Theodore Sturgeon DER GOTT DES MIKROKOSMOS Goldmann SF Nr. 0195 - ©1955 (US) - ISBN 3-442-23195-7
ebook 2003 by meTro
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Theodore Sturgeon DER GOTT DES MIKROKOSMOS Goldmann SF Nr. 0195 - ©1955 (US) - ISBN 3-442-23195-7
ebook 2003 by meTro
Acht hervorragende Erzählungen eines der größten Autoren auf dem Gebiet der Science Fiction. Einfallsreich, vielleicht ein wenig makaber, aber stets von hohem literarischen Rang! Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Goldmann SCIENCE FICTION Band 0195 Theodore Sturgeon - Der Gott des Mikrokosmos
Von Theodore Sturgeon sind außerdem lieferbar: Die lebenden Steine. 0187 Licht von den Sternen. 0192 Venus plus X. 0181 Das Geheimnis von Xanadu, Band I. 0188 Tausend Schiffe am Himmel, Band II. 0189
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THEODORE STURGEON
Der Gott des Mikrokosmos CAVIAR
Science Fiction-Erzählungen WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Made in Germany • I • 1112 (c) 1955 by Theodore Sturgeon. Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr. Ungekürzte Ausgabe. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlag; F. Jürgen Rogner. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-Druck Augsburg. SF 0195 - Ha/De ISBN 3-442-23195-7
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INHALT DER GOTT DES MIKROKOSMOS
3
KURZES ERWACHEN.
50
KEINE CHANCE FÜR GEISTER
90
AUSLESE
118
MEDUSA
136
BESESSENHEIT
164
SCHATTEN IN DER WAND
194
TWINK
208
DER GOTT DES MIKROKOSMOS
Hier ist die Geschichte eines Mannes, der zuviel Macht besaß, und eines Mannes, der zuviel haben wollte; aber keine Sorge, ich komme Ihnen nicht politisch. Der Mann, der die Macht besaß, hieß James Kidder, und der andere war sein Bankier. Kidder war etwas Besonderes. Er war Wissenschaftler und lebte ganz allein auf einer kleinen Insel vor der Küste NeuEnglands. Er war nicht der zwergenhafte Gnom von irrem Wissenschaftler, von dem man liest. Es ging ihm nicht um den persönlichen Profit, und er war kein Größenwahnsinniger mit russischem Namen und ohne Skrupel. Er war nicht tückisch, und er war nicht einmal besonders subversiv. Er ließ sich die Haare nicht lang wachsen, er hatte saubere Fingernägel, und er lebte und dachte wie ein vernünftiges menschliches Wesen. Er hatte ein rundes, fast kindliches Gesicht; er neigte zur Einsiedelei: Er war klein und dick und – genial. Sein Fach war die Biochemie, und man nannte ihn grundsätzlich ›Mister‹ Kidder. Nicht ›Doktor‹, nicht ›Professor‹. Einfach Mr. Kidder. Er war ein komischer Kauz und war es immer gewesen. Er hatte nie eine College- oder Universitätsausbildung abgeschlos5
sen, weil ihm diese Institute zu langsam und in ihrer Einstellung zur Bildung zu starr waren. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, daß seine Professoren nur vielleicht wußten, wovon sie redeten. Das galt auch für die Lehrbücher. Er stellte immer Fragen, und es machte ihm nicht viel aus, ob sie peinlich waren. Er hielt Gregor Mendel für einen Tölpel und Lügner, Darwin für einen amüsanten Philosophen, und Luther Burbank für einen Sensationshascher. Er öffnete den Mund nie, ohne seinem Opfer das Gefühl der Atemlosigkeit zu verschaffen. Wenn er mit jemandem sprach, der über Wissen verfügte, so holte er sich dieses und ließ sein Opfer atemlos zurück. Wenn er mit jemandem sprach, dessen Wissen bereits in seinem Besitz war, fragte er nur wiederholt: »Woher wissen Sie das?« Sein größtes Vergnügen bestand darin, einen fanatischen Eugeniker im Gespräch zu zerfetzen. Die Leute ließen ihn deshalb in Ruhe und baten ihn nie und nimmer zum Tee. Er war zwar höflich, aber nicht diplomatisch. Er hatte etwas Vermögen, und damit pachtete er die Insel und baute sich ein Laboratorium. Ich habe vorhin erwähnt, daß er Biochemiker war. Weil er war, wie er eben war, konnte er sich nicht damit begnügen, seine Nase nur in sein eigenes Gebiet zu stecken. Es war nicht allzu bemerkenswert, als er einen intellektuellen Ausflug von solcher Reichweite unternahm, daß er eine Methode vervollkommnete, Vitamin B1 gewinnbringend tonnenweise zu kristallisieren – falls jemand es tonnenweise haben wollte. Er bekam viel Geld dafür. Er kaufte seine Insel und setzte achthundert Mann zur Arbeit an eineinhalb Morgen von seinem Grundbesitz ein, um seine Labor- und Baueinrichtungen zu ergänzen. Er befaßte sich mit der Sisalfaser, kam dahinter, wie 6
man sie verschmelzen konnte, und verschaffte der Seilerbranche einen Boom, indem er aus dem Zeug eine praktisch unzerreißbare Schnur herstellte. Sie erinnern sich doch an seine Vorführung zum Zweck der Popularisierung in Nigeria, nicht wahr? Die Sache mit einem Seil aus dem neuen Material, über die Stromschnellen von Ufer zu Ufer gespannt, in der Mitte einen Zehntonner-Lkw, der mit rasiermesserscharfen Kanten an dem Seil hing? Das ist der Grund, weshalb Schiffe jetzt vertäut werden mit Tauen, die wie eine Hievschnur aussehen, nicht dicker als ein Bleistift, auf Rollen zu wickeln wie ein Gartenschlauch. Auch damit verdiente Kidder sich sein Taschengeld. Er ging hin und kaufte sich mit einem Teil davon ein Zyklotron. Danach bedeutete ihm Geld nichts mehr. Geld – das waren große Zahlen in kleinen Büchern. Kidder verbrauchte kleine Beträge davon, um sich Nahrungsmittel und Ausrüstung schicken zu lassen, aber nach einer Weile hörte auch das auf. Seine Bank entsandte einen Boten per Wasserflugzeug, um festzustellen, ob Kidder überhaupt noch lebte. Der Mann kam zwei Tage später verwirrt zurück, von den Dingen, die er da draußen gesehen hatte, nicht wenig verblüfft. Kidder lebte. Er produzierte Überschüsse an wertvoller Nahrung in erstaunlich vereinfachter synthetischer Form. Die Bank schrieb sofort einen Brief und erkundigte sich, ob Mr. Kidder in seinem eigenen Interesse bereit sei, das Geheimnis seiner landlosen Landwirtschaft preiszugeben. Kidder erwiderte, das wolle er gern tun, und fügte die Formeln bei. In einer Nachschrift erklärte er, daß er die Information nicht übermittelt habe, weil ihm nicht klar gewesen 7
sei, daß irgend jemand sich dafür interessiere. Und das von einem Mann, der für die größte soziologische Umwälzung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich war – Fabrik-Ackerbau. Es machte ihn reicher; das heißt, es machte seine Bank reicher. Ihm war es gleichgültig. Aber Kidder fing erst etwa acht Monate nach dem Besuch des Boten richtig an. Für einen Biochemiker, den man nicht einmal ›Doktor‹ nennen konnte, machte er sich recht gut. Hier ist eine unvollständige Liste der Dinge, die er hervorbrachte: Einen wirtschaftlich verwertbaren Plan zur Herstellung einer Aluminium-Legierung, stärker als der beste Stahl, so daß man sie als Baumetall verwenden konnte. Ein Vorführgerät, das er ›Lichtpumpe‹ nannte, beruhend auf der Theorie, daß Licht eine Form der Materie ist und damit den physischen und elektromagnetischen Gesetzen unterliegt. Man verschließe einen Raum, der mit einer einzigen Lichtquelle ausgestattet ist, strahle durch die Pumpe ein zylindrisches Vibrations-Magnetfeld hinein, und das Licht wird daran entlanggeleitet. Dann leite man das Licht durch Kidders ›Linse‹ – einen Ring, der entlang den Linien eines Kamera-Schnellverschlusses ein elektrisches Feld erzeugt. Darunter befindet sich das Herz der Lichtpumpe – ein kristallinischer Lichtabsorber mit einem Wirkungsgrad von achtundneunzig Prozent, der in gewisser Beziehung das Licht der inneren Facetten verliert. Das Ausmaß der Verdunklung, die durch diesen Apparat in dem Zimmer erzielt wird, ist gering, aber meßbar. Man entschuldige meine laienhafte Ausdrucksweise, aber das ist ungefähr die Vorstellung. Synthetisches Chlorophyll – faßweise. 8
Einen Flugzeugantrieb für achtfache Schallgeschwindigkeit. Einen billigen Kleber, den man über alte Farbe streicht, hart werden läßt und dann wie Stoffstreifen abziehen kann. Die alte Farbe löst sich mit ab. Das Zeug fand schnell Freunde. Einen sich selbst erhaltenden atomaren Zerfall des Uranisotops 238, das zweihundertmal so häufig vorkommt wie U 235. Das genügt vorerst. Wenn ich mich wiederholen darf: Für einen Biochemiker, den man nicht einmal ›Doktor‹ nennen konnte, machte er sich recht gut. Kidder ahnte offenbar nichts davon, daß er auf seiner kleinen Insel über genug Macht verfügte, um sich zum Herrn der Welt aufzuschwingen. An solche Dinge dachte er einfach nicht. Solange man ihn bei seinen Experimenten in Ruhe ließ, war er zufrieden damit, den Rest der Welt seinen eigenen ungeschickten und primitiven Neigungen zu überlassen. Man konnte ihn nicht erreichen, außer über ein Funksprechgerät eigener Erfindung, und das einzige Gegenstück dazu war in einem Tresor seiner Bank in Boston eingeschlossen. Nur ein Mann konnte damit umgehen. Der überaus empfindliche Sender sprach nur auf Conants eigene Körpervibrationen an. Kidder hatte Conant klargemacht, daß er außer durch Mitteilungen größter Wichtigkeit nicht gestört werden dürfe. Seine Einfalle und Patente, soweit Conant sie ihm entlocken konnte, wurden unter Pseudonymen veröffentlicht, die nur Conant kannte – Kidder kümmerte sich nicht darum. Das Ergebnis war natürlich ein Vordringen der erstaunlichsten Fortschritte seit der Entstehung der Zivilisation. Die Nation pro9
fitierte – die Welt profitierte. Vor allem aber profitierte die Bank. Sie wuchs ein bißchen zu sehr. Sie streckte die Finger nach anderen Torten aus. Sie ließ sich neue Finger wachsen und mußte, bildlich gesprochen, immer neue Torten backen. Nach wenigen Jahren war sie so groß, daß sie mit Kidders vielen Waffen Kidder an Macht beinahe gleichkam. Beinahe. Und jetzt einen Augenblick Geduld, während ich die fragwürdigen Kerle niedermache, die schon die ganze Zeit behaupten, Kidder wirke ein bißchen unwahrscheinlich; niemand könne sich in so vielen Wissenschaften auf so viele Arten vervollkommnen. Nun, das stimmt. Kidder war ein Genie – zugegeben. Aber sein Genie war nicht schöpferisch. Er war bis ins innerste Mark Lernender. Er wandte an, was er wußte, was er sah und was ihm beigebracht wurde. Als er in seinem neuen Labor auf der Insel zu arbeiten anfing, hatte er sich ungefähr folgendes überlegt: »Alles, was ich weiß, ist das, was mir Reden und Schriften von Leuten beigebracht haben, die die Reden und Schriften von Leuten studierten, die – und so weiter. Ab und zu stößt jemand auf etwas Neues, und er oder einer, der schlauer ist, wendet die Idee an und verbreitet sie. Aber für jeden, der etwas wirklich Neues findet, gibt es ein paar Millionen, die schon vorhandenes Wissen sammeln und weitergeben. Ich wüßte mehr, wenn ich den Evolutionstendenzen zuvorkommen könnte. Es dauert zu lange, auf die Zufälle zu warten, die das Wissen des Menschen steigern – mein Wissen. Wenn ich genug Ehrgeiz hätte, um dahinterzukommen, wie man in der Zeit vorausreist, könnte ich 10
über die Oberfläche der Zukunft huschen und einfach hinabtauchen, sobald ich etwas Interessantes sehe. Aber so ist das mit der Zeit nicht. Man kann sie nicht zurücklassen oder vorauswerfen. Was bleibt also? Nun, da wäre die Sache mit der Beschleunigung der intellektuellen Evolution, damit ich verfolgen kann, was sie hervorbringt. Das scheint etwas unzulänglich zu sein. Es würde mehr Arbeit erfordern, menschliche Gehirne in diesem Ausmaß zu disziplinieren, als wenn ich mich einfach in dieser Richtung forcieren würde. Aber ich kann mich so nicht forcieren. Niemand kann es. Ich bin geschlagen. Ich kann mich nicht beschleunigen, und ich kann die Gehirne anderer Menschen nicht beschleunigen. Gibt es keine Alternative? Sie muß da sein – irgendwo, irgendwie muß es eine Antwort geben.« James Kidder befaßte sich also damit, und nicht mit Eugenik oder Lichtpumpen oder Botanik oder Atomphysik. Als Mann der Praxis erschien ihm das Problem ein wenig metaphysisch, aber er ging es mit typischer Gründlichkeit an und gebrauchte seine ihm eigene Logik. Tag für Tag wanderte er auf der Insel herum, schleuderte Muscheln nach den Möwen und fluchte. Dann kam eine Zeit, als er im Haus herumsaß und vor sich hinbrütete. Und erst danach machte er sich fieberhaft an die Arbeit. Er arbeitete auf seinem eigenen Gebiet, der Biochemie, und konzentrierte sich vor allem auf zwei Dinge – Genetik und tierischen Metabolismus. Er lernte und registrierte in seinem unersättlichen Gehirn viele Dinge, die mit dem gestellten Problem nichts zu tun hatten, und sehr wenig von dem, wonach er suchte. 11
Aber er fügte dieses Wenige zu dem Wenigen, das er wußte oder erriet, und mit der Zeit besaß er eine ganz ordentliche Sammlung von Faktoren, mit denen er arbeiten konnte. Wie er die Sache anging, war typisch unorthodox. Er ging nach der Methode vor, Äpfel mit Birnen zu multiplizieren und Gleichungen mit log √-1 auf der einen und ∞ auf der anderen aufzustellen. Er machte Fehler, aber von jeder Sorte immer nur einen, und später nur einen von einer Gattung. Er verbrachte an seinem Mikroskop so viele Stunden, daß er zwei Tage aufhören mußte, um die Halluzination loszuwerden, daß sein Herz sein eigenes Blut durch das Instrument pumpe. Er unternahm keine Experimente, weil er diese Methode für schlampig hielt. Und er erzielte Ergebnisse. Er hatte von Anfang an Glück, und das steigerte sich noch, als er das Gesetz der Wahrscheinlichkeit in eine Formel brachte und es so reduzierte, daß er fast bis ins kleinste Detail wußte, welche Versuche er nicht anzustellen brauchte. Als die wolkige, klebrige, zähflüssige Masse auf dem Objektglas sich zu bewegen begann, wußte er, daß er auf dem richtigen Weg war. Als sie von selbst nach Nahrung zu suchen begann, erfaßte ihn Erregung. Als sie sich teilte und nach wenigen Stunden erneut teilte und jeder Teil wuchs und sich wieder teilte, triumphierte er, denn er hatte Leben geschaffen. Er sorgte für seine Schöpfungen und schwitzte und mühte sich um sie; er konstruierte Bäder mit unterschiedlichen Vibrationen für sie, und impfte und verarztete und besprühte sie. Jeder Schritt, den er unternahm, lehrte ihn den nächsten. Und aus seinen Behältern und Röhren und Brutkästen kamen amöbenartige Wesen, dann Wimperntierchen, und immer schneller brachte er 12
Tierchen mit Augenflecken und neuromotorischen Zentren hervor, und dann – Sieg aller Siege – einen echten Vielzeller. Die Entwicklung eines Gastropoden dauerte länger, aber als er ihn hatte, fiel es ihm nicht allzu schwer, ihm Organe zu geben, jedes mit einer genau bestimmten Funktion, jedes vererbbar. Dann kamen durchgebildete molluskenartige Wesen und Geschöpfe mit ständig perfekteren Kiemen. An dem Tag, als ein seltsames Wesen an einem schrägen Brett aus dem Behälter hochkroch, Klappen über seine Kiemen legte und mühsam Luft atmete, stellte Kidder die Arbeit ein, ging zur anderen Seite der Insel und betrank sich sinnlos. Trotz des Katers war er bald wieder im Labor, vergaß zu essen, vergaß zu schlafen und stürzte sich auf sein Problem. Er bog auf einen wissenschaftlichen Nebenweg ab und erzielte seinen anderen großen Triumph – beschleunigter Metabolismus. Er extrahierte und raffinierte die Reizfaktoren in Alkohol, Kokain, Heroin und in der berühmtesten Droge von Mutter Natur, Cannabis indica. Wie der Wissenschaftler, der bei der Analyse der Blutgerinnungsfaktoren herausfand, daß Oxalsäure, und zwar Oxalsäure allein, der aktive Faktor war, isolierte Kidder die Beschleuniger und die Bremser, die Reizstoffe und die Beruhigungsstoffe in jeder Substanz, die jemals die Sittlichkeit eines Menschen untergraben und/oder ein ›heldenhaftes Experiment‹ ausgelöst hat. Dabei fand er etwas, das er dringend brauchte – ein farbloses Elixier, das den Schlaf zu dem unnötigen und vermeidbaren Zeitvergeuder machte, der er sein sollte. Von da an arbeitete er ununterbrochen Tag und Nacht. 13
Er stellte die Substanz, die er isoliert hatte, künstlich her und entfernte dabei viele nutzlose Bestandteile. Er verfolgte das Thema im Hinblick auf Strahlung und Vibration. Er entdeckte im längerwelligen Rot etwas, das, durch einen Behälter mit Luft geschickt, die im Überschallbereich vibrierte und dann polarisiert wurde, den Herzschlag kleiner Tiere um das Zwanzigfache beschleunigte. Sie aßen zwanzigmal so viel, wuchsen zwanzigmal so schnell und – starben zwanzigmal früher als angemessen. Kidder baute einen riesigen, hermetisch verschlossenen Raum. Darüber befand sich ein zweiter Raum, ebenso lang und breit, aber nicht ganz so hoch. Das war sein Kontrollraum. Der große Raum wurde in vier abgeschlossene Bereiche abgeteilt, jeder mit seinen eigenen Miniaturkränen und -türmen, Hebeund Fördergeräten aller Art. Außerdem gab es Falltüren, ausgestattet mit Luftschleusen, die vom oberen in den unteren Raum führten. Inzwischen hatte das andere Labor einen warmblütigen, schlangenhäutigen Vierbeiner mit unglaublich schnellem Lebenszyklus hervorgebracht – alle acht Tage eine Generation, eine Lebensspanne von etwa fünfzehn Tagen. Wie der Ameisenigel war das Wesen Eierleger und Säugetier. Die Tragzeit betrug sechs Stunden; die Eier waren nach drei Stunden ausgebrütet; die Jungen erlangten die Geschlechtsreife in weiteren vier Tagen. Jedes Weibchen legte vier Eier und lebte eben lange genug, um nach dem Ausschlüpfen für die Jungen zu sorgen. Das Männchen starb gewöhnlich zwei oder drei Stunden nach der Paarung. Die Wesen waren sehr anpassungsfähig. Sie waren 14
klein – nicht länger als sieben Zentimeter, vom Boden bis zur Schulter fünf Zentimeter. Ihre Vorderpfoten besaßen drei Finger und einen opponierenden Daumen mit drei Gelenken. Sie waren an das Leben in einer Atmosphäre mit hohem Ammoniakgehalt angepaßt. Kidder brachte in jeder der vier Abteilungen des verschlossenen Raumes eine Gruppe unter. Dann war er bereit. Mit seinen gesteuerten Atmosphären veränderte er Temperatur, Sauerstoffgehalt, Feuchtigkeit. Er mordete sie hin wie die Fliegen, beispielsweise mit einem Übermaß an Kohlendioxyd, und die Überlebenden vererbten ihre physische Widerstandskraft an die nächste Generation. In regelmäßigen Abständen tauschte er die Eier in den verschiedenen Abteilungen aus, um die Züchtungsstämme zu variieren. Und die Wesen begannen sich unter diesen gelenkten Bedingungen rasch zu entwickeln. Dies also war die Antwort auf sein Problem. Er konnte den intellektuellen Fortschritt der Menschheit nicht genug beschleunigen, um das zu erhalten, wonach sein unfaßbarer Verstand sich sehnte. Er konnte sich nicht selbst beschleunigen. Also schuf er eine neue Rasse – eine Rasse, die sich so schnell entwickeln würde, daß sie die menschliche Zivilisation überflügeln mußte; und von diesen Wesen wollte er lernen. Sie waren vollkommen in Kidders Macht. Die normale Erdatmosphäre hätte sie vergiftet, wie er jeder vierten Generation sorgfältig klarmachte. Sie würden keinen Versuch unternehmen, ihm zu entkommen. Sie würden ihr Leben leben und sich weiterentwickeln und ihre kleinen Versuche viel hundertmal schneller unternehmen als der Mensch. Sie waren dem Menschen überle15
gen, denn sie hatten Kidder als Leitfigur. Der Mensch brauchte sechstausend Jahre, um die Wissenschaft wirklich zu entdecken, dreihundert, um sie anzuwenden. Kidders Geschöpfe brauchten zweihundert Tage, um die geistigen Fähigkeiten des Menschen zu erreichen. Und von da an ließ Kidders sprunghaft ansteigende Ausbeute den großen alten Thomas Edison wie einen biederen Heimwerker aussehen. Er nannte sie Neoteriks, und er brachte sie dazu, für ihn zu arbeiten. Kidder war erfinderisch auf ideologische Weise, das heißt, er konnte sich die unfaßbarsten Dinge ausdenken, vorausgesetzt, daß er sie nicht auszuarbeiten brauchte. Zum Beispiel sollten die Neoteriks von selbst dahinterkommen, wie man Unterkünfte aus porösem Material bauen mußte. Er schuf das Bedürfnis nach solchen Unterkünften, indem er eine der Abteilungen einem Hochdruck-Regensturm aussetzte, der die Bewohner plattschlug. Die Neoteriks konstruierten sofort aus dem dünnen, wasserdichten Material, das er in einer Ecke gestapelt hatte, wasserdichte Behausungen. Kidder blies den zerbrechlichen Bau mit einem einzigen kalten Windstoß um. Sie bauten die Unterkünfte so wieder auf, daß sie gegen Wind und Regen schützten. Kidder senkte die Temperatur so plötzlich, daß ihre Körper sich nicht anpassen konnten. Sie beheizten ihre Unterkünfte mit winzigen Kohlenpfannen. Nach den ersten Todesfällen überlegte sich einer ihrer klugen Köpfe, wie man mit Hilfe von dreifachem gummiähnlichem Material einen wirksamen Isolierstoff herstellen konnte, wobei die Mittelschicht, vieltausendfach perforiert, winzige Luftlöcher enthielt. 16
Mit solchen Taktiken zwang Kidder sie, eine überaus fortschrittliche kleine Kultur zu entwickeln. Er verursachte in der einen Abteilung Dürre, in der anderen ein Übermaß an Feuchtigkeit, dann öffnete er die Trennwand zwischen ihnen. Es kam zu einem spektakulären Krieg, und Kidders Notizbücher füllten sich mit Informationen über militärische Taktik und Waffen. Dann kam der Impfstoff, den sie gegen den Schnupfen entwickelten – der Grund, weshalb diese Krankheit heute in der ganzen Welt völlig ausgerottet ist, liegt darin, daß diese Formel eines der Dinge war, die Conant, der Bankdirektor, in die Hände bekam. Er sprach an einem Winternachmittag mit einer von einer Halsentzündung so heiseren Stimme über das Funksprechgerät mit Kidder, daß dieser ihm eine Ampulle des Impfstoffs schickte und ihn aufforderte, in einer derart abscheulich unverständlichen Verfassung nie mehr bei ihm anzurufen. Conant ließ den Impfstoff analysieren, und wieder schwollen die Konten Kidders und der Bank an. Zuerst lieferte Kidder lediglich das Material, von dem er glaubte, daß sie es brauchen würden, aber als sie eine Intelligenz entwickelten, mit der sie aus den vorhandenen Elementen alles selbst herstellen konnten, gab er jeder Abteilung einen Vorrat an Rohstoffen. Der Prozeß für die Herstellung wirklich widerstandsfähigen Aluminiums wurde entwickelt, als er in einer der Abteilungen einen großen Kolben einbaute, der sich täglich um zehn Zentimeter senkte, bis alles zerquetscht werden mußte, was sich am Boden befand. Die Neoteriks setzten in Notwehr alles an Material ein, was sie besaßen, um den unerbittlichen Tod aufzuhalten, der sie bedrohte. Kidder hatte jedoch dafür gesorgt, daß sie nichts hatten außer Aluminiumoxyd und einer 17
Anzahl anderer Elemente, dazu genügend Elektrizität. Als erstes zogen sie Dutzende von Aluminiumsäulen hoch; als diese zerquetscht und verbogen wurden, versuchten sie, sie so zu formen, daß das weiche Metall einer stärkeren Belastung standhielt. Als das scheiterte, bauten sie schnell stärkere, und als der Kolben aufgehalten wurde, holte Kidder eine der Säulen heraus und analysierte sie. Es war gehärtetes Aluminium, fester und härter als Molybdänstahl. Die Erfahrung lehrte Kidder, daß er gewisse Änderungen vornehmen mußte, um seine Macht über die Neoteriks zu steigern, bevor sie zu einfallsreich wurden. Es gab Dinge mit Atomkraft zu bewältigen, die seine Neugier anregten, aber er war nicht bereit, seinen kleinen Superwissenschaftlern so etwas anzuvertrauen, wenn nicht gesichert war, daß sie damit genau nach den Vorschriften umgingen. Er führte deshalb eine Regel der Furcht ein. Die geringste Abweichung von dem, was er als den richtigen Weg festlegte, führte zum sofortigen Tod eines halben Stammes. Wenn er etwa eine Art Dieselkraftwerk zu entwickeln versuchte, das ohne Schwungrad auskam, und ein kluger junger Neoterik verwendete irgendeinen Teil des Materials für Bauzwecke, dann starb die Hälfte des Stammes auf der Stelle. Natürlich hatten die Neoteriks eine Schriftsprache entwickelt; es war Kidders eigene. Der Fernschreiber in einer verglasten Ecke jeder Abteilung war ein Schrein. Alle Anweisungen, die damit gegeben wurden, befolgte man, sonst… Nach dieser Neuerung war Kidders Arbeit viel einfacher. Umwege erwiesen sich als unnötig. Alles, was er getan haben wollte, wurde getan. Gleichgültig, wie unsinnig seine Befehle waren, drei oder vier Generationen von Neoteriks fanden einen Weg, sie auszuführen. 18
Das folgende Zitat stammt aus einem Schriftstück, das, wie eine von Kidders Hochgeschwindigkeits-Teleskopkameras entdeckte, bei den jüngeren Neoteriks umlief. Es ist aus der stark vereinfachten Schrift der Neoteriks übersetzt. ›Diese Gebote sind von jedem Neoterik bei Strafe des Todes zu befolgen. Die Strafe wird vom Stamm gegen den einzelnen ausgesprochen, um den Stamm vor ihm zu schützen. Den Befehlen, die auf der Wortmaschine erscheinen, ist Vorrang des Interesses und der Bemühungen des Stammes und jedes einzelnen einzuräumen. Jede falsche Verwendung von Material oder Energie oder ihr Gebrauch für andere Zwecke als die Ausführung der von der Maschine gegebenen Befehle, es sei denn, daß kein Befehl erscheint, wird mit dem Tode bestraft. Jede Information zu dem betreffenden Problem, oder zu Ideen oder Experimenten, die damit in Zusammenhang stehen könnten, wird Eigentum des Stammes. Jede Einzelperson, die an der Arbeit des Stammes nicht mitwirkt oder die man beschuldigen kann, sich nicht voll dafür einzusetzen, oder gegen die ein solcher Verdacht besteht, verfällt der Todesstrafen. Solches sind die Folgen totaler Beherrschung. Dieses Schriftstück beeindruckte Kidder vor allem deshalb so sehr, weil es völlig spontan entstanden war. Es war das Glaubensbekenntnis der Neoteriks, zu ihrem eigenen Besten von ihnen entwickelt. Und so fand Kidder endlich seine Erfüllung. Im oberen Raum kauernd, von Teleskop zu Teleskop wandernd, 19
Zeitlupenaufnahmen von seinen Hochgeschwindigkeitskameras abspielend, sah er sich im Besitz einer gefügigen, dynamischen Informationsquelle. Das große, würfelförmige Gebäude mit seinen vier je zweitausend Quadratmeter großen Abteilungen barg eine neue Welt, für die er ein Gott war. Conants Verstand ähnelte dem von Kidder darin, daß er jedes Problem auf der kürzesten Entfernung zwischen zwei Punkten anging, ohne Rücksicht darauf, ob das entlang der Linie des stärksten oder geringsten Widerstands geschah. Sein Aufstieg zum Bankpräsidenten war eine Geschichte rücksichtsloser Schritte, deren einzige Rechtfertigung war, daß sie ihm brachten, was er haben wollte. Wie ein übertüchtiger General überwand er einen Gegner nie durch die zahlenmäßige Übermacht allein. Er trat gleichzeitig zu Flankenangriffen an, und zwar auf beiden Seiten. Unbeteiligte Zuschauer waren Wesen, die keine Rücksicht verdienten. Als er beispielsweise von einem Mann namens Grady ein bestimmtes Grundstück von tausend Morgen Größe übernahm, begnügte er sich nicht einfach mit dem Besitztitel. Grady war Besitzer eines Flugplatzes – sein ganzes Leben lang, wie sein Vater vor ihm. Conant übte jeden erdenklichen Druck auf den Mann aus und fand ihn unerschütterlich. Schließlich veranlaßte geschickte Überredungskunst die Stadtbehörden, einen Abwasserkanal mitten durch den Flugplatz zu ziehen, womit Gradys Unternehmen ruiniert war. Da Conant wußte, daß das Grady, der ein begüterter Mann war, ein Rachemotiv liefern konnte, übernahm er dessen Bank zum eineinhalbfachen Wert und führte ihren Zusammenbruch herbei. Grady verlor jeden 20
Cent, den er hatte, und endete in einer Nervenheilanstalt. Conant war auf seine Taktiken sehr stolz. Wie viele andere, die Mammon am Schwanz gepackt hatten, wußte Conant nicht, wann er loslassen mußte. Seine riesige Organisation verschaffte ihm mehr Geld und Macht als jedem anderen Konzern der Geschichte, und trotzdem war er nicht zufrieden. Conants aufeinandergetürmte Unternehmen waren für ihn, was die Neoteriks für Kidder waren. Jeder hatte sich seine private Welt geschaffen; jeder gebrauchte sie für seine Machtausübung und zum Profit. Kidder störte jedoch niemanden außer seinen Neoteriks. Trotzdem war Conant nicht durch und durch schurkisch. Er war ein scharfsinniger Mann und hatte früh entdeckt, wie wertvoll es war, den Leuten gefällig zu sein. Niemand kann über Jahre hinweg erfolgreich rauben, ohne den Menschen gegenüber, die er beraubt, freundlich zu scheinen. Die Technik dafür ist überaus kompliziert, aber wer sie meistert, kann im Geld schwimmen. Conants einzige große Angst war, daß Kidder eines Tages Interesse an den Ereignissen auf der Welt nehmen und sich eine eigene Meinung bilden könnte. Guter Gott – was für eine potentielle Macht der Mann hatte! Eine kleine Sache wie die Beeinflussung einer Wahl war von einem Mann wie Kidder so leicht zu bewältigen, wie wenn er sich im Bett umdrehte. Das einzige, was er tun konnte, war, ihn in regelmäßigen Abständen anzurufen und festzustellen, ob Kidder etwas brauchte, das ihn beschäftigen konnte. Kidder schätzte das. Conant schlug Kidder ab und zu etwas vor, das ihn anregte, das ihn einige Wochen lang tief in seiner Einsiedelei festbannte. Die Lichtpumpe war eines 21
der Ergebnisse von Conants Einfallsreichtum. Conant wettete mit ihm, daß man so etwas nicht machen könne. Kidder machte es. Eines Nachmittags reagierte Kidder auf das Signal des Funksprechgeräts. Er schimpfte leise vor sich hin, schaltete den Film ab, den er studiert hatte, und ging durch das Gelände zum alten Labor. Er trat an das Funkgerät und betätigte einen Schalter. Das Heulen hörte auf. »Na?« »Hallo«, sagte Conant. »Beschäftigt?« »Nicht sehr«, sagte Kidder. Er freute sich über die Bilder, die seine Kamera eingefangen hatte; sie zeigten die geschickte Arbeit einer Gruppe von Neoteriks bei der Synthese von Gummi aus reinem Schwefel. Er hätte Conant am liebsten davon erzählt, aber aus irgendeinem Grund war er nie dazu gekommen, Conant von den Neoteriks zu berichten, und er sah nicht ein, weshalb er jetzt damit anfangen sollte. Conant sagte: »Äh – Kidder, ich war neulich im Club, und wir haben uns da so über alles mögliche unterhalten. Dabei ergab sich etwas, das Sie interessieren könnte.« »Nämlich?« »Zwei Leute von öffentlichen Versorgungsbetrieben waren dabei. Sie wissen doch, wie die Energieversorgung in unserem Land funktioniert, ja? Dreißig Prozent Atomkraft, der Rest hydroelektrisch, Diesel und Dampf?« 22
»Wußte ich nicht«, sagte Kidder, der von den Tagesereignissen soviel Ahnung hatte wie ein Säugling. »Nun, wir haben darüber diskutiert, welche Chance eine neue Energiequelle hätte. Einer der Herren meinte, es wäre klüger, eine neue Energieform hervorzubringen und erst dann darüber zu sprechen. Ein anderer widersprach; er sagte, er könne die neue Energieform nicht benennen, aber beschreiben. Sie müsse alles haben, was die jetzigen Energiequellen hätten, und noch ein, zwei Dinge dazu. Sie solle zum Beispiel billig sein. Sie solle mehr leisten. Sie solle die anderen überflügeln, indem sie leichter vom Kraftwerk zum Verbraucher zu befördern sei. Verstehen Sie, was ich meine? Jeder einzelne dieser Faktoren könnte eine neue Energiequelle den anderen gegenüber konkurrenzfähig machen. Was ich sehen möchte, ist eine neue Energieform mit allen diesen Faktoren. Was halten Sie davon?« »Nicht ausgeschlossen.« »Glauben Sie?« »Ich werde es versuchen.« »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Conants Gerät schaltete ab. Der Schalter war eine kleine Täuschung, die Kidder ohne Conants Wissen in den Apparat eingebaut hatte. Das Gerät schaltete sich erst ab, wenn Conant sich davon entfernte. Nach dem lauten Knacken des Schalters hörte Kidder den Bankier murmeln: »Wenn er es schafft, bin ich fein ‘raus. Wenn nicht, ist der verrückte Narr auf seiner Insel wenigstens beschäf-« Kidder betrachtete das Funkgerät einen Augenblick lang mit hochgezogenen Brauen und zuckte dann mit den Achseln. Es 23
war ganz offenkundig, daß Conant etwas im Schilde führte, aber Kidder machte sich keine Gedanken. Wer konnte ihn schon aus der Ruhe bringen wollen? Er störte keinen. Er ging zurück zum Neoteriks-Bau, erfüllt von der neuen Idee. Elf Tage später rief Kidder Conant an und erteilte genaue Anweisungen darüber, wie sein Empfänger mit einem Faksimilegerät auszustatten sei, damit Kidder Schriftliches senden konnte. Als das getan war und Kidder Bescheid erhalten hatte, äußerte sich der Biochemiker zur Abwechslung einmal etwas ausführlicher. »Conant – Sie haben angedeutet, daß es eine neue Energiequelle, die billiger, leistungsstärker und leichter zu verbreiten wäre als alle bisherigen, nicht gibt. Sie interessieren sich vielleicht für den kleinen Generator, den ich eben gebaut habe. Er erzeugt Energie, Conant – unglaubliche Energie. Ein wunderschöner kleiner gebündelter Strahl. Da – sehen Sie sich das auf dem Aufzeichner an.« Kidder schob ein Blatt Papier unter die Spangen seines Senders, und es erschien in Conants Gerät. »Da ist der Schaltplan für einen Energieempfänger. Passen Sie auf. Der Strahl ist so gebündelt, so genau ausgerichtet, daß bei einer Übertragung von zweitausend Meilen keine dreitausendstel Prozent der Energie verlorengehen würden. Es handelt sich um ein geschlossenes Energiesystem. Das heißt, jeder Schwund im Energiestrahl gibt ein Signal daran entlang zum Sender zurück, der automatisch den Energieausstoß erhöht. Es gibt eine Grenze, aber sie liegt sehr hoch. Dieses kleine Gerät kann acht verschiedene Strahlen mit einer Gesamt-PS-Leistung von etwa achttausend pro Minute und Strahl aussenden. Aus jedem Strahl 24
können Sie genug Energie nehmen, um eine Buchseite umzublättern oder ein Super-Stratosphärenflugzeug damit anzutreiben. Augenblick – ich bin noch nicht fertig. Jeder Strahl gibt, wie ich schon sagte, vom Empfänger zum Sender ein Signal zurück. Das steuert nicht nur die Energieleistung des Strahls, sondern lenkt ihn auch. Sobald der Kontakt hergestellt ist, läßt der Strahl nicht mehr locker. Er folgt dem Empfänger überallhin. Sie können ebenso Land-, Luft- oder Wasserfahrzeuge damit betreiben wie alle stationären Anlagen. Gefällt Ihnen das?« Conant, der Bankier war und kein Wissenschaftler, wischte sich die glänzende Glatze mit dem Handrücken und sagte: »Ich habe noch nie erlebt, daß Sie mich aufs Glatteis führen, Kidder. Und was kostet das Zeug?« »Viel«, sagte Kidder sofort. »Soviel wie ein Atomkraftwerk. Es gibt aber keine Hochspannungsleitungen, keine Kabel, keine Rohre, nichts. Die Empfänger sind etwas komplizierter als ein Radiogerät. Der Sender ist – nun, das ist eine Sache für sich.« »Sie haben nicht lange gebraucht«, meinte Conant. »Nein«, sagte Kidder, »nicht wahr?« Es war die Lebensleistung von beinahe zwölfhundert hochkultivierten Wesen, aber darauf ging Kidder nicht ein. »Der, den ich hier habe, ist natürlich nur ein Modell.« Conants Stimme klang gepreßt. »Ein – Modell? Und es liefert -« »Über sechzigtausend PS«, sagte Kidder fröhlich. »Du lieber Himmel! Bei einem Gerät normaler Größe – na, ein Sender würde genügen, um -« Die Möglichkeiten des Geräts beraubten 25
Conant einen Augenblick der Sprache. »Mit welchem Stoff wird das Ding betrieben?« »Mit keinem«, sagte Kidder. »Ich fange gar nicht an, es zu erklären. Ich habe eine Energiequelle von unvorstellbarem Ausmaß gefunden. Sie ist – nun, groß. So groß, daß sie nicht mißbraucht werden darf.« »Was?« fauchte Conant. »Was meinen Sie damit?« Kidder zog eine Braue hoch. Conant führte also wirklich etwas im Schilde. Bei diesem zweiten Hinweis beschloß Kidder, der durchaus kein argwöhnischer Mensch war, auf der Hut zu sein. »Ich meine genau das, was ich sage«, erwiderte er ruhig. »Strengen Sie sich nicht zu sehr an, mich zu verstehen – ich kapiere es selbst nur mit Mühe. Die Quelle dieser Energie ist jedoch eine ungeheure Resultante, hervorgerufen durch das Ungleichgewicht von zwei vorher ausbalancierten Kräften. Diese ausgeglichenen Kräfte sind der Quantität nach von kosmischem Ausmaß. Im Grunde diejenigen Kräfte, die Sonnen erzeugen, Atome so zertrümmern, wie sie die des Siriusmondes zermalmt haben. Das ist nichts, womit man herumspielen darf.« »Verstehe ni-«, sagte Conant und verstummte betroffen. »Ich gebe Ihnen ein Beispiel dazu«, sagte Kidder. »Angenommen, Sie nehmen zwei Stäbe, in jede Hand einen. Sie legen die Spitzen aneinander und pressen. Solange der Druck genau entlang der Längsachse verläuft, ist er ausgeglichen; die rechte und die linke Hand heben einander gegenseitig auf. Jetzt komme ich daher; ich strecke einen Finger aus und berühre die 26
