Martin Selle
Der Fluch der GEISTERPIRATEN Codename Sam Band 08
scanned 04/2008 corrected 05/2008
1791: Die GHOST (= G...
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Martin Selle
Der Fluch der GEISTERPIRATEN Codename Sam Band 08
scanned 04/2008 corrected 05/2008
1791: Die GHOST (= Geist), das Piratenschiff des verfluchten Kapitäns Henry Moore, verschwindet spurlos. Heute: Schüsse hallen durch die Nacht ein Junge flüchtet, Hunde verschwinden und tauchen auf mysteriöse Weise wieder auf … Und dann dringen düstere Stimmen aus dem Bauch dieses Schiffes, das herrenlos auf den Wellen treibt. Sandra, Armin und Mario (SAM) ermitteln. Das hätten sie besser nicht getan, denn das Schiff heißt GHOST … ISBN: 3-7074-0267-3 Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Erscheinungsjahr: 2005 Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
DER FLUCH DER GEISTER-PIRATEN Martin Selle
Illustrationen: Martin Weinknecht
Wien – Stuttgart – Zürich
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de. abrufbar.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Selle, Martin: Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G, Kinder- und Jugendbuch (Krimi) Geheimfall 8. Der Fluch der GEISTER-PIRATEN. – 2005 ISBN 3-7074-0267-3 1. Auflage 2005 © 2005 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Covergestaltung: Martin Weinknecht Lektorat: G & G Satz: grafik design jeannette pobst, wien Druck und Bindung: BBG, Wöllersdorf In der neuen Rechtschreibung. Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.
INHALT 1
Zurück von den Toten........................................ 7
2
Die Hand aus dem Nichts ................................ 10
3
Der Kopf über der Tür ..................................... 19
4
Die Seeteufel.................................................... 25
5
Feueraugen....................................................... 29
6
Gespenstisch .................................................... 36
7
Der schwarze Mann ......................................... 41
8
Das Ding der Tiefe .......................................... 49
9
Der schleichende Tod ...................................... 56
10
Der Sklave der Zeit .......................................... 62
11
Das Kuvert ....................................................... 68
12
Höchst riskant .................................................. 77
13
Die tote Stimme ............................................... 87
14
Drei dunkle Gestalten ...................................... 96
15
Zu spät! .......................................................... 102
16
Von seiner Kugel getroffen ........................... 115
17
Der Maskenmann ........................................... 122
18
Die Millionenhunde ....................................... 129
19
Ein letztes Rätsel ........................................... 140
6
1
Zurück von den Toten
Am 16. des Monats Mai, im Jahre 1791 Seit Stunden hämmerte der Regen gegen die Fenster. Der Holzschnitzer Ramon Diaz betete. Zitternd wie Espenlaub saß er in seiner Werkstatt. – So wild konnten nur Geisterhände an Fenstern und Tür rütteln. Aber es war nur der tosende Sturm, der durch die schmalen Gassen fegte und alles mit sich riss, was sich ihm in den Weg stellte. Ein solch unheimliches Gewitter hatte Ramon noch nie erlebt. Plötzlich – mit einem berstenden Krachen – flog die Tür auf und ein Riese von einem Kapitän stand in Diaz’ Werkstatt. Die breiten Schultern des Mannes füllten den Türrahmen aus. Er war von so großer Statur, dass selbst das Licht der hellsten Blitze kaum durch die Türöffnung drang. Regentriefend stand er da: eine Klappe über dem rechten Auge, schwarzer Dreispitz, knielanger Leibrock und ein von Narben zerfurchtes Gesicht unter dem rauen Stoppelbart. Ramon Diaz erstarrte: Der gespaltene Totenkopf am Hut des Fremden ließ keinen Zweifel: Vor ihm stand Henry
7
Moore! Jener Mann, so wurde überall in der Karibik* erzählt, der über 28 Seeräuber und Sklavenhändler erdolcht, erhängt oder auf andere grausame Art an Freibeutern Rache genommen haben sollte. Henry Moore war auf den Weltmeeren gefürchtet, denn Henry Moore war Piratenjäger. „Ich brauche für mein neues Schiff eine Galionsfigur. GHOST soll mein Segelschiff heißen.“ Ghost – Geist! Welch unheilvoller Name für einen Ozeansegler. Normalerweise sollte die Galionsfigur das Schiff und seine Besatzung vor Stürmen, Piraten und anderen tödlichen Gefahren, die auf hoher See lauerten, beschützen. Aber das Schiff dieses Mannes …? „Das Aussehen eines Skelettes muss sie haben und jedem Sturm standhalten. Bald werden sie mich fassen und hängen, zu viele sind mir auf den Fersen. Und dann muss sie an meine Stelle treten, meiner Mannschaft Mut und Glauben geben. Bis ich eines Tages zurück bin – zurück von den Toten, um mein Werk zu vollenden. In einer Woche hole ich sie ab.“ Ramon schluckte. „Eine Woche! Unmög…“ Wortlos warf Henry Moore zehn Goldmünzen auf die Werkbank. So viel Geld hatte Ramon noch nie für einen einzigen Auftrag bekommen, ja noch nicht einmal gesehen. „In einer Woche. Und sie wird jedem Sturm …“ Ramon schnitzte die folgende Woche Tag und Nacht. Bald war die Galionsfigur der Ghost fertig. Wahrlich
*
Große Bucht des Atlantischen Ozeans zwischen der Nordküste Südamerikas und dem Landbogen Mittelamerikas. 8
Furcht einflößend war sie ihm gelungen – ein Meisterwerk. Der Schädel glich einer erstarrten Fratze des Schreckens. Doch es gab ein Problem: Für die Wirbelsäule aus Holz war der Kopf zu schwer. Er würde im ersten Sturm abreißen. Ramon kam der rettende Gedanke. Und diese Idee sollte Henry Moore tatsächlich später einmal – VIEL später einmal – von den Toten zurückkehren lassen. Die Ghost, so nannte Diaz die Figur, blickte ihn an, als stünde in ihren toten Augen Leben. Dann sägte er ihr den Kopf ab. Niemand würde je hinter seinen Trick kommen, da war er sich sicher. Als Ramon fertig war, setzte er den Kopf wieder auf das Knochengerüst aus Holz und verfugte die Schnittstelle mit Holzkitt. So fein, dass sie wie aus einem Stück gefertigt aussah. „Die Ghost wird Sie nie im Stich lassen“, sagte Ramon, als Henry Moore sie am nächsten Tag abholte. Ramon ahnte nicht, wie wahr seine Worte waren. Und die Ghost würde nicht nur Henry Moore nicht im Stich lassen! Das Unheimliche sollte in der Zukunft geschehen. In einer fernen Zukunft – über 200 Jahre später, als gerade drei Hobbydetektive, die sich CodeName SAM nannten, auf der Karibikinsel Aruba Sprachferien machten.
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Die Hand aus dem Nichts
Ein zweiter Schuss hallte in der einsetzenden Finsternis. So laut, dass er das Donnergrollen und den peitschenden Regen übertönte. Der elfjährige Junge zuckte wie ein ängstliches Kaninchen zusammen. Schoss jemand auf ihn? Keuchend und mit zittrigen Knien hastete Robin die CaliforniaSanddünen hinauf. Wieder rief er: „Butschi! Hierher!“ Von seinem Rottweiler fehlte jede Spur. Robin hatte ein Stück Treibholz in die Dünen geworfen, das Butschi apportieren sollte, aber sein Hund war nicht wieder aufgetaucht. Jetzt wünschte Robin, er hätte den Nachrichten über die auf rätselhafte Weise verschwundenen Hunde mehr Beachtung geschenkt. „Butschiiii!“ Nichts. Die Nacht blieb stumm. Ein dritter Schuss knallte. Robin stolperte weiter die Düne hoch. Zehn, vielleicht zwanzig Schritte – sein Fahrrad konnte nicht mehr weit entfernt sein. Voller Angst drehte er sich kurz um und riskierte einen Blick über die Schulter. Draußen auf dem Meer war nichts mehr zu sehen von dem, was ihn beinahe an seinem Verstand zweifeln ließ. Es konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Wieder ein Schuss … War Butschi tot? Sein Freund und treuester Weggefährte, den er als Welpe aus einer Scherenfalle gerettet und großgezogen hatte. Bittere Besorgnis 10
stieg in Robin hoch. Ein greller Blitz am Horizont riss ihn aus seiner Starre. Er hastete weiter. Oben auf der Düne blieb er nochmals stehen und wandte sich wieder dem Meer zu. Was hatte er wirklich gesehen …? Aber keine Spur von Butschi und auch nicht von dem todesdüsteren … Robin zuckte zusammen. Ein Schatten löste sich aus der Schwärze der Nacht. Ihm rutschte fast das Herz in die Hose. Wie aus dem Nichts packte ihn eine knochige Hand an der Schulter. Im Schein der Blitze, durch den Regenschleier hindurch, blickte er direkt in die funkelnden Augen eines bulligen Mannes. Ausdruckslos starrte der Fremde Robin an. In seiner rauchigen Stimme lag Furcht: „Hast … hast du es auch gesehen, Junge?“, stammelte er. Robin erkannte einen Anhänger im linken Ohr des Mannes – ein goldener Anker. Ein Donner grollte, die Luft erzitterte. „Ja, ich hab das Ding auch gesehen. Niemand wird es glauben … Und die Schüsse … Butschi!“ „Wer ist Butschi?“, fragte der Mann. „Bist du unverletzt?“ „Mein Hund! Ja, nur ein paar Schramm …“ Noch ein Schuss. Jetzt lauter – näher! Wie aus einem Alptraum erwacht, riss sich Robin los und rannte, rannte … „Junge! Lauf nicht in dein Verderben!“ Doch diese Worte des Fremden hörte Robin nicht mehr. Wenige hundert Meter entfernt kämpften sich Sandra, Armin und Mario (SAM) durch den tosenden Sturm. 11
Sie hatten motorisierte Vierräder (Quad Racer) gemietet, um den Arikok-Nationalpark an der Nordküste Arubas zu erkunden, als das Gewitter sie überrascht hatte. „Schneller!“, rief Armin. Sie waren auf dem Rückweg nach Oranjestad, der Hauptstadt Arubas. Armin wollte Sandra überholen, als Marios Schrei durch den Regen dröhnte: „Pass auf!“ Etwas querte blitzschnell den Lichtkegel von Armins Quad Racer. Er zog die Bremse, riss den Lenker nach rechts und rammte Sandra. Ihr Quad schleuderte und raste direkt auf die steilen Felsklippen zu. „Spring ab!“, kreischte Mario. Sandra zerrte am Lenker. Er blockierte! Sie konnte, ihr Fahrzeug nicht mehr kontrollieren. „Spring!“ Am Fuß der Klippen konnte Sandra bereits das tosende Meer sehen. Der Racer donnerte gegen einen Felsbrocken und wurde ausgehoben. Sandra wirbelte durch die Luft und prallte gegen einen Kaktus. Zentimeterlange Stacheln bohrten sich in ihre rechte Hand, als sie nach dem Kaktus fasste, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Im Schein der Blitze sah sie, wie ihr Quad in hohem Bogen in das Meer stürzte und von den Wellen verschlungen wurde. Blut tropfte von Sandras Fingern, als Mario sie packte und hochzog. „Armin spinnt wohl!“, spie sie Gift und Galle. Sie stand unter Schock und hatte noch gar nicht richtig mitbekommen, wie viele Stacheln sich in ihren Körper gebohrt hatten. „Ihm ist ein Radfahrer vor das Quad gekommen. Fuhr ohne Licht, der Irre. Alles okay bei dir?“, fragte Mario. 12
„Die Stacheln –“ Jetzt spürte sie heftig ihre Verletzungen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog Sandra neun fingerlange Kaktusstacheln aus Händen, Armen und Beinen. Um ihre Hand wickelte sie ein Taschentuch. Armin, dem nichts passiert war, suchte die Umgebung nach dem Radfahrer ab. Nichts. Immer wieder rief er in die Nacht hinaus. Sandra und Mario gesellten sich zu ihm. Als der Donner für Sekunden pausierte, drang ein Ächzen und Stöhnen wenige Schritte vor ihnen durch die Nacht. „O Gott, haben Sie sich was gebrochen?“, rief Armin, als er eine kauernde Gestalt am Boden ausmachte. Im Schlamm der Straße rappelte sich ein Junge auf die Beine. „Bin okay.“ SAM atmeten erleichtert auf. Es goss in Strömen. Sandra dachte an die Horrorszene von vorhin. „Du spinnst wohl, nachts und bei dem Sauwetter ohne Licht durch die Gegend zu fahren!“ „Hättet ihr gesehen, was ich gesehen habe, ihr hättet auch keine Sekunde mit Lichteinschalten vertrödelt –“ Der Junge rieb sich sein schmerzendes Knie. „Ich muss Butschi finden!“ „Könntest du Klartext reden!“, sagte Sandra verärgert. „Ich hab ein teures Quad im Meer versenkt und wäre um ein Haar mit in die Tiefen gerissen worden! Wer bist du eigentlich?“ „Ich heiße Robin.“ Mehr kam nicht von dem Jungen. Seine Gedanken schienen weit weg. Robin war in mancherlei Hinsicht ein ebenso außergewöhnlicher Junge wie Armin oder Mario. So beherrschte er mit seinen elf Jahren 13
fünf Sprachen. Das kam daher, weil er im Gegensatz zu anderen Jungs seines Alters schon in vielen Teilen der Erde gelebt und einige Länder bereist hatte. Robin hatte glattes, braunes Haar, das ihm bis über die Ohren und in die Stirn fiel. Manchmal trug er eine Brille mit runden Gläsern – und Robin konnte für zwei lachen. „Ihr seid Urlauber? Habt ihr eine Kamera dabei? Wir müssen es fotografieren. Ich brauche Beweise.“ „Beweise?“ Mario warf seinen Freunden einen Blick zu. „Wofür?“ „Habt ihr eine Kamera?“ „Nein“, sagte Armin. „Die war auf Sandras Quad.“ „Mist!“ „Wovon redest du überhaupt?“, hakte Mario nach. Robin reagierte nicht. Er lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Dann flüsterte er: „Keine Schüsse mehr … Wir können es riskieren. Ihr glaubt mir nur, wenn ihr es selbst seht. Kommt – runter zum Strand …“ Sandras Aufmerksamkeit war ganz und gar auf Robin gerichtet, während sie auf die beiden Quad Racer stiegen und lostuckerten. Was immer Robin gesehen hatte, es musste etwas Unheimliches, etwas Schreckliches gewesen sein. „Robin muss von hier sein“, dachte Mario. „Wer den Weg so genau vorgibt, kann nur von Aruba stammen.“ „Schneller!“, rief Robin. „Sonst ist es weg –“ „Was ist weg?“, fragte Armin. Robin starrte zuerst angestrengt auf das Meer hinaus, dann den Strand entlang. „Hoffentlich haben sie Butschi nicht erschossen.“ „Erschossen? Jemand wurde erschossen!?“ Armin 14
stoppte sofort. Die Art, wie Robin die letzten Worte ausgesprochen hatte, hatte etwas Beängstigendes an sich. „Butschi ist mein Rottweiler“, erklärte Robin. „Wir gehen hier oft am Strand spazieren. Die meisten Menschen fürchten große Hunde. Hier am Nordstrand kann er frei rumlaufen. Hierher verirren sich kaum Leute. Höchstens ein paar Fischer. Ich hab Butschi ein Holz geworfen, er lief hinterher, dann die Schüsse und Butschi kam nicht zurück …“ Robin zitterte. So sah jemand aus, der etwas Schreckliches gesehen hatte. SAM folgten Robin, der einen bestimmten Weg entlang des Strandes zu nehmen schien. „Was geschah dann?“, fragte Armin. „Ich hab Butschi gerufen. Und dann hörte ich sie plötzlich, diese unheimlichen Laute, die vom Meer her ans Ufer drangen. Wie Wehklagen. Immer wieder unterbrochen von gespenstischen Stimmen – Stimmen von Menschen … nein, von etwas, das früher einmal vielleicht Menschen waren –“ Durch den Regen hindurch fixierte Robin weiterhin das dunkle Meer. „Dann trieb sie plötzlich im Sturm auf den Wellen – herrenlos“, fuhr Robin fort. „Wer – sie?“, setzte Sandra nach. „Das Geisterschiff. Die GHOST!“ Robins Stimme war nicht mehr als ein Hauch. „Ein Geisterschiff?“, fragte Sandra ungläubig. „Wegen eines blöden Hirngespinstes wäre ich fast in den Tod gerast! Ich glaub’s nicht!“ „Kein Hirngespinst“, versicherte Robin. „Butschi ist weg und der Fischer hat es auch gesehen.“ 15
Armin stöhnte. „Also ich sehe hier nirgends ein Geisterschiff und auch keinen Fischer. So ein Schwachsinn. Und wir fallen auch noch drauf rei…“ Er hielt inne. Im hellen Schein eines Blitzes hatte er Spuren entdeckt – Hundespuren. „Seht euch das an!“, rief er und fiel auf die Knie. Die anderen umringten ihn. „Hundespuren“, bekräftigte Mario. Sandra fingerte die Taschenlampe aus ihrem Detektivgürtel. „Vielleicht hat Robin doch Recht. Vielleicht sind jene, die die Schüsse abgegeben haben, noch in der Nähe …“, dachte sie bei sich. „Tarnlicht“, sagte Armin. Die vier rückten ganz eng zusammen, um den Schein der Lampe in ihrer Mitte zu fangen. Sandra stülpte das nasse T-Shirt über die Taschenlampe und schaltete sie ein. Das Licht war stark gedämpft, aber die Spuren gut erkennbar. „Butschi!“, entfuhr es Robin. „Da!“ Armin hatte sich wieder aufgerichtet und noch etwas entdeckt. Sandra löschte die Lampe und folgte mit den anderen Armin, der ein paar Schritte abseits gegangen war. „Die Fußspur eines Menschen“, sagte Armin, als Sandra die Fährte wieder in gedämpftes Licht tauchte. Armin war gut im Spurenlesen. Rainer Lennert, ein Privatdetektiv und Freund seines Vaters in Wien, hatte SAM alle Tricks im Fährtenlesen beigebracht. Armin nahm den Abdruck unter die Lupe. Die Schuhabdrucke lagen weit auseinander. „Wer immer die Spur hinterließ, er ist gerannt – und wahrscheinlich männlich.“ 16
Die Fußspuren waren tief in den Sand gegraben. „Mister Unbekannt dürfte außerdem gewichtig sein oder hat etwas Schweres getragen.“ Sandra grübelte. „Einen Hund vielleicht?“ „Gut möglich“, sagte Mario. „Butschi!“, rief Robin. „Seid ihr drei so was wie Detektive?“, fragte er zögernd. „Gewissermaßen“, antwortete Armin. „Wir haben der Polizei schon oft geholfen, durch unsere Nachforschungen unlösbar scheinende Fälle aufzuklären.“ „Und das hier riecht verdammt nach einem rätselhaften Fall, Jungs.“ Sandra schaltete die Lampe aus, stand auf und watete bis zu den Knöcheln ins Wasser. Sie starrte auf etwas Dunkles, das an den Strand gespült worden war und sich im flachen Wasser sachte hin und her bewegte. „Kommt hierher!“ Sie winkte den dreien zu. „Was ist das?“, fragte Mario. Sandra bückte sich und hob eine von Algen und Muscheln übersäte Holzplanke aus dem Wasser. „Da steht was drauf“, murmelte sie. Armin knipste seine Taschenlampe an. Sandra entfernte die Algen. „Das … das ist …“ Im Schein der Lampe buchstabierte sie: „G-h-o-s-t. Ghost!“ „Das Namensschild eines Schiffes“, sagte Armin. „Scheint, als sei Robins Geschichte doch kein Hirngespinst.“ Marios Stimme klang heiser. Sandra ließ die Planke ins Wasser gleiten. „Gehen wir“, meinte Armin und ließ den Lichtkegel der Lampe kurz über den Strand tanzen. 17
„Halt!“, rief Robin. Im Schein der Taschenlampe hatte er etwas aufblitzen sehen. „Leuchte noch mal zurück, da ist was“, wandte er sich an Armin. Rote Federn tauchten im Lichtkegel auf, darunter blinkte es silbern. Robin ging ein paar Schritte, zog die Federn langsam aus dem Sand und hielt sie hoch. „Ich kenn diese Dinger.“ „Ein Betäubungspfeil“, sagte Mario. „Genau.“ „Die Spitze ist abgebrochen.“ „Merkwürdig.“ Ein Blitz, gefolgt von einem Höllendonner, ließ die vier Nachtschwärmer zusammenzucken. „Meine innere Stimme sagt mir, dass wir von hier verschwinden sollten“, meinte Robin und blickte sich um. Die vier kletterten auf die Quads und ratterten durch den Gewitterregen Richtung Oranjestad. Sie ließen eine dunkle Gestalt, die hinter einem Felsen kauerte, und ihr Gespräch belauscht hatte, zurück. „Es hat geklappt. Der Junge hat angebissen. Aber die anderen drei stehen nicht auf dem Plan. Was soll mit ihnen … okay. Ja, es wird wie ein Unfall aussehen!“ Dann klappte der Unbekannte sein Handy zu.
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3
Der Kopf über der Tür
Am nächsten Morgen, die Sonne stand bereits hoch am Himmel, saßen SAM beim Frühstück. Im letzten Schuljahr war es bei Armin in Englisch nicht gerade gut gelaufen – ein Glück! Sonst hätten seine Eltern der Einladung von Sandras Onkel, Rudi, nie zugestimmt – Armin sollte in den Ferien auf Aruba (einer wunderschönen, freundlichen Insel ca. 30 Kilometer vor der Küste Venezuelas gelegen) seine Englischkenntnisse auf Vordermann bringen. Rudi lebte schon 25 Jahre auf der Sonneninsel. Ihm gehörte das „Schweizer Haus“ (= Chalet Suisse), eines der beiden besten Luxusrestaurants auf Aruba. Das andere, das „Madame Janette“, nannte Rudis Freund Karsten sein Eigen. Für Essen vom Feinsten war also gesorgt. Ihr Quartier hatten SAM in Rudis Haus aufgeschlagen. – Vier Wochen feiner, weißer Strand, Sonne, Partys und Abenteuer … der absolute Hit. Doch die Geschehnisse in der letzten Nacht hatten den Urlaub gehörig durcheinander gewirbelt. „Was haltet ihr davon?“, fragte Mario. Armin zuckte mit den Achseln. „Robin hat wirres Zeug gefaselt, wenn ihr mich fragt.“ Sandra goss Tee nach. 19
„Er macht sich einen Spaß mit uns, führt uns an der Nase herum“, meinte Mario. „Warum sollte er eine so merkwürdige Geschichte erfinden?“, murmelte Sandra. „Außerdem, die Schiffsplanke und der Betäubungspfeil …“ „Du hast Recht“, sagte Mario. „Bis gestern war uns Robin unbekannt und er hat uns vorher wohl auch noch nie gesehen. Woher sollte er von unserem Aufenthalt auf Aruba wissen? Möglicherweise hat er tatsächlich etwas Unheimliches gesehen?“ Armin drehte das Radio an. „Also doch ein Rätsel. Und zusammen mit den angeblichen Schüssen und dem unbekannten Fischer, von denen Robin auch erzählt hat, somit ein Fall für SAM.“ „Ich hätte mir denken können, dass ihr der Sache auf den Grund gehen …“ Mario stoppte mitten im Satz. „… und jetzt noch eine Mitteilung an alle Hundebesitzer“, tönte es aus dem Radiogerät: „Allein in dieser Woche wurden schon drei Hunde als vermisst gemeldet. Unser Tierarzt, Doktor Pedro Koolmann, und die Polizei empfehlen, die Tiere nicht frei herumlaufen zu lassen. Polizeidirektor Rodrigo Perez bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Manche der verschollenen Vierbeiner tauchen nach Tagen merkwürdiger Weise wieder auf. Vorsicht scheint geboten, denn …“ Sandra drehte den Radioapparat ab. Alle drei dachten das Gleiche. „Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt“, sagte Armin. „Wo und wie sollen wir die Ermittlungen beginnen? Und von einem Geisterschiff war weit und breit nichts zu sehen.“ 20
„Robin muss uns mehr über diesen unbekannten Fischer erzählen“, meinte Sandra. „Dem muss draußen am Meer ja auch etwas aufgefallen sein, sonst hätte er nicht so reagiert, wie Robin angedeutet hat.“ „Ich hab den Mann nie zuvor gesehen“, erwiderte Robin SAM gegenüber, wischte noch einmal über einen alten Säbel und hängte ihn an die Wand. Freitag Nachmittag war es am ärgsten. Dann drängten sich die Urlauber vor den Regalen im „Shabby Shic“, dem Antiquitäten- und Souvenirladen von Alberto Maduro. Robin liebte es, Alberto nach der Schule in seinem Laden zu helfen. Es war aufregend, zwischen all den alten und neuen Sachen zu stöbern. Für Robin verbarg sich hinter jedem noch so unscheinbaren Ding eine Geschichte. Manche Sachen in Albertos Laden waren mehrere hundert Jahre alt. Über andere konnte man in den Aufzeichnungen der Inselgeschichte nachlesen. Alles gab es hier: Musketen (Gewehr, aber auch Handfeuerwaffe), Schatztruhen, alte Münzen, Bilder, Bücher und – Galionsfiguren. Der Kopf einer Galionsfigur war auch die Attraktion in Albertos Laden – und gehörte sozusagen Robin. Alberto hatte ihn dem Jungen als Lohn für seine Hilfe versprochen. Der Holzkopf zierte die Wand über der Eingangstür. Neben der Tür hing ein altes Ölbild aus dem Jahr 1791, das einen Kapitän zeigte. „Robin, der hölzerne Skelettkopf über der Tür – was ist das?“, fragte Mario, dem beim Anblick des Totenkopfes Unruhe befallen hatte. 21
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„Ganz genau weiß ich es nicht. Soll der Kopf einer Galionsfigur aus dem 18. Jahrhundert sein. Man erzählt, dass er zusammen mit einem Logbuch angeschwemmt worden sei, mit dem von der …“, Robin stockte, „… von der Ghost.“ Die drei starrten Robin an. Armin fing sich als Erster. „Und dieser Kapitän mit der Augenklappe?“ Er deutete auf das alte Bild. „Das – das ist er.“ Eine raue Stimme ertönte hinter SAM. „Das ist der Kapitän der Ghost. Ein verfluchter Kerl, sag ich euch!“ Alberto bugsierte gerade einen Kunden zum Ausgang und schloss die Tür hinter ihm. Alberto war ein Mann mit gebräuntem Gesicht und einer für seine 69 Jahre sportlichen Figur mit strammen Schultern. „Die Ghost ist 1791 spurlos verschwunden, wird erzählt“, erklärte Alberto. Sandras Blick haftete auf dem Kopf über der Tür. Er schien sie in seinen Bann zu ziehen. „Wo ist der Rest der Galionsfigur? Was ist 1791 passiert? Dieser Kopf hängt da nicht einfach über der Tür – der sieht einen ja an“, durchfuhr es sie. Aus dunklen Augenhöhlen schien der Totenkopf SAM und Robin anzustarren. So, als hüte er ein Geheimnis. „Hm“, murmelte Mario. „Sehr sonderbar: ein Geisterschiff, Schüsse und nächtliche Stimmen …“ „… verschwundene Hunde, ein Betäubungspfeil und eine Schiffsplanke mit dem Namen ‚Ghost‘“, spann Armin den Gedanken weiter. „Und das just zu dem Zeitpunkt, als Robin wieder mal 23
mit Butschi in den Sanddünen unterwegs ist“, überlegte Sandra. „Ein bisschen viele ‚Zufälle‘, oder?“ Armin, Mario und Robin nickten. „Was ist dein Plan?“, fragte Mario. „Willst du einem Geisterschiff nachjagen, das es nicht gibt?“ Sandra wandte sich an Robin. „Wie heißt der Fischer, der plötzlich aufgetaucht ist?“ „Weiß ich nicht.“ „Wie sah er aus?“, fragte Armin. „Es war dunkel … und ich hab mich ganz schön geschreckt.“ Sandra hob eine Augenbraue. „Ein guter Detektiv sollte sich fremde Menschen automatisch einprägen, Robin. Irgendwelche Auffälligkeiten hat jeder. Und die helfen dann, jemanden wieder zu erkennen. Sein Gang, ein Akzent beim Sprechen, Narben … Denk nach, Robin.“ „Ich erinnere mich nur an einen goldenen Anker in seinem linken Ohrläppchen. War während eines Blitzes kurz zu sehen.“ „Ein goldener Ohrring, na bitte! Du bist spitze, Robin. Willkommen im Team!“ „Wann legen wir los?“, fragte Mario. „Morgen früh, sehr früh“, schlug Sandra vor. „Du kommst morgen zum Frühstück, Robin, so gegen sieben?“ Robin nickte. Zu diesem Zeitpunkt glaubten SAM nicht wirklich, dass sie einem dunklen Geheimnis auf die Spur gekommen waren – ein verhängnisvoller Fehler!
