Scan by Schlaflos
Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Seine in den achtziger Jahren...
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Scan by Schlaflos
Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Seine in den achtziger Jahren begonnene Midkemia-Saga wurde zum Welterfolg und gilt als moderner Fantasy-Klassiker in der Tradition Tolkiens. Der Midkemia-Zyklus beginnt mit dem Traum der Jungen Pug und Tomas von Ruhm und Ehre. Als Midkemia von Invasoren aus Kelewan angegriffen wird, werden sie in den gewaltigen Spaltkrieg hineingezogen. Zeitgleich zu »Die Midkemia-Saga« ist »Die Kelewan-Saga« angeordnet: In ihr werden die Geschehnisse auf der Gegenseite während des Spaltkriegs geschildert. Chronologisch folgen dann die Romane von »Die Krondor-Saga«, bevor Midkemia in »Die Schlangenkrieg-Saga« von einer weiteren Invasion heimgesucht wird: Die Flotte der Smaragdkönigin kommt übers Meer, und ihre Armee überzieht das Land mit Krieg. »Die Legenden von Midkemia« führen zurück in die Zeit des Spaltkriegs. In dem zeitlich jüngsten Abschnitt »Die Erben von Midkemia« erleben die Leser mit Talon einen neuen jungen Helden und einen bislang unbekannten Teil von Midkemia, treffen aber auch auf viele alte Bekannte. Aus dem Midkemia-Zyklus bereits erschienen: DIE MIDKEMIA-SAGA: I. Der Lehrling des Magiers (24616), 2. Der verwaiste Thron (24617), 3. Die Gilde des Todes (24618), 4. Dunkel über Sethanon (24611), 5. Gefährten des Blutes (24650), 6. Des Königs Freibeuter (24651) DIE KELEWAN-SAGA: I. Die Auserwählte (24748), 2. Die Stunde der Wahrheit (24749), 3- Der Sklave von Midkemia (24750), 4. Zeit des Aufbruchs (24751), 5. Die Schwarzen Roben (24752), 6. Tag der Entscheidung (24753) DIE KRONDOR-SAGA: I. Die Verschwörung der Magier (24914), 2. Im Labyrinth der Schatten (24915), 3. Die Tränen der Götter (24916) DIE SCHLANGENKRIEG-SAGA: I. Die Blutroten Adler (24666), 2. Die Smaragdkönigin (24667), 3. Die Händler von Krondor (24668), 4. Die Fehde von Krondor (24784), 5. Die Rückkehr des Schwarzen Zauberers (24785), 6. Der Zorn des Dämonen (24786), 7. Die zersprungene Krone (24787), 8. Der Schatten der Schwarzen Königin (24788) DIE LEGENDEN VON MIDKEMIA: I. Die Brücke (24190), 2. Die drei Krieger (24236), 3. Der Dieb von Krondor (24237)
DIE ERBEN VON MIDKEMIA: I. Der Silberfalke (24917) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Raymond Feist & Steve Stirling
Der Dieb von Krondor Die Legenden von Midkemia 3 Ins Deutsche übertragen von Regina Winter BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Jimmy the Hand. Legends of the Riftwar (vol 3)« bei Voyager/HarperCollins Publishers, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 10/2004 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Raymond E. Feist & Steve Stirling Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Ruddell Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24237 Redaktion: Alexander Groß V B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24237-1 www.blanvalet-verlag.de
Für meine Leser: Ohne Ihre Begeisterung müsste ich vom Autohandel leben. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen. Raymond E. Feist Für Jan ... und für Ray, Will und Joel: die Einzigen, die das hier schaffen konnten. S. M. Stirling Flucht Männer kämpften fluchend miteinander. Jimmy die Hand glitt wie ein Aal zwischen den Männern auf dem dunklen Kai hindurch. Stahl glitzerte im Licht von Fackeln und Laternen und schimmerte in rötlichen Bögen, als Reiter die geschickt ausweichenden Spötter angriffen, die sich gewaltig anstrengten, ihre Gegner von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Sie brauchten nur noch Sekunden, damit Prinz Arutha und Prinzessin Anita fliehen konnten, und der Kampf hatte die wilde Gewalttätigkeit der Verzweiflung angenommen. Zorn- und Schmerzensschreie gellten durch die Nacht, begleitet von dem eisernen Hämmern beschlagener Hufe, die Funken aufblitzen ließen, wenn sie aufs Pflaster krachten, und dem Klirren von Stahl auf Stahl. Gauner und Schläger von der Straße kämpften gegen ausgebildete Soldaten, aber die Pferde der Soldaten rutschten auf den glatten Planken und Steinen des Hafenviertels aus, und das flackernde Licht war sogar noch trügerischer als der Boden. Messer wurden nach oben gestoßen und Pferde scheuten, wenn Hände bestiefelte Füße packten und die Bewaffneten von Bas-Tyra aus dem Sattel zerrten. Der Eisen- und Salzgeruch von Blut setzte sich sogar gegen den Müllgestank des Hafens durch, und ein Pferd wieherte jämmerlich, als es mit durchschnittenen Sehnen zusammenbrach. Das Bein des Rei9 ters hatte sich im Steigbügel verfangen und wurde unter dem Tier eingeklemmt, und der Mann schrie ebenfalls, während das Pferd um sich trat und dann plötzlich still wurde, als zerlumpte Gestalten sich um es drängten. Jimmy wich einem zuschlagenden Schwert aus, entging geschickt den wirbelnden Hufen eines Streitrosses, das versuchte, besseren Halt zu finden, brachte einen Soldaten zum Stolpern, der vom Pferd
gestiegen war und gegen drei Spötter kämpfte, und eilte dann leichtfüßig den Kai entlang. Am Ende des Kais warf er sich auf die rauen Planken und spähte zu dem Ruderboot, das gerade abgelegt hatte. »Lebt wohl!«, rief er Prinzessin Anita zu. Sie wandte sich seiner Stimme zu; ihr hübsches Gesicht war im Vormorgenlicht kaum mehr als ein heller Fleck. Aber er wusste, dass ihre meergrünen Augen groß vor Erstaunen sein würden. Ich bin froh, dass ich mich verabschieden konnte, dachte er, und ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Brust breit. Das war eine gewisse Gefahr für Leib und Leben wert. Er grinste ihr zu, aber es war ein nervöses Grinsen; der Kampf mit Jocko Radburns Männern war noch heftiger geworden, und sein Rücken war im Augenblick ungeschützt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Spötter davonmachten; Kämpfe, bei denen man endlos standhielt, waren nicht ihr Stil. Eine andere, größere Gestalt erhob sich im Ruderboot. »Hier«, rief Prinz Arutha. »Benutz das, um gesund zu bleiben!« Ein Rapier in einer Scheide flog auf Jimmy zu. Er riss es an sich und rollte herum, gerade noch rechtzeitig, um einem Tritt von einem von Radburns Schergen auszuweichen. Jimmy rollte sich weiter, und der Mann verfolgte ihn und riss den Fuß in dem schweren Stiefel abermals hoch, um ihn zu zerquetschen wie ein Insekt. Jimmy ließ das Rapier los, griff nach 10 oben, packte Zehen und Ferse mit gekreuzten Händen und drehte ruckartig, was den Schurken brüllen und sich mitdrehen ließ, damit sein Fuß nicht gebrochen wurde. Er geriet aus dem Gleichgewicht, und ein Tritt Jimmys, der mit boshafter Präzision ins Ziel ging, ließ den Mann schreiend ins Wasser fallen. Seine Rüstung zog ihn unter Wasser, noch bevor die Echos seines Schreis verklungen waren. »Zeit zu verschwinden!«, keuchte Jimmy Er kam auf die Beine, riss das Rapier aus der Scheide und sah sich nach einem würdigen Opfer um - am besten einem, das eine Fluchtroute blockierte. Hinter sich konnte er das rhythmische Klatschen der Ruder hören, das einen seltsamen Gegensatz zum Chaos des Kampfes bildete, das ihn umgab. Lebt wohl, dachte er wehmütig. Und dann, als ein Haufen Tuchballen in Flammen aufging: Ups! Auf den Schiffen rings um sie her flackerten Laternen auf, und die
Wachen aus den Lagerhäusern kamen angerannt. Von überall her riefen Männer: »Was ist los?« Und: »Wer da?« Und immer lauter wurde der Schrei: »Feuer! Feuer!« Ein Mann im Schwarzgold von Bas-Tyra entriss einer der Wachen eine Laterne und marschierte zum Ende des Kais, und nun wusste Jimmy, wen er angreifen musste. Der Soldat grinste, als er den abgerissenen Jungen vor sich stehen sah. »Hast du mir eine neue Waffe gebracht?«, fragte er. »Sieht ziemlich gut aus. Zu gut für Abschaum, der sich noch nicht mal zu rasieren braucht. Danke.« Er führte einen Rückhandschlag gegen Jimmy, eine träge Bewegung mit mehr Kraft als Stil. Zweifellos hatte er sich vorgestellt, dem jungen Dieb das Rapier leicht entreißen und ihn dann mit dem Schwert in Stücke schneiden zu können. Die gut gearbeitete Klinge erwachte in Jimmys Hand zum Leben; sie war schwer, aber vollendet im Gleichgewicht, und beweglich wie eine zustoßende Schlange. Sie zuckte beinahe von selbst nach oben und wehrte den ungeschickten Schlag II
des Soldaten mit einem lang gezogenen Srinnng von Metall auf Metall ab. Der Soldat grunzte verblüfft, als der Schwung seines eigenen Schlags ihn herumwirbelte; dann schrie er vor Schmerz auf, als Jimmy zur Seite tänzelte und zustach. Es war eher Glück als Geschicklichkeit, dass der scharfe Stahl den Mann am Handgelenk erwischte, durch das Leder seines Handschuhs drang und einen flachen Schnitt in der Haut darunter verursachte. Mit einem Keuchen schüttelte der Mann das Gelenk, trat einen Schritt zurück, und selbst im Dunkeln war seine ungläubige Miene gut zu erkennen. Jimmy lachte erfreut und überrascht. Offenbar konnten nicht alle so gut mit einer Waffe umgehen wie Arutha. Die Stunden, in denen er mit dem Prinzen geübt hatte, während sie darauf warteten, dass Trevor Hulls Schmuggler ein Schiff fanden, auf dem Arutha und dieser alte Pirat Arnos Trask fliehen konnten, hatten sich bezahlt gemacht. Jimmy hatte das Gefühl, als bewege sich der Soldat nur halb so schnell wie der Prinz. Er lachte erneut. Dieses Lachen trieb den Soldaten zum Handeln, und er schlug wieder und wieder mit aller Kraft nach dem jungen Dieb. Wie ein Bauer beim Dreschen, dachte Jimmy Er hatte wenig Erfahrung mit ländlichen Angelegenheiten, verachtete Landeier aber
zutiefst. Die Schläge waren kraftvoll und wurden schnell geführt, aber jeder war eine Kopie des vorherigen. Instinkt ließ Jimmy das Rapier heben, und die Schläge glitten an der Stahlklinge und dem kunstvollen Handschutz ab. Der junge Dieb musste sein rechtes Handgelenk mehr als einmal mit der linken Hand stützen, denn sonst hätte die schiere Wucht ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Aber er wusste, er würde jeden Augenblick Gelegenheit erhalten, nach links auszuweichen, und dann würde er fest zustechen und den Soldaten am Bauch erwischen. 12 Arutha hatte immer geraten, sich die Zeit zu nehmen, einen Gegner einzuschätzen. Einen Augenblick später stieß Jimmy mit dem Rücken gegen einen Ballen; als er sich umblickte, bemerkte er, dass er in einer kurzen Sackgasse mit aufgestapelter Fracht in der Falle saß. Der Mann vor ihm grinste und ließ das Schwert vorzucken. »Du sitzt in der Falle, wie es sich für eine kleine Ratte aus der Kloake gehört.« Der Mann hob sein Schwert, und Jimmy bereitete sich darauf vor, seinen Angriff auszuführen, überzeugt, im nächsten Moment mit dem Soldaten fertig zu sein. Dann stolperten plötzlich zwei kämpfende Männer vorbei. Jeder hatte das Gelenk der Messerhand des anderen gepackt, und sie drehten sich stampfend und fluchend im Kreis wie bei einem schnellen, tödlichen Bauerntanz. Sie stolperten gegen den Soldaten aus Bas-Tyra, und dieser taumelte mit einem überraschten Aufschrei vorwärts. Jimmy zögerte nicht. Er verspürte ein gewisses Bedauern, dass er den kunstvollen Stoß, den er geplant hatte, nicht ausführen konnte, aber er durfte sich eine so gute Gelegenheit nicht entgehen lassen. Also stach er zu und spürte, wie die Nadelspitze des Rapiers durch Muskeln drang und an Knochen entlang knirschte, und wie dieses seltsame Gefühl durch den Stahl und den Griff hindurchfloss und in seinen Schultern und der Lendengegend ein Kribbeln verursachte. Der Mann ließ seine Laterne mit einem Schrei fallen, der zu einem lauten Fluch wurde, als das Glas zerbrach. Das verspritzte Ol ging sofort in Flammen auf und trieb den verwundeten Soldaten zurück. Er ließ die Waffe fallen und fing hektisch an, Flammen auf seiner Kleidung auszuschlagen, während Jimmy wie ein Affe über die Ballen kletterte. »Ratten sollte man eben lieber nicht in die Enge treiben!«, rief er
über die Schulter, bevor er an der Rückseite des Ballenstapels herunterkletterte und weiter rannte. Er hörte, wie jemand das Signal zum Rückzug pfiff, und sah die Spötter in Gassen und Seitenstraßen verschwinden 13 wie Nebelschwaden vor dem Wind. Jimmy beeilte sich, das Gleiche zu tun, aber bevor er sich in eine Gasse duckte, drehte er sich noch einmal rum und blickte auf die Bucht hinaus. Trevor Hüll und seine Schmuggler sprangen ins Wasser; einige schwammen unter die Docks, während andere sich auf Ruderboote zubewegten, die bereits warteten. Hinter ihnen sah Jimmy den Umriss der Seetaube, die auf die durchbrochene Blockadelinie zufuhr. Die Segel flatterten und reflektierten das Licht wie Geisterwolken im Dunkeln; er hob den Arm und winkte. Er wusste, dass es sinnlos war, denn man hatte die Prinzessin sicher sofort unter Deck gebracht. Aber er hatte sich dieses Winken ebenso wenig verkneifen können wie zuvor die Abschiedsworte. Der junge Dieb drehte sich um und rannte die Gasse entlang, so leichtfüßig wie eine Katze und sich beinahe ebenso deutlich seiner Umgebung bewusst. Er war vielleicht kein großer Schwertkämpfer noch nicht -, aber durch die dunklen Gassen von Krondor zu fliehen, war eine Fähigkeit, die er schon lange vor dem reifen Alter von dreizehn gemeistert hatte. Als er durch die Seitenstraßen der Stadt eilte, musste er wieder an die letzten paar Wochen denken, in denen er so viel Zeit mit der Prinzessin und dem Prinzen verbracht hatte. Prinzessin Anita war so, wie Mädchen sein sollten, aber nach Jimmys Erfahrung niemals wirklich waren. Für einen Jungen, der unter Huren, Schankmädchen und Taschendieben aufgewachsen war, stellte sie ... etwas vollkommen Seltenes dar, etwas Zartes, Reines - eine Frau, wie sie sonst nur in den Geschichten von Spielleuten vorkamen. In ihrer Nähe wollte er stets besser sein, als er war. Dann ist es gut, dass sie weg ist, dachte er. Ein Junge in seiner Position konnte sich solch noble Gedanken nicht leisten. Außerdem, dachte er mit einem schiefen Grinsen, würde sie eines Tages Prinz Arutha heiraten - obwohl der das noch 14 nicht wusste. Also stand es Jimmy nicht zu, diese Gefühle für sie zu hegen. Nicht, dass so etwas ihn je abgehalten hätte. Ich nehme an, wenn sie schon heiraten muss — und Prinzessinnen
müssen das wohl —, ist er der Beste, den ich ihr wünschen kann. Jimmy mochte Arutha, aber es war noch mehr als das. Er achtete ihn und ... ja, er vertraute ihm. Der Prinz hatte ihm deutlich gemacht, wieso Menschen einem Anführer folgen, wieso sie auf sein Wort hin in einen Krieg ziehen - etwas, was Jimmy sich nie hatte vorstellen können. Jimmy hatte eigentlich nur Erfahrung mit Männern, die durch Angst herrschten oder weil sie denen, die ihnen folgten, einen Vorteil bieten konnten. Auf den Aufrechten Mann, für den Jimmy arbeitete, traf beides zu. Er fuhr mit der Hand über die Scheide von Aruthas Rapier, das jetzt ihm gehörte, und lächelte. Dann wurde er plötzlich ernst. Diese Menschen zu treffen, hatte etwas Besonderes in sein Leben gebracht, und nun war es vorüber. Aber wie viele Menschen im Königreich kamen Prinzen und Prinzessinnen schon so nahe? Und wie viele von denen waren Diebe? Jimmy grinste. Er hatte sich, was den Kontakt mit dem Hochadel anging, gut geschlagen: zweihundert Goldstücke, ein schönes Rapier einschließlich Unterricht in der Benutzung der Waffe und ein Mädchen, von dem er träumen konnte. Er vermisste Prinzessin Anita jetzt vielleicht, aber zumindest hatte er sie kennen gelernt. Mit munterem Schritt machte er sich auf nach Spötters Ruh, bereit für eine leichte Mahlzeit und einen langen Schlaf. Ich sollte am besten schlafen, bis Radburn sich etwas abgekühlt hat, dachte er. Obwohl das vielleicht bedeutete, dass er bis ins hohe Alter schlafen musste. Jimmy näherte sich der großen Halle, die als Spötters Ruh bekannt war und sich tief in der Kanalisation befand. Für einen 15 braven Bürger der Oberstadt hätte es hier recht finster ausgesehen; ständig tröpfelte Wasser, und hier und da glitzerte Salpeter auf uraltem Stein. Aber ein solcher Mann hätte hier auch kaum mehr bemerkt als eine weitere Kreuzung von Tunneln in den Kloaken der Stadt, ein wenig größer als die meisten, aber ansonsten uninteressant. Für den Durchschnittsbürger aus der Oberstadt wären die Augen, die Jimmy beobachteten, als er sich dem Eingang näherte, unsichtbar gewesen, ebenso wie die Dolche in kundigen Händen, bis zu diesem letzten fatalen Augenblick, wenn sie zugestoßen hätten, damit das Geheimnis von Spötters Ruh gewahrt blieb. Für Jimmy hingegen war das hier sein Heim, eine sichere Zuflucht, ein Ort, an dem er sich ausruhen konnte. Er drückte auf einen Stein,
und nach einem lauten Klicken zeigte sich eine kleine Öffnung, als eine Tür aufschwang, die aus Segeltuch und Holz bestand, aber so bemalt war, dass sie wie Stein aussah. Jimmy war noch klein genug, um gebückt hineingehen zu können, und er durchquerte schnell den kurzen Gang zu dem verborgenen Keller. Ein Schläger stand am Ende des Gangs Wache und nickte, als Jimmy näher kam. Dem jungen Dieb blieb auf diese Weise eine tödliche Begrüßung erspart. Jeder unbekannte Kopf, der aus diesem Gang gestreckt wurde, hatte etwa eine Sekunde, um die Parole »Heute Abend wird bei Mutter gefeiert« auszusprechen und damit zu verhindern, dass sein Hirn über den Steinboden verteilt wurde. Der riesige Raum hinter der Öffnung bestand aus drei miteinander verbundenen Kellern, von denen aus Treppen hinauf zu den drei zugehörigen Gebäuden führten, die alle dem Aufrechten Mann gehörten: Ein Hurenhaus, ein Gasthaus und ein Kramladen boten eine Unzahl von Fluchtwegen, und Jimmy konnte sie alle mit verbundenen Augen finden, ebenso wie jeder andere Spötter. Das Licht hier war Tag und Nacht trübe, so dass sich die Augen eines Spötters, der schnell in die Kanalisation floh, nicht erst umgewöhnen mussten. 16 Jimmy grüßte ein paar Bettler und Straßenjungen, die wach waren; die meisten schliefen fest, denn es waren immer noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. An einem normalen Tag würden sie alle schon Minuten nach Sonnenaufgang wieder auf dem Marktplatz sein. Aber dieser Tag würde alles andere als normal werden. Nachdem der Prinz und die Prinzessin sicher entkommen waren, mussten die Spötter mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen. Im Lauf der Jahre waren sie mit den Wachtmeistern der Stadt und den Soldaten der königlichen Hausgarde ganz gut zurechtgekommen, aber die Geheimpolizei, die Guy du Bas-Tyra ins Leben gerufen hatte, seit er Vizekönig war, war eine andere Sache. Mehr als nur ein Spötter war zum Verräter geworden, und das hatte sich auf die allgemeine Stimmung ausgewirkt. Es herrschte zwar eine Atmosphäre stillen Triumphs, weil es ihnen gelungen war, Prinzessin Anita bei der Flucht zu helfen, aber Nutzen würden sie daraus erst später ziehen können. Jimmy wusste, dass der Aufrechte Mann in solchen Kategorien dachte. Eines Tages würde Prinzessin Anita nach Krondor zurückkehren -zumindest hoffte Jimmy das -, und alle, die auf ihrer Seite und der ihres Vaters Prinz Erland standen, waren dann
dem Aufrechten Mann etwas schuldig, der selbstverständlich versuchen würde, diese Schulden in der nützlichsten Weise einzutreiben. Aber das war selbst für den Aufrechten Mann Zukunftsmusik, und für die schlichten Einbrecher, Taschendiebe und Huren würde es an diesem Tag keine Belohnung geben. Stattdessen würde es oben in der Stadt von zornigen Spionen und Informanten nur so wimmeln, weil sie unbedingt wissen wollten, wer Jocko Radburn, den Chef der Geheimpolizei, so hinters Licht geführt hatte. Jimmy wusste, dass Radburn diese öffentliche Blamage nicht einfach auf sich sitzen lassen würde. Die Flucht der Prinzessin war zunächst eine geheime Angelegenheit gewesen, und nur ein paar Spötter und einige von !7 Trevor Hulls Schmugglern hatten gewusst, wer dort aus der Stadt geschafft werden sollte. Aber sobald der Kampf begonnen hatte, hatten viele Spötter das Gesicht der Prinzessin und ihr charakteristisches rotes Haar gesehen, und bei Sonnenaufgang würden die Gerüchte von ihrer Flucht die Runde auf den Märkten und in Gasthäusern und Läden machen. Die meisten würden so tun, als wüssten sie nichts, aber alle würden den Grund für die folgenden Razzien von Bas-Tyras Soldaten und der Geheimpolizei kennen. Jimmy ging zu dem Kasten bei den Waffenschränken und nahm einen Wetzstein, eine kleine Phiole mit Öl und ein paar Lappen heraus. Solche Gedanken bewirkten, dass ihm schwindlig wurde. Er war vielleicht nicht einmal vierzehn, vielleicht schon sechzehn Jahre alt - niemand wusste das genau -, und solche Ideen faszinierten ihn, aber er wusste auch, dass er sie nicht vollkommen verstand. Politik und Intrigen waren attraktiv, aber auf eine sehr seltsame Weise. Er zog sich in eine abgelegene Ecke zurück, um sein Rapier zu säubern. Sein Rapier. Und es war sogar ein Geschenk! Davon hatte es in seinem Leben wenig gegeben, was die herrliche Waffe nur noch kostbarer machte. Der beste Handwerker würde ein halbes Jahr brauchen, um einen Gegenstand von solch tödlicher Schönheit herzustellen; das Rapier war ganz anders als die schwerfälligen Waffen der gewöhnlichen Soldaten - es unterschied sich von ihnen wie ein Streitross von einem Maultier. Er zog die Klinge aus der Scheide und entdeckte verärgert, dass er sie blutig eingesteckt hatte. Angewidert verzog er den Mund. Nun, er
hatte noch nie eine solche Waffe besessen; man konnte nicht erwarten, dass er sich sofort an jede Einzelheit erinnerte. Als er genauer hinschaute, erkannte er, dass die Scheide mit Bolzen aus Elfenbein und Messing zusammengehalten wurde und man sie zum Säubern auseinander nehmen konnte. 18 Jetzt freute er sich sogar noch mehr über das Geschenk, falls das überhaupt möglich war. Er war wirklich begeistert. »Beute wie die da muss zum Verkauf abgegeben werden, damit wir teilen können«, sagte Lachjack. Er griff nach dem Rapier, und Jimmy entzog ihm die Waffe und sich selbst mit einer aalartigen Bewegung. »Das ist keine Beute«, erwiderte er. »Es ist ein Geschenk. Von Prinz Arutha persönlich.« »Oh, erhalten wir also dieser Tage Geschenke von Prinzen?« Man hatte Jack niemals auch nur lächeln sehen; es war Jimmy, der ihm seinen Spitznamen verpasst hatte. Aber wenn es darum geht, höhnisch die Miene zu verziehen, ist er besser als jeder andere, dachte Jimmy Der Aufseher griff abermals nach der Klinge, und abermals glitt der junge Dieb davon. Als Aufseher und damit Stellvertreter des Nachtmeisters verfügte Lachjack über große Autorität; in den meisten Fällen schlug sich der Nachtmeister auf seine Seite, wenn es zu einem Streit kam. Aber Jimmy wusste, dass er diesmal im Recht war, und war überzeugt, dass der Nachtmeister ihm zustimmen würde. Also widersetzte er sich Jack. Mehrere Spötter hatten Jimmy vorhergesagt, dass Jack ihn eines Tages wegen des Spitznamens umbringen würde. Nun sah es beinahe so aus, als wollte Jack diese Prophezeiung wahr machen. Jimmy war zwei Köpfe kleiner als der Aufseher. Er war ein zierlicher Junge und verfügte über eine Schnelligkeit, mit der nur wenige Spötter mithalten konnten und die noch keiner von ihnen übertroffen hatte. Sein eigener Spitzname war wohlverdient, denn kein Spötter war in der Lage, auf einem überfüllten Marktplatz eine Börse unauffälliger zu stehlen als er. Jimmy war ein hübscher Junge mit kurz geschnittenem, lockigem braunem Haar, und seine Schultern versprachen, einmal breit zu werden. Sein Lächeln war ansteckend, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, aber jetzt stand eine
19 Spur von Drohung in seinen Augen, als er die Hand an den Rapiergriff legte, bereit, die Auseinandersetzung mit Jack notfalls auch gewaltsam zu führen. So jung er sein mochte, er hatte in seinem Leben schon mehr Gefahr und Tod gesehen als die meisten Männer, die doppelt so alt waren wie er. Leise sagte er: »Es gehört mir, Jack.« »Stimmt. Hab's gesehen«, sagte Berserker Blake mit einer Stimme, als hätte ein Fels angefangen zu sprechen. Danach schwieg der riesige Schläger wieder und ging weiter auf seinem Weg in einen abgelegenen Teil der Halle, als hätte er nie ein Wort gesagt. Lachjack warf dem Rücken das Schlägers einen unsicheren Blick zu. Sie nannten Blake nicht umsonst Berserker; er war so unberechenbar wie ein wildes Tier und neigte zu schrecklichen Wutanfällen. Falls Jack beschloss, Jimmys Recht auf das Rapier weiterhin in Frage zu stellen, nachdem der Schläger sich für ihn eingesetzt hatte, war es gut möglich, dass sich der Aufseher bald in einer Welt des Schmerzes wieder finden würde, Stellvertreter des Nachtmeisters hin oder her. Jack bedachte Jimmy abermals mit einem höhnischen Blick. »Dann behalte das Ding, aber es wird weggeschlossen.« Er wies mit dem Kopf auf die Waffenschränke. »Sobald es sauber ist«, stimmte Jimmy zu. Das erlaubten die Regeln, wie sie beide wussten. Der Aufseher drehte sich um und stolzierte davon. Jimmy wandte sich Blake zu, der jetzt allein an einem Tisch saß, einen Bierkrug in der großen Pranke, und ins Leere starrte. Der junge Dieb machte sich nicht die Mühe, zu ihm zu gehen und sich zu bedanken - so etwas machte man nicht bei Blake -, aber er nahm sich vor, nicht zu vergessen, dass er dem Mann einen Gefallen schuldete, was ohnehin ehrenhafter und nützlicher war als irgendwelche Dankesworte. »Das ist aber hübsch!« Jimmy blickte auf und lächelte Heißfinger-Flora an, die ih20 ren Namen dafür erhalten hatte, dass sie früher Pasteten gestohlen hatte, die ihre Besitzer fälschlicherweise für zu heiß zum Anfassen hielten. Leider hatte diese Unempfindlichkeit Flora trotz Jimmys bester Bemühungen zu einer miserablen Taschendiebin gemacht. Aber sie war sechzehn und hübsch anzusehen und hatte sich inzwischen einem anderen Erwerbszweig zugewandt. Sie setzte sich neben ihn, schlang die Arme um seinen Hals, schob
die Beine auf seinen Schoß und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Hallo, Jimmy«, schnurrte sie, klimperte mit den Wimpern und rieb mit ihrer kleinen Hand seine Brust. Er lachte. »Als ob ich dort etwas Wertvolles aufbewahren würde!« Flora schmollte, dann lächelte sie wieder. Sie zog ihre Beine von seinem Schoß und zeigte auf das Rapier. »Was hast du denn damit vor?« Jimmy wischte die Waffe mit dem Öltuch ab und hielt sie hoch, damit die Klinge im Fackellicht glitzerte. »Ich werde es behalten«, sagte er entschlossen. Sie sah ihn neugierig an und blickte sich dann in der großen Halle um. »Es hat da draußen einen ziemlichen Kampf gegeben«, sagte sie. »Und es gibt schon erste Gerüchte, dass die Prinzessin und ein paar andere Adlige nach Westen geflohen sind.« Sie verzog das Gesicht und fügte hinzu: »Radburn und seine Mistkerle werden durchdrehen, wenn das stimmt. Wenn der Herzog zurückkommt ...« Sie beendete den Satz nicht, aber ihre Miene zeigte, dass sie sich schon darauf freute, dass der Herzog den Chef seiner Geheimpolizei bestrafen würde. »Es wird ruhig auf dem Markt sein, wenn so viele Spötter zu Hause bleiben und ihre Wunden lecken.« Flora warf Jimmy einen verruchten Blick zu. »Hast du irgendwelche Wunden, die geleckt werden müssen, mein Schatz?« Er lachte und versetzte ihr einen freundlichen Schubs. Tat21 sächlich empfand er ein leichtes Kribbeln, wie häufig bei diesen Schäkereien, und Schäkereien mit Flora endeten oft im Bett. Flora war nicht Jimmys Erste gewesen, aber beinahe. Er hatte sein ganzes Leben unter Huren verbracht - seine Mutter war eine gewesen -, aber Flora hatte einen besseren Hintergrund als die meisten; ihr Vater war Bäcker gewesen, und so war sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr als anständiges Mädchen aufgewachsen. Sie konnte wenn nötig wie eine Dame sprechen, was ihr manchmal zu besserer Kundschaft verhalf. Und mit ihren großen, ausdrucksvollen blauen Augen und dem hellbraunen lockigen Haar war sie hübscher als die meisten. Sie hatte ein zartes Kinn und eine niedliche Stupsnase, und ihr Lächeln war reizend. Es war eine Schande, dass sie mit den Fingern so ungeschickt war, hatte Jimmy schon mehr als einmal gedacht; sie war nicht dazu gemacht, ihren Lebensunterhalt auf der Straße zu verdienen.
Flora hatte gesagt, dass sie sich bei ihm sicher fühlte, und er nahm vollkommen realistisch an, dass dies vor allem der Fall war, weil sie beinahe einen Fuß größer war als er. Was ihn selbst anging, nun, er mochte Flora, und er genoss die Zeit, die sie zusammen verbrachten. Er lächelte über ihren eindeutigen Annäherungsversuch und rutschte ein wenig näher. Aber dann riss sie erschrocken die Augen auf und hob die Hand an den Mund. »Oh«, sagte sie, »ich hab ganz vergessen, dass ich in einer Stunde jemanden treffen muss.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber bis dahin gehöre ich ganz dir.« Jimmy dachte darüber nach; erst würden sie einen Platz finden müssen, wo sie ungestört waren, und bei der wenigen Zeit bedeutete das einen unbequemen und übel riechenden Platz, und Flora würde bald wieder gehen müssen, um ihre Verabredung einzuhalten. Also blieb ihnen erheblich weniger als eine Stunde, vielleicht nur ein paar Minuten. Dennoch, es wäre nicht das erste Mal, dass er sich mit einem der Mädchen für ein paar ausgelassene Minuten in eine dunkle Ecke davon22 gestohlen hatte, während andere in der Nähe schliefen. Er war an einem Ort aufgewachsen, wo Paare ihr Vergnügen fanden, wann und wo sie konnten - aber obwohl er Flora wirklich gern hatte, verspürte er an diesem Morgen irgendwie nicht die übliche Erregung, sondern nur ein leichtes Kribbeln. Er war wirklich müde. Außerdem entfernte sich die Prinzessin jeden Augenblick weiter, und das machte ihn traurig. Plötzlich waren ein paar Minuten in Floras Armen das Letzte, was er wollte. Es gefiel ihm nicht, so traurig zu sein ... Nicht, dass ich sicher wüsste, wie ich mich fühle. Es wäre ungerecht gewesen, diese seltsame Stimmung an seiner Freundin auszulassen. »Ich habe im Augenblick leider auch keine Zeit«, sagte er mit einem Grinsen und setzte die Scheide wieder zusammen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas sagen würde.« Aber nun, da er es getan hatte, kam er sich regelrecht edel vor. Flora kicherte. »Keine Sorge«, flüsterte sie. »Es wird noch andere Gelegenheiten geben.« Er zog sie mit einem Arm an sich und küsste sie auf die Wange. »O Flora, meine Blüte, du bist zu gut für mich! Außerdem würde ich dich wahrscheinlich enttäuschen. Im Augenblick habe ich nur noch die Kraft, mir einen Schlafplatz zu suchen. Ich habe das Gefühl, als wäre ich seit meiner Geburt ununterbrochen unterwegs gewesen.« »Du warst vielleicht unterwegs, aber ich hab dich schon lange nicht
mehr gesehen. Wo warst du?« »Ich habe mich auch gefragt, wo du steckst.« Jimmy fiel das Lügen leicht. »Ich dachte, du würdest jetzt vielleicht in einem Freudenhaus arbeiten.« Da er Floras Einladung ohnehin nicht annehmen würde, wäre es auch kein Verlust, wenn sie im Zorn davonginge. »Nein«, erwiderte sie und wandte hochnäsig den Blick ab. »Ich komme sehr gut allein zurecht.« Er sah sie an: Ja, ihr neues Kleid war hübsch, aber aus billi23 gern Tuch, grob gewebt und auf eine Art gefärbt, die schon bald ausbleichen würde. Niemand hatte guten Alaun verschwendet, um die Farben zu fixieren. Sie trug zierliche Schühchen, und ein mit Pailletten besetztes Tuch schmückte ihr braunes Haar - mehr neue Sachen, als sie in ihrem ganzen Leben besessen hatte. Aber sie sah ebenfalls müde und nicht allzu sauber aus. Der Lack würde schon in sechs Monaten ab sein, und in einem Jahr würde sie aussehen wie dreißig. Das Leben in den Freudenhäusern der Stadt war sicher kein Urlaub, aber erheblich besser, als auf der Straße zu arbeiten. Zumindest hatten die Mädchen dort eine gewisse Hoffnung auf eine Zukunft. Jimmy konnte nicht vergessen, was seiner Mutter zugestoßen war. Ein Betrunkener hatte sie umgebracht, nur weil sie allein und niemand da gewesen war, um ihn aufzuhalten. Jimmy verstand besser als die meisten, dass Unabhängigkeit Frauen mitunter teuer zu stehen kam. »Nein, tust du nicht«, sagte er leise. »Du setzt jedes Mal dein Leben aufs Spiel, wenn du mit jemandem gehst. Flora,, wenn du das wirklich willst, bin ich der Letzte, der dich aufhalten würde, aber lass dir von einem Freund einen guten Rat geben. Du bist hübsch genug, dass jedes Haus in der Stadt dich aufnehmen würde, und die besseren Häuser kümmern sich um dich. Du kannst dich gut ausdrücken, beinahe wie eine Dame, und du könntest sogar im Weißen Flügel arbeiten.« Flora schnaubte verächtlich, aber er hatte gesehen, dass sie zuhörte. »Die Freudenhäuser beobachten die Kunden für dich, also wirst du nichts mit Betrunkenen oder mit Mistkerlen zu tun bekommen, die nicht bezahlen oder dich zum Spaß verprügeln. Viel besser als auf der Straße.« Er sah sie ernst an. »Noch besser wäre es selbstverständlich, etwas anderes zu tun.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was zum Beispiel? Du 24 weißt, dass ich eine lausige Diebin bin. Und als Bettlerin gehe ich wirklich nicht durch.« Wieder schubste er sie und lächelte. »Komm schon, du bist ein kluges Mädchen. Ich kann dir ein paar gefälschte Zeugnisse verschaffen. Wie, glaubst du wohl, hat Carstens Schwester Arbeit im Palast bekommen?« Flora schaute nachdenklich drein, dann warf sie ihm einen Seitenblick zu. »Gefällt es ihr da?« »Scheint so«, log Jimmy, denn er hatte keine Ahnung. »Und warum auch nicht? Sie hat ein warmes eigenes Bett, das sie nur mit jemandem teilt, wenn sie das selbst will, bekommt jedes Jahr ein neues Kleid, erhält gutes Essen und wird außerdem bezahlt. Sicher, sie arbeitet schwer, und die Bezahlung ist nicht besonders gut, aber alles in allem glaubt sie, dass es eine gute Idee war.« Es lag ihm auf der Zunge, ihr zu sagen: Und sie hat geholfen, Prinzessin Anita zu retten, aber er riss sich zusammen. Das Nächste wäre dann unweigerlich: Und ich ebenfalls, und er wollte nicht, dass das die Runde machte. Aus ganz persönlichen Gründen auf Jocko Radburns Liste zu stehen, war wirklich das Letzte, was er jetzt brauchte. Flora wollte gerade etwas sagen, als Lachjack auf eine Bank und von dort auf einen Tisch stieg. »Hört alle zu!«, rief er laut. Als die Menge still geworden war und alle sich ihm zugewandt hatten, fuhr der Aufseher fort. »Ich habe für euch eine Botschaft vom Aufrechten Mann persönlich! Alle Spötter sollen sich in den nächsten Tagen versteckt halten.« Er hob die Hand, um die Leute zum Schweigen zu veranlassen, denn diese Ankündigung hatte einen Sturm von Protesten heraufbeschworen. »Das heißt, ihr lasst euch nicht von den Wachen sehen und bleibt entweder hier oder auf einer anderen Platte. Vor allem ihr Bettler und jüngeren Diebe. Radburn scheint es besonders auf euch abgesehen zu haben. Ihr werdet nicht arbeiten.« Er sah sich aufmerksam 25 im Raum um. »Nicht ohne ausdrücklichen Befehl des Tag oder Nachtmeisters. Wir lassen später etwas zu essen herbringen, damit ihr nicht verhungert, bis Gras über diese Geschichte gewachsen ist. Wenn ihr noch Fragen habt« - wieder blickte er sich aufmerksam um
- »behaltet sie für euch.« Dann stieg er vom Tisch, und ein Chor von Spekulationen erhob sich. »Was ist mit den Huren?«, fragte Flora stirnrunzelnd. »Um Banaths willen, Flora«, rief Jimmy den Gott der Diebe an, »ein sicherer Schlafplatz und Essen umsonst! Endlich bekommen wir mal was für all diese Anteile, die wir gezahlt haben. Warum arbeiten, wenn wir hier faul rumhängen können wie -« Er hatte »Adlige« sagen wollen, aber dann veränderte er es zu: »Bas-Tyras Schergen. Außerdem erhältst du dadurch ein wenig Gelegenheit, in Ruhe über deine Zukunft nachzudenken.« Sie nickte mit einem schüchternen Lächeln, erfreut über Jimmys Fürsorglichkeit. »Oh, was ...« Der Aufseher war erneut auf den Tisch gestiegen und verkündete nun barsch: »Wenn ihr eine andere Schlafstelle habt, verschwindet jetzt. Alle, die keine haben, bleiben hier.« Er stieg wieder hinunter, und diesmal verließ er die Halle. »Also gut«, sagte Jimmy und stand auf. »Ich geh ins Bett.« Er warf einen Blick auf das Rapier in seiner Hand und beschloss, es tatsächlich im Waffenschrank zu lassen. Wenn ein Junge seines Alters und seiner Stellung am helllichten Tag eine erstklassige Waffe trug, würde das nur unwillkommene Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Der Kaufpreis eines solchen Rapiers lag bei zehn Jahresgehältern für einen Schneider oder Töpfer, von einem einfachen Arbeiter oder Straßenkind gar nicht zu reden. Er konnte der Wache wohl kaum erzählen, das Rapier sei nicht gestohlen, sondern ein Geschenk eines Prinzen, der die Stadt besucht hatte ... »Was ist mit dir, Heißfinger?«, fragte er. »Brauchst du eine Eskorte?« 26 »Also wirklich!«, sagte sie lachend. »Eine Eskorte!« Sie versetzte ihm einen Klaps aufs Hinterteil. »Nein, ich bleibe hier und genieße die Großzügigkeit des Aufrechten Mannes.« Jimmy sah sich nervös um; das war eine recht dreiste Bemerkung gewesen, aber zum Glück hatte es niemand gehört. »Dann gute Nacht«, sagte er und hob die Hand mit dem Rapier zum Gruß. Flora kicherte bei diesem Anblick. »Eskorte«, hörte er sie murmeln, als er davonging. 2 Durchgreifen
Jimmy sah sich vorsichtig um. Trotz der frühen Stunde füllten sich die Straßen rasch. Die Straßenkehrer mit ihren Besen und Schippen waren gerade auf dem Heimweg; einen Augenblick lang dachte Jimmy darüber nach, dass die Krone für solche Arbeit zahlen sollte. Eine kleine Steuer für jeden Geschäftsinhaber, und die Straßen wären alle sauber und ordentlich, nicht nur die besseren Boulevards in den Vierteln der wohlhabenden Kaufleute, für deren Säuberung die Anwohner aus eigener Tasche zahlten. Wenn ich Herzog von Krondor wäre, dachte er, dann würde ich es so machen. Auf die Straßenkehrer folgten rasch Köche und ihre Helfer, die mit frischem Gemüse, Obst und Geflügel von den Bauernmärkten zurückkehrten. Metzgerlehrlinge eilten mit Rindervierteln oder Schweinehälften vorbei. Jene Ladeninhaber, die nicht direkt über ihren Geschäften wohnten, machten sich auf, um die Läden aufzuschließen; andere waren auf der Suche nach einem Bissen zum Frühstück. Holzrauch kringelte sich aus Schornsteinen, und Jimmy konnte Haferbrei und manchmal auch Fisch oder Würstchen riechen Gerüche, die zu dem Gestank uralten Kohls hinzukamen, der stets über den ärmeren Vierteln der Stadt hing. Holzschuhe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, bloße Füße klatschten auf den Boden, Hufe hämmerten. 28 Das Schwarz und Gold von Bas-Tyra war an diesem Morgen nicht so oft zu sehen wie in der letzten Zeit, und Jimmy musste bei dem Gedanken grinsen, dass sie sich wohl immer noch um ihre blauen Flecken kümmerten. Aber die wenigen städtischen Wachtmeister schienen nervös, als stünde Ärger bevor und als wüssten sie nicht, auf welcher Seite sie stehen sollten. Er kam an einem Tor vorbei, wo vier Soldaten, die noch den Waffenrock des Prinzen trugen, sich zusammendrängten und mit gesenkten Köpfen miteinander sprachen, statt zu beobachten, wer das Tor passierte. Irgendetwas lag in der Luft, und jeder sprach darüber. Jimmy wusste, dass alle, mit denen sie es am Vorabend im Hafen zu tun gehabt hatten, entweder reguläre Soldaten aus Bas-Tyra oder Geheimpolizisten gewesen waren. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, zu der behelfsmäßigen Kaserne zu gehen, in der Bas-Tyras Leute untergebracht waren, und sich den Schaden anzuschauen, aber diese Idee gab er in einer seltenen Anwandlung von Vernunft schnell
wieder auf. Wenn man bedachte, wie empfindlich die Gardisten gerade heute sein würden, würden ein paar arme Jungs sicher einige Tage im Stadtkerker landen. Nur, dass es in seinem Fall länger als ein paar Tage dauern und schmerzlicher ausfallen würde. Plötzlich tauchte ein Feldwebel der Garde aus Bas-Tyra auf, und die vier Männer des Prinzen nahmen Habachtstellung an und begaben sich auf ihre Posten zu beiden Seiten des Tors. Jimmy beobachtete das alles aus dem Schutz eines tiefen Hauseingangs gegenüber dem Tor. Der Feldwebel war in finsterer Stimmung, und nachdem er wieder verschwunden war, starrten die vier Soldaten jedem Passanten forschend ins Gesicht, weil sie offensichtlich nach jemandem suchten. Gerade, als Jimmy sich davonschleichen wollte, sah er, dass sie einen abgerissenen Burschen aufhielten und begannen, ihm Fragen zu stellen. Jimmy kannte den Mann: Er war kein echter Spöt29 ter, sondern einer der Armen, die sich hin und wieder am Rande von Spötterkreisen bewegten. Er war ein Arbeiter namens Wilkins, und Jimmy hatte zweimal im letzten Jahr gesehen, wie er geholfen hatte, Schmuggelladungen für Trevor Hüll zu entladen. Ein Soldat packte ihn grob und brachte ihn weg. Jimmy sank in den Eingang zurück. Wenn sie sogar Leute wie Wilkins verhafteten, würden sie ihn zweifellos schnappen, sobald er sich sehen ließ. Andererseits, wenn er tatsächlich in den Kerker gebracht wurde, könnte er vielleicht etwas für Prinzessin Anitas Vater tun. Wenn ich Prinz Erland retten könnte, würde Anita mir das nie vergessen. Und es könnte profitabel sein. Er hatte zweihundert Goldstücke erhalten, weil er Prinz Arutha geholfen hatte, und dafür hatte er ihn nur in Sicherheit bringen müssen. Wie viel mehr könnte er verdienen, wenn er sich wirklich anstrengte? Der junge Dieb starrte einen Augenblick ins Leere, und seine Finger bewegten sich wie von selbst und nahmen ein Brötchen vom Tablett einer Straßenhändlerin, als diese näher zu dem Hauseingang kam, um einem Pferdewagen auszuweichen. Seine Hand bewegte sich in einem schnellen, aber nicht zu eiligen Bogen und steckte das Gebäck unter seine Jacke, bevor er sich wieder zurückzog. Die kräftige Frau ging weiter, nicht ahnend, dass sie bestohlen worden war, und pries weiter ihre Waren an. Jimmy biss in das warme Brötchen, dachte über seine Möglichkeiten nach und genoss den Geschmack nach
Zimt und Honig. Er würde mit Spöttern sprechen müssen, die im Kerker gewesen waren - also mit den Bettlern. Diebe kamen nie lebendig aus dem Kerker, und die Schläger, die man vielleicht gehen ließ, wenn man sie für unschuldige Betrunkene hielt, die die Beherrschung verloren hatten, wollte er lieber meiden. Besonders, wenn er etwas plante, was der Aufrechte Mann vielleicht nicht billigen würde. 30 Er würde es eindeutig nicht billigen, musste Jimmy sich eingestehen. Er würde einen solchen Plan zweifellos mit ... oh kaltem Zorn, denke ich, ablehnen. Lachjacks Befehl, im Versteck zu bleiben und nichts zu unternehmen, ging ihm noch einmal durch den Kopf, aber er wischte ihn beiseite. Mit Vorsicht erreichte man nie etwas, zumindest nicht nach seiner Erfahrung, und für seine ungefähr dreizehn Jahre verfügte er über eine Menge davon. Er gähnte so heftig, dass sein Kiefergelenk knackte, also beschloss er, eine Runde zu schlafen, bevor er weitere Pläne schmiedete. Er wartete, bis die drei verbliebenen Wachen abgelenkt waren, dann huschte er aus dem Schatten des Eingangs und eilte zu einem seiner Plätze, einem, für den er tatsächlich bezahlte. Es war nicht mehr als ein Kämmerchen mit einem winzigen Fenster, das gerade genug Platz für einen Strohsack, einen klapprigen Tisch und einen billigen Kerzenständer bot. Das alte Ehepaar, dem das Haus gehörte, hielt Jimmy für den Lehrling eines Karawanenmeisters, was seine häufigen und manchmal längeren Abwesenheiten erklärte. Sie verlangten bloß ein paar Silberstücke im Monat und stiegen nur selten zu seinem winzigen Zimmer hinauf, was ihm sowohl Sicherheit als auch Abgeschiedenheit bot. Dennoch hatte er lediglich ein paar Kleidungsstücke dort gelassen. Oben unter dem Dachboden gab es ein paar gute Verstecke, aber er hatte noch keins davon benutzt. Nun, mit all dem Gold, das schwer gegen seine Hüfte schlug, beschloss Jimmy, eins davon auszuprobieren. Er hatte längere Zeit darüber nachgedacht, welcher Platz dafür am besten geeignet war, und war zu dem Schluss gekommen, dass im Augenblick Armut seine beste Tarnung wäre; keiner seiner Diebeskollegen würden in einer solchen Bruchbude Gold vermuten. Er weckte mit seinem Klopfen den alten Mann und wurde mit missbilligendem Grunzen begrüßt - seit sie Vorjahren ihr Geschäft verkauft hatten, schliefen die alten Leute lange, häu-
31 fig bis sieben oder acht, und es ärgerte sie, Jimmy schon im Morgengrauen hereinlassen zu müssen. Der alte Mann schloss die Tür hinter dem Jungen, kehrte in sein Zimmer zurück und ließ Jimmy allein in dem dunklen, staubigen Flur. Jimmy setzte dazu an, die Treppe hinaufzusteigen, und bemerkte, dass es unangenehmer roch als bei seinem letzten Besuch. Und das hier war seine einzige zumindest halb achtbare Unterkunft! Wenn sie noch mehr herunterkam, würde er umziehen müssen. »Was für eine Idee«, murmelte er müde. »Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch respektabel.« Baron Jose del Garza, in Abwesenheit des Herzogs amtierender Gouverneur von Krondor und nun kurzfristig auch Chef der Geheimpolizei des Herzogs von Bas-Tyra, saß hinter dem Schreibtisch des Kommandanten der Palastwache und starrte wütend das schmale Fenster in der Wand gegenüber an. Im Zimmer roch es nach Tinte, muffigem Pergament, billigem Wein, Talgkerzen und altem Schweiß. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er lieber überall sonst im Königreich gewesen als in Krondor. Er hätte viel lieber an der Seite des Herzogs von Bas-Tyra im südlichen Grenzland gegen Kesh gekämpft, statt sich mit den Dingen abgeben zu müssen, die heute vor ihm lagen. Del Garza war kein besonders ehrgeiziger Mann. Er diente dem Herzog, und es war Herzog Guys Wunsch gewesen, dass er die Stadt in seiner Abwesenheit verwaltete, dafür sorgte, dass Rechnungen bezahlt, Steuern eingetrieben und Verbrechen bestraft wurden, während der Prinz sich in seinen Gemächern aufhielt. Man hätte auch behaupten können, dass der Prinz sich unter Arrest befand, aber vor seinen Gemächern standen keine Wachen; Erlands schlechte Gesundheit würde ohnehin verhindern, dass er die Stadt verließ. Außerdem gehorchte er seinem Neffen, dem König. Als Guy mit einem Schreiben des Königs erschienen war, das ihn zum Vizekönig erklärte, war Prinz Erland ohne Widerspruch zurückgetreten. Nun verfluchte del Garza den Tag, an dem er Rodez verlassen hatte, um in den Dienst des Herzogs zu treten. Herzog Guy war ein harter, aber gerechter Mann. Seit er nach Krondor gekommen war, war del Garza jedoch gezwungen gewesen, sich mit Jocko Radburn abzugeben. Dieser mörderische Verrückte hatte das Gesicht eines schlichten Bauern, aber das Herz eines tollwütigen Wolfs. Und seine
Unfähigkeit, selbst ein sechzehnjähriges Mädchen hinter Schloss und Riegel zu halten, drohte nun, del Garzas Leben vollends auf den Kopf zu stellen. Radburn hatte del Garza den Befehl über die Geheimpolizei übertragen, die Greif, eines der Schiffe des Herzogs, beschlagnahmt und sich eine Stunde, nachdem das Mädchen und ihre Begleiter aus der Stadt geflohen waren, zur Verfolgung aufgemacht. Nun fiel es del Garza zu, das Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen und, was wichtiger war, dafür zu sorgen, dass man ihm nicht die Schuld gab, falls Radburn die Prinzessin nicht zurückbringen konnte. Es klopfte, und er antwortete: »Herein!« Ein Soldat öffnete die Tür. »Er kommt, Sir.« Del Garza nickte und versuchte ruhig zu bleiben, als die Tür sich wieder schloss. Er hatte dieses Büro für ein ganz bestimmtes Gespräch beschlagnahmt, und danach würde er mit seinen Untergebenen reden. Aber zuerst würde er mit dem Kapitän der Paragon sprechen, eines Blockadeschiffs, das heute früh ausgerechnet in einem kritischen Augenblick seine Position verlassen hatte. Er vernahm von draußen eine Männerstimme, die eindeutig im Zorn erhoben wurde. Antworten waren nicht zu hören, aber es war klar, dass der erzürnte Mann näher kam. Dann klopfte es an der eisenbeschlagenen Holztür, und del 33 Garza dachte einen Augenblick nach. Nach dem Klopfen war es einen Moment still gewesen, aber schon bald erklang die verärgert protestierende Stimme erneut. »Herein«, sagte der amtierende Gouverneur leise. Die Tür wurde sofort aufgerissen, und del Garza begegnete dem Blick seines Untergebenen, als dieser das Büro betrat. Er sah in den Augen des Mannes sowohl Heiterkeit als auch Zorn und ein erhebliches Maß an Verachtung. Einen Augenblick lang fragte sich der Baron, ob dieser kaum verhüllte Widerwille mit ihm zu tun hatte, aber schließlich blickte der Geheimpolizist zur Seite, und del Garza erkannte, dass seine Geringschätzung dem Mann galt, der ihm auf dem Fuß folgte. Del Garzas Polizist war groß und kräftig, aber er wurde nun beiseite geschoben von einem sehr großen, sehr eingebildeten Mann mit der salzfleckigen Kleidung eines Kapitäns zur See. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Kapitän barsch. »Ich muss gegen eine solche Behandlung protestieren. Ich bin ein Mann von
Adel, und man hat mich gegen meinen Willen hierher geschafft. Ich erhielt eine Botschaft, die mich zu einer Besprechung mit dem amtierenden Gouverneur rief, aber sobald wir den Kai erreichten, hat dieser« - er warf dem Mann, den er beiseite geschoben hatte, einen höhnischen Blick zu -»dieser Brigant behauptet, ich stünde unter Arrest, und mir das Schwert abgenommen. Mein Schwert, Sir! Was für eine Ausrede kann es dafür geben?« Er hielt inne und starrte den Mann hinter dem Schreibtisch an. »Und wer, wenn ich fragen darf, seid Ihr?« Del Garza sah ihn an, während die beiden Soldaten hinter dem Kapitän stehen blieben. Kapitän Alan Leighton war tatsächlich von Adel, der dritte Sohn eines sehr niederen Adligen, dessen Familie bereit gewesen war zu zahlen, damit er das Heim seiner hehren Ahnen verließ; mit anderen Worten, Leighton war noch unnützer als ein Hafenarbeiter oder Tage34 löhner. Und er wäre von solchen Tätigkeiten innerhalb einer Woche wegen Unfähigkeit entlassen worden. Sein Kapitänspatent war ebenso wie sein Schiff gekauft und nicht verdient, während bessere Männer warten mussten. Der Baron kannte Leute wie ihn und verabscheute sie. Der Kapitän war gerade noch wichtig genug, um lästig werden zu können, und nicht wichtig genug, um von wirklichem Wert zu sein. »Ich bin der Gouverneur«, sagte er, seine Stimme so flach und kalt wie eine Fensterscheibe im Winter. Der Kapitän verlagerte das Gewicht und blickte ihn unsicher an. Del Garza sah eher durchschnittlich aus; er hatte ein Frettchengesicht, und seine Kleidung war schlicht geschnitten, wenn auch aus gutem Stoff. »Tatsächlich?«, fragte der Kapitän zweifelnd. »Tatsächlich«, bestätigte del Garza leise. »Setzt Euch, Kapitän Leighton.« Er nickte zu dem Hocker hin, der vor dem Schreibtisch stand. Der Kapitän schaute erst den Hocker und dann den amtierenden Gouverneur ungläubig an. »Darauf?«, schnaubte er. »Das Ding wird zusammenklappen.« Leighton wandte sich einem der Soldaten zu. »Du da, bring mir einen anständigen Stuhl.« Del Garza beugte sich vor. »Setzt Euch«, sagte er. »Oder meine Leute werden nachhelfen.« Die beiden Wachen kamen einen Schritt auf den aufgeblasenen
Seemann zu, bereit, die Hände auszustrecken und ihn auf den Hocker zu drücken. Zum ersten Mal sah Leighton ihnen tatsächlich ins Gesicht; dann blinzelte er, setzte sich vorsichtig und schaute von einem Mann zum anderen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. Er bemühte sich weiterhin, selbstsicher zu klingen, aber es lag ein leichtes Beben in seiner Stimme. Zur Antwort rieb del Garza über die Stoppeln an seinem Kinn und betrachtete ihn, wie ein müder Mann eine umher35 summende Fliege betrachten würde. Alles, was ihn verärgert hatte, seit er nach Krondor gekommen war, fiel ihm wieder ein und schien sich nun in der Person dieses jämmerlichen Ersatzes für einen Kapitän zu verkörpern. Del Garza beschloss, dass Leighton für alles zahlen würde. »Könnt Ihr das nicht erraten?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne. »Wollt Ihr es nicht einmal versuchen?« Leighton starrte ihn an wie eine Maus die Schlange. »Nein«, sagte er schließlich. Er lehnte sich zurück, dann fiel ihm im letzten Augenblick ein, dass er auf einem Hocker saß, und verzog das Gesicht. Er beugte sich wieder vor und ging zum Angriff über. »Soll das hier ein Witz sein? Wenn ja, dann ist es ein geschmackloser Witz, und ich kann Euch versichern, dass ich mich bei Eurem Vorgesetzten beschweren werde.« »Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«, fragte del Garza. »Lächle ich etwa? Lache ich, oder lacht einer meiner Männer? Kommt Euch das hier vor wie eine Atmosphäre der Heiterkeit und Kameradschaft?« Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf der breiten Stirn des Kapitäns, und sein Blick zuckte unruhig nach allen Seiten. »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eher nicht.« Er richtete sich auf. »Aber ich weiß immer noch nicht, wieso ich hier bin.« »Man hat Euch wegen Verrats verhaftet.« Leighton sprang auf und ignorierte die Wachen, die noch einen Schritt näher kamen. »Wie könnt Ihr es wagen? Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?« »Ihr seid die widerwärtige Kröte, die sich hat bestechen lassen, die Blockade zu brechen«, sagte del Garza. »In Kriegszeiten ist so etwas Verrat.« »Das habe ich nicht getan!«, rief der Kapitän. Der Baron lächelte. »Wisst Ihr, wie viele Idioten schon versucht haben, die Agenten des Herzogs anzulügen?«, fragte er.
36 Er machte eine lässige Geste zu den beiden großen, kräftigen Soldaten. »Für gewöhnlich ist das Nächste, was sie sagen, etwas in der Richtung von: >Hört auf! Um der Götter willen, bitte hört auf!<« »Ich gebe zu, dass mein Schiff aus der Position getrieben ist«, erklärte Leighton aufgebracht. »Solche Dinge geschehen hin und wieder. Dahinter stand keine Absicht. Ein Ankerbolzen ist durchgerostet, und die Flut hat uns ein Stück weggetragen. Es war einfach Pech, dass es zu diesem Zeitpunkt geschehen ist. Als ich den Lärm gehört habe, bin ich sofort aufgestanden, an Deck gegangen und habe die Situation berichtigt. Schlimmstenfalls könnte man so etwas als Vernachlässigung der Pflicht betrachten, obwohl selbst das mir unter den gegebenen Umständen übertrieben erscheint.« Del Garza zog die Brauen hoch und lehnte sich auf dem Stuhl des Kommandanten zurück, die Hände vor dem mageren Bauch gefaltet. »Tatsächlich?«, sagte er. »Selbstverständlich«, erwiderte Leighton, und ein Hauch seiner vorherigen Hochnäsigkeit schlich sich wieder in seinen Tonfall. »Ich sagte Euch doch schon, so etwas kann passieren. Es war nicht mein Fehler, mein guter Mann. Niemand hätte vorhersagen können, dass ein Schiff gerade in diesem Augenblick ...« »Wir wissen, dass der Aufrechte Mann Euch bestochen hat.« Der amtierende Gouverneur wartete auf die Explosion, aber es kam keine; der Kapitän starrte ihn einfach nur an und öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch am Haken. Er war also nicht nur schuldig, sondern hatte auch kein Rückgrat. »Was war der Grund? Das Gold? Oder fehlgeleitete Loyalität gegenüber Prinz Erlands Familie?« »Wir kennen sie schon lange ...«, begann Leighton. Del Garza schnitt ihm das Wort ab. »Ihr könnt es auch gleich zugeben. Wir haben Beweise.« Der Kapitän schüttelte schweigend den Kopf. 37 »O doch, die haben wir«, sagte del Garza. »Wir haben unsere eigenen Quellen bei den Spöttern.« Sie hatten natürlich beides nicht - weder Beweise noch Quellen. Aber es war inzwischen offensichtlich, dass die Spötter ein Interesse daran gehabt hatten, Prinzessin Anita zu befreien. Es waren eindeutig Spötter, gegen die die Geheimpolizisten und Gardisten heute früh gekämpft hatten. Außerdem sagte sein Instinkt del Garza,
dass es sehr unwahrscheinlich war, dass ein Schiff »zufällig« genau im richtigen Augenblick seine Position verließ. Die Lüge fiel ihm jedoch leicht, denn wenn er tatsächlich für Anitas Flucht zur Verantwortung gezogen würde - und das war sehr wahrscheinlich -, dann würden sich andere noch vor ihm verantworten müssen, und schmerzhafter als er. Leighton leckte sich die Lippen. »Das könnt Ihr ja wohl kaum als Verrat bezeichnen.« Del Garza beugte sich vor und blinzelte, dann zog er ungläubig die Brauen hoch. »O doch«, sagte er. »Wenn jemand sich bestechen lässt, in Kriegszeiten bewusst einen Befehl nicht zu befolgen, ist das Verrat.« »Wir befinden uns ja wohl nicht im Krieg mit den Spöttern«, widersprach der Kapitän. »Wir befinden uns ständig im Krieg mit den Spöttern«, verbesserte ihn del Garza tonlos. »Dass es keine förmliche Kriegserklärung gibt, ändert daran nichts. Und selbst wenn wir nicht im Krieg mit ihnen stehen würden, ich kann Euch versichern, dass sich diese Diebe und gedungenen Mörder stets im Krieg mit den anständigen Bürgern von Krondor befinden.« »Sie sind wohl kaum würdige ...«, begann Leighton. »Gegner?«, schnaubte del Garza. »Wenn ihr Geld gut genug für Euch ist, wieso sollte man sie dann nicht für ... würdig halten?« Der Kapitän presste die Lippen zusammen und holte tief 38 Luft. »Ich möchte diese >Beweise< sehen, die Ihr angeblich habt.« Del Garza lachte leise, ein Impuls, den er nicht beherrschen konnte. »Wollt Ihr jetzt etwa behaupten, dass Ihr unschuldig seid, nachdem Ihr Eure Schuld schon so gut wie zugegeben habt?« »Ich habe nichts zugegeben«, entgegnete der Kapitän. »Kommt schon, Ihr werdet die Beweise bei der Verhandlung ohnehin vorlegen müssen.« Mit einem traurigen Kopfschütteln sagte der Baron: »Wollt Ihr Eurer Familie tatsächlich die Schande einer Verhandlung bereiten, wenn das Ergebnis so gut wie unvermeidlich ist? Müssen wir ihnen und der ganzen Welt beweisen, was Ihr seid?« Leighton wurde bleich. »Was schlagt Ihr vor?«, fragte er deutlich erschüttert. »Nichts Radikales«, sagte del Garza plötzlich sehr großzügig. »Selbstverständlich könnt Ihr Euer Patent nicht behalten.« Er zog ein
Dokument aus einem kleinen Stapel und schob es dem Kapitän zu, zusammen mit einer Feder, die bereits im Tintenfass steckte. »Hier könnt Ihr Euer Patent zurückgeben; unterschreibt einfach unten auf der Seite und auf der nächsten Seite ebenfalls, und dann schicken wir Euch nach Hause.« Er nahm die Feder aus dem Tintenfass und reichte sie Leighton mit einem dünnen Lächeln. »Euer ältester Bruder wäre nicht der erste Adlige, der für einen jüngeren Bruder eine zweite Karriere in die Wege leiten muss; das ist immerhin ein erheblich geringeres Problem, als dem Familiennamen Schande zu machen.« »Das ist alles?«, fragte der Kapitän und nahm zögernd die Feder entgegen. Del Garza nickte. »Wir kümmern uns um den Rest. Um alle Einzelheiten«, erklärte er. Er zeigte auf den unteren Rand des Blattes. »Hier bitte«, forderte er den Kapitän auf. 39 Wie hypnotisiert unterschrieb Leighton. Del Garza hob die Ecke des Blattes, damit der untere Teil des darunter liegenden Dokuments zu sehen war. »Unterschreibt bitte auch hier.« Mit zitternder Hand unterschrieb der Kapitän auch das zweite Blatt, und der amtierende Gouverneur nahm die Pergamente zurück, streute Sand auf die Unterschriften und schüttelte sie trocken. »Sehr gut«, sagte er. »Nur noch eine Kleinigkeit, und dann sind wir fertig.« Leighton wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. »Was ist das für eine Kleinigkeit?« Auf del Garzas Nicken hin traten drei Soldaten vor; zwei packten die Arme des Kapitäns, während der dritte eine Garotte um seinen Hals legte. Der Hocker fiel krachend um, und Leightons Beine verfingen sich darin, so dass er nicht aufstehen konnte. Del Garza neigte den Kopf zur Seite und beobachtete, wie sich die Schmerzen und das Wissen um seinen bevorstehenden Tod in den Augen des Mannes spiegelten. Bald schon trommelte der Kapitän mit den Fersen einen kurzen Wirbel auf den Boden, und einen Augenblick später war er tot. Der Baron faltete und versiegelte sorgfältig die beiden Dokumente. »Armer Bursche«, sagte er zu den Wachen. »Bringt ihn zurück in sein Quartier und arrangiert dort alles entsprechend. Achtet darauf, dass der Balken, an den ihr ihn hängt, fest genug ist; er ist recht schwer.« Er reichte dem Offizier die Papiere. »Vergesst nicht, seine
Rücktrittserklärung und vor allem sein Geständnis an einer Stelle zu hinterlassen, wo man sie leicht finden wird.« Der Geheimpolizist lächelte, als er die Papiere entgegennahm. »Das war saubere Arbeit, Sir«, sagte er. »Es gibt mir zumindest das Gefühl, dass wir es ihnen zurückzahlen.« Del Garza schaute ihn lange genug an, um den Mann wis40 sen zu lassen, dass er nicht empfänglich für Schmeichelei war; dann entließ er ihn. Als er wieder allein im Büro war, überdachte der Baron seine Möglichkeiten. Leighton hatte sterben müssen; er hatte keine andere Wahl gehabt. Wäre der Kapitän am Leben geblieben, hätten schließlich mehr Leute von der Verwundbarkeit des Herzogs erfahren. Loyalität gegenüber dem Prinzen oder Gier nach dem Gold der Spötter - der Grund für Leightons Verrat zählte nicht. Wichtig war, auf wen der anklagende Blick von Herzog Guy fallen würde, wenn er aus dem Tal der Träume zurückkehrte. Del Garza konnte einen großen Teil der Verantwortung auf Radburns Schultern abwälzen. Sein eiserner Griff um die Stadt hatte zu Unzufriedenheit geführt, und seine barsche Art, mit der Garde des Prinzen und den Wachtmeistern der Stadt umzugehen, hatte zweifellos viele Bürger tiefer ins Lager des Prinzen getrieben. Die Zeichen waren nur zu deutlich: Erland lag im Sterben, ganz gleich, was die Heiler und Ärzte taten, um den Tod in Schach zu halten. Da er keinen männlichen Erben hatte, wäre Anita eine hervorragende Partie für jeden ehrgeizigen Mann. Und da der König keine Erben hatte, wäre Anitas Gemahl nur einen Schritt vom Thron in Rillanon entfernt. Also würde der Herzog Anita heiraten, und eines Tages - eher früher als später, wie del Garza annahm - würde Guy du Bas-Tyra König Guy der Erste sein. Del Garza rieb sich mit dem Zeigefinger das Kinn und fragte sich, wohin all das ihn bringen würde. Er war kein wirklich ehrgeiziger Mensch, aber die Umstände sahen ganz so aus, als hätte er nur die Wahl zwischen Aufstieg und Fall; es gab keinen Mittelweg. Also entschied er sich aufzusteigen. Und wer weiß, vielleicht würde ihm das wirklich einiges einbringen. Eine Grafschaft im Osten, vielleicht in der Nähe von Rodez? Um aufzusteigen musste er jedoch als Erstes vermeiden zu 41 fallen, und dazu musste er zunächst einmal Guys Zorn überleben,
wenn der Herzog zurückkehrte und feststellte, dass das Mädchen nicht mehr da war. Er hoffte, Radburn würde sie bald zurückbringen oder selbst verschollen bleiben. Wenn Jocko über genügend Anstand verfügte, bei der Verfolgung umzukommen, könnte del Garza dem Herzog die Geschehnisse so erklären, dass alle Schuld auf Radburn fiel. Und das bedeutete, dass er viele weitere Schuldige brauchte, um sie dem Herzog vorzuführen. »Cray!«, rief er den Sekretär des Gardehauptmanns herbei. Als der Mann erschien, sagte er: »Ich will jeden Kommandanten jeder Einheit, die mit dem Auftrag der vergangenen Nacht zu tun hatte, in einer Stunde in diesem Büro sehen.« »Jawohl, Sir«, sagte Cray und eilte davon. Del Garza lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Es freute ihn, wie eifrig Cray reagiert hatte und dass er dieses Büro einfach hatte übernehmen können, und er lächelte, als er sich an Leightons Miene erinnerte, als der Kapitän erkannte, dass es del Garza war, der im Augenblick über Krondor herrschte. Dann schob er jegliche Freude über seine Autorität weit von sich. Wie konnte er irgendetwas genießen, wenn sein Herr heute früh doch so gedemütigt worden war? Wie hatte dieses ungezogene Mädchen den eigenen Vater im Stich lassen können? Und warum? Damit ihr nicht die Ehre zuteil wurde, den Herzog von Bas-Tyra heiraten zu dürfen? Einen der größten, einen der edelsten Männer im Königreich? Was für eine Unverschämtheit von dieser dreisten Göre, del Garzas Herrn so zu behandeln! Armer Prinz Erland, eine so verantwortungslose Tochter zu haben. Nicht, dass Erland besser war, denn auch er hatte sich dem Willen des Herzogs widersetzt. Nun würde er eben das Schicksal erleiden, zu dem seine eigene Tochter ihn verdammt hatte. Del Garza dachte nach: Wenn man den Prinzen vielleicht in einen der zugigeren Kerker brachte und verbrei42 ten ließe, dass er dort bleiben musste, bis seine Tochter zurückkehrte ... Das wäre eine Möglichkeit, falls Radburn das Mädchen nicht bald wieder nach Krondor brachte. Wenn sie die Stadt freiwillig verlassen hatte, würde sie eine solche Drohung vielleicht dazu bringen zurückzukehren, und wenn der Prinz diesen Aufenthalt im Kerker nicht überlebte, war das ein weiteres Problem, für das man Jocko die Schuld zuschieben könnte, wenn der Herzog die Stadt wieder mit seiner Anwesenheit beehrte.
Del Garza seufzte. Es gab so viel zu tun, und dabei zog er Routine dem Unerwarteten eindeutig vor. Aber zumindest wusste er nun, was er unternehmen musste. Diese ... Diebe ... dieses Gesindel musste gefügig gemacht werden, man musste sie behandeln wie die Hunde, die sie waren. Dass sie es wagten, Guy du Bas-Tyras rechtmäßige Braut zu stehlen und sich in Dinge einzumischen, von denen sie nichts wussten und in der Tat nichts wissen sollten ... Mit einiger Anstrengung gelang es del Garza, sich zu beruhigen. Er atmete bewusst tief ein, bis sein Herzschlag wieder normal war. Er sollte seinen Zorn nicht verschwenden; er sollte ihn aufheben, bis die Kommandanten kamen, und ihn dann an ihnen auslassen. Hier würde sich vieles bald und für immer ändern müssen. Wenn Guy du BasTyra aus dem Süden zurückkehrte, würde Krondor eine Stadt sein, in der Zucht und Ordnung herrschten. Ja, dachte er. Zucht und Ordnung. Er rief nach Pergament und Feder und begann mit einer Liste von Dingen, die zu erledigen waren, und der erste Punkt auf dieser Liste war, so viele Spötter festzunehmen, wie irgend möglich. Nachspiel Auf der Kreuzung ging es sehr betriebsam zu. Heißfinger-Flora schwatzte und lachte mit ihren Freundinnen, während sie jedem Mann, der vorbeikam, kesse Blicke zuwarfen. Als der Wagen neben ihnen anhielt, achteten sie zunächst nicht sonderlich darauf; auf den Straßen wimmelte es nur so von Fußgängern, Trägern mit schweren Lasten, Karren voll mit goldenen Brotlaiben, Tuchballen und Säcken; es gab sogar eine Sänfte - Flora warf einen neidischen Blick zu der Kurtisane, die sich dort in die Kissen lehnte - und eine Unzahl von Bauernwagen, die Lebensmittel in die Stadt brachten. Als dieser Wagen vor Flora stehen blieb, erkannte sie, dass er anders war als die anderen. Er bot einen seltsamen Anblick mit seinen hohen Seitenteilen und den mit Lederriemen befestigten Leisten - der Wagen sah wie ein rollender Käfig aus. Auf dem Kutschbock saßen zwei Gardisten aus Bas-Tyra, und dahinter folgten vier weitere zu Fuß; die Schritte ihrer beschlagenen Stiefel bildeten einen Kontrapunkt zum Lärm der eisenbereiften Räder auf Stein, und ihre Hellebarden schwangen im Marschrhythmus. Einige von Floras Freundinnen wichen vorsichtig zurück -alles
Ungewöhnliche war gefährlich. Aber die meisten Mädchen verschränkten die Arme und blieben trotz ihres Miss44 trauens stehen und sahen zu. Immerhin waren auch viele Soldaten ihre Kunden. Ein Feldwebel stieg vom Wagen und kam mit dem wiegenden Gang eines Mannes, der ebenso viel Zeit auf dem Pferderücken wie zu Fuß verbringt, auf die Mädchen zu. Einer seiner Männer machte sich daran, die hintere Klappe des Wagens und damit die Tür des Käfigs zu öffnen; der Rest präsentierte die Hellebarden. Der Feldwebel packte Flora unterm Kinn, dann drehte er sich um und grinste seinen Männern zu, die ebenfalls lächelten. Er roch nach Schweiß, Leder und saurem Wein; daran war Flora im Prinzip gewöhnt, aber dieser Mann roch schlechter als die meisten, und sie rümpfte die Nase. Dann warf sie den Kopf zurück und fragte mit einem nervösen Lächeln: »Kann ich etwas für dich tun, Soldat?« »Ja«, erwiderte der Feldwebel und beugte sich vor. »Du kannst mit mir kommen, meine kleine Kloakenblüte, du und all deine Freundinnen. Wir feiern in der Burg ein Fest für euch.« Er packte sie fest am Arm und bedachte sie mit einem grausamen Lächeln, das seine schiefen Zähne entblößte. »Du brauchst nicht grob zu werden«, fauchte Flora und versuchte sich loszureißen. »Wahrscheinlich nicht«, stimmte er ihr vergnügt zu. »Aber ich will es einfach.« Damit packte er sie an den Haaren und am Rock und warf sie in den Käfig. Sie stieß sich das Knie fest genug an, dass ihr Tränen in die Augen traten. Bevor sie aufstehen konnte, wurden ihre Freundinnen auf sie geworfen, was ihr die Luft aus der Lunge drückte, so dass sie erst einmal nach Atem ringen musste. Sie riss sich die Lippe an einem Zahn auf, und ihr Mund füllte sich mit dem Eisen-SalzKupfer-Geschmack von Blut. »Wartet!«, rief sie, nachdem sie wieder zu Atem gekommen und unter dem sich windenden Haufen hervor gekrochen war. »Wir haben nichts getan! Was soll das?« 45 Die Schreie der anderen Mädchen erklangen schrill ringsum sie her: Schluchzen, Fluchen und wortloses Wutgebrüll. Sie zog sich rechtzeitig an den Gittern hoch, um sehen zu können, wie zwei ihrer Freundinnen mit gerafften Röcken in eine Gasse flohen, und das
ermutigte sie ein wenig. Der Aufrechte Mann würde von dieser Sache erfahren und etwas unternehmen. Flora rüttelte so fest sie konnte an dem hölzernen Gitter des Käfigs und starrte die Soldaten wütend an. »Ihr könnt uns nicht einfach wegen nichts gefangen nehmen!«, rief sie. Der Feldwebel kam näher und schlug ihr mit der gepanzerten Faust auf die Finger; nicht fest genug, um etwas zu brechen, aber mehr als fest genug, um ihr wehzutun. »O doch, das können wir«, sagte er mit etwas, das man für Heiterkeit hätte halten können, wenn man seine Augen nicht gesehen hätte. In diesen Augen stand etwas, das Flora erschaudern ließ und sie daran erinnerte, was Jimmy über die Gefahren auf der Straße gesagt hatte. Der Feldwebel klatschte mit den behandschuhten Händen; die Metallringe auf dem Handrücken klimperten matt. »Zumindest sagt das der amtierende Gouverneur. Wir können mit solchen wie dir machen, was wir wollen, und das geschieht euch recht. Und jetzt sei ein braves, vernünftiges Mädchen und halt den Mund, oder ich schlage dir die Zähne aus.« Flora saugte an ihren blutenden Knöcheln und tat, was man ihr befohlen hatte. Der Schmerz war weit entfernt und schien viel weniger wirklich zu sein als ihr ängstlicher Herzschlag und der Kloß in ihrem Hals. Als sie die Festung erreichten, war der Käfig brechend voll, und Flora wurde fest gegen die Gitter gedrückt - was immer noch besser war, als in der Mitte zu stecken, denn zumindest bekam man von einer Seite Luft. Der Wagen war voll mit Hu46 ren, Bettlern und ein paar jüngeren Taschendieben, die, als man sie festgenommen hatte, absolut nichts Illegales getan hatten. Die Soldaten hatten sogar ein paar Leute gefangen genommen, die einfach nur arm waren oder zufällig neben der falschen Hure standen. Aber sie hatte bemerkt, dass die meisten im Käfig Spötter waren, und das erschreckte sie. Die Tore fielen hinter ihnen zu. Weitere Gardisten aus Bas-Tyra zogen die Gefangenen aus dem Wagen und schoben sie zu einer wachsenden Reihe von Leuten, die eine Treppe hinuntergescheucht wurden. Stiefel, Fäuste und die eisenbeschlagenen stumpfen Enden von Hellebarden und Piken trafen auf Fleisch, aber beinahe alle Flüche kamen von den Gardisten.
Die Gefangenen waren überwiegend still, wenn man von vereinzelten Schmerzensschreien einmal absah. Jimmy hatte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geschlafen und erwachte erst am Vormittag des zweiten Tages nach der Abreise der Seetaube. Er streckte sich ausgiebig, stand auf, zog saubere Kleidung an - oder genauer gesagt, die gut gelüfteten Lumpen, die er bei seiner letzten Übernachtung in diesem Zimmer gelassen hatte - und ging die Treppe hinunter. Instinkt veranlasste ihn, sich dicht an der "Wand zu halten, wo die Dielen weniger knarrten. Insgesamt gefiel es ihm zu wachsen, aber es hatte ihn schwerer werden lassen, und er war sehr darum bemüht, das zusätzliche Gewicht durch zusätzliche Fähigkeiten auszugleichen. »Bilde dir bloß nicht ein, dass du Frühstück kriegst«, erklärte seine Vermieterin. Sie war ein zahnloses altes Weib, das ihn nun aus wässrigen Äuglein anstarrte. »Du weißt, dass ich um diese Zeit nichts habe.« »Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, Euch zu bemühen«, erwiderte Jimmy galant. Er lächelte. »Ich brauchte den Schlaf ohnehin mehr als Frühstück.« 47 »In deinem Alter?«, fragte die alte Frau höhnisch. »Es war diesmal eine sehr lange Reise«, sagte Jimmy, und das war es tatsächlich gewesen - ein Ausflug in eine ganz andere Welt. Aber nun war es Zeit, wieder zum Alltag zurückzukehren. Als Erstes würde er sich in Spötters Ruh umhören, was los war. Dann konnte er mit der Planung für etwas Größeres als Taschendiebstahl beginnen. Er war in den letzten paar Monaten Lehrling des Langen Charlie gewesen, aber diese Ausbildung war an dem Abend unterbrochen worden, als Jimmy Zeuge geworden war, wie Prinz Arutha versuchte, vor Jocko Radburn persönlich zu fliehen. Der Prinz, sein Jagdmeister Martin Langbogen und Arnos Trask, der legendäre Käpt'n Klinge, waren ein paar Tage vor Jimmys Begegnung mit dem Prinzen insgeheim in die Stadt gekommen. Sie hatten versucht, ihre Anwesenheit zu verbergen, aber aus Jimmys Perspektive waren sie so auffällig gewesen wie Stiere in einer Schafherde. Als Jimmy zufällig Radburn begegnet war, der Arutha verfolgte, hatte der Aufrechte Mann bereits den Befehl gegeben, diese drei Besucher zu ihm zu bringen. Jimmy hatte gewusst, dass die Schmuggler und die Spötter etwas planten, das über ihren üblichen unsicheren Waffenstillstand
hinausging, denn Trevor Hulls Leute hatten sich in Bereiche der Kanalisation gewagt, die eindeutig Spöttergebiet waren. Aber da er nur ein Junge war, wenn auch ein sehr begabter, hatte man Jimmy nichts von der Flucht der Prinzessin aus der Festung gesagt. Dass er Arutha gefunden hatte, hatte das geändert und Jimmy direkt ins Herz der Verschwörung katapultiert, die zwei Nächte zuvor mit der Flucht von Anita, Arutha und ihren Begleitern aus Krondor ein erfolgreiches Ende genommen hatte. Jimmy war nicht nur zum Verschwörer geworden, sondern hatte auch Prinz Arutha und Prinzessin Anita Gesellschaft geleistet, während sie auf diese Fluchtmöglichkeit warteten. Er hatte seine Rolle gespielt, war kö48 niglich belohnt worden und hatte bei all dem das Gefühl gehabt, zum ersten Mal in seinem jungen Leben in etwas verwickelt zu sein, das größer war als er selbst. Nach einem solchen Triumph war Jimmy nicht unbedingt danach zumute, wieder Lehrling zu werden und Übungsschlösser zu knacken, während der Lange Charlie ihm über die Schulter sah. Außerdem hatte er schon seit einiger Zeit begriffen, wie man mit Schlössern umgehen musste, und die Beispiele, die er gesehen hatte, wirkten nicht so, als könnten sie noch eine Herausforderung bieten. Eigentlich war die Ausbildung langweilig gewesen, und Jimmy wusste tief in seinem Herzen, dass er für aufregendere Dinge geschaffen war. Manchmal kam es ihm so vor, als ob Charlie ihm all diese langweiligen Arbeiten nur deshalb zuteilte, um seine Ruhe zu haben. Schon vor dem Abenteuer mit Arutha und Anita hatte er sich deshalb entschlossen, einen neuen Ausbilder zu fordern. Das Leben ist zu kurz, um auf das zu warten, was mir zusteht, dachte er. Er nahm sich vor, an diesem Tag ein paar bessere Kleidungsstücke zu stehlen. Was er trug, roch wirklich unangenehm. Oder ich könnte zur Abwechslung welche kaufen, dachte er. Aber zuerst brauchte er einen Geldwechsler. Der Wechsler hatte seinen kleinen Laden in einer Gasse, und über der Tür hing ein Schild mit einer Waage; die Farbe war so verblasst, dass nur noch eine Spur von Gold unter dem Dreck zu erkennen war. Jimmy sprang über das schmutzige Rinnsal in der Mitte der Gasse, nickte dem Schläger zu, der vor der Tür stand und die Ziegel mit der Schulter polierte, und betrat den Laden. Der Schläger würde einen Grund finden, anständige Bürger vom Betreten des Ladens abzuhalten, wann immer ein Spötter sich drinnen aufhielt.
Ferenz der Geldwechsler blickte auf und sagte: »Ah, Jimmy! Was kann ich für dich tun?« Jimmy griff in sein Hemd, holte den Geldbeutel heraus und 49 rollte mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk ein halbes Dutzend Münzen auf die Theke. Die anderen hatte er sicher auf einem Dachbalken in seinem Zimmer verborgen. »Gold?«, fragte Ferenz und sah sich die daumennagelgroßen Münzen an, die Jimmy über das glatte Holz der Theke schob. Der Geldwechsler war ein Mann in mittleren Jahren, mit einem schmalen, faltigen Gesicht und der Art von Blinzeln, die davon kam, wenn man sich um seinen Tresor sorgte, während man eigentlich schlafen sollte. Er war ordentlich und in gedämpften Farben gekleidet, wie man es von einem wohlhabenden Ladeninhaber erwartete. »Du wirst wohl ehrgeizig, Junge, wie?« »Ehrlich verdient«, sagte Jimmy. »Zur Abwechslung.« Und das stimmte sogar. Er behielt die Waage gut im Auge, als Prinz Aruthas Münzen in einen klirrenden Haufen abgegriffener und viel weniger auffälliger Silber- und Kupferstücke verwandelt wurden. Die Regeln des Aufrechten Mannes sorgten dafür, dass Männer wie Ferenz einigermaßen ehrlich blieben - gebrochene Arme waren für gewöhnlich die erste Strafe für Wechsler oder Hehler, die versuchten, einen Spötter zu betrügen, und danach wurde es wirklich unangenehm, aber es schadete nie, selbst auf der Hut zu sein. »Da«, sagte der Wechsler schließlich. »Das wird erheblich weniger auffällig sein.« »Dachte ich mir auch«, erwiderte Jimmy lächelnd. Er kaufte einen Geldgürtel - ein großer, klirrender Geldbeutel war ebenfalls auffällig - und ging auf die Straße hinaus. »Schweinefleischpasteten! Schweinefleischpasteten!«, hörte er, und das ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Schließlich hatte er noch nicht gefrühstückt. »Zwei von Euren besten, Jungfer Pease«, bat er mit großer Geste. 50 Die Pastetenverkäuferin setzte die Griffe ihres Karrens ab und holte zwei Pasteten heraus; sie waren noch warm, und der Geruch bewirkte, dass Jimmys Nase zuckte. Außerdem waren Jungfer Peases Schweinefleischpasteten tatsächlich mit Schweinefleisch zubereitet
und nicht mit Kaninchen, Katze oder noch unangenehmeren Dingen wie bei anderen Händlern. Er biss hinein. »Du bist zu Wohlstand gelangt, wie ich sehe«, sagte die Pastetenverkäuferin, als er ihr vier Kupferstücke reichte. »Schwere Arbeit und ein gesetzesfürchtiges Leben, Jungfer«, erwiderte er, und ihr mächtiger Leib bog sich vor Lachen. Nun, eine dünne Köchin wäre keine gute Reklame für ihre eigenen Waren, dachte er. Er spülte die Pasteten mit einer Flasche Apfelmost herunter, die er an einem anderen Stand gekauft hatte, und lehnte sich zufrieden rülpsend an einen Brunnenrand. Er war gerade dabei, sich die Finger zu lecken, als ihm ein Kieselstein auf den Kopf fiel. Autsch, dachte er und blickte auf. Das schmale Gesicht des Langen Charlie spähte um einen Giebel. Er bewegte die Hände: Melde dich in Spötters Ruh, signalisierte er. Sofort. Keine Verspätung, keine Ausreden. Jimmy trank den Rest des Mosts und gab dem Händler die Flasche mit höflichem Dank zurück. Dann eilte er zur nächsten Gasse. Sobald er sich in der Kanalisation befand, bewegte er sich schneller selbst an den stockfinsteren Stellen, von denen es viele gab - und kam dabei an Wachen vorbei, die die Spötter an unterschiedlichen Stellen aufgestellt hatten und die heute ungewöhnlich aufmerksam wirkten. Nicht, dass sie zu anderen Zeiten unaufmerksam gewesen wären - auf Wache einzuschlafen oder zu trinken konnte schwere Verletzungen oder sogar den Tod nach sich ziehen. Es stank in der Kanalisation, aber für Jimmy roch es nach 51 Zuhause. Er kickte eine Ratte, die ein wenig feindseliger gewesen war als die meisten, durch die Luft. Das Quieken endete in einem feuchten Aufklatschen - man musste vorsichtig sein, wenn sie nicht davonliefen, denn dann waren sie für gewöhnlich krank. Jimmy hatte einmal einen Mann gesehen, der nach einem Rattenbiss Schaum vor dem Mund gehabt hatte, und diesen Anblick würde er so schnell nicht vergessen. In Spötters Ruh ging es zu wie in einem aufgewühlten Ameisenhaufen - obwohl Ameisen nicht solchen Lärm machten oder wild mit den Armen fuchtelten, so dass man beim Versuch vorbeizugehen beinahe ins Gesicht geschlagen wurde. Aufgeregte Leute gingen von einer Gruppe zur anderen, und alle schienen gleichzeitig zu reden. Jimmy entdeckte einen Jungen, den er kannte,
und ging zu ihm. »Was ist los?«, fragte er. Der Junge, den man wegen seiner riesigen abstehenden Ohren Ohren-Larry nannte, war gespannt wie ein Flitzbogen und beobachtete die hektischen Aktivitäten. Er sprach mit Jimmy, ohne den Blick von den anderen abzuwenden. »Bas-Tyras Männer haben die Mädchen und die Bettler und alle anderen gefangen genommen, die sie erwischen konnten«, knurrte Larry »Sogar Gerald.« Jimmy blinzelte. Gerald war Larrys jüngerer Bruder, nicht viel älter als sieben. Jimmy hatte gewusst, dass Radburn ein rachsüchtiges Schwein war, aber Kinder zu verhaften war wirklich verachtenswert. Er wollte fragen: »Hat er ... ?« »Nein!«, fauchte Larry und starrte Jimmy wütend an. »Er hat überhaupt nichts getan. Er hat einfach nur gespielt; er ist noch ein Kind!« »Verdammter Radburn«, sagte Jimmy »Ja, verdammt soll er sein«, sagte Larry »Aber diesmal war es del Garza. Radburn ist nicht mal in der Stadt; er ist eine Stunde nach der Flucht der Prinzessin in See gestochen.« 52 Jimmy blinzelte erneut. Wenn sogar Ohren-Larry wusste, dass die Prinzessin vorletzte Nacht geflohen war, dann wussten es alle. So viel zum Thema Geheimhaltung. »Nun hat del Garza alle Macht, und er hat offenbar den Verstand verloren.« Falls er je welchen hatte, dachte Jimmy und blieb reglos stehen, während er nachdachte. Die Prinzessin ist weg und Radburn jagt hinter ihr her - del Garza braucht Leute, denen er die Schuld an Prinzessin Anitas Flucht geben kann, wenn der Herzog zurückkehrt. Radburn kann zumindest behaupten, er hätte sie sofort verfolgt. Wie lautete das alte Stichwort noch? Der Sieg hat tausend Väter, aber die Niederlage ist eine Waise. Del Garza braucht so viele andere Kandidaten für die Vaterschaft dieser Niederlage wie möglich. »Diese Schlange del Garza ist aus dem gleichen Ei geschlüpft wie Radburn«, verkündete Larry erbost. »Er hat irgendwas vor, und wenn er dafür einem kleinen Jungen wehtun muss, wird er es tun!« Jimmy nickte zustimmend. »Aber das werden wir nicht zulassen«, sagte er leise. »Sehen wir mal, was der Aufrechte Mann entscheidet, und wenn er nicht die richtige Entscheidung trifft, nun, dann werden
wir eben sehen.« Er versetzte Larry einen Schlag gegen den Oberarm. »Verstanden?« In den Augen des Jüngeren keimte so etwas wie Hoffnung auf, und er nickte. »Was glaubst du, wer wird sonst noch unserer Ansicht sein?«, fragte Jimmy leise. »Ich werde es rausfinden«, antwortete Larry und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel die Augen, was dunkle Streifen hinterließ. Jimmy nickte. »Ich auch. Aber wir brauchen darüber nicht mehr zu reden, bis wir wissen, was sie vorhaben.« Womit er del Garza ebenso meinte wie den Aufrechten Mann und seine Leute. »Sehen wir uns ein bisschen um.« 53 Larry nickte, und die beiden machten sich auf den Weg. »Sind die Häuser ebenfalls betroffen?«, fragte ein fetter Mann eine Gruppe Prostituierter. »Die unter unserem Schutz, meine ich.« »Noch nicht«, antwortete eine Frau mit spitzer Nase, die aussah, als wäre sie gut über vierzig. »Aber wenn der alte Jocko noch nicht bekommen hat, was er will, wird das der nächste Schritt sein. Sie sind allemal ein leichtes Ziel.« »Aber viele reiche Leute sind dort ebenfalls Kunden«, wandte eine ihrer Freundinnen ein. »Die werden doch nicht zulassen, dass man sich in ihr Vergnügen einmischt.« »Als ob das die Geheimpolizei interessieren würde!«, höhnte Spitznase. »Sie wären begeistert, gewisse Informationen über einen Mann von Adel oder einen reichen Kaufmann mit einer eifersüchtigen Frau zu haben. Selbst wenn dieser Mistkerl jetzt schon erreicht, was er ursprünglich wollte, wird er sich die Hurenhäuser als Nächstes vornehmen. Ihr werdet noch an meine Worte denken!« »Das ist wahr«, stimmte der dicke Mann ihr zu. »Wenn er schon mal damit angefangen hat, wieso sollte er dann wieder aufhören?« Jimmy war der gleichen Ansicht. Es war im Grunde überraschend, dass die Geheimpolizei in dieser Richtung noch nichts unternommen hatte - Radburn war schlau genug zu erkennen, welche Möglichkeiten sich dort boten. Für einen machtgierigen, seelenlosen Mistkerl war es nur ein logischer Schritt, erheblich mehr zu tun, als die Straßenmädchen gefangen zu nehmen. Man konnte viel erfahren, wenn man die Macht hatte, Druck auf die Freudenhäuser auszuüben; die Wände dort hatten buchstäblich Ohren - in jedem besseren Haus gab es strategisch platzierte Lauschposten hinter falschen Wänden.
