Martin Hollburg
Der Findling im All
Franckh'sche Verlagshandlung Stuttgart
Die Serie STERNENSCHIFF DER ABENTEUER wi...
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Martin Hollburg
Der Findling im All
Franckh'sche Verlagshandlung Stuttgart
Die Serie STERNENSCHIFF DER ABENTEUER wird herausgegeben von Thomas Le Blanc. Der vorliegende Band wurde verfaßt von Wolfgang E. Hohlbein, der zusammen mit den Autoren Karl Ulrich Burgdorf und Martin Eisele das Pseudonym »Martin Hollburg« verwendet. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hohlbein, Wolfgang E.:
Der Findling im All / Martin Hollburg. -Stuttgart: Franckh, 1984. (Sternenschiff der Abenteuer) ISBN 3-440-05283-4 Vw.: Hollburg, Martin [Verlagspseud.] —+ Hohlbein, Wolfgang E.
Franckh'sche Verlagshandlung, W. Keller & Co., Stuttgart /1984 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 1984, Franckh'sche Verlagshandlung, W. Keller & Co., Stuttgart ISBN 3-44005283-4 / L 9mm H ha Printed in Czechoslovakia / Imprimé en Tchécoslovaquie Satz: Fotosatz Stephan, Stuttgart Gesamtherstellung durch Artia, Prag
Familie Rosen und ihre Welt Wir schreiben das Jahr 3355 christlicher Zeitrechnung. Die Menschen haben sich seit dem 21. Jahrhundert weit über die Galaxis ausgebreitet, haben ferne Planeten erkundet und urbar gemacht. Sternensysteme sind besiedelt worden, Imperien sind entstanden und wieder vergangen. Kriege sind geführt und wieder vergessen worden. Neben vielen sich selbst regierenden Sternensystemen gibt es die »Konföderation«: eine Vereinigung von etwa 150 besiedelten Planeten, eine Art Staatenbund mit einer Zentralregierung auf Altair VII. Daneben existiert noch das »Kaiserreich«, ein knapp 80 Planeten umfassendes Imperium, das von einem Monarchen regiert wird, der auf der Erde sitzt. Natürlich gibt es in der unermeßlichen Galaxis außerdem noch viele Imperien nichtmenschlicher Rassen. Zwischen all diesen besiedelten Planeten läuft ein ständiger Handelsverkehr ab. Ein Schiff von vielen, die zwischen den Planeten pendeln, ist die RITTERSPORN der Familie Rosen. Das Schiff ist nur deshalb ungewöhnlich, weil der Kapitän Ebner Rosen es im Jahre 3337 treibend im All aufgefunden hatte: als gigantisches, verlassenes Sternenschiff einer unbekannten, fremdartigen Rasse. Er baute eigene Triebwerke ein und machte es für Menschen bewohnbar und flugfähig; nun benutzt er es für seine Frachtflüge zwischen den Sternen. Doch auch wenn die RITTERSPORN die neue Heimat der Familie Rosen geworden ist, so ist sie für die ganze Besatzung ein geheimnisvolles Schiff geblieben. . . Die Kinder Fred Saenger ist 12 Jahre alt, ein aufgeweckter Junge, neugierig, fast ein wenig draufgängerisch. Seine Schwester Karin Saenger ist genau ein Jahr älter und kehrt Fred gegenüber gelegentlich die »große Schwester« heraus. Aber sonst kann man mit ihr Sirius-Pferde stehlen. Ihre gemeinsame fünfjährige Schwester Bea Saenger ist das Nesthäkchen der Familie und nutzt das auch weidlich aus. Ellen Rosen, ihre Cousine, ist 10 Jahre alt, ein wenig pummelig und schwerfällig, deshalb ist sie mit sich unzufrieden und wirkt leicht nörgelig. Der blauhäutige Ritchie ist ein menschenähnliches Wesen, aber er ist kein Mensch. In der Entwicklung ist er mit einem zwölfjährigen Jungen vergleichbar. Die Familie hat ihn in einem verlassenen Raumschiff aufgefunden, seine Eltern sind tot. Auch den 13jährigen Wolf du Brogg hat die Händlerfamilie aufgenommen. Er ist ein ebenso hochgeschossener wie hochnäsiger Junge, den seine Rabeneltern nach einem Entführungsfall nicht mehr zurückhaben wollten. Die Erwachsenen Das Oberhaupt der Familie und der Kapitän der RITTERSPORN ist der 58jährige Ebner Rosen, der Großvater Ebner. Er gibt sich gern als brummiger Patriarch und ist bei seinen Konkurrenten als schlitzohriger Händler gefürchtet. Mit seiner 55jährigen Frau Clare Rosen, die seine Launen schon zu nehmen weiß, hat er drei Kinder: Zunächst die unverheiratete Anne Rosen, 36 Jahre, die Ebners rechte Hand bei seinen Geschäften ist. Dann Ingrid Saenger, 35 Jahre, verheiratet mit Kurt Saenger, 39 Jahre, die Eltern von Fred, Karin und Bea. Ingrid ist die Navigatorin des Schiffs, Kurt ist zuständig für die Technik. Und schließlich Nick Rosen, 33 Jahre, der Vater von Ellen; er ist verantwortlich für Verpflegung und Küche. Seine Frau Lisa ist gestorben. Außerdem lebt auf dem Schiff noch Hilda Rosen, Ebners 84jährige Mutter, die gehbehindert und fast blind ist und nur ganz selten ihre Kabine verläßt. Für die Ladung verantwortlich ist Joe Rosen, Ebners 54jähriger Bruder, über dessen dunkle Vergangenheit nur Ebner Bescheid weiß. Seine Tochter ist die 31jährige Mary Regling, verheiratet mit dem 41jährigen Klaus Regling. Sie haben keine Kinder. Außerdem hat Joe noch den 20jährigen Sohn Mark Rosen, der als Zweiter Navigator angelernt wird.
Auf dem Bildschirm war nur graue Unendlichkeit, ein Anblick, als bewege sich das Schiff durch einen grenzenlosen, tiefen Ozean aus tanzenden Nebeln und huschenden, ständig hin und her wogenden Schatten, die ununterbrochen darum bemüht zu sein schienen, bizarre Formen und Figuren zu bilden, aber immer wieder auseinanderrissen, bevor es ihnen gelang. Ab und zu blitzten Farben in dem grauen Chaos auf: Grün, Blau, Rot und alle nur denkbaren Schattierungen von Gelb, dazu andere, für die es in der menschlichen Sprache weder Namen noch auch nur annähernd treffende Umschreibungen gegeben hätte. Aber sie waren auch nicht real. Es gab sie nicht, ebensowenig wie die Nebel oder das graue Wogen dort draußen. Der einzige Ort im Universum, an dem sie existierten, war die Phantasie von Fred Saenger, und selbst dort hatte das Bild nur für so kurze Zeit Bestand, daß er hinterher immer Schwierigkeiten hatte, sich zu erinnern, was er nun eigentlich gesehen hatte. Nun - vielleicht war das gerade das Faszinierende. Der große, sanft geschwungene Bildschirm, vor dem er stand, war im Grunde genommen leer. Hätte er den Schirm fotografiert oder die Außenkameras eingeschaltet, um sich die Szene später noch einmal anzusehen, hätte er nichts als einen schwarzen, vollkommen leeren Schirm gesehen. Die RITTERSPORN bewegte sich jetzt seit neun Tagen mit zig-facher Lichtgeschwindigkeit durch den Hyperraum, und was er sah, war das absolute Nichts. Nicht die Leere zwischen den Sternen, die man erblickt, wenn man normalerweise aus der Sichtluke eines Raumschiffes oder einer Orbitalstation sieht, sondern das Nichts zwischen den Universen, den Hyperraum, ein Kosmos, der so fremd war, daß der menschliche Geist nicht mehr in der Lage war, ihn zu verarbeiten, und den Anblick statt dessen mit Bildern und Eindrücken aus seiner Phantasie füllte. Ein leises, monotones Piepsen riß Fred aus seinen Gedanken. Er sah auf, blickte sich einen Moment lang ratlos in der großen, menschenleeren Zentrale der RITTERSPORN um und sah dann auf die wuchtige Uhr an seinem Handgelenk. Das Instrument war mehr als eine Uhr; es war Radio, Sprechfunkgerät und elektronischer Türöffner in einem, und im Moment betätigte es sich darüber hinaus als äußerst lästiger und penetranter Wecker. Der helle Pfeifton und die flackernde grüne Lampe erinnerten ihn daran, daß zwei Stockwerke tiefer in wenigen Augenblicken die tägliche Unterrichtsstunde beginnen würde. Geschichte, wenn er sich richtig erinnerte. Fred haßte Fächer wie Geschichte oder Chemie oder Kunst. Er war erst zwölf Jahre alt, aber es stand jetzt bereits fest - jedenfalls für ihn -, daß er später einmal in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters treten und Kommandant eines Raumschiffes werden würde. Wozu mußte er wissen, welcher Diktator im Jahre 2647 auf der Erde geherrscht hatte, wenn es später für ihn darum ging, ein Raumschiff sicher in ein Dock zu fliegen oder eine günstige Fracht auszuhandeln? Dazu kam noch, daß sich seine Großmutter weigerte, Hypnoschulcomputer einzusetzen. Sie beharrte darauf, daß die althergebrachte Methode des Auswendiglernens-und-so-lange-Durchkauens-bis-man-eswußte die bessere war. Aber er stand trotzdem auf und schaltete nach einem letzten, wehmütigen Blick den Frontbildschirm aus. In der Zentrale wurde es dunkel; das einzige Licht kam jetzt aus der offenstehenden Liftkabine und von den unzähligen verschiedenfarbigen Lampen auf den Instrumentenpulten. Er hatte die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, als er heraufgekommen war, um den Anblick auf dem Schirm besser genießen zu können. Der Hyperraum war ein Anblick, der ihn immer wieder aufs neue faszinierte, und er verbrachte manchmal Stunden allein hier oben. Vielleicht, weil das Bild niemals gleich war, und vielleicht auch, weil jeder etwas anderes sah, wenn er in diesen seltsamen Raum zwischen den Universen hinausblickte. Sein Vater, von dem er fast sein gesamtes Wissen über den Kosmos und seine Gesetzmäßigkeiten hatte, behauptete, daß man den Verstand verlieren konnte, wenn man zu lange hinaussah. Aber irgendwie hatte Fred nie so recht daran glauben können. Er drehte sich um und ging eilig auf den Liftschacht zu. Der sanfte Zug des Schwerelosigkeitsfeldes erfaßte ihn wie eine unsichtbare Hand und trug ihn abwärts. Er glitt zwei Stockwerke tief, schwang sich gekonnt aus dem Lift und ging den schwach beleuchteten Korridor hinunter. Wie immer, wenn die RITTERSPORN durch den Hyperraum glitt, war es seltsam still an Bord. Selbst das dumpfe Grollen der beiden außenbords angebrachten Ionenmotoren war verstummt, obwohl die Triebwerke noch liefen; ein Effekt, für den noch niemand eine wirklich zufriedenstellende Erklärung gefunden hatte. Karin, Ellen und Wolf saßen bereits auf ihren Plätzen, als er den kleinen Schulungsraum direkt neben der Messe betrat und sich - nach einem entschuldigenden Blick zu seiner Großmutter - hinter sein Terminal sinken ließ. Der Bildschirm war eingeschaltet und zeigte das dreidimensionale, in kräftigem leuchtendem Rot gehaltene Abbild eines Rittersporns, das Symbol des Bordcomputers
und gleichzeitig Wappen und Namensgeber des Schiffes. Wie immer, wenn Fred das Bild sah, mußte er lächeln. Es war zwar nicht ungewöhnlich, ein Raumschiff auf den Namen einer Blume zu taufen, aber daß ausgerechnet sein Großvater, der sonst ein sehr pragmatischer Mann war und auf dessen Lippen sich nur sehr selten ein Lächeln stahl, auf diesen beinahe romantischen Gedanken gekommen war . . . »So«, mischte sich die Stimme seiner Großmutter in seine Gedanken, »nachdem wir nun endlich alle beisammen sind, können wir ja vielleicht mit dem Unterricht beginnen.« Fred sah auf, starrte einen Moment lang in die durchdringenden grauen Augen seiner Großmutter, um gleich darauf wieder seinen Blick zu senken. Clare Rosen war im Grunde eine sehr sanftmütige, stille Frau, aber nichtsdestotrotz eine Frau mit Prinzipien. Pünktlichkeit und Disziplin standen dabei ganz oben. Und wahrscheinlich - das mußte er zugeben - hatte sie damit sogar recht. Schließlich waren sie alles andere als eine »normale« Familie. Die RITTERSPORN war manchmal monatelang im Raum unterwegs, und wo den Kindern anderer Familien Schulen, Universitäten und planetenumspannende Informationssysteme zur Verfügung standen, hatten sie nur den Computer und das Wissen, das auf zahllosen Bändern im Bordarchiv gespeichert war. »Wir fangen mit einer kurzen Wiederholung der letzten Stunde an«, begann Großmutter. »Nur zur Sicherheit - ihr hattet ja eine ganze Woche Zeit, die Daten zu lernen.« Sie richtete sich hinter ihrem Pult auf, sah nachdenklich von einem zum anderen und deutete dann auf Wolf. »Der zweite Clone-Krieg, Wolf - wann begann er?« Wolf überlegte einen Moment, und das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte plötzlich nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor. Sein Blick fiel sehnsüchtig auf den kleinen Bildschirm vor ihm. Natürlich hätte ein Knopfdruck genügt, den Rechner die gewünschten Daten ausspucken zu lassen aber sie wären gleichzeitig auch auf den Schirmen der anderen erschienen; einschließlich dem von Großmutter . . . »Zwei. . .«, begann er unsicher, »zweitausendsechshundert-undzwölf?« »Gut geraten«, sagte Großmutter anerkennend. »Aber leider nur geraten. Du solltest vielleicht doch ab und zu in ein Buch sehen, statt deine ganze Zeit im Freizeitraum zu verbringen.« Fred grinste schadenfroh. Sie kannten sich, seit er vier Jahre alt war, und waren gute Freunde, aber Wolf war manchmal so hochnäsig und eingebildet, daß er ihm den Dämpfer von Herzen gönnte. »Und wie lange«, fuhr Großmutter fort, »dauerte er? Fred - deinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, weißt du die Antwort ja sicher.« »Siebenundvierzig Jahre«, antwortete Fred. Er war sich nicht ganz sicher, ob das richtig war, aber Großmutter widersprach nicht, und so fuhr er, etwas mutiger geworden, fort: »Er wurde mit dem berühmten Waffenstillstandsvertrag von Alpha Centauri beendet, weil die drei darin verwickelten Parteien einsehen mußten, daß die aufgewandten Mittel und die Zahl der Opfer in keinem Verhältnis zu dem zu erwartenden Gewinn standen.« »Was im übrigen auf jeden Krieg zutrifft«, fügte Großmutter hinzu. Sie beugte sich vor, strich eine Strähne ihres grauen Haares aus der Stirn und schenkte Fred ein kurzes Nicken. »Ich habe für die erste Unterrichtsstunde eine Analyse aller bisher stattgefundenen interplanetarischen Kriege und Auseinandersetzungen vorbereitet«, sagte sie. »Und ihr werdet sehen, daß in keinem in keinem einzigen - Krieg von irgendeiner Seite ein wirklicher Gewinn erzielt wurde. Selbst wenn man die Zahl der Todesopfer außer acht ließe und nur die eingesetzten finanziellen und militärischen Mittel addierte, haben sogar die Siegermächte - in den wenigen Fällen, in denen es welche gab - unterm Strich kräftig draufgezahlt.« »Und deshalb werden heute keine Kriege mehr geführt«, ließ sich Wolf vernehmen. Für einen Moment trat ein schwer zu beschreibender, fast wehleidiger Ausdruck in Clare Rosens Augen. »Es wäre traurig , wenn das der einzige Grund wäre«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Wolf. »Aber um diese Frage zu klären, sind wir ja hier. Schaltet eure Bildschirme ein.« Fred gehorchte, und auf dem Schirm erschien eine auf den ersten Blick verwirrende Zahlenkolonne. Aber nur für einen Moment. Dann erlosch das Lehrprogramm wieder, und auf der Mattscheibe erschien das von grauem Haar und einem mächtigen Backenbart eingerahmte Gesicht Ebner Rosens. Darunter flackerte in leuchtendem Rot ein verschlungenes »R«. »R« für »Rundruf«. Das Bild war jetzt auf jedem Schirm im Schiff zu sehen, ganz gleich, was für ein Programm vorher gelaufen war. »Die gesamte Besatzung bitte in die Zentrale«, sagte Ebner Rosen in seiner knappen, befehlenden Art. »Sofort.« Großmutter sah verwirrt auf, und Fred, der sich bereits halb erhoben
hatte, um dem Befehl Folge zu leisten, sank mit einem enttäuschten Seufzer zurück. Ehe Clare Rosen den Unterricht abbrach, mußte schon eine mittlere Katastrophe geschehen. »Nicht ganz so hastig«, sagte sie. »Wir wollen erst einmal sehen, was da überhaupt los ist.« Sie stand auf, ging zum Bildschirm der Intercom-Anlage an der Wand und drückte den Rufknopf. Es dauerte nur Sekunden, bis das grüne Licht aufleuchtete und Ebner Rosens Gesicht zum zweiten Mal auf dem Schirm erschien. »Was ist passiert?« begann Clare. »Wir sind mitten in der Schulstunde, und . . .« »Das wird einen Moment warten können«, fiel ihr Ebner ins Wort. »Komm bitte rauf. Und bring die Kinder mit. Es ist wichtig.« Er schaltete ab, ohne eine Antwort abzuwarten, und diesmal widersprach Clare nicht. Wenn ihr Mann mit dieser Entschiedenheit sprach, dann war es wichtig. Sie verließen den Schulraum und gingen den Weg zurück, den Fred vor wenigen Minuten gekommen war. »Was ist denn da oben los?« fragte Wolf, als sie in den Lift stiegen. Fred sah ihn nur stumm an und zuckte die Achseln. Als er die Zentrale vor ein paar Minuten verlassen hatte, war sie leer gewesen, so wie meistens, wenn sich die RITTERSPORN im Überlichtflug befand. Die Navigations- und Rechenvorgänge, die notwendig waren, ein Raumschiff durch das Nichts zwischen den Dimensionen zu steuern, waren zu kompliziert für einen Menschen. Während der Hyperflugphasen wurde die RITTERSPORN ausschließlich von den Computern gelenkt. Großmutter betrat als erste die Zentrale. Die Deckenbeleuchtung brannte und tauchte den Raum in weiße, schattenlose Helligkeit, und auf dem wieder eingeschalteten Frontschirm tobten die grauen Schwaden des Hyperraumes. Karin sah einen Moment hin und wandte dann rasch den Blick. Fred hatte noch nie mit ihr darüber gesprochen, aber er war überzeugt, daß ihr das, was sie dort draußen sah, Angst einjagte. Sie waren nicht die ersten, die Großvaters Befehl gefolgt und hierhergekommen waren. Mit Ausnahme von Ebners Bruder Joe und Urgroßmutter Hilda, die ihre Kabine sowieso so gut wie nie verließ, war bereits die gesamte Mannschaft anwesend, vierzehn Personen, rechnete man Freds fünfjährige Schwester Bea, die wie ein Baby in den Armen ihrer Mutter lag und ein Gesicht machte, als wolle sie jeden Moment losheulen, als vollwertige Person mit. Aber wie immer, wenn sie in der gewaltigen Zentrale der RITTERSPORN versammelt waren, kam Fred die Belegschaft unglaublich verloren und klein vor. Der Raum war für die zehnfache Anzahl von Menschen konzipiert, so wie auch das Schiff im Grunde viel zu groß für so wenige Besatzungsmitglieder war. »Also«, begann Clare nach einem raschen Rundblick, »was ist passiert? Hat das Universum Feuer gefangen, oder ist die Beulenpest an Bord ausgebrochen?« Ebner maß sie mit einem Blick, der sowohl Erheiterung als auch Mißbilligung oder beides ausdrücken konnte, wandte sich mit einem stummen Kopfschütteln um und stieg die kurze Treppe zum Pilotensessel hinauf, der auf einer Galerie am hinteren Ende des Raumes angebracht war. Fred tauschte einen fragenden Blick mit seinem Vater, aber auch dessen Antwort bestand nur in einem hilflosen Achselzucken. Offensichtlich wußte im Moment nur Ebner, was wirklich vorging. Ebner wartete geduldig, bis die Lifttür ein weiteres Mal aufglitt und auch Joe, gekleidet in einen schmuddeligen Overall und bewaffnet mit einem ölverschmierten Lappen, mit dem er sich ununterbrochen die Hände abwischte, die Zentrale betrat. Jetzt erst beugte Ebner sich vor, schaltete das Mikrophon ein und räusperte sich hörbar. Es wurde übergangslos still in der Zentrale. »Ich will es kurz machen«, begann er. »Ingrid weiß bereits Bescheid, aber ich dachte mir, es wäre besser, euch alle zu fragen. Wir haben vor wenigen Minuten einen verschlüsselten Funkspruch aufgefangen.« Fred fuhr überrascht zusammen, und die Reaktion auf den Gesichtern der anderen zeigte ihm, daß sie nicht weniger erstaunt waren. Die RITTERSPORN befand sich auf dem Flug nach Eery, einem der einsamsten und gottverlassensten Planeten der Galaxis, und eigentlich konnte es im Umkreis von ein paar hundert Lichtjahren nicht einmal eine Mikrobe geben, geschweige denn jemanden, der fähig war, einen Funkspruch abzusetzen. »Der Computer hat den Code, in dem der Spruch abgefaßt war, bisher noch nicht knacken können«, fuhr Ebner nach einer genau bemessenen Pause fort. »Aber die erste Analyse deutet darauf hin, daß es sich um einen Hilferuf handelt.« »Ein Hilferuf?!« rief Mark erstaunt. »Aber wer sollte hier einen Hilferuf absetzen? Hier kommt doch so gut wie nie ein Schiff hin.« »Wir sind ja auch hier«, gab Ebner trocken zurück. »Außerdem ist er, wie bereits gesagt, in keiner uns bekannten Sprache abgefaßt. Und er könnte ein paar hundert Jahre alt sein. Die Frage ist -
drehen wir bei und sehen nach, oder fliegen wir weiter?« Er berührte eine Taste auf dem Schaltpult vor sich; auf dem Schirm erschien eine grafische Darstellung der Galaxis. Zwei winzige, grünleuchtende Punkte markierten Start und Ziel ihrer Reise, ein dritter, in Rot gehaltener Lichtpunkt zeigte die derzeitige Position der RITTERSPORN. Sie hatten etwas mehr als die Hälfte ihres Weges zurückgelegt und befanden sich mitten in der großen Leere zwischen zwei Spiralarmen. Es gab hier nur sehr wenige Sterne, vielleicht einen alle zwei-, dreihundert Lichtjahre. »Woher kommt der Spruch?« fragte Freds Vater. Ebner berührte eine weitere Taste, und aus dem flackernden roten Licht, das die Position der RITTERSPORN bestimmte, wuchs eine dünne Linie in nahezu rechtem Winkel zu ihrem bisherigen Kurs hervor. »Dorther«, sagte er knapp. »Die genaue Entfernung konnte noch nicht bestimmt werden. Aber ich glaube nicht, daß es mehr als drei, vielleicht vier Tage Flugzeit sind.« »Vier Tage hin und vier Tage zurück«, murmelte Anne. Sie war so etwas wie der inoffizielle Copilot des Schiffes und erledigte überdies fast die gesamte Verwaltungsarbeit. »Das sind acht Tage Umweg. Vielleicht auch zehn – je nachdem, was wir finden.« »Der Vertrag läßt uns doch soviel Zeit, oder?« fragte Ebner. Anne sah auf, nickte und blickte dann wieder auf den Schirm. »Sicher. Wir sind unserem Zeitplan sogar voraus. Aber wir bekommen für jeden Tag, den wir eher ankommen, eine hübsche Prämie.« Ebner überlegte einen Moment, und Fred konnte förmlich sehen, wie es hinter der Stirn des Familienoberhauptes arbeitete. Die RITTERSPORN war ein verdammt schnelles Schiff, aber das mußte sie auch sein, wenn sie den drückenden Schulden, die auf dem Familienclan lasteten, davonfliegen wollte. Sie hatten die Fracht nach Eery eigentlich nur angenommen, weil die RITTERSPORN eines der wenigen Schiffe war, das eine berechtigte Aussicht hatte, die von der Minengesellschaft angebotene Prämie zu kassieren. Schafften sie es nicht oder kamen sie gar zu spät an, würde der Flug zu einem Verlustgeschäft werden. Eery war ein trostloser Staubklumpen, auf dem mit einer Rückfracht nicht zu rechnen war. Aber immerhin konnte der Notruf bedeuten, daß hier in der grenzenlosen Leere der intergalaktischen Einöde Menschen oder andere denkende Wesen in Not waren. Und schließlich war auch einmal die RITTERSPORN bei einer ähnlichen Gelegenheit in Ebners Besitz übergegangen. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, gestand Ebner nach einer Weile. »Wir riskieren die Prämie, wenn wir einen Umweg machen. Auf der anderen Seite wartet dort draußen vielleicht jemand verzweifelt auf Hilfe. Und je nachdem, was wir finden, könnte das den Verlust der Prämie wettmachen . . .« »Wie lange dauert es, bis der Computer den Spruch entschlüsselt hat?« fragte Anne. Ebner schüttelte langsam den Kopf. »Ich fürchte, da muß ich dich enttäuschen«, sagte er. »Wenn er den Code bisher nicht geknackt hat, dann schafft er es wahrscheinlich auch nicht mehr. Jedenfalls nicht in einem vernünftigen Zeitraum. Wenn wir zu lange zögern und dann zurückfliegen, wird der Zeitverlust noch größer.« Er stockte, starrte einen Moment auf den Bildschirm und lächelte dann flüchtig. »Ich schlage vor, wir stimmen ab«, sagte er. »Wer ist dafür, den Kurs zu wechseln?« Fred sah seinen Großvater erstaunt an. Ebner Rosen war normalerweise nicht derjenige, der seine Entscheidungen per Abstimmung zuwege brachte. Im Gegenteil: Seine einsamen Entschlüsse waren zu Recht in der gesamten Familie gefürchtet. Aber schließlich war ihre Situation nicht gerade alltäglich. Die große Leere zwischen den beiden Spiralarmen war so gut wie unerforscht. Dort draußen konnte alles Mögliche auf sie lauern. Zögernd hob Fred die Hand, und auch die anderen taten es ihm einer nach dem anderen nach. Schließlich hob auch Ebner selbst die Rechte und nickte dann, als habe er nichts anderes erwartet. »In Ordnung«, sagte er. »Jetzt könnt ihr mich wenigstens nicht verantwortlich machen, wenn wir dort draußen nur einen Haufen Rost finden und den Flug mit roten Zahlen abschließen. Geht auf eure Plätze.« Mit der Ruhe war es schlagartig vorbei. Mit Ausnahme von Ebners Mutter hatte jedes Besatzungsmitglied seinen angestammten Platz in der Zentrale des Schiffes, und es war immer ein heikles Unternehmen, die RITTERSPORN mit einem Bruchteil der eigentlich notwendigen Besatzung auf einen neuen Kurs zu bringen. Selbst Fred, Karin, Ellen und Wolf hatten während dieser Flugphasen alle Hände voll zu tun -wenn sich ihre Aufgaben auch größtenteils darauf beschränkten, ein paar Skalen und Zeiger im Auge zu behalten.
Fred eilte zu seinem Pult, setzte sich in den viel zu großen Kontursessel und wartete, bis die automatischen Sicherheitsgurte eingerastet waren. Seine Finger huschten wie kleine selbständige Lebewesen über das komplizierte Pult und erweckten bisher ausgeschaltete Instrumente zum Leben. Auf der Konsole vor ihm flammten Hunderte von verschiedenfarbigen Lichtern auf. Von den meisten wußte niemand an Bord, was sie überhaupt bedeuteten. Das Schiff befand sich seit Jahrzehnten im Besitz der Familie Rosen, aber sie hatten trotzdem erst einen Bruchteil seiner Technik enträtselt. Über großen Teilen der Instrumentenpulte lagen durchsichtige, versiegelte Hauben aus Plexiglas, die verhindern sollten, daß jemand versehentlich an einen Schalter kam, dessen Funktion er nicht kannte, und Freds Vater hatte, nachdem Mark das Schiff damals beinahe versehentlich in einen Mond gerammt hätte, höchstpersönlich einen Teil der Anlage einfach kurzgeschlossen. Trotzdem verstanden sie genug von der fremden Technik des Schiffes, um es einigermaßen navigieren und beherrsche!» zu können. Längst nicht gut genug, wie Fred meinte. Wenn er erst Kommandant der RITTERSPORN war, würde er alles daransetzen, auch die letzten Geheimnisse des gewaltigen Raumschiffes zu enträtseln. Die Deckenbeleuchtung erlosch, aber dafür erwachte der Bugschirm zu flackerndem Leben. Das graue Wogen des Hyperraumes verschwand in den grellen, regenbogenfarbigen Blitzen, die immer dann entstanden, wenn das Schiff in das Einstein-Universum zurückkehrte. Der Boden unter Freds Füßen begann sanft zu vibrieren, und von einer Sekunde auf die andere erfüllte wieder das dumpfe Rumoren der Ionentriebwerke die Luft. Die Farben auf dem Schirm verblaßten allmählich, und nach wenigen Augenblicken zeigte die Mattscheibe wieder das vertraute Bild der Milchstraße; ein gewaltiges, glitzerndes Band aus Diamantsplittern vor dem samtschwarzen Hintergrund des Nichts. Auf dem Pult vor Fred leuchtete eine Lampe auf. Er berührte rasch hintereinander drei Schalter, sah zu seinem Vater hinüber und nickte kurz, als er dessen fragenden Blick bemerkte. Er hatte schon lange vergessen, wie oft sie diese Manöver bereits ausgeführt hatten, aber sie alle stellten, einschließlich der Kinder, ein perfekt eingespieltes Team dar, bei dem kaum noch Rückfragen oder Kommandos nötig waren. Selbst Ellen, die Zehnjährige, beherrschte die Handgriffe, die sie zu tun hatte, wie im Schlaf. Die Sterne auf dem Bildschirm gerieten in Bewegung und begannen langsam nach rechts zu wandern, während sich das gewaltige Schiff unter dem Schub der Steuerdüsen in rechtem Winkel von seinem bisherigen Kurs wegbewegte. Fred wandte kurz den Kopf und sah zu seiner Mutter hinauf, die neben Ebner auf der Kommandokonsole saß und rasch, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit, die Daten des Navigationscomputers in die Steuerung eingab. Er lächelte. Seine Mutter sah auf und lächelte zurück, als hätte sie seinen Blick gespürt. Drei, vier Minuten vergingen, dann erstarrten die Sterne auf dem Schirm wieder zur Bewegungslosigkeit, und ein sanfter Ruck zeigte an, daß die Ionenmotoren wieder hochgefahren wurden und das Schiff erneut auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigten. Ein seltsames, schwer zu beschreibendes Gefühl der Erregung durchlief Fred, während die RITTERSPORN allmählich schneller wurde und die Sterne auf dem Schirm zuerst ihre Farbe wechselten, dann zu ovalen Punkten und schließlich zu dünnen, langgezogenen blassen Strichen wurden. Was würden sie dort draußen vorfinden? Ein havariertes Schiff, in dem denkende Wesen verzweifelt auf Hilfe warteten? Ein Wrack, das vielleicht seit Jahrtausenden tot im All trieb und einen automatischen Hilferuf aussandte, oder . . . Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Die menschliche Rasse hatte sich im Laufe der letzten anderthalb Jahrtausende über weite Teile der Galaxis ausgebreitet und Hunderte von Welten besiedelt und einige Zigtausend erforscht. Aber die Milchstraße war groß, so unbeschreiblich groß. Es gab selbst im unmittelbaren Einflußbereich der beiden großen Imperien gewaltige Gebiete, die noch kein menschliches Auge erblickt hatte, und das Universum war voller Wunder und ungelöster Fragen. Vielleicht, dachte er, würden sie auf die Vertreter einer bisher unbekannten raumfahrenden Rasse treffen, Wesen, die noch niemand zuvor gesehen hatte. Fred hatte schon Dutzende von nichtmenschlichen denkenden Wesen getroffen, aber dieser Gedanke erregte ihn immer wieder. Selbst im sechsunddreißigsten Jahrhundert war es noch etwas Besonderes, neue Wesen im Kosmos zu finden. Ein sanfter Ruck ging durch das Schiff. Der Schirm erglühte für einen Moment in allen Farben des Regenbogens und füllte sich dann wieder mit den grauen Schlieren des Hyperraumes. Das
Schaltpult vor Fred erlosch; der Computer hatte erneut die Steuerung der RITTERSPORN übernommen. Aber Fred blieb noch einen Moment reglos sitzen und starrte ins Nichts. Ohne sagen zu können warum, hatte er plötzlich das sichere Gefühl, daß sie geradewegs in ein Abenteuer flogen. Weder er noch eines der anderen Besatzungsmitglieder ahnten in diesem Augenblick, daß sich die RITTERSPORN vielleicht auf ihrer letzten Fahrt befand . . .
