Der Geist der Vampirin Version: v1.0
Golgatha war eingeebnet, die Grabeskirche abgetra gen, und sämtliche Reliquien h...
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Der Geist der Vampirin Version: v1.0
Golgatha war eingeebnet, die Grabeskirche abgetra gen, und sämtliche Reliquien hatte man verbrannt. Dennoch floß der Pilgerstrom fast wie zu Zeiten, da dies alles noch existiert hatte. Das Grab Jesu Christi zu sehen, selbst über den Bo den, den er einst beschritten hatte, zu wandeln, den Staub zu küssen und mit der Zunge zu schmecken – dafür opferte manch einer all sein Hab und Gut. Und Tausende ihr Leben.
Was bisher geschah Für Robert Craven, einen uralten Hexer, befreit Lilith die Vampirin Fee aus der Gewalt rumänischer Blutsauger. Fees Biß kann Leben verlängern – doch sie hat in der Gefangenschaft den Verstand verloren. Craven verspricht, sich um sie zu kümmern. Er verschafft Lilith und Beth eine neue Existenz in Tokio. Dort be kämpft Lilith in der U-Bahn einen Werwolf und beschwört so einen Krieg zwi schen Vampiren und Wölfen herauf. Im Sanktuarium des Gurus Chiyoda erfährt Landrus Freundin Nona von den Vorgängen in Tokio – könnte nicht Lilith Eden dahinterstecken? Sie macht sich auf den Weg, nicht ahnend, daß ein Feind auf ihrer Fährte ist: El Nabhal, ein Magier, den sie tötete, lebt in einem magischen Tuch weiter und benutzt die Körper Unschuldiger, um Nona zu suchen. Als er in Tokio vom bevorstehen den Krieg hört, übernimmt er eine Vampirin, um durch weitere Morde Aggres sion zu schüren. So bringt er Nona ungewollt von ihrer Fährte ab, Lilith könnte hinter den Anschlägen stecken. Die Halbvampirin wird Zeuge, wie El Nabhal Nona stellt, sie besiegt und schwer verletzt – bevor plötzlich Chiyoda auf taucht, den Magier tötet und Nona mit sich nimmt … Später gerät Lilith an eine Satanistin, deren Einladungskarte zu einem Tref fen in Rumänien auf Vampire hinweist. Lilith reist an Stelle der jungen Frau. Tatsächlich stecken Vampire dahinter: die Gefolgsleute Leanders, der vor über 50 Jahren in Prag den Golem biß und von einer Seuche infiziert wurde. Durch das Blut von 666 Satanisten will er nun genesen. Lilith vereitelt sein Vorhaben und kann im entstehenden Chaos unerkannt entkommen. Sie kehrt nicht gleich nach Tokio zurück, sondern fährt in das rumänische Dorf, das sie vor wenigen Wochen von der Vampirsippe befreit hat. Dort hat eine Dienerkreatur, ein Mädchen namens Laila, überlebt. Als Lilith sie aufspürt, erkennt sie, daß die Kreatur sich mit einem Artefakt bewaffnet hat, das einem aus der Sippe gehörte: eine Schlangenfigur mit er schreckenden magischen Eigenschaften. Als Lilith die Schlange berührt, hat sie die Vision einer »Dunklen Arche« – ohne viel mit dem Begriff anfangen zu können. Sie erlöst Laila von ihren Dasein und kehrt mit der Figur nach Japan zurück.
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lili enkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalis tin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf ge gen die Vampire. Nach ihrer gemeinsamen Flucht aus Sydney bauen sie sich in Tokio eine neue Existenz auf. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwar zes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampi ren, sich gegenseitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gna denlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Die grazile Gestalt, die den weiten, auch bei Nacht nie völlig ver waisten Platz im Auge hielt, liebte die Lebendigen mehr als die To ten. Aber letztlich war dies reine Geschmackssache … Kalif Al Hakim hatte gute Arbeit geleistet, fand Salena. Für eine Dienerkreatur sogar geradezu phantastische Arbeit. Sein größtes Verdienst bestand darin, den einst von seinem verrä terischen Vorgänger Harun al Raschid mit Karl dem Großen ausge handelten Schutzbrief für christliche Pilger für null und nichtig zu erklären. Dadurch war die interessante Situation eingetreten, daß fromme Männer, die mit ihren Schiffen in Jaffa oder Akkon ankamen, zu nächst einmal hohe Wegzölle zu entrichten hatten, bevor sie an schließend einigermaßen ungeschoren zu ihrem ›Heiligen Ort‹ wei terreisen durften. Natürlich garantierte selbst der entrichtete Obolus niemandem, daß er auch tatsächlich sein Wunschziel erreichte … Salena strich lächelnd und voll verhaltener Sehnsucht über die straffen Brüste, die sie unter dem schwarzen Scharschaff genauso vor begehrlichen Männerblicken verbarg wie ihr fiebrig glühendes Gesicht unter dem blutroten Schleier. Seit einem Monat hielt sie sich, aus dem Jemen kommend, an der legendenverklärten Stätte auf, welche seit langem den Saljuken un terstand, die es doch noch immer nicht verstanden hatten, alle Spu ren des Gekreuzigten zu tilgen. Salena hatte sich, seit sie hier war, oftmals gewünscht, dabeigewe sen zu sein, als Er die Massen bezauberte. Vieles von dem, was in tausend Jahren um seine Person gewoben worden war, hielt sie für schamlose Übertreibung. Aber längst nicht alles. Selbst jetzt, da sie sich unter den Wallfahrern ihren Gespielen für
diese Nacht ausspähte, spürten ihre Sinne, daß da etwas war – immer noch! Sie löste sich aus der Deckung eines schlichten Lehmhauses, das keinem näheren Vergleich mit der Baukunst in Salenas Heimatstadt Shibam, im Schatten der Tafelberge von Wadi Hadramaut, stand hielt. Ihre Schritte fanden den sicheren Weg durch das Dunkel. Ihr Lä cheln war geronnen, wie das Blut manchen Mannes, nachdem sie ihm den Schleier gelüftet hatte. Zielstrebig näherte sich die Vampirin dem Südländer mit der im posantesten Statur unter all den nächtlich Versammelten. Er stand abseits, in ein stummes Gebet vertieft, als sie hinter ihn trat und ihm die kühle Hand in den Nacken legte. Er zuckte zusammen und fuhr herum. Sie gaukelte ihm ein Trug bild vor, dem er nicht würde widerstehen können. »Folge mir«, hauchte sie. »Denn wisse: Du bist auserwählt!« Von mir, fügte sie in Gedanken spöttisch hinzu, grub ihren Blick in seine glänzenden schwarzen Augen, unterdrückte jedes Zaudern, je den Argwohn, drehte sich um und lief voraus. Er folgte ihr wie am Gängelband. Die Nacht war lau. Klar funkelte das Sternenmeer über den niedri gen Häusern der Stadt. Die Sichel des Neumonds verbreitete vage Helligkeit. In den Gassen staute sich noch Hitze vom Tag. Nach kurzem Weg betraten sie das Haus, das Salena bezogen hat te. Stumm stand ihr Diener hinter der Tür und nahm ihren Schar schaff in Empfang, kaum daß sie die Schwelle überschritten hatte. »Wie heißt du?« fragte sie den Pilger. »Julio Ordofio«, antwortete er rauh. »Möchtest du es auch, Julio?«
»Was?« fragte er. Seine Stimme hatte einen heiseren Klang. Er kämpfte einen sinnlosen Kampf. »Gefalle ich dir nicht?« Er beherrschte nicht ihre Art zu sehen. Noch nicht. Deshalb über forderte ihn die Frage zunächst. »Entzünde ein Licht«, befahl Salena ihrem Diener und wartete dar auf, daß die Erregung erst ihren Schoß und schließlich ihren ganzen Körper in einen unersättlichen Schlund verwandelte. Wenig später geisterte der Schein einer Öllampe durch das Haus. Der Diener stellte sich neben seine Herrin, als müßte er ihre allzu of fensichtlichen Vorzüge erst feilbieten. Julio Ordofio stöhnte gepreßt. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. »Ungläubige!« keuchte er und ballte die Hände zu Fäusten. »Dirne!« Salena brach gelassen seine Arroganz. »Würde ich deine Zunge nicht noch brauchen, schnitte ich sie dir ab«, sagte sie kalt. Diener und Lampe nahmen ihren Platz neben dem Schlaflager ein. Die Augen des feisten Mannes, der ihr Gastfreundschaft gewährte, blieben in stummer Qual bemüht, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Die Augen des Spaniers brannten ebenfalls in verzehrendem Feu er. Zitternd stand er da, als wüßte er immer noch nicht, was sie von ihm erwartete. Aber er wußte es genau, und deshalb bebte er. Salena betrachtete ihn eine Weile, während sie sich längst hinge legt hatte und den glattrasierten Venushügel streichelte. Ihre Hände waren, wie im Süden ihrer Heimat üblich, mit farbigen Mustern be malt – keine Tätowierungen, sondern Zeichnungen in Braun, Rot und Indigo. Das Rot war aus dem Blut ihres letzten Liebhabers ge wonnen. »Du kennst dich aus mit Dirnen? Das ist gut! Ich mag keine Anfän ger. Und keine staubigen Kleider. Zieh dich aus und komm!«
Er zitterte nicht mehr – er wankte. Der Dolch in seinem Gürtel schien ihm plötzlich erreichbar. Mit verzerrtem Gesicht schob er die Hand darauf zu. Salena lachte. »Willst du dir die Zunge selbst herausschneiden? Hör auf, dich zu zieren! Winde dich aus den Fesseln deines Irrglaubens. Ich bin dein Schicksal!« Er berührte den Schaft des Messers, krümmte die Faust darum, zog es wie ein Zentnergewicht aus dem Leder – und ließ die Klinge im nächsten Moment mit einem dumpfen Aufschrei fallen, als hätte er weißglühende Kohle umfaßt. Die Nebel hinter seinen Augen ver dichteten sich. »Genug!« sagte Salena. Mit ihrer Geduld war es vorbei. Wie ein Pfeil drang das Wort in Julios Gehirn. Er entspannte sich, schälte sich aus der kuttenartigen Kleidung und folgte nackt ihrem Fingerzeig. Er konnte sich sehen lassen. Ein athletischer, von der Sonne ver wöhnter Körper glitt neben Salena, die nun auch die letzte Hülle, ih ren Schleier, ablegte und ihm das hennagefärbte Gesicht darbot. Ihre Zunge tanzte über die Lippen. In dieser Gestalt gefiel sie je dem Mann – auch wenn nicht jedermann es freiwillig zugab. Ihre Fingerspitzen mit den ebenfalls bemalten Nägeln liebkosten kurz die Höfe und harten Spitzen ihrer vollen Brüste, ehe sie sich Julio zuwandten und seinen Nabel streichelten. Der Nabel eines Menschen faszinierte und erotisierte sie fast mehr als die Geschlechtsmerkmale. Irgend etwas in ihr fühlte sich von der Symbolik, die dahinterstand, angezogen. Der Nabel bedeutete, daß eine Mutter ihren Sproß im Leib ausgetragen, genährt und lebendig geboren hatte. Für Vampire ein Unding.
Vampire besaßen nur deshalb einen Nabel, weil sie noch als Mensch geboren worden waren. Aber der Lilienkelch hatte sie be reits in früher Kindheit getötet und ihnen, während er ihnen wahres Leben neu einflößte, die Erinnerung an alles genommen, was die Unvollkommenheit ihres Menschseins ausgemacht hatte. Aber Salena kam es manchmal vor, als hörte sie noch ein sonder bares Echo aus dem Damals. Aus den Ursprüngen … Sie richtete sich auf und zog Julio über sich. Schwer legte er sich zwischen ihre gespreizten Beine. Sein Glied pochte hart gegen ihre geschmeidige Scham, aber ehe er auch nur den Versuch unterneh men konnte, dort einzudringen, begann der Diener neben ihnen plötzlich wild mit den Armen zu fuchteln und kollernde Schreie auszustoßen. Erzürnt fauchte Salena: »Was ist? Kannst du nicht einmal das zu meiner Zufriedenheit: ruhig dastehen und uns leuchten?« Die Kreatur hielt inne. »Sein – Rücken!« ächzte sie. »Sein …« Salena brachte die Stimme zum Schweigen. Über Julios Schulter hinweg blickte sie auf das, was ihr bis zu diesem Moment verborgen geblieben war. Initialen waren in beide Schulterblätter des Spaniers eingestochen: I. N. JESUS NAZARENUS. Noch während die Bedeutung der Buchstaben wie Säure durch ihr Gehirn sickerte, erteilte Salena bereits unmißverständliche Weisung. Mit mühsam kontrollierten Bewegungen stellte der Diener die Lampe auf den Boden und hob das Messer auf. Salena schob sich unter Julios Körper hervor und verbot ihm, ihr den Rücken zuzudrehen. Aus einem Nebenraum lauschte sie dem Keuchen, das die Arbeit des Dieners begleitete. Endlich kam er zu ihr und winkte mit einem zusammengerollten Stück blutiger Haut.
»Du solltest dich beeilen, Herrin«, sagte er, die eigenen blasenwer fenden Hände mißachtend. »Lange wird er dir nicht mehr zu Willen sein können …«
* Salena brachte weitere Tage in dieser von sonderbarer Stimmung befallenen Stadt zu. Sie fand jedoch keinen hier lebenden Vampir, womit sich die Frage, die Grund ihrer Reise war, auch schon beant wortete: Nein, Saduk, auch nach hundert Jahren hat kein Stamm wieder Fuß auf dem verfluchten Boden gefaßt! Saduk … Der Jemenit hatte sie mit den warnenden Worten »Man sar fi alsai’yat Asbaha qatilu-ha!«(›Wer sich in Schlechtes begibt, wird von ihm erschlagen!‹) verabschiedet. Daß er mit Asbaha, dem Schlechten, jene Religion meinte, gegen die Vampire seit jeher ihren Kampf fochten, stand außer Zweifel. Wann immer irgendwo die Flammen dieses verderblichen Christen wahns erstickt werden konnten, loderten sofort an anderer Stelle neue Glaubensfanale auf! Wie Geschwüre, die sich – von außen unsichtbar – durch das Fleisch der Leiber fressen und vermehren, dachte Salena. Sie war die einzige Frau in Saduks Stamm, und ihre Geschichte klang so merk würdig wie ihr ganzes Leben, das sie seit der erleuchteten Wieder geburt führte: Vor neun Jahren hatte der Hüter des Kelchs Wadi Hadramaut be reist. Zuvor hatte Saduk nach ihm geschickt, weil er seinen Stamm erweitern wollte – wohl auch mußte –, um die Grundlage für seine ehrgeizigen Wachstumspläne zu schaffen.
Fünfzig Menschensöhne waren in den Wochen davor aus ebenso vielen Familien geraubt und an geheimem Orten untergebracht wor den – Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren. Unter den Entführern – stupide Dienerkreaturen – war offenbar auch einer, der bei seinem Raub keine allzu große Sorgfalt walten ließ. So kam es, daß am Tag des Rituals ein Mädchen unter neun undvierzig Knaben war. Der Fehler wurde erst entdeckt, als die vom schwarzen Blut des Stammesführers ›Getaufte‹ bereits unter dem Schutz des GESETZES stand. Saduk tobte, aber er konnte nichts mehr ändern. Von anderen, älteren Vampiren hatte Salena erfahren, daß Saduk den Kelchhüter mit harschen Vorwürfen übergossen hatte. Eine Frau zählte in dieser Kultur wenig, und da sich Vampire unerkannt und unauffällig neben den Menschen bewegten, hatte auch Saduk diesem Prinzip Rechnung tragen wollen. Er warf dem Hüter vor, ge wußt zu haben, was es mit dem Täufling auf sich hatte – und der Hüter gestand es schließlich ein. Um den ›Schaden‹ in Grenzen zu halten, taufte er Salena ein zweites Mal – mit Blutstropfen, die er, wie es hieß, aus einer Wunde seines eigenen Gesichts in den Kelch fallen ließ. Salena war also eine zweifach Initiierte. Und dieses zweite Ritual, so hatte der Hüter versprochen, würde ihr mindestens ebensoviel Stärke und Wildheit verleihen, wie die Knaben von Natur aus besa ßen. Zugleich aber würde sie nie versuchen, mit den Männern zu wetteifern. Innerhalb des Stammes blieb Salena ein Nichts. Wenn der Blick ei nes anderen Vampirs auf sie fiel, schrumpfte sie zur Bedeutungslo sigkeit und verlor sämtliches Selbstbewußtsein. Draußen aber, unter den Menschen, strotzte sie vor Tatendrang, als müßte ihr Unterbewußtsein alle familiären Demütigungen aus
gleichen. Vielleicht hatte Saduk in den vergangenen neun Jahren ihre Quali täten schätzen gelernt und deshalb sie nach Jerusalem geschickt. Vielleicht erschien sie ihm aber auch am ehesten entbehrlich von al len … Gleichgültig, was ihn bewogen hatte: Salena genoß jede Sekunde ihres Aufenthalts und ihrer Abwesenheit aus Shibam! Die Nächte hier gehörten weiter ihrem Durst, ihrer Lust und ihren Erkundigungen – bei Tag ruhte sie, weil zu viele gefährliche Symbo le in den Gassen unterwegs waren. Zwei Diener hatte sie behalten: den Besitzer des Hauses – und Ju lio. Auch ihnen dürstete nach Blut, um das Geschenk der Unsterb lichkeit zu bewahren. Ihren anderen Opfern hatte Salena gewissen haft das Genick gebrochen und sie noch in derselben Nacht ver schwinden lassen. Als die Zeit des Abschieds gekommen war, schenkte sie ihren bei den Dienern jeweils einen Becher randvoll mit Menschenblut, in dem sie ein von Saduk erhaltenes Pulver gelöst hatte. Sie tranken arglos. Sie hätten es auch getan, wenn ihnen die Folgen bekannt gewesen wären. Einem Diener blieb nie eine Wahl. Die verheißene Unsterblichkeit war nicht mehr als ein Mittel ge wesen, sie bei Laune zu halten. Für eine Dienerkreatur war die Ewigkeit schon im Normalfall mit zu vielen Fallstricken verknüpft, um sie tatsächlich dauerhaft schauen zu können. Salena verfolgte interessiert, wie sich die beiden Untoten, nach dem sie die Becher abgesetzt hatten, vor ihren Augen verwandelten. Sie schrien nicht, weil sie keine Schmerzen empfanden – oder weil ihre Kehlen der Fäulnis zuerst zum Opfer fielen.
Als wäre die biologische Uhr in den beiden Körpern außer Kon trolle geraten und galoppierte plötzlich in schwindsüchtigem Tem po dahin, veränderten sich der schöne Julio und der feiste Hausherr. Haut platzte, Haut verdorrte. Staubige Blutreste, die schon seit Ta gen nicht mehr zirkulierten, rieselten aus den Klüften. Geschwärztes Fleisch schien in kaltem Feuer zu verbrennen. Ein fahler Schimmer legte sich als gespenstische Aura um die schrumpfenden Leiber. Die freigesetzten Gerüche waren entsetzlich, und dennoch hielt Salena aus purer Neugierde aus, bis außer flockigem Ruß nichts mehr üb riggeblieben war. Es war tiefe Mitternacht, als sie die Stadtgrenzen Jerusalems hinter sich ließ, weder zu Pferde noch zu Fuß, sondern auf ledernen Schwingen. So erreichte sie bis zum Morgen die Küste des Roten Meeres, wo sie sich auf das nächste Boot gen Süden, bis Loheya, einschiffte. Drei Nächte später erreichte sie die Tafelberge von Wadi in der heimatlichen Provinz Hadramaut.
