Der Atem Manitous von Adrian Doyle
Wie ein lichtfressender Moloch legte sich der Abend über die Dächer New Jerichos. E...
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Der Atem Manitous von Adrian Doyle
Wie ein lichtfressender Moloch legte sich der Abend über die Dächer New Jerichos. Eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar stand am Fenster des einzigen Motels am Ort und beobachtete die Dunkelheit, die, einem unheimlichen Gewächs gleich, zwischen den Häuserfassaden zu wuchern begann. Sie versuchte ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie es hier vor dreihundert Jahren ausgesehen hatte. Zu der Zeit, als sie zuletzt ihren Fuß in diese waldreiche Landschaft gesetzt hatte. Damals in Begleitung ihres einzig wahren Geliebten. Des Kelchhüters, dem sie ihr immer noch währendes Leben verdankte …
Was bisher geschah Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Der Kelch ist das Unheiligtum der Vampire; nur mit ihm können sie Nachwuchs zeugen, indem sie Menschenkinder rauben und ihnen schwarzes Blut zu trinken geben. Landru, einer der ältesten Vampire und Kelchhüter, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen, den sie nicht löschen können. Sie altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, die geboren wurde, um die Versöhnung der Ur-Lilith mit Gott zu ermöglichen, erhält den Auftrag, auch die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. Gleichzeitig mit dem »Seuchen-Impuls« wird in einem Kloster in Maine, USA, die junge Nonne Mariah unbefleckt schwanger. Nur 666 Stunden später gebiert sie einen Knaben. Als kurz darauf ein infizierter Vampir eintrifft, wird er von dem Kind geheilt! Freudig verbreitet er die Kunde, doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden getäuscht. Der Knabe entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei um gut drei Jahre. Neben den Vampiren gibt es noch ein weiteres Volk, das bei Vollmond seine Kraft entfaltet: die Werwölfe. Zu ihnen gehört Nona, die Landru seit Urzeiten kennt und begehrt, seit sie sein Blut aus dem Lilienkelch trank. Nona bricht auf, um die Herkunft der Seuche zu ergründen. Sie glaubt, daß eine Frau dahintersteckt, der Landru schon so manche Niederlage verdankt: Lilith Eden …
Sowohl die Vampirseuche als auch die Geburt des Kindes haben das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene erschüttert. Rund um den Erdball reagieren parasensible Menschen: Sie träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Eine geheime Organisation, die dem Anschein nach mit dem Vatikan in Verbindung steht, wird auf die Para-Träumer aufmerksam und schickt »Gesandte« aus, um diese Menschen anzuwerben. In den Träumen einer jungen Frau namens Jennifer Sebree spielt Lilith Eden eine entscheidende Rolle. Die Halbvampirin spürt dies und findet Jennifer in Salem’s Lot, Maine. Dort trifft sie auch auf den Gesandten Raphael Baldacci. Erst fühlen sie sich zueinander hingezogen, doch als sie das Wesen des jeweils anderen erkennen, versucht Baldacci Lilith zu töten. Jennifers Eingreifen rettet die Halbvampirin. Dann verschwindet Jennifer. Sie folgt dem Ruf eines Wesens, das erst vor kurzem das Licht dieser Welt erblickt hat und das fremde Kraft braucht, um zu wachen und zu gedeihen …
Als es klopfte, drehte sich Nona geschmeidig um und eilte zur Tür. Vor zwei Tagen war sie in der unscheinbaren Stadt am oberen Missourilauf angekommen. Aber trotz sofortiger Nachforschungen war es ihr nicht gelungen, jene ausfindig zu machen, nach denen sie suchte. Nicht einmal eine einzige wertlose Dienerkreatur war ihr über den Weg gelaufen. Dann, als sie schon aufgeben wollte und begonnen hatte, sich damit abzufinden, daß die Vampire dieser Gegend offenbar irgendwann im Laufe der vergangenen Jahrhunderte den Rücken gekehrt hatten, war sie einem jungen Store-Angestellten begegnet, der die klassischen Merkmale trug – ohne allerdings untot zu sein. »Ah, Philip«, begrüßte sie den sportlichen Mann, der in Jeans, Turnschuhen, Baumwollhemd und Lederjacke auf dem Flur stand und spürbar nervös die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte. »Ich freue mich, daß Sie es ermöglichen konnten … Kommen Sie doch herein.« Sie gab den Weg frei und machte eine einladende Geste mit dem Arm. Philip Acre trat ins Zimmer. Falls er sich überhaupt Gedanken über ihre schmuddelige Unterkunft machte, ließ er es sich nicht anmerken. New Jericho war nicht gerade ein Touristenmekka und das LAKE SUPERIOR das einzige Motel weit und breit. Wer immer hier abstieg, wußte, daß ihn kein Komfort erwartete. Aber Nona war auch nicht in die Staaten gereist, um Ferien zu machen, sondern um eine Todfeindin zu jagen. »Setzen Sie sich. Trinken wir einen Schluck, ehe wir uns ins Nachtleben stürzen …« Sie wies auf einen kleinen Tisch am Fenster, zu dem zwei ungepolsterte Stühle gehörten. Ihre indianische Bekanntschaft nahm die Hände aus den Taschen, durchquerte das Zimmer und setzte sich. Nona folgte. »Es ist wirklich nett von Ihnen, daß Sie mir etwas Ge-
sellschaft leisten wollen. Allein als Frau in einer fremden Stadt … na, Sie können sich denken, was für ein Gefühl das ist.« Er sah nicht so aus, als könnte er das. Mona machte kein Problem daraus, sondern goß aus der auf dem Tisch stehenden Flasche in zwei Zahnputzbecher ein, nahm selbst einen in die Hand und prostete dem Mann zu, der höchstens so alt war wie sie selbst aussah. Knackige zwanzig. Er gefiel ihr, doch allein deshalb hatte sie ihn nicht angeflirtet. Als Philip zögerte, das Glas zu nehmen, fragte sie: »Oh, ich vergaß zu fragen: Verträgt es sich überhaupt mit Ihrer Religion, Alkohol zu trinken?« »Die Zeiten ändern sich.« Philip lächelte. »Zu besonderen Anlässen kann man schon mal über die Stränge schlagen.« »Und?« Er blinzelte fragend. »Ist dieser Anlaß besonders genug?« Als sie lachte, entspannte er sich endlich. »Entschuldigen Sie.« Er griff nach dem Glas und nahm einen tiefen Schluck. Daß Mona nur vorgab, ebenfalls zu trinken, fiel ihm nicht auf, weil er nur Augen für ihre Augen hatte. Es schmeichelte ihr. Sie hatte so lange fern dieser Wirklichkeit zugebracht. Mehr tot als lebendig … Als sich Philips Pupillen fast über die komplette sichtbare Iris auszuweiten begannen, wußte sie, daß die Tropfen, die ihr der weise Chiyoda mitgegeben hatte, bereits ihre Wirkung entfalteten. Mona trat neben den Arapaho und streichelte über dessen Gesicht, in dem sich vieles wiederfand, was sie schon bei Philips Vorfahren gesehen hatte. Nur die Kleidung hatte sich vollständig verändert. Fell und Leder des Bisons waren industriell verarbeiteter Baumwolle gewichen. Davon abgesehen hatten sich die Ureinwohner dieses Kontinents
sehr viel mehr von ihrer Ursprünglichkeit bewahrt als die selbstgefälligen Weißen, die dafür alle wichtigen Schlachten um dieses Land für sich entschieden hatten. Als Nona spürte, wie sich auch ohne das Getränk, das Philip erwärmte, Hitze in ihren Lenden ausbreitete, zog sie den Arapaho aus dem Stuhl und führte ihn zu einem Wandspiegel. Dort küßte sie ohne Scheu das Mal an seinem Hals, und als sie spürte, wie sich seine Haut vor Erregung straffte, leckte sie noch ein wenig fordernder über die Stelle. Ihn schauderte. »Was ist das für ein Mal?« fragte sie. Sein Blick besaß dämonische Tiefe, seit sich die Droge in ihm entfaltete. Er stierte auf sein Spiegelbild. Wäre er eine Dienerkreatur jenes Herrn gewesen, der für das Doppelmal an seinem Hals verantwortlich war, hätte ihn der Spiegel verleugnet. Offenbar hatte sich der unbekannte Vampir mit der einzigen Konsequenz an ihm verköstigt, daß Philip zum Träger des Keims geworden war. Erst sein Tod würde ihn in einen Widergänger und Nachzehrer verwandeln, der nie wieder Ruhe vor dem Fluch fand, der auch die echten Vampire zu den Menschen trieb. Durst. Unbändiger, unstillbarer Durst … »Ich … weiß es nicht.« »Du weißt nicht, von wem du es hast?« »Nein …« »Wann ist es dir zum erstenmal aufgefallen?« »Vor ein paar … Tagen.« Auf der Stirn des Indianers glitzerten winzige Schweißperlen. »Mitte vergangener Woche. Ich erwachte morgens … wie gerädert …« Nona zeigte nicht, wie sehr sie die Antwort aufwühlte. Vergangene Woche!
Das bedeutete, daß die Vampire dieser Gegend noch existierten. Daß sie nicht von jener Seuche hingerafft worden waren, vor der Chiyoda seine Schülerin so eindringlich gewarnt hatte. »Es ist ein Biß«, sagte Nona. »Du weißt doch, was ein Biß ist?« Ohne seine Erwiderung abzuwarten, saugte sie sich mit ihren Lippen wie ein Egel an seinem Hals fest und klemmte ein Stückchen Fleisch zwischen ihre Zähne. Philip stöhnte, unternahm aber nichts, um sie an ihrem Tun zu hindern. Die Droge paralysierte ihn. »Wirklich schade«, sagte Mona, als sie ihren Mund von seinem Hals gelöst hatte und den schillernden Bluterguß betrachtete, unter dem das Vampirmal fast unsichtbar geworden war. »Ich suche den Feinschmecker, der dich erwählte. Du ahnst nicht, wie wichtig es für mich wäre, ihn zu finden. Vermutlich ist es kein Mann, sondern eine Frau. Eine Squaw, die dich ähnlich attraktiv fand wie ich. Und du hast wirklich keine Idee, wo ich sie finden kann? Sie hat keinen Hinweis auf ihre Identität hinterlassen?« »Ich … verstehe … nicht …« Nona nickte. »Leider. Ich sagte ja schon: sehr schade …« Sie streifte ihm die Jacke von den Armen und Schultern und ließ sie achtlos auf den Linoleumbelag des Bodens fallen. Mit dem Hemd ging sie noch weniger zimperlich um, riß es auseinander und strich mit beiden Händen fordernd über die entblößte Haut. Dann beugte sie sich nach vorn und nahm eine von Philips Brustwarzen zwischen die Lippen. Sie wurde augenblicklich hart, und auch das eigentliche Ziel von Nonas Liebkosungen begann sich zu rühren. »Ich werde mich bemühen, dir den Abschied so angenehm wie möglich zu gestalten«, hauchte sie, während sie sich bereits an seinem Gürtel zu schaffen machte, den Knopf seiner Jeans und schließlich den Reißverschluß öffnete. »Hast du schon viele Freundinnen gehabt?« »Ich … bin verheiratet«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Das war nicht meine Frage. Wie alt bist du?«
»Neunzehn.« »Da hättest du dir ruhig etwas mehr Zeit lassen können«, sagte Nona kopfschüttelnd. »Das hättest du wirklich. Für den Kummer, den du deiner Frau nun bereitest, darfst du mich jedenfalls nicht verantwortlich machen …« Als er schwieg, dirigierte sie ihn zum Bett und schälte ihn aus den letzten Kleidungsstücken. »Leg dich hin.« Er gehorchte. Ihm blieb gar keine Wahl. »Ist deine Frau hübsch?« fragte Nona. »Ja.« »Hübscher und anziehender als ich?« »Auf andere Weise … anziehend …« »Das will ich meinen.« Nona entledigte sich nun selbst ihres Kleids, das vielleicht etwas zu dünn und zu knapp geschnitten für die Jahreszeit war. Aber Kälte hatte ihr noch nie Probleme bereitet, und nicht immer war ihre Haut so schutzlos glatt und unbehaart wie jetzt. Mit langsamen Schritten ging sie auf Philip zu. Sie war genauso groß wie er, gertenschlank und mit Brüsten, die fast ein wenig zu üppig für den ansonsten zierlichen Körper wirkten. Aus Erfahrung wußte sie aber, daß gerade dies den meisten Männern gefiel. Zumal ihr Busen noch immer so fest und reizvoll war wie ein halbes Jahrtausend zuvor. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war Nona in Perpignan, Frankreich, unter ebenso mysteriösen wie dramatischen Begleitumständen geboren worden.* Seitdem hatte sich nicht nur das Bild der Welt immer wieder gewandelt, sondern auch ihre Persönlichkeit. Nur eines war immer gleich geblieben: Ihre Verehrung für Landru.
*siehe VAMPIRA T04: »Der Pfad der Wölfin«
Den Hüter des Kelchs, der sie einst aus dem Stand der Sterblichen gehoben hatte. Ihr Liebhaber, dessen Überlegenheit und Charisma sie immer wieder aufs Neue fesselte. Und der jetzt vom Heils- zum Todesbringer der Vampire geworden war … Als Nona das bereits erigierte Glied des Arapaho küßte und sanft massierte, schwoll es zu noch eindrucksvollerer Größe an. Und je mehr sich ihre Sinne auf diesen anderen Körper einließen, desto erregter wurde sie und ließ sich selbst auf das Spiel der Spiele ein. Philips Körper fühlte sich herrlich unverbraucht und doch ausgesprochen männlich an. Nona nahm seinen Duft und seinen Geschmack in sich auf wie die Witterungen, denen sie zu Vollmond folgte, wenn barbarisches Verlangen sie auf die Fährte eines Opfers setzte, das sie jagen, töten und verspeisen konnte. Hier in diesem schäbigen Zimmer, in einer abgeschiedenen, von Indianernachkommen gegründeten und bewohnten Stadt, reduzierte sich ihre ungezügelte Gier auf den bloßen Hunger nach Erlebnis. Nach Wollust und Befriedigung. »Wie gefällt dir das?« fragte sie zitternd, als sie mit der Zunge die Länge seines Schaftes befeuchtete – ihn darauf vorbereitete, in sie zu dringen. In den immer unerträglicher, immer fordernder brennenden Schoß, der sich nach etwas sehnte, was ihm viel zu lange vorenthalten worden war. »Gut«, keuchte Philip. »Es ist … gut …« »O ja. Und es wird noch besser!« Wie im Fieber glitt sie über ihn und setzte sich auf den Pfahl. Sekundenlang ruhte sie in vollendeter Haltung in ihrem Sattel. Dann eröffnete sie den feurigen Ritt, schloß die Augen und vergaß das heruntergewirtschaftete, kalt und lieblos eingerichtete Zimmer. Philip gab ihr, was sie am meisten brauchte. Und sie ihm. Mit Worten, wie er sie vermutlich nie zuvor aus einem Frauen-
mund gehört hatte, stachelte sie ihn zusätzlich an und trieb ihn zum Höhepunkt – unterbrach aber einige Male, wenn sie spürte, daß er kurz davor stand, sich in sie zu verströmen, und zögerte das leidenschaftliche, enthemmte Spiel so lange hinaus, bis sie beide erschöpft und glücklich übereinander sanken. Nona schmiegte sich noch eine Weile an Philips Brust und strich ihm durch das verschwitzte Haar. Schließlich richtete sie sich auf, glitt von ihm herab, griff das Kopfkissen und drückte es ihm solange auf das Gesicht, bis auch die letzten Reflexe seines sterbenden Körpers erlahmten. Dann wusch und erfrischte sie sich im Bad nebenan. Geräusche riefen sie zurück. Philip hatte begonnen, sich desorientiert im Bett aufzurichten. Seine Augen verrieten nichts mehr vom Einfluß der Gehorsamsdroge. Nona war erfahren genug, um keine Zeit zu verlieren. Noch ehe der vampirische Keim, den sie aus seinem Schlummer erweckt hatte, den Arapaho in einen gefährlichen, sich seiner Stärke bewußten Gegner verwandeln konnte, war sie bei ihm und drehte ihm mit einer vielfach geübten Bewegung das Gesicht auf den Rücken. Während sie wartete, daß der Todesimpuls die Vampire von New Jericho zu ihr führte, schweiften ihre Gedanken ins ferne Damals. Hin zu der Reise, auf der sie Landru begleitet hatte, und an die sie sich noch so deutlich erinnerte, als wäre es gestern erst gewesen …
* VERGANGENHEIT Sommer 1688 Makootemane hungerte den achten Tag auf dem Gipfel des heiligen
Berges. Sein schlimmster Feind hatte ihm eine so geringe Menge Wasser hinterlassen, daß der junge Arapaho selbst bei sparsamstem Verbrauch höchstens noch zwei weitere Tage überstehen würde. Trotzdem dachte er keine Sekunde an Aufgabe. Eine solche Schande hätte er nicht überlebt – und er wollte überleben. Er wollte seinem persönlichen Schutzgeist begegnen und von ihm die Kriegerweihe empfangen. Für seine neun Jahre besaß Makootemane bereits eine stattliche Größe. Und einen klugen Verstand obendrein, der sich momentan allerdings zunehmend trübte. Der Wechsel von der Sonnenglut des Tages zur grimmigen Kälte nach Einbruch der Dunkelheit trieb den Arapaho ebenso unaufhaltsam in ein tiefes Delirium wie Durst und Hunger. Vor seinem Aufbruch zum Berg hatte der Schamane des Stammes ihn präpariert, indem er ihn speziell zubereitete Speisen essen ließ, die den anschließenden Verzicht auf Nahrung noch unerträglicher machten. Danach hatte ihn das Stammesmitglied, das am wenigsten für Makootemane oder dessen Familie übrig hatte, zu diesem heiligen Platz geführt, ihn mit Harne überschüttet und sich selbst überlassen. Wie es die Tradition verlangte. Makootemane hatte sich auf die Visionssuche begeben – wie jeder Junge an der Schwelle zum Krieger vor ihm. Sein Körper hatte sich in den letzten Wochen und Monaten verändert, und die eine oder andere sonderbare Regung hatte den jungen Arapaho sogar erschreckt. Es hatte nicht lange gedauert, bis der Stammesälteste ihn beiseite nahm. Makootemane hatte nicht alles Gehörte verstanden. Aber doch genug, um sich zu beruhigen: Das Kichern einiger Mädchen, wenn sie ihn neuerdings sahen, schien ebenfalls mit dem Wechsel, der in ihm stattfand, zusammenzuhängen. Und auch, daß er die Mädchen nun mit anderen Augen betrachtete als all die Zeit davor.
Immer wieder tauchten vor seinem geistiger Auge die Gesichter von Vater, Großvater und Mutter auf. Seine Großmutter hatte er nie kennengelernt, aber sie war an vielen Feuern besungen worden, so daß auch sie ihm nicht fremd war. Über Makootemane spannte sich der nachtklare Himmel mit den unzähligen Augen der Ahnen, unter deren Blicken sich der Junge keineswegs unwohl fühlte. Er freute sich über ihre Gesellschaft und erreichte allmählich einen Zustand, in dem er sich von jeder Körperschwere und jedem Zweifel befreit fühlte. Niemand hatte ihm Genaues über die Visionssuche erzählt. Angeblich verlief sie bei jedem Kriegeranwärter anders. Und Makootemane wollte ein großer Krieger werden. Sein Traum war es, eines Tages selbst den Stamm anzuführen, wie Invnaina es jetzt tat. Invnaina war bereits alt. Ein geachteter Mann, der aber schon bald die Jagdgründe des Diesseits verlassen und im Jenseits vom Großen Geist den Lohn seiner irdischen Mühen erhalten würde. Makootemane empfand es keineswegs verwerflich, so über den Häuptling, der auch sein Vater war, zu denken. Der Tod war – wenn man die Kunst des rechten Sterbens beherrschte – ein Schritt ins nächsthöhere Dasein. In diesem Moment sagte eine Stimme: »Ich grüße dich, Wolkenknabe!« Makootemanes Augen und Ohren waren offen, und die Worte schienen sich wie das lähmende Gift einer Schlange jeden Muskels und jeden Nervs seines Körpers zu bemächtigen. Regungslos kauerte er auf dem felsigen Boden und fragte sich, ob er wachte oder träumte. Ob dies der Beginn dessen war, worauf er wartete, oder ob etwas sehr Weltliches den Weg zu ihm gefunden hatte. Hitanivo’iv, Wolkenmänner, nannten die befreundeten Cheyenne die Arapaho. Konnte es sein, daß auch der erscheinende Schutzgeist sich dieses Ausdrucks bediente? Die Stimme war aus dem Nichts gekommen – aus den Schatten
dieser Nacht. »Wer bist du?« fragte Makootemane mit schwacher Stimme. »Dein Wohltäter.« Nein, dachte Makootemane und hatte das Gefühl, in gefrierendes Wasser getaucht zu werden, das sind nicht die Worte eines Geistes – und dies ist keine Vision! Er versuchte auf die Beine zu kommen. Die Heilige Lanze stak neben ihm im Boden. Aber als er sich darauf stützte, geschah das Unvorstellbare: Sie brach entzwei. Splitternd gab sie nach, und Makootemane stürzte so hart, daß er eine Weile völlig benommen liegen blieb. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, und nicht nur in seinem Kopf drehte sich alles. Auch die von den Augen der Ahnen durchwobene Dunkelheit war zu einem Strudel geworden, der Makootemanes Verstand fortzutragen, mit sich zu reißen drohte … »Du brauchst dich wirklich nicht zu fürchten. Ich werde dich reich beschenken. Was glaubst du, warum ich dich sonst hier aufsuche?« Diese neuerliche Ansprache tropfte wie das brennende Harz eines Baumes in die Seele des Arapaho. Aber seltsamerweise brachte die Melodie des Versprechens Klarheit in seinen verwirrten Geist. Über sich sah er ein Gesicht auftauchen. Es leuchtete rötlich, und dennoch hatte Makootemane nicht einen Moment den Eindruck, es mit einem Mann seiner Art zu tun zu haben. Womit dann? Doch mit einem Schutzgeist? War dies nichts anderes als die ersehnte Vision, die zu erreichen er sich so gequält hatte? Etwas machte sich an dem Futteral, das vor Makootemanes Brust baumelte, zu schaffen. »Was ist das?« Der Arapaho spürte, wie sich sein Innerstes zusammenzog. Dennoch antwortete er bereitwillig. »Meine Nabelschnur.« Die nächsten Worte des wie von einer Aura umgebenen Gesichts klangen amüsiert. »Kannst du mir etwas über das Gefühl sagen, von
einer Mutter geboren zu werden?« Makootemane lauschte der Frage nach, ohne ihren Sinn zu begreifen. »Nein …« »Warum also wird ein solches Aufhebens um die Geburt gemacht? Ihr verwahrt das Band, das euch von eurer Mutter nährte, wie eine Trophäe. Warum? – Ihr wißt es selbst nicht. Was für ein törichtes Brauchtum …« Der Arapaho war nun sicher, es mit keiner Vision zu tun zu haben – mit keinem Geist, der ihn in den Kriegerstand versetzen würde. Etwas Unbekanntes, Feindliches hatte ihn hier auf dem Berggipfel aufgespürt! Erneut versuchte er, auf die Beine zu kommen. Vergeblich. Ihm war, als drückte ihn zu seiner eigenen Schwäche noch etwas Unsichtbares nieder. Dieselbe Kraft zerrte kurz darauf an dem Riemen, der den Hirschlederbeutel hielt. »Nein …!« »Was willst du mit einer vertrockneten Nabelschnur?« lästerte die Erscheinung. »Ich habe etwas soviel Besseres für dich. Ich werde dich zu einem großen Krieger machen – dem größten, den dein Stamm je hervorbrachte!« Makootemane fühlte sich hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen. Niemand hatte ihm erklärt, wie seine Vision beschaffen sein würde. Möglicherweise entsprach sein Erlebnis doch dem, worauf er gewartet und sich vorbereitet hatte. Daß es von einer unaussprechlichen Angst begleitet wurde, bedrückte Makootemane jedoch, und eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihm breit. »Du schweigst?« »Ich weiß nicht, was ich … erwidern soll …« Leises Lachen klang auf. Selbstbewußter und überheblicher als alles, was der junge Arapaho je gehört hatte. »Es wird dir einfallen – nach unserer Begegnung. Und nun …«
Die Nacht um Makootemane verwandelte sich. Die Augen seiner Ahnen erloschen – oder wurden von etwas Undurchdringlichem verhüllt. Der Arapaho spürte, wie sich sein Rückgrat ohne sein Zutun begradigte. Wie er sich aufrecht hinsetzte und sein Sträuben gegen das, was geschah, einstellte. Das umgebende Dunkel hatte sich blutrot verfärbt. »Trink«, sagte die Stimme. Und im selben Augenblick spürte Makootemane, wie etwas gegen seine Lippen stieß. Etwas von solcher Kälte, daß seine Haut daran kleben blieb. Dann griffen Finger in seinen Haarschopf und bogen ihm den Kopf zurück. Er ließ es geschehen. Bebend. Etwas quoll über seine Lippen, schwer und wie von eigenem Leben erfüllt. Es hielt sich nicht in seinem Munde auf, sondern suchte und fand den direkten Weg in seine Kehle und hinab in sein Gedärm. Wo es gräßlich wütete, ihn geißelte und … sein Leben beendete.