Stäbe ganz leicht an der Stelle, wo sie zusammengefügt sind. Sie schnellen heftig auseinander; Sie brechen sich ein paar Fingerknöchel. Die resultierende Kraft verläuft im rechten Winkel zu den Kräften, die Sie ursprünglich ausgeübt haben. Mein Energiesender beruht auf demselben Prinzip. Es bedarf nur einer unendlich kleinen Energiemenge, um diese Kräfte zu sprengen. Einfach genug, wenn man weiß, wie man es machen muß. Die entscheidende Frage ist, ob Sie die Resultante kontrollieren können oder nicht, wenn Sie sie haben. Ich kann es.« »Ich – verstehe.« Conant gestattete sich vier Sekunden Schadenfreude. »Der Himmel sei den Stromwerken gnädig. Ich werde es nicht sein. Kidder – ich brauche einen Energiesender in voller Größe.« Kidder gluckste ins Funkgerät. »Ehrgeizig, wie? Ich habe hier kein Personal, Conant – das wissen Sie. Und man kann nicht von mir erwarten, daß ich einen vier- bis fünftausend Tonnen schweren Apparat selbst baue.« »In achtundvierzig Stunden schicke ich Ihnen fünfhundert Ingenieure und Arbeiter.« »Das tun Sie nicht. Warum belästigen Sie mich damit? Ich bin hier sehr glücklich, Conant, und einer der Gründe dafür ist, daß mich niemand stört.« »Na, hören Sie, Kidder – seien Sie doch nicht so – ich zahle Ihnen -« »Soviel Geld haben Sie nicht«, sagte Kidder knapp. Er drehte den Schalter an seinem Gerät. Sein Schalter funktionierte. 27
Conant war außer sich. Er schrie ein paarmal ins Gerät, dann drückte er unablässig auf den Rufknopf. Kidder ließ das Ding heulen und kehrte in seinen Vorführraum zurück. Er bedauerte, Conant den Schaltplan geschickt zu haben. Es wäre interessant gewesen, ein Flugzeug oder ein Auto mit dem Empfängermodell auszurüsten, das er den Neoteriks abgenommen hatte. Aber wenn Conant sich so benahm – nun, ohne den Sender nützte der Empfänger ohnedies nichts. Jeder Elektroingenieur konnte den Schaltplan verstehen, aber nicht den Strahl, der auf das Gerät wirkte. Und seinen Strahl würde Conant nicht bekommen. Bedauerlich, daß er Conant nicht gut genug kannte. Kidders Tage waren endlose Ausflüge ins Lernen. Er schlief nie, ebensowenig seine Neoteriks. Er aß regelmäßig alle fünf Stunden, verschaffte sich alle zwölf Stunden eine halbe Stunde Bewegung. Er achtete nicht auf die Zeit, denn sie bedeutete ihm nichts. Hätte er das Datum oder auch nur die Jahreszahl wissen wollen, dann hätte er das von Conant erfahren können. Sie kümmerten ihn einfach nicht, das war alles. Die Zeit, die nicht für Beobachtungen aufgewendet wurde, gebrauchte er dazu, neue Probleme für die Neoteriks zu entwickeln. Seine Gedanken befaßten sich jetzt mit Verteidigung. Die Idee war ihm durch das Gespräch mit Conant gekommen; jetzt stand sie im Vordergrund, und das Motiv hatte keine Bedeutung. Die Neoteriks arbeiteten an einem Vibrationsfeld von quasi-elektrischer Art. Kidder sah darin wenig praktischen Wert – eine unsichtbare Wand, die alles Lebende, das sie berührte, töten würde. Aber immerhin – die Idee war faszinierend. 28
Er streckte sich und trat von dem Teleskop zurück, durch das er vom oberen Raum aus seine Geschöpfe bei der Arbeit beobachtet hatte. Er war hier in dem großen Kontrollraum völlig glücklich. Er verließ ihn ungern, um zum alten Labor zu gehen und einen Bissen zu essen. Am liebsten hätte er ihn jedesmal, wenn er davonging, herzlich verabschiedet und bei der Rückkehr freudig begrüßt. Ein wenig belustigt über sich selbst, ging er hinaus. Ein paar Meilen vor der Insel, Richtung Festland, zeigte sich ein dunkler Fleck – ein fernes Motorboot. Kidder blieb stehen und starrte es angewidert an. An beiden Seiten des schwarzen Rumpfs war ein weißer Gischtbogen zu sehen – das Boot kam auf ihn zu. Er schnaubte und dachte an damals, als eine Jacht voller Dummköpfe eines Nachmittags aus Neugier gelandet war, die Leute auf seiner geliebten Insel herumgetrampelt waren, ihn mit albernen Fragen überschüttet und ihn für Tage aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatten. Gott, wie er die Menschen haßte! Der Gedanke an Unerfreuliches erzeugte zwei weitere Gedanken, die halb bewußt mit seinem Verstand spielten, während er durch das Gelände ging und das alte Labor betrat. Der eine war, daß es klug sein mochte, seine Gebäude mit irgendeinem Kraftfeld zu umgeben und Warnschilder für Unbefugte aufzustellen. Der andere Gedanke galt Conant und der vagen Unruhe, die der Mann ihm in den letzten Wochen über das Funkgerät mitgeteilt hatte. Sein Vorschlag vor zwei Tagen, auf der Insel eine Energieanlage zu bauen – gräßliche Idee! 29
Conant erhob sich von einem Labortisch, als Kidder hereinkam. Sie sahen einander für einen langen Augenblick wortlos an. Kidder hatte den Bankpräsidenten seit Jahren nicht mehr gesehen. Die Anwesenheit des Mannes rief bei ihm, wie er feststellte, eine Gänsehaut hervor. »Hallo«, sagte Conant jovial. »Sie sehen gut aus.« Kidder gab einen Brummlaut von sich. Conant setzte sich schwerfällig wieder auf den Tisch und sagte: »Nur, um Ihnen die Mühe des Fragens zu ersparen, Mr. Kidder, ich bin vor zwei Stunden mit einem kleinen Boot angekommen. Scheußliches Transportmittel. Ich wollte Sie überraschen; meine beiden Begleiter haben mich die letzten zwei Meilen gerudert. Sie sind hier auf Abwehr nicht besonders eingerichtet, wie? Es könnte Sie ja jeder so überfallen wie ich.« »Wer will das schon?« knurrte Kidder. Die Stimme Conants schnitt ärgerlich durch sein Gehirn. Für einen so kleinen Raum sprach er viel zu laut; wenigstens erschien es Kidders Einsiedlerohren so. Kidder zuckte die Achseln und machte sich daran, eine leichte Mahlzeit für sich zuzubereiten. »Nun«, sagte der Bankier gedehnt, »ich vielleicht.« Er zog ein Zigarrenetui aus der Tasche. »Stört es Sie, wenn ich rauche?« »Ja«, sagte Kidder scharf. Conant lachte leichthin und steckte die Zigarren ein. »Ich möchte Sie drängen, mich die Energiestation hier auf der Insel bauen zu lassen«, sagte er. 30
»Funktioniert das Funkgerät?« »O ja. Aber jetzt, wo ich hier bin, können Sie mich nicht abschalten. Also – wie steht es damit?« »Ich habe meine Meinung nicht geändert.« »Das sollten Sie aber, Kidder, das sollten Sie. Überlegen Sie – denken Sie daran, wie gut das für die Massen wäre, die jetzt noch riesige Stromrechnungen bezahlen müssen!« »Die Massen hasse ich! Weshalb müssen Sie gerade hier bauen?« »Ach, das. Es ist der ideale Ort. Die Insel gehört Ihnen; die Arbeit könnte hier beginnen, ohne irgendwelches Aufsehen zu erregen. Die Anlage würde, im geheimen gebaut, vollentwickelt auf den Energiemarkt des Landes kommen können. Die Insel läßt sich total abschirmen.« »Ich will nicht gestört werden.« »Wir würden Sie nicht stören. Wir würden am Nordende der Insel bauen – eineinviertel Meilen von Ihnen und Ihrer Arbeit entfernt. Äh – übrigens – wo ist das Modell des Energiesenders?« Kidder, den Mund voll synthetischer Nahrung, zeigte mit der Hand auf den kleinen Tisch, wo das Modell stand, ein Würfel von einem Meter Seitenlänge – ein verblüffend kompliziertes Gerät aus Kunststoff und winzigen Spulen. Conant stand auf und ging darauf zu. 31
»Funktioniert wirklich, was?« Er seufzte tief und sagte: »Kidder, ich mache das wirklich ungern, aber ich möchte die Anlage unbedingt bauen. Carson! Robbins!« Zwei stiernackige Männer traten aus ihren Verstecken in den Ecken des Raumes. Einer ließ lässig einen Revolver am Zeigefinger der rechten Hand baumeln. Kidder sah verständnislos von einem zum anderen. »Diese Herren befolgen meine Befehle aufs genaueste, Kidder. In einer halben Stunde wird eine Gruppe hier landen – Ingenieure, Baufachleute. Sie werden das Nordende der Insel vermessen. Die beiden hier empfinden, was Sie angeht, genauso wie ich. Gehen wir mit Ihrer Zustimmung vor oder ohne sie? Es ist mir gleichgültig, ob Sie am Leben gelassen werden oder nicht, um Ihre Arbeit fortzusetzen. Meine Techniker können Ihr Modell nachbauen.« Kidder sagte nichts. Er hatte aufgehört zu kauen, als er die bewaffneten Männer erblickt hatte, und dachte erst jetzt daran, zu schlucken. Er saß gebeugt vor seinem Teller, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen. Conant brach das Schweigen, als er zur Tür ging. »Robbins – können Sie das Modell da tragen?« Der große Mann steckte die Waffe ein, hob das Gerät vorsichtig hoch und nickte. »Bringen Sie es zum Strand hinunter und gehen Sie dem anderen Boot entgegen. Sagen Sie Mr. Johansen, dem Ingenieur, das sei das Modell, nach dem er arbeiten muß.« Robbins ging hinaus. Conant wandte sich an Kidder. »Es besteht kein Anlaß, daß wir uns aufregen«, sagte er ölig. »Ich halte Sie für halsstar32
rig, aber das nehme ich Ihnen nicht übel. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Man wird Sie in Ruhe lassen, das verspreche ich Ihnen. Aber ich beabsichtige, weiterzumachen, und eine Kleinigkeit wie Ihr Leben wird mir nicht im Weg stehen.« Kidder sagte: »Verschwinden Sie.« An seinen Schläfen pochten zwei geschwollene Adern. Seine Stimme klang leise und schwankend. »Gut. Guten Tag, Mr. Kidder. Oh – übrigens – Sie sind ein teuflisch schlauer Bursche.« Niemand hatte jemals zuvor von dem gelehrten Mr. Kidder so gesprochen. »Mir ist die Möglichkeit klar, daß Sie uns von der Insel pusten können. An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun. Ich bin bereit, Ihnen zu geben, was Sie wünschen – Ihre Ruhe. Dasselbe verlange ich auch. Wenn mir etwas zustößt, solange ich hier bin, wird die Insel von jemandem bombardiert werden, der für mich arbeitet. Ich gebe zu, daß das scheitern könnte. Wenn ja, dann wird die US-Regierung eingreifen. Das möchten Sie doch nicht, oder? Für einen einzelnen ist das wohl ein zu großer Brocken. Dasselbe gilt, wenn die Anlage auf irgendeine Weise sabotiert wird, nachdem ich auf das Festland zurückgekehrt bin. Sie könnten umkommen. Auf jeden Fall würden Sie unablässig belästigt werden. Danke für Ihre – äh – Mitarbeit.« Der Bankier grinste und ging hinaus, gefolgt von seinem schweigsamen Gorilla. Kidder saß lange Zeit da, ohne sich zu rühren. Dann schüttelte er den Kopf, den er auf die Hände gestützt hatte. Er hatte große Angst; nicht so sehr, weil sein Leben in Gefahr war, sondern weil seine Abgeschiedenheit und seine Arbeit – seine Welt – bedroht waren. Er war verletzt und verwirrt. Er war kein Geschäftsmann. 33
Er konnte nicht mit Menschen umgehen. Sein ganzes Leben war er vor den Menschen und dem, was sie darstellten, davongelaufen. Er glich einem verängstigten Kind, sobald Menschen ihm nahe kamen. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, fragte er sich vage, was geschehen würde, wenn das Kraftwerk eröffnet wurde. Auf jeden Fall würde sich der Staat dafür interessieren. Außer – außer Conant war bis dahin der Staat. Die Energieanlage war eine unermeßliche Energie- und Machtquelle. Er stand auf und ging zu der Welt zurück, die sein Zuhause war, eine Welt, wo seine Motive verstanden wurden und wo diejenigen waren, die ihm helfen konnten. Im Gebäude der Neoteriks entfloh er wieder aus der Welt der Menschen in seine Arbeit. Kidder rief Conant zur großen Überraschung des Bankiers eine Woche später an. Seine zwei Tage auf der Insel hatten das Unternehmen flott auf den Weg gebracht, und er war bei der Ankunft einer Schiffsladung Arbeiter und Material abgefahren. Mit Johansen, dem leitenden Ingenieur, stand er über Funk in ständiger Verbindung. Für Johansen und alle anderen Mitarbeiter auf der Insel war es ein Blindauftrag gewesen. Nur die unbeschränkten Mittel der Bank hatten einen solchen Mann und die ausgesuchten Leute dazu beschaffen können. Johansens erste Reaktion beim Anblick des Modells war Ekstase gewesen. Er wollte seinen Freunden von diesem Wunderwerk erzählen, aber das einzige verfügbare Funkgerät war auf Conants Arbeitszimmer in der Bank eingestellt, und Conants Wachen, für je zwei Techniker eine, hatten strenge 34
Anweisung, jedes andere Funkgerät beim ersten Auftauchen zu zerstören. Etwa um diese Zeit wurde Johansen klar, daß er Gefangener auf der Insel war. Sein Zorn legte sich, als er bedachte, daß es nicht so schlimm war, bei fünfzigtausend Dollar in der Woche Gefangener zu sein. Zwei von den Arbeitern und ein Techniker dachten aber anders und lehnten sich zwei Tage nach ihrer Ankunft auf. Sie verschwanden eines Nachts – in derselben Nacht, als am Strand unten fünf Schüsse fielen. Niemand stellte Fragen, und es gab keine Schwierigkeiten mehr. Conant verbarg seine Überraschung bei Kidders Anruf und war so ungehörig jovial wie immer. »Na! Kann ich irgend etwas für Sie tun?« »Ja«, sagte Kidder. Seine Stimme klang leise und völlig ausdruckslos. »Ich möchte eine Warnung an Ihre Leute aussprechen, nicht die weiße Linie zu überschreiten, die ich fünfhundert Meter nördlich meiner Gebäude quer über die Insel gezogen habe.« »Warnung? Mein lieber Freund, sie haben Anweisung, daß Sie unter keinen Umständen gestört werden dürfen.« »Sie haben sie angewiesen. Nun gut. Jetzt warne ich sie. Ich habe ein elektrisches Feld um meine Labors gelegt, das alles Lebende tötet, sobald es eindringt. Ich möchte keinen Mord auf dem Gewissen haben. Todesfälle wird es nicht geben, wenn kein Unbefugter zu nahe kommt. Informieren Sie Ihre Arbeiter?« »Ach, wissen Sie, Kidder«, sagte der Bankier. »Das war wirklich völlig unnötig. Sie werden nicht belästigt. Ich-« Er stellte fest, daß er in ein abgeschaltetes Mikrofon sprach. Er hütete 35
sich, zurückzurufen. Statt dessen rief er Johansen an und berichtete ihm davon. Johansen gefiel das alles nicht, aber er wiederholte die Mitteilung und beendete das Gespräch. Conant mochte den Mann. Er bedauerte einen Augenblick lang, daß Johansen das Festland nicht lebend erreichen würde. Aber dieser Kidder – er fing an, sich zu einem Problem auszuwachsen. Solange seine Waffen sich auf reine Abwehr beschränkten, stellte er keine echte Bedrohung dar, aber man würde ihn aus dem Weg räumen müssen, sobald die Anlage in Betrieb war. Conant konnte es sich nicht leisten, Genies um sich zu haben, wenn sie nicht voll und ganz auf seiner Seite standen. Der Energiesender und Conants überaus ehrgeizige Pläne waren gesichert, solange Kidder sich selbst überlassen blieb. Kidder wußte, daß er vorerst von Conant eine freundlichere Behandlung erwarten konnte als von einer Horde staatlicher Abgesandter. Kidder verließ, nachdem die Arbeit am Nordende der Insel begonnen hatte, seine Einhegung nur ein einzigesmal, und er brauchte seine ganzen unentwickelten diplomatischen Fähigkeiten dazu. Da er die Quelle kannte, aus der die Anlage ihre Energie bezog, da er wußte, was geschehen konnte, wenn sie mißbraucht wurde, erbat er Conants Erlaubnis, den großen Sender kurz vor der Fertigstellung zu besichtigen. Sein eigenes Leben sichernd, indem er sich weigerte, sich bei Conant wieder zu melden, bevor er in sein Labor zurückgekehrt war, schaltete er die Abschirmung ab und ging zum Nordende. Es war ein furchteinflößender Anblick. Das Modell von einem Meter Höhe war um nahezu das Hundertfache vergrößert wor36
den. Im Innern eines massiven, hundert Meter hohen Würfels war der Raum mit dem gleichen verwirrenden Labyrinth von Spulen und Stäben vollgestopft, das die Neoteriks so feinfühlig in ihre Maschine eingebaut hatten. Darüber befand sich eine Kugel aus einer goldglänzenden Legierung die Sendeantenne. Aus ihr würden Tausende von gebündelten Kraftstrahlen strömen, die von entsprechenden Tausenden von Empfängern in jeder beliebigen Entfernung in beliebigem Ausmaß angezapft werden konnten. Kidder erfuhr, daß die Empfänger schon gebaut waren, aber Johansen, sein Informant, wußte davon wenig und verriet noch weniger. Kidder prüfte alle Einzelheiten der Anlage, und als er fertig war, drückte er Johansen bewundernd die Hand. »Ich wollte das Ding nicht hier haben«, sagte er schüchtern, »und ich will es immer noch nicht, aber ich muß sagen, daß es ein Vergnügen ist, eine solche Arbeit zu sehen.« »Es ist ein Vergnügen, den Mann kennenzulernen, der die Erfindung gemacht hat.« Kidder strahlte. »Ich habe das nicht erfunden«, sagte er. »Vielleicht zeige ich Ihnen eines Tages, von wem es stammt. Ich – na, leben Sie wohl.« Er drehte sich um, bevor er zuviel sagen konnte, und marschierte davon. »Soll ich?« sagte eine Stimme neben Johansen. Einer von Conants Aufsehern hatte die Waffe gezogen. Johansen schlug ihm den Arm herunter. 37
»Nein.« Er kratzte sich am Kopf. »Das ist also die geheimnisvolle Bedrohung vom anderen Ende der Insel. Hm! Er ist ein netter, kleiner Kerl!« Erbaut auf den Ruinen von Denver, das in der großen Schlacht in den Rockies während des Westlichen Krieges zerstört wurde, steht die schönste Stadt der Welt – die Hauptstadt unseres Landes. Neu-Washington. In einem kreisrunden Raum tief im Innern des Weißen Hauses saßen der Präsident, drei Militärs und ein Zivilist. Unter dem Schreibtisch des Präsidenten hielt ein Tonbandgerät unauffällig jedes gesprochene Wort fest. Über zweitausend Meilen entfernt hing Conant an einem Empfänger, der die Signale des winzigen Senders in der Rocktasche des Zivilisten auffing. Einer der Offiziere ergriff das Wort. »Mr. President, die ›unmöglichen Behauptungen‹, die für das Produkt dieses Herrn aufgestellt werden, sind völlig wahr. Er hat über jeden Zweifel hinaus alle Punkte auf seiner Liste bewiesen.« Der Präsident sah den Zivilisten an und richtete den Blick wieder auf den Offizier. »Ich werde Ihren schriftlichen Bericht nicht abwarten«, sagte er. »Erzählen Sie – was ist passiert?« Ein anderer Offizier wischte sich das Gesicht mit einem khakifarbenen Halstuch. 38
»Ich kann nicht verlangen, daß Sie uns glauben, Mr. President, aber es ist trotzdem wahr. Mr. Wright hier hat in seinem Koffer drei oder vier Dutzend kleine – äh – Bomben…« »Es sind keine Bomben«, sagte Wright beiläufig. »Gut. Es sind keine Bomben. Mr. Wright hat zwei davon auf einem Amboß mit einem Schmiedehammer zertrümmert. Ohne Folgen. Zwei weitere legte er in einen Elektroofen. Sie verbrannten, als bestünden sie aus Pappe. Wir haben eine in ein Geschützrohr geschoben und sie abgefeuert. Immer noch nichts.« Er machte eine Pause und sah den dritten Offizier an, der den Faden aufnahm: »Dann fingen wir erst richtig an. Wir flogen zum Versuchsgelände, warfen eines der Objekte ab und stiegen auf dreißigtausend Fuß Höhe. Von dort löste Mr. Wright mit einem kleinen Sprengzünder, nicht größer als Ihre Faust, das Ding aus. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Vierzig Morgen Land schossen herauf zu uns und zerfielen dabei. Die Erschütterung war ungeheuer – Sie müssen sie hier, vierhundert Meilen entfernt, gespürt haben.« Der Präsident nickte. »Ja. Seismographen auf der anderen Seite der Erdkugel haben sie ebenfalls registriert.« »Der Krater, den die Explosion hinterließ, war in der Mitte eine Viertelmeile tief. Eine Flugzeugladung von diesen Dingern könnte jede Großstadt vernichten! Man braucht nicht einmal zu zielen!« »Das ist noch gar nichts«, sagte einer der anderen Offiziere. »Mr. Wrights Auto wird angetrieben von einem Aggregat, das den 39
anderen ähnelt. Er hat es uns vorgeführt. Wir konnten keinerlei Treibstofftank oder irgendeinen anderen Antriebsmechanismus finden. Aber mit einem Aggregat, das nicht größer ist als fünfzehn Kubikzentimeter, schleppte der Wagen, entsprechend belastet, mehr als ein Panzer!« »Und der andere Test!« sagte der dritte erregt. »Er legte eines der Objekte in die Nachbildung einer Tresorkammer. Die Wände waren vier Meter dick, superbewährter Beton. Er zündete aus über hundert Metern Entfernung. Er sprengte die Tresorkammer! Es war keine Explosion – es war, als fülle eine unglaublich machtvolle, sich ausdehnende Kraft sie von innen aus und sprenge die Mauern. Sie bekamen Risse und brachen auseinander, zerfielen zu Staub, und die Stahlträger und -Stäbe schossen wirbelnd und pfeilartig heraus. Danach bestand er darauf, Sie zu sprechen. Wir wußten, daß es nicht üblich war, aber er erklärte, er habe mehr zu sagen und werde das nur in Ihrer Gegenwart tun.« »Nun, Mr. Wright?« sagte der Präsident ernsthaft. Wright stand auf, griff nach seinem Koffer, öffnete ihn und nahm einen kleinen Würfel heraus, Seitenlänge etwa zwanzig Zentimeter, bestehend aus einem lichtschluckenden rötlichen Material. Vier Männer wichen nervös zurück. »Diese Herren«, begann er, »haben nur einen Teil dessen gesehen, wozu dieses Gerät fähig ist. Ich werde Ihnen vorführen, welche Feinsteuerung damit möglich ist.« Er justierte einen winzigen Knopf am Würfel und stellte diesen auf die Kante des Präsidentenschreibtischs. 40
»Sie haben mich mehr als einmal gefragt, ob das meine Erfindung sei oder ob ich jemanden repräsentiere. Das letztere ist der Fall. Es interessiert Sie vielleicht auch, zu erfahren, daß der Mann, der diesen Würfel hier kontrolliert, ein paar tausend Meilen von hier entfernt ist. Er, nur er allein, kann jetzt noch verhindern, daß er explodiert, nachdem ich das« – er zog den Sprengzünder aus der Tasche und drückte auf einen Knopf »getan habe. Er wird explodieren wie derjenige, den wir aus dem Flugzeug abgeworfen haben, und diese Stadt und alles in ihr in genau vier Stunden vernichten. Er wird auch explodieren« – er trat zurück und drehte einen kleinen Schalter an seinem Zündgerät –, »wenn sich ihm etwas Bewegtes auf unter einen Meter nähert, oder wenn jemand außer mir das Zimmer verläßt. Wenn ich nach meinem Weggang belästigt werde, explodiert er, sobald jemand Hand an mich legt. Keine Kugel kann mich so überraschend treffen, daß ich die Explosion nicht auslösen könnte.« Die drei Militärs schwiegen. Einer von ihnen wischte nervös über die feuchte Stirn. Die anderen rührten sich nicht. »Was schlagen Sie vor?« sagte der Präsident ruhig. »Etwas durchaus Vernünftiges. Mein Auftraggeber tritt aus naheliegenden Gründen nicht offen auf. Alles, was er verlangt, ist Ihr Einverständnis, seine Anweisungen auszuführen; die Kabinettsmitglieder zu ernennen, die er auswählt, Ihren Einfluß in jeder Richtung geltend zu machen, die er bestimmt. Die Öffentlichkeit – der Kongreß – alle anderen – brauchen nie etwas davon zu erfahren. Ich möchte hinzufügen, daß diese ›Bombe‹, wie Sie sie nennen, nicht losgeht, wenn Sie dem 41
Vorschlag zustimmen. Sie dürfen aber versichert sein, daß Tausende davon im ganzen Land verteilt sind. Sie werden nie wissen, ob und wann Sie sich in der Nähe einer solchen ›Bombe‹ befinden. Gehorchen Sie einem Befehl nicht, dann bedeutet das für Sie und alle anderen in einem Umkreis von drei oder vier Quadratmeilen die augenblickliche Vernichtung. In drei Stunden und fünfzig Minuten – also Punkt sieben Uhr – läuft über die Sendestation RPRS ein Werbeprogramm. Sie werden den Sprecher veranlassen, nach der Stationsansage zu sagen: ›Einverstanden‹. Außer meinem Auftraggeber wird das niemand bemerken. Es hat keinen Zweck, mir zu folgen; meine Arbeit ist getan. Ich werde meinen Auftraggeber weder wiedersehen noch mit ihm in Verbindung treten. Das wäre alles. Guten Tag, meine Herren!« Wright klappte den Koffer zu, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Vier Männer saßen da und starrten den kleinen roten Würfel an. »Glauben Sie, daß er all das tun kann, was er behauptet?« fragte der Präsident. Die drei Offiziere nickten stumm. Der Präsident griff nach dem Telefon. Für das ganze Gespräch gab es einen Ohrenzeugen. Conant, hinter seinem großen Schreibtisch in der Tresorkammer, wo sich sein Privatarbeitszimmer befand, wußte nichts davon. Aber neben ihm stand das kompakte Funksprechgerät Kidders. Seine Anwesenheit schaltete es ein, und Kidder segnete auf seiner Insel den Tag, an dem ihm dieses Gerät eingefallen war. 42
Er hatte Conant schon den ganzen Vormittag anrufen wollen, aber immer wieder gezögert. Die Begegnung mit dem jungen Ingenieur Johansen hatte ihn stark beeindruckt. Der Mann war ein so gründlicher Wissenschaftler und hatte an seiner Arbeit solche Freude, daß Kidder zum erstenmal in seinem Leben den Wunsch verspürte, jemanden wiederzusehen. Er fruchtete aber für Johansens Leben, wenn er ihn ins Labor holte, denn dessen Arbeit auf der Insel war getan, und Conant würde den Ingenieur zweifellos ermorden lassen, wenn er von seinem Besuch erfuhr, weil er befürchten mußte, Kidder werde ihn zur Sabotage an dem großen Sender überreden. Und wenn Kidder zur Energieanlage ging, würde man ihn wahrscheinlich sofort niederschießen. Kidder hatte einen ganzen Tag lang mit sich gerungen und war dann zu dem Entschluß gekommen, Conant anzurufen. Zum Glück schickte er kein Signal, sondern stellte sein Gerät nur lauter, als die kleine rote Lampe ihm verriet, daß Conants Apparat eingeschaltet war. Neugierig hörte er alles mit, was sich im Arbeitszimmer des Präsidenten, dreitausend Meilen entfernt, abspielte. Entsetzt wurde ihm klar, was Conants Techniker getan hatten. Eingebaut in kleine Behälter, waren Zehntausende von Energieempfängern im Lande verteilt. Sie verfügten über keine Eigenenergie, konnten aber durch Fernsteuerung jede beliebige Teilmenge oder das Ganze der Milliarden PS an sich ziehen, die von der großen Anlage auf der Insel gesendet wurden. Kidder stand sprachlos vor seinem Funkgerät. Es gab nichts, was er tun konnte. Wenn er einen Weg fand, die Energieanlagen zu zerstören, würde zweifellos die Regierung eingreifen und die 43
Insel besetzen, und dann – was würde aus ihm und seinen kostbaren Neoteriks werden? Wieder drang etwas aus dem Empfänger – ein Funkprogramm. Ein paar Takte Musik, die Stimme eines Mannes, der für Stratosphärenflüge auf Abzahlungsbasis warb, eine kurze Pause, dann: »Sender RPRS, die Stimme der Hauptstadt, Distrikt SüdColorado.« Die Pause von drei Sekunden war endlos. »Die Zeit: Es ist genau – einverstanden – es ist genau sieben Uhr Ortszeit.« Dann ein halb irres Kichern. Kidder konnte kaum glauben, daß das Conant war. Ein Telefonhörer wurde abgenommen. »Bill?« sagte die Stimme des Bankiers. »Alles klar. Fliegen Sie mit Ihrem Geschwader hin und zerbomben Sie die Insel. Halten Sie sich von der Anlage fern, aber alles andere können Sie umpflügen. Machen Sie schnell und kommen Sie wieder zurück.« Kidder, beinahe hysterisch vor Angst, rannte im Zimmer herum und schoß dann zur Tür hinaus und durch das Gelände. Eine Viertelmeile von der Anlage entfernt waren fünfhundert unschuldige Arbeiter in Baracken untergebracht. Conant brauchte sie nicht mehr, und er brauchte auch Kidder nicht. Die einzige Sicherheit für alle war in der Anlage selbst zu finden, und Kidder dachte nicht daran, seine Neoteriks allein der Bombardierung auszusetzen. Er stürmte die Treppe hinauf und zum nächsten Fernschreiber. Er tippte mit fliegender Hast: ›Verschafft mir eine Abwehr. Ich brauche eine undurchdringliche Abschirmung. Dringend!‹ 44
Die Wörter entstanden in der funktionalen Schrift der Neoteriks blitzschnell unter seinen Fingern. Kidder dachte über das, was er schrieb, nicht nach, machte sich eigentlich keine Vorstellung von dem, was er forderte. Aber er hatte getan, was er konnte. Jetzt mußte er sie allein lassen, um zu den Baracken zu hasten und die Männer zu warnen. Er rannte hinaus, den Weg zur Anlage hinauf, warf sich über die weiße Linie, die den Tod für jene bedeutete, die sie überschritten. Ein Geschwader von neun kurzflügeligen, stumpfnasigen Flugzeugen erhob sich aus einer kleinen Bucht am Festland. Es war kein Geräusch zu hören, denn Motoren gab es nicht. Jede Maschine wurde angetrieben von einem kleinen Energieempfänger und zog ihre unbeschrifteten, lichtschluckenden Tragflächen durch die von der Insel kommende Energie durch die Luft. Nach wenigen Minuten tauchte die Insel auf. Der Geschwaderkommodore sprach knapp in ein Mikrofon. »Zuerst die Baracken, aber gründlich. Dann einen Teppich nach Süden legen.« Johansen stand allein auf einem kleinen Hügel, in der Nähe des Mittelpunkts der Insel. Er hatte eine Kamera bei sich, und obwohl er ziemlich genau wußte, daß seine Aussichten, je wieder aufs Festland zu gelangen, gleich Null waren, nahm er sein Werk gern aus allen möglichen Winkeln auf. Das erste, was er von den Flugzeugen wahrnahm, war ihr heulender Sturzflug auf die Baracken. Er stand wie erstarrt, sah einen Bombenhagel hinabsausen und die Baracken in ein Gewirr von Holztrümmern, 45
Metall und Leichen verwandeln. Das Bild von Kidders ernsthaftem Gesicht tauchte schlagartig vor ihm auf. Der arme Kerl – wenn sie seinen Teil der Insel bombardierten, würde er… Aber sein Würfel! Würden sie die Anlage bombardieren? Er verfolgte fassungslos, wie die Flugzeuge aufs Meer hinausflogen, zurückkehrten und wieder zum Sturzflug ansetzten. Sie schienen sich nach Süden vorzuarbeiten. Beim dritten Anflug stand das für ihn fest. Obwohl er nicht wußte, was er tun konnte, fuhr er herum und lief auf Kidders Unterkunft zu. Er hetzte um eine Biegung des Weges und prallte heftig mit dem kleinen Biochemiker zusammen. Kidders Gesicht war von der Anstrengung blutrot, und einen entsetzteren Ausdruck hatte Johansen noch nie gesehen. Kidder zeigte nach Norden. »Conant!« schrie er, um den Lärm zu übertönen. »Es ist Conant! Er will uns alle umbringen!« »Die Anlage?« sagte Johansen und wurde bleich. »Die nicht! Die rührt er nicht an! Aber – meine Labors – die Männer alle -« »Zu spät!« rief Johansen. »Vielleicht kann ich – los!« schrie Kidder und hetzte wieder südwärts. Johansen rannte ihm nach. Als sie aus dem Wald stürmten, spurtete Johansen, holte den Wissenschaftler ein und schleuderte ihn keine zwei Meter vor der weißen Linie zu Boden. 46
»Was – was -« »Nicht weiter, Sie Narr! Ihr eigenes Kraftfeld bringt Sie um!« »Kraftfeld? Aber – ich bin auf dem Weg hierher durchgekommen – halt. Warten Sie. Wenn ich hier -« Kidder begann wie ein Wilder im Gras zu suchen. Ein paar Sekunden später lief er zur Linie, eine große Heuschrecke in der Hand. Er warf sie hinüber. Sie lag still. »Sehen Sie?« sagte Johansen. »Sie -« »Schauen Sie! Sie ist gesprungen! Kommen Sie! Ich weiß nicht, was passiert ist, außer die Neoteriks haben abgeschaltet. Das Feld haben sie erzeugt – nicht ich.« »Neo – was?« »Schon gut«, knurrte der Wissenschaftler und lief weiter. Sie jagten keuchend die Stufen hinauf und in den Kontrollraum für die Neoteriks. Kidder preßte die Augen an ein Teleskop und kreischte vor Freude. »Sie haben es geschafft! Sie haben es geschafft!« »Wer hat -« »Mein kleines Volk! Die Neoteriks! Sie haben das undurchdringliche Feld geschaffen! Sehen Sie denn nicht – es durchschneidet die Kraftlinien des anderen Feldes draußen. Ihr Generator erzeugt es noch, aber die Vibrationen dringen nicht mehr hinaus! Sie sind in Sicherheit! Sie sind in Sicherheit!« Und 47
der überreizte Einsiedler begann zu weinen. Johansen sah ihn mitleidig an und schüttelte den Kopf. »Sicher – Ihre kleinen Leute sind außer Gefahr. Aber wir nicht«, fügte er hinzu, als der Boden unter der Detonation einer Bombe erzitterte. Johansen schloß die Augen, nahm sich zusammen und ließ die Angst hinter der Neugier zurücktreten. Er ging zum Doppelfernrohr und blickte hindurch. Da war nichts als eine gewölbte Fläche aus grauem Material. Er hatte noch nie ein solches Grau gesehen. Es war völlig neutral. Es wirkte nicht weich und wirkte nicht hart, und wenn man es ansah, drehte sich einem alles vor den Augen. Er hob den Kopf. Kidder hämmerte auf der Tastatur eines Fernschreibers herum und starrte sorgenvoll auf den leeren gelben Streifen. »Ich dringe nicht durch zu ihnen«, wimmerte er. »Ich weiß nicht, was los ist – ah, natürlich!« »Was?« »Die Abschirmung ist völlig undurchdringlich! Die Fernschreibimpulse dringen nicht durch, sonst könnte ich sie dazu veranlassen, den Schirm über das Gebäude – über die ganze Insel zu legen! Es gibt nichts, was diese Geschöpfe nicht können!« »Er ist verrückt«, murmelte Johansen. »Der arme kleine -« Der Fernschreiber begann zu rasseln. Kidder sprang hin und umarmte ihn beinahe. Er las den Text ab, während er aus der 48
Maschine lief. Johansen sah die Schriftzeichen, aber sie sagten ihm nichts. »Allmächtiger«, las Kidder stockend, »sei uns gnädig und hab Nachsicht mit uns, bis wir gesprochen haben. Ohne Befehl haben wir den Schirm, den du uns zu errichten angewiesen hast, heruntergelassen. Wir sind verloren. Unser Schirm ist wahrhaft undurchdringlich und hat so deine Worte in der Wortmaschine unterbrochen. Kein Neoterik kann sich je erinnern, ohne dein Wort gewesen zu sein. Vergib uns unser Tun. Wir erwarten sehnsüchtig deine Antwort.« Kidders Finger tanzten über die Tasten. »Jetzt können Sie sie sehen«, keuchte er. »Los – ans Teleskop!« Johansen versuchte das Heulen des sicheren Todes von oben zu ignorieren und schaute hinein. Er sah, was wie Land aussah – phantastische Felder, die offenbar kultiviert wurden, eine Art Siedlung, Fabriken, und Wesen. Alles bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Er konnte die Bewohner nur als dahinzuckende rosig-weiße Striche sehen. Fasziniert starrte er eine lange Minute in das Fernrohr. Ein Geräusch hinter ihm veranlaßte ihn, herumzuwirbeln. Es war Kidder, der sich begeistert die Hände rieb. Er lächelte breit. »Sie haben es geschafft«, sagte er glücklich. »Sehen Sie?« Johansen begriff nicht, bis ihm klarwurde, daß draußen Totenstille herrschte. Er lief zu einem Fenster. Draußen war Nacht – schwärzeste Nacht, obwohl es erst dämmern sollte. 49
»Was ist geschehen?« »Die Neoteriks«, sagte Kidder und lachte wie ein Kind. »Meine Freunde. Sie haben die undurchdringliche Abschirmung über die ganze Insel gelegt. Jetzt kann niemand mehr an uns heran!« Und auf Johansens verblüffte Fragen hin begann er mit einer Beschreibung der Lebewesen unter ihnen. Außerhalb der Abschirmhülle geschah allerlei. Neun Flugzeuge gerieten plötzlich außer Kontrolle. Neun Maschinen sanken ohne Antrieb herunter, ein paar fielen ins Meer, ein paar prallten auf die wundersame graue Hülle, die an Stelle einer Insel emporragte, glitten daran herunter und versanken. Und auf dem Festland saß ein Mann namens Wright halbtot vor Angst in einem Wagen, während Beamte ihn umzingelten, vorsichtig näher kamen, den Tod aus einer jetzt erstickten Quelle riskierend. In einem Raum tief im Weißen Haus kreischte ein hoher Offizier: »Ich halte das nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr!«, sprang hoch, riß einen roten Würfel vom Schreibtisch und zertrat ihn mit den Stiefelabsätzen. Und nach wenigen Tagen holte man einen gebrochenen alten Mann aus der Bank und brachte ihn in eine Heilanstalt, wo er binnen einer Woche starb. Die Abschirmung war nämlich wahrhaftig undurchdringlich. Die Energieanlage war unberührt und sandte ihre Strahlen aus, aber sie konnten nicht hinaus, und alles, was damit betrieben 50
wurde, versagte den Dienst. Die Geschichte wurde nie veröffentlicht, wenngleich ein paar Jahre hindurch an der Küste von Neu-England verstärkte Marinemanöver stattfanden. Die Marine habe, so hieß es, dort draußen einen neuen Schießplatz. Zielscheibe: ein großes Halbovoid aus grauem Material. Man bewarf es mit Bomben und beschoß es, man richtete Laserstrahlen darauf und versuchte es zu sprengen, aber es trug nicht einmal einen Kratzer davon. Kidder und Johansen ließen es dort. Sie waren mit ihren Forschungen und ihren Neoteriks glücklich. Sie hörten und fühlten die Beschießung nicht, denn die Abschirmung war völlig undurchdringlich. Sie stellten Nahrung und Licht und Luft aus dem vorhandenen Material künstlich her, und alles andere interessierte sie nicht. Sie waren die einzigen Überlebenden der Bombardierung, mit Ausnahme von drei armen verstümmelten Teufeln, die bald danach starben. All das ist viele Jahre her, und Kidder und Johansen leben vielleicht heute noch, oder sie sind schon tot. Aber das spielt keine so große Rolle. Das Entscheidende ist, daß man auf die große graue Hülle achten muß. Die Menschen sterben, aber Rassen leben weiter. Eines Tages werden die Neoteriks nach unzähligen Generationen unvorstellbaren Fortschritts die Abschirmung entfernen und herauskommen. Wenn ich daran denke, wird mir angst.
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KURZES ERWACHEN.