* In Saduks Gesicht spiegelte sich neben hoher Erwartung auch Über raschung, als sie entschleiert vor ihn trat. Vielleicht hatte er wirklich nicht mit ihrer Rückkehr gerechnet – vielleicht auch nur nicht so schnell. Saduk empfing sie allein in seinem Gemach. Seine Nähe strafte Salena sogleich mit jenem Los, das der Kelch ihr Jahre zuvor auferlegt hatte. Unterwürfig berichtete sie. Er hörte zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Kauend lehnte er gegen einen Diwan. Seine linke Wange war prall geschwollen wie eine Beule. In dieser Backentasche
befanden sich zarte Blattspitzen, von unscheinbaren Sträuchern ge erntet. Sie wurden in den Souks verkauft, aber Saduk war der einzi ge Salena bekannte Vampir, der sich dieser Sucht hingab. Sein Blick war bereits glasig. Warum er überhaupt das Verbot erlassen hatte, innerhalb des Stammes Quat zu kauen, obwohl er es selbst ganz unverhohlen tat, wußte niemand. Im allgemeinen wog seine Autorität schwer genug, daß sich trotz dieses Widerspruchs jeder daran hielt. »Du bist sicher, daß Jerusalem frei von den unsrigen ist?« fragte er, als Salena schwieg, weil sie meinte, alles von Belang berichtet zu ha ben. »Völlig sicher«, sagte sie, den Kopf mit dem von Spangen gehalte nen Haar geneigt. »Dann stünde meinen Plänen nichts mehr im Wege …« Er schwieg versonnen und kaute heftiger. Plötzlich, als erinnerte er sich erst jetzt wieder, daß er nicht allein war, richtete er seine Augen auf Sale na und fragte: »Es interessiert dich nicht, was meine Pläne sind?« Ohne den Blick zu heben, sagte sie demütig: »Ich würde nie wa gen, danach zu fragen.« Er lächelte voll böser Zufriedenheit. »Weil du so bescheiden bist, sollst du es erfahren. Du wirst es nicht weiterverbreiten, darauf kann ich mich verlassen. Weißt du, daß ich einen Narren an dir ge fressen habe? Nicht gleich, das gebe ich zu. Aber inzwischen finde ich den Umgang mit dir um vieles angenehmer als mit all deinen un beherrschten Brüdern …« Seine Worte erstaunten und befremdeten Salena. Mit einem sol chen Geständnis hatte sie nicht gerechnet. Stumm heftete sie ihren Blick weiter auf den Teppich. Seltsamer Räucherduft erfüllte den großen Raum, der so hoch ge legen war, daß man von ihm aus leicht die ganze aus Lehm erbaute
Stadt überschauen konnte. Saduk war kein schöner Mann. Aber ihm haftete etwas an, was ihn in der Summe ganz natürlich über sämtliche Angehörigen seines Stammes erhob: Alterswürde, Stolz, Macht … ja, und etwas, das Sa lena nicht in Worte zu fassen vermochte. Sie hatte ihn auch noch nie als Mann betrachtet, immer nur als Führer, dem sie absolute Treue schuldete. »Sieh mich an!« sagte er und winkte sie näher zu sich. Salena gehorchte. Dicht vor ihm blieb sie stehen. Er spie einen Klumpen Kraut in einen bereitstehenden Behälter und wischte sich den Mund mit einem danebenliegenden Tuch ab. Als er lächelnd wieder zu ihr aufsah, waren seine Zähne von den Blattsäften dunkel verfärbt, aber das störte weder ihn noch Salena. »Niemand scheint sich zu wundern«, sagte er, fast wie im Selbst gespräch, »daß der Kelchhüter mir damals die Gunst erfüllte, ein halbes Hundert neuer Vampire zu erschaffen …« Er streckte die Arme nach Salena aus und umfaßte ihre schlanken Fußfesseln mit irritie render Sanftheit. Die Vampirin versteifte, wagte aber nicht, sich vom Fleck zu rühren. »Diesem Zugeständnis ging ein langes Gespräch voraus. Ein Gespräch, in dem ich ihn von der Wichtigkeit meines Vorhabens überzeugen konnte.« Seine Hände lockerten sich und strichen unter Salenas Scharschaff höher, noch über die Knie hinaus. Sie biß sich auf die Unterlippe. Ihre zuvor halbwegs geordneten Gedanken drifteten ins Chaos ab. Als sie schließlich zu einer Frage ansetzen wollte, kam Saduk ihr mit abwesend klingender Stimme zuvor. »Ich redete mit ihm über den Mann, der vor tausend Jahren in Jerusalem erst mit einer Dor nenkrone und ans Kreuz geschlagen zur Räson gebracht werden konnte! Ich bin selbst nicht alt genug, ihn gekannt zu haben, aber ich glaube nicht, daß dieser Jesus ein Scharlatan war. Deine Beschrei
bung der Atmosphäre, die auch heute noch vor Ort anzutreffen ist, bestätigt dies. Und ich denke, um die Spuren und Gefahren dieser uns feindlich gesonnenen Kraft restlos zu tilgen, müßten wir eine Gegenkraft am selben Ort erzeugen – einen Messias, der unsere In teressen vertritt!« Nach diesen Worten lag ihr der zuvor fehlende, Saduk charakteri sierende Begriff plötzlich auf der Zunge: Visionär. Was ihn von anderen Vampiren unterschied, war seine offenkun dige Fähigkeit, eine Vision zu entwerfen – auch wenn Salena noch große Mühe hatte, diesem Entwurf zu folgen. Ein vampirischer Messias? Wozu …? Saduks Finger erreichten ihren haarlos glatten Schoß. Es hatte den Anschein, als müßte er sich während des Gesprächs zerstreuen. »Ich kenne die kursierenden Gerüchte, die auch dir zu Ohren ge kommen sein werden«, sagte er, »aber ich kenne als einziger auch die wahren Umstände, unter denen die Taufe euch damals zu Dut zenden vom Menschsein erlöste. Kein Außenstehender weiß, welche Übereinkunft der Zeremonie vorausging. – Was genau ich vom Ver walter des Grals erbat, und was er mir bewilligte.« Salena stöhnte leise auf, als er, ohne eine Miene zu verziehen, in sie eindrang. Zeige- und Mittelfinger begannen die Enge zu weiten. »Ich bat ihn, die Kelchmagie zu nutzen und mir einen Sohn zu er schaffen, der über die Gabe verfügte, jenes Menschenkind unter all den Millionen herauszulesen, das von seinen Anlagen her zum Füh rer aller Führer taugen könnte!« Saduk hielt inne. Salena hatte das Gefühl, unter seinem durchdrin genden Blick zu schmelzen wie Wachs in einer Flamme. Sie wußte nicht, was die flüchtige Anwandlung von Zorn in Sa duks Augen bedeutete. Aber seine nächsten Worte deuteten es an:
»Es ist wahr, daß der Hüter mich verhöhnte! Für ihn mochte es ein Scherz sein, ich aber brauchte damals lange, um darüber hinwegzu kommen: Statt des gewünschten Knaben stattete er dich mit der Gabe aus, um die ich ihn ersuchte … Hörst du mir zu? Dich …!« Ein seltsamer Schwebezustand ergriff Besitz von Salenas Verstand. Sie wankte, suchte Halt. Saduk stützte sie mit den Händen unter ihrem Scharschaff – dann zog er sie zu sich herab. »Es wurde prophezeit«, wisperte er rauh an ihrem Ohr, »daß die Gabe im neunten Jahr nach der Kelchtaufe voll erblüht sei. Diese Frist ist nun erreicht. Und jetzt sage mir, wie du dich fühlst!« »Fühlst?« echote Salena, immer noch verständnislos. Sie versuchte sich aus Saduks Zugriff zu winden, was an sich schon frevelhaft genug war. Etwas, das ihrer vom Kelch gegebenen Natur zuwiderhandelte. Er ließ es ungestraft. »Ja«, drängte er ungeduldig. »Hat sich etwas in dir verändert?« »Nein«, sagte sie, eine Spur zu schnell, um glaubwürdig zu klin gen. Gleichzeitig gab sie es auf, sich gegen den Strudel aus Emotio nen und Leere zu wehren. »Nein? Bist du sicher?« NEIN! »Ja …« »Schade – aber das neunte Jahr ist noch nicht um. Sollte er mich hintergangen haben, wird er …« Saduk kniff die Lippen zusammen. Sein Blick vergewisserte sich in Salenas hennafarbenem Gesicht, ob sie die unterschwellige Drohung gegen den Kelchhüter registriert hatte. Sie tat, als wäre dies nicht der Fall. Ihr Widerstand war erlahmt.
Sie lag in Saduks Armen, und der Stammesführer knetete verlan gend ihre sich unter dem schwarzen Stoff abzeichnenden Brüste. Salena stellte erstaunt fest, wie heftig sie darauf reagierte. Die Ner venbahnen ihres kühlen Körpers schienen sich zu erwärmen. Saduk bewies ein nicht für möglich gehaltenes Gespür für ihre sensibelsten Bereiche. »Es gefällt dir, nicht wahr?« flüsterte er. Er streichelte ihr gefärbtes Gesicht und drang mit dem Zeigefinger in ihren Mund ein, wo er kurz mit ihrer Zunge spielte. Salena erwiderte den Druck. Sie hörte auf, darüber nachzudenken, was Saduk ihr eröffnet hatte. Sie hörte auf, an irgend etwas zu denken. Er streifte ihr den Scharschaff über den Kopf. Als er sie mit anima lischer Begierde küßte, erinnerte es mehr an Kampf denn an Zärt lichkeit, aber gerade dies gefiel Salena ausnehmend gut. Sie schmeckte die Reste der Quat-Blätter, die sich an seinen Zähnen fest gesetzt hatten. Überraschenderweise stimulierte es sie zusätzlich. »Unser Verhältnis wird eine deutliche Besserung erfahren«, ver sprach Saduk, als sie sich auf ihn setzte, sein Glied in sich aufnahm und mit unwiderstehlicher Kraft zu wippen begann. »Du und ich werden den Grundstein für etwas legen, wovon noch die finsterste Zukunft zeugen wird …!« Nach diesen Worten umfaßte er Salenas Hüften. Geschmeidig und ohne die Stöße, die sie selbst dirigierte, zu unterbrechen, stellte er sich mit seiner temperamentvollen Last auf die Beine und durch wanderte mit ihr das Gemach. Die Vampirin hatte sich in seinem Nacken festgekrallt, während Saduk zum besseren Halt die Arme unter ihrem festen, runden Po verschränkte. Lustvoll bäumte sie sich ihm immer wieder entgegen. Erst im Morgengrauen ließen sie erschöpft voneinander ab.
* 1071-1095 Salenas Wanderschaft begann nach der denkwürdigen Nacht, in der Saduk und sie einander vieles zugefügt, aber auch manches gegeben hatten. »Unsere kalten Verbündeten haben eine große Schlacht gewon nen«, eröffnete das Oberhaupt des Stammes ihr zum Abschied. »Die Ostgrenze von Byzanz wurde weiter verlegt und das bislang immer noch recht gefahrlose Wegstück der christlichen Pilger dadurch be trächtlich verkürzt. Bald wird jede Straße für sie in Tod und Knecht schaft enden. Jerusalem wird frei von Christen werden! Wir entwei hen diese verfluchte Heilige Stätte endgültig und bereiten sie für den vor, den du aufspüren und dorthin leiten sollst! Noch in diesem Jahr werde ich mit dem gesamten Stamm umsiedeln und das Feld dafür bestellen.« »Du willst Shibam aufgeben?« fragte sie beklommen. »Heimat ist dort, wo man sich niederläßt«, begegnete er dem ver meintlichen Vorwurf, der daraus klang. Salena verneigte sich. Unterwürfig fragte sie, ob Saduk sich ihrer noch einmal bedienen wolle, bevor sie aufbrach. Er verneinte und schenkte ihr mit dem launigen Rat: »Ainda – ma yuachzin yidschma samatan!« einen federleichten Beutel aus Zie genleder. Quat kauen – den Verstand verdichten! Obwohl Salena sicher war, daß sie zumindest diese Neigung ihres Stammesoberhaupts nie teilen würde, nahm sie das Geschenk an,
um ihn nicht zu beleidigen. Einen anderen Beutel trug sie schon seit ihrer Reise nach Jerusalem bei sich: Heimaterde, um auch in frem dem Land ihre Ruhe zu finden. Bei aufgehender Sonne verließ sie Shibam zu Pferde. Sie ritt die staubigen Pfade nach Norden, gen Kairo und Alexandria. Das Mit telmeer wollte sie erreichen, darüber hinwegsetzen und sämtliche Stätten alter und neuer Hochkultur durchstreifen, um das Kind zu finden, das die von Saduk geforderte Aufgabe bewältigen konnte. Nachdem es gestorben und wiedererstanden war. Im Grunde hatte Saduk ihr freie Hand bei ihren Reisezielen gelas sen und ihr lediglich aufgetragen, sich »von dem Gefühl leiten zu lassen«, das nun bald in ihr erwachen mußte. Sie wußte, daß sie Saduk, wenn sie wieder zu ihm zurückkehren wollte, nicht mehr im Wadi Hadramaut finden würde, sondern in Jerusalem. Er hatte ihr seine Absichten offenbart. Anfangs war Salena von der Größe ihrer Aufgabe wie erschlagen, und sie begriff auch nicht in aller Konsequenz, was von ihr erwartet wurde. Aber ihre Wege besaßen noch keine erkennbare Kontur, und so blieb ihr genügend Zeit zum Nachdenken. Monate später glaubte sie endlich, eine Veränderung in sich zu spüren. Etwas, das am ehesten mit den Ausschlägen einer Wün schelrute vergleichbar gewesen wäre. Plötzlich änderte sie, für sich selbst überraschend, mitunter ihre Reiserouten. So besuchte sie auch lange vor der Fahrt übers Mittel meer Ägypten und andere Bereiche des nördlichen Afrika. Erst viel später als zunächst beabsichtigt setzte sie nach Europa über und nahm ihre ursprünglichen Absichten wieder auf. Es waren seltsame Jahre. Sie vergingen im Flug. Salena unterhielt häufige Kontakte zu anderen Vampirgemeinschaften, meist in grö ßeren Städten. Sie verriet nie, warum sie tatsächlich unterwegs war,
zumal sie sich zunehmend als Versagerin zu fühlen begann. Aber sie hielt Augen und Ohren offen, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie irgendwann – seit dem Kelchritual waren dreiunddreißig Jahre verstrichen – demjenigen sehr nahe kam, der ihr einst die von Saduk erbetene Bestimmung verliehen hatte. Salena faßte den spontanen Entschluß, den Kelchhüter aufzusu chen. Die Begegnung fand in einer der unterirdischen Katakomben Roms statt. Tinto, das aristokratische Vampir-Oberhaupt der Stadt, vermittelte das Treffen, dem Salena regelrecht entgegenfieberte. Tinto hatte es genossen, sie zu besitzen. Sie hatte ihm in aller De mut große Gunst erwiesen, denn noch immer wirkte die Konditio nierung, die ihr das Gefühl aufzwang, das beliebige Spielzeug jedes Vampirs zu sein. Dann war es soweit. »Wer bist du?« fragte das Wesen, das sich hinter wallendem Nebel verbarg, den selbst Salenas Blicke nicht zu durchdringen vermoch ten. »Du erinnerst dich nicht?« Sie versuchte ihre Enttäuschung zu ver bergen. »Müßte ich das?« »Ja!« Ihr Schrei brach sich an den Wänden, und das Echo schmetterte sie brutal zu Boden. Ein unbekannter, durch das Mark ihres Rückens kriechender Schmerz ließ sie wimmernd um Vergebung betteln. »Steh auf!« Die Qual wich. Salena erhob sich zitternd vom naßkalten Boden. »Komm zu mir!« Wie in Trance ging sie auf den künstlichen Nebel zu und tauchte
in ihn ein. Blind stieß sie gegen Hände, die sie auf Distanz hielten. »Warum wolltest du mich sprechen?« fragte die sonore Stimme. »Ich bin Salena. Ich gehöre zu Saduks Stamm – Saduk in Shibam.« »Was willst du?« Die Stimme gewann an Strenge. »Um das zu erklären, müßtest du dich meiner erst erinnern.« »Ich erinnere mich.« Salena hielt inne. Ihre Gedanken zerstoben. »Was willst du?« Verzweifelt versuchte sie sich an den Grund zu erinnern, der sie hierher geführt hatte. Aber je mehr der Hüter drängte und je ange strengter sie nachdachte, desto größer wurde die Leere in ihr. Plötzlich begriff sie, daß ihm das gefiel. Sie ballte die Fäuste. (Sie ballte die Fäuste?) »Siehst du?« sagte er. Es klang amüsiert, und mit dem nächsten Atemzug wich der Nebel, als hätte Salena ihn in ihre Lungen gesogen. Der Hüter wurde sichtbar. Sie erschauderte. »Was – soll ich sehen? Dich …?« Vergeblich suchte sie nach Hinweisen, wo die Geburtsstätte dieses Mächtigen lag. Seine Züge schienen sämtliche Nationalitäten der Welt in sich zu vereinen. Dieses Gesicht war zu unverbindlich und spiegelte nicht den Status wider, den Salena eigentlich erwartet hat te. Dieser unscheinbare Mann bereiste die Erde, um neues vampiri sches Leben zu säen? »Du solltest weniger über mich nachdenken als über dich. Fühltest du nicht gerade heillose Wut? Wolltest du mir nicht zornig ans Le der?« Salena erbleichte und schüttelte entsetzt den Kopf. »Das könnte ich gar nicht«, beteuerte sie devot, während sie niedergeschlagen ein
paar Schritte zurückwich. Das Gefühl, bereits jede Basis für ein fruchtbares Gespräch zerstört zu haben, schnürte ihr die Kehle zu. »Warum solltest du es nicht können – davon abgesehen, daß ich es natürlich nicht zuließe?« »Ihr verhöhnt mich, Herr.« »Ich bin nicht dein Herr! – Oder bist du meine Kreatur?« Die Schärfe seiner Stimme erschreckte sie. »Nein …« »Dann benimm dich auch nicht so!« »Ich muß es doch …« »Du mußt?« »Du selbst hast mich bei meiner Geburt so konditioniert!« Seine nächsten Worte brachten Salenas gesamtes Weltbild zum Einsturz: »Aber das war eine Lüge.« Sie stand da wie versteinert. Selbst die Pupillen in ihren Augen höhlen schienen in Eis zu erstarren. »Eine …?« »Meine Lüge. Ich fand Saduks Anliegen damals weit anmaßender, als ich ihm gegenüber zeigte. Deshalb betrog ich ihn. In Wahrheit bist du nicht anders als all die Kinder des Kelchs vor dir. Dein skla visches Gebaren wurde dir eingeredet. Du bist ein Produkt deiner Umgebung!« Er schritt ihr entgegen. Salenas Bedürfnis, sich umzudrehen und davonzulaufen, blieb un erfüllt. Sie war wie gelähmt. Es ging ja nicht nur um ihre Mentalität. Die Worte des Hüters stell ten alles in Frage. Du bist nicht anders als all die Kinder des Kelchs vor dir …
*
Sie war gekommen, weil sie sich die Hilfe des Kelchhüters erhoffte, um ihre verschütteten Talente endlich voll zu entfalten. Aber nun er fuhr sie, daß es solche Fähigkeiten in ihr gar nicht gab. Daß auch sie nur Teil eines Betrugs war, den Saduk provoziert hatte. »Dein Oberhaupt«, sagte der Hüter, »ist ein wenig größenwahn sinnig. Seine Idee eines Messias ist krank! Wir sollten uns auf unsere eigenen Stärken verlassen!« »Warum …« Salena stockte kurz. »Warum hast du ihm das nicht – gesagt?« Er zuckte die Achseln. »Ich wußte nicht, daß er bereits so davon besessen war.« »Er siedelte nach Jerusalem um. Wußtest du es nicht? Mein letzter Kontakt zu ihm liegt bereits vierundzwanzig Jahre zurück.« Der Hüter schüttelte den Kopf. Seine Miene blieb unerschütterlich. Als er sprach, hatte Salena für einen Moment das aberwitzige Emp finden, als bewegten sich seine Lippen nicht völlig synchron zu sei nen Worten. »Jerusalem?« sagte er. »Nein, das wußte ich nicht. Aber diese Wahl wird ihn bald reuen.« Salena atmete tief. »Warum sollte es ihn reuen?« »Weil dort unten bald ein noch blutigerer Krieg herrschen wird als all die Zeiten davor.« Nun schwieg er eine Weile, ehe er fortfuhr: »Aber vielleicht täusche ich mich in ihm. Vielleicht schafft er es, die Bastion gegen den uns schädlichen Glauben zu verteidigen.« »Wovon redest du?« Salena trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Das Gespräch verlief in völlig anderen Bahnen, als sie es hätte voraussehen können. »Wozu hast du deine Augen, wozu deine Ohren? Du bist eine Ru
helose wie ich geworden. Aber du scheinst nicht zu bemerken, was um dich herum vorgeht. So wirst du nicht lange überleben. Men schen sind schwach – aber nicht so schwach, wie du sie siehst. Mit dieser Einstellung wird dir einer von ihnen irgendwann zum Ver hängnis!« »Was ist mit Jerusalem?« fragte sie hartnäckig. »Welche Gefahr droht meinem Stamm?« »Du fühlst immer noch Loyalität für die, die dich jahrelang demü tigten und klein hielten?« Salena war selbst überrascht, wie wenig Rachegefühle sie gegen Saduk hegte. »Ja!« »Dann solltest du zu ihnen zurückkehren und ihnen helfen.« »Wobei?« »Ich weiß aus guter Quelle, daß der Papst anläßlich eines in Cler mont abgehaltenen Konzils den Hilferuf von Kaiser Alexius erhielt. Offenbar ist man im christlichen Europa nicht länger gewillt, die Be schneidung der Pilgerwege zu tolerieren. Bischöfe, Äbte und Ritter einigten sich auf eine gewaltsame Öffnung der Straße ins Heilige Land. Man will Byzanz, das die Pilgerfahrten organisiert, zu Hilfe kommen. Nächstes Jahr, sobald der Winter vorbei ist und der Früh ling Einzug in Europa hält, will man mit einem mächtigen Kriegs heer gegen die Saljuken ziehen! Wenn Jerusalem fällt, fällt auch dein Stamm. Die Fünfzig, die ich Saduk damals zuerkannte, werden nicht reichen, einer aufgehetzten Armee von Fanatikern die Stirn zu bie ten.« »Wenn du all dies weißt«, sagte Salena rauh, »warum warnst du ihn dann nicht? Warum mobilisierst du keine Unterstützung für Sa duk? Auf dich hört man!« Des Hüters Lachen klang bitter, und er sagte: »Ich bin erschüttert, wie wenig du über dein eigenes Volk weißt.«
Als wäre damit alles gesagt, wandte er sich von ihr ab und begann sich erneut in Nebel zu weben. »Nein!« rief Salena. »Halt! So kannst du mich hier nicht stehenlas sen!« Er drehte sich nicht um. »Kann ich nicht?« Es fiel ihr schwer, die Fesseln abzustreifen, die sie all die Jahre in der Nähe eines der ihren empfunden hatte. »Nein! Du schuldest mir etwas!« Gleichzeitig dachte sie: Ich muß wahnsinnig geworden sein. Er wird mich mit seiner Magie wie Ungeziefer zertreten! Zu ihrer Verblüffung wandte er sich ihr ohne Groll zu und ließ den Nebel wie Schnee zu Boden fallen. »Endlich. Es wurde auch Zeit, daß du ein wenig Courage entwi ckelst!« Salena starrte in ein Gesicht, das ihr zunehmend gespenstischer vorkam. »Du hast recht«, sagte der Mund, der wieder diese kaum merkli che Disharmonie zur Stimme schuf. »Ich glaube, ich schulde dir wirklich etwas. Nenne mir einen Wunsch, mit dem ich das dir Zuge fügte sühnen kann. Ich wollte Saduk treffen, aber offenbar habe ich mein Ziel verfehlt. Der Kodex ist auch mir eine Verpflichtung. Ich werde mich deinem Verlangen beugen.« Salena schwankte leicht. Sie war immer noch dabei, das Gehörte zu verarbeiten. »Ein Wunsch?« wiederholte sie. »Du würdest ihn erfüllen, egal wie … wie anmaßend er klänge?« Der Hüter musterte sie eine Weile schweigend. Dann nickte er. »Du weißt also schon, was du willst?« Salena spürte eine seltsame Hitze durch ihr Gedärm strömen. »Ich
will, daß es wahr wird! Ich will das sein, was ich nun schon im fünf undzwanzigsten Jahr zu sein glaubte! Ich halte Saduks Idee nicht für krank. Er dient unserem Volk. Er hat eine Vision, die den unsrigen nicht schaden wird – nur denen, denen wir schon immer schadeten!« Sie suchte nach einem Widerhall von Gefühl im bleichen Gesicht, das ihr entgegenblickte. Aber nur die Augen, die nicht zu diesem Gesicht zu gehören schienen, funkelten rätselhaft. »Ich soll dich tatsächlich zur Messias-Sucherin machen?« »Nicht nur.« »Was noch?« »Auch dies wird dir ›krank‹ erscheinen, aber ich habe mich längst damit abgefunden, und ich glaube, eine Umgewöhnung fiele mir sehr viel härter, als wenn ich alles beim alten beließe …« Der Hüter schüttelte ungläubig den Kopf. »Du findest Gefallen an deiner Unterdrückung?« »Ich komme damit zurecht. Was immer mir in der Vergangenheit angetan wurde, gab ich an jene weiter, von denen ich mich nicht un terdrücken lasse. Ich lasse rotes Blut büßen für das, was schwarzes mir antut …« Der Hüter wiegte nachdenklich den Kopf. Schließlich lenkte er ein: »Du mußt es wissen.« »Heißt das, du erfüllst meine Bitte?« »Ich breche kein Versprechen.« »Das dachte auch Saduk …« Hinter den fahlen Lippen knirschte er mit den Zähnen. Einen Mo ment meinte Salena, die Augen des Hüters würden sie mit einem einzigen Blick einäschern. Aber er sagte nur: »Du hast recht: Es wird Zeit, dir deine Demut zurückzugeben, bevor du mich zu sehr er zürnst.« Er kehrte ihr kurz den Rücken, und als er sich wieder um
drehte, hielt er etwas in den Händen, was Salena Mut und Atem raubte. Der Lilienkelch. Die Wiege aller Vampire.
