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Band 45 der Bibliothek Suhrkamp
Julien Green Der andere Schlaf Roman Deutsch von Carlo Schmid Mit einem Nachwort ...
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SV
Band 45 der Bibliothek Suhrkamp
Julien Green Der andere Schlaf Roman Deutsch von Carlo Schmid Mit einem Nachwort versehen von Rein A. Zondergeld
Suhrkamp Verlag
Titel der Originalausgabe: L'AUTRE SOMMEIL Paris • Gallimard
Fünftes und sechstes Tausend 1980 Alle Rechte vorbehalten • Printed in Germany Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden scan by párduc
ö 2002
Der andere Schlaf
Wer weiß, ob diese andere Hälfte des Lebens, darin wir wach zu sein wähnen, nicht ein anderer, von jenem ersten um ein Geringes unterschiedener Schlaf ist, aus dem wir, wenn wir zu schlummern glauben, erwachen. Pascal
Ich überquere den Pont d'Jéna nie, ohne mich eine Weile mit den Ellenbogen auf die Brüstung der Brücke zu stützen. Geschah es hier oder ein wenig weiter vorn? Mir ist, als ob es ungefähr auf der Mitte der Brücke gewesen sei, dort, wo man nach Saint Cloud hinschaut. Mein Vetter faßte mich unter den Armen und hob mich in einem Schwung auf das steinerne Gesims. Aufrecht und mit vor Schreck stockendem Atem schloß ich die Augen und verkrampfte die Finger. Dann drang Claudes Stimme zu mir, ein wenig knapper als gewöhnlich: „Hältst du die Augen auf? Siehst du die Schwaneninsel? Grenelle auch?“ Meine Antwort verwehte der Wind, wenn er mich nicht zwang, meine Worte zu verschlucken. Ich hatte
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Angst. Ich fühlte die Hände meines Vetters an meinen Fußgelenken beben, die sie mit zu festem Druck umfangen hielten. Beim Wiederaufschlagen der Augen befiel mich leichter Schwindel. Der Himmel über meinem Kopfe bewegte sich von rechts nach links, und die Riesenplatanen, die den Strom säumen, neigten sich zitternd und reckten sich neu im Sonnenlicht. Die Seine wälzte majestätisch ihre schmutzigen Fluten. Entlang dem Hafen blieben von meiner Angst unberührte Spaziergänger stehen, um aufs Wasser niederzuschauen, und nahmen schleppenden Fußes ihren Wandel wieder auf. Ein Sandhaufen, aufgeschichtete Backsteine verbargen sie einen Augenblick lang, dann wurden sie wieder sichtbar, aber sie sahen so klein aus, daß mein Herz sich zusammenzog und ich die Augen wegwenden mußte. Mein Blick ging in einer Art von Trunkenheit unter wie ein scheiterndes Schiff, und ich sah nichts mehr, weder die Schwaneninsel, noch Grenelle, noch die Müßiggänger an der Hafenmauer – ich sah nur noch, verloren in einem Himmel, den sie mit ihren Strahlungen füllte, die weiße Nacktheit der Statuen, die auf den Strom niederblickten. Ich weiß nicht, ob dieses Spiel Claude Spaß 8
machte. Wenn ich es recht überdenke, möchte ich glauben, daß sein Entsetzen dem meinen gleich kam, denn ich bemerkte oft eine tiefe Blässe auf seinem Antlitz, wenn er mich wieder zum Boden niederhob, und daß die Hände ihm bebten, sagte ich schon. Aber er machte eine eigentümliche Ehrenfrage daraus, die Brücke nicht zu überqueren, ohne mich hoch über den Fluten hinzustellen, mich damit einem entsetzlichen Sturze aussetzend. Aus Eitelkeit ließ ich mir diese Folter gefallen. Ich wollte nicht, daß er mich verdächtigte, feige zu sein. Er war fünf Jahre älter als ich, der ich deren nur acht zählte, und ich wäre ohne zu murren mit noch rauheren Prüfungen einverstanden gewesen, damit ich seine Achtung nicht verlöre. Er sagte fast nie etwas zu mir; das ihm eigene Stillesein verließ ihn, für eine kleine Weile nur, wenn wir über die Brücke gingen, und dann sprach er zu mir in einer Art von Fieber, das den prallen Glanz seiner Augensterne noch lebendiger machte: „Wenn ich dich jetzt dahinauf stellte, wie das letzte Mal? Du könntest mir dann sagen, was du sehen kannst.“ Und dann begann unter den Blikken der Spaziergänger, die, darin allen Spazier9
gängern der Erde gleich, diesen Vorspielen eines möglichen Dramas mit tierhafter Ruhe beiwohnten, das gefahrvolle Geturne. Ich sagte keinem Menschen ein Wort von den Exerzitien, denen wir uns auf dem Pont d'Jéna unterzogen. Ein Blick, den Claude über die Schulter meiner Mutter warf, während sie mich ausfragte, hatte ausgereicht, um mir völliges Stillschweigen über die Einzelheiten meines Nachmittags aufzuerlegen. Im übrigen fand ich mich ohne Schwierigkeit damit ab, nicht davon zu reden. Ganz im Gegenteil hatte ich Gefallen daran, mich um ein Geheimnis reicher werden zu lassen. Ein unwiderstehlicher Instinkt trieb mich, zwischen meinen Verwandten und mir Schlagbäume niederzulassen. Jede List war mir gut genug, um die Hellsichtigkeit meiner Eltern zu täuschen, wenn sie nur nicht bis zur Lüge ging. So hätte ich „Ja“ geantwortet, wenn man mich gefragt hätte: „Bist du auf die Brüstung des Pont d'Jéna gestiegen?“, aber es kam niemand in den Sinn, eine so ausgefallene Frage zu stellen. Und da ich es mit einer zerstreuten Mutter zu tun hatte und mit einem Vater, den es wenig interessierte, wie ich meine Tage verbrachte, war es alsdann nicht schwer, um
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ein allzu genaues Verhör herumzukommen. Meine Gewandtheit bestand darin, daß ich mit einem großen Wortschwall von kleinen Dingen redete, die ich auf der Straße bemerkt hatte, und viel mehr darüber sagte, als man von mir hören wollte. Mein Vater wurde dieses Geschwätzes rasch müde und hieß mich schweigen, lange eh ich beim Pont d'Jéna angelangt war. Ich fand mich mit meinem Gewissen im reinen, das ich schmählich mißhandelte, und meine Eltern schickten mich mit der ahnungslosen Unschuld der Erwachsenen ins Bett oder zum Spielen, ohne sich mehr um mich zu kümmern. Wir bewohnten damals in der Talsenke der rue de Passy ein altes Haus, von dem aus man die vordersten Bäume des Bois de Boulogne sehen konnte. Seit Mietersgedenken war seine Fassade nicht mehr verputzt worden, und man konnte auf dem grauen Stein die dunklen Flecke sehen, mit denen die Fensterläden ihn gezeichnet hatten. Eines baldigen Tages wird es von selbst zusammenbrechen, es sei denn, ein Abbruchunternehmer helfe ihm dabei. Vielleicht werden dann im Gekrache der stürzenden Mauern sich von diesen Steinen Schreie lösen, denen gleich, die, der Sage 11
nach, aus den auf gebrochenen Türmen der Bastille zum Himmel drangen. Das Zimmer meiner Mutter ging auf einen nur mäßig instandgehaltenen Garten. Eine alte Platane überwölbte mit ihren Zweigen einen Rasen, den sie mit ihren breiten Blättern deckte, ohne daß irgend jemand daran gedacht hätte, sie von dort wegzuräumen. Seit vielen Herbsten faulten sie im Grase, und an den Regentagen – so gegen die Oktobermitte hin – stieg ein melancholischer und köstlicher Duft durch das offene Fenster bis zu mir hinauf und brachte mich ans Sinnen. Ich hielt in meinen Spielen ein und sog diese Atemluft des Todes in meine Lungen. Unvermittelt legte ich meine Eisenbahn, meine Bleisoldaten weg, und die tiefe Stille, deren ich nicht inne geworden war, umgriff mein Herz. Heute noch höre ich, beim Gang durch gewisse Straßen – einmal oder zweimal im Jahr –, wenn die Luft frisch ist, wenn sie dieses Etwas an Jungfräulichem an sich hat, das man beim Nahen des Herbstes spürt, die Anrufe meiner Kindheit. Da rückt alles fern und löscht sich in der Nacht des Bewußtseins aus; gegenwärtig sind allein diese unterschiedenen Stimmen, und nur sie höre ich 12
noch. Ach, daß man jene Minute nicht wiederfindet, wo das Herz laut klopfte, wo das von Träumen beschwerte Haupt sich über ein Bild im Buche beugte, in den Augenblicken, da wir nicht wagten, die Seite umzublättern, aus Angst, die wundersame Unbewegtheit der Dinge rings um uns zu trüben! Auf dem Boden kauernd – zwischen Tür und Kamin – hielt ich manchmal meinen Atem an und rührte mich nicht, so schreckte mich diese Stille, die sich noch vertiefte, und das schattenhafte Dunkel, das im Zimmer immer dichter wurde. Über dem Ausklang eines schönen Ferientages, eines einsamen schulfreien Tages, so angefüllt mit Erinnerungen und Bekümmernis über Versäumtes und Verlorenes, erfaßte ich nicht, wie der Abend niederstieg. Vergebens heftete ich meine Blicke auf die weiße Tür, auf der die letzten Strahlen des Lichtes lagen – immer kam der Augenblick, da ich sie fast nicht mehr sah, dann gar nicht mehr, all dies außerhalb jeder Wahrnehmbarkeit. Ich vermochte nicht einmal mehr, meine Hände auszumachen. Dann wurde das Fenster ganz schwarz, und hinter den Gardinen aus Tüll gingen schimmernde Sterne auf ihre Bahn. Nun nahm ich meine Lieder wieder auf, die ich mit unsicherer Stimme summte, und 13
wenn mit einem Schlage mit der Nacht der Schrekken auf mich niederbrach, stand ich mit einem Sprunge auf und jagte aus diesem Zimmer. Solcherlei widerfuhr mir oft. Ich machte täglich die Erfahrung der Angst: sie beherrschte meine ersten Lebensjahre, und sicher verdanke ich es meinem Wissen um sie, daß mich mutige Herzen so anziehen. Meine Schüchternheit erhielt nie tiefere Wunden als jene, die Claude ihr schlug. Seine grausamen Vergnügungen formten mich, und ich wäre heute weniger fest, wenn ich vordem weniger gezittert hätte. Ich sah ihn nicht oft. Jeden zweiten Sonntag ging er mit mir aus, weil meine Mutter es von ihm verlangte, aber ich zweifle, daß er Gefallen daran fand. Vielleicht haßte er mich um des Zwanges willen, den auf seinen Spaziergängen ihm meine Gegenwart auferlegte. War das seine Rache, daß er mich auf die Brüstung steigen hieß? Aber ich mag noch so viel nachdenken – ich kann mich nicht erinnern, daß er mir ein hartes Wort gegeben oder einen bösen Blick zugeworfen hätte. Meine Eltern mochten ihn nicht recht. Vor allem mein Vater traute ihm nicht. Gelegentlich konnte ich ihn sagen hören: „In den meisten von uns lebt
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ein Gemisch von Gut und Böse; ihn drängt alles dem Bösen zu.“ Diese Worte kamen mir verwunderlich vor und rückten mich in dem Maße an meinen Vetter heran, als sie mich von meinem Vater entfernten. Was mich so traf, war weniger, daß Claude so ganz und gar dem Bösen zugeordnet wurde, als daß er so verschieden von uns sein sollte. In dieser Aburteilung sah ich eine Erhöhung: von dem gemeinen Haufen der Normalmenschen durch einen Graben geschieden, umgab ihn in meinen kindlichen Augen der verführerische Glanz des Geächteten. Ich weiß nicht, welche Klasse er damals gerade wiederholen mußte. Mag es die Quarta oder Quinta gewesen sein, jedenfalls überragte er seine Mitschüler an Haupt und Schultern – nicht weil er zu schnell gewachsen wäre, sondern weil er immer der Älteste war. Sein Jünglingsleib beugte sich über Schulbänke, die für Kinder recht gewesen wären und ihn mitten durchbogen. Gerüchte gaben uns Kunde von der schlimmen Meinung, die man sich im Gymnasium über ihn bildete. Er war die Sorge, die Furcht, die Verlegenheit seiner Lehrer. Sein regloser Blick ließ den Tadel auf ihren Lippen zu Eis werden. Mehrere Male wurde davon gespro15
chen, ihn zu relegieren, aber man hätte einen Grund haben müssen, der diese Maßnahme gerechtfertigt hätte, und sein Betragen gab keinen her. Keine Frechheit, nicht das geringste Zeichen der Unordnung waren gegen ihn festzustellen. Auf der Nichtskönnerbank hinten im Schulzimmer sitzend bot er einem machtlosen Lehrer die Stirn und fünfunddreißig Schülern das Schauspiel triumphierender Faulheit. Umsonst prasselten Drohungen donnernd auf ihn nieder – Spott und Hohn verschossen ihre Pfeile vor diesem Empörerhaupt, das sich nicht beugen wollte. Die Schüchternheit, an der ich litt, fand sich bei meinem Vater wieder: er wußte nicht, wie er es anstellen sollte, um Claude den Kopf zu waschen; sein Fehler war, daß er den Auftritt vorbereitete, daß er Drohungen und Beschimpfungen wiederkäute. So hatte beim Erscheinen des Schuldigen sein Zorn schon längst den Atem verloren; es blieb nichts übrig als eine kalte Rede, die mein Vater schambedeckter Stirn herunterleierte. Mein Vetter hörte sich diese Worte an, mit allen äußeren Zeichen des Respektes – wäre nicht ein unmerkliches Lächeln gewesen, das auf irgendwelchen Wegen zu seinen Augen aufstieg und darin einen Schim16
mer von Heiterkeit zum Blinken brachte. Solche Herausforderung hätte bei einem stolzeren und entschlosseneren Menschen einen Wutanfall ausgelöst, aber mein Vater war nicht von diesem Schrot. Bei ihm erstickte die Eitelkeit die Beherztheit. Unfähig, seinem Gegner eine kraftvolle Antwort zu geben, wich er heftigen Auseinandersetzungen aus und tat so, als sähe und hörte er nichts, wo doch Hören und Sehen bedeuteten, dem Streich die Wange zu bieten. Am Ende seiner Ansprache verließ er ohne Übergang das Zimmer und verschanzte sich für den Rest des Tages in einem tiefen Schmollwinkel. Ein andermal freilich trieb er die Kühnheit so weit, ein mit Nullen besterntes Trimesterzeugnis zusammenzuknüllen und seinem Neffen vor die Füße zu werfen. Nichts in Claudes Haltung ließ darauf schließen, daß er die Gebärde bemerkt hätte, aber als wir wieder allein waren, stieß er die Papierkugel mit der Stiefelspitze gegen mich und hob die Schultern mit einem Ausdruck der Verachtung, den nichts wiedergeben könnte. Ich bewahrte Schweigen. Auf dem Korridor entfernte sich rasch der Hall der zu eiligen Schritte meines Vaters. Solche Auftritte wühlten mich auf. Ich weiß nicht, welcher Zorn mich ergriff, wenn ich 17
die Vorwürfe hörte, die man gegen meinen Vetter erhob. Hätte ich es gekonnt – an diesem Tage wäre ich, so ist meine Meinung, vor meines Vaters Ankunfthinausgegangen. Claude beobachtete mich einen Augenblick lang. Ich hörte das Geräusch, das er mit seinen Schlüsseln und Groschen machte, die er in den Tiefen seiner Hosentasche hin und her bewegte, und senkte unter seinem Spötterblick das Haupt; dann hob er aufs neue die Schultern, war im Begriff, etwas zu sagen, fing sich wieder und ging hinaus. Er war ein großer Bursche, grobschlächtig, und immer waren seine Haare ein wenig durcheinander. Er hatte lange auf dem Lande gelebt und bewahrte noch die Gewohnheiten eines Lebens unter Bauern. Seine am Morgen, wie es sich gerade gab, gebundene Krawatte verschwand kurz danach und brachte den Tag in einer Schublade oder unter einem Bett zu Ende. An seinem Hemde fehlten Knöpfe. Nur in der Unordnung gefiel er sich. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie zu zerwühlen; er knöpfte den Kragen auf. Diese Ungeschliffenheit mißfiel nur halb, weil man spürte, daß sie in seiner Natur lag und ein gepflegtes Äußere nicht zu ihm gepaßt hätte. Selbst mein Vater, der über
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die Art, wie man sich anzuziehen hatte, um als ,correct’ gelten zu dürfen, abergläubische Vorstellungen in sich großzog, gab in diesem Punkte, wie in anderen, nach und begnügte sich zu brummen. Was mich anlangt, so hatte ich den Eindruck, daß Claude in den Straßen einer Großstadt nicht am Platze war und auch nicht im Zimmer einer Etagenwohnung. Seine wettergebräunten Wangen ließen mein von der Luft der Stadt Paris verweichlichtes Gesicht bleich erscheinen. Wenn ich seine Augen mit ihren grauen Pupillen, darinnen blaue Wolken schwammen, anschaute, glaubte ich die Bäume und Bäche zu erblicken, die sie gekannt hatten. Mit ihm drang in meine Kammer etwas, das es nur auf dem Lande gibt; Frische, ein Ruch von Erde und von Gras schwamm in den Falten seiner Kleider, als sei er noch diesen Morgen durch Wälder und Auen gestrichen. Alles in seinem Wesen wehrte sich gegen die Erziehung, die man ihm zudachte. Man konnte ihn nicht demütigen, indem man über seine Manieren, seine Unwissenheit oder seinen Akzent lachte, in dem sich noch bäuerliche Klänge tummelten. Ein hochmütiges Schweigen antwortete den Spitzen der Spötter. Mein Vater sagte von ihm – wenn er nicht dabei war –, daß 19
es eine Peitsche gebraucht hätte, um ihm ein Wort zu entreißen. Aber die Vorstellung, daß man Hand an Claude legen könnte, erschien mir ausgefallen und ein Ärgernis. Er war Waise, als meine Eltern ihn aufnahmen. Er trug, so glaube ich, ihnen ihre Guttat eher nach, als daß er Dankbarkeit für sie empfand. Zu wissen, ob er gut oder böse sei, kümmert mich wenig, aber ich habe immer gedacht, daß er sich weniger kalt und verbindlicher denen gegenüber erwies, die keinen Anspruch auf seine Dankbarkeit hatten. Diese Schuld, die man unbewußt bei ihm anmahnte, lastete auf seiner Jugend und verdüsterte sie. Meine Mutter insbesondere machte ihn mit ihren Liebesbezeugungen fertig. So wie andere schön sind, war sie auf eine knallige und herausfordernde Art gütig. Die Nachricht eines auch nur leichten Mißgeschickes entlockte ihr ein Gestöhn, das einem Mordbericht Ehre gemacht hätte. Sie verschwendete an jeden Hergelaufenen Tränen, vorausgesetzt daß er von Unannehmlichkeiten einigen Ausmaßes zu erzählen wußte. So wenig echtes Mitgefühl sie für Claude hegte, so sehr bewunderte sie ihren Neffen dafür, daß er so jung ohne Vater und Mutter dastand. In diesem düster-
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sinnigen Gymnasiasten hätschelte sie das Waisenkind. Sie zog in ihm die Erinnerung an seine Toten groß, rief ihm ihr Nichtmehrdasein ins Gedächtnis und die Unmöglichkeit, sie jemals wiederzusehen. Mit Ausbrüchen ungeschlachter Pietät schloß sie ihre Gruft wieder auf, weinte in die Locken Claudes, den sie nicht liebte, und erbarmte sich gar schrecklich eines Schmerzes, der vielleicht gerade noch in ihrer Phantasie Bestand haben mochte. Doch erschöpfte sich ihre zärtliche Hingabe an das Leid nicht in Seufzern. Die Sorge, mit der sie meinen Vetter umhegte, konnte auch tätigere Formen annehmen. Drei oder vier Franken Taschengeld, die sie donnerstags in die gebräunte Hand des Jungen gleiten ließ, Butterhörnchen, die sie ihm des Morgens zu seinem Frühstück brachte, waren ebensoviel Vorwände, um seufzen und Gespenster in Bewegung setzen zu können. „Zu denken, daß ich meinen Vater bis zu meinem fünfundvierzigsten Lebensjahr habe behalten dürfen und daß ich noch in Trauer um meine Mutter bin!“ konnte sie sagen. „Ja, nächsten Samstag werden es gerade elf Monate sein, daß ich sie auf den Père Lachaise gebracht habe. Das war ein Schmerz! In der Allee, die von der Avenue Carette zur Grabstelle führt,
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mußte dein Onkel mir Riechsalze reichen. Du issest ja nichts. Mein armes Kind, nicht wahr, dir fehlen sie auch?“ Wenn mein Vater sich anschickte, Claude auszuschelten, mischte sie sich ein, die Hände gefaltet und durchaus bereit, ihre Stimmgewalt auf mannigfaltige Weise zur Geltung zu bringen. Alsbald ging ihr Mann aus dem Zimmer (mir ist so, als habe er sein ganzes Leben lang in dieser Weise aus einem Zimmer gehen müssen, um sich in ein anderes zu flüchten), und nicht wenige Kapuzinerpredigten wurden auf diese Weise im Keime erstickt. Aber Claude wußte meiner Mutter dafür keinen Dank. Er verachtete diese Abschirmung, diese Ärmchen, die sich vor ihn hinstreckten, als gelte es, ihn zu decken und Hiebe zu parieren. Ich sah ihn mehr als einmal mit einem Ausdruck des Grauens dieses Antlitz betrachten, das sich ihm zuwandte, dieses plumpe Antlitz von vergilbtem Fleisch, das die Runzeln bodenwärts zu ziehen schienen. So verlief in unserem Hause das Leben, nicht besser und nicht schlechter als in Tausenden bürgerlicher Familien. Mein Vater übte eine ärztliche Praxis aus, freilich ohne großen Erfolg. Ich hörte ihn oft über mangelnde Treue der Patienten kla-
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gen, denn berufliche Eitelkeit ging ihm ab. Mir scheint, daß er mit ein wenig mehr Wichtigtuerei seinen Besuchern hätte Vertrauen einflößen können, aber er ging mit ihnen verkehrt um: er sprach mit ihnen zu leise, fast unterwürfig und brachte es nicht fertig, seine Skepsis zu verheimlichen. „Dem Vermögen der Medizin sind so enge Grenzen gesetzt“, pflegte er uns mit einem bitteren Lächeln zu sagen. „Wir können manchmal einen Schnupfen heilen, Kopfschmerzen, eine Verdauungsstörung – und auch da... So vieles entzieht sich unserem Wissen! Im Grunde vermögen wir weiter nichts, als Leiden, die wir nicht heilen können, mit einem Namen zu belegen.“ Klein und zart, trug er den Bart in Form einer Halskrause gestutzt, wie dies in seiner Jugend Mode gewesen war. Seine Gesichtsfarbe litt unter den Auswirkungen eines ungesunden Vegetierens in den Tiefen seines Studierzimmers, darin er vor den lästigen Wirklichkeiten des Lebens Zuflucht suchte, als da waren die Tränen seiner Frau, überständige Schulden, die Berichte des Schulleiters. Er verlangte diesem Studierzimmer das Vergessen ab, das andere im Laster finden wollen. Die Historiker des letzten Jahrhunderts lieferten ihm seine Lieblings23
lektüre, und ich sah ihn sich in die Darstellung zurückliegender Epochen versenken, als habe er gehofft, sich in den Nebelschwaden der Zeiten verlieren zu können. Ohne falsche Hoffnungen über seine Zukunft fütterte er wohl die Bekümmernis, seinen Beruf verfehlt zu haben. Das Bewußtsein eines nicht rückgängig zu machendenScheiterns ließ seinen Geist zähflüssig werden und ergriff nach und nach von uns, meiner Mutter und mir, Besitz. Sie gab sich dem markverzehrenden Duft der Trübsal hin, der sich im Hause verbreitete. Diese Melancholie war freilich ihrer Natur so gemäß, daß sie von ihr beinahe genossen wurde wie eine sinnliche Lust. Der strenge Ausdruck der Enttäuschung auf dem Antlitz ihres Mannes weckte in ihr Theaterkummer: sie seufzte und verkrümmte ihre Schultern mit dem Ausdruck einer Märtyrerin, aber ihre Augen verstrahlten durch einen Schleier stets zu fließen bereiter Tränen eine lebhafte innere Genugtuung. Dieses Leichenbittergehabe wirkte auf mich und machte mich schweigsam. Wie habe ich es angestellt, um eine glückliche Kindheit zu bekommen? Ich fürchtete meinen Vater mitsamt seinen Unmutsanfällen, seinen sich in Worten erschöpfenden Gewalttätig24
