Waldtraut Lewin Miriam Margraf
Wolfsbande 4 Der Bote
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheits...
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Waldtraut Lewin Miriam Margraf
Wolfsbande 4 Der Bote
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. © 2001 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. Umschlagillustration: Ferenc B. Regös Umschlagkonzeption: Gabor Racsmany Redaktion: Doreen Eggert Printed in Germany ISBN 3-473-34964-X
Endlich bekommen die drei von der Wolfsbande (vgl. Band 1-3) einen wichtigen Auftrag: An einem geheimen Treffpunkt wird ihnen ein königlicher Bote den Teil eines Briefes übergeben, zu dem sie bereits die verschlüsselte Hälfte besitzen. Doch am Treffpunkt wird Walther, er selbst ist der Bote, entführt, und Ortrud, seine Geliebte, grausam ermordet. Die Spur der Täter führt auf die Burg Landau, wo der Burgherr und sein Schwager, der Bischof von Merseburg, nicht nur gegen Heinrich den Staufer intrigieren, sondern sich auch kräftig bereichern wollen. Doch die Wolfsbande schafft es, Walther aus seinem Verlies zu befreien und die wichtige Botschaft zu retten. Wieder gibt es reichlich Mord und Totschlag, aber ebenso ein pralles Bild mittelalterlichen Lebens.
Kohl ohne Speck
»Pax vobiscum!« Der Friedensgruß klingt schauerlich aus einer Wolfsmaske heraus. Der Mönch, der eben den frechen Dieb fassen wollte, steht wie angewurzelt, bekreuzigt sich vor dem schrecklichen Anblick. Ein Bündel fliegt über die Mauer. Die Gestalt mit der Wolfsmaske ist oben wie nichts, springt. »Danke für die milde Gabe!« Gelächter. »Verdammtes Diebsgesindel!« Der Mönch trabt schwerfällig zur Pforte, sieht die Diebe nur noch weglaufen: zwei Gestalten und ein Hund, eine edle, silbergraue Bracke. Angeführt. Der Klosterbruder schnaubt verärgert. – Die Zeiten sind schwer für die drei von der Wolfsbande. Aber wann waren sie jemals leicht? Im Frühling haben die Bauern ihre Vorräte aufgebraucht, im Frühsommer gibt’s zwar Gras für das Vieh, aber noch keine Milch, weil die Lämmer und Kälber noch nicht da sind, der Herbst bringt zwar Brotkorn und Fleisch, aber auch schon die ersten kalten Nächte und der Winter – an den mag Heinrich gar nicht denken. Der Winter. Auf den geht es jetzt zu. Bis dahin muss er seine Wolfsbande an einen Ort gebracht haben, wo es ein Dach überm Kopf gibt und was zu beißen. Fahrende Leute, Gaukler und Boten wie sie, haben zu allen Jahreszeiten ihre Not. Heinrich von Wenningen, den sie alle den Wolf nennen, schiebt die Maske hoch und enthüllt sein scharfes, von Pockennarben entstelltes Gesicht. Wenige kennen ihn so. Entweder trägt er die Maske, oder er verhüllt sich mit einem bis zu den Augen gezogenen Tuch aus dem Morgenland – nicht nur, um seine Hässlichkeit zu verbergen. Er hat sehr gute Gründe, sich nicht zu zeigen. Das Kloster Zum Guten Hirten,
aus dem er geflohen ist, würde ihn zu gern schnappen. Nicht nur, um sein Erbe zu schlucken, sondern auch, weil er von den Mönchen gefälschte Urkunden in seinen Besitz gebracht hat. Seine eigenen Verwandten auf Burg Wenningen haben versucht, ihm einen Mord anzuhängen – ebenfalls, um ihn zu betrügen. Und die Tatsache, dass er einen leibeigenen Jungen sozusagen »gestohlen« hat, ist der nächste Fallstrick, in dem er hängen bleiben könnte. Lorenz… Er wirft dem Jungen einen Blick zu. Lorenz läuft neben ihm her, seine Locken wehen im Wind. Neben ihm hüpft in ausgelassenen Sprüngen die schöne Hündin Lythande, ein edles, silbergraues Tier. Lorenz hat ihr das Leben gerettet und dabei seines aufs Spiel gesetzt. Wäre Heinrich nicht gewesen, wären Hund und Junge tot. Aber mit Lorenz gibt es ein paar Probleme in der letzten Zeit. Der Junge ist aufmüpfig, fühlt sich offensichtlich von Heinrich gegängelt und bevormundet. Vor allem, seit es noch jemanden in ihrem Bunde gibt: Das Mädchen Lucia, ein Kind, das verstört von einem Kinderkreuzzug zurückkam und um ein Haar einem Sklavenhändler in die Fänge geriet. Sie haben gemeinsam Lucia befreit. Aber dass sich Lorenz und das Mädchen gut vertragen, wäre gelogen. Lucia hängt an Heinrich, und Lorenz – ja, Lorenz fühlt sich zurückgesetzt… So sind sie seit dem Frühling unterwegs, machen Musik, spielen ihre Gaukelspiele, um ihr Brot zu verdienen. Aber das Brot ist sehr dünn belegt. Und die anderen Aufträge, die Heinrich noch hat, geheime Botenaufträge, bringen bisher auch kaum was ein. Dinge, in die er seine Wolfsbande nur sehr zögernd einweiht… Sie verschnaufen hinter der nächsten Ecke. Keiner verfolgt sie vom Kloster her. »Lass mal sehen!« Hinterm nächsten Zaun öffnet Lorenz neugierig das Bündel, zieht ein Gesicht. »Bloß Grünzeug!« Die
Hündin schnuppert an Karotten, Kohl und Äpfeln, genauso enttäuscht wie ihr Herr. »Nichts für dich, Lythande. Such dir selber was!« Das Tier wedelt, spitzt die Ohren, hebt erwartungsvoll einen Vorderlauf und nimmt Witterung auf. Dann pirscht es los, den Feldmäusen hinterher. Lythande ist die Anspruchsloseste in der ganzen Gauklertruppe, versorgt sich weitgehend selbst und hilft ihnen als gut dressierte Partnerin auf der Bühne. Die Anspruchsloseste und manchmal auch die Zuverlässigste, denkt Heinrich und erinnert sich, wie oft ihnen die Hündin durch ihren Mut und ihren Spürsinn schon aus der Patsche geholfen hat. »Konntest du nichts Vernünftiges bringen, Wolf?«, mault Lorenz. »Einen Schinken, ein bisschen Speck?« Heinrich presst die Lippen zusammen. Seine eisgrauen Wolfsaugen gehen über den anderen hin. Mal wieder typisch Lorenz. Nie zufrieden. »Wir sind keine Diebe!«, sagt er streng. »Wir nehmen nur, was wir zum Leben brauchen. Und ich schädige nicht mutwillig ein Kloster, wenn es so arm aussieht wie dieses hier.« Lorenz verdreht die Augen. »Ja, ja, Herr Betbruder! Und was sollen wir mit dem Kram machen?« »Vielleicht kocht Lucia was Leckeres draus.« »Lucia?« Lorenz kreischt fast. »Die und kochen? Die ist nur gut dafür, uns alles wegzufressen. Das Kochen werd ich übernehmen müssen. Aber wenigstens ein bisschen Speck braucht man für den Kohl. Vielleicht können wir welchen eintauschen bei dem Bauern da.« »Ja, aber beeilen wir uns! Ich hab immer Angst, dass Lucia was passiert, wenn man sie allein lässt.« Lorenz zuckt mit den Achseln. »Und ich hab Angst, dass sie was anstellt. Die mit dem Maultier und den Sachen am Waldrand zurücklassen – ob das so ‘ne gute Idee war?«
Heinrich schüttelt den Kopf. »Du könntest ein bisschen mehr Vertrauen in Lucia haben. Sie hat sich sehr verändert, seit sie bei uns ist.« »Vertrauen?« Lorenz schnieft. »Sei mir nicht böse, Wolf, aber ich trau der nicht übern Weg. Wenn du meine Meinung wissen willst – « »Will ich nicht!«, sagt Heinrich brüsk. Lorenz schneidet ihm hinter seinem Rücken eine Fratze. –
Der Herbst glüht in den schönsten Farben. In der Ferne sieht man die nördliche Bergkette. Im Süden ist es hoffentlich noch wärmer. Und nach Süden müssen sie. »Die Gegend ist sehr schön!«, sagt Heinrich, um die Spannung zwischen sich und Lorenz wieder ein bisschen aufzuheben. »Hm. Reiche Gegend wär mir lieber.« Sie stapfen weiter durchs welke Laub. Die Bretterbude am Waldrand, wo sie Unterschlupf gefunden haben, sieht verlassen aus. Kein Maultier. Keine Lucia. Die Jungen beginnen zu rennen. »Eh! Ich bin hier!« Es kommt von oben, aus der Krone einer Buche. Das Mädchen klettert den Stamm herunter, so flink wie ein Eichhörnchen, klammert sich an Heinrich fest, schluchzt. Wie immer, wenn sie aufgeregt ist, verfällt sie in die Sprache ihrer Heimat, ein merkwürdiges Alpen-Italienisch. »La colpa mia non e! Ladri! Due briganti! Soo groß…« Sie zeigt irgendwo nach oben mit der Hand. »Verdammtes Kauderwelsch! Sprich so, dass man dich versteht!« Lorenz reißt sie von Heinrich weg, schüttelt sie.
Heinrich geht dazwischen. »Lorenz, nicht doch! Ich versteh sie ja. Zwei große Räuber waren hier und haben alles mitgenommen, ist es so?« Lucia nickt, wischt sich die Nase mit dem Jackenärmel, kämpft gegen ihr Schluchzen an. »Na fein! Hatten wir dich nicht zum Aufpassen hier gelassen, du Früchtchen?« Lorenz knallt das Bündel auf den Boden. »Mit dir ist gar nichts anzufangen. Bist gleich auf den Baum, als sie kamen oder was?« »Aber Lorenz, was sollte sie denn machen? Konnte sie denn was ausrichten gegen zwei Männer? Du hast es ganz richtig angestellt, Lucia. Wenigstens ist dir nichts passiert.« Heinrich nimmt sie in den Arm, streichelt über ihr rötliches Haar, während Lorenz weiter schimpft: »Das Maultier, die Satteltaschen! Die Armbrust! Und der Geldbeutel! Na, das war eine leichte Beute!« »Geh Feuerholz suchen, ja!«, fährt ihn Heinrich an. »Mach mir das Mädchen nicht noch wirrer, als es schon ist. Wenigstens haben wir heute ein Mittagessen.« »Du hast die Ruhe weg, ja?« »Ich bin nicht ruhig. Nun ja, die Papiere sind weg. Aber immerhin waren es keine Geheimdokumente, und dass diese Kerle lesen können, ist unwahrscheinlich. Vielleicht finden wir das Zeug sogar an der nächsten Wegbiegung im Gebüsch wieder.« »Keine Geheimdokumente?«, unterbricht ihn Lorenz. »Ja, was schleppen wir denn da durch die Gegend?« Heinrich wirft ihm einen schrägen Blick zu. Am liebsten hätte er seine Gefährten überhaupt nicht eingeweiht in seine eigentliche Mission. Dass er als Mitarbeiter des Sängers und königlichen Agenten Walther von der Vogelweide manchmal gefährliche Arbeit zu tun hat, geheime Botschaften zu überbringen hat, das ist ja
eigentlich ganz und gar seine Sache. Aber die beiden sind nun einmal mit dabei. Notgedrungen sind seine Schwierigkeiten auch die ihren. Da kann er sie ja nicht im Unklaren lassen über das, was er macht. Nur, das ist typisch Lorenz. Einerseits regt er sich ständig auf über die Gefahren, denen er ausgesetzt ist, andererseits fühlt er sich geschmeichelt durch die Aufgaben – und da müssen es schon »echte« Geheimdokumente sein. »Reisen ist nun mal gefährlich. Boten wie wir können immer ausgeraubt werden, und wir sollten dem Herrn dafür danken, dass es jetzt passiert ist und nicht später…« »Wieso das, Herr Klosterbruder?« Heinrich schluckt. »Morgen sind wir verabredet. Da kriegen wir wirkliche Geheimdokumente«, sagt er leise. Seine beiden Gefährten quittieren die Mitteilung mit Schweigen. Wie üblich, hat Wolf sie nicht im Einzelnen eingeweiht in das, was er weiß. Sie kennen immer nur die Reiseroute. Was man nicht weiß, kann man nicht verraten. Lorenz verzieht sich in die Hütte. »Unsere Kleider und Decken sind noch hier!«, verkündet er. »Und das Kochgeschirr! Merkwürdig. Richtige Diebe lassen eigentlich alles mitgehen.« »Ich werde ein Dankgebet sprechen deswegen – dass sie keine richtigen Diebe waren«, bemerkt Heinrich. »Mach dich an die Arbeit, damit wir nicht mit leerem Magen aufbrechen müssen.«
Eine böse Überraschung
Die Herbstnächte sind schon kalt, aber am Vormittag scheint die Sonne mit voller Kraft vom wolkenlosen Himmel und bringt die drei Wanderer bald ins Schwitzen. Wenig genug, was ihnen geblieben ist – aber wenn man es schleppen muss, hat es Gewicht. Es geht unablässig steil bergauf. Einzig Lythande springt ihnen munter voran. »Zur Hölle mit den Dieben!« Lorenz keucht unter seinem Bündel. »Fluch nicht so gotteslästerlich!«, weist ihn Heinrich brüsk zurecht. Auch ihm stehen Schweißperlen auf der Stirn. Lucia wankt mit zusammengepressten Lippen bergauf. »Soll ich dir was abnehmen?« Sie schüttelt den Kopf. »Warum fragst du mich nicht mal?«, fragt Lorenz ärgerlich. »Überhaupt, warum müssen wir so rennen? Kommt es denn auf einen Tag an?« Heinrich stapft verbissen weiter. »Verabredung ist Verabredung! Herr Walther erwartet uns am 50. Tag nach Maria Himmelfahrt. Wir sind schon einen Tag im Verzug, das ist nicht gut. Der Auftrag duldet keinen Aufschub.« »Du und dein Walther und deine ganze Geheimniskrämerei! Geheimdokumente und Staatsaffären! Mir ist das alles zu heikel, dass du’s nur weißt!« Das alte Lied. Mal findet Lorenz alles aufregend, mal hat er Angst. »Ach. Willst du wieder in Mädchenkleidern rumrennen, mit Bällen jonglieren und auf den Märkten um Almosen betteln, wie du’s tun musstest, bevor wir Botenaufträge
bekamen? Wir werden unser Auskommen haben bei dieser Arbeit.« »Na hoffentlich!« Lorenz lässt sein Bündel ächzend zur Erde fallen, und Lucia folgt seinem Beispiel. Sie sieht abwesend vor sich hin, ganz wo anders mit ihren Gedanken. Die Unterhaltung scheint an ihr vorbeizurauschen. Der Junge lässt nicht locker. »Und wenn wir mal ein paar Heller in der Tasche haben, lassen wir sie uns klauen!« In Heinrich steigt die Wut hoch. Muss er sich zu allem anderen auch noch mit den Launen dieses Jungen abplagen? »Willst du aussteigen?«, fragt er kalt. Seine Augen glitzern. Lorenz zuckt mit den Achseln, sagt lieber nichts. Wenn Wolf so guckt, ist nicht gut Kirschen essen mit ihm. Er wendet sich an das Mädchen. »Und was ist mir dir? Du kannst doch auch nicht mehr! Sag du auch mal was!« »Lucia geht mit Wolf.« Es kommt ruhig, beiläufig. »Natürlich. Lucia geht mit Wolf!«, äfft Lorenz sie nach. Er wendet sich zu seiner Hündin und beginnt, sie von Holzböcken zu befreien. »Ob ich dich frag oder die!«, murmelt er. »Die hängt an ihrem Wolf wie die Zecke im Hundefell!« Heinrich holt Luft zu einer Bemerkung, lässt es bleiben, seufzt. Manchmal ist es nicht auszuhalten mit den beiden, da sind sie wie Feuer und Wasser: Der Junge mit seiner Aufsässigkeit. Und dies Mädchen, das schreckliche Dinge erlebt hat: den Kinderkreuzzug, die verzweifelte Rückkehr der Überlebenden in eine Heimat, die sie nicht mehr wollte, ihr Umherirren im Lande, verjagt oder verfolgt von skrupellosen Sklavenhändlern. Lucia, die zu ihnen kam, so verstört wie ein kleines Tier. Er, Heinrich, weiß, dass sie voller Kraft ist – weit stärker, als es zunächst den Anschein hat. Er muss lächeln. Lorenz kann wohl nicht vergessen, dass sie zu Anfang seine Hündin als »gutes Essen« bezeichnet hat… Lorenz, der
Launische. Aber wenn es drauf ankommt, kann man sich auf ihn verlassen. Wir drei, denkt er. Die Wolfsbande. Drei, zu denen das Leben nicht gerade freundlich war. Alle drei heimatlos, rechtlos. Unterwegs auf den unsicheren, der Gewalt und Willkür anheim gegebenen Straßen des Landes. Er strafft sich. Da gibt es einen neuen König, der Gerechtigkeit schaffen will. Da gibt es einen Auftrag. Ich bin ein Bote. Wir sind seine Boten. Da ist der Auftrag, den mir Walther von der Vogelweide übermitteln will. »Kommt, wir müssen weiter! Und du, Lorenz, red nicht immer so ein dummes Zeug. Wir haben es gleich geschafft.« – Heinrich sieht sich um. »Hier! So hat er es beschrieben. Das Dorf mit der Feldsteinkirche und daneben die Schmiede. Von hier aus nach rechts und dann hoch zu dem einsamen Gehöft am Waldrand. Kommt.« »Was denn? Der große Minnesänger und Königsbote haust in so einem Kaff am Ende der Welt?« »Er haust hier nicht«, gibt Heinrich zurück. »Er ist ständiger Gast am Hof König Friedrichs. Dies hier ist nur ein Refugium.« »Ein was?« »Eine Zufluchtsstätte, wenn er ungestört sein will.« »Versteh ich nicht. Da findet sich doch bestimmt auch was Besseres als so ein abgelegenes Gehöft. Ein vornehmes Kloster oder…« »Hör auf zu schwatzen!«, fährt Heinrich ihn an. »Wenn du’s denn unbedingt wissen willst: Wir treffen uns im Haus seiner Frau.« »Der ist mit ‘ner Bäuerin verheiratet?« »Verheiratet ist er nicht«, erwidert Heinrich düster. Lucia grinst, ihre Schultern zucken vom verhaltenen Kichern.
»Dein großer Meister lebt in Sünde?« In Lorenz’ Tonfall liegt gespielte Empörung. »Ich bete für ihn«, murmelt Heinrich. »Es steht mir nicht an, darüber zu urteilen.« Lorenz seufzt. »Wär schön, wenn du das auch mal über mich sagen würdest.« »Komm schon, Lorenz. Das Schlimmste haben wir hinter uns. Bei Walther bekommen wir bestimmt neue Reittiere oder Geld dafür, wir müssen schnell sein.« Der Junge steckt ihm hinterm Rücken die Zunge raus.
Das Haus liegt hinter einer Weidefläche, im Sommer verborgen unter Obstbäumen, die jetzt bereits ihr Laub abwerfen. Der Boden ist bedeckt mit reifen Äpfeln. Für die letzte Wegstrecke hat Heinrich Lucia das Bündel abgenommen. Sie läuft in ihrem hüpfenden Schritt voraus, Lythande umspringt sie. Beide sind wohl auf gutes Essen aus. Vier, fünf Kühe kommen näher, stellen sich ihnen in den Weg, muhen laut, bedrängen die Reisenden. Lythande macht ein paar Ausfälle, schnappt nach den Beinen der Tiere – vergebens. Die lassen sich nicht abschrecken, auch nicht durch Klapse und Schubsen. »Lasst uns doch durch, meine Guten!«, redet Lorenz auf die Viecher ein. »Was wollt ihr denn von uns?« Lucia zeigt aufgeregt mit dem Finger. Verfällt in das Italienisch ihrer Alpenheimat: »Latte! Latte!« »Was meinst du? Milch?« Heinrich runzelt die Brauen, und Lorenz schlägt sich an die Stirn. »Na klar doch, Wolf! Sieh mal, was die für pralle Euter haben! Die müssen gemolken werden!« »Merkwürdig. Walther hat mir erzählt, dass diese Ortrud eine freie Bäuerin ist, keinem zu Abgaben verpflichtet, und dass sie
hauptsächlich vom Verkauf ihrer Milch und ihrer Butter lebt. So jemand vernachlässigt sein Viehzeug nicht.« Lorenz zwinkert dreist mit einem Auge. »Na, vielleicht hat sie ja was anderes im Kopf, wenn ihr Herr Walther hier ist.« Heinrich schüttelt den Kopf. »Hier stimmt was nicht.« Energisch bahnt er sich einen Weg durch die Herde.
Der Hof ist groß und stattlich. Fast wie eine kleine Ritterburg. Die Dächer sind gut in Ordnung, Fenster und Türen grün gestrichen. Ställe und Wohnhaus ordnen sich zu einem Viereck. Das Hoftor steht sperrangelweit offen. Die kleine Truppe nähert sich vorsichtig, zögert. Es ist still bis auf das Muhen der Kühe hinter ihnen. Lucia zeigt und flüstert: »Cavalli! Pferde, viele!« Der Hof ist von Hufen zertrampelt, die nicht von Kuh oder Schaf stammen. Heinrich packt den Griff seines Messers, geht langsam vorwärts, die anderen folgen. »Holla, ist da jemand?« Stille. »Herr Walther! Frau Ortrud!« Angstvoll winselnd schmiegt sich Lythande an Lorenz’ Bein. Sie zittert. »Da!« Neben der Tenne liegt der Hofhund in einer Blutlache. Erschlagen. »Lass uns weg von hier!«, flüstert Lucia erstickt. »Böse Leute!« Heinrich beugt sich über das Tier, berührt sein Fell. »Die das getan haben, sind schon über alle Berge. Der Hund ist kalt.« Lorenz schluchzt auf. Wenn sich’s um Tiere handelt, besonders um Hunde, gehen seine Gefühle mit ihm durch. Die Tür zum Hühnerstall ist von außen verriegelt, aber die Tiere sind auf dem Hof, scharren auf dem Mist. Heinrich verwahrt das Messer, greift mit beiden Händen nach dem Riegel, zieht ihn zurück.
Das Böse ist so gegenwärtig wie der Höllenschlund: Inmitten von Dreck und aufstiebenden Federn liegt, unnatürlich verkrümmt in der Enge, die Bäuerin mit starren Augen, blutverschmiert, eine große Wunde klafft an ihrem Hals. Heinrich vermag sich nicht zu rühren vor Entsetzen. Lorenz presst sich die Hände auf den Mund, ihm ist schlecht. Aber Lucia stürzt vor, packt die Hand der Frau, rüttelt sie. Ein schwaches, kaum hörbares Stöhnen kommt von den Lippen der Verletzten. »Sie lebt! Tut was! Helfen, kommt!« Mit Lorenz ist nicht zu rechnen, er rennt zum Misthaufen und übergibt sich. Heinrich will die Frau aus dem Verschlag herausziehen, aber das Mädchen winkt ab. Plötzlich ist sie wie ausgewechselt. Wach, entschlossen, ohne Furcht. Sie kennt sich aus mit dergleichen. »No! Adesso no! Erst verbinden!« Sie entledigt sich ihres Hemds, steht da mit nacktem Oberkörper, presst das Leinen auf die Wunde, zurrt es fest. Scheint gar nicht zu merken, dass Heinrich ihr sein Wams umlegt. »So, jetzt! Pian piano! Vorsichtig!« Die beiden ziehen die Bäuerin aus dem Hühnerstall. Heinrich kniet, nimmt ihren Kopf in seinen Schoß. Die dunklen Haarflechten sind starr von verkrustetem Blut. Lucia hält wieder die Hand der Röchelnden. »Frau Ortrud! Könnt Ihr mich hören? Man nennt mich Wolf, ich bin der Schüler Herrn Walthers. Wir waren hier verabredet. Was ist geschehen?« »Nicht! Sie darf nicht sprechen! Wir machen es anders. Hörst du mich, Frau? Ja? Er hier wird dich fragen. Antworte nur mit Ja: Dann drück meine Hand. Nein – du machst gar nichts. Capisce?« Lucia sieht auf. Nickt. »Sie hat verstanden. Hat meine Hand gedrückt. Jetzt frage.« »Reiter waren hier?«
Ein Händedruck. »Sie haben das hier getan?« Erneuter Händedruck. »Haben sie Herrn Walther mitgenommen?« »Ja.« »Ist er auch verletzt?« Der Händedruck bleibt aus. »Er ist also entführt worden«, stellt Heinrich fest, und wieder bestätigt Lucia. Der Atem der Frau geht schneller. »Wollt Ihr mir etwas sagen Frau Ortrud? Habt Ihr jemanden erkannt?« Sie stöhnt. Lucia beugt sich zu ihrem Mund, richtet sich wieder auf. »Sie hat einen Namen gesagt, Wolf. Ich hab ›Landau‹ verstanden.« »Landau, ist das richtig?« Kein Händedruck. »Sie ist ohnmächtig geworden, Dio mio! Wir müssen sie jetzt schonen.« Vorsichtig machen sie eine Trage aus ihren Umhängen, heben die bewusstlose Frau darauf, tragen sie in das verwüstete Haus und legen sie aufs Bett. Heinrich schickt ein Stoßgebet zum Himmel. Gott, mach, dass sie am Leben bleibt! Lucia bemüht sich um die Schwerverletzte, reibt ihr den Puls, versucht, ihr Wasser einzuflößen. Sie tut es so ruhig und geschickt, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan. »Lucia, getraust du dich, ins Dorf zu laufen und jemanden zu holen, der heilkundig ist – ja, und am besten den Pfarrer gleich mit, falls es – falls es zum Letzten kommt. Kannst du in verständlichen Worten reden mit den Leuten?« Das Mädchen nickt entschlossen. »Wo zum Teuf… ich meine, wo steckt eigentlich Lorenz?« Lucia zeigt mit dem Finger aus dem Fenster: Lorenz melkt die Kühe. –
Unter der Linden, auf der Heide
Unentschlossen steht Heinrich neben Ortruds Bett. Er kennt sich ein bisschen aus mit Heilkunde, hat im Kloster bei seinem Lehrer, Pater Danilo, einiges über Kräutermedizin gelernt. Aber da ging es nicht um solche entsetzlichen Wunden. Hier kann er nichts tun. Er wirft einen letzten Blick auf die Ohnmächtige, geht dann zurück in die Küche. Was für eine Welt, in der man eine junge Frau so zurichtet! Ihm ist kalt. Kalt vor Entsetzen, kalt vor Wut. Lorenz schleppt hölzerne Milcheimer heran, stellt sie auf dem Wandbord ab, steht mit hängenden Armen. »Ich möchte das nicht mehr«, sagt er plötzlich leise. »Du möchtest was nicht mehr?« Heinrichs Stimme ist scharf. Der Junge sieht ihn nicht an, beginnt, die Milch umzufüllen in die großen flachen Schalen, die bereitstehen und aus denen man später den Rahm fürs Buttern abschöpft. »Na, das hier«, sagt er dann, und seine Stimme klingt wie ein unterdrücktes Schluchzen. »Morde und Verbrechen, Blut und Verletzte und – ja, und Angst. Ich möchte ganz friedlich leben, verstehst du? Hier bleiben vielleicht und sie gesund pflegen. Und Butter machen und die Kühe rauslassen am Morgen und – « »Bist du wirr im Kopf, oder was?« Heinrichs Stimme ist ein unterdrücktes Schreien. »Wie kommst du darauf, dass du hier in Frieden leben kannst – hier, wo eben ein Mensch entführt wurde und ein anderer fast umgebracht? Einfach so dableiben und hoffen, dass nichts passiert – oder wie?« »Oder wie?«, wiederholt Lorenz und hebt die Augen. Sein Blick ist voller Hoffnungslosigkeit und seine Lippen zittern.