Die Sonne loderte wie ein böses, rotes Auge in der Mitte des Schirmes. Trotz der heruntergelassenen Filter war ihr Licht so grell, daß es in den Augen schmerzte und das Funkeln der Sterne dahinter verblassen ließ. Die Zentrale war in ein verwirrendes Zwielicht aus roter Dämmerung und flackernden, wirbelnden Schatten getaucht, und das rote Glühen erweckte in Fred unwillkürlich die Erinnerung an stickige Hitze und trockene Luft. Natürlich war die Temperatur an Bord nicht um ein Grad gestiegen, und die Luft, die aus den Schlitzen der Klimaanlage strömte, war frisch wie immer. Die RITTERSPORN war mehr als 950 Millionen Kilometer vor der roten Riesensonne aus dem Hyperraum gefallen und flog jetzt antriebslos durch den Raum. Sie war noch immer irrsinnig schnell; trotzdem würden bei der derzeitigen Geschwindigkeit Monate, wenn nicht Jahre vergehen, ehe sie dem Sonnengiganten nahe genug kamen, um seine Hitze zu spüren. Es war seltsam still in der Zentrale, und als Fred sich umsah, bemerkte er, daß alle wie gebannt auf den großen Schirm starrten. Er schien nicht der einzige zu sein, den der Anblick in seinen Bann geschlagen hatte. Schließlich war es Ebner, der nach endlosen Sekunden das Schweigen brach. »Irgendwelche Telemetriedaten?« fragte er. Mark, dem die Frage galt, zuckte sichtlich zusammen und sah hastig auf seine Instrumente. Er runzelte die Stirn, schnippte in rascher Folge ein paar Schalter um und sah dann zum Kommandopult hinauf. »Jede Menge«, sagte er hilflos. »Aber nichts, womit ich etwas anfangen könnte.« Ebner sah mißbilligend zu seinem Neffen hinab. »Würde es dir etwas ausmachen, dich etwas präziser auszudrücken?« fragte er. »Keineswegs«, antwortete Mark beleidigt. »Aber ich werde nicht schlau aus den Anzeigen. Sieh selbst, ich -« Ein harter Ruck ging durch den Boden und schnitt ihm das Wort ab. Für eine endlose, schreckliche Sekunde bebte das Schiff, als wäre es von einem gewaltigen Hammerschlag getroffen worden. Ein tiefes, mahlendes Stöhnen lief durch den Rumpf. »Was war das?!« schrie Ebner. »Sind wir mit irgend etwas kollidiert, oder. . .« »Negativ«, unterbrach ihn Kurt, Freds Vater. »Das nächste Hindernis ist fast hundert Millionen Kilometer entfernt.« Er schwieg einen Moment, beugte sich konzentriert über seine Anzeigen und schüttelte verwirrt den Kopf. »Was ist?« fragte Ebner. Seine Stimme klang ruhig wie immer, aber Fred glaubte trotzdem, einen Unterton von Besorgnis darin zu hören. »Keine Ahnung«, murmelte sein Vater. Ebner Rosen sog hörbar die Luft ein. Fred sah ihn nicht an, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich sein Gesicht vor Zorn verfinsterte. »Ich bezahle euch nicht dafür, daß ihr keine Ahnung habt«, sagte er mühsam beherrscht. Kurt Saenger drehte sich in seinem Sitz herum und schenkte seinem Schwiegervater das herzlichste Lächeln, zu dem er fähig war. »Wenn ich mich recht entsinne, bezahlst du uns gar nicht«, sagte er ruhig, »sondern läßt uns für Kost und Logis und ein jämmerliches Taschengeld vierundzwanzig Stunden am Tag schuften. Aber um deine Frage zu beantworten - es sieht so aus, als hätten wir ein starkes Magnetfeld passiert.« Zur allgemeinen Überraschung ging Ebner nicht auf diese Spitze ein, sondern starrte nur sekundenlang nachdenklich auf den Schirm. Seine Schätzung hatte sich bisher als richtig erwiesen: Sie waren nicht ganz vier Tage unterwegs gewesen und dabei tief in die unerforschte Leere zwischen den Sternen vorgedrungen; der Ursprung der geheimnisvollen Sendung, die sie noch immer empfingen, mußte irgendwo im System dieser gewaltigen roten Sonne liegen. Aber das war auch schon alles, was sie wußten. Selbst nach vier Tagen war es dem Bordrechner nicht gelungen, den Spruch zu entschlüsseln. »Ein Magnetfeld«, murmelte er nach einer Weile.
»Soso. Das könnte bedeuten, daß es in diesem System eine technisch hochentwickelte Rasse gibt.« »Es könnte alles Mögliche bedeuten«, sagte Mark kopfschüttelnd. »Wenn es überhaupt ein Magnetfeld war. Vielleicht ist die Strahlung der Sonne . . .« »Die Sonne ist viel zu weit entfernt«, unterbrach ihn Ebner grob, und der Blick, mit dem er seine Worte begleitete, ließ Mark vorsichtshalber den Rest seiner Hypothese herunterschlucken. »Außerdem ist es völlig sinnlos, Vermutungen aufzustellen«, fuhr er fort. »Wir verankern das Schiff und schießen ein paar Telesonden ab, ehe wir weiterfliegen, Kurt.« Freds Vater nickte und beugte sich über sein Pult. Sein Gesicht nahm einen angespannten, konzentrierten Ausdruck an, während er die nötigen Vorbereitungen für den Abschuß der Sonden traf. Wie praktisch alles an Bord der RITTERSPORN konnte auch dies von der Zentrale aus erledigt werden. »Diese Sonne muß gewaltig sein«, flüsterte Anne. Ihr Blick hing noch immer wie gebannt an dem flammenden roten Ball im Zentrum des Bildschirmes. »Mehr als hundert Mal so groß wie Sol«, sagte Mark nach einem kurzen Blick auf seine Instrumente. »Ein roter Überriese. Sie muß unglaublich alt sein.« Fred hörte fasziniert zu. Er hatte von Sonnengiganten dieser Art gehört, aber noch nie einen aus der Nähe gesehen. Es waren Sterne, die den größten Teil ihrer Lebensspanne bereits hinter sich hatten und irgendwann, nach Milliarden und Abermilliarden von Jahren, immer größer und gleichzeitig kälter geworden waren - kälter, wenn man in Größenordnungen von Tausenden von Graden dachte. Vielleicht, überlegte Fred, hatte diese Sonne sogar irgendwann einmal einem Planeten Leben und Wärme gespendet. Aber wenn dies so war, dann mußte das Jahrmilliarden her gewesen sein, und das Leben, das sie einstmals überhaupt erst ermöglicht hatte, war längst im feurigen Atem der Nova-Explosion, die dem Riesenstern-Stadium vorausging, verglüht. »Fertig«, nickte sein Vater. »Die Sonden sind unterwegs.« Ebner nickte wortlos und starrte wieder auf den Schirm, als könnte er die Daten, auf die sie alle warteten, auf diese Weise schneller bekommen. Fred löste seinen Gurt, stand umständlich auf und setzte sich wieder, als er dem strafenden Blick seines Großvaters begegnete. Trotz der enormen Geschwindigkeit, die die automatischen Sonden erreichen konnten, würde es sicher eine gute halbe Stunde dauern, ehe sie weitere Daten über das Sonnensystem und das, was auf sie warten mochte, erhielten, und Fred behagte der Gedanke, so lange reglos hinter seinem Pult zu sitzen, gar nicht. Aber sein Großvater mochte es nicht, wenn irgendein Besatzungsmitglied seinen Posten verließ oder in der Zentrale herumlief, und bevor sie nicht ganz genau wußten, was vor ihnen lag, würde sich die RITTERSPORN keinen Kilometer von der Stelle bewegen. Ebner Rosen war trotz allem ein äußerst vorsichtiger Mann; eine Vorsicht, die ihm schon mehr als einmal Schiff und Leben gerettet hatte. Fred grinste unsicher, legte seinen Gurt wieder an und sah erneut auf den Schirm. Die Sonne schien zu flackern, aber das war sicher eine optische Täuschung. Er wandte den Kopf, fing einen Blick seines Vaters auf und lächelte. Sein Vater lächelte zurück, aber die Geste konnte Fred nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nervös war. Und nicht nur er. Unter der gesamten Besatzung hatte sich eine spürbare Unruhe breitgemacht, eine Nervosität, die mit jedem Augenblick stärker zu werden schien. Und auch Fred fühlte eine seltsame, schwer zu begründende Beklemmung, während er wieder auf den Schirm blickte. Irgend etwas stimmte einfach nicht in diesem System. Er konnte direkt spüren, daß dort draußen mehr war als leerer Raum. Unter dem Hauptschirm begann ein rotes Licht zu flackern. Gleichzeitig erscholl ein leiser Glockenton, und ein halbes Dutzend Nebenschirme füllte sich übergangslos mit Daten und Zahlenkolonnen. Freds Vater fuhr zusammen und atmete tief ein, und Tante Anne stieß einen halblauten, überraschten Seufzer aus. »Aber das ist . . .«, begann sein Vater, sah einen Moment kopfschüttelnd auf die Schirme und dann auf die Instrumente vor sich und fuhr leiser fort: »Das ist viel zu früh. Die Sonden können doch höchstens ein paartausend Kilometer zurückgelegt haben. . .« Er verstummte, drückte ein paar Tasten und schüttelte wieder den Kopf. »Was gibt es?« meldete sich Ebner. Seine Stimme klang ungeduldig und fast ein wenig besorgt. Fred sah seinen Vater scharf an. Er wirkte jetzt eindeutig besorgt, aber auf eine Art, die Fred gar nicht gefiel. »Ein Schiff«, murmelte er. »Die Daten der Masse- und Energietaster deuten auf ein Raumschiff hin. Oder eine Station. Aber das ist unmöglich . . .«
»Was ist unmöglich?« fragte Ebner ungeduldig. »Wir sind schließlich hier, weil wir ein Raumschiff suchen, nicht?« »Die Richtung stimmt nicht. Und außerdem . . .Das Ding ist einfach zu groß. So groß kann kein Raumschiff sein, nicht einmal eine ganze Station.« »Was ist mit den Kameras?« rief Ebner. »Sind die Sonden noch nicht nahe genug heran?« Kurt Saenger schüttelte den Kopf, drückte aber trotzdem eine Taste, und das Bild auf dem Frontschirm wechselte urplötzlich. Sie sahen jetzt nicht mehr die Sonne, sondern das Bild, das die automatischen Kameras der Sonden auffingen. Fred hielt unwillkürlich den Atem an. Irgend etwas war vor ihnen, noch weit, sehr weit entfernt, aber trotzdem schon zu erkennen. Etwas Glitzerndes, Gigantisches. Die Sonden bewegten sich in rasendem Tempo darauf zu. Trotzdem vergingen endlose, von quälender, unerträglicher Spannung erfüllte Minuten, ehe das Glitzern auf dem Bildschirm allmählich klarer wurde und zu einer gewaltigen, bizarren Masse heranwuchs. Ein erstauntes Raunen ging durch die Zentrale. Freds Vater hatte recht gehabt - es war kein Schiff. Kein einzelnes jedenfalls. Es waren Dutzende, wenn nicht Hunderte von Raumschiffen, ein gewaltiger Pulk regloser, glänzender Metallleiber, die dicht an dicht durch das Weltall trieben! Fred sog erstaunt die Luft ein, als die Sonde sich dem Pulk näherte und er mehr Einzelheiten erkennen konnte. Es waren Raumschiffe aller möglichen Formen und Größen - kleine, schnittige Ein-Mann-Boote neben klobigen Frachtern und gewaltigen Sternenkreuzern. Schiffe des irdischen Kaiserreichs und der Konföderation, aber auch Schiffe, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, Raumschiffe, die eher an bizarre Skulpturen als an Fahrzeuge erinnerten, und für einen kurzen Moment schwebte eine Konstruktion vorbei, die wie ein gigantisches fliegendes Spinnennetz aussah. »Bei allen Weltraumgeistern!« stöhnte jemand. »Das ist ja der reinste Raumschiff-Friedhof!« Das Bild wuchs weiter heran, und einige der Raumschiffe wanderten nach rechts und links über den Bildschirmrand ab, als die Sonde in den Pulk eindrang und gleichzeitig langsamer wurde. Noch immer herrschte in der Zentrale ein fast unnatürliches Schweigen, und auch Fred starrte wie gebannt auf den Schirm, fasziniert von dem unglaublichen Anblick, der sich ihnen bot. Es war ein Friedhof. Die Schiffe schwebten reglos und tot durch das All. Eine Armada von Wracks, von denen einige so stark beschädigt waren, daß man ihre ursprüngliche Form nur noch erraten konnte. Ein correlianischer Sternenkreuzer schwebte vorbei, ein gigantisches, pfeilflügeliges Ding, dessen Rumpf im hinteren Drittel nur noch aus nackten, an ein gewaltiges, stählernes Gerippe erinnernden Streben bestand. Das Schiff sah aus, als hätte es jemand sorgfältig zur Hälfte auseinandergebaut und dann vergessen, dachte Fred erschrocken. »Halt die Sonde an«, befahl Großvater. Seine Stimme klang leise, und als Fred aufsah und zur Kommandokonsole hinaufblickte, sah er, daß sein Großvater wie die anderen gebannt auf das unglaubliche Bild starrte. »Wir müssen das Schiff anpeilen, aus dem die Signale kommen.« »Ich glaube kaum, daß das viel Sinn hat«, murmelte Freds Vater, hantierte aber trotzdem einen Moment an seinen Kontrollen. Ein weiteres, bizarr geformtes und mehr als zur Hälfte demontiertes Raumschiff schwebte vorbei, dann kam das Bild langsam zum Stillstand. »Anne«, murmelte Großvater halblaut. »Trag Position und Datum genau ins Logbuch ein. Wenn wir wirklich die ersten sind, die dieses System finden . . .« Er sprach nicht weiter, aber die anderen wußten auch so, was er sagen wollte. Die Raumschiffe dort auf dem Schirm waren ausnahmslos Wracks, manche vielleicht seit Jahrtausenden oder länger ohne Leben und Energie. Trotzdem stellten sie einen ungeheuren Wert dar. Und nach interplanetarischem Recht gehörte dieser kosmische Schrotthaufen dem, der ihn fand. Fred sah kurz zu seiner Tante hinüber und bemerkte, daß sie hektisch auf der Eingabetastatur des Bordcomputers herumhämmerte. Ihre Augen leuchteten. Wenn sie wirklich die ersten waren, die hierherkamen, dann – Ja, dachte Fred, dann waren sie nicht nur all ihrer Schulden ledig, sondern darüber hinaus reich. Er überlegte einen Moment, wie es sein mußte, nicht mehr ruhelos von Planet zu Planet ziehen zu müssen, nicht mehr darauf angewiesen zu sein, jede noch so unangenehme oder gefährliche Fracht anzunehmen . . . Aber irgendwie konnte er sich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Noch nicht. »Kontakt«, drang Marks Stimme in seine Gedanken. »Ich habe das Schiff.« »Wo?« fragte Ebner knapp.
Mark schwieg einen Moment, wechselte einen raschen Blick mit Freds Vater und drückte auf dessen Nicken hin stumm ein paar Tasten. Auf dem Schirm erschien ein dünnes, silbernes Fadenkreuz, wanderte langsam zur Mitte hin und verharrte schließlich auf einem länglichen, nur unscharf zu erkennenden Umriß. »Das ist es«, sagte Mark. »Eindeutig.« Wieder vergingen endlose Sekunden, ehe Ebner antwortete. Das Schiff befand sich fast im Zentrum der Flotte, und der Weg dorthin würde alles andere als ungefährlich sein. »Wahrscheinlich ein automatischer Notruf«, murmelte Joe. »Unter Umständen wird er schon seit Jahrhunderten abgestrahlt.« Fred sah überrascht auf. Joe Rosen gab sich normalerweise sehr schweigsam, richtiggehend wortkarg. Wenn er von sich aus das Wort ergriff, dann mußte er schon einen sehr triftigen Grund haben. »Trotzdem müssen wir nachsehen«, murmelte Ebner. »Auch wenn mir die Idee nicht gefällt. Kurt schick die Sonde näher heran.« Das Bild kam wieder in Bewegung. Schiffe und einzelne, schwerelos durch den Raum treibende Trümmerstücke glitten vorbei, und das silbrige Schimmern im Zentrum des Fadenkreuzes wuchs langsam zu einem langgestreckten, glänzenden Zylinder heran. Es war ein Schiff von völlig unbekannter Bauart. Fred kannte fast jeden Raumschifftyp, der irgendwo in der Galaxis gebaut wurde oder irgendwann einmal gebaut worden war, aber ein Raumfahrzeug wie dieses hatte er noch nicht gesehen. Seine Größe war schwer abzuschätzen - es gab in seiner unmittelbaren Umgebung nichts, was als Vergleichsmaßstab hätte herhalten können -, aber wenn die winzigen schwarzen Punkte auf dem Rumpf Bullaugen waren, dann mußte es gewaltig sein; vielleicht vier, fünfhundert Meter lang und an der dicksten Stelle hundert Meter durchmessend. Es war zylindrisch, aber der Rumpf war mit unzähligen Kuppeln, Vorsprüngen und Auswüchsen übersät, die aus der Entfernung wie metallene Warzen und Narben wirkten, und dort, wo bei einem normalen Raketenschiff die Spitze sein sollte, wuchs eine mächtige, silberne Kugel aus dem Rumpf hervor. Nein, dachte Fred, das war kein Schiff, wie es eines der bekannten raumfahrenden Völker benutzte. Es war das Schiff einer vollkommen fremden, intelligenten Rasse - und vielleicht würden sie schon in wenigen Stunden als erste den Vertretern einer unbekannten Intelligenz gegenüberstehen. Seine Erregung wuchs. »Stop!« befahl Ebner. Die Sonde hielt an. Das fremde Raumschiff drehte sich langsam um seine Achse, und sie konnten erkennen, daß es - ebenso wie die anderen - schwer beschädigt war. Ein großer Teil der Rumpfverkleidung fehlte, und von den ehemals vier Triebwerken waren zwei verschwunden. »Das gefällt mir nicht«, murmelte Joe. »Das gefällt mir überhaupt nicht.« »Mir auch nicht«, sagte Ebner. »Aber wir müssen nachsehen. Da drüben könnte noch jemand leben.« »Unsinn«, widersprach Joe. »Das Wrack treibt seit Jahren durch dieses System. Außerdem. . .«Er brach ab, drehte sich umständlich im Sitz herum und sah ernst zu Ebner hinauf, »hast du dir schon einmal überlegt, wie all diese Schiffe hierherkommen? Das ist kein Zufall, das ist dir doch klar, oder?« Ebner runzelte die Stirn, sah noch einmal auf den Schirm und nickte dann widerwillig. Sein Bruder hatte nur laut ausgesprochen, was sie eigentlich alle wußten - dieser kosmische Schrotthaufen war nicht durch Zufall entstanden. Jemand hatte all diese Schiffe hierhergebracht und zum Teil demontiert. Und so, wie die Wracks aussahen, hatte er sich erhebliche Mühe damit gemacht. »Könnten das . . . Ghellen gewesen sein?« fragte Wolf zaghaft. Fred zuckte bei der Erwähnung der gefürchteten Raumpiraten erschrocken zusammen, und selbst Ebner wirkte für einen Moment verwirrt. Aber dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Unsinn«, sagte er. »Soviel Arbeit machen die sich nicht. Die überfallen wehrlose Schiffe und plündern sie aus, aber das. . .« »Außerdem habe ich ungefähr ein Dutzend Kriegsschiffe gesehen«, mischte sich Mark ein. »Die Ghellen würden sich hüten, einen Schlachtkreuzer anzugreifen. Das hier ist etwas ganz anderes.« »Mark hat recht«, bestätigte Ebner. Er sprach laut, beinahe zu laut, als müßte er sich selbst Mut machen, obwohl sich Fred dies bei einem Mann wie seinem Großvater kaum vorstellen konnte. »Und ich muß gestehen, daß ich keine Lust habe, herauszufinden, was es ist. Wir sehen
nach, ob dort drüben noch jemand lebt, und dann verschwinden wir von hier. Die genaue Position ist in unseren Computern verzeichnet, und das Prisengeld ist uns so oder so sicher. Soll sich die Raumpolizei um die Sache kümmern. Kurt - schick die Sonde noch ein Stück näher ran. Vielleicht können wir Einzelheiten erkennen.« Wieder kam das Bild in Bewegung, und das fremde Raumschiff begann allmählich den ganzen Schirm zu füllen. Es war noch stärker beschädigt, als es von weitem den Anschein gehabt hatte. Außer dem gewaltigen Leck in seinem hinteren Drittel entdeckte Fred buchstäblich Hunderte von Löchern, die den Rumpf bedeckten, teilweise glatt und sauber, als wären sie sorgfältig herausgeschnitten worden, zum Teil auch gezackt und mit schwarzen, geschmolzenen Rändern. Als hätte jemand das Schiff regelrecht seziert, dachte Fred erregt. »Da ist etwas!« sagte Mark erschrocken. »Ich fange Energieimpulse auf, die -« Ein grellweißer Blitz huschte über den Bildschirm, tauchte die Zentrale für den Bruchteil einer Sekunde in schmerzhaft helles Licht und ließ Mark seinen Satz abbrechen. Fred klammerte sich instinktiv an der Kante seines Pultes fest, als erwarte er die Erschütterung, die dem Blitz folgen mußte. Das Bild flackerte, flammte dann noch einmal zu greller Weißglut auf und erlosch. Der Schirm wurde übergangslos schwarz. Irgend jemand schrie vor Schrecken. Plötzlich redeten und riefen alle durcheinander, und für drei, vier Sekunden griff in der Zentrale Chaos und Panik um sich. Freds Vater schaltete rasch hintereinander die Kameras der drei anderen Sonden ein, aber der Bildschirm zeigte nichts außer statischem, weißem Flackern und Störungen. »Ruhe!« schrie Ebner über das Stimmengewirr hinweg. »Jeder bleibt auf seinem Platz. Mark - was war das?« »Keine Ahnung«, gestand Mark unsicher. »Es ging alles viel zu schnell, und . . .« »Die anderen Sonden sind auch hin«, unterbrach ihn Anne. »Die Anzeigen sind tot. Zerstört oder wenigstens nicht mehr unter Kontrolle.« Ebner schwieg einen Moment. Auf seinem Gesicht lag ein ernster, besorgter Ausdruck. Sekundenlang starrte er nachdenklich auf den erloschenen Schirm. Seine Finger trommelten nervös auf dem Schaltpult, und man konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Wir sollten verschwinden, Ebner«, sagte Joe ruhig. »Und zwar so schnell wie möglich.« »Ja«, antwortete Ebner langsam. »Das sollten wir.« »Aber das geht nicht!« sagte Großmutter. Sie sprach leise, aber in ihrer Stimme lag ein Ernst, wie ihn Fred selten zuvor gehört hatte. »Dort vorne können Menschen in Gefahr sein, Ebner.« »Ich weiß, Clare. Aber . . .« »Irgend etwas hat unsere Sonden angegriffen und zerstört«, mischte sich Joe ein. »Einfach« - er hob die Hand und schnippte mit den Fingern - »so.« Clare Rosen schüttelte ärgerlich den Kopf. »Red keinen Unsinn, Joe. Wie würdest du dich fühlen, wenn wir in Raumnot wären und die Rettungsmannschaft im letzten Moment abdrehen und verschwinden würde? Außerdem ist die RITTERSPORN keine wehrlose Sonde, sondern ein großes und gut bewaffnetes Schiff.« »Das waren die Kriegsschiffe dort draußen auch«, murrte Joe. Aber er schien einzusehen, daß er den Kampf bereits verloren hatte. In einem Punkt glich Clare Rosen ihrem Mann aufs Haar sie mochte ruhiger und zurückhaltender erscheinen, aber wenn sie einmal etwas beschlossen hatte, dann wurde es auch getan. Sekundenlang sagte niemand etwas, und in der großen, nur schwach erleuchteten Zentrale wurde es seltsam still. »In Ordnung«, seufzte Ebner schließlich. »Clare hat recht. Wir sehen nach, ob dort vorne noch jemand lebt, und dann machen wir, daß wir wegkommen.« Die Triebwerke des Beibootes liefen bereits, aber das helle Singen ging im dumpfen Rauschen der Pumpen unter, die den Sauerstoff aus dem Hangar saugten. Das grüne Licht über den geschlossenen Schleusentoren brannte noch, aber die Luft war bereits spürbar dünner geworden, und Fred klappte sicherheitshalber die Sichtscheibe seines Helmes herunter, während er sich dem Beiboot näherte. Ein leises Zischen ertönte, als sich der Anzug mit Luft füllte. In der geöffneten Schleusentür erschien die Gestalt seines Vaters und winkte ungeduldig. Fred ging schneller. Er war der letzte, der an Bord des Beibootes ging; sein Vater, Mark, Onkel Joe und Karin warteten bereits seit zehn Minuten darauf, starten zu können. Um ein Haar hätte er gar
nicht mitfliegen dürfen. Es gehörte zwar zu den Prinzipien seines Großvaters, auch die jüngeren Mitglieder der Familie an allen Unternehmungen teilnehmen zu lassen - aber in diesem Fall hatte es Fred seine gesamte Überredungskunst gekostet, die Erlaubnis zum Mitflug zu erhalten. Sie wußten immer noch nicht, was die vier Sonden zerstört hatte, obwohl sich die RITTERSPORN der schweigenden Raumflotte im Schneckentempo genähert und dabei mit allen verfügbaren Instrumenten ins All hinausgelauscht hatte. Aber der Kosmos rings um die RITTERSPORN war voll von Schiffen und Trümmern; gewaltigen, hausgroßen Brocken, aber auch winzigen Teilchen, stählernen Meteoriten und Wolken von treibendem, zu 31
Eis erstarrtem Gas, die eine Ortung fast unmöglich machten. Inmitten der gigantischen Armada toter Schiffe hätte sich eine ganze Flotte von Feinden versteckt halten können, ohne daß sie es bemerken würden. Fred erreichte das Beiboot, zog den Kopf ein, um sich nicht an der niedrigen Tür zu stoßen, und ging rasch durch den winzigen Schleusenraum. Die Steuerkonsole war bereits zu blinkendem Leben erwacht, als er sich neben Karin auf seinen Platz sinken ließ. Sein Vater verriegelte die Schleuse, setzte sich in den Pilotensessel und drückte ein paar Knöpfe. Das Geräusch der Triebwerke wurde lauter, gleichzeitig begann der Sitz unter Fred spürbar zu vibrieren. Die Schleusentore glitten scheinbar lautlos auf, und hinter der gewaltigen rechteckigen Öffnung erschien das fremde Schiff; einem gigantischen, stählernen Walfisch gleich, der lautlos vor ihnen durch den Weltraum trieb. In Freds Kopfhörern knackte es leise, gleichzeitig erschien Großvaters Gesicht auf einem winzigen Bildschirm unter der Decke. Großvaters Stimme im Kopfhörer sagte ein paar Entfernungsdaten auf, dann meinte er: »Dichter heran können wir nicht - es fliegen zu viele Trümmer durch die Gegend. Also paßt auf. Und wenn euch irgend etwas nicht geheuer erscheint, dann kommt sofort zurück. Ich will keine Helden in der Familie. Besonders keine toten Helden.« »Keine Sorge, Ebner«, antwortete Joe. »Wir passen schon auf.« »Das will ich hoffen«, sagte Ebner ernsthaft. »Und denkt daran - keine Extratouren. Ihr fliegt hin, seht nach dem Rechten und kommt so schnell wie möglich zurück. In einer Stunde will ich euch wieder in der Zentrale sehen. Ganz gleich, was ihr dort drüben findet.« Der Bildschirm erlosch, als Großvater ohne ein weiteres Wort abschaltete. Fred tauschte einen raschen Blick mit Karin. Er konnte ihr Gesicht hinter der spiegelnden Scheibe des Raumhelmes nicht genau erkennen, aber selbst sie schien ihm merklich unruhiger und angespannter als sonst. Unbewußt tastete er nach der Waffe an seinem Gürtel. Es war nur ein leichter Laser, ein Spielzeug, verglichen mit den schweren Waffen, mit denen Mark, Onkel Joe und sein Vater ausgerüstet waren, aber allein das Wissen, nicht ganz wehrlos zu sein, gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Obwohl dieses Gefühl, wie er sehr gut wußte, äußerst trügerisch sein konnte. Sie hoben ab. Das Beiboot trieb scheinbar schwerelos auf das Schleusentor zu, verharrte einen winzigen Moment reglos auf der Stelle und schnellte dann mit einem Satz vor, hinaus ins All. Fred klammerte sich unwillkürlich an den Armlehnen seines Sessels fest. Das Beiboot beschleunigte nun mit aller Kraft, und er spürte trotz der voll ausgefahrenen Schilde den Druck, der ihn wie eine unsichtbare, aber kraftvolle Faust tief in die Polster seines Sitzes drückte. Die drei Beiboote gehörten nicht zur Originalausstattung der RITTERSPORN, sondern waren von Ebner Rosen irgendwann einmal preisgünstig auf einer Auktion erstanden worden. Es waren - an den Maßstäben der normalen menschlichen Technologie gemessen - großartige Schiffe; aber gegen die Technik der RITTERSPORN erschienen sie wie Pferdedroschken gegen einen modernen Sportgleiter. Sie würden für die fünf Kilometer bis zu dem fremden Schiff fast zehn Minuten brauchen; eine Entfernung, die die RITTERSPORN in drei oder vier Sekunden zurückgelegt hätte. Fred drehte sich halb im Sitz herum und sah aus dem Heckfenster. Trotz ihrer vergleichsweise niedrigen Geschwindigkeit waren sie schon ein gutes Stück vom Schiff entfernt, weit genug, daß er die RITTERSPORN in voller Größe erkennen konnte. Zwischen all den zerstörten und toten Schiffen erschien sie ihm mehr denn je wie ein schimmerndes Juwel, ein Überbleibsel aus einer Zeit, die die Menschheit niemals erlebt hatte. Und wie immer, wenn er draußen im Raum war und das Schiff in seiner schweigenden Majestät betrachtete, mußte er daran denken, wie wenig sie doch im Grunde über das Raumschiff wußten, auf dem die gesamte Familie nun schon seit Jahrzehnten lebte. Großvater Ebner hatte die RITTERSPORN treibend im Raum gefunden. Niemand wußte, wer das Schiff gebaut hatte, wo es herkam und was aus seiner Besatzung geworden war. Es war leer gewesen, als die RITTERPFEIL - Ebners erstes Raumschiff, von dem Fred nur Bilder und Erzählungen kannte - durch einen ungeheuren Zufall wenige hundert Kilometer neben ihm im Hyperraum aufgetaucht war. Sie waren auf Vermutungen angewiesen, was seine Erbauer und seine Besatzung anging, aber wahrscheinlich war es schon seit Jahrtausenden ziellos durch das All getrieben. Die gewaltigen Nuklearbatterien, die das riesige Schiff mit Energie versorgten, waren fast leer gewesen, obwohl sie normalerweise Jahrhunderte hielten. Ebner hatte das Wrack zur nächsten Werft schleppen und offiziell auf den Namen der Familie registrieren lassen - was mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden gewesen war. Ganze Heerscharen von Wissenschaftlern
