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VISUELLE BIBLIOTHEK KLASSIKER FÜR KINDER
DER GLÖCKNER VON NOTRE-DAME
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Für Elissa und die Wednesday Evening Gang...
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VISUELLE BIBLIOTHEK KLASSIKER FÜR KINDER
DER GLÖCKNER VON NOTRE-DAME
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Für Elissa und die Wednesday Evening Gang - JS
EINE NACHERZÄHLUNG VON VICTOR HUGOS Notre-Dame
de Paris FÜR KINDER AB 10 JAHREN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Glöckner von Notre-Dame: [eine Nacherzählung von Victor Hugos Notre-Dame de Paris für Kinder ab 10 Jahren] / Victor Hugo. Nacherzählt von Jimmy Symonds. III. von Tony Srnith. [Aus dem Engl. von Anna Eunike Röhrig]. Hildesheim : Gerstenberg, 1998 Einheitssacht.: The hunchback of Notre-Dame
ISBN 3-8067-4743-1 Ein Dorling-Kindersley-Buch Originaltitel: Eyewitness Classics: The Hunchback of Notre-Dame Text Copyright © 1997 Jimmy Symonds Illustrationen und Zusammenstellung Copyright © 1997 Dorling Kindersley Ltd., London Lektorat: Natasha Biebow, Marie Greenwood Gestaltung: Kim Browne, Chris Fräser, Jane Thomas Herstellung: Katy Holmes Bildrecherche: Louise Thomas, Elizabeth Bacon Gesetzt nach den ab 1998 gültigen Rechtschreibregeln Aus dem Englischen von Anna Eunike Röhrig, Hildesheim Redaktionelle Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Eva Schweikart, Mannheim Deutsche Ausgabe Copyright © 1998 Gerstenberg Verlag, Hildesheim Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Satz bei Uhl + Massopust, Aalen Printed in Italy ISBN 3-8067-4743-1
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INHALT VORWORT 6
Kapitel 6 GEHEIMES STELLDICHEIN 19
PARIS IM MITTELALTER 7 DIE PARISER 8
Kapitel 7 ElN GEBROCHENES HERZ 21
Vorwort
Kapitel 8
DER GLÖCKNER VON NOTRE-DAME 9
DER HENKERSKARREN 23 KATHEDRALE NOTRE-DAME
Kapitel l DAS NARRENFEST 10
Kapitel 9 ASYL 27
Kapitel 2 ESMERALDA 11
Kapitel 10 GRINGOIRES PLAN 30
Kapitel 3 IM MIRAKELHOF
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Kapitel 11 STURM AUF NOTRE-DAME 32
Kapitel 4 QUASIMODOS BESTRAFUNG 14
Kapitel 12 DIE FLUCHT 34
Kapitel 5 PHOEBUS 17
VICTOR HUGOS WELT 62
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VORWORT Der Glöckner von Notre-Dame ist eine Art Märchen geworden. Die Geschichte wurde als Oper aufgeführt, mehrmals verfilmt und sogar als Comic verarbeitet. Ursprünglich erschien das Werk 1831 in Frankreich als Buch. Es trug den Titel Notre-Dame de Paris und war keineswegs ein Märchen. Es ging darin auch nicht in erster Linie um den Glöckner; dieser wurde erst im Titel genannt, als die Geschichte 1948 in einer deutschen Neuübersetzung erschien. Es handelte sich um einen historischen Roman für Erwachsene, der darauf hinweisen sollte, dass die großartige Kathedrale Notre-Dame als Herzstück einer vergangenen Gesellschaft -der des mittelalterlichen Paris - unbedingt erhalten werden musste. Der Verfasser Victor Hugo beschrieb eine bunte Mischung von Menschen, von armseligen Bettlern und Zigeunern bis hin zu reichen Edelleuten und dem König. Es war eine Zeit voller Ungerechtigkeit, in der Folter und Hinrichtungen zum Alltag gehörten. Der Waisenjunge Quasimodo, der später das Amt des Glöckners von Notre-Dame versah, wurde zur Hauptfigur der tragischen Geschichte. Als Kind wurde er von Claude Frollo, dem Erzdiakon von Notre-Dame, adoptiert und verliebte sich in die Zigeunertänzerin Esmeralda. Die beiden verfingen sich in Intrigen und ahnten nicht, dass ihre Schicksale von Geburt an miteinander verknüpft waren. Victor Hugo beschrieb in seinem Roman ausführlich das mittelalterliche Paris, insbesondere die majestätische Kathedrale mit ihren herrlichen Fensterrosen, massiven Türmen, kunstvoll gearbeiteten Portalen und grotesken Wasserspeiern. In diesem Band wird an Hand von alten Stichen, Zeichnungen und Fotografien das mittelalterliche Paris gezeigt, das Hugo schilderte. Die verzweigte Handlung wird zusammenfassend und zugleich so einfühlsam nacherzählt, dass der Charakter von Hugos eindrucksvollem Originalwerk erhalten bleibt.
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Vorwort Der Glöckner von Notre-Dame
Findelkinder Oft wurden behinderte oder uneheliche Kinder auf den Kirchenstufen ausgesetzt. Freundliche Menschen nahmen sich ihrer an. 1552 entstand in der Nähe von NotreDame ein Waisenhaus
An einem schönen Frühlingstag im Jahr 1467 standen auf den Stufen der Kathedrale Notre-Dame in Paris vier alte Frauen beisammen. Sie warfen einen Blick auf die ausgesetzten Kinder, die dort auf einer Holzpritsche lagen. Die Sonne schien warm auf die Gesichter der kleinen Waisen, die kläglich weinten. Die Frauen starrten auf eines der Kinder. »Das ist doch kein Kind! Das ist ein missglückter Affe!« »Teufelswerk!« Das Kind lag laut kreischend auf der Holzpritsche und lugte dabei mit seinem einen Auge zu den Frauen hinüber. Sein missgestalteter Kopf war von struppigem, rotem Haar umgeben. »Lieber würde ich einen Vampir großziehen! Seht doch nur die Warze in seinem Gesicht!« »Das ist keine Warze. Das ist ein Ei, aus dem noch mehr solcher Ungeheuer schlüpfen werden!« »Um dieses abscheuliche Geschöpf wird sich keiner kümmern!«, rief eine der Frauen. »Doch, ich!«, sagte eine Stimme. Die Frauen blickten auf und bemerkten einen jungen Priester, der das Kind in seinem Chorrock barg und sich dann rasch in den dunklen Kirchenraum zurückzog. »Das war Claude Frollo«, sagte eine der Frauen. »Habe ich euch nicht erzählt, er sei ein Hexenmeister?« Doch Frollo hörte es nicht mehr. Er wollte das einäugige, bucklige, krummbeinige Geschöpf, das er gerade adoptiert hatte, möglichst schnell taufen. »Heute ist Quasimodo-geniti, der Weiße Sonntag, darum werde ich dich Quasimodo nennen!« Mitleidig blickte er auf das arme, verunstaltete Kind und gelobte, es jederzeit so zu behandeln, als wäre es sein Bruder. Und dies tat er. Er lehrte Quasimodo Sprechen, Lesen und Schreiben. Als man Frollo zum Erzdiakon von Notre-Dame ernannte, wurde Quasimodo der Glöckner. Fast immer hielt er sich in der Kathedrale auf. Dort lachten ihn die Marmorstatuen und steinernen Ungeheuer nicht aus, wie dies die Menschen auf der Straße taten, sondern blickten freundlich auf ihn herab. Besonders die Glocken liebte Quasimodo. Nichts konnte ihn mehr begeistern, als die große Glocke zu läuten. Er sprang darauf, klemmte sie zwischen die Knie und stieß Freudenschreie aus, wenn er den Schall durch seinen Körper schwingen fühlte. Doch tragischerweise machten ihn seine geliebten Glocken taub. 9
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Kapitel l NARRENFEST Claude Frollo hatte einen jüngeren Bruder namens Jehan, den er zärtlich liebte. Im Jahr 1482, als Frollo Erzdiakon und Quasimodo Glöckner von Notre-Dame waren, studierte Jehan - allerdings nicht sehr eifrig. Am 6. Januar gab es in Paris doppelten Grund zum Feiern: Auf diesen Tag fielen die Erscheinung des Herrn und das Narrenfest. Im Großen Saal des Justizpalasts hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, um ein Mysterienspiel zu sehen. Auch Jehan war dabei. Er kletterte auf eine Säule, um besser sehen zu können. »Eos, beeilt euch!«, rief er. »Es ist jämmerlich kalt hier! Wärmt uns mit einer guten Geschichte auf!« Doch nichts passierte. »Äh... wir müssen noch auf die Gesandten warten«, erklärte Gringoire, der Verfasser des Stücks. Ein Bettler sprang auf die Bühne, um der Menge die Geschwüre an seinen Beinen zu zeigen. »Werft ihn hinaus!«, rief Gringoire. »Das ist Clopin, der König der Ausgestoßenen!«, schrie Jehan. »Gestern hat er noch auf dem anderen Bein gehinkt!« Und er warf eine Münze in Clopins speckigen Hut. »Wo bleibt das Schauspiel!«, riefen die ungeduldigen Zuschauer im Chor. »Ich weiß etwas«, kam plötzlich eine Stimme aus der Menge. »Während wir auf den Anfang des Stücks warten, wollen wir einen Narrenpapst wählen, wie es in meiner Heimatstadt üblich ist!« Die Menge johlte vor Begeisterung. Eine kleine Kapelle am Ende des Saals hatte eine zerbrochene Fensterrose. »Steckt euren Kopf durch das Loch dort! Wer die hässlichste Fratze zieht, soll unser Papst sein!« Einer nach dem anderen zeigte sein Gesicht in der Fensterrose. »Das soll hässlich sein?«, höhnte Clopin, der sein Geld zählte. »Da war ja meine Mutter schon ohne Grimasse hässlicher!« Doch dann erschien ein Gesicht, wie die Menge noch keines gesehen hatte: einäugig, mit einem Mund wie ein verbogenes Hufeisen und Zahnlücken wie Schießscharten. »Was für ein Ungeheuer!« »Das ist Quasimodo, der Glöckner meines Bruders!«, rief Jehan. »Seht euch nur seinen Buckel an!« »Ja, der soll unser Narrenpapst sein!« Man setzte Quasimodo eine papierene Papstkrone auf, hob ihn empor und trug ihn hinaus auf die Straße. »Was wird nun aus meinem Schauspiel?«, rief Gringoire. Die Darsteller hatten sich der Menge angeschlossen und folgten Quasimodo durch die kalten Straßen von Paris. 10
Großer Saal
Im Jahr 1492 galt der Große Saal als größter überdachter Versammlungsort der Welt. Man benutzte ihn für Empfänge, Bankette und andere Feiern
Detail einer Fensterrose der Saint Chapelle. Königliche Kapelle
Der Gesamte Palast war aufwändig verziert. Die Gebetsstätte des Königs, hatte über dem Portal eine prachtvolle Fensterrose aus 86 bemalten Glasfenstern.