keiten, der rauhen und gebrochenen Stimme des Mannes, der verloren hat. Gegen meine Mutter empfand ich nur Kälte. Da ich des Glückes teilhaftig war, kein Waisenkind zu sein, fand sie mich nur wenig bemerkenswert und hob ihre Katzenfreundlichkeiten für ihren Neffen auf. Ich war die meiste Zeit allein, und ich fand daran Geschmack. Einmal die Woche, des Sonntags, kam meines Vaters Bruder zu uns zu Tisch. Wenn mein Gedächtnis getreuer wäre, würde es mir Spaß machen, meinen Onkel Emil zu beschreiben. Ohne Zweifel gelänge es mir dann auch, seine kurze, ein wenig platte Nase und seine Pupillen nachzuzeichnen, die von einem fast flüssigen Schwarz waren, ja, einem Schwarz, das unter sein Lid zu fließen und das Weiße im Auge abzudecken schien. Dieses alles erinnere ich noch, dazu den etwas weichen Mund, die unter dem Vlies des Bartes etwas zu vollen Wangen; und doch ist dieses Antlitz blind, womit ich sagen will, daß ich seinen Ausdruck, seine Sanftheit nicht wiederzugeben vermag. Wenn er lachte, erschienen zwei Falten an seinen Mundwinkeln, und diese Falten weckten in mir die Lust, zu ihm zu reden, bei ihm zu verweilen; alles, was ein Gesicht gut, alles, was es menschlich macht, 25
fand ich in diesen symmetrischen Linien. Sein echtes Lachen, das mußte man in seinen Augen suchen, darin man immer einen Stich Spöttelei entdeckte. Aber diese Bewegung der Lippen, diese so tiefen und so rasch verschwundenen Falten sprachen zu mir: „Hab Vertrauen! Es gibt auf Erden zwei oder drei Dinge, die gut sind.“ Seine gute Laune weckte das Mißtrauen meiner Mutter. Da jegliche Heiterkeit ihr verdächtig erschien, unterstellte sie als gewiß, daß mein Onkel hinter zweifelhaften Abenteuern herlief, und daß lasterhaftem Leben ergebene Wesen ihm diese an einem Sonntag-Nachmittag hassenswerte Vergnüglichkeit vermittelten. „Gott weiß, wo er sich herumgetrieben haben muß, bevor er hierhergekommen ist“, sagte sie zu meinem Vater, nachdem mein Onkel gegangen war. „Hast du diesen Schnapsgeruch bemerkt?“ Und sie fügte mit einer Stimme, die der Zorn noch stumpfer machte, hinzu: „Er ist so gewöhnlich. Ich verstehe nicht, daß du ihm gestattest, vor den Kindern solche Witze zu machen. Seine Anspielungen haben gelegentlich einen sonderbaren Stich, du kannst es mir glauben. Dein Sohn ist noch zu jung, um zu begreifen; na, schön. Aber Claude geht ins fünfzehnte Jahr. Du wirst
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ja wohl das Augenzwinkern bemerkt haben, mit dem Emil ihm zublinzelte, als er von dieser Schauspielerin sprach. Er hat keine Hemmungen mehr. Wahrhaftig, ich frage mich, was deine Schwester sagen würde, wenn sie wüßte, welche Greuel ihr Sohn heute abend zu hören bekam.“ Ich gäbe viel darum, wenn ich diese Greuel in mein Gedächtnis zurückrufen könnte, aber, wie meine Mutter sagte, war ich noch zu jung, um zu verstehen. Manchmal, während der Unterhaltungen am Sonntagabend, schürzte ein undurchdringliches Lächeln Claudes Lippen, und all meine Unschuld vermochte nicht zu verhindern, daß ich eine Gebärde des Einverständnisses auffing, die zwischen meinem Onkel und meinem Vetter hin und her gegangen war. Vielleicht trat Claude in dieses Spiel ein, um den Verdacht meiner Mutter wachzurufen und sie zu plagen. Er hatte nämlich den verschlagenen Gesichtsausdruck des Mannes, der voll Bescheid weiß. Beim Gedanken an jenen Abschnitt meines Lebens kommt es mir vor, als seien die Lebensumstände der paar Menschen, von denen ich sprach, gewissermaßen in der Erstarrung hängengeblieben. Gewiß war der Weg, den die Zeit zurückgelegt 27
hatte, in ihren Zügen, in ihren Worten, ja sogar in ihren Gebärden zu lesen. Ich beobachtete an meinen Eltern kleine Angewohnheiten, die ich bis dahin an ihnen nicht bemerkt hatte. Wenn meine Mutter einen Gegenstand auf den Tisch stellte, tat sie es nicht, ohne daß sie ihn mehrere Male angefaßt und hin und her geschoben hätte, ehe sie ihn dort stehen ließ, wohin sie ihn getan hatte. Diese Angewohnheit brachte mich maßlos gegen sie auf; die ständige Drohung, sich in Tränen zu ergießen, die ihre Stimme verriet, hätte ich ihr verziehen; daran hatte ich mich gewöhnt; aber ich konnte die Sucht nicht ertragen, die sie, um nur ein Beispiel zu nennen, zwang, die Tasse, die sie soeben vor mich hingestellt hatte, auf ihrem Untersatz herumzuwirbeln wie einen Kreisel. Oft vertat sie sich mit einem Wort oder sie verhaspelte sich in ihren Friedhofsgeschichten, vermochte sich nicht mehr an den Namen der Kirche zu erinnern, in die man zwei Stunden zuvor unter ihren Blicken den Sarg einer langjährigen Freundin getragen hatte. Es kam auch nicht selten vor, daß sie mich mit dem Namen eines meiner Brüder ansprach, der jung gestorben war. Ich haßte solches Sichvergreifen. Dieser Name, der für nichts anderes mehr stand
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als für Gebeine, fiel auf mich nieder wie ein Leichentuch, aber das arme Weib wußte davon nichts; sie wunderte sich nur über meinen verquälten Gesichtsausdruck und das Schweigen, in das ich mich nach dem Beispiel Claudes einnistete. „Du liebst deine Mutter nicht“, pflegte sie dann zu sagen. Die Häufigkeit der Wiederholung brachte es mit sich, daß sie mich schließlich überzeugte: dieses Wort fiel auf einen günstigen Ackerboden und keimte. Mein Vater alterte auch, aber anders. Bei ihm schienen die Fähigkeiten des Geistes nicht angetastet zu sein; damit meine ich, daß nach außen nichts in Erscheinung trat, wenn er unter seine angeborene Mittelmäßigkeit absank. Das Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich. Seine Geschichtsbücher zu lesen, war ihm so lieb wie einen Schatz zu besitzen. Von Zeit zu Zeit brummelte er mit dem Gesicht des Geizhalses, der die Ecke eines Geldscheines sehen läßt, von Konsonanten starrende merowingische Namen an uns hin, aber er kam mir, wenn er unter uns trat, vor, wie einer, der aus einem anderen Planeten ausgewandert war. Nebelschwaden hüllten ihn ein. Sein gegenwärtiges und sein vergangenes Leben blieben ein Geheimnis. Später 29
erriet ich, daß er wohl einiges durchzumachen gehabt hatte. Seine Augen insbesondere sprachen von schrecklichen Enttäuschungen, sein Blick war müde, der Blick eines Besiegten. Aber gleich der Mehrzahl aller Söhne wußte ich nichts von dem, was sein Herz einschloß: es war die Blöße, die aufzudecken verwehrt ist. An einem Juli-Abend – ich war gerade am Einschlafen – fühlte ich, wie sich seine Hand auf mein Haar und meine Schultern legte. „Hab keine Angst“, sagte er. „Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.“ Er nahm einen Stuhl und tastete sich an meinem Bett zurecht; ich hörte, wie er seine Manschetten mit einer nervösen Gebärde hochschob, die er sich angewöhnt hatte. „In einigen Tagen wirst du mit deiner Mutter und deinem Vetter nach Chanteloup reisen, und ich werde euch nicht begleiten.“ Seine Stimme erstickte beim Aussprechen dieser Worte, und er hielt inne, als habe man ihn auf einer Schändlichkeit ertappt. „Die Sache verhält sich so“, fuhr er fort, „du bist ein großer Junge, du wirst bald zehn Jahre alt sein. Ich kann also mit dir im Ernste reden. Sicher wirst du oft gedacht haben, daß ich mich nicht viel um dich kümmere. Nein, ich bin nicht sehr nett zu dir ge30
wesen, – wie soll ich sagen? – nicht sehr liebevoll.“ Er schnob; ich war durch diese Ansprache ebenso verlegen geworden wie er und bewahrte Schweigen. „Es ist nicht mein Fehler“, fuhr er fort. „Ich habe zu viel Sorgen in meinem Leben gehabt. Ich wollte glücklich sein. Wenn ich nicht glücklich bin, kann ich nicht gut sein. Verstehst du das? Aber du, du sollst ein schönes Leben haben. Du sollst arbeiten. Ich möchte dir gute Ratschläge geben können, nützliche Ratschläge.“ Einige Minuten sprach er so auf mich ein, aber ich verstand schlecht, was er sagte. Die Furcht hatte mit einem Mal von mir Besitz ergriffen, eine Furcht außerhalb jeder Vernunft, die ich mir nicht erklären konnte. In der schweren Luft der Sommernacht bekamen die Worte meines Vaters einen fremden Klang; sie tönten rauh und tief wie Todesröcheln. Manchmal schob er sein Gesicht nahe an meines heran; dann spürte ich den Geruch der Brillantine, die er sich in die Haare rieb, und dieser schwere und verzuckerte Duft ließ in mir ein Gefühl wie von Übelkeit hochkommen. Vielleicht bekam er unversehens eine Ahnung des Ekels und des Erschreckens, die er mir einflößte, denn nach einer kurzen Weile fuhr er zurück und stand auf. Mein
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Schweigen verwirrte ihn. Er stotterte etwas heraus und stand reglos und unschlüssig herum. Dann beugte er sich in einer außerordentlichen Aufwallung von Zärtlichkeit, die mich mehr erstaunte als alles übrige, tief über mein Bett, mit seinen Lippen über meine Wangen streifend, über meine Arme, meine Hand, ja noch über das Leintuch, das mich deckte. Das Haus, in dem wir die großen Ferien verbrachten, stand hoch über dem Tal der Seine. Vorhänge von Baumkronen nahmen uns da und dort den Blick auf den Strom, aber zwei oder drei Minuten Wegs genügten, um eine Lichtung zu erreichen, von der aus man die weite Landschaft mit einem Blick umfangen konnte. Ich kannte diesen Ort gut. Kaum waren die Koffer ausgepackt, die Fensterläden gegen die Mauern gestoßen, da war ich schon dort, und mein Herz schlug laut vom überschnellen Laufe. Die Freude zog mir die Brust zusammen. Solche Fülle Lichts zwang mich, die Augen zu schließen, und noch unter meinen Lidern fühlte ich sein Leuchten. Ich streckte mich im Grase aus, als erdrücke mich der Himmel. Den Kopf noch voll von den Geräuschen Passys war mir, als wälze sich die Stille über mich hin wie eine Woge. 32
Diese Stunde war die köstlichste des ganzen Sommers. Sie heilte mich von meiner Trübsal. Ich vergaß die Langeweile der Schulstunden, die Melancholie meines Vaters und unsere düstere Wohnung, wo alles sich dem Grabe zuzuneigen schien. Einige Wochen vorher waren mir, wie ich gerade über irgendeine stumpfsinnige Rechenaufgabe hinträumte, beim bloßen Gedanken an die Blumen, die man in den Wiesen findet, und an die Rufe der Vögel im Herzen der Baumkronen Tränen des Schmerzes über das Heft gerollt. Und jetzt hatte ich diese Blumen unter meinen Händen und an meinem Gesicht, und die Vögel flogen über mich hin und stießen diese Rufe aus. Da spürte ich denn, bis zu welchem Grade der Gewaltsamkeit die bloße Lust am Dasein durchzubrechen vermag. Für den Blick, der von dem Ort meines Verweilens aus dem gelassenen Lauf der Seine nachgehen mochte, hörten die Überraschungen nicht auf. Von Chanteloup talab brachen hier und dort die weiten Bogen, die sie beschreibt, unversehens ab, als habe ein Abgrund den Fluß eingesogen. Doch das erstaunte Auge findet ein Stück weiter unten, was das Gehölz vor ihm verborgen hielt. So eilt es in Sprüngen dahin, die schmaler werdende, doch im-
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merfort blinkende Linie, die es zu fliehen scheint, verlierend und neu entdeckend. Ich gab mich mit Entzücken diesem Spiele hin. Es kam vor, daß ich, aufrecht und die Arme ausgebreitet, dem Winde Rufe zuschleuderte, deren Geschrill den wirrflatternden Gesang der Vögel nachahmte. Die Sonne, die Weite machten mich schwindlig. Ich ließ mich schreiend den Abhang der Lichtung hinunterrollen; ich lachte ohne Grund. Diese Überschwänge befreiten mich von einem Übermaß an Glück. Zu Hause veratmeten die Räume, darein seit Monaten keine Sonne gedrungen war, einen schimmligen Ruch, zu dem es mich mit heißer Gier trieb, weil er mir wie eine Ausstrahlung der Ferien und des Landlebens erschien. In dem Maße, wie die frische Luft ihn vertrieb, spürte ich ihm nach. Ich witterte ihn überall. In einigen Plüsch-Sofas hielt er sich über Wochen hin, und ich hatte Furcht vor dem Augenblick, da ich mich vor lauter Riechen an ihn gewöhnt haben würde. Die erste Nacht schlief ich nicht. Es waren zu viel Erinnerungen an vergangene Sommer wachgeworden, als daß ich hätte schlafen können. Es gab da zu viel Namen von Straßen und von Wäldern, die unversehens über meine Lippen kamen.
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Da wollten auch zu viele Geräusche wiedererkannt werden: der vergessene Klang des Uhrenschlags und das lange und traurige Gebell, das sich jeweils nach langen Minuten der Schweigens von einem Garten zum anderen im Wechsel Antwort gab. Mein Bett hatte man ganz hinten an die Wand eines Alkovens geschoben, dessen Türen sich nach Claudes Zimmer hin öffneten. Aus Furcht, ihn zu wecken, blieb ich bis zum Morgengrauen reglos liegen. Sobald ich aber die Schlepper auf der Seine hörte und die Pfeife, welche die Schiffe zählte, entschwand ich aus meinem Verschlag, um meinen gierigen Blick durch die Ritzen der Fensterläden gleiten zu lassen. Was tun, um die siebente Stunde abzuwarten? Schon stand die Sonne in vollem Glänze. Sicher, von niemandem gestört zu werden, trug eine Amsel ihre Dreistigkeit auf den Gartenwegen spazieren. Die Lorbeerbüsche tropften von Tau, das Gras schimmerte. Die Kammer füllte sich mit dem Duft, den Erde und Bäume bis zu mir sandten. Dann hielt es mich nicht länger. Ich versuchte, die Fensterläden aufzuschlagen. Ich wollte all dies haben: diesen Garten, diese Blätter, dieses Leben! Eine wilde Gier zu tasten, zu atmen, erfaßte mich, aber seit den letzten Ferien hatte der
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Efeu einen schweren Strang quer über das Fenster getrieben, und mir wollte nur gelingen, mit den klaffenden Fensterläden den rauschenden Faltenwurf dieses schwarzen Vorhanges zu erschüttern. Mir schien, Claude würde mit einem Faustschlag diesen Widerstand gebrochen haben. Ihm gehorchten die Dinge ohne Verzug, während sie bei mir die Kraftlosigkeit zu erraten schienen. Diese Überlegung stellte ich an, wie ich ihm die Augen zuwandte. Die Arme im Bogen um das Haupt gelegt, schlief er so tief, daß all mein Lärmen nicht zu ihm hatte dringen können. Die Fülle seiner Kraft wurde sichtbar noch in der Fülle seines Schlafes. Nichts trübte das Glück dieses Atmens. Ich konnte seine Gesichtszüge nicht sehen, aber auf seinem Antlitz kennzeichnete ein dunklerer Fleck den Ort, wo das Blut den braunen Wangen des Jünglings von seinem Leben spendete. Ein Leintuch schlang sich um das eine Bein, zerknittert und gefältelt wie die Stoffe, die vorzeiten die Bildhauer Griechenlands in Wasser tauchten, ehe sie das Gewebe um die Gliedmaßen ihrer Modelle legten. Das andere Bein, lang und prall, schimmerte im Halbschatten in Widerscheinen, die seine Muskeln nachzeichneten, und auf der Weiße des 36
Bettes erschien es beinahe schwarz. Dann verstrichen einige Minuten, ohne daß ich eine Bewegung gewagt hätte, und die Trauer, die mich einen Augenblick zuvor überschwemmt hielt, wich einem schwer zu beschreibenden Gefühle. Ich vermag in der Tat nicht zu sagen, wie sich meine Unrast und meine Langeweile mit einem Male in ein anderes Ding verwandelten, an dem die Lust ihren Anteil hatte. Es war mir angenehm, an diesem Ort zu weilen. Bewirkte dies die Stille der Morgenröte, das Erwachen fern der Stadt? Dieser Raum erschien mir nicht mehr wie eine Gefängniszelle. Meine Augen durchforschten ihn mit einer neuen Wißbegierde, als würde ich darin ein ungewöhnliches Schauspiel zu sehen bekommen, und mit einem Male hatte ich das tiefe Gefühl, das unter allen Orten, an denen ich mich je aufhalten sollte, dieser hier sich nie aus meiner Erinnerung löschen würde. Jahre würden vergehen, und ich würde alt werden, aber immer würde ich mit den gleichen Augen das ländliche Zimmer sehen, das so einfach und so heimlich war. Kein Schauspiel hatte sich vor mir auf getan; vielleicht auch hatte mein Blick es nicht zu erkennen vermocht, aber heute noch braucht es wahrhaftig nicht mehr, als an einem
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Oleanderbusch vorüberzugehen oder das Gezwitscher eines Vogels zu hören, um mich dort wiederzufinden: aufrecht bei den Fensterläden, die sich nicht öffnen wollen, am Fußende des Bettes, darin ein brauner Junge schläft. Mein Vater starb einige Tage später. Es war mein Onkel Emil, der uns diese Nachricht brachte, eines Morgens, als wir noch im Schlafe lagen. Ich weiß nicht, wie er es anstellte, um sie meiner Mutter zu verkünden, aber sie stieß einen Schrei aus, den ich in meinem Zimmer hörte, und den Rest des Tages tat sie die Lippen nicht auseinander. Das arme Weib war nicht geschaffen, das Gewicht eines solchen Unglückes zu tragen. Sie fiel zusammen. Ihr Blick schweifte von einem zum anderen, als wolle er eine Frage stellen, die eine gleiche Frage. Mein Onkel mußte ihr beim Ankleiden helfen. Ich sah sie die Treppe hinuntersteigen, in malvenfarbenes Leinen gekleidet, den Hut ein bißchen verquer, mit dem Ausdruck, dem Gang und dem fahrigen Gehaben einer Frau, die getrunken hat. Es konnte keine Rede davon sein, ihr etwas zu essen vorzusetzen. Sie war sich selber entrissen und lebte das Leben eines Automaten. Seit Jahren schon
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fürchtete sie das Ereignis, dessen Kunde sie eben erreicht hatte. Deswegen vielleicht suchte sie mit so viel Lust den Umgang des Unglücks und die mit Trauerflor ausgeschlagenen Kirchen auf. Ihr Instinkt gab ihr die Führung. Um sich an den Tod zu gewöhnen, hatte sie sich in seinen Schatten geflüchtet; nun war der Tod da, leibhaftig da, und sie erkannte ihn nicht. Es wurde beschlossen, daß meine Mutter und mein Onkel allein nach Paris gehen und wir anderen am nächsten Tage nachkommen sollten. Die Köchin würde bei uns bleiben. Wir saßen alle im Speisezimmer herum. Auf dem Antlitz meines Onkels stand der Ausdruck unrastiger Langeweile zu lesen. Von Zeit zu Zeit befragte er seufzend seine Uhr. Der einzige Zug, der in Betracht kam, ging um vier Uhr, und der Nachmittag hatte noch kaum begonnen. Er aber hatte Eile, in die Stadt zurückzukehren, seinen Bruder zu begraben, dem Alpdruck ein Ende zu setzen. Meine Mutter war angezogen, als warte der Wagen, der sie zum Bahnhof bringen sollte, unten im Garten. Ihr stumpfes Auge blieb an Nichtigkeiten haften und ließ sie nicht los. Claude sah sie schweigend an. Mir aber brach das Herz vor Bitternis. Ich blieb nicht lange in der
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Stickluft dieses Zimmers und ging nach der Lichtung hin, um dort meinen Schmerz in Einsamkeit auszukosten. Daß ich meine Ferien verlor, daß die Wiesen fortfahren würden zu grünen, ohne daß ich dabei sein konnte, und daß ich nun mitten im Sommer die rue de Passy wiedersehen würde, stellte sich in meiner Sicht als ein so vollkommener Grad von Unheil dar, daß es mich verwirrte. Der Tod meines Vaters rückte auf den zweiten Platz und berührte mich nicht weiter: er war ein Ereignis, dessen Folgen mir ärgerlich waren, das aber in sich selber so gut wie ganz jeder Bedeutung entleert blieb. Wie hätte ich mich über eine Sache betrüben sollen, die sich vierzig Kilometer entfernt von mir ereignet hatte? Wieviel Wirklichkeit steckte darin? Hatte sie denn vermocht, die Farbe des Himmels, die Wärme der Luft zu verändern? Beim Nachdenken darüber erschien mir der Schmerz meiner Mutter als Auswirkung einer Selbsttäuschung, und in der Niedergeschlagenheit meines Onkels erblickte ich nur Künstlichkeit. Von einem dunklen Begehren ergriffen, legte ich mich, mit dem Gesicht zur Erde, hin. Unter dem schmiegsamen Druck meiner Wange klang es spröde knisternd aus den Halmen. Ein frischer und kräftiger
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Duft drang in meine Nüstern. Ich schloß die Augen, um diesen Aushauch der Erde besser einzuatmen. Eine lange Viertelstunde ging vorüber, und ich regte mich nicht. Mir schien, wenn ich reglos, ohne die Augen zu öffnen, liegenbliebe, würden die Bäume, der Himmel, die Vögel vergessen, daß ich da war, und seltsame Dinge sich ereignen, deren Zeuge ich vielleicht werden könnte. Schon hörte es sich an, als komme der Schrei der Schwalben anderswo her, aus größerer Ferne. Ganz sanft verlagerte sich die Erde unter meinem Leibe; der Seine zu sich neigend, glitt sie weg, und mein Kopf kam tiefer zu liegen als meine Füße. Mit vor Schwindelgefühl verkrampften Eingeweiden spürte ich mich fallen. Das allein war wirklich. Es gab keine Beerdigung, keinen Zug, den es zu besteigen galt, keinen Tod. Meine Hand wurde immer klammer, und ein Steinchen drang in mein linkes Knie. Von aller Unermeßlichkeit der Welt war dies nur wirklich. Der Tod meines Vaters war eine Befreiung für mich. Mit ihm sank eine ganze Reihe unnützer Partikel meiner selbst in die Grube. Ohne Zweifel stünde es mir nach den Geboten der Kindesliebe wohl an, wenn ich anders redete. Aber Pietät, die
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nicht mit lebendiger Zuneigung Hand in Hand geht, gleicht einer veredelten Abart der Lüge. Als Kind ertrug ich die Last von Erinnerungen, die nicht meine waren. Zu jeder Stunde fand ich mich in meinem Vater wieder, und wenn er uns die Greuel der Belagerung und der Commune erzählte, rief mein Erinnerungsvermögen mir diese Dinge dunkel ins Gedächtnis, als hätte ich sie mit eigenen Augen gesehen. Durch ihn gehörte ich einer Epoche an, die — Gott sei es gedankt — nichtwiederkehren konnte. Ich wuchs im Schatten Sedans auf. Dann erlosch alles wie ein Traum. Ein Geleit furchtbarer Jahre folgte meinem Vater in den Tod, und meine Jugend begann. An den Vorsichtsmaßnahmen, die man gebrauchte, um mich dem Sterbezimmer fernzuhalten, hätte ein gewitzigterer Junge als ich erraten, daß man es mit einem gewaltsamen Tode zu tun hatte. Man mußte schon so harmlos sein, wie ich es war, um sich mit den Antworten zu begnügen, mit denen mein Onkel mich abspeiste. Wäre mein Vater einen Monat länger am Leben geblieben, würde er vielleicht der Mühe enthoben worden sein, sich vor den Kopf zu schießen, denn zwei Wochen nach seinem Tode brach der Krieg aus.