* Sie hatte ihn nie bewußt gesehen – oder es wieder vergessen. Der Kelch wirkte nicht wie ein aus einem Guß gefertigtes Ding. Vielmehr erweckte er den Eindruck mühsam wieder beseitigter Zer rissenheit. So viele Leben, wie er bislang gekostet und mit neuem Odem erfüllt hatte, aus so vielen Splittern schien er sich auch zu sammenzusetzen. Sekundenlang hatte Salena das Gefühl, ihre eigene, damals noch menschliche Seele darin eingesperrt zu sehen … Sie schüttelte den Gedanken ab. »Was muß ich tun?« fragte sie. »Du? Nichts weiter, als noch einmal zu sterben. Bist du dazu bereit?« Nur ein Wahnsinniger konnte dies fragen – und nur eine Wahn sinnige es bejahen. »Fang an!« Der Hüter lächelte karg. Sein Gesicht verschwamm, als sich kaltes, purpurnes Licht aus dem Gefäß in seinen Händen ergoß. Es schwappte über den Kelchrand und stürzte wie eine Flüssigkeit zu Boden, von wo aus es weiter schlangenhaft auf Salena zukam. Alles veränderte sich. Die Katakombe verlor ihre realen Grenzen – und die jemenitische
Vampirin ihr Leben. Sobald der Purpur an ihr hochleckte, begann sich ihr Dasein wie in einem Säurebad aufzulösen. Sie hatte zu wissen geglaubt, was Schmerz ist, aber nun lernte sie die Dimensionen des Horrors neu kennen und fürchten. Wie lange der Akt der Vernichtung andauerte, konnte sie erst später vage aus der ›draußen‹ verflossenen Zeit errechnen. Während es dauerte, schien es ihr ewig. Geist und Körper bildeten eine Einheit. Nichts wurde gespalten. Beides verbrannte im Purpur, und der Beitrag, den der Hüter zu ih rer Auferstehung leistete, blieb ihr vollständig verborgen. Als sie blinzelnd die Augen öffnete, war es bereits vorbei. Erstaunt stellte sie fest, daß sie den Kelch in Händen hielt, und daß der Ge schmack schweren Blutes in ihrem Mund war. Sogleich aber forderte der Verwalter des Grals seinen Besitz zu rück. »Geh nun«, sagte er, gleichwohl Salena das Gefühl hatte, jeder Knochen in ihrem Leib sei zermalmt und wieder zusammengefügt worden wie die Teile des Kelchs. Stumm lauschte sie in sich. Dem Blick des Hüters wich sie aus, als wäre sie es nicht einmal wert, von ihm betrachtet zu werden. »Woran merke ich, daß ich nun in der Lage bin, Saduks sehnlichs ten Wunsch zu erfüllen?« rann es verschüchtert über ihre Lippen. »Was erwartest du? Sobald du diesem kranken Traum Saduks ge genüberstehst, wirst du es fühlen – vorher nicht. Aber ich wiederho le: Ich bezweifele, daß es den, den ihr sucht, gibt. Ich bin viel herum gekommen, und ich wüßte, wenn ein Kind durch meine Hände ge gangen wäre, das soviel Vorsehung in sich konzentriert hätte …« »Es muß noch nicht geboren sein. Der Zeitpunkt ist völlig unge
wiß. Es könnte in diesem Moment den ersten Atemzug tun …« Der Hüter verabschiedete sich brüsk – und war im nächsten Mo ment aus ihrer Wahrnehmung verschwunden. Salena benötigte Stunden, um sich soweit zu sammeln, daß sie Tinto gegenübertreten konnte. »Bist du zufrieden?« fragte er. »Du siehst schlecht aus. Wollte er dich nicht anhören?« »Doch.« »Ich glaubte schon, dich nicht mehr wiederzusehen. Du warst vie le Stunden bei ihm …« »Danke für deine Fürsprache.« Salena kämpfte gegen das Gefühl, das sie selbst zurückerbeten hatte und unter dem sie nun dennoch wieder litt. »Es hat sich ergeben, daß ich noch heute abreisen muß.« »Heute schon? Willst du mir nicht wenigstens noch einmal deine Gunst erweisen?« Salena verbeugte sich unterwürfig. Wie hätte sie ihm dies verweigern sollen? Während sie mit Tinto ins Bett stieg, rüsteten die Herolde Christi zum Sturm auf das Land, von dem sie meinten, es gehöre ihnen …
* 800 Jahre später Gegenwart Es war kein Schmerz. Es war … Lilith Eden seufzte hilflos, weil sie nach einem Begriff suchte, der
noch nicht erfunden war. Krampfhaft hielt sie die Augen geschlos sen, um die Menschen in ihrer Nähe nicht ansehen zu müssen. Sie ertrug die Gefühle, die dabei frei wurden, nicht. Nicht nur die Menschen, alles hatte sich verändert. Ich auch, dachte sie. Vielleicht sogar nur ich. Irgend etwas geht in mir vor … Sie wußte nicht mehr, wann das Rumoren in ihrem Kopf angefan gen hatte – oder das hohle Flüstern in ihren Gedanken. Manchmal überkam sie die lähmende Vorstellung, in einen finste ren, endlosen Schacht zu stürzen – und ein anderes Mal hörte sie Schreie, die nicht ihrer Umgebung entsprangen, sondern auch die sem Ort, der in ihr war. Sie krümmte sich. Den Mann an ihrer Seite ließ es unberührt. Sie hatte ihn gleich zu Beginn der Rückreise aus Rumänien ›ruhiggestellt‹. Er schlief. Beneidenswert. Oder auch nicht, denn vor Schlaf fürchtete sich Lilith inzwischen. Schlaf bedeutete auch Träume. Schreckliche Träume … Ihre Finger krallten sich in die Tüte, die sie im Duty Free Shop von Bukarest erworben hatte. Der Inhalt stammte nicht von dort, sondern aus einer Höhle nahe dem rumänischen Dorf Râcâsdia. Ab und zu schob Lilith auch eine Hand in den Plastikbeutel, als müßte sie sich vergewissern, daß die Schatulle noch da war. Sobald sie über die rissige Oberfläche strich, geisterte der ominöse Gedanke ›Das Holz der Dunklen Arche‹ durch ihr Bewußtsein. Sie hatte keine Vorstellung, was es damit auf sich hatte. Das Mate rial des Kästchens erweckte den Anschein, als wäre es längst verrot tet, hätte es sich nicht vor Urzeiten in genügendem Maß mit etwas
vollgesogen, das es für die Nachwelt erhielt. Blut. Lilith kannte sich aus mit dem Nektar der Vampire. Etwas anderes als Blut vermochte auch ihren Hunger nicht zu stillen. Widerwillig öffnete sie kurz die Augen – und prallte erneut vor der Stimmung an Bord des Flugzeugs zurück. Vorsichtig, als han delte es sich um etwas extrem Zerbrechliches, zog sie die Schatulle ein Stück aus der Kunststoffumhüllung. Als sie den Deckel hob, wurde das sichtbar, was mindestens ebenso mysteriös wie das Käst chen selbst war. Lilith hatte den Gegenstand einer Dienerkreatur abgenommen, aber in deren Besitz konnte er sich nur kurz befunden haben. Davor hatte er vermutlich einem Mitglied der Vampirsippe gehört, die das Dorf Râcâsdia unter ihrem Terror gehalten hatte.* Die düstere, metallisch glänzende und schwere Figur war etwa handspannengroß. Ein geschuppter Schaft mündete in einen aggres siv modellierten Schlangenschädel, aus dessen weit aufgerissenem Rachen zwei gebogene Zähne herausragten. Die Besonderheit be stand in der Aushöhlung dieser dornenspitzen Reißer. Noch etwas anderes erschreckte Lilith daran: Als sie dem untoten Mädchen Laila die Schlangenfigur entriß, hatte sie die Empfindung gehabt, als wären feine Drähte daraus in ihr Fleisch gedrungen. Gleichzeitig hatte eine schreckliche Vision sie heimgesucht. Deshalb hatte Lilith nun, um die Gefahr für sich selbst zu begren zen, von ihrem Symbionten ›Handschuhe‹ ausbilden lassen. Sie hoffte, das erschreckende Phänomen so ausschließen zu können – zumindest so lange, bis sie mehr darüber wußte … Sie schloß Deckel und Augen. *siehe VAMPIRA 30 und 35
Die Gespenster ließen sich nicht betrügen. Sie krochen auch hinter die dünnen Häute ihrer Lider, und sie krochen tief in ihr Herz. Was war geschehen?
* »Was ist los, Lilith? Fühlst du dich nicht wohl?« fragte Beth MacKinsay, nachdem sie sich hinter den Paßkontrollen des NaritaAirports in die Arme gefallen waren. »Du siehst schlecht aus – mit genommen!« »So fühle ich mich auch.« »Warum hast du am Telefon nichts davon gesagt?« »Hätte es etwas geändert?« »Schon gut. Und was ist in der Tüte?« Die blonde Reporterin schürzte die Lippen. »Doch nicht etwa – der Lilienkelch?« »Nein«, antwortete Lilith einsilbig. Sie hatte Mühe, Beth’ speziel lem Humor zu folgen. Alles bereitete ihr Mühe. Und Angst. »Ich werde dir schon noch alles erzählen – aber, bitte, fahren wir erst einmal nach Hause.« Beth’ Mimik ließ offen, ob sie sich über Liliths Hinhaltemanöver ärgerte oder das Schinrei-Building nur immer noch nicht als ErsatzZuhause akzeptieren konnte. Daß Schinrei Geborgenheit bedeutete, hatte sich für die beiden so ungleichen Frauen bislang noch nicht be wahrheitet … Das Taxi brauchte eine volle Stunde für die Fahrt in die Stadt. Der Nachmittagsverkehr lief quälend zäh, und es waren 65 Kilometer von Narita bis Tokio City.
Lilith umging das altbekannte Rückspiegelproblem, indem sie sich neben den Fahrer setzte. Beth hatte im Fond Platz genommen. Aber es war, als stünde nicht nur diese Kluft, sondern eine regelrechte Mauer zwischen ihnen. Lilith war überzeugt, daß es nicht an Beth lag. Es hatte mit ihr selbst zu tun. Damit, daß sie sich sogar in diesem Ameisengewimmel von Men schen einsam fühlte, als wäre sie auf einen luftlosen Mond verbannt worden. Damit, daß ihr die ganze Metropole trotz der überall sichtbaren Bewegung wie eine Totenstadt erschien. Wenn Lilith irgendwo auch nur einen flüchtigen Blick auffing, dachte sie nicht an den lebenden Menschen, den sie sah, sondern an das Skelett, das bereits unter dessen Haut lauerte – Leben und Tod waren nur durch eine hauchdünne Schicht Zeit getrennt … Ich werde wahnsinnig, dachte sie. Wenn ich nicht bald damit aufhöre, verliere ich den Verstand …
* Das Reden darüber hatte keine Erleichterung gebracht. Und was Beth über die Tage, die sie allein in Tokio hatte verbringen müssen, verlauten ließ, war kaum in Liliths Bewußtsein gedrungen. Sie wußte nicht, was es war, aber etwas in ihr baute unablässig weitere Widerstände zur sicht- und fühlbaren Realität auf … Die Schatulle (Das Holz der Dunklen Arche) mit dem Schlangenstab lag im Tresor des Nebenraums. Unerreichbar für Beth. Der seltsame Gegenstand war gefährlich. Im Kampf mit Laila hat ten sich seine ›Zähne‹ einmal auch in Liliths Hals geschlagen, jedoch
ohne Schlimmeres anzurichten. (Wirklich nicht?) Statt Entspannung fühlte Lilith nur eine grausame Leere. Selbst die Freude über das Wiederzusammensein mit Beth litt darunter. Zärt lichkeiten waren nicht aufgekommen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte Beth allein auf dem Futon zurückgelassen, um hinaus in die Nacht zu fliegen. Vielleicht hätte ein Ausleben ihrer Triebe Abstand zu den zurückliegenden Er eignissen gebracht. Aber nicht einmal dafür brachte sie die nötige Entschlossenheit auf. Vielmehr irrten ihre Gedanken durch die bisherigen Stationen ihres Lebens. Erst sechzehn Monate waren seit ihrem Erwachen im Haus 333 an der Paddington Street in Sydney vergangen. Aber in diesen Monaten hatte sie mehr und Gräßlicheres erlebt als ein Mensch in hundert Jahren! Acht Monate fehlten noch bis zu dem schicksalhaften Datum, das ihr als Bewußtwerden ihrer Bestimmung prophezeit worden war. Feli dae hatte diesen Prozeß mit Hilfe des Lilienkelchs beschleunigen wollen. Aber nachdem Landru den Kelch zeitweilig an sich gebracht und ihn für seine Zwecke mißbraucht hatte, war Felidae verschwun den, um das Unheiligtum der Vampire zu ›reinigen‹, wie sie gesagt hatte. Felidae … Landru … Wahrscheinlich hätten diese beiden ihr mehr über den Schlangen stab und auch über die Dunkle Arche verraten können. Aber sie wa ren unerreichbar wie der dritte, dem Lilith eine Stellungnahme zu getraut hätte: Jeff Warner, der Bote des HAUSES, von dem sie seit langem kein Zeichen mehr erhalten hatte, obwohl er ihr versprochen hatte, sich bei ihr zu melden, sobald die Zeit reif sei.
Wann dies war, bestimmte höchstwahrscheinlich nicht er, sondern die in der Paddington Street manifestierte magische Kraft … Über diesen Gedanken döste Lilith, obwohl sie sich nicht wirklich müde fühlte, kurz ein. Sie erwachte von einem unbestimmten Schmerzgefühl, das von ih rer linken Hand ausstrahlte. Als sie sie hob, sah sie es gleich: Der Scout, das magische Tattoo auf der Handinnenfläche, war ver schwunden! Es mußte sich ohne einen entsprechenden Befehl gelöst haben. Im nächsten Moment stürzten die Eindrücke der magischen Fle dermaus auf sie ein …
* Hilf mir! Lilith blieb erstarrt liegen. Die eigene Haut wurde zum stählernen Panzer, in dem alles darunter Befindliche eingeschlossen war. Auch Liliths Gedanken, die den Kontakt zum Symbionten suchten. Vergeblich. Die Isolation war perfekt. Es war, als gäbe es das chamäleonhafte Kleidungsstück überhaupt nicht. SO HILF MIR DOCH ENDLICH …! Was war das? Es waren nicht ihre Gedanken. Flüchtig blitzte das Bild eines Friedhofs in Lilith auf, und im nächsten Moment erinnerte sie sich, etwas Ähnliches schon einmal wahrgenommen zu haben. Vor Wochen, als sie noch über die Be deutung des empfangenen Tattoos gerätselt und damit experimen tiert hatte.
Damals hatte sie ebenfalls geglaubt, auf unbekannte Grabmale hinabzustürzen. Aber damals war der Scout, der diese Eindrücke übertrug, zu ihr zurückgekehrt, und diesmal hatte Lilith das absolu te Empfinden, als würde dies verhindert. Die nächste Überlegung des Fremden bestätigte es. Komm! Hilf mir, oder ich behalte ihn! Ihr Herz hämmerte wie rasend, und auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß. »Beth …« Doch ihre Freundin schlief unbeeindruckt weiter. Und dann sagte die Stimme in Liliths Kopf etwas so Elektrisieren des, daß Lilith aufschrie. Diesmal konnte Beth es nicht überhören. Ruckartig fuhr sie neben Lilith auf. »Heh! Was ist los? Alpträume?« Lilith lag immer noch wie versteinert da. Aber die Erstarrung schi en zurückzugehen. Sie ballte die Fäuste und fing an zu wimmern. Es war, als hätte ihr etwas die Eingeweide herausgeschnitten und als klaffe nun dieses Loch in ihrem Körper, das durch nichts mehr zu füllen war … Beth überwand ihre Schlaftrunkenheit und beugte sich über sie. Liliths Augen waren offen. Ihre Freundin konnte es im zuckenden Licht einer Kerze erkennen. »Was ist?« fragte sie sanft und nahm Liliths Gesicht zwischen die Hände. »Du bist ja ganz kalt …« Wie tot, wisperte es in Liliths Verstand. Wie sie … »Ich …« Sie verstummte. Ihre Stimme klang heiser und fremd. Mühsam hob sie den linken Arm und drehte Beth die Innenfläche ihrer Hand zu.
Auch Beth sah es sofort. »Es ist – weg …« »Ja«, sagte Lilith schwerfällig. »Weg.« »Und? Wohin hast du es geschickt?« »Nirgendwohin. Es wurde geholt.« »Geholt? Aber von wem …?« Ein leiser Schrecken huschte über Beth’ Gesicht. »Felidae?« sprach sie ihre Befürchtung aus. Lilith schüttelte schwach den Kopf. »Nein, nicht Felidae. Es ist … ist …« Beth sah, wie sehr ihre Freundin mit dem Namen rang. »Wer ist es, Lilith?« fragte sie sanft – und schrie im nächsten Mo ment schmerzlich auf, als sich Liliths Finger tief in ihr Fleisch bohr ten. Der Blick der Halbvampirin flackerte. »Es ist, als würde ich bei lebendigem Leibe ausgehöhlt«, stöhnte sie. »Als würde ein stumpfes Messer in mir wühlen …« Sie preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Schließlich sagte sie tonlos: »Es ist Creanna … Meine Mutter hat sich bei mir gemeldet …«
* »Creanna ist tot!« sagte Beth eindringlich. Ja, dachte Lilith, tot. Ihre im walisischen Llandrinwyth geborene, einst von Felidae ge raubte und als Säugling einer vampirischen Kelchtaufe unterworfe ne Mutter war gestorben, als sie im fernen Australien ein lebendiges Kind gebar: Lilith. Geschehen war dies vor beinahe hundert Jahren, im Winter 1896.
