Der bittere Kelch Version: v1.0
Die indische Hauptstadt Delhi war ein Monster. Aber das wurde den Touristenschwärmen, ...
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Der bittere Kelch Version: v1.0
Die indische Hauptstadt Delhi war ein Monster. Aber das wurde den Touristenschwärmen, die sei ne orientalischen Viertel, die engen Gassen und Ba sare, Tempel und Moscheen bei Tag besuchten, nie mals bewußt. Man mußte die alte Kernstadt am Rande der Gan ges-Ebene schon bei Nacht und in ihren abseits ge legenen Winkeln erleben, um den fauligen Atem des Todes und das verdorben pulsierende Herz ro her Gewalt aufzuspüren. Doch wer mochte das schon …?
Was bisher geschah Ein Korridor unter der Wüstenstadt Uruk führt in vergangene Epochen, die be deutsam waren für das Vampirgeschlecht. Hier erleben Luther und Romano, wie der Pharao Echnaton von der Vampirin Nofretete zum Blutsauger gemacht wurde. Er soll den Nexius, ein amorphes Monstrum, das einst dem Kelch ent sprang, in eine unterirdische Pyramide einkerkern. Und sie erfahren von einer »Dunklen Arche«, auf der die Vampire die Sintflut überlebten. Als Luther und Romano beim Bau der Arche umkommen, finden sie sich in Uruk wieder – am Ende des Korridors. Felidae langt im Uruk der Gegenwart an, wo das LICHT ihr eine Vision schickt: Landru wird noch vor Lilith hier eintreffen und deren Mission gefähr den! Als Ablenkungsmanöver erhält Lilith den Auftrag, den Nexius zu befreien! Doch Grabräuber sind schon dabei, die unterirdische Pyramide zu öffnen. Landru will dies verhindern, kommt aber zu spät: Die amorphe Masse erwacht! Bei ihr ist eine junge Frau: Nofretete, die damals zusammen mit dem Nexius eingeschlossen wurde! Sie ist es auch, die Liliths Plan letztlich vereitelt. Der Halbvampirin gelingt es zwar, den Eingang hinter Landru zu schließen, doch Nofretete kennt eine Fluchtmöglichkeit. Mit knapper Not gelingt es, den Nexius wieder in seinen unterirdischen Kerker zu bannen. Landru läßt Nofretete bei der Kairoer Sippe zurück, nicht ahnend, daß in ihr ein Teil des Nexius lebt … Lilith ist unterdessen in der Türkei angelangt, wo sie ein eiförmiges Gebilde bergen soll: die »Agrippa«. Sie findet sie im »Dunklen Dom« – und stößt auf die bislang unerweckten Kelchhüter, denen auch Landru angehörte. Sie waren die Vampire, die damals die Sintflut überlebten! Mit der Agrippa hofft Lilith die Macht, die hinter allem steht, zu klaren Aussagen zu zwingen, doch als sie ver sucht, das LICHT zu erpressen, kommt Schmerz über sie. Der Grund ist Beth, die in einer Missionsstation in Kairo, wo Lilith sie zurück ließ, vom LICHT versklavt wird. Beth formt ein Abbild von Lilith und quält es immer dann, wenn die Freundin sich gegen ihre Bestimmung auflehnt. Als Li lith die Mission mit der Agrippa erreicht, stößt Beth einen Nagel durch die Pup pe – und schaltet damit Liliths Willen aus. Nun ist auch sie eine Marionette des LICHTS.
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin. 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit er wacht. Nun kämpft sie gegen die Vampire, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lili enkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalis tin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf ge gen die Vampire. Duncan Luther & George Romano – Zwei Tote, die Liliths Keim in sich tragen. Sie haben einen Tunnel in Uruk/Irak freigelegt und folgen ihm nun. An seinem Ende soll sich bald Liliths Bestimmung erfüllen. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lili enkelch trinken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubrin gen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampir keim nicht weitergeben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zuneh mendem Alter immer lichtempfindlicher.
Tod und Zeit … Die Zerstörer aller Dinge. A. L. Basham Die Vorstellung hatte noch nicht begonnen. Doch sämtliche KathakaZi-Tänzer standen schon vorne auf der von Kerzen erhellten Bühne, bereit darzubieten, was ihr Choreograph mit ihnen einstudiert hatte. »Ich sehe neue Gesichter.« Tanor räusperte sich. »Woher hast du sie?« »Die üblichen Quellen«, erwiderte der Mann, der neben ihm stand und den Blick nicht von den Akteuren und Aktricen wandte, die sich in diesem Moment auf seinen Wink hin aus der Erstarrung lös ten, um mit der Aufführung zu beginnen. Der kindliche Trommler etwas abseits des Podestes untermalte das ansonsten stumme Spiel der reich kostümierten Gestalten. Einzig das Gesicht des ›Helden‹ war mit grüner Farbe und einem aufge klebten weißen Papierbart speziell gekennzeichnet. Die Schminke der anderen wirkte eher uniform. Und die Pantomime, mit der sie sich ihrem Publikum mitteilten, beschränkte sich auf die Variations möglichkeiten ihrer Handstellungen. Ein Bühnenbild gab es nicht. Nur eine stoffbespannte Rückwand, auf der in tamilischer Schrift das Wort INDRAPRASTHA stand – wie die Stadt in grauer Vergangenheit geheißen hatte. Aber das ein zige, was noch an jene Zeit der hohen Blüte erinnerte, war dieses Epos namens ›Mahabharata‹, das Patnaik als Grundlage für seine Aufführung genommen hatte. Die Ruinen Indraprasthas schlum merten weiterhin verborgen unter den schattigen Hügeln des Jum na-Ufers … Tanor war alles andere als bei der Sache. »Ich bin nicht gekom
men, um mich zu amüsieren«, sagte das Vampiroberhaupt von Del hi schroff. »Wenn du mich nur wieder wegen des Erweckten behelligen willst«, versetzte Sahya Patnaik ebenso brüsk, »muß ich dich weiter hin enttäuschen: Die Verbindung ist abgerissen – vermutlich für im mer! Einmal meinte ich etwas zu erfühlen, was einer Spur gleichge kommen wäre – aber bevor ich mich vergewissern konnte, erlosch der flüchtige Kontakt wieder …« Das Haar des ›Erweckers‹, der – wie er bei der Reanimierung Dun can Luthers bewiesen hatte – auch ein begnadeter Chirurg war, hing wie die zottige Mähne eines Tieres bis weit hinab auf den Boden. Um den fleckigen Mund breitete sich grauer Bartfilz, der auf die trichterförmig eingefallene Brust auflag. Er trug Sandalen und ein um die schmalen Hüften gefaltetes, mit Symbolen übersätes Tuch. Sein Bauch wirkte aufgeschwemmt und sprang – durch den Kon trast zur sonst dürren Statur – sofort ins Auge. Amulette klimperten bei jeder hektischen Bewegung, und in die vergilbten Zähne waren winzige kunstvolle Figuren von abgründigem Charakter eingeschlif fen. »Bist du sicher, daß du wirklich alles versucht hast?« fragte Tanor gereizt. »Alle Register gezogen …?« Seit er Landrus Identität entlarvt hatte, stand er auf Seiten des ehe maligen Kelchhüters, denn der Diebstahl des Lilienkelchs und die damit verbundene Ohnmacht, neues vampirisches Leben zu zeugen, wuchs sich mehr und mehr zur globalen Krise aus. Niemand bereiste mehr die Sippen, um Menschenkinder nach dem genau vorgeschriebenen Ritus zu töten und ins unsterbliche Le ben zu erheben. Das Fortpflanzungsritual war zu unlösbar mit dem gestohlenen Gefäß verknüpft und folglich ohne den Kelch nicht durchführbar …
Landru hatte Tanor von den Bemühungen Heraks berichtet, Nach wuchs aus der Retorte zu züchten – geklonte Vampire – und so den Verlust des Lilienkelchs bedeutungslos zu machen. Aber welche Ziele das Sydneyer Oberhaupt in seiner Genschmiede tatsächlich an strebte, wußte nicht einmal Landru. Herak war ein unsicherer Kan didat. Seine Abkehr von der blutgläubigen Alchemie vergangener Jahrhunderte hin zu den Erkenntnissen moderner Wissenschaft machte ihn nicht berechenbarer; ganz im Gegenteil. Sein Werdegang – die Art und Weise, wie er sich aus dem Fahrwasser seines Vorgän gers Hora gelöst hatte – riet zu einem hohen Maß an Vorsicht und gesundem Mißtrauen. »Im allgemeinen zweifelt niemand an meinen Fähigkeiten!« grollte Patnaik. Aus seinem Mund rann gelblicher Speichel, seine Augäpfel schienen zu flirren, so heftig zitterten sie in den tiefliegenden Höh len des knochigen Gesichts. »Niemand«, erwiderte Tanor ungerührt, »der dir gegenübersteht, vermag zu glauben, daß du deines Handwerks mächtig bist …!« Nach kurzem Schweigen fügte er jedoch versöhnlich hinzu: »Aber ich weiß, daß du ein Virtuose auf der Klaviatur des Jenseitigen bist. Nicht umsonst umgibst du dich mit Mustern deines Könnens …« Seine Geste umfaßte die auf der Bühne aufgereihten Akteure, die Patnaik aus Krematorien und Leichenhallen, seltener aus frischen Gräbern entwendet hatte. Er hatte eine Vorliebe für Kastenlose und für Frauen aus dem horizontalen Gewerbe (seine Neigung zu nekro phil-lustvoller Beschäftigung war kein Geheimnis). Es schien uner heblich, ob die Kadaver der Ausgestoßenen einer Krankheit, einem Unfall oder gezielten Gewaltakten zum Opfer gefallen waren. Wich tig für Patnaik war allein, daß sie noch eine genügende Substanz be saßen, um zu düsteren Ikonen seiner Egozentrik geformt zu werden. Inzwischen war das Haus voll von ihnen. Ein einziges Mal, so hatte er voller Stolz berichtet, war er von sei
ner Vorliebe für gesellschaftliche Außenseiter abgewichen. In einer Zeitung hatte das Bild einer wunderschönen Frau sein Interesse ge weckt. Sie war Opfer eines feigen Mitgiftattentats geworden, mit Benzin übergossen und angezündet worden, um den Weg für eine neue, gewinnbringende Eheschließung freizumachen. Zwar hatte das Feuer ihren Körper nicht völlig zerstört, aber die Verbrennun gen waren zu großflächig gewesen, als daß man sie hätte retten kön nen. Patnaik hatte nicht geruht, bis er sie in einer staatlichen Pathologie aufgespürt hatte und sie sich für ein paar Rupien aneignen konnte. Durch geschickte Hauttransplantationen hatte er ihr schließlich den Reiz früherer Schönheit zurückgegeben – und als Dreingabe ein en gelhaftes Lächeln, das sie unablässig zur Schau trug. Diese Frau hütete er wie einen Schatz. Auch Tanor hatte sie nie zu Gesicht bekommen. »Ich ging auch bei deinem damaligen Wunsch sorgfältig zu Wer ke«, verteidigte sich der Meister der Nekromagie. »Jener Mann, den ich aus dem Totenstand zurückholte und nach deinen Vorgaben präparierte, war mir gelungen. Wenn er sich verselbständigte, so liegt dies an Komplikationen, die unvorhersehbar waren. Du …« Tanor unterbrach ihn ungeduldig. »Ich komme noch wegen eines zweiten Anliegens.« Patnaiks steinfarbene Augen schienen einen Sekundenbruchteil stillzustehen. »Ein neuer Auftrag?« Der Vampir, wie stets nach alter Yogi-Sitte gewandet, nickte be dächtig. »Ein ganz besonderer sogar. Vielleicht bedeutsamer als al les, was du je zuvor für mich getan hast.« Möglicherweise entscheidend über Wohl und Wehe meines Volkes, fügte Tanor in Gedanken hinzu, doch er hütete sich, es auszusprechen. Daß Landru und er um die Zukunft der Alten Rasse fürchteten und
gemeinsam versuchten, sie zu retten, brauchte kein Außenstehender zu erfahren. Noch nicht. »Du verstehst es, mich neugierig zu machen«, erwiderte der ›Er wecker‹ möglichst beiläufig. Doch Tanor spürte das mühsam unter drückte Vibrieren seiner Stimme. Patnaik gierte nach den Aufgaben, die das Oberhaupt der Delhi-Sippe ihm immer wieder stellte. Sie be deuteten Herausforderungen, an denen er sein Ego messen konnte. Und er war noch nicht an einer einzigen gescheitert. »Worum willst du mich bitten?« fragte der Zottige, als Tanor schwieg und das Geschehen auf der Bühne beobachtete, als wäre es nun plötzlich auch für ihn interessanter als alles andere. Der kahlhäuptige Vampir tat, als hätte ihn erst Patnaiks Stimme in die Wirklichkeit zurückgeholt. Dazu bedurfte es keiner großen Schauspielkunst, denn seine Gedanken hatten sich in der Tat ent fernt. In die Zukunft – in eine mögliche Zukunft, für die Landru und er die Voraussetzungen noch schaffen mußten. Bald … »Ich habe einen Boten nach Tokio geschickt«, begann er weit schweifig. »Wie mir zugetragen wurde, haben unsere dortigen Brü der und Schwestern etwas in ihren Besitz gebracht, das für mich von Interesse und wohl auch von größerem Nutzen als für sie ist. Mein Gesandter wird diesen Gegenstand holen und zu mir bringen.« »Worum handelt es sich bei diesem … Gegenstand?« Patnaik hatte plötzlich gar keine Mühe mehr, seine Neugier zu verhehlen. Weil sie fast erloschen war. Bloße Dinge vermochten ihn nicht zu fesseln. Al lein Dinge, die man mit Wesen tun konnte, reizten ihn. »Um ein sagenumwobenes Artefakt unseres Volkes«, antwortete Tanor und setzte eine genau bemessene Pause, in der sich Sahya
Patnaiks Interesse fast vollends verflüchtigte. Erst bevor der aller letzte Funke verglimmte, setzte er hinzu: »Ein scheinbar toter Ge genstand – der möglicherweise mit mehr Leben erfüllt ist, als du dir vorstellen kannst.« Tief in Patnaiks Augenhöhlen, die wie dunkle Schächte in seinen Schädel hineinreichten, begann etwas zu flimmern. »Du möchtest, daß ich dieses Leben für dich erforsche?« vergewis serte er sich. Tanor nickte langsam. »Ja, ich möchte, daß du das für mich tust.« Seiner eigenartigen Betonung schenkte der Nekromagier entweder keine Beachtung, oder er nahm sie einfach nicht wahr. Für mich … Ein wissendes Lächeln verlieh den stets vergeistigt wirkenden Zü gen des Vampirs für einen winzigen Moment etwas Hinterhältiges. Es entzog sich seiner Kenntnis, was Landru über die legendäre Opferschlange wußte. Aber er war entschlossen, zunächst einmal selbst so viel wie möglich über den lange verschwundenen Schlan genstab in Erfahrung zu bringen. Wenn nur ein Teil der Gerüchte, die sich darum rankten, einen wahren Kern barg, dann handelte es sich dabei um ein unglaublich mächtiges Artefakt. Mächtig genug vielleicht, das Schicksal zu ändern. Möglicherweise der Schlüssel zu ihrer Zukunft. Und Tanor würde zu verhindern wissen, daß Landru ihn am Ende allein benutzte. Wenn die Menschen für ihn auch wenig mehr bedeuteten als Nah rung und bisweilen sinnesfreudigen Zeitvertreib, so hatten sie im Laufe der Zeit doch ein paar vernünftige Lebensweisheiten entwi ckelt. Wie jene beispielsweise, der zufolge Vertrauen gut, Kontrolle in des besser war.
* Irak Im Laufen entledigte sich der Unheimliche sämtlicher Kleider, bis nur noch das Sternenlicht seine Blöße umschmeichelte und den wahren Charakter dieses bleichen Mannes offenbarte: Er lebte nicht mehr. Er war nur noch ein von morbidem Zauber beseelter Kadaver, dem die Pranken wilder Tiere unheilbare Wunden ins Fleisch geschlagen hatten. Ein blutleerer Toter, der den aus der Wüste ragenden zerklüfteten Felsen mit unmenschlichem Ge schick erklomm und auf seinem flachen Gipfel verschwand … Tahir erwachte in Schweiß gebadet. Das Herz des Hirten trommel te, als wollte es zerspringen, und sein Atem flog. Wie ein Erstickender strampelte er die Decke von sich, in die er sich gegen die Nachtkühle gewickelt hatte und die ihn nun beengte. Er glaubte das Blöken von Schafen zu hören. Aber er besaß keine Herde mehr. Tahir grub sein Gesicht in die Hände. Es fühlte sich an, als hätte sich jede Empfindung wie ein falscher Freund daraus verabschiedet. Uma, gedachte er flüchtig seiner Braut, die sich von ihm abge wandt hatte. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Sie war ein fach nicht damit fertig geworden, wie sehr er sich verändert hatte (seit jener Nacht vor einem Jahr). Tahir zitterte. Er hatte nicht nur seine Herde verloren, sondern viel Schwerwie genderes: seinen Frieden. Immer wieder zog es ihn zu jenem Ort zurück, obwohl es ihn mehr als nur davor gruselte. Was hier geschehen war, quälte ihn in jedem Traum, in jeder Nacht seit damals.
Vor einem Jahr hatte der Hirte einen unheimlichen Fremden hier her in die Nähe der Ausgrabungsstätten geführt. Der hellhäutige Ungläubige hatte wenig gesprochen, weder gegessen noch getrun ken noch geatmet. Tahir hatte ihn aus einem inneren Zwang heraus zu dem Tafelberg in Sichtweite der Ausgrabungen von Uruk geführt – und auf diesen eigentlich unzugänglichen Berg war der Verunstal tete damals verschwunden. Da er sich zuvor seiner Kleidung entle digt hatte, konnte Tahir im Mondlicht die schrecklichen Wunden se hen, von denen der Körper des Mannes gezeichnet war. Wilde Tiere schienen ihn zerfleischt zu haben. Die Wunden hatten nicht verheilt und auch nicht frisch zugefügt gewirkt. Es war irgend etwas dazwi schen gewesen: Offenes Fleisch, aus dem dennoch kein Tropfen Blut getreten war …!* Damals war Tahir mit seiner Herde von dem gespenstischen Schauplatz geflohen und hatte sich nicht vorstellen können, jemals wieder aus freien Stücken dorthin zurückzukehren. Doch er hatte es getan. Schon nach ein paar schlaflosen Monaten hatte er sich dem Diktat seines Unterbewußtseins gebeugt und war zu der Überzeugung ge langt, daß er das Trauma nur verarbeiten konnte, wenn er heraus fand, was in jener Nacht tatsächlich am Fuße eines der Tafelberge geschehen war. Niemand aus seiner Familie, keiner seiner Freunde – und auch Uma nicht – hatte verstanden, warum Tahir sich immer mehr von ihnen zurückzog. Nie hatte er mit einem anderen Menschen über jene Nacht gespro chen. Nie. Mit dem Erlös aus dem Verkauf seiner Herde war er nach Warka *siehe VAMPIRA 23: ›Felidae‹
gezogen. In Reichweite des Felsens, auf dem der Unheimliche da mals verschwunden war. Obwohl die Furcht immer noch wie ein beständiges Echo in ihm schwang, hatte er mehrmals den Berg er klommen. Doch auch dort oben war es ihm nie gelungen, etwas über den Verbleib des Unheimlichen herauszufinden. Bald darauf entstand in Warka und bei den Ausgrabungsstätten Unruhe. Es hieß, ein komplettes Archäologenteam sei vom Erdbo den verschluckt worden. Polizei und französische Botschaftsangehö rige tauchten auf und stellten Nachforschungen an, die ergebnislos wieder aufgegeben wurden. Die Archäologen blieben unauffindbar, obwohl auch in weiterer Umgebung nach ihnen gesucht wurde. Die verbreitetste Theorie war, daß sie während ihrer Grabungen Opfer eines Erdrutsches ge worden waren. Allerdings fand sich keine entsprechende Spur, und nach zwei Wochen flauten die Bemühungen, sie zu finden, ab. Wie es hieß, verweigerte die Regierung Genehmigungen für weitere Ausgrabungen ausländischer Institute. Es wurde ruhiger. Tahir, der seine eigene Suche für die Dauer der Unruhen einge stellt hatte, um sich nicht verdächtig zu machen, hatte sich heute erstmals wieder aus der Stadt herausgewagt, begleitet nur von den alptraumhaften Heimsuchungen, die ihn überall fanden.
