer“. Das demographisch überalter- sche Welle te Quartier, das aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur entgegen dem allgemeinen Trend mit die geringste Fluktuation in ganz Modellstadt hatte, wurde etwa ab 2015 von einer demographischen Welle erfasst. Zwar hatte das jeder „irgendwie gewusst“, aber niemand war vorbereitet.
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Ruinös G-heim hatte als Quartier durchaus Stärken vorzuweisen. So war die Gute LageLagequalität vergleichsweise gut, da es sich noch innerhalb der Stadt- qualität …
482
Material- und Szenarienanhang
grenzen befand und eine akzeptable Anbindung an die Innenstadt besaß. Der ausgesprochen ländliche Charakter (also gerade das Fehlen von Urbanität), das (im Prinzip) kinderfreundliche Umfeld, die grüne Idylle, die Ruhe und die „Abgelegenheit“ (B_EFH2) wurden immer wieder besonders betont. In Bewohnerinterviews wurde 2007 eine hohe Wohnzufriedenheit festgestellt (B_EFH1, B_EFH2, B_EFH3). … aber auch Dies hätte jedoch nicht über die eklatanten Defizite hinwegtäueklatante schen dürfen. Das „grüne Idyll“ wurde erkauft durch eine vergleichsStandortweise schlechte ÖV-Anbindung bzw. die dauerhafte Abhängigkeit der nachteile Bewohner vom Auto. Zum Teil wurden schon 2007 die geringen Busfrequenzen beklagt oder auch, dass Zeitungen aufgrund der geringen Siedlungsdichte und langen Wege nur per Post, nicht aber morgens per Boten geliefert würden (B_EFH1). Weiterhin wies das Wohnumfeld Defizite auf, z. B. hinsichtlich der Nahversorgung oder der Zahl der verfügbaren Parkplätze. Darüber hinaus fehlten schon früh Angebote für Kinder und Jugendliche. Die Kirchengemeinde hatte ihr Angebot für diese Zielgruppe mangels Nachfrage stark ausdünnen müssen (B_EFH1). Ohne dieses Angebot entstand aber auch keine Ersatznachfrage mehr. Aber die Lage und das defizitäre Wohnumfeld waren sicherlich nicht die Hauptprobleme. Erst in der Kombination mit dem Gebäude„Gesamtbestand stimmte – jedenfalls für potenzielle, wählerische Nachfrager paket – das „Gesamtpaket G-heim“ nicht mehr. Manche Häuser verfielen in G-heim“ – den 2010er Jahren zunehmend. Ein enormer Sanierungsbedarf entkein guter stand für Immobilien, die sich architektonisch ohnehin keiner großen Deal Beliebtheit bei nachrückenden Haushalten erfreute. Dazu kamen punktuell noch Kontaminationen von Fertighäusern aus den frühen 1970er Jahren, die eine Modernisierung fast unmöglich machten. Zu dem tristen Gesamteindruck trug auch die fehlende städtebauliche Qualität bei: Auf einem schlichten B-Plan ohne Gestaltungsauflagen beruhend, konnten sich die Nutzer individuell „austoben“, was zu teilweise bizarren städtebaulichen Situationen führte. Nur in der kleinen Reihenhaussiedlung war dies nicht der Fall. Hier – ganz anders als in vielen anderen Fällen – empfand man die Reihenhausmonotonie als geradezu wohltuend. Einige Bewohner stellten im Interview heraus, dass sie die Nachbarschaft als zu weitmaschig empfanden, andere beklagten sich über das fehlende Sicherheitsgefühl (B_EFH1). Hinsichtlich baulicher Aktivitäten war G-heim alles andere als dy„Gefangenennamisch. Natürlich riss keiner der Eigenheimbesitzer sein Haus ab dilemma“: oder baute ein weiteres. Es kam jedoch häufig zu An- und Umbauten Widerstand im Bestand. Viele der Bewohner hatten Angst, dass rund um G-heim gegen Baulandauswei- neues Bauland ausgewiesen würde. Man fürchtete um die idyllische Ruhe, eine typische Gefangenendilemma-Situation, in der das indivisungen
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
483
duelle Zurückstecken hinsichtlich Baulärm und potenzieller neuer Nachbarn das Wohl aller befördert hätte. Aber dazu kam es nicht, zumal es auch an planerischer Weitsicht und Durchsetzungskraft fehlte. Die demographische Welle machte ab 2015 aus Häusern Ruinen. DemographiInnerhalb von fünf Jahren stieg der Anteil leer stehender Einfamilien- sche Welle häuser von drei auf über 20 % mit rasch steigender Tendenz, d. h. jedes fünfte Haus und bald schon jedes vierte stand leer. Es gab keine Straße mehr, die nicht davon betroffen war.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: „irgendwie proaktiv“ An Programmatik und Ideen mangelte es in Modellstadt nicht. Man hatte keine Berührungsängste, saß an runden Tischen zusammen. Die Modellstädter Verwaltung wollte „irgendwie proaktiv“ handeln. Die zersplitterte Eigentümerseite von G-heim war zwar „willig“, aber machtlos. Es gab keinen Sprecher, keine Organisation, mit Hilfe derer man die Interessen hätte bündeln können. G-heim war ein Diskursund Organisationsproblem. Den kommunalen Worten folgten demnach kaum Taten. Mangels Bauflächenausweisung und Neubaumöglichkeiten konnte sich das Gebiet nicht kontinuierlich weiterentwickeln und verjüngen. Der einzige, eigentlich richtige Versuch Modellstadts, das Areal um die zentrale G-heimer Landstraße neu zu gestalten, geriet zu einer Lokalposse. Schon früh wurde eine Schneise freigelegt und dafür die bestehende (marode) Wohnbebauung abgerissen. Neben einer neuen Fahrtrasse, die als abgesperrtes Erschließungsprovisorium verlegt wurde, war eigentlich geplant, das Areal neu mit Häusern und 400 Wohnungen zu bebauen (B_EFH1, B_EFH2). Der B-Plan existierte bereits und die kommenden Probleme des Quartiers wurden durchaus erkannt. Die „Grünen“ z. B. sahen die neu geplante Wohnbebauung kritisch, merkten aber an, dass zur langfristigen Stabilisierung des überalterten Quartiers ein Neubaubedarf bestehe. Es wurde zwischen 2008 und 2015 viel darüber diskutiert in Modellstadt. Investoren kamen – und verschwanden nach komplizierten und langwierigen Verhandlungen mit den Behörden wieder. Niemand nahm dieses Projekt in die Hand und versuchte es aktiv voranzubringen. Die Neubebauung ließ auf sich warten, das Areal verwilderte. Einzelinteressenten fehlte die Vorstellungskraft, zu „Inkubatoren“ inmitten dieser verrottenden Planungsidee werden zu können und ihr Wohnglück zu finden. Die zentrale Fläche G-heims verkümmerte durch halbherziges Handeln und Passivität und war gleichzeitig
G-heim als Organisationsproblem
Lokalposse „Projekt G-heimer Landstraße“
Verrottete Planungsidee: Ein Fanal für den Niedergang
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Material- und Szenarienanhang
ein Fanal für den Niedergang des gesamten, einst problemlosen und wohlhabenden Quartiers. G-heim wurde zunehmend zu einer Altenenklave – mit alten Seilschaften, vergammelnden Spielplätzen, renovierungsbedürftigen und altmodischen Häusern. Das Problem der Zusatznachfrage löste sich darüber hinaus nicht von selbst: Die Konkurrenz der Quartiere in Konkurrenz Modellstadt war beträchtlich, die Attraktivität G-heims für jüngere der Zielgruppen war ebenso gering wie für ältere Nachfrager. Dass das Quartiere Quartier nun mehr oder weniger „als Ganzes“ vom Markt absorbiert werden konnte, war ausgesprochen unwahrscheinlich. Aber auch eine Teilabsorption erschien als ganz besonders schwierig, weil die Entwicklung des Gesamtquartiers nicht gesichert schien – und wer wollte sich schon ein Haus von vorgestern in einem Quartier ohne Zukunft zulegen? Gerade in den Mittel- und Oberschichthaushalten hatte sich das Image G-heims zunehmend verschlechtert. Viele G-heimer wollten oder konnten ihre zum Teil mit Hypotheken belasteten Häuser Imageauch gar nicht verkaufen. Die Wertverluste waren enorm und die verschlechte- Werterwartungen überhöht. Vermietungen der Häuser war bis in die rung und 2020er Jahre hinein eher unüblich. Dies zu fördern hätte ein Ausweg Wertverluste aus der Misere sein können. Auch die nachfolgende Erbengeneration hatte zu selten Interesse daran, die altmodischen, abgelegenen Häusern ihrer Eltern selbst zu Erbengenebewohnen: Notwendige Umbauten oder gar Abriss und Neubau erration mit schien vielen als zu aufwendig. Die elterlichen Immobilien sollten in differierender Regel zu Geld gemacht werden – allein: Es fehlte ein lukrativer den WohnMarkt für diese Produkte aus einer anderen Zeit. So wurden die präferenzen Häuser zunehmend sogar zu einer Erblast. Nachdem in den 2010er Jahren das Unheil seinen Lauf nahm, blieb auch in der Folgezeit die Ersatznachfrage weitgehend aus. In den 2020er Jahren verschlimmerte sich die Situation noch weiter. ZwangsNiedergang versteigerungen, Neuzuzügler, die im Quartier „keiner wollte“ und weiter steigende Leerstände waren die Folge. 2026 wurde G-heim zum „Sozialer Stadtumbau“-Gebiet deklariert und stieg damit in der Prioritätenliste der Stadtentwicklungsbehörde ganz nach oben – mindestens 15 Jahre zu spät.
Bewertung und Ausblick 2030: „Problemquartier G-heim“ Verpasste Chancen
Hätte man früher reagiert, wäre es möglich gewesen alte soziale Strukturen behutsam abzulösen. G-heim war in Modellstadt schon immer als ruhige, gehobenere Wohngegend mit positivem Image bekannt. Man hätte die verfügbaren Erweiterungs- und Verdichtungs-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
potenziale gezielt auch Projektentwicklern und Einzelbauherren öffnen können. Lücken und Arrondierungen hätten allmählich bebaut werden können, zum Teil kostengünstig, um „Schwellenhaushalte“ anzusprechen. Dadurch wäre ein stetiger Austausch der Nachbarschaft entstanden, zumal immer mehr ältere Bewohner starben. Aufgrund der sichtbaren Dynamik im Quartier wären doch manche Kinder in die Elternhäuser gezogen, einiges jedoch hätte auch auf den freien Markt kommen müssen und nicht alles angesichts der Konkurrenz von Neubauten problemlos verkaufen oder vermieten lassen. Dennoch hätte man auch heute, im Jahr 2030 sagen können: G-heim ist und bleibt ein attraktives, flexibles Quartier in Modellstadt – leider nur ein Szenario.