Heinrich packt ihn an den Oberarmen, zwingt ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. »Lorenz! Deswegen sind wir unterwegs – damit so etwas aufhört! Wenn es schon so weit gekommen ist, dass sie die Boten des neuen Königs angreifen, weil sie wissen, dass es ihnen an den Kragen geht, wenn der fest im Sattel sitzt – dann dürfen wir uns doch nicht einschüchtern lassen! Wir – « Schritte von draußen. Heinrich reckt den Hals, schlingt sich das Tuch um den Kopf. Lucia kommt mit dem Pfarrer zurück. Der ist auch gleichzeitig der Heiler. Jedenfalls sagt er das; so ein dicker Typ, der sich auf Kosten seiner Gemeinde durchgefressen hat. Er sieht sich misstrauisch auf dem Hof um. Bekreuzigt sich. Heinrich führt ihn in die Kammer neben der Küche, wo Ortruds Bett steht. Bei ihrem Anblick bekreuzigt sich der Priester nochmals. »Vielleicht doch gleich die Letzte Ölung?«, murmelt er. Heinrich, das Gesicht verhüllt bis zu den Augen, mustert ihn wütend. »Ihr sollt helfen, Ehrwürden, nicht sie begraben!« Der Pfarrer zuckt die Achseln. Kramt ein paar Kräuter raus. (Kräuter! Das hätte Heinrich auch gekonnt.) Gibt Anweisung, Wasser heiß zu machen, um die Wunde zu reinigen. »Wer hat das hier angerichtet?«, fragt er. »Wenn wir das wüssten! Habt Ihr irgendwelche Reiter kommen sehen in den letzten Tagen?« »Reiter? Die gehn hier aus und ein. Zwielichtiges Volk, mehr als sich für eine ehrbare Frau ziemt. Ich habe immer gesagt, das geht hier irgendwann nicht gut…« Heinrich unterbricht seinen Redefluss. »Kennt Ihr einen gewissen Landau?« Der Priester zuckt heftig zusammen und beugt sich tiefer über den Salbentopf, worin er zerstampfte Heilkräuter mit Fett
vermengt. »Ernst von Landau«, murmelt er. »Der fehlt uns gerade noch!« Heinrich rüttelt den Mann an beiden Schultern, sodass der beinahe das Töpfchen fallen lässt. »Was weißt du über ihn?« Der Priester fängt Heinrichs eisigen Blick auf und senkt die Augen rasch wieder. »Was man sich so erzählt. Er ist ein…« Er sucht nach einem Wort. »… ein unnachgiebiger Steuereintreiber. Aber woher er die Erlaubnis dazu hat, das – ja, das hat sich noch keiner getraut, ihn zu fragen. Klar?« »Ich denke schon. Dieser Ernst von Landau treibt sein Unwesen in der Gegend, richtig? Erhebt seine eigenen Steuern zusätzlich zu denen, die dem König zustehen, presst die Leute aus, zieht ihnen das letzte Hemd vom Leibe, nicht wahr?« Der Priester versorgt die Wunde. »Ich will nicht schlecht über ihn geredet haben.« Heinrich schnaubt durch die Nase. »Gibt es einen Grund, gut von ihm zu reden?« Der Priester sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Oh ja. Mein Kopf, junger Mann, den will ich behalten.« Heinrich verlässt die Kammer. –
Lucia sitzt in der Küche am Tisch, in beiden Händen eine große Tasse, und trinkt Milch. Ihr Mund und ihr Kinn sind weiß verschmiert wie bei einem Kind, aber ihre Augen, diese riesigen hellen Augen, haben den ernsten und konzentrierten Blick einer Erwachsenen. Lorenz hockt an der Wand und krault seine Hündin. »Wir müssen uns beraten«, sagt Heinrich knapp. »Die haben hier was gesucht, und das war nicht nur die Person Herrn Walthers. Sonst hätten sie ja nicht das Unterste zuoberst kehren müssen in diesem Haus.« Er macht eine Pause, merkt, dass Lorenz’ Aufmerksamkeit zurückkehrt, fährt fort:
»Nehmen wir mal an, Walther hat die Dinge, die er uns übergeben wollte, bei sich gehabt. Sozusagen hier auf dem Tisch. Na, was hätten diese Strauchdiebe wohl gemacht?« »Hätten sich das Zeug geschnappt und wären abgehauen.« »Mit Herrn Walther?« »Wozu eigentlich?« »Eben. Wozu eigentlich. Da wäre es doch logisch gewesen, ihm genauso eins über den Kopf zu geben wie der Bäuerin, oder noch einfacher, die Bude anzustecken und alle Spuren zu verwischen.« Lorenz läuft ein Schaudern über den Rücken. »Wie du von solchen Sachen redest, Wolf – man kann es mit der Angst kriegen.« »Ich versuch nur, mir vorzustellen, wie solche wie dieser Ernst von Landau denken. Junge, mach mit! Benutze deinen Kopf! Und du Lucia – kannst du uns verstehen? Kannst du folgen?« Er weiß, dass sie manchmal Schwierigkeiten hat mit der Sprache, in der sie nicht aufgewachsen ist. Aber sie nickt. »Möglichkeit zwei«, fährt Heinrich fort. »Die Dinge, die die Täter suchen, sind da, aber Vogelweide hat sie versteckt. Sagt zu denen, er weiß nicht, was sie wollen, hier gibt’s keine Papiere, keine Dokumente, nichts. Er ist nur seine Frau Liebste besuchen gekommen. Was nun?« »Tortura«, sagt Lucia so ruhig, als würde sie vom Morgengebet reden. Lorenz starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Redest du von Folter?« Ihm versagt fast die Stimme. Lucia zuckt nicht mit der Wimper. Ihr Blick ist so alt wie die Welt. »Naturalmente.« Auch Heinrich muss schlucken. »Richtig. Sie werden versuchen, herauszubekommen, ob er lügt. Sie werden ihn foltern.«
»Oder sie«, fährt das Mädchen fort. »Oder beide, und einer muss immer zugucken.« Lorenz ächzt. »Wie kommt die auf so was?« »Sie kennt sich aus«, sagt Heinrich bitter. »Sie hat mehr gesehen auf diesem Kinderkreuzzug als wir beide in unserem Leben zusammen, fürchte ich.« Er wendet sich wieder an das Mädchen. »Hast du an Frau Ortrud andere Wunden gesehen als die am Hals – Wunden, die nicht tödlich sein sollten?« Lucia zuckt die Achseln. »War nicht wichtig vorhin«, sagt sie. »Ich geh nachsehen.« Sie rutscht von der Bank, ohne sich von ihrer Milchtasse zu trennen, und geht hinüber in die Kammer, in der sich der Priester immer noch um die Verletzte zu schaffen macht. Die Jungen warten schweigend, bis sie zurückkommt und wieder auf ihren Sitz rutscht. Sie nickt. »Fuoco«, sagt sie. »Sie ist gebrannt an den Armen oben und am Bauch. Der Priester hat mir gezeigt.« Lorenz presst den Kopf seiner Hündin fest an sein Knie. Man sieht trotzdem, dass er zittert. Heinrich ballt die Fäuste, zwingt sich zur Ruhe. In seinem Kopf ist ein weißes Rauschen. Menschen! Was tun sie einander nur an in Gottes Welt?! Trotzdem. Er und Lorenz und das Mädchen hier, das schon so viel gesehen hat – sie müssen erfahren, was geschehen ist. Nur dann können sie handeln. »Das wissen wir nun also«, sagt er mit gepresster Stimme. »Spielen wir es weiter durch. Irgendwann verrät einer der beiden, wo diese Schufte das finden können, was sie suchen. Und dann?« Lucia schlürft geräuschvoll ihre Milch. Erklärt weiterhin ruhig: »Finito. Schlagen beide tot und hauen ab. Tote reden nicht.« Heinrich nickt. »Richtig. Wozu sollten sie sich mit dem Boten belasten, wenn sie die Botschaft haben? Es sei denn…«
»… es sei denn, es gab keine Botschaft. Oder keiner hat was verraten«, ergänzt Lorenz, der nun auch einsteigt. »Gütiger Gott! Mach, dass da keine Botschaft war! Weg von hier, so schnell es geht!« Heinrich fährt eisern fort: »Aber warum sollten sie Walther mitnehmen, statt ihn auch umzubringen?« »Sie wollen irgendwas von ihm«, bemerkt Lorenz und sieht vor sich hin. »Genau. Aber was?« Schweigen. Heinrich erhebt sich. »Wir müssen noch einmal die Bäuerin befragen.« Aber dazu kommt es nicht mehr. Als sie die Kammertür öffnen, spricht der Priester das De profundis. Ortrud ist tot. Die Jungen stehen wie versteinert. Lorenz atmet schwer, seine Fäuste sind geballt. Lucia geht zu ihr, schließt ihr mit einer sanften Handbewegung die Augen, streicht ihr übers Haar. »Das spürt sie nicht mehr«, sagt Lorenz mit erstickter Stimme. Das Mädchen sieht ihn groß an. »Es geschieht, sie zu ehren.« »Hier ist für mich nichts mehr zu tun«, stellt der dicke Pfaffe fest. Bevor er sich aus dem Staube machen kann, hält Heinrich ihn am Mantel fest. »Wo finden wir diesen Junker Landau?« »Was weiß ich!« Der Mann windet sich. »Ich bin ihm noch nie hinterhergeritten, um zu sehen, wo er wohnt. Wir sind alle froh, wenn er wieder weg ist.« »Wo?« Heinrichs Tonfall ist alles andere als freundlich, seine Hand wandert zum Dolch. »Ihr müsst nach Norden reisen. Zwei, drei Tagesritte, ich weiß es wirklich nicht genau. Im Namen Gottes, Ihr werdet Euch doch nicht an einem Mann der Kirche vergreifen!« Verärgert lässt Heinrich ihn los. »Nach Norden sagst du. Welchen Weg genau müssen wir nehmen?«
»Den Saumpfad am Gebirge. Kein schöner Weg, wenn Ihr mich fragt.« Der Priester rückt seinen Mantel zurecht. »Irgendwo da hinter den Bergen hat er sein Räubernest.« »Also ist er ein Raubritter?« Der Gottesmann windet sich. »Das nun wohl nicht. Er führt Aufträge aus – zum Teil für wichtige Leute. Man munkelt dies und das. Aber darüber möchte ich nicht reden. Vieles jedoch macht er auch auf eigene Faust. Wollt ihr ihn wirklich finden? Folgt einfach der Spur der Verwüstung, die er zu hinterlassen pflegt: Zerstörte Gärten, verbrannte Felder, weinende Frauen und ab und zu ein Gehenkter in den Bäumen.« Der Priester spuckt ganz unheilig aus und geht grußlos davon. »Nach Norden«, murmelt Heinrich nachdenklich. In die Berge. Der Gedanke gefällt ihm gar nicht. Der Winter kommt, sie brauchen bald ein Dach, einen warmen Ofen. Nicht noch einen Umweg mehr. Pflicht, hämmert es in seinem Kopf, Ergebenheit, Treue. Der Auftrag kann nur so erledigt werden. Das bist du Walther von der Vogelweide schuldig, auch seinem König Friedrich – und nicht zuletzt der Toten in der Kammer nebenan. Ihn schaudert. »Wolf!« Lorenz macht sich an ihn heran. »Warum gehen wir nicht fort?« »Eben wolltest du noch bleiben«, sagt Heinrich düster. Lorenz atmet tief aus. »Das Haus hier ist verflucht. Wer weiß, ob sie nicht wieder zurückkommen und…« »Red keinen Unsinn«, sagt Heinrich schroff. »Was sollten sie hier?« »Noch mal nach dem suchen, was…« »… sie vielleicht schon haben? Wenn sie nicht gemeint hätten, hier ist es nicht, wären sie nicht auf und davon. Aber vielleicht sollten wir selbst suchen. Nimm Lythande und komm. Und du auch, Lucia.« »Aber wonach suchen wir?«
»Wenn ich das wüsste!« Sie durchstreifen das verwüstete Haus und die Stallung, gucken in jeden Winkel, kehren jeden Tiegel und jeden Topf um, steigen in den Milchkeller und unters Dach. Heinrich überwindet sich, sogar das Lager, auf dem die Tote aufgebahrt ist, zu durchsuchen und bittet in einem Stoßgebet den Himmel um Verzeihung. Schließlich finden sie sich wieder in der Küche ein. Nichts. Lorenz seufzt. »Eigentlich seltsam.« »Was ist seltsam?« »Na, dass das hier alles so einfach eingerichtet ist. Du hast uns immer erzählt, dein Vogelweide wäre ein Mann aus dem Adel, zwar arm, aber vornehm. Und ein Freund des Königs. Also wenn so ein Mann sich eine Geliebte aus dem Bauernstand hält, könnte er ihr da nicht ein paar Geschenke machen, es müssen ja nicht Gold und Edelsteine sein, aber wenigstens ein paar schöne Teppiche und weiche Felle und Glasbecher und so?« Heinrich schüttelt den Kopf. »Der Meister ist nicht reich. Er hat ja nicht mal ein Stück Land, zieht von Hof zu Hof. Und ich will nicht, dass du so über die beiden redest. Ortrud war seine große Liebe – aber wie soll ein verarmter Adliger eine Bäuerin heiraten? Das ist vor der Welt unmöglich. Er würde seiner edlen Geburt verlustig gehen.« Lucia und Lorenz sehen sich an – einer der wenigen Momente, wo sie sich einig sind. Man kann es ihnen förmlich an der Nasenspitze ablesen, was sie von edler Geburt halten: nichts. Heinrich, der sich verpflichtet fühlt, dieses Liebesverhältnis zu erklären, versucht es anders: »Er hat sie besungen in vielen berühmten Liedern, die alle Welt kennt.« Er summt kurz einen Refrain. »Na?«
Lucia lacht auf. »Sotto il tiglio, la nella landa«, stimmt sie mit ihrer heiseren Stimme an. Lorenz reißt weit die Augen auf. »Die Melodie kenn ich doch! Was denn, das gibt’s auch schon in dieser Sprache?« Er sucht nach den Worten, stimmt dann ein: »Unter der Linden, auf der Heide, wo unser zweier Bette war – «, bricht ab. »Linde? Heide? Wo ist hier eigentlich eine Linde? Ich hab bisher bloß Apfelbäume gesehen.« Lucia trällert noch, hat nicht begriffen. Manchmal hat sie Schwierigkeiten mit dem Deutschen. Heinrich ist aufgestanden. »Eben haben dich die Engel geküsst, Lorenz! Das ist es!« »Was ist es?« »Dass du es wörtlich nimmst, was in dem Lied vorkommt, nicht nur als ein Bild. Das ist ein großartiger Einfall.« Der Junge errötet vor Freude. »Also los, worauf warten wir? Suchen wir eine Linde!« – Der Wald beginnt gleich hinter dem Haus. Ein Mischwald, Buchen, die schon ihre Eckern abwerfen, Lärchen, silbrige Birken. Es riecht nach Pilzen. Lythande trabt in fröhlichen Sprüngen voraus. Sie müssen nicht weit gehn, bis sie die Lichtung entdecken, die »Heide«. »Eccolo, Wolf! Il tiglio!« Ja, da steht sie, die Linde, ein mächtiger breitastiger Baum. Oben zwischen den Zweigen so etwas wie ein Baumhaus: ein schattiger, luftiger Ort für ein Liebespaar. »… wo unser beider Bette war…« Später entdecken sie im Gebüsch auch die Leiter. Aber Wolf ist mit zwei Schwüngen an dem glatten Stamm hinauf, streckt den anderen die Hand hin, hilft ihnen. Die Hündin umkreist den Baum, unruhig, weil sie nicht hinterher kann.
Ein glatt gehobelter Fußboden. Decken und Felle zusammengerollt unter einer wetterfesten Plane. Ins Holz geritzt ein Paar Buchstaben, W. und O. umschlungen von einem Kranz. Oben am Stamm eine verblasste, mit roter Farbe gemalte Rose. Der Ort scheint zu atmen, zu leben. Die Kinder sind ganz still. Dann murmelt Lorenz: »Bei der Rose man wohl mag/sehen, wo der Kopf ihr lag.« Lucia presst die Hand gegen die Lippen, in ihren Augen stehen Tränen. »Sucht«, sagt Wolf ernst und leise. »Um der Liebe Gottes willen, sucht.« Sie brauchen nicht lange, bis sie das kleine Geheimfach unter den Bohlen des Bodens entdecken. Heinrich öffnet es mit seinem Messer, wird fündig. Ein Geldbeutel. Und ein paar schmale, eng beschriebene Papierstreifen, an denen ein Siegel baumelt. Die Hälfte von Briefseiten, längsseits durchgeschnitten. »Also haben sie es nicht gefunden?«, fragt Lorenz mit leiser Stimme. Heinrich zuckt die Achseln. »Sie haben dies hier nicht gefunden. Es ist nur ein Teil vom Ganzen. Vielleicht kann uns Lythande helfen. Kommt.« Er steckt die Papiere und den Beutel in den Gürtel, rutscht den Lindenstamm herunter. »Lorenz, mach du das. Du bist ihr Herr, verstehst sie am besten. Lass sie Witterung aufnehmen und ringsum suchen – im Haus, und vor allem den Hufspuren hinterher. Ich guck mir das zunächst einmal an.« Die Hündin beschnuppert die Seiten, bevor Heinrich sie wieder an sich nimmt, sie wieselt diensteifrig auf dem Boden unterm Baum herum, scheint aber zunächst nichts zu finden. Lorenz geht mit ihr zu dem zerwühlten Boden des Hofes und Lucia folgt den beiden, während Heinrich mit gerunzelten
Brauen ins Haus schlendert, seinen Fund in der Hand. Er ertappt sich dabei, absichtlich langsam zu gehen. Fürchte ich mich vor dem, was ich darin entdecke?
Langsam klärt sich das Dunkel
Er setzt sich langsam in der Küche an den Tisch. Nebenan liegt die Tote. Sie hat ihr Leben lassen müssen, um dies Geheimnis zu bewahren. Es sind drei halbe Bögen, auf beiden Seiten lateinisch beschrieben. Der andere Teil wurde mit scharfer Schere abgetrennt. Das Teil, das er in Händen hat, gibt indessen genaue Auskünfte – vor allem das Siegel. Es ist eindeutig das Siegel der königlichen Kanzlei Friedrichs von Sizilien, der Adler. Eine Königsbotschaft also. Heinrich wird heiß und kalt, als er die schwungvolle Unterschrift des Ministers Petrus von Vinea entziffert. Der mächtigste Mann am Hof ist für diesen Brief verantwortlich. Was er weiter herausbekommt, trägt nicht gerade dazu bei, seine Sorge zu zerstreuen. Die anderen kommen hereingestürmt. »Sieh mal, was wir gefunden haben!« Lucia schwenkt in ihrer Hand eine abgewetzte Ledertasche mit abgerissenem Verschluss. Aus ihr quellen Papiere hervor, zum Teil beschmutzt und eingerissen. »Unsere Dokumente sind wieder da!« »Und das ist alles?« »Das ist alles«, bestätigt Lorenz. Er ist blass. »Lythande hat uns zu einer Stelle geführt, wo sich die Spuren der Reiter, die hier gewesen sind, mit einer anderen Fährte getroffen haben. Auch Hufabdrücke. Nicht alle Tiere unterm Reiter – das sieht man an der Tiefe des Abdrucks. Beritten waren zwei. Und dann etwas abseits das hier.« Er zeigt auf die Tasche. »Wolf, das war kein einfacher Raubüberfall, als Lucia auf den Baum geklettert ist. Die hatten es auf was Bestimmtes abgesehen bei
uns. Und als es nicht in unserer Tasche war, haben sie die weggeschmissen. Die haben mit diesen Mordbuben hier zusammengehangen.« Er atmet tief durch. »Lass uns bloß abhauen hier!« »Bald!«, sagt Heinrich. »Keine Sorge, so schnell kommen die nicht wieder. Die haben hier reinen Tisch gemacht – denken sie jedenfalls.« Er rückt auf der Bank beiseite. »Kommt jetzt. Setzt euch her, holt Luft. Wir müssen uns noch einmal beraten.« »Erst geb ich meiner Lythande eine Belohnung. Sie hat sehr gut gearbeitet.« Lorenz gießt Milch in eine kleinere Holzschüssel, legt ein Stück Käse dazu. »So, Blanchefleur, meine silberweiße Blume. Das ist für dich.« Er setzt sich aufseufzend. Heinrich streicht mit den Händen die Papierstreifen glatt. »Das, was ihr hier vor euch seht – das ist das, was deine beiden Räuber bei uns gesucht haben, Lucia. Der Tag, den wir uns verspätet haben – der hat dies hier gerettet.« »Verstehst du das?«, fragt Lucia mit gerunzelter Stirn in Richtung Lorenz, und der schüttelt den Kopf. Lythande kaut schmatzend an ihrem Käse. »Ich erklär’s euch – so wie ich es mir zusammenreime. Also dieser Ernst von Landau hat den Auftrag – von wem, ist erst einmal egal –, einen hoch wichtigen Brief abzufangen. Königspost. Der Brief – auch das weiß dieser Landau – ist ein so genannter Halbenbrief.« »Ein was?« »Ein Halbenbrief. Das bedeutet, der Absender fasst den Text so ab, dass man ihn nur verstehen kann, wenn man die beiden Hälften des auseinander geschnittenen Briefs zusammen liest. Auf diese Weise kann ein wichtiges Dokument sozusagen in zwei Teilen befördert werden. Erst der Empfänger kann den Sinn rauskriegen, wenn er beide Hälften nebeneinander legt.
Eine ziemlich sichere Methode. Also ich denke, es war so: Walther erwartet uns hier. Eine Briefhälfte liegt für uns bereit. Diese. Deshalb das Reisegeld. Die andere will er offenbar selber weiterleiten.« Heinrich schluckt. Er verschweigt den beiden, dass die gefährlichere Hälfte des Briefes offenbar für sie vorgesehen war. Die mit Siegel, Adressat und Unterschrift. »Wir verspäten uns. Also versteckt der Meister unser Stück an jenem Platz, an dem wir es nun gefunden haben. Überlässt Ortrud, es uns auszuhändigen, und will los. Klappt aber nicht mehr. Landau und seine Mannen kommen. Und sie finden die eine Briefhälfte hier bei Walther, suchen nach der zweiten. Vermuten sie bei uns.« »Also halt mal«, unterbricht Lorenz und seine Stimme überschlägt sich. »Heißt das, diese Halsabschneider da, dieser Landau – die wissen von uns? Die waren gezielt hinter uns her?« Heinrich nickt finster. »Muss ja wohl so sein – sonst hätten sie ja nicht unsere Papiere geklaut und dann festgestellt, dass es die falschen waren.« »Aber wieso denn? Wir sind doch bloß ‘n paar kleine Gaukler. Wieso bringen die uns mit so was in Verbindung? Och es ist doch, um aus der Haut zu fahren!« »Du siehst – es ist einfach so. Lass mich mal weiterreden, bevor wir uns darum einen Kopf machen. Landau nimmt also an, als er Walther hier allein mit dem halben Brief trifft, dass die Übergabe der zweiten Hälfte an uns schon erfolgt ist, und setzt zwei seiner Leute auf uns an. Die finden die Papiere und denken: Treffer. Lesen können sie ja leider nicht. Die Sache klärt sich erst auf, als Landau – oder wer auch immer belesen ist um ihn herum – das Zeug zu Gesicht bekommt. Was soll er mit ein paar Liedern?« »Was für Lieder?«, fragt Lorenz begriffsstutzig.
Über Heinrichs Gesicht huscht ein Lächeln. »Ach, diese ›Dokumente‹. Das war nichts. Ich hab mir bloß ein paar Lieder von Walther notiert. Eigentlich brauch ich das nicht, ich hab das alles im Kopf.« Er sieht, dass seine Gefährten blinzeln und schlucken, fährt ungerührt fort: »Nun erst passiert das hier auf dem Hof. Die Folter von Ortrud. Und da die beiden schweigen, bleibt denen nur eine Möglichkeit, ihren Auftrag irgendwie durchzuführen: Sie nehmen den halben Brief mit, und Walther natürlich, um bei irgendwem eine Auslöse zu erpressen. Vielleicht: Leben des Boten gegen die zweite Hälfte der Botschaft. So stell ich mir das vor.« Die drei schweigen. Dann sagt Lorenz: »Warum sprichst du’s nicht aus?« »Was? Was soll ich aussprechen?« »Für wie blöd hältst du mich? Dass dein hochedler Meister uns verpfiffen hat. Hat die auf unsere Spur gehetzt, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, so sieht’s doch aus. Von wem sollte Landau denn wissen, dass es uns gibt?« Heinrich beißt sich auf die Lippe. »Es ist möglich«, sagt er, »dass er versucht hat, Zeit zu gewinnen. Er wusste ja, dass wir das richtige Papier noch nicht haben. Hat vielleicht auf irgendeine unverhoffte Wendung gewartet…« »… und dass seine Wolfsbande dabei über die Klinge springen konnte, das war ihm so gleichgültig wie der Schnee vom vergangenen Jahr, ist es nicht so? Eine feine Sache, diese Geheimaufträge, wirklich! Wir schwimmen im Geld und haben bloß ein paar Briefchen auszutragen! Na Mahlzeit!« »Hör auf«, sagt Heinrich matt. Lucia ist dicht an ihn herangerutscht. In die Stille hinein sagt sie das, was alle drei empfinden: »Das sind sehr gefährliche Leute.« Lorenz springt auf, läuft zum Fenster, als würde er erwarten, dass die Mördertruppe gleich erneut um die Ecke biegt. »Es ist
zum Auswachsen! Was um Gottes willen steht in diesem gottverdammten Papier drin, das so viel Unheil anrichtet? Wolf, bitte, sag jetzt nicht, das ist Geheimsache! Schließlich möchte man doch wissen, wofür man seinen Hals riskiert.« Er schnieft. »Den Inhalt kann ich nicht ganz verstehen. Wie gesagt, es ist ein Halbenbrief. Aber ich kann es ahnen. Er stammt aus der Kanzlei des Königs und geht an eine Adresse in Montpellier.« »Was ist denn das nun schon wieder?« »Montpellier, das liegt in Südfrankreich. Ich hab gehört, das sind die Burgen der Ketzer«, erklärt Heinrich widerstrebend. »Was für Ketzer?« »Es gibt da ein paar Adlige, die glauben, man kann Christ sein auch ohne den Papst«, sagt Heinrich und schämt sich fast, wie sehr er die Sache vereinfacht für seine Gefährten. »Will der König die Ketzer bekriegen?« »Eben nicht.« »Eben nicht? Was soll das heißen?« »Wie es aussieht, bietet er ihnen ein Bündnis an – gegen den Papst.« »Gegen den – das gibt’s doch nicht!« Heinrich seufzt. »Natürlich darf das keiner wissen. Aber Papst und König, die sind nur nach außen wie zwei Brüder. In Wirklichkeit will die Kirche verhindern, dass König Friedrich zu mächtig wird. Über dem König steht der Papst – sagt der Papst. Über dem König steht nur Gott – sagt der König. Weil er sich vom Papst nicht vorschreiben lassen will, was er zu tun hat. Und da sind ihm geheime Bundesgenossen wie diese mächtigen Ketzer nur recht.« Lorenz stößt die Luft mit einem Zischen aus. »Das ist mir alles zu hoch. Und zu verwickelt. Und gefährlich ist es ja wohl außerdem.«
Heinrich sieht ihn an. »König Friedrich will endlich Ordnung schaffen hier im Land. Dazu braucht er Helfer, das weißt du doch.« »Ja, das hast du uns erklärt. Trotzdem: Warum ausgerechnet arme Schweine wie uns?« Lucia hat von einem zum anderen gesehen. Jetzt schlingt sie die Arme um Heinrich, flüstert ihm was ins Ohr. Er schüttelt den Kopf. »Was hat sie da zu tuscheln, die…?« Heinrich beißt sich auf die Lippen, sagt dann: »Sie hat mir vorgeschlagen, ich soll die Briefhälfte vernichten.« Lorenz schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Lythande duckt sich verunsichert. »Also da sind wir ja ausnahmsweise mal einer Meinung, deine Lucia und ich! Na klar, das ist die einzige Lösung! Mit diesem Ding rennen wir herum wie mit einer brennenden Lunte im Hintern! Los! Und dann endlich weg hier!« »Das geht nicht.« »Das geht ganz bestimmt!« Lorenz will nach dem Dokument greifen, aber Heinrich bringt es mit einer raschen Bewegung aus seiner Reichweite. »Finger weg!« »Lucia, hilf mir! Wir nehmen es ihm ab, zerreißen es in tausend Fetzen und Ruhe ist!« Das Mädchen sieht von einem zum anderen, bemüht, alles richtig zu verstehen. Heinrich schiebt sie weg, steht auf, die Papiere in der einen Hand, die andere am Dolch, entschlossen. »Was ist?«, sagt Lorenz mit glühenden Augen. »Willst du jetzt auf uns losgehen wegen diesem Fetzen Papier – auf deine Kumpane und Freunde? Wir spielen nicht mehr mit, Herr Hochnäsig! Du – du willst uns doch beschützen, nicht wahr? Jedenfalls spielst du dich immer so auf! Stattdessen stürzt du uns kopfüber in Gefahr! Wer bist du denn schon! Ein ausgerissener Klosterschüler!« Die Jungen stehen sich
gegenüber, schwer atmend. Lucia bedeckt die Augen mit den Händen. Will nichts sehen, nichts hören von diesem Streit, den sie nur halb begreift. Heinrich zwingt sich zur Ruhe. »Ich will nicht zornig werden«, sagt er mit gesenktem Kopf, »und ich hab auch gar kein Recht dazu. Es stimmt – wer bin ich schließlich. Und dass ich euch mit diesem Auftrag in Gefahr bringe – ja, auch das stimmt. Wenn ihr euch einig seid, Lucia und du, Lorenz, dann zieht auf eigene Faust weiter. Wir teilen das Reisegeld auf, ihr zwei Drittel, ich eins. Dann habt ihr was für den Anfang. Ihr schafft das schon. Habt ja auch Lythande, die ist sehr hilfreich. Könnt wieder Theater spielen oder auf dem Markt Kunststücke vorführen. Bloß ich – ich kann das nicht. Das müsst ihr verstehen. Da drüben liegt eine tote Frau. Hat sich lieber umbringen lassen, als ihren Liebsten zu verraten und den Auftrag, den er hat. Ich muss meinen Meister finden und versuchen, ihm zu helfen. Nicht nur für König und Reich. Der Auftrag ist wichtig, aber hier geht es um mehr. Hier nebenan liegt Frau Ortrud, die so verschwiegen war wie der Vogel in Walthers Lied. Erinnert ihr euch an die letzten Zeilen? ›Und ein klein Waldvögelein/das mag wohl verschwiegen sein‹. Vielleicht begreift ihr, was ich meine.« Sie gucken sich nicht an, sehen in irgendwelche Ecken. »Also dann – «, sagt Heinrich müde. Lucia schwingt die Beine über die Bank, kommt auf ihn zu, stellt sich neben ihn, fasst seine Hand. »Du willst mit mir gehen?« Das Mädchen nickt. »Ach – und ich stehe mal wieder da und bin der Böse, oder was?« Lorenz’ Stimme schwankt. »Und darf mich allein mit meiner Hündin durchschlagen. Und vielleicht verpetzt dann als Nächstes jemand – Folter oder nicht – wer ich bin und dass ich zu euch gehört habe, und es geht mir an den Kragen. Also nee, ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt.«
»Uns hat ja keiner von der Landautruppe gesehen«, sagt Heinrich ruhig. »Wir zwei waren im Klostergarten und Lucia auf dem Baum. Da besteht wohl wenig Gefahr.« Lorenz beugt sich zu der Hündin herunter, krault ihr Fell. »Die wollen uns hier los sein, Lythande, meine weiße Blume«, murmelt er. »Das ist nicht wahr. Gott ist mein Zeuge, dass es nicht wahr ist. Du machst mir zwar manchmal das Leben schwer, ja. Du bist leichtsinnig und unüberlegt und außerdem geht mir dein Genörgel an Lucia auf den Geist und deine ständigen Maulereien.« »Noch was?« »Ja. Du bist mein Freund.« Lorenz wirft sich das Haar aus dem Gesicht, grinst zaghaft. »Hast mich mal wieder rumgekriegt. Also dann. Was machen wir?« »Ganz einfach. Wir finden Herrn Walther.« »Und wie?« »Indem wir diesen Ernst von Landau finden.« »Worauf warten wir?«, sagt Lucia. »Avanti!«
Statt nach Süden nach Norden
Bei Ortruds Beerdigung, bei der Übergabe ihres Viehs an die Dorfgemeinde kommen sie mit den Leuten ins Gespräch. Die meisten haben die Tote gemocht, sie war stets freundlich und sehr freigebig. Die Bauern erzählen davon, dass sie erst vor kurzem einen ganzen Trupp verirrter Kinder gespeist hat und ihnen so viel wollene Sachen gegeben hat, als sie nur weggeben konnte. Lucia hebt den Kopf. Sie erinnert Heinrich in diesem Augenblick an ein Tier, das Beute wittert. »Kinder?«, fragt sie. »Was für Kinder?« Ihre großen Augen gehen fragend von einem zum anderen. Eine alte Frau seufzt. »Kinder, nicht älter als du, Kleine«, sagt sie und streicht dem Mädchen über den Kopf. »Jungen und Mädchen. Es heißt, sie haben einen Kreuzzug hinter sich. Alle hier haben Mitleid mit ihnen. Aber was können wir groß machen? Wir sind selber arm. Wenn solche wie dieser Landau herumziehen und uns das letzte Hemd wegnehmen – da bleibt nicht viel übrig für milde Gaben. Gott, was sind das für Zeiten, wo eine gottesfürchtige Bäuerin überfallen und erschlagen wird wie ein Stück Vieh. Und der schöne Hof, geht der nun wohl an die Kirche?« Lucia hört nicht zu. Sie scheint verändert. »Immer noch!«, murmelt sie. »Immer noch gibt es welche… Es wird Winter! Kinder, Wolf!« Sie beißt sich auf die Lippen. Sagt entschieden: »Wir müssen etwas tun für diese Kinder.« »Jetzt reden wir erst mal mit diesen Bauern«, erwidert Heinrich bestimmt. »Dann über die Kinder. Klar?« Er sieht in ihren dunklen Augen Schmerz und Entschlossenheit. Die
Vergangenheit scheint Lucia einmal wieder eingeholt zu haben, die furchtbare Zeit des Umherirrens mit diesen verlorenen Kindern, die Todesangst, der sie ausgesetzt waren, der »Oger«, jener rücksichtslose Sklavenhändler, der sie, Lucia, damals in seine Gewalt brachte. »Lucia!«, mahnt Heinrich leise. Das Mädchen seufzt, als erwache es aus einem Albtraum. Heinrich wendet sich an die Leute. »Kommt man in diese Burg des Junkers Landau hinein?« Sie sehen sich an, nicken. »Er veranstaltet einen Markt. Den einzigen weit und breit. Da ist jeder willkommen. Aber er nimmt Wucherpreise von den Händlern, und Zoll und Zinsen außerdem. Wir gehen da nicht hin. Sollen wir ihm noch freiwillig liefern, was er sich sonst mit Gewalt holen kommt? Keiner von uns betritt den Burghof dieses Mannes.« Sie können im Ort Reittiere kaufen, drei genügsame Mulis. Aber Lucia ist nicht bei der Sache. Als sie den Ort verlassen, weicht sie Heinrich nicht von der Seite. »Die Kinder, Wolf! Wir müssen helfen!« »Lucia!« Er bemüht sich, ruhig und überzeugend zu klingen. »Es kann schon sein, dass auch hier noch Jungen und Mädchen von diesem gescheiterten Kinderkreuzzug herumirren, an dem du teilgenommen hast. Und sicher sind sie übel dran. Aber du hast doch gehört. Die Leute hier haben Mitleid. Es gibt niemanden, der diese Kinder verfolgt. Es ist nicht so, wie es mit dir und den anderen geschehen ist, da weiter im Süden.« Er macht eine Pause, spricht es dann aus: »Es gibt keinen Oger mehr. Du weißt das.« Lucia ballt die Fäuste. Ihre Augen flammen. »Si, e vero. Weil ihr ihn damals gejagt habt. Weil ihr mich befreit habt und die anderen dazu. Das war jener Oger. Un altro e possibile. Es kann einen neuen geben. Jeder kann Oger sein, wenn die Kinder allein umherirren. Sie sind – wie heißt es? – preda facile. Leichte Beute für Verbrecher.«
»Hast du Angst? Wir sind bei dir.« »Angst? Nein. Angst ist vorbei. Sono furiosa. Ich bin zornig.« Heinrich nickt. »Das hört sich gut an. Wir haben jetzt eine andere Aufgabe. Das weißt du doch. Wir müssen den Mörder Ortruds finden.« Lucia sieht an ihm vorbei. »Vielleicht ist Landau jetzt Oger«, sagt leise. »Wir besiegen Oger, wir besiegen Landau. Und dann weiter.« »Kommt ihr endlich«, ruft Lorenz, »oder soll ich mich allein mit den Mulis abquälen?« Lucia macht eine Handbewegung, als wische sie einen Schatten fort. –
Sie sitzen bei ihrem Abendessen, Dickmilch und Schwarzbrot, und die Stimmung ist gedrückt. Die Tote ist ja erst kurze Zeit aus dem Haus, und ihre eigenen Pläne machen ihnen Bauchschmerzen. »Vielleicht lebt dein Meister ja gar nicht mehr, Wolf«, murmelt Lorenz. Es klingt wie eine Hoffnung. »Hätte Landau ihn umbringen wollen, hätte er’s an Ort und Stelle tun können. Red keinen Quatsch. Er wollte ihn lebend.« Lorenz seufzt. Heinrich schiebt die leere Schüssel beiseite. »Kommt, lasst uns die Mulis zurechtmachen. Wir haben Mond. Es geht los. Wir wissen nicht, was dieser Landau vorhat. Auf jeden Fall sollten wir keine Zeit mehr verlieren.« Sie verlassen das stille Haus, den verwüsteten Hof. Am Waldsaum halten sie noch einmal kurz an, sehen zurück. »Unter Linden, auf der Heide…«, murmelt Lorenz. Heinrich bekreuzigt sich, und die beiden folgen seinem Beispiel. »Betet für die Seele der Frau Ortrud.«
Sie sprechen ein Vaterunser, ohne abzusitzen von ihren Tieren. »Vielleicht ist das einfacher, als wir denken«, überlegt Lorenz. »Ich meine: Wenn dieser Landau deinen Meister sozusagen als Geisel hat, dann muss er sich ja irgendwann bei irgendwem melden. Sonst ist so ‘ne Geisel ja nutzlos.« »Manchmal hast du wirklich Einfälle, Hübscher.« »Sotto il tiglio, la nella landa…« Lucia flüstert Walthers Lied in ihrer Sprache. Die freundlichen Worte klingen fast drohend.