Er hatte noch nie ein Mädchen in den Armen gehabt. Er war nicht voller Angst und Schrecken; das hatte er schon vorher hinter sich gebracht, als er sie hineingetragen und die Tür mit dem Fuß zugestoßen und das gleichmäßige Tropfen des Bluts von ihrem durchtränkten Rock gehört hatte, und davor, als er dort am Randstein geglaubt hatte, sie sei tot, und wieder, als sie diesen Laut von sich gegeben hatte, dieses Seufzen oder geflüsterte Stöhnen. Er hatte sie hineingetragen, und als er soviel Blut sah, hatte er sich nach links gedreht, nach rechts gedreht, hatte sie auf den Boden gelegt, den Verstand ganz benommen und durcheinandergewirbelt, und in den Schläfen ein Pochen von der ungewohnten Anstrengung. Alles, worauf er sich konzentrieren konnte, war: Kein Blut auf die Bettdecke! Er knipste die Deckenlampe an und stand einen Augenblick blinzelnd und keuchend da; plötzlich sprang er zum Fenster, um die Jalousie gegen die hereinstarrende Straßenlaterne und alle anderen Augen herunterzulassen. Er sah seine Hände nach der Schnur greifen und besann sich eines anderen; sie waren rot und bereit, alles zu besudeln, was er berührte. Er gab einen Laut von sich, den ein losgelöster Teil seines Verstandes als die 52
genaue Nachahmung des qualvollen Flüsterns erkannte, das sie da draußen auf der dunklen, nassen Straße von sich gegeben hatte, und sprang zum Lichtschalter, sah den einen roten Fleck dort schon, wußte, als er mit der Hand darüberfuhr, daß er einen zweiten hinterließ. Er wankte zum Spülbecken in der Ecke und wusch sich die Hände, wusch sie wieder, während er alle paar Sekunden über die Schulter auf das Mädchen und den dicken, flachen Finger aus Blut blickte, der ihm über das Linoleum langsam entgegenkroch. Er war wieder bei Atem und ging mit ruhigeren Bewegungen zum Fenster. Er zog die Jalousie herunter und die Vorhänge zu und vergewisserte sich, daß unten und an den Seiten keine Lücke war. In der Dunkelheit tastete er sich zur gegenüberliegenden Wand, um den Linoleumbelag herum, und schaltete das Licht wieder ein. Der Blutfinger war jetzt ein Fühler, der sich nach den weichen, trockenen Dielen ausstreckte. Er riß von der Platte neben dem Herd einen Kunststoffschwamm und ließ ihn auf die suchende Spitze des Fühlers fallen und freute sich. Es war nichts Hinausgreifendes mehr, sondern nur etwas, das man aufwischen konnte. Er nahm die Überdecke vom Bett und hängte sie über die Kopfleiste aus Messing. Aus der Schublade des Geschirrschranks und vom Klapptisch nahm er seine zwei Plastiktischdecken. Er deckte das Bett damit ab, so daß sie weit darüberhingen, dann blieb er einen Augenblick stehen, vor Sorge hin- und herschwankend, mit Daumen und Zeigefinger die Unterlippe vorziehend. Mach es richtig, sagte er sich entschieden. Sollte sie sterben, bevor du es machst, egal, mach es, aber richtig. 53
Er blies Luft durch die Nase und holte Bücher aus dem Fach im Geschirrschrank – ein sechs Jahre altes Jahrbuch, ein halbes Dutzend Taschenbücher, einen schweren Katalog mit SchmuckSonderangeboten. Er zog das Bett von der Wand und schob der Reihe nach Bücher unter drei der Beine, so daß das Bett zum Fußende und auf eine Seite hin leicht geneigt war. Er holte eine Wolldecke, rollte sie zusammen und schob sie unter die Plastikdecke, so daß sie an der hohen Seite eine Art Wall bildete. Er holte unter dem Spülbecken einen Sechsliter-Aluminiumtopf hervor und stellte ihn an der niedrigsten Ecke des Bettes auf den Boden und schob das herabhängende Ende der Plastikdecke hinein. Jetzt kannst du bluten, sagte er stumm zu dem Mädchen. Er beugte sich über sie und hob sie an den Achseln hoch. Ihr Kopf kippte zurück, so als habe sie im Genick keine Knochen, und er ließ sie beinahe fallen. Er schleppte sie zum Bett und hinterließ einen breiten roten Streifen, als ihr Rock durch die rote Lache schleifte, in der sie gelegen hatte. Er hob sie hoch, spreizte die Beine und. beugte sich mit ihr auf den Armen über das Bett. Das erforderte eine unerwartete Anstrengung. Er begriff erst jetzt, wie ausgelaugt, wie erschöpft er war, und wie alt. Er legte sie ungeschickt hin, ließ sie bei dem Versuch, die sorgfältig ausgebreiteten Tischdecken nicht zu verschieben, beinahe fallen und kippte um ein Haar mit ihr zusammen ins Bett. Er stemmte sich hoch und blieb keuchend stehen. Um den durchtränkten Saum ihres Rockes begann sich Blut zu sammeln, und während er hinsah, rann es träge zur tiefhängenden Ecke. Soviel, soviel Blut in einem Menschen, staunte er, und: Wie kann man es aufhalten, wenn es nicht aufhört? 54
Er blickte auf die geschlossene Tür, das verhängte Fenster, die Uhr. Er lauschte. Es regnete jetzt stärker. Er zupfte an seiner Lippe, dann riß er die Hand weg, als er ihr Blut schmeckte. Er hustete, lief zum Becken und spuckte, spülte sich den Mund und wusch sich die Hände. Na gut, dann ruf… Ruf? Ruf wen an, das Krankenhaus, damit sie die Polizei verständigen? Dann kannst du sie gleich selbst rufen. Idiot. Was soll ich sagen, sie ist meine Schwester, von einem Auto angefahren worden, glaubt mir das einer? Soll ich die Wahrheit sagen, einen Block vor mir sehe ich, wie jemand sie aus einem Auto stößt, wegfährt, ohne Licht, ich schaffe sie aus dem Regen herein, erst hier sehe ich, daß sie so blutet, glaubt mir das einer? Idiot. Was ist los mit Ihnen, kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, ja? Er dachte, daß er sie jetzt hochheben und wieder in den Regen hinaustragen würde. Ja, und dann sieht dich einer, Idiot. Er sah, daß die breite, streifige Blutspur auf dem Linoleum Glanz verlor, wo sie dünn auflag, trocknend und einsickernd. Er hob den Schwamm auf, der jetzt zu zwei Dritteln rot war, und der Rest vom ursprünglichen Babyblau, außer an dem einen Ende, wo er aussah wie Brot, mit einem grellroten Stift gezeichnet. Er drehte ihn herum, damit er nicht tropfte, trug ihn zum Becken und spülte ihn aus, drückte ihn im laufenden Wasser immer wieder aus. Idiot, ruf jemand an und besorg Hilfe. Ruf wen an? 55
Er dachte an das Kaufhaus, wo er achtzehn Jahre lang nachts die Böden eingewachst und die Teppichböden gesaugt hatte. An die Nachbarschaft, wo er den Lebensmittelhändler und den Fleischer kannte. Geschlossen, im Schlaf, alle fort; Namen, Nummern kannte er nicht, und außerdem, wem konnte man trauen? Mein Gott, in dreiundfünfzig Jahren hast du keinen Freund? Er nahm den sauberen Schwamm und sank auf die Knie, und eben jetzt erreichte das rote Rinnsal auf dem Bett die Ecke und wurde zu einem schmalen Strom; ponk ging es in den Topf, und ganz schnell pitti-pittipitti, dann tropfte es, dreimal in der Sekunde, pausenlos. Da wußte er mit absoluter und verspäteter Gewißheit, daß die Blutung nicht von selbst aufhören würde. Er wimmerte leise, stand auf und ging zum Bett. »Nicht tot sein«, sagte er laut, und es erschreckte ihn, wie seine Stimme klang. Er streckte die Hand nach ihrer Brust aus, zog sie aber zurück, als er sah, daß ihre Bluse zerfetzt war und auch dort Blut herausdrang. Er schluckte mühsam und machte sich dann an ihrer Kleidung zu schaffen. Flache Ballettschuhe, abgetragen, feucht, dünn wie Papier, und kleine seidene Dinger, die er noch nie gesehen hatte, wie der Fußteil von einem Strumpf. Auch Blut auf – aber nein, das war abgeblätterter Nagellack an ihren kalten weißen Zehen. Der Rock besaß einen Knopf an der Seite und einen Reißverschluß, der ihm einen Augenblick lang Rätsel aufgab, aber er öffnete ihn und zog den Rock in einer endlosen Reihe von Rucken am Saum herunter, einmal links, einmal rechts, während sie sich schlaff dazu hin- und herbewegte. Kleines 56
Seidenhöschen, völlig durchtränkt, und an der linken Seite so stark zerschnitten, daß er sie leicht zerreißen konnte; aber die andere Seite war erstaunlich widerstandsfähig, und er mußte seine Schere holen, um sie aufzuschneiden. Die Bluse war vorn zugeknöpft und kein Problem; darunter ein Büstenhalter, der in der Mitte auseinandergetrennt war. Er entfernte ihn, mußte aber einen Träger zerschneiden. Er lief mit dem Schwamm zum Becken, wusch und drückte ihn aus, füllte einen Topf mit warmem Wasser und lief zurück. Er wusch den Körper ab; er wirkte fest, aber zu mager, mit seiner Schattenleiter von Rippen an beiden Seiten und den stark hervortretenden Hüftknochen. Unter der linken Brust eine lange Stichwunde, beginnend vorne an den Rippen, um im Bogen hinauflaufend bis fast zur Brustwarze. Die Wunde schien tief zu sein, aber das Blut quoll nur. Die andere Wunde jedoch, an ihrem Oberschenkel, ließ das Blut rhythmisch herausspritzen, ununterbrochen, schwach, aber drängend. Er hatte so etwas schon gesehen, damals, als Garber sich im Liftkabelraum den Arm abgezwickt hatte, aber da war das Blut einen halben Meter weit gespritzt. Vielleicht war es hier genauso, dachte er plötzlich, aber jetzt läßt es nach, jetzt hört es auf, ja, und du, Idiot, du hast eine Leiche da, über die du der Polizei Geschichten erzählen kannst. Er drückte den Schwamm im Wasser aus und betupfte die Wunde. Bevor sie sich wieder mit Blut füllen konnte, zog er die Wunde auseinander und schaute hinein. Er konnte deutlich die Oberschenkelarterie sehen, die einem Spaghettiende glich und fast ganz durchtrennt war; und dann wieder nichts als Blut. 57
Er setzte sich auf die Hacken, zupfte wieder gedankenlos mit der blutigen Hand an seiner Lippe und versuchte nachzudenken. Zusammenzwicken, schließen, fressen. Klammer. Pinzette! Er lief zu seinem Werkzeugkasten und riß ihn auf. Vor Jahren hatte er gelernt, aus Silberdraht dünne Kettchen herzustellen, und er vertrieb sich die Zeit damit, Glied um winziges Glied anzufertigen und jedes mit einem Lötkolben zu verlöten. Er griff nach der Pinzette, ließ sie aber zugunsten der kleinen Federzwinge fallen, mit der er bei der Arbeit die Kettenglieder festgehalten hatte. Er lief zum Spülbecken und wusch die Zwinge und kam wieder ans Bett. Wieder tupfte er den kleinen Blutsee weg, griff schnell hin und legte die zierlichen Backen der Zwinge an der Schnittstelle um die Arterie. Augenblicklich spritzte das Blut wieder. Noch einmal wischte er es weg, öffnete in einer plötzlichen Eingebung die Zwinge, führte sie an die andere Seite des Einschnitts und klemmte sie zu. Aus dem Inneren der Wunde quoll immer noch Blut, aber das schreckliche Pulsieren hatte aufgehört. Er setzte sich auf die Hacken und stieß gequält den Atem aus, den er minutenlang angehalten haben mußte. Seine Augen schmerzten von der Anstrengung, und sein Gehirn wirbelte noch immer, aber dazu kam ein Gefühl, ein neues Gefühl, beinahe wie Schmerz oder Qual, aber es war überall und nirgends in ihm; es wollte von ihm, daß er lachte, aber gleichzeitig brannten seine Augen, und heißes Salz quetschte sich durch Öffnungen, die zu klein dafür waren. Nach einer Weile erholte er sich, vertrieb blinzelnd seine Erschöpfung und sprang auf, von Hast gejagt. Muß alles in 58
Ordnung bringen. Er ging zum Medizinschrank über dem Becken. Heftpflaster, Packung Gazepolster. Vielleicht nicht groß genug; gut, aneinanderkleben, mach es richtig. Neue Tube von dem Sulfa-Thia-Dia-Soundso, hilft für alles, als ich damals Staubsaugerschmutz in die zerschnittene Hand brachte, Infektion. Auch gegen Furunkel. Er füllte den Teekessel und einen Topf mit frischem Wasser und stellte sie auf den Herd. Nähen, ja. Er fand Nadeln, weißen Faden, warf alles ins Wasser. Er ging zum Bett zurück und blieb lange nachdenklich stehen, um die blutquellende Wunde unter der Brust des Mädchens zu betrachten. Er wusch die Leistenwunde wieder aus und starrte dumpf hinein, bis das Blut langsam die abgeklemmte Arterie bedeckte. Er wußte es nicht genau, erinnerte sich aber undeutlich an Adernpressen, ab und zu mußte man sie öffnen, sonst gibt es Schwierigkeiten; war es bei einer Arterie vielleicht genauso? Besser, er nähte die Arterie zu; sie war nur auf-, nicht durchgeschnitten. Wenn er herausbekam, wie er das machen mußte, so daß sie noch ein Rohr blieb, nicht eine geflickte Socke wurde. Also hinein mit der Pinzette in den Topf, mit einer Haarzange, und, nach einiger Überlegung, mit einem Dutzend Silbernadeln aus seinem Schmuckmaterial. Er zupfte an der Lippe, runzelte die Stirn, holte noch eine dünne Nadel, hielt sie mit der Zange in die Gasflamme, bis sie rot glühte, und bog sie mit einer zweiten Zange zu einem kleinen Halbkreis und warf sie ins Wasser. Vom Schwamm schnitt er eine Anzahl kleiner, flacher Stücke ab und warf sie ebenfalls hinein. 59
Er schaute auf die Uhr, dann schrubbte er den weißen Resopaltisch zehn Minuten lang mit einem Reinigungsmittel: Er kippte ihn in das Becken, spülte ihn unter dem Hahn ab und goß dann langsam den Inhalt des Kessels darüber. Er trug die Tischplatte zum Herd, hielt sie mit einer Hand fest, während er mit einem silbernen Messer im kochenden Wasser herumfischte, bis die Zange mit dem Griff aus dem Wasser ragte. Er erfaßte sie vorsichtig mit einem sauberen Waschlappen und zog mit ihrer Hilfe langsam ein Stück nach dem anderen heraus, um es auf die Platte zu legen. Bis er die Nadel und die silbernen Stifte alle gefunden hatte, lief ihm der Schweiß in die Augen, und der Arm, der die Tischplatte hielt, drohte abzufallen. Aber er biß die gelben Zahnstummel zusammen und machte weiter. Die Tischplatte in der Hand, stieß er mit dem Fuß einen hölzernen Stuhl Stück für Stück durch das Zimmer, bis er am Bett stand, und setzte seine Last auf der Sitzfläche ab. Das ist kein Krankenhaus, dachte er, aber ich bringe alles in Ordnung. Krankenhaus! Ja, im Film Er ging zu einer Schublade und holte ein sauberes weißes Taschentuch und versuchte es wie im Film vor Mund und Nase zu binden. Sein knorriges Gesicht und der kantige Schädel waren zu groß für ein Taschentuch; er brauchte drei, bis es stimmte, und am Rücken hing ein langer weißer Zipfel herunter, wie der Bremsfallschirm einer Rakete. Er betrachtete hilflos seine Hände, dann zuckte er die Achseln; keine Gummihandschuhe, na und? Ich wasch’ mich tüchtig. Seine Hände waren von seinen Bemühungen bereits rosig und faltig, aber er ging wieder zum Becken und kratzte an einem 60
Stück Seife, bis seine dicken Nagelränder ganz ausgefüllt waren, dann säuberte er sie mit einer Nagelfeile, bis sie schmerzten, und wusch und säuberte sie wieder. Und endlich kniete er vor dem Bett und hob seine verrunzelten Hände zu einem Gebet empor. Beinahe griff er nach seiner Lippe, um daran zu zerren, aber nur beinahe. Er quetschte zwei Klumpen der Sulfasalbe auf die Tischplatte und preßte zwei Schwammstücke hinein, bis sie von der Salbe völlig durchtränkt waren. Er wischte die Wunde am Oberschenkel aus und legte je ein getränktes Schwammstück auf beide Seiten der Wunde, so daß die Arterie unten freigelegt blieb. Mit Pinzette und Zange führte er mühsam die gebogene Nadel, während er der Versuchung widerstand, das Fadenende in den Mund zu nehmen. Es gelang ihm, vier winzige Stiche in der Arterie unter- und oberhalb der Schnittstelle unterzubringen. Jeden einzelnen verknotete er mit großer Gewissenhaftigkeit, damit der Faden nicht das Gewebe durchschnitt, aber trotzdem die durchtrennten Enden zusammenzog. Dann setzte er sich wieder auf die Hacken, um sich auszuruhen, die Schultern brennend vor Überanstrengung, Nebel vor den Augen. Dann atmete er tief ein und entfernte die Zwinge. Blut erfüllte die Wunde und durchtränkte die Schwämme. Aber es kam langsam, ohne Druck, nicht pulsierend. Er zuckte grimmig die Achseln. Was tun, einen Reifenflicken nehmen? Er wischte das Blut wieder aus und füllte den Einschnitt schnell mit Salbe, klatschte Gaze darauf, mehr, um die Wunde zu verbergen als zum Nutzen. 61
Er wischte sich die Brauen zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Oberarm ab und richtete den Blick auf die Wand, so, wie er es bei der Arbeit an den kleinen Silberkettchen gemacht hatte. Als der Nebel sich verzog, wandte er seine Aufmerksamkeit der langen Schnittwunde an der Unterseite der Brust zu. Er wußte nicht, wie er eine Wunde von dieser Größe nähen sollte, aber er konnte kochen, und er wußte, wie man ein Hühnchen aufspießte. Er biß sich auf die Zunge, stieß die erste Silbernadel im rechten Winkel zur Wunde ins Fleisch und drückte sie durch die Wunde auf der anderen Seite wieder hinaus. Er führte die nächste Nadel etwa zwei Zentimeter daneben ein, ebenso die dritte. Die vierte scharrte an etwas in der Wunde; das erschreckte ihn so, als sei eine Tür zugefallen, und er biß sich schmerzhaft auf die Zunge. Er zog die Nadel heraus und bohrte vorsichtig mit der Pinzette herum. Ja, da war etwas Hartes. Er bohrte mit beiden Pinzettenspitzen tiefer und fühlte sie mit einem weichen Knirschen in unbeschädigtes Gewebe eindringen, das nur eine ängstliche Fingerspitze hören konnte. Er überwand das Schaudern und blickte auf das Gesicht des Mädchens. Er beschloß, dort nicht mehr hinzusehen. Es war ein sehr totes Gesicht. Idiot! Aber die Selbstbeschimpfung verlor sich schon beim Entstehen in der Konzentration. Die Pinzette erfaßte etwas Hartes, Glitschiges, Störrisches. Er bewegte es ein wenig hin und her und spürte verwirrten Ärger angesichts dieses fremdartigen Fleisches, das bei der Bewegung nachgab. Langsam, ganz langsam, erschien eine scharfwinklige Ecke von etwas. Er machte weiter, bis so viel aufgetaucht war, daß er es mit den Fingern fassen konnte; dann legte er die Pinzette weg und 62
lockerte es vorsichtig. Blut quoll heraus, bevor er es halb herausgezogen hatte, aber er hörte nicht auf, bis er es freibekam. Das Licht glänzte auf dem Streifen geschliffenen Stahls und seinen gesplitterten Rändern; er drehte ihn zweimal um, bis er begriff, daß er ein Stück Rasiermesser vor sich hatte. Er legte es auf die Tischplatte und dachte darüber nach, was die Polizei wohl zu ihm gesagt hätte, wenn er ihr das Mädchen mit der Geschichte von dem Autounfall übergeben hätte. Er stillte die Blutung und zog die Wunde auseinander, so weit er konnte. Die Brustwarze bewegte sich unter seiner Hand, der rosige Hof geschrumpft und verrunzelt; er gab einen Brummlaut von sich, weil es ihm vorkam, als habe sich ein Käfer unter seinen Fingern gerührt, und dann ging ihm auf, daß es bedeuten konnte, was es mochte, aber nicht den Tod, jetzt jedenfalls noch nicht. Er mußte noch einmal anfangen, das Blut stillen und die Wunde auseinanderziehen, um schnell soviel Salbe hineinzudrücken, wie sie aufnehmen konnte. Dann fuhr er fort, seine Silbernadeln hineinzustechen, bis sich von einem Ende der Wunde zum anderen eine kleine Leiter von zwölf Nadeln erstreckte. Er griff nach dem Faden, zog ihn doppelt, legte die Schlinge um die oberste Nadel und zog die zwei Teile des Fadens darunter. Er hielt sie beide mit einer Hand fest und preßte die Wundränder an der Nadel vorsichtig zusammen. Dann zog er die Schlinge zu, ohne den Faden einschneiden zu lassen, kreuzte die Fäden und schob sie unter die nächste Nadel, wo er die Wunde ebenfalls schloß. Er machte das so an der ganzen Wunde und schnürte den Schnitt um die Nadelleiter herum zu. Unten verknotete er den Faden und schnitt ihn ab. Überall klebte Blut und Salbe, aber als er abwischte, sah es gut aus. 63
Er stand auf und ließ das Gefühl qualvoll in seine betäubten Beine zurückkehren. Er war tropfnaß; er spürte, wie der Schweiß sich einen Weg durch die Haare an seinen Beinen bahnte; wie ein Schwarm Wanzen. Er sah an sich hinunter; Falten und Wasser und Blut. Er blickte hinüber zum Spiegel und sah einen bandagierten Kobold mit vorspringenden Augenwülsten und tiefliegenden, schielenden Augen, mit angegrautem Haar, das man nur bis zu einem schmutzigen Grau schrubben konnte, und mit einem großen Blutklumpen, wo der Mund sich hinter der Bandage verbarg. Er riß sie herunter und schaute wieder hin. Viel besser, du deckst dein Gesicht zu, egal wann. Er wandte sich ab, nicht von seinem Gesicht, sondern mit ihm, mit der gequälten Geduld eines Maultiers mit Sattelschwierigkeiten. Müde trug er die Tischplatte zum Waschbecken. Er wusch sich Hände und Unterarme, nahm die Taschentücher vom Hals und wusch sich das Gesicht. Dann holte er, was von seinem Schwamm übriggeblieben war, und einen Topf warmes Seifenwasser und ging zurück zum Bett. Er brauchte Stunden. Er wischte die Tischdecken ab, auf denen sie lag, schob sie vorsichtig zur Seite, damit die Wunden nicht angespannt wurden, und wusch und trocknete die Stellen, wo sie gelegen hatte. Er wusch sie von Kopf bis Fuß, holte frisches Wasser und mußte hinterher das Bett wieder abtrocknen. Als er ihren Kopf hochhob, entdeckte er, daß ihr Haar vom Regen und dem getrockneten Blut verklebt war, und von frischem Blut dazu, also stützte er ihre Schultern mit einem dicken Kissen unter der Plastikdecke und legte ihren Kopf nach hinten und wusch und trocknete ihr Haar und fand eine häßliche Schwellung und 64
eine blutende Prellung an ihrem Hinterkopf. Er kämmte ihr Haar auf beiden Seiten davon weg und betupfte die Stelle mit kaltem Wasser, und das Bluten hörte auf, aber die Beule war pflaumengroß. Er riß ein halbes Dutzend der Gazepolster auseinander und legte sie um die Schwellung, damit er den Druck von ihrem Hinterkopf nehmen konnte; er wagte nicht, sie umzudrehen. Als ihr Haar naß und verschmutzt gewesen, war es nur ein schwarzes, verfilztes Gewirr, aber gewaschen und gekämmt, war es von dunkelstem Kastanienbraun, völlig glatt. Zu beiden Seiten ihres Gesichts, das vor Blässe leuchtete, kalt wie der Mond, lag ein breiter, glänzender Haarfächer. Er deckte sie mit der Überdecke zu und stand lange Zeit vor ihr, voll dieser seltsamen Nirgends-Überall-Qual, die ihm nicht gefiel, von der abzuwenden er sich aber fürchtete… vielleicht würde er sie nie mehr spüren. Er seufzte, ein Laut, der aus seinem Mark und seinen Jahren kam, und machte sich hartnäckig daran, den Boden zu schrubben. Als er fertig war und die Nadeln und der Faden aufgeräumt waren, das bißchen Heftpflaster, das er nicht mehr gebraucht hatte, die Verpackung der Gazepolster und der Topf Blut vom Fußende des Bettes beseitigt waren und das ganze Werkzeug gesäubert und wieder im Kasten, war die Nacht vorbei, und das Tageslicht drängte schwach durch die heruntergelassene Jalousie. Er schaltete das Licht aus und blieb stehen, ohne zu atmen, lauschte mit seiner ganzen Kraft, wollte von seinem Platz aus wissen, ob sie noch lebte. Sich hinunterzubeugen und zu entdecken, daß sie tot war – o nein. Er wollte es von hier aus wissen. 65
Aber ein Lastwagen rumpelte vorbei, und eine Frau rief ein Kind, und jemand lachte; also ging er hin und kniete am Bett nieder und schloß die Augen und legte langsam die Hand auf ihre Kehle. Sie war kühl – bitte, nicht kalt! – und leblos wie ein verlorener Handschuh. Dann bewegten sich die Härchen auf seiner Hand unter ihrem Atem, die schwächste aller Bewegungen. Das Brennen stieg ihm wieder in die Augen, und durch und durch drang der wilde Antrieb, etwas zu tun: Suppe zu kochen, Medizin zu kaufen, vielleicht ein Band für sie, oder eine Uhr; das Haus sauberzumachen, zum Laden zu laufen… und dabei gleichzeitig zu schreien, gewaltige, erschütternde wortlose Schreie auszustoßen, um sich immer und immer wieder zu sagen, damit er es auch ganz sicher hörte, daß sie lebte. Auf dem Gipfel dieser Explosion gab es ein merkwürdiges seitliches Wegrutschen, und er schlief fest ein. Er träumte, daß ihm jemand mit einer großen, gebogenen Sattlernadel die Beine zusammennähte und gleichzeitig den Faden dazu aus seinem Bauch zog; er fühlte, wie die Spule innen rotierte und sich leerte. Er stöhnte und öffnete die Augen und wußte augenblicklich, wo er war und was sich abgespielt hatte, und haßte sich für den Lärm, den er machte. Er hob die Hand und bewegte schnell die Finger, um sich zu vergewissern, daß sie Gefühl hatten, dann senkte er sie vorsichtig auf ihre Kehle. Sie war warm, nein, heiß, zu heiß. Er schob sich vom Bett weg und kroch auf Händen und tauben, gummiartigen Beinen durch das Zimmer. Lautlos fluchend reckte er sich vor, erfaßte den Stuhl und zog sich daran hoch. Er wagte nicht, ihn loszulassen, schob sich damit leise in die Ecke, wo er sich herumdrehte und 66
keuchend am Becken festhielt, während siedende Säure sich durch seine Beine hinunterfraß. Als er konnte, spritzte er kaltes Wasser auf Gesicht und Nacken und stolperte zurück zum Bett, während er sich unterwegs abtrocknete. Er riß die Decke herunter, und Idiot! schrie er beinahe; sie hatte sich mit der Wunde an ihrem Oberschenkel verklebt, und er war überzeugt davon, daß er diese aufgerissen hatte, ein ganzes Stück aus der ungeschickt zusammengeflickten Arterie. Er konnte nichts sehen; draußen schien es dunkel zu werden; wie lange kauerte er hier schon? Er lief zum Lichtschalter, sprang zurück. Ja, Blut, die Wunde blutete wieder – Aber nur wenig, nur ganz wenig. Die Gaze war vielleicht halb aufgerissen, und obwohl die freigelegte Wunde feucht vom Blut war, floß kein Blut. Es war geflossen, während er geschlafen hatte, aber kaum so viel, daß es bis zur Matratze durchgedrungen war. Er hob die lose Ecke der Gaze ganz vorsichtig an und stellte fest, daß sie angeklebt war. Aber die Schwämme, die kleinen Schwämme mit der Sulfasalbe, sie befanden sich noch in der Wunde. Er hatte sie nach zwei Stunden herausnehmen und nicht zulassen wollen, daß sich ein ganzer Klumpen um sie bildete! Er lief nach warmem Wasser, nach seinem großen Schwamm. Seife hinein, ja. Er kauerte vor dem Bett, obwohl seine Beine noch immer Protest erhoben, und begann die Gaze mit kleinen, sanften Tupfern aufzuweichen. Etwas veranlaßte ihn, den Kopf zu heben. Sie hatte die Augen geöffnet und blickte auf ihn hinunter. Ihr Gesicht und ihre Augen waren völlig ausdruckslos. Er sah, wie sich die Augen 67
langsam schlossen und langsam wieder aufgingen, matt und interesselos. »Schon gut, schon gut«, sagte er rauh. »Ich bringe alles in Ordnung.« Sie sah ihn unverwandt an. Er nickte heftig, darin lag alles, was beruhigt, alles, was ermutigt, Hoffnung für sie und ein totales Versprechen, aber es war nur ein schnelles Auf und Ab seines großen, häßlichen Schädels. Verärgert wie immer über seine eigene Sprachlosigkeit, machte er sich wieder an die Arbeit. Er zog die Gaze herunter und befeuchtete die Ränder der Schwämme. Als er glaubte, daß sie sich würden lösen lassen, zerrte er vorsichtig daran. Mit hoher, flüsternder Sopranstimme sagte sie: »Wa-a-a-s?« Es war wie eine Frage und ein Schluchzen. Langsam drehte sie den Kopf nach links. »Wa-a-s?« Sie drehte den Kopf und glitt zurück in die Bewußtlosigkeit. »Ich«, sagte er laut und aufgeregt, und: »Ich -« und das war alles; sie konnte ihn ohnehin nicht hören. Er hielt inne, bis seine Hände zu zittern aufhörten, dann arbeitete er weiter. Die Wunde sah wunderbar sauber aus, auch wenn die Haut um sie trocken und heiß war. Im Innern der Wunde konnte er die Arterie in einem Nest weichen Gallerts sehen; das ging wahrscheinlich in Ordnung – er wußte es nicht, aber es sah normal aus, er würde nichts ändern. Er drückte Salbe in die Öffnung, preßte die Ränder sanft zusammen und brachte ein Stück Heftpflaster an. Es löste sich sofort 68
ab. Er warf es weg, trocknete die Haut rund um die Wunde, legte zuerst Gaze darauf und dann das Pflaster, und diesmal hielt es. Die andere Wunde war ziemlich geschlossen, aber dort stärker, wo sich die Nadeln befanden. Auch sie war von heißem, trockenem, gerötetem Fleisch umgeben. Die Schürfung an ihrem Hinterkopf hatte nicht geblutet, aber die Schwellung war eher noch größer geworden. Ihr Gesicht und der Hals waren trocken und sehr warm, ihr Körper wirkte dagegen kühl. Er holte ein feuchtkaltes Tuch und legte es ihr auf die Augen und preßte es auf ihre Wangen, und sie seufzte. Als er es wegnahm, sah sie ihn wieder an. »Alles in Ordnung?« fragte er sie, und unsinnig: »Alles in Ordnung.« Ein leichtes Stirnrunzeln, dann schlossen sich ihre Augen. Er wußte aus irgendeinem Grund, daß sie schlief. Er berührte ihre Wangen mit der Rückseite der Finger. »Sehr heiß«, murmelte er. Er knipste das Licht aus und zog sich im Halbdunkel um. Aus einer Schublade zog er ein Schulheft und entnahm ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer in großer schwarzer Schrift. »Ich komme wieder«, sagte er ins Dunkel. Sie sagte nichts. Er ging hinaus und sperrte die Tür hinter sich ab. Mühsam rief er den Betrieb vom großen Drugstore aus an, blickte bei jeder Ziffer auf den Zettel und hielt die Wählscheibe bei jeder Ziffer drei oder vier Sekunden lang fest, wie um sicherzustellen, daß die Nummer auch wirklich registriert wurde. Er erreichte gleich den großen Chef, Mr. Laddie, was 69
ihm sehr peinlich war; er hatte ein Dutzend Jahre nicht mit ihm gesprochen. Mit der vollen Kraft seiner Bullenstimme kollidierte er mit Laddies drittem, ungeduldigem: »Hallo?« und schrie: »Krank! Ich – äh, krank!« Er hörte das Telefon sagen: »- soll denn das?« und Mr. Wismers Lachen, und: »Geben Sie mir den Hörer, das muß mein Orang-Utan sein«, und in sein Ohr: »Hallo?« »Krank heute«, schrie er. »Was ist los mit Ihnen?« Er schluckte. »Ich kann nicht«, brüllte er. »Das ist nur das Alter«, sagte Mr. Wismer. Er konnte Mr. Laddie ebenfalls lachen hören. Mr. Wismer sagte: »Wie viele Abende haben Sie in den letzten fünfzehn Jahren gefehlt?« Er dachte darüber nach. »Keinen!« schrie er. Außerdem waren es achtzehn Jahre. »Das stimmt sogar, wissen Sie«, sagte Mr. Wismer zu Mr. Laddie, ohne die Muschel abzudecken. »Fünfzehn Jahre, und hat noch nie eine Stunde freigenommen.« »Wer braucht ihn denn schon? Geben Sie ihm dauernd frei.« »Nicht bei den Preisen«, sagte Mr. Wismer, und ins Telefon: »Klar, Dummkopf, nur zu. Mach keine Dummheiten.« Das Telefon knackte mitten im Lachen, und er wartete in der Zelle, bis er sicher war, daß nichts mehr gesagt werden würde. Dann hängte er ein und trat in den großen Drugstore, wo ihn alle Leute 70
anstarrten. Das taten sie immer. Das störte ihn nicht. Nur eines störte ihn, und das war Mr. Laddies Stimme in seinem Kopf, die immer wieder sagte: »Wer braucht ihn denn schon?« Er wußte, daß er innehalten und sich diesen Worten stellen und sie und alles, was damit zusammenhing, durch seinen Kopf gehen lassen mußte. Aber nicht jetzt, bitte, nicht jetzt. Er hielt sie fern, indem er sich beschäftigte; er kaufte Heftpflaster und Gaze und Salbe und ein Feldbett und drei Eisbeutel und, nach einiger Überlegung, Aspirin, weil ihm einmal jemand erklärt hatte… und dann zum Supermarkt, wo er so viel einkaufte, daß es neun Tage lang für eine neunköpfige Familie gereicht hätte. Und trotz all seiner Pakete hatte er noch einen kräftigen Arm und eine breite Schulter für eine zwanzigpfündige Eisstange. Er stemmte die Tür auf und legte das Eis in den Eisschrank und ging hinaus in den Flur und holte die Pakete, und dann ging er zu ihr. Sie glühte, und ihr Atem war von der Art, wie Seevögel in den Wind fliegen, ein kurzer Flügelschlag, noch ein kurzer Schlag, und langes Ausharren. Er brach ein Stück von der Eisstange ab, wickelte es in ein Geschirrtuch und zerhieb es zornig im Spülbecken. Er stopfte das zerschlagene Eis in einen der Eisbeutel und legte ihn auf ihren Kopf. Sie seufzte, öffnete die Augen aber nicht. Er füllte die anderen Beutel und legte einen auf ihre Brust und den anderen auf ihren Oberschenkel. Er rang hilflos vor ihr die Hände, bis ihm einfiel: Sie muß ja essen, bei dem Blutverlust. Und er kochte riesige Mengen, während er sie unablässig im Auge behielt. Er machte Minestrone und gebackenen 71
Blumenkohl und Kartoffelbrei und Kalbskoteletts. Er schnitt einen Kuchen auf und wärmte Mohnbrötchen, und er hatte heißen Kaffee mit Speiseeis bereit, um sie damit zu füttern. Sie aß nichts, gar nichts, sie trank keinen Tropfen. Sie lag da und ließ von Zeit zu Zeit ihren Kopf auf die Seite fallen, so daß er hinlaufen und den Eisbeutel aufheben und wieder auf ihren Kopf legen mußte. Sie seufzte einmal, und einmal glaubte er, ihre Augen offen zu sehen, aber er wußte es nicht genau. Am zweiten Tag aß und trank sie nichts, und ihr Fieber war unfaßbar hoch. In der Nacht, neben dem Bett auf dem Boden kauernd, wurde er einmal vom Echo wach, das Weinen hinterlassen hatte, aber vielleicht hatte er das nur geträumt. Einmal schnitt er das zarteste, saftigste Stück Kalbfleisch, das er finden konnte, von einem Kotelett, und schob es zwischen ihre Lippen. Drei Stunden später öffnete er sie, um wieder ein Stück hineinzuschieben, aber das erste war noch da. Dasselbe geschah mit dem Aspirin, kleine weiße Krümel auf einer trockenen Zunge. Und bald kam die Zeit, als er alles getan hatte, was es zu tun gab, und sich in einen Sorge-Reflex hineingesteigert hatte, der selbsttätig war, und der bloße Versuch, neue Gedanken zu denken, ließ ihn in die Falle tappen, sich den alten stellen zu müssen, und dann blieb natürlich nichts anderes übrig, als sie weiterlaufen zu lassen, mit der ganzen Qual und Demütigung, die sie mit sich brachten. Er versuchte etwas Neues darüber zu denken, was geschehen würde, wenn er einen Arzt rief und der Arzt sie ins Krankenhaus würde schaffen wollen; er würde sa72
gen: ›Sie braucht Fürsorge, mein Lieber, sie braucht nicht Sie‹, und da war es in seinem Hirn, fertig zum Ablaufen, so: Sei elf Jahre alt, groß und stark und schüchtern, steh in der Küchentür, deinen Holzkasten an der Schnur in der Hand, und versuch den Mund so zu formen, daß die widerstrebenden Worte richtig herauskommen; und da kauert Mama über einer Ginflasche, wie eine Katze über einem halb verzehrten Vogel, glotzend; beobachte, wie ihr lippenloser breiter Mund zuckt und sagt: »Steh nicht da und stotter und schlabber herum! Mach den Mund auf, Junge! Was willst du sagen, daß du weggehst?« Nicke, es ist einfacher, und sie sagt: »Dann geh, geh nur, wer braucht dich schon?« und du gehst. Und sei stämmige, kraftvolle Sechzehn und geh zum Rekrutierungsbüro und sieh den Sergeanten mit den Bügelfalten fragen: »Was willst du denn?« Und du versuchst es, du versuchst es und kannst es nicht sagen, also zeigst du mit dem Kopf auf das Plakat mit dem vorgereckten Zeigefinger ›Onkel Sam braucht dich‹; und der Sergeant wirft einen Blick darauf und auf dich, und plötzlich ist sein Zeigefinger einen Zentimeter von deiner Nase entfernt; schielend starrst du ihn an, während er bellt: »Na, dich braucht Onkel Sam nicht!« Und du wartest, beobachtest den Finger so, ohne dich zu rühren, bis du begreifst; im Begreifen bist du gut, du hörst nur langsam. Da stehst du also und schielst, und alle lachen. Oder weiter zurück, du bist acht Jahre alt und in der Schule. Diese Phyllis mit den langen braunen Locken, die nur so fliegen, wenn sie den Kopf wirft, rosig und sauber und so hübsch; du hast 73
die Schokolade im Goldpapier im Goldnetz; du gehst den Gang zwischen den Pulten entlang zu ihr und legst die Schokolade hin und rennst weg; sie kommt den Gang herunter und wirft sie so heftig hin, daß das Netz auf deinem Pult reißt, und sie sagt ganz laut: »Die brauche ich nicht, und dich brauche ich auch nicht, und weißt du was, du hast Rotz im Gesicht«, und du hebst die Hand, und tatsächlich ist es so. Das ist alles. Nur – jedesmal, wenn jemand sagt: »Wer braucht denn den?« oder so ähnlich, dann mußt du sie alle durchgehen, alle. Früher oder später, und wenn du es noch so hinausschiebst, mußt du alles noch einmal durchleben. Ich hole den Arzt, du brauchst mich nicht. Du stirbst, du brauchst mich nicht. Bitte… Weit hinten in ihrer Kehle ein kratzendes Zischen, und ihre Lippen bewegten sich. Sie hielt seinen Blick mit ihren Augen fest, und ihre Lippen bewegten sich stumm, und das Zischen kam, ein wenig spät für die Lippen, wieder. Er wußte nicht, wie er richtig riet, aber er tat es und brachte Wasser, ließ es langsam auf ihren Mund tropfen. Sie leckte gierig, hob den Kopf. Er schob eine Hand darunter, achtete auf die Schwellung, und half ihr. Nach einer Weile sank sie zurück und lächelte die Tasse schwach an. Dann blickte sie in sein Gesicht, und er fühlte sich viel besser, obwohl das Lächeln verschwand. Er lief zur Eisbox und zum Herd und holte Gläser und Trinkhalme – je eines für Orangensaft, Schokomilch, Milch pur, Fleischbrühe aus der Dose und Eiswasser. Er stellte sie nebeneinander auf dem Stuhl 74
vor dem Bett auf und beobachtete sie und das Mädchen eifrig, wie ein Zirkus-Seehund, der an den Hupen ›America‹ spielen soll. Sie lächelte diesmal, schwach, ganz kurz, aber sie lächelte ihn an, und er versuchte es mit der Fleischbrühe. Sie trank fast die Hälfte durch den Halm, ohne abzusetzen, und schlief ein. Später, als er nachschaute, ob sie irgendwo blutete, war die Plastikdecke naß, aber nicht von Blut. Idiot! wütete er und stapfte hinaus und kaufte eine Bettschüssel. Sie schlief jetzt viel und aß oft, aber wenig. Sie begann ihn zu beobachten, während er hin- und herging; manchmal, wenn er glaubte, sie schlafe, drehte er sich um und begegnete ihrem Blick. Meistens waren es in diesen beiden Tagen seine Hände, die sie beobachtete. Er wusch und bügelte ihre Sachen und saß da und flickte sie mit geraden kleinen Stichen; er hing mit den Ellbogen an der Kante des Tisches und arbeitete mit seinem Silberdraht und machte ihr eine Brosche wie eine Blume auf einem Fächer, und einen Anhänger an einer Silberkette, und ein dazu passendes Armband. Sie beobachtete seine Hände, während er kochte; er machte sich die Spaghetti selbst – eigentlich Tagliatelli – rollte und knetete den Teig, bis er zu einer großen, zähen Platte wurde, rollte ihn zusammen wie eine Teigrolle, nur fester, zerschnitt ihn mit schnellen, akkuraten Stoßen eines Messers, so daß er aussah wie gelblich-weiße, flache Schnürsenkel. Er hatte Hände, die ihre Grenzen nie kennengelernt hatten, weil er nie auf den Gedanken gekommen war, eine Grenze festzulegen. Nichts anderes im Leben kümmerte sich um diesen Mann als seine Hände, und da sie alles taten, konnten sie alles. 75
Aber wenn er ihre Verbände wechselte oder sie wusch oder ihr mit der Leibschüssel half, sah sie seine Hände nie an. Sie lag ganz still da und beobachtete sein Gesicht. Zuerst war sie sehr schwach und konnte nichts bewegen als den Kopf. Er war froh, weil dadurch ihre Nähte schön heilten. Als er die Silbernadeln herauszog, mußte das wehgetan haben, aber sie gab keinen Laut von sich; zwölfmal zuckte ihre glatte Stirn, einmal für jede Nadel, die entfernt wurde. »Schmerzt«, brummte er. Sie nickte schwach. Es war der erste Kontakt zwischen ihnen, abgesehen von den stummen, drängenden Augen, die ihm überallhin folgten. Sie lächelte auch, während sie nickte, und er drehte sich um und bohrte die Knöchel in die Augen und fühlte sich herrlich. Am sechsten Abend ging er wieder zur Arbeit, nachdem er den ganzen Tag herumhantiert und an ihr herumgetan hatte, damit sie nicht schlief, bis er ging, und dann wartete er noch, bis sie fest eingeschlafen war. Er sperrte sie ein und hastete zur Arbeit, innerlich erwärmt und bereit, die Arbeit von drei Männern zu tun; und in den dunklen frühen Morgenstunden wieder nach Hause, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, mit einem Geschenk für sie – einem kleinen Radio, einem Schal, einem besonderen Leckerbissen – jeden Tag. Er sperrte die Tür ab und eilte zu ihr, berührte ihre Stirn und die Wangen, um festzustellen, welche Temperatur sie hatte, ordnete das Bett vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Dann ging er dahin, wo er nicht gesehen werden konnte, zum Spülbecken, zog sich aus und schlüpfte in die lange Unterhose, in der er schlief, und kam zurück und rollte sich auf 76
dem Feldbett zusammen. Etwa eineinhalb Stunden lang schlief er wie ein Stein, aber danach brachte ihn ihr leisestes Rascheln, das winzigste Stocken ihres Atems, mit einem Sprung zu ihr. Er krächzte: »Alles in Ordnung?« und beugte sich angespannt über sie, versuchte verzweifelt zu erraten, was sie brauchen könnte, was er für sie tun oder holen konnte. Und wenn es hell wurde, brachte er ihr warme Milch, mit einem Ei darin, und dann badete er sie und wechselte ihre Verbände und kämmte sie, und wenn er sonst nichts mehr für sie tun konnte, säuberte er das Zimmer, schrubbte den Boden, wusch Kleidung und Geschirr und kochte stundenlang. Am Nachmittag ging er einkaufen, alles halb im Trab, nach Hause laufend, sobald er konnte, um ihr zu zeigen, was er gekauft hatte, was er für das Abendessen plante. Diese ganzen Tage hindurch, und dann die Wochen, strahlte er innerlich, pflegte den Glanz, während er von ihr entfernt war, und nährte ihn mit ihrer Gegenwart, wenn sie zusammen waren. Eines Nachmittags Ende der zweiten Woche sah er sie weinen. Sie starrte das kleine Radio an, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Er stieß eine rauh begütigende Silbe hervor und wischte ihre Wangen mit einem trockenen Waschlappen und trat einen Schritt zurück, Qual in seinem Tiergesicht. Sie tätschelte matt seine Hand und machte eine Reihe von schwachen Gesten, die ihm völlig unverständlich blieben. Er setzte sich auf den Stuhl vors Bett und schob sein Gesicht nah an das ihre, so, als könne er mit seinen Augen die Bedeutung aus ihr herausreißen. Es hatte sich etwas verändert an ihr; sie hatte ihn bis jetzt mit der faszinierten, verständnislosen Aufmerksamkeit eines Kätzchens 77
vor einem Aquarium mit tropischen Fischen beobachtet; aber jetzt lag mehr in ihrem Blick, in der Art, wie sie sich bewegte und in dem, was sie tat. »Du Schmerzen?« krächzte er. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Mund bewegte sich, und sie deutete darauf und begann wieder zu weinen. »Ah, du Hunger. Ich mache, mache gut.« Er stand auf, aber sie packte sein Handgelenk, schüttelte den Kopf und weinte, lächelte aber auch dabei. Er setzte sich, von seiner Verwirrung zerrissen. Wieder bewegte sie den Mund, deutete darauf und schüttelte den Kopf. »Nicht reden«, sagte er. Sie atmete so schwer, daß er erschrak, aber als er das sagte, ächzte sie und setzte sich halb auf; er griff nach ihren Schultern und drückte sie hinunter, aber sie nickte eifrig. »Du kannst nicht reden!« sagte er. Ja, ja! nickte sie. Er sah sie lange Zeit an. Die Musik im Radio hörte auf, und jemand begann mit knisternder Baritonstimme Gebrauchtwagen anzubieten. Sie warf einen Blick darauf, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Er beugte sich über sie und schaltete das Gerät aus. Nach einer großen Anstrengung formte er seinen Mund richtig und gab einen verächtlichen Ton von sich: »Ha! Was willst du reden? Red nichts. Ich mache alles, nichts reden. Ich -« Die Worte ließen ihn im Stich, und so schlug er sich kräftig auf die Brust und nickte ihr zu, dem Herd, der Bettschüssel, der Schale mit Verbandsmaterial. Er sagte noch einmal: »Wozu reden?« 78
Sie sah zu ihm auf, überwältigt von seiner Heftigkeit, und schrak zurück. Er wischte ihr noch einmal zärtlich die Wangen und murmelte: »Ich mache alles.« Eines Morgens kam er im Dunkeln heim, sah, daß sie es nach seinen eisernen Regeln bequem hatte, und legte sich hin. Der Geruch nach gebratenem Speck und frischgekochtem Kaffee gehörte natürlich zu einem Traum; wozu sonst? Und die leisen Geräusche im Zimmer mußten seiner erschöpften Einbildung entstammen. Er öffnete dem Traum die Augen und schloß sie wieder, lachte sich als Dummkopf aus. Dann erstarrte er innerlich und öffnete langsam die Augen von neuem. Neben seinem Feldbett stand der Stuhl, und auf dem Stuhl stand ein Teller mit Spiegeleiern und gebratenem Speck, daneben eine Tasse mit starkem schwarzem Kaffee, Toast, in dessen Altgold das hellere Gold der Butter verschwand. Er starrte diese Dinge ungläubig an, dann hob er den Kopf. Sie saß auf der Bettkante, wo ein Zwischenraum von zwanzig Zentimetern zwischen Bett und Feldbett bestand. Sie trug ihre gebügelte und geflickte Bluse und ihren Rock. Ihre Schultern hingen vor Erschöpfung herab, und es schien ihr schwerzufallen, den Kopf hochzuhalten; ihre Hände hingen schlaff zwischen ihren Knien. Aber ihr Gesicht war erfüllt von Freude und Erwartung, während sie beobachtete, wie er zu seinem Frühstück erwachte. Sein Mund verzerrte sich, und er bleckte die stumpfen gelben Zähne und knirschte damit, während er einen Wutschrei 79
ausstieß. Es war ein erstickter, scharrender Laut, und sie zuckte davor zurück, als sei sie versengt worden, und kauerte auf dem Bett, mit großen Augen und schlaffem Mund. Er sprang auf und ging mit erhobenen Armen und geballten Fäusten auf sie zu; sie ließ das Gesicht auf das Bett fallen und bedeckte ihren Nacken mit beiden Händen und lag zitternd da. Einen langen Augenblick hing er über ihr, dann sanken seine Arme langsam herunter. Er zerrte am Rock. »Ausziehen«, brummte er. Er zerrte heftiger daran. Sie blickte zu ihm auf und drehte sich langsam um. Sie tastete schwach am Knopf herum. Er half ihr. Er zog den Rock herunter und warf ihn auf das Feldbett, zeigte streng auf die Bluse. Sie knöpfte sie auf, und er zog sie ihr von den Schultern. Er zog die Decke unter ihrem Körper hervor, packte ihre Fußknöchel mit seinen kraftvollen Händen und zog sie herunter, bis sie ausgestreckt auf dem Bett lag. Dann deckte er sie sorgfältig zu. Er atmete schwer. Sie beobachtete ihn entsetzt. Mit beängstigender Stummheit wandte er sich wieder seinem Feldbett und dem Stuhl davor zu. Langsam griff er nach der Tasse Kaffee und zerschmetterte sie am Boden. Gleichmäßig wie der Schlag einer Holzfälleraxt folgten der Teller mit dem Toast, der Teller mit den Eiern. Porzellan und Dotter splitterten und spritzten über den Boden und an die Wände. Als er fertig war, drehte er sich zu ihr um. »Ich mache alles«, sagte er heiser. Er betonte jede einzelne Silbe mit einem klobigen Zeigefinger, als er wiederholte: »Ich mache alles.« 80
Sie warf sich auf den Bauch, vergrub das Gesicht im Kissen und begann so heftig zu schluchzen, daß er bis in die Fußsohlen spürte, wie das Bett zitterte. Er wandte sich zornig ab, holte Topf und Schrubber und Besen und Kehrichtschaufel und machte mühsam und methodisch wieder alles sauber. Zwei Stunden später kam er auf sie zu. Sie lag noch immer steif und regungslos auf dem Bauch. Er hatte lange Zeit gehabt, sich zu überlegen, was er sagen wollte: »Hör zu, weißt du, du bist krank – verstehst du?« Er sagte es so sanft, wie er konnte. Er legte die Hände auf ihre Schultern, aber sie zuckte heftig und schleuderte sie weg. Verletzt und betroffen wich er zurück, setzte sich auf das Feldbett und beobachtete sie unglücklich. Sie nahm mittags keinen Bissen an. Sie nahm abends keinen Bissen an. Als es für ihn Zeit wurde, zur Arbeit zu gehen, drehte sie sich herum. Er saß noch immer in der langen Unterhose auf dem Feldbett, zutiefst elend, was sich in jedem Zug seines Gesichts, in jeder Linie seines häßlichen Körpers ausdrückte. Sie sah ihn an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er begegnete ihrem Blick, bewegte sich aber nicht. Sie seufzte plötzlich und streckte ihre Hand aus. Er sprang hin und zog sie an seine Stirn, kniete nieder, beugte sich über die Hand und begann zu weinen. Sie streichelte sein drahtiges Haar, bis der Sturm auf seinem Höhepunkt plötzlich aufhörte. Er sprang davon und klapperte mit Töpfen auf dem Herd und brachte ihr nach ein paar Minuten Brot und Sauce und eine geschmorte Artischocke in Olivenöl und Basilikum. Sie lächelte schwach und nahm den Teller und aß langsam, während er jeden Bissen verfolgte und etwas aus81
strahlte, das nur Dankbarkeit sein konnte. Dann zog er sich um und ging zur Arbeit. Als sie sich aufzusetzen begann, kaufte er ihr einen roten Morgenmantel, aber aufstehen durfte sie nicht. Er brachte ihr eine Glaskugel, in der sich eine Blume unter Wasser eine Woche lang hielt, zwei lebendige Schildkröten in einer Plastikschale, und ein hellblaues Spielzeughäschen mit Spieluhr, die ›Rock-abye Baby‹ spielte, und einen grellen, zinnoberroten Lippenstift. Sie blieb gehorsam und beobachtete ihn mehr denn je; wenn sein Hantieren und Wirtschaften vorbei war und er auf dem Feldbett kauerte, um darauf zu warten, welchen Wunsch er ihr als nächsten würde von den Augen ablesen können, begegneten sich ihre Blicke, und er senkte den seinen immer öfter. Sie preßte den blauen Hasen an sich und beobachtete ihn unverwandt, oder lächelte plötzlich, die Lippen öffnend, so als wollten sie etwas ungeheuer Wichtiges und zutiefst Glückliches aussprechen. Manchmal wirkte sie unbeschreiblich traurig, und manchmal war sie so unruhig, daß er zu ihr trat und ihr Haar streichelte, bis sie einschlief oder einzuschlafen schien. Es fiel ihm ein, daß er fast zwei ganze Tage lang ihre Wunden nicht gesehen hatte und daß sie ihr vielleicht während dieser ruhelosen Zeiten Beschwerden machten, und so drückte er sie sanft auf das Bett und zog die Decke zurück. Er berührte vorsichtig die Narbe, und sie stieß plötzlich seine Hand weg, packte fest ihr eigenes Fleisch, knetete es und schlug klatschend mit der Hand darauf. Entsetzt blickte er in ihr Gesicht und sah, daß sie lächelte und nickte. »Tut’s weh?« 82