485
486 1.8
Material- und Szenarienanhang
Typ H: Village Revisited
Faktorqualität: weiß = meist gut, grau = teils/teils, schwarz = meist problematisch Proaktives Veränderungspotenzial:+ = eher groß, o = teils/teils, – = eher gering „Demographisches Risiko“: < unterͲ/ > überdurchschnittlich
Typ H
Tabelle 9: Stärken-Schwächen-Profil Typ H – Village Revisited
SozioͲdemographische Faktoren Demographische Ausgangssituation „Demographisches Risiko“ insgesamt Sozialstruktur Lokales Sozialkapital (auch Ortsbindung)
o < o +
PhysischͲbauliche Faktoren Lage (stadträumlich) Qualität von Wohnumfeld und Städtebau (SeniorenͲund/oder FamilienfreundͲ lichkeit, Aufenthaltsqualität) Infrastrukturausstattung (u.a. soziale Infrastruktur, Nahversorgung, Verkehr) Qualität der Bausubstanz (Modernisierungsgrad, Energieeffizienz) Immobilienökonomische Faktoren Eigentümerstruktur Lokaler Wohnungsmarkt und Vermarktung Image (extern) Zielgruppenadaptivität (Flexibilität der Wohngrundrisse, Funktionalität, VariabiliͲ tät für unterschiedliche LebensstilͲund Haushaltstypen)
– + o +
o o o +
Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008
Der Typus „Village Revisited“, gekennzeichnet durch heterogene städtebauliche Strukturen und periphere Lage hat häufig eine durchschnittlich alte Bewohnerschaft, auch wenn in manchen Beständen durchaus auch Familienhaushalte zu finden sind. Alte und neue Bewohner treffen hier schon heute aufeinander, was oft einen Anlass für Konflikte darstellt. Nicht unwahrscheinlich sind hier die Szenarien Ha.2 sowie Ha.4.
487
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.8.1
H-nau (Typ Village Revisited – Szenario Ha.2: Pro Quartier?)
Modellquartiere: Brandenburg-Kirchmöser, Essen-Überruhr-Hinsel, Leipzig-Mölkau, ferner: Essen-Fulerum-Haarzopf, Essen-Steele-Horst Abbildung 43: Synopse für Szenario Ha.2 Typ
H
Village Revisited
SzenarioVariante
.2
Pro Quartier?
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: längerfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: eher stark
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: eher groß
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: mobil
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
a
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat 2030
Altersstruktur
Sozialstruktur: gehoben
Bausubstanz: heterogen
heterogene Eigentümerstruktur, neue quartiersnahe Arbeitsplätze, ambivalente Umfeldqualität, Diversität der Bestände, Einbindung des Quartiers in Roadmap 2030 für die Gesamtstadt
+
Weiterhin marktgängig, Aufwertung, „Zukunftshypothek städtebauliche Unordnung“
488
Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Wechselvolle Geschichte, vielfältige Nutzungsänderungen und „Stilbrüche“ Modellstadt stagnierte über Jahre. Viele der um die Jahrtausendwende beschriebenen Horrorszenarien, die von massiven Schrumpfungsprozessen ausgingen, trafen nicht ein oder konnten durch eine aktive Standortpolitik und Wirtschaftsförderung abgemildert werden. Dennoch: Eine blühende wachsende Stadt war nie zu erwarten gewesen. Letztlich war man mit der erreichten „stabilen Nulllinie“ sehr zufrieden. Die Alterung der Bevölkerung war ein Problem, aber andere Städte hatten größere Sorgen. Auf den Modellstädter Wohnungsmarkt bezogen hieß das: Es handelte sich hier eher um einen Nachfragermarkt, der durch eine schleppende bis mäßige, sehr qualitätsbewusste Nachfrage charakterisiert war. Der Stadtteil H-nau, am westlichen Stadtrand Modellstadts gelegen, hatte noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts einen ausgesprochen dörflichen Charakter und war durch Landwirtschaft geprägt. Während des ersten Weltkrieges hielt die Rüstungsindustrie im Umfeld des beschaulichen Dorfs Einzug. Dies hatte einen grundlegenden Strukturwandel, einen Ausbau der Infrastrukturen und den Anschluss an die VorkriegsBahninfrastruktur zur Folge. In den 1920er und 1930er Jahren entstanquartier, Nachkriegs- den einige Fabriken mit zahlreichen Beschäftigten. Parallel dazu wurde in den 1920er Jahren ein Siedlungskonzept für H-nau entworfen quartier und neben dem massiven Ausbau der Infrastruktur auch die Wohnfunktion durch den Bau von Werksiedlungen sowie Dorferweiterungen entwickelt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Industrieareale zum Teil zivil weiter genutzt. Die Vorkriegs-Arbeitersiedlungen wurden durch klassischen 1950er-Jahre Wohnungsbau ergänzt, im Süden des Quartiers entstanden seit den 1960er Jahren kleinere Plattenbauten. Nach 1990 wurde das Industriegebiet abermals restrukturiert und einige innovative mittelständische Unternehmen angesiedelt, die u. a. im Bereich der Schienentechnik, der nachhaltigen Logistik und der Altlastensanierung erfolgreich waren. Modellstadt gelang es, diese Neue Gewerbe und Sektoren auch in den 2000er und 2010er Jahren insgesamt als Kompetenzfelder auszubauen und damit Arbeitsplatzverluste an anderer StelWohnparks le zu kompensieren. Von dieser Entwicklung profitierte auch H-nau. in den Ebenfalls in den 1990er Jahren bauten Projektentwickler einige Rei1990ern henhauszeilen sowie einen Mehrfamilienhauskomplex im Quartier. Modellstadt: „Stabile Nulllinie“ statt Horrorszenario
Sozio-demographische Entwicklung: jünger – bunter – wohlhabender Nicht nur „Woopies“
Das Quartier H-nau war stark überaltert. In vielen Beständen betrug 2007 das Durchschnittsalter mehr als 60 Jahre (E_BRB4). Die meis-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
489
ten Haushalte waren ältere Paare mit zwei Renten, also die klassischen „Woopies“ (vgl. Abbildung 44). Abbildung 44: Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp H Typ I:deutliche Zuwanderung, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Kirchmöser)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Dies konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewohnerschaft hier deutlich heterogener war als in anderen Stadtteilen (E_BRB2). So gab es einen Mikrostandort im Quartier, in dem „sozial auffällige Leute“ lebten (E_BRB4). Andererseits gab es aber auch eindeutig bessere Lagen, etwa am nahe gelegenen See oder am Stadtwald, in denen eine gehobene Klientel ansässig war. So hieß es in einem Bewohnerinterview 2007, dass am See die Ärzte wohnten („Da hinten am See in den Villen wohnen die Reichen. Und zugezogene Wessis. Die wollen den See immer gleich mitkaufen“ [B_BRBKM2]), in der Mitte es gemischt sei und am Rand eher die sozial Schwächeren lebten (B_BRBKM1). Migranten gab es kaum in Quartier. In den Aufnahmegesprächen der örtlichen Genossenschaft stellte sich meist heraus, dass diese Menschen „nicht zu uns wollen, auf unsere grüne Insel“, sondern in der Nähe ihrer Gruppe bleiben wollten und eher ins Typ-E-Plattenbau- Zwischen gebiet E-berge gingen (E_BRB4). Es handelte sich bei den potenziel- Diskriminielen Nachfragern vor allem um Russlanddeutsche, die eher „intensiv rung und
490 sinnvoller Belegungssteuerung
Traditionelle und MainstreamMilieus
Material- und Szenarienanhang
leben“, also letztlich auch aus Sicht des Anbieters nicht in die Nachbarschaften der Genossenschaft „passten“ (E_BRB4). Die Strategien der Wohnungsunternehmen bewegten sich hier auf einem schmalen Grat zwischen latenter Diskriminierung und sinnvoller Belegungssteuerung. Eine Entsprechung fand dieser Gesamteindruck in den Lebensstilen der Bewohner. Der Genossenschaftsvorstand schätzte vor allem das dort stark vertretene „traditionelle Milieu“: „Das ist zum Glück noch die Mehrheit unserer Mitglieder, mit denen gibt es keine Probleme“ (E_BRB4). Die Daten für 2005 zeigten als Hauptgruppen „DDRNostalgiker“, die „Bürgerliche Mitte“ und „Traditionsverwurzelte“, aber auch „Etablierte“ (vhw, Sinus/Mosaic 2005). Abbildung 45: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp H (hier: Modellquartier Kirchmöser, OT 4, Angaben in %, 2005) EXP
1,1
HED
1,0
MAT
4,8
BÜM
23,9
DDR
28,0
TRA
23,1
KON
4,9
PER
0,4
PMA
0,1
ETB
12,7 0,0
EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Cocooning
Während die „Traditionsverwurzelten“ ihrem Umfeld stark verbundene Menschen waren, die auch im Wohnstil ihrer traditionellen Orientierung folgten und am liebsten wollten, dass alles so blieb, wie es war, waren die „DDR-Nostalgiker“ quasi deren ostdeutsches Pendant. Beide Lebensstile sind heute, im Jahr 2030, kaum noch vorhanden. Auch die „Bürgerliche Mitte“ pflegte das „Cocooning“, d. h. ihre Wohnungen waren gleichsam Zuflucht vor der (globalisierten) Außenwelt. Die „Bürgerlichen“ tolerierten unterschiedlichste städti-
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1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
sche Lagen und heterogene Umfelder wie gerade in H-nau. Etablierte dagegen wohnten gerne im Eigentum und legten Wert auf die repräsentative Selbstdarstellung, auch via Wohnung oder Haus, sowie auf ein störungsfreies Umfeld in Stadtrandlage. Für sie war H-nau über eine lange Zeit eine bevorzugte Lage, neuere Entwicklungen jedoch nahmen sie mit großem Unbehagen zur Kenntnis. Neben der engen Bindung der Mieter an die lokale Genossenschaft wurde immer auch die starke Ortsbindung betont: „[H-nau] ist für viele eine Heimat“ (E_BRB4). Die Ortsbindung bestätigte sich auch in den Bewohnerinterviews: Alle im Jahr 2007 Befragten wohnten schon sehr lange (zwischen 20 und 50 Jahre) in H-nau (B_BRBKM1-4), meistens auch in derselben Wohnung (B_BRBKM2-4) und stammten oftmals aus unmittelbarer Umgebung (B_BRBKM2-3). Die Zuzüge in den 1950er/1960er Jahren erfolgten seinerzeit weniger aus Leidenschaft für das Quartier als aus Mangel an Alternativen: „Weil wir ’ne Wohnung brauchten und es gab ja nichts“ (B_BRBKM2). Entsprechend der Ortsbindung gestalteten sich auch die Nachbarschaftsbeziehungen: „Das ist hier sehr nachbarschaftlich. Die Leute kennen sich alle“ (E_BRB4), ein Aspekt, der bis hin zu einer starken sozialen Kontrolle führte. Wo Nachbarschaftskonflikte auftraten, konnten sie bereits als Ausdruck des „Etablierte-Außenseiter“-Effekts interpretiert werden, denn ab der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts begann ein langsamer, demographisch bedingter Bevölkerungsaustausch, der erst heute, im Jahr 2030, im wesentlichen abgeschlossen ist. Aufgrund der relativ homogenen Überalterung drohte dem Quartier eine demographische Welle. Um dies zu verhindern, wurden bereits früh Schritte eingeleitet (s. u.). Durch externen Zuzug und Generationenaustausch innerhalb der Familien ist die Bewohnerschaft in H-nau mit den Jahren wieder jünger, bunter und wohlhabender geworden. Allen gemeinsam war der Wunsch nach einem ruhigen, attraktiven Wohnstandort in nicht allzu großer Entfernung zu städtischen Infrastrukturen.
