KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ BAUMER
Der Blaue Reiter ENT...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ BAUMER
Der Blaue Reiter ENTWURF
ZU
EINER
NEUEN
WELT
2006 digitalisiert von Manni Hesse
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN . INNSBRUCK . BASEL
D ie Geschichte des Blauen Reiters ist die Geschichte vom Leben, Ringen und Schaffen einer Gruppe von Künstlern, die vor einem halben Jahrhundert, in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, sich 7,usammenfanden und deren Gedanken und Werke von so vorahnender Kraft und Tiefe waren, daß sie zu den W e g bereitern jenes Kunstschaffens geworden sind, das heute unsere Ausstellungen beherrscht. Vor den Toren Münchens, damals „der Stadt der fünftausend Maler", zwischen dem Staffelsee und dem Haselmoos, ist die Wiege des Blauen Reiters. Seine Begründer sind Wassily Kandinsky und Franz Marc. Der eine kommt aus Rußland, aus Moskau, der andere ist Münchner. Aber beide haben sie eines gemein: die große Sehnsucht nach Lebenserneuerung und nach einer Kunst, die auf eine ganz neue Weise das Innerste des Menschen und der Welt zum Klingen bringen sollte. Mitstreiter und Weggefährten sind Gabriele Munter, August Macke, Alexei von Jawlensky, Heinrich Campendonc, Alfred Kubin und Paul Klee. Den meisten von ihnen werden wir auf den folgenden Seiten begegnen.
Anfänge und Begegnungen Inmitten eines grünen Hügellandes, den Blick auf die silbergraue Gebirgskette freigebend, liegt der oberbayerische Vorgebirgsort Murnau am Staffelsee, dem See der sieben Inseln. Dort gibt es ein Haus, dessen Inneres noch heute die Spuren Wassily Kandinskys trägt: ein zwischen stilisierten Blumen mit gelben und violetten Reitern bemaltes Treppengeländer und darunter ein buntbemalter roter Stuhl. Das Haus ist von der achtzigjährigen Gabriele Munter bewohnt, der Kunstpreisträgerin der Stadt München, mit der Kandinsky 1909 dort eingezogen ist. Von München mitgebracht hatte Kandinsky damals die erste Ernte künstlerischer Erfahrungen aus Tagen und Nächten besessener 2
Arbeit. Dazu Kunsteindrücke aus Frankreich," Italien," Holland und Afrika. Und was er noch mitbrachte, das war der tiefe Wunsch nach einer neuen künstlerischen Sprache. Er träumte von einer Malerei, die seelische Erlebnisse auszudrücken und so tief ins Innere zu dringen vermöchte, daß sich das Wunder des Lebens wie im Märchen offenbare. Das geschah schon in München: ..Die blaue Trambahn zog durch die Straßen wie verkörperte Märchenluft, die das Atmen leicht und freudig machte. Die gelben Briefkästen sangen von den Ecken ihr kanarienvogellautes Lied." Die Verbindung mit der Kunststadt München riß auch in Murnau nicht ab. Kandinsky hatte zusammen mit seinem russischen Landsmann Jawlensky die ,,Neue Münchner Künstlervereinigung" gegründet, und im Dezember 1909 fand in der modernen Galerie Thannhauser an der Maffeistraße die erste Ausstellung statt. Sie erregte wie alle späteren Ausstellungen dieser jungen Feuerköpfe, die bald auch Werke von den gleichgesinnten Franzosen Derain, Braque und dem Spanier Picasso mit in ihren Katalog aufnahmen, bei den einen Stürme der Entrüstung, bei den anderen Begeisterung. Einer, der die neue Richtung mit ganzem Herzen bejahte, war Franz Marc. Nur drei Wegstunden von dem neuen Wirkungsort Kandinskys entfernt, in dem kleinen Sindeisdorf, östlich von Murnau, hatte er seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Mit Kandinsky wurde er 1910 bekannt. Im gleichen Jahr schloß er Freundschaft mit dem heiteren Rheinländer August Macke. Der wohnte zu dieser Zeit in Tegernsee. Nun beginnt ein reges Hin und Her von Besuchen, und aus der Hochstimmung unbeschwerten Künstlerdaseins entwickelt sich der Kern der neuen Gemeinschaft. i,,Die ganzen Tage sind wie Feste. Bei Kandinsky haben wir immer gelacht. Er lacht wie ein alter Grieche, so hell und frei, direkt homerisch!" So schreibt August Macke über diese Zeit in einem Brief. Aber es wurden auch hitzige Gespräche um die neue Kunst geführt. Oft ist Kandinsky nach Sindeisdorf gekommen, wo Franz Marc mit seiner Frau den ersten Stock im Hause eines Schreinermeisters bewohnte. Sein Atelier hat er im Speicher aufgeschlagen. Aber es hat einen Balkon, der den Blick über die ganze Gebirgskette freigibt, mit dem Herzogstand und der Benediktenwand zu beiden Seiten. Im Garten, hinter dem Haus, das Rehgehege. Die Rehe waren die Lieblinge Franz Marcs. Neben dem Rehgehege befand sich eine Gartenlaube. Und in ihr ist der Name Blauer Reiter für eine ganze Kunstbewegung ent-
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W. Kandinsky
Aus „Klänge" (Holzschnitt)
standen. Zunächst war das der Name eines Bildes von Kandinsky. Marc und Kandinsky haben ihn dann als Titel für ein Kunstjahrbuch gewählt, in dem sie ihre Gedanken zur modernen Kunst erläutern und mit Bildbeispielen belegen wollten. Darüber hat Kandinsky berichtet: „Den Namen Blauer Reiter erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindeisdorf. Beide liebten wir Blau, Marc — Pferde, ich — Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchenhafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser!", * Schon der Name „Blauer Reiter" sagt etwas über die Kunstauffassuns seiner Begründer aus. Kandinsky spricht, außer von seinem Reiterbild, auch von Pferden, die Marc liebte; aber Pferde in Blau. — Gibt es denn das, ein blaues Pferd? Franz Marc gibt selbst die Antwort: „Ich habe gar nie das Verlangen, die Tiere zu malen, wie ich sie ansehe, sondern wie sie sind, wie sie selbst die Welt ansehen und ihr Sein fühlen." Er 'will sich also ganz 4
in das Wesen der Tiere versetzen, wie er es sich vorstellt, aber auch aller anderen Dinge, die er malt, und er versucht, sie so wiederzugeben, wie sie ihm von innen her, aus ihrem Wesen heraus, zu sein scheinen. Nicht um das naturgetreue Abbild, sondern um ein annäherndes Sinnbild geht es diesen Malern. Um das zu erreichen, gebrauchen sie die Farbe zur künstlerischen Aussage und als Stimmungsträgerin. Sie soll gar nicht naturgetreu sein, sondern gefühlserweckend und deutend. Blau aber ist ihnen die Farbe des Zarten und Edlen, aber auch des Geistigen und des Himmels. Schon die Romantiker haben die „Blaue Blume" gesucht, die ihnen Symbol für die Beseeltheit allen Lebens war. Auch die Maler des Blauen Reiters wollen ähnliches. Das blaue Pferd von Franz Marc, auf das Kandinsky anspielt, macht das deutlich. Ganze Strahlenbündel leuchtender Farben sprühen aus diesem Bild, dessen Linienführung lichtbogenartig das Strömen der Naturkräfte versinnbildlicht. Und wir spüren plötzlich, daß uns etwas unsagbar Reines, Scheues, Naturfrommes gerade in den zarten Blautönungen des Pferdes anspricht. Franz Marc versucht also schon damals, die Farbe als Mittel seelischer Schwingungen anzuwenden und das in der Farbe liegende gefühlsmäßige Element zu ergründen und anzuwenden. Gerade in dieser Bemühung findet er in Kandinsky den verständnisvollen Freund und