* Genau zwischen meinen Augen, über der Nasenwurzel, steckte der imaginäre Nagel, der meinen Willen – aber teuflischerweise nicht mein Denken – lahmgelegt hatte. Das wirkliche Folterinstrument ragte aus dem Kopf jener mir de tailgetreu nachempfundenen ›Puppe‹, die Beth schon in Händen ge halten hatte, als ich vor zwei Tagen in die Kairoer Mission zurückge
kehrt war. Nach der Bergung der Agrippa aus dem Dunklen Dom hatte ich meine Freundin dort abholen wollen, um nach Uruk weiterzureisen. Letzteres hatten wir getan – aber dieses maschinenhaft agierende Geschöpf an meiner Seite sah nur noch wie Beth aus. Ich tanzte nach der Pfeife einer gefühlskalten Marionette und konnte sie nicht ein mal fragen, warum sie mir dies alles antat – oder mit welchen Mit teln sie dazu gebracht worden war, sich gegen mich zu stellen. Das LICHT, mit dem ich im Araratgebirge konfrontiert worden war, schien seine Hände im Spiel zu haben. Nachdem es mir mit gauklerischen Tricks nicht beikommen konnte, hatte es sich offenbar einer ›handfesteren‹ Methode bedient und benutzte Beth, um mich gefügig zu machen. Denn eigentlich wollte ich den Pfad, dem ich seit meinem Erwa chen getreu gefolgt war, verlassen. Ich wollte dem bedingungslosen Gehorsam eines Werkzeugs abschwören und endlich hinter das Ge heimnis der Macht kommen, die meine Mutter einst erwählt hatte und für meine Zeugung verantwortlich war. Ich wollte das mir feh lende Wissen nicht aus dem Lilienkelch trinken müssen. Denn damit verbunden war auch der totale Verlust meines menschlichen Erb guts … Die Quittung für diese ›ketzerische‹ Forderung hatte ich postwen dend erhalten. Die Entität, die sich so gern mit strahlender Hellig keit maskierte, hatte keinerlei Kompromißbereitschaft gezeigt. Selbst meine Drohung, nötigenfalls die Agrippa zu zerstören, hatte nicht gefruchtet. Genaugenommen hatte sie meine Folter sogar erst pro voziert … Beth übte eine spezielle Form von Voodoo aus, um meine weiteren Versuche, die Agrippa zu gefährden, im Keim zu ersticken. Noch immer wußte ich nicht, was es mit dem großen, wie verstei
nert wirkenden ›Ei‹, das ich im Altarstein des Hüterdoms gefunden hatte, überhaupt auf sich hatte. Ich trug es, fremden Blicken verbor gen, bei mir. Mein Symbiontenkleid, das mich während der Reise von Kairo nach Warka, dem heutigen Uruk, hochgeschlossen und knöchellang vor der sengenden Sonne geschützt hatte, verbarg es in einer Art Tasche – aber es zeigte keinerlei Bereitschaft, mir auch ge gen Beth beizustehen. Doch seine Loyalität mir gegenüber war schon immer mit Frage zeichen versehen gewesen. Ich lenkte nicht mehr den Wagen, der Pater Greorgius gehört hat te. Ausschließlich über Land hätte die Reise nur unnötig Zeit gekos tet. So hatten wir den Luftweg bis Bagdad gewählt und das letzte größere Stück mit einer fünfsitzigen Chartermaschine zurückgelegt. Seit Warka lenkte ich einen Leihwagen, den wir ohne einen einzigen Dinar in der Tasche erworben hatten. Selbst unter Zwang stehend, hatte ich hypnotischen Zwang auf andere ausgeübt, wo immer es sich als unvermeidlich erwies. Für fremde Augen bewegte ich mich nichtsdestotrotz weitgehend ›normal‹. Meine besonderen Kräfte aber für mich und gegen Beth einzusetzen, dazu war ich nicht in der Lage … Unser Ziel, das wir in der höchsten Mittagsglut erreichten, wirkte ebenso verlassen wie die Ruinen der uralten Stadt, die sich in Sicht weite aus dem Wüstensand erhoben. Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl, ob dieser Ruhe zu trauen sei. Beth verlor keine Zeit. Ich mußte den überdachten Jeep zu dem einzigen schattenspendenden Objekt in unmittelbarer Nähe lenken: Ein steiler, zerklüfteter, unzugänglicher Felsklotz abseits der regulä ren Piste. Als wir ausstiegen, wußte ich noch nicht, was mich hier erwartete
– aber schon drei, vier Minuten später entstand auf dem Gipfel der Felsnadel Bewegung. Nacheinander kletterten die Gestalten, die sich dort oben verbor gen hatten, herab. Die flimmernde Luft ließ ihre Konturen zerflie ßen. Erst als sie dichter heran waren – etwa zwei Dutzend Männer, keine einzige Frau – erkannte ich sie. Der Tod hatte sie verändert und in ihre Züge eingegraben, was bei den Lebenden kalte Schauer erzeugen mußte. Auch bei mir. Zumal es meine Opfer waren. Menschen, denen ich in den knapp zwei Jahren meines Wachzustandes begegnet war und denen ich meinen einzigartigen Keim ins heiße Blut gepflanzt hatte! Die Trinität, ein Monstrum aus dreierlei Mensch, hatte sie getötet. Im Auftrag der Macht, die mich nun knebelte und führte …* Ein erdrückendes Schuldgefühl senkte sich auf mich, als sie vor mir stehenblieben – aber ihre Blicke waren ohne den geringsten Vor wurf. Was es noch unerträglicher machte … Beth schienen sie kaum zu beachten. Ihre Augen waren auf mich fixiert, und nachdem ich selbst bedeutet bekam, wie es weiterzuge hen hatte, gab ich diese Weisung an sie weiter. Sie gehorchten gelassener als ich. Der Tod stand ihnen gut. Und so erreichten wir die Stätte, wo schon vor Wochen Duncan Luther, George Romano und Paul Kravetz das größte Geheimnis freigeschaufelt hatten, das diese Welt zu bieten hatte …
*siehe VAMPIRA 39: ›Liliths Opfer‹
* Tokio Obwohl alles um ihn herum vertraut war, fühlte Keyno sich unbe haglich. Zerstreuung und Ablenkung blieben ihm verwehrt, als wä ren sie kurzerhand aus seinem Empfindungsschatz gelöscht wor den. Das Oberhaupt der Vampire von Tokio wälzte sich in der absolu ten Finsternis wie von Alpträumen geplagt auf klammen Laken. Es fiel ihm schwer, erotische Phantasien zu ersinnen, auf daß Keiji sie zu Wirklichkeit formen konnte. Seine ›Geheime Geliebte‹, die weder Mensch noch Vampir, sondern etwas Unaussprechliches und allein ihm zu Diensten war, konnte Keyno die schmerzliche Niederlage nicht vergessen lassen. Seine Konzentration zerfaserte, kaum daß er einen Wunsch auch nur im Ansatz formuliert hatte. Eben noch mühten sich in der magi schen Schwärze ein Dutzend samtrauher Zungen, sein schlaffes Glied aufzurichten, als sie übergangslos verschwanden. Dafür erschien aus der Finsternis die doppelte Zahl schwellender Brüste und rieb sich an Keynos nacktem Körper – ohne ihn zu erre gen. Seine Gedanken beschäftigten sich ohne Unterlaß mit dem Mißer folg, den er hatte hinnehmen müssen und der ihn tiefer traf, als er zunächst befürchtet hatte. Vielleicht lag es daran, daß er den Grund des Debakels nicht kann te. Er wußte nicht, wie Beth MacKinsay aus seiner Gewalt hatte ent kommen können, nachdem sie schon so gut wie tot gewesen war. Und als Tote hatte sie ihm den Weg zu dem verhaßten Wechselbalg
weisen sollen, der sich Lilith Eden nannte und Unruhe und Tod un ter Vampiren säte, wo immer er auftauchte. Keyno hatte sich den Sieg über die Halbvampirin an die Fahne heften wollen, doch der Triumph war ihm verwehrt geblieben. Letztlich hatte er die Spur des Bastards zwar trotz allem gefunden und ihm den Schlangenstab abjagen können; das Kind zweier Welten jedoch war entkommen. Und mit ihm eben seine Freundin Beth MacKinsay. Irgend jemand – oder irgend etwas – hatte sie aus der Gefangenschaft befreit und dabei auch noch Keynos Vertraute getö tet. Und solange er nicht wußte, wer oder was dahintersteckte, be fürchtete der Vampir weiteren Ärger. Mehr noch – Gefahr. Er sah sich und seine Sippe einer unbekannten Drohung ausgesetzt, gegen die er keine Maßnahmen treffen, geschweige denn sich zur Wehr setzen konnte … »Wenn du nicht bereit bist, eins mit mir zu werden, versagt selbst meine Macht.« Keijis rauchige Stimme kam von irgendwo aus der lichtlosen Dun kelheit um ihn. Daß sich seine unsichtbare Gespielin von ihm zu rückgezogen hatte, bemerkte Keyno erst jetzt. Vielleicht hatte er sie sogar unbewußt darum gebeten, ihn in Ruhe zu lassen. Er erinnerte sich nicht. Und es war auch nicht wichtig. »Es tut mir leid«, sagte der Vampir leise. »Ich bin nicht bei der Sa che. Vielleicht sollte ich erst wieder hierher kommen, wenn ich alle unerledigten Dinge aus der Welt geschafft habe.« »Laß mich dir die Kraft dazu geben.« Keijis Worte umwogten seinen Kopf wie Räucherduft. Zugleich spürte er viele kleine Finger, die seine Hoden sanft massierten, wäh rend sich etwas enges Feuchtes um sein kraftloses Geschlecht schob. »Ich muß gehen«, sagte Keyno unwirsch, und die Berührungen
verflogen. Er war fast dankbar für den Gedankenimpuls, der ihn erreicht hat te. Seine Anwesenheit wurde anderswo in der im Shinjuku-ku-Be zirk gelegenen Pagode verlangt, welche die Tokioter Sippe zu ihrem Hauptsitz erkoren hatte. Oft schon hatte Keyno sich gefragt, ob Keiji immer hier weilte. Oder ob sie dort, wo sie sonst existierte, zu spüren vermochte, wenn er die Zone betrat, um dann kurzerhand hier zu erscheinen. Als sie jetzt wortlos verschwand, meinte er, die Finsternis um ihn wäre mit einemmal drückender geworden. Als wäre sie angereichert mit et was, das ihm vorkam wie – – fühlbare Enttäuschung. Der Schwärze konnte Keyno entfliehen. Dem Gefühl, versagt zu haben, nicht. Einen Moment lang spielte Timot mit dem Gedanken, sich wenigs tens noch ein paar Minuten mit dem Taxifahrer zu beschäftigen. Doch er verdrängte den Wunsch, den jungen Japaner in jene ganz besondere Kunst einzuweihen, deren nur zwei Männer miteinander fähig waren. Die Zeit drängte, und vielleicht zählten sogar Minuten. Wer wußte das schon. So begnügte Tanors Bote sich damit, mit seiner trockenen Zunge den salzigen Geschmack am Hals des Fahrers zu kosten und allein das sich steigernde Pulsieren darunter zu genießen, bevor er den jungen Mann mit einem erlösenden Blick zurück ins Leben entließ. Während die Hecklichter des Wagens in der Nacht zu kleinen Punkten schmolzen und schließlich darin verschwanden, wandte sich der indische Vampir der Pagode der Dunkelheit zu, dem best gehüteten Geheimnis der Stadt. Denn darin hatte sich jene Macht niedergelassen, die Tokio wirklich beherrschte. Sie gehörte der hiesigen Vampirsippe – die heute nacht erfahren
würde, daß ihre Macht keineswegs allumfassend war. Daß es auch für sie Dinge gab, denen sie sich beugen mußte. Dinge und Wesen … Obwohl Timot sich noch unbeobachtet glaubte, traf er seine ganz persönlichen Vorsichtsmaßnahmen. Er schloß die Augen, konzentrierte sich, ließ seine spezielle Kraft vorauseilen und gleichermaßen an sich wirksam werden. Er spürte die Veränderung. Etwas schob sich wie eine kalte Haut über sein Gesicht. Wäre Timot ein Mensch gewesen, hätte er jetzt vielleicht einen prüfenden Blick in einen Spiegel geworfen. Da ihm diese Möglichkeit jedoch seiner dunklen Natur gemäß ver wehrt war, mußte er sich darauf verlassen, daß es funktionierte wie immer. Und es war in der Tat nicht mehr irgendein Vampir, der nun ener gischen Schrittes auf die Pagode zuging.
* Keyno sah es nicht, doch er spürte, daß sich die Fältchen, die sein Gesicht kerbten wie das eines Hundertjährigen, ein klein wenig tiefer in seine Haut gegraben hatten. Es war an der Zeit, sich den Tisch wieder einmal überreichlich zu decken. Vielleicht war es das, was ihn ablenken würde – ein reiches Blutmahl, sich wieder einmal der zwar sinnlosen, aber doch zumindest befriedigenden Völlerei hinzugeben. Das Oberhaupt der Tokio-Sippe beschloß, seine Getreuen anzu weisen, dafür Sorge zu tragen, daß das Blut in Strömen aus jungen Kehlen fließen konnte –
– wenn er in Erfahrung gebracht hatte, warum man ihn aus der Zone der Finsternis gerufen hatte. Wer auch immer den gedankli chen Ruf gesandt hatte, er mußte schon einen sehr guten Grund da für haben. Denn es zählte zu den obersten Geboten der ›Hausord nung‹, daß Keyno in der Dunkelzone nicht gestört werden durfte. Ebensowenig wie es außer ihm jemandem gestattet war, diesen Be reich aufzusuchen. Der Dämon seiner Lüste gehörte allein ihm. Keyno würde es nie darauf ankommen lassen, ob er auch einem an deren gehorchen würde. Der von Statur her wenig ehrfurchtgebietende Vampir wunderte sich, als er dem Ruf zu dessen Quelle folgte. Es war seltsam, daß sie offenbar in seinem Privatgemach lag. Beinahe schon frevelhaft … Als er seine ewig schattendurchwobenen Räume betrat, nahm sei ne Verwunderung nicht ab, sie verwandelte sich lediglich in etwas weitaus Unangenehmeres. Beklemmung griff nach Keyno und schob sich wie flüssiges Eis unter seine welke Haut. Wie schon in der Dunkelzone hing auch hier etwas fühlbar in der Luft. Doch es war von anderer Qualität. Etwas wie eine wabernde Aura von Macht, unter der sich jeder von geringerem Stande als Keyno unweigerlich ducken mußte. Und so standen die drei Vampi re seiner Sippe, die sich hier befanden, auch mit gesenkten Häuptern da. Erst als sie ihres Oberhauptes gewahr wurden, schien sich ihre Anspannung ein klein wenig zu lösen. »Was ist? Weshalb habt ihr mich …« … gestört hatte Keyno seine Frage in ungehaltenem Ton vollenden wollen. Doch das Wort wandelte sich noch auf seiner Zunge, als er nun selbst den Grund der ›Störung‹ ausmachte: »… gerufen?« Der Vampir wandte sich dem vierten Anwesenden zu und neigte devot das Gesicht, während er nach alter Sitte die gestreckten Hän
de aneinanderlegte. In dieser Haltung verharrend fragte er: »Was verschafft mir die Ehre deines Besuches, großer Landru?«
* Der hochgewachsene Vampir mit dem schwarzen Haar, das er im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengefaßt trug, be deutete Keyno mit einer gefälligen Geste, die ›Demutsstellung‹ auf zugeben. »Du warst lange nicht bei uns«, sagte der Japaner. Der Vampir mit der kreuzförmigen Narbe im Gesicht nickte. »Andere Angelegenheiten zwangen mich zu anderen Aufenthalts orten«, erwiderte er. »Du suchst noch immer nach dem Kelch?« »Natürlich. Dringender vielleicht denn je.« »Das Kind der Hure scheint deine Suche wieder und wieder verei teln zu wollen«, wagte Keyno zu bemerken. Doch Landru schien es ihm nicht zu verübeln. Hintergründig lä chelnd erwiderte er: »Lilith Eden weilte eine Zeitlang in deiner Stadt, wie ich hörte.« Keyno nickte lahm. »Ja, so war es.« »Und weiter hörte ich, daß ihr den Bastard fast schon in eurer Ge walt hattet und er euch im letzten Moment entkam.« Die Spitze saß. Sie traf Keynos kaum vernarbte Seelenwunde und riß sie von neuem auf. Das Sippen-Oberhaupt hatte alle Mühe, sich nicht tatsächlich gepeinigt zu krümmen. Ein wölfisches Grinsen verzerrte das Gesicht des Vampirs, der als Mächtigster der Alten Rasse galt. Er schien genau diese Reaktion
Keynos erwartet zu haben. Als wollte er ihn zunächst bis zur Schmerzgrenze beugen, ehe er ihm abverlangte, weswegen er ge kommen war. »Warum kommst du erst jetzt?« wollte Keyno mit mühsam be herrschter Stimme wissen. »Der Balg hat unser Land verlassen.« Der Narbengesichtige grinste weiter. »Glaubst du, das wüßte ich nicht? Die Frage, wohin ihr das Huren kind habt entfliehen lassen, kann ich mir wohl sparen, vermute ich«, sagte er in verletzendem Ton. »Was willst du?« wiederholte der japanische Vampir, darum be müht, den beißenden Spott Landrus an sich abprallen zu lassen. »Kannst du es dir nicht denken?« Spätestens als Keyno dem wandernden Blick des anderen zu fol gen begann, konnte er es sich denken. Und als Landrus Augen ihr Ziel gefunden hatten, wußte das Vampiroberhaupt Bescheid. Der Kelchjäger fixierte die hölzerne Schatulle, die im Hintergrund des Raumes auf einem Sockel ruhte. Nichts im Blick seiner dunklen Augen deutete darauf hin, wieviel er über die wahre Bedeutung des darin liegenden Artefakts wußte. Doch Keyno glaubte körperlich zu spüren, wie sehr er es begehrte. »Warum möchtest du die Opferschlange haben?« fragte er lau ernd. »Weil sie keinem anderen noch lebenden Mitglied unserer Rasse in dem Maße zusteht wie mir«, antwortete der Narbengesichtige. »Ist das der einzige Grund, aus dem ich dir einen solchen Schatz aushändigen sollte?« Keyno versuchte seine Ehrfurcht vor dem mächtigen Vampir hinter gespielter Verwunderung zu verbergen. Doch schon das vage Zittern seiner Stimme vereitelte das Vorhaben. »Niemand außer mir vermag den Schlangenstab zu unser aller
Wohl einzusetzen«, fuhr Landru fort. »So wie niemand außer dir in der Lage ist, den Lilienkelch wieder zubeschaffen? In langen 269 Jahren?« probierte Keyno ein weiteres Mal, Landru seinerseits zu verletzen. Landru löste den Blick von dem Kästchen mit der Opferschlange und richtete ihn auf Keyno. Der Japaner spürte die Macht darin wie eine körperliche Berührung. Eine sehr kraftvolle, brutale Berührung, die sich zwei unsichtbaren Händen gleich um seinen Kopf legte … Trotzdem klangen die Worte des Kelchjägers beinahe sanft, als er sagte: »Es gibt noch einen sehr guten Grund, weshalb du mir die Schlange überlassen solltest.« »Welchen?« stieß Keyno hervor. Der Druck um seinen Schädel schien ihm das Wort über die Lippen zu pressen. »Ich werde dich und deine armselige Sippschaft am Leben lassen!« Hätte Keyno nicht genau gewußt, daß es unmöglich war, hätte er gemeint, die Wände ringsum und der Boden unter seinen Füßen wä ren unter Landrus Brüllen erbebt. »Das wagst du nicht«, behauptete Keyno erstaunlich hart und fast sogar überzeugt. »Nicht einmal du würdest gegen den Kodex versto ßen, der uns zur gegenseitigen Achtung zwingt und das Überleben unseres Volkes gewährleistet.« »Der Kodex«, spie der Narbengesichtige ihm verächtlich entgegen. »Was bedeutet er noch, wenn die Kräfte, die ihn einst aufgestellt ha ben, den Niedergang unserer Rasse vorantreiben? Und überdies – wer sollte mich zur Rechenschaft ziehen, wenn ich deine Sippe auf einen Schlag vernichte?« Die Worte allein hätten womöglich nicht genügt, um Keyno vom Ernst seiner Lage zu überzeugen. Ein winziges Geräusch allerdings ließ ihn Landrus Drohung Glauben schenken. Ein Knacken wie von einem dünnen Ast, verbunden mit einem stechenden Schmerz, der
wie eine glühende Nadelspitze sein Rückgrat hinabstrich … »Nein«, keuchte er. »Ich flehe dich an …« »So gefällst du mir schon besser, mein Freund«, meinte Landru zu frieden. Ein kurzes Zucken seiner Lider löste den eisernen Griff um Keynos Schädel. Das Tokioter Vampiroberhaupt brach in die Knie. »Du erlaubst, daß ich mich bediene?« erkundigte sich der Narben gesichtige der Form halber, während er schon auf den Sockel zu schritt. Der Vampir, der ihm wohl mehr zufällig den Weg dorthin verstellte, brachte das Kunststück fertig, davonzukriechen, ohne sich auf alle viere niederzulassen. Landrus Hände schlossen sich um das schmucklose Kästchen aus uraltem Holz. Bevor er es anhob, verharrte er sekundenlang, genoß das Gefühl, das Blut so vieler zu spüren, die mit ihrem Tod damals das Überleben der Alten Rasse gesichert hatten … Bevor die Bilder, die er nie selbst gesehen hatte, übermächtig wer den und seine Konzentration untergraben konnten, nahm er die Schatulle an sich und verließ den Raum, ohne Keyno und die ande ren noch eines Blickes zu würdigen. Die Zeit drängte nun in zweierlei Hinsicht. Denn auch seine Kraft ließ nach. Er hatte sich völlig verausgabt … Die suggestive Macht wehte mit ihm aus dem Raum wie eine un sichtbare Staubfahne. Timot war kaum aus der Pagode in die Nacht hinausgetreten, als er schon spürte, wie die Maske sich von ihm lös te und wieder zu dem wurde, was sie wirklich war – zu nichts als dunkler Kraft … Timot trug das Kästchen aus dem Holz der Dunklen Arche fest an sich gepreßt und eilte die nächtliche Straße hinab. Es wäre doch zu dumm gewesen, wenn die Tokioter Sippe seinen Bluff jetzt noch durchschaut hätte.