Die Hündin wieselt vor ihnen her, sie hören sie schnüffeln und in vorjährigem und frischem Laub stöbern. Sehen können sie sie nicht, denn der Mond steht zwar hoch über den Baumwipfeln, doch hier unten zwischen den Stämmen ist es stockfinster. Nachdem die Maultiere mehrfach fehlgetreten sind, hat Heinrich absitzen lassen, weil er fürchtet, sie könnten sich verletzen. Sie stolpern über Wurzeln und Äste und zerren die lustlosen Packtiere hinter sich her. Lucia schlägt sich bei wiederholten Stürzen die Knie blutig. »Komm schon, steh auf!«, sagt Heinrich, aber sie weist die angebotene Hand zurück. Zornig. Entschlossen, allein zurechtzukommen. In dem Augenblick lässt die Hündin ein schrilles Kläffen vernehmen, Blätter und Zweige stieben beiseite – Lythande ist weg. Kurz darauf können sie in erheblicher Entfernung ihr hysterisches Bellen hören: das so genannte Geläut, das Hunde beim Jagen von sich geben. Heinrich lässt sich neben Lucia auf den Waldboden fallen. »Sieht so aus, als ob Lythande sich erst mal um den Rehbraten kümmern würde.« »Wer wollte denn mitten in der Nacht aufbrechen?«, stößt Lorenz wütend hervor. »Das war doch deine blöde Idee!«
»Ach, bei Tage haut sie wohl nicht ab, um zu jagen?«, fragt Heinrich scharf. »Und was jetzt?«, fragt Lucia. Heinrich steht auf und löst das Bündel mit Decken und Umhängen vom Rücken seines Maultiers. »Wir warten, dass Lythande zurückkommt. – Hier, wickel dich ein.« Seufzend rollt sich Lucia in die Decke. Aber sie widerspricht nicht. »Blödsinn das alles!«, knurrt Lorenz. »Hätten wir bloß bis zum Morgen gewartet! Im Oktober draußen schlafen, na fein!« »Mir wär es wirklich lieb, wenn du einmal etwas machen würdest, ohne herumzujammern. Es ist deine Hündin, oder?« Sie sind gereizt und ungeduldig. »Besser so, im Wald«, flüstert Lucia. »Kinder vom Kreuzzug schlafen sicher auch im Wald.« – Gegen Morgen, noch im Dunkeln, kommt Lythande zurück. Pfoten, Bauch und Schnauze sind dreckverschmiert. Sie ist erschöpft und hungrig. Die Jagd war wohl kein Erfolg. Die Reisenden bibbern unter ihren Wolldecken. Es gab Nachtfrost. Im ersten Tageslicht scheucht Heinrich die Gefährten hoch. Es ist neblig, die Bäume stehen wie große Gespenster im Dunst. »Auf, Leute, los, bewegt euch! Ein Husten ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Lasst uns weiterziehen!« »Wollten wir nicht in den Süden, wo’s warm ist?«, mault Lorenz. »Stattdessen gehen wir nach Norden. Und auch noch auf die Berge zu!« Heinrich erwidert gar nichts. Der Weg nach Norden führt ins Mittelgebirge. Dort, wo Landaus Burg sein soll. Kein guter Weg – und zu dieser Jahreszeit noch schlimmer.
Brandstelle
»Wo hier Gebirge sein sollen, das möchte ich wirklich mal wissen!«, mault Lorenz. »Hier ist doch alles so flach wie eine ausgestreckte Hand!« »Ich werd ja wohl noch wissen, in welche Himmelsrichtung wir reisen müssen!«, gibt Heinrich übellaunig zurück. »Wenn wir nichts sehen, liegt es an diesem Nebel. Passt auf, irgendwann stehen wir vor einer Bergwand.« Lorenz flucht. »Irgendwann, nämlich gleich, stehen wir vor was ganz anderem! Riechst du es nicht?« Er zieht die Zügel seines Maultiers an und gleich danach auch Lucia. Heinrich zieht die Luft tief ein. Es stimmt. Der undurchdringliche Nebel hat sozusagen einen anderen Beigeschmack bekommen. Es riecht nach Rauch. Nach kaltem Rauch. »Ist kein Herdfeuer«, sagt Lucia bestimmt. »Fuoco. Großer Brand war.« Ihre Blicke gehen zwischen den Jungen hin und her. »Was nun? Weiter?« »Weiter«, knurrt Heinrich und treibt sein Reittier an. »Du hast Nerven! Warum nehmen wir keinen Umweg? Wenn es da irgendwo gebrannt hat, dann haben vielleicht irgendwelche – na, sagen wir mal – unfreundliche Menschen gekokelt. Warum bist du so wild auf Schwierigkeiten, Wolf?« »Ich bin genauso wenig wild auf Schwierigkeiten wie du«, erwidert Heinrich. »Aber kann ja sein, dass es da jemanden gibt, dem man helfen muss.« Er reitet schneller. Die Gefährten folgen. Bald müssen sie husten vom Rauch. Beißender Brandgeruch sticht in der Nase.
Da! Hinter einer entlaubten Ulmengruppe sehen sie die verkohlten Balken eines Dachstuhls. »Wartet hier!«, kommandiert Heinrich. »Ich seh mir das an. Wenn wirklich eine Gefahr da ist, kehre ich sofort um, und ihr nehmt die Beine in die Hand.« Sein Maultier schnaubt und scheut, will da nicht hin. Heinrich sitzt ab. Vorsichtig, geduckt bewegt er sich im Straßengraben vorwärts, das kalte Wasser dringt ihm durch die Schuhe. Aber da vorn ist wohl keiner. Der Brand ist vorüber, wenngleich die letzten Scheite noch immer knacken und knistern. Er zieht sich sein Tuch fest vor Mund und Nase. Das war wohl ein Wirtshaus gewesen, nichts Großartiges, nur so eine kleine Schänke, wo Reisende eine kurze Zwischenrast machen können auf einen Trunk und ein Maul voll Futter für ihre Pferde. Manchmal verdienen sich Bauern oder Handwerker ein paar Pfennige dazu, indem sie in so einer Kate am Wegesrand ihren Käse oder ihre Sauermilch verkaufen. Nun, alles ist heruntergebrannt bis auf die Grundmauern. Sollen sie sich hier aufhalten? Sie müssen weiter. Heinrich klettert aus dem Graben heraus, winkt den Gefährten. Hier besteht keine Gefahr. Wer hier am Werk war – wenn es denn Brandstiftung gewesen ist und nicht ein Funke aus dem Herd –, der ist längst über alle Berge. Lucia und Lorenz kommen langsam näher, führen Heinrichs Tier am Zügel mit. Lythande muss niesen von dem beißenden Gestank. »Puh!«, sagt Lorenz beeindruckt. »Sieht nicht so aus, als wenn sich hier jemand großartig mit Löschen und Retten abgegeben hätte.« Er hat Recht. Nirgendwo im Umkreis steht irgendwelches Gerät, das man aus den Flammen geholt hat, und der Brand hat sich ungestört so weit ausgedehnt, dass er die Grasnarbe rund
um das Häuschen noch ein großes Stück weit mit zerstört hat, bevor er im feuchten Gras erlosch. Kopfschüttelnd stochert Lorenz mit einem Stock in der heißen Asche. »Hoffentlich konnten sich die Bewohner in Sicherheit bringen. Zu finden gibt’s hier nichts mehr.« »Was hier wohl geschehen ist?« »Das werden wir nicht mehr erfahren, wir – « »Frag doch sie!« Lucia zeigt mit dem Finger hinter einen versengten Busch. Lorenz kann einen Aufschrei nicht unterdrücken. Dort hockt, in ein Umschlagetuch gewickelt, eine Gestalt. Erhebt sich nun langsam, kommt auf die Gruppe zu. Eine Frau, groß, hager, bestäubt mit Asche. Auch Heinrich ist im ersten Schreck einen Schritt zurückgetreten. Nur Lucia steht ruhig, sieht fast neugierig auf diese Frau, auf dies völlig niedergebrannte Haus. Wieder einmal wird es Heinrich bewusst, was dies Kind alles schon erlebt und durchgemacht hat auf seiner Wanderung. Es kann so schnell nichts erschrecken. Die Person im Umschlagetuch ist stehen geblieben. Ihre Augen streifen gleichsam gelangweilt über die jungen Menschen hin. »Was wollt ihr?«, sagt sie mit tonloser Stimme. »Plündern? Alles ist fort.« Sie muss husten, krümmt sich. »Wir sind zufällig hier entlanggekommen«, sagt Heinrich mit Unbehagen, »und da war auf einmal der Rauch. Wir wollten helfen, wenn es möglich ist – nach dem Rechten sehen.« »Nach dem Rechten sehen?« Die Frau lacht bitter auf. »Was soll da Recht sein?« »Was ist hier geschehen?« Sie zuckt die Achseln. »Das Übliche. Wie heißt es doch: Wer mit dem Teufel frühstückt, muss einen langen Löffel haben.« Sie hustet wieder. »Habt ihr vielleicht einen Schluck Wasser? Nicht das faulige aus dem Graben. Frisches.«
Lucia beeilt sich, nestelt den ledernen Wasserschlauch vom Sattel, gibt ihn der Frau. Die trinkt in langen Zügen. Die drei umstehen sie, verlegen und geängstigt, warten, dass sie ihren Durst gestillt hat. Dann fragt Heinrich schließlich in die Stille hinein: »War dies Euer Haus?« »Haus – nun ja, es war eher eine Hütte. Eine kleine Schänke für Wanderer und Kaufleute, wenn sie unterwegs sind. Ihr müsst wissen, hier wird auf einer Burg in der Nähe Markt abgehalten. Da ist das ein ganz gutes Geschäft. Ich meine, es war eins.« Wieder lacht sie auf, krächzt, hustet. »Ihr meint die Burg des Herrn von Landau?«, fragt Heinrich. »Ihr kennt den?«, fragt sie, und ihre Augen, die wie erloschen wirkten, flammen plötzlich auf. Heinrich schüttelt den Kopf. »Bisher kennen wir nur seine Taten.« »So? Nun, da habt ihr jetzt eine mehr kennen gelernt.« Sie wendet das Gesicht ab. »Landau hat das hier getan?« »Ach, nicht doch. Nicht er selber. Mit so etwas macht er sich nicht die Finger schmutzig. Seine Leute.« Wieder quält sie ein keuchender Hustenanfall. »Der Rauch…« Lucia gibt ihr noch einmal zu trinken. Lorenz springt herzu und stützt sie, hilft ihr, sich zu setzen. Sie bedankt sich matt. »Wollt Ihr nicht erzählen?«, fragt Heinrich ernst. Ihm ist, als liege dieser Landau wie ein dunkler Schatten über der Landschaft, als wäre er so etwas wie dieser Nebel, der sich mischt mit dem beißenden Qualm seiner Verbrechen. »Ach«, sagt sie matt, »was gibt es da groß zu erzählen. Ich bin eine Witwe aus dem Dorf da hinten, mein Mann, der Schreiner, hatte mir ein paar Taler hinterlassen, und ich bildete mir ein, daraus könnte ich was machen. Ließ mir eine Hütte hier an der Straße bauen und begann, Käse, Dünnbier und Brot
an Reisende zu verkaufen. Auch Hafer für die Tiere hatte ich. Es ging ganz gut. Aber dann kamen Landaus Männer und forderten. Sie sagten, wenn ich meinen Gewinn mache von den Leuten, die zum Markt des Herrn ziehen, dann müsste ich ihnen auch davon abgeben. Ich fand, dass das nicht gerecht ist. Aber nach Gerechtigkeit geht es ja wohl nicht auf dieser Welt. Der Teufel macht das Spiel, nicht unser Herrgott. Sie überzeugten mich dann ganz schnell.« Wieder lacht sie bitter auf. »Als sie mir das erste Mal meine Krüge zerschlagen hatten, war ich bereit, ihnen zu geben, was sie wollten. Aber das war ihnen nicht genug. Jedes Mal, wenn sie kamen, wollten sie mehr haben. Und irgendwann wusste ich: So ging es nicht weiter. Sie würden mich ausrauben bis aufs Hemd. Da schaffte ich mir zwei große Hunde an, Hütehunde, nicht so ein sanftes Tierchen, wie eures da, und jagte sie vom Tor fort, als sie wiederkamen. Meine Gäste jubelten und klatschten mir Beifall. Und ich dachte, ich Närrin, ich hätte es geschafft. Zwei Tage später lagen meine Hunde erschlagen vor meiner Tür. Da bekamen die Gäste Angst und machten einen großen Bogen um meine Schänke. Sie kamen nicht wieder. Aber wer wiederkam, das waren die Landau-Leute, und sie forderten weiter.« Sie sieht vor sich hin, trinkt noch einmal Wasser. Als sie merkt, mit welch ängstlichem Mitleid die Blicke der drei auf sie gerichtet sind, lächelt sie, fast entschuldigend. »Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte. Und eigentlich war sie vorauszusehen. Als sie mitgekriegt hatten, dass kaum mehr ein Heller in meiner Kasse war, trieben sie mir die Ziegen weg und stahlen das Brotkorn. Falls sich wirklich noch ein Reisender zu mir verirrte – ich hatte nichts mehr, womit ich ihn bewirten konnte, denn Käse und Brot konnte ich nun nicht mehr selbst machen.« Sie hebt die Arme, ihre Hände zittern. »Ich hab schon länger nichts mehr gegessen«, sagt sie ruhig.
Lucia steht auf und entfernt sich leise, geht über die reifbedeckte Wiese auf das Gebüsch zu. Die Jungen beachten es nicht, hängen an den Lippen der Frau. Sie fährt fort: »Dann war mir alles eins. Heute ganz in der Frühe kamen sie wieder. Da sagte ich: ›Es ist aus. Ihr habt es geschafft. Ich gebe auf und ziehe fort von hier. Mich plündert ihr nicht mehr aus.‹ Sie aber lachten. ›Gut, gib auf. Du bringst uns sowieso nichts mehr ein. Und der Nächste, der sich hier ansiedeln will und die Gäste ausnehmen, der soll von vorn anfangen. Aber damit er von Anfang an weiß, was ihn erwartet, machen wir hier reinen Tisch.‹« Sie schluckt. »Dann haben sie Feuer gelegt«, sagt sie. »Es war ganz… ganz sinnlos. Es war reine teuflische Bosheit. Zwei haben mich festgehalten, damit ich nichts aus den Flammen rette. Und damit ich zusehe, wie es abbrennt. Ich wäre sowieso nicht fortgegangen. Wohin auch? Mein Häuschen im Dorf habe ich verkauft, um das hier…« Sie bricht ab, starrt vor sich hin. »So, nun wisst ihr’s. Macht nicht so entsetzte Gesichter. Das ist der Lauf der Welt.« Heinrich drückt die geballten Fäuste gegen seine Brust. Ihm ist, als würde sein Herz davonfliegen. Lorenz hat die Hand über die Augen gelegt. Es ist still. Dann sagt Heinrich mit gepresster Stimme: »Mord und Totschlag, Erpressung und Brandstiftung, ja. Das ist die Welt des Herrn von Landau. Aber glaub mir, Frau, Gottes Welt soll nicht so sein. Und dass sie anders wird – dazu kann man manchmal etwas tun. Wir sind hier also auf dem richtigen Weg.« »Was meint ihr damit?«, fragt sie dumpf. »Auf dem Weg zur Burg dieses Landau.« »Auf dem Weg seid ihr. Aber wenn ich euch raten darf – macht lieber einen Bogen darum.«
Lucia kommt zurück. Sie hat die Schürze voller Pilze, Braunhauben und Grünlinge, und ein paar Kräuter. »Wir machen ein Essen«, sagt sie sachlich. »Genug Holz ist da, was noch bisschen brennt. Du musst essen, Frau.« Die Frau sieht sie erstaunt an. »Kennst du dich aus mit Pilzen? Nichts Giftiges?« Das Kind lächelt. »Bestimmt nicht. Ich weiß. Komm, Lorenz. Helfen.« »Woher kennt sie sich aus? Sie ist noch klein.« »Sie musste überleben«, sagt Heinrich. »Ihr werdet es auch müssen.« Er legt der Frau einen Augenblick die Hand auf die Schulter. Sie sieht erstaunt auf zu seinem verhüllten Gesicht. »Willst du mich trösten, Fremder?« »Gott allein wird Euch trösten«, erwidert Heinrich ernst. »Aber vielleicht schickt er Euch Freunde.« Er lächelt. »Mir hat er auch welche geschickt.« – Schließlich sitzen sie um das duftende Pilzgericht; Lorenz hat Brot aus ihrem kleinen Vorrat spendiert. Sie tunken das Brot in die Pfanne und essen schweigend zwischen den rauchenden Resten der kleinen Schänke. Und dann stellt Lucia die Frage, ihre Frage: »Kinder? Waren da irgendwann Kinder?« Die Frau sieht sie fragend an. »Was meinst du?« Heinrich kommt ihr zu Hilfe. »Kinder ohne Eltern, die durch die Gegend ziehen. Habt Ihr davon etwas gesehen oder gehört?« »Gesehen hab ich sie nicht, nein. Aber die Leute redeten. Kinder ohne Eltern, ja. Sie sollen in Richtung auf das Gebirge zu gezogen sein, obwohl es da noch weniger zu beißen gibt als hier. Vielleicht hoffen sie auf Wild…« Lucia ist zapplig, sieht bittend zu Heinrich hinüber. »Wir brechen bald auf, Wolf, ja?« Lorenz verdreht die Augen. »Himmel, geht das jetzt wieder los? Diese Kinder…«
»Halt den Mund.« Das ist der Ton, bei dem Lorenz verstummt. »Ja, wir brechen auf. Richtung Gebirge. Wohin sonst.« Er zögert, wirft der Frau einen Blick zu. »Können wir Euch helfen – Euch irgendwohin bringen?« Sie schüttelt den Kopf, erhebt sich, hüllt sich fester in ihr Tuch. »Ich gehe zurück in mein Dorf. Noch hab ich ja kräftige Hände und man kennt mich. Werd hoffentlich ein Unterkommen finden.« Sie seufzt. »Solche wie ihr – die findet man nicht oft. Ihr habt mir gut getan – obwohl ich zuerst dachte, ihr seid nichts als Vagabunden.« Lorenz lächelt sie an, zeigt seine hübschen Zähne. »Aber wir sind Vagabunden!«, sagt er. Zuckt die Achseln. »Glaubt mir – es gibt Schlimmeres.« Als sie die Maultiere wieder fertig machen, fragt er mit gedämpfter Stimme: »Nach dem hier eben – da gehn wir wirklich weiter zu diesem Landau?« »Nach dem hier eben erst recht!«, erwidert Heinrich bestimmt. »Selbst wenn er meinen Meister nicht entführt hätte – so etwas darf nicht ungestraft herumlaufen.« Lorenz stöhnt. »Und du bist der Rächer, ja? Wolf, du wirst die Welt nicht retten!« »Bestimmt nicht.« Heinrich beißt sich auf die Lippen. »Aber manchmal kann man verhindern, dass sie noch schlechter wird.« »Wenn’s nicht auf unsere Knochen geht – ja, ja, ich sag ja schon nichts mehr.« »Kommt ihr endlich!?« Lucia ist schon im Sattel. Lythande bellt fröhlich. Die Frau steht am Wegesrand und sieht ihnen nach. In verschwimmenden Umrissen sehen sie die ersten Berge am Horizont.
Ein geharnischter Reiter
Der Nebel wird dichter, je weiter sie ins Gebirge kommen. Er steigt dampfend auf und schluckt die Umrisse der Fichten, die sich am Hang festklammern. Manchmal bewegt sich etwas im wallenden Dunst – ein wildes Tier? Lythande hebt die Vorderpfote und wittert mit gesträubtem Nackenfell. Der Saumpfad ist überwuchert. Steine bröckeln unter den Hufen der Maultiere und rollen bergabwärts, aber kein Aufprall ist zu hören. Der Nebel schluckt alle Geräusche. »Ist unheimlich hier«, sagt Lucia. Ihre Stimme klingt klein und verloren. »Der Nebel wird sich bald lichten!«, verspricht Heinrich. Aber er glaubt selbst nicht recht daran. Die Baumstämme haben dichte Bärte aus Moos, Feuchtigkeit tropft von den Zweigen auf die Kapuzen der Reisenden herab. Sie sind wie verloren in diesem Gebirge. Ist das überhaupt noch der richtige Weg? Keiner da, den man fragen kann. Irgendwo das durchdringende Pfeifen eines Lämmergeiers. Wartet der schon auf die Knochen ihrer Mulis, wenn sie einen Fehltritt tun? Sie hören den heranrasenden Hufschlag viel zu spät. »Ist da einer verrückt geworden?« Heinrich reitet als Erster. Er zieht die Zügel seines Tiers an. Aber da ist kein Ausweichen. Wie der Wirbel eines Sturms sind das fremde Ross und sein Reiter heran. Der Bergpfad ist viel zu schmal, als dass jemand überhaupt vorbeikönnte. Und schon gar nicht in diesem Tempo. Mensch und Tier schreien. Ein Pferd prescht in gestrecktem Galopp um die Biegung, prallt auf Heinrichs Muli. Der fremde Reiter wird aus dem Sattel geschleudert und landet
eisenscheppernd zwischen Lorenz und Lucia. Sein Pferd überschlägt sich, scheint plötzlich tausend Beine zu haben, um zu verhindern, dass es abstürzt in die Schlucht. Heinrich liegt unter dem Maultier begraben und stöhnt. Und Lucia kreischt noch immer, bis sie plötzlich verstummt. Lorenz findet als Erster die Sprache wieder. Schreit den Gestürzten an: »Bist du noch zu retten, Kerl? Das ist ein Verbrechen, wie du reitest!« »Was erlaubst du dir, so mit einem Kurier des Junkers von Landau zu reden!«, tönt es hohl aus der Rüstung hervor. Die Stimme klingt schmerzverzerrt. Inzwischen entwirrt sich der Knäuel von Mensch und Tier. Das Pferd steht zitternd und Heinrichs Maultier erhebt sich, stöhnt, schwankt auf drei Beinen. Mühsam versucht der fremde Reiter sich aufzurichten. So eine Rüstung ist schwer. Heinrichs Dolch blitzt. »Ein Kurier Landaus, ha! Genau das, was wir brauchen!« »Oger!« Auf einmal ist Lucia heran. »Mori, Oger, mori, mori!« Sie stürzt sich auf den Reiter in der Rüstung, sodass der das Gleichgewicht verliert und erneut umkippt. Heinrich nimmt sie bei der Schulter. »Hör auf, Lucia, beruhige dich! Hast du nicht verstanden? Er ist nur ein Kurier, ein Diener. Und er kann sich nicht bewegen.« Tatsächlich hat sich die Rüstung bei dem Sturz verbogen, der Mann ist eingeklemmt. Vielleicht hat ihm das das Leben gerettet, denn er ist mit dem Brustkorb auf einen Stein geprallt. Eine tiefe Delle im Panzer, und die Beinschienen rechts sind so ineinander verhakt, dass der Reiter das Bein von sich gestreckt halten muss. Eine ziemlich hilflose Haltung alles in allem. Seine hochtrabenden Worte sind nur heiße Luft. Heinrich steckt den Dolch weg, er ist nicht von Nöten. »Dann wollen wir doch mal schauen, was der Kurier so mitbringt.« »Untersteh dich«, tönt es aus dem Helm hervor.