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Die Zeit nach dem Waffenstillstand fand uns in einer Wohnung, die wir in der rue de Vaugirard an der Ecke nahe der rue Férou bezogen hatten, drei Räume, von denen zwei auf einen Hof gingen. Die Mittel, über die wir verfügen konnten, gestatteten nicht mehr. Die meisten unserer Möbel hatten den Weg ins Auktionslokal gefunden; was verblieb, verstellte unsere beiden Kammern und das Speisezimmer. Meiner Mutter drückte es das Herz ab, zur Armut verurteilt zu sein; dies war, wenn ich mich so ausdrücken darf, ihr Lieblingskummer, denn der Tod ihres Gatten ging tief in der Nacht der Erinnerungen unter, während die Dürftigkeit, in der wir nunmehr lebten, ihren Augen ohne Unterlaß gegenwärtig war. Wenn sie Hausarbeit machte (wir hatten kein Mädchen mehr), konnte man in ihren Blicken Gedanken, die mir kindisch vorkamen, ebenso deutlich lesen, wie wenn man sie auf einem Blatt Papier aufgezeichnet hätte: „Dieser Sessel, den ich in seine Ecke schiebe, wo er uns um den Tisch herumzugehen hindert, stand in der Mitte unseres Salons, zusammen mit dem kleinen Vertiko aus Mahagoni, das ich habe verkaufen müssen. Und dieser Stuhl da, von der Sorte hatte ich zehn, statt der vier heute.“
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Mit einem Male rollten ihr Tränen über die Wangen, und wenn ich sie fragte, warum sie denn weine, gab sie zur Antwort, daß sie an ihren Vetter Georg denke, der Ende 1916 in der Champagne gefallen war. Claude war am Vorabend seines Abiturs freiwillig eingerückt und brachte seine Militärzeit in Mainz zu Ende. Nicht ein einziges Mal war er im Urlaub zu Besuch gekommen, und nie hatte er einen Brief meiner Mutter beantwortet. Dieses Verhalten bestärkte mich in meiner Vermutung, daß er sich des Krieges bedient hatte, um unserem Hause zu entfliehen. Von einem Stück Erinnerung zum anderen drang ich bis zum Ursprung seines Vorhabens vor; nunmehr verstand ich Gebärden, verstand ich Blicke, die mir ein Geheimnis geblieben waren. Ohne jeden Zweifel hatten die erste Mahlzeit am Familientisch, der erste Blick, der unsere Wände gestreift hatte, seinen Entschluß geweckt, wegzugehen. Ich vermute, daß der Gedanke dazu ihm mit einem Schlage gekommen ist. So entschlossen, wie er verschlossen war, verwandte er offenbar viel Sorgfalt darauf, nichts von dem zu verraten, was er fühlte, und seine Ungeduld zu ersticken, sowie auch die Umarmungen und Vor-
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haltungen meiner Eltern auszuhalten bis zu dem Tage, an dem etwas ihn vom einen und vom anderen erlösen würde. Eine solche Festigkeit im Vornehmen schien oberhalb dessen zu liegen, was seinem Alter gemäß war: ich bewunderte ihn. Während dreier Jahre hatte er es verstanden, abseits zu stehen, den Bemühungen zweier Menschen, ihn in den Kreis ihres kleinen Lebens zu ziehen, zum Trotze. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten irgend etwas gegen seine Kälte und sein Schweigen vermocht. Er war an ihnen vorbeigegangen wie ein Wesen bislang unerhörter Gattung. Zunächst fehlte er mir so, daß es mir den Schlaf nahm. Ich lief aufs neue alle Spazierwege ab. Gott weiß, was ich zu finden hoffte! Wohl nichts denn was die Erinnerung an Trübseligem und Freudigem hinter sich herschleppt. Ich träumte Dinge zusammen, die sich nie ereignet, Unterhaltungen, die wir nie gepflogen hatten; dann war mir mit einem Schlage, als ob ein harter und spottender Blick sich auf mich hefte, und Scham trieb mir das Blut in die Wangen. In Wahrheit empfand ich keinerlei Zuneigung für Claude, doch erregte er meine Verwunderung. Wenn ich ihn neben meiner Mutter sitzen sah, fragte ich mich, wie man denn auf 45
zwei so verschiedene Personen dieselben Gattungsbegriffe anwenden könne. Schon die Aussage, beide seien menschliche Wesen, setzte ein Mißverständnis in die Welt. Vergegenwärtigte meine Mutter das Geschlecht der Menschen, dann kam Claude sicherlich von einem anderen Planeten als dem unseren. Mußte man aber ihn als die Verkörperung dessen sehen, was wir sind, dann zwang mich Vernunft zuzugeben, daß meine Mutter somit als Spottgeburt gelten müsse. Und doch war ich aus ihr hervorgegangen; mein Herz, mein Gehirn, meine Eingeweide — dem allem hatte sie Gestalt und Nahrung gegeben. Ich sah mit Augen, deren Farbenspiel dem der ihren gleich war, und ich entdeckte beim Binden meiner Krawatte zuweilen im Spiegel eine Spielart von Ausdrucksformen, die ihr und mir gleichermaßen eigneten. So ging unsere Ähnlichkeit viel weiter als nur bis zur Gleichartigkeit der Gesichtszüge; irgendwo in meinem Geist war etwas Unbestimmbares, das mich ihr wesensmäßig verwandt machte. Vor solchen Gedanken bäumte ich mich auf vor Wut. Nach und nach verblaßte das Bild meines Vetters in meiner Erinnerung. Ich war in dem Alter, in dem man seine Kindheit am liebsten vergißt,
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um sie dann freilich später wiederzufinden, wenn sie sich vom Mondhof des Vergangenseins hat einhüllen lassen. Claude gehörte einer Welt an, die sich verflüchtigt hatte, und einige Monate reichten aus, um mir den Wunsch, ihn wiederzusehen, unverständlich zu machen. Ich brachte eben die Tertia zu Ende. Das Kargheitsethos der Zeit hatte mir den Geschmack an der Arbeit eingehaucht und gab mir die Illusion, ein Mann zu sein. Ich fühlte mich alt in dem einzigen Augenblick, da dies als Annehmlichkeit zu erscheinen vermag: mit fünfzehn Jahren. All die lächerliche Tiefgründigkeit dieses Lebensalters war mir eigen. Das Leben entzog sich mir hinter den Seiten meines Buches. Angeborene Kälte ließ mich keusch sein. Nichts daran war mir selbst auferlegte Einschränkung. Der bloße Gedanke, Tugend bestehe darin, fleischliche Leidenschaft zu besiegen, schien mir der Vernunft zu widersprechen, weil diese Leidenschaften für mich in sich selbst ebenso unwirklich blieben wie algebraische Formeln. Die Gebärden der Liebe, von denen ich einiges wußte, erweckten in meinen Augen nicht die Vorstellung von Schuldhaftem, sondern von Lächerlichem und trübselig Verhängnisvollem. In diesen Spielen lagen zu viel Dinge,
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die vom Tode ausgeliehen waren, zu viel Gerase, zu viel Sterben. Trotzdem aber suchten die Menschen ihre geheimnisvolle Lust mit einer Geduld, die mich verblüffte. Was man ,jemand den Hof machen’ nennt, trieb meine Verwunderung an die äußerste Grenze: stunden- oft tagelanges Flehen, Schlauheiten, Versprechungen, eine lange und verdrießliche Mühsal, um zu diesen wenigen Minuten unverständlichen Außersichseins zu gelangen. Die ganze Menschheit schien mir in Wahnsinn versunken. Es begab sich zuweilen, daß ich im LuxembourgPark spazierenging; an den Schlechtwettertagen des Spätjahres vor allem wirkte die Trübseligkeit der langen, nackten Alleen auf mich wie eine Verzauberung. Sogar der Regen vermochte nicht, mich abzustoßen. Er fügte der Schönheit des Parkes die Vorzüge des Alleinseins hinzu. Ich erinnere mich, daß ich an einem Donnerstag im November auf einer Steinbank Platz genommen hatte; sie stand am Wege, der in die rue de Vaugirard mündet. Ich vergnügte mich damit, mit einem Zweige, den ich vom Boden aufgelesen hatte, die braunen und gelben Blätter umzuwenden, die den Boden ringsum bedeckten. Es hatte ohne Zweifel in der Nacht ge-
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regnet, denn es stieg von diesen Blättern ein durchdringender Geruch auf, nicht anders, als sei des Erinnerns und des Sterbens eigenster Duft aufgestiegen. Dieser Umstand hat sich in mein Gedächtnis eingenistet, weil etwas geschah, dessen Vorankündigung er gleichsam war. Ich hatte mich einige Minuten im lässigen Fluß meiner Gedanken treiben lassen, als ein Geräusch mich den Kopf wenden ließ, und ich meinen Onkel Emil auf mich zukommen sah. Er zog beim Gehen die Füße ein wenig nach, und die Blätter warfen rings um seine Schritte etwas wie ein Rauschen auf, das wie rieselndes Wasser tönte. Es war nicht das erste Mal, daß ich ihn derart im Luxembourg sah. Der Krieg und andere Sorgen, von denen er nicht sprach, vertieften in ihm einen Hang zur Melancholie, den seine Heiterkeit einst recht erfolgreich verdeckte, aber an diesem Tage wurde ich weniger durch sein gealtertes Aussehen betroffen als durch etwas anderes, schwieriger zu Kennzeichnendes. Von weitem hätte man ihn für einen armen Mann halten können. Dieser Eindruck war weniger seiner Kleidung zu verdanken als der Art und Weise, wie er sie trug. Ich hatte diesen Zug schon bemerkt, ohne ihn mir zu erklären. Jetzt begriff ich unvermittelt, daß
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diesem Jammerbild eine Wirklichkeit geistiger Ordnung entsprach. Mein Onkel hatte mich erblickt und schaute mich an. Da offenbarte sich mir, was das Alter einem Menschen anzutun vermag: es macht ihn nackt und bloß. „Ich suchte dich“, sprach er einen Augenblick später. „Ich habe bei dir zu Hause hineingeschaut. Deine Mutter hat mir gesagt, ich würde dich hier in der Gegend finden. Bleib nicht auf dieser Bank sitzen.“ Ich erhob mich. Wir wandelten schweigend den Weg zurück, bis wir zu der Halbrundterrasse kamen. Hier blieb mein Onkel stehen und machte eine Kopfbewegung, als gebe er auf eine Frage Antwort. Er hatte neben einer der Statuen Aufstellung genommen, die auf das Senatsgebäude und die verlassenen Gärten Obacht geben, und lehnte in einer Mischung von Entschlossenheit und Mattigkeit eine Schulter gegen den Sockel. „Da sind wir“, sagte er. „Ich habe mir das Versprechen abgenommen, nicht über diese Statue hinauszugehen, ohne mit dir gesprochen zu haben. Was ich dir zu sagen habe, soll dir nicht wehe tun und wird dir vielleicht zur Lehre dienen.“ Er schnaufte und wandte vor meinem Blick den 50
Kopf. Sein grauer, ganz kurz geschorener Bart verbarg das gelbe und magere Fleisch der Wangen nur schlecht. Von dem Lächeln von einst waren an den Mundwinkeln zwei tiefe Falten zurückgeblieben, die nur von Bitternis sprachen. „Es handelt sich um deinen Vater“, nahm er unversehens die Rede wieder auf. „Du hast ihn nicht geliebt. Sag mir nicht, du habest ihn geliebt. Übrigens war er schwer zu begreifen. Schade, daß man seine Eltern erst zu kennen beginnt, wenn sie zu altern anfangen, wenn sie im Begriff sind zu verlieren, was aus ihnen menschliche Wesen gemacht hat. Um zu wissen, was dein Vater in seiner Jugend gewesen ist, genügte es nicht, den Mann, den du gekannt hast, zwanzig Jahre jünger zu machen. Nein, er war anders in jeder Hinsicht. Er ist mit einem Male jemand geworden, den ich mit ,Herr Soundso’ hätte anreden können, wie einen Fremden. Aber als er fünfundzwanzig war, gab es keinen fröhlicheren und ich glaube auch keinen glücklicheren Menschen als ihn. Du sollst wissen, daß ich nicht mehr zu dir als zu seinem Sohne rede. Deine Mutter möchte gerne, daß du weiter glaubest, was wir dir am Tage seines Todes vorgelogen haben. Sie meint, auf diese Weise bezeuge man 51
seinem Andenken Achtung; sie will, daß du ihn dir als eine Art von Automaten ohne Leidenschaften vorstellst, als ein Wesen, das ganz in seinen Büchern einbeschlossen war. Das alles ist nicht wahr. Hast du etwa schon erraten, wie es mit ihm zu Ende gegangen ist?“ Ich brauchte nur auf seine Lippen und seine Augen zu schauen, um dort das Wort zu lesen, das er nun aussprechen würde: „Durch Selbstmord?“ Er gab keine Antwort; dieser Satz schien in ihm eine Erinnerung von außerordentlicher Deutlichkeit zu wecken, und ich sah, wie sein Kopf zitterte, als habe er einen schweren Stoß erhalten. „Du kannst nicht wissen, was der Tod ist“, sagte er mit einem Male, in der Stimme eine eigentümliche Roheit, die mir schrecklicher erschien als die Eröffnung, mit der er mich zu erdrücken glaubte. „Um sich vor den Kopf zu schießen, hat dein Vater sich auf das Bett gelegt; ja, ganz angezogen. Das Letzte, was er gesehen haben muß, waren die Schornsteine des Hauses gegenüber in der rue de Passy; das letzte Geräusch, das er hat hören können, muß das Dröhnen der Straßenbahn und der Wagen gewesen sein, die unter seinem Fenster vorüberfuhren. Auf dem Gesicht ein Ausdruck des Erstaunens... das be52
sagt weiter nichts, und doch habe ich monatelang davon geträumt. Er machte den Eindruck, nicht begriffen zu haben, ja, geprellt worden zu sein.“ Er hielt inne. Über ihm krümmte eine Diana den Arm und bedrohte den Himmel mit ihrem Bogen. Mein Onkel schaute mich nicht an. Seine Augen hefteten sich an einen Punkt am Ende eines Weges, als ob durch die Zwischenräume der Baumreihen jemand auf ihn zukommen müßte. Sein Mund öffnete sich, um einen Satz zu formen, von dem ich nichts hörte. Dann hob er zu sprechen an, aber der Tonfall war so leise, daß es schwer war, ihm zu folgen. Seit einigen Augenblicken hatten seine Gedanken ihn weit von mir fortgezogen, und ich vernahm das Selbstgespräch eines Mannes, der sich allein wähnte. „Es war warm in dieser Kammer, als ich ihn darin gefunden habe. Das Fenster stand halboffen. Eine schwere und gewitterschwangere Luft hing schwebend an den Wänden ringsum. Ich habe eine Fliege verjagen müssen, die an seinen Schläfen summte. Seine Hand war noch nicht kalt; ich habe sie befühlt, wie die Hand eines Kranken; ich habe ihr die Waffe weggenommen; ich habe all dies getan, ehe ich begriffen hatte, daß er wirklich tot
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war. Und je mehr ich sein Gesicht betrachtete, desto ferner rückte es mir. Ich sah es im Wirbel eines Schwindelgefühles; ich beugte mich darauf nieder; auf einmal kam es wieder auf mich zu, als steige es aus der Tiefe eines Schachtes auf, und ich wich zurück. Mehrere Male ist mir der Gedanke gekommen, er sei das gar nicht mehr, und mit einem Male wurde dieses Sich-gleich-Sein wieder sichtbar; dann verlor ich ihn aufs neue. Es war wie ein Licht, das sich entzündet und ohne rechten Grund verlischt. Ich habe geglaubt, wahnsinnig werden zu müssen. Dieses Gesicht veränderte sich unter meinen Augen.“ Eine Gebärde, die ich machte, rief ihm meine Gegenwart zurück; er bekam den Ausdruck eines Mannes, den etwas Überraschendes der Trunkenheit entreißt. „Ach so... All das ist schmerzlich, allzu schmerzlich, mein Junge. Ich weiß nicht, warum ich zu dir so davon spreche. Am anderen Tage, da ich die Papiere auf seinem Schreibtisch prüfte, fand ich Briefe, Notizen, eine Art von Tagebuch, das er in den letzten Monaten seines Lebens ohne große Regelmäßigkeit geführt hatte. Ungefähr ein Jahr lang hatte er seinen Selbstmord vorbedacht. Drei-
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mal hat er den Zeitpunkt verschoben; schließlich wählte er die Zeit der großen Ferien, die es ihm erlaubten, euch aus Paris zu entfernen, dich, deine Mutter und deinen Vetter. Und weißt du, warum er sich umgebracht hat? Was auch immer wir uns über ihn an Vorstellungen gebildet haben mochten, war falsch. Mit achtundvierzig Jahren hatte er sich in eine Frau verliebt, hinter der er auf der Straße hergegangen war. Nach sehr viel Mühen erfuhr er schließlich ihren Namen und brachte es durch Vermittlung eines Patienten, der sie kannte, dahin, ihr vorgestellt zu werden. Sie war keine schlechte Frau, aber sie ermangelte der Großherzigkeit, und manche zu glutvollen Worte deines Vaters ließen ihn ihr als einen Dummkopf erscheinen. Das Flehen des armen Kerls wurde mit einer Lache aufgenommen, die ihn auffraß. Wenn du je sein Tagebuch lesen solltest, wirst du begreifen, daß der Tod die einzige Grenze ist, die dem Leiden eines Menschen gesetzt ist. Ohne Zweifel war die Weigerung dieser Frau nichts als Verspieltheit. Aber angesichts solcher Turnierlisten war dein Vater waffenlos. Für ihn hatten die Worte nur eine Bedeutung. Aus Schwäche kehrte er zu ihr zurück und ließ sich von der Sehnsucht nach einer 55
Aussprache übermannen. Er brachte sie auf gegen sich und, – was ein noch größerer Fehler war, – ließ seinen Vorhaltungen ein Gewinsel folgen, das seiner Sache den Todesstoß versetzte. Ich glaube nicht, daß er sie mehr als dreimal wiedergesehen hat. Er versuchte, sie zu vergessen, aber der Pfeil saß fest. Die Zeit und das Wühlen in den Gedanken halfen zusammen, dieses Scheitern Ausmaße annehmen zu lassen, die außer jedem Verhältnis standen, und seine Melancholie ließ ihn in einem grausamen, aber doch belanglosen Abenteuer nichts weniger erblicken als den Beweis eines verpfuschten Lebens. Ganz allmählich ging er unter. Der Gedanke an Selbstmord richtete sich in seinem Gehirn ein und ließ ihn nicht mehr los. Zweimal ließ ihn die Entschlußkraft im Stich, dann brachte ihm ein beliebiges Ungemach den Mut zurück; es brauchte nicht viel, um ihn ins Übermaß zu treiben.“ Ich war meinem Onkel dankbar, daß er hier innehielt und mich dann, ohne ein Wort des Abschieds, weggehen ließ. Sein Bericht hatte mir mißfallen. Ich war ihm böse, wie ich damals allen jenen böse war, die die Vergangenheit von dem Grunde des Vergessens heraufholten, wie man einen Ertrun56
kenen auffischt. Und ausgerechnet diese Vergangenheit! Was hätte ich nicht alles darum gegeben, sie nicht zu kennen. Wenn die Gruft eine Lüge barg, worin hätte ich dadurch leiden können? Woher kam dieses Bedürfnis, eine unnütze Wahrheit zu entschleiern? Ich haßte diese trübselige und mittelmäßige Geschichte, über der verquält der Blick eines armen Teufels hing, der verloren hatte. Für mich begann das Leben mit der Stunde, die mich aus meinem Schlafe riß. Das unterirdische Werken seiner Wurzeln ging mich nichts an. Was in meinem Wesen an Seelenkräften lebendig war, drängte nach vorn, einer Zukunft entgegen, darin kein Raum für die Schattenspiele der Vergangenheit war, darin Stimme und Blick der Toten nicht mehr bis zu mir drangen. Fast zwei Jahre waren vergangen, und ich bereitete den zweiten Teil meiner Reifeprüfung vor, als ohne sichtbaren Übergang mein Leben eine Wendung nahm, auf die ich nicht gefaßt war. Allem, was in mir schlummerte, wurde ein Erwachen zuteil, das um so ungestümer und gewaltsamer war, als es spät kam. Wesen, die ich bislang mit unaufmerksamen Augen betrachtet hatte, beka-
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men, ohne es zu wissen, Verfügungsmacht über meinen Seelenfrieden. Durch alles, was mich von ihm getrennt hielt, verschönt und durch meine Sehnsucht gleichsam in einen Glorienschein gehüllt, verfolgte mich ein in der Straße erblicktes Gesicht den ganzen Tag über. Ich kam in einem Zustand nach Hause, in dem gleichermaßen etwas von Überschwenglichkeit und schmachtender Niedergeschlagenheit war. Ein Gefühl toller Freudigkeit nahm mit einem Schlage von mir Besitz, für das es ebenso wenig Gründe gab wie für den nachfolgenden Sturz in die Melancholie. Die Welt wurde unter meinen Blicken anders und ich mit ihr. Wenn es wahr ist, daß man während des Geborenwerdens leidet, wird das Bild eines zweiten Geborenwerdens nur um so richtiger sein, um meine Verwandlung zu beschreiben. Der Mann wurde in mir in Tränen der Angst geboren. Tagsüber wurde ich durch enttäuschungsvolle Leidenschaften herumgetrieben, die mir die Beute auf den Weg legten, ohne mir die Kühnheit zu schenken, danach zu greifen, und in meinen Nächten begegnete ich den Gespenstern wieder, die mein Hunger herbeigerufen hatte. Einer der Träume, die mich zu dieser Zeit am 58
vertrautesten heimsuchten, ist mir bis in seine geringsten Einzelheiten im Gedächtnis geblieben. Man kann nicht von allem und jedem reden; da es sich aber um den einzigen Gegenstand handelt, den ich ganz und gar kenne, will ich versuchen, ihn so einsichtig zu machen wie möglich. Es ist eine der Wunderlichkeiten meines Geistes, daß ich an die Wirklichkeit einer Sache nur glauben kann, wenn ich sie geträumt habe. Glauben bedeutet mir nicht bloß eine Gewißheit, etwas zu besitzen, sondern sie so mir einzustücken, daß mein Wesen dadurch eine Wandlung erfährt, und so mischt sich denn diese Gewißheit, so gering auch ihre Bedeutung sein mag, immer meinen Gedanken bei; doch muß sie in mich durch die Äneas-Pforte eindringen, die dem echten Traum den Durchgang freigibt. An einem Nachmittag im Juni, da ich schlummerte, sah ich mich mit einem Male in einem unbekannten Zimmer. Hätte es da nicht ein riesiges Bett gegeben, das seine Tiefe einnahm, wäre dieser Ort großartiger Weiträumigkeit ganz leer gewesen, doch erweckte dieses Fehlen von Möbelstücken – ich kann nicht sagen wieso – den Eindruck festlichen Prunkes. Ein Strom von Licht und lauer Luft überschwemmte den Raum zwischen dem leuchtenden
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Weiß der Wände. Durch das offene Fenster drang wunderbares, zauberisches Getön zu mir. Ohne Zweifel wurde in der Nachbarschaft gebaut, doch in genügender Entfernung, um die Arbeitsgeräusche zu einer Art dumpfen Gemurmels herabzumindern. Oder war es nicht vielmehr so, daß das Zimmer, darin ich weilte, sich im obersten Stockwerk eines hohen Hauses am Saum des Marsfeldes befinden mochte, und darum das Kreischen der Sägen beim Aufstieg himmelwärts etwas von seiner Schärfe verlor, und das Gedröhn der Maschinen, durch die Entfernung gesänftigt, dem Brummen ungeheuerlicher Insekten glich? Doch dieses Lärmen, durch das mir bewußt wurde, daß Menschen am Werk waren, wurde von einem anderen Ton überwölbt, der so tief, so hart, so drohend ernst war, daß ich davon bis in die Tiefen meiner Brust ein krampfhaftes Zittern und einen betäubenden Stoß verspürte. Vielleicht riefen schwere Hämmer, die auf stählerne Balken schlugen, dieses hallende Beben hervor, aber für mich war es sicher, daß einer, der aus außermenschlichen Bereichen gekommen war, die Riesenstimme des Verhängnisses zum Tönen brachte. Auf dem Bette ruhten zwei nackte Leiber. Sie 60
lagen Seite an Seite und in äußerster Bewegungslosigkeit ausgestreckt, doch berührten sich nur ihre Hände und auch sie nur an den Kuppen der Fingerspitzen. Von Zeit zu Zeit huschte über die Lider und die Stirn der Schläfer der Schatten einer unsichtbaren Gebärde. Ich bewunderte schweigend ihre gelösten, kraftvollen Glieder, sowie das glückhafte Atmen, das ihre Brust schwellte und ihre Flanken höhlte. Kein Erschrecken, kein Widergedanke ließ sie erschauern. Dies glatte Fleisch, an dem das Licht haften blieb, kannte vom Leide nur die Vorstellung, die uns davon die Lust zu geben vermag. Diese geöffneten Lippen hatten nie zu flehen brauchen; nicht eine Träne hatte die Lider schwer gemacht, deren Schatten zuweilen auf ihren Wangen zuckte. Mein Herz begann zu pochen. Es gab also ein Ding, an das die Trübsal nicht herankam. Sein Bild stand vor meinen Augen. Der Hall des Eisens stieg rings um mich auf wie eine Woge und mischte sich mit den Schlägen meiner Pulse. Am Halse der Schläfer bebte eine Ader. Ich schaute aufmerksamer auf die beiden Leiber hin: ich war der eine und war der andere. Ja, die Wonne, die sie durchlief, wie zwei Ströme von einer Bewegung ohne Ende beseelt werden, diese Wonne hatte in 61
mir ihre Quelle! Nichts außer meinem Herzen sandte das Leben bis zu den Kuppen der Finger, die sich verschränkten. Dann ergriff meine Seele inmitten von Aufruhr und Fluten von Licht eine Bewegung so voller Gewaltsamkeit, daß mir war, als sollte sie mir ausgerissen werden, und ich erwachte in einem Meer von Schweiß. Dieser Traum gab mir über meine wahre Natur mehr zu wissen als alle Betrachtungen und alles Gehaben, die mir die Sehnsucht eingab. Ich erfuhr so, daß ich den Sinnen zugesprochen war. Ich empfand darüber weniger Demütigung als Lust, denn meine Eitelkeit war so stark, daß ich fast das gleiche Glück in der Erniedrigung fand wie in der Erhöhung. Diese Entdeckungsreise zu mir selbst hatte zunächst einmal die Wirkung, den Erfolg meines Studiums in Frage zu stellen. Zweimal hintereinander mißriet mir ein ganz einfaches Examen. Meine Mutter verstand die Welt nicht mehr. Bei vielen Frauen schließen sich gewisse Zellen des Gehirns aus keinem anderen Grunde als dem, daß sie einen Sohn haben; ihre Einbildungskraft vernebelt sich. Ich sah die arme Frau ihre kleinen Tränchen über den Bericht des Schulleiters ausgießen, um
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mich dann mit geborstener Stimme zu fragen, was denn dies bedeuten solle. Und als habe sie die Komik des Mißverstehens noch betonen wollen, strich sie mit ihrer Hand über meine Stirn und sprach davon, den Arzt zu Rate zu ziehen. Ich glaube, daß ich nicht war, was man einen guten Sohn nennt. Einmal verfügte ich nicht über die Gefühle, die man dafür braucht. Wenn ich in einer plötzlichen Aufwallung von Nächstenliebe versuchte, gegen meine Mutter freundlich zu sein, bemerkte sie es nie. Allein meine schlechten Launen machten Eindruck auf sie. Meine Zuvorkommenheiten trafen bei ihr auf Zerstreutheit, während mein Achselzucken und mein grober Ton sie alsbald wach machten: sie drehte sich um, warf mir einen Blick zu und, eine der gewöhnlichen Ursachen ihres Kummers erkennend, begrüßte sie diese mit einem Ausbruch von Vorwürfen. Nach und nach gab ich es auf, gegen meine Mutter anzukämpfen: das Spiel wurde ungleich. Meine Anstrengungen beschränkten sich darauf, Schweigen zu bewahren, nicht zu grinsen, aus dem Zimmer zu gehen, ohne die Tür hinter mir zuzuschlagen. Auch dafür wußte meine Mutter mir keinen Dank. Sie nannte diesen Sieg über meine Ungeduld ein Schmollen und nahm
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mich aufs neue ins Gebet mit Worten, die in meinem Herzen eine verheerende Wut am Glühen hielten. Unglücklicherweise entging mir nicht eine einzige ihrer Schwächen. Die mir am meisten auf die Nerven fiel, war dieses Fehlen des Erinnerungsvermögens, das sie meinen Namen vergessen ließ. Sie suchte ihn, als müsse sie sich an ihn herantasten, in dem Schattendunkel der Familiengruft. „Pierre, Emmanuel, Jean, Marc ...“ – ohne zuvor alle ihre Toten aufgerufen zu haben, konnte sie mich nicht finden. Ich konnte diese Anfälle von Gedächtnisschwund nicht ertragen. Ich kam mir vor, als ob ich, in einer nebelhaften Menge verloren, kein Ich mehr habe. „Denis!“ rief ich, außer mir, „Denis, Mutter, sei doch so gut!“ Dann schaute sie mich verzweifelt an und stöhnte, weil ich sie nicht mehr liebhabe. Alles, was mein Leben an Trübseligkeit und einschränkendem Zwang enthielt, vergegenwärtigte in meinen Augen meine Mutter in jener Mischung von Unbestimmtem und Eindeutigem, die gewisse allegorische Bildwerke kennzeichnet. Damit will ich sagen, daß sie während mancher Tage einfach meine Mutter war, ein kleines Frauchen, das zu schnell alterte, und daß sie danach mit einem
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Schlage, im Zeitraum einer Sekunde, ohne es zu wissen, eine Gebärde machte, in der ich meine ganze Verdrossenheit wiederfand. Zwischen ihr und den kleinen, engen Räumen, die wir bewohnten, bildete sich eine Dauerbeziehung wie von Leib und Seele. Wenn sie ausgegangen war, schwamm ihr Schatten von Zimmer zu Zimmer rings um mich her und verdarb mir das Alleinsein. Nichts entzückte mich dann mehr, als mich sinnlichen Träumereien hinzugeben, die mich in eine besondere Welt entführten. Die Erinnerung an ein Gesicht, das mir unterwegs aufgefallen war, bildete den Ausgangspunkt eines Abenteuers, das nur in meiner Einbildung wirklich, aber köstlich war. Wenn auch diese Gewohnheit nur den Geist anging, so wurde ich darum nichtsdestoweniger doch anspruchsvoll. Die Wohnung in der rue Férou war kein geeignetes Sprungbrett für meine Lust. Mit großer Sorgfalt suchte ich den Ort aus, von wo ich der Erde entschweben würde, und es war mir zuwider, inmitten so viel mittelmäßiger Dinge, die mich an mein Gebundensein erinnerten, zum Fluge aufzusteigen, wenn ich dieses Wort wagen darf. Ich habe immer noch eine ganz besondere Vorliebe für die Orte, an denen das Leben in der Er65
scheinung des Unwirklichen sichtbar wird ... Zwei Schritte weiter nimmt es die Formen wieder auf, die wir nur allzu sehr an ihm kennen; aber dort, an diesem auserwählten Ort, ist ihm etwas Zwielichtiges eigen, das es dem Traume verwandt sein läßt. Was aber seine Zauberkraft ausmacht, rührt doch wohl daher, daß es nun zwar nicht mehr ganz und gar das Leben, doch eigentlich auch nicht der Traum ist. Eines Junitages, da ich bei einem Former meines Viertels einen Gipskopf kaufte, verliebte ich mich so heftig in seinen Laden, daß ich einige Energie aufwenden mußte, um davon loszukommen. Hatte ich wirklich so oft an ihm vorübergehen können, ohne ihn wahrzunehmen? Vielleicht war ich damals noch nicht reif für die Leidenschaften, deren erste Ausbrüche mich an diesem Tage ins Wanken brachten. Der nächste Morgen und die kommenden Tage fanden mich am selben Orte wieder. Ich erfand die ausgefallensten Vorwände für mein Verbleiben. Ein Verwandter bat mich, für ihn den Abguß eines Bildwerkes zu kaufen, dessen Namen mir entfallen war, das ich aber nur zu sehen brauche, um es wiederzuerkennen. Gab es nicht noch andere Abgüsse, nicht ein Atelier, wohin man mich führen könnte?