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4
Die Seeteufel
„Na, hast du heute in der Nacht noch was rausgefunden, Mario?“, fragte Armin. SAM flitzten auf ihren Fahrrädern von Bubali, wo sie wohnten, nach Oranjestad. Sie hatten wenig geschlafen. Bis ein Uhr hatte Mario in alten Büchern und im Internet nach Piratengeschichten gestöbert. Es galt, mehr über das mysteriöse Verschwinden der Ghost herauszufinden. Gegen fünf Uhr früh hatten sie sich bereits auf den Weg nach Oranjestad gemacht. „In der Geschichte der Karibik wimmelt es von gruseligen Piratengeschichten, Geisterschiffen und verfluchten Kapitänen. Henry Morgan, Calico Jack und Mary Read sind nur einige Namen berühmt-berüchtigter Seeräuber. Piraten waren Diebe, Mörder und Entführer. Sie überfielen Schiffe und auch Küstenstädte. Manche handelten mit Menschen – mit Sklaven. Heutzutage sind in den Augen der Polizei die Drogenhändler die ‚modernen Piraten‘. Sie schmuggeln das Rauschgift auf den unglaublichsten Wegen von Südamerika über die Karibik nach Europa und in die USA. Es gibt viele Sagen und Legenden über Piraten, die vor 200 bis 300 Jahren lebten. Sie missachteten die Gesetze. Sie vergruben und versteckten Schätze. Die meisten von 25
ihnen starben jedoch durch furchtbare Krankheiten, bei Schiffbrüchen und Seeschlachten. Und trotzdem entschieden sich über die Jahrhunderte hinweg bis heute noch viele Menschen für das Piratenleben. Von der Sehnsucht nach Reichtum getrieben, befuhren und befahren sie heute noch die Meere. Wurden sie gefasst, hat man sie wegen ihrer Verbrechen gehängt. Manche wurden vor ihrem Tod verflucht. Dann fanden die Seelen der Toten keine Ruhe und sie spuken als Geister herum. Oft verfluchte man ganze Schiffe und Besatzungen samt ihrem Kapitän. Dann tauchen ganze Geisterschiffe auf. Über die Ghost habe ich nichts herausgefunden, außer dass sie 1791 samt Besatzung und ihrem Kapitän, Henry Moore, spurlos verschwunden ist.“ „Klingt nach Schauermärchen“, sagte Armin. „Wir haben nichts außer Robins Geschichte und einer Holzplanke. Oder hat von euch vielleicht jemand einen Geister-Piraten oder ein Geisterschiff gesehen?“ Sandra und Mario schwiegen. Hundert Meter weiter bogen sie rechts in den Hafen von Oranjestad ein. Vom Ufer führten breite Holzstege in das blaue, glasklare Wasser hinaus. Die meisten Fischer waren schon von ihrer morgendlichen Ausfahrt zurück. Mit reichlich Fang. Zackenbarsche wurden geschuppt, Netze geflickt und Motoren gesäubert. „Wie finden wir den Fischer mit dem goldenen Anker im Ohr?“ Armin sah sich um. „Einfach fragen“, sagte Sandra. Fremdsprachen fielen ihr leicht und so kannte sie bereits einige Worte in der einheimischen Indianersprache Papiamento. „Despensa, mi tin un pregunta –“ 26
Der hagere Fischer mit der Hakennase, den sie angesprochen hatte, blickte nicht einmal auf. Mario kam ihr zu Hilfe. Auch er hatte aus einem Reiseführer ein paar Worte parat. „Bon dia, pabien! Toller Fang. Wir suchen einen Fischer, der als Ohrring einen goldenen Anker …“ Der hagere Kerl hob den Kopf. Finstere Augen starrten SAM entgegen. „So jemanden kenne ich nicht. Versucht’s woanders. Und jetzt: Pasa bon dia!“ „Vielen Dank jedenfalls – Mashá danki. Ihnen auch einen schönen Tag. Und auf Wiedersehen – ayó! Unfreundlicher Kerl“, dachte Sandra noch. Möglichst unauffällig schlenderten SAM von einem Boot zum anderen. Dabei musterten sie jeden Fischer aufmerksam. – Nichts. Kein Anker als Ohrring, bei keinem. „Was nun?“, seufzte Sandra. „Ein anderer Hafen“, schlug Mario vor. SAM griffen gerade nach ihren Fahrrädern, als wie zufällig der hagere Fischer von vorhin bei ihnen vorbeischlenderte. Er trug einen in Zeitungspapier gerollten Gegenstand bei sich. Mit einem versteckten Handzeichen gab er den dreien zu verstehen, noch zu warten. Sein Blick war jetzt freundlich. Verstohlen steckte er Armin die Papierrolle zu. „Die ‚Seeteufel‘ kommt in 15 Minuten rein.“ Er schaute sich um, als hätte er Angst beobachtet zu werden. „Seid vorsichtig. Er ist ein mehr als merkwürdiger Mensch – sehr merkwürdig sogar! Er fischt nicht nur, sondern macht auch Inselrundfahrten für die Firma ‚Adventure-Tours‘ (=Abenteuerfahrten). Oft sogar nachts.“ Der hagere Fischer 27
senkte seine Stimme. „Er spricht ständig von einem ‚Fluch der Geister-Piraten‘, der uns alle treffen wird, wenn wir nachts rausfahren, um auf Fischfang zu gehen. Er ist verrückt und – gefährlich. Passt auf!“ Dann ging der Mann so unauffällig wie möglich weiter. Armin warf einen kurzen Blick in die Papierrolle. „Ein Zackenbarsch“, meinte er. „Das gibt ein saftiges Mittagessen bei Onkel Rudi“, freute sich Sandra. „Lass mal sehen!“ Armin wickelte den Fisch aus. „Da, am Rand steht etwas in Handschrift geschrieben“, sagte sie aufgeregt. „Eine versteckte Botschaft: Ruben Ras – beliefert die Luxusrestaurants Chalet Suisse und Madame Janette. Vorsicht vor ihm!“, entzifferte sie die sichtlich schnell hingekritzelte Nachricht. Ein Motorengeräusch riss Sandra, Armin und Mario aus ihren Gedanken. Es kam rasch näher. Ein schnittiges Boot glitt in den Hafen. Seeteufel stand am Bug des Schiffes zu lesen. Im Schein der Morgensonne konnten sie ein Glitzern im linken Ohr des Steuermannes ausmachen. „Okay, jetzt kühlen Kopf bewahren, Leute“, warf Mario ein.
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5
Feueraugen
Armin packte den Fisch wieder ein und dann setzten sich die drei Richtung Steg Nummer 4 in Bewegung, an dem die Seeteufel anlegte. Sie war ein schnelles zum Hochseefischen ausgestattetes Yachtboot. Der Mann am Ruder stellte den Motor ab und vertäute die Seeteufel sorgfältig. Dann begann er den Fang auszuladen. Mit einem Schrei sprang Sandra zurück, als ein über zwei Meter langer Hai vor ihren Füßen landete. Es war aber nicht der Hai, der sie noch einmal zusammenzucken ließ. Die Augen des Steuermannes, der einen Blick auf sie geworfen hatte, jagten ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Misstrauisch musterte der bullige Mann SAM. Für gewöhnlich waren Augen meerblau, grünlich oder kastanienbraun. Aber die Augen dieses Mannes … leuchteten rot – feuerrot! „Ruben Ras?“, fragte Armin zögernd. Ein weiterer Hai knallte auf den Holzsteg. Jetzt fixierten die Feueraugen Armin. „Wer seid ihr?“, krächzte der Mann mit trockener Raucherstimme. „Ich bin Armin Hauser. Das sind meine beiden Freunde Sandra Wolf und Mario Klein. Aber nennen Sie uns einfach SAM.“ 29
„Schönes Boot, die Seeteufel“, sagte Mario und setzte ein Lächeln auf. Sandra kapierte sofort. Sie griff nach ihrem digitalen Fotoapparat und schoss ein Bild. „Wir sind Freunde von Robin. Sie wissen schon, von dem Jungen, den Sie gestern Nacht bei den CaliforniaSanddünen vor den Schüssen gewarnt haben. Sein Hund Butschi ist spurlos verschwunden und …“ Die Augen des Mannes verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Wir wollen nur ein paar Antworten … ihre Hilfe. Wir … suchen Butschi.“ „Und da Sie letzte Nacht zum Fischen draußen waren – warum sonst würden Sie bei einem solch heftigen Gewitter rausfahren –, haben Sie vielleicht auch die Ghost, das Geisterschiff, gesehen?“ Sandra wusste, dass ihre Frage gefährlich war. Sie kam fast einer Unterstellung gleich. „Die Ghost? Ihr tickt ja nicht richtig. Zu viel Fernsehen!“ Der Mann spuckte auf den Steg. „Sie haben Robin doch gewarnt?“, ließ Armin nicht locker. „Robin? Ich kenne keinen Robin. Und ich fische niemals in der Nacht, klar. Schon gar nicht in der gefährlichen Strömung bei den California-Dünen. Haut ab.“ „Aber Sie heißen doch Ruben Ras?“ Der Mann drehte sich wortlos um und ließ den Motor an. „Ghost! Treibt eure dummen Scherze mit anderen, sonst quatsche ich ein paar Takte mit der Polizei.“ Dann klatschte ein dritter, wesentlich kleinerer Hai SAM vor die Füße. Der Motor der Seeteufel heulte auf, das Boot wendete und brauste auf das offene Meer hinaus. 30
„Lässt seinen Fang hier liegen und haut einfach ab“, murmelte Sandra. „Wirklich ein merkwürdiger Typ.“ „Kommt, wir frühstücken erst mal was Ordentliches.“ Marios Magen knurrte. „Seid ihr sicher, dass das Ruben Ras war?“, fragte Armin. „Einen goldenen Anker als Ohrring kann jeder tragen –“ „Die Frage wird uns Robin beantworten“, grinste Sandra und tippte auf die Digitalkamera. 36 Minuten später saßen SAM und Robin in Onkel Rudis Wohnküche und verschlangen ein üppiges Frühstück aus Mangofrüchten, Kiwis, Kokosnussmilch, getoastetem Brot, als Getränk gab’s Tee. Gespannt blickte Robin auf das Display der Digitalkamera. „Ja“, sagte er. „Das ist der Fischer, der mich vor dem Geisterschiff gewarnt hat.“ „Hm … sonderbar.“ Armin rieb sich das Kinn. „Ruben hat steif und fest behauptet, nachts niemals zu fischen. Und schon gar nicht vor den California-Dünen.“ „Was nun?“ Mario machte sich über eine Kiwi her. „Welche Fische hat Ruben gefangen?“, fragte Robin. „Haie. Warum?“ „Sieh an. Haie – sehr aufschlussreich. Wartet hier auf mich. Ich bin in einer Stunde zurück!“ Robin sprang auf. „Wa … was?“ „In einer Stunde! Ich glaub, ich hab da was sehr Interessantes –“ Robin schoss wie der geölte Blitz auf seinem Rad davon. 31
Unterdessen bog in Oranjestad eine Gestalt in eine schmale Seitengasse der Emmastraße ein. Im Schutz einer Eingangstür und hinter vorgehaltener Hand grunzte sie besorgt in ein Handy: „Die drei Schnüffler beginnen Fragen zu stellen.“ Die Gestalt hatte soeben das Madame Janette mit frischen Fischen beliefert und auf dem Weg ins Chalet Suisse bei Onkel Rudis Haus vier Fahrräder stehen gesehen. „Trottel!“, drang eine eiskalt klingende Stimme aus dem Mobiltelefon. „Das Unternehmen mit dem Jungen lief genau nach Plan. Mit der anderen Sache hat er überhaupt nichts zu tun. Und du schießt auf seinen Kläffer. Ich hab befohlen: Keine Hunde von Besitzern, nur Straßenköter. Jetzt sind beide Unternehmen gefährdet – Idiot!“ „Aber ich …“ „Schnauze! Dem Jungen darf nichts passieren. Er ist unsere einzige Chance, kapiert! Dämlicher Affe! Die anderen drei lass unauffällig verschwinden – für immer. Aber es muss wie ein Unfall aussehen, verstanden! Wenn du wieder Mist baust, landest du bei den Haien!“ Die Verbindung wurde unterbrochen. Mit zitternden Knien tauchte die Gestalt, sie war von bulliger Statur, in der Menschenmenge, welche die Emmastraße bevölkerte, unter. Exakt eine Stunde später klingelte Robin an Onkel Rudis Haus – Bubali 79 E. Sandra öffnete. Armin und Mario platzten schon vor Neugier. Sie legten ihre Bücher zur Seite. „Schieß los!“, drängte Armin ungeduldig. 32
„Wie wär’s erst mal mit einem Glas Wasser“, sagte Robin und setzte sich an den Tisch. Sandra füllte ein Glas und ließ sich bei den Jungs nieder. Robin nahm einen kräftigen Schluck. Dann zog er unter seinem T-Shirt die Diario, eine von Arubas Tageszeitungen, hervor. Er breitete sie auf dem Tisch aus. „Da staunt ihr, was!“ Die Titelseite entlockte SAM ein anerkennendes „Alle Achtung“ für Robin. „Ich wusste, ich hab ihn schon mal gesehen“, sagte Robin. Groß und stolz lachte Ruben vom Titelblatt der Diario. Das Foto zeigte ihn in den California-Sanddünen. Zu seinen Füßen lag ein riesiger Hai. Siegreich posierte Ruben mit einem Fuß auf dem gewaltigen Räuber. „Das ist sicher an der Nordküste?“, fragte Sandra. Robin tippte auf den Hai. „Im Süden Arubas, an den Badestränden, gibt es keine Haie. Das Wasser ist zu warm. Man fängt sie nur draußen vor der Nordküste.“ „Tolle Arbeit, Robin!“, freute sich Armin und klopfte ihm auf die Schulter. „Ruben ist unser Mann.“ „Ja, aber da ist noch etwas“, unterbrach Robin die überschwängliche Freude. „Etwas, das ich euch bisher verschwiegen habe –“ SAM stutzten. „Ich … ich habe die Ghost schon drei Mal gesehen!“ Sandra riss erstaunt die Augen auf. „Okay, langsam.“ Mario versuchte Ordnung in die Runde zu bringen. „Alles schön der Reihe nach.“ 33
„Aber zu niemandem ein Wort, klar“, sagte Robin. „Klar“, antworteten die drei. Robin räusperte sich. „Ich laufe oft mit Butschi die California-Sanddünen entlang, lass ihn Holzstücke apportieren. Meistens dienstags oder freitags. Dabei fiel mir schon öfters ein Fischerboot draußen beim Wrack der California, die vor zig Jahren da gesunken ist, auf.“ „Die Seeteufel“, vermutete Sandra. „Möglich. Aber irgendetwas – ich wusste nicht genau was – stimmte mit dem Boot nicht. Und dann ist es mir aufgefallen: Ich hab nie ausgelegte Angeln oder Netze gesehen.“ „Merkwürdig“, grübelte Mario. „Ich beobachtete es, dachte, jemand sei in Seenot geraten und brauche vielleicht Hilfe. Erst tat sich nichts. Doch dann … dann tauchte aus dem Schwarz der Nacht ein Schiff auf – grünlich und violett schimmernd … ein Piratenschiff … die Ghost!“ „Wie sah die Ghost genau aus?“, fragte Armin voll Neugier. „Gespenstisch, heruntergekommen und wie aus einer längst vergessenen Zeit zurückgekehrt, durchpflügte sie die Wellen. Segel hingen in Fetzen an den Rahen. Seltsame Laute drangen an Land …“ „Laute?“ Sandra spitzte die Ohren. „Es klang wie … wie Kampflärm.“ „Kampflärm?“ Armin glaubte, sich verhört zu haben. „Ich weiß, ihr denkt, ich tische euch ein Märchen auf. Aber ich hab die Ghost mit eigenen Augen gesehen. Scheinbar herrenlos durchschnitt sie die Wellen. Unheim34
lich. Und dann, wie von Geisterhand, verblasste der Schimmer. Schwächer und schwächer wurde die Leuchtkraft – plötzlich war die Ghost verschwunden.“ „Einfach weg?“, fragte Mario. „Ja. Als hätte das Meer die Ghost verschluckt.“ „Das ist mehr als merkwürdig“, grübelte Sandra. „Also, ich glaub nicht an Geister“, sagte Armin. „Aber wenn seit geraumer Zeit ein Geisterschiff auftaucht, ein Fischer sich nachts auf dem Meer rumtreibt, ohne zu fischen, Hunde auf mysteriöse Weise verschwinden und später wieder auftauchen, dann steckt da mehr dahinter als bloße Zufälle und Märchen.“ „Du meinst, da spielt jemand ein falsches Spiel?“, forschte Robin nach. „Ja.“ „Aber wozu?“ „Das werden wir rausfinden – noch heute Nacht!“ Robin sah SAM verständnislos an. „Wir gehen auf die Jagd“, sagte Armin zu ihm. „Auf Geisterjagd!“
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Gespenstisch
Robin war nicht wohl, als sie am Abend aufbrachen. Ein Gewitter war angesagt, aber noch zeigten sich wenig Wolken. Langsam tauchte die Sonne am Horizont in den Wellen unter und Dunkelheit umfing die Abenteurer. Der Wind frischte auf und dicke Wolken zogen rasch näher. Vereinzelt spiegelten sich glitzernde Sterne als flirrende Lichtpunkte auf der Wasseroberfläche. Bald würden sie von schweren Wolken und Regenschleiern verdeckt sein. Onkel Rudi hatte SAM und Robin sein Motorboot geliehen. Sie wollten den Sonnenuntergang vom Meer aus erleben und ihn fotografieren, hatten sie ihm gegenüber behauptet. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Die vier Detektive hatten einen anderen, einen gefährlicheren Plan. „Onkel Rudi darf nie rauskriegen, was wir tun“, sagte Sandra zu Armin, der neben ihr am Meeresufer stand. Sie blickte durch das Nachtglas auf das Meer hinaus. Dann schwenkte sie den Feldstecher Richtung California-Dünen, wo Mario und Robin in Deckung gegangen waren. Noch einmal wurden die vereinbarten Geheimzeichen getestet. Falls etwas Unvorhergesehenes passierte, konnten diese lebensrettend sein. Robins Taschenlampe ging an. Er zeichnete einen Kreis 36
in die Nacht. Ein Kreis bedeutete: alles okay. Keine Gefahr. Sandra bestätigte mit einem Kreis. Mario schwenkte seine Lampe senkrecht auf und ab. Senkrecht auf und ab hieß: weitermachen. Armin bestätigte. Dann folgte Robins wellige Schlangenlinie. Die wellige Schlangenlinie signalisierte: Gefahr, abhauen! Bestätigt. Die Lichter erloschen. Die vier wollten nicht unbedingt entdeckt werden. In der Zwischenzeit hatte es zu regnen begonnen und in der Ferne grollte bereits der Donner. „Wenn das nur mal alles gut geht“, seufzte Robin, während er den Reißverschluss seines Wetterzeugs hochzog, die Hutkrempe nach unten bog und sich ein bisschen angewidert im Sand niederließ. Mario murmelte etwas Unverständliches und legte sich neben Robin in den Sand. Sandra stieg in das Motorboot und stieß es ab. Armin ließ den Motor an. Die beiden tuckerten auf das offene Meer hinaus. „Falls die Ghost tatsächlich auftaucht, heften wir uns an ihre Fersen“, sagte Armin. „Bin gespannt, was uns an Bord erwartet.“ „An Bord!“, rief Sandra bestürzt. „Sag bloß, du willst auf diesen Gespensterkahn!“ „Was sonst?“ „Wir wollten nur ein paar Fotos schießen. Um den Rest soll sich die Küstenwache kümmern.“ „Die Küstenwache? – Die würden die Bilder als Foto37
montagen abtun und uns auslachen. Außerdem gibt es weder die Ghost noch Geister-Piraten. Wenn hier draußen etwas existiert, dann lässt es sich mit Hausverstand, Logik und der Physik ganz natürlich erklären.“ Hier draußen! Erst jetzt merkte Sandra, dass die Küste kaum mehr auszumachen war. Armin spähte durch das Fernglas. „Bin gespannt, ob Ruben auch heute, Dienstagnacht, hier draußen auftaucht?“ „Bei diesem Sauwetter?“ Sandra hielt sich an der Bordwand fest. Die Wellen gingen mittlerweile höher. Mario und Robin beobachteten in der Zwischenzeit den Strand und den Horizont. Von Sandra und Armin war nichts mehr zu sehen. „Hast du das gehört?“, flüsterte Robin plötzlich. Beide lauschten angestrengt. „Ich glaub, es kommt von dort drüben. Vom Meer“, murmelte Robin. „Was denn?“, zischte Mario. „Ein … ein Motorengeräusch …“ Robin spitzte die Ohren noch genauer. „Jetzt ist es weg.“ „Der Wind spielt uns einen Streich“, war sich Mario sicher. Zu sicher. „Mist!“, fluchte Armin und hämmerte mit der Faust auf die Bussole. „Der Kompass ist kaputt. Und weit und breit nichts zu sehen. Wir müssen ziemlich weit draußen sein, wenn das Licht vom California-Leuchtturm nicht mehr zu sehen ist. Wie sollen wir da wieder zurückfinden?“ Sandra antwortete nicht sofort, sie beobachtete durch ihr Nachtglas das Meer. Dann bemerkte sie mit brüchiger 38
Stimme: „Wir haben vielleicht gleich ganz andere Sorgen, Armin – siehst du das?“ Sie deutete voraus. Armin griff nach seinem Fernglas und blickte in die angegebene Richtung. „Das … das gibt’s ni…, unmöglich!“, stammelte er. Dann fasste er sich: „Ein Licht …, aber Leuchtfeuer kommen nicht näher“, sagte Armin. Er ließ den schnell größer werdenden hellen Punkt nicht aus den Augen. Er leuchtete nicht weiß, wie die Begrenzungslichter von Frachtschiffen, auch nicht rot, wie Leuchtturmsignale – er schillerte in GRÜN! Sandra verschlug es fast den Atem. Ein Totenkopf starrte ihr durch den Feldstecher entgegen – und er glich aufs Haar jenem, den sie am Tag zuvor in Alberto Maduros Souvenirladen gesehen hatte und der zur Galionsfigur der Ghost gehören sollte. „Die Ghost!“, rief Sandra entsetzt. „Sie existiert!“ „Einfach irre“, hauchte Armin. Durch das Heulen des Windes hindurch vernahmen sie das Ächzen und Knarren von Holzplanken. Langsam steuerte der mächtige Dreimaster auf sie zu. Kein Segel blähte sich im Wind, schlaff hingen die zerschlissenen Segelfetzen von den Masten. – Ein gespenstischer Anblick! Sandra und Armin zweifelten an ihrem Verstand. Dann war das Schiff auf gleicher Höhe mit ihnen, die Planken der Ghost waren zum Greifen nahe. Armin fasste wieder einen klaren Gedanken. Er griff zum Handy. „Mario, Robin … die Ghost! Sie … sie ist wie aus dem Nichts aufgetaucht!“ Es rauschte. Dann war Marios Stimme zu hören: „Seid ihr seekrank? Von …ier aus nicht … zu seh…“ 39
Die Telefonverbindung wurde schlechter. „Wir versuchen an Bord zu …“ „Ich … nichts höre …“ Dann war die Leitung tot. „Mist!“ „Du willst an Bord?“ Sandra glaubte sich verhört zu haben. „Hast du einen besseren Plan?“ Armin griff nach einem Seil, an dessen Ende ein Haken befestigt war, und warf es nach der Ghost. Der Haken fing sich an der Hecklaterne der Ghost. Das Seil spannte sich und ihr Boot wurde herumgeworfen. Eine große Welle schwappte über sie hinweg. Mit kräftigen Armzügen zog Armin ihr Boot näher an die Ghost heran, vertäute das Seil geschickt am Bug ihres Bootes, kletterte das Tau nach oben und hievte sich über die Reling des Dreimasters. Sandra kletterte ihm nach, während das Meer unter ihr toste. Die Ghost war das unheimlichste Schiff, das sie je betreten hatten.