Kapitel 2 Esmeralda Gringoire verließ den leeren Saal und ging allein durch die dunklen Straßen von Paris. Sein Weg führte über eine Brücke zur Place de Greve. Hier hatte sich eine große Menge um ein Zigeunermädchen versammelt, das auf einem bunten Perserteppich zum Rhythmus eines Tamburins tanzte. Neben der Zigeunerin stand eine Schneeweiße Ziege. »Wer ist sie?«, fragte er. »Hast du noch nie von Esmeralda gehört?«, kam die erstaunte Antwort. Gringoire drängte sich durch die Menge nach vorn und streifte dabei einen hoch gewachsenen Mann im dunklen Gewand, der wie gebannt dem liebreizenden jungen Mädchen beim Tanzen zusah. »Das ist Jehans Bruder, Claude Frollo, der Erzdiakon von Notre-Dame!«, flüsterte Gringoire. »Es sieht ihm gar nicht ähnlich, seine Kathedrale zu verlassen.« Esmeralda beendete ihren Tanz, kniete sich auf den bunten Teppich und hielt ihrer Ziege das Tamburin hin. »Djali«, sagte sie. »Welchen Monat haben wir gerade?« Die Ziege hob ihren Vorderhuf und klopfte einmal auf das Tamburin. Die Menge applaudierte. Djali, der wievielte Tag des Januar ist heute?« Die weiße Ziege blickte die Zigeunerin an und schlug dann sechsmal auf das Tamburin. »Bravo!«, riefen die Leute. »Und nun, Djali«, fuhr Esmeralda fort, »welche Stunde des Tages haben wir gerade?« Die Ziege klopfte siebenmal und im selben Moment schlugen die Glocken von Notre-Dame sieben Uhr. Wieder ertönten Bravorufe, doch der Mann in Schwarz sagte: »Da ist Hexerei im Spiel.« Plötzlich wurden die Rufe der Menge vom Lärm eines merkwürdigen Umzugs übertönt. Der Narrenpapst nahte, gefolgt von Gaunern und Dieben. Quasimodo verneigte sich und lüftete seine Tiara vor der Menge. Er nahm nicht wahr, dass man ihn auslachte. Stattdessen lächelte er und zeigte seine Zahnstümpfe. Da löste sich plötzlich der Mann im schwarzen Gewand aus der Menge, riss Quasimodo die Papierkrone vom Kopf und schleuderte sie zornig aufs Pflaster. »Du machst dich zum Narren!«, schrie er. Quasimodo sprang von seinem Thron und kniete demütig vor dem Mann in Schwarz nieder. Es war tatsächlich Frollo. Frollo winkte Quasimodo, ihm eine dunkle Gasse hinab zu folgen. »Das ist alles höchst bemerkenswert«, dachte 11
Gringoire, »dennoch friere ich, bin hungrig und habe keinen Pfennig in der Tasche. Und wo soll ich heute Nacht nur schlafen?« Er beobachtete Esmeralda, wie sie die Münzen vom Teppich auflas und diesen zusammenfaltete. Sie nahm den Teppich unter den Arm und ging mit Djali davon. »Ich habe mich wohl ein wenig in sie verliebt«, dachte er. »Am besten folge ich ihr, um zu sehen, wohin sie geht. Schließlich habe ich nichts Besseres zu tun...« Die Zigeunerin ging durch das Labyrinth der dunklen Straßen und Gringoire folgte ihr in einigem Abstand. Plötzlich hörte er einen Schrei. Er sah, wie eine bucklige Gestalt Esmeralda auf den Schultern davontrug, als wäre sie eine Feder. Nicht weit von dem Buckligen stand ein schwarz gekleideter Mann. »He, das ist doch Quasimodo und dort, ist das etwa der Priester?!« Hilfe, Mörder!«, schrie Esmeralda. Vorbeimarschierende Soldaten der Leibwache des Königs hörten ihren Ruf und befreiten sie aus dem Griff des Buckligen. Der andere Mann verschwand. Quasimodo brüllte und schlug wild um sich. »Haltet ihn fest, Männer!«, rief der Kommandant. Esmeralda sah dem Befehlshaber in die Augen, als er sie sanft auf sein Pferd hob. »Ich heiße Phoebus, mein Engel. Wie gut, dass wir zur Stelle waren!« Esmeralda errötete. »Danke, dass Ihr mich gerettet habt!«, sagte sie. Dann glitt sie vom Pferd und rannte davon. »Das Täubchen ist davongeflogen«, sagte Phoebus leise, »und die Fledermaus ist uns geblieben.« Seinen Soldaten rief er zu: »Bringt, ihn fort! Schlagt ihn, wenn er beißt! Gringoire beobachtete, wie die Wachen Quasimodo fesselten und ihn mitnahmen. Der Dichter ging weiter. Er kam in ein finsteres Viertel, wo die Obdachlosen beisammen saßen und sich an Feuern wärmten. Kaum hatten sie ihn gesehen, begannen sie ihn wie Fliegen zu umschwärmen. » Gebt uns Geld...!« »Ich habe doch selbst nichts!«, rief Gringoire. Dennoch ließen sie nicht von ihm ab. »Wir bringen ihn zu König Clopin! riefen sie und schleppten ihn durch eine halb verfallene Pforte in einen Hof, der von einem Feuer erleuchtet wurde. Als der Dichter sich umblickte, begriff er, wo er war: im Mirakelhof, der Heimat aller Ausgestoßenen von Paris. Und dort drüben war ihr König, Clopin Trouillefou.
