Gruselspannung pur!
Der Golem
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Durch die vergitterte Kellerluke fiel ein küm...
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Gruselspannung pur!
Der Golem
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Durch die vergitterte Kellerluke fiel ein kümmerlicher Lichtstrahl in das unterirdische Verlies. Zwei Gefangene standen vor dem zerschlagenen Körper eines dritten, der reglos in der Zelle lag. »Er scheint tot zu sein«, sagte Friedhelm. Narwall nickte. »Die Büttel haben ihm die Seele aus dem Leib geprügelt.« »Nicht mal die Hose haben sie dem armen Kerl gelassen.« Friedhelm zog fröstelnd die Schultern hoch. »Was mag sein Verbrechen gewesen sein?« Friedhelm lachte rauh. »Spaßvogel. Seit wann muß man in Vineta etwas verbrochen haben, um ins Tollhaus eingesperrt zu werden?« Von der holzgepflasterten Straße, die hinter den Verliesmauern verlief, erklang ein dumpfes Poltern. Jemand lachte verächtlich, und die Männer wandten sich von Mark Hellmann ab. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Der Junge verrenkte fast seinen Hals, um in das düstere Kellerloch zu spähen. Der Morgen war kühl, und von der See her wehte eine frische Brise. Es roch nach Salz, Fisch, Teer und vielerlei Gewürzen, die dickbäuchige Schiffe aus fernen Ländern gebracht hatten. Der Junge mochte den Geruch. Er war stolz darauf, Bewohner der mächtigen Stadt Vineta zu sein. Doch die Ausgestoßenen, die im Tollhaus der Stadt saßen, haßte er wie das Feuer. Besonders diese Mönche in ihren schwarzen Kutten mit den Kapuzen und den schäbigen Sandalen. Sie gingen durch die Straßen, redeten wirres Zeug über einen Mann, der Jesus Christus hieß und angeblich der Erlöser der Menschheit sein sollte. Der Junge mußte kichern. Dabei wußte doch jeder, in Vineta gab es nur einen Gott: Svarog, den Gott der strahlenden Sonne. Jetzt stieg die Sonne hinter den imposanten Lagerhäusern am Hafen empor. Zunehmend gewannen ihre Strahlen an Stärke. Geblendet zwinkerte der Junge mit den Augen. Aus dem Leinenbeutel, den er um den Hals trug, nahm er eine Handvoll Kieselsteine. Die kleineren legte er vor seine Füße. Den größten nahm er in die Hand, zielte und schmetterte ihn mit voller Wucht durch das Kellerloch. Das Geschoß klatschte auf Steinboden. Der Junge hieß Radur und war zwölf. Er lauschte, ob jemand schrie. Zu seiner grenzenlosen Enttäuschung blieb unten alles ruhig. Radur ärgerte sich. Gestern früh war gleich der erste Wurf ein Treffer gewesen. Er hatte einen riesengroßen, nackten Mann, der zusammengerollt wie ein Igel dalag, am Kopf erwischt. Doch kein Schmerzenslaut war dem blonden Hünen über die Lippen gedrungen. Seine zwei Mitgefangenen hatten ihn rasch in eine Ecke geschleift, die er, Radur, von draußen nicht einsehen konnte. Der Junge lag auf allen vieren, spähte erneut in das Loch und versuchte, eine Gestalt zu erkennen, die er aufs Korn nehmen konnte. »He, ihr Tollköpfe!« rief er ins Dunkel. »Zeigt mir eure irren Fratzen! Sonst mach ich euch ein Feuerchen unterm Hintern.« Unten blieb es totenstill.
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Laut rufend schleuderte Radur eine Handvoll Kiesel in die Finsternis. Die Steine klackerten, ohne Schaden anzurichten, und er sprang fluchend auf die Beine. Hinter dem grausamen Jungen wurden eilende Schritte laut. Radur drehte sich um. Ein wenig ängstlich war er schon. Mariana, die Tochter des reichen Kaufmannes Jokim, jagte heran. Zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen. Die Fäuste in die Seiten gestemmt, starrte ihn das Mädchen an. »Verschwinde, du Quälgeist!« fauchte sie. »Sonst mach ich dir Beine!« Verlegen trat Radur von einem Bein aufs andere. Mariana war fast achtzehn, und im Umkreis von zehn Bogenschüssen gab es kein Mädchen, das es in puncto Aussehen und Eleganz mit ihr aufnehmen konnte. Alle Jungen scharwenzelten um sie herum, buhlten um ein Lächeln aus ihrem engelsgleichen Antlitz. Auch Radur machte da keine Ausnahme. Aber in diesem Augenblick empfand er ihre Anwesenheit als hochgradig störend. Immerhin war sie bloß ein Weib! Was mischte sie sich in Belange ein, die sie nichts angingen?! Radur probierte es mit Dreistigkeit. »Warum gönnst du mir nicht ein bißchen Spaß, Mariana?« Er grinste schief. »Die Spitzbuben da unten werden sowieso bald dem Svarog geopfert. Unser oberster Priester wird sie in Stücke schneiden.« Mariana gab ihm eine Ohrfeige. Es klatschte, und der Junge schrie erschrocken auf. »Wenn du willst, haue ich dir noch eine runter!« Ihre meerblauen Augen funkelten. »Willst du?« Radur rieb sich die schmerzende Wange und warf einen raschen Blick in die Runde. Er atmete auf, als er die Straße leer fand. Niemand hatte seine Schmach, von einem Mädchen geschlagen worden zu sein, bemerkt. Radur fragte sich, wie er sich aus der Affäre ziehen sollte, ohne vollends das Gesicht zu verlieren. Ein zweites Mal entschied er sich für Frechheit. »Wage das ja nicht!« brummte er, »Du könntest es bitter bereuen. Ich bin zwar kleiner als du, aber schon sehr stark.« Um das Mädchen einzuschüchtern, streifte er den Ärmel seines Kittels hoch. Er verzog das Gesicht vor Anstrengung, als er seinen Oberarm zur Seite bog und seine Muskeln anspannte. Dabei warf er Mariana seinen finstersten Blick zu. 4
Das Mädchen blieb völlig unbeeindruckt. »Du bist noch dämlicher, als ich dachte«, sagte sie und verpaßte ihm eine zweite Maulschelle. Diesmal auf die andere Wange. Der Zwölfjährige machte einen Satz nach hinten. Dabei glitt er auf den Kieselsteinen aus, die er vor der Kellerluke zusammengetragen hatte. Er geriet ins Straucheln und plumpste auf den Hintern. Dabei stöhnte und fluchte er. Mariana wollte sich ausschütten vor Lachen. »Beim Svarog! Du bist mir vielleicht ein Held!« Als Radur sich aufrappelte, kochte er vor Wut. »Sei froh, daß du ein Weibsstück bist!« gurgelte er. »Sonst würde ich...« Er wußte nicht weiter. »Maulheld!« Sie trat auf ihn zu und hob eine Hand. Doch ein drittes Mal ließ Radur es nicht darauf ankommen. Auf dem Absatz machte er kehrt und gab Fersengeld. In Richtung Hafenpromenade rannte er davon. Mariana verlor nicht eine Sekunde. Aus der Ferne erklang bereits das Holpern der ersten Fuhrwerke. Ihr gütiges Herz schlug ein paar Takte schneller, als sie ihr Kleid hochraffte, einen runden Brotlaib hervorholte und ihn schnell in das düstere Kellerloch warf. Sie hörte, wie der Laib aufprallte und eine zittrige Stimme fassungslose Worte des Dankes murmelte. Mariana kannte die Stimme. Sie gehörte Friedhelm, einem Mann, der einst treu und ergeben ihrem Vater gedient hatte. Böse Zungen hatten ihn angeschwärzt. Man behauptete, er unterhielte intime Beziehungen zu einer Christenfrau. Nachts drangen Büttel in seine Hütte ein. Sie verprügelten ihn und schleppten ihn anschließend ins Tollhaus von Vineta. Von dort gab es selten eine Wiederkehr... Mariana wußte, es war strafbar, Eingekerkerten Essen zu bringen. Wurde man ertappt, drohten schwerste Strafen und Repressalien. Manchmal die Folter. Dennoch ging sie das Risiko ein. Die Geschöpfe im Verlies waren doch Menschen, und die meisten waren nicht mal böse... Gern hätte Mariana noch einige Worte mit Friedhelm gesprochen. Aber plötzlich empfand sie Angst. In der Stadt wurde es allmählich lebendig. Türen gingen auf, Leute strömten auf die Straße und begannen ihr Tagwerk. Die ersten Ochsenkarren ratterten in Richtung der Schiffsanlegeplätze. Das Mädchen machte, daß es fortkam. 5
Damit niemand Verdacht schöpfte, ging sie das erste Stück betont gemächlich, als spaziere sie zu ihrem Vergnügen durch die erwachende Metropole. Als sie an die nächste Ecke kam, bog sie in eine schmale Gasse ein, die zur Byzantiner Mole führte. Hier holte sie erst einmal tief Luft. Niemand schien ihre barmherzige und doch so verbrecherische Handlung bemerkt zu haben. Niemand - bis auf den zu Tode beleidigten Radur. * Der Kaufmann Jokim war ein respekteinflößender Mann von knapp fünfzig Jahren mit langem, graumeliertem Haar und scharf geschnittenem Gesicht. Er trug einen golddurchwirkten Seidenrock, dazu zweiteilige Beinlinge aus kostbarem Tuch und kunstfertig verarbeitete Lederschuhe. Der Handel mit Stoffen hatte ihn zum wohlhabenden Mann gemacht. In seinen Lagerhäusern fand auch der Anspruchsvollste, was das Herz begehrte: Atlas, Damast, Taft, Zendal, Tobin, Settin, Scharlach, Arras, Schamlott sowie eine Palette ausländischer Leinwand. Jokim stand am Fenster und schaute nachdenklich hinaus. Er machte sich Sorgen. In der Nacht war etwas Scheußliches geschehen. Männer der Stadtwache hatten in der Nähe seines Hauses den Körper eines erdrosselten Kindes gefunden. Das dritte Mal in diesem Sommer. Er vermutete, daß jemand ein Komplott gegen ihn schmiedete, um seinen Ruf zu schädigen. Jasmund, der oberste Priester der Pommern und Lutizen, war sehr einfallsreich. Um Andersgläubigen zu schaden, griff er zu jedem Mittel. Neulich erst hatte der bösartige Jasmund lauthals verkündet, in der Judengasse backe man das Brot mit Blut. Daraufhin zündete man dem Bäcker Kruselaar das Schilfdach über dem Kopf an und jagte ihn samt seiner Familie aus der Stadt. Sein Hab und Gut fiel an den Tempel, und Kruselaar, der Bäcker, wurde von marodierenden Wikingern und Dänen im Wolliner Wald erschlagen. Jasmund ist auf den Geschmack gekommen, sagte sich Jokim. Seine Habgier ist erwacht. Auf hinterlistige Weise versucht er, an mein Gold zu gelangen. Ich darf diesen Tyrannen keinesfalls unterschätzen, nahm er sich vor. 6
Plötzlich hörte Jokim ein Geräusch. Eine Tür knarrte in den Holzangeln. Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht und bemühte sich, seine trüben Gedanken zu vergessen. »Jokim?« Es war Fedora, seine Ehefrau. Er wandte sich ihr zu, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und breitete seine Arme aus. Aber die schöne Frau verharrte an der Tür. Er sah, daß ihre Augen vor Angst flackerten und ihre fein gezeichneten Nasenflügel bebten. Obwohl es warm im Haus war, schien sie zu frösteln. »Was hast du, Fedora?« fragte er erschrocken. »Nichts«, sie war den Tränen nahe. »Ich habe nur schlecht geträumt.« Jokim sagte nichts. Er träumte selbst häufig und wußte, wie sehr ein übler Alpdruck nachwirken konnte. Tröstend nahm er seine Frau in die Arme, streichelte über ihre blauschwarzen Haare und überlegte, womit er sie auf andere Gedanken bringen konnte. Der Ring, den er am Vortag gekauft hatte, fiel ihm ein. Er fingerte an seiner Geldkatze. »Schau, Fedora«, sagte er. »Hast du schon einmal einen solch merkwürdigen Fingerreif gesehen?« Seufzend betrachtete sie den Ring. Er schien aus massivem Silber zu sein. Um zwei zackig geformte Symbole herum schwang sich ein Wappen, das einen stilisierten Drachen darstellte. »Woher hast du ihn?« erkundigte sich Fedora. Jokim ließ den Ring auf seiner Handfläche hopsen. »Ich kenne einen Wärter aus dem Tollhaus am Hafen. Er suchte für seine Frau ein elegantes Kleid aus Schamlott und bot mir den Ring als Bezahlung.« »Wie kommt ein Tollhaus-Wärter an einen Siegelring?« »Er hat ihn einem Gefangenen vom Finger gezogen. Es soll ein blonder Riesenkerl gewesen sein. Die Büttel fanden ihn nackt in der Nähe des Svarog-Tempels. Keiner weiß, wie er durch die Stadttore gekommen ist. Er war einfach da.« Fedora löste sich aus dem Griff ihres Gatten. »Jokim, ich bin enttäuscht von dir. Du handelst mit Leuten, die andere bestehlen. Kennst du nicht das Wort: Mit Dieben handelnd wirst du selbst zum Dieb.«
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Verwirrt sah er sie an. »Aber ich lebe nun mal davon, mit Waren zu handeln. Hätte ich mir das Geschäft entgehen lassen, hätte ein anderer davon profitiert.« »Aber du hättest ein reines Gewissen gehabt.« »Fedora, der Mann, dem der Ring gehört, ist dem Tode geweiht. Jasmund hält ihn für einen dänischen Spion. Das heißt, er wird noch diese Woche auf dem Altar des Svarog landen. Mit oder ohne Ring.« Jokim hatte sich in Rage geredet. Sein Vorsatz, Fedora aufzuheitern, war vergessen. Der Kaufmann in ihm war er wacht und überdeckte jegliches andere Empfinden. Vor Empörung wurde die Frau kreidebleich. »Ich fasse es nicht! Wie kannst du nur so herzlos sein? Während dieser arme Mann mit dem Tode ringt, hast du nichts weiter im Kopf, als dich zu bereichern. Jokim, ich bin sehr enttäuscht von dir. Du bist unter die Fledderer gegangen.« »Nein! Das ist nicht wahr!« protestierte er. »Worte«, sagte sie abfällig. »Nichts als Worte.« Entsetzt beobachtete Jokim, daß sich das geliebte Antlitz seiner Gattin immer mehr verhärtete. Er spürte, wenn er jetzt nicht schleunigst eine Wende herbeiführte, würde sie ihn auf unbestimmte Dauer mit Verachtung strafen. Das durfte er nicht riskieren, denn Fedora war überaus hartnäckig und verfügte obendrein über ein kolossales Gedächtnis. Kurz entschlossen gab er nach. »Du hast ja recht, Liebling«, gab er zu. »Ich hab übereilt gehandelt. Verzeihst du mir?« Sie deutete auf den Ring, den er noch immer auf der Hand wog. »Bringe ihn seinem Besitzer zurück«, verlangte sie. »Ich soll ins Tollhaus gehen?« Jokim war baff. »Ja.« »Aber gesetzt den Fall, der Mann bekommt sein Eigentum tatsächlich zurück, er wird den Ring nicht eine Nacht behalten. Man würde ihn erneut bestehlen.« Fedora dachte eine Zeitlang nach. In diesem Augenblick stürzte Mariana in die Stube. Ihre Wangen waren flammendrot, und Jokim hegte den Verdacht, daß das Mädchen bereits geraume Zeit an der Tür gehorcht hatte. »Ich weiß, in welche Zelle er eingesperrt ist«, sprudelte sie hervor. »Sein Verlies liegt gleich am Weg, gegenüber dem Haus des Geldverleihers Artenak. Gestern früh habe ich ihn darin
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gesehen. Er ist schwer verletzt und ohne Bewußtsein. Aber Friedhelm kümmert sich um ihn.« »Du bist gut informiert«, meinte Jokim. Mariana nickte. Einmal in Fahrt, gab sie als Nachschlag ihr Geheimnis preis. »Ich bringe ihnen Brot, und niemand hat's bemerkt«, sagte sie stolz. Dem Kaufmann fuhr der Schreck in die Glieder. »Beim Svarog!« rief er aus. »Bist du närrisch, Kind? Gerade jetzt, wo Jasmund uns vernichten will, schäkerst du mit den Tollhäuslern? - Mariana, wenn dich nur ein Auge dabei beobachtet hat, stehen noch heute die Häscher der Templer vor unser Tür.« Mariana wandte sich an die Mutter. »Glaub mir, es hat mich niemand gesehen; ich hab genau aufgepaßt...« »Trotzdem«, sagte Fedora sanft. »Jasmund giert nach unserem Reichtum. Ihm käme es sehr zupaß, wenn wir uns eines Vergehens schuldig machen würden.« »Leider nur zu wahr!« fuhr Jokim dazwischen. »Spitzel stecken überall. Für ein paar Kupfergroschen liefern sie jeden gnadenlos an den Pranger.« »Können wir uns nicht wehren?« fragte Mariana beklommen. Der Vater zuckte die Achseln. »Wie, wenn sie einem sogar schon tote Kinderleiber vor die Türe schmeißen...« Für Augenblicke war es absolut still. Durch das geöffnete Fenster strömte angenehm würzige Luft ins Zimmer. Irgendwo in der Nähe mußte eine Fischräucherei ihren Betrieb aufgenommen haben. Der appetitliche Duft zog in Jokims Nase. Mechanisch leckte er seine Lippen. »Wir müssen uns zur Wehr setzen, Vater«, sagte Mariana empört. »Schließlich sind wir keine Verbrecher.« »Aber Juden«, erklärte Jokim. »Man duldet uns nur widerwillig. Beim kleinsten Schnitzer, den wir uns leisten, besteht die Gefahr, daß wir im Kerker landen - und verrecken.« Mariana gab sich kämpferisch. »Dann müssen wir eben unsere Unschuld beweisen!« »Aber wie?« fragte die Mutter. Das Mädchen biß sich auf die Lippen. »Zum Beispiel müssen wir herausfinden, wer das Kind ermordet und in die Judengasse geworfen hat.«
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»Du meinst, wir sollten selbst einen Spitzel anheuern?« Jokim kratzte sich am Hals. »Natürlich muß man sich auf ihn verlassen können.« »Der Gedanke ist nicht übel.« Fedora strich ihrer Tochter zärtlich übers Haar, dann sah sie ihren Mann an. »Jokim, du kennst viele Leute. Nicht alle können Halsabschneider sein. Wähle den Verläßlichsten aus und biete ihm einen Batzen Geld. Er soll uns beschützen.« Jokim furchte sorgenvoll die Stirn. »Der treueste Mann, den ich je hatte, war Friedhelm. Es wird schwierig sein, jemanden zu finden, der ihm nur annähernd gleichkommt.« »Aber wir haben keine Wahl«, beharrte Fedora. »Womöglich werfen sie das nächste Mal einen Leichnam in unseren Brunnen. Oder sie verstecken ihn auf einem deiner Schiffe. Unter einem Vorwand wird Jasmund an Bord kommen, ihn zufällig aufstöbern und dich vor aller Welt des Mordes bezichtigen. Willst du so lange warten?« »Nein.« »Und was gedenkst du zu tun?« Fedora blieb am Ball, und Jokim quälte das schlechte Gewissen, noch keine brauchbare Idee zu haben. »Wir könnten einen Sklaven freikaufen«, schlug Mariana vor. »Ausgezeichneter Gedanke«, lobte die Mutter. »Ein Fremder, der nicht an Svarog glaubt, wäre genau der Richtige. Allerdings müßte er erst unsere Sprache erlernen.« »Die könnte ich ihm beibringen«, warf Mariana ein. Jokim lachte heiser. »Bevor er sie beherrscht, stapeln sich die Leichen vor unserem Haus.« »Ich finde, wir sollten es wenigstens versuchen.« Mariana zupfte am Ärmel ihres Oberkleides. »Vielleicht erwischen wir einen sehr gelehrigen Sklaven.« »Und kräftig muß er sein«, sagte Fedora. Der köstliche Duft, der ins Zimmer zog, schien an Intensität zuzunehmen. Jokim hatte noch nicht gefrühstückt, sein Magen knurrte wie ein hungriges Raubtier. Er beschloß, die heftig entbrannte Diskussionsrunde zu beenden und sich zu Tisch zu begeben. »Wir können im Eßzimmer weiterreden«, sagte er. »Was haltet ihr davon?«
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Die Frauen warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie kannten seine Schwäche genau. Wie auf Kommando nahmen sie das Familienoberhaupt in ihre Mitte. Sie hakten Jokim unter und taten so, als wäre er ein gebrechlicher alter Mann. Grinsend ließ er sich ins Eßzimmer geleiten. Auf einer riesigen, hufeisenförmigen Tafel hatten Lakaien die verschiedensten Speisen angerichtet. Gesottene frische Fische, in Wein gekochte Krebse, Mandelmus mit Weißbrotstreifen, Stubenküken im Speckmantel, gebeiztes Kalbfleisch, Eier und Milchbrei. Jokim schürzte seinen Rock, sank auf einen der Schemel und rückte ihn ganz nahe an die Tischkante. Er aß für sein Leben gern und hatte nur noch Augen für das kulinarische Stilleben, das sich vor ihm ausbreitete. Nach kurzem Gebet langte er herzhaft zu. Gerade knabberte er an einem Hähnchenschenkel, als draußen, auf der Straße, der Ruf eines Knaben erscholl: »Hier wohnt sie, das Tollhausliebchen! Reißt dem Balg die Kaidaunen aus dem Leib!« Jokim hörte Waffen klirren. Obwohl er saß, spürte er, wie seine Knie nachzugeben drohten. Und plötzlich war ihm, als müsse er ersticken... * »Wer bist du, Fremder?« fragte mich Friedhelm. Ich lag, den Rücken gegen die Bohlenwand gelehnt, auf glitschigem, kühlem Steinboden. In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Es bereitete mir unsägliche Mühe, die Augen offen zu halten. Meine Muskeln verweigerten den Dienst, als bestünden sie aus Wollfäden. Ich war ein menschliches Wrack. Obwohl ich mich zusammenriß, brachte ich keine Antwort auf die Frage meines Zellengenossen zustande. Nur unartikuliertes Röcheln. Der Mann, der Friedhelm hieß, legte mir begütigend eine Hand auf die Schulter. Im matten Schein des einfallenden Lichts sah ich, daß er nur aus Haut und Knochen bestand. Am Leib trug er nichts weiter als einen Fetzen Sackleinen. Seine Nase schien 11
mehrmals gebrochen, und sein fleischloses Gesicht war von Wunden übersät. Ich versuchte, den Kopf zu heben. Friedhelm griff zu, stützte mein Genick. »Beim Svarog!« murmelte er. »Noch vor zwei Tagen hätte ich keinen Heringsschwanz für dein Leben gegeben. Es ist ein Wunder, daß du noch atmest, Fremder.« Ich röchelte schmerzerfüllt. Friedhelm wandte sich um. Ich folgte seinem Blick und sah, daß es noch einen zweiten Mann gab. Er war in ähnlichem Zustand wie mein Wohltäter. Zerlumpt, halb verhungert, mißhandelt. »Hast du noch Wasser, Narwall?« fragte Friedhelm ihn. Narwall nahm einen Holznapf vom Boden auf. Dann tappte er auf uns zu und kniete sich neben mich. Ich sah, daß an seiner rechten Hand Daumen und Zeigefinger fehlten. »Es sind nur noch ein paar Tropfen im Napf«, sagte er leise. »Gib her!« Friedhelm nahm den Napf und hielt mir den Rand an die Lippen. Wasser! Ich mobilisierte das letzte Quentchen Kraft, das in mir steckte. Gierig, wie eine Katze, leckte ich den Napf aus. Immer wieder glitt meine pelzige Zunge über den rauhen Boden des Gefäßes, obwohl dieses längst knochentrocken war. »Mehr Wasser«, keuchte ich. Die beiden Männer wechselten Blicke. »Wir haben nicht mehr«, sagte Friedhelm. »Kein Wasser?« Ich spürte, wie eine Faust in mir wühlte und meine Gedärme durcheinanderwirbelte. »Aber ich habe solchen Durst.« »Vielleicht gibt es heute abend neues Wasser.« Narwall nahm den Holznapf. »Vielleicht auch nicht. Wir sind im Tollhaus von Vineta, Fremder. Alle, die man hierhergeschafft hat, gelten als vogelfrei. Wir sind weniger als nichts. Wenn es jemand möchte, kann er uns erschlagen. Es ist unser Los.« Mein Rücken überzog sich mit kaltem Schweiß. Es war nicht die Aussicht, ein Vogelfreier zu sein, die mich in Panik versetzte, sondern der Gedanke an meine Identität. Wer war ich eigentlich? Und wie, um alles in der Welt, kam ich an diesen gräßlichen Ort? Was war mir zugestoßen? Ich kannte keine einzige Antwort. 12
»Im Tollhaus von Vineta?« hauchte ich. »Was tue ich hier?« »Man fand dich in der Nähe des Tempels«, gab Friedhelm Auskunft. »Du lagst da, ohne Kleidung, zusammengerollt und völlig hilflos. Bis heute weiß niemand, wer du bist. Sie halten dich für einen dänischen Kundschafter.« »Einen dänischer Kundschafter?« »Oder einer dieser Christen, die das Land überschwemmen und predigen, man solle Svarog abschwören und ihrer Religion folgen. Gehopst wie gesprungen, auf alle Fälle bist du verloren - so wie wir es sind.« Friedhelms Stimme klang mutlos. Auch Narwall blickte trübe drein. Sie schienen jegliche Hoffnung, jemals dieses trostlose, düstere Verlies verlassen zu können, aufgegeben zu haben. »Hast du noch von Marianas Brot?« flüsterte Friedhelm. Narwall senkte den Blick. »Nein«, druckste er, »Ich dachte, der Fremde würde sterben. Da hab ich's gegessen.« Plötzlich wurde mir klar, daß meine Lage schier aussichtslos war. Ich hatte das Gedächtnis verloren, befand mich in der Gewalt von gnadenlosen Bütteln, die mich für einen Feind hielten, und war obendrein zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Schlimmere Vorzeichen konnte es kaum geben. Wenn die Wärter spitzbekamen, daß ich aufgewacht war, würden sie mich verhören wollen. Und sicher würden sie mich nicht mit Samthandschuhen anfassen. Die Kerle würden mir das Geständnis aus dem Leib zu prügeln versuchen. Das würde mir den Rest geben. Meine Chancen, diesen unterirdischen Kerker als freier Mann zu verlassen, waren gleich Null. Wer ich auch sein mochte, ich war am Ende. Wahrscheinlich wäre es am besten, gleich zu sterben. Verzweiflung machte sich in mir breit. Ich sah an mir hinunter - und stutzte. Auf meiner linken Brust befand sich ein sternförmiges Mal. Siebenzackig und nicht größer als ein Taubenei. Ich berührte es mit einem Finger, spürte aber nichts. Ich griff fester zu, drückte an dem seltsamen Stern. Aber die Stelle war absolut empfindungslos. Als würde sie gar nicht zu mir gehören. Friedhelm sagte: »So ein Mal hab ich noch nie zu Gesicht bekommen. Vielleicht ist es der Schlüssel deiner Herkunft. Du mußt alles daransetzen, dich zu erinnern.« 13
Ich dachte eine Weile krampfhaft nach. Ohne Resultat. Ich schien gerade erst zur Welt gekommen zu sein. Mein Kopf war leer. Aber es surrte darin, als ob es etwas gäbe, das meine Gedanken aktivieren wollte. »Es funktioniert nicht«, sagte ich müde. Dann sah ich Friedhelm aufmerksam an. »Du erzähltest, wir wären in einer Klapsmühle. Du und dein Kumpel scheinen aber genausowenig verrückt zu sein wie ich.« Friedhelm bettete meinen Kopf sacht gegen die Bohlenwand. »Natürlich bin ich nicht verrückt«, erklärte er. »Ebensowenig wie Narwall. Mein Verbrechen besteht darin, einem Juden gedient zu haben, dem reichen Kaufmann Jokim. Der oberste Tempelpriester von Vineta, Jasmund, ist ein Scheusal. Er hat den jüdischen Händlern den Kampf angesagt. Mit allen Mitteln versucht er, sie in den Ruin zu treiben. Hat er sein Ziel erreicht, fällt all ihr Hab und Gut an den Tempel.« Ein Blitz zuckte durch meine grauen Zellen. Es schien, als wolle mir mein Gedächtnis etwas mitteilen. Tempelpriester! Das kam mir bekannt vor. Doch sosehr ich grübelte, die erhoffte Erleuchtung blieb aus. Irgendwo schepperte Metall. Stimmen erklangen, und jemand stieß einen erstickten Schrei aus. »Es ist eine Frau.« Narwall schluckte, heftete seinen Blick auf Friedhelm und preßte seine Lippen aufeinander. Ich sah, wie Friedhelm zusammenfuhr. Er taumelte zur Tür und legte lauschend ein Ohr an das Holz. Draußen, vom Gang, hallten Schritte über die Bohlen. Offenbar schleppten die Wärter ein neues Opfer in den Kerker. Dem Aufschrei nach tatsächlich eine Frau. Friedhelm war leichenblaß, als er seine Lauschposition aufgab und sich zu uns umdrehte. »Beim Svarog!« murmelte er. »Ich kenne die Stimme. Es ist Mariana, Jokims Tochter.« »Jokim? Der Kaufmann, dem du gedient hast?« fragte ich. Friedhelm nickte. »Mariana hat uns heimlich Brot zugesteckt. Jemand muß sie bespitzelt und angezeigt haben. Jetzt steckt sie selbst in der Klemme.« »Und wir können nichts für sie tun.« Narwall wischte eine Träne von seiner Wange. »Jasmund ist unerbittlich. Es wird ihm
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Vergnügen bereiten, Mariana dem Todesengel zu überantworten.« Todesengel! Abermals jagte ein Blitz durch mein Hirn. Im selben Augenblick ratschte der Riegel, mit dem die Kerkertür versperrt war. Friedhelm wirbelte zu mir herum. »Stell dich tot, Fremder!« zischte er mir zu. Ich fiel zur Seite, hielt den Atem an und zog meine Augenlider auf Halbmast. Dumpfe Schritte polterten herein. Mein Herz schlug bis zum Hals, und ich fürchtete schon, das dumpfe Wummern würde mich verraten, da wurde die Tür wieder zugeschlagen. Die Schritte entfernten sich. Ich riß die Augen auf. Friedhelm stand, die Fäuste geballt, mitten in der Zelle und starrte mit leerem Blick auf die Tür. Narwall war fort. »Leb wohl, mein Freund«, hörte ich Friedhelm murmeln. Ich sah, wie der dürre Mann verzweifelt die Hände vors Gesicht schlug und schluchzte. Sein jammervoller Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich wollte ihn aufmuntern, ihm Trost zusprechen, doch ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich schaffte es gerade so, einen kehligen Laut auszustoßen. Dann breitete die Nacht ihre samtschwarzen Schleier über mich aus. Fedoras Entsetzen legte sich nur sehr langsam. Sie kniete vor dem Leichnam ihres Mannes. Jokim lag blutüberströmt neben der Hufeisentafel. Zwischen herabgestürztem Geschirr, Glasscherben und Lebensmitteln. Als die aufgepeitschten Büttel ins Haus gestürzt waren, hatte er sich schützend vor seine Tochter gestellt. Einige Männer waren auf ihn zugesprungen, um ihn fortzureißen. Jokim hatte zwei von ihnen mit der Faust zu Boden geschlagen. Dann riß er ein Schwert von der Wand und verletzte einen dritten. Aber die Übermacht war erdrückend. Im Haus wimmelte es von Bewaffneten. Obwohl Jokim wie ein Berserker kämpfte, trieben ihn die Büttel mit ihren Lanzen in die Enge. Hohnlachend stachen sie auf ihn ein, bis sein Seidenrock ein löchriger Fetzen war. Als Jokim sterbend am Boden lag, erschien Jasmund auf der Bildfläche.