Weggenossen. Schon als Junge hatte Kandinsky ein ausgeprägtes seelisches Verhältnis zur Farbe. Rückblickend berichtet er einmal: „Für langsam zusammengespartes Geld habe ich mir als dreizehn- bis vierzehnjähriger Junge einen Malkasten mit Ölfarben gekauft. Die damalige Empfindung — besser gesagt: das Erlebnis der aus der Tube kommenden Farbe habe ich heute noch. Ein Druck der Finger und jauchzend, feierlich, nachdenklich, träumerisch, in sich vertieft, mit tiefem Ernst, mit sprudelnder Schalkhaftigkeit, mit dem Seufzer der Befreiung, mit dem tiefen Klang der Trauer, mit trotziger Kraft und Widerstand, mit nachgebender Weichheit und Hingebung, mit hartnäckiger Selbstbeherrschung, mit empfindlicher Unbeständigkeit des Gleichgewichtes kam eines nach dem andern dieser sonderbaren Wesen, die man Farbe n e n n t . . ." Schon in den Jahren 1900 bis 1902, als Kandinsky in München malt, hauptsächlich im alten Schwabing, läßt das bloße Malen nach der Natur ihn unbefriedigt: „Das Wandern mit dem Malkasten mit dem Gefühl eines Jägers im Herzen empfand ich nicht als so verantwortlich wie das Malen von Bildern, in denen ich schon damals halb bewußt, halb unbewußt das Kompositionelle 5
suchte." Das KompositioneHe,' das Aufteilen der Fläche in Farbe und in Form, das Zusammenstellen und Aufeinanderabstimmen der Linienführung und der Farbwerte als Ausdruck inneren Erlebens, das ist es, was Kandinsky in der Malerei erreichen will. Auf ähnlichen Spuren bewegt sich Franz Marc. Auf das eigentliche Wunder der Farbe ist er durch August Macke gekommen, mit dem er viele Briefe darüber tauscht. Schon seit 1906 ist Macke ganz erfüllt vom Zauber der Farbe. Er kennt bereits die Franzosen Gauguin und Matisse und hat ihre leuchtenden Bilder gesehen. Ganz losgelöst vom Gegenstand ist da die Farbe gebraucht, ganz als eigene Kraft, in Zusammenstellungen, die einen neuartigen, inneren Klang im Beschauer erwecken. In seinen „Notizen eines Malers" schrieb Matisse: „Wenn alle meine Beziehungen der Farbtöne gefunden sind, so muß sich daraus ein lebendiger Akkord ergeben, eine Harmonie, wie eine Harmonie in der Musik." Ein Jahrzehnt früher hat der einsame van Gogh* unter der sengenden Sonne Südfrankreichs die Gesetze von Licht, Farbe und seelischem Klang erahnt. Er hat sogar bei einem alten Organisten Klavierunterricht genommen, um tlen Entsprechungen von Farben und Tönen nachzuspüren. Alle diese Möglichkeiten der Farbanwendung klingen jetzt auch in den Briefen der Freunde auf: „Die Komposition mit diesen Mitteln hat zu unbestimmter Stunde aus einer heute uns noch verborgenen Quelle zu geschehen, freudvoll, leidvoll, kraftvoll, gedankenvoll", schreibt August Macke an Franz Marc. Als sich der Kreis um Kandinsky zum Blauen Beiter zusammenfand, war diese unbestimmte Stunde gekommen. In der kleinen Gartenlaube zu Sindeisdorf, in Murnau und in München sind die Gedanken entwickelt worden, die dann zu einer Revolution in der Kunst geführt haben. „Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes." Darüber sind die Freunde sich einig. Und im Jahrbuch „Der Blaue Reiter", stehen die Sätze: „Nicht das ist das wichtigste, ob die Form persönlich, national, stilvoll ist, ob sie der Haqptbewegune der Zeitgenossen entspricht oder nicht, ob sie mit vielen oder wenigen anderen Formen verwandt ist oder nicht, ob sie ganz einzeln dasteht oder nicht usw., sondern das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht." Mit dieser Forderung kann sich auch der Schweizer Maler Paul Klee, der seit 1906 in München wohnt und sich ebenfalls dem * Vgl. Lux-Lesebogen 161, „Van Gogh".
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Franz Marc
„Versöhnung" (Holzschnitt)
Blauen Reiter anschließt, einverstanden erklären. Er ist stark von Kandinsky beeindruckt: „ I c h habe bei persönlicher Bekanntschaft ein gewisses tieferes Vertrauen zu ihm gefaßt. Er ist wer und hat einen ausnehmend schönen Kopf", schreibt er im Herbst 1911 in sein Tagebuch. So haben sich die bedeutendsten Künstler des Blauen Reiters,' Wassily Kandinsky, Franz Marc, August Macke und Paul Klee, gefunden. Jeder ist eine ausgeprägte Persönlichkeit. Und doch arbeiten sie gemeinsam einem neuen Ziel der Kunst entgegen.
Das neue Ziel Das Jahrbuch T.Der Blaue Reiter" ist 1912 im Piper-Verlag in München erschienen. Aber schon vorher, im Dezember 1911, kommt es zwischen Kandinsky und der ..Neuen Münchner Künstlervereinigung" zu Auseinandersetzungen. Der stürmische Russe
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mit seinen umwälzenden Ideen ist vielen Mitgliedern zu unbequem. Kandinsky tritt aus der Vereinigung aus, mit ihm Gabriele Munter, Franz Marc und Alfred Kubin. Schon 14 Tage später, am 18. Dezember, machen Franz Marc und Kandinsky in zwei Räumen der Thannhauserschen Galerie in München eine eigene Ausstellung, die erste, die sie unter den bereits geprägten Titel „Der Blaue Reiter" stellen. Neben Marc und Kandinsky, August Macke, Gabriele Munter und Heinrich Campendonc, einem Rheinländer, der inzwischen ebenfalls nach Sindeisdorf übersiedelt ist, sind in dieser Ausstellung auch ausländische Maler vertreten: die Russen David und Wladimir Burljuk, der Schweizer Jean B. Niestle und die Franzosen Henri Rousseau und Robert Delaunay. Auch Arnold Schönberg, der Begründer einer neuen Musiktheorie, der ZwölftonTheorie, stellte damals mit als Maler aus. Zwanglos, nur durch das gleiche Ziel verbunden, neue Wege in der Kunst zu suchen, fand sich dieser Kreis zusammen. Die Ausstellung erregt großes Aufsehen und tritt bald eine Wanderschaft durch Deutschland an, nach Köln, Berlin, Hagen und Frankfurt a. M. Eine zweite Ausstellung des Blauen Reiters findet gleich darauf im März und April in München statt, diesmal in der Buch- und Kunsthandlung Goltz am Odeonsplatz. Sie zeigt ausschließlich Graphik und ist bereits von fünfundzwanzig in- und ausländischen Künstlern beschickt. Unter ihnen finden wir wieder den Spanier Pablo Picasso und die Franzosen Georges Braque und Andre Derain, die ganz von der herkömmlichen Naturabbildung und der überkommenen Art der Perspektive abgegangen sind und die Dinge in ihren letzten, nicht mehr weiter vereinfachbaren Grundformen wiedergeben wollen. Auf diese Weise wollen sie das Wesentliche der Natur und der Dinge zum Ausdruck bringen, das, was an Inhalt überbleibt, wenn man alle äußeren Zufälligkeiten wegläßt. So kommen sie, wie schon Paul Cezanne, auf bestimmte „kubische" Urformen wie Zylinder, Kugel, Kegel und zu einem Malstil, der demzufolge als Kubismus* bezeichnet wird. Unter den Blauen Reitern hat vor allem Franz Marc diesen Stil aufgegriffen und ihn in einer ganz persönlichen Art seiner eigenen Ausdrucksform verbunden. Für die Kunstauffassung der damaligen Zeit sind das unerhört umstürzlerische Wagnisse. Von * Kubismus = ein Mal9til, der tn kubischen, d. h. würfelförmigen und geometrischen Formen gestaltet; die Bildgegenstände werden gleichsam „in Teile gehrochen, gekantet oder gewinkelt".