Dumm und hinderlich. Denn er durfte sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Tanor hatte einmal mehr seinen Besten gesandt, und Timot hatte ihn auch diesmal nicht enttäuscht. Wenngleich er zunächst selbst kaum geglaubt hatte, daß es ihm möglich wäre, auch Landru zu ko pieren. Beliebige Gesichter vorzutäuschen, waren es nun selbst erfundene oder tatsächlich existierende, hatte seinem speziellen Talent nie Mühe bereitet. Timot besaß die Fähigkeit, andere sehen zu lassen, was sie sehen sollten. Die trügerische Maske, die er über seinem Ge sicht schuf, diente eher dazu, sich selbst in Sicherheit zu wiegen. Um andere zu blenden, wäre sie nicht zwingend erforderlich gewesen. Den mächtigsten ihrer Rasse nachzuahmen, hätte Timot bislang nicht gewagt. Vielleicht wäre es ihm der Ehrfurcht wegen nicht ein mal möglich gewesen. Doch seit er wußte, daß Landrus Macht eher auf dem in langen Jahren selbsterschaffenen Mythos beruhte als auf wirklicher Stärke, war sein Respekt vor ihm ein gutes Stück gesun ken. Seit Timot dabeigewesen war, als Tanor den Kelchjäger in die Knie gezwungen hatte und sie ihm gemeinsam sein Geheimnis entrissen hatten. So wußten sie nun, wer Landru wirklich war und daß er al len Grund hatte, die Suche nach dem lebensspendenden Unheilig tum der Vampire nie aufzugeben – es war schließlich seine Pflicht als letzter Hüter des Kelchs.* Mit vereinten Geisteskräften hatten sie ihn in der entweihten Mo schee niedergerungen, und Timot hatte die Gelegenheit genutzt, sich in Landru ›umzusehen‹, sich jedes Detail seines Wesens einzu prägen, vielleicht instinktiv ahnend, daß ihm dieses Wissen irgend wann von Nutzen sein konnte. *siehe VAMPIRA 41: ›Die Rückkehr der Katze‹
Dieses Irgendwann war schneller eingetreten, als er es auch nur hätte vermuten können. Nun hatte er die Tokioter Sippe also glauben gemacht, Landru höchstpersönlich wäre zu ihnen gekommen, um die Opferschlange zu verlangen. Und Timot hatte seinen Einblick in den Gezeichneten sogar noch zu mehr nutzen können, als nur seine Gestalt zu kopie ren – es war ihm überdies gelungen, das Original ›anzuzapfen‹ und sich kurzzeitig dessen Macht zu bedienen. Ein solches Bravourstück war Timot nie zuvor geglückt. Er beschloß, fürs erste niemandem von dieser neuen Fähigkeit zu erzählen. Und im Flugzeug zurück nach Delhi sann Timot darüber nach, ob sich aus der Fertigkeit, unbemerkt aus fremden Kräften zu schöpfen, nicht irgendwie Kapital schlagen ließ.
* Uruk Schon als der Wagen in einer Staubwolke heranrollte und noch be vor die beiden Frauen überhaupt ausstiegen, wußte Tahir, daß er auf genau diese ankommenden ›Gespenster‹ gewartet hatte. Denn gespenstisch wirkte alles an ihnen. Sie waren auf den ersten Blick als Ungläubige zu entlarven. Aber zu etwas Besonderem machte sie erst ihr Benehmen; jede Bewegung, jede Geste … Der Wagen hielt im Schatten des Kalkfelsens. Tahir, der sich verborgen hielt, bemerkten die Aussteigenden
nicht. Sie wähnten sich unbeobachtet, und so wurde er Zeuge, wie schon kurze Zeit später Bewegung auf dem Berggipfel entstand. Ob wohl Tahir unter denen, die von dort herabkletterten, vergeblich je nen Unheimlichen suchte, den er damals hierher geführt hatte, gab es keine Zweifel, daß das Wesen all dieser Gestalten immer gleich war: Es waren Tote. Tote, die am hellen Tag ihrer steinernen Gruft entstiegen und sich stumm den beiden Frauen anschlossen, die mit ihnen zu einer ab seits gelegenen Grabungsstelle weitergingen. Tahir spürte, wie das ein Jahr alte Entsetzen in ihm neu aufloderte und ihm klarmachte, daß er einem Irrtum erlegen war: Es stimmte, daß er ohne eine Antwort auf die Frage, was damals geschehen war, nicht hätte weiterleben können. Aber ebenso sicher war, daß er dieser Antwort nicht gewachsen war! Sein Körper bebte, als sein Blick der Prozession der Toten folgte. Langsam kam die Erkenntnis, wer für das mysteriöse Verschwinden der immer noch vermißten ausländischen Archäologen verantwort lich sein mußte. Und daraus resultierte sein weiteres Handeln, das nicht eben von großem Mut zeugte …
* »Öffne!« schnarrte Beth MacKinsays fremd gewordene Stimme. Ich war versucht, mich umzudrehen, vermochte es aber letztlich doch nicht. Mein Körper glich einem Apparat, dessen alleinige Funktion der bedingungslose Gehorsam war.
»Wie?« fragte ich spröde. »Du mußt die Hand auf eine beliebige Rune legen!« Die Runen … Sie säumten nicht nur den Verlauf der zweiund zwanzigstufigen, vom Wüstensand befreiten Treppe, sondern auch das Tor aus Stein, vor dem sie endeten. Hier unten war es windstill und schattig, und ich hatte das Gefühl, vor dem Eingang zu einer kühlen, seit Jahrtausenden verschlossenen Gruft zu stehen. Gleich zeitig wußte ich, daß mein Gefühl trog: Dieses Tor war in jüngster Zeit mehr als einmal geöffnet worden … Beunruhigend für mich war, daß ich die Bedeutung der hier ver wendeten Runenschrift nicht durchschaute. Normalerweise hatte ich mit keiner Schrift oder Lautsprache Mühe. Selbst die ominöse EWI GE CHRONIK in den Tempeln des Himalaya hatte ich lesen können … Noch während dieses Streiflicht durch meine Erinnerung blitzte, tat ich, was mir befohlen worden war. Die berührten Runen glommen kalt auf, und der freigesetzte ›Glanz‹ durchdrang Haut und Fleisch meiner Finger wie eine Rönt genstrahlung. Ich konnte bis auf meine Knochen sehen, die in eine fahle Aura eingebettet waren. Fast zeitgleich setzte das Knirschen ein, mit dem sich das steinerne Tor in seiner Führung nach unten senkte. Ich hatte mich, seit ich zum erstenmal aus dem Mund der Trinität Warner/Codd/Storm davon gehört hatte, oft gefragt, wohin der Kor ridor nahe der Ruinen des biblischen Uruk wohl führte. Nun stand ich – wie ich glaubte – vor seinem Zugang und wollte es am liebsten nie erfahren. Ich wollte nur, daß dieser Nagel aus mei nem Kopf verschwand! Ich hatte Angst – und diese Angst war kreatürlicher als jemals zu vor …!
Das Tor verschwand im Boden. Seine obere Kante bildete die Schwelle und war ebenfalls mit magischen Schriftzeichen übersät. Dahinter lag ein von Zwielicht durchwobener Raum – aber kein Korridor, kein Tunnel. »Warte«, hielt mich Beth unnötigerweise zurück; wahrscheinlich hätte ich dem jäh erwachenden Verlangen, die Schwelle zu übertre ten, ohnehin nicht aus eigenem Antrieb nachgeben können. Der Raum, der sich geöffnet hatte, war nicht überwältigend groß, und so fiel mein Blick sofort auf zwei Details, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und doch in meiner Vorstellung untrenn bar zusammengehörten. Einmal war dies der Lilienkelch, der in die gegenüberliegenden Wand eingelassen war. Und zum anderen eine grausam zugerichtete Tote, die ich trotz al ler Verstümmelung aus Milliarden anderer heraus erkannt hätte … Felidae!
* Sie war tot – weil sie verlassen worden war? Verlassen von einem Korsett, das wie mein Mimikrykleid aus einem symbiontischen Le bewesen bestanden hatte. Dieser Symbiont hatte Felidaes Körper, nachdem sie von einer Klippe gestürzt war, 268 Jahre lang vor dem Zerfall bewahrt. Ob sein jetziges Verschwinden die Ursache oder nur eine der Folgen ih res Todes war, konnte ich nicht ergründen. In Korea hatte mich Felidae noch in das Geheimnis des Nexius ein geweiht. Danach hatten sich unsere Wege getrennt. Das nächste Wiedersehen sollte erst hier stattfinden, wo sie mir
aus dem Lilienkelch zu trinken geben wollte. Ein Schritt, der mir angst machte und wegen dem ich das LICHT zu erpressen versucht hatte – vergeblich. Nun war ich hier, und Felidae war … tot! Nichts und niemand fragte danach, ob ich es glauben wollte. Es war einfach eine unerschütterliche Tatsache! Das einzige Rätsel war, warum Felidae nach Eintritt des Todes nicht zu Staub zerfallen war, wie es bei Vampiren üblich war … »Geh!« hörte ich hinter mir Beth’ Stimme. »Geh zu ihr! Sie wartet!« Es klang wie blanker Zynismus – und machte endgültig deutlich, daß nicht Beth, sondern ETWAS ANDERES aus ihrem Mund sprach. Etwas, das ich längst zu hassen begonnen hatte … Der Nagel in meinem Kopf schien sich in meinem Gehirn zu dre hen. Wie ein Schlüssel, um eine mechanische Puppe aufzuziehen. Und schon setzte ich mich in Gang. Hinter Beth und mir, vor dem offenen Tor und auf der Treppe drängten sich Tote, die meinen Keim trugen. Sie blieben zurück, als warteten sie auf weitere Instruktionen, die ich ihnen aber nicht ge ben konnte. Ich kannte ihre Aufgabe nicht. Ich wußte nicht einmal, was die scheinbar so kostbare Agrippa darstellte, und vielleicht wäre es besser gewesen, hier, auf der Stelle, zu sterben, anstatt es jemals zu erfahren … Mit jedem Schritt, den ich auf Felidae zutat, meinte ich von Beth fortgetrieben zu werden. Doch dieser Eindruck täuschte. Sie blieb dicht hinter mir, und nur die Figur in ihrer Hand hatte sich verän dert. Sie stellte nicht länger mich dar, sondern … (Eine Dornenkrone?)
Ich stöhnte, als meine Arme von unsichtbaren Kräften in die Hori zontale gerissen wurden. Wie gekreuzigt stand ich da, und fahle, flüsternde Gedanken durchkrochen mich. Ich hörte ein Herz schlagen und war sicher, daß es nicht meines sein konnte. Wessen dann? (Ein Herz unter Dornen.) Nicht nur Felidaes ausgetrocknetem Leichnam, auch dem Lilien kelch kam ich näher. Ihm entsprangen purpurne Schatten, die die Kammer wie die Geister Verstorbener erfüllten. Ich meinte sogar Rufe kindlicher Stimmen zu hören, ohne sie zu verstehen. Und dann hatte ich Felidae erreicht und kniete vor dem verdorrten Körper, der nicht überall zerfallen war. Unter der Brust gab es etwas, was von Tod und Sterben verschont geblieben war: ein schlagendes, wie von schwarzem Spinngewebe ummanteltes Herz … »Nimm es!« sagte Beth. »Und nimm auch den Kelch!« Erst jetzt konnte ich meine Arme aus der Pose des Gekreuzigten zurücknehmen …
* Indien Abbé Dubois, erinnerte sich Tanor, hatte die Bereitschaft der Inder zum Aberglauben einmal als ›die törichten Irrungen eines feigen und geistesschwachen Volkes‹ bezeichnet. Inzwischen waren seine Gebeine längst in einem Grab vermodert,
und es war müßig, darüber nachzusinnen, ob man ihn eines besse ren hätte belehren können, wenn man ihn nur bei der Hand genom men und in die Riten der Schwarzen Kulte unterwiesen hätte. Vermutlich nicht. Der Abbé, wie ihn der Vampir kennengelernt hatte, war ein eitler, verachtungswürdiger Narr gewesen, der jeden einmal niedergeschriebenen törichten Einfall seines Hirns zum un umstößlichen Dogma erklärt hatte. ›Feige und geistesschwach‹ war das indische Volk gewiß nicht. Und der Aberglaube war in ihm nicht etwa verwurzelt wie in zivili sationsfremden Hinterwäldlern. Vielmehr pflegte es Religionen stär ker als andere Völker dieser Welt und schöpfte daraus ein hohes Verständnis für Okkultes und Übersinnliches. So betrachtete Tanor die Dinge. Und zugleich wußte er darin die einzig wahre Gefahr für seine Sippe. Denn dementsprechend gelang es – keineswegs nur in Delhi, sondern überall auf dem Subkontinent – immer wieder Menschen, sich erfolgreich gegen die Alte Rasse zur Wehr zu setzen. Nun, für eine Weile jedenfalls … Trotzdem starben hierzulande vermutlich mehr Vampire als an derswo. Das wäre kein Grund zu wirklichem Kummer gewesen, wäre der ›Nachschub‹ nicht versiegt. Da aber zur Zeugung echter Vampire der Lilienkelch unverzichtbar war, lichteten sich die Rei hen der indischen Sippen stetig. Nicht zuletzt deshalb hatte Tanor sich auf Landrus Seite gestellt. Vielleicht konnten sie gemeinsam schaffen, was dem Gezeichneten in mehr als zweieinhalb Jahrhunderten nicht gelungen war. Solcherlei Gedanken beschäftigten das Oberhaupt der Delhi-Sippe. Und es lag wohl an der drängenden existentiellen Sorge, daß er nicht im gewohnten Maße genießen konnte, was ihn sonst noch im mer abgelenkt hatte. Die zwei blutjungen Mädchen hatten seinen Körper aus dem Yogi-
Gewand geschält und verwöhnten ihn nun nach allen Regeln der Liebeskunst. Ihr seltsam nach innen gekehrter Blick hätte einem Be obachter verraten, daß sie selbst nicht wirklich begriffen, was sie mit dem barhäuptigen Mann taten – oder er mit ihnen. Tanors Blick ging ins Leere, und er bewegte sich ruckhaft wie ein Automat, als er eines der Mädchen von hinten nahm. Obwohl sein Pfahl prall geschwollen war, spürte er selbst allenfalls eine Ahnung von Lust. Die harten Knospen der kaum zur vollen Reife entwickel ten Brüste, die ihm die Zweite, rittlings auf ihrer Leidensgenossin sitzend, darbot, ignorierte der Vampir völlig. Schließlich war er des Spieles so überdrüssig, daß er seinen Schaft unverrichteter Dinge zurückzog und einen seiner Blutsbrüder mit einem Wink zu sich hieß. »Nimm sie dir«, sagte er mit einer Geste auf das noch immer auf allen vieren vor ihm hockende Mädchen, während er das andere zu sich heranzog. Ohne sich wie sonst an der falschen Glückseligkeit in ihrem Blick zu weiden, schlug er seine Eckzähne in ihren Hals und begann zu saugen. So sehr war Tanor innerlich mit anderem befaßt, daß er nicht einmal alles Blut aus dem Mädchen trank, sondern ihm mit einer fast beiläufigen Bewegung das Genick brach, noch bevor er das Netz ihrer Adern völlig trockengelegt hatte. An Nahrung litten sie keinen Mangel. Das Verschwinden von Menschen gehörte in einem Moloch wie Delhi zum Alltäglichen. Tanor kleidete sich an, nachdem er die Tote achtlos zu Boden ge worfen hatte. Um sie sollten sich andere kümmern. Die heiligen Wasser des Ganges reinigten nicht nur von Sünden, bisweilen ver schlang ›die ewig Reine‹ sie regelrecht … Der Vampir verließ diesen Bereich der entweihten Moschee, die seine Sippe zu ihrem Versammlungsort erkoren hatte. Oben unter hielten sich einige seiner Getreuen ebenso angeregt wie höflich mit
zufälligen Besuchern. Denn obwohl die Moschee in keinem Reise führer verzeichnet war, traten doch immer wieder Menschen durch ihre Eingänge. Ohne zu wissen, wohin sie ihren Fuß tatsächlich setz ten. Denn sein Geheimnis barg dieser Ort tief unter dem kunstvollen Mosaikboden. Manche der Gäste durften es schauen. Doch blieb ih nen danach keine Gelegenheit mehr, anderen davon zu berichten. Wen die Vampire einmal in ihr ›Allerunheiligstes‹ gebeten hatten, der verließ es nicht mehr. Nicht lebend jedenfalls … Ungeduld sollte einem, dessen Existenz nach Jahrhunderten zähl te, eigentlich fremd sein. Dennoch ertappte Tanor sich dabei, wie er ruhelos durch die Räume lief und immer wieder nervöse Blicke durch die Tore hinaus warf. Als könne er damit die Rückkehr seines Boten beschleunigen. Die Besucher hatten die Moschee längst verlassen, als die unterge hende Sonne die Stadt jenseits des Flusses in kupferfarbenes Licht tauchte. Ein paar von ihnen würden irgendwann zurückkommen, gelenkt von fremdem Willen, der jetzt schon in ihnen saß, ohne daß sie ihn spürten. Vielleicht war auch die Frau, die jetzt gemütlichen Schrittes näher schlenderte, früher schon einmal hiergewesen und von einem Sip penmitglied entsprechend ›präpariert‹ worden, so daß er sie nun, da ihm nach ihr verlangte, zu sich rufen konnte. In jeder anderen Situation hätte Tanor ihr mehr als nur einen Blick gewidmet, sie vielleicht sogar für sich beansprucht. Ihre Haut schimmerte im Licht des Sonnenuntergangs wie zartroter Samt, und jede ihrer lasziven Bewegungen barg geheime Energie in sich, die nur für eines geschaffen schien. Heute ließ das Vampiroberhaupt die Frau mit dem aufregenden Körper fast achtlos vorübergehen. Statt dessen durchforstete sein Blick die Schatten, die als dunkle Vorboten der Nacht herankrochen.