„Heimat H-nau“
Nachbarschaftliche Bindung: Lokales Sozialkapital Nachbarschaftliche Sprengkraft: „Etablierte vs. Außenseiter“
Zuzug und Generationenaustausch
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Langfristige städtebauliche Ordnung H-nau wurde mit vielen positiven Aspekten assoziiert. In Interviews „Glückliche wurde 2007 die insuläre Lage des Quartiers besonders betont: „Der ist Insel“ am ja eher wie ein Dorf, dieser Ortsteil […]. Wir sind eine kleine, glück- Stadtrand liche Insel“ (E_BRB4). Auch in Bewohnerinterviews wurde dies immer wieder bestätigt. Zusammen mit der architektonischen und
492
Hohe Zielgruppenadaptivität Gute Nahversorgung
Zusammenspiel der Standortfaktoren
Mangelhafte ÖV-Anbindung
Städtebauliche Defizite
Frühe Standardmodernisierungen
Material- und Szenarienanhang
städtebaulichen Vielfalt und den hohen Grünanteilen ergab sich eine Mischung aus „Noch-Urbanität“ und „Schon-am-Rand“. Durch die verschiedenartigen Baustile, Baualtersklassen, die Mischung aus individuellem Wohneigentum und Mietwohnungsangebot und die Nutzungsmischung aus Wohnen und Arbeiten erwies sich H-nau als ausgesprochen flexibel hinsichtlich neuer Zielgruppen. Auch die lokale Versorgung war gut, zum einen durch Supermärkte, zum anderen aber auch durch mobile Händler: An drei Tagen in der Woche kamen verschiedenen Anbieter (Bäcker, Fleischer, Obst und Gemüse) vorbei, darunter auch ein Getränkeservice, der den älteren Bewohnern auch die Getränke bis in die Wohnung brachte (B_BRBKM4). So verwunderte es nicht, dass 2007 keiner der befragten Bewohner (B_BRBKM1-4) Umzugspläne hatte: „Ich bleibe hier, ist doch schön hier“ (B_BRBKM4). Durch die räumliche Isolation am Stadtrand wirkte H-nau wie eine selbstständige Kleinstadt, nicht zuletzt auch wegen der direkten, aber in der Regel nicht störenden Nachbarschaft von Industrie- und Wohnfunktion. Dazu kamen die aus der industriellen Entwicklung entstandenen attraktiven städtebaulichen und architektonischen Formen der 1920er Jahre. H-nau bot also interessante Kombinationsmöglichkeiten von Arbeiten, Wohnen und Freizeitmöglichkeiten. Die Betonung lag aber auf der Kombination dieser Faktoren. Allein die landschaftlich reizvolle Lage machte das Quartier im Wettbewerb um Einwohner nicht attraktiv genug (E_BRB2), denn die Defizite waren ebenfalls nicht zu übersehen. Vielfach wurde die mangelhafte ÖV-Anbindung beklagt, ein Problem, das H-nau mit vielen Quartieren am Stadtrand teilte. Der Bus, so berichteten Bewohner, fuhr weder am Wochenende noch abends, „das ist ein Problem für bestimmte Jobs“ (B_BRBKM4). „Nach 19:00 Uhr kommt man nicht mehr weg“ (B_BRBKM3). Außerdem fehlten jegliche kulturelle Angebote, was einen Bewohner zu der Aussage verleitete, er fühle sich in H-nau „am Arsch der Welt“ (B_BRBKM3). Wenn auch nicht immer von jedem Bewohner als gleichermaßen störend empfunden, war das Hauptproblem die mangelnde städtebauliche Attraktivität. In einer Delphi-Expertenbefragung 2007/2008 wurden dem Quartierstyp „Village Revisited“ u. a. ästhetische Mängel, fehlendes Grün bei gleichzeitig umfangreichen Verkehrsflächen und chaotische Gemengelagen zwischen alten und neuen Strukturen bescheinigt. Diese Aspekte betrafen auch H-nau in hohem Maße. Unabhängig von den Umfeldbedingungen wurden aber auch bauliche Maßnahmen durchgeführt. Die Genossenschaft hatte z. B. ihren Wohnungsbestand bis 2010 komplett instandgesetzt und/oder modernisiert, dies jedoch auf einem relativ niedrigen Standard. So wurde in
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
493
vielen Häusern auf Fahrstühle verzichtet. Die Wohnungsunternehmen konnten insgesamt eine ähnliche Bilanz vorweisen, jedoch wichen die unterschiedlichen Bestände stark voneinander ab. Problematisch waren z. B. Teilbereiche der alten Werkssiedlungen aus den 1910er Jahren, in deren Mehrfamilienhäuser auch aufgrund von ungeklärten Eigentumsansprüchen kaum investiert und somit dem Verfall Vorschub geleistet wurde. Die dortigen Mieter waren in den 2000er Jahren unzufrieden, und die Umzugsneigung war groß (E_BRB4). Die denkmalgeschützten Reihenhäuser aus dem Reformwohnungs- Bestand & bau-Bestand dagegen waren ohnehin sehr begehrt und wurden als Bestand Einzeleigentum erfolgreich veräußert. Bis 2025 diversifizierte die lokale Wohnungswirtschaft zunehmend ihre Bestände und folgte damit der anfangs viel belächelten Modellstädter „Long-term Roadmap Stadtumbau 2030“ (s. u.). Es gab kleinere Neubauprojekte und vereinzelte Abrisse in einer Größenordnung von etwa 15% des Gesamtbestands überall dort, wo die Gebäude sehr marode, die Leerstände hoch (z. T. über 50%) oder städtebaulich sehr problematisch waren.
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Aktiv trotz Anfangswiderstand Um 2010 hatte H-nau einen akzeptablen Entwicklungsstand erreicht: Standardmodernisierungen waren durchgeführt, alles schien für den Augenblick in Ordnung zu sein, die wohnungswirtschaftlichen Akteure ruhten sich auf dem Erreichten der letzten Jahre aus. Die ansässige Genossenschaft z. B. plante in dieser Zeit keine baulichen Veränderungen und konzentrierte sich ausschließlich darauf, den Vermietungsstand auf möglichst hohem Niveau zu halten, etwa durch „weiche“ Maßnahmen wie aktives Vermietungsmanagement, Nutzung des Sozialkapitals der Genossenschaftsmitglieder oder generationsübergreifende Vermietung. Es ging zunächst um optimierte Bestandsverwaltung, nicht um integrierte Quartiersentwicklung. In dieser Zeit war den Verantwortlichen der Kommunalverwaltung klar, dass H-nau zwar noch ein problemloser Stadtteil war, die Zukunft jedoch nicht so rosig aussehen würde. Deshalb begann man früh, zumindest punktuell in den öffentlichen Raum zu investieren (Verbesserung der Nahversorgung, Möblierung des öffentlichen Raums für Kinder und Senioren etc.), so dass der Stadtteil auch für Interessenten von außen etwas attraktiver erschien. Doch die Modellstädter Stadtentwicklungsbehörde wollte mehr und versuchte, die lokalen Akteure aufzurütteln. Ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutach-
Alte Ultima ratio: Optimierte Bestandsverwaltung
Proaktive Kommune
494 Externe Beratung
Material- und Szenarienanhang
ten zur demographischen Zukunft der Modellstädter Wohnquartiere trug erheblich zur Verunsicherung der Wohnungswirtschaft bei. Die Gutachter formulierten klar und deutlich, dass die bisherigen Maßnahmen, die mit besten Absichten durchgeführt waren, jegliche strategische Orientierung vermissen ließen. Ziellose StandardmodernisieGutachten: rungen jedoch konnten, so die Expertise weiter, vielleicht noch die „Demograalte Klientel zufriedenstellen, die künftigen Zielgruppen jedoch nicht phische Welle mehr. Die demographische Welle, die die Gutachter u. a. H-nau in droht“ Aussicht stellten, drohte zu einem wohnungswirtschaftlichen Debakel zu werden. ÜberwinDas Gutachten führte zu einem partiellen Umdenken. Die Komdung des mune, deren Unwohlsein durch das Gutachten bestärkt wurde, wanAnfangsdelte sich zur proaktiven Initiatorin von Projekten und Kooperationen. widerstands Trotz massiver Anfangswiderstände ließen sich die Wohnungseigen– partielles tümer immerhin auf die Debatte ein und akzeptierten mehr und mehr Umdenken die Bedeutung der längerfristigen demographischen Entwicklung für ihre Bestände in H-nau. Innovative Quartiersentwicklungskonzepte wurden in mehreren Quartiers-Workshops diskutiert. An Programmatik und Ideen mangelte es nicht. Die praktische Umsetzung von avisierten Projekten gestaltete sich dennoch oft als schwierig, zu groß war die Konkurrenz, zu groß die Unterschiede in den einzelnen Beständen und zu heterogen die Handlungslogiken der Akteure. „Long-term 2011 einigten sich die lokalen Akteure jedoch auf eine „LongRoadmap term Roadmap Stadtumbau 2030“, eine langfristige Zielvorstellung, Stadtumbau die die „Modellstädter Neue Tageszeitung“ abschätzig auf „Science 2030“ Fiction-Freaks“ in der Stadtverwaltung zurückführte. Doch der nicht bindende Rahmenplan für die Gesamtstadt, der Effekte auf jeweils quartiersspezifisch umgesetzt werden sollte, hatte durchaus Akteursorga- positive Effekte z. B. hinsichtlich der Akteursorganisation. H-nau wies nisation eine komplexe Eigentümerstruktur auf. Neben der Wohnungsgenossenschaft (600 WE) waren noch zwei Wohnungsunternehmen (eines davon städtisch, insgesamt mit ca. 1.000 WE) und private Einzeleigentümer vertreten (ca. 1.600 WE). Günstig daran war, dass die wohnungswirtschaftlichen Akteure durchaus Gestaltungsmacht im Quartier hatten, problematisch allerdings auch, dass im besten Falle viele Einzeleigentümer mit ins Boot geholt werden mussten. Nach „Interessen- Ankündigung der Roadmap gründete sich in H-nau eine „Interessengemeinschaft gemeinschaft Einzeleigentum (IGE) e.V.“, in der nach kurzer Zeit Einzeleigen- etwa die Hälfte der Einzeleigentümer H-naus vertreten waren. Die tum (IGE)“ Wohnungsunternehmen und die Genossenschaft planten für die nähere Zukunft relativ hohe Leerstände als Sicherheitsreserve ein und entwickelten Szenarien für ihre Bestände im Kontext des Gesamtquartiers (E_BRB4). Dabei folgten sie den Empfehlungen der Roadmap