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Ich ahnte in der Tat, daß es, mir noch verborgen, noch anderes geben müsse. Meine Schulbubenlist hatte Erfolg. Ich hatte es mit einer guten Frau zu tun, die mir den Schlüssel zu einem Magazin aushändigte, in dem Abgüsse, die zu groß waren, um im Laden aufgestellt zu werden, darauf warteten, daß eine Bestellung sie in eine Zeichenklasse oder in die Verlassenheit eines Provinzmuseums wandern ließ. Gepreßten Herzens durchschritt ich einen stillen Hof und drang über vier oder fünf Stufen, die nach unten führten, in ein dunkles, feuchtes Gelaß. Zuerst erblickte ich nichts denn Erwartetes. In der Mitte des Magazins trugen drei große übereinanderstehende Tische das Gewicht eines runden Hunderts gipserner Brustbilder. Die Mythologie vermischte sich dabei mit der Geschichte. Die nackte Schulter Apollos berührte die kaiserliche Gewandnadel Domitians; aber es war eine Anhäufung, deren Bestandteile für sich blieben. Etwas hielt sie voneinander geschieden: jeder lebte aus einer Leidenschaft, die nur ihn befeuerte. Bacchus in seiner wohligen Weichheit und Trajan im Strahlenglanz des Ruhmes kannten einander nicht, obwohl vom Heraufdämmern des Morgens bis zum Einbruch 67
der Nacht ein langer Frageblick versuchte, sie zueinander zu bringen. Im währenden Anschauen begriff ich, daß das Leben sich auf eine Weise zu vermitteln vermag, die sich nicht dem ersten Blick erschließt. Sie atmeten nicht, aber sie horchten. Bei ihnen ersetzte das Aufmerken den Atemhauch. Wenn auch das Gesumme der Straßen nicht an ihr Ohr drang, so führten doch geheime Gedanken in den Tiefen ihrer Brust ihr tönendes Leben. Als ich jedoch in dem Magazin die Runde machte und mein Auge sich an den Halbschatten gewöhnt hatte, sah ich mit einem Mal ein Schauspiel, das mir einen Aufschrei entriß. Dieser Keller beherbergte den Olymp. Mehr als zwanzig Bildwerke erwarteten meinen Blick, aufgereiht vor einer schwarzen Wand, aus der sie hervorzutreten schienen. Was andere unter dem Himmel der Akropolis empfinden, das bekam ich hier zu spüren. Die schwanken Gesichte meiner Träume verleibten sich und über einige Sekunden hin ward mir genaue Kenntnis meiner selbst zuteil, freilich um den Preis, in der Folge vergessen zu müssen, was diese Offenbarung mir kundtat. Worte würden nur schlecht wiedergeben, welcher Art die Wonne war, die mich schüttelte, doch vermochte ich mir ohne Mühe –
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das Halbdunkel half mir dabei – die Verzückung eines frommen Herzens in einem Tempel vorzustellen, in dem das Mysterium sich vollzieht. Eine unbestimmbare und machtvolle Bewegtheit erhob mich vor diesen Göttern, die mich nicht sahen. Ihre Schönheit traf mich wie ein Blitz. Ein Götterhimmel tat sich vor meinen Augen auf und schlug mich mit Entsetzen, aber gerade dieses Entsetzen betete ich an. Wenn man seine Seele verkaufen könnte, würde ich in dieser Minute ein ewiges Leben in Seligkeit um ein billiges hergegeben haben, wenn dafür in diese Welt aus Gips mit einem Schlage die belebende Seele eingegangen wäre. Ihr Zorn hätte mich entzückt. Welche Martern hätte ich nicht auf michherabgerufen! Ich glaube fast, daß ich in der verwunderten Entzückung des Begehrens mich erkühnte, diese Glieder zu berühren, sie mit meinen Armen zu umgreifen, und an diese Angesichte ohne Blick und an die Brüste, darinnen nichts schlug, legte ich bebende Hände. Das kalte Gewährenlassen dieser Leiber überraschte mich noch mehr als die Ausgelassenheit meines Betragens. Ich hätte verstanden, wenn ihnen das Leben geschenkt worden wäre, nicht um meine
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Seele in Tausch zu nehmen, sondern einzig und allein, um mich zurückstoßen zu können. Daß solch wundersame Schönheit sich nicht solle verteidigen können, erschien mir unerklärlich. Dies war nicht das am wenigsten Seltsame unter den Gefühlen, die mich an diesem Morgen verwirrten, und, einer falschen Scham nachgebend, verließ ich Bacchus, unbestimmt in seiner Glieder Rundung, Apollo, zornvoll und keusch, und Diana, ewig auf Jagd und nie überwältigten Schoßes. In diese Zeit etwa fällt das erste Abenteuer, in dem das Leben mit meinen Träumen eins zu werden versuchte. Ich weiß nicht mehr, ob es vor oder nach meinem Besuch im Figurenkabinett geschah. Das Gedächtnis läßt mich im Stich. Ich hätte die kleinen Groschenhefte aufbewahren sollen, in denen ich damals so viel Dinge vermerkte, die man nicht zu schreiben wagt. Ich habe sie im Gefolge eines Gewissenskampfes verbrannt (als ob man ungeschehen machte, wovon man sich lossagt), aber mir ist davon wenigstens noch die Lust und die Sorge geblieben, in dem, was ich sage, wahr zu sein. Der Krieg war seit fünfzehn Monaten zu Ende, und ich bereitete mich zum dritten Male auf
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die Reifeprüfung vor. Der Tag, die Stunde sind mir entfallen und mit ihnen nähere Einzelheiten, die ich mit Bedauern vermisse. Ein Schulfreund, der sich an mich angeschlossen hatte, — weniger aus Zuneigung denn aus Neugier – schlug mir eines Tages vor, in Gesellschaft seiner Base in die Wälder von Rancy auszufliegen. Aus Schwäche nahm ich an, war es doch so, daß noch immer die Kraft, die ich in mir fühlte, durch meine Worte Lügen gestraft worden ist. Remy flößte mir keine Freundschaft ein. Ich ließ mir seine Unterhaltung und seine Vertraulichkeit gefallen, doch nur aus Höflichkeit, und weil alles, was nicht meine Sehnsucht war, mir von gleicher Langeweile und gleichermaßen unausweichlich erschien. Er wußte es, glaube ich, und setzte seinen Stolz darein, in diesem Spiel zu gewinnen. Er war ein gewalttätiger und verschlagener Bursche, der es nicht ertrug, daß man sich ihm widersetzte. Doch da mir das Fürchten mit seinen Fäusten wohl kaum beizubringen war, nahm er Zuflucht zu grobschlächtigen Freundesdiensten, um mich dazu zu bringen, ihm gehorsam zu sein. Bücher, die im rechten Augenblick aufgeschlagen unter das Pult geschoben wurden, ließen mich ihm verpflichtet werden. 71
Ich kam pünktlich zum Stelldichein, aber es machte mich wütend, dem Willen anderer gegenüber also fügsam zu sein. Wir hatten vereinbart, uns in einem Kaffeehaus zu treffen, um anschließend seine Base abzuholen. An seinem ein wenig geheimnisvollen Lächeln merkte ich, daß er frohlockte, mich in dieser Verfassung zu sehen, nämlich zugleich widerspenstig und einverständig, denn ein zu leichter Erfolg hätte ihm die Freude verdorben. Er trieb sogar die Lust an der Schwierigkeit so weit, daß er mir sein Vorhaben bekannte und es mir in einem ungünstigen Lichte erscheinen ließ: „Sie ist recht lebhaft, sehr stolz“, sagte er. „Mach dich auf eine Ohrfeige gefaßt.“ Ein grausames Lächeln kniff sein Auge zusammen, das klein war und sich nach den Schläfen zog. In diesem Augenblick kam mir sein Gesicht so abscheulich vor, daß ich heimzugehen erwog. Seine stumpfe Nase, sein allzu roter Mund und sogar noch seine doch recht weißen Zähne — alles an ihm tat dem, was ich mir unter Schönheit vorstellte, Gewalt an. Wie herausfordernd war doch seine Häßlichkeit! Wieviel Anmaßung lag nicht in diesen blauen Pupillen! Wir hatten uns ein wenig verfrüht. Über all die Straßen hin, die uns zu seiner Base führen sollten, 72
verschwendete er seine Ratschläge an mich mit einer Freimütigkeit und einem Zynismus, die darauf berechnet waren, mich in Verlegenheit zu versetzen. Ich werde leicht rot. So aufgewühlt auch meine Sinne sein mochten, so gab es doch gewisse Worte, die zu sagen ich unmöglich und die anzuhören ich peinlich fand; diese waren es, mit denen er seine Rede auszierte. Schließlich kamen wir hin, ich mit aussetzendem Herzschlag, er vergnügt und umtriebig wie ein Teufel. Er stellte mich einem jungen Mädchen vor, dessen Antlitz ich nicht deutlich sah, so blendete mich meine Erregtheit. Die Überraschung ließ das Mädchen stumm bleiben. Ich erinnere mich noch, daß sie sich für einen Ausgang fertiggemacht hatte. Ihr erstaunter Blick heftete sich zuerst auf Remy, dann auf mich. Ich muß da wohl Miene gemacht haben fortzugehen, denn er hielt mich am Arme fest. Hier begann der Einschlag in seinem Lügengewebe sichtbar zu werden, und ich kam mir vor wie der Held eines Possenstückes, das bestimmt war, ihn zu belustigen. Es war keine Rede mehr davon, nach Rancy zu gehen, und eine Viertelstunde später befanden wir uns alle unter den nichtigsten aller Vorwände bei ihm zu Hause.
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Da begriff und bewunderte ich, wenn auch widerwillig, die ganze reißende Wildheit dieses Primaners. Andrée – keinerlei Verwandtschaft verband sie mit Remy – gehorchte ihrem angeblichen Vetter mit der Knechtseligkeit der Liebe. Fühlbar älter als wir, verhielt sie mit ausreichendem Erfolg ihren Ärger, mich hier zu sehen, aber ich erriet, wie vollständig und verheerend die Scham von ihr Besitz ergriffen hatte. Ein Blick, den ich heimlich auf sie richtete, ließ mich in Verwunderung fallen. Es war das erste Mal, daß ich sie anschaute. Meine Verwirrung löste sich auf, und ich meine, in dem undankbaren Lichte eines glanzlosen Himmels sie gesehen zu haben, wie sie war: man hätte kein schöneres Angesicht träumen können. Die Vollkommenheit ihrer Züge war es nicht, was mich am meisten bestürzte; dies tat vielmehr ein eigentümlicher Ausdruck, den ich seither bei keinem anderen Menschen mehr finden konnte. Vielleicht würde das Wort ,unmenschlich’ dafür passen, wenn dieses Wort nicht die Vorstellung einer kalten und harten Natur weckte. Nun aber war in dem Blick ihrer grauen Augen alles nur Sanftheit, und selbst der Kummer löschte das Lächeln nicht aus, das über ihre Lippen irrte. Ihre
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Schönheit schied sie von uns und wies ihr gewissermaßen ihren Ort weit jenseits der Grenzen der Erde an. Für dieses eine Mal schienen mir die Übertreibungen der Dichter angebracht und wahr. Es gibt nur eine Art und Weise, von der Anmut des Leibes zu reden, wenn sie solchen Grad erreicht. Mit scharf umreißenden Begriffen übt man Verrat an seinem Vorwurf; die tastenden Anspielungen der Dichter allein bewahren etwas von dieser lebendigenHelle. Ich schaute Andrée mit den Augen des Geizhalses an, den seine Leidenschaft pflügt. Remy, der uns spöttisch, aber sehr aufmerksam musterte, bemerkte die Eindringlichkeit meines Blickes. Auf Grund eines recht geläufigen Mißverstehens nahm er für Wut, was nur Begehren war, und machte mir ein Zeichen, auf das ich keine Antwort gab. Das Gefühl, in einem Theaterstück zu spielen, wich von mir; mit einem Male wechselte ich von einer Ebene auf eine andere hinüber und von einer platten Lüge zu einer Wirklichkeit, die mir das Herz zusammenzog. Wie ich diese Wangen sah, über die Tränen rannen, diese von schwarzen Wimpern verschatteten Lider, dieses ganze glatte und frische Angesicht, das sich zu Boden neigte, kamen mir die 75
schmählichen Ratschläge Remys wieder in den Sinn. Diese Erinnerung setzte mein Blut in Flammen. Konnte es sein, daß er nicht gelogen hätte? Welchen Beweis brauchte ich denn? Die Anwesenheit Andrées klärte mich mehr als genug über die Herrschaft auf, der sie unterworfen war. Wenn sie wirklich so stolz war, wie Remy behauptete, dann mußte sie tödlich unter der Demütigung leiden, die er ihr antat. Seit wir gekommen waren, hatte sie nicht ein einziges Mal die Augen gegen ihn aufgehoben, sondern sie wandte sich, auf die Folter gespannt durch den Blick, den ich auf sie geheftet hielt, mir zu und faßte mich mit so verzweifelter Miene ins Auge, daß es mich rührte: ohne zu wagen, ihr Flehen in Worte zu fassen, beschwor sie mich zu gehen. Ich las in diesen Zügen alles, was das Herz an Traurigkeit bergen kann. Mein Wunsch, ihr einen Gefallen zu tun, war stärker als der, zu bleiben. Ich zögerte noch ein wenig, dann stand ich auf und ging aus dem Zimmer. Remy holte mich im Hausflur ein. „Möchtest du sie haben?“ fragte er mich. Ich antwortete nicht. Er stellte sich vor die Türe, um mich am Fortgehen zu hindern. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Wildheit an, der einen Mann aus ihm machte. Mir 76
ging alsbald auf, welch seltsame Leidenschaften ihn künftig leiten würden. „Sie ist schön, nicht wahr?“ fuhr er mit einer trockenen Stimme fort, die ich nicht kannte. „Sie folgt mir. Du siehst, sie ist da, weil ich es ihr gesagt habe. Das Haus ist gerade leer. Mein Vater ist auf Reisen. Ich mache darin, was ich lustig bin. Du hast gesehen...“ Sein helles Auge heftete sich hart auf mich, als wolle es noch die letzten Zuckungen meiner Muskeln ausspähen. „Hast du gesehen? Sie weinte. Und du, und du...“ Ich ging. Kaum hatte ich die Tür zugezogen, da bereute ich es schon. Es mochte drei Uhr sein, jedenfalls war es noch Tag. Durch eine weiße und undurchsichtige Glasscheibe, deren oberen Teil mir die Treppe verbarg, ergoß sich Licht, gleich dem Widerschein eines Schneefeldes. Ich ging einige Schritte vor der Tür hin und her, dann setzte ich mich auf den Teppich, der die Stufen bedeckte. Ein unbekannter Schmerz brach mich entzwei. Das überraschte mich zunächst. Doch nach einer Weile begriff ich, daß dies die Form war, in der ein seelischer Schmerz körperlich wird. Um diese Folter
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einzuschläfern, legte ich mich am Boden nieder wie ein Hund. Und dies war der Augenblick, da sich meiner Sinne etwas wie Trunkenheit bemächtigte. Der Fußboden, auf dem ich lag, neigte sich nach rechts, dann nach links, wie das Deck eines Schiffes. Ich fühlte an meinem Gesicht in einem Duft von Moder einen Luftzug von unter der Tür her kommen; um mich auf der anderen Seite dieser Türe zu finden, hätte ich liebend gern mein Leben hingegeben. Ohne Zweifel hätte ich dazu nur zu läuten brauchen. Aber Läuten war das einzige Ding auf der Welt, das ich nicht tun konnte. Ich stand wieder auf und setzte mich, den Kopf gegen die Stäbe des Treppengeländers gedrückt, nieder. Alles kam ins Schwanken. Mein Gehirn gehorchte mir nicht mehr: es gelang mir nicht, einen Gedanken zu verfolgen, einen Plan auszudenken. Es kam mir vor, als neige sich der Tag; aber nein, dieses regenbogenfarbene Etwas, das in die Luft eindrang, hatte außerhalb meiner keine Wirklichkeit. In diesem Augenblick, der einer dichten und ganz nächtigen Nacht voranging, zerriß ein Blitzen das Dunkel. Mir schien, dieses gleißende Geschoß durchbohre mir den Schädel von einer Schläfe zur anderen, hinter den Augen, und während einiger Se-
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kunden sah ich, so als sei sie Wirklichkeit, eine Szene, die vielleicht nur Einbildung war. Was sich vor meinen Geist stellte, stellte sich auch vor mein Auge. In einem Überschwang der Sehnsucht und des Begehrens schoß mein ganzes, durch das Entbehren ans Kreuz geschlagene Wesen in einen einzigen Blick, für den es keine Wand mehr gab: ich sah die Verschlingung zweier feindlicher Leiber, und das Entsetzen vermischte sich der Lust. Fast im gleichen Augenblick schlug die Nacht über mir zusammen. Vier oder fünf Tage danach nahm ich meiner Mutter einen Brief aus der Hand, den sie gerade öffnen wollte und der ungefähr so abgefaßt war: „Sie sind sicher der letzte Mensch, den ich um einen Rat bitten dürfte. Finden Sie sich indessen doch morgen gegen fünf Uhr am Gittertor des Luxembourg gegenüber der rue de Fleurus ein. A.“ Sie hatte eine Nachschrift beigefügt: „Sie dürfen mir glauben, daß ich gezögert habe, Ihnen zu schreiben.“ Dieser Brief war eine Bitte und wollte ein Befehl sein. Seine Schrift erschien mir eitel und sein Ton dreist. Aber er gab einem Aufruhr in meiner
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Brust neues Leben, der ohne ihn langsam zur Ruhe gekommen wäre. Mein Gedanke war gewesen, daß der Schmerz sich abnutze, daß er, sich selber verzehrend, zu Asche werden müsse. Nun überraschte mich die Macht dieser paar Zeilen wie eine Enthüllung, die mein eigenes Herz offenlegte. Mein erster Einfall war von unerklärlicher Albernheit: zu Remy zu gehen und ihm diesen Brief zu zeigen. Seit dem Tage, da er mich mit Andrée in sein Haus geführt hatte, blieb ich dem Gymnasium fern, und wir hatten uns nicht mehr gesehen. Nun auf einmal nahm ich ihm nicht mehr übel. Mein Groll fiel, ohne vernünftigen Grund, in sich zusammen. Nur die Erinnerung an seine Grausamkeiten hinderte mich daran, der Regung nachzugeben, die mich zu ihm trieb. Ich stellte mir vor, was für ein Lächeln seine Lippen verziehen würde, welche Falten sich an den Winkeln seiner Augenlider bilden könnten, wenn er das Briefchen las. Er würde sich über mich und sie lustig machen. Vielleicht auch würde sich über sein gieriges und wildes Gesicht dieser Ausdruck des Ernstes breiten, der ihm kam, wann immer er mir die Tür versperrte und sein Zorn mich einhüllte wie der Gluthauch eines Brandes. Ich fand mich verrückt, daß ich an ihn hatte
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denken können; sie war es, wohin ich zu eilen hatte. Die Fahlheit meines Gesichtes entriß meiner Mutter einen Aufschrei; sie hielt mich für krank. In diesem Augenblick erschien sie mir in solche Fernen entrückt, daß es mich wundernahm, daß sie nicht gestorben war. In ihren Fragen lag kein Sinn mehr. Zu wem sprach sie eigentlich? Warum rüttelte sie mich an den Armen? Ich schob sie weg und entlief barhaupt auf die Straße. Von uns bis zu Andrées Wohnung waren es nur runde hundert Meter. Ich durchlief die Strecke in einem Zustand, den zu beschreiben schwer ist, weil ich nicht mehr wußte, ob ich glücklich oder unglücklich zu sein hatte. Zuweilen war mir, als ob ich wiederum in einer Art von Traumschmerz untertauche; dann, mit einem Male, wurde mir leicht ums Herz. Nun setzte ich meiner Hoffnung keine Grenzen mehr. Bei Andrée wurde mir gesagt, sie sei ausgegangen. Ohne Zweifel hatte mein verscheuchtes Aussehen diese Antwort eingegeben. Nachher kam mir der Gedanke, daß ich recht blöde und unvorsichtig gewesen war, zu Andrée hinaufzugehen, und daß sie es mir sicher übelnehmen würde. Immerhin aber
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beschloß ich, draußen auf das junge Mädchen zu warten, auf der Terrasse eines Kaffeehauses, von wo aus ich die Haustür im Auge behalten konnte. Die Dreiviertelstunde, die hernach verfloß, ließ mich, glaube ich, mehr altern als ein ganzes Jahr es vermocht hätte. Diese langen Minuten gaben mir das Maß meiner Schwäche kund. Ich verhielt mich angesichts des Schmerzes nicht anders als ein schlechtgetakeltes Schiff im Sturm. Da war nichts mehr, das der Verzweiflung Widerstand geleistet hätte, aber gerade darin lag die Chance meiner Rettung, denn, war die Verheerung einmal geschehen, meldete sich der Lebensdrang stärker als zuvor. Das Leben hat mich keinen düstereren Augenblick kennenlernen lassen. Welche Bitternis auch mir die Zukunft vorbehalten mag, so wird doch meine Traurigkeit niemals über das hinausgehen, was ich damals empfand. Ich wünschte die Gegenwart Andrées mit solchem Ungestüm, daß ihre Abwesenheit mir als ein zureichender Grund zu sterben erschien. Es wäre höchst unnütz gewesen, mir zu sagen: „Sie wird kommen; du wirst sie morgen sehen, heute abend.“ Ich hätte einige Tropfen Gift
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willkommener geheißen als Tröste dieser Art; es ging ja nicht um heute abend oder um morgen, sondern um dieses eine Jetzt, das mich umbrachte. Endlich sah ich sie aus dem Hause treten. Ohne irgendeine Ahnung meines Hierseins überquerte sie die Straße und schritt geradewegs auf mich zu. Ich stand auf, und sie erkannte mich. Der Umgang mit dem Wort war nie meine Sache gewesen; ich stotterte so blöde daher, daß es ihre Verlegenheit erhöhte. Sie wollte mich schlicht stehenlassen; ihre Eltern waren von der See zurückgekehrt, wo sie die Osterferien verbracht hatten; man hätte uns sehen können. Ich hatte die Geistesgegenwart, einen Wagen anzurufen. Ich erinnere mich, daß sie einen Ledermantel trug, von der Art, wie sie der Krieg bei den Frauen in Schwang gebracht hatte. Dieses Kleidungsstück veränderte sie, doch ist es mir nicht möglich zu sagen, worin eigentlich. Sie erschien mir weniger schön, aber näher. Der Geruch des Leders mischte sich meiner Schau von ihr bei; ich sah sie nicht mehr mit den gleichen Augen an. In ihrer Schönheit lag nun etwas, das weniger zerbrechlich und weniger selten war, etwas, das ich nicht wiedererkannte. Aber ich vermißte das Gespenst nicht sonderlich, das mich am ersten Tage
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verführt hatte. Ganz im Gegenteil: der Gedanke, mich eines Wunsches ledig zu wissen, ließ mein Herz in die Höhe springen, selbst dann, wenn dieser Wunsch durch einen anderen, stärkeren sollte ersetzt werden müssen. Mehrere Minuten lang verharrte sie unbeweglich und verdrossen. Dann begann sie, von meinem Schweigen in Verlegenheit gesetzt, mir über das, was sie meine Leichtfertigkeit nannte, Vorwürfe zu machen, doch ich spürte, daß sie an ihre Worte nicht glaubte und daß sie das nur hersagte, um die Haltung zu bewahren. Mit einem Male wurde der Kummer über sie Herr, und sie zerfloß in Tränen. Beinahe ohne jede Überlegung legte ich den Arm um sie. Diese Gebärde bescherte mir alsbald eine seltsame Überraschung, weniger ihrer Kühnheit wegen als wegen der Geringfügigkeit der Befriedigung, die sie mir schenkte. Und zu denken, welche Wonne mich am Abend zuvor über mich hinausgehoben haben würde, wenn man mir gesagt hätte, mir sei bestimmt, diese Gebärde zu vollbringen! Ich brachte sie unschwer dazu, mir ihr Ungemach anzuvertrauen. Ihr Charakter – ich merkte es bald — war ein recht bläßliches Ding. Eine Last