Solange jedenfalls, bis kühler Atem seinen Nacken streifte. »Wie leichtsinnig du bist.« Die Stimme dicht an seinem Ohr gurrte und tadelte in einem. Tanor wirbelte herum. »Narr«, fauchte er mit glühendem Blick. »Mir steht nicht der Sinn nach albernen Spielchen.« Tanor fühlte etwas wie einen bisher nicht wahrgenommenen Druck von seinen Augen schwinden. Gleichzeitig zerflossen die exo tischen Züge der Schönen und formten sich zu einem Gesicht von beinahe klassischer Männlichkeit – hätte da nicht etwas Weiches, fast Weibisches die Miene unter dem lackschwarzen Haar durch setzt. Ein herablassendes Lächeln kräuselte Timots Lippen, während er wie nebenbei unter seine Kleidung faßte und ein dunkles Kästchen hervorholte. »Bitte sehr«, sagte er und reichte Tanor die Schatulle. Die Finger des Oberhauptes krallten sich förmlich in das seltsam schwammige Holz. Er begnügte sich mit einem knappen Kontroll blick unter den Deckel. Nur um sich zu vergewissern, daß auch wirklich darin war, was er erwartete. Wer wußte schon, zu welchen Scherzen Timot noch aufgelegt sein mochte … »Wir sollten nicht noch mehr Zeit vertun«, meinte Tanor dann. »Du wirst mich begleiten. Laß uns sofort aufbrechen.« »Wohin?« »Zu dem Mann, dem kein Geheimnis fremd bleibt.«
*
An einem Ort, an dem der Tod schon hundertfach betrogen wurde und in so vielen Gestalten zu Hause war, schien selbst Licht nicht weilen zu wollen. Die Räume und Flure des Hauses an der Grand Trunk Road waren schier gespickt mit blakenden Fackeln, doch ihr Schein reichte keine Fingerbreite in die Dunkelheit hinein. Als kämpften die Flammen selbst um dieses bißchen Terrain nahezu vergebens. Sahya Patnaik hatte keine Mühe, trotzdem zu sehen. Obwohl er, was er tat, inzwischen vielleicht auch blind vollbracht hätte. Es war ohnehin weniger eine Sache dessen, was er mit seinen Händen voll führte, als vielmehr ein Akt des Geistes. Mochten die Atmosphäre und vor allem der Gestank in seinem Haus auch an eine gewaltige Gruft erinnern, die Wärme unterschied Patnaiks Wohn- und Werkstatt grundlegend von einer solchen. In dieser Hinsicht glaubte man sich eher in einem lichtlosen Treibhaus, in dem dampfendes Dschungelklima erzeugt wurde. Doch Leben brauchte nun einmal jene feuchte Schwüle, um zu ge deihen. Zumindest jenes besondere Leben, das der ›Erwecker‹ dem Tod aus den Klauen riß … Der Körper auf dem Tisch vor ihm hatte lange genug im Ganges getrieben, um sämtliche Gerüche des Flusses in seiner aufgedunse nen Haut zu konservieren und nun wieder freizugeben. Mit dem düsteren Bukett in Patnaiks ›Erweckungsstatt‹ vermengten sie sich zu etwas, das für Normalsterbliche nicht atembar war. Für den Ne kromagier indes war es der erste Hauch neuen, dunklen Lebens. »Reich mir bitte den Tiegel dort«, verlangte er, als er die Ränder der klaffenden Bauchwunde über dem hervorquellenden Gedärm mit präzisen Stichen vernäht hatte. »Hier, Herr.« Pooja Bhatt gab ihm das Schälchen, aus der Patnaik mit den Fin
gern etwas von der grauen Paste nahm. Sorgfältig versiegelte er da mit die schartigen Löcher im schwammigen Fleisch, wo hungrige Fi sche von dem Leichnam gekostet hatten. »Nun, wie neu sieht er nicht aus«, befand er, als er auch die letzte Wunde verkleistert hatte und den Blick kritisch über den Toten glei ten ließ. »Er ist gewiß nicht mein Meisterwerk. Aber auch ich ver mag mich nicht selbst täglich aufs neue zu übertreffen.« »Nein, Herr«, pflichtete Pooja ihm bei. »Abgesehen davon wirst du auf ewig mein Glanzstück bleiben.« Die zuckenden Augäpfel des ›Erweckers‹ richteten sich auf Pooja. Schleim ließ den Bartfilz um seinen Mund noch klebriger werden. Seine Finger zeichneten dunkle, feuchte Spuren in das berückend schöne Gesicht der lebenden Toten. »So sei es, Herr«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das weit vor ih ren toten Augen versiegte. »Gleich werde ich Zeit für dich haben«, hechelte Patnaik und hus tete, als er sich an seinem plötzlich wie irr strömenden Speichel ver schluckte. »Nur noch – erwecken«, fügte er rauh hinzu. Er sah zu einer der Fackeln hin, fixierte die träge tanzende Flam me, bis ihr Widerschein schließlich fast vollends in Patnaiks Blick hinüber gewandert war. Dann drückte er den Daumen und den klei nen Finger seiner rechten Hand in die glanzlos starrenden Augen des Leichnams, gerade so fest, daß die trockenen Augäpfel unter sei nem Druck keinen Schaden nahmen. Schließlich senkte er die Lider und leitete das Feuer aus seinem Blick durch seinen Körper, wo es sich mit dunkler Kraft anreicherte, bis in seine Finger. Die Kuppen schienen einen winzigen Moment lang blutfarben zu glühen, dann wechselte das Licht in den toten Körper, verteilte sich unter der schwammigen Haut – – und ein gequälter Atemzug aus zwei Kehlen wehte durch den
Raum. Aller Elan schien aus Patnaiks unförmiger Gestalt zu fliehen. Gera de noch gelang es ihm, sich an der Tischkante abzustützen, während sich der Tote vor ihm von frischer Kraft beseelt aufrichtete; so unbe holfen allerdings, als wüßte er mit dem fremden Leben in seinem Körper nichts anzufangen. Als der ›Erwecker‹ sich wieder gesammelt hatte, half er seinem neuesten Geschöpf, die ersten Schritte zu tun, bis sich der Tote, noch immer reichlich unbeholfen, auf seinen Befehl hin zurückzog. »Ich werde ihn wohl ›den Unvollkommenen‹ nennen«, meinte Pat naik mißgestimmt. Doch schon einen Herzschlag später erhellte sich die Miene hinter dem Bartgestrüpp. Schließlich gab es Wege und Mittel, sich über solche Beinahe-Mißerfolge hinwegzutrösten … »Pooja«, säuselte er, von Vorfreude erregt, »komm zu mir, meine Liebe.« Er ließ sich rücklings auf den Tisch sinken, von dem der Tote sich gerade erhoben hatte. Sein Hüfttuch rutschte lautlos zu Boden. Pat naik genoß die feuchte Wärme unter sich, die noch von dem Leich nam herrührte. »Ihr wünscht, Herr?« »Ich brauche dringend Trost«, erwiderte Sahya Patnaik in gespielt weinerlichem Ton. »Ja, Herr.« Der ›Erwecker‹ schloß die Augen und gab sich ganz allen anderen Sinnen hin. Kühle Finger teilten das Haar, das seinen Körper umschloß, auf Höhe seiner Lenden und massierten kräftig, wie es ihm gefiel, sein fast emporschnellendes Glied. Um nicht allzu früh zum Höhepunkt zu kommen, ließ Patnaik sei
ne Gedanken zurückwandern. Er entsann sich des wunderbaren Moments, da er Pooja Bhatts Antlitz in der Zeitung gesehen hatte, und der schmerzhaften Sehnsucht, die ihn unrettbar verzehrt hätte, wenn er ihren vom Feuer verheerten Körper nicht bekommen hätte. Ihm seine frühere Schönheit zurückzugeben, war ein schweres Stück Arbeit gewesen. Es war kaum noch erweckbare Substanz darin ge wesen. Nie zuvor hatte ihn eine Reanimierung soviel Kraft gekostet. Ein bißchen mehr nur, und er wäre nie wieder erstarkt, um sein Meisterstück auch benutzen zu können. Nichtsdestotrotz hatte es alle Mühen gelohnt. Pooja war längst Teil seines Lebens. Er wußte heute nicht, wie er jemals ohne sie hatte sein können. Sie war ein Wunder, das er für sich selbst vollbracht hatte, so heilig, daß er den bloßen Gedanken nicht ertragen konnte, sie auch nur irgend jemandem zu zeigen. Ge schweige denn sie mit jemandem zu teilen, wie er es mit seinen an deren Geschöpfen bisweilen tat … Pooja verstand es, Patnaik ihre Dankbarkeit zu beweisen, daß er ihr ein zweites, restlos erfülltes Leben geschenkt hatte. Kurz bevor er sich verströmte, gebot er ihr, innezuhalten. Nach ei ner Weile, in der sich das Feuer in ihm etwas legte, zog er Pooja auf sich. Sein Pfahl drängte in ihren mürben Schoß, während er ihre schweren Brüste liebkoste, denen ein erdiges Aroma anhaftete. Zu gleich rochen sie noch immer ganz schwach nach Verbranntem, ob wohl er seinerzeit doch jedes Stückchen ihrer verheerten Haut er neuert hatte. Es dauerte nicht sehr lange, bis Patnaik sich mit einem Aufschrei in das morsche Innere seiner untoten Gespielin ergoß. Lahmes Händeklatschen schallte durch die Dunkelheit. »In der Tat – sie ist die Krönung deines Schaffens.« Wie unter Schmerzen fuhr Sahya Patnaik herum und heulte auf:
»Tanor!«
* Uruk Hier war ich also und stand im Begriff, das letzte zu töten, was von Felidae noch vage am Leben geblieben war: Ihr Herz! Die Kammern des rohen Muskels schienen noch zum Bersten ge füllt zu sein mit dem Saft des Lebens, ohne daß der Rest des ver dorrten Körpers jedoch einen Nutzen daraus zu ziehen vermochte. Das schwarze Herz der Kelchdiebin war abgekapselt, isoliert; es schlug sinnlos, es pumpte kein noch so schwaches Rinnsal mehr durch die Adern der Mumie! Nimm den Kelch …! Nur widerstrebend löste ich den Blick von Felidaes spinnwebtro ckener Hülle und streckte die Hände nach dem Gefäß aus, das in gut zwei Metern Höhe über mir halb in der Wand der quadratischen Kammer steckte. Diese Maueröffnung war wie dafür geschaffen. Von wem? Warum? Und wo lag der mir angekündigte Korridor? Hier jedenfalls nicht, denn in die steinerne Kammer führte nur ein einziger Weg: jener, den ich gekommen war! Ich berührte den lilienförmig gestalteten Trinkkelch, dessen schat tenhafter Purpur sofort in mich eindrang, meine Haut streichelte und Gefühle weckte, die ich lieber verleugnet hätte, denn es gefiel
mir. Etwas von der harten Spannung in mir löste sich, und seufzend zog ich das Gefäß, dem Landru aus guten Gründen nachjagte, voll ständig aus der Wand heraus. Ich hielt es zum zweiten Mal in Händen. Es war angenehm; sein Gewicht schien exakt so bemessen, daß es eine perfekte Balance mit meinen Kräften einging. Eine ganze Weile stand ich nur da und genoß das damals in Syd ney nicht verspürte Gleichgewicht.* Um so brutaler mischte sich die Stimme meines Zweifels in das vermeintliche Hochgefühl: Der Kelch ist dein FEIND! Er wird dich ver schlingen. Das LICHT wird in dich fahren wie in – Ich brach den Gedanken ab, denn was geschehen sollte, geschah auch ohne mein Einverständnis! Ich konnte meinen Körper dabei beobachten, wie er stupide ge horchte. Mich respektierte er nicht mehr. Er nahm meine stummen Einwände nicht einmal zur Kenntnis. Das, worauf er hörte, wisperte aus dem imaginären Nagel in meiner Stirn. Dieselbe Stimme, die auch aus Beth’ Mund drang und jetzt sagte: »Das Blut der ersten mei ner Kinder soll dich aus den Fesseln befreien, die deinen Geist beschrän ken! Wie du bist, bist du mißlungen! Aber ich werde es korrigieren …« In meinem Mund schwamm plötzlich ein quecksilbriger Ge schmack. Es war Ekel. Er wucherte um jeden einzelnen Nerv, und ich stemmte mich mit aller noch verbliebenen Macht gegen das Fremde, das von mir ver langte, daß ich – Sinnlos. Es war sinnlos, denn nur mein abgeschnittener Verstand beteiligte *siehe VAMPIRA 25: ›Der Ewige Krieg‹
sich an diesem Aufbäumen, wie sehr ich mich auch anstrengte. Mein Körper handelte losgelöst von meinen Zweifeln. Er bückte sich. Er stellte den Lilienkelch auf den Boden neben Felidaes Mumie, klaubte den kühlen, pochenden Muskel aus ihrer Brust und hielt ihn mit einer Hand über das abgestellte Gefäß. Mit der anderen, mit dem Nagel des Zeigefingers, durchbohrte er die pralle Herzkammer und fetzte das Gewebe mit einem kurzen Ruck auseinander, so daß sich der Schwall darin befindlichen Blutes in die Schale des Lilienkelchs ergoß. Das Material des Gefäßes schien unter der dunkeln Nässe aufzu leuchten. Die bizarr-kindlichen Stimmen, die die unterirdische Kammer er füllten, hatte ich kaum noch wahrgenommen; nun rückten sie noch einmal in mein Bewußtsein, weil sie jäh verstummten. Mich fror. Rauhreif umkrustete den kleinsten noch glimmenden Hoffnungs funken – und löschte ihn aus! Felidae hatte nie ein Hehl daraus gemacht, was geschehen würde, wenn ich aus dem Kelch trank. Er würde mir meine wahre Bestim mung offenbaren, mich ›erleuchten‹ … Ich aber fürchtete – und war davon überzeugter denn je –, daß er mich eher verdunkeln würde. Daß dieses Ritual, eng an die Kelchtau fe einer Vampirzeugung angelehnt, mich in meiner jetzigen Person vernichten mußte, um mich als dieses unvorstellbar Andere wieder zubeleben, was das LICHT für ›gelungen‹ hielt … Der letzte Schlag ihres Herzens quetschte den letzten Tropfen von Felidaes Blut heraus in den Kelch. Dann erschlaffte es wie ein leerer Beutel, den ich achtlos fallen ließ.
Meine beiden Hände senkten sich hinab und umschlossen die zur Hälfte gefüllte Schale des Lilienkelchs. Ich hob ihn sicher auf, obwohl ich ihn lieber am Boden oder an der nächsten Wand zerschmettert hätte! Ich führte ihn an meine jeden Durst leugnenden Lippen, die den noch mit seinem Inhalt genetzt wurden. Und dann ließ ich – ungeachtet aller Furcht, ungeachtet allen Ekels – Felidaes vom Purpur durchstrahltes Blut in meine sich wehrlos er gebende Kehle rinnen, während vor mir erst die von Beth gestützte Schlackefigur zerfiel und dann Beth selbst zusammenbrach. Meine letzten Gedanken, bevor das Gift meinen Geist zersetzte, den Körper aber schonte, waren: Es ist gar nicht, wie ich fürchtete. Es ist … SCHLIMMER. Um alles in der Welt … Niemals werde ich … HALT! Wenn DAS meine Bestimmung sein soll, dann …
* Indien In seiner geduckten Haltung erinnerte Sahya Patnaik an ein ver krüppeltes Gewächs – die dürren Beine gebeugt, die Arme gespreizt und sein Körper vom zottigen Haupthaar umwuchert wie von wil dem Efeu. Sekundenlang bewegte sich in dem grotesken Standbild, zu dem der ›Erwecker‹ vor Wut und Entsetzen erstarrt war, nur der Mund. Er gebar gurgelnde Laute, und einen Moment lang hatte Ta nor den Eindruck, als wären die Figuren auf den gelben Zähnen zu
trägem Eigenleben erwacht. Vielleicht verhinderte in diesem Augenblick nur die Tatsache, daß das Vampiroberhaupt nicht allein dort stand, daß Patnaik sich auf Tanor stürzte, um den Frevel zu sühnen. Da ihm aber in Timot ein zweiter Gegner erwachsen wäre, beließ es der ›Erwecker‹ bei bloßem Zorngebaren. Wenn es ihn auch sichtlich alle Mühe kostete, Tanor nicht dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß er das unge schriebene Gesetz gebrochen hatte. »Du wagst es, mich hier zu stören?« keifte der ›Erwecker‹. »Du trittst alle Achtung in den Schmutz?« Noch immer wie zum Sprung gebeugt kam er einen Schritt näher, während er Pooja mit einer Geste anwies, sich tiefer in den Schatten zu verbergen. Den Blicken der Vampire entzog sie sich damit jedoch nicht. Ihnen genügte das kärgliche Restlicht der rußenden Fackeln, um fast wie bei Tage sehen zu können. Und Tanor ließ die Augen nicht von der untoten Schönheit, ob wohl er das Wort an Patnaik richtete. »Es lag nicht in unserer Absicht, dich zu beleidigen oder zu verlet zen«, beteuerte er. »Doch duldet jener Gefallen, um den ich dich bit ten möchte, keinen Aufschub. Nur deshalb ließen wir die üblichen Besuchsregeln in deinem Haus außer acht.« Es fiel ihm nicht leicht, sein Lächeln entschuldigungheischend scheinen zu lassen. Denn natürlich hatte er die Chance nur allzu gern genutzt, endlich einmal jenen Schatz persönlich sehen zu kön nen, den Patnaik hütete wie das kostbarste Gut der Welt. Und allein der Anblick, mußte Tanor sich eingestehen, lohnte es, Patnaiks ewigen Zorn auf sich zu ziehen … »Angesichts deiner Frechheit frage ich mich, ob ich dir jemals wie der irgendeinen Gefallen erweisen werde«, zischte der ›Erwecker‹.
»Mir bleibt nur, dich inbrünstig um Verzeihung zu bitten«, heu chelte Tanor Demut und senkte sogar leicht das Haupt. Zugleich brachte Timot das Holzkästchen unauffällig in Patnaiks Blickfeld und erzielte damit genau die erwartete Wirkung. Betont desinteressiert musterte der Zottige die Schatulle. »Ist darin jener … Gegenstand?« Er versuchte das Wort verächtlich auszuspucken, doch der Spei chel, der dabei von seinen Lippen tropfte, verriet seine neuerliche Erregung. »So ist es.« Tanor nickte und bedeutete Timot, den Deckel des Kästchens zu heben. Von einer Hast getrieben, die er nicht zu kontrollieren im stande war, trat Patnaik näher. Sein Blick heftete sich auf das Ding, das in der Schatulle lag. Fast sofort wob Faszination einen Schleier von fiebrigem Glanz über Sahya Patnaiks tiefliegende Augen. Ein Laut verhaltener Ver zückung floh von seinen Lippen, obwohl an dem Gegenstand in der Schatulle scheinbar nichts war, was solche Leidenschaft hätte be gründen können. Der handspannenlange Stab war allenfalls unge wöhnlich. Er bestand aus einer matt schimmernden Metallegierung, und der Schaft mündete in einen kunstvoll imitierten Schlangenkopf mit weit aufgerissenem Rachen. Daraus ragten zwei daumenbreit aus einanderstehende spitze Zähne, die so echt aussahen, daß Patnaik meinte, die Schlange könne jeden Moment zubeißen und todbrin gendes Gift verspritzen. Trotzdem flüsterte er: »Es ist – herzensschön!« Weshalb er das ungewöhnliche Wort wählte, wußte er selbst nicht. Es war plötzlich in ihm, und er mußte sich seiner bedienen, als gäbe es in seinem Wortschatz keine anderen Begriffe mehr.