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1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
und beteiligten sich auf intensives Drängen der Modellstädter Planungsverwaltung an städtebaulichen Ordnungsmaßnahmen im gesamten Quartier. In der Zwischenzeit wurde auch die Kundenbetreuung im Bestand wesentlich verbessert, indem man die Belegung zu steuern versuchte („wir machen das alles im Kleinen, was man bei großen Unternehmen ‚Sozialmanagement‘ nennt“ [E_BRB4]). Dadurch wurden zumindest gute Voraussetzungen für eine nachbarschaftliche Integration geschaffen. Intergenerationale Konflikte traten bei Zuzügen nur vereinzelt auf. Ein eigens eingerichtetes Quartiersbüro koordinierte Aktivitäten und diente als Seismograph bei Problemen. Durch regelmäßige Quartiersfeste wurden Zuzügler und Alteingesessene miteinander konfrontiert und die dadurch in Gang gesetzte Kommunikation tat ihr übriges. Die „Roadmap 2030“ empfahl u. a. auch eine möglichst breite Diversifizierung der Bestände und die Ausrichtung auf neue Zielgruppen. Hintergrund dieser Empfehlung war die Tatsache, dass die mit EU-Mitteln geförderten quartiersnahen Gewerbehöfe florierten und hier auch Arbeitsplätze entstanden – ein glücklicher Umstand, der von Experten als essentiell für H-nau erachtet wurde (E_BRB2). Trotzdem war die Frage, wer den vielen Alten, die in dem Gebiet wohnten, eigentlich nachfolgen sollte (E_BRB1). Die Genossenschaft verzeichnete immerhin vereinzelt Zuzüge junger Leute (Berufseinsteiger, auch zu einem geringen Prozentsatz Grundeinkommens-Bezieher), letztlich aber auch wieder von gut situierten Rentnern oder älteren Leuten, die aus anderen Gebieten wegzogen (E_BRB4). Es gab auch „emptynest“-Haushalte, die von der „grünen Wiese“ sowie Ruhesitzwanderer, die mit guten Renten aus prosperierenden Regionen in die alte Heimat zurückkamen, die klassischen Zielgruppen für das „Reihenhaus am See“ (E_BRB4). Um die Diversifizierung voranzutreiben, wurde bald auch über bauliche Veränderungen der Bestände nachgedacht. Trotz des sehr geringen Leerstands hatten auch die Verantwortlichen der Genossenschaft 2007 ein ungutes Gefühl für die Zukunft: „Es wird schwer“ (E_BRB4) – diese Erkenntnis wirkte motivierend, auch am „Roadmap“-Prozess aktiv teilzunehmen. In den Wohnungsunternehmen sah die Situation schon früher mit zum Teil fünfzigprozentigen Leerständen sehr problematisch aus. Unsanierte Wohnungen wurden deshalb bereits ab 2005 konsequent abgerissen. Die Hälfte der Wohnungen befand sich ohnehin in Privatbesitz und fiel als „Rückbaupotenzial“ aus. Im restlichen Bestand wurden Umbauten vorgenommen und z. B. attraktive Maisonette-Wohnungen für jüngere Haushalte in den oberen Etagen der älteren Plattenbaubestände geschaffen. Neben Wohnungszusammenlegungen und Grundrissvariationen waren aufgrund
Belegungssteuerung
Quartiersbüro als Seismograph Diversifizierung der Bestände Neue Arbeitsplätze Black Box Ersatznachfrage
Rückbau
Umbau
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der Überalterung auch seniorengerechte Umbauten erforderlich. Altengerechter Umbau nach DIN war zwar häufig nicht möglich, weil die Wohnungen zu eng geschnitten waren (E_BRB4), letztlich wurden hier aber kreative und den Bewohnern gerecht werdende Lösungen gefunden. Es wurde auch eine Partnerschaft mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO) eingegangen, die ohnehin eine Anlage für betreutes Wohnen und ein Heim in der Nähe von H-nau betrieb (E_BRB4). Die AWOKooperation war nicht nur auf Senioren beschränkt, sondern umfasste auch Angebote für Kinder und Jugendliche (Kita-Betreuung etc.). Darüber hinaus wurde versucht, „das Wohnen im Alter bezahlbar“ „Genossenzu machen (E_BRB_4). So wurde in der Wohnungsgenossenschaft schaftseine Finanzkonstruktion als Alternative der damaligen „Riester-Rente“ Riester“ geschaffen, die auf höheren Genossenschaftsanteilen und einem Auszahlungsplan mit Mietsenkungen im Alter beruhte (E_BRB4). Mit diesem Modell war es möglich, jüngere Mitglieder langfristig zu binden und Ältere dazu zu ermuntern, ihr von der Zinsabschlagssteuer bedrohtes Vermögen bei der Genossenschaft zu parken (E_BRB4). Die nach wie vor eher reaktiv ausgerichtete lokale Wohnungswirtschaft hatte nicht den „großen Wurf“ für das Quartier gewagt, keinen gemeinsamen „Neighbourhood Branding“-Prozess oder gar einen verpflichtenden „Neighbourhood Improvement District“ eingerichtet, Kleinster gemeinsamer wie von der Stadtverwaltung vorgeschlagen. In den lokalen KooperaNenner tionen dominierte der sprichwörtliche kleinste gemeinsame Nenner und generell wurde eher instand gesetzt als modernisiert, eher modernisiert als abgerissen, eher umgewandelt als neu gebaut. Auch hinsichtlich der Zielgruppenorientierung blieb man konservativ und abZielgruppe wartend: Man richtete seine Bestände eher auf einen Mainstream und Mainstream auf möglichst alle Altersgruppen aus. Letztlich gab die Quartiersentwicklung bis heute den Akteuren Recht. Vor allem durch die positive Entwicklung des wirtschaftlichen Umfelds kam es zu einer Heterogenisierung der Bevölkerung und der starke demographische Bruch blieb aus. Eine Phase mit höheren Leerständen zwischen 2012 und 2017 überstanden die Wohnungsunternehmen unbeschadet, die Einzeleigentümer hatten aufgrund der Attraktivität ihrer Häuser kaum Probleme, Käufer oder Mieter für ihre Anwesen zu finden. Am seidenen Alles hing jedoch mehr am seidenen Faden, als die VerantwortFaden … lichen bis heute eingestehen wollen. Allein ein Misserfolg der neuen Gewerbehöfe in H-nau in den 2010er Jahren hätte die unverbindliche „Roadmap“ hier zu einem Muster ohne Wert degradiert und wesentlich größere gemeinsame Anstrengungen der wohnungswirtschaftlichen und kommunalen Akteure erfordert. Das Worst-Case-Szenario eines „Gewerbeparks ohne Firmen“ wurde 2007 in einem Interview
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497
mit dem Genossenschaftsvorstand als „katastrophal“ bezeichnet. „Die Stammmitglieder sind in 20 oder 30 Jahren tot, dann gäbe es großen Leerstand, das wäre dann unheimlich schwer“ (E_BRB4). Ohne das Nachfragepotenzial durch die Betriebe in direkter Nachbarschaft wäre der Standort H-nau nicht attraktiv genug für Zuzüge in den dann benötigten Größenordnungen gewesen.
Bewertung und Ausblick 2030: Drohende Krise überwunden – städtebauliche Unordnung als Zukunftshypothek Die unverbindliche „Roadmap“ war zweifellos ein wichtiges, vor allem kommunikatives Instrument. Dennoch: Das Vorgehen der lokalen Akteure war trotz dieses Deckmantels wenig koordiniert. Jeder durfte mal hier und mal da bauen oder abreißen oder auch alles beim Alten belassen. Letztlich kam es dadurch eher zufällig zu einer Diversifizierung des Wohnungsbestands. Was aus städtebaulicher Sicht als überaus fragwürdig erschien, war aber am Ende durchaus marktgängig. Dennoch: die städtebauliche Unordnung ist eine Hypothek für die Zukunft H-naus. Es ist zu befürchten, dass die Nachfrage weiter eine kritische Größe bleiben wird und evtl. künftige Zielgruppen mehr auf das Gesamterscheinungsbild des Quartiers Wert legen könnten. Der städtebaulichen Ordnung und der Qualität des Wohnumfelds (u. a. durch eine neue Wegenetzplanung, Vernetzung von Grüngürteln, städtebauliche Integration von Gewerbeflächen, Beräumung und Zwischennutzungen von Brachflächen etc.) sollte auf jeden Fall in Zukunft alle Aufmerksamkeit gewidmet werden, damit H-nau nach und nach wieder ein konsistenteres Quartiersprofil erhält. Im Sommer 2028 beschloss man, das Potenzial des Wassers in Hnau erlebbarer zu machen und startete gemeinsame Projekte, um die Zugänge und Freizeitmöglichkeiten zu verbessern. H-nau konnte sich inzwischen als Marina-Standort und als Basis für Tauchausbildungen einen Namen machen und hat damit in Verbindung mit dem Stadtwald sogar ein gewisses touristisches Potenzial entwickelt. Als Tauchattraktionen wurden einige Bahntrassen, eine entkernte alte Rangierlok und ein sowjetischer Panzer im See versenkt. Das Thema „zwischen Wald und See“ wurde im letzten Jahr zum Leitbild für das Quartier erhoben. Es wurde im Rahmen einer Imagekampagne bekannt gemacht, unter anderem durch das neu etablierte H-nauer „Marina-Festival“. Für das nächste Jahrzehnt soll H-nau auch noch in anderer Hinsicht zu einem Modell der Postmoderne avancieren: Die heterogenen städtebaulichen Strukturen (alte Dorfstrukturen, Neubaugebiete, Gewerbegebiete) als Potenzial aufgreifend, wurde seitens der Stadtver-
Nachfrage als dauerhaft kritische Größe
Faktor „städtebauliche Ordnung“
Zukunftsleitbild I: „Zwischen Wald und See“
Zukunftsleitbild II: „jung & alt, alt & neu“
498
Material- und Szenarienanhang
waltung versucht, das Nebeneinander und das Integrationserfordernis von „Altem“ und „Neuem“ in den Mittelpunkt der Anstrengungen zu rücken („H-nau: Ort für jung & alt, alt & neu“). Durch eine stark geförderte Vereins- und Gemeindearbeit sollen nicht nur Zuzügler und Alteingesessene erfolgreich zueinander gebracht werden. Darüber hinaus soll das ohnehin schon gelegentlich existente Mehr-Generationen-Wohnen als Spezifikum des Quartiers hervorgehoben und bekannt gemacht werden.