Sie schüttelte den Kopf. Er sagte, als er sie zudeckte, stolz: »Ich mache. Ich mache es gut.« Sie nickte und hielt seine Hand kurz zwischen Kinn und Schulter fest. Es war in dieser Nacht, nachdem er, vom Kaufhaus zurückgekommen, in den ersten tiefen Schlaf gefallen war, daß er auf dem Feldbett ihren warmen, festen Schenkel an seinem Körper spürte. Er blieb einen Augenblick still liegen, im Halbschlaf, verständnislos, während geschickte Finger an den Knöpfen seiner langen Unterhose herumtasteten. Er hob die Hände und hielt ihre Handgelenke fest. Sie wurde sofort still, aber ihr Atem ging schnell, und ihr Herz hämmerte wie ein zorniger kleiner Fingerknöchel an seine Brust. Er brachte eine mühsame, fragende Silbe hervor: »W-wa –?«, und sie drängte sich an ihn und erstarrte dann zitternd. Er hielt ihre Handgelenke über eine Minute lang fest, versuchte sich das zu überlegen, und setzte sich endlich auf. Er legte einen Arm um ihre Schultern und schob den anderen unter ihre Kniekehlen. Er stand auf. Sie hielt sich an ihm fest, und der Atem zischte durch die Nasenlöcher. Er ging zu ihrem Bett, bückte sich langsam und legte sie darauf. Er mußte nach hinten greifen und ihre Arme von seinem Hals lösen, bevor er sich aufrichten konnte. »Du schläfst«, sagte er. Er tastete nach der Decke, zog sie über sie und hüllte sie ein. Sie lag völlig regungslos, und er berührte ihr Haar und ging zu seinem Feldbett zurück. Er legte sich hin und fiel nach langer Zeit in unruhigen Schlaf. Aber dann weckte ihn etwas; er lag da, lauschte und hörte nichts. Plötzlich erinnerte er sich lebhaft an die Nacht, in der sie zwischen Leben und Tod geschwebt hatte, und er war durch das Echo eines Schluchzens erwacht, das sich nicht wiederholte; in plötzlicher Angst sprang er auf und trat 83
zu ihr, bückte sich und berührte ihren Kopf. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett. »Du weinst?« flüsterte er, und sie schüttelte hastig den Kopf. Er gab einen Brummlaut von sich und legte sich hin. Es war die neunte Woche, und es regnete; er stapfte durch die schwarzen, glänzenden Straßen nach Hause, und als er in seine Straße einbog und den toten, glitschigen Fluß zwischen sich und der Laterne vor seinem Haus sah, erlebte er einen Augenblick der Imagination, von traumartiger Desorientierung; eine Sekunde lang kam es ihm so vor, als sei das Ganze nicht gewesen, als werde gleich der Wagen vorbeirasen und kurz zum Randstein hin ausweichen, während eine schlaffe Gestalt herauskippte, und er mußte hinlaufen und sie ins Haus tragen, und sie würde bluten, sie würde bluten, sie mochte sterben… Er schüttelte sich wie ein großer Hund und senkte den Kopf vor dem Regen, sagte zu seinem Innersten: Du Idiot! Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Er hatte einen Weg gefunden, zu leben, und so würde er leben und keine Veränderung dulden. Aber es gab eine Veränderung, und er wußte es schon, bevor er das Haus betrat; sein Fenster zur Straße hatte einen stumpforangeroten Schimmer, den ihm die Laterne allein nicht verleihen konnte. Vielleicht las sie in einem der Taschenbuchromane, die er mit der Wohnung geerbt hatte; vielleicht hatte sie die Bettschüssel gebrauchen müssen oder schaute nur auf die Uhr… aber diese Gedanken trösteten ihn nicht; eine unerklärliche Angst erfaßte ihn, als er die Haustür aufsperrte. An seiner eigenen Tür war unten ein Lichtspalt zu sehen; er ließ die Schlüssel fallen, als er damit umgehen wollte, und endlich öffnete er die Tür. 84
Er ächzte wie bei einem Fausthieb in die Magengrube. Das Bett war gemacht, flach, sauber, und sie lag nicht darin. Er wirbelte herum; sein verzweifelter Blick sah sie und zuckte an ihr vorbei, bevor er seinen Augen glauben konnte. Hochgewachsen, majestätisch in ihrem roten Morgenmantel, stand sie in der anderen Ecke des Zimmers, am Spülbecken. Er starrte sie entgeistert an. Sie kam auf ihn zu, und als er seine Lunge zu einem seiner rauhen Schreie füllte, legte sie den Finger an ihre Lippen und die andere Hand sanft auf seinen Mund. Keine dieser Gesten, vielleicht nicht einmal beide, hätten normalerweise genügt, ihn zu beruhigen, aber da war noch etwas an ihr, etwas, das nicht darauf wartete, was er tun mochte, und das nicht den Mut verlieren würde, wenn er etwas tat. Er war augenblicklich verwirrt und blieb stumm. Er starrte ihr nach, als sie an ihm vorbeiging und leise die Tür schloß. Sie ergriff seine Hand, aber die Schlüssel störten; sie nahm sie ihm weg und warf sie auf den Tisch und ergriff dann wieder fest seine Hand. Sie war selbstsicher und entschlossen; sie war ein Mensch, der die Dinge durchdacht und abgewogen und ad acta gelegt hätte und jetzt wußte, was er tun mußte. Aber in einer gewissen Beziehung triumphierte sie auch; sie hatte die Haltung eines Siegers und das Strahlen eines Zeugen, der bei einem Wunder zugegen gewesen war. Er konnte mit ihrer Hilflosigkeit fertigwerden, jeder Art, jeden Grades, aber dies – er mußte nachdenken, und sie ließ ihm keine Zeit dazu. Sie führte ihn zum Bett und legte ihre Hände auf seine Schultern, drehte ihn herum und zwang ihn, sich zu setzen. Sie setzte sich ganz nah zu ihm, das Gesicht erhellt, und als er wie85
der Luft in sich hineinpumpte, zischte sie scharf: »Sch!« und bedeckte lächelnd seinen Mund mit ihrer Hand. Sie packte wieder seine Schultern und sah ihm fest in die Augen und sagte klar und deutlich: »Ich kann sprechen, ich kann wieder sprechen!« Er gaffte sie betäubt an. »Schon drei Tage, es war ein Geheimnis, eine Überraschung.« Ihre Stimme klang rauh, sogar heiser, aber deutlich und tiefer, als ihr zarter Körperbau hätte erwarten lassen. »Ich habe geübt, um sicherzugehen. Ich bin wieder gesund, ich bin gesund. Du hast alles in Ordnung gebracht!« sagte sie und lachte. Wie er dieses Lachen hörte, den Stolz und die Freude in ihrem Gesicht sah, konnte er nichts begreifen. »Ah«, sagte er staunend. Sie lachte wieder. »Ich kann gehen, ich kann gehen!« sang sie. Sie sprang plötzlich auf, wirbelte herum und beugte sich lachend über ihn. Er blickte zu ihr und ihrem fliegenden Haar auf und kniff die Augen zusammen, als schaue er in die Sonne. »Gehen?« schmetterte er. Der Druck seiner Verwirrung trieb die zwei Silben als explosiven Schrei hinaus. Sie war sofort ernüchtert und setzte sich wieder zu ihm. »Ach, Süßer, nicht, mach nicht so ein Gesicht, als hätte dich ein Messer durchbohrt. Du weißt, ich kann nicht ewig auf deine Kosten leben!« 86
»Nein, nein, du bleibst«, stieß er gequält hervor. »Jetzt hör mal«, sagte sie schlicht und langsam, wie zu einem Kind. »Ich bin wieder ganz gesund, ich kann wieder sprechen. Es wäre nicht recht, daß ich bleibe, eingesperrt, mit Bettschüssel und so. Warte, so warte doch«, sagte sie schnell, bevor er ein Wort hervorbringen konnte, »das heißt doch nicht, daß ich nicht dankbar bin, du warst… du warst, na, das kann ich dir einfach nicht sagen. Schau, in meinem ganzen Leben hat noch niemand so etwas getan, ich meine, ich mußte mit dreizehn fortlaufen, ich habe viel Schlimmes getan. Und ich bin behandelt worden… ich meine, kein Mensch… schau, ich meine es so, bis jetzt hätte ich jeden bestohlen, beraubt, was weiß ich. Dich aber nicht, verstehst du?« Sie schüttelte ihn ein wenig, um es ihm begreiflich zu machen; dann, als sie die Leere und das Elend in seinem Gesicht sah, befeuchtete sie die Lippen und begann von neuem. »Was ich sagen will, du bist so gut gewesen, all das -« Sie deutete auf den blauen Hasen, die Schildkröten, auf alles im Zimmer – »ich kann nichts mehr nehmen. Ich meine, überhaupt nichts mehr, kein Frühstück. Wenn ich es dir vergelten könnte, egal, wie, würde ich es tun, das weißt du.« In ihrer heiseren Stimme schwang Bitterkeit mit. »Niemand kann dir etwas geben. Du brauchst nichts und niemanden. Ich kann dir nichts geben, was du brauchst, oder etwas für dich tun, was getan werden muß, du machst alles selbst. Wenn es etwas gäbe, was du von mir haben wolltest – « Sie legte die Fingerspitzen zwischen ihre Brüste, mit einer seltsamen Ergebenheit, bei der es ihm einen Riß gab. »Aber nein, du machst alles«, äffte sie ihn nach. Es klang nicht höhnisch. 87
»Nein, nein, geh nicht«, flüsterte er rauh. Sie tätschelte seine Wange, und ihr Blick liebte ihn. »Ich gehe doch«, sagte sie lächelnd. Dann verschwand das Lächeln. »Ich muß dir etwas erklären, diese Gangster, die mich aufgeschlitzt haben, das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich habe Murks gemacht. Ich habe etwas wirklich Schlimmes getan – nun, ich sag’s dir. Ich war Dealerin, verstehst du? Ich meine Rauschgift, das habe ich verkauft.« Er sah sie verständnislos an. Er verstand kaum jedes zehnte Wort; er biß und biß nur auf Einsamkeit und Nutzlosigkeit, Alleinsein und die schreckliche Wahrheit seines Zimmers ohne sie oder den blauen Hasen oder alles andere als das, was es die ganzen Jahre hindurch enthalten hatte – Linoleum mit weggeschrubbtem Muster, sechs Romane, die er nicht lesen konnte, einen Herd, der darauf wartete, daß für jemanden gekocht werden konnte, Schmutz und Ordnung, und wer braucht dich? Sie mißverstand seinen Ausdruck. »Liebling, Liebling, schau mich nicht so an, ich mache es nie wieder. Ich habe es nur getan, weil mir alles egal war, es freute mich, wenn die Menschen sich kaputtmachten, ja, wirklich. Ich habe nie gewußt, daß jemand gut sein kann, so wie du. Ich dachte immer, das sei so eine Lüge wie im Kino. Hübsch, aber nicht wirklich, nicht für mich. Aber ich muß es dir sagen, ich habe eine Lieferung geklaut, mein Gott, zwanzig-, zweiundzwanzigtausend Dollar wert. Ich hatte sie ganze vierzig Minuten, dann erwischten sie mich.« Ihre Augen wurden groß und sahen Dinge, die nicht im Zimmer wa88
ren. »Mit einem Rasiermesser ging er auf mich los, so wild, daß er es an der Autotür abbrach. Er traf mich da unten und hier oben, er wollte mich wohl ganz aufschlitzen, aber das Rasiermesser war kaputt.« Sie blies Luft durch die Nase, und ihr Blick kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Die Beule am Kopf habe ich wohl erwischt, als sie mich aus dem Auto warfen. Deshalb konnte ich nicht reden, von so etwas habe ich gelesen. Ach, Süßer! Schau nicht so drein, du zerreißt mich!« Er sah sie traurig an und bewegte den großen Kopf hilflos hin und her. Sie kniete plötzlich vor ihm nieder und ergriff seine beiden Hände. »Hör zu, du mußt begreifen. Ich wollte heimlich weggehen, während du in der Arbeit bist, aber ich blieb, damit ich es dir begreiflich machen konnte. Nach allem, was du getan hast… Schau, ich bin gesund, ich kann nicht ewig in einem Zimmer eingesperrt leben. Wenn ich es könnte, würde ich hier irgendwo Arbeit annehmen und dich die ganze Zeit sehen, wirklich. Aber in der Stadt hier ist mein Leben keinen Pfifferling wert. Ich muß hier ‘raus, und das heißt, daß ich die Stadt verlassen muß. Ich schaffe es schon, Liebling. Ich schreibe dir, ich vergesse dich nie, wie könnte ich das?« Sie war ihm weit voraus. Er hatte begriffen, daß sie ihn verlassen wollte; das nächste, was er begriff, war, daß sie auch die Stadt verlassen wollte. »Du gehst nicht«, sagte er erstickt. »Du brauchst mich.« 89
»Du brauchst mich nicht«, sagte sie zärtlich, »und ich brauche dich nicht. Darauf läuft es hinaus, Süßer. Du hast dafür gesorgt. Es ist der richtige Weg, siehst du das nicht ein?« Und mitten darin war das dritte, was er begriff. Er stand langsam auf, fühlte, wie ihre Hände an ihm abglitten, von seinen Knien zum Boden, als er zurücktrat. »O Gott!« rief sie am Boden, wo sie kniete, »du bringst mich um, wenn du es so aufnimmst! Kannst du nicht glücklich sein für mich?« Er stolperte durch das Zimmer und hielt sich am unteren Brett des Geschirrschranks fest. Er blickte vor und zurück durch den dunklen, hallenden Korridor seiner Jahre, der sich so weit und trostlos erstreckte, und er blickte auf dieses kurze, leuchtende Segment, das ihm entglitt… Er hörte ihre schnellen Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, hatte er das Bügeleisen in der Hand. Sie sah es überhaupt nicht. Sie kam mit leuchtendem Gesicht zu ihm, flehend, und er streckte die Arme aus, und sie lief hinein, und das Bügeleisen sauste durch die Luft und krachte auf ihren Hinterkopf. Er ließ sie sanft auf das Linoleum sinken, stand lange Zeit vor ihr und weinte leise. Dann stellte er das Bügeleisen weg und füllte den Kessel und einen Kochtopf mit Wasser, und in den Kochtopf legte er Nadeln und eine Klammer und Faden und kleine Schwammstücke und ein Messer und die Zangen. Vom Klapptisch und aus einer 90
Schublade holte er seine beiden Plastikdecken und breitete sie auf dem Bett aus. »Ich mache alles«, murmelte er während der Arbeit. »Ich mache alles gut.«
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KEINE CHANCE FÜR GEISTER
Sie sagte mit erstickter Stimme: »Mich verfolgt etwas!« und begann zu laufen. Das packte mich irgendwie. Vielleicht deshalb, weil sie so winzig war und ihr Haar so weiß. Vielleicht deshalb, weil sie mitsamt dem weißen Haar so jung und hilflos aussah. Aber vor allem, glaube ich, wegen ihrer Worte. ›Mich verfolgt etwas.‹ Nicht ›jemand‹. ›Etwas.‹ Ich also hinter ihr her. Ich holte sie an der Ecke ein, legte die Hand auf ihre Schulter. Sie ächzte und rannte davon. »Immer mit der Ruhe, Lady«, keuchte ich. »Ich lasse nicht zu, daß es Sie erwischt.« Sie blieb so plötzlich stehen, daß ich sie beinahe über den Haufen rannte. Sie hatte riesengroße dunkle Augen, die überhaupt nicht zu ihrem Haar paßten. »Wieso rennen Sie überhaupt um drei Uhr früh herum?« fragte ich. »Warum fragen Sie?« Ihre Stimme klang musikalisch. 92
»Na, hören Sie mal – mit dem Gespräch haben Sie angefangen.« Sie wollte etwas sagen, da fiel ihr über meine Schulter hinweg etwas in die Augen. Sie erstarrte eine Sekunde lang, und ich war von ihrem Mienenspiel so gebannt, daß ich ihrem Blick nicht folgte. Abrupt richtete sie ihn wieder auf mein Gesicht und knallte mir eine. Die war nicht von schlechten Eltern. Ich trat zurück und schimpfte, und bis ich fertig war, hatte sie schon einen weiten Vorsprung. Ich rieb mir das Gesicht und ließ sie laufen. Ein paar Tage danach traf ich Henry Gade und erzählte ihm davon. Henry ist praktischer Psychologe. Vielleicht sollte ich dazusagen, daß sein Gebiet die praktische Psychologie ist, denn Henry ist nicht praktisch. Er hat Theorien. Er hat mehr verflixte Theorien als jeder andere lebende Mensch. Er ist dreißig und kahlköpfig und verdient einen Haufen Geld, ohne was zu arbeiten. »Ich glaube, sie war verrückt«, sagte ich. »Ah«, sagte Henry und legte einen Finger an die Nase. Die Nase war länger als der Finger, glaube ich. »Aber hast du sie gefragt, was sie glaubte?« »Nein. Ich habe sie nur gefragt, warum sie um diese nachtschlafende Zeit herumrennt.« »Der Haken bei dir ist, Gus, daß du keine Spur von Romantik in dir hast. Du hättest sie in die Arme nehmen und mit Küssen überschütten sollen.« »Dann hätte sie mir eine -« 93
»Das hat sie ohnehin gemacht, nicht?« meinte Henry und ging davon. Henry macht dauernd Witze. Aber manchmal sagt er so verrückte Dinge und meint es gar nicht witzig. Ich traf das Mädchen drei Monate später wieder. Ich war in Dukes Biergarten und sah mir seine berühmte Sonnenblume an. Die Sonnenblume war vier Meter hoch und hatte Krücken, damit sie nicht umfiel. Sie wuchs neben dem Weg, der als Hauptstraße des Biergartens diente. Überall gab es jämmerliche Blumenbeete, zwischen denen die Tische standen. Und Lampions, die im Regen gehangen hatten, und eine farbige Band mit Laryngitis. Alles war proppenvoll, und ich stand da, sah mir die Sonnenblume an und ließ mich von dem ganzen Lärm hinund hertreiben. Duke beschwor, daß er mit den Samenkörnern von dieser einzigen Blume eine Riesenpapiertüte füllen könnte. Und dann sagte sie: »Hallo. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen eine Ohrfeige geben mußte.« Sie stand am Stengel der Sonnenblume, hineingezwängt zwischen Blätter und Schatten. »Na, wenn das nicht meine hübsche Boxerin ist«, sagte ich. »Was heißt, es tut Ihnen leid, daß Sie zuhauen mußten? Es sollte Ihnen einfach leid tun.« »Ach, ich mußte. Ich würde Sie doch nicht einfach so schlagen.« »Oh – habe ich etwas angestellt? Hatte ich eine Ohrfeige verdient?« »Bitte«, sagte sie. »Es tut mir leid.« 94
Ich sah sie an. Es stimmte. »Was machen Sie da eigentlich – verstecken Sie sich?« Sie nickte. »Vor wem?« Sie wollte es nicht sagen. Sie zuckte einfach die Achseln und sagte, sie verstecke sich eben. »Ist es dasselbe, vor dem Sie damals nachts davongelaufen sind?« »Ja.« Ich machte ihr klar, daß das albern war. »Ich habe mich überall umgesehen, nachdem Sie weg waren, und da war überhaupt nichts auf der Straße.« »Und doch war da etwas!« »Nichts, das ich sehen konnte.« »Das weiß ich.« Ich kam plötzlich auf den Gedanken, daß das ein recht unsinniges Gespräch war. »Kommen Sie da heraus und trinken Sie ein Bier mit mir. Unterhalten wir uns über die Sache.« »Oh, das könnte ich nicht!« »Sicher können Sie. Ganz einfach. Schauen Sie.« Ich griff hinein und packte sie. 95
»Sie müßten es doch besser wissen«, sagte sie, und dann brach aus irgendeinem Grund der Stengel der Sonnenblume. Sie schwankte und brach dann herunter’ wie eine Rieseneiche. Die große Blume landete auf dem Tablett, das Giuseppe, der Kellner, trug. Auf dem Tablett standen acht große Bier, zwei Krüge und ein Martini. Die Biere und eine Menge Glassplitter flogen in alle Richtungen. Der Martini flog über seinen Kopf und zersplitterte an den Stäben des Käfigs, wo Duke sein zahmes Eichhörnchen hielt. Es gab ein Durcheinander. Das Mädchen mit den weißen Haaren war verschwunden. Die ganze Zeit, während Duke mir erklärte, was für eine Gefahr ich sei, starrte ich über seine zuckende Schulter auf das Eichhörnchen, das den in den Käfig gespritzten Martini aufleckte. Als Duke keine Schimpfworte mehr einfielen, ließ er mich hinauswerfen. Dabei waren wir vorher gute Freunde gewesen. Ich gab mir Mühe, Henry bald zu fassen zu bekommen. »Ich habe das Mädchen wiedergesehen«, sagte ich, »und sie gepackt, wie du gesagt hast.« Ich erzählte ihm, was passiert war. Er lachte mich aus. Henry lacht mich immer aus. »Mach kein so ernstes Gesicht, Gus!« sagte er und schlug mir auf die Schulter. »Ein bißchen Aufregung ist gut für den Kreislauf. Lach drüber. Duke hat dich doch nicht auf Schadenersatz verklagt, oder?« »Nein«, sagte ich, »nicht direkt. Aber sein Eichhörnchen hat die Olive von dem Cocktail gefressen, der in den Käfig kippte, und ist todkrank geworden. Duke ließ mir vom Tierarzt die Rechnung schicken. Magenpumpe.« 96
Henry hatte gesalzene Erdnüsse gegessen, und als ich das sagte, schnaubte er einen Mundvoll gekauter Nüsse in die Nase hinauf. Mir ist das auch schon passiert, und es tut weh. In gewisser Beziehung sah ich Henry gern leiden. »Ich brauche Hilfe«, sagte ich, als er sich wieder erholt hatte. »Vielleicht ist das Mädchen verrückt, aber ich glaube, daß es in Schwierigkeiten ist.« »Ganz gewiß«, sagte Henry. »Ich wüßte aber nicht, was du dagegen tun könntest.« »Ach, mir würde schon etwas einfallen.« »Ich verstehe auch nicht, warum du ihr helfen willst.« »Es ist merkwürdig«, sagte ich langsam. »Du kennst mich, Henry – ich kann mit Frauen nichts anfangen, außer sie lassen mich in Ruhe. Jedesmal, wenn eine was Nettes tut, dann nur deshalb, weil sie hinterher eine Gemeinheit vorhat.« Henry schluckte vorsichtig und lachte dann. »Du hast mindestens sieben Bände männlicher Objektivität zusammengefaßt«, sagte er. »Aber was hat das mit deiner silberhaarigen Nemesis zu tun?« »Nemesis? Ich dachte eher, sie ist polnischer Abstammung. Mit ihr? Na, sie hat bis jetzt nichts mit mir gemacht, was nicht gemein gewesen wäre. Also denke ich mir, vielleicht ist sie anders. Vielleicht macht sie es andersrum und kommt mit etwas Nettem daher. Und wenn das passiert, möchte ich dabei sein.« »Deine Logik ist mühselig, aber verläßlich.« Er sagte noch etwas, etwa, was es für einen Sinn hätte, intelligent und gebildet 97
zu sein, wenn alle Weisheit auf den Lippen eines Naturkindes ruhe, aber da kam ich nicht mit. »Also, mich interessiert sehr, ob du etwas für sie tun kannst oder nicht. Dann zieh mal los und steck deine Nase hinein.« »Ich weiß nicht, wo sie wohnt, und gar nichts.« »Ach – das.« Er zog ein kleines Notizbuch und einen silbernen Bleistift heraus und schrieb etwas auf. »Hier«, sagte er, riß das Blatt heraus und gab es mir. Da stand: ›Iola Harvester, Dungannon Street 2336.‹ »Wer ist das?« »Dein vom Schicksal verfolgtes Mädchen. Deine schwarzäugige Ohrfeigenverteilerin.« »Woher, zum Teufel, kennst du ihren Namen?« »Sie war eine ganze Weile meine Patientin.« »Wirklich? Na, du Halunke! Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« »Warum hast du mich nicht gefragt?« Ich ging zur Tür und las Namen und Adresse noch einmal. »Weißt du was, Henry?« »Was?« »Iola ist ein hübscher Name.« Henry lachte. »Verrat mir, was du erreicht hast.« 98
Ich ging hin und läutete. Es war ein großes Apartmenthaus; Iola wohnte im dritten Stock. Die Vestibültür rempelte mich an, ich drückte sie auf und ging hinein. Es gab einen Lift, also ging ich die Treppe hinauf. Diese Apparate machen mich nervös. Sie wartete oben, um herauszubekommen, wer geläutet hatte. Sie trug einen schwarzen Morgenmantel, der bis zum Boden reichte und hochgeschlossen war. Er hatte einen steifen Kragen, der hinauf- und hinausragte und ihren Kopf zu stützen schien. Vorne reichte ein Reißverschluß bis ganz hinunter, an der linken Brustseite befanden sich zwei silberne Initialen. Ich kam nicht gleich zu Atem, und es lag nicht an der Treppe. »Oh!« sagte sie. »Sie sind es!« Ich betrachtete sie eine Weile. »Mensch! Ich habe nicht gewußt, daß Sie so winzig sind.« Sie hatte etwas an sich, so daß ich am liebsten laut gelacht hätte, aber nicht, weil mir etwas komisch vorgekommen wäre. Als ich das sagte, wurde sie rot. »Ich – weiß nicht, ob ich Sie hereinbitten soll«, sagte sie. »Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.« »Ich heiße Gus. Jetzt können Sie mich also hereinbitten.« »Sie sind der einzige Mann, der mir je begegnet ist, der frech sein kann, ohne frech zu werden«, sagte sie und trat zur Seite. Ich wußte nicht, was sie meinte, ging aber trotzdem hinein. Es war eine hübsche Wohnung. Alles war klein und zerbrechlich, wie Iola selbst. Ich stand mitten im Zimmer und ließ den Hut um einen Finger kreisen, bis sie ihn mir wegnahm. »Setzen Sie sich«, sagte sie. Ich tat es, und sie tat es, das Zimmer zwischen 99
uns. »Was führt Sie her, woher haben Sie meine Adresse, und möchten Sie Kaffee oder einen Drink?« »Ich bin hergekommen, weil ich glaube, daß Sie in der Klemme sind und vielleicht Hilfe brauchen. Ein Freund von mir hat mir Ihren Namen und die Adresse gegeben. Ich mag keinen Kaffee, und was haben Sie zu trinken?« »Sauterne«, sagte sie. »Rum, Bourbon und Scotch.« »Solches Zeug rühre ich nie an.« »Was trinken Sie denn?« »Gin.« Sie wirkte verblüfft. »Oder Milch. Haben Sie Milch?« Sie hatte. Sie gab mir ein riesengroßes Glas voll. Sie trank sogar selbst einen Schluck. Sie sagte: »Also, was wollen Sie?« »Das habe ich Ihnen schon gesagt, Miss Iola. Ich möchte Ihnen helfen.« »Sie können nichts tun.« »O doch. Es muß etwas geben. Wenn Sie mir verraten, was Sie belästigt, was Sie veranlaßt, sich in – Sonnenblumen zu verstecken und vor nichts davonzulaufen. Ich wette, ich könnte es so einrichten… Worüber lachen Sie?« »Sie sind so ernsthaft!« sagte sie. »Die ganze Zeit lachen mich alle aus«, sagte ich traurig. »Also, wie ist es damit?« Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, und sie saß lange Zeit da und sagte nichts. Ich ging hin und setzte mich zu ihr und 100
sah sie an. Ich versuchte nicht, sie anzurühren. Plötzlich nickte sie und begann zu reden. »Ich kann es Ihnen ebensogut sagen. Es ist schwer, es für sich zu behalten. Die meisten Leute würden mich auslachen; der eine Arzt, bei dem ich war, hat mich schließlich aufgegeben. Er sagte, das, was passiert sei, könne einfach nicht vorkommen – ich hätte mir das alles eingebildet. Aber Sie – ich glaube, Ihnen kann ich vertrauen. Ich weiß nicht, wieso… Es fing vor etwa zwei Jahren an. Ich hatte ein Auge auf einen jungen Mann im Sommerlager. Er führte mich eines Abends zum Tanzen aus – zu einem von diesen Volkstanzabenden. Es machte viel Spaß, und wir tanzten, bis wir müde waren. Dann gingen wir ans Seeufer, und er – na ja, der Mond und so, verstehen Sie – legte den Arm um mich. Und auf einmal sagte eine Stimme etwas zu mir. Sie sagte: ›Wenn du weißt, was gut für dich ist, hältst du dich von dem Burschen fern.‹ Ich fuhr zurück und fragte den Jungen, ob er etwas gesagt hätte. Er hatte nicht. Ich bekam Angst und rannte den ganzen Weg nach Hause. Er versuchte mich einzuholen, schaffte es aber nicht. Ich sah ihn am nächsten Tag und wollte mich entschuldigen, aber es gab nicht viel, was ich sagen konnte. Ich versuchte nett zu ihm zu sein, aber mit der Zeit wurde er immer reizbarer. Und er nahm ab. Er landete schließlich im Krankenhaus. Er – starb beinahe. Er konnte nämlich nicht schlafen, wissen Sie. Er hatte Angst vor dem Schlafen. Er hatte die schrecklichsten Träume. Von einem habe ich erfahren. Es war gräßlich. Ich begriff damals nicht, daß mein Zusammensein mit ihm etwas mit seiner Krankheit zu tun hatte; aber als man ihn ins 101
Krankenhaus brachte, ging es ihm schnell besser, solange ich ihn nicht besuchte. Dann bekam er einen Rückfall. Ich hörte, daß es ihm, nachdem er das Lager endgültig verlassen hatte und nach Chikago zurückgefahren war, sehr gut ging. Nun, geraume Zeit geschah gar nichts, und dann fiel mir auf, daß der Verkäufer in einer Sandwich-Bar, wo ich jeden Tag aß, sich merkwürdig zu benehmen begann. Ich sah ihn zwar jeden Tag, aber es war zwischen uns nicht das geringste. Eines Mittags, während ich aß, fing er an, alles mögliche fallen zu lassen. Zunächst war es harmlos, aber dann wurde es immer schlimmer. Es kam so weit, daß er nicht einmal mehr einen Löffel anfassen konnte, ohne ihn fallen zu lassen. Er verschüttete eine Tasse Kaffee nach der anderen. Er versuchte, Sandwiches zu machen und ließ die Zutaten überall auf den Boden und seinen Arbeitstisch fallen. Er konnte keinen Platz an der Theke decken, er konnte niemanden bedienen – solange ich dort war! Zuerst machte er Witze darüber und nannte mich seine Unglücksbringerin. Aber nach einer guten Woche kam er an meinen Tisch, als ich mich hinsetzte, und sagte: ›Miss Harvester, hoffentlich fassen Sie nicht falsch auf, was ich jetzt sagen muß, aber es geht nicht anders. Ich verliere meine Stellung, wenn ich nicht damit aufhöre, alles fallen zu lassen. Das mache ich aber nur, wenn Sie da sind! Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist so. Sind Sie böse, wenn ich Sie bitte, eine Weile nicht hier zu essen?‹ Ich war verblüfft, aber er machte sich solche Sorgen und war so höflich, daß ich dort nie mehr hin ging. Und nach allem, was meine Bekannten sagten, ließ er nie mehr etwas fallen. 102
Und von da an wurde es immer schlimmer. Einen Verkehrspolizisten, einen netten älteren Mann, dem ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit zunickte, überfiel Jucken! Ich konnte es sehen, jedesmal, wenn ich an ihm vorbeikam! Ich nickte ihm zu, und er nickte mir zu, und dann fing er an sich zu kratzen, als jucke es ihn so furchtbar, daß er sich einfach nicht helfen konnte. Und ein Bürobote, der oft in meiner Nähe war, fing an, die Türen zu verfehlen! Ich meine, er konnte einfach nicht mehr durch eine Tür gehen, ohne an den Türstock zu prallen. Der arme Junge wurde beinahe wahnsinnig. Er ging ganz langsam auf eine Tür zu, zielte genau und versuchte hindurchzukommen, aber es ging nicht, wenn er nicht zuerst den Türpfosten rammte. Es nahm mich so mit, ihm zusehen zu müssen, daß ich kündigte und mir eine andere Stellung suchte – womit auch das mit dem armen Polizeibeamten erledigt war. Beide hatten danach keine Probleme mehr. Aber so ist es seitdem die ganze Zeit gewesen. Jeder Mann, den ich sehe, fängt regelmäßig damit an, unter irgendeinem eigenartigen Problem zu leiden. Es ist schon schlimm genug für diejenigen, mit denen ich im Alltag zu tun habe. Aber die armen Männer, die versuchen, mich auszuführen! Wenn ich weggehe, spricht diese seltsame Stimme wieder mit mir und fordert mich auf, mich von dem betreffenden Mann fernzuhalten. Und wenn ich das nicht mache, wird ihm furchtbar schlecht, oder er bekommt Anfälle von Blindheit, sobald er über eine Straße gehen will, oder er macht Dinge, durch die er seine Stellung oder seinen Betrieb verliert. Verstehen Sie, womit ich es zu tun habe?« »Nicht weinen, Miss Iola. Bitte, nicht weinen.« 103
»Ich weine nicht, Mr. Gus!« »Ganz einfach Gus!« »Na, dann sagen Sie einfach Iola zu mir. Oder Miss Harvester. Nicht Miss Iola.« »Ich müßte etwas Bestimmtes für Sie empfinden, um Sie Iola zu nennen«, sagte ich langsam. »Und ich müßte anders empfinden, um Sie Miss Harvester zu nennen. Ich werde Sie Miss Iola nennen.« »Oh, Gus«, sagte sie, »Sie sind so reizend!« Sie lächelte, trank einen Schluck Milch und erzählte weiter. »Ich arbeite jetzt für eine Frau, die eine Kosmetikfirma besitzt«, sagte sie. »Ich habe einen weiblichen Chef und eine weibliche Geschäftsführerin und weibliches Personal und fast nur weibliche Kunden. Und ich hasse sie! Ich hasse alle Frauen!« »Ich auch«, sagte er. Sie warf mir einen seltsamen Blick zu und fuhr fort: »Ab und zu bin ich von der Sache befreit. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie ich das weiß, aber ich weiß es. Es ist so, als würde ein Druck nachlassen. Und dann gehe ich die Straße entlang und kann spüren, wie es mich einzuholen versucht – gerade so, als hätte es mich verfolgt und laufe mir nach. Manchmal kann ich mich verstecken und ihm entwischen. Die meiste Zeit aber nicht.« »Ach – davor sind Sie also damals nachts davongelaufen, als ich Sie das erstemal sah! Aber warum haben Sie mir eine Ohrfeige gegeben?« 104
»Weil ich Sie mochte.« »Das ist aber eine merkwürdige Art, es zu zeigen, Miss Iola.« »Oh, nein! Das Ding, was es auch sein mag, hatte mich eben eingeholt. Ich wußte, daß ich Sie mochte. Es hätte Ihnen etwas Schreckliches angetan, wenn ich Ihnen nicht eine Ohrfeige gegeben hätte, damit es meinte, ich könnte Sie nicht leiden. Nachdem ich es getan hatte, schämte ich mich und rannte weg.« »Warum haben Sie den Stengel der Sonnenblume abgebrochen?« »Gus, das war ich nicht! Das war das andere, um Sie in Schwierigkeiten zu bringen.« »Ist ihm gelungen.« »Oh, Gus – das tut mir ja so leid.« »Weshalb? Sie können ja nichts dafür.« »Nichts – Gus, Sie glauben mir, nicht wahr?« Sie küßte mich. Nur ganz zart auf die Wange, aber es genügte, um mein Herz ins Genick hinaufzujagen, wo es mir einen gewaltigen Schlag versetzte. »Na«, sagte ich, als ich wieder Atem für meine Stimme hatte, »was das Ding auch sein mag, ich helfe Ihnen, es loszuwerden. Äh – was ist es eigentlich? Haben Sie eine Idee?« »Ja«, sagte sie leise, »die habe ich allerdings. Als ich dem Arzt das sagte, war er überzeugt davon, daß ich an einer Überdosis alter Weibergeschichten leide. Kommt es Ihnen nicht seltsam 105
vor, daß Ihnen nichts passiert, nach allem, was ich Ihnen darüber erzählt habe, was mit Männern geschieht, wenn ich auch nur mit ihnen spreche?« »Wenn ich es mir recht überlege, ist es wirklich komisch.« »Dann schauen Sie«, sagte sie und zeigte herum. »Da und da und da!« Ich schaute hin. Über den Rahmen von drei Türen, die sich ins Zimmer öffneten, und über den zwei großen Fenstern hingen Girlanden von – Knoblauch. »Ich – davon habe ich gehört«, sagte ich. »Ein Geist, wie?« »Ein Geist«, sagte Iola. »Ein eifersüchtiger Geist. Ein hinterhältiger, schmutziger, hundsgemeiner Geist! Warum läßt er mich nicht in Ruhe?« »Ich zerfetze ihn«, knurrte ich. Sie lächelte das traurigste, bitterste Lächeln, das ich je gesehen habe. »Nein, Gus, nein. Sie sind stark, gewiß, aber diese Art von Stärke nützt bei meinem Gespenst nichts.« »Ich finde schon einen Weg, Miss Iola«, sagte ich, »ich finde ihn, verlassen Sie sich drauf!« »Sie versuchen es«, sagte sie leise. »Hoffentlich nützt es!« Sie holte meinen Hut, öffnete mir die Tür, warf sie zu, fuhr herum und lehnte sich daran. 106
»Gus!« Sie war ohnehin blaß, aber jetzt sah sie blutleer aus. »Gus. Er ist da draußen! Der Geist – er weiß, daß Sie hier sind, und er wartet auf Sie!« Ich blickte auf meine Hände. »Dann gehen Sie mir aus dem Weg, Miss Iola«, sagte ich ruhig, »und lassen Sie mich auf ihn losgehen.« »Nein, Gus – nein!« »Hören Sie mal zu. Es wird spät – zu spät für Sie, daß Sie jemanden wie mich in der Wohnung haben. Ich gehe jetzt.« Ich ging auf sie zu, ergriff sie an den Oberarmen und hob sie zur Seite. Ihre Stirn war in meiner Nähe, und ich küßte sie, bevor ich sie wieder absetzte. »Gute Nacht«, sagte ich. Sie antwortete nicht. Sie weinte, also konnte sie wohl nicht sprechen. Voller Angst. Ich war froh darüber, weil ich wußte, daß sie nicht um sich Angst hatte. Am nächsten Morgen wurde ich wach und glaubte, ich schliefe noch und befände mich mitten in einem Alptraum. Mir war kalt – eiskalt, naßkalt. Ich kam mir so glitschig vor wie ein Aal in einem Faß voll Öl. Ich öffnete die Augen und versuchte das Gefühl abzuschütteln. Es ging nicht. Mein gestriges Abendessen rollte in mir herum, als ich begriff, daß die Glitschigkeit wirklich vorhanden war – meine Bettdecken waren damit überzogen. Ich konnte die nasse, quallige Masse überall an mir spüren. Ich konnte sie an einem Arm mit der anderen Hand abstreifen und – schlupp – auf den Boden werfen. Aber ich konnte sie nicht sehen. 107
Ich lief ächzend und würgend ins Badezimmer. Meine Füße schienen auf dem Zeug auszurutschen, und es fiel mir schwer, mit den Fingern den Türknopf zu drehen. Ich stieg unter die heißeste Dusche, die ich je riskiert hatte, seifte mich ein, spülte mich ab, seifte mich wieder ein, spülte mich wieder ab. Und ich stieg aus der Wanne und fühlte mich kalt und klamm und schleimig wie vorher. Ich versuchte etwas anzuziehen, konnte aber den Druck der Sachen nicht ertragen; sie schienen die dicke Masse in meine Poren zu pressen. Ich riß die Kleidung herunter, sprang ins Bett, zog die Decke über mich und sprang mit einem Aufschrei wieder heraus. Es war schlimm genug, das Zeug an sich zu haben, aber ich konnte nicht ertragen, mich auch noch darin zu wälzen. Das Telefon läutete. Iola. »Gus, ich mache mir schreckliche Sorgen um Sie. Hat er – es – Ihnen etwas getan?« Ich zögerte. Es hatte keinen Zweck, sie anzulügen. »Ja, er hat sich seine Späßchen erlaubt.« »Gus, was hat er getan?« »Nicht der Rede wert.« »Ach, Sie wollen es mir nicht sagen. Es muß etwas ganz Furchtbares sein!« »Wieso?« »Weil ich – ich – na ja, ich – Gus, können Sie es denn nicht als erster sagen? Weshalb behandelt er Sie wohl schlimmer als alle anderen Männer vorher?« 108
Ich begann langsam zu begreifen, worauf sie hinauswollte. »Miss Iola – Sie werden mich doch nicht lie-, doch nicht etwas für mich fühlen oder so?« »Liebling!« Ich sagte: »Ach du grüne Neune!« Nachdem ich aufgelegt hatte, dachte ich eine Weile nach. Ich durfte mich von dieser Geschichte nicht unterkriegen lassen – nicht jetzt, nachdem ich eine solche Neuigkeit erfahren hatte. Ich biß die Zähne zusammen und holte frische Unterwäsche und Socken. Mir fiel etwas ein, das mein Vater nach meiner ersten Rauferei zu mir gesagt hatte. ›Wenn’s weh tut, Junge, dann zeig’s dem anderen Kerl nicht. Wenn er meint, daß er dir nicht weh tun kann, hast du ihn schon in der Tasche.‹ Also zog ich mich an. Mit meiner Kleidung klatschte ich den eiskalten Schlick an meinen Körper, und als ich zur Tür hinausging, tropfte der Schleim von meiner Haut, gnietschend bei jeder Bewegung. Ich trat mit dunklen Ahnungen auf die Straße hinaus, aber es war unsichtbar, den Göttern sei Dank. Und als ich am nächsten Tag erwachte, war das glitschige Zeug verschwunden. Ich ging zu Henry Gade und borgte mir Papier und Füllfeder. Ich hatte ihm erzählt, was ich von Iola über ihre Schwierigkeiten gehört hatte, aber nicht mehr. »Wem schreibst du da?« fragte er, die Pfeife im Mund, während ich mühsam kritzelte. 109
»Ich mache was, was jeder tun sollte, wenn er in der Klemme ist – ich befrage einen Fachmann«, sagte ich und schrieb weiter. »Miss Beatrice Dix, ›The Daily Mail‹«, las er vor und brüllte vor Lachen. »Du hast also auf diesem Gebiet Probleme, was? Hm? Beatrice Dix – Ratgeberin für Liebeskranke!« »Sag deinem kleinen Mund, er soll aufhören, solche Laute von sich zu geben, sonst kriegt er eins drauf«, knurrte ich. Er las, was ich geschrieben hatte: ›Liebe Miss Dix, ich habe ein Problem mit einem Mädchen, bei dem ich es sehr ernst meine. Dieses Mädchen hat einen Bekannten, der sie mag, aber sie kann ihn überhaupt nicht leiden. Er belästigt sie dauernd und befiehlt ihr, sich von anderen Männern fernzuhalten, aber er besucht sie nie und schenkt ihr nie etwas und führt sie nie aus, und außerdem tut er jedem Mann, der sich für sie interessiert, alles mögliche an, vor allem, weil – ‹ »Du lieber Himmel, Gus, hättest du da nicht irgendwo einen Punkt setzen können?« ›- weil ich zur Zeit große Chancen bei ihr habe. Die Sachen, die er macht, sind nicht solche, bei denen man zur Polizei gehen kann. Was ich wissen möchte, ist, was für ein Recht dieser Kerl hat, so eifersüchtig zu sein, wenn das Mädchen nichts von ihm wissen will, und was wir tun könnten, um ihn loszuwerden.‹ 110
»Entweder bist du ein Experte für literarischen Stil«, sagte Henry, »oder du gehörst wirklich zu den Leuten, die an Beatrice Dix’ Kolumne schreiben. Ich habe mich schon immer gefragt, wie diese Schwachsinnigen aussehen«, meinte er nachdenklich, trat einen Schritt zurück und betrachtete mich wie ein Museumsstück. »Sag mal – wer funkt dir denn bei deiner kleinen Romanze dazwischen?« »Ein Geist.« »Ein Geist? Iolas eifersüchtiger Geist? Gus, Gus, du wirst immer besser. Und glaubst du wirklich, daß du ihn mit Hilfe einer Seufzerspalte bannen kannst?« »Ich will ihn nicht bannen, bloß vertreiben.« »Verschwinde, Gus, du machst mich noch fertig.« »Schon gut, ich bin ja bereits weg«, sagte ich. Am folgenden Tag erfand Iolas Geist etwas anderes, ganz Neues für mich. Damit wurde ich nicht fertig. Ich blieb den ganzen Tag zu Hause, nachdem ich dem Chef telefonisch erklärt hatte, ich sei sehr, sehr krank. Was genau passierte, ist einfach nicht druckreif. Die Antwort auf meinen Brief kam viel früher, als ich gehofft hatte. Ich hatte nicht um persönliche Beantwortung gebeten, und so stand in der Erwiderung zusammen mit meinem Brief in der Zeitung: ›G. S. Sie stehen vor einem sehr schweren Problem, wenn wir die Situation richtig einschätzen. Mit solchen Fällen haben wir 111
schon zu tun gehabt. Der junge Mann, der Sie beide quält, wird das auch weiterhin tun, solange das Mädchen seinen eigenartigen Vorstellungen nahekommt. Und was können Sie dagegen tun? Sie können ihn einfach ignorieren. Oder Sie können, einzeln oder gemeinsam, den Mann dazu bringen, daß er das Problem mit Ihnen bespricht, sich an sein besseres Ich wenden. Oder Sie könnten versuchen, jemand anderen zu finden, der ihn interessieren würde. Aber Sie müssen Geduld haben. Bitte tun Sie, um Ihretwillen, nichts Übereiltes.‹ Ich las es ein halbes dutzendmal durch. Ich bildete mir ein, daß diese Miss Dix wirklich Expertin auf diesem Gebiet war, und sie mußte ja wohl wissen, was man tun mußte. Aber wie stand es damit ›Ihn einfach ignorieren‹? Wie kann man mit einer Frau verheiratet sein, wenn man weiß, daß man jeden Augenblick ganz schleimig werden kann? ›Sich an sein besseres Ich wenden – alles mit ihm besprechen.‹ Fang ihn mal erst. ›Jemand anderen finden, der ihn interessieren würde.‹ Einen weiblichen Geist finden, wie? Und sie dazu überreden, daß sie ihn verführt. Ich ging mit der Zeitung zu Henry Gade. Er versteht sich aufs Denken besser als ich. Er winkte ab, als ich mit dem Blatt hereinkam. »Schon gelesen«, sagte er. »Ich habe darauf gewartet.« »Was meinst du?« 112
»Ich finde, da ist mit vielen Worten gar nichts gesagt. Aber sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen, wo sie schreibt, daß der Kerl euch Verliebte piesacken wird, solange ihm das Mädchen gefällt. Ich übersteh’s einfach nicht!« brach es plötzlich aus ihm heraus. Er legte den Kopf auf die Seite und starrte mich an. »Der gute alte Gus, nach all den Jahren endlich verliebt!« »Vielleicht deshalb um so heftiger«, sagte ich, und er hörte auf, wie ein Affe zu grinsen, und legte mir die Hand auf die Schulter. »Allerdings. Du langst manchmal hin und triffst genau die Wahrheit, Alter.« Der Brief von Iola erwartete mich, als ich heimkam. ›Liebster Gus, es ist gemein von mir, aber ich muß es tun. Ich spüre, was du so tapfer durchgemacht hast; er hat gestern abend mit mir gesprochen und mir einiges von dem erzählt, was er dir angetan hat. Du darfst also nicht schreiben, Gus, Liebster, und du darfst nicht anrufen, und vor allem darfst du mich nie, niemals wiedersehen. Das ist der einzige Ausweg für uns beide, und wenn das schmerzhaft und grausam ist, kann man eben nichts machen. Aber, mein Liebster – versuch nicht, dich mit mir in Verbindung zu setzen. Ich habe mir einen kleinen Revolver gekauft, und wenn du das tust, bringe ich mich um. Das ist kein Gerede, Gus. Ich habe keine Angst davor, es zu tun. Ich habe genug durchgemacht. Süßer, süßer Liebling, wie mein Herz für dich blutet!‹ 113
Ich las den Brief einmal durch und versuchte ihn dann noch einmal zu lesen, weil ich aus irgendeinem Grund nicht so gut sehen konnte. Dann sprang ich zum Telefon, dachte an den Revolver und drehte dem Apparat den Rücken zu. Oh, sie würde es tun – ich kannte sie. Dann verließ ich die Wohnung. Henry fand mich. Vielleicht war .das drei Wochen später, vielleicht auch vier. Ich wußte es nicht, weil es mir völlig egal war. Ich saß mit ein paar anderen Herren auf einer Bank. »Geh weg. Du bist Henry. Ich erinnere mich an dich. Geh weg, Henry.« »Gus! Nimm dich zusammen! Du bist betrunken! Komm heim mit mir, Gus.« Einer der anderen Herren sank so tief, daß er von Henry Geld annahm, um ihm zu helfen, mich zu ihm zu bringen. Dort schlief ich rund um die Uhr. Henry weckte mich, als er mein Gesicht mit warmem Wasser abwusch. »Dreißig Pfund abgenommen oder noch mehr«, murmelte er. »Völlig verdreckte Sachen – zehn Tage nicht rasiert -« »Du weißt, was mir passiert ist«, sagte ich, so, als entschuldige und erkläre das alles. »Ja, ich weiß, was mit dir passiert ist«, schrie er. »Du hast dein dreimal vernageltes Mädchen verloren. Und hast du dich hingestellt und das hingenommen? Nein! Du hast dich hingelegt und dich zertrampeln lassen wie ein feiger, nichtsnutziger Kerl!« 114
»Aber sie wollte doch nicht – « »Ich weiß, ich weiß. Sie hat sich geweigert, dich noch einmal zu sehen. Das hat nichts damit zu tun. Du bist fertig mit ihr – völlig fertig. Und du hast versucht davonzulaufen. Begreifst du nicht, daß du damit gar nichts erreichst, als das kaputtzumachen, was in dir sauber ist, und nur das zurückzulassen, was faul ist, während die ursprüngliche Wunde mittendrin weiterschwärt?« Ich drehte das Gesicht zur Wand, aber seine Stimme konnte ich nicht fernhalten. »Steh auf, nimm ein Bad, rasier dich und iß etwas Anständiges! Versuch, dich wie ein Mensch zu benehmen, bis du eine so gute Imitation liefern kannst wie vorher.« »Nein«, sagte ich gepreßt. Plötzlich lag er auf den Knien vor dem Bett, einen Arm um meine Schultern gelegt. »Hör auf zu jammern«, sagte er leise. »Gus – du bist jetzt erwachsen.« Er setzte sich auf die Hacken, runzelte die Stirn und holte tief Luft. Plötzlich drehte er mich auf den Rücken und schlug mir mit der Hand ins Gesicht, links und rechts, hin und her, immer wieder. Und dann riß etwas in mir, und ich fuhr hoch und holte zu einem Schwinger aus. Er duckte ab und traf mich mit einer Linken an die Schläfe. Und dann fingen wir an. Ich war groß und abgemagert, er war klein und schnell. Es war ein tolles Ding. Am Ende lag er ausgestreckt auf dem Teppich. »Danke, Gus«, sagte er mit schiefem Lächeln. 115
»Warum hast du mich so gereizt? Warum hast du mich gezwungen, zuzuschlagen?« »Angewandte Psychologie«, sagte er und stand schwankend auf. Ich half ihm. Ich betastete meine geschwollene Nase. »Ich dachte, Psychologie ist was zum Denken!« »Hör zu, Freund. Du und ich, wir bringen den alten Gus wieder auf Trab. Du hast ganz tief innen etwas, das weh tut – ja? Was hast du an dem weißhaarigen Ding überhaupt gefunden?« »Sie ist – sie ist – ich kann einfach nicht ohne sie leben.« »Du bist kitschig. Dein Geschmack ist miserabel.« Henry verengte die Augen und balancierte auf den Fußballen. Er wußte, daß er auf dünnem Eis stand, aber er machte weiter. »Was findest du an einem blutarmen Mädchen wie dem? Gib mir lieber hübsche, feste, rosige Mädchen mit Blut in den Adern. Ha! Die mit ihren weißen Haaren und der weißen Haut und zwei großen schwarzen Löchern an Stelle der Augen. Sie sieht ja aus wie ein Gespenst! Sie ist es nicht wert -« Ich brüllte auf und griff an. Er wich mir geschickt aus. Ich sauste an ihm vorbei ins Badezimmer. »Wo ist dein Rasierapparat?« schrie ich. »Wo ist die Seife?« Und ich hechtete unter die Dusche. Als ich aus dem Bad kam und mich anzog, verlangte er eine Erklärung. 116
»Was habe ich gesagt? Was habe ich getan?« Er hüpfte freudig von einem Bein aufs andere. »Du hast es vor geraumer Zeit gesagt«, meinte ich. »Beatrice Dix auch. Etwas wie ›Er wird euch piesacken, solange sie ihm gefällt‹.« Ich schnürte den zweiten Schuh zu, verlangte Geld und stürmte hinaus, bevor ich den Satz ganz zu Ende gesprochen hatte. Ich läutete im Apartmenthaus bei jemand anderem, und als der Summer ertönte, eilte ich zur Treppe. Ich läutete bei Iola und wartete atemlos. Der Knopf drehte sich, und ich stürmte sofort hinein. Sie war dabei, sich ein Negligé anzuziehen. Ihre Augen waren rotgerändert. »Gus!« Sie wich zurück und lief zu einem kleinen Tisch. »Oh, du Dummkopf! Warum mußt du es uns noch schwerer machen?« Sie war so schnell, daß ich sie nicht zurückhalten konnte. Sie hatte die Waffe in der Hand. »Halt, du dummes Ding!« brüllte ich. »Das mag zwar ein Ausweg sein, aber du gehst nicht allein! Wir gehen gemeinsam!« »Gus – « »Und gemeinsam machen wir es nicht so! Gib mir das Ding!« Ich schritt durch das Zimmer und nahm ihr den Revolver aus der Hand, packte ihn und riß ihn auseinander. Die Teile warf ich ihr vor die Füße. »Jetzt zieh dich schleunigst an. Wir haben zu tun!« Sie zögerte, und ich stieß sie zum Schlafzimmer. »Einer von uns beiden zieht dich jetzt an«, sagte ich drohend. 117
Sie quietschte und lief. Ich trampelte im Wohnzimmer auf und ab und gab dem kaputten Revolver jedesmal einen Tritt. Sie war in ungefähr vier Minuten fertig; sie kam erschrocken und verwirrt und strahlend heraus. Ich packte ihr Handgelenk und zerrte sie hinaus. Als wir unter dem Knoblauch über der Tür hindurchkamen, begann meine Haut zu jucken, und plötzlich war mir, als sei mein ganzer Körper von offenen, eiternden Wunden übersät. Und dazu kam noch der Schleim. Ich biß die Zähne zusammen und spülte meine Schmerzen mit dem inneren Jubel hinweg. Wir sprangen in ein Taxi, und ich gab eine Adresse an. Als Iola Fragen stellte, lachte ich glücklich. Wir hielten am Randstein, und ich bezahlte. »Geh da ‘rein«, sagte ich. »Ein Schönheitssalon! Aber was – « Ich schob sie hinein. Eine weißbekittelte Kosmetikerin kam schüchtern heran. Ich griff nach einer Strähne von Iolas weißem Haar und warf sie hoch. »Färben Sie das«, sagte ich. »Färben Sie es schwarz!« »Gus!« ächzte Iola. »Du bist wahnsinnig geworden! Ich will nicht dunkelhaarig sein! Ich habe nicht den Teint für -« »Teint? Weißt du, was du für einen Teint hast, wie du aussiehst mit den großen, schwarzen Augenlöchern und der weißen Haut und den weißen Haaren? Du siehst aus wie ein Geist! Verstehst du denn nicht? Deshalb ist er dir nachgejagt! Deshalb hat er dich geliebt und war so eifersüchtig!« 118
Ihre Augen wurden hell. Sie schaute in einen Spiegel und sagte: »Gus – erinnerst du dich, daß ich dir von dem Sommer erzählt habe, als er das erstemal mit mir sprach? Ich trug ein langes weißes Kleid – weiße Schuhe -« »Geh da ‘rein und komm dunkelhaarig wieder«, knurrte ich. Die Kosmetikerin nahm sie mit. Ich setzte mich in einen großen Sessel, um zu warten. Ich durchlitt tausend verschiedene Qualen, hundert verschiedene Folterungen. Schmerzen und gräßliche kriechende Empfindungen zuckten über meinen Körper, wie die Farben an einer Lichtorgel. Ich saß da und ertrug es, und dann hörte ich die Stimme der Kosmetikerin sagen: »Fertig, Madam. Schauen Sie in den Spiegel – wie gefällt es Ihnen?« Und tief in mir hörte ich beinahe einen Laut wie ein angewidertes Schnauben, und dann kam ein Gefühl wie die Befreiung von einer unerträglichen Last. Und dann war mein Körper plötzlich wieder frisch und gesund, und die geisterhaften Schmerzen verschwunden. Iola kam heraus und schlang die Arme um meinen Hals. Schwarzhaarig war sie umwerfend schön. Henry Gade war unser Trauzeuge.