Kaufleute zahlten einer Puffmutter gerne ein wenig mehr, wenn diese sie darüber auf dem Laufenden hielt, was ihre betrunkenen Rivalen so erzählten. Jimmy konnte 54 sich gut vorstellen, wie auf einem solchen Lauschposten statt der Puffmutter nun ein Agent der Krone stand. Noch vor den Ereignissen der vergangenen Woche hatte es Gerüchte gegeben, dass Guy du Bas-Tyra vorhatte, der nächste Prinz von Krondor zu werden, und dass Jocko Radburn darauf aus war, ihm als Herzog von Krondor nachzufolgen. Die Adligen im Westen würden zweifellos dagegen protestieren, aber bei Adligen, die etwas zu verbergen hatten, wäre die Missbilligung vielleicht weniger lautstark. Außerdem, je nützlicher die Ergebnisse waren, die Radburn und del Garza vorzuweisen hatten, desto leichter würde ihnen der Herzog verzeihen, wenn er zurückkehrte. Jimmy entdeckte Stinke-Neville, der allein in einer Ecke saß. Das war nichts Ungewöhnliches, wenn man Nevilles Aroma bedachte, das mit altem Schweiß begann und sich von dort aus hocharbeitete. Aber der Bettler war häufig Gast im Kerker von Krondor gewesen und würde vielleicht etwas Nützliches darüber wissen. Es würde alles davon abhängen, wie wirr er gerade war. Jimmy hockte sich vor den alten Mann und bewegte ein Silberstück hin und her, denn er wusste, das war die beste Möglichkeit, Nevilles Aufmerksamkeit zu wecken. Nach und nach hörte Neville auf, sich hin und her zu wiegen, und sein Blick begann der Münze zu folgen; dann hob er die Hand und versuchte, sie sich zu nehmen. Jimmy riss sie zurück und schloss die Faust darum. »Neville«, sagte er, »ich muss ein paar Dinge wissen.« Der alte Mann starrte ihn an. Er war ziemlich verrückt, aber tief in seinen Augen stand immer noch so etwas wie Gerissenheit. Immerhin war er bisher noch nicht verhungert oder erfroren oder von Betrunkenen totgeprügelt worden. »Was willst du wissen?«, fragte er mit schleppender Stimme. »Erzähl mir von den Kerkern der Festung«, sagte Jimmy »Ich will alles wissen, woran du dich erinnern kannst.« 55 Neville lachte, bis er sich verschluckte, und dann hustete er so lange, dass Jimmy erwartete, er würde jeden Augenblick ein Stück Lunge ausspucken. Verärgert, weil er annahm, dass der Husten eine versteckte Forderung nach Flüssigkeit darstellte, erhob sich Jimmy
und holte einen Krug Bier für den alten Bettler. Wie erwartet ließ der Hustenanfall nach, sobald Neville seine verkrümmte Hand um den Becher geschlossen hatte. »Es kostet mehr als ein Silberstück, so viel zu erfahren«, krächzte der alte Mann und trank einen Schluck. »Wie viel?«, fragte Jimmy Der Bettler zuckte nicht nur mit den Schultern, sondern mit dem ganzen Körper. »Zwanzig«, sagte er und wusste selbstverständlich, dass er das nie erhalten würde. Jimmy stand auf und wandte sich zum Gehen. »Heh!«, rief Neville erbost. »Wo gehst du hin?« »Ich rede lieber mit jemandem, der nicht den Verstand verloren hat«, erwiderte Jimmy über die Schulter hinweg. »Komm wieder her«, verlangte der Bettler. »Weißt du nicht, wie man feilscht? Was wirst du mir geben? Ich mag verrückt sein, aber dumm bin ich nicht.« Jimmy hielt die Münze hoch, und Neville begann wieder, sich hin und her zu wiegen. »Gib mir drei«, verlangte er schließlich. »Ich habe schon zwei Kupfer für dein Bier ausgegeben«, sagte Jimmy »Ich will nicht noch mehr verlieren. Du kannst ja anfangen zu reden, und wenn ich es für lohnenswert halte, zahle ich mehr.« »In Ordnung«, sagte Neville widerstrebend. »Was willst du wissen?« Jimmy setzte sich ihm gegenüber hin. Er atmete durch den Mund, um den unglaublichen Gestank, der von dem alten Mann ausging, nicht so deutlich zu riechen, und stellte ihm Fragen über den Kerker. Wie tief war er, wie kam man hinein, 56 wie viele Zellen gab es, wie viele Wachen, wie oft wechselten die Wachen, wie oft bekamen die Gefangenen zu essen und wie oft wenn überhaupt - wurden die Abfälle nach draußen gebracht? Stinke-Neville antwortete auf jede Frage, ohne den Bück vom Gesicht des jungen Diebs abzuwenden, und bei jeder Antwort verlor Jimmy mehr an Hoffnung. »Gibt es eine Möglichkeit, rauszukommen, ohne dass die Wachen es merken?«, fragte er schließlich. Stinke-Neville lachte. »Bei der Göttin des Glücks, die mich hasst woher sollte ich das wissen?«, fragte er. »Ich habe nie versucht rauszukommen. Das bringt einem nichts als Ärger ein. Ich war nie länger dort als vier Tage.«
Jimmy beugte sich näher heran und fragte: »Hast du je von einem gehört, der entkommen ist?« Der alte Bettler fing an zu kichern und drohte Jimmy mit einem schmutzigen Finger. »Was ist los? Hat Jocko deine Liebste gestohlen?« Jimmy starrte ihn wütend an. »Du hast nur noch drei Zähne übrig, Neville«, sagte er, »willst du die jetzt auch noch verlieren?« Schnell wie eine zustoßende Schlange und mit überraschender Kraft packte der alte Mann Jimmys Arm. »Das würde ich gern mal sehen«, fauchte er. »Kleine Kröte.« Er schob den Arm des jungen Diebs wieder weg. »Glaubst du, es war Zufall, dass ich so lange am Leben geblieben bin? Glaubst du, Lims-Kragma, die große Todesgöttin, hätte mich einfach vergessen? Glaubst du das? Ha! Dumme kleine Kröte!« Er spuckte zur Seite. Jimmy nahm an, dass der alte Mann sich sein Silber immer noch verdienen wollte, denn wenn er mit ihm fertig gewesen wäre, hätte Neville vermutlich direkt auf ihn gespuckt. Und dann hätte ich den alten Mistkerl umbringen müssen. Oder mich selbst. Der Gedanke, von Stinke-Neville angespuckt zu werden, war widerwärtig genug für solche Ideen. 57 »Hast du«, wiederholte Jimmy so ruhig wie möglich, »je von einem gehört, der geflohen ist?« Der alte Mann schaute zur Seite, schüttelte den Kopf und tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Gibt es einen Weg hinein oder hinaus, den die Wachen nicht beobachten?«, fragte Jimmy verzweifelt. »Das Einzige, was mir da einfällt, ist das Abflussloch im Boden der großen Zelle.« Er lachte leise und warf Jimmy einen boshaften Blick zu. »Aber das würde dir nicht gefallen, denn das ist das Loch, in das alle pinkeln.« Jimmy starrte ihn an und dachte nach. Nein, es würde ihm nicht gefallen, aber vielleicht war es eine Möglichkeit. »Führt dieser Abfluss direkt in die Kanalisation?«, fragte er. »Oder hat die Festung einen getrennten Abwasserkanal, der zum Hafen führt?« Wieder lachte Neville, und Jimmy nahm an, dass der alte Mistkerl an diesem Gespräch erheblich mehr Spaß hatte, als er sollte. »Woher soll ich das wissen?«, fragte Neville. »Glaubst du, ich folge meiner Pisse, weil ich wissen will, wo sie hingeht ? Das Loch ist nur
so groß!« Er hob die Hände und zeigte einen tellergroßen Kreis, und wieder verlor Jimmy fast alle Hoffnung. »Heh«, sagte Neville und schubste den Jungen. »Vielleicht weiß ja der Aufrechte Mann einen Weg aus dem Gefängnis. Warum fragst du ihn nicht einfach?« Und er lachte laut. Der junge Dieb stand auf und setzte dazu an zu gehen. »Heh!«, kreischte der Bettler. »Wo ist mein Geld?« Er streckte eine knochige Hand aus. Jimmy warf ihm das Silberstück zu, das er ihm angeboten hatte. »Heh!«, rief Stinke-Neville. »Du solltest mir mehr geben. Das hatten wir ausgehandelt.« »Wir hatten ausgehandelt«, sagte Jimmy kühl, »dass ich dir mehr geben würde, wenn ich zu der Ansicht komme, dass deine Informationen mehr wert sind.« 58 Der alte Mann brummelte vor sich hin und starrte ihn wütend an, aber irgendetwas ließ Jimmy warten. »Der Schacht führt zu einem Gang der städtischen Kanalisation«, gab Neville schließlich zu. »Aber der Gang ist halb eingestürzt und nicht sicher.« »Und der Abflussschacht selbst?«, fragte Jimmy. »Kann jemand dort hinuntergelangen?« Neville wand sich ein wenig, als hätte er etwas dagegen, weiter ausgefragt zu werden, dann nickte er. »Das Loch war einmal größer«, gab er zu. »Sie haben es enger gemauert. Der Schacht ist eigentlich groß genug, wenn man nicht zu dick ist. Tritt ein paar Mal fest dagegen, und die Steine fallen raus, und es wird wieder groß genug sein, dass jemand durchkriechen kann.« Plötzlich ging Jimmy ein Licht auf, und er starrte den alten Bettler an. »Du hast ihn benutzt!«, bezichtigte er Neville. »Du hast diesen Schacht zur Flucht benutzt!« Neville brach in eine Reihe verrückter Bewegungen aus, die bedeuten sollten: Verschwinde und lass mich in Ruhe, oder es gibt Arger! - eine Reaktion, die er im Lauf einer langen öffentlichen Karriere vervollkommnet hatte. Jimmy zeigte mit dem Finger auf ihn. »Hör sofort auf!« Er starrte den alten Mann wütend an, bis dieser sich wieder beruhigte und seinen Blick ebenso wütend erwiderte. »Und jetzt«, fuhr er ruhiger fort, »sagst du mir, was ich wissen muss, und wenn es sich als die Wahrheit erweist, gebe ich dir das hier.« Er zeigte Neville für einen
Sekundenbruchteil eine Goldmünze. »Aber wenn sich herausstellt, dass du lügst, bekommst du gar nichts.« Eine Goldmünze war für einen Mann wie Neville ein Vermögen; sie würde ihm fünfzig Flaschen Bier verschaffen -oder hundert, wenn er bei dem widerlichen Zeug blieb, das im Armenviertel verkauft wurde. Neville saugte schmatzend an seinem Zahnfleisch und 59 dachte darüber nach. »Warum nicht?«, sagte er schließlich. »Es ist kein Geheimnis, das man wahren sollte. Ich war einmal ein Dieb, und jung. Sie haben mich erwischt, obwohl es nicht einfach für sie war.« Stinke-Neville verzog das Gesicht bei dieser Erinnerung an die alte Zeit zu einem schlaffen Grinsen, und gerade, als Jimmy dachte, er würde ihn schütteln müssen, um ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen, redete der alte Mann weiter. »Sie wollten mich hängen«, verkündete Neville. »Aber ich wusste, wenn ich genug Zeit und Geduld hatte, würde ich rauskommen. Es gab ein Gitter«, sagte er und zeigte mit einem schmutzigen Finger auf den Boden. Jimmy schaute automatisch nach unten, dann verzog er das Gesicht und sah wieder den alten Mann an. »Das Loch war wirklich nicht groß, aber ich konnte es schaffen.« Neville begann sich im Sitzen zu winden, hob die Arme über den Kopf, als quetsche er sich durch eine enge Stelle. »Meine Schultergelenke hängen sich aus«, sagte er und lachte krächzend über den zweifelnden Blick des jungen Diebs. Jimmy hatte schon öfter von solchen Dingen gehört, aber es fiel ihm schwer zu glauben, dass das menschliche Wrack dort vor ihm über so nützliche Fähigkeiten verfügte. Neville schlug sich lachend auf die Schenkel, dann fuhr er fort. »In diesen Tagen war das Gitter nicht mal einzementiert, weil sie glaubten, keiner käme durch den Schacht.« Er schüttelte den Kopf und grinste. »Ich wünschte, ich hätte ihre Gesichter sehen können, als sie mich holen wollten.« Er lachte abermals. Jimmy nickte. »Wo ist der Zugang?«, fragte er. Neville starrte ins Leere und fuhr mit einem Finger durch die Luft, als versuche er, sich an die Strecke zu erinnern. »Nimm den vierten Schacht, wenn du zur Fünferkreuzung kommst«, sagte er unsicher. »Nein, nimm den zweiten ...« Er
60 schwieg, dann wurde er wieder lebhafter. »Geh in Richtung Hafen, und nimm immer den unteren Weg ... nein, nein, der führt zu den Tuchwalkern. Da willst du nicht hin.« Er schnaubte ungeduldig. »Ich weiß, wie man hinkommt«, erklärte er. »Ich hab nur nie jemandem beschreiben müssen, wie man es macht.« Jimmy stand auf. »Dann zeig es mir. Das ist einfacher.« Der alte Bettler sah ihn an, als hätte Jimmy vorgeschlagen, er solle sich bis auf den Lendenschurz ausziehen und auf dem Tisch tanzen. »Auf keinen Fall«, sagte Neville. Er fuchtelte mit dem Bierkrug. »Hier habe ich alles, was ich brauche.« Er sah sich um und machte eine weit ausholende Geste, als wäre Spötters Ruh der gemütlichste Platz in der ganzen Stadt. Jimmy beugte sich widerwillig dicht zu ihm und sagte: »Vier Silberstücke zusätzlich, wenn du es mir zeigst.« Neville saugte an seinem Zahnfleisch, starrte ins Leere und antwortete nicht. Jimmy kaute an seiner Oberlippe, denn er wusste, dass Neville nun die Oberhand hatte. Also musste er das Machtverhältnis wieder ändern, bevor der Bettler ihn bankrott feilschte. »Ich kaufe dir einen halben Schlauch Wein für den Weg«, bot Jimmy an. »Sobald wir dort sind, kannst du behalten, was übrig ist.« »Einen vollen Schlauch«, entgegnete Neville. »Halb.« »Voll!«, fauchte der alte Bettler. »Es ist ein ziemlich weiter Weg.« »Also gut«, sagte Jimmy und streckte widerstrebend die Hand aus. Neville spuckte in seine Hand und schlug ein, bevor Jimmy die Hand zurückziehen konnte. Dann lachte der alte Mann grölend über die angewiderte Miene des jungen Diebs. Pläne Jimmy drängte sich durch die Menge. »Larry«, flüsterte er. Der Junge war zweifellos erschrocken, unterdrückte aber sein Zusammenzucken, und Jimmy verspürte so etwas wie Stolz. Es war leicht, sich an Soldaten heranzuschleichen, aber dieser Junge war ein Profi. »Ich habe etwas herausgefunden«, sagte Jimmy und sah sich um, um sich zu überzeugen, dass man sie nicht belauschte. »Einen Weg in den Kerker. Aber es gibt ein Problem.«
»Was für ein Problem?« »Der Einzige, der diesen Weg kennt, ist Stinke-Neville -also müssen wir ihn mitnehmen.« Larrys Miene veränderte sich blitzartig, als hätte er gerade in etwas sehr Unangenehmes gebissen. »Und ich musste ihm einen halben Schlauch Wein versprechen, was bedeutet...« Der alte Neville gehörte zu den Leuten, die ganz plötzlich und aus unerklärlichen Gründen verschwinden konnten, nur um dann ebenso unvermutet wieder aufzutauchen, weil sie eine versprochene Belohnung einfordern wollten. Der sonst so vergessliche alte Mann vergaß Belohnungen nie, auch wenn er sich nicht mehr erinnerte, wofür er sie eigentlich erhalten sollte. 62 Sie drehten sich um und sahen, dass Neville sich angeregt mit jemandem unterhielt, der nicht da war. Jimmy unterbrach das Gespräch und lockte den alten Bettler aus Spötters Ruh weg, indem er einen Strahl Rotwein ausgoss, den Neville rasch mit dem Mund auffing. Als sie draußen waren, verschloss Jimmy den Schlauch wieder. »Geh voran«, sagte er. Stinke-Neville schmatzte, dann rieb er sich Gesicht und Hals und leckte den Wein von den Fingern. Jimmy schwang sich den Schlauch demonstrativ über die Schulter. »Jetzt gibt's erst mal nichts mehr.« »Da ist es«, verkündete Neville. Die drei Spötter hockten sich hin, direkt über den übel riechenden Strom, der in der Mitte des Abwassertunnels verlief. Vor ihnen ergoss eine ovale Öffnung in einer Mauer einen weiteren Nebenfluss in den stinkenden Strom; breite Streifen von glitzerndem Salpeter auf den Ziegeln zeigten, dass das Rinnsal einmal größer gewesen war. »Das hat lange genug gedauert«, sagte Larry säuerlich. Jimmy zuckte die Achseln. Nevilles Wahnsinn war nicht vollkommen gespielt; sie hatten aufgrund von Sackgassen häufiger wieder umkehren müssen, als Jimmy sich erinnern wollte, und der alte Mann hatte ununterbrochen gejammert, er sei durstig, aber der junge Dieb war standhaft geblieben: Kein Wein, ehe sie die Stelle nicht gefunden hatten. Wenn er halb nüchtern schon so ist, werden wir das Tageslicht nie
wieder sehen, wenn wir ihn jetzt trinken lassen. »Bist du sicher?«, fragte Jimmy zweifelnd. Wie Neville schon gesagt hatte, war der Gang halb eingestürzt. Die Trümmer waren in den Hauptgang gefallen, was ihnen sogar leichteren Zugang verschaffen würde, aber die Luft, die von oben kam, stank sogar noch schlimmer als Neville. Larry sagte: »Da oben ist irgendwas gestorben.« 63 Neville ignorierte die Bemerkung und beantwortete Jimmys Frage. »Ja, ich bin sicher«, fauchte er, bewegte zornig die Lippen, und ein verfärbter Zahnrest wurde sichtbar. »Wenn du aufgepasst hättest, wüsstest du das.« Der alte Knacker hat Recht, musste Jimmy widerwillig zugeben. Sie waren an deutlichen Zeichen dafür vorbeigekommen, dass sie sich den Fundamenten der Festung näherten. »Puh!«, sagte Larry und würgte, nachdem er Kopf und Schultern in das Loch gesteckt hatte. »Das ist nicht dein Ernst! Da können wir nicht rein! Nicht mal eine Schlange würde das schaffen.« Jimmy konnte Larry nur zustimmen. Er warf Neville den Weinschlauch zu, und der Bettler machte sich davon, ohne den Rest seiner Bezahlung zu verlangen. Jimmy verzog das Gesicht, als er zusah, wie Stinke-Neville im Dunkeln verschwand, dann stieg er über die Trümmer und steckte die Fackel in einen Riss in der Wand. »Wenn man an diesem Engpass vorbei ist, wird der Gang weiter«, sagte er. »Und diesen Schutt könnten wir leicht wegräumen.« Er hebelte eine Hand voll beiseite, dann wischte er sich die Hand an der Hose ab. Gut, dass ich ohnehin neue Sachen kaufen wollte. »Wir könnten in weniger als einer Stunde genug wegräumen, um durchzukommen, selbst wenn wir uns bemühen, keinen Lärm zu machen. Danach wird es relativ einfach sein, weil wir beide nicht besonders groß sind. Wir haben schließlich nicht vor, auf einem Pferd hindurchzureiten.« Die Fackel flackerte und wurde in der heftiger gewordenen Zugluft von oben trüber, und Jimmy wich zurück, taumelte und übergab sich neben dem Schutt des halb eingestürzten Tunnels. Er schüttelte den Kopf, und seine Augen tränten. »Du hast Recht. Nur reine Verzweiflung würde mich dort reinbringen. Und selbst dann ...« 64 Drei ausgesprochen wohlhabende Kaufleute saßen dem amtierenden Gouverneur der Stadt an dessen Schreibtisch gegenüber. Diese
Männer waren Mitglieder der mächtigen Handelsgilde - einer Körperschaft, der die meisten wohlhabenden Männer in der Stadt angehörten, zusammen mit Vertretern der anderen wichtigen Gilden: Gerber, Schmiede, Schiffsbauer, Fuhrunternehmer und andere. Nach der Autorität des Hofes und der Tempel war die Handelsgilde die einflussreichste Fraktion im Fürstentum. Zu viele Adlige im Königreich schuldeten den mächtigen Angehörigen der Gilde entweder Geld oder machten Geschäfte mit ihnen. Die Ernten von weit abgelegenen Bauernhöfen erreichten nie einen Markt, wenn die Fuhrleute nicht die Wagen kutschierten. Lagerhäuser im Hafen wurden nie geleert, wenn sich die Hafenarbeiter weigerten, die Waren auf Schiffe zu verladen. Die Gilde war ins Leben gerufen worden, um Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Gilden zu schlichten, und hatte sich im Laufe der Jahre zu der Stimme der Kaufleute in den Hallen der Macht entwickelt. Die Mitarbeit der Gilde war für den Erfolg von del Garzas Plänen enorm wichtig. Zumindest musste er sie davon abbringen, gegen ihn zu arbeiten. Die drei Kaufleute wahrten hochmütige Mienen, während ihre im Kerzenlicht glitzernden Augen auf del Garza gerichtet waren und jede seiner Bewegungen registrierten. Sie warteten mit würdevoller Zurückhaltung auf seine Aufmerksamkeit und ignorierten die Zugluft, die die Wandbehänge bewegte. Lediglich ihre Umhänge zogen sie kaum merklich fester um die Schultern. Del Garza schrieb weiter an seinem bestenfalls mittelmäßig wichtigen Dokument und war sich vollkommen bewusst, dass diese Herren nur selten solche Geduld an den Tag legen mussten. Er genoss dieses kleine Beispiel seiner Macht. Tatsächlich diente dieser Teil seinem eigenen Vergnügen; der 65 nächste Teil des Abends würde dem Vorteil seines Herrn dienen. Schließlich war er fertig, streute Sand auf das Dokument und schüttelte es; dann legte er es beiseite und sah die Männer an, die ihm gegenübersaßen. »Ich danke Euch, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid«, erklärte er kühl und unaufrichtig. Marcellus Varney, ein Spediteur von queganischer Abstammung, zog die Brauen hoch. Er war ein stiernackiger Mann, der in seiner Jugend offenbar schwere körperliche Arbeit verrichtet hatte. Nun war er in mittleren Jahren, und unter seinem Fett befanden sich
immer noch trainierte Muskeln. »Man hat uns nicht eingeladen«, präzisierte er. »Ich hatte den Eindruck, dass wir verhaftet wurden.« Seine ganze Haltung machte deutlich, wie angewidert er war. »Dennoch«, erklärte der amtierende Gouverneur mit großer Höflichkeit, »Ihr hättet Euch widersetzen können.« Er neigte den Kopf zur Seite und machte eine hilflose Geste. »Nein, nein, Ihr müsst mir gestatten, Euch für Eure Mitarbeit zu danken.« »Sagt schon, um was es geht«, forderte Varney aufgebracht. Del Garza sah einen nach dem anderen an und seufzte: »Wie Ihr wünscht, meine Herren.« Er lehnte sich zurück. »Ihr seid Euch zweifellos meiner neuesten Dekrete und des Kriegsrechts bewusst, das ich über Krondor verhängen will. Ich habe Eurer Gilde eine Kopie meines Erlasses zukommen lassen und erwarte, dass Ihr darüber nachgedacht habt.« Die drei Männer bewegten sich unruhig. Das amüsierte ihn - es sah beinahe aus, als hätten sie es eingeübt, so gleichförmig reagierten sie. »Ich habe Euch heute Abend hierher gebeten, um zu sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, Eure Unterstützung zu gewinnen. Uns stehen schwierige Zeiten bevor, und ich möchte einfach dafür sorgen, dass die geachtetsten Stimmen der Han66 delsgilde sich für meine Anordnungen aussprechen.« Jetzt habe ich ihre Aufmerksamkeit, dachte er mit einem inneren Lächeln. Ein wenig Schmeichelei verbunden mit Einschüchterung wirkte Wunder. Die drei Männer sahen ihn an, als glaubten sie tatsächlich, dass ihre Meinung ihn interessierte. Was selbstverständlich der Fall war, solange sie mit der seinen übereinstimmte. Rufus Tuney, ein Getreidehändler mit sechs Mühlen an wichtigen Stellen der Stadt, verzog das Gesicht, dann winkte er lässig ab. Er war ein geckenhafter Mann, der dazu neigte, zu viel Spitze und Puder zu verwenden, und ein erstickender Duft nach Gewürzen und Flieder umgab ihn, wohin er auch ging. »Diese neuen Regeln, die Ihr vorschlagt, haben durchaus ihren Sinn«, stellte er fest. »Das Problem ist, dass sie ... ein wenig übertrieben scheinen.« Er sah den amtierenden Gouverneur mit hochgezogenen Brauen an. »Und selbst wenn wir drei vollständig auf Eurer Seite stünden«, er zuckte leicht mit den Schultern, »was würden Euch drei Stimmen schon nützen?« »Darüber solltet Ihr Euch keine Gedanken machen, meine Herren«, erwiderte del Garza mit tonloser Stimme. »Bedenkt einzig Eure
eigenen Vorteile in der Sache.« Die Reaktion auf diese Bemerkung war Schweigen, und del Garza sah, wie sie angestrengt dem Bedürfnis widerstanden, einander anzuschauen. »Vorteile?«, fragte Varney. Ich hatte erwartet, dass er derjenige sein würde, der diese Frage stellt. Der dritte Kaufmann, ein Gewürzhändler namens Thaddius Fleet, rutschte ein wenig nervös hin und her. Er war ein unauffälliger Mann in schlichter, wenn auch gut gearbeiteter Kleidung. »Also gut, del Garza. Was genau schlagt Ihr vor?« Del Garza hatte vorhergesehen, dass Fleet die Verhandlungen führen würde. Es war beinahe zu einfach. Er seufzte tief. »Muss ich mich wirklich mit Einzelheiten abgeben?«, fragte 67 er müde. »Erinnert Euch, wo Ihr Euch aufgehalten habt, meine Herren, als meine Männer Eure Anwesenheit hier verlangten.« Er beobachtete ihre Reaktion. Diesmal schauten sie einander wirklich aus den Augenwinkeln an. Was für Dummköpfe diese Männer sind. Er verachtete beinahe alle von ihrer Art, aber die drei, die nun vor ihm saßen, waren besonders widerwärtig. Tuney und Fleet hatten Neigungen, deren sie sich schämten, was sie verwundbar machte. Varney verschaffte sich einen beachtlichen Nebenverdienst, indem er junge Frauen und Knaben als Sklaven nach Kesh verschiffte; er betäubte sie und schmuggelte sie in Geheimkammern in seinen Schiffen ins Nachbarland. Sobald er nicht mehr nützlich war, würde del Garza seinen dunklen Geschäften mit Vergnügen ein Ende bereiten. Wenn man von den Gefangenen der Krone einmal absah, war Sklaverei im Königreich verboten. Vielleicht werde ich ihn nach Groß-Kesh verkaufen. Das wäre ein guter Witz. Was die anderen anging, so waren sie einfach windige Gestalten mit dummen kleinen Sünden. Dem einen gefiel es, sich von hübschen Frauen verprügeln zu lassen, der andere tat gerne so, als wäre er selbst eine hübsche Frau. Sie schadeten niemandem außer sich selbst. Ich bin ihnen beinahe dankbar, und selbstverständlich Radburn, weil er solch ausführliche Akten angelegt hat. Die Schlüsselmitglieder der Gilde in den nächsten Tagen in Zweier- und Dreiergruppen zu sich zu rufen, würde am Ende dazu führen, dass ihm alle aufs Wort gehorchten. »Das wirft zweifellos ein neues Licht auf die Sache«, erklärte Fleet grimmig. Er warf seinen Begleitern einen Blick zu; keiner brauchte
ein Wort zu sagen - sie wussten alle, dass del Garza über Informationen verfügte, die sie ruinieren und - in Varneys Fall - an den Galgen bringen würden. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte del Garza ungeduldig: »Und, haltet Ihr Euch in diesem neuen Licht für 68 willig, meine Dekrete zu unterstützen? Bedenkt, dass Baron Radburn bald zurückkehren wird, und die Zustimmung der Gilde bei diesen Angelegenheiten interessiert ihn erheblich weniger als mich.« »Ich ... ich denke schon«, sagte Tuney »Gut. Dann kann ich mich also auf Eure Stimmen verlassen?« Del Garza starrte sie an, bis alle genickt und zustimmend gemurmelt hatten. »Hervorragend! Ich will Euch nicht länger aufhalten, meine Herren.« Er lächelte kurz, dann nahm er ein Dokument von einem Stapel und legte es vor sich auf den Schreibtisch. »Genießt den Rest des Abends!« Er griff nach einer kleinen Glocke, läutete, und die Tür zum Büro ging auf. Draußen wartete ein Gardist. Del Garza wandte seine Aufmerksamkeit dem Dokument zu und hatte die Existenz der Kaufleute offenbar schon vollkommen vergessen. Die drei Männer starrten einander ungläubig an. Sie waren nicht daran gewöhnt, auf solche Weise entlassen zu werden. Als sie aufstanden, wagten sie, del Garzas gesenkten Kopf mit der Art von Blicken zu bedenken, die schreckliche Rache versprechen. Der amtierende Gouverneur hatte damit gerechnet, schaute rechtzeitig auf, um sie bei diesen Blicken zu ertappen, und lächelte. Die Drohung in seinem Lächeln war erheblich realistischer, und das wussten sie genau. »Bekanntmachung!«, ließ der Ausrufer seine Stimme ertönen. Jimmy die Hand blieb im Schatten eines Hauseingangs stehen und gab sich bewusst unauffällig. Ein Bewaffneter in Schwarz und Gold begleitete den Ausrufer und sah sich interessiert um. Seit seinem Gespräch mit Stinke-Neville und Ohren-Larry waren zwei Tage vergangen, aber er war gerade erst den Durchfall losgeworden, den er sich bei ihrer Expedi69 tion zugezogen hatte, und nicht in der Stimmung, sich jagen zu lassen. »Auf Befehl des amtierenden Gouverneurs der Stadt Krondor werden folgende Veränderungen bei den bisher gültigen Gesetzen
vorgenommen: Straßenprostitution wird ab sofort als ebenso schweres Verbrechen betrachtet wie Raub und Einbruch, und die gleichen Strafen werden dafür verhängt. Alle Freudenhäuser der Stadt brauchen zum Betrieb eine Lizenz der Krone. Betteln wird ebenfalls zum Verbrechen erklärt und mit mindestens fünfzig Peitschenhieben bestraft.« Dann begann der formelle Schluss mit »Unterzeichnet von meiner eigenen Hand am Tag des...« und so weiter, aber Jimmy hörte nicht mehr hin. Wenn die Freudenhäuser eine Lizenz brauchten, bedeutete das, dass die Agenten und Soldaten des Herzogs die Gebäude durchsuchen und die Mädchen registrieren würden. Das war nicht weiter schlimm. Aber Einbruch und Raub waren Verbrechen, auf die die Todesstrafe stand, und nur die stärksten Männer überlebten fünfzig Peitschenhiebe. Wie betäubt zog er sich in die Gasse zurück. Dieser Erlass bedeutete, dass alle, die bereits im Kerker saßen - Flora und Gerald und der Rest -, so gut wie tot waren. Er drehte sich um und eilte durch den Irrgarten der Gassen zum nächsten Zugang zur Kanalisation. Es war nur eine Frage von Tagen, bis sie sterben würden. »Der amtierende Gouverneur hat seine Erklärung abgegeben«, murmelte er, schwang sich an einem Gitter nach unten und ließ sich lautlos auf die schleimigen Ziegel fallen. »Sehen wir mal, was der Aufrechte Mann dazu zu sagen hat.« Spötters Ruh war brechend voll; Jimmy hatte hier noch nie so viele Leute gesehen. Die Stimmung war gedrückt, die Gesichter waren angsterfüllt und starr. Es gab hier nicht einen einzigen Spötter, der keine Freunde oder Verwandten im Kerker 70 hatte. Jimmy fragte sich, ob die Gefangenen wussten, was sie erwartete. Er drängte sich zwischen seinen Kollegen hindurch und fand heraus, dass sie auch nicht mehr wussten, als er gerade selbst durch den Ausrufer erfahren hatte. Niemand wusste, was der Aufrechte Mann unternehmen wollte, und sie hatten auch den Tagmeister seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, obwohl in zwei Stunden bereits der Nachtmeister seine Schicht antreten würde. Niemand wagte sich mehr nach draußen, besonders nicht die Frauen und die Bettler. Jimmy entdeckte Ohren-Larry, der im V eines gegabelten Stützbalkens hockte wie ein Wasserspeier, und drängte sich auf ihn zu. Als er schließlich unterhalb von Larry stand und ihre Blicke
einander begegneten, war das wie ein Händeschütteln, wie ein wortloser Gedankenaustausch. Larry biss die Zähne zusammen und schluckte nervös, dann blickte er auf und entdeckte etwas, das ihn erstarren ließ. »Was ist denn?«, fragte Jimmy »Lachjack«, rief Larry nach unten. Auch andere hatten ihn gehört und drehten sich nun in die Richtung, in die der Junge starrte. Schweigen breitete sich nach und nach aus, als sie hörten, dass der Stellvertreter des Nachtmeisters auf dem Weg war. Als Lachjack auf einen Tisch stieg, war es in dem großen Raum vollkommen still, wenn man von leisem Hüsteln und dem Geräusch tropfenden Wassers einmal absah. Lachjack drehte sich im Kreis und sah die Anwesenden nacheinander an. Seine Miene war noch finsterer als üblich. »Ihr habt es alle gehört«, rief er, »also werde ich den Erlass nicht wiederholen. Der Befehl lautet, nichts zu unternehmen. Überlasst die Angelegenheit dem Aufrechten Mann, und verbergt euch so gut wie möglich. Verstanden?« Die Menge schwieg lange Zeit, und Ablehnung baute sich auf wie eine Welle. 71 »Nun?«, fragte Jack mit zornigem Blick. Hier und da erklang Gemurmel, aber überwiegend starrten ihn die Spötter nur an, verlangten schweigend mehr. »Ihr seid wirklich ein schöner Haufen!«, erklärte Lachjack höhnisch. »Überhaupt kein Vertrauen, wie?«, rief er. »Wo wären denn die meisten von euch ohne den Aufrechten Mann? Ich sage es euch, die meisten von euch wären längst tot. Es ist leicht, in guten Zeiten loyal zu sein. Es ist leicht, den Regeln zu folgen und zu tun, was von einem erwartet wird, wenn alles richtig läuft. Aber gerade, wenn es schwierig wird, ist es wichtig, Befehle zu befolgen. Loyalität wird uns allen über die schweren Zeiten hinweghelfen.« Er warf einen forschenden Blick in die Runde. »Also, was ist? Folgt ihr den Befehlen, oder lasst ihr euch lieber hinaus auf die Straße werfen, damit die Wachen euch finden?« Auf diese Frage folgte verwirrtes Schweigen. Eigentlich sollte jetzt ein bestätigendes Johlen zu hören sein, aber die Spötter sahen einander unsicher an und fragten sich, wie sie vermeiden sollten, so zu klingen, als wollten sie auf die Straße geworfen werden. »Na ja, wenn du es auch so dämlich ausdrückst«, murmelte Jimmy
Dann stieß er die Faust in die Luft und rief: »Aufrechter Mann!« Die Menge nahm den Schrei auf, und sie brüllten, bis der Mörtel von der Decke zu bröseln begann und Lachjack mit erhobenen Händen Schweigen gebot. »Verschwindet in eure Verstecke«, befahl er. »Lasst euch nicht sehen, und wartet auf Befehle. Ich kann versprechen, dass wir das nicht einfach hinnehmen. Aber niemand handelt ohne vorherigen Befehl.« Es gab weitere Beifallsbekundungen, die aber schnell wieder verklangen, nachdem Lachjack von seinem improvisierten Podium gestiegen war. Jimmy blickte zu Larry auf, nickte in Richtung Tür und 72 machte sich dann davon, denn er wusste, der Junge würde ihm so bald wie möglich folgen. Jimmy ging voraus durch die Kanalisation und dann durch ein Labyrinth von Gassen, bis er zu einem Zedernholzzaun mit steinernen Pfosten kam. Er kletterte darüber, trat kurz auf ein Fenstersims, griff dann in ein Loch, wo ein Ziegelstein geborsten war, und zog sich nach oben, wo er auf ein weiteres Fenstersims treten konnte. Von dort aus streckte er die Arme zum Giebel aus. Er zog sich hoch, seine Zehen fanden die Stelle in der Ziegelwand, die es ihm gestattete, sich weiter hochzuschieben, bis er schließlich das schindelgedeckte Dach erreichte. Dann rutschte er ein Stück zur Seite, damit Larry neben ihn klettern konnte. Beide atmeten nicht einmal schwer, denn die Himmelsstraßen waren ihnen so vertraut wie einem Hausbesitzer die Treppe zu seinem Speicher. Sie befanden sich auf dem Dach einer lauten Hafenschänke - die Schindeln unter ihnen vibrierten beinahe von den Gesangsanstrengungen betrunkener Seeleute -, aber sie verhielten sich immer noch so leise wie möglich und kauerten sich in den dunklen Schatten einer Dachgaube. Jimmy wagte einen raschen Blick durchs Fenster und stellte fest, dass sich niemand in dem dahinter liegenden Raum befand. Er legte sich auf den Rücken, schaute hinauf zu den Sternen und lauschte nach Verfolgern. Larry rutschte leise neben ihn und tat das Gleiche. »Ich fürchte«, flüsterte Larry schließlich verzagt, »der Aufrechte Mann glaubt, dass del Garza blufft.« Jimmy nickte, dann wurde ihm klar, dass es zu dunkel war, um ein Nicken zu erkennen, und er brummte zustimmend.
»Das Problem ist nur«, fuhr der Jüngere erbost fort, »dass er nicht blufft. Warum sollte er auch? Niemand wird sich beschweren, wenn er ein Dutzend Spötter hängt. Oder hundert!« 75 Jimmy zischte leise, denn Larry hatte die letzten Worte beinahe herausgeschrien. Der Junge entschuldigte sich, und Jimmy versetzte ihm einen raschen, mitleidigen Stoß gegen den Oberarm. Aber er war der gleichen Ansicht wie Larry Der amtierende Gouverneur würde den Aufrechten Mann in die schlechtest mögliche Verhandlungsposition bringen, bevor er sich zum Feilschen herabließ - falls er das überhaupt tun würde. In der Geschichte der Diebesgilde hatten sich die Spötter und die Krone nie zu offiziellen Verhandlungen an einen Tisch gesetzt, aber im Lauf der Jahrzehnte hatten die Spötter bei mehreren Gelegenheiten ein inoffizielles Übereinkommen mit dem Prinzen von Krondor erzielt. Man ließ gegenüber einem Kaufmann, der Kontakte bei Hof hatte, ein Wort fallen; ein Händler, der auf beiden Seiten des Gesetzes arbeitete, überbrachte eine Botschaft, und hin und wieder konnten so schwierige Situationen vermieden werden. Die Spötter gaben ihre Leute auf, wenn sie auf frischer Tat ertappt wurden; das verstand jeder Dieb, Schläger und Bettler. Aber manchmal wollte ein übereifriger Wachtmeister den falschen Mann zum Galgen schicken, oder ein harmloses Straßenmädchen oder ein Bettler wurden für schlimmere Missetaten festgenommen, und dann wurde mitunter gefeilscht. Mehr als ein Spötter war plötzlich wieder freigelassen worden, nachdem der Oberste Justizbeamte von Krondor einen klaren Beweis seiner Unschuld erhalten hatte - für gewöhnlich hatte man ihm den Aufenthaltsort des wahren Missetäters genannt, der sich manchmal versteckte und manchmal bereits tot war. Bei anderen Gelegenheiten wurde eine Bande, die ohne Zustimmung des Aufrechten Mannes gearbeitet hatte, den Autoritäten übergeben, was denen die Mühe ersparte, sie gefangen nehmen zu müssen. Larry sagte: »Der Aufrechte Mann wird nichts unternehmen, oder?« 74 »Wenn man die Position bedenkt, in der er sich befindet, kann er es kaum wagen, aktiv zu werden. Ich denke, wir haben del Garza nichts anzubieten«, sagte Jimmy »So wie ich es sehe, könnte ihn nur eins glücklich machen, und das wäre die Rückkehr von Radburn mit der Prinzessin. Und da die sich inzwischen mit Prinz Arutha auf halbem
Weg nach Crydee befindet, wird das wohl nicht passieren. Also wird er viele von uns hängen, denn dann kann er wenigstens behaupten, dass er etwas unternommen hat, wenn der Schwarze Guy zurückkehrt. Und falls Radburn unterwegs umkommt, kann del Garza ihm alle Schuld in die Schuhe schieben und sich selbst so darstellen, als hätte er zumindest alles versucht, was in seiner Macht stand. Unsere Jungs und Mädels sind wirklich in einer schwierigen Lage.« Jimmy hielt einen Augenblick inne, denn er wusste, es war nicht nur eine schwierige Lage, sondern eine tödliche. Schließlich sagte er: »Also hängt alles von uns ab.« Er hörte ein gedämpftes Schluchzen und sah das Glitzern in Larrys Augen, als der Junge sich ihm zuwandte. »Sie könnten uns umbringen«, warnte er. Jimmy lachte leise. »Wenn wir nichts unternehmen, werden del Garzas Männer uns ganz bestimmt früher oder später umbringen. Was den Aufrechten Mann angeht ...« Er hielt inne, schaute einer Sternschnuppe nach und überlegte, was der Aufrechte Mann wohl tun würde. »Wir werden sicher keine Belohnung erhalten, und vielleicht beziehen wir auch Prügel, weil wir Befehle missachtet haben. Aber falls wir Erfolg haben und alle befreien können ...« »Alle!«, quietschte Larry »Ja, sicher. Warum nicht?« »Ich will nur meinen Bruder rausholen.« »Nein, das reicht nicht!«, sagte Jimmy bestimmt. »Du willst deinen Bruder rausholen, das verstehe ich. Aber wenn wir die anderen ebenfalls in Sicherheit bringen können, wäre das großartig. Oder nicht?« 75 Larry schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ja ...« »Und es würde uns bei allen in der Gilde zu Helden machen. Wir wären viel zu beliebt, als dass sie uns die Hälse durchschneiden könnten.« »Na ja, kann schon sein.« Das war nicht die leidenschaftliche Zustimmung, die Jimmy erhofft hatte, aber es musste wohl genügen. Er stand auf. »Als Erstes sehen wir uns die Stelle noch mal an, die Stinke-Neville uns gezeigt hat. Sobald wir wissen, womit wir es zu tun haben, können wir Pläne schmieden. Und dann werden wir sehen.« Er begann nach unten zu klettern, gefolgt von einem zögernden Larry »Was sehen?«, fragte der Junge.
»Sehen, ob der Aufrechte Mann uns umbringen wird oder nicht«, sagte Jimmy vergnügt. Jimmy hatte sich einen in Essig getränkten Lappen über Mund und Nase gebunden, musste aber immer noch heftig gegen den Drang ankämpfen, sich zu übergeben. Sie hatten viel Geröll von der blockierten Stelle weggeräumt, aber nicht alles. Die Leute, die sie retten wollten, waren überwiegend klein und schlank und inzwischen vermutlich noch dünner als zu dem Zeitpunkt, an dem man sie gefangen genommen hatte. Die beiden Jungen arbeiteten rasch und leise, und dann war der Moment gekommen: Einer von ihnen musste den senkrechten Schacht hinaufklettern, den Neville ihnen gezeigt hatte. Jimmy warf einen Blick zu dem nervösen Larry, der grün im Gesicht war und kurz davor stand, sich zu übergeben, und er dachte nicht einmal daran vorzuschlagen, dass der Jüngere gehen sollte. Er atmete tief durch den Mund ein, als wollte er tauchen, und streckte den Kopf in die Öffnung. Dann zog er sich hoch. Es war nicht ganz so eng, wie er nach der Beschreibung des alten Mannes erwartet hatte, aber vielleicht hatte Neville in 76 jungen Jahren mehr Fleisch auf den Knochen gehabt. Und es war einfach, die Wände hinaufzuklettern. In den Felsen unter der Festung schien es natürliche Risse zu geben, mit vielen Nischen und Ritzen für Finger und Zehen. Selbst die Mädchen würden es schaffen können. Bis dahin bestand das einzige Problem darin, dass die Wände schleimig von Dingen waren, über die man lieber nicht nachdachte, und dass es schlimm genug stank, um die Haare in seiner Nase schrumpfen zu lassen, selbst durch den scharfen Essiggeruch hindurch. Er nahm sich vor, Ruthia, der Göttin des Glücks, ein Opfer zu bringen, wenn er durchkam, ohne dass jemand auf ihn pinkelte. Je höher er kletterte, desto größer wurden die Opferversprechen. Er hörte eine Stimme über seinem Kopf und erstarrte, aber wer immer es war, er ging weiter. Er dankte der Glücksgöttin und blickte auf. Er wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen weiterzuklettern. Direkt über ihm hatte man mit Hilfe von Mörtel kleinere Steine in den Schacht geklebt, was die Öffnung etwa vier Fuß vor dem Ende schmal genug machte, dass er höchstens den Kopf hineinstecken könnte. Jimmy kletterte schnell wieder nach unten. Er hatte sich vorgestellt, dass sie die zusätzlichen Steine ums Gitter wegschlagen könnten,
und sich schon Gedanken gemacht, wie sie das Geräusch dämpfen sollten. Aber er war nicht davon ausgegangen, dass der Engpass ganze vier Fuß lang wäre. Vielleicht hatte der alte Neville das nicht gewusst, vielleicht hatte er es für unwesentlich gehalten, aber es stellte zweifellos eine gewaltige Komplikation dar. Jimmy stellte sich vor, welcher Zorn sich auf den Gefängnisaufseher entladen hatte, als ein Gefangener - vielleicht war es wirklich StinkeNeville gewesen - geflohen war. Also hatte entweder der schwer bestrafte Verantwortliche oder sein neu ernannter Nachfolger dafür gesorgt, dass es nicht wieder passieren konnte. Einen Augenblick fragte sich Jimmy, wie 77 der derzeitige Gefängnisaufseher del Garza beibringen würde, dass eines Nachts Dutzende von Spöttern geflohen waren. Dann schob er diese amüsante Vorstellung beiseite und wandte sich wieder dem Problem zu: Wie sollten sie so viele Ziegel und Mörtel so schnell wie möglich loswerden? Drunten unter dem zum Teil eingestürzten Tunnel wartete Larry ungeduldig. »Nun?«, flüsterte er. »Ich brauche ein Bad«, erwiderte Jimmy. Das war nichts, was er häufig sagte, und er hatte es noch nie so ernst gemeint. »Ich auch«, stimmte Larry zu. Dann fragte er: »Und?« »Es gibt ein Problem«, erklärte Jimmy »Ein Kragen aus Stein, der die Öffnung so schmal macht, dass nicht mal mehr eine Katze durchpassen würde. Ich muss darüber nachdenken.« »Da können wir nicht rein«, flüsterte Larry Jimmy zu. »Das ist viel zu vornehm!« Er hatte Recht. Sie standen vor einem zweistöckigen Gebäude, das mehr Schornsteine hatte als ein Wohnhaus: Es war die Art von Ort, zu der Leute kamen, die achtbar genug waren, sich regelmäßig zu waschen, aber nicht genug Geld hatten, um sich ein eigenes Badezimmer leisten zu können. Vor der Tür stand ein kräftiger Mann mit grauem Bart, der aussah wie ein Veteran. Jimmy packte Larry und zog ihn dicht zu sich, damit sie nicht belauscht werden konnten. »Wir müssen sauber werden. Del Garzas Männer suchen nach Abflussratten. Und im Augenblick sehen wir nicht nur aus wie welche, sondern riechen auch so. Wir müssen uns waschen, und es wäre auch gut, wenn wir eine Weile nicht wie Spötter aussähen. Deshalb sind wir hierher gekommen und
versuchen nicht einfach, jemandes Regenfass oder den Brunnen auf dem Alten Platz zum Waschen zu benutzen.« Er drehte sich um und warf einen Blick 78 zu dem Torwächter. »Tu einfach so, als wärst du wichtig, und halt den Mund.« Jimmy ging auf den Mann zu. Der Wächter rümpfte die Nase - Das kann ich ihm nicht übel nehmen, dachte Jimmy und kniff die Augen zusammen - und tastete mit der knorrigen Hand nach seinem Stock. Wortlos hielt Jimmy dem Mann eine Silbermünze von der Größe seines Daumennagels hin. So funktioniert es meistens, dachte er und strengte sich an, gleichzeitig verlegen und hochnäsig dreinzuschauen. Ich war noch nie zuvor in der Lage, mir ein richtiges Badehaus zu leisten. Er hatte generell nie viel vom Baden gehalten, aber kurze Zeit mit Adligen und Prinzessinnen zu tun zu haben, veränderte die Maßstäbe. Er hatte entdeckt, dass ein Eimer kaltes Wasser und etwas Seife jeden Tag ihm die Anerkennung von Prinzessin Anita einbrachte, und das war es wert gewesen. Ihm war auch aufgefallen, dass es ihn danach viel weniger juckte und er sich generell besser fühlte. »Guter Mann, wir müssen uns waschen«, verkündete er mit perfektem Oberklassenakzent. »Und frische Kleidung kaufen.« »Ihr braucht tatsächlich ein Bad«, knurrte der Mann. »Und wahrscheinlich habt ihr auch Läuse.« »Ganz bestimmt nicht! Wir waren auf einem ...« Jimmy blickte bewusst verlegen drein. »Nun ja, es wäre besser, wenn unsere Eltern das nicht herausfänden, und ...« Er sprach schnell zu Ende: »Das hier ist für Euch.« Misstrauen wich der Verachtung, als Jimmy die Münze überreichte; aber das war schon in Ordnung. »Wir wurden von Straßenjungen angegriffen«, schwatzte Jimmy weiter. »Sie haben unsere Kleidung gestohlen und uns in einen Schweinestall gestoßen. Die Dienerin zu Hause hat uns ein paar Münzen gegeben, damit wir uns waschen können. Bitte, Sir, meine Mutter ist sehr streng, und sie wird sehr, 79 sehr wütend sein, wenn wir in diesem Zustand nach Hause kommen.« Jimmy hatte Dialekte und Akzente schon immer gut nachäffen können, und die Tage, die er mit Prinz Arutha und
Prinzessin Anita verbracht hatte, hatten ihm Zugang zu einer ganz neuen Sprechweise verschafft. Er klang tatsächlich wie der Sohn eines niederen Adligen oder reichen Kaufmanns. Solange Larry nicht vergaß, die Klappe zu halten, war alles in Ordnung. Er und Larry hatten genug Kratzer und blaue Flecken, um die Geschichte mit den Straßenjungen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Sich in dunklen Kloaken herumzutreiben und auf Mauern und Häuser zu klettern, sorgte immer für einige Blessuren. »Also gut«, sagte der Torwächter. »Ihr könnt die Bäder benutzen, aber wascht euch vorher gut ab. Das mit den Kleidern werdet ihr allerdings selbst organisieren müssen, Jungs, wir haben hier keinen Schneiderladen.« Sie gingen hinein; der Wächter flüsterte der Frau, die bei den Kleidern der Badenden saß, damit sie nicht gestohlen wurden, ein paar Worte ins Ohr, und ihre mürrische Miene hellte sich ein wenig auf. »Ich kann diese dreckigen Lumpen nicht neben der Kleidung anständiger Leute aufbewahren«, sagte sie. »Bringt sie weg, und verbrennt sie«, wies Jimmy sie an, nachdem er und Larry sich ausgezogen hatten. Das kam der Frau entgegen selbst Lumpen waren etwas wert, und sie würde zweifellos ein paar Kupferstücke dafür bekommen. Sie nickte und lächelte, und Jimmy wusste, dass sie die Sachen später am Abend kochen und an einen Lumpensammler verkaufen würde. »Du, Junge«, sagte Jimmy, dem seine Rolle langsam Spaß machte. Der angesprochene Diener stellte seinen Besen hin und kam zu ihm. »Mein Bruder und ich brauchen neue Kleidung«, erklärte 80 Jimmy Er sah den Jungen vor sich an und kam zu dem Schluss, dass er größenmäßig etwa in der Mitte zwischen ihm und Larry lag. »Du musst uns ein paar neue Sachen kaufen, Hosen, Hemden und Unterwäsche«, wies er ihn an. »Etwas, das ein bisschen zu groß für dich wäre, damit es mir passt, und etwas, das ein bisschen zu klein ist, für meinen Bruder. Ich denke, wir werden erst mal ohne Schuhe und Strümpfe zurechtkommen.« Er warf einen Blick zu Larry, der herablassend nickte. »Die Farben sollten gedämpft sein«, fuhr er fort und seufzte, als er die verwirrte Miene des Jungen sah. »Nichts Rotes oder Orangefarbenes oder Gemustertes«, erklärte er. Er zählte fünf kleine Silberstücke ab; mehr als genug für die Kleidung. »Du kannst das Wechselgeld behalten«, sagte Jimmy und stellte damit
sicher, dass es auch ganz bestimmt reichen würde. »Und wenn du dich wirklich beeilst, bekommst du außerdem das hier.« Er hielt zwei weitere Silberstücke hoch. »Danke, Sir«, sagte der Junge, hob die Hand zum Gruß und eilte davon. »Sollen wir im Dampfbad warten?« Larry schnupperte an seinem Arm und verzog das Gesicht. »Ja!«, sagte er begeistert. Als die beiden sauber und wieder angezogen waren, eilten sie zum Armenviertel. Wenn man einmal davon absah, dass sie keine Schuhe trugen, sahen sie achtbar genug aus, um auch in den besseren Vierteln der Stadt einigermaßen sicher zu sein, aber unter den herrschenden Umständen blieben sie misstrauisch und hätten sich dort nie wirklich sicher gefühlt. Im Armenviertel würde ihre gute Kleidung vielleicht gewisse Aufmerksamkeit erregen, aber ihre ganze Haltung zeigte, dass sie dorthin gehörten, und auf einen ersten neugierigen Blick würde wahrscheinlich kein zweiter folgen. Zumindest wäre es unter normalen Umständen so gewe81 sen. Aber unter normalen Umständen hätte es im Armenviertel auch nur so von Straßenkindern und Bettlern gewimmelt, und viele Huren wären unterwegs gewesen, um ihrem Handwerk nachzugehen. Als die beiden Jungs nun ins Armenviertel zurückkehrten, fanden sie die Straßen beinahe verlassen vor. Die wenigen Passanten waren überwiegend erwachsene Männer, die sich ununterbrochen umsahen und die Jimmy und Larry sehr neugierig betrachteten. Es fühlte sich an, als wären sie ausschließlich von Geheimpolizei umgeben. »Ich halte das nicht aus«, sagte Larry »Ich erwarte jeden Augenblick, dass mich jemand am Kragen packt. Ich gehe nach unten.« Jimmy schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ich habe für heute genug von Abwasserkanälen. Mir ist nach einem Bier.« Der Jüngere schüttelte den Kopf. »Nicht heute Abend.« Er sah Jimmy einen Moment lang an. »Morgen«, sagte er, und es war beinahe eine Frage. Jimmy nickte. »Morgen.« Er ließ es wie ein Versprechen klingen. Dann trennten sie sich, ohne sich auch nur noch einmal nacheinander umzusehen. Larry verschwand in einer dunklen Gasse; Jimmy ging weiter die Straße entlang. Und dabei dachte er nach.
Dieser gemauerte Rand muss verschwinden, und wir müssen es auf eine Art machen, die die Wachen nicht aufmerksam werden lässt. Das war leichter gesagt als getan. Drogen?, fragte er sich. Es müsste etwas sehr Starkes sein, damit die Wachen das Meißeln am Stein nicht hörten. Allerdings gab es keine Möglichkeit, die Wachen zu erreichen, ohne dass man selbst im Gefängnis war. Irgendwo in Jimmys Hinterkopf rührte sich eine Idee, aber sie war noch zu formlos, als dass er sie hätte fassen können, also versuchte er es erst gar nicht, sondern folgte einfach weiter seinen Füßen und dachte überhaupt nicht mehr nach. Er hatte schon 82 öfter festgestellt, dass Ideen manchmal flohen, wenn man sie verfolgte, aber einfach von selbst zu einem kamen, wenn man sie in Ruhe ließ. Er ging weiter, die Hände in den Taschen, den Blick auf seine nackten Zehen gerichtet, und lauschte den Geräuschen ringsumher. Schließlich blieb er stehen, blickte auf und fand sich vor einer Schänke wieder. Es gab kein Schild, wenn man von den Schmierereien auf der einstmals verputzten Wand absah, die alle mit Körperfunktionen zu tun hatten, aber über der Tür hing ein verwelktes Bündel Zweige. Aus dieser Tür drangen das Geräusch von Stimmen und der Geruch von lange nicht gewechselten Binsen und viel vergossenem Bier. Ah ja, dachte er grinsend und ging hinein. Wo auch sonst? Meine Füße sind heute Abend schlauer als mein Kopf; sie haben mich direkt an den Ort geführt, zu dem ich wollte. Erst in diesem Augenblick erkannte Jimmy, was er wirklich brauchte: Magie. Wie sonst sollten sie es schaffen, und wo sonst in Krondor würde er einen Magier finden, der ihm helfen konnte ? Nirgendwo sonst. Es gab hier nur einen einzigen Magier, der nicht zu viele Fragen stellen oder mit anderen darüber reden würde: Asher. Die wenigen Magier im Fürstentum, die mächtig oder reich genug waren, dass ihre Nachbarn sie nicht wegen der angeblichen Auswirkungen von Flüchen - tote Kälber, geronnene Milch, Missernten - verfolgten, blieben unter sich. Nahe dem Südosttor der Stadt gab es ein dreistöckiges Steinhaus mit einem Innenhof, in dem sich angeblich ab und zu ein mächtiger Magier aufhielt, aber jedes Mal, wenn Jimmy an diesem Haus vorbeikam, wirkte es vollkommen unbewohnt. Hin und wieder breitete sich in der Stadt
das Gerücht aus, dass ein reisender Magier in diesem oder jenem Gasthaus abgestiegen war und vielleicht seine Dienste oder magische Gegenstände verkaufte, aber das geschah äußerst selten. Nein, Asher war ein83 zigartig: ein Magier und ein Trinker. Und nach allem, was man hörte, liebte er auch das Glücksspiel und die Gesellschaft von Frauen, die weniger als halb so alt waren wie er. Also hatte er sich in einem Teil der Stadt angesiedelt, wo niemand Kühe hatte, deren Kälber tot geboren werden konnten, wo es kaum Milch zum Gerinnen gab und keine Ernten verderben konnten. Im Armenviertel gab es ohnehin wenig erfolgreiche Unternehmungen, und daher hatte niemand Grund, anderen die Schuld am eigenen Versagen zu geben. Versagen war hier einfach an der Tagesordnung. Die Schänke hatte schon bessere Tage gesehen. Die abgetrennten Nischen an der hinteren Wand waren zu ausgefallen für die derzeitige Kundschaft, von denen die meisten beim Würfelspiel auf ihren Messerscheiden saßen, damit sie stets spürten, wo sich die Griffe befanden. Jimmy spähte in die abgelegenste Ecke des Schankraums, und sein Grinsen wurde breiter. Aber im Prinzip konnte man sich ohnehin darauf verlassen, Alban Asher in dieser Schänke zu finden, so sicher, wie man schlechtes Bier in einem schmutzigen Krug fand. Jimmy hatte den Magier niemals irgendwo anders als in dieser von Spinnweben überzogenen Ecke gesehen. Nach allem, was der junge Dieb wusste, hatte Asher dort Wurzeln geschlagen. Aber er brauchte auch nirgendwo hinzugehen, denn die Welt kam zu ihm. Er mochte ein alter Knacker, spielsüchtig und ein Weiberheld sein, aber wenn er nüchtern genug war, funktionierten die Zauber, die er wirkte. Jimmy hatte von ein paar Fehlschlägen gehört, aber das waren eher Enttäuschungen als Katastrophen gewesen - nicht schlimm genug, um künftige Kunden abzuschrecken. Außerdem, wohin sonst würde man im Fürstentum gehen, um einen Magier zu finden, der nicht mehr für seine Magie wollte als genug Geld, um sich damit zu betrinken, an den Kartentisch zu setzen oder ein Mädchen überreden zu können, mit einem Mann ins Bett zu gehen, der ihr Großvater sein könnte? 84 Jimmy holte sich einen Krug Bier und kaufte einen Becher vom besten Wein der Schänke. Das Zeug roch immer noch sauer genug,
um Teer aufzulösen, und obwohl er nicht der wählerischste Bursche in der Stadt war, hatte er nicht vor, das Bier tatsächlich zu trinken. Er ging zum Tisch des Magiers, stellte den Wein vor ihn hin, setzte sich ihm gegenüber und beobachtete den formlosen Haufen schwarzer Gewänder. Es dauerte eine Weile, bis der Mann zum Leben erwachte, aber der Geruch des Weins führte schließlich zu einer Reaktion. Eine klauenartige Hand fuhr sich aus einem Ärmel und hob den Becher; der Magier trank einen Schluck und gab ein kehliges, anerkennendes Geräusch von sich. Jimmy wollte lieber gar nicht daran denken, was der Mann sonst trank. Asher hickste, rülpste gewaltig und grinste dann boshaft, weil Jimmy das Gesicht verzog, als die Ausdünstungen ihn trafen. Der junge Dieb blieb sitzen und wartete. Es war unmöglich, Ashers Alter zu schätzen. Zum einen war es im Schankraum dunkel, und diese Ecke hier war am dunkelsten; zum anderen war der Kopf des Magiers von einem Gebüsch hellbraunen Haars umgeben. Bart, Schnurrbart, Brauen und Kopfhaar waren so undurchdringlich wie ein Brombeerdickicht. Von seinem Gesicht war nur eine Knollennase zu sehen, die beinahe die gleiche Farbe hatte wie der Wein, und das Glitzern von Augen unter den zottigen Brauen. Es gab Leute, die behaupteten, er sei erst sechzig Sommer alt; andere wiederum hielten ihn für neunzig, und sie behaupteten, er hielte sich mit Hilfe von schwarzer Magie am Leben. Jimmy entnahm den Gerüchten nur, dass der Magier in einem Zustand scheinbarer Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umgebung lebte, es sei denn, er trank, spielte oder er jagte den Huren hinterher. Und nach allem, was er hörte, war Asher, solange er nicht übermäßig trank, beim Spielen und mit den Huren recht erfolgreich. »Du willst was«, stellte Alban Asher, der Magier, fest. Sei85 ne Stimme war tief und heiser. Selbst im Sitzen schwankte er, was darauf hinwies, dass er bereits einiges getrunken hatte. »Ja«, bestätigte Jimmy gut gelaunt. »Und ich zahle extra für Geheimhaltung.« Nach einer Weile gab Asher ein leises Lachen von sich, das von reiner Gier kündete. Mit einer Geste ermutigte er Jimmy fortzufahren. »Ich brauche einen oder zwei Zauber, die ich mitnehmen und anwenden kann, wann und wo ich will«, erklärte der junge Dieb.
»Liebeszauber«, sagte Asher und nickte weise. »Jungs in deinem Alter wollen immer Liebeszauber.« Er stieß ein niederträchtiges Lachen aus und berührte die Nase mit einem schmutzigen Finger. Jimmy nahm an, dass er auch gezwinkert hatte, aber man hatte es nicht sehen können. »Nein«, sagte er schnell. »Kein Liebeszauber.« »Jungs in deinem Alter ...«, begann der Magier und klang ein wenig verärgert. »Ich will ganz bestimmt keinen Liebeszauber.« Ich ziehe es vor, wenn meine Mädchen seihst entscheiden können, oh sie mich wollen. Das ist einfach eine Frage des Stolzes. Nicht, dass es etwas bringen würde, das jemandem zu erklären, der nicht einmal den Sinn von Stolz begriff. »Ich muss eine gemauerte Wand niederreißen, will mich aber nicht anstrengen. Habt Ihr irgendwas dafür?« Asher zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du bist ein Dieb!«, verkündete er viel zu laut. Jimmy verdrehte die Augen. »Diebe reißen keine Wände ein«, erklärte er. Die Haarmasse zog sich um die Nase des Magiers zusammen - das war wohl eine nachdenkliche Miene. »Hm, stimmt«, sagte Asher und blinzelte wie eine Eule, die sich plötzlich dem Laternenlicht gegenüberfindet. »Ich hab was, 86 das funktionieren könnte.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Aber es gibt da eine Sache ...« »Ich nehme es«, sagte Jimmy rasch, denn er war nun vollkommen überzeugt, dass der Magier schon ziemlich betrunken war und er sich demnach beeilen musste. »Ich brauche auch etwas, das Leute bewusstlos macht.« »Ah«, sagte Asher und kicherte. »Mädchen. Ich wusste es!« Dann kicherte er erneut. Jimmy kam zu dem Schluss, dass Asher das ausdrucksvollste Kichern hatte, das ihm je untergekommen war. In diesem Fall wies es darauf hin, dass die Beziehungen des Magiers zu Frauen, wenn er nicht genug Geld für Huren hatte, einer genaueren Prüfung durch das Gesetz nicht standgehalten hätten. »Nein, keine Mädchen«, sagte Jimmy »Männer. Große, kräftige Männer. Wenn also Körpergröße und Gewicht wichtig sind, solltet Ihr den Zauber darauf abstimmen.« »Männer?«, fragte der Magier, als hätte er nie zuvor von ihrer
Existenz gehört. Aber dann zuckte er die Achseln. »Na ja. Es gibt eben alle Arten. Ich habe etwas - ich kann es stärker machen. Es ist dieser Mauerzauber, der mich ...« Seine Stimme verklang, und er starrte so beharrlich über Jimmys Kopf hinweg, dass der Junge sich umdrehte. Hinter ihm war niemand zu sehen außer dem Wirt, der hinter der Theke döste, und einem Mann, der in sein Bier weinte. Das hätte normalerweise dazu geführt, dass sich jemand über ihn lustig machte, nur dass dieser Mann etwa halb so viel wog wie ein schweres Kavalleriepferd und von seinem Kinn aus eine tiefe Narbe bis über eine leere Augenhöhle verlief, von dem Narbengewebe über den Knöcheln beider Hände gar nicht zu reden. 'Jimmy sah den Magier aus dem Augenwinkel an, dann schaute er noch einmal zur Theke. Wenn Asher mehr Wein wollte, würde er eben warten müssen, bis sie mit den Verhandlungen fertig waren und er im Besitz der Ware war. 87 »Was stimmt denn nicht mit dem Mauerzauber?«, fragte Jimmy. »Funktioniert er nicht?« »O doch, er funktioniert«, sagte Asher langsam. Er schüttelte den Kopf, als ob das etwas freisetzen könnte, das in seinem Hinterkopf stecken geblieben war. »Es ist nur ...« Er streckte die Hand aus und bewegte Daumen und Zeigefinger, als wollte er etwas greifen. »Ist es gefährlich?«, fragte Jimmy und klang dabei, als könnte er selbst gefährlich werden. Der Magier schnaubte. »Nein, nicht wirklich«, sagte er. »Es funktioniert! Es funktioniert sehr gut.« »Was ist mit dem Bewusstlosigkeitszauber?«, fragte Jimmy Mit einer wegwerfenden Geste legte Asher einen kleinen Beutel auf den Tisch. »Da kann man kaum von Magie sprechen«, erklärte er. »Aber wenn du ihn für große kräftige Burschen und nicht für dünne junge Mädchen willst...« Er hielt inne und sah Jimmy einen Augenblick lang an, als wollte er etwas begreifen, das er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dann sagte er: »Schon gut. Ich brauche einen Moment.« Er schloss die Augen, bewegte die Hand über dem Beutel und murmelte ein paar Minuten vor sich hin. Jimmys Nackenhaare sträubten sich. Seit er sich erinnern konnte, hatte er über eine beinahe übernatürliche Fähigkeit verfügt, drohende Gefahr oder die Gegenwart von Magie zu spüren, und er wusste, dass Asher tatsächlich gerade gezaubert hatte.
Dann war der Magier fertig und verkündete: »Jetzt ist es stärker.« Er schob Jimmy den Beutel zu. »Nimm eine Prise von dem Zeug, blase sie ins Gesicht desjenigen, den du bewusstlos machen willst, und er wird umfallen.« »Und die Mauer?« Der Magier grunzte. Er drehte sich um, griff nach einem Sack hinter seinem Stuhl und hob ihn auf den schmutzigen Tisch. Er öffnete den Sack und fing an, darin herumzuwüh88 len. Gegenstände rasselten und klirrten, als Asher sie hin und her schob und dabei mitunter leise lachte, als hätte er sich an einen boshaften Streich erinnert, den er jemandem spielen wollte, sobald er die Zeit dafür fand. »Ah!«, sagte er schließlich, warf den Sack wieder hinter seinen Stuhl und stellte ein kleines Fläschchen, das mit Blei versiegelt war, vor sich auf den Tisch. »Das ist es«, sagte er stolz. Jimmy schaute das Fläschchen an. Es war nicht größer als das erste Glied seines kleinen Fingers und - so weit er es im trüben Licht sehen konnte - vollkommen leer. Er streckte die Hand aus, um es sich näher anzusehen, aber der Magier nahm es an sich, bevor er es berühren konnte. »Warte«, sagte Asher warnend. »Wir haben noch nicht über den Preis gesprochen.« »Da ist ja gar nichts drin«, sagte Jimmy »O doch«, flüsterte der Magier. »Ein winziger Tropfen. Aber das ist alles, was wir brauchen, damit der Mörtel sich in Sand verwandelt. Und pass bloß auf, dass du nichts davon auf dich selbst tropfst«, warnte er. »Tropfe es auf die Wand, und deine Arbeit ist erledigt. Es ist gleich, wohin du es tropfst, oben, unten, in der Mitte, denn solange Stein und Mörtel miteinander verbunden sind, wird es funktionieren.« Er lehnte sich zurück. Wenn man von der Position seines Schnurrbarts ausging, lächelte er wohl. »Wie viel?« Jimmy war sich nicht vollkommen sicher, was diese Sache hier anging, aber es war immer noch seine beste Möglichkeit. Tatsächlich war es neben Hammer und Meißel und vielen Gebeten zu Ruthia, die Wachen über Nacht taub werden zu lassen, die einzige Möglichkeit. Dennoch, er hatte nicht vor, den ersten Preis des Magiers zu akzeptieren. »Was ist es dir wert?«, fragte Asher. Mit einem fröhlichen Lächeln schlug Jimmy vor: »Trinken wir erst
noch einen, dann fällt uns das Feilschen leichter. 89 Wirt!«, rief er und weckte den Mann damit. »Noch mal das Gleiche.« Der Morgen dämmerte schon beinahe, als Jimmy die Schänke mit seinem Einkauf verließ. Er hielt das Fläschchen hoch und betrachtete es kritisch im Licht einer flackernden Laterne. Sieht immer noch nach nichts aus. Aber der alte Mann hat den Ruf zu liefern, wofür man ihn bezahlt. Asher war kein angenehmer Mensch, aber in den Jahren, in denen er in Krondor sein Handwerk betrieben hatte, hatte ihn niemand bezichtigt, einen Kunden betrogen zu haben, was im Armenviertel ohnehin einem königlichen Todesurteil entsprochen hätte. Der Zauberer hatte es Jimmy leicht gemacht. Obwohl der junge Dieb einiges von Prinz Aruthas Gold eingetauscht hatte, hätte er sich niemals so viel Magie leisten können, wenn Asher nicht ein solcher Säufer gewesen wäre. Nicht mein Problem und nicht meine Schuld. Aber der Preis war gerecht, also sollte er sich keine Gedanken machen müssen, dass er demnächst mit Pusteln bedeckt erwachte. Zumindest war der Preis gerecht, wenn man davon ausging, dass sich tatsächlich etwas in dem Fläschchen befand. Etwas, das ich auf keinen Fall auf mich selbst träufeln darf, dachte er. Ein beunruhigender Gedanke, wenn man es sich näher überlegte. Wie goss man etwas aus, das nicht so aussah, als existiere es überhaupt? Wahrscheinlich sehr vorsichtig. Ich sollte positiv denken, sagte er sich. Immerhin habe ich nun eine Möglichkeit, Larrys Bruder und Flora und die anderen zu retten. Und das bedeutet, dass wir nachher alle besser dran sein werden als zuvor. Jetzt musste er es nur noch tun. 5 Rettung Larry riss die Augen auf. »Aber Alban Asher ist ein Säufer!« Auf seinem schmalen Gesicht zeichnete sich ebenso viel Panik wie Ablehnung ab, und sein Tonfall war eher überrascht als zornig. Denk nur daran, wie du reagiert hättest, wenn Larry mit diesem Zeug angekommen wäre, ermahnte sich Jimmy. Immerhin versucht er nicht, dich zu schlagen, und er hat sich noch nicht umgedreht und ist gegangen.
»Das kann nicht dein Ernst sein!«, fuhr der Jüngere fort. »Die Situation ist verzweifelt«, erklärte Jimmy und machte eine Geste, die den anderen schweigen ließ; es war nicht so voll in Spötters Ruh wie direkt nach Ankündigung der neuen Gesetze, aber es ging immer noch lebhafter zu als üblich. Viele Spötter, die sich sonst auf den Straßen befunden hätten, schliefen jetzt hier. »Und verzweifelte Situationen verlangen verzweifelte Maßnahmen.« Das hatte er mal irgendwo gehört, und es hatte ihm gefallen - wie immer, wenn etwas eine gute Ausrede abgab. »Verzweifelte Maßnahmen, nicht dumme«, widersprach Larry »Verzweifelte Maßnahmen sehen zunächst oft dumm aus«, sagte Jimmy »Das ist eine historische Tatsache. Du kannst es in den königlichen Archiven nachschlagen.« 91 »Sie lassen mich nicht in die königlichen Archive, und außerdem kann ich nicht lesen!«, rief Larry Er war rot angelaufen, und Tränen der Frustration glitzerten in seinen Augen. »Aber wenn ich es könnte, könnte ich bestimmt beweisen, dass du Unrecht hast - jede Wette!« Er ließ sich gegen die Wand sacken und rutschte herunter, um sich auf den Boden zu setzen. »Was sollen wir nur machen?«, jammerte er. »Als Erstes«, sagte Jimmy und beugte sich über ihn, »kannst du mal aufhören, so rumzubrüllen, denn die Leute starren uns schon an.« Tatsächlich starrte niemand, aber die Spötter neigten auch nicht zum Starren. Sie lauschten allerdings immer, und Jimmy und Larry konnten es sich nicht leisten, belauscht zu werden. Dennoch, die Bemerkung schien Larry etwas zu beruhigen. Jimmy war oft aufgefallen, dass es wahre Wunder wirkte, im richtigen Augenblick den richtigen Unsinn von sich zu geben. »Tut mir Leid«, murmelte der Junge. »Es ist nur ...« »Larry«, sagte Jimmy und beugte sich dichter heran. »Wenn du eine bessere Idee hast, sag es mir. Ich will es hören.« Sein Freund ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn dann langsam. »Also gut. Sieh mal, im schlimmsten Fall werden wir durch die Magie nicht weiterkommen, aber sie wird uns auch nicht zurückwerfen. Und Asher mag ein Säufer sein, aber er hat den Ruf, anständige Arbeit zu leisten.« Er tätschelte dem Jungen die Schulter und grinste schief. »Wenn das nicht der Fall wäre, hätte ihm jemand von der Gilde längst die Kehle durchgeschnitten. Und dann hätte ich
ihm nichts mehr abkaufen können.« Larry lächelte dünn. »Hast du das Seil?«, fragte Jimmy Der Junge nickte. »Es ist schon in dem Gang, direkt hinter 92 der eingestürzten Stelle, und ich habe ein paar Steine darauf gelegt.« »Gut.« Es muss gut versteckt sein, dachte Jimmy Er hatte einen Haufen Lappen und eine Flasche Essig in dem Tunnel deponiert, bevor er nach Spötters Ruh gekommen war, und hatte dabei kein Seil gesehen. »Also los«, sagte er und stand auf. Larry fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, und er eilte rasch hinter Jimmy her. »Jetzt?«, flüsterte er ungläubig. »Je eher, desto besser«, sagte Jimmy weise. »Und warum nicht?« Larry schüttelte den Kopf. »Es ist helllichter Tag«, protestierte er. »Dann werden sie uns nicht erwarten,« erwiderte Jimmy zwinkernd. »Aber werden nicht mehr Wachen da sein als in der Nacht?« »Warum? Sind die Eisengitter am Tag weniger haltbar?« »Nein, ich meine, sie sind wach und machen ihre Runden und benehmen sich wie Wachen.« Jimmy blieb abrupt stehen und starrte den anderen an. »Willst du es jetzt machen oder nicht?« »Ja!«, erwiderte Larry und nickte. Jimmy schaute ihm in die Augen und sagte: »Dann los!« Er ging weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. Es war einen Augenblick still, dann hörte er hinter sich Larrys Schritte. Jimmy lächelte. Diese Sache würde funktionieren, und danach würde er bei den Spöttern eine Legende sein. Er versuchte angestrengt, nicht an die Alternative zu denken -die meisten Alternativen hatten etwas mit Seilen, scharfen Klingen oder rot glühenden Gegenständen zu tun, die an seinen empfindlicheren Körperteilen eingesetzt wurden. Jimmy die Hand war wahrscheinlich nicht einmal vierzehn Jahre alt, und wie viele junge Leute hatte er das Gefühl, ewig leben zu können. Aber als Spötter hatte er in diesen Jahren auch viel Tod gesehen, nicht genug, um ihm ein Gefühl der ei93 genen Sterblichkeit zu vermitteln, aber es hatte gereicht, um ihn vorsichtiger zu machen. Es fiel Jimmy nicht leicht, sich wieder in den halb eingestürzten Tunnel und den Schacht zu zwängen, der in die Hauptzelle von Krondors Kerker führte. Er hatte den größten Teil seines jungen
Lebens damit verbracht, in Kloaken herumzukriechen und sich in stinkenden Gassen aufzuhalten, also war er an Gestank und an tiefe Dunkelheit gewöhnt. Aber wenn Gestank Schrecken erregend sein konnte, dann war es dieser. Er schien sich regelrecht anzuschleichen. Er hatte Haare und Zähne und boshafte kleine Augen. Er hatte eine ganz eigene Persönlichkeit, eine sehr unangenehme Persönlichkeit, die sich beinahe wie eine körperliche Last auf Jimmy legte. Aber er sagte sich immer wieder, er würde so etwas nie wieder tun müssen, und stellte sich der Herausforderung. Er band sich den mit Essig getränkten Lappen vors Gesicht und steckte die anderen Lappen und die Essigflasche in sein Hemd. Wenn jemand auf dem Weg nach unten anfinge, sich zu übergeben, würde er vielleicht schneller am Boden des Schachts landen, als ihm lieb war, und in erheblich schlechterer Verfassung als notwendig. Nicht, dass der Essiggeruch viel half, aber alles war besser, als vollkommen ungeschützt in diesen Schacht zu kriechen. Er zog Handschuhe an, hängte sich das aufgerollte Seil um und begann zu klettern. Diesmal ging es schneller, weil er wusste, was er zu erwarten hatte, aber seine Gebete zu Ruthia waren nicht weniger innig. Sobald er die blockierte Stelle erreichte, stützte er sich mit Füßen und Schultern gegen die Wände des Schachts, zog einen Handschuh aus, holte das winzige Fläschchen aus dem Beutel an seinem Gürtel und brach das Bleisiegel mit dem Fingernagel. Dann sah er sich nach einer geeigneten Stelle für den unsichtbaren Tropfen um. 94 Der Mörtel direkt über ihm war ziemlich glatt, und Jimmy erinnerte sich an Ashers Warnung, nichts von dem Zeug auf sich selbst zu tropfen. Weiter oben sah es aus, als hätte sich der Maurer gelangweilt oder als wäre es ihm schwerer gefallen, den Bereich mit seiner Kelle zu erreichen - jedenfalls war die Arbeit dort schlampiger ausgeführt worden. Es gab kleine Kanten und Vorsprünge aus Mörtel, die für die Flüssigkeit recht geeignet schienen. Aber das würde bedeuten, Arm und Schulter fest gegen die schleimige Wand des Lochs drücken zu müssen. Schon der Gedanke bewirkte, dass ihm übel wurde. Also holte er ein paar Mal tief Luft, zwang sich, den Gestank zu ignorieren, und konzentrierte sich auf sein Ziel. Befreie die Spötter. Dann wirst du berühmt werden. Alle Mädchen werden dich bewundern ... wenn du erst ein Bad genommen hast. Langsam beruhigte sich sein Magen wieder.
Ein Teil des Problems bestand darin, dass er immer noch nichts in dem Fläschchen gesehen hatte, und sein Vertrauen in den betrunkenen Magier war trotz allem, was er zu Larry gesagt hatte, nicht allzu groß. Er hatte mehr Angst vor dem Versagen als davor, gefangen genommen und aufgehängt zu werden. »Tu es endlich«, knurrte er und biss die Zähne zusammen. Wie er schon selbst gesagt hatte, es war schließlich nicht so, als ob sie bessere Möglichkeiten hätten. Jimmy biss sich auf die Lippen, steckte den Arm in das Loch und tastete nach dem größten Vorsprung, den er erreichen konnte; er musste blind zielen, denn sein Arm schnitt das wenige Licht ab, das von der Zelle in den Schacht fiel. Liebe Ruthia, betete er, bitte mach, dass ich nichts auf mich schütte. Er drückte die Schultern fest gegen die Mauer, zog den kleinen Korken aus dem Fläschchen, hielt es so weit wie möglich von der Hand weg und presste die Öffnung gegen den Mörtel. Er hielt es lange Sekunden reglos und fragte sich, 95 woran er eigentlich feststellen sollte, dass das Fläschchen leer war. Schließlich nahm er einfach an, dass es leer sein musste. Es war geschehen, und jetzt hieß es warten, ob der Zauber funktionierte. Er hielt den Atem an, drückte sich gegen die Wand des Schachts und fragte sich, was zu erwarten war. Die ersten beiden Bröckchen von Mörtel, die abbröckelten, entgingen ihm, aber dann fiel ein Stein herunter und traf ihn auf den Oberschenkel. Er hatte nicht daran gedacht, dass Steine fallen würden. Dann fiel ihm plötzlich das eiserne Gitter oben ein, und er kletterte rasch wieder nach unten, wobei ein kleiner Teil von ihm unzufrieden jammerte: Jetzt muss ich noch einmal dort hinaufsteigen! Nach weniger als einer Minute fiel das schwere Eisengitter, das den Schacht bedeckt hatte, auf die Steine und den Sandhaufen, der einmal fester Mörtel gewesen war. Jimmy seufzte erleichtert. Dann befeuchtete er den Lappen für Mund und Nase erneut mit Essig, bewegte die Schultern, um die Muskeln zu lockern, und begann wieder nach oben zu klettern. Am anderen Ende erwartete ihn bereits ein Kreis von Gesichtern, und Hände wurden ausgestreckt, um ihn nach oben zu ziehen. Er blinzelte einen Augenblick; selbst das trübe Licht in der großen Zelle wirkte nach den Gängen darunter hell. Füße brachten das feuchte Stroh auf dem Boden zum Rascheln, und er konnte die Gefangenen, die sich um ihn versammelten, mehr
spüren als sehen. »Jimmy?« Das war Floras Stimme. Das Mädchen drängte sich an den anderen vorbei und umarmte ihn, dann wich sie sofort wieder zurück, die Augen weit aufgerissen, den hübschen Mund angewidert verzogen. Wenn man den Zustand des Kerkers und seiner Bewohner bedachte, war das durchaus viel sagend. »Ich weiß«, entschuldigte er sich schnell. »Seid leise, es sei denn, ihr wollt, dass die Wachen kommen. Gegen den Gestank kann man nicht viel tun.« Er zog die Lappen und den 96 Essig heraus. »Das wird ein wenig helfen, aber es war der einzige Ausweg, den wir finden konnten.« »Ich kann da nicht runter«, sagte ein Bettler. »Ich habe nur noch ein Bein.« »Wo runter?«, fragte ein Blinder. »Alle, die Hilfe brauchen, können wir mit diesem Seil runterlassen«, erklärte Jimmy. Er nahm das Seil von der Schulter und sah sich nach einer Stelle um, wo man es verankern konnte. Schließlich entschied er sich für das Zellengitter. Er spähte nervös in den trüb beleuchteten Flur, sah aber niemanden. Gut. Wenn die Aufregung bei seiner Ankunft die Wachen nicht herbeigerufen hatte, würden sie wahrscheinlich fürs Erste sicher sein. Aber warum sollte auch jemand auf einen Kerker ohne Ausgang achten? »Warum machst du das?«, fragte Flora im Flüsterton. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, und er war ihr offenbar ein wenig peinlich. »Sie werden uns ja nicht ewig hier behalten.« »Nein, das werden sie nicht«, sagte Jimmy finster. »Morgen oder übermorgen wollen sie euch Mädchen hängen, und jeder Bettler bekommt fünfzig Peitschenhiebe.« Flora starrte ihn entsetzt an. »Wofür?«, fragte sie. »Was wirft man uns denn vor?« »Nur das, was ihr immer tut«, antwortete er. »Aber sie haben das Gesetz geändert.« Flora schloss den Mund, und ihr Blick wurde kalt. »Wegen der Prinzessin«, sagte sie. »Oder einfach nur, weil del Garza den Verstand verloren hat«, erklärte Jimmy grinsend. »Das ist doch egal. In ein paar Minuten wird hier niemand mehr sein, den sie hängen können. Es sei denn,
del Garza will seine eigenen Leute an den Galgen bringen, weil sie nicht besser aufgepasst haben.« Nun lächelte sie wieder, und ein boshaftes Glitzern zeigte sich in ihren Augen. 97 »Also gut, an die Arbeit.« Sobald sie die Nachricht gehört hatten, machten die anderen Spötter und selbst die paar Fremden eifrig mit. Al^ das Seil fest angebunden war, sagte Jimmy: »Sobald ihr in der Kanalisation seid, verteilt euch. Bleibt nicht in der Nähe, es sei denn, ihr wollt denen helfen, die nicht allein weiterkommen können. Wenn ich als Letzter runterkomme, will ich da unten keinen mehr von euch sehen. Kehrt so unauffällig wie möglich in eure Verstecke oder nach Spötters Ruh zurück, und seid vorsichtig. Sobald sie herausfinden, dass ihr verschwunden seid, wird es in der Stadt eine Weile noch schlimmer werden.« Jimmy schickte Gerald, den Bruder von Ohren-Larry als Ersten nach unten, vor allem, um Larry zu beruhigen, und zum Teil auch, um den Mädchen und allen anderen zu zeigen, wie einfach es war. Wenn man von dem Gestank einmal absah. Klugerweise sprach er nicht viel darüber. Und sobald die Flüchtlinge es bemerkten, würden sie sicher nicht wieder nach oben klettern, obwohl einige vielleicht die Hinrichtung vorgezogen hätten, wenn sie gewusst hätten, was ihnen bevorstand. Am Ende waren es nur noch Jimmy und Flora. Er sah sie grinsend an. »Es gibt noch etwas, was ich tun möchte, bevor ich gehe.« Flora war verwirrt, bedeutete ihm aber mit einem Nicken, dass sie zuhörte. »Es gibt Gerüchte, dass del Garza Prinz Erland in den Kerker geworfen hat. Hast du eine Ahnung, wo sie ihn eingesperrt haben?«, fragte er. »Woher soll ich das wissen?« »Aber er muss doch irgendwo hier in der Nähe sein«, sagte Jimmy Sie verschränkte die Arme und starrte ihn lange an. »Das nehme ich an. Wenn die Gerüchte behaupten, er wäre im Ker98 ker, dann muss er wohl hier sein.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Denkst du etwa, was ich denke, das du denkst?« Er nickte eifrig, und sein Grinsen wurde noch breiter. »Ich werde ihn rausholen.«
Flora riss die Augen auf. »Hast du den Verstand verloren?«, zischte sie und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mal wissen, was sie mit dir machen würden, wenn du das tätest.« Sie riss die Augen noch weiter auf. »Der Aufrechte Mann!« Flora presste sich die Hand auf den Mund. »Del Garza wird dich f vielleicht nicht erwischen, aber der Aufrechte Mann ganz bestimmt!« »Er wäre vermutlich hocherfreut«, erklärte Jimmy selbstsicher erheblich selbstsicherer, als er sich fühlte. Immerhin vertraut mir der Aufrechte Mann auch nicht an, worin seine Pläne bestehen. Flora senkte die Hand und befeuchtete sich nervös die Lippen. »Du willst es wirklich machen, wie?« »Warum nicht?«, erwiderte er mit aufgeregt glitzernden Augen. »Eine so gute Gelegenheit erhalten wir nie wieder. Dürfen wir uns das als patriotische Bürger von Krondor entgehen lassen?« »Also gut«, flüsterte sie. »Ich werde dir helfen.« Das erstaunte ihn. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu überreden. »Ich komme schon zurecht«, erklärte er. »Es ist nicht notwendig, dass du dich in Gefahr begibst.« »Er ist angeblich krank, Jimmy. Du wirst vielleicht Hilfe brauchen.« Sie sah ihn mit festem Blick an, bis er zögernd nickte. Dann ging er zur Zellentür und begann am Schloss zu arbeiten. Es war schwieriger, als er erwartet hätte, aber es war dennoch dazu gedacht, gewöhnliche Gefangene drinnen zu halten, nicht erfahrene Diebe mit einem ganzen Satz von Dietrichen. Er bearbeitete die Zuhaltung nach Gefühl, danach, wie sich die Drahtstreben unter seinen Fingern bogen, und war dem 99 Langen Charlie zum ersten Mal für all diese ermüdenden Übungen dankbar. Flora stand starr vor Angst neben ihm und hielt nach den Wachen Ausschau. Dann sprang der letzte Zapfen zurück, aus dem schweren Schloss erklang ein Klicken, und die beiden zuckten zusammen, als die Türangeln quietschten. »Wohin jetzt?«, fragte Jimmy sich laut. »Sie haben uns auf diesem Weg hergebracht.« Flora nickte nach links, zu einem Flur aus gemauertem Stein; das wenige Licht dort kam von einem runden Loch in der Decke, das nicht größer war als ein Menschenkopf. »Vor dieser Zelle hier gab es noch zwei andere und sonst nichts. Also denke ich, wir sollten dort entlanggehen.« Sie zeigte nach rechts und marschierte los. »Lass mich lieber vorgehen«, sagte Jimmy »Ich habe hier etwas, was
ich benutzen kann, wenn wir jemandem begegnen.« Flora zog die Brauen hoch, widersprach aber nicht. Jimmy ging vor ihr her und fühlte sich seltsam, denn er hatte zwar die Wahrheit gesagt, aber der wirkliche Grund, wieso er der Erste sein wollte, war, nun ... weil ich der Erste sein will. Und er nahm an, dass Flora das wusste. Der Flur, dem sie folgten, war dunkel und schmal. Jimmy konnte sich nicht vorstellen, wieso er so angelegt worden war, es sei denn, man hatte vorgehabt, hier Eulen und Katzen anzusiedeln. Andererseits war das wahrscheinlich ein Vorteil für sie. Sie waren geschützt, wenn sie um eine Ecke spähen mussten, um nachzusehen, ob der Weg frei war. Bisher waren sie niemandem begegnet. Alle Zellen, in die sie unterwegs geschaut hatten, waren leer gewesen. Das überraschte ihn. Er war sicher gewesen, dass del Garza jeden einsperrte, den er wollte. Und bei Jocko Radburns Charakter hatte Jimmy angenommen, er würde die halbe 100 Stadt hinter Gittern vorfinden. Zumindest die offizielle Hälfte. Er wurde langsam ungeduldig; sie waren so lange unterwegs gewesen, dass es sich anfühlte, als wären sie mindestens auf der anderen Seite der Festung. Dann sahen sie weiter vorn im Flur das flackernde Licht einer Fackel und einen Wärter. Seiner schwarzgoldenen Uniform nach zu schließen stammte er aus Bas-Tyra, und er war halb eingeschlafen, selbst im Stehen und auf seine Hellebarde gestützt. Sein behelmter Kopf fiel immer wieder vornüber, » und dann riss er ihn abrupt wieder hoch. Im Stehen schlafen zu können schien eine der Grundvoraussetzungen für eine Karriere beim Militär zu sein. Jimmy hockte sich hin und bedeutete Flora, das Gleiche zu tun; sie befanden sich direkt hinter einer weiteren Biegung des gewundenen Gangs. Dann holte der junge Dieb den kleinen Beutel heraus, den er von Asher gekauft hatte, und löste die Schnur. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, wie viel von dem Zeug er benutzen sollte. Er verzog verärgert den Mund. Er hatte über die falschen Dinge nachgedacht, hatte sich nur für den Preis interessiert und nicht für die Dosierung und dafür, wie lange die Wirkung anhielt. Jetzt war es zu spät. Er beschloss, sich an den schlafenden Wärter anzuschleichen und ihm einfach eine Prise ins Gesicht zu blasen. Falls das nicht genügte, würde er eben weitermachen müssen, bis der Mann zusammenbrach.
Innerlich zuckte er die Achseln. Es war nicht perfekt, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Immerhin war er bisher schon recht weit gekommen, indem er Dinge ausprobierte. Er wandte sich Flora zu und signalisierte ihr, an Ort und Stelle zu bleiben. Sie nickte und machte eine Geste, als würde sie ihn wegscheuchen. Als er sich abgewandt hatte, verdrehte Jimmy die Augen und streckte die Zunge heraus, was er nie getan hätte, wenn sie ihn sehen könnte, aber er hasste es, 101 wenn man ihm sagte, was er tun sollte, besonders, wenn es ohnehin seine Idee gewesen war. Konzentriere dich, ermahnte er sich. Er ging rasch, aber ohne allzu große Eile voran und bewegte sich dabei wie eine Katze auf den Ballen seiner nackten Füße. Der Wärter war gerade in der Phase seines Schlafs, bei der er den Kopf senkte. Jimmy nahm eine Prise des magischen Pulvers und blies sie ihm in dem Augenblick ins Gesicht, als er den Kopf wieder hochriss. Mit einem lauten, schweineartigen Grunzen fiel der Mann um wie ein Kartoffelsack, und der junge Dieb konnte gerade noch die Hellebarde auffangen, bevor sie ebenfalls zu Boden fiel. Flora eilte herbei, und die beiden starrten den Soldaten verblüfft an. »Was hast du benutzt?«, flüsterte Flora. »Etwas, das ich von einem Magier bekommen habe«, erwiderte Jimmy. Er nahm die Schlüssel vom Gürtel des Bewusst-losen. »Etwas, wovon ich noch mehr brauche. Das Zeug ist sehr nützlich.« Er nahm den Beutel aus seinem Hemd und reichte ihn Flora. »Hier, behalt du es. Wenn jemand kommt, blas ihm eine Prise ins Gesicht, und achte darauf, dass du selbst nichts von dem Zeug einatmest.« Sie nickte und steckte den kleinen Beutel in ihr Mieder. »Komm, lass uns diese Tür öffnen.« Die winzige Zelle war stockfinster, bis sie die Fackel hereinbrachten. Es war kälter als im Flur draußen, und es roch nach Schimmel und menschlichen Abfällen. Man hatte einen dünnen Strohsack mit schmutzigem Stroh auf den Boden geworfen, und auf dem Sack lag unter einer einzigen verschlissenen Decke ein Mann. Sein Gesicht war wachsbleich, Augen und Wangen waren tief eingesunken, und sein Atem klang krächzend und gurgelnd, als ob jeder Atemzug ihm Anstrengung bereitete. 102
Flora hauchte ein mitleidiges »Oh« und hockte sich neben dem Mann hin. Sie nahm eine seiner Hände in ihre und begann sie sofort zu reiben. »Er ist so kalt, Jimmy!« Sie drehte sich um und sah ihn an. »Geh und hol den Umhang dieses Soldaten.« Jimmy zog die Brauen hoch. Falls das hier der Prinz war, würde er erheblich aktiver werden müssen, wenn sie ihn nach draußen schaffen wollten. Er steckte die Fackel in einen eisernen Halter an der Tür und tat, was Flora ihm gesagt hatte. Als er zurückkehrte, erwiderte sie: »Ziehen wir das da unter ihm weg. Dieses Stroh bietet überhaupt keinen Schutz vor dem Boden.« Jimmy nickte, aber er war bedrückt, weil der Mann immer noch bewusstlos war. Woher sollten sie wissen, ob sie den richtigen Gefangenen vor sich hatten, wenn er es ihnen nicht sagen konnte? Der junge Dieb hatte den Prinzen nur einmal gesehen, und das aus weiter Ferne; außerdem war Erland damals gesünder gewesen, erheblich gesünder als dieser Mann hier. Er schob den Arm unter den Kopf und die Schultern des Gefangenen und hob ihn hoch, und dann wäre er beinahe aus dem Gleichgewicht geraten, denn der Mann wog fast überhaupt nichts mehr, so als bestünde sein Körper nur noch aus Haut und Knochen. »Nun, wenn wir ihn tragen müssen, wird das zumindest kein Problem darstellen«, murmelte er. »Aber Jimmy, er ist so krank!«, sagte Flora. Sie wickelte den Umhang um den abgemagerten Körper ihres Patienten, dann hob sie verzweifelt die Hände. »Hör doch nur, wie er atmet! Das ist ganz bestimmt eine Lungenentzündung, und er hat auch Fieber.« »Und wir wissen nicht mal, ob er der Prinz ist«, sagte Jimmy finster. »Wer seid ihr, Kinder?«, flüsterte der Mann und öffnete die fieberglänzenden Augen. 103 Dann hustete er lange und angestrengt und krümmte sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht, bis der Anfall vorüber war. Schließlich ließ er sich mit einem vorsichtigen Seufzer nach hinten sinken. Seine beiden Möchtegern-Retter sahen voller Mitleid zu und betrachteten ihn ernst, als er wieder die Augen öffnete. »Nun?« »Wir sind Spötter«, sagte Jimmy. »Und wer seid Ihr?« Der Mann bildete das Wort Spötter mit den Lippen, sprach es aber nicht laut aus. Dann grinste er - ein wirklich schrecklicher Anblick auf seinen hageren Zügen. »Ich«, sagte er unter großer Anstrengung,
»bin Prinz Erland von Krondor.« Es war deutlich zu erkennen, dass er ein stolzer Mann war, selbst unter diesen schrecklichen Bedingungen. »Hast du etwas zu trinken, Jimmy?«, fragte Flora. »Seine Lippen sind so trocken.« Jimmy schüttelte den Kopf. »Ich sehe nach, ob der Wärter etwas hat.« Er war sofort wieder zurück und reichte Flora eine Flasche. »Ich glaube, es ist Wein«, sagte er. Flora hob den Kopf des Prinzen und brachte die Flasche an seine Lippen. »Danke«, sagte Erland, nachdem er getrunken hatte. Er zog die Brauen hoch. »Das war ziemlich gut, und ich habe nichts getrunken, seit sie mich heute früh hier heruntergebracht haben.« Er bildete sich das vielleicht nur ein, aber es kam Jimmy so vor, als hätte der Prinz ein wenig Farbe bekommen. Erland bedeutete, dass er gerne mehr trinken würde, und Flora gab es ihm. »Wir sind gekommen, um Euch hier rauszuholen, äh, Euer Hoheit«, sagte Jimmy Er ging davon aus, dass Hoheit die richtige Anrede war. Zumindest war er ziemlich sicher, dass »Euer Majestät« falsch gewesen wäre. Aber der Prinz schüttelte den Kopf. »Das macht wenig 104 Sinn.« Er lächelte sie an. »Nicht, dass ich eure Anstrengungen nicht zu schätzen wüsste, ihr jungen Spötter. Aber«, er hielt inne, um Luft zu holen, »ich werde nicht mehr lange leben.« Er räusperte sich, und Angst davor, wieder husten zu müssen, stand in seinem Blick. Als kein Anfall kam, sprach er weiter. »Ich bin schon seit langer Zeit krank, und ich bin müde. Dass sie mich hierher gebracht haben, wird meinen Tod nur beschleunigen, aber ich werde ohnehin bald sterben, ganz gleich, wo ich bin.« Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Priester und Ärzte haben alles getan, was sie können, aber ich habe eine Krankheit in der Lunge, die mich langsam zerfrisst.« Sein Gesicht war so schmal und bleich, dass man hätte glauben können, er sei seit Jahren, nicht erst seit Stunden hier eingesperrt, also nahm Jimmy an, dass der Prinz dem Tod tatsächlich sehr nahe war. »Ich bin viel zu müde für die Anstrengung einer Flucht. Aber ihr solltet fliehen.« Er lächelte sie an. Jimmy wusste, dass der Prinz Recht hatte, denn irgendwie konnte er den Tod des Mannes in seinem abgehärmten Gesicht sehen. »Eure Gemahlin!«, sagte Flora. »Wir könnten ihr vielleicht helfen zu
fliehen.« »Sie wird in unseren Gemächern bewacht«, erwiderte Erland. »Ihr könntet sie niemals erreichen.« Er holte tief und langsam Luft, versuchte, einen weiteren Hustenanfall zu vermeiden. »Del Garza hat befohlen, mich hierher zu bringen, als meine Tochter aus der Burg geflohen ist. Sie versteckt sich irgendwo in der Stadt. Er glaubt, indem er mir mit dem Tode droht, wird er sie zurücklocken können, ohne die Stadt auseinander nehmen und einen Aufstand riskieren zu müssen.« »Sie ist nicht mehr in der Stadt, Sir«, erklärte Jimmy »Sie ist schon vor etwa drei Tagen mit Prinz Arutha nach Crydee abgereist.« »Arutha!«, sagte Erland, und dann musste er doch husten. 105 Als er wieder sprechen konnte, fragte er: »Wie kommt es, dass der Prinz von Crydee hier war?« Jimmy erinnerte sich rasch an das, was er belauscht hatte -dass Arutha und seine Begleiter nach Krondor gekommen waren, um Erland um Hilfe beim nächsten Frühjahrsfeldzug gegen die Tsurani zu bitten, und die Stadt unter Kriegsrecht und der Herrschaft von Guy du Bas-Tyra vorgefunden hatten. Sie hatten versucht, sich zu verstecken, während sie herausfinden wollten, was in Krondor los war, und sowohl Radburns Geheimpolizei als auch die Spötter hatten sie sofort bemerkt. Jimmy erzählte Erland rasch von dem nächtlichen Kampf an den Docks, dem erfolgreichen Aufbruch der Seetaube und der Möglichkeit, dass Anita inzwischen weit von Krondor entfernt war, denn man hatte sie nicht zurückgebracht. »Ich danke dir für diese Nachricht«, sagte der Prinz. »Es tröstet mich. Wenn Bas-Tyra zurückkehrt und erfährt, dass meine Tochter nicht mehr in der Stadt ist, wird er mich bestimmt wieder in meine Gemächer zurückbringen, wo meine Frau mich pflegen kann. Ich hätte mir keine besseren Nachrichten wünschen können, als dass meine Tochter bei dem Sohn von Borric von Crydee in Sicherheit ist. Aber jetzt müsst ihr gehen. Der Wärter wird wach werden, oder ein anderer wird bald kommen, und ihr dürft nicht hier verweilen. Bring die Weinflasche und den Umhang zu ihm zurück; der Mann soll einfach nur denken, dass er eingeschlafen ist. Ganz gleich, was geschieht, niemand darf wissen, dass ihr mich gesehen habt. Wenn die Leute in der Stadt erfahren, dass ich dem Tode nahe bin, werden einige vielleicht so dumm sein, mich befreien zu wollen. Es ist
sinnlos, Blut für einen Mann zu vergießen, der ohnehin so gut wie tot ist. Versprecht ihr mir, diesen Besuch niemandem gegenüber zu erwähnen?« Sie erklärten beide, dass sie schweigen würden. Mit überraschender Energie verlangte Prinz Erland: »Ihr dürft nicht ein106 mal miteinander darüber reden, damit euch niemand belauschen kann. Schwört es!« Jimmy blinzelte überrascht, aber er sagte: »Ich schwöre es bei Ruthia und Banath, Hoheit.« Flora wiederholte den gleichen Schwur, und der Prinz entspannte sich ein wenig. »Gut. Und jetzt geht.« Jimmy brachte rasch den Umhang und die Weinflasche zu dem Wärter zurück und nahm sich einen Augenblick Zeit, um etwas Wein auf das Gesicht des Mannes und auf sein Hemd zu spritzen, so dass sein Feldwebel weniger geneigt sein würde, irgendwelche Geschichten über unerklärliche Schlafsucht zu glauben. Bevor er die Zellentür schloss, drehte er sich noch einmal um. Er sah, dass der Prinz sich zurücklehnte und die Augen schloss, und noch während er das tat, schien er kleiner und blasser zu werden. Etwas in Jimmys Herz zuckte schmerzlich. Die beiden Spötter kehrten rasch und unbehelligt in die große Zelle zurück. Drinnen fanden sie den Boden mit Sand bedeckt. »Wo kommt der denn her?«, fragte Flora. »Ich schwöre, es gab vorher hier keinen Sand.« Jimmy warf einen nervösen Blick zur Decke, aber sie schien fest zu sein. Dann schaute er zu dem Loch inmitten der Zelle und sah eine Flut von Sand hineinrieseln. Oh, dachte er erschrocken. Asher hatte immer wieder von »etwas ...« gesprochen; offensichtlich war das »Etwas«, das er vergessen hatte, die genaue Dosierung der magischen Flüssigkeit. Vielleicht genügte schon ein Teil eines Tropfens, und Jimmy hatte den ganzen Inhalt des Fläschchens ausgegossen! Es sah so aus, als wäre die Flüssigkeit erheblich mächtiger, als er erwartet hatte. Und das bedeutete, dass ihnen vielleicht demnächst die Decke auf den Kopf fallen würde. »Gehen wir!«, sagte Jimmy und schubste Flora. 107 Sie drehte sich um und schubste zurück. »Komm schon, Flora, bevor uns noch die ganze Festung auf den
Kopf fällt!« Das Mädchen starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Magie!«, sagte sie. »Du hast Magie benutzt!« »Was sonst?«, erwiderte er und drückte ihr das Seil in die Hand. »Und jetzt geh!« Als sie sich zu ihm umdrehte, steckte sie schon bis zur Taille in dem Loch mit dem rieselnden Sand. »Erzähl mir bloß nicht, dass du bei Alban Asher gewesen bist.« »Zu diesem Zeitpunkt würde ich dir alles sagen, was du hören willst, Flora!« Er bedeutete ihr weiterzuklettern. »Geh, damit ich auch gehen kann. Bitte!« Das Letzte, was sie sagte, bevor sie verschwand, war: »Um Banaths willen, Jimmy, er ist ein Säufer!« »Als ob ich das nicht wüsste«, murmelte Jimmy und packte das Seil. Das hier war wohl eine der Gelegenheiten, bei denen der Zauber des Magiers nicht funktionierte wie erwartet. Nicht genau die Art, auf die Jimmy in die Geschichte eingehen wollte. Aber da sein Unternehmen zum größten Teil erfolgreich gewesen war, würde er dieses kleine Missgeschick wohl akzeptieren können. Er zog sich das Tuch vors Gesicht, schloss die Augen und kletterte ein letztes Mal durch den stinkenden Schacht. Lachjack schlug Jimmy fest genug, um ihn zu Boden zu schleudern, dann riss er ihn am Kragen wieder hoch und schüttelte ihn. »Das reicht!«, sagte der Nachtmeister. Jack warf ihm einen düsteren Blick zu und bleckte die Zähne. »Ich sagte, das reicht«, wiederholte der Nachtmeister leise, aber mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. 108 Lachjack ließ Jimmy so plötzlich los, dass der Junge taumelte. »Du kannst gehen.« Jack nickte, aber seine Miene zeigte, dass er damit überhaupt nicht einverstanden war. Dann warf er Jimmy noch einen wütenden Blick zu, drehte sich um, ging und schloss die Tür hinter sich. Sie waren im oberen Raum eines angeblich leer stehenden Hauses im Armenviertel, und als der Aufseher davon marschierte, konnten sie den Boden bei jedem seiner Schritte knarren hören. Der Nachtmeister schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend. »Du bist wirklich zu dreist, Jimmy die Hand. Weißt du, dass heute ein halber Turm eingestürzt ist? Er ist einfach zusammengesackt, direkt in die Westhälfte des Kerkers. Es ist ein Wunder, dass
niemand umgekommen ist.« Die Miene des Nachtmeisters war ungerührt, aber Jimmy konnte ein Lächeln in seiner Stimme hören. Er musste sich anstrengen, nicht ebenfalls zu lächeln. »Es heißt, dass du für dieses Durcheinander verantwortlich bist«, fuhr der Nachtmeister fort, »und der Aufrechte Mann ist sehr verärgert darüber, dass du wieder einmal gegen ausdrückliche Befehle verstoßen hast. Weißt du, wie diese Befehle lauteten?« Jimmy hielt es für das Beste, dieses Wissen abzustreiten, also schüttelte er den Kopf. »Ihr solltet euch ohne ausdrücklichen Befehl nicht aus euren Verstecken wagen und nichts unternehmen. Erinnerst du dich nicht daran, das gehört zu haben? Das ist seltsam, denn es gibt Zeugen dafür, dass du anwesend warst, als die Befehle ausgegeben wurden.« Der Nachtmeister beugte sich vor und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Du hast den Aufrechten Mann in eine schwierige Lage ge109 bracht, Jimmy die Hand. Du hast bewusst gegen Befehle verstoßen, aber du hast auch über dreißig Spötter vor dem sicheren Tod gerettet.« Ein Mundwinkel zuckte nach oben. »Gar nicht zu reden davon, dass es dir gelungen ist, ihre Flucht zu verbergen. Es wird wahrscheinlich Monate dauern, bis del Garza entdeckt, dass unter all diesen Trümmern gar keine Leichen liegen. Bei den vielen Ratten da unten und der Überflutung der Kanalisation durch den Frühlingsregen werden sie vielleicht sogar denken, dass die Knochen ins Meer gespült wurden.« Der Nachtmeister musste sich wirklich anstrengen, nicht zu breit zu grinsen, als er hinzufügte: »Du hast dafür gesorgt, dass unser schlimmster Feind wie ein Dummkopf dasteht, ohne dass er auch nur davon weiß.« Der Nachtmeister machte eine hilflose Geste. »Dennoch, was können wir tun? Der Aufrechte Mann ist dankbar, dass du dreißig unserer Brüder gerettet hast, aber er will dir immer noch die Kehle durchschneiden und dich in die Bucht werfen lassen. Wenn ein solcher Verstoß gegen Befehle nicht bestraft wird, werden die anderen glauben, dass auch sie tun können, was immer sie wollen - und sie sind vielleicht erheblich weniger schlau als du oder haben weniger Glück. Und das führt nur zu Chaos.« Er rieb sich die Oberlippe und starrte Jimmy an. »Selbstverständlich ... wenn man dich nicht finden kann, um dich zu bestrafen, wird langsam alles in Vergessenheit geraten und niemand
wird etwas unternehmen müssen. Und hin und wieder erklärt sich der Aufrechte Mann ja auch zu einer allgemeinen Amnestie bereit.« Er lehnte sich zurück, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen. Jimmy nickte. Die Amnestie wurde allen angeboten, die sich freiwillig meldeten und ihre Missetaten beichteten. Für gewöhnlich bedeutete das auch, dass jegliche Beute, die zuvor nicht geteilt worden war, abgegeben wurde, zusammen mit dem Versprechen, es nicht wieder zu tun. Jimmy hielt diese Amnestien für eine gute Idee, denn es blieb immer etwas 110 mehr für die Allgemeinheit übrig, nachdem der Aufrechte Mann und seine Leute sich ihren Teil genommen hatten, und es erleichterte außerdem dem Tag- und dem Nachtmeister ihre Arbeit, denn sie wussten, wen sie in Zukunft im Auge behalten mussten. Vor allem aber ersparte es dem Aufrechten Mann die Aufgabe, alle Spötter zu töten, denn früher oder später verstieß jeder einmal gegen die eine oder andere Regel. Und eine solche Amnestie würde auch für jemanden gelten, der direkt gegen einen Befehl verstoßen hatte. Jimmy sagte: »Nicht gefunden werden kann? Du meinst, weil ich weg bin oder weil ich mit Gewichten beschwert in den Hafen geworfen wurde?« »Das Erstere. Wenn du Krondor jetzt verlässt und ein bisschen reist... Es heißt ja, dass Reisen bildet, und in deinem Fall wäre es außerdem auch noch gut für deine Gesundheit.« Jimmy spürte einen Kloß im Hals und ein schweres Gewicht, das sich unter seinem Brustbein niederließ. Er stotterte: »Aber ... aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie außerhalb von Krondor!« Der Nachtmeister beugte sich wieder vor. »Ich will es mal so ausdrücken - entweder du verschwindest, oder du bekommst, was du verdient hast. Hast du das verstanden?« »Vollkommen.« Jimmy zwang sich, ruhig zu bleiben. Wie schlimm konnte es schon werden? Es war auch anderen Menschen schon gelungen, außerhalb von Krondor zu leben. Da draußen war eine ganze Welt, die man erforschen konnte! Er hatte jetzt schon Heimweh. »Dann kannst du jetzt gehen.« Der Nachtmeister musterte Jimmy eindringlich. »Und wenn ich sage gehen, meine ich weit weg. Nur für den Fall, dass du das beim ersten Mal nicht verstanden hast.« »Ja, Sir.« Jimmy schoss aus dem Zimmer des Nachtmeisters, vorbei an einem
zähnefletschenden Lachjack, und verließ eilig Spötters Ruh. Er musste sein Gold holen, bevor es dunkel wurde, und einen sicheren Weg zur Karawanserei vor dem Osttor finden. Er würde sich irgendwie an den Wachen vorbeischleichen - er ging davon aus, dass er das schaffen konnte - und dann entweder dafür bezahlen oder betteln, dass ihn die erste Karawane nach Norden oder Osten mitnahm. Man hatte ihn vielleicht angewiesen, weit wegzugehen, aber er würde auf jeden Fall im Königreich bleiben und nicht riskieren, sich in die Wüste oder gar nach Groß-Kesh zu begeben. Gleichermaßen nervös und aufgeregt eilte er ein letztes Mal in die Kanalisation hinab. 6 Reise Jimmy hob die Hand. Er hielt zwei Finger hoch, und der Wirt füllte zwei geteerte Lederbecher aus den Fässern, die auf Gestellen an der Wand ruhten. Der Wirt war um die fünfzig, kahl und fett, und die Lady neben ihm war wahrscheinlich seine Frau und sah ganz ähnlich aus wie er, nur dass sie Haare hatte. Sie wartete, bis Jimmy in seinen Beutel griff und die Kupferstücke herausholte. Diese Schänke war nichts Besonderes: ein binsenbestreuter Boden, Ziegelmauern mit ein paar wenigen verbliebenen Stücken Verputz und grob gezimmerte Holztische, Bänke und Hocker. Es roch allerdings nicht allzu schlimm - überwiegend nach verschüttetem Bier, was unvermeidlich war. Die Schänke hatte den Vorteil, kein bekannter Spöttertreffpunkt zu sein. Die meisten anderen Kunden hier waren Hafenarbeiter, die ihr Bier in kleinen Schlucken tranken, damit es lange hielt, und vielleicht ein wenig Brot mit Käse und eingelegtem Gemüse aßen. Keine besonders gute Reklame für ehrliche Arbeit, dachte Jimmy verdrießlich, trank einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. Nicht, dass ich jemals in Versuchung gewesen wäre. Das »Segel und Anker« war eine typische Seemannsspelunke, wie man sie häufig im Hafen von Krondor fand. Jim113 my hatte die Karawanserei erkundet und hielt es für unwahrscheinlich, die Stadt schon am nächsten oder übernächsten Tag verlassen zu können, denn jeder, der das vorhatte, wurde genau in Augenschein genommen. Der Einsturz des Turms oberhalb der
Zellen hatte über dreißig Spötter gerettet, aber er hatte del Garza auch zu hektischen Vergeltungsmaßnahmen getrieben. Ein paar Spötter, die zu dumm gewesen waren, um sich zu verstecken, saßen bereits im Gefängnis am Marktplatz - das von den Wachtmeistern des Sheriffs betrieben wurde -, aber sie hatten eine gute Chance, der Schlinge zu entgehen, denn keiner saß wegen eines Verbrechens, auf das die Todesstrafe stand, es sei denn, del Garza änderte die Gesetze abermals. Außerdem hatten die Geheimpolizisten aus Versehen auch ein paar einfache Arbeiter und Töchter und Frauen von Kaufleuten festgenommen, und nun waren die Gilden und die Bürger in Aufruhr. Nach allem, was Jimmy am vergangenen Abend hatte sehen können, ließ del Garza bereits jeden Ingenieur und Maurer im Fürstentum an den Trümmern des Turms arbeiten - es sah so aus, als wolle er ihn wieder aufbauen, noch bevor Herzog Guy von der Grenze nach Kesh zurückkehrte. Jimmy lächelte. Wenn er ein oder zwei Magier dazuholte, könnte er es vielleicht sogar schaffen. »Danke«, sagte Flora, trank einen Schluck und beobachtete Jimmy über den Rand ihres Bechers hinweg. »Du denkst nach - worüber?« Er beugte sich über sein dunkles Bier, blies auf die dünne Schaumschicht und fragte sich, ob er so deprimiert aussah, wie er sich fühlte. »Nur darüber, dass ich die Stadt verlassen und mich auf ein Schiff schleichen muss. Ich habe nicht viel für Schiffe übrig.« »Warst du je auf einem?«, fragte sie ein wenig aufgeregt. »Nein, aber ich weiß, wenn man erst mal auf einem ist, 114 kann man kaum mehr ausreißen, es sei denn, man kann schwimmen wie ein Fisch. Ich bin recht gut, wenn es darum geht, sich zu verstecken. Aber auf einem Schiff ... sie nennen es blinder Passagier.« »Dann tu das eben nicht. Bezahl für die Überfahrt.« Jimmy seufzte. »Del Garza überprüft die Schiffspassagiere ebenso genau wie die Reisenden an den Stadttoren.« »Sei nicht so traurig, Jimmy, es ist nicht das Ende der Welt«, sagte sie leise. »Nein, der Aufrechte Mann will nur, dass ich zum Ende der Welt ziehe. Oder vielleicht würde es ihm ja gefallen, wenn ich es schaffen würde, mich nach Groß-Kesh entführen zu lassen, oder in diese Welt, aus der die Eindringlinge kommen.« Jimmy warf ihr einen verstohlenen Blick zu; er wusste nicht einmal, ob sie wirklich
zuhörte. Wenn ich schon die ganze Zeit jammere und mir seihst Leid tue, könnte sie sich wenigstens die Einzelheiten anhören, dachte er. So hatte er sich diesen Abend nicht vorgestellt. Irgendwer sollte ihm Bier und Essen ausgeben, sein Loblied singen und ihm den Rücken tätscheln, bis es wehtat. Stattdessen konnte er nicht mal nach Spötters Ruh oder in die Kanalisation gehen: Er musste die Stadt verlassen, und zwar bald. Es war sogar gefährlich, dass er so lange geblieben war. Statt ein Held zu sein, hockte er allein in dieser Arbeiterschänke, kurz vor dem Weg ins Exil. Na gut, ich bin nicht allein, aber so unaufmerksam, wie Flora ist, könnte ich es genauso gut sein. Ich hin ein Held, verdammt noch mal. Die Mädchen sollten sich um mich reißen. Nun sah sie ihn nachdenklich an. Er kannte diesen Blick. Es war der Blick, mit dem einen eine Frau bedachte, wenn sie um etwas bitten wollte. Jimmy zog eine Braue hoch und wartete. Plötzlich lächelte sie strahlend. »Ich weiß, wohin wir gehen können«, sagte sie. 115 »Wir?« Das kam unerwartet. »Wie meinst du das, wir?« »Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich einen Großvater und eine Tante in Meersburg habe. Sie sagte, mein Großvater hätte meinen Vater nicht gemocht.« In Floras Augen trat der abgelenkte Blick von jemandem, der sich erinnert. »Nicht, dass meine Eltern je darüber gesprochen hätten, aber sie schauten einander an und lächelten auf diese seltsame Art ... irgendwie traurig. Jedenfalls«, fuhr sie fort, »könnten wir nach Meersburg gehen und sehen, ob ich dort immer noch Verwandte habe. Das wäre zumindest ein Ziel! Was meinst du?« Jimmy blinzelte. Es war eine Idee. Oder zumindest eine Richtung. »Wo ist Meersburg?«, fragte er. Er hatte selbstverständlich von dem Ort gehört, aber das bedeutete nicht, dass er wusste, wo er lag. »Ich weiß es nicht. Ich bin nie dort gewesen. Aber wir könnten es herausfinden. Was meinst du? Sollen wir?« Er neigte den Kopf zur Seite und zuckte die Achseln. »Warum nicht? Ich muss irgendwo hingehen - aber wären wir auch willkommen, wenn wir so plötzlich dort auftauchen? Ich meine, wenn dein Großvater etwas gegen deinen Vater hatte ...« Verlegen brach er ab. Flora presste die Lippen zusammen. »Nun, so wie Pa sich entwickelt hat, nachdem meine Mutter tot war, kann man ihm das kaum übel nehmen, oder?«
Jimmy ging dem Thema, dass ihr Vater nach dem Tod ihrer Mutter angefangen hatte zu saufen, lieber aus dem Weg und fragte: »Bist du deshalb nach seinem Tod nicht nach Meersburg gegangen?« Flora verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich war erst neun Jahre alt, Jimmy Ich hatte kein Geld und keine Ahnung, wie man dorthin gelangt.« Sie zuckte die Achseln und grinste schief. »Und die einzigen Leute, die ich kannte, waren hier.« 116 »Dann weißt du ja, wie ich mich fühle.« Flora lächelte. »Allerdings.« Dann legte sie ihre Hand auf seine und drückte sie. »Vielleicht kann ich ja nach dem Abendessen dafür sorgen, dass es dir besser geht.« Er lächelte, zog die Brauen hoch und seufzte. Nun, es geht mir tatsächlich besser, dachte er ein paar Stunden später, reckte sich und lächelte zufrieden, als er die Augen wieder aufschlug. Die Kerze war beinahe heruntergebrannt und warf Schattenmuster auf die Decke. Erheblich besser. Er hatte Flora mit an seinen besten Platz genommen; ein halb in Trümmern liegendes Haus mit einem einzigen guten Zimmer, das er sich eingerichtet hatte. Jimmy öffnete die Augen noch weiter, streckte sich abermals, gähnte und drehte sich um - und sah, dass Flora weg war. Das tat seinem Wohlgefühl allerdings keinen Abbruch. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und erinnerte sich. Kurz bevor sie schlafen gegangen waren, hatte Flora sich bedankt. Er grinste. Ich bin wirklich ein Held, verdammt noch mal, dachte er. Plötzlich ging die Tür auf, und er sprang rasch auf und zog das Laken an sich. »Guten Morgen«, rief Flora. »Ich dachte, du wärst weg«, sagte Jimmy, eine Hand auf seinem galoppierenden Herzen. Mit der anderen schob er den Dolch wieder unters Kissen. »So schnell wirst du mich nicht los«, erwiderte sie lachend. Sie nahm ihr Schultertuch ab. In den Falten versteckt war ein Laib Rosinenbrot. Jimmy lief von dem gleichzeitig süßen und heftigen Geruch das Wasser im Mund zusammen. Flora holte aus einer Tasche einen Tiegel Honig und aus der anderen ein Stück Butter, das in ein Taschentuch gewickelt war. »Wo hast du denn das gekauft?«, fragte Jimmy, denn er 117
wusste, dass es in der Nähe dieses Hauses keinen Markt und keine Bäckerei gab. »Gekauft?«, fragte sie erstaunt. »Ich mag nicht so gut sein wie Jimmy die Hand, aber ich habe mir, wenn ich dich erinnern darf, mit dem Stehlen von Backwaren einen Namen gemacht!« Stimmt, dachte er. Jimmy stand auf, wickelte das Laken um sich und lächelte, als Flora über seine plötzliche Sittsamkeit lachte. Sie schnitt das Brot auf, während er ihnen den Rest des Weins eingoss, den sie am Abend zuvor mitgebracht hatten, und sie machten sich an die wichtige Aufgabe, ihre Mägen zu füllen. Nachdem sie gefrühstückt hatten, geschahen einige Dinge mit dem Honig und der Butter, die dazu führten, dass sie bald wieder im Bett landeten. Als sie später ruhig dalagen, sagte Flora: »Ich habe herausgefunden, wo Meersburg ist.« Ihre Worte schienen einen Schwärm summender Insekten in seinem Bauch zu wecken. Er wusste plötzlich, dass das alles nicht gut ausgehen würde. »Es liegt im Süden«, fuhr sie fort, »nahe dem Tal der Träume.« Danke, dachte er ein wenig säuerlich. es war mir gerade gelungen zu vergessen, dass ich Krondor verlassen muss, und jetzt erinnerst du mich wieder daran. Als Flora weitersprach, lag in ihrer Stimme ein wenig Zorn. Jimmy hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Sie hat nur versucht zu helfen, dachte er. »Es ist eine Seereise von fünf Tagen«, sagte sie und schaute ihn an. Als er nicht antwortete und sie nicht ansah, fuhr sie fort: »Der Preis für die Überfahrt beträgt vier Silberstücke pro Person.« Nach längerem Schweigen warf Jimmy ihr einen Seitenblick zu. »Und wie viel kostet es mit der Kutsche?«, murmelte er finster. 118 »Ein Schiff läuft heute mit der nächsten Flut aus.« »Vier Silberstücke sind ziemlich viel«, erklärte er. »Hast du nicht daran gedacht zu feilschen?« Flora warf ihm einen glühenden Blick zu. »Ja, Jimmy, ich habe daran gedacht. Deshalb sind es keine sechs Silberstücke, sondern vier. In Ordnung?« So wie sie ihn anschaute, sollte es wohl lieber in Ordnung sein. Er wechselte das Thema.