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drückte sie nieder; um sie loszuwerden, würde sie mit dem nächsten besten geredet haben. Remy liebte sie nicht mehr. O ja, ich konnte fast mich selber in die Gleichgültigkeit dieses Burschen versetzen, wie ich die Tränen sah, die sie so ohne Scham vor mir vergoß. In meinem Geist ist dem Denkbild des Schönen die Vorstellung der Kraft zugeordnet, und dies mit so gebieterischem Anspruch, daß mich im Anschauen dieser feinen und reinen, durch solche Schwachheit entehrten Züge das Gefühl überkam, daß hier einer etwas schuldig geblieben war. Ihr wäre ein gewöhnlicheres Gesicht angemessenergewesen. „Er ist so hart“, stöhnte sie. „Man könnte meinen, daß er mir übel nimmt, mich geliebt zu haben. Er hat Sie herbestellt, um mich zu demütigen.“ Um sie auf den Weg des Bekennens von Einzelheiten zu bringen, tat ich, als verstünde ich nicht, denn ihr Bericht schob zwischen sie und mich eine immer wachsende Entfernung, aber zugleich entzückte er mich. Ohne es zu wissen, gab sie mir die Freiheit zurück. Ich atmete leichter. Mit einer von Geschluchz immer wieder unterbrochenen Stimme vertraute sie mir an, daß Remy ihr gegenüber eine Grausamkeit an den Tag lege, die im übrigen die
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Bindung, die sie an ihn hatte, nur noch stärker mache. Ich weiß nicht, welcher Instinkt sie trieb, mir solche Dinge zu beichten. Man hätte meinen können, sie habe die Demütigung von jüngst noch vertiefen und sich noch ein Stück weiter vor dem erniedrigen wollen, der sie so tief am Boden gesehen hatte. Von Zeit zu Zeit führte sie ihr Taschentuch an die Zähne, als wollte sie es zerreißen, eine Gebärde, in die, glaube ich, ein weniges an Ziererei Eingang gefunden hatte. Ich erriet, daß der Auftritt, bei dem es zum Bruche gekommen war, anders und unter wesentlich weniger unangenehmen Begleiterscheinungen zuende gegangen war. Remy hatte mich nur zurückgehalten, um dem armen Mädchen Kummer zu schaffen. Sie und ich sollten an der Tafel des seltsamen Begehrens dieses jungen Tyrannen bedienen. Mein Weggang hatte ihn hungrig zurückgelassen, und ich brauchte mir nur den Blick ins Gedächtnis zurückzurufen, den er im Hausflur auf mich schoß, um die Ausschweifungen, die darauf gefolgt sein mußten, vor Augen zu haben. Sie schwieg. Ich fühlte mich zu dieser Frau durch die gleiche Kraft hingetragen, die mich von ihr entfernt hatte. Keinerlei Übergang vermerkte den
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Umschlag aus äußerstem Unbeteiligtsein in eine Angst, deren Sinn ich nicht recht verstand. Ich bestand darauf zu erfahren, wie lange sie nach meinem Weggang zusammengeblieben waren, und nachdem der ganze Kelch der Scham ausgetrunken war, wollte ich noch wissen, wie sie die zwei langen Stunden ausgefüllt hatten, von denen sie mir sprach. Sie sah in dem kleinen Spiegel, der unsere Gesichter zurückwarf, wie ich erbleichte, und glaubte an Eifersucht. Ich war auch eifersüchtig, aber nicht auf Remy, sondern auf sie. Wenn es ihrer Schönheit gelingen konnte, zunächst mich zu überraschen, dann mich für einige Zeit von mir selber abzuziehen, wie groß mußte dann die Macht gewesen sein, mit der mich die Häßlichkeit meines Nebenbuhlers anzog? War ich denn aus einem anderen Grunde bei ihr, als um näher an ihn heranzurücken? Ihre Tränen trockneten. Ich erriet an ihrem Blick, daß sie den Plan hegte, sich meiner zu bedienen, und alsbald trat ein lächerliches Schöntun an die Stelle des demütigen Gehabes von vorhin. Nun fing sie an, mit den Antworten zurückzuhalten und sich zu fragen, wieso sie denn dazu komme, mich solcher Vertraulichkeiten teilhaftig werden
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zu lassen. So viel Albernheit brachte mich außer mir. In einer Bewegung unzähmbarer Wut faßte ich ihr Handgelenk und schüttelte es. Ich schrie: „So sprich doch!“ Diese Zorntrunkenheit machte ihr Angst, und sie fing an zu stottern. Meine Hand ließ ihren Arm los; nein, sie warf ihn vielmehr mit der gleichen Gewaltsamkeit zurück, mit der sie ihn gepackt hatte. Mit finsterer Miene lehnte ich mich im Wagen zurück. Es hatte sich ergeben, daß ich unwissentlich den geschicktesten Part erwählt hatte. In der Tat hatte Andrée einige Augenblicke später ihre Finger in meine geschoben und gab mit erstickter Stimme Antwort auf meine Fragen. Da durfte ich denn eine eigentümliche Wonne kennenlernen, die ich in der Folge mehrere Male zu verspüren bekam. Jede Antwort, die ich erzielte, verschaffte mir einen neuen Schmerz, aber ich genoß ihn, wie die seltenste der Lüste. Wer nicht eifersüchtig gewesen ist, wird nichts von dem verstehen, was ich meine. Ich durchlebte in dieser Stunde neu die peinvollen Augenblicke, die ich jüngst im Treppenhaus hatte erleben müssen, aber sie hatten sich in bittere Wonnen verwandelt, für die ich keinen Namen weiß. Was mir dieser so rein gezeichnete Mund verriet, hatte ich
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gesehen; meine Einbildungskraft hatte mich nicht betrogen. Sie sprach so leise und so schnell, daß ich den Kopf neigte, um sie besser zu hören; mir war, als vernähme ich das Gerede einer Nachtwandlerin. Der Spiegel ließ sie mir noch fahler erscheinen, und ihre Finger umklammerten meine mit all ihrer Kraft. Sie sah mich nicht mehr. Ein Trugbild hielt ihren Blick gefangen. Für sie war nur noch wirklich der Augenblick, dessen sich zu erinnern, sie erbeben ließ. Mit meiner freien Hand preßte ich ihre Schulter; an meinen Handballen fühlte sich das Leder ihres Mantel an wie lebendige Haut. Ich horchte auf dieses eintönige Gemurmel, das zu mir aufstieg und mich einhüllte. Dann geschah mir, als schlage wieder einmal eine jähe Nacht über mir zusammen, und ich glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Mit einem Schlage wurde etwas Unwiderstehliches meiner Herr. Meine Lippen erstickten auf den ihren die Worte, die mich zerrissen. Nichts ist so geheimnisvoll wie der Wanderweg einer Leidenschaft in einem der Erfahrung baren Herzen. Manchmal scheint sie zu versiegen und zu
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entschwinden, aber sie geht an der Hand eines Verhängnisses, und ihre Bahn ist vermessen. Auch ein schärferer Blick als der meine wäre vielleicht über meinen eigenen Fall in die Irre gegangen. So habe ich mir denn die Aufgabe gestellt, nur einige Tatsachen aufzuzeichnen, ohne sie zu deuten. Der Boden unter meinen Füßen wird darum nur um so fester sein. Auf das Abenteuer, das ich erzählt habe, folgte eine Zeit der Ruhe. Man hätte meinen können, dieser Kuß, den zu rauben im übrigen nicht schwer gewesen war, habe meinen Hunger gestillt. Ich machte keinen Versuch, Andrée wiederzusehen, und der Gedanke an sie hatte keine Wichtigkeit für mich. Und doch war ich enttäuscht. Es konnte nicht sein, daß das Leben nicht ein anderes Ding war. Ich dachte mit dem Kummer des Bedauerns zurück, wenn auch nicht gerade an die Zeit meines Kaltseins, so doch wenigstens an das Erwachen meiner Sinne und den ersten Blick, den ich auf eine neue Erde geworfen hatte. Auf der Schwelle der unerforschten Welt verstrahlten die Götterbilder ihr Leuchten. Wir schienen miteinander einen Pakt geschlossen zu haben; ich weiß nicht, welcher Art er war, doch in meinen Augen waren sie die
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Bürgen eines Lebens, in das der Same wundersamer Lüste gestreut war. Nun da die ersten Schritte getan waren – was hätte ich da nicht alles auf mich genommen, um wieder umzukehren und meine Reise anders zu beginnen! Für den Augenblick war ich beruhigt; immerhin aber ließ ich mich durch meine Gleichgültigkeit gegenüber den Trieben des Fleisches nicht zum Narren halten; ich wünschte lediglich, dieser glückselige Zustand möge eine Weile andauern, gerade die Zeit, die nötig war, um die enttäuschten Hoffnungen des Anbeginns zu vergessen. Mein Geschmack an der Arbeit ergriff wiederum von mir Besitz. Der Zauber der Bücher bekam neuen Zugriff auf mich. Ich wollte nicht mehr die Namen im Gedächtnis halten, die ich einen Monat zuvor in der entsetzlichen Einsamkeit meiner Nächte gerufen hatte. Meine nunmehrige Keuschheit wischte dies alles aus, wie beunruhigt ich auch hinsichtlich der Zukunft sein mochte. Die Meeresstille der Seele war mir von Nutzen. Ich beschloß, die Anlässe, die Leiden bringen, zu meiden und vor allem meinen Stolz in Hut zu nehmen. Es kam nicht darauf an, unmöglicher Beute nachzustellen, von Antlitzen außerhalb je-
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der Erreichbarkeit zu träumen; es kam darauf an, die eigene Sehnsucht zu erkennen und ihr einen Gegenstand zu suchen, der ihrer würdig sein konnte. Aber meine Erwägungen stellte ich nunmehr kalten Blutes an. Wußte ich denn, was ich wollte? Was an meinen Gefühlen für Andrée konnte ich denn begreifen? Ein einziges Ding leitete mich: ich begehrteleidenschaftlich,michkennenzulernen. Im Gymnasium, in das ich nun alle Tage zurückkehrte, war es mir unmöglich, Remy nicht zu sehen. Er kam auf mich zu, und sein Blick belauerte den meinen, wie um darin durch die Gunst einer Sekunde mangelnden Wachseins die Gedanken zu erhaschen, die ich ihm nicht sagte. In der Tat trieb ihn eine immer stärker werdende Neugier zu mir hin. Wenngleich wir in einem stummen Übereinkommen kein Wort über das Abenteuer verloren hatten, darin ich eine so sonderliche Rolle gespielt hatte, fühlte ich, daß es sich im Grunde um nichts anderes handelte. Und dann waren wir ja schließlich in die Jahre gekommen, in denen schlechthin nichts einfach ist. Aber während das Spiel der Verschweigungen mir schlicht und einfach Vergnügen bereitete, weil ich einigermaßen zur Ruhe gekommen war, erriet ich bei Remy die Wühlarbeit einer 92
Leidenschaft. Er verlor viel von seiner Hochfahrenheit. Im Verhältnis zu mir wenigstens wurde sein Gehaben immer verbindlicher. Man konnte meinen, er wolle die Erinnerung an gewisse Begebenheiten auslöschen. Doch das war es nicht. Eine instinktive Vorsicht bewahrte mich indessen davor, in einem Geheimnis tiefer zu graben, dessen Gegenwart ich nur allzu sehr fühlte. Denn eine unbewußte grundlose Furcht warnte mich vor einer Gefahr, und oft fühlte ich Erleichterung, wenn Remy von mir wegging. Aber meine Eitelkeit wurde so stark, daß ihr jedes Futter recht war, und zu sehen, wie dieser allen Leuten gegenüber ruppige Bursche sanft wurde, wenn er mit mir sprechen wollte, bereitete mir einiges Vergnügen. Nicht daß er für mich mehr Freundschaft empfunden hätte als für andere; wenn er auch, wie es gelegentlich geschah, den Ton seiner Stimme dämpfen und lächeln konnte, wenn er mir die Hand reichte, so verriet ihn doch der starre und harte Blick, den er in meine Augen schoß. In solchen Augenblicken konnte man zu sagen versucht sein, er habe gegen seinen Willen einem Befehl gehorcht. Mir blieb unbekannt, was er von mir wollte. Ich begriff nur, daß zwischen uns ein Band bestand, seitdem er
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mich über seine Beziehungen zu Andrée ins Bild gesetzt hatte. Vielleicht hatte er mich im Verdacht, der Liebhaber dieser Frau zu sein, und trieb ihn die schiere Eifersucht zu mir hin, weil er hoffen mochte, Geständnisse zu erzielen. Nie hätte ihm sein Stolz erlaubt, eine Frage geradeheraus an mich zu richten, und er wartete ohne Zweifel, daß ich aus eigenem Antriebe eine Beichte vor ihm ablegte. Aber – so dachte ich mit der Naivität meines Alters – wie konnte es möglich sein, Eifersucht wegen einer Frau zu empfinden, die man nicht liebt? In Wahrheit dachte ich über diese Dinge wenig nach, aber ich verträumte mich in ihnen. Mir schien, mit Remy komme eine Welt von Sehnsüchten und Trübsal auf mich zu, die mich belaure. Ich wandte meine Aufmerksamkeit von ihr ab, um sie besser abwehren zu können. Die ersten Sommertage waren nicht mehr fern; des Abends, wenn ich den Himmel hinter den Knospen der Bäume sich röten sah, packte mich die Melancholie; die wohlige Sanftheit der Luft wirkte auf mich ein und mit ihr jenes Etwas an Zartem und Schmachtendem, das der Frühling an sich hat. Noch ehe ich es wußte, hatte es mich gefaßt und war ich neu eingefangen. Ein jäher Ekel am Studieren ließ die Bücher aus
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meinen Händen gleiten, und die Langeweile flüsterte mir ihre düstergrauen Ratschläge zu. Diese Jahre, die den Ruf genießen, jene des Glücks und der Sorglosigkeit zu sein, sind manchmal die Zeiten, darin das lastende Gewicht des Lebens sich am härtesten zu fühlen gibt. Die Versuchungen fanden mich ohne Kräfte, und ich entdeckte, daß ich im Wechsel mit Kälte und einigen nichtigen Anwandlungen des Widersetzens schwach und der Sinnlichkeit verhaftet war. Mein Leben verdüsterte sich. Ich floh und suchte die Einsamkeit gleich einem Wahnsinnigen, der von dem Entsetzen vor dem Absturz und der Lust getrieben, sich hineinzuwerfen, einen Abgrund umkreist. Niemals hätte das ,ne nos inducas’ der Christen mehr Sinn gehabt als in meinem Munde, würde ich vermocht haben, niederzuknien, um diese Worte auszusprechen, ohne mir selber zum Gelächter zu werden. Wie war das Speisezimmer trübselig, darin ich meine Lektionen lernte! Das offene Fenster zeigte mir die Kronen der blühenden Kastanienbäume und, in einiger Entfernung, auf den Dächern der Häuser die weißen und grauen Rauchfahnen, die sich am Himmel niederbogen wie mächtige Federn. Wenn ich mich ein geringes hinauslehnte, sah ich
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auf den Eingang des Museums, und ohne Unterlaß drang Wagenlärm an mein Ohr. Die Welt war voll von Menschen, die wußten, wohin sie gingen, die einen dahin, dorthin die anderen. Wo war in diesem Verbund von Sorgen und Freuden mein Ort? Ich fühlte mich gleichzeitig als das reichste und das unnützeste der Wesen. Wie war es möglich, daß Menschen sich herbeiließen, viele Stunden lang, zum Beispiel, die leeren Säle des Luxembourg zu hüten oder im Senat herumzudösen oder in einer Hinterhausbude Ziffern zu addieren? Was war der Sinn dieser Ordnung, die das Leben erschlug? Denn die bloße Tatsache des Lebens ist erdrückend, und zweifellos gewöhnt man sich daran nur, indem man albernen Beschäftigungen nachgeht. Ich aber, ich hielt es nicht mehr aus zu sein. Ich suchte wie einst die Orte auf, wo das Leben sich nicht glich, wo ich vergaß, daß ich ein Zimmer Ecke rue Férou bewohnte, daß ich eine aufpasserische Mutter hatte und daß Süchte und Denkformen mir eigneten, die wie Kerker waren. Dieses dunkle Bedürfnis, mich freizumachen, führte mich an einen seltsamen Ort, von dem mir schien, er liege weder ganz im Traumland noch ganz in der Wirklichkeit, wie wir sie kennen. Wenn
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mein Gedächtnis mich nicht täuscht, lag er an der Ecke einer Straße, die auf das Marsfeld führt. Jeden Tag gingen Hunderte von Menschen dort vorbei und sahen ohne Zweifel dort, wo mein Blick eine andere Welt entdeckte, nichts denn einen weitläufigen, unvollendeten Neubau. Ein Haus, das fertig gebaut ist, weckt recht wenig Anteilnahme. Tausenden Wohnungen der Menschen gleichgeworden, scheint es Eile zu haben, sein Teil langweiliger Geschicke zu beherbergen, und die Fahne, die von seinem Firste flattert, verkündet in meinen Augen den Sieg der Gewöhnlichkeit. Aber da ist ein Tag, ja vielleicht nur eine Stunde, da der Fug von Stein und Holz eine geheimnisvolle Vollendung erreicht. Die Fundamente sind gelegt, das erste Stockwerk steigt langsam hoch; zwischen beiden breitet sich im Halbschatten ein undeutlicher Bereich. Das Auge sieht nichts, das es erkennen könnte. Man weiß nicht, wo man ist, und ungeachtet der Straße, die einen mit ihrem Lärm umflutet, wird dieses Zwischenreich zum auserwählten Ort, an dem das Leben sich verwandelt. Kurz vor Kriegsausbruch begonnen, waren die Arbeiten im rechten Augenblick stehengeblieben. Damit will ich sagen, daß das gewaltige verlassene
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Baugerippe diesen Charakter des Außermenschlichen aufwies, der immer schon mein Herz zum Schlagen brachte, unter welchem Bilde auch ich ihm begegnet sein mochte. In seiner jetzigen Vorläufigkeit konnte es niemandem etwas nütze sein, und vielleicht war es das, was mich an ihm verführte. Fertiggestellt, befenstert und überdacht, hätte es aufgehört, mir zu gefallen, aber unnütz, liebte ich es. Man könnte es nicht beschreiben: noch in keinerlei endgültige Form geschlüpft war es eine Herausforderung an jede Logik. Bretterwände stützten es beiderseits und schieden es von der Straße ab, aber über die leeren Baugelände, die es im Norden säumten, war es mir ein leichtes, Zugang zu finden. Ich ging zuweilen bei Tagesende hin und wandelte zwischen den großen Steinblöcken herum, die unter den Regengüssen vierer Jahre schwarz zu werden begannen, denn das Wasser konnte zwischen den klaffenden Bohlen eindringen. Im Erdgeschoß verfaulten die mächtigen Eichenstempel; ich ging von einem zum anderen und berührte sie mit der Hand. Unter einem gewissen Winkel und im sinkenden Lichte betrachtet, sahen sie aus, als seien sie ohne jede Ordnung in den Boden gerammt worden, und sie erschienen mir dann wie die Bäu-
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me eines Waldes, deren Blätter und Zweige sich in der Nacht verloren hätten, und ich verirrte mich darin und ließ mich zu ihren Füßen nieder. Es kam auch vor, daß ich mich so setzte, daß ich das Gleichmaß ihrer Reihung spüren konnte; dann bildete ich mir ein, in einem jener kretischen Paläste zu weilen, darin Könige ihre Sippen mit klingender Axt niedergestreckt hatten. Von diesen Spukbildern in Bann geschlagen, empfand ich keine Trauer mehr über die Erinnerungen, die durch meinen Geist schwirrten. Eine Art von Zauberwerk verlieh meinen Träumen das Gewicht wirklicher Dinge, und die Schmerzen, die mir das Herz auseinander gerissen hatten, verschwanden nun zu Alpträumen, aus denen ich gerade erwachte. Endlich entlief ich dem Leben. Mochte ich auch vom Gehweg her das Geraune seiner Schritte und von hinter der Bretterwand das Gemurmel seiner Stimmen hören, so gab es doch inmitten dieser Geräuschwelt eine Zone des Schweigens, darin ich allein war und frei. Die Angst vor der Zukunft überfiel mich, wenn ich nach Hause zurückkam. Aus Feigheit weigerte ich mich, über die zahllosen, ungelösten Fragen nachzudenken, die auf mich warteten: wovon sollte
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ich meinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn erst die Mittel meiner Mutter erschöpft sein würden, ein Verhängnis, das nicht lange auf sich warten lassen konnte? Welche Laufbahn würde ich wählen, falls ich im Examen scheitern sollte? Jeder Tag, der zu Ende ging, gab mir das Gefühl, unschätzbare Stunden vergeudet zu haben. Oft schnürte mir eine Art wilden Schreckens die Brust zusammen: ich arbeitete an meinem Unglück; meine Schlaffheit ließ mich zugrunde gehen. Indessen blieb mir noch ein Monat zum Examen. Warum nutzte ich diese Zeit nicht, um meine Lehrbücher noch einmal zu überlesen? Doch ein einziger Blick, den ich aufs Geratewohl auf eine Seite warf, heilte mich alsbald von dieser guten Regung. Zunächst geriet ich außer mir; dann wurde ich ruhig und schließlich richtete ich mich in meiner Unruhe ein, und als gelte es eine Herausforderung, löschte ich das Licht und schlief ein. Der Juni war in diesem Jahr wärmer als sonst. Meine Mutter, die von dem kürzesten Spaziergang müde wurde, ging nun nur noch aus, um für die Küche einzukaufen, und hielt sich den ganzen Nachmittag über im Eßzimmer auf. Ich sah sie neben dem Fenster sitzen und sich mit einer Zei100
tung Kühlung zufächeln. Ihr Blick blieb an keinem Gegenstand haften und schien einwärts irgendeinem trostlosen Schauspiel zugewandt zu sein. Was war ihr der Himmel von Feuerfarbe, was waren ihr die Bäume, tönend vom Vogelsang? Die leiseste Brise wirbelte die weißen und roten Blüten der Kastanienbäume durch die Luft. Wußte sie das? Um mich nicht zu stören, verweilte sie während Stunden in Schweigen und rührte sich nicht aus ihrer Ecke. Ich saß am Tische, ein wenig rückwärts von ihrem Stuhl. Jähe Ausbrüche von Traurigkeit ließen mich die Faust zu den Augen heben; es sah aus, als wolle ich den Gedanken in meinem Gehirn zerdrücken. Ich erstickte, so gut es mir gelingen wollte, die Seufzer des Achtzehnjährigen. An einem so sanften Tagesende mußte doch die ganze Erde glücklich sein! Da gab es Buchten, die rings im Lichte flammten, und Leute sprachen und schrien dort in unbekannten Zungen, da gab es Wälder, die dunkler und frischer waren als die Nacht und keine ihrer Blüten bebte – all dies weit von hier, weit von diesem häßlichen und ärmlichen Zimmer und weit weg von dieser Frau in Verzweiflung, die ein Zeitungsblatt schwenkte. Mein Pessimismus hatte mancherlei Widriges 101
vorausbedacht, außer jenem, das sich einige Tage später begab. Meine Mutter starb. Ein Herzanfall warf sie eines Morgens auf dem Flur unseres Stockwerkes zu Boden. Sie kam gerade vom Markte heim, und Früchte, die sie eingekauft hatte, kugelten aus ihrem Einkaufsnetz die Stufen hinunter. Ich fand ihren Leichnam, als ich aus der Schule kam. Das Grauen dieses Schauspiels wird mich mein Leben lang verfolgen. Ich rief Nachbarn herbei und hatte zunächst einmal das Beileidsgeschwätz dieser Leute über mich ergehen zu lassen. Dann mußte man dieses entseelte Fleisch, in dem kein Leben mehr war, anfassen, hochheben, bis zu seinem Bette tragen... In der kleinen Kammer, die voller Leute stand und durch die ein Licht flutete, das oberhalb der Toten Wirbel zu bilden schien, gaben mit einem Mal meine Beine nach, und ich fiel ohnmächtig zu Boden. Der Abend fand mich allein bei meiner Mutter. Ich hatte meinem Onkel eine Nachricht zukommen lassen, und wir hatten ausgemacht, im Wechsel die Totenwache zu halten, zunächst ich, dann während der schrecklicheren Stunden der Morgendämmerung er. In einer Fensternische sitzend, schaute ich zu, wie der Himmel sich verdunkelte. Ein außer-