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AUSLESE
Mayb, Chefkustodin für Sektor Drei der Krippe, wand sich im Schlaf. Sie preßte den grauen Kopf auf die Matratze, und ihr Gesicht verzerrte sich. Sie schlief tief, aber der Schlaf konnte den bohrenden, lautlosen, drängenden Druck, der in ihr Inneres geschlüpft war, nicht fernhalten. Der Schlaf war eine so nutzlose Abwehr wie die Decke, die sie instinktiv bis über die Ohren zog. »Mayb!« Sie drehte sich zur Wand. Ihr Denken weigerte sich, zwischen dem Klang ihres Namens im Sprechgerät und diesem anderen, stummen, befehlenden Etwas zu unterscheiden. »Mayb!« Sie öffnete die Augen, sah an der Wand den roten Widerschein der Lampe des Sprechgeräts, ächzte, setzte sich auf und schnitt eine Grimasse, als sie bewußt beide Rufe erkannte. Sie schwang die Beine aus dem Bett, beugte sich vor und legte den Hebel am Sprechgerät um. »Ja, Prüfer.« 120
Die Stimme klang sonor, aber klagend: »Können Sie nichts tun mit diesem Quälgeist – mit Andi? Ich brauche meinen Schlaf.« »Ich sehe nach, was er will«, sagte sie resigniert, »wenn ich auch der Meinung bin, daß ihm diese mitternächtlichen Aufmerksamkeiten mehr schaden als nützen. Man darf mit Kindern einfach nicht so umgehen.« »Das ist kein gewöhnliches Kind«, sagte der Sprecher unnötigerweise. »Und ich brauche einfach meinen Schlaf. Tun Sie, was Sie können, Mayb. Und vielen Dank.« Die Lampe erlosch. Es gab eine Zeit, dachte Mayb mürrisch, während sie ihren Morgenrock anzog, als ich dachte, ich könnte den kleinen Dämon decken. Ich dachte, ich könnte etwas tun für ihn. Das war, bevor er seine Macht kennenlernte. Sie trat hinaus in den Flur. »Subtil«, murmelte sie bitter. Sektor Eins, wo die Kinder im Alter von neun Monaten in die Krippe aufgenommen wurden, und Sektor Zwei, wo diejenigen unterkamen, die in eineinhalbjährigen Prüfungen nicht ausgeschieden waren – sie boten keine Probleme. Die Mutanten und die Anomalen waren leicht zu entdecken. Das Subtile kam erst im Sektor Drei, wo abnormale Metabolismen, unentwickelte oder sich nicht entwickelnde Gliedmaßen oder Organe und HochschwellenReaktiv-Mentalitäten schon ausgesondert waren, bis sie dort unterkamen, und das Verhalten war nahezu allein der Schlüssel zur Normalität. 121
Mayb liebte Kinder, alle Kinder – das war mit das Wichtigste für eine Kustodin. Wenn sich für sie die Notwendigkeit ergab, ein Kind zur Beseitigung zu empfehlen, sträubte sie sich manchmal ein wenig und weinte gelegentlich hinterher sehr viel. Aber sie tat es, wenn es getan werden mußte, und auch das gehörte zu einer guten Kustodin. So gut war sie aber bei Andi nicht gewesen. Vielleicht war der kleine Kobold – jedenfalls zunächst – mit seinem unhübschen, mutwilligen Gesicht und seiner außergewöhnlichen Färbung, seinen goldenen Haaren und den Augen, die eigentlich zu einem richtigen Rotschopf gehörten, tiefer in ihre Zuneigung geschlüpft. Sie erinnerte sich – obschon es jetzt schwerfiel, sich an zärtliche Gefühle zu erinnern – , wie sie den ersten Verdacht, er könnte ein Abnormer sein, weggeschoben hatte, wie sie versucht hatte, Anzeichen dafür zu entdecken, daß seine zornerregenden Forderungen vorübergehender Natur waren, daß sich ein normales Verhalten zeigen werde, um das wilde Talent, ein Ärgernis zu sein, zu ersetzen. Andererseits, dachte sie, während sie den Flur hinunterschlurfte, mag ich hartherzig erscheinen, aber solche Dinge rechtfertigen den Kodex der Norm. An solche Fakten muß man denken, wenn wir ein so reizendes kleines Ding in den Stillen Raum schicken müssen, wo es das leise Zischen vom Gas und die Rutsche zum Verbrennungsofen erwartet. Mayb reagierte heftig auf den Gedanken und fragte sich zitternd, ob sie im Alter gefühllos zu werden begann, ob sie Verärgerung gegen das Kind wandte, weil es eine persönliche Störung darstellte. Sie schüttelte den Gedanken ab und versuchte einen Augenblick lang, gar nicht zu denken. Dann kam der 122
Schatten eines Wunsches nach dem Beginn des NormalitätsProgramms vor zwei Jahrhunderten. Das mußte wunderbar gewesen sein. Die Normalität hatte den Vorrang. Die Kinder kamen zur Beobachtung in die Krippen und waren normal oder wurden beseitigt. Der Homo superior hatte Zeit. Es war die einzige Wahl für die Menschheit; die Wiederherstellung des Zustandes vor dem Vierten Krieg – ein Säugetier, das voraussehbar reinrassige Nachkommenschaft zu erzeugen vermochte – oder die Zukunft eines Kampfes zwischen Mutationen hinnehmen, die, einzeln und in Gruppen, auf der Grundlage des ›Was ich bin, ist normal‹ heilige Kriege führen würden. Und jetzt gewann täglich eine neue Idee an Gewicht, obwohl der Grundgedanke hinter dem Programm derselbe geblieben, obwohl die Organisation der Krippen gleich geblieben war – die Abnormen immer gründlicher zu untersuchen, vielleicht mit der Absicht, einen am Leben zu lassen – einen, der durch eben sein Anderssein der gesamten Menschheit Nutzen bringen mochte; einen, der ein Genie sein mochte, ein großer Künstler, oder der eine phänomenale Begabung als Organisator oder Techniker besaß. Es war das schmale Ende des Keils für den Homo superior, der schon der Definition nach ein Abnormer sein würde. Abnorme waren jedoch nicht unbedingt Homo superior, und der Ausscheidungsprozeß konnte überaus mühsam sein. Wie zum Beispiel bei Andi. Sie hielt den Atem an und öffnete die Tür seiner Kammer. Als sie das tat, ging das Licht an, und die tobende Emanation des Kindes hörte auf. Andi erhob sich wie ein kleiner, rosiger Seehund aus seinem Bett und blinzelte sie an. 123
»Was willst du denn?« »Ich will ein Glas Wasser und eine Plastikkugel und schwimmen«, sagte der Vierjährige. »Also, Andi«, sagte Mayb nicht unfreundlich, »du hast doch Wasser im Zimmer. Die Plastikkugeln sind alle weggeräumt, und jetzt ist nicht die Zeit fürs Schwimmen. Warum kannst du nicht ein braver Junge sein und schlafen wie alle anderen Kinder?« »Ich bin nicht wie die anderen Kinder«, sagte er nachdrücklich. »Ich will ‘ne Plastikkugel.« Mayb seufzte und gebrauchte einen uralten psychologischen Trick. »Was möchtest du – ein Glas Wasser oder eine Plastikkugel?« Dabei stellte sie den Fuß auf das Pedal des Trinkbrunnens in einer Ecke des winzigen Raumes. Das Wasser gurgelte verlockend. Bevor Andi noch recht wußte, was er tat, war er schon aus dem Bett gestiegen und schlürfte das Wasser, während er sich mit dem Gedanken vertraut zu machen begann, daß er auf die Plastikkugel verzichten würde. »Schmeckt viel besser, wenn du das Pedal drückst«, sagte er charmant. »Na, das ist lieb von dir, Andi. Aber hast du gewußt, daß ich fest geschlafen habe und aufstehen mußte, um das zu machen?« »Das mach’ nichts«, sagte Andi gelassen. Sie wandte sich zur Tür, als er wieder ins Bett stieg. 124
»Ich möcht’ schwimmen gehn.« »Nachts geht niemand schwimmen!« »Fische schon.« »Du bist kein Fisch.« »Na, dann Enten.« »Du bist keine -« Nein; so konnte das die ganze Nacht weitergehen. »Du schläfst jetzt, junger Mann.« »Erzähl mir eine Geschichte.« »Also Andi, jetzt ist nicht die Zeit dafür. Ich habe dir vor dem Schlafengehen eine Geschichte erzählt.« »Die hast du allen erzählt. Jetzt erzähl sie mir.« »Tut mir leid, Andi, jetzt ist nicht die Zeit dafür«, sagte sie entschieden. Sie berührte den Knopf, der das Licht ausschalten würde, sobald sie die Tür schloß. »Mach die Augen zu und träum schön. Gute Nacht, Andi.« Sie schloß die Tür, schüttelte den Kopf und gähnte. Und augenblicklich hämmerte der geräuschlose, drängende Befehl wieder los, unaufhaltbar, nicht zu beantworten. Die Telepathie war heutzutage bei dem Wirrwarr von Mutationen, die seit dem Vierten Krieg ihre fremdartigen, nicht lebensfähigen Köpfe erhoben hatten, keine Neuheit mehr, aber so etwas war einfach unfaßbar. Es war unerträglich. Mayb spürte, wie der Prüfer auf seinem Bett hochfuhr, die Hände nutzlos auf die Ohren preßte und wortreich fluchte. Sie öffnete die Tür. »Andi!« 125
»Erzähl mir eine Geschichte.« »Nein. Andi!« Er drehte sich zur Wand. Sie konnte sehen, wie er seinen Körper anspannte. Bei der ersten Zornwelle schrie sie auf und schlug sich an die Schläfen. »Gut, gut! Was für eine Geschichte willst du hören?« »Erzähl mir vom Bären und vom Liger.« Sie setzte sich müde aufs Bett. Er hockte sich an die Wand, seine fremdartigen nußbraunen Augen rund und völlig unbarmherzig wach. »Leg dich hin, dann erzähl’ ich dir.« »Ich will aber sitzen.« »Andi«, sagte sie streng. Zur Abwechslung einmal wirkte es. Er legte sich hin. Sie deckte seinen glatten, rosigen Körper zu und hüllte ihn fest in die Decke ein, so wie sie es beim Schlafengehen manchmal bei den anderen machte. Es war eine geschickte Maßnahme, beruhigend, Wärme und Ruhe suggerierend, und vor allem Schlaf. Bei Andi wirkte es nicht so. »Es war einmal ein Bär gewesen, der barfellig war, weil seine Mutter radioaktiv gewesen ist«, begann sie, »und eines Tages ging er an einer Neonmine vorbei, als ein Liger heraussprang. Ein Liger ist halb Löwe, halb Tiger. Und der sagte: ›He, du, Bär, du hast kein Fell; bist nicht normal, verschwind auf der Stell’!‹ Und der Bär sagte: ›Liger, du jagst mich auf eig’ne Gefahr; bist nicht normal, bist steril ja gar.‹ Und so fingen sie an zu kämpfen. Der Liger kämpfte mit dem Bären, weil er es 126
für recht hielt, natürlich geboren zu sein, auch wenn er keine Jungen haben konnte. Und der Bär kämpfte mit dem Liger, weil er es für richtig hielt, zu sein, was er war, solange er Junge haben konnte, auch wenn seine Mutter radioaktiv war. So kämpften sie und kämpften, bis sie sich gegenseitig totmachten. Und das kam daher, weil sie beide irrten. Und dann kamen aus dem Gestein um die Neonmine über hundert Lemminge. Und sie hüpften und spielten um den toten Bären und den toten Liger herum, und sie paarten sich, und bald hatten sie ihre Jungen, tausend davon, und sie lebten alle und wurden dick. Und weißt du, warum?« »Was waren sie?« »Lemminge. Nun, sie -« »Ich will Limonade«, sagte Andi. Mayb hob verzweifelt die Arme. Einen Abnormen kann man nicht mit Unterweisung kurieren, dachte sie. Sie sagte: »Ich bin noch nicht fertig. Weißt du, die Lemminge blieben am Leben, weil ihre Jungen genauso waren wie sie auch. Das nennt man reinrassige Vermehrung. Sie waren nor-« »Weißt du, was ich tun täte, wenn ich ein Bär ohne Haare wär’?« rief Andi und schoß unter der Decke hervor. »Ich würd’ mich gegen den alten Liger aufbäumen und sagen, rühr mich nicht an, du. Ich hasse dich, und du kannst mir nichts tun.« Eine Welle der Emotion, die von dem Kind ausging, warf Mayb beinahe vom Bett. »Wenn du in meine Nähe kommst, lass’ ich dein Gehirn verbrennen!« Und mit den letzten beiden Silben gab er eine Flut psychischer Kraft von sich, die Mayb aufstöhnen ließ, so als sei sie im Dunkeln an einen Deckenbalken gerannt. 127
Andi legte sich wieder hin und lächelte sie an. »Das würd’ ich machen«, sagte er leise. »Meine Güte!« sagte Mayb. Sie stand auf und wich vor ihm zurück, als sei er mit Sprengstoff geladen. Die Bewegung geschah ganz unwillkürlich. »Jetzt kannst du gehen«, sagte Andi. »Na schön. Gute Nacht, Andi.« »Beeil dich lieber, du alter Liger du«, sagte er und schob sich auf seinen Ellbogen. Sie beeilte sich. Draußen lehnte sie sich schwitzend an die Türfüllung. Sie wartete angespannt auf ein weiteres Zeichen aus der Kammer, und als nach Minuten keines kam, seufzte sie erleichtert auf und ging zu ihrem Bett zurück. Das war diese Woche das dritte Mal, und die uneingeplante Nachtarbeit brachten ihr jedes einzelne ihrer achtundzwanzig Dienstjahre in der Krippe zum Bewußtsein. »Mayb!« Sie zuckte im Schlaf. Nicht schon wieder, sagte ihr Unterbewußtsein. Oh, nicht schon wieder. Schickt ihn in den Stillen Raum, damit endlich Ruhe ist. Wieder zog sie vergeblich die Decke über den Kopf. »Mayb! Mayb!« Das Licht des Sprechgeräts wirkte schwächer, wie die leichte Röte einer blassen Person. Mayb zog die Decke von ihrem Gesicht, blickte an die Wand, blinzelte und setzte sich erschro128
cken auf. Ihr Blick fiel auf die Uhr; sie mußte dreimal hinsehen, um zu glauben, was sie sah. »O nein, nein, nein«, sagte sie und legte den Hebel um. »Ja, Prüfer. Oh, es tut mir so leid! Ich habe verschlafen, und es sind drei volle Stunden. Was soll ich nur tun?« »Das geht schon in Ordnung«, sagte der Sprecher. »Ich habe Ihren Gong abschalten lassen. Sie brauchten den Schlaf. Aber Sie müssen sofort in mein Büro kommen. Andi ist verschwunden.« »Verschwunden? Er kann nicht verschwunden sein. Er wollte eben einschl – oh. Oh! Die Tür! Ich war so durcheinander, als ich wegging. Ich muß die Tür unversp- oh-h, Prüfer, wie schrecklich!« »Schön ist es nicht«, sagte der Sprecher. »Essie hat für Sie Dienst gemacht, und sie ist neu und kennt noch nicht alle Kinder. Er wurde deshalb nicht vermißt bis zur Freien Zeit, als Beobachtung Zwei ihn vermißte. Kommen Sie her. Wir wollen sehen, was wir tun können.« Das Licht erlosch, und der Hebel klappte zurück. Mayb murmelte vor sich hin, während sie sich anzog. Sie hastete durch den Flur, eine federnde Rampe hinab und nach rechts, wo sie durch die Tür mit der Aufschrift ›Prüfer‹ hindurchstürmte. »O je«, sagte sie, als sie zum Stillstand kam, »ach du meine Güte -« 129
»Arme Mayb.« Der Prüfer war ein jovialer, straffhäutiger, rosiger Mann mit krausem Haar. »Sie haben die ganze Last des Falles tragen müssen. Seien Sie nicht so streng zu sich!« »Was sollen wir tun?« »Kennen Sie Andis Mutter?« »Ja. Bücherei-Beth.« »Ah, ja.« Der Prüfer nickte. »Ich wollte sie heraussuchen und anrufen, aber ich dachte, das machen lieber Sie.« »Alles, Prüfer, alles, was ich tun kann. Der arme, kleine Kerl, läuft da allein herum…« Der Prüfer lachte kurz. »Denken Sie an die armen kleinen Leute, auf die er trifft. Äh – rufen Sie erst bei ihr zu Hause an.« Mayb ging zur Ecke und drehte den Index zum BüchereiRegister, fand die Nummer und sprach in den Bildschirm, der hell wurde. Einen Augenblick danach löste sich die Leere dort wie windgetriebener Nebel auf, und das Gesicht einer jungen Frau erschien. Sie war die Rothaarige, von der Andi seine Augen hatte, das war klar. »Sie erinnern sich an mich«, sagte Mayb. »Krippen-Mayb. Ich bin Andis Sektor-Kustodin.« »Mhm«, sagte die Frau. »Ist… ist Andi da?« »Nein«, sagte die Frau gedehnt. 130
»Sind Sie sicher, Beth?« Die Frau befeuchtete die Lippen. »Klar bin ich sicher. Ist er nicht in Ihrer alten Krippe eingesperrt? Was haben Sie vor – wollen Sie mich wieder hereinlegen, damit ich das Papier unterschreibe und Sie ihn in den Stillen Raum schaffen können?« »Aber, Beth! Niemand hat versucht, Sie hereinzulegen! Wir haben Ihnen nur einen Bericht mit einer Empfehlung geschickt.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte die Frau mürrisch. »Und wenn ich unterschreibe, räumen Sie ihn weg, und wenn ich nicht unterschreibe, legen Sie Berufung ein, und der Prüfungsausschuß wird Ihnen recht geben. Das tut er immer.« »Das liegt daran, daß wir so gründlich sind. Die Kustoden -« »Kustoden!« fauchte Beth. »Was für Kustoden lassen ein vierjähriges Kind weglaufen?« »Wir sind nicht Kustoden der Kinder«, sagte Mayb würdevoll, »sondern Kustoden der Norm.« »Na, Sie bekommen ihn nie mehr zurück!« schrie Beth. »Nie, verstehen Sie?« Der Bildschirm erlosch. »Ist Andi dort?« Der Prüfer zwinkerte ihr zu. »Du meine Güte«, murmelte Mayb. »Du meine Güte!« »Hätten diese Untersuchungen vor der Beseitigung nur nie den Ausschuß passiert. Ohne sie wäre das nie vorgekommen. 131
Na, vor zehn Jahren hätten wir den kleinen Kerl still weggeschafft, sobald feststand, daß er ein Abnormer ist. Jetzt müssen wir drei Wochen warten und bohren und stochern, um zu sehen, ob die Abnormität sich nicht vielleicht in ein Talent verwandelt. Ich sage Ihnen, das ruiniert die Krippen. Die Mutter jeder einzelnen Mißgeburt auf der Erde wird aufheulen, daß ihr Kind ein Genie sei.« »Oh, wenn ich nur nicht mit der Tür so unvorsichtig gewesen wäre!« »Mayb, regen Sie sich nicht auf. Es wird schon wieder. Ich bin überzeugt davon.« »Sie sind so nett!« Ihre Stimme klang in dem stillen Zimmer unnatürlich laut. »Du meine Güte! Wenn ihn die Frau nun wirklich versteckt? Ich meine, wenn sie ihn wegbringt? Ist Ihnen klar, was das bedeutet, wenn das Kind aufwachsen darf?« »Das ist ein schrecklicher Gedanke.« »Überlegen Sie! Er weiß bereits, was er tun kann, und er ist erst vier Jahre alt. Denken Sie an seine Ausstrahlungen, wenn er erwachsen sein wird! Angenommen, er taucht als Erwachsener mitten in einer Stadt auf. Na, wenn er irgend etwas haben wollte, würde er es bekommen. Er würde es bekommen müssen. Und man könnte ihn nicht aufhalten! Man kann überhaupt nicht an ihn heran, wenn er das tut!« Der Prüfer ergriff ihre Arme und führte sie zu einem Spiegel an der Wand. »Sehen Sie sich an, Mayb. Wissen Sie, Sie sehen gar nicht aus wie die tüchtige, verläßliche Kustodin, die Sie sind. 132
Angenommen, Essie würde Sie jetzt so sehen; Sie könnten ihr nie etwas beibringen. Ich bin Leiter der Krippe. Das ist ein Privileg, und ich muß mir ein gewisses Maß an Sorgen machen, um es mir zu verdienen. Also überlassen Sie die Sorgen mir.« »Sie sind so gut«, schluchzte sie. »Aber – ich habe Angst!« »Ich auch«, sagte er nüchtern. »Es ist eine schlimme Geschichte. Aber – machen Sie sich keine Sorgen. Passen Sie auf. Sie legen sich jetzt einfach eine Weile hin. Weinen Sie sich aus, wenn Sie wollen – es wird Ihnen guttun. Und dann gehen Sie wieder an die Arbeit.« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Davon geht die Welt nicht unter.« »Sie könnte es aber«, ächzte sie, »wenn solche Wesen frei herumlaufen, zwingen und drängen und stoßen, unaufhaltbar, bis sie haben, was sie wollen.« »Gehen Sie jetzt.« Es war am nächsten Morgen fast genau um die gleiche Zeit, als Mayb aus dem Gemeinschaftsraum geholt wurde, wo sie die Kinder Singen lehrte. ›Ein junger Mann namens Platt, der lebt in ‘ner abnormen Stadt; seine Kinder sind Zecken und zweiköpfige Schnecken. O jemineh, ist das schad’!‹ Und mitten in das schrille Lachen der Kinder über das komische Mißgeschick Platts kam der Ruf des Prüfers. 133
Der dünne Schleier des Lachens fiel von ihrem Gesicht. »Freie Zeit!« rief sie. Die Kinder faßten das Signal als Erlaubnis zum Spielen auf; die verborgenen Beobachter hinter dem Einwegglas in Beobachtung l und 2 beugten sich vor, Normalitätsdiagramme neben sich. Mayb eilte zum Büro des Prüfers. Er war allein und rieb sich die Hände. »So, Mayb! Ich wußte, daß es gutgehen würde.« »Andi? Haben Sie ihn gefunden? Haben Sie die Polizei geholt?« »Sie hat sie geholt.« Er lachte. »Sie hat sie selbst geholt. Sie konnte es einfach nicht aushalten – seine eigene Mutter.« »Wo ist er?« »Sie bringt ihn her – und ich wette, da ist sie schon.« Die Tür ging auf. Ein Unterkustode sagte: »Bücherei-Beth, Prüfer.« Bücherei-Beth zwängte sich an dem Mann vorbei und trat ein. Ihr flammendes Haar war ungekämmt; ihr Gesicht war weiß, sie rollte wild die Augen. In ihren Armen trug sie die schlaffe Gestalt Andis. »Da ist er – hier! Nehmen Sie ihn. Ich kann es nicht aushalten! Ich dachte, ich könnte es, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht, was ich wollte. Ich bin eine gute Bürgerin, ich will meine Pflicht tun, ich achte das Gesetz und die Norm und die Rasse. Ich war wohl verrückt. Ich hatte etwas vorbereitet, das ich Ihnen 134
erzählen wollte, über Andi, damit er überlebt, das war es, er kann besser überleben als jeder andere auf der Welt, er kann alles bekommen, was er will, indem er es einfach will, und niemand kann nein zu ihm sagen, also macht das keinen Unterschied für ihn.« Es strömte aus ihr heraus wie eine Flut. Sie legte die schlaffe Gestalt auf eine Sitzbank. »Aber ich wußte nicht, daß es so ist. Und er plagte mich die ganze Nacht, und ich konnte nicht schlafen, und am Morgen lief er weg, und ich konnte ihn nicht finden, und er haßte mich, und als ich ihn sah und auf ihn zulief, haßte er mich mit seinem Inneren, je näher, ich herankam, so daß ich ihn nicht anrühren konnte, und die Leute liefen zusammen und starrten ihn an wie ein Ungeheuer, und das ist er, und er haßte sie alle, jeden einzelnen. Und jemand holte einen Polizisten, der warf Schlafstaub, und Andi erzeugte einen Haß, daß alle aufschrien und davonliefen, und er haßte alle, bis er einschlief. Nehmen Sie ihn. Wo ist das Papier? Wo ist es?« »Beth, Beth, nicht. Bitte, nicht. Sie bringen hier alle durcheinander, vor allem die Kinder.« »Wo ist das Papier?« schrie sie gellend. Maybs Ohren dröhnten. Der Prüfer holte das Formular und reichte zwei Kopien und einen Stift an Beth weiter. Sie unterschrieb und brach dann weinend in einem Sessel zusammen. »M-mayb?« Die Stimme klang schwach. »Er wacht auf. Schnell, Mayb. Bringen Sie ihn in den Stillen Raum!« 135
Mayb ergriff das Kind und lief, die Tür aufstoßend. Zwei Türen weiter befand sich eine Kammer wie alle anderen, nur hatte sie eine schwarze Tür. Und bestimmte verborgene Einrichtungen. Diesmal vergaß sie nicht, die Tür zu verschließen. Grau vor Anspannung kehrte sie ins Büro zurück. »In Ordnung, Prüfer.« Der Prüfer nickte und trat an seine Konsole. Er drückte einen bestimmten Knopf, und eine rote Lampe glühte auf. »Andi!« stöhnte Beth. Mayb trat zu ihr und legte die Arme um sie. »Na, na. So ist es am besten. Das kommt nicht mehr oft vor. Wir mußten es früher ununterbrochen tun. Bald werden wir es überhaupt nicht mehr tun müssen.« Das Gesicht des Prüfers wirkte bitter und traurig. Minderheitsopfer scheren sich nicht um Statistiken, dachte er. Mayb versuchte es auf andere Weise. »Beth, wir bekommen unsere Norm wieder. Überlegen Sie, was das wirklich bedeutet. Die Menschen lebten früher in der sicheren Gewißheit, daß sie echte, hundertprozentige Menschen sein würden, mit allen Sinnen und Talenten und Fähigkeiten, die Menschen besitzen können. Und das bekommen wir wieder! Es ist bedauerlich, es ist schlimm, aber es muß so gemacht werden. Es gibt keinen anderen Weg!« Ihre sorgfältig ausgewählten Gedanken konnten nicht den geistigen Druck übertönen, der sie von irgendwoher zu belasten begann – aus dem Stillen Raum. 136
Das Licht an der Konsole wurde gelb. »Andi -« »Und es ist eine gute Norm«, dachte Mayb verzweifelt, »bestimmt in Übereinstimmung der wunderbarsten, objektivsten Gehirne, die es auf der Erde je gegeben hat. Manche waren nach dem Kodex, den sie aufstellten, gar nicht normal! Bedenken Sie, wie tapfer -« Der quälende, hämmernde Schrei schwoll an, wurde schwächer, schwankte einen Augenblick, steigerte sich noch einmal und verstummte dann. Durch Maybs Denken glitt der Ausdruck ›zur Strecke gebracht‹. Sie wußte, daß er vom Prüfer kam, der steif dastand, auf dem Gesicht einen unbeschreiblichen Abscheu. Er drehte sich plötzlich herum und legte einen Hebel um. Der Verbrennungsofen bekam Nahrung. »Nicht weinen. Es ist besser so«, dachte Mayb der weinenden Frau zu. »Es ist besser für ihn. Er hätte nie glücklich werden können, selbst wenn die Menschen ihn in Ruhe gelassen hätten. Der arme, arme, unfertige kleine Kerl – stellen Sie sich sein Leben vor, immer fähig, zu sprechen, nie zu wissen, wann er rief oder schrie, und nie fähig, zu hören, außer mit seinen Ohren – der einzige Nicht-Telepath auf der ganzen Welt!«
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MEDUSA
Ich war nicht wütend auf sie. Ich wußte nicht genau, was sie mir angetan hatten – ich wußte, daß manches davon nicht besonders angenehm war, und daß ich wahrscheinlich nie mehr derselbe sein würde. Aber ich war schließlich Freiwilliger, nicht wahr? Ich hatte es so gewollt. Ich hatte ein Papier unterschrieben, mit dem ich die Handelsabteilung der Liga ermächtigte, mit mir zu machen, was ihr beliebte. Als man mich zu Routineprüfungen aus der Flotte geholt und mit Untersuchungen begonnen hatte, die alles andere als Routine gewesen waren, hatte ich mich nicht aufgeregt. Als man Freiwillige für ein Projekt suchte, das mit einem Namen zu versehen man sich keine Mühe gab, nahm ich unbesehen an. Und jetzt »Wie fühlen Sie sich, Rip?« fragte der alte Doc Renn. Er redete beiläufig mit mir, das Kinn auf den Händen, die Ellbogen auf dem Tisch. Der größte Name in der Psychowissenschaft, und er redet mit mir wie mein Vater. Und noch dazu vor dem ganzen Psychoausschuß. »Gut, Sir«, sagte ich. Ich schaute mich um. Ich kannte alle Ärzte und einen oder zwei von den Besuchern. Alle Ärzte hatten 138
in den vergangenen drei Jahren das eine oder andere mit mir gemacht. Mensch, drehten sie mich durch die Mühle! Ich begriff nur einen Bruchteil davon – die ersten Farbtests, zum Beispiel, und die Elektro-Koordinations-Prüfungen. Aber Grenfells Foltermaschine und der Kupferhelm, den Winton mich zwei Monate tragen ließ – da sag’ einer noch was von Alpträumen! Was sie mit mir oder für mich machten, konnte ich nur vermuten. Vielleicht wurde ich für irgend etwas getestet. Vielleicht war ich nur ein Versuchskaninchen. Vielleicht befand ich mich in der Ausbildung. Es hatte auch keinen Zweck, zu fragen. Ich war Freiwilliger, nicht wahr? »Nun, Rip«, sagte Doc Renn, »jetzt ist alles vorbei – die Vorbereitung, meine ich. Wir machen uns an die große Sache.« »Vorbereitung?« sagte ich entgeistert. »Sie wollen mir weismachen, daß das, was ich in den letzten drei Jahren durchgemacht habe, alles nur Vorbereitung war?« Renn nickte. »Sie machen eine kleine Reise, vielleicht nicht zum Vergnügen, aber interessant wird sie sein.« »Reise? Wohin?« »Versiegelte Anweisungen«, sagte Renn scharf. »Sie erfahren es früh genug. Die Hauptsache ist, daß Sie sich darüber im klaren sind, was für eine wichtige Rolle Sie zu spielen haben.« Er machte eine Pause. »Sie werden an Bord einer Forfield Super gebracht – der neuesten und bestausgerüsteten der ganzen Liga. Sie haben die Aufgabe, sich um die Kontrollgeräte zu kümmern, und, gleichgültig, was geschieht, als Hilfsastrogator zu fungie139
ren. Zweifellos wird es manchmal schwer für Sie werden. Sie haben ohne Widerrede den Befehlen zu gehorchen, und, soweit möglich, ohne Gewaltanwendung.« Das kam mir seltsam vor. »Das steht ja alles, fast Wort für Wort, im ›MarineHandbuch‹«, erinnerte ich ihn, »unter ›Pflichten der Besatzung‹. Ist an dem Schiff etwas Besonderes, weil Sie das so betonen?« Er war verärgert, und der Ausschuß scharrte mit seinen zweiundzwanzig Beinpaaren. »An dem Schiff ist wirklich etwas Besonderes«, sagte er ruhig, »an ihm, und an seiner Besatzung. Rip, Sie haben alles, was wir Ihnen servierten, glänzend bewältigt. Der Rest der Besatzung ist – ich halte es nur für fair, Ihnen das zu sagen – wahnsinnig. Die Art dieser Expedition verlangt, daß wir das Schiff so bemannen. Ihr Platz ist eine Schlüsselposition. Sie tragen eine große Verantwortung.« »Augenblick mal, Sir«, sagte ich. »Ich stelle Ihre Befehle nicht in Frage, Sir, und betrachte mich unter Ihre Verfügungsgewalt. Darf ich ein paar Fragen stellen?« Er nickte. »Sie sagen, die Besatzung sei wahnsinnig. Ist das nicht eine vage Ausdrucksweise – für einen Psychologen?« Er grinste. »Gewiß. Um präziser zu werden, es sind Schizoide – gespaltene Persönlichkeiten. Ihre Primäregos sind paranoisch. Sie sind völlig vernünftig, außer beim Thema ihrer speziellen Phobie 140
– oder Manie, je nachdem. Die rezessive Persönlichkeit ist manisch-depressiv.« Soviel ich mich erinnerte, leiden die meisten Paranoiker an Größenwahn, verbunden mit Verfolgungswahn. Und ein Manisch-Depressiver ist der ›Ja, Herr‹-Typ. Sie paßten einfach nicht zusammen. Ich nahm mir die Freiheit, das einem der größten Psychowissenschaftler der Erde zu sagen. »Natürlich passen sie nicht zusammen«, knurrte Renn. »Etwas anderes habe ich auch nicht behauptet. In diesen Fällen gibt es kein Ineinanderfließen der Egos. Sie sind schizoid. Die Trennung ist vollkommen.« Ich habe ein Muttermal unter dem Arm, das ich kratze, wenn ich nachdenke. Ich kratzte mich dort. »Ich habe nicht gewußt, daß es so etwas gibt«, sagte ich. »Bis vor kurzem hat es solche Fälle auch nicht gegeben«, erwiderte Renn geduldig. »Die Männer kommen aus Labors.« »Ach. Sozusagen Wahnsinn auf Bestellung?« Er nickte. »Wozu denn nur, Sir?« »Versiegelte Anweisungen«, sagte er sofort. »Sie fliegen morgen. Heute abend werden Sie an Bord gebracht. Ihr Vorgesetzter ist Captain William Parks.« Ich grinste erfreut. Parks – der erfahrene alte Feuerfresser! Man hatte von ihm behauptet, er könne Sonnenflecken erzeugen, wenn er senkrecht in die Luft spucke. Aber er war ein echter Raumfahrer – durch und durch. 141
»Und vergessen Sie nicht, Rip«, schloß Renn. »Es gibt an Bord nur einen einzigen geistig Normalen. Das wäre alles.« Ich salutierte und ging. Eine Forfield Super ist eines der feinsten Schiffe, die je gebaut wurden. Nichts da von einem Riesenungetüm, das von einer Stadt voller Männer durch den Äther gelenkt wird, nichts da vom vollautomatischen ›Hoffich‹ – so genannt, weil man immer, wenn man das Steuerband in den Autopiloten geschoben hatte, zu sagen pflegte: »Dann mal los, du kleiner Blechkasten – hoff ich!« Mit einer Besatzung von acht Mann kann eine Forfield alles, was im Weltraum fliegt, überholen. Keine Raketen – keine Himmelswendeln – nichts von diesem plumpen Unfug treibt dieses Schiff an. Es kommt nirgends hin durch Fliegen – es kommt hin, indem es stillsteht. Damit meine ich, daß das Schiff erlangt, was der Laie ›Welt-Stasis‹ nennt. Die Galaxis bewegt sich mit einer beinahe unfaßbaren Geschwindigkeit in einer Umlaufbahn um das mythische Tote Zentrum. Eine Forfield mit aufgehobener Beschleunigung kommt einfach völlig zum Stillstand, während die Galaxis vorbeiströmt. Sobald sich das Ziel nähert, tritt wieder Beschleunigung ein, und das Schiff taucht im normalen Raum auf, wo es nur noch ein paar tausend Meilen zurückzulegen hat. Das ist möglich, weil der Mangel an Bewegung ein Bewegungspotential erzeugt; Bewegung, als etwas Relatives, erzeugt eine Reihe relativer Werte. 142
Statt beim Forfield-Antrieb von ›Aktion‹ und ›Reaktion‹ zu reden, sprechen wir von ›Stasis‹ und ›Re-Stasis‹. Ich würde das genauer erklären, habe aber meinen Kugelrechenschieber zu Hause gelassen. Ich will nur hinzufügen, daß eine Forfield in Beziehung zu planetarischen, solaren, galaktischen oder Weltbahnen Stasis erlangen kann. Sobald man diese im richtigen Verhältnis mischt, gelangt man zu Resultaten, die einen überall hinbringen, und zwar schnell. Ich war von dem Augenblick an, als ich an Bord kam, so beschäftigt, daß ich keine Zeit hatte, richtig nachzudenken. Ich mußte alle Steuerungen und Instrumente vom MilliAmperemeter bis zu den riesigen Verbindungsintegratoren prüfen und nochmals prüfen, und bei einer Frist von vierundzwanzig Stunden war das keine Kleinigkeit. Außerdem mußte ich mich von einem Cheftechniker der Liga belehren lassen, der ein paar Apparaturen eingebaut hatte, die in letzter Minute nur für diese Reise konstruiert und ausprobiert worden waren. Erst als ich aufstand und mich umdrehte, sah ich den Kapitän. »Rip! Mich holt der Teufel!« brüllte er. »Sagen Sie mir bloß nicht, daß Sie hier mit dabei sind!« »Doch«, sagte ich. »Lassen Sie meine Hand los, Käpt’n – ich brauche sie noch. Ja, ich hab’ gehört, daß Sie den Eimer hier kommandieren. Wie gefällt es Ihnen?« »Feine Sache«, sagte er und grinste. Das tat er höchstens zweimal im Jahr, aber wenn, dann machte er es richtig. »Was wissen Sie über die Reise?« »Nichts, außer daß wir Geheimbefehle haben.« 143
»Na, am Ende wird es sicher eine Kneipe geben«, sagte Parks. »Sie und ich waren zusammen – wie oft? Sieben-, achtmal – egal, nach jeder Fahrt haben wir an Land ein Ding losgelassen. Hoffentlich kommen wir beim Aldebaran heraus. Susie soll wieder einen neuen Besitzer haben. Heh! Wissen Sie noch, damals -« »Sparen wir uns das, Käpt’n«, sagte ich lachend. »Ich muß das Zeug hier fertig prüfen, und zwar schnell. Aber ich freu’ mich wirklich.« Wir starrten einander an, und auf einmal schoß mir etwas durch den Kopf, so daß mein Lächeln erstarb. Was hatte Dr. Renn gesagt? ›Vergessen Sie nicht, es ist nur ein geistig Normaler an Bord!‹ O nein – das hatten sie Parks doch nicht angetan! Das – »Wie – fühlen Sie sich, Käpt’n?« fragte ich. »Großartig«, sagte er. Er runzelte die Stirn. »Wieso? Fühlen Sie sich nicht wohl?« In diesem Augenblick nicht. Parks übergeschnappt? Das war mies. Wenn Renn recht hatte – und er hatte immer recht –, dann war Parks ebenso durch die Mühle gedreht worden wie alle anderen. Außer mir. Ich wußte, daß ich nicht verrückt war. Ich kam mir nicht verrückt vor. »Ich fühle mich prima«, sagte ich. »Na, dann nur zu«, sagte Parks und wandte sich ab. Ich arbeitete weiter und spürte, daß er mich heimlich anstarrte. Nach fünf Minuten ging er hinaus. Wieviel wußte der Kapitän über diese Reise? Wußte er, daß er einen Haufen Irrsinniger als Besatzung hatte? Ich versuchte 144
mir vorzustellen, wie Renn Parks mitteilte, daß er Paranoiker sei und manisch-depressiv, und es gelang mir nicht. Parks hätte dem Doktor vermutlich eine geknallt. Das Ganze ergab einfach keinen Sinn. Mir kam der Gedanke, daß das mit dem ›Sinn‹ ein Kriterium war, von dem wir zuviel hielten. Was macht man, wenn man auf etwas stößt, das gar keinen Sinn haben soll? »Alle Mann in den Kontrollraum!« tönte es aus dem Lautsprecher. Ich wartete. Sie kamen. Alle sahen frisch und gesund aus. Ich nickte drei Leuten zu, gab einem vierten die Hand. Der Kapitän kam herein, ohne mich anzusehen – es kam mir so vor, als vermiede er es, mich anzublicken. Er drehte sich um und setzte sich auf die Konsole. Seabiscuit, der Quartiermeister und ein alter Kollege von mir, trat zu mir. Es gab verlegenes Gemurmel, während wir auf die beiden Nachzügler warteten. »Ich habe mal gesagt, daß ich bis zur Hölle fahre, wenn Bill Parks Käpt’n ist«, flüsterte Seabiscuit. »Und?« fragte ich leise. »Sieht so aus, als war’ es soweit«, sagte er. Der Kapitän rief die Namen auf. Harry Voight war unser Chemiker. Er war derjenige, der mit wenig mehr als Luft und Wasser für eine Woche zweihundert Passagiere einen Monat am Leben erhalten hatte, nachdem das Schiff bei den Plejaden mit einem Meteor zusammengestoßen war. Bort Brecht war der Ingenieur, ein Mann, der mit seiner künstlichen Hand allein die Arbeit von drei Leuten tun konnte. Verloren hatte er sie bei der Pretoria-Katastrophe. Der Bordschütze war Hoch McCoy, der 145
Pfeil und Bogen ›erfunden‹ und sein Leben gerettet hatte, als er auf einem Asteroid in ein Rudel Giftzahn-Eselhasen geraten war. Die Techniker waren Phil und Jo Hartley, Zwillinge, deren Ähnlichkeit es ihnen ermöglicht hatte, während des Aufstands immer wieder zu tauschen, so daß sie dem Oberkommando der Liga wichtigste Informationen übermitteln konnten. »Meldung«, sagte Parks zu mir. »Alles in Ordnung im Kontrollraum, Sir«, sagte ich förmlich. »Brecht?« »Alles in Ordnung achtern, Sir.« »Quartiermeister?« »Alle Vorräte an Bord und verstaut, Sir«, sagte Seabiscuit. Parks drehte sich um und betätigte einen Hebel. Die Luftschleusen schlossen sich, das Abflugsignal ertönte am Oszillator. Parks übertönte den Lärm. »Ich weiß nicht, wohin wir fliegen«, sagte er mit seltsamem Lächeln, »aber« – die Signale verstummten – »wir sind unterwegs!« Der Haupthebel hatte alle Details des Starts bewältigt – künstliche Schwerkraft, Solar- und Planetar-Stasis, Luftpumpen, Feuchtigkeitsregler – alles. Abgesehen von der Tatsache, daß plötzlich kein Licht mehr durch die Bullaugen flutete, war nichts wahrzunehmen. Parks riß die Segel von dem Schlitz der Integratoren und der Klappe der Befehlskonsole. Er öffnete das 146