Behutsam umfaßte er das rissige, blutdunkle Holz und nahm Ti mot das Kästchen aus den Händen. »Laßt uns keine Zeit verlieren«, sagte er so leise, als fürchtete er, ir gend jemandes Ruhe zu stören. »Folgt mir.« Patnaik verließ, den Blick nicht vom Schlangenstab lassend, den Raum. Ob die beiden Vampire ihm tatsächlich folgten, war für ihn nicht wichtig. Tief in ihm war eine Gier, erwacht, die sich auf son derbar aggressive Art von seinem gewöhnlichen Wissensdurst un terschied. Er mußte diese wilde Sucht nach den Geheimnissen des Stabes stil len. Es würde ihm eine Herzenslust sein … Timot ging dem ›Erwecker‹ mit verwunderter Miene nach. Tanor verharrte noch einen winzigen Moment. Sein Blick tauchte dort in die Dunkelheit, wo Pooja Bhatt sich sicher glaubte. Der Vampir wußte nicht, ob ›Erweckte‹ unter einem begehrlichen Blick erschauern konnten wie wirklich Lebende. Aber wie sonst wäre das kaum merkliche Beben Poojas zu erklären gewesen?
* Auch in dem Raum, in den Patnaik seine Gäste führte, mühten sich Fackeln vergeblich im Kampf gegen die Schattenschwärze. Die Ein richtung war so karg, daß sie nicht erwähnenswert war. Nur – leer war die Kammer trotzdem nicht. Jeder andere Besucher hätte die Handvoll Gestalten, die sich in der Dunkelheit verbarg, nicht gesehen, lediglich das Rascheln ihrer Klei dung, das leise Knirschen ihrer steifen Gelenke vernommen. Und einen Menschen mußte schon diese Empfindung ganz dicht an den
Abgrund heranführen, hinter dem der Wahnsinn lauerte. Die beiden Vampire ignorierten Patnaiks Geschöpfe, mit denen er sich so gern umgab. »Nun, was ist?« fragte Tanor ungeduldig, nachdem der ›Erwecker‹ jetzt schon seit einer geschlagenen Minute reglos auf die Opfer schlange niederstarrte, die noch immer in der Schatulle ruhte. »Gemach, mein Freund, gemach«, flüsterte er. »Wir müssen uns erst miteinander vertraut machen, ein herzliches Verhältnis schaffen.« Nach einer Weile ließ Patnaik sich schließlich im Lotussitz nieder, bettete das Kästchen auf seine Beine, und seine Finger tauchten langsam hinein. Mit spitzen Fingern holte er den Schlangenstab her aus, und etwas wie ein Lichtreflex, der seinen Ursprung in Patnaiks Augen haben mußte, züngelte über das Metall. »Was erkennst du?« fragte Tanor heiser. Er wußte selbst nicht genau, was er von Sahya Patnaik zu erfahren hoffte. Er wußte alles, was auch die meisten anderen der Alten Ras se über die Opferschlange wußten. Und doch so wenig. Denn alle Kenntnis um den Schlangenstab entsprang nirgends festgeschriebe nen Sagen und Legenden, war mündlich überliefert worden, und was im Laufe der Jahrhunderte dazuerfunden oder mißverstanden worden war, wußte längst niemand mehr zu klären. Die Opferschlange, so hieß es, und das durfte wohl als Fakt hinge nommen werden, hatte einst das Überleben der Vampire garantiert, als die Sintflut die Welt verschlungen und alles Leben auf ihr er tränkt hatte, das keinen Schutz in der Arche Noahs gefunden hatte. Die Alte Rasse hatte zeitgleich mit dem gerechten Mann ein gewalti ges Schiff erbaut, in dem sie der Zorn Gottes nicht erreicht hatte. In dieser Dunklen Arche hatten sich die Vampire mittels der Opfer schlange vom Blut ihrer lebenden ›Bordverpflegung‹ ernährt. Doch
woher der Schlangenstab kam, welche Macht ihm innewohnte, warum er lange verschwunden war und gerade jetzt wieder auf tauchte – auf all diese Fragen gab es keine Antworten. Und insgeheim hegte Tanor wenig Hoffnung, daß Sahya Patnaik sie finden würde. Die Geheimnisse der Opferschlange mußten naturgemäß so an ders, so viel fremdartiger sein als alles, mit dem der ›Erwecker‹ sich sonst befaßte, daß … »Aaarrgghh!«
* Als hätte der Gedanke eines anderen die Bewegung ausgelöst, schloß Sahya Patnaiks Faust sich um den Schaft des Stabes. So fest, als wollte er ihn mit seiner mageren Hand zerdrücken. Und doch hätte er in diesen Augenblicken nichts lieber getan, als die Opferschlange loszulassen und weit von sich zu schleudern. Er konnte es nicht. Der Stab schien mit seiner Faust zu verschmelzen. Es kam ihm vor, als würden sich hauchdünne, weißglühende Drähte von dem Arte fakt aus in seine Hand bohren, durch den Arm fahren und weiter, bis in sein tiefstes Inneres. Patnaik schrie. Aber der Stab brachte nicht nur Schmerz. Seine eigene Kraft schien sich unter dem Einfluß der Opferschlan ge zu potenzieren, in einem Maße, dem Patnaik sich kaum gewach sen glaubte. Er meinte, unter der quellenden Macht zerbersten zu müssen.
Zugleich wucherten mit einemmal nie gekannte Neigungen in sei nem Hirn, so fremd, daß er sie kaum zu deuten vermochte. Seltsa mer Durst und Hunger, die brüllend verlangten, gelöscht zu werden … Und dann kamen die Bilder. Als würden fremde Erinnerungen in seinen Kopf gefüllt, brandete eine Sturmflut von Eindrücken in Patnaik hoch, deren bloße Vielfalt genügte, sein eigenes Bewußtsein aus seinem Leib hinauszudrän gen, weil es schlicht und ergreifend keinen Platz mehr darin fand. Mit dem letzten Rest eigenen Denkens versuchte der ›Erwecker‹ Ordnung in das tobende Chaos zu bringen – und dabei bekamen die Finger seines Geistes etwas zu fassen, das er nie und nimmer erwar tet hätte, mit dem er jedoch sehr wohl etwas anzufangen wußte. Mit einer Stimme, als müßte er einen Orkan übertönen, rief Pat naik nach Tanor.
* Die beiden Vampire sahen dem Kampf, in dem Patnaik sich wand, gleichsam bestürzt wie fasziniert zu. Sekundenlang fühlte Timot sich versucht, in Patnaiks Geist einzutauchen, um zu sehen, was darin vorging. Doch das, was er allein im Blick des ›Erweckers‹ sah, ließ ihn zurückschrecken. Aus Angst, sich rettungslos in jener Wirr nis, die in Patnaik herrschen mußte, zu verirren. »Tanor!!« Patnaiks Brüllen ließ die gespenstische Lautlosigkeit, in der er sei ne eigentümliche Schlacht focht, zerspringen. Der Vampir kniete neben ihm nieder und sah ihm direkt ins Ge sicht, dessen Ausdruck ihm seltsam mehrdeutig vorkam. Schmerz,
Kraft und Angst schienen sich darin um die Vorherrschaft zu strei ten. Doch dann beruhigte sich das zuckende Mienenspiel für Sekun den. Etwas wie Glückseligkeit ließ Sahya Patnaiks Gesicht fast leuchten, und Tanor hatte den Eindruck, als würde der ›Erwecker‹ geradewegs in den Garten Eden schauen – oder in ein Pendant dazu, das seine dunkle Seele als paradiesisch empfinden mochte. »Ich habe Kontakt, Tanor …«, flüsterte er freudig. »Kontakt? Zu wem?« fragte der Vampir. Eine Ahnung dämmerte in ihm herauf. »Zu dem Mann, den ich dir erweckte und nach deinem Wunsch herrichtete«, ließ Patnaik die Ahnung zur Gewißheit werden. Tanor schüttelte seine Überraschung sofort ab. »Wo? Wo ist der Erweckte, Patnaik?« »Weit entfernt«, wisperte es ersterbend über Patnaiks schlaffe Lip pen. »Wo?« Tanor faßte seine Schultern und rüttelte ihn durch. »Uruk …«, wehte die Antwort aus seinem Mund. »In Uruk …« Dann hatte die fremde Kraft Patnaik so geschwächt, daß er mit se ligem Lächeln erschlaffte. Tanor ließ ihn unsanft zu Boden rutschen. »Ist er tot?« fragte Timot. Es klang weder bedauernd noch besorgt, sondern nur kalt interessiert. »Nein«, sagte Tanor abwesend. »Er schläft nur.« Uruk, echote es in ihm. Dort, wo angeblich einst die Wiege der Menschheit gestanden hatte, hielt Duncan Luther sich also auf. Landru würde erfreut sein, das zu hören. Vielleicht war das Ge schenk, daß er, Tanor, Landru einst gemacht hatte, ja doch noch
nicht ganz nutzlos. Vielleicht wies Duncan Luther dem Kelchjäger doch noch die Spur zu seiner verhaßten Feindin, dem Kind der Hure Creanna. So wie es ursprünglich geplant gewesen war. Tanor würde ihn darüber in Kenntnis setzen, ebenso darüber, daß er die legendäre Opferschlange in seinen Besitz gebracht hatte. Aber erst wenn Patnaik wieder erwacht war und berichtet hatte, was der Stab ihm vermittelt hatte. Bis dahin war noch etwas Zeit, wie Tanor mit einem raschen Blick auf den Schlafenden feststellte. Zeit, die er nutzen wollte für eine ganz besondere Erfahrung … »Komm mit«, sagte er zu Timot und eilte aus dem Raum. »Was ist mit …?« Timot wies auf Patnaik, der immer noch den Schlangenstab festhielt. »Später«, rief Tanor über die Schulter zurück. Mit einem gleichgültigen Achselzucken folgte Timot seinem Sip penführer.
* Seit ihm Landru im Streit gesagt hatte, er wüßte nicht, was ihm ent ging, wenn er es noch nie mit einem Mischwesen getrieben hätte, nagte der Gedanke in Tanor. Lust, die er sich selbst verboten hatte, war ihrem Kerker entflohen und zersetzte seither seinen ehernen Willen. Der Reiz wuchs, einmal Ähnliches zu versuchen, wie es Landru tat, wenn er mit der Wölfin buhlte. Und hier, in Sahya Patnaiks Reich, bot sich Tanor eine Chance da zu. Auf dem Weg zurück in die Kammer, in der sie den ›Erwecker‹ bei ihrer Ankunft vorgefunden hatten, legte der Vampir eine Eile an
den Tag, die ihn seine Gier nicht verhehlen ließ. Träge Gestalten, zum Teil fast lächerlich herausgeputzt, taumelten gegen die Wände, wenn Tanor sie ungestüm beiseite stieß. Dann hatte er sein Ziel erreicht. Timot trat hinter ihn. Sein Lächeln verriet, daß er wußte, weshalb Tanor noch einmal hierher zurückge kehrt war. Das Mädchen kauerte noch in derselben Haltung im Hintergrund des Raumes, in der sie es zurückgelassen hatten. »Komm hervor«, schmeichelte Tanor heiser, »du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich werde dich nicht weniger sorgsam behandeln wie Patnaik.« Pooja starrte ihn nur aus Augen an, die nicht so leer waren, wie es die einer Toten sein sollten. Selbst über die Distanz erkannte Tanor, daß tief am Grund ihrer Pupillen etwas flackerte wie der Wider schein winziger Feuer. Vielleicht ein Abglanz des Fegefeuers, mut maßte er, in das Patnaiks Macht die Seele des Mädchens getrieben hatte. Die betörend Schöne rührte sich nicht. »Nun, dann komme ich zu dir«, sagte Tanor und trat so langsam näher, als könnte er sie mit einer hastigen Bewegung verschrecken wie ein Tier. Er faßte vorsichtig Poojas Oberarme und zog sie empor. Doch damit hatte alle Behutsamkeit ein Ende. Lust brach sich in Tanor Bahn wie ein hungriges Ungeheuer. Die kindliche Unschuld in Poojas Augen, der erdige Duft ihrer spröden Haut und ihre blanke Willenlosigkeit trieben ihn in eine Raserei, die den winzigen Rest klaren Verstandes in ihm fast erschreckte. Hat es mich tatsächlich so sehr nach Andersartigem gelüstet? Offenbar war es so.
Seine rechte Hand fuhr in Poojas Schritt, während er mit der lin ken ihren schwellenden Busen knetete. Die Abdrücke hielten sich se kundenlang in Poojas teigiger und doch samtweicher Haut, ehe die Kuhlen langsam daraus verschwanden. Mit einer Hand hob Tanor die Untote an und drückte sie auf den Tisch nieder, auf dem sich Patnaik ihr vorhin hingegeben hatte. Sein Glied hatte sich längst aufgerichtet und drängte gegen den Stoff seines Gewandes. Er befreite es und führte es ungestüm in die enge Gruft zwischen Poojas gespreizten Schenkeln. Doch mehr als ein hastiger Stoß war Tanor nicht vergönnt. »Elender Hund!« heulte ein Schrei einem Derwisch gleich durch das Haus. »Das wirst du mit deinem unseligen Leben büßen!« Sahya Patnaik stürmte in den Raum, die Faust hochgereckt – und die Zähne der Opferschlange gegen Tanor gerichtet!
* Jeden anderen, der ihn so angriff, hätte Tanor nur belächelt. Und vielleicht hätte er nicht einmal Sahya Patnaik gefürchtet. Wenn der sich nicht mit der Opferschlange bewaffnet hätte. Der Vampir wußte nicht, ob ihm von dem Schlangenstab Gefahr drohte. Vermutlich nicht, denn schließlich war er ein Werkzeug sei ner eigenen Rasse. Andererseits hatte er mitangesehen, wie der ›Er wecker‹ vorhin auf das Artefakt reagiert hatte. Und auch Patnaik war nicht mit einem Normalsterblichen gleichzusetzen. Vorsicht war also angeraten. Tanor ließ augenblicklich von Pooja ab. Leicht vornüber gebeugt erwartete er den heranrasenden ›Erwecker‹ kalten Blutes und wich seinem Hieb mit der Opferschlange im letzten Moment aus. Er spür
te noch den Luftzug, mit dem der Stab an seinem Gesicht vorbei strich. Mit einer Schulterbewegung stoppte der Vampir Patnaiks Sturm lauf und stieß ihn zwei, drei Schritte zurück. Der Zottige ächzte unter dem Anprall, traf aber schon wieder An stalten zum nächsten Angriff. Sein Blick flackerte, und Geiferfäden woben sich klebrig in seinen Haarfilz. »So wie du mir das Herz mit deiner ruchlosen Tat gebrochen hast, so werde ich dir das deine aus der Brust reißen!« schrie er und fuch telte drohend mit dem Schlangenstab in Tanors Richtung. »Ich wer de es stückchenweise verzehren, und ebenso langsam sollst du dar an herzenselend zugrundegehen!« Doch der Fluch erfüllte sich nicht. Patnaiks Stimme erstickte wie abgewürgt. Sein Körper begann zu zappeln, während er zentimeterweise in die Luft gehoben wurde. Nur sein Kopf rührte sich nicht, als steckte er fest zwischen den Backen eines unsichtbaren Schraubstocks. Noch ruhte der Blick des ›Erweckers‹ starr auf Tanor. Doch einen Lidschlag später wandte Patnaik das Gesicht mit einem Ruck ab. Nicht freiwillig allerdings. Sein Rückgrat schien ähnlich morsch wie die seiner Geschöpfe. Sein Genick brach jedenfalls mit einem seltsam mahlenden Laut, der noch nicht verklungen war, als Timot den schwebenden Körper aus seinem geistigen Griff entließ. »Er muß den Verstand verloren haben«, wunderte er sich. »Vielleicht auch das«, murmelte Tanor. »Aber mir scheint, als hät te vor allem das unseren guten Patnaik in Rage versetzt.« Oder in blutige Raserei, setzte er im stillen hinzu. Sein Finger wies auf die Opferschlange, die gerade aus Patnaiks
erschlaffender Faust rollte und scheinbar harmlos liegenblieb. Timot wollte sich schon danach bücken, doch Tanor hielt ihn zu rück. »Nicht berühren«, warnte er. »Wer weiß, was der Stab mit uns an zurichten vermag. Geh und hole das Kästchen.« Timot entfernte sich lächelnd. Lächelnd, weil Tanors Bitte ihm et was Zeit verschaffte. Zeit, die er nutzen konnte, um tief in sich zu verstecken, was er im Moment des Todes aus Sahya Patnaik heraus gerissen hatte. Wie – und ob überhaupt – die Kraft des ›Erweckers‹ sich nutzen ließ, konnte er später noch erproben. Als er nach einer Weile mit der Schatulle zurückkam, sah er gera de noch den letzten Akt des grausigen Dramas. Über Patnaiks Körper lag ein länglicher Haufen Asche, der gerade eben seinen allerletzten Rest menschlicher Form verlor und sich dann unter einem aus dem Nichts heranwehenden Wind wie ein graues Leichentuch über den Toten breitete. »War sie das?« fragte Timot, obwohl er es eigentlich schon wußte. Tanor nickte. »Scheinbar zwei, die ohne einander nicht leben konnten«, versuch te er seine Enttäuschung über die entgangene Erfahrung mit Spott zu mildern. Dann befahl er einem der ›Erweckten‹, den Stab zu nehmen und in das Kästchen zu legen. Dem Untoten schien die Schlange nichts anzuhaben. Im Gegenteil – sie schien ihm regelrecht aus der Hand und in die Schatulle zu springen. Als wäre ihr zuwider, was den Körper ›beseelte‹. »Laß uns verschwinden«, sagte Tanor, als er den kleinen Holzkas ten aufgenommen hatte. »Vielleicht weiß Landru mehr damit anzu
fangen. Zu unser aller Wohl …«
* Uruk Oberstleutnant Riad Radjavi knöpfte seinen Hosenbund zu und for derte die Schwester des Präfekten mit einer unwilligen Geste auf, zu gehen. Maryam Seistan gehorchte gesenkten Blickes. Was sie hatte tun können, hatte sie getan. Der Rest lag bei Radjavi, der – nachdem die Suche nach dem verschwundenen Archäologenteam nichts erbracht hatte – die Zeit gefunden hatte, einen Blick in die Bücher der Präfek tur zu werfen. Dabei war er auf einige Unstimmigkeiten gestoßen. Wenig später war Maryam bei ihm erschienen und hatte Gnade vor Recht für ihren korrupten Bruder erfleht. Radjavi hatte den Zeitver treib akzeptiert, ohne sich in seinen weiteren Schritten festlegen las sen zu wollen. Maryams Schoß war eng gewesen; sie hatte noch kei ne Kinder geboren. Er trat zum Fenster. Es war früher Nachmittag, und durch die Ritzen der Läden drang grelle Helligkeit. Die Hitze blieb draußen. Um diese Zeit lag Warka wie in nächtlichem Schlaf. Kaum etwas bewegte sich in den engen Gassen der Stadt, die nicht größer als ein Dorf war. Radjavi geriet ins Grübeln, während er dastand und das Schatten muster betrachtete, das die Stäbe der Holzläden auf seinen Körper malten. Bereits seit zweieinhalb Monaten galt das französische Team als vermißt, das dabei gewesen war, weitere Grundrisse des antiken
Uruk freizulegen. Bis die Regierung in Bagdad Radjavi und seine Eliteeinheit in Marsch gesetzt hatte, um nach dem Rechten zu sehen, waren aller dings nur zwei Wochen vergangen. Seit zwei Monaten forschten sie nun schon vergeblich nach dem Verbleib der siebzehnköpfigen Ar chäologengruppe. Anfänglich hatten sie die Einmischung diplomati scher Kreise geduldet. Doch mittlerweile waren die historischen Stätten und Warka als einzige Siedlung in weiterer Umgebung fest in militärischer Hand. Oberstleutnant Radjavi hielt den Kontakt mit Bagdad. Aber Bagdad wirkte – je länger die vergebliche Suche an dauerte – immer lustloser, sein Interesse an einer Aufklärung des Verschwindens aufrecht zu erhalten. Radjavi fühlte sich in diesem Nest verraten und verkauft. Und weit unter Wert gehandelt. Jede weitere Stunde hier ärgerte ihn – und vermutlich würde der bestechliche Präfekt einen Teil dieses Är gers ausbaden müssen. Trotz intensivster Bemühungen seiner wohl gewachsenen Schwester … Als es klopfte, zuckte Radjavi nicht einmal zusammen. Er rechnete mit Seistans Dreistigkeit, vorzusprechen und nun persönlich um Gnade zu winseln. Aber es war nicht Seistan, sondern einer von Radjavis Adjutanten, der mit unbewegtem Gesicht meldete: »Ein Hirte namens Tahir ver langt vorgelassen zu werden! Ich habe versucht, ihn abzuwimmeln, aber er behauptet beharrlich, es wäre dringend, ohne zu sagen, worum es geht …« »Er verlangt?« Radjavi löste sich aus dem Spiel von Licht und Schatten. Ein Lächeln, das keines war, schmiegte sich um den Mund, der noch Minuten zuvor im Schoß einer Frau gewühlt hatte. Ein we nig von der Strenge ihres Geschmacks lag noch auf seiner Zunge, als er sagte: »Laß ihn vor! Ich denke, ich bin in der geeigneten Stim mung, einen Wichtigtuer zu empfangen …«
* Die absoluten – und zugleich absolut fremden – Denkmuster wichen, dennoch blieb es frostig kalt. Um Beth MacKinsay herum, und auch in ihr selbst. Der Nebel, der sie umgab, wirkte gefroren und dennoch schwere los. In seinem geheimen Kern war er finster wie das Schreckliche, das sich in der Maske strahlenden LICHTS soeben aus der blonden Reporterin zurückgezogen hatte … Überall pulsierte Purpur. In jedem der lebenden Schatten, die den Raum wie Derwische durchtanzten. WO? BIN? ICH? Woran Beth sich noch entsann, war ihre schwere Verletzung nach dem Kampf mit den Kairoer Vampiren, deretwegen Lilith sie in die Obhut einer koptischen Mission gegeben hatte.* Wie viele Tage sie dort zugebracht und auf Liliths Rückkehr ge wartet hatte, wußte sie nicht mehr … Irgend etwas war geschehen. Aber wann? Und was genau? Beth erinnerte sich nicht. Sicher war nur, daß sie nicht mehr in ih rem Bett lag und sich auch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr in der Mission befand! Wo aber dann? Was war geschehen? War Lilith doch zurückgekehrt … und war sie hier? *siehe VAMPIRA 41: ›Die Rückkehr der Katze‹
Beth versuchte sich vom Boden zu erheben und die sie umgeben den Nebel mit weit aufgerissenen Augen zu durchdringen. Hinter ihr lag eine offene Tür; ein aus Steinen zusammengefügtes Tor. Die Helligkeit, die von dort hereinfiel, hatte es schwer, gegen die schwebenden Schleier zu bestehen. Ein fiebriges Gefühl machte Beth zittern. Diese Schwäche! Unweit entfernt sah sie eine gebeugte, ihr den Rücken zukehrende, aber dennoch unverkennbare Gestalt. »Lilith …?« Keine Reaktion. Alles tat weh. Beth spürte Schmerzen, als wäre ihr kompletter Kör per zerstochen worden … Wieder hatte sie das Gefühl, sich an das, was damit zusammen hing, erinnern zu müssen. Aber es war nicht greifbar. Jedesmal, wenn sie meinte, es endlich festhalten zu können, zerstob es. »Lilith …« Beth kam auf die Beine. Sie machte einen Schritt auf Lilith zu, de ren Symbiont ein geschlossenes Gewebe vom Hals bis zu den Zehen bildete. Dadurch und auch durch das düstere Zwielicht bedingt, wirkte die Freundin auf besorgniserregende Weise unerreichbar. Beth taumelte, als sie sah, was Lilith in der Hand hielt. Den Lilienkelch! Und endgültig graute ihr, als sie den nächsten Schritt zur Seite tat, so daß sie Liliths Gesicht zu sehen vermochte. Den Mund, um den sich die Patina schwarzen, klebrigen Blutes gelegt hatte. Die Augen, deren Farbe sich gleichfalls bis zur Un kenntlichkeit verändert hatte … Niemand brauchte es Beth zu erklären: In dieser Sekunde wußte sie, daß passiert war, wovor sich Lilith schon seit langer Zeit fürch
tete – und die Frage nach ihrem eigenen Zustand wurde plötzlich fast belanglos. »Lilith …« Die Starre in den Zügen blieb, nur in den Augen lohte etwas wie fernes, ungutes Wetterleuchten, als das bald hundertjährige Kind ei ner Blutsaugerin und eines Menschen Beth MacKinsay erhörte. Und sich ihr zuwandte … Ich öffne Augen, die schon oft und lange offen standen und mir den noch nie zeigten, was ich jetzt durch sie zu schauen vermag. Hier stehe ich im Pulsschlag der Ewigkeit – an einem Ort, an dem mir die stürmischen Winde der Jahrtausende um die Ohren wehen werden. Gleich. Ich sehne mich danach. Ich sehne mich zu wandern. Aufzubrechen zum Anbeginn der Zeit … Doch noch bewege ich mich nicht. Noch halte ich das Gefäß fest umklammert, das so viele Menschenleben gekostet hat und so viele reine Kinderseelen in sich birgt. Meine Seele durfte es nicht an sich ziehen und behalten. Es durfte sie nur filtern und den hellen Satz in sich verwahren. Ich wurde auch nicht getötet, obwohl mir ist, als schlüge mein Herz nun in der offenen Blüte jener steinernen Lilie und nicht mehr in meiner sich hebenden, senkenden Brust, die so gelassen mit der mich umgebenden, purpurschattigen Luft umgeht. ICH LEBE! Zum erstenmal, seit ich meine Wiege in der Paddington Street ver ließ, habe ich das dringende Gefühl, wirklich zu sein!