»Wann ist die nächste Flut?«, fragte er. Er sollte es eigentlich wissen; er hatte sein ganzes Leben in einer Hafenstadt verbracht, aber nur sehr vage Vorstellungen von den Gezeiten, denn solches Wissen nutzte einem Dieb, der nicht direkt im Hafen arbeitete, wenig. Flora streckte sich genüsslich, bevor sie antwortete. Dieser Anblick verbesserte seine Laune ein wenig. »In drei oder vier Stunden, denke ich.« »Nun, wenn wir mit diesem Schiff reisen wollen, sollten wir uns lieber um ein paar Dinge kümmern«, erwiderte Jimmy. »Ich weiß, dass du nicht gehen willst«, sagte Flora plötzlich mitleidig. Er lächelte sie an. Er freute sich über ihr Verständnis und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben. »Aber es bleibt mir nichts anderes übrig«, sagte er. »Danke, dass du erledigt hast, was ich wahrscheinlich erst morgen gemacht hätte.« Er sah sie nachdenklich an. »Wir sollten dir vielleicht ein paar neue Sachen kaufen.« Sie runzelte die Stirn. »Warum? Die meisten meiner Sachen sind brandneu.« »Das stimmt«, sagte er ein wenig verlegen. Er hatte nicht angenommen, dass Flora ihre neuen Kleider behalten wollte. Sie waren billig und grell, und jeder, der Flora darin sah, würde wenig Zweifel daran haben, welchen Beruf sie ausübte. Und da redete sie davon, ihre Verwandten finden zu wollen! Wie sollte er ihr das nur beibringen? 119 »Aber sie sind vielleicht ein wenig zu modisch für einen kleinen Ort wie Meersburg, meinst du nicht? Was hier in Krondor modisch ist, ist für deinen Großvater vielleicht viel zu gewagt. Besonders, wenn er einem ohnehin ablehnend gegenübertritt.« Flora starrte ihn mit offenem Mund an, dann brach sie in entzücktes Gelächter aus und strampelte vor Vergnügen mit den schlanken Beinen, während er sie vollkommen verwirrt ansah. Jedes Mal, wenn sie seine verstörte Miene sah, fing sie wieder an zu lachen, und es dauerte eine Weile, bevor sie aufhören konnte zu keuchen und sagte: »O Jimmy, du bist so lieb!« Sie küsste ihn leidenschaftlich. »Wie sehr du dich anstrengst, nicht direkt zu sagen >Aber Flora, du ziehst dich an wie eine Hure!< Ich kann mich nicht erinnern, wann jemand zum letzten Mal so viel Rücksicht auf meine Gefühle genommen hat. Du bist ein wahrer Freund.«
Er lächelte erleichtert. »Ich bin froh, dass du nicht böse bist.« »Nein«, sagte sie und stand auf. »Ich hatte nicht mal daran gedacht, dass meine Sachen ein Problem sein könnten. Aber du hast vollkommen Recht. Nur, was soll ich ihnen sagen, wenn sie wissen wollen, wovon ich die ganze Zeit gelebt habe?« »Weiß dein Großvater, dass dein Vater tot ist?«, fragte Jimmy. »Er hat es sicher nicht von mir gehört«, erklärte sie. »Aber ich kann mich nicht darauf verlassen, dass er es nicht weiß. Solche Nachrichten verbreiten sich für gewöhnlich irgendwie von selbst.« »Sehen wir mal...« Er dachte einen Augenblick nach. »Wie wäre es damit? Du hast nach dem Tod deines Vaters eine Weile bei einer Nachbarsfamilie gewohnt und für deinen Unterhalt gearbeitet. Dann hat dich eine freundliche alte Dame mit ein wenig Geld aufgenommen, und in den letzten Jahren warst du ihre Gesellschafterin - du weißt immer noch, wie man sich 120 gut ausdrückt, und wenn du nicht redest wie eine Straßengöre, werden sie nie herausfinden, dass es erfunden ist. Aber nun ist die alte Dame gestorben, und ihre Verwandten haben dich vor die Tür gesetzt. Sie haben allerdings die Überfahrt nach Meersburg bezahlt, damit du dort deine Familie besuchen kannst. Was ist mit deinem Vater? Hatte er dort Verwandte?« Flora schüttelte den Kopf und begann sich anzuziehen. »Er hat nie davon gesprochen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hat er überhaupt nie viel gesprochen, selbst als Ma noch lebte.« Jimmy holte eine Hand voll Silber aus dem Beutel und gab es ihr. »Geh und verkleide dich als Gesellschafterin einer netten alten Dame«, sagte er. »Welches Schiff werden wir nehmen?« »Die Lady von Krondor«, sagte Flora und zählte das Geld fachmännisch. »Jimmy, so viel kann ich nicht annehmen.« »Du musst ja nicht gleich alles ausgeben. Mach dir keine Gedanken. Immerhin brauche ich dich als meine Verkleidung als jüngerer Bruder eines netten Mädchens, das die Gesellschafterin einer alten Dame war. Ich werde mir selbst ein paar neue Sachen kaufen, und dann treffen wir uns im Hafen«, sagte er und gab ihr einen raschen Kuss. »Wir sehen uns bei Flut.« Sie machte sich eilig davon, denn sie freute sich aufs Einkaufen, und Jimmy zog sich ebenfalls an. Als er seine Hose hochzog, überlegte er, dass er sich vielleicht eine Jacke kaufen sollte, die er über seinem zweitneuesten Hemd tragen konnte - das Hemd, das er gekauft hatte,
als er und Larry im Badehaus waren, hatte nach dem zweiten Durchgang durch den Abflussschacht verbrannt werden müssen. Er sollte auch Stiefel und einen Hut haben, dachte er. Ja, ein junges Paar ... nein, er wirkte immer noch zu jung. Flora war ein paar Jahre älter, also wäre es besser, sich als trauerndes Mädchen mit jüngerem Bruder auszugeben. Auf dem Weg nach Meersburg wegen eines Trauerfalls in der Familie. 121 Plötzlich freute er sich erheblich mehr darüber, dass Flora mitkommen wollte, als noch ein paar Minuten zuvor. Silber war kostbar, aber nicht so kostbar wie sein Hals - den del Garza gern in eine Schlinge stecken würde - oder sein Kopf - den die Schläger des Aufrechten Mannes gerne einschlagen würden -, also war es kein schlechter Handel. Ja, Bruder und Schwester auf dem Weg, Großvater zu besuchen. Außerdem passte Flora besser in sein Bett als jedes andere Mädchen, das er kannte, und das war während des Exils vielleicht eine angenehme Abwechslung. Er pfiff beinahe vor sich hin, als er das Haus verließ. Dann hielt er inne. 'Wann ist aus »ich« »wir« geworden?, dachte er. Ich bin derjenige, den der Aufrechte Mann aus der Stadt treibt. Flora könnte genauso gut hier bleiben. Als er die Treppe hinunterging, fiel ihm auf, dass er sie nie eingeladen hatte, mit ihm zu kommen, und sie hatte auch nie um seine Erlaubnis gebeten. Es war einfach irgendwie passiert. Er schüttelte erstaunt den Kopf und fing an zu begreifen, was ein paar ältere Spötter meinten, wenn sie sagten, sie könnten alles tun, was sie wollten, solange es das war, was ihre Frauen von ihnen erwarteten. Aber dann schob er den Ärger beiseite und dachte wieder an Floras weiche Haut und ihr rundes Hinterteil, und plötzlich schien es kein zu hoher Preis zu sein, ihr ihren Willen zu lassen. Er hätte beinahe wieder gepfiffen, als er die Straße erreichte. Die Lady von Krondor war alt, klein und rund, etwa hundert Fuß lang und an der breitesten Stelle dreißig Fuß breit. Der Geruch, der aus den Bilgen aufstieg, bewirkte, dass es sich für jemanden, der viel Zeit in den Kloaken verbracht hatte, ein wenig mehr nach zu Hause anfühlte. Es war überraschend einfach gewesen, an Bord zu gelangen. Die meisten Wachen an den Docks waren Männer von 122 Bas-Tyra, aber die Lady von Krondor stand unter der Bewachung
durch die Wachtmeister. Eine kurze Geschichte über den Besuch beim Großvater, während Flora wirklich bedrückt dreinschaute, und man ließ sie an Bord. Jimmy war froh, dass sie sich zuvor noch umgezogen hatten. Ein Blick auf das Rapier an seiner Seite, und der Wachtmeister hielt ihn für einen jungen Mann aus wohlhabender Familie. Flora war unter Deck gegangen, um zu sehen, wo sie schlafen würden, während Jimmy oben blieb, um das Ablegen zu beobachten. »Fahrt ihr diese Strecke oft?«, fragte er einen Seemann und wich ein paar anderen aus, die im Laufschritt mit einer Segeltuchrolle vorbeikamen, offensichtlich bereit, den lästigen Passagier falls nötig beiseite zu stoßen. »Zwei-, dreimal im Jahr«, sagte der Seemann und tat etwas Nautisches mit zwei Stücken Seil und einem Messer, wobei sich seine Finger geschickt und beinahe automatisch bewegten. »Aber für gewöhnlich nicht so früh im Jahr. Stürme, wisst Ihr.« »Oh«, sagte Jimmy mit belegter Stimme. Ein letztes Netz mit Fracht - Ballen, Kisten und Säcke -wurde vom Kai in den Frachtraum geladen. Seeleute schlugen die Keile ein, die eine Gräting über der Luke festhielten, und taten viele geheimnisvolle Dinge mit Seilen und Segeln, bei denen es überwiegend darum ging, in die Takelage zu klettern, während andere Seeleute sie anschrien. Der Kapitän war ein kleiner, grauhaariger, drahtiger Mann mit einem Goldring im linken Ohr, dem der kleine Finger an der rechten Hand fehlte. »Setzt die Segel!«, rief er vom Heck her. Segeltuch donnerte abwärts und blähte sich zu braunen, geflickten Kurven. »Leinen los an Bug und Heck, Leinen los, und schrammt nicht am Kai entlang, ihr Hurensöhne!« Seeleute lösten die Leinen und drückten das Schiff mit lan123 gen Zweimannrudern vom Kai weg. Jimmy schluckte und sah zu, wie die Dächer von Krondor sich immer weiter entfernten und das Deck unter seinen Füßen begann, sich ein wenig zu bewegen. Er hatte ein kaltes, unangenehmes Gefühl im Magen. Oben im Ruderhaus gab der Lotse dem Steuermann Anweisungen, während der Kapitän der Mannschaft Befehle zubrüllte. Ich verlasse Krondor, dachte er. Es kam ihm irgendwie unwirklich vor; es war, als hätte er gerade zu sich selbst gesagt: Ich fliege zum Mond. »Krondor verlassen«, war immer etwas gewesen, was andere
Leute taten. Wie der Prinz und die Prinzessin, dachte er dann, und das besserte seine Laune wieder ein wenig. Ich betrete einfach eine größere Bühne! Der Lotse steuerte das Schiff geschickt an den anderen Schiffen vorbei, die vor Anker lagen oder in den Hafen einliefen. Sie wichen Frachtern und langen schlanken Kriegsschiffen, Fischerbooten, Jollen und Barken aus. An einem bestimmten Punkt - Jimmy hatte keine Ahnung, wieso ausgerechnet hier - eilte der Lotse hinunter zum Hauptdeck, und mit für einen Mann in mittleren Jahren überraschender Gelenkigkeit schwang er ein Bein über die Reling und kletterte hinunter in ein wartendes Ruderboot. Das Schiff bewegte sich langsam aus dem Hafen. Jimmy warf einen Blick zum Ruderhaus und sah, dass der Kapitän nun selbst die Hand am Ruder hatte, während er weiter Befehle gab. »Es wird ein bisschen auffrischen«, sagte der Seemann. Am Himmel wuchsen kalt und grau aussehende Wolken. Auch das Wasser veränderte die Farbe von Blau zu Graugrün und begann, hohe Hügel zu bilden, die sich auf sie zubewegten, gekrönt von weißem Schaum. Der stumpfe Bug des Schiffes hob sich ihnen entgegen, schnitt hindurch und erhob sich wieder, während weißer Schaum über die Reling geweht wur124 de und knöcheltief übers Deck brodelte. Mit für Jimmys Verhältnisse unvernünftiger Hast fiel das Land zurück, bis nur noch eine dunkle Linie links von ihnen geblieben war. Die Schaukelpferdbewegungen des Schiffs veränderten sich zu einem Rollen von vorne links nach hinten rechts. Ein Seemann, eine Art Offizier, sah, wie Jimmy kreidebleich wurde und eine Hand auf den Mund drückte. »An die Leereling, du Landratte«, brüllte er, dann packte er den Jungen an Kragen und Gürtel und brachte ihn schnell auf die andere Seite, gerade noch rechtzeitig für die erste Ladung. »Füttere die Fische, und mach das Deck nicht schmutzig, verdammt!« »Ich hasse dich«, murmelte Jimmy schwächlich und wusste nicht einmal, ob er sich selbst meinte, Flora, die ihn hierher gerächt hatte, das Schiff, die Mannschaft oder alle zusammen. Seine Seiten taten weh, sein Kopf schmerzte, seine Augen fühlten sich an, als hätte man sie in heißem Sand gewälzt. Jetzt weiß ich, wieso das Wort Elend erfunden wurde, dachte er, als er auf allen
vieren zur Reling krabbelte und würgte, bis nichts mehr in ihm war, was hochkommen konnte. Und ich stinke. So schlimm, dass er die meiste Zeit an Deck blieb, um vom Wind den Gestank wegblasen zu lassen. Das bedeutete, dass er sich überwiegend am Heck aufhielt, da der Wind aus dem Süden kam. Die frische Luft machte es ihm zumindest ein wenig leichter, mit sich selbst zu leben. Dennoch mied er Gesellschaft. Manchmal, zwischen Würgeanfällen, wurde er von Erinnerungen an seine ursprünglichen Pläne für diese Seereise gequält. Er hatte sich vorgestellt, er könnte mit der Besatzung würfeln und sie leicht ausnehmen. In Krondor hatte er das oft genug getan, obwohl die Seeleute dann meistens betrunken gewesen waren. 125 Stattdessen amüsierten sich die Seeleute jetzt damit, sich neben ihn zu stellen und Dinge zu sagen wie: »Ach, geht es uns schlecht? Was du brauchst, Jungelchen, ist ein schöner Schinken, der in einer Schüssel warmer Sahne schwimmt! Oder wie wäre es mit kalter Fischsuppe?« Dann lachten sie, wenn er jämmerlich fluchte, denn ihnen war nicht klar, dass er sie auf der Stelle abstechen würde, wenn er nur nicht so schwach gewesen wäre und wenn nicht jede Bewegung bewirkt hätte, dass es ihm noch schlechter ging. Oder vielleicht erinnern sie sich von den Würfelspielen an mich, und das hier ist eine Art krankhafter Rache. Flora trat hinter ihn, einen Becher Brühe in der Hand, und hockte sich dorthin, wo er sich hinter einer am Deck festgeschnallten Kiste vor dem feuchten Wind verbarg. »Flora«, sagte er und versuchte, die salzige Brühe zu trinken. Es schien weniger wehzutun, wenn man etwas im Bauch hatte, das man der See geben konnte. »Glaubst du, sie erkennen mich? Könnte es sein, dass ich einen von denen bestohlen oder beim Würfelspiel gegen ihn gewonnen habe?« Dann schüttelte er den Kopf. »Aber das bringt ihnen doch nichts ein, also warum tun sie es?« Sie zuckte die Achseln. »Nun, mein Freund, wenn ich jemanden, der mich beraubt oder betrogen hat, wieder sehen würde und die einzige Möglichkeit zur Rache darin bestünde, ihn dazu zu bringen, sich zu übergeben, würde ich das mit Freuden tun.« Flora lächelte über seine entsetzte Miene. »Aber ich denke nicht, dass sie dich erkannt haben, Jimmy. Ich hätte dich ja selbst kaum erkannt, als du dort am Kai standest, so achtbar hast du ausgesehen.«
Sie schlang ihr dickes Schultertuch fester um sich und schmiegte sich dichter an ihn, denn sie zitterte vor Kälte. Er war froh über ihre Wärme und die Tatsache, dass sie ihm an dieser Seite den Wind fern hielt. »Offenbar tun sie das immer, wenn jemand seekrank wird, 126 ob es nun ein Seemann oder ein Passagier ist«, fuhr Flora fort. »Ich finde, es ist gemein, und habe sie gebeten, es bleiben zu lassen, aber ich glaube, sie können einfach nicht widerstehen.« Er versuchte, den Rest der Brühe über Bord zu gießen -sein geschrumpfter Magen begann bereits wieder zu protestieren -, aber Flora schob ihm den Becher erneut zu. Also wollte die Besatzung sich nicht an ihm rächen, sondern ihn nur quälen, weil es Spaß machte. Das war nett. Es ist gut, dass ich niemanden mit einem Fluch belegen kann, denn sonst würde die gesamte Besatzung sich vor Schmerzen winden oder eines schrecklichen Todes sterben. Und jemand, der sich in den Krallen heftiger Seekrankheit befindet, kann sich tatsächlich sehr widerwärtige Dinge ausdenken. Er wusste, ohne Floras Einfluss wäre die Besatzung noch boshafter gewesen. Wie sie dafür sorgte, dass sich die meisten fern hielten, wusste er nicht. Vielleicht sollte er es herausfinden. »Du versuchst doch nicht etwa ...«, begann er zögernd. »... sie zu bestechen, damit sie dich in Ruhe lassen?« Flora schüttelte lächelnd den Kopf. »Wenn ich das täte, würde ich für meine Anstrengung nicht viel bekommen, oder? Aber nein, ich tue so etwas nicht mehr. Ich werde ein anständiges Mädchen sein, und wenn es mich umbringt. Zumindest, bis ich herausgefunden habe, ob ich eine Familie habe.« Sie sah, wie er bedrückt in den Becher abkühlender Brühe blickte, und tätschelte seine Schulter. »Trink es einfach, Jimmy Du musst etwas im Magen behalten, oder du wirst wirklich krank.« Er warf ihr einen kläglichen Blick zu, aber sie nickte nur ermutigend. Er kniff die Augen fest zu und trank die letzten lauwarmen Schlucke. Er wusste, das Zeug würde wieder hochkommen, aber zumindest im Augenblick war es gemütlich warm. Flora hätte gewartet, bis er es getrunken hatte, auch wenn bereits Eis die Brühe überzogen hätte. 127 Dann dachte er daran, was sie gesagt hatte. »Ich bin krank«, erklärte
er. »Daran wirst du nicht sterben. Aber wenn du nicht genug Wasser oder Brühe trinkst, könnte das passieren.« Nun, das war ein angenehmer Gedanke. Jimmy spürte, wie die Brühe in seinem schmerzenden Magen zu tanzen begann, und wusste, es würde nicht lange dauern, bis das Zeug einen Ausbruchsversuch unternahm. Die ganze Sache war ihm peinlich, und er wollte Flora dabei nicht in seiner Nähe haben. »Der Koch sagt, wenn du das unten behalten kannst und eine Weile damit zubringst, zum Horizont zu schauen, so dass deine Sinne sich daran gewöhnen können, wird es dir bald besser gehen. Es gibt Leute, die das schaffen.« Dann fügte sie mit einem mitleidigen Blick hinzu: »Und andere nicht.« »Vielleicht solltest du wieder unter Deck gehen«, schlug er vor. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, dann nickte sie. »Es wird kalt hier draußen.« Flora steckte eine Haarsträhne zurück unter das Tuch. »Ich komme später wieder und bringe dir noch etwas.« »Ihr Götter«, stöhnte Jimmy und eilte zur Reling. Flora ging davon, und selbst in seinem angeschlagenen Zustand gelang es ihm, so etwas wie Dankbarkeit zu empfinden. Jimmy zwang sich, seinen Mageninhalt unten zu behalten. Er tat, was der Koch geraten hatte, beobachtete den Horizont und bemerkte bald, dass das Heben und Senken des Schiffes seinen Magen weniger störte, wenn er die Bewegung ebenso sehen konnte, wie er sie spürte. Er holte tief Luft und versuchte einen weiteren Schluck Brühe. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass ein anderer Passagier ihn beobachtet hatte. Dieser Mann war um die dreißig und mittelgroß, und er bewegte sich mit einem Gleichgewichtsgefühl, das in einer Ecke von Jimmys Kopf das Wort 128 Schwertkämpfer erklingen ließ, obwohl der Mann nicht so angezogen war - er trug dunkle Kleidung aus guter Wolle, aber sie war abgenutzt und voller Salzflecken. Sachen, wie sie ein reisender Kaufmann tragen mochte, oder der Offizier eines Schiffs. Aber dieser Gürtel ist ebenfalls abgenutzt, dachte Jimmy und war froh, etwas zu haben, was ihn von seinem kalten, nassen Elend ablenkte. Da ist diese Stelle, die wie poliert aussieht und ein wenig verzogen ist. Dort hing einmal eine Schwertschlinge. Der Mann hielt sich ebenso wie Jimmy von den anderen Passagieren fern, wenn auch wahrscheinlich aus anderen Gründen, und wenn die
See ungewöhnlich rau wurde, half er den Seeleuten und erwies sich dabei als ausgesprochen fähig. Ansonsten verbrachte er die Zeit entweder damit, aufs Meer hinauszuschauen oder den jungen Dieb anzustarren. Jimmy fing an, das höchst ärgerlich zu finden. Außerdem beunruhigte es ihn. Nachdem er sich in Krondor von Flora getrennt hatte, hatte er sein Gold aus dem Versteck geholt, einen größeren Teil davon in Silber umgewechselt, und das meiste davon hatte er an seinem Körper versteckt. Es gab Zeiten, zu denen er glaubte, der Fremde müsste irgendwie wissen, dass er über hundertfünfzig Münzen in Silber und Gold bei sich trug, obwohl es eigentlich unmöglich war, dass ihm das jemand ansah, es sei denn, die Person hatte beobachtet, wie er das Gold hatte wechseln lassen. Jimmy wirkte ganz bestimmt nicht reich; Flora hatte ihm Kleidung aus einem Geschäft gebracht, in dem kleine Ladenbesitzer und Handwerker Sachen aus zweiter Hand kauften. Sicher, er hatte eine Menge Taschen, aber alle Jungen mochten Taschen, seien es einfache Stadtjungen oder Spötter. Und eine Menge Taschen zu haben bedeutete noch nicht, dass sie alle voller Geld steckten, selbst wenn das bei ihm der Fall war. Diese Situation hat nur ein Gutes: Wenn er mich wirklich 129 ausrauben will, wird er es hier an Deck vor dem Kapitän, der Besatzung und vielleicht auch Flora machen müssen. Und es würde auch einige Zeit dauern, denn als einer der besten Taschendiebe von Krondor wusste Jimmy, wie wichtig es war, seine Habe zu verteilen. Mit nicht weniger als zwölf Taschen - darunter nicht einmal die, die er selbst eingenäht hatte - hatte er viele Stellen, um sein Gold zu verstauen. Sicher, wenn er über Bord fiele, würde er versinken wie ein Stein, aber man konnte eben nicht alles haben. Außerdem hatte der Gedanke an Ertrinken für jemanden, der sich so schlecht fühlte wie er, durchaus etwas Anziehendes an sich. Jimmy klammerte sich an die Reling und warf dem Fremden einen Seitenblick zu, der mit dem Rücken zum Hauptmast saß. Der Mann bemerkte seinen Blick und erhob sich mit einer einzigen fließenden Bewegung. Als er näher kam, nahm der Fremde etwas aus dem Beutel an seinem Gürtel. Jimmy spannte sich an. Der Mann hielt ihm einen Lederstreifen hin. »Lass mich dir das anlegen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, griff er nach Jimmys linkem Handgelenk, schnallte den Lederstreifen darum und rückte
ihn noch ein wenig zurecht. »Ich kann das einfach nicht mehr mit ansehen, Junge«, sagte der Mann. Seine Stimme war tief und freundlich. Jimmy konnte spüren, dass sich etwas wie ein kleiner Stein leicht an sein Handgelenk drückte. Er sah den Fremden misstrauisch an. »Lass es dort, und in ein paar Stunden hat dein Problem ein Ende.« »Ist das Magie?«, fragte Jimmy Der Mann schnaubte. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Den Trick hat mir ein alter Seemann aus Kesh gezeigt, und ich würde mein letztes Silber verwetten, dass der nichts Magisches an sich hatte.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Jarvis Coe.« 130 Jimmy schüttelte ihm schwach die Hand. »Wenn das funktioniert, Meister Coe, stehe ich für immer in Eurer Schuld.« In diesem Augenblick hob sich das Schiff hoch aus den Wellen und sackte dann steil wieder ab, ebenso wie Jimmys Magen. Als er sich umdrehte, war Jarvis Coe verschwunden. Er starrte mit großen Augen das Armband an. Scheint nicht zu funktionieren, dachte er kläglich, wandte den Blick wieder dem Horizont zu und sann über einen weiteren Schluck Brühe nach. Aber vielleicht würden das Starren zum Horizont und der Kiesel an seinem Handgelenk ja doch helfen, damit er die Seereise zumindest überlebte ... Es funktioniert!, dachte Jimmy eine Stunde später begeistert. »O ihr Götter, es funktioniert!«, murmelte er. Er schaute hinab auf seine Schale. Darin befand sich ein bisschen Eintopf, die unvermeidliche Nahrung eines Reisenden, in dem Bohnen, getrocknete Tomaten und Stücke von Salzfisch herumschwammen, und all das bewirkte nicht, dass er das Bedürfnis hatte, stöhnend zur Reling zu kriechen! Selbst das sich windende Ding, das aus seinem Zwieback gefallen war, als er ihn auf den Tisch getippt hatte, wie es die anderen taten, widerte ihn nicht an, und das wäre in Krondor sicher der Fall gewesen. Jetzt fühlte er sich einfach nur ... »Ausgehungert«, flüsterte er. »Es ist so lange her, dass ich ganz vergessen habe, wie sich Hunger anfühlt!« Flora warf ihm einen neugierigen Blick zu. Die Passagiere nahmen ihre Mahlzeiten an einem Tisch im Flur vor der Kabine des Kapitäns ein; Jimmy lächelte Flora an und sah, wie sie das Lächeln erwiderte, als er seinen Löffel in die Schale tauchte und methodisch alles darin aufaß. Es war keine große Mahlzeit gewesen, aber er fühlte sich
dennoch vollkommen satt. Das Wichtigste war jedoch, dass das Zeug unten blieb. Flora rüttelte ihn wach, bevor er mit dem Gesicht in die Schale fiel. »Komm mit, Bruder«, sagte sie und half ihm hoch. 131 Als er unter den kratzigen braunen Decken in seiner Koje wieder zu sich kam, sagte ihm etwas, dass er mehr als zwölf Stunden geschlafen hatte. Seine Kleidung war feucht und kalt, als er sie in der kleinen Schachtel, die irreführend als Kabine bezeichnet wurde, anzog, aber so etwas war ihm nicht fremd, und er tänzelte beinahe, als er den Flur entlang- und die steilen Leiterstufen zum Deck hinaufging, um sich nach seinem Wohltäter umzusehen. Er ging umher und schaute den Seeleuten bei der Arbeit zu: Es war immer angenehm, andere schwitzen zu sehen. Es war so erfreulich, nicht mehr seekrank zu sein, dass die ganze Welt eine rosigere Färbung annahm. Der junge Dieb kam zu dem Schluss, dass die Reise nach Meersburg doch noch angenehm werden könnte. Die Forderung des Nachtmeisters, er solle Krondor verlassen, hatte ihn einfach erschreckt, und für eine Weile hatte er sich Sorgen gemacht, dass er niemanden und nichts Vertrautes um sich haben würde. Er hatte nicht wirklich Angst gehabt, er war einfach ... überrascht gewesen. Außerdem konnte er mit Landeiern ziemlich gut umgehen, wenn welche nach Krondor kamen; warum sollte er jetzt mit ihnen Probleme haben, nur weil sie zu Hause blieben? Bei Ruthia, das hier wird ein Abenteuer sein, dachte er. Wenn ich wieder heimkomme, werde ich ein paar gute Geschichten zu erzählen haben. Dass er sich darauf freute, nach Hause zu kommen, bevor er auch nur sein Ziel erreicht hatte, ließ ihn lächeln. Jimmy konnte den meisten Leuten etwas vormachen, aber niemals sich selbst. Also gut, dachte er. Diese Sache ist nichts, wozu ich mich freiwillig entschieden hätte. Aber es ist mir schon öfter gelungen, Pech zu meinem Vorteil zu wenden. Warum sollte das hier anders sein? Er sah sich um: Immer noch keine Spur von Coe, und er war nun den größten Teil des Morgens an Deck gewesen. 132 »Wo ist der Bursche, der gestern hier am Mast gehockt hat?«, fragte er einen vorbeigehenden Seemann. »Ich nehme an, in seiner Kabine«, brummte der Mann und eilte vorbei. »Ich bin doch nicht sein Kindermädchen.«
Es macht wohl nicht so viel Spaß, mit mir zu reden, wenn ich nicht gerade kotze, dachte Jimmy boshaft. Dennoch, es war seltsam. An einem Tag konnte man dem Mann kaum ausweichen, am nächsten war er verschwunden. Es gefiel Jimmy nicht. Solches Verhalten war verdächtig. Es erinnerte ihn zu sehr an Radburns Leute. Sein gequälter Magen zog sich bei dem Gedanken aufs Unangenehmste zusammen, und er dachte: Ihr Götter, nicht schon wieder! Ich dachte, ich wäre geheilt. Aber es war nicht Seekrankheit, was das Gefühl bewirkt hatte. Es war der Gedanke, dass ihm jemand von Bas-Tyras Geheimpolizei gefolgt sein mochte, der ihn so beunruhigte. Jimmy kannte viele von Radburns Spionen vom Sehen und konnte die anderen für gewöhnlich nach einiger Zeit an ihrem Verhalten erkennen. Aber kannten sie ihn ebenfalls? Er versuchte den Gedanken abzutun. Im Augenblick sah er vollkommen ehrbar aus, und das bedeutete: nicht wie er selbst. Und wenn er sprach - was dank seiner Krankheit nicht oft vorgekommen war -, hatte er darauf geachtet, wie ein wohlerzogener Junge zu reden. Es gab absolut keinen Grund, dass jemand ihn für einen Spötter halten sollte. Flora hatte lange Zeit eine bürgerliche Familie und in letzter Zeit genügend mit Herren von Rang zu tun gehabt, so dass sie sich wie ein Mädchen aus gutem Hause ausdrücken konnte. Sie hatte ihn ganz bestimmt nicht durch Straßenjargon verraten, und sie hatte nicht ein einziges Mal geflucht, seit sie ihre Hurenkleider gegen ein bescheidenes Kleid, Schultertuch und Hut getauscht hatte. Außerdem, wenn Coe ihn kannte, wieso hatte er ihn dann nicht schon im Hafen verhaftet oder ihn einfach über Bord geworfen? !33 Das wäre leicht gewesen, dachte Jimmy Hölle und Dämonen, ich hätte mich sogar bei ihm bedankt! Und dennoch, es war seltsam, dass dieser geheimnisvolle Fremde nun verschwunden war, nachdem er kurz mit Jimmy - gesprochen hatte. War Coe nur ein besorgter Mitmensch, der den jungen Dieb im Auge behalten hatte, um sicherzugehen, dass er nicht über Bord fiel? Nun, da er Jimmy ein Heilmittel gegen die Seekrankheit gegeben hatte, hatte sich der Mann vielleicht entschlossen, in die relative Bequemlichkeit seiner Kabine zurückzukehren. War das verdächtig? Jimmy verzog das Gesicht. Er fand es immer verdächtig, wenn Fremde großzügig waren. Es war jedoch hin und wieder nützlich,
musste er gestehen. Besonders, wenn solch großzügige Fremde naiv und leicht zu manipulieren waren. Coe sah jedoch nicht aus wie jemand, der sich ausnutzen ließ. Tatsächlich sah er aus wie jemand, der es einem ordentlich heimzahlen würde, wenn man es versuchte. Jimmy konnte so etwas bei einem Mann riechen. Der junge Dieb schnaubte frustriert. Konzentrier dich, befahl er sich. Wenn einer von Radburns Spionen ihn gesehen hatte und wusste, dass er ein Spötter war, und außerdem wusste, was er getan hatte, was unwahrscheinlich war - nein, unmöglich -, wäre er fraglos sofort festgenommen worden. Es gab keinen Grund, dass ein Geheimpolizist ihm bis nach Meersburg folgen sollte. Aber was, wenn einer von Radburns Spionen ohnehin auf dem Weg nach Meersburg war? Meersburg war ein Außenposten nahe der Grenze nach Kesh. Genauer gesagt gehörte es zur Domäne des Lords des Südlichen Grenzlands, Herzog Sutherland, aber der Herzog hielt sich überwiegend in Rillanon auf, aus politischen Gründen, die Jimmy nicht verstand oder die zu uninteressant waren, als dass er sie verstehen wollte./^, vielleicht ist es das, dachte er. Vielleicht versucht Guy du Bas-Tyra nur, seinen Einflussbereich zu vergrößern. Jimmy 134 beobachtete, wie die Wasserhügel sich hoben und senkten, und genoss nun tatsächlich die schlauen Manöver des Schiffs, das ihrer Bewegung folgte. Er versuchte weiterhin darüber nachzudenken, was der Herzog vielleicht plante, aber das langweilte ihn schon bald. Es war im Grunde überraschend, dass er sich überhaupt für solche Dinge interessierte. Bevor er Prinz Arutha begegnet war, hatte er keine Ahnung davon gehabt, wie es sein musste zu herrschen, aber er hatte eine Reihe von Abenden damit verbracht zuzuhören, wie sich Arutha, Martin Langbogen und Arnos Trask über Staatsangelegenheiten unterhielten. Er fand es faszinierend, und von Zeit zu Zeit fragte er sich, ob er wohl ebenfalls imstande wäre, die Entscheidungen zu treffen, die sie treffen mussten, Entscheidungen, die die Zukunft ganzer Nationen verändern konnten. Nein, dachte er dann, die Frage nach Bas-Tyras Absichten langweilte ihn nicht; er war nur frustriert, dass er nicht genug Informationen hatte, um besser darüber spekulieren zu können. Er grinste über einen albernen Gedanken: Vielleicht werde ich Prinz Arutha eines Tages wieder begegnen. Das wäre interessant. Prinz Arutha würde wissen, was Herzog Guy vorhatte, und Jimmy würde ihn über solche
Dinge ausfragen können. Aber bis dahin ging es Jimmy nichts an, was der Herzog vorhatte. Sich in die Angelegenheiten der Mächtigen einzumischen hatte ihm und seinesgleichen nur Ärger eingebracht. Sicher, er war froh, dass Prinzessin Anita frei und in Sicherheit war, aber die Spötter hatten teuer dafür bezahlt, vielleicht zu teuer. Und obwohl ihm Prinz Erland und seine Frau Leid taten, war es beinahe unmöglich, sie zu retten, und selbst, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte es die Dinge vermutlich nur noch schlimmer gemacht. Und dafür wäre ihm der Aufrechte Mann alles andere als dankbar gewesen. Nein, es war an der Zeit, sich wieder um Jimmy die Hand 135 zu kümmern, und das konnte er für gewöhnlich recht gut. Sollten sie doch planen und intrigieren; es hatte nichts mit ihm zu tun. Jimmy sah sich um, als er und Flora mit ihrem leichten Gepäck auf dem Kai in Meersburg standen. Die erste Straße, die am Hafen entlang verlief, war breit und gepflastert, aber die Steine waren von Hufeisen, eisenbeschlagenen Rädern und Schlittenkufen beinahe flach gerieben. Fuhrleute lenkten Wagen nahe an die Schiffe, um Fracht aufzunehmen und sie rasch zu Läden oder Lagerhäusern zu bringen, und die übliche Auswahl von Gesindel trieb sich am Rand herum. Jimmy entdeckte sofort zwei Jungen, die wahrscheinlich Taschendiebe waren, und einen, der der offensichtlichste Beobachtungsposten war, den Jimmy je gesehen hatte - vielleicht wollte er sehen, ob jemand Bestimmtes auf dem Schiff war oder ob eine bestimmte Fracht abgeladen wurde, um das dann einem anderen zu signalisieren, der wahrscheinlich einen halben Block weiter entfernt stand oder aus einem Fenster schaute. Jimmy verkniff sich ein Lächeln; wenn das das Beste war, was Meersburg zu bieten hatte, würde er vielleicht nicht nach Krondor zurückkehren, sondern hier bleiben und alles übernehmen. Die Möwen machten jede Menge Lärm - immer ein Zeichen für einen betriebsamen Hafen, wo es viele Abfälle gab. Grünblaues Wasser schlug an die Seiten der Schiffe, an das schwarze, von Algen und Muscheln überzogene Holz und an die Pfähle von Kai und Hafendamm; ein klatschender Unterton unter dem Lärm von Stimmen, Füßen und Hufeisen. »Nicht annähernd so groß wie Krondor«, erklärte Jimmy Ich komme aus der großen Stadt, dachte er. Das hier ist das Hinterland. »Und der Hafen ist auch nicht so gut geschützt.«
Die größten Schiffe hier waren nicht so groß wie die, die man in Krondor sah - die bauchige Lady von Krondor gehörte zu den größten -, und es gab hier auch mehr Schiffe aus 136 Kesh. Auf der Landseite der Hafenstraße standen zwei oder drei Stockwerke hohe Lagerhäuser, aus deren Giebeln Balken hervorragten, über die man Fracht nach oben ziehen konnte. Gerade wurde eine Ladung mit einem Flaschenzug heruntergelassen, ein großer Packen durchdringend riechender Häute. Ganze Reihen von Hafenarbeitern trabten beladen mit Ballen und Kisten vorbei; Tuch, Garn, gebündelter roher Flachs, getrocknetes Obst, Käse, Erz, Kupfer, Töpferwaren ... Schwerere Ladungen hingen in Netzen am Ende der Rahen, die für gewöhnlich die Segel trugen. Hinter den Lagerhäusern erhoben sich weitere Gebäude an Straßen, die sich steil die Hügel hinaufzogen. Hier und da konnte man einen Blick auf die Stadtmauern erhaschen, auf die Tore, das Weideland und den Wald dahinter. Jimmy schaute genauer hin und erkannte, dass es ganz oben auf den Hügeln Bauernhöfe gab, winzige, strohgedeckte Häuser, die von Weiden und Feldern umgeben waren. Er hatte noch nie zuvor einen Bauernhof aus der Nähe gesehen. »Es ist größer, als ich gedacht hatte«, sagte Flora ein wenig kläglich. Jimmy war froh, dass sie das gesagt hatte, denn es entsprach genau seinen Gedanken. Er schnaubte. »Es hat Krondor nicht gerade etwas voraus.« Er richtete sich auf. »Wir werden hier schön zurechtkommen.« Flora berührte seinen Arm und lächelte dankbar. Dann blickte sie zur Stadt, abermals unsicher geworden. Sie seufzte. »Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.« »Weißt du denn seinen Namen und seinen Beruf«, er zuckte die Achseln, »oder zumindest, was er früher getan hat?« Er hatte vorgehabt, an Bord mit ihr darüber zu sprechen, aber er war die meiste Zeit zu krank gewesen und den Rest der Zeit zu hungrig. »Ja«, sagte Flora. »Er war Anwalt, und er hieß Yardley Haywood.« 137 Oh. Das ist nicht gut, dachte Jimmy. Wenn ihr Großvater Anwalt war, hatte er bestimmt auch schon einige Verbrecher vor Gericht vertreten. Das bedeutete, dass er sehr wahrscheinlich erraten würde, was seine lange verlorene Enkelin getan hatte, um diese letzten Jahre zu überleben, ganz gleich, was sie sagte. Und was noch schlimmer war, er würde erraten können, was Jimmy tat.
»Yardley Haywood«, sagte er. »Das klingt wie der Name eines reichen Mannes.« Flora lachte. »Ja, nicht wahr?« Er griff entschlossen nach seinem Gepäck und nach einer ihrer Taschen, um die Illusion guter Erziehung weiter aufrechtzuerhalten, und nickte dann in Richtung Stadt. »Zunächst einmal sollten wir festen Boden unter die Füße bekommen. Ich kann spüren, wie sich dieser Kai bewegt, und es macht mich nervös.« »Das ist nicht der Kai, Junge«, sagte Jarvis Coe mit einem Lächeln. Jimmy blinzelte überrascht. Zweimal. Einmal, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie es dem Mann gelungen sein sollte, ihm so nahe zu kommen, ohne dass er es bemerkte, und das zweite Mal wegen der subtilen Veränderung. Coes Kleidung war ein winziges bisschen besser als die Sachen, die er auf dem Schiff getragen hatte; vielleicht, weil er die hohen Stiefel eines Reiters, einen langen dunklen Umhang mit Kapuze und außerdem eine flache Tuchmütze mit einer Pfauenfeder hinzugefügt hatte. Aber wahrscheinlich lag es vor allem daran, dass er nun das Schwert trug, von dem Jimmy schon vermutet hatte, dass er es besaß: eine schlichte, schmale Klinge mit einem gebogenen Handschutz in einer ebenso schlichten Lederscheide, und dazu einen passenden Dolch auf der anderen Seite - einen neun Zoll langen Kampfdolch, und nicht das übliche Messer, wie es Leute für Alltagsarbeiten benutzten. 138 Coe sah immer noch nicht aus, als wäre er reich, und er wirkte nicht verdächtig, aber irgendwie wie ein vornehmer Herr. Er nahm die Mütze ab und verbeugte sich leicht vor Flora, die beinahe automatisch knickste. »So fühlt sich jeder, der auf einem Schiff gewesen ist. In ein oder zwei Tagen werdet ihr eure Landbeine wiederbekommen, wie die Seeleute sagen. Wo wollt ihr hin?« Die beiden jungen Spötter sahen ihn missbilligend an. Das hier gefällt mir überhaupt nicht, dachte Jimmy. Dieser Mann wechselt sein Aussehen zu leicht, einfach indem er einen neuen Umhang anlegt und die Art, wie er den Kopf hält, verändert. Coe lachte leise. »Ich nehme an, es geht mich nichts an«, sagte er. »Aber wenn ihr nach einer sauberen, billigen Unterkunft sucht, kann ich ein paar empfehlen.« Jimmy und Flora blickten einander an. Die Großzügigkeit von Fremden war besonders hier in unmittelbarer Nähe zu Groß-Kesh und seinen Sklavenhändlern ein wenig verdächtig.
Coe schaute sie an und nickte nachdenklich. »Also gut. Ich sehe schon, ihr werdet allein zurechtkommen. Aber wenn ich darf«, er nickte zu einem Gasthaus direkt am Hafen, »meidet den Roten Hahn.« Er legte einen Finger an seine Nase und zwinkerte. »Nur eine kleine Warnung.« Dann drehte er sich schwungvoll um und ging davon. »Wer ist das?«, flüsterte Flora. »Ich habe an Bord nie mit ihm gesprochen.« »Er heißt Jarvis Coe«, sagte Jimmy »Aber ich weiß nicht, wer er ist.« Er zupfte an dem Band an seinem Handgelenk, bis der Lederstreifen sich löste. Dann betrachtete er ihn sorgfältig. Der geringfügige Druck, den er an seinem Handgelenk gespürt hatte, kam von einem kleinen Stein, der ans Leder geklebt war. Der Stein sah vollkommen gewöhnlich aus, aber dennoch ... 139 Er warf ihn ins Wasser. Wer wusste schon, ob ein Gegenstand magisch war oder nicht und um welche Art von Magie es sich handelte? »Was war das?«, fragte Flora. »Etwas, das er mir gegen die Seekrankheit gegeben hat. Es hat funktioniert. Es war vielleicht magisch.« »Nun, das war nett«, sagte sie zweifelnd. Jimmy warf ihr einen Blick zu. Flora spähte stirnrunzelnd ins Wasser, dann schaute sie den Kai entlang. Jimmy folgte ihrem Beispiel und sah, dass Coe verschwunden war; er hatte sich nicht sonderlich beeilt, sondern war einfach weitergegangen und in der Menge verschwunden wie ein Nebelhauch. Etwas, womit ein Spötter sich auskannte. »Also gut«, sagte er. »Finden wir eine Unterkunft, wo wir unsere Sachen lassen können. Dann fangen wir an, nach deinen Verwandten zu suchen.« Grinsend wies er mit dem Daumen über die Schulter. »Aber was machen wir mit dem Roten Hahn? Es könnte sich als der sicherste Platz in der Stadt erweisen.« Flora griff nach ihrer Tasche und ging weiter. »Das wäre mal was Neues für eine Hafenschänke«, erwiderte sie. Jimmy nickte, dann hielt er inne. »Warte«, sagte er. Flora sah ihn fragend an; er sagte nichts, als er sich neben ihr Gepäck hockte und ein langes, schmales Bündel auspackte. Heraus kam das Rapier. Jimmy wickelte den Gürtel von der Scheide
und band ihn sich um die Hüften. Die Schlaufen, durch die die Scheide gesteckt wurde - eine Reihe von Schlingen auf einem dreieckigen Stück Leder, das in den Gürtel genäht war -, verhinderten, dass die metallene Verstärkung unten an der Scheide auf den Boden tippte, solange Jimmy die linke Hand auf den Griff legte. In ein paar Jahren, wenn er ausgewachsen war, würde er sich darum keine Gedanken mehr machen müssen, aber im Augenblick war er ein wenig kleiner als die meisten Schwertkämpfer. 140 »Ist das klug?«, fragte Flora. »Es ist ein Zeichen der Achtbarkeit«, sagte Jimmy, »oder zumindest der Tatsache, dass man mit mir rechnen muss.« Und es gibt in Meersburg keinen Aufrechten Mann, dachte der junge Dieb. Dämonen und Götter, ich habe wirklich genug davon, herumgeschubst zu werden! Sie machten sich auf den Weg und gingen ein Stück den Hügel hinauf, auf einer Straße, von der Jimmy annahm, dass sie sich als Hauptdurchgangsstraße der Stadt erweisen würde. Er ging davon aus, dass es irgendwo weiter oben einen großen Marktplatz und in der Nähe ein empfehlenswertes Gasthaus gab. Er ließ den Blick schweifen, und wieder sah er die weit entfernten Bauernhöfe und fragte sich, wie es dort wohl zuging. Nach allem, was die Städter über Bauern erzählten, war ihr Leben recht langweilig. 7 Tragödie Das Mädchen blickte bei den Worten seiner Mutter auf. »Wenn du damit fertig bist«, sagte Melda Merford zu ihrer Tochter Lorrie, »will ich, dass du den Flachs aus dem Teich holst.« »Mutter, bitte!«, protestierte Lorrie. Sie war gerade dabei, die Feuerstelle des Bauernhofs auszufegen und wischte sich das Auge, wo ein Schweißtropfen brannte. Sie benutzte den Rücken des Handgelenks, denn ihre Hände waren schwarz, aber dennoch hinterließ die Bewegung einen Rußfleck auf der Wange. Die feine Asche drang ihr in die Nase und roch staubig wie alter Holzrauch, und Lorrie nieste: Die Feuerstelle zu säubern war keine schwere Arbeit, aber unangenehm. »Ich wollte heute auf die Jagd gehen.« Sie hatte ganz bestimmt nicht vorgehabt, schleimige Flachsbündel aus dem trüben Teich zu holen, wo sie zum Rotten lagen. Das war nie eine angenehme Aufgabe, aber es würde noch widerwärtiger
sein, weil sie schon auf einen Spaziergang im kühlen Wald gehofft hatte. »Nein«, sagte Melda, ohne sie anzuschauen. Sie schüttete grob gemahlenes Mehl aus einem Kasten in eine hölzerne Rührschüssel. »Ich will nicht, dass du allein dort im Wald herumschleichst.« Lorrie setzte sich erstaunt auf. »Warum nicht?« 142 »Du bist zu alt, um dich noch wie ein Junge rumtreiben zu können«, erklärte ihre Mutter ruhig. »Außerdem müssen wir diesen Flachs fertig machen. Wenn wir genug Leinen und Garn herstellen und es auf dem Markt verkaufen, können wir unsere Steuern zahlen.« Sie sah Lorrie stirnrunzelnd an. »Wir wollen den Hof doch nicht verlieren, wie es den Morrisons passiert ist.« Lorrie wandte sich ab, und ihr Blick war nun ebenso finster wie der ihrer Mutter. Die Morrisons hatten ihren Hof verloren, weil sie die Steuern nicht zahlen konnten, und das hatte die ganze Gemeinde schockiert. In der letzten Zeit hatten viele Leute ihre Höfe verloren, aber niemand aus der Nähe, bis das mit den Morrisons passiert war. Die Leute hatten immer angenommen, dass Leute ihre Höfe verloren, weil alle Söhne in den Krieg gezogen waren, oder vielleicht weil diese Bauern faul waren, aber nichts davon konnte man von den Morrisons behaupten; sogar der Kleinste hatte mitgearbeitet. Die Steuern waren in den letzten paar Jahren einfach immer höher geworden, selbst vor dem Krieg, und je kleiner der Bauernhof war, desto schwieriger wurde es, sie zu bezahlen. Nun fiel es selbst einem mittelgroßen Betrieb wie dem der Merfords schwer, die Schuld zu begleichen. Dennoch, es war nicht wirklich dringend, den Flachs aus dem Teich zu holen. »Wir haben kaum mehr frisches Fleisch«, widersprach Lorrie. Auch das war kein dringliches Problem - sie waren keine Adligen oder reichen Kaufleute, die jeden Tag frisches Fleisch aßen -, aber Wildfleisch half zweifellos, das Essen zu strecken, das von den Feldern kam. Je mehr sie verkaufen konnten, statt es selbst zu essen, desto besser würde es ihnen gehen. Die paar Kupferstücke für Getreide, das verkauft und nicht in Brot verwandelt wurde, konnten darüber entscheiden, ob sie die Steuern bezahlten, aber im Winter hungern mussten, oder ob sie bezahlten und dennoch genug übrig 143 blieb, um Fisch aus der Stadt und Käse von den Milchbauern zu
kaufen. Ihre Mutter biss sich auf die Unterlippe und verdrehte die Augen. »Es ist gefährlich für ein Mädchen deines Alters, allein im Wald herumzurennen. Wer weiß, wem du dort begegnest, und dann ist niemand in der Nähe, der dir hilft.« »Das heißt also, wenn Bram aus Meersburg zurückkommt, kann ich mit ihm gehen?« »Nein! Ganz bestimmt nicht!«, erklärte Melda mit fester Stimme. »Wenn überhaupt, dann wäre das noch schlimmer.« Lorrie stand auf, drehte sich zu ihrer Mutter um und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich kann also nicht allein gehen, weil es gefährlich ist, und ich kann nicht mit einem Freund gehen, den ich mein ganzes Leben lang kenne, weil es schlimmer als gefährlich wäre?«, fragte sie sarkastisch. »Das ist doch Unsinn, Mutter.« »Lorrie«, sagte ihre Mutter müde. »Du wirst erwachsen. Und leider gibt es bestimmte Dinge, die ein Mädchen tun kann, aber eine junge Frau nicht. Eins davon ist, sich weiter mit den Jungs rumzutreiben, mit denen sie aufgewachsen ist. Das war in Ordnung, als du noch ein Kind warst. Aber wenn du älter wirst, wollen manchmal... die gleichen Jungen, wenn sie älter werden« - Melda seufzte und schaute ihrer Tochter in die Augen - »bestimmte Dinge.« Lorrie verdrehte die Augen. Sie war ein Bauernkind und hatte die Tiere beobachtet, seit sie kriechen konnte. »Mutter, ich weiß von diesen ... Dingen.« »Das macht es nur noch gefährlicher. Du denkst, du kennst dich mit dem aus, was zwischen Männern und Frauen geschieht, aber das tust du nicht. Es hat nämlich nichts damit zu tun, einen Stier und eine Kuh oder einen Hahn und eine Henne zu beobachten. Es hat damit zu tun, innerlich ganz verrückt zu werden, wenn ein Junge dich anlächelt, und zu vergessen, was du zu wissen glaubst. Du bist ein gutes Mädchen aus ei144 nem guten Zuhause, und eines Tages, wenn der richtige Junge um deine Hand bittet, wirst du froh darüber sein. Ich bin deine Mutter, und es ist meine Pflicht und die deines Vaters, dir zu sagen, was richtig und was falsch ist. Und bis du verheiratet bist und von uns wegziehst, werden wir diese Pflicht erfüllen.« Sie holte tief Luft und erwartete eine Explosion. Aber Lorries Antwort war eisig. »Du sagst also, dass ich von jetzt an nicht jagen gehen darf, obwohl ich das sehr gut kann und es bereits
getan habe, als ich noch jünger war als Rip; aber ich muss zu Hause bleiben und all die schmutzigen, stinkigen, langweiligen Arbeiten machen, die du dir ausdenkst, nur weil ich eine Frau bin? War es das, was du damit sagen wolltest?« »Du wirst die Arbeiten erledigen, die ich dir auftrage, weil du meine Tochter bist und das dein Platz in diesem Haus ist. Deine Hände werden hier heute gebraucht, und ich will kein Wort mehr darüber hören. Also kümmere dich um die Feuerstelle, und dann gehst du runter zum Teich.« Melda hatte die Arme über der breiten Brust verschränkt, starrte Lorrie zornig an und hoffte, keinen Widerspruch mehr zu hören. Sie hätte sich wahrscheinlich schon früher um diese Dinge kümmern sollen, aber Lorrie ging so gerne in den Wald. Genau wie sie selbst, als sie ein Mädchen gewesen war. Melda hatte nie vergessen, wie weh es getan hatte, das aufzugeben. All diese Freiheit, dachte sie sehnsüchtig. Sie verbiss sich ein Seufzen. Nun, jetzt kümmerte sie sich darum. Mit einem letzten wütenden Blick und einem Schmollmund kniete Lorrie sich wieder hin und machte sich an die Arbeit, aber sie ließ ihre Mutter mit brüsken Bewegungen und unnötigem Krach wissen, wie ihr zumute war. Schließlich stand sie mit einem letzten Klappern der Holzschaufel auf und trug den Ascheneimer schweigend aus der Küche. Kein Jagen mehr, wie?, dachte sie wütend. Das werden wir noch sehen. Der Flachs würde sich auch noch bis morgen im Teich hal145 ten. Mutter würde wütend auf sie sein - sehr, sehr wütend -, aber frisches Fleisch würde helfen, sie zu beruhigen, besonders, wenn Lorrie einen Fasan heimbrachte. Lorrie kippte die Asche in das Fass, wo diese darauf wartete, ausgelaugt zu werden, damit die Pottasche für die Herstellung von Seife verwendet werden konnte, und brachte den Eimer wieder ins Haus. Dann ging sie zur Scheune und holte den Rechen, um die Flachsbündel aus dem Teich zu fischen, und die Plane, um sie aufs Trockenfeld zu tragen. Sie steckte auch ihre Schleuder und einen Beutel Steine unter ihre Schürze, dann eilte sie zum Röttteich. Auf dem gestampften Boden des Hofs lagen diverse Gegenstände ein zerbrochener Pflug, ein altes Rad, Bündel von Holzspänen -, aber sie ging an ihnen und an den herumpickenden Hühnern vorbei, ohne wirklich hinzusehen. All das hier war ihr so vertraut, ebenso wie die
Gerüche - das Räucherhaus, die Latrine, der Dunghaufen. Zu vertraut; im Augenblick kam ihr alles wie ein Gefängnis vor. Lorrie wusste, dass ihre Mutter sie durch die Ritzen zwischen den verzogenen Latten des Fensterladens beobachtete, und sie wusste auch genau, wie sie sich fühlte. Verärgert, so fühlte Mutter sich. Dieser Tage flogen zwischen Lorrie und ihrer Mutter häufig die Funken. Aber was kann ich dagegen tun?, fragte sich Lorrie. Es heißt immer »Du bist beinahe eine Frau« oder »Du bist beinahe erwachsen«. Und dabei behandeln sie mich mehr als je zuvor wie ein Kind. Wer würde da nicht die Nerven verlieren? Und jetzt soll ich plötzlich nicht mehr jagen dürfen. Nicht mal mit, nein, besonders nicht mit Bram! Das ist einfach nicht richtig. Als sie brütend den von einer Hecke gesäumten Weg entlangging, bemerkte Lorrie plötzlich die Anwesenheit ihres kleinen Bruders und seufzte. Lorrie hatte diese Begabung, immer deutlich spüren zu können, wo sich ihre Verwandten befanden und wie sie sich fühlten; das hatte sie von ihrer Ur146 großmutter geerbt, die insgeheim eine Hexe gewesen war - das hatte zumindest Lorries Mutter behauptet. Lorrie wusste immer, wann ihre Mutter an sie dachte oder in der Nähe war. Aber besonders war sie sich ihres kleinen Bruders Rip bewusst. Im Augenblick spürte Lorrie, dass er sich auf sie konzentrierte wie ein Pfeil, der auf sein Ziel zurast. Na wunderbar, dachte sie und verzog unwillig den Mund. Ihr Bruder würde am nächsten Mittsommertag sieben werden, aber er wusste bereits, wie man andere erpresste, und war dabei überraschend geschickt. Sie würde also am Flachs arbeiten müssen, bis er sich zu sehr langweilte oder der Geruch ihn anwiderte und er davonging. Aber wenn ich erst anfange, kann ich auch gleich weitermachen, dachte sie. Sobald man diesen Geruch an sich hatte, half nur noch Seife. Und der Gestank trieb auch unempfindlichere Geschöpfe als die Vögel und Kaninchen, die sie jagen wollte, in die Flucht; vielleicht sogar die Räuber und Mörder, vor denen sich ihre Mutter so fürchtete. Jedenfalls wäre es sinnlos, noch auf die Jagd zu gehen, wenn sie erst mit dem Flachs angefangen hatte. Rip war rechts von ihr und schlich sich in dem überwachsenen Obstgarten von Busch zu Busch. Er wusste bereits, dass sie ihn bemerkt hatte, denn er konnte sie ebenso deutlich spüren wie sie ihn.
Manchmal glaubte sie sogar, dass er es noch erheblich besser konnte. Lorrie sprach ihn nicht an, weil sie Zeit brauchte, um eine Idee zu finden, wie sie ihn loswerden konnte. An der letzten Reihe von Johannisbeersträuchern sprang er mit einem lauten »Ha!« aus dem Gebüsch. Er hatte die Hände über dem Kopf erhoben und zu Klauen gebogen. Lorrie zog nur die Brauen hoch und ging ohne Kommentar weiter. Nach einem Augenblick holte er sie ein. »Darf ich mitkommen?«, fragte er und hüpfte dabei vor Aufregung auf und ab. 147 »Willst du mir etwa helfen, Flachs zu säubern?«, fragte sie zweifelnd. Rip lachte, und Lorrie verzog das Gesicht. Er wusste es, wie er immer wusste, wenn sie etwas vorhatte. »Es ist dreckig und stinkig«, warnte sie. »Du gehst auf die Jagd!«, bezichtigte er sie, dann hielt er sich die Hand vor den Mund, um sein Grinsen zu verbergen. »Wie kommst du denn darauf?« Rip verdrehte angesichts ihrer gekünstelt lässigen Haltung die Augen, stemmte die Hände in die Hüften und bedachte sie mit einem Blick solch erwachsener Herablassung, dass sie lächeln musste. »Du hast versprochen, dass du mir beibringst, wie man jagt und Spuren liest«, sagte er. »Das hast du gesagt.« Sie nickte und war plötzlich traurig. »Ich weiß. Und wenn ich Papa überreden kann, werde ich es immer noch tun.« Sie blieb stehen und sah ihn an. »Das meine ich ehrlich, Rip.« Er senkte den Blick und schob mit seinem nackten Fuß die Erde hin und her. »Ich weiß«, murmelte er. »Aber wenn das hier das letzte Mal ist ...«Er sah sie unter den Lidern her an, und sie erkannte, was für ein hübscher Junge er war und dass er das wusste. Er hatte diese langen Wimpern schon mehr als einmal eingesetzt, um etwas von seinem Vater oder der Mutter zu ergattern. Sie lächelte. »Das hängt von Papa ab.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn du heute mitgehst, werden wir nur beide bestraft.« Er dachte darüber nach und schob dabei den Fuß immer noch hin und her. Lorrie beobachtete ihn mitleidig. »Wenn Bram von seinem Onkel in Meersburg zurückkommt, werde ich ihn bitten, dich mitzunehmen. Heh«, sie stieß ihn sanft an der Schulter an, »vielleicht kann ich auf
diese Weise ebenfalls mitkommen.« 148 Er rieb sich die Schulter und lächelte bedauernd. »Schon gut«, sagte er. »Dann werden wir das versuchen«, erklärte Lorrie entschlossen. »Aber heute wäre es eine schlechte Idee.« Rip nickte weise. »Ja, du wirst Ärger kriegen.« Er dachte darüber nach und fügte dann hinzu. »Du wirst mächtig Ärger kriegen.« Er blickte sie an, der Ausdruck auf seinem Gesicht irgendwo zwischen Ehrfurcht und Zweifel. Lorrie erkannte an der leichten Veränderung in seiner Miene, dass er nun gleich versuchen würde, noch mehr für sich herauszuschlagen, und kam ihm zuvor. »Wenn du mich verrätst, werde ich Bram sagen, er soll dich nicht mitnehmen. Niemals. Und du weißt, dass er auf mich hört.« Rip runzelte die Stirn und sah sie nachdenklich an. Lorrie verschränkte die Arme, erwiderte den Blick und zog dabei eine Braue hoch. Er versuchte erfolglos, das zu imitieren, und gab einen Augenblick später mit einem frustrierten Zischen auf. »Also gut«, murmelte er verärgert. »Aber wenn Mama mich fragt, wo du bist, werde ich nicht lügen.« »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Lorrie und griff nach Rechen und Plane. »Sag ihr die Wahrheit; sag ihr, dass du nicht weißt, wo ich bin. Und du wirst es nicht wissen.« Sie grinste und zauste das Haar ihres Bruders, was diesen gewaltig ärgerte. »Du wirst es nicht bereuen, Rip, das verspreche ich dir.« Er schnaubte, und einen Augenblick später drehte er sich um und marschierte davon. Lorrie lächelte, ging weiter zum Teich und auf den verlockenden Wald dahinter zu, wobei sie ein Tanzlied summte. Rip war verwirrt und ein bisschen zornig. Warum durfte Lorrie nicht mehr jagen gehen? Und wenn das wirklich nicht mehr möglich war, wieso konnte sie nicht noch ein bisschen warten, bis sie ihm alles beigebracht hatte, was sie wusste? 149 Und was war es, das die Jungen von Lorrie haben wollten? Ihr Jagdmesser? Rip wollte Lorries Jagdmesser unbedingt. Es hatte einen Hirschhorngriff und eine sieben Zoll lange Stahlklinge, die man so scharf schleifen konnte, dass sie wirklich alles schnitt. Eines Tages würde es vielleicht ihm gehören, aber jetzt noch nicht. Wenn Lorrie zu alt war, bestimmte Dinge zu tun, war er bestimmt immer
noch »zu jung«. Er schaute über die Schulter in die Richtung, in die seine Schwester gegangen war. Er hoffte, dass alles in Ordnung war. Mama hatte geklungen, als mache sie sich wirklich Sorgen um Lorrie. Selbst wegen Bram. Warum sollte sie sich wegen Bram Sorgen machen?, fragte sich Rip. Bram war der beste Mensch, den er kannte, und er mochte Lorrie, das sah man ihm an. Rip schüttelte den Kopf. Erwachsene machten sich wegen aller möglichen Dinge Sorgen, die er nicht verstand. Und Fragen zu stellen machte alles nur noch schlimmer. Mit einem Seufzen sah Rip sich um. Er hatte seine Arbeiten erledigt, also hatte er bis zum Mittagessen Zeit zum Spielen. Ich bin ein Krieger, beschloss er und galoppierte auf einem Fantasiepferd davon, um die Eindringlinge aus der anderen Welt zu töten. Er griff nach einem Stock und fuchtelte begeistert damit herum. »Aha! Schurken! Ihr wollt wohl meine Burg angreifen?« Und der Kampf zur Rettung des Königreichs begann. Kommt zu Lorrie, dachte das Mädchen. Das Kaninchen war jung, rundlich und selbst für Karnickelmaßstäbe nicht sonderlich intelligent. Im Augenblick hüpfte es träge durch das Unterholz am Waldrand, das vom ersten Frühlingswachstum sattgrün war, knabberte hier an Beeren und dort an Schösslingen. Und es stand kurz davor, das Kaninchenparadies zu entdecken - ein wildes Brombeergebüsch. Jetzt! Das Kaninchen hatte den Kopf gesenkt, die Ohren nach 150 vorn geschoben und sich ganz auf das Fressen konzentriert. Die nächste Generation würde aufmerksamer sein. Lorrie hatte die Schleuder bereit, einen runden Kieselstein schon eingelegt, die innere Schnur sicher zwischen Daumen und Zeigefinger gefasst, die äußere mit den mittleren Fingern an die Handfläche gedrückt. Sie kam mit einer glatten, fließenden Bewegung auf die Beine, und die Schleuder bewegte sich mit. Dann verschwamm sie, als Lorrie Arme, Schultern und Oberkörper in die Bewegung legte und einen vollen Kreis um ihren Kopf beschrieb. Das Kaninchen erhob sich auf die Hinterbeine. Seine Augen und Ohren zuckten, weil es feststellen wollte, woher das Geräusch kam, und Grünzeug fiel aus seinem immer noch arbeitenden Maul. Wupp! Der Stein schoss in eine lang gezogene Kurve, bewegte sich so
schnell, dass man nur noch einen grauen Streifen sehen konnte. Er traf das Kaninchen seitlich am Kopf, gerade als es zum Springen ansetzte, schlug mit einem dumpfen Klatschen auf, das Lorrie immer zusammenzucken ließ. Dennoch, Essen war Essen, und das Kaninchen starb, bevor es mehr als einen Augenblick der Angst erlebte - sie hasste es viel mehr, wenn Schweine geschlachtet wurden, denn die Schweine waren schlau genug, um zu wissen, was die Vorbereitungen bedeuteten. Das Tierchen lag in den letzten Zuckungen, als Lorrie auf es zueilte. »Mindestens zwei oder drei Pfund«, sagte sie vergnügt und packte es an den Hinterbeinen. Eine gute Mahlzeit. Kanincheneintopf mit Kartoffeln und Kräutern, gegrillte Kaninchenschenkel, Kaninchenfleischpastete mit Zwiebeln und Möhren ... Auch die Innereien würden nicht verschwendet werden: Die Hunde und Schweine liebten sie, und die Knochen würden zerbrochen auf den Komposthaufen wandern. Ein guter Tag, dachte sie vergnügt. Vier Fasane und vier fet151 te kleine Karnickel. Und da sie sich nicht lange halten würden, würden sie die ganze Woche wie beim Erntefest schwelgen. Die Sonne stand tief am Horizont, als Lorrie sich unter eine grüne Eiche legte und in Tagträume versank. Bram würde bald von Meersburg nach Hause kommen, und sie stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er sie besuchte. Er brachte vielleicht ein kleines Geschenk mit, eine Haarnadel oder ein Stück Tuch für einen Schal, den sie bei einem Tanz tragen konnte. Wenn er nicht genug Geld für so etwas hatte, würde er ihr zumindest einen Strauß Wiesenblumen mitbringen. Er würde sie ihr mit diesem liebenswerten Lächeln überreichen und sie vielleicht küssen. Sie spürte, wie ihre Wangen bei dem Gedanken daran zu glühen begannen. Lorrie war fünfzehn und mehr als bereit darüber nachzudenken, wen sie einmal heiraten würde. Bram war der beste Kandidat in der Nachbarschaft. Er sah gut aus, kannte sich mit allem aus, was ein Bauer wissen musste, und war der Erbe eines guten Hofes. Er arbeitete schwer und war ehrlich, aber auch intelligent, und er hatte Sinn für Humor - eine Qualität, die das schwere Leben eines Bauern oft schon Männern, die jünger waren als der siebzehnjährige Bram, austrieb. Lorrie war sicher, dass er sie ebenso gern hatte wie sie ihn. Mit einem zufriedenen Seufzen erinnerte sie sich an sein hübsches Gesicht, sein goldenes Haar und dieses ganz besondere Lächeln, mit
dem er sich von ihr verabschiedet hatte. Brams Mutter Allet wollte, dass er seine Aufmerksamkeit auf die dicke, verwöhnte Merrybet Glidden konzentrierte, deren Vater den größten Bauernhof in der Gegend hatte und die sich aufführte, als hätte sie es nicht nötig zu arbeiten. Immerhin hatten die Gliddens drei Dienerinnen im Haus und ein Dutzend Landarbeiter. Lorrie lächelte grimmig; zweifellos wäre es dieser hochnäsigen Merrybet auch lieber, wenn Bram ihr den Hof machte statt Lorrie. Dann grinste sie und schmiegte die Schultern tiefer ins weiche Gras. Sowohl Brams 152 Mutter als auch Merrybet stand eine Enttäuschung bevor -Bram würde ihr gehören. Das wusste sie einfach. Lorrie seufzte. Es war Zeit zurückzukehren, selbst wenn sie früher dran war als beabsichtigt. Sie hatte geplant, bis kurz nach Einbruch der Dunkelheit draußen zu bleiben. Wenn das hier das letzte Mal sein sollte, dass sie alleine jagte oder überhaupt jagte, und sie ohnehin bestraft werden würde, fühlte sie sich auch nicht verpflichtet, Rücksicht zu nehmen. Sollten sie sich doch Sorgen machen, sagte sie sich. Sie hatte so viel Zeit wie möglich in der kühlen grünen Einsamkeit des Waldes verbringen wollen - es würde ihr so fehlen! Aber nun bekam sie doch ein schlechtes Gewissen. Sie wollte ihrer Mutter und ihrem Vater keine Sorgen bereiten. Papa würde geduldig die schlechte Laune ihrer Mutter ertragen, bis Lorrie auftauchte, und sich die Pläne ihrer Mutter für eine Strafe anhören, die mit jeder Minute, die verging, schlimmer wurden. Aber dann würden sie sich über Lorries Strafe streiten; jeder würde behaupten, dass der andere zu hart war, bis sie etwas beschlossen, das ihr kaum etwas ausmachte. Lorrie lächelte. Sie waren so berechenbar. Als sie aufstand, keimte ein seltsames Gefühl in ihr auf, floss den Hals hinunter und gerann in ihrem Magen. Zunächst glaubte sie, sie hätte es sich nur eingebildet, aber dann spürte sie so etwas wie Angst. Oder sogar mehr als Angst? Es war allerdings beinahe sofort wieder verschwunden. Lorrie war weit von zu Hause entfernt, so weit, dass das Gefühl von Rip kommen musste. Es erschreckte sie so sehr, dass sie begann zu laufen und dabei hektisch darüber nachdachte, was einen sechsjährigen Jungen so furchtbar erschrecken konnte. Nun, als sie näher am Hof war, wuchsen ihre Sorgen, bis sie
schließlich so schnell lief, wie sie konnte, und ihre langen, schlanken Beine sich bewegten wie die eines Rehs, als sie über Büsche sprang und durch eine Herde halb wilder Schweine rannte, die nach Eicheln wühlten. 153 Sie konnte Rip immer noch wahrnehmen, aber jetzt war es, als schliefe er, und mit plötzlicher Angst wurde ihr klar, dass sie ihre Mutter überhaupt nicht spüren konnte. Ihr Leben lang hatte dieser Kontakt bestanden, die Wärme der Präsenz ihrer Mutter irgendwo in einer Ecke ihres Geistes. Nie hatte sie dort diese Abwesenheit gespürt, wie die quälende Leere, die ein gezogener Zahn zurücklässt. Die Tasche mit den Kaninchen und Fasanen schlug gegen ihr Bein, ihre Lunge fing an zu brennen, und ihr Herz hämmerte. Dann bemerkte sie den Rauchgeruch. Was brennt da?, fragte sie sich. Lorrie blieb stehen und versuchte zu erkennen, woher der Rauch kam. Wenn es Mittwinter gewesen wäre, hätte sie angenommen, dass ihr Vater ein Feld abbrannte. Aber dafür war es viel zu spät im Jahr: Die neue Saat war bereits ausgesät, und ein Unkrauthaufen würde nicht so stark qualmen. Außerdem war es zu spät am Abend. Sie musste an die Asche denken, die sie an diesem Morgen ausgekehrt hatte. Nein, dachte sie. Das Fass war nicht groß genug, um so zu qualmen, und außerdem stand es direkt neben dem Wasserfass an der Dachrinne, die das weiche Regenwasser vom Dach zum Auslaugen auffing, und der Inhalt des Regenfasses ergoss sich direkt in den Aschebehälter, wenn man an einem Seil zog. Neues Entsetzen zuckte durch ihren Magen, als sie dachte: Das Haus brennt! Menschen starben in Feuern - alle paar Jahre gab es in der Gegend einen schlimmen Brand. »Mutter! Vater! Rip!« Sie keuchte vor Schreck. Sie ließ die Tasche mit dem Wild fallen, verließ den Weg, sprang über den Zaun, der das große Feld vom Wald trennte. Das Heu war geschnitten, die Stoppeln reichten ihr nur bis zur Wade, und sie rannte wie der Wind darüber hinweg. Als sie um eine riesige, uralte Eiche herumeilte - ihr Vater 154 hatte erklärt, es sei zu aufwändig, den Baum auszureißen, und hatte ihn als Markierung zwischen den Feldern stehen lassen -, blieb sie mit dem Fuß an einer Wurzel hängen. Sie schlug wild um sich, um das Gleichgewicht zu wahren, aber es war zu spät. Sie landete flach
auf dem Bauch, mit genügend Wucht, um sie zu betäuben, und sie konnte Blut im Mund schmecken, wo einer ihrer Zähne die Innenseite der Wange aufgerissen hatte. Keuchend blieb sie einen Augenblick liegen und wollte gerade wieder aufstehen und weiterrennen, als sie zwei Fremde sah. Es waren beides Männer - sie waren ein rau aussehendes Paar, und Lorrie ließ sich verängstigt wieder fallen. Der braune, selbst gewebte Stoff ihrer Kleidung würde auf dem Boden kaum zu sehen sein, und ihr Haar hatte beinahe die gleiche Farbe. Die Spätnachmittagssonne warf lange Schatten, und die Landschaft bestand nun aus einigen wenigen hellen Kanten vor undurchdringlicher Dunkelheit. Im Schatten der alten Eiche war Lorrie für die Männer unsichtbar. Wenn sie sie nicht gesehen hatten, als sie den Hügel hinunterlief, würden sie sie auch jetzt nicht bemerken. Mit ihrem fettigen Haar und den schmutzigen Kleidern und Gesichtern hätten die Männer aus einem der Albträume von Lorries Mutter stammen können. Sie waren jung und stark; Lorrie konnte die Muskeln an ihren Hälsen und Unterarmen sehen. Sie hatten sich über etwas am Boden gebeugt, das Lorrie nicht erkennen konnte, und einer zog ein Werkzeug aus einem fleckigen Sack. Es sah aus wie eine Zange mit langem Griff, wie sie der Schmied benutzte, aber mit einem breiteren Vorderteil. Einer der Männer packte den Griff des Werkzeugs, während der andere sich immer noch über das Ding am Boden beugte. Mit einem angewiderten Aufschrei riss der Mann das Werkzeug zurück, und etwas Nasses, Schlaffes hing im Griff der Zange. 155 Lorrie erkannte, dass es blutiges Fleisch war, und hielt entsetzt den Atem an. Wenn sie ein Schaf geschlachtet hatten, warum zerrissen sie es dann auf diese Weise? Warum zerschnitten sie es nicht mit den vollkommen brauchbar aussehenden Messern, die sie am Gürtel trugen? »Ich könnte kotzen!«, sagte der Mann mit der Zange. Er warf das zerrissene Fleisch in einen Sack und griff erneut mit dem Werkzeug zu. »Warum müssen wir es auf diese Weise machen?« Er warf einen weiteren Streifen Fleisch in den Sack. »Wir müssen es auf diese Weise machen«, sagte der andere und richtete sich wieder auf, »weil wir dafür bezahlt werden.« Er grinste, und Lorrie konnte seine Nagerzähne sehen. »Und wenn ich gewusst hätte, dass du ein Mädchen bist, hätte ich eine andere Verwendung
für dich gefunden.« Der einzige Kommentar des anderen bestand darin, dass er seinem Begleiter vor die Füße spuckte. Der zweite Mann betrachtete, was sie herausgerissen hatten. »Glaubst du, das reicht?«, fragte er. »Mir reicht's auf jeden Fall«, sagte der mit der Zange und ließ das Werkzeug wieder in den Sack fallen. »Verschwinden wir von hier.« Sie gingen davon, und Lorrie schaute ihnen hinterher. Sie wartete, bis die beiden hinter einer Hecke verschwunden waren, dann eilte sie zu der Stelle, an der sie gestanden hatten. Sie sah sich noch einmal nervös in alle Richtungen um, entdeckte einen der Fremden, der über den Hügel verschwand, hinter dem das Bauernhaus lag, und erstarrte. Sie hielt den Atem an, bis sie sicher war, dass die Männer weg waren, dann bewegte sie sich vorsichtig weiter, bis sie vor dem stand, was sie auseinander gerissen hatten. Einen Augenblick konnte Lorrie nicht einmal mehr atmen. Sie war so entsetzt, dass sie nur wusste, dass sie einen toten Menschen vor sich hatte. Doch dann erkannte sie ihn plötzlich. 156 Es war Emmet Congrove, ihr Helfer auf dem Hof. Sie erkannte ihn an der Kleidung, dem schütteren grauen Haar und an der Warze auf seinem rechten Handrücken, die immer entzündet war, wenn er daran kratzte. Er war seit Rips Geburt bei der Familie gewesen. Wie hatten diese Männer ihm das antun können? Wie konnte irgendjemand so etwas tun? Sie riss den Blick von den schrecklichen Wunden los, drehte sich zur Seite und presste die Hände auf den Mund. Dann sackte sie auf die Knie und übergab sich hilflos, würgte und schluchzte unkontrolliert. Schließlich war es vorbei, und Lorrie drückte die Hände auf den schmerzenden Magen und spuckte, um den schrecklichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ein plötzliches Aufflackern von Angst, die nicht ihre eigene war, ernüchterte sie. Rip! Lorrie sprang auf und eilte auf das Haus zu. Rip war in Gefahr. Aber wo ist Mutter? Warum kann ich sie nicht spüren? In ihrem Herzen fürchtete Lorrie die Antwort und weigerte sich, sie zu glauben. Der Rauch wurde dichter. Als sie über den Hügel kam, der das Haus und die Scheune bisher vor ihrem Blick verborgen hatte, rannte sie in eine schwarze
Rauchwolke, die so dicht war, dass sie nichts mehr sehen konnte. Lorrie blieb hustend stehen. Sie hörte Hufschläge und das Wiehern eines Pferdes, spürte aber nicht mehr die Panik, die Rip noch einen Augenblick zuvor ausgestrahlt hatte. Ein Windstoß teilte den Rauch, und sie konnte sehen, dass die Scheune von orangeroten Flammen umgeben war, die tosten, wo sie das Heu auf dem Heuboden erreichten, und entlang des Firstbalkens beinahe weiß waren. Weit dahinter entdeckte sie zwei Gestalten zu Pferd, die rasch die Straße entlangritten. 157 Dicker, rußig schwarzer Rauch quoll aus jedem Fenster ihres Hauses; Schwaden davon drangen auch durch das Strohdach, und noch während Lorrie zusah, kamen ein paar Flammenzungen hinzu. Lorrie stieß einen Schrei aus, der wie das Kreischen eines Falken klang, und rannte den Hügel hinunter, achtete nicht mehr darauf, wo sie hintrat, und störte sich nicht an den Schmerzen. Wieder drehte sich der Wind und blies Rauch auf sie zu, blendete sie, ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Sie hustete gewaltig, und ihre Lunge war trocken und brannte von der Anstrengung und dem beißenden Rauch. Dann stolperte sie über etwas und fiel vornüber. Worüber war sie gefallen? Langsam drehte sie sich um. Ihr Herz hämmerte vor Angst. Sie schaute hinter sich. Es war ihr Vater, dem man die Kehle herausgerissen hatte. Seine Augen starrten blicklos nach oben, und sein Bart bewegte sich ein wenig in dem Wind, der den Rauch heranwehte. Er lag inmitten einer Blutlache - so viel Blut, dass es den Boden unter ihm aufweichte. Seine Axt lag nicht weit von der ausgestreckten Hand entfernt, die Schneide immer noch glänzend. Lorrie versuchte zu schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und alles, was herauskam, war ein jämmerliches Quieken, als sie rückwärts floh. Dann zwang sie sich mit einem erstickten Schluchzen stehen zu bleiben. Lange Zeit schaute sie auf den grausigen Anblick nieder. Sie streckte die Hand nach ihrem Vater aus, hielt inne, zog die Hand wieder zurück, drückte sie an ihre Brust und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann drehte sie den Kopf ruckartig zum Haus -und sah ihre Mutter, die gnädigerweise mit dem Gesicht nach unten lag. Auch unter ihr war Blut, so viel Blut, dass Lorrie wusste, dass sie nicht mehr am Leben sein konnte. Lorrie schluchzte, dann hielt sie inne. Rip lebte noch! Rip hatte jetzt
nur noch sie, und nur sie konnte ihn retten. Sie zwang sich, sich von dem entsetzlichen Anblick abzuwenden, 158 drehte sich um und rannte zum Haus und die Straße entlang hinter den verschwindenden Reitern her. Sie rannte, bis ihre Lunge brannte und sie Blut in der Kehle spüren konnte. Sie rannte einen Hügel hinauf und einen anderen hinunter, bis sie auf einer Kuppe stand und die beiden sehen konnte; zwei Reiter, von denen einer versuchte, einen sich heftig wehrenden kleinen Jungen festzuhalten. Rip, dachte sie. Einer der Schuhe des Jungen fiel herunter, und der Mann, der Rip hielt, versetzte dem Kind einen Schlag gegen den Kopf. Dann waren sie auch schon wieder weg, um eine Biegung der Straße verschwunden, und bald konnte Lorrie nicht einmal mehr das hohle Geräusch von Pferdehufen auf festem Boden hören. Lorrie rannte weiter und erreichte schließlich die Stelle, wo der Schuh ihres Bruders heruntergefallen war. Sie griff danach, fiel auf die Knie und wurde von Verzweiflung überwältigt. Schließlich zwang sie sich weinend wieder auf die Beine und stolperte weiter die Straße entlang. Aber nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Ich brauche ein Pferd, dachte sie. Das einzige Pferd, das sie hatten, war Horace, das alte Arbeitspferd. Er war kein Streitross, aber besser als nichts. Die Entführer konnten nicht ununterbrochen galoppieren; sie würden irgendwann auch wieder langsamer reiten müssen. »Langsam und stetig«, sagte ihr Vater immer. »Ein Mann kann weiter gehen, als er laufen kann.« Sie hätte beinahe erneut angefangen zu schluchzen, als ihr einfiel, dass sie nie wieder hören würde, wie er so etwas sagte; der Schmerz war so heftig, als würden ihr Nadeln in die Augen und ins Herz gestochen. Als sie sich wieder dem Haus zuwandte, sah sie, dass Flammen durch den Rauch über dem Hügel brachen. Alles brannte. Lorrie dachte an ihre Mutter und ihren Vater, die in ihrem Blut lagen ... 159 Sie sind tot, zwang sie sich im Geist zu sagen. Finsternis drohte sie zu überwältigen. Lorrie wollte unbedingt aus diesem schrecklichen Traum erwachen oder erkennen, dass es nur die verrückte Illusion einer Fiebernden war. Sie sah sich immer wieder um und erwartete, dass die Dinge sich änderten. Sie wusste, wenn sie sich rasch umdrehte, würde sie ihren Vater sehen, der aufs Haus zukam, oder wenn sie schnell nach Hause rannte, würde ihre Mutter in der
Küchentür stehen. Heftiges Schluchzen schüttelte sie, gefolgt von einem Schrei - nein, das war mehr als ein Schrei: ein lautes Brüllen, hervorgerufen von Zorn, Schmerz und Trotz, das sie die Fäuste ballen und den Kopf zurückwerfen ließ. Sie schrie, bis sie heiser war und keine Luft mehr in der Lunge hatte. Heftig atmend zwang sie sich, klar zu denken. Sie musste den Schmerz beiseite schieben. Sie würde später noch Zeit haben, um zu trauern. Rip lebt noch!, dachte sie abermals, und alles in ihr wurde kalt; ihr Zorn und ihr Schmerz wandelten sich von Feuer zu Eis. Ich muss Rip retten! Hysterie und Verwirrung würden ihn nur noch mehr gefährden. Offensichtlich wollten diese Männer, die ihn mitgenommen hatten, ihn aus irgendeinem Grund lebendig haben, denn sonst hätten sie ihn ebenso umgebracht wie ihre Eltern. Rip drohte vielleicht die Sklaverei oder Schlimmeres. Und für ihre Eltern konnte sie nichts tun, zumindest jetzt nicht. Sie sah sich noch einmal um, so dass sich die Bilder dieses Augenblicks in ihre Erinnerung einbrannten. Sie würde sie nie vergessen. Ruhig und entschlossen machte sie sich auf den Weg nach Hause. Familie Lorrie rannte. Sie hatte das Haus noch nicht ganz erreicht, als sie Brams Vater, Ossrey, über die Felder kommen sah. Er hatte seine Frau Allet und einen Knecht bei sich; hinter ihnen kamen andere Nachbarn, das ganze Tal war auf den Beinen. Die Männer trugen Schaufeln und Äxte, und die Frauen hatten Eimer dabei. Lorrie rannte auf sie zu, warf sich in Ossreys Arme und weinte so laut, dass sie nicht sprechen konnte. Ossrey hielt sie einen Augenblick fest, strich ihr übers Haar, legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie auf das Haus und die Scheune zu. »Wo sind deine Eltern?«, fragte er leise. »Haben sie dich um Hilfe geschickt?« Sie schüttelte den Kopf, vollkommen atemlos vom Weinen, und konnte nicht antworten. In diesem Augenblick erreichten sie eine Stelle, von der aus sie Haus und Scheune und die Leichen ihrer Mutter und ihres Vaters sehen konnten. »Sung steh uns bei!«, flüsterte Allet entsetzt. »Bleib hier, Lorrie«, sagte Ossrey und schob sie sanft beiseite. Aber Lorrie packte seinen Ärmel und ließ nicht los, und sie versuchte
verzweifelt, sich zusammenzureißen. »Die Männer, die das getan haben ... haben meinen Bruder mitgenommen«, keuchte sie schließlich. Sie zeigte die Straße entlang und sagte: »Helft mir, ihn zurückzuholen.« 161 »Erst müssen wir sehen, wie wir deinen Eltern helfen können«, erwiderte Ossrey ruhig. Lorrie schüttelte den Kopf, und Tränen flössen ihr über die Wangen. »Das könnt ihr nicht, das könnt ihr nicht«, sagte sie kläglich. Und dann noch einmal: »Das könnt ihr nicht.« »O Lorrie«, sagte Ossrey und nahm sie in die Arme. Über ihren Kopf hinweg wechselte er einen Blick mit Allet. »Bitte«, sagte Lorrie und löste sich von ihm. »Helft mir, Rip zu finden.« In diesem Augenblick brach ein Stück des Scheunendachs ein, Funken wirbelten auf, und Ossrey riss den Kopf zur Seite, als das Feuer lauter toste. »Wir müssen uns um das Feuer kümmern, Mädchen«, sagte er. »Wenn es sich über die Felder ausbreitet, wirst du nicht die Einzige hier sein, die alles verliert.« Inzwischen waren die Nachbarn näher gekommen und starrten die Szene vor ihnen entsetzt an. »Was ist passiert?«, fragte jemand wie betäubt. Lorrie blickte von einem Gesicht zum anderen und sah, dass sie sich im Moment alle auf das Feuer konzentrierten und nicht hören würden, was sie sagte. »Mörder haben meinen kleinen Bruder entführt«, sagte sie trotzdem. »Helft mir, ihn zurückzuholen!« »Bist du sicher, dass der Junge nicht im Haus war, Mädchen?« »Nein, die Männer haben ihn mitgenommen«, erklärte Lorrie, und sie hörte selbst, wie hysterisch sie klang. Erschöpfung und Angst trieben sie an den Rand des Zusammenbruchs. Ossrey fragte: »Hat einer von euch heute Reiter auf der Straße gesehen?« Einige verneinten das. »Ich habe sie gesehen!«, schrie Lorrie. »Lorrie, Mädchen, jemand wird den Wachtmeister holen, und er wird die Männer verfolgen.« Ossrey nickte mehreren 162 Nachbarn zu, die zur anderen Seite der Scheune eilten, während
wieder andere zum Brunnen rannten, um Wasser zu holen. Sie würden dafür sorgen, dass jedes Feuer auf den Feldern, das durch Funkenflug entstand, schnell wieder gelöscht wurde. Lorrie schaute in Ossreys freundliches Gesicht und wusste, dass niemand den Mördern folgen würde, zumindest nicht heute. »Ich werde gehen«, sagte sie impulsiv. »Ich nehme Horace und reite zum Wachtmeister. Dann bleiben mehr Männer übrig, um das Feuer zu bekämpfen.« Aber Ossrey schüttelte den Kopf. »Du gehst mit meiner Allet«, sagte er. »Du hast einen schlimmen Schock erlitten, Mädchen. Jemand anders wird zum Wachtmeister gehen. Versuch dich auszuruhen«, riet er. »Wir kümmern uns um alles.« »Das da sind Zahnspuren«, sagte Bauer Roben, der sich die Leiche ihres Vaters angesehen hatte. »Ein Tier hat das getan.« Lorrie starrte sie verwundert an. Es war, als hätten sie sie nicht gehört oder nicht verstanden, was sie gesagt hatte. »Das war kein ...«, begann sie. Allet legte den Arm um Lorries Schultern. »Komm, wir überlassen das den Männern.« Sie zog das Mädchen in Richtung ihres eigenen Hofs und tätschelte ihr die Schulter. »Du solltest dich jetzt ausruhen.« Lorrie versuchte sich loszureißen, aber Allet packte ihren Arm mit festem Griff. »Ich muss meinen Bruder finden!«, schrie Lorrie. Sie fuchtelte hektisch mit dem freien Arm. »Seht ihr denn nicht, dass er nicht hier ist? Er wurde von den Mördern weggeschleppt, nicht von Tieren, und er braucht unsere Hilfe! Wir müssen ihnen folgen, oder wir werden sie für immer aus den Augen verlieren!« »Das reicht jetzt!«, fauchte Allet und schüttelte Lorries Arm. »Du überlässt es den Männern und kommst jetzt sofort mit! Werde bloß nicht hysterisch, Mädchen«, warnte sie. 163 Lorrie starrte sie mit offenem Mund an. Dann sah sie sich im Kreis ihrer Nachbarn um - der wenigen, die nicht bereits das Feuer bekämpften. »Ihr glaubt mir nicht«, sagte sie schließlich staunend. Eine der Frauen kam auf Lorrie zu und legte ihr die Hand auf die Wange. »Es geht nicht darum, ob wir dir glauben oder nicht, Kind. Es geht darum, das zu tun, was wir tun können. Du kannst auf eurem alten Horace niemanden einholen, und wir müssten alle zurück zu
unseren Höfen rennen, um Pferde zu holen, die auch nicht viel besser sind.« Sie seufzte. »Und inzwischen könnte das Feuer außer Kontrolle geraten - du hast Haus und Scheune verloren, aber die Ernte ist noch da. Wenn sie niederbrennt, könnte sich das Feuer allerdings auch zu anderen Höfen ausbreiten. Außerdem, wenn wir jetzt gingen, würden wir deinen Bruder dennoch nicht finden. Wir werden den Wachtmeister benachrichtigen; er wird wissen, was zu tun ist. Hab doch ein wenig Vertrauen, Liebes.« Lorrie fing erneut an zu weinen, diesmal aus schierer Frustration, dann brach sie in schrilles Klagen aus, das sie zu ihrem eigenen Entsetzen nicht beherrschen konnte. Allet schüttelte sie abermals und sah sie wütend an. Die andere Frau nahm sie sanft, aber bestimmt am anderen Arm. »Was kann ein einzelnes Mädchen gegen erwachsene Männer tun, außer sich Ärger einzuhandeln?«, fragte sie leise. »Überlass es Männern, mit der Sache fertig zu werden«, sagte Allet, »und verlass dich darauf, dass sie ihr Bestes tun.« Lorrie ließ zu, dass sie sie zu Ossreys und Allets Hof brachten, aber sie wusste, dass sie etwas unternehmen musste. Wie kann ich mich darauf verlassen, dass sie ihr Bestes für Rip tun, wenn sie bereits aufgegeben haben? Ihr Kopf hörte auf, sich zu drehen, und Kälte überfiel sie wie ein Wind, der durch Rauch oder Nebel schneidet. Wenn ich mich jetzt hysterisch aufführe, werden sie mich gut be164 obachten. Also mache ich alles, was sie wollen, und schleiche mich dann davon, dachte sie. Allet steckte sie in Brams Zimmer ins Bett - es zeugte von einem guten Hof und einer kleinen Familie, dass selbst der älteste Sohn ein Zimmer für sich hatte -, und es versetzte Lorrie einen Stich, plötzlich von seinem vertrauten Geruch umgeben zu sein, der ihr so gefehlt hatte. »Hier ist ein Kräutertrank für dich«, sagte Allet, die als Kräuterfrau wohl bekannt war. »Trink es gleich, Liebes.« Lorrie wurde ein bisschen übel von dem Geschmack -scharf, moschusartig und gleichzeitig zu süß. Dann begann die Welt sich um sie zu drehen, und sie lehnte den Kopf in die Federkissen. Es fiel ihr schwer aufzuwachen; sie hatte das Gefühl, ihr Kopf müsse platzen, ihre Brust brannte, und überall hatte sie blaue Flecken. Ihr Götter, dachte Lorrie, als ihr plötzlich alles wieder einfiel. Wie spät ist es?