und Forschern hatten versucht, über das Schiff herzufallen und seine Geheimnisse zu erforschen. Wie es Ebner Rosen letztendlich gelungen war, das Schiff für sich zu sichern, würde wohl für alle Zeiten sein Geheimnis bleiben. Aber er hatte es geschafft, und seither lebte die Familie auf diesem Schiff - auch wenn sie den größten Teil seiner Geheimnisse noch immer nicht entschlüsselt hatten. Selbst heute bewohnten sie weniger als die Hälfte des vorhandenen Raumes; zahllose Säle und Hallen waren versiegelt, und in das hintere Drittel des Schiffes mit seinen fremdartigen Maschinen und Geräten wagte sich selbst Joe nur selten. Fred war einmal dort gewesen - ohne das Wissen der anderen -, aber selbst jetzt lief ihm noch manchmal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an die gewaltigen, mit bizarren Maschinen und Geräten gefüllten Hallen und Gänge dachte. Die Originaltriebwerke der RITTERSPORN waren noch immer an ihrem angestammten Platz, und wahrscheinlich würden sie sogar noch funktionieren, wenn irgend jemand an Bord den Mut hätte, sie einzuschalten. Aber das tat niemand. Der größte Teil des Geldes, den der Umbau der RITTERSPORN verschlungen hatte, war für die beiden mächtigen Impulstriebwerke aufgewandt worden, die wie zwei häßliche, vollkommen deplaciert wirkende Anhängsel auf den beiden Deltaflügeln hockten. Und seit Fred selbst dort unten in der Maschinenhalle gewesen war, verstand er auch, warum das so war. Die Technologie der RITTERSPORN hatte etwas Fremdes, etwas auf schwer zu beschreibende Art Unheimliches. Wie immer das Volk ausgesehen haben mochte, das das Schiff gebaut hatte - es mußte sehr, sehr fremdartig gewesen sein. Vielleicht stammte das Schiff nicht einmal aus dieser Galaxis. Jemand berührte ihn an der Schulter und riß ihn aus seinen Gedanken. Fred fuhr herum und blickte einen Moment verstört in Karins Gesicht, die ihn mit einer Mischung aus Spott und Ungeduld musterte. »Hör auf zu träumen und sieh lieber nach vorne«, drang ihre Stimme aus seinen Kopfhörern. »Wir legen gleich an.« Fred warf ihr einen bösen Blick zu, verzichtete aber auf die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, und konzentrierte sich wieder auf das Wrack, das mittlerweile scheinbar auf Armeslänge herangekommen war. Sein Vater lenkte das Beiboot geschickt an der gewaltigen, leicht gekrümmten Flanke des fremden Schiffes entlang. Sie sanken tiefer, drangen in den Schatten des Schiffes ein und glitten einen endlosen, angsterfüllten Moment durch absolute Dunkelheit, während das Schiff über ihnen wie ein titanischer stählerner Mond vorbeiglitt. Dann waren sie auf der anderen Seite und wieder im Licht der roten Sonne. Fred atmete unwillkürlich auf. Er war schon unzählige Male draußen im Raum gewesen und kannte die Schwärze des Alls; eine Dunkelheit, die mit nichts zu vergleichen war, was man auf irgendeinem Planeten erleben konnte. Aber dies hier war etwas anderes. Die unzähligen, toten Schiffe, die sie umgaben, vermittelten ihm das Gefühl, auf einem Friedhof zu sein, einem gewaltigen, kosmischen Friedhof. Irgend etwas Unheimliches und vielleicht Gefährliches lauerte hier. Er spürte es deutlich. Aber er sprach den Gedanken nicht laut aus. Das Beiboot wurde langsamer und schwebte gleichzeitig noch dichter an das Wrack heran. Seine Hülle war da, wo sie nicht mutwillig zerstört worden war, zerschrammt und zernarbt, mit unzähligen Kratzern und Rissen übersät und blind geworden. Die abgeblätterten Reste einer fremden, entfernt an Runen erinnernden Beschriftung glitten vorüber, dann eine Kuppel; oval, zehn, fünfzehn Meter durchmessend und aus einem durchsichtigen Material gefertigt, über das sich ein Spinnennetz von Rissen und Sprüngen zog. »Die Signale kommen von vorne«, sagte Mark leise. »Aus diesem komischen Ei.« »Wahrscheinlich die Zentrale«, murmelte Fred. Sein Vater sah ihn kurz an und nickte. »Wahrscheinlich.« Das Boot wurde noch langsamer, glitt bis auf Armeslänge an das Wrack heran und kam schließlich ganz zum Stillstand. Joe schaltete den Bugscheinwerfer ein, und der weiße, gebündelte Lichtstrahl strich wie ein tastender Finger über den Rumpf des Schiffes. Winzige Vorsprünge und eine Doppelreihe sonderbarer, siebeneckiger Öffnungen tauchten für einen Moment auf und verschwanden wieder in schattigem Halbdunkel, als der Lichtstrahl weiterwanderte. »Warum fliegen wir nicht weiter?« fragte Fred ungeduldig. Er deutete nach vorne. Die eiförmige Bugkanzel war noch knapp zwanzig Meter entfernt, aber sein Vater machte keine Anstalten, sich ihr weiter zu nähern. »Wo ein Funkgerät funktioniert, kann auch noch mehr sein«, sagte Joe leise. »Wir gehen besser auf Nummer Sicher.«
Der Scheinwerferstrahl tastete weiter, glitt über eine gewaltige, gezackte Öffnung, kehrte wie ein suchender Finger zurück und blieb darauf hängen. Das grelle Licht verlor sich irgendwo im Inneren des Schiffes, und sie konnten wenig mehr als mattglänzende Wände und halbzerschmolzene Trümmerstücke erkennen. »Das sieht günstig aus«, sagte Joe. Das Beiboot drehte sich wie ein riesiger, silberner Kreisel halb um seine Achse, glitt langsam auf das Leck zu und berührte sanft den Schiffsrumpf. Ein dumpfer, hallender Schlag fuhr durch die Kabine, und Fred zuckte, obwohl er sich bemüht hatte, ruhig zu bleiben, erschrocken zusammen. »Schließt eure Helme«, befahl sein Vater. Natürlich hatten sie ihre Anzüge alle längst versiegelt und unter Druck gesetzt; trotzdem überprüften sie alle noch einmal den festen Sitz ihrer Helme. Hier draußen im Raum machte man einen Fehler nur ein einziges Mal. Die Doppeltüren der winzigen Schleuse glitten lautlos auseinander. Das Boot lag jetzt, sicher mit einer Anzahl starker Elektromagnete verankert, unmittelbar unter dem Leck, einem gewaltigen geschwärzten Loch, groß genug, daß sie bequem hätten hineinfliegen können. Fred wartete geduldig, bis sein Vater, Onkel Joe und Mark an ihm vorbeigegangen waren, dann erhob er sich und verließ, noch vor seiner Schwester, ebenfalls das Boot. Wie immer, wenn er in den freien Raum hinaustrat, überkam ihn im ersten Augenblick ein leichtes Schwindelgefühl, aber wie immer verging es auch nach wenigen Sekunden. Es war nicht mehr als ein großer Schritt hinüber bis zu dem Wrack, und trotzdem hatte er für einen schrecklichen Moment das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Er schloß die Augen, stieß sich ab und segelte mit weit ausgestreckten Armen auf das Leck zu. Joe griff nach seiner Hand, zog ihn mit einer kräftigen Bewegung zu sich herab und nickte kurz, als er Freds dankbaren Blick auffing. Wenige Sekunden später landete Karin auf die gleiche Weise neben ihnen. Fred sah sich mit einer Mischung aus Neugier und mühsam unterdrückter Furcht um. Mark und Freds Vater hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet, aber ihr Licht verlor sich in der Weite des gigantischen Raumes, den sie betreten hatten. Die Decke spannte sich irgendwo zwanzig, dreißig oder mehr Meter über ihren Köpfen. Das Metall war schwarz, als wäre es ungeheurer Hitze ausgesetzt gewesen, und hier und da glitzerten dünne, erstarrte Metalltropfen im Licht ihrer Lampen. »Sieht aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden«, murmelte Mark. Er deutete, den Strahl seiner Lampe wie einen Zeigestock gebrauchend, auf einen zusammengeschmolzenen Metallklumpen, der ein paar Meter vor ihnen auf dem Boden lag. Fred erkannte erst nach Sekunden, worum es sich handelte: einen Roboter. Genauer gesagt, die zerschmolzenen Überreste eines gewaltigen, grob menschenähnlichen Roboters. Das untere Drittel seines Körpers war wie weiches Wachs zerlaufen und da und dort mit dem Metall des Bodens verschweißt; die faustgroßen Kameraaugen in dem menschenähnlichen Kopf waren erloschen. Fred ging zögernd auf den zerstörten Maschinenmenschen zu. Der Koloß wirkte auf sonderbare Weise lebendig, und Fred wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn sich die gewaltigen Metallarme plötzlich gehoben und mit ihren zweifingrigen Klauen nach ihm gegriffen hätten. Aber natürlich war das Unsinn. Er lächelte, um sich selbst über seine Unsicherheit hinwegzuhelfen. Und trotzdem wurde er diese Vorstellung einfach nicht los, auch nicht, als er sich umwandte und zu seinem Vater und den anderen zurückging. »Vorwärts«, befahl Joe. »Bringen wir es hinter uns. Je eher wir aus diesem fliegenden Sarg wieder herauskommen, desto besser.« Er drehte sich um, sah kurz auf das winzige Peilgerät an seinem linken Handgelenk und deutete dann nach vorne, dorthin, wo die Zentrale des Schiffes liegen mußte. Dicht hintereinander gingen sie los. Das schwache Sternenlicht, das durch das Leck hereingefallen war, verblaßte hinter ihnen, und nach einer Weile bewegten sie sich durch absolute Finsternis, die selbst das grelle Licht ihrer Scheinwerfer nicht zu durchdringen vermochte. Der Raum endete nach ein paar Dutzend Schritten vor einer glatten Metallwand, und sie mußten ein Stück weit von ihrem Weg abweichen und tiefer in das Wrack eindringen, ehe sie einen Durchgang fanden. Keiner von ihnen sprach ein Wort, und selbst das Geräusch ihrer Atemzüge, das Fred über seine Kopfhörer vernahm, erschien ihm leiser als sonst. Plötzlich wußte er, daß er nicht der einzige war, der Angst hatte. Auch die anderen schienen deutlich zu spüren, daß dieses Schiff ein Geheimnis barg.
Hinter der Tür begann ein niedriger, vollkommen nackter Gang. Er war so eng, daß sie nur einzeln und hintereinander gehen konnten, und selbst dann streiften ihre Schultern noch fast rechts und links die Wände. Fred fiel auf, wie leer der Korridor war. Unter der Decke waren noch dünne Rillen zu erkennen, wo früher vielleicht einmal Kabel und Versorgungsleitungen entlanggelaufen waren, und in den Wänden waren überall flache Nischen, aus denen hier und da noch die Enden dünner, bunter Kabel herausragten; Nischen, in denen sicher einmal Geräte gewesen waren. Jemand hatte das Schiff unglaublich gründlich ausgeräumt. Sein Vater blieb plötzlich stehen und deutete nach vorne. Der Gang endete nach weiteren zehn oder zwölf Metern vor einer hohen, verschlossenen Tür. »Dahinter muß die Zentrale liegen«, sagte er. Er gab ihnen ein Zeichen zurückzubleiben, trat rasch an die Tür heran und versuchte, sie zu öffnen. Vergeblich. »Zu«, sagte er überflüssigerweise. Er drehte sich um, schüttelte den Kopf und sah die Mannschaft der Reihe nach an. Fred konnte sein Gesicht hinter der spiegelnden Scheibe nicht erkennen, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, was in seinem Vater vorging. »Was meint ihr?« fragte er halblaut. »Sollen wir sie aufbrechen, oder versuchen wir, einen anderen Weg zu finden?« »Ich bin dafür, nichts von alledem zu tun und zu verschwinden«, sagte Joe. »Hier lebt niemand mehr. Sieh dich doch um! Das Schiff treibt seit mindestens hundert Jahren leer im All. Wahrscheinlich sogar länger.« »Vermutlich hast du recht«, antwortete Freds Vater nach kurzem Überlegen. »Aber wir müssen trotzdem nachsehen. Tretet ein paar Schritte zurück - ich schweiße die Tür auf.« Er zog den Laser aus dem Gürtel, entsicherte die Waffe und überzeugte sich davon, daß sie alle ein paar Schritte hinter ihm und in Sicherheit waren, ehe er auf die Tür anlegte und den Feuerknopf betätigte. Ein dünner, grellweißer Lichtblitz schoß in die Tür, brachte das Metall zum Glühen und wanderte langsam weiter, während er die Waffe schwenkte. Nach wenigen Sekunden war eine mannshohe, ovale Öffnung in der Metalltür entstanden. Das herausgeschnittene Stück kippte scheinbar lautlos nach innen und schlug irgendwo im Dunkeln auf. Fred spürte die Erschütterung deutlich durch seine Stiefelsohlen hindurch. Er wollte losgehen, aber sein Vater hielt ihn mit einem raschen Wink zurück. Er wechselte den Laser von der Rechten in die Linke, nahm den Scheinwerfer vom Gürtel und schaltete ihn wieder ein. Der weiße Strahl fiel durch die herausgeschnittene Öffnung und verlor sich irgendwo auf der anderen Seite. Sie warteten noch einen Augenblick, lange genug, daß sich das glühende Metall der Tür abkühlen konnte und sie ohne Gefahr hindurchgehen konnten. Freds Herz begann rasch und fast schmerzhaft hart zu pochen, als er hinter seinem Vater durch die Tür trat. Auch er hatte seine Pistole gezogen, obwohl er eigentlich sehr gut wußte, wie wenig sie ihm gegen die Gefahren, die hier auf sie lauern konnten, nützen würde. Der Raum, den sie betraten, war gewaltig. Es war eine gigantische, stark gekrümmte Kuppel, deren vorderes Drittel aus durchsichtigem Material bestand, so daß sie wie durch ein riesiges Fenster in den Raum hinaussehen konnten. Der Rest der Wände wurde von einer Unzahl fremdartiger Geräte und Schaltpulte eingenommen, vor denen sich, in dichtgestaffelten Reihen, Schaltbänke und Computerkonsolen dahinzogen. Ihre Vermutung war richtig gewesen. Es war die Zentrale des Schiffes. Sie blieben dicht hinter der Tür stehen und warteten, bis die anderen ihnen gefolgt waren. Sein Vater deutete stumm auf ein wuchtiges, hufeisenförmiges Pult, das sich auf einer erhöhten Konsole in der Mitte des Raumes erhob. Offensichtlich die »Brücke« des Schiffes. Ein einsames, trübgelbes Licht brannte auf dem komplizierten Schaltpult. Joe nickte und eilte wortlos an ihm vorbei, um die Schalttafel zu untersuchen. Fred und die anderen blieben, wo sie waren. Die seltsame Beklemmung, die Fred erfaßt hatte, schien mit jeder Sekunde stärker zu werden. Mit einem Mal hatte er gar keine Lust mehr, das fremde Raumschiff zu untersuchen. Und er sah, daß es den anderen nicht viel besser erging. Mark deutete auf einen mächtigen, eiförmigen Block, der dicht neben ihnen aus dem Boden ragte. »Das scheint ihr Computer zu sein«, murmelte er, »vielleicht . . .«Er brach ab, suchte einen Moment nach Worten und bewegte sich dann achselzuckend auf die fremdartige Maschine zu. Fred und die anderen folgten ihm nach sekundenlangem Zögern. Wenn es ein Computer war, dachte Fred, dann war es der seltsamste Computer, den er je gesehen hatte. Es gab weder Instrumente noch Schalter oder Knöpfe, sondern nur etwas, das entfernt wie ein Lautsprechergitter aussah und darunter einen schmalen Schlitz, aus dem ein
vergilbter, mit fremdartigen Schriftzeichen bedeckter Papierstreifen hing. Mark betrachtete die Konstruktion einen Augenblick und schüttelte dann abermals den Kopf. »Völlig fremdartig«, murmelte er. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Die Wesen, die dieses Schiff gebaut haben, müssen aber zumindest ungefähr wie Menschen ausgesehen haben«, widersprach Karin. Mark sah sie einen Augenblick lang durchdringend an. »So?« fragte er. »Und was bringt dich auf diese kühne Idee?« »Denk an den Roboter«, sagte Karin. »Und dann sieh dir die Form der Stühle an. Jemand, der sich auf so etwas setzt, wird kaum wie eine Spinne oder was-weiß-ich aussehen.« Mark nickte widerwillig und beugte sich neugierig über eines der zahllosen Schaltpulte. »Möglich«, sagte er halblaut. »Aber das werden wir wohl nie erfahren.« So, wie er die Worte aussprach, hörten sie sich an, als wäre er froh, daß es so war. Fred sah sich unbehaglich um. Seine Augen begannen sich allmählich an das schwache Licht, das durch die transparente Frontscheibe hereinströmte, zu gewöhnen, und er konnte mehr Einzelheiten erkennen. Dieser Teil des Schiffes schien weitgehend unbeschädigt zu sein. Zwei, drei der Pulte waren geschwärzt und stark beschädigt, aber das konnten Folgen der Explosionen sein, die weiter hinten im Rumpf stattgefunden hatten. Die Plünderer - wer immer sie waren waren offensichtlich nicht bis hierher gekommen. Zumindest noch nicht. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker in ihm. Er drehte sich einmal um seine Achse und sah sich aufmerksam um, aber er konnte nichts als schwarze Schatten und die reglos dastehenden Schaltpulte erkennen. Nach einer Ewigkeit kam Joe zurück, einen schwarzen, rechteckigen Metallkasten in der Hand. Auf seiner Oberseite glühte ein winziges, gelbes Licht. »Es war so, wie ich vermutet habe«, sagte er mit einer Kopfbewegung auf das Gerät. »Ein automatischer Notrufsender. Vermutlich arbeitet er schon seit Jahrhunderten. Hier lebt niemand mehr.« »Du hast ihn ausgebaut?« wunderte sich Freds Vater. »Warum?« Joe grinste flüchtig und verstaute das Gerät in einer Tasche seines Raumanzuges. »Ganz einfach«, sagte er. »Ich wollte ihn nicht zerstören. Aber ich weiß auch nicht, wie man ihn abschaltet. Und solange wir unsere Ansprüche nicht offiziell angemeldet haben, würde das Ding jedes Raumschiff im Umkreis von hundert Lichtjahren anlocken, und wir hätten den größten Ärger.« Fred seufzte. Onkel Joe war ein netter Kerl, aber wenn es um Maschinen ging, wurde er zum Kind. Er hätte vermutlich eher einen Arm geopfert, ehe er freiwillig auch nur ein Feuerzeug zerstörte. Manchmal hatte Fred das Gefühl, daß Joe die Gesellschaft von Maschinen der von Menschen vorzog. Er redete sogar mit ihnen. »Gut«, sagte Freds Vater. »Dann verschwinden wir von hier. Wir wissen jetzt, was wir -« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Etwas Riesiges, Glänzendes brach plötzlich aus einem der Schatten auf der anderen Seite des Raumes hervor. Eine grelle, vielfach unterbrochene Feuerlinie zuckte durch die Zentrale, ließ wenige Zentimeter neben Joe flüssiges Metall aus der Wand spritzen und jagte in rasendem Tempo auf Mark zu. Fred schrie auf, warf sich mit einem verzweifelten Satz zu Boden und riß seine Schwester mit sich. Ein betäubender Schmerz zuckte durch seine Schulter, als er auf dem harten Metallboden aufschlug. Er biß die Zähne zusammen, rollte herum und sah aus den Augenwinkeln, wie Mark mit einem gewaltigen Hechtsprung hinter einer der Konsolen verschwand, eine halbe Sekunde, ehe die Wand dort, wo er gerade noch gestanden hatte, zu explodieren schien. Für eine endlose, quälende Sekunde schien die Zeit stehenzubleiben. Er sah, wie Joe und sein Vater gleichzeitig ihre Waffen hochrissen und auf den stählernen Giganten zielten, wie die Feuerlinie abbrach und der Roboter herumwirbelte, wie der Energiestrahler in einer seiner Klauen einen blitzenden Halbkreis beschrieb und sich die Mündung genau auf ihn richtete . . . Fred schrie auf und wollte sich in Todesangst zur Seite werfen, aber so, wie plötzlich alles in Zeitlupe abzulaufen schien, reagierten auch seine Muskeln mit quälender Langsamkeit. Ein unerträglich grelles Licht flammte hinter der Mündung der Waffe des Maschinenmenschen auf, peitschte zwei Meter vor ihm in den Boden, dann jagte eine Reihe winziger, weißglühender Explosionen direkt auf ihn zu.
Ein doppelter, blauweißer Blitz sengte in die Brust des Roboters, schleuderte ihn herum und verwandelte seinen Oberkörper in einen zerschmelzenden Metallklumpen. Die Maschine taumelte, erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung und fiel dann wie ein gefällter Baum nach hinten. Fred konnte die Erschütterung als dumpfes Beben im Boden spüren. »Fred!« keuchte die Stimme seines Vaters in seinen Kopfhörern. »Alles in Ordnung?!« Fred antwortete nicht. Er wollte etwas sagen, aber seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Mühsam und mit äußerster Anstrengung, so, als hätten seine Arme plötzlich kaum mehr die Kraft, das Gewicht seines Körpers zu tragen, stemmte er sich auf die Knie und blieb schwankend sitzen. Sein Blick hing wie hypnotisiert an der schnurgeraden Linie kleiner, weißglühender Krater, die die Energieschüsse des Roboters in den Boden gerissen hatten. Der letzte befand sich allerhöchstens noch zwanzig Zentimeter von der Stelle entfernt, an der er gelegen hatte . . . Er sah erst auf, als sein Vater neben ihm niederkniete und ihn grob an der Schulter ergriff. »Fred!« stieß er hervor. »Was ist los?!« Fred schüttelte mühsam den Kopf. »Nichts«, sagte er krächzend. »Es ist. . . nichts. Ich bin okay.« Sein Vater sah ihn einen Moment lang scharf an, griff dann nach seinem Arm und half ihm unsanft auf die Füße. »Was . . . was war das?« fragte Fred langsam. Er fühlte sich immer noch wie betäubt. Nur ganz, ganz allmählich dämmerte in ihm die Erkenntnis, daß er soeben um Haaresbreite dem Tod entronnen war. Seine Knie begannen plötzlich so stark zu zittern, daß er sich an einem der Pulte festhalten mußte. »Offensichtlich ist dieses Schiff nicht so tot, wie wir dachten«, grollte Joe. »Wir sollten machen, daß wir hier herauskommen, ehe wir weiteren Besuch bekommen.« Fred drehte sich langsam um und starrte zu den rotglühenden Überresten des Roboters hinüber. Es war eine Maschine der gleichen Art, wie sie sie weiter hinten im Schiff getroffen hatten, ein zwei Meter hoher Koloß aus Stahl und Glas. Draußen, in der Halle hinter dem Leck, war Fred die Maschine plump und schwerfällig vorgekommen. Aber er hatte selbst gesehen, wie irrsinnig schnell sie sich bewegen konnte. Bei dem Gedanken, womöglich gleich auf ein Dutzend dieser programmierten Killer zu treffen, wurde ihm übel. »Joe hat recht«, sagte sein Vater. »Verschwinden wir von hier. So schnell wie möglich.« Er hob seine Lampe, die er bei dem plötzlichen Angriff des Roboters fallengelassen hatte, vom Boden auf, warf Fred noch einen kurzen, besorgten Blick zu und machte einen Schritt in Richtung Ausgang. »Warte noch«, sagte Karin leise. Fred sah überrascht auf. In dem ganzen Durcheinander hatte er seine Schwester für einen Moment vollkommen vergessen. Er hatte sie ziemlich unsanft zu Boden gestoßen, als der Roboter aufgetaucht war. Aber sie schien mit dem Schrecken davongekommen zu sein. »Reden können wir später!« rief Mark ungehalten. »Ich will hier raus, bevor noch mehr von diesen Dingern auftauchen.« Aber Karin rührte sich nicht von der Stelle. Sie schüttelte stur den Kopf, hob ihre Lampe und leuchtete in die Richtung, aus der der Roboter gekommen war. »Da ist eine Tür«, sagte sie. »Genau dort, wo die Maschine stand.« »Und?« sagte Mark. »Irgendwo muß er ja schließlich hergekommen sein.« »Daß du das nicht begreifst, war mir klar«, antwortete Karin spitz. »Wenn er durch die Tür gekommen wäre, hätten wir es gemerkt. Ich glaube eher, daß er eine Art Wächter war. Jemand, der auf das aufpassen sollte, was hinter dieser Tür liegt.« Fred drehte sich widerstrebend um. Die Tür war ein massives, mit einem gewaltigen metallenen Riegel gesichertes Schott, das eher an eine Tresortür als an eine normale Schleuse erinnerte. Auf seinem obersten Drittel waren Schriftzeichen, die gleichen verschlungenen Runen, die sie schon draußen auf dem Rumpf gesehen hatten. »Ich will überhaupt nicht wissen, was dahinter ist«, murrte Mark. »Dieses Ding hätte uns fast alle umgebracht. Vielleicht wartet eine ganze Horde von ihnen dahinter.« »Unsinn. Wenn hier noch mehr Roboter wären, hätten sie uns längst angegriffen. Wir sollten nachsehen, was hinter dieser Tür ist«, beharrte Karin. »Es muß schon etwas Besonderes sein, wenn sie so eine Mordmaschine zu seinem Schutz abgestellt haben.« Joe und Freds Vater tauschten einen langen, nachdenklichen Blick. Schließlich zog Joe seinen Laser wieder aus dem Gürtel, wandte sich mit einem entschlossenen Ruck um und ging auf die Panzertür zu. Freds Vater folgte ihm nach einer Sekunde.
»Ihr drei bleibt hier stehen«, sagte er, ohne sich umzublicken. »Wenn irgend etwas passiert, dann lauft ihr sofort zurück zum Boot und verschwindet. Ist das klar?« »Klar«, antwortete Mark. Joe ging, immer wieder mißtrauisch nach rechts und links blickend, auf die Panzertür zu und blieb zwei Schritte davor stehen. Der Lichtkreis seiner Handlampe huschte über das polierte Metall und blieb schließlich auf dem überdimensionalen Riegel hängen. »Sieht aus wie eine Art Zahlenschloß«, murmelte er. »Nur viel komplizierter.« Fred konnte über die große Entfernung nichts dergleichen erkennen, aber Joe hatte ohnehin nur zu sich selbst gesprochen. Er tat das oft, vor allem, wenn er angestrengt überlegte. »Kannst du es aufmachen?« fragte sein Vater. Joe schüttelte den Kopf. »Vielleicht. Aber ich würde Stunden brauchen. Wenn wir dort hinein wollen, werden wir die Tür aufschweißen müssen . . .« Wieder sagte sekundenlang niemand ein Wort. Vermutlich war Karins Vermutung berechtigt die Tür war sicherlich nicht grundlos so gesichert worden. Aber der Roboter war eine deutliche Warnung gewesen. Was immer die Erbauer des Schiffes hinter dieser Tür verborgen hatten - sie wußten es zu schützen. »Okay«, sagte Kurt schließlich. »Wir brennen sie auf.« Die beiden Männer traten von der Tür zurück und wichen gleichzeitig ein paar Schritte zur Seite. Joe hob seinen Laser, zielte auf den Riegel und gab einen kurzen Schuß ab. Das Metall leuchtete dunkelrot auf, aber die Glut erlosch fast augenblicklich wieder. Joe fluchte leise, verstellte etwas an seiner Waffe und schoß erneut. Diesmal war der Strahl kaum einen Millimeter stark, aber so grell, daß das Licht in den Augen schmerzte, und als er den Finger vom Feuerknopf nahm, glühte ein handgroßes Stück der Tür in loderndem Gelb. »Das dauert Stunden, bis wir da durch sind«, murrte er. »Wir -« Über der Tür flammte ein grellgelbes Licht auf. Joe brach erschrocken ab und sprang zwei, drei Schritte zurück. Das Licht erlosch, aber dafür begann an der Wand neben dem Panzerschott eine ganze Batterie bunter Lämpchen zu flakkern. Die Tür zitterte. Der Riegel knirschte, bewegte sich ein Stück zurück und kam dann mit einem Ruck frei. Die flackernden Lichter erloschen wieder, und die Tür schwang lautlos und wie von Geisterhand bewegt nach innen. In dem darunterliegenden Raum leuchtete sanftes, gelbes Licht. Fred und die anderen wollten sich in Bewegung setzen, aber sein Vater hielt sie mit einem kurzen, befehlenden »Halt!« zurück. Er blieb sekundenlang reglos stehen, wo er war, und ging dann gebückt, den Laser schußbereit erhoben, durch die Tür. Joe folgte ihm auf die gleiche Weise. Fred hielt instinktiv den Atem an. Seine Kopfhörer blieben stumm, aber er hörte, wie Joe erstaunt die Luft einsog. »Was ist los?« fragte Mark aufgeregt. »Aber das ist . . . das ist doch unmöglich . . .«, drang Joes Stimme aus den Kopfhörern. Fred zögerte nicht länger. Ohne weiter auf den Befehl seines Vaters zu achten, lief er los und rannte auf die weit offenstehende Tür zu. Karin und Mark folgten ihm dichtauf. Der Raum war kleiner, als er erwartet hatte, und auf den ersten Blick vollkommen leer. Das erste, was Fred sah, war Joe, der reglos und in einer beinahe komisch anmutenden Haltung dastand, als wäre er mitten in der Bewegung erstarrt. Vor ihm schwebte etwas Großes, Glitzerndes. Fred trat hastig zur Seite, als Mark und Karin hinter ihm durch die Tür stürmten. Er schob sich an Joe vorbei und starrte verblüfft auf den schimmernden Block, der scheinbar schwerelos eine Handbreit über dem Boden schwebte. Auf den ersten Blick sah er aus, als bestünde er aus Glas; ein gewaltiger, durchsichtiger Quader von mehr als zwei Metern Länge. Aber dann erkannte er, daß er aus Eis war. Und daß in seinem Zentrum, unter den grauen Schlieren und Schwaden des Materials nur unscharf zu erkennen, eine menschliche Gestalt lag.