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Der schwarze Mann
Kaum an Bord der Ghost, gingen sie an der Reling in Deckung. Sie hatten das Gefühl beobachtet zu werden. Am Hauptmast schlug die Piratenflagge, an der Rah darunter schwang ein Galgen im peitschenden Wind. „Hörst du das?“, fragte Sandra Armin. Er nickte: „Wir sollten lieber doch nicht hier sein –“ Sandra öffnete ihren Detektivgürtel und holte ihre Digitalkamera hervor. Sie spürte ein gruseliges Kribbeln im Magen. Lebte irgendetwas auf der Ghost? Wieder diese Laute. Nur leise, aber zweifellos – Stimmen! Oder doch nur Geräusche? Am Heck des Schiffes flammte flackernder Kerzenschein auf. Aus der Kapitänskajüte drangen zwei laute Männerstimmen. Sandra und Armin richteten sich auf und schlichen an die Kajüte heran. Sie konnten nicht genau hören, wovon die Rede war. Nur ein Wort fiel mehrmals, und das konnten sie verstehen: Gold. Sie gingen in die Knie und pressten ihre Ohren an die Holzwand der Kapitänskajüte: „Wo hast du Halunke meinen Schatz versteckt? Moore, du Ausgeburt der Hölle! Entweder du verrätst es mir hier und jetzt oder ich nehme mir dein Logbuch mit Gewalt und werfe dich einäugigen Hund den Haien zum Fraße vor!“ Der Mann hatte eine eiskalte Stimme. 41
„Die Golddublonen gehören mir, Morgan!“ „Nie und nimmer!“ „Doch, denn Gold für verkaufte Sklaven ist Unrechtes Gold.“ „Moore, eines Tages schneide ich dir die Zunge raus und hänge dich an die Großrah, auf dass deine verfluchte Seele bis in alle Ewigkeit keine Ruhe finde. Wo sind meine Golddublonen?“ „Ihr könnt die ganze Ghost durchsuchen, Morgan. Nicht eine Dublone werdet Ihr finden.“ Jemand schlug mit einer Faust auf einen Tisch. „Elender Hund!“, brüllte die kalte Stimme. Etwas fiel um. Gleich darauf klirrten Messer. Kampfgeschrei ertönte. Wieder klirrte es. Dann donnerte ein Schuss. Sandra und Armin, noch immer an der Wand lauschend, fuhr der Schrecken in die Glieder. Ein gequältes Stöhnen drang aus der Kapitänskajüte. Ein zweiter Schuss knallte. „Ahrrrggg!“ Ein Wimmern. Irgendwer fiel zu Boden. „Ich verfluche dich, Henry Moore, – dich, deine Mannschaft und dein Schiff! Bis eines Tages jemand die Ghost betritt und deine Seele durch dessen Tod die Ruhe findet, sollst du auf dem karibischen Meer rastlos umherirren …“ Die kalte Stimme erstarb. „Dein Tod ist der Lohn für deine Untaten, Ben Morgan. Wer Menschenleben zerstört, wird selbst zerstört –“ Dann polterte etwas zu Boden. In der Kajüte war es totenstill. „Da drinnen liegen zwei tote Männer“, hauchte Armin. „Und wir sind Mordzeugen!“ 42
Sandra schluckte. „Ich mach ein Foto als Beweis.“ „Spinnst du! Vielleicht ist da noch ein Dritter?“ Sandra erhob sich langsam und tastete sich vorsichtig ans Kajütenfenster heran. Angespannt warf sie einen Blick in das Innere. Armin bemerkte, wie sich ihre Augen weiteten. Sandra winkte ihn heran. Armin blieb der Mund offen stehen, nachdem er ein Auge in das Quartier des Kapitäns riskiert hatte: Die Kajüte war leer! Verwirrt sahen sie einander an, ihre Gedanken rasten. Ein weiteres Geräusch ließ sie zusammenzucken und herumfahren. Alle Farbe wich aus ihren Gesichtern. Am Bug war eine Strickleiter über die Reling geworfen worden und jemand kletterte an Bord hoch. Es blieb keine Zeit mehr, um zu ihrem Boot zurückzukommen. Eine schwarze Gestalt schwang sich über die Reling. Sandra und Armin huschten in den Schatten eines großen Fasses. Kurz zuckte ein Blitz. Die Gestalt war im Regen schwer auszumachen, aber sie schien bullig zu sein. Keuchend zog der Unbekannte etwas Schweres an Bord. Dann noch etwas und noch etwas. Er rastete, so schwer fiel ihm seine Arbeit. Sandra brauchte ein Foto. Sie schaltete den Blitz der Kamera aus und drückte auf den Auslöser. Ihr Ellbogen stieß gegen einen harten Gegenstand. Im selben Moment krachte der Deckel des Fasses auf das Deck. Sandra und Armin erstarrten.
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Der Ankömmling fuhr herum. Seine Augen waren nicht zu sehen, aber Sandra und Armin spürten, dass der Fremde in ihre Richtung blickte. Er verharrte reglos. Er trug schwarze Regenkleidung, sodass es schien, als wären es Schatten anstatt Fleisch und Knochen, die das Gewand zum Leben erweckten. „Wenn er jetzt zum Heck kommt …“ Sandra versuchte den Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen. Noch immer stand der Unbekannte da und starrte in ihre Richtung. Eine Windböe fegte über die Ghost hinweg und riss wie eine unsichtbare Geisterhand an den Segelfetzen, die im Wind knatterten. Der Mann blickte hoch, drehte sich dann um und zog noch einmal etwas an Bord. Anschließend verschwand er wieder über die Reling. Die Strickleiter wurde eingeholt. Kurz heulte ein Motor auf. Dann war bis auf den pfeifenden Wind nichts mehr zu hören. Sandra und Armin warteten noch einige bange Minuten, ihr Atem ging flach. Dann lösten sie sich aus ihrer Starre und schlichen geduckt zum Bug vor. „Ich glaub, ich spinne!“, entfuhr es Sandra, als sie erkannte, was der Mann an Bord gebracht hatte. „Ich … ich fasse es nicht!“ Armin staunte nicht minder überrascht. Es waren vier. Und sie lagen da, fein säuberlich nebeneinander, als schliefen sie fest. „Glaubst du, sie sind tot?“, fragte Sandra. Sie wusste, wie sehr Armin Tiere liebte. Schon als kleines Kind war er gemeinsam mit Hunden, Katzen und Vögeln aufgewachsen. Jetzt half er seinem Vater oft in der Tierklinik. Der 45
Anblick der vier leblos daliegenden Hunde musste für ihn furchtbar sein. „Bestimmt sind sie nur bewusstlos, Armin“, schwächte Sandra ab. „Hoffentlich.“ Vorsichtig tippte Armin einen nach dem anderen an, aber keiner der Hunde reagierte. „Dieser miese Typ, ich könnte ihn …“ „Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Wer der Unbekannte wohl war?“, unterbrach ihn Sandra. „Ein Glück, dass er nicht auf unserer Seite angelegt hat! Komm, ich mach noch ein paar Bilder vom Boot aus. Wir können hier nichts mehr tun, – die Hunde, sie sind zu schwer, als dass wir sie mitnehmen könnten.“ Armin nickte. Sie kletterten am Seil wieder zu ihrem Boot hinunter, das heftig auf den Wellen schaukelte. „Wie fährt die Ghost überhaupt?“, fragte Armin, während er sich am Außenbordmotor zu schaffen machte. „Ich hab keinen Motor gehört und mit den verrotteten Segeln … und wie wird sie gesteuert?“ „Das ist nur eine der vielen offenen Fragen“, antwortete Sandra. Sie wollte ein Foto schießen, als sie eine Veränderung an der Ghost bemerkte. Das grünliche Leuchten des Schiffes verblasste, wurde schwächer. Die Ghost nahm Fahrt auf, wurde schneller. Lautlos. Ihr Boot wurde mitgerissen. „Schnell, wir kentern!“, schrie Sandra. Da stürzte auch schon die erste große Welle wie eine riesige Hand auf sie ein. „Kapp das Seil! Wir ertrinken!“ Armin fingerte sein Messer aus dem Detektivgürtel. 46
Das Seil spannte so stark, dass Sandra es nicht lösen konnte. „Mach schon!“, rief sie verzweifelt. Armin klappte fahrig die Klinge aus, als eine zweite hohe Welle über sie hereinbrach. Armin wurde das Messer aus der Hand gespült und es fiel zu Boden. Wieder riss die Ghost wild an ihrem Boot. Ein heftiger Ruck. Armin stürzte und ein stechender Schmerz durchzuckte seine linke Schulter. „Mach endlich!“ Fieberhaft tastete er nach dem Messer. Da lag es. Er griff zu, zog sich mühevoll auf die Beine und taumelte zum Seil vor. „Zur Seite! Wenn es reißt, schießt es wie eine Rasierklinge durch die Luft!“, brüllte er Sandra zu. Die Ghost schien noch schneller zu werden. Mit letzter Kraft kappte Armin das Seil, begleitet von einem Knall, als das Tau durch die Luft wirbelte. „Lass den Motor an, Sandra. Wir müssen der Ghost nach!“ „Verdammt, was passiert da?“, rief Sandra. Das die Ghost umflirrende Grün nahm jetzt schnell ab. „Sie löst sich auf!“ „Schnell, wirf den Motor an, sie ist gleich verschwunden!“ Doch Sandra hatte sich für ein Foto entschieden. Sie drückte auf den Auslöser, klick – zu spät! „Wo ist die Ghost hin?“, fragte Armin. Er hastete zum Außenbordmotor. „Weg. Spurlos verschwunden!?“, sagte Sandra verwirrt. Sie versuchten noch etwas zu erkennen, doch nichts war 47
vom Dreimaster mehr zu sehen, nichts war zu hören – nur das vorüberziehende Gewitter schickte letzte Blitze durch die Nacht. „Was jetzt, Sandra?“ „Zurück zu Mario und Robin.“ Armin blickte Sandra vielsagend an. – Der Kompass war kaputt und die Telefonverbindung zu Mario war ja zuletzt auch abgebrochen. Und sie waren weit draußen auf dem offenen Meer. Hier fuhren riesige Frachtschiffe und Öltanker – Schiffsriesen, die ein so kleines Motorboot wie ihres in der Dunkelheit womöglich gar nicht bemerkten, so wie ein Elefant eine Mücke.
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Das Ding der Tiefe
„Wir sitzen wieder mal bis zum Hals in der Tinte“, murrte Sandra. „Und wahrscheinlich treibt uns die Strömung noch weiter hinaus, wo es von Haien nur so wimmelt. Oder wir verdursten in der Tageshitze!“ Manchmal sah Sandra ein bisschen schwarz. „Wir schaffen das schon irgendwie“, versuchte Armin ihr Mut zu machen. Insgeheim hatte aber auch er nicht viel Hoffnung, heil aus dieser Notlage zu entkommen. Die See kannte keine Gnade. Die einzige Chance, ohne Kompass und bei wolkenverhangenem Himmel zurückzufinden, bestand in den Ratschlägen, die ihm mal ein erfahrener Schiffskoch gegeben hatte. Überlebenswichtige Tipps, um auf offener See oder nach Schiffbruch überleben zu können. Halte eine Taschenlampe, einen Spiegel oder ein grelles Kleidungsstück als Flagge bereit, um Signal geben zu können, wenn ein Boot auftaucht. Sandra und Armin holten ihre Taschenlampen aus den Detektivgürteln. Aber die Freude war verfrüht. Anscheinend war bei ihrem Abenteuer zu viel Salzwasser in die Lampen eingedrungen und sie funktionierten nicht mehr. Weiße Haufenwolken bilden sich oft über Land. Schimmern sie in den Tropen an der Unterseite grünlich, kann 49
das eine Lichtspiegelung von Korallenriffen und seichtem Wasser sein. Tiefes Wasser ist dunkelblau oder dunkelgrün. Wird es heller, kann Land in der Nähe sein, da Wasser zum Land hin immer seichter und somit immer heller wird. Schwimmende Kokosnüsse, Seetang … können Anzeichen für Land sein. Wolken bilden sich oft um den Gipfel einer Insel – sie bewegen sich kaum. Man erkennt sie leicht, da andere Wolken an ihnen vorüberziehen. In der Dunkelheit war natürlich nichts auszumachen. Armin spürte, wie ihm vom Wellengang allmählich übel wurde. Iss und trink nichts, wenn du seekrank wirst Leg dich hin und ändere oft die Lage deines Kopfes, das pendelt deinen Gleichgewichtssinn aus. Zum Hinlegen war keine Zeit. Onkel Rudis Boot war für Küstengewässer gebaut und sie waren froh, dass das kleine Boot nicht kenterte. „Armin?“ „Ja.“ „Glaubst du an Geisterschiffe?“ „Natürlich nicht. Wenn wir das Foto von dem Unbekannten haben, ist das vielleicht eine konkrete Spur. Irgendjemand treibt da ein verdecktes Spiel. Warum schleppt jemand nachts tote – oder betäubte! – Hunde auf ein Piratenschiff, das grün leuchtet und kurz darauf spurlos verschwindet?“ „Das Foto übernehme ich“, sagte Sandra. „Falls wir das hier überhaupt lebend übersteh…“ Sie stockte und starrte 50
mit zusammengekniffenen Augen auf die Wasseroberfläche neben dem Boot: „Da … da kommt was direkt auf uns zu, Armin!“ Ein Licht tauchte aus der Tiefe auf, wurde immer größer. Ehe Armin etwas unternehmen konnte, traf ein gewaltiger Schlag den Bug ihres Schiffes. Sandra schrie auf. Um ein Haar wäre sie über Bord gegangen. Das Licht breitete sich jetzt wie ein riesiges Seeungeheuer dicht neben dem Boot aus und schwebte einen halben Meter unter der Wasseroberfläche. Mit einem ohrenbetäubenden Tosen schob sich etwas aus dem Wasser. Langsam wurde ein Name lesbar: N-A-U-T-I-L-U-S. „Ein U-Boot!“, rief Sandra verwundert. „Hart backbord, schnell!“ Ein zweiter Stoß erschütterte ihr Boot und kickte es wie einen Fußball zur Seite. Armins Ausweichmanöver kam zu spät. Mächtig baute sich ein Berg aus hellem Licht vor den beiden auf. Die Bugwelle und der folgende Sog wirbelten das Boot der beiden im Kreis. Wasser schwappte über. Sandra und Armin hielten sich irgendwie fest. Ein leises Summen ertönte und ein Sehrohr schwenkte auf die zwei. Sekunden später ertönte eine metallen klingende Lautsprecher stimme: „Ihr spinnt wohl! Mit dieser Nussschale und bei dem Wind nachts überzusetzen. Die Nautilus hätte Leck schlagen können. Dann wäre ich hier unten jämmerlich ersoffen wie eine Kanalratte!“ „Entschuldigen Sie, es …“, rief Armin so laut er konnte. „Wer keinen Kompass lesen kann, sollte stricken oder auf kleine Kinder aufpassen, aber nicht zur See fahren.“ 51
„Unser Kompass ist defekt“, schrie Armin zurück. Er konnte niemanden ausmachen. „Wir wollten den Sonnenuntergang vor der Küste Arubas fotografieren, als uns der Sturm überraschte.“ „Aruba?“, drang es zurück. „Ihr seid hier aber weit von Aruba entfernt. Ein Wunder, dass euer Kahn das überstanden hat und ihr nicht schon längst im Magen eines Hais verdaut werdet!“ „Wir wollten ja zurück, aber dann tauchte plötzlich dieses grün schillernde Geisterschiff auf. Die Ghost!“, rief Sandra hinüber. „Ein Geisterschiff? Lasst die Finger vom Kokain. Das Rauschgift ruiniert euren Körper und vernebelt euer bisschen Hirn!“ „Wer sind Sie und was machen eigentlich Sie hier draußen bei Sturm und Nacht?“, rief Armin. „Eine Nachtfahrt für Nichttaucher. Korallenriffe und die Unterwasserwelt bestaunen – vor der Küste Venezuelas. Kommt an Bord. Hier seid ihr sicher vor dem Unwetter! Euer Boot nehme ich ins Schlepptau. Ich mache es an einem Aufbau fest.“ Armin warf den Motor an und fuhr vorsichtig an die Nautilus heran. Ein Mann kletterte aus der Luke und warf ihm ein Seil zu, an dem er ihr Boot an das U-Boot heranzog. Dann vertäute er das Boot an einem Aufbau auf der Nautilus. Er musste Acht geben, nicht weggespült zu werden. Dann half er Sandra und Armin auf das U-Boot und gemeinsam stiegen sie durch die Luke im Turm in die Nautilus hinab. Der Mann folgte als Letzter und verschloss den Einstieg. 52
Die Nautilus war kein gewöhnliches Unterseeboot. Ihre Seitenwände bestanden aus großen, runden Panzerglasscheiben – Bullaugen, durch die man die Unterwasserwelt betrachten konnte. Bei ruhiger See konnte man durch sie seelenruhig bunte Fische in den märchenhaftesten Formen bewundern, farbenprächtige Korallen entdecken oder sogar das Wrack eines längst versunkenen Schiffes auf dem puderweißen Meeresboden ausfindig machen. Doch jetzt war das Meer aufgewühlt und die Nautilus hatte über Wasser Fahrt aufgenommen. Über dem Eingang zur Steuerzentrale – sie lag gleich neben dem Sonarraum – stand: Bon bini! Willkommen bei Adventure-Tours! Genießen Sie den Nervenkitzel einer Abenteuer-Tauchfahrt in eine geheimnisvolle, fremde Welt. „Ahoi an Bord“, sagte eine freundliche Männerstimme hinter ihnen. Der Mann, der Sandra und Armin geholfen hatte, schälte sich aus seinem Ölzeug. „Geht ruhig weiter“, fuhr der Mann fort. „Bon bini auf der Nautilus. Carlos Tromp, mein Name.“ Carlos hatte ein mageres, kantiges Gesicht mit unruhigen Augen unter dichten Brauen, glattes schwarzes Haar, einen schmalen, fast lippenlosen Mund. Er sah aus, wie Kinder sich einen übergenauen Professor vorstellten. Doch seine Augen blitzten wach und listig. Er trug ein dunkelblaues T-Shirt auf dem Adventure-Tours stand. „Setzt euch.“ Sandra und Armin kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ringsum zeigten Monitore die Welt um die Nautilus. Hebel, Knöpfe und Schieber ragten aus dem Steuerpult des Unterwassergefährts. 53
„Gehört die Nautilus Ihnen?“, fragte Armin neugierig. „Ebenso wie mein Reiseunternehmen Adventure-Tours, das Divi-Casino und Tromp-Land, meine Luxusvilla an der Küste Venezuelas. – Noch ein Dutzend Seemeilen näher an der Küste Venezuelas und bei klarer Nacht hättet ihr sie sehen können. Ihr erkennt sie sofort an ihren beiden gelben Türmen. Ihr wart mit eurer Nussschale eigentlich gar nicht mehr so weit von Venezuela entfernt. Ihr habt wirklich Glück gehabt … hätte nicht gedacht, dass ich auf meinem Rückweg noch Passagiere bekomme.“ „Dann hat uns die Strömung so weit getrieben?“, fragte Sandra mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. „Wohl zum ersten Mal in der Karibik?“ „Ja“, antwortete Armin. „Sprachferien – notgedrungen.“ „Ein Wunder, dass ihr nicht gekentert seid“, sagte Carlos. „Einen solchen Ausflug würde ich an eurer Stelle nie wieder riskieren. Wo soll ich euch absetzen?“ „Bei den California-Sanddünen, bitte“, sagte Armin. „Okay“, antwortete Carlos Tromp knapp. Dann fuhr er das Sehrohr ein und die Nautilus nahm Kurs auf Aruba. Unterdessen plagten Mario und Robin entsetzliche Gewissensbisse. Sie harrten schon sehr lange aus. Nicht auszudenken, wenn … „Da!“, rief Mario. „Auf dem Wasser –“ Robin spähte durch sein Fernglas. Der Anblick verlieh ihm neue Hoffnung. „Die Nautilus von Adventure-Tours! Mit einem Boot im Schlepptau!“ Und wenig später, als die Luke des Kommandoturms aufging, zwei Personen in das Boot kletterten, dem Mann 54
im Turm zuwinkten und Richtung Land tuckerten, fiel den beiden ein Stein vom Herzen. Sie rannten los. „Gott sei Dank! Ihr lebt!“, rief Mario mehr als erleichtert. „Was ist passiert?“ Robin platzte fast vor Neugier. „Das glaubt ihr uns sowieso nicht“, sagte Armin trocken. „Na, raus mit der Sprache!“ „Steigt ins Boot“, forderte Sandra Mario und Robin auf. Langsam legte sie ab. Als etwas Ruhe eingekehrt war, berichteten Sandra und Armin in allen Einzelheiten. „Vielleicht könnte Carlos Tromp etwas gesehen haben?“, meinte Robin. „Richtig“, stimmte Armin ihm zu. „Genau deshalb sollten wir ihm einen Besuch abstatten.“ „Aber erst morgen“, sagte Mario. „Ich bin hundemüde. Ich will jetzt nur ins Bett.“ „Mich würde außerdem interessieren, wo Ruben heute Nacht war“, sagte Sandra unruhig. So klang Sandra nur, wenn sie einen Verdacht hatte. Und sie hätte ihre Unruhe ernster nehmen sollen – viel ernster.
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Der schleichende Tod
Es war drei Uhr nachts und es hatte zu regnen aufgehört. Die Temperatur betrug noch immer an die 25 Grad Celsius, die Luft war schwül. Mehr als ein T-Shirt und eine kurze Hose benötigte man auf Aruba nicht. Ewiger Sommer, täglich strahlend blauer Himmel. Das Paradies für kältegeplagte und regenmüde Europäer und Amerikaner. Onkel Rudis Boot lag wieder sicher befestigt im Hafen. SAM und Robin machten sich auf den Heimweg. Ein sehr langer „Sonnenuntergang“ lag hinter ihnen und eine gute Ausrede war mehr als gefragt. In der „Alten Mühle“, wo Ruben wohnte, brannte kein Licht, als sie vorbeiradelten. „Sicher lungert er in einer Bar herum oder liegt sogar irgendwo, voll mit Rauschgift, weggetreten in einer Scheinwelt. Wenn man bloß alle Händler erwischen könnte“, dachte Sandra. „Dann würden viele Menschen nicht in diese heimtückische Falle geraten und ihre Gesundheit damit zerstören. Schon komisch! Das mit den Drogenhändlern ist heute fast so wie mit dem Sklavenhandel zur Piratenzeit. Der Untergang der einen ist der Reichtum der anderen. Was für eine verkehrte Welt. Aber schließlich liegt es an jedem selbst, die Finger vom Rauschgift, von diesem schleichenden Tod zu lassen. Hm, warum mir das gerade jetzt einfällt?“ 56
„Merkwürdig, was ihr da erlebt habt“, sagte Robin und riss Sandra damit aus ihren Gedanken. „Geister gibt es nur im Kino“, antwortete Armin. „Hier ist was faul. Und wir werden rausfinden, was!“ Auf der Hauptstraße trennten sich ihre Wege. Robin verabschiedete sich. Er hoffte, dass seine Ausrede mit der Reifenpanne und dem Unterschlupf, um dem Sturm aus dem Weg zu gehen, funktionieren würde. SAM überquerten einen Kreisverkehr und bogen auf dem Weg zu Onkel Rudis Haus in eine dunkle Straße ein, gesäumt von mannshohen Kakteen und Divi-Divi-Bäumen. Straßenbeleuchtung gab es so gut wie keine. Der Fremde, der hinter dem Steuer der schwarzen Limousine auf SAM lauerte, hatte seinem Plan folgend die Scheinwerfer seines Fahrzeuges nicht eingeschaltet. „Es muss wie ein Unfall aussehen!“, zuckten wirre Gedanken durch sein drogenvernebeltes Hirn. „Keiner darf davonkommen!“ SAM waren vielleicht dreißig Meter vom Auto des Unbekannten entfernt, als Armin, von etwas irritiert, sein Rad heftig abbremste. Sofort stoppten auch Sandra und Mario. Dann ging alles blitzschnell. Vor SAM flammten Scheinwerfer auf, ein Motor wurde gestartet, mit durchdrehenden, laut quietschenden Reifen löste sich ein Wagen aus der Dunkelheit, raste auf die drei zu. „Zur Seite!“ Armin sah, wie etwas Schwarzes auf sie zuschoss. Die drei warfen in einem Augenblick ihre Räder in den Straßengraben und sprangen über sie hinweg ins Dickicht. Sie landeten hart im Unterholz. 57
Der Wagen verschwand mit immer kleiner werdenden Rücklichtern in der Dunkelheit. SAM brauchten eine Minute, um ihre Fassung wiederzufinden. „Irgendwem passt nicht, was wir tun“, schnaufte Armin. „Das war geplant. Das Auto hatte keine Nummerntafel oder habt ihr eine gesehen?“ „Nein! Und wem passt nicht, was wir tun? Und wer saß hinter dem Steuer? – Zum Glück sind wir zwischen den Divi-Divi-Bäumen gelandet“, sagte Sandra mit einem Blick auf die nahe stehenden Kakteen und zerrte ihr Fahrrad aus dem Straßengraben. „Das werden wir Morgen rausfinden“, murrte Mario und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. „Sandra, du und Robin, ihr fragt Onkel Rudi, ob ihr das Foto ausdrucken dürft. Am besten gleich morgen Früh im Restaurant. Dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Ruben beliefert das Chalet Suisse jeden Tag mit frischen Fischen. Haltet ihm die Titelseite der Diario unter die Nase. Mal sehen, ob er angesichts seiner Lüge ins Schwitzen gerät –“ Sandra war von Marios Plan nicht gerade begeistert. Rubens Feueraugen erfüllten sie irgendwie mit Unbehagen – wahrscheinlich eingefärbte Kontaktlinsen, anders konnte es nicht sein –, sie strahlten etwas Böses aus. „Armin und ich fühlen mal Carlos Tromp auf den Zahn. Vielleicht haben er oder einer seiner Reiseleiter etwas von der Ghost gesehen?“ „Wenigstens etwas Glück im Unglück“, dachte Sandra, als sie und Robin um 7 Uhr früh ins Chalet Suisse kamen. Die 58
letzten Gäste hatten das Restaurant erst um halb drei verlassen. Onkel Rudi hatte also bis tief in die Nacht hinein gearbeitet, war dann noch ins Madame Janette gegangen und hatte gar nicht gemerkt, dass sie spät nach Hause gekommen waren. Onkel Rudi war zwar ein echter Kumpel, aber Sandra war sich doch nicht ganz sicher, wie er auf ihr nächtliches Abenteuer reagiert hätte. Auf jeden Fall hatte Onkel Rudi ihnen ein kräftiges Frühstück aufgetischt, bevor er wieder in der Küche verschwunden war. „Wo sind wir da bloß wieder reingeraten“, murmelte Sandra. Sie schnappte ihre Digitalkamera und schloss sie an den Computer an. Klick – der Drucker ratterte los. Sandra und Robin, dessen Ausrede nach einigen Erklärungen gerade noch mal durchgegangen war, beobachteten gespannt, wie sich das Bild langsam aus dem Drucker schob. Gleich würden sie wissen, wer letzte Nacht die Hunde auf die Ghost gebracht hatte. Da hörten sie, wie in der Küche mit lautem Krachen die Eingangstür geöffnet wurde. Dann drangen schabende Geräusche an ihre Ohren und jemand grüßte mit rauer Stimme. „Hallo!“, hörten Sandra und Robin Onkel Rudi antworten. Die raue Stimme versetzte sie in Alarm. Auf leisen Sohlen schlichen sie zur Durchgangstür, die vom Speisesaal in die Küche führte, und spähten durch das Türfenster. Onkel Rudi wies gerade einen Mann an, der drei Kisten voll mit Fischen im Kühlraum verstaute. Der Mann war verdeckt. Als er aus der Kühlanlage kam, wanderte Sandras Blick zum linken Ohr des Mannes – ein goldener Anker glitzerte in seinem Ohrläppchen. Ruben! 59
„Hola!“, sagte Sandra freundlich, als sie in die Küche traten. Ruben war sichtlich unbehaglich zumute. „Sie sind uns ein paar Antworten schuldig“, fiel Robin gleich mit der Tür ins Haus. Sandra hielt Ruben die Ausgabe der Diario, die ihn mit dem Hai zeigte, unter die Nase. Ruben seufzte. „Okay, ihr habt gewonnen. Ich fische nachts draußen beim Wrack der California. Dort gibt es reiche Fischbestände. Ist euch jetzt leichter?“ Ruben blickte Sandra und Robin aus verzweifelten Augen an. „Ich gebrauchte eine Notlüge. Ich habe Angst.“ Ruben kam näher und sprach leiser, obwohl Onkel Rudi mit ein paar Tischdecken in den Speisesaal gegangen war, nachdem er den Kühlraum wieder verschlossen hatte. „Versteht ihr, Angst vor der Küstenwache. Die Polizisten könnten denken, dass diese Schüsse von mir abgegeben worden sind. Illegaler Waffenbesitz ist streng verboten. Ich will nicht in den Knast.“ Er hielt kurz inne und blickte sich um, so als hätte er Angst beobachtet zu werden. – „Und was die Ghost angeht. Ich hab sie gesehen: Aber erzähl jemandem, du hättest ein echtes Geisterschiff gesehen – die würden weiß Gott was von mir denken, mich vielleicht für drogensüchtig halten und mich in ein Entwöhnungsheim stecken … wer ernährt dann meine sechs Kinder? Außerdem schaden Geistergeschichten dem Urlaubsgeschäft. Aber …“, Ruben trat noch einen Schritt näher an die beiden heran, „ich sage euch, Henry Moore, der Einäugige, ist zurückgekehrt. Der Fluch der Geister-Piraten wird sich erfüllen und ihre Seelen werden erst dann ihre Ruhe fin60
den, wenn ihre Geister in den Körper eines Lebenden schlüpfen und mit diesem dann sterben!“ Robin schluckte. „Es gibt keine Geister, Ruben“, sagte Sandra und steckte die Diario weg. „Das ist alles Aberglaube. Wir lösen das Rätsel und kommen diesem Fluch schon auf die Schliche.“ „Oh, ihr Ahnungslosen!“ Ruben bekreuzigte sich. „Betet, dass das Unheil an euch vorüberziehen möge. Mit Geistern spaßt man nicht. Hütet euch vor Henry Moore, dem Verfluchten, sonst …“ „Sonst was?“, fragte Robin. „Sonst wählt er euch aus!“ Rubens Stimme zitterte. „Weckt die schlafenden Hunde nicht, lasst die Geister in Frieden!“ Ruben drehte sich um, lief zu seinem Pick-Up und fuhr davon. „Einfältiger Kauz“, murmelte Sandra. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihm“, dachte sie. Robin fiel das Foto im Drucker wieder ein.