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Franz Marc
(Foto: Archiv Günther Franke)
den Künstlern, die der Zeit voraus sind, werden sie jedoch begrüßt. Paul Klee schreibt: ..Die wagemutigen .Redakteure' Kandinsky und Marc haben diesen Winter schon die zweite Ausstellung veranstaltet, diesmal eine graphische in den oberen Räumen der Buchhandlung Goltz. Dieser Händler riskiert als ,erster am Platz', in seinen Schaufenstern kubistische Kunst auszustellen, die von den Gaffern als typisch schwabingisch bezeichnet wird. Picasso, Derain, Braque als Schwabinger**, Freunderln, ein netter Gedanke!" Begeistert berichtet Klee seinen Schweizer Freunden über das Wollen der neuen Gruppe: „Es gibt nämlich noch Uranfänge von Kunst, wie man sie eher in ethnographischen*** Sammlungen findet oder daheim in seiner Kinderstube . . . Alles das ist tief ernst zu nehmen, ernster als sämtliche Gemäldegalerien, wenn es gilt, heute zu reformieren", heißt es da. Wie alle Künstler um den Blauen Reiter, ist auch Paul Klee von dem Verlangen nach- Lebenserneuerung erfüllt. Wie sie alle, erstrebt auch er den ungeschminkten und schlichten künstlerischen Ausdruck. Nicht mehr darum geht es, etwas äußerlich Schönes darzustellen, sondern das innerlich Wahre, wie es in der Seele des Künstlers bei der Betrachtung der Welt oder beim Nachsinnen über die Welt wirksam wird. Die Kunst der primitiven Völker, aber auch die Malereien und Zeichnungen von Kindern, zeugen ihnen von dieser inneren Wahrheit; denn aus beiden spreche die ungeschminkte schöpferische Phantasie in der Seele des Malenden oder Zeichnenden. Wenn ein Kind zeichnet, dann geschieht das aus dem Unbewußten heraus, und das Dargestellte ist so sehr das Ergebnis des eigenen Inneren, daß es selbst als etwas Belebtes und Wirkliches empfunden wird und Eigenleben gewinnt. Es muß keinesfalls im herkömmlichen Sinne ',schön' sein, aber es kann schön sein, weil es innerlieh wahr ist. Ähnlich ist es mit der Kunst der Naturvölker, und deshalb weist Paul Klee außer auf die Welt des Kindes auch auf die völkerkundlichen Sammlungen hin. Die Blauen Reiter wollen eine Wiedergeburt, eine Renaissance, der inneren Kräfte der Natur und der Seele. In die Programmpunkte der ersten Ausstellung des Blauen Reiters haben Kandinsky und Marc darum bereits die folgenden Sätze programmatisch aufgenommen: ** Schwabing = ein Münchener Künstlerviertel *** ethnographisch = völkerkundlich
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„Die große Umwälzung . . . Die intensive Wendung zum Inneren der Natur und der damit verbundene Verzicht auf das Verschönern des Äußeren der Natur — das sind im allgemeinen die Zeichen der neuen inneren Renaissance. Die Merkmale und Äußerungen dieser W e n dung zu zeigen, ihren inneren Zusammenhang mit vergangenen Epochen hervorzuheben, die Äußerungen der inneren Bestrebungen in jeder innerlich klingenden Form bekanntzumachen — das ist das Ziel, welches zu erreichen ,Der Blaue Reiter' sich bemühen wird."
Die große Umwälzung Eine solche Umwälzung, wie das Programm der Blauen Reiter sie ankündigt, ist nur verständlich im Zusammenhang mit allen Kräften der Zeit. Das Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende hat bereits alle Spannungen in sich, die sowohl in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, als auch zu einem völlig neuen, weltweiten Denken führen. Unter der Oberfläche einer scheinbar unerschütterlichen Gesellschaftsordnung regen sich sowohl die Dämonen der Zerstörung als auch die neuen Kräfte, welche die überkommenen Formen des Lebens, Denkens und der Kunst ablösen wollen. Noch genießt der Bürger den Frieden einer Zeit, die sich selbst bereits überlebt hat, und er wird leicht böse, wenn man ihn darin stört. W a r m und geborgen sitzt er abends in seinem Plüschsessel unter dem traulich flammenden Gaslicht, drunten schaukelt eine der wenigen Trambahnen vorbei, und nur hin und wieder dringt das Knattern eines kutschenartigen Automobils herauf. Aber schon 1912 führt Henry Ford in Amerika das Fließband ein. Zwei Jahre früher entsteht die erste Traumfabrik, die Filmstadt Hollywood. Ein neues Zeitalter beginnt. Victor Heß entdeckt die kosmischen Strahlen, und Albert Einsteins Relativitätstheorie nimmt immer umfassendere Formen an. Bald gibt es kein festes Bezugssystem mehr in der Wissenschaft, denn selbst der letzte Grund, auf den man gebaut hat, die Atome,' die „Urbausteine der Materie", erweisen sich als schwankend. Das Atom ist nicht die letzte stoffliche Einheit, man kann es spalten. Es muß also noch kleinere Urbausteine geben. Eine ganze Welt kommt ins Wanken. Alles muß neu durchdacht und neu geordnet werden. Die großen Künstler und auch die Maler des Blauen 11
Ueiters sind wach. Sie erleben diese erregenden Vorgänge in der Forschung innerlich mit und sind bereit, zur Lösung der neu auftauchenden Fragen beizutragen. „Welch ein beträchtliches Schicksal, Waage zu sein zwischen hüben und drüben, Waage auf der Grenze des Gestrig-heutigen", notiert Paul Klee. Die Maler des Blauen Reiters werden zu Verkündern des Neuen. Nichts ist ihnen widerwärtiger als die spießbürgerliche Trägheit des Denkens. „Platze, du Spießer, ich glaube, dein Stündlein schlägt", schreibt wiederum Paul Klee. Aber das neue Denken erfordert die Aufgabe vieler gewohnter und tief verwurzelter Vorstellungen. Selbst jene Künstler, die am tiefsten die großen Umwälzungen durch die Entdeckungen der Naturwissenschaftler auf allen Lebensgebieten erfassen, sind darüber erschreckt. So berichtet Kandinsky, und der Leser bedenke, daß dieser Gedanke schon vor mehreren Jahrzehnten lebendig war, als man noch nicht von einem Atomzeitalter sprach: „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und unsichtbar geworden wäre. Die Wissenschaft schien mir vernichtet: Ihre wichtigste Basis war nur ein Wahn, ein Fehler der Gelehrten, die nicht im verklärten Licht mit ruhiger H a n d ihr göttliches Gebäude Stein für Stein bauten, sondern in Dunkelheit aufs Geratewohl nach Wahrheiten tasteten und blind einen Gegenstand für einen andern hielten.'.' Und noch Jahre später meinte der humorvolle Münchner Gelehrte Arnold Sommerfeld, man solle neugierige Studenten vor dem Eintritt in das Studium der Physik am besten mit folgendem Hinweis warnen: „Achtung, Einsturzgefahr! Wegen radikalen Umbaus vorübergehend geschlossen 1" Es ist in jenen Jahren des Blauen Reiters tatsächlich ein radikaler Umbau erfolgt, nicht nur in der Naturwissenschaft, sondern, durch sie getragen, im gesamten Denken. Doch dieser Umbau ist wertvoll. Er führt zu einer neuen, vom Materialismus befreiten Weltschau. Die Künstler des Blauen Reiters nehmen sie auf ihre Weise vorweg. Sie kämpfen für eine Welt, in der das Geistige vorherrschen soll. „Der Geist bestimmt die Materie und nicht umgekehrt", ist bei Kandinsky zu lesen. In der Kunst fordern sie die Hinwendung zur „reinen Komposition", zu einer Farben- und Formgestaltung, die, abgelöst von aller Schwere des Materiellen, nur noch die feinen seelischen und geistigen Schwin12
Franz Marc. „Liegendes Pferdchen" (1912)
gungen wiedergibt. Kandinsky formuliert dieses gemeinsame W o l len. In seinem Buch „ ü b e r das Geistige in der Kunst", das 1911 erscheint, schreibt er: „Wenn wir aber bedenken, daß die geistige Wendung ein direkt stürmisches Tempo angeschlagen hat, daß auch die ,festeste' Basis des menschlichen Geisteslebens, d. h. die positive Wissenschaft, mitgerissen wird und vor der Tür der Auflösung der Materie steht, so kann behauptet werden, daß nur noch wenige ,Stunden' uns von dieser reinen Komposition trennen." Schon 1910, in Murnau, und draußen bei Franz Marc in Sindelsdorf, setzen die Künstler des Blauen Reiters sich in langen Gesprächen mit dem umwälzenden Geschehen in der Naturwissenschaft auseinander. Und noch später, als Soldat des 1. Weltkrieges, schreibt Franz Marc: „Gerade über die ,exakten W i s 13
senschaften' denke ich jetzt viel nach und brauche sie unbedingt in allen meinen neuen Gedankengängen, die ich jetzt gehe bzw. grabe wie ein Maulwurf." Das große, mit Leidenschaft immer wieder erörterte Thema ist die Überwindung des materiellen Denkens und die Errichtung einer neuen geistigen Welt. In diesem Bingen sind die Blauen Beiter spätgeborene Brüder der Bomantiker. Ihr Programm erinnert zuweilen an Novalis, den frühvollendeten romantischen Dichter, der 1799 in seinem großen Bildungsroman „Heinrich von Ofterdingen" die Verse schreibt: „Helfet uns den Erdgeist bind e n . . . Einmal kehrt euch um! Deine Macht muß bald verschwinden . . . Erdgeist, deine Zeit ist u m . " Kandinsky vollzieht als erster die große Umkehr ganz bewußt. ^,Ist alles Materie?" fragt er, „ist alles Geist? Können die Unterschiede, die wir zwischen Materie und Geist legen, nicht nur Abstufungen nur der Materie sein oder nur des Geistes?" Mit Bewunderung spricht er von den Gelehrten, „die die Materie wieder und wieder prüfen, die keine Angst haben, vor keiner Frage, und die endlich die Materie, auf welcher noch gestern alles ruhte und das ganze Weltall gestützt wurde, in Zweifel stellen". In gewisser Weise ist das,' was Kandinsky ahnte, von der Wissenschaft bestätigt worden. Als Albert Einstein sein Energiegesetz aufstellte, bewies er, daß Masse, eine gegebene Menge Materie, nichts anderes als aufgespeicherte, gebundene Energie ist und der Unterschied zwischen Stofflichem und Energie lediglich in der vorübergehenden Erscheinungsform liegt: einmal als Stofflichkeit, ein andermal als Kraftvorgang. Und der englische Naturwissenschaftler James Jeans sagt: „Mich erinnern die Gesetze, denen die Natur gehorcht, weniger an jene, denen eine in Bewegung befindliche Maschine gehorcht, als an jene, denen ein Musiker gehorcht, wenn er eine Fuge, oder ein Dichter, wenn er ein Sonett schreibt. Die Bewegungen von Atomen ähneln nicht so sehr den Bewegungen der Teile einer Lokomotive als denen der Tänzer in einem Kotillon", einem leichthinschwingenden Tanz. Das Weltall, sagt er weiter, kann man sich am besten „als aus reinem Denken bestehend vorstellen". Das Wesen der Welt, der Kleinstwelt der Atome wie der großen Welt im All, kommt diesen Denkern und Künstlern vor wie die gedanklichen Zahlen und Zeichen der Mathematik, mit denen man vorzüglich rechnen, messen und konstruieren kann und die doch nur „ged a c h t " sind.