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Immer wieder klangen seine Worte in Fedoras Ohren: »Es ist aus mit euch, meine Schöne«, hatte er sie verhöhnt. »Habt ihr etwa gemeint, Svarog ließe sich eure Frevel gefallen?« Während sie ein Bewaffneter brutal zu Boden stieß, schleppten zwei andere die schreiende Mariana fort. Jetzt war Fedora allein in ihrem Haus. Vor Angst, ebenfalls getötet zu werden, waren sämtliche Lakaien geflohen. Fedora war drauf und dran, zum Strand zu gehen, um sich in die Fluten zu werfen. Warum sollte sie weiterleben? Ihr Mann war tot, ihr einziges Kind im Tollhaus von Vineta. Sie konnte von Glück sagen, daß die Büttel nicht das Haus in Brand gesteckt hatten. Wahrscheinlich auch nur deswegen, weil Jasmund selber scharf darauf war. Sicher würde er bald wiederkehren, um den Besitz zu beschlagnahmen. Plötzlich wurde Fedora von kalter Wut gepackt. Was bildete sich dieser verdammte Tempelpriester eigentlich ein? Glaubte er, er sei der Herr über Leben und Tod? Hielt er sich für Svarog in höchsteigener Person? Fedora knirschte mit den Zähnen und wünschte sich, ein starker Krieger zu sein. Sie würde Gleichgesinnte um sich scharen und bis zum letzten Atemzug gegen diesen verfluchten Jasmund kämpfen. So lange, bis sie über ihn triumphieren würde. Aber sie war eine Frau, nur eine schwache Frau. Jokim war tot. Er lag in seinem Blute. Dem ungeschriebenen Gesetz nach bedeutete dies, daß auch sie, Fedora, sterben mußte. Das Eheweib hatte ihrem Manne ins Grab zu folgen. Das war ihre Bestimmung, ob sie nun wollte oder nicht. Die Sonne schien immer heller ins Zimmer. Allmählich wurde es unerträglich heiß. Das Blut auf Jokims Leiche begann zu verkrusten. Fliegen schwirrten durchs Fenster und ließen sich auf seinem Leib nieder. Fedora sah, daß seine Augen weit aufgerissen waren und in einen Winkel der Decke starrten. Sie beugte sich vor, um sie zu schließen. Dabei berührte sie seine Geldkatze, die an seinem Gürtel hing. Es schepperte darin. Nachdem sie dem Toten die Augenlider zugedrückt hatte, kam ihr ein Gedanke. Noch hatte sie Zeit, zu fliehen. Sie besaß Geld, viel Geld. Sie könnte sich irgendwo verbergen. Womöglich konnte sie Mariana freikaufen. Oder vielleicht gab es auch einen
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bestechlichen Wärter, den sie überreden konnte, rein zufällig die Tür zu Marianas Verlies aufzulassen... Mit zittrigen Händen öffnete Fedora die Schnalle des Geldbeutels. Der große Silberring mit dem stilisierten Drachen kollerte heraus. Als sie ihn aufnahm, mußte sie daran denken, daß sie Jokim heftige Vorwürfe wegen des Ringes gemacht hatte. Mit Dieben handelnd, wird man selbst zum Dieb, waren ihre Worte gewesen. Und zu allem Übel hatte sie Jokim als Fledderer betitelt. »Verzeih mir.« Sie beugte sich über seine Leiche und küßte seine Lippen, die noch warm waren. Dann stand Fedora auf. Ihr wurde bewußt, daß sie eine Entscheidung treffen mußte. Zudem galt es, kühlen Kopf zu bewahren. Der Sinn ihres Daseins bestand jetzt darin, ihre Tochter Mariana aus dem Tollhaus zu befreien. Sie beschloß, als erstes Jokims Kontor am Hafen aufzusuchen. So schnell es ging, mußte sie Anweisung geben, alles, was nicht niet- und nagelfest war, zu Geld machen. Wenn es sein mußte, würde sie die Stoffe, die dort lagerten, für den Bruchteil ihres eigentlichen Preises verschleudern. Trotzdem würde eine hübsche Stange Geld übrigbleiben. Und jede einzelne Münze würden sie dann für den Kampf gegen den schurkischen Jasmund verwenden. Fedora richtete ihr Schläfenband, warf sich einen Umhang über die Schulter und hastete aus dem Haus. * Ich schreckte auf, als die Zellentür aufgestoßen wurde und ein plumper Gegenstand neben mir zu Boden fiel. »Narwall!« Friedhelms Stimme klang fassungslos. Die Wärter lachten. »Dein Freund ist nur noch ein Haufen stinkenden Fleisches«, grölte einer. »Sicher macht er nicht mehr lange. Wenn er hinüber ist, sag uns Bescheid. Dann holen wir ihn.« »Wieso schmeißen wir ihn nicht gleich ins Feuer?« fragte eine zweite Stimme. »Das ist eine dämliche Frage«, erklärte der erste. 17
»Und warum?« Der erste Wärter kicherte rauh. »Weil wir ein gutes Herz haben, darum. Oder könntest du mit ansehen, daß unser Friedhelm mutterseelenallein in der Zelle hockt. Na, siehst du! Ein Mann braucht Gesellschaft. Und dieser blonde Lulatsch da in der Ecke ist nicht gerade ein guter Gesellschafter.« Ein markerschütterndes Gelächter donnerte durch das Verlies. Dann rammte mir jemand den Fuß in die Seite. Ich verbiß mir den Schmerz und rührte mich nicht. »Will der Kerl denn nie aufwachen?« Ein zweiter Tritt trieb mir eine dumpfe Schmerzwelle bis unter die Kopfhaut. Unter Aufbietung aller Kräfte vermied ich es, laut aufzubrüllen. »Macht's gut, Jungs!« Die Wärter gingen hinaus, verriegelten die Tür, und ich wälzte mich schmerzgepeinigt auf die Seite. Als ich sah, in welchem Zustand Narwall war, glaubte ich, mein letztes bißchen Verstand zu verlieren. Die Bestien in den Kettenhemden hatten ihn übel zugerichtet. Narwalls ausgemergelter Körper glich dem eines Leprakranken. Überall, wo man hinschaute, Blasen und Geschwüre. Sie mußten ihn mit glühenden Eisenstangen malträtiert haben. Zudem hatten sie ihm die letzten Zähne ausgeschlagen. Seine Unterlippe war in der Mitte eingerissen, die linke Hälfte hing bis über sein Kinn. Friedhelm wälzte ihn in die Seitenlage, und zu meinem grenzenlosen Entsetzen sah ich, daß Narwall nur noch einen Arm hatte. »Lebt er?« fragte ich leise. Friedhelm hielt ein Ohr über den Mund des Ohnmächtigen. »Sein Atem geht sehr flach, aber noch ist ein Funken Leben in ihm. Was er braucht, ist Wasser und eine kräftige Mahlzeit.« »Wir haben weder das eine, noch das andere«, sinnierte ich. »Sie können uns doch nicht elendig verrecken lassen?« »Heute abend gibt es Suppe«, sagte Friedhelm. Während er den Schwerverletzten mit einem Fetzen Tuch das Gesicht betupfte, erzählte er, was er von unserem Leidensgefährten wußte. Ich erfuhr, daß Narwall aus gutem Hause stammte. Er war der Sohn eines Obodriten-Fürsten aus Rerik. Das langweilige Leben auf der Burg seines Vaters ödete ihn an. Er begab sich auf Wanderschaft, um die Welt kennenzulernen. Eigentlich wollte er über Truso und Riga nach Nowgorod. Aber in 18
Vineta war Endstation. In einer Spelunke trank er mehr Bier, als er vertragen konnte. Er bekam Händel mit einem Templer. Ein Wort gab das andere. Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß er im Kerker, und sein Leben war keinen Pfifferling mehr wert. »Und ich dachte, die Bewohner Vinetas wären für ihre Gastfreundschaft bekannt«, warf ich ein. Friedhelm starrte mich schweigend an. »Woher willst du das wissen?« fragte er dann. »Sagtest du nicht, dein Gedächtnis wäre im Eimer?« Ich war baff. Friedhelm hatte recht. So langsam schien mein Gehirnkasten wieder in Tritt zu kommen. Ich dachte angestrengt nach. Meine grauen Zellen knisterten. Die Barriere, hinter der mein Wissen ungenutzt schlummerte, schien zwar angeknackst, aber noch nicht durchlässig genug. Ich mußte Geduld haben. Die Frage war nur, hatte ich ausreichend Zeit, um mich in Geduld zu üben? Jäh wurden meine Überlegungen unterbrochen. Narwall begann, Blut zu spucken. Sein fast skelettierter Körper bäumte sich auf. Friedhelm nahm ihn in die Arme, redete mit leiser Stimme auf ihn ein. Die Sonne stieg höher. Ein Strahl tanzte auf Narwalls kantigem Schädel, erhellte für Augenblicke das zertrümmerte Gesicht des bedauernswerten Mannes. Mit großen Augen blickte er auf Friedhelm, der ihn wie ein Kind in den Armen wiegte. »Mein Vater«, keuchte er. »Sagt ihm, meine letzten Gedanken wären bei ihm gewesen. Und bei meiner Mutter...« Er reckte seinen dünnen Hals. »Versprichst du mir das, Friedhelm?« »Ich verspreche es.« Narwall tat in Friedhelms Armen seinen letzten Atemzug. Ich war zutiefst erschüttert. Unfähig, etwas zu sagen, betrachtete ich meine beiden Leidensgefährten. Noch immer wiegte Friedhelm den toten Kameraden in den Armen. Obwohl ich den Toten nicht näher gekannt hatte, war mir, als hätte ich einen alten Freund verloren. Plötzlich verdunkelte sich die Kellerluke. Es klimperte auf dem Boden der Zelle. Dann tanzte der übermütige Sonnenstrahl wieder herein. Dicht vor meinen Füßen funkelte ein silbriger Gegenstand. Ich wollte Friedhelm darauf aufmerksam machen, unterließ es aber. Statt
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dessen wälzte ich mich auf den Bauch, zog die Arme an und kroch auf das seltsame Glitzerding zu. Es war ein silberner Siegelring. Unter einem Drachenkopf waren zwei Buchstaben eingraviert. Ein M und ein N. Da schien tief in meinem Innern eine Sprenggranate zu explodieren. Mir war, als wäre ich ein Fisch, der an einem Angelhaken aus seinem natürlichen Element gezogen wurde. »Mein Gott, Friedhelm!« Ich zitterte vor Erregung. »Ich weiß jetzt, wer ich bin. Hörst du? Mir ist alles wieder eingefallen.« Ohne von Narwalls Leichnam abzulassen, starrte mich mein Zellengenosse verblüfft an. »Und? Wer bist du?« »Ich heiße Mark Hellmann und komme aus einer Zeit, die jenseits jeder Vorstellungskraft liegt.« »Wie meinst du das?« »Ich komme aus dem Jahr 1999.« »Beim Svarog!« entfuhr es Friedhelm. »Fremder, du mußt wirklich verrückt sein. 1999? Das ist völlig irre. 999, das ist die Wirklichkeit, nicht 1999. Du hast dich um glatte tausend Jahre geirrt!« »Nein, ich spreche die Wahrheit«, sagte ich ruhig. »Und ich werde es dir beweisen.« Es gab einen dumpfen Plumps, denn vor Schreck war Friedhelm der Körper des toten Narwall aus den Händen geglitten... * Fedora huschte leichtfüßig durch enge Gassen, die abseits des großzügig angelegten Hauptweges verliefen. Rechts und links erhoben sich abwechselnd einstöckige Blockhütten, geflochtene Zäune und grobgehobelte Bretterwände. Unter ihren Schuhsohlen knirschte Sand, den der Wind vom Strand her mitbrachte. Hin und wieder kreuzten armselig gekleidete Anwohner ihren Weg. Dann senkte Fedora schnell den Blick und vermied es, sie anzuschauen. Es war erst wenige Minuten her, seit sie den unseligen Silberring durch die vergitterte Luke ins Verlies geworfen hatte. Mariana hatte ihr den Ort ja genau beschrieben. Als das Kleinod auf dem Boden der Zelle klimperte, hatte Fedora aufgeatmet. Ein 20
Instinkt, den sie nicht einordnen konnte, hatte ihr suggeriert, daß sie den Ring unbedingt seinem Eigentümer zurückbringen mußte. Die Gasse, durch die Fedora ging, endete. Ein kleiner, halbrunder Platz schloß sich an. Wenn man ihn überquerte, gelangte man geradewegs in Jokims Kontor. Sie konnte bereits die halbhohe Svarog-Statue neben dem Haupteingang erkennen und ging langsamer, warf einen prüfenden Blick in die Runde. Niemand schien sie zu beachten. Aber sie wußte, die Stadt wimmelte von Denunzianten, die sich bei Jasmund lieb Kind machen wollten. Mariana war ihnen auf den Leim gegangen. Auch sie hatte geglaubt, unbeobachtet zu sein, während sie den Brotlaib in den Kerker geworfen hatte. Fedora gab sich einen Ruck. Hochaufgerichtet schritt sie über den holzgepflasterten Platz. Nur noch wenige Schritte trennten sie von dem Portal des Kontors. Vor dem Gebäude war nichts Verdächtiges zu entdecken. Keine Templer, keine Büttel, kein Jasmund. Dennoch schlug Fedoras Herz bis zum Hals. Wie würden die Angestellten ihres Mannes auf ihr Erscheinen reagieren? Waren sie bereits über die schrecklichen Geschehnisse im Bilde? Gleich würde sie es wissen. Fedora drückte die Türklinke hinunter. Die Tür ächzte in den Angeln und sprang auf. Sie schlüpfte ins Haus. Dämmriges Halbdunkel herrschte im Innern. Links neben dem Eingang gab es eine Art Tresen, vor dem hochbeinige Schemel gruppiert waren. Hinter dem Holzgebilde stand ein Mann, den Fedora niemals zuvor gesehen hatte. Er hielt einen Schreibgriffel in der Hand und malte krakelige Zeichen auf eine Steintafel. Im Hintergrund türmten sich gewaltige Mengen Stoffes, die einen exotischen Duft verströmten. Fedora ging auf den Mann zu, blieb vor der Theke stehen und sah ihn an. Der Mann schien in seine Tätigkeit sehr vertieft und ihr Eintreten nicht bemerkt zu haben. Er trug ein spitzes Filzhütchen auf dem Kopf und steckte in einem kastanienbraunen Rock, der von einem schwarzen Ledergürtel tailliert wurde. »Guten Tag«, sagte Fedora und erschrak über den zittrigen Klang ihrer Stimme.