* »Arapaho ana obahema haa ipai degi o ba ika …« (»O Sonne, du bist ewig, aber wir Arapaho müssen sterben …«) Als er zu sich kam, war es heller Tag. Die kupferfarbene Sonnenscheibe stand einen Handbreit über dem fernen Horizont und wärmte das Land. Wärmte Makootemane, der sich so gerädert fühlte, als hätten ihn die Mandan erwischt und ihrem o-kee-pa-Folterritual unterzogen. »Invnaina«, murmelte er, weil er sich in seines Vaters Nähe wünschte, bevor er gänzlich erwachte.
Er erschrak. Gedanken huschten wie böse Geister durch seinen Schädel. Vor ihm lag die zerbrochene Lanze, und etwas weiter weg das kunstvoll verzierte Nabelschnurfutteral, das seine Mutter ihm geschenkt hatte. Neben farbigen Schnüren hingen auch Metallstücke daran, die in der Sonne glitzerten. Makootemane widerstand dem ersten Impuls, es aufzuheben. Er kam auf die Beine und wunderte sich über die Sicherheit, mit der er seine Bewegungen ausführte. Von Schwäche keine Spur. Und auch keine Spur von dem, was ihn in der Nacht heimgesucht hatte, so daß der Arapaho immer überzeugter wurde, es mit einer mächtigen Vision zu tun gehabt zu haben und nicht mit Dingen, die man mit seinen Händen greifen konnte. Den Hirschlederbeutel hatte er sich wohl im Rausch selbst von der Brust gerissen, die Lanze im Delirium selbst zerbrochen, und es war keine Frage, daß er die Gnade der Weihe empfangen hatte. Er fühlte sich stark und unbezwingbar, durchströmt von einer dunklen Kraft, die ihn drängte, den Heiligen Berg so schnell wie möglich zu verlassen und in sein Dorf zurückzukehren. Sein Traum vom Tod war der Höhepunkt einer Prüfung gewesen, die zu durchschauen sein Geist zu klein war, die er aber ganz offenbar bestanden hatte. Makootemane verließ den Berg. Gegen Mittag erreichte er den Hain, in dem sein Stamm die Zelte aufgeschlagen hatte. Und forderte Invnaina zum Zweikampf.
* »Die Einsamkeit und die Prüfungen des Großen Geistes haben ihn um den Verstand gebracht«, sagte Invnaina mit tieftrauriger Stimme. »Ruft den Medizinmann. Er möge sich um meinen Sohn kümmern!«
Makootemane sah seine Mutter hinter dem Häuptling im Eingang des Zeltes stehen. Ihr Mund war geschlossen und zuckte. Sie sprach kein Wort. Nach einer Weile richtete sie die Augen zu Boden, als könnte sie Makootemanes Anblick nicht länger ertragen. Er war überrascht, wie wenig es ihn schmerzte. Was wirklich wehtat, war in ihm. Überall. Er hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zerrissen zu werden – und doch kam kein Klagelaut über seine Lippen. Er war umringt von Stammesangehörigen. Jung und alt, Männer und Frauen begafften den Heimkehrer. Auch Sakanatate, der ihn den Berg hinauf begleitet und verspottet hatte, war darunter. Makootemane begegnete den Augen des Kriegers mit einer Unerschütterlichkeit, daß es den Älteren in Staunen versetzte. Vielleicht begriff Sakanatate als erster, daß Makootemanes Geist nicht zerrüttet war, sondern klar wie nie. Schweigend sah der Junge zu, wie sich der Schamane näherte. Die Angst stand in Quanaks Gesicht geschrieben. Wohl nicht zu Unrecht fürchtete er, für Makootemanes Zustand zur Verantwortung gezogen zu werden – falls es ihm nicht gelang, den angegriffenen Verstand des Jungen wieder zu heilen. »Folge mir in mein Zelt«, sagte der Medizinmann, der auch Zeremonienpriester und Wahrsager des Stammes war, mit rauchiger Stimme. »Ich werde dir die Besessenheit austreiben und deine Spiritualität erneuern. Komm.« Makootemane wartete, bis Quanak genau vor ihm stand. Der Mann, der den Umgang mit den Geistern der Natur pflegte, war nur einen Kopf größer als der Heimkehrer und verfügte selbst über keinerlei übernatürliche Kräfte. Er vermochte die anderen Arapaho jedoch während der Stammesriten zu führen und verstand sich überdies in der Deutung von Omen, so daß er Wetter vorhersagen und verirrte Tiere aufspüren konnte. Außerdem war er ein Heilkundiger mit einem gewaltigen überlieferten Schatz an Erfahrungen. Er wußte mit getrockneten Fingern, Hirschwedeln, Kräutern, Wurzelpul-
vern, Trommeln und Rasseln umzugehen. Als Quanak die Hand nach ihm ausstreckte, grinste Makootemane ihn stumm an. In derselben Sekunde riß der Medizinmann seinen Dolch aus dem Gürtel und rammte ihn sich durch die Kehle – so tief, daß er auf der anderen Seite wieder heraustrat. Während die Umstehenden tief und hörbar nach Luft rangen, starrte Quanak nur ungläubig auf die eigene Hand, die ihn getötet hatte. Er kippte lautlos nach hinten in den Staub, der sich gleich darauf unter ihm rot färbte. Gleichzeitig, vom Geruch des Blutes aufgepeitscht, brüllte Makootemane: »Ich werde diesen Stamm führen, Vater! Deine Vision ist zu schwach, um uns eine Zukunft zu geben. Meine ist gewaltig – sie wird die Arapaho ewig leben lassen wie die Sonne …!« Quanak zuckte immer noch. Aber es waren bloße Reflexe, keine wirklichen Äußerungen mehr von Leben. Leben … Makootemane schloß kurz die Augen und sog den Atem ein. Mit Wucht überkam ihn die Erinnerung, wie er in der zurückliegenden Nacht gestorben und wiederauferstanden war. In diesem Augenblick wußte er, daß er nicht alles nur im Delirium erlebt hatte. Er fühlte die gewonnene Macht und Stärke mit gleicher Heftigkeit wie den ziehenden Schmerz in den Gliedern, der ihm verriet, wie sehr sein Geist es satt hatte, im Körper eines Neunjährigen eingesperrt zu sein …
* Die Adler kreisten hoch über dem Lager und stießen schrille Schreie aus, als Invnaina seinem Sohn entgegentrat. Nicht um sich zum Kampf zu stellen, sondern um ihn persönlich zur Vernunft zu bringen.
Ein paar kleine Kinder, die abseits mit ihren haargefüllten Kalbslederbällen Shinny gespielt hatten, stellten ihr ausgelassenes Treiben nun ein, als spürten auch sie die Außergewöhnlichkeit dessen, was sich vor dem Häuptlingszelt ereignete, ohne daß sie von Quanaks Tod bislang etwas mitbekommen hatten. Die größeren, die Jungkrieger und heiratsfähigen Mädchen hatten sich gleich nach Makootemanes Ankunft um ihn geschart. Wenn ein Visionssucher vom Heiligen Berg heimkehrte, war dies Grund für eine ausgelassene Feier, um seine Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen zu besiegeln. Normalerweise. Der Selbstmord des Medizinmanns hatte die Versammelten regelrecht geschockt. Und auch Makootemanes Auftreten erschreckte sie. Niemand wagte es, den Häuptlingssohn nach seinem Kriegsnamen zu fragen, den er von den Geistern erhalten hatte. Unruhe breitete sich aus. In manchem Gesicht war zu lesen, daß die Arapaho die Ordnung ihrer Welt gefährdet sahen … »Der böse Geist, der in dich gefahren ist, hat Quanak vernichtet. Willst du zulassen, daß er noch mehr Opfer fordert, Sohn?« Frei von Angst stellte sich Invnaina Makootemane in den Weg. »Wer bestimmt, was gut oder böse ist, Vater?« Das Gesicht des Stammesführers wirkte wie mit Asche überzogen. »Nicht du und nicht ich – es sind die Gesetze, die unser Handeln bestimmen.« »Dann sind die Gesetze falsch«, sagte Makootemane. »Wie kannst du es wagen …?« Invnaina hob die Hand, als wollte er seinen Sohn schlagen, aber das kalte Lächeln des Jungen ließ ihn stocken. »Was ist dort oben –«, der Häuptling reckte den Arm in Richtung des Heiligen Bergs, an dem die Horste ihrer Totemtiere klebten, »– geschehen? Was ist dir erschienen und hat dir diesen Frevel eingeflüstert?«
»Das wirst du nie erfahren, Vater.« »Warum nicht?« »Weil dir nicht bestimmt ist, mit mir in die Zukunft zu wandern. Du bist zu alt und zu schwach. Nur die Stärksten des Stammes werden mich begleiten!« »Du bist krank. Komm zu dir! Ich werde einen Boten zum Häuptling der Cheyenne entsenden und die Hilfe eines Heilkundigen erbitten. Wir werden …« »Sieh mich an, Vater!« unterbrach ihn Makootemane. »Ich sehe dich bereits die ganze Zeit«, erwiderte Invnaina nun hörbar unwirsch. Die Adlerfedern in seinem Haarschmuck symbolisierten viele Kämpfe, die er siegreich bestritten hatte. Er war ein großer Krieger gewesen. Nun war seine Zeit um. »Nein. Du siehst nicht, wie ich wirklich bin. Wie ich geworden bin. Ich gebe dir ein letztes Mal die Chance, die Waffen zu wählen. Stell dich dem Zweikampf – oder ich töte dich mit meinen bloßen Händen, wie du hier vor mir stehst!« Das Seltsame war, daß Invnaina ihn nur anzusehen brauchte, um die Gewißheit zu erlangen, daß Makootemane keine leeren Worte machte. »Was ist dort oben auf dem Berg geschehen?« versuchte er es trotzdem noch einmal. »Du willst es wirklich wissen?« »Ja!« Makootemane lächelte bizarr. »Ich ging dir voraus – mit einem Unterschied.« »Du gingst voraus?« »Ich starb«, erklärte Makootemane seelenruhig. Seines Vaters Augen füllten sich mit Dunkelheit. »Und der Unterschied?« fragte er. »Mein Tod war nicht von Dauer. Er war der Anfang – nicht das
Ende …« Und mit diesen Worten verwandelte sich Makootemane in das blutrünstigste aller Totemtiere.
* Die Fassungslosigkeit lähmte nicht nur Invnaina. Aber er bezahlte den Bann des Zaubers, der sich vor seinen Augen abspielte, mit dem Leben. Makootemanes Konturen zerflossen. Er schüttelte das Menschsein ab wie eine Illusion, und aus der verblassenden Gestalt heraus stob etwas wesentlich Kleineres, aber Unerbittliches auf den Häuptling der Arapaho zu. Eine Fledermaus! Zumindest etwas, das diesem Bewohner dunkler Höhlen sehr ähnelte. Der erste Biß der scharfen Zähne fand gleich die Schlagader an Invnainas Hals. Der Häuptling taumelte rückwärts. Seine hochgerissenen Hände bekamen die ledrigen Hautflügel zu fassen, packten zu und versuchten das Tier, in das Makootemane sich verwandelt hatte, abzuwehren, von sich zu schleudern. Invnainas Entschlossenheit, nachdem er seine Starre überwunden hatte, verschuldete auch seinen schnellen Tod. Das geflügelte Tier hatte sich so tief in seiner Adern verbissen, daß sie – als Invnaina es von sich schleuderte – regelrecht zerfetzt wurden. Tödlich verheert … Invnaina riß die Augen auf und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er röchelte, und seine Stimme ertrank gurgelnd im Blut, das seine Kehle füllte. Makootemane fand sich am Boden, wohin ihn die Abwehr seines Vaters geschleudert hatte, wieder. Die Zeugen seiner Metamorphose gerieten in hellen Aufruhr. Sakanatates Stimme verhinderte das to-
tale Chaos, indem er wortgewaltig zu den Waffen rief. Kurz darauf zischten erste Pfeile durch die Luft. Einer davon durchbohrte Makootemanes Schwinge und veranlaßte ihn, wieder in seine eigentliche Erscheinungsform zurückzufallen. Als er sich aufrichtete, packte er den Pfeil, der seinen linken Oberarm durchbohrte, und zerrte ihn wie etwas durch und durch Lästiges, aber nicht im mindesten Bedrohliches aus seinem Fleisch. Das Blut, das aus der Wunde schoß, ehe sie sich narbenfrei schloß, war von einer Farbe, die seine Stammesangehörigen in die nächste Irritation stürzte: leuchtend schwarz. Als Sakanatate erneut Pfeil und Bogen auf ihn richtete, fiel ein aus der Sonne kommender Schatten über ihn. Singend löste sich der Schuß von der Sehne. Und verfehlte das Ziel. Im nächsten Moment peitschte Gefieder um den Kopf des Kriegers, und die Krallen des Adlers bohrten sich in seine Schulter. Sakanatate schrie auf. Ein neben ihm stehender Arapaho wollte Makootemanes Verbündetem mit der Streitaxt den Garaus machen. Doch der Adler hob einen Sekundenbruchteil vor der heranfauchenden Klinge ab und schwang sich wieder hoch in die Lüfte, so daß nicht er, sondern Sakanatate unterhalb des linken Ohres getroffen wurde und wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Hinein in das Klagen der Weiber und die kehligen Drohungen der Krieger schnitt ein gellender Pfiff, mit dem Makootemane nach seinem Adler rief. Nach dem gefiederten Freund, den der Häuptlingssohn, damals noch nicht flügge (sie beide nicht), aus einem Horst gestohlen und großgezogen hatte. Die Adler waren die Totemtiere des Stammes. Sie wurden seit Urzeiten verehrt. Man brachte ihnen Opfergaben, weil man überzeugt war, daß die Seelen der besten Krieger in ihnen wiedergeboren wurden. Es gab nicht wenige, die in diesen Augenblicken zweifelten, ob tatsächlich Makootemane vom Berg zu ihnen herabgestiegen war.
Die Mythen kannten vielerlei Dämonen, die einen Stamm heimsuchen und ins Verderben reißen konnten. Den schrecklichsten Versucher nannte derjenige beim Namen, der in diesem Moment hinter Makootemanes Mutter aus dem Zelt herauswankte. »Feuer!«, krächzte der uralte Mann, der mehr gesehen hatte als die meisten der Arapaho. »Rückt ihm mit Feuer zu Leibe! Das kann nicht mein Enkel sein. Es ist ein gemeiner Trickster. Die Flammen werden ihm die Maske vom Gesicht zerren! Zögert nicht, sonst sind wir alle verloren …!«
* Makootemane brachte auch den Vater seines Vaters, den er in seinem vorherigen Leben geliebt und respektiert hatte, zum Schweigen. Vergangenes zählte nun nicht mehr. Als er von den gebrochenen Augen des zweibeinigen Kadavers aufblickte, brandete ihm ein Welle des Hasses entgegen. Fast noch gewaltiger, noch unversöhnlicher als beim Tod des Stammesführers. Erste Fackeln und Brandpfeile wurden am nie verlöschenden Feuer des Dorfzentrums entzündet. Dort, wo die hölzernen Totems wachten. Auch sie hatten das Unheil nicht verhindern können. Aber zweifellos hatte man sich die Warnung des weisen Mannes zu Herzen genommen. Feuer. Feuer gegen den Trickster, der sich in Gestalt Makootemanes in ihre Mitte geschlichen hatte! Ein Dämon vom Anfang der Welt. Wenn ihr wüßtet, dachte der blutgetaufte Jüngling, der seine Vision dort oben auf dem Heiligen Berg gefunden hatte. Eine andere als je ein Arapaho vor ihm.
Er war kein Trickster. Er war etwas völlig Neues, und dieses Neue war mit Pflichten verbunden, die er kannte. Noch bevor der erste Brandpfeil die Sehne eines Bogens verlassen und sein Ziel erreichen konnte, breitete Makootemane beschwörend seine Arme aus und bannte den Stamm, dem er entsprungen war, mit stechenden Blicken voller Magie und heiser hervorgestoßenen Befehlen. Augenblicklich verstummte das Geschrei. Erlosch der Haß. Gerieten alle Furcht und aller zerstörerischer Eifer in den Herzen der Männer, Frauen und Kinder in einen Zustand vollkommener Schwebe. »Es ist gut«, sagte Makootemane mit einer Zuversicht, die ihm selbstverständlich erschien. Auch mit dem Schmerz in den Gliedern, Gelenken und Knochen hatte er sich abgefunden. Er wußte, daß diese Wachstumsschmerzen noch einige Tage, vielleicht Wochen anhalten würden. Aber dann würde der Lohn offensichtlich sein. Auch wenn ruhige Wasser ihn künftig verleugneten, so würden doch Makootemanes eigene und die Augen der anderen nie wieder den Knaben, sondern den ausgewachsenen Mann, Krieger und Stammesführer erblicken! Dort oben auf dem Heiligen Berg der Ahnen war etwas in Gang gesetzt worden. Etwas Unvergleichliches, das den Stamm vom heutigen Tag an spalten würde. »Die Kinder sollen zu mir kommen«, sagte Makootemane, und seine immer noch ausgebreiteten Arme erweckten nun den Anschein, als wollte er die Jüngsten des Stammes unter seine Fittiche nehmen. Gehorsam traten sie auf ihn zu. Es waren dreizehn. Die Kleinsten, die noch nicht selbst laufen, höchstens krabbeln konnten und zum Teil noch in Wiegenbrettern steckten oder von ihren Müttern in um die Hüften geschlungenen Tüchern getragen wurden, zählte Makootemane nicht mit.
Zumindest für die bevorstehende Zeremonie hatten sie keine Bedeutung. Wohl aber für die Zukunft des zweigeteilten ArapahoStammes. Die einen sollten die anderen in Zukunft nähren. Mit dem kostbaren Wasser, das in ihren Adern floß …
* GEGENWART Als Lilith aus unruhigem Schlaf erwachte, glaubte sie immer noch angestarrt zu werden – von Augen, die nicht die eines Menschen waren, sondern in einem Widderschädel saßen. Angestarrt von einem Gemälde! Dabei hatte sie das Bild nur kurz betrachtet, vor wenigen Tagen im Atelier der jungen Malerin Jennifer Sebree in Salem’s Lot.* Dort war sie einem Vampir begegnet und hatte ihn im Kampf bezwungen. Aber trotz des Sieges … hatte sie das seltsame Gefühl gehabt, daß dieser Triumph nichts war gegen eine Schlacht, die sie in Wirklichkeit verloren hatte. Erst viel später, als die Träume kamen, erkannte Lilith Eden die Wahrheit hinter diesem ungewissen Gefühl. Es war das Bild gewesen! Darauf zu sehen waren die junge Künstlerin selbst – und eben jenes unheimliche Zwitterwesen: der muskulöse, hochgewachsene Mensch mit dem Kopf eines Widders. Schon damals war Lilith das Bild seltsam … lebendig vorgekommen, aber sie hatte das irreale Gefühl den Nachwehen des gerade mit letzter Kraft geführten Kampfes zugeschrieben. Als sie sich dessen bewußt wurde, war es bereits zu spät gewesen. Sie hätte das Bild zerstören können.
*siehe VAMPIRA T05: »Para-Träume«
Doch als sie zurückgekehrt war, hatte es nicht mehr an seinem Platz gestanden. Auch ihre weitere Suche war ergebnislos verlaufen: Es schien fast so, als hätte das Gemälde nie existiert. Daß es nicht so war, erlebte Lilith seitdem immer wieder im Schlaf. Wenn sie die Augen des Widderköpfigen auf sich fühlte; seinen animalisch-menschlichen Blick, der ihr Innerstes verheerte und gleichzeitig Gelüste in ihr weckte, die sie angesichts seiner Gestalt ekelten. Ein Blick, der trotz allem … unschuldig war wie der eines Kindes. Es klang verrückt, und sie hätte es auch nicht begründen können. Aber wer konnte schon Träume erklären? Lilith schüttelte die beklemmenden Gedanken ab und erhob sich von ihrem Lager. Sie fühlte sich benommen, so als hätte sie Schwierigkeiten, die letzten Schleier des Schlafes abzustreifen und vollends in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie hatte hier am Highway 95, wenige Meilen hinter dem Städtchen Clinton, in einem Motel Zwischenstation eingelegt. Sie wollte nach Bangor. Schon kurz nach Verlassen von Salem’s Lot hatte sie Zeitungsberichten entnommen, wie es dort, in der Hauptstadt von Maine, zuging. Daß es auch dort geschehen war. Daß die ›Strafe Gottes‹ auch in Bangor gewütet hatte! Die Berichte über Menschen, die brutal getötet und verstümmelt, zumindest aber vermißt wurden, häuften sich in der Berichterstattung der lokalen Presse so erschreckend, daß es für Lilith nur diese eine Erklärung gab: Die in Bangor ansässige Vampirsippe war von ihrem Oberhaupt mit dem Tod infiziert worden. Und nun aasten die Betroffenen mit dem Blut der Stadtbewohner – weil sie noch nicht begriffen hatten oder es nicht begreifen wollten, daß nichts mehr sie retten konnte. Sie würden ihre Taten büßen.
Nur einer nicht. Und diesen einen, ihren Anführer, mußte Lilith finden und ausschalten. Es war keine Frage des Wollens – es war ihre von Gott auferlegte Pflicht. Und eine Notwendigkeit, um selbst weiterleben zu können. Denn sie brauchte das Blut des Anführers, um es zu trinken und nicht selbst an Schwäche zugrunde zu gehen. Auch sie war kein Mensch. Das Tattoo in ihrer linken Hand gemahnte sie täglich daran. Die stilisierte Fledermaus, die wie eine Tätowierung aussah, aber keine war. Es war ein Stigma, das erst dann völlig verblassen und verschwinden würde, wenn es Lilith eines Tages gelungen war, die Welt auch vom letzten Vampir zu befreien! Seit den Ereignissen am Anfang der Zeit und der Versöhnung der Ur-Lilith mit Gott hatte Lilith dem Menschenblut, das sie bis dahin zum Überleben brauchte, abgeschworen. Unfreiwillig, denn es nährte sie seither einfach nicht mehr – und im Grunde war sie damit in einer ähnlich prekären Lage wie das Gros der reinblütigen Vampire. Der ausschlaggebende Unterschied bestand jedoch darin, daß Gott bei ihr die Farbe des Blutes, das sie nährte, nur vertauscht hatte. Er hatte sie in die Abhängigkeit eines Stoffes gebracht, der sie im Innersten anwiderte: Das Blut ihrer Feinde. Vampirblut! Lilith blinzelte in die Helligkeit des noch frühen Tages. Draußen war die Sonne bereits aufgegangen. Ihre goldenen Strahlen trafen fast waagerecht auf die Jalousien der Fenster und malten dunkle Streifen an die gegenüberliegende Wand. Staub tanzte im zerteilten Licht. Lilith reckte sich, gähnte und schluckte mehrmals, um den Geschmack nach altem Leder loszuwerden, der in ihrem Mund war. Nicht, daß es etwas genutzt hätte … Ihre Glieder waren so schwer und träge wie ihre Gedanken. Sie
trat an das kleine Waschbecken des Motelzimmers und schaufelte sich kühles Naß ins Gesicht. Aber auch das half nicht, den letzten, hartnäckigen Rest von Müdigkeit loszuwerden. Vielleicht würde etwas frische Luft helfen … Lilith wandte sich zur Tür und gab dem Symbionten, der sich als breiter Gürtel um ihre Taille gelegt hatte, sie in eine Jeans und einen Rollkragenpullover zu kleiden. Er reagierte nicht. Verblüfft blieb Lilith stehen und wiederholte den Befehl. Nichts. Keine Reaktion der nachtschwarzen, gestaltwandlerischen Masse, die ihr als Kleidung und Schutz diente. Er behielt die Form des Gürtels bei. Irgend etwas stimmte hier nicht! Der Gedanke brannte sich wie mit Feuer in Liliths Hirn. Erst dieser Traum. Dann das nicht weichen wollende Gefühl der Schläfrigkeit. Und nun das Versagen des Symbionten – oder zumindest ihrer geistigen Verbindung zu ihm. Was war hier los? Nur mit dem Gürtel bekleidet trat sie zur Tür, öffnete sie mit einem Ruck. Und erstarrte. Die Welt dort draußen hatte sich dramatisch verändert. Der Highway war verschwunden; ebenso die Motelgebäude und die kleine Tankstation. Das Land war nicht länger eine von sanften Flügeln unterbrochene Ebene, sondern zeigte herbstlich bunte Wälder und in der Ferne hochaufragende, schneebedeckte Berge – ohne ein einziges Zeichen von Zivilisation. Das Gebäude, in dem Lilith übernachtet hatte, stand nur wenige Schritte vom Rand einer Schlucht entfernt, an deren Grund das silberne Band eines gewundenen Flusses das Sonnenlicht reflektierte. Fassungslos, aber auf seltsam unechte Weise nicht wirklich erschrocken trat Lilith Eden ins Freie.