499
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
1.8.2
H-bach (Typ Village Revisited – Szenario Ha.4: Quartier des Kapitals)
Modellquartiere: Leipzig-Mölkau, Brandenburg-Kirchmöser, Essen-Überruhr-Hinsel, ferner: Essen-Fulerum-Haarzopf, Essen-Steele-Horst Abbildung 46: Synopse für Szenario Ha.4 Typ
H
Village Revisited
SzenarioVariante
.4
Quartier des Kapitals
Handlungsbezogene Prämissen (Szenario-Deskriptoren)
Ausgangssituation 2005
Verwertungslogiken der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: kurzfristig
Demographische „Awareness“ der Wohnungswirtschaft bzw. Eigentümer vor Ort: schwach
Kooperationsbereitschaft aller wohnungswirtschaftlichen Akteure: gering
Quartiersbezogene Handlungslogiken der kommunalen Akteure: eher ganzheitlich
Demographische „Awareness“ der kommunalen Akteure: eher stark
Quartiersbezogene Handlungslogiken der Bewohner bzw. Nachfrager am Markt: mobil
Strukturelle Prämissen (Altersstruktur plus Zusatzannahmen)
aa
Weitere „Crucial Factors“ 2005-2030
Resultat
AltersAltersstruktur struktur
Sozialstruktur: Bausubstanz: ehergehoben problemlos
Bausubstanz: heterogen
ambivalente Lagequalität, diffuse städtebauliche Struktur, heterogene Eigentümerstruktur, Etablierte-Außenseiter-Problematik, Netzwerkerosion, dauerhafte Leerstände, Imageverfall
–
Abschied von früheren Erwartungen, Abwertung
2030 Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie:
500
Material- und Szenarienanhang
Stadtregionale Rahmenstory und Quartiershistorie: Vom Dorf über den „Ferropark“ wohin? Wirtschaftliche Stagnation – ein relativer Erfolg
Mikrodifferenzierung der Lagen – Polarisierung der Quartiere
„Cash Cow“ H-bach
Industrielle Überprägung
Die Region Modellstadt stagnierte oder wuchs phasenweise sogar leicht – allen demographischen Veränderungen in anderen Landesteilen zum Trotz. Dies konnte die regionale Wirtschaftsförderungsagentur als eigenen Erfolg verbuchen, denn es gelang in den 2000er und 2010er Jahren einige Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe nach Modellstadt zu holen, darunter Anbieter dezentraler Energiegewinnungstechnologien und personalstarke Back Offices globaler Finanzdienstleister. Diese Kontinuität führte zu einer recht stabilen Wohnungsnachfrage, auch durch die zunehmende Singularisierung und die damit verbundene Verkleinerung der Haushalte bedingt. Bis etwa 2015 kam noch der Remanenzeffekt bei älteren Haushalten hinzu. Das durchschnittliche Leerstandsrisiko blieb – bei relativ hoher Fluktuation – generell gering, jedoch waren manche Quartiere in manchen Lagen wesentlich konkurrenzfähiger als andere. Es kam allmählich zu einer Polarisierung der Quartiere in Modellstadt: In einigen Lagen beobachtete man Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen und Gentrification-Prozesse, während andernorts negative Segregationsprozesse und Zuzüge sozial schwächerer Bevölkerungsschichten dominierten. Zumindest Wohnungsanbieter mit Schwerpunkten in den „Gewinnerquartieren“ konnten nach dem Prinzip des „anything goes“ verfahren. Ihr Markt wuchs und sie versuchten, die Gunst der Stunde zu nutzen. Ein beliebtes Betätigungsfeld für Investoren und die Modellstädter Maklerszene war auch H-bach. Die Mietenentwicklung war hier laut Bewohnereinschätzung in den 2000er Jahren stabil, die Mieten in den Mehrfamilienhäusern wurden als „reichlich“ bezeichnet (B_LM2). Das knapp 700 Jahre alte Dorf wurde ebenso wie viele andere frühere Gemeinden auf dem Modellstädter Stadtgebiet durch die Industrialisierung überprägt. Um die historische Dorfanlage siedelten sich Betriebe an, deren bekannteste Vertreter vor Ort die „Erste H-bacher Maschinenfabrik“ und das „Walzwerk Hans H. Schmidt“ waren. Heute findet man diese Tradition in zwei Gewerbeparks in H-bach wieder („Motorenhöfe“ und „Ferropark“). Im Rahmen der Industrialisierung entstand eine gründerzeitliche Wohnbebauung. Später kam ein gartenstadtähnlicher Teilbereich hinzu, das benachbarte H-garten, das in den 1930er Jahren „eingemeindet“ wurde. H-garten war früher als wohlhabende Gemeinde bekannt, während H-bach dem gegenüber deutlich abfiel (B_LM1). Gerade bei den älteren Bewohnern war diese Unterscheidung auch in den 2000er Jahren noch präsent.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
501
Nach 1990 kam es zu diversen Projektentwicklungen (Reihenhauszeilen, Einfamilienhausbebauungen, Lückenschließungen, kleinere Mehrfamilienhausentwicklungen durch Kapitalanleger). Insbesondere in den 1990er Jahren übte H-bach eine große Anziehungskraft auf Haushalte aus, die Wohneigentum bilden und aus der Innenstadt wegziehen wollten, was zu einem Bevölkerungswachstum Zwangseinführte. Das Quartier wurde gegen den Widerstand der Anwohner im gemeindung Rahmen des Stadt-Umland-Gesetzes 1999 ins Modellstädter Stadtgebiet eingemeindet: „Das hat keiner gewollt. Wir galten hier so als der Fettgürtel von [Modellstadt] und wurden dann abgeschöpft“ (B_LM1). Insbesondere aufgrund der umfangreichen Neubautätigkeit in den 1990er Jahren entstanden zum Teil bizarre städtebauliche Gemengelagen, in denen sich Freiflächen mit Gewerbeparks, historischen Gebäuden (Stadtgut, Kirche), Neubau- und Altbauwohnungen abwechseln. H-bach schien noch 2005 zu den Gewinnerquartieren zu gehören. Auf der Webseite www.h-bach.de war zu lesen: „Die Nähe zur Modellstädter City, ländliches Ambiente, interessante Wohnmöglichkeiten, historische Dorfstrukturen, eine ausgebaute Infrastruktur und moderne Gewerbeparks – all das bietet H-bach“.
Sozio-demographische Entwicklung: „Woopie-Village“ – die Tage sind gezählt H-bach, das 2005 knapp 6.500 Einwohner hatte, unterlag trotz vereinzelter Zuzüge jüngerer Haushalte in den 1990er Jahren einer demographischen Alterung, die sich in einem zunehmenden, stark überdurchschnittlichen Altenquotienten niederschlug (38 in 2004, bereits 41 in 2005). In die neuen Wohnanlagen waren zum guten Teil alte Hbacher und Leute aus der näheren Umgebung gezogen, die ihren Wohnstandard noch einmal verbessern wollten (B_LM1). Dazu kamen einige Familien, die die Einfamilien- und Reihenhäuser nachfragten. Aber sogar hier wohnten nicht selten mittelalte oder ältere Haushalte in oder kurz vor der „empty-nest“-Phase (B_LM2). Die Jugendquote nahm noch bis 2010 leicht zu, um dann jedoch stark einzubrechen, als die erwachsen gewordenen Kinder auszogen. H-bach hatte zunehmend mit einem negativen Wanderungssaldo und einem negativen Saldo aus Geburten und Sterbefällen zu kämpfen (vgl. Abbildung 47). Bis Mitte der 2010er Jahre glich dies noch der Remanenzeffekt aus, d. h. die Zahl der Haushalte stieg sogar noch etwas an. Der hohe Anteil älterer Bewohner war im Quartiersbild schon in den 2000er
Demographische Alterung
Remanenzeffekt
502 Abbildung 47:
Material- und Szenarienanhang
Bevölkerungsmodellrechnung für Quartierstyp H Typ 0: ohne Wanderungen, 2005–2030/50 (hier: Modellquartier Mölkau)
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung
Jahren deutlich zu erkennen: Kinderwagen und Kindersitze waren eine Rarität, während Rollstühle und Rollatoren zum Alltag gehörten. Quartier der Die Sozialstruktur H-bachs war 2005 sehr stabil. Arbeitslosigkeit (gehobenen) und Transferempfängerquoten lagen mit knapp 4% weit unterhalb des Mittelschicht Modellstädter Durchschnitts: “Hier wohnen keine Armen, auch im Neubau nicht“, eher waren es Haushalte der Mittelschicht oder der gehobenen Mittelschicht (B_LM1, B_LM2). „Wer sich in [H-bach] ein Haus leisten kann, der kann sich so einiges leisten“ (B_LM3). Migranten waren praktisch nicht präsent. Den stark variierenden Subquartieren und Bauformen entsprechend gab es – um einen deutlichen Schwerpunkt der „Bürgerlichen Mitte“ herum gruppiert – eine relative Vielfalt von Lebensstilen (vhw, Sinus/Mosaic 2005, Abbildung 48). Ortsbindung: Die alteingesessenen H-bacher hatten eine sehr starke Ortsbin„Wir sind dung entwickelt, wie Bewohnerbefragungen 2007 zeigten: „Wir waein Dorf ren immer so ne kleine Insel für sich“ (B_LM1). „Eigentlich gehören geblieben“ wir jetzt ja zu [Modellstadt], aber wir sind ein Dorf geblieben, mit einer sehr engen Dorfgemeinschaft“ (B_LM3). Die starke Ortsbindung stand auch in enger Wechselwirkung mit den Nachbarschaftsverhältnissen, die sich jedoch schon in den 2000er Jahren spürbar veränderten.
503
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Abbildung 48: Sinus-Milieu-Verteilung für den Quartierstyp H (hier: Modellquartier Mölkau, OT 26, Angaben in %, 2005) 2,1
EXP
4,0
HED
6,6
MAT
46,0
BÜM 10,4
DDR
10,3
TRA 7,8
KON 2,4
PER PMA
0,5 9,9
ETB 0,0 EXP HED MAT BÜM DDR
10,0
20,0
Experimentalisten Hedonisten Konsum-Materialisten Bürgerliche Mitte DDR-Nostalgiker
30,0 TRA KON PER PMA ETB
40,0
50,0
60,0
Traditionsverwurzelte Konservative Moderne Performer Postmaterielle Etablierte
Quelle: vhw, Sinus/Mosaic 2005
Ein massives „Etablierte-Außenseiter“-Problem entwickelte sich: „Früher kannte hier jeder jeden. Das ist auch heute noch so, aber nur bei den Alten“ (B_LM1). Neuzuzügler aus benachbarten neu gebauten oder aus frei gewordenen Einfamilienhäusern beschwerten sich, dass sie nicht integriert würden. Dazu meinte lakonisch eine alteingesessene Bewohnerin: „Aber die Leute sind auch selber Schuld“ (B_LM1). Es herrsche ein Mangel an normalen Höflichkeitsformen. Außerdem versuche man sich aktiv voneinander abzuschotten, zjung & alt, alt & neuB. durch Heckenpflanzungen: „Wir sind jetzt nicht mehr H-garten und H-bach, wir sind jetzt Heckendorf“ (B_LM1). Auch seitens der Neuzuzügler wurde – allerdings mit größerer Indifferenz – konstatiert, dass es zu Alteingesessenen kaum Kontakte gebe (B_LM2). Ein Mindestmaß an Informationsfluss „zwischen Alten und Neuen“ fand jedoch über die Schulen statt, die von den Kindern beider Seiten gleichermaßen besucht wurden. Diese Situation galt als typisch für Stadtrand- und Umlandgemeinden (E_L2). Während es an „bridging social capital“ zwischen den Gruppen mangelte, konnten die Bewohner innerhalb ihrer Gruppen auf ein großes Sozialkapitalvolumen zurückgreifen („bonding social capital“) (B_LM2).
Alteingesessene vs. Neuzuzügler
Viel „bonding“, wenig „bridging social capital“
504
Strukturbruch durch demographische Welle
Intergenerationalität als Sozialromantik
Material- und Szenarienanhang
Das Thema „Vererbung“ und „Drei-Generationen-Wohnen“ stand als Wohnideal zumindest in den älteren Teilen H-bachs hoch im Kurs (B_LM3). Hier waren auch die Nachbarschaftskontakte besonders intensiv, jeder half jedem in vielen Gelegenheiten – bis hin zu regelrechter kollektiver Überwachung des Wohnquartiers und gemeinsamen Arbeitseinsatz für den Brunnenbau des Nachbarn: „Der Zusammenhalt ist groß“ (B_LM3). Schon bald jedoch änderte sich die Situation drastisch. H-bach musste eine veritable demographische Welle verkraften, denn die Nachkriegsgeneration, die hier besonders stark vertreten war, war kollektiv alt geworden. Nachdem der Remanenzeffekt als retardierendes Moment spätestens seit 2015 nicht mehr eintrat und aus Haushaltsverkleinerungen Haushaltsauflösungen wurden, war der lokale Markt überfordert. Manche Kinder waren zwar in die Häuser der Eltern nachgezogen, diese Vererbungsketten fanden aber nicht flächendeckend statt. Viele hatten inzwischen anderswo Arbeit und ihren Lebensmittelpunkt gefunden, die Idee des „Drei-Generationen-Wohnens“ stellte sich als pure Sozialromantik heraus. Außerdem: Wer wollte schon in den bürgerlichen, traditionellen Wohnfantasien der Elterngeneration leben? Komplette Modernisierungen älterer Häuser im „Ikea-Stil“, die man vereinzelt beobachten konnte, waren nur Ausnahmen.