Fach und zog einen dicken Umschlag heraus. Ich hatte etwas in der Kehle, das ich nicht hinunterschlucken konnte. Er riß den Umschlag auf und zog vier Kuverts und ein paar Blatt Papier heraus. Er zog die Brauen hoch und gab mir die Umschläge. Ich verteilte sie. »Befehle«, sagte er. »Auf Anweisung der Solar-Liga, betrifft Ziel und Aufgaben der Expedition Xanthippe Nummer eins.« Wir sahen uns erstaunt an. Xanthippe! Noch niemand war auf Xanthippe gewesen! Der unheimliche Kometenplanet von Beteigeuze galt als tabu und war es immer gewesen – und zwar aus gutem Grund. »Anweisungen, sofort nach dem Start vom Kapitän vorzulesen«, sagte Parks gepreßt. Er ‘setzte sich in den Pilotensessel. »Die Liga gratuliert sich zur Auswahl dieser Besatzung für diese ungeheuer wichtige Mission. Von zweitausendsiebenhundert Freiwilligen haben acht Männer die Versuchsreihen und Prüfungen der Liga überstanden. Allgemeine Anweisung: Flug zu Xanthippe. Der Kapitän und die Besatzung sind gegen das Feld ausreichend geschützt. Zweck der Expedition ist, die Ursache des Xanthippe-Felds zu finden und sie zu beseitigen. Die Befehle für die einzelnen Besatzungsmitglieder sind in getrennten Umschlägen enthalten. Die Besatzung ist angewiesen, die Instruktionen zu lesen, sich einzuprägen und Anweisungen und Umschläge zu vernichten. Die Liga wünscht, daß die Anweisungen von jedem Besatzungsmitglied unter strengster Geheimhaltung zu lesen sind, und daß der Inhalt der 147
einzelnen Umschläge als vertraulich zu gelten hat, bis von der Liga gegenteilige Instruktionen ergehen.« Parks atmete tief ein und schaute sich um. Es gab Erregung, Überraschung, und, in einem Fall, Erschrecken – aber keine Angst. Das ist nicht normal, dachte ich. Daß acht Männer vor dem Wahnsinn stehen und so freudig reagieren. Aber sie sind ja schon wahnsinnig. Oder nicht? Es war ansteckend. Ich begann Xanthippe zu hassen. Eigentlich albern. Xanthippe war so etwas wie ein Planet. Xanthippe hatte noch nie jemanden getötet. Xanthippe trieb die Menschen in den Wahnsinn, das war alles. Mehr als wahnsinnig – er schmolz die Synapsen zusammen, reduzierte die Menschen zu bibbernden, hirnlosen Wracks. Xanthippe hatte in früheren Tagen ein Schiff nach dem anderen in die Falle gelockt, Schiffe, die zu anderen Planeten des großen Sterns unterwegs waren. Der irre Planet nahm sie in seine Vibrationshülle auf, und man hörte nie mehr etwas von ihnen. Es dauerte Jahre, bis die Liga dahinterkam, wo die Schiffe hingeraten waren, und dann schickte man Patrouillen aus. Man verlor auf diese Weise achtzehn Schiffe und dreißigtausend Mann. Und dann kam der Forfield-Antrieb. In dem statischen Hyperraum, den die Schiffe aufsuchten, mußten sie das Feld doch ungehindert passieren können. Auf den anderen Planeten saßen Kolonisten, die auf Nachschub warteten. Es gab reiche Vorräte an Radon, Uran, Tantal, Kupfer. Ein Forfield-Schiff konnte doch gewiß 148
Es konnte nicht. Es waren zwar die ersten Schiffe, die das Feld durchdrangen und auf der anderen Seite herauskamen. Die Schiffe waren intakt, aber die Besatzungen konnten ihre Gehirne zu nichts mehr gebrauchen. Klar, ich haßte Xanthippe, diesen irren Planeten mit seiner Kometenbahn und der unberechenbaren komplexen Ekliptik. Xanthippe hatte sich gegen uns verschworen. Der Planet war uns auf den Fersen – bald würde er sich auf uns stürzen, uns alle packen und unsere Gehirne leeren Ich schüttelte mich und nahm mich zusammen. Ich träumte mich langsam in einen Alptraum. Wenn ich es nicht fertigbrachte, in dieser Weltraum-Gummizelle den Kopf auf den Schultern zu behalten, wer dann? Wer sonst dann? Die anderen marschierten murmelnd hinaus. Parks sah ihnen nach. Als sie fort waren, sah er mich an, das heißt, er beobachtete mich. »Nun?« sagte er nach einer Weile. »Nun was?« fauchte ich. »Lesen Sie Ihre Gute-Nacht-Geschichte nicht? Ich schon.« »Gute-Nacht-Ge-, ach so.« Ich schlitzte den Umschlag auf und entfaltete meine Anweisungen. Der Kapitän folgte meinem Beispiel. Ich las: ›Auf Anweisung der Solar-Liga, betrifft Verhalten von Harl Ripley, Astrotechniker der Expedition Xanthippe Nummer eins. Besagter Harl Ripley hat den Vorschriften und Anweisungen der Marine-Bestimmungen zu folgen, bis das Schiff das Xanthippe-Feld erreicht. Danach hat er sich den Befehlen des Kapitäns zu unterwerfen, es sei denn, der Kapitän wird durch 149
eine unerwartete Ursache aus dem aktiven Dienst entfernt. In einem solchen Notfall geht das Kommando nicht unbedingt an den besagten Harl Ripley über, sondern an das Besatzungsmitglied, das einen Plan mit der praktischsten Ausführbarkeit über folgendes Ziel vorlegt: Die Expedition soll auf Xanthippe landen; ist der Planet unbewohnt, soll er erforscht werden, bis der Ursprung des Feldes gefunden und zerstört ist. Ist er bewohnt, muß sich der vorläufige Kommandeur von den Ereignissen leiten lassen. Er hat jedoch zu bedenken, daß der vorrangige und einzige Zweck der Expedition darin besteht, das Xanthippe-Feld zu zerstören.‹ Darunter war mit beinahe unleserlicher Handschrift gekritzelt: ›Denken Sie an die letzte Ausschußsitzung, Rip. Und viel Glück! C. Renn.‹ Ich war so durcheinander, daß meine Ohren zu summen begannen. Was hatte es für einen Sinn, jedem eigene Anweisungen zu geben? Und noch dazu solche! Wir waren praktisch auf uns selbst gestellt! Verrückt. Natürlich war es verrückt. Was konnte man bei der Besatzung sonst erwarten? Ich wünschte mir ehrlich, daß mich der Ausschuß auch wahnsinnig gemacht hätte. Ich stand am Kartentisch und beendete die Logbucheintragung, um sie in den Drucker zu geben, als ich spürte, daß jemand hinter mir stand. Der Käpt’n, natürlich. Ich wußte, daß er mich beobachtete. Ich hielt es nicht mehr aus. »Nur herein«, sagte ich, ohne mich zu bewegen. Nichts rührte sich. Ich lauschte angestrengt, bis ich seine vorsichtigen 150
Atemzüge hören konnte. Ich wurde nervös. Ich hatte den üblen Verdacht, daß ich, wenn ich mich umdrehte, einen Blitz aus einer Lebwohlpistole erwischen würde. Ich ging langsam zu den Meßgeräten und starrte sie an. Ich wußte nicht, was mit mir los war. Ich drehte mich um und ging zurück. Es war nicht der Käpt’n. Es war der Chemiker, Harry Voight. Wir waren alte Kameraden, und ich kannte ihn gut. »Hallo, Harry. Warum die Heimlichkeit?« Er war angespannt. Auf der Oberlippe standen Schweißtröpfchen. Seine merkwürdigen Augen – die Iris war so schwarz wie die Pupille – lagen so tief im Schädel, daß ich sie nicht sehen konnte, weil ihm das Licht genau auf den Kopf schien. »Na, Rip, zu tun?« »Nicht übermäßig. Setz dich.« Er setzte sich. Ich hockte mich auf den Tisch und ließ ein Bein auf dem Boden. Wenn ich schnell reagieren mußte, konnte ich es. »Was hältst du davon, Rip?« sagte er nach einer Weile. Seine Geste umfaßte das Schiff, Xanthippe, die Liga, den Ausschuß. »Ich arbeite bloß hier«, sagte ich, das Motto der Marine zitierend. Harry lächelte mühsam. »Was’n los?« fragte ich leise. »Hat dir einer was getan?« Er schaute sich verstohlen um. 151
»Rip, ich muß dir was sagen. Machst du die Tür zu?« Ich wollte ablehnen, überlegte es mir dann aber anders und drückte auf die Schließplatte. »Aber schnell«, sagte ich. »Wenn der Alte ‘raufkommt und die Tür ist zu, gibt es Krach.« Harry ließ die Schultern hängen. »Das erstemal in zwei Tagen, daß ich mich – normal fühle«, sagte er. Er sah mich argwöhnisch an. »Rip – was für eine Farbe hatte der Umschlag, in dem ich in Venus City mein MarineHandbuch aufbewahrte?« Ich zog die Brauen zusammen. Das Ding hatte ich nur ein paarmal gesehen. »Blau«, sagte ich. »Stimmt.« Er wischte sich die Stirn. »Du bist okay.« Er setzte ein paarmal an und sagte dann: »Rip, behältst du alles, was ich dir sage, streng für dich? Hier kann man keinem trauen – keinem einzigen.« Ich nickte. »Also«, sagte er gepreßt, »ich weiß, daß das ein irrer Flug ist. Ich weiß, daß die Besatzung nicht – daß man sie – nun, nicht ganz normal -« Voll Überzeugung erklärte er: »Die Liga hat ihre eigenen Gründe für das Unternehmen, die ich nicht anzweifle. Aber irgendwas ist schiefgegangen. Du glaubst, daß uns Xanthippe nicht schafft? Ha! Xanthippe hat uns schon!« Er lehnte sich triumphierend zurück. »Was du nicht sagst!« »Doch! Ich weiß, wir sind noch zahllose Lichtjahre davon entfernt. Ich brauche dir aber nicht zu sagen, was für eine 152
Macht Xanthippe hat. Wir werden beobachtet! Jeder einzelne, jeder Handgriff, jede Überlegung. Und einen nach dem anderen nimmt man uns – weg! Die Hartleys hat es schon erwischt, und Bort Brecht, und bald bin ich dran. Bei den anderen weiß ich nicht Bescheid, aber sie kommen auch an die Reihe. Sie nehmen uns unsere Persönlichkeiten weg und ersetzen sie durch ihre eigenen. Ich sage dir, die drei Männer – und ich bald dazu – diese Männer sind keine Menschen mehr, sondern Xanthipper!« »Warte mal«, sagte ich geduldig. »Kein Mensch weiß, ob Xanthippe bewohnt ist. Und ich bezweifle, ob es einen solchen Austausch gibt, wie du meinst.« »So? Menschenskind, Rip – versuch mir zu glauben, um deinetwillen! Das Xanthippe-Feld ist eine Gedankenkraft, nicht? Und die Besatzung hier ist nach ihrem Haß gegen Xanthippe ausgesucht worden. Begreifst du denn nicht? Der Ausschuß rechnet damit, daß der Haß als eine Art Schutzschild dient, der das Feld zum Teil abwehrt. Man glaubt, daß von unserem Verstand noch genug da ist, sobald wir ins Feld eingedrungen sind, daß wir unser Ziel erreichen können. Man irrt sich, Rip – und wie! Das bloße Vorhandensein unseres gemeinsamen Hasses hat uns verraten. Sie sind schon seit Tagen auf uns vorbereitet – und sie haben sich hier an Bord schon an die Arbeit gemacht.« »Woher weißt du, daß die Xanthipper die drei Männer ausgetauscht haben?« »Weil ich die Hartley-Zwillinge vor zwei Tagen in der Messe belauscht habe. Sie unterhielten sich über ihre Befehle.« »Ich denke, die sind vertraulich?« 153
»Eben. Aber bei den Hartleys kann man nicht verlangen, daß sie das beachten. Jedenfalls hat Jo erklärt, eine Anmerkung bei ihm deute an, daß er der einzige geistig Normale an Bord sei. Phil lachte nur. Er sagte, er wisse, daß er normal sei, und er wisse, daß Jo normal sei. Ich denke mir das so. Nur ein Verrückter zweifelt an der Liga; ein Verrückter oder ein Feind. Die Hartleys mögen verrückt sein, aber sie können noch rational denken. Sie gehören zur Marine. Also müssen sie Feinde sein, weil ein Marineangehöriger nie an der Liga zweifelt.« Ich wußte nicht, was ich denken sollte. »Was ist mit Bort Brecht – und mit dir selbst?« »Bort! Ich kann ein fremdes Ich spüren, wenn ich mit ihm rede. Es ist überwältigend. Ich hasse Xanthippe«, sagte er wild, »aber Bort Brecht hasse ich mehr! Das einzige, was ich vielleicht mehr hassen könnte als Xanthippe, ist ein Xanthipper. Das beweist alles!« Er breitete die Arme aus. »Was mich angeht, Rip – ich werde wahnsinnig. Ich sehe nicht vorhandene Dinge – und wenn ich das tue, so bin ich auch einer von ihnen. Dann sind wir alle verloren. Es gibt nämlich nur einen normalen Menschen an Bord, und das bin ich, und wenn ich in einen Xanthipper verwandelt werde, sind wir zum Untergang verurteilt, und ich möchte, daß du mich umbringst!« »Sehe ich denn verrückt aus?« fragte ich. »Wenn du der einzige Normale bist -« »Nicht verrückt«, sagte er schnell. »Ein Schizoider – aber völlig rational. Das mußt du sein, sonst hättest du die Farbe nicht mehr gewußt.« 154
Ich half ihm auf die Beine. Er zuckte zurück. »Rühr mich nicht an!« schrie er, und als ich zurückfuhr, versuchte er zu lächeln. »Tut mir leid, Rip, aber ich bin mir nirgends mehr sicher. Du könntest schon ein Xanthipper sein, und wenn du mich anrührst… Ich gehe jetzt – ich -« Er ging hinaus, die schwarzen, brennenden Augen halb geschlossen. Ich sah ihm nach. Ich konnte mir vorstellen, was los war. Paranoia – aber schwer! Der charakteristische Verfolgungswahn, die Intensität des Ausdrucks, die eingleisige Logik – sogar Größenwahn. Ha. Er hielt sich für den einzigen Normalen an Bord! Ich hielt es für besser, den Kapitän zu unterrichten. Ich fragte mich, warum die Hartleys und Voight ebenfalls die Mitteilung erhalten hatten, alle Mann an Bord außer einem seien übergeschnappt, als der Kapitän hereinkam. »Rip«, sagte er ohne Vorrede. »Hatten Sie mal Streit mit Hoch McCoy?« »Guter Gott, nein! Bis zum Abflug habe ich ihn noch nie gesehen. Gehört hatte ich natürlich schon von ihm. Wieso?« »Er hat mir erklärt, daß Sie ein intersolarer Meistersaboteur seien. Mit Namen und Daten. Die Namen kenne ich gut, aber die Daten – na, für die Hälfte kann ich Ihnen selber ein Alibi geben. Das habe ich ihm nicht verraten. Aber – mein Gott, er hätte mich beinahe überzeugt.« »Schon wieder einer!« entfuhr es mir. Und dann erzählte ich ihm von Harry Voight. 155
»Doc Renn hat wohl nicht angenommen, daß sie so schnell umkippen«, meinte Parks, als ich fertig war. »Die Burschen waren drei ganze Jahre in Labors.« »Das wußte ich nicht«, sagte ich. »Ich habe überhaupt nicht; gewußt.« »Na, Ripley, nur nicht aufregen. Ich weiß auch nicht viel mehr als Sie, aber Voight hatte wohl recht damit, daß der Ausschuß mit den Gehirnen einiger Besatzungsmitglieder manipuliert hat, um sie gegen das Feld zu schützen. Der Haß ist eine psychologische Barriere gegen die Furcht und das Furchterregende. Die Burschen sind verrückt, aber sie haben keine Angst. Also wird das Feld weniger wirksam sein bei uns als früher bei den anderen.« »Klingt vernünftig. Äh – Käpt’n, was halten Sie von der Sache mit dem einen Normalen?« »Auch eine Abwehr«, sagte Parks. »Aber gegen den Betreffenden selbst. Harry ist beispielsweise zu einem Paranoiker gemacht worden, aber gleichzeitig hat man ihm eingeredet, er sei der einzige Normale. Wenn der glauben müßte, daß man mit seinem Gehirn manipuliert habe, würde er sich maßlos aufregen und alles verderben.« »Käpt’n – glauben Sie, daß wirklich ein einziger normaler, geistig gesunder Mann an Bord ist?« fragte ich. »Ja. Einer.« Er lächelte langsam. »Ich weiß, was Sie denken. Sie würden alles dafür geben, Ihre Befehle mit den meinen vergleichen zu können, nicht wahr?« 156
In meiner Koje wünschte ich mir, daß wir das Feld schon hinter uns hätten. Ich versuchte mich zu erinnern, was Doc Renn genau gesagt hatte, und als es mir gelang, bereute ich es. War ich verrückt? Ich kam mir nicht so vor. Harry Voight kam sich auch nicht verrückt vor. Was war eigentlich ›verrückt‹? Auf diesem Schiff war es normal, Xanthippe so zu hassen, daß einem übel wurde und man eiskalt schwitzte, wenn man nur daran dachte. Paranoia-Verfolgungswahn. Kam ich mir verfolgt vor? Litt ich an Größenwahn? Natürlich nicht – und doch, hatte ich nicht einfach angenommen, daß Voight an einem solchen Wahn litt, weil er sich für den einzigen normalen Menschen an Bord hielt? Warum hatte der Ausschuß überhaupt einen Normalen eingesetzt? Vielleicht, um sicherzugehen, daß einer im Feld anders reagierte als die übrigen, damit er das Kommando übernehmen konnte. Vielleicht auch nur, damit jeder das Gefühl haben konnte, er sei normal, selbst wenn er es nicht war. Mein armes, erschöpftes Gehirn gab es auf, und ich schlief ein. Bevor wir das Feld erreichten, gab es zwei Verluste. Harry Voight schnitt sich im Bad die Kehle durch, und Seabiscuit schlug Hoch McCoy den Schädel ein. Er sei ein Spion gewesen, versicherte er immer wieder, als wir ihn einsperrten. Danach hielten wir uns voneinander fern. Bis zu dem Tag, als wir bei Beteigeuze in die galaktische Stasis hinübersprangen, sprach ich keine zehn privaten Worte mit jemandem. Im normalen Weltraum lenkten wir unser Raumschiff in eine Umlaufbahn um die riesige Sonne und warfen unsere Detektoren aus. 157
Der irre Planet erschien auf den Schirmen, und ich starrte ihn an, während ich den Käpt’n herbeirief. Xanthippe war ein seltsam stumpfer Planet, selbst so nah an seiner Sonne. Er schimmerte stumpf silbern, wie eine mondbeschienene Leiche. Er war runzlig und fleckig und schien von Pol zu Pol zu pulsieren. Er war nicht ganz rund, eher eiförmig, das schmalere Ende Beteigeuze zugewendet. Er war zwischen zwei- und dreimal so groß wie Luna. Ich dachte an die Tausende von Männern der Marine, die ihm zum Opfer gefallen waren, und an die vielen Kriegsschiffe, die ins Feld gestürzt und verschwunden waren. Xanthippe hatte bislang jedem Angriff getrotzt. Der Planet schluckte Atomminen und -torpedos ohne jede erkennbare Wirkung, war gegen Strahlung jeder Art immun, aber er bestand aus Materie und sollte einer Infrawaffe nicht widerstehen können – wenn man eine Infrawaffe nah genug heranbringen konnte. Die beiden Ströme der Waffe aus stark geladenen Partikeln, Positronen auf der einen, Mesatronen auf der anderen, zerstörten alles, das sich dort befand, wo sie zusammenliefen. Aber eine Infrawaffe hat eine Reichweite von nur fünfhundert Meilen. Deshalb hatte jedes Schiff, das so nah an Xanthippe herangekommen war, eine tote oder vernunftlose Mannschaft mitgebracht. Kapitän Parks rief die Besatzung in den Kontrollraum. Bort Brecht, der Ingenieur, wollte wissen, wann wir das Feld erreichen würden. »In etwa zwei Stunden«, sagte der Kapitän. Ich nahm meine ganze Beherrschung zusammen, um nicht dazwischenzufahren. Er war ein kaltblütiger Lügner – nach meiner Berechnung 158
würden wir in einer halben Stunde oder noch früher dort sein. Er hatte wohl seine Gründe. Vielleicht wollte er es den Leuten leichter machen. Parks lehnte sich lässig an die Integratoren. »Nun, meine Herren«, sagte er beiläufig, »wir werden bald erfahren, worum es da geht. Ich habe Anweisung von der Liga, Ihnen gewisse Dinge mitzuteilen. Alle Mann haben sich dem offenkundigen Befehlshaber zu beugen, sobald wir im Feld sind. Dieser Befehlshaber kann ich sein oder auch nicht. Dafür ist gesorgt worden. Jeder muß das Ziel im Auge behalten – die Zerstörung des Xanthippe-Feldes. Scheint niemand das Kommando zu haben, soll ein vorläufiger Kapitän gewählt werden.« »Woher wissen wir, daß dieser ›Befehlshaber‹ nicht Harry Voight oder Hoch McCoy sind?« »Wir wissen es nicht, aber wir werden es erfahren. Keine Sorge.« Dreiundzwanzig Minuten, nachdem Xanthippe aufgetaucht war, traten wir in das Feld ein. Wir standen alle noch im Kontrollraum. Meine Glieder wurden plötzlich ganz schwach, und die anderen fünf sanken auf das Deck. Ich dachte an Seabiscuits Gemurmel: »Ich sag’ euch, das ist einfach eine Verschwörung der Aufständischen.« Dann lag ich auch da. Irgend etwas tat mir weh, aber ich wußte genau, wo ich war. Ich lag in Dr. Grenfells Foltermaschine; sie drang mir ins Gehirn. Ich spürte jede einzelne Windung. Sie wurden immer kälter und kälter und größer und größer, und jeden Augenblick 159
mußten mein Schädel, das Labor, das Gebäude bersten und die Erde erstarren. In meinem Brustkorb war ich glühend heiß, und ich wußte, warum. Ich war Beteigeuze, die mächtigste der Sonnen, und mit meiner Hitze erwärmte ich eine halbe Galaxis. Bald würde ich sie zerstören, und das war fein. Die ganze Dunkelheit des Weltraums umfing mich. Laßt mich in Ruhe. Ist mir egal, was ihr wollt. Ich will hier liegen und… Aber niemand wollte etwas von mir. Wozu denn das Geschrei? Oh. Ich wollte etwas. Es muß etwas getan werden, also steh auf, steh auf, steh »Er ist tot. Tod ist nur ein Schlaf und ein Vergessen, und er schläft und hat alles vergessen, also muß er tot sein!« Es war Phil Hartley. Er kauerte neben mir und schrie wie ein Wilder. Der Kapitän saß im Pilotensessel, und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Jo Hartley war tot oder bewußtlos. Seabiscuit und Bort Brecht saßen auf dem Deck und hielten sich an den Händen wie Kinder, auf den Bildschirm starrend. Er zeigte einen Ausschnitt von Xanthippe. Die Oberfläche des Planeten pulsierte wirklich, und es war ein wunderschöner Anblick. Ich setzte mich mühsam auf. »Wasser«, murmelte ich. Phil sah mich an, schrie auf und versteckte sich unter dem Kartentisch. Der Anblick von Xanthippe bannte mich. Es war das Begehrenswerteste, das ich je gesehen hatte, und es versprach mir alles, was ich je wünschen konnte, aber vorher mußte ich 160
noch etwas tun. Vielleicht konnte mir das jemand sagen. Ich rüttelte den Kapitän. »Geh weg«, sagte er. Ich rüttelte ihn wieder. Er reagierte nicht. Ich schlug ihm mit der offenen Hand ins Gesicht, links und rechts, immer wieder. Er sprang auf, schrie: »Laßt mich in Ruhe!« und sank in den Sessel zurück. Bort Brecht wankte heran. Als er Seabiscuits Hand losließ, begann dieser still zu weinen. »Ich erteile hier die Befehle«, sagte Bort. Ich freute mich. »Ich muß etwas tun«, sagte ich. »Weißt du, was es ist?« »Komm mit.« Er führte mich zum Bildschirm. »Schau hin«, befahl er, setzte sich zu Seabiscuit und verlor sich in der Betrachtung. Seabiscuit weinte weiter. »Das ist es nicht«, sagte ich zweifelnd. »Ich glaube, du hast mir die falschen Befehle gegeben.« »Falsch?« brüllte er. »Falsch? Ich mache nie etwas falsch!« Er stand auf, und bevor ich mich umschaute, traf mich seine Faust. Ich kippte um und rutschte zu Jo Hartley. Jo rührte sich nicht. Er lebte, aber es schien ihm egal zu sein. Ich blieb lange liegen, bis ich wieder aufstand. Ich wollte Bort Brecht umbringen, aber vorher mußte ich noch etwas anderes tun. Ich stieß den Kapitän aus dem Sessel. Er fauchte mich an und ging zur Wand, wo er sich niederkauerte, immer noch in Tränen. Ich sank in den Sessel, ließ die Finger über die Tasten 161
gleiten und gab mir alle Mühe, die Pracht von Xanthippe nicht anzusehen. Meine rechte Hand berührte den Infrawaffenschalter, entfernte sich, kehrte zurück. Ich betätigte einen anderen Schalter; ein Geflecht von Fadenkreuzen mit einem leuchtenden Ring in der Mitte tauchte auf dem Bildschirm auf. Das ist es, dachte ich. Bort Brecht heulte auf, als er die Fadenkreuze sah, regte sich aber nicht. Ich schaltete die Waffe ein und griff nach der Steuerung. Ein Feuerball mit schwarzem Mittelpunkt schwebte über der Oberfläche des Planeten. Das war es! Ich lachte begeistert und drückte das Steuer nach vorn. Der Ball stürzte in das stumpfsilberne Rätsel und ließ einen riesigen schwarzen Krater zurück. Ich betätigte die Höhensteuerung und wußte, daß mein herrlicher kleiner Ball das Innerste des Planeten versengte und zerfetzte. Ich holte ihn heraus an die Oberfläche, riß ihn herauf und kreuz und quer, schnitt und fetzte und sengte. Bort Brecht kauerte wie ein Vorzeitmensch, die Knie gebeugt, die Hände auf dem Deck, den Blick auf die Zerstörung gerichtet. Phil Hartley hinter mir schwankte auf Zehenspitzen und stieß bei jedem Auftauchen des Feuerballs spitze Schmerzensschreie aus. Bort fuhr herum und sprang heran. »Was ist los? Wer macht das?« »Er«, sagte ich sofort und deutete auf Jo Hartley. Bort warf sich auf die am Boden liegende Gestalt und überfiel sie mit Zähnen und Klauen und Fäusten und Füßen, und Phil zögerte nur einen Augenblick. Dann schrie Jo gequält auf, und Phil, ein 162
menschlicher Feuerball, rammte Bort in der Mitte. Hin und her tobte der blutige Kampf, während Seabiscuit stöhnte und der Kapitän vor sich hinweinte. Und ich zerfetzte Xanthippe unablässig und gnadenlos. Ich zog einen tiefen Schnitt fast von Pol zu Pol, die Ränder öffneten sich an der Wunde, so als sei der Planet in Papier gewickelt gewesen. Darunter war er von olivtrüber Farbe, durchschossen mit Scharlachrot. Ich wiederholte den Einschnitt immer wieder, trieb meinen Feuerball immer tiefer hinein. Das geschwächte Ovoid wollte die Ränder zusammenpressen, aber der unwiderstehliche Ball zerteilte sie von neuem, und als er fast ganz durchgedrungen war, fiel das ganze Gefüge auf ein entsetzliche Weise in sich zusammen. Ich verspürte plötzlich eine große Leichtigkeit, dann unerträgliche Qual. Ich erinnere mich, daß ich mich immer weiter über den Sessel nach hinten beugte, von einem ungeheuren Krampf in meinem Inneren ergriffen, dann prallte ich mit Kopf und Schultern auf das Deck, und ich war wieder ganz allein im herrlichen Dunkel. Eine Reihe von Lichtern tauchte auf, die schmerzhaft grell waren, dann beruhigende Gerüche, dann das Rauschen von Wasserfällen. Manche Empfindungen waren Wochen auseinander, andere Sekunden. Manchmal war ich bei Bewußtsein und konnte Leute auf Zehenspitzen vorbeigehen sehen. Einmal glaubte ich Musik zu hören. Aber endlich erwachte ich ganz geschwächt unter einer Hand auf meiner Schulter. Ich öffnete die Augen. Es war Doc Renn. Er wirkte älter. 163
»Wie fühlen Sie sich, Rip?« »Hungrig.« Er lachte. »Wunderbar. Wissen Sie, wo Sie sind?« Ich schüttelte den Kopf. »Auf der Erde«, sagte er. »Psy-Hospital. Sie haben allerhand mitgemacht.« »Was ist passiert?« »Viel. Wir haben alles aufgezeichnet. Sie konnten Xanthippe völlig zerstören. Bort Brecht ist zwar von den Hartleys umgebracht worden, aber Xanthippe ist erledigt. Drei Menschenleben hat es gekostet.« »Dann – habe ich den Projektor zerstört, oder was es war -« »Sie haben Xanthippe zerstört. Sie haben – Xanthippe umgebracht. Der Planet war ein… ein Wesen, an das ich kaum zu denken wage. Haben Sie hier auf der Erde schon einmal eine Meduse gesehen?« »Sie meinen eine von den Quallen, die im Meer schwimmen und lähmende Fühler nach unten strecken, um Fische zu fangen?« »Genau. Wie eine Schirmqualle. Nun, das war Xanthippe, und das fremdartige Gedankenfeld waren ihre Fühler. Ein im Weltraum lebendes Wesen. Sie zog alles an sich, was vorbeikam, tötete, was zu töten war, verdaute, was sie verdauen konnte. Die Bilder zeigen übrigens, daß sie im Begriff stand, eine 164
Riesenwolke von Sporen auszustoßen. Noch ein Umlauf um Beteigeuze, und sie hätte es getan.« »Wieso bin ich plötzlich weggewesen?« »Sie waren nicht so gut geschützt wie die anderen. Als wir die Besatzung ausbildeten, haben wir die Persönlichkeiten nämlich sorgfältig gespalten. Paranoischer Haß, um das Feld zu überwinden, und dann unter seinem Einfluß plötzliche Umkehrung zum manisch-depressiven Irresein. Aber Sie hatten die einzige Persönlichkeit, die wir nicht spalten konnten. Sie waren also der Führer – Sie sollten die Aufgabe übernehmen. Wir konnten Ihnen nur den Wunsch einpflanzen, Xanthippe zu vernichten. Alles andere haben Sie aus sich heraus getan. Als die psychische Last des Feldes von Ihnen genommen wurde, brach Ihr Verstand zusammen. Wir hatten alle Mühe, ihn wieder aufzubauen.« »Und warum das Ganze mit dem einzigen Normalen‹?« »Damit die Besatzung selbstsicher war, und damit Sie nicht in Versuchung gerieten, das Kommando zu übernehmen, bevor Sie das Feld erreichten, weil Sie wußten, daß die anderen nicht für sich verantwortlich waren.« »Und was geschah mit ihnen, als das Feld verschwand?« »Sie wurden praktisch wieder normal, wenn auch nicht ganz. Der Quartiermeister fesselte die anderen, bevor sie die Erde erreichten, und übergab sie uns als Spione der Aufständischen! – Aber auf Sie wartet ein Kommando, wenn Sie es wollen.« »Ich will es«, sagte ich. Er schlug mir auf die Schulter und ging. Dann brachte man mir eine ordentliche Mahlzeit. 165
BESESSENHEIT
Sie war wunderschön, und bevor wir denken konnten, hatte ich sie in den Armen, und der Blick ihrer dunklen Augen war in die meinen versunken. Ich hielt sie wohl ein bißchen zu lange und zu fest; sie machte sich los, fand ihr Gleichgewicht wieder und schnippte mich einfach weg wie einen Krümel. »Verzeihung«, sagte ich. Eine gewölbte Braue stieg hoch, zwei schwere Lider senkten sich. »Schon gut«, sagte sie mit einer Stimme vom Klang eines Cel los in den unteren Oktaven. »Aber Sie sollten vor dem Abbiegen wirklich Zeichen geben.« Ich hatte vor einen rundlichen Mann schnellen wollen, der in das Taxi steigen wollte, das ich brauchte, und dabei hatte ich das Mädchen beinahe umgerannt. Sie wandte sich ab und übersah einfach, daß ich den Hut lüftete. Ich seufzte und winkte einem anderen Taxi. Ich hatte viele Freundinnen und kannte allerlei Schönheiten, und bis zu diesem Augenblick hatte ich mir geschmeichelt, in meinem kleinen schwarzen Büchlein eine ganz hübsche Sammlung zu besitzen. Aber jetzt – nun, ich konnte mir nur wünschen, daß ich sie vorher schon einmal gese166
hen hatte. Sie erinnerte mich an jemanden, den ich vor ein paar Jahren gekannt hatte, als ich ein wirklich wichtiger Mann gewesen war. Statt ein Radionachtprogramm zu machen und nebenbei Artikel zu schreiben, war ich ein Mächtiger gewesen. Ich war in einer High School und trainierte die Basketballmannschaft. Ich hatte allerhand Einfluß und machte ihn geltend. Ich stieg ins Taxi und nannte dem Fahrer das Restaurant, wo ich mich mit Sylvia treffen wollte. Ich hatte mich um dieses Rendezvous sehr bemüht, doch plötzlich verspürte ich keine Lust mehr dazu. Ich starrte hinaus, als das Taxi an dem Mädchen vorbeifuhr, mit dem ich zusammengeprallt war. Sie ging ganz langsam und blickte lächelnd ins Leere. Sie hatte lange, schwarze Haare, die sich gerade dort einrollten, wo ihr straffer Rücken begann. Ich hatte noch nie solche Haare gesehen, aber an der klaren, kräftigen Linie ihres Kinns und an den ein wenig tiefer liegenden Augen war etwas »Halt!« schrie ich den Taxifahrer an. Er muß gedacht haben, daß ich einen Anfall bekomme. Da irrte er sich noch. Den hatte ich schon gehabt. Er ruinierte jedenfalls seine Bremsen, nahm das Geld, das ich ihm zuwarf, und fuhr weiter. Ich lief auf sie zu und packte ihren Ellbogen. »He! Ich -« »Ah«, sagte sie. »Mein Freund, der Rammbock.« »Ich verbessere«, sagte ich schnell. »Ihr lieber Freund Eddie Gretchen.« So? sagte ihre Braue, und sie selbst fügte hinzu: »Und wann und wo ist Eddie Gretchen mein lieber Freund geworden?« 167
»Das müssen Sie sich überlegen«, sagte ich, als wir weitergingen. »Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie es täten. Ich kenne Sie. Ich habe Sie immer umschwärmt. Ich weiß aber nicht mehr, wann es war. Sie sind ein Traum, der von einem Wecker zerstört worden ist. Sie haben mein Gesicht und meinen Namen. Was bedeuten sie Ihnen?« »Ich war nie mit Ihnen verheiratet«, sagte sie. »Also habe ich Ihren Namen nicht. Und Ihr Gesicht will ich nicht.« »Bei Ihrem Gesicht wundert mich das gar nicht -« »Sie haben sich überhaupt nicht verändert, Eddie.« Ich strahlte kurz, dann fiel mir ein, daß sie mir gar nicht helfen wollte. »Also gut – wann war’s?« »In dem Jahr, als die Covina-Schule Ihre Lahmen Fünf mit achtundvierzig zu siebzehn schlug.« »Erstens achtundvierzig zu neunzehn«, sagte ich wütend, »und zweitens waren es die Flotten Fünf.« »Sie waren aber lahm«, sagte sie und lachte. »Flott«, knurrte ich. »Und außerdem waren die Schiedsrichter – he! Sie sind doch wohl nicht Unterschleif-Mazie?« »Bin ich nicht! Niemand kennt mich so gut, daß er mich so nennen darf! Ich bin Maria Undergaard – für sie Miss Undergaard, Mr. Gretchen.« »Aha! Äh – Mazie, Liebling, wie hieß das Team?« »Die Flotten Fünf«, gab sie zu. 168
»Okay, Maria.« Ich nahm glücklich ihren Arm. »Aber sie waren lahm«, murmelte sie. Ich ließ es dabei. Wir fanden ein Lokal, wo wir uns unterhalten konnten. In drei Stunden, glaube ich, wandte ich nicht einmal den Blick von ihrem Gesicht. Es war unfaßbar. Sie erzählte mir, daß sie nach dem Schulabschluß ein bißchen Geld geerbt, vier Jahre an einem kleinen College verbracht und bis zur Kurzsichtigkeit studiert hatte. »Was studiert?« »Spiritismus. Psychische Manifestationen. Besessenheit vor allem. Ich habe tausend Bücher gelesen und bin tausend falschen Fährten nachgegangen, aber ich meine, ich habe bewiesen, was ich die ganze Zeit schon glaubte.« »Nämlich?« »Daß Besessenheit etwas wirklich Konkretes ist. Daß jedermann besessen sein kann. Daß ich selbst besessen sein kann.« »Von mir auch?« sagte ich. Sie nahm es freundlich auf, aber ihre Augen verrieten, daß sie nichts überhörte. »Psychisches Besessensein ist etwas sehr Seltsames. Aber nicht so, wie Sie glauben. Sie haben bestimmt Geschichten gelesen -Bücher, Artikel –, die sich damit befassen. Wie Geister um uns herumschweben, als Elementar- und Hausgeister, wie sie manchmal von jemandem Besitz ergreifen, so daß wir Dinge tun, die unserer Natur völlig fremd sind. So ist das aber gar nicht. Es ist nicht geisterhaft, „sondern psychologisch. Dafür habe ich 169
Beweise. Wußten Sie, daß eine vibrierende Saite den vollen Ton nur von sich gibt, wenn sie über einen Resonanzboden gespannt ist? Der Geist, der von einem Menschen Besitz ergreift, ist so ähnlich. Meine vibrierende Saite in diesem Vergleich ist die Quelle des Geistes – ein Argwohn aussendendes Gehirn. Der Resonanzboden ist -« Sie verstummte und blickte über die Schulter auf die Frau, die allein am Nebentisch saß. Maria erhob sich halb vom Stuhl und sank wieder nieder. »Was ist los – fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte ich. »O nein – nein, mir ist durchaus – ich war nur – « Sie nippte an ihrem Glas, schaute sich wieder um, atmete tief ein und lächelte mich an. »Eine Bekannte?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Wo war ich?« »Hier bei mir, außerordentlich hübsch aussehend, und Sie haben mir eben erklärt, daß der besitzergreifende Geist eigentlich eine Emanation von Argwohn ist.« »Oh. Nun, der Resonanzboden befindet sich in einem Gehirn mit schuldigem Gewissen. Argwohn und Schuldbewußtsein; wenn die beiden sich verbinden, bilden sie eine sehr mächtige psychologische Wesenheit, und das ist es eigentlich, was von jemandem Besitz ergreift.« »Klingt sehr kompliziert und nicht übermäßig wichtig«, sagte ich und kratzte mich am Ohr. »Und was haben Sie jetzt davon?« 170
»Was nützt Wissen überhaupt?« meinte sie achselzuckend. »Vielleicht wird eines Tages ein Klügerer als ich anwenden können, was ich gefunden habe. Was mich angeht, so habe ich alles darüber erfahren, was mir – lieb ist.« Plötzlich kicherte sie. »Hm?« sagte ich. »Mir ist eben etwas eingefallen, Eddie. Sie hatten es furchtbar eilig vorhin. Was ist denn nun aus Ihrer Verabredung geworden?« »Ach die. Na ja, ich – heiliger Strohsack!« Ich sprang auf, das gräßliche Bild vor mir, wie Sylvia drei Stunden in einem Restaurant wartete. Ich entschuldigte mich bei Marias lachendem Gesicht und hetzte zum Telefon. Unterwegs fiel mir ein, daß Maria recht plötzlich mit der Mahnung herausgerückt war. Ich schlüpfte in eine Zelle und blickte zu unserem Tisch, als ich die Nummer gewählt hatte. Maria war nicht da. Ich erstarrte. Sehr schön. Ruf die eine an, die du versetzt hast, und die andere macht es mit dir genauso. Ich hörte ein ›Hallo‹ im Hörer und bat, Sylvia auszurufen. Während ich wartete, schaute ich wieder hinaus. Ich hatte mich getäuscht. Maria war nicht fort. Sie unterhielt sich am Nebentisch mit der fremden Frau. Meine Brauen stiegen hoch. Warum hatte sie mich angelogen? Die Frau stand auf und ging auf die Telefonzellen zu. Da hörte ich Sylvias Stimme. »Hallo?« »Sylvia? Hier ist Eddie Gretchen.« 171