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Kapitel 3 IM MIRAKELHOF Clopin saß auf einer zerbrochenen Tonne, die mit faulem Stroh ausgestopft war, und hielt eine Peitsche in der Hand. Eine Ratte huschte über das schmutzige Pflaster. »Verbeug dich gefälligst, wenn du vor meinem Thron stehst!«, schnauzte er. »Was für ein Thron?«, fragte Gringoire. »Du befindest dich in meinem Mirakelhof!«, sagte Clopin. »Ich denke, wir hängen dich auf. Das wird ein Vergnügen!« »Nein! Das könnt ihr nicht tun!« Gringoire überlegte rasch: »Ich bin ein Dichter!« »Ein Dichter! Dann wirst du erst recht gehängt! Ich hasse Dichter. Heute Morgen habe ich mich tödlich gelangweilt, bei einem Stück, das nicht einmal anfing!« Gringoire schauderte. »Hängt ihn!«, befahl Clopin. »Nein, wartet! Wir werden ihm eine Chance geben...« Gringoire schöpfte wieder Hoffnung. Clopin wies auf eine Puppe, die über einem dreibeinigen Hocker baumelte und deren Kleidung mit vielen Glöckchen benäht war. »Steig auf diesen Stuhl und stiehl der Puppe die Geldbörse aus der Tasche. Wenn es dir gelingt, ohne dass die Glöckchen klingeln, bist du frei.« Gringoire stieg auf den Hocker und stellte sich auf die Zehenspitzen. Seine Hand zitterte wie Espenlaub. Als er die Puppe berührte, verlor er das Gleichgewicht und im gleichen Moment klingelten sämtliche Glöckchen. »Hängt ihn!«, johlten die Zerlumpten. Clopin erhob sich von seinem Thron. »Wartet! Ich bin kein Unmensch; eine Chance soll er noch haben. Falls eine von euch garstigen Gestalten ihn heiraten will, soll er verschont werden. < Ein altes Weib trat nach vorn. »Hast du auch Schuhe ohne Löcher, mein Süßer?«, wollte sie wissen und Gringoire roch ihren faulen Atem. Er senkte den Blick. »Ich bin Dichter. Ich brauche keine guten Schuhe.« Sie spuckte ihn an und machte sich davon. »Sonst noch jemand?«, rief Clopin. »Ich zähle bis drei. Eins, zwei...« »Ich nehme ihn!« Gringoire schaute auf und erwartete ein Ungeheuer zu sehen, doch es war Esmeralda. König Clopin warf einen Tonkrug auf die Erde, der in vier große Stücke zersprang. »Vier Jahre musst du mit ihm verheiratet bleiben!« »Wie du meinst«, erwiderte die Zigeunerin. »Doch ich habe ihn nur geheiratet, um ihn vor dem Galgen zu retten.« Und sie nahm Gringoire mit in ihre Kammer. 13
Kapitel 4 QUASIMODOS BESTRAFUNG Am Tag nach dem Narrenfest stellte man Quasimodo vor Gericht. Der Saal im Grand Chätelet war zum Bersten voll, denn alle hatten gehört, dass der Narrenpapst versucht hatte, eine Zigeunerin zu entführen. Der Gerichtsschreiber saß bereits am Tisch, dessen Tuch mit Lilien bestickt war. Neben ihm stand ein Sessel aus geschnitztem Holz. Dieser Platz stand dem Profos zu, der als Richter auftrat. Der Profos kam zu spät und war schlechter Laune. Hustend und spuckend stapfte er aus der Kälte herein. »Ruhe im Saal!«, befahl er mit lauter Stimme, denn niemand sollte merken, dass er taub war. Er raschelte mit seinen Papieren und blickte dann auf. »Wie heißt du?«, wandte er sich an Quasimodo, der gefesselt vor ihm stand und von Gerichtswachen in Schach gehalten wurde. Doch Quasimodo war ebenfalls taub und hörte nicht, was der Richter ihn gefragt hatte. Dieser wiederum fuhr fort Fragen zu stellen und merkte nicht, dass Quasimodo noch nicht einmal die erste beantwortet hatte. »Gut. Dein Alter?« Schweigen. Der Richter nickte. »Nun sag mir deinen Beruf?« Abermals Schweigen. Das Publikum begann zu flüstern. Der Richter nahm an, Quasimodo hätte geantwortet, und machte weiter. »Du bist angeklagt, weil du versucht hast ein Mädchen gegen dessen Willen zu entführen. Bekennst du dich schuldig?« Schweigen. »Schreiber, habt Ihr notiert, was der Angeklagte bisher geantwortet hat?« Jetzt brüllte die Menge vor Lachen über die beiden Männer, die einander sehen, aber nicht hören konnten. Der Richter wurde zornig. »Machst du dich etwa über mich lustig, du einäugiger Schelm?«, rief er. »Dafür sollst du auf der Place de Greve an den Pranger gestellt und ausgepeitscht werden! Bringt ihn fort!« Auf der Straße vor dem Gerichtshof standen drei Frauen und ein kleiner Junge, der einen Maiskuchen trug. »Der hässliche Glöckner wird an den Pranger gestellt, weil er die Zigeunerin entführen wollte«, sagte Oudarde. »Lasst uns hingehen und zusehen«, meinte Gervaise. »Hört nur! Ist das nicht die Zigeunerin mit ihrem Tamburin?«, fragte Oudarde plötzlich. »Womöglich stiehlt sie mir mein Kind!«, rief Mahiette, die Mutter des Jungen, ängstlich. »Dann ergeht es mir wie damals Paquette.« »Wer ist Paquette?«, fragte Gervaise. »Wie? Du kennst ihre traurige Geschichte nicht?«, entgegnete Mahiette. »Ich will sie dir erzählen. Dann weißt du, warum ich Angst vor Zigeunern habe. Vor 16 Jahren lebte in Reims eine arme, aber hübsche Frau namens Paquette la Chantefleurie. Sie hatte eine 14
Die drei Frauen unterhielten sich, während der Junge den Maiskuchen betrachtete.
wunderschöne kleine Tochter. So sehr liebte sie das Kind, dass sie es tausendmal am Tag küsste und nur die feinsten rosafarbenen Bändchen in sein Haar flocht. Eines Tages hörte Paquette, dass Zigeuner in der Stadt wären. Sie nahm ihr Töchterchen und ging zu ihnen. Die Zigeuner weissagten ihr, dass ihre Tochter später eine Prinzessin würde. Ganz aufgeregt vor Freude rannte Paquette mit ihrem Kind nach Hause, brachte es zu Bett und eilte davon, um den Nachbarn die gute Nachricht mitzuteilen. Doch als sie wiederkam, war ihre Tochter verschwunden! Nur ein rosafarbener Babyschuh lag noch auf dem Fußboden. Paquette weinte und klagte und suchte jeden Tag die Straßen von Reims ab. Eines Tages horte sie Kindergeschrei in ihrem Haus. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Sie glaubte, ihre Gebete wären erhört worden und ihr Töchterchen wäre wieder da. Doch stattdessen fand sie das hässlichste Kind, das sie je gesehen hatte. Es hatte nur ein Auge und struppiges, rotes Haar. Paquette meinte den Verstand zu verlieren. Schreiend lief sie auf die Straße. Dort berichtete ihr ein Junge, er hätte eine Zigeunerin mit einem weiß eingeschlagenen Bündel aus ihrem Haus kommen sehen. So schnell sie konnte, rannte Paquette zum Zigeunerlager. Doch die Zigeuner waren schon weitergezogen; nur die Reste eines Lagerfeuers schwelten noch. In der Asche entdeckte sie ein Stück rosafarbenes Band. »Mein Gott!«, schluchzte Paquette. »Sie haben meine Tochter verbrannt! Sie haben sie aufgegessen!« - Danach wurde Paquette nie mehr gesehen«, beendete Mahiette ihre Geschichte. Die Frauen standen neben dem öffentlichen Gebetbuch an der Place de Greve, direkt vor dem Rattenloch. In der so benannten düsteren Zelle lebte eine Klausnerin. »Was für eine traurige Geschichte«, meinte Gervaise. »Kein Wunder, dass du dich vor Zigeunern fürchtest.« »Die Klausnerin im Rattenloch hat ebensolche Angst vor Zigeunern wie du, ist das nicht seltsam?«, meinte Oudarde. »Was passierte denn mit dem hässlichen Kind?«, fragte Gervaise. »Der Erzbischof ließ es nach Paris bringen und auf den Stufen von Notre-Dame bei den anderen Waisen aussetzen.« Mahiette lugte in die Zelle der Klausnerin und schnappte nach Luft. »Das ist sie!«, rief sie. »Das ist Paquette!« Die anderen Frauen und der Junge scharten sich um Mahiette, um ebenfalls einen Blick in die Zelle zu tun. Zitternd rief die Klausnerin: »Bringt das Kind weg! Gleich kommt die Zigeunerin!« »Wir haben Euch Maiskuchen mitgebracht«, sagte Mahiette, doch die Klausnerin wandte sich ab.
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Die Aufmerksamkeit der drei Frauen wurde nun durch das fürchterliche Geschrei Quasimodos abgelenkt, den man aus dem Gerichtssaal schleppte. »Seht, man bringt ihn zum Pranger!« Die Menge, die noch am Tag zuvor dem Narrenpapst zugejubelt hatte, verspottete Quasimodo nun, als der Folterknecht ihn bis zur Taille auszog und auf dem Pranger festband. Eine Sanduhr wurde umgedreht und vor ihm aufgestellt. »Achte auf den roten Sand, eine Stunde lang wirst du ausgepeitscht.« Unter stummen Tränen sah Quasimodo die Menge toben und schreien: »Deine Hässlichkeit ließ meiner Katze sieben Klauen an der Pfote wachsen!« Der Folterknecht stampfte mit dem Fuß auf und das Prangerrad begann sich zu drehen. Die Peitschenhiebe hinterließen rote Striemen auf Quasimodos Rücken. »Wasser«, flüsterte Quasimodo. »Hier hast du Wasser, du Tier!«, rief jemand und warf ihm einen schmutzigen Lumpen, der in der Gosse gelegen hatte, ins Gesicht. »Mein Haus stürzte ein, weil du es angesehen hast!« »Wasser...«, keuchte Quasimodo, doch es regnete weiter Lumpen und Schmähungen. Da kam Claude Frollo am Pranger vorbei. Er ritt auf einem schwarzen Maultier. Quasimodos Herz schlug schneller; er hoffte, der Erzdiakon würde ihm zu Hilfe kommen. Doch dieser wandte den Blick ab und ritt davon. Langsam, ganz langsam rann der rote Sand durch das Glas. »Wasser...!« Durch die Menschenmenge kamen Esmeralda und ihre Ziege. Schweigend nahm sie eine Kürbisflasche von ihrem Gürtel und hielt sie an Quasi-modos ausgedörrte Lippen. »Das ist die Zigeunerin!«, rief eine Frau erstaunt. »Sie ist es, die er entführen wollte!« »Und doch hat sie Mitleid mit ihm!« »Verflucht sei die Zigeunerin!«, schrie plötzlich die Klausnerin aus dem Rattenloch. Esmeralda erbleichte und zog sich zurück. Das Auspeitschen war vorüber. Doch Quasimodo musste noch eine weitere Stunde am Pranger erdulden, während die Beleidigungen der Leute auf ihn herniederprasselten.