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Das Filzhütchen blickte auf. »Was willst du?« fragte er schroff und ohne Respekt. Dabei musterte er sie ungeniert von Kopf bis Fuß. »Ich bin Fedora, die Gemahlin des Jokim!« fauchte sie. »Und du scheinst ein sehr ungehobelter Klotz zu sein. Ich will sofort deinen Namen wissen!« Einen Moment flirrten die Augen des Mannes unruhig. Doch dann holte er tief Luft, atmete laut aus und begann teilnahmslos mit den Zähnen zu knirschen. Plötzlich faßte er sie scharf ins Auge. Unverschämt lange starrte er auf ihr prall gefülltes Brusttuch. »Verschwinde, Weibsstück!« zischte er. »Sonst werde ich dir eine Lektion erteilen!« Fedora sank in sich zusammen. Am liebsten hätte sie vor Wut aufgeschrien und geheult. Wie kam dieser Kerl dazu, die Ehefrau seines Herrn auf solche Weise zu demütigen? War er von allen guten Geistern verlassen? Sie rang um Fassung. »Beim Svarog! Wie redest du mit deiner Patronin?« fuhr sie ihn an. »Ich werde dich auspeitschen lassen, wenn du dich nicht stehenden Fußes bei mir entschuldigst.« Der Mann erwiderte nichts. Er warf den Griffel beiseite, umrundete die Theke und baute sich drohend vor Fedora auf. Von oben blickte er geringschätzig auf sie herab. »Jokim?« äffte er. »Wer ist Jokim? Ich kenne keinen Jokim.« »Du befindest dich in Jokims Haus und willst ihn nicht kennen?« Er verzog spöttisch das Gesicht. »Irrtum, meine Schöne. Dieses Haus gehört mir, mit allem, was darin ist...« »Das ist nicht wahr!« Fedora war außer Rand und Band. Sie mußte sich zurückhalten, diesem dreisten Filzhut nicht die Augen auszukratzen. »Werde nicht pampig, du Flittchen!« Seine Augen wurden schmal. »Sonst werde ich dich züchtigen!« Die unverblümte Drohung, ihr körperliche Gewalt antun zu wollen, versetzte Fedora einen Schock. Sie spürte, daß dieser ekelhafte Kerl fähig war, sie zu schlagen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er glotzte schon wieder gierig auf ihren Busen. Trotzdem wagte sie einen letzten Anlauf. »Du behauptest, das Kontor gehöre dir«, sagte sie mühsam beherrscht. »So beweise es mir. Besitzt du eine Urkunde?«
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Der Mann lachte böse. »Eine Urkunde willst du sehen, Weib? Ja, ich besitze eine Urkunde. Sie trägt Jasmunds Siegel! Willst du sie wirklich sehen?« Fedora wich zurück. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Der verabscheuungswürdige Tempelpriester war ihr zuvorgekommen. Ihr Plan, die Stoffe zu Geld zu machen, um Mittel für Marianas Befreiung zu erhalten, lösten sich in Luft auf. Sie war am Ende. Als sie sich umdrehte, um fortzulaufen, stieß der Mann mit dem Filzhütchen einen grellen Pfiff aus. Im selben Augenblick erhielt sie einen derben Stoß in den Rücken. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. »Arnhold, Diethmar!« keifte seine Stimme über ihr. »Kommt mal her! Hier ist ein Flittchen, das euch Kurzweil bereiten möchte. Kommt schon, Jungs! Sie ist zwar nicht mehr die jüngste, aber Frau bleibt Frau!« Vor Lachen schlug er sich übermütig auf die Schenkel. Das letzte Quentchen Hoffnung, das Fedora gehegt hatte, verflog. Jetzt war sie eine Geächtete. Jeder konnte mit ihr tun, was ihm behagte. Kein Gesetz schützte sie vor der Willkür ihrer gnadenloser Peiniger. Weinend versuchte Jokims Witwe, sich vom Boden aufzurappeln. Der Filzhut trat auf sie zu, grabschte an ihr Oberkleid und riß es mit einem Ruck entzwei. Dergleichen verfuhr er mit dem Tuch, das ihre üppige Brust verbarg. »Laß mich gehen, du!« schluchzte Fedora. Sie versuchte, mit den Händen ihre Blöße zu verdecken, doch der Mann schubste sie zu Boden. Um den Sturz nicht mit dem Kopf abzufangen, löste sie ihre Hände von den Brüsten. »Gehen soll ich dich lassen? - Pah! Nicht bevor du meine Söhne beglückt hast, schöne Frau.« Der Mann hielt sie fest am Genick gepackt. »Es sind gute Jungs. So wahr ich der Geldverleiher Artenak bin. Gib dir Mühe, Weib! Hörst du? Ich will nicht, daß du sie enttäuscht!« Er drehte den Kopf. »Wo bleibt ihr denn, Jungs? Euer Liebchen wird schon ganz unruhig vor Wollust!« Fedora wußte, wenn sie nicht sofort dem Griff des Mannes entfloh, war ihr Schicksal besiegelt. Schon sah sie, daß sich aus dem hinteren Teil des großen Raumes zwei hochgewachsene Gestalten lösten. Langsam näherten sie sich. 23
Die Frau biß die Zähne zusammen. Unerwartet glitt sie zur Seite, sie bekam ein Bein des Geld Verleihers zu fassen, zog sich daran empor und biß ihm wütend in den Oberschenkel. Vor Schmerz brüllte Artenak auf und torkelte ein paar Schritte zurück. Er beugte sich nach vorn, seine Hände umkrampften die Wunde. Fedora sah, daß sich sein Beinkleid rot färbte. Sie spuckte das Blut aus, schnellte auf die Beine und rannte, so schnell sie konnte, dem Ausgang entgegen. »Beim Svarog!« brüllte Artenak hinter ihr her. »So haltet das Miststück doch auf! Sie wird sonst entkommen. Arnhold, Diethmar!« Schon klapperten die Absätze beschlagener Schuhe dicht hinter ihr. Nur noch drei Schritte, und Fedora würde die rettende Tür erreicht haben. Auf offener Straße würden es die Männer nicht wagen, über sie herzufallen, um ihr Gewalt anzutun. Immerhin war es hellichter Tag, und in Vineta wimmelte es nicht nur von Verbrechern. Fedora hatte bereits die Hand ausgestreckt, um die Tür aufzustoßen, als ihr jemand einen gewaltigen Stoß versetzte. Sie verlor den Boden unter den Füßen und sauste, den Kopf voran, in Richtung Tür. Mit einem Schreckensruf krachte sie gegen das massive Holz. Vor Fedoras Augen funkelten Sterne. Ein höllischer Schmerz durchstach ihren Kopf. Im Unterbewußtsein nahm sie noch wahr, daß sich kräftige Hände in die Reste ihres Gewandes gruben und es ihr vom Leib fetzten. Dann sackte sie leblos zusammen. Sie spürte nicht mehr, daß ihre Verfolger sie bei den Füßen packten, durch das Kontor schleiften und in einer kleinen Kammer auf den Boden warfen. »Wenn sie zu sich kommt, nehmen wir sie uns«, griente Arnhold. Sein Bruder nickte. »Worauf du dich verlassen kannst. Bleib du einstweilen bei ihr. Ich sehe derweil nach Vater.« »Ach was, ich komme mit.« *
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Während ich zu ihm sprach, wurden Friedhelms Augen immer größer. Ungläubig hing er an meinen Lippen. Manchmal öffnete er den Mund, um etwas zu sagen. Aber er brachte keinen Ton heraus. Mit hängenden Schultern kauerte er da und glotzte stumm. Ich schilderte dem Mann des ersten Milleniums nach Christi, wie ich im Alter von ungefähr zehn Jahren nahe des Weimarer Marktplatzes aufgegriffen wurde. Völlig verwirrt, unbekleidet und satte tausend Jahre später. Dennoch ähnelte meine damalige Lage meiner jetzigen auf fatale Weise. Auch 1980 besaß ich nichts weiter als den magischen Ring. Er hing an einer Kordel um meinen Hals. Nach und nach hatte ich erfahren, was es mit dem Ring auf sich hatte und welche Bestimmung ich hatte. Gegen das Dämonische sollte ich kämpfen. Und rasch fand ich heraus, daß der Ring auf überirdische Phänomene reagierte. Er erwärmte sich, flimmerte und prickelte dann. »Ein Zauberring also«, wisperte Friedhelm. »Könnte man sagen«, gab ich zu und schob ihn auf dem Finger auf und ab. »Er zeigt an, ob in der Umgebung eine dämonische Kreatur sein Unwesen treibt. Außerdem versetzt mich der Ring in die Lage, Reisen in die Vergangenheit zu bewerkstelligen - und in meine Zeit zurückzukehren.« Friedhelm schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht«, sagte er. »Wenn du, wie du sagst, aus deiner Zeit in meine reist, kannst du da nicht viel Unheil anrichten. Beispielsweise könntest du jemanden umbringen, der dein eigener Urahn ist. Was dann?« Ich nickte anerkennend. Friedhelm war ein heller Kopf, obwohl er weder lesen noch schreiben konnte und aus sehr armseligen Verhältnissen stammte. Gerade wollte ich ihm erläutern, daß ich mich in der Tat sehr behutsam in der Vergangenheit bewegen mußte, um keine Katastrophe anzuzetteln, da versagte mir plötzlich die Stimme. Soeben war mir das letzte Teil des Puzzles eingefallen. So unverhofft, als wäre mir ein Dachziegel auf den Kopf geplumpst. Jetzt wußte ich, warum ich ein zweites Mal hier in Vineta war! (Erster Besuch in Band 33) Friedhelm bemerkte die jähe Veränderung, die in mir vorging, und fragte: »Was ist los, Mark Hellmann? Du siehst aus, als wäre ein Dämon in dich gefahren.« 25
Ich drückte beide Fäuste an meine Schläfen. Mir war, als würde mein Gehirn auseinanderspringen. Fassungslos starrte ich Friedhelm an. »Es ist ungeheuerlich«, preßte ich hervor. »Was ist ungeheuerlich?« Ich schluckte. »Die Insel Usedom! Sie ist in Gefahr! Sie wird von einem Wesen bedroht, das seinen Ursprung in Vineta hat. Wenn ich das Scheusal nicht zur Strecke bringe, wird es Tod und Verderben über alle bringen.« »Was ist das für ein Wesen?« hauchte Friedhelm atemlos. »Ein Golem«, antwortete ich. »Nie gehört. Was ist ein Golem?« »Golems sind Figuren aus Lehm, nach dem Ebenbild des Menschen geformt. Über ihnen wird eine kabbalistische Schöpfungsformel ausgesprochen. Man schreibt ihnen das Wort ANMANTH, das Wahrheit bedeutet, auf die Stirn. Dadurch werden sie lebendig.« »Ein Mann aus Lehm?« fragte Friedhelm zweifelnd. »Wie kann ein solches Wesen gefährlich werden?« »Golems wachsen sehr schnell und haben übernatürliche Kräfte«, erklärte ich. »Wenn sie größer als ihr Meister werden, werden sie zu blutrünstigen Tyrannen. Er gehorcht nicht mehr und fühlt sich seinem Schöpfer überlegen.« »Demnach ein Kraftpaket, das außer Kontrolle gerät. Fürwahr, Mark Hellmann, das klingt schon bedrohlicher. Demnach bist du hier, um zu vereiteln, daß das Monstrum erschaffen wird.« »Oder ihn zu töten, bevor er seinen Meister überragt. Entferne ich das AN vom Worte ANMANTH, dann zerfällt der Golem wieder zu Staub.« Friedhelm dachte nach. »Und was bedeutet der Rest des Wortes, MANTH?« »Tod.« Mein Zellengenosse schwieg eine Weile. Dann nickte er. »Die Sache ist sonnenklar. Wird der Golem zu groß, erreicht sein Schöpfer seine Stirn nicht mehr. Der Mann aus Lehm wird unüberwindlich. Er tut, was ihm behagt.« »Gut kombiniert«, lobte ich Friedhelm. »Zu allem Übel können dem Golem weder Feuer, Wasser noch Schwerthiebe etwas anhaben. Er verfügt eben über übernatürliche Kräfte. Rüstet ihn sein Meister mit einem Amulett aus Hirschhaut aus, wird der 26
Golem obendrein unsichtbar. Er kann seine Taten vollbringen, ohne gesehen zu werden. Eine beängstigende Konstellation.« »Beim heiligen Roß des Svarog!« rief Friedhelm aus. »Wer, um alles in der Welt, kam auf die Idee, einen Mann aus Lehm zu erschaffen? Und warum?« »Man vermutet, er wurde von einem Rabbi zum Leben erweckt.« »Ein jüdischer Priester?« warf Friedhelm ein. »In etwa. Die Juden waren schon immer Ziel übelster Verfolgungen anderer Völker. Um ihnen zu schaden, schreckten ihre Gegner auch nicht vor Kindesmord zurück.« »Genauso ist es!« Friedhelm wirkte auf einmal sehr lebhaft. »Vor dem Hause des Kaufmannes Jokim fand man unlängst die Leichen von erschlagenen Kindern. Jasmund, der Tempelpriester, beschuldigt Jokim nun des Mordes.« Langsam schloß sich also der Kreis. Es war beinahe genauso, wie es in der Rabbinischen Kabbala zu lesen stand. Um die mörderischen Unholde davon abzuhalten, den Ruf der jüdischen Bevölkerung zu zerstören, erschuf man den Golem. Das übernatürliche Geschöpf wandelte des Nachts durch die Straßen. Traf er einen Mann, der ein totes Kind trug, band er beide mit einem Strick zusammen und übergab sie der Obrigkeit. Dabei muß dem Schöpfer des Golems ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen sein. Der Golem machte sich aus dem Staub. Möglicherweise geriet er auch unter die Fuchtel eines neuen Meisters, der ihn ausnützen wollte. Durch ein Ereignis, das ich noch nicht kannte, würde der Mann aus Lehm dann durch die Zeit katapultiert werden. Er würde im Wolliner Forst auftauchen und sich auf Swinemünde zubewegen. Nur wenige Monate, bevor man die zweite Jahrtausendwende beging. Im Jahre 1999. In einem gräßlichen Alptraum hatte ich diese Apokalypse gesehen! Der Golem, inzwischen so hoch wie ein Haus und unüberwindlich stark, bewegte sich auf Swinemünde zu. Unter seinem gigantischen Körpergewicht zerknickten Telegrafenmasten wie Mikadostäbchen. Er zermalmte alles zu Brei, was sich ihm in den Weg stellte. Er hielt sich für den neuen Gott. Willkommen im 21. Jahrhundert!
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Meine Güte, ich mußte unbedingt aus diesem Kellerloch heraus. Noch heute. Jede Minute, die ungenutzt vertickte, rückte das Unheil mit Riesenschritten näher heran. »Dieser Jokim?« fragte ich Friedhelm. »Beschäftigt er sich mit Beschwörungen?« »Nicht daß ich wüßte.« Er furchte die Stirn. »Jokim ist ein Händler, mit Leib und Seele. Aber...« »Ja?« »Ich entsinne mich, daß Fedora, seine Frau, die Tochter eines Rabbiners ist. Hinter vorgehaltener Hand flüstert man, daß sie über Fähigkeiten verfügt, die an Wunder grenzen.« »Uff!« Ich war perplex. Eine Frau als Meister des Golems? Das ging auf keine Kuhhaut. Nicht mal andeutungsweise hatte ich davon gehört oder gelesen. Andererseits galt eine Frau in dieser Zeit kaum etwas. Man sah sie als schmückendes Beiwerk des Mannes an. Ohne weiteres wäre den Chronisten der Zeit zuzutrauen, die Historie bewußt verfälscht zu haben. Sie hatten die Erschaffung des Golems einfach einem Manne zugeschrieben. Welcher Hohn! »Fedora«, murmelte ich, »ich muß diese Frau finden.« Friedhelm seufzte. »Und wie willst du hier raus? Du bist sehr geschwächt, dazu nackt und waffenlos.« »Aber ich habe den Ring«, sagte ich. »Pah, was ist das schon, ein Fingerreif?« Friedhelm verzog verächtlich das Gesicht. »Ein Stück Metall, mehr nicht.« Feierlich drückte ich das Siegel mit dem stilisierten Drachenkopf auf meine Brust. Als hätte er förmlich darauf gewartet, begann der Ring zu flimmern. Ein bläulicher Lichtstab zuckte hervor. Mit den Runen des Futhark-Alphabets schrieb ich das keltische Wort für Heile auf den Steinboden. Ehe ich mich versah, spürte ich, daß die bleierne Schwere, die mich bislang am Boden festnagelte, aus meinem Körper wich. Nur Sekunden später stand ich auf eigenen Beinen. Zwar noch ein wenig wackelig, aber ich stand. Friedhelm staunte nicht schlecht. »Bei allem, was mir heilig ist!« keuchte er. »Mark Hellmann, du bist ein Wundertäter.« »Kein Wundertäter«, widersprach ich. »Nur der Kämpfer des Rings...«
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* Nachdem zwei Wärter Narwalls verstümmelten Leichnam hinausgeschafft hatten, hörte ich, wie vom Gang her schauriges Gebrüll erscholl. Verstohlen warf ich Friedhelm einen fragenden Blick zu. Mein Leidensgefährte lehnte an der Wand, neben dem Kübel, in den wir unsere Notdurft verrichteten. Als er den Radau hörte, wurde er aschfahl. Von einem Augenblick zum anderen. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. Plötzlich wurde die Kerkertür erneut geöffnet. Ein kleiner, krummbeiniger Mensch in einem schmutzigen Kittel tappte herein. Neben der Tür blieb er stehen und funkelte uns aus schwarzen, hinterhältig wirkenden Augen an. Ich sah, daß seine Arme unnatürlich lang waren. Sie reichten beinahe bis zum Boden und mündeten in klauenartige Pranken. Der Mann sah aus wie ein bösartiges, wildes Tier. Als die Tür zuschlug, klappte er seinen Unterkiefer auf und zischte: »Ich bin Zwuhl, der Zwerg. Ab jetzt bin ich euer Gebieter. Ihr müßt alles tun, was ich will!« Er hob die Stimme. »Habt ihr kapiert, ihr Dummköpfe?« Friedhelm nickte verängstigt. »Und du, langes Elend?« Der groteske Neuankömmling trat auf mich zu. Ich hatte wieder meine verkrümmte Position eingenommen. Gegen die Wand gelehnt, mimte ich den Halbtoten. Der Zwerg baute sich drohend vor mir auf. »He, ich rede mit dir! Bist du dir zu fein, mir zu antworten?« »Er ist ein Fremder«, sprach Friedhelm für mich. »Du darfst ihm nicht zürnen, Zwuhl. Wahrscheinlich ist er unserer Sprache nicht mächtig.« Das groteske Geschöpf stülpte zwei hauerartige Zähne über die breite Unterlippe. Er lauerte auf meine Reaktion. Offenbar wußte er nicht so recht, woran er bei mir war. Fast zaghaft tippte er mich mit dem Fuß an. Es war ein Klumpfuß, unbekleidet und groß wie zwei geballte Männerfäuste. Die Zehennägel waren rabenschwarz und schaufeiförmig. »Rück beiseite, langes Elend«, grunzte Zwuhl. »Der Platz, auf dem du dich siehst, gefällt mir. Ich will, daß du ihn mir überläßt.«
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Ich schaute ihm in die Augen. »Einen Dreck werde ich«, sagte ich gut vernehmlich. Der schmutzstarrende Zwerg glotzte blöde. Er schien nicht begreifen zu wollen, daß ihm jemand die Stirn bot. Ich fühlte mich wieder stark. Und da wollte mir ein Zwerg etwas befehlen? Soweit kam es noch! Ich sollte meine Arroganz bitter bereuen! »Rück schon beiseite, Mark Hellmann!« Friedhelms Stimme bröckelte wie Putz von einer Fassade. Er hatte eine Heidenangst vor dem Zwerg. Insgeheim atmete ich auf. Wäre dieser Kobold nur eine halbe Stunde früher in die Zelle gekommen, hätte ich wahrscheinlich seiner Aufforderung Folge geleistet. Ich war schwach und entkräftet gewesen. Jetzt aber sah die Sache anders aus. Obwohl mein Magen wie verrückt knurrte, fühlte ich mich großartig. Wenn der Gnom Stunk wollte, sollte er ihn kriegen. »Hör auf deinen Kumpel!« Zwuhl züngelte an seinen widerlichen Hauerzähnen. »Na, wird's bald?« Ich beschloß, Farbe zu bekennen. Die schwachsinnige Kraftprotzerei dieses Zwerges ging mir über die Hutschnur. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, rappelte ich mich auf. Ich war fast doppelt so groß wie er. Aber dieser Umstand schien ihn völlig kaltzulassen. Er wich nicht einen Millimeter. Geduckt stand er da und blitzte mich an. Für einen Atemzug beschlich mich ein ungutes Gefühl. Schnell verdrängte ich es. Ein größenwahnsinniger Zwerg! Na und? Wenn er dachte, ich würde vor ihm kuschen, hatte er sich geschnitten. Ich blähte meinen Brustkorb auf, ließ meine Bizeps hüpfen und zog ein Gesicht, das selbst einen Sumo-Ringer in Alarm versetzt hätte. Dann ging alles rasend schnell. Zwuhl wippte in den Knien - und sprang mich an! Bevor ich Piep! sagen konnte, landete er auf meiner Brust. Im Zeitraffer grub mir das kleine Miststück seine spitzen Fingernägel in die Haut. Seine langen Hauer pflanzte er in meine Brust. Mir war, als wäre ich von einem Dach auf eine Rolle Stacheldraht gestürzt. »Er ist ein Hackup!« hörte ich Friedhelm schreien. Ojemine! Mir fielen alle meine Sünden ein. 30
Ein Hackup, auch Hockauf genannt, war eine pommersche Sagengestalt. Und zwar ein tückischer, meistenteils mißgestalteter Kobold. Er vegetierte auf Dächern oder Bäumen und liebte es, einsamen Wanderern auf den Buckel zu springen. Oftmals ließ er sich bis zur totalen Erschöpfung des Trägers mitschleppen. Manche Heimgesuchten wurden diesen Tyrannen nie mehr los. Erst wenn sie starben, machte der Schmarotzer, daß er Land gewann... Völlig überrascht taumelte ich zurück. Das Tempo, mit dem der Zwerg seine Attacke gestartet hatte, war einfach phänomenal. Die erste Runde ging zweifelsohne an ihn. Aber jetzt kam ich an die Reihe. Schließlich war ich kein Schwächling. In meiner Studienzeit hatte ich es sogar zum Zehnkampf-Meister gebracht. Und danach trainierte ich so manche Stunde im Weimarer Polizeisportverein. Ich packte den Hackup am Hals. Er zog den Kopf ein, und ich spürte, daß seine Halsmuskeln zäh wie Schiffstaue waren. Sogleich änderte ich die Taktik. Ich griff in seine Seiten, um ihn zu quetschen und fortzuschleudern. Aber statt aus biegsamen Rippen schien dieses Höllengeschöpf aus Hartholz zu bestehen. Es juckte ihn nicht die Bohne. Der Körper unter seinem Kittel war hart wie gefrorener Ackerboden. Zu allem Unglück war der Zwerg Zwuhl ein Meister des Nahkampfes, im wahrsten Sinne des Wortes. Er verbiß sich wie eine Zecke in seinen Kontrahenten. Mit einem solchen Gegner hatte ich es noch nie zu tun gehabt. Ich sah ein, daß ich stärkere Geschütze auffahren mußte, um diesen frechen Fiesling loszuwerden. Wild entschlossen packte ich ihn beim Schädel. Und erlebte die nächste unangenehme Überraschung. Der Hackup löste sein Gebiß aus meinem Fleisch. Er klickte blitzartig seine Krallen ein. Wie ein Eichhörnchen kletterte er mir über die Schulter und ließ sich auf meinem Buckel nieder. Wieder grub er mir seine Klauen unter die Haut. Dann stieß er ein Triumphgeheul aus. »Du hättest auf deinen Kumpel hören sollen, langes Elend!« Der stechende Schmerz, den er mir mit seinen Krallen zufügte, ließ mich aufbrüllen. Zusammenreißen, Mark! polterte es durch meinen Kopf. Egal, wie, du mußt den kleinen Teufel loswerden! Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich daran, meinen 31
magischen Ring zu aktivieren. Ich könnte meinen Körper mit einer Lichtpergola zu schützen versuchen. Aber der Hackup war zu nahe. Und eigenartigerweise schlug mein Ring nicht an. Demnach zählte der Hackup nicht zu den Höllenwesen, sondern zu den Menschen. Unglaublich, aber wahr. Es mußte eine andere Lösung geben. Wild sah ich mich um. Friedhelm stand, die personifizierte Angst, schreckensstarr neben dem Kübel. Der Kübel! Seit man mich in die Zelle gesperrt hatte, war er nicht ein einziges Mal geleert worden. Mittlerweile war er fast randvoll. Ein penetranter Gestank ging von ihm aus. Rasch überschlug ich meine Chancen. Wie mochte mein anhänglicher Freund reagieren, wenn ich ihn mit dem Kübelinhalt Bekanntschaft machen ließ? Würde er seinen Krallengriff lösen, wenn ich ihn in die Gülle stauchte? Ekel stieg in mir auf. Aber ich hatte keine Wahl. Wie sagte Lydia, meine Mutter, immer? Versuch macht klug, meinte der Deibel und setzte sich in die heiße Bratpfanne! Schnell, aber ohne Hast, bewegte ich mich auf den Kübel zu. Der Hackup gab keinen Laut von sich. Die krummen Nägel in meine Haut gegraben, schmiegte er sich an mich. Womöglich hatte ihn der kurze Kampf angestrengt, und jetzt verschnaufte er. Sein glühender Atem streifte meine Haut. Mit den Augen befahl ich Friedhelm, beiseite zu gehen. Gleich würde es eine unerhörte Sauerei geben. Friedhelm gehorchte, wenn auch zögerlich. Er tat zwei, drei Schritte in die Mitte des Raumes und verharrte dort. Auf seinem Gesicht malte sich ungläubiges Staunen ab. Ich ging in die Hocke, tat, als wolle ich mich auf den Boden setzen. Dabei berührte ich sacht den Rand des Kübels. Ich hörte, wie der Hackup leise schmatzte. Er fühlte sich wie ein behüteter Säugling in den Armen seiner Mutter. Urplötzlich riß ich beide Beine hoch. Rücklings warf ich mich auf den Kübel. Die metallenen Ränder quetschten meinen Rücken. Es plätscherte. Der Hackup schrie kurz auf. Dann war da nur noch Blubbern und Planschen. Gleichzeitig verspürte ich eine wohltuende Leere auf meinem Rücken. Sofort federte ich auf die Beine, sprang zurück und 32
beobachtete den Zwerg aus sicherer Entfernung. Ich war gewarnt. Ein zweites Mal würde ich ihn nicht unterschätzen. Zwuhl hatte sich rasch wieder in der Gewalt. Als wäre er ein fliegender Fisch, stieg er aus dem Kübel empor. Insgeheim bewunderte ich seine genialen Reflexe. Es kostete bereits Mühe, seine rasanten Bewegungen zu verfolgen. Ich erwartete einen neuen Angriff. Unwillkürlich hob ich die Arme, um ihn abzuwehren, falls er sich erneut näherte. Doch der pitschnasse Hackup reagierte völlig anders, als ich erwartete. Er wischte mit dem Ärmel den Schmutz aus seinem Gesicht. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Schlenkerte wegwerfend mit seinen langen Affenarmen. Dabei beobachtete er mich die ganze Zeit aufmerksam. Unvermittelt streckte er mir seine Pranke entgegen. Eine Finte? Ich blieb wachsam. »Hab keine Angst, langes Elend.« Ein eigentümliches Grinsen kerbte seine Lippen. »Du bist endlich mal einer, der Mumm in den Knochen hat. Ich freue mich, dich kennenzulernen. Meinen Namen kennst du ja schon. Ich bin Zwuhl.« Geflissentlich übersah ich seine Hand. »Du brauchst etwas anzuziehen«, sagte Zwuhl. »Ich kümmere mich darum.« Mittlerweile wußte ich überhaupt nicht mehr, was ich von diesem rätselhaften Zwerg halten sollte. Was beabsichtigte er? Wollte er mein Vertrauen erringen? Oder war sein plötzlicher Sinneswandel Teil eines sorgfältig ausgeklügelten Planes? Ich mußte ziemlich verstört dreingeschaut haben, denn der Hackup kicherte mit einemmal: »Übrigens, ehe ich's vergesse, langes Elend. Von jemandem, den du gut kennst, soll ich dich grüßen.« Ich runzelte die Stirn. »Ich glaube kaum, daß wir einen gemeinsamen Bekannten haben.« »Denk mal nach.« »Mir ist nicht nach Rätselraten«, grollte ich. Draußen, auf der holzgepflasterten Straße, schepperte ein Fuhrwerk vorüber. Für einen Augenblick war das helle Rechteck der Kellerluke verdeckt. Die Zelle wurde in Dunkelheit getaucht, und ich sah, daß Zwuhls Augen wie zwei Kerzen leuchteten. Das Spielchen, das er mit mir trieb, schien ihn ungeheuer zu belustigen. 33
»Na, wen meine ich wohl?« Er blinzelte. Ich schüttelte den Kopf. Der Hackup drehte sich um und watschelte zur Tür. Laut pochte er gegen das Holz. »He, ihr Kerls!« brüllte er. »Laßt mich wieder raus. - Verdammt! Sitzt ihr denn auf euren Löffeln?« Schon ertönten schlurfende Schritte. Ein Schlüsselbund klapperte. Ich saß wie auf heißen Kohlen. »Du willst verschwinden, ohne dein Geheimnis gelüftet zu haben? Das ist unfair.« »Unfair?« »Nicht nett.« Zwuhl überlegte kurz. Es sah recht komisch aus, wie der kleine Kerl seine ohnehin völlig zerfurchte Stirn in Falten zog. Jäh wurde die Tür aufgestoßen, der Hackup sauste hinaus, und der Wärter riß die Augen auf, als er mich mopsfidel mitten in der Zelle stehen sah. »Beim Svarog!« rief er aus. »Der Kerl ist munter wie ein Frosch auf der Seerose. Also los! Zum Verhör, du falscher Kranker!« * Fedora wurde wach. Aber sie hielt die Augenlider weiterhin fest zugepreßt. Wie ein Peitschenhieb hatte die schockierende Erinnerung eingesetzt. Jokim, ihr Mann - tot. Mariana, die Tochter - im Tollhaus. Ihre Lakaien - vor Angst geflohen. Ihr Besitz - gestohlen. Sie selbst - in der Gewalt von Männern, die zu jeder Scheußlichkeit bereit waren. Gab es schlimmere Vorzeichen? Fedora versuchte, sich zu orientieren. Über ihr ächzten Dachsparren und Balken. Gern hätte sie sich vergewissert, ob einer ihrer Peiniger in der Nähe war. Aber das Risiko, als wach entlarvt zu werden, wollte sie noch nicht eingehen. Sie hätte die Männer nicht mehr abwehren können. Fedora spitzte die Ohren. Nichts war zu hören. Nicht mal unterdrücktes Luftholen. War sie allein? Konnte sie es wagen, die Augen zu öffnen? 34