(Nur irgendwo in einem fernen Winkel regen sich noch leise, mehr und mehr ersterbende Zweifel.) Die Schleier sind gefallen. Ich kenne nun meine Aufgabe, die mich nur erschüttern vermoch te, als ich noch nicht das ganze Ausmaß ihrer Bedeutung überschau en konnte. Nun vermag ich dies. Es ist … gigantisch! Wenn die Menschen ahnten, was in Kürze geschehen wird … Aber die meisten wissen ja nicht einmal, unter welcher Knute sie stehen! Ich kenne ihr Los. Ich kenne ihre Geschichte seit den frühesten Anfängen. Es waren auch die Anfänge jener, deren Blut durch meine Adern strömt. We sen, deren finstre Herzen von zürnendem Geist ersonnen wurden. Damals. In dieses Damals werde ich wandern. Ich werde Duncan folgen, der mir vorausgegangen ist. »Lilith …?« Die vertraute Stimme zerstört den Zauber. Und ermahnt mich zu gleich zum Handeln. Es gibt keinen Grund, länger zu warten. Ich war das letzte Glied in der Kette, das noch nicht reibungslos funk tionierte. Nun tue ich es. »Lilith …« Ich drehe mich um. Meine Augen finden die Frau, der ich Dank schulde. Sie hat mich durch die Wirrungen der Unvollkommenheit sicher hierher geführt. Ohne sie hätte ich vielleicht nie aus dem Kelch getrunken. Hätte nie Felidaes Blut gekostet.
»Ja?« Ich sehe, wie sie erzittert. In ihren Augen ist keine Magie mehr. Nur noch Elend. Schwäche. Furcht. Sie sieht mich an, aber sie weiß meiner Verwandlung, die sie spürt, nichts Positives abzugewinnen. Ich wecke Unerwartetes in ihr: Angst … Grauen … Wie lächerlich. Und wie klug. »Was ist – passiert? Wie kommen wir …?« Meine Geste besteht aus einem unmerklichen Kopfschütteln. Sie verstummt. Ich habe keine Scheu, ihr den Rücken zuzudrehen und den Lilien kelch dorthin zurückzustellen, von wo ich ihn genommen hatte. Hierher gehört er, und hier wird er bleiben, bis … »Lilith, bitte …« Sie bettelt, weil der Funke sie verlassen hat. Sie winselt, weil das, was uns verband, verschwunden ist. Die Kraft, die in sie gefahren war und ihr einflüsterte, was zu tun sei, um mich auf dem rechten Pfad zu halten, hat den Keim restlos auf gezehrt. Es gibt ihn nicht mehr. Und neu werde ich ihn nicht pflanzen. Dank Warner/Codd/Storm mangelt es nicht an solchen, die ihn be sitzen und hier sind. Meine Kreaturen … Nun sehe ich alles mit anderen Augen. Kristallklar.
Wie dumm ich doch war! »Was hast du getan?« In Beth’ Stimme schwingt Panik. Hysterie gesellt sich hinzu: »Wie konntest du nur …?« Sie weicht von mir zurück. Ich fühle es, ohne den Kopf drehen zu müssen. Alles hier ist Auge, alles Ohr … Beth MacKinsay versucht den Ausgang zu erreichen. Wie sie sich abmüht. Sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Nicht nur mein Stigma wurde aufgezehrt, auch ihre eigene Kraft. Sie ist so langsam. Lächelnd folge ich ihr. Die Schatten tragen mich an ihr vorbei. Ich merke kaum, wie meine Füße den Boden berühren. Ich bin eins mit diesem Ort – und eins mit der Hülle, die mich panzert und die ein unglaubliches Geheimnis birgt, das ich nun kenne und unter dem ich wohlig erschauere. Ich weiß nun, daß der Mimikrystoff mir nur geliehen ist; nicht geschenkt für die Dauer meines Lebens. Und daß er mich – anders als ich lange glaubte – nicht nur verlassen wird, sondern sogar verlassen muß. Bei Felidae ist dies bereits geschehen. Ihr Symbiont ist durch jenen Korridor gegangen, dem auch die Toten gleich folgen werden. Und danach ich. Ich muß ihn nur erstehen lassen, und dazu genügt ein Gedanke. Den Rest erledigt der Kelch hinter mir in der Wand, die aufhören wird zu existieren … Beth MacKinsays Augen weiten sich. Nicht weil ich ihr den Weg verstelle, sondern weil sich unsere Um gebung von einem Lidschlag zum anderen verändert. Der an eine Grabkammer erinnernde Raum löst sich auf. Der Bo den unter unseren Füßen gehört jetzt zu einem Korridor, breit wie ein Eisenbahntunnel. Er besteht aus einer glatten Masse: geronnene Zeit. Es gibt weder Licht noch dunkel. Der Gang ist zum Anfang der Zeit hin fast unmerklich geneigt, und hie und da besitzt er finstere
Ausgänge in Epochen, die immer gegenwärtig sind, wenn auch nur hinter diesen Toren. Vom fernen Ende dieses Korridors erreicht mich eine Lockung, die auch die Toten erreicht, die noch immer auf der Treppe ausharren. Ich höre, wie sie hinter mir eintreten. Dieser Ort ist mein Auge und mein Ohr. Wenn ich will, kann ich zu jedem beliebigen Punkt des Korridors blicken, der überall leer und verlassen ist. Luther und Romano haben längst ihr Ziel erreicht; ich kann ihre Präsenz deutlich spüren. Nichts, was den Keim in sich trägt, kann im Korridor verloren gehen. Nicht einmal, wenn es der Verlockung der Schlupflöcher in die anderen Epochen erliegt. Alles gelangt dorthin, wo seine Aufgabe wartet. Felidaes ausgeblutetes Herz ist den Blicken ebenso entschwunden wie ihr ganzer verdorrter Leichnam. Und wie der Lilienkelch, der aber immer noch da ist. Nur befindet er sich jetzt hinter diesen ›fes ten‹ Mauern aus Zeit. Ich stehe unablässig mit ihm in Kontakt. Und so erahne ich bereits, was er gleich – sobald der letzte Tote die Torschwelle überschritten hat – ausspeien wird, um diese Trennlinie zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schützen … Die Toten ziehen an mir vorbei. Schweigend. Die Prozession entfernt sich schnell. Nur Beth MacKinsay steht im mer noch voller Unruhe und Aufruhr vor mir. Es ist der beste Be weis dafür, daß die zwanghafte Sehnsucht, auch ihren Beitrag zum Gelingen des Plans zu leisten, erloschen ist. Sie ist leer. Eine taube Hülle. Aber ich schulde ihr Dank, und so will ich sie nicht leiden lassen.
»Weißt du noch«, frage ich, »wie es war, als du Haß auf mich emp fandest? Damals, als die magische Pest dir den Kopf verdrehte und du mit dem Hohen Mann paktiert hast …?« »Hoher – Mann …?« echot sie zaghaft. Ich nicke. »Landru.« Sie schüttelt den Kopf. »Hör auf!« »Gleich. Versuche dich zu erinnern. Es würde dir helfen.« »Wobei? Was redest du? Sag mir lieber, was mit dir ist. Du hast dich …« Ich lasse sie nicht mehr ausreden. Die Zeit drängt, und auch mich drängt es, den Toten zu folgen. »Es würde dir helfen beim Sterben – vielleicht …« Ohne eine Erwiderung abzuwarten oder auf das Flehen ihrer Au gen zu achten, nehme ich ihr Gesicht in die Hände und drehe es auf den Rücken. Sie stirbt mit einem Staunen. Und ich … genieße es. Doch in derselben Sekunde geschieht Unerwartetes. Etwas, wovor meine Sinne mich nicht warnten, weil sie mit Beth beschäftigt wa ren. Eine Geschoßsalve durchdringt den amöbenhaften, dünnen Pan zer meines Symbionten und verheert meinen Rücken! Stößt mich wuchtig nach vorn, so daß ich über die Tote falle, deren Genick ich brach! Die Hölle bricht los – zynischerweise am Eingang zum verlorenge gangenen Paradies. Ich komme nicht mehr dazu, das unerwartete Geschehen zu er gründen. Mein Bewußtsein erlischt …
* Beim Barte des Propheten! Hauptmann Fasir Addad fühlte sich erschlagen von der Weite, die sich seinen Augen darbot. Ein Tunnel, der geradewegs in die Un endlichkeit zu führen schien! Den Männern, die ihn begleiteten, erging es kaum anders. Obwohl sie in ihren Herzen nüchterne Kämpfernaturen waren. Doch hier erlag der Verstand der Faszination eines Mysteriums! Knapp zwei Dutzend Stufen hatten sie hinabsteigen müssen, um den Eingang zu einem unmöglich erscheinenden, unter der Wüste verlaufenden Tunnels zu erreichen. Doch wohin führte er, und von wem war er erbaut worden …? Hauptmann Addads Blick kehrte zu der Frau zurück, die unter dem Kugelhagel seiner Kalaschnikow gestürzt war. Eine Mörderin in verführerischer Gestalt, die gerade – vor seinen Augen – eine an dere Frau mit beängstigender Beiläufigkeit und überragendem Ge schick vom Leben zum Tod befördert hatte! Der Anblick dieser Szene hatte Fasir Addad veranlaßt, ohne Warn ruf abzudrücken. Auch wenn er im nachhinein Zweifel hegte, daß dies die wirklich optimale Reaktion gewesen war, machte keiner der Männer, die ihn begleiteten und nun an ihm vorbei in den Schacht drängten, eine kommentierende Bemerkung. Nur aus dem Walkie-talkie drang die Frage: »Was ist los da unten? Sollen wir nachrücken?« »Nein! Alles unter Kontrolle!« antwortete Addad der oben zurück gebliebenen Dutzendschaft seiner Einheit. Erst danach tat er selbst den Schritt hinein in den unfaßbaren Stollen, der jede großstädtische
Untergrundbahn hätte aufnehmen können und vielleicht noch präzi ser gearbeitet war als für ein solches Projekt … Seine Männer schwärmten aus. Die chemischen Fackeln, die Be standteil ihrer Einsatzausrüstung waren, blieben in den Gürteln ste cken. Sie wurden nicht benötigt, denn hier unten herrschte nicht die erwartete Finsternis. Dieser unmögliche Gang war erhellt, auch wenn unklar blieb, woher sein Licht rührte. Als Addad auffiel, daß das Walkie-talkie vor seiner Brust nur noch Rauschen von sich gab, hielt er kurz inne, ging dann aber weiter. Kein Grund zur Besorgnis. Offenbar schirmte die Decke des Schach tes die Funkwellen ab. In der Ferne, winzig klein, war Bewegung erkennbar, als liefen dort Menschen, die schon ein gutes Stück weit entfernt waren. Die vermißten Archäologen – oder die Spukgestalten, die dieser schlichte Hirte beobachtet haben wollte …? Addad schloß zu seinen Leuten auf und erreichte die im Kugelha gel gefallene Frau, die blutüberströmt über ihrem Opfer lag. Nicht nur Addads Kalaschnikow, auch die Schnellfeuerwaffen sei ner Soldaten zeigten auf den betont weiblichen Körper, der von ei ner grau schimmernden, hauteng anliegenden Montur umhüllt war. Das Blut, fand Addad, sah sehr viel dunkler aus als alles, was er je bei einem Menschen oder einem erlegten Tier gesehen hatte, und es kam beileibe nicht selten vor, daß er mit Blut konfrontiert wurde. Töten war ein Handwerk, das er von der Pike auf erlernt hatte. Mit einer Gelehrsamkeit, die weithin gerühmt wurde. In dem Moment, als Addad selbst untersuchen wollte, ob noch ein Lebensfunke in der Niedergestreckten war, geschah etwas, das diese Absicht nachhaltig verhinderte: Hinter ihnen, genau vor dem vergleichsweise schmalen Tor, durch das sie in diesen breiten Gang gelangt waren, materialisierte etwas,
das im ersten Moment jeder mißverstand – und unterschätzte. Auch Addad war angetan von der herben Schönheit der hellhäuti gen Frau mit dem feuerroten Haar. Nur von einem seidig schim mernden, in unfühlbarem Luftzug wehenden Tuch umschmeichelt, blickte sie mit feuchtglänzenden Augen und Lippen zu ihnen her über. Die Gestalt wirkte wie einem Märchen entsprungen, und gleich sam auch unsagbar traurig, als wollten jeden Moment Tränen über ihre glatten Wangen rinnen. Doch im Näherkommen (in ihrem Nä herkommen) schwand dieser Eindruck rapide. Ihre Augen waren schwefelgelb, und niemand schien imstande, sie zum Stehenbleiben aufzufordern. Selbst Addad nicht, dessen Pflicht es am ehesten gewesen wäre. Warum auch? Die Fremde war nicht nur kaum bekleidet, sondern auch offensichtlich waffenlos. Addads Gedanken gerannen, als die rauchige Stimme aus dem Mund der Frau sagte: »Das hättet ihr nicht tun dürfen. Ihr habt der Erlöserin geschadet. Dafür müßt ihr sterben …« Die Bewegungen, mit denen sie heranglitt, blieben nicht länger langsam und bedächtig, sondern explodierten. Niemand vermochte genau zu verfolgen, wie sie den nächstste henden Soldaten erreichte und mit ihren ausgebreiteten Armen um schlang, so daß er in den Wirbel ihres schleierartigen Gewandes ge riet und darin verwickelt wurde. Der Schrei, der dem Bedauernswerten entwich, erstarb auf entsetz liche Weise. Seine Stimme entrückte in unsichtbare Abgründe, als wäre es eine Tonbandaufnahme, die langsam zum Stillstand kam: »Höööölftt möööörrrrr …!« Geschockt streiften die anderen ihre Lähmung ab. Addad brüllte die Namen derer, die ihrem Kameraden zu Hilfe eilen sollten.