Obwohl das verdorrte Laub auf dem Boden die frühwinterliche Jahreszeit wies, verspürte sie keinerlei Kälte. Dabei war der Wind, der über ihren nackten Körper strich, fühlbar kühl. Doch es war, als würde die Empfindung die Nerven unter ihrer Haut nicht erreichen. Lilith sah sich um – und erschrak nun doch. Aber nur, weil der Anblick so unerwartet kam und noch bizarrer war als alles bisher. Das Haus hinter ihr war verschwunden! An seiner Stelle erhob sich eine schroffe Felswand. Lilith trat an sie heran und strich mit den Händen über den Stein. Er war fest und real, kein Trugbild. Was zum Teufel ging hier vor? Die Frage blieb unbeantwortet. Es gab absolut keinen Hinweis, kein greifbares Objekt und keine Person, die Lilith hätten helfen können, dieses Rätsel zu ergründen. Ihr blieb also nichts übrig, als die Stelle zu verlassen, an der sie in diese andere Welt (oder Wirklichkeit?) getreten war, und anderenorts nach einer Lösung zu suchen. Noch einmal versuchte sie, das Mimikrykleid nach ihrem Willen umzuformen. Abermals reagiert es nicht. Die Felsgalerie, auf der sie sich befand, verlief gute fünfzehn Schritt breit in sanfter Biegung um den Berg herum. Lilith folgte ihr in östlicher Richtung, wo die Sonne langsam höher stieg und das Land in all seiner wilden, ursprünglichen Schönheit mit Leben erfüllte. Das einzige Leben, dem Lilith begegnete, waren ein paar Mäuse, die in den Büschen dicht an der Felswand raschelten und Reißaus nahmen, als sie sich ihnen näherte, und einige Vögel am Himmel. Sie kletterte über einen umgestürzten Baumstamm, dessen Wurzeln in der dünnen Erdschicht am Berg nicht genügend Halt gefunden hatten, überwand einen Felsbruch, der sie gefährlich nahe an den Abgrund brachte, und gelangte endlich auf sicheres Terrain. Vor ihr lag nun eine kleine Hochebene, nur etwa eine Meile breit, eine halbe tief und an drei Seiten von steil aufragendem Fels umge-
ben. Lilith blieb wie angewurzelt stehen, als sie die erste Spur von Zivilisation erblickte: Noch in den Schatten der mächtigen Steilwände gelegen, duckte sich eine einfache Holzhütte unter verkrüppelten Tannen. Aus ihrem gemauerten Kamin stieg eine dünne Rauchfahne fast lotrecht in die würzige Morgenluft. Lilith atmete unwillkürlich auf. Noch wußte sie nicht, wer diese Hütte bewohnte und ob er ihr freundlich oder feindlich gesinnt war. Entscheidend aber war, daß sie hier endlich Antworten erhalten würde. Zumindest auf die Frage, wo sie sich befand. Sie beschloß, nicht alle Vorsicht aufzugeben. Im Sichtschutz einiger Felsbrocken und niedriger Sträucher schlich sie näher an das Gebäude heran. Sie war noch etwa zwanzig Meter davon entfernt, als die Tür mit einem leisen Knarren aufschwang. Hastig tauchte Lilith in die Deckung eines dornigen Gesträuchs. Dabei schrammte ein Zweig an ihrem linken Arm entlang und hinterließ eine lange blutige Kratzspur, aus der dunkelrotes Blut quoll. Daß Lilith in dieser Situation der Verletzung überhaupt Aufmerksamkeit schenkte, lag daran, daß sie nicht schmerzte! Es tat nicht weh! Kein bißchen! Als würden, wie bei der ausbleibenden Kälte, ihre Nerven den Kratzer gar nicht registrieren. Lilith blieb keine Zeit, länger über das Phänomen nachzudenken. Aus den Schatten unter der Türöffnung trat eine Gestalt ins Freie. Es war … der Widderköpfige! Lilith stockte der Atem, als das unheimliche Zwitterwesen sich umsah – und sein Blick dabei genau in ihrer Richtung für mehrere Sekunden verharrte. Als wüßte er, daß sie hier war! Der Widderköpfige! Die Gestalt aus ihren Träumen! War also das alles hier … auch nur ein Traum? Lilith schüttelte unbewußt den Kopf. Kein Traumgespinst konnte
derart real erscheinen! Andererseits – es wäre eine Erklärung für ihre anhaltende Benommenheit, ihre Schmerzunempfindlichkeit, das Versagen des Symbionten und nicht zuletzt für ihr Erwachen in dieser unbekannten Landschaft. Doch selbst wenn es ein Traum war, so wurde er, dessen war Lilith sich sicher, von ihm bestimmt, von der Gestalt mit dem Widderkopf. Solange sie nicht wußte, wessen er fähig war, mußte sie auf der Hut sein. Vielleicht war genug Wirklichkeit in dieser Vision, daß er sie töten konnte? Die Gestalt war dicht an den Abgrund herangetreten und dort stehengeblieben. Ihr Blick wanderte über die Täler und Berge. Der eindrucksvolle Körper und die stolze Haltung faszinierten Lilith gegen ihren Willen. Wieder mußte sie an die Empfindungen denken, die sie in den vorangegangenen Träumen überkommen hatten. Das animalische Verlangen nach seiner Stärke, seinem muskulösen Leib. Eine zweite Gestalt löste sich, aus den Schatten der Hütte und lenkte Liliths Aufmerksamkeit auf sich. Es war Jennifer Sebree! Die Malerin aus Salem’s Lot. Und erst jetzt wurde Lilith bewußt, daß sie diese Umgebung schon einmal gesehen hatte. Der Winkel war von ihrem Standort aus falsch, aber die Berge in der Ferne waren exakt die von Jennifers Bild – dem Bild, das spurlos aus ihrem Atelier verschwunden war! Und nun fügte sich auch das letzte Bildelement zusammen: Jennifer hatte den Widderköpfigen erreicht und lehnte sich an seine Seite. Genau so, wie sie beide auf dem Gemälde zu sehen waren. In diesem Moment geschah etwas, das Liliths bisherige Erlebnisse seit ihrem Erwachen – wenn es denn eines war – noch übertraf. Dabei kannte sie das Gefühl. Sie hatte es immer dann erlebt, wenn sie ihr Tattoo, die ›tätowierte‹ Fledermaus auf ihrer linken Handfläche, losgeschickt hatte. Sobald es sich von ihrer Haut löste, waren ihrer beider Blicke zu einem verschmolzen; Lilith hatte gleichzeitig durch ihre eigenen Augen wie durch die der Fledermaus gesehen.
Seit das Tattoo eine andere Bedeutung erhalten hatte, war dieses Gefühl nur noch Erinnerung. Jetzt erlebte sie es wieder! Mit einem Male stand sie anstelle von Jennifer Sebree neben dem Widderköpfigen! Und doch blieb es weiterhin Jennifers Körper. Lilith konnte auf einer geistigen Ebene fühlen, wie der Geist der jungen Künstlerin von dem ihren verdrängt wurde, so daß beinahe alles, was die Person Jennifer Sebree ausmachte, einzuschlafen schien. Lilith wußte nicht, ob der Widderköpfige, dessen Nähe sie mit einem Male so intensiv wahrnahm, daß es ihren Geist gleichzeitig in einen Eisblock hüllte und in kochende Lava tauchte, von ihrer Anwesenheit wußte. Aber seine Worte, die er nun sprach, schienen nicht an Jennifer Sebree gerichtet. Irgendwo glaubte Lilith den Satz auch schon gelesen zu haben; vor langer Zeit und in einem sehr alten Buch. Er kam ihr bekannt vor – und war doch so fremd, daß sie nicht wußte, was er bedeuten mochte. »Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest«, sagte der Mann mit dem Widderkopf. Und etwas in Lilith reagierte. Etwas in ihrem Geist zog sich zurück, zu Tode erschrocken und in heilloser Panik. Ein Ruck ging durch ihren Körper, als sie ins Bodenlose zu stürzen glaubte. Dunkelheit kam über sie … … um im nächsten Moment in Licht zu explodieren, als sie die Augen aufriß – und an eine schmutzig weiße Decke starrte. Die Decke des Motelzimmers, in dem sie sich gestern Nacht schlafen gelegt hatte! Mit einem Sprung war Lilith aus dem Bett und bei der Tür. Sie riß sie auf – und dahinter lagen der Highway 95 und die Motelgebäude. Keine herbstliche Berglandschaft. Ein Traum? Nein, trotz allem war es kein Traum gewesen. Eher … eine andere
Wirklichkeit. Die Wirklichkeit eines Gemäldes. Eine Welt aus Farbe, von Pinselstrichen gezogen – und doch Realität … Zögerlich wanderte Liliths Blick zu ihrem Arm, als sie plötzlich Schmerz fühlte. Und die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Quer über ihre Haut zog sich ein blutiger Kratzer – der sich im nächsten Moment dank ihrer vampirischen Selbstheilungskräfte wieder schloß. Nicht einmal Schorf blieb zurück. Lilith zitterte am ganzen Körper, als sie hastig ihre wenigen Habseligkeiten zusammensuchte und das Motel fluchtartig verließ. Dabei war ihr klar, daß es kein Entkommen gab. Und daß der Widderköpfige sie wiederfinden konnte. Überall und zu jeder Zeit …
* Sie kamen nicht! New Jerichos Vampire ließen Nona schmoren. Zwei geschlagene Stunden wartete sie neben Philip Acre, dessen Hals sie weniger mit roher Kraft als mit dem Geschick ihrer Händen gebrochen hatte – so wie es ihr einst von Landru beigebracht worden war. Längst hatte ein zersetzender Prozeß begonnen, der die Leiche wie ein unsichtbares Säurebad zerfraß. Für Nona kein Problem, wenngleich sie sich eine galantere Gesellschaft hätte vorstellen können als die einer Dienerkreatur, die zeitlupenhaft neben ihr zerfiel – die vom selben mächtigen Zauber zu Asche verbrannt wurde, der den Arapaho-Nachfahren zuvor aus dem Totenstand gehoben hatte. Der Keim. Die magische Signatur der Vampire! Aber warum reagierte niemand auf die zerstörerische Entfaltung
der darin fixierten Magie und den ausgelösten Todesimpuls, der ein sicherer Wegweiser für jeden Vampir war? Auch wenn Nona mit geringer Hoffnung und bescheidenen Erwartungen nach New Jericho gekommen war, enttäuschte sie die tatsächlich angetroffene Situation doch außerordentlich. Zumal sie nicht einmal vage die Nähe einer ›verwandten‹ Seele fühlte … Sehnsüchtig trat sie ans Fenster, schob es nach oben und streckte den Kopf in die kalte Rauhreifnacht hinaus. Still und seltsam entrückt schmiegte sich die winterliche Stadt an den Berg, auf dessen Gipfel Landru sie damals hatte zusehen lassen, wie er einem entkräfteten Indianerjungen das Blut eines Hüters aus dem Lilienkelch eingeflößt hatte. Sein eigenes Blut. Es war nicht der einzige Stamm gewesen, den sie in mystischer Zeit besucht und einer neuen Bestimmung zugeführt hatten, um auch in diesem Land das Vampirgeschlecht zu etablieren. Nach diesen Zeiten sehnte sich Nona manches Mal zurück. Die Welt war damals geheimnisumwobener und größer gewesen. Einfach spannender. So vieles war erst noch zu entdecken gewesen – und auch die Bereitschaft der Menschen, dem Unerklärlichen und Unbekannten in ihrem Leben den gebührenden Platz einzuräumen, hatte den Alltag vergangener Jahrhunderte durchaus inspiriert … Sie schloß die Augen. Fühler ihres Geistes tasteten nach dem unsichtbaren Mond, mit dem sie seit ihrer Geburt in absonderlicher Weise verflochten war. Ruckartig wandte sie sich vom offenen Fenster ab. Der rauschhafte Sex, den sie mit Philip zelebriert hatte, schwang nur noch beiläufig in ihrem Bewußtsein nach. Sie war entschlossen, keine weiteren Tage ungenutzt verstreichen zu lassen. Der inzwischen vollständig zu Asche zerfallene Indianer war der
gestorbene Beweis dafür, daß sich jene noch in der Nähe aufhielten, deretwegen Nona den Abstecher nach New Jericho unternommen hatte – ehe sie sich dem eigentlichen Ort ihrer Rache zuwandte. Sekundenlang verharrte sie vor dem Spiegel, in den sie schon den Arapaho hatte blicken lassen. Das Bild darin fand ihren Gefallen. Denn die lebenshungrigen Augen und sinnlichen Lippen verhüllten, was sich wirklich hinter ihnen verbarg: Eine Bestie, die keine Risiken scheute, wenn es dem Erreichen ihrer Ziele dienlich schien. Eine gnadenlose Bestie – – auf dem Kriegspfad …
* Joseph ›Dark Cloud‹ Renos Morgen begann üblicherweise mit ein paar tiefen Zügen aus der Gebetspfeife, die seit Generationen in seiner Familie weitergereicht wurde. Als dem gegenwärtig letzten männlichen Sproß gebührte Joseph das alleinige Recht, die Mischung aus Tabak und aromatischen Kräutern zu entzünden und die darin wohnenden Kobolde freizusetzen. Einen gesegneteren Auftakt für einen neuen Tag konnte er sich auch gar nicht vorstellen. Eine Leben ohne Rituale wäre kein Leben gewesen … Die Hupe von Charlys Streifenwagen riß Reno an diesem Morgen jedoch vorzeitig und ziemlich brutal aus seinen träge dahindümpelnden Gedankenflügen. Daran, daß es sich um Charly handelte, gab es nicht den mindesten Zweifel. Diese Hupe, die sich anhörte wie eine in einer Stampede durchgehende Rinderherde, war unverwechselbar und einmalig im Ort. Fluchend stellte Reno die kunstvoll bemalte Pfeife in den eigens dafür geschnitzten Ständer zurück, wuchtete seinen drei Zentner
schweren, aus allen Uniformnähten platzenden Körper vom Boden hoch und lenkte ihn zur Tür. Draußen kam ihm Charly bereits atemlos entgegen. Seine von Natur aus rötliche Haut schien in Flammen zu stehen und leuchtete wie der düster geschwollene Kamm eines Kampfhahns. So außer sich hatte Reno seinen vergleichsweise dürren Deputy noch nie gesehen – erst recht nicht zu einer so frühen Stunde. Charly Gomes keuchte: »Ich dachte, ich fahr’ gleich bei Ihnen vorbei, Sheriff, statt anzurufen … Sind ja nur zwei Minuten vom Office bis hierher, und als der Anruf einging …« »Worum geht es, Charly? Komm endlich zur Sache!« »Eine Geiselnahme!« Gomes gestikulierte fahrig, und Reno starrte ihn an, als könnte er auch ohne die Zuhilfenahme eines obligaten Röhrchens herausfinden, wieviel sein Deputy über den Durst getrunken hatte. Wie sich herausstellte, keinen Tropfen. Und wie sich bei Erreichen des Motels weiter herausstellte, handelte es sich um weit Schlimmeres als eine Geiselnahme. Schon in der Eingangstür des schmucklosen Zweckbaus erwartete sie eine blutüberströmte Frau, die befremdlich unaufgeregt sagte: »Ich habe schon auf Sie gewartet.« »Was ist passiert? Haben Sie angerufen?« In Renos riesiger Faust wirkte die Dienstwaffe wie ein peinliches Spielzeug. »Ja«, sagte die Frau und hielt Gomes, der – ebenfalls bewaffnet – an ihr vorbei ins Gebäude rennen wollte, am Arm zurück. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Es läuft Ihnen niemand weg.« »Was soll das heißen?« Der Deputy blinzelte irritiert. »Weitere Hilfspolizisten sind bereits –« »Es besteht keine Gefahr mehr – jedenfalls kann ich Ihnen das für den Moment versprechen. Kommen Sie …« Reno und Gomes folgten der Fremden, die eine Ruhe ausstrahlte, zu der nur sehr, sehr alte – oder von bestimmten Formen der Para-
noia befallene Menschen fähig waren. Letzteres mußte hier der Fall sein. Schon im Vorraum des Motels stießen sie auf drei entkleidete und abartig zugerichtete Tote, die mit den Gesichtern nach unten auf dem zerschlissenen Bodenbelag angeordnet waren. Zwei Männer und eine Frau, die Frau in der Mitte. Aber eine Rolle schien das Geschlecht der Toten nicht zu spielen. Im Grunde dienten sie der bloßen Niederschrift einer Botschaft, die im Näherkommen unmittelbar lesbar wurde. Mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand waren Linien in ihr Fleisch geschnitten worden. Zeichen, die Joseph Reno – selbst ein leidenschaftlicher Verfechter von Ritualen – regelrecht elektrisierten. Und als er das nächstemal in die Augen der Mörderin blickte, erschien sie ihm nicht einmal mehr halb so wahnsinnig wie noch Sekunden zuvor. Die Botschaft der Toten war ein aus elf Buchstaben zusammengesetztes, über drei Leichenrücken verteiltes Wort von verstörender, tiefwurzelnder Kraft: MAKO-OTE-MANE. Und dieses Wort, dieser dreihundert Jahre alte Name zwang den Sheriff von New Jericho zu sofortigem Handeln.
* VERGANGENHEIT »Es ist ein gemeiner Trickster … Trickster … Trickster …« Die Worte des Ältesten, bevor der Dämon in Makootemanes Gestalt auch ihn vernichtet hatte, wollten Wyando nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ein Trickster war ein verdorbener, listenreicher Beherrscher der
Materie. Der Legende nach mischte er sich bevorzugt in Tiergestalt unter die Menschen, um dort Zwietracht und Gewalt zu säen. In einigen Mythen galten Trickster gar als Schöpfer dieser Welt. Daran glaubten die Arapaho nicht. Aber die Gefahr, die durch solche bösen Geister ausging, war überliefert. Entsprechend groß war der Schock für Wyando gewesen, als der Älteste seinen eigenen Enkel Makootemane bezichtigte, ein solcher Unheilsbringer zu sein. Wyando kannte den um drei Jahre älteren Makootemane, ohne daß ihn Freundschaft mit ihm verbunden hätte. Vor Tagen war der Häuptlingssohn in Begleitung eines Kriegers zum Heiligen Berg aufgebrochen, um dort auf dem Gipfel vom Jüngling zum Mann zu reifen. Was statt dessen mit ihm geschehen war, entzog sich Wyandos Begreifen. Von einem Atemzug zu anderen verwandelte sich das aufgebrachte Verhalten der Stammesmitglieder gegen den Häuptlingsmörder in bedingungslose Unterwürfigkeit! Damit schien der endgültige Beweis erbracht zu sein, daß nicht Makootemane, sondern etwas ANDERES vom Berg herabgestiegen war. Etwas unsagbar Mächtiges, gegen das anzukämpfen von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre … »Die Kinder sollen zu mir kommen!« Nach kurzem Zögern befolgte auch Wyando mit klopfendem Herzen den Befehl. Er reihte sich in die Phalanx der anderen ein und bemühte sich, seinem Blick dieselbe Starre zu verleihen, die er bei den etwa Gleichaltrigen bemerkte. Sie waren ihres Willens beraubt … … und Wyando schien aus unerklärlichen Gründen der einzige zu sein, bei dem Makootemanes Einfluß diese Wirkung nicht erzielte. Dies versetzte ihn – zu Recht – in noch größere Furcht, denn Wyando zweifelte nicht daran, daß ihn der Besessene (oder der Trickster –
oder … was auch immer sich an Schlechtem in dieser Gestalt manifestiert haben mochte) in derselben Sekunde, in der er seine Ausnahmestellung durchschaute, beseitigen würde. Wyando hatte nicht vergessen, wie Makootemane sich vor aller Augen in eine Fledermaus verwandelt hatte. Und sicherlich beschränkte sich seine Verwandlungskunst nicht allein auf dieses Beispiel … Die Schreie der über dem Lager kreisenden Adler wurden lauter und durchdringender, als Makootemane erneut das Wort an die dreizehn vor ihn getretenen Kinder richtete. Aber er übertönte den Lärm der Vögel mühelos. »Wie ich, so wurdet auch ihr dazu auserwählt«, sagte er, »die Schwäche des menschlichen Fleisches und die Grenzen des menschlichen Geistes abzuschütteln!« Wyando erschauderte vom bloßen Zuhören. »Schon in dieser Nacht«, fuhr Makootemane fort, »werdet ihr die Gnade des Kurzen Todes erfahren, der die Tür in eine höhere Existenz aufstößt! So lange kehrt zurück zu euren Familien und tut, was ihr immer tut, als stünde euch nicht die wichtigste Stunde dieses Lebens bevor … Auch diejenigen«, schloß er, »denen die Gnade nicht zuteil wird, sind nicht vergessen. Ich werde die Verwendbarkeit eines jeden prüfen …« Damit entließ der Dämonische seine Sklaven scheinbar in ihr normales Leben zurück. Aber Wyando wußte es besser. Makootemane hatte gerade unverblümt damit gedroht – auch wenn er es aus seinem Mund beschönigend wie eine Belohnung geklungen hatte – in der kommenden Nacht dreizehn Kinder, Wyando eingeschlossen, umzubringen. Und im Laufe des Tages verdichteten sich die Anzeichen, daß er diesen Vorsatz auch eiskalt ausführen würde. Er besuchte jedes einzelne Zelt. Und traf seine teuflische Auslese …
* Die Flammen des Feuers, um das sich die Täuflinge scharten, loderten noch über den höchsten Punkt des Tipi-Dorfes hinaus, und auch in Makootemanes Nacken fraß sich die Hitze wie die Säure roter Waldameisen, so nah stand er mit dem Rücken zum Scheiterhaufen, auf dem jene Stammesangehörigen verbrannten, die keine Gnade unter seinen Augen gefunden hatten. Er war von Zelt zu Zelt gegangen und hatte jene, die der Gemeinschaft nur zur Last gefallen wären, die Schwächsten also, eigenhändig nach draußen gezerrt und sie hemmungslos abgeschlachtet. Von manchen hatte er sogar das Blut verschmäht, weil es ihm gar zu ranzig und damit ungenießbar erschienen war. Wie erwartet hatte niemand versucht, ihn an seinem Tun hindern. Er hatte das ganze Dorf unter seine Knute gezwungen. Und nun war es endlich soweit. Die Nacht, die ihm der mächtige fremde Geist versprochen hatte, war angebrochen, und der Scheiterhaufen, der sein zuckendes Licht ausstreute, würde dem Hohen Zauberer den Weg zum Stamm der Arapaho durch das Dunkel leuchten. Ein Dunkel, das für Makootemane aufgehört hatte zu existieren. Für ihn war die Nacht hell wie ein sonnendurchfluteter Tag geworden, seit er in sein zweites, besseres Leben entlassen worden war. Fast schien es, als habe sich alle ihn persönlich betreffende Finsternis in ihn zurückgezogen, in seinen geheimsten Kern, von wo aus sie jetzt jene übernatürliche Kraft und Ruhe auszustrahlen, die ihn befähigte, den zweigeteilten Stamm in eine glorreiche Zukunft zu führen … Plötzlich jagte ein vierbeiniger Schemen auf Makootemane zu. Es war keiner der Hunde, die den Arapaho als Zug- oder Lastentiere dienten, sondern ein … Wolf.