Kaum merklich bewegte sie ihre Handgelenke. Sie atmete auf, als sie spürte, daß sie nicht gefesselt war. Mit den Fingerspitzen betastete sie den Boden. Holz, Sand, Dreckkrumen. Ihr wurde bewußt, wo sie sich befand. Im hinteren Teil des Kontors, dort, wo Jokim mit dem Ausbau noch nicht ganz fertig geworden war. Es mußte die kleine Kammer sein, in dem besonders wertvolle Waren gelagert werden sollten. Wenn es so war, dann saß sie tief in der Patsche. Denn die Kammer war durch eine dicke Tür mit schwerem Schloß gesichert. Behutsam zog Fedora ein Augenlid hoch. Dann das zweite. Es war dunkel, und sie schien tatsächlich allein zu sein. Mit einemmal fühlte sich Fedora wie der einzige Mensch auf der Welt. Binnen weniger Stunden hatte sie alles verloren, was ihr lieb und teuer war. Jetzt lag sie wie ein ausrangierter Lumpen auf dem Boden, eingesperrt, ohne Aussicht auf Rettung. Ihr Kleid hing in Fetzen von ihrem Leib. Und jeden Moment konnte einer dieser Männer kommen, um nach ihr zu sehen. So gut es ging, verbarg sie ihren Busen hinter dem Stoff des Unterkleides. Wie sie die Aasgeier haßte, die ihr diese Schmach zugefügt hatten! Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Fedora unterschied einzelne Gegenstände. Sie lag auf einem Batzen Sand, daneben war Lehm aufgeschichtet. Sicherlich hatten Jokims Bauleute vorgehabt, die Ritzen der Bretter damit zu verschmieren. Sie rappelte sich auf, tappte von einer Wand zur anderen. Überall lagen Baumaterialien herum. In einer Ecke stand sogar ein Kübel, der randvoll mit Wasser gefüllt war. Sie tauchte ihre Hände hinein und betupfte ihre heiße Stirn. Danach fühlte sie sich ein wenig frischer. Ein Anflug von Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus. Die ersten Tränen kullerten. Fedora ballte die Fäuste, bis es weh tat. Ihr wurde klar, daß sie auf der Stelle etwas unternehmen mußte. Sonst waren Mariana und sie hoffnungslos Jasmunds bösem Ränkespiel ausgeliefert. Aber noch gab sie nicht auf. Die Möglichkeit, von aufgepeitschten Männern des Tempels umgebracht zu werden, war zwar akut, doch Fedora dachte nicht im Traum daran, die Waffen vorzeitig zu strecken. 35
»Warte nur, Jasmund!« murmelte sie. »Du wirst dich noch wundern. So leicht gebe ich nicht auf, du Scheusal.« Ohne zu zögern, sank sie neben dem Lehmhaufen auf die Knie. Sie warf ihr Haar zurück, band es zu einem Knoten und fing an, mit beiden Händen den Lehm über dem halbfertigen Fußboden auszubreiten. Geschickt formte sie einen länglichen Körper. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie sich prustend aufrichtete. Zu ihren Füßen lag eine menschlich aussehende Plastik. Ziemlich deutlich konnte man Rumpf, Kopf, Beine und Arme ausmachen. Wenn man genauer hinsah, erkannte man sogar Augen, Mund, Nase und Ohren. Eine Gestalt aus Lehm war entstanden. Sicher, keine Meisterleistung der Bildhauerkunst, aber das war auch nicht nötig. Mit einem Fingernagel schrieb Fedora das Wort ANMANTH auf die Stirn des menschlichen Gebildes. Dann verschränkte sie die Arme über der Brust, senkte feierlich den Kopf und sprach die Schemhamphoras aus. Die geheimnisreiche, kabbalistische Schöpfungsformel, die sie von ihrem Vater kannte. Siebenmal murmelte sie den Spruch. Siebenmal ging sie um den aus Lehm Geformten herum. Da glühte der Körper zu ihren Füßen auf. Rot wie eine brennende Kohle erhellte er den düsteren Raum. Nach einer Weile kühlte er ab. Flüssigkeit sickerte aus seinen Poren, und weiße Dämpfe stiegen in die Höhe. Abermals murmelte Fedora eine Formel. Der Figur sprossen Fingernägel. Seine Gesichtszüge wurden klarer und menschlicher. Haare zeichneten sich auf dem klobigen Schädel ab. Irgendwo ertönte ein verächtliches Lachen. Fedora fuhr erschrocken zusammen. Die Männer, die sie gefangenhielten, kamen! Hastig beugte sie sich über die Gestalt aus Lehm. Sie sprach über dem leblosen Körper einen Satz aus der Schöpfungsgeschichte. Hiernach blies sie ihm ihren lebendigen Odem in die Nasenlöcher. Aus Richtung des Hauptportals, nicht allzu weit weg, grölte Diethmars trunkene Stimme: »He, Arnhold, alter Hurenbock! Hör auf zu drängeln. Ich werde der erste sein, der die schöne
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Kaufmannswitwe beglücken wird. Du wirst dich wohl noch ein Weilchen gedulden müssen.« Fedora wurde leichenblaß. Aber sie war fest entschlossen, ihr Werk zu vollenden. Das wollüstige Brüderduo glaubte, leichtes Spiel zu haben. Sie dachten, ungestraft eine Wehrlose malträtieren zu können. Würden die sich wundern! »Richte dich auf, o Golem!« Ihre Stimme klang eiskalt. »Richte dich auf und wandle!« Das Geschöpf aus Lehm schlug die Augen auf. Sein erster Blick galt Fedora, seiner Herrin. Sein zweiter den beiden Burschen, die sich, bauchige Krüge mit Bier in den Händen, durch die geöffnete Tür hereinschoben. Fedoras Augen wurden schmal wie Mondsicheln. In ihren Geist kehrte das Bild zurück, als die Büttel hohnlachend auf ihren sterbenden Mann einstachen. Und jetzt sollte sie das nächste Opfer sein. Ein Ring aus Eis spannte sich um ihr Herz. »Töte sie, Golem!!!« raunte sie. Die Brüder glotzten. Zu mehr blieb ihnen keine Zeit. Das Geschöpf aus Lehm wankte schwerfällig auf sie zu. Die Bierkrüge entfielen ihren Händen und zersplitterten. Und Sekunden später drangen aus ihren Kehlen abartige Schreie, die rasch einem qualvollen Stöhnen Platz machten. Vor Entsetzen wandte Fedora den Kopf ab. Obwohl sie voller Rachedurst und Haß war, konnte selbst sie das grausige Schauspiel nicht ertragen. * Zwuhl, der Hackup, packte den Wärter am Ärmel. »Halte ein, du Narr!« giftete er. »Willst du den Gefangenen denn nackt zum Wachtmeister führen?« Der Wärter rieb versonnen sein Kinn. Er war ein breitschultriger Mann mit grausamen Gesichtszügen und stumpfen, mitleidlosen Augen. Aber vor dem Zwerg schien er höllischen Respekt zu haben. Offenbar hatte Zwuhl einen Freibrief. Aber weshalb stand er auf meiner Seite? Ich konnte mir einfach keinen Reim auf ihn machen. »Also gut«, sagte der Wärter nach kurzem Nachdenken. »Wie du willst. Ich werde diesem Kerl einen Kittel bringen.« 37
Er schlug die Tür zu, ging fort und kam nach kurzer Zeit mit einem zerschlissenen Stück Stoff zurück. Ein zweiter Wärter, der eine schwere Eisenfessel trug, begleitete ihn. Hoppla! Ich war auf der Hut. Wenn sie jetzt meine Arme in Ketten legten, würden sie meinen wiedergewonnenen Ring bemerken. Ich würde ihn ein zweites Mal, vielleicht für immer, verlieren. Bloß, wie sollte ich es verhindern? »Streck die Arme vor!« grunzte mich der Breitschultrige an. Sein Spannmann hob die Fessel. Die Eisenkette bestand aus grob zugehauenen Gliedern, war verrostet und brüchig, wie man sie auch für Sklaven verwendete. Zwuhl kam mir zu Hilfe. »He, ihr Kerls! Laßt ihn erst mal seine Blöße bedecken, bevor ihr ihn in Eisen legt. Oder habt ihr Deppen Angst vor einem Unbewaffneten?« Die Wärter grinsten dümmlich. Einer hielt mir den Kittel hin. Ein farbloses, übel riechendes Etwas, aus minderwertigem Flachs gesponnen. Rasch schlüpfte ich hinein. Ich drehte mich einen Atemzug lang um, als müßte ich mich am einfallenden Sonnenlicht orientieren. Dabei schob ich meinen Ring vom Finger. Unbemerkt verbarg ich ihn im Saum des Kittels. Derweil war der Hackup damit beschäftigt, die Wärter auf Trab zu halten. »Eine Schnur«, bat er. »Gebt ihm auch eine Schnur! Oder wollt ihr, daß er sein Gewand gleich wieder verliert?« Der Breitschultrige rollte genervt mit den Augen. Ich sah ihm an, daß ihm die ständigen Bevormundungen des klumpfüßigen Zwerges tierisch auf den Kranz gingen. Aber er wagte es nicht, dagegen zu protestieren. Er gab mir ein Stück Bindfaden. »Jetzt ist aber Schluß mit den Sperenzien!« brummte er an Zwuhls Adresse. »Wenn das so weitergeht, verlangst du noch, daß ich ihn in Samt und Seide kleide. - Die Fessel!« Für einen Moment kam mir der Gedanke, zu fliehen. Sicherlich wäre es mir gelungen, die Wärter niederzuschlagen, zu entwaffnen und fortzurennen. Doch wie würde sich Zwuhl verhalten? Zwar hatte er mir bisher einige Erleichterung verschafft, aber garantiert würde er es nicht zulassen, daß ich mich holterdiepolter aus dem Staub machte. Wenn ich bloß wüßte, von wem er mich grüßen wollte? 38
Bei meiner ersten Zeitreise ins sagenumwobene Vineta hatte ich natürlich einige Menschen kennengelernt, aber diesmal befand ich mich im Jahre 999. Ungefähr 70 Jahre vor meinem ersten Besuch. Die Leute, die ich später kennenlernen sollte, waren noch nicht mal geboren. Der Fluch der Zeitreisen... Ich wurde durch einen düsteren Gang geführt. Unsere Schritte klangen hohl. Die Wände bestanden aus unbearbeiteten Feldsteinen und Pfeilern aus Eichenholz. Zu beiden Seiten des Ganges gab es je ein halbes Dutzend dicker Türen. Dahinter warteten die vermeintlichen Feinde der Pommern und Lutizen auf ihren Tod. Als ich vorbeiging, hörte ich klagende Schreie und verzweifeltes Wimmern. Mir fiel ein, daß auch Mariana, die Tochter des Kaufmanns Jokim, hinter einer dieser Türen schmachtete. Wir erreichten einen Treppenabsatz. Mit jedem Schritt, den ich hinaufkletterte, merkte ich, daß die Luft spürbar frischer wurde. Als die Treppe endete, befand ich mich auf einer quadratischen Plattform, die von einem Dach aus Holzschindeln bedeckt war. Die Landseite wurde von einer Brustwehr begrenzt. Die Seite zum Haff von einem Wall aus gigantischen Monolithen. Von dem plötzlichen Licht geblendet, blieb ich stehen. Ich spähte über einen Palisadenzaun hinweg und sah einen Zipfel des Hafens von Vineta. Bewundernd betrachtete ich die Anlegeplätze, an denen nordische Langschiffe vertäut waren. Mein Kampf mit Ansgar, dem bärenstarken Wikinger, fiel mir ein. Dort, irgendwo an den Lagerhäusern, mußte die Arena sein, in der ich Ansgar besiegt hatte. »Hier herein!« Ich wurde in einen kleinen Raum gestoßen, der im Halbdunkel lag. Der einzige Lichtschein drang durch eine unverglaste Luke. Hinter einem niedrigen, grobgehobelten Tisch hockte der Wachtmeister. Er starrte mich überrascht an. »Für einen Mann, der noch gestern mit dem Tode gerungen hat, siehst du sehr kräftig aus, Fremder«, näselte er. »Vielleicht liegt es an der guten Verpflegung«, foppte ich ihn. Der Wachtmeister sprang auf. Humor schien ein rotes Tuch für ihn zu sein. Er war noch jung, vielleicht Anfang Zwanzig, hatte ein schmales Gesicht und hängende Schultern. Wie die Wärter trug er ein 39
Hemd aus ineinander verflochtenen Kettengliedern. Vor ihm, auf dem Tisch, lag ein kleiner Thorshammer. »Wart's ab! Deine Frechheit werden wir dir gleich austreiben, du dänischer Himmelhund!« Er machte einen Schritt auf mich zu und stierte mich von unten drohend an. »Ich bin kein Däne«, widersprach ich. Der Wachtmeister nickte. »Natürlich bist du keiner. Alle, die wir hier im Kerker 'aufbewahren', behaupten, sie sind nicht die, für die wir sie halten. Du bist also keine Ausnahme.« »Ich bin aus Thüringen«, sagte ich wahrheitsgemäß. Der Wachtmeister trat dicht an mich heran. »Du willst ein Untertan des deutschen Kaisers sein?« keifte er. »Genauso ist es«, behauptete ich hartnäckig. »Ich diene am Hofe des jungen Kaisers Otto III. Auf seinen Wunsch hin habe ich mich auf die Reise gemacht, um eurer Stadt einen Besuch abzustatten. Dann geriet ich in einen Hinterhalt. Ich wurde heimtückisch überfallen, ausgeraubt und besinnungslos liegengelassen. Als ich erwachte, war ich hier, im Tollhaus.« Der Wachtmeister lachte mich aus. »Du kannst schwafeln, soviel du willst. Ich glaube dir nicht ein Wort. Pah - Otto III. kann mir den Buckel runterrutschen.« Mir wurde klar, daß ich einem sehr dummen Menschen gegenüberstand, der nur das für bare Münze nahm, was ihm in den Kram paßte. Wahrscheinlich sah er mich schon auf Svarogs Opferaltar. »Warum glaubst du mir nicht?« fragte ich ihn. »Weil du ein verdammter Lügner bist!« Er stemmte seine Arme in die Seiten. »Du hast versucht, unsere Befestigungsanlagen auszukundschaften. Dein Wissen wolltest du an den Dänenkönig verscherbeln. Versuch nicht, es abzustreiten. Wir werden die Wahrheit doch aus dir herauskitzeln!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, griff er nach dem Thorshammer und schwenkte ihn vor meiner Nase. Ich wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Er bekam es fertig und zog mir das Teil über den Scheitel. Nur um sein angeknackstes Selbstwertgefühl aufzupolieren. »Angst?« höhnte er. Hinter mir hörte ich die Wachtposten, die die Tür flankierten, abfällig hüsteln. Ein komisches Gefühl regte sich in meiner 40
Magengegend. Möglicherweise war es ein Fehler, daß ich nicht sofort geflohen war. Ein tollkühner Sprung über den Palisadenzahn, ein kurzer Sprint, und ich wäre in Sicherheit gewesen. Jetzt stand ich da, in Eisen gelegt, und mußte mir die Frechheiten eines überkandidelten Wachtmeisters mit der Figur eines Zwölfjährigen anhören. Er nahm mein Stillschweigen als Zeichen der Furcht und fing an, vor mir auf- und abzugehen, als bezöge er Kilometergeld. Dann blieb er stehen, stupste mir den Hammerstiel unters Kinn und sagte: »Willst du hören, was wir mit dir vorhaben, dänischer Spion? Dann sperr deine Ohren auf!« Weitschweifig zählte er auf, welche Foltermethoden er in petto hatte. Mit wachsender Begeisterung schilderte er, wie er mich in eine glühende Röhre aus Eisen schieben wollte. Wie er mir nacheinander die Finger brechen würde. Wie er mir einen Trichter in eine Leibesöffnung stecken würde, um glühende Erzklumpen in meine Eingeweide zu schütten. Während sich der Sadist in einen Rausch redete und vor Erregung glühende Wangen bekam, kämpfte ich um Selbstbeherrschung. Doch äußerlich verfolgte ich seine perversen Ausführungen mit unbewegter Miene. Die Freude, sich an meiner Angst zu weiden, gönnte ich diesem Unhold nicht. Endlich beendete er seinen Monolog. »Und?« erkundigte er sich. »Was hältst du davon, verdammter Dänenhund?« »Hol dich der Henker!« sagte ich ruhig. Der Wachtmeister explodierte nach dieser Antwort vor Wut. Er schwang den Thorshammer. Ich war sicher, er hätte zugeschlagen, wenn nicht in diesem Augenblick die Tür aufgesprungen und ein großer Mann in lang wallender Kutte eingetreten wäre. Ein einziger Blick von ihm reichte aus, und der fuchsteufelswilde Wachtmeister wurde lammfromm. »Jasmund!« keuchte er. »Welche Ehre...?« *
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Es war stockfinstere Nacht. Nach dem Fortgang des Mannes, der behauptet hatte, er käme aus dem Jahre 1999, kauerte Friedhelm allein in dem Verlies. Der Lärm auf der belebten Straße oberhalb der Zelle war verstummt. Die Stadt schlief. Nur hin und wieder hörte Friedhelm Waffen klirren, wenn die Männer der Nachtstreife gemächlich vorübertrotteten. Am Abend hatten die Wärter eine Schale muffigen Wassers und einen angeschimmelten Kanten Brot in die Zelle gestellt. Wie ein hungriges Tier war Friedhelm darüber hergefallen. Nicht ein einziger Tropfen Wasser und nicht ein Fitzelchen Brot war übriggeblieben. Gern hätte Friedhelm ein wenig geschlafen. Es war still, und er hatte zu essen bekommen, aber er konnte einfach nicht abschalten. Am vergangenen Tag hatte es einfach zu viele Ungereimtheiten gegeben. Den Tod seines Freundes Narwall hatte er fast verschmerzt. Aber das Auftauchen des seltsamen, großen, blonden Mannes und die überraschende Wende im Verhalten des allerorts gefürchteten Hackups gaben ihm Rätsel über Rätsel auf. In Friedhelms Kopf rumorten die Gedanken wie Wackersteine. Zwuhl, der Hackup, galt in Vineta als einer der letzten Exemplare seiner Gattung. Eine Epidemie, die die Kaufleute aus den fernen Ländern eingeschleppt hatten, hatten das Volk der Zwerge mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Man schätzte die Zahl der überlebenden Hackups auf knappe zwei Dutzend. Und womöglich war Zwuhl sogar der letzte seiner Art in Vineta. Das war einer der Gründe, warum die Obrigkeit ihm all seine Streiche und Grausamkeiten nachsah. Er war ein Stück ursprünglicher, heidnischer Kultur. Doch wieso hatte Zwuhl an Mark Hellmann Gefallen gefunden? Es war doch bekannt, daß Hackups den Menschen spinnefeind waren. Was verband die beiden? Und was war mit diesem Mann aus Lehm, von dem Mark Hellmann ihm erzählt hatte? Sosehr sich Friedhelm den Kopf zerbrach, es wollte ihm einfach keine Erklärung in den Sinn. Er verstand die Welt nicht mehr. Wie hatte dieser hünenhafte Zeitreisende diese Lehmkreatur genannt? Golem? Friedhelm schauderte. Von draußen blies ein kalter, feuchter Wind herein, und sein Kittel war löchrig wie Spinnweben. Er zog die Knie an seinen 42
Körper, schlang seine Arme darum und stimmte eine leise, traurige Melodie an. Manchmal half ihm Singen beim Einschlafen. Statt zur Ruhe zu kommen, stieg eine bohrende Unruhe in ihm auf. Ihm war, als ob in Kürze etwas Ungeheuerliches passieren würde. Etwas, das schlimmer war als der Tod und alle entsetzlichen Dinge, die er bisher erlebt hatte, bei weitem in den Schatten stellte. Aber was konnte schlimmer sein, als auf dem Altar des Svarog zu enden? Ein Scharren. Ganz leise, als kratzte eine Maus mit winzigen Krallen an sprödem Holz. Friedhelm horchte angestrengt. »Friedhelm?« hauchte es. »Bist du da?« Beim Svarog! jagte es durch seinen Kopf. Täusche ich mich, oder ist das die Stimme von Fedora, meiner Herrin? Er antwortete nicht, lauschte nur. Wieder erklang sein Name, diesmal eine Spur lauter und deutlicher vernehmbar. »Fedora?« Er schraubte sich hoch. »Ja, ich bin's«, wisperte es zurück. »Ich bin gekommen, um dich aus diesem düsteren Kellerloch zu holen.« »Aber«, seine Stimme versagte. Unversehens stachen zwei rotglühende, fingerdünne Strahlen durch die Luke. Zitternd glitten die Lichtfäden über den Boden. Als sie Friedhelms Fußspitzen erreichten, krochen sie langsam an ihm empor. Wie gebannt beäugte er die sonderbare Erscheinung. Fedora! dachte er furchtsam. Sie ist die Tochter eines Rabbiners, der über kolossale magische Kräfte verfügt haben soll... Mitten in seinem Gesicht blieben die Lichtfäden haften. An der Stelle, wo sie seine nackte Haut berührten, spürte der Mann eine plötzlich einsetzende, unerklärliche Hitze. Als hielte jemand ein Brennglas auf ihn gerichtet. Aber es war Nacht, und von der Sonne keine Spur. »Ich sehe dich«, flüsterte Fedoras Stimme. »Steh jetzt auf und stelle dich genau unter die Luke.« »Herrin, es ist unmöglich. Die Luke ist vergittert.« »Gehorche!« 43
»Herrin! Man wird dich überraschen...« »Tu, was ich sage!« Friedhelm gab auf. Stelzbeinig tappte er an die bezeichnete Stelle. Die roten Lichtfäden zuckten zurück, blieben jetzt an der Wand haften, die hinauf zur Luke führte. Jäh hörte Friedhelm ein mörderisches Knirschen über seinem Kopf. Holz zerbarst. Mörtel rieselte auf seinen Kopf. Dann ringelte sich schlangengleich ein starker Strick, wie ihn Schiffer benützen, die Wand herab. »Greif zu! Du brauchst dich nur festhalten!« wies Fedora an. »Ich bin sehr schwach«, meinte der Gefangene. »Um mich raufzuziehen, wird meine Kraft nicht ausreichen.« »Du brauchst dich nur am Strick festhalten. Den Rest erledigt er.« Er? Friedhelm packte den Strick. Wer ist er? Fünf Sekunden später schloß Friedhelm seine Wissenslücke. Mit drei, vier unglaublich wuchtigen Zügen wurde er aus dem Kellerloch gehievt. Starke Fäuste zogen ihn durch die Luke auf die nächtlich dunkle Straße. Als er sich aufrichtete, sah er, daß die Gitterstäbe aus den Verankerungen herausgerissen waren. Auge in Auge stand er Fedoras Diener gegenüber. Friedhelm fuhr zusammen. Es war das Geschöpf, von dem der Zeitreisende gesprochen hatte. Ein Wesen, aus Lehm geformt. Der Golem stand neben Fedora, hielt den Strick gepackt und starrte ihn scheinbar teilnahmslos an, mit Blicken, die rotglühende Lichtfäden waren und weh taten. Nur unter Aufbietung seiner letzten Kräfte überwand Friedhelm sein Entsetzen. »Was - hast - du - vor, Herrin?« stammelte er völlig durcheinander. »Morgen nacht wird der Golem Mariana aus dem Kerker holen. Bis es soweit ist, werden wir uns am Hang des Eisenhügels verbergen. Dort, in unserem Schlupfwinkel, besprechen wir alles weitere.« Friedhelm fröstelte. Die Stimme Fedoras hatte jegliche Wärme verloren. Sie, einst die Güte und Freundlichkeit in Person, wirkte jetzt schroff, hart und gnadenlos. Er ahnte, daß die Frau außer Marianas Gefangennahme noch weitere abscheuliche Dinge erlebt haben 44
mußte. Gern hätte er sich nach Jokim, ihrem Mann, erkundigt. Doch er traute sich nicht. Es schien ihm verfrüht. Lieber würde er warten, bis sie aus eigenem Antrieb zu erzählen begann. »Zum Eisenhügel? Wie sollen wir ungesehen durch das Stadttor gelangen, Herrin?« wand er ein. »Es ist Nacht. Die Wachen werden sich weigern, uns aus der Stadt zu lassen. Sie werden Fragen stellen und versuchen, uns aufzuhalten.« »Wer uns in die Quere kommt, stirbt!« sagte Fedora kurz angebunden. »Der Golem wird sie in Stücke reißen. Wir haben nichts zu befürchten. Also los!« Auf wackeligen Beinen lief Friedhelm hinter seiner Herrin und dem Mann aus Lehm hinterher. Er hoffte inständig, daß sie keine Menschenseele trafen. Fedora war eine andere. Sie schien zu allem fähig... * Verglichen mit dem verhutzelten Tempelpriester Rexar, den ich siebzig Jahre später den Garaus machen sollte, war Jasmund von einem völlig gegensätzlichen Kaliber. Er war ein auffallend gutaussehender Mann um die Dreißig, schlank und beinahe sympathisch wirkend. Er trug einen purpurfarbenen Umhang, von einem schmucklosen Gürtel tailliert. Seine Füße steckten in Sandalen nach römischer Art. Ohne den Wachtmeister eines Blickes zu würdigen, trat er an das Fenster. Dort blieb er stehen und blickte eine Zeitlang stumm zum Hafen. Plötzlich fuhr er herum. Er musterte mich aufmerksam. »Schick deine Männer raus, Kyrill«, sagte er leise. Dabei ließ er kein Auge von mir. Der Wachtmeister stand wie eine Eins. Seine Mundwinkel begannen zu zucken. Er schien etwas einwenden zu wollen. Doch der Gedanke, dem allmächtigen Tempelpriester zu widersprechen, flößte ihm Unbehagen ein. Er schickte die zwei Wärter los. »Und jetzt du«, verlangte Jasmund. »Ich möchte mit dem Gefangenen allein sein.«
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Immer noch fixierte mich dieser geheimnisvolle Mann. Mir war, als fraßen sich seine durchdringenden Blicke in mein Gehirn. Ein sonderbarer Kauz. Kyrill folgte seinen Aufsehern. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, kräuselte ein flüchtiges Lächeln die Lippen meines Gegenübers. Bedächtig legte er seine Stirn in Falten. »Wie ist dein Name, Fremder?« fragte er. »Mark Hellmann«, antwortete ich. »Warum bist du hier?« Aha, dachte ich. Ein Verhör also. Offenbar traute Jasmund dem minderbemittelten Kyrill nicht über den Weg. Er wollte mich persönlich ausquetschen. »Auf Geheiß Kaiser Ottos des III.«, behauptete ich. »Mein Auftrag lautet, freundschaftliche Beziehungen mit den Pommern und Lutizen...« Jasmund winkte ab. »Unfug. Otto III. strebt nach der Wiedergeburt des römischen Weltreiches. Er plant, die Stämme des Nordens zu unterwerfen, um sie seinem Reich einzuverleiben. Sprich die Wahrheit! Nenne den Grund deines Kommens!« Der Tempelpriester war ein schlauer Fuchs. Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sollte ich ihm reinen Wein einschenken? Ihm, dem Tyrannen, der in Svarogs Namen erbarmungslos unschuldige Menschen zu Tode quälen ließ? »Ich höre«, raunte er. »Wage es nicht, mich ein zweites Mal zu hintergehen.« Viele Gedanken sausten durch meinen Kopf, ehe ich sagte: »Nun gut, du sollst die Wahrheit erfahren. Ich bin weder ein dänischer, noch ein Spion des deutschen Kaisers. Der einzige Grund, warum ich hier bin, ist der, Vineta vor einer großen Gefahr zu retten.« Jasmunds Augen funkelten gefährlich. Noch immer schien er mir keine Silbe zu glauben. »Was ist das für eine Gefahr?« hakte er nach. »Und woher willst du davon wissen?« »Ein Orakel offenbarte es mir«, fuhr ich fort. »In der Vorhersage geht es um das Auftauchen eines menschenverschlingenden Kolosses, aus dem Nichts erschaffen. Er wird in Vineta eindringen, die Stadt dem Erdboden gleichmachen und die Bewohner zuhauf massakrieren. Gegen ihn ist kein Kraut gewachsen. Er ist ein Riese von Gestalt, gegen 46
Lanzen, Schwerter und Feuer unempfindlich. Wo er erscheint, hält der Tod Einzug. Es gibt nur einen Menschen, der dieses Geschöpf aufhalten kann. Dieser Mensch bin ich.« Während ich redete, hatte sich Jasmunds Miene immer mehr verdüstert. »Bist du ein Geisterbanner?« forschte er. »Wenn du so willst, ja«, legte ich nach. »Ich ziehe durch das Land und vertreibe die bösen Geister, wo ich sie antreffe. Deswegen bin ich hier.« Jasmund trat ans Fenster und schaute hinaus. Derweil überdachte ich meine nächsten Schritte. Ich mußte dem Tempelpriester vorgaukeln, daß er mich brauchte. Ein Geisterbanner, in Ketten gelegt, nützte ihm einen feuchten Kehricht. Neugierig wartete ich auf seine Reaktion. »Das Geschöpf, von dem du gesprochen hast«, er wandte sich mir zu, »ist es schon in der Nähe?« Ich nickte betrübt. »Wo liegt sein Ursprung?« wollte er wissen. Jetzt oder nie! Ich beschloß, in die totale Offensive zu gehen. »Der Ursprung des Bösen liegt in dir, Jasmund«, ließ ich die Puppen tanzen. Meine Worte trafen ihn bis ins Mark. Er zuckte zusammen, stieß einen kehligen Laut aus und starrte mich wutentbrannt an. »Ist dir klar, daß ein Fingerschnipsen von mir ausreicht, um dich auszulöschen?« »Ich spreche die Wahrheit«, beharrte ich. »Das ungerechte Kesseltreiben, das du gegen die jüdische Bevölkerung führst, hat ihre Götter erzürnt. Und sie haben beschlossen, sich gegen dich aufzulehnen.« Jasmund rang um Fassung. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich seinen wunden Punkt getroffen hatte. Sogleich wurden meine Ahnungen bestätigt. »Auch meine Orakel kündigen Unheil an«, sagte er. »Allerdings vermutete ich den Ursprung des Bösen woanders.« »Du glaubtest, wenn du die Juden verfolgst, würdest du das Unglück abwenden können. Doch gerade dieser Umstand hat alles Übel heraufbeschworen. Wenn du jetzt nicht aufpaßt, wird Vineta vernichtet werden.« »Und du kannst Abhilfe schaffen?« Er sah mich groß an. »Ich denke schon.« »Wie willst du den Golem bekämpfen?« 47
Innerlich atmete ich auf. Jasmund hatte den Köder geschluckt. Meine Position war gestärkt. Doch ich mußte höllisch achtgeben. Im Nu könnte er seine Meinung ändern. Ich brauchte eine Gelegenheit, um ihm meine Loyalität zu beweisen. Wenn es mir gelang, ihn zu beeindrucken, hatte ich gewonnen. »Die Methoden der Geisterbanner sind streng geheim.« Ich starrte ihn herausfordernd an. »Gib mir eine Kostprobe deiner Kunst.« Jasmund belauerte mich mißtrauisch. Anklagend hielt ich meine zusammengeketteten Arme in die Höhe. Der Tempelpriester nickte. Er rief nach dem Wachtmeister und befahl, meine Fesseln zu lösen. Kyrill war wie vor den Kopf geschlagen. »Das ist nicht dein Ernst, Jasmund...« »Nimm dem Mann die Ketten ab!« fuhr ihn Jasmund an. »Beim Svarog! So tue endlich, was ich dir sage!« Kyrill tat, wie ihm geheißen. Dann schlich er wie ein geprügelter Hund hinaus. Bevor er verschwand, warf er mir einen flackernden Blick zu. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich würde mich an ihm rächen, jetzt, wo ich unter der Obhut Jasmunds stand. Wieder waren wir allein, der allmächtige Tempelpriester und ich. »Mach schon!« schnarrte er mich an. »Worauf wartest du? Beweise mir, daß du kein Scharlatan bist.« Ich rieb mir die schmerzenden Handgelenke. Das Gefühl, bald in Freiheit zu sein, ließ mich vor Wonne erschaudern. Jasmund glaubte tatsächlich, ich würde um seine Gunst buhlen. Leider mußte ich den Ärmsten enttäuschen. Ich versetzte Jasmund einen respektlosen Stoß vor die Brust, daß er gegen die Wand geschleudert wurde und hinfiel. Dann sprang ich zur Tür. Ich donnerte Kyrill die Faust unters Kinn und schwang mich über die Brustwehr. Hinter mir ertönte wütendes Gebrüll. Ich sah mich nicht um. Rannte und rannte. Als ich haltmachte, um zu verpusten, befand ich mich auf dem Marktplatz. Mitten in einer kunterbunten, hin- und herwogenden Menschenmenge. Fürs erste war ich dem Opferaltar des Svarog entwischt.