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ordentlicher Widerwille hielt mich dem Bette fern, auf dem mein Auge Formen unterschied, die ich nicht wiedererkannte. Die Flamme der Kerze brannte steil in der unbewegten Luft. Aus Feigheit hatte ich noch eine Erdöllampe angezündet. Um nicht den abergläubischen Ängsten zu verfallen, die mir in den Sinn kamen, versuchte ich, mich mit Lesen zu zerstreuen, aber in solchen Lagen wird die nichtige Leere der meisten Bücher offenbar. Ich wartete auf einen Satz, ein zauberstarkes Wort, das mich mir selbst entreißen würde, aber die Seiten, die für die schönsten galten, blieben ohne Kraft vor dem Grauen, das mir der Leichnam eines alten Weibes einflößte. Ein- oder zweimal hob ich die Lampe auf und setzte mich ins Eßzimmer. Doch da war etwas Seltsames: dieser Raum versetzte mich in größere Unruhe als das Sterbezimmer, denn ich bildete mir ein, daß hinter der Wand, die mich von ihr getrennt hielt, meine Mutter die Lider höbe und auf meinen leeren Stuhl schaute. Überdenkend, welch glanzloses Wesen sie im Leben gewesen war, wunderte ich mich über den Rang, den sie nun, da sie tot war, in meinen Augen bekam. Und so nahte ich mich im Geleite der Furcht ihrem Bett und
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schaute sie prüfend an. Sie trug noch jenes verzerrte und schreckliche Maskengesicht, zu dem der Tod ihre Züge hatte erstarren lassen. War es möglich, daß dies meine Mutter war? In diesem Augenblick war ich mir böse, daß es mir nicht gelang, die gebotenen Gefühle aufzubringen. Es half nichts, daß ich halblaut wiederholte: „Da liegt Mutter, sie ist tot.“ Diese Worte machten mich verlegen, und ihre Wirkung auf mein Herz war gleich Null. Um Herr meiner Angst zu werden, tat ich, was mich am meisten kostete: ich kehrte dem Leichnam den Rücken und schritt durch die Kammer, um mich aufs Fensterbrett zu lehnen. Die Straßengeräusche mahnten mich wieder an das Leben, an ein alltägliches Leben, das mir nunmehr beneidenswert erschien. Die Leute, die ich da unten unter der Gaslaterne an der Straßenecke vorbeigehen sah, wo konnten sie anders hingehen als zu einem Schmaus, zu einem Rendez-vous? Einige von ihnen hatten, dessen war ich gewiß, kein anderes Ziel als die Begegnung, die sie von einer Sehnsucht befreien würde. Zuweilen blieb die Straße während einiger Minuten leer; dann verkrampfte sich mein Herz, denn die Angst nahm in diesen Schweigepausen ihren
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Vorteil wahr und wuchs in mir hoch. Dann drang aus der Tiefe der Nacht der gelassene Schritt eines Spaziergängers und beruhigte mich wieder. Ich fragte mich, wie lange es mir wohl möglich sein würde, an dieser Stelle zu verweilen. Mein Gehirn brütete grausige und ans Komische grenzende Gedankenbilder aus. Wer konnte mir sagen, daß nicht gerade in diesem Augenblick meine Mutter zu mir herschaute? Zweifellos hätte es genügt, in das Sterbezimmer zurückzugehen, um mich zu versichern, daß ihre Augen geschlossen blieben; aber wer hat jemals der Dinge gewiß sein können, die sich hinter seinem Rücken begeben? Da war es schon besser, sich ans Fußende des Bettes zu setzen und dort die Totenwache zu halten. Das war es denn auch, was ich tat. Mit einem herzhaften Entschluß entnahm ich aufs Geratewohl dem Regal ein Buch und richtete mich in einem Sessel ein. Der Zufall wollte, daß dieses Buch, dessen Seiten ich umblätterte, Manon Lescaut war. Aus Gründen, die klarzulegen mir nicht recht gelingen will, erschien mir dieser Text furchtbar. Es kam mir vor, als ob der Leichnam meiner Mutter den Zeilen, die meine Augen durchflogen, auf eine ungeheuerliche Weise Hohn spräche. Es
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war gerade so, wie wenn dieses vom Leben verlassene Fleisch über dem Glück, von dem in diesem Buch die Rede ist, zu Gericht sitze, über dieser Frau „mit den klugen, feucht schmachtenden Augen, der Haltung einer Göttin, von einem Schmelz der Haut, dessen Farben die Liebe gemischt hatte“. Das Gesicht, das ich aus den Augenwinkeln heraus beobachtete, gab zu dem, was ich las, einen allzu beredten Kommentar, und so war es wohl diese Stelle, die mir den Band aus den Händen gleiten ließ. Seit man mich mit meiner Mutter allein gelassen hatte, war kaum eine halbe Stunde vergangen. Nun begriff ich, daß mein Geschick für den Rest der Nacht von der Natürlichkeit abhing, mit der ich gewisse Verrichtungen vornehmen würde. Ich mußte demnach zunächst mir selber einen ruhigen Mann vorspielen; innere Gelassenheit war für mich nur um diesen Preis zu haben. Eine bestürzte Miene, allzu hastige Bewegungen — und schon lag ich wieder unter dem Würgegriff der Angst, die mich belauerte. Mit meinem eigenen Entsetzen spielend wie mit einem Tier, das man einschüchtern will, hob ich das Buch auf und gab es dem Regal zurück.
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Der Blick auf ein Möbelstück, darin meine Mutter ihre Papiere aufbewahrte, weckte in mir die Lust, dort Ordnung zu schaffen, und das hieß, den Plunder an Erinnerungsstücken zu vernichten, die für niemanden einen Sinn bargen denn für sie. Ich fand in der Tat zwanzig Jahre alte Briefe, Theaterprogramme, schon vor meiner Geburt quittierte Rechnungen. All dies wurde zerrissen und kunterbunt in einen Korb geworfen. Eine andere Schublade schüttete vor mir nahe bei sechzig Familienbilder aus, von denen ich vergessen hatte, daß es sie gab. Dies schien mir ein glücklicher Fund, und um ihn mehr zu genießen, schob ich meinen Sessel näher an die Kommode heran. Nichts konnte mir eine so stark wirkende Zerstreuung bieten, denn diese Bilder redeten zu mir von mir, von meiner Kindheit, von einem ganzen Abschnitte meines Lebens, der zu Ende ging. Der Wunsch, einen Tageslauf abzuschließen, um einen neuen zu beginnen, wird mich ohne Zweifel bis an meine Sterbestunde verfolgen; aber diese Nacht hatte ich das Gefühl, daß mancherlei Dinge mit meiner Mutter ins wesenlose Nichts zurückfielen. Der Tod zerriß die Leinen, die mich an jene Welt banden, die man die Familie nennt. Allein 107
zu sein, das bedeutete, frei zu sein. Schon hatte mein Vater den Teil von mir mitgenommen, der uns verbunden hielt. Mit meiner Mutter verschwand der Rest. Nun würde ich nicht mehr meine Stimme aus den Lippen eines anderen dringen hören; ich würde nicht mehr sehen, wie Hände, die nicht meine waren, meine Gebärden machten; nicht mehr, wie mein eigener Blick aus den Augen meiner Mutter hervorkam wie aus der Tiefe eines Spiegels. Diese Nacht zog unter meine Abhängigkeiten den Schlußstrich. Endlich gehörte mein Leben, meine Seele mir. Ich war nun allein im Besitz eines Gesichtes, das so und nicht anders geschnitten war, allein im Besitz falber und lebhafter Augen, tief in die Stirn wachsender Haare. Nun teilte ich nichts mehr mit einem anderen, weder meiner Züge Linienführung noch ihren Ausdruck noch mein Denken. Wenn ich mich recht erinnere, hielt ich bei dieser Überlegung ein Bild meiner Mutter in der Hand. Der von der Zeit vergilbte Abzug zeigte sie im Hochzeitsstaat, ungefähr drei Jahre vor meiner Geburt. Glücklich und schüchtern zugleich, neigte sie den Kopf leicht nach der linken Seite, wie ich in den Augenblicken der Unentschlossenheit oder
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der Verwirrung, wie ich... Welche Kindesliebe hätte da gegenüber der Wut obsiegen können, die mich mit einem Schlage befiel? Angesichts dieser Haltung, die mir meine Mutter zurückgab, die sie mir lebendiger zurückgab, als sie mir je erschienen war, hatte ich seltsamerweise den Eindruck, verhöhnt zu werden. Ja wirklich: es kam mir in sinnloser Verkehrung der Tatsachen vor, diese Frau kopiere mich. Einen Augenblick lang zitterte das Bild unter meinen Augen, und in jäher Aufwallung zerriß ich es. Diese Regung brachte mich so durcheinander, wie wenn sie mit Notwendigkeit das Erwachen meiner Mutter hätte zur Folge haben müssen. Ich wagte nicht, mich umzuwenden, und unter dem Zwang eines merkwürdigen Antriebs ergriff ich die anderen Bilder und riß sie in Stücke. Ein einziges fand Gnade vor meinen Augen und verschwand in den Tiefen meiner Tasche. Mein Onkel Emil kam eher, als er gesagt hatte und weckte mich. Die Bewegung meines Gemüts hatte mich abgemattet, und so war ich in meinem Sessel eingeschlafen, nachdem ich alles verbrannt hatte, was noch an Bildern und Briefen da war. Während einiger Sekunden saß ich mit aufgeris-
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senen Augen da; jäh aus einem schauerlichen Traum gerissen, fand ich das Leben in noch düsteren Bildern wieder. Mein Auge begegnete dem Leichnam auf dem Bett, und in einer Aufwallung von Pessimismus redete ich mir ein, das strenge und verzweiflungsvolle Angesicht meiner Mutter könnte vielleicht just das Angesicht der Zeiten sein, die sich mir auftaten. „Schau sie nicht so an“, kam es aus dem Munde meinesOnkels. Er setzte sich so, daß er das Bett vor meinem Blick verbarg und ergriff meine Hand. Seine Augen lächelten mir zu wie ehedem. Das Alter hatte seine Wangen gefurcht und seinen Bart weiß werden lassen, aber seine Züge waren nicht heruntergekommen, und als ich diese schwarzen Augensterne sah, schien mir, als auferstehe mit einem Male meine Kindheit. Indessen ließ mich das Bedürfnis nach Selbstachtung die Bewegung unterdrücken, die mich trieb, meinen Onkel zu umarmen, wußte ich doch, daß ich ihn im Grunde nicht mehr sonderlich liebte, und ich wollte ihn nicht belügen. Aber er kam eben in dem Augenblick, da ich ihn brauchte. „Bleib nicht hier“, sagte er. „Geh ein wenig an
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die frische Luft. Aber sei in einer Stunde wieder da.“ Ich nahm mit Freuden an. Dieses Zimmer zu verlassen, hieß, wieder beginnen zu leben. Einen Augenblick später ging ich in der Gegend des Luxembourg spazieren. Trunken von der Frische der Luft, nun so glücklich als ich vordem trübselig gewesen war, wußte ich nicht, was ich mit mir und dieser Stunde, die mein war, anstellen sollte. Ich ging von einer Straße zur andern. Ab und zu ließ ich mich auf eine Bank fallen, als drücke mich das Gewicht meines Glückes nieder; es mochte Mitternacht sein, und dieser Teil der Stadt lag einsam und verlassen. Eine jähe Aufwallung jagte mich in die Untergrundbahn. Ich stieg bei der Ecole Militaire aus. Einige spärliche Spaziergänger schritten durch die Gartenbeete des Marsfeldes. Eiligen Schrittes erreichte ich die Straße, an deren Ecke sich das verlassene Haus erhob, und ich schlüpfte, offensichtlich ungesehen, durch eine recht breite Spalte in der Bretterwand. Die Nacht war hell. Ein hartes und kräftiges Licht drang in das Herzstück des Bauwerkes und warf auf den gestampften Boden eine breite fahle Scheibe, die nach Wasser aussah. Rings um diesen Fleck reihten die eichenen Stempel ihre
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Schatten auf, wie das Rad seine Speichen um die Nabe. Ich streckte mich auf dem Fußboden aus und sang. Noch nie hatte ich so wie jetzt die Lust genossen, der Welt fern zu sein. Über mir sah ich durch die Lücken des Balkenlabyrinths das sanfte Blinken von Sternen an schwarzem Himmel, und ich stellte mir vor, sie wüßten um mein Dasein, doch seien sie wohlgesinnt. Meine Gedanken glitten von Erinnerung zu Erinnerung. Während dies aber anderswo hätte schmerzhaft sein können, löste sich hier, unter diesen Balken und in diesem Schattendunkel, jegliche Trübsal auf. Die Ereignisse der letzten Monate erschienen mir als die unwirklichen Augenblicke meines Lebens. Was wirklich war, war allein diese Minute Gegenwart. Ist Leiden in der Vergangenheit möglich? Nein. Dann also war ich glücklich. Infolge einer eigentümlichen Gesetzlichkeit meines Geistes erscheinen mir gewisse Wirklichkeiten nur dann als ‚wirklich’, wenn eine phantastische Umwelt sie erhöht. So nahmen denn in der seltsamen Kulissenwelt, die ich mir ausgesucht hatte, die Gestalten, mit denen ich meine Einsamkeit bevölkerte, die Maße des Ungeheuren an, als wollten sie so ihr Dasein gewisser machen. Ein erinnernder
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Gedanke an meine Eltern zeigte mir sie mit einem Male an der Tafel eines unbestimmbaren Totenmahles, irgendwo in den Tiefen der Nacht, meinen Vater mit einem schwarzen Loch in der Schläfe, meine Mutter mit den geschlossenen Augen einer Nachtwandlerin. Ihre Hände taten, als führten sie Speisen zum Munde, und ich sah, wie mein Vater in einer Gebärde ohne Ende meiner Mutter das Salz reichte. So viel Feierlichkeit in der Haltung hätte sie für Götter gelten lassen können, wenn ich nicht gewußt hätte, daß dieses Schauspiel mir als Beweis und Sichtbarmachung ihres Todes geschenktwurde. Es bedurfte eines großen Aufwandes an Kraft, um meine Aufmerksamkeit von einer so ausgefallenen und erschreckenden Szene abzulenken, denn das innere Gesicht wirkt in mir mit solcher Macht, daß es nicht mehr braucht, als mich seinem Anspruch zu ergeben, und das Eingebildete hört auf, ein solches zu sein und nimmt alle Merkmale stofflicher Gegenständlichkeit an. In einem solchen Falle würde das Fühlen des Geschauten meinem inneren Bilde nichts hinzufügen, ist es doch in sich vollendet. Die Gabe, also zu sehen, wird mir geschenkt,
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dann entzogen, dann wieder gegeben, ohne daß ich wüßte warum. Manchmal ruhte dieses Vermögen für Jahre; dann kommt endlich ein Tag, da ich bei Gunst von Stunde und Ort diese besondere Fähigkeit wiederfinde, mit den Augen des Leibes zu sehen, was andere sich nur schwächlich durch Geisteskraft vorzustellen vermögen. Im allgemeinen werden uns Bilder dieser Gattung nur in unseren Träumen angeboten. So wesenlos sie auch sein mögen, so glauben wir doch an sie, solange sie dauern. Aber wenn sich solches im Zustand des Wachseins begibt, wird es immer ein Teil unsererselbst geben, das von sich weisen wird, was unser Auge wahrnahm, sonst würde unser geistiges Gleichgewicht nachgeben, und die Vernunft wüßte nicht mehr, was in einem Gehirn anzufangen, das die ausschweifenden Gegebenheiten des Traumes für bare Münze nimmt. Da Gesichte für wahr zu halten, sich verbietet, empfand ich die Notwendigkeit, sie mir zu deuten. War es möglich, daß sie die Bestätigung wirklicher Ereignisse waren? Ich war geneigt, dies anzunehmen, denn sobald ich die Wirklichkeit der sinnlichen Welt in Zweifel zog (und ich brauche nicht erst zu betonen, daß meine Natur mich auf solche 114
Hirngespinste hinlenkt), oder wenn sich in meinem Leben ein unvorhersehbares und schwer zu glaubendes Etwas ereignete, trat fast zu gleicher Zeit alles, was mein Gehirn abgelehnt hatte, in der Gestalt eines Traumes oder einer Erscheinung vor meine Augen. So war der Tod meiner Mutter mir meinem Wesen gemäß durch die Vermittlung einiger Bilder des inneren Gesichtes offenbart worden. In diesem Augenblicke unterlag ich der Erschütterung, in die einen eine schlimme Nachricht stößt. Das Grauen vor dem Tode verfolgte mich also bis hierher, bis hinter diese unfertige Mauer, wo ich mich vor mir selber behütet glaubte! Um Befürchtungen zu bekämpfen, die ich neu aufkeimen fühlte, wandte ich alle Sorgfalt darauf, den Fluß meiner Gedanken abzulenken, und da sich die Vorstellung sinnlicher Lust meinem Geiste für solche Fälle als die machtvollste und wirksamste anzubieten pflegte, formte ich in meinem Innern alles entschleiernde und köstliche Bilder aus. Sie nahmen mich alsbald gefangen. Ich lieh meinem Begehren Züge, die ohne Unterlaß nach dem Belieben meines Erinnerungsvermögens wechselten. Endlich heftete sich diese Art innerer Schau, deren Gewalt mich vor den anderen Menschen auszeichnet, dieser
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scharfe und gierige Blick, auf das Antlitz Andrées, wie es mir das erste Mal erschienen war, in dem Augenblick nämlich, da ich den Namen dieser Frau noch nicht kannte. Danach zeichnete sich, zögerlicher, ihr Leib ab. Jemand stand neben ihr und hielt ihre Hand: es war Remy. Ich stand auf, die Beute niederdrückender Traurigkeit. Um anders zu werden als ich war, würde ich, so scheint mir, aus ganzem freien Herzen einen Teil meines Lebens dahingegeben haben. Warum kann man denn nicht zuweilen sein Ungemach mit dem Nachbarn tauschen? Für eine leichte Minderung der Gesundheit hätte ich gerne das verzehrende Sehnen darangegeben, das mir die Seele vergiftete. Was ein Übel unerträglich macht, ist allein seine Eintönigkeit. Wenn der Schmerz seinen Ort wechselt, freut sich das Glied, das nun nicht mehr leidet, neugewonnenen Behagens, was auch die Folter sein möge, die anderswo das Fleisch zermürbt. Die Beständigkeit des Angriffs eines Übels auf denselben Punkt aber ist die schwerste Prüfung. Ich hielt es nicht mehr aus, mein Herz von immer den gleichen Zweifeln und Sehnsüchten schwer zu wissen. In dem Gedanken, daß ich bis zu meinem Ende ich selbst sein würde, lag etwas Unannehm-
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bares. Denn mit dem Pessimismus dieses Lebensalters sah ich mein Wesen als ein Ganzes an, davon kein Teil sich ändern könnte. Mir waren die Machtvollkommenheiten des Lebens noch nicht bekannt, noch die Verzichte, die es aus uns herauszuholen vermag, jene halben Tode, die es uns auferlegt, heute und morgen, bis es sich ganz zurückzieht; ich wußte nichts von der schrittweisen Minderung, die man Altern heißt, nichts von dem Zurruhekommen aller Instinkte, und ich hatte keinerlei Wissen von den vielfältigen Preisgaben, durch die der vom Throne seiner Jugend gestürzte Mensch sich an seinem eigenen Tode mitschuldig macht. Auf dem Wege nach dem Luxembourg kam in mir zu verschiedenen Malen der Gedanke hoch, nicht in die Wohnung zurückzugehen. So würde ich wenigstens für einige Stunden mir einbilden können, frei zu sein. Aber wo sollte ich hingehen? Die Prüfung meiner Brieftasche ergab, daß ich über zwei Fünffrankenscheine verfügte. Nach einigen Minuten des Umherirrens in der Nachbarschaft von Saint Sulpice entschloß ich mich schließlich heimzugehen. Es war nahe bei ein Uhr. Mein Onkel schlummerte in einem Sessel am
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Fußende des Totenbettes. Ich sah, wie er sich die Augen rieb und mit seinen langen, behaarten Händen über sein fahles Gesicht strich. „Schon ein Uhr“, sagte er. „Du bist lange draußen geblieben. Ich habe die Zeit genutzt, um dem Notar zu schreiben. Und was die Benachrichtigungen anlangt, so habe ich mir gedacht, am einfachsten wäre es, eine Anzeige von zwei Zeilen aufzugeben.“ Ich nickte. Welcher Sinn, welcher Wirklichkeitsgehalt konnte diesen Sätzen zukommen? Meine Augen blieben auf den hartgespannten Zügen meiner Mutter haften; man hätte meinen können, sie versuche zu verstehen, was wir sprachen. „Glaubst du, daß ich ihr ähnlich war?“ fragte ich. „Nicht sehr. Die Ähnlichkeit lag im übrigen weniger in euren Gesichtszügen als in dem, was sie ausdrückten.“ „Wenn man mit jemandem zusammenlebt, bekommt man schließlich denselben Blick, dasselbe Gehaben, nicht wahr? Kam es nicht vielleicht daher?“ „Es kam vor allem daher, daß du ihr Sohn warst.“
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Ich schwieg eine Weile, dann fragte ich: „Und mein Vater? Sahst du zwischen uns eine Ähnlichkeit?“ „Keine.“ „Wir zwei ähneln uns auch nicht, Onkel. Niemand käme auf den Gedanken, daß zwischen uns ein Band der Verwandtschaft bestehe.“ „Wohl möglich.“ Von neuem schaute ich meine Mutter an. Keinerlei Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und mir... Welcher Verdacht ließ mein Herz höher schlagen, als sei ihm eine frohe Botschaft verkündet worden? Woher kam dieses seltsame Bedürfnis, alle Bande zu vernichten, die mich anderen Menschen einten? War dies, war auch dies etwas, das mit Vererbung zu tun hatte? War es etwa so, daß ich auch darin noch einen anderen nachahmte, daß ich keinem ähnlich sein wollte? Es wurde ausgemacht, daß mein Onkel bis zum Anbruch des Tages bei meiner Mutter wachen sollte. Ich aber ging in mein Zimmer, mich auszuziehen. Die Nacht war so heiß, daß mir selbst die Berührung eines Leintuches unerträglich vorkam. Auf mein Bett hingestreckt, zögerte ich, das Licht zu löschen. Es brauchte nur ein geringes, um mir
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die Freude wiederzugeben: die Wärme meiner Handballen auf meinen Schenkeln, das junge und kraftvolle Blut, das in meinen Adern strömte und von Leben sprach. Selbst wenn ich reglos verharrte, spürte ich das Gewicht des eigenen Leibes auf der Matratze. In meinem Halse klopfte zukkend eine Ader. Und dabei lag indessen im Zimmer neben meinem, von mir nur durch eine dünne Wand getrennt, ausgestreckt ein Körper gleich dem meinen, und all das, was ich in meinem Körper an Brausen und an Leben fühlte, wurde zu Reglosigkeit in dem anderen, darin das unnennbare Werk der Zersetzung begann. So konnte denn also das Leben mit einem Schlage stillestehen, das Blut gerinnen, konnten die Lungen sich ihrer Atemluft entleeren, um sich nie mehr zu füllen ... Ich begriff nicht. In einer instinktiven Bewegung der Abwehr verschränkte ich meine Arme kreuzweise über meinem Fleische. Nach einer Weile löschte ich das Licht. Mein Onkel ging im Zimmer meiner Mutter auf und ab. Als er bemerkte, daß ich das Licht gelöscht hatte, kam er an meine Tür und sprach zu mir also: „Da fällt mir ein, Denis... du weißt, daß ich