Makootemanes Bann verhinderte, daß Panik unter jenen Stammesangehörigen ausbrach, die diese Stunde erleben durften. Und ehe sich in Makootemane eine klare Regung herauskristallisierte, verwandelte sich der vermeintliche silbergraue Wolf bereits vor seinen Augen in eine Menschengestalt – einen Mann, wie ihn weder Makootemane noch ein anderer seines Stammes je zuvor erblickt hatte. Bleich wie der Mond wirkte seine Haut, nicht rötlich braun, und da sich Makootemane nur verschwommen an den Geist erinnerte, der während seiner Fastenzeit zu ihm gekommenen war, schien es ihm, als stünde er diesem … Wesen zum ersten Mal gegenüber. Wissend, daß es sich um den handelte, auf den er gewartet hatte. Und die Worte des schmalgesichtigen Besuchers in den fremdartigen Kleidern bestätigten dies. »Es tut gut zu sehen, wie gehorsam und erfolgreich du meinen Anweisungen gefolgt bist«, sagte er. Seine Stimme klang ebenso fremd wie alles an ihm, und sein Blick durchstieß Makootemanes Augen, bohrte sich mühelos bis in dessen geheimen finsteren Kern, als könnte er dort lesen, was ihn wirklich interessierte. »Sind sie das?« Der Arm des Bleichen schwenkte über die versammelten Täuflinge. »Ja«, sagte Makootemane und spürte etwas, was er auf dem Heiligen Berg verloren oder überwunden zu haben glaubte. Aber sie war noch immer da, die Emotion Furcht. Es mußte nur jemand kommen, der in der Lage war, sie in ihm zu finden und zu wecken. Dem Bleichen gelang dies bereits mit einem bewußt gewählten Blick oder einem leicht veränderten Unterton in der Stimme. »Zwölf Kinder«, hörte Makootemane ihn sagen. »Mit dir wird die Sippe dreizehnköpfig sein … Keine schlecht gewählte Zahl!« Makootemane hatte ein Gefühl, als stünde er bis zum Hals in einem ihn langsam umfließenden Bach, und als würde sich ein kalter, schuppiger, ölig glatter Fisch an seinem Körper reiben.
Ihn fror. »Zwölf?« fragte er benommen und blickte zu den Mädchen und Knaben, die meisten jünger als er, die mit leeren Gesichtern den Duft der Brennenden in sich aufsogen und in diesem Zustand noch nicht zu würdigen wußten, was sie erwartete. Für Makootemane war es ein erhebendes Gefühl, sich vorzustellen, wie sie es ihm später danken würden. Aber soweit waren sie noch nicht. »Zwölf?« echote er noch einmal. »Was stimmt daran nicht?« fragte der Bleiche, der Makootemanes Vorstellungen von Hunger auf dem Gipfel des geheiligten Berges für alle Zeit betäubt, dafür aber einen bis dahin unbekannten, nie mehr verlöschenden Durst geschürt hatte. »Es müßten … dreizehn Täuflinge sein.« Makootemane zögerte, sprach dann aber weiter. »Ich hatte dreizehn ausgesucht …!« Zu seiner Verwunderung antwortete nicht der neben ihm stehende Hohe Geist, sondern eine verwegene Stimme vom Rande des Lagers – in etwa dort, von wo der ›Wolf‹ auf Makootemane zugekommen war. »Dann«, sagte diese Stimme, »hat sich einer von ihnen deiner Aura entzogen und davongemacht! Aber keine Sorge, ich werde ihn finden! Heute ist eine Nacht, in der ich jeden fände! Fangt ruhig schon ohne uns an …«
* Wyando rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben – denn es ging um sein Leben! Er wollte nicht sterben! Er wollte auch keine Stunde länger unter den Gespenstern verweilen, zu denen seine Familie und sein Stamm geworden waren! Der einzige Fluchtweg, der ihm in seiner Panik einfiel, führte ins
Stammesgebiet der Cheyenne. Cheyenne und Arapaho hielten Frieden und Freundschaft, seit sie vor vielen Wintern – damals waren die Arapaho aus dem Ursprungsgebiet des Mississippi, nahe des Superior-Sees, westwärts zum oberen Missouri umgezogen – erstmals aufeinandergetroffen waren. Der Überlieferung zufolge ›verloren die Arapaho zu jener Zeit das Korn‹, was bedeutete, daß sie den Ackerbau aufgegeben und sich, wie die Cheyenne, auf die Büffeljagd verlegt hatten. Aus Bauern waren Jäger geworden. Stolze Krieger. Und vielleicht hatte gerade ihre vielgepriesene Tapferkeit das Böse, das nun über sie hereingebrochen war, erst angelockt und herausgefordert … Wyandos Körper war in Schweiß gebadet, obwohl er nur ein ärmelloses Hemd, einen kurzen Lendenschurz und Mokassins trug. Seine einzige Bewaffnung bestand aus einem Büffelhorn, das eigentlich ein Werkzeug war, mit dem Federn geglättet wurden, bevor sie in der Pfeilherstellung Verwendung fanden. Das Ende des unterarmlangen Horns war zur besseren Griffigkeit mit Rohhautleder umwickelt worden, und Wyando hielt es krampfhaft umklammert in seiner Linken, mit der er das meiste Geschick hatte. Es war eine helle Nacht, und der junge Arapaho wußte nicht, ob er sich darüber freuen oder es verfluchen sollte, daß der Mond als volle Scheibe über Prärie, Wald und Bergkuppen leuchtete. Seine Augen hatten sich schnell an dieses fahle Licht gewöhnt, und er stolperte selten über Steine, Wurzeln oder herumliegendes Geäst. Aber ebenso leicht würden es etwaige Verfolger haben, und er war fast sicher, daß seine Flucht nicht unbemerkt bleiben konnte und Konsequenzen nach sich ziehen würde. Ziehen mußte! Makootemane – oder das, was zumindest wie Makootemane aussah – hatte nicht den Eindruck erweckt, als wäre es gewillt, sich auch nur ein einziges seiner Opfer entgehen zu lassen!
Obwohl Wyando erst sechs Jahre alt war, machte er sich wenig Illusionen, daß ihm seine Flucht gelingen könnte. Der Weg zu den Cheyenne war ebenso weit wie beschwerlich, und diese Nacht hätte vielleicht einem geübten Läufer genügt, bis zu ihrem Lager zu gelangen – aber gewiß keinem untrainierten Kind. Wenn der Morgen graute, würde es noch leichter fallen, ihn aufzuspüren. Arapaho und Cheyenne lagerten im Schutz zweier Waldstücke, die von freier Prärie unterbrochen wurden. Bis dorthin konnte es Wyando bis Sonnenaufgang schaffen, und dort gab es kaum noch Deckungsmöglichkeiten. Aber noch war er … Er unterbrach seine Gedanken, als seine Ohren ein Geräusch auffingen, das nur von einem schweren Tier – oder einem Verfolger rühren konnte. Wyando ließ sich augenblicklich hinter einen Strauch fallen. Dann wartete er mit angehaltenem Atem. Und hörte es. Näherkommen. Was immer es war, es war groß. Und es bewegte sich trotz seiner jetzt immer gewisser werdenden Schwere in beunruhigender Weise mit dem Unterholz des Waldes vertraut … Es war nicht mehr weit. Es war so nahe, daß Wyando außer den Schritten nun auch Geräusche hörte, die nur aus dem Rachen des Unsichtbaren kommen konnten. Als Wyando vier gewesen war, hatte ein wilder Hund, vor dessen Maul Schaum gestanden hatte, das Dorf überfallen. Er hatte sich einen Kampf mit den Hunden des Stammes geliefert, und alle, die von ihm gebissen worden waren – auch Männer, die eingeschritten waren und denen es schließlich gelungen war, ihn auf eine Lanze zu spießen – waren Tagen später in fiebrige Krämpfe gefallen. Niemand hatte ihnen helfen können. Auch Quanak nicht. Sie waren qualvoll gestorben.
Jener besessene Köter hatte ähnliche Töne ausgestoßen wie das, was sich jetzt den Weg durch den Wald bahnte, immer näher an Wyando heran. Unaufhaltsam, als wüßte es präzise, wo er sich verbarg. Als sähe es ihn – oder hätte zumindest seine Witterung in der Nase. Verzweifelt blickte der Junge zum Himmel. Durch die Blätter hindurch sah er den funkelnden Mond und wünschte sich zu ihm hinauf – nicht ahnend, daß gerade dieses bleiche, wie ein offenes Auge am Himmel ziehende Fanal es war, das seinem Verfolger die Sinne lieh, die er brauchte, um Wyando in jedem Versteck zu finden …
* Auch der letzte von zwölf Täuflingen, ein Mädchen, starb unter fürchterlichen Qualen, und seine Lippen glitten vom Rand des Kelchs, in den Makootemane sein Blut gegeben hatte. Gerade genug, um jedes der auserwählten Kinder davon trinken und sterben zu lassen … Makootemane suchte und fand den Blick des Hohen Geistes, der das magische Gefäß in seinen Händen hielt. Und dem es zu gefallen schien, ein Dutzend Kinder im Staub zu seinen Füßen zu sehen. In diesem Augenblick fragte sich Makootemane zum erstenmal, was geschähe, wenn sie nicht wieder erwachten. Wenn nicht nur sie, sondern auch er betrogen worden wären … Er löste sich schwer vom Gift dieses Gedankens. Doch offenbar stand er schon auf seine Stirn geschrieben. »Geduld«, sagte der Bleiche. Er hob den düster glühenden Kelch in seinen Händen. »Dein Blut ist nicht nur Tod, sondern auch Leben. Du hast keine Vorstellung, was gerade jetzt in ihren kleinen Körpern geschieht. Wie vieles sich darin verändern und den Bedingungen anpassen muß, die das ewige Leben künftig an sie stellt. Lausche in
dich hinein, dann ahnst du vielleicht, wovon ich spreche. Aber wahrscheinlich erinnerst du dich gar nicht mehr, wie es früher war. Bevor du den Preis der Unsterblichkeit zahltest …« Er verstummte. Das an eine kurzstielige Blume erinnernde Gefäß glomm stärker auf, und zuerst glaubte Makootemane, dies wäre Bestandteil des Rituals. Offenbar irrte er sich. »Oh …« Zu erstaunt klang der Ausruf des Hohe Geistes, als er seinen Kopf weit in den Nacken bog und vom Licht, das aus dem Kelch quoll, in lohenden Purpur gebadet wurde. Makootemane brach sein Schweigen und fragte: »Was ist? Gibt es – Schwierigkeiten?« Der Kelchhüter antwortete nicht gleich. Vielleicht war er gar nicht dazu in der Lage. Erst als eine Weile vergangen war und sich das erste der toten Kinder wieder vor ihnen zu regen begann, legte auch der Hohe Geist seine Starre ab. Das Purpurleuchten um seinen Körper wurde schwächer. »Schwierigkeiten? Wer weiß. Richte deinen Blick zu den Sternen. Dann siehst du es selbst …« Makootemane gehorchte und wurde Zeuge eines machtvollen Omens. Er sah, wie sich das bleiche ›Himmelsauge‹ langsam zu schließen begann …
* Wyando schmeckte welkes Laub und feuchte, krumige Erde auf seinen Lippen. In aller Eile hatte er sich eine Kuhle im Unterholz gescharrt, der Länge nach rücklings hineingelegt und was er fassen
konnte über sich geschaufelt. Die Angst beflügelte ihn. Aber sie schnürte ihm auch die Kehle zu. Vermutlich hatte der Verfolger das Geraschel gehört. Aber dieses Risiko hatte Wyando eingehen müssen. Jetzt konnte er nur noch hoffen und seine Gebete zum Schöpfer senden. Sein Puls jagte. Seine offenen Augen starrten gegen die Schicht aus Laub. Er hatte sich selbst zur Blindheit verurteilt. Auch sein Gehör war beeinträchtigt. Lauter als alles andere rauschte das eigenen Blut in seinen Ohren und hämmerte das Herz in seiner Brust. Dann geschah, was ihn alle Hoffnung verlieren ließ und ihm zeigte, wie nahe sein Feind bereits war. Etwas stellte sich auf seinen Bauch. Ein nackter Fuß mit scharfen Krallen … Wyando unterdrückte den Schrei, der ihm auf der Zunge lag. Aber dann pflanzte sich auch noch ein zweites Gewicht auf seinen Körper, und die Wahrscheinlichkeit, daß dies zufällig geschah, schwand dahin. Die spitzen Klauen drangen tief ins Fleisch des Jungen. Ein Knurren, wie er es noch nie gehört hatte, begleitete die heisere Stimme, die, wie mit sich selbst hadernd, sagte: »Eigentlich sollte ich dir das Herz herausreißen … Ein reines Herz wie das deine müßte mir munden. Aber sie warten auf dich, und der Tod durch meine Hand ließe sich kaum gutheißen …« Noch während die Worte durch Laub und Erde in Wyandos Bewußtsein sickerten, begann etwas, die modrige Decke von seinem Gesicht zu wischen. Und dann, als die Silhouette des über ihm kauernden Wesens sichtbar wurde, konnte der Junge nicht anders, als die Hand, die das Büffelhorn umklammert hielt, emporzureißen und mit aller Wucht, zu der er fähig war, in den Bauch des Ungeheuers zu rammen, wo es bis zum Lederschaft versank.
Das Entsetzen führte Wyandos Arm. Aber damit machte er alles nur schlimmer. Die Bereitschaft, das Herz in des Jungen Brust zu verschonen, schien in animalischem Gebrüll unterzugehen. »Du …«, schrie das Monster, halb Mensch, halb Wolf, an dem Wyando in absurder Deutlichkeit … Brüste bemerkte. Fellüberzogene Rundungen, die dem Ungeheuer fast etwas von seinem Schrecken nahmen. Aber auch nur fast. »Du wagst es …!« grollte es noch einmal haßerfüllt. Eine der Pranken holte aus und zielte auf Wyandos Hals – mit keiner anderen Absicht, als ihn mit einem einzigen Streich zu zerfetzen. Der Junge spreizte die Finger, die das Horn hielten, und ließ es los. Dann peitschte die Klaue auch schon auf ihn herab, und nichts auf dieser Welt konnte sie mehr stoppen. Der Arapaho schloß die Augen. Er ergab sich in ein Schicksal, dem er eigentlich hatte entrinnen wollen. Nun war es dafür zu spät. Glaubte er. Doch in diesem Augenblick schrak die Wolfsfrau röchelnd vor ihm zurück. Und begann sich zu verändern.
* Die Mondscheibe war bereits gut zur Hälfte von etwas verschlungen worden, für das Makootemane nicht einmal einen Namen hatte. Endlich konnte er die Beklemmung soweit abstreifen, daß er den Mächtigen an seiner Seite zu fragen wagte: »Was geschieht?« Der Kelchhüter blickte noch immer unverwandt himmelwärts. »Ich habe diesen Vorgang schon oft gesehen«, entgegnete er. »Er ist ganz natürlich. Aber daß er gerade jetzt eintrifft, mutet wirklich
wie ein Omen an.« Makootemane wagte nicht zu fragen, worin dieser ›Vorgang‹ bestand. Es schien ihm auch nicht angemessen, das Geheimnis des Himmelsauges erkunden zu wollen. Es mußte zweifellos dem Willen der Götter entspringen. Also verdrängte er die blasphemischen Gedanken und fragte stattdessen: »Wird die Zahl der heute getauften Kinder bis in alle Zukunft so bleiben?« Daß sie sich nicht untereinander fortzupflanzen vermochten wie die Menschgebliebenen, wußte er bereits. »Auf eine lange Zeit – ja«, entgegnete der Mächtige. »Auch ich blicke nicht in die Zukunft und schließe deshalb nicht aus, daß du eines Tages Wege finden wirst, nach mir zu rufen – und daß ich Wege finden werde, deinem Ruf und Ansinnen zu folgen …« Makootemane staunte immer mehr über das gleichermaßen fremd wie vertraut wirkende Wesen, das auf einer nicht benennbaren Ebene untrennbar mit dem Gefäß, das es in Händen hielt, verbunden schien. »Aus welchem Stoff bist du?« rann es über seine Lippen, weil diese Frage schon die ganze Zeit in ihm nagte. »Du bist kein Geist, soviel glaube ich nun sagen zu können. Aber was bist du dann?« Ein bizarres Lächeln überlagerte die fremdartigen Züge. »Von heute an bist du Oberhaupt dieser Sippe, die sich vom eigentlichen Stamm der Arapaho abspalten wird. In diesem Status darfst du vieles von mir erwarten – aber nicht, daß ich mein Inkognito vor dir lüfte. Kein Vampir kennt mein wahres Ich. Es wäre meiner Aufgabe abträglich. Die Distanz muß gewahrt bleiben. Uns verbindet von nun an vieles – aber Unterschiede bleiben. Und sie werden immer bestehen. Gib dich damit zufrieden, denn wer mich sähe, wie ich wirklich bin, dem würde ich ohne Zögern wieder die Gnade nehmen, die der Kelch ihm gewährte …« Makootemanes Kehle wurde pulvertrocken. »Verstieße dies nicht gegen den Kodex, den du mich oben auf dem Berg lehrtest?« »Der Kodex«, behauptete der Namenlose, »ist bindend für die Kin-
der des Kelchs – nicht für seinen Hüter.« Makootemane wußte nicht warum, aber er meinte den Gestank der Lüge, der diesen Worten anhing, gerade zu beizend scharf zu riechen. Dennoch erwiderte er nichts. Seine Augen kehrten zu den auferstandenen Kindern zurück. Keines lag mehr im Staub vor dem fast niedergebrannten Scheiterhaufen. Alle standen aufrecht, gerade und … stolz. In ihren Augen sprühten die Funken, die elementare Kraft eines Lebens, das gerade erst dabei war, sich in ihnen einzurichten und sich einem, jeden von ihnen bewußt zu machen. Mit all seinen Möglichkeiten. All seiner Gier … Auch Makootemane selbst war noch damit beschäftigt, sich des wahren Ausmaßes der Geschehnisse gestern und heute klar zu werden. Das Blut in seinen Adern hatte sich verwandelt. Er hatte es in die Schale des Kelchs fließen sehen. Es war schwarz wie Steatit – jener Stein, aus dem Kalumets geformt wurden. Auch das Blut der Kinder, die sein Blut tranken, die starben und denen das andere Leben eingehaucht wurde, hatte seine Röte eingebüßt. Aber war die Farbe der einzige Preis? Makootemane lauschte in sich, aber er fand keine Antwort. Falls sich Wesentliches an Gefühl in ihm verändert hatte, war gleichzeitig auch die Fähigkeit in ihm erloschen, dies zu erkennen. Die Veränderung schwächte alle Erinnerungen an das Leben vor diesem ab. Sie ähnelten nur noch einem vagen Traum. Und es gab keine Sehnsüchte nach dem aufgegebenen Wissen – weil das neu gewonnene so viel mehr faszinierte … Makootemane Blicke kehrten zum Himmel zurück. Nicht des sterbenden Mondes wegen, sondern wegen etwas, das
dort oben unermüdlich seit dem Mittag seine Kreise zog. Und es verwirrte Makootemane, daß diese Erinnerung und diese Verbindung nicht erloschen, sondern noch genauso stark waren wie in seinem vorherigen Leben. Daß er sich den Totemtieren noch immer so verbunden fühlte … »Da«, holte die Stimme des Kelchhüters seine Gedanken vom Himmel herab. Er zeigte zum Rand des Dorfes. »Da kehrt sie zurück – und bringt dir, wie versprochen, den fehlenden Dreizehnten zum Geschenk …«
* Die Wilde Frau näherte sich Makootemane und dem Namenlosen blutüberströmt. Ihre Augen glommen wie die ascheüberzogene Glut eines Feuers, über die ein heftiger Wind hinwegblies. Sie bewegte sich leicht gebeugt, und in ihrer rechten Armbeuge klemmte die Beute, die sie geschlagen hatte: der erschlaffte, vollkommen reglose Körper Wyandos. Makootemane kannte jedes einzelne Mitglied des Stammes – selbst die, die nun zu Asche verbrannt waren –, und er zweifelte zunächst nicht daran, daß der Junge, der versucht hatte, sich seinem Einfluß zu entziehen, tot war. Daß es Wyandos Blut war, das auf dem seltsam zerzausten Körper der Wilden Frau schillerte. Sie sah aus, als hätte sie die Räude. Unregelmäßig über ihre Haut verteilt wuchsen Reste von Fellbüscheln. Große Flächen aber waren glatt und haarlos. Und erst als sie ganz nahe war, entdeckte Makootemane Anzeichen dafür, daß sie selbst nicht unbeschadet aus der Verfolgung des Flüchtlings hervorgegangen sein konnte. Weder die Wilde Frau noch den Hüter des Kelchs schien dies aber in nachhaltige Sorge zu versetzen, und als Makootemane Sekunden später noch einmal den Blick über den flachen Bauch der Vertrauten des Hohen Geistes gleiten ließ, glaubte er den Grund zu erkennen.
Sie war … wie er selbst. Wie er, als er am Vortag von der Pfeilklinge getroffen worden war, die erst seine Tarngestalt und, nach dem Abstreifen der ›Maske‹, seinen wahren Körper verwundet hatte. Auch diese Verletzung war binnen kürzester Zeit verheilt gewesen, und inzwischen spürte Makootemane sie gar nicht mehr. Nicht mehr im geringsten. Ähnliches beobachtete er bei der Wilden Frau. Das narbige Gewebe in Nabelhöhe veränderte sich so rasch, daß man zusehen konnte. Offenkundig verfügte auch sie ihr Körper über enorme Heilkräfte. Makootemane hatte den Hüter gefragt, wer sie sei. Und dieser hatte geantwortet: »Meine schöne Wölfin«. Mehr nicht. Meine schöne Wölfin. Augenblicklich wirkte sie alles andere als anziehend. Makootemane hörte auf, darüber nachzudenken, denn die Wilde Frau warf ihm Wyando zornig vor die Füße und reckte die Arme anklagend zum Himmel empor, wo die Scheibe des Mondes nun fast vollständig hinter einem Schatten verschwunden war, den nicht einmal Makootemanes nachtsehende Augen zu durchdringen vermochten. Wyando begann sich zu regen. Er lebte also noch. »Dieser kleine Bastard«, keuchte die Vertraute des Hüters und zeigte auf ihren Bauch. »Er wollte mich aufspießen mit einem Büffelhorn! Daß er den Versuch überlebte, hat er nur der Verfinsterung des Mondes zu verdanken …« Sie ballte die Fäuste, als wollte sie nicht nur das verborgene Himmelsauge zum Kampf herausfordern, sondern das Schicksal überhaupt. Der Hohe Geist beruhigte sie mit den Worten: »Ich bin froh, daß du ihn verschont hast. Du hast die Zeichen erkannt. Es ist lohnenswerter, ihn zu formen, umzugestalten, als puren Heißhunger an ihm zu stillen. Wir werden ein anderes Opfer für dich finden. Sieh dich um. Es gibt sie in Hülle und Fülle … Aber jetzt sollten wir die Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen.« »Chance?« fragte Makootemane, während die Wilde Frau schwieg,
als verstünde sie die Absicht des Hüters – oder als wäre es ihr inzwischen gleichgültig geworden, was aus dem Knaben am Boden wurde. »Chance, ja«, antwortete der Hohe Geist. »Vorhin hielt der Kelch Zwiesprache mit mir. Aber verlieren wir keine Zeit mehr! Spende noch einmal von deinem Blut, auf daß dieser Jüngling deine Sippe bereichere …« Wie schon einmal spürte Makootemane einen kurzen, heißen Schmerz, den ihm eine unsichtbare Klinge am linken Unterarm zufügte. Dann lief auch schon das Blut, und der Hüter eilte herbei und fing es in der purpurglühenden Kelchschale auf. Es war mehr als genug für einen einzigen Täufling. Und noch während Makootemane zusah, wie der Hohe Geist das Gefäß an Wyandos Lippen setzte, fing er einen gellenden Schrei aus der Kehle seines Adlers auf. Der Ahnenvogel, den Makootemane eigenhändig aufgezogen hatte, kauerte auf einem der hölzernen Totems, die die Dorfmitte umsäumten. Und plötzlich, aus dem Nichts, entstand in Makootemane eine Idee, die ihn zuallererst erschreckte, dann jedoch immer mehr Faszination in ihm entfachte – und ihn schließlich völlig aufwühlte. Es war ein absolut bizarrer Einfall, aber er ließ Makootemane nicht mehr ruhen, und selbst die für einen solchen Frevel drohende Strafe vermochte ihn davon abzubringen. Nur scheinbar ergriffen von dem Akt der Taufe, der Wyando zu einem der seinen machte, gab er dem auf dem Totempfahl sitzenden Vogel ein geheimes Zeichen. Und der Adler folgte augenblicklich seinem Befehl …
*
Bereits sterbend, starrte Wyando zur Fratze des Mondes hinauf, der sich in einer Weise verhüllte, wie es der junge Arapaho noch nie zuvor beobachtet hatte. Ein Mond, der ihn höhnisch angrinste. Wie die Fratzen von Makootemane, der Wolfsfrau und des bleichen Mannes, der ihm jenes zähe, schwere Gift einflößte, das augenblicklich in seinem Mund, unerträglicher aber noch in seinem Magen und Gedärm zu wüten begann. Schrecklicher konnte es nicht sein, wenn sich eine Ratte allmählich in jeden Winkel ihres Opfers fraß … Neue Schwärze wogte vor Wyandos Augen, nachdem die Wolfsfrau ihn draußen im Wald durch einen Hieb gegen die Schläfe bewußtlos geschlagen und offenbar ins Lager zurückgeschleppt hatte. Er war kaum wieder bei sich gewesen, als die leuchtende Schale auch schon begonnen hatte, ihren Inhalt in seine Kehle zu entleeren. In den letzten Augenblicken seines Lebens erkannte Wyando, daß ihn die anderen Kinder des Stammes umstanden, als wollten sie ihm Beistand leisten. Doch ihre harten Gesichter blickten nur kalt auf ihn herab. Sie waren bereits den Weg gegangen, den nun er beschreiten mußte. Wyando hatte versucht, sich dem Gift zu verweigern – hatte versucht, sich zu wehren. Vergeblich. Dem Bleichen hatte eine Hand genügt, ihn zu bändigen. Und der allerletzte Eindruck, den Wyando mit in die lichtlose Tiefe des Todes nahm, war der Tumult, der losbrach, als ein Adler aus der Luft zu ihnen herabstieß. Genau auf Wyando zu. Als wollte er seine Klauen in ihn schlagen – und tun, womit die Wolfsfrau nur gedroht hatte. Heiß und roh sein Herz verzehren …
*
Makootemane nutzte den von ihm provozierten Tumult, von dem sich auch der Kelchhüter ablenken ließ, weil er unmittelbar betroffen war. In dem Moment, als der Hüter von einem Schwingenschlag des Adlers getroffen wurde, entglitt ihm das unersetzliche Gefäß und fiel zu Boden. Makootemane eilte sofort hinzu, hob es auf und verscheuchte den von ihm gezähmten Vogel mit lautstarken Befehlen. Niemand bemerkte, daß er etwas von seinem während des Rituals verwandelten Blut aus der Kelchschale an sich nahm – gerade so viel, wie das kleine Tuch aufnehmen konnte, das er in seiner Hand verbarg. Der Zorn des Hüters über den Zwischenfall war so groß, daß er damit drohte, den Adler augenblicklich zu strafen und vom Himmel zu holen. Nur Makootemane sofortige Fürsprache verhinderte es – und die Tatsache, daß Wyandos Taufe gerade abgeschlossen war. Anders hätte der Bleiche sich kaum besänftigen lassen. Auch von seiner Begleiterin war keine Gnade zu erwarten. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich Gedanken über etwas zu machen, was in ihren Augen ›nur‹ ein Vogel war. Sie kämpfte gegen die Probleme, die ihr das völlige Verschwinden des Mondes offenbar bereitete. Immer wieder starrte sie kauernd zum Nachthimmel und reckte die Arme, als könnte sie seine Rückkehr damit beschleunigen. Makootemane hielt immer noch das blutgetränkte Tuch in seiner Faust, und ihm war, als spräche es zu ihm. Natürlich tat es das nicht wirklich. Dennoch wuchs sein Unbehagen durch diese Vorstellung. Wenn er wenigstens sicher hätte sagen können, warum er sich zu dieser Tat hatte hinreißen lassen. Das aber vermochte er nicht. Er war einfach einem Impuls gefolgt. Einem Wollen, das tiefer wurzelte als sein bewußtes Denken … Als sich der Hüter bald nach der Rückkehr des Mondes mit der
Wolfsfrau verabschiedete, barg Makootemanes Faust noch immer das im Purpur gewaschene schwarze Blut. Es war nicht viel. Es hätte kaum einen Behälter von der Größe einer Daumenkuppe gefüllt. Aber es war auch nicht für einen Arapaho bestimmt … … sondern für sein geflügeltes Totem.