Sie brauchten fast eine halbe Stunde, um den Weg, den sie gekommen waren, zurückzugehen und das Beiboot zu erreichen. Sie hatten sich nach kurzer Beratung dazu entschlossen, den Block mit dem darin eingefrorenen Menschen mitzunehmen - selbst wenn es ihnen nicht gelang, ihn wieder zum Leben zu erwecken, konnte ihnen ihr Fund wertvolle
Erkenntnisse vermitteln. Aber Fred war aus irgendeinem Grund, den er sich selbst nicht so recht erklären konnte, felsenfest davon überzeugt, daß der Fremde noch am Leben war. Der Transport des Eisblockes erwies sich als schwieriger, als sie geglaubt hatten; weit schwieriger. Unter normalen Umständen mußte er sicherlich mehrere Tonnen wiegen, und obwohl hier an Bord des Wracks wie überall absolute Schwerelosigkeit herrschte, stellten sie seine Größe und die noch immer vorhandene Massenträgheit vor beinahe unüberwindliche Probleme. Fred war, trotz der auf Hochtouren laufenden Kühlung seines Anzuges, in Schweiß gebadet, als sie endlich wieder in der Schleuse des Beibootes waren und den Block im kleinen Laderaum des Schiffes verstaut hatten. Er warf noch einen letzten Blick auf die reglose Gestalt unter dem Eis, ehe sich die Ladeklappen über dem Block schlössen. Das Gesicht der Gestalt war unter dem halbblind gewordenen Material kaum zu erkennen, aber sie schien noch sehr jung zu sein - schlank, etwas größer als Fred, wenn auch nicht ganz so lang aufgeschossen wie Mark, mit sehr dünnen, fast schon grazil wirkenden Gliedern. Ihre Haut schien einen sanften, bläulichen Schimmer zu haben, aber das konnte an der Farbe des Eises liegen, das ihn umschloß. »Fred«, meldete sich die Stimme seines Vaters in seinen Kopfhörern, »nun komm schon. Wir fliegen ab.« Fred drehte sich hastig um, schloß die äußere Schleusentür und trat gebückt in die winzige Kabine. Die Triebwerke liefen an, noch bevor er sich gesetzt und angeschnallt hatte, und das Wrack des fremden Raumschiffes fiel langsam unter ihnen zurück. Fred blinzelte, als das grelle Licht der roten Riesensonne für einen Moment ungefiltert in die Kabine fiel. Dann schob sich ein anderes, treibendes Raumschiffwrack zwischen sie und den Sonnengiganten, und im Inneren des Beibootes wurde es wieder dunkel. »Ich bin heilfroh, daß wir wieder raus sind«, sagte Karin neben ihm. Ihre Stimme klang gepreßt, und als Fred ihr Gesicht hinter der Helmscheibe betrachtete, sah er, daß sie noch immer blaß war. Sie hatte sich bisher nichts anmerken lassen, aber der Schrecken saß ihr noch in den Knochen. »Was meinst du?« fragte Fred. »Ob er noch lebt?« Karin zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, sagte sie unsicher. »Ich glaube, das Problem ist nicht, ob er noch lebt«, mischte sich Mark ein, »sondern ob wir es schaffen, ihn lebend aufzutauen. Ich hoffe, unsere Sanitätsroboter sind darauf programmiert.« Fred schwieg bedrückt. Mark hatte mit seiner Befürchtung nur zu recht. Seit Jahrhunderten war es möglich, einen Menschen - oder irgendein beliebiges Lebewesen - in einen Kälteschlaf zu versetzen und praktisch unbegrenzt am Leben zu erhalten. Aber es war den Wissenschaftlern trotz allen Fortschrittes noch immer nicht gelungen, eine sichere Methode zur Wiedererweckung zu finden. Fünfzig Prozent aller Menschen, die sich bisher freiwillig in den Kälteschlaf begeben hatten, überlebten das Auftauen nicht. Er wollte etwas antworten, aber in diesem Moment flammte der kleine Bildschirm der Sprechanlage auf, und in seinen Kopfhörern erklang ein hallender Glockenton. »RITTERSPORN an Beiboot Eins«, dröhnte die Stimme seines Großvaters. »Hört ihr mich? Kommen!« Joe beugte sich hastig vor und drehte am Funkempfänger, aber auf dem Bildschirm erschienen nur graue Streifen. Die Sendung schien gestört zu sein. »Wir hören dich, Ebner«, antwortete er. »Was ist los? Der Empfang ist gestört.« »Wo seid ihr?« sagte Ebner scharf, ohne auf seine Frage einzugehen. »Noch an Bord des Schiffes?« Joe schüttelte den Kopf, als könne Ebner die Bewegung trotz der ausgeschalteten Bildschirme sehen. »Nein. Wir sind auf dem Rückweg. Aber wir haben einen interessanten Fund ge-« »Erzählt mir das später«, unterbrach ihn Ebner grob. »Ihr müßt so schnell wie möglich zurückkommen. Die RITTERSPORN wird angegriffen.« »Angegriffen!?« wiederholte Joe erschrocken. »Aber wer könnte. . .« »Im Moment besteht noch keine unmittelbare Gefahr, Joe. Aber ihr müßt aufpassen. Wir kommen euch entgegen.« Die Verbindung wurde unterbrochen, und auch das Flackern auf dem Bildschirm erlosch. Fred drehte sich hastig zum Fenster hin und sah in die Richtung, in der die RITTERSPORN sein mußte. Im ersten Moment erkannte er nichts außer wirbelnden Trümmern und groben, formlosen Umrissen, dann schob sich langsam ein gewaltiger, dreieckiger Schatten in das Bild.
Die RITTERSPORN. Die beiden Ausstoßöffnungen der Triebwerke glühten in sanftem Licht, und ab und zu blitzte es neben und hinter dem Schiff kurz und hell auf. »Sie schießen!« keuchte Mark angsterfüllt. Joe nickte. Auch er starrte wie gebannt hinaus. »Aber worauf?« murmelte er. »Ich kann nichts erkennen . . .« »Steuerbord«, sagte Freds Vater gepreßt. »Seht nach Steuerbord.« Ihre Blicke richteten sich in die angegebene Richtung, während das Beiboot langsam herumschwenkte und, allmählich an Geschwindigkeit zunehmend, auf die RITTERSPORN zuflog. Das Heulen der Triebwerke steigerte sich zu einem peinigenden Kreischen, als Kurt Saenger den Schubregler mit aller Kraft nach vorne schob. Das winzige Schiff schien einen regelrechten Satz zu machen. Aber davon merkten weder Fred noch die anderen etwas. Ihre Blicke hingen gebannt an der Flotte kleiner, glitzernder Schiffe, die sich ihnen aus Richtung der Sonne näherten. Es waren mindestens zwei Dutzend, schätzte Fred. Eher mehr. Sie schienen nur wenig größer als das Beiboot zu sein, aber sie bewegten sich mit geradezu unglaublicher Geschwindigkeit. Und sie sahen alles andere als vertrauenerweckend aus - flache, dunkelgraue Pfeilspitzen, mit zahllosen Buckeln und Vorsprüngen übersät und vor Waffen starrend. »Mit denen werden wir nicht fertig«, murmelte Joe. »Sie sind zu schnell.« Fred warf einen verzweifelten Blick zur RITTERSPORN hinüber. Das Schiff war bereits näher gekommen, aber sie waren trotzdem zu langsam. Viel zu langsam. Irgendwo über dem Bug der RITTERSPORN blitzte es grell auf, dann jagte eine dünne, weiße Laserbahn durch das All und verwandelte eines der anfliegenden Raumschiffe in eine Feuerwolke. Karin stieß einen erschrockenen Schrei aus und krampfte die Hände um die Sitzlehne. Wieder feuerte der Buglaser der RITTERSPORN, und ein zweites Schiff flammte auf und verbrannte wie eine Motte, die dem Licht zu nahe gekommen war. »Roboter«, keuchte Joe nach einem Blick auf seine Instrumente. »Das sind Robotschiffe. Sie beschleunigen mit Werten, die kein lebendes Wesen aushalten würde.« Die RITTERSPORN schwenkte langsam vor ihnen herum und wandte ihnen die Breitseite zu. Über einer der Tragflächen öffnete sich ein schmaler Spalt, der rasch zu einem hell erleuchteten Rechteck heranwuchs: die Schleuse. Fred sah verzweifelt zu den Robotschiffen hinüber. Die vordersten Schiffe der heranrasenden Flotte waren allerhöchstens noch vier-, fünftausend Meter entfernt. Ein paar Sekunden noch würde es dauern, bis sie da waren, wenn sie ihre ungeheure Geschwindigkeit beibehielten. Die RITTERSPORN feuerte jetzt mit allen Geschützen. Sieben, acht dünne, gleißende Laserblitze jagten der Flotte entgegen, brachten ein halbes Dutzend der Robotschiffe gleichzeitig zum Explodieren und suchten wie tastende Finger nach neuen Zielen. Der Kosmos schien sich von einer Sekunde auf die andere in ein Inferno aus Feuer, Licht und wirbelnden Trümmerstücken zu verwandeln. Und trotzdem rasten die Schiffe, die das Inferno überstanden hatten, unbeeindruckt weiter. Fred riß instinktiv die Arme vors Gesicht, als eine der grauen Pfeilspitzen scheinbar wenige Zentimeter vor dem Bugfenster vorbeiraste. Ein harter Ruck schleuderte ihn in die Gurte, als sein Vater das Beiboot herumriß und gleichzeitig abbremste. Das Robotschiff flog eine enge Kurve, richtete seinen messerscharfen Bug auf das hilflose Beiboot aus und stürzte wie ein angreifender Raubvogel herab. Kurt Saenger versuchte, das Schiff mit einer verzweifelten Drehung in Sicherheit zu bringen, aber der Robotraumer machte die Bewegung mit fast spielerischer Leichtigkeit mit und jagte weiter heran; ein tödliches, mit mörderischer Präzision gezieltes Geschoß, das das winzige Beiboot pulverisieren mußte. Ein grellweißer Blitz zuckte aus der Flanke der RITTERSPORN, sengte eine schwarze Spur in das Panzerglas der Frontscheibe und traf das Robotschiff. Der Raumjäger glühte für den Bruchteil einer Sekunde auf und verschwand dann in einer brodelnden Feuerwolke. Winzige, weißglühende Trümmerstücke trafen das Beiboot. Die Bugscheibe zerbarst, und irgend etwas bohrte sich wenige Zentimeter neben Joes Oberkörper in die Wand. Die Kabinenbeleuchtung erlosch. Das Schiff bäumte sich auf, überschlug sich und trudelte in haltlosem Sturzflug auf die RITTERSPORN zu. Für zwei, drei Sekunden tauchten die Flammen des explodierten Robotschiffes seine Flanke in grelle Rotglut, und Fred spürte die ungeheure Hitze selbst durch seinen Anzug hindurch. In seinen Kopfhörern waren die Schreckens- und Angstschreie der anderen zu hören, und draußen vor der zerborstenen Scheibe schien das Universum einen irren Tanz aufzuführen. Ein gewaltiger, schwarzer Schatten wuchs über ihnen heran, kippte
zur Seite und schien plötzlich wie ein stürzender Berg auf das winzige Boot herabzufallen. Irgend etwas explodierte. Fred wurde ein weiteres Mal und noch härter in die Gurte geworfen, als sein Vater das Boot mit einem verzweifelten Manöver wieder unter Kontrolle zu bringen versuchte. Die Triebwerke heulten überlastet auf. Flammen schlugen aus dem Kommandopult, dann schien der Faustschlag eines unsichtbaren Riesen das Schiff zu treffen und in allen Verbindungen ächzen zu lassen. Die geöffnete Schleuse der RITTERSPORN erschien vor dem Fenster, sprang ein paarmal nach rechts und links und jagte dann mit irrsinniger Geschwindigkeit heran, als das Boot endlich wieder den Steuerimpulsen gehorchte. »Festhalten!« brüllte Joe mit überschnappender Stimme. Die Schleuse raste auf sie zu, glitt vorüber, und dann schien ihnen die gegenüberliegende Wand mit einem gigantischen Satz entgegenzuspringen. Karin schrie auf und krümmte sich im Sitz zusammen. Das Boot krachte auf den Boden, sprang wie ein flach geworfener Stein wieder hoch und schlug noch einmal auf, um funkensprühend und kreischend weiterzuschlittern. Die Wand raste mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf sie zu. Joe griff verzweifelt nach den Kontrollen, riß am Steuerknüppel und wurde aus dem Sitz geschleudert, als sich das Boot aufbäumte und in nahezu rechtem Winkel zur Seite schoß. Ein ungeheurer, dröhnender Schlag traf den Rumpf. Das Schiff sprang drei, vier Meter in die Höhe, krachte mit vernichtender Wucht auf den Boden zurück und drehte sich wie ein überdimensionaler Kreisel ein paarmal um seine Achse, ehe es endlich zur Ruhe kam. Fred blieb sekundenlang reglos sitzen, ehe er es wagte, die Augen zu öffnen und sich in der Kabine umzusehen. Das Schiff war schrottreif. Mark krümmte sich vor ihm in seinem Sitz zusammen und stöhnte leise. Karin saß da wie gelähmt, starrte aus weit aufgerissenen Augen nach draußen und preßte krampfhaft die Lippen zusammen, als hielte sie mit aller Macht einen Schrei zurück, und Onkel Joe rappelte sich gerade stöhnend vom Boden hoch. Sein Vater hing reglos in den Gurten. »Vater?« fragte Fred zögernd. Keine Antwort. Er sah, wie Joe mühsam den Kopf hob, plötzlich zusammenzuckte und dann erschrocken auf die Füße sprang. »Vater!« keuchte Fred noch einmal. »Was ist mit dir?« Hastig löste er seine Gurte, sprang auf und lief mit zwei großen Schritten nach vorne. Sein Vater lag bewußtlos hinter den Kontrollen, nur noch von den Sicherheitsgurten gehalten. Sein Raumanzug schien unbeschädigt zu sein, aber als Fred sich besorgt über ihn beugte, sah er, daß er verletzt war. Sein linker Arm war auf unmögliche Weise verdreht und schien gebrochen zu sein, und aus einer langen Platzwunde über seinem linken Auge sickerte Blut. Joe fuhr mit einem Fluch herum, hämmerte auf den Kontrollen des Funkgerätes herum. Aber der Apparat war zerstört wie das gesamte Steuerpult des Bootes. Ein sanfter Ruck lief durch den Boden, als die großen Schleusentore einrasteten, und Sekunden später ertönte das scharfe Zischen der hereinströmenden Luft. Irgend etwas knisterte, und aus dem zertrümmerten Kontrollpult leckte eine winzige, blaue Flamme. Sie erlosch fast sofort wieder, aber dafür kräuselte sich dünner, grauer Rauch empor. »Wir müssen hier raus!« schrie Joe. »Ehe die ganze Kiste Feuer fängt!« Er riß sich mit einer ungeduldigen Bewegung den Helm vom Kopf, warf ihn hinter sich und versuchte mit zitternden Fingern, Freds Vater aus dem Gewirr von Sicherheitsgurten zu befreien. »Mark! Hilf mir! Wir müssen ihn rausschaffen!« Es wurde zu einem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit. Der Sauerstoffgehalt der Luft stieg rapide, als die großen Pumpen der Schleusenautomatik den Sauerstoff mit aller Macht hereinpreßten, und das Feuer im Kontrollpult breitete sich rasend schnell aus. Die Temperaturen stiegen ins Unerträgliche. Als sie - den reglosen Körper von Freds Vater zu viert zwischen sich tragend - aus der Schleuse stürmten, war die Kabine von einem tobenden Flammenmeer erfüllt. Sie wankten zehn, fünfzehn Meter vom Schiff fort und legten den Bewußtlosen behutsam zu Boden. Mark sank mit einem schmerzerfüllten Seufzen in die Knie und preßte die Hand gegen die Seite, während Joe zu dem Interkomanschluß neben der Tür eilte. Fred kniete besorgt neben seinem Vater nieder. Seine Finger zitterten, als er sich am Verschluß seines Raumhelmes zu schaffen machte.
»Laß mich das machen«, sagte Karin. Fred stand gehorsam auf, um seiner Schwester Platz zu machen. Mit geschickten Bewegungen löste sie den Helm, nahm ihn ab und legte die Finger auf die Halsschlagader ihres Vaters, um seinen Puls zu fühlen. »Wenigstens lebt er noch«, murmelte sie. »Wo bleiben die Sanitätsroboter?!« Fred sah sich hastig nach Joe um. Sein Onkel stand noch immer neben dem Interkom und sprach erregt in das Mikrophon. Aber die Roboter mußten in wenigen Augenblicken hier sein. In der Zentrale konnte die Bruchlandung des Beibootes nicht unbemerkt geblieben sein. Wahrscheinlich war jetzt schon eine Abteilung der Arztmaschinen unterwegs zu ihnen. Ein dumpfer, berstender Schlag ließ ihn herumfahren. Irgendwo im Rumpf des Beibootes war etwas explodiert. Meterhohe, gelbe Stichflammen schössen aus den geborstenen Fenstern der Kabine, und aus einem langen, gezackten Riß im Rumpf tropfte eine zähe Flüssigkeit, die fast augenblicklich Feuer fing. »Der Fremde!« flüsterte Karin plötzlich. »Um Gottes willen, Fred - der Fremde ist noch an Bord!!« Fred starrte seine Schwester einen Moment lang entgeistert an - und rannte los. Die Hitze schlug ihm wie eine kompakte Wand entgegen, als er sich dem brennenden Wrack näherte. Er senkte den Kopf, schlug die Sichtscheibe seines Helmes herunter und stürmte weiter. Der Anzug schützte ihn vor der schlimmsten Hitze, aber selbst er würde ihn nur wenige Augenblicke vor Verbrennungen oder Schlimmerem bewahren. Er stürmte durch die Schleuse, ignorierte Joes gellenden Schreckensschrei und schlug die Faust auf den Türöffner. Und das Wunder geschah. Die schwere Luke des Laderaums glitt summend auseinander, verkantete sich für einen kurzen, schrecklichen Moment und öffnete sich dann ganz. Fred bückte sich und zwängte sich, noch bevor die Luke ganz aufgegangen war, an dem schimmernden Eisblock vorbei und versuchte, ihn von der Stelle zu bewegen. Es ging nicht. Hier, an Bord des Schiffes mit seiner künstlichen Gravitation, hatte der Block sein normales Gewicht von mehr als einer Tonne wieder. Genausogut hätte er versuchen können, das Beiboot mit bloßen Händen wegzuschieben. Fred registrierte entsetzt, daß das Eis an manchen Stellen schon trüb zu werden begann. Die vormals messerscharfen Kanten des Eissarges waren jetzt rund, und auf dem Boden des Laderaumes begann sich Wasser in kleinen, schimmernden Pfützen zu sammeln. Selbst in seinem hermetisch abgeschlossenen Raumanzug wurde es allmählich unerträglich heiß. Er bekam kaum noch Luft und vor seinen Augen flimmerten rote Punkte. Aber er mußte ihn herausschaffen, ganz gleich, wie! Der Fremde würde sterben, wenn das Eis schmolz. Er stützte sich mit den Füßen an der Wand ab, lehnte sich gegen den Block und schob mit aller Kraft. »Fred!« dröhnte Joes Stimme aus seinen Helmkopfhörern. »Komm da raus! Die Kiste fliegt in die Luft!« »Helft mir!« keuchte Fred. »Wir müssen ihn rausschaffen!« Er atmete tief ein, schloß die Augen und stemmte sich noch einmal mit aller Gewalt gegen das Eis. Schritte polterten hinter ihm über den Boden, dann tauchten Onkel Joe und Mark fast gleichzeitig neben ihm auf. Zu dritt versuchten sie noch einmal, den Eisblock von der Stelle zu bewegen. Zuerst schien es, als würden selbst ihre vereinten Kräfte nicht dazu ausreichen, dann zitterte der Quader sanft, rutschte ein paar Zentimeter in Richtung Ausgang und kam wieder zum Stillstand. »Noch einmal!« keuchte Joe. »Wir schaffen es!« Es wurde noch heißer. Fred schrie vor Schmerz und Überraschung auf, als er versehentlich eine der Seitenwände berührte und das glühende Metall selbst durch den Anzug hindurch seinen Arm verbrannte. Er biß die Zähne zusammen, versuchte den Schmerz zu ignorieren, und stemmte sich noch einmal, mit allerletzter Kraft gegen den mächtigen Eisquader. Diesmal schafften sie es. Das Schiff war in starker Schräglage zum Stehen gekommen, und der Block begann, auf dem abschüssigen Boden einmal ins Rutschen gekommen, langsam auf die offenstehende Luke zuzugleiten. Ein hörbares Knirschen ertönte, als seine Kanten über die niedrige Schwelle schrammten, dann kippte er mit einer majestätisch langsamen Bewegung nach außen und krachte mit dumpfem Poltern auf den Boden. Fred sprang mit einem erleichterten Seufzer hinterher, verlor das Gleichgewicht und schlug lang auf dem harten Metallboden auf. Hinter ihm sprangen Mark und Joe aus dem brennenden Schiff.
Er wollte sich hochstemmen und aufstehen, aber mit einem Mal spürte er die brennenden Schmerzen in seinem Arm, dann wurde ihm plötzlich übel. Er merkte nicht mehr, wie Joe ihn hochhob und von dem brennenden Wrack forttrug.
»Und jetzt glaubst du, du hättest eine Heldentat begangen, nicht wahr?« fragte Ebner Rosen leise. Sein Gesicht war unbewegt, aber in seiner Stimme war eine Betonung, die in der gesamten Familie ebenso bekannt wie gefürchtet war. Fred trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er setzte zu einer Antwort an, biß sich aber dann nur verlegen auf die Lippen und warf seiner Mutter einen hilfesuchenden Blick zu. »Es war ja auch wirklich sehr mutig von dir, in ein brennendes Schiff zu laufen, um einem Fremden zu helfen, der vermutlich schon seit hundert Jahren tot ist«, fuhr Großvater fort. Diesmal war der Spott in seiner Stimme nicht mehr zu überhören. »Du mußt wahnsinnig geworden sein«, fuhr er fort. »Ich dachte, ich hätte euch klar genug gesagt, daß ich keine Helden in meiner Familie haben möchte! Du hättest umkommen können.« »Sei nicht so streng mit ihm, Vater«, lenkte Anne ein. »Er hat es gut gemeint. Und er ist noch ein Kind.« Ebner machte eine wütende Handbewegung. »Quatsch!« grummelte er. »Er ist verdammtnochmal alt genug, um zu wissen, was er tut. Und er hat nicht nur sich, sondern auch noch Joe und Mark in Gefahr gebracht!« Er starrte Fred ein paar Sekunden lang wütend an, fuhr dann mit einer abrupten Bewegung herum und blickte wieder auf den Frontschirm. »Du kannst an deinen Platz gehen«, sagte er, ohne Fred dabei anzusehen. »Wir reden später noch einmal darüber. Wenn wir aus diesem verdammten Sonnensystem heraus sind.« Fred drehte sich erleichtert um und eilte zu seinem Platz zurück. Seit ihrer spektakulären Landung war eine knappe halbe Stunde vergangen, und die RITTERSPORN näherte sich mit zunehmender Geschwindigkeit dem Rand des Sonnensystems. Die Robotflotte war weit hinter ihnen zurückgefallen; die Schiffe mochten unglaublich schnell und wendig sein, aber mit der Leistung der gewaltigen Impulstriebwerke der RITTERSPORN konnten sie nicht mithalten. Trotzdem sehnte Fred den Moment herbei, in dem sie die Ionenmotoren einschalten und in den Hyperraum fliehen konnten. Er setzte sich, überflog mit einem raschen Blick die wenigen Kontrollen, die er im Auge behalten mußte, und konzentrierte sich dann auf das Bild, das der Zentralschirm übertrug. Die Sterne sahen normal aus; ihre Geschwindigkeit reichte noch nicht, um die Lichtmauer zu durchbrechen. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er sah auf und blickte in das Gesicht seiner Mutter. Sie hatte ihren Platz an der Navigationskonsole neben Großvater verlassen und war hinter ihn getreten, ohne daß er es bemerkt hatte. »Wie geht es Vater?« fragte er leise. Seine Mutter lächelte, aber ihre Augen blieben ernst. »Es hat wohl schlimmer ausgesehen, als es war«, sagte sie. »Er hat einen gebrochenen Arm und eine Gehirnerschütterung. Aber er wird ein paar Tage im Bett bleiben müssen. Wie fühlst du dich?« Fred zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er sich in Wahrheit so miserabel wie seit Jahren nicht mehr fühlte. »Alles in Ordnung«, sagte er. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit seiner Mutter zu sprechen. Sie war zwar ins Hospital hinunter gekommen, als er seinen verbrannten Arm hatte verarzten lassen, aber natürlich hatte sie sich nur um Vater gekümmert, als sie sah, daß er selbst mit ein paar Kratzern davongekommen war. »Ihr wißt ja gar nicht, was ich für eine Angst ausgestanden habe«, sagte sie leise. »Versprich mir, so etwas nie wieder zu tun.« Fred sah seine Mutter irritiert an. Der Augenblick erschien ihm denkbar ungeeignet für eine solche Unterhaltung. Trotzdem nickte er nach kurzem Zögern. »Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist«, sagte er betont zerknirscht. »Ich dachte nur daran, diesem Fremden zu helfen. Wie geht es ihm überhaupt?« Seine Mutter zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Die Sanitätsroboter haben ihn in die Isolierkabine geschafft, glaube ich. Wir kümmern uns darum, wenn alles vorbei ist. Aber ich denke, er wird es überstehen.«
»Komm bitte herauf, Ingrid«, unterbrach Ebner ihr Gespräch. Freds Mutter drehte sich herum und warf dem Familienoberhaupt einen fragenden Blick zu. »Was ist los?« »Ich . . . weiß nicht genau«, antwortete Ebner stirnrunzelnd. »Irgend etwas stimmt nicht. Wir verlieren Fahrt.« Fred blickte erschrocken auf den Frontschirm, als könnte er das Langsamerwerden der RITTERSPORN dort feststellen. Seine Mutter eilte rasch zu ihrem Platz hinter den Kontrollen. »Aber das ist unmöglich«, sagte sie verwirrt. »Die Triebwerke arbeiten mit Maximalkraft.« »Es stimmt aber«, sagte Mark laut. Er hatte hinter dem Pult Platz genommen, an dem normalerweise Freds Vater saß, und hielt die Antriebskontrollen im Auge. »Wir werden rapide langsamer. Irgend etwas bremst uns.« »Etwas bremst uns?« wiederholte Ebner ungläubig. »Weißt du eigentlich, was du da sagst?« Mark nickte fast unmerklich. »Eine bessere Erklärung fällt mir leider nicht ein«, murmelte er. »Alle Systeme funktionieren einwandfrei. Trotzdem werden wir langsamer.« Fred mußte plötzlich an den kurzen Zwischenfall denken, als sie in dieses System eingeflogen waren. Den Ruck, der durch das Schiff gegangen war. Was hatte Anne gesagt? Als ob wir durch eine Wand geflogen wären . . . Und fast, als wäre dieser Gedanke das Stichwort gewesen, begann das Schiff plötzlich sanft, aber spürbar zu beben. Ein paar der Lampen auf seinem Pult wechselten von Grün zu Rot, und für einen kurzen Moment begann eine Alarmsirene zu heulen, ehe Großvater sie abstellte. »Mark!« schrie er. »Was ist los?« »Ich weiß es nicht«, sagte Mark. Seine Stimme hörte sich fast verzweifelt an. »Ich weiß es einfach nicht.« »Anne?« »Die Daten ergeben keinen Sinn, Vater«, antwortete Anne. »Es sieht aus wie eine Magnetsperre, aber das kann unmöglich sein.« Der Boden bebte stärker, und das Schiff begann hörbar zu ächzen, als müsse es sich gegen eine gewaltige, unsichtbare Kraft stemmen. Mark stieß einen halblauten Fluch aus, hantierte einen Moment hektisch an den Kontrollen und sah dann zum Kommandopult hoch. »Wir müssen Fahrt wegnehmen«, sagte er. »Das Schiff zerbricht, wenn wir weiter so beschleunigen.« Ebner überlegte eine endlose Sekunde lang. Dann nickte er. Auf seiner Stirn perlte plötzlich Schweiß. »In Ordnung«, sagte er. »Geh auf halbe Kraft zurück. Wir wenden um hundertachtzig Grad. Vielleicht ist das Phänomen nur auf einen bestimmten Bereich begrenzt. Joe - wieviel Zeit haben wir, bis uns die Schiffe einholen?« »Bei diesem Kurs? Sieben . . . acht Stunden, vielleicht mehr. Abe/du glaubst doch wohl selbst nicht, daß wir an einer anderen Stelle durchstoßen können, oder?« »Was ich glaube, spielt keine Rolle«, antwortete Ebner zornig. »Wir versuchen es. Eine Magnetsperre um ein ganzes Sonnensystem gibt es nicht.« »Ach?« rief Joe, wandte sich dann aber wieder wortlos seinen Kontrollen zu. »Und wenn wir . . . wenn wir innerhalb der Sperre in den Hyperraum gingen?« fragte Fred zögernd. Ebner schüttelte den Kopf. Die Bewegung wirkte abgehackt und gezwungen, als kostete sie ihn große Kraft. »Die Gravitationskräfte würden uns zerreißen«, sagte er leise. »Wir versuchen es an einer anderen Stelle. Vermutlich«, fügte er nach kurzem Überlegen hinzu, »haben sie unseren Kurs berechnet und diese Sperre eigens für uns errichtet.« Die Worte klangen nicht sehr überzeugend, und als Fred den Ausdruck auf dem Gesicht seines Großvaters sah, erkannte er, daß er selbst nicht an diese Erklärung glaubte. »Es ist unmöglich«, murmelte Ebner gepreßt. »Eine Magnetsperre von dieser Größe kann es einfach nicht geben.« Fred starrte wortlos auf den Schirm. Die Sterne drifteten langsam nach rechts ab, dann erschien wieder die lodernde rote Sonne, und vor ihr ein Schwarm winziger, glitzernder Metallsplitter. Großvater hatte recht, dachte er niedergeschlagen. Niemand hatte je von einem Schutzfeld derartiger Größe und Energie gehört. Aber es hatte auch noch niemand einen kosmischen Friedhof mit Hunderten, vielleicht Tausenden von Raumschiffen gefunden, der von einer Armada angriffslustiger Robotschiffe bewacht wurde.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, daß zumindest der letzte Teil seines Gedankenganges falsch war. Es hatte schon eine ganze Menge von Raumschiffen gegeben, die diesen Friedhof entdeckt hatten. Hunderte.