»Ah. Eddie Gretchen. Tut mir leid, daß ich dich gut genug kenne, um mich an deinen Namen zu erinnern. Wo bist du gewesen? Wo bist du?« »Es war so«, sagte ich ruhig, »ein alter Freund von mir ist in Schwierigkeiten. Ich mußte einfach helfen – es ging nicht anders.« Es stimmt ja auch, dachte ich, und außerdem hört sie mir ohnehin nicht zu. »Sehr schade«, sagte sie bitter. »Inzwischen habe ich zweieinhalb Stunden in einem Lokal gewartet, wo man mich nicht kennt, wo ich eine große Mahlzeit gegessen und mir eine Packung teure Zigaretten gekauft habe, ohne Geld mitzubringen. Soll ich unterstellen, daß du nicht kommst?« »Sylvia, ich kann wirklich nicht. Wegen der Rechnung – gib mir den Geschäftsführer. Er kennt mich. Das kann ich erledigen. Und, Sylvia – es tut mir furchtbar leid. Ich -« Aber sie hatte schon den Hörer weggelegt. Ich machte mit dem Geschäftsführer alles klar und bat ihn, mir noch einmal Sylvia zu geben. »Tut mir leid«, sagte er. »Die Dame wirkte – nun, mißmutig. Ausgesprochen mißmutig. Ich soll Ihnen sagen, Sie brauchen den Atem nicht anzuhalten, bis Sie wieder von ihr hören, weil Sie sonst bestimmt ersticken. Haha.« »Haha«, äffte ich ihn nach und hängte ein, um die Zelle zu verlassen. Die Frau hatte die Tür der Nachbarzelle aufgerissen. »Du Mottenfraß-Lüstling! Wie kannst du es wagen, mich in einer viertklassigen Spelunke hocken zu lassen, während du diese Schlampe anrufst!« brüllte sie. »Nimm die Hand von der Muschel, du mieser Kerl. Sie soll mich hören. Weg da.« Und in 172
den Hörer: »Hör mal zu, Miststück. Wenn du meinen schäbigen Mann haben willst, kannst du ihn haben. Überleg es dir aber genau. Wenn du sein Geld willst – er hat keins. Ich habe seit einem halben Jahr kein neues Kleid mehr bekommen, aber sicher du – ha, sie hat aufgelegt.« Sie knallte den Hörer hin und wandte sich ihrem gelähmten Ehemann zu. »Ein feiner Zustand«, kreischte sie, »wenn ein wildfremder Mensch zu mir kommen und mir von deinen Abenteuern erzählen kann! Du -« Sie begann sich zu wiederholen, und mein Interesse ließ nach. Ich zwängte mich durch die Menge, die sich angesammelt hatte, und ging zu Maria zurück, die mit gesenktem Kopf dasaß. »Maria -« »Oh, Eddie -«, sagte sie mit gequältem Lächeln, »haben Sie alles geregelt?« »Ja.« Ich sah sie an, »Sie auch.« »Was denn?« ganz unschuldig. »Sie haben auch etwas geregelt. Ich mische mich nicht gern ein, Mazie, aber Sie haben da eben einen Mordsskandal entfesselt. Wie kommen Sie dazu, der Frau einen Tip zu geben, daß ihr Mann mit seiner kleinen Freundin telefoniert? Woher wußten Sie das eigentlich? Und warum, zum Teufel, haben Sie mir erzählt, daß Sie die Leute nicht kennen?« Sie geriet ein bißchen in Panik. Ihre Augen wurden groß, und sie packte mein Handgelenk. Sie wußte es nicht, aber ihre Berührung entschied die Sache ein für allemal. Solange sie mich so festhielt, mich so ansah, war sie im Recht und ich im Unrecht. 173
»Bitte, nicht zornig sein, Eddie. Ich hatte gehofft, Sie würden es nicht bemerken. Nein, ich habe Sie nicht angelogen. Ich kenne die Leute nicht. Woher ich wußte, was vorging? Ich – wußte es einfach, Eddie. Bitte, glauben Sie mir – bitte, fragen Sie mich nicht aus! Könnten Sie es vergessen – nur dieses eine Mal? Ich will dafür sorgen, daß es nie mehr vorkommt!« Ich versuchte ihre Tränen wegzugrinsen. Ich schob die Faust unter ihr Kinn, drückte dagegen und nickte. »Klar, Maria. Klar. War ja nichts. Schon gut.« Warum ich nicht soviel Verstand besaß, den Vorfall mit ihrer Besessenheitstheorie in Zusammenhang zu bringen, werde ich nie wissen. Bei unserem vierten Zusammensein machte ich ihr einen Heiratsantrag. Das war drei Stunden nach dem dritten, dieses einen Tag nach dem zweiten, und dieses fünf ganze Wochen nach dem ersten. Es dauerte wirklich fünf Wochen, bis ich sie dazu überreden konnte, sich mir einen Abend lang anzuvertrauen. Sie bestand immer darauf, dort hinzugehen, wo wir mehr oder weniger allein waren, ob in einer Kutsche im Central Park oder auf einem Spaziergang über die Brooklyn-Brücke. Das paßte mir gut, so daß ich mir keine Gedanken machte. Sie tat alles, um zu vermeiden, daß sie gleichzeitig mit mir und mit Fremden zusammen war. Den Antrag machte ich ihr auch im Park, um vier Uhr nachmittags. Ich hielt ihre beiden Hände fest und wagte sie kaum anzublicken. »He, wir müssen heiraten«, sagte ich. 174
Und sie lächelte ihr eigenes Lächeln und nickte. Ich küßte sie. Als ein grinsender Polizist dazwischenkam, rückte sie ihre Frisur zurecht, tätschelte meine Hand und schüttelte den Kopf. »Ich würde dich nie heiraten, Eddie«, sagte sie leise. Mein Blut wurde zu Salzwasser und rann kalt aus meinen Poren. Ich brauchte sie nicht aufzufordern, es zu wiederholen, weil sie es von selbst tat. Dann stand sie auf. »Gehen wir, Eddie.« Einer meiner Arme riß sie auf die Bank zurück. »Ich habe direkt einen Schreck bekommen«, sagte ich. Meine Stimme tat mir weh. »Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest mich nicht heiraten.« »Das habe ich gesagt, Eddie.« »Ja.« Ich sah sie an, und sie hob unwillkürlich abwehrend die Hände. »Warum?« fragte ich. »Du bist doch ledig, oder?« Sie nickte. »Es ist etwas – Eddie, ich kann nicht darüber sprechen.« »Doch«, sagte ich. »Heraus damit.« »Es geht um – die Dinge, die ich studiert habe. Ich verbrachte vor nicht zu langer Zeit einen ganzen Monat allein in den Bergen. Zweiundvierzig Tage habe ich keinen Menschen gesehen. Für das Übersinnliche war ich schon immer empfänglich. Da oben studierte ich und probierte alles mögliche aus. Da kam ich auf die richtige Spur. Was die Besessenheit angeht, meine ich. Ich kam dahinter, wie ich mich dem öffnen mußte. Ich ging zu weit. Ich öffnete mich zu lange. Es – wuchs so heran. Ich kann nicht mehr zumachen. Ich bin für immer anfällig, Eddie. 175
Als ich aus den Bergen zurückkam, war ich verändert. Ich werde immer anders sein.« »Was, zum Teufel, soll das alles?« fauchte ich. »Liebst du mich?« »Das brauchst du mich nicht zu fragen«, flüsterte sie. Ich sah sie an. Ich brauchte sie nicht zu fragen. Ich legte die Arme um sie und sagte mit meinen Zähnen in ihrem Ohrläppchen: »Erzähl den Rest von dem Unsinn deinem Mann in den Flitterwochen.« Der Polizist kam wieder vorbei. Ich zeigte mit dem Daumen über die Schulter in den See und lud ihn ein, hineinzuspringen. Er lachte und ging. Anders mag sie wohl gewesen sein, aber nur darin, daß sie besser, lieber, süßer war als alle anderen Frauen. Daran glaubte ich nach unseren Flitterwochen. Ich glaube es noch, mit einer Ergänzung. Maria war doch anders. Es zeigte sich erst, als wir in die Stadt zurückkamen und ich wieder meine Nachtsendung machte, von zwei bis sieben Uhr früh. Vor meiner Heirat hatte ich tausend Freunde gehabt und jeden Abend tausend Lokale besuchen können. Ich sah nicht ein, warum Maria nicht mindestens bei fünfhundert davon mitkommen konnte. Sie hielt nichts davon. Hatte Angst davor. Ich zog sie auf und fluchte und nörgelte und überredete sie. »Einer wie ich braucht viele Freunde«, sagte ich. »Meine Sendung hat ihre Geldgeber. Solange die Leute telegrafisch Plattenwünsche aufgeben, wissen die Geldgeber, daß sie auch die Werbespots mithören. Sie erneuern die Verträge, und das bringt mir Kleingeld, damit ich dir ein Eis und ein Auto und 176
dergleichen kaufen kann. Du würdest staunen, wie viele Leute aus Bars und Restaurants sich melden, ob sie mich persönlich kennen oder nicht, einfach weil sie mich am Abend dort gesehen haben. Ich muß viel herumkommen. Ich merke das Nachlassen schon, wenn ich nur zwei Wochen weg gewesen bin. Gestern nacht habe ich achtundfünfzig Minuten Aufnahmen gespielt, ohne eine einzige Anfrage. Das ist nicht gut, Schatz.« Und sie sagte immer wieder: »Dann geh, Eddie. Ich komme schon zurecht. Ich laufe dir nicht weg, wenn du mich ein paar Stunden allein läßt. Geh zu deinen Freunden.« Ich tat es. Aber es klappte nicht. Es waren ja keine Herrenpartien, zu denen ich ging. Die Damen wußten alle, daß ich verheiratet war, und als sie mich die ganze Zeit allein sahen, kamen sie auf falsche Ideen. Nach einer Weile machte ich eines Abends zu Hause alles klar. Es gefiel ihr nicht, aber sie widersprach nicht. Sie brauchte sehr lange, bis sie sich zurechtgemacht hatte, aber sie ging ohne zu mucksen mit. Das hatte ich nicht erwartet. Ich sagte es ihr. Sie lächelte mühsam. »Ich habe dich gebeten, mich nicht zu zwingen«, sagte sie traurig. »Du wirst eben selbst dahinterkommen müssen.« Wir begannen an der 51. Straße und grasten sie gründlich ab. Der Abend brachte uns vier Einladungen zum Essen, drei Paar Eintrittskarten für Broadway-Shows und zweiundneunzig Telegramme in der Sendung dieser Nacht ein. Maria machte mich stolz. Es gab keine schönere, keine charmantere Frau an diesem Abend, und nach der ersten halben Stunde schien es ihr 177
zu gefallen. Als ich sie um halb zwei Uhr vor dem Studio in ein Taxi schob, lächelte sie und drückte meine Hand. »Vielleicht habe ich mich geirrt, Eddie. Ich hoffe es jedenfalls. Es war wunderbar.« Ich ging strahlend zum Studio hinauf. Jackie Feltner beendete seine zweistündige Sendung mit Orchesteraufnahmen und Nachtklubgeplauder. Er warf mir durch die Glasscheibe einen merkwürdigen Blick zu und deutete auf meinen Tisch. Ich nahm an, daß er auf ein auffallendes Telegramm gestoßen war. Er las nämlich die Telegramme von halb zwei bis zwei Uhr für mich vor. Unter den üblichen Hörerwünschen fand ich tatsächlich ein Kabel mit dem Vermerk ›Persönlich‹. ›He, Eddie, halt deinen weiblichen Sherlock Holmes lieber aus den Damentoiletten fern, sonst bekommt sie mal ein blaues Auge. Sie ‘hat fünf Frauen hintereinander angesprochen und jeder erzählt, was diese hören wollte. Meiner Frau erzählte sie von der Gehaltserhöhung, die ich vor zwei Monaten bekommen habe. Bin in der Tinte, Freund. Laß sie beim nächstenmal zu Hause. Duke aus Dubuque.‹ Ich las es dreimal durch. Dieser Duke war einer meiner Stammkunden, der offenbar jeden Zahltag die Telegrammitis bekam. In zwei Stunden hatte er einmal achtundzwanzig Stück abgeschickt. Ich kam nie dahinter, wer er wirklich war, obwohl er mich anscheinend oft sah. 178
»Hübsch, was?« sagte Jackie, schloß die schalldichte Tür zum anderen Studio und kam zu mir. »Ja«, sagte ich. »Der Kerl ist verrückt.« Er schaute über meine Schulter auf das Telegramm. »Ach – der. Kann sein. Vielleicht sind die anderen auch alle verrückt.« Er blätterte den Stapel durch und warf mir noch drei Telegramme hin. ›Lieber Eddie, da kam die Braut und da gingen die Details meiner Schwindeleien zu den neugierigen Ohren der Welt. Wenn Sie sich keinen Maulkorb leisten können, schicke ich Ihnen einen. Bitte, spielen Sie ›Kann dich nicht der Teufel holen‹ und widmen Sie es Ihrer Frau. Ein Freund.‹ ›Hallo, Eddie, habe die neue Mata Hari in der Zweiundfünfzigsten gesehen und erfuhr, daß sie Ihnen gehört. Wer hätte gedacht, daß Sie einen Volksfeind heiraten? Bitte spielen Sie ›Flüsterndes Gras‹. Ann Onym.‹ ›Eddie: Hatte keine Gelegenheit, es Ihnen gleich zu sagen, möchte aber, daß Sie für sich behalten, was ich Ihnen mitteile. Ihre Frau hat Bergen von meiner Fusion mit Williamson erzählt, die morgen stattfinden sollte. Das kostet mich an die achttausend. Maria konnte wohl nichts dafür, aber Sie hätten ihr sagen sollen, daß sie nicht reden darf. Harry Elliott.‹ Sie waren alle scheußlich, aber das letzte traf mich am härtesten. Harry war seit Jahren ein enger Freund. Die Sache war schon schlimm genug, aber ich wußte genau, daß ich Maria kein 179
Sterbenswörtchen von Harry Elliotts Angelegenheiten erzählt hatte! »Tut mir leid, Eddie«, sagte Jackie leise. Ich sah ihn an. Ich spürte, wie mein Unterkiefer herumwackelte, und winkte ab. »Geh an deine Plattenteller, Jackie. Du bist auf Sendung, ja?« »Ja.« Er ging zur Tür, sah mich lange an und hetzte dann zum Mikrofon. Wie konnte Maria das getan haben? Und wenn, warum? Ich konnte leicht erkennen, wie. Jeder, der mit mir unterwegs ist, bleibt viel für sich, weil ich so verdammt viele Leute kenne. Ich laufe immer von einem Tisch zum anderen. Während ich die Runden gemacht hatte, mußte Maria am Werk gewesen sein. Die lange Übung sorgte dafür, daß ich am Mikrofon ruhig und locker sein konnte, egal, wie mir zumute war. Jackie legte meine Themamelodie auf, und die rote Lampe vor mir flammte auf. Ich dachte nach, und als die Musik verklang, sagte ich ins Mikrofon: »Herzlich willkommen zur späten Stunde, liebe Freunde. Hier ist der Mann am Mikrofon, der zwischen den Platten dauernd redet – Eddie Gretchen der Name. Wir sind im Geschäft, bis die Sonne aufgeht und uns bremst, und wenn Sie irgendeine bestimmte Melodie hören wollen, dann schicken Sie doch ein Telegramm vorbei und sagen Sie’s mir. Rufen Sie nicht an, weil ich kein Telefon bedienen kann. Bevor ich die ersten Aufnahmen serviere, habe ich noch eine 180
Kleinigkeit vorzubringen, nämlich: Es gibt noch kein Gesetz im Land, das verbietet, daß mir einer persönliche Telegramme schickt, während ich arbeite. Das macht Ihnen und mir Spaß. Nur Tiefschläge machen keinen. Ich habe eben ein paar von dieser Sorte bekommen und fühle mich nicht gerade glücklich damit. Ich sage aber nicht, daß Schluß gemacht werden soll damit. O nein. Ich möchte sie dann nur gern mit Namen und Adressen. Wenn ich dahinterkomme, daß die Information nicht stimmt, komme ich vielleicht vorbei und poliere dem einen oder anderen das Gesicht. Denken Sie mal schön darüber nach, während Tony Reddiks Band Ihnen und auch Ihnen zeigt, wie man mit dem Schlagzeug umgeht bei ›Suitcase Shuffle‹.« Ich ließ die Platte laufen. Nun, das brachte Ergebnisse. Ich bekam während der Sendung noch vierzehn solcher Telegramme. Manche waren komisch, andere böse, manche wirkten verletzt. Auch Namen und Adressen bekam ich. Neun davon waren Frauen. Maria schien wahrhaftig ganz übel aus der Schule geplaudert zu haben. Sie erzählte Ehemännern von ihren Frauen und Frauen von ihren besten Freundinnen. Sie zerstörte geschäftliche Abmachungen, verursachte Schlägereien und brachte mehr als ein sonst ganz glückliches Paar auseinander. Ich konnte nicht begreifen, woher sie die Informationen alle ‘hatte, und ob sie vom Teufel besessen gewesen… Besessen – besessen – das Wort ließ mich nicht los. Der Grund, warum sie nicht unter Leuten sein wollte. Ich hatte ja schon Plaudertaschen erlebt, aber so etwas! Na, dachte ich mürrisch, heute kann sie dir ja alles erklären. 181
Sie schlief, als ich heimkam. Ich stand vor ihr, wollte sie küssen, ohrfeigen, in die Arme nehmen, verprügeln. Sie mußte mich gespürt haben. Sie hob die Arme und lächelte, ohne die Augen zu öffnen. Ich zog die Telegramme aus der Brusttasche und drückte sie ihr in die Hand. Wortlos ging ich ins Badezimmer und schloß die Tür. Während ich mich auszog und Schlafanzug und Morgenmantel anzog, hörte ich sie weinen und wieder verstummen. Als ich zurückkam, lag sie mit dem Gesicht in den zerknüllten Telegrammen. »Du bist mir also zuvorgekommen«, sagte ich. Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite. »Was meinst du damit?« »Ich wollte dich mit der Nase draufstoßen.« Sie setzte sich auf. Ihr Gesicht war verängstigt und trotzig. »Behaupte nicht, daß ich dich nicht gewarnt hätte«, sagte sie leise. »Behaupte nicht, ich hätte nicht versucht, dich zu hindern, daß du mich mitnimmst. Behaupte nicht, ich hätte dir das nicht schon vor unserer Heirat klarzumachen versucht.« »Mein Fehler, weil ich dich nicht habe reden lassen. Also los – du hast das Wort.« »Was erwartest du, daß ich sage? Verzeih mir?« »Das würde nicht genügen. Ich will alles wissen. Ich möchte wissen, warum du so ein Plappermaul bist, und woher du weißt, was du heute nacht alles verbreitet hast.« »Setz dich«, sagte sie kühl, »sonst bekommst du einen Anfall und kippst um.« Ihre Augen waren ganz groß und dunkel. »Ich 182
war gestern nacht besessen, Eddie. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Ach, du bist manchmal so dumm! Ich wußte, daß es so kommen würde – ich wußte es, aber du mußtest ja so dickschädlig sein, und – ich kann dir ja gar nicht die Schuld geben, außer, daß du nicht versucht hast, zu verstehen. Ich versuche es noch einmal. Du kannst tun und lassen, was du willst, Eddie. Ich wußte, daß das kommt; ich weiß genau, was ich sagen muß. Komisch, nicht? Erinnerst du dich, was ich dir von der Wesenheit erzählt habe, die aus Argwohn und Schuldbewußtsein entsteht? Es ist ein bösartiger kleiner Poltergeist – eine beinahe faßbare Verkörperung des Hasses. Und ich bin empfänglich dafür. Eddie, ich kann nicht im selben Raum mit beliebigen zwei Personen sein, die voll Argwohn und dem dazugehörigen Schuldgefühl sind! Und die Welt ist voll von solchen Leuten – man kann ihnen nicht ausweichen. Jeder hat Dutzende von kleinen Haßgefühlen und Vorurteilen. Ein Beispiel: Angenommen, du hast eine Abneigung gegen, sagen wir, Tibetaner. Wir beide sitzen hier, und ein Tibetaner kommt herein. Du kennst ihn. Er hat einen sehr scharfen Verstand oder hat dir einen Gefallen getan oder ist der Freund eines guten Freundes. Du unterhältst dich höflich eine halbe Stunde, und alles ist in Ordnung. Innerlich aber sagst du: ›Ich hasse deine gelbe Haut, auch wenn du nichts dafür kannst.‹ Alles bleibt normal, solange er nichts merkt. Aber laß den Gedanken bei ihm eindringen: ›Er mag mich meiner Rasse wegen nicht‹, und schon wird der Poltergeist geboren. Das Zimmer ist voll davon, geladen damit, völlig unabhängig von dir und dem Tibetaner. Ich bin empfänglich dafür. Die 183
Wesenheit nähert sich mir. Ich versuche ihr auszuweichen. Ich mache lustige Bemerkungen. Ich gehe durchs Zimmer, beschäftige mich mit Blumen, einem Buch, was weiß ich, aber es nützt nichts. Ich kann es nicht abwehren und mich davor verschließen. Plötzlich überfällt es mich. Ich bin ein Teil davon geworden. Es lenkt mich, treibt mich an. Sein ganzer Zweck ist Haß. Es will deine Abneigung und das damit verbundene Schuldgefühl und den Argwohn des anderen ans Tageslicht zerren. Ich bin das Instrument dazu. Meine Beherrschung reicht nur aus, um die Worte zu mäßigen, die mir auf den Lippen brennen. Statt also zu schreien: ›Er haßt dich, weil er alle Gelben haßt!‹, gehe ich zu dem Mann hin und sage ihm leise: ›Gehen Sie lieber bald. Er mag Tibetaner nicht, und ich weiß nicht, wie lange er noch höflich bleiben kann.‹ Sobald das ausgesprochen ist, verfliegt der Poltergeist. Der Haß zwischen euch ist offen, nicht mehr geheim, und geheimer Haß ist der Grundstoff eines Poltergeists. Er zerfließt, und ich bin frei, aber der Schaden ist angerichtet. Bestenfalls kann ich mich entschuldigen, es ins Lächerliche ziehen, behaupten, ich hätte einen Witz machen wollen. Man wird mir nicht glauben, weil meine Feststellung, so schäbig sie sein mag, im Grunde der Wahrheit entsprach und nicht bestritten werden kann. Aber wenn man meiner Ausrede glaubt, bleibt der Same von Haß und Argwohn, und die Wesenheit entsteht von neuem, die Besessenheit wiederholt sich an Ort und Stelle. Um mir das zu ersparen, bestreite ich nie, was ich gesagt habe, und entschuldige mich nie dafür. Es würde alles nur noch verschlimmern. So geht das, Eddie, und es läßt sich nicht ändern. Ich war immer empfänglich dafür und habe es durch meine Experimente 184
noch verstärkt. Ich kann mich nicht ändern, Eddie. Ich hätte dich nicht heiraten sollen, hätte dir das nicht antun dürfen. Ich – das ist wohl das Ende. Ich gehe fort.« Sie versuchte ein schwaches Lachen. »Gut, daß wir nicht lange verheiratet sind und noch kein Haus oder eine Menge Möbel gekauft haben, nicht?« »Ja«, sagte ich. Ich beobachtete sie, als sie aufstand, einen Hausmantel anzog und zu packen begann. Nach einer Weile legte ich mich ins Bett. Es war noch ein bißchen warm und roch gut. Ich drehte das Gesicht zur Wand, und dann hörte ich sie einen Koffer neben den anderen in der Mitte des Zimmers abstellen. Sie sah mich an; ich spürte ihren Blick an meinem Nacken. Ich wußte, daß sie fertig angezogen war. »Maria – « »Ja, Eddie?« Sie antwortete ein bißchen zu schnell, um zu verbergen, daß sie nicht so gefaßt war, wie sie sich gerne geben wollte. »Weck mich gegen vier Uhr, ja? Wir machen uns Rühreier und dann fahren wir durch den Park wie früher, als wir noch ledig waren.« Es gab einen dumpfen Schlag, als sie die Handtasche fallen ließ, und dann stürzte sie sich auf mich. Ich legte die Arme um sie und hielt sie fest, bis sie nach Atem rang, dann grinste ich sie an und schlief ein. Danach ging ich allein aus und ließ mir von Maria ein Heim einrichten. Sie war begeistert. Wenn ihr der Umgang mit den Leuten fehlte, so beklagte sie sich nicht. Sie gewöhnte sich 185
wohl daran; ich tat es jedenfalls. Alles ging gut, bis Ivor Jones, der Direktor der Sendestation, Jackie Feltner und mich eines Abends in sein Büro rief. »Ich möchte, daß Sie mir helfen«, sagte Jones, ein vertrockneter kleiner Mann mit Brille. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie es der Station geht. Wir sind alle zufrieden damit, aber ein kleiner Sender kann nicht so viel verdienen oder bezahlen wie ein großer. Eine der Stationen hier soll nun geschlossen werden, und man möchte, daß wir sie übernehmen. Zehntausend Watt mehr, und Beteiligung an den Einnahmen der Sendegesellschaft. Sie beide würden zwanzig Prozent mehr bekommen. Wie hört sich das an?« »Gut«, sagte Jackie. Ich nickte. »Ich bin dafür«, meinte Jones. »Shanaman, der Chef der Eastern-Sendegesellschaft, sollte aber noch ein bißchen animiert werden. Ich möchte eine große Dinnerparty geben, nächsten Freitagabend. Sie beide kommen auch und bringen Ihre Frauen mit. Ja?« »Lieber nicht, Mr. Jones«, sagte ich. »Ich bin verabredet -« »Macht nichts. Shanaman möchte Sie unbedingt kennenlernen. Sie müssen kommen. Und bringen Sie Ihre Frau mit. Ich will sie auch kennenlernen.« Jackie lachte und schlug mir auf die Schulter. »Ich überrede ihn schon, Mr. Jones, keine Sorge.« Im Korridor sagte er: »Mensch, Eddie – sei kein Spielverderber. Mir bedeutet das viel. Claire ist in letzter Zeit ein bißchen merkwürdig, und 186
das könnte alles wieder ins Lot bringen. Im Ernst, Eddie – du mußt es tun.« »Mal sehen, was Maria sagt«, murmelte ich und fuhr heim. Maria hielt nichts davon. Wir diskutierten lange darüber. Ich erklärte, daß es sich um etwas Geschäftliches handelte, daß die acht Leute dort einander kaum kannten, daß ich einfach nicht anders konnte. Maria brachte die ganzen alten Einwände und einen neuen dazu. Sie fürchtete, sie könne es nicht aushaken. Sie fürchtete die Berührung mit anderen Leuten, an die sie nicht mehr gewöhnt war. Ich setzte mich aber durch, und am Freitagabend betraten wir Jones’ Haus in Queens Village. Wir waren die letzten und wurden in die Bibliothek geführt, wo es Cocktails gab. Jones unterhielt sich mit einem alten Knaben im Smoking. Claire Feltner stand bei der bläßlichen Frau von Jones. Mir fiel ein, daß Claire oft im Studio war, wenn Jackie sich nicht dort aufhielt. Und Jones schien bei diesen Gelegenheiten auch immer da zu sein. Ich begann zu begreifen, warum Jackie Claire und Jones hatte zusammenbringen wollen. Er hatte vor, sie zu beobachten. Das war schlecht. Ich rettete Jackie vor Shanamans Frau, die ihn in eine Ecke gedrängt hatte und ihm die Ohren vollredete. Wir stellten uns alle gegenseitig vor, und Maria blieb bei Jackie, während ich zu Jones und Shanaman trat. Es wurde zuviel und zu laut geredet. Ich wünschte mir, nicht hergekommen zu sein, weil ich befürchtete, daß Maria von einem ihrer kleinen Poltergeister belästigt werden würde – und nach ein paar Minuten war es schon soweit. 187
Shanaman erzählte eben eine gänzlich unkomische Geschichte, als ich Maria von ihm zu Mrs. Jones blicken sah und wieder zurück. Irgend etwas an ihrer Haltung verriet mir, daß sie sich wehrte. Ich machte mich los, so schnell ich konnte, aber nicht schnell genug. Maria stand bereits bei Mrs. Jones, bevor ich ankam, und redete auf sie ein. Mrs. Jones erhob sich, als ich auf die beiden zutrat, funkelte Shanaman an und ging zu ihrem Mann. »Was ist los?« fragte ich besorgt. »Oh, Eddie, es ist schon wieder passiert.« Sie hätte geweint, wenn ich nicht ihre Hände ergriffen und gequetscht hätte, bis sie schmerzten. »Shanaman will neue Leute in den Sender bringen, wenn er einsteigt. Alle verlieren ihre Stellung, außer dir, Eddie!« »Und das hast du Mrs. Jones gesagt?« »Ja – begreifst du nicht? Sie argwöhnte es, und Shanaman wußte, daß er es tun würde. Ich konnte nicht anders, Eddie!« »Schon gut, Kleines«, flüsterte ich. »Wir sind nicht betroffen.« Ich betrachtete das Ehepaar Jones. Er schien seiner Frau nicht zu glauben. Er wandte sich ab und ging zu Claire Feltner. Jackie beobachtete die beiden mürrisch. »Halt dich fern von Jackie«, sagte ich, aber Maria war schon davongeschlüpft. Sie stand hinter mir am Fenster, knetete die Hände und starrte in die Nacht hinaus. Es war wohl am besten, sie in Ruhe zu lassen. Ich mischte mich in Mrs. Jones Gespräch mit Shanaman, das kurz und knapp war. 188
»- und glauben Sie ja nicht, ich wüßte nicht, was Sie vorhaben, Sie alter Wolf«, sagte sie aufgebracht. Shanaman starrte sie empört an. Es war zu spät, um noch etwas zu unternehmen. »Meine liebe Dame«, sagte er gespreizt, »ich bedauere außerordentlich, daß Ihr Argwohn ein solches Stadium erreicht hat. Ah – Mr. Jones. Würden Sie einen Augenblick herkommen?« Jones hob den Kopf, sah, was vorging, und hastete heran. Ich sah das Geschäft zum Fenster hinausfliegen, als Jones ausholte und seiner Frau ins Gesicht schlug. Shanaman riß entsetzt die Hände hoch, dann stürmte er auf seine Frau zu. Dann passierte alles auf einmal. Maria tauchte plötzlich auf, flüsterte Jackie etwas ins Ohr und nickte zu Claire hinüber. Jackie brüllte auf, riß Jones herum und hieb ihm die Faust ins Gesicht. Shanaman stürzte mit seiner Frau zur Tür. Das war das Ende von Jones’ Abendgesellschaft. Maria berichtete mir auf dem Heimweg die Einzelheiten. Jones hatte ein Verhältnis mit Jackies Frau, Maria hatte Jackie in ihrer Besessenheit erklärt, wie weit es gegangen war, und er hatte zugeschlagen. Mrs. Jones’ hysterischer Angriff auf Shanaman rührte, wie ich annahm, aus Eifersucht her und dem Wunsch, Jones zu schaden. Es war ein totales Schlamassel, eine von diesen schrecklichen Geschichten, die furchtbar sind, während sie ablaufen, und hinterher komisch. Jones stand nicht mehr auf, nachdem Jackie ihn niedergeschlagen hatte. Er fiel mit dem Hinterkopf auf den gußeisernen Kaminbock und starb. Der Rest war schlimm. Als der Prozeß vorbei war und man den armen Feltner ins Gefängnis gesteckt hatte, war nicht mehr viel übrig für mich. Das unliebsame Aufsehen nahm uns viele 189
Werbeaufträge, und außerdem gab es ohnehin schon zu viele Stationen in der Stadt. Damit war aber noch nicht Schluß. Eddie Gretchen erwies sich als der Mann mit den tausend Freunden, die nie von ihm gehört hatten. Shanaman hatte mich auf die schwarze Liste gesetzt, und ich kam nirgends mehr an. Und das nach sieben Jahren beim Funk! Es war wirklich unerfreulich. Ich hatte immer Geld gehabt und wußte nicht, wie ich das Armsein lernen sollte. Ich lernte es. Maria hatte zweitausend Dollar gespart, aber die waren so schnell verbraucht wie meine eigenen nicht sehr großen Ersparnisse. Nur mühsam konnte ich unter einem anderen Namen ein paar Artikel an den Mann bringen, sonst hätten Maria und ich verhungern müssen. Wir verloren die Wohnung, die Möbel und den Wagen. Schlimm. Aber Maria konnte ich nicht verlieren. Sie verließ mich beinahe nach dem Prozeß, weil sie sich schuldig fühlte, aber das redete ich ihr aus. Sie wurde morbid und drehte eines Tages das Gas auf. Ich kam rechtzeitig dazu, und sie wurde gerettet. Danach wurde sie vernünftig und versuchte zu helfen, statt zu behindern. Wenn ich daran denke, wie sie auf den Knien liegend Böden schrubbte, weiß ich, was es heißt: ›In guten und in schlechten Tagen…‹ Ich stand vor dem Funkhaus und fror, weil ich vor sechs Wochen meinen Wintermantel verkauft hatte. Ich hatte kein Ziel und wollte so früh auch nicht zu Maria zurück. Stadteinwärts, stadtauswärts, quer – war mir alles gleich. Ein Mann kam heran, sah mich an und gab mir einen Zettel. Darauf stand: ›Können Sie mir sagen, wie ich von hier zur Südfähre komme?‹ 190
Ich sagte: »Sicher. Nehmen Sie die U-Bahn in der Seventh Avenue -« Er schüttelte den Kopf und deutete auf sein Ohr. Ich nahm den Bleistift, den er mir hinhielt, und schrieb ihm den Weg auf. Er lüftete den Hut und ging. Ich erinnere mich, daß ich mir überlegte, woher ein solcher Kerl so einen schönen warmen Mantel nahm. Ich hatte alle Sinne beieinander und keinen Mantel. Er ist taubstumm und hat einen Mantel. Ich will den Mantel haben. Dann überfiel mich die große Idee. Ich klatschte in die Hände, schrie wie ein betrunkener Indianer und rannte wie ein Wilder zu unserer Wohnung. Ich hetzte die Treppen hinauf und fiel keuchend in die Wohnung. Maria wußte nicht, was sie davon halten sollte, und kannte sich noch weniger aus, als ich zu Atem gekommen war und ihr alles zu erklären versuchte. Wenn sie besessen war, wollte ich wissen, konnte sie sich dann davor zurückhalten, auszusprechen, was sie wußte, wenn sie es aufschrieb? »Ich weiß nicht, Eddie. Ich habe es noch nie ausprobiert.« »Na, dann probier es aus, verdammt noch mal. Probier’s!« »W-wie?« Ich schaute auf die Uhr. »Komm, Kleines, zieh den Mantel an. Wir verschaffen uns Geld.« Sie war inzwischen an meine Art gewöhnt, sonst hätte sie nie mitgemacht. Ich sagte ihr erst am Leihhaus, daß das Geld von dem einzigen stammte, an das sie sich geklammert hatte – dem 191
Sternsaphir, den ich ihr als Verlobungsring einen Tag vor der Hochzeit geschenkt hatte. Ich nahm ihn ihr ab, drückte ihr einen alten Briefumschlag und einen Bleistiftstummel in die Hand und schob sie hinein. Ich kannte den Pfandleiher inzwischen gut. Der einzige Ire, den ich je in einer Pfandleihe gesehen hatte. »Terry, mein Freund«, rief ich, »ich tue Ihnen einen Gefallen. Geben Sie mir achtzig Kröten für den Ring, und Sie verlieren gar nichts.« Ich gab ihn ihm. Er brummte mürrisch. Maria wollte vortreten und etwas sagen. Ich schob sie zu einem Koffer und deutete auf Papier und Bleistift. Sie lächelte und begann zu schreiben. »Ich gebe Ihnen zehn«, sagte Terence. »Und ich geh’ woanders hin.« »Zwanzig, Sie junger Räuber.« » Fünfundsiebzig, Leichenfledderer.« »Zweiundzwanzigfünfzig und Schluß. Es ist Weißgold, kein Platin.« »Platin kostet zwanzig Kröten die Unze auf dem freien Markt, Gold fünfunddreißig. Kommen Sie mir nicht mit Ihren Juweliertricks.« Und keine Störung von Maria. »Dreißig Dollar«, sagte Terence. »Sagen wir zweiunddreißigfünfzig?« »Ja, dann aber Schluß.« 192
»Sie sind ein guter Geschäftsmann, Terence, und als solcher behandle ich Sie auch. Sie sind eben zehn Dollar ‘raufgegangen, und ich kann zehn nachlassen. Dann wären wir in der Mitte bei fünfundsechzig.« Maria schrieb eifrig. »Fünfzig Dollar, damit ich Sie los bin«, sagte der Pfandleiher mühsam. »Siebenundfünfzigfünfzig.« Wir einigten uns bei fünfundfünfzig Dollar. Ich unterschrieb, und als wir draußen waren, riß ich den Umschlag an mich. Maria hatte nicht weniger als zwölfmal geschrieben: ›Seien Sie nicht dumm. Der Neupreis war nur sechzig Dollar.‹ Ich küßte sie an Ort und Stelle. »Es funktioniert«, stieß ich hervor. »Es funktioniert!« Sie schaute den Umschlag an. »Die Wahrheit will heraus«, sagte sie lächelnd. »Aber, Eddie – ich wollte den Ring gar nicht versetzen.« »Sei still und überlaß das mir«, sagte ich. »Komm mit heim und zieh dein schönes Kleid an, das schwarzbraune mit den Rüschen.« »Aber das ist ein Abendkleid, Eddie. Wohin -« »- gehen wir? Zweiundfünfzigste Straße, Baby, und wir sammeln den ganzen Dreck von Gosse zu Gosse auf.« Ich blieb vor einem Smokingverleih stehen. »Ich gehe da ‘rein. Du gehst heim und machst dich hübsch.« 193
Nach zwei Stunden sahen wir flott aus. Wir fuhren mit der UBahn zur 50. Straße und nahmen für zwei Blocks ein Taxi. Ich hatte eine Reihe scharfgespitzter Bleistifte dabei. Maria mein kleines schwarzes Buch. Na, es lief wie von selber. Ich kam an einen Tisch, und weil ich gut aussah und mich auch so fühlte, glaubten die alten ›Freunde‹, ich sei wieder obenauf, und freuten sich, mich zu sehen. Maria saß still dabei, das Buch vor sich. Ich erzählte allen, sie sammle Material für einen Roman. Ab und zu blickte sie scharf auf ein paar Gesichter und begann zu kritzeln. Zur Abwechslung ließ ich einmal andere Leute bezahlen, und wir arbeiteten praktisch die ganze Straße durch. Am Ende hatten wir noch achtzehn Dollar, was ein Rekord war, und wir fuhren mit dem Taxi bis nach Hause. Den Rest der Nacht studierten wir das Buch. Was für eine Ernte! Material in Überfülle. Vorausinformationen über große Geschäfte, Spekulationen an der Börse, wer sich mit wem wie lange, warum traf, und was es kostete; welches Buch ein großes Filmstudio kaufen wollte, die Wahrheit über den abgesprochenen Boxkampf vom Montagabend. Maria war eine ausgezeichnete Redakteurin. Sobald sich der kleine Poltergeist aufgelöst hatte, verhielt sie sich zu dem Erfahrenen ganz unpersönlich. Aus den über zweihundert Themen nahmen wir zehn, die in den nächsten vierundzwanzig Stunden fällig waren. Sie waren sorgfältig ausgesucht, um den geringsten Schaden anzurichten, wenn sie veröffentlicht wurden, und sie waren ausnahmslos Knüller. Ein Fall von Sabotage, drei Seitensprünge, eine Entscheidung über den Drehort eines neuen Films, zwei 194
Geschäftsabschlüsse, ein diplomatischer Geniestreich, der Verfall der Option für einen Filmstar, und Name und Anschrift einer Firma, die einen großen Regierungsauftrag bekommen sollte. Ich schrieb den Text und brachte alles am nächsten Morgen zu der Zeitung mit der größten Auflage. Ich war vierzig Minuten in der Redaktion und verließ sie mit fünfzig Dollar Vorschuß. Am nächsten Tag bekam ich ein Telegramm, ich solle mich zur Arbeit melden. Alles war genauso gekommen, wie vorausgesagt. Ich bin also wieder groß im Geschäft. Ja, ich bin der Mann, von dem geredet wird, von dem es heißt: ›Haben Sie seine Kolumne schon gelesen? Woher hat der Mann das nur alles?‹ Ich habe es von meiner Frau, die still dabeisitzt und ein kleines schwarzes Buch vollschreibt. Sie hat es von hunderttausend kleinen Poltergeistern. Vom Funk will ich nichts mehr wissen. Der Name Eddie Gretchen ist dort noch immer verfemt, aber das stört mich nicht. Ich verwende ihn nicht mehr. Inzwischen werden Sie ja wissen, wer ich bin.