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Kapitel 5 Phoebus Der Winter ging in den Frühling über. An einem lauen Märztag standen mehrere reiche Damen auf einem Hausbalkon gegenüber von Notre-Dame. Kommandant Phoebus befand sich bei ihnen. Eine der jungen Damen namens Fleur-de-Lys hoffte auf eine Hochzeit mit dem Befehlshaber und ihre Mutter mühte sich sehr, dies zu Stande zu bringen. Doch Phoebus langweilte sich - bis eine der Damen eine tanzende Zigeunerin unten auf dem Platz erblickte. »Phoebus, tanzt die Kleine nicht entzückend?« Phoebus erkannte Esmeralda, sagte aber nichts. Seine Augen schweiften hinüber zur Kathedrale; auch der Erzdiakon beobachtete Esmeralda. »Lasst uns nach ihr schicken. Sie soll heraufkommen und uns für eine Goldmünze etwas vortanzen!«, schlug Fleur-de-Eys vor. »Oh ja!«, riefen die anderen Damen im Chor und sandten einen Diener hinab, der Esmeralda holen sollte. »Übrigens, mein Lieber«, fuhr Fleur-de-Lys fort, »habt Ihr mir nicht erzählt, Ihr hättet eine Zigeunerin aus den Klauen eines Ungeheuers gerettet?« »Schon möglich.« Als Esmeralda den Raum betrat und Phoebus erblickte, errötete sie tief. »Erinnerst du dich an mich, Kleine?«, fragte Phoebus das Mädchen. »Ja«, antwortete Esmeralda und senkte den Blick. Dies eine Wort trug tausend verborgene Gefühle in sich. »Was ist nun?«, unterbrach Fleur-de-Lys. »Wir bezahlen dich nicht fürs Schwatzen. Tanz für uns!« »Ich weiß noch immer nicht, wie du heißt«, fuhr Phoebus fort. »Esmeralda.« Fleur-de-Lys fühlte, wie die Eifersucht in ihr hochkochte. Sie klatschte in die Hände, damit Esmeralda mit dem Tanz begann. Währenddessen leerte ein kleines Mädchen den Lederbeutel, der um Djalis Hals hing. Täfelchen mit Buchstaben fielen heraus. Die Ziege schob sie herum, bis das Wort PHOEBUS zu lesen war. Fleur-de-Lys war entsetzt, als sie das sah. »Die Ziege ist verhext! Das Mädchen ist eine Zauberin!«, rief sie und brach zusammen. Phoebus lächelte beim Gedanken, dass Esmeralda der Ziege beigebracht hatte seinen Namen zu buchstabieren. Währenddessen stand auf der anderen Seite des Platzes Claude Frollo auf dem Nordturm von Notre-Dame, um Esmeralda besser tanzen zu sehen. Als er sie aus dem Haus von Fleur-de-Lys kommen sah, eilte er die Wendeltreppe hinab. Sein dunkler Umhang flatterte hinter ihm her. Als er am Glockenturm vorbeikam, sah er Quasimodo, der zwischen den riesigen, stummen Glocken stand und auf Esmeralda hinabstarrte. Frollo war überrascht: Konnte sich ein
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Buckliger denn verlieben? Bestimmt liebte er nur seine Glocken... Als Frollo auf den Kathedralenvorplatz hinaustrat, sah er zu seiner Bestürzung, dass Esmeralda nicht mehr da war. Statt ihrer trat nun ein Artist in gelb-rotem Gewand auf. Zwischen den Zähnen balancierte er einen Stuhl, auf dem eine getigerte Katze stand. Als die Katze den wilden Gesichtsausdruck des Priesters sah, erschrak sie so sehr, dass sie davonsprang. Der Stuhl landete auf den Zehen des Artisten, der sich mit einem Schrei auf Esmeraldas Teppich fallen ließ. Die Zuschauer gingen weiter, ohne ihm eine Münze zuzuwerfen. Plötzlich erkannte der Priester in dem Artisten den Dichter Gringoire. »Gringoire! Was tut Ihr hier?« »Claude Frollo! Wie schön, Euch zu sehen!«, erwiderte Gringoire. »Dies hier ist einfacher als Gedichte zu schreiben. Außerdem kann ich so bei Esmeralda sein.« Frollos Augen verdunkelten sich. »Ihr kennt sie?« »Kennen? Ich bin mit ihr verheiratet!« »Was?!« Frollo fühlte den Boden unter seinen Füßen wanken. »Sie hat mich vor dem Galgen gerettet, indem sie sich bereit erklärte mich zu heiraten. Aber sie gestattet mir nicht einmal einen KUSS.« »Ach nein?« »Sie lässt mich nicht in ihre Nähe kommen. Sie trägt einen Talis man um den Hals, der angeblich bewirkt, dass sie erst dann einen Mann lieben kann, wenn sie ihre Mutter wiedergefunden hat. Als Kind wurde sie von ihr getrennt, aber... ich glaube, sie liebt einen anderen.« »Wen?!« »Manchmal höre ich sie seinen Namen flüstern. Der kleinen Ziege hat sie beigebracht ihn zu buchstabieren. P-HO-E-B-U-S.« »Phoebus?!« »Ja, Kommandant Phoebus, Befehlshaber der königlichen Leibgarde. Kennt Ihr ihn?«, fragte Gringoire, doch der Priester war bereits davongestürmt, zurück in die Kathedrale.
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Kapitel 6 GEHEIMES STELLDICHEIN Eines Nachmittags köpfte es an Frollos Tür. Er saß in seiner Zelle im Nordturm von NotreDame, die mit Zauberbüchern und allerlei verstaubten Utensilien vollgestopft war. Vor der Tür stand sein Bruder Jehan, der -wie schon des öfteren - Geld von ihm leihen wollte. Herein!«, rief Frollo. Jehan trat ein und warf einen misstrauischen Blick auf die sieben Fledermausschädel auf dem Fensterbrett. »Lieber Bruder, es tut mir leid, dich zu stören, aber ich brauche etwas Geld ... für mein Studium.« Claude Frollo kannte seinen Bruder nur zu gut. »Bist du sicher, dass du es nicht für Rotwein in der nächsten Schenke ausgibst?« »Nun ja, wenn nach dem Kauf meiner Bücher noch ein wenig übrig sein sollte, trinke ich vielleicht ein Gläschen mit meinem Freund Phoebus.« »Mit wem?!« »Mit Kommandant Phoebus. Ich treffe ihn heute Abend vor seiner Verabredung mit einer jungen Dame namens Esmeralda.« Der Priester runzelte die Stirn. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er den jüngeren Bruder stets verwöhnt. Doch nun riss ihm die Geduld. »Du hast genug von mir bekommen«, brummte er. »Verschwinde!« Jehan verabschiedete sich und steckte im Gehen die Geldbörse seines Bruders ein. Frollo merkte nichts, da seine Gedanken anderswo weilten. Frollo ergriff seinen dunklen Umhang, löschte die Kerzen und folgte Jehan. In der Tasche trug er einen kleinen Silberdolch. Während Jehan und Phoebus in der Schenke saßen, verbarg er sich in einem Torbogen und wartete, bis die beiden wieder herauskamen. Viel Vergnügen, Phoebus!«, rief Jehan und eilte davon. Auch Phoebus machte sich auf den Weg. Unterwegs bemerkte er, dass eine schattenhafte Gestalt ihm folgte. »Was wollt Ihr von mir?«, rief Phoebus und zog sein Schwert. Claude Frollo trat aus dem Dunkel, das Gesicht verhüllt. »Ich will wissen, ob Ihr heute Nacht die Zigeunerin trefft.« »Was geht Euch das an, Fremder?« 19
»Beweist mir, dass Ihr sie trefft, und ich werde Euch einen Beutel voller Goldmünzen geben«, sagte der Mann mit der Kapuze. »Einverstanden«, meinte Phoebus, »folgt mir.« Der Vermummte folgte dem Kommandanten zu einem Haus an der Sankt-Michaels-Brücke. »Kommt mit mir herein«, sagte Phoebus. »Ihr könnt Euch im angrenzenden Raum verstecken. Für einen Beutel Goldmünzen dürft Ihr alles sehen!« Frollo verbarg sich in einer dunklen Kammer. Nach kurzer Zeit sah er durch einen Türspalt, wie Esmeralda und Phoebus den Raum nebenan betraten. Der Kommandant zog die Tänzerin in seine Arme. »Oh, Phoebus, wie lange habe ich von diesem Augenblick geträumt!«, flüsterte Esmeralda. »Sag mir, dass du mich liebst...« Jedes Wort war für Frollo eine Qual. »Natürlich, schönes Kind. Später...«, sagte Phoebus und begann ihr den Talisman vom Hals zu nesteln. »Nein, das darfst du nicht! Der Talisman soll mir helfen meine Mutter zu finden!«, rief Esmeralda. »Du liebst mich also nicht?«, fragte Phoebus gekränkt. »Aber ja!«, rief Esmeralda. Sie schlang ihre weichen Arme um seinen Hals. Die beiden küssten einander. Frollo konnte es nicht ertragen hinzusehen. »Ich liebe dich, Phoebus, ich liebe dich«, flüsterte Esmeralda. Sie wollte dem Kommandanten in die Augen sehen, doch stattdessen blickte sie in die dunklen, Furcht erregenden Augen eines anderen, der einen blitzenden Dolch in der Hand hielt. Phoebus merkte, wie Esmeralda schauderte. Er wandte sich um und in diesem Augenblick sauste der Dolch auf ihn herab. Esmeralda schrie auf. Sie spürte einen kalten KUSS auf ihren Lippen und verlor das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, war der Raum voller Soldaten, die zur Nachtwache gehörten. Eine Frau stand neben dem blutüberströmten Phoebus und berichtete: »Ich vernahm einen Schrei und rannte die Treppe hinauf, so schnell mich meine Beine trugen, und da war sie und dort lag er und dazwischen lag ein Dolch!« »Oh, Phoebus«, flüsterte Esmeralda. Die Soldaten fesselten ihre Hände mit einem Strick und führten sie die Treppe hinab. Der geheimnisvolle Fremde war verschwunden.