Creanna hatte gegen das ehernste GESETZ ihrer Rasse verstoßen, indem sie sich dazu entschloß, mit dem Sterblichen Sean Lancaster ein Kind zu zeugen. Aber sie hatte dies nicht aus ureigenem Antrieb getan, sondern weil eine immer noch mysteriöse Macht sie führte. Dieser Macht hatte sich nicht nur Creanna verschrieben – auch Fe lidae und jetzt auch Lilith dienten ihr. Der Werdegang Felidaes war im Sydneyer Museumsdorf ›The Rocks‹ offenbart worden – bei dem gescheiterten Versuch, Lilith mit dem Kelch die noch fehlende Reife einzuflößen. Deshalb wußte die Halbvampirin auch sehr sicher, daß nicht einmal Felidae die wahre Identität jenes Drahtziehers kannte, der für alle seitherigen Gescheh nisse die Verantwortung trug. Aber diese Macht mußte noch weit über den Kelchhütern stehen, die alle tausend Jahre ihre Berufung im Felsendom des Großen Ararat erfuhren. Möglicherweise verbarg sich die Macht, die einst die Hüter-Kaste erschaffen hatte, selbst dahinter. Warum sie jedoch plötzlich Ränke gegen die Vampire schmiedete, und wer sie war, blieben die großen Rätsel, denen Lilith bisher vergeblich nachgespürt hatte. Mehr und mehr keimten jedoch Zweifel, ob sie wirklich auf der richtigen Seite stand. Immer häufiger kamen im Kampf gegen die Vampire unverhältnismäßige Mittel zum Einsatz. Auf die Men schen, deren Befreiung dies alles schließlich dienen sollte, wurde keine Rücksicht genommen. »Willst du mir etwa weismachen, Creanna hätte sich aus dem Jen seits bemerkbar gemacht?« unterbrach Beth Liliths Gedanken. Es klang, wie es gemeint war, und Lilith hatte Verständnis für die Zweifel in Beth’ Stimme. Aber seit Duncan Luthers Rückkehr aus dem Reich der Toten* (Duncan, der seit Wochen spurlos verschwunden war!) hielt sie vieles für möglich, was ihr davor undenkbar erschie *siehe VAMPIRA 20: »Das zweite Leben«
nen wäre. Beth hatte sich wieder aufgesetzt. Sie trug ein viel zu großes, bis zu den Leisten hochgerutschtes T-Shirt. Ihr kurzes blondes Haar stand verstruwwelt in alle Richtungen ab. Der Kerzenschein hüllte alles in eine Aura der Unruhe, die ebensogut aus Lilith selbst hätte kommen können. »Es geht nicht darum, was ich dir ›weismachen‹ will – ich habe sie gehört!« »Sie hat zu dir gesprochen?« »Nicht wie du und ich miteinander sprechen. Aber ich habe es ver standen.« »Was hat sie gesagt?« »Sie forderte meine Hilfe.« »Sie forderte?« »Ja. Sie schien sich nicht mit Bitten aufhalten zu wollen. Und vor her holte sie sich den Scout als Pfand …« Lilith präsentierte erneut ihre leere Hand. »Weißt du, wie das klingt?« »Ein klein wenig irre?« »Mehr als ein klein wenig!« »Ja, das weiß ich.« Auch Lilith setzte sich auf, aber nichts war beim alten. Sie spürte den Verlust des Tattoos immer noch, als wäre ihr die Hand abgetrennt worden, um an den magischen Abdruck zu ge langen. »Warum sollte dir deine Mutter drohen?« bemühte sich Beth wei terhin, ihr die Absurdität ihrer fixen Idee klarzumachen. »Hörst du sie immer noch? Jetzt, in diesem Moment?« »Nein«, sagte Lilith. »Na also.«
»Na also?« Sie lachte bitter. »So einfach, wie du es dir machst, kann ich es mir leider nicht machen. Immerhin betrifft es mich.« »Zumindest bildest du es dir ein.« Beth wollte ihre Hand in die von Lilith legen, aber die Halbvampirin zuckte zurück. »Wovor hast du Angst?« »Hast du Zeit? Wenn nicht, frage lieber, wovor ich momentan kei ne Angst habe!« »Ich habe es schon bei deiner Ankunft bemerkt.« Beth startete einen zweiten Versuch, und diesmal ließ Lilith es zu, daß sich ihre Hände ineinander falteten. »Es ist normal – nimmt man den Verlauf deines Lebens als Maßgabe.« »Du meinst, ich wäre ohnehin nicht ganz normal?« »Außergewöhnlich – du bist außergewöhnlich. Das kannst du nicht abstreiten. Vielleicht hast du dir in Rumänien einen zusätzli chen Knacks geholt. Zeig mir endlich, was du im Safe hast ver schwinden lassen. Vielleicht hängt es damit zusammen …« »Nein!« »Nein?« Beth zuckte die Achseln. »Wie du willst. Und wie soll es deiner Meinung nach weitergehen? Hältst du es für vernünftig, an eine tote Mutter zu glauben, die dir aus dem Jenseits bei der Bewäl tigung deiner Probleme behilflich ist?« »Es war ein Hilferuf!« erwiderte Lilith verärgert. »Und warum schweigt sie jetzt?« Lilith wollte etwas erwidern. Aber im selben Moment hatte sie das Gefühl, ein glühendes Eisen dringe in ihre linke Hand. Mit qualvoll verzerrtem Gesicht riß sie sich von ihrer Freundin los. Spätestens in den darauffolgenden Sekunden begriff auch Beth, daß sie es mit mehr als einem bloßen traumatischen Hirngespinst zu tun hatten.
Lilith wälzte sich schreiend über die Matratze. Schließlich stürzte sie auf den mit Matten ausgelegten Boden neben dem Futon. Aber auch dort beruhigte sie sich nicht. Wieder frästen sich fremde Gedanken durch ihr Hirn. HILF MIR! HILF MIR AUS DER HÖLLE, IN DER ICH SCHULD LOS SCHMORE! Der lautlose Schrei war so gewaltig, daß Lilith in tiefe Bewußtlo sigkeit geschleudert wurde.
* Als sie erwachte, lag sie wieder auf dem niedrigen Futon. Beth knie te neben ihr und tupfte mit einem kühlen, feuchten Tuch Schweiß von Stirn und Wangen. Liliths erster Blick galt der linken Hand. »Es ist immer noch fort«, kam Beth ihr zuvor. »Ich halte es die gan ze Zeit im Auge.« Lilith stellte am veränderten Klang der Stimme fest, daß ihre Freundin nicht mehr ganz so unerschütterlich auf ihren Ansichten beharrte. »Tut es noch weh?« »Höllisch.« (Hilf mir aus der Hölle, in der ich schuldlos schmore!) »Meinst du, ein Arzt könnte dir helfen?« »Wenn er magische Vorkenntnisse besitzt … Kennst du einen?« Beth schüttelte den Kopf. Sie sah blaß aus. »Was dann? Was kann ich dann tun?« »Nichts«, sagte Lilith. »Ich werde mich darum kümmern. Allein.«
»Was hast du vor?« »Ich löse das Pfand ein. Ich weiß, wo es zu finden ist.« »Du weißt …« »Das sagte ich vorhin schon. Ich war auch schon einmal dort – mit dem Scout. Du erinnerst dich, wie du die in Weihwasser getauchte Nadel aus dem Tattoo gezogen hast?« Beth nickte. »Schon damals«, fuhr Lilith fort, »zog mich dort etwas an – aber ich habe nicht darauf reagiert. Nun hat das, was dort wohnt, die Ge duld verloren …« »Deine Mutter?« »Ich weiß es nicht. Ich werde es erfahren.« »Ich dachte immer, Vampire besäßen überhaupt keine Seele, die ins Jenseits wechseln könnte«, murmelte Beth und senkte den Blick. »Ich war wirklich der Meinung, gerade die Seele würde beim Kelchritual durch etwas anderes, Künstliches, Böseres ersetzt … Ich will dir bestimmt nicht zu nahe treten, aber auch deine Mutter war eine Vampirin. Wie sollte sie dann aber als ›Geist‹ ihren körperli chen Tod überdauern?« »Sie war anders«, klammerte sich Lilith an eine ihrer geheimsten Hoffnungen. »Vielleicht hat das LICHT sie nicht nur in die Lage ver setzt, einen Menschen zu lieben und mit ihm ein Kind zu zeugen … Vielleicht hat es ihr auch ihre Seele wiedergegeben …« Beth’ Blicke und ihr Schweigen verrieten, daß sie ihre Freundin durchschaute. »Tu, was du tun zu müssen glaubst«, sagte sie schließlich. »Warum sollte ich versuchen, dich von etwas abzuhalten, wofür du dich längst entschieden hast?« »Du verstehst nicht«, sagte Lilith atemlos. »Ich habe keine Wahl.
Ich muß. Meine Hand, mein ganzer Körper brennt! Sie wird meine Qual erst lindern, wenn ich nachgebe …« »Das sollte dir zu denken geben. Deine Mutter, so wie du sie mir immer geschildert hast, würde dir so etwas nie antun!« »Vielleicht hat auch sie keine andere Wahl.« Beth nickte. »Ich fürchte, so ist es. Aber wenn sie deine Hilfe braucht, solltest du dich wenigstens fragen, gegen wen.« Lilith ballte den Fremdkörper, in den sich ihre linke Hand verwan delt hatte, zur Faust. Das, dachte sie gequält, frage ich mich unablässig …
* Es war nicht schwer, den öffentlichen Tempelfriedhof zu finden. Ir gendwo in Lilith existierte eine Karte, deren genaue Struktur sie noch nicht erkundet hatte. Im ersten Moment glaubte Lilith dennoch, sich in der Adresse ge irrt zu haben, als sie das Tor überkletterte, das über Nacht verschlos sen war. O-TS YA, stand kunstvoll kalligraphiert über dem Ein gangsbogen, NACHTWACHE. Ein seltsamer Name für einen Totenacker, aber noch merkwürdi ger wirkte das still ruhende Gelände selbst. Irgendwie schien dieser Friedhof ein verfremdetes Abziehbild des Gedränges zu sein, von dem das ›lebendige‹ Stadtbild geprägt war. Nirgends gab es großzügig angelegte und vielleicht sogar mit Pflan zen verschönte Ruhestätten. Überall schimmerte nur kalter Marmor auf winzigen Grabflächen. Darunter müßte jeder Tote frieren, hätte man nicht vorgesorgt. Urnengräber, dachte Lilith. Bei den hiesigen Quadratmeterpreisen kann
es sich kaum jemand leisten, seine Angehörigen nicht einäschern zu las sen. Wenn sie richtig unterrichtet war, gab es in Japan kein Verbot, die Urne mit den verbrannten Resten eines Verstorbenen in den eigenen vier Wänden aufzustellen und zu bewahren. Stritten sich mehrere Familien um dieselbe Asche, wurde sie sogar häufig über mehrere Urnen verteilt. So hatte jeder etwas davon … Lilith blieb nur kurz stehen, nachdem sie federnd auf dem Boden gelandet war. ENDLICH, seufzte etwas in ihrem Verstand. Gleichzeitig ließ der pochende, treibende Schmerz in ihrer Hand nach. »Mutter?« flüsterte sie. JA, KOMM. ZÖGERE NICHT! WARUM BEKLAGST DU DICH ÜBER DAS WENIGE AN SCHMERZ, WAS DU ERDULDEN MUSST? HÄTTEST DU MEIN LEID ZU TRAGEN, KÖNNTEST DU ERMESSEN, WIE BEHUTSAM ICH MIT DIR VERFAHRE … Lilith ging schmale Pfade entlang, zu deren Seiten sich die Urnen gräber fortsetzten. Es war noch nicht der richtige Ort. So hatten die Gräber, die ihr vom Scout übermittelt worden waren, nicht ausgese hen! Aber die innere Stimme lenkte sie fort von den buddhistischen und schintoistischen – und im weiten Bogen vorbei an christlichen Ruhestätten. Lilith blieb, von leichtem, unterschwelligem Unbeha gen abgesehen, von verderblichen Ausdünstungen verschont. Bis sich der mit einem Zaun abgegrenzte Bereich vor ihr öffnete, wo sich ausschließlich Gräber westlicher Prägung befanden. Eine Art ›Ausländerfriedhof‹, abgetrennt von der restlichen Anla ge. Von hier ab wurde es heikel. Die Halbvampirin schottete sich gegen die Einflüsse des geweih ten Bodens, der Kreuzsymbole, auf Grabmälern verewigten Gebets
formeln und Heiligenfiguren ab. Erstaunlicherweise half der Schmerz in ihrer Hand dabei. Sobald sie sich mehr auf ihn einließ, wich der Alpdruck, der von den Gräbern ausging. Auf dem direktem Wege gelangte sie schließlich zum Grabstein ei ner Frau, auf dem das Geburtsdatum fehlte. Als Sterbejahr war 1723 angegeben. Natürlich stand nicht Creanna darauf. Natürlich hatte Lilith den Namen Paula Crawford noch nie zuvor gehört. Aber Namen waren austauschbar – Personen nicht. Fröstelnd blieb sie vor dem Grab mit der verwitterten alten Stein tafel stehen, und andere, aus Gegenwart und Realität herausgelöste Bilder stürzten auf sie ein. Noch einmal durchwanderte sie das Syd neyer Haus ihrer Geburt, wie sie es damals kurz nach der Erwe ckung durch Marsha vorgefunden hatte. Den Keller, in dem das Mi mikrykleid für sie bereitgelegen hatte und wo ihr der Symbiont ein winziges Fragment des Werdegangs ihrer Eltern preisgegeben hat te.* Dort, in diesem Kellergewölbe, hatte sich auch Creannas Grab im Boden befunden. Lilith hatte geglaubt, die schemenhaften Umrisse ihrer Mutter unter der diamantharten Schicht zu erkennen – so ver schwommen, wie sich Lilith selbst in einem Spiegel wahrnahm. Schon damals hatte sie sich gefragt, warum der Körper Creannas nicht, wie bei Vampiren üblich, nach dem Tod zerfallen war. Aber schon bei ihrem nächsten Besuch, den sie mit Esben Storms Hilfe auf Traumzeitpfaden unternahm, war das Grab im Keller des Hauses verändert und leer gewesen.* Und nun meldete sich Creannas Geist bei ihr? Hin und her gerissen zwischen Zweifeln und Hoffen rief sie: *siehe VAMPIRA 1: »Das Erwachen« *siehe VAMPIRA 5: »Niemandes Freund«
»Mutter? – Wo bist du, Mutter?« KOMM! KOMM NÄHER! DU HAST DIESES GRAB NICHT ZU FÜRCHTEN. ES IST NICHT, WAS ES SCHEINT! Lilith straffte sich und machte einen Schritt nach vorn. »Und du? Bist du, was du vorgibst zu sein?« NEIN, vernahm sie die Antwort, die sie in diesem Moment am meisten verblüffte, weil das Eingeständnis völlig unverhofft kam. »Nein?« Auf dem Grabstein entstand Bewegung. Ein fahles Gespinst be gann ihn zu umspinnen, und darunter veränderte sich die verbliche ne Inschrift. Der Name Paula Crawford verschwand und wurde er setzt durch … Salena.
* Vergangenheit 1096-1212 Erst nach ihrer zweiten Taufe durch den Lilienkelch begann Salena sich wirklich in ihrem Körper einzurichten. Er war ihr nicht mehr so fremd wie in den ersten Jahren, und sie genoß es mehr, beides zu sein: Frau und Vampir. Gerade als sie Palästina erreichte, um Saduk vor den Rittern des Kreuzes zu warnen, prallten bei Nicaea die Truppen der Moslems mit einem ersten, vom päpstlichen Segen getragenen Heer zusam men. Salena fürchtete zunehmend um ihren Stamm, und Tage später
stand sie zum erstenmal seit einem Vierteljahrhundert wieder vor Saduk. Schockiert nahm sie zur Kenntnis, daß ihn nichts anderes interes sierte als die Antwort auf die Frage, ob sie die gesuchte Inkarnation nun endlich gefunden hatte. Jenes Menschenkind, auf das sein gan zes Streben zu fußen schien … Salena verneinte wahrheitsgemäß. Zugleich mußte sie sich bezäh men, Saduk nicht über den Betrug des Hüters zu unterrichten; es hätte die Zeit ihres Versagens entschuldigt, dennoch entschied sie dagegen. Saduk hätte es ihr als billigen Versuch einer Ausflucht aus legen können. Sie erhielt eine Ahnung dessen, was die erfolglos verstrichene Zeit in ihm angerichtet hatte. Er überschüttete sie mit beleidigenden Vor würfen. Selbst als sie ihm ihr Fleisch darbot, zeigte er keinerlei Be reitschaft zur Versöhnung. »Du mußt unverzüglich wieder aufbrechen!« befahl er. »Kehre erst zurück, wenn du ihn gefunden hast! Vorher ist dir diese Stadt ver schlossen – halte dich daran, oder ich werde dich strafen, wie keiner meines Stammes je gestraft wurde!« Er meinte es ernst, und Salena bereute es erstmals, daß sie den Hü ter um das Geschenk wahrer Demut ersucht hatte. Nun war es zu spät, etwas daran zu ändern. »Ich gehorche«, sagte sie. Als sie noch einmal ansetzte, darüber zu reden, was sie in Europa aus des Hüters Mund von den päpstlichen Eroberungsplänen gehört hatte, brüllte Saduk sie nieder: »Jerusalem wird nie wieder in die Hand eines Christen fallen! Keines dieser Heere, von denen du sprichst, wird je auch nur in die Nähe meiner Stadt gelangen! Und jetzt verschwinde …!« In dieser Nacht kroch klamme Einsamkeit in Salenas Herz, wie sie
es nicht einmal auf den weitesten Wanderungen empfunden hatte, und sie begann erstmals, Quat zu kauen. Sie war in der Nähe desjenigen, dem sie sich verbunden fühlte, und doch schien es, als wäre an diesem Tag etwas in ihr gestorben. Wo war die Vision, in die Saduk sie einst mit einbezog – in der sie einen festen Platz neben ihm gehabt hatte? Nun sah es wieder aus, als sähe er in ihr ein reines Mittel zum Zweck … Frustriert und mit einem großen Vorrat jener Blattspitzen, an die sie sich in einer schlimmen Nacht gewöhnt hatte, kehrte sie Jerusa lem den Rücken. Bald darauf erreichte sie Kunde, daß die – wie es hieß – ›vierzig tausend Mann starke Räuberbande der Christen‹ bei Nicaea voll ständig aufgerieben worden sei. Fernab Palästinas war die erste Schlacht, wie von Saduk prophe zeit, für die Moslems siegreich ausgegangen. Doch Salenas Sorge wollte nicht weichen. Kriegsglück, ahnte sie schon damals, konnte wetterwendischer als ein boshaftes altes Weib sein. Es wurde ihr nicht zur Genugtuung, daß sie recht behielt …
* Es geschah in der Hauptstadt des byzantinischen Reiches, daß Sale na die Wege des Kelchhüters ein drittes Mal kreuzte. Beim Besuch der Hafenstadt am Bosporus erfuhr sie von einer be vorstehenden Zeremonie aus Anlaß eines schrecklichen Feuers, das mehrere Angehörige der ansässigen Vampirfamilie überrascht hatte. Sie waren in dem Flammeninferno umgekommen. All ihr magisches Vermögen hatte ihnen nichts genützt, denn das Feuer war von einer
kundigen, zutiefst religiösen Seele gelegt worden. Nun sollten die beklagten Verluste ersetzt werden. Schon lange vor Salenas Ankunft war der Ruf an den Hüter ergangen, und noch vor dessen Eintreffen hatte die Messias-Sucherin die Ehre, der Be strafung des dingfest gemachten Mönchs beizuwohnen. Als er aus seinem wochenlangen Kerker in die Richthalle geführt wurde, schien er nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Die Insignien seines Glaubens waren gelöscht, der Mund mit Zwirn ver näht. Was er an Atem brauchte, konnte die Lippen noch passieren, und notfalls blieb ihm seine Nase, die zwar mehrfach von den Miß handlungen gebrochen, aber immer noch durchlässig war. »Wie ist sein Name?« flüsterte Salena dem ihr am nächsten Stehen den zu. »Er hat keinen Namen«, bekam sie zur Antwort. »Wir haben ge schworen, ihm alles zu nehmen. Nicht einmal er selbst kennt noch seine frühere Identität. Er fühlt sich schuldlos verstümmelt.« Salena nickte beifällig und konzentrierte sich wieder auf den Ge fangenen, dessen Augen ausgestochen und durch schwarzes, er starrtes Wachs ersetzt worden waren. »Wie habt ihr ihn am Leben erhalten?« fragte sie respektvoll wei ter. »Er konnte sicher keine Nahrung mehr zu sich nehmen.« »Jedenfalls nicht die Nahrung, die ihm beliebt hätte«, versetzte der Byzantiner höhnisch. »Wir zwangen ihn, das zu trinken, was auch uns gefällt – und wie du sehen kannst, hat es ihn durchaus ernährt!« Das war übertrieben. Viel mehr als ein Funke Leben war nicht mehr in ihm, als er ohne sichtbare Ketten über das Mosaik des Bo dens schlurfte. Jede Bewegung schien von einer Zentnerlast ge drückt. Aber es war ihm nicht einmal vergönnt, sich hinsinken zu lassen und der Erschöpfung zu folgen. Er trug keine Kutte mehr, sondern war nackt. Seine mit geruchloser Essenz eingeriebene Haut
schimmerte wie die Schutzglasur einer tönernen Figur. Nach dem Gekröse des Mönchs forschte Salena vergeblich. »Unser Oberhaupt hat ihn eigenhändig zum Kastraten gemacht«, folgte ihr Informant dem Blick ihrer Augen. »Da er seinem Gelübde nach in Keuschheit zu leben hat, dürfte ihm das noch am wenigsten ausgemacht haben.« Ein böses Lächeln schmiegte sich um Salenas Mund. Der Mann an ihrer Seite gefiel ihr, aber sie war zu gehemmt, es ihm zu offenbaren. Blieb als einzige Möglichkeit, daß er auch Gefallen an ihr fand und ihr sein Begehren eingestand. Doch danach sah es nicht aus. Seine Gedanken konzentrierten sich wieder auf den Mönch, der ohne Wis sen um ihren wahren Wert so viele unsterbliche Existenzen ausge löscht hatte. Keine Strafe schien dafür angemessen. Aber je länger die Qual die ses Wahnsinnigen dauern würde, desto mehr Genugtuung konnten die Hinterbliebenen daraus ziehen. »Warum wartet ihr nicht die Ankunft des Hüters ab? Vielleicht fie le ihm eine noch härtere Sühne ein …« »Nein. Wenn der Hüter eintrifft, sollen er und der Kelch nicht von der Gegenwart eines solchen Monsters besudelt werden. So will es Pyros, unser Vater.« »Ihr könnt stolz auf ihn sein.« »Ich weiß.« Der Mönch hatte jetzt die Mitte des Strafmosaiks erreicht. Er blieb stehen. Sein blindes Bewußtsein gehorchte dem Zwang, der von dem magisch bereiteten Richtfeld ausging. Selbst Salena, die weit davon entfernt stand, glaubte noch den schädlichen Einfluß zu spüren. Ihre Blicke wanderten über die Ge sichter der versammelten Sippenmitglieder. Nur Pyros selbst war noch nicht erschienen.