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Dennoch mußte ich fortan doppelt wachsam sein. Der Tempelpriester würde seine Niederlage nicht so ohne weiteres hinnehmen. Was er mit seinen Feinden anzustellen pflegte, war mir ja inzwischen hinlänglich bekannt. Voller Hoffnung schob ich mir den Siegelring auf den Finger... * Sie näherten sich dem Stadttor. Schon von weitem sah Friedhelm, daß die schweren Riegel vorgeschoben waren. Wie sollte es auch anders sein? Solange er denken konnte, wurden die Tore nach Sonnenuntergang versperrt. Unwillkürlich verlangsamte er seinen Schritt, blieb immer mehr zurück. Fedora und der Golem, dessen Gestalt einem Menschen täuschend ähnlich sah, zeigten dagegen nicht die Spur einer Schwäche. Geradewegs steuerten sie auf die zwei Büttel zu, die das Tor bewachten. Im bernsteinfarbenen Schein einer Holzlaterne waren die Männer gut zu erkennen. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Dennoch behielten Fedora und der Golem ihr zügiges Tempo bei. Friedhelm hielt den Atem an. Eine unvermeidliche Auseinandersetzung bahnte sich an. Da blickte sich Fedora um. »Friedhelm«, befahl sie in gelassenem Ton, »leg gefälligst einen Zahn zu! Ich hab nicht die Absicht, mir deinetwegen die Nacht um die Ohren zu schlagen.« »Ja, Herrin. Ich beeil mich ja schon«, wisperte er beflissen. Für einen Augenblick wünschte er sich in die Tiefen seines Kerkers zurück. Dort hatte er sich sicherer gefühlt als im Schlepptau eines Monstrums, das Gitterstäbe wie Loshölzchen entzweibrach. Zudem flößte ihm der Gedanke, alsbald ungewollt Zeuge barbarischer Untaten zu werden, schieres Entsetzen ein. Zwar hatte Friedhelm guten Grund, die Büttel wie das Fleckfieber zu hassen, aber er war zeitlebens ein friedvoller Mann gewesen. Ein Mensch, der Gewalt zutiefst verabscheute. Schlimm genug, was er in den letzten Tagen im Tollhaus erleben mußte. Bislang hatte er jedesmal auf der Seite derer gestanden, die Gewalt über sich ergehen lassen mußten. Diesmal waren die Vorzeichen genau umgekehrt. 49
Fedora hatte geschworen, jedem Hindernis, das sich ihr in den Weg stellte, das Wesen aus Lehm auf den Hals zu hetzen. Und die Männer der Stadtwache waren ein Hindernis. Friedhelm blieb stehen. Auch Fedora und der Golem machten halt. Die beiden Büttel hielten es für unangemessen, ihre Schwerter zu zücken. Fedora war eine Frau, und der Golem trug keine Waffen. »Wohin des Wegs?« fragte einer der Wärter. Er war lang, schlaksig und trug einen zottigen, weißblonden Vollbart. Den Helm hatte er lässig in den Nacken geschoben. »Zum Haff«, sagte Fedora. »Öffnet das Tor!« Dem Langen schien diese Unverfrorenheit glattweg die Sprache verschlagen zu haben. Entgeistert starrte er die selbstbewußte Frau an. Sein Partner, ein stuckiger Mann um die Dreißig, erwies sich als schlagfertiger. »Es ist verboten, des Nachts die Stadt zu verlassen«, krähte er unwirsch. »Oder hast du eine Genehmigung, Frau?« »Du willst eine Genehmigung?« Fedora sah ihn vernichtend an. Der Lange hatte sich wieder im Griff. »Wer seid ihr eigentlich, daß ihr nachts einfach so umherspaziert, wie es euch gefällt? Wißt ihr nicht, daß es in Vineta strenge Gesetze gibt?« Fedora nickte. »Fürwahr, ich habe diese Gesetze am eigenen Leib erfahren. Und das nicht zu knapp. Man drang in mein Haus ein, tötete meinen Mann, verschleppte meine Tochter und stahl meinen Besitz. Das sind die Gesetze. Ab sofort werde ich diese Gesetze ebenso treu befolgen.« Friedhelm sah, daß die Büttel zauderten. Offensichtlich hielten sie Fedora für eine Verrückte. Nur Verrückte spazierten nachts zum Stadttor und verlangten noch dazu, diese passieren zu dürfen. Schon nestelte der Lange an seiner Hüfte, direkt neben dem Schwertgriff. Sein kleinerer Kumpan beäugte den Golem. »Und wer bist du?« fragte er ihn. Der Golem stand reglos. »He, du Flundernkopp!« schnauzte der Stuckige. »Ich hab dich was gefragt. Antworte mir! Sonst werde ich dir eine Abreibung verpassen. Hast du kapiert?« »Er kann nicht sprechen«, sagte Fedora und trat vor den Golem. »Er ist stumm. - Soll er dir das etwa selber sagen?«
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Der Stuckige wischte ihren Einwand beiseite. »Und wieso sieht er aus, als hätte er tagelang in einer Lehmgrube gehockt? Das ist verdächtig.« Fedora sagte: »Nun los, ihr Kerls! Quatscht keinen Seetang. Macht endlich das Tor auf! Oder glaubt ihr, ich will mir selbst die Hände schmutzig machen.« Friedhelm schloß die Augen. Ihm war, als drehte sich sein Herz im Leibe herum. Der fühlte eine Ohnmacht nahen. Seine Herrin bettelte geradezu darum, in Schwierigkeiten zu kommen. Fedora schien von allen guten Geistern verlassen. Was sie tat, konnte einfach nicht gutgehen. Ging es auch nicht... Die Büttel zückten ihre Schwerter. Der weißblonde Zottelbart schwenkte seine Waffe theatralisch und hielt die Spitze auf Fedoras Brust gerichtet. Der Stuckige bedrohte den Golem. »Auf den Boden mit dir, Weib!« knirschte der Lange. »Du auch, Stummer!« zog sein Partner nach. Mit gesträubten Nackenhaaren beobachtete Friedhelm, daß sich weder Fedora noch der Golem um die Befehle der Büttel scherten. Statt dessen wandte sich seine Herrin an das Geschöpf aus Lehm. Sie berührte seine Hand und murmelte etwas. Ein Knistern. Trockenes Holz, das man ins prasselnde Feuer warf, knisterte manchmal so. Urplötzlich erschienen die zwei roten Lichtfäden, die Friedhelm bereits kannte. Die Blicke des Golems. Sie stachen auf das heruntergezogene Nasenteil des Eisenhelmes, den der Stuckige trug. Unversehens fühlte sich der Torwächter bedroht. Er packte sein Schwert fester und holte gegen den Golem aus. Was Friedhelm jetzt sah, war so schrecklich, daß er auf die Knie sank. Der Schwertstreich war mit großer Kraft geführt worden. Er traf den Oberarm des Golems. Das Knirschen fraß sich wie ein Geschwür in Friedhelms Ohr. Kein normal Sterblicher hätte diesen Hieb unbeschadet überstanden. Der getroffene Arm wäre verloren gewesen. Aber der Golem stand wie eine Eins. Ohne einen Mucks griff er in die Klinge, brach sie mittendurch und schlug dem Stuckigen eine Faust ins Gesicht. Den Mund weit aufgesperrt, brach der Getroffene zusammen. Der Nasenschutz
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des Eisenhelmes hatte sich in seinen Schädel gebohrt und ein tiefes Loch in der Stirn verursacht. »Das Tor!« sagte Fedora zu dem Zottelbart. »Hexe!« schrie der und schwang sein Schwert, um Fedoras Kopf zu spalten. Doch er hatte seine Rechnung ohne den Golem gemacht. Das Geschöpf aus Lehm schubste Fedora sacht beiseite und stellte sich schützend vor sie. Seelenruhig wartete er ab, daß die scharfgeschliffene Klinge auf seinem Scheitel landete. Ein schriller Schleifton erklang, als ob Metall an einem Feldstein schabte. Spätestens jetzt wußte der Büttel, wie der Hase lief. Er zögerte keine Sekunde. Er ließ sein Schwert fallen und wollte Reißaus nehmen. Der Golem war schneller. Er stellte ihm ein Bein. Friedhelm sah, wie der schlaksige Zottelbart lang auf die holzgepflasterte Straße schlug. Der Helm des Büttels kullerte ihm scheppernd entgegen. Flink wie ein Frettchen sprang der Lange wieder auf die Beine. Die Angst schien ihm Flügel zu verleihen. Abermals versuchte er zu entkommen. Doch der Mann aus Lehm war nicht müßig. Er packte den Fliehenden am Kettenhemd. Der Büttel strampelte, versuchte, sich aus dem harten Griff herauszuwinden. Ohne Erfolg. Wie ein Püppchen aus Stroh schwenkte ihn der Golem durch die Luft. »Weigerst du dich noch immer, das Tor zu öffnen?« fragte Fedora kaltblütig: »Nein! Nein! Ich tu's!« Der Lange zappelte. »Schaff mir nur diesen verdammten Lehmkerl vom Leibe.« Friedhelm spürte, daß sich sein Zustand rapide verschlechterte. Sein Herz setzte ein paar Takte lang aus. Hiernach schlug es um ein Vielfaches schneller und stärker. Die Aufregung war blankes Gift für ihn. Mit letzter Kraft warf er einen Arm in die Höhe. »Fedoraaa...!« Der stechende Schmerz, so als triebe ihm jemand einen Spieß in den Leib, ließ ihn verstummen. Die Frau wirbelte herum. Als sie sah, daß ihr getreuer Diener zusammengebrochen war, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Der aufgestaute Haß wich einem besorgtem Mitgefühl. Behende raffte sie die Röcke und stürzte auf ihn zu.
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Friedhelm lag rücklings am Boden, die Arme weit ausgebreitet, als wolle er die ganze Welt umarmen. Fedora hob seinen Kopf. Leise redete sie auf ihn ein. Aber Friedhelm sah und hörte nichts mehr. Er schwebte in einer Dimension, die ein Zwischending von Diesseits und Jenseits darstellte. Kaleidoskopartig erschienen in seinem Geiste kunterbunte Erinnerungen. Er sah sich als kleinen Jungen. Spielend am Ufer des himmelblauen, baltischen Meeres. Der unendlich lange Strand war von einem strahlenden Weiß. Mit einer Holzschippe, die ihm Vater geschnitzt hatte, buddelte er im Sand. Er wollte eine Burg bauen. So wie die Tempelburg des Svantevit in Arkona. Oder die des Svarog in Rethra. Als er das Gebilde fertiggestellt hatte, rannte er nach Hause. Mutter sollte die erste sein, die die wunderbare Burg betrachten sollte. An der Tür zu ihrer Hütte traf er einen fremden Mann. Der sagte, sein Vater wäre beim Fischen verunglückt. Jetzt sei er sein Vater. Und eine Mutter hätte er auch nicht mehr. Die hatte ja den Vater zu begleiten. Dafür müsse er Verständnis aufbringen. Der Todesengel würde sich schon um die Mutter kümmern. Als er vor unsagbaren Schrecken laut aufschrie, hatte ihm der neue Vater eine runtergehauen. Und am Abend gab es nichts zu essen. Auch am folgenden Abend nicht... Unvermittelt kam Friedhelm wieder zu sich. Ein dumpfer Schmerz galoppierte durch seinen Brustkorb. Aber es war auszuhalten. Friedhelm schlug die Augen auf. Und blickte Fedora ins Gesicht. Sie hatte verweinte Augen, war leichenblaß und atmete tief auf, als er leise fragte: »Wo bin ich, Herrin?« Die Frau lächelte unter Tränen. »In Sicherheit, Friedhelm. Du hattest einen Herzanfall. Jetzt sind wir in einer geheimen Höhle am Hang des Eisenhügels. Jokim hat sie gebaut, für alle Fälle. Und der Golem hat dich hierhergetragen. Wir dachten schon, du wärst tot.« »Ich und tot?« Friedhelm tat beleidigt, und Fedora mußte lachen, als sie sein gespielt entrüstetes Gesicht sah. Schnell lief sie, dem Kranken einen stärkenden Trank zu holen. Jetzt war Fedora wieder die alte, eine Frau voller Güte und menschlicher Wärme, fand Friedhelm.
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Plötzlich fiel ihm ein, daß er ihr noch gar nichts über den seltsamen Zeitreisenden erzählt hatte. Gleich wenn sie wiederkam, würde er sein Versäumnis nachholen. Fedora war seine Herrin. Es würde sie brennend interessieren, daß dieser Mark Hellmann die Geheimnisse der Schemhamphoras kannte. Hatte er nicht auch gesagt, er wäre sogar wegen des Golems hier? Friedhelm erschrak. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß Fedora und sein ehemaliger Zellengenosse Gegner waren. Schließlich plante der Zeitreisende, den Diener seiner Herrin zu vernichten. Erneut meldete sich sein Herz. * Das Wirtshaus Zum Knurrhahn war eine armselige Spelunke. Es gab keine Fenster. Das Licht fiel durch die offenstehende Tür. In die fauligen Bretterwände hatte man ringsum Holznägel geschlagen. Bauchige Tonkrüge, Trinkbecher und Eimer jeglichen Kalibers hingen daran. Von der Decke baumelte ein ausrangiertes Fischernetz auf den klobigen Schanktisch herab. Neben dem Tresen eine kniehohe Herdstelle aus gebranntem Lehm, in dem ein schwächelndes Feuer knisterte. Als ich eintrat, war der Wirt gerade damit beschäftigt, ein gewaltiges Gefäß Bier zu leeren. Es waren keine Gäste anwesend, und er schien den Leerlauf auf seine Art zu überbrücken. Der Mann trug einen gestutzten Kinnbart und hatte einen Bauch vom Umfang eines mittleren Heringsfasses. Ohne beim Trinken innezuhalten, glotzte er mir entgegen. Ich stellte mich an die Theke und wartete, bis er ausgetrunken hatte. Mein Magen knurrte wie verrückt. An meine letzte Mahlzeit konnte ich mich nur ungenau entsinnen. Es mußte in Swinemünde gewesen sein, kurz bevor ich meinen Siegelring aktivierte, um in den Tunnel der Zeiten einzutauchen. Tessa Hayden, meine Freundin aus Weimar, und Vincent van Euyen waren bei mir gewesen. Bis zuletzt hatten sie mir hart zugesetzt. Sie wollten mich davon überzeugen, sie auf meine Zeitreise in die Frühstadt Vineta mitzunehmen. Besonders Vincent, ein Fotoreporter, der mir die Grundbegriffe seiner Kunst 54
beigebracht hatte, erwies sich als ungemein halsstarrig. Als ich ihm endgültig einen Korb gab, spielte er die beleidigte Leberwurst. Ich erschauderte jedesmal, sobald ich mir vorstellte, was passiert wäre, hätte ich mich breitschlagen lassen. Tessa und Vince im Tollhaus von Vineta! Umgeben von sadistischen Wärtern. Angefallen von bärenstarken Hackups. Ausgeliefert den spontanen Grausamkeiten wahnsinniger Mitgefangener. Ohne Essen und Trinken. Nackt. Frierend. Verzweifelt. Ich bereute meine Entscheidung nicht eine Sekunde. Normalerweise sollten Tessa und Vincent heidenfroh sein, mein Los nicht teilen zu brauchen. Aber wie sagte Lydia, meine Mutter, immer so schön? Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Endlich hatte der kugelbäuchige Wirt seinen Durst gestillt. Er setzte den Krug ab, wischte sich mit dem Ärmel den Schaum von den Lippen und rülpste herzhaft. »Prosit!« sagte ich. Er musterte mich forschend. In meinem dreckverkrusteten Putzlappen kam ich mir vor wie eine Vogelscheuche. Der Wirt schien dasselbe zu denken, denn er fragte: »Womit willst du zahlen, Fremder?« American Express, schoß es mir irrsinnigerweise durch den Kopf. »Geld hab ich keines«, berichtete ich wahrheitsgemäß. »Nicht mal welches aus Eisen?« Eisengeld war zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches. Für Leute, die weder Gold, Silber, noch Kupfer besaßen, diente es untereinander als allgemein anerkanntes Zahlungsmittel. Manchmal waren es nur Halbfabrikate oder kleine Rohlinge, die der ansässige Schmied im Handumdrehen weiterverarbeiten konnte. »Nein«, seufzte ich, »auch keines aus Eisen. Trotzdem hab ich mörderischen Hunger. Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, bei dir zu bezahlen.« »Hm, ganz ohne Geld?« Der Kneipier verfiel ins Grübeln. Er schien ein gutmütiger Kerl zu sein. Sein pausbäckiges Gesicht mit den großen, blauen Augen begann heftig zu arbeiten. Er bemühte sich um eine befriedigende Lösung. Aber Geschäft blieb nun mal Geschäft, und wer hatte schon etwas zu 55
verschenken, überhaupt an einen Unbekannten? Versucht mal heutzutage, in einer Gaststätte ohne Geld ein Essen zu bekommen! Wetten, es wird keinem von euch gelingen. »Ich könnte etwas für dich erledigen«, schlug ich vor. »Da bin ich aber neugierig. Was denn so?« Wieder knurrte mein Magen. Es war das einzige Geräusch in der Gaststube. Plötzlich zuckte es um seine Mundwinkel. Schon keimte ein bißchen Hoffnung in mir, da meinte der Wirt: »Ich hätte da ein paar Abfälle, Fremder. Bevor du anfängst, für mich zu arbeiten, kannst du dich erst mal stärken.« »Wie?« Ich fiel aus allen Wolken. Er dachte, ich hätte ihn nicht verstanden. »Fischkütt, Treber, Kohlstrünke und sogar ein paar Brotkrusten. Wenn dir damit geholfen ist, kannst du das Zeug haben. Es steht in der Tonne hinterm Haus. Aber hüte dich vor den Katzen. Die Biester können verdammt sauer werden.« Das ist das Ende! dachte ich. Dämonenjäger Mark Hellmann, Kämpfer gegen das Böse, Träger des magischen Siegelrings, über einen Kübel stinkender Fischeingeweide gebeugt, der von einem Trupp zähnefletschender Katzen bewacht und verteidigt wurde. Ich mußte ziemlich entgeistert aus meinem Bettler-Outfit geschaut haben, denn der Wirt brach unversehens in ein homerisches Gelächter aus. Mit beiden Händen hielt er seinen Bauch, der auf- und abhüpfte wie ein Ball. »Das sollte 'n Witz sein!« röhrte er. »Ich lach mich scheckig!« Ich fand das gar nicht lustig. Der Mann nahm mich auf die Schippe und machte mich zum Gespött. Noch immer hielt er seinen massigen Bauch vor Lachen. Von wegen, ein gutmütiger Kerl. Ich sah ein, es hatte keinen Zweck, ohne klingende Münze ein Essen ergattern zu wollen. Die Idee, es trotzdem zu probieren, war geradezu hirnrissig gewesen. Sie entstammte auch nicht meinem Hirn, sondern meinem Bauch. »Leb wohl!« Ich hatte die Nase voll und wandte mich ab. Und wäre fast mit einer pummeligen Frau zusammengestoßen. »Warum so eilig, großer, blonder Mann?« fragte sie. Ich schluckte. Das Pummelchen reichte mir kaum bis zur Achselhöhle. Sie trug ein reichverziertes Kleid, Schnürschuhe aus Wildleder und gleich mehrere kostbare Halsketten übereinander.