Sie fing an zu weinen und vergrub den Kopf in Brams Kissen, dann zwang sie sich, damit aufzuhören. Sie hatte jetzt keine Zeit dazu. Sie stand leise auf, ging zur Tür und stellte fest, dass sie verriegelt war. Von außen. Lorrie unterdrückte ein zorniges Zischen und ging zum Fenster. Zum Glück ließen sich die Läden öffnen, und eine Flut von hellem Mondlicht fiel herein und ließ Lorrie erkennen, dass ihre Sachen weg waren. Sie schüttelte den Kopf und verfluchte im Geiste Allets Gründlichkeit, dann bemerkte sie die Truhe am Fuß des Bettes. Nach ein wenig Wühlen fand sie ein paar alte Sachen von Bram, aus denen er herausgewachsen war, und Schuhe. Die Kleidung fühlte sich seltsam an, als sie sie anzog, aber sie würde sich schon noch daran gewöhnen. Sie schwang einen alten Umhang um ihre Schultern und setzte dazu an, aus dem Fenster zu klettern. Dann hielt sie inne. 165 Nur von Instinkt geleitet, begann Lorrie, unter dem Strohsack von Brams Bett herumzutasten, und bald schon berührten ihre Fingerspitzen weiches Leder: eine Geldbörse, halb so groß wie ihre Faust, die halb gefüllt war. Sie zögerte einen Augenblick - es waren wahrscheinlich die Ersparnisse von Jahren, von Arbeiten, die er außerhalb des Hofs geleistet hatte -, doch dann nahm sie die Börse. Wie jedes Bauernkind in der Gegend war sie dazu erzogen worden, einen Dieb noch mehr zu verachten als einen Faulpelz und beinahe so sehr wie einen Feigling, aber sie brauchte Geld. £5 ist, wie wenn man eine Axt oder einen Eimer braucht, aber keine Zeit zum Fragen hat, sagte sie sich. Leute taten das immer wieder. Lorrie sah sich nach allen Seiten um; in einem sehr guten Jahr hatte Brams Großvater ein zweites Stockwerk angebaut, und das Fenster des Schlafzimmers befand sich zehn Fuß über der Erde. Ein rascher Blick auf Mond und Sterne sagte Lorrie, dass es irgendwann zwischen Mitternacht und Morgendämmerung war; um diese Zeit würde niemand mehr wach sein. Unter dem Fenster befand sich ein schmaler Streifen von von Schafen abgeweidetem Gras; sie kletterte hinaus, klammerte sich am Sims fest und ließ sich nach unten hängen, dann ließ sie los. Etwas rührte sich. Sie wartete, dann seufzte sie erleichtert, dass es nur die Hunde waren, beides Mischlinge, die Lorrie kannten, seit sie Welpen gewesen waren. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass kein Fuchs versuchte, Geflügel oder ein Lamm zu
stehlen. »Still«, sagte sie und ließ zu, dass die Hunde ihre Hände beschnupperten - sie waren sehr gewissenhaft und wollten sich überzeugen, dass wirklich kein Fremder ihren Hof betrat. »Still!« Ein rascher Blick um die hintere Ecke des Bauernhauses, das Gesicht an die trockenen Balken gepresst: Sie sah kein 166 Licht von Lampen oder Fackeln, nur silbriges Mondlicht fiel auf den Hof, die beiden Scheunen, einen Schuppen und eine Koppel, in dem die Milchkuh und die Arbeitstiere der Familie gehalten wurden. Wie Lorrie bereits angenommen hatte, hatten die Nachbarn die Tiere ihrer Familie mitgenommen, und sie fand Horace sofort. Er würde nicht schnell sein, aber sie hatte ihn sein Leben lang immer wieder geritten, hatte ihn zur Tränke gebracht oder zum Schmied, und manchmal hatte sie sich auch nur zum Spaß auf seinen Rücken gesetzt. Er schnupperte an ihr, als wäre er froh, jemanden zu sehen, den er kannte, und Lorrie rieb seine samtigen Nüstern. Sie biss sich auf die Lippe und dachte darüber nach, was sie tun sollte. Sie brauchte einen Sattel, Zaumzeug und ein wenig Getreide für das Pferd. Das war schlicht und ergreifend Diebstahl, und sie wusste, dass ihre Mutter und ihr Vater enttäuscht sein würden. Oder auch nicht, dachte sie wütend. Vielleicht wären sie enttäuschter über ihre untätigen Nachbarn. Direkt hinter der Tür der kleineren Scheune hing ein alter Sattel - ein ziemlich schlichtes Ding, aber Bauern ritten nicht oft. Wenn ich nichts unternehme, wird keiner etwas tun. Rip wird sterben oder noch Schlimmeres. Und das, so wusste sie, würde ihre Eltern noch mehr enttäuschen. Sie führte Horace aus der Scheune, zog das Zaumzeug über seinen Kopf, zupfte die Decke sorgfältig zurecht, schob dann mit einem angestrengten Ächzen den Sattel auf seinen Rücken - das Ding hatte etwa ein Viertel ihres eigenen Gewichts - und schnallte den Gurt fest. Das Pferd seufzte resigniert, denn es wusste, das bedeutete Arbeit. Zurück in die Scheune. Sie spähte noch einmal zum Haupthaus, aber dort gab es kein Anzeichen von Leben, nur ein wenig Rauch von dem zugedeckten Feuer stieg durch den 167 Schornstein auf. Das bewirkte, dass ihre Hände einen Augenblick zu zittern begannen, aber sie zwang sich ruhig zu bleiben und tief Luft
zu holen. Hafer, dachte sie entschlossen. Der süßliche Geruch führte sie zu einer Kiste, und daneben lagen ein paar Säcke bereit. Sie füllte zwei davon, dann nahm sie sich noch ein paar Pferdedecken, damit sie nachts an der Straße kampieren konnte. Horace wieherte interessiert, als sie die Säcke über seinen Rücken warf; diesen Geruch kannte er genau. »Später«, flüsterte sie und nahm sich einen Augenblick Zeit, um ihn zu tätscheln, bevor sie mühsam auf seinen Rücken kletterte - er war ein großes Pferd für ein fünfzehnjähriges Mädchen -, und ihre Schenkel um seinen breiten Fasskörper klammerte. Gehorsam trabte Horace die Straße entlang, die sich wie ein Band aus Mondlicht nach Süden wand. Ich komme, Rip, dachte sie. Es war leicht gewesen, Floras Großvater zu finden; in einer Stadt dieser Größe gab es nicht viele Juristen. Den Mut für einen Besuch bei ihm aufzubringen war schwieriger. »Was, wenn er mich wegen meines Vaters hasst?«, fragte Flora nervös und zum hundertsten Mal, und sie blickte zu dem großen Haus aus hellem behauenem Stein, das nicht weit vom Marktplatz entfernt stand. Es stank geradezu nach Achtbarkeit, bis hin zu den teuren, in Blei eingefassten Fensterscheiben. »Dann ist er kein besonders guter Großvater«, erwiderte Jimmy »Und in diesem Fall bist du ohne ihn besser dran.« Seine Antwort war die gleiche, die er ihr jedes Mal gegeben hatte, wenn sie diese Frage stellte; inzwischen gab er sie automatisch, bis hin zum Tonfall. Jimmy hatte so gut wie aufgehört, ihr zuzuhören, und war ziemlich sicher, dass sie ebenfalls nicht zuhörte. Sie waren am Eingang zur Legacy Lane, einer Straße in ei168 ner wohlhabend aussehenden Gegend. Die Häuser hatten große Glasfenster mit bestickten Vorhängen, die roten Schindeldächer bildeten einen angenehmen Kontrast zur Honigfarbe des Steins, und jedes Fenster hatte einen Blumenkasten mit Blüten in leuchtenden Farben. Es gab sogar einen Straßenkehrer, einen abgerissen aussehenden Jungen mit Besen, Schippe und Kasten, der das Kopfsteinpflaster von Pferdeäpfeln freihielt. Es war sauber, es war ordentlich. Und es lässt Jimmy der Hand das Wasser im Mund zusammenlaufen, dachte Jimmy. Oh, das Silberbesteck und die Kerzenleuchter, die sie dort haben! Alles auf Kredenzen zur Schau gestellt, damit die Gäste
es bewundern können! Das Kristall und der kleine Tresor, an einer Stelle »verborgen«, die der Kaufmann für sicher hält, und dann ... Hör auf! Du bist der Pflegebruder einer achtbaren jungen Frau, der sie begleitet hat, um sie sicher zu ihren Verwandten zu bringen! Dann brachte ihn ein Gedanke zum Lächeln. Und wenn Floras Großvater uns abweist, nun, dann bin ich eben nicht mehr der Pflegebruder einer achtbaren jungen Frau, sondern Jimmy die Hand auf der Suche nach Geld! Auf die eine oder andere Art würde der alte Mann zum Lebensunterhalt seiner Enkeltochter beitragen. Und auch zu Jimmys, wenn die Beute groß genug war. Schließlich kam ein Mann auf sie zu und fragte: »Was wollt ihr hier?« Er sprach mit gewisser Autorität, aber freundlich, und trug das Abzeichen der Wache von Meersburg. »Wir sind auf der Suche nach dem Großvater dieser jungen Dame«, sagte Jimmy Er hatte seine beste Verirrtes-Waisen-kind-Miene aufgesetzt und hoffte, dass er noch nicht zu alt war, um sie wirkungsvoll nutzen zu können. »Und wer sollte das sein?«, fragte der Mann. Die Verirrtes-Waisenkind-Miene schien ihn weder positiv noch negativ zu beeindrucken, woraus Jimmy schloss, dass sie 169 zwar nicht mehr wirkungsvoll, aber noch nicht vollkommen lächerlich war. »Mr. Yardley Heywood, Sir«, sagte Flora leise. »Ah, Mr. Heywood.« Er drehte sich um und zeigte mit seinem Stock die Straße entlang. »Das dritte Haus auf dieser Seite, das mit der grünen Tür und den Stiefmütterchen in den Blumenkästen.« »Danke, Sir«, sagte Flora und knickste. Der Mann nickte freundlich und lächelte. Also gut, ihr Waisenkind-Blick funktionierte offenbar immer noch, dachte Jimmy Er klemmte sich eins der Bündel unter den Arm, nahm Floras Hand und ging mit ihr zusammen auf das Haus zu, auf das der Mann gezeigt hatte. Nach ein paar Schritten begann Flora zögerlich zu werden, bis sie schließlich stehen blieb und ihrer und Jimmys Arm ausgestreckt waren, als wären sie Partner bei einem Tanz. Jimmy drehte sich ungeduldig um. »Flora, du bist schon erheblich größere Risiken für geringere Belohnungen eingegangen.« Sie kam langsam näher, wobei sie den Blick kaum von dem schönen
Haus vor ihnen abwandte. »So fühlt es sich aber nicht an«, sagte sie leise. »Dann muss ich es eben machen.« Jimmy drehte sich auf dem Absatz um, marschierte die Treppe hinauf und griff nach dem Messingtürklopfer. Bevor er ihn fallen lassen konnte, öffnete eine Frau die Tür und wollte die Treppe hinuntergehen. »Oh, hallo«, sagte sie vergnügt und überrascht, dann trat sie einen Schritt zurück. »Ich habe dich gar nicht gesehen.« Sie war zum Ausgehen gekleidet, trug ein Tuch und einen Hut und hatte einen leeren Korb am Arm. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie. Dann fiel ihr Blick auf Flora, und ihre Züge erstarrten. »Orletta?«, sagte sie verblüfft. Dann schüttelte sie sofort den Kopf. »Aber nein, das ist unmöglich. Du bist zu jung.« Sie eil170 te an Jimmy vorbei, als wäre er nicht da, lief die Treppe zur Straße hinunter und direkt zu Flora. »Wer bist du, meine Liebe?« Flora knickste und wirkte zum ersten Mal, seit sie mit dieser Knickserei angefangen hatte, irgendwie ungelenk. »Ich heiße Flora, Madam. Mein Vater war Aymer, der Bäcker, und meine Mutter war Orletta Heywood.« Die Frau rief: »Oh!«, und umarmte Flora herzlich. Jimmy grinste und sah über die rundliche Schulter der Frau hinweg Floras verblüfften Blick. War das ihre Großmutter? Dann würde es hier offenbar keine Probleme geben. »Ich bin deine Tante Cleora«, erklärte die Frau und schob Flora auf Armeslänge von sich, um sie besser betrachten zu können. »Oh, ich dachte schon, ich würde dich niemals sehen, mein Kind.« Wieder zog sie Flora in die Arme, und Jimmy musste sich anstrengen, über die halb begeisterte, halb entsetzte Miene seiner Freundin nicht zu lachen. »Woher kommst du?«, rief Cleora. »K-Krondor«, stotterte ihre Nichte vollkommen überwältigt. »Oh, du armes Kind! Du musst vollkommen erschöpft sein! Komm mit mir, und ich kümmere mich um dich. Oh«, sagte sie und wandte sich mit einem Lächeln Jimmy zu. »Und wer ist das hier?« »Jimmy ist ein Freund«, erwiderte Flora. »Fast wie ein Bruder; er hat mich begleitet.« »Dann musst du natürlich mitkommen! Ich werde dir etwas Gutes zu essen geben. Jungs brauchen immer etwas zu essen«, vertraute Cleora ihrer Nichte an. Sie ging die Straße entlang, den Arm um
Floras schmale Schultern gelegt. »Und ich denke, du brauchst auch etwas zu essen«, fügte sie lachend hinzu. Jimmy blinzelte verdutzt, dann griff er nach dem Gepäck und rannte ihnen hinterher. 171 »Entschuldigung, Madam«, sagte er, »aber wohnt Ihr nicht dort drüben?« Er zeigte auf das Haus hinter ihnen. »Oh, nein, das ist das Haus meines lieben Vaters. Er hält jetzt sein Schläfchen, mein Lieber. Du wirst ihn später kennen lernen. Außerdem, liebste Flora, will ich dich erst einmal ganz für mich allein haben. Nein, mein lieber Mann und ich, wir wohnen in der Nähe. Unser Heim ist nicht ganz so großartig wie das meines Vaters, aber mehr als groß genug, um uns allen bequem Platz zu bieten. Ihr werdet schon sehen!« Damit eilte sie aufgeregt weiter, eine glücklich-erstaunte Flora und einen ebenso verblüfften Jimmy im Kielwasser, der mit dem Gepäck folgte. Jimmy lag auf dem weichen, sauberen Bett und tätschelte zufrieden seinen vollen Bauch. Tante Cleoras Köchin war wunderbar, und Jimmy hatte keine Ermutigung gebraucht, immer weiterzuessen; er bedauerte nur, dass er irgendwann doch hatte aufhören müssen. Er sah sich in dem Zimmer um. Es war klein, aber sauber, befand sich im Hauptteil des Hauses und hatte sogar eine kleine Feuerstelle und cremefarbenen Verputz, in den Muster gedrückt waren. Er hatte erwartet, dass man ihn bei den Dienstboten unterbringen würde, aber der Gedanke war Cleora offenbar gar nicht gekommen. »Es ist nur ein kleines Zimmer«, hatte sie gesagt, als sie ihn hergebracht hatte. »Aber Jungen stören sich nicht an so etwas, oder?« Und sie hatte ihn mit einem Hauch von Nervosität in ihren freundlichen braunen Augen angelächelt, als ob sie sich fragte, was sie tun sollte, wenn ihm die Unterkunft nicht gefiel. »Es ist wunderbar«, hatte er ihr versichert. Und das dachte er immer noch. Das hier war zweifellos das weichste Bett, in dem er je gelegen hatte. Wenn er nicht aufpasste, würde er unter Tante Cleoras Einfluss bald nach an172 ständiger Arbeit suchen. Er verzog das Gesicht; das war ein Gedanke, der einen das kalte Grausen lehrte. Onkel Karl, Cleoras Mann, war ein Kapitän und derzeit auf Fahrt nach Krondor. Floras Tante hatte den jungen Leuten versichert, dass
er vollkommen begeistert sein würde, sie in seinem Haus zu haben. Jimmy musste sich dabei auf ihr Wort verlassen, denn Cleora hatte keine Ahnung, wann ihr Mann zurückkommen würde. Er runzelte nachdenklich die Stirn; wenn das länger dauerte als zwei Wochen, würde Jimmy bereits weitergezogen sein. Bis dahin hatte sich Flora sicher vollständig eingewöhnt. Yardley Heywood, Floras Großvater, arbeitete nicht mehr als Anwalt; er war zu Beginn des Jahres krank geworden und erholte sich nur langsam. Er wohnte nach wie vor in seinem eigenen Haus, und Tante Cleora besuchte ihn jeden Tag. Sie versprach Flora, sie in ein oder zwei Tagen mitzunehmen, nachdem sie dem alten Mann erzählt hatte, dass das Mädchen zur Familie zurückgekehrt war. Jimmy runzelte erneut die Stirn. Es wurde ganz schön kompliziert mit diesen Verwandten und den Geschichten, von denen man nicht abweichen durfte. Dennoch, Flora schien dem gewachsen zu sein, und nach nur ein paar Stunden in diesem Haus fiel es selbst ihm schwer, sich zu erinnern, dass er je in Krondor gewesen war. Dennoch, Jimmy wusste, dass seine Schauspielerei einem kritischen Blick nicht standhalten würde. Flora hatte ihre ersten neun Jahre in einem schönen Heim verbracht, und später hatte sie zahlreiche Kunden aus guten Kreisen gehabt; sie konnte sprechen wie ein Mädchen aus gutem Hause. Jimmy konnte zwar den Schein wahren, wenn er nicht zu viel redete, aber er hatte nur ein paar Wochen Leuten von Rang zugehört, vor allem dem Prinzen und der Prinzessin. Nein, er würde den Mund halten, so wenige Fragen wie möglich beantworten und das warme Bett und die guten Mahlzeiten genießen, solange er plante, was er als Nächstes hier im Exil anfangen soll173 te. Meersburg war vielleicht nicht Krondor, aber auch keine allzu kleine Stadt, und es gab für einen Jungen mit geschickten Fingern sicherlich Beute genug. Dann lächelte er wieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Das hier würde eine gute Ausgangsbasis für seine Arbeit sein: Niemand würde die liebenswerte Tante Cleora verdächtigen, einen Dieb zu beherbergen, und es gab keinen Tag- oder Nachtmeister, die ihn einschränkten. Das arme alte Meersburg würde nicht einmal wissen, wie ihm geschah. Er kicherte boshaft. »Worüber lachst du?«, fragte Flora. Jimmy wäre beinahe steil in die Luft gesprungen.
»Hast du noch nie was von Anklopfen gehört?«, fragte er. Sie sah ihn verärgert an, kam herein und schloss die Tür hinter sich. »Sprich leise«, flüsterte sie. »Ich sollte nicht hier sein.« »Hat deine Tante das gesagt?«, fragte er überrascht. So, wie Cleora sich verhalten hatte, hatte Jimmy erwartet, dass sie Flora sofort den Schlüssel zur Vordertür überreichte. Flora sah ihn gereizt an. »Nein, selbstverständlich nicht. Sie würde erwarten, dass ich ohnehin weiß, wie eine junge Dame sich benimmt.« Jimmy zog die Brauen hoch, als Flora plötzlich bedrückt seufzte. Sie setzte sich aufs Bett und ließ die Schultern hängen. »Ich muss ihr die Wahrheit sagen«, erklärte sie. Er setzte sich auf und beugte den Kopf zu ihr. »Sag das noch mal.« »Sie hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren.« Unter ihren Wimpern blickte Flora zu ihm auf und deutete auf sich selbst. »Darüber, wie ich ... wie ich meinen Lebensunterhalt verdient habe.« Jimmy schwang die Beine vom Bett, legte Flora die Hand auf die Schulter und sah ihr ernst in die Augen. Kein Wunder, dass sie als Diebin so schlecht war, dachte er. Sie ist einfach zu ehrlich! 174 »Das darfst du nicht, Flora!« »Ich muss es tun, Jimmy. Sie hat die Wahrheit verdient.« »Du kannst doch nicht so egoistisch sein, Flora - ich weiß, dass du das nicht bist.« Flora riss den Mund auf. »Was?« »Denk doch nur, wie sehr sie das quälen würde«, erklärte Jimmy »Du hast ihr gesagt, dass dein Vater gestorben ist, als du noch ein kleines Mädchen warst. Du hast ihr Gesicht gesehen. Als du dann fortfuhrst und erzähltest, dass du bei einer älteren Dame als Gesellschafterin gelebt hast, war sie so erleichtert! Wenn du ihr die Wahrheit sagst, wird sie vor schlechtem Gewissen beinahe umkommen. Das kannst du dir doch sicher vorstellen! Wie kannst du ihr so etwas antun wollen?« Flora wirkte immer noch schockiert und öffnete und schloss den Mund, aber nichts kam heraus, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber ... aber wie könnte ich sie weiter anlügen? Sie ist so nett, Jimmy Ich mag sie wirklich gern. Ich möchte unser Leben nicht auf einer Lüge aufbauen.« »Dann sollten wir vielleicht lieber gehen«, sagte er und stand auf.
»Wenn du nicht die Kraft hast, deine Verwandten vor der Wahrheit zu schützen ...« Er schüttelte den Kopf. »Dann geh einfach. Das ist freundlicher.« Flora fing an zu weinen, und Jimmy verdrehte die Augen: Jetzt war er an allem schuld. Er blickte auf sie herab. Na ja, vielleicht bin ich das ja auch. Der junge Dieb setzte sich hin und legte den Arm um Floras bebende Schultern. Und wenn du tust, was verdammt noch mal vernünftig ist und lügst wie ein Seemann, kann ich weiter in diesem schönen Zimmer bleiben und Cleoras wunderbares Essen genießen. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, das Edelste, das Ehrlichste, alles gleich zu Anfang zu gestehen. Aber tief drinnen war Jimmy überzeugt, dass das auch bedeutete, dass man sie 175 aus dem Haus und aus diesem Leben, für das Flora so offensichtlich geboren war, verbannen würde. Und es würde ihrer Tante das Herz brechen. Er schüttelte den Kopf. Ich bin gleichzeitig vollkommen egoistisch und vollkommen hilfsbereit. Verdammt, es gibt überhaupt keinen Zweifel: Ich bin zu Großem berufen. »Flora, manchmal ist das Richtige nicht auch das Beste. Ich denke, in diesem Fall wird aus einem ehrlichen Geständnis der Tatsachen erheblich mehr Schmerz entstehen als aus deiner sehr plausiblen kleinen Lüge. Ich rate dir, es zumindest noch einmal zu überschlafen. Morgen früh ist dir alles vielleicht ein bisschen klarer. Und ich möchte dich bitten, es mir zuerst zu sagen, wenn du mit ihr darüber reden willst, dass ich ein Spötter bin. In Ordnung?« Sie schniefte und sah ihn feierlich an. Dann umarmte sie ihn kurz und stand auf. »Du hast Recht«, sagte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Und ich werde darüber nachdenken. Ich sage dir morgen, wie ich mich entschieden habe. Das verspreche ich dir.« Dann beugte sie sich vor, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und eilte hinaus. Jimmy verzog den Mund. Plötzlich saß all das gute Essen wie ein Bleigewicht in seinem Magen. Warum konnten Frauen die Dinge nicht richtig durchdenken? Man hatte es bei ihnen immer mit der emotionalen Seite der Dinge zu tun, nie mit der logischen. Er seufzte gereizt. Er würde nicht schlafen können, solange sein Bauch so voll war; vielleicht würde ihm ja ein netter Abendspaziergang gut tun. 9
Begegnung Eine einzelne Gestalt kam die Straße entlang. Bram hatte die Handelskarawane - wenn das nicht überhaupt eine zu großspurige Bezeichnung für zwei Wagen und zwei Packmaultiere war - am Abend zuvor kurz vor Sonnenuntergang dort verlassen, wo die Straße zu dem Dorf Relling abzweigte. In Relling gab es ein gutes Gasthaus; sie hatten erstklassigen Kartoffeleintopf und brauten ein hervorragendes Bier. Das Essen war allerdings nicht so gut wie das, was seine Mutter kochte, und auch das selbst gebraute Bier seines Vaters schmeckte besser. Der junge Mann hatte also die Schultern gereckt, sich das Gepäck aufgeladen und sich auf den Weg gemacht. Wenn er die Abkürzung nahm und den größten Teil der Nacht weiterzog - er schlief für gewöhnlich ohnehin nur vier Stunden -, würde er kurz vor Sonnenaufgang zu Hause sein, gerade rechtzeitig zum Frühstück. Es bestand wenig Gefahr auf diesem Weg; es gab kaum wilde Tiere, die sich an einen erwachsenen Mann heranwagen würden, und mitten in der Nacht lauerte an einem solchen Pfad auch sicher kein Räuber. Jeder Hügel, der seine Beine herausforderte, brachte ihn näher an sein Zuhause. Er erkannte Bäume, auf die er als Junge geklettert war, Felder, die er bebaut oder auf denen er Vieh ge177 hütet hatte; er sprang über einen Bach, der über die Straße lief, und grinste bei der Erinnerung an das erste Mal, als ihm das trockenen Fußes gelungen war. Mit seinen siebzehn Jahren war er bereits ausgewachsen, hatte einen leichten blonden Flaum am Kinn und dichtes, kurz geschnittenes goldblondes Haar; er war breitschultrig, hatte lange Beine und freundliche blaue Augen. Die schwere Arbeit hatte ihm Muskeln an Schultern und Armen beschert, aber es war seine Begeisterung für die Jagd, die für seine eleganten Bewegungen verantwortlich war und dafür, dass seine weichen Stiefel nun auf dem Weg nicht viel Lärm verursachten. Wie aufs Stichwort, dachte er und hob den Kopf. Etwas ziemlich Großes brach durch das Unterholz an der Straße. Ein Wildschwein, dachte er und bückte sich. Das fahle Dämmerlicht war hell genug, um die Spuren erkennen zu können. Nein, es musste ein Stück Rotwild gewesen sein; der gespaltene Hufabdruck war zu groß und ein wenig zu gespreizt für ein Wildschwein. Bram lachte leise. »Lauf und lass dich von einem Adligen jagen«,
sagte er. Die Adligen jagten Rotwild zu Pferd und mit Hunden; nach Brams Ansicht war das, als würde man Hühner mit einer Kampfaxt schlachten, aber so etwas war eben Geschmackssache. Für ihn lag das Vergnügen im Verfolgen einer Spur, nicht im Töten des Wilds. Nach dem Töten kam der unangenehme Teil, das Ausweiden des Kadavers und die Schlepperei nach Hause, aber Adlige hatten Diener, die solche Arbeiten für sie übernahmen. Er atmete die kühle Luft tief ein und ging pfeifend weiter. Ein rascher Marsch von vier Meilen hatte ihn beinahe vor seine Haustür gebracht. Er blieb stehen. Der Weg zum Bauernhaus sah im frühen Morgenlicht so freundlich aus, dass der Anblick ihn glücklich machte. An den Zaunpfählen auf dem Weg zum Haus leuchteten Laternen, während hinter den Fenstern im Erdgeschoss bereits Kerzen 178 brannten, deren Flammen von den Schafsblasen oder dem dünn geschnittenen Hörn der Scheiben zu einem warmen Gelb gedämpft waren. Auch neben der Scheunentür brannte eine Laterne. Das ist wirklich ein schönes Willkommen, dachte er; Bienenwachskerzen waren teuer, und Talg war auch nicht umsonst. Dann fiel ihm ein, dass niemand hier ahnen konnte, dass er heute nach Hause kommen würde. Und das bedeutete, dass all diese extravagante Beleuchtung einem anderen Zweck diente. Eine Hochzeit? Aber es hatte nichts dergleichen angestanden, als er aufgebrochen war. Außerdem war es nicht der Nachmittag eines Sechstages, denn zu diesem Zeitpunkt fanden die meisten Hochzeiten statt. Also war es wahrscheinlich eine Totenwache, da niemand geizte, wenn es darum ging, die Verstorbenen zu ehren, und viele Männer würden die Nacht durchtrinken, bis ihre Frauen ihnen Einhalt geboten und sie nach Hause brachten. Als er das Haus verlassen hatte, waren alle gesund gewesen, aber das hatte wenig zu bedeuten: Krankheiten oder ein Unfall konnten einen gesunden Mann oder eine gesunde Frau plötzlich genug dahinraffen, und das wussten Bauern besser als viele andere. Nun rannte Bram den Weg hinauf und blieb stehen, als er Bauer Gliddens Wagen bemerkte, der bisher hinter dem Flieder seiner Mutter verborgen gewesen war. Dann warf er einen Blick in die Scheune, wo eine weitere Laterne brannte, und bemerkte mehrere Pferde, die den Nachbarn gehörten, und ein paar Tiere vom Hof der
Merfords, darunter auch Tessie, die Milchkuh. Etwas war geschehen, und wahrscheinlich nichts Gutes. Warum war das Vieh der Merfords in der Scheune seines Vaters? Bram wusste, dass seine Eltern es sich nicht leisten könnten, die Tiere zu kaufen; und die Merfords hätten sie auch nie verkauft. 179 Bram eilte zum Haus. Als er drinnen laute Stimmen hörte, ging er leise durch die Hintertür hinein, um die lebhafte, ja hitzige Diskussion besser hören zu können, die dort im Gange war. Das große Zimmer mit der Hauptfeuerstelle war voller Nachbarn, von denen einige auf den Bänken um den Küchentisch saßen, andere auf Hockern; die Übrigen standen im Raum oder hatten sich an die Wand gelehnt. »Es waren Tiere! Wilde Hunde oder so«, sagte Tucker Holsworth und schlug zur Betonung auf den Tisch, während er mit der anderen Hand mit der Pfeife fuchtelte. Sein Gesicht war schwarz von Ruß und Dreck. »Aber was ist mit dem, was Lorrie gesagt hat?«, fragte Brams Vater. »Du meinst diese Geschichte über Männer, die eine Art Werkzeug verwendet haben?« Holsworth versuchte, seine Pfeife am Brennen zu halten. »Nun, sie war da. Wenn es das ist, was sie gesehen hat, wieso sollen wir ihre Worte bezweifeln?« »Aber die Spuren kamen von Tierzähnen! Das war kein Messer«, warf Rafe Kimble ein, der an der Feuerstelle stand. Auch er war von Ruß geschwärzt. »Und der kleine Rip? Wohin ist der verschwunden, wenn ihn nicht jemand entführt hat?«, fragte seine Frau Elma. »Er ist vielleicht im Feuer umgekommen, und das Mädchen hat es nur nicht gesehen«, sagte Allet. »Wenn das Tier groß genug war, könnte es ihn zu seiner Höhle geschleppt haben.« Das kam von Jacob Reese, der am Tisch bei den anderen beiden Männern saß. »Aber wie kann es sein, dass ein solches Tier oder ein ganzes Rudel hier in der Nähe ist und wir es nicht bemerkt haben?«, fragte Ossrey. »Und wohin sind sie verschwunden? Ich habe keine Gerüchte gehört, dass so etwas wie bei den Mer-fords auch anderswo passiert ist.« »Wovon redet ihr?«, rief Bram. »Was ist passiert?« 180 »Bram!«, rief seine Mutter. Sie sprang auf und drängte sich durch
die Menge, um ihn zu umarmen. »Sohn!«, sagte Ossrey. »Schön, dass du wieder da bist, mein Junge!« Er streckte die Hand über den Küchentisch, und Bram lehnte sich lächelnd an den Nachbarn vorbei, um sie zu ergreifen. Aus den Essensresten auf dem Tisch und den offenen Krügen war zu entnehmen, dass die Frauen die ganze Nacht in der Küche gewesen waren, um das Frühstück für die Männer vorzubereiten, die gerade mit dem Essen fertig geworden waren. »Du bist sicher am Verhungern«, sagte Allet. »Setz dich, Bram.« Sie schob ihn auf ihren Platz am Tisch zu. »Ich bringe dir etwas.« »Es geht mir gut, Mutter«, sagte Bram, aber er setzte sich hin, nachdem er sein Bündel abgelegt und Bogen und Köcher an die Wand neben der Tür gelehnt hatte. »Was ist passiert? Was ich gehört habe, klang schlimm.« Er sah die Nachbarn an, dann wandte er sich an seinen Vater. Ossrey senkte den Kopf. Er war, wenn man von einem kleinen kahlen Fleck am Hinterkopf einmal absah, ein dunkler, haariger Mann und breiter gebaut, als sein Sohn je sein würde. »Es tut mir Leid, dass wir dich mit schlechten Nachrichten willkommen heißen, Sohn«, begann er. »Den Merfords ist eine schreckliche Tragödie zugestoßen.« »Was ist mit Lorrie?«, fragte Bram sofort. Die Lippen seiner Mutter wurden schmaler, und sie verzog leicht das Gesicht. Ihr Blick wanderte zu Bauer Glidden, um zu sehen, wie er Brams Interesse an Lorrie Merford aufnahm. »Es ging ihr gut, als wir sie zum letzten Mal gesehen haben«, erklärte Allet und verschränkte die Arme. »Wie meinst du das, als ihr sie zum letzten Mal gesehen habt?«, wollte Bram wissen. Als niemand antwortete, packte er seine Mutter an den Armen und fragte: »Mutter, was ist passiert?« 181 »Lorries Eltern sind getötet worden«, sagte Bauer Glidden. »Ihr Haus und die Scheune sind niedergebrannt, und wir haben die Nacht damit verbracht, Feuer auf den Feldern zu löschen. Wir sind erst vor einer Stunde wieder hergekommen.« Er schwieg einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Der kleine Rip ist verschwunden. Sieht so aus, als wäre Lorrie auf ihrem alten Pferd davongeritten. Wahrscheinlich sucht sie den Jungen.« Es gab viel Gemurmel und Geschnalze, sowohl mitleidig als auch missbilligend, begleitet von Nicken und Kopfschütteln.
Bram ließ die Arme seiner Mutter los. »Also sind Lorrie und Rip beide verschwunden?« »Hab ich das nicht gerade gesagt?«, entgegnete Glidden. »Hat sich jemand auf die Suche nach ihnen gemacht?« Aus den Blicken, die gewechselt wurden, konnte Bram schließen, dass das nicht geschehen war. »Wann ist all das geschehen?« Bram fuhr sich verzweifelt durchs Haar und sah sich verwirrt um. »Die Spuren an den Leichen von Melda und Sam sahen aus, als wären sie von einem Tier hinterlassen worden«, sagte Ossrey. »Wir glauben, das, was immer sie umgebracht hat, den Jungen weggezerrt hat.« »Tiere!«, rief Bram. »Hier?« Er sah sich abermals um. »Hat jemand diese Tiere verfolgt? Meint ihr damit, dass sie - haben sie Melda und Sam gefressen?« Dann begriff er. »Wollt ihr etwa behaupten, dass Lorrie sich allein auf den Weg gemacht hat, um ein Tier zu verfolgen, das groß und gefährlich genug ist, zwei Erwachsene zu töten? Wann ist sie verschwunden?« »Lorrie hat etwas darüber gesagt, dass es Männer waren, die ihre Eltern umgebracht haben«, sagte Dora Commer mit einem trotzigen Blick zu Allet und Ossrey. »Sie sagte, sie hätten die Leichen mit einer Art Werkzeug zerrissen, damit es nach einem Tier aussieht, und seien dann in Richtung Meers182 bürg geritten. Sie wollte ihnen sofort folgen, aber selbstverständlich haben wir das nicht zugelassen. Wir dachten, sie hätte einen Schock.« Die Frau zuckte die Achseln, und es sah aus, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. »Und dann war da das Feuer, und wir mussten uns darum kümmern. Wir hielten es durchaus für möglich, dass der Junge im Haus oder in der Scheune gewesen war, und Lorrie konnte den Gedanken einfach nicht ertragen. Außerdem«, fuhr sie angesichts von Brams Schweigen fort, »wenn es wirklich Männer waren und sie die Merfords umgebracht haben, was könnte ein einzelnes Mädchen gegen sie unternehmen?« »Wir haben sie hergebracht und ins Bett gesteckt«, sagte Brams Mutter. »Die Männer mussten die ganze Nacht auf den Feldern das Feuer bekämpfen und haben über diese Sache gesprochen, seit sie zurückgekommen sind. Als die Lormers aufgebrochen sind - kurz bevor du gekommen bist -, sahen sie, dass das Pferd der Merfords verschwunden war. Ich habe in deinem Zimmer nachgesehen, und es
war leer. Sie ist aus dem Fenster gestiegen, offenbar mit ein paar von deinen alten Sachen bekleidet, und hat deinen Geldbeutel gestohlen, der unter der Matratze lag!« Sie sagte das, als wäre es wichtiger als die anderen Neuigkeiten. »Den kann sie gerne haben«, erwiderte Bram, »wenn sie das Geld braucht, um Rip zu suchen.« »Ich bin zu ihrem Hof zurückgekehrt«, sagte der Lange Paul, der Vormann vom Hof der Gliddens. »Ich hab eine Laterne genommen, bin rausgeritten und hab nachgesehen. Keine Spur von ihr.« »Na ja, dort gibt es jetzt ja auch nichts mehr für sie, oder?«, sagte Jacob Reese' Frau und schniefte traurig. »Wir werden den Wachtmeister informieren, sobald es hell ist«, erklärte Glidden wichtigtuerisch. »Es ist seine Aufgabe, mit solchen Dingen fertig zu werden.« Bram sah ihn ungläubig an. »Der Wachtmeister?« 183 Glidden schnaubte. »Ich bezweifle allerdings, dass er viel unternehmen wird. Er hat wahrscheinlich wichtigere Dinge zu tun, als hinter einem Mädchen herzujagen, das seinen Bruder sucht.« »Aber er war sofort da, als es darum ging, die Morrisons von ihrem Hof zu vertreiben, den die Familie seit einer Ewigkeit bearbeitet hat«, erklärte Dora empört. »Für Zwangsvollstreckungen haben sie offenbar genug Zeit.« Das rief weitere hitzige Wortmeldungen hervor, und es sah aus, als könnte es noch eine Weile so weitergehen. Bram beobachtete das Ganze staunend und rief schließlich über den Lärm hinweg: »Was habt ihr bisher getan, um Lorrie und Rip zu finden?« »Was sollten wir denn tun?«, fragte seine Mutter beleidigt. »Wir haben ihr unser Heim angeboten, und sie ist davongelaufen. Mit deinem Geldbeutel, und ohne sich auch nur zu bedanken oder zu verabschieden. Wenn sie uns nicht will, werden wir uns nicht aufdrängen.« Bram sah erst sie an und dann seinen Vater. »Und es gab keine weitere Spur von diesen so genannten Tieren?«, fragte er. »Nein«, antwortete Ossrey. »Nicht vorher und nicht nachher.« »Wir haben keine Spuren gefunden«, sagte der Lange Paul. Bram starrte ihn an. Der Lange Paul war der beste Jäger in der Gegend; er war es gewesen, der Lorrie und Bram das Jagen beigebracht hatte. Wenn der Lange Paul keine Spuren finden konnte,
dann gab es keine. »Findet das denn niemand seltsam?«, fragte er. »Der Hof der Merfords ist sieben Meilen von jedem größeren Wald entfernt. Ein Tier, das groß genug ist, einen erwachsenen Mann und eine erwachsene Frau zu töten, wäre doch sicher von jemandem gesehen worden, als es die Felder durchquerte. Es sei denn, es ist einfach die Königsstraße entlanggetrabt, ohne dass Händler oder Reisende es 184 bemerkten, und dann auf den alten Mühlenpfad zum Hof der Merfords abgebogen.« Seine Nachbarn blickten einander verwirrt an. »Nun ja«, sagte der Lange Paul, »das muss nicht unbedingt etwas bedeuten. Die Spuren an den Leichen waren eindeutig von Tierzähnen, Bram. Das würde ich beschwören. Die Tatsache, dass es seltsam ist, ändert nichts daran. Es hätte ein fliegendes Tier sein können.« Er zuckte die Achseln. »Ein fliegendes Tier?«, fragte Bram. »Nun, ich hab noch nie eins gesehen, aber es gibt angeblich in den Bergen geflügelte Tiere, die groß genug sind, einen erwachsenen Menschen anzugreifen. Greife oder so.« Dann neigte er den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Worauf willst du eigentlich hinaus?« »Hier stimmt doch was nicht«, erklärte Bram. »Lorrie sagt, sie habe Männer gesehen, die ihren Bruder mitgenommen haben, und ihr habt ihr nicht geglaubt.« Er warf seiner Mutter einen scharfen Blick zu. Allets Lippen wurden noch schmaler. »Aber der einzige Beweis, dass es Tiere waren, sind die Bissspuren an den Leichen, und sie sagt, die Männer hätten sie mit einer Art Werkzeug gemacht. Inzwischen ist Lorrie allein davongelaufen, und alle sitzen nur hier und reden.« Ossrey wirkte beschämt, und er war nicht der Einzige, aber niemand sagte etwas, und niemand regte sich. Bram stand auf und griff nach seinem Gepäck. »Wo gehst du hin?«, fragte Allet erschrocken. »Mutter, Lorrie ist eine Nachbarin, und noch wichtiger, sie ist meine Freundin, und sie ist erst fünfzehn. Sie hat gerade alles auf der Welt verloren und irrt da draußen ganz allein umher. Rip könnte ebenfalls irgendwo unterwegs sein, oder vielleicht ist er so tot wie seine Eltern, das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass Lorrie noch lebt. Es ist unsere Pflicht, ihr zu helfen.« »Nein«, sagte Brams Mutter. »Nein, so sehe ich das nicht.
185 Wir haben es versucht, und sie hat unsere Hilfe abgewiesen. Ich finde, wir haben unsere Pflicht damit erfüllt. Und was ihr Alter angeht - du bist selbst erst siebzehn. Es gibt also keinen Grund zu glauben, dass du mehr ausrichten wirst, wenn du ihr folgst.« Bram war enttäuscht von ihr, aber nicht überrascht. Sobald er angefangen hatte, sich für Lorrie zu interessieren, hatte sich seine Mutter gegen das Mädchen gewandt. Er sah seinen Vater an. »Tu, was du für richtig hältst, Sohn«, knurrte Ossrey. Allet schlug Ossrey auf den Arm und starrte ihn wütend an. »Will mir jemand helfen, nach Lorrie zu suchen?«, fragte Bram. Es gab einiges Gemurmel darüber, dass sie ihre Familien nicht allein lassen wollten, wenn in der Nähe solche Gefahr lauerte. Und wieder wurde der Wachtmeister erwähnt; sie sollten auf den Wachtmeister warten. »Also gut«, sagte Bram. Er hatte nichts anderes erwartet. Er drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, nickte seinem Vater zu und drehte sich dann um, um zu gehen. »Ich komme wieder, wenn ich wiederkomme.« Allet streckte die Hand aus, ihre Miene ein Bild reiner Verblüffung, aber ihr Mann hielt sie zurück. Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, als Bram ein paar Sachen in eine Provianttasche warf - einen Laib Brot, ein Stück Käse und ein wenig geräuchertes Schweinefleisch - und dann nach Bogen und Köcher griff, den Versammelten noch einmal zunickte und in den Morgen hinausging. Eine halbe Meile vor den Toren von Meersburg zügelte Lorrie ihr Pferd. Die Sonne stand hoch hinter ihr am Himmel. Der alte Horace hatte länger gebraucht, um die Entfernung zurückzulegen, als sie angenommen hatte. Statt die Stadt am 186 frühen Morgen zu erreichen, hatte das arme alte Tier es erst am Mittag geschafft. Lorrie war als Kind selbstverständlich in der Stadt gewesen: Es war die einzige Marktstadt im Umkreis von zwei Wegwochen, und ihr Vater hatte sie einmal mit zum Mittsommerfest genommen, aber sie erinnerte sich kaum mehr daran. Und ich war die ganze Nacht unterwegs. Es kam ihr unmöglich vor, dass nur eine Nacht vergangen war, seit ihre Welt ein Ende gefunden hatte ... Ein von Maultieren gezogener Wagen und Packpferde kamen an ihr vorbei - die Leute beeilten sich, in die Stadt zu kommen, denn sie
wollten ihre Geschäfte erledigen, bevor die Marktstände leer waren. Alle, die Handel treiben wollten, hatten immerhin noch einen halben Tag Zeit dazu. Lorrie trieb Horace zu einem schnellen Schritt an und spähte nach vorn. Die Stadt lag in einem Tal zwischen Hügeln. Das Land direkt in der Umgebung war zu steil und zu felsig, um gutes Bauernland zu sein, aber man hatte die Wälder gerodet, und so bestand ein großer Teil des Verkehrs stadteinwärts aus Lieferungen von Feuerholz aus weiterer Entfernung. Hinter Lorrie erhoben sich Hügel mit schönen Bauernhöfen, von denen viele sie an ihren eigenen erinnerten, von dem nur noch schwelende Asche geblieben war. Es gab ein paar Schafe in der Nähe, aber vor allem Milchkühe, was sie überraschte, bis ihr klar wurde, dass eine Stadt ein guter Ort sein musste, um frische Milch zu verkaufen. Näher an der Stadt standen zu beiden Seiten der staubigen weißen Straße Werkstätten: Handwerksbetriebe, die in der Stadt nicht erlaubt waren oder mehr Platz brauchten - eine große Gerberei, deren Gestank Lorrie blinzeln und husten ließ, die Öfen eines Töpfers, geformt wie große Bienenstöcke, von denen Hitze ausging, die sie auch ein Dutzend Schritte entfernt noch spüren konnte, ein paar Schmieden und ein Viehhändler, der offenbar überwiegend Pferde verkaufte. Lorrie konnte sie auf der Koppel hinter einer brusthohen 187 Feldsteinmauer sehen. Nebenan gab es einen Sattler, der ebenfalls eine Pferdekoppel hatte. Wahrscheinlich vermieteten sie beide Reitund Zugtiere ebenso, wie sie mit ihnen handelten. Lorrie spürte, wie ihr Magen zu knurren begann, als ihr Essensgeruch in die Nase drang. Sie hatte seit dem Morgen des Vortags nichts mehr gegessen; der Schock hatte allen Hunger vertrieben. Aber für ihren Magen schien gestern Morgen sehr lange her zu sein. Sie wusste, dass sie Horace nicht behalten konnte, wenn sie in Meersburg war, auch wenn der Gedanke ihr das Herz brach. Sie hatte nicht genug Geld, um ihn irgendwo unterzustellen, nur die paar Münzen in Brams Geldbeutel, die sie für sich selbst brauchte. Ich werde Bram das Geld ersetzen, dachte sie. Ich sollte lieber zusehen, dass ich so viel wie möglich für das Pferd bekomme. Der Sattler saß in seiner offenen Bude und räumte seine Werkzeuge auf, bevor er die Werkstatt für den Tag schloss. Er blickte zu Lorrie auf, als sie sich aus dem Sattel schwang: ein Mann um die dreißig
mit Reithose und einem ärmellosen Wams, die Arme muskulös, die Hände groß und vernarbt von Ahle und stark gewachstem Faden. Seine Augen waren grün und scharfsinnig. »Kann ich dir helfen, Junge?«, fragte er. Sie zögerte. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie in Brams Kleidern und mit unter die Mütze gestopftem Haar aussehen würde wie ein Junge. Sie begriff sofort, dass das ein Vorteil sein könnte, denn ein junger Mann würde sich viel freier bewegen können als ein Mädchen. Aber was würde ihre Mutter denken? Das wiederum führte zu weiteren Gedanken an ihre Mutter, und Lorrie zwang sich zu antworten, bevor die Tränen kamen: »Ich will das Pferd verkaufen«, erwiderte sie. »Bist in die Stadt gekommen, um ein Vermögen zu machen, wie?«, sagte der Sattler und sah sich das Pferd und das Zaumzeug an. »Nun, das Pferd hat seine besten Tage hinter sich, 188 und das Zaumzeug ist auch nicht gerade neu. Sehen wir uns beides mal genauer an.« Ein paar Minuten später setzte der Sattler sich wieder auf seine Bank und verzog das Gesicht. »Fünf Silberstücke für alles, Zaumzeug, Sattel und Gurt. Mehr kann ich dir nicht geben«, sagte er. »Und das ist ziemlich großzügig.« »Es ist in Ordnung«, erklärte Lorrie. Landleute sind nicht so leicht zu betrügen, was immer die Stadtleute denken mögen, dachte sie bei sich. »Für das Pferd gebe ich dir fünfundzwanzig«, bot der Sattler an, »und das ist geschenkt, wirklich geschenkt.« Lorrie zögerte. Der Preis war nicht schlecht, aber ihr gefiel nicht, wie die Tiere auf der Koppel hinter der Werkstatt aussahen. Ich glaube, er füttert sie nicht genug, dachte sie. Es gab Männer, die Pferde billig kauften, sie sich zu Tode arbeiten ließen und dann neue kauften; eine dumme Art, Handel zu treiben, dachte sie, aber in einer Stadt, wo Futter teuer erkauft werden musste, lohnte es sich vielleicht. Dennoch, sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand so mit Horace umging, während das arme Tier sich verdutzt fragte, wieso man es verlassen hatte. »Es wäre das erste Mal seit langer Zeit, dass Swidin Betton jemandem etwas schenkt, sei es ein Verwandter, ein Freund oder ein Fremder.« Der Mann, der sich über den Zaun beugte, war etwa im Alter des
Sattlers, hatte lockiges, rötliches Haar und ein freundliches Lächeln. »Ich nehme ihn dir ab, Junge«, sagte er, »und für den gleichen Preis. Er ist ein gutes Pferd; sieht so aus, als wäre er vor allem ein Zugtier, wie?« Und deine Pferde sind nicht unterernährt, dachte sie. Der Sattler zuckte die Achseln und zahlte für Zaumzeug und Sattel; dann führte Lorrie Horace zur Koppel des Viehhändlers. An der Seite gab es einen Stall, und sie sah ihn sich 189 an: Das Stroh war offenbar erst vor kurzem gewechselt worden, und die Hufe der Tiere waren in gutem Zustand, sauber, nicht gerissen, und die Hufeisen waren nicht zu abgetragen. »Er ist so etwas wie ein alter Freund«, sagte sie und gab dem Mann Horaces Halfter. »Ich war noch ein Kind, als mein Vater ihn nach Hause gebracht hat.« Sie kraulte Horace unter dem Kinn, und der alte Wallach senkte genießerisch die Lider. »Es gibt immer jemanden, der ein sanftmütiges, schwer arbeitendes Tier wie ihn hier sucht«, sagte der Händler. »Er ist kein Fohlen mehr, aber er hat noch ein paar gute Jahre vor sich. Mach dir keine Sorgen, er wird ein Zuhause finden.« »Er kann die geradeste Furche pflügen, die ich je gesehen habe«, erklärte Lorrie tapfer. Der Händler lachte leise. »Junge, du hast ihn schon verkauft, aber ich werde daran denken, es möglichen Käufern mitzuteilen.« Lorrie lächelte und nickte, dann wandte sie sich ab, und es gelang ihr irgendwie, nicht zurückzuschauen, selbst, als Horace fragend wieherte. Sie kam zum Rand des Tiermarktes und seufzte. Vor ihr lag eins der Stadttore, und dahinter, irgendwo in der Stadt, befand sich ihr Bruder. Lorrie ging die Straße entlang und wusste nicht genau, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hatte irgendwie das Gefühl, dass Rip immer noch lebte, spürte aber nicht seine Nähe. Vielleicht war es falsch gewesen, hierher zu kommen. Sie hatte die Wache gefunden, aber dort saß im Augenblick nur ein alter Gefängniswärter, und der hatte ihr erklärt, er könne nichts für sie tun. Sie solle am besten am Abend wiederkommen, wenn der Wachtmeister die Leute vorbeibringen würde, die er im Lauf des Tages festgenommen hatte. Lorrie fing an, über einen Schlafplatz nachzudenken. Sie steckte die Hand in die Tasche und berührte den Geldbeutel,
190 den sie unter Brams Bett hervorgeholt hatte und der nun von den dreißig Silberstücken für Horace und das Zaumzeug dicker geworden war. Sie hatte einen guten Preis erzielt, aber es war kein Vermögen. Wie lange es reichen würde, wusste Lorrie nicht. Stadtpreise waren höher als auf dem Land, so viel war ihr klar. Sie spürte, wie ihr ein wenig schwindlig wurde, und erinnerte sich daran, dass sie immer noch nichts gegessen hatte. Eine halbe Stunde später leckte sie sich die Krümel einer Fleischpastete von den Fingern und dachte daran, eine weitere zu kaufen. Der Nachmittag verging schnell, und auf den Straßen herrschte immer noch Gedränge, aber es wurde langsam ruhiger. Der Händler hatte nur noch eine Pastete übrig und war dabei, seinen Stand zu schließen. Wenn Lorrie noch eine Pastete wollte, würde sie sich jetzt entscheiden müssen. Sie wollte gerade hinüberlaufen und sehen, ob sie einen besseren Preis für den letzten Verkauf des Tages aushandeln konnte, als ein Mann auf sie zukam. »He, du da, junger Bursche«, sagte er vergnügt. Lorrie warf ihm einen Blick zu. Er war etwa so alt wie ihr Vater und kaum größer als sie selbst. Er wirkte nicht allzu gepflegt, aber immer noch relativ ordentlich, und seine Kleidung war am Kragen und an den Manschetten nicht abgetragen. Insgesamt sah er aus wie ein Stadtbewohner, wahrscheinlich ein Junggeselle. Er hatte einen breiten schwarzen Schnurrbart und ein noch breiteres Grinsen. Lorrie war wegen seiner Falten überzeugt, dass der Mann sein Haar färbte, weil es noch so vollkommen schwarz war. Man hatte ihr erzählt, dass adlige Damen ihr Haar mit den unterschiedlichsten Mitteln färbten, aber sie hatte noch nie gehört, dass ein Mann das tat. Es kam ihr seltsam vor, aber der Mann machte einen freundlichen Eindruck. »Guten Tag, Sir«, sagte sie vorsichtig. »Du scheinst ein netter Junge zu sein«, erwiderte er. 191 »Danke, Sir.« »Würdest du dir gern zwei Silberstücke verdienen?«, fragte er. »Sehr gern, Sir«, sagte Lorrie eifrig. Das würde helfen. Die Götter allein wussten, wie lange es dauern würde, Rip zu finden. »Kannst du schnell laufen, Junge?« »Oh, ja, Sir«, versicherte Lorrie ihm. »Schneller als jeder andere.« Der Mann lachte und zeigte auf eine Gasse in der Nähe. »Am Ende der Gasse dort wartet ein Mann, der jemanden braucht, der ein
kleines Päckchen für ihn in einem anderen Stadtviertel abgibt. Er heißt Travers, und er wird dir nähere Anweisungen geben. Sag ihm, du wärst der Junge, den Benton geschickt hat. Und jetzt lass mich sehen, wie schnell du bist.« Sie eilte die Gasse entlang und zu der Ecke, wo unter dem knarrenden Schild einer Schänke ein Mann stand und an seinen Zähnen herumpulte. Es war angenehm, wieder aus der schmalen Gasse herauszukommen, in die kaum Tageslicht fiel. Die Stadt kam Lorrie schlimmer vor als ein Wald bei Nacht, mit diesen Fläusern, die so hoch aufragten, drei oder gar vier Stockwerke auf jeder Seite der Straße. Sie rümpfte die Nase: Ein Bauernmädchen war nicht zimperlich, aber wo sie aufgewachsen war, wurde Dung auf die Felder geschafft, wo er hingehörte, und Leute pinkelten nicht gegen Gebäude. »Sir?«, fragte sie. »Heißt Ihr vielleicht Travers?« Der Mann nickte und sah sie von oben nach unten an. »Und wer bist du?«, wollte er wissen. »Ich bin der Junge, den Benton geschickt hat«, erklärte Lorrie. »Aha.« Er zog eine Geldbörse aus der Tasche. »Bring das hier zum Feuerdrachen, einem Gasthaus nahe dem Nordtor. Dort wartet ein Herr namens Coarts darauf.« Er überreichte ihr die Börse. »Also los. Worauf wartest du noch?« 192 »Äh ... Benton hat gesagt, ich würde zwei Silberstücke dafür bekommen«, sagte sie. »Das wirst du auch, nachdem du die Arbeit erledigt hast«, erwiderte Travers barsch. »Je schneller du rennst, desto schneller wirst du bezahlt werden. Also los.« Lorrie kam sich dumm vor und war ein wenig nervös. Selbstverständlich würde sie nicht bezahlt werden, bevor sie das Päckchen abgeliefert hatte. Niemand würde sich hier auf ihr Wort verlassen. Aber sie bemerkte auch, dass dieser Travers ein sehr schlecht gelaunter Mann war, nicht annähernd so freundlich wie Benton. Auf der Straße herrschte jetzt viel weniger Gedränge, denn der Tag ging rasch zu Ende, und Lorrie wusste immer noch nicht, wo sie die Nacht verbringen sollte. Vielleicht war der Feuerdrache ja ein anständiges Gasthaus, und sie konnte dort übernachten. Sie hielt inne und sah sich um. Dann eilte sie eine kurze Straße entlang, die zur Stadtmauer führte, denn sie nahm an, dass die Mauer
sie schließlich zum Nordtor bringen würde. Plötzlich fiel sie hin und krachte mit einer Schwindel erregenden Welle von Schmerz mit der Stirn aufs Pflaster. Blut lief ihr in die Brauen, warm und klebrig. Trotz des Summens in ihren Ohren hörte sie, wie jemand weiter hinten »Haltet den Dieb!« rief, und war froh, dass sie ohne Ärger an dieser Stelle vorbeigekommen war. Lorrie versuchte aufzustehen, als etwas Festes sie in den Rücken traf und wieder zu Boden schickte. »Bleib, wo du bist!«, bellte eine vertraute Stimme. Sie drehte den Kopf und starrte verblüfft den fröhlichen Benton an, der im Augenblick sehr viel weniger freundlich aussah. »Aha!«, sagte Travers, der herbeigeeilt war. »Ihr habt die kleine Ratte also erwischt!« »Dann ist das hier der Dieb?«, fragte Benton. 193 »In der Tat, Sir! Und er hat meinen Geldbeutel noch in der Hand!«, sagte Travers laut. Lorrie schaute ungläubig von einem zum anderen. Die wenigen Leute in der Nähe hielten inne, um zu sehen, um was es da ging, und sie fühlte sich verpflichtet zu widersprechen. »Aber Ihr habt es mir doch gegeben!«, rief sie. »Ihr habt gesagt ...« Benton schlug ihr mit seinem Schlagstock mit präzise kalkulierter Kraft in den Nacken, und sie sackte betäubt zurück. »Unsinn!«, rief er. »Du kannst dem Richter deine Lügen erzählen, und dann werden wir ja sehen, was er davon hält.« Ein paar Leute in der Nähe schauten zufrieden drein und nickten zustimmend, andere schienen nicht so sicher, aber sie mischten sich nicht ein. »Ich bin Gerem Benton, ein unabhängiger Diebesfänger. Sir, ich muss Euch bitten, als Zeuge mit mir zu kommen«, verkündete Benton. Auch die Zweifelnden unter den Zuschauern schienen nun zufrieden. Die Diebesfänger arbeiteten indirekt für den Baron und erhielten eine Prämie für jeden gefangenen Dieb, den sie dem Wachtmeister übergaben. »Natürlich, das ist meine Pflicht«, stimmte Travers zu. Er stieß Lorrie mit dem Fuß an. »Hoch mit dir, Junge!« Lorrie schien sich nicht recht bewegen zu können, und nach einem Augenblick hörte sie auf, es zu versuchen. »Was für einen empfindlichen Kopf der Kerl hat«, sagte Benton.
»Wenn Ihr einen Arm nehmt, Sir, dann nehme ich den anderen, und wir machen uns auf den Weg.« Sie zogen Lorrie hoch, und ihr wurde schwarz vor Augen. Stechender Schmerz zog an beiden Seiten ihres Halses entlang zum Kopf. Als sie wieder zu sich kam, befand sie sich flach auf dem Boden in einer dunklen Gasse hinter einem Gebäude. Benton und Travers stritten sich mit zwei anderen Männern. 194 »... mein Territorium, Gerem Benton, und das weißt du genau«, knurrte ein Mann mit einer Augenklappe. Er ragte hoch über Benton auf, der versuchte zu widersprechen. »Es hat alles drüben auf dem Ostmarkt angefangen«, sagte er. »Aber wir müssen durch dein Territorium, um zum Gefängnis zu gelangen. Sei doch vernünftig, Jake.« »Ich habe das Ganze gesehen!«, brüllte Jake, der offenbar nicht vorhatte, vernünftig zu sein. »Mir ist es gleich, wo du angefangen hast, du hast den wichtigeren Teil auf meinem Territorium durchgeführt!« Er hob die Faust, als wolle er zuschlagen, und Travers packte ihn am Handgelenk. Dann mischte sich Jakes Begleiter ein und versetzte Travers einen harten Stoß. »Ach, die Dämonen sollen es haben«, fluchte Benton. »Also gut, wenn es dein Territorium ist...« Er wandte sich halb ab, dann riss er den Schlagstock in Jakes Mitte und versetzte ihm einen kurzen, heftigen Schlag. »Aber wer sagt überhaupt, dass es dein Territorium ist, du Hund!« Benton packte den Mann am Haar und riss seinen Kopf zurück. Er presste ihm den Schlagstock an die Kehle, so dass er keine Luft mehr bekam, und knurrte: »Vergiss nicht, wer hier das Sagen hat, Jungchen. Du und deine kleine Mannschaft, ihr könnt nur deshalb hier Beutel abschneiden und euch aufspielen, weil ich euch den Wachtmeister vom Hals halte. Ich habe jetzt beinahe drei Wochen keinen Dieb mehr ausliefern können, also verwandle ich, wenn es nicht anders geht, einen Bauernjungen in einen Dieb. Aber ich werde mir nichts mehr über >dein Territorium< und »nein Territorium< anhören.« Er ließ den Mann los und sah zu, wie er rückwärts taumelte. »Wenn es um Sachen geht, die nicht ganz legal sind, ist ganz Meersburg mein Territorium.« Lorrie krabbelte ein paar Schritte auf allen vieren rückwärts, dann drehte sie sich um und kam auf die Beine. Bevor sie noch zwei
Schritte gemacht hatte, hatten alle vier Männer sie gepackt, schubsten sie hin und her, schrien sie und einan195 der an und rissen an Lorries Armen. Sie sank mit einem jämmerlichen Schluchzen auf die Knie. Jemand hatte ein Messer gezogen ... Irgendwie gab dieses Rapier an seiner Hüfte, selbst wenn es sorgfältig unter dem Umhang verborgen war, Jimmy das Gefühl, größer zu sein, ja beinahe erwachsen. Er spürte es an seinem neuen Gang, an dem Schwung, der in seinen Bewegungen lag. Sollten sie doch wagen, sich ihm in den Weg zu stellen! Er reckte die schmalen Schultern und grinste. Er hätte sich im Traum nicht einfallen lassen, das Rapier auf den Straßen von Krondor zu tragen; die Wache hätte ihn festgenommen und in eine Zelle geworfen, bevor er auch nur die geringste Chance zu einer Erklärung gehabt hätte. Und was die Spötter anging, nun, solange man kein Schläger war, ermutigten sie einen nicht dazu, offen Waffen zu tragen. Es brachte zu viel Ärger. Das könnte hier in Meersburg genauso sein. Aber er war wie ein achtbarer Bürger gekleidet, und er wusste, dass das einen großen Unterschied machte. Noch wichtiger jedoch war eine gute Adresse. Selbstverständlich hoffte er, nicht darauf zurückgreifen zu müssen. Flora würde ihn umbringen; immer vorausgesetzt, dass sie Tante Cleora nicht schon alles erzählt hatte und inzwischen heulend auf der Treppe vor dem Haus saß. In diesem Fall würde man sie wahrscheinlich beide festnehmen. Aber als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatten die beiden zusammengesessen, und Tante Cleora hatte Flora Familiengeschichten erzählt und dabei die Hände des Mädchens festgehalten, als bestünden sie aus Gold. Cleora hatte keine Kinder, und es sah so aus, als hätte sie nun endlich jemanden, dem sie all ihre mütterlichen Gefühle schenken konnte. Irgendwann an diesem Abend, nahm Jimmy an, würden die beiden schließlich auch den Großvater besuchen. 196 Jimmy widersetzte sich dem Drang, den Umhang von der Schulter zurückzustreifen und sein Rapier zu zeigen. Es hat keinen Sinn, zu viel zu riskieren, dachte er. Ich muss weiterhin so respektabel wie möglich aussehen, ermahnte er sich. Und das hat auch seine Vorteile. Ich kann mir mein Ziel frei wählen, und die Ladenbesitzer verbeugen sich auch noch vor mir und bitten mich, mir alles
anzuschauen, statt nach der Wache zu rufen oder mit Pferdeäpfeln zu werfen. Also stolzierte er weiter und genoss die milde Abendluft und die Art, wie sein Umhang um seine Waden schwang. Ihm gefiel diese kleine Stadt. Verglichen mit Krondor war alles so kompakt und so ruhig. »Lasst mich los!« Jimmy drehte sich um, weil er wissen wollte, wer da gerufen hatte. In einer trüben Gasse sah er, wie vier Männer gegen eine Gestalt kämpften, die sich wehrte. Aha, dachte er selbstzufrieden. In solchen Fällen ist eine Organisation wie die Spötter wirklich praktisch. In Krondor würde es nie zu solchen Szenen kommen. Kein freischaffender Dieb würde es wagen, sich mit einem Spötter um die Beute zu streiten, und zwei Gruppen von Spöttern würden einfach die Beute zum Tag- oder Nachtmeister bringen und den entscheiden lassen. Das hier war unzivilisiert, und es war noch nicht einmal dunkel! Für einen kurzen Augenblick fiel ein letzter goldener Sonnenstrahl auf das Gesicht des Opfers, als es zum Ende der Gasse schaute, wo Jimmy stand. Das Herz des jungen Diebs schien in diesem Moment stehen zu bleiben, und er hielt die Luft an. Dann drehte sie den Kopf wieder weg, das Licht war verschwunden und die Gasse dunkler als zuvor. Jimmy war immer noch wie gelähmt. Das ist unmöglich!, dachte er. Es war unmöglich, und dennoch ... In diesem letzten Aufblitzen des Tageslichts hätte er schwören können, dass er das 197 Gesicht von Prinzessin Anita gesehen hatte. Aber sie war doch auf dem Weg nach Crydee! Wie sollte sie allein hier nach Meersburg gekommen sein? Das Mädchen stieß einen Schmerzensschrei aus, und der junge Dieb handelte schnell. Er war einen Moment zuvor an einem Aschenkasten vorbeigekommen; jetzt schnappte er sich eine Hand voll Asche, rieb sie sich ins Gesicht, zog die Kapuze seines Umhangs so tief wie möglich über den Kopf und rannte in die Gasse. Er riss sein Rapier heraus und stürzte sich mit einem Schrei, der einem das Blut gerinnen ließ, auf die schnaufende, schubsende Gruppe am Ende der Gasse. »Macht sie fertig, Jungs!«, brüllte Jimmy. »Keine Gnade!« Bis dahin hatten sie harte Worte und noch härtere Schlagstöcke
benutzt, und ein Mann fuchtelte mit einem Dolch, ohne ihn zu benutzen, aber die Einführung einer scharfen Waffe in den Kampf und die Möglichkeit weiterer Angreifer verwirrten die vier Diebesfänger einen kritischen Augenblick lang. Jimmy riss das Rapier auf .Taillenhöhe in einem weiten Bogen herum, und die Männer ließen das Mädchen los und wichen zurück. Sofort griff Jimmy nach ihrem Hemd und zerrte. Sie war älter als er, stellte er sofort fest, aber nicht größer. Und sie war mutig, dachte er. Sie war sofort auf den Beinen und bereit, ihm aus der Gasse zu folgen. Er ließ sie los, steckte das Rapier wieder ein und eilte zu dem Aschenkasten. Die vier Männer hatten nicht lange gebraucht, um sich von dem ungeplanten Angriff zu erholen und zu erkennen, dass es keine »Jungs« gab, die vorhatten, »keine Gnade« zu zeigen, und sie verfolgten Jimmy Er nahm an, inzwischen würden sie das Mädchen gerne laufen lassen, wenn sie dafür die Gelegenheit erhielten, ihn selbst grün und blau zu schlagen. Es war bedauerlich, aber irgendwie hatte er häufig diese Wirkung auf andere. 198 Als sie das Haus mit dem Aschenkasten erreichten, griff Jimmy danach, drehte sich um und warf den Inhalt in die Luft und direkt in die Gesichter seiner Verfolger. Sie fielen fluchend und hustend zurück. Mit einer Geschicklichkeit, die ans Übernatürliche grenzte, zog der junge Dieb seine Klinge abermals und versetzte den vier Männern ein paar gut platzierte Kratzer, während sie vergeblich versuchten, das viel längere Rapier mit Schlagstöcken und einem einzelnen Dolch abzuwehren. Jimmy hatte nur ein paar Wochen Übung mit der Klinge, aber sein Lehrer war Prinz Arutha gewesen, und außerdem war Jimmy schneller als die meisten erfahrenen Schwertkämpfer. Die Männer versuchten auszuschwärmen und sich von zwei Seiten zu nähern. Das brachte ihnen ein paar unangenehme Schnitte an Händen und Armen ein. Der junge Dieb schlug um sich, seine Klinge schnitt zischend durch die Luft, und jedes Mal, wenn sie traf, brüllte ein Angreifer schmerzerfüllt und fiel zurück. Dann versuchte der Anführer der Gruppe, der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, anzugreifen, und Jimmy fügte ihm eine tiefe Schnittwunde an der Schulter zu. Einer der Männer drehte sich um und floh, und einen Augenblick später zogen sie sich alle eilig zurück; das Mädchen und der Junge waren es nicht wert zu verbluten.
Jimmy packte das Mädchen an der Hand und führte sie durch den engen Gang zwischen zwei Häusern. Er war kaum breit genug für ihn, und nach ein paar Schritten drohte sein Umhang ihn zu erwürgen, denn er war irgendwo an einer rauen Oberfläche hängen geblieben. Es gelang ihm, eine Hand zu heben, um den Verschluss zu lösen, und mit Hilfe des Mädchens zog er den Umhang aus. »Hier können sie uns nicht folgen«, sagte er. »Was wird sie davon abhalten, durch die Gasse zu gehen und von der anderen Seite zu kommen?«, fragte das Mädchen. Sie hatte eine tiefe, heisere Stimme und stellte sehr vernünftige Fragen. 199 Jimmy gefiel das, aber sie klang nicht wie die Prinzessin, was bedeutete, dass er sich wahrscheinlich in etwas eingemischt hatte, das ihn nichts anging. Na gut, wie gewonnen, so zerronnen, dachte er philosophisch. Vielleicht gab es ja eine Gelegenheit, die Sache zu seinem Vorteil zu wenden. Und wenn es Wahnsinn war, war es wenigstens nobler Wahnsinn. Als sie hinter dem Haus herauskamen, sah Jimmy sich um und entdeckte einen Weg über die Dächer. Die Dächer waren hier anders als in Krondor, ein wenig steiler und überwiegend mit Schindeln gedeckt, aber nicht unüberwindlich. Die Wände bestanden vor allem aus Naturstein und hatten weniger Ziegel und Balken, aber seine Finger waren kräftig und seine Zehen geschmeidig. »Kannst du klettern?«, fragte er. »Ja«, sagte sie knapp. »Dann folge jeder Bewegung, die ich mache«, befahl er. Er schnallte seinen Gürtel ab und hängte ihn sich über die Schulter, so dass der Rapiergriff zwischen den Schulterblättern zu liegen kam. Die Regenrinne hinauf, dachte er. Sie bestand aus Holz, war fest genug und mit Bolzen an den Steinen befestigt. Dann auf ein Fenstersims, von dort zum Giebel und auf das Dach. Von dort oben kam es Jimmy so vor, als gehöre die Stadt ihnen. Das Mädchen streckte die Hand aus, und er griff danach und half ihr hoch. Dann führte er sie in den tiefsten Schatten, den er finden konnte, und hoffte, dass sie von der Straße unten nicht zu sehen waren. Das Ganze geschah keinen Augenblick zu früh, denn nun kamen vier sehr zornige Männer, die sich inzwischen Schwerter und Keulen verschafft hatten, um die Ecke der Gasse. Sie sahen sich überall um und stritten sich einen Moment lang, bis der Kleinere erst in eine und dann in eine andere Richtung zeigte, woraufhin ein Mann die Straße
hinauf- und der andere die Straße hinunterging. Der Mann mit dem Schnurrbart 200 rief: »Findet sie! Sie sind jeder drei Silberstücke wert.« Dann ging er selbst weiter. »Drei Silberstücke!«, rief das Mädchen. »Was für Dreckskerle!« Eindeutig keine Prinzessin. »Was war eigentlich los?«, fragte Jimmy »Der Mann sagte, er wäre ein Diebesfänger. Sie wollten mich gegen eine Belohnung ins Gefängnis bringen.« Jimmy schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Das ist ein alter Trick. Zwei oder drei >Bürger< sagen aus, du wärst ein Dieb, und wenn es niemanden aus der Stadt gibt, der sich für dich einsetzt, heißt es ab ins Arbeitshaus - oder Schlimmeres.« Er hielt inne. »Hast du den Namen von dem Burschen mit dem Schnurrbart gehört?« »Ja. Er sagte, er hieße Gerem Benton.« »Ah«, sagte Jimmy langsam. »Du kennst ihn?« »Ich kenne ihn«, erklärte Jimmy und nickte. »Gerem die Schlange. Hat in Krondor als Hochstapler gearbeitet. Ich dachte, er wäre tot.« Er stand auf. »Ich heiße Jimmy Wenn du willst, werde ich dich nach Hause bringen.« »Ich bin nicht von hier«, erwiderte das Mädchen schroff, dann schwieg sie einen Augenblick. »Danke«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du dich nicht eingemischt hättest.« »Alles Mögliche«, erwiderte Jimmy »Aber nichts Gutes, darauf kannst du dich verlassen. Und wie heißt du?« »Ah, Jimmy«, sagte sie. Der junge Dieb musste so sehr lachen, dass er ein Stück vom Dach herunterrutschte. Er kletterte wieder nach oben und grinste sie an. »Nein, nein, das ist mein Name«, sagte er. »Du hast nicht aufgepasst.« Er beugte sich ein wenig näher und flüsterte: »Ich weiß, dass du ein Mädchen bist.« Sie öffnete den Mund, als wollte sie es abstreiten. 201 »Ich weiß es«, wiederholte er. »Wie denn? Die Männer haben es nicht gemerkt.« »Na ja, ich bin eben ... aufmerksamer, denke ich. Oder vielleicht liegt es daran, dass du jemandem sehr ähnlich siehst, den ich kenne,
und sie ist ganz sicher ein Mädchen.« Er versetzte ihr einen sanften Schubs gegen die Schulter. »Also, wie heißt du?« »Lorrie«, antwortete sie entmutigt. »Lorrie Merford.« »Schön, dich kennen zu lernen, Lorrie«, sagte Jimmy weltmännisch, und ihm gelang eine Miniaturausführung von Prinz Aruthas höfischer Verbeugung, während er immer noch auf rutschigen roten Schindeln lag. Jetzt lächelte sie wieder. »Ich freue mich auch, dich kennen zu lernen, Jimmy«, sagte sie. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und es war beinahe dunkel. Sie würden schlechter sehen können, wenn es noch dunkler wurde, aber der junge Dieb schlug die Beine übereinander, als hätte er alle Zeit der Welt. Es war ohnehin besser, ihre Verfolger weiterziehen zu lassen, bevor sie sich selbst in Bewegung setzten. »Wenn du also nicht in der Stadt wohnst, wo kommst du her?«, fragte er lässig. »Aus einem Ort, von dem du wahrscheinlich noch nie gehört hast«, sagte sie. »Das nächste Dorf ist ein winziger Ort namens Relling.« Nein, davon habe ich noch nie gehört, dachte er. Klingt nach einem Ort, wo man früh auf steht, früh ins Bett geht und sich redlich von den Früchten des Feldes ernährt. Ich hoffe, ich muss mich niemals dort hinbegehen. »Hattest du vor, heute Abend noch zurückzukehren?«, fragte er. »Äh ... nein.« Lorrie schüttelte den Kopf »Ich habe hier etwas zu erledigen.« Jede Wette, dachte er. Er hätte auch gewettet, dass es etwas 202 war, womit ihre Familie nicht einverstanden war. Warum sollte sie sich sonst verkleidet haben? »Wo willst du also übernachten?«, fragte er. »Wie ich schon sagte, ich bringe dich nach Hause.« Sie lachte kurz, dann sagte sie: »Ich habe keinen Schlafplatz. Ich bin gerade erst in die Stadt gekommen, und beinahe der Erste, dem ich begegnet bin, war dieser Benton, und ich habe zugestimmt, für ihn einen Botengang zu erledigen.« Ihre Stimme triefte vor Selbstverachtung. »Nimm dir das nicht zu übel«, riet Jimmy. »Der Kerl ist wirklich aalglatt. Ich bin selbst fremd hier, also weiß ich nicht, welche Gasthäuser für dich geeignet sein könnten. Hast du Geld?« Sie schwieg lange. »Ein wenig«, gab sie dann vorsichtig zu. So gut wie keins, dachte Jimmy. Armes Mädchen.
»Also gut«, sagte er und stand auf. »Sehen wir uns die Gegend mal an. Vielleicht können wir irgendwo einen wirklich billigen Platz für dich finden.« Er half ihr auf die Beine und führte sie zurück zu einer Stelle, wo sie nach unten klettern konnten. Jarvis Coe saß in der dunkelsten Ecke des Roten Hahns, fest in seinen Umhang gewickelt, und trank sein Bier. Auf einem Spieß über dem Feuer drehte sich langsam ein Schweinebraten, aber Coe hatte sich mit einem Brocken dunklem Brot, etwas Käse und ein paar Äpfeln zufrieden gegeben - davon Magenkrämpfe zu bekommen war erheblich unwahrscheinlicher. Einer der Vorteile des Kleinstadtlebens bestand darin, dass die Lebensmittel auf dem Markt frischer und billiger waren. Er hatte schon zu Beginn des Abends dafür bezahlt, den Tisch benutzen zu dürfen, da er nicht vorhatte, viel zu trinken, und deswegen keinen Ärger wollte. Er war hier, um zu lauschen. Im Lauf der Jahre war er zu dem Schluss gekommen, dass der nützlichste Klatsch für einen Mann mit seinen 203 Interessen in den rauesten Schänken zu finden war, und das sollte sich auch an diesem Abend wieder einmal beweisen. Die Tische entlang der Wand waren durch Bretterwände voneinander getrennt, die nicht ganz bis zu den Dachbalken reichten. Coe konnte dank seiner Ausbildung und seiner Konzentration einem sehr interessanten Gespräch am nächsten Tisch folgen. Die Astlöcher und Ritzen in den Brettern waren ebenfalls hilfreich, denn sie ließen ihn hin und wieder einen Blick auf die Tischnachbarn werfen. »Er sagt einfach: >Bringt sie her.< Ich sage dir, das gefällt mir nicht«, sagte ein kräftiger Mann zu seinem Begleiter. »Es wird dort immer schlimmer. Ich will wirklich nicht mehr hingehen!« »Immer mit der Ruhe, Rox«, versuchte sein dünnerer Begleiter ihn zu beruhigen. »Wir sind noch nie so gut bezahlt worden.« Er hob seinen Kelch. »Wir trinken den besten Wein, oder nicht?« Was hier im Hahn mindestens zwei Stufen oberhalb von Essig sein musste, dachte Cox. Rox beugte sich dicht zu seinem Kumpan und sah sich nervös in der Schankstube um. »Was wir da tun, ist nicht richtig. Wirklich nicht richtig.« Der Dünne schüttelte sich vor Lachen. »Selbstverständlich ist es das nicht!«, sagte er. »Das meine ich nicht«, fauchte Rox. Der Dünne wandte ungeduldig den Blick ab.
Rox versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Dieser Ort - da stimmt etwas nicht.« Rox rieb sich mit dem Daumen über die Unterlippe. »Es ist einfach nicht richtig.« Der Dünne bewegte erst den Kopf und dann den Rest seines Körpers - wie ein Hund, der Wasser abschüttelt. Rox packte ihn am Arm. »Du weißt, was ich meine.« »Ich weiß nur, dass ich noch nie so gut bezahlt worden 204 bin«, erklärte der Dünne störrisch. »Und mehr brauche ich nicht zu wissen und will ich nicht wissen, und wenn du schlau bist, machst du es genauso.« Rox schwieg einen Augenblick und starrte finster vor sich hin. »Was will er mit all den Kindern?«, fragte er dann plötzlich. Der Dünne fing an, höhnisch zu lachen. »Vielleicht betreibt er ja ein Waisenhaus, hihi!« Er schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen. »Weil er so ein gutes Herz hat.« Selbst Rox grinste einen Augenblick und trank einen Schluck. Aber als er den Becher wieder absetzte, war sein missmutiger Gesichtsausdruck zurückgekehrt. »Ich will das nicht mehr«, brummte er. »Warum kann er nicht jemand anderen finden, der sie holt?« »Ich denke, er will es möglichst geheim halten«, sagte der Dünne. »Wir wissen davon, also«, er zuckte die Achseln, »setzt er uns ein, statt es anderen zu erzählen. So bleibt es geheimer.« Rox blieb einen Augenblick ruhig sitzen und brummte leise vor sich hin. »Ich will aufhören«, sagte er plötzlich. »Das können wir nicht«, fauchte der Dünne. »Wir brauchen das Geld - so viel Geld hatten wir noch nie. Und außerdem ...« Er hielt inne und rieb sich das Gesicht und spähte über die Schulter. Er beugte sich zu Rox und flüsterte: »Ich glaube nicht, dass wir aufhören können.« »Wie meinst du das?« Rox richtete sich starr auf und wirkte plötzlich sehr besorgt. Der Dünne beugte sich noch näher. »Er ist mächtig.« Er spähte erneut über die Schulter. »Er kann Sachen mit uns machen.« Rox starrte ihn an und schüttelte verwirrt den Kopf. »Du weißt, was ich meine. Wenn Leute wie wir Leute wie ihn verärgern, wird das nicht gesund für uns sein.« Rox' Augen weiteten sich. »Oh«, sagte er. 205
»Also machen wir weiter, in Ordnung?« »Ich denke schon«, lenkte Rox ein. Er griff nach seinem Krug, trank ihn leer und setzte ihn dann laut ab. »Heh!«, rief er. »Wirt! Mehr!« »Wir bringen den Jungen zur Burg, nehmen das Geld und verschwinden. Ganz einfach. Mach einfach mit. Vielleicht war es ja sowieso das letzte Mal, dass wir eine Reise aufs Land unternehmen mussten.« Der größere Mann antwortete nicht, aber er sagte dem Wirt, er solle den Krug, den er zum Nachfüllen mitgebracht hatte, auf dem Tisch lassen, und dann betranken sie sich beide systematisch. Coe hörte sich das alles an und kam zu dem Schluss, dass er vielleicht ebenfalls einen Ausflug aufs Land unternehmen sollte. Es könnte sehr interessant sein, diesen Ort zu sehen, der »nicht richtig« war. Jimmy führte das Mädchen zum Lagerhausviertel im Hafen. Nach seiner Erfahrung konnte man an solchen Orten leicht einen verlassenen Raum finden. Außerdem gab es viele Lagerhäuser und für gewöhnlich nur wenige Wachen; ein oder zwei Männer für eine ganze Reihe, und diese Wachen waren für gewöhnlich nicht besonders aufmerksam oder neugierig. Sie hielten sich im Schatten, was dazu führte, dass Lorrie häufig stolperte. Zuerst hatte sie Jimmy Leid getan, dann war er amüsiert gewesen, aber jetzt hatte sie angefangen zu fluchen, und er machte sich Sorgen, dass die Leute auf sie aufmerksam werden könnten. Die Wachen kümmerten sich im Allgemeinen um nichts, aber wenn man ihnen die eigene Anwesenheit so deutlich unter die Nase rieb, war es ihnen unmöglich, ein Auge zuzukneifen. »Lorrie«, flüsterte er, »wir müssen leise sein.« »Ich kann nicht sehen, wo ich hintrete«, zischte sie. Jimmy holte tief Luft. Er wusste doch, dass er sich mit ge206 wohnlichen Bürgern nicht einlassen sollte. Sie brachten einem nichts als Ärger ein, aber hier zog er schon wieder eine von ihnen an der Hand hinter sich her. »Das verstehe ich, aber könntest du zumindest aufhören zu fluchen? Laut zu fluchen, meine ich?« »Oh. Tut mir Leid.« Sie gingen weiter. Er suchte nach etwas Heruntergewirtschaftetem, am besten Verlassenem. Aber die Lagerhäuser, an denen sie bisher vorbeigekommen waren, waren alle fest verschlossen und gut gepflegt. Meersburg war offenbar ein geschäftiger Hafen, obwohl es
kleiner war als Krondor. Ich nehme an, es liegt an der Nähe zu Kesh, dachte Jimmy Dann entdeckte er einen Platz, der geeignet schien. Er führte das Mädchen zu einer dunklen Nische zwischen zwei Gebäuden. »Ich werde mich ein wenig umsehen«, sagte er. »Warum ruhst du dich nicht ein bisschen aus?« Sie schwieg einen Augenblick, dann fragte sie misstrauisch: »Warum?« Nichts als Ärger, dachte er. »Weil ich glaube, dass ich einen Ort gefunden habe, wo du umsonst übernachten kannst. Aber meine Augen sind offenbar besser als deine, und ich will dich nicht wegen nichts dort rüberzerren. Ich komme sofort zurück, das verspreche ich.« »Oh!«, sagte sie und klang, als wäre ihr nie der Gedanke gekommen, dass sie auch umsonst übernachten könnte. »In Ordnung.« Jimmy tätschelte ihr noch einmal die Schulter, dann machte er sich auf den Weg. Das Haus hatte eine Treppe zum ersten Stock, und er setzte vorsichtig den Fuß auf die erste Stufe, aber sie knarrte trotzdem. Wenn er hinaufging, würde das wahrscheinlich genug Krach machen, um selbst die Toten aufzuwecken; er würde also einen anderen Weg nach oben finden müssen. Als er sich weiter umsah, fand er ein kleineres Gebäude an der Rückseite; die Spitze des Giebels lag beinahe di207 rekt unterhalb eines einzelnen Fensters, und das kleinere Gebäude ließ sich leicht erklettern. Als er oben war, stellte er erfreut fest, dass das Fenster nicht verschlossen war. Er glitt nach drinnen ... Ein netter, lange verlassener Speicherraum oberhalb des Hauptlagerhauses. Wahrscheinlich war er hin und wieder benutzt worden, um Fracht von größerem Wert aufzubewahren - Branntwein vielleicht oder Gewürze. Nun gab es hier nicht mehr viel; ein oder zwei Fässer, wahrscheinlich voller Nägel, zwei Ballen billiges Sackleinen, ein paar beschädigte Möbel und Unmengen Staub. Jimmy bewegte sich vorsichtig, aber das erwies sich als unnötig, denn der Boden bestand aus festen Eichendielen, die nicht knarrten: Solche Böden hielten ewig, wenn man sie trocken hielt, und das Dach schien sehr gut zu sein. Die Tür zum Hauptlagerhaus ging nach innen auf, aber davor standen Kisten, die beinahe bis zu Jimmys Brust reichten, als er in den Türrahmen trat. Er stieß sie vorsichtig an und stellte fest, dass er sie nicht bewegen konnte. Zumindest nicht ohne mehr Krach und Anstrengung, als er riskieren wollte. Er schob
sein Messer vorsichtig durch eine Ritze zwischen zwei Brettern, und es klirrte matt, als die Klinge auf die Fracht darin traf, aber als er weiterstocherte, stieß er auch auf Stroh. Irgendeine Art von Töpferware, dachte er. Verflucht schwer. Beinahe so, als hätte man eine Festungsmauer vor sich - man kann jeden, der die Tür frei räumen will, schon stundenlang vorher hören, und der einzige andere Wegführt durchs Fenster. Zweifellos hatten auch andere bereits festgestellt, dass das Gebäude einen perfekten Weg ins Lagerhaus darstellte, und der Besitzer hatte ihnen diesen Weg abgeschnitten. »Hervorragend«, sagte Jimmy und rieb sich die Hände. Lorrie war genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte, und hatte sich mit dem Rücken an das Gebäude gelehnt. »Komm«, sagte er. »Ich habe einen Platz gefunden.« 208 Sie war ein tapferes kleines Ding, das musste er zugeben, wenn auch viel zu vertrauensselig. Ich hätte ein Sklavenhändler sein können oder ein Bordellbesitzer oder einfach ein Vergewaltiger und Mörder. Die da ist ein kleines Schaf weit weg von daheim. Sobald er den Weg zu dem Fenster beschrieben und begonnen hatte zu klettern, folgte sie ihm ohne weitere Fragen. Als sie in dem Zimmer waren, fing er an, einen der Tuchballen abzurollen. »Was machst du denn da?«, fragte sie und nieste von dem Staub, den er aufwirbelte. Wie er angenommen hatte, waren die tieferen Lagen sauber und nicht mehr staubig, obwohl das Zeug so lange aufbewahrt worden war, dass es säuerlich roch. »Ich mache dir ein Bett«, erklärte er grinsend. »Das kann ich nicht benutzen.« Sie klang ehrlich entsetzt. »Selbstverständlich kannst du das«, versicherte er ihr. »Du leihst es dir doch nur. Du beschädigst es nicht, indem du darauf schläfst. Außerdem liegt es hier offensichtlich schon seit Jahren, und niemand hat es vermisst.« Als sie immer noch zögerte, verdrehte er die Augen und fuhr fort: »Und wenn du es so zurücklässt, wie wir es vorgefunden haben, wird es niemand merken.« »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Lorrie. Sie griff nach dem anderen Ballen. »Vielleicht werde ich dem Mann, dem dieses Zeug gehört, irgendwann einen Gefallen erweisen können.« Jimmy rollte weiter Tuch ab und blickte im Dunkeln zu ihrem Umriss. Ehrliche Menschen verblüfften ihn immer wieder.
Zusammen arrangierten sie das Sackleinen zu einem einigermaßen bequemen Bett, und Lorrie dankte ihm. Jimmy dachte daran, einen Kuss zu stehlen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass das die Dinge nur komplizieren würde. 209 Dann entschied sich Lorrie, die Dinge zu komplizieren, indem sie fragte: »Werde ich dich wieder sehen?« »Ich komme morgen hier vorbei«, antwortete er. »Wenn du dann noch hier bist, werden wir uns sehen.« »Danke«, sagte sie. Sie griff nach seiner Hand und schüttelte sie. Ihm war schon vorher aufgefallen, dass ihre Hände schwielig waren, aber auch klein und wohlgeformt. Sie hatte schöne Zähne und war groß für ihr Alter: Sie kam aus einer schwer arbeitenden, aber nicht armen Familie. »Gern geschehen.« Plötzlich war er verlegen. »Gute Nacht.« »Gute Nacht.« Jimmy stieg aus dem Fenster, kletterte an dem kleineren Gebäude hinunter und eilte dann zurück zu Tante Cleoras Haus. Das war seltsam, dachte er. Er fragte sich, was dieses Mädchen vom Land wohl in die große Stadt geführt hatte, und das auch noch als Junge verkleidet. Er würde sie bei Tageslicht sehen müssen und feststellen, ob dieser kurze Blick, den er auf sie hatte werfen können, ihm die Wahrheit vermittelt hatte. Sah sie tatsächlich der Prinzessin so ähnlich, wie er dachte? Vielleicht würde er ja wirklich morgen zurückkehren. Immer vorausgesetzt, er hatte Zeit dazu. 10 Der Baron Der Schlafende wälzte sich hin und her und stöhnte. Vor dem Zimmer standen Wachen, die die Geräusche ignorierten, denn sie hatten sie schon öfter gehört; der Baron schlief nur selten eine Nacht durch, ohne diese Träume zu haben. Die Wachen waren abgebrühte Männer, und man hatte sie nicht nur deshalb ausgewählt, weil sie in der Lage waren, ihren Herrn zu verteidigen, sondern auch wegen ihrer Bereitwilligkeit, die seltsamen Vorgänge im Heim des Barons zu ignorieren. Sie waren allesamt ehemalige Söldner, Männer, deren Loyalität dem Gold und nicht der Tradition galt, und sie störten sich nicht an den Schreien, die häufig aus den Gemächern ihres Herrn oder aus anderen Teilen des Herrenhauses drangen. Bernarr ap Lorthorn, Baron von Meersburg, Vasall von Lord Sutherland, Herzog des Südlichen Grenzlandes, zuckte in unruhigem
Schlaf. Er wrang das feine Leinenbetttuch in den Fäusten und zerrte es hin und her. Der Stoff war bereits nass geschwitzt. In seinen Träumen war er nicht der magere, alternde Mann mit dem schlaffen grauen Haar, sondern jung und stark und zutiefst in seine schöne Frau Elaine verliebt. Bitte nicht, dachte er. Er wimmerte und zuckte abermals. Bitte nicht. Die Träume waren wunderbar und unbeschreiblich hassenswert. Es waren immer die gleichen, so als befände er sich 211 im Geist seines jüngeren Ich, als sähe und röche, taste und spüre er wie damals, aber in einer abgelegenen Ecke seines Geistes wusste er, wie die Geschichte ausging. Am Horizont lauerte die Katastrophe, ragte auf wie eine grausige Dämonenfestung hinter dem Rand der Zeit und warf einen Schatten, der alle Schönheit und allen Glanz verblassen ließ. Aber er war dazu verurteilt, in seinen Träumen die Vergangenheit immer wieder zu erleben, all seine Freude und sein Staunen, nur um schließlich feststellen zu müssen ... Er hatte sie in Rillanon kennen gelernt. Es war Frühsommer, als er Rillanon zum ersten Mal besuchte, eine Zeit der Blumen, und überall hatte es Blüten gegeben. Wohin sein Blick auch fiel, erfreuten die Lieblingsfarben der Natur seine Augen. Selbst die Hafenkneipen hatten Blumenkästen oder waren von blühenden Ranken überwachsen. Als er den Hafen verließ, um zum Palast des Königs zu reiten, raubte ihm die schiere Großartigkeit der Hauptstadt den Atem. Er hasste es, auch nur zu blinzeln, weil er stets befürchtete, etwas Neues und noch Schöneres zu verpassen; nur weil er sein halbes Leben im Sattel verbracht hatte, war er imstande, das Pferd, das er nicht kannte, durch die geschäftigen Straßen zu lenken, ohne abgeworfen zu werden. Während seine Blicke gebannt waren und sein Geist bezaubert. Die Stadt war auf Hügeln errichtet und umgeben von den silbernen Bändern von Flüssen und Kanälen. Es schien, als nähme Rillanon kein Ende, sondern erstrecke sich höher und höher in die Wolken. Anmutige Brücken bogen sich über die Wasserwege, und zahllose Türme waren mit bunten Fahnen und Flaggen geschmückt, und alle flatterten, als würden sie dem Wind applaudieren. Sein Herz, das seit dem Tod seines Vaters im vergangenen Winter so schwer gewesen war, erfreute sich an diesem Anblick. Bernarrs Augen wurden feucht vor Stolz, und sein Herz
212 schwoll an wegen der großen Ehre, ein Adliger des Königreichs der Inseln zu sein. Den Göttern sei Dank, dass meine Pflichten mich aufgehalten haben, dachte er. Das hier muss die schönste Jahreszeit in dieser schönsten aller Städte sein. Ich sehe sie im besten Zustand und werde dieses Bild stets in meinem Herzen tragen. Er war gekommen, um dem König seinen Treueid zu leisten und als neuer Baron von Meersburg bestätigt zu werden. Der Tradition folgend waren seine Ländereien Teil des Westlichen Reiches, und sein Herr, Lord Sutherland, war ein Vasall des Prinzen von Krondor, aber es gehörte auch zur Tradition, dass jeder Edelmann des Königreichs, ganz gleich, wie weit entfernt von der Hauptstadt seine Provinz war, so bald wie möglich an den uralten Geburtsort der Nation eilte, um vor dem König niederzuknien. Dann folgte ein Wirbel von Bildern: Er richtete sich in seinem Gästezimmer ein, sah sich die Stadt und die Umgebung an, begegnete den vielen Gelehrten, mit denen er korrespondiert hatte, und besuchte Buchhändler, die bis zu hundert Bände in ihrer Sammlung hatten. Dann kehrte vollkommen deutlich eine Empfindung aus dieser Zeit zurück: Ich bin glücklicher als je zuvor in meinem Leben, hatte er eines Tages plötzlich festgestellt und einen schweren Band, der auf seinem Schoß lag, zugeklappt. Ich will nicht wieder nach Hause gehen und mich um irgendwelche Streitereien kümmern oder die Pfeile im Waffenlager zählen und über Ernten, Jagd und Wetter reden und über sinnlose Patrouillen entlang einer Grenze, die Kesh selten in Frage stellt, oder Kapitäne anweisen, in See zu stechen, um die Piraten aus Durbin zu verscheuchen. Ich wünschte, ich könnte hier bleiben, mein ganzes Leben lang, bei den Gelehrten und Weisen, bei denen, die den Wert von Wissen kennen ... Aufhören!, flüsterten die Lippen des alten Mannes lautlos, und seine Hände zerrten am Laken. Tränen liefen unter den dünnen, faltigen Lidern hervor. O bitte, es soll aufhören! Bernarr nahm die Hände von denen seines Lehensherrn, erhob sich und schaute hinauf in das abgehärmte Gesicht. Er war nahe genug, um den Zimt-und-Nelken-Geruch im Atem des älteren Mannes wahrzunehmen und die dunklen Ringe unter seinen Augen zu sehen. Der Hof ringsum sie her war ein Meer von Farben. Die Zeremonie war schnell vorüber. König Rodric der Dritte, ein
müder, nervös aussehender Mann, sprach ein paar Worte mit dem neuen Baron, dann wurde Bernarr rasch von Höflingen weggeführt, denn andere warteten bereits hinter ihm darauf, ebenfalls vom König begrüßt zu werden. Irgendwie wusste Bernarr, er würde diesen König nie wieder sehen und bald, nachdem er Rillanon verlassen hatte, hören, dass der König gestorben war, und sein Sohn, der ebenfalls Rodric hieß, würde den Thron besteigen. Empfänge und Audienzen, eine kurze Begegnung mit Prinz Rodric, und die Tage vergingen wie im Flug. Den meisten Höflingen war der Provinzbaron gleichgültig, aber einige waren neidisch auf das Interesse des Prinzen für den gelehrten jungen Adligen aus dem Westen. Nur Lady Lisabeth, eine der Hofdamen der Königin, zeigte ein persönliches Interesse an Bernarr, aber ihre kräftige Figur und ihr lüsternes Verhalten stießen ihn ab. Sie wollte nicht ihn, sie wollte jeden Mann mit einem Titel; selbst ein Landadliger wie Bernarr konnte das sehen. Die Erinnerung, die ein Traum war, war ausgesprochen lebendig. Bernarr wäre beinahe in die Luft gesprungen, als Lisabeth plötzlich aus dem Gebüsch kam, während er seinen Weg 214 zum Mittelpunkt des Labyrinths suchte, weil er vorhatte, umgeben von dem angenehmen Geruch nach grünen und wachsenden Dingen zu lesen. Er wollte allein sein, nur in Gesellschaft des plätschernden Brunnens. Rasch setzte er eine gleichgültige Maske auf. »Mylady«, sagte er kühl und verbeugte sich leicht. Dann ging er weiter und hielt dabei das Buch schützend an sich gedrückt. Sie buhlte um seine Aufmerksamkeit, aber in einem Balanceakt zwischen Höflichkeit und Barschheit gelang es ihm, sich ihrem Griff zu entziehen, während er erklärte, dass er Einsamkeit suchte, nicht Gesellschaft. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, erinnerte sich an Fragmente dieses Gesprächs, aber es war einen Augenblick lang verschwommen, und dann erklang plötzlich vergnügtes Lachen, dem eine Stimme folgte: »O Lisabeth, lass den Herrn sich seinen Studien widmen, und komm mit. Wir brauchen noch jemanden zum Kartenspiel und würden uns freuen, wenn du mitmachst.« Bernarr wandte den Blick von Lady Lisabeths unangenehmem Gesicht ab und fand sich einer Vision in einem schlichten grünen Kleid gegenüber. Nein!, gellte die Stimme des alten Mannes durch die stickige Dunkelheit seines Schlafzimmers. Nicht das! Bitte, nicht das! Lasst
mich aufwachen, lasst mich aufwachen! Es war, als hätte jemand sein Buch genommen und ihm damit fest auf den Kopf geschlagen. Alles, was er sehen konnte, waren die glitzernden grünen Augen der Frau, ihr üppiges dunkles Haar, die weiße Säule ihres Halses und dieses unendlich liebenswerte Lächeln. Vögel mit langen, bunten Schwänzen und Silberringen an den Füßchen umflatterten sie, und die Ranken hinter ihr bebten lila und scharlachrot in der leichten Brise, die auch ihre Haarsträhnen ein wenig bewegte. Sein Herz war bei diesem Anblick sofort gefangen. Lady Lisabeth schien einen Augenblick verärgert über die Unterbrechung. Dann warf sie einen Blick zu Bernarr und hob resigniert die Hände. »Du hast wohl Recht, Elaine«, sagte sie und ging auf ihre Freundin zu. »Der Baron hat keine Zeit für mich.« Als sie sich bereits umgedreht hatten, um zu gehen, erwachte Bernarr wieder zum Leben, und er verspürte ein herzzerreißendes Sehnen, das sich wie der Schatten künftiger Trauer auf seine Brust legte. »Lady Lisabeth«, sagte er atemlos, »wollt Ihr mich Eurer Freundin denn nicht vorstellen?« Obwohl sich ihre Wangen zornig röteten, war Lisabeth nicht in der Lage, einem Baron diese Höflichkeit zu verweigern. »Mylord, darf ich Euch Lady Elaine du Benton vorstellen?« Ihr Tonfall und ihre Haltung waren gelangweilt. »Ihre Familie hat einen kleinen Landsitz außerhalb von Timons.« Lisabeth fand großes Vergnügen darin, das Wort »klein« zu betonen. »Ich bin sehr erfreut«, sagte er leise, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Und das ist keine höfische Schmeichelei, dachte er. Denn sie hat mich mit einem einzigen Lächeln in ihren Bann geschlagen. Elaine knickste, den Blick gesenkt, und stand nicht wieder auf. Lisabeth verdrehte ungeduldig die Augen. »Lady Elaine, ich habe die Ehre, Euch Lord Bernarr, Baron von Meersburg, vorzustellen.« Elaine erhob sich mit einem strahlenden Lächeln und reichte ihm die Hand. Er nahm sie sanft und küsste sie und war sich plötzlich unangenehm der Tintenflecke auf seinen schlanken Fingern bewusst. »Ich bin entzückt, Baron«, sagte Elaine. Sie hatte Grübchen. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er verstehen, wieso die Leute Grübchen für hübsch hielten. »Bitte entschuldigt uns«, sagte Elaine dann. »Unsere Freunde warten schon.« 216
»Selbstverständlich. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, meine Dame.« Er verbeugte sich, und es brauchte jede Faser seiner Willenskraft, ihre zarten Finger loszulassen. Die beiden Frauen gingen bereits davon, Arm in Arm, während er immer noch wie erstarrt dastand. Bevor sie um die Ecke des Heckenlabyrinths bogen, drehte Elaine sich noch einmal um, lächelte schüchtern und winkte. So leicht hatte sie ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Der Traum wurde verschwommen, und Fetzen von Erinnerung zuckten durch seinen Kopf. Tage und Wochen vergingen, und ihre Bekanntschaft machte kaum Fortschritte. Er erfand Gründe, in ihrer Nähe zu sein, aber er schien nie die Möglichkeit zu haben, mit ihr allein zu sprechen. Sie hatte immer eine andere Verabredung, oder ihre Pflichten bei der Königin verhinderten weitere Begegnungen. Er versuchte, sich den Gruppen jüngerer Höflinge aufzudrängen, wenn sie ihrer Pflichten entbunden und mit ihren Freunden zusammen war. Sie hielten ihn für einen Eindringling, aber sein Rang verlieh ihm einen Schild gegen ihre jugendliche Verachtung, und seine Blindheit gegenüber anderen, wenn Elaine in der Nähe war, verhinderte, dass er den Spott über seine offensichtliche Verzücktheit bemerkte. Je mehr sie sich ihm entzog, desto mehr begehrte er sie. Obwohl er dreißig Jahre alt war, trotz seiner Verantwortung als Baron und all der Jahre, in denen er sich um die Baronie gekümmert hatte, während sein Vater krank war, war er nicht auf dieses Mädchen vorbereitet, das kaum halb so alt war wie er selbst. Er wusste so gut wie nichts über Elaine, aber er verliebte sich immer mehr in sie. Sehnsüchtig dachte er in jedem wachen Augenblick und in all seinen Träumen an sie. Sie war für ihn ein Ausbund alles Schönen, Weiblichen und Liebenswerten. Es kam ihm unöglich vor, dass er sie so tief lieben konnte und sie nichts für ihn empfinden sollte. Sicher verbarg sie ihre Gefühle nur und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Der Teil von Bernarr, der ein alternder Mann in einem einsamen Bett war, flehte nicht mehr. Er keuchte ein wenig, wie ein geschlagener Hund, der im Dreck liegt, und zuckte kaum mehr, als die Peitsche fiel. Baron Hamil de Raise war ein Adliger, der erheblich mehr Einfluss bei Hof hatte als Bernarr und über wirklichen Wohlstand verfügte: An den Wänden seiner Gemächer gab es die Wappen seiner Familie und Waffen, aber auch wissenschaftliche Instrumente und Bücher.