Die Triebwerke der RITTERSPORN waren abgeschaltet; das Schiff fiel schwerelos durch das All, mehr als fünfhundert Millionen Kilometer von der roten Riesensonne und der toten Flotte entfernt. Das Bild, das sich Fred bot, war von täuschender Friedfertigkeit. Von hier aus betrachtet, war die Sonne nicht mehr als ein glühender, roter Ball, und es fiel ihm fast schwer, zu glauben, daß in ihrer unmittelbaren Nähe eine tödliche Gefahr lauern sollte. Fred wandte sich mit einem lautlosen Seufzer von dem Bullauge fort, vor dem er die letzte halbe Stunde gestanden und hinausgestarrt hatte, sah sich einen Moment lang unschlüssig um und ging dann den Korridor in Richtung Hospital hinunter. Eigentlich hatte er frei und konnte - sollte sogar - im Bett liegen und sich ausruhen, aber er wußte, daß er sowieso keinen Schlaf gefunden hätte. Die Robotschiffe verfolgten sie noch immer, und die Magnetsperre hatte sich - unmöglich oder nicht - als höchst undurchdringlich erwiesen. Sie hatten fünfmal und an fünf verschiedenen Stellen versucht, sie zu durchbrechen; das letzte Mal mit einer Geschwindigkeit, die ein Vielfaches von der des Lichtes war. Das Schiff wäre um ein Haar an der unsichtbaren Wand zerschellt. Seitdem befanden sie sich auf der Flucht. Die RITTERSPORN war schneller und trotz ihrer Größe wendiger als die Robotraumer, aber die Pfeilschiffe verfolgten sie mit der Sturheit programmierter Maschinen, und Fred zweifelte nicht daran, daß sie sie jahrelang jagen würden, wenn es sein mußte. Er und der Rest der Belegschaft hatten allmählich begriffen, wie dieser bizarre Raumschiff-Friedhof zustande gekommen war . . . Er blieb einen Moment vor der geschlossenen Tür der Krankenabteilung stehen, klopfte dann flüchtig an und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Sein Vater lag reglos auf dem Bett und schlief. Sein Arm steckte in einem dünnen, durchsichtigen Heilverband, und die Wunde über seinem Auge war schon fast verschwunden, obwohl kaum zwölf Stunden vergangen waren. Trotzdem würde ihn der Medo-Robot weitere vierundzwanzig Stunden in künstlichem Tiefschlaf halten, so lange, bis seine Verletzungen vollkommen auskuriert waren. Fred blieb ein paar Sekunden neben dem Bett stehen, drehte sich dann um und verließ das Zimmer wieder. Er hätte gerne mit seinem Vater geredet, aber er wußte, daß er ihn jetzt nicht wecken konnte. Er ging den Korridor weiter hinunter, öffnete den Vorraum der Isolierkabine und trat leise ein. Er war nicht der einzige Besucher. Seine Schwester stand vor der deckenhohen Transparentscheibe auf der anderen Seite des Raumes. Sie drehte den Kopf, als sie das Geräusch der Tür hörte, nickte knapp und sah dann wieder durch die Scheibe. Der dahinterliegende Raum war von weißen, wirbelnden Schwaden erfüllt, und die Wände und die Gestalten der drei Sanitätsroboter glitzerten vor Rauhreif. Die Temperaturen dort drüben betrugen fast achtzig Grad unter Null, und es würde noch Stunden dauern, ehe sie den Gefrierpunkt erreicht hatten. Doch auf dem Transport war der gewaltige Eisblock bereits auf einen Bruchteil seiner einstigen Größe zusammengeschmolzen. Fred trat leise neben seine Schwester und sah minutenlang schweigend auf die schlanke, blauhäutige Gestalt hinab, die wie ein bizarrer Schmetterling in seinem Kokon im Inneren des Eises schwebte. Dutzende von verschiedenfarbigen Leitungen und Kabeln spannten sich zwischen dem Block und den Robotern. Es sah aus, als wäre der Fremde in ein gewaltiges Spinnennetz verwoben. »Kommt er durch?« fragte er schließlich. Karin zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen. »Der Medocomp sagt ja - aber nur, wenn er genauso widerstandsfähig wie ein Mensch ist.« Sie drehte sich nun doch um, sah ihn einen Herzschlag lang nachdenklich an und lächelte dann. »Wäre doch schade, wenn deine Heldentat umsonst gewesen wäre, nicht?« Fred runzelte unwillig die Stirn. »Mir ist nicht nach Witzen zumute«, sagte er barsch. Karin wurde übergangslos ernst. »Es war auch kein Witz«, murmelte sie. »Wenn er nicht überlebt, sind wir nämlich aufgeschmissen.«
Fred nickte niedergeschlagen. Dieser schmalgliedrige, blauhäutige Fremde war vielleicht ihre letzte Hoffnung. Sie versuchten seit Stunden, auf allen zur Verfügung stehenden Frequenzen Kontakt mit den Robotern aufzunehmen. Aber bisher waren ihre Funksprüche nicht einmal beantwortet worden. Und wenn Fred an die unzähligen zerstörten Raumschiffe dort draußen dachte, war er auch fast sicher, daß sie nicht beantwortet werden würden. Die gesamte Hoffnung der Besatzung konzentrierte sich jetzt auf den Fremden. Vielleicht wußte er, was dies alles hier zu bedeuten hatte. »Bist du nicht müde?« fragte Karin. Fred schüttelte den Kopf und nickte dann. »Doch«, sagte er. »Aber ich glaube nicht, daß ich jetzt schlafen kann.« »Angst?« Fred schwieg einen Moment. »Du nicht? Diese Roboter werden uns erwischen, wenn kein Wunder geschieht. Wir können ihnen nicht ewig davonfliegen.« Karin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Möglich«, sagte sie großspurig. »Aber zur Not können wir uns immer noch wehren.« »Das konnten die anderen Schiffe wahrscheinlich auch«, konterte Fred. »Du hast doch gesehen, wie die Wracks zugerichtet sind. Wir haben ein paar Dutzend von ihnen abgeschossen, aber es sind trotzdem nicht weniger geworden. Wenn du mich fragst, dann haben sie Tausende von Schiffen.« Karin schürzte die Lippen. »Wie gut, daß dich niemand fragt«, sagte sie spitz. Fred setzte zu einer scharfen Entgegnung an, drehte sich dann aber nur wortlos um und starrte durch die beschlagene Scheibe in die Isolierkabine. Es hatte keinen Zweck, wenn sie sich jetzt stritten. Ihre Gereiztheit war nur ein Ausdruck ihrer Nervosität, einer Nervosität, die in den letzten Stunden zunehmend von der gesamten Besatzung Besitz ergriffen hatte. Karin wußte nur zu gut, daß er recht hatte. Ihre Lage war aussichtslos. Sie konnten nicht jahrelang von einem Ende des Systems zum anderen fliegen. »Ich möchte nur wissen, warum sie das tun«, murmelte er gepreßt. »Es ist völlig sinnlos.« »Das ist es ganz bestimmt nicht«, widersprach Karin. »Vom Standpunkt dieser Roboter aus zumindest nicht. Sie werden ihre Gründe haben. Aber ich fürchte, die finden wir nie heraus.« Sie schwieg einen Moment, drehte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Scheibe. »Ich war vorhin oben in der Zentrale«, sagte sie. »Sie haben das gesamte System abgesucht. Ohne Erfolg.« »Wie meinst du das?« Karin zuckte mit den Achseln. »Es gibt keinen Planeten«, sagte sie. »Nicht einmal so etwas wie einen Mond. Nichts. Nur diese Flotte toter Schiffe.« Fred begriff nur langsam. »Aber sie müssen doch . . . Ich meine, sie müssen doch irgendwo herkommen. Eine Basis haben oder . . .« »Haben sie aber nicht«, sagte Karin. Ihre Stimme klang müde. »Und so, wie es aussieht, gibt es in diesem ganzen System keine Spur von Leben. Nur diese Roboter.« »Unsinn«, behauptete Fred. »Irgend jemand muß sie schließlich gebaut haben. Und jemand muß sie auf uns und die anderen dort draußen gehetzt haben.« »So?« fragte Karin spitz. »Und wer hat uns gebaut?« Fred schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist doch etwas ganz anderes«, sagte er langsam. Karin nickte. »Vielleicht sagen das die Roboter auch. Aber vielleicht war es auch ganz anders, was weiß ich.« Sie seufzte, warf dem schimmernden Eisblock mit der darin eingebetteten blauen Gestalt noch einen flüchtigen Blick zu und ging dann langsam in Richtung Tür. Fred folgte ihr. Er wäre gerne geblieben, um den Augenblick mitzuerleben, in dem der Fremde erwachte, aber bis dahin würden noch Stunden, wenn nicht Tage vergehen. Sie verließen die Kabine und gingen, eigentlich ziellos, auf den Liftschacht zu. Fred begann seine Müdigkeit allmählich stärker zu spüren. Immerhin war er seit achtzehn Stunden auf den Beinen, und ein paar von diesen achtzehn Stunden waren äußerst strapaziös gewesen. Aber er schob den Gedanken an Schlaf fast im gleichen Moment zur Seite, in dem er ihm kam. Er wußte, daß er jetzt nicht schlafen konnte. Keiner an Bord konnte das. »Gehen wir in den Freizeitraum«, schlug Karin vor. Fred zuckte unschlüssig mit den Achseln, trat aber trotzdem an die rechte, nach unten führende Seite des Schwerelosigkeitslifts heran. Sie sprachen kein Wort miteinander, während sie durch den nur schwach erhellten Schacht weiter nach unten glitten, und Fred spürte, daß Karin trotz ihrer bewußt zur Schau getragenen Ruhe mindestens genauso nervös war wie er. Nervös und ängstlich. Sie waren eine
Familie von galaktischen Händlern, keine Soldaten oder Abenteurer, und wenn nicht ein ziemlich großes Wunder geschah, dann . . . Fred versuchte, den Gedanken lieber nicht zu Ende zu denken, aber es blieb ein unangenehmes, dumpfes Gefühl zurück. Er war in den letzten Stunden zweimal, eigentlich sogar dreimal in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen, aber dies hier war etwas anderes. Solange er sich zurückerinnern konnte, hatten ihnen die ungeheuren technischen Leistungen der RITTERSPORN immer geholfen, auch aus brenzligen Situationen zu entkommen. Es gab nicht viele Schiffe in der Galaxis, die es an Geschwindigkeit und Defensivbewaffnung mit der RITTERSPORN aufnehmen konnten. Aber es sah so aus, als hätten sie in diesem unbekannten System am Ende der Milchstraße ihren Meister gefunden. Wolf kam ihnen entgegen, als sie auf der untersten Sohle aus dem Lift stiegen. Er sah so müde aus, wie sich Fred fühlte, und wahrscheinlich hatte er ebenfalls während der letzten zwanzig Stunden kein Auge zugetan. Das unerschütterliche Lächeln, das normalerweise auf seinem Gesicht angewachsen zu sein schien, hatte einem Ausdruck gezwungenen Gleichmuts Platz gemacht. Auch er hatte Angst. Wenn er sich auch alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. »Hallo«, sagte er. »Ihr wart bei eurem Vater?« Fred nickte. »Es geht ihm schon besser«, sagte er. »In ein paar Stunden ist er wieder auf den Beinen.« Wolf schürzte anerkennend die Lippen. »Ich habe gesehen, wie er euch reingebracht hat. Junge, war das eine Landung. Die ganze Besatzung hat den Atem angehalten. So schnell macht ihm das keiner nach.« Fred lächelte unsicher. Seltsamerweise machten ihn Wolfs Worte verlegen, fast, als hätte er das Schiff hereingebracht, und nicht sein Vater. »Du warst aber auch nicht schlecht«, fuhr Wolf fort. »Im ersten Moment dachte ich, du bist vollkommen übergeschnappt, als du plötzlich auf das brennende Schiff zugerannt bist. Aber ohne dich hätte der Fremde wohl nicht überlebt.« »Mit mir vielleicht auch nicht«, murmelte Fred. »Außerdem ist Großvater in diesem Punkt anderer Meinung.« »Ist er nicht«, behauptete Wolf. »Aber ich glaube, er hat furchtbare Angst um dich gehabt. Du weißt ja, wie er ist.« Er zuckte mit den Achseln, vergrub die Hände in den Hosentaschen und lehnte sich gegen die Wand. »Ihr wollt in den Freizeitraum?« Karin nickte. »Das lohnt sich nicht«, sagte Wolf mit einem resignierenden Lächeln. »Ist alles abgeschaltet. Alarmzustand - ihr wißt ja. Wie geht es dem Fremden?« »Woher soll ich das wissen?« gab Fred grober, als er eigentlich beabsichtigt hatte, zurück. »Er ist in der Krankenstation. Und es wird wahrscheinlich noch Stunden dauern, bis er erwacht. Wenn er überhaupt aufwacht.« Wolf sah ihn einen Moment lang durchdringend an, und Fred versuchte vergeblich, den Ausdruck in seinem Blick zu deuten. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich wollte nicht so grob werden. Ich bin wohl ein bißchen zu nervös.« »Das sind wir alle«, nickte Wolf. Plötzlich lächelte er wieder. »Ich war gerade auf dem Weg zum Maschinenraum. Kommt ihr mit?« »Zum Maschinenraum?« wiederholte Karin fragend. Wolf nickte. »Joe und Klaus sind vor einer Stunde hinunter gegangen.« »Und was suchen sie dort?« fragte Fred verwundert. Der Maschinenraum gehörte normalerweise zu den Bereichen des Schiffes, die gesperrt waren, und selbst Ebner war - soweit Fred wußte nicht öfter als vier-, fünfmal dort gewesen. »Um das rauszukriegen, will ich ja hin«, antwortete Wolf feixend. »Was ist? Kommt ihr mit?« Fred überlegte einen Moment, ehe er nickte. Es gab mit Sicherheit dort hinten nichts für sie zu tun, aber vielleicht war es immer noch besser, als tatenlos herumzustehen und darauf zu warten, daß etwas passierte. Sie gingen zurück in Richtung Lift, bogen kurz vor der offenstehenden Tür nach rechts ab und betraten einen niedrigen, nur schwach erhellten Gang. Die wuchtige Panzertür an seinem Ende, die normalerweise verschlossen und zusätzlich mit einem Siegel, das nur Ebner und Clare öffnen konnten, gesichert war, stand offen, und aus dem Korridor dahinter fiel bläuliches, schwaches Licht heraus. Die Lampen waren nur in dem Teil des Schiffes, der umgebaut worden war, weiß.
Ursprünglich hatte überall an Bord dieses bläuliche, für menschliche Augen kaum ausreichende Dämmerlicht geherrscht; vielleicht eine Nachahmung des Lichtes, wie es auf der Heimatwelt der Wesen herrschen mochte, die die RITTERSPORN erbaut hatten. Wie immer, wenn Fred einen der alten Bezirke betrat, fragte er sich unwillkürlich, was aus den eigentlichen Besitzern des Sternenschiffes geworden war, und wie immer fand er keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage. Jeder an Bord hatte wohl schon hundert Mal über dieses Rätsel nachgedacht, und niemand hatte bisher eine Erklärung gefunden. Das Schiff war vollkommen intakt, selbst hier, in Bereichen, die seit Jahrzehnten nicht mehr gewartet wurden. Wie hatten die Wesen ausgesehen, die dieses Schiff gebaut und geflogen hatten? Und wo waren sie hergekommen? Eine Rasse, die einen Sternenkreuzer wie diesen entwerfen und bauen konnte, mußte sehr mächtig sein. Aber es gab keine Spuren von ihnen; keine Kolonien, keine anderen Schiffe, keine Artefakte - nichts. Nur dieses Schiff, der erste und einzige Beweis dafür, daß es außer den bekannten raumfahrenden Völkern zumindest noch eine weitere hochentwickelte Intelligenz in der Milchstraße gab. Aber letztlich hatten sie nicht einmal dafür einen Beweis. Die RITTERSPORN konnte genausogut aus einer anderen Galaxie wie aus einem anderen Universum oder gar der Zukunft stammen eine Erklärung war so einleuchtend und so schlecht wie die andere. Fred fiel auf, daß Wolf und Karin unwillkürlich leichter aufzutreten schienen, fast, als fürchteten sie sich, in dieser fremdartigen Umgebung zu viel Lärm zu machen. Wahrscheinlich empfanden sie das gleiche, was auch er spürte: den Atem des Fremden, des vollkommen Anderen, der wie ein unsichtbarer Hauch in der Luft zu hängen schien. Auf dem Fußboden lag eine fast fünf Zentimeter hohe Staubschicht, und die Luft hatte einen fremdartigen, scharfen Beigeschmack. Nach einer Weile hörten sie Stimmen, und hinter der Tür am Ende des Korridors schimmerte helles, weißes Licht. Sie gingen schneller und traten nach wenigen Augenblicken hintereinander in die Maschinenhalle. Fred verhielt unwillkürlich im Schritt, und auch Karin und Wolf blieben sekundenlang stehen, um den bizarren Anblick auf sich wirken zu lassen. Die Halle war gewaltig. Fred wußte, daß die Decke etwa fünfzehn Meter über ihren Köpfen war, aber sie kam ihm höher, viel, viel höher vor. Die beiden großen Scheinwerfer, die Joe und Klaus hier herunter geschafft hatten, versuchten vergeblich, das trübblaue Zwielicht zu vertreiben. Ihr Licht schien von den schimmernden Wänden aufgesogen und absorbiert zu werden, als wäre jeder Versuch, menschliche Technik hier herunterzubringen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die vier Maschinenblöcke wirkten wie gewaltige, graue Kolosse, die trotz der unzähligen Leitungen, Schalter und Kontrollampen, mit denen sie übersät waren, etwas seltsam Urtümliches zu haben schienen - gewaltige, quaderförmige Klötze, denen man die ungeheure Kraft, die in ihnen schlummerte, fast ansehen konnte. Die Gestalten der beiden Menschen davor wirkten klein und verloren. Joe drehte sich halb um, als er das Geräusch ihrer Schritte vernahm. Zwischen seinen Brauen entstand eine mißbilligende Falte. »Was sucht ihr denn hier unten?« fragte er. »Ich glaube nicht, daß Ebner damit einverstanden wäre, daß ihr hier seid.« »Wenn du es ihm nicht erzählst, erfährt er es auch nicht.« Fred trat mit ein paar schnellen Schritten neben einen der großen Scheinwerfer, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu den Antriebsaggregaten hinauf. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Schaudern. Er wollte es nicht zugeben, aber die Maschinen jagten ihm auf schwer zu bestimmende Art Furcht ein. »Ihr solltet wirklich besser gehen«, sagte Joe in überraschend versöhnlichem Tonfall. »Man weiß nie, welche Überraschungen einen hier unten erwarten können.« Fred nickte, löste seinen Blick mühsam von dem Maschinenkoloß und sah Joe ernst an. »Ihr wollt sie einschalten, nicht?« fragte er. Karin sog scharf die Luft ein, und Wolf schien eine Spur blasser zu werden, und selbst Fred erschrak beinahe, als er seine eigenen Worte hörte. Aber es war die einzig logische Schlußfolgerung. »Ich fürchte, wir werden es müssen«, antwortete Joe nach sekundenlangem Schweigen. »Wenigstens werden wir es versuchen.« »Aber . . . könnt ihr das überhaupt?« fragte Wolf stockend. Joe zuckte mit den Achseln. »Ich bin Verlademeister, kein Ingenieur. Außerdem liegt die Entscheidung nicht bei mir. Wir warten, bis Kurt wieder auf den Beinen ist. Wenn es jemandem gelingt, den Antrieb zu starten, dann
ihm.« »Aber das ist. . .ich meine. . .«Wolf brach ab, suchte einen Moment nach Worten und sah sich hilflos in der gewaltigen, von blauem Dämmerlicht erfüllten Halle um. »Gefährlich?« Joe lächelte. »Nicht gefährlicher, als nichts zu tun, fürchte ich. Wir haben unsere Situation von den Rechnern analysieren lassen. Eine Woche, Wolf. Bestenfalls. Dann haben sie uns. Aber keine Sorge - solange wir noch irgendeine andere Chance haben, rühren wir die Dinger nicht an.« »Und was geschieht, wenn wir es tun?« fragte Fred gespannt. Joe hob erneut die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Wir wissen ja nicht einmal, wie diese Maschinen funktionieren. Kurt hat einmal gesagt, es könne eine Art Gravitationsmotor sein - was immer er damit meint. Aber es kann alles Mögliche geschehen. Vielleicht gar nichts. Vielleicht entkommen wir aus dieser Falle oder explodieren im gleichen Moment, in dem wir den Startknopf drücken.« Er grinste, als hätte er soeben einen guten Witz zum Besten gegeben. »Vielleicht finden wir uns auch am anderen Ende des Universums wieder«, fügte er hinzu. »Oder in der Hölle.«
Schließlich war Fred doch noch in seine Kabine gegangen und hatte sich hingelegt, aber obwohl er todmüde und so erschöpft wie selten zuvor in seinem Leben gewesen war, hatte er nicht einschlafen können. Länger als eine Stunde hatte er auf seinem Bett gelegen und die Decke angestarrt, und als er doch endlich einschlief, war er nach wenigen Augenblicken schweißgebadet und schreiend wieder aufgewacht, gepeinigt von der verschwommenen Erinnerung an einen Alp träum. Einen Traum, in dem große, häßliche Roboter und feuerspeiende Schiffe eine Rolle spielten und in dem er gerannt und gerannt war, ohne von der Stelle zu kommen. Er stand auf, schaltete das Licht ein und schlurfte in die winzige Waschkabine hinüber. Das Gesicht, das ihn aus dem Spiegel über dem Waschbecken anstarrte, wirkte blaß und eingefallen. Unter seinen Augen lagen dunkle, tiefe Ringe, und seine Haut glänzte wie feuchtes Wachs. Angst, dachte er. Es war der Ausdruck von Angst, den er sah. Todesangst. Nicht die lähmende Panik, die er beim Angriff der Roboter oder bei ihrem Beinahe-Absturz gespürt hatte, sondern etwas anderes, eine schleichende, dumpfe Verzweiflung, die auf ihre Weise fast schlimmer war. Niemand im Schiff hatte es bisher laut ausgesprochen, aber wahrscheinlich fühlten sie alle dasselbe. Ihre Chancen, lebend aus dieser gewaltigen Raumfalle zu entkommen, waren praktisch gleich Null. Die RITTERSPORN war zwar schneller und besser bewaffnet als die Robotschiffe, aber ein Bär war auch stärker als ein Hund, und trotzdem konnte ihn eine Meute zu Tode hetzen. Er warf sich ein paar Hände eiskalten Wassers ins Gesicht, schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse und verließ die Kabine. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich noch einmal hinlegen und versuchen sollte, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, aber die Erinnerung an den Alptraum hielt ihn nachdrücklich davon ab. Er sah auf die Uhr. Es war vier - Bordzeit, aber nichtsdestoweniger mitten in der Nacht -, und er hatte noch beinahe vier Stunden Zeit, ehe er wieder hinauf und seinen Platz in der Zentrale einnehmen mußte. Trotzdem verließ er nach kurzem Zögern die Kabine, ging zum Lift und ließ sich zum Kommandodeck des Schiffes hinauftragen. Er schien nicht der einzige zu sein, der in dieser Nacht keinen Schlaf fand. Die Besatzung war fast vollständig anwesend, und als er aus dem Lift sprang und zu seinem Platz hinüberging, zeigte niemand größere Überraschung. Es war still, sehr still. Er setzte sich, starrte einen Moment auf den Frontschirm und sah dann zu dem Pult neben sich. Es war leer. Sein Vater lag wohl noch immer in der Krankenabteilung, und wahrscheinlich hatte Großvater beschlossen, ihn so lange wie möglich schlafen zu lassen; auch, wenn der Heilungsprozeß eigentlich schon längst abgeschlossen sein mußte. »Da ist etwas«, flüsterte Anne. Fred sah instinktiv zum Schirm. Aber natürlich war er leer. Die hochempfindlichen Ortungssysteme der RITTERSPORN reichten millionenmal weiter hinaus als die optischen Systeme. »Roboter«, fuhr Anne nach einer sekundenlangen Pause fort. »Vier . . . nein, fünf Schiffe, soweit ich erkennen kann. Sie kommen näher.« »Wie weit sind sie entfernt?« erkundigte sich Ebner. »Zwanzigtausend Kilometer. Aber sie nähern sich rasch.« Fred ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Es war nicht einmal eine halbe
Stunde her, seit er das Vibrieren der Triebwerke zum letzten Mal gehört hatte. Das Netz zog sich langsam enger. Irgendwann würden sie in einer Situation sein, in der sie nirgendwohin mehr fliehen konnten. »In Ordnung«, seufzte Ebner. »Wir weichen aus - Ingrid, würdest du bitte den Kurs bestimmen?« »Einen Moment, Ebner.« Die Stimme war von Joe. Fred sah überrascht auf. Joe hatte sich halb in seinem Sitz herumgedreht und sah Ebner stirnrunzelnd an. »Warte noch einen Augenblick, ehe du losfliegst«, wiederholte Joe. »Es sind nur fünf Schiffe diesmal.« »Und?« antwortete Ebner unwirsch. »Fünf zuviel für meinen Geschmack.« Joe schüttelte den Kopf und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Das könnte eine einmalige Gelegenheit sein«, sagte er eindringlich. »Eine einmalige Gelegenheit? Wozu?« »Wir könnten versuchen, einen von ihnen zu kapern«, sagte Joe. »Diese fünf Schiffe stellen keine Gefahr dar. Wir werden leicht mit ihnen fertig.« Ebner überlegte einen Moment. Seine Finger trommelten nervös auf dem Schaltpult. Aber schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das ist viel zu gefährlich. Ich habe keine Lust, ein Risiko einzugehen. Sie können in Scharen über uns herfallen, während wir mit denen da draußen herumschießen.« »Aber überleg doch, Ebner«, sagte Joe beinahe flehend. »Wenn wir einen von ihnen in die Hände bekommen, finden wir vielleicht heraus, weswegen sie uns angreifen. Verdammt noch mal - wir wissen ja noch nicht einmal, wer sie sind, geschweige denn, was sie wollen!« »Und wie stellst du dir das vor?« fragte Ebner. »Willst du die Schleuse öffnen und sie herzlich bitten, hereinzukommen?« Joe rang verzweifelt mit den Händen. »Wir müssen es wenigstens versuchen«, sagte er. »Wenn es nicht klappt, können wir immer noch verschwinden, ehe sie Verstärkung bekommen.« Wieder schwieg Ebner für endlose Sekunden. »Das gefällt mir nicht«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Joe. »Das gefällt mir überhaupt nicht. Aber wenn wir herausfinden, wo sie herkommen . . .« »Ihr solltet euch auf jeden Fall bald entscheiden«, sagte Anne laut. »Sie sind nämlich nur noch fünftausend Kilometer entfernt.« Ebner sah auf. Der Blick seiner grauen Augen schien sich in den Bildschirm zu bohren, und für einen winzigen Moment glaubte Fred zu spüren, wie müde und erschöpft auch er war. »In Ordnung«, stieß er schließlich hervor. »Riskieren wir es. Aber haltet euch für ein Ausweichmanöver bereit. Ich möchte, daß wir innerhalb einer halben Sekunde von hier verschwunden sind, wenn irgend etwas schiefgeht. Joe - du übernimmst die Feuerkontrolle.« Von einer Sekunde auf die andere breitete sich eine hektische Aktivität in der Zentrale aus. Das Schiff bebte, als die Impulsmotoren ansprangen. Langsam, wie ein großes, schwerfälliges, stählernes Tier, begann sich die RITTERSPORN auf der Stelle zu drehen und Fahrt aufzunehmen. Auf dem Bildschirm erschienen fünf winzige, glänzende Punkte. »Dreitausend Kilometer«, sagte Anne ruhig. »Sie sind in einer Minute in Schußweite.« Fred spürte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Seine Hände begannen zu zittern, und sein Blick hing wie hypnotisiert am Schirm. Die Robotschiffe wuchsen langsam auf dem Schirm heran und schrumpften wieder zu Stecknadelkopfgröße zusammen, als die Optik auf einen anderen Vergrößerungsmaßstab schaltete. »Zweitausend Kilometer«, sagte Anne. »Irgendeine Reaktion auf unsere Funksprüche?« erkundigte sich Ebner. Mark, dem die Frage galt, schüttelte stumm den Kopf. »Tausend Kilometer. Zehn Sekunden bis Schußweite.« »Laser und Traktorstrahl bereit«, sagte Joe. Seine Stimme klang plötzlich vollkommen ausdruckslos, als wäre er selbst nicht mehr als ein Automat. »Wir schießen die Flankenschiffe ab und versuchen, das mittlere zu schnappen. Achtung . . . Jetzt!« Auf dem Bildschirm blitzte es grell auf. Eines der Schiffe flog in einer blendenden Explosion auseinander, ein anderes kippte plötzlich zur Seite und trudelte hilflos und brennend davon. Aber die drei anderen flogen stur weiter, Automaten, die weder Angst noch Mitleid kannten und beharrlich ihren einprogrammierten Befehlen folgten. Eine dünne, weiße Lichtbahn raste durch das All, schien für einen Moment direkt in den Schirm hineinzuspringen und
erlosch. Die RITTERSPORN zitterte unmerklich unter dem Einschlag. Die Waffe war lange nicht stark genug, dem Schiff ernsthaften Schaden zufügen zu können; selbst der erste, überraschende Angriff von Dutzenden der Robotschiffe hatte die Panzerung der RITTERSPORN nicht durchbrochen. Es war nicht mehr als ein Nadelstich. Aber sehr viele Nadelstiche, dachte Fred düster, konnten genauso tödlich sein wie ein einziger, mächtiger Schlag. Das dritte Robotschiff glühte auf und zerbarst, als die Laser der RITTERSPORN das Feuer erwiderten. Fred spürte plötzlich ein widersinniges Gefühl von Schuld, während er die lautlose Explosion auf dem Bildschirm verfolgte. Das da draußen waren nur Roboter, versuchte er sich zu beruhigen. Maschinen, mehr nicht. Aber es war trotzdem nicht richtig. Es war einfach nicht gut, daß sich hier zwei intelligente Rassen - oder wenigstens deren Abgesandte - gegenseitig zu vernichten versuchten, noch dazu ohne den geringsten Grund. »Fünfhundert Kilometer«, sagte Anne. »Beeil dich, Joe - da kommen noch mehr. Eine ganze Horde.« Wieder feuerten die Laser der RITTERSPORN, und diesmal füllten die Flammen der Explosion fast den halben Bildschirm aus. Das letzte, überlebende Robotschiff wurde durch die Druckwelle der Detonation aus dem Kurs geschleudert, überschlug sich ein paarmal und ruckte plötzlich, wie von einer unsichtbaren Riesenfaust ergriffen, herum. »Ich habe ihn!« rief Joe triumphierend. »Er sitzt im Traktorstrahl.« »Dann nichts wie weg hier«, sagte Ebner. »Bevor der Rest der Bande hier ist. Volle Schubkraft.« Die Triebwerke der RITTERSPORN heulten auf, und für einen Moment war der Lärm selbst hier oben in der Zentrale fast unerträglich. Das Sternenschiff machte einen gewaltigen Satz nach vorne und raste im rechten Winkel vor der näherkommenden Robotflotte davon. Die Schiffe fielen rasch zurück und waren nach wenigen Sekunden selbst von den Instrumenten verschwunden. Aber sie würden wiederkommen. Bald. Sehr bald.
Der Laderaum erstrahlte im Licht von einem Dutzend riesiger Tiefstrahler. Schwacher Ozongeruch hing in der Luft, und das Arbeitsgeräusch der Impulstriebwerke drang dumpf wie fernes Meeresrauschen durch die Wände. Fred trat zögernd an das Geländer heran, beugte sich ein Stück nach vorne und sah in die Tiefe. Die Galerie, auf der er stand, umgab den Frachtraum in halber Höhe: ein dünnes, nur durch ein zerbrechlich wirkendes Geländer gesichertes Metallband, das sich in fünfzehn Meter Höhe um die Halle zog; und von hier aus betrachtet, wirkte der Robotraumer winzig. Und trotzdem sah er bedrohlich aus; ein grauer Koloß, dessen Farbe und Form Gewalt und Haß auszustrahlen schien. Fred hielt unwillkürlich den Atem an, als er sah, wie sein Vater zusammen mit Joe auf das Robotschiff zuging. Bisher hatte das Schiff, das gelähmt und bewegungsunfähig im Zentrum von einem Dutzend Fesselstrahlen auf dem Boden lag, klein ausgesehen, aber als er die Gestalten der beiden Menschen davor sah, wirkte es plötzlich wieder groß. Es hatte die Form eines spitzen, langgestreckten Dreieckes, und seine Spannweite mußte mehr als zehn Meter betragen. Der Rumpf flachte nach vorne stark ab, so daß es tatsächlich eine starke Ähnlichkeit mit einer Pfeilspitze hatte, und Fred war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, daß dies reiner Zufall war. Vielleicht sollte allein die äußere Form des Schiffes schon Furcht vermitteln. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und seine Hände umklammerten das dünne Geländer so fest, als wolle er es zerbrechen. Die Gestalt seines Vaters schien zu verschwimmen, als würde man sie durch einen Vorhang aus glasklarem, bewegtem Wasser betrachten. Die Fesselfelder wirkten nur auf Maschinen, das wußte er - eine Art elektronischer Narkose. Aber er war selbst einmal - versehentlich - im Bereich eines solchen Feldes gewesen, und er wußte, daß es eine sehr unangenehme Erfahrung war. Ein Gefühl, als erhielte man am ganzen Körper ununterbrochen leichte, nicht unbedingt schmerzhafte, aber sehr störende Stromschläge.