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Jetzt verstehen wir auch," worauf die Künstler hinauswollten,' wenn sie mathematischen Grundformen der Natur nachzuspüren sich bemühen und hinter ihnen die geheimnisvolle Lebenskraft der Schöpfung suchen, die sie dann im Wirken der Farbe oder in der tänzerischen Linienführung, wie Paul Klee sie besonders liebt, beschwören. Der Kühnste unter den Blauen Reitern ist Kandinsky. Auf dem Wege zu einer Kunst, die den innersten Kern des Daseins treffen will und Anschluß an die schöpferischen Lebenskräfte sucht, nähert er sich im Verlaufe seines Malens und Zeichnens immer mehr der abstrakten Malerei. Abstrakt bedeutet „weggenommen". In der abstrakten Malerei wird das äußere Bild der Natur weggenommen, so daß in der Vorstellung des Künstlers nur noch ein Wesenskern verbleibt. ,",Kandinsky ist der Schöpfer der abstrakten, gegenstandslosen Malerei, die nicht mehr abbildet, sondern mit Linien, Formen und Farben frei umgeht, mit ihnen musiziert, wie die Musik mit den Tönen", sagt Franz Marc, und er preist den Freund als den zukunftweisenden Geist der neuen Kunstbewegung des Blauen Reiters. „Kandinskys Kunst ist ebenso prophetisch wie seine Worte —, der einzig wirklich Prophetische in unserm Kreis. Kandinsky ist der eigentliche Mittelpunkt der ganzen Bewegung. Wie kann man seine Stimme nicht hören wollen?" Aber nie hat Kandinsky sein abstraktes Malen und Zeichnen als den einzigen Weg des Kunstschaffens und als für jeden verbindlich hinstellen wollen. Er war keineswegs so vermessen, die Kunstschöpfungen früherer Zeiten, die des Mittelalters, der Renaissance, des Barocks, der Romantik herabzumindern. Auch in seinem Kreise hat er stets die Eigenart jedes Künstlers geachtet, sofern er nicht einen Abklatsch der Wirklichkeit bieten wollte. So hat zum Beispiel seine Gefährtin Gabriele Munter nur selten gegenstandslos gemalt; über die Darstellung des Menschen hat sie einmal geschrieben, daß sie sich nie versucht gefühlt habe, „die menschliche Erscheinung etwa aufzulösen, in eigenwillige Konstruktion aufzunehmen oder ganz zu verwerfen und durch gegenstandslose Gebilde zu ersetzen". Ja, sie steht mit dieser ihrer Auffassung sogar in einem gewissen Gegensatz zu Kandinsky, wenn sie sagt: „Mag man glauben, auf diese Weise das Geistige an sich zu fassen . . . ein Gleichnis, ein Sinnbild zu schaffen, so ist doch die körperliche Erscheinung des Menschen, namentlich das Gesicht, selber schon Sinnbild." Und doch gehört sie voll und ganz zum Künstlerkreis des 15
Blauen Reiters, findet sie doch auf ihre Weise ebenfalls zum eigenen, innerlich wahren Stil und zu starkem Ausdruck. Aber es ist das Schicksal jedes Neuen, daß es um seine Anerkennung ringen muß. Das gilt um so mehr für eine Bewegung, die bewußt „die große Umwälzung" auf ihre Fahnen geschrieben hat. Die Neuerer fühlen sich zuerst als Einzelne, die in dem bisherigen Gefüge des Festgeordneten wie Wilde erscheinen. Im Jahrbuch „Der Blaue Reiter" schreibt Franz Marc: „ I n unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als ', Wilde', nicht Organisierte, gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen. Die gefürchteten Waffen der ,Wilden' sind ihre neuen Gedanken." Ober den Schwung der neuen Bewegung berichtet Alfred Kubin, einer dieser Revolutionäre der Kunst, in seiner Selbstbiographie: „Manchmal konnte es einem ja schon beinahe bange werden, ein solcher Schwung und so kühne Unbedenklichkeit hatte neben vielen Jungen auch manch Ältere erfaßt. Mir machte es aber Freude, diesem schaffenden Zertrümmern und Neuaufbauen zuzusehen und bei meinen wiederholten Besuchen auch zu erleben, und jedesmal neue Gipfel festzustellen. . . Wie eine Verbrüderung aller jungen europäischen Künstler war es, und die Nationalität spielte keine Rolle mehr."