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Der Sklave der Zeit
Einige Kilometer vom Chalet Suisse entfernt, betraten Armin und Mario das Büro von Adventure-Tours. Sie blickten sich im Office um und entdeckten durch eine Glasscheibe Carlos Tromp in einem Nebenraum in einem hohen Ledersessel sitzend. Er wandte ihnen den Rücken zu, hatte den Telefonhörer an sein rechtes Ohr gepresst und lispelte in die Sprechmuschel. Obwohl die Tür zum Nebenraum offen stand, waren seine Worte kaum zu verstehen. Die Wände des Büros zierten riesige Fotos, alles Ansichten von Tromp-Land. Carlos schien mächtig stolz auf seinen Besitz zu sein: Das prächtige Herrenhaus thronte auf einer kleinen Anhöhe inmitten von Dutzenden Palmen. Uneinnehmbar wie eine Festung wirkte es. Eine Felsentreppe führte zu einem schmalen Strand hinunter, dem eine kleine Bucht folgte, ein idealer Hafen für eine Yacht. Die Felswände oberhalb des Sandstrandes wurden von Tropenpflanzen, dicht wie ein Urwald, überwuchert – ein wunderschöner grüner Teppich, durchbrochen von den Farbtupfern exotischer Blüten. Auf einem Foto war die Nautilus zu sehen, sie lag in dem kleinen natürlichen Hafen vor Anker. Carlos Tromp wurde am Telefon etwas lauter. Von den beiden Besuchern hatte er noch immer keine Notiz genommen. „Verdammt noch mal, ja, Koolmann nicht wieder 62
vor, nur mehr Straßenköt… Ja, heute noch … wir lassen den Kläf… unbearbeitet wieder frei … Dass der dämliche Trottel sie nicht erwi… Natürlich! … Ja, verstanden … Okay, gut …“ Carlos Tromp schwenkte seinen Sessel herum und hob den Blick. Als er Armin und Mario entdeckte, zuckte er kurz zusammen, legte den Hörer aber mit einer bedachtsamen Bewegung auf. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn und sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. Er stand auf und kam ins Office: „Wie lange steht ihr schon hier?“ Aus seiner Stimme war jede Freundlichkeit verflogen. „Ich … ich wollte nur danke sagen für gestern Nacht“, sagte Armin unsicher. „Schon gut. Ich hab viel zu tun“, antwortete Carlos. Man merkte deutlich, dass er die beiden schnell loswerden wollte. „Da … da wäre noch was …“ Armin zögerte. „Ja?“ „Uns ist etwas begegnet draußen auf dem Meer. Etwas das … das schnell auftauchte und sich ebenso schnell wieder in Nichts auflöste –“ „Dein Geisterschiff?“ Tromp lachte auf. „Es ist kein Hirngespinst.“ „Okay, Jungs. Hört zu: Ich verkaufe Abenteuerfahrten, Jeep-Safaris, Höhlenwanderungen, Reitausflüge, sogar Nacht- und Wracktauchgänge. Aber wenn ihr glaubt, ihr könnt hier mit einem Schauermärchen Geld machen, dann verschwendet ihr eure Zeit, aber vor allem meine, klar.“ „Sie haben die Ghost also nicht gesehen?“, fragte Mario jetzt ganz direkt. 63
„Nein, habe ich nicht. Aber gut, ein paar Minuten gebe ich euch.“ „… und dann tauchte plötzlich die Nautilus unter unserem Boot auf. Den Rest kennen Sie ja“, schloss Armin seinen kurzen Bericht. Carlos Tromp nickte, dann umspielte ein feines Lächeln seine Lippen: „Jetzt sagt bloß, ihr glaubt an schwarze Katzen, Freitag den 13. und solchen Kinderkram. Die Ghost – das Piratenschiff von Henry Moore, dem Einäugigen – verschwand 1791 samt seiner Mannschaft spurlos. Kein Mensch wird über 200 Jahre alt. Aber …“ Carlos beugte sich vor. Er senkte seine Stimme geheimnisvoll: „Aber ihr seid nicht die Einzigen, die die Ghost in den letzten Tagen gesehen haben wollen –“ Die Art, wie Carlos die Worte aussprach, hatte etwas Schauriges an sich. „Ihr habt euch wohl noch nie mit der Geschichte der Karibik auseinander gesetzt? Na ja, viele dieser Geistergeschichten sind auch Seemannsgarn. Doch einige, wie die von Henry Moore, seiner Ghost und Ben Morgan, sind furchtbare Wirklichkeit.“ „Interessant …“, sagte Mario „Also …, Henry Moore war eigentlich kein richtiger Pirat. Er kaperte Sklavenschiffe, die Sklaven aus Afrika und Südamerika auf die Inseln verkauften – eben Menschenhandel betrieben –, auf der Rückfahrt oder knapp danach, nachdem sie sich ihrer menschlichen Fracht entledigt hatten. Moore raubte das Gold, das die Menschenhändler für die Sklaven erhalten hatten. Schnell war Moore der Feind aller übrigen Seeräuber, weil er auch diese nicht verschonte. Ja, Henry Moore war Pira64
tenjäger! Wer auf offener See der Ghost begegnete, wusste, dass ihm ein erbitterter Kampf und der sichere Tod bevorstanden. Moore war ein cleverer Taktiker und die Ghost ein schnelles, wendiges Schiff. Gnadenlos versenkte er jeden Gegner, ließ die Gefangenen hängen, erschießen oder sie den Haien vorwerfen, um Angst und Schrecken zu verbreiten und so dem Sklavenhandel ein Ende zu setzen. Als Trophäen sammelte Moore die Galionsfiguren der versenkten Schiffe. Eines Tages aber verbündete sich Ben Morgan, ein Sklavenhändler, der ihm bei einem Überfall auf abenteuerliche Weise entkommen war, mit ein paar anderen und stellte Moore. Irgendwo soll es zu einem blutigen Kampf gekommen sein. Letztendlich sollen sich die beiden an Bord der Ghost in der Kapitänskajüte gegenübergestanden haben. Morgan soll Moore eine letzte Chance gegeben haben. Morgan wollte seine Golddublonen wieder, 1000 Stück, sagt die Geschichte. Morgan wollte Moore nur aussetzen, wenn er das Versteck des Geldes verraten würde. Damit hätte Moore eine Überlebenschance gehabt. Aber Moore fürchtete den Tod nicht. Er zog seine Pistole. Gegenseitig sollen sie sich erschossen und Moore das Geheimnis um das Versteck des Goldes mit ins Grab genommen haben.“ „Und die Ghost?“, fragte Armin. „Spurlos verschwunden – samt der Mannschaft. Geschichtliche Überlieferungen besagen, Morgan habe Moore kurz vor seinem Tod noch verflucht. Als ‚Sklave der Zeit’ solle Moore bis in alle Ewigkeit ruhelos auf dem Meer umherirren und jede Nacht seinen eigenen Tod als GeisterPirat aufs Neue erleben; so lange, bis eines Tages ein Le65
bender die Ghost betritt und seine Seele in und mit diesem sterben könne! Und wer je das Gold finde, solle selbst als ein ewig Verfluchter einen langsamen, qualvollen Tod sterben …“ „Ganz schön gruselige Geschichte“, sagte Mario. „Gruselig? Geschäftsschädigend! Seitdem hinter vorgehaltener Hand auf der Insel vom Auftauchen der Ghost gemunkelt wird und Hunde verschwinden, die dann plötzlich wieder auftauchen, glauben die Leute an Gespenster. Immer weniger trauen sich zum Tauchen und Schnorcheln auf das Meer hinaus … Ein Dilemma, kann ich euch sagen!“ „Sie haben die Ghost jedenfalls nicht gesehen?“, fragte Mario nochmals. Carlos schüttelte den Kopf. „Und wenn ich euch einen guten Rat geben darf: Lasst die Finger davon! Auf See lauern viele Gefahren. Es ist zwar nur ein Märchen, aber wer weiß schon?“ „Vielen Dank, Herr Tromp, Sie haben uns sehr geholfen“, verabschiedeten sich Armin und Mario. Kaum hatten sie das Büro verlassen, ging Carlos zu seinem Schreibtisch zurück und griff zum Telefonhörer. Hastig tippte er eine Nummer ein. „Pedro, wir haben ein Problem …“ „Was denkst du?“, fragte Armin Mario auf dem Rückweg zum Chalet Suisse. „Ich habe vorhin, als Carlos telefoniert hat, so etwas wie ‚Straßenköt…‘ und ‚Kläf…‘ und etwas vom ‚Freilassen‘ verstanden – und du?“ „Hm, ja ich auch … Der Betäubungspfeil vom Strand, 66
die Hunde an Bord der Ghost … Wenn man das in Verbindung bringt …“, antwortete Mario. „Genau.“ „Koolmann, war der Name, oder?“ „Ja“ „Also, los!“
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Das Kuvert
Im Speisesaal des Chalet Suisse warteten Sandra und Robin schon ungeduldig auf ihre Freunde. „Na endlich. Was war?“, fragten beide gleichzeitig. „Verdächtig!“, antwortete Mario kurz. „Aber fangt ihr an.“ Sandra und Robin wiederholten Rubens Geschichte in allen Einzelheiten. „Der arme Kerl hat fürchterliche Angst, dass er seine sechs Kinder nicht ernähren kann. Deshalb nimmt er jede Arbeit an, die ihm angeboten wird“, erzählte Sandra. „Und als wir andeuteten, dass wir Hobbydetektive sind und wegen der ‚Ghost‘ ermitteln, wurde er vor Schreck kreidebleich.“ „Er warnte uns vor dem Fluch der Geister-Piraten“, ergänzte Robin. „Dann hat er sich ziemlich schnell verabschiedet.“ „Hm – Rubens Geschichte deckt sich in etwa mit der von Carlos Tromp“, stellte Armin nachdenklich fest. „Also, wenn ich ganz ehrlich bin, so richtig geheuer ist mir die ganze Sache inzwischen nicht mehr“, sagte Sandra. „Immerhin versuchte man uns heute in der Nacht umzub68
ringen. Wir sollten zur Polizei gehen. Offenbar steckt hinter dem ganzen Spuk jemand, der auch vor Mord nicht zurückschreckt.“ „Und was sagen?“, warf Mario ein. „Dass uns jemand mit einem Auto überfahren wollte, weil wir einem Geisterschiff auf der Spur sind?“ „Mario hat Recht“, sagte Armin. „Wir haben nichts in Händen, keinen einzigen Beweis.“ „Dann müssen wir ab jetzt doppelt vorsichtig sein“, meinte Robin. „Jemand weiß über unser Tun Bescheid.“ „Was habt ihr von Carlos Neues erfahren?“, erkundigte sich Sandra. „Etwas Hochinteressantes“, sagte Armin. „Na schieß los!“ „Gleich. Zuerst will ich aber das Foto sehen. Ihr habt es doch schon ausgedruckt, oder?“ Sandra blickte verstohlen über die Schulter Richtung Küche. Onkel Rudi durfte nichts sehen. Sie wollte unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen. „Können wir nicht zu dir nach Hause, Robin? Hier tauchen alle paar Minuten Lieferanten auf –“ „Können wir, ja. Bei uns ist tagsüber ohnehin niemand da.“ Dröhnend schwebte ein Jumbojet über Robins Elternhaus hinweg, das ganz in der Nähe des Flughafens „Reina Beatrix“ lag. Seine Eltern waren tatsächlich nicht zu Hause. Grünes Licht! Sandra legte die beiden Ausdrucke auf den Tisch im geräumigen Wohnzimmer, die Tür zur Terrasse stand offen. 69
Mario knetete vor Aufregung seine Finger, dass sie knackten. „Das glaub ich nicht!“, rief Armin, als er die Digitalaufnahme betrachtete, die Sandra an Deck geschossen hatte. „Ich hab mir das gleich gedacht“, sagte Sandra. „Aber ich musste den Blitz wegschalten, sonst wären wir entdeckt worden.“ Auf dem Ausdruck war praktisch nichts zu erkennen – ein einziges Schwarz. Von dem Fremden, der die Hunde an Bord geschleppt hatte, ganz zu schweigen. Enttäuscht betrachteten Armin und Mario das schwarze Blatt Papier. „Aber das hier müsst ihr euch ansehen“, sagte Robin mit leuchtenden Augen. Er zog das zweite Blatt unter dem anderen hervor. „Dieses Bild hat Sandra beim Auftauchen der Ghost geknipst!“ „Seht ihr, was wir meinen?“, fragte Sandra mit einem breiten, stolzen Lächeln. Mario drehte das Foto zu sich. „Bingo!“ Auch Armin studierte es genau: Es zeigte den Bug der Ghost, der sich wie ein Berg vor dem kleinen Boot erhob. So exakt hatte Armin die Ghost draußen am Meer gar nicht wahrgenommen. Zu sehr war er mit dem Motorboot beschäftigt gewesen. Doch jetzt, auf dem Bild, wirkte der Dreimaster schaurig. Armin glaubte seinen schlimmsten Ängsten ins Gesicht sehen zu müssen. „Jetzt ist es klar, dass da jemand etwas im Schilde führt“, murmelte er vor sich hin. Unter dem Bugspriet der Ghost war ganz deutlich die Galionsfigur zu sehen. Ein arm- und beinloses Skelett, mit 70
einem Totenkopf, der direkt in die Augen des Betrachters zu starren schien – unheimlich! „Wenn die Ghost, wie Ruben und Carlos befürchten, die echte Ghost von Henry Moore ist, wie kann dann die Galionsfigur einen Kopf haben?“, sagte Sandra, deren detektivischer Spürsinn jetzt voll erwacht war. „Der hängt über der Eingangstür von Albertos Laden, dem ‚Shabby Shic‘!“ Armin schnippte mit den Fingern. „Folglich haben wir es weder mit Geister-Piraten noch mit einem Fluch zu tun, sondern mit jemandem, der Henry Moores Geschichte aus irgendeinem Grund für seine Zwecke missbraucht.“ „Dann sollten wir schleunigst herausfinden, wer und wozu jemand die ganze Show abzieht“, sagte Sandra. „Ich denke mal, um 1000 Golddublonen zu finden“, bemerkte Mario mit heiserer Stimme. Robin und Sandra staunten. „Gold!?“ „Ach ja“, sagte Armin. „Wir haben euch Carlos’ Geschichte noch nicht erzählt –“ Das war schnell nachgeholt. Jetzt staunten Sandra und Robin. „Ein verschollener Goldschatz …“, grübelte Sandra. „… und der Ausdruck Straßenköter … Robin, habt ihr ein Telefonbuch?“ „Was denkst du denn.“ Er warf Sandra das Nummernverzeichnis zu. Sie blätterte darin. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Robin öffnete.
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„Guten Ta…“ Er stutzte. Seine Stimme wurde lauter, er ging einen Schritt nach vor: „Halloooo! Ist da jemand!?“ Nichts rührte sich. Er blickte nach links, nach rechts … Niemand. Kopfschüttelnd schloss er die Tür. Dabei fiel sein Blick auf die Fußmatte. – Ein schwarzes Kuvert lag auf der Matte. Robin sah sich noch einmal prüfend um, bückte sich und hob den Umschlag auf. Danach schloss er die Tür und schob den Sicherheitsriegel vor. „Wer war’s?“, fragte Mario. „Ein Brief“, sagte Robin. „Der Überbringer war schon weg.“ Sandra sah vom Telefonbuch auf, Armin und Mario wurden aufmerksam. „Wer ist der Absender?“, fragte Armin sofort. „Kein Absender. Nur vorne steht mein Name drauf.“ Robin schnitt das Kuvert auf und zog ein Blatt heraus, auf dem etwas in Handschrift zu lesen war:
Noch ist es nicht zu spät für dich. Der Jahrestag der unheilvollen Schlacht ist nahe! Kein Lebender weiß das genaue Datum, aber nur an diesem Tag kann sich der Fluch der Geister-Piraten erfüllen! Ihr werdet bald sterben, wenn ihr das Schiff der Verfluchten nicht meidet! Jemand, der es gut mit euch meint.
„Ein Warnbrief!“ Robin fühlte sich wie in einem schrecklichen Alptraum. SAM lasen den Brief noch mal. „Da erlaubt sich jemand einen billigen Scherz mit uns“, sagte Mario. 73
„Vielleicht sollten wir doch besser die Polizei verständigen“, meinte Robin. Armin schüttelte den Kopf. „Überflüssig. Wer will schon wissen, was morgen oder übermorgen passiert. Ich glaube, da kriegt jemand aufgrund unserer Ermittlungen allmählich kalte Füße –“ „Armin hat Recht“, sagte Sandra. „Eigentlich kommt der Drohbrief gelegen.“ „Wie bitte?“ Robin verstand überhaupt nicht, wovon Sandra sprach. „Er ist mit der Hand geschrieben“, erklärte Mario. „Handschriften sind einzigartig und unverwechselbar wie Fingerabdrücke.“ Jetzt verstand Robin. „Ihr seid echt gute Detektive! – Wir vergleichen sie mit den Handschriften unserer Verdächtigen.“ „Genau.“ „In Frage kommen ohnehin nur Ruben, Carlos und … Wie hieß er noch? Koolmann?“ „Ja“, sagte Mario. Sandra schlug bei „K“ auf. Langsam glitt ihr Finger über die Namen. „Da … Doktor Pedro Koolmann. Sieh an! Unser Herr Doktor ist Tierarzt! Freunde, wir sind auf einer heißen Spur!“ Armin horchte auf. „Koolmann …“, sagte er, „… Koolmann, ja genau, … vor ein paar Tagen, die Mitteilung im Radio, ich erinnere mich dunkel …“ Er hielt plötzlich inne und drehte den Kopf Richtung der offen stehenden Terrassentür. „Da ist etwas – draußen vor dem Haus, im Garten“, flüsterte er. 74
Sträucher raschelten. Robin fasste all seinen Mut zusammen und ging zur Terrassentür. Das Vordach über der Terrasse warf einen dunklen Schatten, der anschließende Garten lag im hellen Sonnenschein. Robin kniff die Augen eng zusammen. Durch den Lichtgegensatz konnte er kaum etwas sehen. Vorsichtig trat er auf die Terrasse hinaus. Da flog von der Seite ein schwarzer Schatten auf ihn zu. Der Anprall war so heftig, dass Robin zur Seite taumelte und zwischen den Blumen landete, welche die Terrasse säumten. Noch bevor er sich wieder aufrappeln konnte, spürte er den heißen Atem eines Hundes über sich. Erschrocken riss er die Arme vors Gesicht, wartete mit geschlossenen Augen auf den Biss, der nun folgen musste. Aber er fühlte nur eine feuchte Zunge an seinem Hals und seinem Kinn, das heftige Drängen eines Hundekopfes, der unter seine Arme gelangen wollte. – Der Hund winselte, schleckte ihn ab. „Butschi!“, durchzuckte es Robin. SAM, die nach draußen gestürzt waren, sahen nur ein Mensch-Hunde-Knäuel, das sich freudig bellend und lachend in den Blumen wälzte. „Wo warst du bloß, Butschi? Bist du auch okay?“, fragte Robin, während er sich aufrappelte. „Und ich dachte schon, du wärst tot! Das ist Butschi“, erklärte er SAM, die sichtlich aufatmeten. Robins Hund sprang freudig bellend um die vier herum. „Da, an Butschis Ohr …“, sagte Armin, „… was hat er da?“ Gemeinsam untersuchten sie Butschi. „Sein Ohr …“, Sandras Stimme zitterte, „… man hat 75
ihm eine kleine Kerbe in sein rechtes Ohr geschnitten. – Das ist mir schon bei mehreren Hunden hier auf der Insel aufgefallen.“ „Der Schnitt ist glücklicherweise nicht groß“, sagte Robin. „Ich hoffe, dass das nicht weiter schlimm ist, aber …“ „… aber“, unterbrach ihn Mario, „du gehst mit Butschi zu Doktor Koolmann und lässt dir ein Rezept schreiben. Sag einfach, Butschi sei etwas schwach auf den Beinen.“ Mario war ganz Detektiv. Nachdem sich die Wiedersehensfreude etwas gelegt hatte, besprachen sie die weitere Vorgangsweise: Sandra sollte zu Onkel Rudi gehen und sich eine Rechnung, die Ruben geschrieben hatte, geben lassen. Armin und Mario sollten Carlos aufsuchen und sich eine Safariroute mit dem Jeep zusammenstellen lassen. Als anschließenden Treffpunkt vereinbarten sie das „Shabby Shic“. Sie wollten herausfinden, wie Alberto zum Kopf der Galionsfigur der Ghost und dem Bild von Henry Moore gekommen war. Mario, der die einzelnen Punkte vorgeschlagen hatte, machte sich so seine Gedanken. Seine innere Stimme sagte ihm, dass hier jemand ein doppeltes Spiel trieb, und sie höllisch aufpassen mussten. Und seine innere Stimme irrte fast nie.