Sein Vater blieb zwei Schritte vor dem Schiff stehen, sagte etwas zu Joe und drehte sich dann um, um zur Galerie hinaufzusehen. Er hob die Hand und winkte. Fred winkte zurück, und neben ihm rief Karin etwas, das er nicht verstand. Er war nicht der einzige, der hierhergekommen war, um dabei zu sein. Mit Ausnahme seines Großvaters, Anne und Mark, die in der Zentrale zurückgeblieben waren, um die Instrumente im Auge zu behalten, hatte sich beinahe die gesamte Familie eingefunden. »Seid vorsichtig!« rief seine Mutter in die Halle hinunter. Fred bezweifelte, daß sein Vater die Worte verstand, aber er begriff auch, daß seine Mutter mehr Angst hatte, als sie bisher zugeben wollte. Sein Vater nickte, wandte sich wieder um und trat dicht neben Joe an das Robotraumschiff heran. Fred konnte nicht erkennen, was sie taten. Er wäre gerne hinuntergegangen, um seinem Vater zu helfen, aber dazu hätte er nie die Erlaubnis bekommen. Nach der BeinaheKatastrophe bei ihrer Landung würde es ohnehin eine Weile dauern, ehe sein Vater ihn noch einmal mit auf eine Mission nahm, die auch nur entfernt nach Gefahr roch. Minutenlang geschah nichts, jedenfalls nichts, was er erkennen konnte. Dann, übergangslos, öffnete sich in der Flanke des grauen Pfeilschiffes eine kleine, sechseckige Luke. Joe sah noch einmal flüchtig zur Galerie hinauf, bückte sich und verschwand rasch im Rumpf des Roboters. Freds Vater folgte ihm. »Sie sind drin«, murmelte Wolf überflüssigerweise. »Hoffentlich geht das gut.« Fred nickte nervös. Wolf sprach nur aus, was sie alle befürchteten. Sie wußten so gut wie nichts über die Roboter; nicht einmal, ob ihre Fesselfelder wirklich auf sie wirkten. Und es war, für Freds Geschmack, fast ein bißchen zu leicht gewesen, den Jäger zu kapern. Aber sie hatten keine andere Wahl. Seit dem Gefecht waren nicht einmal vier Stunden vergangen. Und trotzdem hatten sie in dieser kurzen Zeit dreimal ihre Position wechseln müssen. Das Netz zog sich unbarmherzig zusammen. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus. Er drehte sich mit einer ruckhaften Bewegung um, trat vom Geländer zurück und begann unruhig auf der schmalen Empore auf und ab zu gehen. Seine Mutter stand in seltsam starrer Haltung da und blickte in die Tiefe, aber der Blick ihrer Augen schien geradewegs durch das graue Robotschiff hindurchzugehen, als sähe sie etwas ganz, ganz anderes. Ihr Gesicht war unbewegt, und ihre Lippen waren zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammengepreßt. Der Interkomanschluß an der Wand erwachte zum Leben, und Großvaters Gesicht erschien auf dem winzigen Schirm. »Wie sieht es aus?« fragte er knapp. Fred trat rasch an das Gerät heran und blickte in das Kameraauge. »Sie sind an Bord«, antwortete er. Seine Stimme zitterte hörbar. »Bis jetzt ist alles ruhig. Aber ich weiß nicht, wie lange es noch dauert.« »Jemand muß in die Krankenabteilung gehen«, sagte Großvater nach kurzem Überlegen. Fred erschrak. »Der Fremde?« Ebner nickte. »Ich glaube, er wacht auf - jedenfalls melden die Roboter Aktivität. Mary und Klaus können sich um ihn kümmern. Ihr könnt eurem Vater sowieso nicht helfen.« Fred sah rasch zu den beiden Genannten hinüber. Sie standen, dicht nebeneinander, Hand in Hand, vor dem Geländer und starrten gebannt in die Tiefe. Immerhin war Joe ihr Vater, und sie mußten das gleiche durchmachen wie Fred. »Ich gehe hin«, sagte Fred entschlossen. »Ich nehme Karin mit. Wir sagen sofort Bescheid, wenn sich irgend etwas tut.« Er schaltete ab, ehe Ebner Gelegenheit hatte zu widersprechen, drehte sich um und gab Karin einen unauffälligen Wink, ihm zu folgen. Niemand schien auch nur zu bemerken, daß er die Galerie verließ. Er ging ein paar Schritte den Korridor hinab und blieb stehen, um auf seine Schwester zu warten. »Was ist los?« fragte Karin. Zwischen ihren Brauen stand eine steile, tiefe Falte. Sie schien über die Störung alles andere als erfreut zu sein. »Der Fremde«, antwortete Fred knapp. »Ich glaube, er erwacht.« Karin zuckte sichtlich zusammen, warf einen raschen Blick über die Schulter zur Galerie zurück und runzelte die Stirn. »Wir sollten Mutter Bescheid sagen«, murmelte sie. Fred schüttelte entschieden den Kopf. »Die hat im Moment andere Sorgen.« >Und ich bin froh, hier wegzukommen<, fügte er in Gedanken hinzu. Aber das sprach er nicht laut aus. Sie fuhren nach oben und erreichten wenige Minuten später die Krankenabteilung.
Der Raum hatte sich stark verändert. Die durchsichtige Trennwand zur Isolierkabine war heruntergefahren worden, und es war kalt, sehr kalt. Freds Atem kondensierte zu einer Folge kleiner, rhythmischer Dampfwölkchen, und sein Gesicht und seine Haut begannen augenblicklich zu prickeln. Der Fremde lag lang ausgestreckt auf einem niedrigen, von einer ganzen Batterie blinkender und summender Apparate flankierten Tisch. Sein Gesicht war unter einer wuchtigen Atemmaske verborgen, von der sich ein halbes Dutzend verschiedenfarbiger Schläuche und Kabel zu den Instrumenten ringelten. Aber davon sah Fred kaum etwas. Er spürte auch die Kälte nicht, die mit winzigen, scharfen Zähnen in sein Gesicht und die ungeschützten Hände biß. Fasziniert starrte er die schlanke, feingliedrige Gestalt auf dem Behandlungstisch an. Es war ein Junge, kein Mann, und Fred war sicher, daß er nur wenig älter als er selbst war, obwohl er von seinem Gesicht nur Stirn und Augenbrauen erkennen konnte. Seine Haut war ungewöhnlich glatt, wie Wachs, und schimmerte im Licht der starken Lampen tiefblau. »Wie . . . geht es ihm?« fragte er stockend. Einer der glitzernden Sanitätsroboter wandte sich um und starrte ihn mit seinen ausdruckslosen Kameraaugen an. »Sein Zustand ist kritisch«, schnarrte er. »Der Erweckungsprozeß ist ohne Komplikationen verlaufen, aber sein Kreislauf ist instabil. Wir verabreichen kreislaufstützende Mittel.« Fred starrte eine halbe Sekunde lang auf den durchsichtigen Schlauch, der in einer dünnen Nadel im rechten Arm des Fremden endete. Eine farblose Flüssigkeit lief durch die dünne Kunststoffleitung. »Hoffentlich verträgt er unsere Medikamente«, murmelte Karin. »Wir können ihn mit dem Zeug genausogut umbringen.« »Kaum«, widersprach der Roboter. »Sein Stoffwechsel entspricht weitgehend dem eines Menschen. Die abweichende Pigmentierung der Haut dürfte auf die veränderten Umweltbedingungen zurückzuführen sein, unter denen sich seine Spezies entwickelt hat. Ein normaler Eiweiß-Kohlenstoff-Stoffwechsel.« »Dann kriegt ihr ihn durch?« Der Roboter nickte, eine Bewegung, die ihn auf bizarre Weise menschlich erscheinen ließ. »Wenn er auf die Medikamente wie erwartet anspricht, ja. Aber Komplikationen sind nicht auszuschließen.« Der Fremde regte sich. Seine Arme zuckten, und unter der Atemmaske drang ein dumpfes Stöhnen hervor. »Er wacht auf!« rief Karin aufgeregt. »Sieh doch!« Fred war mit einem Satz neben dem Bett. Der Roboter wollte ihn zurückhalten, aber er schob die Maschine einfach zur Seite und beugte sich über den blauhäutigen Jungen. Seine Augenlider zuckten, flatterten auf und senkten sich wieder. Fred erkannte, daß seine Augen blau wie seine Haut waren, nur von viel kräftigerer Farbe. »Er wacht auf!« wiederholte er. Der Roboter setzte eine Injektionspistole am Arm des Fremden an. Ein leises Zischen ertönte. Der Junge stöhnte erneut. »Die Krise ist noch nicht überwunden«, schnarrte die Maschine. »Es wäre besser, wenn Sie ihn allein ließen. Das Erwachen in einer fremden Umgebung kann einen Schock bewirken.« Fred trat widerstrebend vom Bett zurück. Natürlich hatte der Roboter recht - keiner von ihnen wußte, wer dieser Junge war und was er durchgemacht hatte, bevor er sich in den Kälteschlaf begeben hatte. Sicher nichts Angenehmes. Wahrscheinlich war sein Schiff ebenso wie die RITTERSPORN von den Robotern angegriffen und gejagt worden, und wenn er jetzt die Augen aufschlug und statt der vertrauten Umgebung die Krankenkabine und die Roboter sah, dazu Fred und Karin, die für ihn ebenso fremd waren wie er für sie . . . Er wollte sich vollends umdrehen und gehen, aber in diesem Moment öffnete der Fremde wieder die Augen, und als Fred seinem Blick begegnete, wußte er, daß er ihn sah. Er war wach. Fred blieb wie versteinert stehen und bemühte sich, möglichst unbeteiligt auszusehen. Er lächelte nicht einmal. Lächeln war eine Mimik der Menschen, Freundlichkeit oder wenigstens guten Willen auszudrücken. Bei einem anderen Volk konnte das Entblößen der Zähne eine vollkommen andere Bedeutung haben. Zehn, fünfzehn Sekunden lang starrten sie sich wortlos an, und Fred glaubte zu spüren, was hinter der Stirn des Jungen vorging. Er sah keinen Schrecken in seinen Augen, sondern nur etwas wie -
Ja, wie was eigentlich? Fred versuchte sich in seine Lage zu versetzen, aber das ging nicht. Der Fremde mußte in diesem Augenblick begreifen, daß er nicht mehr an Bord seines Schiffes war, daß die Welt, die er gekannt hatte, wahrscheinlich nicht mehr existierte. Der Schock mußte geradezu unglaublich sein. Der Junge schloß die Augen, atmete hörbar aus und versuchte sich aufzurichten, aber die breiten Kunststoff gurte, die seinen Körper an den Tisch fesselten, verhinderten die Bewegung. Er öffnete wieder die Augen, verdrehte den Kopf so gut es ging, und sah an sich herab. Er sagte etwas, aber die Sauerstoffmaske verzerrte seine Stimme, so daß Fred die Worte auch dann nicht verstanden hätte, wenn er seine Sprache beherrscht hätte. Mühsam bewegte er die rechte Hand, machte eine komplizierte Geste und sah Fred erneut an. »Macht ihn los«, sagte Fred leise. »Das ist viel zu riskant«, widersprach der Roboter. »Sein Kreislauf ist. . .« »Er will, daß er losgemacht wird«, unterbrach Fred die Maschine. »Also tu es. Ich befehle es.« Der Roboter starrte ihn noch eine Sekunde lang an, drehte sich dann gehorsam um und löste rasch die Gurte. Der Junge setzte sich auf. Seine Bewegungen wirkten mühsam, als hätte er nach all der Zeit, die er reglos dagelegen hatte, Schwierigkeiten, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen, und trotzdem auf schwer zu bestimmende Art elegant. Er blieb einen Augenblick reglos sitzen, hob dann die Hände und löste die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Der Interkom neben der Tür begann zu summen, aber Fred ignorierte das Geräusch. Langsam, um den Fremden nicht zu erschrecken, ging er auf ihn zu, hob die Hände und drehte die Handflächen nach außen, eine Geste des Friedens, die fast überall im Universum verstanden wurde. Der Fremde sah ihn einen Moment durchdringend an. Der Interkom summte erneut, und diesmal klang das Geräusch eindeutig ungeduldig. »Das wird Großvater sein«, flüsterte Karin. Fred schüttelte unwillig den Kopf. »Einen Moment noch«, zischte er. Beim Klang ihrer Stimmen war der blauhäutige Fremde sichtlich zusammengefahren. Einen Moment lang sah er fast ängstlich von Karin zu Fred, dann verzog er die Lippen zu einem unsicheren, zaghaften Lächeln. »Mein Name ist Fred«, sagte Fred betont. »Und das da ist Karin. Ich weiß, daß du uns nicht verstehst, aber wir sind deine Freunde.« Er lächelte zurück, deutete nacheinander auf seine Schwester und sich und nannte ein paarmal ihre Namen. Der Junge schwieg einen Moment, dann hob er die linke Hand, legte sie flach auf seine Brust und sagte etwas, das sich ungefähr wie »Rechananlentii« anhörte. »Er antwortet!« stieß Karin überrascht hervor. »Er hat verstanden, was du meinst, Fred! Er versteht uns. Sprich weiter, rasch!« Fred nickte und trat einen weiteren Schritt auf den Jungen zu. Der Fremde schwang langsam die Beine von der Liege, setzte die Füße auf den Boden und stemmte sich hoch. Die Bewegung kostete ihn sichtlich große Kraft, aber er stand, wenn auch schwankend. Das Summen des Interkoms klang immer drängender. »Großvater reißt uns den Kopf ab, wenn wir uns nicht melden«, sagte Karin. »Bitte, Fred.« Fred drehte sich widerwillig um, ging zum Interkom hinüber und drückte die Ruftaste. Der kleine Bildschirm leuchtete auf, und das Gesicht seines Großvaters erschien auf der Mattscheibe. »Was ist da unten bei euch los?« fauchte er. »Sitzt ihr auf den Ohren?« Fred schüttelte den Kopf. »Er ist aufgewacht«, sagte er so ruhig wie möglich. »Aufgewacht? Wie geht es ihm, und . . .« Ebner Rosen brach erstaunt ab, als der blauhäutige Junge mit unsicheren Schritten in den Aufnahmebereich der Kamera trat. Es war das erste Mal, solange Fred sich erinnern konnte, daß er seinen Großvater sprachlos sah. »Das«, sagte Fred betont, »ist Ritchie.«
Während der nächsten vierundzwanzig Stunden kehrte eine trügerische Ruhe ein. Die RITTERSPORN hatte nach dem letzten Anflug der Robotjäger einen Satz gemacht, der sie quer
durch das Sonnensystem bis zu seiner entgegengesetzten Grenze gebracht hatte; dicht genug an die Magnetsperre heran, daß sie ihre Kraft bereits spürten und das Schiff langsam, aber beständig, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben, zurück in Richtung der roten Sonne driftete. Ritchie - mittlerweile hatte die gesamte Familie Freds Namensgebung stillschweigend akzeptiert und sprach nicht mehr von einem Fremden, sondern nur noch von »Ritchie« -hatte noch ein paar Stunden geschlafen und sich nach einer ersten, vorsichtigen Mahlzeit in die Obhut von Clare Rosen und des Lerncomputers begeben. Freds Großmutter hatte ihm mit Gesten klar gemacht, daß er viel reden sollte, um der Übersetzungsmaschine ein möglichst großes Vokabular zu verschaffen, und Ritchie hatte erstaunlich schnell begriffen, was von ihm erwartet wurde. Und auch die Analyse des gekaperten Robotschiffs machte Fortschritte. Seine Maschinen und seine Technik erwiesen sich als überraschend einfach; es war eine Hochleistungsmaschine, aber sie war trotzdem beinahe simpel konstruiert. Joe und Freds Vater hatten etwas gefunden, das sie für eine Art Flugschreiber hielten, und der Bordrechner versuchte jetzt seit annähernd zehn Stunden, den Code der fremden Computereinheit zu knacken. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie wußten, wo die Robotschiffe herkamen. Als Fred nach dem Ende seiner normalen Acht-Stunden-Wache in die Kabine zurückkehrte, die er zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern bewohnte, fand er die gesamte Familie noch wach und beisammen - was an sich schon verwunderlich war. Sein Vater hatte eine verdammt anstrengende Zeit hinter sich und gehörte ins Bett, und auch auf dem Gesicht seiner Mutter hatte die Müdigkeit tiefe Spuren hinterlassen. Es sah aus, als hätten sie auf ihn gewartet. »Setz dich bitte«, sagte sein Vater knapp, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Fred gehorchte verwundert. Irgend etwas stimmte nicht, das spürte er genau. »War es anstrengend?« fragte seine Mutter. »Im Gegenteil.« Fred schüttelte den Kopf und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Allerhöchstens langweilig. Aber ihr kennt ja Großvater - er besteht auf einer vollen Wachmannschaft, solange der Alarmzustand nicht auf gehoben ist.« »Mit Recht«, nickte sein Vater. »Diese Robotschiffe kommen immer näher. Ich glaube nicht, daß wir sie noch lange an der Nase herumführen können.« »Das System ist groß -« »Und unser Treibstoffvorrat beschränkt«, fiel ihm sein Vater ins Wort. »Außerdem ist die nervliche Belastung zu groß. Wir können nicht mehr lange warten.« »Womit?« fragte Fred erschrocken. Plötzlich glaubte er zu wissen, was der Sinn dieser improvisierten Familienkonferenz war. »Joe und ich haben uns die Triebwerke angesehen«, sagte Vater nach einem langen, nachdenklichen Blick auf seine Fingernägel. »Ich glaube, wir können sie starten.« »Und dann?« Vater zuckte stumm die Achseln. »Das weiß niemand. Und je intensiver ich mich mit den Geräten beschäftige, desto weniger verstehe ich sie.« »Du glaubst, die Magnetsperre . . .« »Die Magnetsperre ist kein Problem«, sagte Vater kopfschüttelnd. »Aber wir wissen einfach nicht, was passiert, wenn wir die Originaltriebwerke in Betrieb nehmen. Wenn sie nämlich funktionieren wie unsere Hypersprungmotoren, dann zerreißen uns die Gravitationsfelder der Sonne. Und das ist nur eine Möglichkeit. Es gibt auch noch andere.« Er seufzte, stützte das Kinn auf die Handfläche und schüttelte den Kopf. »Wir haben noch nicht endgültig darüber gesprochen«, fuhr er nach einer Weile bedrückten Schweigens fort. »Aber ich fürchte, wir haben keine große Wahl mehr.« »Und . . . und das Schiff?« fragte Fred stockend. Er begriff, was sein Vater ihm - und den anderen - sagen wollte. Nämlich, daß es gut sein konnte, daß sie in ein oder zwei Tagen nicht mehr am Leben waren. »Das Robotschiff?« Vater schüttelte den Kopf und gab ein resignierendes Geräusch von sich. »Die Rechner haben den Code geknackt, wenn du das meinst. Es war sogar relativ einfach - ein primitiver Binärcode, wie ihn schon die ersten menschlichen Kleincomputer benutzten. Aber die Daten nutzen uns nichts.« »Wieso?«
»Wieso?« Vater lächelte traurig. »Wenn die Position, die im Computergehirn des Schiffes gespeichert ist, stimmt«, sagte er ruhig, »dann müßte sein Heimatplanet innerhalb der Sonne liegen. Genau drei Millionen Kilometer unter ihrer Oberfläche.« Fred starrte seinen Vater ungläubig an. »Aber das ist doch unmöglich.« »Eben. Wir versuchen natürlich, weitere Informationen zu bekommen, aber es ist ziemlich aussichtslos. Ich will dir nichts vormachen, Fred. Du bist alt genug. Und du«, fügte er nach einem Seitenblick zu Karin hinzu, »auch.« »Aber wir versuchen doch weiter, Kontakt aufzunehmen?« fragte Fred. »Selbstverständlich. Obwohl ich nicht mehr glaube, daß es Sinn hat. Es sind Roboter, Fred. Genausogut könntest du versuchen, mit einer Kaffeemaschine zu reden. Sie folgen ihrer Programmierung, und damit hat es sich. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, aber ich fürchte, wir haben nur noch eine einzige Wahl, wenn wir aus dieser Falle entkommen wollen.« Fred setzte zu einer Entgegnung an, aber dann schüttelte er nur den Kopf und starrte an seinem Vater vorbei gegen die Wand. Warum nur? dachte er. Diese Maschinen waren von intelligenten, denkenden Wesen erschaffen und programmiert worden, und er konnte sich einfach kein Volk vorstellen - und sei es noch so fremdartig und anders -, das so etwas aus purer Bosheit tat. Sie mußten einfach einen Grund haben. Und er war davon überzeugt, daß sie aus dieser Falle entkommen konnten, wenn sie diesen Grund herausfanden. »Du mußt hungrig sein«, sagte seine Mutter. Sie wollte aufstehen und ihm etwas zu essen holen, aber Fred rief sie mit einem hastigen Kopf schütteln zurück. Eigentlich hätte er nach der langen Zeit, die er oben in der Zentrale gewesen war, Hunger haben müssen, aber das einzige, was er im Magen spürte, war eine leichte Übelkeit. Er blieb noch einen Moment sitzen und erhob sich dann, als klar wurde, daß sein Vater nicht weiterreden würde. Auch Karin stand auf, schob umständlich ihren Stuhl an den Tisch heran und ging dann langsam zur Tür. »Ich sehe noch mal nach Ritchie«, sagte sie. »Kommst du mit?« Fred drehte sich zu seinen Eltern um. Mutter war gerade dabei, Bea für ihren Nachmittagsschlaf fertigzumachen, und sein Vater sah ihr scheinbar interessiert dabei zu. Aber sein Blick schien durch sie hindurch ins Leere zu gehen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie die beiden wenigstens für eine Weile allein ließen. Er nickte wortlos und folgte seiner Schwester. Sie verließen die Kabine und gingen in Richtung Lift. Der Boden begann unter ihren Füßen zu vibrieren, als sie die halbe Strecke geschafft hatten, und aus den Wänden schien ein dumpfes Grollen zu dringen. Sie wußten beide, was das Geräusch bedeutete - die Triebwerke waren wieder angesprungen; die RITTERSPORN befand sich erneut auf der Flucht. Ritchie saß aufrecht und mit einem Pyjama von Fred bekleidet im Bett, als sie die Kabine, in der er untergebracht war, betraten. Er war allein, aber der Stuhl neben seinem Bett und der eingeschaltete Übersetzungscomputer zeigten, daß Clare wohl nur für einen Augenblick weggegangen war. Fred blieb unschlüssig ein paar Schritte vor seinem Bett stehen und lächelte. »Hallo«, sagte er. Ritchie blickte ihm einen Moment ernst in die Augen und lächelte dann zurück. »Hallo«, antwortete er. »Schön, daß ihr mich besucht.« Der Computer übersetzte seine Worte so schnell, daß sie sie beinahe im gleichen Augenblick hörten, in dem er sie aussprach. Fred blickte erstaunt auf das Gerät. Er hatte gehört, daß die Übersetzung Fortschritte gemacht hatte. Großvater hatte fast zwei Stunden mit Ritchie gesprochen und ihm behutsam erklärt, was geschehen war. Aber er hatte nicht geglaubt, daß sie seine Sprache schon beinahe perfekt beherrschten. »Du wunderst dich, wie?« fragte Ritchie mit einer Kopfbewegung auf den Automaten. »Euer Großvater war genauso erstaunt. Unsere Sprachen scheinen sich sehr ähnlich zu sein.« Fred nickte verwirrt. Für einen Moment wußte er nicht, was er sagen sollte - eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, mehr als ein paar Worte mit Ritchie wechseln zu können; wenn überhaupt. Ritchie setzte sich umständlich auf und zupfte die Decke zurecht. Er war noch immer sehr schwach, auch wenn er sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich freue mich, daß du kommst«, sagte er. »Ich muß mich wohl noch bei dir bedanken.« »Bedanken?«
»Du bist doch Fred, nicht?« Fred nickte. »Sicher, aber-« »Du hast mir das Leben gerettet«, fuhr Ritchie fort. »Dein Großvater hat es mir erzählt. Ohne dich wäre ich in dem brennenden Schiff umgekommen. Du hast dabei dein eigenes Leben riskiert.« Fred winkte verlegen ab. »Unsinn. Ich habe das ganz automatisch getan. Außerdem müßtest du dich dann mindestens bei der halben Besatzung bedanken. Karin hat dich praktisch gefunden, und wenn mein Vater nicht so eine gekonnte Notlandung gebaut hätte . . .« »Ich weiß«, unterbrach ihn Ritchie. »Aber das, was du getan hast, war etwas anderes.« Fred machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut. Die Hauptsache ist, daß du hier und gesund bist.« Er schwieg einen Moment, sah seine Schwester an und fuhr dann vorsichtig fort. »Hat dir Großvater Ebner erzählt, was . . .« »Ich weiß alles«, sagte Ritchie. Plötzlich wurde er wieder ernst, und in seine großen, dunkelblauen Augen trat ein trauriger Ausdruck. »Euch ist das gleiche passiert wie uns.« »Diese Roboter haben euer Schiff angegriffen.« Ritchie nickte, und als er weitersprach, klang seine Stimme bedrückt, obwohl es nur eine elektronische Übersetzung war, die sie hörten. »Meine Eltern sind Händler, wie eure«, erzählte er. »Ich bin auf der STERNENSTAUB geboren und aufgewachsen - dem Schiff, auf dem ihr mich gefunden habt. Meine Eltern fingen einen Funkspruch auf und änderten den Kurs, um nachzusehen. Wir fanden diese tote Flotte.« »Und als ihr wieder abfliegen wolltet, seid ihr auf die Magnetsperre gestoßen«, vermutete Karin. »Und dann haben euch die Roboter angegriffen.« Ritchie nickte. »Genau wie bei uns«, murmelte Fred kopfschüttelnd. »Das hört sich kaum noch nach einem Zufall an.« »Wir haben auch einen Funkspruch aufgefangen«, erklärte Karin auf Ritchies fragenden Blick. »Aber er kam aus eurem Schiff. Deshalb sind wir ja überhaupt an Bord gegangen.« Ritchie überlegte einen Moment. »Das muß der automatische Notruf gewesen sein«, sagte er. »Mein Vater hat ihn eingeschaltet, kurz bevor wir in den Kälteschlaf gingen.« »Warum habt ihr das getan?« fragte Fred. »Ich meine - es war ein ziemliches Risiko. Schließlich haben wir dich nur durch Zufall gefunden.« Ritchie schluckte ein paarmal, ehe er antwortete. Seine Hände spielten nervös mit einem Zipfel seiner Decke, und Fred sah, wie schwer es ihm fiel, über das, was geschehen war, zu reden. »Wir hatten keine Wahl«, sagte er. »Die Roboter haben uns gejagt. Wir sind wochenlang von einem Ende des Systems zum anderen geflohen und waren ständig auf der Flucht. Schließlich wurde unser Treibstoff knapp, und eines Tages hatten sie uns in der Falle. Es kam zu einem Kampf, aber die STERNENSTAUB ist kein Kriegsschiff, sondern ein Frachter. Ihr habt ja gesehen, wie sie aussieht.« Fred nickte. Das Bild des zerstörten, halb auseinandergenommenen Raumschiffes stand noch deutlich vor seinen Augen. Vielleicht, dachte er bitter, würde die RITTERSPORN in gar nicht langer Zeit genauso aussehen. Ein zerschmolzenes, leeres Wrack, das ziellos zwischen den Sternen trieb. Aber das sprach er nicht laut aus. »Und dann?« fragte er gespannt. Ritchie senkte den Blick. »Wir konnten noch einmal entkommen, aber das Schiff war praktisch ein Wrack. Ich glaube, wir haben über hundert von ihnen abgeschossen, aber es kamen immer mehr. Unsere Lage war aussichtslos. Schließlich sind wir in die Kälteschlafkammer gegangen, in der Hoffnung, von einem anderen Schiff geborgen zu werden.« Es war jetzt das zweite Mal, daß Ritchie »wir« sagte, dachte Fred. Aber sie hatten nur ihn gefunden . . . Er sah auf und blickte seine Schwester an, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht sagte ihm, daß sie das gleiche dachte wie er. Und als hätte Ritchie seine Gedanken gelesen, sagte er in diesem Moment: »Ich möchte mitkommen, wenn ihr zur STERNENSTAUB zurückkehrt und meine Eltern und die anderen holt. Glaubt ihr, daß euer Großvater das erlaubt? Ich habe ihn gefragt, aber er hat nicht geantwortet.« Fred wollte etwas sagen, aber seine Kehle schien plötzlich wie zugeschnürt. Er hielt Ritchies Blick eine halbe Sekunde lang stand, sah dann hastig weg und scharrte unsicher mit den Füßen. »Warum antwortet ihr nicht?« fragte Ritchie. »Ihr . . .« Er brach plötzlich ab, setzte sich stocksteif im Bett auf und starrte erst Karin, dann Fred aus schreckgeweiteten Augen an. »Ihr habt niemanden gefunden?« fragte er. Seine Stimme zitterte. »Meine Eltern sind . . . tot?«
»Unsinn«, sagte Fred rauh. »Wir haben das Schiff nicht untersucht, sondern sind sofort zurückgeflogen.« »Aber sie müssen in der Kammer gewesen sein«, sagte Ritchie verzweifelt. »Sie . . . sie haben gesagt, daß sie sich nach mir einfrieren lassen wollen. Die Kammer war. . . groß genug für acht Personen.« »Wir fliegen noch einmal zurück«, sagte Karin schnell. »Vielleicht gibt es noch mehr Kältekammern auf dem Schiff, und . . .« Sie verstummte, als ihr klar wurde, was für einen Unsinn sie redete. »Deshalb hat euer Großvater nicht geantwortet«, murmelte Ritchie. »Ich war allein in der Kammer. Außer mir war überhaupt niemand an Bord. So ist es doch?« Fred antwortete nicht, und auch Karin drehte sich hastig um und starrte die Wand an. »Antwortet mir!« beharrte Ritchie. »War außer mir noch jemand in der Kammer?« Fred schüttelte mühsam den Kopf. »Nein«, sagte er. »Niemand. Es tut mir leid.« Ritchie schwieg, und als Fred sich wieder herumdrehte und ihn ansah, sah er, daß er sich wieder zurückgelegt und die Augen geschlossen hatte. Er gab keinen Laut von sich, aber unter seinen Lidern sickerten zwei einzelne Tränen hervor und malten eine glitzernde Spur über seine Wangen. »Es tut mir leid, Ritchie«, sagte er niedergeschlagen. »Ich wußte nicht, was . . . was passiert ist. Ich hätte es dir nicht sagen dürfen. Nicht. . . nicht so«, fügte er stockend hinzu. Ritchie antwortete nicht, und Fred war sich nicht einmal sicher, ob er seine Worte überhaupt gehört hatte. Langsam wandte er sich um und verließ die Kabine. Karin folgte ihm und zog hastig die Tür hinter sich zu. »Das war nicht besonders diplomatisch von uns«, sagte sie leise. Fred schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Nein. Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Aber warum hat uns Großvater denn nichts gesagt?« »Warum hat euch euer Großvater was nicht gesagt?« sagte eine Stimme hinter ihnen. Fred fuhr erschrocken herum und sah zwei, drei Sekunden lang verwirrt in das Gesicht seiner Großmutter. Er hatte nicht bemerkt, daß sie herangekommen und hinter ihnen stehengeblieben war. »Es war . . . ich meine die Sache mit Ritchies Eltern«, stotterte er. »Er hat gedacht, daß seine Eltern noch drüben auf dem Schiff sind.« Seine Großmutter erbleichte. »Ihr habt es ihm doch nicht erzählt?« fragte sie entsetzt. Fred senkte betreten den Blick. »Ich furchte, doch«, murmelte er. »Ich wollte es nicht, aber . . .« »Oh, mein Gott«, flüsterte Großmutter erschrocken. »Wißt ihr überhaupt, was ihr da getan habt? Sein Zustand ist noch lange nicht normal, auch wenn er sich alle Mühe gibt, sich nichts anmerken zu lassen. Der Schock kann ihn umbringen!« Sie trat mit einem raschen Schritt an die Tür, öffnete sie und verschwand hastig in der Kabine. Fred starrte die geschlossene Tür beschämt an. »Ich könnte mich selbst irgendwohin treten«, murmelte er. »Davon wird es auch nicht besser«, sagte Karin. »Du kannst nichts dafür. Und wenn doch, dann bin ich genauso daran schuld wie du. Ich habe zu spät gemerkt, worauf er hinaus wollte.« Fred starrte einen Moment lang zu Boden. Er dachte an die Roboter in ihren grauen, kalten Pfeilschiffen dort draußen und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Aber es war eine Bewegung, die eher Resignation als Zorn ausdrückte. »Es ergibt keinen Sinn«, sagte Ebner zum wiederholten Mal. »Es ergibt einfach keinen Sinn, ganz egal, wie man es betrachtet.« Er seufzte, fuhr sich mit einer müden Geste durch das graue Haar und ließ die Hand flach auf den durchsichtigen Kunststoffhefter fallen, der vor ihm auf der Tischplatte lag. Die Untersuchung des gekaperten Robotschiffes war abgeschlossen, so weit sie überhaupt möglich war. Aber was sie herausgefunden hatten, trug eher dazu bei, ihre Verwirrung zu vergrößern. »Und ihr seid ganz sicher, daß ihr keinen Fehler gemacht habt?« Die Frage galt Freds Vater und Joe, die ihm den abschließenden Bericht gebracht hatten. Seither waren mehr als zwei Stunden vergangen. Zwei Stunden, in denen sie immer wieder die gleichen Fragen gestellt und immer wieder zu den gleichen, unbefriedigenden Antworten gelangt waren. »Frag das den Computer«, murrte Joe. »Er hat den Code der Roboter geknackt, nicht wir. Aber soweit ich weiß, hat er sich noch nie verrechnet.«
Ebner seufzte erneut, klappte den Ordner mit einer wuchtigen Bewegung zu und schaltete mit einem Knopfdruck den Bildschirm ein. Die rote Riesensonne erschien wie ein glühendes Juwel im Zentrum der Mattscheibe. Fred blinzelte, als das grelle Licht des Planeten ungefiltert in die Zentrale flutete. Aber seltsamerweise verzichtete sein Großvater darauf, die Helligkeit zu mildern. Für einen Moment sah es so aus, als wäre die Zentrale in Blut getaucht, und der Eindruck paßte zu den finsteren Gedanken, die Fred mit sich herumtrug. Ebner hatte sie alle - die gesamte Besatzung - in der Zentrale zusammengerufen. Und er hatte das Gefühl, daß es nicht nur geschehen war, um ihnen mitzuteilen, zu welchen Ergebnissen Joe und Kurt gekommen waren. »Wenn das, was hier steht, stimmt, dann muß der Heimatplanet des Schiffes in dieser Sonne liegen«, sagte er kopfschüttelnd. »Nicht seine Heimat«, verbesserte ihn Joe. »Seine Basis.« »Ist das ein Unterschied?« »Und ob«, nickte Joe. »Es steht nirgends geschrieben, daß diese Maschinen überhaupt aus diesem Sonnensystem kommen, nicht wahr? Sie können genausogut vom anderen Ende der Galaxis gekommen sein. Vielleicht haben sie hier nur eine Art Stützpunkt.« »Und den verlegen sie dort hinein?« fragte Ebner mit einem Kopfnicken auf den Bildschirm. »Auf jeden Fall wären sie dort sicher«, antwortete Joe. »Ein direkter Angriff auf ihre Basis wäre wahrscheinlich der einzige Weg, diese Magnetsperre zu vernichten. Und der ist unmöglich.« Ebner überlegte einen Moment. »Ist das überhaupt denkbar?« fragte er. »Ich meine . . .« »Ich weiß, was du meinst«, unterbrach ihn Joe. »Die Temperaturen da drin dürften irrsinnig hoch sein. Diese roten Riesen sind relativ kühl, zumindest für eine Sonne, aber wir können trotzdem in Größenordnungen von dreitausend Grad Celsius rechnen, wenn nicht mehr. Ganz davon abgesehen, daß allein die Gravitationskräfte jedes Raumschiff zerreißen würden. Wir können jedenfalls nicht hinfliegen und ihnen eine Bombe aufs Dach werfen, wenn dir das vorgeschwebt hat.« »Aber wenn das so ist«, mischte sich Fred ein, »dann könnten sie selbst nicht dorthin fliegen, ohne zerstört zu werden.« »Diese kleinen Schiffe sicher nicht«, bestätigte sein Vater. »Aber größere Schiffe mit starken Abschirmungen. Transporter für die Jäger. Für jemanden, der diese Magnetsperre errichten kann, dürfte es kein Problem sein, so etwas zu bauen. Wir wissen einfach zu wenig über sie, um auch nur Vermutungen anstellen zu können.« Er seufzte, sah kurz auf den Bildschirm und wandte sich dann wieder an Ebner. »Ich fürchte, wir sind mit unserem Latein am Ende.« »Dann bleibt uns nur noch eine Wahl«, murmelte Ebner. Er wirkte unsicher, eigentlich zum ersten Mal, solange Fred sich erinnern konnte. Lange, vielleicht vier, fünf Minuten, saß er reglos da und starrte ins Leere. Seine Finger spielten nervös mit einer Kante des Ordners vor ihm. »Ich kann das nicht allein entscheiden«, sagte er schließlich. »Ihr alle kennt das Risiko.« Er stand auf, trat einen halben Schritt von seinem Pult zurück und wartete, bis sich die gesamte Familie um ihn versammelt hatte. Dann deutete er mit einer - wahrscheinlich bewußt dramatischen Geste auf das Kommandopult. Ein Teil der Plexiglasverkleidung, die normalerweise mehr als die Hälfte der Bedienungselemente abdeckte, war entfernt worden. »Wenn ich diesen Knopf drücke«, sagte er mit einer Geste zu einem auffälligen, quadratischen roten Schalter, »dann gibt es kein Zurück mehr. Vielleicht bringt er uns hier raus, vielleicht sind wir auch alle eine halbe Sekunde später tot. Keiner von uns weiß, was geschieht, wenn wir die Maschinen starten. Und ich will euch nichts vormachen - wir wissen nicht einmal, ob sie die Magnetsperre überwinden können. Vielleicht rasen wir mit zweihundertfacher Lichtgeschwindigkeit gegen eine Wand und zerschellen.« »Und wenn wir doch einen Hypersprung versuchen?« murmelte Mark. Ebner sah ihn eine Sekunde lang an und schüttelte dann ernst und wortlos den Kopf. »Überlegt euch gut, wie ihr antwortet«, fuhr er nach einer Weile fort. »Es ist ein VabanqueSpiel. Alles oder nichts. Clare?« Die Angesprochene schwieg sekundenlang. In ihrem Gesicht arbeitete es, und Fred sah, daß ihre Stirn von einem dünnen, glitzernden Schweißfilm bedeckt war. »Ja«, sagte sie schließlich. Ebner nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Ingrid?« Er fragte sie alle, einen nach dem anderen und einzeln, selbst Bea, die mit ihren fünf Jahren sicherlich noch nicht wirklich begriff, was um sie herum vorging.