»Was wird mit ihm geschehen?« fragte Salena. »Wird er verbrannt, wie er die Euren verbrannte?« Diesmal erhielt sie keine Antwort. Als sie den Kopf zur Seite dreh te, sah sie, daß ihr Gesprächspartner verschwunden war. »Wo ist er?« wandte sie sich an den Nächststehenden. »Wer?« »Der hier stand.« »Hier stand niemand«, erfuhr sie eine Lüge, wie sie dreister kaum sein konnte. »Aber du führst beständig Selbstgespräche. Was ist mit dir? Bist du hier –« Er tippte gegen seine Stirn, »– nicht ganz in Ord nung?« Sie erzitterte. Quat, wisperte es in ihrem Erschrecken. Ich hätte nie damit anfangen dürfen … In diesem Moment erschien Pyros durch das golden schimmernde Hauptportal der Kuppel, die in verkleinerter Form der Hagia Sophia nachempfunden war, jedoch, wie nicht anders zu erwarten, einem völlig gegenteiligen Kult diente. Pyros’ Alter betrug, wie er Salena bei ihrem Höflichkeitsbesuch verraten hatte, 466 Jahre. Damit war er vom Hüter des Kelchs zufäl lig genau im Sterbejahr des Propheten Mohammed gezeugt worden. Zum erstenmal machte Salena sich Gedanken, wie alt der Verwal ter des Unheiligtums selbst sein mochte. Wer war er? Wer hatte ihn aus einem Menschenkind heraus geformt? Wer hatte den Kelch be dient, um sein Dasein zu erhöhen? Sie war sicher, daß niemand die Herkunft des Hüters kannte oder je erfahren würde. Er blieb so mysteriös wie das Werkzeug, mit dem er von Sippe zu Sippe, von Stamm zu Stamm reiste. War das Los, das Salena auf sich genommen hatte, schon von ge waltigen Strapazen gekennzeichnet – wie mußte erst seines beschaf
fen sein …? Ihre schweifenden Gedanken bündelten sich erneut an Pyros, des sen faltige Haut davon zeugte, daß er – ob aus tatsächlicher Not oder Selbstkasteiung – Zeiten großer Abstinenz durchstanden haben mußte. Nichts anderes als allzu langer Blutverzicht konnte einem Unsterblichen in diesem Maße den Fluch der Zeit in die Haut mei ßeln. Pyros’ weißes Haar verstärkte diese Vermutung noch. Und in seinen hellen Augen lag die Kälte von unglaublich vielen Wintern, die durch sie hindurch geströmt waren. Salena war erstaunt und geehrt in einem, als das Oberhaupt der Byzanz-Sippe sich gemessenen Schrittes direkt zu ihr begab. Seine Augen glitzerten. Es blieb zunächst der einzige Hinweis darauf, daß er sich der Frau, die das Gastgeschenk erfuhr, dieser besonderen Hinrichtung beiwohnen zu dürfen, überhaupt erinnerte. Salena verkrampfte innerlich. Schon die Nähe vergleichsweise jun ger und unerfahrener Vampire wirkte mitunter regelrecht lähmend auf sie – Pyros’ Aura war fast erstickend. Nicht einmal in nächster Nähe des Hüters hatte sie sich so gering gefühlt! »Was hältst du von ihm?« flüsterte er Salena zu. »Du tust recht mit ihm. Keine Verdammnis ist schrecklich genug, um seine Tat zu sühnen!« »Ja«, nickte er. »Das glaube ich auch. Fangen wir also an …« Er gab den beiden Virtuosen, die die magische Klaviatur des Richtmosaiks bedienten, das verabredete Zeichen. Salena hatte schon früher an anderem Ort von Pyros’ Erfindung gehört. Aber nun sah sie, daß die Gerüchte in diesem seltenen Fall einmal nicht übertrieben. Sie gaben die Wahrheit ziemlich genau wieder. Jeder Splitter des Bodenbelags im Zentrum der kopierten Hagia, jedes winzige Mosaiksteinchen dort unter den nackten, bereits mit
glühenden Eisen gebrandmarkten Füßen des Mönchs war mit etwas angereichert, das durch kurze, gezielte Impulse vampirischer Magie geschürt und zur Entfaltung gebracht werden konnte. Salena hatte schon von den beiden dunkel gekleideten Kindvam piren gehört, die rechts und links des Mönchs in respektvoller Ent fernung Aufstellung genommen hatten. Diese Kindvampire, die aussahen, als seien sie nicht älter als zehn oder elf, waren von Pyros persönlich in der Bedienung der Seelenorgel unterwiesen worden. Nun stimmten sie vor versammelter Sippe mit geschlossenen Au gen, ganz Konzentration, ihr Spiel an. Salena hatte nicht erwartet, daß der Vorgang tatsächlich mit Tönen oder gar Melodie verbunden sein würde. Doch so war es. Sphärische Klänge von zauberischer Kraft und einer Klarheit, die selbst das grob gestrickte Herz eines Kelchkindes anzurühren vermochte, erfüllten plötzlich das Innere der Kuppel. Gleichzeitig begann der endgültige Niedergang des Mönchs. Salena glaubte das Knirschen der Fäden, die seine Lippen aufein ander hielten, bis zu ihrem Zuschauerplatz zu hören. Wahrschein lich entsprang dies aber ihrer Einbildung, als sie die qualvolle An strengung des zu Strafenden verfolgte, der die Nähte seines Mundes sprengen wollte, um dem Schmerz ein Ventil zu schaffen. Es gelang ihm nicht. Seine Kraft reichte nicht mehr, den Mund um den Preis durch das Fleisch schneidender, alles verheerender Strän ge aufzureißen. Aufrecht, stumm und mit blinden Augen folgte er dem Plan seiner Vernichtung. Die unirdische Musik schwoll an, während aus dem Boden furcht bare Schatten, wie vom Flötenspiel eines Schlangenbeschwörers an gelockt, quollen und lüstern am Leib des Verurteilten emportanzten. Minuten später hüllten die Dämonen ihn vollständig ein. Der Mönch lebte noch, war aber umwoben von Gespenstern, wie
Salena sie nie zuvor erblickt hatte. »Was – ist das …?« stöhnte sie und registrierte kaum, daß ringsum andere Seufzer aufklangen. »Meine Träume«, sagte Pyros. »Niemand leidet im Schlaf ärger als ich. Doch frage nicht, warum. Ich kann es ertragen, seit ich meine Heimsuchungen in dieses selbst erschaffene Mosaik banne. Ver flucht der Tag, da es ihnen gelänge, sich daraus zu befreien und in mich zurückzukehren …! Aber das wird nicht geschehen, weil ich darauf schaue, daß es ihnen gut ergeht in ihrem Exil. Auch in den Nächten bei mir labten sie sich nicht besser …« Salena wollte fragen, was Pyros’ Träume mit dem Mönch anstellen würden. Doch vor ihren Augen beantwortete sich dies bereits. Die Konturen des Gequälten begannen hinter den Schatten zu ver schwimmen. Er versuchte die Arme hochzureißen, aber es gelang ihm nicht. Sein zum Bersten angespannter Körper erzitterte. Zu hö ren war von ihm nichts; jede seiner vielleicht noch vorhandenen Le bensäußerungen wurde von der Todesmelodie überstimmt. Salena glaubte, ihn brüllen zu hören – entsetzlicher als jeden Men schenwurm vor ihm. Aber auch das konnte nur Auswurf ihrer Ein bildung sein. Dann – auf dem Höhepunkt der alptraumhaften Komposition – sanken die Dämonen wieder langsam in den Boden zurück. Nicht allein. Sie nahmen den Mönch mit. Er schien, immer noch le bendig, immer noch bei Sinnen, in den an dieser Stelle durchlässig gewordenen Boden zu sickern. »Was – geschieht mit ihm?« fragte Salena, innerlich in einem Maße aufgewühlt, daß es sie selbst erstaunte. »Wohin entführen sie ihn?« Pyros schwieg. »Wie lange wird sein Leiden noch dauern?«
»Lange«, sagte Pyros. »Ich fürchte, er wird den Jüngsten Gerichts tag, an den er einmal glaubte, versäumen. Dieses Gericht war schnel ler. In meinen Träumen wird er ewig schmoren …«
* Am nächsten Morgen traf der Kelchhüter in Pyros’ byzantinischer Residenz ein. Salena, immer noch unter dem Eindruck der gelungenen Bestra fung des feigen Mörders stehend, wurde von der Nachricht über rascht, daß der Hüter sie zu sehen wünsche. Er sie! Eigentlich hatte sie bereits beschlossen, ihm aus dem Weg zu ge hen. Irgendwie graute ihr vor einer erneuten Wiederbegegnung, denn schon die Erinnerung an die letzte spülte alle Gedanken an ihre vermeintliche Unzulänglichkeit wieder an die Oberfläche. Den ›Messias der Vampire‹ hatte sie immer noch nicht einmal als Spur gefunden. Möglicherweise – aber daran wollte sie nicht denken – hatte der Hüter sie auch bei der zweiten Taufe betrogen. Sie und Saduk. Aber dann begriff sie, daß es gar keine Möglichkeit gab, der Einla dung eines Hüters zu entkommen. Noch während sie ihre Heimat erde barg, spürte sie in dem von Pyros überlassenen Gemach einen Luftzug, und eine bekannte Stimme fragte: »Was kaust du da?« Sie zuckte zusammen. Niemand war durch die Tür getreten, und daß sie Quat-Blätter zwischen den Zähnen walkte, war ihr nicht einmal bewußt gewesen, so selbstverständlich flüchtete sie sich bereits in die Tröstung der
Droge. Die Stimme gehörte dem Vampir, der im Vorfeld der Hinrichtung neben ihr gestanden hatte und dann plötzlich spurlos verschwun den war. Salena drehte sich um. Ihre Verblüffung war grenzenlos, als statt des Erwarteten der Hü ter vor ihr stand. Sein Gesicht lächelte maskenhaft. »Du brauchst keine Angst zu ha ben.« »Ich habe keine Angst.« »Auch keine Demut? Ich bin ein Vampir. Ducke dich!« Er lachte. Salena fühlte sich zurecht verhöhnt. »Du hast mich hinters Licht geführt«, sagte sie dumpf. »Ich ahnte es bereits.« »Dein Vorwurf kränkt mich. Deinen wichtigsten Wunsch habe ich erfüllt. Du würdest das für Saduks hochfliegende Pläne geeignete Menschenkind erkennen, falls es vor dir stünde. Aber deinen Hang zur Selbstzerstörung kann ich nicht unterstützen – er ist eines Vam pirs unwürdig!« »Wie bist du hereingekommen? Warum verstellst du deine Stim me?« flüchtete sich Salena in Gegenfragen. »Zuerst dachte ich …« »Du dachtest richtig. Ich stand während der Bestrafung des eitlen Mönchs neben dir. Ich kam nicht erst heute in Byzanz an, sondern schon vor zwei Tagen. Pyros weiß es nicht, niemand weiß es, außer dir. Ich mag es, an den Orten, wo ich wirken soll, vorher die Stim mungen auszuloten. Das geht nur, wenn mich noch niemand erwar tet.« »Warum erzählst du mir das, wenn es ein Geheimnis ist?« »Weil ich weiß, daß du Geheimnisse bewahren kannst … Aber
jetzt spucke diese Kraut aus! Es ist eines Vampirs noch unwürdiger als Demut!« Salena gehorchte fast mechanisch. Sofort darauf reute es sie, weil sie ahnte, daß auch der Hüter lieber etwas mehr Widerspenstigkeit an ihr gesehen hätte. »Deine Maskerade war perfekt«, sagte sie rauh. »Ich kenne keinen, der Ähnliches vermag.« »Ich auch nicht.« »Warum wolltest du mich sehen?« »Ich hatte Zeit, nachzudenken.« »Worüber?« »Über deine … über Saduks Absichten. Sie sind vielleicht doch nicht so unnütz und … absonderlich, wie ich zunächst meinte.« Salena schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.« »Darauf, daß ich beschlossen habe, dich zu unterstützen.« Salena spürte ein kaltes Feuer den Weg nehmen, den sonst nur das Blut eines Menschen in ihrer Kehle nahm. Fassungslos stieß sie her vor: »Das – glaube ich nicht!« Der Hüter wiegte den Kopf. »Du solltest dein Mißtrauen endlich ablegen!« »Demut mißfällt dir – und das Gegenteil davon auch. Bist du si cher, daß du weißt, was du willst?« Der Mann mit dem seltsam starren Gesicht lächelte karg. »Ich ma che dir jetzt ein Angebot, das du ablehnen darfst. Aber bedenke, daß ich es danach nie mehr erneuern werde. Entscheide jetzt: Willst du mich auf meinen Reisen von Taufe zu Taufe begleiten? Willst du den Ritualen beiwohnen und die Täuflinge darauf prüfen, ob einer unter ihnen ist, der …«
Salenas brüske Geste ließ ihn verstummen. Er brauchte nicht mehr zu sagen. Sie kannte bereits das volle Ausmaß seines Angebots. »Wie soll ich mein Mißtrauen ablegen, wenn du mich ständig neu verspottest? Wenn du wirklich an den Nutzen meiner Suche glau ben würdest, bräuchtest du mich nicht. Du und der Kelch, ihr beide könnt mit Gewißheit während der Taufe besser in den ausgewählten Kindern lesen als ich. Nein, ihr brauchtet mich nicht!« »Während des Taufgangs gilt alles Sinnen der Zeremonie«, wider sprach er gelassen. »Da bleibt kein Raum, jedes der Kinder zu prü fen. Ich habe mich beratschlagt. Auch er ist der Meinung, daß es am effektivsten wäre, du würdest uns begleiten.« »Beratschlagt?« echote Salena. »Mit wem beratschlagt ein Hüter?« »Mit dem Kelch«, verriet er ohne Zögern.
* Sie nahm das Angebot an und folgte dem Hüter ein halbes Jahrhun dert. Sie bereiste die erschlossene Welt und schaute Orte, deren Exis tenz ihr bis dahin nicht einmal aus Erzählungen geläufig war. Während dieser Zeit fanden zwei Kreuzzüge statt. Mit dem ersten manifestierten die europäischen Christen in Palästina ihr Königreich Jerusalem. Das zuvor bei Nicaea geschlagene Heer war nur eine schlecht organisierte Vorhut der eigentlichen Streitmacht gewesen, die schließlich Antiochien und die Stadt Jerusalem eroberte. Als die Kunde davon Salena erreichte, war sie zuerst versucht, au genblicklich dorthin zu reisen und ihrem Stamm gegen die Krieger des Kreuzes beizustehen. Saduks Worte, die ihr immer noch im Ohr klangen, ließen sie aber schließlich davon Abstand nehmen.
Sie fragte den Hüter: »Du besitzt mehr Wissen und Weitsicht als ich. Hältst du es für möglich, daß mein Herr immer noch in Jerusa lem weilt und den Christen nur vorgaukelt, sie hätten den totalen Sieg errungen?« Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Hältst du Saduk für klug, ge rissen, anpassungsfähig?« Salena nickte. »Dann wäre es möglich.« Es beruhigte sie, obwohl der Hüter immer, wenn Saduks Name fiel, erkennbare Zurückhaltung an den Tag legte. Vielleicht trug er ihm nach, daß ein einfacher Stammesführer zukunftsverändernde Ideen gebar, die möglicherweise nur ihm selbst, dem Hüter des le bensspendenden Unheiligtums, vorbehalten waren. Oder denen, in deren Dienst er reiste. Aber wer sollte das sein? Wer stand noch über einem Hüter? War nicht der Hüter selbst die höchste Instanz? Vampire besaßen keinen Glauben, an dem sie sich festhielten – im Grunde war deshalb auch die Suche nach einem Messias ein Unding. Von wem sollte dieser ›Gesandte‹ geschickt werden? Welche Macht hatte die Vampire einst erschaffen und lenkte noch heute ihr Ge schick …? Je länger sie unterwegs war und neue Eindrücke – insbesonders aus dem Leben der Menschen – sammelte, desto mehr wunderte Sa lena sich über die Entwicklung ihrer Gedanken. Sie unterhielt flüchtige Liebschaften – nein, niemals mit dem Hü ter, der ihr auch nie eine entsprechende Offerte machte. Zumeist suchte sie sich junge starke Männer, die nur einmal geboren waren und nie die Gnade des ersten Todes erfahren würden.
Liebe war natürlich nie – und wenn doch einmal, dann stets einsei tig – im Spiel; solche Schwäche leisteten sich nur Menschen. Salena befriedigte ihre Triebe, die jedoch nicht sehr ausgeprägt waren. In aller Regel reichte ihr das vitalisierende Blut eines einiger maßen wohlgeformten Mannes zur Befriedigung. Es gab keine fes ten Abstände, in denen ihre Sehnsucht nach anderer Gunst verlang te. Wenn es soweit war, folgte sie auch diesem Bedürfnis ohne nähe res Nachdenken. Manchmal dauerte es Monate. Auch Vampire hatten kein so leichtes Spiel mit ihr wie früher. Das Wissen, daß sie doch nicht zur Demut verdammt war, höhlte auch die tatsächliche Bereitschaft dazu mehr und mehr aus. Salena fragte sich allerdings, was geschähe, wenn Saduk eines Tages wieder vor ihr stünde. Ihm gegenüber empfand sie ein unverändertes Bedürfnis zu dienen. Ich denke wie eine niedere Kreatur, rief sie sich ins eigene Bewußtsein. Aber es änderte wenig. Erstaunlicherweise war die seltsame Sucht nach Quat in ihr erstor ben, seit sie sich im Dunstkreis des Hüters bewegte, zu dem sie je doch nie eine wirklich persönliche und schon gar keine freund schaftliche Beziehung aufbaute. Er schien dazu nicht willens oder nicht fähig. Wo immer sie abstiegen, geschah es getrennt. Salena be hielt ihre Freiräume für nächtliche Streifzüge – er für ein unbekann tes Tun. Einmal, als sie in den Armen eines unbekannten und doch seltsam vertraut wirkenden Mannes lag, blitzte der absurde Verdacht durch ihren Sinn, er könnte sich in neuer, magischer Maske zu ihr gelegt haben. Doch dafür gab es keinen wirklich beweiskräftigen Anhalts punkt – im Gegenteil: Das Blut jenes Mannes war rot, obwohl Salena dem Hüter zutraute, bei Bedarf selbst seinem Blute eine Maske über
zuziehen … Diese Jahre an der Seite des Lebensspenders schienen immer schneller dahinzurasen. Wochen erschienen Salena bald wie eine ge ringe Zahl von Stunden und Tagen. Sogar zu den Meldungen aus dem Königreich Jerusalem gewann sie seltsame Distanz. Als zwischen 1147 und 1149 ein zweiter Kreuz zug, der die Grenzen dieses Reiches erweitern sollte, scheiterte, schöpfte sie jedoch neue Zuversicht, daß Saduk und ihr Stamm hin ter diesem Scheitern standen. Noch immer wagte sie es jedoch nicht, sich zu versichern. Noch kein Erfolg in der eigentlichen Sache war ihr beschieden gewesen. Die dem Hüter übergebenen Kinder besaßen alle nicht das Stigma, nach dem Salena suchte, ohne eine feste Vorstellung von seiner Be schaffenheit zu besitzen. Es war ihr nur versprochen, daß sie den Anti-Christen, den Gesandten einer ihr noch immer verschlossenen höheren Macht, im Moment der Begegnung erkennen würde. Sie verließ sich darauf, weil alles andere erneut und viel düsterer als noch vor Jahren die Frage nach dem Sinn ihres Lebens neu auf geworfen hätte. Doch als auch ein halbes Jahrhundert engen Zusammenwirkens nicht gefruchtet hatte, teilte sie dem Hüter während eines Aufent halts in Nekawend, im Perserreich, mit, daß sie von nun an wieder eigene Wege gehen wollte. Er nahm es seltsam froh auf, und bis zum Abschied konnte Salena nicht entscheiden, ob diese Freude davon rührte, daß er glaubte, sie hätte endlich zu ihrer vollen Selbständigkeit gefunden – oder weil er ihrer einfach überdrüssig geworden war.