* GEGENWART Mona saß mit angezogenen Beinen, die Knie umschlungen und das Kinn darauf gestützt, in der Trostlosigkeit ihrer Zelle und dachte darüber nach, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, die erhoffte Aufmerksamkeit durch offensichtlichen Mord auf sich zu ziehen. Mit Philip hatte sie dabei die wenigsten Probleme – vermutlich würde niemand sein Verschwinden mit ihr in Verbindung bringen, und nur modernst ausgerüstete Spurenermittler hätten in ihrem Zimmer vielleicht Reste menschlicher DNA in den Ascheresten nachweisen können. Die wirklichen Probleme gab es mit den drei anderen, wahllosen Opfern aus dem Motel. Der schwergewichtige Sheriff hatte kurz den Eindruck bei ihr erweckt, daß ihn der Name Makootemane aufgeschreckt hätte. Aber weder er noch sein Deputy hatten sie bislang einem näheren Verhör unterzogen, und allmählich verdichtete sich in Mona die Befürchtung, daß sie sich gehörig verrechnet hatte. Sie hatte hoch gepokert. Und nun schien es, als hätte sie sich damit selbst matt gesetzt. Dabei war sie nach New Jericho gekommen, um hier starke Verbündete zu mobilisieren. Chiyoda hatte ihr nach Abwägen vieler möglicher Zukünfte Hinweise auf Lilith Edens Aufenthaltsort gegeben. Diese galten für den
9. Januar, für den Donnerstag in einer Woche also. An diesem Tag sollte sich Lilith in Bangor im US-Bundesstaat Maine aufhalten. Chiyoda hatte sogar die Straße benannt, wo die Halbvampirin auftauchen würde, um es Nona zu ermöglichen, dem gefährlichen Zwitter gegenüberzutreten, der nach ihrer Ansicht zumindest eine Mitschuld an der Seuche trug, die über die Vampire gekommen war. Nun suchte Nona Mittel und Wege, den Fluch wieder von der Alten Rasse – und ganz besonders von Landru – zu nehmen. Denn solange er die Seuche weitergab, konnte sich auch Nona ihm nicht nähern. Es hätte sie unweigerlich das Leben gekostet. Auch wenn sie nie gestorben und gewiß keine Vampirin war, hatte doch auch sie einst sein schwarzes Blut aus dem unheiligen Gral getrunken. Die Wahrscheinlichkeit war groß, daß sie damit ebenfalls anfällig für die Seuche war. Nona schätzte ihre eigenen Stärken realistisch genug ein, um zu wissen, daß sie allein Lilith im direkten Kampf – selbst bei Vollmond – unterlegen war. Deshalb, und nur deshalb hatte sie sich der Ereignisse vor dreihundert Jahren erinnert – und darauf gehofft, daß der Boden, aus dem New Jericho geschossen war, immer noch Heimat jener Sippe war, die Landru dereinst hier in den Wäldern gezeugt hatte. Diese Sippe schien die Seuche bislang verschont zu haben. Sonst hätte Philip nicht die frischen Male getragen. Außerdem: Wenn der Fluch die indianischen Vampire ereilt hätte, wäre ihr Wirken offensichtlich geworden. Dann hätten sie, wie alle Befallenen, ein Massaker in ihrem Machtbereich angerichtet. Hätten verzweifelt tagein, tagaus Blut getrunken, ohne daß der Stoff, mit dem sie stets erfolgreich die Zeit betrogen hatten, ihr Sterben verzögern konnte. Die von Chiyoda beschriebenen Szenarien waren perfider als alles, was Nona selbst je gesehen oder erlebt hatte, obwohl sie Zeugin vieler Greuel gewesen war. Von Purpurstaub hatte Chiyoda berichtet; von Purpurstaub, der in
alle Vampiroberhäupter, die je ihr Blut in den Lilienkelch gegeben hatten, gedrungen und sie zu Boten des Todes gemacht hatte! Der Lilienkelch! Lilith mußte ihn manipuliert haben. Nona war entschlossen, die Antworten auf ihre Fragen bei Lilith zu finden. Aber zuerst mußte sie aus dieser Zelle in einem Nest am Rande der Welt herauskommen … Sie stutzte, hob ruckartig den Kopf. Ihre Instinkte erwachten. Und obwohl sie nirgends einen sicht- oder hörbaren Beweis dafür fand, war sie plötzlich überzeugt, beobachtet zu werden, nicht länger allein im Dunkel ihrer Zelle zu sitzen. Unwillkürlich spannte sie ihre Muskeln an. Wie ein zum Sprung bereites Tier. »Wer ist da?« rief sie. Nicht sehr laut – aber laut genug. Als sie keine Antwort erhielt, veränderte Nona die Frage in Wortlaut und Sinn. »Ist da jemand?« Stille. Und so blieb es bis zum Ende der Nacht. Auch den ganzen folgenden Tag. Unmöglich still und – unglaublich verlassen. Kein Sheriff, kein Deputy ließ sich sehen. Niemand brachte ihr etwas zu trinken oder zu essen. Auch nicht, als sie zu toben begann. Die Zelle, das winzige vergitterte Fenster, an dem sie das Kommen und Gehen der Finsternis verfolgen konnte, alles schien zu einem vergessenen Ort im Nirgendwo zu gehören, herausgelöst aus dem sonstigen Gebäude und der Stadt. Kein noch so leises Geräusch drang zu ihr vor. Weder Stimmen noch Straßenlärm. Dann wurde es Nacht. Und wieder Tag. Dunkel. Hell.
Dunkel …
* In der dritten Nacht ihrer Gefangenschaft stand Nona kurz davor, sich aufzugeben. In ihren Eingeweiden wühlte ein Schmerz, der sie stetig näher an den Wahnsinn herantrieb. Und nicht nur ihre Kehle, ihr ganzer Körper war wie ausgedörrt! Daß ihr skrupelloses Vorgehen diese Folgen haben könnte, hatte sie nie ernsthaft in Betracht gezogen. Aber irgend jemand schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, sie für den Mord an drei Menschen – mit Philip, dessen Tod sie ihr nicht beweisen konnten, waren es sogar vier – büßen zu lassen. Und zwar an der ›regulären Justiz‹ vorbei! Wie man hier mit ihr umsprang, das sprach jeder gesetzlichen Verfassung Hohn … Nona fuhr sich mit den Nägeln ihrer Hand über den rechten Oberarm. So tief, daß es blutete Sie bekämpfte Schmerz mit Schmerz. Aber die Qualen, die ihr aus dem Bauch heraus den Körper zerrissen, waren damit nicht zu überlisten. Unaufhörlich zogen sie wie Messerstiche durch ihre Organe. Der Hunger war dabei nicht das Schlimmste. Das war der Durst. Diese Schweine gaben ihr nicht einmal Wasser! In ihrer Verzweiflung netzte Nona die Lippen mit ihrem eigenen Blut, das aus den Schürfwunden quoll. Aber sie befand sich nicht in dem Stadium der Transmutation, die ihr diesen Saft versüßt hätte. Die Tage um den vollen Mond waren vorüber. Bis zum nächsten würde sie sich nicht in ihre Wolfsgestalt verwandeln können. Und sie war auch kein Vampir. Das Blut ekelte sie. Die Rechnung hatte so einfach ausgesehen: Durch die Morde und den Hinweis auf Makootemane hatte sie die Aufmerksamkeit der
örtlichen Sippe auf sich lenken wollen. Vampire beherrschten ihr Umfeld. Sie belegten alle wichtigen Schaltstellen der Macht. In New Jericho hätte es nicht anders sein dürfen. Die Häuser der Stadt standen dort, wo einst die Jagdgründe der Arapaho gelegen hatten. Und Nonas Rundgänge hatten bestätigt, daß auch heute noch fast ausschließlich Menschen indianischer Abstammung hier lebten und arbeiteten. Kaum Weiße. Sie alle mußten Nachkommen jener anderen Stammeshälfte sein, die sich aus der Abspaltung der Kelchkinder ergeben hatte … Wo also lag ihr Fehler? Ihr vielleicht tödlicher Irrtum? Man hatte sie lebendig in einer Zelle begraben. Im Gebäude des Sheriffs. Und niemand – niemand! – schien sie weiter zur Kenntnis nehmen zu wollen! Fast noch schlimmer war, daß die Frist unaufhaltsam verrann, die sie sich selbst gesetzt hatte, um hier Verbündete zu mobilisieren. Bis zum 9. Januar waren es nur noch vier Tage – und wie es aussah, würde sie den Tag, an dem sich Lilith in Bangor aufhielt, entweder nicht mehr erleben – oder immer noch hier eingesperrt sein. Die ersten beiden Tage war sie wie ein eingesperrtes Tier in ihrer Zelle auf und ab gegangen und hatte sich die Seele aus dem Leib geschrien. Ohne den geringsten Erfolg. Deshalb lag sie jetzt fast nur noch auf dem Bett. Ganz still, um die Funktionen und die Bedürfnisse ihres Körpers so niedrig wie möglich zu halten. Sie lag wie erstarrt und träumte. Halluzinierte. Rief lautlos um Hilfe – in der vagen Hoffnung, Chiyoda könnte ihre Ruf auffangen und ihr zu Hilfe eilen, wie er es schon einmal getan hatte. In Tokio, als El Nabhals Geist sie an den Rand des Untergangs getrieben hatte.* El Nabhal … Nonas Gedanken irrten durch Zeit und Raum zur Oase des Ma-
*siehe VAMPIRA H33: »Der Traum der Geisha«
giers zurück, den sie in früher Kindheit, noch vor Erhalt der Langlebigkeit, kennengelernt hatte. Und der danach so nachhaltig ihr Schicksal geprägt hatte. Sie war seine dunkle Geliebte geworden – aber die Leidenschaften, die sie mit dem maurischen Hexer teilte, hatten sich grundlegend von denen unterschieden, die Landru und sie seit jener Nacht in Rom miteinander verbanden … Letztlich hatte sich Nona deshalb auch, als sie gezwungen war, zwischen beiden zu wählen, für Landru entschieden. In einer Vollmondnacht hatte sie El Nabhal, den Meister der magischen Tücher, in seinem Palast getötet – nicht ahnend, daß seine rachedurstige Seele in eines seiner Tücher übergesprungen war, so daß er eine Möglichkeiten fand, sie auch über den Tod hinaus zu verfolgen. Jeder, der das betreffende Tuch berührte, war El Nabhal verfallen und hatte seinen Körper in den Dienst der Rache gestellt … Als etwas klirrend neben ihr auf den Zellenboden fiel, schrak Nona auf. Zunächst stoben ihre Gedanken so chaotisch durcheinander, daß sie Zweifel hegte, ob sie sich nicht auch dieses Geräusch nur eingebildet hatte. Aber dann schwang sie doch die zittrigen Beine von der Liege und setzte sich mit klopfendem Herzen auf. Die Zelle war finster wie eine Gruft. Das Gitterfenster oben war zwar zu erkennen, aber es warf keinerlei verwertbares Licht bis zu Nona hinab. Sie war ummantelt vom Panzer der Finsternis. Stöhnend rutschte sie auf den Boden und versuchte tastend zu ergründen, ob tatsächlich etwas gefallen war. Möglicherweise hatte irgend jemand etwas zu ihr hereingeworfen. Vor Entkräftung schwindelte ihr. Sie kämpfte um ihren Gleichgewichtssinn. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was in Menschen vorging, die ohne die Unterstützung anderer zu nichts mehr fähig waren – so wie es bei ihren Opfern oft der Fall war. Nun kam sie daran nicht mehr vorbei …
Die Finger ihrer Linken stießen gegen etwas Hartes, Längliches. Sie hob es auf. Und noch während sie sich aufrecht setzte, versuchte sie herauszufinden, worum es sich handelte. Spätestens als die scharfe Klinge in ihre Hand schnitt, ahnte sie es. Aber für ein Messer war der daran befindliche Holzschaft zu lang. Außerdem endete er nicht glatt, sondern rauh und zersplittert. Nona erfühlte Gravuren, die sie jedoch nicht deuten konnte. Am Übergang zwischen Metall und Holz waren mehrere Federn befestigt, was auf indianische Herkunft schließen ließ. Nona unterbrach ihre Untersuchung, richtete den Blick zu dem Fensterviereck und rief mit krächzender Stimme: »Wer … ist da? Geben Sie sich … zu erkennen! Helfen Sie mir!« Es war sinnlos. Sie wußte, daß ihr niemand antworten würde. Mona rief noch ein paarmal, bis ihr Hals vor Heiserkeit schmerzte und sie einsah, daß auch diese Versuche zum Scheitern verurteilt waren. Das Werkzeug oder die Waffe, die man zu ihr hereingeworfen hatte, erschien ihr plötzlich wie die Aufforderung, sich damit selbst das Leben zu nehmen. Oder wollte ihr tatsächlich jemand helfen? Warum ließ er dann nicht wenigstens von sich hören? Fürchtete er dieselben Leute, die Nona in diese Lage gebracht hatten? Plötzlich kam ihr die Idee, daß es mit dieser Klinge vielleicht gelingen könnte, die Tür aufzubrechen. Ohne wirklich daran zu glauben, schaffte es Nona, auf die Beine zu kommen. Die Zelle war winzig. So etwas wie Entfernungen existierte darin gar nicht. Mit zweit wankenden Schritten erreichte sie den vergitterten Zellenabschluß. Auch hier war das Dunkel absolut. Nona mußte Tür und Schloß ertasten. Und als sie die Klinge schließlich hinter den Riegel schieben wollte, machte sie eine Entdeckung, die sie ebenso niederschmetterte wie elektrisierte.
Die Tür war gar nicht verschlossen! Sie gab sofort nach, als Nona sich dagegenlehnte! Im ersten Moment wollte ein Lachen in ihrer Kehle aufsteigen. Aber Nona konnte es unterdrücken. Sie ahnte, daß es zu der schmalen Grenze geführt hätte, hinter welcher der Irrsinn lauerte. Nein, sie war nicht verrückt! Die Zelle war verriegelt gewesen. Jemand mußte sie unbemerkt aufgeschlossen haben. Aber wer? Und warum? Nona schluckte krampfhaft. Absurde Hoffnung glomm in ihr auf. Ihre Beine hörten auf zu zittern. Das Chaos in ihren Gedanken lichtete sich. Sekunden später trat sie hinaus auf den Gang und wankte bis zur Tür an seinem Ende – die sich ebenfalls ganz leicht öffnen ließ … Weiter! Immer weiter, während die Hysterie in ihr anschwoll. So wie die Angst. Und die Verzweiflung. Denn in einer kleinen Kammer ihres gequälten Bewußtseins lauerte die Furcht, gleich aufzuwachen. Auf der Pritsche ihres Gefängnisses zu liegen und alles nur geträumt zu haben. Aber der verrückte ›Traum‹ dauerte an. Sogar noch, als sie den Ausgang gefunden und hinaus ins Freie geschlichen war. Und allmählich, zögernd nur, gestand sie sich ein, daß es vielleicht doch die Wirklichkeit sein mochte …
* Der Wind seufzte in den Bäumen. Die Blätter wisperten. Es hörte sich an wie unheimlicher Gesang. Nona atmete keuchend. In ihren Ohren rauschte das Blut, und ihr Herz trommelte wie nach einem Marathonlauf. Sie war aus der verlassenen Polizeistation und aus der Stadt gerannt, ohne zu wissen, was sie tat.
Erst mitten im Wald kam sie wieder zu sich, und ihr schauderte, als sie im Licht des abnehmenden Mondes begriff, was sie schon die ganze Zeit mit sich herumschleppte: eine abgebrochene Indianerlanze. Ein Jagdinstrument vermutlich … Jagd? Nona griff sich mit der freien Hand an die Kehle. Sie widerstand dem Wunsch, die Waffe von sich zu schleudern. Aus ihrem Mund lösten sich Kältefahnen. Allmählich schwand das Gefühl der Unwirklichkeit. Als sie sich in den Arm kniff, schmerzte es. Aber auch Schmerz kann man träumen … wisperte eine leise Stimme tief in ihr drin. Im Unterholz um sie herum knackte es. Der Gesang der Bäume wurde lauter. Plötzlich hörte sie unmittelbar über sich Flügelschlag, und aus einer Lücke zwischen zwei Baumkronen stürzte etwas mit heiserem Schrei auf sie herab. Ein … Adler! Instinktiv wollte Mona die Lanze hochreißen – doch die Klinge verwandelte sich im selben Augenblick. Wurde rotglühend. Und fing Feuer! Nona ließ sie fallen. Sie kam gar nicht dazu, darüber nachzudenken, ob sie sich verbrannt hatte. Sie konnte gerade noch die Arme heben und den Kopf einziehen, als die scharfen Klauen des Vogel bereits nach ihr griffen, ihre Haut zerkratzten und ihr Gesicht nur knapp verfehlten. Die Flügel des Adlers waren von erschreckender Spannweite und die Heftigkeit ihrer Schläge enorm, zumal Nona völlig entkräftet war. Schreiend und um sich schlagend versuchte sie sich des Angriffs zu erwehren, den Vogel zu vertreiben. Doch er ließ sich nicht bluffen. Als wüßte er um ihre Schwäche.
Als er kurz von ihr abließ und sich in die Höhe schraubte, tat er dies nicht, weil Nonas Bemühungen gefruchtet hatten, sondern nur, um erneuten Anlauf zu nehmen. Noch wuchtiger, noch gnadenloser fuhr er auf sie herab! Alles schreien, alles sich wehren half nichts. Die mächtigen Schwingen prügelten so unbarmherzig auf sie ein, daß Nona das knöcherne Gerippe des Vogels zu spüren glaubte – nicht nur sein Gefieder. Sie sank auf die Knie. Dann fiel sie nach vorn. Mit dem Gesicht auf den Winterhärten Boden. Sie hatte das Gefühl, ihre Nase würde brechen. Sie verstummte und hörte auf, gegen den Terror des Vogels anzukämpfen. Es war verrückt, so zu enden, nachdem sie gerade erst der tagelangen Gefangenschaft entronnen war. Einfach verrückt …
* Zur gleichen Zeit, auf dem Weg nach Bangor Sie konnte nicht aufhören, an den Traum zu denken, der keiner gewesen war. An die junge Frau und den Widderköpfigen, der sie mit den Augen eines … Kindes angesehen hatte. Ein Blick wie dunkles Eis war auf den Grund von Liliths Seele vorgestoßen. Und am schlimmsten war die Ahnung, nein, das Wissen, daß der, der sie angestarrt hatte, etwas wie eine Seele nicht besaß … »Schneller«, murmelte sie. »Geht es nicht etwas … schneller?« Die Frau, die sie an der Tankstelle des Motels mitgenommen hatte, trat fester auf das Gaspedal ihres Wagens. Aber sie sagte kein Wort, war nur auf die Straße konzentriert. Die dunkle Straße, über die die Scheinwerferbahnen wie Lichtzun-
gen leckten. Und Lilith dachte an Raphael Baldacci, dem sie in Salem’s Lot gewünscht hatte, er möge ihr nie wieder über den Weg laufen. Weil sie ihn sonst wahrscheinlich töten würde. Auch wenn er kein Vampir war. Wie schon viele Male, seit sie Salem’s Lot hinter sich gelassen hatte, versuchte sie die dortigen Geschehnisse zu vergessen, oder – weil dies nicht ging – wenigstens so in ihrem Gedächtnis zu ›parken‹, daß sie endlich wieder optimistisch nach vorn schauen konnte. Nicht unbedingt ins Künftige. Der bewußte Kontakt zum jetzt hätte ihr schon genügt. Müde lehnte sie sich in den Polstern zurück und schloß die Augen. Sie sehnte sich nach Schlaf. Aber sie fürchtete die damit verbundenen Träume. Den Blick des Widders … … der sie am ehesten im Schlaf aufspüren und verfolgen konnte …
* Mona blickte in die basaltgrauen Augen eines Fremden. Aber es war nicht leicht, sich darauf einzulassen, noch zu leben. Nicht gestorben zu sein im dunklen Wald unter den wütenden Attacken eines mächtigen Adlers. »Wie –?« setzte sie an. Sein Finger brachte sie zum Schweigen. Der Finger, der sich auf ihre Lippen legte, behutsam, als berührte er einen Schmetterling. »Ruhig. Trinken Sie. Sie müssen sehr viel trinken. Ich habe Ihnen schon während Ihrer Besinnungslosigkeit Wasser eingeflößt. Was passiert ist, können Sie mir immer noch erzählen. Wir brauchen nichts zu überstürzen. Sie sind in Sicherheit. Ich habe Ihre Wunden versorgt …« Der Fremde sprach Englisch mit einem speziellen Dialekt.
Und er war ebenso eindeutig ein Indianer, wie der Unterschlupf, in dem Nona lag, ein Zelt war. Ein Tipi aus speckiger Büffelhaut … Gegen den Rat des Mannes hob sie erneut die Stimme. »Wo – bin ich?« Sie hatte nicht gewußt, daß es noch Arapaho-Nachfahren gab, die in Zelten hausten. New Jericho hatte für sie den neuzeitlichen Ersatz für das Dorf dargestellt, das sie damals mit Landru besucht hatte. Nun kamen ihr Zweifel. Noch kritischer als zuvor musterte sie den Fremden. Daß er groß und von athletischem Wuchs war, sah sie selbst in der Haltung, mit der er neben ihr am Kopfende des Schlaflagers saß. Seine Kleidung war traditionell wie die Behausung, in der sich Nona befand. Zu traditionell, um ihr Mißtrauen nicht zu wecken. »Wer sind sie?« »Ein einfacher Arapaho«, sagte der Mann. »Haben Sie – den Adler gesehen, der mich angriff?« »Nein.« Warum war sie überzeugt, daß er log? Ein Zittern durchlief Nonas Gliedmaßen, als sie daran dachte, daß er einer von denen sein könnte, nach denen sie gesucht hatte. Rückblickend erschien ihr der Aufenthalt im Gefängnis und sogar ihr eigenes Morden in New Jericho immer unwirklicher. Hatte all dies überhaupt stattgefunden – oder befand sie sich unter dem realitätsverzerrenden Einfluß magiekundiger Gegner, die sie gleich nach ihrer Ankunft in dieser Gegend abgefangen hatte und …? Aber nein. Sie fühlte nichts, was für einen Vampir charakteristisch gewesen wäre. Dieser Mann strahlte vieles aus – aber nicht die Merkmale, die Nona für untrüglich hielt, wenn es darum ging, Angehörige der Alten Rasse zu entlarven.