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Kapitel 7 GEBROCHENES HERZ Der Wind wirbelte Blätter über den Platz vor dem Justizpalast, wo sich ein paar alte Frauen zum Schwatzen zusammengefunden hatten. »Man sagt, dass heute eine Zigeunerin wegen Mordes verurteilt wird!« »Ich habe gehört, sie sei eine Hexe und ihre Ziege könne mit dem Teufel sprechen!« Drinnen saß Esmeralda. Ihr einziger Gedanke galt Phoebus. Eine Zeugin trat auf. »Da waren zwei Männer - ein gut aussehender Kommandant und ein Mann in Schwarz, der sein Gesicht unter einer Kapuze verbarg. Plötzlich hörte ich einen Schrei von oben und etwas fiel zu Boden. Gleich darauf huschte ein Schatten an, meinem Fenster vorbei. Ich rief die Nachtwache und wir gingen nach oben, wo die Zigeunerin lag und sich tot stellte.« »Führt die zweite Angeklagt vor«, befahl der Richter. Herein kam Esmeraldas Ziege, Djali. Ein Gerichtsbeamter hielt ihr Esmeraldas Tamburin vor und fragte: »Wie spät ist es?« Die Ziege klopfte siebenmal auf das Tamburin, gerade als die Glocken von Notre-Dame sieben Uhr schlugen. Danach wurden die Buchstabentäfelchen auf den Boden gelegt und Djali suchte den Namen »Phoebus« heraus. Diese Ziege ist vom Teufel besessen!«, erklärte Der Schreiber der Richter. Er wandte sich an Esmeralda: »Du bist angeklagt, durch Zauberkraft Kommandant Phoebus getötet zu haben, wobei dir deine Ziege half.« »Ich bin unschuldig. Ich liebe Phoebus«, beteuerte Esmeralda. »Phoebus ist tot. Hast du ihn umgebracht?« Sie wurde blass: »Nein! Ein Priester war es! Ein Priester, der mich verfolgt!« Der Richter wurde ungeduldig. »Wie du willst. Ab in die Folterkammer! Dort kannst du es dir überlegen!« Das Mädchen wurde in einen Raum voller eiserner Folterinstrumente geschleppt. In der Ecke saß ein Schreiber. Am Feuer hantierte ein bärtiger Mann mit Zangen und rot glühenden Kohlen. Die Folterknechte legten Esmeralda auf eine Lederpritsche. »Es heißt, du seist Tänzerin, also fangen wir mit den Füßen an.« »Gnade!«, schrie Esmeralda. »Gib zu, dass du ihn getötet hast!«, sagte einer der Folterknechte. »Oh, Phoebus«, flüsterte Esmeralda. »Nun, was ist?« »Ja, ich habe ihn getötet!«, schluchzte Esmeralda. »Und bist du eine Hexe?« »Ja«, murmelte Esmeralda. Die Wachen führten das Mädchen zurück in den Gerichtssaal. Djali meckerte kläglich. 21
»Du hast es dir also überlegt«, meinte der Richter. »Nun gut! In zwei Tagen wirst du vor dem großen Portal von Notre-Dame um Vergebung für deine Seele bitten.« Esmeralda verbarg das Gesicht in den Händen. »Danach bringt man dich zur Place de Greve und dort wirst du gehängt. Du und deine Ziege. Möge Gott deiner Seele gnädig sein.« Esmeralda lag zitternd im düsteren Kerker und wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Zu ihren Füßen neben dem zerbrochenen Tamburin schlief Djali. Aus einem Spalt in der Decke tropfte Regenwasser auf das verweinte Gesicht der Zigeunerin. »Phoebus...«, flüsterte sie zum wohl tausendsten Mal. Plötzlich öffnete sich die Tür, ein gleißend heller Lichtstrahl fiel herein, dann wurde es wieder dunkel. »Wer ist da?« Ein Schatten fiel vor ihr nieder, schwärzer als andere Schatten. Er sprach. »Bist du bereit?« Esmeralda verspürte Ekel bis zum Erbrechen. Diese Stimme! »Bereit wofür?« »Bereit zum Sterben.« Sie ballte ihre bleichen, schmalen Finger zu Fäusten. Er war es! »Ihr! Warum habt Ihr das getan?«, fragte sie. »Weil ich dich liebe!«, rief Frollo. »Aber ich verabscheue Euch! Womit habe ich solche Liebe verdient?« »Von dem Tag an, als ich dich auf dem Platz tanzen sah, habe ich nur noch an dich gedacht. Deine Schönheit ließ mich nicht mehr los. Ja, ich liebe dich! Einmal habe ich versucht dich zu entführen. Erwidere meine Liebe und du wirst frei sein!« »Lieber will ich hängen.« »Sag, dass du mich liebst!« »Niemals! Ich liebe Phoebus.« »Phoebus ist tot. Mein Dolch traf sein Herz!« »Ohne seine Liebe herrscht Winter in meinem Leben«, schluchzte Esmeralda. »Meine Liebe würde deinen Winter in einen Frühling verwandeln!« Die Zigeunerin zuckte zusammen. »Lieber sterbe ich!« »Dann stirb!« Vor Enttäuschung zitternd verließ Frollo den Kerker und begab sich zur Place de Greve. Als er am Rattenloch vorüberging, rief ihm die Klausnerin zu: »Guter Herr, Ihr seid ein Mann Gottes. Bitte, helft mir meine Tochter zu finden!« »Nein!« »Oh, wie ich die Zigeuner hasse!« »Gute Frau, bald wird man eine Zigeunerin hängen.« »Tatsächlich? Es gibt eine, die ich ganz besonders hasse. Sie ist unsagbar schön und etwa so alt, wie meine Tochter jetzt wäre. Sie tanzt wie ein Engel!« Ihre Worte trafen den Priester wie Dolchstiche. »Bald wird sie nicht mehr tanzen. Denn sie ist es, die man hängen wird«, sagte er und ging rasch davon. In einer Ecke ihrer dunklen Zelle küsste die Klausnerin einen winzigen, rosafarbenen Schuh. »Oh, kleiner Schuh, wo ist der Fuß dazu?«, klagte sie.