Standortfaktoren und physisch-bauliche Entwicklung: Licht und Schatten bei unkoordinierter Weiterentwicklung Bautätigkeit Wie erwähnt, wurde in den 1990er Jahren bereits an einzelnen Punkten im Quartier gebaut. Da H-bach attraktiv erschien, wurde 2006 ein bis in die 2010er Jahre weiteres Baugebiet ausgewiesen, dort u. a. Fertighäuser, 2003 die Seniorenresidenz „Silbersee“ und 2010 ein Reihenhausprojekt mit 35 Häusern initiiert. Dies war – ausgehend vom Status Quo in den 2000er Jahren – siAmbivalenz der Lage und cherlich auch nicht unbegründet. So wurde die z. T. gute Lagequalität H-bachs hervorgehoben. Obwohl man mit öffentlichen Verkehrsmitder städteteln binnen einer Viertelstunde die Innenstadt erreichen konnte, lag Hbaulichen bach doch etwas abseits der Stadt. Deshalb galt es als kinderfreundStruktur lich, ruhig und durch die Vielfalt der städtebauliche Strukturen mit einem hohen Grünanteil: „[H-bach] ist schon immer bekannt für die gute Luft“ (B_LM1). Attraktiv erschien die Mischung aus individuellem Wohneigentum und Mietwohnungsangebot mit relativ kleinen, überschaubaren Neubau-Wohnparks, die sich von Projektentwicklungen im großen Stil in manch anderem Quartier deutlich unterschieden (B_LM2). Gerade auch dadurch wurde die Mischung aus „Noch-
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
Urbanität“ und „Schon-am-Rand“ erzeugt, die vielen der dort wohnenden Menschen gut gefiel. Außerdem schien H-bach als Quartier durch die Vielfalt der Bauformen, die Nutzungsmischung aus Wohnen und Arbeiten und die gute Nahversorgung außerordentlich flexibel hinsichtlich möglicher Zielgruppen. In einer Delphi-Expertenbefragung zur Zukunft dieses Quartierstyps wurde angemerkt, dass hierin ein großes Potenzial liege. Jedoch müssten „zukunftsorientierte städtebauliche Strukturen“ realisiert werden. Realistischer Weise musste man aber auch die Schwächen eingehender betrachten: Die ÖV-Anbindung war zwar ausreichend, jedoch allenfalls tagsüber an Werktagen. Zu anderen Zeiten war das Angebot schlicht mangelhaft. Da die meisten Bewohner in den 2000er Jahren motorisiert und auch noch nicht zu alt für die PKW-Nutzung waren, fiel das zunächst nicht so sehr ins Gewicht. Viel stärker aber wogen städtebauliche und funktionale Defizite im Wohnumfeld: Durch die heterogene Gemengelage im Quartier entstanden zum Teil weite (und öde) Fußwege, Entfernungen, die zu Fuß unangenehm und für den PKW zu nah waren. Verkehrs- und Brachflächen störten immer wieder das Quartiersbild, das dadurch merkwürdig inkonsistent wirkte und eine gewisse städtebauliche Ästhetik vermissen ließ. Bei den Alteingesessenen standen vor allem die Neubauten in der Kritik: „Das ist doch eine billige Vorstadtsiedlung […]. Wir sind schon traurig über den Neubau, alle Sichtachsen sind weg“ (B_LM1). Zwar war es in vielen Teilen des Quartiers ruhig, aber rund um das ziemlich groß dimensionierte Straßennetz war dies nicht der Fall. Tatsächlich gab es nicht wenige Freiflächen, die auch bewachsen waren. Diese ungepflegten Brachen jedoch zum „hohen Grünanteil“ und damit zu einem Standortvorteil zu deklarieren, schien vielen Beobachtern schon damals gewagt. Nach Ansicht von Alteinwohnern hatte sich das Quartier nicht gut entwickelt, früher sei es bedeutend ruhiger gewesen (B_LM1). Zwar hatte das Quartier, betrachtete man Durchschnittswerte, eine relativ geringe Wohndichte. Vor Ort fühlte sich die Situation aber ganz anders an: Die einzelnen Subquartiere (seien es Reihenhäuser, Mehrfamilienhäuser, der alte Dorfkern oder die Gründerzeitrestbebauung) waren doch recht eng bebaut. Von den dazwischen liegenden Brachen ging keine unmittelbare Entlastung aus.
505
Mangelhafte ÖV-Anbindung
Gemengelagen
Dysfunktionale Freiflächen
Wohnungswirtschaftlich-planerische Entwicklung: Misswirtschaft und Passivität ruinieren das Quartier Die Eigentümerstruktur in H-bach spiegelte exakt die heterogenen Heterogene Quartiersstrukturen wider. Es gab viele Privateigentümer und Selbst- Akteursnutzer im Einfamilien- und Reihenhaussegment, aber auch zahlreiche struktur
506
Material- und Szenarienanhang
Mieter von Kapitalanlegern, die zum Teil über größere Hausverwaltungen organisiert waren, welche die Betreuung ihrer Immobilien übernahmen. Darüber hinaus gab es ein Wohnungsunternehmen und eine kleine Genossenschaft im Quartier. Der Optimismus in den 2000er Jahren war groß. „H-bach Optimismus kommt!“ orakelte der damalige Bürgermeister Karl Alt kurz vor seiner der 2000er Pensionierung beim Richtfest eines Fertighausanbieters. Bewohner Jahre befanden, die zukünftige Entwicklung würde sich nicht von der damaligen unterscheiden: „Jeder kennt [H-bach], es hat einen guten Ruf als eigenständiges Dorf“ (B_LM2). „Wir sind hier alle eng verwurzelt, die ganzen (sozialen) Bindungen sind da, das geht immer so weiter“ (B_LM3). Experten standen dem in nichts nach. So galt die Anbindung an das Zentrum als Basis für Neuzuzüge. „Die großen Verlierer liegen weiter „kein Hand- draußen – in Orten, in denen es heute schon 2,8 PKWs pro Haushalt lungsbedarf“ gibt. […] Große, homogene Gebiete wie [F-berge, Typ „Postmoderne“], die kriegen Probleme“ (E_L2). Zwar wollte die Modellstädter Verwaltung weitere Neubauprojekte in H-bach vermeiden, jedoch gab es bereits umfangreiche bestehende Planungsrechte, die nur unter größten Anstrengungen rückgängig zu machen gewesen wären (E_L2). Die Kommunalplanung sah im Quartier keinen kurzfristigen Handlungsbedarf und wandte sich anderen akuten Problemen zu. Das kommunale Selbstverständnis war mehr und mehr das einer „Feuerwehr“, die eher einzelfallorientiert, reaktiv und wenig kreativ agierte und dies stets mit dem Hinweis auf immer knapper werdende finanzielle Ressourcen. H-bach als Aufgrund der Marktsituation waren die Anreize strategischer strategieKonzeptionen bei allen wirtschaftlichen Akteuren recht gering, bei und koopera- vielen Einzeleigentümern ohnehin kaum ausgeprägt. Schließlich tionsfreie ließen sich auch ohne langfristige Bestandsoptimierungen, QualitätsZone strategien, Demographie- und Quartiersorientierung oder auch Kooperationsmodelle akzeptable Renditen erzielen. Niemand dachte an die Zukunft und gerade selbst nutzende Eigenheimbesitzer wähnten sich und ihre Erben auf der sicheren Seite. Der demoDiese Ruhe währte nur noch kurz. Innerhalb weniger Jahre machgraphische te sich der demographische Umbruch im Stadtteil in aller Deutlichkeit Knall bemerkbar: Es kam zu zahlreichen Leerständen, zunächst in den Beständen der Genossenschaft sowie des Wohnungsunternehmens. Ab 2013 kam eine beträchtliche Menge an Häusern und Wohnungen fast gleichzeitig auf den Markt, während die jüngere Generation flexibel, mobil und keineswegs so persistent und ortsverbunden wie die ältere Generation war und eben auch abwanderte. Der Generationenriss war also da – woher sollten neue Mieter oder Käufer kommen? Eine Strategie gab es nicht, nur den Glauben, dass alles wieder besser würde.
1 Langfassung der Szenarien für alle Quartierstypen
So glaubten manche an die Entwicklung des „Ferroparks“ am Rande H-bachs. Eine Großbank wollte hier ein Call Center einrichten, der sprichwörtliche große Wurf. Die Pläne lagen bereits unterschriftsreif vor. Doch dann kam die globale Rezession 2008 bis 2012 dazwischen und aus dem Projekt wurde nichts. Die hier bereits verbauten EU-Millionen entpuppten sich als eine zu Stein gewordene und inzwischen stadtweit bekannte Fehlinvestition. Zwar siedelte sich das eine oder andere Unternehmen an, aber insgesamt blieb das Potenzial unausgeschöpft. Die erhoffte Nachfrage nach Wohnraum gab es also nicht – und auch sonst blieb der Zuzug neuer Anwohner hinter den Erwartungen zurück. Bei der für H-bach so wichtigen Entwicklungsgröße der Zusatznachfrage hieß es: Fehlanzeige! Leerstände wurden unvermeidbar. Bald gab es die ersten „unverkäuflichen Ecken“. Es kam zu einem schleichenden Imageverfall, der die Situation noch verschlimmerte. Eine Abwärtsspirale war in Gang gesetzt worden, die unter anderen Rahmenbedingungen und mit vorausschauenden, proaktiven Planungen hätte abgemildert oder vermieden werden können. In manchen Straßen verwildern heute wie Fanale alte Einfamilienhäuser, was die Stadtteilatmosphäre deutlich verändert. Von den meisten Bewohnern wird dieser zunehmend marode Charme als negativ empfunden. Die Wegzugsbereitschaft der Bewohner stieg damit ebenso an, wie Ortsbindung und Verantwortungsgefühl für das Quartier abnahmen. Nachbarschaftliche Netzwerke und das lokale Sozialkapital, für das H-bach so bekannt war, erodierten mehr und mehr. Die misstrauischen Dispute zwischen „Alten“ und „Neuen“ wurden schlimmer. Vereinzelt kam es zum Zuzug einkommensschwacher Haushalte, zum Teil mit Migrationshintergrund, die gerade von älteren Bewohnern kritisch beäugt und diskriminiert wurden. Ohnehin spürten die Bewohner schon seit längerem die Talfahrt ihres Quartiers. Mit den Zeilenbauten und Mehrfamilienhäusern in Subquartier um die Musterstraße ging es schon seit geraumer Zeit bergab. Die sozialen Probleme waren nicht zu übersehen. Im Rahmen des Programms „Qualitativer Stadtumbau“ kam es ab 2017 zu ersten einzelnen Abrissen. Die Genossenschaft sowie eine größere Hausverwaltung meldete Insolvenz an, verschiedene Privatbesitzer gingen in die Zwangsversteigerung. Die periphere Lage des Quartiers, einst als „USP“ betrachtet, stellte sich mehr und mehr als Standortnachteil heraus: Das Quartier wirkte zunehmend isoliert im Schatten der Kernstadt und konkurrierte erfolglos mit Quartieren in zentraleren Lagen. Es leidet bis heute unter seiner diffusen städtebaulichen Struktur: Weder Dorf noch Stadt, weder besonders idyllisch noch besonders urban.