Nicht nur die Zeit an Landrus Seite hatte sie gelehrt, Vampire zu durchschauen – auch der Wolf in ihr ermöglichte dies verläßlich. Und dieser Instinkt sagte nein. Dies war keiner derer, die sie suchte. Aber wer dann? »Wie ist – Ihr Name?« Er zögerte. Dann sagte er: »Hidden Moon.« »Und Ihr – indianischer Name?« Er schwieg. »Ich heiße Nona.« Sein Schweigen dauerte an. Aber er hielt einen hölzernen Becher an Nonas Lippen und fuhr gleichzeitig mit der anderen Hand hinter ihren Kopf, um ihn ein wenig anzuheben und ihr so das Trinken zu erleichtern. Als das Naß durch ihre Kehle rann, wußte Nona sofort, daß es nicht nur Wasser war. Sie setzte ab. »Was – ist das?« »Tee. Er muß kalt getrunken werden. Die Kräuter sind sehr anregend. Sie beschleunigen die Gesundung.« Es gelang ihr nicht, ihr Mißtrauen abzulegen. »Ich war … auf der Suche nach jemandem, als ich angegriffen wurde«, log sie. Er nickte, ohne interessiert zu wirken. »Ich suche Nachkommen der Arapaho. Jemand sagte mir, der Stamm habe sich vor langer Zeit gespalten …« Hidden Moon zuckte die Achseln. Auch diese Geste wirkte befremdlich. Abgeschaut von den Weißen. Nona wollte weiterfragen, als es sie heißkalt überlief. Schübe von Hitze und Kälte durchfluteten ihr Innerstes. Das Schwächegefühl löste sich auf. Es war, als käme eine verborgene Kraftquelle in ihr zur Entfaltung. Und das Zentrum dieser Stärkung war ihr Magen …
»Wirkt es schon?« fragte Hidden Moon. Seine Stimme war nicht frei von Spott, und Nona war nicht fähig zu antworten. Alles, was sie wußte, war, daß kein Tee der Welt es vermocht hätte, ihr so schnell und so umfassend zu helfen. Hier war mehr im Spiel als indianische Heilkunde. Aber was? Ihre Augen tränten vor Erregung, als sie in Hidden Moons von schwarzem, schulterlangem Haar umrahmtes Gesicht starrte. Das Gebräu putschte sie auf wie eine Droge. Wie eine geballte Dosis Adrenalin. Aber das war nicht alles. In der Vergangenheit hatte Nona Aphrodisiaka gekostet, geheimnisvolle Liebestränke des Orients und Okzidents. Auch sie hatten aktiviert, was jetzt in ihr wach wurde. Denn es war viel mehr als die bloße Rückkehr ihrer Kräfte, es war das Erwachen und Überkochen ihrer … … Lust!
* Als seine Lippen sich mit den ihren vermählten, gab es kein Entrinnen mehr vor dem Verlangen, das jeden Argwohn erstickte. Nona hörte ihr Stöhnen wie das einer anderen Frau. Sie beobachtete sich dabei, wie sie in den Armen des Arapaho versank. Wie sie darüber nachdachte, daß nicht richtig war, was hier geschah. Daß sie Widerstand hätte leisten und dagegen aufbegehren müssen, zumindest bis jeder Verdacht entkräftet und jede … Seine warme Zunge verließ ihren Mund. Nona versuchte es zu verhindern. Schon nach einem Kuß war sie süchtig und glaubte nicht mehr darauf verzichten zu können. Dann berührte er ihren Hals. Ihren Kehlkopf. Schälte sie aus dem Stoff, der nur störte. Das Gefühl für die winterliche Kälte war ihr abhanden gekommen.
Oder es war einfach nicht mehr wichtig. Was zählte, war seine Haut auf ihrer Haut. Er war das Ideal eines Mannes. So wie Träume ihn erschufen. Aber das hier war die Realität! War sie das …? Nicht einmal die Antwort auf diese Frage schien Nona von Bedeutung. Sie wollte Hidden Moon spüren. Tief in sich. In ihrem Schoß. Sie merkte, wie sich ihre Hände verselbständigten. Wie ihre Finger die Muskelstränge seines Rückens nachzeichneten und ihn mit sanftem Druck ermutigten, weiterzumachen. Weiterzugehen. Kein Tabu zu scheuen. Denn hier und jetzt gab es nichts, was nicht erlaubt gewesen wäre. Sie wagte nicht darüber nachzudenken, was mit ihr geschah. Aus Angst, der Zauber könnte verfliegen. Nicht einmal in Landrus Armen hatte sie Vergleichbares erlebt … »Du bist schöner als jede andere Frau, die ich je hatte«, sagte er, als müßte er ihre unausgesprochenen Komplimente erwidern. Dann knetete und liebkoste er ihre Brüste. Leckte über die harten Warzen, die dunklen Höfe. Hauchte die Schweißtröpfen hinweg. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich in sie drang. Hart und fordernd – wie sie es liebte und brauchte. Immer heftiger erwiderte sie die Stöße, mit denen er sie dem Gipfel entgegentrieb. Ihre Fingernägel krallten sich in seinen Rücken, und das schien ihn anzuspornen. Zu noch mehr Tempo. Noch mehr Leidenschaft. Nonas Körper begann zu kribbeln, als stünde sie unter Strom. Die Spannung, die sich in ihr aufbaute, jagte dem Höhepunkt entgegen. Sie umschlang das Gesäß des Arapaho mit ihren Beinen. Sie umklammerte seinen Nacken mit ihren Händen – – und spürte es. Spürte das, was falsch war. Was nicht sein durfte. Und was sie aus letztlich dem Takt warf.
Der Zauber, die Illusion ungetrübten Genusses verrannen, weil dort im Nacken dieses Mannes nicht nur Haare wuchsen. Das Fremde, das sie ertastete, fühlte sich so schaurig echt an, daß Nona keinen Moment in Betracht zog, es nur mit einer Art von Schmuck zu tun zu haben … Nein! Entsetzt stieß sie Hidden Moon von sich zurück und schrie: »Was ist das? Warst du es etwa, der mich im Wald angriff – in Gestalt eines Adlers …?« Er wirkte kein bißchen irritiert. Schon gar nicht enttäuscht. »Hat es dir nicht gefallen?« spottete er. »Nein? Mir damals auch nicht! Aber ich hoffte immer, daß der Tag kommen würde, an dem ich es dir heimzahlen könnte. All die Jahrhunderte hoffte ich es – und nun …« »Also bist du doch einer von denen, die ich suchte … ein Vampir. Aber ich wüßte nicht …« »Du weißt immer noch nicht, wer ich bin?« »Nein!« »Ich habe nie vergessen, wie du mich damals durch den Wald gejagt hast. Und ich habe dich sofort wiedererkannt. Auch wenn deine Haut heute glatter ist als in jener Nacht.« Nona riß die Augen auf. »Wyando!« keuchte sie. »Du bist … der Junge, der vor der Taufe floh …!« Wyando nickte, fuhr sich in den Nacken und schob sein Haar beiseite. »Nur damit weißt du immer noch nichts anzufangen, habe ich recht?« »Ich fürchte, ja«, bestätigte Nona und starrte benommen auf den weichen Flaum eines Gefieders, das absolut unzweifelhaft Teil von Wyandos dreihundertjährigem Körper war … Es war nur ein etwa handbreiter und knapp handspannenlanger Streifen. Er verlief von Wyandos Kopfansatz bis zum Beginn des
Rückens, dort wo der Nacken endete. Im Normalfall fiel das rabenschwarze Haar darüber und verbarg den Flaum vor fremden Blicken. »Ich verstehe immer noch nicht …« Monas Eingeständnis veranlagte den attraktiven Arapaho-Vampir, sich hinter sie zu setzen und in die Arme zu nehmen, als wollte er sie vor etwas beschützen. Zugleich signalisierte er damit unmißverständlich, daß er sie nicht als Feindin betrachtete. Nur als jemanden, der über eine unglaublich lange Zeit noch eine Rechnung bei ihm offen gehabt hatte. »Du hättest mich – beinahe umgebracht!« warf Mona ihm vor und drehte ein wenig den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Du mich damals auch!« konterte er gelassen. Er wirkte entspannt, obwohl auch ihm der Höhepunkt ihres ekstatischen Treibens versagt geblieben war. Offenbar war ihm das Bewußtsein, sich für die Todesängste von damals revanchiert zu haben, wertvoller. »Ich war dem Verdursten und Verhungern nahe«, sagte sie. »Ich wäre fast gestorben!« Die sonderbare Wendung, die das Liebesspiel – oder überhaupt ihr Aufenthalt in diesem Tipi – genommen hatte, machte ihr zu schaffen. »Soweit hätte ich es nicht kommen lassen – und habe es auch nicht, wie du siehst.« Hinter ihren Augen schien ein Unwetter heraufzuziehen. Das Blau verfinsterte sich und geriet in Bewegung wie quellende Wolken. Ein Betrachter mußte erwarten, jeden Moment von einem Blitz daraus getroffen zu werden. Wyando ließ auch dies kühl. »Als Joseph zu mir kam, wußte ich noch nicht, wer mit dem Blut dreier Menschen nach unserem Vater gerufen hat. Seine Beschreibung war zu vage. Aber ich fuhr mit ihm in die Stadt, und gleich als ich dich sah, erkannte ich dich!« »Du warst nie bei mir!« »O doch. Du hast es nur nicht gemerkt.« »Eine Kamera?« fragte sie. »Wurde die Zelle videoüberwacht?«
»Solche technische Spielereien brauche ich nicht«, versicherte er. »Ich war bei dir. Ich mußte doch aus nächster Nähe sehen, wie schlecht es dir ergeht. Mußte dein Leiden doch auskosten …« »Die Rachsucht scheint eine starke Triebfeder in dir zu sein«, erwiderte sie, ohne weiter zu versuchen, hinter sein Geheimnis zu kommen, wie es ihm gelungen war, sich unerkannt zu ihr zu schleichen. Daß er seine vampirischen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, lag nahe. Nur ein starker Zauber konnte eine Isolation, wie sie sie in der Zelle erlitten hatte, bewirken. »Du ahnst nicht, wie sehr mir dieser Charakterzug entgegenkommt«, fuhr sie fort, »und wie stark er sich mit den Beweggründen deckt, die mich nach so langer Zeit wieder in eure Gegend führten … Aber bevor ich mehr darüber verrate, solltest du mir berichten, was mit Makootemane geschah. Wann er von euch ging …« Nun spiegelte sich doch Verblüffung in seinem Gesicht – den Zügen eines Mannes, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem Jungen von damals hatte. »Du weißt davon?« fragte er erschüttert. »Du weißt, daß er –« »Du würdest kaum noch so vorteilhaft aussehen, wäre er noch am Leben«, fiel sie ihm ins Wort. »Er hätte euch alle ins Verderben gerissen!« Stumm sah Wyando sie an. Und als er das nächste Mal sprach, war die Reihe wieder an ihm, sie zu verblüffen: »Das mag sein, aber du irrst, wenn du glaubst, er sei tot. Er ist noch am Leben. Er weilt nur nicht mehr … unter uns …«
* Während sie durch das Geisterdorf schritten, zu dem das Lager der Arapaho-Vampire verkommen war, berichtete Wyando, was vor etwa neun Wochen geschehen war.
»Makootemane, unser Vater, hatte abends am Feuer die mächtige Vision, daß ein purpurfarbener geflügelter Drache vom Himmel herab und über ihn herfiele. In dem Gesicht, das ihn warnte, erlebte Makootemane, wie er von diesem Drachen als erster verschlungen wurde – dann aber selbst zum Drachen wurde und mitansehen mußte, wie er all seinen Kinder durch seine bloße Nähe jenen Segen stahl, den er ihnen einst aus seinem Blute geschenkt hatte. Wir alle starben in der Vision unseres Vaters unter schrecklichen Qualen! Das Blut unserer Nachkommen, von dem wir seit alters her lebten, sättigte und schützte uns nicht länger. Auch die Magie darin vermochte die Krankheit, die der Drache über uns brachte, nicht in Schach zu halten, geschweige denn sie besiegen …« »Wo ist Makootemane jetzt?« fragte Nona, deren Blick von den Totempfählen angezogen wurde, die immer noch in der Mitte des Dorfes aufragten. So wie jedes Zelt, jeder Verschlag noch aussahen wie zu jener Zeit, da sie an Landrus Seite hierher gekommen war, um vampirisches Leben zu säen. Das unglaubliche Leben, das der Lilienkelch einst in die Leiber der Kinder einzuhauchen vermochte. Bis er statt Leben nur noch Tod verbreitete … Wyando zögerte kurz. Dann streckte er den Arm aus und wies zu der Bergkuppe, die den Arapaho heilig war. »Es gibt eine Höhle. Er ließ uns wissen, daß er sich dorthin zurückzöge. Er versprach uns Nachricht zu geben, wenn die Gefahr vorüber wäre – und uns zu warnen, falls der Drache ihn dort oben fände.« Nona blieb im Schatten eines der Totems stehen. Die Wintersonne stand hoch im Zenit. Es war der Mittag des 6. Januar. In drei Tagen würde Lilith Bangor besuchen. Ein Haus in einer bestimmten Straße. Wenn Nona dann nicht dort war, würde eine Chance vertan sein, von der sie nicht wußte, wann sie wiederkam. Wenn überhaupt … Die Zeit brannte ihr also auf den Nägeln. Deshalb drängte sie Wyando, fortzufahren. Noch war es zu schaffen. »Und?« fragte sie. »Habt ihr die versprochene Nachricht
erhalten?« Der Mann, der sich Hidden Moon nannte und Nona damit eigentlich schon frühzeitig einen Hinweis auf seine wahre Identität gegeben hatte, ohne daß sie die richtigen Schlüsse daraus zog, nickte. Auch er, der keinen Schatten warf, schaute zur Spitze des Pfahls, auf dem ein nachgebildeter Adler mit ausgebreiteten Schwingen thronte. Das Totemtier des Stammes. »Vater hatte einen Mann aus der Stadt mit sich in den Berg genommen. Keinen Vampir. Einen von Josephs Deputys. Er zwang ihn unter seinen Willen, was nicht schwierig war, und wählte ihn als Bindeglied zwischen ihm und uns. Schon am Tag nach Vaters Abschied und Weggang kehrte unser Nachkomme vom Berg zurück und sprach vom Sturz des Adlers.« »Dem Sturz des Adlers?« echote Mona. »Er sagte, daß es geschehen sei. Daß das Verderben in Gestalt einer purpurfarbenen Wolke auf Vater herabgefallen sei und ihn in den schrecklichen Drachen verwandelt habe, den er in seiner Vision voraussah! Makootemane, unser Vater, wies uns an, das Dorf und die ganze nähere Umgebung sofort zu verlassen. Eine große Distanz sollten wir zwischen ihn und uns bringen, um nicht doch noch vom Feuer des Drachen verschlungen zu werden. Die meisten gehorchten wie von Sinnen. Sie flohen in derselben Stunde, da sie die Nachricht erhielten …« »Warum du nicht? Warum bist du geblieben?« »Weil ich Vater nicht fürchte. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Ich dachte, ich könnte ihm helfen …« Nonas Augen weiteten sich. »Du hast doch nicht etwa versucht, zu ihm zu gehen?« »Noch nicht …«, antwortete Wyando leise. »Das darfst du nie! Niemals! Nicht, solange …« Und dann nutzte sie die Gelegenheit, ihm das zu schildern, was sie über den ›Dra-
chen‹, die Wolke aus Purpurstaub, schlicht über die SEUCHE wußte, die Besitz von Landru und allen ergriffen hatte, die je ihr Blut in den Lilienkelch gaben, um damit das Kelchritual durchzuführen und neue Vampire zu zeugen. »Wenn das, was Chiyoda mir sagte, wahr ist«, schloß sie, »sind die Überträger der Seuche selbst gegen sie immun. Nicht aber jene, die von ihnen infiziert werden, sobald sie sich in ihre Nähe begeben. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, weiß ich, wer hinter dieser Krankheit steckt. Wer es zu verantworten hat, daß überall auf der Welt Kelchkinder dahinsiechen und wie im Zeitraffer sterben, weil selbst unmäßiger Blutgenuß nicht mehr den Fluch des betrogenen Alters von ihnen fernhält!« Wyandos Blick senkte sich in Nonas Augen. »Wer?« fragte er nur mit vibrierender Stimme. »Sag es! Wer hat uns das angetan?« Die Werwölfin weihte ihn in ihren Verdacht ein. Und je länger sie über Lilith Eden, deren Herkunft und Taten sprach, desto mehr vertiefte sich das Grau in den Augen des Vampirs zu mondlosem, unglaublichem Dunkel …
* Drei Tage später Bangor, US-Bundesstaat Maine Es war leicht gewesen, einen Wirkungsort der Vampire ausfindig zu machen. Seit einer halben Stunde beobachtete Lilith das Haus, das einer belagerten Festung glich. Sie kauerte auf dem Dach eines benachbarten Gebäudes und verschaffte sich einen Überblick über die Lage. Die Straße war von einem starken Polizeiaufgebot abgeriegelt. Überall standen Streifenwagen quer, patrouillierten schwerbewaffnete Spezialeinheiten und hielten normale Cops die Schaulustigen
fern. Es gab einen regelrechten Auflauf, eine Demonstration von Menschen. Die Stimmung war aufgeheizt, haßerfüllt. Offenbar hatte sich in den vergangenen Tagen und Wochen soviel Angst unter den Bewohnern Bangors angestaut, daß sie nun dringend ein Ventil brauchten, um sich davon freizumachen. Es war purer Zufall, daß die Behörden gerade an dem Tag, als Lilith ein Hotelzimmer in Bangor bezog, eine heiße Spur zum Versteck der Mörder gefunden hatte, die die Stadt nicht erst seit ein paar Wochen terrorisierten – deren Wirken aber erst seit dieser Zeit sichtbar geworden war und nicht länger in einer unfaßbaren Konspiration vertuscht wurde. Lilith hatte sich nur noch an die Fersen der City Police heften müssen. Die Vampire waren ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage, das Netz der Verschwörung, das sie seit Urzeiten in ihrem Dunstkreis woben, soweit aufrechtzuerhalten, daß es funktionierte. Sie mußten wahnsinnig sein vor Durst. Durst, der durch nichts mehr zu löschen war … Lilith verließ ihren erhöhten Beobachtungsposten und bahnte sich einen Weg zu den Absperrungen. Mit Hilfe ihrer hypnotischen Kräfte gelang es ihr relativ leicht, den Kordon zu durchdringen. Sie draußen wartende Menge mochte sie für eine Polizistin halten – zumindest versuchte das Mimikrykleid eine Uniform detailgetreu zu imitieren. Wer nicht zu genau hinschaute, mochte davon getäuscht werden. Lilith nahm einen der FBI-Agenten, die den Einsatz leiteten und speziell gekennzeichnete kugelsichere Westen trugen, beiseite und verlangte erschöpfende Auskunft über die Situation in dem belagerten Gebäude, dessen Bewohner immer wieder über Megaphone aufgefordert wurden, sich ohne weiteres Blutvergießen zu ergeben. »Letzte Nacht hörte einer der Anwohner Schreie aus dem Haus. Schon in den Tagen davor hatte es Beschwerden gegeben. Den Pro-
tokollen nach gingen Streifenpolizisten den angezeigten Lärmbelästigungen nach, aber sie konnten nichts Verdächtiges entdecken. Aus all den Berichten, die wir jetzt noch einmal durchgingen, war zu lesen, daß die Beamten selbst keinen Grund zu Beanstandungen oder einer Strafverfolgung fanden. Davon sind sie – nach aktueller Befragung – auch jetzt noch überzeugt … Aber letzte Nacht blieb es nicht bei Geschrei und Lärm. Diesmal beobachteten mehrere Anwohner, wie gegen Mitternacht ein Fenster im obersten Stockwerk aufgerissen wurde und jemand unter irrem Gelächter dicht hintereinander mehrere Leichen auf die Straße hinabwarf. Die alarmierte Polizei barg die Opfer und stellte an ihnen die selben Verstümmelungen fest wie an den Leichenfunden, die nicht nur in Bangor und Umgebung, sondern überall im Land seit geraumer Zeit entdeckt werden …« Während Lilith weiter zuhörte, war ihr klar, daß der FBI-Agent hier Interna ausplauderte, die der Öffentlichkeit bislang vorenthalten wurden, um nicht noch größere Ängste zu schüren. Ihr selbst war bewußt, daß die Vampire überall auf der Welt ihre Erkenntnis der plötzlichen Sterblichkeit und Alterung zunächst mit Greueln an der Bevölkerung zu kompensieren versucht hatten. Verständlicherweise taten die Behörden alles, um das wahre Ausmaß der Tötungen zu verschleiern. Die Hintergründe blieben für die offiziellen Stellen ominös, eben schleierhaft. Wer glaubte schon an Vampire? Wieder einmal würden Theorien von Serienmördern oder Massenpsychosen strapaziert werden. Lilith wußte es besser. »Wie viele Gewalttäter halten sich Ihrer Meinung nach in dem Gebäude auf?« fragte sie. »Wir wissen es nicht. Theoretisch kann es ein einziger Mann sein. Der, mit dem wir seit letzter Nacht verhandeln …« »Sie verhandeln? Worüber?« »Er behauptet, lebende Geiseln bei sich zu haben. Wir müssen das ernstnehmen.«
Lilith überlegte. Ein Blutsauger genügte für ihre Zwecke. »Haben Sie vor, das Haus zu stürmen?« fragte sie. »Das kommt darauf an, wie sich die Sache weiterentwickelt. Aber das entscheide nicht ich, sondern …« »Schon gut.« Sie ließ ihn stehen und ging langsam näher auf das Haus zu, in dem ein dem Wahnsinn verfallener, seinem zur Krankheit gewordenen Trieb folgender Vampir mit einem Großaufgebot der Polizei pokerte. Lilith vermutete, daß es sich tatsächlich nur um das Sippenoberhaupt handelte. Alle anderen mußten der Seuche inzwischen zum Opfer gefallen sein. Ob sich wirklich weitere Menschen in seiner Gewalt befanden, würde sich zeigen. Aber Lilith war jetzt schon überzeugt, daß diese Geiseln, falls es sie gab, ebenso unschädlich gemacht werden mußten wie der Vampir selbst. Denn hinter diesen Mauern würde es nichts Lebendiges mehr geben, in das noch nicht der unheilvolle Keim von gierigen Zähnen verpflanzt worden war. Nicht einen einzigen Menschen, der noch Mensch bleiben würde, sobald ihn der Tod ereilte. Der Verlust seiner Seele würde ihn zur Kreatur machen. Und soweit durfte Lilith es gar nicht erst kommen lassen!