Lorenz ist dem Pferd nachgeritten, hat es angelockt und eingefangen und bringt es nun zu Heinrich. »Es ist unverletzt – ein schönes Tier.« »Na, im Moment interessiert mich der Inhalt der Satteltaschen mehr.« Heinrich lächelt finster. Lythande, die erst zurückgewichen war, kommt neugierig näher und beschnuppert Helm und Harnisch. »Nimm das Scheusal weg!«, ächzt der Reiter. »Und lasst meine Taschen in Ruhe!« Lorenz zuckt mit den Achseln. Heinrich kramt ungerührt weiter. »Na also!« Er entrollt ein Pergament und beginnt zu lesen. Angespannt starren Lorenz und Lucia auf Heinrichs Lippen, die sich stumm bewegen. »Ich verbiete euch…«, tönt es aus dem Helm. »Halt den Mund.« »Komm schon Wolf, was steht da drin?«, drängt Lorenz. Heinrich scheint gar nicht hinzuhören. Er pfeift leise durch die Zähne. Wendet sich wieder dem Reiter zu, der noch immer am Boden sitzt und stöhnt. »Ich brauche hierzu noch ein paar Ergänzungen. Gibst du mir die – oder willst du dich da unten wieder finden?« Er deutet den Steilhang hinab. Keine Antwort. Heinrich unterdrückt den Wunsch, der Rüstung einen Tritt zu versetzen. »Der Brief hat keine Adresse. Eine Sicherheitsmaßnahme vermutlich. Einzig und allein du kennst den Empfänger, ist es nicht so? Du sollst aussehen wie Ernst von Landaus ›bester Mann‹. Deshalb hat er dich in diese Rüstung gesteckt. Nicht gerade bequem für Ausritte, nicht wahr? Äußerst unpraktisch. Tja, und jetzt ist dir das Teil zum Verhängnis geworden.« Der Mann unterm Helm atmet schwer. »Bringt mich… doch um… wenn ihr wollt«, keucht er. »Ihr seid bloß Pack… nicht besser… als die alle.«
»Als wer?« »Ich rede nicht mit euch. Ihr seid Wegelagerer.« »Ach. Wer ist denn mit seinem Gaul hier entlanggetobt wie von allen guten Geistern verlassen?« Lorenz will auf den Verletzten losgehen, aber Heinrich packt ihn am Arm. »Lass mal«, flüstert er. »Der ist hilflos. Der redet nur.« Er wendet sich wieder an den Geharnischten. »Ich werde dir jetzt den Helm abnehmen und dir aus der Rüstung helfen. Du bist in unserer Hand, also wehre dich nicht. Ich will dich nicht verletzen.« Der gestürzte Reiter rührt sich nicht, als Heinrich vorsichtig den Helm von seinen Schultern hebt. Ein schmales, blasses Gesicht kommt zum Vorschein, die Oberlippe ist mit hellem Flaum bedeckt, das blonde, verschwitzte Haar klebt am Kopf. Ein Junge. Kaum viel älter als Lorenz… Ein junger Edelmann, der Rüstung nach. Ein Page, ein adliger Diener, bei diesem Landau. Der blonde Junge senkt den Blick nicht, als Heinrich ihn mit den Blicken abschätzt. Nicht im Mindesten erschreckt ihn das pockennarbige Gesicht des anderen. Seine blauen Augen sind ernst. Stumm und fachmännisch löst Heinrich jetzt die Schnallen des eingedellten Brustpanzers, die Arm- und Beinschienen. Der Junge atmet tief durch, als ihm das verbeulte Metall endlich nicht mehr die Luft abschnürt. Vorsichtig bewegt er die Gliedmaßen. Verzieht vor Schmerz das Gesicht. »Das Bein ist kaputt. Ich bin in deiner Hand.« »Das bist du ohnehin – auch wenn du heil und gesund wärst«, entgegnet Heinrich trocken. »Was sollen wir mit ihm machen, Wolf?«, fragt Lorenz leise. »Wir können ihn doch nicht laufen lassen!« Heinrich antwortet nicht. Schließlich wendet er sich an den jungen Mann: »Wirst du mit mir reden, wenn ich dich am Leben lasse?«
Der Blick des Jungen ist gerade. »Du bringst es gar nicht fertig, jemanden zu töten, der hilflos ist«, sagt er. »Du würdest nicht derart unritterlich handeln.« Es klingt halb verächtlich, halb trotzig. Heinrich senkt den Kopf. »Wie kommst du auf solchen Unsinn?«, sagt er schroff. »Hast du uns eben nicht Wegelagerer genannt?« Der Junge scheint mit sich zu ringen. »Es ist sowieso alles egal«, murmelt er mehr für sich. Und dann: »Ja, ich werde mit euch reden. Zu Landau kann ich nicht zurück. Hab meine Aufgabe nicht erfüllen können. Und offen gesagt – es ist nicht mal schade, selbst wenn ich mich in Zukunft in den Wäldern verstecken muss.« »Na, das ist doch was«, bemerkt Heinrich und unterdrückt ein Grinsen. »Aber damit du’s dir nicht anders überlegst…« Er rafft die Teile der Rüstung zusammen und schleudert sie den Hang hinunter. »So. Dann lass uns einen Platz zum Reden suchen.« –
Das Lagerfeuer prasselt gemütlich. Sie haben den jungen Menschen mit Müh und Not auf eins der Maultiere gehievt. Er hat sich nicht beklagt, aber seine Schmerzen waren offenbar sehr stark. Sein ohnehin blasses Gesicht sieht jetzt grünbleich aus. Nun sitzt der Junge, gegen seinen Sattel gelehnt, nahe beim Feuer, hält das verletzte Bein vor sich ausgestreckt und die Augen geschlossen. Heinrich tastet den dick geschwollenen Knöchel ab. Es scheint nichts gebrochen. Doch an bestimmten Stellen schreit der Junge laut auf. »Es ist die Sehne«, murmelt Heinrich. »Aber sie scheint nicht angerissen. Das braucht seine Zeit, um zu heilen.«
»Im Wald hab ich ja Ruhe genug«, sagt der Junge und lacht rau auf. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden!«, sagt Heinrich unerbittlich. »Sei froh, dass du in uns reingerast bist und nicht in Leute wie die von deinem Herren.« Er schickt Lucia nach Wasser – nahebei rauscht eine Quelle. Macht einen kühlenden Verband mit Minze und Arnika; beides wächst am Saum des Wasserlaufs. Ein Klosterrezept gegen Schmerzen und Prellungen. Lorenz versorgt indessen die Tiere. Das Lederkoller, das der Junge unter seiner Rüstung anhat, ist aufwändig verarbeitet und alles andere als billig. Er scheint aus vornehmem Haus zu sein. Heinrich setzt sich zu ihm, fast vertraulich. »Also raus mit der Sprache. Wer bist du?« Der Junge sieht zweifelnd vor sich hin. Hebt dann den Kopf. »Also gut. Ich heiße Martin, bis heute Knappe Ernst von Landaus. Mein Vatersname – mein Vatersname geht dich nichts an. Wenn du denkst, du könntest Lösegeld fordern für mich: Meine Eltern sind tot. Keiner interessiert sich für mich. Aber ich bin von Adel. Natürlich.« Heinrich schnaubt verächtlich durch die Nase. »Natürlich.« Die Blicke der beiden kreuzen sich. Doch in Martins Augen kann er weder Feindseligkeit noch Trotz erkennen. Er nickt. Sagt betont lässig: »Wir sind fahrende Leute. Ich bin Wolf, das ist Lorenz und das ist Lucia. Wir sind Gesetzlose. Natürlich. Und an Lösegeld hatte ich eigentlich nicht gedacht.« Der Junge schnappt nach Luft. »Alle – alle machen das so.« »Solche wie Herr Landau bestimmt. Zu der Sorte gehören wir nicht.« »Ich wollte euch nicht beleidigen.« »Schon gut.«
Lorenz setzt sich neugierig zu ihnen und winkt Lythande heran. Die Hündin kuschelt sich neben ihm ein. Lucia bleibt auf der anderen Seite des Feuers noch immer auf Abstand. Angespannt lauschend. »Zur Sache jetzt. Wem solltest du das Schreiben überbringen?«, eröffnet Heinrich das Verhör. Der Junge schweigt. »Ich schätze Treue«, sagt Heinrich leise. »Aber man muss sich auch überlegen, wem man sie halten will. Weißt du über deinen Herren und seine Taten Bescheid? Warst du dabei, als er seine letzte Unternehmung ausgeführt hat?« Kopfschütteln. »Zu seinen – hm – Einsätzen nimmt er nur seine kleine Söldnertruppe mit oder seine engsten Vertrauten. Zu denen zähle ich nicht.« »Eine Frau wurde gefoltert und ermordet.« Die Augen des Jungen werden starr. Er bekreuzigt sich. »Ist das wirklich wahr?« »Ich habe sie sterben sehen. Und ich sah ihre Wunden. Sie nannte Landaus Namen.« »So etwas Grauenhaftes – denkst du, ich wäre bereit, bei so etwas mitzumachen?« »Aber du bist bereit, einem schändlichen Mörder feste Treue zu halten, ja?« »Es gibt ein Treuegelöbnis.« »Gegenüber einem Verbrecher ist es hinfällig.« Der Junge atmet schwer. Heinrich packt ihn an der Schulter, sieht ihm direkt in die Augen. »Du willst einen Schurken decken, einen Verbrecher? Ist das mit deiner Ritterehre vereinbar?« »Ich bin ohnehin diesen Dienst los. Ich habe darin versagt. Und vielleicht ist das gut so.« Er holt tief Luft. »Also: Der Brief ist für Petrus von Vinea bestimmt.« »Für den engsten Vertrauten König Friedrichs! Ich dachte es mir. Deshalb bist du so – offiziell herausgeputzt mit Panzer
und Helm. – Der Mann, von dem in diesem Schreiben die Rede ist, jener Bote –, weißt du, wo er ist?« Martin schüttelt den Kopf. »Davon weiß ich nichts. Ich weiß auch nichts über den Inhalt des Briefs. Glaub mir. – Seid ihr Freunde, du und jener Mann?« »Die Fragen stelle ich!«, sagt Heinrich hart. »Wer hat Landau beauftragt zu der ganzen Aktion? Wer gab ihm den Auftrag?« Martin sieht vor sich hin. »Der ist doch nicht viel mehr als ein Strauchdieb«, murmelt er, mehr für sich. »Das war kein schlichtes Strauchdieb-Unternehmen. Jemand hatte Landau auf einen Königsboten angesetzt. Wer?« »Ein Königsbote! Das wird ja immer – immer finsterer!« Martin denkt nach. »Sein Schwager vermutlich.« »Was ist mit dem? Lass dir die Worte nicht einzeln aus der Nase ziehen!« »Sein Schwager ist der Bischof von Merseburg.« »Bischof!« Jetzt ist es an Heinrich, sich einen Reim darauf zu machen. »Kein Freund von König Friedrich also, nicht wahr?« »Du sagst es. – Der Bischof möchte möglichst bald vom Papst zum Kardinal ernannt werden.« Heinrich pfeift durch die Zähne, bemerkt Lorenz’ neugierigen Blick und bedeutet ihm mit einer Handbewegung: Nicht jetzt! »Und dieser Schwager, der Bischof – rede weiter!« »Landau tut, was ihm der Bischof aufträgt. In der Öffentlichkeit darf der Bischof natürlich nichts mit ihm zu tun haben. Aber insgeheim lässt er Landau für sich arbeiten. Unliebsame Gegner werden hinterrücks überfallen, Bauern, die ihren Zehnten nicht pünktlich entrichten, finden über Nacht ihre Ställe und Scheunen leer, die Ländereien verwüstet.« »Ein feiner Herr«, bemerkt Heinrich. Seine Blicke wandern über die Gestalt des Jungen hin. »Ich hatte keine Wahl, als mein Vater mich zu ihm schickte«, sagt er gepresst. »Nachbarn wie Landau macht man sich besser
nicht zum Feind, sondern zum Verbündeten. Das Pfand sollte ich sein. Und wo sollte ich anschließend noch hin nach dem Tod der Eltern?« Er errötet plötzlich. »Du kannst es mir nun glauben oder nicht. Aber ich bin froh, richtig froh, dass mir das hier zugestoßen ist. Egal, was mit mir passiert – ob ich hier im Wald verrecke – alles ist mir lieber, als dieser Dienst! Was meinst du, warum ich geritten bin, als wenn mir der Teufel auf den Fersen war? Weg wollte ich von da, nur weg!« Er lässt sich zurücksinken, atmet schwer. Heinrich schweigt einen Augenblick. Sagt dann: »Lucia, machst du ihm noch einen frischen eiskalten Umschlag um den Knöchel? Der hier ist bestimmt schon warm geworden.« Das Mädchen nickt. Sie hat dem Gespräch mit großen Augen zugehört, ruhig, anders als Lorenz, der herumzappelt und dem man ansieht, dass ihm tausend Fragen auf der Zunge liegen. Heinrich fährt fort: »Bloß diese Unternehmung – die ist ein Stückchen größer, als ein paar Bauern die Hühner zu stehlen oder ein paar Bürger zu verprügeln. Es ist Mord, Entführung – und mehr.« Martin nickt. »Ich weiß nicht, was zwischen Landau und dem Bischof vorgegangen ist. Hab gehört, dass Landau vor kurzem die Aufgabe hatte, einem Geld- und Schatztransport des Bischofs sicheres Geleit zu geben. Dabei ist er selbst überfallen worden, heißt es. Bewaffnete Wegelagerer sollen mit all den Kirchenschätzen verschwunden sein. Seitdem misstraut der hochwürdige Herr Bischof seinem Schwager. Vielleicht hat er ihm so eine schwierige Aufgabe übertragen, damit er sich ›bewährt‹ – dann hat er ihn in der Hand…« »Nicht dumm«, knurrt Heinrich. »Und die Frau Landaus, die Schwester des Bischofs?« »Darüber könnte man ganze Bände erzählen«, sagt Martin ausweichend. »Jedenfalls, man kann nicht gerade sagen, dass zwischen den beiden große Liebe herrscht.«
»Und du hast nichts von einem Gefangenen gesehen auf der Burg?« Martin schüttelt den Kopf. »Nein. Wirklich nicht.« Lorenz legt trockenes Holz nach und spießt Brotkanten zum Rösten auf Stöcke. Lucia wechselt den Umschlag um Martins Bein. Dann gräbt sie sich in Felle ein. Will wohl schlafen. –
Martin ist eingenickt am Feuer. Lorenz hat einen Strick zum Halfter geknotet und es dem Pferd aufgelegt. Heinrich geht zu ihm. »Brauchst du Hilfe?« »Ich will zur Quelle.« »Ich komme mit.« Für eine Weile lässt sich nur das Geräusch der Hufe, das Knacken von Zweigen und das Schnauben des Tiers vernehmen. »Erzählst du’s mir endlich?«, fragt Lorenz, als sie das Wasser erreichen. »Aber du hast doch alles mitangehört.« »Vielleicht bin ich nicht so helle wie du, gelehrter Herr!« Er schluckt. »Du hast mich behandelt wie – wie einen dummen Jungen! Nicht den Mund aufmachen durfte ich!« »Sei nicht so empfindlich!« Heinrich seufzt. »Also, pass auf, es ist ganz einfach. Dieser Bischof weiß von dem Halbenbrief, woher auch immer. Eine undichte Stelle in der königlichen Kanzlei vielleicht, was weiß ich. Er setzt seinen feinen Schwager Ernst von Landau darauf an, den Boten abzufangen.« »Na und, was will er mit dem Brief?« »Verstehst du denn nicht? Nach dem, was in der Hälfte steht, die wir kennen, bietet König Friedrich den Katharern in Südfrankreich ein Bündnis an. Das gleicht einem offenen Aufruf zum Aufstand gegen den Papst. Unser Bischof aber will Kardinal werden. Kann er eine Verschwörung gegen den Papst
aufdecken, so hat er den Kardinalshut schon sicher. So einfach ist das.« »Und was steht in dem anderen Brief, den dieser… dieser Junker Martin bei sich hatte?« »Na ja. Wie du weißt, ist das Vorhaben missglückt. Landau hat nur eine Hälfte vom Brief – die, mit der man nichts anfangen kann. Daraus lässt sich kein eindeutiger Beweis für König Friedrichs Spiel gegen den Papst ableiten, daraus kann man ihm keinen Strick drehen. Der Bischof tobt. Noch ein Ding, das schief gelaufen ist, nachdem sein Kirchenschatz schon abhanden gekommen ist! Landau ist unter Druck, er braucht Erfolg und fängt an, auf eigene Faust zu handeln. In dem Brief, den Martin befördern sollte, behauptet er, dass er den ganzen Brief besitzt und versucht eine Erpressung.« »Ernst von Landau versucht, den König zu erpressen?« »Nein! Der könnte Landau doch einfach einen Kopf kürzer machen. Er versucht, den Kanzler zu erpressen. Behauptet, das Schreiben sei von dem absichtlich in die falschen Hände gebracht worden. Statt der Verschwörung des Königs gegen den Papst eine Verschwörung des Kanzlers gegen den König.« »Verrückt! Und wer soll das glauben?« Heinrich seufzt. »Sogar Landau hat davon gehört, dass König Friedrich ein extrem misstrauischer Herr ist. Er hat schlechte Erfahrungen gemacht. Man ist mit ihm übel umgesprungen, als er ein junger Mensch war. Die leiseste Andeutung über einen Verrat nimmt er sehr ernst. Sein Kanzler könnte Schwierigkeiten bekommen. Und ist man erst mal in Ungnade, kommt man so schnell nicht wieder heraus.« »Immer diese Intrigen! Aber womit droht er denn nun, dieser Schurke Landau?« »Er droht mit dem, was eigentlich sein Schwager vorhatte: Den Brief an die Katharer dem Papst zu schicken – und den Boten zu töten. Herrn Walther zu töten.«
Lorenz pfeift durch die Zähne. Dann sagt er vorsichtig: »Nimm’s mir nicht übel, Wolf – aber meinst du, dass Herrn Walthers Leben irgendwem einen Pfifferling wert ist?« »Ich weiß nicht«, sagt Heinrich bedrückt. »Und was verlangt Landau nun im Gegenzug?«, drängt Lorenz ungeduldig. »Er will einen Teil der Einnahmen aus den Silberbergwerken hier in der Nähe. Petrus von Vinea soll ein gutes Wort für ihn einlegen.« »Und wenn er das nun hat – dann lässt er Walther augenblicklich frei?« »Das behauptet er in dem Brief.« »Und das soll einer glauben?« Heinrich lacht trocken auf. »Hast du das auch schon mitgekriegt?« Das Pferd hat sich satt getrunken. Sie sind auf dem Rückweg. »Und nun? Was hast du vor?«, fragt Lorenz vorsichtig. »Wir befreien Walther und sorgen dafür, dass die Botschaft nach Südfrankreich gelangt, wo sie schon immer hin sollte.« Lorenz muss sich räuspern. »Klar«, sagt er. »Ganz einfach. Wir klopfen bei Landau an, knöpfen ihm den Halbenbrief ab, holen Vogelweide raus und reiten eben mal rasch nach Frankreich. Das ist alles.« »Na, siehst du.« Heinrich kann Lorenz’ Gesicht nicht sehen. Muss er auch gar nicht. Er weiß, wie der jetzt guckt. Als sie wieder beim Feuer angekommen sind, greift sich Heinrich den Brief, den er Martin abgenommen hat, und wirft ihn in die Flammen. »So«, sagt er trocken. »Diesen Erpresserbrief hat es nie gegeben.« Keiner sagt einen Mucks. –
Jeder geht seiner Wege
Es ist noch dunkel, aber die morgendliche Kälte lässt Lorenz mit den Zähnen klappern. Er schiebt sich zu Heinrich unter dessen Decke, kuschelt sich an ihn, merkt, wie sich auch die Hündin noch zwischen sie drängt, und schläft noch mal ein. Als sie in der Morgendämmerung dann zu sich kommen, sehen sie Martin und Lucia dicht aneinander gedrängt am fast erloschenen Feuer kauern. Seufzend steht Heinrich auf und sammelt trockenes Holz zum Nachlegen. »Das hättest du schon längst machen können, Lucia.« Sie sieht ihn bloß an, antwortet nichts. Lorenz macht sich mit ein paar Sprüngen rings ums Lager warm, von Lythande umwuselt, und geht daran, die Tiere zur Tränke zu führen. Heinrich scheucht Lucia auf, gemeinsam rösten sie Äpfel und Brot, setzen Wasser in einem Kessel auf, um einen Kräutersud zu brauen. »Etwas Warmes – es wird dir gut tun«, sagt Heinrich und reicht Martin einen ihrer ledernen Becher. »Was macht das Bein?« »Tut weh«, erwidert der mit schnatternden Zähnen. Wortlos wirft ihm Heinrich seine Decke zu. Die Sonne schiebt sich durch den Herbstdunst. Der Tag wird klar und kalt werden. Martin holt tief Luft. »Und nun? Wie soll es jetzt weiter gehn? Werdet ihr mich hier liegen lassen? Wenn mir wenigstens jemand eine Astgabel zurechtschnitzen könnte, dass ich mich bewegen kann… Hier muss ich ja verhungern.«
»Wie schnell bist du damit?«, fragt Heinrich. »Wann bist du mit so einer Krücke im nächsten Ort? Und dann? Besorgst dir ein Reittier und sagst bei Junker Landau Bescheid?« Wieder fliegt eine Röte über das Gesicht des blonden Jungen. »Denkst du wirklich, das würde ich tun? Für mich ist Landau erledigt! Er hat keine Ehre, und ich bin ihm keinen Gehorsam mehr schuldig. Ich danke dem Himmel, dass ich diesen Dienst los bin. Abgesehen davon – wenn ich so zurückkommen würde – ich weiß nicht, was mir da blühen würde…« Er versenkt sein Gesicht in dem Becher mit Kräutertee. »Ich würde dir gern trauen«, sagt Heinrich langsam. »Trau ihm!« Auf einmal ist Lucia zwischen ihnen. Sie zittert in der Morgenkühle, zieht sich Heinrichs Pelz um die Schultern. »Ich fühl das. Sieh seine Augen. Er ist kein Verräter.« »Lucia – da kann man nicht blindlings seinen Gefühlen vertrauen.« »Doch.« Sie lächelt Heinrich an und es verschlägt ihm die Sprache. Immer wieder ist sie ein Rätsel für ihn. Ihre Gefühle, ihre Entscheidungen, ihre Geradlinigkeit. Martin strafft sich. »Ich bin bereit, bei Gott und allen Heiligen zu schwören, dass ich den Dienst des Herrn von Landau verlasse – wenn ich auch nicht weiß, wohin ich gehen werde«, fügt er hinzu. »Wolf! Willst du ihm wirklich glauben?« Das ist Lorenz. »Nur weil diese kleine Göre meint, er hätte hübsche Augen?« »Von hübsch hat sie nichts gesagt! Halt dich mal zurück«, sagt Heinrich knurrig. Und zu Martin: »Ich denke, deinem Eid kann man trauen.« Er lächelt ein bisschen. »Ich wäre bereit, dir ein Maultier zu geben – wir haben ja dein Pferd. Und ein paar Vorräte.« »Vorräte? Wolf, wir…«
»Ruhe jetzt, Lorenz.« Ein eisgrauer Wolfsblick. »Ich könnte dir auch einen Ort nennen, wo du vielleicht Unterschlupf finden kannst. Aber dazu – dazu musst du uns noch ein paar Kleinigkeiten erzählen.« Martin sieht ihn an. »Ihr wollt auf die Burg gelangen, nicht wahr?« »Ja«, sagt Heinrich einfach. »Kannst du uns helfen, hast du irgendeinen Rat, der uns nützlich sein kann?« Der blonde Junge überlegt. »Vielleicht das: Jeden Freitag hält Landau Markt innerhalb der Burgmauern ab – ein ganz fieser Trick, um die Marktgebühren zu kassieren. Da kommt man in die Burg rein.« »Davon hab ich gehört. Aber das ist erst in drei Tagen«, sagt Heinrich knapp. »Dauert mir zu lange. Gibt es keine anderen Möglichkeiten, an ihn heranzukommen? Etwas, was man ausnutzen kann? Liebt er Gaukelspiel?« »Gaukelspiel? Nicht, dass ich wüsste. Manchmal veranstaltet er Feste. Aber das sind wüste Sachen. Er und seine Frau – « Er stockt. »Was ist mit dieser Frau?« Heinrich horcht auf. »Die Schwester des Bischofs, nicht wahr?« Martin nickt. »Das ist so eine Sache«, sagt er. »Die beiden – die führen nicht gerade das, was man eine gute Ehe nennt.« »Wie meinst du das?« »Ganz einfach. Sie hassen einander. Die Burgherrin verachtet ihren Mann und lässt es ihn auch bei jeder Gelegenheit spüren.« »Und er?« »Er zahlt es ihr heim. Mit – sagen wir mal – ungewöhnlichem Benehmen. Aber sie lässt sich in dieser Hinsicht auch nicht gerade lumpen. Trainiert junge Pferde vorm Wagen, als wenn sie selbst ein Mann wäre. Kutschiert mit jungen Stallburschen durch die Gegend, um ihren Gatten zu blamieren.«
»Was sagen die Leute dazu?« »Oh, ich glaube, das ist ihr wirklich egal. Um Landau eins auszuwischen, ist ihr jedes Mittel recht, selbst wenn ihr Ruf darunter leidet.« »Merkwürdige Frau.« Heinrich grinst plötzlich. »Und du, lieber Martin? Warst du so ein junger Stallbursche?« Lorenz und Lucia kichern, und Martin holt vor Empörung tief Luft. »Überhaupt nicht! Abgesehen davon, dass das sowieso nicht gegangen wäre. Ich war ja auf der Seite des Burgherrn. Gehörte zu seinem Gefolge.« »Ich verstehe nicht.« »Alles da oben auf Landaus Burg gehört entweder zur Herrin oder zum Herrn. Das ist es, worauf ich euch vorbereiten wollte. Nicht nur die Eheleute sind wie Hund und Katze. Auch die Dienstboten. Nur in der Küche treffen sie sich wieder. Das ist neben dem Saal der einzige gemeinsame Ort für alle« »Aha.« Heinrich guckt nachdenklich vor sich hin. »Wirklich ein guter Hinweis. Im Lateinischen gibt es einen berühmten Spruch, der – « »Du kannst Latein?«, unterbricht Martin erstaunt. Heinrich lächelt ironisch. »Ich war im Kloster, auch wenn ich nicht danach aussehe. Guck mich nicht so ungläubig an. Der Spruch heißt: Divide et impera. Zu Deutsch, teile und herrsche.« »Im Klartext?« »Im Klartext, dass man immer den einen gegen den anderen ausspielen kann, wenn sie sich nicht grün sind.« Heinrich steht auf. Er hat genug gehört. »Wir sollten aufbrechen. Wie weit ist es noch bis zu Landaus Burg?« »Keine halbe Tagesreise – jedenfalls bei dem Tempo, das ich geritten bin!« Er seufzt, wirft einen wehmütigen Blick auf sein Pferd. »Den Saumpfad am Rand des Gebirges entlang. Ihr müsst nicht über den Kamm. Die Landauburg liegt noch im
Vorland. Unschwer zu erkennen. Wie ein hässlicher Reißzahn innerhalb einer friedlichen Gegend.« »Reißzahn!« Heinrich ist beeindruckt. »Eine gute Beschreibung. Also, Martin: Es bleibt dabei. Lorenz, mach ihm ein Maultier fertig.« Lorenz passt dieser Auftrag überhaupt nicht. Vor sich hin grummelnd, macht er sich am Geschirr zu schaffen. Martin bewegt probeweise den Knöchel, sein Gesicht verzerrt sich. »Wenn ich nur wüsste, wo ich hin soll.« Er sagt es mehr für sich. »Ich hätte einen Vorschlag«, bemerkt Heinrich. »Das Haus der Frau, die von Landau umgebracht wurde. Es steht leer. Die Leute da im Dorf sind freundlich. Gib dich als einen Verwandten aus. Sie werden dich pflegen, bis du wieder laufen kannst und – « Martin schüttelt stumm, aber heftig den Kopf. »Mir würde immer diese Untat vor Augen stehen!«, sagt er mit leiser Stimme. »Das kann ich nicht!« »Es gibt noch diese Möglichkeit«, sagt Heinrich und weist mit der Hand rundum. Auf sich und die Gefährten. »Du meinst…« Der blonde Junge ist plötzlich errötet. Er sieht Heinrich direkt in die Augen. »Ich sollte mitziehen?« »Es ist ein Angebot. Denk drüber nach.« »Nicht jeder kann so leben wie ihr«, sagt der andere leise. »Wovon redet ihr?«, fragt Lucia. Lorenz zuckt mit den Achseln, guckt misstrauisch von einem zum anderen. Aber dann, als er sieht, wie Martin schmerzlich das Gesicht verzieht, hilft er ihm doch, aufzustehen und das Maultier zu besteigen. Heinrich tritt an den Reiter heran. »Ich hoffe, dass du uns die Wahrheit gesagt hast«, sagt er ernst. »Dass deine Hinweise nützlich waren. Wenn ja, dann danke.«
Martin neigt grüßend den Kopf. Etwas zupft ihn am Ärmel. Lucia steht da, auf Zehen, die Augen groß aufgeschlagen zu ihm. »Hast du Kinder gesehen?« »Kinder? Was für Kinder?« Heinrich greift das Maultier beim Zügel, führt es ein Stück weiter. Halblaut erklärt er: »Sie ist eine Überlebende des Kinderkreuzzugs. Wir haben ihr geholfen. Aber das, was sie erlebt hat, lässt sie nur schwer los. Und jetzt hat sie gehört, dass in dieser Gegend noch eine weitere Gruppe dieser Kinder sein soll. Daher ihre Frage.« Martin sieht sich nach dem Mädchen um. »Ich wusste ja nicht – «, erwidert er leise. Und zu Lucia. »Nein, ich habe sie nicht gesehen. Und selbst wenn ich sie finde – was könnte ich für sie tun? Ich werde für sie beten.« Sie schüttelt den Kopf. »Beten – das reicht nicht.« Heinrich fasst sie sanft am Arm. »Lass ihn fort, Lucia. Wir müssen uns beraten.« Martin reitet im Schritt davon; es sieht aus, als trenne er sich nur ungern. –
Die »Wolfsbande« sitzt im Kreis um das verlöschende Lagerfeuer, Lucia wärmt sich Hände und Füße an der Glut. Lythande ist jagen gegangen. »Zwei Dinge stehen fest«, sagt Heinrich. »Das eine, dass wir unbedingt in die Burg von Landau hineinmüssen. Wohin sonst sollte Walther verschleppt worden sein. Das andere: Wir können nicht zusammenbleiben.« »Nicht zusammenbleiben?« Lucia sieht ihn verständnislos an. »Aber – voglio andare con te! Ich will mit dir gehen, Wolf!« »Nein. Das geht nicht. Denkt einmal nach. Die Leute, die uns den Halbenbrief abnehmen wollten, – jene ›Räuber‹, die uns
ausgeplündert haben, als du dich auf den Baum geflüchtet hattest, Lucia – die waren auf uns angesetzt. Also wussten sie, dass wir zu dritt sind, drei Gaukler, und wahrscheinlich wussten sie auch, dass ein Mädchen dabei ist. Es wäre glatter Selbstmord, wenn wir so dort aufkreuzen würden. Außerdem könnten wir frühestens den Markttag benutzen. Das dauert mir alles zu lange. Jeder Tag zählt. Mein Meister muss gefunden werden, unser Auftrag muss ausgeführt werden.« »Und du hast schon wieder einen Plan!« Lorenz sagt es halb bewundernd, halb spöttisch. Heinrich atmet tief aus. »Sagen wir mal, einen halben. Ich muss mich noch ein bisschen umgucken. Aber ich denke schon, dass ich reinkomme.« »Als Gaukler?« »Nicht als Gaukler. Die Gaukelei überlassen wir dir mit Lythande, wenn ihr am Markttag nachkommt. Und Lucia sollte sich dann von dir fern halten, nur als Bettelkind auftreten. Alles klar?« »Fragst du uns, ob wir verstanden haben, was wir machen sollen, oder ob wir deinem Plan zustimmen?« Lorenz grinst ironisch. »Was soll das, Lorenz?« Heinrich sieht den aufmüpfigen Gefährten streng an und der winkt nur ab. »Es wird gefährlich, ja?« »Sicher wird es gefährlich. Aber ich denke, hauptsächlich für mich. Kommt.« Sie reiten schweigend, der Tag ist schön und kalt. Es ist gut, dass sie am Rand des steil aufragenden Gebirges bleiben können, so müssen sie die Tiere nicht überlasten. Lorenz hat Lythande zu sich aufs Maultier genommen. Lucia ist bemüht, neben Heinrich zu bleiben. Er zügelt das Pferd, passt sich ihrem Tempo an. Natürlich ist es keine halbe Tagesreise – das war es nur bei dem rasenden Ritt Martins.
Lorenz bewegt sein Tier schon eine ganze Weile direkt neben dem Pferd Heinrichs, sieht ihn von der Seite an. »Was hast du auf dem Herzen?«, fragt der ihn schließlich. »Schieß schon los!« »Ich finde es nicht richtig«, sagt Lorenz bestimmt. »Was? Was findest du nicht richtig?« »Dass du deine Pläne für dich behältst. Du übernimmst also den gefährlichen Teil. Na fein. Ich will ja nicht sagen, dass ich mich darum reißen würde. Aber wenn wir nicht die leiseste Ahnung haben, was du eigentlich vorhast – wie sollen wir dich da raushauen, falls was schief geht?« Er atmet tief aus. »So. Das meine ich.« Heinrich sagt zunächst gar nichts. Sieht vor sich hin. Dann beginnt er, und seine Stimme klingt sehr weich: »Ich muss mich entschuldigen bei dir. Und auch bei Lucia. Ja, es stimmt schon. Ich denke immer, dass ich alles allein machen kann. Aber dass du dich sorgst um mich, Lorenz, das – das vergesse ich manchmal.« Lorenz grinst schief. »Na, nun weißt du’s.« Er treibt sein Maultier mit den Hacken an, damit es Schritt hält mit dem Pferd. »Mein Plan!« Heinrich seufzt schwer. »Unter uns gesprochen, Lorenz: So weit her ist es mit dem nicht. Erinnerst du dich, was uns dieser Martin erzählt hat von den Zuständen auf der Burg? Dass sich Herr und Herrin in den Haaren liegen und das ganze Hausgesinde in zwei Parteien gespalten ist?« »Hm. Und dann hast du einen lateinischen Spruch gesagt.« »Richtig. Teile und herrsche, heißt der übersetzt.« »Im Klartext?« »Im Klartext: Das ist mein Plan.« »Versteh ich nicht so ganz.« »Wenn ich es nur selbst schon genauer wüsste! Ich will versuchen, mich bei der Burgherrin einzuschleichen –
vielleicht braucht sie ja mal wieder einen neuen Stallburschen, um ihren Mann zu ärgern. Wenn ich erst mal drin bin in der Burg – dann kann ich mich umschauen. Und versuchen, die eine Partei gegen die andere auszuspielen. Vielleicht erfahre ich da so dies und jenes. Vor allem natürlich, wo sie Walther versteckt haben. Tja, und viel mehr fällt mir im Augenblick auch nicht ein dazu.« Lorenz summt nachdenklich vor sich hin. »Ziemlich ungenau das Ganze«, meint er dann vorsichtig. So eine Anmerkung könnte mal wieder Wolfs Zorn erregen und die Stimmung umschlagen lassen. Aber der nickt nur. »Du sagst es. Aber alle guten Pläne zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst nur in Umrissen bestehen. Man muss wendig bleiben!« »Das hört sich sehr schlau an«, erwidert der Junge. Sein Spott ist unverkennbar. »Na, wenigstens wissen wir nun, wo wir dich auf dieser Burg finden werden: Auf der Seite der Burgherrin.« »Noch was?« Heinrich klingt schon wieder ungehalten. »Danke schön. Das ist alles!«, sagt Lorenz freundlich und lässt sein Maultier zurückfallen. –
Als sich der dunkle Fichtenwald lichtet, steht die Sonne schon schräg. Der Weg wird breiter. Durch leuchtend roten und gelben Laubwald gelangen sie schließlich ins Freie, von wo aus sich das Land in sanftem Gefälle zum Tal hin erstreckt. Brachen und Felder wirken einladend und freundlich in dem weichen Herbstlicht. Ein Ochse vor einem Pflug, im Hintergrund der Turm einer Feldsteinkirche, vereinzelte Gehöfte. Auf einem einzeln stehenden Felsen ragt die Burg auf. Heinrich hebt die Hand, gibt das Zeichen zum Halt. »Wie ein Reißzahn«, wiederholt Heinrich die Worte Martins.
»Ein Räubernest! Ich kann’s gar nicht erwarten, da reinzukommen«, knurrt Lorenz. »Na, du hast ja noch ein bisschen Zeit, dich mit dem Gedanken vertraut zu machen«, sagt Heinrich trocken. »Wir trennen uns hier, Freunde. Lorenz, du gehst mit Lucia zur nächsten Ortschaft. Haltet Augen und Ohren offen. Vielleicht hat jemand etwas gesehen oder erfahren. Jede Einzelheit kann für uns wichtig sein. Wir sehen uns am Markttag.« »Ho paura. Ich hab Angst«, sagt Lucia leise. »Lorenz ist bei dir. Er passt auf dich auf.« Das Mädchen schüttelt den Kopf. »Nicht um mich. Um Wolf.« Sie sieht Heinrich in die Augen mit einem Blick, der alles andere ist als kindlich. »Der da«, Lucias ausgestreckter Arm weist hinauf zur Burg, »der ist wie Oger, der die Kinder stiehlt.« Heinrich senkt den Kopf. »Mach dir nicht zu viel Gedanken.« Er wendet sich an den Gefährten: »Lorenz, behalt sie im Auge, bitte, ja?« Lorenz nickt, aber das Mädchen sagt knapp: »Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Sie atmet tief durch. »Du übrigens auch.« Plötzlich lächelt sie. »Sia la Santissima Vergine la guardia tua.« Sei die Heilige Jungfrau deine Hüterin… Sie treibt ihr Tier an, ohne sich umzusehen. Die Jungen wechseln einen erstaunten Blick. »Was ist in die gefahren?«, fragt Lorenz. Heinrich antwortet nicht. Sie trennen sich hastig, ohne Abschied.