Der Weg nach innen Das Verbindende der Künstler des Blauen Reiters, von denen jeder eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit ist, die sich in kein Schema zwängen läßt, ist das Bestreben, die Kunst in das gesamte geistige Weltgeschehen der Zeit einzubeziehen. Die neuen Entdeckungen, der stürmische Vormarsch der Technik über die ganze Erde, der erkennende oder ahnende Blick in die letzten, innersten atomaren Zusammenhänge der Welt und das sich daraus ergebende neue Denken sind eine Umwälzung im Geistigen und erfassen die ganze Welt. Diesem bestürzend Neuen sucht die Kunst des Blauen Reiters gerecht zu werden. Weil dieses Programm im Zusammenhang mit dem großen Weltgeschehen steht, können sich ihm Künstler aller europäischen Länder anschließen, ohne etwas von ihrer persönlichen Art und Eigenheit aufgeben zu müssen. Eine neue Schule mit für alle verbindlichen Regeln und einheitlichen Stilmerkmalen zu errichten, wäre ganz gegen den 16
Sinn der neuen Kunstrichtung gewesen. Immer wieder weist Kandinsky darauf hin, daß Kunst nur in Freiheit und nur aus dem eigenen Innern jedes einzelnen Künstlers entstehen kann: L.F.s gibt kein ,Muß' in der Kunst, die ewig frei ist. Vor dem ,Muß' flieht die Kunst wie der Tag vor der Nacht." Maßstab ist einzig der Anruf von innen. Man sieht, sagt Kandinsky weiter, ..daß das Hängen an der ^Schule', das Jagen nach der ,Richtung", das Verlangen in einem W e r k nach ,Prinzipien' und bestimmten, der Zeit eigenen Ausdrucksmitteln nur auf Irrwege führen kann und zu Unverständnis, zur Verfinsterung, Verstummung bringen muß. Blind gegen ,anerkannte' oder ,unanerkannte' Form, taub gegen Lehren und Wünsche der Zeit soll der Künstler sein. Sein offenes Auge soll auf sein inneres Leben gerichtet werden, und sein Ohr soll dem Munde der inneren Notwendigkeit stets zugewendet sein. Dann wird er zu jedem erlaubten Mittel und ebenso leicht zu jedem verbotenen Mittel greifen. . . Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind. Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren Notwendigkeit stammen." Um das Innerlich-Notwendige zu erfahren, fordern diese Künstler die Einkehr zu sich selbst. Schon die alten Griechen haben um den W e r t der Selbsterkenntnis gewußt. Am Apollotempel zu Delphi stehen die W o r t e : Gnothi seauthon — Erkenne dich selbst! — Erst aus der echten Selbsterkenntnis wächst die wahre Welterkenntnis. Die Künstler des Blauen Reiters wissen, daß nur aus der Ehrlichkeit zu sich selbst ein echter Stil und eine wahre Kunst entstehen kann. Er kann nicht „gemacht" und auch nicht gelehrt werden. Im Tagebuch Paul Klees steht der Satz: „De Weg zum Stil: gnothi seauthon." Selbst neue Wege gehend, knüpft er damit an alter Wahrheit an. Wassily Kandinsky, Franz Marc und Paul Klee sind von dem Glauben erfüllt, ins Innere der Natur eindringen zu können, nicht aber von außen, von den Sinnen her, sondern von innen aus, durch die Versenkung in das eigene Ich. Sie glauben an den I göttlichen Funken im Menschen und an eine geheimnisvolle, Wechselwirkung der menschlichen Seele zu den Kräften des Weltganzen. Wie die Wissenschaftler in die geheimsten Bezirke j der Natur einzudringen versuchen, um dem Rätsel des Lebens nachzuspüren, so ist in dieser Zeit des Umbruchs auch die Sehnsucht der Künstler auf den Quellgrund der Schöpfung gerichtet. Indem sie zu den Quellen und Gründen der Schöpfung hinstreben, wenden sie sich ab von aller äußerlichen Geschäftigkeit! 18
jener Zeit, in der sich der wirtschaftliche und technische Fortschritt stürmisch und lärmvoll vollzieht, und die Städte ins Riesenhafte wachsen. Ihre Asphaltdecke droht das Leben zu ersticken und macht die Menschen stumpf, so daß sie den großen Atem der Natur kaum noch vernehmen. Da sind es die Künstler, die erneut nach dem verlorenen geschöpflichen Ursprung suchen. In dieser Zeit schreibt Rainer Maria Rilke die Verse: „Da leben Menschen, leben schlecht und schwer, in tiefen Zimmern, bange von Gebärde, geängstigter denn eine Erstlingsherde; und draußen wacht und atmet deine Erde, sie aber sind und wissen es nicht m e h r . . ." Auch Hermnan Hesse erhebt seine Stimme und legt in seinem „Peter Camenzind" dem Menschen nahe, „auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben als Ganzes teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind". Das gleiche Verlangen nach einem Einbezogensein in die Fülle alles Geschaffenen ist auch den Malern des Blauen Reiters eigen. Jeder von ihnen arbeitet zwar auf seine Weise, jeder hat seine nur ihm eigene „Handschrift", seinen persönlichen Stil in Strich und Farbe. Und dennoch treffen sich alle in dem Bemühen, im Zusammenspiel der Farben, Formen und Linien wie in einer musikalischen Komposition die tiefen Geheimnisse der Schöpfung und der geistigen Welt zum Erklingen zu bringen. Zuweilen liegt eine religiöse Stimmung über dem Schaffen dieser Maler, die weit davon entfernt sind, dieses Neue zu erklügeln und bloße Verstandeskünstler zu sein, wenn manche unter ihnen sich auch leidenschaftlich mit der Naturwissenschaft und ihren Ergebnissen beschäftigen. „Die Kunst ist das Heimweh Gottes" — so drückt es der russische Maler Alexej J a w lensky aus; wie es ähnlich auch manche Wissenschaftler im Hinblick auf ihre Arbeit aussprechen, je tiefer sie in die Weltzusammenhänge eindringen. Immer wieder offenbaren sich in den Untergründen neue, ehrfurchtheischende Geheimnisse. So sagt Albert Einstein: „Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sicli nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot." 19
Der Aufruf des Blauen Reiters zur großen Umwälzung ist ein Aufruf zur seelischen Erneuerung und die Aufforderung zum Mut, wahrhaftig und innerlich zu sein. Je entschlossener die Künstler den Weg nach innen gehen, desto hellsichtiger werden sie der äußeren Welt gegenüber. Sie lernen das Sein vom Schein und das Bleibende vom Zufälligen unterscheiden. Ihr Blick sucht unter der Oberfläche der Dinge deren Kern, in der Kunst wie im Betrachten ihrer Umwelt. „Ich beginne immer mehr hinter oder besser gesagt: durch die Dinge zu sehen", schreibt Franz Marc, „ein Dahinter, das die Dinge mit ihrem Schein eher verbergen, meist raffiniert verbergen, indem sie den Menschen etwas ganz anderes vortäuschen, als was sie tatsächlich bergen." Und ein andermal: „ W a s früher als ,Bildstoff von unserer Leidenschaft umfaßt wurde, löst sich nun in einfache Zahlenvcrhältnisse und Schwingungen auf. Unsere Leidenschaft bricht sich nicht mehr sentimentalisch (aus dem Gefühl heraus) an den Dingen, sondern sucht ihre ,Bändigung durch Form' in den tiefsinnigen Bildern, die die neuerfaßten Naturgesetze unserem erstaunten Auge zeigen." Immer mehr beginnt Franz Marc die Formen seiner Bilder zu vereinfachen und die Dinge ringsum, Tiere, Landschaften, Naturerscheinungen, mit wenigen, aber treffsicheren Strichen in ihrer tiefsten Wesensart zu erfassen. Dieses Bemühen läßt sich an all seinen Bildern verfolgen und führt bis zu einer Gestaltung, in der der Bildinhalt klar und durchsichtig wie Kristall geworden ist. Franz Marc ist Formsucher einer neuen Welt. Er will „die alte Weltanschauung in Weltdurchschauung" verwandeln, und zuletzt ist auch er ein Abstrakter geworden, weil jede andere Malweise ihm nicht tiefgründig genug erscheint. Ähnliches, wenn auch mit ganz anderen Mitteln, versucht Paul Klee. Jeder Eintrag seines Tagebuches gibt Zeugnis von einem unerbittlichen Ringen des Menschen und Künstlers, und Jahr um Jahr stellt Klee sich reifer, geläuterter und klarer dar. Bald ist sein Geist so weit, daß er selbst den Lärm des Krieges nicht mehr hört, weil er in einer neuen Welt jenseits des Streites beheimatet ist. Es ist eine Welt, die so sehr von seiner inneren Welt her bestimmt wird, daß die gegenständlichen Formen der äußeren Welt nur noch störend und verwirrend wirken. Auf diese Weise gelangt auch Paul Klee zur Abstraktion. Während des Ersten Weltkrieges schreibt er: „ I n jener zertrümmerten Welt weile ich nur noch in der Eriunerung, wie man zuweilen zurückdenkt. Somit bin ich ,abstrakt mit Erinnerungen'." 20
Aber es gibt auf diesem Wege eine große Gefahr, es ist das Sichverlieren in vorgetäuschte Tiefen, in Gefühlsüberschwang, „Mache", wie wir heute sagen würden. Unerbittlich wenden sich deshalb die Künstler des Blauen Reiters gegen jedes unwahre Schwelgen im Gefühl, gegen jedes unechte Gehaben, das deshalb so gefährlich ist, weil es das klare Denken wie Lava überdecken und zu unkontrollierten und gefährlichen Handlungen hinreißen kann. Auch solche Erkenntnisse sind auf dem Wege nach innen gereift. Die neue Kunst wendet sie an. Sie soll eine Bestätigung dessen sein, was Kandinsky immer wieder sagt, in seinen Schriften und in allen Gesprächen mit den Freunden: daß nämlich „im Grunde eines jeden kleinen und im Grunde des größten Problems der Malerei das I n n e r e liegen wird. Der Weg, auf welchem wir uns heute schon befinden und welcher das größte Glück unserer Zeit ist, ist der Weg, auf welchem wir uns des Äußeren entledigen werden, um statt dieser Hauptbasis eine ihr entgegengesetzte zu stellen: die Hauptbasis der inneren Notwendigkeit." Die Maler des Blauen Reiters sind in dieser Auffassung nicht allein. Nicht nur die Wissenschaft schlägt Brücken zu ihr; auch die Dichter kommen zum gleichen Erlebnis. In der französischen Literatur haben u. a. bereits Charles Baudelaire, Paul Verlain, Maurice Maeterlinck und Guillaume Apollonaire den W e g der Innerlichkeit beschritten. Maeterlinck wird von Kandinsky zu den Dichtern gezählt, die sich in einer Zeit der Umwälzung zu Stoffen wenden, die „dem nichtmateriellen Streben und Suchen der dürstenden Seele freie Hand lassen". In der deutschen Dichtung wird vor allem Hermann Hesse zum Künder der inneren Welt, der seinen Maler Klingsor sagen läßt: Ich werde „den W e g nach Innen gehen und noch einmal, wie ich es als junger Kerl eine Weile tat, ganz aus der Erinnerung und Phantasie malen, Gedichte machen und Träume spinnen." Oder Rainer Maria Rilke, der die Verse schreibt: „Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als Innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer schwindet das Außen." W e r sich so ins eigene Innere vertieft, dem beseelt sich auch bald die äußere Welt. Es gibt für ihn dann keine toten Dinge mehr. Alle zeigen sie ihr geheimes Gesicht und ihre Seele. „Nicht nur die bedichteten Sterne", schreibt Kandinsky, „Mond, W ä l der, Blumen, sondern auch ein im Aschenbecher liegender Stummel, ein auf der Straße aus der Pfütze blickender, geduldiger, weißer Hosenknopf, ein fügsames Stückchen Baumrinde, das eine 22
Ameise im starken Gebiß zu imbestimmten und wichtigen Zwekken durch das hohe Gras zieht, ein Kalenderblatt, nach dem sich die bewußte Hand ausstreckt, die es aus der warmen Geselligkeit mit den noch im Block bleibenden Mitblättern gewaltsam herausreißt — alles das zeigte mir sein Gesicht, sein innerstes Wesen, die geheime ,Seele', die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (= Linie^ ebenso lebendig und offenbarte mir seine ,Seele'. Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu ,begreifen', die heute im Gegensatz zur ,Gegenständlichen' die ,Abstrakte' genannt wird."