Auch Fred antwortete mit »Ja«, aber er hatte dabei das Gefühl, als hätte er soeben sein eigenes Todesurteil unterschrieben. »Gut«, sagte Ebner abschließend. »Das war einstimmig. Ich bin froh, daß es so ist.« Fred dachte einen Moment darüber nach, wie sich sein Großvater wohl entschieden hätte, wenn auch nur ein einziger von ihnen dagegen gewesen wäre. Aber er sprach die Frage lieber nicht aus. »Und . . . wann?« fragte Anne stockend. »Ich muß noch ein paar Schaltungen vornehmen«, sagte Freds Vater. »Drei, vielleicht vier Stunden. Länger nicht.« Drei Stunden, dachte Fred bedrückt. Das war verdammt wenig, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß man danach vielleicht nicht mehr am Leben sein sollte. »Dann fangt bitte mit den Vorbereitungen an«, sagte Ebner. Es war deutlich, wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen. »Wir können nicht mehr warten.« Joe, Freds Vater und Mark wandten sich wortlos um und verließen die Zentrale, während die übrigen Familienmitglieder entweder zu ihren Plätzen zurückkehrten oder einfach stehenblieben. Es gab im Moment nicht viel zu tun - die nächste Einheit der Roboter, die sie mit ihren Radargeräten erfassen konnten, war mehr als eine Million Kilometer entfernt; selbst für diese sehr schnellen Schiffe eine Distanz, die sie kaum in ein paar Stunden überbrücken konnten. Aber sie konnten es sich nicht mehr leisten, ständig in Bewegung zu bleiben. Die Treibstoffvorräte der Ionenmotoren näherten sich bereits der kritischen Marke. Es nutzte ihnen nichts, hier herauszukommen und dann mit leeren Tanks liegenzubleiben. »Jemand sollte es Ritchie sagen«, murmelte Ebner. »Immerhin ist es auch sein Leben, über das wir bestimmen.« Er sah Fred an. »Ich glaube, zu dir hat er das größte Vertrauen. Traust du dir zu, ihm zu erklären, worum es geht?« Fred zögerte sichtlich. Er hatte Ritchie schon einmal, wenn auch unabsichtlich, eine Hiobsbotschaft überbracht, und der Ausdruck, der dabei in seinen Augen gestanden hatte, ließ ihn jetzt noch frösteln. Aber dann nickte er. Er war es ihm schuldig. Es wurde seltsam still hinter ihm, als er in Richtung Lift ging, und als er vor dem Aufzug noch einmal stehenblieb und sich umblickte, sah er, daß die anderen mittlerweile fast alle wieder hinter den Kontrollen Platz genommen hatten und dumpf vor sich hinbrüteten. Er sprang mit einer unnötig heftigen Bewegung in den Lift, ließ sich hinuntertragen und stieg in der vorletzten Etage aus. Ihm fiel auf, wie still es auch hier war; so still wie immer, wenn die Triebwerke nicht liefen und die RITTERSPORN antriebslos auf der Stelle stand. Aber diesmal kam es ihm eher wie die Stille auf einem Friedhof vor. Selbst, wenn ein Wunder geschah und sie lebend aus dieser Falle entkamen, würden sie hinterher nicht mehr dieselben sein, die sie vorher gewesen waren. Es war das erste Mal, daß sie dem Tod bewußt ins Auge sehen mußten, und Fred begann allmählich zu begreifen, daß von allen Gefühlen, die ein Mensch dabei empfinden konnte, die Hilflosigkeit das schlimmste war. Er blieb fast eine Minute vor der Tür zu Ritchies Kabine stehen, ehe er endlich den Mut aufbrachte, die Hand zu heben und zu klopfen. Er bekam keine Antwort. Vielleicht schlief Ritchie - oder die Sitte, anzuklopfen, bevor man eine Tür öffnete, war bei seinem Volk nicht bekannt. Schließlich drückte er vorsichtig die Klinke herunter und schob die Tür einen Spaltbreit auf. Die Kabine war dunkel. Der Bildschirm des Übersetzungscomputers war noch eingeschaltet und verbreitete einen trüben grünlichen Schimmer, aber er reichte kaum aus, mehr als Schatten und vage Umrisse zu erkennen. Fred trat lautlos ein, machte die Tür behutsam hinter sich zu und zögerte wieder. »Ritchie?« rief er. Wieder bekam er keine Antwort, und plötzlich fiel ihm auf, wie still es hier drinnen war. Er hörte nichts. Absolut nichts. Nicht einmal Atemzüge . . . Von plötzlicher Panik erfaßt, hob er die Hand und tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Er blinzelte, als die Decke übergangslos in grellem, weißem Licht aufflammte, trat mit einem raschen Schritt an das Bett heran und blieb erschrocken stehen. Das Bett war leer. Fünf, zehn Sekunden lang starrte er die Liege fassungslos an. Die Decke war zurückgeschlagen, und auf dem Laken war noch schwach der Abdruck eines menschlichen Körpers zu erkennen. Er
trat einen Schritt näher, streckte die Hand aus und berührte die Matratze. Sie war noch warm; es konnte erst wenige Augenblicke her sein, daß Ritchie aufgestanden war. Fred fuhr herum, stürmte mit weit ausholenden Schritten durch den Raum und riß die Tür zur Badekabine auf. Aber auch dort war Ritchie nicht. Er blieb stehen, überlegte einen Moment und eilte dann zum Interkom-anschluß. Aber er drückte die Ruf taste nicht, obwohl er die Hand bereits halb erhoben hatte. Für einen Augenblick schienen seine Gedanken wild durcheinanderzuwirbeln. Und dann, so übergangslos, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und seine Gedanken in die richtigen Bahnen gelenkt, wußte er, wo er Ritchie finden würde.
Über der Tür brannte eine rote Lampe, die anzeigte, daß die großen Schleusentore bereits begonnen hatten, sich zu öffnen und daß im Hangar Weltraumkälte und absolutes Vakuum herrschten. Ein leises, allmählich zunehmendes Singen drang durch das fingerdicke Metall der Tür. Irgendwo oben in der Zentrale würde jetzt ein Licht aufleuchten und das Öffnen der Schleuse anzeigen. Aber es war fraglich, ob bei der Lage, die im Moment dort oben herrschte, überhaupt jemand Notiz davon nehmen würde; und wenn doch, konnte der Vorgang selbst vom zentralen Steuerpult aus nicht mehr gestoppt werden. Fred hämmerte einen Augenblick verzweifelt mit den Fäusten gegen das geschlossene Panzerschott, ehe er endlich auf die Idee kam, den Schließknopf zu drücken. Die Innentür der Mannschleuse glitt mit quälender Langsamkeit auf, und das Licht wechselte von weiß zu rot. Er riß den Wandschrank auf, nahm mit zitternden Fingern einen Raumanzug hervor und begann, ihn sich hastig überzustreifen. Das Triebwerkgeräusch auf der anderen Seite der Tür wurde lauter. Die Außentore mußten jetzt fast ganz geöffnet sein. Er verlor weitere, wertvolle Sekunden, bis er seinen Anzug angelegt und verschlossen und bis die Schleusenautomatik den Luftdruck so weit gesenkt hatte, daß sich die Außentür ohne Gefahr öffnen ließ. Ungeduldig sah er zu, wie sich die zollstarke Panzerplatte zur Seite schob. Das Geräusch steigerte sich jetzt zu einem ohrenbetäubenden Brüllen, als er sich durch den viel zu langsam breiter werdenden Spalt quetschte und in den Hangar hinausstürmte. Die Tore waren geöffnet. Unter der Sichtkanzel eines der Beiboote war Licht, und aus den Düsenöffnungen waberte dünne, rote Glut. Das Schiff war startklar. Freds Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen, als er sah, wie sich die Einstiegsluke des Beibootes zu schließen begann. Er rannte los, schaltete mit fliegenden Fingern sein Helmfunkgerät ein und brüllte aus Leibeskräften Ritchies Namen. Natürlich bekam er keine Antwort. Wenn Ritchie sein Funkgerät überhaupt eingeschaltet hatte, würde er nicht reagieren. Das Beiboot zitterte sanft. Das Kreischen der Triebwerke wurde unerträglich, und die Luke war fast zur Hälfte geschlossen. Fred rannte noch schneller, holte das letzte bißchen Kraft aus seinem Körper heraus und warf sich im letzten Moment durch die Einstiegsluke. Sein eigener Schwung riß ihn zu Boden. Er prallte gegen die gegenüberliegende Wand, spürte einen scharfen Schmerz im Rücken und blieb einen Moment benommen liegen. Hinter ihm fiel die Luke mit dumpfem Poltern zu. Das Heulen des Triebwerks wurde schriller, kletterte über die Hörgrenze hinaus und verstummte. Ein sanfter Ruck ging durch den Boden. Fred richtete sich mühsam auf. Das Schiff stampfte und bebte wie ein Boot auf hoher See, und als er in die Kabine trat, mußte er sich am Türrahmen festklammern, um nicht erneut auf den Boden geschleudert zu werden. Vor der Frontscheibe war der leere Raum. Das Beiboot hatte die RITTERSPORN verlassen und jagte mit voller Geschwindigkeit auf die rote Riesensonne zu. Ritchie saß in seltsam verkrampfter Haltung hinter den Kontrollen. Seine linke Hand umklammerte den Steuerknüppel, während die rechte nervös über die Kante des Kontrollpultes fuhr. »Du mußt völlig übergeschnappt sein«, sagte Fred so ruhig, wie er konnte. Ritchie zuckte zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, ließ den Steuerknüppel los und fuhr im Sitz herum. »Fred!« stieß er hervor. Fred nickte und ging mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu. »Ganz recht«, sagte er grimmig. »Und damit ist dein kleiner Ausflug beendet.«
Ritchie sprang auf, breitete die Arme aus und stellte sich vor das Pult. Fred seufzte. Jetzt, als der erste Schrecken abzuklingen begann, spürte er allmählich Wut. Er hatte beinahe Lust, sich Ritchie zu schnappen und ihm eine gehörige Tracht Prügel zu verabreichen. Aber er beherrschte sich. »Sei doch vernünftig«, sagte er. »Ich kann ja verstehen, daß du . . .« »Du verstehst gar nichts«, antwortete Ritchie. »Ich will zur STERNENSTAUB zurück.« Fred wunderte sich für einen Moment über Ritchies klare Aussprache, aber dann sah er das breite, glitzernde Band, das er über den linken Ärmel des Raumanzuges geschoben hatte. Eine Miniaturausführung des großen Übersetzungsautomaten aus seiner Kabine. Nun, das vereinfachte die Sache. »Euer Schiff ist ein Wrack, Ritchie«, sagte er verzweifelt. »Glaub mir bitte. Du warst der letzte Überlebende. Ich weiß, daß es hart ist, aber deine Eltern sind tot. Seit Jahrhunderten tot.« Ritchies Gesicht schien für einen Moment zu Stein zu erstarren. »Ich glaube dir nicht«, flüsterte er. »Ihr . . . ihr habt nur Angst vor den Robotern. Ihr wollt meine Eltern nicht holen, weil ihr Angst habt, daß Roboter euch dabei erwischen. Aber dann tue ich es eben.« Fred sah verzweifelt auf den Heckbildschirm. Die RITTERSPORN war bereits zu einem winzigen silbernen Splitter zusammengeschmolzen. Das grüne Ruflicht des Funkgerätes begann hektisch zu flackern. Dort drüben an Bord des Schiffs mußte jetzt im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los sein. »Bitte«, sagte er eindringlich. »Wir müssen zurück zum Schiff! Wir haben vielleicht eine Chance, aus diesem System zu entkommen. Aber wenn wir noch lange hier herumfliegen, dann erwischen uns die Roboter!« Ritchie schüttelte stur den Kopf. »Ich gehe nicht ohne meine Eltern. Wenn deine Leute nicht den Mut haben, sie zu retten, dann müssen sie eben ohne mich fliegen. Und ohne dich.« »Du bist völlig übergeschnappt!« schrie Fred. »Geh von den Kontrollen weg, oder -« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Ritchie sprang so schnell vor, daß er die Bewegung erst registrierte, als es zu spät war. Er packte ihn, riß ihn mit erstaunlicher Kraft herum und schleuderte ihn gegen einen der Sitze. Fred schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach hin. Als er sich wieder hochstemmte, sah er in die Mündung einer Laserpistole. . . »Du wirst mich nicht daran hindern, zu unserem Schiff zurückzukehren«, sagte Ritchie ruhig. Seine Stimme war ganz leise, und so kalt, daß Fred unwillkürlich schauderte. »Mach . . . mach keinen Blödsinn«, sagte er stockend. »Du kannst doch nicht -« »Oh doch«, unterbrach ihn Ritchie. »Ich kann und ich werde. Ich werde dich niederschießen, wenn du versuchst, mich daran zu hindern, meine Eltern zu retten. Ich schwöre es dir.« »Aber deine Eltern sind tot«, sagte Fred verzweifelt. »Du warst allein in der Kammer. Herrgott, Ritchie - wir hätten sie doch nicht auf diesem Wrack zurückgelassen.« Ritchie schüttelte stur den Kopf. »Ich weiß nicht, was ihr getan hättet oder nicht«, sagte er. »Aber ich glaube dir erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.« Er hob die Pistole ein Stückchen und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Luftschleuse. »Leg deinen Helm ab, Fred. Und dann geh da hinein.« Fred zögerte einen Moment, hob dann langsam die Hände an den Helm und löste die Verschlüsse. Ritchie war nicht mehr bei Sinnen, das hatte er erkannt. Der Schock war zuviel für ihn gewesen. Vielleicht würde er wirklich auf ihn schießen, vielleicht auch nicht. Aber er wollte es nicht riskieren, das herauszufinden. »Bitte«, versuchte er es ein letztes Mal, »sei doch vernünftig. Die RITTERSPORN ist hundertmal schneller als dieses Boot. Sie haben dich in fünf Minuten wieder eingefangen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Ritchie kalt. »Und wenn, dann habe ich immer noch dich als Geisel.« »Du bringst die gesamte Besatzung in Lebensgefahr, du Idiot! Sie werden nicht ohne mich fliegen und -« »Genug«, unterbrach ihn Ritchie. »Geh in die Schleuse. Und bete, daß deine Leute nicht versuchen, mich mit Gewalt aufzuhalten.« Fred wich langsam rückwärts in die Schleuse zurück. Ritchie betätigte einen Schalter, und die Tür glitt zischend zu. Es klickte leise, als der Riegel einrastete, und Fred wußte, daß das Schott jetzt von innen nicht mehr zu öffnen war. Wütend warf er sich dagegen und hämmerte mit Fäusten
auf die Tür ein. Aber natürlich reagierte Ritchie nicht darauf. Schließlich gab er auf, trat von der Tür zurück und hockte sich mißmutig in eine Ecke der winzigen Schleusenkammer. Seine Verzweiflung schlug allmählich in Zorn um, Zorn allerdings, der größtenteils ihm selber galt. Genau betrachtet, dachte er wütend, war dies alles seine eigene Schuld. Hätte er sich nicht verplappert, dann hätten sie Ritchie die Wahrheit schonend beibringen können, und er hätte diese Irrsinnstat niemals begangen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte er sich wie ein Idiot benommen und sich überrumpeln lassen. Er war vollkommen hilflos hier drinnen, und selbst wenn er eine Möglichkeit gefunden hätte, die Tür zu öffnen, so brauchte Ritchie nur auf einen Knopf zu drücken und das Außenschott zu entriegeln, und das Vakuum des Weltalls würde ihn erledigen. Und er war im Moment wahrscheinlich verzweifelt genug, es zu tun. Er hatte nur noch die Hoffnung, daß man auf der RITTERSPORN die richtigen Schlüsse zog und das Boot einholte, ehe es zu spät war. Aber so überzeugt, wie er Ritchie gegenüber getan hatte, war er nicht davon. Das Beiboot war trotz seiner Kleinheit verdammt schnell, und es würde eine Zeit dauern, bis die RITTERSPORN sie einholen würde; vielleicht nur ein paar Minuten, aber diese paar Minuten konnten schon zuviel sein. Der Raumschiff-Friedhof mit der STERNENSTAUB war nicht sehr weit von der letzten Position der RITTERSPORN entfernt gewesen. Das Schiff bebte und stampfte. Anscheinend hatte Ritchie erhebliche Schwierigkeiten, mit der Steuerung fertig zu werden. Aber im Grunde war es schon ein Wunder, daß er das Boot überhaupt steuern konnte. Er mußte eine Menge von Technik verstehen, wenn er auf Anhieb mit den für ihn fremden Apparaturen zurechtkam. Die Zeit verging quälend langsam. Fred hatte keine Ahnung, wie lange er reglos in der Schleuse hockte und die Tür anstarrte - zehn Minuten, zwanzig, eine halbe Stunde vielleicht. Aber es kam ihm vor, als vergingen Monate. Nach einer Ewigkeit wurde das Geräusch der Triebwerke wieder hörbar, und der Flug wurde ruhiger. Kurz darauf glitt die Schleusentür auf, und Ritchie erschien in der Öffnung. In der rechten Hand hielt er noch immer die Laserpistole, in der anderen Freds Raumhelm. Fred stand auf und starrte ihn finster an. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Ritchie leise. »Ich gebe dir deinen Helm zurück, wenn du mir versprichst, vernünftig zu sein.« »Und was verstehst du darunter?« grollte Fred. »Wir sind da«, sagte Ritchie. »Ich habe neben der Hauptschleuse der STERNENSTAUB angehalten. Wir gehen jetzt dort hinein und sehen nach, ob du die Wahrheit gesagt hast. Es ist nicht weit. Wir sind in ein paar Minuten wieder zurück. Natürlich kannst du versuchen, mich zu überwältigen, aber selbst wenn du es schaffst, dauert das wahrscheinlich genauso lange, als wenn du mich begleitest. Und wenn du wirklich die Wahrheit gesagt hast, dann . . . dann . . .«Er brach ab, und seine Lippen begannen plötzlich zu zittern. Für einen Moment schien er Fred gar nicht mehr zu sehen, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Fred hätte ihm in diesem Moment die Waffe aus der Hand schlagen und ihn überwältigen können. Aber er tat es nicht. Der Schaden war so oder so angerichtet, und Ritchie hatte recht - es kam auf die wenigen Minuten, die sie bis zur Zentrale und zurück benötigten, wahrscheinlich nicht mehr an. Wenn sie jetzt nicht dorthin gingen, dann würde er für den Rest seines Lebens glauben, von Fred und den anderen belogen worden zu sein. Mit einer ärgerlichen Bewegung riß er Ritchie den Helm aus der Hand, setzte ihn auf und klappte die Sichtscheibe herunter. »Okay«, sagte er. »Aber beeil dich. Bitte«, fügte er widerwillig hinzu. Ritchie trat vollends in die Kammer ein und ließ die Tür zugleiten. Das Außenschott fuhr lautlos zur Seite. Der Sauerstoff wirbelte davon und gefror zu einer Wolke glitzernder Eiskristalle, die rasch auseinandertrieb. Vor ihnen lag die STERNENSTAUB. Fred trat zur Seite, als Ritchie sich mit einer kraftvollen Bewegung abstieß und mit weit ausgebreiteten Armen auf das andere Raumschiff zuschwebte. Fred atmete zweimal hintereinander tief ein und aus, federte in den Knien und sprang dann ebenfalls aus der Schleuse. Die Strecke hinüber zur STERNENSTAUB schien endlos zu sein. Er schwebte über einem Abgrund, der im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos war, und sein Blick irrte angstvoll nach rechts und links. Die anderen Schiffe der toten Flotte umgaben sie wie ein stummer, mächtiger Konvoi, und er rechnete eigentlich damit, jeden Augenblick eine Flotte grauer, feuerspeiender
Pfeilspitzen auftauchen zu sehen. Sein Herz begann schmerzhaft schnell zu schlagen, und er war trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage des Anzuges nach wenigen Augenblicken in Schweiß gebadet. Er wollte es nicht zugeben, aber er hatte Angst, erbärmliche Angst. Ritchie setzte wenige Meter vor ihm mit einer fast eleganten Bewegung auf dem zerschrammten Rumpf des Frachters auf, balancierte einen Moment mit weit ausgebreiteten Armen und richtete sich auf, als die Magnetsohlen seines Anzuges griffen. Fred konnte nicht umhin, ihn zu bewundern. Er schien große Erfahrung darin zu haben, sich im freien Weltraum zu bewegen. Sein Helmlautsprecher knackte. »Komm mir immer nach«, sagte Ritchie. »Wenn wir uns verlieren, dann kann ich tagelang nach dir suchen. Die STERNENSTAUB ist verdammt groß.« Fred nickte nervös. Er konnte sich gut an die gewaltige, leere Halle erinnern, durch die sie das Schiff zum ersten Mal betreten hatten. Er setzte - weit weniger elegant als Ritchie - dicht hinter ihm auf dem Schiff auf, trat mit einem raschen Schritt neben ihn und sah zum Beiboot zurück. Das Schiff schien unendlich weit entfernt zu sein. Ritchie deutete in Richtung der eiförmigen Bugkanzel. »Dort entlang.« Sie gingen los. Ein paarmal mußten sie Umwege machen, wenn sie an Stellen vorbeikamen, an denen die Hülle zerschossen oder demontiert worden war. Aber Ritchie ging zielsicher weiter, kniete schließlich nieder und hantierte einen Moment lang an etwas herum, das Fred nicht erkennen konnte. Sekundenlang geschah nichts, dann öffnete sich zu seinen Füßen ein schmaler Spalt, der rasch zu einem gewaltigen, schwarzen Rechteck heranwuchs. »Die Hauptschleuse«, erklärte Ritchie. »Wir haben Glück. In den Batterien ist noch etwas Spannung. Komm jetzt.« Ohne zu zögern sprang er in die Schleuse und winkte Fred ungeduldig, ihm zu folgen. Drinnen herrschte trübes, bläuliches Licht. Ritchie war schon dabei, keuchend und fluchend die schmale Innentür aufzustemmen, als Fred hinter ihm in die Schleuse sprang; er zwängte sich durch den entstandenen Spalt und lief mit weit ausgreifenden Schritten los. Fred dachte plötzlich an Ritchies Warnung, immer dicht bei ihm zu bleiben. Er beeilte sich, ihn einzuholen. Sie kamen durch einen niedrigen, ebenfalls von flackerndem Licht erfüllten Gang und betraten schließlich die Zentrale des Schiffes. Alles schien so zu sein wie beim ersten Mal. Zumindest konnte Fred keinen Unterschied erkennen. Die Tür zur Kältekammer stand noch auf, und ein schmaler, dreieckiger Lichtstreifen fiel in die abgedunkelte Zentrale. Davor waren die halb zerschmolzenen Überreste des Wachroboters zu sehen. Ritchie stieß einen seltsamen, halb erstickten Laut aus und rannte los, ohne weiter auf Fred zu achten. Seine Schritte erzeugten in der gewaltigen Halle ein fast unheimliches Geräusch. Irgend etwas stimmte nicht. Fred hatte plötzlich das starke Gefühl einer Gefahr, ein Empfinden, das fast greifbar intensiv zu sein schien. Er blieb stehen, sah sich angsterfüllt um und ging dann langsamer hinter Ritchie her. Aus seinen Helmlautsprechern erklang ein ersticktes Geräusch, etwas wie eine Mischung aus einem Schrei und einem würgenden Schluchzen. Fred blieb stehen. Er konnte sich vorstellen, was in diesem Moment in Ritchie vorging. Was sie am allerwenigsten hatten, war Zeit, und trotzdem mußte er ihm wenigstens einige Sekunden gewähren. Er ging langsam durch den Raum und blieb vor der Tür zur Kältekammer noch einmal stehen, ehe er den Raum betrat. Ritchie hockte in dem kleinen, leeren Verlies auf dem Boden. Er hatte den Kopf gesenkt und das Gesicht abgewandt, aber Fred konnte hören, wie er verzweifelt gegen die Tränen ankämpfte. Behutsam trat er neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz und fest. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Ritchie hob langsam den Kopf. »Sie . . . sie haben es mit Absicht getan«, schluchzte er. »Ich wußte es. Aber ich. . .ich wollte es nicht wahrhaben, Fred.« »Was haben sie getan?«
Ritchie stand auf und griff sich mit einer unbewußten Bewegung an den Kopf, als wolle er die Tränen fortwischen, die ihm über die Wangen liefen. Aber der Helm verhinderte die Bewegung. »Ich habe gehört, wie sie darüber gesprochen haben«, sagte er schluchzend. »Die Kältekammer hat eine eigene Energieversorgung. Sie . . . sie reicht, um acht Menschen hundert Jahre am Leben zu erhalten. Ich habe gehört, wie mein Vater sagte, daß sie für einen Menschen achthundert Jahre ausreichen müßte. Aber ich . . . ich habe nicht gewußt, was er damit meinte.« Er stöhnte, begann lauter zu schluchzen und krümmte sich zusammen, als hätte er Schmerzen. Fred sah betreten zu Boden. Es war nicht nur, daß Ritchies Eltern tot waren. Sie hatten sich geopfert. Sie waren gestorben, damit er länger leben konnte und vielleicht eine etwas größere Chance hatte, gefunden zu werden. Er versuchte sich vorzustellen, was jetzt in Ritchie vorgehen mußte, aber diesmal konnte er es nicht. »Du hattest recht«, flüsterte Ritchie. »Ich . . . ich habe euch alle in Gefahr gebracht. Es tut mir leid.« Fred schüttelte den Kopf. »Schon gut. Ich hätte wahrscheinlich genauso reagiert, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre.« »Sie haben sich geopfert«, murmelte Ritchie. »Für mich. Sie könnten noch leben, wenn . . .« Wieder versagte seine Stimme, und wieder stand er minutenlang da und schluchzte herzerweichend. »Wir müssen zurück«, sagte Fred zaghaft. »Bitte, Ritchie.« »Natürlich.« Ritchie zog geräuschvoll die Nase hoch, nickte übertrieben heftig und machte einen Schritt in Richtung Tür. »Komm. Beeilen wir uns.« Fred sah die Bewegung im letzten Augenblick. Irgend etwas Großes, Schwarzes wuchs vor der Tür empor, dann brach sich ein Lichtstrahl auf Metall. Er schrie auf, warf sich mit einer instinktiven Bewegung zur Seite und riß Ritchie mit sich zu Boden. Ein greller Lichtblitz zuckte durch die Tür, explodierte an der gegenüberliegenden Wand und überschüttete sie mit einem Hagel von Feuer und geschmolzenem Metall. »Die Roboter!« schrie Fred. Er rollte sich herum, sprang mit einem verzweifelten Satz zur Seite und entging um Haaresbreite einem zweiten, besser gezielten Laserstrahl. »Schalt ihn ab!« brüllte er. »Um Gottes willen, Ritchie - halt das Ding auf!!« Der Roboter trat halb in den Raum hinein, hob seinen Laser und zielte auf Fred. Ritchie gab ein entsetztes Keuchen von sich und richtete sich halb auf. Seine Hand fuhr zum Gürtel und riß den Laser aus dem Halfter. Die Bewegung rettete ihnen beiden das Leben. So schnell der Roboter auch reagierte - für einen winzigen Moment schien er unschlüssig zu sein, welchen der beiden Gegner er zuerst angreifen sollte. Er zögerte nicht länger als eine halbe Sekunde, dann ruckte sein Arm herum, und die tödliche Waffe schwenkte auf Ritchie zu. Er beendete die Bewegung nicht. Ritchie drückte ab. Der grelle Lichtblitz seines Strahlers schmetterte in den breit ausladenden Brustkasten des Roboters, warf ihn zurück und brachte irgend etwas darin zum Explodieren. Die Maschine stolperte einen halben Schritt in die Zentrale zurück und fiel dann mit einer schwerfällig wirkenden Bewegung nach hinten. Ritchie stand wie in Trance auf. Selbst durch die halb verspiegelte Sichtscheibe seines Helmes konnte Fred erkennen, wie blaß er geworden war. Er schüttelte den Kopf, hob die Hand vor die Augen und starrte die Waffe an, als könne er selbst nicht glauben, was gerade geschehen war. »Das war verdammt knapp«, flüsterte Fred. Seine Knie zitterten so stark, daß er sich an der Wand abstützen mußte. »Was ist los? Wieso greifen diese verdammten Dinger dich an? Ich dachte, sie wären da, um dich zu beschützen?« »Beschützen?« wiederholte Ritchie verwirrt. »Mich? Wie . . . wie hast du das gemeint - ich soll ihn abschalten!« Fred schwieg verblüfft. Er starrte erst Ritchie, dann die umgestürzte Maschine und dann wieder den blauhäutigen Jungen an, und allmählich dämmerte ein ungeheuerlicher Verdacht in ihm auf. »Soll das heißen, diese Roboter gehören nicht zu eurem Schiff?« fragte er ungläubig. Ritchie schüttelte den Kopf und sah ihn an, als zweifle er ernsthaft an seinem Verstand. »Wir hatten keine Roboter an Bord«, sagte er. »Und solche schon gar nicht. Was soll das?« »Aber . . . eine von diesen Maschinen hat vor der Schlafkammer Wache gehalten, als wir dich gefunden haben«, sagte Fred. »Er hätte mich um ein Haar umgebracht.« »Wache gehalten?« wiederholte Ritchie.