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Kapitel 8 DER HENKERSKARREN Kommandant Phoebus war keineswegs tot. Der Dolch des Priesters hatte sein Herz knapp verfehlt. Einige Wochen verbrachte Phoebus in einem Garnisonsstädtchen bei Paris, um sich von seiner Verletzung zu erholen. Als es Frühling wurde, sehnte er sich nach weiblicher Gesellschaft. So ritt er eines Nachmittags nach Paris und fand sich im Haus der hübschen Fleur-de-Lys ein, das an den Vorplatz von Notre-Dame grenzte. »Phoebus, mein Geliebter! Wo hast du gesteckt?«, rief sie, als er zu ihr auf den Balkon trat. »Ich habe von dir geträumt, Liebste!«, log er. Ihr Haar war mit lieblich duftenden Rosen geschmückt und als sie ihn mit einem zärtlichen KUSS begrüßte, dachte der Kommandant nicht mehr an das Zigeunermädchen. Da bemerkte sie den Verband um seine Brust.»Was ist denn das?«, fragte sie und wurde blass. »Ein Sturz vom Pferd, nichts weiter.« »Oh, Phoebus, sag, dass du mich allein liebst und wir bald heiraten!« »Natürlich.« Die Glocken von Notre-Dame erklangen und Fleur-de-Lys erinnerte sich wieder. »Ich glaube, heute werden eine Hexe und ihre Ziege gehängt. Aber das soll uns diesen köstlichen Augenblick nicht verderben.« Der Kommandant hielt sie zärtlich in den Armen und beide sahen hinab auf den sonnenbeschienenen Platz. Dort saß Esmeralda totenbleich auf dem Henkerskarren, der auf das große Portal von Notre-Dame zurollte. Die Türen standen offen und Gesang erfüllte die Luft. Es war eine Totenmesse. Frollo wartete am Eingang. Er hielt ein Kruzifix in der Hand. Esmeralda wurde vom Karren gehoben und man nahm ihr die Handfesseln ab. »Mein Kind, hast du Gottes 23
Vergebung für deine Sünden erfleht?«, fragte der Erzdiakon und drückte ihr eine brennende Kerze in die Hand. »Dämon!« »Es ist noch nicht zu spät! Sag, dass du mich liebst!«, flüsterte Frollo ihr zu. »Ich hasse Euch!« Der Priester murmelte ein Gebet, wandte sich ab und ein Henkersknecht band Esmeralda wieder die Hände. Um ihren Hals hing bereits ein dicker Strick. Sie hob die Augen zum Himmel. Da erblickte sie plötzlich Phoebus, der höchst lebendig auf einem Balkon stand und eine hübsche junge Dame im Arm hielt. Esmeralda wollte ihm zuwinken, doch ihre Arme waren gefesselt. »Phoebus!« Er hörte ihren Ruf nicht. Zwischen den Figuren der Königsgalerie von Notre-Dame stand Quasimodo und beobachtete die traurige Szene. Niemand beachtete ihn, denn sein missgestaltetes Gesicht hätte ebenso gut einem der steinernen Ungeheuer an der Fassade gehören können. Nur an seinem Gewand, halb rot, halb violett, war er erkennbar. Eine Krähe flatterte über seinen Kopf hinweg, bevor sie nach unten in Esmeraldas Richtung flog. Quasimodo wünschte, er könnte zu ihr fliegen wie der Vogel. Doch wie sollte das möglich sein? »Hängt die Hexe!«, rief die Menge unten. Es blieb nur noch wenig Zeit. Quasimodo fand ein langes Seil und band das eine Ende um den steinernen Kopf einer Königsfigur. Dann warf er das Seil hinab und sah zu, wie es sich einer Schlange gleich entrollte. Wie ein Regentropfen, der an einer Fensterscheibe herabläuft, glitt Quasimodo an dem Seil in die Tiefe. Aller Augen waren auf Esmeralda gerichtet, die gerade zur Place de Greve gebracht wurde, um dort am Galgen zu sterben. Niemand bemerkte Quasimodo, der dem Boden immer näher kam. »Ich liebe dich, Phoebus«, flüsterte Esmeralda. Dann wartete sie gefasst auf den Tod. Quasimodo hatte das Ende des langen Seils erreicht. Wie ein wilder Löwe stürzte er sich auf den Henker und schlug ihn mit bloßen Fäusten nieder. Mit einem Arm packte er die Zigeunerin und schwang sich mit ihr zur Kathedrale hinüber. Am Portal wandte er sich der erstaunten Menge zu und brüllte, während er Esmeralda wie eine Trophäe hoch in die Luft hob, dass es durch die Straßen
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von Paris hallte: »Asyl!« »Asyl!«, wiederholte die Menschenmenge. Esmeralda öffnete die Augen und erkannte voll Schrecken Quasimodos Gesicht. Aber jetzt war sie in Sicherheit. Nachdem Claude Frollo Esmeralda gesegnet hatte, verließ er die Kathedrale, um allein zu sein. Er überquerte die Seine mit der Fähre, wanderte die Stadtmauer entlang und hing düsteren Gedanken nach. »Jetzt wird sie schon tot sein«, murmelte er vor sich hin. »Und ich habe sie umgebracht! Doch lieber weiß ich sie dem Henker übereignet«, überlegte er, »als in den Armen eines schönen, jungen Kommandanten.« Dann wiederum kam ihm ihr weicher, weißer Hals in den Sinn, der nun wohl von einem rauen Strick gebrochen war, und erstmals empfand Frollo Schuld. Als die Nacht hereinbrach, ging er langsam zur Kathedrale zurück. Im Mondlicht öffnete er das Portal. Etwas Weißes huschte die obere Galerie entlang. Ein weißes Kleid! Sie war es! »Mein Gott!«, dachte Frollo. »Erst ein paar Stunden ist sie kalt und geht schon als Gespenst um!« Er wandte sich dem Gebetbuch der Kathedrale zu und suchte Trost in einem Gebet um Vergebung. Hoch über dem gewölbten Kirchenraum zog sich Esmeralda leise in ihre Kammer zurück. Frollos Zelle Priester hatten kleine Zellen, in denen sie ihren Studien nachgingen. Frollos Zelle lag oberhalb der Galerie der kleinen Säulen hoch im Nordturm.
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er Esmeralda ein Silberpfeifchen.
Kapitel 9 ASYL Die Strahlen der Morgensonne weckten Esmeralda. Verwirrt fragte sie sich, ob sie bereits im Himmel wäre, doch dann erinnerte sie sich an die Flucht in den Armen des Glöckners. Mit Grauen dachte sie daran, dass seine behaarten Hände auf ihren nackten Schultern gelegen hatten. Dennoch: Er hatte sie gerettet. Esmeralda erschrak, als sie Quasimodo sah, der sie von der Tür aus beobachtete. »Ich... ich wollte Euch nicht erschrecken«, sagte er. »Warum habt Ihr mich gerettet?«, fragte Esmeralda leise. Quasimodo konnte ihre Worte nicht hören, doch er spürte ihre Bedeutung. »Einst, als ich durstig war, gabt Ihr mir Wasser. Ihr habt Euch um mich
gekümmert und nun werde ich für Euch sorgen. Bleibt in der Kathedrale, dann seid Ihr in Sicherheit.« Quasimodo reichte Esmeralda eine Novizinnentracht, die eine barmherzige Nonne auf die Kirchenschwelle gelegt hatte. »Hier, zieht dies an. Habt keine Angst, ich tue Euch nichts. Ihr seid so schön! Seit ich Euch gesehen habe, weiß ich erst, wie hässlich ich bin. Aber es ist nicht meine Schuld, dass ich so aussehe.« Der Bucklige weinte und seine Tränen lenkten Esmeralda von ihrem Kummer ab. Später kam Quasimodo mit einer Überraschung wieder: Er trug Esmeraldas weiße Ziege auf den Armen. Dann reichte
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»Ruft mich mit einem Pfiff, wann immer Ihr mich braucht. Den hohen Ton dieser Pfeife kann ich hören.« Dann verschwand er. Esmeralda fürchtete sich nicht länger vor ihm. Einige Tage später sah Esmeralda Phoebus unten über den Platz reiten. »Soll ich ihn holen?«, fragte Quasimodo. Esmeralda nickte errötend. Rasch eilte der Glöckner die Stufen hinab, um den Kommandanten noch zu treffen. »Was willst du von mir, garstiges Geschöpf?«,, knurrte Phoebus. »Eine Dame, die Euch liebt, wartet auf Euch!< erwiderte Quasimodo. Phoebus erinnerte sich an den Vorfall in der dunklen Gasse und zog sein Schwert. »Du bist mir schon einmal über den Weg gelaufen, Ungeheuer!«, sagte er. »Geh und berichte deiner Dame, dass ich bald heiraten werde!« Phoebus versetzte dem Glöckner einen Fußtritt und ritt davon. Als Quasimodo allein zurückkehrte, wurde Esmeralda sehr traurig. In dieser Nacht weinte sie sich in den Schlaf. Mittlerweile waren dem Erzdiakon Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Esmeralda gerettet worden war. »Also ist sie am Leben!«, dachte er. Frollos Augen verdunkelten sich bei dem bloßen Gedanken. Phantasiebilder Esmeraldas verfolgten ihn; am liebsten hätte er jede wache Stunde an ihrer Seite verbracht. Frollo schloss sich wochenlang in seine Zelle ein. Manchmal sah er durch das Fenster Esmeralda mit ihrer Ziege; mitunter stand Quasimodo bei ihr. Dass der Bucklige dem Mädchen treu ergeben war, fachte Frollos Eifersucht von neuem an. Eines Abends ertrug er es nicht länger. Er musste sie sehen! Der Erzdiakon ergriff eine Laterne und nahm einen Schlüssel aus einer Schublade in seinem Studierzimmer. Auf Zehenspitzen schlich er zu Esmeraldas Zelle. Nur die Ziege hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Djalis angstvolles Meckern weckte Esmeralda auf.
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»Quasimodo?«, flüsterte das Mädchen leise. Die Laterne kam näher. Djali zitterte vor Angst. Plötzlich spürte Esmeralda, wie jemand versuchte ihre Wange zu küssen. »Zu Hilfe!«, schrie sie, griff nach ihrem Silberpfeifchen und blies mit aller Kraft hinein. Gleich darauf wurde Frollo von einem starken Arm von Esmeralda weggerissen. »Lass sie in Frieden!«, drang eine Stimme durch das Dunkel. Frollo konnte nicht sehen, wer sein Widersacher war; er hörte nur wütendes Zähneknirschen. Der Priester meinte Quasimodo zu erkennen und sah zugleich ein Messer über seinem Kopf aufblitzen. Im nächsten Augenblick fand er sich auf dem Boden liegend wieder, ein Knie drückte auf seinen Brustkorb. Das Messer kam näher. Doch dann zögerte sein Gegner einen Moment lang. »In ihrem Beisein soll kein Blut fließen«, sagte er und zerrte den Priester aus der dunklen Zelle. Draußen fiel das Mondlicht auf Frollos Gesicht und Quasimodo erkannte, wen er vor sich hatte. Überrascht warf er sich auf die Knie. »Euer Gnaden«, sagte er und reichte dem Priester das Messer. »Tut, was Euch gefällt, aber zuerst müsst Ihr mich töten.« Frollo erwiderte nichts. Er trat nach" Quasimodo und verschwand in der Kathedrale.