Es waren seine Interessen, die dazu führten, dass er und Bernarr sich näher kennen lernten. Ihre frühen Begegnungen huschten ohne Geräusch durch Bernarrs Traum, kurze Bilder von Weingläsern, ein Bankett, bei dem sie nebeneinander saßen und Höflichkeiten austauschten, dann wurde der Traum plötzlich wieder lebhaft. Hamil führte Bernarr in eine dunkle Straße in einem heruntergekommenen Stadtteil. In einer Gasse, an der sie vorbeikamen, stank es intensiv nach Müll, und ihre Schritte knirschten laut im feuchten Kies. Hamil sagte: »Ihre Familie ist vollkommen unbedeutend. Ein guter alter Name, ursprünglich Barone aus Bas-Tyra, aber nun haben sie nur noch einen einzigen Landsitz im Süden. Ihr Vater macht dem stolzen Namen, oder dem, was davon geblieben ist, wirklich Schande. Man hat ihm alle erblichen Titel genommen, die man seinen Ahnen gewährt hatte, und er klammert sich beinahe verzweifelt an den Rang eines Junkers, den die Krone ihm aus Höflichkeit gelassen hat. Sie ist einfach nur >Lady du Benton<. Er ist ein ausgesprochen zügelloser Spieler, der im Lauf der Jahre beträchtliche Summen verloren hat. Er hat keinen männlichen Erben, also wird seine Familie mit ihm aussterben, und ich wette, dann zieht die Krone den Landsitz ein.« 218 Die schäbige Spielhölle befand sich im Keller eines Hauses, das wahrscheinlich ein Bordell war. Sechs ausgetretene Stufen führten zu einem niedrigen Raum mit uralten, rauchgeschwärzten Balken, unter denen ein hoch gewachsener Mann kaum aufrecht stehen konnte. Die beiden Männer wickelten ihre langen Umhänge fest um sich, als sie hereinkamen, aber schon der Stoff des dunklen Tuchs kennzeichnete sie als wohlhabend. Augen wandten sich ihnen zu, Augen mit einem wilden, harten Ausdruck; in Lumpen oder grelle Stoffe gekleidete Menschen drehten sich neugierig zu ihnen um. Alle, die ein schlechtes Gewissen hatten, wandten sich schnell furchtsam wieder ab, während die räuberisch Gesinnten näher kamen. Hamil lächelte dünn und zeigte den Griff seines Schwertes. Das abgetragene Leder des Griffs sprach lauter als die Einlegearbeit am Handschutz, und die diversen Tunichtgute und Banditen machten sich davon. »Nicht die Art von Ort, an dem man einen Edelmann erwarten würde«, murmelte Hamil und sprach damit Bernarrs Gedanken laut
aus. Du Benton war leicht zu erkennen. Er beugte sich über den Spieltisch und ignorierte die Neuankömmlinge vollkommen; er war dünn und ungepflegt, und seine Kleidung, einstmals von guter Qualität, war fleckig und zerrissen. In seinen hellen Augen stand ein beinahe wahnsinniges Glitzern, als er beobachtete, wie die Würfel fielen. Als du Benton seine Wette platzierte, leckte er sich in einer Geste nackter Gier die Lippen. Bernarr wandte den Blick ab; das hier war mehr, als er wissen wollte, vor allem über den Vater der Frau, die er liebte. Ja, liebte! Hamil hatte Recht: Der Mann war eine Schande. Dass eine Blüte wie Elaine aus solchem Schleim entstanden war, war unglaublich. Ich muss sie retten, dachte er. Ich muss etwas unternehmen, bevor dieses Ungeheuer von einem Vater sie mit 219 sich in den Abgrund zieht. Denn er konnte sehen, dass ein Mann wie du Benton durchaus dazu imstande wäre, wenn man Elaine nicht von ihm befreite. Die offensichtliche Verzweiflung des Mannes, als er das Spiel verlor, machte nur zu deutlich, dass du Benton jedem die Hand seiner Tochter für einen Beutel Gold verkaufen würde. Bernarr musste sich die Erlaubnis verschaffen, sie zu heiraten. Er musste sie davor bewahren, dass ihr Vater ihre Hand einem fetten alten Kaufmann oder dem schurkischen Sohn eines faulen Adligen aus dem Osten gab. »Gehen wir«, sagte er zu seinem Freund. »Ich habe genug gesehen.« »Das hoffe ich«, erwiderte Hamil, aber er wusste dabei bereits, dass Bernarr ihn missverstand. Dem älteren Mann war klar, dass diese Lektion seinem jungen Freund nichts genutzt hatte. Man musste gewisse Formalitäten beachten. Bernarr stellte einen Antrag auf eine Heiratserlaubnis bei der Krone, und nach einer unangenehmen Begegnung mit dem Würdenträger, der für Empfehlungen an die Krone verantwortlich war, wurde die Erlaubnis widerstrebend erteilt. Nachdem dies geschehen war, machte sich Bernarr auf, die Frau seiner Träume für sich zu gewinnen. Er fand, dass Liebe ein wunderbares Gefühl war: betäubend, verwirrend und köstlich über alle Maßen. Zunächst war er nicht sicher gewesen, ob Elaine seine Gefühle erwiderte, und diese Unsicherheit hatte ihm große Qualen bereitet,
die durch seine überwältigende Liebe zu ihr nur noch schmerzhafter wurden. Dass sie immer wieder seine Einladungen ablehnte und Pflichten bei der Königin vorschützte, machte sie unerreichbar. Er begann, nach Möglichkeiten zu suchen, mit ihr zusammen zu sein, selbst wenn das bedeutete, sich Einladungen zu den Gesellschaften zu verschaffen, an denen sie ebenfalls teilnahm. Aber es war so 220 schwierig, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Sie war stets von einer Schmetterlingswolke ihrer modischen Freunde umgeben. Besonders ein Bursche beanspruchte ihre Zeit, ein gut aussehender, aber ausschweifender junger Mann namens Zakry, der dritte Sohn eines unwichtigen Junkers bei Hofe. Er war stets nach der neuesten Mode gekleidet und stolzierte auf eine Art umher, die von Arroganz kündete, nicht vom Selbstvertrauen, das im Kampf gewonnen wird. Sein Mund hatte etwas Weibliches an sich, wenn er die Lippen wegen eines eingebildeten Makels an Bernarrs Kleidung schürzte, und sein Lächeln war stets spöttisch. Bernarr wusste sofort, dass Zakrys Absichten bezüglich Elaine alles andere als ehrenhaft waren, aber es war auch klar, dass sie vollkommen von ihm betört war. Bernarr würde bald handeln müssen, oder Elaines großzügige Natur und ihre Naivität würden sie in die Schande führen. Bernarr war sicher, sobald Elaine erfuhr, wie sehr er sie liebte, würde ihre kindliche Vernarrtheit in einen zügellosen Jungen wie Zakry sich in nichts auflösen. Wäre sein Vater noch am Leben gewesen, hätte er vielleicht nie gewagt, um Elaines Hand anzuhalten. Der alte Baron hätte eine politisch vorteilhaftere Ehe für seinen Sohn und die künftigen Enkel verlangt. Aber Bernarr war frei zu tun, was ihn glücklich machte, und das tat er. Bald begann er, die gesellschaftlichen Regeln zu ignorieren, und suchte andere Möglichkeiten, mit ihr zusammen zu sein. Er drängte sich einfach an ihre Seite, wann immer es möglich war, ignorierte die finsteren Blicke von Zakry und ihren anderen Freunden und nutzte seinen Rang, um sie beiseite zu drängen. Elaine war immer freundlich, aber auch stets korrekt. Ihr Lächeln war herzlich, und sie lachte höflich über seine Bemerkungen. Nach einer Weile erkannte er, dass sie so schüchtern und rein war, dass sie einfach nicht wusste, wie sie ihre tieferen Gefühle zeigen sollte. Sie war trotz ihres schreckli221
chen Vaters eine wirkliche Lady Sie musste sich einfach hinter einer Maske verbergen, denn es kam ihm unmöglich vor, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte. Sie musste ihn lieben! Von einer Göttin wie Elaine geliebt zu werden bewirkte, dass er sich wie etwas ganz Besonderes fühlte - er fühlte sich mächtig und zu allem in der Lage. Selbst dazu, ihre Hand und ihr Herz zu gewinnen, trotz ihrer Zurückhaltung. Plötzlich erhielt er die größte Einsicht in romantische Dichtung und in die Gefühle von Männern, die um der Liebe einer Frau willen in den Krieg gezogen waren. Nach weniger als einem Monat beschloss er, der Sache ein Ende zu machen, und suchte ihren Vater auf. Elaines Vater hatte mit schockierender Schnelligkeit zugestimmt. Ein Baron wollte seine Tochter heiraten, und darüber hinaus einer, den seine Unfähigkeit, irgendeine Form von Mitgift aufzubringen, nicht störte! Er hatte allen Vorschlägen Bernarrs zugestimmt, darunter auch einer bescheidenen jährlichen Zahlung für die Wohnung des Junkers in Rillanon. Bernarr war nicht großzügig; er wollte einfach, dass der Mann so weit wie möglich entfernt war. Wenn du Benton zugestimmt hätte, hätte Bernarr ihm auch eine Wohnung in Roldem oder einem der östlichen Königreiche gesucht. Der Junker versprach seinem künftigen Schwiegersohn, dass seine Tochter am nächsten Tag um ein Uhr im königlichen Labyrinth sein würde, um Bernarrs Antrag entgegenzunehmen. Der alte Mann war beinahe außer sich vor Freude, als der Baron den heruntergekommenen Gasthof verließ, wo er um die Hand der Frau, die er liebte, verhandelt hatte. Bernarr fand Elaine auf einer der Bänke mitten im Irrgarten. Sie war blass und so nervös wie ein erschrockenes Reh. Sofort ließ er sich auf ein Knie nieder und ergriff eine ihrer Hände. Heute waren seine Finger sauber, und seine leicht gebräunte 222 Hand bildete einen angenehmen Kontrast zu ihrer zarten weißen Haut. »Ich habe mit Eurem Vater gesprochen, und er hat unserer Heirat zugestimmt«, sagte er, und sein Herz klopfte heftig, als er ihre Reaktion beobachtete. »Ihr kennt mich doch überhaupt nicht«, erwiderte sie leise und atemlos. »Wie könntet Ihr mich da lieben?« Mit einem Lächeln küsste er ihre Finger. »Euch zu sehen ist Euch zu lieben«, versicherte er. »Ich kenne Euch besser, als Ihr glaubt. Aber
Ihr kennt mich nicht, und das ist mein Fehler.« Bernarr beugte sich tief über ihre Hand und streichelte ihre Finger mit dem Daumen, für einen Moment vollkommen versunken in dem Wunder, sie berühren zu dürfen. Dann blickte er zu ihr auf. »Ich liebe Euch wirklich. Ich verspreche Euch, ein guter und sanfter Ehemann zu sein. Ich flehe Euch an, mich zum glücklichsten Menschen auf der Welt zu machen, indem Ihr mich mit Eurer Hand ehrt. Meine Liebe wird Euer Herz erwecken, und Ihr werdet erfahren, was ich bereits weiß: dass ich Euch nicht so tief und leidenschaftlich lieben könnte, ohne dass Ihr mich ebenfalls liebt. Wir werden glücklich sein, das verspreche ich Euch.« Sie starrte ihn vollkommen erstaunt an, dann schloss sie die Augen, holte tief Luft und biss sich auf die Unterlippe. Schließlich seufzte sie und senkte den Kopf. »Selbstverständlich werde ich Euch heiraten, Mylord. Wie könnte ich eine solche Ehre ablehnen?« Er streckte die Hand aus, hob ihr Kinn und wartete, bis sie ihm in die Augen sah. »Aber heiratet Ihr mich auch aus freiem Willen?«, fragte er. »Weil Ihr mich liebt?« Eine einzelne Träne zog einen Pfad über ihre bleiche Wange. »Selbstverständlich«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Selbstverständlich.« Dann sprang sie auf und sagte: »Verzeiht mir, Mylord, ich bin überwältigt und muss mich fassen.« Dann floh sie, und er blieb zurück, verwirrt über das Verhalten von Frauen, aber auch begeistert und entzückt, und ihm war schwindlig vor Freude. Sie liebte ihn! Als er sie das nächste Mal sah, bestand Elaine darauf, dass die Zeremonie so schnell wie möglich stattfinden sollte. Ihr Mut raubte ihm den Atem und ließ sein Blut rauschen. Einen Augenblick lang fiel es ihm schwer zu denken, und diesmal nahm er sie staunend und entzückt in die Arme. Als er ihren Kopf hob und in das reizende Gesicht schaute, fürchtete er, die Hitze seiner Leidenschaft könnte ihn schmelzen lassen. Er erkannte in diesem Augenblick, dass sie sich ihm ohne Zögern schenken würde. Er drängte seine Leidenschaft beiseite und flüsterte: »Ich würde Euch nicht so entehren.« Elaine blinzelte und sah ihn verwundert an. »Aber wir werden heiraten, sobald es möglich ist.« Die Hochzeit war eine vertrauliche Angelegenheit in der Kapelle der Ruthia - der Göttin des Glücks - im Palast, und die Gäste waren überwiegend Freunde des Bräutigams, nicht der Braut. »Das macht nichts«, sagte sie unbeschwert. »So ist es hier nun
einmal. Ich ziehe weiter, und sie ebenfalls.« Er glaubte, dass sie trotzdem gekränkt war, weil diese Leute nicht erschienen waren, ganz gleich, wie sorglos sie sich gab. Er versuchte sie dafür zu entschädigen, indem er bei ihrem kleinen, aber eleganten Hochzeitsessen besonders aufmerksam war. Später, als sie allein waren, überreichte er ihr sein persönliches Hochzeitsgeschenk, einen hinreißenden Halsschmuck mit Smaragden. »Es passt zu deinen Augen«, sagte er. Elaine war bezaubert und starrte eine volle Minute in den Spiegel, ohne ein Wort zu sagen. Sie berührte jeden einzelnen Stein, dann blickte sie auf und sah Bernarr im Spiegel in die Augen. Sie öffnete leicht den Mund und zog an der Schnur im Halsausschnitt ihres Nachthemds. Eine Bewegung der Schul224 tern, das Hemd fiel auf den Boden, und Elaine drehte sich lächelnd um und ging auf ihn zu, nackt bis auf die Smaragde. Diese Nacht, diese leidenschaftliche, wunderbare Nacht, war die glücklichste seines Lebens gewesen. Der gepeinigte alte Mann schrie im Schlaf, und Tränen quollen unter seinen geschlossenen Lidern hervor. Nein!, schrie er im Geist, denn er wusste, dass er wieder einmal die schönste Nacht seines Lebens erlebt hatte, in dem Bewusstsein, dass danach nur Qualen und Leid folgen würden. Die Reise nach Hause war so bequem gewesen, wie er es arrangieren konnte, aber Elaine bekam das Reisen nicht. Bernarr war unendlich erleichtert, als sie den Hafen von Meersburg erreichten, denn er hatte begonnen, sich um ihre Gesundheit Sorgen zu machen. Sie war beinahe die ganze Zeit krank gewesen, und er beschloss, dass sie so bald wie möglich einen Arzt aufsuchen sollte. Als er neben ihr an der Reling stand, den Arm schützend um ihre schlanken Schultern gelegt, spürte Bernarr die Enttäuschung, die sie versuchte, hinter einem Lächeln zu verbergen. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er Meersburg im Vergleich mit Rillanon, Salador und Krondor, und es schnitt dabei nicht gut ab. Es war eine kleine, alltägliche Stadt, schäbig, schlicht und kein bisschen außergewöhnlich. »Deine Gegenwart allein wird es schon schöner machen. Meine Leute werden dich lieben«, versprach er. Elaine lächelte betörend und umarmte ihn, und ihm war wieder leichter zumute. Sie war einfach wunderbar - wenn sie nur nicht so
oft krank gewesen wäre! Er brachte sie zu seinem Landsitz, denn er hoffte, die frische Luft dort würde ihr gut tun. Elaine schien gelangweilt und teilnahmslos, aber ihr Teint wirkte frischer, und er glaubte zu bemerken, dass sie etwas kräftiger wurde. 225 Sie waren kaum drei Wochen zu Hause, als ein Schiff im Hafen einlief, auf dem sich ein paar von Elaines Freunden befanden. Und sie brachten schlechte Nachrichten: Elaines Vater war bei einem Streit in einer Schänke ermordet worden. Zu Bernarrs Entsetzen wurde Elaine ohnmächtig. Er befahl den Dienern, sie in ihr Zimmer zu bringen, und wandte sich dann wütend an ihre Freunde. Zakry, der dritte Sohn des Junkers, den Elaine einmal so gern gehabt hatte, schien vollkommen verdutzt. Seine hübschen Züge zeigten erst Erstaunen, dann Zorn, als der Baron ihn der Taktlosigkeit beschuldigte. »Ich würde nie etwas tun, das Lady Elaine wehtut!«, explodierte Zakry »Sie ist sehr wichtig für mich.« Einen Augenblick war Bernarr sicher, dass der Junge sein Schwert ziehen würde, und musste feststellen, dass er einer solchen Konfrontation erfreut entgegensah. Aber dann nahm Zakry sich zusammen und machte eine Geste, die all seine Freunde umfasste. »Sie ist uns allen sehr lieb. Es tut mir Leid, dass ich so taktlos war. Wir hätten wissen müssen, was für ein Schock diese Nachricht sein würde.« Alle nickten und knicksten und murmelten zustimmend. Bernarr sah sie an, die Lippen zornig zusammengekniffen, die Wangen bleich. »Weil meine Gemahlin Euch schätzt und weil Ihr es gut gemeint habt, hierher zu kommen, werde ich Euch selbstverständlich in meinem Haus aufnehmen. Aber ich warne Euch: Bei dem kleinsten Hinweis darauf, dass Ihr sie aufregt, werde ich Euch befehlen zu gehen.« Damit drehte er sich um und folgte den Dienern in die Gemächer seiner Frau, um bei ihr am Bett zu sitzen, bis sie wach wurde. Später kam Bernarr zu der Ansicht, dass Zakrys erste Einschätzung von Elaines Empfindungen für ihren Vater durchaus korrekt gewesen war. Sie hätte in tiefe Trauer verfallen sollen, aber nachdem sie sich von der Ohnmacht erholt hatte, 226 schien sie kein bisschen betrübt, sondern verbrachte die meiste Zeit mit ihren alten Freunden, lachte und klatschte, tanzte und sang sogar.
Bernarr missbilligte dieses Verhalten; so etwas gehörte sich nicht. Und dennoch, er konnte ihr nichts verweigern. Besonders, da er ihren schrecklichen Vater kennen gelernt hatte und im Grunde gut verstand, wieso sie nicht trauerte. Es musste entsetzlich gewesen sein, von einem solchen Mann aufgezogen zu werden. Dennoch, nach mehreren Gesellschaften, die Elaine organisiert hatte, und nach vielen Einkaufstouren in die Stadt machten die örtlichen Adligen und reichen Kaufleute keinen Hehl mehr daraus, wie sehr sie Elaines frivoles Verhalten missbilligten. Es war Bernarr peinlich, aber er verzieh ihr alles und schrieb es ihrer Jugend und dem Einfluss ihrer unreifen Freunde zu. Er wollte jeden Augenblick an ihrer Seite verbringen, aber seine Pflichten hatten sich in den Monaten seiner Abwesenheit gehäuft, und es gab immer etwas zu tun. Häufig wurde er in die Stadt oder in nahe gelegene Dörfer gerufen, und dann war er zwei oder drei Tage weg. Die alte Burg oberhalb der Stadt hatte eine Garnison, stand aber ansonsten leer, und niemand tat auch nur so, als wäre sie bewohnt. Von den Soldaten, seinem Sekretär und den Würdenträgern, die zu Besuch kamen, einmal abgesehen, war Bernarr allein. Bei diesen Gelegenheiten glühte er vor Eifersucht und hasste sich dafür. Er wusste, dass ihre Freunde sie zu unpassendem Verhalten verleiteten. Elaine meinte es gut, aber sie war zu unschuldig, um zu erkennen, dass ihre albernen Spiele in dieser Trauerzeit beinahe wie Ausschweifungen wirkten. Vielleicht nicht in Rillanon, aber in Meersburg ganz bestimmt. Er musste etwas unternehmen! Zumindest musste er wegen Zakry etwas tun. Er war der Anführer, der die jungen Leute auf den falschen Weg führte. Wenn er ihn los war, war das Problem so gut wie gelöst. Ja, etwas musste geschehen, und zwar bald. 227 Der Schmerz des schlafenden alten Mannes wurde nicht geringer, aber nun zog er die dünnen Lippen mit den tiefen senkrechten Falten von den gelben Zähnen zurück. In seinem Gesicht war wenig Kraft geblieben, aber einen Augenblick lang hätte ein Beobachter ihn vielleicht so sehen können, wie er in seiner Jugend, in seinem Zorn, gewesen war, in einem kalten, bleichen Zorn, der umso tödlicher war, weil er ebenso aus dem Geist wie aus dem Herzen kam. Aber es war niemand da, um ihn zu beobachten. Vor der Tür standen zwei Männer der Haushaltswache. Sie waren handverlesen, folgten
Befehlen, und die Befehle waren in dieser Nacht die gleichen wie in jeder Nacht, seit sie ihren Dienst beim Baron begonnen hatten: Ganz gleich, was sie hörten oder glaubten zu hören, nachdem der Baron sich für die Nacht zurückgezogen hatte, sie durften nicht eintreten, es sei denn, der Baron rief sie beim Namen. Beide Männer waren an Schreie, Stöhnen und Flüche gewöhnt. Beide ignorierten das jämmerliche Weinen, das sie in diesem Augenblick hörten. Es kamen immer mehr Bilder, eins nach dem anderen, und Bernarr packte die Laken, wie ein Ertrinkender sich an das rettende Seil klammert, das ihm zugeworfen wird. Er war auf der Jagd, und Elaines Freunde begleiteten ihn. Ein Pfeil wurde abgeschossen, tötete ein Wildschwein, und Bernarr drehte sich erzürnt um. Dieser dreiste Welpe hatte ihm die Beute geraubt! Plötzlich war er nahe den Klippen, und unten rauschte die Brandung, und er hörte, wie Zakry schrie: »Sir! Ihr müsst mich anhören!« Aber Bernarr konnte über das Rauschen der Wellen hinweg nichts verstehen, und obwohl Zakrys Lippen sich bewegten, verstand der Baron nicht, was er sagte. Bernarr kam näher, fuchtelte zornig mit dem Eberspeer, und Zakrys Pferd scheute, und plötzlich war Bernarr allein auf der Klippe. 228 Ein Ritt, und dann war er zurück im Herrenhaus, die Gäste stiegen aus dem Sattel, und ein Arzt kam auf sie zugerannt und brachte gute Nachrichten. Bernarr würde Vater werden! Dann war er an Elaines Seite, und sie weinte, ihre Schultern bebten, und er wusste nicht, warum. War es die Nachricht von Zakrys Verschwinden, oder waren es Freudentränen? Dann sah er Kutschen, als ihre Freunde aus Rillanon abreisten, eifrig bemüht, das Schiff zu erreichen, bevor die Winterstürme eine Überfahrt verhindern würden. Nun lag der alte Mann still da; seine einzigen Bewegungen waren das rasche Heben und Senken seiner Brust und das Zucken seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern. Er erinnerte sich an einen kurzen Augenblick des Friedens. Er erinnerte sich an die stille Vorfreude darauf, Vater zu werden. Elaine war ruhig und zurückhaltend und sprach wenig mit ihm oder den Dienerinnen, die sich um sie kümmerten. Hin und wieder kam eine Frau aus der Baronie zu Besuch, die Gattin eines Junkers oder eines der wichtigeren Kaufleute, und Elaine lebte in der Gesellschaft einer anderen Frau ein wenig auf, wenn sie Tee tranken oder im Garten
spazieren gingen, aber die meiste Zeit schien sie auf eine Weise traurig zu sein, die er nicht verstand. Dann kam der Abend, als Elaines Wehen begannen. Ein Unwetter näherte sich vom Meer her: Berge lilaschwarzer Wolken türmten sich am westlichen Horizont, und Blitze flackerten bereits darin, aber sie wurden auch immer noch von der Sonne, die hinter ihnen unterging, an den Rändern vergoldet. Als Erstes kamen die Wellen, berghohe Wellen, die die Fischer veranlassten, ihre Boote höher an Land zu ziehen und sie an Bäume und Felsen zu binden, und sie beteten, als der Wind um ihre Strohdächer pfiff. Als der Regen folgte, war er 229 beinahe waagrecht, angefacht von dem gewaltigen Sturmwind. Regen peitschte auch gegen das Herrenhaus, und Blitze zuckten am Himmel, während Donner die Fensterläden beben ließ. Bernarr hatte die Hebamme bestochen, die letzten beiden Wochen im Herrenhaus zu bleiben, und bei dem schrecklichen Wetter war er froh, das getan zu haben. Der Sturm brachte einen Reisenden und seine Diener zum Herrenhaus, die Zuflucht erbaten. Bernarr lud sie gerne ein zu bleiben - Gastfreundschaft brachte Glück, und in diesem Augenblick wünschte er sich Glück nur zu sehr. Das Haus war dieser Tage so still, dass er über jede Gesellschaft froh war, und entzückt entdeckte er, dass sein Gast ein Gelehrter war, der sich mehr Sorgen um die Bücher in seiner Kutsche machte als um Pferde, Diener oder um sich selbst. »Lyman«, sagte der alte Mann im Schlaf und bewegte dabei kaum die Lippen. Bernarr konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Er stand im Schatten, und ganz gleich, wie sehr der Baron sich bemühte, die Erinnerung an das Gesicht kam nicht zurück. In seinem fiebrigen Traum erinnerte er sich daran, wie er mit diesem Mann Wein getrunken hatte; er musste ihn auch im Tageslicht gesehen haben, aber in diesem Augenblick, als er jene schreckliche Nacht noch einmal erlebte, konnte er das Gesicht des Mannes nicht sehen. Dann erklang der Schrei, und er konnte Lymans Stimme hören, als käme sie aus großer Ferne, herbei getragen vom Unwetter: »Ihr solltet zu ihr gehen, My-lord.« Bernarr eilte aus dem Zimmer, als ein weiterer Schrei ertönte, und das Entsetzen verlieh ihm Flügel. Aber so sehr er sich auch
anstrengte, seine Füße verweigerten ihm den Dienst. Der Flur war unmöglich lang, und jeder Schritt war ein 230 Kampf. Es fühlte sich an, als stecke sein Körper in einer Rüstung, als wären seine Stiefel aus Blei, und sein Entsetzen wurde immer größer, während er weiter darum rang, seine Gemächer zu erreichen. Dann war er an Elaines Tür, riss sie auf Die Hebamme sah ihn an, und in ihrer Miene spiegelten sich gleichzeitig Freude und Angst. Das Baby war auf dem Weg, aber Elaine quälte sich furchtbar. »Ihr habt einen Sohn, Mylady«, sagte die Hebamme einen Augenblick später. Sie reichte das Baby einer der Zofen, und die brachte es zu einer anderen, die ein Bad vorbereitet hatte. In seinem Traum konnte Bernarr sich zunächst nicht regen, und dann sah er sich selbst, wie er zum Bett ging, am Fußende stehen blieb und seine bleiche, schöne Frau anstarrte, deren Gesicht abgehärmt und verschwitzt war. Ihr dunkles Haar klebte ihr am Kopf, das Nachthemd war bis zum Bauch hochgezogen, und überall war Blut. Elaine suchte seinen Blick, und ein stilles Flehen lag in ihren Augen. Und plötzlich war jemand an seiner Seite. »Mylord«, sagte eine leise Stimme. Bernarr sah sich selbst, wie er sich umdrehte und seinen Gast anstarrte. »Was macht Ihr hier?«, fragte er Lyman. »Ich kann vielleicht helfen.« Dann kam eine Flut von Bildern. Lyman hob die Hände, und der Raum versank im Dunkeln. Die Hebamme versuchte, ihm seinen Sohn zu reichen, aber nach einem Blick auf das Kind schrie Bernarr: »Bringt ihn weg! Ich will ihn nie wieder sehen.« Dann war ein Mönch im Zimmer, ein Heilerpriester vom Orden der Dala, und er wurde von einem Wundarzt begleitet. Er hörte die Stimme des Mönchs: »Es tut mir Leid, Mylord. Sie ist nur noch Augenblicke vom Tod entfernt, und ich kann nichts tun.« 231 Nun befand sich Bernarr vor ihrem Zimmer, und Lyman rezitierte. Der Baron starrte die Gestalt an, sah aber kein Gesicht unter dem breitkrempigen Hut. Und dann sah er wieder seine Frau, die in Todesqualen auf ihrem Bett lag, die Wangen bleich und die Augen blutunterlaufen. »Lass
mich gehen!«, flehte sie. Bernarr erwachte mit einem leisen Aufschrei; sein Herz klopfte laut, und er hatte Tränen in den Augen. Er hatte den Kopf angestrengt vom Kissen gehoben. Nun sackte er seufzend zurück und schloss die brennenden Augen. Er hatte diesen Traum schon öfter gehabt - zu oft. Aber dieses Ende war neu; er hatte erst einmal zuvor geträumt, dass sie mit ihm gesprochen hatte. »Ich werde dich nicht sterben lassen«, flüsterte er ins Leere. Er drehte den Kopf zu der Tür, die zu Elaines Zimmer führte. Die Kerzen dort waren beinahe niedergebrannt. Obwohl die Zeit sich in ihrem Zimmer langsam bewegte, verging sie dennoch. Siebzehn Jahre waren seit dieser schrecklichen Nacht vergangen. Jeden Tag hatte Lyman den Bann erneuert, und jeden Tag hatte er versucht, einen Zauber zu finden, der Elaine retten würde. Zunächst hatten sie nur weiße Magie angewandt: Sie hatten überall im Land Heiler konsultiert und sogar einmal für viel Geld einen aus Groß-Kesh kommen lassen, von dem sie gehört hatten, er könne Wunder wirken. Dann hatten sie Heilzauber versucht, aber keiner schien sie auch nur im Geringsten zu berühren. Jedes Mal, wenn sie den Bann aufhoben, der Elaine am Leben erhielt, fürchtete Bernarr, sie würde sterben, aber jedes Mal lebte sie lange genug, um den Bann zu erneuern, nachdem sie mit ihren Heilversuchen gescheitert waren. In der letzten Zeit hatten sie sich finsterer Magie zugewandt, einem Zauber, den Lyman in einem uralten Buch gefunden hatte, das er von einem Händler aus Kesh erworben 232 hatte. Es war etwas Böses an diesem Buch, aber sie hatten alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft. Bernarr musste diesen schrecklichen, blutigen Zauber versuchen, oder er würde vollkommen den Verstand verlieren. Lyman versicherte ihm, dass sie bald Erfolg haben würden. Sie mussten Erfolg haben, oder Elaine würde für immer verloren sein. 11 Entdeckung Lorrie schreckte aus dem Schlaf. Sie hörte die üblichen Morgengeräusche, Hähne krähten, Vögel sangen, aber der Geruch war falsch; staubige Leere umgab sie, und dahinter gab es zu viel Rauch und zu viel Dung und nichts Grünes.
Und der Boden unter ihr bestand aus harten Dielen und war nicht der Strohsack, auf dem sie sonst schlief. Wo...?, dachte sie. Dann fiel es ihr ein, und es war, als hätte sie ein Pferd in den Bauch getreten: Ich bin in Meersburg. Ich suche hier nach Rip. Mutter und Vater sind tot. Nach dem gelben Licht zu schließen, das durch das mit Läden verschlossene Fenster fiel - eine Säule voll tanzender Staubflocken -, war es Vormittag. Sie war allein, allein genug, um einen Augenblick still zu liegen und die Tränen fließen zu lassen. Mutter!, dachte sie. Ich brauche dich, Mutter! Aber sie würde ihre Mutter niemals wieder sehen, und bei ihrer letzten Begegnung hatten sie sich gestritten. Sie würde nie wieder sehen, wie ihr Vater vom Feld hereinkam, lächelte und ihr Haar zauste oder an Winterabenden an der Feuerstelle saß und mit seiner tiefen Stimme die alten Geschichten erzählte. 234 Ihr war nach Weinen zumute, aber es kamen keine Tränen mehr. Stattdessen empfand sie nur schmerzende, dumpfe Leere. Sie setzte sich auf und rieb ihr Gesicht. Rip lebt noch, tadelte sie sich. Sie musste sich darauf konzentrieren. Und ich werde ihn finden! Aber als sie sich konzentrierte, spürte sie etwas anderes: Rip war nicht mehr in Meersburg! Sie warf das Tuch beiseite, das sie als Decke benutzt hatte, zog die Schuhe an, stand auf und ging zum Fenster. Sie konnte unten niemanden sehen, und obwohl in den Lagerhäusern der Umgebung weitere Fenster waren, war auch dort niemand zu entdecken. Sie würde einfach hoffen müssen, dass sie niemand bemerkte. Sie warf einen Blick zu dem zerknitterten Tuch, das sie wieder auf den Ballen wickeln wollte, und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie hatte keine Zeit, das zu tun. Rip war wichtiger. Sie hob ein Bein auf die Fensterbank, drehte sich und tastete mit dem anderen Bein hinter sich nach dem Dach. Das Fenster befand sich schräg über dem Schuppen darunter. Sie erinnerte sich, wie Jimmy sie beim Hochklettern angewiesen hatte, mit der linken Hand nach oben zu greifen, während sie die rechte benutzte, um sich an der Wand abzustützen, dann ein wenig nach links zu schwingen und sich hochzuziehen. Sie hatte vor, die Prozedur umzukehren und so auf das Dach des Schuppens zu gelangen. Von dort aus war es nur ein kleiner Sprung in die Gasse darunter.
»Was zur Hölle machst du da?« Die Männerstimme schien direkt hinter ihr zu erklingen. Lorrie keuchte und hätte beinahe losgelassen. Sie rutschte nach unten und musste sich fest an die Fensterbank klammern. Einen Moment lang hing sie reglos, das Kinn kaum über der Fensterbank, und hielt sich verzweifelt fest, denn unter ihr gab es nichts weiter als Kopfsteinpflaster. Erschrocken blickte sie über die Schulter und sah niemanden. Niemand schaute aus den Fenstern gegenüber. 235 »Wie meinst du das?« Die Stimmen kamen aus der Hauptstraße, von der Ecke, wo die Gasse einmündete. Etwa von dort, wo sich das Haupttor des Lagerhauses befand. »Ich meine, diese Kisten müssen in weniger als einer Stunde am Kai sein, wenn die Krabbe die Flut noch erwischen soll. Warum sind sie noch nicht auf dem Wagen? Was hast du den ganzen Morgen getan? Dagestanden und dir den Daumen in den Arsch gesteckt?« »Ich habe den Befehl erst vor ein paar Minuten erhalten! Es ist nicht meine Schuld!« Lorrie war so erleichtert, dass man sie nicht entdeckt hatte, dass sie ein paar Zoll tiefer sackte. Sie würde versuchen, ein paar Fuß nach rechts zu schwingen und das Schindeldach zu erreichen. Als sie versuchte, sich dazu zunächst nach links zu schaukeln, spürte sie den Schmerz; ein plötzliches, heftiges Brennen, das gleichzeitig kälter war als Wintereis, und darunter das hässliche Gefühl, geschnitten zu werden. Sie hatte schon den einen oder anderen Unfall mit Werkzeugen oder spitzen Zweigen gehabt, aber nichts wie das hier. Etwas sehr Scharfes bohrte sich tief in ihr Bein. Heißes Blut floss über ihre Haut, und sie schauderte und keuchte. Die Schmerzen wurden selbst von der geringsten Bewegung schlimmer. Am liebsten hätte sie geschrien und sich umgedreht, um ihr Bein zu packen, aber das hätte bedeutet, dass sie sterben würde. Und dann hat Rip niemanden mehr. Ihr wurde einen Moment lang schwindlig, aber sie kämpfte dagegen an und atmete hechelnd durch den Mund. Lass nicht los!, befahl sie sich selbst. Sie schaute nach unten und sah eine scheinbar unschuldige Glasscherbe, die zwischen die Steine geklemmt war. Ein Glaser war bei seiner Arbeit sorglos gewesen, und die lang gezogene Scherbe war von einem zerbrochenen Fenster gefallen und hatte sich
zwischen den Mau236 ersteinen festgeklemmt. Wie ein Kristalldolch hatte sie sich in Lorries Bein gebohrt. Sie zwang sich, tief Luft zu holen, und sie wusste, sie würde jede Unze ihrer Willenskraft brauchen, um das Fenster wieder zu erreichen. Sie klammerte sich fester ans Sims, so dass Holzsplitter in ihre Hände drangen, aber sie konnte nicht lange so hängen bleiben, und ein Sturz aus dieser Höhe würde erheblich schmerzhafter werden als das, was sie jetzt spürte. Lorrie holte tief Luft und zog sich auf die Fensterbank zu. Der glühende Schmerz, als ihre Wunde noch weiter aufgerissen wurde, hätte sie beinahe veranlasst loszulassen, und sie war zu entsetzt, um auch nur zu schreien. Sobald die Überraschung nachgelassen hatte, biss sie die Zähne zusammen, dachte an Rip und verhinderte so, dass sie einen Laut von sich gab. Wenn man sie erwischte, würde sie vielleicht ins Gefängnis kommen, und im Gefängnis konnte sie ihm nicht helfen. Ich kann nicht zulassen, dass sie mich erwischen, dachte sie. Ich muss stark sein. Der Streit auf der Straße ging unentwegt weiter und wurde sogar noch lauter. Sie musste hoffen, dass es laut genug war, um ihr Keuchen und die Geräusche ihrer Bewegungen zu übertönen, wenn sie sich wieder in den verborgenen Raum zurückkämpfte, aber sie musste sich schnell bewegen, bevor das Geschrei bewirkte, dass die Leute aus den Fenstern schauten. Lorrie bog ihr verwundetes Bein so weit zurück, wie es ging, aber als sie sich erneut hochstemmen wollte, stellte sie fest, dass es immer noch nicht weit genug war. Sie stieß ein schmerzerfülltes, frustriertes Schluchzen aus, dann machte sie weiter, auch wenn es ihr Bein weiter aufriss. Nun hing sie mit der Taille auf der Fensterbank. Sie atmete durch zusammengebissene Zähne ein und aus, schnell und verzweifelt, riss dann noch einmal, hätte beinahe geschrien und war frei von dem Glas. So leise sie konnte, kroch sie wieder ins Zimmer, rutschte auf den staubigen Boden und biss 237 sich in den rechten Handballen, um die Schreie, die in ihr aufstiegen, zu dämpfen. Sobald sie wieder richtig Luft bekam, setzte sie sich hin und betrachtete den Schaden. Der Anblick ließ sie beinahe in Ohnmacht fallen. Ein lang
gezogener, tiefer, gezackter Schnitt begann direkt oberhalb ihres Knies und endete ganz oben am Oberschenkel. Blut f loss aus dem zerrissenen Fleisch und sammelte sich bereits am Boden; das einzig Gute daran war, dass es nur floss und nicht spritzte. Als sie voller Entsetzen zuckte, bewegte sich das Bein mit, also war keine Sehne zerschnitten; die Scherbe hatte sich direkt in die Mitte des Muskels gegraben. Aber dennoch, derart starkes Bluten konnte sie innerhalb einer Stunde umbringen. Ein Landmädchen kannte sich mit Schnitten aus - und damit, wie viel Blut ein Schwein hatte, nämlich etwa so viel wie ein Mensch. Tu etwas!, schrie sie sich selbst zu. Mit zitternden Händen löste sie ihre Wasserflasche vom Gürtel und goss etwas davon auf das Bein. Es brannte wie Feuer, und wieder wäre sie beinahe ohnmächtig geworden und ließ die Flasche fallen. Sie hob sie schnell auf und lauschte, ob jemand das Geräusch bemerkt hatte. Nichts geschah, und sie kümmerte sich weiter um ihr Bein. Als das Blut weggewaschen war, konnte Lorrie sehen, dass die Wunde genäht werden musste. Sie hatte einmal zugesehen, wie ihre Mutter eine Wunde nähte, die sich Emmet, ihr Knecht, zugezogen hatte, als ihm die Axt ausgerutscht war. Sie hatte alles genau beobachtet, aber das hier sah erheblich schlimmer aus, und sie hatte keine Nadel. Und sie hatte ihre Mutter nicht. Lorrie presste die Hand auf den Mund. Sie hatte keine Zeit zum Weinen; sie blutete, und zwar schlimm. Sie zog sich hinüber zu dem Tuchballen und schnitt ein Stück davon ab; dann zog sie sich die Hose herunter und verband das Bein so fest sie konnte. Wenn sie die Wunde schon nicht nä238 hen konnte, konnte sie sie zumindest zusammenpressen. Vielleicht würde das ja genügen. Dann zog sie die Hose wieder hoch und ließ sich auf ihr behelfsmäßiges Bett sinken. Was soll ich nur machen?, dachte sie. Sie spürte, wie Rip sich immer weiter entfernte, aber sie konnte mit der Wunde in ihrem Bein nicht nach draußen klettern, nicht einmal, wenn niemand da unten war, und erst recht konnte sie nicht zwei Reitern folgen. Ich hätte Horace nicht verkaufen sollen. Aber sie war so sicher gewesen, dass Meersburg ihr endgültiges Ziel war. Warum sollte jemand ihren Bruder entführen, wenn sie ihn nicht an Sklavenhändler verkaufen wollten? Aber jetzt wurde er wieder ins Landesinnere geschafft; das Gefühl war wie eine innere
Wetterfahne, die sich leicht bewegte und in die richtige Richtung zeigte. Warum?, wiederholte sie wieder und wieder. Sie hatte in Verzweiflung begonnen und endete im Zorn. Warum Rip? Warum ihre Eltern? Warum sie? Warum jetzt? Wer waren diese Leute, und was hatten sie vor? Und über alles andere hinweg und immer wieder: Warum? Lorrie schloss die Augen. Dunkelheit brach über sie herein wie eine Welle. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als Flora in Jimmys Zimmer schlüpfte; es war nach den Maßstäben von Krondor ein ruhiger Morgen. »Wo warst du gestern Abend?«, fragte sie in sehr lautem Flüsterton. Jimmy, vollkommen überrascht, riss die Hose so fest hoch, dass er sich wehtat. Er warf einen Blick über die Schulter und kämpfte gegen das Bedürfnis an, an die schmerzende Stelle zu fassen. »Du ...« Seine Stimme kam so hell heraus, dass er hustete und noch einmal von vorn anfing. »Du solltest erst anklopfen, erinnerst du dich?« 239 »Pah! Es gibt nichts an dir, was ich nicht schon gesehen habe«, erklärte sie verächtlich. Jimmy zog die Brauen hoch. »Weiß deine Tante das?«, fragte er freundlich. Floras Mundwinkel zuckten nach unten, als sie sich abwandte und errötend ihr Haar zurückstrich. »Nein. Und ich denke, dass du vielleicht Recht hattest. Vielleicht sollte ich meine Vergangenheit einfach für mich behalten.« »Ich denke wirklich, dass es das Beste wäre«, sagte er nicht ohne Mitgefühl. »Für alle.« Sie stieß ein wenig damenhaftes Schnauben aus. »Ja, ich darf nicht vergessen, dass es auch dich betrifft.« Dann sah sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Also, wo warst du gestern Abend?« »Ich bin spazieren gegangen«, sagte er. »Ich dachte, es würde mir gut tun, mir mal die Stadt anzusehen.« Flora kniff nervös die Lippen zusammen, ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du darfst keinen Fehler machen, solange du hier bist«, flüsterte sie. »Bitte, Jimmy. Es ist wichtig.« »Ich habe keinen Fehler gemacht«, entgegnete er. »Nun«, sie fuchtelte gereizt mit den Händen, »dann tu es auch
weiterhin nicht.« »Was meinst du damit? Niemals wieder? Das kann ich nicht versprechen. Ich bin ein Spötter, kein Priester.« »Zumindest nicht, solange du hier bist«, sagte sie und sah ihn flehentlich mit ihren großen Augen an. »Wenn du etwas Falsches tust, wird es auf mich und auf sie zurückfallen, und die Schande würde schrecklich sein.« »Mit >keinen Fehler machen< meinst du wahrscheinlich mehr als nur >nicht stehlen<«, sagte er. »Ich wette, du denkst auch, dass ich nicht in eine Schänke gehen und mich betrinken, nicht in Schlägereien geraten und mich nicht an Glücksspielen beteiligen soll.« 240 Sie schüttelte den Kopf. »Oder ...« Er fuhr sanft mit dem Finger über ihre Wange. Flora wich zurück, als hätte sie nie im Leben einem Seemann ein Angebot gemacht. »Ganz besonders das nicht!«, sagte sie bestimmt. Jimmy starrte sie an. Es ist noch nicht so lange her, dass wir es getan haben, und jetzt sieh sie dir an! Flora verlor wirklich keine Zeit, übertrieben achtbar zu werden. Er stützte die Hände auf die Hüften und lachte. Sie legte den Finger an die Lippen und warf einen Blick zur geschlossenen Zimmertür. »Flora«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du ein solches Maß an Zurückhaltung überleben willst.« Obwohl gute Mahlzeiten, Bequemlichkeit und ein Leben, bei dem man sich keine Sorgen mehr über die Zukunft zu machen brauchte, dabei selbstverständlich gewaltig helfen würden. »Aber wenn du das willst, dann sollst du es haben; du wirst dich erinnern, dass ich mir von Anfang an Sorgen um dich gemacht habe.« Sie schien immer noch nervös zu sein, und er gab nach. Er legte die Hand aufs Herz und sagte: »Ich habe nicht vor, dir Schande zu machen, und auch nicht deinen Verwandten.« Mit ruhiger Entschlossenheit hat sie: »Dann sag mir bitte, was du gestern Abend gemacht hast.« Jimmy seufzte tief. »Also gut. Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe ein Mädchen gerettet.« Flora gab ein ersticktes Geräusch von sich, und als er sie ansah, bemerkte er, dass sie so überrascht dreinblickte, dass es beinahe
komisch war. »Was für ein Mädchen, und wovor hast du es gerettet?« »Also wirklich!«, sagte er. »Sie war ein Landmädchen, das sich als Junge verkleidet hatte, und sie war korrupten Diebesfängern in die Hände gefallen. Kannst du dich noch an Gerem Benton erinnern?« 241 Sie nickte. »Gerem die Schlange? Der Hochstapler, der sich auf Bauern spezialisiert hatte, die schnell reich werden wollten? Der Kerl mit dem Falsche-Diamanten-Trick? Ja, was ist mit ihm? Er ist tot, oder?« »Er ist sehr lebendig und hat hier eine Bande von Diebesfängern. Es sieht auch so aus, als käme er gut mit den hiesigen Wachtmeistern zurecht. Er hätte dieses Mädchen beinahe erwischt, aber ich hab sie ihm abgenommen. Er wusste nicht, dass sie ein Mädchen war; sonst hätte er sich vielleicht mehr angestrengt, sie zu behalten.« Jimmy schüttelte den Kopf. »Weißt du, diese Stadt wäre erheblich besser dran, wenn es hier auch so etwas wie den Aufrechten Mann gäbe«, bemerkte er weise. »Ein Landmädchen, das als Junge verkleidet war?«, fragte Flora und legte zweifelnd die Stirn in Falten. »Warum war sie verkleidet?« Jimmy dachte darüber nach. »Das hat sie nicht gesagt, aber sie war eindeutig ehrlich; sie wollte nicht mal altes Tuch als Decke benutzen, um es nicht zu beschädigen.« Flora nickte. »Wo ist sie jetzt?« »Ich habe in einem verlassenen Raum in einem Lagerhaus einen Schlafplatz für sie gefunden«, erklärte er. »Wenn sie vernünftig ist, sollte alles in Ordnung sein.« »Bring mich zu ihr«, verlangte Flora plötzlich. »Was? Warum?« »Vielleicht kann ich ihr helfen«, antwortete sie. »Bist du plötzlich wohltätig geworden? Glaubst du mir etwa nicht?« Er war tatsächlich gekränkt und verbarg es nicht. »Wenn mir jemand Hilfe angeboten hätte, nachdem mein Vater gestorben war«, sagte Flora hitzig, »wäre ich vielleicht nicht zur Hure geworden.« »Oh«, sagte Jimmy Autsch. »Also gut. Aber sie ist vielleicht nicht mehr dort«, warnte er. »Nun, dann haben wir es zumindest versucht.« Flora starr242 te ihn kühl an. »Ich hole mein Schultertuch und sage Tante Cleora,
dass wir einkaufen gehen. Also erinnere mich daran, auf dem Rückweg tatsächlich etwas zu kaufen.« Als sie schon in der Tür stand, fügte sie noch hinzu: »Wenn wir zurückkommen, sollten wir ein wenig im Haus helfen, wie es gut erzogene junge Leute tun. Ich möchte einen guten Eindruck auf Tante Cleora machen, bevor sie mich zu Großvater bringt.« Jimmy schaute die sich schließende Tür an. Im Haus helfen, dachte er. Wunderbar. Dieses Exil wurde von Minute zu Minute schlimmer. Flora zog den hinteren Teil ihres Rocks zwischen den Beinen hoch und steckte ihn in den Bund, was so etwas wie weite Hosen ergab, die es ihr gestatten würden zu klettern. Sieht so aus, als könnte sie nichts abhalten, dachte Jimmy und sah sich lässig um. Am anderen Ende der Gasse befanden sich Leute, die sie sehen könnten, wenn sie hinschauten ... aber das würden sie wahrscheinlich nicht tun. Und wenn, dann würde es sie vermutlich nicht interessieren. Die Männer waren damit beschäftigt, Kisten mit Töpferwaren auf einen von Maultieren gezogenen Wagen zu laden, und nach Jimmys Erfahrung waren Fuhrleute nicht auf Ärger aus, es sei denn nach der Arbeit und wenn sie betrunken waren. Jimmy wandte seine Aufmerksamkeit dem Klettern zu. Das helle Morgenlicht zeigte deutlich die Stellen, an denen man Halt finden konnte, und sie begannen fachmännisch an dem niedrigen Gebäude unter dem Fenster des verlassenen Raums hinaufzusteigen. Flora hatte darauf bestanden, eine Tasche mit Essen mitzubringen, die sie sich um die Taille gebunden hatte, und einen kleinen Weinschlauch, der nun an Jimmys Gürtel hing. Wenn jemand uns sieht, könnte ich immer noch behaupten, dass wir hier sind, um die Fenster zu putzen, dachte er, während Flora hochkletterte. 243 Dann flüsterte Flora plötzlich heiser: »Jimmy! Blut!« Sie blickte nach unten und zeigte Jimmy ihre Handfläche, auf der sich jetzt ein bräunlicher Fleck befand. Das Blut war beinahe getrocknet, also war es schon vor einer Weile geflossen. Jimmy zog sein Messer und steckte es sich zwischen die Zähne - es gab ein paar Situationen, in denen so etwas nützlich war, und einen möglicherweise gefährlichen Raum zu betreten, war eine davon. Er bedeutete Flora, zur Seite zu rutschen, damit er vorbeikonnte. Er passte gut auf seine Zunge auf - sein Messer war immer sehr scharf -, als er sich unter dem Fenster duckte, sich dann mit einem
Salto in den Raum warf, die Klinge fallen ließ, am Griff auffing und sich sofort umsah, wobei die Messerspitze der Bewegung der Augen folgte. »Mist«, sagte er leise, steckte das Messer ein, drehte sich um und streckte die Hand nach Flora aus. »Sie ist verwundet. Komm her.« Flora zog sich zum Fenster hoch und schnappte entsetzt nach Luft, als sie das Blut am Boden bemerkte; sie wusste beinahe genauso gut wie er, wann eine Wunde ernst war - und als sie die bleiche Lorrie auf dem blutbefleckten Tuch liegen sah, schlug sie die Hand vor den Mund und drückte sich an die Wand. »Banath steh uns bei!«, flüsterte sie. »Sie haben sie umgebracht! « Jimmy kniete sich neben Lorries Strohsack. »Nein, sie atmet noch«, sagte er erleichtert. »Lorrie«, rief er leise. Er berührte ihre Schulter. »Lorrie«, flüsterte er. Das Mädchen zuckte zusammen und keuchte, als wollte es Luft holen, um zu schreien. Jimmy drückte ihr schnell die Hand auf den Mund. »Ich bin's, Jimmy«, sagte er. »Schon gut. Ich habe dir etwas zu essen gebracht.« »Wir haben etwas zu essen gebracht«, betonte Flora und schob ihn beiseite. Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie nicht 244 vorhatte, ihn vergessen zu lassen, wie sehr er protestiert hatte, als sie ihn bat, das Brot, den Käse und den Wein zu kaufen. »Was ist passiert?,«, fragte Jimmy »Wer hat das getan?« Zu seinem Erstaunen lächelte Lorrie. »Ich«, erwiderte sie. Wieder ließ ihn die Ähnlichkeit mit der Prinzessin zusammenzucken. »Ich bin aus dem Fenster geklettert und jemand rief etwas.« Sie stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn halb betäubt an. »Ich war überrascht und bin ausgerutscht. Mein Bein ist an etwas hängen geblieben.« Sie lehnte sich wieder zurück. »Ich habe es verbunden, aber es tut weh.« Jede Wette, dass es wehtut, dachte er und betrachtete den festen, von Blut durchtränkten Verband. Ihr Götter, sie ist so ungeschickt! Gleich darauf hatte er ein schlechtes Gewissen. Nun, sie ist auch kein Spötter, sondern nur ein Bauernmädchen. »Das ist viel Blut«, sagte Flora. »Ich sollte es mir lieber mal ansehen.« Lorrie blinzelte, dann blickte sie Jimmy an. »Das ist meine Freundin Flora«, sagte er. »Sie ist in Ordnung.« Lorrie nickte, versuchte sich aufzusetzen und löste die Schnur an
ihrer Taille, dann warf sie Jimmy einen Blick zu. »Es ist an meinem Bein«, sagte sie. Jimmy nickte. »Brauchst du Hilfe?« Das Mädchen starrte ihn verdutzt an. »Jimmy«, sagte Flora mit zusammengebissenen Zähnen, »dreh dich um.« »Oh«, sagte er und tat es. Als oh mich das interessieren würde, dachte er. Er hörte, wie Flora nach Luft schnappte. »Was ist?« »Sieht schlimm aus«, antwortete sie. »Ein wirklich tiefer, hässlicher Schnitt. Du musst mir ein paar Sachen besorgen.« »Moment mal«, sagte er und setzte dazu an, sich umzudrehen. Die beiden Mädchen machten sofort ein derartiges Thea245 ter, dass er innehielt und ihnen weiterhin den Rücken zuwandte. »Was brauchst du?«, fragte er säuerlich. »Ein wenig pulverisiertes Wundkraut, Schafgarbenpulver und Schafgarbenblatttee, Frauenmanteltinktur, ein wenig Weidenrindentee und -« Er merkte, dass sie zögerte. »Ein wenig Mohnsaft. Und eine feine Nadel und einen Faden. Katgut, wenn du es kriegen kannst. Wenn nicht, gewachstes Leinen.« »Was?«, fragte er. »Sonst nichts? Keine Tanzmädchen, keine Elefanten, kein ...« »Kein Mohnsaft«, murmelte Lorrie. »Ich muss meinen Bruder finden.« »Mit dieser Wunde an deinem Bein wirst du so schnell nirgendwohin gehen«, sagte Flora. »Nicht heute. Geh schon!«, fauchte sie Jimmy an. Er ging tatsächlich, wenn auch ziemlich verärgert. Er hatte dieser Lorrie schon Wein und Brot gekauft, und jetzt sollte er ihr auch noch eine halbe Apotheke bringen? Was erwarteten sie denn noch von ihm? Mohnsaft! Wusste Flora überhaupt, was Mohnsaft kostete? Obwohl Lorrie gesagt hatte, dass sie keinen wollte. Er dachte darüber nach, als er weiterging. Nein, er sollte wohl lieber welchen kaufen. Mit all dem Blut hatte sie sicher schlimme Schmerzen. Warum erwiesen sich gute Taten immer als so teuer? Als er zurückkam, schlief Lorrie wieder, und Flora betrachtete sie nachdenklich. Sie blickte auf, als sich Jimmy geschickt durchs Fenster schwang. »Danke«, sagte sie und nahm ihm die Arzneien ab. Und dann, nach einer Pause: »Ich bin dir sehr dankbar, Jimmy
Niemand war je so freundlich zu mir.« »Schon gut«, erwiderte er mürrisch und zuckte die Achseln. Prinzessin Anita, was habt Ihr mir angetan?, fragte er sich. Ich war nie zurückhaltend, wenn es darum ging, Freunden zu helfen, aber das hier ist lächerlich! Flora braucht keine 246 Hilfe, sie ist mitten im Honigtopf gelandet, und dieses Landei kenne ich kaum! Außer, dass sie so aussieht wie Ihr-na ja, wie Ihr aussehen würdet, wenn Ihr als Landei zur Welt gekommen wärt. Er sah, dass Flora versucht hatte, das Blut aufzuwischen, denn in einer Ecke lag ein Haufen feuchtes Tuch. Sie hatte auch den Verband an Lorries Bein erneuert. Der Geruch war immer noch da, aber zumindest brauchten sie sich jetzt keine Gedanken mehr zu machen, dass Blut durch die Dielen tröpfelte und jemanden auf sie aufmerksam machen würde. Flora hatte auch Wasser geholt, was äußerst wichtig für jemanden war, der so viel Blut verloren hatte. Flora legte die Arzneien und Nadel und Faden zurecht. Lorrie erwachte, aber sie schien verwirrt zu sein. Flora hatte ihr wahrscheinlich gegen die Schmerzen den ganzen Schlauch Wein eingeflößt. »Hilf mir, sie umzudrehen«, sagte sie. Er tat es und verzog das Gesicht, als sie die Wunde aufdeckte und sich an die Arbeit machte; wahrscheinlich war Züchtigkeit nicht mehr so wichtig, wenn man nur ein Stück Oberschenkel sehen konnte, das aussah, als wäre es auf dem Weg zum Metzgerladen, aber er wandte sich trotzdem ab. In gewisser Weise war es weniger schlimm, wenn einem die eigene Wunde genäht wurde, als zusehen zu müssen, wie es mit jemand anderem passierte; es sei denn, man konnte sich andere Leute als ein Stück Fleisch vorstellen. Lorrie ertrug es tapfer und musste nicht festgehalten werden. Sie schauderte und keuchte nur, und Jimmys ursprüngliche gute Meinung von dem Mädchen wurde noch erheblich besser. Flora leistet gute Arbeit, dachte er; sie war vielleicht nicht geschickt genug, um Taschendiebin zu werden, aber sie konnte gut mit Nadel und Faden umgehen. »Es gibt etwas, worum wir dich bitten müssen, Jimmy«, 247 sagte Flora ohne aufzublicken, als sie den letzten Stich zusammenband und das Katgut mit einem scharfen Messer abschnitt.
»Nein«, sagte er zur Wand. »Ich dachte schon auf dem Rückweg, dass du mich um etwas bitten würdest, und die Antwort lautet nein.« Lorrie öffnete die Augen und sah ihn an. »Nein«, sagte er und wandte sich ab. Lorries traurige Augen waren denen der Prinzessin viel zu ähnlich. Es war schwer zu glauben, dass er so anfällig für den Blick eines Mädchens sein sollte, aber er fürchtete, dass es tatsächlich der Fall war. »Mein Bruder ist entführt worden«, sagte Lorrie heiser. »Er ist erst sechs Jahre alt.« Sie holte tief Luft und kämpfte offensichtlich gegen Tränen an. »Sie haben meine Eltern umgebracht und unser Haus und die Scheune niedergebrannt. Es ist nicht mehr viel übrig, aber das Land hat einen gewissen Wert, und es gibt noch ein bisschen Vieh und einen Wagen. Ich gebe euch das alles, wenn ihr ihm helft.« »Sehe ich etwa wie der Wachtmeister aus?«, fragte Jimmy. »Und wäre das nicht Sache des Wachtmeisters?« Er warf Flora einen Blick zu, der bedeuten sollte: Ja, das ist eine Aufgabe für den Wachtmeister, und das weißt du genau. »Niemand wollte mir glauben«, jammerte Lorrie. Flora bedeutete ihr leise zu sein. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Alle unsere Nachbarn denken, unsere Eltern wären von wilden Hunden oder anderen Tieren umgebracht worden, und diese Tiere hätten auch meinen kleinen Bruder verschleppt. Aber so war es nicht. Es waren zwei Männer. Einer groß und kräftig, der andere dünn. Sie sind davongeritten und hierher gekommen. Jetzt ziehen sie weiter ins Land und haben Rip mitgenommen. Ich spüre, wie sie sich weiter und weiter entfernen.« Jetzt weinte sie herzzerreißend. »Bitte findet ihn. Bitte!« 248 Jimmy sah die beiden jungen Frauen verblüfft an. »Wie soll ich das denn anstellen?«, fragte er. Selbst wenn ich es wollte, was nicht der Fall ist. »(Ich weiß nicht, wie diese Männer aussehen und wohin sie gegangen sind. Ich kenne deinen Bruder nicht, ich habe kein Pferd, und selbst wenn ich eins hätte, ich kann nicht reiten. Du verlangst Unmögliches!« »Sei still!«, zischte Flora. »Geh und denk darüber nach, während ich Lorrie ein bisschen sauber mache.« Derart entlassen, ging Jimmy zum Fenster und blickte hinaus. Wieso bin ich plötzlich wieder der Schuft?, dachte er und musste sich ermahnen, nicht zu schmollen. Ich habe sie doch schon gerettet. Zwei Mal!
Nach scheinbar sehr langer Zeit - und nach ein oder zwei leisen, erstickten Schmerzensschreien, was irgendwie verstörender war als viele, die er zuvor gehört hatte - sagte Flora: »Du kannst dich wieder umdrehen.« »Seht mal«, sagte er, als er bemerkte, wie bleich die beiden Mädchen waren, »ich will ja nicht gemein sein. Es ist nur ...« »Du möchtest dich lieber nicht einmischen«, beendete Flora den Satz für ihn. Er hob protestierend die Hand. »Das habe ich nicht gesagt.« »Das brauchst du auch nicht«, erwiderte sie verächtlich. »Ich kenne dich, Jimmy Aber ...« Flora hielt inne, seufzte und ließ die Schultern sinken. »Ich weiß, in Krondor hättest du Lorrie nie geholfen. Ich gebe es zu, ich bin enttäuscht; ich dachte, du hättest dich verändert.« Jimmy zog die Brauen hoch und die Mundwinkel nach unten. Ganz sicher hätte er Lorrie auch in Krondor geholfen, aber Flora wusste das nicht; sie war der Prinzessin nie begegnet und wusste nichts von Jimmys Gefühlen für sie, und vielleicht wollte er auch nicht, dass sie davon wusste. Er warf einen Blick zu Lorrie, die Prinzessin Anita tatsächlich sehr ähnlich sah, bis hin zu diesem gehetzten Blick - ganz 249 wie die Prinzessin, wenn sie an ihren gefangenen Vater gedacht hatte. Lorrie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. Als er sah, wie eine kristallene Träne langsam über ihre Wange lief, seufzte Jimmy. Es war sein Schicksal. Es war unmöglich, sich von diesen Augen abzuwenden und kein schlechtes Gewissen zu bekommen. »Schon gut, ich werde es versuchen«, erklärte er. Er stand auf, und jede Bewegung zeigte sein Widerstreben. »Ich verspreche nichts, und ich weiß auch nicht, wann ich zurückkomme.« Zu Flora sagte er: »Du musst eine Geschichte für deine Tante erfinden, die erklärt, wieso ich weg bin.« »Ich werde ihr sagen, dass du ein wenig reist.« »Sag ihr, es hat mit Arbeit zu tun; Lehrling bei einem Händler oder so. Sei vage; sag einfach, ich hätte dir keine Einzelheiten mitgeteilt bis ich zurückkomme, habe ich eine brauchbare Geschichte erfunden.« Flora nickte. »Ich denke, sie bewegen sich auf der Küstenstraße nach Nordosten«, sagte Lorrie. »Versuch es zuerst in dieser Richtung. Und sei
vorsichtig. Diese beiden haben meine Mutter, meinen Vater und Emmet anscheinend mit Leichtigkeit getötet, und keiner von denen war schwach oder feige. Pass auf dich auf!« »Danke«, sagte er. »Das werde ich tun.« Er warf einen Blick zu Flora, die einen Verband aufwickelte und so stolz aussah, als würde sie gleich platzen. »Grüß deine Tante von mir, falls es länger dauern sollte.« Sie war aufgesprungen und umarmte ihn fest, bevor er noch etwas hinzufügen konnte. Dann ließ sie ihn los und schubste ihn leicht. »Also, geh schon, und sei vorsichtig.« Sie verschränkte die Arme und sah ihn ernst an. »Du weißt, wo du mich finden kannst.« Jimmy lächelte sie an und schüttelte den Kopf. Sie verän250 derte sich so schnell, dass er sie kaum mehr kannte. Dann wandte er sich ab und stieg aus dem Fenster. Als Erstes sollte er wahrscheinlich versuchen, ein Pferd zu finden. »Nein«, sagte der Wirt uninteressiert. »Sie sind gleich im Morgengrauen aufgebrochen. Genau wie immer.« Jarvis Coe warf ein paar Münzen auf die Theke. Überraschend, dachte er. Nach ihrem Gespräch gestern Abend hätte ich eigentlich erwartet, dass sie ein ausführliches flüssiges Frühstück zu sich nehmen. Billige Schurken verfügten selten über Disziplin oder Entschlossenheit. Wenn sie welche hätten, würden sie andere Berufe ergreifen ... oder zumindest höhere Preise verlangen. Der Wirt ignorierte das Kupfer und polierte darum herum. Seine Brauen zuckten, als Silber neben das mattere Metall fiel. »Welchen Weg haben sie genommen?« Die Münzen verschwanden in der großen Hand des Wirts. »Sie sind auf der Küstenstraße nach Norden gezogen, wie immer.« Man konnte nirgendwo in der Stadt ein Pferd mieten, aber man konnte eins kaufen, mit der Versicherung, dass der Händler es am Ende zurückkaufen würde. Coe ging rasch durchs Nordtor und verfluchte, dass er so viel Zeit verlieren würde; es war ein angenehm warmer Tag, hervorragend zum Reisen geeignet - aber das galt leider auch für die, die er verfolgte. Selbst im Vorbeigehen bemerkte sein geschultes Auge Einzelheiten: die Lässigkeit, mit der die Wachen sich auf ihre Speere und Hellebarden lehnten und die in einem gewissen Kontrast zu der entspannten Aufmerksamkeit im Blick ihres Hauptmanns stand. Nach allem, was er wusste, hatte der Baron von Meersburg den größten Teil seiner Truppe - etwa zweihundert
Bewaffnete - in der alten Burg am Stadtrand einquartiert und nur eine kleine Ehrengarde in seinem viele Meilen entfernten Landsitz zurückbehalten. Aber er hatte 251 auch keinen Erben, also war ihm die Sicherheit der Bürger vielleicht wichtiger als seine eigene. Die Verwaltung schien dem königlichen Distriktbeamten, den Oberhäuptern der Gilden der Stadt und dem Hafenmeister überlassen zu sein. Solange kein Krieg ausbrach und der Herzog keine neue Steuer verhängte, war dieses System vermutlich recht brauchbar. Aber die Garnison der Stadt hatte die ländlichen Gebiete nach und nach immer mehr vernachlässigt; es gab nicht einmal mehr eine regelmäßige Patrouille zwischen der alten Burg und dem Landsitz des Barons an der Küste. Das hatte auf dem Land schließlich zu einigem Schaden geführt. Es brauchte nicht viel Vernachlässigung, um Banditen anzulocken oder um ein Dutzend örtlicher Schurken zu dem Schluss kommen zu lassen, dass sie lieber Frauen vergewaltigen und Schafe stehlen würden, als geregelter Arbeit nachzugehen. Und der Wachtmeister hatte weder die Zeit noch die Möglichkeit, die Ordnung aufrechtzuerhalten, es sei denn, er erhielt den direkten Befehl des Barons oder des königlichen Beamten. Coe dachte über diesen seltsamen Zustand nach, als er durchs Stadttor ging. Meersburg war einem großen Dorf immer noch ähnlicher als einer kleinen Stadt, und es gab die üblichen Werkstätten und Geschäfte, die innerhalb einer ummauerten Siedlung unpraktisch oder illegal waren. Er ging dem unmissverständlichen Geruch von Pferden nach und wurde langsamer, als er näher kam. »Der junge Jimmy!«, rief er. »Was für eine angenehme Überraschung! Wie geht es deiner Pflegeschwester?« Jimmy mochte ebenso überrascht sein, aber er beherrschte sich hervorragend. Tatsächlich war der Blick seiner dunklen Augen ruhig, kühl und über seine Jahre hinaus verständig, obwohl Coe darauf gewettet hätte, dass dieser Junge zu schnell und unter rauen Umständen aufgewachsen war. Coe betrachtete ihn von oben bis unten und musste wieder 252 an die Vermutungen denken, die er schon an Bord über Jimmy angestellt hatte. Noch ein Junge, nicht einmal fünfzehn Sommer alt, aber ungewöhnlich und begabt. In diesem Ei eines Jungenlebens
klopft ein Mann an die Schale, und ein gefährlicher Mann, wie es scheint. Lockiges braunes Haar -schlecht geschnitten, wahrscheinlich mit einem Messer -, kontrastierte mit bürgerlicher, aber nicht protziger Kleidung. Coe nahm an, dass diese Stiefel nicht an Jimmys Füßen abgetragen worden waren. Aber eins war wirklich auffällig, dachte Coe: Er hat nichts von der üblichen Ungeschicklichkeit von heranwachsenden Jungen an sich. Er bewegt sich wie ein Akrobat, wie eine Katze, die alles um sich herum wahrnimmt; er kann anderen ausweichen, ohne besonders aufpassen zu müssen, und er bewegt sich selbst in der dichtesten Menschenmenge, ohne jemanden anzurempeln. Coe lächelte. Das war vielleicht nicht ganz zutreffend, aber sollte Jimmy tatsächlich auf der Straße jemanden anrempeln, wäre das sehr wahrscheinlich beabsichtigt. Schon das Rapier an seiner Seite genügte, um Coes Interesse zu wecken: Es war die Klinge eines erwachsenen Mannes und viel zu teuer für die Rolle eines jungen Mannes am schäbigeren Ende der Achtbarkeit, die der Junge spielte. Wenn die Waffe selbst von ähnlicher Qualität war wie Handschutz und Scheide, würde man von ihrem Preis ein Dutzend Bauernhöfe pachten können. Wichtiger als die Frage, wie Jimmy an das Rapier gekommen war, war die Tatsache, dass er zweifellos gut genug damit umgehen konnte, dass es sich als gefährlich erweisen könnte, ihn herauszufordern. Selbst jetzt wäre es klug, vorsichtig zu sein. Ich wette, er ist so flink wie ein Frettchen und würde ebenso gnadenlos direkt auf die Kehle zielen. »Flora? Sie macht Tante Cleora sehr glücklich«, sagte Jimmy »Schön, Euch wieder zu sehen, Sir.« »Ich freue mich auch, Junge. Suchst du nach Arbeit als Stallknecht?« 253 »Ihr Götter, nein!« Jimmy grinste. »Ich habe keine Ahnung von Pferden. Aber ich muss ein Stück weit die Küstenstraße entlang reisen und nahm an, dazu würde ich eins brauchen.« »In welche Richtung?«, fragte Coe. Jimmy blickte ihn misstrauisch an. »Ah, nach Nordosten.« Er zuckte die Achseln. »Genau wie ich«, verkündete Jarvis erfreut. »Warum reiten wir nicht zusammen?« Ohne noch auf die Antwort zu warten, rief er nach dem Händler und bat ihn, ein weiteres Tier zu satteln, und bevor Jimmy widersprechen konnte, hatte er dem Mann eine Goldmünze zugeworfen und sagte: »Wir werden die Pferde an Euch zurückverkaufen, wenn wir
zurückkommen.« Der Pferdehändler fing die Münze auf und erwiderte: »Wenn Ihr sie in gutem Zustand zurückbringt, kaufe ich sie gern.« Coe sah Jimmy an und lächelte. »Da. Schon erledigt.« Der Junge ließ sich nicht anmerken, ob er diese Eigenmächtigkeit missbilligte. Er sagte nur: »Ich habe wirklich keine Erfahrung mit Pferden.« »Wir brauchen also ein sanftes Tier«, rief Coe dem Händler hinterher. »Ich will Euch nicht aufhalten, Sir«, sagte Jimmy »Das wirst du auch nicht, Jimmy Ich habe nicht vor zu galoppieren. Wie ein Mann, so kann auch ein Pferd weiter gehen, als es rennen kann. Hast du ein paar Vorräte?« Oder irgendetwas anderes als die Kleider, die du am Leib trägst, diese absurd großartige Klinge und eine überraschend große Menge an Bargeld? »Nein. Ich dachte, ich sollte mich erst mal um ein Pferd kümmern und dann das, was ich brauche, auf dem Markt kaufen«, erwiderte Jimmy »Wie ich schon sagte, Sir, ich will Euch nicht aufhalten.« 254 »Keine Angst«, sagte Jarvis und versetzte dem Jungen einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken. »Und wie ich schon sagte, ich habe es nicht eilig. Wo genau möchtest du denn hin?« Irgendetwas an diesem Jungen stimmte nicht. Jarvis konnte es nicht so recht greifen, aber er und seine angebliche Pflegeschwester waren Coe, so jung sie auch sein mochten, erfahrener und weniger harmlos vorgekommen, als sie sich gaben. Er war fasziniert und wollte mehr wissen. So geht es mir immer. Das ist eine der Eigenschaften, die mich so erfolgreich machen, dachte er nicht ohne Selbstironie. Und es war so etwas wie ein Bonus, wenn er sich seiner Neugier hingeben konnte, ohne dafür Umwege machen zu müssen. Diesmal jedenfalls. Bei anderen Gelegenheiten hatte ihn seine Neugier in Situationen geführt, die für andere mit dem Tod endeten. Der herzliche Rückenschlag hatte ihn ordentlich durchgerüttelt, aber Jimmy schaffte es dennoch, ein Grinsen aufzusetzen. Es wäre wahrscheinlich klug, sich von diesem Burschen fern zu halten. Er hatte etwas gegen Rückentätschler, hielt sie für Tyrannen, die einfach noch nicht wagten, ihr wahres Wesen zu zeigen. Aber Tyrannen nahmen einem Sachen weg, während Coe sich in seinem Eifer zu helfen beinahe überschlug. Alles sehr beunruhigend. »Ich möchte nur ein paar Freunde einholen«, erklärte er. Sie sind
bereits im Morgengrauen aufgebrochen.« »Ah«, erwiderte Coe, und sein Interesse wuchs sichtlich. »Ich frage mich, ob ich diese Leute kenne. Auch ich folge zwei Männern, mit denen ich sprechen möchte. Wir werden meine Vorräte teilen, junger Freund.« Der Stallbesitzer brachte die beiden Pferde. »Steig auf.« Jetzt stehe ich in seiner Schuld, dachte Jimmy Ich hasse Schulden, aber es ist dumm, Hilfe abzuweisen, wenn man sie wirklich brauchen kann. Was weiß ich schon darüber, Männer 255 durch Feld und Wald zu verfolgen? Mit Gassen, Kloaken und selbst mit Radburns Kerker kam er zurecht; auf dem Land war er so verloren wie ... nun, wie Lorrie es in der Stadt gewesen war, wo selbst ein vollkommen Fremder wie Jimmy sicher auf die Füße fallen konnte. Jimmy dachte angestrengt nach. Ich könnte selbstverständlich einfach wegrennen, aber das würde Aufmerksamkeit erregen. Und außerdem hat man, solange man nicht tot ist, immer noch Möglichkeiten. Er konnte sein Glück mit Coe versuchen und sehen, was geschah. Falls es schwierig würde, konnte er irgendwo anhalten, wo andere in Sichtweite waren, und behaupten, das wären seine Freunde. Oder im allerschlimmsten Fall konnte er in den Wald fliehen und sich verstecken. Mit Verstecken und Klettern kannte er sich aus. Konnte es in einem Dickicht von Bäumen so viel schwieriger sein als in einer Gasse? Er misstraute Coe, aber andererseits misstraute er jedem neuen Gesicht. Coe hatte ihm mit dem Armband gegen die Seekrankheit geholfen und ihnen einen guten Rat bezüglich ihrer Unterkunft in Meersburg gegeben. Bei seinem Spaziergang am Vorabend hatte er erfahren, dass der Rote Hahn wirklich so schlimm war wie die übelsten Kneipen in Krondor. Er und Flora hatten die Warnung nicht gebraucht, aber Jarvis Coe hatte das nicht gewusst, und er hatte auch keinen Vorteil aus seinem Verhalten erwarten können, denn es gab keinen Grund für ihn anzunehmen, dass er Jimmy je wieder sehen würde. Und ich bin neugierig, was ihn angeht. Neugier gehört zu den Dingen, die einen guten Dieb ausmachen, und außerdem wird dadurch die Jagd nach Lorries Bruder vielleicht weniger langweilig. Außerdem hatte er sich schon ein wenig beunruhigt gefragt, was er tun sollte, wenn er die Entführer wirklich einholte.
Nun, sagte er sich, ich bin ein Dieb. Ich werde den Jungen zurückstehlen. 256 Aber das war nur Prahlerei, und er wusste es. Zu den Dingen, die Jimmy in letzter Zeit gelernt hatte, gehörte auch, dass er nicht alles tun konnte, was er wollte - nur das meiste davon. Einem entschlossenen Mann mit einem Schwert gegenüberzustehen war unangenehm. Sich mit zweien anzulegen, war schlicht und ergreifend dumm. Wenn Coe wirklich mitmachte, hatte er vielleicht eine Chance, Rip zu retten. Der Mann hatte etwas an sich, das irgendwie nicht ganz stimmte, aber Jimmys Instinkte sagten ihm, dass Coe in Ordnung war. Er war vielleicht zurückhaltend und verbarg seine wahren Gründe ebenso wie Jimmy, aber er war kein wirklich schlechter Mensch. Nach all den Jahren in Krondor war wirkliche Schlechtigkeit etwas, was der junge Dieb instinktiv spüren konnte, und in neun von zehn Fällen hatte er damit Recht. Nein, Coe löste keine instinktiven Warnungen bei ihm aus. Er fragte sich allerdings, wem Jarvis Coe hinterherreiten wollte. War er vielleicht ein Kollege der beiden, die Rip entführt hatten? Er schob diesen Gedanken rasch beiseite: Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Jimmy das längst mit diesem seltsamen Instinkt erspürt, der ihn stets vor zu großem Ärger bewahrte. Der Stallbesitzer räusperte sich. Coe sah Jimmy mit hochgezogenen Brauen an. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich habe nachgedacht.« Einer der Stallburschen verschränkte die Hände. Jimmy sah erst ihn an, dann das große Pferd, dann stellte er den Fuß auf die Hände. Nicht, dass er diese Hilfe brauchte, aber ihm war aufgefallen, dass normale Leute oft ein wenig verstört reagierten, wenn man übermäßige Geschicklichkeit demonstrierte. Der Stallbursche hatte dicke Arme. Er überraschte Jimmy damit, dass er viel zu viel Kraft einsetzte, um ihn hochzuhieven, und der junge Dieb wäre beinahe über das Pferd hinweggeflogen - wenn er nicht so beweglich gewesen wäre. Er starr257 te den Mann wütend an, der seinerseits die Achseln zuckte und beinahe enttäuscht grinste. Jarvis schüttelte den Kopf. »Sie sind alle so«, sagte er zu Jimmy »Jeder glaubt, dass es Spaß macht, einem Anfänger Streiche zu spielen.«
Der Bursche zuckte abermals die Achseln und zeigte große, gelbe Zähne, die denen seiner Schutzbefohlenen nicht unähnlich waren. »Das Leben ist langweilig«, sagte er. »Man muss für Unterhaltung sorgen, wann immer man kann.« Jimmy starrte ihn immer noch wütend an. »Magst du es, wenn sich jemand erkenntlich zeigt?«, fragte er und zog ein Silberstück aus dem Gürtel. »Häh?«, fragte der Mann. Jimmy formulierte es etwas einfacher. »Magst du Trinkgelder?« Das Grinsen des Mannes wurde breiter. »Klar!« Jimmy steckte die Münze weg und sagte: »Dann solltest du deine Unterhaltung anderswo suchen.« Coe lachte. »Also, brechen wir auf«, sagte er und wendete sein Pferd. Noch bevor sie den Hof verlassen hatten, befürchtete Jimmy, dass sein Pferd einen Sinn für Humor hatte, der dem des Stallburschen ähnelte. Plötzlich, dachte er, muss jeder, dem ich begegne, Persönlichkeit zeigen. Ihr Götter, wann werde ich nach Krondor zurückkehren können? Als sie an der letzten Bude am Rand des Markts vorbeikamen, tat ihm bereits der Hintern weh. Ich kann nicht schnell genug von hier wegkommen, dachte er. Sie waren immer noch nicht aus dem emsigen Treiben heraus. Eine Schafherde wurde in die Stadt getrieben, Wagen rumpelten hinaus, und Fußgänger waren auf der staubigen weißen Straße eilig nach Norden unterwegs; ein schwacher Hauch von Seeluft wurde vom Wind herangetragen, und die spärlichen Bäume zeigten die Richtung an, aus der dieser 258 Wind überwiegend blies, denn sie waren alle ein wenig nach rechts geneigt. Jimmy hatte Staub zwischen den Zähnen, aufgewirbelt von Füßen, Hufen und Rädern. Die tiefen Rillen in der Straße zeigten, dass feuchtes Wetter wahrscheinlich noch schlimmer wäre. Jimmy hustete und verlagerte das Gewicht, und das Pferd kam zu dem Schluss, dass das einen Befehl zum Traben darstellte. Nichts, was der junge Dieb danach tat oder sagte, änderte etwas an dieser Vorstellung. Coe holte ihn ein und musste sich offensichtlich anstrengen, nicht zu lachen. »Lehn dich zurück«, rief er. »Reiß nicht an den Zügeln, das wird das Pferd nur ärgern. Zieh einmal, wenn du dich zurücklehnst, und dann lass wieder locker. Wenn es nicht stehen
bleibt, zieh noch einmal.« Jimmy lehnte sich zurück und verlagerte das Gewicht zum hinteren Ende des Sattels. Das Pferd zögerte, als wüsste es nicht genau, was sein Reiter wollte, aber nach ein paar Schritten wurde es langsamer und blieb schließlich stehen. Coes Pferd tat, als wollte es das andere beißen, und Coe riss den Kopf des Tieres geschickt zurück. Jimmy keuchte: »Vielen Dank.« £5 ist dumm, Angst zu haben, von diesem Ding zu fallen, dachte er und rieb sich die Rippen, wo der Rapiergriff fest gegen ihn gestoßen war. Ich hin schon von erheblich höheren Dächern gesprungen. »Du weißt wirklich nicht, wie man reitet, wie?«, fragte Coe. Der junge Dieb schüttelte den Kopf. »Ich habe mein ganzes Leben in Krondor verbracht«, sagte er, »und dort brauchte ich nicht zu reiten.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe es oft genug beobachtet, und es sah ganz einfach aus. Ich war sicher, dass ich es schaffen könnte.« Coe gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem unterdrückten Lachen klang. »Also, als Erstes: Siehst du diese Schlaufe vor deinem linken Knie? Du kannst die Rapierscheide dort durchstecken. Solange du nicht erheblich mehr 259 Erfahrung hast, kann es gefährlich sein, die Waffe lose an deiner Seite zu tragen.« Jimmy nahm Prinz Aruthas Geschenk vom Gürtel, hängte es in die Schlaufe, und es passte hervorragend hinein. »Reiten ist eher wie Tanzen, als einfach nur auf dem Tier zu sitzen. Du bist schnell und stark, und daher sollte es nicht zu schwierig sein. Denk immer daran, dass der Pferderücken sich auf und ab bewegt, wann immer das Tier eine Bewegung macht. Je schneller das Pferd läuft, desto schneller das Auf und Ab. Deshalb klammerst du dich fest, damit du nicht noch heftiger auf und ab hüpfst. Benutze deine Knie zum Abfedern, etwa so, als würdest du von großer Höhe herunterspringen ...« Also gut, ich versuche es, dachte Jimmy Das alles erinnerte ihn daran, wie Prinz Arutha ihm gezeigt hatte, wie man mit dem Rapier umgeht. Er bemerkte sofort, dass sich der Wallach entspannte. Wenigstens erfühlt sich jetzt besser, dachte er. »Denk immer daran, dass das Pferd spüren kann, was du von ihm willst. Wenn du die Schenkel fester klemmst und dich vorbeugst, weiß es, du willst schneller reiten. Wenn du dich zurücklehnst, weiß
es, dass es langsamer werden soll. Und jetzt versuche, es zu wenden, indem du ein Knie andrückst, den Zügel an der gleichen Halsseite berührst und dich ein wenig nach vorn und in die Richtung lehnst, in die du abbiegen willst - nur ein wenig; es ist mehr eine Verlagerung des Gewichts als eine wirkliche Bewegung. Reiß nur dann am Zügel, wenn du das Pferd sozusagen anschreien willst. Ja, das ist gut so. Und jetzt-« »Das ist ziemlich anstrengend«, stellte Jimmy nach ein paar Minuten fest. »Das liegt wahrscheinlich daran, dass du so angespannt bist. Und du benutzt Muskeln, die du nie zuvor beansprucht hast. Mach dir keine Sorgen, es wird mit der Zeit leichter werden.« 260 »Ich hoffe, wir müssen nicht weit reiten«, murmelte Jimmy. Nun lachte Coe wirklich. »Aber bedenke auch die gute Seite: Du wirst auf dem Pferderücken erheblich weiter kommen.« »Aber danach werde ich nicht mehr laufen können.« »Du bist jung und gesund, Jimmy; es wird schnell vorbeigehen.« Coe ritt ein Stück vor, schwieg einige Zeit und überließ es Jimmy, mit dem Pferd zurechtzukommen. Nachdem er und der Wallach zu einer Übereinkunft gekommen waren, ritt Jimmy vorwärts, bis er wieder an der Seite des älteren Mannes war. Jimmy verspürte ein gewisses Unbehagen in den Beinen, aber das war nichts verglichen mit dem Unbehagen, das er in Bezug auf Coe und dessen Beziehung zu den Männern, die sie verfolgten, empfand. Also gab er sich lässig und fragte: »Diese Männer, die Ihr sucht, sind das Freunde von Euch?« Coe schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nur, dass sie etwas wissen, das ich wissen muss.« Er wandte sich Jimmy zu. »Und du?« Der junge Spötter erinnerte sich genau, dass er Coe erzählt hatte, er wolle sich mit Freunden treffen. Offensichtlich hatte Coe das nicht geglaubt. Ich werde ihm früher oder später sowieso die Wahrheit sagen müssen. Also kann ich es auch gleich hinter mich bringen. »Die Wahrheit ist«, sagte er vorsichtig, »ich habe sie nie gesehen.« »Ihr habt euch geschrieben?«, fragte Coe grinsend. Jimmy lächelte nicht einmal. Stattdessen schüttelte er den Kopf. »Nein, Sir. Es ist folgendermaßen: Flora und ich haben dieses Mädchen kennen gelernt, ein Bauernmädchen, das gerade in die Stadt gekommen ist, um nach seinem Bruder zu suchen. Sie hat sich verletzt und kann nirgendwo hingehen, und sie sagt, diese Männer
hätten ihren Bruder vom Hof der Familie geraubt. Sie hat mich gebeten, ihn zurückzuholen.« 261 »Einfach so?«, fragte Coe. Er schien ehrlich verblüfft. »Das ist sehr großzügig von dir, Jimmy, aber wie willst du sie denn überreden, den Jungen zurückzugeben?« »Als Erstes brauchte ich ein Pferd«, erwiderte der junge Dieb. »Also habe ich mich auf dieses Problem konzentriert, und dann seid Ihr aufgetaucht. Und das Pferdeproblem hat sich so schnell gelöst ...« Jimmy zögerte. »Tatsächlich hatte ich noch nichts weiter geplant.« Coe lachte leise. »Das ist vielleicht eine Geschichte!« Er schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Es sieht so aus, als wären wir hinter den gleichen Männern her. Sie sind sehr, sehr gefährlich.« Jimmy versuchte, selbstsicher zu klingen. »Ich hatte schon öfter mit gefährlichen Leuten zu tun.« Coe sah Jimmy an, und nun war alle Heiterkeit von ihm abgefallen. »Das hier ist kein Spaß. Falls du dir also einbildest, du könntest Heldentaten vollbringen, ohne dass jemand verletzt wird, schlage ich vor, dass du das Pferd jetzt wendest und zurück nach Meersburg reitest, denn es wird kein Spaziergang werden. Diese beiden Männer verfügen über Informationen, die ich brauche, und ich fürchte, sie werden nicht freiwillig plaudern. Ich erwarte, dass Blut fließen wird. Und da ich nicht möchte, dass du mir in die Quere kommst, muss ich darauf bestehen, dass ich hier das Sagen habe. Denn ich habe bereits einen Plan, und ich nehme auch an, dass ich in diesen Dingen mehr Erfahrung habe. Folge meinen Anweisungen, und wir werden uns bemühen, dafür zu sorgen, dass das Blut, das fließen wird, nicht unseres ist. Einverstanden?« Jimmy saß schweigend da, dann lachte er. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass wenigstens Ihr einen Plan habt. Man hat mich wider mein besseres Wissen zu dieser Sache überredet, und ich habe keine Ahnung, was ich hier mache.« Er seufzte dramatisch und erleichtert. »Was werden wir also tun?« 262 Coe ließ sich nicht anmerken, ob ihn Jimmys plötzliche Begeisterung überraschte. Er seufzte nur und trieb sein Pferd an. »Erst mal«, erklärte er, »müssen wir sie finden.« 12 Flucht Zwei Männer ritten über die Hügelkuppe.
Sie kamen in Sicht, als Jimmy und Coe gerade die Kuppe des Hügels hinter ihnen erreicht hatten. Jimmy wies seinen Begleiter darauf hin, dann sah er Coes Reaktion. Der Mann schien unangenehm berührt, als hätte jemand plötzlich etwas Kaltes, Schleimiges in seinen Kragen gesteckt. Jimmy sah ihn erstaunt an und vergaß einen Augenblick die vielen Bereiche seines Körpers, die er gerne gerieben hätte. »Was ist denn?« Jarvis berührte eine Stelle an seiner Brust, dann griff er nach etwas unter dem Tuch seines Hemds und zog es vom Körper weg. Sie waren seit dem Vormittag unterwegs, Jimmy schätzte, seit etwa fünf Stunden. Sie hatten keine Rast eingelegt, um den Pferden etwas Ruhe zu gönnen, und die Tiere sahen für Jimmys ungeübtes Auge ebenso müde aus, wie seine eigenen Beine und sein Hinterteil sich anfühlten. Außerdem war Jarvis Coe bisher nicht besonders gesprächig gewesen, und Jimmy wusste immer noch nicht genau, was sie eigentlich unternehmen wollten. Wieder schaute er Coe an, der die beiden Männer auf der nächsten Hügelkuppe nach wie vor anstarrte. »Meister Coe?«, fragte Jimmy Die Augen des Mannes bewegten sich, und er starrte Jim264 my ins Gesicht, aber es dauerte einen Augenblick, bevor er ihn wirklich wahrzunehmen schien. »Dieser Ort fühlt sich seltsam an«, sagte er. Jimmy sah sich um: Es gab ein paar Bäume rechts, Felder links und vor ihnen eine leichte Erhebung mit einem Felsvorsprung, um den sich die Straße wand und der nun die beiden Männer wieder verbarg. Ein Bauer arbeitete auf einem Feld, holte etwas aus einem Sack und warf es auf das frisch gepflügte Land. Jimmy schüttelte den Kopf. »Sieht doch alles ganz normal aus.« Coe warf ihm einen Seitenblick zu. Er hatte immer noch das Ding unter seinem Hemd in der Hand. Dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht irre ich mich ja. Es ist einfach nur so ein Gefühl.« Er schüttelte energisch den Kopf und blinzelte. »Wolltest du etwas Bestimmtes?« Also gut, dachte Jimmy Immerhin hatte er hin und wieder auch »so ein Gefühl«. Zeit, vorsichtig zu sein. Vielleicht funktioniert mein Instinkt außerhalb der Stadt nicht, aber der von Jarvis Coe tut es. »Ich habe zwei Männer vor uns gesehen«, sagte er laut. »Dann versuchen wir doch, sie einzuholen.« Coe trabte voran. Als
Jimmy ihn einholte, warf der ältere Mann ihm einen Blick zu. »Hast du außer diesem Rapier noch eine Waffe?« »Mein Messer«, sagte Jimmy und versuchte, das Schulterzucken, das er im Trab nicht deutlich zeigen konnte, in seinen Tonfall zu legen. »Halte dich hinter mir, wenn wir sie einholen. Ich werde behaupten, dass ich wissen will, wie man nach Meersburg kommt. Wenn sie mir sagen, dass es hinter uns liegt, werde ich dich ausschimpfen, weil du die Anweisungen des Wirts falsch verstanden hast.« Jimmy verzog das Gesicht, und Coe fragte: »Was ist daran nicht in Ordnung?« »Na ja, genauer betrachtet ist es ein wenig schwierig, Meersburg von der Straße aus zu verfehlen.« 265 Coe versuchte nicht zu lachen. »Ich war nie besonders gut, wenn es um solche Dinge geht. Was schlägst du also vor?« »Wir fragen einfach nur, ob sie etwas dagegen haben, wenn wir zusammen weiterreiten, wegen der Banditen. Das sollte sie genügend ablenken, selbst wenn sie >Nein< sagen.« »Also gut. Wir reiten zusammen auf sie zu, ich spreche sie an und fange an zu reden, während du dich nach dem Jungen umsiehst, und wenn du ihnen nahe genug kommen kannst, packst du ihn und verschwindest. Ich kümmere mich um den Rest.« »In Ordnung«, sagte der junge Spötter. Das schien ein ganz vernünftiger Plan zu sein. »Falls sie es wirklich sind, müssen sie sich unterwegs viel Zeit gelassen haben, wenn sie so lange vor uns aufgebrochen sind.« Coe antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Jimmy hatte selbstverständlich Recht. Als sie um den Felsvorsprung bogen, fanden sie die beiden Männer, die ihre Pferde gezügelt hatten und sich offenbar stritten. Der kleinere Mann hatte einen großen Sack hinter dem Sattel festgeschnallt, aber es gab keine Spur von einem Kind. Die beiden Männer drehten sich zu Jimmy und Coe um, und ihre Pferde begannen, nervös zu tänzeln. »Entschuldigt, meine Herren«, rief Jarvis. »Hättet Ihr einen Augenblick Zeit?« Die beiden Männer sahen einander an und packten die Zügel fester. Bevor Jimmy Coe auch nur einholen konnte, trieben sie die Pferde an und galoppierten die Straße entlang, als würden sie von Dämonen gejagt. »Das sieht tatsächlich nach schlechtem Gewissen aus«, murmelte Jimmy
Coe hörte ihn nicht; er hatte sein Pferd ebenfalls angetrieben und war den beiden hinterhergaloppiert. Es war ein Rennen, das Coe und Jimmy kaum gewinnen konnten, denn ihre Pferde waren nicht so ausgeruht wie die der Entführer. Sie 266 waren stetig weitergeritten, während die beiden Männer offenbar viele Male gerastet hatten. Dennoch, wir müssen es versuchen, und vielleicht haben wir ja Glück. Jimmy drückte dem Pferd die Absätze in die Seiten. Es eilte hinter Coes Tier her: Pferde neigten offenbar dazu, Banden zu bilden. Er konnte die Macht der Bewegung spüren, den donnernden Huf schlag, die Geschwindigkeit, schneller als alles, was er bisher erlebt hatte, und das Hämmern des Sattels gegen seine misshandelten Oberschenkel. Jimmy ruckte mit den Ellbogen wie ein Huhn, aber er hatte ein beinahe übernatürliches Gleichgewichtsgefühl, und es gelang ihm schon bald, den Rhythmus des Pferdes zu erfühlen. Einen Augenblick lang musste er daran denken, dass er keine Ahnung hatte, was er tun sollte, wenn das Pferd plötzlich stehen blieb; Jarvis hatte noch nicht darüber gesprochen, wie man galoppierte, und Jimmy hatte wirklich keine Idee, was er tun sollte, um das Tier wieder zu verlangsamen. Der Sattel schlug fest gegen seinen Hintern, und seine Zähne klapperten. Er drückte die Fersen nach unten, wie es Coe ihm schon mehrmals geraten hatte, und stellte sich in die Steigbügel. Plötzlich hörten seine Zähne auf zu klappern, und sein Kopf wackelte weniger, so dass er tatsächlich etwas erkennen konnte, wenn er nach vorn schaute. Ah, dachte er. So macht man das also! Er bog die Knie ein wenig und bewegte Beine und Hüften mit dem Gang des Pferdes, während sein Oberkörper einigermaßen unbewegt blieb. Einen begeisterten Augenblick lang dachte er: Diese Reiterei ist gar nicht so schlecht, wenn man den Kopf nicht verliert. Dann kam das Pferd zu dem Schluss, dass es genug gerannt war, und nur Jimmys außerordentliche Reflexe und sein hervorragendes Gleichgewichtsgefühl bewahrten ihn davor, herunterzufallen und mit schmerzhaften Folgen auf der Straße zu landen. Stattdessen rutschte er nur weit nach vorn, die 267 Arme fest um den Hals des Tieres geschlungen. Das Pferd schien über diese unerwartete Zärtlichkeit eher gereizt, schnaubte und ging
in einen raschen Trab über, was Jimmys Zähne wieder zum Klappern brachte. Er schob sich zurück in den Sattel und begann mit den schaukelnden Bewegungen, die das Traben erträglicher machten. Er hatte gerade vor, einen neuen Galopp zu versuchen, als das Pferd über eine Anhöhe kam. Hinter dem nächsten Hügel befand sich ein großes, befestigtes Herrenhaus, praktisch eine Burg, mit einem Graben darum. Es war von einem recht vernachlässigt aussehenden Garten mit einer niedrigen Mauer umgeben, und am Ende eines Wegs befand sich ein schmiedeeisernes Tor. Die beiden Männer eilten diesen Weg entlang wie verlorene Küken zur Mutterhenne. Jimmy hielt plötzlich inne, oder vielleicht war es sein Pferd, das dies tat. Er konnte etwas Falsches spüren, beinahe so, als hätte etwas sehr Totes, sehr Kaltes seinen Rücken berührt und dann die Hand in ihn hineingeschoben, um an seinen Gedärmen zu reißen. Unwillkürlich stieß er einen leisen Schrei aus, und das Pferd wieherte protestierend. Plötzlich galoppierte es in die Gegenrichtung, ohne dass sich Jimmy erinnern konnte, die Anweisung dazu gegeben zu haben. Nur mit großen Schwierigkeiten konnte er das Tier wieder zügeln, indem er sich im Sattel zurücklehnte, die Füße in die Steigbügel stemmte und nach unten riss, bis das Maul des Pferdes beinahe seine Brust berührte. Er sah sich schwer atmend um und stellte fest, dass Coe ihm gefolgt war, mit bleichem, grimmig verzogenem Gesicht, wenn auch unter besserer Beherrschung seines Pferdes. »Was war das denn?«, fragte der Junge. »Ruthia, was war das?« Es dauerte einige Zeit, bis Coe antwortete. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Er warf Jimmy einen raschen Blick zu. »Aber 268 es ist gut zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der es gespürt hat.« Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Wir sollten hier verschwinden, falls sie nach uns suchen. Ich bin einigermaßen sicher, dass ich mit diesen beiden Briganten zurechtkommen könnte, aber ich werde mich nicht mit einem Dutzend Hausgardisten anlegen.« Er ritt weiter die Straße entlang, dann blickte er über die Schulter. »Willst du hier bleiben?« Jimmy sah ihn an, dann schaute er zurück zum Herrenhaus. »Nein, Sir«, sagte er und folgte Coe.
»Wo seid ihr gewesen? Ich wollte ihn schon gestern Abend haben!« Rip erkannte die Stimme nicht. Es klang nach einem sehr schlecht gelaunten alten Mann. Er fühlte sich seltsam, wie letzten Winter, als er krank gewesen war und die ganze Zeit geschlafen hatte. Ihm war zu warm, und er war zu fest zugedeckt, aber als er sich bewegen wollte, fiel ihm auf, dass er zu müde war, um etwas zu unternehmen. Er wollte nicht einmal die Augen öffnen. Außerdem wollten seine Hände sich nicht bewegen, er hatte die Füße unter sich gezogen, und er konnte einfach nicht darüber nachdenken, was er als Nächstes tun sollte. Aber er konnte zuhören. »Es tut mir Leid, Mylord. Immerhin kommt der Junge von weit her. Wir sind im Morgengrauen in Meersburg aufgebrochen.« Das war die knurrige Stimme, die er in der letzten Zeit öfter gehört hatte. Der Mann hatte aber nie zuvor so nett geklungen. »Im Morgengrauen, sagt ihr? Und ihr habt einen halben Tag gebraucht, um hierher zu kommen? Habt ihr eure Pferde auf dem Rücken getragen? Seid ihr auf den Händen gelaufen? Fünf Stunden!« »Aber Sir, wenn wir ihn ohnehin bis gestern Abend nicht 269 herbringen konnten, was macht es schon, wenn wir die Pferde heute früh ein bisschen verwöhnt haben? Die armen Viecher sind einfach müde, Mylord.« Das war die Stimme des Wiesels - so hatte Rip ihn genannt. Und selbst jetzt klang er nicht nett, sondern kriecherisch, schleimig und unangenehm. »So eine Frechheit!«, rief der alte Mann. Dann erklang das gedämpfte Geräusch, das entsteht, wenn jemand geschlagen wird. »Nehmt euer Geld und verschwindet.« Man hörte ein Klirren, ebenfalls ein wenig gedämpft, wie von Münzen in einem Sack, der zu Boden fällt. Und dann war es still, viel zu lange still. Rip bewegte sich unbehaglich und wünschte sich, sie würden alle verschwinden. »Danke, Sir«, sagte die knurrige Stimme schließlich. Rip spürte, wie man ihn hochhob und irgendwo hintrug. Es war nicht unbequem, und wer immer ihn trug, redete nicht, was angenehm war. Er hörte das Klicken eines Schlosses, das geöffnet wurde, dann ging eine Tür auf. Dann wurde er weitergetragen, und eine weitere Tür wurde aufgeschlossen. Schließlich wurde er auf etwas Weiches gelegt. Er entspannte sich und schlief sofort ein.