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mich der Wertpapiere deiner Mutter annahm. Sie hatte einige recht gute Stücke. Ich rate dir, sie zu behalten, doch werde ich selbstredend damit tun, was du willst. Ich werde immer zum Besten deiner Interessen handeln, mein Junge.“ Er überlegte. „Nach Abzug der Steuern werden dir etwa zehntausend Franken verbleiben.“ Diese Worte fielen in das Schweigen der Stille. Ich schämte mich, daß ich auf das, was mein Onkel mir sagte, keine Antwort fand und auch nichts zu seinen Worten vorzubringen vermochte, das Verständigkeit verraten hätte. „Bis zu deiner Volljährigkeit werde ich dein Vormund sein.“ „Ja, Onkel.“ „Morgen wollen wir von deiner Zukunft reden.“ Ich gab keine Antwort auf diese Ankündigung, deren Ton mir mißfallen hatte. Die Vorstellung, daß ich eine praktische Frage zu lösen haben würde, preßte mir das Herz zusammen. Einige Sekunden vergingen, dann stieß mein Onkel einen Seufzer aus und ging zur Tür. Der Lichtschein aus dem Nachbarzimmer erhellte sein Gesicht, und ich sah ihn den Kopf schütteln, als wolle er nein zu
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etwas sagen. Unversehens wandte er sich mir wieder zu, die Hände in den Taschen seines Rockes bergend. „Denis“, kam es jäh aus seinem Munde, „du hast deine Familie nie geliebt, weder deine Mutter, die gerade zu sterben kam, noch deinen unglücklichen Vater... stimmt das?“ Ich verharrte in Schweigen. „Es stimmt also. Ich habe mancherlei in dir erraten, Denis. Ich möchte gern dein Vertrauen haben. Du bemühst dich, in einer Art moralischer Vereinzelung zu leben. Das ist sehr schlecht. Du schiebst alle weg, die auf dich zukommen wollen. Was gewinnst du dabei? Das zum mindesten wird dich nicht unbedingt glücklich machen, und glücklich sein, das muß man; – ja, man muß. Hast du etwas gegen mich?“ „Warum fragst du mich das?“ „Weil du mich von dir wegschiebst, wie du alle Welt von dir wegschiebst. Der Gedanke ist dir wohl nicht gekommen, daß du die Ursache warst, daß ich so selten hierher kam. Ja – ich versichere dir – es ist sehr schwer, mit einem Jungen zu reden, der keine Lust hat, einen zu sehen. Gib zu, daß meine Besuche dir wenig Spaß machten.“
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Er schwieg eine Weile, sichtlich in Erwartung irgendeines Wortes des Protestes, einer Aufwallung; aber ich blieb stumm, weil mir das Geschwätz dieses Mannes lästig fiel, ebenso wie seine wenig zurückhaltende Art, an das Gefühl zu appellieren. Mit einem Male sagte er, und sein Tonfall wurde barscher: „Da fällt mir ein... Rate einmal, wer soeben hier war. Errätst du es nicht? Nun, es war Claude.“ Mit einer unbewußten Bewegung streckte ich den Arm nach einem Stuhl aus, über den ich meinen Rock gehängt hatte. „Claude ist in Paris?“ „Es sind jetzt drei Wochen; seit seiner Entlassung.“ „Und er hat uns nicht besucht?“ Mein Onkel wies mit einer Kopfbewegung auf das Zimmer der Toten. „Deiner Mutter wegen. Er hat sie nicht sehr gemocht.“ „Und mich?“ Warum hatte ich dies gesagt? Alsbald versuchte ich, meine Frage umzubiegen. „Du hättest mir sagen sollen, daß er hier ist, Onkel.“
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„So. Dir liegt also daran, zu erfahren, warum ich es dir verschwiegen habe?“ „Natürlich.“ „Er hat es mir untersagt. Er hat mir gesagt, wenn du dich nicht darum sorgtest, etwas über ihn zu erfahren, liege dir offenbar nicht viel daran, ihn zu sehen.“ „Aber ich habe ja gar nicht gewußt, daß ich über dich etwas über ihn hätte erfahren können!“ „Hast du auch nur ein einziges Mal zu mir von ihm gesprochen? Und dann – was kann es dir denn ausmachen, ob er hier ist oder anderswo? Ich habe dir von Claude gesprochen, weil du ja nicht umhin können wirst, ihn – wenigstens einmal – wiederzusehen.“ „Wo wohnt er?“ „Das wirst du ihn selber fragen, mein Junge. Jetzt rate ich dir zu schlafen. Gute Nacht.“ Er kehrte in das Zimmer meiner Mutter zurück und schloß die Tür. Ich hörte, wie er den Sessel vorschob und an das Fenster rollte; ohne Zweifel richtete er sich für die Nacht ein. Nach einigen Minuten hatten im ganzen Hause die Geräusche aufgehört. Die Straße selbst war still geworden. Ich wartete noch eine Weile, dann warf ich klop-
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fenden Herzens das Tuch, das mich bedeckte, zurück und stand auf. Die Erinnerung an ein Gefühl ist bei mir zuweilen so genau wie das Erinnern einer Gebärde oder eines Wortes. Ich weiß noch, daß die Bewegung, die mich damals ergriff, mir unerklärlich schien. Es war, als sei mein Leben bis zu diesem Tage nichts denn ein langes und langsames Aufsteigen zu der Minute gewesen, die ich jetzt durchlebte. Alle Jahre, die danach kommen würden, würden durch das, was ich nun tun würde, ihr Gepräge erhalten. Ich zündete das Lämpchen am Kopfende meines Bettes an und machte mich, rings um mich her blickend, ans Nachdenken. Nichts hatte sich seit jenen fernen Tagen, da ich es zum ersten Male betreten hatte, in diesem Zimmer verändert. Was ich nunmehr war, ich war es zwischen diesem Spiegel, diesem Tisch und jenem Bett geworden. Welche Furcht vor welcher neuen Entdeckung brachte es denn jetzt fertig, mir also die Kehle zuzuschnüren? Ich schob meine Hand in die Tasche des Rockes, der über einem Stuhle hing, und zog daraus jenes Bild hervor, das ich vor einer Weile nicht hatte verbrennen wollen. Es war Claudes Bild. Nun kam eine Sekunde, während derer alles, was seit Jahren in mir ver-
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halten geblieben war, mit einem Schlage in Bewegung kam. Dann, im Gipfelpunkt meiner Angst, drückte ich die Lippen auf dieses verdrossene und hochfahrende Angesicht, das unter meinen Augen bebte. Meine Erzählung könnte hier den Schlußpunkt setzen, ohne daß irgend etwas Wesentliches damit ungesagt bliebe. Ein ganzer Abschnitt meines Lebens ging mit dieser Gebärde zu Ende, die mich befreite und zugleich verknechtete. Ich hatte kein Ziel außer der Erkenntnis meiner selbst, und dieses Ziel hatte ich nun erreicht. Meine Mutter wurde am übernächsten Tage beigesetzt. Ohne fromm gewesen zu sein, hatte sie nie darauf verzichtet, wenigstens dem Namen nach katholisch zu sein, und so brachten wir sie zunächst in die Kirche ihrer Pfarrei. Seltsam! Ich war derjenige gewesen, der darauf bestanden hatte, daß an ihrem Sarge eine Messe gelesen würde. Mir war nämlich ihr Geschmack am Bestattungsgepränge wieder eingefallen, und sie wollte, wenn ich so sagen darf, nicht um diese letzte Befriedigung gebracht werden. Nun da sie von uns gegangen war, befiel mich einiges Bedauern, gegen sie so
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barsch und so kalt gewesen zu sein. Ohne an das Weiterleben der Seele zu glauben, hoffte ich im geheimen, daß die Klänge des Dies irae durch die schweren Planken des Sarges an das Ohr meiner Mutter dringen und ihr Freude machen möchten. Von allen den Formen, in die sich der katholische Glaube* kleidet, ist ohne Frage die Totenmesse die geglückteste, aber sie berührt mich nicht sehr. Im übrigen dachte ich diesen Morgen an ganz etwas anderes als an den schwarzen Behang und die Modulation eines Vorsängers. Man hatte uns – meinem Onkel und mir – unseren Platz an der rechten Seite des Sarges angewiesen. Ich erhob mich, setzte mich, ja ich kniete sogar nieder, wie eben ein Mechanismus funktioniert. Hinter mir war der Platz Claudes. Ich hatte ihn noch nicht gesehen. Seit dem Augenblick vor einigen Stunden, da er bei uns eingetroffen war, hatte ich ihm auszuweichen versucht, hatte ich vermeiden können, ihm die Hand zu drücken, ja, auch ihn anzusehen. Die Vorbereitungen der Trauerfeier erleichterten mein kniffliges Spiel. In einer Ecke auf einem Stuhl sitzend, täuschte ich * Hier ersetzt, auf Wunsch des Autors, das Wort „Glaube“ den im ursprünglichen Text gebrauchten Ausdruck „Aberglaube“.
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stummen Schmerz vor, was mir jeden Erguß ersparte. Als wir dann so weit waren, daß wir uns auf den Weg machen konnten, berührte mein Onkel im Vorbeigehen meine Schulter und fragte mich, ob ich Claude nichts zu sagen habe. Mir verkrampfte sich das Herz; ich wollte reden, aber es wollte mir nicht gelingen. „Guten Tag, Claude“, war, was ich schließlich herausbrachte; meine Stimme klang heiser. Mein Vetter stand am anderen Ende des Zimmers. Ohne die Augen zu heben, sah ich seine gebräunten Hände an seinem schwarzen Anzug herunterhängen. Er gab keine Antwort. Jetzt, da man das Ende dieser Feier abzuwarten hatte und ich mich nicht mehr nach Claude umwenden konnte, hatte ich alle Muße, mich über mich selbst zu befragen. Es wäre mir schwer gefallen klarzumachen, warum ich so gehandelt hatte, und noch schwerer, mir ein anderes Verhalten auszudenken. Vielleicht fühlte ich die Tiefe des Mißklanges zwischen dem Bilde, das ich mir von Claude machte und den Umständen des Ortes und der Stunde. Dieser schwarze Anzug, den ich soeben gesehen hatte, sah ihm recht wenig gleich, und ich hatte keine Lust, ihn nach vier Jahren in einem Sterbezimmer wiederzusehen. Indessen 128
drängte in mir ein anderer Gedanke ans Licht; ich schob ihn nach Kräften beiseite, aber er war der stärkere und meldete sich ohne Unterlaß neu. Ich wollte Claude nicht sehen, weil ich mich vor ihm fürchtete. Also gegenläufige Gefühle werden nur jene in Erstaunen setzen, die nie geliebt haben. Ich sah den Priester vor dem Altar auf und nieder gehen und wünschte, diese Messe möge den ganzen Morgen währen. Der Augenblick, da Claude und ich miteinander reden würden, war nicht mehr weit, aber wenn einer mir damals gesagt hätte, daß dieser Augenblick nie komme, und daß wir uns nie wiedersehen würden, hätte ich mich wohl erleichtert gefühlt. Er stand ganz nahe bei mir. Woran dachte er? Zweifellos glaube er wie mein Onkel, daß ich ihn nicht sonderlich liebe und nichts von ihm wissen wolle. Bei dem Grade meiner Verwirrung versuchte ich nicht einmal erst, den Worten des „dies irae“ zu folgen, doch wirkte diese Sequenz, deren Schönheit mir vertraut war, auf mich fast unbewußter Weise. Ohne im mindesten Christ zu sein, war ich empfänglich für Gesänge, die verkündeten, daß eine Welt des Unsichtbaren sei. Vielleicht war dies
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ganze Leben, das sein Wesen trieb, nichts als ein Traum, ein anderer Schlaf, der zwar unsere Lider nicht schloß, doch uns mit offenen Augen träumen ließ. Indessen blieben in der Welt des Eingebildeten gewisse Dinge wirklich. Weder die Worte der Menschen, noch die Bücher, noch wahrscheinlich irgendein Ding aus ihnen selbst hatte den Rang des Wirklichen, aber was mich in diesem Augenblick vor Wonne und Furcht zugleich erbeben ließ, nun das war ebenso wahr, ebenso gewiß wie der Tod. Ein- oder zweimal ließ ich meinen Hut fallen, und wenn ich mich bückte, um ihn aufzuheben, neigte ich mich ein wenig zur Seite, um zu sehen, ob Claude immer noch da sei. Ich bemerkte seine Füße, seine Beine und richtete mich wieder auf, mit einem Kopf, darein alles Blut geschossen war. Was mochte er von mir denken? Manchmal stellte ich mir vor, es sei ihm die Sehergabe verliehen, und er kenne mich, wie ich selbst mich kannte. Dieser Gedanke erfüllte mich mit Scham. Was würde er zum Beispiel von meinem Abenteuer mit Andrée gesagt haben? Ich sah mich wieder mit ihr auf den Polstern des Wagens, wie ich auf dem Antlitz dieser Frau etwas wie die Spur des Kusses
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eines anderen suchte. In meinem Herzen haßte ich all dies gleich einer Besudelung; ich wünschte glühend, der Tod möge mich hinwegraffen, nicht jener furchtbringende Tod, von dem die Christen trunken sind, sondern ein schlechthinniger Tod, der mich von mir selbst befreie. Ich verlor mich ganz und gar in diesen Überlegungen und fuhr zusammen, als mein Onkel mich aufstehen hieß. Als wir die Schwelle der Sakristei überschritten, wurde ich inne, daß Claude uns nicht folgte. „Wo ist er?“ fragte ich. „Ich weiß nicht“, flüsterte mein Onkel. „Gerade eben hat er mir noch ein Zeichen gegeben, daß er nicht bleiben könne. Zweifellos wird er nicht mit auf den Friedhof gehen.“ Und einige Augenblicke später fügte er, hinter dem Leichenwagen, hinzu: „Du hast ihn heute früh gekränkt, als du nicht mit ihm sprachst. Ich werde dir seine Anschrift geben. Du wirst ihn aufsuchen müssen, ja?“ Während des ganzen Weges blieb ich still. Es kommt selten vor, daß mich etwas anderes zum Handeln bewegt als Eingebungen des Augenblicks. Am nächsten Morgen klopfte ich an Claudes Tür. Es war die Stunde, da ich sonst zur Schule
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ging. Die Bücher unter meinen Armen gaben Zeugnis von der Plötzlichkeit meines Entschlusses. Dieser Zug kennzeichnet mich; in der Tat – es muß mein Wille überrascht werden, wenn ich von ihm erhalten soll, was ich mich nicht getraue, der Überlegung abzufordern. Claude bewohnte in einem bescheidenen, kleinen Hotel ein Zimmer. Der Raum sah ob seiner Länge eng wie ein Hausflur aus, und das Licht gelangte kaum bis zur Schwelle; dort stand ich. Durch das offene Fenster sah ich auf die Kastanienbäume des Boulevard Saint Germain. Jetzt tat es mir leid, hier zu sein. Nichts von all dem, was ich mir vorgenommen haue, Claude zu sagen, kam mir mehr in den Sinn. Ich murmelte ein „Guten Tag“ mit so leiser Stimme, daß er mich nicht hörte. Aufrecht in der Zimmermitte stehend, schaute er mich mit dem unbedingten Gesichtsausdruck an, den ich an ihm kannte. Genau so hatte ich ihn ja einst gesehen – die Beine gespreizt, die Haare durcheinander – wenn er sich vor mir aufpflanzte und mich, Spott in den Augen, prüfend anblickte. Im Gegenlicht vermochte ich nicht, seine Züge auszumachen, aber ich fand in seiner Miene dieses Etwas an Hochfahrenheit
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und Stolz, das mich seit Kindheit zu ihm hingezogen hatte. Er war gerade dabei, mit dem Ankleiden fertig zu werden. Aus seinem aufgeknöpften, weißen Hemde schnellte der glatte und volle Hals hervor; die lose hängenden Ärmel konnten die Arme, die ein wenig schweren Hände nicht verdecken, und auf all dies von Wetterbräune dunkel gebeizte Fleisch warf das Licht bewegliche Widerscheine, die ihm das Aussehen von Metall gaben. Vielleicht wurde er meiner Verwirrung inne, die ich mehr schlecht als recht zu verbergen wußte. Er näherte sich mir, und ich sah aufs neue, von fahlen Augen ausgeleuchtet, das glühende und ernste Angesicht, das ich in der Dunkelheit der Träume meines Jünglingsalters gesucht hatte. In dieser ärmlichen Kammer, dort, nahe der Tür, an der ich lehnte, ja dort, liefen alle Wege aus, die ich hinter mich gebracht hatte. Es sah aus, als verjähre im Banne eines verhexenden Blickes jegliches Bewußtsein eines Lebens zuvor. Von einer Vergangenheit des Zweifelns und des Verzweifelns blieb nichts übrig, weder meine Spaziergänge voller Unrast noch das sinnlich geschürzte Lippenpaar Remys noch die Schönheit seiner Geliebten, die nicht so viel hielt, wie sie versprach, noch
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gar die Erinnerung an den Claude, den ich vorzeiten gekannt hatte. Heute, im Strahlenfeuer der Leidenschaft, stand ich angesichts eines Wesens, das ich nie gekannt hatte, und ich fühlte, wie ich selber ein anderer war. Ich erinnerte mich mit Erstaunen, wie wenig Zuneigung ich je und je für ihn empfunden hatte, aber es war ja auch so, daß ein Blick wie der seine nicht sonderlich geeignet war, Zuneigung zum Keimen zu bringen. Wenn er mich auf die Brückenbrüstung hob und meine Fußgelenke in seinen Händen bebten, mischte sich meinem Erschrecken ein Ding wie Haß. Nun verstand ich ihn; er gehörte zu denen, die den gewaltsamsten Bewegungen des Herzens gebieten, dem Zorn, der Begierde oder auch der erbarmungslosen Liebe. „Was willst du?“ fragte er endlich. Ich gab keine Antwort. Er zuckte mit den Schultern. „Wenn du nichts zu sagen hast – warum bist du dann gekommen? Ich habe es eilig.“ Diese Worte kamen mit einem Unterton von Groll heraus, der mich völlig durcheinander brachte. Konnte es denn sein, daß er mir so hart übelnahm, daß ich gestern nicht das Wort an ihn ge-
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richtet hatte? Ich sah ihn sein Hemd zuknöpfen. Seine Augen vermieden es jetzt, auf mich zu zielen. „Claude, gehst du gleich aus?“ „Ich gehe gleich aus.“ Er zog seinen Rock über und setzte seinen Hut auf. Wie er zur Türe schritt, hörte ich wiederum meine eigene Stimme zu ihm sprechen? „Ich möchte dich wiedersehen.“ „Das wird sehr schwer gehen. Ich reise übermorgen ab.“ „Wann kommst du zurück?“ „Ich werde nicht zurückkommen. Ich habe im Department du Nord eine Existenz gefunden. Ich gedenke, mich dort niederzulassen.“ In einer Aufwallung von Verzweiflung ergriff ich seine Hand. „Das ist nicht dein Ernst, Claude!“ Er schaute mich einen Augenblick lang an, bevor er sprach. „Was hast du eigentlich?“ sagte er. Seine Hand wand sich nicht los. Ich hielt sie in der meinen, und sie war warm und schwer wie nur ein Schatz, den man mir jede Sekunde rauben konnte. „Ich will nicht, daß du fortgehst.“
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Er lächelte. Vielleicht fühlte er Mitleid. „Willst du, daß wir uns vor meiner Abreise sehen? Morgen? So gib doch Antwort!“ „Ja, morgen.“ Ich hätte nicht zu sagen vermocht, ob es Freude oder Schmerz war, was mir also wehtat. Wirre Gefühle bedrängten mein Herz. Wie es mir in den Augenblicken tiefer Erregung zu gehen pflegt, so wurde auch jetzt ein ganzes Stück meines Lebens wieder in mir lebendig. „Es gibt da etwas, das ich morgen gern tun möchte, Claude.“ „Hast du dir etwas vorgenommen?“ „Ja, ich möchte mit dir nach Chanteloup.“ „Nach Chanteloup! Du bist zum Lachen. Das wird sehr langweilig werden. Nimm doch Verstand an!“ „Ich möchte es nun einmal gerne.“ „Wenn du gewiß weißt, daß es dir Vergnügen machen wird...“ Während einiger Sekunden bewahrten wir Stillschweigen. Er stand reglos vor mir; vielleicht wartete er auf die Worte, die auszusprechen ich nicht wagte. Ein anderer an meiner Stelle hätte sich zweifellos nicht so angestellt, aber kennen wir
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denn immer den Grund all dessen, was wir tun? In entsetzlicher, zerreißender Kümmernis ließ ich seine Hand los. Wir gingen. In Chanteloup hatte es am Morgen geregnet. Am Fuße der Bäume war der Boden noch naß, aber, an der Sonne trocknend, richtete sich das vom Gusse niedergebogene Gras nach und nach wieder auf. Von überall her stieg ein Ruch von Erde und Blättern auf, der mich trunken machte, wie der Duft eines neuen Seins. Mich kümmerte wenig, daß es morgen dunkel sein konnte. Mein ganzes Leben war in den paar Stunden befaßt, die ich jetzt lebte. Zum ersten Male, seit ich auf der Welt war, hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein. Der Hexenring, der mich in mir selber eingeschlossen hielt, zerbrach nun endlich. Der Vergangenheit, meiner Kindheit, der ich an jedem Bug des Weges wiederbegegnete, warf ich einen erstaunten Blick des Mannes zu, der sich nicht mehr des Hauses erinnert, aus dessen Tür er eben trat, dem die Straße nicht einfällt, darin er wohnt. Wie ich über meine Jugend nachdachte, meinte ich, in mir sei das Erinnerungsvermögen eines anderen am Werk. Ereignisse aus jüngster Zeit riefen in mir tiefes Erstaunen wach, und ich erkannte mich in den Ge-
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bärden, die mein Erinnern ganz drinnen in mir nachzeichnete, nicht wieder. Aber diese Art des Michvonmirentfernens schenkte mir größere Hellsichtigkeit. Ich begriff nun, welch dunkles Spiel ich mit Remy und Andrée gespielt hatte. Von diesen beiden Wesen, die der Zufall auf meinen Weg geführt hatte, begehrte ich ungewußt jenes, das ich zu hassen wähnte. Remy mochte mir als ein verschlossener und harter Bursche erscheinen, der mir vom Geiste her unterlegen war, und doch lagen vielleicht gerade in diesen Mängeln die Wirkungskräfte der Verführung, die mich hätten an ihn binden können. Was Andrée anlangt, so schmückte sie in meinen Augen die Schönheit, die ihr geschenkt worden war, mit minder lebendigem Glänze als die schlichte Tatsache, daß sie die Geliebte meines Nebenbuhlers gewesen war. War dieses sonderbare Abenteuer wirklich mein Ding? Und aus welcher sinnlosen Laune meines Gehirns griff ich solchermaßen eine herzzehrende Vergangenheit just in der Minute auf, da ich an Claudes Seite wandelte. Ich war verrückt, meine Träume an andere zu verschwenden, wo ich doch in einigen Stunden ihm, vielleicht für immer, würde Lebewohl sagen müssen. 138
Er sprach nicht zu mir. Zuweilen gab ein Lächeln Antwort auf den Blick, den ich ihm zuwarf, doch ich erriet die Verlegenheit, die ihn stillbleiben ließ. Warum waren wir denn hier, wir zwei beide, hier auf einer und derselben Straße? Zweifellos hatte er sich diese Frage schon gestellt, und ich fürchtete seine mögliche Antwort darauf, denn ich habe nicht die Anmaßung, ein unteilbares Ganzes zu sein: ich war geteilt zwischen der Angst, er könne etwas von meiner Liebe ahnen, und der brennenden Begierde, sie ihm zu beichten. Gleichermaßen war mir der Gedanke unerträglich, der Zufall könnte ihm mein Abenteuer mit Remy und Andrei offenbaren, aber was hätte ich nicht alles um den Mut gegeben, ihm dies alles zu sagen! Was dachte er? Sein geheimnisvolles Angesicht gab nichts preis und ließ jede Vermutung zu. Ich wußte wohl, daß der Zeitpunkt verstrichen war, da wir miteinander hätten reden können. Nun war es dafür zu spät, doch dies hatte keinerlei Bedeutung, weil doch, trotz allem, übriggeblieben war, daß wir Seite an Seite in ländlicher Flur auf einem und demselben Wege gingen und ich nur den Kopf zu wenden brauchte, um ihn zu sehen, und ich nur unmerklich ein kleines Stückchen näher an ihn