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Ihre Löwenmähne war von einem knalligen Rot und bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrem kreideweißen Teint. Mit einer Mischung aus Neugier und Koketterie blinzelte mich die Frau an. »Laß die Finger von ihm, Katyna!« Der Wirt schnappte nach Luft. »Mit ihm sind keine Geschäfte zu machen.« Dem Aussehen nach mußte die Frau eine Hure sein. Schon wegen ihrer hochgeschnallten Brüste, die schamlos aus dem Uförmigen Ausschnitt quollen. Als ich ihre Zwillinge interessehalber kurz anschaute, bog sie herausfordernd das Rückgrat durch. Der Stoff strammte, als wolle er zerreißen. »Möchtest du sie einmal richtig angucken?« fragte sie todernst. »Ohne das olle Drumherum?« Ich stand da wie belämmert. Es wurde höchste Eisenbahn, daß ich aus dieser vermaledeiten Kneipe kam. »Du wirst ja richtig rot!« staunte Katyna laut. »Beim Svarog! Du bist die Melone im Kürbisfeld. Ich kenne sehr viele Männer. Sie werden nur rot, wenn sie... Naja«, sie räusperte sich. »Du gefällst mir, blonder Mann. Ich habe heute einen einträglichen Tag gehabt. Deswegen werde ich eine gute Tat tun. Ich werde dich zum Essen einladen. Du hast doch Hunger?« Vergeblich versuchte ich zu verhindern, daß mich mein Magen in die Pfanne haute. Aber er knurrte, als wäre ich ein Bauchredner. »Vielleicht ein andermal, gute Frau«, sagte ich. »Ich muß jetzt gehen.« Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast umhaute, ergriff Katyna meine Hand. Mit der anderen holte sie eine blinkende Münze aus den Tiefen ihres Brusttuchs und knallte sie auf die Theke. »Wirt!« sagte sie laut. »Zwei Essen und einen großen Krug Nabid. Aber 'n bißken fix, wenn ich bitten darf.« Die Lady hatte Mumm! Ich gab jeglichen Widerstand auf. Es nützte niemandem, wenn ich weiterhin hungrig durch die Straßen trabte. Mit leerem Magen gegen den Golem antreten? Warum sollte ich mich nicht von einer Frau einladen lassen? Emanzipation im Jahre 999. Mark Hellmann als Gigolo, mal was anderes. Tessa würde wahrscheinlich an die Decke gehen, wenn ich ihr flüsterte, ich hätte mich in Vineta mit einem Freudenmädchen verlustiert. »Einer reizenden Frau konnte ich noch nie widerstehen«, schnaufte ich. Und es war die Wahrheit. 57
Sie entblößte zwei Reihen weißer Zähne. »Ein großer, blonder Mann, der Komplimente macht. Das lob ich mir.« Wir setzten uns an eine lange Tafel im hintersten Teil der Kneipe. Immer noch waren wir die einzigen Gäste. Katyna schlüpfte in die Rolle der Wohltäterin. Ich tat, als würde ich nicht bemerken, daß sie mich mit unverhohlen gierigen Blicken verschlang. Zeitweise kam ich mir vor wie ein garnierter Appetithappen. Aber bereits wenig später erkannte ich, daß Katyna eine überaus kluge und tapfere Person war. Der Wirt brachte einen Riesenkrug Bier und stellte zwei kleinere Gefäße daneben. »Der Tisch«, sagte Katyna. »Wie viele Wochen hast du ihn nicht mehr abgewischt?« Wieselflink zauberte der Wirt ein fleckiges Leintuch aus seinem Wams, spuckte es an und begann, das stumpfe Holz zu polieren. »Es reicht«, Katyna schenkte die zwei Tonkrüge voll, hob ihren und gab dem Kneipier das Zeichen, sich zurückzuziehen. Er parierte aufs Wort. »Wohl bekomm's!« tönte sie und strahlte. Wir stießen die Krüge gegeneinander und tranken. Das Bier schmeckte fürchterlich. Wie damals üblich, wurde es nicht durchgesiebt. Das Trinken verlangte einige Geschicklichkeit, denn in dem Getränk tummelten sich noch verschiedene feste Zutaten: Tannenrinde, Polei, Majoran, Pimpinelle, Kardamomsamen und vieles andere mehr. Während wir aufs Essen warteten, erzählte meine Gastgeberin aus ihrem bewegten Leben. Von Natur aus bin ich ein guter Zuhörer. Vorausgesetzt, das Thema interessiert mich. Und worüber Katyna sprach, haute mich fast von der Bank! Soeben teilte sie mir unverblümt mit, in ihrem Gewerbe gäbe es sogar Kolleginnen, die Unterirdische mit in die Liebeswagen nahmen. Ich war perplex. »Zwerge?« »Natürlich. Manche der kleinen Kerle sind zwar in höchstem Maße unansehnlich, aber«, sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, »sie sind ausgesprochen spendabel. Es gibt welche, die ungeheure Schätze versteckt halten. Und wann man nett zu ihnen ist, schauen sie nicht auf ein Goldstück mehr oder weniger.« 58
Ich kriegte eine Gänsehaut, während Katyna ihren Krug hob und einen langen Zug nahm. Dann sah sie mich durchdringend an. »Ich kenne sogar eine Frau, die sich bereitfand, für einen Hackup die Leihmutter zu spielen.« »Das ist nicht dein Ernst?« »Wieso nicht? Glaubst du, für eine Hure wäre es angebrachter, ihre Kinder verhungern zu lassen?« »Nein, aber...« »Das Leben ist hart. Und Hunger fragt nicht danach, woher das Geld kommt.« »Hm, gibt es keine anderen Möglichkeiten, als solche Geschäfte mit Zwergen zu machen?« »Hast du überhaupt schon einmal einen Zwerg gesehen?« »Ich kenne Zwuhl. Ein wahrhaftig unansehnliches Geschöpf. Ich frage mich, wozu er eine Leihmutter braucht. Um eine Familie zu gründen?« »Richtig. Weibliche Hackups sind so selten wie blonde Mohren. Die meisten von ihnen starben an fremden Krankheiten, für die es keine Heilung gab. Jede Rasse will nun mal überleben.« Ich schüttelte den Kopf. Beim besten Willen, Zwuhl als liebenden Vater? Das war in höchstem Maße bizarr! Katyna fuhr nachdenklich mit einem Finger über den Rand ihres Kruges. »Einmal hab ich mir Zwuhls Stammhalter angesehen. Ich war überrascht, denn der Kleine ist ein prächtiger, kleiner Kerl geworden. Zwuhl behauptet, er verfüge über übernatürliche Gaben.« »Welche?« Meine Wohltäterin winkte ab. »Ich halte es für Geschwätz. Aber Zwuhl ist der Meinung, sein Söhnchen könne in die Zukunft sehen.« »Stopp!« Ich sprang auf, kam mit einer Hand an meinen Krug und kippte ihn um. Das Bier lief über den Tisch. »Was sagtest du da eben, Katyna?« Die Hure schaute mich verdutzt an. »Zwuhl behauptet, sein Sprößling könne hellsehen.« Ich ließ die Worte auf mich einwirken. Als ich im Tollhaus saß, hatte mich Zwuhl von jemandem grüßen wollen! Ein innerer Impuls kündigte mir an, daß ich sogleich eine schockierende Neuigkeit serviert bekommen würde. 59
Weit beugte ich mich über den Tisch. »Sag mir nur eines, Katyna«, krächzte ich. »Seinen Namen.« »Du willst seinen Namen wissen?« »Jajaja, zum Teufel! Wie heißt der Kleine?« »Ich begreife deine Aufregung nicht, Mark Hellmann...« »Bitte, den Namen!« flehte ich. »Lurjahn.« * Fassungslos sank ich auf meinen Platz. Lurjahn! Ein Nachkomme des Hackups Zwuhl. Es kribbelte unter meiner Haut, als würde eine Kompanie Ameisen darunter aufmarschieren. Aus dem Lurjahn würde später einmal der Hüter des Verborgenen werden, der Wächter von magischen Teilen, die durch pure Zufälle in die falschen Hände fallen sollten. Bislang hatten sich unsere Wege dreimal gekreuzt. Und zwar im 20. Jahrhundert. Die Wahrsagerin Wilhelmine Kroll aus Seilin am Schmollensee hatte mir als erste über ihn berichtet (Siehe MH 41). Es war 1998 gewesen, als ein phantasiebegabtes Mädchen zufällig das Medaillon der Sehnsüchte auf dem Bansiner Friedhof fand. Mit jedem Wunsch, den die kleine Aline äußerte, wuchs das Dämonische in ihr. Als ich ihr das Relikt abjagen wollte, wäre mein Vorhaben um Haaresbreite in die Hosen gegangen. Zum Glück tauchte der Lurjahn auf und entriß dem Mädchen das Medaillon, während ich mit einem Besessenen um mein Leben rang. Das letzte Mal traf ich den Hüter des Verborgenen in meiner Heimatstadt Weimar. Im Hotel Elephant. Durch einen üblen Trick war es einem karrieresüchtigen Illusionisten gelungen, den Zwerg gefangenzunehmen und seine Zauberkräfte anzuzapfen (Siehe MH 42!). Und jetzt, 999, eintausend Jahre vor diesen Ereignissen, stand ich sozusagen an der Wiege dieses legendären Zwergen-Geschöpf es. In Vineta, der zum Tode geweihten Frühstadt! Nur allmählich fand ich meine Selbstbeherrschung zurück. »Nabid«, sagte ich hohl. »Schenk mir noch mal ein, Katyna.« »Gern.« Sie lächelte.
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Das trübe Getränk plätscherte in meinen Krug. Ich riß es an meine Lippen und stürzte das Bier hinter die Binde. Dabei verschluckte ich mich und erlitt einen Hustenanfall. »Du bist ein seltsamer Mensch, Mark Hellmann.« Katyna bedachte mich mit einem eigentümlichen Augenaufschlag. »Wie wär's, wenn du mir einige Dinge aus deinem Leben berichten würdest? Du hast mich neugierig gemacht.« Der Wirt schaukelte ein armlanges Holzbrett an den Tisch. Die unterschiedlichsten Leckereien reihten sich darauf nebeneinander. Gebratenes Geflügel, gegrillte Lammkoteletts, Schweinebraten und geräucherte Fische, am Rand ein dunkles Brot, das noch dampfte und einen würzigen Duft verströmte. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Kaum standen die Köstlichkeiten auf dem Tisch, fiel ich wie ein hungriger Bär darüber her. Großmütig ließ mich Katyna gewähren. Offenbar hatte sie beschlossen, ihre Befragung zu verschieben, bis ich gesättigt war. Mir sollte es recht sein. Während ich mir den Bauch vollschlug, erklangen von draußen plötzlich das Läuten von Kuhglocken und die melodischen Töne von Hirtenhörnern. Gleichsam erscholl ein rasch anschwellendes Getrappel. Vieh wurde vorbeigetrieben. Ich lauschte. Innerliche Panik. »Was hast du?« fragte Katyna. »Mit einemmal bist du gespannt wie eine Bogensehne.« Ich tat, als hätte ich zu hastig gegessen, knetete an meinem Bauch herum und spähte dabei aus den Augenwinkeln zur Tür. Jäh war mir klargeworden, daß mich der bohrende Hunger leichtsinnig hatte werden lassen. In der Gaststube gab es nur eine Tür und keine Fenster. Gesetzt den Fall, jemand würde hereinkommen, der es auf mich abgesehen hatte, säße ich in der Mausefalle. Schon erschien eine Gestalt im Türrahmen. Es war ein Junge, ungefähr zwölf, mit langen, ungepflegten Haaren und schmutzigen Händen. Um den Hals trug er ein Hirtenhorn. Spornstreichs steuerte er auf den Wirt zu, der ihn freudestrahlend angrinste. »Hast du Hunger, Radur?« hörte ich ihn fragen. »Nein, nur Durst, Vater. Gib mir von dem Bier.« Sofort schrillte in mir die Alarmsirene. Die Stimme erschien mir auf sonderbare Weise wohlvertraut. Sie verkörperte Unheil. Es 61
war der Junge, dessen Steckenpferd darin bestand, wehrlose Gefangene durch die Verliesfenster mit Kieseln zu bewerfen. Mit gespitzten Ohren hörte ich zu, was er zu melden hatte. »Du wirst es nicht glauben, Vater«, sagte er. »Letzte Nacht haben sich aus dem Tollhaus zwei Irre dünngemacht.« »Beim Svarog!« rief der Wirt aus. »Ist das wahr, Radur?« »So wahr ich hier stehe. Aus einer Zelle haben sie das Gitter herausgerissen, und am Westtor wurden zwei Wachtposten getötet.« »Wie scheußlich. Ist man diesen Verbrechern schon auf der Spur?« »Ich denke schon. Die Büttel kämmen die ganze Umgebung durch. Kyrill, der Wachtmeister, glaubt, diese Ungeheuer haben sich im Wolliner Wald verkrochen.« »Gut möglich. Dort wimmelt es geradezu von versteckten Höhlen. Es wird nicht leicht sein, die Verbrecher in diesem Wirrwarr aufzuspüren.« Das unvermittelt einsetzende Schweigen machte mich mißtrauisch. Es war möglich, daß mich dieser Junge soeben wiedererkannt hatte. Ich verbarg mein Gesicht hinter einem Brathuhn und linste zum Schanktisch. Vater und Sohn flüsterten miteinander. Dann lief der Junge eilig hinaus. Der Wirt schwitzte plötzlich. Als er bemerkte, daß ich ihn ansah, huschte ein flüchtiges Grinsen über sein flammendrotes Gesicht. Sein Blick flackerte; er schluckte, als sei sein Hals zugeschnürt. Zeit zu verschwinden! Ich ließ das Brathuhn fallen und sprang auf. Der Bengel war gerade dabei, mir den Strick zu drehen. Wenn ich jetzt nicht die Kurve kratzte, würden in ein paar Augenblicken die Büttel hereinstürzen und mich festnehmen. »Was ist in dich gefahren, Mark Hellmann?« fragte Katyna erschrocken. »Ich sag's dir, dämliches Weibsstück!« brüllte der Wirt voller Zorn. »Du bist gerade dabei, einem entflohenen Tollhäusler den Magen zu stopfen.« Katyna starrte mich angsterfüllt an. Der Wirt schäumte vor Wut. Als ich an ihm vorbeiflitzen wollte, vertrat er mir den Weg. In seiner Rechten hielt er einen Feuerhaken, dessen Spitze rot glühte.
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»Wohin so eilig, Tollhäusler?« giftete er. »Ist dir der Appetit vergangen?« »Weg von der Tür!« warnte ich ihn. Gehässig schwang er den Feuerhaken. »Komm nur, wenn du dich traust. Ich werde dir einen heißen Empfang bereiten!« Ich war überzeugt, daß der Kerl keine Sekunde zögern würde, mir den Eisenhaken über den Scheitel zu ziehen. Sein feistes Gesicht war zu einer grausamen Grimasse verzogen. Die tödliche Waffe in der Faust, fühlte er sich mir himmelhoch überlegen. Wahrscheinlich würde es ihm Freude bereiten, mich niederzuknüppeln . »Beim Svarog!« raunte er. »Du wirst meine Kneipe nicht ohne Ketten verlas...« Jäh klappten seine Zahnleisten aufeinander. Meine blitzsaubere Gerade schleuderte den massigen Kerl gegen seine Theke. Doch das Schwergewicht war weitaus flinker, als es seine plumpe Figur erahnen ließ. Er spuckte einen Mundvoll Blut auf den Boden, schüttelte sich und holte mit dem Feuerhaken aus. Dabei bewegte er sich nicht einen Fußbreit von der Tür fort, durch die ich entwischen wollte. Der Feuerhaken pfiff durch die Luft. Seine glühende Spitze näherte sich meinem Schädel. Im letzten Moment hechtete ich zur Seite, wobei ich merkte, wie das Eisen an meinem Ohr vorbeisauste. Der Schlag war mit großer Kraft geführt worden. Normalerweise hätte der Wirt spätestens jetzt das Gleichgewicht verlieren müssen. Aber der Dicke stand wie ein Baum. Wieder ging er auf mich los. Mit halbem Ohr hörte ich, wie Katyna im Hintergrund leise aufschrie. Ich sprang zurück, packte sein wulstiges Handgelenk und preßte es, so kräftig ich konnte, zusammen. Der Wirt glotzte auf seine geballte Hand, die sich allmählich öffnete. Der Feuerhaken fiel zu Boden. »Du Mistkerl!« keuchte er. »Du wagst es, Hand an einen ehrbaren Bürger zu legen!?« »Warum nicht?« Mit vollem Karacho sauste mein Aufwärtshaken unter seine Kinnlade. Benommen taumelte mein Rivale von der Tür weg. Er drehte sich noch einmal um die eigene Achse, stierte ungläubig in die Runde und krachte wie ein Stein zu Boden. 63
Als ich hinausjagte, tönte mir sein Wehgeschrei in den Ohren. Der Ärmste schien mit seinem eigenen Feuerhaken Bekanntschaft gemacht zu haben. * Im Höhlenversteck fand Fedora neue Kleider. Jokim, ihr ermordeter Mann, hatte in weiser Voraussicht einen Schlupfwinkel erbauen lassen, in dem es an nichts mangelte. Gleich in mehreren Erdspeichern lagerten Lebensmittel, Kleidung und Waffen. Letztere sorgfältig in ölige Tücher verpackt. Neben dem Einstiegsloch lagen gestapeltes Brennholz, getrockneter Torf und ein kleiner Haufen Feuersteine. Während Fedora ihre Kleider wechselte, kauerte der Golem phlegmatisch in einem Winkel. Friedhelm, dem es unterdessen spürbar besser ging, blickte sich voller Staunen um. Dieses Schlupfloch, inmitten des tiefsten Waldes, verfügte über mehr Luxus, als er je vermutet hätte. Er sah, wie sich Fedora im Schein einer Tranfunzel begutachtete. »Du siehst wunderbar aus, Herrin!« behauptete er mit einem Lächeln. Ohne ein Wort nahm sie die Anerkennung hin. Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht verstanden. Oder ihre Gedanken eilten bereits voraus. In der folgenden Nacht plante sie, Mariana aus dem Tollhaus zu befreien. »Herrin?« fragte er lauter. »Ja?« »Wird der Golem heute nacht allein gehen, um Mariana aus dem Kerker zu holen?« »Natürlich, Friedhelm. Für mich ist es viel zu gefährlich, die Stadt noch einmal zu betreten. Der erstbeste Wachtposten würde mich auf der Stelle verhaften.« Friedhelm atmete auf. Wenn der Mann aus Lehm allein ging, würde Fedora bei ihm in der Höhle bleiben. Vielleicht ergab sich dann eine Möglichkeit, mit ihr über Mark Hellmann zu reden. Seine Herrin mußte die Wahrheit erfahren. Sie hatte ihn vor dem sicheren Tode gerettet. Was wäre es für eine Dankbarkeit, wenn er ihr verschwieg, daß jemand das Geheimnis der 64
Schemhamphoras kannte. Andererseits hatte der Zeitreisende gute Gründe, den Golem zu vernichten. Immerhin würde sich das Monstrum aus Lehm irgendwann selbständig machen, wenn ihn niemand aufhielt. Friedhelm brauchte Gewißheit. Er mußte Fedora auf den Zahn fühlen. Möglicherweise kannte sie nicht das ganze Geheimnis. Angenommen, die kabbalistische Schöpfungsformel würde erst in späterer Zeit vervollkommnet werden, die Folgen wären kaum auszudenken. Ein Spiel mit dem Feuer. Da trat Fedora auf ihn zu. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie. »Der Golem wird Mariana hierherbringen. Danach werde ich ein Schiff anheuern, das uns nach Stettin oder Bornholm bringen wird. Dort beginnen wir ein neues Leben.« »Und er?« Friedhelm deutete auf den Mann aus Lehm. Fedora runzelte die Stirn. »Er wird mit uns kommen. Was dachtest du?« »Beim Svarog! Hältst du das für eine gute Idee?« »Sicherlich. Jemand muß uns doch in der Fremde beschützen. Hast du nicht am eigenen Leib verspürt, wozu die Menschen fähig sind, wenn sie reiche Beute wittern?« »Ja, leider«, seufzte er. Gern hätte er das Gespräch fortgesetzt, aber immer wieder flirrte sein Blick in die Ecke, wo das Geschöpf aus Lehm kauerte. Ihm war, als würde es jedes einzelne Wort verstehen, das gesprochen wurde. Deswegen hielt Friedhelm es für angebrachter, Vorsicht walten zu lassen. Bald würde es Nacht sein. Wenn der Golem nach Vineta schlich, würde er Fedora von seinen Befürchtungen berichten. Er hoffte nur, es würde dann noch nicht zu spät sein. Immerhin war Mark Hellmann hinter dem Lehmmann her. Wenn es dumm kam, würden die beiden aufeinandertreffen, bevor der Golem Mariana befreit hatte. Schnell verdrängte er diesen höchst unangenehmen Gedanken. Draußen fing es an zu dunkeln. Statt Licht sickerten düstere Schatten in die Höhle. Fedora zündete eine weitere Tranfunzel an. Sie setzte sich still auf einen Schemel und schwieg beharrlich. Friedhelm ahnte, daß seine Herrin in Gedanken bei Mariana war.
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Nach einiger Zeit der Stille drehte sie sich ihm zu. »Bevor wir endgültig aus der Stadt verschwinden, gibt es aber noch einiges zu regeln.« »Du willst dich rächen, nicht wahr?« fragte er leise. Fedoras Blick wanderte von ihm zum Golem und wieder zurück. »Ja, Friedhelm«, sagte sie rauh. »Ungeschoren lasse ich Jokims Mörder nicht davonkommen. Sie sollen das gleiche Schicksal erleiden wie er. Das ist nur recht und billig.« »Es könnte schiefgehen«, meinte er. »Der Tempelpriester ist ein einflußreicher Mann. Wenn er es fordert, wird der Rat der Ältesten seine letzten Krieger zu Jasmunds Schutz einsetzen.« »Der Golem ist unüberwindlich.« Fedora stand auf. Sie wirkte fest entschlossen. »Nichts auf der Welt kann ihn besiegen. Kein Feuer, kein Wasser und ebensowenig diese lächerlichen Büttel. Der Golem wird Kleinholz aus ihnen machen. Ich frage dich, was soll da schiefgehen?« Friedhelm antwortete nicht. Er mußte an Mark Hellmann denken, der sich mit Hilfe seines magischen Ringes binnen weniger Minuten von einem Halbtoten in einen kräftigen Hünen verwandelt hatte. Dieser Mann war dem Geschöpf aus Lehm mindestens ebenbürtig. Und Mark Hellmann wußte, wo der Schwachpunkt des Golems zu finden war. Er hatte es ihm selbst gesagt. Je länger Friedhelm über das Problem nachdachte, desto sicherer wurde er: Fedora hatte keine Ahnung davon, was ihnen blühte, wenn ihr der Golem über den Kopf wuchs. Eine hereinflatternde Fledermaus riß ihn aus seinen Überlegungen. Er duckte sich unwillkürlich. Das Tier segelte dicht über ihn hinweg. Während er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hielt, hörte er, wie Fedora ein monotones Murmeln anstimmte. Einen Augenblick später ertönte ein schrilles Kreischen. Friedhelm fuhr erschrocken hoch. Das Geschöpf aus Lehm hielt die Fledermaus gepackt, brach ihr ungerührt das Genick und schmetterte den kleinen Leichnam zu Boden. »Es ist soweit«, sagte Fedora. »O Golem, ich befehle dir, hole meine Tochter Mariana! Du weißt, wo sie steckt?«
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Der Golem neigte demütig seinen Kopf und nickte einige Male, zum Zeichen, daß er alles verstanden hatte. Hiernach hob er den steinernen Deckel eines Erdverstecks. Tief beugte er sich in die isolierte Grube und zog eine Mauritiuslanze mit dem kaiserlichen Hoheitsabzeichen Ottos III. hervor. Ohne die Miene zu verziehen, wirbelte er die schwere Waffe durch die Luft. Dann kletterte der Mann aus Lehm durch den engen Ausstieg ins Freie. »Glück auf den Weg!« rief Fedora, beide Fäuste vor Anspannung fest geballt. Kaum hatte der Golem die Höhle verlassen, gab es für Friedhelm kein Halten mehr. »Herrin!« sagte er mit bebender Stimme. »Hört, was ich dir zu sagen habe...« * Nach meiner Flucht aus dem Knurrhahn irrte ich eine Zeitlang ziellos durch die Stadt. Im Schoße der anonymen Menschenmassen, die unablässig durch die Gassen strömten, fühlte ich mich halbwegs geborgen. Doch allmählich fing es an zu dämmern. Mit zunehmender Dunkelheit zerstreuten sich die Leute. Viele Händler begannen bereits damit, ihre Stände abzubauen. Sie beluden ihre Fuhrwerke, vor denen Ochsen geschirrt waren, und wandten sich den Stadttoren zu. Jetzt wurde meine Lage brenzlig. Ein weiteres Mal vergewisserte ich mich, daß mir niemand folgte, und wandte mich in Richtung Hafen. Dort, zwischen den zahllosen Kais, Lagerhäusern, Speichern und Kneipen wollte ich untertauchen. Vielleicht fand ich Zuflucht unter einer der vielen Holzbrücken, die sich über das Flüßchen Dievenow spannten. Unter dem Mantel der Nacht würde ich meinen Ring befragen, wohin ich mich weiter wenden sollte. Ich mußte den Golem finden. Im Gegensatz zum Marktplatz herrschte im Hafengelände noch reger Betrieb. Gerade legte ein slawisches Lastschiff an, dessen Segel eingeholt waren und das nun durch ein gutes Dutzend Rojer an den Kai geskullt wurde. Vom Achtersteven dröhnte das gewaltige Organ des Steuermannes, der das Heckruder bediente. 67
Ich verbarg mich hinter einem Flechtwerkzaun und beobachtete, wie ein spindeldürrer Hafenarbeiter auf die Anlegestelle sprang und das Schiff mit geschickten Handgriffen am Poller vertäute. Der Schreihals, der das Ruder geführt hatte, kletterte von Bord, zog eine Peitsche aus seinem Gürtel und zog sie dem Dünnen gnadenlos übers Gesicht. Ich sah, wie sich ein blutiger Striemen auf seiner Wange abzeichnete. Als der Peitschenmann ein zweites Mal ausholte, dachte ich, der Dünne würde dem Schlag ausweichen, aber ich hatte mich getäuscht. Aufrecht stand er da, beinahe apathisch, und nahm die erneute Klatsche in tiefer Demut entgegen. Schon beim bloßen Hingucken ging mir das Messer in der Tasche auf. Gerade unterdrückte ich einen saftigen Fluch, als hinter mir Schritte im Kies knirschten. Gewarnt fuhr ich herum. Und traute meinen Augen kaum. »Katyna!« Ich schluckte. »Um alles in der Welt, was machst du denn hier?« Das Pummelchen aus dem Knurrhahn schien nicht gut auf mich zu sprechen zu sein. Sie stemmte ihre Arme in die Seiten und funkelte mich wütend an. »Ich meine, du schuldest mir zumindest eine Erklärung, Mark Hellmann«, fauchte sie. »Um ein Haar hätte mich dieser Fettsack von Wirt einbuchten lassen. Mich so hängenzulassen, ist nicht die feine, römische Art. Ich bin furchtbar enttäuscht von dir.« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Doch ich hatte keine Wahl. Sollte ich etwa bleiben, nachdem mich der Sohn des Wirtes verraten wollte? Dann säße ich jetzt tiefer im Schlamassel als vorher.« Die Frau pumpte wie ein Maikäfer. Offenbar war sie nicht so schnell zu begütigen. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du ein entflohener Gefangener bist?« herrschte sie mich an. »Weil ich eine Hure bin? Du hieltest es nicht für nötig, mir die Wahrheit zu sagen. Du bist genauso blind wie alle anderen Kerle, die ich kenne.« »Du tust mir Unrecht«, begehrte ich auf. »Nicht mal im Traum würde ich solche schäbigen Ansichten haben.« »Lügner!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. Schnell blickte ich mich um. Wenn das Pummelchen weiterhin solchen Zirkus veranstaltete, würden kurz über lang die Leute auf mich aufmerksam werden. Möglicherweise war schon ein 68
Handgeld auf mich ausgesetzt. Und Zuträger gab es in Vineta nicht zu knapp. Katyna beobachtete meine Reaktion, kapierte auf der Stelle, was in mir vorging und flüsterte kaum hörbar: »Hast mich hinters Licht geführt, verdammter Lügner!« Ein gräßlicher Schrei tönte vom Ufer zu uns herüber. Wir spähten zum Landungssteg, und mir stockte fast der Atem. Der Steuermann des Lastschiffes war gerade dabei, mit den Füßen auf dem mageren Hafenarbeiter herumzutrampeln. Dazu ließ er seine Peitsche durch die Luft sausen und lachte voller Hohn. Sein Opfer lag rücklings auf den Bohlen. Vergeblich versuchte er, seinen Körper vor den brutalen Tritten des Quälgeistes zu schützen. Katyna klammerte sich an meinen Ärmel. Ich spürte, wie ihre spitzgefeilten Fingernägel meine Haut ritzten. »Ich ertrage diesen gräßlichen Anblick nicht länger«, hauchte sie und vergrub ihr Gesicht in den Falten meines Kittels. »Laß uns fortgehen. Sofort.« »Aber wohin?« »Ich wohne in der Skythengasse.« Katyna gab ihrer Stimme einen harten Klang. »Wenn du willst, kannst du bei mir übernachten. Du wärst in Sicherheit, und ich brauche jemanden, der bei mir ist. Eine Hand wäscht die andere.« »Du beweist Mut«, meinte ich. »Ich bin ein Fremder. Außer, daß ich aus dem Tollhaus getürmt bin, weißt du nicht gerade viel von mir.« Wir gingen ein paar Schritte. Katyna hatte sich bei mir untergehakt, da schaute sie plötzlich zu mir auf. »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte sie eindringlich, »aber seit ich dich zum ersten Mal sah, gehen komische Dinge in mir vor.« »Willst du darüber reden?« Sie schwieg. Wir kamen am Haus einen Färbers vorbei, der gerade Rohstoffe geliefert bekam. Ich sah, wie ihm ein Trupp Halbwüchsiger krugweise rote Schildläuse, Schlehen, Blaubeeren, Holunder, Vogelknöterich, Sauerampfer und gelbe Schwertlinien zum Kauf anbot. Fachkundig überprüfte der Färber das Dargebotene. Zwei Häuser dahinter blieb Katyna stehen. »Ist es noch weit?« fragte ich.