Als er aufwachte, war es, als wäre er aus einem dunklen Teich aufgetaucht. Er blinzelte, bewegte sich ein wenig und wusste nicht, wo er war. Dann spürte er jemanden, also setzte er sich auf und rieb sich die Augen. »Er ist wach!« Rip öffnete überrascht die Augen. Vor ihm stand ein Mädchen mit dunklen Augen und lockigem braunem Haar. Sie schien ein oder zwei Jahre älter zu sein als er, aber sie war zierlich und daher keinen halben Kopf größer. Sie grinste. »Ich bin Neesa«, sagte sie. »Und wer bist du?« Er war in einem Zimmer - einem großen Zimmer, größer als das ganze Haus seiner Eltern! Und das Bett war ebenfalls 270 groß, größer als das von Mama und Papa, und es hatte weiche Laken. Es gab Stoff an der Wand, Tücher mit Bildern darauf, Bilder wie aus alten Geschichten. Er war vollkommen überrascht, als ein Junge etwa in seinem Alter aufs Bett sprang und anfing, auf und ab zu hüpfen. »Wie heißt du? Wie heißt du? Wie heißt du?«, rief der Junge vergnügt. »Hör auf, Kay«, sagte ein älteres Mädchen und versetzte dem Jungen einen Stoß, der ihn auf den Rücken warf. »Du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man aufwacht.« Kay kicherte und ignorierte den zornigen Blick des Mädchens. Sie reichte Rip einen Steingutbecher. »Hast du Durst?«, fragte sie. Rip nickte, nahm den Becher und trank ihn mit ein paar großen Schlucken leer. Es war eine Art Obstsaft, aber kein Apfelsaft - es schmeckte mehr nach Beeren. Er keuchte und sagte: »Danke.« »Ich hatte danach noch eine Ewigkeit Durst. Ich bin Amanda. Zu Hause nennen sie mich Mandy« Sie war älter als Rip, anscheinend beinahe so alt wie Lorrie, aber anders als seine Schwester war Mandy eher ernst und hatte hellblondes Haar und blaue Augen. »Rip«, stellte er sich vor. »Wo bin ich?« Unter den Tüchern hatte das Zimmer Steinwände; einen Moment lang staunte er darüber, wie viele von diesen Tüchern es gab. Er wusste, wie lange Mama und Lorrie arbeiten mussten, um auch nur genug Stoff für ein Hemd herzustellen. Die Steine waren ordentlich zu Blöcken behauen, nicht wie die Steine der Feuerstelle zu Hause. Auf den Bildern ritten Leute in
komischen Kleidern auf Pferden, und der Stoff bewegte sich im Luftzug; es war nicht besonders warm, und in der Luft hing ein muffiger Geruch, der ihm nicht gefiel. Das Bett, er sah sich um ... nein, die Betten hatten viele Decken. Seins hatte sogar ein Dach wie ein Zelt. 271 »Du bist in meinem Bett«, sagte Mandy. Nicht, dass sie ihn sofort rauswerfen würde, sie ließ ihn nur wissen, dass er nicht ewig dort bleiben konnte. »Sind wir in einer Burg?«, fragte Rip. Er konnte sich keinen anderen Ort mit Steinwänden vorstellen. Und wie hat Emmet die Dinger in seiner Geschichte von König Akter noch genannt ... Wandbehänge! Ja, das sind Wandbehänge! Und Könige leben in Burgen aus Stein. Mandy zuckte die Achseln. »Ja, ich nehme an, es ist eine Burg.« »Sie lassen uns nicht raus«, erklärte Neesa. Sie sah sich um und schlang die Arme um den Oberkörper, als wäre ihr kalt. »Manchmal kommen sie und nehmen jemanden mit«, sagte Kay Er senkte die Stimme zu einem Flüstern: »Und der kommt dann nie wieder.« Rip sah sich um. Er wusste nicht, was geschehen war, warum er nicht sicher zu Hause bei seinen Eltern war. Er hatte Angst. »Vielleicht kommen ihre Mütter und Väter und nehmen sie wieder mit nach Hause«, sagte er hoffnungsvoll. Kay verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Du bist doch gerade erst hergekommen. Du hast keine Ahnung!« Er sprang vom Bett, rannte zu einem der anderen Betten, warf sich darauf und drehte den anderen den Rücken zu. Rip konnte Schluchzen hören, als Kay ins Kissen weinte. Er sagte leise: »Ich will meine Mama und meinen Papa.« Tränen traten ihm in die Augen. Mandy sah ihn einen Augenblick schweigend an, dann beugte sie sich zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern. »Er hat einfach nur Angst. Sie holen mehr Jungen als Mädchen. Ich bin schon lange hier, und in der Zeit haben sie vier Jungen weggeholt.« Sie senkte die Stimme noch ein wenig, dann berührte sie die Schläfe mit einem Finger. »Kay ist nicht ganz richtig. Er ist so alt wie Neesa, aber er benimmt sich, als wäre er fünf.« Sie senkte die Stimme noch mehr. »Neesa ist 272 auch nicht ganz richtig. Sie sieht und hört Dinge.« Rip war überrascht zu hören, dass Kay zehn Jahre alt war. Er sah wirklich
nicht so aus und benahm sich auch nicht so. Rip war für seine sieben Jahre kräftig und zäh. Er war dabei gewesen, wenn sein Vater Tiere schlachtete, und hatte seiner Schwester nach der Jagd geholfen, Hasen das Fell abzuziehen. Er neigte dazu, ruhig zu sein und sich zurückzuziehen, statt zu weinen oder sich zu beschweren; leise sagte er: »Ich habe Angst.« Mandy tätschelte seine Schulter. »Wir haben alle Angst, Junge. Hast du Hunger?«, fragte sie. »Essen hilft«, sagte Neesa. Ihre Augen glänzten, und sie nickte ermutigend. Rip beugte sich vor, bis er seine Füße über den Bettrand hängen konnte, wo er eine Weile schwankend sitzen blieb, bevor er wieder auf den Rücken fiel. Mandy seufzte und stand auf. »Bleib, wo du bist. Ich bringe dir was.« »Vielleicht sollte ich lieber nichts essen«, sagte er, denn ihm war wieder schwindlig. »Hast du heute schon etwas gegessen?«, fragte sie ihn. »Ich weiß es nicht.« Er runzelte die Stirn. Er konnte sich an überhaupt nichts erinnern, nur an die eine oder andere Bemerkung von dem Knurrer oder dem Wiesel im Dunkeln. Wo waren sein Vater und seine Mutter? Er konnte Mutter überhaupt nicht spüren, das war seltsam. Es war, wie wenn er einen Zahn verlor und eine leere Stelle blieb, bevor der neue Zahn wuchs. Vielleicht würde es diesmal allerdings nichts Neues geben. Lorrie? Er tastete nach ihr und spürte sehr, sehr weit entfernt ein Echo ihrer Präsenz. Vielleicht war er einfach zu weit weg, um seine Mutter wahrnehmen zu können. Aber etwas sagte ihm, dass das nicht stimmte. Es fühlte sich an wie eine Erinnerung, aber ohne die Bilder und Geräusche, die zu Erinnerungen gehören. 273 »Wo ist deine Mutter?«, fragte er Mandy Sie stellte ihm einen Teller mit Räucherfleisch, Käse und Äpfeln auf den Schoß. »Wir sprechen nicht über unsere Eltern«, sagte sie. »Warum nicht?« Er hielt die Frage für ganz vernünftig. »Das da ist dein Bett«, sagte sie und zeigte auf ein Bett in der Ecke. Rip wusste, er sollte jetzt verschwinden. Er rutschte vom Rand des hohen Bettes und blieb vorsichtig stehen, einen Augenblick unsicher, ob er umfallen würde oder nicht. »Sei nicht böse«, sagte er. »Ich verstehe es einfach nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sind wir
hier? Wo sind wir? Ich will einfach nur wissen, was los ist.« »Geh, setz dich auf dein eigenes Bett, und iss«, fauchte Mandy. Sie sprang auf ihr Bett, schlang die Arme um die Knie und starrte ihn wütend an. Rip konnte sehen, dass ihre Augen glänzten, als versuchte sie, nicht zu weinen. Verwirrt und ein wenig gekränkt ging Rip zu dem Bett in der Ecke und setzte sich. Er senkte den Kopf über den Teller, so dass die anderen nicht sehen konnten, dass Tränen über seine Wangen liefen, und steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. Er wollte nicht weinen, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. »Wir wissen gar nichts«, sagte Kay in das bedrückende Schweigen hinein, nachdem er aufgehört hatte zu weinen. »Niemand redet mit uns. Sie bringen uns Essen, aber sie sagen kein Wort. Sie kommen nur, um uns Essen und Wasser zu bringen und um sauber zu machen.« »Oder sie bringen jemanden oder holen jemanden weg«, fügte Mandy hinzu. »Mehr wissen wir nicht.« »Aber wir denken ...«, begann Kay »Wir denken, dass unsere Eltern tot sind«, sagte Mandy »Nein!«, schrie Neesa, die vor Zorn rot geworden war, und schlug nach Mandys Arm. 274 »Au! Runter von meinem Bett! Sofort!«, rief Mandy und schubste das jüngere Mädchen. Neesa fiel auf den Boden und fing an zu weinen. Kay verdrehte die Augen und zog das Kissen über den Kopf, während Mandy die Arme verschränkte und sie ignorierte. Rip schob den Teller beiseite. Er ging zu Neesa, legte die Arme um sie, und sie klammerte sich an ihn und weinte, als würde ihr das Herz brechen. »Ich will nicht, dass mein Papa und meine Mama tot sind«, jammerte sie. »Vielleicht geht es ihnen ja gut«, sagte Rip in dem Versuch, sie zu trösten. »Wir wissen es nicht.« Sie schniefte und blickte zu ihm auf, dann nickte sie. »Ja, vielleicht geht es ihnen gut.« Sie kam auf die Beine. Sie lächelte ihn an, dann ging sie zu ihrem Bett, wo sie eine Rolle Tuch packte und zu ihm zurückbrachte. Sie setzte sich neben ihn und begann, das Bündel in ihren Armen zu wiegen, während sie laut sang. Zumindest singt sie, dachte Rip. Es war ein Lied ohne Worte, aber es handelte sich offenbar um ein Schlaflied, und die Tuchrolle war ein
Baby Er stand auf und kehrte zu seinem Bett und seiner Mahlzeit zurück. Der Käse war wunderbar: weich und mild, mit einem leicht nussartigen Geschmack. So etwas hatte er noch nie gegessen, und er sah sich gierig nach dem nächsten Stück um. Zwei Tage später erwachte Rip mit dem Entschluss, diesem luxuriösen Gefängnis zu entfliehen. Er war zu jung, um zu erkennen, dass er betäubt gewesen war, aber er wusste, dass sich etwas verändert hatte, seit er aufgewacht war. Er hatte Angst, und seine Eltern fehlten ihm, aber es beruhigte ihn ein wenig, Lorrie irgendwo dort draußen zu spüren. Er wusste allerdings auch, dass seine einzige Hoffnung, seine Familie je wieder zu sehen, darin bestand davonzulaufen. Er mochte die anderen Kinder nicht. Gut, er hatte nichts 275 gegen Neesa, aber sie konnte manchmal sehr lästig sein. Sie sang ununterbrochen. Am ersten Abend hatte er nicht schlafen können, weil sie nicht aufhörte. Also war er zu ihr gegangen und hatte sie gebeten, still zu sein. Dann erkannte er, dass sie fest schlief und immer noch sang. Mandy hatte sich umgedreht und gesagt: »Sie tut das die ganze Zeit. Du wirst dich schon daran gewöhnen.« Aber das glaubte er nicht. Und Kay konnte er wirklich nicht ausstehen. Kay war vielleicht größer und älter als er, aber wie Mandy sagte, er benahm sich, als wäre er halb so alt. Wenn sie nicht bald hier rauskamen, würde Rip versuchen, Kay umzubringen. Kay biss und kniff, und er schlich sich an einen an, um das zu tun. Rip hatte ihn schon einmal in den Bauch geboxt, so fest, dass Kay sich beinahe übergeben hätte und nach Luft schnappend lange auf dem Boden sitzen geblieben war. Dennoch, das hatte nicht viel geändert. Kay hielt sich eine Weile zurück, vielleicht eine Stunde, dann zwickte er wieder, rannte davon und versuchte, sich unter dem Bett zu verstecken. Er versuchte es nicht so oft bei Mandy oder bei Neesa wie bei Rip, also hatte Mandy ihm wohl beigebracht, sie in Ruhe zu lassen. Aber jetzt wusste Rip, er würde Kay schlagen müssen, damit er aufhörte, und er wollte niemanden schlagen; er wollte einfach nur nach Hause. Darüber hinaus wusste er nicht, ob er Kay wirklich besiegen konnte, es sei denn, er schaffte es, ihn zu Boden zu zwingen. Er war außerdem verängstigt von dem Gefühl, dass jemand ihn beobachtete. Am Morgen zuvor hatte er beim Aufwachen das
Gefühl gehabt, dass sich jemand über ihn beugte. Aber als er die Augen öffnete, war niemand da. Das Gefühl war jedoch nicht verschwunden, bis er aufgestanden war. Seitdem hatte er sich gefühlt, als stünde jemand hinter ihm und starre ihn an. Manchmal fühlte es sich an, als beobachte ihn mehr als eine Person. »Mandy?«, flüsterte er. 276 Sie blickte zu ihm auf, und er ging zu dem Bett, auf dem sie hockte. »Was?«, flüsterte sie zurück. »Hattest du je das Gefühl, als ... als würde dich jemand, den du nicht sehen kannst, beobachten?« Mandy streckte den Arm aus, packte ihn im Nacken und zog ihn näher. »Sei still!«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. »Wenn man darüber nachdenkt oder darüber spricht, wird es nur noch schlimmer.« Sie gab ihm eine Ohrfeige und sagte dann laut: »Und jetzt verschwinde von hier!« Mandy verbrachte den Rest des Tages damit, ihn wütend anzustarren, und redete nicht mehr mit ihm. Er konnte es ihr nicht übel nehmen, denn sie hatte Recht: Es war schlimmer geworden. Den ganzen Tag hatte er sich gefühlt, als stünden Leute neben ihm, würden sich über ihn beugen und ihn anstarren. Er versuchte es zu ignorieren, aber es war so unangenehm, dass er kaum imstande gewesen war, etwas zu essen. Dann war er später in der Nacht von dem Gefühl aufgewacht, dass jemand ihn berührte. Er öffnete die Augen und sah den schwarzen Umriss eines Mannes vor sich. Und dann war der Mann verschwunden, einfach so. Rip lag still da und rührte sich nicht; er hatte das Gefühl, als stünde der Mann immer noch da und als wollte er nichts Gutes, als hätte er kein Gesicht außer dem, was Rip gesehen hatte: eine Dunkelheit, die wie ein fest gewordener Schatten wirkte. Rip hatte solche Angst, dass er nicht einmal seinen eigenen Herzschlag hören konnte, und er wollte weinen, aber er wagte es nicht, also tat sein Hals weh, es fiel ihm schwer zu atmen, und sein Mund war trocken wie Baumwolle. Er musste den Topf benutzen, aber er konnte nicht. Er wollte einen der anderen aufwecken, damit er nicht allein im Dunkeln war, aber er hatte Angst, laut zu sprechen. Rip war so wach, dass er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, wieder einzu277 schlafen, aber irgendwie musste es dann doch passiert sein. Und als
er aufwachte, hatte er wieder das Gefühl, dass etwas Unsichtbares sich über ihn beugte. Er lag da und dachte: Ich muss hier raus. Zweimal am Tag kam ein dicker, schlecht riechender Mann mit finsterer Miene, brachte ihnen Essen, nahm den Eimer mit und ersetzte ihn durch einen leeren. Ansonsten war die Tür verschlossen, an den Fenstern waren Gitter, und sie befanden sich außerdem in einem höheren Stockwerk. Also würde Rip fliehen müssen, wenn die Tür offen war. »Ich werde hier verschwinden«, sagte er zu den anderen. Die Mädchen sahen ihn nur an; Mandy verächtlich, Neesa mit großen Augen. Rip nahm nicht an, dass sie wusste, worüber er sprach. »Oh, sie werden schon bald kommen und dich holen«, neckte Kay »Und dann hacken sie dir den Kopf ab. Wusch!« Er tat so, als schwänge er ein Schwert. »Sie holen dich vielleicht noch früher«, entgegnete Rip. »Du bist länger hier als ich.« Kay schnappte überrascht nach Luft, verdutzt von Rips Heftigkeit und der Wahrheit dieser Bemerkung. Dann wurde er wütend und wollte sich auf Rip stürzen. »Lass das, Kay!«, fauchte Mandy So, wie der andere Junge sofort stehen blieb, wusste Rip, dass er Recht gehabt hatte, als er annahm, dass Mandy Kay ein oder zwei Dinge beigebracht hatte. Kay starrte ihn immer noch wütend an, aber er tat es aus sicherer Entfernung. »Wie willst du denn fliehen?«, fragte Mandy »Ich weiß es nicht«, erwiderte Rip. »Vielleicht sollten wir dem Mann ein Laken über den Kopf werfen, und während er versucht, es loszuwerden, rennen wir nach draußen.« Kay machte ein Furzgeräusch und lachte. »Das ist dämlich. Er ist doppelt so groß wie du. Du wirst höchstens ein Laken über seinen Hintern werfen können, und vielleicht ist sein 278 Hirn ja auch da drin, aber es sind seine Augen und Hände, um die du dir Sorgen machen musst.« Er lachte und zeigte auf Rip. »Blödmann!« »Sei still, Kay!«, fauchte Mandy »Wir sollten uns alle darüber Gedanken machen. Wir hatten bisher Glück, aber das wird nicht andauern.« Sie schaute ihn wütend an, dann senkte sie die Stimme. »Außerdem ... wird es schlimmer.« Kay riss die Augen auf und sah sich rasch um. Er war verblüfft, dass
sie auch nur eine Andeutung bezüglich der Präsenzen machte, die sie heimsuchten. »Ja. Also hör auf, so zu tun, als wärst du nicht so verängstigt wie wir anderen, und hilf uns, damit wir uns etwas ausdenken können, das funktioniert«, rief Rip. Kay blickte störrisch drein, aber dann besserte sich seine Laune plötzlich: »Heh! Ich weiß! Wir können ihn zum Stolpern bringen! Und dann können wir ein Laken über ihn werfen!« Mandy sah ihn nachdenklich an. »Und wir könnten es um ihn binden, damit er es nicht so schnell wieder loswird.« »Wir könnten ihm die Schlüssel abnehmen«, sagte Rip, »und ihn einsperren.« »Und dann ziehen wir ihm eins über!«, rief Neesa vergnügt. »Boing! Boing auf den Kopf.« Die anderen lachten. »Gute Idee«, sagte Rip und tätschelte dem kleinen Mädchen den Rücken. »Genau das werden wir machen.« Als der kräftige Diener mit ihrem Frühstück kam, gingen Rip und Kay zu gegenüberliegenden Seiten des Zimmers und spielten Ball mit einem Apfel. Der Mann drehte sich um, um das Tablett mit dem Essen auf den Tisch zu stellen, der für gewöhnlich an der Tür stand, aber sie hatten ihn in die Mitte des Zimmers gezogen und mit einem Laken zugedeckt, das bis zum Boden reichte. 279 »Was soll das denn?«, knurrte er. Neesa hob das Laken auf einer Seite und erklärte hochnäsig: »Es ist mein Haus, und es muss hier stehen.« Sie ließ das Laken wieder fallen. »Ihr beiden«, sagte der Mann zu den Jungen. »Schiebt den Tisch wieder zurück.« »Nein!«, schrie Neesa laut. Es war erstaunlich, dass so viel zorniger Lärm aus einer so zierlichen Person kommen konnte. »Bitte«, sagte Mandy gequält, »können wir nicht warten, bis sie mit Spielen fertig ist? Wenn wir den Tisch bewegen, wird sie die ganze Zeit schreien.« »Nein! Nein!«, kreischte Neesa und verblüffte sogar die anderen Kinder mit der Erhöhung der Lautstärke. »Schon gut«, rief der Mann. Er schloss die Tür, indem er sie mit dem Fuß zutrat, konnte sie aber nicht abschließen, weil er noch das schwere Tablett in den Händen hielt. Er warf den Kindern einen wütenden Blick zu, und die beiden Jungen ließen sich fallen und
setzten sich auf den Boden. Mandy blieb weiter auf dem Bett liegen, die Augen weit aufgerissen, und Neesa sang ihrer Stoff rolle unter dem Tisch etwas vor. Zufrieden, dass niemand sich regte, ging der Mann auf den Tisch zu. In diesem Augenblick rissen Rip und Kay an dem Seidenseil, mit dem die Bettvorhänge zurückgebunden gewesen waren. Es schnellte aus dem Versteck unter dem Teppich bis auf Knöchelhöhe, und der dicke Mann stolperte und stürzte. Das Tablett mit dem Essen fiel ebenfalls mit einem lauten Klirren. Der Mann versuchte, seinen Sturz mit den Händen aufzuhalten, aber der Atemexplosion, als er auf dem Boden aufprallte, und einem raschen, schmerzerfüllten Ächzen, als etwas - Handgelenk oder Arm - brach, folgte einen Augenblick später ein lautes Krachen, als sein Kinn auf die Steine prallte. Der Mann verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein. Die beiden Jungen tauschten die Plätze und schlangen das Seil 280 um die Beine des Dieners. Mandy sprang vom Bett, zog das Laken vom Tisch und ließ es über das Gesicht des Mannes fallen; dann griffen sie und Neesa auf beiden Seiten nach den Ecken des Lakens, und Mandy band sie zu einem Knoten, so dass der Kopf des Mannes in einer Art Sack steckte. »Los, gehen wir«, sagte Rip. Die Kinder steckten Brot, Käse und Obst in Kissenbezüge und rannten aus dem Zimmer. Für Rip war es, als verließe man warmes Wasser und würde in eisige Luft hinausrennen, und seine Zähne begannen sofort zu klappern. Er schaute die anderen nervös an, und sie erwiderten den Blick, bleich und offensichtlich verängstigt. Mandy warf einen Blick zurück in das Zimmer hinter ihnen. »Nein«, sagte Rip, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um, der zum Glück immer noch im Schloss steckte. »Wir können nicht zurückgehen. Verschwinden wir von hier.« Sie blickten sich um und stellten fest, dass sie sich in der Mitte eines Flurs befanden, dessen beide Enden gleich aussahen; Steinmauern, hohe kleine Fenster auf einer Seite, gefliester Boden und riesige, rußgeschwärzte Deckenbalken hoch über ihnen. »Dort entlang«, sagte Neesa und zeigte nach rechts. »Warum?«, fragte Mandy Neesa sagte: »Weil es der richtige Weg ist.« Mandy warf Rip einen Blick zu - Kay ignorierte sie vollkommen -,
dann zuckte sie die Achseln und ging nach rechts. Es war vielleicht eine falsche Entscheidung, aber zumindest war es eine Entscheidung. »Sucht nach einer Treppe«, flüsterte Neesa. Mandy warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts. Rip fühlte sich merkwürdig, denn schließlich war er derjenige gewesen, der den anderen den Gedanken an Flucht aufgezwungen hatte, aber irgendjemand hatte es tun müssen. Er 281 wusste nicht, warum die anderen Kinder zugelassen hatten, dass diese schrecklichen Dinge weiter ihren Lauf nahmen, aber er würde da nicht mitmachen. Er wusste nicht, ob er sich verhalten konnte wie ein Anführer, ganz gleich, wie oft er in seinen Fantasiespielen einen dargestellt hatte, aber irgendjemand musste etwas tun. Wenn er die Tür nicht verschlossen hätte, wären sie vielleicht alle wieder zurück gerannt. Es war nicht sicher in diesem Zimmer, aber hier draußen fühlte es sich wirklich gefährlich an. Zum einen schien es immer kälter zu werden, und dann fühlte es sich an, als drängten sich viele Leute im Flur oder als würde es demnächst so sein. Eine Treppe, dachte Rip verzweifelt. Wo ist die Treppe? Neesa weinte leise, auf eine müde und wirklich verängstigte Art. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie bemühte sich, keinen Lärm zu machen, aber sie gab immer noch ein schrilles Jammern von sich, das offenbar nicht vom Atmen abhängig war, weil es nie abriss. Sie umklammerte Rips Hand und zerrte ihn mit in die eine Richtung, dann in eine andere. Niemand hatte eine Ahnung, wohin sie gingen, also ließen sie sich von ihr führen. Rip glaubte, dass sie einfach zu verängstigt waren, sich darüber zu beschweren. Er wusste, dass das zumindest auf ihn zutraf. Er hielt Neesas Hand ebenso sehr, um sich selbst zu trösten, als um ihretwillen. Ansonsten hätte er nur an dieses unsichtbare Etwas denken müssen, das immer kurz davor war, sich auf sie zu stürzen. Oder an die beißende Kälte, die bewirkte, dass er seinen Atem sehen konnte, obwohl es noch nicht einmal annähernd Herbst war. Es kam ihnen vor, als wären sie seit Stunden durch dieses riesige Haus geschlichen, und sie waren alle erschöpft. Sie hatten eine Treppe gefunden, aber nachdem sie zwei Stockwerke hinuntergegangen waren, hatten sie umkehren müssen, um jemandem aus dem Weg zu gehen, der nach oben kam. 282 Wer immer das war, trieb sie drei Stockwerke hoch, bevor sie an der
nächsten Ecke abbogen. Sie duckten sich in ein Zimmer, während Schritte vor der Tür auf und ab gingen und etwas direkt über ihren Köpfen zu verharren schien. Zumindest hatten sie sich in dieser Zeit ein wenig ausruhen können. Nachdem die Schritte verklungen waren, waren sie herausgeschlichen und wieder eine Treppe hinuntergegangen, aber jetzt saßen sie immer noch auf dem gleichen Stockwerk fest, in dem sie begonnen hatten. Und alle Zimmer waren leer und voller Staub und unsichtbarer, beobachtender Augen. Rip ließ Neesas Hand los und schlich auf Zehenspitzen zur Treppe. Er duckte sich, schaute hinunter und wartete, lauschte angestrengt, ob er von den Stockwerken darunter etwas hören konnte. Schließlich war er zufrieden. Er winkte die anderen zu sich, und sie schlichen die Treppe hinunter. Bevor sie die nächste Treppe erreichten, hörten sie Schritte, und sie rannten mit klopfenden Herzen den Flur entlang. Das Gefühl, dass sie von etwas Unsichtbarem verfolgt wurden, wurde intensiver, und dann war es, als wüchse da ein Zorn, der sie zerschmettern wollte. Die Kinder rannten schneller, und es fiel ihnen schwer, sich zu bewegen. Die Luft schien irgendwie dünner zu sein und die Kälte beißender, was sie stolpern und schluchzen ließ. Wir müssen uns verstecken, dachte Rip. Am Ende des Flurs vor ihnen schien eine Tür zu locken. Er griff nach dem Knauf und drehte daran, aber die Tür war verschlossen. Er holte den Schlüssel des Dieners heraus und versuchte, ihn ins Schloss zu stecken, aber seine Hände zitterten zu sehr. Der Schlüssel war wie ein lebendiges Geschöpf, das sich befreien wollte, und er schluchzte frustriert. Mandy berührte ihn an der Schulter, und er fuhr überrascht zusammen. »Gehen wir weiter«, flüsterte sie schrill. Sie zerrte an seinem Hemd. 283 Aber Rip hielt weiter den Türknauf umklammert, weil er sich nicht wegzerren lassen wollte, und wie durch ein Wunder drehte sich der Knauf. Er hatte nur geklemmt. Nun packte er Mandy am Rock, öffnete die Tür und zog sie mit sich; die beiden anderen Kinder folgten. Zusammen mit Mandy schloss er die Tür, und sie lehnten sich dagegen. Etwas draußen warf sich fest gegen die Tür, was diese zum Beben brachte, und ein wenig Gipsstaub rieselte zu Boden. Rip hatte das Gefühl, dass etwas Böses gegen die Tür schlug und dann verwundet oder verängstigt zurückwich. Aber es war nicht weit weg; er konnte es immer noch spüren. Dennoch, im Augenblick
schienen sie sicher zu sein. Sicherer selbst als oben in ihrem Gefängnis. Er sah sich in dem Zimmer um. Kay und Neesa blickten ihn bleich und verängstigt an. Mandy neben ihm seufzte, setzte sich hin und starrte ins Leere. Rip schaute sich weiter um. Sie waren in einem Schlafzimmer. Es war karg und schlicht möbliert, aber alles war von bester Qualität, wieder wie aus einer von Emmets alten Geschichten, oder aus denen, die Mama ihm über Paläste im Himmel erzählt hatte. Die Möbel waren alle aus dunklem Holz und poliert, die Stühle mit Stoff bezogen, mit einem schönen Muster darin. Es gab keine Bilder oder Spiegel an der Wand und keine großen Wandbehänge wie in dem anderen Zimmer, aber Rip wusste, dass dieser Raum von Adligen benutzt wurde. Dann bemerkte er, wie Neesa etwas anstarrte, und drehte sich um, um zu sehen, was es war: Direkt gegenüber befand sich eine weitere Tür. Neesa zeigte darauf und sagte leise: »Sie ist da drin.« Er ging auf die Tür zu, als würde er von ihr angezogen, aber dann zögerte er. Etwas Böses war hinter dieser Tür. Nicht etwas, das in sich selbst böse war wie das, was draußen im Flur lauerte. Es war mehr, als geschähe etwas Böses in dem Raum 284 hinter der Tür. Aber Rip musste es sehen, und die Angst hielt ihn nicht lange zurück. Er öffnete die Tür. Das Licht im Zimmer war trüb, als lägen die Schatten der Nacht immer noch darüber, und Kerzen beleuchteten den Raum nur wenig. In der Mitte stand ein Bett, und auf dem Bett lag eine wunderschöne junge Frau. Schlief sie? Nein, sie atmete nicht. Die Frau war tot. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, dann blieb er stehen. Rip sah sich die Frau genauer an, fasziniert und entsetzt. Er holte tief Luft, nachdem er irgendwie begriffen hatte, dass sie zwar tot sein sollte, es aber nicht war. Dann schlug er die Tür zu und lehnte sich dagegen. Ihm war übel. Als er aufblickte, wusste er, dass die anderen das Gleiche gesehen hatten wie er. Habt ihr es auch gespürt?, fragte er sich. Aber er wagte nicht, laut zu sprechen. Es war wie mit den Präsenzen. Aus irgendeinem Grund hielt er es nicht für klug zuzugeben, was er wahrgenommen hatte. »Das ist eine tote Lady«, sagte Kay Er war bleicher als je zuvor. Neesa flüsterte: »Nein, sie ist nicht tot.« »Aber sie bewegt sich nicht«, sagte Rip. »Sie atmet nicht.« »Sie ist nicht tot«, wiederholte
Neesa. »Sie spricht mit mir.« »Wir können hier nicht bleiben!« Rip klang anklagend und erschrocken. Die anderen blickten ihn überrascht an. Mandy fragte: »Wo können wir sonst hin?« Rip bestand darauf: »Wir dürfen hier nicht bleiben!« Kay setzte sich auf einen Stuhl nahe an der Tür und verkündete: »Ich kann mich nicht bewegen.« Neesa legte die Hand auf Rips Schulter. »Es ist in Ordnung. Wir werden sicher sein ... für eine kleine Weile.« Rip wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich sonst verstecken sollten, also setzte er sich auf den Boden. Er war müde und hungrig und hatte Angst. Aber im Augenblick fühlte sich dieser Ort trotz der Lady im 285 anderen Zimmer sicherer an als alles andere, was er seit dem Aufwachen erlebt hatte. Er sah sich um. Auf einem Tisch neben dem Bett stand eine Karaffe mit einem Kelch. Er ging hin und schnupperte daran. Wein. Er rümpfte die Nase - er mochte Wein nicht, es sei denn, er war reichlich mit Wasser vermischt. Aber er hatte genug Durst, dass es ihn nicht störte. Er goss sich etwas ein und trank einen Schluck, dann riss er die Augen auf. Es war gut! Wohlschmeckende Wärme breitete sich in seinem Mund und seiner Kehle aus und zog bis hinunter in seinen Bauch. Von dort aus wärmte es seine Haut. Er warf Neesa einen unsicheren Blick zu, dann kam er zu dem Schluss, dass ein kleiner Schluck ihr wohl nicht schaden würde. Sie war sicher genauso durstig, wie er es gewesen war. »Essen wir«, sagte er. Dann nahm er die Karaffe und den Kelch mit und setzte sich mitten auf den Boden. Mandy befeuchtete sich die Lippen, dann nickte sie und holte Brot und Käse aus dem Kissenbezug. Neesa biss mit einer Miene leidenschaftlicher Konzentration ein Stück Brot ab, und Rip musste beinahe lachen. »Wir können hier nicht essen«, sagte Kay sehr leise. »Da drin ist eine tote Frau! Wir werden sterben!« Mandy schnaubte. Sie griff nach dem Brot und brach sich ein Stück ab. »Werden wir nicht«, erwiderte sie. »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Man isst immer, wenn jemand stirbt. Als meine Oma gestorben ist, haben wir all diese Pasteten und so was gegessen. Sogar Mutter, obwohl sie die ganze Zeit geweint hat.« »Trink einen Schluck«, sagte Rip und bot Kay den Kelch mit dem
Wein an. Kay wich zurück, das Gesicht angewidert verzogen. »Ich werde das nicht trinken! Es ist wahrscheinlich vergiftet.« Rip verdrehte die Augen. »Es ist nicht vergiftet. Ich habe gerade etwas getrunken. Sehe ich aus, als wäre ich vergiftet?« 286 »Außerdem«, sagte Mandy und bot Kay ein Stück Brot und ein Stück Käse an, »wer hätte schon eine Karaffe mit Gift auf dem Nachttisch stehen?« »Ich trinke einen Schluck«, erklärte Neesa und griff nach dem Kelch. Rip reichte ihn ihr. Nachdem sie dreimal geschluckt hatte, zwang Mandy ihre Hand nach unten und sagte: »Das reicht. Sonst fällst du uns noch um.« Rip nickte. Wie jeder Bauernjunge hatte er an Festtagen die Auswirkungen von zu viel Wein auf seinen Vater und die anderen Männer beobachten können, und er wusste, dass es nicht viel brauchen würde, um das kleine Mädchen vollkommen betrunken zu machen. Neesa sah aus, als wollte sie sich beschweren, als Rip den Kelch wegnahm, aber sie sagte nichts. Kay griff verschämt nach dem Kelch. »Warte, bis du dran bist«, sagte Mandy und nahm ihn sich selbst. Kay lächelte dünn und gab nach. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. »Könnten wir von hier nach unten gelangen, wenn wir die Laken zusammenbinden?«, fragte er. Rip ging hinüber und blickte aus dem Fenster. Es ging mindestens vierzig Fuß tief in einen gepflasterten Hof. Er sah Kay nur kurz an und ging wieder zu den anderen. Kay kam schmollend vom Fenster zurück, ließ sich an der Wand heruntersacken und aß sein Brot. Einen Moment später fing er an, heftig zu weinen. Er bot einen traurigen und unschönen Anblick, das Gesicht leuchtend rot, und in seinem weit offenen Mund waren noch halb gekaute Brotstücke zu sehen. Rip und Mandy schauten einander unbehaglich an, unsicher, was sie tun sollten. Das passte so wenig zu Kay, der gnadenlos gelacht hätte, wenn einer von ihnen zusammengebrochen wäre. Neesa sah Kay einen Augenblick lang an, dann 287 ging sie zu ihm und tätschelte ihm die Schulter. »Sei nicht traurig«, sagte sie.
Einen Moment später warf Kay Rip einen Blick zu, die Wangen immer noch tränenüberströmt. »Es tut mir Leid«, sagte er heiser. »Es tut mir Leid, aber ich habe solche Angst.« Er beugte sich vor, lehnte die Wange gegen Neesas Kopf und weinte weiter. Neesa runzelte die Stirn, dann legte sie die Hand an ihren Kopf. »Du machst mein Haar nass«, beklagte sie sich. »Entschuldigung«, sagte Kay, hob den Kopf und beruhigte sich allmählich. »Wir haben alle Angst«, versicherte ihm Rip. »Ich sage es ungern, aber ich fürchte mich.« »Was sollen wir nur tun?«, fragte Kay, und wieder drohten die Tränen. Er zeigte auf die innere Tür. »Da drüben ist eine tote Frau.« Dann zeigte er auf die Tür zum Flur. »Und im Flur ist ein Geist. Durchs Fenster kommen wir nicht raus. Was sollen wir machen?« Mandy schob ihm den Kelch hin, bevor er wieder anfangen konnte zu weinen. »Trink«, sagte sie nachdrücklich. Kay tat es, und es schien zu helfen. Rip starrte finster die gegenüberliegende Wand an. Dort gab es eine Schnitzerei, die eine Pflanze in einem Topf zeigte. Sie war sehr kunstvoll mit allen möglichen Schnörkeln, nicht besonders schön, aber gut gemacht. Während er hinschaute, kam es ihm so vor, als stimmte etwas mit der Wand nicht. So, wie sie in den Raum ragte, hätte es dort einen Einbauschrank geben müssen, aber es gab keinen. Und wenn er sich recht erinnerte, war die Wand draußen im Flur glatt und gerade gewesen. Warum war die Wand auf der Innenseite also so gebogen? Könnte das ein Geheimgang sein, wie der, den König Akter benutzte, um seinem bösen Onkel zu entfliehen?, dachte er. Plötzlich sagte Neesa: »Ja!« Sie stand auf, ging direkt zu der Stelle der Wand, die Rip betrachtete, als wäre sie hypnotisiert, und begann, auf jede Beere und auf jede Blumenmitte zu drü288 cken, folgte jeder Biegung jedes Blatts, suchte nach etwas, das unter ihrem Druck nachgab. Rip war nicht so sicher gewesen, was ein Geheimgang überhaupt war oder wie er funktionierte, als Emmet ihm die Geschichte erzählte, aber zu jenem Zeitpunkt hatte er auch noch nie eine richtige Burg gesehen. Sie waren so groß! War es möglich, dass sich dort tatsächlich ein Geheimgang befand? »Was machst du da?«, fragte Mandy. Neesa drückte auf einen letzten Vorsprung. Er sank unter ihrem Finger ein, und etwas klickte. Ein Teil der Wand schwang mit einem
leisen Knarren auf. Rip ging darauf zu und starrte das Paneel einen Augenblick atemlos an, dann traten Kay und Mandy zu ihm. »Mach es auf«, sagte Kay, der bleich und verwirrt aussah. Rip tat es. Hinter der Öffnung befand sich eine Treppe, die abwärts in vollkommene Schwärze führte. »Dunkel«, sagte Neesa und griff nach Mandys Hand. »Wir werden Kerzen brauchen«, sagte Mandy, die stets praktisch dachte. »Es gibt welche im Zimmer von dieser Frau ...« »Nein!«, rief Kay und packte sie am Arm. »Geh da nicht rein!« Rip stimmte ihm schweigend zu. »Was sollen wir denn sonst tun?«, fragte sie. »Wenn wir die da nehmen«, sie zeigte auf den Nachttisch, »werden sie wissen, dass jemand hier war.« »Das werden sie sowieso wissen«, erwiderte Rip. »Wir haben den größten Teil des Weins getrunken, oder hast du das schon vergessen?« »Aber wenn wir die Kerze nehmen, wissen sie auch gleich, dass wir hier entlanggegangen sind.« Mandys Miene war störrisch. »Nein, werden sie nicht«, erklärte Rip. »Sie müssen erst mal den Gang finden, wie Neesa es getan hat.« Dann warf er 289 Neesa einen Blick zu. »Ich habe gerade an einen Geheimgang aus einer Geschichte gedacht, die unser Knecht mir erzählt hat. Woher wusstest du das?« »Ich wusste es nicht«, antwortete Neesa. »Sie hat es mir gesagt.« Mit dem Kinn wies sie aufs Nebenzimmer. Rip konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Also gut, sie werden vielleicht wissen, dass wir hier waren, aber sie werden annehmen, dass wir durch die Tür wieder rausgegangen sind.« Er ging auf die Tür zu und schloss sie auf, denn plötzlich war er sicher, dass das Ding, das versucht hatte, ihnen zu folgen, nicht mehr da war. Er wusste nicht, woher er es wusste; es fühlte sich einfach richtig an. »Also werden sie sich überall umsehen, und falls sie dann zurückkommen und diesen Gang finden, sind wir schon lange weg«, erklärte er. Er ging zum Nachttisch, schaute in die Schublade und fand dort zwei weitere Kerzen und Zündhölzer. Eine Kerze reichte er Mandy, die andere steckte er in sein Hemd, dann zündete er die in Mandys Hand an und nahm sie ihr ab. Es waren sehr gute Kerzen - aus Wachs,
nicht aus Talg; Mama hatte solche Kerzen für besondere Gelegenheiten aufbewahrt. Dann steckte er die Zündhölzer ebenfalls in sein Hemd. Er und Mandy sahen einander lange an, dann blickte Mandy in Richtung Gang. Sie holte tief Luft. »Geh du als Erster«, sagte sie. »Ich folge dir.« Rip holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und hoffte, dass man ihm seine Angst nicht ansah. Auch er fürchtete sich vor dem dunklen Loch zwischen den Wänden. Aber da ihnen keine andere Möglichkeit blieb, wollte er es lieber bald hinter sich bringen. Ein ängstliches Klopfen an der Tür von Lyman Malachys Labor ließ ihn den Kopf heben. Er warf dem Baron, der neben ihm am Arbeitstisch saß, einen Blick zu, aber der runzelte nur die Stirn. 290 »Herein«; sagte Malachy Er wischte sich die Hände ab und ging auf die Tür zu. Der Baron stand auf und schob sein Buch beiseite. Ein sehr nervöser, speckig aussehender Söldner öffnete die Tür und machte einen halben Schritt ins Zimmer hinein. Seine Haltung war absurd unterwürfig. »Tut mir Leid, Euer Wohlgeboren zu unterbrechen«, sagte der Mann, wobei er sich beinahe ununterbrochen verbeugte und seine Blicke zu den geometrischen Formen auf den Pergamenten an der Wand zuckten, zu Dingen, die auf den Boden gezeichnet waren, zu Büchern und Instrumenten. »Die, äh, die Kinder ...« Lyman schloss die Augen; er wusste, es würden schlechte Nachrichten sein, aber wenn diesen Kindern etwas zugestoßen war, würden Köpfe rollen. »Ja?«, sagte er laut. »Sie, äh, die kleinen Bastarde sind geflohen, Euer Wohlgeboren.« Der Baron verlagerte das Gewicht, und Lyman wusste ohne hinzuschauen, dass er den Boten mit einem Blick ansah, der selbst einen starken Mann ohnmächtig werden lassen konnte. Und dieser Dummkopf dort war kein starker Mann. Der Zauberer beeilte sich, die Situation zu entschärfen. »Du meinst, sie haben ihr Zimmer verlassen«, korrigierte Lyman ruhig. »Tatsächlich können sie nicht aus dem Haus.« Dann wandte er sich über die Schulter an den Baron und sagte: »Dafür habe ich gesorgt.« Er wandte sich wieder dem Söldner zu: »Also werden sie irgendwo im Haus sein.« Er machte eine abfällige Geste und sagte: »Sucht sie. Und achtet darauf, sie nicht zu verletzen. Ich bezweifle sehr, dass du die Folgen begrüßen würdest, wenn sie auch nur einen
Kratzer abbekommen. Hast du das verstanden?« Der Mann nickte, wich unter Verbeugungen zurück und zog die Tür hinter sich zu. Lyman zuckte die Achseln. »Eine Plage!« Bernarr runzelte die Stirn. »In der Tat«, sagte er kühl. Er 291 setzte sich wieder hin. »Warum habt Ihr so viele gleichzeitig? Wir werden noch mindestens eine Woche kein weiteres brauchen.« Der Zauberer biss sich auf die Unterlippe und sah den Baron nachdenklich an. Dann ging er zu ihm und zog einen Stuhl nahe zu dem, auf dem Bernarr saß. »Ich habe sie aus bestimmten Gründen gesammelt«, erklärte er. »Zum einen ist es nicht einfach, ein Kind zu finden, das an dem Tag geboren wurde, an dem Eure Gemahlin ... in ihren derzeitigen Zustand verfiel. Und obwohl der Zauber, den wir gefunden haben, ihr Leben mit Hilfe der Lebenskraft dieser Kinder verlängert und sie zumindest davor geschützt hat zu verfallen, hat er ...« Er streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus und zuckte die Achseln. »Er hat ihren Zustand nicht verbessern können.« »Ich dachte, ich hätte beim letzten Mal etwas gesehen«, sagte Bernarr. Er starrte ins Leere, als versuche er, sich zu erinnern. »Ein Zucken an ihrem Mund, und sie hat einen Finger bewegt. Ich bin ganz sicher, dass sie einen Finger ein winziges bisschen bewegt hat.« »Hm, ja, das ist möglich«, stimmte Lyman ihm zu. »Aber wir brauchen mehr, viel mehr, Mylord. Immerhin besteht unser Ziel darin, sie vollkommen zu befreien, nicht wahr?« Bernarr wandte den Blick wieder dem Zauberer zu und kniff die Augen zusammen. »Was habt Ihr im Sinn?«, fragte er leise. Lyman rieb sich aufgeregt die Hände. »Dieses Buch, das Ihr da lest, hat mich auf die Idee gebracht«, erklärte er. »Wenn wir eine Lebenskraft heraufbeschwören können, die stark genug ist, könnten wir Eure Gemahlin vielleicht heilen und aufwecken.« Wütend beugte sich der Baron vor und packte den Zauberer mit seiner knotigen Hand am Gewand. »Warum habt Ihr mir das nicht schon früher gesagt?« 292 »Weil ich nichts darüber wusste«, erwiderte Lyman mit einem unangenehmen Lächeln. »Ihr wisst doch, dass wir dieses Buch gerade erst angeschafft haben.« Der Baron ließ ihn los und lehnte sich zurück. »Zeigt es mir!« Nervös griff der Zauberer nach dem Buch, blätterte darin herum und
zeigte dem Baron die Stelle. Bernarr betrachtete den Text und runzelte wegen der altmodischen Formulierungen die Stirn. Dann zog er die Brauen hoch und öffnete den Mund. »Sieben mal sieben«, kam der Zauberer ihm zuvor. »Eine mystische Zahl, versteht Ihr?« »Neunundvierzig?«, sagte Bernarr ungläubig. »Neunundvierzig? Habt Ihr den Verstand verloren? Warum nicht neun mal neun? Auch das ist eine mystische Zahl.« »Unnötig«, erwiderte Lyman und winkte ab. »Die Wirkung wird durch eine größere Zahl von Opfern nicht weiter erhöht.« »Es ist schon schlimm genug, diese Kinder eins nach dem anderen umzubringen!«, rief der Baron. »Aber ... neunundvierzig? Wir werden in Blut waten!« »Ich denke, die Wirkung wird am größten sein«, sagte Lyman, als hätte er den Einspruch des Barons nicht gehört, »wenn wir sie alle gleichzeitig opfern.« Bernarr starrte ihn an. »Neunundvierzig gleichzeitig? Wollt Ihr das etwas sagen?« »Ja. Wir werden eine Möglichkeit schaffen, all diese Lebenskraft gleichzeitig zu sammeln und sie zu Eurer Gemahlin zu leiten. Ein solch starker Stoß wird es sicher schaffen.« »Wollt Ihr etwa behaupten, dass wir siebenundvierzig Helfer für diese blutige Tat brauchen?« Bernarr sah ihn misstrauisch an, so als fragte er sich, ob der Zauberer vielleicht den Verstand verloren hatte. »Das mögen die Götter verhüten«, rief Lyman. »Nein, das 293 wäre wirklich nicht gut. Der Schlag muss in allen neunundvierzig Fällen gleichzeitig geführt werden. Man könnte so etwas nie koordinieren, selbst wenn die Helfer wochenlang übten.« Trotz seiner Abscheu interessiert, fragte der Baron: »Wie habt Ihr also vor, so etwas zu erreichen?« »Ich habe eine Maschine entworfen.« Der Zauberer sprang auf und ging zum Arbeitstisch. Er kehrte mit einer Pergamentrolle zurück und breitete sie auf seinen Knien aus. »Ihr seht«, und zeigte auf mehrere Stellen der Zeichnung, »wenn der ursprüngliche Schlag geführt wird, stoßen auch alle anderen Messer zu.« Bernarr beugte sich über die Zeichnung und betrachtete sie ausführlich. »Aber wie könnt Ihr genug Druck erreichen?« »Dafür haben wir diese Zylinder«, sagte Lyman und zeigte auf die entsprechende Stelle der Zeichnung. »Das hier sind jeweils Zwanzig-
Pfund-Gewichte, und die Messer werden selbstverständlich extrem scharf sein. Nun?« Er sah seinen Gönner an. »Was haltet Ihr davon?« »Faszinierend«, murmelte Bernarr. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber ich mag es nicht. Es ist schlimm genug, sie eins nach dem anderen zu holen, aber wenn wir so viele brauchen, werden die Leute sicher aufmerksam.« Er dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er erneut den Kopf. »Nein. Ich sehe nicht, wie wir das machen könnten.« Gekränkt lehnte sich der Zauberer zurück. »Nun, die ideale Lösung wäre selbstverständlich ein Kind, das in genau dem Augenblick zur Welt kam, als Eure Gemahlin gefährdet war. Ein Kind wie Euer Sohn.« Er starrte den Baron an, den Mund zu einem schmalen Schlitz zusammengekniffen. »Aber leider hat Eure Impulsivität das unmöglich gemacht. Oder nicht?« Bernarr bedachte ihn mit einem wütenden Blick. »Nun, Ihr hättet damals vielleicht gleich etwas sagen sollen«, entgegnete er. 294 Lyman schnaubte. »Mag sein«, sagte er. »Aber damals habt Ihr mir nicht vertraut und hättet vielleicht nicht zugehört. Und Ihr wart verständlicherweise bedrückt; ein anderer Mann hätte vielleicht einem väterlichen Impuls nachgegeben, das Kind behalten und seine Geliebte gehen lassen, aber Ihr hieltet den Jungen für die Ursache ihres Todes -« Ein finsterer Blick von Bernarr bewirkte, dass er sich schnell verbesserte: »Ihres unglücklichen Zustands, und daher habt Ihr ihn wegbringen lassen.« Etwas flackerte über die Züge des Barons, und Lyman fragte sich nicht zum ersten Mal, ob an dieser Entscheidung nicht mehr gewesen war, als er selbst nach all diesen Jahren begriff. Er sagte: »Dennoch. Eine schreckliche Verschwendung.« Dann dachte er einen Augenblick nach. »Hm. Wisst Ihr, wo sie ihn begraben haben? Vielleicht kann ich etwas mit den Knochen anfangen.« Bernarr dachte darüber nach. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Damals hat es mich nicht interessiert. Und Ihr habt es nie zuvor erwähnt.« Er runzelte die Stirn. »Ich werde die Hebamme fragen. Sie wohnt immer noch hier in der Nähe. Sie wird wissen, was mit dem Geschöpf passiert ist.« »Hervorragend, Mylord«, sagte Lyman lächelnd. »Behaltet die Zeichnungen, und denkt noch einmal über meinen anderen Vorschlag nach. Ich fürchte, ohne Euren Sohn ist das die einzige
Möglichkeit, Eure Gemahlin zurückzuholen.« Baronin Elaine erwachte mit dem Gefühl, dass jemand ihren Namen gerufen hatte. Aber sie hörte keinen Laut, und der Ruf, wenn es ihn tatsächlich gegeben hatte, erklang nicht noch einmal. Ihre Gedanken waren träge, und selbst ihre Atemzüge schienen unnatürlich ausgedehnt. Elaine fragte sich, ob sie träumte. Sie fühlte sich schwach: Das war das Erste, was sie spürte, dann die Schmerzen. Sie zerrissen sie wie eine wilde Katze, gruben sich mit scharfen Klauen und Zäh295 nen, die rissen und kauten, in ihre Eingeweide. Elaine wollte sich winden, wollte vor Schmerz schreien, aber sie konnte nicht; sie konnte nicht einmal die Augen öffnen, nicht einmal mit den Lidern zucken. Gefangen in der Dunkelheit hinter ihren Augen, schrie sie im Geist, flehte nach etwas, das ihr den Schmerz erleichterte, nach jemandem, der ihr helfen konnte. Das hier war nicht wie die schrecklichen Wehen, die in Schmerzenswellen kamen, die höher und höher reichten; nein, Elaine war sicher, dass die Wehen vorüber waren. Sie hatte ihr Kind schreien gehört. Ich habe sein Gesicht gesehen, dachte sie. Die Erinnerung brachte Trost oder lenkte sie zumindest von dem Schmerz ab, aber nicht lange - die Schmerzen ließen sich nicht verleugnen, und sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Sie spürte, wie ihr Leben langsam, aber unweigerlich davonglitt. Das erschreckte sie. Sie wollte leben! Sie wollte sehen, wie ihr Sohn zum Mann heranwuchs. Sie wollte Zakry! Elaine stellte ihn sich vor, wie er ihre Hand hielt und ihr sagte, sie müsse stark sein. Seine Berührung kam ihr trotz allem so echt vor, dass sie einen winzigen Augenblick lang glücklich war. Dann bissen die Schmerzen tiefer, und im Geist schrie sie und schrie und schrie. Bald schon flehte sie nach dem Tod. Aber der Tod kam nicht. Nach einer Weile sank Elaine ins Dunkel, bis schließlich sowohl sie als auch die Schmerzen vergangen waren. 13 Verstecken Der Magier blickte auf. »Es ist kein wirklich komplizierter Zauber«, sagte Lyman Malachy, als die Vorbereitungen fertig waren, »aber es ist dennoch knifflig. Die Ähnlichkeiten müssen gut ausbalanciert sein.« Er warf einen Blick zu seinem ... Arbeitgeber? Gastgeber? Freund ?
Wohltäter ? Jemand, der ihm siebzehn Jahre Zuflucht gewährt hatte und ihn seine Forschungen hatte durchführen lassen, die man an anderen Orten zumindest misstrauisch betrachtet hätte. Nein, verbesserte er sich, an den meisten anderen Orten wäre er dafür gehängt oder lebendig verbrannt worden. Sie waren allein in dem Raum. Die wenigen verbliebenen Bediensteten waren daran gewöhnt. Sie waren vermutlich die am besten bezahlten Dienstboten außerhalb großer Städte und der Haushalte der höchsten Adligen; sie waren nichts Besonderes, was die Qualität ihrer Arbeit anging, aber wie die Wachen wurden auch sie nicht nur für ihre eigentliche Tätigkeit bezahlt, sondern auch dafür, zu ignorieren, was sie hörten und sahen. Der Magier zog sein Gewand fester um sich - der Frühlingsregen war heute Nacht heftig, es rauschte vor den Fensterläden und dem streifigen Rautenglas der Fenster; er selbst 297 hätte gern ein gemütliches Feuer gehabt, aber Baron Bernarr schien die feuchte Kälte dieses Steinhaufens überhaupt nicht zu bemerken. Gold kann so viel erreichen, dachte er. Es kann sogar dafür sorgen, dass Diener und Soldaten ihren Aberglauben beiseite schieben. Aber es kann aus einer Festung keinen gemütlichen Wohnort machen. Bernarr fuchtelte mit einer leicht zitternden Hand. »Ja, ja. Der Balg muss sowohl mir als auch meiner Gemahlin Elaine ähnlich sein, und dann wird Euer Zauber ihn finden«, sagte er. »Diese Hebamme soll verflucht sein. Ich hatte ihr befohlen, den Balg loszuwerden!« Lyman nickte zu den drei Goldscheiben mit ihren dünnen Kristalldeckeln hin; jede war etwa so groß wie ein Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Silber und Türkis, Platin und Jett bildeten auf der goldenen Oberfläche eine komplizierte Einlegearbeit. Darüber befand sich ein dünner Wasserfilm, und darauf trieb eine Nadel. Die beiden äußeren Nadeln auf den äußeren Scheiben waren mit je einem Haar umwunden, und um die mittlere wanden sich zwei Haare, die einander überkreuzten; die Kristalldeckel sorgten dafür, dass das Ganze unberührt blieb. »Nun, es mag sich als gut erweisen, dass sie nicht gehorcht hat«, erklärte Lyman. »Schade, dass sie uns nur so wenig sagen konnte, aber das hier wird genügen. Tatsächlich wird es sogar erheblich besser sein, denn die Informationen, die wir dadurch erhalten, sind keine siebzehn Jahre alt.« Lyman erhob sich und schüttelte die Ärmel zurück. Er schloss die
Augen, seine Lippen bewegten sich, und er vollführte mit den Händen komplizierte, präzise Muster über der Goldscheibe in der Mitte. Während der Mann, den Bernarr in Gedanken immer noch als »Gelehrten« und nicht als »Zauberer« bezeichnete, seine Beschwörung sprach, erinnerte sich der Baron an den Abend, an dem sie sich begegnet waren. Es hatte ein gewaltiges Unwetter gegeben: Berge lila298 schwarzer Wolken türmten sich am westlichen Horizont, und Blitze flackerten bereits darin, aber sie wurden auch immer noch von der Sonne, die hinter ihnen unterging, an den Rändern vergoldet. Als Erstes kamen die Wellen, turmhohe Wellen, die die Fischer veranlassten, ihre Boote höher an Land zu ziehen und sie an Bäume und Felsen zu binden, und sie beteten, als der Wind um ihre Strohdächer pfiff. Als der Regen folgte, war er beinahe waagrecht, angefacht von dem gewaltigen Wind. In dieser Sturmnacht hatte seine geliebte Frau das kleine Ungeheuer zur Welt gebracht, das sie nun zu finden versuchten. Bernarrs Freude über die bevorstehende Geburt eines Sohnes hatte bewirkt, dass er dem Fremden großzügig seine Gastfreundschaft anbot, einem seltsam aussehenden Mann mit vorstehenden braunen Augen und einer großen Nase, die durch ein sehr schwaches Kinn noch größer wirkte. Er schien ein paar Jahre älter zu sein als Bernarr, Mitte oder Ende dreißig, aber Bernarr war unsicher, was sein wahres Alter anging, denn Lyman sah jetzt noch genauso aus wie vor siebzehn Jahren, als er im Herrenhaus eingetroffen war. Lyman hatte sich als Freund von Bernarrs Vater vorgestellt, ein Brieffreund, der dem alten Baron nie persönlich begegnet war, den Bernarrs Vater aber in bestimmten Fragen hin und wieder zurate gezogen hatte. Vor allem war es dabei um den Ankauf von alten Büchern und Manuskripten gegangen. Er war gekommen, um zu fragen, was Bernarr selbst mit der Bibliothek vorhatte, denn er wusste nicht, ob der Sohn die Begeisterung des Vaters für Gelehrsamkeit teilte, und hatte vor, mehrere Werke aufzukaufen, falls Bernarr die Sammlung nicht behalten wollte. Er war erfreut gewesen festzustellen, dass Bernarr seine Liebe zum Wissen teilte. Und dann, so erinnerte sich Bernarr, hatten sie erfahren, dass die Baronin Schwierigkeiten mit der Geburt hatte. Diese Erinnerung war sehr schmerzlich für ihn. Er lehnte 299
sich zurück und fluchte. Dann sah er, dass die beiden Haare über der Hauptnadel sich wanden wie Schlangen - Schlangen, die einander nicht leiden konnten. Sie bewegten sich weg von der treibenden Nadel zu entgegengesetzten Seiten des Gehäuses und wurden dann wieder schlaff. Das ist der deutlichste Fall von Nichtähnlichkeit, der mir je untergekommen ist, dachte der Magier, ließ sich aber nichts anmerken. Eins ist sicher: Diese beiden haben kein Kind miteinander. »Was hat das zu bedeuten, Lyman?«, fauchte Bernarr. Seine Augen glitzerten misstrauisch - wenn es um seine Frau ging, war der Baron von Meersburg alles andere als vernünftig. Als ob ausgerechnet ich das wissen könnte, dachte Lyman. Laut fuhr er fort: »Äh ... Mylord ... könnte es möglich sein, dass Ihr ein anderes Kind habt? Eins, das Ihr gezeugt habt, bevor Ihr Lady Elaine begegnet seid?« Das ließ Bernarrs Zorn schwinden; stattdessen verlagerte er leicht sein Gewicht und griff nach einem Becher mit heißem Gewürzwein. »Nun«, murmelte er mit unstetem Blick, »ich war erwachsen, bevor ich heiratete ... dreißig Sommer ... hier und da ein Mädchen ... und selbstverständlich könnte, nach allem, was ich weiß -« »Selbstverständlich, Mylord, wir sind beide Männer von Welt«, versuchte Lyman ihn zu beruhigen. »Aber es wäre möglich, dass die Haare dadurch mit dem Wesen des Zaubers nicht zu vereinbaren sind. Deshalb brauche ich ein weiteres Haar von Eurer Gemahlin. Der Zauber wird nicht ganz so präzise sein und nicht über so weite Entfernungen funktionieren, aber es sollte immer noch helfen.« Er stand auf und hielt die Hände über das linke Gehäuse. Und ich werde das Gefäß mit Eurem Haar nicht benutzen, Mylord, denn ich befürchte, es ist für unsere Zwecke vollkommen nutzlos. 300 Bram hielt inne, als er über die Hügelkuppe kam und Meersburg vor sich liegen sah. Die Stadt war ihm durchaus vertraut: Er war mehrmals hier zu Besuch gewesen. Nun versuchte er, sie so zu sehen, wie Lorrie sie sehen würde. Als Erstes wird sie Geld brauchen, dachte er. Er grinste trotz seiner Nervosität und der Schmerzen in seinen Beinen. Er hatte keine Zeit verschwendet und war sehr müde, von Hunger und Durst gar nicht zu reden. Lorrie würde mit den paar Kupferstücken, die er unter der Matratze versteckt hatte, nicht weit kommen. Es waren zwar die
Ersparnisse seines ganzen Lebens, aber er lebte noch nicht so lange, und für Stadtverhältnisse war es nicht viel. Er schob Bogen, Köcher und Rucksack in eine etwas weniger unbequeme Position und drängte sich durch die Menschenmenge, die man für gewöhnlich so nahe am Stadttor fand. Wenn er sich recht erinnerte, gab es nicht weit vom Nordtor ein paar Pferdehändler. »Kann ich dir helfen, Junge?«, fragte der Pferdehändler. Er hatte den Vorderhuf eines Pferds zwischen seine Beine gehoben und untersuchte ihn. Das kräftige kleine Pferd bewegte sich ein wenig, als es ihn für abgelenkt hielt, und fing an, den Kopf zu drehen - es dachte vielleicht daran, dem Mann in den Hintern zu beißen. Der Händler stieß ihm den Ellbogen in die Flanke, und Bram versetzte ihm mit dem Eibenbogen einen leichten Schlag auf die Nase. Das Tier seufzte tief und gab auf, und als der Händler den Huf losgelassen hatte, setzte es ihn mit einem matten Klappern ab. »Strahlfäule«, sagte er über die Schulter hinweg zum Besitzer des Pferdes. »Ihr solltet wirklich wissen, dass es eine solche Krankheit nicht verbirgt, wenn Ihr den Huf in Teer taucht, Ullet Omson. Ich werde ihn nicht nehmen, nicht einmal, wenn Ihr die Strahlfäule behandelt und ihn zurückbringt; für keinen Preis. Er ist bösartig.« 301 Der enttäuschte Mann führte sein Tier davon, und der Händler wandte sich Bram zu. »Und was kann ich für dich tun?« »Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen«, sagte Bram und errötete dann unter seiner gesunden Gesichtsfarbe, als der Pferdehändler ihn von oben bis unten ansah und dann anfing, laut zu lachen. »Nun, ich würde sagen, dabei wirst du keine Schwierigkeiten haben, selbst wenn deine Börse leer ist«, keuchte der Mann schließlich. »Denn du bist ein gut aussehender Junge. Aber ich handle leider nicht mit Mädchen. Ich habe Stuten, das ist alles. Ich heiße übrigens Kerson.« Bram stellte sich vor, schüttelte dem Mann die Hand und war wenig überrascht, als er sie so stark fand wie seine eigene oder sogar ein wenig kräftiger. »Sie hat Euch vielleicht einen Wallach verkauft«, sagte er. »Vor nicht mehr als drei Tagen. Ein Bauernpferd, das den Sattel gewöhnt ist, aber noch mehr die Arbeit am Pflug, und das die besten Tage hinter sich hat.«
Er beschrieb Horace weiter, denn er kannte das Aussehen des Pferdes so gut, als wäre es sein eigenes: Die beiden Familien hatten sein Leben lang Arbeitstiere ausgetauscht. »Einen Augenblick!«, sagte der Händler. »Ja, ich habe das Tier gekauft - aber von einem Jungen, nicht von einem Mädchen. Hat er es vielleicht gestohlen?« Er runzelte die Stirn. Selbstverständlich gibt sie sich als Junge aus, du Idiot!, dachte Bram. Sie kann ja wohl nicht in Stadt und Land in deinen alten Kleidern als Mädchen herumrennen, das sich als Junge verkleidet hat, oder? »Nein, ich kenne diesen Jungen«, sagte Bram. Der Händler zuckte die Achseln. »Er schien ein netter Junge zu sein; hübsch wie ein Mädchen und ein paar Jahre jünger als du selbst. Und heute Vormittag habe ich das Tier an einen seiner Freunde weiterverkauft.« 302 Freund?, dachte Bram und verfluchte sich. »Der Junge, der das Pferd gekauft hat, ist zusammen mit einem Herrn aufgebrochen, einem anderen Kunden von mir. Aber zuvor haben wir uns ein wenig unterhalten, und er erzählte mir, dass er der Pflegebruder von Yardley Heywoods Enkelin ist. Sie wohnen bei ihrer Tante. Jedenfalls, die beiden sind zusammen gegen Mittag in Richtung Norden aufgebrochen. Der Junge erwähnte, dass sein Freund mir das Tier verkauft hat ...« Dem Händler fiel Brams fragender Blick auf, aber er fuhr fort: »Er sagte, das Mädchen, dem das Tier ursprünglich gehörte, wäre auch bei den Heywoods.« Dann warf er Bram einen forschenden Blick zu und fragte: »Bist du sicher, dass das Pferd nicht gestohlen war?« »Ja, ziemlich sicher«, antwortete Bram. Er fragte sich, wer wohl dieser Junge war und warum er Horace gekauft hatte, um nach Norden zu reiten, aber dann konzentrierte er sich lieber darauf, wo Lorrie sich aufhielt. »Wo würde ich diese junge Dame, Yardley Heywoods Enkelin, finden?« Der Händler beschrieb ihm, wie er zum Haus des Kapitäns gelangen konnte. Bram eilte in die Stadt hinein, und seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte sich vorgestellt, dass Lorrie sich vielleicht in einem billigen Gasthaus einquartiert hatte, aber anscheinend hatte sie eine Freundin gefunden, und nach dem, wie es sich anhörte, sogar eine wohlhabende. Und was war mit Rip ? Elaine regte sich. Sie war immer noch unsicher, in welchem Zustand sie träumte, aber sie wusste, es mussten Träume sein. Zunächst hatte
sie in den Träumen Schmerzen gehabt, aber nachdem sie so oft aufgewacht war, war es ihr gelungen, sich von den Schmerzen zu distanzieren. Es war niemals einfach; es verlangte Aufmerksamkeit, und die Schmerzen weigerten sich, gezähmt zu werden, aber für gewisse Zeit konnte sie sich darüber hinwegsetzen und sie wie etwas weit Entferntes be303 trachten. In diesen Zeiten versuchte sie zu lauschen, ob jemand in der Nähe war. Manchmal hörte sie den Ruf eines Nachtvogels oder einen weit entfernten Schrei. Aber ansonsten schien sie allein zu sein. Das erstaunte sie. Sie war immerhin die Baronin und hatte gerade ein Kind bekommen. Wo waren sie alle? Warum half ihr niemand? Wie lange befand sie sich schon in diesem Zustand? Und die schrecklichste Frage: Würde das für den Rest ihres Lebens so weitergehen? Sie wusste, dass ihr Körper sich nicht bewegte, oder zumindest vermutete sie das. Also nahm sie an, dass sie in einem seltsamen Traum gefangen war, aber einem, der Verbindungen zur wachen Welt hatte. Der Sieg über die Schmerzen war ihr erster Erfolg gewesen, und dann war dieses schreckliche Ding gekommen, das sie gequält hatte. Die Zeit war schwierig zu messen: Sie war sicher, dass viele Stunden, vielleicht sogar Tage vergangen waren, seit sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Vielleicht kämpfte sie mit einer Krankheit, die mit der Geburt zusammenhing, oder einem Fieber. Was immer der Grund war, sie hatte gekämpft und so etwas wie Bewusstsein erreicht, um dann wieder in diesen merkwürdigen Zustand zu verfallen, in dem sie von Erinnerungen umgeben war. Manchmal sah sie die Bilder so deutlich, dass sie sich fragte, ob sie wirklich waren oder vielleicht prophetische Visionen, wie heilige Frauen sie angeblich hatten. Vielleicht waren es auch Echos einer weit entfernten Vergangenheit oder die Erinnerungen einer anderen Person. Dann kam die Dunkelheit wieder. Zwei Dinge blieben konstant: die Dunkelheit und die Schmerzen. Zwischen den dunklen Zeiten rief Elaine im Geist nach Hilfe, tobte, schrie und verfluchte ihren Mann, der sie so im Stich gelassen hatte. Einmal spürte sie, dass etwas ihren Körper berührte. Es war eine kalte Berührung, das Gefühl von et304
was Schleimigem, das über ihre Haut glitt, unter ihr Gewand: eine entwürdigende Intimität, unerwünscht und abstoßend. »Aber sie konnte nichts dagegen tun. War diese schreckliche Berührung echt oder eine Erinnerung? Ihre Angst und Empörung, die das Gefühl begleiteten, waren jedenfalls echt, und sie erinnerte sich, in lautlosem Ekel geschrien zu haben: Lass mich in Ruhe! Dann war die Berührung verschwunden. War sie zurückgekehrt, oder war die nächste derartige Empfindung nur die Erinnerung an die erste Berührung gewesen? Sie wusste es nicht. Im Lauf der Zeit wurde ihr Geist stärker, und Angst und Ekel verwandelten sich in Zorn und Berechnung. Hin und wieder erinnerte sie sich an einen Konflikt, einen Augenblick von Trotz, in dem sie etwas zurückwies, was sie unterdrückte, aber sie konnte sich nicht an die Einzelheiten erinnern. Schreckliche Dinge hatten sie gequält, und sie hatte sie irgendwie angegriffen; in ihrem Geist beschwor sie Bilder der schrecklichen Dinge herauf, und mit Händen, die sie sich ebenso vorstellte, packte sie sie. Die Dinge versuchten zu fliehen, aber Elaine zerrte an ihrer Substanz, zerriss sie, bis nur noch Fetzen übrig waren, die sich im Nichts verloren und nur einen langsam verhallenden Schrei von Schmerz und Angst zurückließen. Sie hatte herausfinden wollen, was hinter den Schmerzen und dem kalten Eindringling steckte, wie sie die böse, schleimige Berührung bezeichnete. Dann hatte sie sie gefunden: Dinge, die in den Ecken des Landsitzes lauerten. Sie spürte ihre Präsenz; sie waren entsetzt, ängstlich und empört darüber, dass etwas ihnen schaden konnte; sie verbargen sich vor ihr. Bald würde sie wieder schlafen, denn sie war sehr müde. Aber sie wollte noch einen erwischen, wollte sie unbedingt alle vernichten. Obwohl sie in der Nähe waren, konnte sie jedoch keinen von ihnen finden. Sie musste sie dazu verleiten, zu ihr zu kommen. Zwischen Zeiten der Dun305 kelheit schmiedete sie in ihren Träumen Pläne. Diese Zeiten von Klarheit waren selten, aber sie erkannte, wenn sie träumte, konnte sie die Regeln dieses Traums bestimmen, und sie würde mit diesen dräuenden Schatten in ihrem Geist schon fertig werden. Elaine tat schließlich so, als schliefe sie, unterdrückte alle Gedanken und wartete. Nach einiger Zeit kam einer ihrer Feinde näher, um sie zu prüfen, und Elaine packte ihn. Sie zerrte an ihm, und er heulte,
riss sie herum, als er versuchte zu fliehen. Schließlich kam er zu einer Art von Grenze und begann sich darauf zuzuschleppen. Elaine hielt sich fest, versuchte ihn zurückzuzerren. Aber dieser hier war stärker, als der Erste gewesen war, und kämpfte weiter. Er schleppte sie schließlich direkt bis zu der Grenze und ließ nur wenig von sich in ihren Geisteshänden zurück. Es war, als würde sie gegen etwas Heißes, Festes gedrückt, aber sie konnte spüren, wie sie hindurchglitt, und sie klammerte sich immer noch an dieses Ding. Sie wusste nicht, wo sie sich wieder finden würde, wenn sie losließ, aber sie wollte nicht schlimmer dran sein als zuvor, also hielt sie sich fest, als ginge es um ihr Leben. Plötzlich konnte sie sehen! Elaine war so verblüfft, dass sie das Ding losließ, an das sie sich geklammert hatte. Es war Tag, aber rings um ihr Bett brannten Kerzen. Dann spürte sie, wie sie sich erhob - sie schwebte wie Löwenzahnsamen, und ebenso unkontrolliert. Sie strengte sich an, den Aufstieg aufzuhalten, aber es gelang ihr nur, sich umzudrehen, so dass sie nach unten schauen konnte. Elaine starrte ihren eigenen Körper an, der auf dem Bett lag. Bin ich tot?, fragte sie sich. Sie hatte Geschichten von Leuten gehört, die über ihren Körpern schwebten, die trauernde Menschen oder Bilder ihres Heims sahen, bevor sie zu Lims-Kragmas Halle der Toten gebracht wurden. Solche Geschichten erzählten jene, die von heilenden Priestern im Augenblick des Übergangs vom Le306 ben zum Tod zurückgerufen worden waren. Dann bemerkte sie, wie sich die Brust ihres Körpers beinahe unmerklich hob: Sie atmete ja noch! Sie betrachtete sich näher. Sie sah nicht besonders gut aus. Liege ich im Sterben? Sie geriet in Panik und versuchte, näher zu ihrem Körper zu gelangen, bewegte die Arme wie beim Schwimmen und erkannte dann, dass sie keine körperlichen Arme hatte. Sie hatte keinen Körper! Dieser Schreck bewirkte, dass sie instinktiv zupackte, als versuchte sie, ihr eigenes körperliches Wesen mit ihren geistigen Händen zu greifen. Plötzlich war sie wieder in ihrem Körper, zurück bei den Schmerzen und dem langen, trägen Schweigen. Die, die sie gequält hatten, waren verschwunden; sie konnte spüren, dass sie wieder allein war. Und dann, ganz plötzlich, als würde eine Kerze ausgelöscht, war die Zeit der Bewusstheit zu Ende. Als sie wieder zu sich kam, verstand sie: Die »Träume«, wie sie sie bezeichnet hatte, ereigneten sich dann, wenn ihr Geist den Körper
verließ, während sie im Wachzustand in ihrem Körper gefangen saß. Sie beschloss zu lernen, diese Fähigkeit zu beherrschen, um ihren Geist zu befreien. Wie lange das dauerte, wusste sie nicht, aber mit viel Konzentration gelang es ihr schließlich, ihren Körper zurückzulassen und von einem Zimmer zum anderen zu schweben, sich durch Wände und Decken zu bewegen, als bestünden sie aus Wasser. Das Herrenhaus war schmutzig und beinahe verlassen. Die wenigen Menschen, die sie traf, waren jene Art von Söldnerabschaum, die nicht einmal ihr Vater in sein Haus gelassen hätte, aber viele trugen die Uniform der Hausgarde des Barons. Ihre Feinde waren immer noch da, aber sie kamen ihr nicht mehr näher. Manchmal wurde sie bei dem Gedanken daran, was sie ihr angetan hatten, wütend, und jagte nach ihnen. Zu anderen Zeiten war sie beinahe dankbar, denn sie hat307 ten ihr einen Ausweg aus der Dunkelheit und den Schmerzen gezeigt. Vor allem wollte sie sie sehen und herausfinden, wer sie waren. Dann würde sie entscheiden, was sie mit ihnen anfangen sollte. Waren sie übernatürliche Wesen? Oder Geister? Oder Abgesandte einer anderen Macht? Wo ist mein Baby?, fragte sie sich dann plötzlich. Sie war erstaunt, dass sie nicht sofort daran gedacht hatte. Wie konnte sie ihr eigenes Kind vergessen? Ihren kleinen Jungen! Sie musste ihn finden. Aber es war zu spät. Sie spürte, wie sie zurückgezogen wurde. Elaine kämpfte nicht dagegen an, denn sie wusste, sie konnte es nicht aufhalten. Aber zumindest brauchte sie nicht mehr die ganze Zeit dort zu sein. Bevor sie wieder in ihren schmerzenden Körper zurückgezogen wurde, sah sie, dass die Kerzen ein ganzes Stück heruntergebrannt waren. Als sie das nächste Mal aufwachte, hörte sie die Stimmen von Kindern. Die Stimme eines Mädchens erklang in der Ferne und rief nach ihr. Sofort war Elaine im Flur, und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie wieder die Präsenz dieser Wesen, die sie so gequält hatten. Sie rief: Hier entlang! Um die Ecke des Flurs kam eine kleine Gruppe von Kindern, zwei Mädchen und zwei Jungen. Sie wirkten erschöpft und verängstigt. Als sie über ihnen schwebte, sah Elaine ihre Feinde, die die Kinder verfolgten. Sie sahen aus wie Ranken aus schwarzem Rauch, die sich wanden und die alle aus einer Dunkelheit in der Mitte kamen. Sie verbreiteten Angst und eisige Kälte.
Hier entlang!, rief sie abermals und zeigte auf die Tür ihres Zimmers. Wieder und wieder rief sie es den Kindern zu. Zumindest eins der Mädchen schien sie zu hören und führte sie zu der Tür. Sie drängten sich in ihr Zimmer und warfen die Tür hinter sich zu. Elaine stürzte sich wütend auf die schwarze Wolke und 308 griff nach einer ihrer Ranken. Die Wolke wich zurück, blieb aber nahe genug, um Elaine zu locken. Aber Elaine wollte ihre Energie nicht damit verschwenden, sie zu bekämpfen, und kehrte stattdessen in ihr Zimmer zurück, um über die Kinder zu wachen, erfreut über ihre Anwesenheit, entzückt über den Kleinsten, der höchstens sieben oder acht Jahre alt war, aber trotz seiner Angst versuchte, die anderen anzuführen. Sie spürte, dass ihr Feind im Flur lauerte, aber nicht wagte hereinzukommen. Erst jetzt sah sie die Schutzzauber an den Wänden, Spuren von Licht, von Befehlen, von Es-soll-sich-nichtändern. Vielleicht hatte tatsächlich jemand ihre Hilferufe gehört. Sie belauschte die Kinder und stellte fest, dass sie unbedingt fliehen wollten. Es machte sie traurig, dass sie sie ebenso erschreckend fanden wie die Kreatur im Flur, aber sie konnte es ihnen nicht übel nehmen. Wenn ich den armen Kleinen nur helfen könnte! Elaine spähte in den Flur - das Ding lachte höhnisch, und sie zog sich zurück. Als sie sich in ihrem Zimmer umsah, spürte sie einen älteren Schutzzauber und suchte danach. Sie ging durch die Wand und entdeckte den Geheimgang dort wieder. Ihr Mann hatte ihn ihr gezeigt, an dem Tag, als er sie in diese Räume führte. »Die Gänge ziehen sich durch das ganze Haus«, hatte er erklärt. Sie sah, dass der kleinere Junge die Wand anstarrte, und etwas in seinem Blick sagte ihr, dass er es beinahe begriffen hatte. Sie sprach mit dem Mädchen, das die anderen in ihre Gemächer geführt hatte, erzählte ihr von dem Geheimgang, erzählte ihr, dass der Schlüssel sich in der Schnitzerei befand. Bald schon stand die Kleine auf, ging zur Schnitzerei und prüfte all die kleinen Vorsprünge, bis sie den richtigen fand. Kluges Kind!, dachte Elaine. Dann war ihre Zeit wieder vorüber, sie wurde zurück in ihren Körper gezogen. Sie würde vielleicht nie herausfinden, 309 wie es weiterging, und das frustrierte sie. Sie wünschte sich, sie könnte endlich aufwachen.
Als sie zum nächsten Mal erwachte, fragte sich Elaine, was wohl aus den Kindern geworden war, besonders aus dem Mädchen, das sie offenbar hören konnte. Als sie sie sich vorstellte, fand sie sich plötzlich neben ihr. So etwas war schon öfter geschehen, aber sie konnte es nicht beherrschen. Manchmal dachte sie an eine Person oder einen Ort und fand sich dann dort wieder, aber das funktionierte ausschließlich innerhalb des Herrenhauses. Sie war nie imstande gewesen, auch nur den Rosengarten zu betreten. Sie hatte jedoch Zugang zu jedem Zimmer und zu jeder Person im Haus. Außer zu Bernarr. Wenn sie an ihn dachte, fand sie sich in Gegenwart eines viel älteren Mannes. Ein Onkel oder Vetter, nahm sie an, da sie wusste, dass sein Vater gestorben war. Es störte sie eigentlich nicht, dass er nicht mehr zu ihr kam; sie hatte ihn nicht geliebt, und er fehlte ihr nicht. Aber sie wollte ihr Baby sehen, und ihr Kleiner war doch sicher beim Baron. Sie seufzte, und die Kerze, die einer der Jungen hielt, flackerte. »Vorsichtig!«, sagte das älteste Mädchen erschrocken, und ihre Stimme hallte laut im Flur wider. Das jüngere Mädchen, das manchmal hören konnte, was Elaine sagte, wimmerte nun, hielt aber tapfer die Tränen zurück. Sie tat Elaine so Leid! Sie waren alle staubig und sahen erschöpft aus, und der Sack mit Lebensmitteln, den das älteste Mädchen sich an den Gürtel gebunden hatte, war beinahe leer. Arme kleine Dinger, dachte Elaine. Sie brauchten eine Zuflucht, aber ihre Gemächer waren nicht geeignet. Sie machte ihnen Angst, und der alte Mann, der aussah wie Bernarr, schlief dort. »Es ist nicht meine Schuld! Es zieht!«, rief der Junge, der 310 die Kerze hielt, denn sein jugendlicher Zorn darüber, dass man ihm die Schuld an etwas gab, was er nicht getan hatte, setzte sich über seine Vorsicht und die Notwendigkeit still zu sein hinweg. Die anderen schwiegen, aber sie beobachteten angespannt den Docht. Es war deutlich, dass sie große Angst davor hatten, im Dunkeln zu sein. Elaine erinnerte sich an einen Ort, an dem sie sich gut verstecken konnten. Bernarr hatte sie dort hingebracht, direkt nachdem sie eingetroffen waren. »Er ist vollkommen abgelegen. Hier wird dich niemand stören, wenn du allein sein willst.« Er hatte stolz gelächelt.
»Es soll deine Zuflucht sein.« Sie hatte kein Bedürfnis nach einem solchen Ort gehabt, aber er war so stolz auf sein Geschenk gewesen, dass sie gelächelt hatte und ihn auf die Wange küssen wollte, aber er hatte sie auf den Mund geküsst. »Kommt mit!«, flüsterte sie dem Mädchen zu, das sie offenbar hören konnte. »Ich weiß einen Ort, wo ihr sicher seid.« Neesa stand auf und blickte den dunklen Gang entlang. Sie hörte auf zu weinen und lächelte. »Was ist denn?«, flüsterte Mandy; ihre Augen blitzten im Kerzenlicht, als sie versuchte, gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen. »Gehen wir hier entlang«, sagte Neesa wie jemand in einem Traum. »Es ist der richtige Weg.« Sie ging davon. Kay und Mandy wechselten einen Blick, aber Rip stand auf und folgte Neesa. »Kommt schon«, sagte er ungeduldig. Mandy stand auf und folgte ihm. »Kommst du?«, rief sie über die Schulter hinweg Kay zu. Rip bewegte sich vorsichtig, damit die Kerze, ihre einzige Lichtquelle, nicht ausging. »Warte!«, sagte er zu Neesa, und sein Atem blies die Flamme aus. 311 Mandy keuchte, und Kay schrie erschrocken auf. »Seid leise!«, mahnte Rip. »Ich bin direkt vor euch. Haltet euch an den Händen! Wir bleiben zusammen.« »Das war deine Schuld«, fauchte Kay »Das spielt doch keine Rolle«, sagte Rip müde. »Sie war sowieso beinahe heruntergebrannt. Seid vorsichtig! Sind alle da?« »Ja«, murmelte Kay, und die Angst ließ seine Stimme zu einem heiseren Flüstern werden. »Dann gehen wir«, sagte Rip. »Immer wenn Neesa dieses Gefühl hatte, konnte sie uns an einen sicheren Ort führen.« »Ich würde das hier nicht gerade sicher nennen«, spottete Kay »Es ist sicherer als in den Fluren«, erinnerte ihn Rip. »Oder als das Zimmer, in dem wir eingeschlossen waren.« »Wir können aber nicht raus!«, rief der andere Junge. »Still!«, sagte Mandy »Wir konnten auch vorher nicht raus. Solange du keine bessere Idee hast, hältst du die Klappe, Kay« Sie gingen schweigend im Dunkeln weiter. Sie zwängten sich durch Flure, die so eng waren, dass sie sich zur Seite drehen mussten, und stiegen schmale, knarrende Treppen hinauf und hinunter, bis Neesa
stehen blieb. »Hier«, sagte sie leise. Die anderen lauschten und hörten, dass sie offensichtlich die Wände abtastete. Ein leises Klicken war zu hören, und alle zuckten zusammen, als ein schmaler Riss blendendes Licht hereinließ. Dann drückte Neesa die Tür impulsiv auf und stieg hindurch. Sie quiekte vor Entzücken über das, was sie gefunden hatte. Es war zwar alles staubig, und die Luft war abgestanden, aber der Raum war zweifellos gemütlich, und durch ein hohes Fenster fiel helles Tageslicht herein. »Hier werden uns die Kerzen nicht ausgehen«, sagte Mandy lächelnd. 312 Wohin sie auch schauten, überall befanden sich Kerzenständer mit vielen Kerzen darauf. Es gab einen ganzen Korb voll Steinkohle und dick gepolsterte Sessel und Sofas, und der ganze Raum strahlte etwas Friedvolles aus. »Jetzt brauchen wir nur noch etwas zu essen«, sagte Kay »Und Wasser. Hat jemand irgendwelche geheimnisvollen Ahnungen, wo wir das finden können?« Rip zog eine Braue hoch, und da ihm das zum ersten Mal wirklich gelungen war, war er so erfreut, dass er sich nicht weiter über Kay ärgerte, sondern über das Problem nachdachte. »Ja«, erklärte er dann. Er griff nach dem leeren Kissenbezug und warf Kay einen Blick zu. »Kommst du mit?« Zur Antwort nahm Kay zwei Kerzen von einem Leuchter und zündete sie an. Er hatte nicht vor zurückzubleiben, wenn der Jüngere etwas versuchen wollte. Rip spähte durch das Loch in der Schnitzerei. Das macht Spaß!, dachte er. Es fiel seinem jungen Geist schwer, all die Schrecken zu verstehen, die ihn umgeben hatten, seit er an diesem Ort erwacht war, aber Leute aus einem Geheimversteck zu beobachten war etwas, womit er sich auskannte, und es fühlte sich wie ein Spiel an. Die Geheimgänge hatten viele Türen und Gucklöcher, und die engen Korridore fühlten sich erheblich sicherer an als das Zimmer, in dem sie eingesperrt gewesen waren. Er schauderte, drehte sich um und legte den Finger auf die Lippen, dann spähte er erneut durch das Loch. Wieder hatte er einen wirklich großen Raum vor sich, aber hier waren die meisten Zimmer groß. In diesem hier standen die Fenster
offen, und Rip warf ihnen einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Ein Tisch war zum Essen gedeckt, mit schönen Metalltellern und schalen, nicht Holz oder Steingut, nicht einmal Zinn, sondern echtes Silber. Ein alt aussehender Mann saß am Kopf des Tisches und sprach mit zwei anderen Män313 nern, die die Mützen in der Hand hielten und vor ihm standen. Rip schürzte die Lippen. Das da waren die Männer, die ihn mitgenommen und hierher gebracht hatten. Er erkannte sie an ihren Stimmen. Sie sahen grausam und Furcht einflößend aus. Ein dritter Mann saß mit dem Rücken zum Guckloch und schwieg. »Nehmt das hier mit«, sagte er und schob den beiden anderen über den Tisch hinweg etwas zu. Einer der Männer streckte die Hand aus, dann riss er sie schnell wieder zurück, als hätte das kleine Ding ihn verbrannt. »Magie!«, rief er. »Selbstverständlich ist es Magie, du Dummkopf«, sagte der alte Mann. »Die Nadel zeigt auf den Mann, den ihr mir bringen sollt.« Nun mischte sich der andere sitzende Mann ein. Seine Stimme war ruhig und glatt, und sie erinnerte Rip irgendwie an das Zeug, das seine Mutter manchmal auf Brandwunden geschmiert hatte. »Ich versichere Euch, es ist vollkommen harmlos«, sagte er. »Ihr braucht einfach nur der Nadel zu folgen. Es könnte ein längerer Weg sein der fragliche Mann ist vielleicht bis zu fünfzig Meilen entfernt -, aber es sollte sich nicht als zu schwierig erweisen.« »Und ich bezahle euch gut dafür«, erklärte der ältere Mann. »Noch besser als für all die anderen.« Einer der stehenden Männer versetzte seinem Kumpan einen Stoß; widerstrebend nahm dieser daraufhin das kleine Ding vom Tisch, wickelte es in einen Lappen und steckte es in den Gürtel. »Ist es diesmal ein Erwachsener?«, fragte er. »Kein Junge?« »Er sollte gerade siebzehn sein«, sagte der alte Mann und wandte den Kopf ab. Rip bemerkte, wie traurig er aussah, und er tat ihm ein wenig Leid. Der Mann senkte die Stimme, so 314 dass der Junge ihn kaum mehr hören konnte. »Er ist siebzehn ...« »Wir machen es«, erklärte der stehende Mann. »Für sechshundert sind wir Eure Arme und Hände, Mylord.« »Und wenn ihr ihn herbringt, zieht ihm einen Sack über den Kopf. Ich will sein Gesicht nicht sehen. Auf keinen Fall.«
»Woher werdet Ihr dann wissen, ob es der Richtige ist?« Der Mann mit der glatten Stimme sagte: »Diese Nadel wird nur auf einen Menschen auf der ganzen Welt zeigen. Und den bringt ihr her. Geht jetzt!« Beide verbeugten sich tief und marschierten hinaus; einen Augenblick später verließen auch der alte Mann und der andere das Zimmer. »Oh. Gut«, flüsterte Rip und öffnete die Tür einen Spalt. Sie war in die Täfelung geschnitten, und selbst Neesa würde sich bücken müssen, um hindurchsteigen zu können. »Schon gut, kommt. Sie sind weg.« Die vier Kinder huschten ins Zimmer. Rip hätte beinahe innegehalten, als er es wieder spürte, dieses Böse, aber er hatte Hunger. Mandy und Neesa rannten direkt zum Tisch und begannen, Essen in die Kissenbezüge zu laden: Brot, Huhn, Gemüsepasteten. Rip und Kay hielten sich nicht damit auf, obwohl es sehr gut roch. Stattdessen eilten sie zur Tür, öffneten sie einen Spaltbreit und spähten hindurch, während sie warteten, bis die Mädchen so viel Essen gesammelt hatten, wie sie tragen konnten. Rip hätte gerne den Kopf in den Flur hinausgestreckt, widerstand der Versuchung aber. Kay packte ihn am Arm. »Ich spüre, dass etwas kommt«, flüsterte er. »Ich auch«, sagte Rip. Ihm war plötzlich übel geworden, wie in dem Zimmer, wo man sie eingeschlossen hatte, und es wurde schlimmer. Ohne ein Wort steckten sie die Kerzen wieder in die Taschen und eilten zur Geheimtür; die Mädchen waren bereits 315 im Gang und schauten ihnen mit großen Augen entgegen, und alle seufzten erleichtert, als das Paneel sich schloss. Sofort fühlten sich alle besser; das Gefühl, belauert zu werden, verschwand, als wäre die stickige Dunkelheit des Geheimgangs eine andere Welt. Ich frage mich, warum es immer so ist, wenn wir aus den Gängen kommen, dachte Rip. Dann hob Mandy einen der Kissenbezüge und griff hinein. »Was habt ihr denn so?«, fragte er gierig, und alle machten sich schnell auf den Rückweg in ihr sicheres Zimmer. 14 Entführung Jimmy zügelte sein Pferd. Er war Jarvis Coe rings um das Land gefolgt, das zu dem Herrenhaus gehörte, von Klippenrand zu
Klippenrand, ein langer Ritt in stärker werdendem Wind, der einen bei jedem Schritt daran erinnerte, dass der Frühling noch jung war. Es war ein langer Weg gewesen, und ein unangenehmer. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, wo sich die Grenzen dieses seltsamen Gefühls befanden, bestand darin, es auszuprobieren; ein Schritt auf das Haus zu - lauf weg! Ein Schritt zurück - vollkommen normal. »Was ist das?«, fragte Jimmy und musste sich anstrengen, damit sein alter Gaul nicht davonstürmte wie ein Rennpferd. »Nichts Gutes«, antwortete Coe. Jimmy schnaubte. Brillant! Was für ein Glück er doch hatte, einen so kundigen Begleiter zu haben. Dieses schreckliche Gefühl schien das ganze Haus zu umgeben. Er würde ganz bestimmt nicht versuchen, die Klippe hinaufzuklettern, um herauszufinden, ob das Herrenhaus von dort erreichbar war, denn vermutlich war das ohnehin nicht der Fall. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, seine Energie nicht zu verschwenden. »Habt Ihr jemals etwas Ähnliches gespürt?«, fragte er. Coe wandte sich ihm zu. »Warst du je in einem Spukhaus?« 317 Jimmy grinste. »Wäre mir nicht aufgefallen.« »Oh, du hättest es gemerkt«, erwiderte der ältere Mann. »Wenn ich mich recht erinnere, fühlt es sich ganz ähnlich an wie das hier.« Nachdem er den breiten Rücken seines Begleiters einen Augenblick betrachtet hatte, fragte Jimmy: »Wann wart Ihr denn in einem Spukhaus?« »Eine lange Geschichte«, sagte Coe ohne sich umzudrehen, und dann schwieg er. Jimmy brummte gereizt. Es kam ihm durchaus so vor, als wäre es ein geeigneter Zeitpunkt für eine lange Geschichte. Denn abgesehen von jenen Augenblicken, die einen bis in die Seele erschreckten, weil sie dem Herrenhaus zu nahe kamen, langweilte er sich zu Tode. Wenn sie so weitermachen würden, wäre er froh über alles, was ihn von seinem schmerzenden Hintern ablenkte. Sie erreichten den Klippenrand, und Coe schnupperte und blickte hinaus zu der weißen Linie kochender Gischt, wo sich das Meer weißlich grün an Felsen brach und die blaugrauen Wellen den Schaum mit hinaustrugen. »Es wird heute Abend schlechtes Wetter geben«, sagte er. »Wir brauchen einen Unterschlupf.« »Ich nehme an, es hat keinen Zweck, im Herrenhaus anzuklopfen«,
murmelte der junge Dieb. Coe warf ihm einen schiefen Blick zu, wendete sein Pferd und ritt durch den Ring aus Bäumen auf die bearbeiteten Felder dahinter zu. Dieses unangenehme Gefühl erreichte nirgendwo das kultivierte Land, aber es gab so etwas wie kleine Buchten, die tief in den Wald und das Moorland reichten, die als Barriere und Jagdgelände des Herrenhauses dienten. Jimmy seufzte, folgte Coe und spürte, wie der Druck auf seinen Geist nachließ, als sie wieder Land betraten, das von Menschen bearbeitet wurde. Alles, was er von diesem Weg aus er war zu schmal und unregelmäßig, um ihn als Straße zu bezeichnen 318 sehen konnte, war ein Feld mit etwas Grünem, das sich zu einer Hügelkuppe hochzog, auf der hohe Bäume standen. »Ich wette, das da war nicht einmal ein normales Spukhaus«, murmelte er. »Nicht ganz«, erwiderte Jarvis Coe grimmig. Jimmy war ein wenig verdutzt über seinen Tonfall. Coe schaute zurück zu dem befestigten Herrenhaus und hatte den Mund fest zusammengekniffen. Mit der rechten Hand tastete er immer wieder nach seiner Brust, und der junge Dieb nahm an, dass sich etwas unter dem Tuch befand - vielleicht ein Amulett. »Aber davon einmal abgesehen ist der Tag so gut wie vorüber, und wenn wir herausfinden wollen, was da geschieht, brauchen wir eine Zuflucht«, sagte Coe. Er zog die Brauen hoch. »Es sei denn, du willst nach Meersburg zurückkehren?« »Wenn Ihr bleibt, bleibe ich auch«, sagte Jimmy und lief rot an. »Ich habe mein Wort gegeben.« Coe lächelte, und als Jimmy unwillig das Gesicht verzog, wurde das Lächeln ausgeprägter. »Mein Junge, ich lache nicht, weil du eine Ehrenschuld zahlen willst. Ich musste nur an ein paar Situationen denken, in die ich wegen Versprechen geraten bin. Und ich rechne dir deshalb deine Haltung nur umso höher an.« Er ritt weiter, und Jimmy folgte ihm. Die untergehende Sonne machte es ihnen schwer, nach Westen zu schauen - so etwas geschah in Krondor, wo es viele hohe Gebäude gab, nicht oft. Dennoch führte Coe sie sicher zu einer Kreuzung von zwei Wegen und neigte dann den Kopf leicht zur Seite. »Ich dachte es mir«, sagte er. »Dort drüben gibt es einen Bach. Hörst du ihn?« Jimmy versuchte es; zunächst konnte er nur Rascheln, das Rauschen und Knistern des Windes im Unterholz, Vogelstimmen und viele
Insekten vernehmen, aber dann ... »Dieses leise Plätschern?« 319 »Du hast ein gutes Ohr, Jimmy.« »Danke«, sagte er. »Also, wenn auf dem Land eine Straße oder ein Weg Wasser überquert, findet man sehr wahrscheinlich Häuser in der Nähe«, erklärte Coe. Sie ritten weiter den Weg entlang, vorbei an einem Gürtel von Bäumen, deren Äste den Weg überspannten; es erinnerte Jimmy an eine Gasse, denn auch hier hatte er das Bedürfnis, in sieben Richtungen gleichzeitig zu schauen, damit sich niemand anschleichen konnte. Die Bäume waren alle etwa gleich hoch, und die meisten wuchsen in Ringen um dickere Baumstümpfe. »Schösslinge«, sagte Coe, der den fragenden Blick des Jungen bemerkt hatte. »Wenn man eine Eiche oder Buche fällt, wächst ein Ring von Schösslingen rund um den Stumpf. Zehn Jahre später hat man dann gutes Feuerholz oder genau die richtige Größe für Holzkohle, und wenn man sie schneidet, erhält man weitere Schösslinge - es ist, als würde man Bäume anpflanzen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass wir in der Nähe menschlicher Behausungen sind.« Die Mysterien des Landlebens, dachte Jimmy leicht abfällig Jarvis ritt auf einen Pfad zu, der zu einer kleinen Hütte führte. »Dort drüben liegt ein größerer Bauernhof«, sagte er und zeigte auf eine Rauchfahne, »aber wir werden hier Halt machen. Ein Kätner wird sich über ein paar Münzen mehr freuen und eher zum Klatschen aufgelegt sein.« Er stellte sich in die Steigbügel. »Hallo da drüben«, rief er. Das Häuschen lag etwa hundert Schritte rechts von ihnen, in Richtung des Herrenhauses. Eine riesige Eiche überschattete es. Was nicht schwierig ist, dachte Jimmy Ein kleiner Busch wäre schon genug, um diese Bude zu überragen. Die Hütte war einstöckig und bestand aus Flechtwerk, auf 320 das Schlamm aufgetragen und weiß gekalkt worden war; das steile Dach war mit Stroh gedeckt, und ein unverglastes Fenster mit einem eigenen kleinen Dach ragte wie eine Nase über der Tür auf. Rauch stieg aus einem gemauerten Schornstein, und ein Schuppen, ebenfalls aus Flechtwerk und Schlamm gebaut, stand nicht weit entfernt. Der große Gemüsegarten daneben war frisch angepflanzt,
der dunkle Boden so ordentlich umgegraben, dass es Jimmy an die Schuppen einer Schlange erinnerte, und eine Ziege stand auf einer kleinen umzäumten Weide neben einer jungen Sau. Vor der Dielentür des bescheidenen Heims scharrten Hühner. »Seid gegrüßt, Fremde«, sagte ein Mann, der gerade versucht hatte, das geflochtene Gartentor mit einem Weidenzweig zuzuschließen. Er hatte einen Spaten in der Hand - Eiche mit einer eisernen Kante -, und er lächelte, als er ihn an den Zaun lehnte, aber das brachte seine Hand in Reichweite einer Hippe, die direkt daneben stand. Es handelte sich um einen sechs Fuß langen Hickoryholzstab, in dessen eines Ende ein schweres, gebogenes Messer eingelassen war. Hippen waren auf dem Land weit verbreitete Werkzeuge, konnten aber auch als Waffen dienen; auch Armeen verwendeten sie, obwohl die militärischen Modelle noch einen Haken auf der Rückseite der Klinge hatten, mit dem man Berittene aus dem Sattel ziehen konnte. Der Mann selbst trug eine geflickte, ausgeblichene, selbst gewebte Hose und ein Hemd aus ähnlichem Stoff. Er war barfuss und nicht mehr jung, aber er sah so zäh aus wie eine alte Wurzel. Jarvis Coe verbeugte sich leicht im Sattel. »Wir sind Reisende«, sagte er und nannte ihre Namen. »Wir suchen nach einem Platz für die Nacht, denn wir haben in der Nähe kein Wirtshaus gesehen und würden Eure Gastfreundschaft gern mit einem Silberstück vergelten.« Der Kätner riss die Augen weit auf, dann kniff er sie wie321 der zusammen: das war viel Geld für eine Übernachtung. Jarvis warf ihm die Münze zu; der Mann fing sie auf, untersuchte sie und steckte sie ein. »Das ist großzügig von Euch, Sir«, sagte der Mann. Jimmy bemerkte, dass er mit schwererem Akzent sprach als Lorrie, ein ländlicher Dialekt, bei dem die letzte Silbe jedes Wortes beinahe verschluckt wurde. »Und es wird mir helfen, die Steuern zu bezahlen. Wir haben Platz für zwei auf dem Speicher -meine Söhne wohnen nicht mehr hier, seit sie für Bauer Swidden arbeiten -, und ich habe ein paar saubere Strohsäcke. Eure Pferde können auf der Koppel bleiben. Die Bohnensuppe steht schon auf dem Herd, und meine Meg hat heute gebacken.« Die obere Hälfte der Hüttentür ging auf, und eine Frau blickte nach draußen - auch sie hatte die mittleren Jahre hinter sich, und sie war so bräunlich und unauffällig wie ihr Mann. Ihre Wangen und Lippen
waren so eingefallen, dass sie nicht mehr viele Zähne haben konnte, aber ihren dunklen Augen schien nichts zu entgehen. Sie nickte und ging wieder ins Haus, während die Männer ihre Pferde absattelten, tränkten und abrieben - Jimmy kopierte sorgfältig, was sein Begleiter tat - und dann auf die kleine Weide führten. Der Kätner brachte mit einer hölzernen Mistgabel eine große Ladung Heu, warf es den Pferden hin und versetzte der Ziege einen Schubs in die Rippen, als sie versuchte, etwas davon abzubekommen. »Ich habe auch Hafer«, sagte er. »Hab ein wenig von Bauer Settin dort drüben bekommen, als ich bei der Ernte geholfen habe.« Sie duckten sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch und betraten die Hütte. Jimmy sah sich um. Es gab nur ein einziges Zimmer, nicht besonders groß, mit einer Matratze auf einem Rahmen aus mit Leder zusammengebundenen Stäben in einer Ecke, der Feuerstelle in einer anderen und einem Boden aus gestampfter Erde - was Jimmy weniger gestört hätte, hätte es dort nicht Anzeichen gegeben, dass ihre Gast322 geber weder Schuhe trugen noch sich die Füße abwischten, wenn sie vom Hof hereinkamen. Eine Leiter führte hinauf auf den Dachboden, wo die Söhne vermutlich geschlafen hatten. Ansonsten gab es noch ein paar Werkzeuge, die an Haken hingen eine Sichel, zwei Hacken, eine Sense -, ein paar Kleidungsstücke und den Eisenkessel, der über dem niedrigen Feuer in der Feuerstelle hing. Es war warm und nicht so eng, dass es bedrückend gewesen wäre. Es war besser, als draußen zu schlafen, erkannte Jimmy, selbst wenn das Essen nicht besonders einladend aussah. Der Kätner lehnte die Hippe gegen die Wand neben der Tür; Jarvis und der junge Dieb folgten der Andeutung und stellten ihre Schwerter daneben. »Sehen wir mal, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte Bram unsicher. Er fühlte sich eingeschüchtert von dem großen Steinhaus in der Stadt und den beiden feinen Damen, die ihm gegenübersaßen. Nicht, dass sie unfreundlich wären, dachte er. Die Ältere, die von allen Tante Cleora genannt wurde, war so schön gekleidet wie die Gemahlin eines Adligen, wenn auch nicht im gleichen Stil; sie war etwa so alt wie Brams Mutter, wirkte aber für seine Augen zehn Jahre jünger. Fräulein Flora, ihre Nichte - vor kurzem aus Krondor eingetroffen -, war ein recht hübsches Mädchen, wenn auch nicht annähernd so hübsch wie Lorrie.