»Wie würdest du es nennen, wenn er vor deiner Tür herumsteht und auf jeden schießt, der auch nur in seine Richtung sieht?« erkundigte sich Fred. »Das Ding hat dich bewacht. Seine Überreste liegen noch draußen in der Halle.« »Aber das ist kein Roboter von uns!« widersprach Ritchie. »Ich kenne solche Maschinen gar nicht!« »Weiter unten im Schiff liegt noch einer«, sagte Fred gedankenvoll. »Allerdings halb zerstört.« Er biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Aber wenn der Roboter nicht zum Schiff gehört hat, dann . . . dann gibt es eigentlich nur noch eine Erklärung.« Ritchies Augen weiteten sich ungläubig, als ihm klar wurde, was Fred damit sagen wollte. »Die Maschinen gehören zu der Flotte, die euch und uns angegriffen haben.« Fred nickte. »Aber das ist doch völlig sinnlos«, flüsterte Ritchie. »Dieses Ding wollte uns umbringen, Fred.« »Ich weiß. Und trotzdem . . .« Er schüttelte verwirrt den Kopf, trat an die Tür und spähte mißtrauisch in die Zentrale hinaus. Er konnte keinen weiteren Roboter erkennen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Er hatte schon zweimal erlebt, wie schnell und überraschend die Mordmaschinen zuschlagen konnten. »Wir sollten machen, daß wir hier rauskommen«, flüsterte er. »Den Kopf können wir uns zerbrechen, wenn wir wieder auf der RITTERSPORN sind. Wenn wir dann noch einen haben.« Ritchie schien seine Worte gar nicht zu hören. »Warum sollten sie mich beschützen?« flüsterte er immer wieder. »Das ist Irrsinn.« »Diese ganze Falle hier ist Irrsinn«, knurrte Fred. Er trat vorsichtig aus der Tür, duckte sich und huschte zu dem gestürzten Roboter hinüber. Als er näher kam, sah er, daß die Maschine nicht vollkommen zerstört war. Die Explosion hatte sie schwer beschädigt und praktisch bewegungsunfähig werden lassen, aber hinter ihren Kristallaugen glomm noch ein schwaches Licht. »Ritchie!« flüsterte er entsetzt. »Komm her!« Ritchie war mit zwei raschen Schritten neben ihm. Seine Mundwinkel zuckten erschrocken, als er sah, daß der Roboter noch »lebte«. »Wenn er nur reden könnte . . .«, murmelte Fred. »Wenn wir ihn bloß -« Er stockte. Plötzlich hatte er eine Idee, eine verzweifelte, irrsinnige Idee. Aber in verzweifelten Situationen halfen vielleicht nur verzweifelte Einfalle. »Den Laser«, sagte er. »Gib ihn mir.« Ritchie sah ihn erstaunt an, reichte ihm aber gehorsam die Waffe. Fred wich einen Schritt von dem Roboter zurück, hob den Laser und richtete die Mündung auf den Kopf der Maschine. Mit zitternden Fingern schaltete er die Außenlautsprecher seines Anzuges ein. »Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, Robot«, sagte er langsam, »aber wenn, dann hör mir genau zu. Ich werde dir eine Frage stellen. Und wenn du mir nicht antwortest, zerstöre ich dich.« »Bist du übergeschnappt?« keuchte Ritchie. »Das ist eine Maschine, Fred.« Fred winkte unwillig ab. »Ich weiß. Aber wenn er nach den gleichen Grundsätzen programmiert ist wie die Roboter, die ich kenne, dann hat er eine Art Selbsterhaltungstrieb.« Er schwenkte den Laser um eine Winzigkeit und drückte ab. Der grelle Blitz fuhr wenige Zentimeter neben dem Roboter in den Boden und brachte das Metall zum Glühen. »Also?« fuhr er laut fort. »Deine Zerstörung ist sinnlos. Du kannst die Antwort auf die Frage verweigern, wenn wir einen Vorteil daraus ziehen können.« Der Kopf des Roboters bewegte sich. Die starren Kristallaugen richteten sich auf Fred. »Welche Frage?« Die Stimme war direkt in seinem Kopf. Er hörte sie nicht, sondern die Worte schienen direkt in seinem Gehirn zu entstehen. Wenn es so etwas wie Telepathie gab, dachte er, dann mußte es das sein. Ritchie atmete heftig. Auch er mußte die Worte des Roboters verstanden haben. Fred fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Angespannt sah er zur Tür, darauf gefaßt, jeden Augenblick eine ganze Horde der Roboter hereinstürmen zu sehen. Aber nichts dergleichen geschah. »Warum greift ihr uns an?« »Weil ihr unsere Feinde seid.« Die Antwort kam so schnell, als hätte der Roboter die Frage erwartet. »Wie kommst du darauf?« fragte Fred. »Wir haben euch nichts getan.«
»Ihr habt die Schöpfer vernichtet.« »Wir haben . . . was?« keuchte Fred. »Wir wissen ja nicht einmal, wer ihr seid, von euren Schöpfern ganz zu schweigen. Wir waren noch nie in diesem System, und -« »Organische Einheiten haben die Schöpfer vernichtet«, unterbrach ihn die gedankliche Stimme. »Und damit sind organische Einheiten unsere Feinde. Sie müssen zerstört werden, damit das überlegene System weiterbestehen kann.« »Das überlegene System. . .« wiederholte Fred verwirrt. »Ihr glaubt, ihr wärt die überlegenen Systeme?« »Wir sind es. Die Schöpfer haben uns geschaffen und waren uns überlegen, aber sie wurden vernichtet. Von organischen Einheiten. Sie müssen eliminiert werden.« »Irrsinn«, murmelte Fred. »Das ist Wahnsinn hoch drei. Ich glaube dir kein Wort. Du lügst.« »Der Begriff Lüge ist mir nicht bekannt. Du bist eine organische Einheit. Du mußt vernichtet werden.« »Du mußt dich irren!« sagte Fred verzweifelt. »Du. . . du bist beschädigt. Ich will mit eurem Zentralgehirn sprechen, oder was immer ihr habt.« »Eine Zentraleinheit wurde als zu verwundbar erkannt und abgeschafft. Wir sind eins. Was ich weiß, wissen alle, und was alle wissen, weiß ich.« Fred stockte. »Heißt das, daß . . . daß ich jetzt praktisch mit euch allen rede?« fragte er verblüfft. »Ja. Deshalb werdet ihr vernichtet. .Eine Kampfeinheit ist bereits auf dem Weg hierher.« »Aber wir sind nicht eure Feinde!« sagte Fred verzweifelt. Er begriff plötzlich, was sich ihm hier für eine Chance bot. Aber er trug auch gleichzeitig die Verantwortung für das Leben der ganzen Besatzung der RITTERSPORN. »Wir sind nicht eure Feinde«, sagte er noch einmal. »Ihr müßt euch irren.« »Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Die Fakten sprechen für sich.« »Was für Fakten?« hakte Ritchie nach. Die glitzernden Kameraaugen des Roboters richteten sich auf Ritchie. »Die Vernichtung der Schöpfer!« »Wie wurden sie vernichtet?« Der Roboter antwortete nicht, und für eine halbe Sekunde hatte Fred Angst, die falsche Frage gestellt zu haben. Dann. . . Es war das seltsamste Erlebnis, das er jemals in seinem Leben gehabt hatte und auch haben sollte. Es war keine Telepathie. Es war . . . ihm fiel nie, so oft er auch später darüber nachdachte, ein wirklich zutreffender Vergleich ein - er empfing einfach Wissen. Nicht Stück für Stück und langsam, wie er es von den Lernmaschinen und Hypnosecomputern kannte, sondern schlagartig und so umfassend, daß er wie unter einem Hieb aufstöhnte und zurücktaumelte. Von einer Sekunde auf die nächste kannte er die gesamte Geschichte der Roboter und ihrer Welt. Sie waren uralt. Sie mußten schon in ihrer jetzigen Form existiert haben, als sich auf der Erde gerade das erste primitive Leben in Form winziger Einzeller und Amöben bildete, vielleicht sogar schon vorher. Sie waren auf dem Planeten entstanden, der die Sonne dieses Systems umkreiste, einer einsamen, kalten Welt, auf der sich nie Leben hatte bilden können. Kein Leben, wie Fred es kannte. Aber die Natur war erfinderisch, und so bildete sich auch hier Bewußtsein. Es war ein Volk (wenn man dieses Wort überhaupt anwenden konnte) denkender Kristalle. Irgendwann, vielleicht nach Milliarden Jahren, die die einsame Welt leblos um ihre Sonne gekreist war, wollte es der Zufall (Zufall?), daß sich die elektrischen Ströme in einem Kristall zu dem Wunder formten, das man Bewußtsein nennt. Wieder vergingen ungezählte Jahrmillionen in denen sich die Kristallwesen weiterentwickelten, und da sie keine Körper hatten, die sie bewegen konnten, taten sie das einzige, zu dem sie fähig waren. Sie dachten. Dann geschah das zweite Wunder. Die Welt erhielt Besuch aus dem Weltraum, den Besuch eines Volkes, das heute vermutlich längst im Strom der Zeit verschollen war. Und die Kristallwesen erfuhren, daß sie nicht allein im Universum waren - und daß es so etwas wie einen Körper - wie Bewegung - überhaupt gab. Die Besucher aus dem Kosmos gingen wieder, aber sie ließen den Kristallen das Wissen zurück, daß die Schöpfung nicht nur aus ihnen und ihrer esoterischen Welt bestand.
Sie erschufen die Roboter. Dann, nach weiteren hunderttausend Sonnenumläufen, fand eine zweite Expedition aus den Tiefen des Raumes das System. Auch sie gingen wieder. Und als sie fort waren, explodierte die Sonne. Nur eine Handvoll Roboter und zwei winzige Raumschiffe, die sich in sicherer Entfernung befanden, als die Katastrophe geschah, überlebten. Und seitdem warteten sie. Sie waren weit genug entwickelt, unbegrenzt im Nichts existieren zu können. Und sie hatten die Geduld von Maschinen, für die das Verstreichen eines Jahres oder das einer Million Jahre kaum einen Unterschied bedeutete. Sie warteten auf die Mörder ihrer Schöpfer . . . Fred schloß mit einem verzweifelten Stöhnen die Augen, als er begriff, was wirklich geschehen war. Die Sonne war bereits uralt gewesen, als sich die Kristallwesen entwickelten. Als die Roboter entstanden, war sie fast schon ausgebrannt. Und als die Besucher aus dem Weltall wieder abflogen, wurde sie zur Nova. Die Explosion mußte den Heimatplaneten der Roboter in wenigen Sekunden eingeäschert haben, und sie mußte für die Maschinenmenschen und ihre Schöpfer, die trotz ihrer ungeheuren Intelligenz kaum Ahnung von kosmischen Gesetzmäßigkeiten und Vorgängen hatten, wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen sein. Deshalb also lagen die Koordinaten, an denen die Robotschiffe ihre Heimat suchten, im Inneren der Sonne. Der Stern hatte sich zum Hundertfachen seiner ursprünglichen Größe aufgebläht und seinen einsamen Begleiter verschlungen. Vielleicht existierte er heute noch, ein verbrannter Schlackeklumpen, der irgendwo im Inneren des gigantischen Gasballes seine Bahn zog. »Und seitdem wartet ihr«, murmelte er. »Ihr habt die Magnetsperre errichtet und jedes Schiff, das hierherkam, abgefangen. Und aus dem Material habt ihr neue Roboter gebaut.« »Ja. Die Schöpfer sind untergegangen, aber ihr Erbe muß weiter bestehen. Die organischen Einheiten müssen vernichtet werden. « »Alle organischen Einheiten?« fragte Fred. »Ja.« »Aber die Galaxis wimmelt von Leben.« »Das ist uns bekannt. Zeit spielt keine Rolle. Das überlegene System wird sich durchsetzen.« Und während Fred dem Roboter zuhörte, glaubte er ihm sogar. Sie würden einfach nicht begreifen, was damals wirklich geschehen war. Ihre Schöpfer waren vernichtet worden, nachdem organische Lebewesen auf ihrer Welt aufgetaucht und vermutlich auf der Flucht vor der ausbrechenden Nova in panischer Angst das System verlassen hatten. Irgendwann würden die Roboter stark genug sein, aus ihrem Sonnensystem auszubrechen, vielleicht erst in weiteren zehn Millionen Jahren, vielleicht schon morgen. Zeit spielte für sie wirklich keine Rolle. Und dann würde eine graue, unaufhaltsame Flut von auf Mord programmierten Maschinen über die Galaxis herfallen. Fred schauderte. Er mußte sie aufhalten. »Würde es eure Entscheidung beeinflussen, wenn sich herausstellen würde, daß die organischen Einheiten nicht schuldig am Untergang eurer Schöpfer sind?« fragte er. »Nein. Das überlegene System muß sich durchsetzen. Das ist das Gesetz der Evolution, so wie es uns unsere Schöpfer lehrten.« Fred nickte niedergeschlagen. Er hatte die Antwort erwartet. »Das überlegene System . . .«, murmelte er. Irgendwo, tief in ihm vergraben, war die Lösung. Aber er konnte sie nicht greifen. Warum, dachte er verzweifelt, hatten sie Ritchie beschützt, als er im Kälteschlaf lag? Und warum wollten sie ihn jetzt töten? »Mein Begleiter befand sich bis vor kurzer Zeit in dem Raum hinter uns«, sagte er. »Ihr habt ihn nicht vernichtet. Warum nicht?« »Das ist inkorrekt«, antwortete der Roboter, »in der bezeichneten Kammer befand sich eine nichtorganische humanoide Einheit. Dein Begleiter ist eine organische Einheit.« »Aber das stimmt nicht«, antwortete Fred. Er spürte, daß die Antwort jetzt nahe war. Ganz nahe. »Ich vermute, daß du in der Lage bist, unsere Gedanken aufzufangen«, sagte er. »Das ist richtig.«
»Dann lies sie!« sagte er erregt. »Du wirst erkennen, daß wir die Wahrheit sagen. Ritchie war in dieser Kammer. Jahrhundertelang. Und ihr habt ihm nichts getan! Warum nicht?« Der Roboter schwieg einen Moment. »Deine Angaben sind korrekt«, sagte er nach einer Weile. »Dein Begleiter ist mit der uns bekannten nichtorganischen Einheit identisch. Das ist seltsam. Wie kann eine Einheit einmal nichtorganisch und dann wieder organisch sein?« Fred hätte am liebsten vor Freude aufgeschrien. Er war auf dem richtigen Weg. Die Maschinen handelten streng logisch; was ihnen bisher wie sinnlose Angriffslust vorgekommen war, war im Grunde nichts anderes als die logische Fortführung einer einmal falsch getroffenen Entscheidung. Und vielleicht war es gerade diese Logik, die ihnen jetzt das Leben retten konnte. So ruhig, wie es ihm überhaupt möglich war, sagte er: »Ich kann dir die Antwort geben. Wir sind in der Lage, unsere Lebensfunktionen abzuschalten. Bei uns nennt man das Anabiose. Organische Formen können so über Jahrhunderte hinweg konserviert und unbeschadet wieder geweckt werden.« »Das ist korrekt«, bestätigte die Maschine. »Unsere Beobachtungen bestätigen deine Angaben.« »Und so«, sagte Fred betont, »ist auch bewiesen, welches System das überlegene ist. Ihr seid nicht in der Lage, euren Zustand zu ändern.« »Auch das ist korrekt«, bestätigte der Roboter. »Doch anorganische Einheiten sind auch ohne aufwendige Technologie in der Lage, die Zeitspanne, die ihr mit Jahrhundert bezeichnet, ohne nennenswerte Schäden oder Verschleißerscheinungen zu überstehen.« Fred hatte plötzlich das Gefühl, daß sich eine unsichtbare, eisige Hand um sein Herz krampfte und ganz langsam zudrückte. Er war der Lösung nahe gewesen, ganz nahe. Aber es sah so aus, als hätte er die winzige Chance, die sie gehabt hatten, verspielt. Gegen die maschinelle Logik des Roboters kam er nicht an. »Aber ihr seid uns nicht überlegen!« schrie Ritchie. Seine Stimme bebte vor Erregung. »Ihr und wir sind zwei verschiedene Formen denkender Wesen, begreift das doch! Ihr mögt uns auf manchen Gebieten überlegen sein, aber dafür haben wir andere Vorteile!« »Unsere Beobachtungen beweisen das Gegenteil«, antwortete der Roboter. »Wir sind auf zahlreiche verschiedene Formen organischen Lebens gestoßen. Keine von ihnen konnte uns standhalten.« »Aber das ist doch nicht wahr!« rief Fred verzweifelt. »Ihr begeht einen gewaltigen Fehler.« »Wir sind Maschinen«, antwortete der Roboter ruhig. »Maschinen begehen keine Fehler. Wir haben die Technologie der organischen Lebensformen studiert. Sie ist der unseren unterlegen. Wir werden siegen.« »Weil ihr logisch vorgeht?« fragte Fred zornig. »Ja.« »Aber das Universum ist nicht logisch«, erwiderte Fred, obwohl er zu spüren glaubte, wie sinnlos seine Worte geworden waren. »Wäre es logisch, dann dürfte es Lebensformen wie uns gar nicht geben.« »Das stimmt«, bestätigte der Roboter. »Eines der Rätsel, das wir noch lösen werden.« Ritchie lachte bitter. »Warum verschwinden wir nicht von hier, Fred«, sagte er. »Wir vergeuden nur unsere Zeit. Von diesem blöden Blechhaufen erfahren wir doch nichts mehr.« »Eine Flucht ist sinnlos«, sagte der Roboter. »Kampfeinheiten sind auf dem Weg hierher. Euer Mutterschiff wird in spätestens siebenundzwanzig eurer Stunden vernichtet werden. Weitere Gegenwehr würde nur Energieverschwendung bedeuten.« »Und die wäre unlogisch, wie?« murmelte Fred düster. »Ja.« Fred lachte, obwohl er bezweifelte, daß die Maschine die Bedeutung dieses Lautes begriff. »Ihr mit eurer verdammten Logik«, sagte er niedergeschlagen. »Hätten wir uns danach gerichtet, würden wir wahrscheinlich heute noch auf den Bäumen leben.« »Und ich wäre nicht am Leben«, bestätigte Ritchie. Hinter den ausdruckslosen Kristallaugen des Maschinenmenschen glomm ein sanftes, gelbes Licht auf. Ein metallisches Schnarren erklang, als der Roboter den Kopf wandte und Ritchie ansah. »Deine Behauptung ist unlogisch«, sagte er. »So?« rief Ritchie trotzig. »Meinst du?«
»Deine Erweckung resultiert aus der Nutzung einer überlegenen Technologie«, schnarrte die Maschine. »Die Technik der Anabiose ist uns bekannt, nicht jedoch euer überlegenes System der Wiederauferweckung.« Fred tauschte einen erstaunten Blick mit Ritchie. »Wie . . . meinst du das?« fragte er. Die Maschine zögerte. »Unsere Berechnungen haben erwiesen, daß die Chance, eine in Tiefschlaf versetzte organische Lebensform unbeschadet wieder zu erwecken, siebenundsechzig komma vier Prozent betrug.« »Sie beträgt nicht einmal fünfzig Prozent«, verbesserte ihn Fred. »Aber wir haben es trotzdem gewagt.« »Das war unlogisch«, sagte die Maschine. »Das Risiko -« »Hör endlich mit deiner bescheuerten Logik auf!« brüllte Fred. »Wir gehen nun einmal Risiken ein, wenn uns keine andere Wahl bleibt! Und wir experimentieren.« »Experimente«, antwortete die Maschine, »sind nur bei einer logisch begründeten Aussicht auf Erfolg berechtigt.« »Und warum lebe ich dann?« fragte Ritchie wütend. »Die Chancen, daß ich die Wiederauferweckung nicht überstehe, standen bei fünfzig Prozent, du Blechheini. Hätten wir logisch gehandelt, läge ich jetzt noch auf Eis. Und wahrscheinlich die nächsten hundertfünfzig Jahre. Die organischen Formen, auf die ihr so herabblickt, haben die Milchstraße erobert, weil sie nicht logisch sind, sondern experimentieren und Risiken eingehen. Und deshalb werdet ihr niemals siegen.« »Aber das ist-« »Unlogisch, ich weiß«, unterbrach ihn Fred. Allmählich begann er das Wort zu hassen. »Und trotzdem ist es so. Du vergißt den Zufall in deiner Argumentation, Robot. Wir treffen manchmal bewußt Entscheidungen, die euch als falsch erscheinen mögen. Aber bei hundert Fehlschlägen kommt vielleicht ein neues Ergebnis heraus, etwas, auf das wir mit Logik niemals gekommen wären.« »Deine Argumentation ist nicht schlüssig.« »Oh, doch«, widersprach Fred. »Aber du bist nicht in der Lage, ihr zu folgen. Weil du logisch denkst.« »Wenn deine Behauptung zutrifft«, sagte der Roboter nach einer Weile, und diesmal hatte Fred den Eindruck, als ob in seiner Stimme fast so etwas wie Besorgnis mitschwang, »dann seid ihr in der Lage, sowohl logisch richtige Entscheidungen wie auch Entscheidungen auf zufälliger Basis zu treffen.« »Das ist richtig«, nickte Fred. »Das, was ihr Logik nennt, ist nur ein Teil unseres Denkens. Wir benutzen sie, aber nur dort, wo sie uns auch nützlich ist. Dazu seid ihr nicht in der Lage. Welche Einheit«, fügte er lauernd hinzu, »ist nun die überlegene?« Der Roboter schwieg lange, lange Zeit. »Die Organische«, sagte er dann. »Dann . . . dann läßt du uns gehen?« fragte Fred ungläubig. »Das überlegene System muß sich durchsetzen«, sagte der Roboter. »Das ist logisch.«
Die RITTERSPORN hing wie ein gewaltiges, stählernes Dreieck vor ihnen im Raum. Die Triebwerke des kleinen Beibootes liefen mit Vollschub, und trotzdem hatte Fred das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Das Schiff war ihnen entgegengeflogen, so weit es ging. Tiefer in die Flotte treibender Wracks vorzudringen, war für ein so großes Schiff wie die RITTERSPORN unmöglich. Die Gefahr einer Kollision mit einem Trümmerstück oder einem Wrack war zu groß. Die grüne Lampe unter dem Funkgerät leuchtete schon eine ganze Weile, aber Fred hatte den Ruf bisher noch nicht beantwortet. Er wollte einfach hoch einen Moment für sich, für sich und Ritchie. Sein Blick glitt an der RITTERSPORN vorbei und heftete sich auf die stumme Reihe grauer, pfeilförmiger Schiffe, die hinter dem Sternenkreuzer aufmarschiert waren. Es mußten zwei-, dreihundert sein. Und sie waren an Hunderten und Aberhunderten anderer vorbeigekommen, auf dem Weg hierher. Sie alle waren tot. Inaktiv wie die Schiffe, die sie in ihrer Falle gefangen hatten.
Fred fuhr erschrocken zusammen, als irgendwo vor ihnen ein greller Blitz aufzuckte. Eines der Robotschiffe glühte auf und verging. Dann noch eines, noch eines . . . endlos. Wie in einer plötzlichen, immer schneller ablaufenden Kettenreaktion flammte ein Robotschiff nach dem anderen auf und trieb als Wolke sonnenheißer, glühender Gase auseinander. »Mein Gott, was ist das?!« stöhnte Ritchie. Fred drehte sich halb um, sah ihn an und lächelte. »Die logische Konsequenz, du unterentwickelte Einheit«, sagte er halb ernst, halb im Scherz. »Die Roboter haben über das, was ich ihnen erzählt habe, nachgedacht.« »Aber warum . . . warum zerstören sie sich?« Ritchie starrte gebannt durch die transparente Bugscheibe. Das Weltall schien zu brennen. Immer mehr und mehr der kleinen grauen Schiffe glühten auf und verbrannten. Und nicht nur sie. Auch zwischen den Wracks loderten Flammen hoch, und für Minuten verwandelte sich der Friedhof der Raumschiffe in ein bizarres, kosmisches Feuerwerk. »Das überlegene System setzt sich durch«, sagte Fred. »Erinnerst du dich nicht? Die Roboter haben uns als das überlegene System anerkannt. Die logische Konsequenz ist, daß sie sich selbst vernichten. Sich und das, was sie geschaffen haben.« Er seufzte, wandte sich vom Fenster ab und schaltete das Funkgerät ein. Das Gesicht seines Großvaters erschien auf dem winzigen Bildschirm. »Fred!« brüllte Ebner los. »Was zum Teufel geht da drüben vor? Wieso seid ihr von Bord gegangen und wo wart ihr? Ich-« »Wir erklären euch alles, sobald wir wieder an Bord der RITTERSPORN sind«, unterbrach ihn Fred. »Macht die Schleuse auf und heizt schon mal die Triebwerke ein. Die Magnetsperre existiert nicht mehr.« Sein Großvater war für einen Moment vollkommen fassungslos. »Ich begreife nichts mehr«, gestand er. »Was ist passiert? Wieso explodieren die Schiffe, und . . .« »So ganz begreife ich es selbst nicht«, sagte Fred lächelnd, während er sich in Gedanken schon die Worte zurechtlegte, die er als nächstes - als übernächstes aussprechen wollte. »Aber es hat irgendwas mit überlegenen Systemen zu tun.« »Aha«, sagte Großvater. »Ich weiß zwar nicht, worauf du hinaus willst, aber deine Eltern und wir haben uns verdammt Sorgen um euch gemacht. Ganz gleich, was ihr getan habt - ich hoffe, dein Hosenboden ist auch ein überlegenes System. Er wird wohl ziemlich strapaziert werden. Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?« »Nein«, sagte Fred grinsend. »Aber ich überlege die ganze Zeit. . .«Er grinste noch breiter und wies mit einer Kopfbewegung auf die reihenweise verglühenden Raumschiffe rings um die RITTERSPORN. »Jetzt, wo die Roboter nicht mehr da sind, hast du doch das Bergerecht für die Schiffe oder?« Sein Großvater nickte. »Und?« »Schade, daß sie vernichtet werden«, sagte Fred fröhlich. »Vor allem, wenn man ausrechnet, wie hoch der Schrottpreis für eine Tonne Titanium auf dem galaktischen Markt ist.« Diesmal war es sicherlich nicht mehr allein die Sorge um Fred und Ritchie, die Ebner Rosen erbleichen ließ.