Die Herrin macht das Tor auf
Heinrich hofft, dass er nicht zu lange in der Nähe der Burg herumstreunen muss. Er sucht nach einer Gelegenheit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er hat Glück. Noch am gleichen Abend sieht er von einer Anhöhe das, worauf er gewartet hat: Den leichten Wagen, bespannt mit zwei feurigen Schimmeln, der zum Burgtor hinausfährt. Die Zügel führt eine Frau und sie ist allein. Martin hat nicht gelogen. Die Burgherrin trainiert ihr Gespann. Heinrich dankt dem Himmel, dass sie einen offenen Wagen lenkt. So kann er sehen, dass sie alleine ist. Kein Stallbursche dabei. Er reitet ein Stück der Strecke ab, die sie nehmen muss. Entdeckt eine Stelle, die ihm günstig scheint: In einem Buchenwäldchen verbreitert sich der Weg. Das Gespann legt da an Tempo zu, rast dann in ein Tannendickicht. Gut. Wenn er Glück hat, fährt die Herrin morgen wieder dort entlang. Er wird alles auf eine Karte setzen. Klappt es nicht, kann er immer noch Reißaus nehmen. Heinrich verbringt eine unruhige Nacht irgendwo im Wald. Macht sich am nächsten Morgen hinter der Lichtung zu schaffen. Er kommt ins Schwitzen, obwohl es lausekalt ist. Doch als es richtig hell wird, hat er sein Werk vollendet. Jetzt muss er nur noch warten… Das Wirbeln der Hufe kündigt das Gespann an. Heinrich zieht die Wolfsmaske vors Gesicht und spornt den Fuchs an. Da ist der Wagen auch schon. Die Schimmel fliegen in gestrecktem Galopp den Weg entlang. »Halt, um Gottes willen! Anhalten!« Er hebt die Hand, lässt das Pferd tänzeln, sperrt den Weg.
»Heda, lauft, kommt, kommt, kommt, lauft!«, schreit die Frau auf dem Kutschbock. Natürlich denkt sie an Wegelagerer. Ihr Mantel fliegt, sie schwingt die Peitsche. Die Schimmel haben die Ohren angelegt, ihr Blick ist angstvoll. Ein durchgehendes Gespann. Das ist kreuzgefährlich. »Nicht weiter, Dame! Da vorn ist eine Falle! Es geht um Euer Leben!« So hat er sich das nicht vorgestellt. Die Frau hält direkt auf ihn zu. Im letzten Moment wirft sich Heinrich von seinem Pferd, krallt sich in den Geschirrriemen des Gespanns, lässt sich mitschleifen. Schon peitschen ihn die Zweige des Tannendickichts. Endlich verlangsamen die Tiere das Tempo. Holz kracht und splittert. Die Frau schreit. Offenbar bricht der Wagen, oder er verliert ein Rad. Egal. Er lässt nicht los. Die Schimmel stehen, mehr noch vom Gewicht des Wagenwracks gebremst als von seinen Händen. »Verdammter Straßenräuber! Ich bin Sophia von Landau! Was erdreistest du dich! An den Galgen bring ich dich!« Die Peitsche klatscht auf seine Schultern, trifft seinen Hals. Bevor er ihr die Hand festhalten kann, hat sie ihn schon gehörig verprügelt. Zum Glück schützt sein ledernes Wams. Eine sehr beherzte Person, diese Sophia von Landau, diese Bischofsschwester. »Dame Sophia! Ich wollte Euch nicht ausrauben! Im Gegenteil, ich wollte Euch retten! Weiter hinten im Wald haben irgendwelche Strauchdiebe eine Fallgrube für die Reisenden gebaut! Ihr wäret mit Eurem Gespann tödlich verunglückt!«, bringt er schließlich keuchend hervor. Dass er diese Grube selbst angelegt hat, verschweigt er natürlich. Im Nachhinein ist ihm mulmig. Was, wenn sie an ihm vorbei und wirklich hineingesaust wäre? Auch so war es schon schlimm genug.
Sie steht vor ihm, rot, erhitzt, eine große Frau mit dunklen Augenbrauen und einem energischen, scharf geschnittenen Gesicht. Ihr Tuch hat sich gelöst und gibt ihr halb ergrautes Haar frei. Nicht mehr jung, aber noch sehr anziehend. »Wenn du kein Straßenräuber bist, wieso trägst du diese Wolfslarve?« »Um niemanden zu erschrecken«, sagt er und sie lacht auf. »Merkwürdige Logik. Was verbirgst du denn Entsetzliches darunter?« Schweigend schiebt Heinrich die Maske zurück. Sie runzelt die Brauen, mustert sein pockennarbiges, scharfes Gesicht, knurrt »hm«, und dann: »Kümmere dich um die Pferde. Ich sehe mir diese Grube mal an. Weh dir, du lügst!« Widerspruch ist zwecklos, sie stiefelt los. Also war die Mühe, die er sich am zeitigen Morgen dort hinten auf dem Weg gemacht hat, nicht umsonst. Schließlich muss er glaubwürdig erscheinen. Heinrich beruhigt die Tiere, schirrt sie ab, fängt seinen Fuchs wieder ein und hofft nur, dass seine List funktioniert. Er hat die Pferde so weit im Griff, als sie zurückkommt. »Ja, da war eine Falle«, bestätigt sie. Sieht ihn durchdringend an. »Es stand aber nicht dran geschrieben, wer sie angelegt hat.« Er fühlt sich durchschaut. Es hat nicht geklappt, alles vergebens, denkt er. Doch sie lässt lediglich ihre Blicke schweifen über ihn hin, über das Pferd. »Dieser Gaul – der scheint mir auch aus unserem Stall zu stammen.« »Er gehörte Junker Martin, dem ehemaligen Pagen Eures Gemahls.« »Hast du ihn umgebracht?«, fragt sie. Es scheint sie nicht weiter aufzuregen.
»Im Gegenteil. Ich habe ihm zur Flucht verholfen. Er hat es nicht mehr ausgehalten auf der Burg – falls Ihr versteht, was ich meine.« Sie lacht freudlos. »Ich mag Leute, die geradezu sind. Allerdings – du redest ziemlich unverschämt. Ich gucke zwar nicht durch, was das alles soll – aber irgendwas führst du ja wohl im Schilde. Verrat es mir.« »Junker Martin rühmte Eure Pferdekenntnis. Ich möchte bei Euch in Dienst treten. Schließlich habe ich Euch das Leben gerettet. Gewährt mir das als Lohn.« Sie schweigt, sieht ihn an. Sagt dann: »Die Grube war ganz frisch. Sehr viel Aufwand, um einen Dienst zu bekommen auf einer Burg, deren Ruf in der Gegend nicht gerade der beste ist. Da hätte es vielleicht auch etwas Einfacheres gegeben.« Er senkt die Augen, kann ihrem Blick einfach nicht standhalten. Was ist das für eine seltsame Person, die sachlich feststellt, dass er sie eben fast umgebracht hätte und einfach darüber hinweggeht! »Gut. Also. Du verstehst was von Gäulen, du bist nicht dumm, du siehst zwar schrecklich aus, aber – na ja. Komm mit. Aber denk nicht, dass die Arbeit bei mir Zuckerlecken ist. Bei mir liegt keiner auf der faulen Haut. So, der Wagen ist hin. Also ich reite den Fuchs. Du sieh zu, wie du mit den Arabern klarkommst. Die sind nämlich ausschließlich als Wagenpferde abgerichtet, hatten noch nie einen Reiter auf dem Rücken.« Sie lässt sich von Heinrich in den Sattel heben. Sitzt leicht und gerade da. Heinrich macht einen Vorstoß: »Ist Euer Gemahl auf der Burg, Dame? Muss ich ihm meine Aufwartung machen?« »Meine Stallburschen stelle ich selbst ein. Abgesehen davon: Landau ist unterwegs.« Besser hätte es ja gar nicht kommen können, denkt Heinrich, während er sich mit zwei sehr temperamentvollen Pferden an
der Hand abquält. Nicht leicht, neben den Tieren – oder zwischen und fast unter ihnen – Schritt zu halten mit der Herrin, die den Fuchs in einem flotten Trab hoch zur Burg reitet. Burg? Heinrich kann sich nicht genug wundern. Davon hatte Martin nichts erzählt. Schon lange nicht hat Heinrich ein derartig verlottertes Anwesen gesehen. ›Wie ein Reißzahn‹ hat es von weitem ausgesehen. Nun stellt sich heraus, dass der Zahn ziemlich faul ist. Die Mauer ist an mehreren Stellen eingestürzt und sehr nachlässig ausgebessert. Im Graben ist kein Tropfen Wasser. Die Ketten der Zugbrücke sind verrostet. Der Innenhof, wo ja der Markt stattfinden soll, ist zwar geräumig, aber voller Schlamm; einige Schweine wühlen grunzend im Misthaufen. Das Hauptgebäude mit dem Turm sieht aus, als wenn es vor Altersschwäche gleich umfallen würde. Sogar die Stufen sind bröckelig. Zu allem Überfluss gibt es noch einen hässlichen alten Friedhof, von dessen Kapelle nur noch die Grundmauern und ein Dachrest stehen. Die Räuberei scheint sich nicht sonderlich auszuzahlen für Herrn von Landau, daher wohl auch die Gier nach den Einnahmen aus der Silbermine. Der Schwager Bischof hält ihn kurz. Der Damentrakt und der Pferdestall scheinen das Einzige zu sein, was hier in Ordnung ist. Es wirkt, als wenn ein Bettler und ein Kaufherr nebeneinander in diesen Mauern wohnen würden. Während er zum Pferdestriegel greift, sagt Sophia: »Gib Busso Bescheid, dass der Wagen kaputt ist. Er soll ihn vom Stellmacher holen lassen. Busso, das ist der Hausverwalter. Gehört eigentlich zu meinem Mann. Aber ich kommandiere ihn gern mal herum. Kann ihn nicht leiden. Lass dir von ihm erklären, wo du schlafen kannst. Essen hol dir aus der Küche. Sag, du arbeitest für mich. Lass dich nicht einschüchtern – na,
so siehst du nicht aus. Eher schüchterst du wen ein. Morgen früh kannst du mir zeigen, wie du mit Pferden arbeitest. Wir reiten zusammen aus. Ach, kannst du sonst noch etwas, was mir die Langeweile vertreiben könnte?« Sie mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen, und Heinrich fühlt, wie er errötet. »Ich kann Lieder singen«, sagt er so unschuldig wie möglich. »Die Lieder Walthers von der Vogelweide. Des berühmten Minnesängers.« Es ist ein Versuch. In Sophias Gesicht rührt sich kein Muskel. Sieht nicht so aus, als ob sie etwas weiß. »Lieder, schön«, sagt sie. »Du wirst mir nachher vorsingen.« –
Wie Hund und Katze
Busso, der Hausverwalter, ist ein dicklicher Kerl, der unter seinem grauen Bart ein paar scheußliche Narben versteckt – was ihn nicht davon abhält, Heinrichs Gesicht mit den Worten zu kommentieren: »Hat man auf deiner Fresse Erbsen gedroschen?« Als Heinrich erklärt, er wäre der neue Stallbursche der Dame Sophia, lacht der Mann boshaft auf. »Über Geschmack lässt sich streiten!« »Was meint Ihr damit?«, fragt Heinrich scharf. »Überhaupt nichts, Weiberknecht. Aber eins merk dir: Das nächste Mal kannst du selber rennen und den Stellmacher für den Wagen der Dame holen. Das ist nicht meine Arbeit.« »Ihr seid doch der Hausverwalter – oder nicht?«, fragt Heinrich und gibt sich ahnungslos. Busso läuft rot an unter seinem Bartgestrüpp. »Natürlich bin ich hier der Hausverwalter!«, brüllt er. »Ich bin Junker Landaus Hausverwalter! Und wenn die Dame was will, dann soll sie ihre eigenen Leute schicken!« Martins Angaben stimmen aufs Haar. »Wo soll ich schlafen?« Busso zuckt die Achseln, dreht sich um und geht, lässt Heinrich mitten auf dem dreckigen Burghof stehen. »He, gibt es einen Schlafplatz für die Stallburschen?«, fragt der den Nächstbesten, der mit einer Schubkarre voll Mist vorüberkommt. Der Mann ist offenbar froh, eine Pause einlegen zu können, setzt seine Karre ab, schiebt die Hände ins Kreuz und mustert – natürlich – Heinrichs Gesicht. Der wartet auf die nächste
dumme Bemerkung, aber stattdessen kriegt er nur zu hören: »Bist du bei Herrn Landau?« »Ich bin bei Dame Sophia«, erwidert er. Der Kerl zieht die Nase hoch. »Die Stallburschen von Herrn Landau haben da drüben ihr Quartier. Wo deins ist, weiß ich nicht.« Er nimmt die Holme der Karre wieder auf. »Du musst doch wissen – « »Muss ich nicht.« Und weg ist er mitsamt seiner Mistfuhre. Heinrich hält mit gerecktem Hals Ausschau – nicht nur, um sich nach seiner Schlafstelle umzusehen. Alles wirkt grau und trostlos. Links vom Stall dringen Stimmen aus einer offenen Tür. Drei junge Männer sitzen in Hemdsärmeln an einem Tisch und spielen Würfel. Ihre Lederwesten hängen auf der Stuhllehne. Als Heinrich grüßend näher tritt, verstummen sie. Verstummen und starren. Herr, verleih mir Geduld!, betet Heinrich innerlich. Langsam hat er genug. »Seid ihr bei der Dame Sophia beschäftigt?«, fragt er. »Sind wir«, erwidert einer nach einer Pause. »Wir sind ihre Reitknechte.« »Ich bin ebenfalls bei ihren Pferden angestellt«, erwidert er und hofft, endlich auf einen etwas besseren Empfang. Aber nichts davon. »Wozu denn das? Wir brauchen keinen Neuen. Noch dazu einen, der so aussieht wie du. Da kann man sich ja fürchten!« »Wegen meines Aussehens muss mich wirklich keiner fürchten«, sagt er kalt und strafft sich. »Was willst du? Willst du dich mit uns anlegen?« An Prügeleien ist er wirklich nicht interessiert. »Ich suche nur nach einem Schlafplatz«, sagt er, bemüht sich, friedfertig zu sein. »Dann such dir einen!«, ist die Antwort. »Wir sind voll. Kein Bett frei.«
Er will gehen, es hat keinen Zweck, sich mit dreien anzulegen, als sein Blick auf den Siegelring fällt, der neben ein paar Münzen in der Mitte des Tisches liegt – die Würfeleinsätze offenbar. »Eh, was schielst du auf unsere Habe, verzieh dich!« Ein vierschrötiger Kerl steht drohend auf. »Ich, ich möchte mir den Ring nur ansehen«, stammelt Heinrich und kommt sich wirklich dämlich vor, denn gleich gibt’s was aufs Maul, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Kerl packt ihn am Wams und stiert ihm in die Augen. »Wir wollen dich hier nicht haben, kleiner Schnüffler!« Plötzlich schäumt die Wut in ihm – und er tut etwas sehr Unkluges. Impulsiv rammt er dem anderen das Knie zwischen die Beine. Der krümmt sich, doch natürlich sind seine zwei Kumpane sofort auf den Beinen und packen ihn. Er spürt eine harte Hand im Nacken, kracht mit dem Gesicht auf den Tisch. Irgendetwas knackt. Er schmeckt Blut im Mund, als er an den Haaren wieder emporgerissen wird und erneut auf den Tisch knallt. »Reicht’s dir jetzt?« Sie halten ihn immer noch an Armen und Haaren fest. Der Dritte hat sich inzwischen wieder aufgerichtet und tritt ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht – zum Glück nur gegen’s Schienbein. »Seid ihr Kerle nicht bei Trost!« Die Herrin Sophia füllt den Türrahmen. Ihre Augen funkeln zornig. »Lasst ihn los, drei gegen einen! Pfui, wie feige!« Und Heinrich kriegt auch gleich sein Fett weg. »Was bist du für ein Esel, kaum auf der Burg, dass du dich mit den Kerlen prügeln musst. Wenn ich so was noch mal erlebe, setzt’s Hiebe, und zwar für alle!« Heinrich wird losgelassen und unter den wütenden Blicken der Knechte geht er an Sophia vorbei ins Freie. »Halt, warte!«
Sie kommt ihm nach. Er bleibt stehen, spuckt Blut auf die Erde. »Lass anschaun!« Sie fasst derb seinen Kopf, dreht ihn in die Sonne. »Lass dir von meiner Magd eine Salbe für die Platzwunden geben. – Was für ein Idiot, mit denen eine Prügelei anzufangen!« »Angefangen haben die«, protestiert Heinrich wie ein kleiner Junge. Sie sieht ihn forschend an. »Da war etwas, das ich mir ansehen wollte.« »Ich dachte mir schon, dass du nicht so dämlich bist, so mir nichts dir nichts in dein Unheil zu rennen. Raus mit der Sprache!« »Da auf dem Tisch liegt ein Siegelring. – Ich glaube, ihn schon einmal gesehen zu haben, bei einem Freund.« Er verstummt. Sie wartet. »Den ich seit langem suche«, fügt er hinzu. Sophia winkt ab. »Schön, behalt dein Geheimnis nur für dich, ich will’s gar nicht wissen.« Sie marschiert entschlossen zurück in den Gesinderaum, und einen Lidschlag später bekommt er den Ring in die Hand gedrückt. »Mach damit, was du willst, so schön ist er nun auch wieder nicht. – Aber lass dich von den dreien dafür nicht umbringen.« Sie nickt in Richtung der halb offenen Tür und lässt ihn stehen. Heinrich schließt die Faust um Walthers Siegelring.
Das kann ja heiter werden. Andererseits – vielleicht ist es ja ganz gut, nicht in irgendeinem stinkenden Dienstbotenquartier zu hausen. Heinrich bezieht Stellung auf dem Strohboden über dem Pferdestall. Da kann er auch bequem seinen Mantelsack verstecken. Dass die Wolfsmaske den Landau-Leuten zu Gesicht kommt, muss nicht unbedingt sein. Vielleicht ist dieser
»Steckbrief« ja bekannt. Nachdenklich dreht er den Ring zwischen den Fingern. Ein erster Erfolg – aber erkauft mit einem abgebrochenen Zahn und der Feindschaft der anderen Reitknechte. Immerhin. Wenn der als Beutegut unter den Dienstleuten auf Burg Landau kursiert, dann müsste Walther eigentlich auch hier sein! Natürlich können sie ihn auch ausgeplündert haben, bevor sie ihn woanders hingebracht haben. Aber wahrscheinlich ist das nicht. Merkwürdig. Sophias Leute hatten den Ring. Aber die Herrin selbst hat so getan, als wenn sie von gar nichts wüsste. Und sie hat glaubwürdig gewirkt. Nach kurzem Zögern beschließt er, dem Landau-Trakt einen Besuch abzustatten, die Örtlichkeit zu erkunden. Es muss ja hier schließlich irgendwelche Räume geben, in denen man Gefangene verwahrt… Aber da kommt er nicht weit. Kaum ist er die ersten Stufen des Turms hoch, als ihn der graubärtige Busso auch schon zurückpfeift. »He, Bursche, was hast du hier zu suchen?« »Ich dachte, ich mache mich mal mit der Räumlichkeit vertraut«, sagt er unschuldig. »Das wirst du fein bleiben lassen! Mach dich vertraut, womit immer du willst, aber nicht hier! Das sind Junker Landaus Zimmer hier, da hast du nichts verloren. Kriech von mir aus in Dame Sophias Räumen herum vom Keller bis zum Boden, da gehörst du ja hin, nicht wahr? Wenn ich dich hier noch einmal beim Schnüffeln erwische, dann – « »Was dann? Steckt Ihr mich ins Burgverlies?«, fragt Heinrich herausfordernd, um auf den Busch zu klopfen. »Burgverlies? Burgverlies haben wir nicht. Kerle wie dich stecken wir in den Hundezwinger.« Mit einem fiesen Grinsen mustert er Heinrichs zerschlagenes Gesicht. »Wie ich sehe, hast du schon deine erste Lektion hier erhalten. Warte nur, bis
der Herr zurück ist. Der denkt sich für solche wie dich gern was Besonderes aus.« »Was ist das: Solche wie ich?« Heinrich ist zu wütend, um seinen Mund zu halten. Der Verwalter macht eine drohende Bewegung. Nichts wie weg! Burgverlies haben wir nicht? Heinrich umkreist die Gebäude, versucht sich von außen ein Bild zu machen. So etwas wie ein Gefängnis scheint es wirklich nicht zu geben. Außerdem – einen besonderen Gefangenen, einen, den man verstecken will, den wird man auch kaum in den Kerker werfen, dahin, wo ihn jeder vermutet. Taubenschlag und Schweineställe, die Wachstube im Turm – nichts, außer viel Dreck, viel Verwahrlosung. Natürlich gibt es ein Verlies, aber das ist leer. Dieser Friedhof ist ein einziges Unkrautfeld. Der Hundezwinger steht übrigens auch leer. Landau hat wohl keine Zeit für die Jagd. Während er herumstreift, pfeift er laut vor sich hin – Melodien bekannter Lieder von Walther. Wenn Vogelweide hier ist, müsste er ihn hören. Wüsste, dass er da ist und würde sich bemerkbar machen, wenn er nur könnte, auf welche Weise auch immer. Er lauscht auf eine Erwiderung. Nichts. In Sophias Gebäudetrakt sieht zwar alles ansehnlich aus, Teppiche an den Wänden und Felle auf dem Fußboden, aber viel weiter kommt er da auch nicht. Eine der Kammerfrauen, eine streng aussehende große Person, steht ihm auf einmal im Weg, mit über der Brust verschränkten Armen und strafendem Blick. »Was suchst du denn hier, junger Mann?« »Ich soll mir eine Salbe geben lassen für das da.« Er deutet auf sein Gesicht. »Na, Salbe wird da auch nicht mehr viel helfen«, entgegnet die Kammerfrau grob.
So viel »Freundlichkeit« hatte er gar nicht erwartet. Er zuckt die Achseln. »Ich wollte mich eben mal umschauen!« »Also diese Bengel werden immer frecher. Kleiner Finger, ganze Hand, oder? Bloß, weil dich die Herrin bei den Pferden beschäftigt, wagst du dich in ihre Gemächer? Raus mit dir, aber schnell!« Das ganze Unternehmen lässt sich nicht sehr hoffnungsvoll an. Es ist bald Abendbrotzeit. Heinrich macht sich auf zur Küche. Wenn irgendwo ein Gefangener liegt, dann muss er essen und trinken. Irgendeine Schüssel, ein Wasserkrug müssten für ihn da sein oder heimlich fortgetragen werden. Die Treppe davor führt in die Vorratskeller. Aber auch hier wird er aufgehalten. Eine dürre Alte kommt ihm keifend hinterher. »Willst du dich hier auf eigene Faust bedienen? Nicht bei mir!« »Hab mich nur verlaufen«, erklärt Heinrich. »Ich wollte in die Küche.« »In meine Küche kommt man nur, wenn man sich gut mit mir stellt!« Sie mustert ihn misstrauisch, und er lächelt sein Wolfslächeln. Das ist also die Köchin. Er folgt ihr. Drei Mädchen sind damit beschäftigt, Hirsebrei aus dem Topf in eine große Schüssel zu füllen. Die Holzlöffel liegen bereit. So läuft das also. Das gesamte Gesinde isst aus einer Schüssel. Extraportionen werden nur für die Dame Sophia und ihre Kammerfrau hergerichtet. Da kommt noch ein bisschen zerlassene Butter drüber, und eine der Mägde geht damit in den Frauentrakt. Fettlebe scheint auf Landaus Burg nicht angesagt. Eins der Mädchen, eine kleine Blonde mit dünnen Zöpfen, hat bei seinem Anblick gequietscht. »Huch, der sieht ja aus wie der Teufel!« »Halt den Mund, Gerda!«, weist die dürre Köchin sie zurecht. »Denkst du, du kannst dir alles erlauben?« Die Kleine kichert,
und die anderen sehen sie schief an. »Geh lieber in den Keller und hol den Weizenschrot für morgen früh, damit er quellen kann. Wir müssen noch die Rattenportion fertig machen.« »Was für eine Rattenportion?«, fragt Heinrich alarmiert. »Das Gift, was auf dem alten Friedhof ausgelegt wird!«, sagt die Köchin mürrisch. »Die Biester fressen unsere Wintervorräte zu Schanden. Die alten Gräber da draußen rutschen schon zusammen, so unterhöhlt sind sie von den Ratten!« »Von Ratten? Ihr meint nicht Maulwürfe?« Er erntet einen schiefen Blick. »Und da kocht ihr Gift?« »Wir kochen kein Gift, Dummkopf. Sind wir Hexen? Wir kochen den Brei und Meister Busso tut das Gift rein. Er hat einen Stechapfelsud unter Verschluss.« »Ich dachte immer, der muss mitkochen?« Die Kleine quietscht wieder. »Hört euch den an! Ein Doktor Allwissend. Bist du für die Gäule oder bist du ein Medicus?« »Ich hab gesagt, du sollst in den Keller gehn, Gerda! Spiel dich hier nicht auf, du Früchtchen, weil du – « »Weil ich was?« »Gar nichts.« »Und wenn ich nun nicht gehe? Was dann?« Die sind ja hier wie Hund und Katze. Heinrich mischt sich ein. »Wenn sie sich vor den Ratten fürchtet – ich gehe gern.« »Huch, wie ritterlich! So einen brauchen wir, der uns die Arbeit abnimmt!« »Von mir aus geh!«, sagt die Köchin mürrisch. »Nimm einen Kienspan mit runter, es wird schon dunkel. Das Gewölbe rechts. Aber denk nicht, dass du was abzweigen kannst. Ich gucke hinterher nach. Und pfeif auf dem ganzen Weg, damit du nichts in den Mund steckst!«
Heinrich hätte sie am liebsten alle zum Teufel gewünscht, aber er macht gute Miene zum bösen Spiel. Immerhin bekommt er die Kellerräume zu sehen, und pfeifen – pfeifen wollte er sowieso. Aber da unten gibt es keine Verstecke, keine Gänge, keine Geheimnisse. Als er wieder zurück ist in der Küche, haben sich die Knechte und Mägde des Hauses eingefunden. Auf der einen Seite die Sophia-Leute, auf der anderen die des Hausherrn. Niemand grüßt. Jeder greift sich einen Löffel, man schart sich stumm um den Tisch mit dem Hirsebrei und schaufelt in sich hinein, was man abbekommt. Heinrich kriegt zwar auch einen Löffel, aber Platz macht man ihm nur widerwillig, und immer sind ihm fremde Ellenbogen im Weg. Die drei Reitknechte Sophias, mit denen er sich vorhin angelegt hat, stecken mit den anderen die Köpfe zusammen und tuscheln. Werden nun wohl rundum ausposaunen, dass er ein unverschämter Kerl ist, der sich hinter der Herrin versteckt und den anderen Scherereien macht. Er erntet bitterböse Blicke, und immer wieder ist ein Löffel gerade da, wo er hinlangen will. Sehr satt wird er hier nicht. – Als er endlich sein Lager im Stroh beziehen kann, ist er hundemüde. Leider ist es ihm nicht gelungen, einen Kerzenstummel oder eine Fackel beiseite zu schaffen. So muss die Suche bis morgen warten. Grässlich ist es auf Landaus Burg, mit diesen missgelaunten und feindlichen Leuten, mit ihrem Rattengift und ihren Bosheiten untereinander und gegen ihn. Und kein Walther bisher. Der Tag war anstrengend. Er schläft, eh er dazu kommt, zu überlegen, wie’s weitergeht. – Zur hämischen Freude der Stallknechte muss er sich am anderen Morgen die Strohhalme aus dem Haar ziehen. Noch während er an seinem Stück Brot kaut, erscheint die Dame Sophia, gestiefelt und gespornt, und will mit ihm ausreiten. Sie
bewältigen eine anstrengende Tour; die Dame scheint es darauf angelegt zu haben, sich und ihn zu ermüden. Kein Moment, wo man nicht auf den Weg achten müsste. Keine Viertelstunde, in der man ruhig nachdenken könnte. Und dass man mit ihr über irgendetwas ins Gespräch kommen könnte – die Hoffnung hat er schon gestern aufgegeben. Als sie auf dem Heimweg sind, ist ein Hornsignal von der Burg zu hören. »Schneller!«, sagt Sophia und treibt ihr Pferd derart mit der Gerte an, dass es widerwillig buckelt. »Landau kommt nach Haus. Morgen ist Markt, das lässt er sich nicht entgehen. Los! Ich will vor ihm auf der Burg sein.« Sie jagen die bereits abgehetzten Tiere vorwärts. Heinrich mustert die Frau aus den Augenwinkeln. Warum will sie vor ihrem Mann da sein? Will sie ihn begrüßen? Offenbar hat sie den forschenden Blick bemerkt. »Martin hat dir bestimmt was erzählt über mich und meinen Gemahl!«, ruft sie Heinrich zu, im wilden Galopp neben ihm. »Wundere dich nicht. Ich hetze mich nicht ab, um ihm Guten Tag zu sagen, sondern um ihm aus dem Weg gehen zu können!« Sie wartet keine Antwort ab, sondern knallt ihrem Pferd die Sporen in den Leib. Sie preschen quer durchs Feld, so können sie abkürzen und vor Landau da sein. Heinrich schafft es sogar noch, die Pferde abzusatteln und trockenzureiben. Dann hört er das Getrappel vieler Hufe von der Brücke her. Er schleicht sich auf den Hof und bezieht sein Versteck im Schatten eines Torwegs. Ein fantastisches Schauspiel, diese Ankunft des Burgherrn! Einige Schweine rennen quiekend über den Hof, gejagt von ein paar grinsenden Kerlen mit Spießen. Morgen ist anscheinend besseres Essen angesagt.
Jetzt sieht Heinrich das erste Mal den Mann, hinter dem er her ist. Als er von seinem kräftigen Pferd abgestiegen ist, überragt er seine Leute um einen halben Kopf. Ein dürrer, schlaksiger Kerl. Er nimmt den Lederhelm ab und enthüllt ein blasses Gesicht mit schmalen Lippen und scharfer Nase, die Augen liegen tief unter den buschigen Augenbrauen. Das graue Haar lichtet sich bereits. Ein Mann, der so aussieht, als sei er mit allem im Leben unzufrieden. Und er fängt auch gleich an, mit schneidender Stimme Befehle zu rufen und seine Männer hin und her zu jagen. Diese Stimme hat Ortrud in den Ohren gegellt auf ihrer Folter, als man sie zwingen wollte, ihren Liebsten zu verraten!, zuckt es Heinrich durch den Kopf. Diese Stimme hat befohlen, ihr die Kehle durchzuschneiden. Hat Anweisung gegeben, Walther zu verschleppen, wohin auch immer… Er ballt die Fäuste, fühlt, wie ihm das Blut in den Ohren rauscht. Ruhig, besonnen!, redet er sich selbst zu. Nur mit klaren Sinnen kann man den Feind bekämpfen. Und dann fällt ihm ein, dass er hier, verborgen zwischen Hemd und Haut, das mit sich trägt, wofür dieser Mann da bereit war, einen Mord zu begehen – die andere Hälfte des Briefes! Ein wildes Triumphgefühl durchfährt ihn. Noch weiß ich nicht, was geschehen wird. Aber ich stehe hier im Schatten, du kennst mich nicht, und ich besitze, was du so sehr haben möchtest! Zur Hölle mit dir! Ich werde gewinnen in diesem üblen Spiel! Das spillrige blonde Mädchen aus der Küche, Gerda, nähert sich dem Herren mit einem vollen Becher und knickst, und der tätschelt sie sehr eindeutig. Daher weht also der Wind. Darum kann die Kleine in der Küche auftrumpfen und machen was ihr gefällt… Sie ist die Auserwählte des Burgherrn. Der graubärtige Busso kommt kriecherisch heran und redet leise auf Landau ein, zeigt in Richtung Frauengemächer. Was wird er wohl alles zu berichten haben? Dass die Dame ihren
Wagen kaputtgefahren hat? Dass sie einen Stallburschen im Wald aufgelesen hat, so hässlich wie die Nacht? Und dann sieht er etwas, was sein Herz schneller schlagen lässt. Die beiden Männer gehen auf das Haus zu, und dabei zieht Busso unter seinem Mantel zwei Dinge hervor: Einen Abakus – ein Gestell mit Rechenkugeln – und ein grob in Leinen eingeschlagenes Buch. Der Hausverwalter führt also seinem Herrn die Wirtschaft. Das heißt, er kann rechnen – und schreiben. Einer muss dabei gewesen sein bei Landaus Mördertruppe, der die richtigen Papiere erkennen und die falschen, seine, Heinrichs Liedsammlung aussondern konnte. Einer musste die Kunst des Lesens und Schreibens beherrschen. Dieser Busso muss dabei gewesen sein auf dem Hof Ortruds. Endlich mal ein Anhaltspunkt. Über den müsste er etwas herauskriegen. »He, du Pockengesicht!« Heinrich schreckt zusammen. Die Kammerfrau Sophias steht hinter ihm. »Befehl von meiner Herrin: Sobald ihr Mann im Haus verschwunden ist, nimmst du den Fuchs, auf dem du gestern gekommen bist, und reitest ihn runter ins Dorf. Stell ihn irgendwo unter.« »Und wie komm ich zurück?« »Was geht mich das an? Hast du keine Füße, oder was? Los, los!« »Morgen ist Markt, nicht wahr?«, sagt er, um was zu sagen. »Denkst du, da kannst du Maulaffen feilhalten? Die Herrin reitet bestimmt mit dir aus!« Feine Aussichten. Wenn er Pech hat, wird er Lorenz und Lucia gar nicht zu Gesicht bekommen. Die müssen selbst einen Weg finden, wie sie in der Burg bleiben. Eins muss man der Herrin lassen: Sie ist wirklich umsichtig. Klar, falls Landau in den Stall gehen sollte, könnte er Martins Pferd erkennen!