Lebendige Farbe Im Jahre 1910 hat Kandinsky sein erstes abstraktes Bild gemalt, um allein noch mit Linien, Flächen, Farben den Beschauer anzusprechen. Ein langer und oft schmerzlicher Weg menschlichen und künstlerischen Reifens ist diesem Verzicht auf das Gegenständliche vorausgegangen. Mit innerer Notwendigkeit kommt er zu dem kühnen Entschluß, die Grenze zwischen der Welt der äußerlich sichtbaren Dinge und dem reinen inneren Krlebnis zu durchbrechen. Nicht alle Freunde vermögen zunächst seinem stürmischen Vorwärtsdrängen zu folgen. Manche sehen in ihm den zügellosen Revolutionär, der mit allem Verehrungswürdigen bricht. Doch sie verkennen ihn. Auch weiterhin verehrt er die alten Meister. Seine Bewunderung für Rembrandt ist so groß, daß er sogar eine Zeitlang in seiner Manier gemalt hat. Erst als er selbst das gewahr wird, reißt er sich los, um in dieser ganz andersartigen Zeit den eigenen Weg zu finden. ,,Die Behauptung, daß ich das Gebäude der alten Kunst umstoßen will, berührt mich immer wie ein Mißklang", sagt er. ,,Ich selber habe in meinem Schaffen nie die Vernichtung der schon bestehenden Formen der Kunst gefunden. Ich sah in ihnen nur klar das innerlich logische, das äußerlich organische, unvermeidliche Wachsen der Kunst." Noch einige Jahre, nachdem er bereits zum freien Umgang mit Linie und Farbe gefunden hat, entstehen neben diesen abstrakten Kompositionen auch noch gegenstandsgebundene Bilder. Aber „freilich, je mehr der Künstler diese abstrahierten oder abstrakten Formen braucht, desto heimischer wird er im Reiche 23
derselben und tritt immer tiefer in dieses Gebiet ein. Und ebenso durch den Künstler geführt auch der Zuschauer, welcher immer mehr Kenntnisse in der abstrakten Sprache sammelt und sie schließlich beherrscht.". Kandinsky läßt uns an dem dramatischen Vorgang des künstlerischen Schaffensprozesses teilnehmen, läßt uns miterleben, wie er dem Material, mit dem er arbeitet, seinen gestalterischen Willen aufprägt. „Ich habe gelernt", schreibt er, „mit der Leinwand zu kämpfen, sie als widerspenstiges Wesen kennenzulernen und sie gewalttätig meinem Wunsch (-Traum) zu beugen. Erst steht sie wie eine reine, keusche Jungfrau mit klarem Blick und mit himmlischer Freude da — diese reine Leinwand, die selbst so schön wie ein Bild ist. Und dann kommt der wünschende Pinsel, der sie bald hier, bald da allmählich mit der ganzen, ihm eigenen Energie erobert, wie ein europäischer Kolonist, der in die wilde Jungfer Natur, die noch keiner berührte, mit Axt, Spaten, Hammer, Säge eindringt, um sie seinem Wunsch entsprechend zu besiegen.". Und dann heißt es: '„Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampf miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die das W e r k heißt. Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand •— durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluß eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. W e r k schöpfung ist Weltschöpfung." Zu den Instrumenten des Malers, die er erst aufeinander abstimmen muß, um zur Harmonie zu gelangen, gehören die Farben, das Auge des Künstlers und seine Seele. Erst aus der Einheit dieser drei Elemente entsteht das innerlich wahre W e r k : „ I m allgemeinen ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt." Unermüdlich spürt Kandinsky, aber auch Marc, Macke und Klee den feinen Wirkungen der Farben nach. Kandinsky malt etwa das Bild einer oberbayerischen Kleinstadt. Es ist Murnau. Leuchtend rote Dächer, die Kirche, ein paar Häuser, eine weite, grüne Wiese. — Nicht die Zeichnung und nicht die Gegenstände sind es,' von denen nach dem Willen des Künstlers das Erlebnis des Bildes ausgehen soll. Es sind die Farben. Und durch sie fühlen wir, es ist Sommer, ein satter, schon dem Herbst sich 24
neigender Sommer. Und aus dem Bild, in dem das Grün vorherrscht, spricht genau das, was der Maler ein anderes Mal beschreibt: „Grün ist die Hauptfarbe des Sommers, wo die Natur die Sturm- und Drangperiode des Jahres, den Frühling, überstanden hat und in eine selbstzufriedene Ruhe getaucht ist." Jede Farbe soll ihre eigene Wirkung ausüben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob wir sie genau so empfinden wie der Künstler. Wichtig ist nur, überhaupt dafür empfänglich zu werden. Jede Farbe hat ihr eigenes Leben, ü b e r Blau sagt Kandinsky: „Die Neigung des Blau zur Vertiefung ist so groß, daß es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem Klang des W o r tes Himmel. Blau ist die typisch himmlische Farbe. Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer. Es wird eine unendliche Vertiefung in die ernsten Zustände, wo es kein Ende gibt und keines geben kann.". Franz Marc aber schreibt 1910 an August Macke: „Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistjg. Gelb das weibliche Prinzip, sanft,' heiter, sinnlich. Rot die Materie, brutal und schwer. — Mischst Du zum Beispiel das ernste, geistige Blau mit Rot, dann steigerst Du das Blau bis zur unerträglichen Trauer und das versöhnende Gelb, die Komplementärfarbe zu Violett, wird unerläßlich. — Mischst Du nun aber Blau und Gelb zu Grün, so weckst Du Rot, die Materie, die ,Erde', zum Leben, aber hier fühle ich als Maler immer einen Unterschied: mit Grün bringst Du das ewig materielle, brutale Rot nie ganz zur Ruhe. Dem Grün muß stets noch einmal Blau (Himmel) und Gelb (Sonne) zu Hilfe kommen, um die Materie zum Schweigen zu bringen." Farben sind wie -empfindsame Wesen. Sie sprechen sehr verschieden auf ihre Umwelt an. So leuchtet ein helles Gelb noch strahlender auf violettem oder schwarzem Grund; es ist für die Wirkung einer Farbe nicht gleichgültig, in welcher Nachbarschaft sie steht. Auch diesen feinen Wirkungsgesetzen der Farben untereinander spüren die Blauen Reiter nach. Hierüber gibt ihnen auch die Volkskunst Aufschluß. Und wieder ergänzen sich die Erfahrungen aus verschiedenen Ländern. So findet Kandinsky in der Kunst der russischen Bauern-, Fischer- und Jägerstämme, deren Recht und Religion er in jungen Jahren auf aus25
gedehnten Reisen ins Innere Rußlands studiert hat,' ähnliche Züge wie in der Bauernmalerei der bayerischen Alpen. Es fällt ihm die Vorliebe für die Verwendung von Rot und Blau nebeneinander auf, eine Zusammenstellung, die in der klassischen Malerei lange Zeit als unharmonisch galt. Kandinsky aber sieht gerade in der Verwendung dieser widersprüchlichen Farben ein unmittelbares Gefühl des Volkes für die Gegensätze des Lebens ausgedrückt; spielt sich doch auch das Leben selbst zwischen Erde (Rot*) und Himmel (Blau), Tatendrang und Sehnsucht ab. „Merkwürdig", meint er, „ d a ß gerade diese Zusammenstellung von Rot und Blau dermaßen bei den Primitiven beliebt war (bei den alten Deutsehen, Italienern usw.), daß sie sich bis heute in den Überbleibseln dieser Zeit (z. B. der volkstümlichen Form der Herrgottschnitzerei) erhalten hat. Sehr oft sieht man in solchen Werken der Malerei und farbigen Plastik die Mutter Gottes im roten Hemd mit einem übergeworfenen blauen Dberkleid; es scheint, als ob die Künstler die himmlische Gnade bezeichnen wollten, die auf den irdischen Menschen gesandt wurde und das Menschliche durch das Göttliche verdeckte." Alle Maler des Blauen Reiters gehen diesen Weg von der herkömmlichen Verwendung der Farbe als Abbild der Natur zur Anwendung der Farbe als Sinnbild für tiefe Gedanken und seelische Erlebnisse. Auch Paul Klee war diesen Weg gegangen. Er arbeitete zuerst als Graphiker. Da überkam ihn als Fünfundzwanzigjährigen die erste Hoffnung, neue Möglichkeiten für seine Kunst zu finden. Er wollte von der schwarzen zeichnerischen Linie wegkommen und eine neue Ausdrucksform finden, durch die das Licht besser als bisher wiedergegeben werden könne. „Also heißt es jetzt: ,Es werde Licht'", schreibt er. Aber dieses Lichtwerden geschieht zunächst noch mit den Mitteln des Graphikers. Zum Malen fühlte Klee sich damals noch nicht reif genug. Im Juni 1905 schreibt er: „Eine Hoffnung lockte mich, als ich neulich auf eine geschwärzte Glasplatte mit der Nadel zeichnete. Eine Spielerei auf Porzellan hat mich darauf gebracht. Also: das Mittel ist nicht mehr der schwarze Strich, sondern der weiße. Der Grund ist nicht Licht, sondern Nacht; daß die Energie eine aufhellende ist, entspricht dem Vorgang in der Natur. Es ist dies wohl ein graphisch-malerischer Übergang. Malen will ich nicht, aus bescheidener Vorsicht!" Fast ein Jahrzehnt dauerten bei ihm der behutsam vorbereitete Übergang und die bescheidene Vorsicht. So kostbar wurde die Farbe empfunden. Als sie sich dann aber endlich ganz in ihrem 26