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Höchst riskant
Robin hatte Butschi ein neues Halsband gekauft. Die beiden eilten zu Pedro Koolmanns Tierklinik. Sie lag in Tierra del Sol, im Nordwesten Arubas, wo Wohlhabende ihre Villen und Strandhäuser hatten. Ein märchenhaftes Haus reihte sich an das nächste. Mancherorts bellten scharfe Wachhunde, als sie an den Hausumzäunungen vorbeiliefen. Die Sonne brannte glühend heiß vom Himmel, als Robin mit Butschi in die Straße zur Tierklinik einbog. Durch Palmen und üppige, bunte Liguster hindurch, versuchte er die Nummer 13 zu finden. Schließlich, am Ende einer Sackgasse zum Meer hin, fand er sie. Robin wollte gerade anläuten, als er unter dem Verandavordach eine Bewegung ausmachte. Im Schatten des Vordaches nahm er die Silhouette eines bulligen Mannes, der ein Gewehr unter dem Arm zu tragen schien, wahr. Robin versteckte sich hinter einer Limousine, die vor dem Nachbarhaus parkte. Butschi hielt er an der kurzen Leine. Robin schob den Kopf ein Stück vor und spähte zur Nummer 13. Keine Sekunde zu spät! Das Gartentor schwang auf und ein Mann trat auf die Straße. Ruben! Er warf das Gewehr auf den Rücksitz eines Pick-Ups, dem Robin vorher keine Beachtung geschenkt hatte, setzte sich hinters Steuer und zählte einen Packen Dollar77
scheine durch. Dann steckte Ruben das Bündel Geld ein, startete sein Offroad-Gefährt, wendete, und brauste davon. Robin verließ sein Versteck. Er spürte, wie seine Handflächen vor Aufregung schwitzten. Dann drückte er auf die Klingel bei Nummer 13. SAM warteten jetzt schon über 20 Minuten vor dem „Shabby Shic“ auf Robin. Die vereinbarten eineinhalb Stunden waren längst verstrichen. „Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen?“, machte sich Sandra Sorgen. „Könnte es sein, dass sich da jemand verknallt hat?“, grinste Armin. „Halt die Klappe!“, war alles, was Sandra erwiderte und warf Armin einen giftigen Seitenblick zu. „Robin ist clever“, beruhigte Mario sie. „Er weiß sich schon zu helfen, falls etwas schief läuft.“ Armin öffnete die Tür zum Shabby Shic. „Lasst uns inzwischen mit Alberto reden, kommt.“ Der Zeitpunkt war günstig, denn im Antiquitätenladen befanden sich zurzeit keine Kunden. Alberto lief mit einem Klemmbrett in der Hand zwischen einer Menge neu gelieferter Kunstgegenstände umher. Türme von Schachteln stapelten sich rund um ihn und gaben einem das Gefühl, als befände man sich in einem Labyrinth. Und das, obwohl die Regale ohnehin bis an die Decke mit in Leder gebundenen Büchern, geschnitzten Holzfiguren, Teppichen und allerlei alten Bronzetieren voll gestopft waren. Überall an den Wänden hingen Bilder von Seeschlachten und Szenen aus Piraten-Zeiten. 78
„Oh, guten Tag ihr drei“, begrüßte sie Alberto. „Na, wie gefällt es euch auf Aruba?“ „Echt stark hier“, sagte Mario leicht verlegen. „Wo habt ihr Robin gelassen?“ Alberto kam näher. „Ist ein wenig nachlässig, der Junge, seit ihr hier seid –“ Sandra, Armin und Mario sahen einander kurz an. „Nun, was kann ich für euch tun?“, fragte Alberto. Sandra packte die Gelegenheit beim Schopf. „Wir interessieren uns für die Ghost und das Bild von Henry Moore. Kannst du uns darüber was erzählen, Alberto?“ „Es wäre gut möglich, dass man durch ihre Herkunft mehr über das rätselhafte Verschwinden der Ghost und über den Fluch der Geister-Piraten herausfinden könnte“, fügte Armin noch hinzu. „Wovon hast du da eben gesprochen?“, fragte Alberto hellhörig. „Von Henry Moore, dem Piratenjäger, der eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Sklavenhändler Ben Morgan hatte. – Wir haben die Ghost gesehen, sie schimmerte in einem unheimlichen Grün, schaurige Stimmen drangen aus ihrer Kapitänskajüte. Dann löste sie sich wie in Luft auf! Wenn unser Verdacht richtig ist, sind wir einer Gaunerei auf der Spur.“ Alberto widmete sich wieder seinem Klemmbrett, als sei ein Geisterschiff etwas geradezu Alltägliches. Sandra erzählte ihre Erlebnisse der Reihe nach. Alberto nickte nur, als habe er die Story schon tausendmal gehört. „Lasst lieber die Finger von der Ghost und ihrem Schatz.“ 79
„Du weißt von den Golddublonen?“ Sandras Neugier war geweckt. „So viel wie jeder hier. Nur Seemannsgarn. Alles erfunden. Geht lieber Höhlenwandern oder Reiten, als die Zeit mit alten Geschichten zu vertrödeln. Schnorchelt, seht euch die Schmetterlingsfarm an.“ „Wir ermitteln in einem Fall, Herr Maduro. Wir wissen, was wir draußen am Meer gesehen haben – und wir wissen, dass ein Schiff nicht einfach spurlos in der finsteren Nacht verschwinden kann. Da steckt ein Trick dahinter. Und Tricks verwendet man aus bestimmten Gründen. Bitte: Woher kommen der Totenkopf und dieses Bild?“, fragte Armin. „Ich habe sie von ihm gekauft.“ „Von wem?“, fragte Mario. „Von Carlos Tromp.“ „Sieh einer an, das ist ja hochinteressant!“ „Mit Carlos Tromp solltet ihr euch besser nicht anlegen“, sagte Alberto und wirkte nervös. „Der versteht keinen Spaß, wenn es ums Geldmachen geht.“ „Wir können den Fall nur lösen, wenn wir rund um die Ghost alles erfahren. Bitte, Alberto, erzähl uns ganz genau, wie du zu dieser Galionsfigur und dem Bild gekommen bist. Existiert das Logbuch der Ghost? Leben Nachfahren von irgendeinem der Besatzungsmitglieder? Die könnten überliefertes Wissen oder Aufzeichnungen besitzen“, erklärte Mario. Alberto Maduro schüttelte den Kopf. „Ich kann euch leider nicht weiterhelfen. Ich erstand die Gegenstände auf seinem Flohmarkt.“ „Tromp hielt einen Flohmarkt ab?“, fragte Sandra. 80
„Ja. Der Geizhals muss mit allem Geld machen. Sogar mit Gerümpel. Genau genommen war es eine Versteigerung. Kurz, nachdem er Tromp-Land gekauft hatte. Der letzte Besitzer des Anwesens verstarb an einer Überdosis Kokain. Da kein Testament existierte, kam der Besitz unter den Hammer und Carlos kaufte ihn zu einem Spottpreis von einer halben Million US-Dollar. Pedro Koolmann hat ihm einen Kredit gegeben, so weit ich weiß. Um diesen zurückzahlen zu können, verkaufte er alles, was er in alten Kellern und auf Dachböden des Anwesens gefunden hat. Darunter diesen merkwürdigen Holzkopf einer Galionsfigur und die beiden Bilder.“ „Zwei Bilder?“, fragte Armin aufgeregt. „Ja. Neben dem Ölbild von Henry Moore ersteigerte ich noch ein Bild von der Ghost. Seltsames Gemälde. War viel schwerer als das da oben, hatte einen dicken, goldenen Rahmen und zeigte die Ghost in voller Fahrt auf einen zupflügen.“ „Wo ist dieses Bild?“ Mario hielt es vor Neugier kaum noch aus. „Als ich die drei Gegenstände gekauft hatte, ließ ich wie immer Gutachten von ihnen erstellen – also bei alten Sachen eben. Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass die beiden Bilder und der Holzkopf rund 250 Jahre alt waren, tatsächlich von Henry Moores Schiff stammen und somit ein ‚geschichtliches Vermögen‘ darstellen sollten. Natürlich erfuhr das auch Carlos aus der Diario. Gleich am darauf folgenden Tag stand er in meinem Laden und forderte die Wertsachen zurück. Ich gab sie ihm natürlich nicht. 81
Unverkäuflich, gehören Robin, erklärte ich ihm. Daraufhin tobte er wie ein wildes Nashorn. So etwas habt ihr noch nicht erlebt, kann ich euch sagen. Ich glaube, am liebsten hätte er mich an Ort und Stelle erwürgt. Er bot mir Geld. Und ein paar Dollar mehr haben mir nicht geschadet, ich wollte gerade meinen Laden vergrößern. So hab ich ihm das Bild der Ghost verkauft. Hat mir immerhin 2000 Dollar gebracht.“ „Nicht schlecht für ein altes Bild“, sagte Mario. „Es sei denn, das Bild ist aus einem anderen Grund für Carlos weitaus mehr wert als die paar Dollar …“, sinnierte Armin. „Mehr als 2000 Dollar?“ Alberto sah Armin verständnislos an. „Viel mehr, Alberto.“ „Ist dir an dem Bild nichts Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Sandra nach. „Irgendetwas?“ „Tut mir Leid“, schüttelte Alberto den Kopf. „Mehr kann ich euch auch nicht sagen.“ „Okay.“ Mario dachte kurz nach, dann erklärte er mit fester Stimme: „Wir gehen weiter wie folgt vom…“ Ein lautes Krachen ließ die vier zusammenzucken. Robin hatte, mit Butschi an seiner Seite, die Ladentür mit einem kräftigen Ruck aufgestoßen. In seiner Linken hielt er triumphierend einen Zettel hoch: „Ich hab’s – ein handgeschriebenes Rezept von Doktor Koolmann!“ „Super!“, rief Armin. „Und er hat keinen Verdacht geschöpft?“, fragte Sandra. „Glaub ich nicht. Aber ratet mal, wer aus seinem Haus gekommen ist?“ 82
„Rück schon raus“, drängte ihn Armin ungeduldig. „Ruben! Und er trug ein Gewehr bei sich – ein Betäubungsgewehr! Ich kenne diese Dinger von einer Führung auf einem Schießplatz her.“ „Langsam kommt Licht in die Sache“, sagte Sandra nachdenklich. Alberto blickte ratlos von einem zum andern. Armin fingerte den „Warnbrief“, er hatte ihn bei Robin zu Hause eingesteckt, aus seiner Hosentasche. Er war nicht nur im Spurenlesen geübt. Rainer Lennert, der Wiener Privatdetektiv, hatte SAM bei einem Kurs über „Handschriftenlesen“, den die drei mit Begeisterung besucht hatten, einiges beigebracht. Armin wusste viel über das Erforschen und Lesen von Handschriften. Jeder Mensch verfügt über eine unverwechselbare Handschrift. Sie verrät vieles über eine Person und darüber, wie diese ist. Durch genaues Analysieren der Buchstabenform, des Abstandes zwischen den einzelnen Buchstaben, deren Schrägstellung oder den Druck des Stiftes auf das Papier, kann man Rückschlüsse auf den Charakter des Schreibers ziehen. Sorgfältig begannen die vier Detektive die beiden Schriftproben zu vergleichen. Als Robin das Rezept neben den Drohbrief legte, war allen sofort klar, dass sie einen Treffer gelandet hatten. Die beiden Schriftbilder glichen einander wie ein Ei dem anderen. Gemeinsam versuchten sie herauszufinden, was für ein Mensch Pedro Koolmann war: Der Bleistift wurde beim Schreiben extrem fest auf das Papier gedrückt. So fest, dass Einkerbungen spürbar waren, wenn man mit dem Finger sanft darüberstrich. Das hieß, dass der Verfasser der Zeilen sehr wahrscheinlich 83
aggressiv, feindselig, vielleicht sogar zu Gewalt bereit ist. Vorsicht ist geboten! Armin fiel sofort auf, dass die Buchstaben sich nach rechts neigten. Pedro war sehr wahrscheinlich ein Egoist, jemand, der nur an sich selbst dachte und dem nur die Zukunft wichtig war. „Er schreibt ziemlich große Buchstaben“, sagte Mario. Folglich stand Doktor Koolmann gerne im Mittelpunkt. Und er weiß genau, was er will. Er verfolgt seine Ziele unnachgiebig. Robin und Sandra meinten, dass zwischen den Buchstaben ein größerer Abstand als gewöhnlich war. Und sie hatten Recht. Pedro Koolmann war also ein Mensch, der anderen gegenüber stets auf Abstand blieb. Er war vermutlich ein Einzelgänger, der im Hintergrund die Fäden zog und anderen oft misstraute. „Ich glaube, wir haben unseren Mann gefunden“, sagte Armin. „Das passt alles zusammen.“ „Wovon redest du bitte?“, fragte Alberto, der immer noch nicht verstand, worum es ging. „Wann genau haben Sie die Bilder und den Kopf der Galionsfigur der Ghost von Carlos Tromp ersteigert?“, wollte Mario wissen. Alberto überlegte kurz. „Vor einem Monat.“ „Und wann, Robin, hast du die Ghost zum ersten Mal gesehen?“ Robin dachte angestrengt nach. „Auf den Tag genau weiß ich es nicht mehr, aber vor ungefähr vier Wochen.“ „Hab ich mir gedacht“, antwortete Mario. „Was hast du dir gedacht?“ Alberto wurde ungeduldig84
Die vier sprachen in Rätseln und er kam sich allmählich wie ein Idiot vor. „Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass Robin seit ungefähr vier Wochen immer wieder die Ghost sieht – seit er bei Ihnen arbeitet und Tromp weiß, dass Sie Robin das Bild und den Kopf der Galionsfigur als Lohn versprochen haben“, erklärte Mario. „Ihr … ihr meint, die Ghost hat etwas mit mir zu tun?“ Robin blieben die Worte fast im Hals stecken. „Ja“, sagte Sandra. „Wir sind fest davon überzeugt, dass der ganze Spuk nur passiert, weil du bald der Besitzer des Galions-Kopfes und des Ölbildes sein wirst.“ Robin konnte es nicht fassen. „Was hat es mit den Dingern auf sich?“ „Alles passt genau zusammen: Carlos Tromp vermutet, aufgrund der Echtheit der Bilder und der Galionsfigur, dass an den beiden Gegenständen vielleicht ein Hinweis auf den Schatz von Henry Moore zu finden ist. Er betäubt Butschi, deinen Hund, dann taucht ein gruseliges, grün leuchtendes Geisterschiff auf und verschwindet spurlos; obendrein droht ein tödlicher Fluch Wirklichkeit zu werden – eine perfekte Einschüchterungstaktik dir gegenüber. Er will an die beiden Antiquitäten herankommen, du sollst sie rausrücken. So kann er möglicherweise die Golddublonen in seinen Besitz bringen.“ „Ist ja irre! Was nun?“, fragte Robin. „Wollt ihr die Ghost noch einmal verfolgen?“ „Ich denke, dass die Ghost aufgrund unserer Ermittlungen eine Weile nicht mehr auftauchen wird“ sagte Sandra und grinste dabei verschmitzt. 85
Ihre Freunde kannten dieses fast hinterhältige Grinsen. Kein Zweifel, Sandra hatte etwas vor. „Wir tun es heute Nacht“, sagte sie. „Bereitet für 21 Uhr eure Schnorchel und schwarzen T-Shirts vor. Treffpunkt um halb Neun bei Onkel Rudis Boot.“ „Vielen Dank für deine Hilfe, Alberto“, verabschiedete sich Armin. „Legt euch nicht mit Pedro Koolmann an“, warnte Alberto mit Nachdruck. „Ich habe da so ein Gerücht gehört, dass die Polizei hinter ihm her ist. Angeblich soll er Rauschgi…“ „Danke noch mal!“, rief Mario ihm von der Tür aus zu. „Der spaßt nicht rum. Robin, hilf …“ Die Tür fiel ins Schloss. Alberto stand da wie bestellt und nicht abgeholt. „Diese Kinder heutzutage …“, murmelte er und wandte sich wieder seinen Antiquitäten zu. Es herrschte drückende Hitze. „Was hast du vor?“, fragten die Jungs Sandra, während sie im Seaport-Einkaufszentrum jeder ein Eis verschlangen. „Ich möchte mir heute Nacht ein schweres Ölgemälde von der Ghost näher ansehen!“ „Das ist Einbruch – höchst riskant!“, protestierte Robin. „Hast du Alberto nicht gehört?“ „Wir müssen geschickt sein.“ Mehr antwortete Sandra nicht. „Halb neun – seid pünktlich.“
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Die tote Stimme
SAM hatten beschlossen, bei Onkel Rudi im Chalet Suisse Abend zu essen. Für 19 Uhr hatten sie sicherheitshalber einen Tisch reserviert, denn um diese Zeit war im Restaurant praktisch nie ein Sessel frei. Die flinken Kellner jonglierten Tabletts mit Getränken zwischen den Tischreihen hindurch und auf Servierwagen rollten die erlesensten Steaks, Hummer und Meeresfrüchte an ihnen vorbei. Sandra schaute immer wieder auf die Uhr. Sie wusste, dass sie selten einen Plan gefasst hatte, bei dem so viel schief gehen konnte wie bei diesem. Die letzten Gäste verließen für gewöhnlich so gegen Mitternacht das Chalet Suisse. Dann traf Onkel Rudi meist noch einige Vorbereitungen für den nächsten Tag. – Nach ihrer Einschätzung hatten sie also höchstens bis zwei Uhr in der Früh Zeit, um wieder zu Hause zu sein. Nicht gerade lange in Anbetracht des schwierigen Vorhabens. „Ich sage euch, wir sind auf der richtigen Fährte“, fasste Sandra zusammen, während sie ein großes Stück Hummer in den Mund schob. „Ruben, der bestimmt nicht aus Spaß mit einem Betäubungsgewehr durch die Gegend läuft, arbeitet als Führer von Hochseefischerfahrten für Carlos Tromp. Er sieht die Ghost ausgerechnet in jener Nacht, in der Robin mit Butschi unterwegs ist. Und das, obwohl es in 87
Strömen regnet, blitzt und donnert – ein Wetter, bei dem normalerweise niemand unterwegs ist. Und ausgerechnet sein Chef, Carlos Tromp, erzählt uns die Geschichte mit dem ‚Fluch der Geister-Piraten‘. Tromp wiederum führt nicht nur ein höchst merkwürdiges Telefonat in seinem Büro, bevor Butschi plötzlich wieder aufgetaucht ist, nein, er hat von Pedro Koolmann vorher viel Geld erhalten, um Tromp-Land kaufen zu können. Und kein Mensch borgt Geld her, wenn er dafür keine entsprechend Gewinn bringende Gegenleistung erhält.“ „Dann ist die Nautilus aus einem bestimmten Grund in der Sturmnacht, in der ihr die Ghost gesehen und betreten habt, unterwegs gewesen“, sagte Mario leise. „Mit Sicherheit sogar“, stimmte Armin zu. „Carlos war alleine an Bord, sprach aber von einer Ausflugsfahrt mit Passagieren. Es wird immer mysteriöser.“ „Wir sollten die Verbindungen zwischen den Herrschaften mal genauer unter die Lupe nehmen“, bemerkte Sandra. „Alles der Reihe nach“, mahnte Mario zur Vorsicht. „Ich hab überhaupt kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache …“ Benny, der Oberkellner im Chalet Suisse, bot ihnen noch ein Schokoladefondue an, nachdem der Tisch abgeräumt worden war. SAM lehnten höflich ab. Ein voller, schwerer Magen war in den nächsten Stunden nicht zu brauchen. Die drei waren angespannt, als sie sich von Onkel Rudi mit einer – wie sie es nannten – Notlüge verabschiedeten und das Chalet Suisse verließen. Sie hatten vorgegeben ins Kino zu gehen, doch ihr Weg führte sie direkt in den Hafen zu Onkel Rudis Boot. 88
Robin stand bereits auf dem Pier und wartete auf sie. Wie SAM trug auch er ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Short. „Da seid ihr ja endlich. Dachte schon, ihr hättet es euch anders überlegt.“ „Du bist auch nervös“, sagte Armin und blickte auf seine Uhr. „Wir sind mehr als zwanzig Minuten früher dran wie ausgemacht. Hast du alles bekommen?“, fragte er Robin. „Klar.“ Wie besprochen hatte Robin bei Red-Sail-Sports, der Tauchschule, schwarze Flossen, Taucherbrillen und Schnorchel für alle ausgeborgt. „Gott sei Dank haben wir heute Nacht eine ruhige See“, sagte Sandra mit einem Blick auf das Meer. „Wir sollten relativ mühelos übersetzen können.“ „Denkst du wirklich, wir finden was?“, fragte Robin. „Das müsste doch vor uns schon längst jemand entdeckt haben –“ „Wenn nicht, fress ich einen Besen“, antwortete Sandra. SAM kontrollierten noch einmal ihre selbst gebastelten Detektivgürtel. Taschenlampe, Messer … alles musste fest sitzen. „Funktioniert dein Kompass auch richtig, Robin?“ „Ja. Hab ihn noch mal überprüft.“ „Dann los“, sagte Sandra und stieg in das Boot. „Wir haben nur ein paar Stunden Zeit.“ Mario ließ den Motor an und langsam tuckerten sie aus dem Hafen auf das offene Meer hinaus, bevor er richtig Gas gab. Bald waren von Oranjestad nur mehr winzige 89
Lichtpunkte am Horizont zu sehen und auch diese verschwanden schnell in der Dunkelheit. Über den vier Detektiven funkelten einzig und allein die Sterne hell wie Diamanten auf schwarzem Samt. „Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut“, sagte Robin und kontrollierte dabei ständig den Kurs. Es waren knapp 30 Kilometer von Aruba bis zur Küste Venezuelas, genauer gesagt bis zu der vorspringenden Halbinsel an der Küste, auf der Tromp-Land lag. Aber die See barg viele Gefahren und das ganze Unternehmen war ziemlich riskant. Mehr als eine Stunde war bereits verstrichen, als Mario durch das Fernglas Lichtpunkte ausmachen konnte. Winzig wie Stecknadelköpfe blinkten sie vor ihnen in der Nacht. „Das könnte Tromp-Land sein.“ Im Licht seiner Taschenlampe warf Armin einen Blick auf die Seekarte. „Wenn wir alles richtig gemacht haben, müsste das Tromp-Land sein.“ Robin war unbehaglich zumute, denn hier irgendwo müsste nach ihrer Theorie sich die Ghost in Nichts aufgelöst haben. Ein schauriger Gedanke! „Vielleicht sollten wir doch besser die Küstenwache –“ „Hey“, fiel ihm Mario ins Wort. „Ohne Beweise macht das keinen Sinn. Wir würden nur eine Klage wegen Hausfriedensbruch riskieren, wenn die bei einer Untersuchung nichts finden.“ „Seht – es ist wirklich Tromp-Land!“, rief Armin und deutete nach vor. Die Villa war jetzt ganz deutlich auszumachen. Sie fuhren so nahe wie möglich heran. Mario stellte den Motor ab. Lautlos, wie ein Panter vor dem Sprung, glitten sie mit dem Boot auf das Anwesen von 90
Carlos Tromp zu. Im Schutz eines Felsens, der rund 50 Meter vor dem Strandabschnitt aus dem Meer ragte, warfen sie Anker. „Was, wenn wir gar nichts finden?“, flüsterte Robin skeptisch. „Daran wage ich nicht einmal zu denken“, sagte Sandra leise, während sie die Flossen anlegte. „Gut. Wer geht mit Sandra und wer bleibt an Bord?“, erkundigte sich Mario mit gedämpfter Stimme. „Du. Nach Sandra hast du sicher die größte Taucherfahrung“, wisperte Armin. „Sicher nicht so viel wie Robin“, hauchte Mario. „Nein, ich muss auf keinen Fall da rüber!“, erklärte Robin leise. „Aber du kannst gut Schnorcheln und kennst die Gewässer hier –“ Armin reichte Robin die Flossen und die Schnorchelbrille. Missmutig nahm sie Robin entgegen. „Seid auf der Hut, dass euch Carlos ja nicht entdeckt. Und nehmt euch vor Kampfhunden und Alarmanlagen in Acht“, riet ihnen Armin zum Abschied. „Ja, schon gut. Wir sind nicht blöd“, erwiderte Sandra gedämpft. „Passt ihr beide auf, dass niemand das Boot entdeckt. Wenn wir in spätestens einer Stunde nicht zurück sind, dann alarmiert ihr die Polizei. Geht zu Onkel Rudi, er kennt Rodrigo Perez sehr gut.“ Sandra und Robin nickten einander zu und dann ließen sie sich sanft ins Wasser gleiten. Vorsichtig schwammen sie auf den kleinen, sandigen Strandabschnitt zu. Armin und Mario verfolgten die beiden mit ihren Fern91
gläsern, aber durch die schwarzen T-Shirts getarnt, waren die beiden Schwimmer bald nicht mehr auszumachen. Sandra und Robin spähten gespannt den Strand entlang, während sie sich langsam dem Festland näherten. Alles war ruhig. Hinter ein paar Fenstern der Villa brannte Licht. Dann verschwand das Gebäude aus ihrem Blickfeld, vor ihnen ragte, knapp hinter dem Sandabschnitt des Strandes, die mit dichtem Grün bewachsene Felswand auf. Hier musste eine schmale, in den Stein gehauene Treppe zum Anwesen empor führen. „Los, raus aus dem Wasser“, flüsterte Robin. Sie schwammen weiter Richtung Sandstrand, Robin voran, als Sandra plötzlich stoppte und reglos verharrte. „Hast du das gehört, Robin?“, flüsterte sie. Robin drehte sich um und schwamm zu ihr zurück. „Es kam direkt von der Klippe da rechts“, hauchte Sandra. Sie beschlich das Gefühl, von Haien umgeben zu sein. Werde nicht panisch, das signalisiert dem Hai deine Angst und macht ihn mutiger. Keine zappeligen Bewegungen, das zieht den Hai an. Hektische Bewegungen deuten für ihn auf einen verletzten Fisch und somit auf eine leichte Beute hin. Stell dich senkrecht ins Wasser – keine Haibeute sieht stehend aus. Wenn du davonschwimmst, dann in ruhigen kräftigen Zügen und mit Blickrichtung auf den Hai seitlich von ihm weg. Greift ein Hai an, schlage mit der hohlen Hand fest auf die Wasseroberfläche oder schrei ihn unter Wasser laut an – das könnte ihn vertreiben. Wenn nicht, stoße ihn mit den Füßen auf die Schnauze oder auf das Auge und in die Kiemen. Ein seltsames Plätschern riss Sandra aus ihren schaurigen Gedanken. 92
„Jetzt hab ich es auch gehört“, sagte Robin leise. „Du hast Recht, es … es kommt von dort, nahe der Klippe.“ Sandra riss die Augen auf. Wie aus dem Nichts entstand eine Woge und rollte auf sie zu. „Sandra! Pass auf! Sandra!“, rief Robin. Etwas stieg aus der Tiefe der See empor, durchbrach tosend die Meeresoberfläche. Eine Fontäne spritzte hoch. Metall schimmerte. Mit Mühe hielten sich Sandra und Robin über Wasser. Dann flammte helles Licht hinter Bullaugen auf, blendete die beiden für einen schrecklichen Augenblick. „Die Nautilus!“, rief Sandra gedämpft, als sie wieder klar sehen konnte. Der Motor des Unterseebootes dröhnte dumpf auf, die Nautilus drehte sich leicht und nahm langsam Fahrt auf. „Was … was soll denn das?“, keuchte Robin. Die Nautilus steuerte direkt auf die steile, bis zur Wasseroberfläche hinunter mit Pflanzen bewachsene Felswand zu, die sich rechts vom Sandstrand befand. „Weg hier, die Treibstofftanks werden explodieren!“, rief Robin. Sein Blut pulsierte heiß in den Adern. Unaufhaltsam glitt die Nautilus auf den Pflanzenvorhang zu. Sandra schluckte. Nur noch wenige Meter bis zum Aufprall. Und dann begriffen sie beide. Die Nautilus zerteilte das üppige Grün und ein dunkler Fleck über der Wasseroberfläche verriet den Eingang zu einer Höhle. Wie von Geisterhand gelenkt glitt das U-Boot seelenruhig in die Öffnung hinein. 93
„Eine geheime Grotte“, staunte Robin verblüfft. „Los, hinterher, leise!“, zischte Sandra. Sandra und Robin erfasste Unbehagen, aber nur hier und jetzt konnten sie hinter ein Geheimnis kommen. Sie zweifelten nicht daran, es mit Gaunern zu tun zu haben – mit Carlos Tromp und Pedro Koolmann. Wieso sonst versteckte jemand ein U-Boot mitten in der Nacht in einer Höhle? Und sie müssten vorsichtig sein, sehr vorsichtig! Denn es war zu erwarten, dass die beiden nicht lange fackeln würden, wenn sie sie entdeckten. Dicht nebeneinander schwammen Sandra und Robin los, direkt auf den Pflanzenvorhang zu. Knapp davor machten sie Halt, nickten einander zustimmend zu und tauchten dann in das üppige Grün ein, das sich hinter ihnen wieder schloss. Vor ihnen lag ein Felsgang, der nach zirka dreißig Metern in eine Höhle überging. Licht flammte im Felsendom auf, das Motorgeräusch der Nautilus erstarb. Kurz vor Beginn der Grotte ragten ein paar Felsblöcke aus dem Wasser. Hier konnten sie Schutz finden, aber bis dahin mussten sie an der Wand entlang tauchen, um nicht gesehen zu werden, falls jemand in ihre Richtung blicken sollte. Beide holten tief Luft und tauchten ab. Der Weg war lang. Plötzlich verfing sich Sandras rechter Fuß mit der Flosse an einem vorspringenden Felszacken. Sie hing fest. Panik stieg in ihr hoch. Sie riss und zerrte. Geistesgegenwärtig packte Robin Sandras Flosse und bekam sie los. Ihre Lungen brannten, als sie die Felsblöcke erreichten und die Wasseroberfläche durchstießen. Beide versuchten ihr Keuchen zu unterdrücken. 94
Sie riskierten einen Blick: Scheinwerfer, die in Nischen an der Höhlendecke montiert waren, füllten die Grotte mit weißem Licht. Sie war größer als die beiden erwartet hatten, denn hinter dem U-Boot entdeckten sie einen Felsbogen, der eine weitere Höhle zu überschatten schien, die tiefer in den Fels hineinführte. Die Nautilus selbst hatte an einem Holzsteg unweit ihres Verstecks angelegt. Als sie das Knirschen eines Lukendeckels vernahmen, gingen sie wieder in Deckung. Dann waren Schritte auf einem Holzsteg zu hören. Schlüssel klimperten und jemand drückte eine Tür auf, die sich quietschend in ihren Angeln bewegte. Weitere dumpfe Schritte. „Die neue Lieferung ist da“, vernahmen sie eine raue Stimme. Robin zuckte zusammen. Diese tote, eiskalte Stimme, die hatte er doch schon einmal gehört, oder …?