Als er den steilen Burgberg heute zum zweiten Mal herunterreitet, wird es schon dämmrig. Ihm ist klar, dass er zu Fuß erst tief in der Nacht zurück sein wird. Die Zeit läuft weg. Er müsste sich diesen Busso vornehmen. Hier auf Landau wird man wirklich auf Trab gehalten, das ist wahr.
Der Rückweg wird so mühsam, wie er befürchtet hat. Lustlos schleppt er sich den Feldweg vom Dorf hinauf zur Burg. Inzwischen ist es stockfinster, er stolpert über Wurzeln und Steine. Doch was ihn dann zu Fall bringt, ist etwas Lebendiges. Etwas, das winselt, ebenso, wie er vor Schreck laut aufschreit, als er stürzt. Er fängt sich mit den Händen ab. Etwas Feuchtes, Warmes berührt sein Gesicht. Eine Hundezunge. Das Winseln hört gar nicht auf. Lythande freut sich wie verrückt, ihn gefunden zu haben. Heinrich steht auf und reibt sich die wunden Handballen. »Lorenz?«, ruft er aufs Geratewohl in die Nacht. Lythande hechelt wieder davon, kommt zurück. Schließlich hört Heinrich die Schritte. »Lorenz, was machst du hier?« Der Junge ist heran, atemlos, scheint gerannt zu sein, obwohl man kaum die Hand vor Augen sieht. »Heinrich, du? – Dachte, du bist da oben auf der Burg.« Jetzt ist er so nahe, dass Heinrich die schemenhafte Gestalt erkennen kann. Sie umarmen einander hastig. »Was stürzt du hier durch die Nacht? – Und wo ist Lucia?« »Da hast du dir die Antwort auf deine erste Frage gleich selbst gegeben.« Es klingt grimmig. »Sie ist abgehauen.« »Und du hast sie laufen lassen?« »Ich lauf ihr gerade nach, wie du siehst. Aber das ist bei Nacht nicht so ganz einfach. Als Lythande eben zurückkam
und so gejault hat, hab ich gehofft, sie hätte sie gefunden. Dabei bist du es bloß. Und während ich hier mit dir quatsche, ist sie sowieso über alle Berge. – Ist mir auch egal«, setzt er hinzu. Es soll wohl trotzig klingen, aber hört sich eher verzweifelt an. Im ersten Augenblick will Heinrich aufbrausen. Doch dann denkt er an Lucias eigene Worte – sie kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Er legt Lorenz begütigend die Hand auf die Schulter. »Die wird schon zurückkommen. Gib’s auf, heute Nacht findest du sie sowieso nicht mehr.« Lorenz seufzt. »Pass du mal auf so ein Mädchen auf! Wolf, du weißt doch, wir – wir lieben uns nicht besonders. Ich geb’s ja zu, ich hab sie angebrüllt. Aber sie hat nach Lythande getreten, als die ihr ein Stück Brot aus der Tasche geklaut hat. Ich lasse meinen Hund nicht treten, und schon gar nicht von der! Jedenfalls, sie hat gekreischt. Dass sie auch ohne mich auskommt, und dass sie’s uns schon zeigen wird, und dass wir ihr noch alle dankbar sein werden oder so einen Unsinn.« Während Heinrich ihn zu der Strohmiete begleitet, in der er sein Nachtlager aufgeschlagen hat, fragt Lorenz: »Und? Wie läuft’s da oben auf der Burg?« »Nicht gerade sehr rosig!«, knurrt Heinrich. »Die Leute von Sophia und die von Landau kläffen sich gegenseitig an wie ein paar Dorfköter, die ihr Revier verteidigen, und ich sitze zwischen den Stühlen. Hab mich auch schon angelegt – ausgerechnet mit der falschen Seite. Aber die hatten das hier!« Er zieht den Siegelring Walthers aus der Tasche. Lorenz befühlt ihn im Dunkel. »Was soll das?«, fragt er. »Wirkt eher wie versilbertes Glas statt wie Gold. Hat das wirklich Wert?« Heinrich wird plötzlich die Kehle eng. Ihm ist etwas eingefallen. »Das ist – das ist der Ring Herrn Walthers!«,
bringt er vor. »Und jetzt, wo du mir das sagst mit dem versilberten Glas – da fällt mir was ein – er hat nie darüber gesprochen, aber es gibt ein Lied von ihm. Lorenz! Das ist der Ring, den ihm Frau Ortrud gegeben hat. Sozusagen als Ehering. In dem Lied heißt es: ›Ich nehm von dir den Ring aus Glas/Als sei’s ein Königinnengold.‹ Meine Güte, da denke ich im Nachhinein, das war’s wert, sich deshalb von diesen Kerlen verprügeln zu lassen.« Eine Weile sagt keiner der beiden etwas. Der Mord an Ortrud hängt wie ein großer, bedrückender Schatten über ihnen. »Wir müssen ihn finden!«, sagt Heinrich mit heiserer Stimme. »Wir müssen! Nicht bloß wegen diesem Brief. Wegen – ja, wegen Ortrud.« »Aber – wieso hatte die falsche Seite den Ring?«, fragt Lorenz schließlich. »Belügt dich diese Sophia vielleicht? Weiß sie doch mehr, als sie sagt?« Heinrich schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Lorenz. Aber mein Gefühl sagt mir: Zwischen dieser Frau und Landau klaffen Welten. Die machen keine gemeinsame Sache. Da bin ich mir sicher.« »Landau ist jetzt da?« »Das kann man wohl sagen. Ich hab selten jemanden gesehen, der mir so widerlich ist wie der.« »Kann ich mir denken«, sagt Lorenz mitfühlend. »Und du glaubst, dein Meister ist auf der Burg?« »Wenn er da ist – dann werden wir ihn finden, und wenn wir ihn aus der Erde ausgraben müssten.« »Das gibt nur wieder Mord und Totschlag«, murmelt Lorenz. Und plötzlich wird ihm offenbar bewusst, dass er jetzt ganz auf sich gestellt ist. »Ich wollte, du bliebest hier, Wolf«, sagt er verzagt.
»Morgen ist Markttag, wenn du es geschickt anstellst, sind wir schon bald wieder beisammen – und schließlich hast du noch Lythande.« Lorenz nickt. Heinrich geht mit dem Gefühl, die Kinder, die ihm anvertraut waren, unbehütet draußen in der Nacht zurückzulassen. Todmüde, fußwund und mit zerschundenen Knien und Händen erreicht er weit nach Mitternacht die Burg.
Markttag mit Überraschungen
Er schläft spät ein und wird unsanft geweckt. »He, willst du den ganzen Morgen verschlafen?«, fragt eine barsche Stimme. »Die Herrin wartet auf dich!« Sophias robuste und schlecht gelaunte Kammerfrau steht vor Tau und Tag im Stall. – Heinrich schüttelt sich das Heu aus Haar und Kleidung und folgt ihr in den »Damentrakt«, wo ihm als Erstes ein Wams und ein Überwurf in den Farben der Herrin – purpurrot und schwarz – verpasst wird. Er kommt sich vor wie ein bunter Hund. Die Kammerfrau mustert ihn abschätzig. »Dir kann man anziehen, was man will, du bist und bleibst ein hässlicher Vogel und deine ruinierte Visage macht alles nicht besser«, merkt sie an. »Sehr freundlich«, erwidert er und wirft ihr einen so eisigen Wolfsblick zu, dass sie verstummt. Die ganze Maskerade missfällt ihm.
An so was wie Frühstück ist nicht zu denken. Sophia schlägt ungeduldig mit der Reitpeitsche in ihre behandschuhte Linke. »Ich habe für dich einen der Schimmel satteln lassen, die müssen sich endlich mal an den Reiter gewöhnen!«, verkündet sie. Aha. Daher weht der Wind. Die Dame will ihren Gemahl auf die Reitkünste ihres neuen Stallburschen aufmerksam machen. Er, Heinrich, bekommt ein Wagenpferd, das überhaupt nicht zugeritten ist.
Erwartungsgemäß gebärdet sich das Tier wie toll. Als Heinrich hinter, vor, neben Sophia über den Hof und durch das weit offene Tor reitet, buckelt und steigt das Tier, als hätte man ihm eine Distel unter den Schweif gebunden. Bei aller Mühe, die Heinrich hat, bekommt er doch mit, dass das scharfnasige Profil des Hausherrn am Fenster seines Trakts erscheint. Anfangs kämpft er nur mit dem Pferd. Als er es endlich gebändigt hat, sind Mensch und Tier schweißgebadet von der Anstrengung, und Sophia lächelt anerkennend. »Du bleibst an meiner Seite heute«, sagt sie. »Ich brauche dich.« Worauf will sie hinaus? Irgendwie soll er vorgeführt werden, über Aufsehen erregende Reitkünste hinaus. Die Rolle der Stallburschen… »Darf ich etwas erbitten?«, sagt er unverblümt. Er hat das Spiel satt. »Rede.« »Vielleicht wird heute auf dem Markt ein Kind auftauchen. Ein Gauklermädchen. Könntet Ihr Eure schützende Hand über das Kind halten, falls es nötig sein sollte?« Sophia schweigt und guckt schräg zu ihm hinüber. »Da könnte ja jeder kommen! Ein Gauklermädchen also, auf das du hier wartest. Ich verstehe.« Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Mir ist schon klar, dass du irgendwas im Schilde führst«, sagt sie dann. »Diese ganze Sache mit der Fallgrube und der Rettung… du wolltest unbedingt auf die Burg. Wolltest du in Landaus Nähe? Das will eigentlich keiner, der seinen Ruf kennt. Also, hast du was vor? Nein, ich will nichts wissen. Solange du mir nicht in die Quere kommst, ist mir egal, was du tun willst. Zeig mir das Mädchen, falls es da ist. – So, und nun im gestreckten Galopp auf den Burghof, wie Donner und Blitz!« –
Ihr Auftritt kann sich wirklich mit Donner und Blitz messen. Kreischend raffen die Marktleute ihr Zeug und machen Platz, Gänse schnattern, Federn stieben, Kinder flüchten und Männer fluchen. Als sie schließlich ihre Tiere zum Stehen gebracht haben und Heinrich der Herrin aus dem Sattel hilft, baut sich auch sofort der Burgherr höchstselbst in seiner ganzen Länge vor ihnen auf. »Was zum Teufel soll das bedeuten? Hat dein neuer – äh, Bursche da die Gäule nicht im Griff? Ich lasse ihn peitschen, bis ihm die Haut in Fetzen hängt!« »Peitsche deine eigenen Leute, so viel du willst, Ernst! Aber meinen Dienern wirst du kein Haar krümmen, dafür steh ich ein. Wolf ist ein hervorragender Reiter, er hat auf meinen Befehl gehandelt.« »Ein hervorragender Reiter, hört an!« Landaus Stimme klingt höhnisch. »Und was ist mit seinem Gesicht?« »Ich hatte die Pocken, Herr!«, sagt Heinrich gelassen, und der Burgherr lacht auf. »Die Pocken! Meine liebe Sophia, du wirst immer weniger wählerisch, was? Aber wenn er ein hervorragender Reiter ist…« Er dreht ihnen den Rücken zu. Einer von Sophias Knechten nimmt die Pferde ab, der, mit dem Heinrich gestern zuerst zusammengeraten ist. »Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen«, knurrt er Heinrich ins Ohr. Der sieht ihn nur mit einem seiner Eisblicke an, doch wohl ist ihm dabei nicht in seiner Haut. »Bring die Pferde in den Stall und reib sie trocken«, herrscht Sophia den Kerl an. Der Bursche verschwindet mit den Tieren und Heinrich findet endlich Gelegenheit, sich umzusehen, ob Lorenz da ist – und hoffentlich auch Lucia. Er reckt den Hals. Weil der Boden so unglaublich nass und schmutzig ist, haben die meisten Verkäufer kleine Holzpodeste errichtet, auf denen sie ihre Ware ausstellen. Landaus Markt ist besser besucht, als Heinrich annahm. Bauern und Bäuerinnen in Holzschuhen und Wollumhängen bieten Nüsse und rotbackige Äpfel an, Kohl
und Rüben, Honig in großen Tontöpfen. Es ist Erntezeit gewesen. Lebende Gänse und Ziegen sorgen für Krach, und überm Rost werden Würste gebraten und erfüllen den Hof mit würzig verbrannten Gerüchen. Auch ein paar richtige Kaufleute sind da mit Stoffen, Lederwaren, Tongeschirr und eisernen Geräten. Da ist Lorenz! Er ist von einem Kreis begeisterter Zuschauer umgeben, Kinder und Erwachsene bunt gemischt, und führt mit Lythande Kunststückchen der einfachsten Art vor, lässt sie auf zwei Beinen gehen, sich tot stellen, hinken, »rechnen« und »zählen«. In seinem Hut liegen schon ein paar Münzen. Andere Gaukler sind ebenfalls bei der Arbeit: ein Seiltänzer, eine Frau, die ihr Kind abgerichtet hat, auf den Händen zu laufen, ein weiß geschminkter junger Mann, der die Leute hinter ihrem Rücken nachmacht. Alle haben längst nicht so viel Zulauf wie Lorenz und Lythande. Von Lucia ist nichts zu sehen. Landaus Männer bewachen mit Argusaugen die Geschäfte, um von jedem Verkauf noch einen Zehnten einzustreichen, und der Burgherr ist sich nicht zu schade, auf einem erhöhten Stuhl sitzend, den Beutel aufzuhalten, wenn abgeliefert wird. »Folg mir«, sagt Sophia kurz angebunden. »Ich sehe mir die Waren an.« Sie beginnt, von Stand zu Stand zu schlendern, begutachtet einen Stoff, zeigt ihn Heinrich, überlässt ihm großzügig ihre Geldtasche. »Zahle für mich. Und wenn dir selbst was gefällt – bitte.« Die Augen Landaus verfolgen sie auf Schritt und Tritt. »Ist das Mädchen da?«, fragt die Herrin beiläufig. Heinrich schüttelt den Kopf. Wo mag Lucia stecken? Indessen ist Sophia auf den dicht umringten Lorenz aufmerksam geworden. Sie macht kehrt und geht quer über den Platz, durch die sich verneigende Menge.
»Zeig mir mehr von deinen Kunststücken!«, befiehlt sie. Lythande wedelt freudig, als sie Heinrich erkennt, wird aber von Lorenz zurückgerufen. »Gern, edle Herrin! Zu Diensten!« Er verneigt sich, und Lythande mit ihm. Sophia lacht, und Lythande führt vor, was sie alles kann. »Lucia?«, zischt Heinrich, während die Zuschauer klatschen. Lorenz zuckt die Achseln. Die Dame ist offensichtlich sehr angetan von Lorenz und Lythande. »Es ist so Sitte, dass am Abend nach dem Markt Gäste bei uns sind«, sagt sie. »Ich würde dich gern hier behalten, damit du etwas vorführst.« Lorenz guckt verlegen. »Edle Herrin«, beginnt er, »der Herr von Landau hat bereits…« »He, he!«, tönt die scharfe Stimme des Burgherren herüber. »Den Gaukler nehme ich für heute Abend in Dienst, nicht du, meine Liebe! Ich habe zu bestimmen, was heute Abend passiert! Ist das klar?« Seine Frau runzelt die Brauen. Heinrich sieht, dass ihr vor Zorn die Röte in die Stirn schießt. »Nichts könnte klarer sein«, sagt sie eisig. Ihr Blick fällt auf Heinrich. »Nun, ich bin nicht auf die kleinen schäbigen Marktgaukler angewiesen. Ich habe einen richtigen Spielmann zu bieten, mit wirklicher Kunst. Er hier kann auch Lieder.« Sie zeigt auf Heinrich. Gemurmel. Landau lacht laut auf. »Das wird ein reizender Abend, wenn der Lieder singt.«
Rattengift und Liebeslieder
Erst am späten Nachmittag hat Heinrich endlich Gelegenheit, mit Lorenz zu reden. Im Pferdestall trifft er ihn endlich. Die beiden umarmen sich hastig, dann fragt Heinrich: »Keine Spur von Lucia?« Lorenz schüttelt betreten den Kopf. »Ob sie zu den Kindern ist?« »Red keinen Unsinn, sie hat sich immer allein durchgeschlagen.« »Ja, weil sie damals Angst vorm Oger hatte, der die Kinder klaut. Aber den Oger haben wir schließlich besiegt. – Die Kinder müssen hier in der Gegend sein, die Leute im Dorf unten reden darüber. Offen gesagt: Die wollen sie verjagen, wenn sie sich blicken lassen.« Heinrich starrt finster zu Boden. »Wenn sie sich ihnen wieder angeschlossen hat, können wir’s auch nicht ändern.« Seine Gleichgültigkeit ist nur aufgesetzt. Er weiß nicht zu sagen, warum es ihn so schmerzt, dass Lucia sich vielleicht von ihnen getrennt haben könnte… Er wechselt das Thema. »Ist dir eigentlich klar, dass wir heute Abend gegeneinander antreten werden, du als Gaukler, ich als Sänger? Ich auf Seiten der Herrin, du als Vertreter dieses Landau?« »Ach du liebes bisschen«, sagt Lorenz entgeistert. »Also so soll das aussehen?« Plötzlich beginnt er zu kichern. »Wolf, unter uns gesprochen, bei dem Publikum, was hier zu erwarten ist, hab ich wahrscheinlich die besseren Chancen!« »Sei nicht albern. Als wenn es darauf ankäme! Wir müssen es geschickt machen, so, dass dieser Kerl irgendwie von uns in die Klemme genommen wird. Ich hab bloß keine Ahnung wie.
Guck auf mich, wie immer, ich gebe dir mit Handzeichen Anweisungen fürs Spiel. Übrigens, ich bin hier durch Keller und Boden gekrochen. Keine Spur von dem Entführten.« »Er muss aber hier sein«, sagt Lorenz entschieden. »In dem Dorf da unten haben mir ein paar Jungen gesagt, sie hätten gesehen, dass der Burgherr einen Gefangenen mit sich geführt hätte. Einen Mann, dessen Füße unterm Pferdebauch zusammengebunden waren.« Heinrich stöhnt auf, lehnt den Kopf gegen den rauen Holzpfosten des Stalls. »Aber wo ist er, wo, wo? Gott, erleuchte meine Sinne! Lorenz, ich fühl mich so hilflos.« »So kenn ich dich gar nicht.« Der Junge sieht ihn mitleidig an und streichelt seine Hündin. »Kopf hoch, Wolf. Bisher haben wir immer… He, Lythande! Lass das! Was ist mit dir, meine Blanchefleur, meine weiße Lilie?« Die Hündin würgt und schluckt, ihr Bauch zieht sich krampfhaft ein, sie schleicht umher und zittert. »Was kann sie haben? Sie benimmt sich, als wenn sie einen sperrigen Knochen verschluckt hätte. Aber heute hat sie, glaube ich, nur Weizenschrot gefressen.« »Weizenschrot? Was für Weizenschrot?« »Da hinten bei dem alten Friedhof hatte jemand einen Napf mit Weizenschrot abgestellt.« Lorenz grinst. »Da haben wir uns bedient.« Heinrich sieht ihn starr an. »Was heißt das: Ihr habt euch bedient? Du auch?« »Himmel, ja, ein Händchen voll. Die Reste aus der Küche waren nicht gerade sehr üppig.« »Oh Gott, erbarme dich«, murmelt Heinrich. »Wie lange ist das her?« »Vor kurzem erst. Bevor wir uns hier getroffen haben, bin ich rumgeschlichen und – «
Heinrich packt zwei hölzerne Tränkeimer, die neben den Pferdeständern stehen. »Trink, um alles in der Welt, trink, so viel du kannst! Ich kümmere mich um Lythande.« Er packt Lythande und drückt ihre Schnauze ins Wasser, doch sie protestiert fiepend, windet sich los und drückt sich mit eingekniffenem Schwanz in eine Ecke. »Wolf, was ist denn los? Warum sollen wir trinken?« »Um eure Mägen wieder zu entleeren. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Tu, was ich dir sage, wenn du nicht willst, dass – Dieses Weizenschrot – « er zögert, es auszusprechen. »Ihm ist etwas beigemischt. Mach schnell! Ihr müsst euch erbrechen, bevor dies – dies Zeug in euren Mägen zu wirken beginnt.« »Aber Wolf, ich fühle mich bestens!« »Wirst du wohl endlich!« Heinrich zwingt Lorenz den Wassereimer an die Lippen, kippt rücksichtslos. »Schluck endlich! Schluck!« Der Junge würgt, prustet. »So, und nun raus mit dir und den Finger in den Hals!« Heinrich wendet sich wieder Lythande zu, aber die weicht ihm mit gesträubtem Nackenfell aus und flieht nach draußen. Für ihren Hundeverstand hat er sich feindlich gegen ihren Herrn benommen, sie hat Angst. Heinrich sinkt in die Knie, presst die gefalteten Hände vor die Augen. »Herr Jesus, erbarme dich, lass meinen Gefährten und sein Tier nicht sterben!«, flüstert er. Beginnt das Vaterunser zu beten. Horcht dabei nach draußen. Taumelig steht Lorenz in der Tür, klitschnass und bleich, auf seinen Armen die zitternde Hündin. »Was hat das zu bedeuten, Wolf? Ich hab mir fast die Seele aus dem Leib gekotzt. Und Lythande – na, die hat es ohne Hilfe von Wasser fertig gebracht. Es deutete ja sowieso alles drauf hin, dass sie einen spitzen Knochen im Schlund hatte.«
»Der spitze Knochen, der – Wolf! Du – was hast du nur?« Heinrichs Gesicht ist totenbleich. »Der Weizenschrot, den sie da auf den Friedhof bringen, der enthält Rattengift.« »Was?!« Lorenz schreit. »Das ist – aber das kann gar nicht sein – Wolf, ich fühl mich – ich fühl mich doch gesund – und Lythande – sie hat wirklich Knochen und Klauen eines Vogels erbrochen, den sie zu hastig gefressen hatte…« Er runzelt plötzlich die Stirn. »Warte mal. Wieso Rattengift? Die Schale stand auf einem Brett. Und dabei war ein Löffel. Und daneben ein Krug mit Dünnbier. Von dem hab ich auch einen Schluck genommen. Wie abgestellt von jemandem. Nicht für Ratten, für einen Menschen. Oder vergiften sie die Ratten neuerdings auch mit Bier? Und fressen die Tierchen vom Löffel?« Er schneidet eine Grimasse, grinst zaghaft. Heinrich schluckt. »Wie? Ein Brett? Ein Löffel? Dünnbier?«, wiederholt er wie betäubt. Dann packt er den Jungen an den Schultern und rüttelt ihn. »Und dir geht’s gut?« Lythande knurrt, ihr passt das alles nicht. Lorenz lässt sie vom Arm springen. »Mir geht’s blendend, nur mein Magen ist leer. Hunger hab ich.« Er lacht. »Lach nicht! Lach nicht! Oh Gott, ich dachte, ihr seid vergiftet.« Er lehnt seine Stirn gegen die des Jungen, atmet tief und stockend aus. Plötzlich beginnt auch er zu lachen. Die beiden boxen sich gegen die Schultern, umtänzeln einander. Lythande springt bellend herum. Heinrich lehnt sich erschöpft an die Stalltür, wischt sich das Gesicht mit der Faust ab. »Dem Herren sei Dank, dass – warte mal.« Er wird ernst. »Wie war das? Ein Brett mit Löffel und ein Krug – wie für einen Menschen? Was war ich für ein Trottel!« »Wenn du meinst«, sagt Lorenz achselzuckend. (Manchmal ist es ganz schön, wenn der »Meister« auch Fehler macht.) »Aber worauf willst hinaus?«
»Diese ganze Sache mit dem Rattengift – niemand sollte den alten Friedhof betreten außer diesem Busso, dem Verwalter Landaus. Niemand sollte wissen, wer oder was da ist. Dieser Friedhof ist der einzige Ort, wo ich nicht gesucht habe. Die verfallene Kapelle! Was für ein Versteck! Ich war wie blind. Stell dir vor, irgendwie kann ich immer noch nicht glauben, dass man einen solchen heiligen Ort für ein Verbrechen benutzt…« »Klosterschüler«, bemerkt Lorenz. Er hat mächtig Oberwasser. »Da siehst du’s mal wieder. Scheint so, als wenn dein großer Sänger ein paar Schritte von dir entfernt hockt, und du kriegst es nicht raus.« »Ich bin ein Esel, wie er im Buche steht«, sagt Heinrich reuig. »Am besten, wir – « Ihm bleibt der Satz im Halse stecken. Da kommen die drei Kerle, mit denen er sich angelegt hat, über den Hof, haben ihn und den Jungen beim Stall entdeckt, und wie es aussieht, wird Sophia diesmal nicht zur Stelle sein, wenn es Hiebe setzt: Auf dem Hof herrscht noch ein wildes Durcheinander, denn die Händler brechen auf. Karren werden beladen, Rufe schallen hin und her, das Vieh blökt – in dem Lärm geht der Krach einer Prügelei glatt unter. »Mach, dass du wegkommst!«, raunt Heinrich dem Jüngeren zu, »gleich gibt es Ärger.« Lorenz sieht ihn verständnislos an, und Heinrich nickt in Richtung der drei, die langsam, aber entschlossen näher kommen. Zu spät dämmert Lorenz, dass dies die Kerle sind, die Heinrichs Gesicht so zugerichtet haben. Er sprintet zwar los, aber einer der Männer vereitelt seinen Fluchtversuch, schnappt ihn und hebt ihn wie ein Fliegengewicht in die Höhe. »Was haben wir denn da gefangen?«
Jetzt ist Lythande auf dem Plan. Nicht, dass sie die Mutigste wäre – aber wenn es ihrem geliebten Herrn an den Kragen geht, sieht sie rot. Zähnefletschend stürzt sie sich auf die Angreifer – und wird noch im selben Moment von einem weiteren Kumpan am Nackenfell emporgerissen. Leider versteht der Mann wohl was von Hunden. Während Lorenz schreit wie am Spieß, wird die Hündin durchgeschüttelt, zu Boden geworfen und auf den Rücken gedreht, sodass sie unterwürfig wie ein Welpe dem Kerl zu Füßen liegt, der ihr die Hand auf die Kehle presst. Immerhin sind zwei der Angreifer jetzt beschäftigt, was zu Heinrichs Gunsten sein könnte, doch er will den Kampf vermeiden. Nein, er ist kein plumper Pferdeknecht wie die da. Er strafft sich, weiß, wie er wirkt, Junker Heinrich von Wenningen, wenn er sich so aufbaut wie jetzt: groß, breit, hässlich – und herrisch. »Lasst die beiden los, ich schlag mich nicht mit euch!«, befiehlt er in einem Ton, der keinen Widerstand duldet. Verunsichert blickt der Hundebändiger auf. Das nutzt die Hündin aus, windet sich los, beißt ihren Peiniger in die Hand und stiebt davon, während Lorenz den Kerl, der ihn festhält, mit Fußtritten traktiert. »Aufhören!«, donnert Heinrich und holt den Ring hervor. »Das da, das ist wertloses Zeug, das könnt ihr wiederhaben, ich war gar nicht scharf darauf, wollte es mir bloß ansehen.« Bevor einer der Männer zugreifen kann, hat er die Hand darum wieder geschlossen. »Erst verratet ihr mir, woher ihr den Ring habt. – Und setz den Jungen ab, verdammt noch mal!« Und auch Lorenz kommt frei. »Weshalb sollte ich mit dir reden?«, fragt der, der es auf Heinrich abgesehen hatte.
»Deswegen!« Plötzlich blitzt das Dolchmesser in Heinrichs Hand. Lorenz ruft geistesgegenwärtig: »Lythande, bei Fuß, hab Acht!« – was die Hündin dazu bewegt, heranzukommen und erwartungsvoll zu gucken. Die Männer mögen es für Angriffslust halten. Dass sie nur auf den Befehl, ein Kunststück vorzuführen, wartet, wissen sie ja nicht. »Schluss mit dem Streit!«, sagt Heinrich herrisch. »Sagt mir, wo der Ring her stammt und wir schließen Frieden. Keine Sorge, ich bin sowieso bald wieder weg. Und glaubt mir, das Ding ist nur aus Glas. Ich geb euch einen Groschen dafür. Das ist mehr, als er wert ist.« Die Männer murmeln, murren, gehorchen aber wie Hunde, die man scharf zurechtgewiesen hat. »Beim Spiel gewonnen«, brummt der eine. »Nun gib schon her!« »Gewonnen von wem?« »Einem von Landaus Leuten, kann dir doch egal sein.« »Und woher kann der ihn haben?« »Keine Ahnung, woher Landaus Leute was haben, interessiert uns nicht.« Eigentlich reicht Heinrich diese Information auch aus. Von Landaus Leuten, natürlich. Der Geisel abgenommen. Er wirft einem der Männer das Geld zu. »Frieden zwischen uns, solange ich noch auf der Burg bin. Danach seht ihr mich nie wieder. Schließlich sind wir alle Sophias Leute.« Sie brummen, nicken und räumen schließlich das Feld. Lorenz verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, hinter dem er verbergen will, wie beeindruckt er ist. »Manchmal benimmst du dich wie ein Junker, Klosterbruder!«
Viel zu schade um die Rüstung
So eine Sehne heilt schneller, als man denkt. Im nächsten Dorf hat eine alte Bäuerin Martin einen festen Verband aus gewachster Leinwand angelegt. Mit seinem Stock als Stütze hinkt er leidlich voran und das Maultier ist ja auch noch da. Aber dass man ein so kostbares Stück wie die Rüstung irgendwo in einer Schlucht verrotten lässt, das geht denn doch nicht an – noch dazu, wenn es ein Erbstück vom Vater ist. Das Muli trottet gemächlich mit gesenktem Kopf den Saumpfad entlang. Sein Reiter ist in Gedanken. Er merkt nicht einmal, dass es um ihn herum im Gehölz knackt und raschelt. Hier ist die Quelle. Hier haben sie das Feuer gemacht. Und hier ist er auf die drei gestoßen und verunglückt, und dieser seltsame Wolfs-Gaukler, der sich über seine Herkunft ausschweigt, hat ihm den Harnisch abgenommen – sehr fachmännisch – und ihn da hinuntergeworfen… Da. Martin reibt sich die Augen. Seine Rüstung kommt ihm entgegen, das polierte Metall wandelt den Berg hoch, leuchtet immer wieder auf in den paar Sonnenstrahlen, die sich durch das dicke Tannendach verirren. Und dann hinter ihm eine heisere kindliche Stimme: »Ladro, che vuoi? La preda e nostra!« »Wie? Was?« Er fährt herum. Hände holen ihn von seinem Maultier, zerren ihn zu Boden, er kommt mit dem verletzten Fuß auf, schreit. Vor ihm das Mädchen mit den riesigen Augen und rötlichen Haarschopf. Lucia. Aber sie ist nicht allein. Da sind andere Kinder, Jüngere, Ältere, Mädchen und Jungen, zerlumpt, abgemagert, mit unerbittlichem Blick. »Das ist unsere Beute!«, übersetzt einer Lucias Italienisch.