Er selbst blieb an Ort und Stelle und wurde von hier aus Zeuge, wie die in ihrer leuchtenden Schönheit immer unwirklicher auftre tende rothaarige Frau mit ebensoviel Eleganz wie Rasanz tötete. Als der Soldat zeitlupenhaft zu Boden sank, war er kaum noch als der zu erkennen, der er Sekunden zuvor gewesen war! Sekunden? Er sah um ein Jahrhundert gealtert aus! »Wie hat sie das gemacht?« schrie jemand. Dann, als jeder sah, daß auf den massakrierten Kameraden keine Rücksicht mehr genommen werden mußte, sprachen die Waffen und hackten ihr donnerndes Stakkato in die Weite des Tunnels. Addad sah, wie die Kugeln auf die vor praller Weiblichkeit schier berstende Gestalt zuflogen … … und allein diese Tatsache bewies bereits, daß etwas nicht stimmte. Kein Geschoß aus einer russischen Kalaschnikow ließ sich im Flug verfolgen! Doch hier, in diesem unmöglichen Gewölbe, war es möglich! Je langsamer die Projektile wurden, dessen schneller agierte die geschmeidige Schleierträgerin, deren Wangen nach dem Tod des Soldaten rosiger erschienen als zuvor. Spielerisch leicht wich sie auch den nachfolgenden Salven aus, als wäre sie von einer Aura umgeben, in der ein anderer Zeitablauf herrschte … Addad spürte den Blutgeschmack im Mund, als er sich die Unter lippe aufbiß. »Haltet Sie auf Distanz!« schrie er seinen Männern zu – und befahl im nächsten Atemzug einen von ihnen zu sich. »Hilf mir, Said! Ich nehme ihre Arme, du die Beine! Wir schaffen sie raus – und dann verschwinden wir alle von hier!« Er meinte die Schwarzhaarige, die unter seinen Schüssen gefallen
war. Sie lag direkt vor seinen Füßen, und er wußte selbst nicht, was genau ihn an ihren Wert glauben ließ. Vielleicht, daß ihre Untersu chung dieses Rätsel hier zu lüften vermochte … Said gehorchte stumm. Nur sein Blick flackerte, weil er immer wieder an seinem Hauptmann vorbei zu den Kameraden schielte, die ein Sperrfeuer auf das schöne Ungeheuer eröffnet hatten, in der Hoffnung, es sich so vom Leib halten zu können. »Schnell! Ich weiß nicht, wieviel Zeit uns bleibt!« keuchte Addad. Zeit … Said bückte sich hölzern. Im selben Moment löste sich etwas aus der anthrazitfarbenen Montur der Frau und fächerte auseinander! Haare? Auf jeden Fall haarfeine Fäden, die nicht nur Said, sondern auch Addad entgegenzüngelten, der sich mit nach vorn gebeugt hatte. Als erster davon berührt wurde jedoch Said. Die Reaktion verzerrte sein Gesicht, und die Augen quollen milli meterweit aus den Höhlen hervor, bevor sich ein gurgelnder, von innen erstickter Schrei aus seiner Kehle zu befreien vermochte. Schon im nächsten Moment erwischte es auch den Hauptmann, und Addad stöhnte wie unter einer gemeinen Elektrofolter. Die hauchdünnen, ihm entgegenschnellenden Tentakel bohrten sich in seine Arme und lösten einen Schmerz aus, wie er ihn nie zu vor erlebt hatte. Seine Kiefer klafften auseinander, als versuchte er etwas viel zu Großes zu verschlingen. Gleichzeitig bohrten sich die Auswüchse aus der Montur noch tiefer in sein Fleisch … Addad versuchte, die Arme zurückzuziehen. Doch die lebendig wirkenden Fäden wurden einfach beliebig länger und glichen jede
Fluchtbewegung aus. Auch Said zitterte wie unter ununterbrochener Stromzufuhr. In Wahrheit jedoch … verließ ihn ein Strom! Addad traute seinen Augen nicht, und seine Kehle zog sich noch enger zusammen, als er zu erkennen meinte, was durch die winzi gen Schlauchverbindungen zwischen der Montur und ihnen pump te: ihr Blut! Er zweifelte an seinem Verstand. Die MPi lag unerreichbar neben ihm. Er hatte sie auf den Boden gelegt, um die Hände zum Abtrans port der Schwarzhaarigen frei zu haben. Und selbst wenn er die Waffe in die Hand bekommen hätte, bezweifelte Addad mittlerwei le, daß sie ihm etwas gegen einen solchen Feind genützt hätte … Quecksilbrig und amöbenhaft formte sich die Montur auf der Haut der Fremden immer wieder neu und anders. Wie lebendiges, beliebig formbares Protoplasma, das hier unten seit Urzeiten über dauert hatte und nun … Addads Verstand trübte sich wie unter den Auswirkungen eines Vollrauschs. Trunken und gebannt haftete sein Blick an dem aus ufernden Gespinst, das sich längst auch in ihm ausbreitete! Addad begriff, daß er sterben würde. Schatten senkten sich über sein Bewußtsein. Dann – in einem letzten Aufbäumen – bekam er etwas an seinem Gürtel zu fassen. Er umklammerte es und – Wwwwuusscch! Mehr zufällig als bewußt zerrte Fasir Addad den Stab der chemi schen Fackel aus dem Gürtel und brachte den Treibsatz zur Zün dung. Der pyrotechnische Zauber erwies sich als verblüffend mächtig. Das Gespinst, das nach Addad und Said gegriffen hatte, schien
Hitze weder zu mögen noch zu vertragen. Es zuckte zurück! Und als er mit der sprühenden Fackel nachstieß, zog es sich kom plett aus seinem Körper zurück! Dennoch erlaubte die wogende Schwärze vor seinen Augen eine Weile nur verschwommene Blicke in die Umgebung. Die Schwäche errang die Oberhand, und Addad stürzte zu Boden. Er hörte Schreie, die bewiesen, daß das andere Monster sich nicht auf Distanz halten ließ. Immer neue, schreckliche Schreie gellten auf und hallten von den glatten Wänden wider. Die Pausen zwischen den Schüssen wurden länger. Zumindest schien es Addad so, der sich erinnerte, diese Grabungs stätte vor Wochen schon einmal ohne besondere Erkenntnisse inspi ziert zu haben. Damals hatte ein Steintor den Stollen, in dem sie sich jetzt befanden, verschlossen. Es hatte jedem Versuch, es zu öffnen, widerstanden. Unverrichteter Dinge war man weitergezogen und hatte die Suche nach den Archäologen anderenorts fortgesetzt … Nun waren sie auf das Gerede eines Hirten hin erneut hierher ge fahren – und aus gewohnheitsmäßigen Jägern waren Gejagte gewor den … Addad gelang ein verkrampftes Lächeln, obwohl er wußte, daß ein wahres Wunder nötig wäre, um dieser Vorhölle noch zu entkom men. Dieses Blutbad ging nicht mit rechten Dingen zu. Dem, was hier lauerte, war allein mit Kugeln oder Feuer nicht beizukommen …! Der Blick des Hauptmanns heftete sich an die nackte Frau vor sei nen Füßen. Sie war nackt!
Wer hatte sie aus ihrer lebendigen Montur geschält? Addad wünschte, er hätte mehr von dem, was die Fackel bewirkt hatte, mit eigenen Augen gesehen. Doch sein getrübter Blick klärte sich auch jetzt nur zögernd, und so blieb er auf Vermutungen ange wiesen. Dann stutzte er abermals. Die Frau lag nicht mehr auf dem Bauch, sondern auf dem Rücken. Wer sie umgedreht hatte, reihte sich in die anderen Rätsel ein. Über ihrer rechten Brust prangte eine handtellergroße, geschwärz te Brandwunde; die zugefügten Verletzungen im Rückenbereich wa ren jetzt nicht mehr sichtbar. Obwohl sie, gemessen an den Treffern, kaum überlebt haben konnte, ertappte sich Addad angesichts ihrer Blöße bei dem absur den Wunsch, daß es doch der Fall war. Zwischen ihren leicht gespreizten Schenkeln lag ein eiförmiger Ge genstand, dessen Maserung an einen geschliffenen Stein erinnerte, auch wenn sich überall Unebenheiten eingeschlichen hatten. Unmittelbar daneben lag Said. Oder was von ihm übriggeblieben war. Vielleicht war Said dem Spuk nur eine Sekunde länger ausgesetzt gewesen als sein Hauptmann. Jedenfalls lag er mit gläsernen Augen, in die eine stumme Anklage gemeißelt war, da und schien zu fragen: Warum ausgerechnet ich? Fasir Addad wußte keine Antwort. Hinter ihm detonierte die erste Granate, und er warf sich reflexar tig zu Boden. Die Splitter pfiffen wie wütende Hornissen über ihn hinweg. Addad widerstand der Versuchung, seiner Schwäche nachzuge ben, einfach die Augen zu schließen und abzuwarten.
Eine Weile verfolgte er fassungslos die Bemühungen seiner Leute, denen es längst nicht mehr darum ging, dem Biest zu schaden, das den Ausgang blockierte, sondern die nur noch weg von hier woll ten! Addad schloß sich diesem Begehren an, hob seine MPi vom Boden auf und wollte sich seinen Leuten anschließen. Beinahe jede verstrei chende Minute kostete das Leben eines weiteren Mannes – und es war nicht einmal möglich zu erkennen, wie es den Opfern genom men wurde. Greisenhaft ausgezehrt säumten sie den Eingangsbe reich des Tunnels, aufgereiht wie die Trophäen eines Wahnsinnigen … Addad zögerte. Das sonderbare Ei übte eine unheimliche Anziehungskraft auf ihn aus, der er schließlich nachgab und alle ratsame Vorsicht vergaß. Mühsam ging er in die Hocke und hob den Gegenstand auf, dessen bloßes Gewicht schon irritierend war: Es schien einfach nicht … an gemessen. Addad wischte den einfältigen Gedanken über ein Ding beiseite, von dessen Herkunft und Zweck er nicht das geringste wußte. Wan kend richtete er sich wieder auf und stolperte auf das immer noch ohne ein Zeichen der Ermüdung tötende Biest zu. In dem Moment als sich Addad von der Schwarzhaarigen ab wandte, traf ihn der schwefelgelbe Blick. Verführerische Augen, die niemanden benachteiligten und deshalb auch Fasir Addad sanft lä chelnd zum Sterben einluden …
* Sergeant Andra Jamal handelte schon kurze Zeit, nachdem der Kon
takt zu seinem Hauptmann abgebrochen war. Nachdem weitere Funkversuche nichts gefruchtet hatten, schöpfte er seine Befugnisse aus und betrat mit der Hälfte der bei den Jeeps verbliebenen Soldaten die Grabungsmulde, die von allen Seiten trichterförmig nach unten zum Beginn einer Treppe führte. Von dort aus waren es rund zwei Dutzend Stufen bis zu dem Tor, von dem Addad berichtet hatte. Mit entsicherten MPis erreichte Jamals Trupp die Öffnung, hinter der ein wie eine Fata Morgana wirkender Stollen begann. »Halt!« Jamals rauhe Stimme verhinderte, daß auch nur ein einziger Mann die Schwelle übertrat, hinter der es schlimmer aussah als in Jamals ärgsten Befürchtungen. »Nein …«, rann es über die Lippen seines Nebenmanns, der die Kalaschnikow in Anschlag brachte und durchlud. Ratsch-ratsch … Was sich ihren Blicken zeigte, war gespenstisch. Kein Laut drang aus dem Korridor zu ihnen heraus. Aber direkt vor ihnen schien eine Frau zu schweben, die das Tor gegen eine im mer kleiner werdende Zahl von Soldaten verteidigte. Eine Frau, die selbst ein Trugbild sein mußte, denn nichts schien ihr etwas anha ben zu können. Kein einziger Schuß traf ins Ziel … Jamals Blick suchte den Hauptmann – und fand ihn tiefer im Hin tergrund als die meisten seiner Leute. Dort, wo er stand, lagen drei reglose Körper. Einer gehörte Said, der entstellt und offensichtlich tot war. Die beiden anderen waren Frauen – vermutlich die, von de nen Addad berichtet hatte. Auf eine von ihnen hatte er geschossen, die andere … »Worauf warten wir?« fragte eine heisere Stimme an seinem Ohr.
Vor ihren Augen holte sich die unbekannte, verschleierte Frau ein weiteres Opfer – einen weiteren Kameraden. Sie umarmte ihn tödlich. Er alterte im Zeitraffer, und als wäre dies nicht genug, schlitzte sie ihm noch den Leib vom Bauch bis zum ersten Rippenbogen auf. Ge därm brach hervor – und verfaulte augenblicklich zu einer amor phen Masse. Jamal versuchte zunächst vergeblich, einen Blickkontakt zu Addad herzustellen, der ihm den Rücken kehrte. »Was ist?« Die neuerliche Frage riß den Sergeanten aus der Erstarrung. Noch einmal leckte er sich über die spröden Lippen, ehe er befahl: »Schießt sie in Stücke!« Doch damit hatten sie kaum mehr Glück als die Todgeweihten drinnen.
* Fallenlassen! dachte Hauptmann Addad, als die unheimliche Schlei erträgerin nur noch drei Schritte entfernt ihr nächstes Opfer riß. Es aussaugte! Ihm Kraft und Jugend stahl, bis die Haut des Kameraden knisternd wie eine abgeschnittene Blume unter sengender Hitze welkte! Fallenlassen! dachte Addad. Laß das verdammte Ei fallen – es hilft dir nicht! Du bist der nächste …! Das Ei. Es erschien ihm wichtig – immer noch. Aber nicht wichtiger als dein Leben, du Narr!
Nein, nicht wichtiger als – Addad warf einen Blick zum Ausgang. Die Bestie mordete syste matisch. Es rieb die – nutzlos – bewaffnete Einheit vom Tor her auf und blieb immer die letzte Instanz zwischen den Soldaten und dem vermeintlichen Fluchtweg! Während die Wangen der sündhaft schönen Furie mit jedem Op fer mehr aufzuleuchten schienen, fragte Addad sich mit einiger Ver wunderung selbst, warum sie nicht die andere Richtung zur Flucht einschlugen. Die ganze Zeit über war ihm nicht einmal der Gedanke daran gekommen. Und offenbar erging es seinen Männern ganz ge nauso. Seine Männer … Flüchtig erhaschte Addad einen Blick zum Tor, wo die vertrauten Gesichter Andra Jamals und anderer erprobter Kämpfer auftauch ten. Der Sergeant war mit der Hälfte des Trupps oben geblieben. Entweder hatte der Kampflärm ihn angelockt, oder er hatte auf den unterbrochenen Funkkontakt reagiert. Addad brüllte ihm eine Warnung zu, die völlig unnötig war. Denn Jamal hatte Augen zu sehen, welches Gemetzel hier stattfand, und es war nur logisch, daß er kurz darauf das Feuer gegen die rothaarige Teufelin eröffnete. Diese Ausgeburt eines Scheitans … Addad blickte sich um. Die Gesichter, denen er begegnete, erschienen ihm wie Spiegel sei ner selbst. Aber es waren nur noch sehr wenige Spiegel. Er ertappte sich dabei, wie er zurückwich. Wie er die abgebrannte Fackel fallen ließ und dafür sorgte, daß er der grausamen Killerin nicht mehr am nächsten stand – und somit auch nicht das nächste Opfer sein würde … Die eigene Feigheit machte ihn fassungslos. Unter dem Blick des Mannes, den er damit zum Tod verurteilte, glaubte er zu schrump
fen. Sekundenlang schloß er die Augen. Dann wankte er noch ein Stückweit zurück. Das bin nicht ich! dachte er. Wer ist dieser verfluchte Feigling, der mir das antut …? Außer ihm war nur noch ein Soldat innerhalb des Tunnels am Le ben. Jamal und der Rest der Truppe gaben ihren Posten draußen vor der Schwelle nicht auf. Sie schienen zu glauben, daß die Unbesieg bare sie dort nicht stellen und abschlachten konnte … In dem Moment, als sein letzter Begleiter das Leben in den Fängen dieser unerbittlichen Kreatur aushauchte, handelte Fasir Addad völ lig instinktiv. Zitternd hing der Schrei des Sterbenden in der Luft, und noch ehe er abbrach, holte Fasir Addad weit aus … und schleu derte das seltsame Ei wie eine Bowlingkugel über den glatten Stein boden hinweg Richtung Torausgang … Noch bevor er sehen konnte, ob es die Richtung beibehielt und die Öffnung fand, gellte ein Schrei durch den Korridor, der nichts mit dem vorherigen Gebrüll der Sterbenden zu tun hatte. Dieser Schrei war anders. Dieser Schrei schien aus den vormals weich illuminierten, nur blutrot glühenden Wänden herauszutreten – und aus dem Mund der Rothaarigen, die inmitten ihrer Tötungsbewegung innehielt, ihr Opfer von sich stieß, noch bevor es den letzten Atemzug ausge haucht hatte, und sich auch nicht Addad zuwandte, sondern dem ›Ei‹! Sie machte einen Schritt, der mindestens zehn herkömmliche Schritte überbrückte … … und kam dennoch zu spät! Das zernarbte Ding rollte über die Schwelle hinweg vor Andra Ja
mals Füße, und die nachhetzende Furie prallte ruckartig vor dem Tordurchgang zurück, als gäbe es dort ein unsichtbares, unüber windbares Hindernis. Im nächsten Moment hörte Addad sie mit zarter Stimme schmei cheln: »Ein Mißverständnis … Fürchtet euch nicht! Gebt mir das meinige, und euch wird nichts geschehen. Ich werde euch dienen, wie ihr es euch nicht vorstellen könnt. Kommt! Gebt mir die Agrip pa! Sie würde es euch übelnehmen, wenn ihr sie zu stehlen versuch tet, denn sie fängt schon an, sich zu öffnen …« Sie trat dicht an die Torschwelle heran und breitete in einer bittenden Geste die Arme aus. »Ihr wollt doch nicht, daß Schreckliches geschieht? Ihr wollt doch nicht an Kräften rühren, die ihr nie mehr zu bändigen vermögt …? Gebt sie mir! Gebt mir, was mein ist …« Fasir Addad spürte den Klumpen, der sich wie ein Pfropfen in sei ne Kehle stemmte. Ihm wurde übel. Sterbenselend. Er konnte sich den erniedrigenden Reaktionen seines Körpers nicht verweigern. Es war, als befänden sich immer noch Reste jener ›Fäden‹ in ihm, die nun zu wuchern begannen und ihn vereinnahm ten. Aus tränenden Augen verfolgte er die Vorgänge am Tor. Er sank auf die Knie und stützte sich auf den Lauf seiner Kalaschnikow. Gal lebittere Flüssigkeit trat in Schüben aus seiner Speiseröhre. Er würg te und hustete und spie aus. Sein Blick verschleierte sich noch mehr. Hinter sich glaubte er et was zu hören. Aber hinter ihm lebte nichts mehr … Die Stimme der Furie versank immer mehr in der Schwäche seines Körpers. Bleibt! Bleibt draußen! Kommt nicht herein … Addads letzte Gedanken galten den Kameraden vor dem Tor. Dann stülpte er den Mund über die Mündung seines Gewehrs und
fuhr mit den Händen ein letztesmal über die perfekte Verbindung aus Stahl und Holz – wie über den Körper einer rauhen Geliebten. Seine Finger fanden den Abzug und zogen durch.