507 Das „Aus“ für den „Ferropark“
Zusatznachfrage: Fehlanzeige!
Abwärtsspirale(n)
Programm „Qualitativer Stadtumbau“
Der einstige USP als Sargnagel
508
Material- und Szenarienanhang
Bewertung und Ausblick 2030: Re-Etablierung als Standardwohngebiet – bereits ein ehrgeiziges Ziel Städtebauliche Unstruktur als schwere Hypothek
Lokales Sozialkapital als vernachlässigter Entwicklungsfaktor
Problem des Imageverfalls
Bescheidene Ziele
Die heutige städtebauliche Un-Struktur war zwar einerseits einem historischen Entwicklungspfad geschuldet. Andererseits aber geht diese auch auf die Handlungslogiken der lokalen Akteure zurück, die in einem bequemen und relativ ungesteuerten Marktumfeld vielfältige und manchmal kontrastierende Aktivitäten entfalteten, oft in unmittelbarer Nachbarschaft. Der Mangel an Koordination und die schwache Kommune, die es versäumte, stadtentwicklungspolitische Ziele zu formulieren und durchzusetzen, führten zu der heutigen chaotischen städtebaulichen Gemengelage, die dem Quartier sein wichtigstes Potenzial raubte. Aber auch der soziale Erosionsprozess, der bereits vor dem demographischen Strukturbruch einsetzte und destabilisierend wirkte, hätte verhindert werden und damit eine bessere Ausgangssituation für eine „Rettung“ des Quartiers geschaffen werden können. Schon 2007 hieß es im Bewohnerinterview: „Es müssten mehr Vereine da sein, damit sich die Leute besser kennenlernen“ (B_LM1). Es schien, dass hier – ähnlich wie in vielen anderen Wohnquartieren – das lokale Sozialkapital eine der wichtigsten Entwicklungsfaktoren gewesen wäre. Die „lokale Integration“ von Alteingesessenen und Neuzuzüglern, also die Gestaltung des demographischen Umbruchs, hatte zu Anfang noch mit einem engagierten Pfarrer in der Kirchengemeinde H-bachs gut funktioniert, wobei natürlich auch außerkirchliche Strukturen geeignet gewesen wären. Nicht nur die städtebauliche Struktur H-bachs, die man versäumt hatte zu ordnen, war uneindeutig, sondern bald auch dessen Image. In einer Phase, in der das Image kippt, die soziale Struktur bröckelt und die Abwertungsprozesse begonnen hatten, hätte man als konzertierte Aktion von Bewohnern, Eigentümern, Stadtverwaltung und anderen lokalen Akteuren versuchen müssen, das Quartiers als Ganzes aufzufangen. Hier wäre z. B. ein „Neighbourhood Branding“-Prozess viel versprechend gewesen. Durch den Mangel an Koordination wurde das Quartiersschicksal jedoch durch historische Pfadabhängigkeiten, Konflikte, willkürliche Aushandlungen, zufällige Akteurskonstellationen, Einzelpersonen und Alleingänge bestimmt. Von allzu ehrgeizigen Zielen für H-bach muss man sich heute, im Jahr 2030, verabschieden. Ambitioniert wäre es, aus dem ehemaligen identifikativen Quartier zumindest ein funktionierendes Suburb-ähnliches, urban überprägtes Standardwohngebiet zu machen. Das H-bach, wie es noch die Alten kannten, ist endgültig Geschichte geworden.
2
Ausgewählte Strukturdaten der Quartiere
Tabelle 10: Quartiers-Strukturdaten (Teil 1)
Städtebaulicher Typ
Lage
Bebauungsdichte**
Typ F: Postmoderne
Stadtrand
dicht
Typ C: Aufbau
Stadtrand
mittel
Typ G: Wüstenrot Typ E: Platte Ost
Stadtrand Stadtrand
locker dicht
Typ E: Platte Ost
Innensstadt
dicht
Kottbusser Tor/ Wassertorplatz
Typ D: Urbanität, sowie Typ A: Industrie
Innensstadt
dicht
Märkisches Viertel
Typ D: Urbanität
Stadtrand
dicht
Neutempelhof
Typ B: Utopie
Innenstadtrand
mittel
Plänterwald
Typ C: Aufbau
Innenstadtrand
dicht
Stadtrand
dicht
Stadtrand
dicht
Quartier Berlin Am Krusenick Belß-LüdeckeSiedlung Fort Hahneberg Hans-Loch-Viertel Karl-Marx-Allee Süd
Pulvermühle Typ F: Postmoderne Brandenburg/Havel Hohenstücken Typ E: Platte Ost Kirchmöser
Typ H: Village Revisited
Innenstadtrand
locker
Nord Essen
Typ C: Aufbau
Innenstadtrand
mittel
Stadtrand*
locker
Stadtrand
dicht
Stadtrand* Innenstadtrand
mittel locker
Fulerum-Haarzopf
Typ H: Village Revisited, sowie Typ G: Wüstenrot
Horst (SteeleHorst, Hörsterfeld) Katernberg Margarethenhöhe
Typ D: Urbanität, sowie Typ H: Village Revisited Typ A: Industrie Typ B: Utopie
Überruhr-Hinsel
Typ H: Village Revisited, sowie Typ G: Wüstenrot
Stadtrand*
locker
Vogelheim
Typ A: Industrie, sowie Typ G: Wüstenrot
Stadtrand*
mittel
510
Material- und Szenarienanhang
Leipzig Marienbrunn
Typ B: Utopie
Stadtrand
dicht
Mölkau
Typ H: Village Revisited
Stadtrand
locker
Innenstadtrand
dicht
Stadtrand
dicht
Innenstadtrand
dicht
Schleußig
Typ A: Industrie
Schönefeld-Ost
Typ C: Aufbau
Volkmarsdorf
Typ A: Industrie
* Lage in der Übergangszone zur Nachbarstadt ** eigene Setzung auf Grundlage der Vorortbegehungen sowie Einwohner-Dichten
Tabelle 11: Quartiers-Strukturdaten (Teil 2) Quartier Berlin Am Krusenick Belß-LüdeckeSiedlung Fort Hahneberg Hans-Loch-Viertel
Einwohner 2005
Altersstruktur*
Ausländeranteil in % 2005
Anzahl WE 2005**
1.353
homogen alt
2
ca. 750
5.384
heterogen
15
k.A.
2.521 18.819
homogen jung homogen alt
5 12
k.A. k.A.
Karl-Marx-Allee Süd
10.368
homogen alt
7
ca. 4.700
Kottbusser Tor/ Wassertorplatz
5.452
homogen jung
39
ca. 2.000
Märkisches Viertel
28.635
heterogen
10
ca. 15.000
Neutempelhof
3.644
heterogen
9
k.A.
Plänterwald
7.469
homogen alt
2
ca. 4.000
Pulvermühle Brandenburg/Havel Hohenstücken
3.551
homogen jung
31
ca. 1.500
10.538
homogen jung
6
8.100
Kirchmöser
4.337
homogen alt
0
2.750
Nord Essen
10.389
homogen alt
3
6.100
Fulerum-Haarzopf
10.089
homogen alt
2
5.200
Horst (Steele-Horst, Hörsterfeld)
10.702
homogen jung
7
5.100
Katernberg Margarethenhöhe Überruhr-Hinsel Vogelheim
23.775 7.529 8.387 6.232
homogen jung heterogen homogen alt homogen jung
17 5 3 16
11.250 3.850 4.350 2.900
511
2 Ausgewählte Strukturdaten der Quartiere
Leipzig Marienbrunn
6.004
homogen alt
4
3.200
Mölkau
6.201
homogen alt
1
2.750
Schleußig
11.424
homogen jung
4
6.000
Schönefeld-Ost
9.957
homogen alt
3
5.950
Volkmarsdorf
8.315
homogen jung
15
6.900
* eigene Berechnung auf Grundlage amtlicher Altersstrukturdaten ** Wohneinheiten: für Brandenburg 2006, für die Berliner Quartiere liegen nur ungefähre Werte vor, restliche Angaben gerundet
Tabelle 12: Quartiers-Strukturdaten (Teil 3)
Quartier
Sinus-Miliues 2005 (Zuordnung zu MilieuSegment)**
Sinus-Milieus 2005 (Anteile der wichtigsten Einzelmilieus)***
Berlin Am Krusenick
v.a. traditionelle Milieus
Belß-LüdeckeSiedlung
relativ ausgeglichene MilieuStruktur
Fort Hahneberg
v.a. Mainstream-Milieus
Hans-Loch-Viertel v.a. traditionelle Milieus Karl-Marx-Allee v.a. traditionelle Milieus Süd Kottbusser Tor/ Wassertorplatz
v.a. hedonistische Milieus
Märkisches Viertel
v.a. hedonistische Milieus
Plänterwald
relativ ausgeglichene MilieuStruktur v.a. traditionelle Milieus
Pulvermühle
v.a. Mainstream-Milieus
Neutempelhof
Brandenburg/Havel relativ ausgeglichene MilieuHohenstücken Struktur v.a. traditionelle und Kirchmöser Mainstream-Milieus Nord v.a. traditionelle Milieus
50% DDR / 27% TRA, sowie 21% MAT 20% BÜM / 19% MAT /13% HED / 12% EXP 45% MAT / 23% BÜM, sowie 17% PER 51% TRA / 38% DDR 45% TRA / 42% DDR 36% EXP / 32% HED, sowie 12% MAT 30% HED / 28% EXP, sowie 19% ETB 28% BÜM / 20% PMA / 16% ETB / 13% HED 50% DDR / 27% TRA 43% MAT / 29% BÜM, sowie 12% EXP 29% DDR / 13% TRA / 12% EXP / 11% PER 28% DDR/ 24% BÜM / 23% TRA 39% DDR / 32% TRA
512
Material- und Szenarienanhang
Essen Fulerum-Haarzopf
v.a. traditionelle und Mainstream-Milieus
31% TRA / 30% BÜM / 16% KON
Horst (SteeleHorst, Hörsterfeld)
relativ ausgeglichene MilieuStruktur
25% MAT / 24% BÜM / 18% TRA / 17% EXP
Katernberg
v.a. Mainstream-Milieus
Margarethenhöhe
v.a. traditionelle und Mainstream-Milieus
Überruhr-Hinsel
v.a. Mainstream-Milieus
34% MAT / 28% BÜM, sowie 20% TRA
Vogelheim
v.a. Mainstream-Milieus
33% MAT / 25% BÜM, sowie 24% EXP
35% MAT / 28% BÜM, sowie 18% EXP 32% TRA / 29 % BÜM / 13% MAT
Leipzig Marienbrunn
relativ ausgeglichene MilieuStruktur
Mölkau
v.a. Mainstream-Milieus
Schleußig
v.a. Leit-Milieus
Schönefeld-Ost
v.a. traditionelle Milieus
Volkmarsdorf
relativ ausgeglichene MilieuStruktur
29% TRA / 16% DDR / 15% PMA 46% BÜM, sowie je 10% DDR, TRA, ETB 41% PMA / 24% PER 31% DDR / 31% TRA, sowie 12% ETB 25% PER / 25% BÜM / 12% EXP / 11% HED / 11% MAT
* eigene Berechnung auf Grundlage amtlicher Altersstrukturdaten ** Leitmilieus = ETB, PMA, PER; Traditionelle Milieus = KON, TRA, DDR; MainstreamMilieus = BÜM, MAT, Hedonistische Milieus = HED, EXP (Quelle: vhw, Sinus/Mosaic) *** ETB = Etablierte, PMA = Postmaterielle, PER = Moderne Performer, KON = Konserative, TRA = Traditionsverwurzelte, DDR = DDR-Nostalgiker, BÜM = Bürgerliche Mitte, MAT = Konsum-Materialisten, HED = Hedonisten, EXP = Experimentalisten (Quelle: vhw, Sinus/Mosaic)