»Ich verstehe nicht!«, stammelt der junge Mann. Das Mädchen sieht ihn ernsthaft an. »Zu schade um das schöne Stück. Wir holen, wir verkaufen. Hilft leben.« »Wir? Was seid ihr für welche? Bist du nicht mit den Gauklern zusammen?« »Jetzt nicht. Später. Ich habe Kinder gefunden. Grinnocenti. Unschuldige. Meine Kinder. Kreuzzugskinder.« Martin erinnert sich an Wolfs Worte über die Vergangenheit dieses Mädchens. Er sieht sich um. Die mit der Rüstung sind jetzt auch am Weg angekommen, hoch aus der Schlucht. Starren ihn an, genauso ernsthaft, so unerbittlich, so – so alt. Insgesamt mögen es zwanzig oder fünfundzwanzig sein. Er versucht ein Lächeln. »Aber – das ist meine Rüstung. Ich wollte sie eben holen.« Lucia sagt gar nichts. Sie schüttelt nur langsam den Kopf. Nein. Selten hat ihm jemand auf so energische Weise Nein gesagt, wie dies Mädchen es ohne Worte getan hat. Trotzdem wagt er es, die Hand nach dem Helm auszustrecken. Lucia braucht nur das Kinn ein bisschen anzuheben. Schon wird er von kleinen schmutzigen Händen gepackt, gekrallt und festgehalten. »Wir nehmen auch Muli.« Eine ruhige Feststellung. Jetzt bekommt er es langsam mit der Angst zu tun. »He, Lucia! Ich kann nicht laufen, das weißt du doch! Bitte. Du kannst mich doch nicht hilflos hier lassen. Wolf hat es schließlich auch nicht getan.« Er hat offenbar die richtigen Worte gefunden. Ein paar halblaute Sätze in irgendeinem Kauderwelsch. Man lässt ihn los. Lucias Augen sind nachdenklich. »Gut. Wir können dich auf dem Muli mit zu nächstem Dorf nehmen. Und dann – « Sie macht die entsprechende Handbewegung des Einheimsens. Unmissverständlich.
Von seiner Rüstung wagt er gar nicht noch einmal anzufangen. Sie wird dem Maultier aufgeschnallt, er darf sich dazwischenklemmen, zwischen die einzelnen Teile. Ein Junge nimmt das Tier am Zügel. Die Kinder setzen sich in Bewegung. Lucia geht schweigend neben ihm her. Ab und zu bricht ein Sonnenstrahl durch und lässt ihr Haar aufleuchten wie eine Flamme. Martin kommt sich vor, als ob er träumte. Schließlich fragt er leise: »Wie hast du sie gefunden – die Unschuldigen?« »Ich hatte gehört, dass sie hier sind. Non fu dificile. Es war nicht schwer. So viele – die hinterlassen Spuren. Sie sind freundlich, keine Räuber. Und warum? Weil Leute barmherzig sind. Geben ihnen. Nicht wie anderswo. Aber es wird Winter. Und dann? Hunger, Kälte.« »Was soll werden?« »Wolf muss helfen.« »Wolf – aber wieso – « Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie nicht in der Richtung unterwegs sind, aus der er gekommen ist. »Wohin wollt ihr denn?« »Landau-Burg«, sagt Lucia und sieht zu ihm auf. »Du kennst ja den Weg.« Ihm wird beinah schlecht vor Angst. Dahin zurück? »Aber um Gottes willen – was habt ihr vor?« Das Mädchen zuckt die Achseln. »Wolf wird wissen.« Martin zieht die Zügel des Maultiers an. »Das – das könnt ihr doch nicht machen! Wisst ihr, wie gefährlich dieser Mann ist?« »Wolf ist auch da.« »Wolf – ja. Wolf ist – «, Martin sucht nach Worten. »Wolf ist klug und listig. Aber ihr – ihr habt gegenüber so einem Schurken gar keine Chance!« Lucia versetzt dem Maultier einen Schlag mit der flachen Hand, und es verfällt wieder in seinen Trott. »Hat schon andere Schurken gegeben«, sagt sie, und es klingt verächtlich. »Wir
haben geschafft. Wolf und Lorenz und ich. Kümmere dich nicht um uns. Wir gehen da hin.« Martin hat die Lider gesenkt. Er kommt sich feige und klein vor diesem Kind gegenüber. »Wolf wird Hilfe nötig haben«, sagt er halblaut. »Aber wenn Landau mich zu sehen bekommt, dann ist es aus für mich. Der denkt doch immer noch, ich bin mit seinem Brief unterwegs.« »Du sollst ja gar nicht mitkommen. Herr Martin!« Das Mädchen verzieht spöttisch den Mund. »Was meinst du damit?« Der junge Mann errötet. »Herren kümmern sich nur um sich. Nur fahrendes Volk hilft einander.« »Hast du schon einmal was von Ritterehre gehört?«, fragt Martin jetzt heftig und kommt sich dabei furchtbar albern vor. »Ritter helfen den Schwachen!« Sie nimmt es sofort auf, als wenn sie drauf gewartet hätte. »Gut! Also du hilfst uns. Und wir helfen Heinrich. Wie machen wir’s?« Martin schnappt nach Luft. So hatte er das nicht gemeint. Das geht alles so schnell! »Wir müssten uns einen Plan überlegen. Wenn ich erst einmal bei euch bleibe… Gut, bis vor die Burgmauern würde ich mitkommen. Solange mich keiner erkennt… Und vielleicht fällt mir was ein… Aber wie wollt ihr in die Burg gelangen? Markt ist erst wieder nächste Woche, und…« »Och – wir kommen schon rein«, sagt Lucia gelassen. »Du überlegst Plan, ja? Sehr gut.« Er sieht auf sie herunter, das rot glänzende Haar, die schmalen Schultern. Und ringsum diese ernsthaften Kinder, deren Führerin sie zu sein scheint. Die »Unschuldigen«. »Das ist wie in den Geschichten von früher. Als das Wünschen noch geholfen hat«, sagt er und versucht zu lächeln.
»Wünschen hilft«, erwidert das Mädchen knapp. »Wenn man auch was tut.« Sie ziehen den Pfad entlang, ein Maultier, beladen mit einem Verletzten und einer Rüstung, eine Schar Kinder, waffenlos, und diese Lucia, deren Wille sie zusammenhält… »Als das Wünschen noch geholfen hat«, murmelt er vor sich hin. Alles kommt ihm unwirklich vor, und Angst hat er auch. Ritter helfen den Schwachen. Bloß wie? Lucia beginnt leise zu singen.
Vergebliche Suche
»Was hast du jetzt vor?«, fragt Lorenz. »Ich will mir diesen Hausverwalter vornehmen. Der Kerl kann lesen und schreiben! Einer muss ja Walthers und meine Schriften auseinander gehalten haben! Und ohne den Briefteil von Walther ist sowieso alles nur eine halbe Sache. Den Meister finden ist nur das eine.« Bussos Zimmer ist nicht abgeschlossen. Wahrscheinlich geht er davon aus, dass sich niemand hineintraut. Lythande wird draußen postiert; sie wird Laut geben, wenn jemand über den Hof kommt. Lorenz behält den Gang im Auge. Es ist höchste Zeit, schon bricht die Abenddämmerung an. Der Raum ist klein, eng und heiß; es gibt einen Kamin, in dem ein paar Scheite knistern und der gleichzeitig Licht gibt. In Windeseile durchwühlt Heinrich die Schubladen und Schränke, sucht nach Geheimfächern oder einer losen Diele im Fußboden – nichts. Aber irgendwo muss der Halbenbrief sein! Eine Ecke ist voller verstaubter Papierrollen – aber an einer Stelle ist der Staub sorgfältig abgewischt. Heinrich nimmt die Rollen beiseite. Eine kleine Metalltür in der Wand, verschlossen. Er zieht seinen Dolch, um das Schloss aufzubrechen – da hört er Lorenz »Unter der Linden« pfeifen. Verdammt. Er hat gerade noch Zeit, aus der Tür zu schlüpfen und sie hinter sich zu schließen, als Busso schweren Tritts um die Ecke biegt. »Was habt ihr denn hier zu suchen, ihr Lumpenpack!«, fährt er die beiden an, die sich da auf dem Flur herumdrücken.
Heinrich liegt eine heftige Erwiderung auf den Lippen, aber zum Glück kommt ihm Lorenz zuvor, verbeugt sich fast bis zur Erde und erklärt: »Wir suchten nach einer ruhigen Stätte, Herr! Wo wir nun gehört haben, dass wir heute Abend gemeinsam auftreten sollen, dachten wir, dass wir vielleicht etwas Gemeinsames einstudieren könnten!« »Etwas Gemeinsames?« Der Verwalter läuft rot an unter seinem Bart. »Ja, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? So was hat die Welt noch nicht gehört! Du mit deinem Köter bist Herrn Landaus Gaukler und das Narbengesicht gehört zur Herrin! Etwas Gemeinsames! Ihr sollt gegeneinander auftreten, nicht zusammen! Wenn der eine Beifall kriegt, ärgert sich derjenige, der den anderen mitgebracht hat, so läuft das!« Er holt tief Luft, sieht plötzlich misstrauisch zwischen den beiden hin und her. »Sagt mal, kennt ihr euch etwa von früher?« Heinrich wird heiß. Um Himmels willen! Wenn der jetzt Verdacht schöpft! In seinem hochmütigsten Ton erklärt er: »Mein Einfall war das nicht, Meister Busso. Der Kleine hier hat mir den Vorschlag gemacht. Ich gebe mich nicht mit diesem Volk ab, was auf Jahrmärkten und in den Schänken Possen reißt. Ich singe höfische Lieder, ritterliche Kunst, falls Ihr versteht, was ich meine. So ein Narr mit einem Hund – das fehlte mir gerade!« »Hm.« Busso guckt schräg. »Ritterliche Kunst! Wird was Rechtes sein. Reihenweise werden sie schnarchen, unsere Gäste! Macht, dass ihr rauskommt, ihr habt hier nichts verloren – du schon gar nicht mit deiner Laute! Du gehörst auf die Seite der Dame Sophia! Gemeinsam auftreten! Ich denke, ich höre nicht richtig!« Immer noch vor sich hin schimpfend, entfernt er sich.
Die beiden Freunde sehen sich an. »Wenn der uns jetzt in irgendeinen Zusammenhang gebracht hat – « »Warum hast du gesagt, wir wollen gemeinsam auftreten? Da lag das doch nahe; dass er uns zusammenbringt – « »Aber es war die einzige Erklärung, die irgendwie einleuchtend war! Wäre dir was Besseres eingefallen?« Heinrich zuckt die Achseln. »Ich nehme an, dass die auf drei Gaukler angesetzt waren, als sie uns das geklaut haben, wovon sie dachten, es ist das Richtige. Ein Mädchen dabei und einer mit der Wolfsmaske. Die Maske hab ich hier auf der Burg nicht getragen, nur Sophia hat sie einmal zu sehen bekommen. Trotzdem – wir müssen vorsichtig sein. Und gefunden hab ich hier auch nichts. Mist. Der Kerl kam zu früh, ich bin gestört worden. Irgendwann muss ich’s noch mal versuchen. Übrigens, am liebsten würde ich unter irgend einem Vorwand unseren ganzen Auftritt absagen und gleich auf diesem Friedhof nachsehen…« »Bei Nacht auf den Friedhof? Bist du noch zu retten? Da ist es nicht geheuer, Wolf!« »Du bist doch auch da herumspaziert und hast Weizenschrot genascht…« »Am Tag, ja! Weißt du nicht, dass die Seelen der Verstorbenen nachts bei Vollmond aufstehen und nach den Lebenden greifen?« »Erstens ist kein Vollmond und zweitens ist das dummer Aberglaube. Und drittens, wenn Herr Walther wirklich irgendwo auf diesem Friedhof gefangen ist, dann ist mir das sowieso alles egal. Dann müssen wir hin, und zwar so schnell es geht. Ach, übrigens: Und viertens, wenn ich jetzt nicht mit meiner Laute wieder im Frauentrakt erscheine, werden die nächsten Leute misstrauisch und wir kriegen noch mehr Ärger. Sieh zu, dass du mit Lythande noch irgendetwas rausfindest!
Und triff mich bei Sophia, bevor dies so genannte ›Fest‹ beginnt!«
Herrn Landaus Fest
Heinrich stimmt die Laute zum zigsten Mal und zerkaut sich vor Ungeduld die Lippen. Noch immer wartet er im Vorzimmer auf die Herrin, die mit ihrem Putz beschäftigt ist. Längst hört man aus dem Saal das Gelächter und Gegröle der Männer. Es hört sich an, als ob sie mit der Mahlzeit fertig sind und bereits fleißig die Bierkrüge heben. Lorenz hat sich nicht blicken lassen. Ob er da drüben schon mit Lythande auftritt? Noch einmal fällt ihm ein, dass die beiden vorhin Gift gegessen haben könnten – ein dunkler Schauder überläuft ihn. Was wäre ich ohne meine Freunde? Ja, und wo kann Lucia sein? Da geht die Tür auf. Die Dame Sophia ist herausgeputzt wie ein Turnierpferd. Über dem gestickten Kopftuch trägt sie ein goldenes Stirnband. Ihr Kleid aus buntem Brokat hat Ärmel, die fast auf dem Boden schleifen, und der Gürtel glitzert von Edelsteinen. Ihr Gesicht allerdings ist finster wie eine Gewitterwolke. »So«, sagt sie grimmig. »Dann wollen wir mal. Bist du bereit?« Heinrich verneigt sich, nimmt die Laute in die Linke und streckt die Rechte aus. Die Herrin legt ihre Hand darauf, ihre Kammerfrau packt die Schleppe, und so rauschen sie nun los zu dem, was Ernst von Landau ein Fest nennt. – Tatsächlich. Lorenz und seine Hündin sind bereits in voller Aktion. Lorenz fegt gerade mit einem Salto quer durch den Raum direkt vor die Füße Sophias und Lythande folgt wie ein silbriger Blitz. »Macht, dass ihr wegkommt, sofort!«, sagt die Burgherrin und rümpft die Nase. (Schließlich ist es nicht »ihr« Gaukler.)
Die Männer begrüßen die Herrin, indem sie den Hintern kurz vom Sitz heben und sich mit einem gemurmelten »Willkommen« verbeugen. Landau macht gar nichts. Offenbar sind hier alle schon mehr als nur leicht beschwipst. Heinrich stellt fest, dass außer Wein und Bier auch gebrannter Wein ausgeschenkt wird, eine Sache, die schnell betrunken macht. Der Hausherr sieht allerdings noch genauso blass und verkniffen aus wie vordem. Keiner achtet so richtig auf Lorenz’ Künste. So legt er eine Pause ein und schleicht sich hinter den Stühlen der Herrschaften vorsichtig zu Heinrich. »Was soll das werden, Wolf?«, flüstert er. »Diese Leute sind nicht richtig fröhlich. Sie machen mir Angst.« »Mir auch«, gibt Heinrich zurück. »Lass uns bloß vorsichtig sein. Ich muss noch mal in das Zimmer von diesem Busso.« Man ist schon beim Nachtisch. Die Mägde tragen gerade auf: In Honig eingelegte Früchte, gebratene Äpfel, Dörrpflaumen, Kuchen. Lorenz kriegt Stielaugen, macht aus seiner Lust nach den Süßigkeiten sofort ein kleines Spiel, um von Heinrich abzulenken, klopft sich selber auf die Finger, verknotet seine Beine. Lythande umtänzelt ihn, rollt sich auf den Rücken. Ein paar von den Männern lachen. Man ist aufmerksam geworden. Es funktioniert. Selbst die Herrin lächelt beifällig. Heinrich nutzt die Situation. »Erlaubt, Dame, dass ich noch einmal meine Laute nachstimme!«, sagt er dicht an Sophias Ohr. Sie nickt, lässt kein Auge von Lorenz. Heinrich gleitet hinaus. Die Stube Bussos liegt dicht neben dem Saal, und das Kaminfeuer glimmt noch immer. Mit seinem Dolchmesser bricht Heinrich die kleine Eisentür, die er entdeckt hatte, auf. Papiere! Er reißt alles heraus, wirft es auf den Tisch, zieht ein Scheit aus dem Kamin, um lesen zu können. Urkunden.
Abrechnungen. Schuldscheine. Keine Spur von einem Halbenbrief. Nichts. Wenn er nur erst wüsste, ob Walther wirklich irgendwo auf diesem Friedhof ist. Vielleicht hat der beobachtet, wo sie das Schriftstück versteckt haben… So oder so, er muss zusehen, dass sie diese »Vorstellung« im Saal bald beenden. Landau und seine Leute werden viel zu betrunken sein, um noch eine wirkliche Gefahr zu bilden. Und Sophia? Wer weiß. Vielleicht ist sie ja sogar eine Hilfe… Er lässt alles liegen und stehen. Wozu noch etwas vertuschen? Die Sache muss zu Ende gebracht werden. Sie müssen hier weg, der Boden ist zu heiß. Als er den Saal wieder betritt, hat sich die Stimmung schon gewandelt, wie das bei Trinkgelagen häufig der Fall ist. Zwischen Landau und seinem Verwalter ist offenbar ein Streit ausgebrochen, und die Gaste haben für den einen oder für den anderen Partei ergriffen. Um was es geht, bekommt Heinrich nicht mit. Lorenz sitzt in einer Ecke und wischt sich die Nässe von der Kleidung. »Was ist los?« »Dieser reizende Verwalter hat mit dem Bierkrug nach mit geworfen«, sagt Lorenz so vorwurfsvoll, als wenn Heinrich daran schuld wäre. »Haarscharf an meinem Kopf vorbei! Ich will hier nicht mehr weitermachen!« »Wir machen beide nicht mehr weiter lange hier«, knurrt Heinrich. »Was gefunden?« Ein Kopfschütteln ist die Antwort, und Lorenz seufzt. Vorsichtig nähert sich Heinrich von hinten der Bank, auf der Landau und sein Verwalter nebeneinander sitzen. Sie streiten so heftig, dass sie ihn gar nicht bemerken.
»Die Hälfte von allem!«, knurrt dieser Busso. »So und nicht anders. Schließlich könnt Ihr die Beute überhaupt nicht verkaufen. Das würde sofort auffallen. Ich muss das machen! Ich halte meine Knochen hin bei all diesen Unternehmungen! Ich!« »Nichts da! Die Hälfte war nicht ausgemacht. Und du bist bloß ein Handlanger. Wer hat denn das große Ding eingefädelt, du oder ich?« »Das ist mir egal. Ich will einen vernünftigen Anteil. Ich könnte sonst an der falschen Stelle den Mund aufmachen, Herr. Euer Schwager würde mir sicher gern zuhören!« »Du gemeiner Schuft!« – Heinrich zuckt zusammen. »He, Wolf! Was machst du da? Wo bleibst du denn! Ich will deine Lieder hören!« Sophia hat sich erhoben und streckt gebieterisch den Arm aus. »Ruhe für den Sänger! Ruhe im Saal!« Zum Glück hat Landau nicht bemerkt, dass er hinter ihm stand. Heinrich verbeugt sich in Richtung der Herrin, während er fieberhaft überlegt, was der Anlass des Streits zwischen Herrn und Verwalter sein könnte. Wenn der ihn beim Bischof verraten will, kann es sich doch wohl nicht um die Sache mit Walther handeln… Also, was haben die beiden sonst noch auf dem Kerbholz? Immerhin sind die Gäste noch nicht so betrunken, dass sie alle Höflichkeit vergessen. Es wird tatsächlich ruhiger. In die Stille hinein hört man Landau zischen: »Das ist Erpressung!« Und Busso: »Das ist Gerechtigkeit.« Heinrich tritt in die Mitte des Raumes und verschafft sich mit einem kraftvollen Lautenschlag endgültig Gehör. Seine Größe, sein dunkles, narbiges Wolfsgesicht, die Sicherheit seines Auftritts beeindrucken die Männer zunächst.
Er singt ein altes Liebeslied, eine getragene und traurige Geschichte, und die Aufmerksamkeit schwindet schnell. Liebeslieder! Wer will so etwas schon hören! Auch das schnelle Tanzlied, das folgt, lässt die Säufer kalt. Sophia ist rot vor Ärger. »Deine Künste sind erbärmlich!«, herrscht sie den Sänger an. »Keiner hört zu!« »Könnte es sein, dass das nicht an mir liegt, sondern an den Zuhörern? Sie sind zu betrunken, Dame!« Auch Heinrich wird langsam wütend. »Du hättest eben eher auftreten müssen! Wo hast du so lange gesteckt?!« »Wir sind erst in den Saal gekommen, als alles in vollem Gange war! Das war die eigentliche Verspätung, nicht meine paar Minuten jetzt!« Sie winkt brüsk ab und erhebt sich noch einmal. »Ich bitte um Ruhe! Dieser Sänger ist weit herumgekommen! Er hat mir selbst gesagt, dass er sogar die Lieder des berühmten Meisters Walther von der Vogelweide beherrscht.« Der Streit zwischen Burgherrn und Verwalter bricht so plötzlich ab, als würde ihnen jemand den Mund zuhalten. Das Schweigen ist ansteckend. Dann erhebt sich Landau, die Fingerknöchel auf den Tisch gestützt, beugt sich vor und sagt leise, mit scharfer Stimme: »Walther von der Vogelweide? Was ist mit dem?« Seine Augen gehen zwischen Sophia und Heinrich hin und her. Heinrich wird heiß und kalt. Als er Sophia kennen lernte, hatte er auf den Busch geklopft damit, dass er Walthers Namen nannte. Nun kommt sie im falschesten Zeitpunkt damit an. Die Herrin selbst scheint erstaunt über die Wirkung ihrer Worte. »Walther von der Vogelweide?«, wiederholt sie. »Was soll mit ihm sein? Ich habe gesagt, dass mein Sänger seine Lieder vortragen kann! Worüber regst du dich auf, Landau?
Ein berühmter Sänger, der beste hier zu Lande – jeder kennt Lieder von ihm.« »Raus!«, sagt Landau. Er ist bleich wie der Tod. »Zum Teufel mit deinem Scheusal von Sänger! Ich will seine Lieder nicht hören. Raus!« »Ich will aber, dass er singt!« Das ist das Letzte, was Heinrich von Sophia hört. Dann haben ihn schon zwei der Männer Landaus bei den Armen gepackt und über die Schwelle gestoßen. Er taumelt, die Laute fällt zu Boden.
Friedhofsbesuche
Ein leises Winseln. Lythande. »He, Wolf! Komm, kannst du aufstehen?« Lorenz ist offenbar schon vorher hinausgeschlüpft. »Ja. Mir ist nichts passiert.« »Hoffen wir nur, dass die zu betrunken sind, um eins und eins zusammenzuzählen.« »Jedenfalls haben wir keine Zeit zu verlieren. Los, zum Friedhof.« »Bist du sicher – « »Todsicher. Wir brauchen eine Blendlaterne.« »In der Scheune stehen welche.« Lorenz ist findig wie immer. »Ich hole meine Maske aus dem Versteck. Vielleicht muss man jemandem einen Schrecken einjagen…«
Aus den Fenstern des Saales dringt Lärm. Der Streit wird immer massiver. Die schneidende Stimme Landaus und die grobe des Vogts überbieten sich gegenseitig. Sie stehen am löcherigen Zaun des Friedhofs, spähen hinüber zu der halb zerfallenen Kapelle. Lorenz hat die Laterne abgedunkelt. »Hier hatten sie das Brett mit der Mahlzeit abgestellt«, sagt er. »Da Walther es sich ja schlecht selbst holen kann, muss wohl jemand zu seiner Bewachung dabei sein.« »Richtig«, erwidert Heinrich und zieht sich die Maske vors Gesicht. »Einer. Wenn wir Glück haben.« Er schwingt sich
über den Zaun, streckt Lorenz die Hand hin. »Komm. Ich helfe dir.« Der Junge zögert. »Wolf, sag mal«, beginnt er. »Wenn wir ihn denn haben, deinen Meister – dann machen wir doch, dass wir hier wegkommen, nicht? Holen wir uns ein paar Gäule aus dem Stall und sehen zu, dass wir Land gewinnen. Ich könnte ja schon mal – « »Eben nicht! Herrn Walther befreien, das ist doch erst die halbe Arbeit«, sagt Heinrich ungeduldig. »Ich hab die andere Briefhälfte noch nicht, das weißt du doch!« Lorenz stöhnt. »Gütiger Gott! Es geht ums nackte Leben, und du…« »Es geht um unseren Auftrag«, erwidert Heinrich knapp. »Ich mag darüber jetzt nicht reden.« »Dieser verfluchte König – « »Halt den Mund jetzt.« Etwas rührt sich in den Büschen, und Lythande reckt den Hals und hebt eine Vorderpfote. Lorenz bekreuzigt sich. »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!«, flüstert er. »Hast du das gehört, Wolf?« »Sieh dir Lythande an«, zischt Heinrich. »Die will jagen. Die hört ein Wild, kein Gespenst!« »Lythande, Platz!« Sie sind an der Tür der Kapelle. Ein Riegel ist vorgeschoben. »Sehr gut«, flüstert Heinrich. »Das heißt, es gibt im Moment keinen Wächter. Zumindest nicht drinnen. Trotzdem und zur Vorsicht: Wenn ich die Tür aufmache, leuchtest du mit deiner Laterne zuerst direkt auf die Wolfsmaske. Fertig?« Lorenz nickt ergeben. Seine Hand, mit der er die Laterne hebt, zittert. Heinrich bewegt vorsichtig den Riegel, stößt die Tür mit dem Fuß auf und springt, die Hand am Dolch, in die Öffnung. Von drinnen ein Grunzen, sonst nichts.
»Licht in den Raum, schnell!« Von einer Kapelle zeugt nur noch ein hölzernes Kruzifix an der Wand. Direkt darunter ein Strohsack auf der nackten Erde. Auf ihm liegt, an Händen und Füßen gefesselt, mit zugebundenem Mund, Walther von der Vogelweide, und starrt die Jungen unter gerunzelten Augenbrauen hervor an. »Gelobt sei Gott der Herr!« Heinrich durchschneidet die Stricke. »Mach ihm den Mund frei, Lorenz!« Walther setzt sich auf, hustet, spuckt die Fusseln des Stofflappens aus und bemerkt ungnädig: »Na, das wurde aber auch Zeit. Gebt mir zu trinken, ich hab einen ekligen Geschmack im Mund. Wieso habt ihr so lange gebraucht, mich zu finden? Ständig habe ich deine Singerei gehört, Wolf – aber antworte mal mit so einem Fetzen im Mund! Also sehr umsichtig wart ihr nicht!« Während Heinrich dem Sänger den Wasserkrug an die Lippen setzt, murmelt Lorenz böse: »War wohl ein Fehler, ihm den Knebel abzunehmen.« »Übrigens«, fährt Walther fort – nach einem schiefen Blick auf den vorlauten Bengel – »ich bin hier meist unter Bewachung. Beeilt euch, jederzeit kann dieser Tölpel wiederkommen. Heute Abend hat ihm zwar das Bier sehr gut geschmeckt, aber – na, was sag ich denn!« Schwere Schritte knirschen draußen auf dem Kies. Die Tür fliegt auf. »Wieso ist der Gefangene – Heilige Jungfrau Maria, erbarme dich meiner!« Vor den von der Trunkenheit getrübten Augen des Wächters erscheint, unheimlich von unten angestrahlt, der Kopf eines Wolfes. Heinrich nutzt die Schrecksekunde, um seinen Dolch zu ziehen. Er trifft den Mann am Arm. Aber so betrunken, dass er Heinrichs Maske für ein Gespenst hält, ist der denn doch noch
nicht. – Und sein Schwert ist länger als Heinrichs Messer. Nachdem Heinrichs erster Hieb seinen Gegner nicht außer Gefecht gesetzt hat, treibt der ihn in die Enge. Und dann steht Heinrich mit dem Rücken an der kalten Mauer, fühlt die Schwertspitze an der Kehle und starrt in die wütenden Augen des Wächters. Glaubt, seine letzte Stunde ist gekommen. Gerade als der Mann zum Stoß ausholt, zerschellt scheppernd ein Gegenstand auf dessen Kopf. Bewusstlos sackt er in sich zusammen, während Walther den Henkel des zerbrochenen Wasserkruges achtlos beiseite wirft. »Also wirklich, was drückst du dich da in die Ecke, du Memme«, bemerkt er in Lorenz’ Richtung. Der Junge gibt sich im Schatten eines Pfeilers ganz offensichtlich alle Mühe, unsichtbar zu werden. Heinrich atmet tief durch. »Her mit dem Tuch, her mit den Fesseln!«, zischt er dann. Sie fesseln und knebeln den Ohnmächtigen, legen ihn auf das Stroh. »Kommt, Herr Walther. Braucht Ihr Hilfe?« »Ich kann ganz gut allein gehen«, wehrt der Sänger ab, aber dann muss er sich am Türpfosten festhalten. »Dieser Landau ist eine fiese Bestie. Wisst ihr, wie kalt das hier drin ist? Und immer bloß Weizenschrot und – « Heinrich unterbricht ihn. »Meister, wo ist die andere Briefhälfte?« Walther starrt ihn an. »Ach, die habt ihr noch nicht? Na, dann mal an die Arbeit! Ich meine, dass ich sie noch bei mir habe, dürfet ihr ja wohl kaum angenommen haben.« Lorenz stößt die Luft durch die Zähne aus. »Passt dir was nicht, Junge?« Heinrich übernimmt die Antwort: »Dass wir Euch hier herausholen, dass wir den anderen Halbenbrief haben – ist Euch das nicht vielleicht doch ein Dankeschön wert?«
»Ach«, sagt der Sänger. »Haben wir jetzt Zeit für solche Spielchen? Ja, ich bedanke mich. Frau Ortrud hat euch also das Versteck genannt, nachdem diese Kerle abgezogen waren – gut. Wie geht es ihr übrigens? Sie war ungeheuer tapfer.« Lorenz holt Luft, aber Heinrich tritt ihn grob gegen das Schienbein. »Frau Ortrud ist eine bewundernswerte Person«, sagt er. »Wir reden vielleicht später von ihr.« Sie sind jetzt auf dem Friedhof. Walther lässt es sich gefallen, dass Heinrich ihn stützt. »Wohin soll’s denn gehen?«, fragt er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich schlafe über dem Stall. Ob Ihr da sicher seid, weiß ich nicht, aber – « »Komm schon, red nicht so viel.« Heinrich hat den Arm um den Sänger gelegt, er trägt ihn mehr, als er ihn führt. Unwillig bemerkt er, dass Lorenz zurückbleibt – das Licht fehlt. »Kommst du endlich?« »Gleich!« Lorenz’ Stimme klingt leicht verängstigt. »Wo ist Lythande?« Er pfeift leise. Schreit dann auf. »Gütiger Gott! Was ist das?« Es bellt dumpf unter der Erde. »Die Gespenster haben sie geholt! Haben sie in die Gräber gezerrt!« Lorenz setzt die Laterne ab. Er kniet nieder, lauscht nach unten, ringt die Hände. Wieder raschelt es. Ein Tier taucht auf aus dem Gesträuch. Etwas Weißes leuchtet. Ein dumpfes Schnarchen. Dann verschwindet das Wesen wieder. Lorenz schnappt nach Luft. Heinrich stößt den Jungen mit dem Fuß in die Seite. Trotz der brenzligen Lage, in der sie sich befinden, muss er lachen. »Beruhige dich. Die Gespenster sind Dachse, und Lythande ist auf der Jagd. Ist in einen Bau gekrochen.« »Ich soll meine Lythande hier allein zurücklassen?«
»Himmel, Lorenz! Was willst du? Wir haben Herrn Walther schnell von hier wegzubringen! Bleib hier und such deine Hündin, aber leise, wenn’s geht!« »Was denn, ganz allein – « Aber Heinrich hilft dem Sänger schon über den Holzzaun, ohne sich nach Lorenz umzudrehen, und so wirft der einen verzweifelten Blick zurück auf die Grabstätte und folgt den beiden. Hier bleibt er nicht allein. Als sie im Schutz des Mauerschattens über den dreckigen Innenhof eilen, hören sie ein Schluchzen. Auf der Schwelle zum Hauptgebäude sitzt ein Mädchen, und einen Herzschlag lang hofft Heinrich, dass Lucia endlich zu ihnen gestoßen ist. Aber dann sieht er die zerzausten weizenblonden Zöpfe jenes Küchenmädchens – hieß sie nicht Gerda? –, das Landau den Willkommenstrunk gereicht hatte. Dessen kleine Geliebte. Das Mädchen hat die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf darauf gelegt, und weint herzzerreißend. Heinrich wendet sich an den Freund. »Lorenz«, sagt er hastig, »das ist Gerda, ein Mädchen, das – hm, das Landau nahe stehen soll. Versuch mit ihr zu reden, während ich den Meister verstecke. Gewinn ihr Zutrauen. Ich komme wieder. Vielleicht kann sie uns nützlich sein.« Lorenz nickt und noch im Weitereilen hört Heinrich die einschmeichelnde sanfte Stimme des Jungen: »Warum bist du so traurig, Kleine? Darf ich mich zu dir setzen, ja?« Mit Menschen umzugehen ist eine Kunst, die Lorenz weit besser beherrscht als Wolf, selbst, wenn er andere Sorgen im Kopf hat. –
Von allein schafft Walther die Leiter zu dem Strohboden nicht. Heinrich muss ihn fast hochtragen. »Ich komme gleich zurück!«, verspricht er.