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Drei dunkle Gestalten
Vorsichtig spähten Sandra und Robin aus ihrer Deckung: Drei dunkle Gestalten schleppten etwas aus der Nautilus. Sie hantierten im gleißenden Lichtkegel eines Scheinwerfers, der direkt in der Blickrichtung von Sandra und Robin lag, und so konnten die beiden nicht erkennen, wer die drei waren. „Die Stimme“, hauchte Robin, „das ist Pedro Koolmanns Stimme.“ Wie zur Bestätigung klang sie erneut auf: „Bringt die verdammten Straßenköter rüber. Ich fange sofort an.“ „Hunde, die Hunde, die auf Aruba verschwinden!“, flüsterte Robin aufgeregt. „Sie betäuben sie und bringen sie hierher.“ „Aber warum?“ Sandras graue Zellen arbeiteten auf Hochtouren. Die beiden anderen legten den letzten leblosen Hund auf eine Art Schubkarre. „Sind das alle?“, hörten sie Pedros Stimme. „Ja“, lautete die knappe Antwort. „Dann los.“ Die drei Männer verließen die Grotte durch die quietschende Tür, die in der Höhe des Bugs der Nautilus liegen musste, denn Sandra und Robin konnten sie von ihrer Posi96
tion aus nicht sehen. Die Tür fiel ins Schloss, kurz darauf ging das Licht aus. Finsternis umgab die beiden, als es hinter der Nautilus grünlich zu schimmern begann. „Was ist das“, flüsterte Robin erschrocken. Sein Herz pochte wie wild. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Sandra leise, „aber wir werden es herausfinden.“ Sie ließ sich hinter dem Felsblock hervorgleiten und schwamm auf die Nautilus zu. Als sie das U-Boot halb umrundet hatte, hielt sie inne. „Ich hab’s geahnt“, hauchte Sandra. „Hierher ist sie also verschwunden –“ Auch Robin, der zu Sandra aufgeschlossen hatte, verschlug es die Sprache. Für Sekunden schwiegen die beiden. Dann schwammen sie weiter. In einer weiteren Höhle hinter der Nautilus lag die Ghost vor Anker! Die leblosen Augen im Totenschädel der Galionsfigur leuchteten in sanftem Grün und schienen sie direkt anzublicken. „Das ist …“, flüsterte Robin, während sie sich mit langsamen Zügen dem Schiff näherten und er Einzelheiten erkennen konnte, „das ist die Jolly Pirates, ein echter, 85 Fuß langer Schoner aus der Piratenzeit, mit dem man früher Schnorchel- und Tauchfahrten von der Moomba-BeachBar aus unternehmen konnte. Tromp hat sie gekauft und sie hier zur Ghost verwandelt. Raffiniert, aber wozu? Und wie löst sie sich auf? Und warum leuchtet sie jetzt in diesem schaurigen Grün? Ich hab geglaubt, mein Herz bleibt stehen, als ich sie gesehen hab.“ „Meines auch“, antwortete Sandra, „aber wir werden 97
herausfinden, was da los ist. Das Leuchten lässt übrigens nach, findest du nicht auch, Robin? Wir müssen den dreien nach.“ Sie blickte sich um und entdeckte die Tür, durch die die Halunken verschwunden waren. „Komm, da drüben führt eine Leiter auf den Holzsteg.“ „Du hast Recht“, wisperte Robin, „aber wir sollten wirklich vorsichtig sein.“ Sie schwammen zur Leiter hinüber, legten ihre Schnorchelbrillen und Flossen ab und befestigten sie an der Leiter. Dann kletterten sie vorsichtig auf den Steg hinauf. Das Leuchten der Ghost ließ merklich nach. „Echt clever, was die da machen“, bemerkte Sandra, schüttelte sich das Wasser aus ihren Haaren und von den Händen, öffnete ihren Detektivgürtel, ohne den sie nie eine Aktion startete, und holte ihre kleine Taschenlampe hervor. „Die sind nicht blöd“, pflichtete ihr Robin bei. „Wirklich schlau, ein Schiff so zum Geisterschiff werden zu lassen –“ „Komm, wir müssen hinterher“, sagte Sandra, knipste die Taschenlampe an und ging auf die Tür zu. Die Ghost glomm nur mehr ganz schwach. Robin wunderte sich über sich selbst. Seine anfängliche Angst war jetzt purer Abenteuerlust gewichen. An der Tür machten sie Halt und lauschten aufmerksam. „Nichts zu hören“, hauchte Sandra. Sie griff zur Türklinke. Langsam drückte Sandra die Klinke nach unten. Klick! Robin zuckte zusammen. Sandra schaltete die Lampe aus, jetzt umgab Dunkelheit die beiden. Millimeter um Millimeter zog Sandra die Tür auf, sie hatte die quietschenden 98
Angeln noch im Gedächtnis. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Es war finster hinter der Tür, ein leichter Luftzug wehte. Mit angehaltenem Atem lauschten sie in die Öffnung hinein. Dann flammte Sandras Taschenlampe auf und erhellte einen Tunnel. Sandra deckte den Lichtkegel der Lampe ab und trat in den Gang. „Komm“, flüsterte sie Robin zu. Schritt für Schritt drangen sie vor, immer bereit, sofort die Flucht zu ergreifen, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren. Nach fünf Minuten, so kam es ihnen zumindest vor, machte der Tunnel eine starke Biegung nach rechts. Sie hatten eine Steintreppe erreicht. Sachte, um ja keinen Lärm zu machen, stiegen sie Stufe für Stufe nach oben. Der Gang führte anschließend noch ein paar Meter weiter und endete vor einer Holztür. Kurz vor der Tür zweigte eine weitere Treppe nach links oben ab. Sandra leuchtete kurz die Stufen hoch, die in eine Art Wendeltreppe übergingen, welche steil nach oben führte. Sie wandten sich der Holztür zu, blieben vor ihr stehen und lauschten. Von der anderen Seite war nichts zu hören. Ganz langsam drückte Sandra die Tür einen Spaltbreit auf und spähte in den dahinterliegenden Raum. Alles war ruhig. Staunend betraten sie ein Zimmer, das mit weißen Glaskästen eingerichtet war. Im Hintergrund des Raums entdeckten sie eine verschlossene Metalltür, die zu weiteren Räumlichkeiten zu führen schien. Sandra ließ den Lichtkegel ihrer Taschenlampe durch das Zimmer tanzen. In der Mitte des Raums befand sich ein länglicher Tisch, der auf metallenen Beinen stand. Darüber hing eine schwenkbare Lampe von der Decke, die Robin 99
an die Ordination seines Zahnarztes erinnerte. Auf dem Tisch, unter weißen Laken verborgen, zeichneten sich Körper ab. Robins Knie zitterten, als Sandra um eines der Laken griff. Mit einem Ruck schlug sie es zur Seite. Auf dem Tisch – einem Operationstisch – lagen vier Hunde. Sandra und Robin starrten bleich vor Schreck auf die Vierbeiner. „Was … was geht hier bloß vor?“, fragte Robin mit heiserer Stimme. „Schhht!“ Sandra deckte die Tiere wieder zu, drehte sich um, öffnete einen der gläsernen Wandschränke und sah sich den Inhalt genau an. „Sieht nach einer Tierklinik aus, wenn ich diese braunen Medizinflaschen auf den oberen Regalbrettern so ansehe, aber das da unten …“, flüsterte sie. „Eine Tierarztpraxis, hier, wozu?“, unterbrach sie Robin. „… das da unten“, fuhr Sandra fort und griff mit ihrer Linken nach einem faustgroßen Plastikpäckchen auf den unteren Regalbrettern, das mit einem feinen, schneeweißen Pulver gefüllt war, „das sieht nach etwas anderem aus …“ Sie hob das Päckchen in die Höhe und betrachtete es von allen Seiten. Dann dämmerte es ihr langsam. „Das“, sagte sie mit belegter Stimme, „das kann nur Rauschgift sein – Kokain!“ Als ob sie eine heiße Kartoffel in der Hand hielte, legte sie das Päckchen wieder auf seinen Platz zurück. Im Schrank lagen noch mindestens 30 weitere Pakete. Hastig schloss Sandra den Glaskasten. „Die müssen ein Vermögen wert sein“, flüsterte Robin. 100
„Ja. Aber nur, wenn man sie aus Venezuela rausschmuggeln und in den USA oder Europa teuer verkaufen kann! Wir müssen weg von hier, Robin.“ Sandras Stimme klang trocken. Noch einmal leuchtete sie den Raum ab. In einem anderen Glasschrank entdeckten sie eine auffallend blau gefärbte Plastikschale. Sie traten an den Kasten heran und Sandra richtete den Strahl ihrer Taschenlampe in die Schüssel. Den beiden wurde schlecht.
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Zu spät!
„Das … das sind abgeschnittene Spitzen von Hundeohren!“, ächzte Robin. „Ja …, um Hunde unauffällig zu kennzeichnen.“ Auch Sandras Stimme zitterte. „Was?“ Robin erahnte, was Sandra meinte. „Du glaubst doch nicht etwa, um den Stoff zu schmuggeln, nehmen Pedro Koolmann und Carlos Tromp …“ Noch während sie sich verwirrt anstarrten, hörten sie plötzlich dumpfe Stimmen hinter der Metalltür aufklingen. – Jemand war auf dem Weg in den kleinen Operationssaal. Ein Schlüsselbund klirrte, die Klinke wurde gedrückt. Sandra und Robin huschten atemlos durch die Holztür, durch die sie gekommen waren und konnten sie gerade noch zuziehen. Da trat auch schon jemand ein. Sandra bückte sich und warf einen flüchtigen Blick durch das Schlüsselloch. Im Licht der Operationslampe, die in der Zwischenzeit eingeschaltet worden war, konnte sie drei Männer erkennen: „Pedro, Carlos und Ruben“, wisperte sie. Sandra richtete sich auf – KLACK! Sie stieß mit dem Kopf gegen die Klinke. Pedro Koolmann wirbelte herum. „Weg!“, zischte Sandra. Sie flitzten die finstere Treppe hoch, die rechts vom Gang nach oben führte. 102
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Die Holztür flog auf und Pedro stand im Tunnel. Der helle Schein aus dem OP ließ ihn einen geisterhaften Schatten in den Gang werfen. Sandra und Robin standen nur ein paar Stufen über ihm im Dunkel an die Wand gepresst und wagten nicht zu atmen. Keine Sekunde zu spät hatte Sandra ihre Taschenlampe abgedreht. Pedro lauschte einige Sekunden, dann machte er kehrt. „Diese alte Holztür, der Luftzug …“, hörte ihn Robin sagen. „Wir müssen sie fertig machen, dann bringen wir sie morgen Abend zu mir und übermorgen sind sie im Flugzeug …“ Koolmann warf die Tür zu und es wurde wieder finster. Die beiden atmeten tief durch. „Die sind beschäftigt – los, das Bild“, hauchte Sandra. „Probieren wir es über die Wendeltreppe. Vielleicht haben wir Glück.“ „Aber wir können doch nicht zulassen, dass …“ „Wir haben genug gehört, Robin. Ich hab einen Plan. Wenn der klappt, dann … aber jetzt sehen wir uns das zweite Ölbild an –“
Armin und Mario saßen wie auf glühenden Kohlen. Sie hatten das Auftauchen und Verschwinden der Nautilus mitbekommen, aber nichts mehr von Sandra oder Robin gehört und auch nicht bemerkt, wie die beiden dem U-Boot gefolgt waren. „Sie haben sich bis jetzt nicht gemeldet oder ein Zeichen mit der Taschenlampe gegeben.“ Armin war äußerst besorgt. „Sie sind schon fast eine Stunde weg!“ 104
„Mach uns nicht verrückt“, sagte Mario, aber seine Stimme klang heiser. Er hatte auch ein ungutes Gefühl. „Vielleicht haben wir das Zeichen übersehen …?“ Armin blickte ihn stumm an. Dann beobachteten sie Tromp-Land weiter, achteten auf jede noch so kleine Bewegung, lauschten angespannt in die Dunkelheit hinein. Im gedämpften Licht von Sandras Taschenlampe gelangten sie an eine schmale, hölzerne Tür am Ende der steinernen Wendeltreppe. „Wo die wohl hinführt?“, flüsterte Robin. „Das wissen wir gleich.“ Sandra griff nach der Türklinke, öffnete die Tür und steckte ihren Kopf in den Flur, der dahinter lag. „Wir sind in der ‚Villa Tromp-Land‘“, sagte Sandra leise. Vorsichtig traten sie auf den Flur, der sich über die gesamte Länge der Etage erstreckte, hinaus und Sandra ließ den Lichtkegel ihrer Taschenlampe über den Gang gleiten. Dunkelrote Tapeten zierten die Wände, auch die Tür, durch die sie auf diese Ebene der Villa gelangt waren, das Erdgeschoss vermutlich. Auf jeder Seite des Flurs befanden sich drei Türen. An einem Ende des Ganges führte eine nicht allzu breite Holztreppe seitlich nach oben. „Wo würdest du dein Büro einrichten?“, fragte Sandra Robin leise. „Ganz oben?“ „Ja.“ Auf Zehenspitzen schlichen sie los und erreichten am Ende der Stufen durch einen offenen Holzbogen Carlos’ Büro, das wie eine Bibliothek eingerichtet war. Staunend blieben sie stehen. 105
„Nimm deine Taschenlampe aus dem Gürtel und hilf mir suchen“, sagte Sandra zu Robin. Robin holte die Taschenlampe aus dem Gürtel und gemeinsam nahmen sie das Büro unter die Lupe. Stofftapeten zierten die Wände, der Fußboden war mit Perserteppichen bedeckt; eine Unmenge von Bildern belebte den Raum und die Möbel, der Schreibtisch und der dazugehörige Sessel waren aus wertvollem Holz hergestellt – das passte überhaupt nicht zum üblichen Wohnstil in diesen Breiten. „Wer so fein lebt, muss eine Menge Kohle haben“, flüsterte Sandra. „Eine riesige Menge Kohle –“ Robin warf Sandra einen Blick zu. Er schien unsicher, nickte aber. Der Strahl von Sandras Taschenlampe fiel auf die Wand gegenüber dem Schreibtisch. „Da ist sie – die Ghost“, hauchte Sandra. Sie drückte Robin ihre Lampe in die Hand und nahm das Gemälde ab. Es war schwer. Der Goldrahmen war merkwürdig rund geformt und deutlich dicker als bei anderen Bildern dieser Größe. Vorsichtig schüttelte sie das Bild. Nichts klimperte – also keine Goldmünzen. Sie klopfte den Holzrahmen auf Hohlräume ab. „Ein ganz gewöhnlicher Rahmen“, sagte sie fast enttäuscht. „Dreh es um“, flüsterte Robin. Sandra wendete das Bild. „Das ist ja komisch – die Rückseite ist auch aus Holz“, murmelte sie. „Klopf auch die Rückseite ab“, schlug Robin vor. Leise pochte sie auf das Holz. „Da klingt es hohl“, sagte Sandra und strich mit der Hand über eine bestimmte Stelle. 106
„Bingo! – Da ist ein Deckel –“ „Ein Geheimfach“, kombinierte Robin aufgeregt. In Windeseile holte Sandra ihr Taschenmesser aus ihrem Detektivgürtel, klappte die kleine Klinge aus und steckte die Messerspitze in die feine Holzritze, die sie ertastet hatte. Sanft hob sie den Deckel an. Angespannt leuchtete Robin in das Fach, doch es war leer. „Mist!“, fluchte Sandra. „Hier drinnen war mit Sicherheit das Logbuch versteckt –“ „Das hat jetzt sicher Carlos“, flüsterte Robin. Sandra lehnte das Bild an die Wand, hastete zum Schreibtisch und riss eine Schublade nach der anderen auf – nichts. „Verdammt! Es muss hier sein“, zischte sie. Frustriert ließ sie die Schultern sinken. „Das Mousepad, Sandra – ziemlich groß, findest du nicht?“, sagte Robin leise, der Sandra zum Schreibtisch gefolgt war und die Schreibtischplatte abgeleuchtet hatte. Sandra zog das Mousepad zur Seite. „Da ist eine Art Deckel – ein Geheimfach! Du bist spitze, Robin! Aber wie geht es auf? Der Deckel ist so fein eingepasst, dass ich mit der Messerspitze nicht in die Rille komme.“ Sie fuhr mit den Fingern die Kanten der Schreibtischplatte entlang, aber nirgendwo gab es einen Mechanismus, mit dem die Abdeckung zu öffnen war. „Vielleicht geht es von unten?“, flüsterte Robin. Sandra kroch halb unter den Schreibtisch. „Ich spüre etwas“, murmelte sie. „Warte!“ Dann drückte sie von unten gegen die Platte. Das reichte, um den millimetergenau eingepassten Plattenteil anheben zu können. 107
Robin steckte seine Taschenlampe wieder in seinen Gürtel, griff mit der freien rechten Hand nach der Abdeckung, legte sie auf die Platte und leuchtete mit Sandras Lampe in das sichtbar gewordene Geheimfach. „Da ist ein Hohlraum – und das sieht nach einem Buch aus …“, flüsterte er aufgeregt, während er ein in dunkles Leder gebundenes Buch aus dem Fach zog. Robin entzifferte die goldenen Lettern auf dem Buchdeckel: Logbuch der Ghost. Sandra, die schnell unter dem Schreibtisch hervorgekrochen war, nahm das Buch, das ihr Robin in die Hände drückte, und schlug die erste Seite auf. Robin leuchtete. Stumm begannen sie zu lesen. Schon die ersten Worte jagten den beiden einen Schauer über den Rücken:
Logbuch Des Kapitäns der GHOST, jenes unheilvollen Piratenjägers, welcher auf allen Meeren … „Hast du das auch gehört?“, zischte Robin. Lichtschimmer von der unteren Etage drang nach oben. Sie vernahmen gedämpfte Stimmen. „Da kommt wer!“, flüsterte Sandra. „Schnell weg!“ Sie klemmte das Logbuch in ihre Shorts, schloss die Platte und schob das Pad darüber. „Auf den Balkon!“ „Das Bild …“, zischte Robin. Sie hasteten zum Bild der Ghost und Sandra hängte es schnell an den Haken. Robin schnappte sich den Holzdeckel des Geheimfaches des Bildes. Dann liefen sie zur Balkontür und schlüpften hinaus. In der Eile schlug Robin mit dem Deckel gegen die Tür. 108
„Oben ist jemand“, hörten sie eine Stimme rufen, dann polterten Schritte die Holztreppe empor. Im Zimmer ging das Licht an. Eine kurze Stille folgte. „Sie müssen auf dem Balkon sein!“, rief eine Stimme. – sie gehörte Carlos Tromp. „Los, hinterher!“, rief er. Eine hohe Königspalme knapp vor dem Balkongeländer war Sandras und Robins einzige Chance. „Wir müssen springen.“ Robins Herz schlug bis zum Hals. Hastig stopfte er Sandras Taschenlampe in eine seiner Shorttaschen. „Du zuerst, Sandra, du hast das Buch.“ Den Holzdeckel warf er achtlos über den Balkon hinaus. Der Stamm der Palme war rund einen Meter entfernt. Sandra kletterte auf die steinerne Brüstung, wankte kurz – und sprang. Ihre Arme bekamen die Palme zu fassen. Wieselflink kletterte sie hinunter. Robin machte sich bereit, da wurde die Balkontür hinter ihm aufgerissen. Er sprang und rutschte los. Tromps Gesicht erschien über dem Steingeländer. In seiner Linken schimmerte es metallen – eine Pistole! So viel konnte Robin noch erkennen. „Einbrecher! Lumpenpack! Gesindel! Halt, oder ich schieße!“, hörten sie Tromp rufen. Pedro stürmte mit einer Taschenlampe auf den Balkon. Ein Lichtstrahl schnitt in die Finsternis, erfasste Sandra und Robin kurz auf ihrer Flucht zum Wasser. Bumm! Ein Schuss knallte durch die Nacht. Draußen am Meer schreckten Armin und Mario hoch. Der Knall des Schusses versetzte sie in Panik, sie fühlten sich wie inmitten eines Alptraums. „Lass den Motor an!“, rief Armin. „Vielleicht ist es 109
noch nicht zu spät!“ Hektisch löste er die Halteleine des Bootes. Mario warf den Motor an und hielt auf die Küste zu. Carlos hatte einen Warnschuss in die Luft abgefeuert. Wohin würde er beim nächsten Mal zielen? „Schalte die Scheinwerfer auf dem Gelände ein, Pedro“, brüllte er. „Sie müssen irgendwo da unten sein, die kriegen wir! Los!“ Sandra stoppte kurz vor der Felsentreppe, die zum Meer hinabführte. Robin lief sie fast um. „Was ist!“, keuchte er. „Weiter!“ „Über die Treppe sind wir zu langsam, da erwischen sie uns!“, rief Sandra und zerrte Robin nach links. „Da, wo die Nautilus verschwunden ist, da ist es sicher tief genug.“ Sandra packte Robin am Arm. „Du bist verrückt!“, war das Einzige, was Robin hervorbrachte. Im Laufen zog Sandra eine Plastiktüte aus ihrem Detektivgürtel, steckte das Logbuch hinein, wickelte die Tüte zu und nahm sie in ihre Linke. Dann fasste sie mit ihrer Rechten nach Robin. Da flammten die Scheinwerfer auf dem Grundstück auf. Tromp und Koolmann stürmten aus der Villa. „Zur Felsentreppe“, rief Tromp. „Nein, da drüben“, schrie Koolmann, der Sandra und Robin entdeckt hatte. Ein zweiter Schuss hallte durch die Nacht. Tromp feuerte wieder. Sandra und Robin sahen die beiden heranstürmen und stießen sich ab. Sie fielen, fielen, fielen … Dann tauchten sie wie zwei Torpedos in die warme See. 110
Carlos Tromp schoss noch einmal. Bald darauf erreichte er den Klippenrand. Tief waren die beiden ins Meer eingetaucht, Schwärze umfing sie. Das Salzwasser brannte in ihren Augen. Sie ruderten mit Armen und Beinen, hatten ihre Orientierung verloren. Sie wussten für ein paar entsetzliche Augenblicke nicht, wo oben oder unten war. Sandra versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. „Der Trick aus dem Tauchkurs“, durchfuhr es sie: Luftblasen steigen immer zur Wasseroberfläche auf! Auf diese Weise kann man sichergehen, nicht in die falsche Richtung zu schwimmen. Sandra öffnete den Mund und ließ einige Blasen wertvolle Atemluft entweichen – nichts, sie erkannte nichts! Ihr Atem wurde knapp. Krampfhaft hielt sie das in die Tüte gewickelte Logbuch in ihrer Linken. Die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Da wurde sie am rechten Arm gepackt und in eine bestimmte Richtung gezogen. Jetzt sah sie Licht durch das Wasser schimmern. Robin hatte die Nerven bewahrt und das Scheinwerferlicht, das über die Felswand hinaus die Nacht erhellte, zuerst entdeckt. Instinktiv hatte er nach Sandra gegriffen. Im Aufflammen der Scheinwerfer hatten Armin und Mario die beiden Gestalten erkannt, die sich über die Klippe in die Tiefe stürzten. Noch vor dem letzten Schuss steuerten sie auf die Stelle zu, an der Sandra und Robin ins Meer eingetaucht waren. Der dritte Schuss wummerte in der Nacht, als Robins Kopf aus den Wellen tauchte. Mario stellte den Motor ab, hievte gemeinsam mit Ar111
min die beiden ins Boot. Dann paddelten sie das Gefährt leise hinter den Pflanzenvorhang, hinter dem die Nautilus verschwunden war. Keine Sekunde zu spät. Robin hatte noch gespürt, dass er unsanft aus dem Wasser gerissen worden und auf Holzplanken geknallt war. Ein heller Blitz hatte ihn durchzuckt, dann war es um ihn dunkel geworden. „Die sind erledigt“, schnaufte Carlos Tromp am Rand der Klippe. „Das sind zwei von diesen verdammten Kindern gewesen, die hinter uns herschnüffeln. Ich bin mir sicher, zwei gesehen zu haben“, sagte Pedro Koolmann heftig atmend und starrte in die Tiefe. „Bleiben noch die anderen beiden, dann ist die Bahn wieder frei“, knurrte Carlos Tromp. „Komm, zurück zum Geschäft. Ruben wird die ‚Sendung‘ in der Zwischenzeit fertig haben. Und mach die Scheinwerfer aus, sonst fällt das noch auf. Die Schüsse hat hoffentlich niemand gehört und vielleicht die Polizei informiert. Wenn ja, dann sagen wir, dass Einbrecher hier gewesen sind. – Aber du weißt, schlafende Hunde soll man nicht wecken.“ Er grinste und dachte daran, was für ein treffendes Wortspiel er da gerade gebraucht hatte. Er drehte sich um und ging zur Villa zurück. Pedro Koolmann warf noch einen Blick aufs Meer hinaus. Dann folgte er Tromp. Irgendjemand schlug ihm leicht ins Gesicht. Dumpf vernahm er eine Stimme, in seinem Kopf hämmerte Schmerz. „Wach auf, Robin!“, sagte die Stimme. 112
Langsam schlug Robin die Augen auf. „He – danke.“ Sandra lächelte Robin an. „Das war knapp.“ „Ja, das war es. Aber wenigstens hat es sich bezahlt gemacht …“ Robin richtete sich auf. „Hat es doch, oder …?“ „Ja. Wir haben das Logbuch.“ Sandra zog es aus der Plastiktüte. „Unversehrt.“ „Wo … wo sind wir?“, fragte Robin. „Kurz vor Oranjestad. Du warst ganz schön lange weggetreten“, antwortete Sandra. Robin rappelte sich auf. „Ich habe einen Plan, Jungs“, kündigte Sandra an. „Onkel Rudi ist ein guter Freund von Rodrigo, dem hiesigen Polizeichef. Armin, du versuchst gemeinsam mit Mario und Robin ihn davon zu überzeugen, dass er mit einigen Männern morgen, pünktlich um Mitternacht, vor Tierra del Sol sein soll. Und sie sollen Boote mitbringen.“ „Warum?“ „Das erklär ich euch zu Hause. Wenn wir auch nur im Entferntesten richtig liegen, dann machen Pedro und Carlos absolut miese Geschäfte – Geschäfte mit Menschenleben. Ich werde mir aber das Logbuch der Ghost noch genau ansehen. Wäre doch gelacht, wenn wir dem ganzen Spuk um den Fluch der Geister-Piraten und den Golddublonen nicht auf die Schliche kämen.“ „Wir legen gleich an“, sagte Mario, der am Steuer saß. „Schaffst du es allein nach Hause“, fragte er Robin. „Klar. Mein Kopf brummt zwar noch, aber es wird von Minute zu Minute besser“, erwiderte Robin. „Gut, dann bis heute in der Früh, so gegen neun Uhr in 113
Onkel Rudis Haus“, schlug Sandra vor. „Meine Taschenlampe!?“, sagte sie und sah Robin fragend an. Der blickte sie etwas verblüfft an, griff dann in eine seiner Taschen und reichte sie Sandra. Armin und Mario grinsten – was ihre Ausrüstung betraf, war Sandra ziemlich genau. „Ich komm etwas später, so gegen elf Uhr“ sagte Robin, „geht das in Ordnung?“ Sandra, Armin und Mario nickten. Dann kletterten die vier an Land und vertäuten das Boot. Es war fast schon ein Uhr morgens, als sich ihre Wege trennten. Sandra ahnte noch nicht, dass ihre Nacht soeben erst begonnen hatte.