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heranzurücken brauchte, um meine Hand an seiner streifen zu lassen. Doch war dies genug? Wie wir von der Straße abgingen, um einen Fußpfad quer durch ein Waldstück einzuschlagen, hob ich unvermittelt an zu denken: „Ich will zu ihm reden. Es muß sein.“ Dieses Vorhaben trat so gebieterisch an mich heran, daß ich erschrak. Eine, ich weiß nicht von woher gekommene, Kraft schien meinem Willen Gewalt antun und mich zwingen zu wollen, endlich die Worte auszusprechen, die mir auf den Lippen brannten. Einen Augenblick lang war ich sicher, nachzugeben, aber ein auf meinen Gefährten geworfener Blick gab mich mir zurück. Er schritt einher, die Hände in den Taschen, das Haupt leicht geneigt, und war versunken in Gedanken, von denen er nichts sehen ließ. Sein knappes und verdrossenes Profil hob sich auf dem strahlendurchschossenen Laubwerk ab; seine Nackenlinie bewahrte etwas von Kinderunschuld, und für einen Augenblick schoß mir durch den Sinn, er sei jünger als ich. Wenn ich redete, wenn ich mich auslieferte – was würde er sagen, vor allem: was würde er denken? Zuweilen sah er aus, als ahne er nichts; zuweilen machte mich sein halbes Lä-
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cheln, das sich auf seine Lippen verirrte, glauben, er habe erraten, und fast fühlte ich mich vor Scham ohnmächtigwerden. „Es ist aus“, dachte ich. „Ich werde nicht reden.“ Dabei wußte ich, daß ich bis an meinen Tod das Gewicht dieser Minute wie eine Traglast würde schleppen müssen. Vielleicht war Claude des Kampfes, der mich in Stücke riß, innegeworden und verachtete ohne Zweifel die Feigheit, von der ich Zeugnis gab. Wir wanderten schweigend durch die Gehölze, und trotz meines Widerstrebens achtete ich auf Vogelsang und Bäumerauschen, auf all jene Geräusche, die das Leben zu messen schienen. In stillem Einverständnis lenkten wir unsere Schritte nach den Höhen, von denen aus man den schönen und weiten Blick auf die Seine hat, und schon hatten wir auch durch das Gezweige das Dach des Landhauses erkannt, in dem wir vor Zeiten die Ferien verbrachten. Das Haus stand zu vermieten. Unter dem Vorwand, es besichtigen zu wollen, ließen wir es uns von einer mißtrauischen Alten aufschließen, die uns von Stockwerk zu Stockwerk und von Gelaß zu Gelaß geleitete. Dieser Besuchgang mußte Claude reichlich sonderbar, vielleicht sogar lächerlich 141
erscheinen; so hatte ich denn auch so getan, als sei mir der Gedanke dazu unversehens im Vorbeigehen gekommen, wo doch in Wirklichkeit unsere Fahrt kein anderes Ziel haben sollte. Wie dem auch sein mochte, mein Vetter folgte uns wortlos. Sein Blick ging nach rechts und links, doch ohne Neugier und große Lust, und ich sah mit Betrübnis, daß wir nicht vom gleichen Blute waren. In ihm machte das Geräusch der Schritte auf den Fliesen nichts wach, und der Schimmelgeruch – der Geruch der Ferien! – ließ ihn das Gesicht verziehen. Ich wandelte durch ein Haus, darin es umging. Zum ersten Mal in meinem Leben stand das Vergangene so mächtig auf, daß das Gegenwärtige keinen Bestand mehr hatte, und in meine Brust glitt bedauernd der Kummer über die Dinge, die nicht mehr waren. An der Tür eines jeden Zimmers kam mir jemand entgegen, jemand, den nur ich sah, und der zwischen uns hindurchschritt. Ich erlebte neu das Dunkel, das keinem anderen glich: das von Stimmen angefüllte Schweigen. Als die Alte einen Fensterladen zu öffnen versuchte, der halb von Efeu verdeckt war, trat ich ganz nah an meinen Vetter heran und flüsterte: „Erinnerst du dich? Hier ist’s, wo wir geschlafen 142
haben.“ „Meinst du?“ tönte es zurück. Wozu denn fragen, wenn er sich doch erinnerte? „Sicher“, entgegnete ich, „hier ist der Alkoven...“ Aber ich hatte diese Worte hingesagt, ohne jeden Wunsch, ihn zu überzeugen. Mit einem Schlage fühlte ich mich allein, von neuem allein, und ich verließ dieses Zimmer geschwinder als die anderen. Wir lagen nun unter den Bäumen am Saume eines Gehölzes, das auf die Seine niederblickt. Wie vor Zeiten, hatte Claude mit einem Ruck seine Krawatte abgetan und Hut und Jacke zur Seite geworfen. Bald bemerkte ich, daß er schlummerte, die Hände unter dem Nacken verschränkt. Durch seine klaffenden Ärmel sah ich die langen Adern an seinen Armen; der Druck seines Kopfes schwellte sie. Sein Hals zuckte im Takt wie der Hals der Schläfer, zu denen ich mich hingeträumt hatte, und seinem Antlitz hatte die Sonne, vor der er die Augen hatte schließen müssen, eine Maske von Gold aufgelegt. Ein leichtes Lächeln schob seine Lippen auseinander. Ich kniete lautlos neben ihm nieder und schaute ihn an. Dann neigte ich mich leicht vornüber, ließ mein Schattenbild über seine Wangen und über
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seine Lippen streifen, und diese geheimnisvolle Beiwohnung erschien mir seltsamer denn alles, wovon ich hatte träumen können. Ich stand auf und umschritt ihn einige Male, aber in ziemlichem Abstand, um ihn nicht zu wecken. Indessen versetzte mich dieser Schlummer in Unruhe, ohne daß möglich gewesen wäre, zu sagen warum, und ich dachte, wie gut es wäre, wenn er sich geschwinde daraus löste. Vielleicht spürte ich die Gegenwart einer jener Fallen, die das Schicksal uns gelegentlich hinhält, um unsere Kraft auf die Probe zu stellen und hernach jeden Tag unseres Lebens ob unseres Irrtums mit seiner Rache zu belegen. Ich schlich mich feige davon. Schon begann ich zu leiden, wie ich hinfür leiden sollte; einige Minuten lang schritt ich gerade vor mich hin, und als ich mich schließlich umwandte, sah ich nur noch einen in Blau und Weiß gekleideten jungen Mann, der schlief, weil es draußen warm war. Ich atmete auf. Aus der Ferne wirkte die Verhexung nicht mehr. Einige Schritte führten mich zu einem Obstgarten, dessen Hecke sich leicht überklettern ließ. In meiner Kindheit war ich oft dorthin gegangen.
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Ein Apfelbaum stand darin, so alt, daß allein ein Pfahl ihn am Stürzen hinderte und zu leben zwang. Einen Augenblick trat ich in seinen Schatten. Vögel, die bei meinem Herzutreten aufgeflogen waren, kreisten laut schreiend über meinem Kopfe. Ich fühlte an meinem Handballen das Reiben eines kleinen Zweiges, den ich am Boden aufgelesen hatte. Zum ersten Male dachte ich an meinen Tod als an etwas Wirkliches und Gewisses. Die laue Luft, die in der Brise schwamm, die Sonne, der Laubschatten auf meinen Händen – mir schien, dies alles rede zu mir nur davon, aber ich hätte es bis zu dieser Minute nicht begriffen. Es würde ein Tag kommen, da würde mein Herz noch einmal schlagen und dann aufhören zu leiden. Dann würde der Wind für andere als mich mit leisem Rauschen durch die Zweige fahren, für andere junge Menschen mit schweren Herzen, doch heute hörte ich ohne Angst noch Bedauern dieser Stimme zu, die unruhig war, mir Wissen zu geben, und mir im Geleucht eines Sommertages allen Lebens Ende vorausverkündete. (1930)
Der Sog des Nächtlichen Julien Green und sein Roman »Der andere Schlaf«
Ich streckte mich auf dem Fußboden aus und sang. Noch nie hatte ich so wie jetzt die Lust genossen, der Welt fern zu sein. Über mir sah ich durch die Lücken des Balkenlabyrinths das sanfte Blinken von Sternen an schwarzem Himmel, und ich stellte mir vor, sie wüßten um mein Dasein, doch seien sie wohlgesinnt.
I Der am 6. September 1900 in Paris geborene Julien Green gehört zu den bedeutendsten französischen Schriftstellern dieses Jahrhunderts. Es ist notwendig, eine so banale Feststellung an den Anfang dieses kleinen Aufsatzes zu rücken, denn Green ist in Deutschland weitgehend ein Unbekannter geblieben. Gewiß: ein Großteil seines erzählerischen Werks, drei Bände der Autobiographie1, eine Auswahl aus den Tagebüchern und die 1 Der vierte Band, Jeunesse, erscheint demnächst in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp.
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beiden wichtigsten Dramen erschienen in zum Teil vorzüglichen Übersetzungen. Die Welt des französischsprachigen Amerikaners, diese dunkle Welt der erotischen Obsessionen, der Gewalttätigkeiten, des religiösen Fanatikertums aber wirkte auf deutsche Kritiker und Leser gleich befremdend. Den immer wieder gespendeten Worten der Anerkennung mischt sich ein leiser Widerwille bei; Unkenntnis der Umstände, unter denen dieses sehr deutlich autobiographisch geprägte Werk entstand, führte zu manchmal fast unbegreiflichen Fehlinterpretationen. Green, der immer wieder von Glaubenskrisen Heimgesuchte, von Krisen, die zu schweren seelischen Erschütterungen führten, wurde mit dem Etikett »katholischer Schriftsteller« versehen, was zu Lesererwartungen führen mußte, die unerfüllt blieben. Nichts ist Green seit jeher mehr zuwider als »Erbaulichkeit«. Die Unfähigkeit zum Selbstbetrug, die wiederholt in der Autobiographie dargestellte Unmöglichkeit, eine Lüge auszusprechen, auch wenn sie zum Wohle aller wäre, können zu keiner »Erbaulichkeit« führen, zu keiner moralischen Didaktik, auf die als auf eine sträfliche Vereinfachung Green immer verächtlich geblickt hat. Wenn Green ein Moralist ist,
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dann im Sinne der absoluten Forderungen der Bergpredigt. So wirkt denn auch eine seiner ersten Publikationen, das »Pamphlet contre les Catholiques de France« (1924), wie ein Versuch, das tertullianische »credo quia absurdum« zu einem konsequenten Programm mit 249 Punkten auszubauen, einem Programm der extremen, der absoluten Ansprüche. Im Punkt 248 heißt es dort: »Den Katholizismus, ein zu starkes Elixir für durch Vernunftgründe geschwächte Seelen, nennt die Ratio Wahnsinn, und sie hat nicht unrecht.« Und im letzten Punkt heißt es: »Wenn die Wahrheit zu stark ist, kotzt man sie aus.«2 Die Rigorosität Julien Greens, nicht nur in religiösen Dingen3, hat etwas Alttestamentarisches, das man eher bei einem Calvinisten als einem Katholiken erwarten würde. Tatsächlich wurde er im calvinistischen Glauben erzogen. Seine Eltern entstammten amerikanischen Südstaatenfamilien
2 Zitiert nach der Ausgabe der Œuvres Complètes in der Bibliotheque de la Pléiade, Band 1, Paris 1972, S. 916. 3 Bezeichnenderweise hat sich Green in den letzten Jahren öffentlich zu Lefebvre bekannt, da ihm die »lasche« Haltung der modernen katholischen Kirche zuwider ist.
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und hatten sich 1893 in Frankreich niedergelassen. Erst 1916, einige Monate nach seinem Vater, trat Green der katholischen Kirche bei. Sein Katholizismus behielt eine puritanische Färbung: Pascal und der Jansenismus blieben ihm näher als die mediterrane Weltoffenheit, die barocke Lebensfreude südländischer Katholizität. Nicht nur in religiöser Hinsicht hat die Kindheit Green entscheidend geprägt: das heitere Familienleben mit den älteren Schwestern, die Geheimnisse des dunklen Hauses in der Rue de Passy, die langen Sommerferien in Andresy an der Seine werden in der Autobiographie mit der Detailgenauigkeit geschildert, die erkennen läßt, daß sie auch für den alternden Green nichts von ihrer Faszination verloren haben. Gewiß gab es Stunden der Langeweile, Stunden der Angst und der Verstörung bei den ersten nicht verstandenen Erfahrungen mit der eigenen Sexualität; denn sexuelle Aufklärung war im Hause Green tabuisiert. Dennoch liegt über allem Erinnerten ein paradiesischer Glanz, erhält die Beschreibung der Kindheit Züge eines magischen Beschwörungsrituals, das manchmal an den von Green bewunderten Proust erinnert, mit dem er sonst wenig gemeinsam hat.
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Green, der bis heute seine amerikanische Nationalität behielt4, kämpfte im 1. Weltkrieg und beschloß 1919, in ein Kloster auf der Insel Wight einzutreten. Als er eines Apriltages die Krypta der von ihm bevorzugten Kirche der Weißen Schwestern in der Rue Cortambert verließ, vollzog sich in ihm eine plötzliche innere Wandlung, eine Hinwendung zum Leben: »In jenem Augenblick kam es mir vor, als würde mir die ganze Welt angeboten, als träte ich aus einer Art Mittelalter direkt in die Hochrenaissance. Wieder auf der Straße, jener vom Frühlingslicht überfluteten Straße mit ihrem provinziellen Charme, spürte ich deutlich, daß mein Leben eine neue Richtung nehmen sollte.«5 Er entschloß sich, seine Verwandten in Amerika zu besuchen und an der Universität von Charlottesville, Virginia, an der auch Poe studiert hatte, ein Studium der englischen Literatur und der alten Sprachen anzufangen. Im dritten Band seiner Autobiographie, Terre lointaine (1966), werden
4 Er wurde als erster Ausländer zum Mitglied der Academie Française ernannt. 5 Journal, 30. 3. 1941, Œuvres Complètes, Band 4, Paris 1975. S. 571.
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diese amerikanischen Jahre heraufbeschworen mit einer manchmal kaum zu ertragenden Intensität, die, wie aus dem Tagebuch hervorgeht, auch dem Autor selbst häufig zusetzte. Zum beglückenden und tragischen Schlüsselerlebnis wird die Begegnung mit Mark, einem Kommilitonen: »›Ein Engel!‹ dachte ich in meinem verstörteR Gemüt. ›Ich habe einen Engel gesehen.‹ (–) Ganz bestimmt war mir bislang noch nie etwas Ähnliches widerfahren. Meine Freiheit war mit einem Male dahin. Wegen eines Menschen, den ich nur drei oder vier Sekunden lang gesehen hatte, wurde ich zum Sklaven. Es bedurfte einer großen Anstrengung, damit ich wieder in mein Zimmer gelangte; dort warf ich mich auf das Bett und kehrte das Gesicht zur Wand. Die Liebe war ein Unglück: soviel sah ich ein.«6 Die im Jahr 1920 erfolgte Begegnung mit Mark, den er erst zwei Jahre später näher kennenlernt, verändert das Leben des jungen Mannes. Im Jahr 1920 auch veröffentlicht er seine erste, in englischer Sprache geschriebene, an Poe orientierte 6 Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Julien Green, Fernes Land, Deutsch von Eva Rechel-Mertens. Köln und Olten 1966, S. 75 f.
Erzählung (»The Apprentice Psychiatrist«7). Zwar war ihm die eigene Homosexualität schon länger bewußt, aber die Liebe zu Mark, die jene typisch Greenschen Züge des Absoluten trägt, machte sie zum Mittelpunkt seiner Existenz. Juli 1922 kehrte Green nach Paris zurück: in »Jeunesse« beschreibt er diese Pariser Zeit. Le voyageur sur la terre (1926), Mont Cinere (1926), Adrienne Mesurat (1927) und Leviathan (1929) sind die ersten Stationen einer glanzvollen literarischen Karriere, die scheinbar mühelos verläuft. Gide, Cocteau, Mauriac, Gabriel Marcel und Jacques Maritain äußern sich lobend über den jungen Autor, und schon bald verbindet ihn mit Gide und Maritain eine tiefe Freundschaft. Diese wichtigen Jahre in Greens Leben werden aber auch von der Entdeckung einer nächtlichen Welt der Parks geprägt, von der Suche nach dem idealen Partner, die immer in Frustration endet und immer von neuem beginnt. Die flüchtigen, häufig schäbigen sexuellen Abenteuer verschärfen in Greens Leben den Konflikt zwischen der Sehn-
7 Die Erzählung erschien in der Zeitschrift der Universität, Mai 1920.
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sucht nach klösterlichem Leben, Weitabgewandtheit und den Forderungen des Körpers, denen er sich nicht entziehen kann und will. Er hat oft geschrieben, er verstehe nur zwei Menschentypen, den Heiligen und den Sünder. Als Mark ihn im Jahre 1923 besuchte, stand Greens Entschluß fest, ihm seine Liebe zu gestehen. Im letzten Augenblick aber verließ ihn der Mut. Die Szene des nicht gemachten Geständnisses – am Ende von Terre lointaine und, ausführlicher, in Jeunesse dargestellt –, bildet in vielfacher fiktiver Verwandlung das Zentrum seiner Romane. Allerdings hat häufig eine Frau die Last der »unmöglichen Liebe« zu tragen und geht daran zugrunde, wie Adrienne Mesurat. Der unerreichbare Geliebte, der schöne, oft rätselhaft-verschlossen wirkende junge Mann, der nichts zu ahnen scheint von den Verheerungen, die er im Leben eines anderen Menschen anrichtet, oder, seltener, ein solches Nichts-Ahnen aus Grausamkeit vortäuscht, trägt immer, Green hat es selbst erkannt, die Züge Marks.
II L'autre sommeil, erst zwei Dezennien nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt, bedeutet einen Einschnitt in der Entwicklung des Romanciers Green. Denn zum erstenmal werden autobiographische Elemente bewußt in das Romangeschehen eingebracht, zum erstenmal wird das Motiv der »unmöglichen Liebe« als die Liebe eines Mannes zu einem anderen Mann, dem er sie nicht zu gestehen wagt, gestaltet. Im Tagebuch wird die Notwendigkeit betont, das Thema – die homosexuelle Liebe – unverstellt zu behandeln. (»Ich stehe vor einer Wand. Wenn ich zögere, von der Liebe der Hauptfigur zu einem jungen Mann zu sprechen, verfälsche ich die Wahrheit...«8) Die Arbeit an L'autre sommeil beginnt Green im November des Jahres 1929, nachdem er das Projekt, seine nächtlichen Abenteuer zu einem Roman zu verarbeiten, vorläufig aufgegeben hatte. (In der von Green erst in den siebziger Jahren freige-
8 Journal, 29. 3. 1930, Œuvres Complètes, Band 4, Paris 1975, S. 64.
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gebenen sogenannten »Confession de Jean« aus Le malfaiteur9 wird dieses Projekt zum Teil verwirklicht.) Am 29. April des nächsten Jahres ist das Buch beendet, das kurz danach publiziert wird. Auch formal weicht L'autre sommeil von den ersten drei Romanen ab: es ist viel kürzer; die Zahl der Personen bleibt begrenzt und sie gewinnen kaum ein Eigenleben, sind wichtig nur in ihrer Beziehung zur Hauptfigur Denis; die genauen Beschreibungen der Außenwelt, die zur alptraumhaften Atmosphäre des Frühwerks beitragen, weichen einem mehr andeutenden, onirischen Stil. Dies mag damit zusammenhängen, daß dieser Roman, den man vielleicht besser eine längere Erzählung nennen sollte, vom Licht der eigenen nostalgisch verklärten Kindheit überstrahlt wird, einem Licht, das die Tragik des Geschehens mildert. Es ist wie ein Aufatmen, nachdem die beklemmend trostlose Welt des Leviathan verlassen wurde. Der nächste Roman, Epaves, wird allerdings Greens dunkelster sein.
9 In der deutschen Ausgabe des Romans In den Augen der Gesellschaft fehlt dieser Teil.
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Ende der zwanziger Jahre hatte sich Green weit von der katholischen Kirche entfernt, was an einigen Stellen von L'autre sommeil deutlich wird: So spricht er von der »superstition catholique«, dem »katholischen Aberglauben«. Als 1950 eine Neuausgabe des Romans vorbereitet wird, ist Green, der schon 1939 wieder zum katholischen Glauben zurückgefunden hat, versucht, diese Stelle zu ändern. Aber er unterläßt es schließlich, da »man nicht das Recht hat, dem, was man geschrieben hat, eine neue Form zu geben«10. Schon in der ersten Szene des Romans wird das Grundmotiv, die Abhängigkeit des Protagonisten von seinem Cousin Claude, symbolisch gestaltet: die Hände Claudes halten die Fersen des Jungen fest umklammert, nachdem sie ihn auf das Geländer der Pont d'Jéna gestellt haben, aber sie könnten ihn auch ins Bodenlose stürzen. Haß und Angst mischen sich beim jungen Denis mit dem Gefühl eines heimlichen, verbotenen Vergnügens. Zur Liebe werden diese einander widersprechenden Gefühle schon, als Denis seinen schlafenden Cousin im 10 Journal, 29.9. 1950, Œuvres Complètes, Band 4, Paris 1975, S. 1178. In der deutschen Ausgabe wurde, auf Wunsch des Autors, die Stelle doch geändert.
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gemeinsamen Schlafzimmer in Chanteloup11 betrachtet. Wenige Tage später tötet sich der wenig geliebte Vater. Claude verschwindet vorläufig aus dem Romangeschehen, und in der Beziehung zum Schulkameraden Remy und dessen Freundin Andrée gewinnt Denis Klarheit über seine eigene Veranlagung: Remy wirkt auf ihn anziehend, nicht Andrée, die er zu lieben glaubte, die ihn aber in Wirklichkeit nur interessierte, weil sie Remys Geliebte war. Der Tod des Vaters hatte Claude entfernt, der Tod der Mutter bringt ihn zurück. Die bewegende Schlußszene des Romans geht auf das Erlebnis mit Mark zurück: Denis bringt es nicht über sich, Claude seine Liebe zu gestehen. Wieder betrachtet er seinen Cousin, der im Gras eingeschlafen ist, und zum erstenmal überkommt ihn die Gewißheit des eigenen Todes. Während in den anderen Romanen Greens die nicht verwirklichte Liebe, die schmerzliche Unterdrückung des Triebes zur Gewalt führt, zu Mord und Selbstmord, hat hier die Nähe des Todes fast etwas Beruhigendes, etwas Heiteres. Immer ist
11 Chanteloup im Roman entspricht Andresy. Dort verbrachte Green in seiner Kindheit die Sommerferien.
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bei Green die Anwesenheit einer »anderen Welt« zu spüren, jener Welt, in der die Widersprüche des Lebens auf Erden nicht mehr existieren werden. Ihr Hauptsymbol ist der nächtliche Sternenhimmel, der sogar einem bisher nicht ins Deutsche übersetzten Roman den Titel gibt, Varouna.12 Auch die zeitweilige Entfernung von der katholischen Kirche hat Green nie des Glaubens an eine andere Welt beraubt; Green hat wiederholt betont, daß ein Leben ohne Gott für ihn unvorstellbar und sinnlos wäre. Diese Welt aber, in der wir zu leben haben, ist »ein bedrohlicher Ort«13, das Leben ist ein Schlaf voller Alpträume, aus dem wir erst im Tode erwachen. Dieser tröstende Ausblick auf eine Erlösung verbindet L'autre sommeil mit den beiden späten Romanen Chaque homme
12 Dort allerdings erhält das Symbol eine bedrohliche Bedeutung: Varouna ist der nächtliche Himmel, der den Schuldigen beobachtet. 13 »Die Wahrscheinlichkeit des Unmöglichen«, Julien Green im Gespräch mit Jörg Krichbaum und Rein A. Zondergeld. In: Phaïcon 2, Almanach der phantastischen Literatur, hrsg. von Rein A. Zondergeld, Frankfurt a. M. 1975 S. 85. Der Titel von Greens bisher letztem Roman Le mauvais lieu (1977) bringt denselben Gedanken zum Ausdruck.
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dans sa nuit (1960) und L'autre (1971): die Welt ist dunkel, aber »jeder Mensch in seiner Nacht ist auf dem Weg zu seinem Licht.«
Wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, stammt die Übersetzung der Zitate vom Verfasser des Nachworts.
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