*
Auch ohne seine Nähe flogen die Jahre dahin. Eine Zeitlang folgte sie einem neuen Plan auf ihrer Suche. Um ihren Messias zu finden, bereiste sie sämtliche biblischen Orte, von wo Kunde über das Wir ken des ›anderen‹ gedrungen war: den See Genezareth, Galiläa, Ka pernaum, Nazareth, Tabga, Kana und den Berg Tabor. Es waren Orte voller Gefahren für eine wie sie, voller Schatten aus einem Reich, das sie für untergegangen, aber einst real hielt. Es gab Plätze, wo der Schauder sich so tief in sie grub, daß sie meinte, zu Eis und Schmutz zu erstarren – ja, Schmutz. Sie konnte nicht sagen, woher die verschwommene Ahnung strömte, daß den Menschen eine an dere Stellung gebührte als jene, die ihnen von den Vampiren zuge wiesen worden war. Sie bannte solche Gedanken immer wieder aus ihrem Bewußtsein. Aber manchmal glaubte sie, sich über die Jahre auf seltsame Weise zu verändern. Die Suche nach dem Anti-Christen verlief sich in ih rem eigenen Ich und wurde irgendwann auch zur Suche nach sich selbst. Wie sie das Kind aus Saduks Vision nicht fand, so fand sie auch nie Zugang zu ihrem vollständigen, innersten Wesen. Sie wurde einsamer als je zuvor. Sie wurde kälter gegen alle, denen sie begegnete. Die Demut war verflogen und in Verstocktheit verwandelt. Von nun an mied sie es bewußt, dem Hüter zu nahe zu kommen. Sie lauschte den Nachrichten, die in den Familien der Vampire über den Reisenden in Sachen Tod und Leben kursierten. Als ein dritter Kreuzzug freien Zugang der Christen nach Jerusa lem erstritt, fiel Salena in ein finsteres Loch. Sie glaubte kaum noch selbst an Saduks Überleben. Es gab nicht die geringste Nachricht von ihm oder dem Stamm, der sich auf dem gewagtesten aller Bö
den niedergelassen hatte, um die erhabenste aller Missionen zu er füllen. Keine andere Sippe hatte je wieder von Saduk gehört. Jerusa lem galt als totes Gebiet. Als Zone des Schweigens, endgültig in die Hände eines Feindes gefallen, den man tausendfach niederschlagen konnte und der doch tausendfach wiedererstand. Salena wartete viele weitere Schlachten ab, bis sie sich etwa um das Jahr 1212 endlich dazu überredete, sich Gewißheit zu verschaf fen. Falls Saduk sich den Herolden Christi gebeugt hatte – und danach sah es zunehmend aus –, hatte ihre Suche keinen Sinn mehr. Sie fühlte sich nicht stark genug, das Vermächtnis seiner Idee allein zu verfolgen. Nein, sie fürchtete sogar den Tag, da es ihr vielleicht doch gelingen würde, den Messias zu finden – und Saduk nicht mehr zur Stelle war, um das weitere zu besorgen. Auf den Hüter wollte sich Salena in dieser Frage nicht verlassen. Sie hatte zu zweifeln begonnen, daß Saduks Vorstellungen sich mit denen des Kelchhüters deckten. Zwischendurch war ihr sogar der Verdacht gekommen, dem Hüter könnte nur deshalb an einem Auf spüren des Anti-Christen gelegen sein, um ihn frühzeitig beseitigen zu können. Denn wollte der Hüter seine eigene Vormachtstellung überhaupt gefährden? Bestand nicht auch für ihn ein Risiko, überflüssig zu werden, wenn ein vielleicht noch Mächtigerer aufgebaut wurde …? Salena war weit genug herumgekommen, um sich in Neid, Miß gunst und Intrigen auszukennen. Gerade das mangelnde Wissen um die geheimen Antriebe des Hüters schürten Gedanken, die bei ober flächlicher Betrachtung eigentlich völlig abwegig erschienen. Salena erreichte Jerusalem bei Nacht. Die Stadt wirkte äußerlich kaum verändert. Auch für Christen schien die Dunkelheit nicht an Respekt zu verlieren. Kaum ein
Mensch bewegte sich in den Straßen und Gassen. Salena hatte vorzeitig Erkundigungen über die gegenwärtige Si tuation in der Pilger-Stadt eingezogen, um das Gebäude, in dem ihr Stamm zuletzt residierte, unbehelligt von Rittern oder Pfaffen zu er reichen. Es gelang ihr vor allem, weil Saduks Residenz mit hoher Weitsicht gewählt war. Sie befand sich in einem Viertel, das in den Plänen der Regierenden keine Rolle spielte. Es war ein äußerlich bescheidener, einstöckiger Lehmbau, dessen wahrer Charakter erst offenbar wurde, sobald man die Schwelle übertrat und sich der unterirdischen Fortsetzung anvertraute. Nur in Shibam hatte Saduk hoch über den Köpfen der Jemeniten wie ihr König gethront. Hier hätte solches Verhalten fatale Folgen nach sich gezogen. Spätestens mit dem Einzug der Kreuzritter, die sich mit so viel religiösem Tand umgeben hatten, daß ihnen schlecht beizukom men war. Salena trat in die Schatten des Hauses, von dem sie nicht wußte, was sie darin erwarten würde. Selbst wenn Saduk allen Widrigkei ten getrotzt hatte, blieb ungewiß, wie der Empfang ausfallen würde. Salena hoffte jedoch darauf, daß er ihre Lage verstehen würde. Sie brauchte die Klarheit wie das Blut zum Leben … Damals war der Zugang magisch gesichert gewesen, so daß nur Vampire oder untote Dienerkreaturen ihn passieren konnten. Es war eine unsichtbare Barriere, aber auch für Befugte durchaus fühlbar. Erste, zaghafte Erleichterung keimte in der Messias-Sucherin, als sie feststellte, daß dieser Schutzzauber noch immer existierte. Nie mand hatte das Siegel angerührt, geschweige denn gebrochen. Allerdings begegnete sie bereits auf den Stufen, die in das Gewöl be führten, einer Anhäufung von Schmutz, die Saduk niemals ge duldet hätte. Es waren also durchaus widersprüchliche Empfindungen, die ih
ren Gang begleiteten. Aber sehr viel anderes hatte Salena auch nicht erwartet. Sie vermißte jede instinktive Vorahnung, daß sie ihrem Stamm tatsächlich gleich begegnen könnte – nicht nur jenem Platz, der die Erinnerungen an ihn barg. Doch schon vor der ersten Gangbiegung am Fuß der steilen Trep pe hörte sie eine Stimme. Und wenige Schritte weiter identifizierte sie Saduk anhand des Gehörten. Übergangslos begann ihr Puls zu jagen. Sie verstand nicht, was mit wem beredet wurde, aber es be stand kein Zweifel mehr, daß das Stammesoberhaupt die Proklama tion des Königreichs Jerusalem überdauert hatte. Wer noch? Wie groß war die Familie heute? Hatte sie große Verluste beklagen müssen, ohne die Möglichkeit, sie auszugleichen, weil der Hüter jede Nähe dieses Landes mied? Die bittere Wahrheit erfuhr Salena noch in derselben Stunde. Sie erreichte den unterirdischen Versammlungsort, der der Begeg nung den Kelchkindern untereinander gedient hatte. Saduk war nicht allein. Ein paar seltsam verkommene Gestalten tanzten vor seinem bescheidenen Lager, das er sich in der Mitte des Gewölbes aus Kissen und Tüchern errichtet hatte. Bei den Tänzern handelte es sich um keine Vampire, nicht einmal um Dienerkreaturen; nur bleiche Frauen mit dunkelumränderten Augen leisteten ihm halbnackt Gesellschaft. Ihre starren Blicke ver rieten die hypnotische Kontrolle, unter der sie ihrem Gebieter folg ten. Kein Hals, der nicht Saduks Male trug. Kein Körper, der nicht mit Flecken übersät gewesen wäre, von brutalen Schlägen zugefügt. Ging man davon aus, daß die Hypnotisierten sich nicht selbst Leid zufügten, lag der Verdacht nahe, daß Saduk sich an ihnen nicht nur des Blutes wegen vergangen hatte. Oder er fand Gefallen daran, sie zu seiner Unterhaltung gegeneinander aufzuwiegeln …
Ob er allerdings überhaupt noch in der Lage war, Gefallen an ir gend etwas zu finden, war fraglich. Salena hatte Arges erwartet und nun noch Ärgeres gefunden. Einmal war gerüchteweise an ihr Ohr gedrungen, die Pest habe Je rusalem heimgesucht. Schon damals war sie kaum zu halten gewe sen, zu den Ihren zurückzukehren. Aber mit dem Schwarzen Tod hatten die Beulen und Blutergüsse, die sie an den hier Aufgebotenen fand, nichts gemein; gleichwohl war so manches bösartig schwären de Furunkel darunter. Doch das mochte an mangelnder Sauberkeit bei der Wundversorgung liegen. Im ersten Augenblick glaubte Salena, Saduk würde sie gar nicht bemerken. Doch sie irrte. »Aah, die größte meiner Enttäuschungen gibt sich die Ehre! Wo warst du, als ich dich brauchte? Hast du den Balg gefunden – hast du ihn dabei?« »Nein.« Salena trat näher. Eine der Tänzerinnen stieß linkisch mit ihr zusammen und torkelte zu Boden, wo sie sich die Haut auf schürfte und dennoch nichts Eiligeres zu tun hatte, als unverzüglich wieder aufzustehen und den abstoßenden Reigen fortzusetzen. »Wo sind die anderen?« fragte Salena. »Tot«, schluchzte Saduk. Er kauerte auf seinem Lager und hatte die Knie an den Körper gezogen, als würde ihn ganz plötzlich frie ren. Beide Wangen, nicht nur eine, waren ausgebeult. Das typische Quat-Aroma, das seinem halboffenen Mund entströmte, war unver kennbar; insbesondere für jemanden, der selbst schon von den hal luzinogenen, zarten Blattspitzen gekostet hatte. Salena war nie froher gewesen, dieser schleichenden Sucht entsagt zu haben, als in diesem Moment, da ihr klar wurde, was das Kraut aus einem ehemals mächtigen, vor Selbstbewußtsein strotzenden
Vampir gemacht hatte. »Tot«, echote sie. »Erschlagen von dem Christenheer, das die Stadt besetzt hält?« Saduk starrte sie sekundenlang aus großen glasigen Augen an. Dann kicherte er unvermittelt, kicherte und begann heftiger zu kau en. Seine starken Kiefer mahlten und traten trotz geblähter Wangen deutlich hervor. Brauner Saft rann aus seinen Mundwinkeln. Salena hätte nicht für möglich gehalten, sich einmal vor Saduk zu ekeln. Es zog ihr die Eingeweide zusammen. In diesem Moment sagte er etwas so Ungeheuerliches, daß sie im ersten Atemholen geschworen hätte, sich verhört zu haben: »Nein. Ich habe mich selbst um sie gekümmert.« Er winkte sie zu sich her unter. »Setz dich! Was fällt dir ein, auf mich herabzusehen und mich auch noch zu zwingen, mir den Hals zu verrenken?« Salena blieb stehen. Ihr kam kaum zu Bewußtsein, wie ungeheuer lich dieses Sträuben aus Saduks Sicht sein mußte. »Was hast du gerade gesagt?« Er seufzte. Er schlug die Hände zusammen, als würde er seine Tat längst be dauern, aber auch wissen, daß sie nicht mehr ungeschehen zu ma chen war. »Sie trachteten mir nach dem Leben. Ich habe es gespürt. Jeder von ihnen wollte mich als Oberhaupt beerben. Ich kam ihnen nur ein klitzekleines Quentchen zuvor …!« Salena konnte die brennenden Gefühle, die er mit seinem wahn haften Rechtfertigungsversuch schürte, nur noch schwer bezähmen. »Du hast sie … umgebracht? Deinen eigenen Stamm – ausgelöscht?« Für eine Weile senkte Reue sein Haupt. Dann richtete er sich im Sitzen ruckartig auf. »Bist du gekommen, mir die Nacht zu verder ben? Du kommst mir gerade recht mit Vorwürfen! Gerade du!«
»Nein. Ich kam, weil es etwas gibt, das mich immer wieder zu dir zieht – auch jetzt noch, obwohl ich mir deswegen am liebsten einen Pfahl ins Herz rammen würde!« »Oder die Lanze, mit der einst Jesu Christi von seinen Bewachern drangsaliert wurde, als er bereits ans Kreuz genagelt war?« Saduk kicherte enthemmt. »Sie suchen danach! Ich weiß es aus sicherer Quelle, daß sie danach suchen, um ihre müde gewordenen Krieger neu zu motivieren, noch mehr Land zu stehlen und unter das Ban ner ihres verfluchten Gottes zu stellen!« Salena hörte ihm zu. Aber jede weitere Eruption seiner Unbe herrschtheit führte ihr unumstößlicher vor Augen, daß er es wirklich getan hatte. »Wie hast du es getan? Wo sind sie?« »Die Meinen – die Deinen?« Er sperrte die Mundkiefer so weit auf, daß es knirschte. Dann schob er sich die eigene, zur Faust geschlos sene Hand hinein. Es sah aus, als wollte er mit diesem ›Keil‹ den Kopf sprengen. Die Grimasse stierte Salena verächtlich an. Unvermittelt zog er die Hand wieder zurück, die voller QuatSchleim war. Den Rest spie er aus. Ein kurzes Händeklatschen brachte die ihn umgebenden Tänzerinnen zu Fall. Mit schwerem, asthmatischen Keuchen blieben sie am Boden liegen. »Wie? Du erinnerst dich an das Pulver, das ich dir mitgab, als du Jerusalem für mich erkunden solltest?« »Das Diener umbringt?« Seine Augen wirkten wieder schärfer, bewußter an der Wirklich keit teilnehmend, als er versicherte: »Ich habe es verbessert. Seine Wirkung verzögert. Es dauerte Tage, bis sich das Gift entfaltete. So konnte ich sie alle kriegen. Alle! Natürlich unterstellte ich dem Feind, daß er uns damit gestraft habe. Ich mußte vorsichtig sein. Auch ich spielte die Symptome vor. Ich durfte ihnen keinen Anlaß
geben, mich doch noch zu beseitigen – sie warteten auf die erstbeste Gelegenheit. Ich bin ihnen nur zuvorgekommen. Es war Notwehr … Ach, wenn du hier gewesen wärst. Wenn du Ihn nur beizeiten auf gespürt und hierher gebracht hättest …« Er versank in ein völlig unverständliches Brabbeln. Salena starrte auf den Mann, der den Kodex aufs Schändlichste ge brochen hatte, der das GESETZ in seinem Sinne gebogen und gekne tet hatte und sich immer noch im Recht wähnte … »Wo ist ihre Asche?« fragte sie. »Wo ist der Beweis, daß du dies al les nicht nur in deiner Verrücktheit erfunden hast?« Ungläubig verfolgte sie die Wirkung ihrer Worte. Saduk versuchte die Metamorphose einzuleiten, die ihm ein Mehr an Kraft und Grau samkeit ermöglicht hätte. Seine oberen Eckzähne platzten durch die Lippen. Kurz verzerrte seine wahre, barbarische Natur die ausge mergelten Züge. Doch dieses Strohfeuer verpuffte, bevor er sich auch nur von sei nem Lager erheben konnte. Wimmernd vergrub er das Gesicht in den wieder zu Harmlosigkeit verkommenen Händen. »Ich – wollte es nicht!« jammerte er. »Ich habe nach anderen Aus wegen gesucht, das mußt du mir glauben! Aber –« Salena beugte sich zu ihm hinab. Sie spürte eine seltsame Wärme im Mund, und sie spürte den Knoten in ihrer Brust, als sie ihm zu fauchte: »Wenn nicht nur dein zerfressener Verstand aus dir spricht, wenn du all dies wirklich getan hast, werde ich dich von deinem Leiden erlösen. Ich schwöre, das werde ich – Kodex hin oder her! Weißt du überhaupt, was du mir genommen hast? Bisher hatte ich den Glauben, einmal zurückkehren zu können. Zu dir. Zu dem Stamm, dem auch ich angehörte – mögt ihr mich noch so gering be handelt haben …!« »Das mußt du mir verzeihen. Erinnere dich, wofür ich dich er
wählte! Du warst mir tausendmal näher als meine anderen Kinder. Hättest du zu mir gehalten … Es wäre nie geschehen, wenn du da gewesen wärst!« »Du warst es, der mir die Stadt und deine Nähe verbot!« »Ich weiß. Ich weiß …« Er jammerte immer lauter. Die geknechteten Frauen, denen er sei nen Keim ins Blut gepflanzt, sie aber nicht getötet hatte, stimmten ein und schufen einen Chor der Seufzenden. »Ich werde einen neuen Stamm begründen – wir werden es tun!« glomm noch einmal ein Funke alter Heftigkeit in ihm auf. »Der Hü ter kann es mir nicht verwehren, nachdem er dich nicht ausreichend mit Gaben versah …« Dazu hätte es einiges zu sagen gegeben. Doch Salena gab es auf. »Wo ist ihre Asche?« wiederholte sie die Frage, die immer noch un beantwortet war. »Asche? Nein, keine Asche …« Saduk biß sich zitternd in das Fleisch seines Handrückens. Als er dort nicht fand, was er suchte, drehte er den Arm und grub die schwach gewachsenen Zähne in seine Pulsader. Salena beobachtete, wie er sich am eigenen schwar zen Blut verging. Es konnte ihn nicht nähren, denn es war entseelt wie das eines Tieres; aber nicht einmal das sickerte noch in die un auslotbar gewordenen Tiefen seines Verstands. Torkelnd kam er auf die Beine. Nicht aus eigener Kraft. Salena zog ihn empor und stützte ihn. Sie hatte nicht nur jede Demut, sondern auch jedes andere Gefühl für Saduk verloren. Selbst Haß hatte es schwer, sich beim Anblick eines solchen Schattens zu behaupten. »Wo?« Saduk machte nur einen Alibiversuch, ihre Grobheit abzustreifen. Dann winkte er seinen Tänzerinnen. »Kommt, die ihr mir meine Ein samkeit versüßt – begleitet uns in die Totenkammer!«
Sofort kam Bewegung in die Frauen. Sie folgten langsam, als Sale na den Versammlungsraum an Saduks Seite verließ. Es gab viele Gänge und noch mehr Türen unter Jerusalems Boden. Aber schon kurze Zeit später erreichten sie die Kammer, wo Saduk seinen vernichteten Stamm wie eine Trophäe aufbewahrte. Alle Toten besaßen von namenlosem Grauen und Schmerz ent stellte Züge – und alle machten einen leicht geschrumpften, mumifi zierten Eindruck. Als wäre ihren Körpern schockartig sämtliche Flüssigkeit entzogen worden. Die Haut hatte einen Stich ins Grüne bekommen. »Manche glaubten, sie seien von einer bislang unbekannten Krankheit befallen«, kommentierte Saduk, als hätte er mit all dem nichts zu schaffen. »Ich tröstete sie nach Kräften. Ich war ihnen bis zuletzt ein –« Weiter kam er nicht. Salena wirbelte herum. Die Frauen, die ihnen gefolgt waren, stan den wie Klageweiber draußen auf dem Gang, weil die Kammer voll war. Sie zeigten keine erkennbare Regung, als Salena knirschend Sa duks Wirbel brach und ihm das Gesicht auf den Rücken drehte. Ihn schützte und erhielt nichts. Noch im Fallen zerstob er in kru mige Flocken, züngelte die Kraft des Kelchs ein letztes Mal über sei nen auseinanderbrechenden Körper – und verzehrte ihn kalt. Nacheinander verfuhr Salena auch mit den Tänzerinnen in dieser Weise. Sie achtete kaum auf das, was sie tat. Die Leere in ihr erreich te jeden Winkel ihres taub gewordenen Leibes. Als sie sich endlich abwandte und sich zur Nimmerwiederkehr entschied, konnte sie nicht ahnen, daß dies nicht das Ende, sondern der Anfang war. Vielleicht hätte sie sich sonst auf der Stelle mit Sa duks Asche vermählt …
* Gegenwart 784 Jahre später Salena? Wer war Salena? Lilith stand in vollkommener Ohnmacht vor dem Grabmal, in dem – wenn nicht alles täuschte – ihr Scout als Pfand festgehalten wurde. Nicht von Creanna. Nicht von ihrer Mutter, deren Geist doch längst im Wind der Zeit verweht worden war! »Salena …« flüsterte sie. Der Name war ihr nicht unbekannt. Das Tattoo hatte ihn von ei nem seiner ›Ausflüge‹ mitgebracht. Damals jedoch noch ohne jede Information, um wen es sich dabei handelte … Plötzlich war Lilith überzeugt, daß Beth recht hatte: Sie war in eine Falle gelockt worden und blind hineingetappt! Die unwiderstehliche Verlockung des Köders mußte Salena be kannt gewesen sein – aber woher? Wie konnte sie von Creanna überhaupt wissen? ICH HATTE IHN SCHON EINMAL – FAST. GLAUBST DU, DIE SES SELTSAME DING, DAS DU SCOUT NENNST, SEI NUR EIN SEITIG FÜR DICH ZUM NUTZEN? ÜBER IHN KONNTE ICH IN DEINEM INNERSTEN LESEN. DANACH WAR ES EINFACH, DIE PERSON ZU FINDEN, NACH DER DU DICH AM MEISTEN SEHNST … Stimmte das? Lilith schwankte leicht. Sie fühlte sich wie auf einem
Seziertisch. Auch jetzt, in diesem Moment, fühlte sie plötzlich, daß Salena kein noch so intimer Gedanke verborgen blieb. »Hör auf damit!« fauchte sie. »Oder ich werde dir zeigen, daß ich mich auch ohne das Tattoo wehren kann!« DARAUF HOFFE ICH – AUF NICHTS ANDERES. HÄTTE ICH DICH SONST GERUFEN? HÄTTE ICH SONST UNSERE SEELEN VERWANDTSCHAFT GEFÜHLT? »Du solltest dir die Wahl deiner Worte überlegen! Du machst mich nur zorniger mit jeder weiteren Unterstellung!« Eine Flut von Traurigkeit ergoß sich plötzlich über Lilith, und sie konnte kaum unterscheiden, daß es nicht ihre Gefühle waren. Gleichzeitig löste sich etwas aus dem Grabstein vor ihr. Ein schemenhaftes Gesicht, wie von einem Astralleib. Die Züge waren von seltsamer Faszination und hatten etwas Fremdländi sches, obwohl Lilith dies als nicht wirklich fremd empfand. Eines an dem Gesicht des Geistes war von absoluter Vertrautheit: Selbst in diesem nichtstofflichen Zustand zeigte das Phantom die eindeutigen Attribute eines Vampirs. Sie stahlen sich über die Lip pen, und fast war es, als schimmerte noch etwas Dunkleres darauf. Die nächste Äußerung stürzte Lilith jedoch in neue Zwiespälte, so daß sie bald gar nicht mehr wußte, was sie glauben durfte. ICH BIN NICHT, WAS DU HIER SIEHST. ES SIND NUR ERIN NERUNGEN, DERER ICH MICH BEDIENE. »Warum? Warum zeigst du dich nicht, wie du bist?« ES WÜRDE DICH ZU SEHR SCHOCKIEREN. »Davor hast du wirklich Angst?« JA, DENN DU SOLLST MIR HELFEN. MICH ERLÖSEN. »Wie könnte ich dies?« SPÄTER. ERST OFFENBARE ICH DIR MEINE GESCHICHTE. DU
MUSST BEHUTSAM VORBEREITET WERDEN, SONST KÖNN TEST DU WOMÖGLICH FALSCH REAGIEREN … »Warum glaubst du, ich könnte an deiner Geschichte interessiert sein? Ich traue dir nicht mehr. Und schuld daran bist nur du selbst!« ICH WEISS. ICH TRAGE AN VIELEM DIE SCHULD … Wieder tauchte Lilith in dieses Meer von Traurigkeit, das nicht lü gen oder täuschen konnte … Oder? Tu es nicht! glaubte sie Beth zu hören. Laß dich nicht darauf ein! Dieses Wesen ist die pure Arglist! Es wird dich mit in den Unter gang reißen! »Du kanntest Creanna also wirklich nicht?« NICHT PERSÖNLICH. ALS SIE GEBOREN WURDE, WAR ICH SCHON TOT. ABER NIEMAND WEISS BESSER ALS ICH, WAS SIE EINST DURCHMACHTE! Lilith schluckte. In ihrer Kehle schien sich ein Pfropfen eingenistet zu haben. »Was müßte ich tun?« NOCH NÄHER KOMMEN. KÜSSE MICH! »Was hast du vor?« DIR WIRD KEIN LEID GESCHEHEN. ES GIBT SCHLIMMERES ALS DIE KÜSSE VON TOTEN UND VERGESSENEN. Lilith wagte nicht, dies zu beurteilen. Noch einmal dachte sie an Beth und an den Wahnwitz, auf den sie sich hier an diesem Grab einlassen wollte. Sicher fanden sich andere Möglichkeiten, den Scout zurückzufordern oder ihn wenigstens schmerzlos für immer von ihr zu trennen … Nein, sie machte sich schon wieder etwas vor. Wenn Salena es dar auf anlegte, sie leiden – wirklich leiden zu lassen, dann würde es ihr mit dem Pfand, das sie hatte, zweifellos gelingen!