* Zur gleichen Zeit in einem Berg bei New Jericho Die Finsternis beeinträchtigte Makootemanes Augen nicht. Im Gegenteil; sie war Balsam für seine geschundene Seele. Er hatte sich in sie gehüllt wie in eine wärmende Decke. Als wäre dieses ›Tuch‹ nicht nur in der Lage, die Schande, die seine Hülle befallen hatte, gnädig zu verbergen, sondern sie ungeschehen zu ma-
chen … Das andere Augenpaar, das die Höhle und ihn betrachtete, konnte er damit nicht täuschen. Es begleitete ihn seit Jahrhunderten. Und daß es seine Treue noch nicht mit dem Untergang bezahlt hatte, machte ihm Hoffnung. Eigentlich hätte sein gefiederter Gesellschafter ebenso verenden müssen, wie die Vision es von den Kindern gezeigt hatte, die Makootemanes Blut einst getrunken hatten, um zu Mitgliedern seiner Sippe zu werden. So mächtig der in ihn gefahrene Drache auch sein mochte, unbesiegbar schien er nicht zu sein. Zumindest, dachte Makootemane bitter, darf ich nicht aufgeben, mir dies selbst einzureden. Was immer mich wie ein Atemzug des Großen Geist traf und vergiftete … ich weiß nicht, wofür meine Kinder und ich büßen sollen. Wie gering sind unsere Vergehen gegen das, was hätte geschehen können. All die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte … Ohne den Blick von den Augen seines Totems zu nehmen, dachte Makootemane: Warum hast du uns verlassen, Großer Geist? Dann schweifte sein Blick zu dem traditionell beschriebenen Lederstück, das ihm vor drei Tagen überbracht worden war. Von einem sterblichen Arapaho, der ihn regelmäßig besuchte, seit Makootemane sich in die Abgeschiedenheit zurückgezogen hatte. Einer aus der Stadt, die von den anderen Arapaho gegründet worden war. Damals, als die Wildnis ihre Unschuld verlor und die ersten Weißen das Land überschwemmten. Makootemane hatte stets seine schützende Hand über all die gehalten, die damals nicht das Geschenk ewigen Lebens und ewiger Jugend erhalten hatten. Bis heute hatte keiner aus Makootemanes Sippe je das Blut eines Weißen getrunken. Sie waren dem Entschluß treu geblieben, den sie damals nach dem Fortgang des Kelchhüters gefaßt hatten. Sie waren sich treu geblieben … Normalerweise reichte der Besucher aus New Jericho Makootema-
ne nur sein Blut. Diesmal war auch eine Botschaft dabei gewesen. Eine Botschaft von Makootemane liebstem Sohn. Von Wyando … oder Hidden Moon. Dem Knaben von einst, bei dessen Taufe der am Himmel stehende Mond im Erdschatten versunken war. Nur kurz, aber lange genug. Im Moment, da die Finsternis ihren Höhepunkt erreicht hatte, war Wyando aus dem Tode wiederauferstanden. Berstend vor Energie. Und in selber Weise – berstend vor Leben – hatte er den Weg Makootemanes und seiner zwölf Geschwister in die Zukunft begleitet. Nun schickte er Nachricht, daß auch er fortgehen wollte. Mit der Wölfischen, die schon damals an der Seite des Lebensbringers gereist war und nun ohne den Hüter zurückgekehrt war … Makootemane hatte nicht erwartet, daß sie alt genug werden würde, um noch einmal den Weg der seinen zu kreuzen. Nun war es geschehen, und gefiel ihm nicht. Am wenigsten gefiel ihm, daß sie behauptete, die Ursprünge dessen, was Makootemane heimgesucht hatte, zu kennen. Und daß sie vorgab, sie mit Wyandos Unterstützung beseitigen zu können. Aber es war zu spät, ihn zurückhalten zu wollen. Wyando und die Wolfsfrau hatten Wald und Stadt bereits verlassen. Sie waren unterwegs. Seit drei Tagen. Und heute – vielleicht in diesem Augenblick – würden sie derjenigen gegenübertreten, von der in Wyandos Botschaft die Rede war. Ein Zwitterwesen, halb Mensch, halb Vampirin, dem die Wölfische zutraute, Quell jener Veränderungen zu sein, die den Untergang der Alten Rasse eingeläutet hatten. Gib gut auf dich acht, dachte Makootemane, und das Herz wurde ihm eng. Aber dann, im nächsten Moment, tröstete ihn wieder sein Totem. Es erinnerte ihn, daß dies nicht die Zeit zum Trauern war. Sondern zum Kampf. Gegen den Drachen, der seinen tödlichen purpurnen Staub auf ihn abgeladen hatte …
* Bangor Der Tote hing mit zerfetztem Hals und schrecklichen Wunden am übrigen Körper zwischen den Geländerstäben der Treppen, die Lilith vom Dach kommend hinabstieg. Sie brauchte ihn nicht zu untersuchen. Es war offensichtlich, daß kein Leben mehr in ihm war – auch kein Pseudoleben. Der Mörder hatte es fertiggebracht, seinem Opfer das Blut zu stehlen, ohne den Keim zu übertragen. Ähnlich mußte er es bei den Leichen getan haben, die er des Nachts aus dem Fenster geworfen hatte. Sonst hätten sie zu Staub zerfallen oder auf andere Weise abnorme Veränderungen zeigen müssen … Trotz des hellen Tages hatte Lilith es gewagt, als Fledermaus zur rückwärtigen Seite des belagerten Hauses zu fliegen und dort durch ein angelehntes Gaubenfenster in den darunterliegenden Speicher einzudringen. Außer wertlosem Gerümpel hatte sie dort nichts gefunden. Auch nichts gehört – außer der megaphonverstärkten Stimme, die in unregelmäßigen Abständen versuchte, den ›Geiselnehmer‹ zur Aufgabe zu bewegen. Lilith hatte ihr Outfit verändert. Die Nachahmung einer Uniform war einem pechschwarzen, hauteng anliegenden Catsuit gewichen, wie sie es am liebsten trug. So gekleidet drang sie tiefer ins Gebäude vor. Bis sie schmatzende Geräusche und irres Kichern auffing. Beides kam aus dem zweiten Stock. Die Tür, hinter der es ertönte, war nur angelehnt. Lilith schlich darauf zu und spähte durch den Spalt. Überall herrschte Halbdunkel, als könnte der Bewohner des Hau-
ses die Mittagshelle nicht ertragen. Nicht mehr. In dem Moment, als Lilith sah, was in dem Raum vorging, ertönte eine wie eingerostet klingende Stimme, die ihr zurief: »Nur herein, nur herein! Allerdings kann ich nicht versprechen, daß ich nicht beiße …« Die Gestalt, die ein unbekanntes totes Mädchen kaum noch schätzbaren Alters über sich gezogen hatte und an den aufgeschlitzten Stellen des Leichnams wie an einem Gefäß von nur zufällig menschlicher Form saugte, lachte schallend über den vermeintlichen Scherz. Lilith mußte sich eingestehen, sich getäuscht zu haben. Das war nicht das Oberhaupt der hiesigen Sippe. Dieser Vampir litt unübersehbar an der Seuche. Mit ausdruckslosem Gesicht drückte sie die Tür vollständig auf und betrat das Horrorzimmer. Es gab nicht nur diese eine Leiche. Lilith zählte drei – und einen Lebenden. Einen Mann von etwa vierzig Jahren. Er starrte apathisch vor sich hin. Vielleicht war er hypnotisiert, vielleicht auch nur völlig erledigt von dem, was er hatte mitanschauen müssen. Lilith hatte ähnliche Szenarien schon gesehen. Leichter wurde es dadurch nicht, sich in sie hineinzubegeben, Teil von ihnen zu werden … »Aber ich«, sagte sie. »Ich beiße. Gibt es Gründe, weshalb ich dich nicht beißen sollte?« Er wußte nicht, mit wem er es zu tun hatte. Er hatte keine Ahnung. »Dafür gibt es tausend Gründe«, entgegnete er. »Ich nenne dir einen: Du willst dir doch nicht die Krätze holen? Ich habe die Krätze … oder irgend etwas in dieser Art. Es juckt. Es brennt. Wärest du an meiner Stelle, würdest du meinen, mit einem Glas Wasser in der Hand zu verdursten … Wo hast du überhaupt gesteckt?« Erneut produzierte er einen gekünstelten Heiterkeitsausbruch. »Wie konnte ich dich nur übersehen? Wie heißt du?« »Und du?«
Er unternahm einen linkischen Versuch, sich vom Boden hochzustemmen. Es mißlang. Unweit eines Fensters fand er sich damit ab und blieb mit dem Rücken gegen die Wand sitzen. Offenbar hatte er den Polizisten von diesem Zimmer aus die Sache mit den Geiseln diktiert, und vermutlich war ihm selbst in seinem Zustand nicht verborgen geblieben, daß es von hier aus keinen Weg mehr in die Freiheit gab. Höchstens ins Gefängnis. Sehr viel wahrscheinlicher als dies war es jedoch, daß ihm die Kugel eines Scharfschützen das Rückgrat zerschmetterte und ihn einäscherte. »Mein Name ist Hyram.« »Sind alle aus deiner Sippe so … durstig wie du geworden, Hyram?« Er nickte übereifrig. »Ja. O ja. Trinken. Ich platze vor Blut. Aber meine Kehle ist trocken. Mein Gefühl fordert mehr. Immer mehr …« »Gefühl? Einer wie du hat keine Gefühle – und am wenigsten verdient er Mitleid, Hyram, das wirst du verstehen …« Sie war nur noch drei Schritte von ihm getrennt. Der Mann, der auf der anderen Zimmerseite auf dem Boden kauerte, nahm immer noch keine erkennbare Notiz von ihr. Trotzdem fragte sie: »Wer ist das? Warum hast du ihn noch nicht leergetrunken?« »Ich habe ihn mir aufgehoben. Ab und zu darf er ein paar Worte hinausplärren, damit sie mich noch ein bißchen in Ruhe lassen. Er ist mein letztes Pfand. Aber wie heißt du? Bitte, ich liebe Namen. Es kommt auf den Namen an … Sag ihn mir!« »Wenn du unbedingt willst.« Lilith lächelte. »Du hast meinen Namen sicher schon gehört. Ich heiße Lilith Eden. Der Zwitter. Der Bastard. Der Wechselbalg. Mein Name ist ein Schimpfwort unter deinesgleichen, nicht wahr?«
»Lilith Eden …« Hyrams Gesichtsausdruck machte deutlich, daß er um ihre Rolle wußte. Alle künstliche Heiterkeit war daraus gewichen. »Nun, die Zeiten ändern sich, Hyram«, fuhr Lilith fort und machte einen weiteren Schritt. »Bald werden nicht mehr viele da sein, die auf meinen Namen spucken können.« Hyram starrte sie an. Aber er empfand keine Furcht. Warum auch? Höchstens Bedauern, daß ausgerechnet die Verfluchte es sein würde, die seiner Existenz ein unrühmliches Ende setzte. »Wer weiß – vielleicht wirst du sogar dem Schöpfer gegenübertreten«, sagte Lilith. »Aber sei gewiß: Es wird kein angenehmes Treffen.« Und mit diesen Worten warf sie sich auf ihn. Der Wahnsinn machte ihn stark. Trotzdem hatte er keine Chance. Weil Lilith es so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Vielleicht hätte man das, was sie hier praktizierte, als eine Abart humanitärer Sterbehilfe bezeichnen können. Immerhin erlöste sie ein Monster, dem das Ende ohnehin schon ins Gesicht geschrieben stand. Die Qual grinste aus jeder einzelnen Falte, die sich im laufe der Wochen in Hyrams Züge gegraben hatte. Eine Landkarte der Zeit. Der sichtbare Beweis, daß es Unsterblichkeit nicht gab. Irgendwo endete jeder Weg aus diesem oder einem anderen Grund. Das tote Mädchen auf seinem Schoß behinderte sie ein wenig. Doch er schleuderte es selbst von sich, um sich dem Angriff zu erwehren. Ein Reflex, der klarmachte, daß er immer noch an seiner Existenz hing. Daß er nicht aufgeben würde, bis sein vergreister Körper unter der Gewalt, die Lilith ihm antat, zerbrach. Oder daß er nicht wollte, daß ausrechnet sie ihn tötete. Liliths Zähne fanden den Weg in seinen schrumpeligen Hals.
Bohrten sich hinein und infizierten ihn mit dem Keim – mit Liliths Keim, der sich grundlegend von dem unterschied, was Hyram und andere Vampire übertrugen. In dem Moment, da er sich in Hyrams Blut entfaltete, war der unersättliche Vampir ihr verfallen. Lilith hätte alles von ihm verlangen können – aber sie wollte nur eines von ihm: »Wo finde ich das Oberhaupt eurer Sippe? Weißt du es?« Ein Schwall schwarzen Blutes quoll über Hyrams Lippen, während er sie mit nachtschwarzen Augen ansah. »Ja. Er hält sich …« Hyram hustete. Spuckte noch mehr Blut. Aber das war es nicht, was ihn hinderte, weiterzusprechen. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte Lilith eine Bewegung. Doch es war schon zu spät, das Folgende zu verhindern. Hyram wurde ihr förmlich aus dem Arm gerissen. »Verräter!« klirrte eine Stimme. Hyrams Mund blieb stumm. Die einzige, dem er noch geantwortet hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre, war Lilith. Aber seine Uhr war abgelaufen. Endgültig. Zwei Meter von Lilith entfernt wurde ihm von dem, der ihn so unwiderstehlich mitgerissen hatte, der Nackenwirbel gebrochen und das Gesicht auf den Rücken gedreht. Der Wahnsinn konservierte sekundenlang ein jenseitiges Lächeln auf Hyrams Zügen. Dann wurde er fallengelassen. Lilith rührte sich noch immer nicht. Ihr Blick schien die aus dem Nichts erschienene Gestalt fixieren zu wollen. »Wenn du wirklich so scharf darauf bist, den Begründer der Bangor-Sippe zu finden, Bastard«, höhnte der Unbekannte, »ist es dir hiermit gelungen!«
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Während Hyram von derselben Magie verzehrt wurde, die ihn einst getauft und aus dem ersten Tod zurückgeholt hatte, schlenderte sein Oberhaupt scheinbar beiläufig zu dem apathischen Menschen, den Hyram sich als ›Notration‹ und Faustpfand aufgehoben hatte. Lilith war noch zu sehr damit beschäftigt, ihre Überraschung zu verdauen, um vorauszuahnen, was der Vampir vorhatte. Blitzschnell bückte er sich und wickelte die Faust um den Hemdkragen des Opfers. Dann riß er ihn ebenso brutal in den Stand und hielt ihn wie einen Schild zwischen sich und Lilith. »Ich habe von dir gehört, Wechselbalg!« schnarrte er. »Du hast schon an vielen Orten für die Dezimierung unserer Rasse gesorgt – schon damals, als man es noch ein stolzes Volk nennen durfte! Das ist vorbei. Die Stolzen sind nur noch ein verschwindend kleiner Rest. Die meisten saufen Blut ohne Sinn und Verstand. Saufen, bis ihre morschen Knochen nachgeben … Wie dieser hier!« Er nickte zu Hyrams Asche, denn mehr war nicht von ihm geblieben. »Und deshalb hast du ein Mitglied deiner eigenen Sippe beseitigt?« fragte sie, unbeeindruckt von seiner Sicht der Dinge. »Nein, nur um die Verhältnisse nicht noch mehr zu komplizieren. Die Medien haben mir den Weg gewiesen. Ich wußte sofort, daß nur einer der meinen hinter dem Blutbad stecken konnte. Dich hier zu finden, habe ich nicht erwartet, obwohl es heißt, du wärest zurückgekehrt …« »Zurück von wo?« versuchte Lilith ihn zum Weiterreden zu animieren. »Das weiß niemand. Aber einige glauben, du wärst verantwortlich für das große Sterben.« »Und was, wenn ich es bin?« »Selbst dann glaube ich nicht, daß man dich zwingen könnte, es rückgängig zu machen …« »Womit du recht haben könntest!«
»… deshalb macht es auch keinen Sinn, es überhaupt versuchen zu wollen! Ich werde jetzt gehen – und du solltest es auch tun, denn …« »Denn?« fragte Lilith. Im gleichen Moment registrierte sie den Rauchgeruch. »Es wird hier gleich etwas ungemütlich«, sagte der Vampir, dessen Name noch nicht gefallen war. »Sehr ungemütlich.« Indem er seine starrblickende Geisel weiter wie einen lebenden Schutzschild vor sich herschob, versuchte er zur Tür zurückzugelangen, durch die er offenbar auch gekommen war. »Wenn auch nur ein wenig von dem stimmt, was man sich über dich erzählt, wirst du kein Menschenleben gefährden. Laß mich also ziehen, und ihm hier –«, er schüttelte den Wehrlosen durch, »– wird nichts geschehen. Ich lasse ihn auf dem Dach frei. Einwände?« Lilith nickte. »Einen.« »Und der lautet?« »Glaub nicht alles, was man sich über mich erzählt!« Noch bevor ihre Worte Zugang zu seinem Begreifen fanden, hatte Lilith ihn bereits erreicht. Der Mann in seinen Armen starb, weil der Vampir gedankenschnell in jenes Metamorphose-Stadium flüchtete, das die Kräfte seines Körpers vervielfachte. Lilith tat dasselbe. Als die Klaue des Vampirs die Kehle des Mannes, an dessen Hals sie Hyrams Biß bemerkt hatte, zerfetzte, nahm er ihr nur eine Arbeit ab, die ihr sonst selbst nicht erspart geblieben wäre. Sie duckte sich, als der Sterbende ihr entgegengeschleudert wurde. Dadurch gewann der Vampir Zeit. Die er zur Flucht zu nutzen versuchte – nicht, um sich auf sie zu werfen. Aber Lilith holte ihn noch auf der Treppe, die zum Dach führte, ein. Das Feuer, das er gelegt hatte, war nun sogar schon zu hören.
Darauf, daß es das Zimmer erreichte, in dem sie sich gerade noch aufgehalten hatten, ehe der Tote zur Dienerkreatur mutierte, wollte sich Lilith nicht verlassen. Vorrang aber hatte zunächst der Gründer der Bangor-Sippe. Mit einem Hechtsprung holte sie ihn mitten auf der Treppe von den Beinen. Warum er noch nicht die vollständige Transformation eingeleitet hatte, um sich im wahrsten Wortsinn beflügelt davonzumachen, blieb sein Geheimnis. Nun war es zu spät. Vehement ringend und ineinander verschlungen rollten Lilith und der Vampir wieder bis zum Absatz der Treppe hinunter. Das Geräusch einer Detonation leitete den Sturm der Polizei auf das Gebäude ein. Der Rauch war auch ihnen nicht entgangen. Auch wenn die daraus gezogenen Schlüsse falsch sein mußten, war ihre Reaktion richtig. Nur nicht unbedingt vorteilhaft für Lilith. Als sie näherkommendes Stiefelgetrampel hörte, wußte sie, was die Stunde geschlagen hatte. Und als die Zähne des Vampir ihr ins Fleisch bissen, nur knapp die Schlagader verfehlten und nur eine kleinere Arterie aufrissen, erinnerte der damit verbundene Schmerz sie an ihr Handicap: Auch sie war nicht unbesiegbar! Und das Geschöpf, mit dem sie sich um den Sieg stritt, wollte ebenso weiterleben wie sie! Noch während ihr Gegner die Zähne in ihren Hals schlug, gelang es Lilith, seinen Arm zu packen. Welche Ader er ihr überließ, war egal. Sie fand die Pulsader in seinem rechten Arm. Und in dem Moment, in dem sie die Zähne hineinstieß, war es vorbei, erlahmte seine eben noch wie tollwütige Gegenwehr. Ihr Keim machte ihn vollkommen ergeben. Er starb entspannt, und noch während der Zerfall sich seiner be-
mächtigte, saugte Lilith so viel schwarzes Blut aus seinem Körper, wie die Zeit es ihr erlaubte. Als der vertraute Schmerz durch das Tattoo in ihrer linken Hand stach, wußte Lilith, daß sie sich der Dienerkreatur im Nebenzimmer nicht mehr würde widmen können. Sie sah schon den ersten Helm eines Elite-Cops. Und dann zielte eine Gewehrmündung auf sie … Obwohl sie den Schuß gerade noch verhindern konnte, indem sie den Blick des Polizisten suchte und ihn auf die Stelle bannte, war ihr klar, daß der nächste Cop bereits schneller als sie sein konnte. Ohne es eine Sekunde länger darauf ankommen zu lassen, floh sie nach oben, Richtung Dach. Und noch ein gutes Stück darüber hinaus …
* Als Lilith ihr Hotelzimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich erst einmal dagegen und schloß die Augen. Atmete durch. Auf diese Weise gelang es ihr, das kaleidoskopische Wirrwarr in ihrem Kopf zu ordnen und wenigstens annähernd zu verarbeiten. Welch ein extremes Leben sie führte … … und was für ein einsames. Bevor die Vergangenheit und die darin verschwundenen Freunde sich mit Nachdruck in ihre Depression mischen konnten, um sie noch mehr herabzuziehen, verdrängte sie die Erinnerung mit aller Macht. Mit schnellen Schritten ging sie zum Fernseher und schaltete ihn ein. Es war ihr egal, welches Programm gerade lief; Hauptsache, es erweckte die Illusion eines Beisammenseins mit anderen. Mit normalen Menschen. Ohne hinzuschauen, ließ sich Lilith von den Stimmen einlullen. Sie
wechselte in das kleine Badezimmer, trat unter die Dusche und drehte das Wasser auf, ohne die Kleidung abzulegen. Die Kleidung legte sich selbst ab. Rollte sich zusammen zu einem schmalen Gürtel, der sich um ihre Taille schlang. Lilith beachtete auch diesen Vorgang kaum. Sie ließ das Wasser auf ihr Gesicht prasseln und gab sich der Illusion hin, mehr für sich tun zu können, als oberflächlichen Schmutz abzuwaschen. Die Ereignisse hatten mehr befleckt als ihre Haut. Wieder einmal. Eine Katharsis wäre ihr jetzt gerade recht gekommen. Eine Reinigung ihrer Gott verpfändeten Seele … WIE SIE DIESES LEBEN HASSTE! Sie hob die Hand und starrte auf das Tattoo. Es wirkte unverändert. Natürlich. Hunderte, vielleicht Tausende von Vampiren würden das Strafgericht, das über ihre Rasse gekommen war, überstehen. Sie alle mußte Lilith ausfindig machen und daran hindern, weiteres Leid über die Menschen zu bringen. Eine schier unlösbare Aufgabe. Aber die einzige Möglichkeit, so hatte sie erfahren, um selbst für alle Zeit vom Fluch des Blutes erlöst zu werden. Irgendwann würde es soweit sein. Es war nicht gut für ihr Seelenleben, an Tagen wie diesen über die Lösbarkeit ihres Auftrags nachzudenken. Sie duschte noch minutenlang. Heiß – kalt, immer im Wechsel. Danach trocknete sie sich ab, hüllte sich in das Badetuch ein und ließ sich vor den Fernseher auf der Couch nieder, um zu warten, daß es dunkel wurde. Das Programm erwies sich als das perfekte Schlafmittel. Lilith schaffte es nicht einmal mehr bis ins Bett …
*
Das Bersten einer Glasscheibe in unmittelbarer Nähe ließ sie unvermittelt aus dem Schlummer hochfahren. Winterliche Kälte wehte ins Zimmer. Es dauerte Sekunden, um sich zu orientieren. Sie lag immer noch auf der Couch. Und Gefahr war im Verzug! Vampire …? Die Schlaftrunkenheit lähmte Lilith. Die Reaktionsbereitschaft ihres Körpers war empfindlich verzögert … Etwas kam durch das zerbrochene Zimmerfenster. Höllisch schnell. Und es hatte eine so unerwartete Form, daß Lilith im ersten Moment glaubte, ein Trugbild zu sehen. Ein … Adler? Vorschnell war Lilith bereit, aufzuatmen. Die Assoziation war einfach zu verführerisch: keine Fledermaus – kein Feind … Der einzige Schönheitsfehler daran war, daß es offenbar nicht stimmte. Innerhalb einer Sekunde hatte der Vogel sie erreicht und war hart gegen ihren Brustkorb geprallt, noch ehe sie überhaupt richtig zum Stehen gekommen war. Und in diesem Tempo – viel zu schnell für ihre verzögerten Reaktionen – ging es weiter. Der Adler war kein Adler. Im Moment des Zusammenstoßes verwandelte er sich und warf Lilith zurück auf das Sofa. Das Badetuch löste sich und fiel zu Boden. Nackt (schutzlos!) wurde Lilith in die Polster geschleudert. Das Gesicht, das vor ihr zu voller Größe explodierte, kam so überraschend, daß sie erneut eine wertvolle Sekunde verlor. Vielleicht war dieses Gesicht – die Augen, die sie anstarrten – auch einfach zu irritierend schön, um etwas Schlechtes darin zu entdecken. Aber dann krachte die Faust des Indianers gegen ihre Schlafe und machte Lilith klar, daß sie sich wieder einmal geirrt hatte.
Sie stürzte in ein tiefes, tiefes Loch …
* … und tauchte nach unbestimmter Zeit wieder daraus empor. Die vordergründige Triebfeder, die ihr half, das Bewußtsein wiederzuerlangen, war … Neugierde! Aber dann begriff sie ihre Lage. Und das wahre Ausmaß der Gefahr, in der sie schwebte. An einen Stuhl gefesselt saß sie vor zwei Eindringlingen. Und eine der Gestalten kannte sie nur zu gut. »Nona …«, rann es über ihre Lippen. Die Frau, die ihr das Messer an die Kehle drückte, war unverwechselbar. »So sieht man sich wieder.« Landrus Weggefährtin verstärkte den Druck des geschliffenen Stahls. »Damit hast du nicht gerechnet, oder?« »Nein, das habe ich tatsächlich nicht«, sagte Lilith und bemühte sich, ihre Nerven im Zaum zu halten. »Du hast dich lange nicht blicken lassen. Ich dachte schon, du wärest tot.« Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre letzte Begegnung mit der Werwölfin in einem nächtlichen Park in Tokio. Nona hatte wenig Grund, ihr die Kehle nicht durchzuschneiden … Oder doch? Sie hätte es gleich tun können. Hatte sie nur deshalb gewartet, um den Triumph besser auskosten zu können? Oder steckte mehr dahinter? »Was führt dich zu mir?« Liliths Augen suchten den Blick des Mannes, der sie auf ganz andere Weise beunruhigte, als Nona es vermochte. Er stand nackt da, an den Türrahmen gelehnt. Offenbar war es ihm nicht möglich, seine Kleidung in die Transformation einzubinden, wie normale Vampire es vermochten. Aber wer sagte denn, daß er überhaupt ein Vampir war?