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Stumm schüttelte sie den Kopf. Dann sagte sie: »Du bist hinter jemandem her, hab ich recht, Mark Hellmann? Bist du gar ein Kopfgeldjäger?« »Im Grunde genommen schon«, gab ich zu. »Aber hab keine Angst. Ich jage keine Menschen.« »Keine Menschen?« Sie lachte verhalten. »Beim Svarog! Wem bist du dann auf der Fährte? Doch nicht etwa - Dämonen?« »Doch, Katyna«, ließ ich die Maske fallen. »Ich bin in Vineta, um einen Dämon dingfest zu machen. Deswegen bin ich von weither gekommen.« Meine pummelige Freundin starrte mich an. Als würde ein Kloß in ihrem Hals feststecken, schluckte sie und versuchte, die Fassung zu bewahren. Ich wußte, daß die Stämme der Pommern und Lutizen eine sprichwörtliche Angst vor Dämonen hatten. Besonders fürchteten sie sich vor Wiedergängern. Verstorbene, die ihr Grab verließen und die Lebenden nach Herzenslust quälten. Daher kam es häufig vor, daß sie Angehörige auf Scheiterhaufen verbrannten und die Asche in alle Winde verstreuten. Kam es dennoch zu Erdbestattungen, vergruben sie ihre Toten bald drei Meter tief in der Erde. Oftmals bäuchlings, mit einem angespitzten Pflock regelrecht in die Grube genagelt. War der Verwandte ein besonders unbeliebter Zeitgenosse, hackten sie ihm zusätzlich den Kopf oder die Beine ab, so daß er nie den Weg zurück bewältigen konnte. Abschließend wälzten sie tonnenschwere Hinkelsteine auf die Gräber. Wortlos setzten wir unseren Weg fort. Vor einem neu errichteten Bohlenhaus mit meerblau gestrichener Tür machten wir halt. Bewundernd betrachtete ich das winzige Anwesen. Das Äußere der Hütte wirkte sauber und gepflegt. Katyna ging vor und schloß die Tür auf. »Mach's dir bequem.« Sie deutete auf eine breite Bettstelle, die mit einer farbig bestickten Schafwolldecke zugedeckt war. Als ich mich nervös räusperte, kicherte meine Gastgeberin. »Keine Sorge, ich tue dir schon nichts...« * Die glühendrote Sonne verschwand hinter dem Wald.
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Um in die Stadt zu gelangen, hatte der Golem den Weg am Ufer entlang, durch das raschelnde Schilf, gewählt. Unaufhaltsam watete er durch das flache Wasser. In der Rechten hielt er die schwere Lanze gepackt. Mit der Linken schob er das Schilf beiseite. Der Mann aus Lehm ging mit großer Behutsamkeit vor. Wenn er irgendwo Geräusche vernahm, stoppte er und lauschte eine Weile, bis er den Ursprung erkannt hatte. Zwar wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, eventuell auftauchenden Gegnern den Garaus zu machen, aber das war nicht sein vorrangiges Ziel. Mariana, die Tochter seiner Herrin, aus dem Tollhaus zu holen das war sein Ziel! Natürlich wäre der Landweg kürzer gewesen und vergleichsweise bequemer. Er hätte nur dem Bohlenweg folgen brauchen, bis er an das Westtor Vinetas gelangt wäre. Aber er vertraute seinem Instinkt, der unaufhörlich zu wachsen schien. Auf dem Landweg hätte es vielfältige Komplikationen geben können. Fragen nach dem Woher und dem Wohin. Es gab Geächtete, die im Walde hausten und nachts auf Pirsch gingen, um Beute zu machen. Und es gab wilde Tiere, die aus der Dunkelheit über ihn herfallen konnten. Dieser drohenden Gefahr wollte er sich nicht aussetzen. Bei jedem Schritt, wenn sein Fuß im Schlick des Wassers versank, stellte er sich vor, wie er handeln würde, wenn er das Tollhaus erreicht hatte. Zuerst würde er den Wachtposten töten. Natürlich durfte er dabei nicht allzuviel Radau machen. Auch der sterbende Wärter durfte keinen Mucks von sich geben. Dann würde er die Türen zertrümmern, bis er in Marianas Verlies war. Ohne viel Federlesens würde er das Mädchen ergreifen, es sich über die Schultern werfen und schnurstracks den Rückweg antreten. Leider konnte er diesmal nicht den Wasserweg wählen. Wenn ihm die Wachtposten in Booten nachjagten, würden sie ihn im Nu umzingelt haben. Mit der verletzlichen Mariana auf dem Rücken, mußte er zudem mit äußerster Vorsicht vorgehen. Er wußte, die Büttel besaßen Pfeile und weitreichende Bögen. Und wenn er seiner Herrin mit einer toten Mariana unter die Augen trat, würde sie vor Wut sein Leben auslöschen. Dessen war er völlig sicher. Dabei begann ihn das Leben gerade zu interessieren. Ein Plätschern, dicht vor ihm! 71
Der Golem stoppte mitten in der Bewegung. Horchend neigte er den kantigen Schädel. Er strengte seine Augen an. Immer dann erschienen zwei rötliche Lichtfäden, die wie kleine Scheinwerfer zum Ziel eilten. Er versuchte zu ergründen, welches Geschöpf das Plätschern verursachte. Aber alles war dunkel. Sachter Wind kräuselte die schwarze Wasseroberfläche. Am Himmel lugte der Mond hinter einer Wolke vor. Ein schmaler Silberstreif Licht glitt über die massige Gestalt des Golems. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Er watete weiter. Nach ein paar Schritten hing sein rechter Fuß fest. Eine unsichtbare Hand hielt das Gelenk fest und versuchte, seinen Weitermarsch zu verhindern. Er griff ins Wasser, betastete den Fuß und stellte fest, daß er in eine Fischerreuse getappt war. Ein kräftiger Ruck, und das Netz war zerrissen. Weiter ging's. Als er um eine Kurve bog, sah er in der Ferne den Vulkanstopf, das Leuchtfeuer von Vineta. Nicht weit von dort entfernt befand sich das Tollhaus, in dem Mariana schmachtete. Unwillkürlich packte er die Mauritiuslanze fester. Im Geiste malte er sich aus, wie ihn seine Herrin loben würde, wenn er ihre geliebte Tochter wohlbehalten durchs Erdloch in die Höhle gleiten ließ. Für einen Moment schwelgte er in edlen Gefühlen. Doch als er mit der Lanze zufällig an seine Schläfe stieß, entstieg seinem Innern ein neues Empfinden. Er blieb stehen und betastete eine Weile die Zeichen auf seiner Stirn. ANMANTH bedeutete Wahrheit. MANTH dagegen Tod. Ein Herr sein! wummerte es in dem Geschöpf aus Lehm. Warum sollte ein mächtiges Wesen wie er nicht auch das Zeug haben, ein Herr zu sein? Ein vornehmer, unsagbar mächtiger Herr! Sicher war es unvergleichlich schöner, solch ein Herr zu sein als ein schäbiger Knecht, so wie er jetzt einer war. Nach kurzem Nachdenken watete der Golem weiter. Sein Schritt war nun etwas beschwingter. Er hatte eine Vision. *
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Bumm! Bumm! Mariana versuchte, das unheimliche Geräusch zu überhören. Es war Nacht, in den Verliesen herrschte Totenstille. Bis auf den immer wiederkehrenden gespenstischen Ton. Die Insassen des Tollhauses schliefen. Auch Marianas Zellengenossin, eine Frau, die immerfort behauptete, sie sei die rechtmäßige Thronfolgerin des Kaisers von Byzanz, lag auf ihrer Matte und schlummerte. Bumm! Bumm! Mariana zog den Kopf ein, preßte beide Fäuste auf ihre Ohren. Es nützte nichts. Bumm! Bumm! Je mehr sie versuchte, den rhythmischen Ton zu ignorieren, desto tiefer drang er in ihr Bewußtsein. Schließlich gab sie es auf, gegen den hypnotischen Bummton anzukämpfen. Sie kuschelte sich in den äußersten Winkel ihrer Schlafecke und weinte. Allerdings leise, denn wenn ihre wahnsinnige Mitgefangene aufwachte, würde sie sofort wieder mit ihrer Litanei beginnen, sie sei die Thronfolgerin von Byzanz. Mariana schluchzte. Einen Augenblick später hörte der Bummton auf. Erstaunt starrte Mariana in die Richtung, aus der das zermürbende Geräusch erklungen war. Natürlich konnte sie in der Finsternis nichts erkennen. Aber sie hörte etwas. Ein sonderbares Getrippel, kaum wahrnehmbar. Es kam immer näher. Zum erstenmal war Mariana froh, daß die Tür zum Verlies aus massiven Eichenbohlen bestand. In ihrer Phantasie stiegen grauenerregende Bilder auf. Meeresungeheuer krochen ans Ufer. In strahlendem Weiß gekleidete Mittagsfrauen erschlugen schlafende Wanderer. Gefleckte Lindwürmer zerteilten das Erdreich, um an die Oberfläche zu gelangen. Skelette von lebendig Begrabenen klapperten über den nachtdunklen Marktplatz. Mariana biß sich in den Daumen. Plötzlich schurrte die Kerkertür auf. Ein fahler Fetzen-Licht fiel in die Zelle. Mariana preßte ihren Rücken gegen die kühle Wand. Ein Schatten schlüpfte in die Zelle. Den Bruchteil einer Sekunde später fragte sie sich, ob es nicht besser wäre, laut aufzuschreien, damit alle wach wurden. Weit riß sie die Augen auf, wollte erkennen, wer da hereingekommen war. Plötzlich wußte sie es. 73
Es war Zwuhl, der allerorts gefürchtete Hackup. Ein Streifen Licht erhellte seinen Klumpfuß. Was wollte dieses Zwergenwesen von ihr? Mariana schauderte. Ihr fiel ein, daß in Vineta das Gerücht kursierte, Zwuhl hätte Gefallen an normal gewachsenen Frauen gefunden und mit einer sogar ein Kind gezeugt. Kam er etwa zu ihr, um...? Der Hackup kicherte heiser. Als hätte er ihre Gedanken erraten, flüsterte er: »Fürchte dich nicht, Mädchen. Ich bin nur gekommen, weil ich gehört habe, daß du noch wach bist.« »Was, was willst du von mir?« Mariana zitterte. Langsam zog der Zwerg die Tür hinter sich zu. »Du bist Mariana, die Tochter Fedoras und Jokims, nicht wahr?« »Ja.« »Heute hat man mir gesagt, weshalb du hier bist«, berichtete Zwuhl, und seine Stimme klang belegt. »Du hast Brot für Ausgestoßene in die Verliese geschmuggelt. Und Radur, der mißratene Sohn des Knurrhahn-Wirts, hat dich ans Messer geliefert. So ist es doch?« »Ja.« Mariana war irritiert. Was bezweckte der Hackup? Bisher war sie der Ansicht, Hackups seien böse, menschenverachtende Wesen. Aber Zwuhl schien nicht gekommen zu sein, um sich an ihren Leiden zu ergötzen. Wollte er ihr etwa Trost spenden? In der Finsternis glitzerten zwei silbrige Pünktchen. Sie sahen aus wie Sterne, die jemand vom Himmel geholt hatte. Es waren die Augen des Zwergenwesens. Mariana hörte, wie er tief Luft holte. »Ich würde dir gern einen Gefallen erweisen«, bot er an. »Gibt es etwas, das du dir wünscht?« »Ich verstehe nicht.« »Es gibt vieles, was ich dir besorgen könnte.« »Und die Wärter?« hauchte Mariana. »Sie würden es nie zulassen, daß ich Geschenke entgegennehme. Auch du würdest große Unannehmlichkeiten bekommen.« »Kümmere dich nicht um die Wärter, Mariana. Es sind plattfüßige Hohlköpfe, zu dumm, einen Kübel Wasser umzukippen. Ich werde schon mit ihnen fertig.« Mariana überlegte. Ja, was wünschte sie sich eigentlich? Sobald wie möglich hier herauszukommen; um zu ihrer Mutter zurückzukehren, das wünschte sie sich.
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»Möchtest du, daß ich dir frisches Obst bringe?« fragte der Zwerg diensteifrig. Das Mädchen fiel aus allen Wolken. Der Hackup Zwuhl wollte sie mit Obst versorgen. Es war unfaßbar! »Warum zögerst du?« hakte er nach. »Glaubst du, ich veralbere dich?« »Nein«, antwortete sie rasch. »Es kommt alles nur so überraschend für mich. Erlaube, daß ich dir eine Frage stelle, Zwuhl!« »Nur zu!« »Woher rührt deine plötzliche Menschlichkeit? Dein Mitgefühl? Jeder weiß doch, daß ihr Hackups nicht gerade gut auf uns Menschen zu sprechen seid. Außerdem kennst du mich doch gar nicht richtig.« Im Dunkeln hörte sie, wie der Zwerg geräuschvoll an seinen Lippen saugte. Anscheinend dachte er nach, was er ihr antworten sollte. Mariana war gespannt wie eine Fidelsaite. »Nun«, begann er, »ich habe selbst ein Kind. Einen kleinen Jungen, den ich Lurjahn genannt habe. Das Losorakel im heiligen Tempel des Svarog hat verkündet, daß Lurjahn einmal ein sehr berühmter Mann sein wird. Ein Zwergenmann natürlich«, fügte er rasch hinzu. Mariana verstand. Offensichtlich hatte die Geburt seines Kindes dem bösartigen Hackup das Herz erwärmt. Es grenzte an ein Wunder. »Weißt du, wie es meiner Mutter geht?« fragte sie, mutiger geworden. »Fedora ist fort«, versetzte der Zwerg. »Niemand weiß, wohin. Manche sagen, zuletzt wäre sie im Kontor deines Vaters gewesen. Andere behaupten, sie wäre an den Morden am Stadttor beteiligt. Und wiederum andere schwören, sie hätte ein Schiff bestiegen und Vineta für alle Zeiten verlassen.« »Vineta verlassen?« echote Mariana. »Die Leute zerreißen sich ihre Mäuler«, wiegelte Zwuhl ab. »Auf ihr Gefasel kann man nichts geben.« »Mutter würde mich nie hier allein zurücklassen. Eher würde ihr das Herz brechen.« »Pst!« zischte Zwuhl. Mariana erstarrte. 75
Irgendwo im nahen Umfeld ertönte ein dumpfes Poltern. Dann wurden im Gang schwerfällig tappende Schritte laut. Offenbar kontrollierte ein Wachtposten, ob alles in Ordnung War. Unter der Türritze sickerte ein bernsteinfarbener Lichtschimmer ins Verlies. In seinem Schein erkannte Mariana schemenhaft die Umrisse ihres nächtlichen Besuchers. Zwuhl stand reglos, geduckt und schien angestrengt auf jedes noch so kleine Geräusch zu lauschen. Noch vor wenigen Minuten hätte sie der unheimliche Anblick des Zwerges in Angst und Schrecken versetzt. Doch jetzt vertraute sie Zwuhl. Die Schritte näherten sich. »Das ist kein Wachtposten«, wisperte Zwuhl. »Wer dann?« Der Zwerg gab keine Antwort. Flink wie ein Eichhörnchen huschte er von der Tür weg und krabbelte fliegengleich an der Wand empor. Jetzt fiel auch oberhalb der Kerkertür ein Funken Licht durch die Ritze. Mariana. leuchtete ein, daß der Hackup eine Gefahr witterte. Er hatte sich an einen Deckenbalken gekrallt und schien jederzeit bereit, wie ein Raubvogel auf seinen vermeintlichen Gegner herabzustürzen. Direkt vor ihrer Tür verhallten die Schritte. Der nächtliche Wanderer war stehengeblieben. Mariana spürte, wie sich ihr Nackenhaar aufrichtete. Jemand hantierte am Riegel, rückte ihn ein paarmal prüfend hin und her. Dann wurde die Tür vorsichtig aufgeschoben. Das leise Knarren der Angeln erklang wie ein prasselnder Hagelschauer in Marianas empfindlichen Gehörgang. Im Türrahmen erschien eine Gestalt. In der linken Hand eine blakende Fackel, in der rechten eine schwere Lanze. Ohne ein Wort starrte die Gestalt in die Zelle. Aus ihren Augen sprossen zwei bindfadendünne Lichtstrahlen, die über den Fußboden glitten und eine Zeitlang reglos auf Marianas Körper ruhten. Schon beim ersten Hingucken wußte das Mädchen, daß der Eindringling kein Mensch war. Der Golem betrat das Verlies. In die Enge getrieben, rutschte Mariana in den äußersten Winkel. Ihr Atem ging schwer, als hätte sie einen kräftezehrenden Gewaltmarsch hinter sich. Sie warf einen schnellen Blick an die Decke, dorthin, wo der Hackup auf der Lauer lag. Der Eindringling tat einen weiteren Schritt. 76
Dann blieb er plötzlich stehen. Die rötlichen Lichtfäden, die aus seinen Augen sprühten, glitten suchend an den Wänden empor - und trafen Zwuhl. Mit einem gurgelnden Laut gab der Zwerg das Versteckspiel auf. Zähnefletschend fuhr er dem Golem an die Kehle... * In der Höhle herrschte beklommenes Schweigen. Friedhelm hatte seiner Herrin soeben sein Herz ausgeschüttet. Jetzt fühlte er sich ein wenig besser. Egal, wie Fedora seine Beichte aufnehmen würde, die Fronten waren geklärt, zumindest größtenteils. Nun hing es allein von ihrer Entscheidung ab, wie es weiterging. Scheu blickte er sie an. Fedora war eine Weile hektisch auf- und abgegangen. Offensichtlich schien sie unschlüssig, was das weitere Vorgehen betraf. Irgendwann war sie auf den dreibeinigen Schemel gesunken und hatte minutenlang stumm vor sich hingebrütet. So hockte sie noch immer. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um. »Dein Zellengefährte, dieser Mark Hellmann, was ist er für ein Mensch?« »Jedenfalls kein böser, falls du das meinst.« »Was macht dich so sicher? Du sagtest selbst, er käme aus einer Zeit jenseits aller Vorstellungskraft. Obendrein scheint er noch ein Christ zu sein. Beim Svarog! Ich frage mich, warum er ausgerechnet mir in die Quere kommen muß?« »Er meinte, der Golem wird einmal großen Schaden einrichten.« »Papperlapapp!« rief Fedora. »Der Golem ist mein Diener und befolgt ausdrücklich meine Befehle. So steht es im Schemhamphoras geschrieben.« »Könnte es sein, daß nicht alles beschrieben wurde, Herrin?« fragte Friedhelm zaghaft. Sie sah ihn skeptisch an. »Ich meine, der Zeitreisende könnte doch recht haben. Immerhin kennt er die Zukunft. Er war der festen Überzeugung, daß dein Geschöpf eines Tages ein furchtbarer Tyrann sein wird. Eine Geißel für die Menschheit.«
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Fedora schüttelte den Kopf. »Er muß sich irren. Wenn ich es will, kann ich den Golem auf der Stelle wieder in einen Klumpen Lehm verwandeln. Zu jeder Zeit.« »Was macht dich so sicher, Herrin?« Friedhelms bohrende Frage blieb unbeantwortet. Die Stirn in Falten gelegt, ging Fedora zur Tranfunzel, die in einer Wandnische flackerte. Umständlich überprüfte sie, ob noch ausreichend Fett darin war. Plötzlich fuhr sie herum. »Ich halte diese verdammte Ungewißheit nicht mehr aus!« rief sie verzweifelt aus. »Während wir tatenlos unter der Erde hocken, ringt Mariana vielleicht dort oben mit dem Tod. Friedhelm, wir müssen endlich etwas unternehmen!« »Was hast du vor?« fragte er verblüfft. »Was schon? Den Zeitreisenden aufhalten natürlich«, sagte Fedora gepreßt. »Um jeden Preis. Wir sind es Mariana schuldig. Oder willst du, daß sie im Tollhaus verschimmelt?« »Natürlich nicht, Herrin«, keuchte er erschrocken. »Aber bedenke doch unsere Lage. Sie ist vollkommen verzwickt. Schon wenn wir unsere Nasen aus der Höhle strecken, werden sie über uns herfallen. Jasmund wird ein Blutgeld auf uns ausgesetzt haben. Ein jeder ist unser Feind. Ich bin ein alter Mann und kann dir kaum Schutz gewähren. Hilflos wären wir dem Pöbel ausgeliefert. Denke nur an die Söhne des Artenak, von denen du mir erzählt hast.« »Erinnere mich nicht an die!« fauchte Fedora. »Es hätte nicht viel gefehlt, und diese aufgegeilten Ungeheuer hätten mir die Kleider vom Leib gefetzt. Der Golem hat sie in Stücke gerissen.« Friedhelm fuhr ein kalter Schauder über den Rücken. »Und trotz alledem willst du dich hinauswagen?« Ihre Augen wurden zu Schlitzen. »Wir werden uns eben verkleiden müssen.« Sprachlos verfolgte Friedhelm, wie seine Herrin den Stein von einem Erdspeicher rückte. Sie warf ihr langes Haar zurück und angelte mit einer Hand tief in dem Loch. Nacheinander zog sie die unterschiedlichsten Kleidungsstücke hervor. Obwohl Friedhelm von der Sinnlosigkeit ihres waghalsigen Unternehmens überzeugt war, machte er gute Miene zum bösen Spiel. Er protestierte auch nicht, als ihm Fedora einen weiten Mantel mit Kapuze entgegenschleuderte. 78
»Hier!« sagte sie. »Zieh das an, Friedhelm!« Als er nach dem Kleidungsstück griff, spürte er, wie ein stechender Schmerz in sein Herz stach. Er krümmte sich, preßte eine Hand auf seine linke Brust und hechelte nach Luft. Dann brach er tot zusammen. * »Ich habe etwas für dich, Mark Hellmann«, sagte Katyna. Sie stand, mir den Rücken zugekehrt, vor einer eisenbeschlagenen Truhe und wühlte darin herum. Als ich fragend aufsah, zerrte sie einige gut erhaltene Kleidungsstücke hervor. Unwirsch runzelte ich die Stirn. »Sind das Frauenkleider?« Katyna lachte. »Keine Sorge. Ich lasse meinen Schützling doch nicht in Unterröcken auf die Straße. Hier, probiere die Sachen mal! Es wird schon was Passendes dabei sein.« »Wieso bewahrst du Männersachen auf? Ich denke, du hast keinen Ehemann.« »Hab ich auch nicht. Die Klamotten sind von den Männern, die, naja, sagen wir, die ihre Zeche nicht bezahlen konnten.« Ich verbiß mir ein Grinsen. »Du hast die Ärmsten doch nicht etwa im Adamskostüm auf die Straße gejagt.« »Wieso nicht?« sagte sie rundheraus. »Glaubst du, du allein hättest das Vorrecht gepachtet, nackt in der Gegend herumzuliegen.« Ich hatte ihr einiges über mich erzählt, und daraufhin schien sie beschlossen zu haben, mich unter ihre Fittiche zu nehmen. Die pummelige Frau mit dem weißgepuderten Teint und der roten Löwenmähne überraschte mich immer wieder. Noch vor kurzer Zeit hätte ich jedem ins Gesicht gelacht, der behauptete hätte, ich würde bald mal von der Freigebigkeit einer Hure profitieren. Aber wie sagte Lydia, meine Mutter: Man sollte nie nie sagen! Erstens kommt es anders - und zweitens, als man denkt! Während ich noch zwischen den merkwürdig duftenden Sachen wühlte, stocherte Katyna in der Glut des Kaminfeuers. Dann hing sie einen verbeulten Kessel Wasser auf den Dreifuß. Das gute Mädchen dachte wirklich an alles. Ich hätte ihr einen Kuß geben
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können, verkniff es mir aber im letzten Augenblick. Sie hätte diese Geste falsch interpretieren können. Ich stieg in eine enge Röhrenhose, band sie mit einer Schnur über den Hüften zusammen und wählte oben herum ein maisfarbenes Hemd mit eingenähten Schulterkissen. Darüber zog ich einen dunkelbraunen Gehrock aus gegerbtem Wildschweinleder. »Willst du einen Spiegel?« Katyna musterte mich voller Stolz. Ich lehnte dankend ab. »Übrigens, einen schönen Fingerreif hast du«, sagte sie unvermittelt und deutete auf mein magisches Teil, das ich auf ein kleines Wandbord gelegt hatte. »Aber eines verstehe ich nicht.« »Was meinst du, Katyna?« fragte ich beiläufig. Ich war noch damit beschäftigt, meine ungewohnte Kleidung zu ordnen. »Er funkelt so ulkig«, sagte sie. Wie vom Blitz getroffen, wirbelte ich herum. Katyna hatte recht. Der Ring funkelte, und es war nicht der Schein der Öllampe, der Schuld daran hatte. Schnell schob ich ihn auf meinen Finger. Dann sah ich mich um. »Was glotzt du so gehetzt?« fragte Katyna gutmütig und nahm den Kessel vom Haken. »Etwas nicht in Ordnung?« Wild entschlossen preßte ich den Ring auf das Mal, das ich auf der Brust trug. Ohne den Kessel mit dem dampfenden Wasser abzustellen, sah mich Katyna verwundert an. Der Ring reagierte auf die Berührung des Hexenmales. Ein Lichtfinger, wie ein silbrig glitzernder Lamettafaden, zuckte hervor. In den Runen des altgermanischen Futhark-Alphabets schrieb ich das Wort Finde auf den Fußboden. »Was sind denn das für Taschenspielertricks?« Katyna hatte sich wieder gefangen. »Wenn es dir in meinem Haus nicht hell genug ist, kann ich ja ein zweite Lampe anzünden. Öl hab ich reichlich. Du hättest es nur zu verlangen brauchen. Es macht mir wirklich nichts aus.« Sobald die Schrift allmählich verblaßte, glitt der Strahl zur Truhe, in der Katyna die Kleidungsstücke aufbewahrte. Der Deckel war zugeklappt. Oberhalb des Eisengriffs blieb der Strahl haften. Nach und nach verflog meine erste Erregung. Am Anfang hatte ich vermutet, der Golem wäre in der Nähe. Aber dann hätte mein Ring sicher noch mehr verrückt gespielt. Das Flimmern, auf das 80