Lorrie sah seltsam aus, denn sie trug eins von Floras Kleidern und hatte das bandagierte Bein auf einen Hocker gestützt. Selbst die Köchin, die wirkte, als könnte sie recht brutal werden, wenn sie wollte, war zuckersüß zu ihm gewesen, aber sie versuchte wahrscheinlich nur, ihn zu bemuttern. Bram hatte absolut keine Ahnung, wie liebenswert er mit seinem gut geschnittenen Gesicht und dem blonden Haar aussah, besonders nach dem Bad und dem Kleiderwechsel. Er 323 aß das letzte Stück Gebäck, wischte sich die Hand an der Serviette ab, die man ihm reichte, und erinnerte sich rechtzeitig daran, dass er sich lieber nicht die Finger ablecken sollte. Was eine Schande war, denn sie waren klebrig von gutem Kleehonig. Die Küche war etwa so groß wie das Erdgeschoss im Bauernhaus seiner Eltern, aber schlichter als der Rest des schönen Gebäudes. Der Boden war gefliest, Kupfertöpfe und -pfannen hingen an den Wänden, und außerdem gab es einen langen Dielentisch und Säcke mit Zwiebeln, einen Schinken, eine Reihe von Würsten, Knoblauchzöpfe und Kräuterbündel, die an den Deckenbalken hingen. Hier konnte er essen, ohne sich völlig fehl am Platz zu fühlen, und er war froh, dass Fräulein Flora das vorgeschlagen hatte. Er war immer noch überwältigt von dem Empfang, den sie ihm bereitet hatten: Lorrie hatte vor Freude beinahe geweint - seine Brust hatte regelrecht wehgetan von den Gefühlen, die er gerade erst wahrzunehmen begann -, und das wiederum hatte bewirkt, dass Fräulein Flora ihn behandelte wie einen lange vermissten Freund. Ihre Tante hatte den jungen Mann sofort unter ihre Fittiche genommen, darauf bestanden, dass er ein Bad nahm und sich erfrischte, ihm Kleider gebracht, die einem ihrer Verwandten gehörten - er wusste nicht genau, wem - und dann dafür gesorgt, dass er etwas zu essen bekam. Offensichtlich gefiel es Tante Cleora, wenn ein Mann aß. »Also, Fräulein Floras Bruder hier ...«, sagte er mit vollem Mund. »Jimmy«, warf Flora hilfreich ein. »... hat dich vor Diebesfängern gerettet und dir einen Schlafplatz besorgt, und dann hat er zusammen mit Flora dein Bein verbunden und sich aufgemacht, um nach Rip zu suchen?« Lorrie nickte. »Und dann bist du gekommen. Danke, Bram!« Bram spürte, wie er errötete und gleichzeitig vor Stolz 324 strahlte - wie jeder Mann sonnte er sich gern in weiblicher
Bewunderung. »Nun, ich konnte dich doch nicht allein lassen«, sagte er. »Was immer dieser Haufen Graubärte zu Hause denkt. Wilde Tiere brennen keine Bauernhöfe nieder und greifen Menschen nicht bei Tageslicht an. Astalon allein weiß, warum sie dir nicht glauben wollten«, rief er den Gott der Gerechtigkeit an. »Und ich weiß, dass du nicht einfach daherschwatzt, wie es andere tun, die ich durchaus beim Namen nennen könnte ... zum Beispiel Merrybet Glidden.« Lorrie traten Tränen in die Augen, was bei ihm gleichzeitig ein schlechtes Gewissen und so etwas wie Wohlgefühl hervorrief. Flora seufzte, und Tante Cleora faltete die Hände unter dem leichten Doppelkinn. »Diese ganze Geschichte könnte auch aus dem Lied eines Spielmanns stammen«, sagte die ältere Frau. »Junge Männer, die versuchen, einen Knaben zu retten! Es ist wahrlich heldenhaft!« Bram errötete noch heftiger. »Ich bin kein Held«, erwiderte er leise. »Nur ein Bauernsohn. Aber ich werde dennoch versuchen, Rip zu finden und Eurem Bruder zu helfen, Fräulein Flora.« Er gähnte heftig. »Und ich sollte am besten früh damit anfangen. Zu Fuß wird es anstrengend genug sein, da sie Pferde haben.« Flora nickte entschlossen. »Dann werdet Ihr ein Pferd brauchen.« Bram lachte. »Fräulein Flora, nichts wäre mir lieber. Aber ich kann mir ein Pferd ebenso wenig leisten, wie ich auf meinen Händen nach Norden spazieren könnte.« Lorrie griff in die Tasche ihres geborgten Rocks. »Aber Bram, ich habe doch das Geld, das ich für Horace bekommen habe! Dafür wirst du doch sicher ein Pferd kriegen.« Bram bedachte Lorrie mit einem schiefen Blick, und beide wussten, dass er bewusst nicht von den Münzen sprach, die 325 sie aus seinem Zimmer genommen hatte. Es war nicht viel, aber alles, was er hatte. »Und wenn nicht, lege ich was drauf«, sagte Flora. »Und Ihr könnt Euch alle nötigen Vorräte aus der Küche holen«, fügte Tante Cleora hinzu. »Und so, wie es aussieht, solltet Ihr auch Vetter Joshs Regenumhang mitnehmen.« Überwältigt senkte Bram den Blick auf seine robusten Schuhe. Das erinnerte ihn an etwas. »Zumindest wird es mir leicht fallen, Eurem Pflegebruder zu folgen, Fräulein Flora«, sagte er. Und als sie ihn aus großen Augen anschauten, erläuterte er: »Nun, es sieht so aus, als
hätte er Lorries Horace gekauft, und der hat eine Kerbe im Eisen seines linken Vorderhufs, die ich überall wieder erkennen würde.« Dann fügte er leise hinzu: »Immer vorausgesetzt, der Regen wäscht nicht alle Spuren weg.« Jimmy blickte in den strömenden Regen hinaus und seufzte. Warum Jarvis nicht einfach fragen konnte, was er wissen wollte, war ihm ein Rätsel. Aber inzwischen wusste er erheblich mehr über die Familie, die sie beherbergte, als über einige seiner Freunde. »Ich war Hebamme der Baronin«, berichtete die alte Frau gerade voller Stolz. »Sie war so ein kleines Ding, das arme Mädchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie ist leider verblutet. Der Baron war danach nie wieder der Alte«, erklärte sie. »Der Baron hat nie viel getaugt«, sagte ihr Mann säuerlich. Jimmy drehte sich um und kehrte ans Feuer zurück. Langsam wurde es interessant. »Früher konnte ein Pächter, der eine Beschwerde hatte, einfach zum Herrenhaus gehen, wenn der Baron da war, und die Dinge wurden geregelt. Jetzt geht das nicht mehr.« »Nach dem Tod seiner Frau hat der Baron alle Diener und Wachen weggeschickt«, erzählte seine Frau. »Noch an dem Tag, an dem sie starb.« 326 »Und dann hat er diese, diese ...« »Söldner eingestellt«, vollendete seine Frau den Satz und warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu. »Söldner«, sagte der alte Mann und betonte das Wort, als wäre es schmutzig. »Ein Nachbar ist hingegangen, um den Herrn zu sehen, als er dort war, und diese ...«, er warf seiner Frau einen Blick zu, »... Kerle hätten den armen Mann fast totgeschlagen. Ich frage Euch, sollte ein Herr sich so benehmen?« Nach dem, was Jimmy bisher gesehen und gehört hatte, benahmen sich viele Adlige so. Klugerweise sagte er das nicht. »Der Ort fühlt sich irgendwie seltsam an«, stellte Coe fest. Ihre Gastgeber wechselten einen Blick. »Ja«, stimmte der alte Mann zu. »Und es wird jedes Jahr schlimmer. Niemand geht mehr hin, außer den Kerlen, die er hin und wieder einstellt, und auch die bleiben nicht lange.« Coe hob die Brauen, sagte: »Hm«, und zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Muss eine großartige Beisetzung gewesen sein«, sagte er. Wieder wechselte das alte Paar Blicke.
»Ich glaube, sie wurde in Meersburg beerdigt«, sagte die alte Frau. »Vielleicht hat man sie an den Hof zurückgebracht, von dem sie kam«, vermutete ihr Mann. »Was ist mit dem Baby?«, fragte Jimmy »Was ist aus ihm geworden?« Die alten Leute sahen ihn überrascht an, als hätten sie seine Anwesenheit vergessen gehabt. Jarvis warf ihnen einen fragenden Blick zu. »Nun«, stotterte die alte Frau, »wir ... wir haben es nie gesehen.« »Hat das Kind überlebt?«, fragte Coe leise. »Wir haben nichts Gegenteiliges gehört«, fauchte der alte Mann mit einem Seitenblick zu seiner Frau. 327 »Er müsste jetzt etwa achtzehn sein«, sagte sie verträumt. »Ich frage, weil niemand in Meersburg einen Erben erwähnt hat«, erklärte Jarvis. »Also bin ich überrascht zu hören, dass der Baron einen Sohn hat.« »Er hat ihn wohl weggeschickt, in eine Pflegefamilie«, sagte die alte Hebamme. »Adlige machen so was.« Sie nickte kenntnisreich. Coe sagte abermals »Hm«, und dann: »Das Haus ist offenbar in gutem Zustand«, stellte er fest. »Obwohl ich es nur von der Straße aus gesehen habe.« Der alte Mann schnaubte. »Der Herr lässt wohl diese Bast-« Er warf seiner Frau einen Blick zu. »Er lässt diese Söldner dafür sorgen. Keiner von uns ist seit achtzehn Jahren mehr dort gewesen. Und um ehrlich zu sein«, der alte Mann stand auf und schlug seine Pfeife auf dem Rand der Feuerstelle aus, »ich würde nicht mal hingehen, wenn Ihr mich dafür bezahlen würdet.« Ich auch nicht, dachte Jimmy. Aber man könnte damit drohen zu weinen und an mein besseres Ich appellieren. Er fragte sich verbittert, ob er gegenüber den Überredungskünsten von Frauen immer so empfänglich sein würde. Oder genoss er es einfach nur, hin und wieder eine große Geste zu machen? Ich hasse es einfach nur, wenn besagte große Gesten plötzlich verdammt unangenehm werden und mehr nach Selbstmord als nach Heldentum aussehen. Den Prinzen und seine Dame zu retten wäre eine wunderbare große Geste gewesen, da er ohnehin vorgehabt hatte, seinen Freunden zu helfen. Aber einen Balg, den er nie gesehen hatte, nur weil Flora es von ihm erwartete - es fühlte sich an, als würde er ausgenutzt, und das gefiel ihm kein bisschen.
Und dennoch, sobald er sicher war, dass seine Gastgeber und Coe schliefen, würde er sich zu diesem Schreckenshaus schleichen und versuchen, den Jungen zu finden und ihn herauszuschaffen. Wenn ein Haufen Gesindel es ertragen konn328 te, sich an diesem Ort aufzuhalten, dann, bei Ruthia, würde er das wohl auch schaffen. Dann begann es heftig zu regnen, und Jimmy murmelte: »Na gut, vielleicht morgen Nacht.« Der Baron wälzte sich im Bett hin und her und klammerte sich an die schweißnassen Laken wie mindestens jede dritte Nacht. Die Träume waren immer die gleichen: die Jagd, die Klippe, das lachende Gesicht des jungen Mannes. Das Unwetter, der eintreffende Gast, alles kam und ging, jedes Mal in anderer Abfolge. Manchmal war es nur ein flüchtiger Blick, manchmal beobachtete er sich selbst, als stünde er ein Stück weit entfernt, während er bei anderen Gelegenheiten die Vergangenheit neu erlebte. Manchmal wusste er, dass er träumte, zu anderen Zeiten war es, als wäre er noch jung und versuche abermals, mit der Liebe und mit dem Hass zurechtzukommen, die seine Seele zerfraßen. Tagelang hatte Bernarr eine Gelegenheit gesucht, mit dem jungen Mann unter vier Augen zu sprechen. Dieser lachende Geck nahm einen unangemessenen Teil von Elaines Zeit in Anspruch. Sie schien gewillt, die Aufmerksamkeiten des Narren hinzunehmen, aber sie vernachlässigte nicht nur ihre Verantwortung gegenüber den anderen Gästen, sondern hatte auch Bernarr seit Zakrys Ankunft beinahe vollkommen ignoriert. Die Gelegenheit hatte sich schließlich auf unerwartete Weise ergeben. Er hatte eine Jagd organisiert, um seine Gäste zu unterhalten, und alle außer Elaine hatten erfreut mitgemacht. Sie fühlte sich wieder einmal nicht gut. Diesmal hatte er den Arzt zu ihr geschickt und die strenge Anweisung gegeben, sie zu untersuchen und sich nicht wieder abweisen zu lassen. Die anderen wurden rasch von der Aufregung der Jagd mitgerissen, von der kühlen, frischen Herbstluft und dem heise329 ren Ton des Horns. Treiber und Hunde hatten einen großartigen Rehbock aufgescheucht, und alle jagten begeistert durch den Wald. Die Hunde bellten, die Treiber benutzten ihre WidderhornInstrumente, die elegante Kleidung der Reiter leuchtete in allen
Farben und blitzte von Gold und Edelsteinen, die heller strahlten als die Blätter von Weinberg und Wald. Es war ein hinreißender Anblick. Dann entdeckte Bernarrs aufmerksames Auge eine Bewegung im Unterholz. Ein Eber, dachte er und konnte gleich darauf einen Blick auf den geduckten Körper, die massigen, borstigen Schultern und die gebogenen Hauer erhaschen. Das Tier war schlau, sich im Unterholz zu verstecken, statt die Hunde aufmerksam zu machen, indem es floh. Das Rudel hatte den Eber noch nicht gewittert; der Wind blies in seine Richtung. Bernarr wusste, dass es nur wenig brauchte, um ein Wildschwein aggressiv zu machen, und dass nur die Anwesenheit vieler Hunde und Reiter es in die Flucht treiben würde. Und mir ist heute nach Wildschweinbraten. Es würde ein stolzer Augenblick sein, wenn der Kopf des Tieres mit vergoldeten Hauern auf einem Tablett serviert würde, und Elaine würde über die Tat ihres Mannes entzückt sein. Bernarr hängte sich den Bogen über die Schulter und riss den Eberspeer mit der breiten Klinge aus der Halterung, trieb sein Pferd an Bäumen vorbei und über große Steine hinweg und ließ seine Beute dabei nicht aus den Augen. Nach der Größe und der Form der Hauer zu schließen, war es ein junger, unvorsichtiger Eber auf dem Höhepunkt seiner Kraft, was dem Baron Anlass gab zu glauben, dass er leicht zu töten sein würde. Ein älteres, aggressiveres Tier hätte sich bereits umgedreht und angegriffen. Plötzlich stand der Eber vor Unterholz, das zu dicht für ihn war. Er wandte sich erst nach links, dann nach rechts, 330 dann stellte er sich Bernarr in einem Wirbel von Laub, und die kleinen Hinterbeine stampften, als er zum Angriff überging, um den Bauch des Pferdes oder die Beine des Reiters aufzuschlitzen. Der Baron wurde nur geringfügig langsamer, um einen Speerstoß anbringen zu können, der das Herz oder die Wirbelsäule des Tieres treffen würde. Er würde dem unerfahrenen Eber nicht die Gelegenheit geben anzugreifen und das Pferd in Gefahr zu bringen. Aber bevor er zustoßen konnte, schoss ein Pfeil an ihm vorbei. Die dicken Knochen und der Knorpel der Eberschulter hätten ihn aufgehalten, aber der Pfeil bohrte sich direkt hinter der Schulter ins Fleisch und drang wie ein Messer durch Herz und Lunge des Tieres.
Der Eber brach zusammen, spuckte Blut, trat um sich, entleerte seine Gedärme und starb. Bernarr riss fest am Zügel, woraufhin sein Pferd sich aufbäumte und beinahe auf die Hinterbeine zurückgesackt wäre. Als er sich umdrehte, sah er, dass Zakry ihm gefolgt war - der junge Mann senkte gerade seinen Jagdbogen. Zakry, spöttisch grinsend wie immer, sagte etwas, aber Bernarr verstand die Worte nicht, und dann war der junge Reiter verschwunden. Bernarr ritt mit den anderen Freunden seiner Frau zum Haus zurück, und hinter ihnen zogen die Treiber den toten Eber. Dann verblassten die Bilder. Nun, das ist gar nicht so anders, als in Krondor Dieb zu sein, dachte Jimmy die Hand. Man muss einfach nur vorsichtig sein und darf sich nicht zu schnell bewegen. Ein Tag und eine Nacht waren vergangen, seit sie in der Hütte Zuflucht gesucht hatten; die alten Leute fanden es anscheinend überhaupt nicht seltsam, dass sie sich entschlossen hatten, länger zu bleiben, und den Tag damit verbrachten, im Wald herumzuschleichen. 331 Oder vielleicht dämpft Freund Jarvis' Silber ihre Neugier, dachte Jimmy und unterdrückte ein Niesen. Er hockte hinter ein paar Büschen und beobachtete das Herrenhaus, aber etwas an diesen Büschen ließ seine Nase und die Augen jucken. Außerdem brachte ihn diese duftende grüne Frische irgendwie durcheinander. Krondor roch nur zu oft alles andere als gut, aber an diesen Gestank war er gewöhnt, anders als an dieses süß duftende Grün. Der Frühling hatte beschlossen, endlich Frühling zu sein, mit blauem Himmel, Wärme und flauschig weißen Wolken statt kaltem Regen. Ihre Neugier, aber nicht meine, dachte er weiter. In Baron Bernarrs Haus passiert etwas sehr Unangenehmes, und wenn mein Instinkt noch funktioniert, hat Coe vor, sich das näher anzusehen - im Auftrag eines anderen. »Habt Ihr etwas gefunden?«, fragte Jimmy lässig, als er spürte, dass Coe hinter ihn getreten war. Ich hin vielleicht noch nicht imstande, jedes Rascheln und Knacken im Wald zu identifizieren, aber die Schritte eines Mannes erkenne ich gut genug, dachte er zufrieden. Man brauchte im Grunde nur das Unwichtige herauszufiltern, genau wie in der Stadt.
»Es gibt rings ums Haus kein größeres Wild«, sagte Coe. »Es fehlt nicht an Insekten, Eidechsen, Vögeln und Eichhörnchen, aber alles, was einem Menschen der Größe nach näher kommt, scheint unser Unbehagen, was diesen Ort angeht, zu teilen. Beobachte du weiter das Tor; ich werde das Haus auf der anderen Seite umkreisen.« »Jawohl, Sir«, murmelte Jimmy, während Coe über den Weg huschte und im Unterholz auf der anderen Seite verschwand. »Warum gehen wir nicht einfach hin?« Coes Vorsicht bewirkte langsam, dass es ihn überall juckte, beinahe so sehr wie von diesen elenden Büschen. Jimmy wollte, dass etwas passierte. Und schon geschah es. Zwei Gestalten kamen um den Hauptblock des Herrenhauses; er wusste, dass sich die Stal332 lungen und Schuppen dahinter befanden, wahrscheinlich, um den Blick aufs Haus von der Straße aus nicht zu verderben. Die beiden Männer führten Pferde am Zügel, und bald schon stiegen sie auf und ritten im Kanter auf die äußere Mauer und das Tor zu. Aha, dachte Jimmy, als sie näher kamen. Die beiden waren wohl um die zwanzig, wirkten aber älter; einer war schlank und drahtig, der andere sah aus wie etwas, das ein Schmied aus einem Stahlblock herausgehämmert hatte. Ein Wiesel und ein bösartiger Kampfhund, dachte Jimmy, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte. In Krondor hätte er sie für Schläger gehalten - sei es nun im Auftrag des Aufrechten Mannes oder des Sheriffs. Sie trugen Reisekleidung aus Leder und grobem Wollstoff und dazu Westen aus Ochsenleder; ihre Schwerter waren gut, wenn auch schlicht, und sie hatten eine beachtliche Sammlung von Messern in Gürteln und Stiefeln stecken. Einer von ihnen hatte auch einen kurzen Hornbogen in einem Kasten an den Sattel geschnallt. Folgen wir ihnen doch, dachte er. Aber vorsichtig. Als sie durch das schmiedeeiserne Tor kamen, zügelte das Wiesel sein Pferd. »Komm schon, Dünner«, rief der andere. »Du hast es gehört, er kann bis zu fünfzig Meilen entfernt sein.« »Umso mehr Grund, sich nicht gleich zu verlaufen, Rox«, erwiderte Wieselgesicht und betrachtete etwas, das er in der Hand hielt. »Ah, direkt nach Süden.« »Warum gibst du dich nicht gleich als Prophet aus?«, stichelte Rox. Sein Freund knurrte etwas, das sich nach einer obszönen Aufforderung anhörte, und beide lachten.
Jimmy wartete, bis sie auf der Straße nach Süden halb außer Sichtweite waren, dann holte er sein Pferd und stieg in den Sattel. Jarvis Coe hat immer wieder betont, wie gut er Pferdespuren verfolgen und die Tiere voneinander unterscheiden 333 kann, dachte er. Also kann er ja mal meinem Pferd folgen, wenn er sich fragt, wo ich hin. Nach zwei Tagen hatten die Schmerzen von seinem ersten Ritt ziemlich nachgelassen; immerhin war er jung, beweglich und stark. Coe machte hin und wieder eine spöttische Bemerkung über seinen Stil, besonders über die flatternden Arme, aber für gewöhnlich schaffte er es, das sanftmütige alte Pferd in die Richtung zu lenken, in die er wollte, selbst wenn es entschlossen schien, sich dabei Zeit zu lassen. Die Tiere der beiden Schläger waren auch nicht gerade feurige Rennpferde. Auf diesem Teil der Straße gab es nicht viel Verkehr, aber doch genug, dass ein Reiter nicht sofort auffiel; Jimmy achtete darauf, dass die beiden, die er verfolgte, für etwa zwei Stunden stets gerade noch in Sichtweite waren. Dann machten sie an einem Bach Rast, um ihre Pferde zu tränken. Jimmy duckte sich am Straßenrand in eine Senke, die ihn vor ihnen verbarg, fand einen Baum, um sein Pferd anzubinden - man musste das in Kopfhöhe tun, hatte er erfahren, oder sie traten in die Zügel und richteten schreckliches Unheil an -, und schlich zu Fuß hundert Schritt weiter. Wenn er es schaffte, in Hörweite zu gelangen, ohne dass sie ihn bemerkten, würde er vielleicht etwas Interessantes über ihren Auftraggeber und das Geschehen im Haushalt des Barons aufschnappen können. Stimmengemurmel erklang von der Straße her. Dünner und Rox standen auf den Trittsteinen der Furt, während ihre Pferde fesseltief im Wasser standen und tranken. Jimmy rutschte auf dem Bauch bis hinter eine umgestürzte Tanne, aus deren verrottendem Stamm genügend Büsche wuchsen, um ihn zu verbergen. »Komisch«, sagte Rox, der kräftigere Mann. »Sieh mal, wie die Nadel immer geradeaus zeigt, egal wohin du sie drehst.« Es ging offenbar um das Ding, das der Dünne in der Hand hielt; er wollte es Rox reichen, aber der kräftige, stupsnasige Mann scheute davor zurück, als hätte man ihm einen Skorpi334 on angeboten. »Es ist Magie!«, sagte er mit schriller Stimme. »Kein Wunder, dass es komische Dinge macht. Es ist verdammt noch mal
verflucht.« Er schwieg einen Augenblick. »Und dieses Haus ist auch verflucht. Und der Magier - dieser Dämonenbeschwörer, den der Baron dort wohnen lässt -, der trieft nur so vor Flüchen.« »Das ist verflucht, jenes ist verflucht, du bist nicht glücklich, ehe du nicht einen guten Fluch gefunden hast«, spottete der Dünne. »Wenn wir diesen Kerl herbringen, bekommen wir sechshundert Goldstücke, du Idiot. Mit so viel Geld können wir in den Ruhestand gehen - zum Beispiel dieses Hurenhaus kaufen, von dem du immer redest.« Das nenne ich ehrgeizig, dachte Jimmy. Sechshundert Goldstücke. Ein schöner Batzen, selbst für einen Baron mit einer Stadt und Ländereien. Man könnte tatsächlich ein bescheidenes Hurenhaus dafür kaufen und es auch füllen - wenn die Mädchen nicht zu hübsch sein müssen. Aber wer ist »dieser Kerl«, von dem sie reden? Und ein Magier? Das wird Jarvis interessieren. Die beiden Mietlinge führten ihre Pferde aus dem Wasser und wollten gerade wieder in den Sattel steigen, aber als Rox schon mit einem Fuß im Steigbügel stand, erstarrte der Dünne plötzlich. »Warte«, sagte er. »Die Nadel hat sich bewegt. Sieh mal, sie bewegt sich, ob ich sie jetzt links oder rechts halte, und zeigt immer direkt nach vorn! Und ich höre etwas.« Das tat Jimmy auch, selbst über das Rauschen des Baches hinweg. Das vertraute, hohle Geräusch von beschlagenen Hufen in schnellem Schritt. Er blickte auf und spähte zwischen den Farnen hervor, die auf dem toten Baumstamm wuchsen. Der Boden unter ihm war feucht; er befand sich beinahe auf Höhe des Baches, und er brauchte eine Minute, um den Reiter sehen zu können, der den flachen Hang zum Wasser herunterkam. Sein Pferd war 335 unauffällig, das Zaumzeug billig, der Mann im Sattel... nun, der Junge, dachte Jimmy. Er glaubte nicht, dass der Reiter mehr als zwei oder drei Jahre älter war als er selbst. Er hatte schlecht geschnittenes goldblondes Haar und ein Gesicht, das durch ein festes Kinn, eine gerade Nase, offene blaue Augen und die gebräunte Haut eines Mannes, der im Freien arbeitet, gekennzeichnet war. Seine Kleidung war praktisch und schlicht, vielleicht die eines Bauern oder Jägers. Auf seinem Rücken hingen ein langer Eibenbogen und ein Köcher mit Pfeilen, und am Gürtel trug er ein langes Messer und die übliche kürzere Vielzweckklinge.
»Sei gegrüßt, Freund!«, rief der Dünne. Er warf seinem Freund über die Schulter einen Blick zu. Der Dünne hatte dieses komische Ding in der Hand; er bewegte es rasch von links nach rechts und nickte dann erfreut. »Er ist es«, sagte er. »Und läuft uns direkt in die Arme! Das nenne ich leicht verdientes Geld!« Er schlenderte den Weg entlang auf den jungen Mann zu. »Ein guter Platz, um das Pferd zu tränken«, sagte er in einer schlechten Imitation von Leutseligkeit. Offenbar dachte der gut aussehende Fremde das Gleiche. Jimmy konnte sehen, wie er misstrauisch die Stirn runzelte und seinen Bogen berührte. Er war offenbar nicht daran gewöhnt zu reiten - der Langbogen war die Waffe eines Fußsoldaten - und ein wenig unsicher im Sattel. Ein besserer Reiter als ich, aber nicht viel besser, dachte Jimmy »Ich werde trotzdem weiterreiten, Freund, wenn es Euch nicht stört«, sagte der junge Mann. Er hatte einen ländlichen Akzent, der dem von Lorrie sehr ähnlich war. Ist es jetzt etwa mein Schicksal, ständig Bauernkinder zu retten?, dachte Jimmy gereizt, aber auch mit einer gesunden Spur von Angst. Es mit zwei erwachsenen Männern und - wenn er sich nicht 336 sehr irrte - erfahrenen Mördern aufzunehmen, war kein Spaß; es war etwas ganz anderes als eine Rauferei in einer dunklen Gasse. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass er besser davonlaufen und sich im Wald verstecken konnte als die Söldner. Was sollte er tun? Der Dünne jedenfalls wartete am Straßenrand, bis der Reisende an ihm vorbeikam, dann sprang er mit einem Schrei vorwärts, packte den Fußknöchel des jungen Mannes und hatte offenbar vor, ihn aus dem Sattel zu heben. Der junge Mann trat stattdessen zu, und der Dünne taumelte mit einem weiteren Schrei zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Der Reisende trieb sein Pferd an und galoppierte durchs Wasser. »Nein, du Idiot!«, schrie Rox, als der Dünne den kurzen, dicken Bogen aus dem Kasten an seinem Sattel nahm und einen Pfeil anlegte. Der Schrei des kräftigen Mannes wurde zu einem Brüllen wortloser Wut, als der Dünne schoss, einen weiteren Pfeil anlegte und noch einmal schoss. Der erste Pfeil ging so dicht an dem blonden Reiter
vorbei, dass Jimmy befürchtete, er hätte ihn getroffen. Als der Mann näher kam, konnte er sehen, dass das tatsächlich der Fall war - der Pfeil hatte das Ohrläppchen gestreift, und die rasiermesserscharfe Kante der Spitze hatte es zu der Art von Wunde aufgerissen, die zwar heftig blutet, einen aber nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Der zweite Pfeil bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in die Hinterpausche des Sattels. »Wenn du sechshundert Goldstücke umbringst, bringe ich dich um!«, brüllte Rox. Er nahm etwas von seinem eigenen Sattel, dann wirbelte er es über dem Kopf; Jimmy hatte gerade noch genug Zeit, drei glatte, birnenförmige Eisengewichte zu erkennen, die mit starken Schnüren verbunden waren, bevor der große Mann sie so schnell schleuderte, dass sie nur noch verschwommen 337 zu sehen waren. Er warf die Gewichte, als der junge Reiter etwa zwanzig Schritte entfernt war, und zwar nach dem Pferd und nicht nach dem jungen Mann. Die Bola bewegte sich rasch und raste durch die Luft wie eine flache Scheibe. Das Pferd des jungen Mannes stieß ein erschrockenes Wiehern aus und fiel um sich tretend zu Boden; dort blieb es liegen und kämpfte mit den Gewichten, die sich am Fesselgelenk um die Hinterbeine gewickelt hatten. Der blonde junge Mann blieb einen Augenblick reglos liegen, dann begann er sich zu bewegen. Rox und der Dünne brüllten triumphierend, zogen ihre Schwerter und eilten durch die Furt auf das Pferd und den Jungen zu. Ich könnte einfach ihre Pferde stehlen, dachte Jimmy. Nein, gehen wir näher heran und sehen wir, was wir tun können. Keiner schaute in diesem Augenblick zum Wald am Straßenrand, und das Unterholz dort war dichter - das lag daran, dass der Rand mehr Sonne abbekam, hatte Coe ihm gesagt. Jimmy folgte also leise den beiden Söldnern in nur wenigen Schritten Abstand; er kam ihnen nahe genug, um ihr eifriges Keuchen und ihre Flüche zu hören. Als sie die Stelle erreichten, wo das Pferd des jungen Mannes gestürzt war, waren beide wieder auf den Beinen; das Pferd hatte offensichtlich die Bola weggetreten, denn die Eisengewichte lagen verstreut im tiefen Staub der Straße. Der blonde junge Mann war immer noch ein wenig benebelt von dem Sturz, und seine Seite und die Schulter waren voller Blut von dem stetigen Rinnsal, das nach wie vor aus dem aufgerissenen Ohrläppchen lief. Er versuchte,
seinen Bogen von der Schulter zu ziehen, aber inzwischen waren die beiden Söldner zu nahe, und er warf ihn beiseite, statt einen Pfeil anzulegen, und zog sein langes Messer. »Ihr wolltet mich umbringen!«, rief er - ebenso überrascht wie empört, dachte Jimmy »Nein, nein, du bist lebendig viel mehr wert«, sagte der 338 Dünne und zeigte beim Grinsen seine schlechten Zähne. »Wirf das Messer weg, sei friedlich, und dir wird nichts passieren.« Die beiden Banditen trennten sich, um um das Pferd des Jungen herumzugehen, und näherten sich ihrem Opfer mit professioneller Vorsicht und erhobenen Schwertern. Der junge Mann wich zurück und bewegte das Messer zwischen den beiden hin und her; die Klinge war zehn Zoll lang und aus gutem, scharfem Stahl, aber die Waffen der Angreifer waren jeweils dreimal so lang, und sie hatten außerdem dicke Lederwämser und Armschützer. Du hast keine Chance, Bauer, dachte Jimmy bedauernd. Er sah sich um und entdeckte ein paar schöne faustgroße Steine. Ich muss etwas unternehmen, um die Kräfteverhältnisse zu ändern. Der junge Mann schien die gleiche Idee zu haben. Mit einem Schrei sprang er vor, um den Dünnen anzugreifen, versuchte, ihn zur Seite zu treiben. Wenn er an ihm vorbeikäme, wäre er vielleicht imstande, durch die Furt und auf eins der Söldnerpferde zu springen. Der Dünne grinste, machte eine Finte und riss das Schwert dann herum. Die flache Seite krachte gegen die Messerhand des jungen Mannes, und das Messer flog davon; die geschliffene Schneide glitzerte im Sonnenlicht. Eine Sekunde später schrie der Dünne auf; der junge Mann hatte ihm mit bewundernswerter Geistesgegenwart zwischen die Beine getreten. Der Dünne taumelte rückwärts, beide Hände an der schmerzenden Stelle. »Hehl«, rief Jimmy und fing an zu werfen. Rox drehte sich nach dem Geräusch um. Jimmy warf den ersten Stein noch im Laufen und traf Rox in den Bauch; das steife Leder des Wamses hielt die größte Wucht ab, aber Rox ließ dennoch ein »Uff!« hören und taumelte zwei Schritte rückwärts. 339 »Nein«, rief Jimmy, »lauf, verflucht noch mal. Lauf zur Furt!«, denn der junge Mann versuchte gerade, mit mehr Mut als Verstand sein Messer aufzuheben, obwohl sein Handgelenk von dem Schlag des Dünnen taub sein musste. Der Dünne hatte sich ein wenig erholt, als
Jimmy auf der Szene erschien. Er wich dem zweiten Stein aus, und der junge Dieb ließ sich fallen, um einem bösartigen Schwertschlag zu entgehen; der Dünne hatte keinen Grund, einen Fremden am Leben zu lassen, und er spürte wahrscheinlich immer noch die Auswirkungen des Tritts. Er musste unter diesen fettigen Kalbslederhosen einen Schutz aus gekochtem Leder tragen, dass er sich überhaupt noch bewegen konnte. Jimmy landete auf dem Rücken im Staub, die Arme ausgebreitet; als seine Hand dabei etwas Kühles, Metallisches berührte, griff er reflexartig zu. Das Schwert des Dünnen glitzerte vor seinem verzerrten Gesicht, aber der junge Mann rempelte ihn an, bevor er zuschlagen konnte, und Jimmy kam mit einer Rolle wieder auf die Beine. Der Dünne stürzte abermals auf Jimmy zu, das Schwert bereit und offensichtlich mit mörderischer Absicht. Hinter ihm kämpfte Rox mit dem jungen Mann; er schlug ihm mit dem Schwertknauf gegen die Schulter, was zu einem leisen Schmerzensschrei führte, dann packte er ihn mit einer spatengroßen Hand im Nacken und trieb ihn vier Schritte vorwärts. Er rammte das Gesicht des jungen Mannes brutal gegen seinen Sattel; der Bauer prallte zurück und sackte zusammen. Das Pferd drehte sich um und rannte zur Furt; Jimmy tat das Gleiche und sprang zur Seite, als etwas mit einem unangenehmen Pfeifen an ihm vorbeisauste. Es war ein Messer; die Spitze bohrte sich in einen Baumstamm, und die Klinge bebte mit einem nervenzerreißenden Summen, aber nachdem Jimmy etwa hundert Schritt entfernt war, verfolgten sie ihn nicht mehr. Keuchend hielt er inne und 340 betrachtete das Ding, das er aufgelesen hatte. Es sah aus wie ein Amulett, aber unter dem Kristalldeckel befand sich nur eine mit Haar umwickelte Nadel auf einem Stück Papier. Achselzuckend steckte er es weg. Ganz in der Nähe knackte ein Zweig unter einem Fuß. Hoch!, war sein sofortiger Impuls, und er entdeckte eine große Buche, die aussah, als könnte man an ihr so gut hinaufsteigen wie an einer Wand. Jimmy kletterte eilig nach oben und legte sich auf einen Ast, der dicker war als er selbst. Wiesel und Pitbull blieben unter ihm stehen. »Ich finde, wir sollten ihn suchen und ihn abmurksen«, sagte der
Dünne. »Ich will keine Zeugen.« Der kräftige Mann lachte. »Wem soll er die Geschichte denn erzählen?«, fragte er. »Dem Baron? Na, viel Glück! Und wenn er zurück nach Meersburg geht, um mit dem Wachtmeister zu sprechen, wird es Tage dauern, bis der jemanden herschickt, um sich umzusehen, falls er es überhaupt tut. Komm, lass uns hier verschwinden.« Jimmy lag reglos auf seinem großen Ast und konnte hin und wieder einen Blick auf die Männer erhaschen. Sie zogen den bewusstlosen jungen Mann hoch, und Rox hielt ihn aufrecht, während der Dünne ihm die Hand- und Fußgelenke fesselte; dann hoben sie ihn über den Hals eines der Pferde. Jimmy sah sie davonreiten und wartete, bis er sicher sein konnte, dass sie wirklich weg waren. Dann kletterte er nach unten und ließ sich die letzten sechs Fuß fallen. »Was jetzt?«, murmelte er ins Leere. 15 Entdeckung Bernarr träumte. Schweiß stand auf seiner Stirn, und stöhnend umklammerte er die Laken. Der Traum war so lebhaft: Er konnte den Wind in den Bäumen rauschen hören, das Geräusch der Brandung an den Klippen. Die Farben waren frisch, und selbst der Geruch des Waldes, des Pferdeschweißes und des geölten Leders drangen ihm in die Nase. »Wie könnt Ihr es wagen, mein Wild zu beanspruchen?«, fragte der Baron wütend. »Habt Ihr denn überhaupt keine Manieren?« Der Eber lag zuckend vor Bernarrs Pferd, und der Baron musste sich gewaltig zusammennehmen, um nicht einfach das Schwert zu ziehen und den jungen Mann anzugreifen. Zakry verbeugte sich im Sattel. »Es tut mir Leid, Mylord. Ich fürchtete, Ihr könntet das Tier verfehlen und Euch in Gefahr bringen.« Er klang vollkommen ehrlich, aber das leichte Zucken seiner Lippen kündete von Spott. Bernarr starrte ihn kühl an. »Ich habe hier in meinen Wäldern schon Wildschweine gejagt, als Ihr noch in die Windeln gemacht habt«, sagte er. »Und ich bin sicher noch kein Tattergreis. Ich versichere Euch, ich bin durchaus imstande, einen meiner eigenen Eber zu töten.« Zakry senkte den Kopf. »Es tut mir Leid, Mylord. Ich wer342
de den Treibern sagen, dass sie ihn holen sollen«, bot er kleinlaut an. »Ihr lasst ihn liegen, wo er ist«, entgegnete Bernarr barsch. »Ich will ihn nicht auf meinem Tisch haben.« Er berührte den Hals seines Pferdes mit dem Zügel und wandte sich wieder der Jagd zu. »Mylord!«, rief Zakry hinter ihm her. »Ich muss mit Euch unter vier Augen sprechen.« Bernarr zügelte sein Pferd und biss die Zähne zusammen. Solche Dreistigkeit! Dennoch wendete er das Pferd und ritt wieder zu dem jungen Mann, der nervös mit den Zügeln spielte. »Dann folgt mir«, sagte er. »Verlassen wir diesen Wald und reiten an einen Ort, wo niemand unser >Gespräch unter vier Augen< belauschen kann.« Sie ritten vom Wald ins Wiesenland und dann einen Hügel hinauf. Vögel flatterten vor ihnen aus dem hohen Gras, und die Hufe der Pferde rissen Erdklumpen aus dem Boden. Bernarr galoppierte, bis er das Ende der Anhöhe erreichte. Sie hielten direkt vor dem Klippenrand inne, und das Meer unter ihnen bot einen wunderbaren Anblick. Möwen kreisten am Himmel. Zakry zügelte sein Pferd hinter Bernarr und tätschelte dem Tier den Hals. »Großartig«, erklärte er und holte tief Luft. »Was wollt Ihr?«, fragte Bernarr ungeduldig. »Mylord«, sagte Zakry, »Lady Elaine hätte Rillanon nie verlassen dürfen: Sie sehnt sich nach der Stadt, und selbst Ihr müsst doch sehen, wie dünn und bleich sie geworden ist. Sie sollte in die Hauptstadt zurückkehren. Das hier ist kein Leben für sie! Sie braucht die Aufregung und den Glanz des Hofes. Ich möchte Euch um ihretwillen bitten, Mylord, sie freizugeben.« Bernarr starrte ihn ungläubig an. »Wie bitte?«, sagte er. »Würdet Ihr das bitte noch einmal wiederholen, Sir?« Zakry schien überrascht. »Mylord, ich nahm an, dass Ihr 343 ein Mann von Welt seid. Ihr müsst doch gewusst haben, dass Elaine und ich uns liebten.« Er lachte nervös. »Es war Euch doch zweifellos klar, dass sie keine Jungfrau mehr war.« »Hört auf!«, schrie Bernarr. Seine Knöchel an den Zügeln waren weiß. Er hatte die Augen weit aufgerissen, und der Atem pfiff ihm durch die Zähne, während er sich bemühte, seine Wut zu beherrschen. »Ich liebe sie«, erklärte Zakry, als hätte Bernarr kein Wort gesagt. »Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Aber es ist noch nicht zu spät. Ihr könntet die Ehe annullieren lassen. Wir wären Euch dafür
sehr dankbar.« »Die Ehe annullieren? Habt Ihr den Verstand verloren? Elaine würde vor Scham sterben, wenn ich so etwas täte!« »Es ist ihr eigener Wunsch. Sie liebt mich, Mylord. Und ich weiß, dass sie mit mir zusammen sein möchte. Bitte, habt Mitleid, und lasst uns zusammen sein.« Bernarr versuchte nicht mehr, seinen Zorn zu verbergen. »Ihr werdet jetzt sofort zum Herrenhaus zurückkehren. Packt, und verlasst mein Haus, und nehmt das erste Schiff, das aus Meersburg ausläuft, oder Ihr werdet nach Sonnenuntergang Eures Lebens nicht mehr sicher sein.« Er wendete sein Pferd und riss dabei mit solcher Kraft am Zügel, dass das Tier protestierend aufschrie. »Sir!«, rief Zakry. »Ihr müsst mich anhören!« Er gab seinem Pferd die Sporen und wäre beinahe mit dem Braunen des Barons zusammengestoßen. Will er mich etwa auf meinem eigenen Land angreifen?, fragte sich Bernarr. Aber er sagte nichts. Keuchend vor Anstrengung drehte er sich um und schlug den Mann mit dem Rücken seiner Faust, die in einem Handschuh mit Eisennieten steckte. Zakry wich mit einem Schmerzensschrei zurück. Seine Wange war bis auf den Knochen aufgerissen. Er ließ die Zügel fallen und hob beide Hände zu einer schützenden Geste. 344 Zakrys Pferd, verwirrt und verängstigt, tänzelte rückwärts und riss den Kopf hoch. Bernarrs Tier spürte den Zorn seines Reiters, spürte aufgeregt, dass die Zügel schlaff geworden waren. Es legte die Ohren an, drehte sich um und trat zu. Zakrys Pferd, fest an der Brust getroffen, bäumte sich auf. Mit einem protestierenden Wiehern beinahe klang es wie das Weinen eines großen Kindes - trat es rückwärts und zur Seite: einen Schritt, zwei Schritte, dann einen dritten Schritt. Und plötzlich waren Pferd und Reiter verschwunden. Bernarr riss heftig an den Zügeln, zwang sein gereiztes Pferd in eine enge Kreisbewegung. Als er es schließlich wieder unter Kontrolle hatte, ließ er es langsam an den Rand der Klippe gehen, stellte sich in den Steigbügeln auf und spähte über den Rand. Mann und Pferd waren verschwunden. Unter ihm brachen sich die Wellen tosend an den spitzen Felsen, die Gischt spritzte jedes Mal vierzig oder fünfzig Fuß hoch, und der feste Granit der Klippe bebte. Dann konnte Bernarr kurz den Bauch des toten Pferdes in den
Brechern erkennen, bevor es weiter ins Meer hinausgezogen wurde. Von Zakry gab es keine Spur. Zakrys Verschwinden ließ sich leicht erklären: eine Botschaft aus dem Osten, die Notwendigkeit, dass er mit dem ersten Schiff zurückkehrte. Seine Freunde wollten ihren Gastgeber nicht beleidigen, indem sie mit Unglauben reagierten. Zakrys Gepäck wurde am nächsten Tag in die Stadt geschickt, um ihm nach Rillanon zu folgen, und Elaines Freunde genossen weiter die Gastfreundschaft des Barons. Elaine wirkte zerstreut und distanziert. Tage später musste Bernarr nach einem Arzt schicken, der Elaine untersuchte, denn sie war im Bett geblieben und behauptete, krank zu sein. »Ich habe die allerbesten Nachrichten für Euch, Mylord«, erklärte der Mann. 345 »Meine Gemahlin ist also nicht krank«, sagte Bernarr lächelnd. »Noch besser, Mylord.« Der Mann war so stolz, als hätte er ein Wunder gewirkt. »Die Baronin ist schwanger! Schnelle Arbeit, Mylord!« Der Baron starrte ihn an, sein Gesicht eine undurchschaubare Maske. Er blieb reglos, bis der Arzt sich abermals verbeugte. »Mein Verwalter wird Euch bezahlen«, verkündete Bernarr kühl und ging ins Haus. Aber selbst die vulgäre Vertraulichkeit des Arztes konnte ihm die Freude über die Nachricht nicht gänzlich nehmen, ebenso wenig wie die Erleichterung darüber, dass Elaine nicht wirklich krank war. Er ging direkt in ihre Gemächer. Sie blickte erschrocken auf, als er hereinkam, die grünen Augen weit aufgerissen. Bernarr kniete sich neben das Bett, nahm ihre Hand und küsste sie. Im Traum konnte er immer noch die zarten Finger und die weiche Haut spüren, er sah den Pulsschlag an ihrem Hals, während sie bleich in den weißen Kissen lag. Tränen traten ihr in die Augen, aber ihre Miene wirkte alles andere als glücklich. Sie sprachen nur wenige Sätze, und er erinnerte sich an nichts von dem, was gesagt wurde, nur daran, dass sie leise weinte, als er das Zimmer verließ. Die Gäste gaben sich erfreut über die Nachricht, wie es sich gehörte, nutzten sie als Ausrede, ein Festessen zu organisieren, und tranken einen großen Teil des Weinkellers leer. Aber bald waren sie gezwungen aufzubrechen. Mit dem Schiff nach Krondor und dann über Land nach Salador und weiter nach Rillanon
zu reisen dauerte mehr als einen Monat, und sobald die Straße der Finsternis von den Winterstürmen aufgewühlt war, konnte man nur noch um die Südspitze von Groß-Kesh reisen, was etwa drei Monate dauerte, wenn man das Glück hatte, von Unwettern, Piraten und Banditen aus 346 Kesh verschont zu bleiben. Als klar wurde, dass der Baron sie nicht einladen würde, den Winter in Meersburg zu verbringen, verabschiedeten sie sich höflich und verschwanden. Der Baron wand sich in den schweißfeuchten Laken, seine Lider flatterten, und er stöhnte. Das Unwetter ... An dem Abend, als Elaines Wehen begannen, kam ein Unwetter vom Meer her: Berge lilaschwarzer Wolken türmten sich am westlichen Horizont, und Blitze flackerten bereits darin, aber sie wurden auch immer noch von der Sonne, die hinter ihnen unterging, an den Rändern vergoldet. Als Erstes kamen die Wellen, turmhohe Wellen, die die Fischer veranlassten, ihre Boote höher an Land zu ziehen und sie an Bäume und Felsen zu binden, und sie beteten, als der Wind um ihre Strohdächer pfiff. Als der Regen folgte, war er beinahe waagrecht, angefacht von dem gewaltigen Sturmwind. Regen peitschte auch gegen das Herrenhaus, und Blitze zuckten am Himmel, während Donner die Fensterläden beben ließ. Bernarr hatte die Hebamme bestochen, die letzten beiden Wochen im Herrenhaus zu bleiben, und bei dem schrecklichen Wetter war er froh, das getan zu haben. Gerade, als er sich zum Abendessen niedersetzen wollte, berichtete ihm ein Diener, dass ein Reisender am Tor war und um Zuflucht bat. Bernarr lud ihn gerne ein zu bleiben - Gastfreundschaft brachte Glück, und in diesem Augenblick wünschte er sich Glück nur zu sehr. Das Haus war dieser Tage so still, dass er über jede Gesellschaft froh war, und entzückt entdeckte er, dass sein Gast ein Gelehrter war, der sich mehr Sorgen um die Bücher in seiner Kutsche machte als um Pferde, Diener oder sich selbst. Er war ein hoch gewachsener, imponierender Mann mit großen Augen und einem durchdringenden Blick, ein paar Jahre älter als Bernarr. Sein Name war Lyman Malachy. 347 »Ja«, sagte Malachy, »als ich vom plötzlichen Tod Eures Vaters hörte, begann ich meine lange Reise. Und nach vielen Ablenkungen und Verzögerungen bin ich nun endlich eingetroffen.« Er schüttelte
seinen Ärmel, als wollte er die verbliebenen Regentropfen loswerden. »Ich habe hin und wieder mit Eurem Vater korrespondiert, wusste aber nichts weiter über seine Erben. Ich fürchtete, Ihr würdet nicht wissen, welchen Schatz Ihr mit seinen Büchern besitzt, und sie vielleicht verkaufen, bevor ich ein Angebot machen konnte.« Der Baron lächelte und schüttelte den Kopf. Er wollte gerade etwas sagen, als er bemerkte, dass Lymans Blick abgelenkt wurde, was ihn überraschte. Bis zu diesem Augenblick war der Mann ein hervorragender und sehr aufmerksamer Gast gewesen. Aber beinahe sofort klärte sich Lymans Blick wieder, und er sah den Baron ernst an. »Heute Nacht wird in diesem Haus ein Kind zur Welt kommen«, sagte er. »Ein Junge.« »Woher wisst Ihr das?«, fragte Bernarr erstaunt. »Die Baronin ist schwanger, aber es ist noch nicht so weit.« Lyman lächelte nervös. »Es gibt da etwas, das ich nicht jedem anvertrauen würde«, sagte er. »Aber Ihr seid ein gebildeter Mann, der sicher nicht dem Aberglauben der Bauern frönt, und Ihr seid ein so großzügiger Gastgeber, also will ich es gestehen: Ich bin ein Magier.« »Ah«, war alles, was Bernarr sagte, noch während er sich fragte, was er jetzt tun sollte. Er mochte diesen geheimnisvollen Fremden, aber wie viele Bürger des Königreichs hatte er seine Bedenken, was Magier anging. Dennoch, er fühlte sich Malachy auf seltsame Weise verwandt. Er beschloss, taktvoll zu sein. Immerhin würde der Mann morgen ohnehin wieder abreisen. »Das muss Euch einige ... Schwierigkeiten bereiten.« »Es war mitunter so«, gab Lyman zu. »Die Leute haben Vorurteile gegen Menschen, die diese Kunst ausüben. Aber 348 zum Glück war meine Familie wohlhabend, und ich wurde für meine Studien weit von zu Hause weggeschickt. Das Ergebnis ist, dass niemand, der mich als Kind kannte, von meinen Talenten weiß, und da meine Eltern mir ein gutes Erbe hinterlassen haben, bin ich imstande, recht bequem zu leben. Was bedeutet, dass ich mir leisten kann, Bücher zu kaufen!« Beide grinsten. Dann klopfte es laut an der Tür. »Herein!«, rief Bernarr. Ein Diener erschien, die Augen weit aufgerissen, die Miene
bedrückt. »Mylord! Bei Lady Elaine haben die Wehen eingesetzt!« Bernarr sprang auf, und sein Herz begann heftig zu schlagen. Als er an seinem Gast vorging, sah er, dass ein Lächeln die Mundwinkel des Magiers umspielte. Bilder rasten vorbei. Die Hebamme stand an der Tür und sah ihn besorgt an. »Das Baby kommt...« Und dann brach sie ab. Dann Elaines Gesicht, bleich und verschwitzt, während die Hebamme ihr befahl zu pressen. Das Schreien und das Blut. Das weinende Baby, stolz präsentiert von der Hebamme, die sagte: »Ihr habt einen Sohn, Mylady«, aber die Baronin hatte zu große Schmerzen, um das Baby auch nur wahrzunehmen. Überall war Blut. Blut. Bernarr wand sich stöhnend im Bett und schrie. Nein!, wollte er schreien, aber nur ein weiteres Stöhnen kam heraus. Dann war Lyman neben ihm. Er war vollkommen ruhig und beherrscht. »Schickt alle aus dem Zimmer«, sagte er schlicht. Dann hörte das Schreien auf. Bernarr setzte sich im Bett auf. Er hechelte, als wäre er stundenlang gerannt, und sein immer noch gesunder Körper war 349 verspannt und schweißüberströmt, als hätte er im Kampf gestanden. Er rollte sich aus dem Bett, zog sein durchtränktes Nachthemd aus und warf es auf den Boden. Durch das Fenster konnte er sehen, dass die Morgensonne gerade über die Berge gekommen war und ein neuer Tag begonnen hatte. Nur noch Stunden, dachte er, als er nackt auf dem Bett saß und nach einem Becher und dem Wasserkrug griff, die auf dem Nachttisch standen. Er trank und füllte den Becher abermals, um weiterzutrinken. Aber der andere Durst, der Durst, diesen Albtraum zu beenden, der ihn seit siebzehn Jahren heimsuchte, und seine Elaine wieder gesund und frei von den endlosen Schmerzen zu sehen, war geblieben. Er erhob sich und ging zu dem Becken mit Wasser, das für ihn bereitstand. Das kalte Wasser störte ihn nicht, er hatte sich daran gewöhnt. Er musste sich von dem unangenehmen Gefühl auf seiner Haut befreien und würde sich nicht anziehen, ehe das erledigt war. Er stieg in die Kupferwanne, hockte sich hin, griff nach dem Schwamm auf dem Tisch neben der Wanne und ignorierte den kalten Biss des Wassers. Wenn ich nur meinen Schmerz wegwaschen könnte, dachte er wie an jedem Morgen seit siebzehn Jahren.
Aber bald ... Tante Cleora wurde blass. »O Ruthia!«, keuchte sie und legte die Hand an die Kehle. Der Pferdehändler stieß den Sattel, der auf den Fliesen des Küchenbodens lag, leicht mit dem Stiefel an. Ein schwarzweißes Kätzchen kam näher und genoss den faszinierenden Geruch von Pferdeschweiß, Leder und Blut. »Ja, das ist wirklich Blut«, sagte Kerson. »Und das -«, sein Zeh berührte den Schaft eines Pfeils, der aus der Rückseite des Sattels ragte, »- ist auch kein Jagdpfeil.« Er nahm eine Zange aus einer Schlinge an seinem Gürtel, bückte sich, stellte einen Fuß auf den Sattel und setzte das 350 Werkzeug dicht an dem metallenen Glitzern an, wo der Pfeilschaft ins Leder gedrungen war. »Komm raus!«, ächzte er und zog, und die Muskeln in seinen Armen und Schultern spannten sich an. Der Pfeil kam heraus, und er hielt ihn ihnen vor die Nase. »Seht Ihr? Eine lang gezogene Spitze, kein breiter Kopf. Diese Dinger sind nutzlos, außer man jagt Menschen sie sind dazu gedacht, durch eine Rüstung oder ein festes Lederwams zu dringen.« Lorrie starrte den Sattel voller Angst an. Es war noch schlimmer als die Kälte, die seit dem Tod ihrer Eltern in ihrem Herzen geherrscht hatte. Sie wusste, dass Vater und Mutter tot waren; sie wusste, dass Rip immer noch lebte, denn sie spürte ihn hin und wieder weit entfernt. Aber sie wusste nicht, was mit Bram los war. »Das Pferd ist im ersten Morgenlicht zurückgekommen«, sagte Kerson. Es war eine Stunde nach Sonnenaufgang, und die Familie war gerade mit dem Frühstück fertig gewesen, als der Pferdehändler vor der Tür gestanden hatte. »Die Steigbügel haben dem armen Tier die Rippen wund geschlagen, und es war überall mit getrocknetem Schaum bedeckt. Sieht so aus, als wäre es die ganze Nacht durchgetrabt. Muss sich ziemlich erschrocken haben. Und ich dachte, da es der große, blonde Junge war, der Freund Eurer Nichte, der es gekauft hat und der hinter dem anderen Freund Eurer Nichte herreiten wollte, dem Jungen, dem ich ...«, er zeigte auf Lorrie, »... Euer altes Pferd verkauft habe, schien alles zusammenzupassen, und ich dachte, Ihr solltet es wissen.« Tante Cleora sah sich um. »Der Wachtmeister?«, sagte sie. Kerson schnaubte. »Wenn es um eine Schlägerei innerhalb der Stadt
ginge, sicherlich«, erwiderte er. »Obwohl er eher diese billigen Diebesfänger einsetzt als seine eigenen Männer. Nein, draußen auf der Straße wären es die Bewaffneten des Barons, an die man sich wenden sollte. Allerdings hat er sich in den letzten fünfzehn Jahren kein bisschen mehr für die 351 Probleme einfacher Leute interessiert. Die Soldaten werden vielleicht etwas unternehmen, wenn Kesh die Stadt angreift, aber wegen eines verschwundenen Jungen ... ? Nein, sie werden sich nicht von der Stelle rühren.« Er blickte Lorrie und Flora an, die Seite an Seite auf einer Bank saßen. »Mehr kann ich nicht tun, Fräulein Flora. Ich habe meine eigene Familie und ein Geschäft, um das ich mich kümmern muss. Ich dachte einfach nur, Ihr solltet es wissen.« Als der Mann gegangen war, lastete einen Moment lang Schweigen auf dem Raum. Cleora ging zu Lorrie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Er wollte nach Rip suchen, und jetzt ist er vielleicht tot«, sagte Lorrie. »Und alles wegen mir.« Zu ihrer Überraschung schüttelte Flora den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Er hätte sowieso nach deinem Bruder gesucht. Er ist diese Art von Mann - das sah man ihm an.« Lorrie nickte wie betäubt, kämpfte gegen die Tränen an und wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Und Jimmy ist mein ... Pflegebruder, und er hat ebenfalls nach Rip gesucht, und er ist vielleicht auch tot«, sagte Flora. »Oder sie sind beide verwundet. Ich muss gehen und nach ihnen sehen«, erklärte sie entschlossen. »Das ist unmöglich!«, keuchte Tante Cleora. »Ein junges Mädchen ganz allein auf dem Land unterwegs?« Lorrie musste unter Tränen lächeln. Tante Cleora glaubte offenbar, dass hinter jedem Busch Goblins und Banditen lauerten. Vielleicht ist das ja auch so, dachte sie dann, als ihr Blick unweigerlich wieder auf den Sattel fiel. »Sie wird nicht allein gehen. Ich komme mit«, sagte Lorrie. Es geht immerhin um meinen kleinen Bruder und um den Mann, den ich heiraten will. Und ich kann Flora nach allem, was sie für mich getan hat, nicht allein gehen lassen! Die beiden anderen sahen sie an. »Aber du kannst kaum laufen!«, wandte Flora ein. 352
»Ich kann einen Stock benutzen«, erklärte Lorrie entschlossen. Sicher, die Wunde heilt schnell, aber wie weit werde ich kommen?, dachte sie düster. »Ich kann vielleicht reiten. Oder kriechen, wenn es sein muss.« Tante Cleora blickte von einer zur anderen. »Ich wünschte, Karl und seine Männer wären hier«, sagte sie unglücklich. »Es wird nur noch ein paar Wochen dauern, bis sein Schiff aus Krondor zurückkehrt.« Wieder schaute sie sie an; Lorrie wusste, dass Flora die gleiche störrische Miene aufgesetzt hatte wie sie selbst. »Das gefällt mir nicht. Es gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Cleora. »Aber wenn ihr schon gehen müsst, nehmt meinen Dogkart.« Flora sprang auf und umarmte ihre Tante. Der Dogkart war ein Vehikel mit zwei großen Speichenrädern und einer Art Kutschbock, der an Lederriemen hing und ein faltbares Verdeck hatte. Das Gefährt wurde von einem einzelnen Pferd gezogen. Zwei Personen konnten bequem darin sitzen, und auf einer guten Straße würde die Reise nicht zu unangenehm für ein heilendes Bein sein. »Danke, Tante Cleora«, sagte sie, und Lorrie nickte begeistert. Die ältere Frau verzog besorgt das Gesicht, aber Flora war bereits aufgesprungen und begann zu packen. »Was ist das?«, fragte Jimmy und zeigte mit dem Finger auf das amulettartige Ding, das auf dem Tisch lag. Das alte Paar, in dessen Hütte sie wohnten, hatte sich an die Feuerstelle gehockt, und sie hielten sich, ohne es auch nur zu wissen, an den Händen, während sie das Ding anstarrten. Zuvor hatten sie für ein weiteres von Jarvis' Silberstücken ein Abendessen serviert, das aus Haferbrei, Eiern, zwei Äpfeln und einem sehr bitteren Gebräu bestand, das beinahe als Bier durchgegangen wäre. Jimmy dachte, dass er sich bei jeder anderen Gelegenheit 353 vollkommen auf Jarvis Coes Geldbörse konzentriert hätte, denn sie schien eine gewaltige Menge an Silber zu enthalten. Aber das war damals, und jetzt war es anders, denn jetzt galt es, Geheimnisse zu lüften und kleine Jungen zu retten. Jarvis Coe saß auf einem Hocker, die Hände auf den Knien, beugte sich vor und betrachtete das Ding. Seine Miene wirkte entschlossen, und die flackernden Flammen warfen ein ruheloses rötliches Licht auf seine zerklüfteten Züge. »Es ist magisch«, sagte er leise. Jimmy spürte, wie sich bei dem Wort die Härchen in seinem Nacken sträubten. »Verbotene Magie.
Es ist ein Menschensucher, gebunden durch Blut, Knochen und Samen.« Er fuhr mit dem Finger über die Nadel. »Siehst du? Die Nadel ist ein Knochen von einem Baby, das bei Neumond getötet wurde -« Die alte Frau ächzte und schmiegte sich schaudernd fester in den schützenden Arm ihres Mannes. »Und das Haar ist von dem Menschen, den man suchen will, oder von nahen Verwandten. Von Mutter oder Vater oder beiden, wenn du ihr Kind finden willst. Ich denke, das war diesmal der Fall, weil du sagtest, der Junge war blond, und dieses Haar ist braun. Es ist keine Schwarze Kunst, nicht ganz, aber es hat damit zu tun. Diese Art von Magie ist finster genug, um beunruhigend zu sein.« »Wer seid Ihr, dass Ihr Euch mit solchen Dingen auskennt?«, fragte Jimmy Jarvis blickte rasch auf, die Augen halb im Schatten. Schließlich nickte er. »Nun, ich denke, du hast ein Recht, es zu wissen, wenn du in diese Angelegenheit verwickelt wirst. Ich handle im Auftrag der Hohen Priesterin von Lims-Kragma in Krondor.« Der junge Dieb wich zurück, die Hand am Messer. Die alte Hebamme machte ein Abwehrzeichen mit der Hand, und ihr Mann hatte sich erhoben und bewegte sich auf die Tür zu, wo seine Hippe stand. 354 Zum allgemeinen Erstaunen lachte Jarvis Coe. »Nein, nein, meine Freunde, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Sie ist die Herrin des Todes, nicht des Mordes. Wir kommen früher oder später alle zu ihr, also hat sie es nicht nötig, jemandem dabei auf die Sprünge zu helfen.« Dann zitierte er in uraltem Dialekt: »Ob Bauer, Krämer, Adelsmann, alle synd ihr Unterthan. Vor ihr synd alle Stende gleich, am weiten Thor zum Totenreich.« Jimmy nickte, blieb aber dennoch wachsam. »Und was bringt Euch auf die Spur von Männern, die Kinder entführen?«, fragte er. »Der Tempel hat etwas gegen Leute, die Todesmagie wirken«, erwiderte Coe. »Warum?«, fragte Jimmy und dachte an die Gerüchte, die er über diese Priesterinnen gehört hatte. »Weil es der Göttin einen schlechten Ruf verschafft«, sagte Coe. »Und das bringt die Tempel in Gefahr. In früheren Zeiten, bevor die Tempel ein Einverständnis mit der Krone erreichten und dem Tempel von Ishap gestatteten, bei Streitigkeiten die Rolle eines
Vermittlers zu übernehmen, gab es mehr als nur einen Aufstand, bei dem eine zornige Menschenmenge einen Tempel unserer Göttin plünderte und die Betenden tötete. Selbst nach hundert Jahren Frieden zwischen den Tempeln besteht immer noch ein gewisses Potenzial für Unheil; wenn die Leute von solchen Dingen erfahren, wie sie hier geschehen, glauben sie nur zu gerne, die Priesterinnen von Lims-Kragma hätten damit zu tun. Außerdem stehlen diese Leute der Göttin etwas: Die Lebensenergie, die zu ihrer Halle zurückkehren sollte, um dort beurteilt zu werden, kann bei der nächsten Drehung des Lebensrads nicht 355 den angemessenen Platz erhalten. Diese Seelen werden gequält, gefoltert und verschwinden schließlich, als hätten sie nie existiert. Es ist eine Abscheulichkeit, eine Ketzerei der übelsten Art. Aus solchen Praktiken ist immer bloß Schaden entstanden, und nur wirklich böse oder dumme Menschen verschreiben sich ihnen.« Er zeigte die Zähne. »Und ich bin der >Schaden<, der dem Nekromanten entstehen wird, der hier in der Nähe arbeitet. Ich bin selbst kein Magier«, fuhr er fort, »aber ich verfüge über eine gewisse ... Begabung in diesem Bereich ... und meine Auftraggeber haben mir ein paar Mittel mitgegeben, die mir helfen werden, mit ihm fertig zu werden.« »Aber nicht unbedingt mit Söldnern, Steinmauern und Eisengittern?«, fragte Jimmy sardonisch. Das ist wirklich unangenehm, dachte er. Es wäre mir beinahe lieber, wenn er einer von jockos Spionen wäre. Andererseits wird er wahrscheinlich viel nützlicher sein als ein Geheimpolizist, und wenn ich schon legendäre Heldentaten gegen einen bösen Zauberer vollbringen muss, werde ich Hilfe brauchen. Er wollte nicht zu Lorrie zurückkehren und ihr sagen müssen, dass er Rip nicht finden konnte - immerhin hatte er versprochen, ihren Bruder zurückzubringen. Auf der anderen Seite wollte er auch nicht für die nächsten tausend Jahre in einem Kerker auf eine rot glühende Metallplatte geschnallt werden oder mit seiner Todesessenz einen Zauber verstärken. Risiko war eine Sache, Untergang eine andere. Ich befürchte allerdings, dass es Unglück bringt, Freund Coe im Stich zu lassen. Ich möchte nicht, dass seine Göttin mich mit ihrem Hass verfolgt. Ihre Gunst auf der anderen Seite, und die Gunst ihrer Priesterinnen ... »Also gut«, sagte er schließlich. »Was will dieser Nekromant von
unserem blonden Freund?« »In vier Tagen haben wir drei Neumonde«, erwiderte Jar356 vis und begann, zerstreut mit einer Gerstenbrotkruste zu spielen. »Und bestimmte Sterne werden zueinander in Konjunktion stehen. Zu diesem Zeitpunkt... nun, sagen wir, dass der Reisende, den sie gefunden und ins Herrenhaus gebracht haben, sich für gewisse dunkle Künste als nützlich erweisen würde. Nützlich in einem für ihn finalen Sinn. Das Gleiche gilt für den kleinen Rip, den Bruder deiner Freundin.« Jimmy verzog das Gesicht. Er war an Schlägereien und Messerstechereien gewöhnt, aber Menschenopfer waren eine ganz andere Sache. »Das hier ist einfach unglaublich«, sagte er. »Kinder, dann Reisende ...« »Ein bestimmter Reisender«, betonte Jarvis. Die alte Frau gab einen Laut von sich, und ihr Mann versuchte, sie zum Schweigen zu veranlassen, aber sie schob ihn beiseite. »In vier Tagen, sagt Ihr, Diener der Priesterin?« Jarvis verbeugte sich. »Gute Frau?« »Das wäre genau siebzehn Jahre nach dem Tag, an dem Baronin Elaine im Kindbett gestorben ist«, erklärte sie. »Genau vor siebzehn Jahren um Mitternacht.« Jarvis' Miene veränderte sich. Ein Schatten von Angst -und vielleicht von Abscheu - flackerte über seine Züge. Oh-oh, dachte Jimmy. Schlechte Nachrichten. »Wart Ihr ... seid Ihr sicher, dass sie gestorben ist?« Jarvis hob die Hand. »Habt Ihr die Leiche aufgebahrt gesehen?« Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Er hat uns alle hinausgeschickt, und man hat uns später gesagt, dass er sich um die Dinge gekümmert hat«, erwiderte sie leise. »Hat uns alle rausgeschickt, aber einen zufällig an diesem Abend aufgetauchten Gast, einen Gelehrten, bei sich behalten.« »Ah. Ich bezweifle, dass es vollkommen zufällig war. Nicht in dieser Nacht - gewisse Ereignisse werfen ihre Schatten sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.« Jarvis schaute den Talisman an. »Habt Ihr vielleicht irgendetwas 357 hier, das der Dame gehört hat?«, fragte er. »Etwas, das ihren Körper berührt hat?« Die alte Frau stand auf, ging zu ihrem Bett und holte einen
Zedernholzkasten hervor, der in dieser Hütte merkwürdig fein wirkte. Sie suchte darin herum und holte ein kleines Bündel heraus, das in Seide gewickelt war, auf der sich alte Blutflecken befanden. »Sie war eine freundliche Dame und hat mich recht gern gehabt«, sagte sie. »Sie wusste, sie konnte der alten Meg vertrauen; eine Hebamme hört viele Geheimnisse. Sie hat mir das hier gegeben, damit ich darauf aufpasse. Wenn der Baron es gefunden hätte, hätte es sie wahrscheinlich das Leben gekostet.« Jimmy kam näher, während Jarvis das Steingutgeschirr vom Holztisch räumte, die Krusten herunterfegte und dann der alten Frau das Bündel abnahm, es auf den Tisch legte und auseinander faltete. »Sollte der Talisman so reagieren?«, fragte Jimmy. Die Nadel zuckte unter dem Kristall; erst zeigte sie nach Südwesten, zu Baron Bernarrs Herrenhaus, dann schwang sie zu dem Bündel. »Nein, das sollte sie nicht«, sagte Jarvis. In dem seidenen Taschentuch befand sich ein richtiges Amulett, eine zarte Muschel aus Goldsilber. »Selbst wenn das hier das Blut der Dame ist und sie es bei der Geburt vergossen hat -« »So ist es«, sagte die alte Frau. »- oder wenn es ihr Haar oder Stücke ihrer Fingernägel wären«, fuhr er fort. »Der Bann arbeitet mit der Gleichheit von Essenzen. Die Nadel sollte auf den Sohn zeigen.« Jarvis öffnete das Amulett, nachdem er vorsichtig nach der richtigen Stelle gesucht hatte. Innen befand sich eine Miniatur, ein winziges Porträt, das etwa halb so groß wie Jimmys Daumen war. Die andere Hälfte enthielt einen Liebesknoten: zwei Haarsträhnen, die verflochten waren, eine blond, die andere braun. »Könntest du für ein wenig Licht sorgen, Jimmy?«, bat Coe. 358 Jimmy ging zur Feuerstelle. Ein Korb aus Birkenrinde stand daneben auf dem gestampften Boden, und darin befanden sich lange Späne aus harzigem Kiefernholz, die dazu gedacht waren, das Herdfeuer zu entzünden. Er griff nach einem und hielt ihn in die niedrigen Flammen. Der Span zischte und spuckte, als er Feuer fing, und Jimmy atmete den harzigen Geruch ein. Er brachte den Span an den Tisch, hielt ihn höher und zur Seite, damit keine Tröpfchen von heißem Pflanzensaft auf den Tisch fielen, und achtete darauf, dass er auch selbst keins abbekam. Das Licht flackerte und war verglichen mit dem einer Kerze nicht allzu hell, aber die alten Leute hatten keine Kerzen, nicht einmal
Talg. Es genügte jedoch, um den hübschen jungen Mann auf dem Porträt sehen zu können. »Ruthia!«, rief Jimmy »Das ist der, den sie mitgenommen haben.« »Nein«, widersprach die alte Frau. »Das ist der junge Lord Kethry, mit Vornamen Zakry, ein Freund von Baronin Elaine aus Rillanon. Aus der Zeit, bevor sie den Baron kennen gelernt hat. Er ist verschwunden.« »Oh«, sagte Jimmy »Nun, seinem Aussehen nach zu schließen -« »Und nach dem Verhalten dieser Nadel -« »Würde ich sagen, dass Lady Elaine vor siebzehn Jahren vielleicht einen Sohn hatte, aber nicht der Baron«, erklärte Jimmy Jarvis grinste schief. »Du verfügst über größere Weitsicht als die meisten, Jimmy«, sagte er. Der Kätner seufzte. »Jetzt wirst du es ihnen sagen müssen«, erklärte er erschöpft. »Da hilft nichts mehr.« Meg nickte. »Der Baron wollte seinen Sohn ... nun, das Baby, nicht haben. Einen Augenblick war er noch voller Freude über seinen Erben, aber als er seine Frau an der Schwelle des Todes sah, war er wie ein Besessener. Er gab dem Baby die 359 Schuld und verlangte, ich solle es wegbringen, damit er es nie wieder sehen musste. Er meinte, ich solle es aussetzen, damit die Wölfe es holten, aber ich konnte das nicht. Also habe ich es zu einem Bauern in der Nähe von Relling gebracht, den ich kannte. Er heißt Ossrey, und seine Frau hatte ihr Baby verloren, aber immer noch Milch. Sie waren froh, den Jungen aufnehmen und großziehen zu können.« »Relling ist nicht weit südöstlich von hier und liegt selbstverständlich immer noch auf dem Land des Barons«, fügte ihr Mann hinzu. »Ossrey hat versprochen, nie darüber zu sprechen, und man muss es ihm lassen, ich habe niemals auch nur Gerüchte gehört. Wahrscheinlich haben sie selbst vergessen, dass es nicht ihr Junge war. Sie wissen ohnehin nur, dass die Mutter bei der Geburt des Kleinen gestorben ist, und wahrscheinlich hielten sie ihn für den Bastard einer armen Dienerin.« »Das alles passt auf sehr unerfreuliche Weise zusammen«, erklärte Jarvis Coe. »Der Baron hat seine Frau offenbar sehr geliebt.« »Bis zum Wahnsinn«, sagte Meg, setzte sich auf ihr Bett und blickte seufzend den Zedernkasten an. »Und ich hätte nie gedacht, dass sie ihn nicht mochte. Selbst als sie krank wurde, nachdem Kethry verschwunden war.«
»Verschwunden ?« »Bei einer Jagd. Der Baron sagte, er sei nach Krondor geritten, und hat ihm seine Sachen und seine Diener nachgeschickt, aber seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Der junge Lord Kethry hat Rillanon nie erreicht.« Jimmy schnaubte. Mit solchen plötzlichen Abschieden kenne ich mich aus, dachte er. Ich wette, wenn man rumfragen würde, würde man erfahren, dass ihn auch sonst niemand mehr gesehen hat. Das Meer verbirgt viele Sünden. »Nun gut ...«, sagte Jarvis, sah alle drei nacheinander an und dachte offenbar darüber nach, wie viel er verraten sollte. 360 Jimmy zog ironisch die Brauen hoch: Es war ein wenig spät, um mit solchen Dingen vorsichtig zu sein. Es sei denn, er hat vor, keine Zeugen zu hinterlassen, aber ich bezweifle, dass er so skrupellos ist. Jarvis bestätigte diese Annahme, indem er fortfuhr: »Wenn ein Magier der ... richtigen Art zur Hand gewesen ist, als die Lady starb, hätte er ... nun, er hätte sie nicht wirklich am Leben erhalten, aber in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzen können, so dass irgendwer später versuchen könnte, sie zu heilen.« Er griff nach einem Holzbecher mit dem Bier der alten Leute. »Ich muss meinen Mund ausspülen! Zu denken, dass sie sich seit... bei der Göttin! Seit siebzehn Jahren befindet sie sich zwischen Leben und Tod, und sie stirbt jede Sekunde!« Jimmy spürte, wie das grobe Brot und die ewige Bohnensuppe unter seinem Brustbein zu einem schweren Klumpen wurden. »LimsKragma gewähre ihr die Ruhe ihrer Halle!« Dann fiel ihm etwas ein. »Und wieso wollen sie ihren Sohn haben?« Erinnert mich daran, mich nie wieder mit Zauberern einzulassen. Im Nachhinein verspürte er sogar so etwas wie Angst bei dem Gedanken, wie leichtfertig er mit dem alten Alban Asher umgegangen war. »Nun, die Lebenskraft wird beim Tod freigesetzt. Sie könnten versuchen, sie mit jedermanns Lebenskraft wieder zu beleben, aber je ähnlicher das Opfer ihr ist, desto einfacher wäre es. Sie nehmen Kinder, weil sie ihr Leben bei der Geburt eines Kindes verloren hat. Das Kind, das sie zur Welt gebracht hat, wäre das Beste - es ist die natürliche Ordnung, dass das Leben von Eltern sich in ihren Kindern fortsetzt, aber man kann den Prozess auch umkehren.«
Der alte Mann spuckte ins Feuer, und es zischte. Jarvis blickte auf. »Wir haben vier Tage«, sagte er. »Genau wie der junge ...« Er warf einen Blick zu dem Amulett. 361 »Bram«, sagte Meg. »Bram«, wiederholte Jarvis. Jimmy seufzte. »Ich denke, wenn er sie so sehr geliebt hat... es ist böse und verrückt, aber es ist auch etwas Großes daran.« »Weniger, als er glaubt«, erwiderte Jarvis. »Man kann jemanden auf gewisse Weise zurückholen, aber sie sind häufig ... verändert. Wenn man die Grenzen zwischen Leben und Tod durchlässig macht, kommen ... auch andere Dinge durch.« Er schloss die Augen. »Dinge, die, wenn sie erst einmal in unserer Welt sind, nur schwer wieder vertrieben werden können.« Coe seufzte tief, als er weiter darüber nachdachte. Jimmy spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken und auf den Armen sträubten, und wünschte sich mehr denn je, er wäre einfach in Krondor in einem Versteck geblieben und hätte nicht versucht, so heldenhaft zu sein. 16 Entwicklungen Rip versuchte, durch das Loch zu spähen. »Kettet ihn gut an«, sagte die Stimme des alten Mannes. »Und lasst diesen Sack über seinem Kopf; ich habe es euch doch gesagt!« Rip rutschte mit einem unterdrückten Keuchen wieder nach unten. Das Problem mit den Gucklöchern in den Geheimgängen war, dass sie für Erwachsene gedacht waren. Eine andere Stimme erklang - die des Wiesels. »Wie Ihr wünscht, Mylord. Ah, Mylord -« »Du wirst den Rest von deinem Geld schon bekommen. Ich habe nicht so viel Bargeld hier; mein Verwalter in Meersburg wird es nächste Woche herbringen. Ich brauche dich bis dahin ohnehin. Und jetzt schweig und verschwinde.« Ketten klirrten. »Euer Sohn erwacht«, entgegnete die Stimme des aalglatten Mannes. »Vielleicht sollten wir gehen. Ich habe ihn untersucht, und von ein paar Kratzern und blauen Flecken abgesehen geht es ihm gut. Er ist gesund genug, um sich drei Tage zu halten.« »Nennt ihn nie wieder meinen Sohn«, sagte die Stimme des alten Mannes drohend. »Er hat meine geliebte Elaine umgebracht.« Schritte verklangen, und das Laternenlicht, das durch das Guckloch
fiel, ging aus, als die äußere Tür des Zimmers zu363 fiel. Sie konnten hören, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. »Sie haben jemand anders gefangen?«, fragte Mandy. »Und ihn angekettet?« Rip nickte und blickte finster drein. »Das ist grausam«, sagte Neesa. »Ich meine, sogar noch grausamer.« »Aber der alte Mann sagte, er wäre sein Sohn«, erklärte Rip und runzelte nachdenklich die Stirn. »Er hat seinen eigenen Sohn angekettet?«, fragte Kay entsetzt und gleichzeitig entzückt. »Wie der böse König und der gute Prinz?« »Lass uns nachsehen«, sagte Rip. Er tastete nach den Verschlüssen der Geheimtür, und sie betraten das Zimmer. Es war leer und kahl, hatte einen Steinboden und Steinwände, und trübes Licht drang durch ein vergittertes Fenster hoch oben. Es war nicht groß, jedenfalls nicht für dieses riesige Herrenhaus. Rip nahm an, dass es vielleicht einmal ein Lagerraum gewesen war; sie befanden sich im Erdgeschoss nahe der Küche, und es war kalt und feucht. »Das ist ein Erwachsener!«, stellte Neesa erstaunt fest, und ihr Flüstern war nur allzu deutlich zu hören. Die Gestalt, die an der gegenüberliegenden Wand angekettet war, hob den Kopf. Es war ein hoch gewachsener junger Mann mit einem Sack über dem Kopf; außerdem trug er eine Reithose und ein Hemd. Seine Handgelenke waren gefesselt, und die Ketten führten zu einem Eisenring, an dem auch jene befestigt waren, mit denen sie seine Füße gefesselt hatten: Wenn er aufgestanden wäre, hätte er sich bücken müssen und nur kleine Schritte machen können. Eine weitere Kette ging von einem Fuß zu einem Eisenbolzen, der tief in den Stein einer Wand geschlagen war. Es gab ein Wasserbecken und einen Eimer in Reichweite, aber der Gefangene konnte sich nur in einem Halbkreis von etwa sechs Fuß Durchmesser bewegen. 364 »Wer ist da?«, fragte er dumpf. Hoffnung flackerte in Rip auf, und ihm wurde ganz schwindlig vor Aufregung. Er eilte auf den Gefangenen zu, bedeutete allen, leise zu sein, und nestelte an der Schnur, die den Sack über dem Kopf des jungen Mannes festhielt. Hände packten ihn fest, aber ohne ihm wehzutun. »Bram!«, quiekte Rip und erinnerte sich erst dann, dass er leise sein
sollte. »Rip! Rip, Junge!«, sagte Bram und umarmte ihn. Rip umarmte ihn ebenfalls; es war so schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen. »Ich bin gekommen, um dich zu retten!«, sagte Bram lachend und hielt den Jungen auf Armeslänge von sich. »Und jetzt kann ich dich retten!«, sagte Rip begeistert. »Ich habe Schlüssel!« Bram lachte bedauernd und hielt seine gefesselten Handgelenke hoch, so dass Rip sie im trüben, schwächer werdenden Licht sehen konnte. Es gab keine Schlüssellöcher, nur zwei einander überlappende Kettenglieder, die mit einem dünnen Band von weichem Schmiedeeisen, das hindurchgetrieben und mit einem Hammer umgeschlagen worden war, verbunden waren. »Sie haben das auf einem Amboss gemacht, und das Gleiche mit der Fußkette«, sagte Bram. »Daran kann ich mich erinnern, und an die beiden Männer, die mich gefangen genommen haben - die Leute würden bezahlen, um einen solchen Kampf zu sehen, und sich zweifellos totlachen.« »Ein großer, kräftiger, und ein dünner, der redet wie ein Wiesel?«, fragte Rip. »Genau«, erwiderte Bram. »Und solange du keinen Meißel und keinen Hammer hast, Rip, mein Junge, kannst du mich nicht befreien.« Er schaute über den Jungen hinweg die anderen Kinder an, die mit großen Augen zurückstarrten; Neesa drückte ihr Deckenbündel an sich und steckte den Daumen in den Mund. 365 Brams Miene wurde weicher. »Ihr seid hier also nicht eingesperrt?«, fragte er. »Das waren wir«, sagte Rip. »Wir sind geflohen.« »Es war Rips Idee«, erklärte Mandy »Wir haben den Mann, der uns das Essen gebracht hat, zum Stolpern gebracht.« »Und ihn gefesselt!«, sagte Kay grinsend. »Und dann haben wir ein Laken über ihn gezogen und es zusammengebunden«, fügte Mandy hinzu und berührte schüchtern ihr hellblondes Haar. »Und ich habe ihn mit einem Kerzenleuchter geschlagen«, warf Neesa grinsend ein. »Das habt ihr gut gemacht«, sagte Bram. »Ich hätte mir natürlich denken können, dass da Rip dahinter steckt. Ich erinnere mich noch
gut daran, wie er letztes Jahr, als ich schwimmen war, Juckpulver in meine Hose gestreut hat.« Rip errötete, und die anderen sahen ihn ehrfürchtig an. »Haben Mama und Papa dich geschickt?«, fragte er eifrig. Bram sah plötzlich traurig aus. »Junge«, sagte er. »Ich habe schlimme Neuigkeiten und keine Zeit, es dir sanft beizubringen.« Er erzählte von Rips Eltern, wobei er die Einzelheiten ihres Todes ein wenig beschönigte und ihm schnell versicherte, dass Lorrie in Meersburg in Sicherheit war. Rip ließ sich gegen ihn sacken, aber er weinte nicht lange. Er hatte schon viel geweint, seit sie ihn mitgenommen hatten, im Dunkeln, wenn niemand es sehen konnte. Einen Augenblick später spürte er, wie die anderen Kinder sich um ihn drängten, und Bram legte den anderen Arm auch um sie. »Ich will, dass du sie umbringst«, sagte Rip einen Augenblick später und wischte sich das Gesicht ab. »Sie sind ... sie sind böse!« »Da hast du sicher Recht«, erwiderte Bram. Er klirrte ein wenig mit den Ketten. »Aber ich bin im Augenblick schon irgendwie, äh, gebunden.« Er lächelte, aber dann runzelte er 366 nachdenklich die Stirn. »Ich weiß immer noch nicht, warum sie dich oder mich mitgenommen haben«, fuhr er fort. »Selbst ein Baron kann so etwas nicht lange tun. Kinder stehlen - es würde einen Aufstand geben, wenn die Leute es erfahren. Die Eltern werden nicht darauf warten, dass der Richter des Prinzen aus Krondor kommt. Und die, die ihre Kinder bereits verloren haben, werden als Erste revoltieren.« »Sie hatten andere Kinder vor uns«, sagte Mandy leise. »Nach einer Weile sind sie gekommen und haben sie weggebracht, und die Kinder sind nie wieder zurückgekehrt.« Rip schluckte. »Ich denke ... ich denke, einer von ihnen ist ein Magier«, erklärte er. Bram runzelte die Stirn. »Und der alte Mann ... Er ist wohl der Baron. Ja, Baron Bernarr von Meersburg.« »Und ... Bram ... es gibt Dinge hier.« Rip blickte in den Schatten. Er konnte sie spüren. »Dinge, die sich irgendwie falsch anfühlen.« Bram nickte, und seine Stimme klang grimmig, als er sagte: »Also wissen wir jetzt, was er mit dem Silber angefangen hat, für das wir all die Jahre geschwitzt haben, gekauft mit dem guten Brot, das wir nicht essen durften, dem Tuch, das wir im Winter nicht tragen
konnten, und wir wissen, wieso er keine Soldaten bezahlen konnte, die für unsere Sicherheit sorgten, wieso er keine Gerichtssitzungen abhalten oder die Straßen reparieren lassen konnte. Ja, ich spüre es auch. Selbst die Schurken, die mich hergebracht haben, haben es gespürt. Es gibt hier etwas Böses, etwas Niederträchtiges.« Er blickte auf und hob verwundert die Brauen. Ein Wind, den sie alle spüren konnten, fegte über ihre Köpfe. »Was war das? Wer ruft?« Die Eindrücke verschwammen, und die Erinnerungen kehrten zurück. Die Kinder! 367 Sie waren nicht dort, wo sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie verstand die Zyklen nicht, die sie durchmachte: Schmerzen, Finsternis, in ihrem Körper sein, draußen sein. Kräfte zerrten an ihr, und manchmal sehnte sie sich danach, einfach alles vergessen zu können. Dann wieder gab es Zeiten, in denen sie frustriert gegen ihre Unfähigkeit antobte, sich mit den Menschen in ihrer Umgebung in Verbindung zu setzen. Und häufig verwirrten sie die plötzlichen Übergänge von Nacht zu Tag und wieder zurück und das schnell wechselnde Licht vor den Fenstern: Manchmal war es der kalte, neblige Himmel des Winters an dieser Küste, zu anderen Zeiten strahlend goldene Sommersonne. Es brachte sie ebenso durcheinander wie alles andere, nicht zu wissen, wie lange sie sich in diesem Zustand befunden hatte, seit das Kind zur Welt gekommen war. Sie trieb von ihrem Körper weg und suchte die Kinder. Dieses Mädchen, das die anderen Neesa nannten, konnte beinahe mit Elaine sprechen, und Elaine sehnte sich nach menschlichem Kontakt. Ganz gleich, wie viele Tage die Geburt ihres Sohnes zurücklag, es fühlte sich an, als hätte sie lange nicht mehr die Berührung einer Hand gespürt oder den Klang einer Stimme gehört. Sie spürte, dass die Kinder in einem anderen Zimmer waren, und eilte dorthin. Sie bemerkte sofort die schwarze Wolke, diese böse, geisterhafte Präsenz, die ihr so lange Zeit aus dem Weg gegangen war. Sie schwebte über den Kindern. Elaine fegte wütend auf die schwarze Wolke zu und griff nach einer ihrer Ranken. Die Wolke zog die Ranke zurück und floh. Statt ihre Energie mit Verfolgung zu verschwenden, schwebte Elaine schützend über den Kindern, erfreut über ihre Gegenwart, entzückt über den kleinen Jungen, und spürte die Verbindung zu dem Mädchen.
Dann fiel ihr auf, dass sich etwas verändert hatte. Es gab eine neue Präsenz! Es war ... Zakryf, rief Elaine. Sie hatten Zakry hergebracht, hatten 368 ihn angekettet und geschlagen. Ihr Zorn wirbelte um den Mann, den sie liebte, und die Kinder wichen verängstigt davor zurück. Ihre Wut war spürbar und stark genug, das Haar der Kinder und den Sack, der auf dem Boden lag, zu bewegen wie in einer leichten Brise. Geschlagen! Angekettet! Dann hörte sie, dass die Kinder ihn Bram nannten. Sie schaute genauer hin. Irgendwie konnte sie in diesem Zustand tiefer in einen Menschen hineinsehen als zuvor, konnte die Verbindung zwischen Dingen erkennen. Nein, das war nicht Zakry, obwohl er ihm ungemein ähnlich sah; aber er war jünger, zehn Jahre jünger, und irgendwie anders. Seine Züge waren ein wenig weicher, das Haar war dunkler, nicht ganz so blond. Das Blau seiner Augen war ebenfalls dunkler, die Schultern breiter, die Arme kräftiger. Mein Sohn! Das Wissen traf sie wie ein Schlag. Mein Baby, Zakrys Sohn! Verzweiflung drohte sie zu überwältigen. Wie viele Jahre! Wie lange habe ich an diesem Ort zwischen Leben und Tod verharrt? Dann wurde es ihr klar - diese Dunkelheit, diese Zeiten, in denen sie glaubte, für Minuten geschlafen zu haben, waren Tage gewesen, sogar Wochen. Das veränderte Licht hatte tatsächlich mit dem Vergehen von Jahreszeiten zu tun. Sie war jahrelang in diesem schrecklichen Zustand des Nicht-Lebensund-nicht-Sterbens gefangen gewesen - Jahre, während sie geglaubt hatte, dass es nur Tage waren! Wieder wurde sie zornig. Wer hat mir das angetan? Sie stieß einen lautlosen Schmerzensschrei aus, und Neesa schien ihre Nähe zu spüren. Sie schaute direkt dorthin, wo Elaine schwebte, und sah traurig aus. Sie nickte zu Bram hin, als wollte sie sagen: Siehst du, deshalb bist du gekommen. Elaine blickte abermals ihren Sohn an, und Sehnsucht verdrängte den Zorn. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, wollte mit ihm sprechen, ihm von ihrer 369 Liebe erzählen. Und sie wollte ihn schützen, denn nun verstand sie die Präsenz der schwarzen Ranken des Bösen, verstand, wieso sie ihr Kind haben wollten, und sie wusste, dass Brams Leben in Gefahr war. Jemand musste ihn warnen. Sag es ihm, Junge! Sag es ihm!, rief
Elaine. »Sag es ihm, Junge!«, rief Neesa, als lauschte sie einer anderen Stimme. »Sag es ihm«, wiederholte sie leiser. »Bram ...«, sagte Rip. »Hm?«, sagte Bram und biss hungrig in ein Stück Brot. Sie hatten es vom Tisch eines Wachpostens gestohlen, als der Mann zur Latrine gegangen war; es war zäh und schwarz und voller Spelzen. Das störte jedoch weder Rip noch den jungen Mann; es war dem Brot, das sie zu Hause jeden Tag gegessen hatten, recht ähnlich. »Tut mir Leid«, sagte Bram, als sein Mund leer war; er trank einen großen Schluck Wasser und biss ein Stück Räucherfleisch ab. »Ich bin sehr hungrig. Ich habe heute außer harten Schlägen noch nichts bekommen.« »Bram, der alte Mann - der Baron - hat etwas wirklich Seltsames gesagt.« Rip verzog das Gesicht, als er daran dachte. Er konnte gar nicht mehr aufhören, daran zu denken. Es erklang wieder und wieder in seinem Kopf. »Und der ölige Mann. Er sagte, du wärst der Sohn des Barons, und der Baron sagte, er sollte nicht darüber reden, weil du seine Frau umgebracht hast.« »Ich, der Sohn des Barons ?« Bram lachte. »Baron Bram von der Tenne, Lord des Misthaufens!« Dann veränderte sich seine Miene. »Was hat er über seine Frau gesagt?« »Dass du sie umgebracht hast, und deshalb wollte er, dass sie dir den Sack über den Kopf ziehen.« Kay warf ein: »Es ist wie mit dem bösen König und dem guten Prinzen! Die böse Stiefmutter will den Prinzen töten, und der König hasst ihn, weil seine Mutter bei seiner Geburt 370 gestorben ist, also setzen sie ihn im Wald aus, aber der Holzfäller findet ihn, kämpft gegen die Wölfe, nimmt ihn mit nach Hause und zieht ihn als seinen eigenen Sohn groß.« »Das ist nur eine Geschichte, Junge«, sagte Bram nervös. »Und im Augenblick sind wir noch mitten im Teil vor dem glücklichen Ende.« Rip sah ihn an. Bram glaubt nicht, dass es ein glückliches Ende geben wird, dachte er. Aber wir werden es schaffen! Bram. ist ein Held! »Was machen diese Leute denn da?«, fragte Flora neugierig. Lorrie starrte sie an, dann schaute sie zu dem Feld neben der Straße. Der starke, süße Duft von frisch geschnittenem Heu wehte zu den
beiden Mädchen in dem Dogkart, und die Sensen blitzten, als die Mäher sich weiter über das von Wiesenblumen durchsetzte Feld bewegten. Vögel flogen im Gras vor ihnen auf und kreisten und stießen auf die summenden Insekten nieder, die von den Sensen aufgescheucht wurden. Die Mäher sangen bei der Arbeit; das machte es leichter, wie Lorrie aus eigener Erfahrung wusste. Dann gab einer von ihnen das Zeichen, stehen zu bleiben. Er nahm ein kleines Holzfässchen, das er an einem Tuch um den Hals trug, zog den Spundzapfen mit den Zähnen heraus und kippte es, bis ein Strahl von Flüssigkeit - vermutlich Apfelmost - in seinen geöffneten Mund floss. Er blickte auf, als er das kleine Fässchen weiterreichte, und winkte Lorrie grinsend zu. Das war sicher der Bauer, der Herr der Ernte. Sie wusste, dass sie Recht hatte, als er einen Augenblick später das Zeichen gab, wieder mit der Arbeit zu beginnen. Sie arbeiteten zu sechst, fünf Männer und eine Frau. Man brauchte starke Arme und einen starken Rücken, um eine Sense zu schwingen; es war viel schwieriger, als Getreide mit der Sichel zu ernten. Mädchen und Kinder folgten ihnen, rechten und wendeten das geschnittene Heu. Sie würden 371 selbstverständlich zurückkehren und es wieder und wieder wenden, bis es trocken war, und es dann auf einen Wagen laden, nach Hause auf den Heuboden bringen und im nächsten Winter damit das Vieh füttern. »Sie mähen Heu«, sagte Lorrie, der erst jetzt auffiel, wie lange sie schon schwieg. »Es ist die erste Mahd, aber sie sind ziemlich spät dran. Hast du noch nie zuvor gesehen, wie Heu gemäht wird?« Flora schüttelte den Kopf, und Lorrie hätte beinahe aus Versehen die Zügel fallen lassen, während sie sie entgeistert anstarrte. Sie waren in langsamem Trab unterwegs; Tante Cleoras Kutschpferd war ein großer Wallach mit glänzendem Fell, ein jüngeres, schöneres Tier als der arme Horace, aber nicht unbedingt schneller. Die Lederschlingen ließen den Dogkart seltsam schwingen, ganz anders als das Ruckeln eines Bauernwagens, aber Lorrie musste zugeben, dass das besser für ihr Bein war, das auf diese Weise nicht viel mehr wehtat als zu Hause auf einem Federbett im Haus ihrer Freunde. »Du hast nie gesehen, wie Heu gemäht wird?«, rief sie. »Nun, du hast auch nie gesehen, wie die Männer des Prinzen durch die Straßen von Krondor paradieren«, sagte Flora. »Oh, ich habe mich nicht über dich lustig gemacht«, versicherte
Lorrie ihr. »Es ist nur ... ich habe einfach noch nie jemanden kennen gelernt, der noch nie gesehen hat, wie Heu gemäht wird. Das ist alles.« Sie seufzte. »Das war der Tag, als Bram mich zum ersten Mal geküsst hat«, erzählte sie schüchtern. »Bei einem Tanz nach der Heumahd im letzten Jahr.« »Du wirst Bram also heiraten?«, fragte Flora, froh, das Thema wechseln zu können. »Nun, ich denke, er will es so«, sagte Lorrie schüchtern und konzentrierte sich wieder auf Zügel und Pferd. »Götter der Liebe, er ist schon ein hübscher Junge!«, stellte Flora kichernd fest. 372 Lorrie kicherte ebenfalls. »Ja, nicht wahr?« Sie spürte so etwas wie Glück - es war absurd nach all dem Kummer der letzten Tage. Er ist nicht tot, dachte sie. Er kann einfach nicht tot sein! Aber wenn ihre Mutter und ihr Vater sterben konnten, die ihr ganzes Leben lang da gewesen waren, worauf konnte man sich dann noch verlassen? Resolut schob sie diese Gedanken beiseite und versuchte, den Tag zu genießen. Sie warf Flora einen Blick zu. »Flora«, sagte sie, »warum hilfst du mir eigentlich?« Und dann eilig: »Nicht, dass mich das stört! Aber du und dein Pflegebruder, ihr habt mich behandelt, als wäre ich mit euch verwandt, und dabei bin ich nur ein Mädchen von einem Bauernhof mit vier Kühen und einem Pferd und keine feine Dame wie du.« Flora hatte die Stirn gerunzelt und offenbar nachgedacht. Und jetzt lachte sie, obwohl eine Spur von Bitterkeit in diesem Lachen lag. »Feine Dame!«, sagte sie. Lorrie schaute sie verwirrt an. »Das bist du doch«, erwiderte sie. Schon die Möbel in Tante Cleoras Haus waren so viel wert wie zehn Jahre Pacht für die zehn Bauernhöfe in ihrem Heimattal, und man hätte noch das Gasthaus an der Rellingfurt und wahrscheinlich auch die Getreidemühle dazulegen können. »Ich bin die Tochter von Tante Cleoras Schwester«, sagte Flora leise. »Aber meine Mutter ist mit einem Bäcker nach Krondor durchgebrannt.« »Ah!«, sagte Lorrie verständnisvoll. »Und der Papa deines Vaters hat ihn verstoßen?« Das geschah auch zu Hause manchmal. Junge Männer schienen dazu gemacht zu sein, mit ihren Vätern zu streiten, sobald ihnen Barte wuchsen, und manchmal wurde es hitzig. Selbst Bram, so gutmütig
er war, hatte manchmal Ärger mit Ossrey, und sie benahmen sich wie Widder im Frühling. Das war einer der Gründe, wieso Bram hin und wieder als Wach373 posten oder Viehtreiber für Handelskarawanen arbeitete, wenn man vom Geld einmal absah. »Genau. Und dann hat der Bäcker ... dann hat mein Vater bewiesen, dass mein Großvater Recht gehabt hatte und meine Mutter Unrecht, denn er kroch in ein Branntweinfass und kam nicht wieder heraus.« Lorrie nickte. Auch so etwas geschah zu Hause hin und wieder. »Ah, dann hast du also arbeiten müssen«, sagte sie. »Waschen und Nähen und so.« Sie wusste vage, dass arme Frauen in der Stadt solche Dinge taten; sicher konnten sie sich nicht einfach als Melkerinnen oder Bauernmägde verdingen. »Ja, so was Ähnliches«, erwiderte Flora. Dann lachte sie leise. »Eine Stadt kann für ein junges Mädchen ein schwieriger Ort sein. Ich war ganz allein, und alle anderen waren fremd. Ich ... bin wieder nach Meersburg zurückgekommen, und ich hatte Glück, aber du hattest niemanden.« Sie fuhren in geselligem Schweigen weiter. Nach einer Weile zog sich der Weg einen Hügel hinauf; sie fuhren durch einen kleinen Wald, dankbar für den Schatten, der Lorrie quälend an ihren Jagdtag erinnerte. Hinter dem Wald begegneten sie einem Mann, der unter einer Ladung Brennholz gebeugt einherging, die Axt durch die Schlinge aus gedrehter Rinde gezogen, mit der das Holz gehalten wurde. Der Mann setzte seine Last ab, als sie vorbeikamen, richtete sich auf, um sich den Rücken zu reiben und sie anzusehen - ein Dogkart mit einem schönen Pferd und zwei hübschen Mädchen war hier kein alltäglicher Anblick. Er nahm seine formlose Wollmütze ab. »Fräuleins«, sagte er respektvoll und verbeugte sich. Das machte Lorrie verlegen: Wenn sie in ihrer eigenen Kleidung die Straße entlanggegangen und diesem Mann zu Hause begegnet wäre, hätte er sie »Mädchen« genannt und gewinkt, statt sich zu verbeugen. »Wir suchen nach einem jungen Mann«, sagte sie. 374 Der Mann entspannte sich ein wenig; sie waren zwanzig Meilen von Relling entfernt, und sein Dialekt unterschied sich ein wenig von ihrem, aber jeder, der sie sprechen hörte, wusste sofort, dass auch sie
vom Land kam - vielleicht die Tochter eines reichen Bauern. Genau wie jeder Flora als Stadtmädchen erkannte, wenn sie den Mund öffnete. Er entspannte sich nicht nur, sondern grinste auch, als er sich wieder aufrichtete. »Ich bin selbst kein junger Mann mehr, Fräuleins, aber ich wünschte, ich wäre einer, wenn ich euch beide da so sehe, so hübsch wie Gänseblümchen«, sagte er. »Ihr kommt also aus Relling, wie?« Flora lachte, und Lorrie lächelte trotz ihrer Sorgen. »Ganz aus der Nähe von Relling«, erklärte sie. »Wir sind seine Verwandten, und wir haben eine Botschaft über Familienangelegenheiten, die er unbedingt erfahren muss. Er ist wahrscheinlich vorgestern hier vorbeigekommen, zu Pferd - auf einem guten grauen Wallach. Ein junger Mann, erst siebzehn, aber ausgewachsen und kräftig, mit gerstenblondem Haar und blauen Augen und einem Eibenbogen über der Schulter.« »Ah!«, sagte der Holzfäller, rieb sich noch einmal den schmerzenden Rücken und streckte sich. »Ja, ich erinnere mich; ich hab ihn nicht selbst gesehen, aber Bessa - Bessa aus dem Holderbusch, ein Stück die Straße hinunter und dann den Weidenbachweg entlang - hat ihn erwähnt. Es muss der Gleiche gewesen sein, dem Aussehen nach zu schließen. Sie hat ziemlich von ihm geschwärmt!« »Das ist mein Bram«, sagte Lorrie. »Ah, ein Verwandter, wie?«, neckte der Holzfäller sie. »Ein glücklicher Mann, solche Schwestern zu haben!« »Ein angeheirateter Verwandter, jedenfalls schon bald«, erklärte sie. »Dann werden wir im Gasthaus fragen.« Der Mann runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Ihr solltet zumindest vorsichtig sein. Ein paar der Stammgäste dort sind ziemlich raue Burschen.« 375 »Viehtreiber?«, fragte Lorrie. Männer, die das Vieh zum Verkauf durchs Land trieben, hatten einen schlechten Ruf -ein Mann fühlte sich außerhalb seiner eigenen Gemeinde nicht so zur Zurückhaltung verpflichtet. Viehtreiber und Karawanenwachen machten häufig mehr Ärger, als sie Geld einbrachten. »Soldaten aus dem Herrenhaus«, sagte der Holzfäller und spuckte aus. »Ich will ja nichts Schlechtes über den Baron sagen -« Weil du nicht die Peitsche oder den Pranger oder abgeschnittene Ohren riskieren willst, dachte Lorrie und nickte.