3
Liste der Experteninterviews
Im Rahmen der Studie wurde zum einen eine Delphi-Befragung durchgeführt, die weiter unten dokumentiert ist. Zum anderen wurden zwischen 2006 und 2009 in den vier Modellstädten zahlreiche Experten- und Bewohnerinterviews durchgeführt, die einen Bezug zu den Untersuchungsquartieren hatten. Die Bewohnerinterviews (im Text kodiert mit „B_“) waren anonym und werden hier nicht weiter aufgelistet. Jedoch können in der folgenden Tabelle die Expertengespräche (im Text anonymisiert mit „E_“) aufgeführt werden. Mit manchen Experten wurden auch zwei Gespräche geführt, in wenigen Fällen auch telefonisch. Einige der hier aufgeführten Experten wurden gebeten, auch bei der Delphi-Befragung mitzuwirken. Tabelle 13: Liste der Experteninterviews
Name
Bezugsstadt*
Institution/Firma
Herr Franke Herr Hallenberg Frau Bastgen Frau Batzke Frau Berfelde Frau Dr. HelbigͲZschäpe, Herr Berg Frau Dr. Jung Frau Hamm Frau Liebenthal Frau Pfau Frau Plate
Alle Quartiere Alle Quartiere Berlin Berlin Berlin Berlin
Frau Reile Frau Reute Frau Ulbrich Frau Villnow Frau Woldt, Herr SchöͲ neberg Herr Burucker, Frau Naujokat Herr Dr. Kirsch Herr Nordmann
Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin
Deutsches Institut für Urbanistik vhw Bundesverband Gesobau WBM/WBF Bezirksamt TreptowͲKöpenick Wohnungsgenossenschaft SolidariͲ tät Bezirksamt TreptowͲKöpenick GSW/gsub Bezirksamt SteglitzͲZehlendorf Bezirksamt TreptowͲKöpenick Senatsverwaltung für StadtentwickͲ lung HAMKON Hausverwaltung HOWOGE Bezirksamt Lichtenberg Bezirksamt Reinickendorf GSW
Berlin
GSW
Berlin Berlin
Fundus Grund und Boden Wohnungsgenossenschaft VorͲ wärts
Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin
514
Material- und Szenarienanhang
Herr Petters Herr Schwarz Herr Vogel Frau Hube Frau Seeber Herr Dr. Kinder
Berlin Berlin Berlin Brandenburg adH Brandenburg adH Brandenburg adH
Herr Meine Herr Schulze Frau Daume, Herr Gottier Frau Lückel Herr Baer, Frau Hoth Herr Dr. Rommelspacher Herr Odendahl, Herr Ungewitter Herr Vonderreck, Frau Herbrand Herr Wermker Herr Wilke Frau Gillner, Frau Dr. Haase Herr Bernt Herr Geiss Herr Heinig Herr Schirmer
Brandenburg adH Brandenburg adH Essen
WBG Treptow Nord Bezirksamt TempelhofͲSchöneberg Bezirksamt Spandau Stadtplanungsamt BG Kirchmöser Geographisches Institut der HU Berlin WBG Brandenburg Stadtplanungsamt Paul Sahle Immobilien
Essen Essen Essen Essen
Allbau Gagfah Regionalverband Ruhrgebiet Deutsche Annington
Essen
LEG Wohnen Dortmund
Essen Essen Leipzig
Büro Stadtentwicklung Bürgerladen H. LWB
Leipzig Leipzig Leipzig Leipzig
UFZ Amt für Stadterneuerung Amt für Stadtentwicklung Quartiersmanagement V.
4
Liste der Delphi-Experten
Angegeben sind in der folgenden Tabelle diejenigen Expertinnen und Experten, die an der ersten Befragungswelle teilgenommen haben. An der zweiten Befragung hat eine Teilmenge der hier Genannten partizipiert, die aber aus Gründen der Anonymität hier nicht expliziert werden soll. Tabelle 14: Liste der beteiligten Delphi-Experten (1. Welle) Positionen /akad. Grade beziehen sich auf den Zeitpunkt der Delphi-Befragung* Iris Ammann
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Referat II 12, Bonn
Dr. Matthias
Bernt Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, Leipzig
Dr. Wolfgang Bohleber
BBU e.V., Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V., Bereich Wohnungswirtschaft
Peter Bolz
vormals Sozialmanager bei „Stadt und Land“, Berlin
Dr. Wolfgang Börstinghaus
Stadt Flensburg, FB 4, Umwelt und Planen, Stadtentwicklung und Statistik
Prof. Dr. Jens S. Dangschat TU Wien, Department für Raumentwicklung, Infrastruktur und Umweltplanung Prof. Dr. Matthias Drilling
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Sozialplanung und Stadtentwicklung, Basel
Prof. Dr. Volker Eichener
Geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor, InWIS GmbH, Bochum
PD Dr. Andreas Farwick
Universität Bremen, Institut für Geographie
Thomas Franke
Deutsches Institut für Urbanistik, Arbeitsbereich Stadtentwicklung, Recht und Soziales, Berlin
Dr. Manfred Fuhrich
Referatsleiter, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Referat I 2 Stadtentwicklung, Berlin
Prof. Dr. Paul Gans
Universität Mannheim, Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie
Dr. Dirk Gebhardt
EUROCITIES, Brüssel
Dr. Oliver Gewand
giwes Gesellschaft für immobilienwirtschaftliche Forschung und Stategieberatung mbH, Berlin
Dr. Jan Glatter
Technische Universität Dresden, Institut für Geographie
Prof. Dipl.Ing. Kerstin Gothe Universität Karlsruhe, Fachgebiet Regionalplanung und Bauen im Ländlichen Raum
516
Material- und Szenarienanhang
Dr. Annegret Haase
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Department Stadt- und Umweltsoziologie, Leipzig
Silke Hamm
gsub Gesellschaft für soziale Unternehmensberatung mbH, Projektleiterin PSS „Zukunftsinitiative Stadtteil“, Berlin
Stefan Heinig
Stadt Leipzig, Stadtplanungsamt, Abteilungsleiter Abt. Stadtentwicklungsplanung
Dr. phil. Dr. Ing. Bernd Hunger
GdW, Referat Wohnungsbau, Städtebau, Forschung u. Entwicklung, Berlin
PD Dr. Sigrun Kabisch
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leiterin Department Stadt- und Umweltsoziologie, Leipzig
Dr. Jens Kirsch
Allgemeiner Grund & Boden Fundus Vermittlungsgesellschaft mbH, Berlin
Prof. Dr. Hans-Dieter Laux
Universität Bonn, Geographisches Institut
Phillip Mühlberg
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Referatsleiter Referat „Soziale Stadt“, Berlin
Sabine Nakelski
MBV Ministerium für Bauen und Verkehr (NRW), Abt. Städtebau, Berlin
Mathias Nordmann
Wohnungsbaugenossenschaft „VORWÄRTS“ eG, Abteilungsleiter Vermietung, Berlin
Dr. Ing. Hans-Ulrich Oel
Leiter des Referats „Demografischer Wandel“ in der Staatskanzlei Brandenburg
Prof. Dr. Elke Pahl-Weber
TU Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung, Fachgebietsleiterin, Berlin
Andreas Peter
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Department Stadt- und Umweltsoziologie, Leipzig
MR Dr. Wolfgang Preibisch
Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Referatsleiter, Berlin
Dr. Bettina Reimann
Deutsches Institut für Urbanistik, Arbeitsbereich Stadtentwicklung und Recht, Berlin
Prof. Dr. Ruth Rohr-Zänker
StadtRegion – Büro für Raumanalysen und Beratung, Celle
Dr. Thomas Rommelspacher
RVR Essen, Bereich III Planung, Bereichsleiter
Birgit Schultz
Friedrich-Ebert-Stiftung, Leiterin Revision, Bonn
Helge Schulze
Stadt Brandenburg, Stadtplanungsamt
Martin Schwarz
Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin, Abteilung Bauwesen, Fachbereich Planen
517
4 Liste der Delphi-Experten
Prof. Dr. Klaus Selle
RWTH Aachen, Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung
Markus Sigismund
Bundesministerium für Verkehr, Bauen und Stadtentwicklung, Referat A34 Wirtschafts- und Strukturdaten, Statistik und Sondererhebungen, Berlin
Roswitha Sinz
vdw Rheinland Westfalen e.V., Abteilungsleiterin, Köln
MinDir Manfred Sinz
Unterabteilungsleiter Grundsatzfragen, Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Berlin
Dr. Annett Steinführer
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Department Stadt- und Umweltsoziologie, Leipzig
Rita Tölle
Ministerium für Bauen und Verkehr (NRW), Abt. Wohnungsbau, Wohnungs- u. Siedlungsentwicklung, Düsseldorf
Martin Vogel
Bezirksamt Spandau von Berlin, Stadtplanungsamt
Anne Vogelpohl
TU Berlin, Center for Metropolitan Studies (CMS)
Michael Wagner
HOWOGE Wohnungsbaugesellschaft mbH, Bereich Bestandsmanagement, Berlin
Dr. Heinz Wirries
Berater, ehemaliger Geschäftsführer der GSW, Berlin
Dr. Ralf Zimmer-Hegmann
ILS NRW, FB IV Stadtentwicklung und Wohnungswesen, Dortmund
* geordnet nach Alphabet
Anhang im OnlinePLUS-Programm Zusätzlich zu dem Szenarien-Anhang kann im OnlinePLUS-Programm unter www.VS-Verlag.de und dem Namen des Autors auf folgende ergänzende Materialien zugegriffen werden: Anhang I:
Erläuterungen zu den Bevölkerungs-Modellrechnungen Prinzip des Rowland-Modells Getroffene Annahmen für die Quartiers-Modellrechnungen
Anhang II:
Wohnungsmarktanalysen der vier Untersuchungsstädte Berlin Brandenburg/Havel Leipzig Essen Gesamtfazit
Anhang III:
Dokumentation beider Delphi-Fragebögen