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Von seiner Kugel getroffen
Sandra wälzte sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. Obwohl die Klimaanlage lief, konnte sie nicht richtig schlafen. Das Logbuch ließ ihr keine Ruhe. Sie blickte auf den Wecker: vier Uhr. Sie nahm das Logbuch zur Hand, legte sich bäuchlings auf das Bett, zog die Bettdecke wie ein Zelt über ihren Kopf, knipste dann die Taschenlampe an (die Batterien hatte sie noch vor dem Schlafengehen gewechselt) und lehnte das Logbuch gegen das Kopfkissen. Erwartungsvoll öffnete sie das in Leder gebundene Buch. Sandra ergriff ein Gefühl, als reise sie in die Vergangenheit, in die Zeit der Piraten … Sie begann zu lesen:
Logbuch Des Kapitäns der GHOST, jenes unheilvollen Piratenjägers, welcher auf allen Meeren gegen die Sklavenhändler kämpft. In ferner Zukunft soll das Logbuch an das Schicksal gut gesinnter Männer erinnern. Sollen alle bösen Elemente mein Schiff fürchten, sollen alle vor meiner Galionsfigur erzittern. 115
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Sandras Aufregung stieg von Zeile zu Zeile. Das Buch war halb voll geschrieben. An manchen Stellen war die Schrift unleserlich, verwischt. Anscheinend war bei ihrem Sprung ins Meer etwas Wasser an das Papier gekommen. Sandra blätterte zu den letzten Seiten, suchte den letzten Datumseintrag: 30. Dezember 1791 stand oben rechts auf der vergilbten Seite:
Alleine blieben wir in unserem Kampfe gegen jene, die mit Menschen handeln, um ihren eigenen Reichtum zu mehren. Schlimmer noch: die Urheber des Unrechts verbünden sich. Ich, Henry Moore, ahne, dass dies die letzte Fahrt der Ghost ist. Der Feind hat zurückgeschlagen. Die Geschehnisse der vergangenen Tage ließen es mich erahnen. Von seiner Kugel getroffen, schwach und von Fieberkrämpfen geschüttelt, hoffe ich, diese Worte noch für die Nachwelt niederschreiben zu können, ehe ich sterbe. Zwar nahmen wir den Sklavenhändlern den Lohn für ihre Schandtaten ab, doch dann lockte bei uns selbst an Bord einige das Gold. So handelte ich kurz entschlossen, um stärkende Eintracht wieder in die Mannschaft zu bringen: Die Menschen auf Aruba staunten, als ich eines Abends mit einem Begleiter in einem Beiboot an Land gerudert kam. Es war am Adlerstrand, wo die Wirtstaverne meiner – Gott sei ihrer Seelen gnädig – verstorbenen Eltern in meinem Auftrage von einem Eingeborenen geführt wurde. Ich habe vorgegeben, dass ich mit 117
ihm nicht zufrieden sei und etwas umbauen wolle. Kurzerhand habe ich ihn hinausgeworfen – und auch die anwesenden Gäste. Eine schwere Truhe und Werkzeuge hatte ich mit an Land gebracht. Mit meinem taubstummen Gehilfen arbeitete ich die ganze Nacht durch. Als am nächsten Morgen in der alten Gaststube einige Wände ausgebessert oder gar erneuert waren, blickte ich erfreut auf das Ergebnis. Zwei Wände hatte ich ganz und gar mit Muscheln bedecken lassen. Mit der runden, gewölbten Seite nach außen, war jede einzelne sorgfältig in den Wandputz gedrückt worden. Als der Wirt am nächsten Tag wieder auftauchte und bat, dass ich ihm weiterhin die Taverne überlassen solle, willigte ich ein, empfahl seine Seele aber mit grimmigem Blick Gott, wenn er fürderhin nicht besser wirtschafte und auf das Erbe meiner Eltern aufpasse. Ich käme wieder, zu einem Zeitpunkt, den ich selbst noch nicht wüsste. Am selben Morgen kehrte ich der Insel den Rücken. Zurück auf der Ghost nahm das Verderben seinen Lauf, als wir den Schutz der Küste verließen. Wir setzten Segel Richtung Venezuela. Kurz vor der Küste Venezuelas nahten sich uns einige Schiffe. Ben Morgan – er sei verflucht bis in alle Ewigkeit, der räudige Hund – hatte uns aufgelauert. Dennoch waren wir zum Kampfe gegen die Übermacht entschlossen, denn ohne mich war das unrechte Sklavengold nicht aufzufin118
den. Und die Ghost war wendig und schnell. Morgan brauchte mich lebend. Eine Kanonenkugel, schießen kann der Hund, traf den Bug der Ghost. Die Galionsfigur des Schiffes hatte sich gelockert und drohte in die See zu stürzen. Nichts mehr Unheil verkündigendes gibt es für einen Seemann, als die Galionsfigur zu verlieren! Der Kampfesmut meiner Mannen erlosch wie eine Kerzenflamme im Wind. Also barg ich den Kopf der Galionsfigur und brachte ihn in meine Kajüte. Doch das beruhigte die Männer nicht. Zu meiner eigenen Verwunderung entdeckte ich, dass der Kopf hohl war – Ramon Diaz hatte den Kopf ausgehöhlt, um ihn leichter und somit meiner Forderung entsprechend über jegliche Naturkraft erhaben zu machen. Und das brachte mich auf die Idee, die wahrhaft Gold wert war. Ich ließ ein leeres Rumfass, Nägel und Wachs bringen. Dann nahm ich den hohlen Kopf der Ghost und … „Verdammt! Ausgerechnet hier muss das Wasser die Tinte verwischt haben“, ärgerte sich Sandra. Sie schluckte und blätterte zur nächsten lesbaren Stelle weiter.
Nachdem ich es vollbracht hatte, versprach ich jedem Einzelnen meiner Mannschaft seinen Anteil am Gold, wenn wir Morgan entkämen. Ihr Kampfgeist kehrte zurück. Zwar wurde gemurrt, aber das Gold war stärker als die Angst vor dem möglichen Tode. Dann, alle waren auf Ihrem Posten, 119
gab ich den verhängnisvollen Befehl, … Wieder war der Text verwischt und Sandra blätterte weiter.
Ein Hagel von Kanonenkugel regnete auf die Ghost herab. Und wer das überlebt hatte, hatte bald darauf eine Schlinge um den Hals. Morgans Leute holten einen nach dem andern und an der Rah, die vom höchsten Mast übrig geblieben war, … „Schon wieder unleserlich“, dachte Sandra und schlug die nächste Seite auf.
Dann hörte ich Schritte. Morgan trat in meine Kajüte. Er war gekommen, um die Golddublonen zu holen. Verächtlich brüllte er los: „Wo hast du Halunke meinen Schatz verste… Diesmal hatte mitten im Wort das Wasser seine Spuren hinterlassen. Sandra las begierig weiter, wo sie die Buchstaben wieder entziffern konnte.
Ich spüre meine Kräfte schwinden, während ich auf Morgan blicke, der auf dem Kajütenboden liegt. Blut sickert aus seiner Brust. Und soll sein Fluch erhört werden und wir auf ewige Zeiten ruhelos auf dem Meere umherreisen, dann sollen diese Aufzeichnungen in ferner Zukunft an meiner Stelle davon Auskunft geben, was geschehen ist. Sollen von meiner Vorah120
nung kundtun, von der Ghost und davon, was sich Tage vor dem Ende des Jahres vor der Küste Venezuelas, genau am 70. Grad westlicher Länge und 11 Grad 48 Minuten nördlicher Breite zugetragen hat. Die Ghost weiß alles! Möge Gott meiner Seele gnädig sein. Gezeichnet, Henry Moore Anno Domini 1791 Sandra legte das Logbuch zur Seite. Die Geisterstimmen, die sie auf der Ghost gehört hatten, kamen ihr in den Sinn. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Sie schaute auf den Wecker. Es war schon halb sechs. Sie brannte darauf, die Jungs zu informieren. Aber sollte sie die beiden jetzt wecken? Sie hielt das Logbuch Henry Moores in den Händen, eines Mannes, der trotz zweifelhafter Methoden versucht hatte, Menschen vor der Sklaverei zu retten und dafür gestorben war. Sie legte das Buch beiseite und dachte darüber nach. Langsam fielen ihr die Augen zu. Lautes Hämmern riss sie aus dem Schlaf. Jemand trommelte gegen ihre Zimmertür. „Oh Gott! Schon elf vorbei!“, murmelte sie mit einem Seitenblick auf ihren Wecker. Sandra sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Shorts und öffnete. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Armin. „Hab verschlafen –“ „Mach schnell! Wenn du wüsstest, was wir von Rodrigo heute schon erfahren haben!“, platzte Mario heraus. 121
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Der Maskenmann
Sandra machte Katzenwäsche, ging dann hinunter in die Küche und setzte sich an den Tisch. Die Jungs hatten ihr ein paar Stück Apfelstrudel übrig gelassen, den Onkel Rudi, der schon wieder im Chalet Suisse war, selbst gebacken hatte. Armin, Mario und Robin warteten bereits auf sie. „Es ist einfach unglaublich, Sandra“, begann Armin. „Carlos hat uns bei weitem nicht die ganze Geschichte erzählt …“ „Pedro und Carlos sind Halbbrüder“, fuhr Mario fort. „Die beiden saßen in Europa wegen Drogenschmuggels ein Jahr hinter Gittern. Als sie aus dem Kittchen entlassen wurden, schlugen sie hier ihre Zelte auf. Das war laut Polizeiakten vor vier Jahren. Pedro verdient seinen Unterhalt als Tierarzt, Carlos mit Adventure-Tours.“ „Und jetzt kommt’s“, sagte Armin geschäftig. „Sie handeln auch mit Hunden! Verkaufen sie nach Holland.“ „Was soll das schon Geld bringen?“, schüttelte Robin den Kopf. „Europäer kaufen sich ihre Hunde in Europa und keine Promenadenmischung aus Aruba –“ „Genau. Und deshalb gibt es einen anderen Grund dafür. Und was für einen!“ Sandra gähnte. „Entschuldigt. Das ist tolle Detektivarbeit, aber keine Neuigkeit.“ 122
„Wie bitte?“ Armin und Mario schauten verdutzt. „Seid nicht böse, aber seit gestern Nacht weiß ich auch, warum sie Hunde verkaufen. Darf ich raten? Gründlich wie ihr seid, habt ihr natürlich auch in der Inselgeschichte nachgeforscht und …“, Sandra legte eine kurze Pause ein, „rausgefunden, dass die gesamte Mannschaft der Ghost mit Henry Moore an Bord vor der Küste Venezuelas aufgebracht worden ist. Genau gesagt 70 Grad westlicher Länge, 11 Grad und 48 Minuten nördlicher Breite – also in jenem Küstenabschnitt, wo heute Tromp-Land liegt.“ Den drei Jungs verschlug es regelrecht den Atem. „Woher weißt du das?“, fragte Robin. Sandra tippte auf das Logbuch, das sie auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. „Ich hab die halbe Nacht darin gelesen. Carlos ist von dem Gedanken besessen, die 1000 Golddublonen von Henry Moore zu finden. Wahrscheinlich vermutet er, dass Moore den Schatz vor der Auseinandersetzung mit den Sklavenhändlern noch irgendwo verstecken konnte – vielleicht in einer Unterwasserhöhle. Das Logbuch hat er ja gelesen. Ich glaube, er geht auch davon aus, dass sich im oder auf dem Bild im ‚Shabby Shic‘ weitere Hinweise auf die Golddublonen finden, möglicherweise eine Schatzkarte. – Und Tromp-Land ist am besten vom Meer aus zu erreichen – der ideale Platz für die ‚wirklichen Geschäfte‘ der beiden Brüder.“ „Welche ‚wirklichen Geschäfte‘?“, wollte Robin wissen. „Das wirst du sehen … Wir stellen ja eine Falle, oder?“ Mario blickte von Sandra zu Armin. Die nickten. „Dein Pech, Robin, war, dass Alberto dir das Bild von Henry 123
Moore und den Galionskopf der Ghost versprochen hat. Sonst wärest du nie in diese Geschichte reingezogen worden – und auch Butschi wäre nie verschwunden.“ Mario tat ziemlich geheimnisvoll. „Wie gehen wir vor?“, fragte Armin. „Wir müssen sie auf frischer Tat ertappen. Wenn wir einen dann irgendwie festhalten könnten …“ Mario rieb sich nachdenklich das Kinn. „Am besten wir –“ Weiter kam er nicht. Die Küchentür flog mit berstendem Krachen auf. Ein Fremder füllte die Türöffnung aus, in der Hand hielt er ein rasierklingenscharfes Messer. Er musste durch die offene Terrassentür im Wohnzimmer ins Haus geschlichen sein. Sandra stieß einen dumpfen, erschrockenen Laut aus. Die vier sprangen auf. Vor ihnen stand ein dunkel gekleideter, vermummter, Furcht einflößender Riese von einem Mann. Über seinen Kopf hatte er eine Maske gezogen, die nur die Augen und den Mund freiließ. „Keine Dummheiten, ihr –“ Einen kurzen Moment stockte die Gestalt. Mit vier Gegnern schien der Fremde nicht gerechnet zu haben. Doch gleich blitzte es in seinen Augen wieder auf. „Ihr seid für Freunde von mir ein kleines Problem –“ Die Lippen des Unbekannten verzogen sich zu einem gefährlichen Lächeln. Er wog das Messer in seiner Hand. So, als hätte er die Lösung des Problems längst gefunden … Dann überstürzten sich die Ereignisse. Wild brüllend fasste der Maskenmann Robin, der ihm am nächsten stand. 124
Mario packte die Milchflasche am Küchentisch. Für einen Moment war der Fremde abgelenkt. Armin nützte die Gelegenheit und trat gegen den Stuhl, auf dem Robin gesessen hatte. Die Stuhllehne krachte gegen den Arm des Fremden. Klirrend schlitterte das Messer über den Fußboden. Voll Schmerz schrie der Unbekannte auf, taumelte zurück. Doch er fing sich blitzschnell. Wütend packte er einen Messingkerzenständer, der auf einem kleinen Anricht-Tischchen neben der Küchentür stand, und warf ihn nach Mario. Mario hechtete zur Seite, der schwere Leuchter flog klirrend durch ein Küchenfenster. Wie versteinert hatte Robin zuerst alles beobachtet, dann wich er in eine Nische neben dem Kühlschrank zurück. Er schien erst aus seiner Starre zu erwachen, als sich der Maskenmann auf Sandra stürzte. Mit einem kräftigen Ruck riss Robin die Kühlschranktür auf, die donnernd gegen die Stirn des Vermummten krachte. Ächzend ging der Angreifer in die Knie. Ein nasser Fleck wurde oberhalb der Sehschlitze auf der Maske sichtbar. Fahrig griff sich die vermummte Gestalt mit der Rechten an die Stirn – Blut. Schon glaubten sich SAM und Robin als Sieger, atmeten kurz auf. Doch jäh kam der Unbekannte auf die Beine, griff wieder nach Sandra und erwischte einen Zipfel ihres T-Shirts. Grob riss er das Mädchen an sich und wirbelte es herum. Mit der Linken schnappte er sich ein Messer vom Küchentisch und setzte es Sandra an die Kehle. Die Jungs hielten in ihrer Bewegung inne. 125
„Ganz ruhig, sonst …“, krächzte der Mann heiser. Das Blut aus seiner Platzwunde war nach unten gesickert, hatte einen Tropfen am oberen Rand des Sehschlitzes gebildet, der sich jetzt langsam löste und auf den Kachelboden fiel, wo er zu einem Klecks zerplatzte. Armin verfolgte das ganze mit geweiteten Augen – ihm schien das alles wie in Zeitlupe zu geschehen. „In Kolumbien krieg ich für so junge Arbeitstiere wie euch eine Menge Geld. Geld, für das ich mir etwas kaufen werde, das mich an euch erinnert – am besten ein Klo! Ha, ha, ha …!“, lachte der Maskenmann mit fliegendem Atem. Die Bemerkung traf Armin wie eine schallende Ohrfeige. Hass loderte in ihm hoch, ließ für Angst keinen Platz mehr. „Nein, Armin!“, sagte Sandra bestimmt, als sie sah, wie er sich nach einer Waffe umblickte. Dabei hob sie wie abwehrend ihre Hände. Mario schaltete schnell. Sandra war in Selbstverteidigung ein Ass. Sie wusste über viele Tricks, aus ihrer jetzigen Situation heil zu entkommen, genau Bescheid. Sie waren sicher alle riskant, aber die einzige Chance. Mario versuchte die Aufmerksamkeit des Todesengels, so kam er Mario vor, auf sich zu lenken. „Wenn Sie Sandra töten, müssen Sie uns auch töten!“ Ein spöttisches Lächeln erschien um die Mundwinkel des Mannes. Dann griff er mit seiner Rechten nach dem Messer an Sandras Hals – er wollte sichtlich die Waffe in seine rechte Hand wechseln, wahrscheinlich war er Rechtshänder. Dabei lockerte er seinen Griff um Sandra. Diese Chance nützte sie. Mit voller Wucht stieß Sandra 126
ihre Hände und Arme gegen die Unterarme des Mannes und brachte dadurch das Messer von ihrem Hals weg. Sie ging leicht in die Knie, wirbelte in einer runden Bewegung um die eigene Achse und rammte den Ballen ihrer linken Hand mit ungeheurer Kraft gegen die Nase des Maskierten. Ein Schrei kam über die Lippen des Vermummten. Er taumelte zurück und stürzte. „Schnell!“, rief Sandra. Armin reagierte sofort. Mit ein paar Schritten war er an der Küchentür, die an der Rückseite des Hauses ins Freie führte. Links davon war eine Schaltstelle der Alarmanlage angebracht. Er drückte den Auslöseknopf und im Wohnzimmer sowie außen am Haus heulte je eine Sirene auf. Der Maskierte rappelte sich hoch und verschwand durch die Küchentür im Wohnzimmer. Robin eilte ihm nach und sah ihn noch über den Rasen vor dem Haus laufen. Dann verschwand der Mann hinter ein paar Hecken. Robin drehte sich um und ging zurück in die Küche. SAM schafften gerade Ordnung. „Puh, das war knapp“, ächzte Robin. „Das kannst du laut sagen“, murmelte Sandra, „ich zittere wie Espenlaub.“ „Geht ins Wohnzimmer“, schlug Armin vor. „Ich bringe euch etwas zu trinken. Außerdem werden bald die Leute vom Sicherheitsdienst da sein. Und Onkel Rudi wird auch auftauchen.“ Onkel Rudi kam sogar als Erster angefahren. Hinter ihm rasten die Männer vom Sicherheitsdienst heran und sprangen aus ihrem Fahrzeug. Sandra lief ihrem Onkel entgegen. „Fehlalarm! Tut mir 127
Leid“, rief sie, „ich hab eine falsche Zahlenkombination gedrückt.“ Robin beobachtete, wie Onkel Rudi dem Wachdienst die Lage erklärte. „Die Geistergeschichte glaubt uns ihr Onkel nie“, sagte er zu Armin und Mario, die im Wohnzimmer mit ihm auf Rudi und Sandra warteten. „Vielleicht nicht die Geistergeschichte“, erwiderte Mario. „Aber die Sache mit den Hunden nimmt er uns allemal ab – er mag Hunde.“ Es war nicht einfach, Onkel Rudi alles zu erklären, aber schließlich glaubte er doch, dass an der ganzen Sache etwas Wahres dran sein könnte. Und Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Nicht vorzustellen, wenn einem der Kinder was zustoßen würde! Nach mehr als einer Stunde genauester Erklärungen griff Rudi zum Telefon und sprach eindringlich mit dem Polizeichef Rodrigo Perez.