* WO IST ER? Mein Symbiont … Ich fühle mich nackt ohne ihn. Ein Vorgeschmack darauf, wie es bald sein wird … WO IST – SIE …? Ich meine die Agrippa, denn ich sehe sie enteilen. In der Hand ei nes Uniformierten, den ich nicht aufzuhalten vermag. Nicht in diesem Zustand! Noch immer, obwohl ich meine Selbstheilungskräfte forciere, spü re ich die Kugeln wie eiternde, kraftsaugende Herde in mir. Warum steht mir der Kelch nicht bei? Ich liege bewegungslos da, lausche und sehe mit den Augen des Korridors. Meine eigenen sind geschlossen, denn ich verwende alle Energie, um mich zu konzentrieren. Als ich Felidaes Gegenwart erspüre, mißtraue ich mir einen Mo ment lang selbst … bis ich mich entsinne, was ihr Blut mir verriet: Sie wurde aus ihrem hinfälligen Körper geschält, um die Stelle des Wächters zu übernehmen, den Duncan Luther bei seiner Ankunft tötete. Denn der Zugang zum Korridor muß auch nach meiner Pas sage behütet und verwaltet werden … Felidae hat den Kampf gegen die Eindringlinge aufgenommen. Ich weiß nicht, wie sie mich aufspüren konnten – gerade jetzt. Vielleicht hat Landru seine Hände im Spiel. Der Hohe Mann, den
die Dunkle Arche einst an die Gestade des Ararat spülte und der als Kelchhüter für Jahrtausende im Schlummer lag, bis das LICHT ihn zu seiner großen Aufgabe weckte. Unschuldig wie ein Neugebore nes; leer wie ein nie beschriebenes Blatt. Nicht einmal er selbst kennt die Größe seiner Vergangenheit. Nicht nur darin bin ihm voraus … Doch nun erbebe ich vor ohnmächtiger Wut. Wenn ich die Agrip pa verliere, kann ich mir den Marsch durch den Korridor ersparen. Ich brauche die Runen, die das Ei birgt! Die Formel für die Zeremonie … Felidae, hilf! Mir ist, als hörte sie meinen Ruf. Mir ist, als erstarrte sie in ihrem Panzer aus Zeit … Doch dann geschieht das, was alles ändert und mich zum eigenen Handeln zwingt! Die Agrippa rollt über die Schwelle, verläßt den Eingangsbereich des Korridors. Von dort kann das Wächterwesen Felidae sie nicht mehr zurückholen! Ich stelle meine Gesundung zurück und robbe trotz aller Handi caps über den Boden. Wie in Trance folge ich dem Dämon. Denn er ist der Schlüssel zum Ort des RITUALS. Und zum RITUAL selbst …
* Es war Zufall, daß Andra Jamal genau in dem Moment an der betö rend schönen Bestie vorbeiblickte, als sein Hauptmann sich das Le ben nahm. Als Addads Schädel sich in eine niederregnende Wolke aus Hirn, Blut, Haut und Knochen verwandelte …
Augenblicklich hörte das Brennen in Jamals Brust auf. Kalte Ruhe überkam ihn, denn schon die vorherigen Worte des … Wesens jenseits der Schwelle hatten bewiesen, daß es die Höhle nicht verlassen konnte! Nur innerhalb dieses unmöglichen Schachtes hatte es Macht und war es unanfechtbar gegen die Mittel, mit denen man versucht hatte, ihm beizukommen. Andra Jamal fragte sich, warum er die rothaarige Schleierträgerin verstehen konnte, obwohl sonst keinerlei Geräusch aus dem Tunnel zu ihm drang. Las er von ihren sinnlichen, doch blutverschmierten Lippen ab? Pflanzte der schwefelgelbe Blick ihrer Augen die Worte geradewegs in seinen Geist – und in den aller, die mit ihm vor dem Tor standen? Mit äußerster Mühe hatte Jamal die Kameraden davon abhalten können, den Stollen zu stürmen. Es wäre dem gleichgekommen, was ihr Hauptmann gerade prakti ziert hatte, um nicht von der bestialisch wütenden Frau massakriert zu werden, um nicht binnen Sekunden um Jahrzehnte zu altern: Selbstmord. Was für ein Wahnsinn! Jamal hatte geglaubt, die Mutter aller Schlachten bereits hinter sich zu haben. Doch was hier geschehen war und noch immer geschah, trotzte jedem Erklärungsversuch! Dies war ein greifbar gewordener Fiebertraum! »Gebt sie mir zurück«, sang das Wesen, in dessen Blick unmensch liche Versuchung glomm. »Gebt mir die Agrippa …!« Andra Jamal wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, der Stimme zu widerstehen. Aber vielleicht lag es an den Bildern, die sich in sein Gehirn gebrannt hatten. Bilder von einem Sterben, das schreckliche re Qualen verursacht hatte als alles, was sich der Sergeant vorzustel len vermochte. Schrecklicher als Giftgas in den Lungen oder Zucht
bakterien im Gedärm. Er hob das Ding auf, das vor seine Füße gekullert war. Addad hatte es mit letzter Anstrengung von sich geschleudert. Um dieses Saurier-Ei ging es. Seinetwegen führte das Ungeheuer jenseits der Schwelle seinen Krieg nun mit Sanftheit und List … »Fahr zur Hölle!« schrie einer der Soldaten neben Jamal. »Wenn du Eier magst, sollst du an Eiern verrecken!« Er hatte sich seines Gürtels entledigt und mehrere faustgroße Eier handgranaten, die er von den anderen eingesammelt hatte, daran verflochten. Jamal wußte, was er beabsichtigte, und er sah keine Veranlassung, ihn daran zu hindern. Hinter der Furie lebte nichts mehr. Es gab nur noch sie … Der Soldat zog nacheinander die Sicherungsstifte aus den geripp ten Sprengkörpern und schleuderte den Bund dann mit einem wil den Schrei gegen das Killerwesen. »Weg!« schrie er und stolperte selbst die Treppe, die sie gekom men waren hinauf. Jamal und die anderen schlossen sich ihm an, ob wohl nach den gemachten Erfahrungen niemand recht an einen Er folg glaubte. Noch während sie die Stufen hochhetzten, um den Splittern der bevorstehenden Serienexplosion auszuweichen, hörten sie ein durchdringendes Knirschen. Als Jamal sich umdrehte, sah er nicht nur, wie sich eine steinerne Wand langsam aus dem Boden hob, um den Tordurchgang zu schließen. Er erhaschte auch noch einen Blick auf das, was seine Ka meraden getötet hatte.
Und verstand nicht, warum die Bestie tatsächlich einen Anflug von Schrecken zeigte, als der Gürtel mit den Sprengsätzen vor ihr landete. Sie drehte den Kopf – und warf sich dann über die kurz vor der Explosion stehenden Sprengsätze. Was weiter geschah, entzog sich Jamals Blicken. Er erreichte die Sandmulde, wo sich schon die anderen hingewor fen hatten und wo sie vergeblich auf spürbare Auswirkungen der Explosionen warteten. Das einzige, was sie hörten, war das Knirschen, mit dem sich das Tor weiter wie von Geisterhand gehoben schloß. Und dann verstummte auch dies. Der heiße Sand brannte auf ihrer Haut, und die Stille – obwohl sie nur Sekunden dauerte – belichtete die Bilder des Grauens, die jeder von ihnen in sich trug, noch schärfer. Andra Jamal richtete sich als erster wieder auf. Neben ihm lag das eiförmige Gebilde, auf das die Furie Ansprüche erhoben hatte. Jamal würdigte es kaum eines Blickes. Vorsichtig näherte er sich dem Treppenabstieg, der zum Unter schlupf des Monsters führte. Er hatte keine Zweifel, daß das Tor ge schlossen sein würde. Doch was er dann außerdem zu sehen bekam, schürte das über wunden geglaubte Brennen in seiner Brust wie ein gigantischer Bla sebalg. Andra Jamal krümmte sich wie unter einem Peitschenhieb, aber er konnte die Augen nicht von der Gestalt lassen, die dort wie tot, das Gesicht nach unten, auf dieser Seite des Tores lag. Es war dieselbe Frau, die schon reglos neben dem Hauptmann ge legen hatte. Selbst wenn sie die ganze Zeit noch gelebt hatte, konnte sie in der Kürze der Zeit doch niemals aus eigener Kraft dem Stollen
entkommen sein? Hatte ihr etwas … geholfen? Neben dem Sergeant erhoben sich nacheinander weitere fassungs lose Gestalten. Schließlich befahl Andra Jamal: »Wir holen Sie! Wir werden sie und das verdammte Ei zu Radjavi schaffen! Tot oder lebendig! Und wenn noch jemand sterben muß, dann sie – nicht wir! Seid auf der Hut …!«
* Australien Das Industriegebiet außerhalb Sydneys lag wie ausgestorben unter dem großen geflügelten Schatten, der lautlos durch die Nacht strich. Nur in zwei oder drei Betrieben brannte noch Licht. Aus anderen empfingen die feinen Sinne nicht einmal mehr die Reststrahlung von Leben, als wäre die Arbeit darin schon vor längerem eingestellt worden. Doch all diese Firmen interessierten den Geflügelten ohnehin nicht. Sein Augenmerk galt einzig dem Bau dort unten, der – zufäl lig oder absichtlich – die Form eines gewaltigen Kreuzes hatte. Doch fühlte er sich davon nicht bedroht. In dieser Struktur vermochte ihm das Zeichen nichts anzuhaben. Aus dem ansonsten rein zweckmäßig errichteten Komplex drang eine Fülle von Wahrnehmungen zu ihm empor. Ihre Unterschied lichkeit war fast verwirrend. Der pelzige Schatten spürte sowohl Menschen darin als auch Kreaturen – und natürlich Brüder und Schwestern im Blute. Immerhin hatte die Sydneyer Sippe das Fir
mengebäude zu ihrem neuen Hauptsitz erkoren, nachdem sie das früher genutzte Labyrinth unter dem Friedhof in der Stadt aufgege ben hatte. Die stärkste Konzentration von Impulsen seiner eigenen Art mach te das Flügelwesen am ›Kopfende‹ des Kreuzes aus. Und so wählte es zur Landung das entgegengesetzte Ende. Noch im Aufsetzen verwandelte es sich in seine eigentliche Gestalt zurück. Feiner Kies knirschte leise unter seinen Füßen. Landru vergeudete keine Zeit mit nutzlosem Umsehen. Sie wür den ihn sowieso entdecken. Und jede Sekunde, um die er diesen Zeitpunkt hinausschieben konnte, würde ihm vielleicht dienlich sein. Er brach die nächstbeste Dachluke auf und ließ sich, nachdem er sich rasch vergewissert hatte, daß sich niemand in unmittelbarer Nähe aufhielt, in den daruntergelegen Korridor hinab. Durch steril wirkende Flure und über kahle Treppenaufgänge gelangte er tiefer in den Gebäudekomplex von Salem Enterprises hinein, ohne daß ihn jemand sah. Ob auch niemand auf ihn aufmerksam wurde, war eine andere Sache … Im Grunde wußte Landru, was in den ›Eingeweiden‹ von Salem Enterprises geschah. Herak, als Nachfolger von Hora nun Oberhaupt der Vampirsippe von Sydney, hatte die Firma gegründet, um hier die Lücke zu füllen, die das Verschwinden des Lilienkelches hinter lassen hatte. Unter Zuhilfenahme von magischen wie auch wissen schaftlichen Mitteln versuchte Herak, künstliches Vampirleben aus der Retorte zu erschaffen. Landru war nun hierhergekommen, um herauszufinden, wie weit seine Versuche fortgeschritten waren. Denn den Durchbruch durfte Herak nicht schaffen! Landru wußte nicht, was Herak wirklich plan te. Wie er fortfahren würde, wenn es ihm tatsächlich gelingen sollte,
das Unheiligtum auf seine Weise zu ersetzen. Doch der ehemalige Kelchhüter ahnte zumindest, daß Herak nicht allein daran gelegen war, den Erhalt ihrer Rasse zu sichern. Er konnte sich vorstellen, daß das Volk der Vampire Herak zu Fü ßen liegen würde, wenn er Erfolg hatte. Sie würden endgültig allem abschwören, was ihr Sein seit Anbeginn ausgemacht hatte. Die Alte Rasse würde verschwinden, ersetzt werden durch eine neue – oder etwas völlig anderes! Dazu wollte und würde Landru es nicht kommen lassen. Es war seine unheiligste und ureigene Pflicht. Nicht nur als letzter Hüter des Kelchs. Sondern vielmehr noch von Geburt wegen … Landru wußte, daß der Kelch nicht nur der Schaffung von Nach wuchs diente. Er hielt außerdem die Evolution ihrer Rasse in Gang. Das Verschwinden des Grals ließ ihr Volk unmerklich, doch unauf haltsam von seinem alten Glauben abfallen und traditionsreiche Werte brüchig werden. Landru selbst nahm sich von dieser Entwicklung nicht einmal aus. Während er vordergründig diesen Überlegungen nachhing, ließ er sich von seinen in Jahrtausenden gewachsenen Instinkten leiten. Mit traumwandlerischer Sicherheit wich er jedem – ob Mensch, Diener kreatur oder Artgenosse – aus, der seinen Weg zu kreuzen drohte, und fand sich schließlich in den unterirdisch gelegenen Regionen von Salem Enterprises wieder. Dumpfes Dröhnen und andere Geräusche ließen die Luft vibrie ren. Landru steuerte in die Richtung, in der die Vibrationen zunah men, und langte schließlich an einer Metalltür an, hinter der spürbar die Quelle des Lärms lag. Auch jetzt hielt er sich nicht unnötig mit irgendwelchen unsinni gen Vorsichtsmaßnahmen auf. Ohne zu zögern öffnete er die Tür – – und sah ein Szenario, das sich zwar förmlich in seine Netzhäute
brannte, dessen Details er aber doch nicht verstand. Es blieb ihm keine Zeit, sich eingehender damit zu befassen. Die Sekunde, in der er nur wie gebannt auf das Unglaubliche starrte, das sich seinen Blicken darbot, und kein Quentchen seiner Aufmerksamkeit anderweitig nutzte, genügte den anderen. »Keine Bewegung!« Der Befehl übertönte das laute Dröhnen. Als Landru sich ihm fast unbewußt widersetzte, explodierte der Lärm um ihn herum. Die Wucht der ersten Kugel trieb den Vampir gegen die Wand ne ben der Tür. Die zweite zerfetzte ihm die Brust. Die dritte das Gesicht.
* »Der große und mächtige Landru – in Stücke geschossen vom Perso nal eines Sicherheitsdienstes! Von Menschen!« Herak grinste hinter hältig. »Das wäre eine hübsche Anekdote in der Geschichte unseres Volkes, nicht wahr?« Das Blitzen in seinen Augen entsprang echter Belustigung. Landru fand die Ereignisse weit weniger komisch. Doch er be herrschte seinen Zorn meisterhaft und täuschte Gleichgültigkeit vor, während er mit den Fingern prüfend über die wiederhergestellten Züge seines Gesichtes strich. Sogar sein ganz besonderes Merkmal, die kreuzförmige Narbe aus rohem Fleisch auf seiner linken Wange, war neu entstanden. Nun, zumindest darauf hätte er verzichten können … Nur seine unter den Kugeleinschlägen zerrissene Kleidung erin
nerte noch daran, was vor ein paar Minuten stattgefunden hatte. Die hypnotisch beeinflußten Wachmänner von Salem Enterprises hatten den Eindringling ›niedergestreckt‹ – milde ausgedrückt. Erst das Einschreiten ihrer Herren hatte verhindert, daß sie Landru, wie He rak es eben genannt hatte, ›in Stücke schossen‹. Man hatte den grauenhaft Verletzten in dieses Büro geschafft, wo das Oberhaupt der Sippe genüßlich beobachtet hatte, wie sich Land rus Wunden allmählich schlossen. Es hatte länger gedauert, als Landru selbst erwartet hatte. Möglicherweise hing das mit der selt samen Schwäche zusammen, die er vor einer Weile gespürt hatte. Gerade so, als hätte ihm jemand für kurze Zeit Kraft abgezapft, um sie ihm aber nach ein paar Minuten wieder zurückzugeben … Eine weitere Sache, um die er sich kümmern mußte. Wenn er an dere erledigt hatte. Es gab soviel zu tun. Und ihm blieb – vielleicht – nur noch wenig Zeit … Schließlich fühlte Landru sich soweit erstarkt, daß er sich auf das Duell, nur mit Blicken ausgefochten, einließ, zu dem Herak ihn schon die ganze Zeit über herausforderte. Stumm hielt er dem Blick des Sippen- und Firmenchefs stand, der wie ein König von eigenen Gnaden hinter seinem modernen Schreibtisch thronte. Landru zwang die Überheblichkeit aus der Miene des anderen und brachte endlich die Schwärze in dessen Pu pillen zum Wogen. Mit einem winzigen und doch triumphierenden Blinzeln beendete Landru die vampirische Machtprobe. Trotzdem er verloren hatte, kräuselte schon wieder ein arrogantes Lächeln Heraks schmale Lippen. »Nur Gesten«, spielte er seine Niederlage herab. Landru hoffte, daß sich später eine Gelegenheit ergeben würde, den Hochmut vollends und für alle Zeiten aus Heraks Zügen zu til
gen. Wenn sie alle ein Später erlebten … »Was heute zählt, sind allein Taten«, fuhr Herak fort. »Erzähle mir von deinen Taten«, forderte Landru in jovialem Ton. Seine Geste blieb vage und umfaßte doch alles, was um sie herum war. Auch, was außerhalb des geräumigen Büros lag. Herak grinste von neuem. »Das hättest du wohl gern?« »Nur deshalb bin ich hier«, erwiderte Landru unverhohlen. Herak beugte sich über die Schreibtischplatte und nahm Landru fest in seinen Blick. »Gut, du sollst es erfahren«, sagte er. »Ich versuche auszugleichen, was ein anderer zweihundertachtundsechzig Jahre lang versäumt hat.« Wenn Heraks Worte ihn trafen oder gar verletzten, so zeigte Land ru es nicht. Im Gegenteil – er lächelte. »Indem du den Tod deines Volkes beschleunigst?« fragte er. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »UND DU WEISST NICHT, WAS DU TUST!!« Der Damm, hinter dem Landru seine wahren Emotionen zurück gehalten hatte, brach. Und sie ergossen sich mit Urgewalt in ihn, ris sen die Kontrolle über sein Tun an sich und lenkten ihn. Seine rechte Hand bekam Herak zu packen und zerrte ihn brutal über den Schreibtisch, um ihn noch aus der Bewegung heraus quer durch den Raum zu schleudern. Futuristischer Zierrat ging zu Bruch. Doch das Lächeln in Heraks Gesicht war nicht erloschen, als er sich aus den Scherben hochrappelte. »Darin erschöpft sich deine ganze Macht, Landru«, zischte er ver
ächtlich. »In Drohgebärden und roher Gewalt.« »Weil es unsere Art ist!« donnerte der einstige Hüter. »Nicht unsere«, erwiderte Herak kopfschüttelnd, »nur noch die dei ne, Landru.« »Du redest irr. Und drohst ein ganzes Volk in deinem Wahnsinn untergehen zu lassen, Narr!« Ein nervtötendes Sirren unterbrach ihren Disput. »Du gestattest?« erkundigte sich Herak, bereits auf dem Weg zum Telefon. Er nahm ab und lauschte zwei Sekunden. Verwirrung stand in seinem Gesicht, als er sich an Landru wandte: »Es ist für dich.« Landru riß ihm den Hörer aus der Hand. Obgleich es ihn überraschte, daß jemand von seiner Anwesenheit hier in Sydney wußte – oder sie zumindest erahnte –, zog er sofort die richtigen Schlüsse. Es gab nur einen, der die Spur hatte verfolgen können. Weil er mehr über den Kelchhüter Landru wußte als jeder andere. Tanor! Landru erinnerte sich mit zwiespältigen Gefühlen an das indische Vampiroberhaupt, das einen Blick in sein Innerstes erhascht und sein Geheimnis erkannt hatte. Irgendwann mußte er sich Tanors ent ledigen, aber noch brauchte er ihn. Vielleicht nur noch bis nach die sem Telefonat … Landru hörte dem Anrufer zu, ohne ihn zu unterbrechen. Die Zor nesfalten waren fast aus seinen Zügen verschwunden, und das rote Narbengewebe pulsierte nicht länger, als er sagte: »Schicke einen Boten mit dem Artefakt. Ich treffe ihn in Bagdad.« Damit legte er auf. Ohne Herak noch eines weiteren Blickes oder gar Wortes zu wür
digen, ging Landru zur Tür und hinaus. Unbehelligt verließ er den Firmenkomplex. Nicht zwingend wichtigere, aber doch dringendere Angelegenheiten diktierten ihm einen Ortswechsel. Er mußte schnellstens nach Uruk. Tanor hatte seine Aufgabe gewissenhaft erledigt. Endlich wußte er, wo sich Duncan Luther aufhielt. Und damit war auch seine Erzfeindin wieder in greifbare Nähe gerückt: der Bastard Lilith Eden …
* Uruk Das Blut eines Toten ist ein wertloser Saft. Doch ich kam rechtzeitig. Die Seele des Selbstmörders war noch darin gebunden. Ich konnte sie schmecken und ihre magische Kraft trinken. Nun schlafe ich. Die Macht der Träume wird mir helfen, wieder vollkommen zu gesunden. Dann werde ich über die kommen, die mich bestohlen haben. Ich werde mir holen, was mein ist. Und dann werde ich denen folgen, die vorausgegangen sind. Zum Anfang der Zeit. Zu Duncan. Und zu ihr … ENDE
Lebende Runen von Robert Lamont Manchmal hat das Schicksal einfach ein schlechtes Timing. Gerade als Lilith sich aufmacht, den Korridor zu betreten, stürmt eine Ar mee-Einheit die unterirdische Anlage. Obwohl viele der Soldaten unter den Pranken des neuen Wächter wesens sterben, gelingt es ihnen, beim Rückzug die Agrippa mit sich zu nehmen. Und Lilith, die alles versucht, das mysteriöse »Ei« wiederzuerlangen, wird von Schüssen niedergestreckt und ebenfalls mitgezerrt. Aber es kommt noch schlimmer. Dank Tanor hat Landru die Spur nach Uruk gefunden. Wird er den Plan des LICHTS doch noch in letzter Sekunde vereiteln können?