»- aber ein paar von den Männern, die er in den letzten Jahren eingestellt hat, sind üble Burschen und immer hinter den Frauen her, ob die Frauen nun wollen oder nicht.« Er zwinkerte und legte den Finger an die Nase; eine Geste, die in der Gegend sicher verstanden wurde. »Außenseiter. Fremde. Nichts für ungut«, sagte er. »Schon gut«, erwiderte Lorrie freundlich - zu Hause hielt man ebenfalls jeden, der mehr als einen Tagesmarsch hinter sich hatte, für einen Fremden und für irgendwie verdächtig. »Vielleicht wollte euer Verwandter in den Dienst des Barons eintreten?«, sagte der Holzfäller. »Das Herrenhaus ist nur ein paar Meilen von hier entfernt. Es wäre sicher gut für diese Gegend, wenn ein paar Jungen mit besseren Manieren die Uniform des Barons trügen.« Lorrie schüttelte den Kopf. »Bram ist ein Bauernsohn, und er arbeitet nur hin und wieder für Karawanenmeister«, sagte sie. »Vielen Dank, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, mit uns zu reden und uns zu helfen, guter Mann.« »Hat mich gefreut, an einem schönen Frühlingstag mit so hübschen Mädchen sprechen zu können. Dann habe ich wenigstens was zu erzählen.« Lorrie nickte dankbar, und sie fuhren weiter, nachdem sie sich noch zweimal hatte wiederholen lassen, wo Gasthaus 376 und Herrenhaus zu finden waren; sie wusste, wie schwierig es war, Wegbeschreibungen zu geben, wenn man die Gegend wie sein eigenes Haus kannte und sich nicht vorstellen konnte, dass das bei anderen nicht der Fall war. »Wir sind in der Nähe«, sagte sie zu Flora. »Ich kann ... Rip spüren.« Sie verzog das Gesicht. Das Gefühl gab nur selten genaue Richtungen an. »Als wir in Meersburg waren, konnte ich sagen mach Norden< oder >Nordosten<, aber hier weiß ich nur, dass er in der Nähe ist, und wo Rip ist, wird auch Bram nicht weit sein.« »Und Jimmy«, fügte Flora hinzu. »Und ich weiß, wo wir sein sollten, wenn wir etwas rausfinden wollen.« Lorrie blickte sie an. Flora lächelte wissend und sah plötzlich älter aus - es war Lorrie schon öfter aufgefallen, dass sie manchmal wie eine erwachsene Frau wirkte. »Wo?« »In der Schänke. Wenn Männer trinken, reden sie.« Mit einer Bewegung des Handgelenks trieb Flora den Wallach zu einem etwas schnelleren Schritt an, denn sie wollte die Schänke so bald wie
möglich erreichen. 17 Plan Jimmy war unruhig. »Warum sind wir noch nicht da drin?«, fragte er. Baron Bernarrs Herrenhaus anzustarren war langweilig. Vollkommen langweilig, selbst wenn man so gut ans Warten gewöhnt war wie ein Dieb. Das große Gebäude stand einfach da, umgeben von dem vernachlässigten Garten, und nichts geschah, außer dass die Brandung an den Klippen eine halbe Meile entfernt rauschte und hin und wieder ein Reiter von der Hauptstraße zum Herrenhaus abbog. Selbst die Ranken an den grauen Granitwänden schienen vor Langeweile gestorben zu sein, denn sie waren braun und trocken, obwohl es Frühling war. Hin und wieder blitzte an dem großen, eisenbeschlagenen Tor Stahl auf, wenn der Wachposten vorbeikam. Das war alles. Jarvis Coe zuckte die Achseln. »Aus drei Gründen«, sagte er, hob die Hand und zählte an den Fingern ab. »Erstens, was in diesem Haus umgeht, lässt jeden zögern, also finden wir immer wieder Gründe, nicht hinzugehen.« Er schien das ganz ernst zu meinen. Jimmy starrte hinter dem Baum, der ihm Deckung bot, hervor und beäugte Coe verblüfft. »Wollt Ihr damit sagen, dass wir zögern und Ausreden finden, und Ihr wisst das?«, rief er. »Ja.« Jarvis hob die Hand. »Aber das ist kein einfaches Zau378 dem, es ist Magie. Manchmal ist der Unterschied schwer festzustellen.« »Oh.« Jimmy glaubte in etwa verstanden zu haben, was Jarvis meinte. Er schauderte ein wenig bei dem Gedanken, dass die Magie seine Gefühle und Gedanken veränderte, ohne dass er es merkte. »Und die anderen Gründe?« »Zweitens ist es schwierig reinzukommen; es ist eine Festung, wenn auch keine besonders starke, und es gibt Soldaten, selbst wenn sie nicht zahlreich oder besonders gut sind. Und wir sind nur zu zweit.« »Warum könnt Ihr keine ... oh.« »Ja. Im Augenblick hat Bas-Tyra andere Dinge im Kopf. Bis er von einer offiziellen Beschwerde erführe, wären die Beweise sicher schon begraben.« »Oh.« Wie ich schon dachte, die See verbirgt viele Sünden. »Und was ist Nummer drei?«
»Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen zuschlagen, wenn sie abgelenkt sind - und das bedeutet zu warten bis kurz vor dem Opfer.« »Aber -« »Ja, damit riskieren wir, dass sie es durchführen, bevor ich nach drinnen gelangen kann, um sie aufzuhalten.« Jarvis griff nach einem Stück Trockenfleisch und fing an zu kauen. »Das wäre gar nicht gut. Und die Magie - die Nebenwirkungen der Magie dieses Nekromanten - beeinträchtigt unser Urteilsvermögen.« Ich will nach Hause, dachte Jimmy Der Zorn des Aufrechten Mannes und die Gefahr durch die Geheimpolizei kamen ihm immer attraktiver vor. »Zumindest sind Flora und Lorrie in Sicherheit«, sagte er. Der Holderbusch war nichts Besonderes, fand Flora, als sie das Gebäude in den Nachmittagsstunden erreichten, und vom Dogkart sprang. 379 Tatsächlich war es, wenn man nach dem Geruch von Heu, frisch aufgegrabener Erde, Dung und Schlamm ging, eher ein Bauernhof. Gut, es hatte zwei Stockwerke und die Wände waren mit Holz verkleidet, aber es war trotzdem ein strohgedecktes Bauernhaus mit einer Scheune und Schuppen dahinter, einem Feld mit jungem Weizen hinter den Schuppen und einem Obstgarten, an dessen Zweigen immer noch ein paar Blüten hingen. Das einzige Anzeichen, dass man hier ein Gasthaus vor sich hatte, waren der Holunderzweig über der Tür, die Bänke, die zu beiden Seiten der Tür standen, die Breite des Wegs, der zum Haus führte, und eine etwas größere Koppel, in der die Reisenden ihre Pferde unterbringen konnten. Nein, das nehme ich zurück, dachte Flora. Sie haben auch ein halbes Dutzend Pflastersteine um die Tür verlegt, und es gibt einen hölzernen Stiefelkratzer. Zivilisation! Einer der Schuppen beherbergte eine kleine Schmiede, die nicht vollständig ausgerüstet war, aber es gab einen mit Holzkohle befeuerten Ofen, einen Blasebalg und einen einzelnen Amboss: gerade genug zum Beschlagen von Pferden oder für kleinere Reparaturen. Ein Mann war dort gerade damit beschäftigt, ein Hufeisen in Form zu hämmern, und ein Junge bediente den ledernen Blasebalg. Flora winkte, und der Mann steckte das Eisen in einen Wasserbottich und legte es beiseite. Dann kam er auf sie zu, und
Flora sah, dass Holzschuhe seine Lederschuhe vor dem Schlamm schützten. Er packte das Zaumzeug des Pferdes und betrachtete es respektvoll. »Werden die jungen Damen über Nacht bleiben?«, fragte er in einem Dialekt, der dem des Holzfällers sehr ähnlich war. »Wenn Ihr Platz habt«, sagte Flora, und sie sah, wie er bei ihrem Krondor-Akzent die Ohren spitzte. »Jede Menge«, erwiderte der Mann. »Im Augenblick kommen hier keine Kauf leute oder Reisenden vorbei.« Er war ein Mann von mittlerer Größe, muskulös von der schweren Arbeit und bereits leicht gebräunt vom Aufenthalt im Freien. 380 Das einzig Ungewöhnliche an ihm waren eine Spur von Rot in seinem Haar und das sommersprossige Gesicht. »Ich bin Tael, und mir gehören dieses Gasthaus und der Hof. Bessa!«, rief er. »Komm her, und nimm das Gepäck der Damen. Davy, komm raus hier!« Flora half Lorrie vom Wagen, und Tael schnalzte mitleidig mit der Zunge, als er sah, dass sie einen Stock benutzte, um ihr Bein zu schonen. »Stützt Euch auf mich«, sagte er. »Es ist hier nach dem Regen ein wenig schlammig.« »Danke«, sagte Lorrie schüchtern. »Ich heiße Lorrie.« Der Mann zog bei dem vertrauten Dialekt, der dem hiesigen so ähnlich war und der sich sehr von Floras Sprechweise unterschied, die Brauen hoch. Er schaute zwischen den beiden hin und her - sie sahen auch nicht wie Verwandte aus, obwohl er das wahrscheinlich angenommen hatte. »Wir suchen nach Lorries Freund Bram«, erklärte Flora, und Taels Miene veränderte sich einen kurzen Moment lang. »Später«, sagte er rasch. »Kommt herein. Ein Zimmer kostet drei Silberstücke pro Nacht, und das Abendessen ist eingeschlossen.« Zwei junge Leute kamen angerannt; ein Junge, der aussah, wie der Mann vielleicht mit fünfzehn ausgesehen hatte, und der eine verblüffende Anzahl von Pickeln mit dunkelroten Rändern hatte, und ein kräftiges junges Mädchen mit Sommersprossen, das die Weidentruhe mit ihrem Gepäck nahm. Der Wirt führte sie höflich zu einem Tisch im Hauptschankraum, und Flora merkte, dass die Sache anfing, ihr Spaß zu machen. Es war angenehm, wenn man sie respektvoll behandelte. Das war sie lange Zeit nicht gewohnt gewesen.
Da der Sonnenuntergang kurz bevorstand, war es drinnen im Schankraum nicht besonders hell, und eine Frau mittleren Alters machte die Runde und zündete Bündel von ölgetränkten Dochten in Tonschalen an. Diese fügten dem Küchengeruch im Raum den rauchigen Duft von Leinsamenöl hinzu; 381 auf dem Boden lagen jedoch frische Binsen, und die Feuerstelle war gemütlich. »Es gibt Bohnensuppe mit Schinken«, sagte die Frau vom Herd her, wo sie zwei Schalen aus einem großen Eisentopf füllte, der über den Kohlen hing. »Und wir haben Apfelmost und Apfelwein, Bier und Dünnbier. Ich kann den Most und den Wein auch heiß machen, wenn Ihr wollt. Ihr werdet Hunger haben, nachdem Ihr so weit gereist seid. Kommt Ihr aus Meersburg?« Sie stellte die Steingutschalen vor sie hin, zusammen mit Brot, Butter, Käse, Zwiebeln und einem Holzschälchen mit Meersalz. »Ja«, sagte Flora. »Ich wohne bei meiner Tante Cleora in Meersburg. Ich hätte gern heißen Apfelmost.« Tael kam zurück, zog die Holzschuhe aus, und seine Schuhsohlen knirschten auf den Binsen, die den Boden bedeckten und einen angenehmen grünen Duft absonderten, denn man hatte sie mit Kräutern und Blüten vermischt, die nach getrockneten Erinnerungen rochen. »Das ist sicher Cleora Winsley«, erklärte er, denn er hatte gehört, was sie gesagt hatte, als er zur Tür hereingekommen war. »Die Frau von Karl "Winsley und Yardley Heywoods Tochter?« »Ja«, sagte Flora ein wenig überrascht. Es ist auch angenehm, eine Familie zu haben, die die Leute kennen, dachte sie. »Ich habe mit Karl Winsley schon geschäftlich zu tun gehabt«, sagte Tael. »Habe Hopfen gekauft.« Er schaute Lorrie an. »Und Bram ist Euer Freund?« »Wir sind Nachbarn«, erwiderte Lorrie. »Sein ... sein Pferd kam ohne ihn nach Meersburg zurück, und im Sattel steckte ein Pfeil. Ich wohne derzeit bei Frau Winsley Wir sind hergekommen, um zu sehen, ob es ihm gut geht.« »Das kann ich Euch nicht sagen«, erklärte Tael. Seine Frau brachte nun zwei Becher aus gedrechseltem Ahornholz, einen Krug Bier für ihren Mann und einen Eisen382 stab mit einem Holzgriff; die Spitze des Metalls glühte weißrot.
»Danke, Schatz«, sagte Tael. Er nahm ihr das Eisen ab und stieß es in Floras Apfelwein. Das Getränk brodelte und zischte, als das Metall abkühlte; das Eisen war dunkel geworden, als er es einen Augenblick später herauszog, aber immer noch heiß genug, dass er vorsichtig war, als er es zur Feuerstelle zurücktrug. Ein angenehmer Duft nach Äpfeln und Gewürzen stieg auf, und Flora trank vorsichtig. Tael setzte sich wieder zu ihnen, trank einen großen Schluck von seinem Bier, wischte sich den Rest Schaum von seinem Schnurrbart und schien angestrengt nachzudenken. Flora aß ein paar Löffel von ihrer Suppe - sie war hungrig, und die Suppe roch gut - und zerriss einen der kleinen Brotlaibe, um die Stücke in die Suppe zu tunken. Das Brot war noch so heiß, dass es ein wenig dampfte. »Was den jungen Bram angeht, er hat hier vor ein paar Tagen gegen Mittag Rast gemacht und etwas gegessen«, sagte Tael abrupt wie ein Mann, der seine Gedanken zu Ende sortiert hat. »Netter Junge, und höflich, obwohl er aus Relling stammt. Nichts für ungut.« »Kein Problem«, erwiderte Lorrie, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Und er war auf der Suche nach einem kleinen Jungen namens Rip, von dem er sagte, er könnte vielleicht mit zwei Männern unterwegs sein, die ihn gegen seinen Willen mitgenommen haben.« Flora und Lorrie nickten. Der Wirt zögerte und trank abermals, dann nickte er, als gäbe er einen Kommentar zu einem inneren Dialog ab. »Nun, einen solchen Jungen habe ich nicht gesehen«, sagte er. »Aber zwei Männer, die vielleicht die waren, nach denen er suchte.« Er zögerte abermals, dann sagte er: »Es sind Bewaff383 nete aus dem Herrenhaus, die Männer des Barons. Rox und Dünner nennen sie sich, richtige Galgenvögel. Ich war selbst einmal Soldat, als ich jünger war, und bin einigen wie ihnen begegnet; sie sind zu allem fähig, wenn sie dafür bezahlt werden und es keine schwere Arbeit ist, aber kein guter Hauptmann würde solche Leute in seiner Truppe haben wollen, und kein Kamerad würde ihnen etwas anvertrauen, sei es seine Geldbörse oder sein Leben, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Sie nickten erneut. »Ich habe das Eurem Bram auch gesagt, denn er schien ein guter Junge zu sein, und sie sind keine Freunde von mir, so viel Zeit sie hier auch verbringen mögen. Dann hat er sich höflich bedankt und ist
weiter nach Norden geritten, zum Haus des Barons. Als Nächstes sahen wir, wie sein Pferd nach Süden gerannt kam; wir haben versucht, es einzufangen, aber es ist uns nicht gelungen. Haben nicht daran gedacht, es mit Getreide anzulocken, bis es schon den halben Weg nach Meersburg gerannt war. Ich bin froh, dass es zu Euch zurückgekehrt ist; ich hätte Bescheid gegeben, wenn ich das Tier erwischt hätte.« Lorrie bezweifelte nicht, dass er das ernst meinte, aber sie wusste, dass »Bescheid geben« auf dem Land bedeutete, beiläufig gegenüber einem Kutscher, der unterwegs zur Stadt war, zu erwähnen, dass man ein Pferd gefunden hatte, nur für den Fall, dass jemand danach suchte. »Und am nächsten Abend kamen Rox und der Dünne in bester Laune hier herein und gaben eine Menge Geld aus; sie haben sich eine gebratene Gans geteilt und wollten von allem nur das Beste, Wein, Bier und Schnaps, und ich musste Bessa früh ins Bett schicken.« Flora sah Lorrie mutlos an. Lorrie beugte sich zu ihr und flüsterte: »Rip ist hier ... nicht weit weg. Ganz in der Nähe.« »Und wenn Rip hier ist, und diese beiden Männer, dann ist Bram vielleicht auch hier.« Es sei denn, er ist tot, dachte Flora, und das wäre eine Schande. Er ist ein netter Mann und bild384 schön. Und Lorrie ist meine Freundin. Ich möchte nicht, dass sie ihren Mann schon verliert, bevor sie ihn auch nur geheiratet hat. Tael beobachtete dieses Zwischenspiel, während er mit kräftigen gelben Zähnen eine Zwiebel kaute. »Die Sache ist...«, sagte er, als sie ihn anschauten. »Ja?«, sagte Lorrie eifrig. »Mädchen, diese beiden Kerle sahen aus, als hätten sie eine Schlägerei hinter sich. Keine allzu schlimme, aber sie hatten blaue Flecken und so. Und dieser Dünne, er hat einen Bogen in einem Kasten an seinem Sattel. Einen kurzen Bogen mit einem Hornrücken, wie sie ihn in Groß-Kesh verwenden.« Damit nickte er ihnen zu, stand auf und ging wieder an seine Arbeit. Flora sah sich um, während sie weiteraßen. »Ich habe eine Idee«, sagte sie und warf einen Blick zur Decke. Die Decke war nicht sehr hoch, bestenfalls sieben Fuß - wahrscheinlich, damit das Zimmer besser zu heizen war. Die Dachbalken waren grob behauene Kiefernstämme, und zwischen den Brettern darüber klafften breite
Ritzen, vermutlich, um das teure gesägte Holz zu sparen. Strohhalme ragten zwischen den Brettern hervor. Der Gesang unter ihrem Zimmer war verklungen. Flora und Lorrie lagen flach auf den Brettern; sie hatten schon vorher vorsichtig das Stroh aus einer Ritze zwischen zwei Brettern gezupft, und Lorrie spähte nun nach unten in den Schankraum. Laute Stimmen erklangen von dem Tisch unter ihnen, barsch und schleppend. Flora schauderte leicht. Jimmy hatte Recht, dachte sie und erinnerte sich an das Aufblitzen in den Augen des Feldwebels, der sie in den Wagen geworfen hatte, als man die Spötter in Krondor verhaftete. Ich hin mit einer achtbaren Existenz besser dran. »Das sind sie«, flüsterte Lorrie. Sie war kreidebleich. Flora 385 begriff plötzlich, dass der Grund dafür Zorn war und nicht Angst. Mörderischer Zorn. »Das sind die beiden, die Rip entführt haben«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie Eis, wenn es auf einem Teich im Winter bricht und eisige Kälte durchlässt. »Diese Männer haben mein Zuhause niedergebrannt und meine Eltern getötet.« Flora tätschelte ihr ungeschickt die Schulter; sie hatte ihre Eltern früh verloren, und nach dem, woran sie sich erinnerte, hatte sie nicht allzu viel verpasst. Dann drückte sie das Auge wieder an die Ritze. Vier Männer saßen am Tisch, auf dem die abgenagten Überreste mehrerer Hühner lagen. Aufgrund von Lorries Beschreibung erkannte sie den Dünnen und Rox sofort. Üble Galgenvögel, dachte sie und rümpfte die Nase; sie konnte das abgestandene Bier in ihrem Schweiß riechen, die Wämser, die nie gesäubert worden waren und an denen altes Blut und Schlimmeres klebte, und das Klauenfett auf den Waffen. Schlimmer als die meisten. Der Dünne lächelte zu häufig, und Rox lächelte überhaupt nicht. Sie sahen tatsächlich aus, als wären sie vor kurzem in eine Schlägerei verwickelt gewesen; der Dünne hatte ein verblassendes blaues Auge und Rox geschwollene Knöchel an der rechten Hand. Die anderen beiden waren eher unauffällig; das einzig Ungewöhnliche an ihnen waren zu viele Narben, ihre eher ausdruckslosen Blicke, die manchmal zu sehen waren, wenn sie ihre Flaschen kippten, und fettiges dunkles Haar, das sie aus der Stirn zurückgekämmt hatten. Einer von ihnen nahm etwas aus einem Beutel und schüttelte es in der geschlossenen Hand - wahrscheinlich Würfel. »Kommt schon, ihr beiden«, sagte er. »Lasst uns etwas von dem Gold sehen, mit dem
ihr geprahlt habt. Ich kann hören, wie es nach mir ruft - es will in meinem Beutel ruhen. Wirklich.« »Das würde es bestimmt auch bald tun, wenn wir dumm genug wären, deine Würfel zu benutzen, Forten.« 386 Forten schloss die Faust um die Würfelknöchel, die er herausgeholt hatte. Vielleicht hätte er an dieser Bemerkung Anstoß genommen, wenn Rox nicht auf der anderen Seite des Tisches gesessen hätte. Von dort, wo sie lag, konnte Flora die rechte Hand des Dünnen sehen, deren Finger den Griff eines Messers in seinem Stiefel streiften. »Und wir haben auch noch nicht alles Geld bekommen, nicht das Geld für den Neuen«, sagte der Dünne. Forten grunzte und steckte die Würfel wieder weg, dann goss er sich Wein aus einem Krug nach. »Es ist schlimm genug, dass diese kleinen Biester sich irgendwo hinter den Wänden verstecken. Ich hätte mir beinahe den Schädel eingeschlagen, weil sie die Treppe am Haupttor mit Fett eingerieben haben. Dieser Neue könnte wirklich Ärger machen, wenn er sich befreit. Er ist so groß wie ein erwachsener Mann. Ach, zur Hölle mit ihm. Der Baron und dieser Zauberer werden sich schon um ihn kümmern.« Die Söldner schwiegen einen Moment und wechselten unbehagliche Blicke; zwei von ihnen machten Zeichen gegen das Böse, und dann tranken sie alle. Flora blickte Lorrie an, der die Hoffnung deutlich ins Gesicht geschrieben war. Sie zogen sich in die andere Ecke des Zimmers zurück und unterhielten sich leise. »Das sind sie«, sagte Lorrie. »Der Neue - so groß wie ein Mann -, das muss Bram sein. Und die Kleinen, das sind Rip und ein paar andere Kinder.« Bram, ja, dachte Flora, und vielleicht ist auch dein kleiner Bruder dort, sehr wahrscheinlich, ja. Sie nickte, und Lorrie fuhr fort: »Sie müssen im Herrenhaus sein. Wie können wir dort hingelangen? Es ist wie eine Festung und wird bewacht... Und du weißt, was der Wirt außerdem über das Haus gesagt hat.« Flora erschauderte. »Dass es sich dort irgendwie falsch anfühlt? Ja, aber-« 387 »Aber wir müssen sie rausholen«, sagte Lorrie. »Und zwar bald. Du hast es gehört. Sie haben etwas Besonderes für Bram geplant!«
Flora nickte und war versucht, abermals zu erschaudern, dann dachte sie schnell nach. Ihr fielen ein paar Dinge ein, die sie von anderen Mädchen und von Spöttern gehört hatte. »Warte einen Augenblick«, flüsterte sie. »Ich denke, wir haben eine Möglichkeit, ins Herrenhaus zu gelangen. Und diese Söldner werden uns dabei helfen.« Sie langte in ihre Rocktasche; der kleine Beutel war immer noch da. Jimmy wusste, was er tat, als er mir etwas davon gegeben hat, dachte sie. »Wir werden es folgendermaßen machen.« Flora zupfte ihr Mieder zurecht; sie hatte es aufgeschnürt, damit sie das Hemd nach unten ziehen konnte und einen tiefen Ausschnitt hatte, wie damals auf den Straßen von Krondor. Sie nahm auch das Kopftuch ab, das sie unterwegs getragen hatte, schüttelte ihr Haar aus und ließ es offen auf ihre Schultern fallen. Noch einmal zupfte sie am Mieder und sorgte dafür, dass es genug zeigte, um als akzeptable Arbeitskleidung durchzugehen. Es war kühl und diesig geworden, und der Wind vom Meer brachte den Geruch von Regen mit. Das verursachte ihr eine Gänsehaut; aber es trübte ihr strahlendes Lächeln nicht, als die beiden Söldner aus der Tür des Hollerbuschs kamen. Einen Augenblick lang waren die Männer vom rötlichen Feuerschein beleuchtet, dann gingen sie mit schwankenden Schritten zu dem schlammigen Weg. »Hallo, wen haben wir denn da?«, gurrte Flora. Die Söldner hielten inne und starrten sie an. Es waren Forten und Sonnart; die beiden anderen waren schon früher und nicht ganz so betrunken ins Herrenhaus zurückgekehrt. »Wer bist du denn?«, fragte einer von ihnen. »Das ist nicht die Wirtstochter mit den großen Titten«, stellte der andere dümmlich fest. 388 »Ich bin neu in dieser Gegend, Jungs«, sagte sie vergnügt, zwinkerte und wackelte mit den Hüften. Sie benutzte jeden Trick, den sie kannte, um ihren Abscheu zu überwinden. Sie hatte schon mit widerwärtigeren Männern geschlafen, aber das war, bevor aus ihrem Leben mehr geworden war als ein Überleben von einem Tag zum anderen. Sie schluckte das Bedürfnis zu würgen herunter und fragte: »Seid ihr auf dem Heimweg ? Oder wollt ihr vorher noch mit ins Heu kommen ?« Die Verhandlungen dauerten nicht lange; die Männer hechelten geradezu hinter ihr her, rempelten einander an und schnaubten, als sie Flora zur Rückseite des Gasthauses begleiteten.
»Das ist weit genug«, brummte einer von ihnen und versuchte sie zu packen. »Es ist schlammig, und es wird bald regnen«, entgegnete Flora über die Schulter hinweg. »Im Stall gibt es ein Dach und weiches Stroh und Pferdedecken. Nur noch ein paar Schritte weiter!« Obwohl sie ziemlich viel getrunken hatten, hatten die Söldner einen gut entwickelten Überlebensinstinkt; sie verlangten, dass Flora als Erste in den dunklen Stall ging, und hatten die Hände sofort an den Waffen, als sie Lorrie dort stehen sahen. Dann entspannten sie sich wieder und grinsten, als sie erkannten, dass sie ein zweites Mädchen vor sich hatten. »Ruthia!«, rief einer. »Heute ist unser Glückstag!« Lorrie streckte die Hand aus, mit der Handfläche nach oben. Als Forten sie packen wollte, holte sie tief Luft und blies über die Hand hinweg in sein Gesicht. Flora wich bereits seitlich aus und hielt den Atem an. Der Stall war ziemlich dunkel, und nur wenig Licht fiel zur Tür und durch die Schlitze unter dem Giebel herein, aber sie hatte den hölzernen Axtgriff genau dort bereitgelegt, wo sie ihn brauchte, und hatte ihn sofort in der Hand. Forten lag bereits am Boden; er war schlaff auf dem fest ge389 stampften Dung und dem Stroh des Stallbodens zusammengesackt. Sonnart hinter ihm hatte nicht so viel von dem Zauberpulver abbekommen; er stieß einen leisen Schrei aus und schaffte es, sein Schwert halb zu ziehen, ein Aufblitzen von hellem Metall im Dunkeln. Flora packte das glatte Stück Hartholz mit beiden Händen. Tock! Der schrittlange Axtgriff landete mit dem Geräusch eines schweren Holzhammers, der einen Holzblock trifft, auf Sonnarts rechter Kniescheibe. Der Söldner stieß einen schrillen Schrei aus, der zu einem Gurgeln erstarb, als Flora sich zusammenriss und abermals zuschlug, diesmal auf seinen Hinterkopf. Licht flackerte auf, als Lorrie den Eimer von der Lampe nahm, die sie mit in den Stall gebracht hatten. Die Pferde stampften unruhig in ihren Boxen, und eines schnaubte, als es Blut roch. Beide Söldner waren am Leben, aber Sonnart würde sich nicht besonders gut fühlen, wenn er aufwachte. Lorrie zog das Messer an ihrem Gürtel; ihre Zähne blitzten von etwas, das sicher kein Lächeln war. Flora eilte zu ihr und hielt sie am Arm fest.
»Nein!«, sagte sie. Lorrie drehte sich zu ihr um. »Warum nicht?«, fragte sie wütend. »Sie arbeiten für den Mann, der meinen Bruder entführt und meine Eltern umgebracht hat!« »Aber sie sind nicht die Männer, die das getan haben«, erwiderte Flora. »Wenn sie es wären, würde ich dich nicht aufhalten. Aber wenn wir diese beiden töten, wird Tael eine Menge Ärger kriegen die Art Ärger, die man mit einer Schlinge bekommt. Die beiden mögen Schweine sein, aber sie sind die Bewaffneten eines Barons!« »Du hast gehört, was sie über Bram gesagt haben!«, fuhr Lorrie fort, aber der wilde Blick war verschwunden, und sie hörte auf, Flora ihren Arm entreißen zu wollen. 390 »Ah«, sagte Flora. »Nun, daran habe ich auch schon gedacht.« Sie holte zwei getrocknete Kiefernzapfen aus der Tasche, die sie aus der Brennstoffkiste der Schmiede genommen hatte. »Siehst du, wie all die kleinen Blätter auf den Zapfen in eine Richtung weisen?« »Ja?«, sagte Lorrie verwirrt. Eine halbe Stunde später waren auf der Straße vom Hollerbusch zu Baron Bernarrs Herrenhaus zwei Gestalten in Kapuzenumhängen unterwegs. Eine von ihnen kratzte sich angewidert. »Kochen sie dieses Zeug denn nie aus, um die Läuseeier loszuwerden?«, fragte sie. »Es könnte schlimmer sein«, erwiderte die andere. »Wie das denn?« »Ich sollte dir eines Tags mal von Stinke-Neville erzählen«, erwiderte sie. Der Baron ächzte und zerrte an den Laken. Aber nun waren Traum und Erinnerung verschwommen wie Wachen und Schlafen. Die Übergänge dazwischen, sich zu erinnern, welche Nacht es war und dass er in seinem Bett lag, und der Einbildung, er wäre ein jüngerer Mann, der schrecklichen Entscheidungen gegenüberstand, waren fließend. Er starrte entsetzt auf die bleiche Gestalt seiner Frau nieder, aus der das Leben heraussickerte, während ihr Blut ins Bett floss und die Hebamme das weinende Baby auf dem Arm hielt. Eine Stimme neben ihm. »Ich kann vielleicht helfen.« Ohne hinzusehen wusste er, dass es Lyman war. »Was könnt Ihr tun?« »Deckt die Dame zu, und verlasst das Zimmer«, befahl der
Besucher, und so geschah es. Dann war Bernarr draußen vor dem Zimmer, und die Heb391 amme war bereits mit dem Kind verschwunden, um es den Wölfen zu geben. Aber ... Seine Lider flackerten. Er erkannte, dass es Nacht und er allein war. Das Baby war nun ein junger Mann, angekettet in einem geheimen Zimmer. Er stöhnte und wälzte sich herum, umklammerte das Kissen und schloss die Augen wieder. Lyman sagte: »Eine Stunde ist in diesem Zimmer nur ein Augenblick und Tage sind wie Sekunden. Sie wird weiter bei uns bleiben, während wir eine Möglichkeit suchen, sie von der Halle des Todes fern zu halten.« Heiler kamen, Wundärzte und ein Priester der Dala, dann ein anderer von einer Sekte unten in der Wüste von Groß-Kesh, aber niemand konnte die Dame des Hauses heilen, wenn Lyman den Zauber aufhob. Jedes Mal, wenn er versagte, schwor er, seine Anstrengungen zu verdoppeln, um eine Möglichkeit zu finden. Und jedes Mal nahm Bernarr diesen Schwur entgegen und spürte, wie noch mehr Dunkelheit seinen Geist und sein Herz erfüllte. Bald schon war Lyman ein dauerhafter Angehöriger seines Haushalts und erhielt seine eigenen Gemächer und Zimmer für seine Diener. Bücher wurden erworben, und Sammler in der gesamten zivilisierten Welt schickten Schriftrollen und gewaltige Bände. Ganz gleich, wie teuer sie waren, Bernarr zahlte, aber sie fanden keine Lösung. Dann tauchten die ersten Bücher über Schwarze Magie auf, und sie brauchten Blut. Erst Tierblut, aber dann ... Bernarr fuhr auf und stieß einen Schrei aus - ein Mann, der über alles Erträgliche hinaus gequält wurde. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, zwang sich, wach zu werden, und ging zu den verglasten Türen, die zu seinem Balkon führten. Er schob die Türen auf und trat in das kalte Nachtdunkel hinaus. Nur noch zwei weitere Nächte. Er atmete tief die kalte Luft ein, dann flüsterte er: »Noch zwei Nächte, dann ist es vorbei.« 18 Magie Der Sturm tobte. »Meg!«, rief eine Stimme vor der Hütte. Donner grollte draußen, und das Licht von Blitzen fiel durch die Ritzen der Fensterläden. Regen zischelte auf dem Strohdach, aber es war dicht, und kein Wasser lief in die Hütte.
Jimmy, der gerade seinen Dolch schliff, blickte auf; Jarvis warf bereits den Umhang um die Schultern. »Meg!«, erklang die Stimme abermals, und diesmal brach sie zum Quieken eines Jungen im Stimmbruch. Jarvis öffnete die Tür; ein Junge kam hereingestolpert. Jimmy hielt ihn für etwa zwei Jahre älter als sich selbst, mit widerwärtigen Pickeln, die ihm selbst - gepriesen sei Banath! -bisher erspart geblieben waren. Der Junge war patschnass und keuchte, als wäre er mehrere Meilen gerannt, worauf auch die dicke Schlammschicht, die ihn beinahe bis zur Taille überzog, schließen ließ. »Komm rein, Junge«, knurrte der Kätner. Meg brachte einen Becher mit heißem Kräutertrank aus dem kleinen Topf, der immer an der Seite der Feuerstelle stand. »Davy, was machst du denn in einer solchen Nacht im Freien?« Der Junge hielt inne, als er die beiden Fremden sah; Jimmy lächelte und steckte den Dolch wieder in die Scheide an sei393 nem Gürtel. Das Feuerlicht brachte das Metallgitter am Handschutz seines Rapiers zum Glitzern. »Das sind Reisende«, erklärte der Kätner. »Nun, mein Junge, bist du gekommen, um Meg zu holen? Ist jemand krank oder bekommt ein Kind?« Dann sagte er zu Jarvis und dem jungen Dieb: »Das da ist Davy, der Sohn von Tael aus dem Hollerbusch. Es ist nicht das erste Mal, dass Meg in einer solchen Nacht rausgerufen wird.« »Zwei Bewaffnete des Barons«, sagte Davy, trank einen Schluck Kräutertee und beruhigte sich ein wenig. »Zusammengeschlagen! Nackt und zusammengeschlagen im Stall.« »Geschieht ihnen recht«, knurrte der alte Mann. »Ich würde sagen, lass sie einfach liegen.« »Deine Mutter kann durchaus mit blauen Flecken fertig werden oder einen Knochen richten, der bei einer Schlägerei gebrochen wurde«, stellte Meg fest, aber noch während sie das sagte, ging sie zum Bett und holte eine weitere Truhe hervor, diesmal eine aus Holz, das mit Leder bespannt war. »Was stimmt denn sonst nicht mit ihnen?« Davy sah die Männer an und trat von einem Fuß auf den anderen, dann sagte er: »Sie behaupten, als sie die Schänke verlassen haben, hat eine ... eine Hure sie in den Stall gelockt, und der Zuhälter hat sie geschlagen!« Der Kätner verzog das Gesicht noch missbilligender. »Ja, wirklich sehr glaubwürdig. Es gibt im Hollerbusch keine unmoralischen
Frauen.« »Das sagen sie aber«, erklärte Davy Sein pickliges Gesicht sah noch schlimmer aus, als er nun rot anlief. »Und ... na ja, ihre Sachen und die Waffen, alles ist verschwunden, und sie haben ihnen die Haare und Barte abgeschnitten und sie im Dung gewälzt, und ... und ...« »Raus damit, Junge!« »Und jemand hat ihnen Kiefernzapfen in den Arsch geschoben! Beiden!« 394 Meg, die gerade ihre Kräuter und Werkzeuge sortierte, begann zu lachen. Nach einem kurzen, ungläubigen Blick lachte auch ihr Mann, bis er sich den Bauch halten musste; er taumelte hilflos in der Hütte herum und stieß gegen die Wände. »Ah! Wie oft habe ich diesen hochnäsigen Galgenvögeln selbst so etwas antun wollen!«, keuchte der alte Mann. »Hihi! Sie werden noch monatelang beim Hinsetzen vorsichtig sein müssen - und sogar auf der Latrine. Hihi!« Davy grinste unbehaglich, aber man sah an der Art, wie er dastand, dass er schon bei dem Gedanken seine Hinterbacken zusammenkniff. Jimmy lachte ebenfalls. Es ist wahrscheinlich komischer, wenn man nur davon hört, als wenn man es sieht, dachte er. Dennoch, ich hätte nichts dagegen, so etwas über Jocko Radburn, del Garza oder ihren Herrn zu hören. »Und die Mädchen sind weg«, fuhr Davy fort. »Mädchen?«, fragte Jimmy scharf. »Die Mädchen, die gestern in dem Dogkart aus Meersburg gekommen sind«, antwortete der Junge. »Bildhübsch waren sie.« Er beschrieb sie begeistert. »Flora!«, sagten Jimmy und Jarvis gleichzeitig. »Nur, dass eine hinkte«, schloss der Junge. »Lorrie!«, sagte Jimmy Jimmys Magen zog sich zusammen, und Jarvis Coe fluchte in einer Sprache, die der junge Dieb nicht kannte. Sie sahen einander an. »Jetzt geht es nicht anders«, sagte Jarvis. Jimmy nickte und griff nach seinem ölbehandelten Wollumhang. Er riss die Kapuze nach vorn und dachte verbittert, dass Floras neu gefundenes Verantwortungsgefühl an allem schuld war. Sie brachte ihn schon wieder dazu, den Kopf in ein Nest von Abwasserratten zu stecken. »Keine Zeit für Subtilität«, sagte er. »Überhaupt keine Zeit«, erwiderte Coe.
395 Der Regen fegte ihnen kalt ins Gesicht, als sie die gemütliche, rauchige Wärme der Hütte verließen. Jimmy bekam eine Gänsehaut, und er glaubte nicht, dass das an dem kalten Wasser lag - es hing eher mit dem Gedanken daran zusammen, dass Flora und Lorrie zu diesem Haus gegangen waren. Bram blickte auf, ruckartig aus einem unbehaglichen Halbschlaf gerissen. Es donnerte, und das Licht eines Blitzes zuckte durch das hohe, kleine Fenster - es war viel zu klein, als dass ein Mann sich hätte hindurchzwängen können, und außerdem hatte es auch noch ein Eisengitter, selbst wenn Bram nicht angekettet gewesen wäre. Es war noch nicht Zeit für die magere Brotration, die sie ihm üblicherweise brachten; er wäre inzwischen von Hunger geschwächt gewesen, hätten ihm nicht auch die Kinder etwas gegeben. Es war auch noch nicht Zeit, um den Eimer zu leeren. Aber er konnte das Knirschen eines Schlüssels im Schloss hören. Einen Augenblick später blinzelte er ins gelbe Licht einer Laterne, die ein Mann hoch in der Faust hielt. Dann ging das Licht aus; ein Windstoß hatte es gelöscht, und nur noch bitter riechender Rauch drang aus den Löchern im Metall der Laterne. Der Mann fluchte, ebenso wie die anderen, die sich hinter ihm drängten. »Mach schon, zünde eine andere an, wir brauchen Licht«, sagte einer der Männer. Bram grinste. Er spürte nicht die kalte Angst, die manchmal durch dieses Zimmer wehte. Stattdessen fühlte er, dass etwas Zorn ausstrahlte - aber der Zorn war nicht gegen ihn gerichtet und bewirkte irgendwie, dass er sich warm und sicherer fühlte, so verrückt sich das auch anhören mochte. Es erinnerte ihn an seine Mutter. Eine weitere Lampe wurde hereingereicht und wurde ebenfalls ausgeblasen; die dritte flackerte heftig, erlosch aber nicht, 396 da der Mann, der sie hielt, die Flamme zusätzlich mit der Hand schützte. Mit dem Licht kamen die Söldner auf Bram zu. Einer hatte einen leichten Schmiedehammer und einen Meißel dabei. »Keine Spielchen«, sagte ein kräftiger Söldner; Bram erkannte ihn von dem Kampf an der Furt und sah ihn wütend an. Der Mann grinste und fuhr fort: »Lord Bernarr sagt, wir dürfen dich nicht umbringen. Aber wir können dich ein bisschen zusammenschlagen,
oder? Niemand hat gesagt, deine Arme und Beine müssten unversehrt bleiben.« Wieder zerrte er einen Sack über Brams Kopf und zog die Schnur unangenehm fest zu. Der junge Mann keuchte, atmete den süßlichen Geruch des Hafers ein, der noch vor kurzem in dem Sack gewesen war, und nieste hilflos. »Das ist einfach dumm«, sagte einer - Bram sah nun nichts mehr, sondern spürte nur noch die groben Hände, die an ihm zerrten. »Warum können wir die Ketten nicht dranlassen?« »Der Magier hat irgendwas über kaltes Eisen gesagt«, erklärte eine andere Stimme - die des Mannes mit dem Frettchengesicht. Der Hammer klirrte auf den Kopf eines Meißels, und die Fesseln fielen ab, so dass Bram erleichtert stöhnte. Dann musste er sich auf die Lippen beißen, um nicht zu schreien, denn sie schlangen ihm ein Seil um die Handgelenke, dort, wo das Eisen die Haut wund gerieben hatte. Seine Füße waren jedoch immer noch frei, und er war versucht, um sich zu treten. Lieber nicht, dachte er dann. Sie werden mich nur zusammenschlagen. Ich warte lieber auf den richtigen Augenblick. Wohin sie mich auch bringen, es kann nicht schlimmer sein, als in diesem Zimmer angekettet zu sein, das von Geistern heimgesucht wird. Als die Männer ihn nach draußen brachten, hörte er ein Geräusch, das hier nicht hingehörte: den Pfiff eines Zaunkönigs, eines der kleinen Vögel, die zu Hause im Tal in den Hecken ihre Nester bauten. 397 Unter dem groben Tuch des Sacks grinste Bram. Er hatte dem kleinen Rip beigebracht, so zu pfeifen. Er hatte hier mehr Freunde, als diese Söldner glaubten. Lorrie sah sich um und kämpfte gegen den Impuls an, sich am Bein zu kratzen. Es juckte und tat weh; das Jucken wies darauf hin, dass die Wunde heilte, aber sie war noch lange nicht richtig verheilt, und wenn Lorrie sich zu sehr anstrengte, würde sie wieder aufreißen. Bram, dachte sie. Rip. Sie konnte alles tun, was sie tun musste. »Ich wünschte, Jimmy wäre hier«, sagte Flora nervös. »Anscheinend hat keiner eine Spur von ihm gefunden«, stellte Lorrie fest. »Das könnten sie auch nicht, wenn er es nicht wollte«, erwiderte Flora. »Aber wir müssen jetzt etwas unternehmen.« Wieder blitzte es, und das Licht erhellte das Herrenhaus vor ihnen;
es hatte nicht aufgehört zu regnen. Sie blinzelte. »Da ist ein Licht!«, sagte sie. »Dort im Turm an der Ecke!« Ein flackernder, gelblicher Schein fiel aus einem schmalen Turmfenster, das vermutlich eher als Schießscharte gedacht war. »Vielleicht bemerken sie uns nicht«, sagte Flora. Als sie näher kamen, befiel sie ein vages unbehagliches Gefühl. Es schien mit jedem Schritt, den sie sich dem Eingang näherten, intensiver zu werden. »Etwas stimmt hier nicht«, flüsterte Flora. Lorrie sagte: »Vielleicht sollten wir erst nach Jimmy suchen.« »Ich glaube, du hast Recht.« Flora stand kurz davor, den Dogkart zu wenden, aber dann sagte sie: »Warte mal!« »Was ist denn?« »Willst du wirklich aufhören, nach Bram zu suchen?«, fragte Flora. 398 »Nun, wir würden ja nicht aufhören, aber ...« »Es nur ein wenig verschieben?« »Ja, genau«, stimmte Lorrie zu. »Und vielleicht wird das Wetter morgen auch besser sein, und ich denke, wir sollten lieber ...« Sie hielt inne, als sie Floras seltsame Miene sah. Flora hatte die Stirn vor Konzentration gerunzelt und die Zähne zusammengebissen, als versuche sie, nicht laut zu schreien. Sie kniff die Augen zusammen, sagte: »Verdammt!«, und schnippte mit den Zügeln. Sie trieb das Pferd voran, bis sie zu dem schmiedeeisernen Tor kamen; daneben war eine kleine Wachstube in die Mauer gebaut, die den Garten umgab. Die Mauer war nur sechs Fuß hoch, aber aus der Krone ragten schmiedeeiserne Stacheln; sie war lange nach dem Herrenhaus errichtet worden und hatte eher die Funktion, Wild und Vieh fern zu halten als Feinde. So angespannt, als müsste sie sich zu den Worten zwingen, fragte Flora: »Was würdest du lieber tun, als jetzt da reinzugehen?« Lorrie drückte sich in das Leder des Sitzes, als würde sie versuchen, die größtmögliche Entfernung zwischen sich und das Tor zu bringen. »Alles. So ziemlich alles, was mir einfällt.« Flora nickte nachdrücklich. »Genau. Ich denke, wir haben es hier mit einem dieser Schutzzauber zu tun, für die die reichen Leute den alten Alban manchmal bezahlen.« »Wer ist Alban?« »Ein Magier, den ich einmal kannte«, antwortete Flora vage. »Man legt diesen Schutzzauber um etwas, wovon man andere Leute fern halten will, und dann finden sie alle möglichen Gründe, wieso sie
sich fern halten wollen, und glauben, sie wären ihnen selbst eingefallen.« »Ich denke, ich verstehe. Aber wäre es nicht wirklich besser, wenn wir erst Jimmy suchen würden?« »Ja«, sagte Flora und reichte Lorrie die Zügel. Sie stieg aus dem Dogkart, eine Hand in der Tasche, in der sich noch etwas von dem Zauberpulver befand, das Menschen wie eine Faust 399 traf, und ging zum Raum des Torhüters. Über die Schulter hinweg sagte sie: »Aber selbst wenn wir ihn finden, werden wir danach andere Gründe haben, nicht herzukommen. Im Augenblick will ich lieber überall anders sein als hier, und das sagt mir, dass ich hier sein muss.« Lorrie verstand das nicht ganz, aber sie sagte: »Wir gehen also trotzdem?« »Es wäre besser, Jimmy hier zu haben, aber wir gehen trotzdem.« Sie streckte den Kopf durch das Fenster, das auf dieser Seite die einzige Öffnung des Torhäuschens darstellte, und sah sich um. »Niemand da«, sagte sie und nahm die Hand aus der Tasche. »Aber es stinkt. Jemand hat hier gewohnt.« »Wie kommen wir da durch?«, fragte Lorrie und betrachtete besorgt das hohe Eisentor. Wenn meine Beine beide in Ordnung wären, könnte ich vielleicht hinüberklettern, dachte sie unglücklich. Mit diesem Bein hätte ich Probleme, auch nur wieder in den Wagen zu steigen, sobald ich am Boden bin. Vielleicht sollten wir warten, bis mein Bein ... »Kein Problem«, unterbrach Flora Lorries nächsten Grund, nicht zum Herrenhaus zu gehen. Sie nahm den Umhang ab, schob ihn unter dem Tor hindurch, und dann löste sie ihren geborgten - gestohlenen -Schwertgürtel und tat damit das Gleiche. Dann ging sie ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang wie eine Katze. Das brachte sie beinahe in Kopfhöhe auf das Eisentor; danach stieg sie den Rest des rutschigen Metalls hinauf, als wäre es eine Leiter, schwang sich problemlos darüber und kletterte auf der anderen Seite wieder herunter. Sie sprang das letzte Stück und landete leichtfüßig. Lorrie starrte sie an. Wie hatte sich Flora in Krondor ihren Lebensunterhalt verdient?, fragte sie sich. War sie Akrobatin oder so etwas gewesen?
Flora grinste, als sie den langen Riegel löste, der das Tor von 400 innen verschloss. »Kein Schloss!«, sagte sie. »Nur dieser Riegel und eine Kette darum.« Die Kette klirrte, als sie herunterfiel, und Flora nahm ihren Umhang und die Waffen, bevor sie auf das Schlosstor zufuhren. Ich bin auf dem Weg, Bram, Rip, dachte Lorrie grimmig. Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, schienen sie das schreckliche Gefühl zu verringern, dass sie noch andere Dinge unternehmen sollten, bevor sie versuchten, das Haus zu betreten. »Wer seid Ihr?«, fragte Bram. »Still«, erwiderte die ölige Stimme, und ein kurzer, stechender Schmerz kam von überall und nirgendwo. Bram stieß zischend den Atem aus. Dieses Zimmer roch falsch, wie ein Krankenzimmer: altes, fauliges Blut und Böswilligkeit. Unter seinem Rücken war kalter Stein, und die Söldner banden ihn mit Lederschnüren. Es war seltsam, aber sie fesselten ihn an Knien und Ellbogen und nicht an Hand- und Fußgelenken. Ihr Götter, dachte er angewidert. Dieses Ding ist für Kinder gedacht! Hier haben sie die Kinder geopfert, die sie geraubt haben. Seine Gedärme zogen sich zusammen, und ihm wurde übel. Die Söldner arbeiteten so rasch, als bänden sie ein Schwein zum Schlachten fest. Bram war bald ausgestreckt wie ein Seestern, und es tat weh, denn die Schnüre waren unterhalb der gekerbten Oberfläche angebracht, auf der er lag. Kalte Luft wehte über seine Haut, als sie Hose und Hemd aufschnitten und wegzogen. Dann zupften Finger an der Schnur des Sacks, der über seinen Kopf gestülpt war. Er hatte durch das raue Gewebe des Tuchs bereits ein diffuses Leuchten sehen können. Als es weggezogen wurde, konnte er einen kurzen Blick auf einen großen, teuer möblierten Raum mit Fenstern und 401 zwei Türen erhaschen, und durch eine dieser Türen sah er ein Bett, auf dem eine schöne, bleiche Frau offensichtlich schlief. »Bedeckt sein Gesicht!«, rief ein Mann wütend. Die Stimme klang alt und müde, aber hinter dem Befehl stand Autorität. Von ihm sah Bram nur den Rücken und die verschränkten Hände; er trug Ringe mit Edelsteinen an den Fingern, und seine Jacke war aus gutem dunklem Samt. »Sofort, Mylord«, sagte der unauffällige Mann mittleren Alters, der an Brams Kopf stand. Unauffällig, bis man seine Augen gesehen
hatte. Sie waren wie Fenster in ... nicht in Leere, sondern in einen Abgrund, wo selbst die Dunkelheit verlöschen würde. Anders als alles, was Bram je zuvor gesehen hatte, bewirkten sie sofort, dass sich Angst in seiner Magengrube sammelte, Eis über seinen Rücken glitt und die Härchen auf seinen Armen sich sträubten. Die Augen dieses Mannes waren Fenster ins Nichts. Er lächelte und ließ ein Seidentuch über Brams Gesicht fallen. »Wir wollen dich schließlich nicht von dem Fest ausschließen junge«, murmelte er und machte sich an die Arbeit. Die Seide würde Bram vor jedem verbergen, der ihn ansah, aber er konnte durch das dünne Tuch zumindest verschwommen sehen. In dem kurzen Augenblick, wo er klare Sicht gehabt hatte, hatte er auch die Figuren gesehen, die um den Tisch mit der Steinplatte gezeichnet waren, auf dem er lag, die schwarzen Kerzen, die an den Seiten flackerten, und einen Teppich, der zusammengerollt an der Wand lag, was darauf schließen ließ, dass die Zeichnungen für gewöhnlich zugedeckt waren. Bram konnte lesen, aber er wusste nicht, was diese gewundenen Zeichen bedeuteten, und er wollte es auch nicht wissen. Sie anzusehen, tat seinen Augen weh, und er riss den Blick los. Am Rand seines Bewusstseins kicherte etwas. »Lass mich los, du Bastard!«, brüllte Bram. 402 »Still«, sagte der Mann abermals, und die Schmerzen kehrten zurück, bohrten Stacheln in seine Gedärme, seine Lenden und Gelenke. Also werde ich still sein, dachte Bram und prüfte die Fesseln. Sie fühlten sich nach starkem Leder an, viel fester, als man es für Kinder brauchte, und er konnte den Steintisch nicht einmal zum Wackeln bringen. Es würde sechs starke Männer brauchen, um ihn zu transportieren. Schlecht, dachte er. Sehr schlecht. Hilfe! Zu seinem Erstaunen berührte etwas einen Moment lang sein Gesicht - etwas wie die Hand einer Frau, warm und liebevoll. Dann fiel weiter entfernt etwas krachend um. Er konnte hören, wie jemand schmerzerfüllt aufheulte, und dann: »Das sind wieder diese kleinen Bastarde! Holt Sand und Wasser, und löscht das verfluchte Feuer!« Der unauffällige Mann mit den schrecklichen Augen zuckte die Achseln. »Zeit zu beginnen, Mylord«, sagte er. »Wir haben nur noch eine Stunde und -«, er warf einen Blick auf die Sanduhr, »- vielleicht
fünf Minuten bis zu dem Zeitpunkt.« »Elaine«, sagte der ältere Mann. Es war eher eine Klage; es lag eine Sehnsucht in diesem Wort, die dem jungen Mann trotz des Rauschens seines Blutes in den Schläfen auffiel. Bram konnte den mit den bösen Augen sehen - den Magier, wie er vermutete -, wie er ein kleines Werkzeug und einen Topf nahm, und er machte sich auf mehr Schmerzen gefasst, aber es gab nur kurze, feuchte Kühle, die ihn ein wenig oberhalb des Schamhaars berührte. Der Magier rezitierte leise, in einer Sprache, die Bram nicht kannte. Eine weitere Berührung, ein wenig höher als die erste. Bram reckte den Kopf und versuchte, über den muskulösen Bogen seiner Brust hinweg zu erspähen, was der Mann tat. Es 403 brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, was geschah; dann begann er erneut an den Fesseln zu zerren. Der Magier malte eine ordentliche Linie roter Punkte mitten auf seinen Körper, die auf das Brustbein zuführte. »Warum ist hier denn keiner?«, fragte Flora und sah sich in der Eingangshalle des Herrenhauses um. In einem solchen Gebäude hätte jemand an der Vordertür Dienst haben sollen, selbst wenn es schon kurz vor Mitternacht war. Stattdessen brannte nur die klare blaue Flamme einer teuren Lampe, die mit importiertem Duftöl gefüllt war. »Sei einfach froh, dass keiner da ist«, sagte Lorrie. Beide hatten die nassen Umhänge abgelegt; die fettige Wolle roch durchnässt nicht besser als zuvor, und jetzt, da sie im Trockenen waren, froren sie darin nur. Dann flüsterte Lorrie aufgeregt: »Rip ist hier. Er ist ganz in der Nähe. Er denkt an mich!« »Wo sollen wir -« begann Flora, dann zuckte sie zusammen und schrie auf. Neben der großen Feuerstelle schwang ein Teil der Holztäfelung auf geräuschlosen Scharnieren nach außen. Lorries Hand zuckte zu ihrem Messer. Dann hielt sie den Atem an, sank trotz der Schmerzen in ihrem Bein auf ein Knie nieder und streckte die Arme aus. »Lorrie!«, rief Rip. Er rannte so schnell zu ihr, dass er ausrutschte und sie beinahe umgestoßen hätte. Drei andere Kinder folgten ihm nach draußen. Lorrie ächzte.
»Oh, das tut mir Leid«, sagte Rip und wich zurück. »Ich habe es vergessen. Bram hat mir schon erzählt, dass du am Bein verletzt bist.« »Bram!«, sagte Lorrie. »Wo ist er?« »Er ist da oben.« Das kam von einem blonden Mädchen in Lorries Alter, das ein staubfleckiges Kleid trug. Sie zeigte in 404 eine Ecke der Halle, wo eine Steintreppe nach oben führte. »Sie haben ihn weggebracht«, sagte sie mit einem gequälten Ausdruck in den großen blauen Augen. »Die Leute kommen nicht wieder zurück, wenn sie sie erst geholt haben.« Die anderen beiden Kinder nickten. Sie waren jünger - ein Junge, der gleichzeitig trotzig und verängstigt wirkte, und ein Mädchen, das verzweifelt eine Tuchrolle umklammerte. »Wir haben zugesehen, aber wir konnten nichts tun«, sagte das kleine Mädchen, nachdem es den Daumen aus dem Mund genommen hatte. »Sie sind groß.« »Sie haben Schwerter!«, sagte der Junge und versuchte dabei, mutig zu klingen, aber das zeigte nur, wie verängstigt er wirklich war. Das jüngere Mädchen zeigte auf Lorrie. »Sie hat auch ein Schwert!« Dann bewegte sie den dicklichen Finger zu Flora. »Und sie auch.« »Aber sie sind nur Mädchen«, entgegnete der Junge missmutig. »Sei still, Kay«, sagte das ältere Mädchen. Lorrie zwang sich, wieder auf die Beine zu kommen. »Wir haben tatsächlich Schwerter«, sagte sie und tätschelte die Waffe an ihrer Seite. Auch wenn wir nicht damit umgehen können. Nun beugte sich Flora ein wenig vor und sagte: »Wir haben noch etwas Besseres als Schwerter«, sagte sie und berührte ihre Tasche. »Magie!« Die Augen der Kinder wurden groß. »Es gibt hier auch Magie«, sagte Rip. »Böse Magie.« »Dann bringt uns zu Bram«, sagte Flora entschlossen. Lorrie setzte sich in Bewegung; einen Augenblick später half ihr Flora, die Treppe hinaufzuhinken, damit sie das verletzte Bein nicht zu sehr belasten musste. Die Treppe schien endlos zu sein; sie war noch nie in einem so großen Gebäude gewesen und hätte sich so etwas nicht einmal vorstellen können, bevor sie Meersburg gesehen hatte. Das allein war schon 405 einschüchternd genug, aber es gab hier noch etwas anderes, etwas,
das ihre Zähne klappern ließ, und das war nicht die feuchtkalte gestohlene Kleidung. Sie konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie sich Dinge bewegten; Dinge, die sie nicht wirklich sah, Dinge, die wirkten, als bestünden sie aus schwarzem Draht, Dinge, die kicherten und höhnten und immer wieder auf sie zuzuckten. Und es lag eine Spannung in der Luft wie vor einem Unwetter; aber da die Mauern der Burg bereits von dem gewaltigen Sturm draußen bebten, konnte das eigentlich nicht sein. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. »Da«, flüsterte Rip schließlich. »Ich ... ich weiß, dass es da hinten ist.« Er zeigte einen langen Flur entlang. Er war dunkel, hatte einen Steinboden mit Teppichen darauf, schwere, geschnitzte Holztische standen an den Wänden, und die Wandbehänge flatterten leicht im Durchzug. Am Ende ging es um eine Ecke, und von dort war das schwache Leuchten von Lampenlicht zu sehen. »Geht ihr«, sagte Rip - er hatte den Kopf zur Seite gedreht, als würde er jemandem lauschen. »Wir machen uns bereit. Sie werden Bram jetzt bald wehtun.« Lorrie nickte ein wenig verwirrt, aber sie versuchte sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihr lag. Sie gingen den Flur entlang, und ihre Stiefel verursachten auf dem mit Teppichen bedeckten Boden gedämpfte Geräusche. Das Licht wurde heller, als sie der Ecke näher kamen, und dann konnten sie sehen, dass der Flur T-förmig war und sie die lange Seite entlanggekommen waren. Es gab Licht zu ihrer Rechten, Dunkelheit zu ihrer Linken. »Forten, Sonnart, seid ihr das?«, rief eine Stimme. »Ihr faulen Schweine, es ist beinahe Mitternacht! Ihr wisst genau, dass ihr schon vor einer Stunde zurück sein solltet!« Flora gab ein gedämpftes Geräusch von sich und versuchte, 406 heiser zu klingen, und Lorrie tat das Gleiche. Dem Klang der Stimme nach stand der Sprecher beinahe direkt hinter der nur noch sechs Fuß entfernten Ecke. Lorrie betete im Geist zu einem halben Dutzend Gottheiten, fiel leicht zurück, zog den Kopf ein, holte tief Luft und bewegte die Finger. Bram. Denk an Bram. Sie bogen um die Ecke; Lampen brannten in Metallhaltern an beiden Seiten. Vier Männer befanden sich vor einer hohen geschlossenen
Tür aus poliertem Holz. Zwei saßen auf Bänken; die beiden anderen standen nebeneinander und stützten sich auf Hellebarden. Jarvis Coe schnappte erstaunt nach Luft, als er sein Pferd vor dem schmiedeeisernen Tor zügelte. Es war offen, aber nicht sonderlich weit; sie mussten die Tiere aus dem Galopp heraus beinahe zum Stehen bringen, um hindurchzugelangen. Besonders, da es hier auf dem Hof so dunkel ist wie in einem Abflussrattennest, dachte Jimmy. Der Sattel verursachte seinen Oberschenkeln und dem Hinterteil wieder Schmerzen, und das Rapier hatte ihm ein paar heftige Stöße gegen die Rippen versetzt. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er Coe und spähte durch das Tor in Richtung Herrenhaus; die Entfernung und der Regen verbargen beinahe alles bis auf ein flackerndes Licht, das aus einem hohen Fenster fiel. »Allerdings«, erwiderte Coe angespannt. »Wir sind spät dran. Sehr spät. Es hat bereits begonnen.« Sie brachten die Pferde durch den Eingang und trieben die widerwilligen Tiere zu einem Kanter an. Dann zugehen sie sie am Tor zum Herrenhaus neben einem Dogkart, dessen Zugpferd geduldig den Regen ertrug. »Das ist das Pferd von Floras Tante!«, sagte Jimmy. »Ich habe es in dem kleinen Stall hinter dem Haus gesehen. Flora und Lorrie scheinen hier nach uns zu suchen!« »Oder nach dem jungen Mann, dem du begegnet bist.« 407 Das Haupttor des Herrenhauses war angelehnt, und Jimmy musste grinsen. Flora hatte es entweder sehr eilig gehabt oder alles vergessen, was sie als Diebin gelernt hatte, bevor sie sich einem anderen Berufszweig zuwandte. Sie schwangen sich aus dem Sattel und hängten die Zügel an Ringe in der niedrigen Mauer neben der Brücke. »Es könnte sein, dass wir es nachher eilig haben.« »Ich gehe als Erster«, sagte Coe und zog die Waffe. »Ihr geht als Erster«, stimmte Jimmy zu und tat es ihm gleich. Ein unterdrückter Schrei drang durch die Außentür des Opferzimmers. Bram hörte einen Mann erschrocken rufen, dann das Klappern von Stahl auf Stahl und ein hohes Kreischen, das nur aus der Kehle einer Frau stammen konnte, und dann einen Schmerzensschrei, der nicht weiter zuzuordnen war. Der Mann in der Samtjacke gab einen scharfen Befehl. Der Dünne
und Rox standen an der Tür; einer öffnete einen Gucklochdeckel und spähte vorsichtig nach draußen - er wollte wahrscheinlich nicht durch das Loch ins Auge gestochen werden. »Vermutlich wieder die kleinen Ratten, Mylord«, sagte Rox. »Otto liegt am Boden - aber er blutet nicht, das kann ich sehen. Sieht so aus, als würden die anderen sie verfolgen.« »Geht nach draußen, aber bleibt direkt vor der Tür«, sagte Baron Bernarr. »Lasst niemanden herein, um keinen Preis.« Er wandte sich wieder dem Magier zu. »Die Zeiteinteilung ist jetzt sehr wichtig, Mylord«, sagte der Mann mit den leeren Augen. »Wir müssen genau im richtigen Augenblick zuschlagen, und wir werden nur ein paar Sekunden haben, während Eure Gemahlin sich zwischen Leben und Tod befindet. Wenn Ihr bitte Eure Position einnehmen würdet.« Baron Bernarr kam näher; der Magier hielt ihm ein langes, 408 gekrümmtes Messer hin, und er griff mit verstörender Vertrautheit danach. In die Klinge des Messers waren Symbole eingraviert, und ebenso wie die am Boden, die der junge Mann nicht mehr sehen konnte, waren sie auf geheimnisvolle Weise widerwärtig und beunruhigend. »Seid vorsichtig«, sagte der Magier. »Die beste symbolische Darstellung eines scharfen Messers ist ein scharfes Messer.« Der andere Mann kicherte leise und eher mechanisch, wie jemand, der einen Witz schon zu oft gehört hat. Es war kalt im Zimmer, aber Bram konnte seinen eigenen Schweiß riechen und spürte das Kribbeln der Tröpfchen, die kalt über sein Gesicht liefen. Er hatte sich immer für einen mutigen Mann gehalten - er hatte schon öfter Gefahren gegenübergestanden: Feuer, Hochwasser und ein paar Kämpfen, als er für die Karawanenmeister gearbeitet hatte -, aber er befürchtete, dass er jetzt sogar flehen und betteln würde, wenn es nicht so offensichtlich sinnlos gewesen wäre. Lorrie sah, wie der Wachposten die Augen aufriss, als sie um die Ecke bogen. »Heh! Ihr seid nicht Forten und Sonnart«, sagte der Mann mit der Hellebarde. Er hatte einen Verband an einer Hand, wahrscheinlich wegen einer Brandwunde. »Verdammt«, sagte der andere Hellebardier, »das ist ein Mädchen.« Flora blies auf ihre Handfläche. Der Hellebardier brach mit schlaffer Endgültigkeit zusammen. Die
beiden Männer auf der Bank sprangen erschrocken auf und griffen nach ihren Schwertern. Lorrie hatte ihres bereits gezogen und den langen, mit Leder umwickelten Griff mit beiden Händen gepackt. Es gelang ihr, es rechtzeitig herumzureißen, um den Kopf der Hellebarde zu treffen, mit der einer der Männer nach Flora stach. Stahl traf mit einem disharmonischen Geräusch auf Stahl, dann glitt ihr Schwert an 409 der Spitze der Hellebarde entlang, bis es in der Biegung zwischen Stachel und Axt festsaß. Der Mann grinste, drehte die Waffe mit aller Kraft seiner starken Arme und Schultern, und das Schwert flog aus Lorries Händen und über seinen Kopf nach hinten, wo seine Kameraden schnell beiseite sprangen. Dann schrie der Mann auf und sprang selbst zurück: Flora hatte ihm ihr Messer in den Oberschenkel gestochen. »Lauf!«, rief sie. Lorrie rannte und bemerkte dann, dass Flora den anderen Arm des T entlang rannte, wobei die Männer mit den Schwertern ihr folgten und sie, wenn man dem Fluchen nach ging, nicht einholen konnten. Sie selbst rannte, so schnell sie konnte, und keuchte jedes Mal, wenn ihr linker Fuß den Boden berührte. Der Söldner hinter ihr brüllte Drohungen und Obszönitäten. Ein rascher Blick über die Schulter zeigte, dass er fast so schlimm hinkte wie Lorrie selbst. Krüppelrennen, dachte sie beinahe heiter. Das hier ist beinahe, als wäre ich wieder Heißfinger-Flora, dachte sie, als sie den Flur entlang rannte und sich nach Verstecken umsah. Aber ich kann nicht mehr lange so weitermachen. Bestiefelte Füße eilten hinter ihr her. Sie kennen sich hier aus, ich nicht. Sie werden mir eine Falle stellen. Sie atmete bereits schwer und hatte den säuerlichen Geschmack von Angst im Mund. Ich könnte jetzt in Meersburg sein und mit Tante Cleora Blaubeertörtchen mit Sahne essen! Dann erklang statt der Stiefelschritte Gepolter, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass ihre Verfolger gestürzt waren. Einer hatte sich im Fallen den Arm mit seinem eigenen Schwert aufgeschnitten und schrie auf. Hinter ihnen war eine dunkle Schnur quer über den Flur gespannt. Ein Ende war ans Bein einer schweren Eichenkredenz gebunden. Ein Stück Wandtäfelung klappte auf, und vier kleine Gestalten erschienen und warfen Gegenstände - Flora sah, wie ein silberner Kerzen410
leuchter aufblitzte. Dann klirrte Steingut, und sie konnte das Ol aus den Krügen riechen. Lauf, sagte sie sich selbst. Die Kinder huschten bereits in die Wand zurück, und die Söldner kamen mühsam wieder auf die Beine. Sie rannte weiter, bog in einen kürzeren Flur und eilte eine Treppe hinunter. »Hier entlang!«, rief Jarvis Coe und rannte die Wendeltreppe hinauf. »Bin direkt hinter Euch!«, keuchte Jimmy In der Nacht durch das Haus eines Adligen zu eilen, war für ihn nicht gerade etwas Neues, aber das Gefühl von Anspannung hinter seinen Augen wurde immer schlimmer. »Ich hoffe, Ihr könnt mit diesem Magier fertig werden.« »Ich habe ein paar Zauber dabei«, erwiderte Coe. »Über-lass ihn mir.« »Oh, nur zu gerne.« »Ich kann spüren, was er tut. Bei der Göttin! Wir haben nicht viel Zeit!« Sie liefen einen langen Flur entlang, und Flüstern schien ihnen zu folgen. Nun konnte Jimmy hören, wie eine Stimme erhoben wurde, gedämpft von einer Tür, aber barsch und befehlend, und die Worte fielen wie Silben aus glühender Asche. Oh, ich will diesen Mann wirklich nicht kennen lernen, dachte Jimmy und rannte weiter. Wenn man von Alban Asher einmal absah, hatte jede Begegnung mit einem Magier in der Geschichte der Spötter schlecht geendet - Jimmy konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein anderer Stand Magiern mehr misstraute und sie mehr fürchtete als die Diebe. Sie bogen nach rechts ab. Ein Dutzend Fuß hinter der Ecke stießen sie auf eine Tür, vor der zwei Männer Wache hielten, die bereits die Schwerter gezogen hatten: Es waren die beiden Galgenvögel, die Bram mitgenommen hatten. Jarvis Coe verschwendete keine Zeit und griff sofort an. 411 Der große dunkelhaarige Mann schlug das Schwert beiseite, dann versuchte er, Coe gegen das Knie zu treten. Coe drehte das Bein, so dass es nur von der Seite getroffen wurde, rammte dem großen Mann die Schulter in die Magengrube, schleuderte ihn gegen die Tür und stolperte in das Zimmer dahinter. »Beeilt euch!«, schrie ein junger Mann aus dem Raum. »Um der Liebe der Götter willen, beeilt euch!«
Jimmy konnte nicht länger zusehen. Der dünne Söldner griff ihn an, das Schwert in der rechten Hand, ein langes Messer in der anderen, die Messerhand voraus über dem linken Fuß. Der junge Dieb versuchte hektisch, sich an alles zu erinnern, was Prinz Arutha ihm gesagt hatte. Alles gleichzeitig, und ohne Worte zu benutzen. »Ich werde dich in deine Einzelteile zerlegen, mein Sohn«, sagte der dünne Söldner. »Komm zu Papa, du kleiner Mistkerl!« »Hilfe!«, rief der junge Mann in dem Raum dahinter. Das Klirren von Stahl auf Stahl war zu vernehmen. »Holt mich hier raus!« Der Dünne trat vor und schlug gleichzeitig zu, was ihm enorme Reichweite verlieh. Jimmy versuchte nicht zurückzuweichen. Stattdessen nutzte er die Tatsache, dass er kleiner war, um das Schwert des anderen zu heben, darunter hindurchzuschlüpfen und zu versuchen, die Kehle des Mannes zu treffen. Das funktionierte nicht; das Rapier fuhr hoch über die Schulter des Söldners, bis die Griffe gegeneinander stießen. Jimmy drehte sich verzweifelt, als der Dolch in der anderen Hand des Soldaten zustach. Und dann waren sie Brust an Brust, und Jimmy klemmte den Messerarm des Dünnen mit seinem Arm an die Seite. Das sieht schlecht aus, dachte Jimmy, als er versuchte, seinem Gegner zwischen die Beine zu treten, und stattdessen den Oberschenkel traf. Er ist erheblich stärker als ich. Sie umkreisten einander einen Augenblick - der Atem des 412 Söldners war beinahe so schlimm wie der von Stinke-Neville -, und dann gelang es Jimmy, mit dem Absatz auf den Spann des Mannes zu stampfen. Der Dünne heulte auf und warf sich vorwärts. Jimmy wich nach hinten aus - und fand sich in dem Raum hinter der Tür wieder; sie hatten sich vollständig gedreht, ohne dass er es auch nur bemerkt hatte. Der Raum war heller als der Flur draußen. Jimmy verschaffte sich rasch einen Überblick, während er weiter zurückwich, dann plötzlich zustieß und den eifrigen Dünnen beinahe aufgespießt hätte. Aber der Söldner wich im letzten Augenblick aus, und sie umkreisten einander erneut, der Dünne außen, und Jimmy drehte sich auf einem Bein, die linke Hand an der Hüfte, das Handgelenk der Rapierhand leicht gedreht, wie der Prinz es ihm beigebracht hatte. Ein Mann in einer schönen Jacke und Reithosen beugte sich mit einem gebogenen Messer über einen nackten jungen Mann - das musste Bram sein. »Fünftausend Goldkronen, wenn du sie fern
halten kannst!«, rief der Mann. »Fünftausend - Freispruch von allen Verbrechen und fünftausend!« Jimmy spürte, wie seine Augen größer wurden. Mit fünftausend könnte ich dieses Herrenhaus kaufen. Der Dünne dachte offenbar das Gleiche. Er sprang abermals vorwärts, grinste sogar noch breiter, und Speichel lief über sein Kinn. Und die ganze Zeit über ging das Rezitieren weiter, wie Mühlsteine, die das Fundament der Welt zermahlen. Flora bog um eine Ecke und schrie auf. Am anderen Ende des Flurs kam Lorrie auf sie zugehinkt - und der Mann, dem sie ins Bein gestochen hatte, hinkte hinter Lorrie her! Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun ?, dachte Flora hektisch. Dann schrie sie: »Lorrie! Bieg in der Mitte rechts ab!« Sie rannten aufeinander zu, und die Rufe der Verfolger wurden lauter. Die beiden Mädchen wären um ein Haar zu413 sammengestoßen; dann warfen sie sich beinahe gleichzeitig auf die Tür, rannten hindurch und schlugen sie hinter sich zu. Der Raum war ein Schlafzimmer mit vier Etagenbetten und leer bis auf eine Tonlampe auf einem Tisch und einen einzelnen Holzstuhl. Flora sah sich hektisch um. »Bring mir den Stuhl. Wir können ihn gegen die Tür stemmen!« Lorrie versuchte das und wäre beinahe hingefallen, als ihr Bein nachgab, aber dann packte sie den Stuhl und zerrte ihn zu Flora. Flora griff gerade danach, als die Tür aufgestoßen wurde. Zusammen versuchten sie und Lorrie, sie wieder zu schließen, aber die Soldaten schleuderten sie mit brutaler Kraft zurück. Die Tür schwang auf, und zwei Männer gerieten einander in den Weg, als sie versuchten, gleichzeitig ins Zimmer zu rennen. Flora taumelte rückwärts, bis sie gegen den Tisch stieß. Sie stützte sich unwillkürlich mit beiden Armen ab, und Holzsplitter von der Tischplatte drangen schmerzhaft in ihre Handflächen. Die Männer waren rasend vor Zorn, und ihre Barte glitzerten von dem Leinöl aus den Krügen, die die Kinder geworfen hatten ... Floras Gedanken überschlugen sich, aber alles andere schien ganz langsam zu geschehen. Sie drehte sich halb, griff nach der Tonlampe und achtete darauf, sie nicht zum Verlöschen zu bringen, indem sie sie zu schnell herumriss. Dann machte sie zwei Schritte vorwärts und warf sie. Sie sah zu, wie die Lampe sich drehte und das Ol in die
Gesichter der Männer spritzte. Es fing sofort an zu brennen: kein Aufflackern wie bei Kiefernharz, aber schnell genug, und die Flammen züngelten gelb und dick im Haar und in den Barten der Männer. Beide schienen an Ort und Stelle zu tanzen und schrien, während sie auf ihre eigenen Gesichter einschlugen und das Feuer sich auf dem ölgetränkten Tuch und Leder ihrer Kleidung ausbreitete. Flora stand reglos da und beobachtete alles mit weit aufgerissenen Augen. 414 Lorrie machte einen Schritt an ihr vorbei, bückte sich nach einem Schwert, das einer der Söldner hatte fallen lassen, nahm es ungeschickt mit zwei Händen und schwang es wieder und wieder. Ihre Schläge waren zielsicher. Ich nehme an, sie hat oft beim Schweineschlachten geholfen, dachte Flora. Zuckend und stöhnend fielen die Männer zu Boden. Lorrie stand schwer atmend über ihnen, das blutige Schwert in der Hand. Der letzte Söldner sah, dass seine Freunde brannten, und das Schwert fiel ihm aus der Hand. Er bewegte den Mund, ohne etwas zu sagen, dann wich er vor den zwei Frauen zurück und drehte sich um, um zu fliehen. Seine Schienbeine trafen Kays Rücken genau in der richtigen Höhe, und er schoss vorwärts und fiel mit dem Gesicht auf die Fliesen. Hinter Kay kam Mandy, einen Schürhaken in der Hand, und hinter ihr waren Neesa und Rip mit zwei Kerzenhaltern. Jetzt reicht es langsam, dachte Jimmy Die beiden Waffen glitzerten, als sie sich bewegten. Der Dünne hatte einen leicht blutenden Schnitt über einem Knie, aber das schien ihn nur noch wütender zu machen. »Mein Gold!«, keuchte er und griff erneut an. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte Jarvis Coe und trat neben Jimmy Der Dünne und Jimmy schauten beide zur Seite. Rox war gegen die Wand gesackt, die Beine gerade vor sich ausgestreckt, und presste beide Hände auf seinen Bauch. Blut floss zwischen seinen Fingern hindurch. »Da habt ihr euer Opfer!«, rief Coe. »Göttin, das hier ist, als versuche man, vier Löcher mit einem einzigen Korken zu stopfen.« Der Dünne kreischte etwas und griff an; Jimmy trat nur zu gern beiseite. 415
Es war ein großes Zimmer, und das dahinter war sogar noch größer. Jimmy brauchte sechs Schritte, um den Magier zu erreichen, der am Fuß des Tisches stand, die Arme erhoben. Er war von einem kriechenden Nimbus umgeben, der aussah wie Dunkelheit in Menschengestalt. Jimmy sprang vorwärts. Mit zwei Fuß Stahl in der Lunge kann er nicht mehr rezitieren, dachte er. Der Magier bewegte eine seiner erhobenen Hände. Licht explodierte hinter Jimmys Augen, und er schrie gequält auf. »Nein!«, heulte Bram, als der Junge mit dem Rapier rückwärts taumelte. »Nein, nein, nein!« Der alte Mann hob das gebogene Messer, und der Magier rezitierte weiter. Bram konnte Wind spüren; einen Wind des Zorns, und plötzlich war es auch für die anderen wahrnehmbar. Er hörte ein Rauschen und den Schrei einer Frau, der aus dem Nichts kam. »Jetzt!«, brüllte der Magier. »Jetzt! Stecht zu!« Die Seide wurde von Brams Gesicht geweht. Er blickte auf, in das faltige Gesicht des Mannes, der ihn töten wollte, und fletschte trotzig die Zähne. Das Messer fiel zu Boden, obwohl der Magier protestierend aufheulte. »Zakry?«, flüsterte der Mann. Werf, fragte sich Bram, plötzlich aus seiner Angst und seinem Zorn herausgeschreckt. Er hatte nie solche Qual gesehen wie die, die sich nun auf dem faltigen Gesicht über ihm abzeichnete: Die Züge des Mannes welkten dahin, und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Zakry! Zakrys Sohn! Es war wahr! Elaine, du Hure! Du Hündin!« »Sie ist tot«, seufzte eine andere Stimme. »Oh, Verdammnis, Ihr habt zu lange gewartet.« Ich bin tot! 416 Das hallte durch Brams Kopf wie das Läuten einer großen Bronzeglocke. Nun stand eine Gestalt vor dem Baron. Er konnte ihre Stimme hören, nicht mehr so laut, aber immer noch hallend, als könnte sie seine Knochen vibrieren lassen. Siebzehn Jahre des Sterbens! Siebzehn Jahre, in denen ich jede Minute starb. Du hast mich getötet! Du hast meinen Za-kry umgebracht, meinen Geliebten, den Vater meines Sohnes! Du hast versucht, auch mein Kind zu töten, aber ich habe dich aufgehalten, du Ungeheuer! »Hure!«, keuchte der alte Mann. »Siebzehn Jahre habe ich für nichts
anderes gelebt, als dich zurückzuholen, und nun sehe ich, dass Zakry mir die Wahrheit gesagt hat. Du warst seine Geliebte, und der hier ist sein Kind! Wie ich dich hasse!« Er hob den Dolch und stach nach der substanzlosen Gestalt vor ihm. Die Gestalt riss den Mund auf und stieß einen endlosen, klagenden Schrei aus, der bewirkte, dass Bram am liebsten den Kopf gegen den Steintisch gerammt hätte. Das Messer blitzte wieder und wieder. Jimmy die Hand keuchte, denn seine Schmerzen waren so gewaltig, dass er nicht einmal schreien konnte. Aber er hörte einen Schrei, und dann fegte der Schrei durch ihn hindurch wie ein Wind, wie Todesqualen, die über Jahre hinaus ausgedehnt werden. Er konnte nun ein wenig besser sehen und wusste, dass ihm überhaupt nichts mehr wehtun würde, dass er überhaupt nichts mehr spüren würde, wenn er sich nicht sofort bewegte. Da. Das Glitzern von Stahl. Er drehte sich um und stach zu. Es tat weh, aber sein Kopf wurde klarer. Er sah, wie Baron Bernarr nach hinten sprang, um dem Rapier zu entgehen. Das brachte ihn beinahe bis zum Fenster. Das Fenster war für einen Bogenschützen gebaut worden: An der Außenseite der Mauer war der Schlitz so breit wie ein 417 Mann, und innen hatte er schräge Seiten, so dass der Bogenschütze nach allen Seiten schießen konnte. Der Baron taumelte gegen den unteren Rand des Fensters und fiel nach hinten; das Messer glitzerte, als er es fallen ließ, und bohrte sich mit der Spitze in die Dielen. Das erlaubte dem Baron, die Handflächen auf die glatten, schrägen Steine zu drücken und sich dort abzustützen. Dann versuchte er, das Bein hinter sich zu bekommen und sich wieder aufzurichten. Etwas war plötzlich zwischen dem Baron und Jimmy. Jimmy glaubte, dass es eine Frau war, aber sein Kopf tat immer noch so weh, dass er nicht sicher sein konnte; und er glaubte auch, den Baron durch die Gestalt hindurch sehen zu können. Die Gestalt schrie, und Jimmy ließ das Rapier fallen, um sich die Ohren zuzuhalten. Er sah, wie auch der ältere Mann die Hände hochriss, und das O seines Mundes, als er rückwärts aus dem Fenster fiel, mit einem lang gezogenen Schrei durch das teure Glas brach und in die von Blitzen erhellte Nacht stürzte. »Fünfzig Fuß freier Fall, und dann Steinboden«, keuchte Jimmy, beugte sich vor und tastete nach dem Griff seines Rapiers. Eine riesige Last schien von seinen Schultern zu weichen -oder aus
der Innenseite seines Kopfs. Der Nachtwind fegte durch das zerbrochene Glas herein, und die schwarzen Kerzen gingen aus. Zehn Fuß entfernt starrte der Dünne ihn an und rutschte dann rückwärts. Blut spritzte, als er seine Kehle von Jarvis Coes Schwertspitze riss. In der darauf folgenden Stille erklang ein Seufzen. Der Magier zu Brams Füßen schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Ärmel seines Gewands. »Sieht so aus, als müsste ich einen anderen Gönner für meine ... Kunst finden«, sagte er leichthin. Er hob die Hand, und dann war er verschwunden. 418 Coe starrte die Stelle an, an der der Magier noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte, und fluchte. Jimmy kannte die Sprache nicht, aber der Tonfall war unmissverständlich. Hinter ihm kam Flora ins Zimmer gestürzt, die Lorrie stützte, aber die Bauerntochter riss sich los und hinkte auf Bram zu, und ihr Bruder eilte hinter ihr her. Bram hob den Kopf und sah alle nacheinander an. »Könnte mich vielleicht jemand losschneiden?«, fragte er kläglich. »Und mir eine Hose besorgen?« Jimmy die Hand zügelte sein Pferd und blickte zurück. An den Toren des Herrenhauses waren so viele Leute versammelt, dass ihre Stimmen sogar eine halbe Meile entfernt zu hören waren. Er schüttelte bedauernd den Kopf und tätschelte den Griff des Rapiers, das an seinem Sattel hing. »So viel also für die Spielleute«, sagte er und atmete tief die kühle Frühlingsluft ein. Möwen kreisten über ihnen und erinnerten ihn an zu Hause, und das wiederum verursachte eine schmerzliche Sehnsucht, die ihn überraschte. Er und Coe waren zu Pferd, während Flora den Dogkart lenkte. Lorrie hatte beschlossen, bei Bram und den Kindern zu bleiben und später mit ihnen zusammen in einem alten Wagen aus dem Stall des Barons zur Stadt zu fahren. Sie hatten sich genug Zeit gelassen, dass Jimmy Flora erklären konnte, wer Coe wirklich war, aber den anderen hatten sie nichts davon gesagt. Jimmy war der Ansicht, dass Flora die ganze Wahrheit wissen musste, beschloss aber, Bram, Lorrie und den anderen Coes wirkliche Identität nicht zu verraten. Er wusste nicht, warum; es war einfach die Art der Spötter, Außenseitern so wenig wie möglich zu sagen. »Spielleute?«, fragte Flora. Jimmy beobachtete sie erstaunt. Offenbar hatte sie zugesehen, wie Lorrie mit den Zügeln umging, denn sie kam hervorragend mit dem
Dogkart zurecht. 419 Jarvis Coe lachte leise. »Ich denke, der junge Jimmy meint die Spielmannslieder, in denen der Held das Mädchen, das Gold und das halbe Königreich bekommt«, erklärte er. »Und stattdessen bekommt Bram Blödmann alles«, sagte Jimmy Flora seufzte, und er verdrehte die Augen. »Was glaubt Ihr, was für eine Art Baron wird er abgeben?«, fragte er Coe. Coe zuckte die Achseln. »Einen Besseren als der Letzte, immer vorausgesetzt, dass der Hof und der Herzog ihn anerkennen. Es gibt genug Zeugen dafür, dass er der verschwundene Sohn von Baronin Elaine ist - und nachdem Bernarr die Ländereien und seine Pflichten so vernachlässigt hat, wäre es gut, wenn ein Mann die Verantwortung übernimmt, der die Gegend kennt. Herzog Sutherland kümmert sich nicht sonderlich darum, weil er den größten Teil der Zeit in Rillanon verbringt und nicht am westlichen Hof; ihn hat nur interessiert, ob der Baron rechtzeitig seine Steuern gezahlt hat. Ich denke, mit Guy du Bas-Tyra in Krondor wird ein kritischerer Blick auf Meersburg ruhen. Die Grenze nach Groß-Kesh verläuft ganz in der Nähe; hier wird eine starke Hand gebraucht. In dem jungen Bram steckt vielleicht wirklich ein Held.« Jimmy zuckte die Achseln. »Schöner Held«, sagte er. »Ja, er sieht aus wie einer, aber was hat er schon getan? Hat sich auf den Kopf schlagen und fesseln lassen und wurde gerettet von ...« »Von zwei Jungen, vier Mädchen, einem Dieb und einem Hexensucher, der offiziell gar nicht existiert«, warf Flora spitz ein. »Dennoch, ich finde, Bram ist einfach süß.« »Mädchen!«, sagte Jimmy, und sie lachten. »Vielleicht bin ich dann ja ein Held in Ausbildung.« »Oder ein Hexensucher«, schlug Coe vor. »Du hast durchaus Talent dazu an den Tag gelegt, Jimmy Ich könnte einen Lehrling brauchen ...« Jimmy schauderte und hob die Hand. »Vielen Dank, aber 420 das ist eine viel zu große Ehre für mich. Ich habe große Hochachtung vor Eurer Göttin und freue mich darauf, sie kennen zu lernen - in vielen, vielen Jahren.« »Nun, wenn du es dir noch einmal anders überlegst, hinterlasse eine Nachricht im Tempel. Ich muss diesen Magier finden, und ich könnte dabei Hilfe brauchen.«
»Was glaubt Ihr, wo er ist?« »Irgendwo da draußen«, antwortete Coe. »Wo er sich darauf vorbereitet, weiteren Ärger zu machen.« Er warf Flora, die Jimmy beobachtete, einen Blick zu, dann sagte er zu dem Jungen: »Es gibt Dinge auf dieser Welt, mein junger Freund, die dir sicher nie gefallen werden. Wie der Krieg gegen die Tsuranis weit im Westen. Du hörst vielleicht davon, und er hat indirekten Einfluss auf dein Leben, aber das meiste, was dort geschieht, wirst du nie erfahren. Es könnte allerdings auch sein, dass du mit einem Aspekt eines Kampfes zu tun bekommst, den ich mir nicht einmal im Traum vorstellen kann, und ich kann dir erst recht nichts darüber erzählen. Dieser Magier, dieser Lyman Malachy, war nicht zufällig an dem Abend, als Bram zur Welt kam, dort im Herrenhaus. Warum er dort war, an diesem Ort, in dieser Nacht, bleibt vielleicht für immer ein Geheimnis, aber eins kann ich dir sagen: Er oder jemand, der ihm ähnlich ist, wird zurückkehren und noch mehr Schaden anrichten. Am Ende habe ich dunkle Geister in diesem Haus gespürt. Worauf der Baron auch immer gehofft haben mag, ich fürchte, dass etwas viel Schrecklicheres geschehen wäre. Ich denke, dass vielleicht ein anderer Agent des Bösen schon darauf wartete, im kritischen Augenblick von Lady Elaines Körper Besitz zu ergreifen. Es gibt finstere Kräfte, die in dieser Welt umgehen, mein Freund, finstere Mächte, denen Blut, Mord und Chaos nützen. Wir könnten einen klugen Jungen wie dich im Kampf gegen dieses Böse gut gebrauchen.« Jimmy lachte bedauernd. »Danke, aber ich glaube, ich hal421 te mich lieber an weniger gefährliche Dinge, wie zum Beispiel schlafenden Drachen ihr Gold vor der Nase wegzustehlen.« »Du könntest bei m- ... bei uns bleiben, Jimmy«, sagte Flora. Der junge Dieb zog die Brauen hoch, und sie errötete. »Ich glaube nicht, dass ich dazu gemacht bin, dein ... Pflegebruder zu sein«, erklärte er vergnügt. »Und wenn ich bliebe, würdest du mich bald dazu bringen, alten Damen über die Straße zu helfen, Dämonen zu töten und Ruthia allein weiß, was sonst noch! Außerdem, was für Arbeit könnte Kapitän Karl schon für mich finden? Ich würde Schiffsjunge werden und Wache um Wache die Fische füttern.« Flora und Coe lachten. »Was hast du also vor?«, fragte Jarvis neugierig. »Ich gehe zurück nach Krondor - und zwar auf dem Landweg«, sagte
Jimmy. Coe lachte. »Dann solltest du dein Pferd wenden, mein Freund, denn du bist in die falsche Richtung unterwegs.« Jimmy blinzelte wie eine Eule im Laternenlicht. Dann lachte er. »Ich wusste es!«, rief er, wendete sein Pferd tatsächlich und trieb es an. »Lebt wohl, Freunde! Wenn du je wieder nach Krondor kommst, Flora, weißt du, wo du mich finden kannst!« Sie hielt den Dogkart an, stand auf und winkte. »Das werde ich tun, Jimmy die Hand!« »Nichts für ungut, Meister Coe, aber ich werde besser schlafen, wenn sich unsere Wege nie wieder kreuzen!« Coe lachte. »Leb wohl, Junge!« Beide blickten ihm noch lange hinterher, während die Hufschläge und ihr Echo, das von den Klippen widerhallte, langsam verklangen. »Glaubst du, er wird sicher nach Hause zurückkommen?«, fragte Coe. Flora lachte. »Und mit Gold in den Taschen, jede Wette.« 422 »Gold?« Flora schnalzte dem Pferd zu, damit es sich wieder in Bewegung setzte, und grinste. »Er wird durch den Wald reiten und dem Wagen mit Bram, Lorrie und den Kindern ausweichen. Dann wird er noch einmal im Herrenhaus vorbeischauen. Wenn Bram bei seiner Rückkehr auch nur einen einzigen silbernen Kerzenleuchter oder ein Stück von Lady Elaines Schmuck vorfindet, dann habe ich mich in Jimmy gewaltig getäuscht.« Jarvis Coe lachte und lenkte sein Pferd neben den Wagen. »Ich hoffe, der Junge findet bald eine andere Berufung. Es wäre eine Schande, wenn er sein Leben am Ende eines Seils beenden würde.« Flora lachte erneut. »Das wird nie geschehen, Meister Coe. Ich weiß nicht, was aus ihm werden wird, aber ich würde mein Leben darauf verwetten, dass kein Henker je seine Schlinge um den Hals von Jimmy die Hand legen wird.« Epilog Krondor Der Tagmeister blickte auf. Eine halbhohe Tür - eine, von der die meisten Spötter nicht einmal wussten - ging auf. Sie war zwischen den Mauersteinen verborgen, versteckt im Schatten, und man musste wirklich wissen, dass sie vorhanden war, um sie zu finden.
Eine kleine Gestalt kam aus dem Dunkel. Diese Ecke des riesigen Kellers unterhalb des Bordells, der als Spötters Ruh bekannt war, war für den Tag- oder den Nachtmeister und ihre unmittelbaren Untergebenen reserviert, und die meisten anderen Spötter machten einen großen Bogen darum, solange sie nicht ausdrücklich dorthin zitiert wurden. Der Tagmeister verkniff sich ein Lachen. »Nun, junger Jimmy, so bald schon wieder zurück?« »Ich hatte einen Grund«, erwiderte Jimmy. »Es ist doch genug Zeit vergangen, oder?«, fügte er hinzu und setzte sich auf einen Holzstuhl an den Tisch, dem Tagmeister gegenüber. »Das kommt darauf an«, sagte der Tagmeister. »Es ist immer noch ein Schwärm von Geheimpolizisten unterwegs, die alle gern wissen würden, was in der Burg passiert ist. Herzog Guy ist im Triumph aus dem Tal der Träume zurückgekehrt, und von der Besatzung der Greif hat niemand mehr etwas gehört, also denke ich, dass der alte Jocko Radburn wohl ersoffen ist. Ich hoffe, das wird sich nicht als Wunschdenken er424 weisen. Es ist del Garza gelungen, Radburn den größten Teil der Schuld für die ganze Sache zuzuschieben.« Er senkte die Stimme, als wollte er nicht belauscht werden, was ein wenig theatralisch wirkte, da sie allein waren und sich tief in den Eingeweiden von Spötters Ruh befanden. »Es gibt Gerüchte, dass Prinz Erland im Sterben liegt und Guy einen Wutanfall bekommen hat, als er erfuhr, dass man den Prinzen in den Kerker geworfen hat, aber del Garza hat auch dafür die Schuld Jocko zugeschoben, und so sieht es aus, als müsste keiner dafür leiden. Mit Ausnahme des Prinzen selbstverständlich. Daher ist es etwas ruhiger geworden, aber du solltest trotzdem lieber noch etwas zu bieten haben, das den Zorn des Aufrechten Mannes lindert, wenn man bedenkt, wie viel Ärger du gemacht hast.« Jimmy griff in sein Hemd und holte einen kleinen Beutel heraus. »Zweihundert Goldstücke«, sagte er lässig. »Würde das helfen?« Der Tagmeister nickte so nachdrücklich, dass sein Doppelkinn wackelte. »Das ist ein guter Anfang und wird ihn vermutlich davon abhalten, dich in die Bucht zu werfen. Aber du solltest lieber noch etwas hinzufügen, sonst könnte es trotzdem passieren, dass er die Schläger auf dich hetzt, weil du so früh zurückgekommen bist.« Jimmy lehnte sich zurück und grinste. Der Tagmeister erwiderte das ansteckende Grinsen unwillkürlich.
»Du hast doch noch etwas im Ärmel, junger Jimmy! Also, lass es mich hören.« »Erinnerst du dich an Gerem die Schlange?« »Gerem Benton? Aber sicher. Was ist mit ihm?« »Er hat im Auftrag des alten Barons von Meersburg eine Bande von Diebesfängern angeführt.« Der Tagmeister lehnte sich zurück. »Ich dachte, Gerem wäre tot.« Jimmy sagte: »Ich nehme an, er wollte, dass alle das glaub425 ten, als er Krondor verließ. Er hatte in Meersburg seine eigene Operation, und seine Diebesfänger hatten die Lage mehr oder weniger in der Hand. Sie haben jeden zwielichtigen Charakter, der nach Meersburg kam, ins Gefängnis gesteckt, aber ihre eigenen zwielichtigen Operationen weiterhin durchgeführt, so dass die Männer des Barons glaubten, sie brauchten Gerem. Ich habe den neuen Baron auf die Sache hingewiesen, und er hat mich mit diesem Gold belohnt. Also habe ich dafür gesorgt, dass Gerem und seine Bande aus dem Verkehr gezogen wurden.« Jimmy hielt es für besser, nicht zu erwähnen, dass der »neue Baron« ein Bauernjunge war, den der Königshof in Rillanon noch nicht bestätigt hatte, und dass die »Belohnung« ohne Brams Wissen erfolgt war, als Jimmy in der Nacht, nachdem alle glaubten, er wäre nach Meersburg geritten, das unbewachte Herrenhaus ausgeraubt hatte. Er hatte so gut wie alles genommen, was er tragen und leicht loswerden konnte; ein paar silberne Kerzenleuchter und einen hübschen Dolch, der einem von Bernarrs Vorfahren gehört hatte, und er hatte sich lange damit gequält zu entscheiden, welche von Lady Elaines Schmuckstücken er stehlen und welche er zurücklassen sollte, damit Bram sie Lorrie schenken konnte. Er war immer noch verblüfft über das, was Coe ihm über den Anteil der toten Baronin an den Ereignissen der Nacht zuvor erzählt hatte, und daher war schließlich das Gefühl, Lady Elaine etwas zu schulden, größer als seine Gier, und er hatte ihr nur wenig gestohlen. Noch bevor er Krondor erreichte, hatte er gute Käufer für seine Beute gefunden, so dass er sich nicht mehr mit den Hehlern in der Stadt hatte abgeben müssen. Als er das Stadttor erreichte, hatte er eine hübsche Jacke und ein sauberes Hemd getragen, und die Wachen am Tor interessierten sich viel mehr für Bettler und Diebe, die die Stadt verlassen wollten, als für einen wohlhabenden Jungen aus Meersburg, der zu einem Besuch nach Krondor kam. Er hatte Pferd und Sattel verkauft, und nun
426 waren von seinem Abenteuer nur noch ein modischer Hut, die Jacke und ein weiterer Beutel Gold übrig geblieben, den er nicht mit dem Aufrechten Mann teilen würde. Der Tagmeister betrachtete Jimmy forschend, dann erklärte er: »Du willst also sagen, dass Meersburg reif für eine gut ausgewählte Bande wäre?« »Genau«, erwiderte Jimmy, versuchte angestrengt, nicht allzu selbstzufrieden dreinzuschauen, und versagte jämmerlich. Der Tagmeister lachte. »Nun, ich werde mit dem Aufrechten Mann darüber sprechen. Es sieht so aus, als wäre eine ganze Stadt ein akzeptabler Preis für deine Rückkehr. Und sie ist auch recht gut gelegen, nahe der Grenze zu Kesh. Also verschwinde zu deinem Schlafplatz, und verhalte dich ein paar Tage lang ruhig, und wenn er Nein sagt, lasse ich dich wissen, wie lange du dich noch verstecken musst. Schlimmstenfalls ein oder zwei Monate, denke ich. Aber wenn er einverstanden ist, möchtest du dann wieder nach Meersburg zurückkehren und unseren Leuten helfen, sich dort zu etablieren?« Jimmy war rasch aufgestanden. »Nein, danke«, antwortete er. »Ich halte mich lieber an Krondor. Hier gibt es nur Wachtmeister, Gardisten, Soldaten und hin und wieder einen Kaufmann mit einem Messer, um die ich mir Sorgen machen muss. Kinderkram. Das Landleben ist für meinen Geschmack ein bisschen zu gefährlich.« Damit drehte der Dieb dem Tagmeister den Rücken zu und kehrte zurück in die Kanalisation. Er holte tief Luft, als er den schmutzigen Ziegeltunnel entlangtrabte, und war froh, wieder zu Hause zu sein. Sicher, der Aufrechte Mann würde ihn zwingen, noch ein oder zwei Wochen im Versteck zu bleiben, um dafür zu sorgen, dass Jimmy wirklich klar war, wer die Stadt beherrschte, aber er wusste, es gab genügend Beutel abzuschneiden und Wohnungen auszurauben, und die Gilde hatte gegen Beute nichts einzuwenden. Früher oder später 427 würde Jimmy die Hand zu seinem Handwerk zurückkehren. Er hatte genug davon, Prinzessinnen und Bauernmädchen zu retten und die finsteren Schergen eines unaussprechlichen Schreckens zu bekämpfen. Pfeifend ging er tiefer in den dunklen Tunnel hinein. Nachwort »Warum die Zusammenarbeit?«, werde ich oft gefragt. Das hier ist der dritte Band in der Reihe der Legenden von
Midkemia. In den nächsten Jahren werde ich mich auf meine Soloarbeiten konzentrieren, aber ich habe vor, in der Zukunft noch öfter mit anderen Autoren zusammenzuarbeiten. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen hatte Midkemia für mich stets auch mit »anderen Stimmen« zu tun. Um das zu verstehen, müssen Sie sich daran erinnern, dass die Welt von Midkemia im Lauf vieler Jahre von mehreren sehr klugen Leuten für eine Reihe von Rollenspielen erfunden wurde, als wir Ende der siebziger Jahre Studenten an der University of California in San Diego waren. Die Persönlichkeiten aller, die mit der Erfindung dieser Welt zu tun hatten, wirken sich immer noch stark darauf aus, wie ich Midkemia, seine Mannigfaltigkeit und seine einzigartigen Eigenschaften betrachte. Wenn ich einen Schauplatz für ein Werk auswähle, wurde der Charakter dieses Orts häufig schon vor vielen Jahren von jemand anderem definiert. Also ist die Zusammenarbeit mit anderen Autoren eine weitere Gelegenheit, »andere Stimmen« ins Spiel zu bringen. Die ersten drei, William R. Forstchen, Joel Rosenberg und der Koautor dieses Buchs, Steve Stirling, sind Schriftsteller, deren 429 Arbeiten ich bewundere und genieße. Ihr Stil unterscheidet sich merklich von meinem, aber uns allen ist die Zusammenarbeit leicht gefallen. Unsere Arbeitsweisen waren einander erstaunlich ähnlich und ganz anders als meine Zusammenarbeit mit Janny Wurts an der KelewanSaga. Janny und ich haben uns die einzelnen Kapitel hin und her geschickt und alles mehrmals neu geschrieben, bis es Stellen gab, von denen ich nicht mehr sagen könnte, wer sie verfasst hat. Mit Bill, Joel und Steve habe ich jeweils an einer groben Handlung gearbeitet und sie dann tun lassen, was sie wollten. Wenn ich ihre Rohfassung erhielt, habe ich sie umgeschrieben und dabei versucht, ihre »Stimmen« intakt zu lassen, während ich dafür sorgte, dass die Arbeit stimmig in die Welt passte, über die wir schrieben. Wir standen per E-Mail oder Telefon miteinander in Kontakt, und nach und nach verbanden sich auf diese Weise die Stimmen miteinander. Steve Stirling hat für dieses Buch, Der Dieb von Krondor, eine seiner Lieblingsfiguren als Held ausgewählt, und es hat Spaß gemacht, eine Geschichte über Jimmys »erstes« Soloabenteuer zu schreiben, lange bevor er Arutha auf den Dächern von Krondor vor
dem Attentäter rettete. Nachdem ich so viele Bücher über Jimmy/Lord James geschrieben hatte, fiel es mir verständlicherweise schwer, zu dieser Figur zurückzukehren, ohne dass mich das Wissen darüber, was vor ihm lag, belastete. Steve ist es gelungen, den Jungen wieder zu finden, der die letzten vier Kapitel der ersten Hälfte der Midkemia-Saga belebte, und mich daran zu erinnern, wer er war. In Die drei Krieger haben Joel und ich drei meiner Lieblingscharaktere aus seinem Universum »geklont« und sie nur ein wenig verändert, um Bewohner von Midkemia aus ihnen zu machen, wobei wir aber stets in Übereinstimmung mit ihrer gut dokumentierten Geschichte in Joels Hüter der Flamme-Reihe blieben. Die ursprüngliche Idee für diese Geschich430 te hatte ich schon vor vielen Jahren, als ich plante, ein Buch über Roald, Lauries Söldnerfreund, zu schreiben, der in Die Gilde des Todes vorkommt. Der Schauplatz sollte eine eingeschneite Stadt sein, in der ein Mord geschieht. Ich denke, in dieser Fassung macht es sich besser. Bill wollte Xenophons Rückzug aus Persien in einem Fantasyroman paraphrasieren, und ich wollte eine Geschichte im Stil von Sharpe's Rifles, also dachten wir uns Die Brücke aus. Bills Kenntnisse der Militärgeschichte und seine Vertrautheit mit historischen Persönlichkeiten haben mir starke Figuren beschert, die mir ebenso lieb sind wie die, die ich selbst entwickelt habe; ich hätte sie mir nie alleine ausdenken können. Es war sehr angenehm, mit diesen drei Autoren zusammenzuarbeiten, und ich habe wie immer viel gelernt, weil ich Einblick in den Kopf eines anderen Schriftstellers erhielt. Ich hoffe, meinen Lesern machen diese Bücher ebenso viel Spaß wie mir. Ich freue mich schon darauf, in der Zukunft mit weiteren begabten Autoren zusammenarbeiten zu dürfen. Raymond E. Feist San Diego, CA, 2003 Danksagungen Wie stets gilt mein erster Dank den Müttern und Vätern von Midkemia, die mich gelehrt haben, wie weise es ist, auf andere Stimmen zu hören. Ich danke allen guten Schriftstellern, die mir gezeigt haben, wie man es macht; ich versuche es immer noch. Ich danke Jonathan Matson, wieder einmal und wie immer.
Ich danke Jane und Jennifer, zwei guten Lektorinnen und noch besseren Freundinnen. Und den üblichen Verdächtigen für ihre Liebe, Unterstützung, gute Laune und die Fülle ihrer Freundschaft. Und ganz besonders danke ich meiner Tochter Jessica und meinem Sohn James für ihren Sinn für das Wirkliche.