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Die Millionenhunde
Mario blickte auf die phosphoreszierenden Zeiger seiner Uhr: 23.24 Uhr. Seit fast eineinhalb Stunden lagen Sandra, Armin, Mario, Robin, Rodrigo Perez sowie Jose Gonzales und Nobo Namirez, zwei von Perez’ Männern, unweit von Pedro Koolmanns Villa im Schutz überhängender Zweige auf der Lauer. Mit einem Schlauchboot waren die sieben an den Strand vor „Tierra del Sol“ gekommen. Den letzten halben Kilometer waren sie gepaddelt, um sich nicht durch den Motorlärm des Außenborders zu verraten. Nichts rührte sich bei Koolmanns Villa. Im Haus brannte kein Licht und auch im Schatten des Terrassendaches, das die gesamte Breite der Villa überdeckte, war nichts auszumachen. „Seid ihr sicher, dass Pedro, Carlos und Ruben einander hier treffen?“, erkundigte sich Rodrigo flüsternd. Er war sichtlich nervös. „Wir waren selten so sicher.“ Armins Stimme klang sehr überzeugt. „Heute Nacht machen Sie den Fang ihres Lebens.“ Schweigend warteten sie. Außer den Wellen, die lautstark gegen das Wassertor des Bootshauses der Villa und gegen den langen Bootssteg klatschten, hörten sie nichts. Nur ab und zu vernahmen sie Hundegebell. 129
„Hoffentlich habt ihr Spürnasen Recht, sonst bin ich meinen Job los –“, wisperte Rodrigo. Mario blickte wieder auf seine Uhr: 23.47. „Da …, ich glaube, das war Pedro! Er hält nach irgendwas Ausschau –“, flüsterte Sandra aufgeregt. Der Schein eines Feuerzeugs hatte für ein paar Sekunden die Züge eines Mannes erhellt. Jetzt war der glühende Punkt einer Zigarettenspitze in der Dunkelheit auszumachen. Rodrigo nahm das Fernglas mit dem Restlichtverstärker hoch und spähte zum Haus hinüber. „Tatsächlich … und da ist noch wer … Ruben Ras!“ In der Ferne klang Motorengeräusch auf. Es näherte sich. Dann schälten sich die Umrisse eines Motorbootes aus der Dunkelheit. Angestrengt spähte Perez durch sein Glas dem ankommenden Boot entgegen. „Die Seeteufel“, flüsterte Rodrigo, als das Boot schon fast auf der Höhe des Stegs war, „und Tromp steht am Steuer.“ „Na endlich“, hörten sie Koolmanns Stimme, sie klang ziemlich ungehalten. „Wurde auch Zeit!“ Rodrigo blickte durch den Feldstecher zwischen Haus und Boot hin und her. „Sie sind nicht bewaffnet. Ein Glück“, murmelte er. „Aber wir sollten sie von zwei Seiten in die Zange nehmen, damit sie auf keinen Fall türmen können. Wir brauchen eure Mithilfe, Kinder. Passt auf, folgendes Vorgehen …“ „Okay.“ Armin nickte zustimmend. „Das übernehmen Robin und ich.“ „Nehmt noch das hier und passt ja gut auf!“ Die beiden glitten ins Wasser und schwammen vorsich130
tig zum Holzpier hinüber. Die Villa und das Bootshaus, in das die Seeteufel inzwischen langsam hineinmanövriert wurde, hielten sie ständig im Auge. Armin und Robin versuchten kein Plätschern zu verursachen und hoben ihre Köpfe kaum aus dem Wasser. Zu groß war die Gefahr entdeckt zu werden. Als sie den Steg erreichten, der am Bootshaus vorbei zur Villa emporführte, ließ sie ein Scheppern zusammenzucken. Die Seeteufel war an irgendetwas im Bootshaus geschrammt. Ein schwacher Lichtschein drang aus einem Fenster des Bootshauses, das auf den Steg hinausführte. Im Schatten des Piers warteten die beiden, bis Carlos aus dem Bootshaus trat, eine Tür hinter sich zuzog und zur Villa hinaufging. Seine Gestalt zeichnete sich im Licht einer trüben Funzel, die an der Wand des Bootshauses hing und die er entzündet hatte, ab. In der Villa ging das Licht an. Armin und Robin kletterten über eine Leiter, die bis knapp unter die Wasseroberfläche führte, auf den Steg, legten sich auf die Planken, so dass ihre Umrisse mit dem Holz verschmolzen, und beobachteten das Bootshaus und die Villa. Alles lag ruhig vor ihnen. Die anderen hatten sich mittlerweile, jede Deckung ausnützend, dem Bootshaus bis auf 50 Meter genähert. Merkwürdige Geräusche drangen aus dem Bootshaus. „Sollen wir es wagen?“, fragte Robin und deutete auf das Fenster des Bootshauses. Das schwache Licht der Laterne an der Wand würde auf sie fallen, wenn sie einen Blick riskierten. Armin nickte fast unmerklich. Die beiden schoben sich an das Fenster heran und war131
fen einen Blick hinein. Von der Villa her war nichts zu hören. Anscheinend unterhielt sich Carlos mit Pedro und Ruben. „Volltreffer!“, wisperte Armin. An Deck der Seeteufel stand ein Käfig, in dem vier Hunde eingepfercht waren. Robin erkannte sie sofort wieder. Es waren jene Tiere, die er letzte Nacht im „Operationssaal“ unterhalb von Tromp-Land gesehen hatte. Die beiden hatten genug entdeckt, schlichen wieder ein Stück den Pier hinaus und legten sich flach auf den Holzplanken nieder. Augenblicke später wurde die Terrassentür der Villa geöffnet, drei Silhouetten wurden sichtbar, Schritte klangen auf. „Ab nun läuft es so …“, durchschnitt Pedro Koolmanns Stimme die Stille. Der glühende Punkt einer Zigarettenkippe verschwand in einem Bogen in der Dunkelheit. Wieder erklang Pedros Stimme, er war anscheinend der Boss der Bande. „Nach diesem Geschäft machen wir eine Woche Pause. Dann sind diese drei Affen wieder weg und der andere macht uns bestimmt keine Probleme. Die scheinen sieben Leben zu haben, wie eine Katze, bis jetzt sind sie uns immer irgendwie entwischt, aber sollten sie uns bis dahin zu viele Schwierigkeiten bereiten, dann werden wir sie“, er legte eine kurze Pause ein, „na ja, sagen wir endgültig entsorgen …“ Er lachte auf. Armin war klar, dass Koolmann keine Skrupel kannte. Tromp wahrscheinlich auch nicht. Sie schien nur eines zu interessieren: Geld. „Wir müssen zur Terrasse“, flüsterte Armin. „Die ande132
ren werden schon beim Haus sein und auf uns warten. Komm!“ Langsam stiegen er und Robin wieder zum Wasser hinunter und schwammen im Schatten des Bootssteges an Land. Vorsichtig überquerten sie den schmalen Sandstreifen vor der Terrasse und lugten über deren Rand. Pedro, Carlos und Ruben saßen im Schein des Lichts, das aus den Fenstern der Villa auf die Terrasse fiel, auf Liegen neben dem Pool, der von der See aus gesehen auf der rechten Seite des Hauses lag. Sie prosteten einander zu, Gläser klirrten. Die Männer lachten. An der linken Seite des Hauses nahmen Armin und Robin ein paar Schatten wahr, die sich von ihnen weg auf die Straßenseite des Hauses hinbewegten. „Das sind Rodrigo und die anderen“, hauchte Armin. „Sie umgehen das Haus, um in den Rücken der drei zu gelangen. Jetzt müssen wir schnell machen. Da, nach rechts, da stehen ein paar Büsche. Von dort aus haben wir eine gute Sicht auf die drei und auf die rechte Seite des Hauses.“ Sie robbten über den Sand zu den Sträuchern hinüber und äugten auf die Terrasse. Im Rücken von Koolmann, Tromp und Ras machten sie schwach einige Silhouetten aus. Rodrigo war mit seinen Männern und ihren Freunden in Stellung gegangen. Jetzt warteten sie. Das war der Schwachpunkt in Perez’ Plan gewesen, aber bisher hatte er besser geklappt als erwartet. „Also los“, hauchte Armin. Robin und er holten je zwei Patronen, die ihnen Rodrigo gegeben hatte, aus ihren Shorts. Dann warfen sie die Hülsen in hohem Bogen in den Pool. 133
Die drei Gauner fuhren wie aufgescheuchte Hühner von ihren Liegen hoch, als die Patronen auf dem Wasser aufklatschten. „Jetzt“, flüsterte Armin. „Hände hoch!“, riefen er und Robin mit verstellten Stimmen aus ihrem Versteck. Die drei blickten Richtung Strand, doch niemand war zu sehen. „Ins Ha …“, rief Koolmann, aber konnte den Satz nicht vollenden, denn Rodrigo, Nobo und Jose sprangen mit gezogenen Pistolen aus den Büschen. „Hier drüben, Pedro!“, rief Rodrigo. „Keine falsche Bewegung, sonst knallt’s! Ihr seid verhaftet!“ Die Gauner hoben die Hände, als sie in die entschlossenen Gesichter der Polizisten blickten. Carlos’ Augen weiteten sich, als er Sandra und Mario aus den Büschen kommen sah. Mit seiner Fassung war es dann vollkommen vorbei, als Robin und Armin auf die Terrasse kletterten. Hass glomm in seinen Augen auf. Pedro zischte: „Ich hätte euch mit einer Pistole statt mit einem Messer besuchen und kurzen Prozess machen sollen.“ Er spuckte aus. „Flossen oben lassen!“, rief Nobo, als Carlos seine Arme herunternehmen wollte. „Du kleiner, mieser Bulle! Du bist doch nichts weiter als eine Marionette. Eine unwichtige Figur auf dem Schachbrett meiner Geschäfte!“ Carlos spuckte in Richtung Nobo. Hier waren die beiden Halbbrüder in ihrer Unappetitlichkeit einander völlig gleich. „Und nun sind Sie schachmatt“, sagte Mario. 134
„Das ist Hausfriedensbruch, Rodrigo – das kostet Sie Ihren Job, dafür werde ich sorgen“, drohte Pedro. „Du wirst für den Rest deiner Tage irgendwo stinkende Fische schuppen, wenn ich mit dir fertig bin! Was willst du? Ich hab nichts verbrochen!“ Rodrigo nickte SAM und Robin zu. „Ein einfacher und genialer Plan, den Sie da hatten“, begann Sandra. „Ruben, ein armer unschuldiger Familienvater, der eine Menge Kindermäuler zu stopfen hat und Geld braucht, fängt für Sie wilde Straßenhunde. Er betäubt sie mit einem Gewehr. Draußen am Meer, vor den California-Sanddünen, verfrachten Sie und er die Hunde auf die Nautilus und bringen sie nach Tromp-Land …“ „Nicht schlecht“, fiel Mario Sandra ins Wort. „Ein UBoot sieht man nicht einmal am Tage – und wenn, dann ist es ja nur ein Ausflugsboot. Auf Tromp-Land haben Sie eine Tierklinik eingerichtet – als Tierarzt kein Problem für Sie.“ Jetzt führte Armin weiter aus: „Und dort implantieren Sie den armen Tieren kleine Plastikpakete mit Kokain. Sie markieren die Hunde, indem Sie ihnen eine Ohrspitze abschneiden. So erkennt Ruben sie auf Aruba wieder, nachdem Sie die Hunde nachts auf die Insel zurückgebracht und freigelassen haben. Dass die Hunde fort waren, fällt niemandem auf. Ruben fängt sie erneut ein und lässt sie ausfliegen. Um die Papiere für die Hunde kümmern Sie sich. In Europa nehmen sich Ihre alten Freunde aus vergangenen Zeiten der ‚Millionenhunde‘ an.“ „Und kein Mensch schöpft Verdacht, ist ja alles legal“, rief Robin. „Und hier gehen die herrenlosen Hunde keinem 135
ab. Nicht einmal den Zöllnern fällt etwas auf, selbst wenn die Rauschgifthunde Alarm schlagen. – Sind ja nur Hunde, die einander anbellen. Wer kommt schon auf die Idee, dass in den Tieren Drogen versteckt sind?“ „Doch dann passierte der erste Fehler: Ruben betäubte irrtümlich Butschi und der ging Robin sehr wohl ab!“, sagte Sandra. „Sie konnten sich Ihrer Schmuggelwege nicht mehr sicher sein. Was würde Robin unternehmen? Carlos reagierte schnell und clever. Er sah in Rubens Fehler die Chance, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen –“ „Genau!“ Mario trat einen Schritt vor. „Ihre Gier, Carlos, nach dem Schatz von Henry Moore ließ einen weiteren Plan in Ihnen reifen. Sie vermuteten, dass das Bild von Henry Moore, das bei Alberto im Laden hängt, Ihnen Hinweise auf diesen Schatz liefern könnte – eine Schatzkarte vielleicht. Sie versuchten Robin einzuschüchtern, ihm Angst einzujagen – in der Hoffnung, dass er Ihnen den Kopf der Galionsfigur und das Bild freiwillig überlässt. Und Sie haben die alte Geschichte von der Ghost sozusagen wieder aufgefrischt.“ „Und da hatten Sie zum zweiten Mal Pech“, grinste Armin. „Sandra, Mario und ich sind Ihnen in die Quere gekommen. – Es gibt keine Geisterschiffe und keinen Fluch der Geister-Piraten – etwas zu dick aufgetragen. Als die Ghost dann aber tatsächlich auftauchte, wir an Bord die Tonbandstimmen von Henry Moore und Ben Morgan hörten, wurden wir neugierig.“ Mario unterbrach. „Übrigens, eine tolle Idee, die Jolly Pirates zu kaufen, zur Ghost umzufunktionieren und mit grüner Phosphorfarbe zu bestreichen. Nachdem Sandra von 136
der Ghost im ‚Untergrund‘ von Tromp-Land erzählt hat und ich in der folgenden Nacht die Zeiger meiner Uhr grün leuchten sah, nachdem ich sie vorher beim Zähneputzen in das Licht gehalten hatte, wurde mir klar, wie Sie die Ghost zum Schimmern gebracht haben. Wenn die Leuchtkraft der Phosphorfarbe nachließ, hat das dann so ausgesehen, als wäre die Ghost einfach verschwunden.“ „Cleveres Bürschchen“, knirschte Pedro und blickte wütend auf Mario. „Und dann der dritte Fehler“, sagte Sandra. „Ruben nutzte die Ghost, um ein paar eingefangene Hunde nach Tromp-Land zu transportieren. Die leblosen Hunde machten uns als Tierfreunde erst recht neugierig. Alles passte so perfekt zusammen, dass das schon wieder auffällig war – hier waren keine Geister unterwegs, irgendjemand musste das geplant haben.“ „Und dann der Angriff mit dem Auto …“, sagte Armin. „Das machte uns wütend. Und wenn wir wütend sind, dann geben wir erst recht nicht auf!“ „Alles Lügen!“, knurrte Carlos. „Ausgeburten von mickrigen Kindergehirnen! Ihr habt nicht den geringsten Beweis für eure Anschuldigungen –“ „In der Seeteufel sitzen zur Zeit vier Beweise in einem engen Käfig“, sagte Armin. „Kommen Sie, Rodrigo!“ „Nobo, Jose, ihr passt auf die drei auf, Kinder, ihr kommt mit mir. Ich werfe mal einen Blick ins Bootshaus und sehe nach, ob dort auch alles in Ordnung ist und keine Überraschung auf uns wartet. Dann hole ich euch ab und wir bringen die drei Kerle gemeinsam zum Bootshaus.“ Im Bootshaus war alles in Ordnung und Rodrigo bug137
sierte mit Nobo und Jose anschließend Tromp, Koolmann und Ras ins Bootshaus. Nobo und Jose hielten die drei Ganoven in Schach, während Rodrigo an den Käfig trat und einen Hund zu sich heranlockte. Die Kinder waren mit ihm an Bord der Seeteufel gegangen. Rodrigo öffnete die Käfigtür und sah sich den Hund genau an. „Unglaublich!“, rief er, als er am Bauch des Hundes eine sauber vernähte Schnittstelle entdeckte. Er schob das Tier vorsichtig in den Käfig zurück. „Das reicht mir“, sagte Rodrigo. „Die Kinder haben mit ihren Ausführungen Recht. Legt den drei Handschellen an. Das gibt mindestens 30 Jahre Gefängnis! Nobo, ruf einen Tierarzt an, damit der sich um die Hunde kümmert und auch die Beweismittel, die wir finden werden, sicherstellt.“ Pedro Koolmann ließ die Schultern sinken – sein Spiel war aus, es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei die Päckchen mit dem Rauschgift in den Händen halten würde. Doch dann fasste er sich, er hatte nichts mehr zu verlieren. Als Nobo das Mobiltelefon aus seiner Uniformtasche zog, schlug er zu. Pedro schnappte das Paddel, das neben ihm an der Wand des Bootshauses lehnte, wirbelte herum und ließ es auf Rodrigos Arm niedersausen, der nach seiner Pistole griff und seinen Kollegen zu Hilfe kommen wollte. Es knackste. Rodrigo schrie auf, als sein Unterarm brach. Seine Pistole flog ins Wasser. Bevor Jose und Nobo richtig reagieren konnten, stürzte sich Ruben auf Jose. – Jose taumelte, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und ging bewusstlos zu Boden. 138
Seine Pistole schlitterte über die Holzplanken des Bootshauses und verschwand in einem Spalt zwischen den Planken und der Wand. Nobo stand da wie gelähmt. Carlos rammte ihm seine Schulter gegen die Rippen. Ein lauter Aufschrei und Nobo stürzte zwischen der Seeteufel und den Planken des Bootshauses ins Wasser. Robin ging neben dem Hundekäfig in Deckung. Carlos wollte an Bord der Seeteufel springen, aber Sandra war schneller. Geistesgegenwärtig schlug sie nach ihm und traf ihn am Hals. Carlos gab einen gurgelnden Laut von sich und schlug schwer zu Boden. Mario war dicht neben Rodrigo gestanden und in der Zwischenzeit auf die Planken des Bootshauses gesprungen. Er riss Pedro das Paddel aus der Hand und knallte ihm die harte Kante gegen das Schienbein. Pedro brüllte auf, dann sackte er auf die Knie. Noch ehe Armin von der Seeteufel springen konnte, hatte Ruben die Tür des Bootshauses aufgerissen und war in die Dunkelheit hinausgestürmt. Pedro wälzte sich brüllend über die Planken und griff in den Spalt, in dem Joses Pistole gelandet war. „Jetzt leg ich euch alle um, ihr Scheißkerle!“, schrie er und fuhr herum. Seine Augen funkelten hysterisch.
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Ein letztes Rätsel
Sekunden später öffnete Robin die Tür des Käfigs und zähnefletschend stürzten sich die Hunde auf Pedro und Carlos. Schon war Pedro unter zwei Hunden begraben. Lange, gelbe Reißzähne drohten ihn bei der kleinsten Bewegung in Stücke zu reißen. Aus Pedros und Carlos’ Gesichtern war jede Farbe gewichen. „Nehmt die Hunde fort“, wimmerten sie. Rodrigo ging dazwischen, während Sandra und Mario sich um Jose kümmerten, dem der Kopf ordentlich brummte. Nobo kletterte gerade auf die Holzplanken zurück, die Uniform klebte ihm am Körper. Die Handschellen klickten. Dann war der Spuk vorbei. „… und so sitzen die drei wahrscheinlich 30 Jahre im Knast und ihr habt durch euren Mut vielen Menschen geholfen und ihnen die tödliche Falle der Drogensucht erspart.“ Es war am darauf folgenden Abend, als Rodrigo seine Lobrede auf Robin und SAM beendet hatte und sein Glas erhob – mit der Linken, seine Rechte war in Gips gehüllt. Nobo und Jose schüttelten den vier Hobbydetektiven die Hände. 140
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Ein Blitzlicht zuckte durch Rodrigos Büro. Adelina, die Reporterin der Diario, war ganz wild auf ein Interview. „Damit wäre der Fall abgeschlossen. Feiern im Chalet Suisse ist angesagt!“, lachte Rodrigo. „Nicht ganz“, widersprach Mario. „Ein letztes Rätsel bleibt noch –“ Rodrigo, Onkel Rudi, Jose und Nobo sahen einander fragend an. „Die Golddublonen von Henry Moore“, sagte Armin. „Tja, die sind leider mit der Ghost untergegangen, liegen irgendwo vor Venezuela auf dem Grund des Meeres“, seufzte Robin. „Das glaub ich einfach nicht“, sagte Sandra. „Ihr habt das Logbuch gesehen und mittlerweile auch gelesen. Weshalb hätte sich Henry Moore noch im Sterben die Mühe machen sollen, den genauen Hergang der Auseinandersetzung mit Ben Morgan und alle Begleitumstände ins Logbuch einzutragen? Doch wohl nur, um einen Hinweis auf das Versteck des Goldes zu hinterlassen. Das macht nur Sinn, wenn er das Gold vorher von Bord schaffen konnte. Ganz abgesehen davon, dass er auch das Logbuch irgendwie in Sicherheit bringen konnte.“ „Logisch“, stimmte Mario zu. Sandra überlegte. „Moore war listig. Bestimmt hat er sich einen besonderen Ort für die Dublonen ausgedacht.“ Auch Mario grübelte. Dann fiel es ihm ein. Irgendetwas hatte am Schluss der Eintragungen in das Logbuch komisch geklungen: Die Ghost weiß alles! „Die Ghost weiß alles! Er muss auf dem Schiff einen Hinweis hinterlassen haben!“, sagte Mario. 142
„Da war noch etwas in seinem Logbuch“, überlegte Sandra. „Etwas, das mir keine Ruhe lässt …“ „Die Ghost weiß alles! – Na klar, das ist es!“ Armin war aufgesprungen und hatte einfach losgerufen. Rodrigo blickte verständnislos von einem zum anderen. „Die Ghost! – Henry Moore meinte nicht sein Schiff, er sprach von der Galionsfigur!“, sagte Armin. „Dann birgt sie also doch ein Geheimnis?“, fragte Robin. „Die Ghost weiß alles!“, wiederholte Sandra nachdenklich. „Hm … Wissen? … Köpfchen haben … Das muss es sein: der Kopf der Galionsfigur – er ist hohl! Ramon Diaz hat ihn ausgehöhlt!“ „Die Goldmünzen!“, rief Robin. „Sie sind im Kopf versteckt – irre! Los, zu Alberto!“ Es war gegen 7 Uhr abends. Alberto war alleine im Laden und machte gerade Kasse, als die Tür aufflog. „Er hängt über der Tür!“, rief Armin. „Was … was soll denn …?“, stammelte Alberto. „Montieren Sie bitte den Kopf ab, Herr Maduro“, bat Rodrigo. „Das ist eine Amtshandlung.“ Zuerst wollte Alberto etwas erwidern, doch dann legte er eine Leiter an die Wand, stieg hoch und hob den hölzernen Totenschädel aus der Verankerung. Dabei ächzte er. „Vorsicht, er ist sehr schwer“, warnte Mario. „Das merk ich, mein Junge“, schnaufte Alberto. Die Kinder halfen ihm von der Leiter und gemeinsam legten sie den Kopf samt dem Podest, auf dem er montiert war, auf dem Verkaufstresen ab. Robin wischte sich über die schweißnasse Stirn. 143
Langsam entfernte Alberto das Podest. Sie sahen, dass der Kopf auf einem Holzzapfen gesessen hatte. Armin spähte in die Öffnung am Hals des Holzkopfes, aber er konnte nichts erkennen. „Gleich werden wir es wissen!“, sagte Robin. Er holte eine Taschenlampe aus einer Schublade am Tresen und leuchtete in die Öffnung hinein. „Hm“, murmelte Armin. Noch einmal blickte er hinein, dann richtete er sich auf. „Und!?“ Mario hielt es nicht mehr aus. „Sieh selbst –“ Mario griff in den Kopf der Ghost. Eine Weile tastete er drinnen umher, dann zog er die Hand wieder heraus. „Was ist?“, drängte Sandra. Mario streckte die Hand abermals hinein. Allmählich wurden die Anwesenden unruhig. Vor allem Sandra. „Sie müssen doch drinnen sein!“ Alberto sah sie erstaunt an. „Was soll da drinnen sein?“ „Golddublonen – der Schatz von Henry Moore!“ Mario zog die Hand wieder aus dem Kopf. – „Leer!“ „Das ist nicht möglich!“ Sandra griff selbst hinein. „Tatsächlich – LEER!“ „Also, das war’s dann wohl“, sagte Rodrigo. Sandra wollte es nicht wahrhaben. Enttäuscht blickte sie noch einmal in die Halsöffnung. Robin leuchtete jetzt durch die Augenhöhlen in den Holzschädel. So gelangte mehr Licht in das Innere des Holzkopfes. Und nun entdeckte Sandra an der Unterseite der Schädeldecke Zahlen und Buchstaben. Eine Botschaft? 144
Sandra griff aufgeregt nach der Taschenlampe und richtete das Licht so, dass sie gut lesen konnte. „Also doch ein Hinweis! Moore war mehr als clever!“, strahlte sie. „Schreib auf, Robin, schnell: 12 Grad 33 Minuten 79 Sekunden nördlicher Breite, 67 Grad 64 Minuten 16 Sekunden westlicher Länge.“ „Das sind Koordinaten für einen bestimmten Punkt auf der Landkarte“, sagte Mario. „Für das Versteck des Goldes!“, rief Armin. „Jetzt haben wir es!“ Mit Hilfe des Internets war der von Henry Moore angegebene Ort schnell gefunden. Onkel Rudi musste sich setzen, als auf dem Bildschirm eine Karte von Aruba erschien – genauer: vom Eagle Beach, dem Adlerstrand. „Einfach irre!“, entfuhr es Sandra, als der Ort exakt bestimmt war. „Das Chalet Suisse!“, hauchte Onkel Rudi. „Das darf doch nicht wahr sein!“, rief Mario. „Da finden wir einen vergrabenen Schatz und dann steht ein ganzes Restaurant drauf!“ Stille. Plötzlich schlug sich Sandra mit der Hand gegen die Stirn: „Ich Dummkopf! Warum komm ich erst jetzt darauf! Moore war mehr als clever. Jetzt weiß ich, was mir in seinem Logbuch keine Ruhe ließ: Die Truhe! Henry Moore schleppte eine Truhe an Land. Und die Truhe war schwer –“ „Sandra, nicht jede Truhe ist gleich eine Schatztruhe“, sagte Onkel Rudi. „Auch bei uns in der Karibik nicht.“ 145
„Bevor du das Restaurant gebaut hast, Onkel Rudi, was stand vorher an diesem Platz?“ „Eine kleine, uralte Taverne. Nichts Besonderes. Hab sie im neuen Bau mit eingeschlossen. Ist heute der ChaletRaum. Wir benutzen ihn für Geburtstagsfeiern.“ „Onkel Rudi, dein Chalet-Raum ist sogar was ganz Besonderes!“ Dann lief sie los. Der Chalet-Raum war rundum mit Holz vertäfelt. „Schraub bitte eine Wandtafel ab, Onkel Rudi“, bat Sandra. „Was?“ „Bitte, vertrau mir einfach.“ Onkel Rudi schüttelte den Kopf, konnte seiner Nichte aber keinen Wunsch abschlagen. Einige Schrauben wurden entfernt, dann hoben Rodrigo und Mario sowie Onkel Rudi eine der Holztafeln zur Seite. „Wow!“, pfiffen Robin und Armin. Eine Lehmwand war zum Vorschein gekommen, in ihr steckten nach außen gewölbte Muscheln. Sandra trat an die Wand heran und klopfte mit den Knöcheln gegen die Lehmwand. Nichts, nirgendwo klang es hohl. Enttäuscht drehte sie sich um und machte einen Schritt auf die anderen zu, die sie gespannt beobachtet hatten. In ihren Augen blitzte es kurz auf, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und klopfte mit dem Zeigefinger gegen eine der Muscheln. Sie klang hohl und dumpf! „Hammer!“, rief Sandra. Alle standen still, nur Mario machte sich die Mühe, eilte um das gewünschte Gerät und drückte es Sandra in die offene Hand, die sie über ihre Schulter hielt. 146
„Danke“, murmelte sie, ohne sich umzudrehen, und holte aus – „Was tust du da?“, rief Onkel Rudi. WUMM! Mit einem satten Schlag donnerte der Hammer auf die Muschel. Die Schale zersprang wie ein Stück Glas, splitterte in Scherben. Mit den Scherben fiel etwas Glänzendes auf den Holzboden. Hart und metallisch klingend schlug es auf. Die Umstehenden rissen die Augen auf. Vor ihnen lag eine Münze! Eine jener Golddublonen, die Ben Morgan vor über 200 Jahren für den Verkauf von Sklaven erhalten hatte. Nicht einmal Onkel Rudi hatte vorher je eine solche Dublone gesehen. Es wurde eine sehr lange Nacht. SAM und Robin hatten noch unter 999 anderen Wandmuscheln Goldmünzen gefunden. Ihr heutiger Wert war unvorstellbar. Aber das war ohnehin egal, denn die Dublonen würden ins Münzmuseum von Oranjestad gehen – dem weltweit drittgrößten Münz-Museum. Und dorthin hätte sie vermutlich auch Henry Moore gegeben, jener Pirat, der sein Leben ließ, um andere Menschen vor dem Sklaventod zu retten. (Moore war so ähnlich wie die Polizei heutzutage, die gegen Drogendealer kämpft, um die Menschen nicht zu Sklaven des Kokains werden zu lassen.) SAM hatten auf Aruba einen weitaus wertvolleren Schatz gefunden: einen echten Freund – Robin (obwohl sie die Belohnung, die Robin und sie erhalten sollten, auch nicht schlecht fanden). 147
„Du wärst eine tolle Verstärkung für unser Team!“, prostete Armin Robin zu und nippte an seinem Fruchtsaft. Im Chalet Suisse ging eine ausgelassene Feier über die Bühne. Glücklich über die Zerschlagung des Drogenringes (das stärkte ihn als Polizeichef) gab Rodrigo ein arubanisches Volkslied zum Besten. SAM blickten auf die untergehende Sonne. Alle waren sich einig, dass der Werbeslogan Arubas mehr als treffend war: One happy Island – Eine Insel, wo das Glück Zuhause ist. Und so fühlte man sich hier auch: unbekümmert und frei. Gut, dass SAM noch nicht wussten, dass ihnen schon bald ein neues, ebenso mysteriöses Abenteuer bevorstand.*
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siehe CodeName SAM, Geheimfall 9: Der Klub der toten Schüler 148
Die kriegerischen Kariben (= Völker aus Süd- & Mittelamerika nach denen die Spanier die Karibik benannten) eroberten die Inseln (kleine Antillen) von den friedlichen Arawak. Sie raubten ihre Frauen, führten Kriege. So erschien Kolumbus den Arawakstämmen wie ein Retter. Die Karibik war lange ein Schlachtfeld der europäischen Länder. Jeder wollte am Reichtum der Inseln mitnaschen. Eroberungsfahrten der Piraten wurden durch Glaubenskämpfe zwischen Katholiken (Spanier, Franzosen) und Protestanten (Holländer, Engländer) angeheizt. Festungen entstanden, Kanonenkugeln flogen, Schiffe sanken … So wurde die Karibik von 1492 bis 1792 immer wieder unter Europas Ländern aufgeteilt. Die einheimischen Indianer wurden als Arbeitssklaven missbraucht. 1789 überziehen Sklavenaufstände die Karibik, bis die Sklaverei Mitte des 19. Jh. ihr Ende findet. Manche Inseln sind noch heute Kronkolonien ihrer damaligen Mutterländer.
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1499 wurde Aruba angeblich vom Spanier Alonso de Ojeda entdeckt. Die friedlichen Arawakindianer leben auf Aruba (Fischfang). Der Name Aruba könnte eine Zusammensetzung des karibischen Wortes Ora (Muschel) und Oubao (Insel) sein = Muschelinsel. Genau haben es Historiker bis heute nicht herausgefunden. Aruba ist rund 31 km lang und 8 km breit und erhob sich vor rund 60 Millionen Jahren aus dem Meer. Der Jamanota (189 m) ist der höchste Berg. Erst 1754 ließ sich der erste weiße Siedler, Mozes Maduro, auf Aruba nieder. Pferde, Schafe und Ziegen wurden gezüchtet. 1824 fand ein 12-jähriger Junge an der Nordküste Gold. Der Goldrausch setzte ein. Goldschmelzereien in Bushiribana und Balashi entstanden. 92 Jahre lang wurde Gold geschürft, 1340 Kilo gefunden, ehe 1916 Schluss damit war. Am 29. Jänner 1929 wurde eine Ölraffinerie in Betrieb genommen – das „neue Gold“ war geboren. Menschen aus vielen Ländern kamen, um hier zu arbeiten. Der Wohlstand stieg und der Tourismus entwickelte sich bis heute rasch vorwärts. Heute ist Aruba nicht nur die Luxusinsel, sondern auch die sicherste Insel in der Karibik, genießt den Unabhängigkeitsstatus, gehört aber zum Königreich der Niederlande. Das Wort Pirat kommt vom griechischen „peirates“ (= Angreifer). Piraten waren Gesetzlose die auf schnellen Reichtum aus waren; sie überfielen Schiffe und Küstenstädte. Nachdem Christoph Kolumbus in der Karibik gelandet war (siehe CodeName SAM 3), eroberten die Spanier große Teile Mittel- und Südame150
rikas. Sie raubten den einheimischen Indianern ihr Gold und Silber. Die Spanier luden ihre Beute auf Schiffe; auf die machten Piraten Jagd. Vor allem die Bukaniere (= Holländer, Engländer, Franzosen, die sich im 17. Jahrhundert auf den Karibikinseln niederließen). Sie lernten von den Indianern, Fleisch von Rindern über Grillfeuer zu räuchern. Bukanier leitet sich vom Arawak-Wort bucan ab (= Feuer, mit dem man Fleisch räuchert). Um 1630 gründeten die Bukaniere auf der Insel Tortuga ihren wohl berühmtesten Stützpunkt. Berüchtigte Piraten waren:
Gold, Silber, Schmuck, Waffen … waren die Beute der Piraten. 1 Silbermünze (= 1 Stück von Achten) war 8 spanische Reales wert – rund 25 Euro. Spanische Goldstücke hießen Dublonen. Meist wurden Piratenschätze nicht vergraben, sondern wie in „Piratengesetzen“ vorgeschrieben, aufgeteilt. Wer sich an mehr vergriff, wurde ausgepeitscht, erschossen oder auf einer kleinen, einsamen Insel ausgesetzt. Dort verhungerte oder verdurstete der Pirat – deshalb ließ man ihm manchmal eine Pistole, damit er sich erschießen konnte. Piratenflaggen hatten den Zweck, die Mannschaften anderer Schiffe in Angst und Schrecken zu versetzen. 151
Auch heute noch machen rund um den Erdball Piraten die Meere und Häfen unsicher. Seit 1980 kommt es in Süd- und Mittelamerika immer häufiger zu Überfällen im Zusammenhang mit Drogen. Vor allem, seit Venezuela und Kolumbien den Drogenbaronen den Kampf angesagt haben. Die Schmuggelwege werden immer raffinierter und – die Drogenhändler brutaler.
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