mich Katyna aufmerksam gemacht hatte, war dagegen von recht schwächlicher Natur gewesen. Ich trat an die Truhe. »Darf ich mal hineinsehen?« Meine Gastgeberin nickte. »Fühl dich wie zu Hause. Ich hab keine Geheimnisse. Aber beeil dich! Das Wasser bleibt nicht ewig heiß. Wenn du trödelst, mußt du dich kalt waschen.« Ich hob den Deckel und spähte in das Innere der Truhe. Sogleich huschte der Lichtfaden hinein. Sekundenlang irrte er auf den darin befindlichen Textilien herum. Dann blieb er auf einem Stoffbeutel, der mit einer Kordel zugeknüpft war, hängen. Ohne Zweifel, in diesem Beutel steckte etwas, das magischen Ursprungs war. Katyna trat an meine Seite. Ich sah sie fragend an. Sie zuckte mit den Achseln, nahm den Beutel und schüttelte ihn in der Luft. Es klirrte darin. Bevor ich eingreifen konnte, löste sie behende die Schleifenkordel und schüttete den Inhalt auf den Tisch. »Eicheln«, sagte sie. »Nichts weiter als harmlose Eicheln.« Ich nahm eine und wog sie in der Hand. »Woher hast du sie? Von einem Freier?« Prompt erhielt ich einen Rippenstoß. »Falls du meinst, ich bin so einfältig, mir Eicheln unters Hemd jubeln zu lassen, Fehlanzeige. Jemand hat sie mir geschenkt, ganz ohne Gegenleistung.« »Sagst du mir, wer das war?« Ich hing an ihren überschminkten Lippen. »Mark Hellmann!« rief sie spöttisch. »Du bist der verrückteste Kerl, der mir je untergekommen ist. Am Hafen hast du mir gesagt, du wärst auf der Jagd nach einem Dämon. Und jetzt? Löcherst du mich wegen einiger vertrockneter Eicheln. Aus dir werd mal einer schlau!« »Von wem hast du sie, Katyna?« wiederholte ich. Sie rollte genervt mit den Augen. »Also gut, wenn's dich glücklich macht: Die Dinger hat mir mein kleiner Freund Lurjahn vermacht. Du weißt schon, der Sprößling des Hackups Zwuhl.« Allmählich schien ihr meine Fragerei gehörig auf den Geist zu gehen. »Warum machst du eigentlich so ein Gewese um die Dinger? Im Wald gibt's davon so viele wie Sand am Meer.« Ich hielt eine Eichel gegen das Licht. »Es müssen ganz besondere Exemplare sein.« 81
»Beim Svarog! Wenn du scharf auf sie bist, dann behalte sie. Du weißt, ich gebe gern.« Katynas Stimmung wechselte wie die Farbe eines Chamäleons. Eben noch hektisch und genervt, stimmt sie urplötzlich ein ausgelassenes Gelächter an. Während sie sich über meine Macken amüsierte, rollte ich eine Eichel behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger. Der magische Ring, den ich trug, vibrierte ein bißchen. Es war kaum zu spüren, und doch war es klar wie Kloßbrühe, daß die Eichel keine gewöhnliche Waldfrucht war. Aber wie sollte ich herausbekommen, welche verborgene Kraft ihr innewohnte? Mit Bedauern dachte ich an meinen Einsatzkoffer, der warm und trocken im Kofferraum meines BMW in Swinemünde stand. Darin steckte nämlich mein Notebook. Auf den dazugehörigen CD-Roms hatte ich all das Wissen gespeichert, das ich zur Lösung meiner Fälle brauchte. Da arbeitete ich mit Vater eng zusammen. Katyna riß mich aus meinen trüben Gedanken. »Du guckst wie ein Kater, wenn's donnert«, sagte sie und griff nach dem Wasserkessel. »Ich finde, du solltest es jetzt mit Wasser und Waschsand probieren. Es ist nämlich an der Zeit, ins Bett zu hüpfen.« Im Unterbewußtsein hörte ich, wie hinter mir das Wasser in eine Schüssel plätscherte. Als ich mich umdrehte, mußte ich versehentlich an ihren Ellbogen gekommen sein. Die Tülle der Kessels zeigte für einen Tick lang woandershin. Katyna vergoß einen Schluck Wasser und erschrak. Reflexartig rammte ihr freier Arm gegen meine Hand, in der ich immer noch die geheimnisvolle Eichel hielt. Schwupps! Die Eichel plumpste ins Wasser. Es läßt sich kaum in Worte fassen, wie groß mein Erstaunen war, als ich sah, wie die Waldfrucht auf den Fall reagierte. Kaum hatte sie die Wasseroberfläche berührt, schoß eine steile Dampfsäule aus der Schüssel empor. »Beim Svarog! Was ist das?« Katyna trat entgeistert zurück. Ich stand wie festgeleimt und beobachtete, was weiter passierte. Das Wasser fing an zu blubbern, als würde man einen Tauchsieder hineinhalten. Rasch verfärbte es sich rostbraun. Ebenso schnell veränderte es seinen Aggregatzustand. Zuerst
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wurde es zähflüssig, wie Sirup, dann aber, mit einem lauten Knistern, erstarrte die Oberfläche. Mit einem Schlag war es unnatürlich still im Haus. Katyna hatte es die Sprache verschlagen. Ihr gepudertes Gesicht glich einer Maske des Staunens. Ich tippte vorsichtig auf den neu entstandenen Stoff, der gefrorenem Ackerboden täuschend ähnlich sah. »Potz Blitz!« Ich schlug mit der Faust in die Schüssel. »Katyna, das Wasser, das du mir eingeschenkt hast, ist hart wie Granit!« »Du kannst neues haben«, murmelte sie abwesend. Während ich fasziniert die haarsträubende Erscheinung betrachtete, überlegte ich, wie ich mir diesen Umstand zunutze machen konnte. Eine Eichel, die Wasser zu Stein werden ließ! Nach fünf Sekunden war der Groschen gefallen. Ich hatte, was ich wollte: eine absolut tödliche Waffe gegen den Golem. Falls ich im Kampf seine Stirn nicht erreichen konnte, würden mir ein Krug Wasser und eine magische Eichel genügen, um trotzdem als Sieger die Arena zu verlassen. Auf der Stelle würde ich ein paar Versuche durchführen. Genug Eicheln hatte ich ja. »Heureka!« Ich schnappte mir Katyna und wirbelte sie jauchzend durch die Luft. Willig ließ sie es geschehen, und vorsichtshalber stellte ich das Pummelchen schnell wieder auf ihre kurzen Beine. * Ein Windhauch fegte vom Schilfdach herab. Er ließ das Licht, das aus Katynas Haus auf die Straße fiel, gespenstisch Flackern. Bis auf das Rauschen des nahen Waldes und den gelegentlichen Ruf eines Nachtvogels war es in der Skythengasse totenstill. Wie ausgestorben lag der Bohlenweg im Dunkel. Die Stunde des Abschieds nahte. Katyna stand auf der Türschwelle und fröstelte. »Leb wohl, altes Mädchen«, sagte ich und gab ihr die Hand. Sie schlug ein, ließ sofort wieder los und entfernte auf mütterliche Art einen Fussel von meinem Gehrock. »Paß gut auf dich auf, großer, blonder Mann«, murmelte sie. »Natürlich.« »Und laß dich nicht unterkriegen. Hörst du?« 83
»Ich werde es beherzigen.« Sie schluckte heftig, und ich sah, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten. Burschikos wischte sie sie fort. »Die Eicheln last du, nicht wahr?« »Ja.« Schon dreimal hatte sie danach gefragt. »Und wir werden uns nie wiedersehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Grüß die Leute, die deine Freunde sind, ganz herzlich von mir. Hörst du? Grüß sie von Katyna, der Hure aus Vineta!« »Leb wohl, Katyna.« Ich gab dem Pummelchen einen Kuß auf die Wange und schmeckte ihre salzige Tränen. Abrupt wandte ich mich um. Ich folgte dem vorauseilenden Lichtfaden, der mir den Weg wies. »Geh mit Svarog, du Melone im Kürbisfeld!« hörte ich Katyna flüstern, und der Wind trug ihre Worte fort. Ich blickte mich nicht um. Ihre Tür schlug zu. Im Eilschritt marschierte ich durch die öden, menschenleeren Gassen mit den winzigen Holzhütten, die wie Waben eines Bienenstocks aneinanderkleben. Alles lag in tiefstem Schlaf. Bald merkte ich, daß mich der Strahl meines Ringes in Richtung Stadtrand führte. Die Gegend war mir nur allzu bekannt. Meine Tage und Nächte im Tollhaus hatten sich in mein Gehirn gebrannt. In der Ferne sah ich bereits den Turm aufragen, von dessen Plattform ich geflohen war. Es schien eine Ewigkeit her. Im fahlen Licht des Mondes wirkte das Bauwerk geisterhaft und unwirklich. Der Lichtfinger hielt direkt darauf zu. Hielt sich der Golem im Tollhaus auf? Unwillkürlich verlangsamte ich meinen Schritt. Die Holzbohlen unter meinen Füßen quittierten jede Berührung mit einem leisen Knarren. Nicht allzu weit entfernt erklang der dumpfe Ton eines Blasinstruments. Offenbar machte der Nachtwächter seine Runde. Ich mußte aufpassen, daß ich ihm nicht über den Weg lief. Der Kerl bekam es fertig, einen Höllenspektakel zu veranstalten, wenn er mich hinter meinem magischen Lichtstrahl hertappen sah. Wenig später befand ich mich an Ort und Stelle. Geduckt umschlich ich einen Bretterzaun, kam an einen Haufen aufgetürmter Feldsteine vorbei und blieb geduckt dahinter stehen. Das Ende des Lichtfadens zeigte auf eine zweiflüglige Tür, dessen Riegel geöffnet war. 84
Garantiert trieb sich irgendwo ein Wachtposten herum. Um mich nicht zu verraten, deaktivierte ich den Strahl und versuchte, im Dunkel etwas zu erkennen. Nichts. Alles schien völlig ruhig. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Dennoch blieb ich wachsam. Einige merkwürdige Dinge geisterten durch meinen Kopf. Der Riegel. Wieso war er nicht vorgeschoben? Die Tür. Wieso wurde sie nicht bewacht? Eine vage Vorahnung stieg in mir auf. Unwillkürlich tastete ich über meinen Gürtel, an dem das Beutelchen mit den Zaubereicheln und ein kleiner Krug mit Wasser hing. Alles an seinem Platz, Katyna sei Dank. Ich sah mich noch einmal um, fand nichts Verdächtiges und setzte mich daraufhin in Bewegung. Als ich die Tür fast erreicht hatte, ging es los. Zuerst gebärdete sich mein Ring wie ein wildgewordenes Irrlicht. Er funkelte, prickelte und erhitzte sich in einem solchen Maße, daß ich glaubte, mir würde der Finger verglühen. Ich biß die Zähne zusammen. Vor der Tür blieb ich stehen. Leise rüttelte ich am Knauf. Er hatte die Form einer stilisierten, vierköpfigen Gottheit und fühlte sich an wie ein geriffelter Fahrradgriff. Darauf gefaßt, jeden Moment zurückzuspringen, drückte ich die Tür langsam auf. Ein Gang wurde sichtbar. Düster und drohend, als würden greuliche Fabelwesen darin lauern, lag er da. Ich gab mir einen Ruck und trat hinein. Obwohl es völlig still war, glaubte ich, von überallher schrille Entsetzensschreie zu hören. Meine Phantasie! Manchmal ging sie mit mir durch. Doch ich mußte kühles Blut bewahren. Ich starrte in die Dunkelheit, aber es war sinnlos. Mein Blick reichte gerade einmal zwei, drei Schritte weit. Dann verlor er sich in pechschwarzer Finsternis. Ohne Licht war hier kein Blumentopf zu gewinnen. Es war durchaus denkbar, daß sich in dem düsteren Gang Kreaturen tummelten, mit denen nicht gut Kirschenessen war. Im Begriff, mit meinem Ring die Runen für das Wort Leuchte! an die Wand zu schreiben, horchte ich plötzlich auf. Unmittelbar vor mir erklang ein leises Stöhnen. Eine Falle?! Ich schrieb meinen Befehl zu Ende. Augenblicklich flammte ein weißlicher Lichtkegel auf. Ich drückte mich an die Wand und ließ 85
den Strahl langsam über den Boden kriechen. Nach einigen Metern erfaßte er einen menschlichen Fuß. Ich hielt den Atem an, leuchtete weiter. Im Lichtkreis tauchte eine menschliche Gestalt auf. Es war eine Frau. Sie hatte die Beine bis zum geht-nicht-mehr an den Bauch gezogen und einen Arm weit von sich gestreckt. Als das Licht ihren Kopf erfaßte, sah ich die Bescherung. Die Frau hatte eine große Beule auf der Stirn. Jemand mußte sie brutal zu Boden geschlagen haben. Ohne zu zögern, eilte ich auf sie zu, löste den Krug von meinem Gürtel und tröpfelte ihr Wasser ins Gesicht. Sie zuckte mit den Augenlidern und öffnete den Mund, als wolle sie sprechen. Ich hob ihren Kopf vom Boden, ließ sie einen Schluck aus dem Krug trinken und hoffte, daß sie zu sich kam. Die Zeit saß mir im Nacken, und mit jeder Sekunde, die verstrich, vergrößerte sich die Gefahr, von irgend jemandem entdeckt zu werden. Da schlug sie die Augen auf. Als sie mich sah, flackerte panische Angst in ihrem Blick. Röchelnd neigte sie den Kopf zur Seite. Sie bemerkte meinen Ring. Jäh veränderte sich ihre Miene. »Der Fingerreif«, hauchte sie. Ich runzelte die Stirn. »Ja? Was ist damit?« »Gehört er dir?« Sie starrte mich an, als würde ihr Leben von meiner Antwort abhängen. »Ja, es ist meiner«, sagte ich rasch. »Wer bist du?« Bevor sie antworten konnte, sank ihr Kopf auf die Brust. Sie war ohnmächtig geworden. Verdammt! Ich konnte die Frau doch nicht einfach so hier liegen lassen? Und wer war sie eigentlich? Wie eine Gefangene sah sie nicht aus, eher wie eine wohlhabende Dame. Doch was mochte sie veranlaßt haben, des Nachts ins Tollhaus zu schleichen? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Im nächsten Augenblick gab es ein lautes Gepolter. Ich leuchtete in den finsteren Gang. Gleichzeitig spürte ich eine Erschütterung unter meinen Sohlen. Im Gang war nichts zu sehen. Doch das Gepolter schwoll an. Es klang, als ob ein Wahnsinniger mit einem Vorschlaghammer auf einen Felsen eindrosch. Behutsam lehnte ich die Ohnmächtige gegen die Wand. Ich rechnete damit, daß es hier in Kürze vor Wärtern nur so wimmeln 86
würde. Der Radau war nicht zu überhören. Doch eigenartigerweise erschien nicht ein einziger Posten. Wo steckten die Brüder? Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Einem inneren Trieb folgend, rannte ich den Gang entlang, bis ich an eine Verliestür kam, die sperrangelweit offenstand. Ich warf einen Blick hinein - und spürte, wie meine Beine zu Gelee wurden. In der Zelle tobte ein Kampf um Leben und Tod! Der Hackup Zwuhl schlug sich mit der Kreatur aus Lehm. Im hintersten Winkel der Zelle kauerte ein Mädchen von knapp zwanzig Jahren, vor Entsetzen beide Hände vor das Gesicht gepreßt. Ihr gegenüber befand sich eine andere Frau. Jemand hatte sie mit einer riesigen Lanze aufgespießt und an die Wand genagelt. Offenbar der Golem, der verbissen versuchte, den Hackup auf seinem Rücken loszuwerden. Aber der Zwerg dachte nicht im Traum daran, kleinbei zu geben. Mit seinen spitzen Hauerzähnen brachte er dem Rivalen klaffende Wunden bei. Wäre der Golem ein Wesen aus Fleisch und Blut gewesen, der Kampf wäre längst zu Gunsten des Zwerges ausgegangen. Doch der Lehmmann hatte übernatürliche Kräfte. Er war ein Produkt der Schwarzen Magie. Gerade packte der Golem den Hackup an den Haaren und riß sie büschelweise aus. Zwuhl revanchierte sich, indem er ihm seine Hauer in die Pranke schlug. Daraufhin sprang der Golem zu der aufgespießten Frauenleiche. Er fetzte die Lanze aus deren Leib. Pfeilschnell stach er nach dem Zwerg. Mit Bewegungen, die ich im einzelnen kaum auseinanderhalten konnte, wich der Hackup den Hieben aus und schlug dem Golem die Lanze aus der Hand. Der durchbohrte Frauenleichnam sackte zu Boden. Plötzlich gelang es dem Golem, Zwuhl beim Hals zu packen. Der Zwerg schrie. Diesmal war es ihm nicht gelungen, dem kraftvollen Griff seines Gegners auszuweichen. Er schien am Ende seiner Kräfte. Ich sah Zwuhls schreckgeweitete Augen, die mich verzweifelt anstierten. Der Golem riß ihm mit solcher Gewalt am Hals, daß sich die Krallen des Zwerges langsam aus der Haut seines Kontrahenten schälten. Nur noch wenige Sekunden, und die Kreatur aus Lehm hatte die Entscheidung herbeigeführt. Der runzlige Hals des Hackups wurde länger und länger... 87
Jäh erwachte ich aus meiner Lethargie. Der Anblick dieses sagenhaften Fightes zweier nichtmenschlicher Geschöpfe hatte für Momente meinen Verstand mattgesetzt. Schon verzog der Golem triumphierend sein Gesicht. Zeit, daß ich sein böses Spiel beendete. Ich griff nach dem Krug an meiner Hüfte - und erschrak. Der Krug mit dem Wasser war nicht da! Ich hatte ihn neben der Ohnmächtigen stehenlassen, als ich das Poltern hörte. Vor Wut hätte ich mich ohrfeigen können. Leichtfertig hatte ich einen großen Vorteil verspielt. Ohne Wasser nützten mir die Zaubereicheln des Lurjahns einen Dreck! Ich ging auf volles Risiko. Mit einem waghalsigen Hechtsprung katapultierte ich mich auf den Kampfplatz. Ich wollte die Lanze an mich bringen. Aber die Reflexe des Golems waren einzigartig. Er verpaßte mir einen Fußtritt in die Magengegend. Zum Glück traf er nicht voll. Sonst hätte es mir die Eingeweide zertrümmert. Trotzdem wurde ich wie ein Fußball zurückgeschleudert. Ich krachte gegen eine Wand und hörte die Englein singen. Aber meine Niederlage hatte auch eine positive Seite. Der Hackup konnte seinen Hals aus dem Schraubstockgriff des Lehmmannes befreien. Nicht faul, griff der Zwerg erneut an. Mit eiserner Faust trommelte er auf den Kopf des Golems ein. Es gab grauenvolle, knirschende Geräusche, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Ich sah, daß sich der Schädel des Getroffenen unterhalb des Haaransatzes verformte. Durch ein rautenförmiges Loch quoll eine breiige Masse, die über seine Stirn sickerte. Der Golem strauchelte. Zum erstenmal riß er seinen Mund auf, um einen Schrei auszustoßen. Aber nicht ein Mucks kam über seine Lippen. Ihm war es nicht vergönnt, Laute zu formen. Jetzt oder nie! Ich kugelte mich über den Boden. Mitten in der Bewegung ergriff ich die Lanze. Ich riß sie an mich, rollte ein Stück weiter und federte auf die Beine. Der Golem wollte auf mich losstürzen, aber Zwuhl riß ihn am Hals zurück. Der Mann aus Lehm geriet aus der Balance. Er taumelte in Richtung des Mädchens, das stumm vor Entsetzen in der Ecke zitterte. Ich packte die Lanze mit beiden Händen. Als würde ich Anlauf zu einem Stabhochsprung nehmen, raste ich dem angekratzten 88
Golem entgegen. Zwuhl gab mir Deckung. Wie eine Steinlawine prasselten seine Schläge auf den Kopf des Golems. Seine linke Schädelhälfte war bereits völlig im Eimer. Dennoch riß er abrupt beide Arme hoch, um meinen Lanzenstoß abzuwehren. Aus seinen Augen flammten rote Peitschenschnüre. Sie vermischten sich mit dem Licht, das mein Ring ausspie, zu einem einzigartigem, optischen Spektakel. ANMANTH, las ich auf seiner Stirn. Wahrheit. Dann hob ich ab. Die Lehmkreatur erwartete meinen Angriff in tieferen Regionen. Seine Blicke waren auf die Spitze meiner Lanze gerichtet. Aber als ich mit vorgestreckten Beinen durch die Luft auf ihn zubrauste, malte sich blanke Überraschung in seinen kantigen Zügen ab. Der Aufprall war mörderisch. Mir war, als würde ich auf einer Felsenklippe landen. Doch der Golem geriet ins Wanken. Außer sich vor Wut fuchtelte er mit den Armen. Doch er fand keinen Halt und krachte zu Boden. Ich kam direkt neben ihm auf. Glücklicherweise verlief meine Landung glimpflich. Jetzt kam es darauf an, wer sich als erster aufrappelte. Obwohl ich mir jeglichen Schmerz verbiß und so fix ich konnte auf die Beine sprang, war er einen Tick schneller. Und machte den entscheidenden Fehler. Er bückte sich und griff nach der Lanze. Dadurch kam seine Stirn urplötzlich in meine Reichweite! Der Gestank modriger Erde stach in meine Nase. Ohne mit der Wimper zu zucken, packte ich zu. Wutsch! Die Stelle, wo noch eben das AN prangte, war leer. Was blieb, war MANTH, der Tod. Der Golem stand einen Atemzug lang stocksteif. Dann begann er langsam zu zerbröseln. Zuerst bröckelte sein schaurig lädierter Schädel. Dann fiel ihm der erste Arm ab, der zweite folgte kurz darauf. »Er ist hinüber«, sagte der Hackup beeindruckt. »Meinen Glückwunsch, Mark Hellmann!« Ich atmete tief durch und dann auf. »Wo stecken eigentlich diese gottverdammten Wachtposten, Zwuhl?« pustete ich. »Haben sich die Kerle in Luft aufgelöst?«
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Zwuhl trat ganz nah an die Überreste des Golems. Mit seinem Klumpfuß schob er ein Stück Erde zur Seite. Dann sah er zu mir auf. »Dieser stinkende Haufen Lehm hat sie alle getötet«, sagte der Zwerg dumpf. »Neun Männer. Sie liegen mit gebrochenem Rückgrat auf der Plattform. Du kannst sie besichtigen.« Ich winkte ab. »Besten Dank, kleiner Freund. Kein Bedarf.« Schon hörte ich die anschwellenden Klänge von geisterhafter Sphärenmusik. Im selben Augenblick erlosch der Lichtbalken, der das Verlies erhellte. Meine Rückkehr ins Jahr 1999 kündigte sich an. Aus allen Richtungen strömten Spektralfarben auf mich zu, wie die Wogen eines entfesselten Ozeans. Der Boden, auf dem ich stand, wurde durchlässig, als stünde ich auf Treibsand. Eine düstere, bodenlose Schlucht tat sich vor mir auf. Der Drachenkopf auf meinem magischen Ring schien zum Leben zu erwachen. Weit sperrte er seinen Rachen auf. »Meine Aufgabe ist erfüllt!« rief ich. »Lebt wohl!« Ich sah noch die überdimensionalen spitzen Hauer, die bis über die Lippen des Hackups ragten. Der merkwürdige Zeitgenosse war gerade dabei, das verängstigte Mädchen aus dem Verlies zu geleiten. An der Tür trafen sie die Frau vom Gang. Sie hielt den Krug, den mir Katyna mitgegeben hatte, fest umklammert. Mit ungläubigem Staunen starrten sie mich an. Dann spürte ich, wie meine Sinne endgültig den Abflug machten. Aber irgendwie war mir, als würde eine Stimme »Mutter!« rufen. Aus unerhört weiter Ferne. Und dennoch klang es verdammt glücklich.
ENDE Der Raum ist dunkel. Durch die Glaswände ist das eintönige Grau des Meeres zu sehen. Unter diesen Kuppeln befindet sich das aufwendigste und modernste Genlabor, das die Welt bisher gesehen hat. In diesen Hallen ist ein Forscher angetreten, um eine neue Menschenrasse zu schaffen, die das Zeug hat, die Welt zu beherrschen. Und der Ehrgeiz treibt den Professor an.
Die neue Rasse 90
soll rasch entwickelt werden, dafür benötigt der wahnsinnige Forscher >nur< ein paar Opfer. Junge und starke Menschen, die er in seinem Sinne verändern kann...
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