»Du fragst dich, wer er ist, nicht wahr?« Die Werwölfin war Liliths Blick gefolgt. »Wir wurden uns nicht vorgestellt …« »Das ist Wyando, ein Arapaho. Ein Vampir«, bestätigte Nona ihre Befürchtung. »Er hat mich begleitet, weil auch sein Stamm von dem betroffen ist, was du Landru und vielen anderen angetan hast!« »Ein Vampir …?« Lilith schüttelte den Kopf. Nicht, weil sie Nonas Worten mißtraute, sondern weil sie irgend etwas an dem Gedanken störte, Vampire könnten sich neuerdings auch in etwas, das soviel Positives symbolisierte wie der König der Lüfte, verwandeln. »Er gehört einem Stamm an, den Landru und ich vor langer Zeit besuchten«, sagte Nona. »Hätte ich geahnt, wie einfach es ist, dich außer Gefecht zu setzen, hätte ich seinen Beistand vielleicht gar nicht gebraucht …« Die kurze Regung, die Nonas Worte in den Augen des Indianers hervorriefen, entging Lilith nicht. »Kann er nicht für sich selbst reden?« fragte sie. »Ist er stumm?« »Ich höre lieber zu, als selbst zu reden«, sagte der Indianer mit melodiöser Stimme, ehe er, deutlich schärfer, von Nona verlangte: »Frag sie! Beweise mir, daß sie die Schuld an der Seuche trägt!« »Beweisen?« Die Werwölfin lachte unsicher. »Ich habe dir nichts zu beweisen. Aber wenn du keine Geduld hast …« Sie beugte sich näher zu Lilith und verdeckte so den Blick auf den Indianer. »Wie hast du es gemacht?« fauchte sie haßerfüllt. »Und wie kann man es rückgängig machen?« »Wovon redest du?« fragte Lilith, ohne sich verstellen zu müssen. Sie wußte wirklich nicht, was Nona ihr in diesem Moment vorwarf. »Wovon?« Nona lachte kurz auf, aber es war keine Heiterkeit in diesem Geräusch. »Ich rede von Landru! Vom Lilienkelch! Womit hast du die Sippenoberhäupter so verhext, daß jeder, der mit ihnen in Kontakt kommt, einen qualvollen Tod stirbt?« »Dafür bin ich nicht verantwortlich«, erwiderte Lilith.
»Du lügst!« Das Messer drang in ihre Haut ein. Der Schmerz war auszuhalten. Aber der Gedanke, ausgerechnet durch Nonas Hand zu sterben … »Halt!« rief Wyando. »Wie sollen wir erfahren, wie der Fluch von meinem Vater und allen anderen zu nehmen ist, wenn du sie umbringst?« Nona zögerte. Dann wandte sie sich erneut an Lilith. »Du hörst es. Er mag dich. Du solltest schnell nachdenken, ob es sich für dich persönlich lohnt, weiterzulügen. Ganz, ganz schnell …« »Ich lüge nicht! Selbst wenn ich wollte, ich könnte das, was du ›Fluch‹ nennst, gar nicht rückgängig machen – weil ich es nicht war, der es in Gang setzte.« Nona schenkte ihr keinen Glauben. »Ich hätte mir denken müssen, daß du lieber sterben würdest, als Gnade für deine Widersacher walten zu lassen … Aber ich gebe dir eine allerletzte Chance: Verrate uns jetzt, wie das Sterben gestoppt werden kann, oder …« Lilith rechnete nicht damit, daß Wyando noch einmal zu ihren Gunsten einschreiten würde. Dennoch wiederholte sie die Wahrheit: »Ich habe dieses Sterben nicht in Gang gesetzt – und kann es auch nicht stoppen.« »Damit hast du selbst das Urteil über dich gesprochen!« Die Klinge an Liliths Hals bewegte sich. Aber ehe sie das Urteil wirklich vollstrecken konnte, hörte Lilith Nonas vampirischen Begleiter sagen: »Wenn du das tust, werde ich dich töten! Das solltest du glauben, denn ich mache nie falsche Versprechen!« Die Hand, die das Messer hielt, verharrte. Ohne sich zu dem Arapaho umzudrehen, sagte Nona: »Du mußt den Verstand verloren haben! Sie ist die größte Feindin, die dein Volk je hatte!« »Das bezweifle ich«, sagte Wyando unbeeindruckt. »Woran ich nicht zweifele, ist, daß sie im Angesicht des sicheren Todes die Wahrheit sagt! Senke die Klinge! Sie soll leben!« In Liliths Kopf drehten sich wieder die Steinchen des Kaleido-
skops. Sie war zur Untätigkeit verdammt und konnte nur hoffen, daß sich Wyando durchsetzte – warum auch immer er Partei für sie ergriff. Unvermittelt löste sich die Klinge von ihrer Kehle. Nona wirbelte herum und stapfte auf den Vampir zu. »Du bist eine Schande für deine Rasse!« schrie sie mit überschlagender Stimme. »Wie kannst du ernsthaft von mir verlangen, diesen Bastard zu schonen? Sie wird dich töten, sobald du ihre Fesseln löst!« »Warum sollte sie das?« »Weil sie Vampire haßt!« »Vielleicht haßt sie das Böse«, sagte Wyando und brachte Nona damit endgültig aus dem Konzept. »Aber …« »Und wenn sie ein Feind des Bösen ist, kann sie mein Feind nicht sein«, fuhr Wyando fort, »denn Makootemanes Stamm hat der dunklen Macht schon vor langer Zeit entsagt …« Nicht nur ein Augenpaar, sondern zwei starrten ihn jetzt an, als hätte er den Verstand verloren. Das zweite Paar gehörte Lilith. »Aber wie …«, setzte Nona ein zweitesmal an und verstummte wieder hilflos. Und Wyando erzählte es ihr …
* VERGANGENHEIT Nachdem der Hohe Geist und seine Begleiterin dem Dorf den Rücken gekehrt hatten, zog Makootemane das Tuch hervor, das er heimlich mit Kelchblut getränkt hatte. Es schillerte so machtvoll, daß er sich plötzlich wieder klein und unbedeutend wie ein Sandkorn fühlte.
Aber nur für einen einzigen Moment. Dann schweifte sein Blick zu den Kindern, die – wie er – den Tod besiegt hatten. Dank seines Blutes, das durch ihre Kehlen geronnen war. In den Augen dieser Kinder las Makootemane denselben Schmerz der Reife, der auch noch in ihm selbst rumorte, aber bald, sehr bald vergessen sein würde. Wortlos ließ er sie stehen und zog sich in sein Zelt zurück. Vater und Großvater waren tot. Nur seine Mutter lebte noch. Sie kauerte in einem Winkel. Makootemane beachtete sie nicht. Er hatte nur Augen für den stolzen Vogel, der hier auf ihn gewartet hatte, als könnte er ahnen, welches Geschenk Makootemane ihm machen wollte. Der Arapaho trat zu ihm und zeigte das nasse Tuch. Der Adler blieb ganz ruhig sitzen, hob den Kopf und öffnete den Schnabel. Für Makootemane war dies die endgültige Gewißheit, daß seine Vision – die Vision, die ihn im Moment der Mondverdunkelung ereilt hatte, wahrer und mächtiger war als die erste, mit der er auf dem Heiligen Berg konfrontiert worden war. Es war eine Vision vom Einklang mit der Natur, nicht vom berserkerhaften Unterdrücken der Schwächeren … Er legte das blutige Tuch in seine Hand zurück, ballte sie zur Faust und hob sie dicht über den Kopf seines Totemtieres. Dann preßte er es so fest er konnte zusammen. Nach einer Weile tropfte es zäh und schwer unter seinen Fingern hervor – und in den Schnabel des Vogels, der im nächsten Moment zuckend, aber mit angelegten Flügeln in Makootemanes Arme fiel. Voller Vertrauen. Und mit dem Wissen, daß dies nicht das Ende war. Nicht lange danach fing das Herz unter dem Gefieder wieder an zu schlagen. Und mit seinem Erwachen rührte sich auch etwas in Makootemane; etwas, das die Verbindung zu seinem Totemtier vervollkommnete.
Makootemane konnte spüren, wie der Geist des Tieres in dem seinen aufging. Wie sein Haß, seine Rach- und Geltungssucht, die der Hohe Geist als Ideale in ihn gepflanzt hatte, zurückgedrängt wurden. Mit dem Adler auf dem Arm verließ Makootemane das Zelt und kehrte zurück zu seinen Kindern. Von dieser Stunde an wich das Tier nicht mehr aus ihrem neuen Leben. Der Adler wurde zum Inbegriff dessen, was Makootemane in die reifenden Angehörigen seines Stammes pflanzte. Nicht die Schrecken, die der Hohe Geist ihnen als Ideal beschrieben hatte, sondern eine Alternative. Mit der Zeit fanden sie immer tieferen Kontakt zu dem Geist, der ihr lebendes Totem erfüllte. Die ungetauften Arapaho führten ein Leben Seite an Seite mit denen, die ihr Blut brauchten. Aber nie mußte ein Stammesmitglied dafür sein Leben lassen, und wenn er an Krankheit, Verletzung oder Alter starb, schrieb ein Ritus vor, wie mit seiner Leiche zu verfahren war, damit sie sich nicht als seelenlose Dienerkreatur erheben konnte. Was auch immer die Arapaho vom Weg der Alten Rasse abgebracht hatte, es mußte eine Kraft sein, die in der reinen Tierseele des Stammes-Totems wurzelte. Der Atem Manitous. Eine Kraft, die mit der Zeit sogar in der Lage war, die Körper der Indianer immer mehr nach ihren Vorstellungen zu formen. Es begann in den Nacken der uralten Kinder. Und niemand wußte, wie und wo es einmal enden würde …
* GEGENWART Lilith starrte immer noch auf die Tür, durch die Nona und der Indianer verschwunden waren.
Ohne sie zu töten. Sie hatten Lilith einfach an den Stuhl gefesselt zurückgelassen, wissend, daß sie sich nur in eine Fledermaus zu verwandeln brauchte, um den Stricken zu entkommen. Aber damit zögerte sie. Sie wußte nicht, was sie abhielt, die Verfolgung aufzunehmen, Nona und ihren Begleiter zu stellen. Statt dessen saß sie da und fragte sich, wann sie ihn das nächste Mal wiedersehen würde. Ihn. Der Blick seiner Augen ließ sie nicht wieder los, und noch schien es ihr unvorstellbar, daß er mehr sein könnte als ihr gottbefohlener Feind. Noch … Epilog In tiefer Meditation versunken hatte Makootemane die Nacht bis zum Morgengrauen verbracht. Nur so war es ihm gelungen, den Angriff des Purpurdrachen, dessen Reich die Finsternis war, zu seinen Gunsten hinauszuzögern. Jetzt, da sich das gleißende Gestirn über den Horizont schob und die Kuppe des Berges mit goldenem Licht überflutete, war die Zeit gekommen. Denn die Sonne war sein Verbündeter. Makootemane tauchte aus der Trance empor wie aus den Tiefen eines friedlichen Ozeans. Und wie die Oberfläche eines Gewässers, so durchbrach sein Geist eine Ebene der Wirklichkeit, hinter welcher der Drache lauerte. Der Drache, der aus dem Lilienkelch gekommen und jedes Sippenoberhaupt – auch ihn – mit seinem Odem vergiftet hatte. Makootemane stellte sich ihm in der Gestalt seines Totemtieres. Als majestätischer Adler. Der Purpurdrache war auf seinen Angriff vorbereitet. Seine
Schuppen glitzerten wie Millionen winziger Diamantsteine, als er sich zu voller Größe emporreckte. Seine Schwingen peitschten die Luft, sein Hals bog sich dem Adler zu, und Makootemane konnte den Pestatem spüren, der ihm entgegenschlug. Mit raschem Flügelschlag schwang er sich in die Höhe und entging dem verderblichen Hauch. Im nächsten Moment war er über dem Kopf des Drachen, legte die Schwingen an und stürzte, die Krallen weit vorgereckt, auf ihn nieder. Der Kopf des Ungeheuers schwang zur Seite, doch ganz konnte es der Attacke nicht entkommen. Eine Kralle zog eine tiefe Spur über das linke Auge. Schwarzes, glänzendes Blut schoß heraus, und eine wässrige Substanz, die, als sie aus der Pupille floß, Blindheit zurückließ. Der Purpurdrache brüllte, daß selbst die Luft erbebte. Gedankenschnell setzte Makootemane nach, doch der Hieb seines Schnabels nach dem anderen Auge ging fehl. Der Drache wich zurück. Das Peitschen seiner Flügel entfachte einen Sturm, der Makootemane erfaßte und davonwirbelte. Aber das Untier war angeschlagen. Es schüttelte den Kopf, versuchte mit nur einem Auge die Orientierung wiederzufinden. Makootemane sah seine Chance. Er stemmte sich gegen den Sturm und näherte sich dem Drachen von der linken, der blinden Seite. Sein zweiter Angriff traf den Drachen fast unvorbereitet. Während er noch nach dem Adler Ausschau hielt, stieß der erneut auf ihn herab. Nur knapp entging das Untier der vollkommenen Blindheit, doch sein Augenlid zerriß unter Makootemanes Krallen. Der Drache spie purpurfarbenes Feuer; unkontrolliert, ohne den Adler zu treffen. Nun befand er sich eindeutig auf dem Rückzug. Sein überhebliches Gehabe hatte sich in ein furchtsames Ducken verwandelt, zerschmettert unter der Erkenntnis, daß ein so unbedeutendes Individuum wie das Oberhaupt einer Indianersippe sei-
ner Macht nicht nur begegnet war, sondern sie sogar erfolgreich bekämpfte. Nur kurz war Makootemane versucht, dem waidwunden Gegner nachzusetzen, um ihn vollends zu töten. Er wußte, daß genau dies die Art von Selbstüberschätzung war, die dem Drachen zum Verhängnis geworden war. Er mußte sich damit begnügen, die Seuche, deren Sinnbild der Drache war, aus seinem Körper vertrieben zu haben. Der Kampf war auf einer rein geistigen Ebene geführt worden. Ein zufälliger Betrachter hätte nichts als einen alten Indianer gesehen, der mit verschränkten Beinen auf dem Boden der Höhle saß und dessen unter den Lidern tanzenden Augen allein davon kündeten, daß er Dinge sah, die unsichtbar nur in seinen Gedanken existierten. Augen, die sich nun öffneten. Beine, die den Sitz aufgaben, um den greisen, verbrauchten Körper in die Höhe zu stemmen. Ein alter Mann, der die Höhle verließ, um zu seinem Volk zurückzukehren. Als Sieger über Manitous Zorn … ENDE
Finstere Begierde Leserstory von Sven Später Als ich ihr das erste Mal begegnete, wußte ich sofort: Sie ist die Richtige, die Auserwählte. Ihr rabenschwarzes Haar fiel seidig auf die schmalen bleichen Schultern, ihre Körperhaltung kam der einer Königin gleich. Nicht überheblich, doch stolz und aufrecht, umgeben von einer natürlichen Aura der Erhabenheit. Dunkle Augen in einem zarten Gesicht mit fein geschnittenen Zügen suchten beinahe angriffs-, auf jeden Fall aber abenteuerlustig meinen Blick. Sie schien die Gefahr zu spüren, die von mir ausging, aber das machte dieses junge Mädchen nur wagemutiger. Vermutlich gab es nur wenige Dinge, die diesem lieblichen Geschöpf Angst einjagen konnten. Mit dunkelrot geschminkten Lippen formte sie Worte, die süß an meine Ohren drangen, und ihre Stimme schien ein Engelslied zu mir zu tragen. Verzweifelt versuchte ich mein Gesicht abzuwenden, um sie nicht mit mir zu reißen in die ewige Finsternis, in der ich lebte. Sie war so jung und schön. Viel zu jung, um die kalten Lippen zu küssen, die ihr den Tod bringen würden, und viel zu schön, um niemals wieder in der warmen Sommersonne Spazierengehen zu dürfen. Welche Magie umgab dieses feengleiche Wesen? Meine Augen glitten an ihrem schlanken Körper hinab. Sie trug ein dunkelblaues kurzes Kleid. Die geschmeidige Haut ihrer wunderschön geformten Beine glänzte im hellen Mondlicht. Wäre ich ihr in meiner Wolfsgestalt begegnet, hätte ich sie womöglich erst gejagt und immer wieder nur leicht gebissen, hätte sie bis zur totalen Erschöpfung gehetzt und sie letztendlich zu Fall gebracht. Doch nun, da ich in meiner menschlichen Maske vor ihr stand, spielten die bru-
talen tierischen Gelüste kaum mehr eine Rolle. Nur für Sekunden überkam mich das Verlangen, meine scharfen Hauer in ihr warmes Fleisch zu jagen und ihren wundervollen, verzweifelten Schmerzensschreien zu lauschen. Wie gesagt, es war lediglich ein kurzer, unkontrollierter Augenblick, denn der süße Duft ihres jungen, unschuldigen Blutes war verlockender als der ihrer geschmeidigen Haut. Außerdem hatte ich nicht das Verlangen, ein solches Meisterwerk der Natur in wilder Gier zu zerstören. Der Geruch des roten Saftes war so voller Leben, voller Reinheit. Er betäubte meine scharfen Sinne und ließ mich teilhaben an ihrer Sterblichkeit. In ihren Adern pulsierte meine Nahrung, doch wollte ich nicht, daß sie zu meinem Opfer wurde. Sie sollte ihr Leben nicht in meinen Armen aushauchen. Vielmehr wollte ich die Ewigkeit mit ihr teilen. Nicht vielen Sterblichen ist es gestattet, in unsere Reihen aufgenommen zu werden, die Geschichte der Menschheit über Jahrhunderte hinweg selbst miterleben zu dürfen, einen Hauch der Unendlichkeit zu schmecken. Wir bleiben unberührt von der Zeit, überleben selbst die mächtigsten Schöpfungen menschlichen Ehrgeizes. Wir sind die wahren Kinder der Erde. Unser Reichtum liegt in den Erfahrungen, die wir sammeln, während wir beobachten, wie Königreiche erblühen und zerbersten. Im sicheren Mantel der Nacht lauschen wir den Schreien der Glücklosen und hören das freudige Gelächter der Glücklichen. Uns kann die Vergiftung der Welt nicht viel anhaben, es sei denn, wir werden unserer Nahrung beraubt. Krankheit und Tod bleiben für unsere Art ohne Schrecken. All dies wollte ich ihr schenken. Ja, ich liebte sie und wollte, daß sie weiterlebte, für immer. Aber ich hatte auch Bedenken. Einigen von uns stieg die Unsterblichkeit zu Kopfe. Sie mißbrauchten ihre mentalen und physischen Kräfte. Was, wenn ihr das gleiche Schicksal widerfuhr? Wenn sich meine zarte Elfe in eine bestialische Krea-
tur der Nacht verwandeln würde? Ich erkannte plötzlich, was hinter dem bezaubernden Lächeln lag, sah ihre wahre Natur. Nun wirkte sie nicht mehr unfehlbar. Sie war immer noch unglaublich schön, aber so, wie sie mit ihren Reizen spielte, konnte ich nicht erwarten, daß auch ihre Seele makellos war. Ja, sie spielte die reine Prinzessin, doch tief in ihrem Herzen brannte das Feuer der Eitelkeit und der Gier. Aber natürlich! Sie wollte mich benutzen, um Macht zu erlangen, Eiskalte Wut ergriff mich, und Liebe verwandelte sich in zehrende Wut, angefacht von dem Trugbild, das sie mir, einem Vampir, einem Fürsten der Nacht zu offenbaren wagte. Dafür sollte sie büßen. Sie verdiente es nicht, mit mir zu gehen und die Unsterblichkeit kennenzulernen. Bevor sie mich erreicht hatte, nahm ich die Gestalt des Wolfes an und stürzte mich auf sie. Ihre Schreie zerrissen die Stille der Nacht, als ich Stück für Stück das Leben aus ihrem Körper riß. Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, bedauerte ich meine Entscheidung, wie schon so oft. Ich schaffe es einfach nicht, in die Herzen der Menschen zu blicken. Vielleicht waren ihre Absichten ehrlich gewesen. Sei es drum. Mir werden noch viele trügerische Göttinnen begegnen, und vielleicht kann ich eines fernen Tages meine Wut vergessen, die mich zerstörte, als ich noch sterblich war. ENDE (© 1997 Sven Später, Kuseler Str. 19, 66871 Pfeffelbach)
Glossar Blut – Ein Lebenselixier, ganz besonders für die Vampire. Blut bedeutet Leben und Vitalität, und in der Vergangenheit wurden ihm magische Eigenschaften angedichtet. So mancher Krieger trank das Blut seiner Feinde, um sich deren Kraft anzueignen. Auch Vampire trinken Blut, allerdings zum Erhalt ihrer dunklen Existenz. Muß ein Vampir für längere Zeit darauf verzichten, so beginnt er unaufhaltsam zu altern. Selbst wenn er danach große Mengen zu sich nimmt, kann der Prozeß nur zu einem kleinen Teil rückgängig gemacht werden. Das erklärt, warum es Vampire in allen Altersstufen gibt. Tierblut nährt sie übrigens nur unzureichend; sie benötigen Unmengen davon, und es hält nicht lange vor. Chiyoda – Ein alter Werwolf (>), der sich dem Fluch, zum Vollmond Tiergestalt anzunehmen und dem Jagdinstinkt zu verfallen, erfolgreich widersetzt. In einem abgelegenen Kloster in der Mandschurei im nordostchinesischen Tiefland vermittelt er einer kleinen Gruppe von Jüngern seine Lehre. Chiyoda ist mental begabt; er kann in die Vergangenheit und mögliche Zukünfte schauen und sich körperlos darin bewegen. Eine seiner engsten Vertrauten ist die Werwölfin Nona. El Nabhal – Ein Schwarzmagier, der in einer Oase im afrikanischen Mauretanien lebte, umgeben von einem Rudel Werwölfe (>), das unter seinem Befehl stand. Teil seiner Macht waren magische Tücher, die alle möglichen Empfindungen bei ihren Trägern hervorrufen konnten. Nona war lange Zeit seine Gespielin, bis sie ihn an Landru verriet und ihn mit einem seiner Tücher tötete. El Nabhals Geist fuhr jedoch in das Tuch, und er existierte darin weiter. Als er sich in wechselnden Gastkörpern an Nona rächen wollte, wurde er von Chiyoda (>) endgültig
vernichtet. Werwölfe – Die zweite alte Rasse neben den Vampiren. Bislang weiß niemand, wie der erste Werwolf entstand. Fakt ist, daß der Wolfskeim im Blut (>) durch eine Verletzung an Menschen weitergeben wird und bei Vollmond die Kontrolle über Körper und Geist erlangt. Viele Werwölfe leben in Rudeln zusammen, ebenso viele sind Einzelgänger. In den drei Tagen vor und nach jedem vollen Mond können die Befallenen sich in Wölfe verwandeln, die etwas größer und ungelenker sind als normale Tiere. Ältere Werwölfe können ihre Metamorphose besser kontrollieren; Chiyoda (>) vermag sie sogar zu verhindern. Die toten Körper der Vampire sind übrigens gegen den Keim immun. Die klassische Methode, einen Werwolf zu töten, ist Silber in Form einer Kugel oder eines Dolches.
Der Tod im Eis von Timothy Stahl Er war in einem mit Flüssigkeit gefüllten Tank erwacht, angeschlossen an Drähte und Sensoren und ohne Erinnerung an sein bisheriges Leben. Was daran lag, daß er kein bisheriges Leben hatte. Er war ein Homunkulus, ein genetisch geschaffener Vampir. Seine Aufgabe: sich zu vermehren, so schnell und effektiv wie möglich. Dieser Plan scheiterte. Sein Nachwuchs starb, als das Schiff, auf dem er vor seinen Schöpfern floh, ausbrannte. Ihm selbst gelang es, sich nahe Alaska ins Meer zu retten. Vom Feuer ins Eis. Aber Kälte konnte ihm nichts anhaben. Er trug die Hölle in sich. Und er würde sie zu denen bringen, die ihn fanden …