»Ein Kuß«, murmelte Lilith, während sie sich an beiden Seiten des Grabsteins festhielt und nach vorn beugte. »Ein Kuß für einen Geist …« Dann vergaß sie alle Bedenken.
* Salenas Geschichte 1212-1723 Von der schroff zerklüfteten, windumtosten Anhöhe aus wirkte das Heer mit den längst vertraut gewordenen Insignien, die an jedem Helm und an jeder der seltsam kurzen Lanzen flatterten, wie jeder andere x-beliebige Kriegstrupp davor. Nicht nur ich, auch die in den Felsspalten verborgenen Muslime wußten es besser. Nach dem Verlassen Jerusalems hatten mich Nachrichten hierher gelockt, wo die ursprünglichen Herren Paläs tinas nicht noch eine weitere Schlappe einstecken wollten, und schon gar nicht von … »Kinder!« fluchte der Araber neben mir, der mich verschleiert dul dete, weil ich es so wollte. »Sie nennen uns die Ungläubigen – aber wir schicken Männer ins Feld, keine dummen Kinder!« Er hatte recht, und dennoch erzitterte ich kurz, weil auch dies ein weiteres Indiz für die unauslöschliche Kraft jenes Fanatismus war, mit dem hier Deutsche und Franzosen ihren Nachwuchs auf dem Altar ihres Glaubens opfern wollten. Diese Kinder hatten nicht die geringste Chance, aber das wußten sie noch nicht. Natürlich gab es erwachsene Anheizer unter ihnen,
sonst wären sie wohl längst alle heimgekehrt – die zumindest, die von der Überfahrt über ein unruhiges Meer und allerhand Mangel noch nicht hingerafft worden waren. Plötzlich begriff ich siedend heiß, was mich mit diesem unwider stehlichen Magnetismus hierher getrieben hatte, nachdem in Jerusa lem eine Welt für mich zusammengestürzt war. So viele Kinder … War es bei dieser Ansammlung von Kindern nicht denkbar, daß Er sich darunter befand? Der, nach dem ich so lange vergeblich gesucht hatte? (Zum ersten Mal warf sich mir hierbei die Frage auf, warum es nicht auch eine Sie sein könnte …) Vielleicht kam er auf diesem kar gen Feld um, ohne daß die Welt je erfahren würde, wer hier gestor ben war … sinnlos … Verwirrt fragte ich mich, ob mir all dies denn überhaupt noch wichtig war. Wollte ich tatsächlich so tun, als gäbe es meine Aufga be immer noch? NEIN! Der Impuls, der darauf drängte, jedem einzelnen dieser Kinder in die Augen zu schauen, wurde von mir selbst niedergerungen. Ich wartete nicht einmal mehr ab, bis die Muslime aus ihren Verstecken krochen und das Massaker begannen. In weitem Bogen verließ ich das längst bereitete Schlachtfeld. Eini ge dieser Kinder würden, wenn sie Pech hatten, in der Sklaverei lan den. Glücklicher durften sich die schätzen, die an Ort und Stelle ihr junges Leben aushauchten. Ich wußte aus vielen Berichten, wenn auch aus wenig eigener Anschauung, daß hiesige Gefangenschaft gleichbedeutend mit einem langsamen, qualvollen Siechtum war. Und was schon für ausgewachsene Männer galt, traf auf Kinder erst recht zu! Es war im Reich der Perser, nahe Bagdad, wo es zu einer nicht er
warteten Wiederbegegnung kam, die mein ganzes weiteres Leben und auch mein Schicksal entschied. Bis es aber dazu kam, mußten erst gut 80 weitere Jahre wie im Flug verstreichen. Jahre vollkommener Desorientierung und des oft maligen Wunsches, selbst Hand an mich zu legen. Zu tun, was an dere entweder nicht vermochten oder gar nicht wollten. Als sich mein Leben dann mit einer neuen Zielsetzung, einer ande ren Suche füllte, verloren die Christen bei Akkon gerade ihren letz ten Stützpunkt in Palästina. Das Blatt hatte sich gewendet. Auch für mich.
* »Du?« Die verblüffte Frage rann über meine Lippen. Ich logierte in diesen Tagen bei Ismail und hoffte, ein wenig Ablenkung zu erfahren. Der stets so über Gebühr bescheiden auftretende Ismail regierte die Bag dader Sippe, und was ihn mir so lieb machte, war, daß er einen ganz eigenen Charakter besaß, der in nichts an Saduk erinnerte. Was dieser getan und wie schändlich er die eigene Art gemordet hatte, hatte ich in mein Herz geschlossen wie in ein tiefes, tiefes Grab. Nie sollte auch nur das kleinste Wort darüber über meine Zunge rollen. Das hatte ich mir geschworen. Aber ich hatte mir auch geschworen, mich nie wieder in die Nähe des Hüters zu begeben, und nun stand er vor mir. Er hatte sich nicht verändert, wie auch an mir kaum ein Fältchen zu sehen war, denn ich hatte nie, was unser Elixier angeht, darben
müssen. Ich hatte diesen höchsten aller Reisenden nicht gesucht. Doch wie schon einmal hatte er mich gefunden. Es war tiefste Mitternacht, als er in meinem Gemach erschien, das ich ausnahmsweise nicht mit Ismail, dessen rasende Eifersucht mir wohltat, teilte. Wäre er hinzugekommen, ich wüßte nicht … Meine Gedanken stockten, als ich seine ungewohnte und reichlich sonderbare Verhaltensweise bemerkte. Der Hüter stand vor mir wie eines meiner Opfer, wenn ich sie mit Hypnose gefügig gemacht und gleichsam paralysiert hatte. Ange sichts der Ausnahmestellung, die dieser Mann innehatte und die ihn über jeden anderen Vampir erhob, war diese Erkenntnis geradezu bestürzend. »Was ist?« fragte ich. »Warum siehst du mich so an?« Noch immer sagte er kein Wort. Doch er teilte den Umhang, in den er gehüllt war, und zeigte mir, was sich darunter verbarg. Es überraschte mich nicht, den Lilienkelch zu sehen, der kalten Purpur durch seine Schale atmete. Ich weiß nicht, warum ich sofort eine Hinterlist erwartete. Die ver rücktesten Gedanken stoben mir durch den Sinn. Auch der, daß die ses Wesen es bereuen könnte, mir die zweite Taufe gewährt zu ha ben. Sicher gab es auch Gesetze, an die sich ein Hüter halten mußte, und möglicherweise war er nur zu mir gekommen, um das Zeugnis seines Frevels – mich – zu tilgen … Sehr zu meinem eigenen Erstaunen empfand ich keinerlei Angst darüber. Fast gelassen forderte ich ihn auf: »Tu, weshalb du gekom men bist – oder verschwinde! Ich will von alldem nichts mehr wis sen. Ich habe meine Suche beendet.« Nicht einmal darauf reagierte er. Er stellte den nun in schreckli chem Licht pulsierenden Kelch direkt vor sich auf dem Boden ab.
Dann trat er zurück und tat etwas höchst Absurdes. Er schälte sich das Gesicht vom Gesicht. Er hatte zwei, und das eine – so enthüllte er mir jetzt – war nicht mehr und nicht weniger als die perfekteste Maske, die ich je gesehen hatte. Eine lebendige, durchblutete Maske, unter der nun andere Züge hervorkamen, von denen ich nicht zu sagen wagte, ob sie die echten waren. Mit sehr gemessenen, langsamen Bewegungen legte der Hüter sein falsches Gesicht ab und ließ es wie einen Skalp in seiner Hand bau meln. »Wozu?« fragte ich. »Wozu soll ich davon wissen? Womit willst du mich diesmal strafen? Warum kann ich nicht meine Ruhe finden? Ich bin die letzte meines Stammes. Ein paar läppische Jahre noch, und ich werde mich einem braven Mann aus den Reihen dieses Pre digerordens stellen, der sich so prächtig in der Bekehrung von Ket zern, der Mystik und der Scholastik auskennt. Er wird auch mit mir keine Mühe haben … Es spielt keine Rolle mehr, ob ich lebe oder zu Staub zerfallen bin. Ich habe keinen Ehrgeiz, weitere fade Jahrhun derte zu sehen …« Es war, als müßte ich mir eine Zentnerlast von den Schultern re den. Ich wollte gar nicht mehr aufhören. Aber die Maske brachte mich zum Verstummen. Die Maske, nicht der Hüter, der mit geschlossenen Augen dastand, als beträfe nichts von dem, was hier besprochen wurde, auch nur im mindesten auch ihn. »Das liegt nicht in deiner Hand«, sagte die Maske, deren hohler Mund eigentlich keinerlei Laut hätte formen dürfen, weil alles, was dafür benötigt wurde, in Kopf und Rumpf des Hüters steckte. Ich erstarrte. »Was hast du gesagt?« Und dann lachte ich lauter
auf, als der Sache angemessen war. Ich war auf einen der ältesten Tricks hereingefallen, obwohl ich schon Leute in Basaren und auf Jahrmärkten gesehen hatte, die mit geschlossenem Mund und ver änderter Stimme, nur aus dem Kehlkopf heraus, zu sprechen ver mochten. Bauchredner, Gaukler … »Hör auf damit!« fauchte ich. »Nenne dein Anliegen. Ich bin auf alles gefaßt!« »Ich war gerade dabei«, sagte die Maske, ohne daß ihr Besitzer auch nur eine Miene verzog. »Du wirst ein drittes Mal sterben – und auferstehen. Ich habe es beschlossen. Ich kenne dein innerstes Mus ter, und keine andere, der er –«, die Rede war zweifellos vom Kelch hüter, »– auf all seinen Wegen begegnete, wäre geeigneter für mein Vorhaben.« Längst war aller Übermut – oder was immer es gewesen war – aus mir gewichen. Ich stand im selben Raum wie der Kelch, die Maske und der Hüter, und genau diese Reihenfolge schien auch die wahre Hierarchie widerzuspiegeln. Der wie schlafend dastehende Mann erschien mir als das schwächste Glied einer Kette, die genügend Macht angehäuft hatte, um diese Welt in Feuer und Asche zu legen! »Welches … Vorhaben?« Der hohle Mund sagte es mir, und danach reiste ich viele Jahre wie vom Donner gerührt durch die Welt. Ich verließ Bagdad mit der fes ten Überzeugung, daß der Hüter sich später nicht an unsere Zusam menkunft erinnern würde. Auch nicht an die dritte Kelchtaufe, die ich aus seiner Hand erhalten hatte und an das gleißend helle LICHT, in das ich eine unbestimmbare Zeit getaucht war. Mehr Zuspruch und Trost waren mir daraus zuteil geworden, als ich zuvor in einem langen Leben empfangen hatte. Die letzten Schatten Jerusalems und das Trauma von Saduks ver ruchter Tat fielen von mir ab. Ich begann eine neue Suche. Sie dauer
te die unglaubliche Summe von 430 Jahren. Anhand dieses halben Jahrtausends verrinnender Zeit lernte ich abzuschätzen, wie wenig Zeit eigentlich bedeutet. Jahre rannen wie feiner Sand durch meine Finger. Doch diesmal wurde meine Suche – anders als bei der vergebli chen Hetze nach dem Phantom eines Anti-Christen – von Erfolg ge krönt. Meine zähe Ausdauer wurde belohnt, doch mein Lohn war auch mein Untergang …
* Wer einem Stern folgt, kehrt nicht um. Leonardo da Vinci Er war nicht einmal schön, und doch war er der eine unter Millio nen, der allein in Frage kam. Ich fand ihn ausgerechnet in Byzanz, das jetzt Konstantinopel hieß und das Zentrum des osmanischen Reiches darstellte. Ich war in dem halben Jahrtausend oft im Kreis herumgeirrt, aber das Wieder sehen mit Orten, die ich längst kannte, hatte den simplen Grund, daß immer neue Menschen geboren wurden und zur Geschlechtsrei fe heranwuchsen und ich den rechten noch nicht gefunden hatte. Zur Jahreswende 1722/23 begegnete ich ihm und las das Feuermal auf seiner Stirn. Er war ein Sterblicher von gerade zwanzig Jahren, und als solcher wußte er nicht, wie ihm geschah, als ich ihn von der Straße fort ins
nächstbeste Haus verschleppte, die dortigen Bewohner mundtot machte und mich aus meinem Gewand schälte. Den Scharschaff trug ich nicht mehr. Ich hatte ihn – und auch mein vorheriges Leben – wie eine alte Haut abgestreift. Um ihm jede Mühe und mir Verzögerungen zu ersparen, riß ich mir die Tücher vom Leib. Und danach ihm. Ich darf behaupten, daß mein Aussehen kaum einen Schaden ge nommen hatte, und ich hätte mir nur gewünscht, Faruks Fleisch wäre annähernd so fest und straff gewesen wie das meine. Doch we nigstens das, worauf es ankam, funktionierte. Es bedurfte nur einiger weniger Handgriffe und geschickter Sug gestion zum Ansporn. Danach wuchs er über sich selbst hinaus. Ich hatte ihn so brünstig gemacht, daß er noch auf dem Teppich vor dem eigentlichen Schlaflager in mich eindrang. Ich schenkte mich ihm und übte dabei noch einmal jene Demut, die ich lange den Meinen gegenüber gezeigt hatte. Bei Faruk war es ein Spiel, nicht mehr, aber ich fand Gefallen daran, mich ihm schein bar auszuliefern und mich von ihm wie ein willenloses Püppchen benutzen zu lassen. Offenbar drängte es ihn zunächst zu meiner hinteren Pforte, nach dem ich mich keck auf allen vieren vor ihm niedergelassen hatte und ihm meine runden Pobacken entgegenreckte. Doch darauf ließ ich mich nicht ein, wollte ich doch sein Wertvollstes nicht unnütz vergeuden. Ich half ihm, den richtigen Weg zu finden, und dann stöhnte ich auch schon unter den ersten Stößen auf. Endlich spürte ich, wie sich auch in mir die erhoffte Spannung aufbaute. Ich roch seinen Schweiß wie ein besonderes, nur für mich hergestelltes Parfüm. Noch tiefer ließ ich mich auf meine Unterarme hinab.