geheimen Leben offenbarte," wurde sie mit einem tiefen Glücksgefühl begrüßt. Das war im April 1914 in Kairuan. in Tunesien. Mit August Macke und dem Schweizer Maler und Jugendfreund Louis Moilliet hatte Klee die Reise dorthin unternommen. Wie „Tausendundeine Nacht mit neunundneunzig Prozent Wirklichkeitsgehalt" hatten die Künstler das afrikanische Land empfunden. „Welch ein Aroma", schreibt Klee, „wie durchdringend, wie berauschend, wie klärend zugleich." Und dann stehen die Worte im Tagebuch: „Glückliche Stunde . . . Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief und mild in mich hinein, ich fühle'das und werde so sicher, ohne Fleiß. Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: Ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler."
Abschied und Wiederkehr Die glücklichen Tage in Tunis gehen schnell vorbei. Es sind Tage der Freundschaft, des ernsten Erlebens und des Übermuts. Schon auf dein Schiff beginnt es. August Macke zeichnet eine kleine Kompositon, wie es aussehen könnte, wenn Klee seekrank wäre. Klee aber übersteht das Schaukeln des Schiffes und fühlt seinen Mut zurückkehren. „Und ein wenig später", berichtet er, „zünde ich mir eine Pfeife an. August Macke schließt daraufhin Freundschaft mit mir. Er hielt mich bis dahin für ein Ungeheuer an Vollkommenheit, und nun rauche ich eine gemütliche Pfeife. Das findet er ganz hinreißend schön." In Tunis angekommen, gibt es viel Spaß mit einem Negerwirt und seinen zwischen den Tischen herumflatternden Hühnern, und im Hause des Schweizer Gastgebers veranstalten die drei Maler ein afrikanisches Konzert. Klee und Moilliet spielen auf verstimmten Geigen, Macke trommelt den Rhythmus auf dem Flügelholz und näselt eine monotone Melodie. ..Ich glaube wirklich, es war gut musiziert", berichtet Paul Klee, der tatsächlich ein ausgezeichneter Geiger war. Neben Scherz und Übermut fordert die afrikanische Landschaft aber auch zur ernsten Selbstbesinnung auf. Da sitzen die Freunde dann unter dem weiten Nachthimmcl und vergleichen ihre künstlerische Ausdrucksfähigkeit mit dem Grad ihrer inneren Ergriffenheit, ü b e r einen solchen Abend notiert wieder Klee: „Der Abend ist unbeschreiblich. Zum Überfluß geht auch noch der 27
Vollmond auf. Louis reizt mich, ich sollte es malen. Ich sage, es wird höchstens eine Dbung. Natürlich versage ich dieser Natur gegenüber. Aber ich weiß doch etwas mehr als vorher. Ich weiß die Strecke von meinem Versagen bis zur Natur. Das ist eine innere Angelegenheit für die nächsten Jahre.'' Nicht allen Freunden des Blauen Reiters waren diese 7,nächsten J a h r e " noch gegönnt. Kaum mehr als ein Vierteljahr s_päter bricht das Chaos herein. Der Erste Weltkrieg beginnt. Und schon am 26. September 1914 fällt August Macke, der Maler mit der hellen, leuchtenden Palette, in der Champagne bei Perthes-lesHurlus. Franz Marc, der bereits seit Kriegsbeginn Soldat ist, schreibt dem Freund den Nachruf. Darin heißt es: „ I m Kriege sind wir alle gleich. Aber unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetzlichen. Mit seinem Tode wird der Kultur eines Volkes eine Hand abgeschlagen, ein Auge blind gemacht. Wieviele und schreckliche Verstümmelungen mag dieser grausame Krieg unserer zukünftigen Kulter gebracht haben? Wie mancher junge Geist mag gemordet sein, den wir nicht kennen und der unsere Zukunft in sich trug. Und manche kannten wir gut, ach, nur zu gut! — August Macke, der ,junge Macke', ist tot. W e r sich in diesen letzten, ereignisvollen Jahren um die neue deutsche Kunst gesorgt hat, wer etwas von unsrer künstlerischen Zukunft ahnte, der kannte Macke. Und die mit ihm arbeiteten, wir, seine Freunde, wir wußten, welche heimliche Zukunft dieser geniale Mensch in sich trug. Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unsrer deutschen, künstlerischen Entwicklung jäh a b ; keiner von uns ist imstande, sie fortzuführen. Jeder zieht seine eigene Bahn; und wo wir uns begegnen werden, wird er immer fehlen. W i r Maler wissen gut, daß mit dem Ausscheiden seiner Harmonien die Farbe in der deutschen Kunst um mehrere Tonfolgen verblassen muß und einen stumpferen, trockeneren Klang Bekommen wird. Er hat vor uns allen der Farbe den hellsten und reinsten Klang gegeben, so klar und hell, wie sein ganzes W e sen war . . . Aber sein W e r k ist abgebrochen,' trostlos, ohne Wiederkehr. Der gierige Krieg ist um einen Heldentod reicher, aber die deutsche Kunst um einen Helden ärmer geworden.'' 28
Noch im Felde arbeitete Franz Marc in Gedanken weiter an der neuen Kunst. „Darüber grüble ich viel, wohin, auf welches Ziel und in welche Formen sich der moderne Mensch verändern und entwickeln wird. So wie Europa gewesen ist, kann es nicht lange bleiben, auf keinen Fall nach diesem ungeheuren Krieg", schreibt er im November 1914, und dann: „Mein Hauptgedanke ist jetzt: Entwurf zu einer neuen W e l t . . . " Blatt um Blatt seines Skizzenbuches, das er auch im Felde bei sich führt, füllt sich. Einsam, inmitten einer Welt der Vernichtung, ringt er um die neue, geistige Gestalt. Immer gegenstandsloser werden seine Formen, kosmischen Kräften und Strahlungen gleich. Zeichnungen „Aus den Schöpfungstagen" entstehen, klare Liniengefüge, wartend auf den reinen Zusammenklang alles Lebendigen in einer kommenden Welt. Immer wieder denkt Marc auch an seine geliebten Tiere. In fast jedem Brief, den er seiner Frau nach Ried schreibt, dem stillen Vorgebirgsort, wo er sich 1914 niederließ, erkundigt er sich nach ihnen. „ W a s macht der Specht? Ist wieder das Rotschwänzchenpaar da? Ist der Fasan wiedergekommen? Grüß die kleinen Rehe; die werden wieder knabbern, wenn der Schnee weg ist!" Dann schreibt er die bedeutsamen W o r t e : „Der unfromme Mensch, der mich umgab, erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ. Und vom Tier weg leitete mich ein Instinkt zum Abstrakten, das mich noch mehr erregte." Durch immer geistigere Formen bändigt er nun die Sinnenwelt, zieht Schale um Schale von ihr ab, bis er zum durchsichtigen Kern gelangt. Am 4. März schreibt er seiner Frau: „Dieses Jahr werde ich auch zurückkommen in mein unversehrtes, liebes Heim, zu Dir und meiner Arbeit. Zwischen den grenzenlosen, schauervollen Bildern der Zerstörung, zwischen denen ich jetzt lebe, hat dieser Heimkehrgedanke einen Glorienschein, der gar nicht lieblich genug zu beschreiben ist." Es ist der Tag, an dem er, sechsunddreißigjährig, gefallen ist. Vor Verdun, nachmittags vier Uhr. Kurz vorher noch hat er notiert: „ W i e schön, wie einzig tröstlich zu wissen, daß der Geist nicht sterben kann, unter keinen Qualen, durch keine Verleugnungen, in keinen Wüsten. Dies zu wissen, macht das Fortgehen leicht.'!