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Kapitel 10 GRINGOIRES PLAN An einem trüben Nachmittag begegnete Pierre Gringoire Auf der Straße dem Erzdiakon. »Gringoire! Habt Ihr schon das Neueste von Eurer Frau gehört?« »Ich habe gehört, dass der Glöckner ihr das Leben gerettet hat. Ist das nicht wunderbar? »Gringoire, hört mir zu! In der Kathedrale ist Eure Frau nicht auf ewig sicher. Das Parlament kommt zusammen, um ihren Fall zu besprechen. Sie muss gerettet werden, denn bald ist es zu spät!« »Da habt Ihr wohl Recht.« »Ihr müsst ihr helfen!« »Aber wie denn, Frollo?« »Geht zu ihr, sie vertraut Euch. Tauscht die Kleider mit ihr und lasst sie an Eurer Statt entkommen.« »Und was geschieht mit mir?« »Ihr mögt glimpflich davonkommen. Falls nicht, seid Ihr wenigstens für ihre Rettung gestorben.« »Wer hat behauptet, dass ich sterben will, Frollo? Ich lebe glücklich, zeige meine Kunststücke, schreibe Gedichte, trinke ein Gläschen Wein...« »Gringoire! Sie hat Euch damals gerettet. Oder ist Euer Gedächtnis so schwach?« Der Dichter blickte zu Boden. Die Glocken von Notre-Dame erklangen und er dachte über den Tod nach. Ob er im Himmel wohl berühmten Dichtern aus vergangener Zeit begegnen würde? »Sie wird hängen, Gringoire!«, drängte der Erzdiakon. »Wartet, Frollo! Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Ich werde König Clopin und die Ausgestoßenen im Mirakelhof um Hilfe bitten. Sie schätzen Esmeralda und sind einer tüchtigen Rauferei nie abgeneigt.« »Wie stellt Ihr Euch das vor?« Gringoire neigte sich zum Ohr des Priesters und erläuterte ihm flüsternd seinen Plan. Frollo nickte, dann strebte er der Kathedrale zu und Gringoire eilte zum Mirakelhof. Morgen-Wenig später stand Gringoire vor Clopin. »Wir müssen Esmeralda retten! Sie braucht uns!«, wiederholte der Dichter. »Ach ja, die Zigeunerin. Wir stürmen die Kathedrale, retten sie, jagen die Soldaten zum Teufel und nehmen dabei ein paar Silberleuchter mit. Ganz einfach!« »Wann ziehen wir los, Clopin?«, fragte Gringoire eifrig. »Heute Nacht!«, entschied der Bettlerkönig. «Ihr alle, nehmt euch eine Waffe!«, befahl er. Lärmend scharten sich
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Vagabunden, Diebe und Zigeuner um eine große Holzkiste voller Äxte, Morgensterne, Schwerter, Bögen, Hellebarden und Dolche. Dann war es Zeit zum Aufbruch. »Wir werden Paris schweigend durchziehen«, ordnete Clopin an. «Zündet die Fackeln erst an, wenn wir vor Notre-Dame stehen!Vorwärts!« Ein langer Zug Menschen überquerte die Brücke zur Ile de la Cite und jagte den Nachtwachen Furcht und Schrecken ein.
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Kapitel 11 STURM AUF NOTRE-DAME Irgendetwas raubte Quasimodo den Schlaf. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Er trat ans Fenster. Entsetzt sah er vom Fluss her Schatten auf die Kathedrale zukommen und bemerkte die Umrisse unzähliger spitzer Mistgabeln. Im Handumdrehen hatte eine riesige Menschenmenge den Vorplatz von Notre-Dame überflutet. Ein Licht flammte auf und bald war der Platz von Fackeln hell erleuchtet. Sie kamen wegen Esmeralda! Quasimodo rannte in das Zimmer der Tänzerin. Sie lag in tiefem Schlaf; die Ziege Djali hatte sich zu ihren Füßen zusammengerollt. Nein, er würde sie nicht wecken. Er eilte zur Königsgalerie. »Gib die Zigeunerin heraus!«, schrie Clopin von unten. «Oder wir greifen an!« Quasimodo glaubte, die Meute wollte Esmeralda töten. Er warf einen Stein auf den Platz. »Brecht das Tor auf! Zerschmettert es!« Clopin schäumte vor Wut. Verzweifelt suchte Quasimodo nach Steinen, um sie auf die Angreifer hinabzuschleudern. Plötzlich fiel ihm ein, dass an diesem Tag das Kathedralendach ausgebessert worden war. Er rannte zum Turm hinauf und fand ein ganzes Materiallager: Holzbalken, Steine und Bleiziegel. Unten splitterte das Portal, aber noch hielt es stand. »Nehmt Eure Zähne zu Hilfe!«, feuerte Clopin seine Leute an. »Wir brauchen einen Rammbock, Majestät!« Mit übermenschlicher Kraftanstrengung hob der Glöckner einen mächtigen Holzbalken an und schob ihn über die Brüstung der Kathedrale. Krachend landete er auf dem Pflaster und die Schmerzensschreie der Getroffenen erfüllten die Nacht. »Worauf wartet ihr?«, brüllte Clopin. «Hier liegt euer Rammbock!« Das Portal gab langsam nach. Quasimodo hatte keine Steine mehr und es schien, als würde Clopin siegen. In diesem Augenblick erspähte Quasimodo
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die bleiernen Dachziegel. Mit seiner Laterne entzündete er ein Feuer und legte das Blei hinein. Zufrieden beobachte er wie sich das geschmolzene Metall in hellen Strömen durch die Wasserspeier nach unten ergoss. Oben in der Königsgalerie stand Quasimodo. Schreie gellten zu ihm empor, als das siedende Blei sich auf die Ausgestoßenen ergoss. Die Männer stoben auseinander wie Funken im Wind. »Feiglinge!«, schrie Clopin. »Wollt ihr Esmeralda den Wölfen überlassen? Muss ich allein kämpfen?« »Nein!«, brüllten die Ausgestoßenen. Clopin blickte sich um. »Wo ist Gringoire?« »Er hat sich davongeschlichen grinste Jehan, der plötzlich vor der sich hinter einer Königsstatue versteckte. Er trug eine schimmernde Rüstung und eine Furcht erregende Beckenhaube. In der Hand hielt er eine Armbrust und er zog eine lange Leiter hinter sich her. »Clopin«, sagte er, »wir müssen zur Königsgalerie hinauf. Dort gibt es eine Tür, die direkt ins Innere der Kathedrale führt!« »Jehan, sag mir eines«, erwiderte Clopin. »Wie viele Leute sind da oben?« »Das weiß ich ganz genau«, meinte Jehan. »Sag schon! Zwölf Dutzend?« »Nein, nur einer«, antwortete Jehan. »Einer?«, rief Clopin. »Der Glöckner. Sonst niemand.« »Was, der Bucklige? Ganz allein?«, schrie Clopin ungläubig. »Auf die Leiter! Reißt ihm den Buckel herunter!« Flink klommen die Bettler hinter Jehan die Leiter empor. Quasimodo versteckte sich hinter einer Königsstatue. Jehan erstieg die Galerie und rüttelte an der Türklinke. Die Tür war verschlossen. Bevor ein weiterer Angreifer Jehan folgen konnte, kippte Quasimodo die Leiter um, sodass die Ausgestoßenen hinabstürzten. Jehan richtete seine Armbrust auf Quasimodo. »Damit du so blind wie taub wirst, du Ungeheuer!«, rief er. Er zielte auf Quasimodos Auge, verfehlte es jedoch. Das Geschoss traf den Arm des Glöckners. Dieser zog den Pfeil heraus, als wäre er ein lästiger Dorn. Mit drei Sprüngen hatte er Jehan erreicht, riss ihn am Bein hoch und schleuderte ihn über die, Königsfiguren hinweg in die Luft. Inzwischen kam von überall her Geschrei. Kommandant Phoebus und seine Männer nahten. Zwar fochten Clopin und die Seinen tapfer, aber gegen die Leibwache des Königs kamen sie nicht an. Sie kehrten um und rannten um ihr Leben.