Gier und Schamlosigkeit veranlaßten ihn, nach meinen Brüsten zu greifen und sie zu kneten, ohne in seinen kraftvollen Stößen nachzu lassen. Nicht gerade feinfühlig ging er mit den hart gewordenen Spitzen um. Doch das nahm ich im eigenen Eifer kaum wahr. Sein Atem wurde hektischer und verschmolz mit dem meinen. Und dann bäumte er sich mir ein letztes Mal innehaltend entgegen, grub seine Finger mit einem sonderbaren Seufzer in mein kühles Fleisch und wurde ganz still. Eine Weile duldete ich ihn noch in mir und spürte dabei, wie seine Mannespracht rapide dahinschwand. Schließlich richtete ich mich geschmeidig auf und zog ihn zu mir hoch. Ich zerbiß seine Lippen, um einen ersten, dringenden Durst zu stillen. Dann grub ich meine Zähne in seine Halsschlagader und trank gelassener. Er wurde ganz entspannt in meinen Armen, und als ich schließlich von ihm abließ und er benommen am Boden kauerte, sah ich, daß das Feuermal von der Form einer Schlange von seiner Stirn ver schwunden war. Damals glaubte ich, mein Biß hätte es bewirkt. Aber es könnte auch einfach verblaßt sein, weil es hinfällig geworden war und sei nen Zweck erfüllt hatte. Kurz sann ich darüber nach, ob ich Faruk vorsorglich das Genick brechen sollte. Ich hätte es besser getan. Es war ein Fehler, ihn mit dem Keim im Blute am Leben zu lassen. Und ein noch größerer, mit ihm zu reden. Im sicheren Glauben, daß er sofort nach meinem Abschied alles hier Stattgefundene vergessen würde, wurde ich geschwätzig. Vielleicht auch deshalb, weil mir erst jetzt, in diesem Moment, selbst bewußt wurde, was ich getan hatte. Das halbe Jahrtausend der Suche hatte es auch vollbracht, daß ich
einen sonderbaren Abstand zur Ungeheuerlichkeit meines Auftrags entwickelte. Zwölf Wochen, so erfuhr ich damals, würde es brau chen, bis die Frucht in meinem Leib voll gereift sein würde und ich das heute gezeugte Kind zur Welt bringen konnte. Darüber und über meine ferne Zuflucht, die ich direkt von Kon stantinopel aus ansteuern wollte, redete ich mit dem Vater dieses unmöglichen Kindes, das ich bereits jetzt in mir zu spüren glaubte. Die Emotionen, die in mir erwachten, trafen mich völlig unvorberei tet. Mein Bewußtsein verwirrte sich kurzzeitig wie in früheren QuatTräumen. Ich redete und redete … … und kam erst wieder auf dem Schiff richtig zu mir, das über das Mittelländische Meer und hinter Tanger über den weiten Ozean dem mir aufgetragenen Exil entgegenfuhr. Ich hatte mich für den Seeweg aus Gründen der Sicherheit ent schieden. Zugleich wußte ich, daß er die Gefahr barg, das Kind noch auf den Planken des Schiffes zur Welt zu bringen, denn nicht selten dauerte eine Reise dieser Größenordnung bei ungünstigen Winden länger als zwei oder drei Monate. Doch von nun an mußte ich die Meinen meiden wie Menschen Pest und Cholera. Das LICHT hatte mich gewarnt, und auch ich war sicher, daß sie meine besonderen ›Umstände‹ sofort erkannt und mich getötet hätten, bevor das, was in ihren Augen der gemeinste Bastard werden mußte, tatsächlich lebendig aus mir herauskroch! Es war mir prophezeit, daß ich ein Mädchen haben würde. Heute wundere ich mich, wie wenig Gedanken ich mir damals über das Danach machte. Darüber, was der Geburt folgen würde – für mich. Denn ich wußte um die unverzeihliche Sünde, derer ich mich in den Augen eines Vampirs schuldig machte. Ich wußte es, aber ich ver drängte es stets. Die Wochen verstrichen. Unterwegs wechselte ich auf das Schiff
eines Holländers, der noch Handel mit den Japanern treiben durfte, obwohl das Land sich seit einigen Jahrzehnten beständig gegen den Rest der Welt abschottete. Als wir schließlich vor Edo anlegten, erschien mir der riesige Insel staat wie ein Paradies für Vampire. Das Christentum war hier seit Beginn der Reichsabschließung verboten und sämtliche Missionare ausgewiesen. Vom LICHT wußte ich, daß ich hier besser aufgehoben sein würde als irgendwo sonst. Ich wußte nur noch nicht, daß auch das LICHT irren konnte. Grausam irren …
* Gegenwart 273 Jahre später Der Kontakt wurde abrupt unterbrochen, als Lilith sich aus einem unkontrollierten Reflex heraus von den kalten Nebellippen löste. Die Wirklichkeit der Gegenwart stürzte auf sie ein – und mit ihr ein Berg von Fragen. Salenas Werdegang unterschied sich nur unwesentlich vom Los, das Jahre später auch auf Creanna gefallen war! Erschüttert war Li lith aber über die Tatsache, daß es auch ihre Rolle schon einmal ge geben hatte. »Was –« Sie räusperte sich. »– was ist aus deinem Kind geworden?«
Die Geisterscheinung ragte noch immer wie eine Büste aus dem Grabstein hervor. Im Gesicht der Toten spiegelte sich Schmerz in ei ner Intensität, der Lilith noch nicht begegnet war. Der gespenstische Mund öffnete sich so weit, als versuchte er, sich selbst zu verschlin gen. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber er genügte, um eine schreckliche Ahnung in Lilith zu entfachen, die nur noch eines ge ringen Anstoßes bedurfte, um zur Gewißheit zu werden. Dieser Anstoß erfolgte, als der Geist der Vampirin quälend lang sam weiter aus dem Stein, an den er offenbar gebunden war, heraus stieg. Jeder Zentimeter schien ihr unglaubliche Mühe zu bereiten. Doch schließlich war es soweit, daß Lilith den gekrümmten, unvoll endeten Fötus hinter der prallen Bauchwölbung des auch spukhaf ten Körpers erblickte. Ein Ungeborenes, das – wie Salena – nur noch Schemen, nur noch Abglanz verblichenen Lebens war. ES WURDE NIE GEBOREN, klang Salenas ›Stimme‹ in Lilith auf. NOCH VOR MEINER NIEDERKUNFT SPÜRTE ER MICH AUF. »Er?« ER NANNTE SICH LANDRU. ABER ICH WEISS, DASS ES DER KELCHHÜTER WAR, DENN ICH SAH IHN EINST OHNE SEINE MASKE. DAS EINZIGE, WAS SICH IN SEINEM GESICHT VERÄN DERT HATTE, WAR EINE KREUZFÖRMIGE NARBE UNTER DEM LINKEN AUGE. »Landru?« Lilith versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. Ein fast aussichtsloses Unterfangen. »Wie konnte er dich aufspüren – und warum? Wenn er die dritte Taufe nicht bei Bewußtsein durchführte, wenn der Kelch oder das LICHT die Initiative ergriffen hatten, warum haben sie dich nicht vor ihm beschützt?« ICH WEISS ES NICHT. LANDRU TAT, ALS ERINNERTE ER SICH AN KEINE UNSERER FRÜHEREN BEGEGNUNGEN. ICH
ERFUHR NUR, WIE ER MEINE FÄHRTE FINDEN UND MICH HIER EINHOLEN KONNTE. »Wie?« FARUK. MEIN VATER VERSCHULDETE AUCH INDIREKT MEINEN TOD. NACHDEM ICH IHN VERLASSEN HATTE, OHNE IHN ZU VERNICHTEN ODER ZUR DIENERKREATUR ZU MA CHEN, VERÄNDERTE SICH SEIN LEBEN. ER TRIEB SICH IN STINKTIV IN DEN DUNKELSTEN ECKEN DER STADT HERUM. DORT WURDE ER SCHON WENIGE TAGE SPÄTER VON EINEM ANDEREN VAMPIR GEBISSEN. DAS MUSS MEINE HYPNOTISCHE BLOCKADE AUFGEHOBEN HABEN. FARUK PLAUDERTE ALLES AUS, WAS IN KONSTAN TINOPEL GESCHEHEN WAR. WAHRSCHEINLICH WURDE DER FREVEL SOFORT AN DEN HÜTER WEITERGEMELDET. ICH HABE LEIDVOLL ERFAHREN, ÜBER WELCHE MÖGLICHKEI TEN, ÜBER WELCHE MACHT UND MAGIE ER DANK DES KELCHS VERFÜGT! »Er hatte den Kelch bei sich?« WOMIT SONST, GLAUBST DU, HÄTTE ER MICH IN DIESER WEISE STRAFEN KÖNNEN? »Was hat er getan? Was genau?« Lilith war längst entschlossen, Salena zu helfen. An den Scout verschwendete sie dabei keinen Ge danken mehr. Etwas anderes, was ihr bei Salenas letzten Worten aufgefallen war, irritierte sie so nachdrücklich, daß sie nachhaken mußte. »Wieso sagtest du vorhin, dein Vater habe deinen Tod mit ver schuldet? Es war dein Liebhaber!« Das Nebelgesicht gerann. NEIN. MEIN VATER. NICHTS IST MEHR, WIE ES SCHEINT. ES GEHÖRT ZU DEM FLUCH, DEN LANDRU ÜBER UNS VER
HÄNGTE. »Uns?« MUTTER UND MICH. MUTTER LEBT NUR NOCH IN MEINER ERINNERUNG. AUCH DAS BILD, DAS DU VON IHR SIEHST, IST NUR EINE PROJEKTION MEINES WISSENS, WIE SIE EINST AUS SAH. »Du willst sagen, ich habe es gar nicht mit ihr zu tun, sondern –« VAMPIRE HABEN KEINE SEELE – ALSO AUCH NICHTS, WAS IHREN TOD ÜBERDAUERN KÖNNTE UND SICH DARÜBER HINAUS STRAFEN LIESSE. O NEIN, LANDRUS HANDELN WAR VIEL PERFIDER. ER BANNTE MEINE SEELE IN DEN STEIN. ICH BIN DAS KIND, DAS NIE GEBOREN WURDE – ZUR HÄLFTE MENSCH WIE DU. AN MIR KONNTE DIESES ABSCHEULICHE VERBRECHEN BEGANGEN WERDEN …
* Vergangenheit Salenas Tod Bei meiner Ankunft war Edo, das heutige Tokio, bereits Sitz des Schogunats und Herz eines straff organisierten Ständestaats. Ich glaubte tatsächlich, hier meinen Frieden finden und mein Kind großziehen zu können, bis jene Macht sich wieder bei uns meldete, die den weiteren Werdegang des Mischlings bestimmen würde. Ich besaß keine Anhaltspunkte, daß dieses Kind den Untergang der Vampire einläuten sollte. All dies erfuhr ich erst viele Jahre spä ter beim Kontakt mit einem magischen, fledermausähnlichen Sche
men … Damals wußte ich nur, daß ich das höchste aller Gesetze gebro chen und mich über die verzeihliche Lust hinaus mit einem Sterbli chen eingelassen hatte. Aber daß Faruks Samen sich in mir zur lebendigen Frucht entwi ckeln konnte, dazu mußte auch in mir erst eine Veränderung statt finden. Nach meinem ersten Tod war ich wie alles Wiedergeborene steril, und vielleicht bedurfte es jener dritten Taufe nur, um die Vor aussetzungen zu meiner Empfängnis zu schaffen. In völliger Zurückgezogenheit am Rande der damals noch beschei denen Stadt erwartete ich das Verstreichen der letzten Frist. Es fehl te nur noch eine knappe Woche, als ich nachts wach wurde, weil mich dürstete. Wie es mir schon zur Gewohnheit geworden war, legte ich zunächst meine Hände auf den schon stark gewölbten Bauch und forschte nach den inzwischen spürbar gewordenen Be wegungen des mir fremden Lebens darin. Es war keine Liebe, die ich dafür empfand, nicht einmal ver schwommene Zuneigung – einfach nur Faszination. In dem Moment, als ich gerade die Augen schließen wollte, um ungestört in mich hineinzulauschen, brach der Hüter wie ein Van dale in das von mir beschlagnahmte Haus ein. Ein Hüter ohne Maske. Ein Hüter, der mich mit solcher Verach tung und Niedertracht auf meinem Lager musterte, daß ich meinte, auf der Stelle zu Eis zu erstarren. Er war von magischen Blitzen eingehüllt, und damit setzte er kalte Brände überall dorthin, wo sich das geringste Mobiliar befand. Es zerfiel augenblicklich, und zuletzt traf es das niedrige Bett, auf dem ich lag und wo ich eigentlich hatte gebären wollen. »Wahnsinnige!« Den Kelch hielt er wie eine Waffe von sich ge streckt, und wahrscheinlich war er der Quell jener Energien, die den
Körper umflossen. »Wie konntest du einem solchen Monstrum die Chance geben, in dir zu wuchern? Du mußt von bösen Geistern be fallen sein … Landru wird dich dafür in der Hölle braten!« Zum ersten Mal hörte ich diesen Namen, und die Art, wie er ihn benützte, verriet, daß er nur sich damit meinen konnte. Schaudernd wollte ich mich erheben, als mich der Bannstrahl traf, der meinen Willen zermalmte. »Du hast dich auf die Stufe der Menschen hinab begeben, so sollst du auch eines Menschen Ende erfahren«, sagte er in einem Maße zürnend, wie ich es bei ihm, dem ich ein halbes Jahrhundert überall hin folgte, nie für möglich gehalten hätte. Wie wenig ich ihn doch kannte. Er jedoch schien mich überhaupt nicht mehr zu kennen. Er tat, als stünde er mir das erstemal von An gesicht zu Angesicht gegenüber – und als sei ich nichts als ein Wild, dem er über den halben Erdball nachgejagt war. »Befrage den Kelch«, krächzte ich, indem ich noch einmal alle Kräfte sammelte und mich gegen das Diktat seines Willens auflehn te. »Beratschlage mit ihm und laß dir bestätigen, daß ich in seinem Sinne handelte – nein, auf seinen Befehl …!« Es war, als hörte er gar nicht zu, und dann versiegelte er meine Lippen, so daß ich zu keiner weiteren Rechtfertigung mehr ansetzen konnte. Wie ein Hund folgte ich ihm dann hinaus in die Nacht, hin aus auf einen Friedhof, wo es ein eigenes Eck nur für wohlhabende fremdländische Verstorbene gab. Offenbar gab es auch in diesen Ta gen noch solche, die vom Regime geduldet wurden und selbst nach dem Tode eine angemessene Behandlung erfuhren. Ich stand dabei, als Landru das frische Grab einer Frau jenes Na mens öffnete, der auch heute noch auf dem Stein zu finden ist. Der Leichnam war noch gut erhalten – aber nur so lange, bis der Hüter ihn in Kelchmagie hüllte, worauf er spurlos zerfiel.
Mich ereilte das gegenteilige Schicksal. Als Vampirin hätte ich zer fallen müssen, sobald ich mein Leben aushauchte. Aber Landru traf Vorsorge. Das Purpurlicht durchströmte mich ein letztes Mal. Es tö tete mich und mein ungeborenes Kind. Die Welt um mich erlosch. Ich wurde blind und taub. Aber etwas konnte weiter denken und sich in Leid und Qual ergeben. Die Seele eines Kindes. Ich … Es … Die Grenzen zwischen Kind und Mutter zerflossen im Strudel der Zeit immer mehr. HILF MIR! BITTE HILF MIR AUS DIESER HÖLLE …!
* Gegenwart Lilith schwankte unter der Verzweiflung des Ungeborenen – oder Salenas Verzweiflung. Beides traf zu. Beide Wesen waren auf erschütternde Weise eins miteinander geworden. Es war, als hätte sich Salena im Moment des Todes in ihr Kind hinübergerettet – und als wäre ihr gerade dies zum Verhängnis geworden. Das, was hier als Geisterscheinung aus dem Grabstein ragte, war hochgradig schizophren. Manchmal, wäh rend die Vergangenheit wiederauflebte, hatte das Salena-Kind offen bar selbst nicht zwischen sich und seiner Mutter unterscheiden kön nen. »Wie? Wie könnte ich dir helfen?« fragte Lilith tränenerstickt. Sie fühlte sich von Trauer und Schmerz durchflutet. Möglicherwei se wurde ein Teil davon vom Scout in sie übertragen, der irgendwo im Seelengefängnis des Ungeborenen festgehalten wurde. Immer noch.
ICH WEISS ES NICHT. ICH HATTE LANGE ZEIT, DARÜBER NACHZUDENKEN, ABER ICH FAND NIE EINEN WEG, FRIE DEN ZU MACHEN MIT DEN GESCHEHNISSEN VON DAMALS. HILF DU MIR – ERLÖSE DU MICH! »Wie?« EIN TEIL VON MIR IST AN DIESEN STEIN GEFESSELT, EIN ANDERER AN DEN KÖRPER IM SARG, DER NICHT VERGEHEN KANN. VIELLEICHT … WENN DU DAS GRAB ÖFFNEN KÖNN TEST. WENN MUTTER UND ICH … DAS KIND UND ICH … WIE DERVEREINT WÜRDEN … Lilith machte sich ohne Zögern an die Arbeit. Der Boden war weich. Mit bloßen Händen begann sie das Erdreich wegzuschaufeln …
* Die hochschwangere Vampirin lag wie schlafend in einem Sarg, der ihr so wenig gehörte wie das ganze Grab. Flüchtig blitzte es durch Liliths Erinnerung, daß sie so auch Creanna damals im Keller des Hauses in der Paddington Street zu sehen glaubte: nicht zerfallen, wie Vampire es gemeinhin taten, sobald etwas ihr vom Kelch ge spendetes Leben auslöschte. Eine Weile blickte sie auf die schöne Tote – und dann wieder auf das vom Salena-Kind erzeugte nebelige Gespinst, das aus dem Grabstein ragte. Beides stellte dieselbe Person dar. Und doch war beides grundver schieden. Ich werde es nie begreifen, dachte Lilith. Die Traurigkeit wühlte noch immer in ihr. Zu vieles, was sie bewältigt zu haben glaubte, wurde
wieder an die Oberfläche ihres Bewußtseins hochgespült, wo es be wies, daß es immer noch weh tat. Lilith hatte Creannas Schicksal noch lange nicht verwunden … Der Morgen graute bereits, als sie nach Stunden härtester Schufte rei endlich ein genügend tiefes und breites Loch im Boden ausgeho ben und den Sarg freigelegt hatte. Als sie nun wieder nach oben kletterte und sich hinter dem Grabstein postierte, zweifelte sie, daß der Versuch glücken konnte. Das Salena-Kind hatte sich nicht mehr gemeldet. Der Schemen der Toten war unsichtbar mit dem grauen Stein verschmolzen. Lilith wartete nicht länger. Sie versetzte der schweren Steinplatte einen kräftigen Stoß. Niemand hörte die seufzende Seele, die ihren Kerker überwand. Auch Lilith spürte nur, wie der Scout in ihre Hand zurückfuhr und sie mit dem Tattoo brandmarkte. Die Grabplatte hatte einen leeren Sarg zerschmettert. Salenas Leichnam war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Benommen machte sich Lilith auf den Heimweg. Die Geschichte der ersten vom LICHT erwählten Vampirin hatte eine Frage aufgeworfen, die nur der Betroffene selbst beantworten konnte: Landru. Aus den bisherigen Begegnungen mit ihm schloß Lilith ziemlich sicher, daß er keinerlei Erinnerung an die Episoden mit Salena hatte – schon gar nicht an das Ende, das er ihr hier in Tokio gesetzt hatte. Warum nicht …? Was – oder wer – hatte ihm das Wissen darum genommen? ENDE
Die Chronologie der Kreuzzüge Um die Heiligen Stätten von Palästina aus den Händen der ›Ungläu bigen‹ zu befreien und um die christlichen Wallfahrer zu schützen, wollte das in dieser Frage erstaunlich einige Europa ein eigenes Herrschaftsgebiet in Palästina etablieren. Kriegszüge, die im einzel nen noch andere Ziele verfolgten, fanden über zwei Jahrhunderte verteilt statt. Diese Kreuzzüge kennzeichnen den Höhepunkt des schwärmeri schen, kriegerischen Glaubens im hohen Mittelalter. Scheiterten sie, führten sie zur Krise, auch was das päpstliche Ansehen anging. Gleichzeitig vermittelten sie dem Abendland die hautnahe Bekannt schaft mit der religiösen Welt des Islam. 1. Kreuzzug: 1096-1099 Papst Urban I. ruft in Clermont zum Kreuzzug auf. Ein Einsiedler namens Peter wirbt in Mittel- und Ost-Frankreich dafür. Die sich bil dende Anhängerschar (Peter-Banden) brechen am 20. April 1096 ins Heilige Land auf. Nach Station in Konstantinopel setzt das Volks heer über den Bosporus. Gleichzeitig bricht ein reines Ritterheer un ter Hugo von Vermandois zum Kreuzzug auf. Der schlecht organi sierte Vortrupp Peters wird bei Civetot vollständig aufgerieben. Ein weiteres Heer, unter Gottfried von Bouillon, trifft in Konstantinopel ein und setzt über den Bosporus. Noch drei Heere unter Bohemund, Raimund und Robert von der Normandie vereinigen sich mit denen Gottfrieds und Hugos vor Nicaea. Die Stadt wird eingenommen. Danach durchqueren die Kreuzfahrer die kleinasiatische Halbinsel. Am 20. Oktober 1097 wird Antiochia belagert, am 3. Juni 1098 einge nommen. Am 13. Januar 1099 bricht das Ritterheer nach Jerusalem auf, wo es am 7. Juni eintrifft. Die Belagerung dauert nur eine Wo
che, dann fällt die Heilige Stadt unter dem Ansturm. Ein großes Massaker beginnt. 1100 wird das Königreich Jerusalem proklamiert. Balduin 1. wird in der Geburtskirche von Bethlehem zum König ge krönt. 2. Kreuzzug: 1147-1149 Berühmte Kreuzzugspredigt von Bernhard von Clairvaux. König Konrad III. von Deutschland bricht auf Bitten des Abts Bernhard zum Zug ins Heilige Land auf. In Konstantinopel trifft er im Sep tember 1147 mit dem französischen König Ludwig VII. zusammen. Am 25. Oktober desselben Jahres wird das deutsche Kreuzritterheer bei Doryläon geschlagen. Die Reste marschieren zusammen mit dem franz. Heer weiter nach Antiochia. Ein Feldzug gegen Damaskus wird geplant, doch die Belagerung dieser Stadt durch das vereinigte Heer bleibt erfolglos. Der Kreuzzug löst sich auf. 3. Kreuzzug: 1189-1192 Teilnahme des deutschen Kaisers sowie des englischen und fran zösischen Königs. Friedrich I. stirbt im Saleph. Erstritten wird der freie Zugang nach Jerusalem. 4. Kreuzzug: 1202-1204 Von Innozenz III. ins Leben gerufen, gerät dieser Kreuzzug durch die Aktivitäten der Venezianer in völlig andere Bahnen als ur sprünglich beabsichtigt. In Konstantinopel wird das lateinische Kai serreich manifestiert und hält bis 1261. Kinderkreuzzug 1212 Von Köln ausgehend, ziehen deutsche Kinder unter Führung eines Jungen namens Nikolaus ins Heilige Land. Nicht nur Jungen, auch Mädchen, Erwachsene und sogar Frauen mit Säuglingen nehmen teil. August 1212 treffen, glaubt man den Quellen, etwa 7000 Pilger in Genua ein. Ab dort werden die Berichte über das weitere Schick sal dieses Volksheers widersprüchlich und ungenau. Wahrschein
lich aber sterben die meisten Beteiligten oder werden versklavt. 5. Kreuzzug: 1228/29 Dem gebannten deutschen Kaiser Friedrich II. glückt auf diploma tischem Weg die Wiederinbesitznahme Jerusalems. 6. und 7. Kreuzzug: 1248-1254, 1270 Ludwig IX. von Frankreich kämpft vergeblich, die letzten christli chen Besitzungen gehen verloren. Adrian Doyle Quellen: ›Operation Heiliges Grab‹, Pörtner, Econ Verlag, 1977; ›Wörterbuch der Religionen‹, A. Kröner Verlag, 1952; ›Die Kreuzzü ge‹, Peter Milger, C. Bertelsmann Verlag, 1988
Gedankengift von Adrian Doyle Ein neues Geheimnis läßt Lilith nicht zur Ruhe kommen: der Schlan genstab, den sie in Râcâsdia erbeutete. Kommen von ihm die bluti gen Alpträume, die sie jede Nacht peinigen? Um endlich Klarheit zu schaffen, spielt Beth den Stab einem Ex perten zu – und beschwört damit eine Katastrophe herauf. Unter dem unseligen Einfluß des Artefakts verändert sich der alte Samm ler. In wirren Träumen gefangen, macht er sich auf, die Bestimmung des Stabes zu erfüllen. Bis jetzt ahnen die Tokioter Vampire nichts von der Existenz der mysteriösen Waffe. Wie lange noch …?