* Der Krieg hat auch die übrigen Freunde zerstreut. ;,Am 4. März fiel mein Freund Franz Marc bei Verdun. Am 11. März wurde 29
ich als Rekrut von fünfunddreißig Jahren zum Militärdienst eingezogen", berichtet Paul Klee. Zwei Jahre früher schon, 1914, kehrt Kandinsky nach Rußland zurück. Die Kameradschaft der europäischen jungen Kunst ist zerrissen. Der Krieg sät H a ß zwischen die Völker und macht eine Verbindung der Künstler unmöglich. Und doch ist das, was sie geschaffen haben, unzerstörbar. Es ist nur der Schmerz des Freundes, wenn Franz Marc sagt, daß das W e r k von August Macke abgebrochen pei, trostlos und ohne Wiederkehr. Die Wiederkehr vollzieht sich unsichtbar, im Fortwirken der geistigen Tat. „Der Geist kann auch ohne Körper leben", schreibt Franz Marc selber aus dem Feld. Und dann: „Den Tod als Zerstörung erkenne ich überhaupt nicht an . . . er ist absolut Erlösung. Dazu braucht man kein Pessimist sein, nicht einmal Buddhist, höchstens Christ." Wassily Kandinsky und Paul Klee, die den Krieg überleben, sind von 1922 ab noch beinahe ein Jahrzehnt gemeinsam am „Bauhaus" tätig, jener Kunstschule, die moderne Architektur, Plastik und Malerei zu einem großen Stilakkord der neuen Zeit verbindet. Die Ideen des Blauen Reiters sind dort richtungweisend gewesen, für die Erziehung des künstlerischen Nachwuchses nicht weniger als für die künstlerische Produktion. Erneuert und erweitert erlebten die Gedanken und Werke jener Gruppe bahnbrechender Künstler ihre Wiedergeburt. Sie sind in die Welt hinausgetragen worden und gehören auch nach dem zweiten großen Kriege zum geistigen Bestand der Völker. Kurzgefaßte
Lebensdaten
K a n d i n s k y Wassily geb. 5. 12. 1866 in Moskau. Zueist Rechtsstudium. Mit 30 Jahren wendet er sich ganz der Malerei zu. 1896 Übersiedlung nach München. Akademiebesuch. 1902: Eröffnung einer eigenen Malschule in München — Präsident der Künstlervereinigung „Phalanx" — Mitglied der „Berliner Sezession". 1903 bis 1908 Auslandsreisen. Seit 1908 in München und Murnau. 1911 erste „Blaue-Reiter"-Ausstellu'ng. 1914 Rückkehr nach Moskau. 1918 bis 1921 Lehrer an der dortigen Akademie. 1921 Berlin. 1922 bis 1933 Lehrer am „Bauhaus" in Weimar und Dessau. 1933 Übersiedlung nach Neuillv-sur-Seine, Frankreich. Am 13. 12. 1944 dort gestorben. K l e e Paul geb. 18. 12. 18T9 in Münchenbuchsee bei Bern. 1898 bis 1901 Akademiebesuch in München. 1901 Italienreise. 1902 bis 1906 Bern. Seit 1906 in München. 1911 Freundschaft mit den Malern des „Blauen Reiters". 1912 Poiisreise. 1914 Tunlsreise mit Macke und Moilliet. 1916 bis 1918 Militärdienst. 1922 bis 1930 Lehrer am „Bauhaus" in Weimar und Dessau. 1930 bis 1933 Professor an der Akademie Düsseldorf. 1933 Übersiedlung nach Bern. Am 29. 6. 1940 in Muralto bei Locarno gestorben.
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M a c k e August geb. 3. 1. 1887 in Meschede im Sauerland. 1904 bis 1906 Akademiebesuch In Dusseldorf. 1905 bis 1908 Auslandsreisen. 1908 bis 1909 Militärdienst. 1909 dritte Parisreise. 1909 bis 1910 Tegernsee — Begegnung mit Franz Marc. 1911 Beteiligung am „Blauen Reiter". 1912 Bonn — Parisreise mit Marc. 1914 Tunisreise mit Klee und Moilliet. August 1914 Militäreinberufung. Am 26. 9. 1914 in der Champagne gefallen. M a r c Franz geb. 8. 2. 1880 in München. 1900 bis 1903 Akademie München. 1903 bis 1910 Parisreise — Selbständige Arbeiten in Oberbayern — Griechenlandreise — Aufenthalt in Paris. 1910 Übersiedlung nach Sindelsdorf — Bekanntschaft mit August Macke und Wassilv Kandinskv — Mitbegründung des „Blauen Reiteis". 1912 Parisreise mit Macke. 1914 Umsiedlung nach Ried/Obb. und Einberufung zum Kriegsdienst. Am 4. 3. 1916 vor Verdun gefallen. M u n t e r Cabriele geb. 19. 2. 1877 in Berlin. 1901 Kunststudium in München. Seit 1902 Schülerin Kandinskys. 1904 (bis 1908 Reisen mit Kandinsky. 1908 mit Kandinsky nach Murnau, dann Beitritt zum „Blauen Heiter". 1914 bis 1920 Skandinavien. 1920 wieder in Deutschland. Seit 1931 in Murnau. 1957 hat Gabriele Munter die Werke Kandinskys, die seine ganze künstlerische Entwicklung innerhalb einer Epoche von 18 Jahren, einschließlich der Zeit des Blauen Reiters, wiederspiegeln, der Städtischen Galerie München gestiftet. Durch diese „Gabriele-Münter-Stiftung" ist München zu einem bedeutenden Kunstzentrum moderner Malerei geworden.
Motiv nach dem Umsclüagbild zur Zeitschrift „Der Blaue Reiter", von W. Kandinsky. Urheberrechte für die Bilder von Franz Marc besitzt die Galerie Otto Stangl, München, für die Bilder von W. Kandinsky Frau W. Kandinsky, Paris. Das Foto Kandinskys auf der Umschlagseite 2 veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von Frau Gabriele Munter. Murnau
L u x - L e s e b o g e n 257 ( K u n s t ) — H e f t p r e i s 2 5 Pfg. Xatur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lui, Murnau (Oberbayern), Scidl-Park — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
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Name: (in Blodadirin)
3 Tagen die Anerkennungsgebühr von DM 3 . 7 5 |e Platte auf Ihr Postscheck-
9±
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konto Frankfurt (M) 27706 überweisen. Andernfalls schicke Ich die Platten zurück.
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5 7 , 4 M