Er ist froh, nicht länger in der Gesellschaft des Fahrenden sein zu müssen. Das Wissen um den Tod Ortruds liegt ihm wie ein Stein auf dem Herzen. Irgendwann wird er es ihm sagen müssen. Aber nicht gleich. Nicht heute. Nicht, bevor sie nicht außer Gefahr sind. Er fühlt in seiner Tasche nach. Spürt den Ring. Denkt an die Verse. »Ich nehm von dir den Ring aus Glas/Als sei es Königinnengold…« Nur jetzt nicht weich werden! Es gibt genug zu tun, und die Gefahr ist bisher nicht kleiner geworden – die da drin mögen so betrunken sein, wie sie wollen. Er eilt zu Lorenz. Der hat inzwischen den Arm vertraulich um die Schultern des Mädchens gelegt und spricht tröstend auf sie ein. »Guck dir das an, Wolf!«, sagt er empört zu dem Freund. Der Schein der Blendlaterne fällt auf das Gesicht Gerdas, die blutende Lippe, das blaue Auge. »Er hat sie verprügelt, weil sie ihm nicht schnell genug den Becher nachgefüllt hat, dieser Unmensch!« Gerda sieht angstvoll zu Heinrich auf. »Der schon wieder, der mit dem Gesicht…« Sie verbirgt ihren Kopf an Lorenz’ Schulter. »Mein Freund sieht nur furchtbar aus, aber sein Herz ist aus Gold!«, raunt Lorenz an ihrem Ohr. »Bei uns bist du unter guten Menschen!« Heinrich dauert das alles zu lange. »Willst du uns helfen, Gerda?«, fragt er geradezu. »Ich kann mir nicht denken, dass du für diesen Herrn wirklich etwas empfindest!« Das Mädchen ringt ihr Schultertuch in den Händen, sieht nicht auf. »Du musst immer mit der Tür ins Haus, ja, Wolf?« Lorenz ist ganz Vorwurf. »Ich hab Gerda ja schon gefragt.« »Was hast du sie gefragt?« »Ob sie mal was gesehen hat außerhalb Bussos Zimmer – Papiere, die der Herr aufbewahrt, Truhen mit Urkunden, Verstecke – « »Und? Hat sie?«
Sie schüttelt den Kopf, sieht scheu auf. »Landau kann doch gar nicht lesen oder schreiben«, sagt sie mit dünner Stimme. »Wenn so etwas zu tun ist, erledigt es der Dorfkaplan.« »Und Busso, der Verwalter?« »Der kann lesen und rechnen. Schreiben kann der auch nicht.« Also der Kaplan muss auch den Brief an die Kanzlei verfasst haben! Heinrich beißt sich vor Ungeduld in die Lippe. Müssen sie jetzt etwa noch diesen Kaplan ausfindig machen? Aber da fährt das Mädchen fort: »Nichts von den Sachen, die er mitbringt von seinen – seinen Ausflügen, bleibt in der Burg. Nur er und Busso wissen, wo er das versteckt. Wenn er angetrunken ist, dann sagt er immer: Das findet keiner, nur die Dachse.« »Die Dachse?« Die beiden Jungen sagen es wie aus einem Mund. Starren sich an. Dann Lorenz: »Alles an einer Stelle«, und Heinrich: »Wir müssen auf den Friedhof!« Gerda hebt vor Entsetzen die Hände vor den Mund. »Auf den Friedhof? Zu den Geistern der Verstorbenen in der Nacht?« »Hach!« Lorenz ist ganz überlegen. Kein Gedanke, dass er gerade noch gezittert hat wie Espenlaub. »An so etwas glauben wir nicht!« »In der Nacht sind es die Geister der Verstorbenen und tags über das Rattengift – irgendetwas hält alle fern«, sagt Heinrich hart. »Aber es sind nur die Dachse. Nichts weiter als die Dachse.« »Dachse, genau. Ganze Familien, mit weißer Stirn und schwarzen Streifen.« Lorenz beugt sich vor, küsst das Mädchen auf die Wange. »Du hast uns geholfen, Gerda«, sagt er. Sie sieht ihn verwundert an.
»Komm, Lorenz! Wir müssen Lythande da rausholen. Ich hab so einen Ahnung – dabei finden wir mehr als deinen Hund.« Aus dem Haupthaus dringen laute, betrunkene Männerstimmen, kommen näher. Die Streitenden wollen offenbar ihre Auseinandersetzung draußen weiterführen. Das Mädchen flüchtet ins Dunkel.
Erstaunliche Funde
Der stille Friedhof scheint lebendig geworden zu sein. Überall im Gesträuch quiekt, grunzt und raschelt es. Lythande muss ganze Sippschaften von Dachsen aus ihren Bauen gejagt haben. Lorenz ruft mit gedämpfter Stimme nach ihr. Ein Winseln von tief unten. »Du lieber Himmel!«, jammert der Junge. »Sie hat sich in einer Dachsröhre verfangen! Wir müssen sie ausgraben!« »Wer weiß, was man hier noch alles ausgraben kann!«, bemerkt Heinrich grimmig. »Du versuch, sie anzulocken, vielleicht kommt sie auch von selbst frei. Und gib mir die Laterne, ich seh mich mal um.« Während sich Lorenz auf den Bauch vor einer der Bauöffnungen wirft und nach der Hündin ruft, leuchtet Heinrich die Gegend ab. Der Friedhof wurde schon lange nicht mehr als Begräbnisort genutzt. Eine Vielzahl umgestürzter Kreuze, tief eingesunkener Boden. Wahrscheinlich hat man die Gebeine, wie man es vielerorts tut, aus dem Erdreich eingesammelt und in ein Beinhaus bei der nächsten Kirche gebracht. Die Dachse fanden dann lockere Erde und ein paar Höhlen vor, ganz wie sie’s gern mögen. Sie mussten nur weiterbuddeln. In der Mitte scheint es eine größere Grabstelle mit unterirdischen Gewölben gegeben zu haben. Jedenfalls sieht es so aus, als wäre hier, überwuchert von Gestrüpp und Gesträuch, eine Art Keller. Aber die Tür ist vermauert. Heinrich presst die Fäuste vor die Augen. Gott, führe uns heil und lebendig aus dieser Lage; schickt er ein Stoßgebet zum Himmel. Noch nie kam ihm etwas so verfahren, so
undurchführbar vor bei all den Dingen, die er mit Walthers Aufträgen, mit Lorenz’ Befreiung, mit Lucias Rettung schon erlebt hat. Ohne Werkzeuge kann man das hier nicht öffnen. Wenn ihr Brief wirklich hier drin verborgen ist… »Wolf, sie ist da! Sie hat es geschafft!« Lorenz’ helle Stimme unterbricht seine Grübelei. Er hockt noch immer an der Erde, gräbt im Lehm, erweitert mit den Händen die Öffnung des Baus, zieht schließlich die vor Aufregung winselnde und fiepende Hündin heraus, küsst sie auf die Nase. Lythande versucht, ihn zu umspringen – seltsam behindert von irgendetwas, das sie hinter sich her schleift. »Sieh doch nur, Wolf! Sie hat gar nicht im Bau festgesteckt! Sie hatte sich in dies Zeug hier verwickelt!« Er lacht, klatscht in die Hände. Heinrich hebt die Laterne hoch. Lythande ist mit Kopf und Vorderpfoten in ein kostbares Brokatgewand geraten, so wie es Geistliche bei hohen Kirchenfesten zu tragen pflegen. Unrettbar hat sie sich verhaspelt in dem Ding, das offenbar wiederum zur Aufbewahrung eines anderen Stücks diente – einem Netz. Und in diesem Netz, das sie da hinter sich herschleift, befinden sich auch noch andere Sachen. Ein Becher aus getriebenem Silber zum Beispiel. Ein Kasten aus fremdländischem Holz. Ein Kruzifix, mit Elfenbein verziert. Eine goldene Kapsel… »Sie hat einen Schatz entdeckt, Wolf! Sieh doch nur!« Heinrich atmet tief durch. »Ich sehe. Einen Schatz, der uns sehr nützlich sein kann. Denn an so einem Schatz kann man ja jemanden interessieren. Und wo das ist, da ist vielleicht auch noch anderes! Ich habe eine Idee!« Er späht zum Hauptbau hinüber. In den Fenstern des Frauentrakts huscht Licht auf und ab. Sophia muss noch wach sein. –
»Was willst du?« Die mürrische Kammerfrau verschränkt mal wieder die Hände vor der Brust. »Die Herrin ist wütend auf dich. Du hast ihre Erwartungen bei dem Fest nicht erfüllt, sagt sie. Ich würde an deiner Stelle nicht darauf bestehen, mit ihr zu reden.« »Sag der Herrin, vielleicht habe ich jetzt etwas, das ihr und ihrem bischöflichen Bruder von Nutzen sein kann. Ich habe etwas gefunden, und sie täte gut daran, sich möglichst schnell damit zu befassen! Nein, nicht erst morgen. Gleich jetzt in der Nacht!« Heinrich strömt eine solch wilde Entschlossenheit aus, dass die Frau schließlich die Achseln zuckt. »Ich geh fragen.« »Ich warte.« –
Außer der vermauerten Tür gibt es noch einen anderen Eingang zu dem Gewölbe, den Heinrich übersehen hatte. Spitzhacke und Schaufel, mit der Sophias Leute angetreten waren, mussten nicht eingesetzt werden, ein Brecheisen genügte. Die Herrin steht aufrecht, gegen die Nachtkühle bis zur Nasenspitze in einen Pelz gehüllt, und im Licht der Fackeln leuchten ihre Augen kalt und klar. »Tragt alles, was ihr findet, zu einem Stapel zusammen!«, befiehlt sie. »Und seid vorsichtig. Es ist Kirchengut – zumindest das meiste. Du hast mir und dem Bischof von Merseburg, meinem Bruder, einen unschätzbaren Dienst geleistet, Wolf. Dieser Mann, an den ich gekettet bin – er ist wahrhaftig nicht viel besser als ein Straßenräuber. Seinen
eigenen Auftraggeber, noch dazu seinen Schwager zu bestehlen – das bricht ihm das Genick!« »Was werdet ihr tun, Herrin?«, fragt Heinrich mit gedämpfter Stimme, während immer neue Schätze aus dem Versteck zu Tage kommen. Sie lacht bitter. »Das ergibt sich von selbst. Der Bischof wird sich von Landau abwenden. Und ich – wenn ich Glück habe, kann mein Bruder beim Heiligen Stuhl erwirken, dass unsere Ehe für null und nichtig erklärt wird.« Sie wirft triumphierend den Kopf in den Nacken, wendet sich zum Gehen. Dreht sich, wie beiläufig, noch einmal zu Heinrich um. »Erbitte dir einen Lohn, Wolfsgesicht. Sag, was du willst.« Heinrich steht wie auf Kohlen. Wird sich seine Vermutung als richtig erweisen? »Einen Moment, Dame, bitte. Ich will noch abwarten, was da zu Tage kommt, wenn Ihr erlaubt.« Sie nickt, wenn auch nicht sehr geduldig. »Beeilt euch!« Indessen legen die Männer ein paar neue Fundstücke auf den Haufen. Endlich! Heinrich ist mit zwei langen Schritten dort, greift zu. »Erlaubt, Herrin – meine Belohnung.« Er hebt eine unscheinbare Lederhülle hoch, wie man sie benutzt, um Pergamente und Papiere einzuschlagen. Ein schneller Blick auf den Inhalt – ja. Die andere Hälfte des Briefes. Sophia ist herangetreten. »Was ist das?«, fragt sie mit gerunzelter Stirn. »Ein Pfand«, erwidert Heinrich. »Bitte fragt nicht.« Sein Herz schlägt bis zum Hals. Sie zuckt die Achseln. »Geht mich nichts an. Du bist aus deinem Dienst entlassen. Besser, ihr seht zu, dass ihr bald fortkommt hier. Hier wird es ungemütlich.«
Aufbruch mit Hindernissen
Heinrich steht im Dunkel, die gesattelten Maultiere am Zügel. »Wir sollten losreiten, wenn das erste Dämmerlicht da ist, damit man den Weg erkennt und sich die Tiere kein Bein brechen.« »Ich hab Angst, hier noch länger zu warten. Und wo bleibt dieser Vogelweide?« »Hier bin ich.« Der Sänger tritt zu ihnen. Er hält sich sehr gerade, und man sieht, dass es ihm nicht leicht fällt. »Gott weiß, ob das hier gut geht«, sagt er. Er scheint es zu sich selbst zu sagen. »Wer hilft mir in den Sattel? Allein schaff ich das nicht. Bin gespannt, wie weit wir kommen.« Er lacht spöttisch. Heinrich zieht die Zügel wieder an. »Wie’s aussieht, keinen Schritt weit.« Die Türflügel des Saals sind aufgeflogen. Im hervorbrechenden Lichtschein taumelt plötzlich der Burgherr auf die Schwelle, beide Hände auf die Brust gepresst. »Zu Hilfe! Man will mir ans Leben!« Hinter ihm taucht Busso, sein Hausverwalter auf. Seine Finger, sein Gewand sind voll Blut. »Mörder! Erpresser! Mich um meinen Anteil bringen!« Ein unbeschreiblicher Tumult auf dem Hof und innen im Gebäude. Gäste und Dienerschaft schreien, rennen durcheinander, jemand ruft zu den Waffen, Fackeln werden geschwungen. »Jetzt oder nie!« Heinrich rammt seinem Reittier die Hacken in die Seite, prescht auf das offene Burgtor zu. Die beiden anderen folgen. »Die Brücke hoch!«, brüllt jemand. »Da wollen welche abhauen!«
Schritte poltern über den Hof, hin zu der schweren Winde, mit der die Zugbrücke bewegt wird. Heinrich stoppt sein Tier, wendet. »Beeilt euch! Ich versuche sie zu hindern!« Während die Hufe der Mulis über die Bohlen donnern und Lythande an ihm vorbeisaust wie ein Silberpfeil, zieht Heinrich sein langes Dolchmesser und reitet den Männern entgegen. Ein Schwert müsste man haben!, denkt er, und all die Fechtstunden fallen ihm ein, die er als Knabe erhalten hat. Das Blut saust ihm in den Ohren. Er lässt sein Tier tänzeln, immer vor den Füßen der Männer, macht Scheinausfälle, hält die schwerfälligen angetrunkenen Kerle zum Narren. Andere eilen herbei. Zu viele, um sich mit ihnen anzulegen. Schade. Es fing gerade an, Spaß zu machen. Als er endlich auf die Zugbrücke zureitet, hört er das Kreischen und Knirschen der Winde. Die rostigen Ketten ächzen. Ein Pfeil zischt dicht neben ihm vorbei. Seine Locken flattern im Wind. Er spornt das Tier an, zwingt es zum Sprung von der zu einem Drittel bereits gehobenen Brücke, landet. Das Maultier bricht in die Knie, überschlägt sich. Heinrich springt rechtzeitig aus dem Sattel, ohne sich zu verletzen. Aber nun ist er seinen Verfolgern ausgeliefert. »Brücke wieder runter! Ihnen nach!«, schreit es da drüben. Zu spät zum Entkommen. Da bleibt nur noch eins… »Lythande! Hierher!« Die Hündin kommt durchs Unterholz, hechelnd, aufgeregt. Sie hält das wohl alles für ein Spiel. In fiebriger Eile nestelt Heinrich den Halbenbrief unter seinem Wams hervor. »Lythande, bring! Lauf zu Lorenz! Braver Hund!«
In hohen Sprüngen macht sich die Bracke auf, um zu apportieren, wie sie es gelernt hat. Heinrich, die Waffe in der Hand, sieht den Verfolgern entgegen. Hinten über den Bergen zeigt sich der erste fahle Tagesschimmer.
Die Rettung
Heinrich kämpft wie der Teufel, aber wenn man mit einem Dolchmesser gegen Piken und Kurzschwerter antreten muss, hat man kaum eine Chance. Immerhin. Als er die durchdringende Stimme Landaus hört, der »Aufhören!« schreit, hat er noch nicht mal einen Kratzer davongetragen. Unverletzt, nur ziemlich außer Atem, wird er von drei Bewachern vor den Burgherren gebracht. Der Trupp, der den Flüchtigen nachgelaufen ist (so schnell waren keine Pferde zur Hand), kommt jetzt zurück. Unverrichteter Dinge, wie Heinrich feststellt. Walther und Lorenz sind gerettet, Gott sei Dank. Ihr Auftrag wird erfüllt werden. »Was geht hier eigentlich vor?« Ernst von Landau ist nicht unbedingt Herr der Lage. Erstens ist er keineswegs nüchterner geworden. Zweitens steht Busso hinter ihm, murmelt Verwünschungen und wischt sich das Blut vom Hals. Die beiden müssen schwer aneinander geraten sein. Die Männer berichten in wirrem Durcheinander. »Flucht, Entkommen, Widerstand« – da kann kein Mensch draus schlau werden. »Ruhe!« Landau hebt die Fäuste. »Wer zum Teufel ist geflohen?« »Eure Geisel, Herr von Landau«, sagt Heinrich, so ruhig er kann. »Walther von der Vogelweide ist Euch entkommen. Ihr solltet aufgeben. Auch Euer Brief an den Kanzler wird sein Ziel nie erreichen. Und ein anderes Schriftstück – nun, das ist in Sicherheit.«
Landau braucht Zeit, um zu verdauen, was man ihm gesagt hat. Er blinzelt. »Was redest du für Unsinn, du Hergelaufener?« »Lasst nachsehen, was mit Eurem Versteck auf dem Friedhof passiert ist. Und wer gebunden in der Kapelle liegt – jedenfalls ist es nicht der Königsbote.« »Versteck – nicht der Kö… verdammt!« Offenbar dämmert dem Burgherrn, in welcher Lage er sich befindet. Die Männer auf dem Hof sind still geworden, sehen ihrem Herrn an – aber nachzuprüfen, was Heinrich sagt, hält der für unnötig. »Die Pferde gesattelt! Bringt mir diesen Mann, der geflohen ist! Beeilt euch! Und du – wer bist du, du Narbengesicht? Hast dich hier eingeschlichen als Sophias Stallbursche – dabei – « Er unterbricht sich, reibt sich die Schläfe mit der Hand. Hinter ihm bricht Busso in ein schadenfrohes Lachen aus. »Als ob ich nicht gewarnt hätte! Was hatte ich gesagt? Die steckten alle unter einer Decke. Warum hast du sie nicht umlegen lassen? Nun steckst du bis zu den Ohren im Sumpf, Landau!« »Drei«, murmelt der. »Drei sollten es sein. Einer mit Maske, noch einer, und ein Mädchen. Der kleine Gaukler, das war – « Er schlägt sich mit der Faust vor die Stirn. »Mich zu übertölpeln! Ha!« Noch immer leicht schwankend, nähert er sich Heinrich. »Du glaubst doch nicht, dass du hier lebend herauskommst«, sagt er durch die Zähne. »Hast du vergessen, mit wem du dich anlegst? Ich bin im Dienst des Bischofs von Merseburg!« »Wohl nicht mehr lange – wenn er zu Gesicht bekommt, was ihr da auf dem Friedhof verborgen habt.« Landau hört nicht oder er versteht nicht. »Eigenhändig werde ich dich erschlagen! Bringt mir mein Schwert! Nein, bringt mir einen Knüppel für diesen räudigen Hund!«
Das wird ernst. Heinrich beginnt, sich zu wehren, reißt sich los aus den Fäusten der Wächter. Tritt um sich. Weiß, dass dies ein aussichtsloser Kampf ist. An Hilfe ist nicht zu denken. »Noch mehr Unrecht solltest du wirklich nicht tun, Landau, wenn du selbst mit heiler Haut davonkommen willst!« Busso lacht noch immer. »Hör auf! Dir soll das Lachen vergehen! Du hast das alles angestiftet! Du hast die Idee gehabt, den Geldtransport des Bischofs zu stehlen! Du allein! Ich hatte damit nichts zu tun!« »Das ist nicht wahr!« »Auf der Folter wirst du schon gestehen!« »Ihr habt es mir befohlen!« »Wie willst du das beweisen? Ich wusste von gar nichts!« Heinrich steht da zwischen seinen Wächtern, die ihm die Arme nach hinten verdrehen und verfolgt den Streit der beiden Schurken. Hat aber keine Hoffnung, dass sie ihn darüber vergessen könnten… »Du bist geliefert, Busso! Du wirst mich nicht anschwärzen! Hölle und Teufel, was ist das?!« Mit weit aufgerissenen Augen deutet er nach draußen, durch das offene Burgtor. Heinrichs Bewacher lassen ihn los. Er wirbelt herum. Der Berg ist voller Lichter, die näher kommen, die hinaufsteigen zur Burg. Gesang kommt näher, ein Kirchenlied, Kinderstimmen. In ihrer Mitte schimmert Metall. Eine Rüstung, daneben geht ein Mädchen, der Fackelschein lässt ihr kupfernes Haar aufflammen. Immer mehr Fackeln und Laternen. Und der Gesang. Santa Maria, ora pro nobis. Heilige Maria, bitte für uns. Heinrich starrt, kann nicht glauben, was er da sieht. Ja, es ist Lucia. Und der Reiter – zumindest die Rüstung ist die des jungen Manns, den er zu Ortruds Hof geschickt hatte. Martin. Aber wer sind die anderen?
Als seien sie gelähmt, stehen die Männer Landaus und blicken auf das, was sich ihnen da nähert. Einige schlagen das Kreuz, murmeln ein Gebet. Schon ist der Zug kurz vor dem Tor. Jemand ruft: »Diese Kinder sind auf der Pilgerfahrt. Nachdem sie das Heilige Grab nicht finden konnten, irren sie durch die Lande und versuchen Gottes Gunst und Gnade und das Mitleid der Menschen zu gewinnen. Und wo sie Unrecht sehen, wollen sie es nicht dulden.« Und dann Lucias durchdringende Stimme: »Wir suchen Ernst von Landau. Er tötet Menschen. Er raubt. Wir bringen Gottes Gericht.« »Ich bin Ernst von Landau.« Der Burgherr ist einen Schritt zurückgetreten, zur Pforte des Hauses hin. Offenbar hat ihn das merkwürdige Bild so ernüchtert, dass er sieht: Seine Männer würden ihm jetzt kaum gehorchen, wenn er sie auf diese Kinder hetzen würde. »Aber was ihr da vorbringt, das ist nicht die Wahrheit. Ich habe dergleichen nie getan. Das schwöre ich, so wahr Gott mich richten soll – « Heinrich nimmt im Halbdunkel des Hauses eine winzige Bewegung wahr, ein Aufblitzen wie von Stahl. Er sieht, wie Landau plötzlich zusammenzuckt. Dann wirft der Burgherr die Arme hoch, und mit einem gurgelnden Laut bricht er zusammen. »E vero! Gott hat gerichtet!«, gellt Lucia in die entsetzte Stille hinein. Wie eine aufbrechende Quelle strömen die Kinder in den Burghof, vorbei an den erstarrten Männern. Langsam wird es im Haus lebendig. Der eine oder der andere der schlaftrunkenen Gäste steckt den Kopf raus, verschwindet schnell wieder. »Was ist geschehen?«
Auf einmal ist die Herrin auf der Schwelle ihres Hauses. Noch immer hat sie den Pelz über den Schultern, mit dem sie auf dem Friedhof erschienen war. Die anderen verstummen, machen ihr Platz. Sie kniet bei Landau, dreht den verkrümmten Körper herum. Das Heft eines Wurfmessers ragt Landau zwischen den Schulterblättern aus dem Rücken. Sophia richtet sich hoch auf, strafft sich. Ihr Blick streift Heinrich. »Warst du –?« »Ich töte nicht hinterrücks«, erwidert er verächtlich. Zwei der Wächter haben Busso gepackt. »Er wollte mich auf die Folter bringen… auf die Folter… Ich habe nur getan, was mir befohlen wurde! Immer nur!« Die Burgherrin richtet sich auf. Ihre Stimme ist laut und gebieterisch. »Ich will davon nichts hören. Schafft ihn fort. Gott sei der Seele Ernst von Landaus gnädig! Wir werden ihn mit allen Ehren, die einem Ritter zukommen, bestatten lassen. Sein Mörder wird der wohlverdienten Strafe nicht entgehen.« Sie steht in der Mitte des Hofes, eine große stattliche Person, gerade und hoch erhobenen Hauptes. Niemand wagt ihr zu widersprechen. »Ich will, dass alle Fremden sofort Burg Landau verlassen – bis auf diese Kinder. Es ist ein gottgefälliges Werk, sie mit Brot und Suppe zu versorgen. Der Himmel hat gefügt, dass wir den verlorenen Schatz meines Bruders, des Bischofs, wieder entdeckt haben. Vielleicht sollten wir für diese kleinen Pilger eine Stiftung errichten. Sie können zunächst hier bleiben. Es ist Gott wohlgefällig.« Sie wendet sich ab, sagt halblaut zu Heinrich: »Verschwinde mit deinem Anhang. Was du hier auch immer vorgehabt hast – du hast mir einen Dienst erwiesen.« »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, Dame Sophia.«
»Wer sich in Gefahr begibt, wird darin umkommen«, sagt sie ernst. »Sei auf der Hut.« Heinrich sieht ihr nach mit gerunzelten Brauen.
Der Winter wird kalt
Das Haus ist so durcheinander wie ein Bienenstock, dem die Königin abhanden gekommen ist – wenn man denn den Herrn Landau so bezeichnen sollte. Jedenfalls ist es in dem ganzen Hin und Her für Heinrich, Lucia und Martin ein Leichtes, von der grämlichen Köchin eine warme Suppe extra zu bekommen. Was Besseres als das wässrige Zeug, was sie draußen den Kindern vorsetzen. »Wir haben uns immer gedacht, dass das hier kein gutes Ende nimmt!«, barmt die Frau. Lucia sieht sie mit großen Augen an. »Wieso? Ist doch ein sehr gutes Ende – oder nicht?« Die Alte schielt sie von der Seite an, schlurft nach draußen. Diese Leute sind ihr unheimlich. »Kann man endlich mal wissen, wie das alles zugegangen ist?« Heinrich wippt vor Ungeduld mit den Fußspitzen. Lucia isst. »Martin! Also bitte, ja?« Der junge Mann nickt. »Es kam eins zum anderen«, sagt er. »Als ich merkte, dass es mit meinem Bein halb so schlimm war, da – ja, da schlug mir das Gewissen. Ich sollte mich irgendwo verstecken, und ihr, ihr würdet versuchen, auf der Burg die Kastanien aus dem Feuer zu holen? Nein, das denn doch nicht. Auf einmal kam ich mir vor, als wenn ich – als wenn ich eigentlich zu euch gehörte.« Er errötet und sieht Heinrich fest in die Augen. »Na ja. Und als wenn ich davonlaufen würde vor einer Pflicht. Aber ein Ritter darf kein Feigling sein. Mir war meine schöne Rüstung eingefallen, die du den Berg runtergeworfen hattest, Wolf. Mein
Familienerbstück. Um die tat’s mir Leid. Also bin ich zu der Schlucht und wollte sie mir holen. Und da traf ich sie hier. Und die hat mir tüchtig eingeheizt.« »Eingeheizt?« Lucia zuckt die Achseln, kaut und schluckt einen Bissen dick mit Butter bestrichenes Brot hinunter. »Wir wollten das auch holen. Kann man verkaufen. Ho incontrati amici. Ich habe Freunde getroffen.« Sie nickt und beißt wieder ab. »Erst Streit. Aber dann waren wir zusammen und hatten guten Einfall, Martin und ich. Wir belagern die Burg. Dann werden die Leute uns helfen, werden Kinder helfen. Bei allen Leuten, die haben großen Kummer durch Landau. Sagt man so: Kummer?« Sie runzelt die Stirn. »Wie um Gottes willen, frage ich euch, wolltet ihr denn die Burg belagern?« Heinrich ist erschüttert. »Na, ganz einfach.« Lucia grinst. »Indem wir nicht wieder weggehen. So geht doch Belagern, oder? Meinst du, einer lässt schießen auf gl’innocenti – wie heißt es? – auf unschuldige Kinder, wenn alle Welt sieht zu? Nein, Wolf. Ist Schwester von Bischof da. Sie wird nicht zulassen, denn Mörder kommen nicht zu uns am hellen Tag. Mörder, die treiben ihre bösen Taten nur im Dunkeln.« »Und dann hatten wir den Gedanken mit den Lichtern und mit meiner Rüstung. Ich heiße zwar Martin, aber nun sollte ich so etwas wie den heiligen Georg, den Drachentöter, spielen. Erst fand ich es ziemlich verrückt. Aber Lucia hier, die kann so – so ernst sein und so überzeugend. Die hat einfach dran geglaubt, versteht ihr. Und irgendwann hab ich auch dran geglaubt. Es ist ja auch eine schöne Rolle – « » – für einen Ritter«, ergänzt Heinrich ein bisschen knurrig. »Ich verstehe. Die Überraschung im Morgengrauen. Ist ja auch wunderbar geglückt. Und ihr kamt wirklich zur rechten Zeit. Ehrlich, es sah nicht sehr gut aus für mich. Andererseits, ihr hattet mehr Glück als Verstand. Wenn ich es mir so hinterher
überdenke – rein vom kriegerischen Standpunkt aus ist das eine aberwitzige Geschichte.« »Ja, ja«, sagt Lucia schmollend. »Nur Wolf hat die guten Einfalle, ich weiß. Was wir machen, ist alles dumm.« Sie reckt sich, gähnt. »Jetzt ich bin müde.« Heinrich sieht sie verwundert an. »Wieso müde? Willst du nicht mehr mitkommen?« »Naturalmente, ich will. Warum nicht. Müde ist kein Grund. Ich kann auch im Reiten schlafen, wenn ich mich festhalte bei Wolf.« »Und deine Freunde? Die Kinder?« »Dame Sophia sagt, sie will sorgen. Ich gehöre zu euch.« Sie kichert. »Auch wenn’s Lorenz manchmal nicht will.« Ganz die Göre wie immer. »Na also. Der will dich schon. Wir müssen, so schnell es geht, ihn und Walther finden. Ich hoffe, Lythande hat den Brief gebracht – « »Hat sie. Wir haben sie getroffen, da unten am Berg. Sie warten.« –
»Lebt wohl, Junker Martin«, sagt Heinrich. Er ist reisefertig. »Danke für die Hilfe.« Martin zögert. »Vielleicht sehen wir uns wieder«, sagt er leise. »Ich jedenfalls kann überall beschwören und verkünden, dass Wolf der Gaukler ein junger Mann von ritterlichem Mut und Ehrgefühl ist.« Heinrich neigt stumm den Kopf. Ritterlicher Mut? Ehrgefühl? Was nützt ihm das als fahrender Gaukler… Er sitzt auf, Lucia hinter sich auf der Pferdekruppe, wie gewohnt – wenn sie denn mal ein Pferd zur Verfügung haben. »Und nun?«
»Wir müssen schnell sein, Lucia. Es ist weit bis Montpellier im Süden Frankreichs und der Winter wird kalt. Walther gibt uns unsere Briefhälfte zurück und dann trennen wir uns wieder. Aber vorher muss ich noch – « Er verstummt. »Ortrud?« Heinrich nickt. »Er weiß es noch nicht?« »Nein, er weiß es noch nicht.« Lucia bekreuzigt sich. »Gott sei ihrer Seele gnädig. Und Gott sei ihm gnädig, dass er’s erträgt.« Sie reiten ins Licht. Der Tag wird schön.