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SCHATTEN IN DER WAND
Es war lange nach der Schlafenszeit, und Bobby schlief. Er träumte von einem Ort mit schwarzen Schmetterlingen, die sitzen blieben, und mit einem Hund mit weicher Nase und stumpfen, freundlichen Gummizähnen. Es war ein dunkler Ort, angenehm mit verschwommenen, weichen Rändern, und er konnte alle Tiere springen lassen, wenn er wollte. Aber dann kam die scharfe Lichtsense, die alles wegmähte – außer in der verschatteten Glätte der nackten Wand neben der Tür; dort lebte immer jemand – und Mama Gwen kam ins Zimmer, das grelle Licht des Flurs hinter sich. Sie drückte auf den hochangebrachten Schalter, den er nicht erreichen konnte, und es wurde grausam hell. Mama Gwen verwandelte sich aus einer flachen, schwarzen lichtgeränderten Anordnung von Pappdreiecken in eine nachthelle Mama Gwen von der Art wie am Tag. Ihr Haar war breit, ihr Kinn schmal. Ihre Schultern waren breit, ihre Taille schmal. Ihre Hüften waren breit und ihr Rock war schmal, und darunter waren die zwei harten, seidigen Beinstäbe. Ihre Arme hingen von den breiten Schultern herab, 196
gerade und ellbogenlos, wenn sie ging. Sie bewegte die Arme beim Gehen nie. Sie bewegte sie überhaupt nie, wenn sie damit nicht etwas tun wollte. »Du bist wach.« Ihre Stimme war hart, flach, spitzig. »Ich hab’ geschlafen«, sagte Bobby. »Widersprich nicht. Steh auf.« Bobby setzte sich auf und bohrte sich die Fäuste in die Augen. »Ist Papi -« »Dein Vater ist nicht im Haus. Er ist fort. Er wird einen ganzen Tag nicht zurückkommen – vielleicht zwei. Du brauchst also gar nicht nach ihm zu schreien.« »Wollte nicht nach ihm schreien, Mama Gwen.« »Na gut. Steh auf.« Bobby stand verwirrt auf. »Nimm dein Spielzeug, Bobby.« »Was für Spielzeug, Mama Gwen?« »Dein Spielzeug – alles!« Er ging zur Spielkiste und hob den Deckel. Gollywick, Humptydoodle und die Blöcke nahm er heraus; das Stück von einer alten Schellackplatte, das rissige Zuckerei mit dem Mädchen darin, das Papp-Kaleidoskop und den Zauberkasten mit den sieben silbrigen Ringen. Den Trick konnte nur Papi, er nicht. Er nahm alles heraus und legte es auf den Boden. 197
»Hierher«, sagte Mama Gwen. Sie deutete auf ihre Füße. Er hob die Sachen auf und brachte sie ihr der Reihe nach, bis sie alle dalagen. »Ordentlich, ordentlich«, murmelte sie. Sie kippte in der Mitte wie ein Garagentor und machte etwas mit den Spielsachen, bis sie zu einem geordneten Stapel wurden. »Hol den Rest«, sagte sie. Er schaute in die Spielkiste und nahm die alte Schreibtafel und den Kreidekasten heraus, das Geschichtenbuch und eine alte Kerze, und das war alles aus der Kiste. Im Schrank lagen noch kleine Boxhandschuhe und ein Tennisschläger mit gerissenen Saiten und eine alte Ukulele ganz ohne Saiten. Er brachte es ihr, und sie legte es zu dem anderen. »Die Sachen auch«, sagte sie und beugte endlich den Arm, um nach hinten zu deuten. Von der Kommode zwei Eichhörnchen und ein Affe, die Papi aus Pfeifenreinigern gemacht hatte, ein kleines Stück Fensterglas, das er in der Henry Street gefunden hatte, ein Brummkreisel, der klang, als sei man in der Kirche, und die kaputte Uhr, die Jerry vorige Woche auf der Veranda hatte liegen lassen. Bobby brachte alles zu Mama Gwen. »Tust du mich in ein anderes Zimmer?« »Nein.« Mama Gwen hob den Stapel auf. Der Brummkreisel fiel herunter und rollte umher. »Hol ihn«, sagte Mama Gwen. Bobby hob ihn auf und hielt ihn ihr hin. Sie bückte sich, bis er ihn auf den Stapel legen konnte, zwischen Tennisschläger und Kreideschachtel. Mama Gwen sagte nicht Danke, sondern ging hinaus und ließ Bobby stehen. Er hörte ihre harten Füße durch den Flur gehen, hörte, wie sie die Tür zum Gästezimmer 198
aufstieß. Ein Klappern und Rasseln, als sie seine Sachen auf das Bett warf. Dann kam sie zurück. »Warum bist du nicht im Bett?« Sie klatschte in die Hände. Sie klangen trocken, wie brechende Äste. Erschrocken hüpfte er ms Bett und zog die Decke bis zum Kinn hinauf. Früher hatte es jemanden gegeben, der eine warme Wange und ein sanftes Wort für ihn gehabt hatte, wenn er das tat, aber das war lange her. Er sah Mama Gwen an. »Du bist bös gewesen«, sagte sie. »Du hast im Schuppen ein Fenster zerbrochen und Dreck in meine Küche geschleppt, und du warst laut und frech. Du bleibst also ohne deine Spielsachen in diesem Zimmer, bis ich sage, daß du herauskommen darfst. Hast du mich verstanden?« »Ja«, sagte er. Schnell, weil es ihm noch rechtzeitig einfiel, sagte er: »Ja, Ma’am.« Sie drückte schnell, ohne Warnung, auf den Schalter, so daß die Dunkelheit ihn überraschte. Aber gleich war es wieder das Zimmer mit der Lichtsense und dem verschatteten Etwas in der oberen Ecke der Wand an der Tür. Dort regte sich immer etwas. Sie ging, stieß die Tür zu, ließ die Dunkelheit zurück und nahm das Licht fort, bis auf einen gelben Spalt unter der Tür. Bobby wandte den Blick davon ab, und einen Augenblick, nur einen Augenblick lang, war er in seinen Schattenbildern, wo der Hund mit dem Gummigebiß und die schwarzen Schmetterlinge lebten. Manchmal blieben sie… aber meistens waren sie verschwunden, sobald er sich bewegte. Oder sie verwandelten sich 199
in etwas anderes. Jedenfalls gefiel es ihm da, wo sie alle lebten, und er wäre gern bei ihnen gewesen, im Schattenland. Bevor er einschlief, sah er sie in der nackten Wand neben der Tür sich bewegen. Er lächelte sie an und schlief ein. Als er wach wurde, war es früh. Er konnte noch nicht einmal den Kaffee unten riechen. An der Wand war ein gelblicher Sonnenfleck, ein unregelmäßiges Viereck, und wartete auf ihn. Er sprang aus dem Bett und lief hin. Er wusch sich die Hände darin und kauerte mit ausgebreiteten Armen am Boden nieder. »Jetzt!« sagte er. Er schob die Daumen ineinander und flatterte langsam mit den Händen. Und da war an der Wand ein schwarzer Schmetterling, der seine Flügel im gleichen Takt schlug. »Hallo, Schmetterling«, sagte Bobby. Er ließ ihn springen. Er ließ ihn zur Unterseite des Lichtflecks schweben und seine Flügel zusammenfalten. Plötzlich riß er eine Hand weg, schob den Ärmel zurück, und da! Schon war eine langhalsige Ente zur Stelle. »Quackquack!« sagte Bobby, und die Ente öffnete gehorsam den Schnabel. Bobby ließ ihren Schnabel sich krümmen, bis sie ein Adler war. Er wußte nicht, welchen Laut ein Adler von sich gab, also sagte er: »Adler-adler-adler«, und das klang gut. Er lachte. Als er lachte, riß Mama Gwen die Tür auf und stand da in geradem weißem Bademantel und geraden flachen Hausschuhen. »Womit spielst du?« Bobby hob die leeren Hände. 200
»Ich habe nur – « Sie trat zwei Schritte ins Zimmer. »Steh auf«, sagte sie. Ihre Lippen waren blaß. Bobby stand auf und fragte sich, weshalb sie so wütend war. »Ich habe dich lachen hören«, sagte sie mit flüsternder Stimme. Sie sah ihn von oben bis unten an, blickte auf den Boden um ihn. »Womit hast du gespielt?« »Mit einem Adler«, sagte Bobby. »Einem was? Sag die Wahrheit!« Bobby bewegte die leeren Hände und wandte den Blick von ihr ab. Sie hatte ein so zorniges Gesicht. Sie packte sein Handgelenk, zog seinen Arm so hoch, daß er sich auf die Zehenspitzen stellen mußte, und tastete mit der anderen Hand seinen Körper ab. »Du versteckst etwas. Was ist es? Wo ist es? Womit hast du gespielt?« »Mit nichts. Wirklich mit nichts«, keuchte Bobby, während sie ihn schüttelte und abtastete. Sie schlug nicht zu. Sie schlug nie zu. Sie tat andere Dinge. »Du wirst bestraft«, sagte sie mit ihrem schrillen, zornigen Flüstern. »Dumm, dumm, dumm… zu dumm, um zu wissen, daß du bestraft wirst.« Sie ließ ihn heruntersinken und ging zur Tür. »Daß ich dich nicht wieder lachen höre. Du bist böse gewesen, und du hast keinen Stubenarrest, damit du dich amüsierst. Du bleibst jetzt hier und überlegst dir, wie schlimm du warst. Fenster zerbrechen! Dreck hereinschleppen! Lügen!« 201
Sie ging hinaus und schloß die Tür fest. Bobby starrte die Tür an und dachte kurz an das zerbrochene Fenster. Es hatte ihm sehr leid getan, aber der Golfball sprang so fest auf. Papi hatte ihm erklärt, er müsse vorsichtiger sein, und er hatte traurig zugesehen, als Papi eine neue Scheibe eingesetzt hatte. Dann hatte Papi ihm einen Klumpen Kitt zum Spielen gegeben und ihn gebeten, es nicht wieder zu tun, und er hatte es versprochen. Und die ganze Zeit hatte Mama Gwen kein Wort darüber zu ihm gesagt. Sie hatte ihn nur ab und zu angesehen und gewartet. Gewartet, bis Papi fortgegangen war. Er kehrte zu seinem Sonnenstrahl zurück und vergaß Mama Gwen. Nachdem er noch einen Schmetterling und einen Hundekopf und ein Krokodil an der Wand gemacht hatte, wurde der Sonnenstrahl so dünn, daß er nichts mehr machen konnte. Er saß auf der Bettkante und beobachtete das undeutliche Zucken des Etwas, das in der Wand lebte. Es war ein anderes Etwas. Es war kein gutes Etwas, und es war nicht schlecht. Es lebte dort einfach, und der Unterschied zu den anderen, den Schmetterlingen und Hunden und Schwänen und Adlern, die dort lebten, war, daß das Etwas seine Hände nicht brauchte, um lebendig zu werden. Das Etwas – war einfach da. Eines Tages würde er einen Schmetterling oder einen Hund oder ein Pferd machen, das auch dableiben würde, sobald er die Hände fortnahm. »Ich gehe einfach ‘rein und spiele mit dir«, sagte Bobby zu dem sich regenden Etwas im Schattenland. »Warte nur.« 202
Im Hof stand ein roter Wagen mit drei Rädern, und es gab einen knorrigen Baum zum Besteigen. Jerry kam und rief eine Weile, aber Mama Gwen schickte ihn fort. »Er war böse.« Jerry ging wieder. Böse böse böse. Seltsam, daß das, was er tat, nicht böse gewesen war, bevor Papi Mama Gwen geheiratet hatte. Mama Gwen wollte Bobby nicht. Das machte nichts – Bobby mochte Mama Gwen auch nicht. Papi sagte manchmal zu erwachsenen Leuten, es sei viel besser, wenn Bobby jemanden habe, der sich um ihn kümmere. Bobby konnte sich erinnern, wie er das früher gesagt hatte, mit heller Stimme, den Arm um Mama Gwens Schultern. Dann hatte er es von der anderen Seite des Zimmers her leise gesagt, mit einer Stimme wie ein zorniges ›Es tut mir leid‹. Und jetzt hatte er es schon lange nicht mehr gesagt. Bobby legte sich hin und summte leise vor sich hin, bis er einschlief. Und den ganzen Nachmittag zuckte das Ding in der Wand, regte sich und lebte. Als es dunkel wurde, kam Mama Gwen zurück. Bobby mochte sie auf der Treppe gehört haben. Als die Tür aufging, hatte er sich jedenfalls aufgesetzt und rieb sich die Augen. Die Decke strahlte hell auf. »Was hast du gemacht?« »Geschlafen, glaub’ ich. Ist schon Abend?« 203
»Beinahe. Du wirst wohl Hunger haben.« Sie trug einen bedeckten Teller. »Mmm.« »Was ist das für eine Antwort?« fauchte sie. »Ja, Ma’am, ich habe Hunger, Mama Gwen«, sagte er schnell. »Das ist etwas besser. Hier.« Sie hielt ihm den Teller hin. Er nahm den Deckel herunter. Haferschleim. Er sah ihn an, sah sie an. »Nun?« »Danke, Mama Gwen.« Er begann mit dem Teelöffel zu essen, der in der graubraunen Masse steckte. Auf dem Brei war kein Zucker. »Du erwartest wohl, daß ich dir Zucker hole«, sagte sie nach einer Weile. »Nein«, sagte er ehrlich, und dann fragte er sich, warum ihre Miene so zornig und enttäuscht wirkte. »Was hast du den ganzen Tag gemacht?« »Nichts. Gespielt. Dann hab’ ich geschlafen.« »Kleiner Nichtsnutz.« Plötzlich schrie sie ihn an: »Was ist los mit dir? Bist du zu dumm, um Angst zu haben? Bist du zu dumm, mich zu bitten, ob du hinunterkommen darfst? Bist du zu dumm zum Weinen? Warum weinst du nicht?« Er starrte sie mit großen Augen an. 204
»Du läßt mich nicht hinunter, wenn ich frage«, sagte er staunend. »Und drum frag’ ich nicht.« Er löffelte Haferbrei. »Ich brauch’ nicht zu weinen, Mama Gwen, mir tut nichts weh.« »Du bist böse und wirst bestraft, und das muß weh tun«, sagte sie aufgebracht. Sie knipste mit einer heftigen Bewegung das Licht aus und warf die Tür hinter sich zu. Bobby saß im Dunkeln und wünschte sich, ins Schattenland gehen zu können, so, wie er es sich immer erträumte. Er würde hingehen und mit den Schmetterlingen und den wolligen, stumpfzahnigen Hunden und Giraffen spielen, und er würde bleiben, und sie würden bleiben, und Mama Gwen würde nie hineinkönnen, niemals. Aber Papi würde auch nicht mitkommen können, und Jerry nicht, und das war schade. Bobby stieg aus dem Bett und schlich zur anderen Seite, wo eine kleine Tischlampe stand. Er nahm sie herunter und legte sie vorsichtig auf den Boden. Die Lampe hatte einen runden Schirm, der oben offen war. Auf der Seite liegend richtete sich die Öffnung auf die nackte Wand an der Tür. Bobby holte aus dem Schrank seinen dunkelroten Bademantel. Er faltete ihn einmal zusammmen und legte ihn über das weite untere Ende des Lampenschirms. Er drückte auf den Knopf. An der Schattenlandwand erschien ein greller Lichtkreis, durchkreuzt von den dünnen Linien der vier Drähte, mit denen der Schirm festgehalten wurde. In der Mitte befand sich ein dunkler Punkt, wo sie zusammenliefen. 205
Bobby setzte sich zwischen Lampe und Wand und streckte die Hand aus. Eine Ente. »Quackquackquack«, flüsterte er. Ein Adler. »Adler-adler-adler«, sagte er leise. Ein Krokodil. »Bap bap«, machte das Krokodil, als es die lange Schnauze auf- und zuklappte. Er zog die Hände zurück und betrachtete das runde, durchkreuzte Licht. Der verschwommene Mittelpunkt und die ausstrahlenden Linien ließen es wie einen Wasserkäfer aussehen. Er war bald unzufrieden damit, weil dieser sich nicht bewegte. Er schob den Daumen in den Mund und biß drauf herum, bis ihm ein Gedanke kam. Er kroch unter das Bett und fand seine Hausschuhe. Er legte einen vor die Lampe auf den Boden und stellte den anderen mit der Spitze nach oben daran auf. Er betrachtete die Wand, dann legte er sich auf den Bauch. Er beobachtete den Schatten genau, schob die Ellbogen zusammen und verschmolz den Schatten seiner Hände mit dem des Hausschuhs. Das Ergebnis begeisterte ihn. Es war so etwas wie eine Spinne, und auch so etwas wie ein Gorilla. Es war etwas ganz Neues, das noch nie jemand gesehen hatte. Er bewegte die Finger und hielt sie wieder still. Jetzt hatte der klobige Schädel dreieckige leuchtende Augen und einen gaffenden Unterkiefer. Es hatte lange Arme zum Greifen und ein zartes Gewirr von Fühlern. Er bewegte sich ganz wenig, und es wackelte mit dem großen Kopf und blinzelte ihn an. Er spürte plötzlich, daß das zuckende Ding, das in der oberen Ecke lebte, herausgekrochen 206
und zu dem Wesen, das er geschaffen hatte, heruntergekommen war, näher und immer näher, bis – huii! – es lautlos mit dem Wesen verschmolz. Bobby krähte vor Begeisterung. »Bleib, bleib«, flehte er. »O bleib doch! Ich streiche!’ dich! Ich geb’ dir was Gutes zu essen! Bitte, bleib, bitte!« Das Wesen funkelte ihn an. Er glaubte, daß es bleiben würde, wagte aber die Hände noch nicht wegzunehmen. Die Tür wurde krachend aufgerissen, der Schalter knackte, das Zimmer füllte sich mit einer Lichtexplosion. »Was machst du da?« Bobby lag wie erstarrt, die Ellbogen vor sich auf dem Teppich, die Unterarme aneinandergelegt, die Hände seltsam verbogen. Er legte das Kinn auf die Schulter, damit er sie ansehen konnte, wie sie dastand, steif und drohend. »Ich hab’ – ich hab’ nur -« Sie stürzte sich auf ihn. Sie riß ihn hoch und warf ihn auf das Bett. Sie stieß mit den Füßen seine Hausschuhe fort. Sie riß die Lampe hoch und den Stecker aus der Dose. »Du solltest keine Spielsachen haben«, sagte sie mit ihrer zischenden Stimme. »Das heißt auch, daß du keine Spielsachen machen darfst. Dafür bleibst du jetzt im Zimmer, bis – was starrst du so?« Bobby breitete die Arme aus und preßte die Hände begeistert zusammen. Seine Augen funkelten, und er lächelte. 207
»Er ist geblieben, wirklich«, sagte Bobby. »Er ist geblieben!« »Ich weiß nicht, wovon du redest, und ich bleibe auch nicht hier, um es herauszubekommen«, fauchte Mama Gwen. »Ich glaube, du bist nicht normal.« Sie marschierte zur Tür und drückte auf den Schalter. Es wurde dunkel im Zimmer – bis auf die nackte Wand neben der Tür. Mama Gwen schrie auf. Bobby bedeckte die Augen. Mama Gwen kreischte wieder, heiser diesmal. Es war ein Laut wie das Bellen eines Hundes, aber langgezogen. Es blieb lange still. Bobby guckte durch die Finger auf die schwach leuchtende Wand. Er ließ die Hände sinken, setzte sich gerade auf, zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit den Armen. »Na also!« sagte er. Schritte hasteten herauf. »Gwen! Gwen!« »Hallo, Papi.« Papi rannte herein und machte Licht. »Wo ist Mama Gwen, Bobby? Was ist passiert? Ich hörte einen -« Bobby deutete auf die Wand. 208
»Sie ist da drinnen«, sagte er. Papi konnte ihn nicht verstanden haben, denn er fuhr herum, lief hinaus und schrie: »Gwen! Gwen!« Bobby blieb sitzen und beobachtete den verblassenden Schatten an der Wand, sichtbar sogar im grellen, Licht der Deckenlampe. Der Schatten bewegte sich, regte sich. Es war ein Dreieck, auf die Spitze gestellt, in ein zweites solches Dreieck gesteckt, das in ein drittes, und darunter waren zwei harte Beinstäbe. Es hatte die Arme hochgerissen, die Schattenfäuste geballt, und es hämmerte unentwegt lautlos an die Wand. »Jetzt gehe ich nie ins Schattenland«, sagte Bobby befriedigt. »Sie ist dort.« Und er ging nie hin.
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TWINK
Betäubt legte ich den Hörer auf die Gabel. Ich muß hier ‘raus, dachte ich. Ich muß den Alten fragen. Ich muß heim. Aber da kam der Alte eben aus dem Büro. Zum erstenmal war ich froh darüber, daß mein Schreibtisch unmittelbar davorstand. Ich schaute zu ihm auf und wirkte wohl sorgenvoll. Er blieb bei mir stehen. »Stimmt was nicht?« Ich befeuchtete die Lippen, brachte aber nichts heraus. Warum kann ich nicht sagen: ›Ich muß hier ‘raus‹? »Das Kleine?« »Ja«, sagte ich. »Wir müssen sie heute nachmittag hinbringen.« »Na, dann ‘raus hier«, sagte er brüsk. Ich stand auf. Ich konnte ihn nicht ansehen. »Danke.« 210
»Schnauze«, sagte er brummig. »Rufen Sie an, wenn Sie was brauchen.« »Ich brauche nichts.« Außer Mut. Glauben, wenn man so will. Und die Art von Heuchelei, mit der man vor einem Kind verbergen kann, wieviel Angst man hat. Ich griff nach meinem Hut. Der Alte stand einfach da. Ich schaute mich an der Tür um, und er stand immer noch da und starrte die Stelle an, wo ich gewesen war. Ich schrie ihn beinahe an, um ihm zu erklären, daß ich kein Monstrum sei; sehen Sie sich meine Bügelfalten in meiner blauen Hose an, meine geputzten Schuhe, genau wie die Ihren; mein Haaransatz weicht zurück – schauen Sie, ich hab’ Sodbrennen und einen Klumpen in der Kehle! Gleichzeitig wollte ich etwas anderes brüllen, ja, Sie sind nett zu mir gewesen, weil Sie wissen, was mit mir, mit meinem Kind ist; aber Sie können nicht wissen, wie es ist. Sie glauben es, klar, aber Sie können nicht wissen, wie es ist. Am Lift mußte ich warten, und das schien nicht richtig zu sein. Alle Kabinen waren in Fahrt, und das war nicht richtig. Alles sollte stillstehen, außer einer Liftkabine für mich, und die mußte sofort kommen! Hinter mir hörte ich wump-batsch, wump-batsch, und sah aus dem Augenwinkel Bernie Pitt mit seinen Krücken. Ich drehte mich so, daß ich ihm den Rücken zuwandte. Bernie ist ein netter Kerl, aber ich wollte jetzt mit niemandem reden. Es war, als würde der Lift dadurch gebremst werden. 211
In der Glasscheibe der Tür konnte ich sehen, daß er mich betrachtete. Er hatte meinen Hut bemerkt und wußte Bescheid über mich und Twink und den Unfall und hielt rücksichtsvoll Abstand. Der Alte war auch rücksichtsvoll. Der Alte tat immer das Richtige, Rücksichtsvolle. Er hatte Bernie eingestellt, der ein Krüppel war. Ich haßte mich für diesen Gedanken. Ich haßte Bernie deswegen. Ich funkelte sein Spiegelbild an. Eine der Aufzugtüren öffnete sich, und ich fuhr herum. »Aufwärts!« sagte der Liftführer. Bernie humpelte hinein, ohne mich anzusehen. Die Tür ging zu. Ich wünschte mir einen großen Stein, um ihn gegen den Lift schleudern zu können. Ich versuchte mich zusammenzunehmen. Ich wußte, was im Gange war. Erschreck jemanden stark genug, dann mach das, was er fürchtet, diffus und ungreifbar, und er wird wild um sich schlagen. Dann schlag nur, mein Junge, sagte ich mir, und werd es los, bevor du heimkommst. »Hinunter?« fragte der Liftführer. Ich zwängte mich in die Kabine und hatte das Gefühl, mit Recht auf den Liftführer wütend zu sein, weil er so lange gebraucht hatte. Der Lift war voll von Eindringlingen, und die Fahrt dauerte ewig, und einen Augenblick lang wurde ich so wild, daß ich die Schultern hätte hochziehen und sie alle mit Adrenalin überschütten können. Dann gingen die Türen wieder 212
auf, und da war die Halle mit dem Weg nach draußen, und die Büros engten mich nicht mehr ein, und die Leute störten nicht mehr. Ich lief hinaus, vertraute meinen Beinen und ließ mich davontragen. Wie kann es in deinem Kosmos Unwirklichkeit geben? fragte ich mich. Der Tag, an dem Twink ins Krankenhaus kommt – das ist heute; er ist da. Er war die ganze Zeit wirklich, obwohl er in der Zukunft lag; er war wirklicher als die meisten Dinge in der Welt. Und jetzt ist er da, und du läufst unter Wasser und siehst durch dunkle Schwaden. Aber die ganze Welt hilft. Nichts ist so unwirklich für einen Pendler, wie ein Bahnhof um zehn Uhr vormittags. Die Züge sehen aus wie große Larven. Die Eisenbahner unterhalten sich, so als wäre es nicht ihre Pflicht, mich heimzubringen, bevor die Knochenbrecher an meinem kleinen Mädchen zu arbeiten anfangen. Ich ging hin und sagte: »Baytown?« Sie sahen mich an, als hätte ich hier nichts zu suchen. Ich stieg in den Zug, setzte mich und schaute auf die Uhr. Vier Minuten. Sie wollten mich vier Minuten warten lassen. Ich saß in einem leeren Wagen und starrte die Sitze an, die Reklame. Ich schnaubte und griff nach einer Zeitung, die jemand hatte liegenlassen. Sie war völlig in Unordnung. Ich brachte sie wieder in Ordnung. ›Munterer Tony wird schwächer. 213
Kind liegt im Sterben. Geschenke und gute Wünsche in Massen zum frühen Geburtstag. New York, 25. Juni (AP) – Das Kind des Jahres, der fünfjährige Tony Marshall, ist im MemorialKrankenhaus unter ein Sauerstoffzelt gelegt worden, während ein Stab von Krebsspezialisten rund um die Uhr an seinem Bett wacht. Die Hoffnungen darauf, daß er seinen sechsten Geburtstag im August erlebt, sind geschwunden. Der Junge, dessen berühmtes Lächeln ihn von Küste zu Küste als Munteren Tony bekanntgemacht hat, leidet an fortgeschrittener Leukämie.‹ Wütend warf ich die Zeitung in eine Ecke. Sie flatterte in der Luft auseinander. Ich fluchte, stand auf, schob sie wieder zusammen und stopfte sie zwischen zwei Sitze. »Munterer Tony«, murmelte ich. Eine Verzerrung der Gesichtsmuskeln, die Wölbung des Kiefers, der Lichteinfall und die Anwesenheit eines Fotografen – nimm alles zusammen, und du hast einen Nationalhelden. Was nützte es den Leuten, wenn sie vom Munteren Tony lasen oder schrieben? Was nützte es Tony? Einen üblen Augenblick lang wünschte ich mir, mit Tonys Vater tauschen zu können. Er brauchte sich nur um Krebs Sorgen zu machen, hübschen, sicheren Krebs, und sobald das erledigt ist, ist es vorbei. Aber ich neidete ihm das Aufsehen nicht, und zum hunderttausendstenmal dankte ich den Göttern, daß so wenige Leute über Twink Bescheid wußten. 214
Die Türen schlossen sich, und der Zug fuhr an. Ich seufzte erleichtert, lehnte mich zurück und fragte mich, wie ich die Zeit antreiben könnte. Nicht die Zeit; den Zug. Ich stemmte die Beine nutzlos gegen den anderen Sitz, berechnete kindisch, was ich tat – vierzig Pfund Druck vorwärts, vierzig Pfund Schulterdruck rückwärts – setzte mich auf und kam mir vor wie ein Narr. Ich blickte wieder auf die Reklame. Vielleicht hatte ich alles ganz falsch gemacht. Vielleicht hätte ich bei Twink einfach Reklamemethoden anwenden sollen. Das waren schließlich geprüfte Techniken. »Entspann dich mit Sauerstoff«, hätte ich sagen sollen. »Leb«, hätte ich ihr zwölfmal in der Minute sagen sollen, im besten Befehlston. »Leb… leb.« Und: »Wehr dich nicht. Laß den Doktor arbeiten. Es wird leichter sein.« Als was? Und natürlich: »Twink. Alle kennen Twink. Alle lieben Twink.« Bis sie es glaubt… Mein Zorn verwandelte sich in eine schleichende Depression. Ich fühlte mich völlig allein. Ich war anders. Isoliert. Isolierter als Bernie, der ein halbes Bein in Vietnam gelassen hatte. Mehr als Sue Gatskell, die einzige Farbige bei uns – o je, schon wieder eine gute Tat vom Alten. Warum konnte nicht – außer Twink – das jemand mit mir teilen? Nicht einmal Doris konnte es. Doris liebte mich; sie aß mit mir, schlief mit mir, machte sich mit mir Sorgen und hoffte mit mir, aber diese Sache mit Twink konnte sie nicht mit mir teilen. Sie war einfach nicht ausgerüstet dafür, auch wenn sie Twinks Mutter war. 215
Plötzlich fand ich etwas anderes, worauf ich wütend sein konnte. Ihr Kerle, dachte ich, ihr Eisenbahningenieure, die ihr pneumatische Stoßdämpfer und fugenlose Schienen erfunden habt – ist euch schon einmal der Gedanke gekommen, daß man in einem Zug etwas hören möchte? Vor zwanzig Jahren hätte ich dem Rattern der Räder lauschen und ein Lied dazu erfinden können. Bippety-clink, arme Twink, laßt sie nicht sterben Schon gut – wenn ich es mir recht überlege, könnt ihr eure fugenlosen Schienen behalten. »Baytown«, sagte der Lautsprecher kultiviert, und die Bremsverzögerung half mir aus dem Sitz. Ich huschte durch die Tür, bevor sie noch ganz aufgegangen war, wollte das Plättchen in den Schlitz am Drehkreuz stecken, verfehlte ihn, schlug mir die Knöchel an, ließ das Plättchen fallen, hob es auf, steckte es in den Schlitz, wartete eine Ewigkeit – na ja, drei Sekunden – bis meine Quittung herauskam. Beinahe wäre mir eine Sicherung durchgebrannt, weil kein Taxi da war, aber es war eins da. Ich konnte meine Adresse nicht angeben, weil der Fahrer sie kannte, und ich konnte ihn nicht bestechen, weil er von der Siedlung bezahlt wurde, und außerdem hatte seine Turbine eine Drosselung. Ich konnte nur dasitzen und am Daumen kauen. Das Haus war ganz still. Aus irgendeinem Grund hatte ich sie im Kinderzimmer vermutet, aber da war nichts zu hören. Doris lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und wirkte schläfrig. 216
»Doris!« »Pst. Hallo. Twink schläft.« Ich lief zu ihr. »Ist sie… hast du… bist du…« Sie fuhr mir durchs Haar. »Pst«, sagte sie noch einmal. »Meine Güte, es wird schon alles gut.« Ich beugte mich herunter und sagte leise: »Angst. Ich habe Angst.« »Ich auch«, sagte sie vernünftig, »aber ich breche nicht zusammen.« Ich kniete vor ihr und saugte von ihr eine Art Kraft, eine Art Frieden auf. »Verzeih, Liebling. Ich war – « Ich schauderte. »Im Zug habe ich vom Munteren Tony gelesen. Ich habe mir überlegt, wie sie es mit uns machen würden, wenn sie es wüßten.« »Noch schlimmer.« Sie lachte beinahe. »Die viele Post, die Reporter, die Fernsehkameras. Das Aufsehen. Der Lärm.« Wir lauschten gemeinsam der Vormittagsstille. »Danke«, flüsterte sie. »Wofür?« »Daß du es ihnen nicht gesagt hast. Daß du – nun, daß du da bist. Das wollte ich sagen. Und für Twink.« 217
»Für Twink?« »Natürlich. Sie ist mein kleines Mädchen. Ohne dich hätte ich sie nie kennengelernt.« »Ich finde, mit zum Schönsten gehört, wie Mutterschaft Frauen verändern kann«, sagte ich. Sie antwortete, aber mit den Augen. Dann sagte sie: »Zu Mittag müssen wir dort sein.« Ich schaute auf die Uhr, sprang auf, drehte mich nach links, drehte mich nach rechts. Doris lachte. »Wie lange brauchen wir ins Krankenhaus?« »Na ja, zehn Minuten, aber wir müssen – müssen wir denn nicht?« »Nein. Wir haben über eine Stunde Zeit. Setz dich und hilf mir, still zu sein. Willst du etwas essen, bevor wir gehen?« »Nein, guter Gott, nein. Soll ich dir -« »Nicht für mich.« »Oh.« Langsam setzte ich ‘mich wieder. Sie kicherte. »Du bist komisch.« »Ja.« »Hast du Schwierigkeiten gehabt, wegzukommen?« Sie machte Konversation, aber ich tat mit. 218
»Nein«, sagte ich. »Der Alte hat mir einen Blick zugeworfen, nachdem du angerufen hattest, und mich hinausgejagt.« »Er ist so großartig – sag nicht immer ›der Alte‹!« »Er macht mich wahnsinnig«, knurrte ich. »Nach allem, was er getan hat?« »Ja, nach allem, was er getan hat«, sagte ich gereizt. Gerade deshalb, dachte ich. Ich war mein ganzes Leben hindurch ein Außenseiter. Im College kamen sie dann auf diese Sache bei mir, und ich wurde eine Laboratoriumskuriosität. Ich kam in die Zeitungen. Nicht zuviel – nur soviel, daß ich keine anständige Stellung bekam, nachdem ich das Studium abgeschlossen hatte. Außer beim Alten, versteht sich. Ich bewarb mich nicht; er schrieb mir. So stellte er alle Leute an. Leute mit einem Bein. Blinde in der Personalabteilung. Ehemalige Strafgefangene, die sonst nichts fanden. Nach einer Weile begriff man aber, daß man dort nicht arbeiten würde, wenn mit einem alles in Ordnung gewesen wäre. Es war, als habe man sein ganzes Leben hungern müssen, bis man dahinterkam, daß man gut ernährt und gepflegt werden konnte, bis man starb – in einer Aussätzigenstation. Aber ich sagte: »Verzeih, Doris. Ich bin einfach undankbar, das ist es… Twink wird wach.« »O je! Ich dachte, sie schläft vielleicht bis -« »Pst.« 219
Seit dem Unfall – ich hatte den Wagen zum Überschlagen gebracht; es heißt, daß das mit den heutigen Autos nicht mehr geht, aber ich schaffte es – hatte mich Twink jedesmal erschreckt, wenn sie wach wurde. Sie war aus dem normalen Schlaf eines normalen Babies gekommen und in eine erschreckende Stillheit geraten, ein Aufhören von allem außer dem Leben selbst. Es war wohl ein Koma, aber ich hatte sieben Wochen davon durchgemacht, und selbst jetzt war der kurze Übergang vom Schlaf zum Wachsein so mit Schrecken und Schuld für mich erfüllt, daß ich es kaum ertragen konnte. Und wenn man dazunimmt, daß ich das verbergen mußte, daß ich vor allem Kraft für sie haben mußte und Trost, wenn sie wach wurde… Dann war es vorbei; sie war wach, verwirrt, dumpf glücklich. »Hallo, Baby. Wie geht es meiner Twink?« Doris, angespannt auf dem Sofa, ohne zu atmen, wartend »Alles ist gut. Twink geht es gut«, sagte ich. »Aber natürlich!« Ich warf Doris einen Blick zu. In ihrer Maske war kein Sprung zu sehen, aber mir wurde plötzlich klar, daß ich aufhören mußte, sie als Stütze zu benützen. Ich küßte sie und sagte: »Okay, Süßes, von jetzt an kannst du Flüche ausstoßen.« »Genau das mache ich«, sagte sie dankbar. Hing der Unfall direkt damit zusammen, oder lag es einfach an mir? Champlain – ja, Champlain, der da weitermachte, wo 220
Rhine aufgehört hatte – hatte ein paar Theorien darüber. Die wahrscheinlichste war die, daß ich, als mein besonderes Talent durch den Unfall angeregt wurde, und in der furchtbaren Stunde danach, eine solche Welle der Einfühlung zu Twink schickte, daß ich eine Antwort hervorrief. Man kann es Telepathie nennen, wenn man will – Champlain hat es getan –, aber das gefällt mir nicht. Ich habe natürlich Vorurteile. Nehmt eure übersinnlichen Wahrnehmungen und – laßt mich in Frieden. Vielleicht war ich besser ausgerüstet als irgendeiner, mich dem anzupassen, weil ich acht Jahre mit dem Aufsehen gelebt hatte, der Junge zu sein, der bei den Rhine-Karten nie weniger als 88 erreichte. Aber persönlich, von der Konstitution her, hätte ich mich nie von anderen Leuten unterscheiden sollen. Ich meine damit, meine nutzlose Fähigkeit, die ich eigentlich nicht als Talent betrachtete und nie als Geschenk, brauchte für niemanden einen Unterschied zu machen. Ich konnte ein genauso guter Imbißkoch und ein genauso schlechter Fahrkartenkontrolleur sein wie irgendein anderer. Aber ich bekam nie Gelegenheit, zu leben wie ein menschliches Wesen. Ich konnte bei den parapsychologischen Labors bleiben und mir den Unterhalt verdienen wie ein Affe im Zoo – und nicht einmal viel, selbst in diesem aufgeklärten Zeitalter gibt es keinen reichen Parapsychologen –, oder ich konnte hingehen und mir eine Stellung suchen. Und so, wie mir meine dunkle Vergangenheit folgte, hätte man meinen mögen, ich trüge als Heiligenschein eine fliegende Untertasse. ›Ah ja – Sie sind der Gedankenleser.‹ Können Sie sich vorstellen, wie sich das auswirkt? 221
Gewöhnlich bekam ich den Posten nicht. Wurde ich eingestellt, dann kam man dahinter. Zweimal nahm man mich, und es kam später auf. Jedesmal war da einer, der zum Chef ging und sagte: ›Hören Sie, entweder der oder ich.‹ Und raten Sie mal, wer dran war. Würden Sie tagtäglich mit einem arbeiten, der Ihre Gedanken lesen kann? Wer hat schon keine Geheimnisse? Wessen Leben ist wirklich ein offenes Buch? Ich kann Ihnen sagen, ich würde nicht neben so einem arbeiten, dabei bin ich so unauffällig wie nur etwas. Und was mich völlig verrückt machte – viel fehlte nicht mehr, als ich Doris und dann den Alten kennenlernte –, war, daß alle glaubten, ich könnte Gedanken lesen, und ich kann es nicht! Aber Doris, die von mir schon gehört hatte, bevor sie mich kennenlernte, sprach nie davon. Eines Abends brach ich zusammen und gestand ihr alles, aber sie küßte mich nur auf die Nase und meinte, sie habe Bescheid gewußt, und es spiele keine Rolle, und wenn ich erklärte, ich könnte nicht Gedanken lesen, sondern sei nur gut im Erraten von Rhine-Karten, dann glaube sie mir, und wenn ich je Gedankenlesen lernen sollte, dann doch schnell, weil sie schon ungeduldig werde. Danach hätte ich sie geheiratet, und wenn sie ausgesehen hätte wie ein Ungeheuer. In Wirklichkeit sah sie aus wie Alice im Wunderland, nur mit Locken. Danach konnte ich die Leute viel besser leiden als vorher. Das ist wohl nur ein anderer Ausdruck dafür, daß ich mich endlich selbst ein bißchen leiden konnte. 222
Dann kam der Brief vom Alten, dann kam Twink, und dann kam der Unfall. Und nach dem Unfall die alptraumhafte Fähigkeit, in die lebende Stille hinabzutauchen, die Twink jetzt war, ein regloses Etwas, das nicht sehen oder sprechen oder hören konnte, etwas, das zutiefst verletzt war und nur mit Mühe am Leben blieb. Mein Kind. Und nach etwa sieben Wochen eine Bewegung, eine schwache Regung. Es war das schwächste Echo von Angst und immer ein Rückzug vor dem Leben, der das kleine Wesen wieder dem Tod näher brachte. Dann wieder die Stille und die Regung und die Angst und der Rückzug. Warum ich es versuchte, wie ich darauf kam, es zu versuchen, weiß ich nicht, aber ich tat jedesmal, was ich konnte, um sie zu beruhigen. Ich spannte mich an, bis mir alles weh tat, und sagte: Schon gut, Liebes, hab keine Angst, es ist alles vorbei. Und ich hoffte, daß es ihr half, und dann glaubte ich es, und eines Nachts wußte ich es, weil ich sah, wie die Anspannung kam, und sie zum Stehen brachte, und dann kam eine andere Art von Stille, wie Schlaf, nicht wie ein Koma. Danach ging es ihr schnell besser, und ich klammerte mich an die schwache Hoffnung, daß sie eines Tages sehen und laufen und klettern konnte wie andere Kinder. Musik hören, zur Schule gehen… Sie mußte, sie mußte einfach, oder ich war ein Mörder. Ich war etwas Schlimmeres. Der normale Mörder weiß, was er tut. Meistens mordet er, um etwas zu erlangen, für Gewinn. Aber ich – wollen Sie wissen, was ich tat? 223
Wir waren mit unserem neuen Wagen spazierengefahren – na ja, er war aus zweiter Hand, aber der neueste, den ich je besessen hatte –, und ich wollte ein paar Stangen Zigaretten kaufen, bevor wir über die Grenze des Bundesstaats fuhren, um – raten Sie mal! – um ein paar Cent Steuer zu sparen. Es war eine sechsspurige Straße, drei in jeder Richtung. Ich befand mich auf der mittleren Spur. Doris deutete auf ein großes Neonzeichen. »Da ist ein Laden!« Ich drehte das Lenkrad herum und schoß über die rechte Spur. Der Lastwagen tippte nur an den rechten Kotflügel, und wir überschlugen uns. Für sechs Cent. Die Zigaretten habe ich übrigens nicht gekauft. Da ist Ihr Supermann, samt allen wilden Talenten. Ein gottverdammter Versager im Straßenverkehr. Doris und Twink kamen ins Krankenhaus, blutend, blutend, lagen tagelang, wächsern, puppenhaft, und kamen heraus, zurück zu mir, sagten, du kannst nichts dafür, kannst nichts dafür… mein Gott! Und Twink war so gut wie tot. Ein Empfangskomitee erwartete uns – zwei große Namen der Medizin, McClintock und Zein –, und natürlich Champlain. Aber Gott sei Dank keine Presse. 224
»Kommen Sie, ich möchte mit Ihnen reden«, sagte Champlain. Ich mochte ihn nicht, aber er war außer Doris der einzige, mit dem ich wirklich reden konnte. Er führte mich weg. »Nein!« rief Doris, und Twink bekam Angst. »Keine Sorge, kleine Dame, er kommt gleich wieder«, rief er jovial, und da ging ich in die eine Richtung, und Doris und Twink gingen in die andere. Was konnte ich tun? Er schob mich in ein Zimmer, in einen Sessel, stieß die Tür zu. »Hier ist Medizin.« Er nahm eine Flasche aus dem Schreibtisch. »Ich will nichts.« »Na, los jetzt.« »Lassen Sie mich in Ruhe.« Ich bewunderte meine Härte, aber auf einmal schluchzte und fluchte ich, fluchte und schluchzte. Es war scheußlich. »Mensch«, sagte Champlain. Er stellte die Flasche weg und brachte mir Tabletten und Wasser. »Ich will nichts.« »Sie nehmen das, oder ich stopfe sie Ihnen in den Mund!« Ich nahm sie. Wie gesagt, ich bin kein Supermann. »Was ist das?« »Dexamyl. Macht Sie frisch und ruhig. Und jetzt erzählen Sie, was los ist.« 225
Ich sprach es aus, was ich vorher nicht gesagt hatte. »Twink wird sterben.« »Die beiden besten Spezialisten der Welt sagen nein.« »Laßt sie sterben! Sie übersteht es nur als hilfloses Wesen! Ich weiß es. Ich weiß es besser als jeder andere. Blind. Taub. Gelähmt. Sie kann höchstens versuchen, sich aufzubäumen. Laßt sie sterben!« »Seien Sie nicht so gottverflucht egoistisch.« Ein Schlag ins Gesicht hätte mich weniger schockiert. Ich starrte ihn an. »Egoistisch«, wiederholte er. »Sie haben einen Fehler gemacht, der jedem passieren kann, und Ihre Frau trägt Ihnen nichts nach. Für Sie ist es ein Riesending geworden, weil Sie vorher noch nie etwas Wichtiges erlebt hatten. Die einzige Methode, wie Sie beweisen können, daß es wichtig ist, besteht darin, eine wichtige Strafe zu erleiden. Das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können, ist Twink tot. Das Nächstschlimmste ist, daß sie so durchs Leben gehen muß, wie sie jetzt ist. Eines davon muß es für Sie sein.« Ich benannte ihn mit einem beleidigenden Wort. »Sicher bin ich das«, sagte er. »Absolut. In den Augen dessen, der irrt, ist derjenige, der recht hat, immer das, was Sie eben gesagt haben.« Ich gebrauchte einen anderen Ausdruck. »Auch das«, sagte er strahlend. 226
Ich hob die Hände und ließ sie fallen. »Was soll ich denn tun? Warum hacken Sie auf mir herum?« Er setzte sich zu mir auf die Sesselarmlehne. »Ich möchte, daß Sie da ‘reingehen und uns helfen. Twink helfen.« »Ich wäre nur im Weg.« Er hieb mir auf die Schulter. Es war eine freundschaftliche Geste, aber mir wackelten die Zähne. »Sie dringen doch durch zu ihr, nicht wahr?« »Ja.« »Sie ist verletzt, schwer verletzt. Auch das wird ihr weh tun, sogar sehr. Sie will es vielleicht nicht durchstehen.« »Hat sie eine Wahl?« »Alle Patienten haben die Wahl. Wenn sonst alles normal ist, bleiben sie am Leben oder nicht. Wenn sie schwer betroffen sind und noch mehr Schmerzen kommen sehen, wollen sie vielleicht nicht durchhalten.« »Ich begreife trotzdem nicht, wie ich -« »Möchten Sie sich immer fragen müssen, ob Sie ihr Leben hätten retten können?« »Sie stirbt ohnehin.« Er stand auf, blieb vor mir stehen und funkelte mich an, bis ich den Kopf hob. 227
»Sie haben sie schon einmal fast umgebracht«, sagte er rauh und sanft wie ein schnurrender Tiger, »und jetzt wollen Sie ihr den Rest geben. Ja?« »Schon gut, schon gut!« brüllte ich. »Ich mache ja alles!« »Gut!« Und plötzlich sank er auf ein Knie und ergriff meine beiden Hände. Es war etwas ganz Überraschendes und seltsam Wirksames. Ich spürte Ströme der Vitalität aus den großen Händen in mich überfließen, es war, als schwelle mein Ich wieder an. »Alles, was Sie zu tun haben, ist, sie dazu zu bringen, daß sie leben will«, sagte er leise und ernsthaft. »Sie müssen bei ihr sein und auf sie warten und ihr helfen und sie davon überzeugen, daß es sich lohnt, egal, was passiert, egal, wie weh es tut, wenn sie am Leben bleiben wird.« »Gut«, flüsterte ich. »Sie ist nur ein kleines Mädchen. Sie nimmt alles so, wie sie es findet, und sie kennt keine Nachsicht. Wenn ihr etwas wie Angst oder Zorn erscheint, dann ist es das auch. Wenn etwas wie Liebe oder Weisheit oder Stärke erscheint, dann nimmt sie es so auf. Seien Sie stark und weise für sie.« »Ich?« Er stand auf. »Sie.« Er ging zum Schreibtisch, füllte einen Becher aus der Flasche und hielt ihn mir hin. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Augen und stand auf. 228
»Nein, danke, Ich brauche das nicht«, sagte ich. Er trank den Schnaps selbst, und wir gingen dann hinaus. Sie behandelten mich im Waschraum, als wäre ich selbst Chirurg – Handschuhe, Maske, alles –, und dann gingen wir in den Operationssaal. Doris war schon da. Ich küßte sie durch die Maske, und sie lächelte. »In Weiß siehst du hübsch aus«, sagte ich und frage mich, woher das wohl gekommen war, und: Hallo, Twink. Irgendwo in der Blindheit, in den Begrenzungen der Lähmung lauerte ein Schatten von Furcht, und tief darin eine warme kleine Antwort. Und die Furcht verflog. Ich hob den Kopf und sah Champlain in die Augen. Das unnatürliche Gefühl unter meiner Maske war zu meiner völligen Verblüffung ein Grinsen. Ich nickte, und er zwinkerte mir zu und sagte: »Ich glaube, Sie können anfangen, Mac.« Jetzt hör zu, Twink, sagte ich mit meinem ganzen Herzen, ich liebe dich und ich bin hier, hier bei dir, egal, was passiert. Es wird etwas passieren, etwas Großes, und es wird alles für dich verändern. Manches wird nicht… wird nicht angenehm sein. Aber sie müssen es tun. Für dich, Twink. Selbst wenn es nicht angenehm ist, ist es für dich. Du mußt ihnen helfen. Sie lieben dich, aber ich liebe dich am meisten. Du darfst nicht weggehen. Wenn es dir zu sehr weh tut, dann sag es mir einfach, und ich sorge dafür, daß sie aufhören. 229
Dann war etwas los, etwas Schlimmes. Betroffen drängte ich mich heran und versuchte zu erkennen, was McClintock machte. »Halten Sie etwas Abstand«, knurrte er. »Abstand, daß ich nicht lache! Was winden Sie da um ihren Kopf?« »Hören Sie auf!« fauchte Champlain. »Das einzige, was Sie nicht werden dürfen, ist wütend!« Doris gab einen Laut von sich. Ich fuhr herum. Sie lächelte. Nein, doch nicht. Ihre Augen waren verkniffen. Eine Träne rann heraus. »Doris!« Ihr Gesicht erschlaffte sofort, dann öffnete sie die Augen und sah mich an. »Es geht schon«, sagte sie. Da war ein Rufen, ein Rufen, ein Rufen. Schon gut, Twink, ich bin da. Ich bin nicht fortgegangen. Ich bin hier, Süßes. Wenn sie aufhören sollen, sag es nur. Eine Pause, dann ein schwankendes Fragen. Ja, ja, sagte ich, ich bin hier. Jede einzelne Sekunde. Ich gehe nicht fort. Wieder die Pause, und dann, wie ein flackerndes Licht, eine heiße, frohe kleine Antwort. Doris stöhnte leise. Ich warf ihr und dann Champlain einen Blick zu. 230
»Sollen sie aufhören?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Ich habe ihr versprochen, daß sie es selbst bestimmen kann.« Doris’ Hand bewegte sich. Ich ergriff sie. Sie war feucht. Sie drückte die meine. Etwas von Twink, unähnlich allem, was ich je erlebt hatte. Außer beim Unfall. Ja, es war wie beim Unfall – und aufhören! Aufhören! »Aufhören!« ächzte ich. »Aufhören!« McClintock machte weiter, als hätte ich keinen Laut von mir gegeben. Zein, der andere Spezialist, sagte zu Champlain: »Müssen wir das hinnehmen?« »Na klar«, sagte Champlain. »Aufhören? Was heißt aufhören?« fragte McClintock. Zein murmelte etwas. McClintock nickte, und eine Schwester flog mit einem Tablett voll Spritzen durch den Saal. McClintock gebrauchte eine ganze Reihe davon. Twink wurde still. Einen Augenblick lang kam es mir vor, als würde ich vor Erleichterung ohnmächtig werden. »Alles in Ordnung, Süßes? Alles in Ordnung? Ich habe dafür gesorgt, daß sie aufhören. Twinkie? Ist alles in Ordnung?« Twink! Twink! 231
Ich gab einen Laut von mir, was für einen, weiß ich nicht. Champlains Hände lagen auf meinen Schultern und zerquetschten sie. Ich stieß sie weg. »Twink!« schrie ich. Dann kreischte Doris auf, und Twink vibrierte wie ein Gong. »Das geht nicht«, fauchte ich. »Soll sie raus?« »Daß Sie sich ja nicht unterstehen«, sagte Doris. »Ja. Jetzt.« »Wer -«, begann McClintock, aber Champlain sagte: »Ruhe. Schafft sie ‘raus.« Dann ging alles ganz schnell. Nur noch ein Weilchen, Twink, dann ist alles vorbei, und du bist warm und wohlig und kannst schlafen. Und ich bin bei dir, wenn du schläfst, und bei dir, wenn du aufwachst. Ich versuchte McClintock noch einmal in den Arm zu fallen, als er den kleinen Arm nahm, der so lange regungslos quer auf Twinks Brust gelegen hatte, und ihn brutal hinaufbog. Aber diesmal war Champlain auf McClintocks Seite, und er hatte recht; der Schmerz verschwand beinahe sofort. Und dann – waren es Wochen später, Stunden? Das Größte war vorbei, und sie taten Dinge mit ihren Augen, ihrem Mund, während ich Wege und immer neue Wege fand, den Zorn wegzuschieben, die Erschöpfung zu ignorieren, die Angst zu unterdrücken, und immer wieder zu sagen: Ich liebe dich, Twink, ich 232
bin bei dir, alles ist gut. Nur noch ein bißchen – da, schon vorbei. Alles in Ordnung, Twink? Es war gut. Es war alles in Ordnung. Als man fertig war mit ihr, war sie schwach und sah schlimm aus, aber es ging ihr gut. Ich starrte sie an und konnte es nicht glauben; ich konnte es auch nicht zurückhalten. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Also begann ich zu lachen. »Okay, nichts wie ‘raus hier.« Champlain ragte vor mir auf wie ein Fallschirm vor dem Zusammensinken. »Ja, warten Sie.« Ich ging um ihn herum zu McClintock. »Danke«, sagte ich. »Es tut mir leid.« »Schon gut«, sagte er tonlos. Zein drehte mir einfach den Rücken zu. Ich saß am Bett, in das sie Doris gelegt hatten, müde, und wartete. Es war ganz anders als damals im Krankenhaus. Da hatte ich etwas begangen und war voller Angst gewesen. Jetzt hatte ich etwas geleistet und war voller Hoffnung – und voll Schnaps, aber das schmeckte alles gleich. Twink schlief und atmete wunderbar gleichmäßig, zu erschöpft, um Angst zu haben. Ich war froh über so viele Dinge, aber das Schönste war wohl, daß ich hinterher zu Champlain gesagt hatte: »Es wäre auch gut gegangen, wenn ich nicht dabeigewesen wäre.« Was mich daran so gefreut hatte, war, daß ich es nicht gefragt, sondern festgestellt hatte. Er hatte gelacht und meinen Becher nachgefüllt. 233
»Sie sind ein Gedankenleser«, sagte er, und es war das erstemal, daß ich es hören und komisch finden konnte. »Sie wollten einen Fall, wo ein Mensch mit keinem oder geringem Geburtstrauma geboren wird, Sie Teufelskerl.« »Nun, den hatte es noch nicht gegeben«, räumte er ein. »Ich hätte viel weniger Schwierigkeiten in meinem jungen Leben gehabt, wenn mein Vater mich eben diesen Kanal in einem Kanu hätte entlangpaddeln können.« »Sie sind wirklich ein Teufelskerl, und es hat sich gelohnt«, sagte ich. Doris drehte ungeduldig den Kopf. »Hallo. Wie geht es deiner Freundin?« »Meiner anderen Freundin. Doris, sie ist wunderschön! Ganz rosig. Sie hat zwei Augen. Zehn Zehen. Acht Finger.« »Was?« »Und zwei Daumen. Sie ist in Ordnung, Liebling, wirklich in Ordnung. Ein völlig normales neugeborenes Mädchen.« »Oh, ich bin so – froh. Ist sie – kannst du noch – sogar nach dem Kaiserschnitt noch?« Ich nickte, und in diesem Sekundenbruchteil wünschte ich mir, daß mein Kopf heruntergerollt wäre. Denn ich begriff, daß ich hätte lügen können; sie hatte es gewollt. Sie begann zu weinen. Sie sagte: »Du hast sie dazu gebracht, daß sie mich mit einer Spritze bewußtlos machten, und du hast alles allein gemacht. Du hast die ganze Zeit mit ihr reden können 234
und wirst es immer können, solange ihr beide lebt. Ich werde nie wieder darum weinen, das verspreche ich, weil du nichts dafür kannst und ich dich liebe. Aber jetzt will ich weinen.« Ich kauerte lange Zeit bei ihr, den Kopf auf ihrem Kissen. Dann ging ich, weil sie noch lange nicht fertig war. Sie hat aber seitdem nie mehr deshalb geweint. Nicht ein einziges Mal. So etwas kann ein Mann bei einer Frau doch gutmachen. Wenn er sich Mühe gibt. Glaube ich. ENDE
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