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Kapitel 12 DIE FLUCHT Während Quasimodo Steine auf die Ausgestoßenen warf, beobachtete Gringoire das Geschehen aus sicherer Entfernung. Plötzlich näherte sich eine dunkle Gestalt. »Frollo!«, rief Gringoire. »Wir retten Esmeralda!« »So klappt das nicht, Gringoire! Quasimodo wird bis zum Letzten kämpfen. Lieber stirbt er, als sie zu verlieren. Wir müssen sie holen!« »Wie sollen wir sie vor diesen Verrückten in Sicherheit bringen?« »Hinter der Kathedrale am Seine-Ufer liegt ein Boot. Beeilt Euch!« Gringoire und Frollo rannten hinauf zur Asylzelle, wo Esmeralda entsetzt auf die schreckliche Szene unter ihr starrte. Geschmolzenes Blei blitzte vor dem Fenster auf wie Feuerwerk. »Gringoire, was führt dich hierher? Was geht da draußen vor?«, rief das Mädchen. »Sie stürmen die Kathedrale, Esmeralda. Wir wollen dich in Sicherheit bringen!«, erklärte Gringoire. »Wer ist dein Begleiter?«, fragte sie. »Sei unbesorgt, er ist ein Freund«, erwiderte der Dichter. »Und warum sagt er kein Wort?« »Nun komm!«, drängte Gringoire und ergriff ihre Hand. Die beiden Männer führten Esmeralda die Treppe hinab, durch das Kirchenschiff und das Rote Portal in den Hof des Klosters. Dann gingen sie zum Flussufer hinter der Kathedrale, wo hinter Strauchwerk verborgen ein Boot lag. Gringoire hielt Djali auf dem Arm, während Esmeralda zusah, wie der Unbekannte stumm dem anderen Ufer zuruderte. Sein schwarzes Gewand 34
blähte sich im Wind. Dem Mädchen lief ein Schauder über den Rücken. Drüben vor der Kathedrale Notre-Dame schienen Bewaffnete nach jemandem zu suchen. Aus der Ferne klangen ihre Rufe: »Hexe! Tod der Zigeunerin!« Das Boot erreichte das Ufer. Gringoire band es an einem knorrigen Baum fest, und bevor Esmeralda sich versah, war er mit Djali davongegangen und hatte sie mit dem anderen Mann allein gelassen. Wortlos packte der Fremde Esmeraldas Hand und führte sie zur Place de Greve. Am Galgen auf der Place de Greve nahm der Mann in Schwarz die Kapuze ab. Es war der Erzdiakon! Esmeralda rang nach Euft, als sie in seine böse funkelnden Augen blickte. Am anderen Ufer der Seine rannten Soldaten mit Fackeln umher. »Die Zigeunerin!«, riefen sie. »Wo ist die Zigeunerin? Tötet sie!« »Ich habe dich gerettet, Esmeralda«, sagte der Priester. »Sie wollen dich hängen. Komm mit mir und schenke mir deine Liebe. Dir bleibt keine Wahl.« Esmeralda schwieg. »Esmeralda, entweder halte ich dich in den Armen oder du baumelst am Galgen.« »Der Galgen ist mir angenehmer als Ihr«, erwiderte sie brüsk. »Ich liebe Phoebus.« »Sag, dass du mich liebst!« »Niemals!« »Zum allerletzten Mal. Eiebst du mich?« »Ich hasse Euch!«, stieß Esmeralda hervor. Der Priester zerrte das Mädchen zum Rattenloch hinüber, wo die Klausnerin hauste. »Hier, alte Hexe, ich habe eine Zigeunerin für dich!«, rief er. »Halte sie fest, während ich die Wachen hole.« Frollo ging in Richtung der sich nähernden Soldaten. Esmeralda versuchte zu fliehen, doch die knochige Hand der Klausnerin umspannte ihren Arm und hielt sie eisern fest. »Bitte, lasst mich gehen! Sie sind hinter mir her!« »Niemals!«, schrie die Frau schrill. »Du bist eine Zigeunerin! Zigeuner haben meine Tochter gestohlen und aufgegessen. Sie wäre jetzt in deinem Alter.« Die Soldaten kamen näher. Schon dämmerte der Morgen herauf und noch immer hielt die Klausnerin das Mädchen unerbittlich fest. »Mein Kind! Sie haben mir mein Kind genommen! Mein einziges Kind, verloren!«
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»Ich verlor meine Mutter!«, erwiderte Esmeralda weinend. »Bitte, lasst mich doch gehen...« »Sieh her«, fuhr die Klausnerin fort, »hier ist ihr kleiner, rosafarbener Schuh! Nur er ist mir von meinem Kind geblieben. Ein einziger rosafarbener Schuh!« Das schwache Morgenlicht fiel auf den Gegenstand. Esmeralda wurde merkwürdig übel, dann flüsterte sie: »Mein Gott, mein Gott!« Sie öffnete das grüne Beutelchen, das sie um den Hals trug, und zog einen rosafarbenen Babyschuh heraus. Ein Vers war darumgeschlungen: »Mein kleines, verloren gegangenes Mädchen«, murmelte die Klausnerin und sah Esmeralda an. Die beiden Schuhe passten genau zusammen. »Meine Tochter!« Blindlings küsste Paquette Esmeraldas Finger durch die Gitterstäbe des Rattenlochs. »Ich muss dich in den Armen halten! Aber das Gitter...!« Sie hastete in der dunklen Zelle umher, fand einen Stein und zerschmetterte mit ungeahnter Kraft die Stäbe. Dann zog sie die Tochter herein und drückte sie an sich. »Oh, Mutter, sie kommen, sie wollen mich hängen! Rette mich!« »Mein Kind! Was hast du getan?« »Ich weiß es nicht«, schluchzte Esmeralda. Das Mädchen hörte Frollos Stimme: »Sie ist hier! Folgt mir!« »Rasch!«, flüsterte Paquette. »Versteck dich im Schatten!« Eine Gruppe Soldaten sammelte sich am Eingang der Zelle. Ihre Pferde schnaubten schwer. »Alte, wo steckt die Zigeunerin?« »Ich weiß nicht. Sie biss mich in die Hand und rannte davon.« »Warum sind die Gitterstäbe deiner Zelle zerbrochen?« »Ich..., ein Karren stieß dagegen... letzten Monat.« Die Frauen hörten, wie die Männer sich draußen . besprachen. »Sie ist bestimmt nicht in der Zelle«, sagte einer. »Die alte Hexe hasst Zigeuner.« Die Soldaten entfernten sich. Ein anderer Reiter sprengte heran. Ist sie hier?«, hörte man ihn fragen. »Nein, Kommandant Phoebus.« »Gut, sucht weiter!«, befahl Phoebus und galoppierte davon. , Als sie den Namen des Geliebten hörte, vergaß Esmeralda jede Vorsicht. »Phoebus!«, rief sie aus dem Dunkel. Doch dieser hörte sie nicht. »Aha, es sitzen also doch zwei Ratten im Loch!«, meinte ein Soldat. «Heraus mit euch!« »Mutter, hilf mir!«, rief Esmeralda verzweifelt. »Mein Kind!«, schrie Paquette und klammerte sich an
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Esmeralda, als die Männer diese aus dem Rattenloch zerrten. »Es tut uns leid, gute Frau, aber wir müssen des Königs Befehl Folge leisten. Sie muss hängen. Holt die Leiter!« Die Soldaten bereiteten den Galgen für die Hinrichtung vor. »Aber sie ist doch meine Tochter!«, jammerte Paquette. »Bringt sie die Leiter hoch!« Je mehr die Soldaten sich mühten, Esmeralda von ihrer Mutter fortzuziehen, desto verzweifelter klammerte diese sich an ihr fest. >Seht her! Ihr kleiner, rosafarbener Schuh! Meine Tochter! Ihr könnt sie mir nicht wegnehmen!« Doch immer weiter ging es die Leiter hinauf. »Mutter! Hilf mir!« Mit einem Tritt seiner mächtigen Stiefel trennte der Scharfrichter die beiden. Paquette fiel kopfüber von der Leiter und landete auf dem harten Steinpflaster. Sie war sofort tot. »Legt der Zigeunerin die Schlinge um den Hals!« Esmeralda spürte den kalten Strick um ihren Nacken und schloss die Augen. Quasimodo suchte vergeblich nach Esmeralda. Immer wieder kehrte er zu ihrer Zelle zurück. Er konnte es nicht begreifen. Schließlich war er der Einzige, der einen Schlüssel zu dieser Kammer besaß... außer dem Priester! Mit Schrecken erinnerte sich der Glöckner an die Szene mit Frollo und der Pfeife. Als der Morgen dämmerte, sah Quasimodo wie Frollo zur Kathedrale zurückkam. Heimlich folgte der Bucklige dem Erzdiakon die Treppe zum Nordturm hinauf. Unten gingen die Frauen mit ihren Milchkannen über den Platz. Doch dafür hatte Frollo keinen Blick. Stumm sah Quasimodo in die Richtung, in die der Priester starrte. Mit einem Mal wusste er, wo Esmeralda war. Drüben auf der Place de Greve sah er ein weiß gekleidetes Mädchen mit einer Schlinge um den Hals. Ein vermummter Scharfrichter trat gerade die Eeiter unter ihren Füßen weg. Verzweifelt musste der Glöckner zusehen, wie Esmeralda am Galgen baumelte. Sie war tot. Der Priester lachte. Quasimodo konnte sein Gelächter nicht hören, doch er sah es trotz seiner Tränen.
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Er stieß den Erzdiakon über die Brüstung. Frollo landete auf einem schmalen Mauervorsprung, glitt dann aber ab. Mit den Fingern einer Hand umkrallte er einen Wasserspeier. Verzweifelt versuchte er Halt zu finden, doch es gelang ihm nicht und er stürzte schreiend in die Tiefe. Quasimodo sah erst zu Esmeralda auf der Place de Greve hinüber, dann blickte er nach unten auf das Pflaster, wo der Priester lag. »Die beiden einzigen Menschen, die ich je geliebt habe!«, schluchzte er. Dann verschwand er aus der Kathedrale. In der Nacht nach Esmeraldas Hinrichtung nahmen die Henkersknechte ihre Leiche vom Galgen und brachten sie in den Gewölbekeller von Montfaucon.
Zwei Jahre nach Esmeraldas tragischem Tod begaben sich zwei Männer nach Montfaucon, um die Leiche des Barbiers Ludwigs XL auszugraben, der vom neuen König nachträglich begnadigt worden war und deshalb auf dem Friedhof ein eigenes Grab bekommen sollte. Zwischen den Leichenresten fanden sie zwei Skelette, die sich eng umschlungen hielten. Neben dem einen lag ein Beutelchen mit grünen Bändern. Das Rückgrat des anderen war verdreht und erschreckend krumm, doch sein Genick war nicht gebrochen. »Hier ist einer, den man nicht gehängt hat«, meinte einer der Totengräber. »Er legte sich wohl hier nieder, um neben der ersten Leiche zu sterben«, sagte der andere. Als die Totengräber versuchten die beiden Skelette zu trennen, zerfielen diese zu Staub, den der Wind auf die Türme von Notre-Dame zuwehte.
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