Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 518 Die Mausefalle
Der Herr in den Kuppeln von Kurt Mahr
Menschen und Fre...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 518 Die Mausefalle
Der Herr in den Kuppeln von Kurt Mahr
Menschen und Fremde im Test
Alles begann eigentlich im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Seit dieser Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Und das ist auch dringend notwendig. Doch bevor er das an Bord herrschende Chaos beseitigen kann, gilt es erst, die SOL, die in einem Traktorstrahl gefangen ist, zu befreien. Schauplatz von Atlans verzweifelten Bemühungen ist Mausefalle VII oder Osath, der Planet, von dem das Unheil für die SOL ausgeht. Nach langer Suche gelangt der Arkonide mit seinen Gefährten endlich in die Nähe dessen, der als einziger die Demontage der SOL stoppen kann. Dieser eine ist DER HERR IN DEN KUPPELN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide und seine Gefährten im Test. Bjo Breiskoll, Joscan Hellmut, Gavro Yaal und Akitar ‐ Atlans Begleiter. Akki ‐ Ein Einsamer. Weicos ‐ Ein Monster von der SOL. Der Herr in den Kuppeln ‐ Ein weltbeherrschendes Robotgehirn.
1. »Ihr seid am Ziel«, quäkte die Robotstimme des Fahrzeugs. Ein Luk sprang auf. Atlan löste sich aus seinem Sitz und kletterte nach draußen. Zu seiner Rechten wuchtete die steile Wand des Talkessels in die Höhe, zerklüftet, aus moosüberwucherten Felsen aufgetürmt. Das Haus stand unmittelbar vor der Felswand. Es hatte die Form eines spitzwinkligen Dreiecks und besaß zwei Stockwerke. Der Eingang war ein über drei Meter hohes Portal. Die Fenster des Erdgeschosses waren mit einer Reflektorschicht ausgestattet, so daß sich nicht erkennen ließ, wie es drinnen aussah. Atlan wandte sich um und blickte an dem Robotfahrzeug vorbei in den Talkessel hinab. Die sieben Kuppeln wirkten grandios in ihrer düsteren Schmucklosigkeit – sechs davon an den Ecken eines Hexagons angeordnet, die siebte und größte in der Mitte. Ihr Durchmesser an der Basis betrug wenigstens einen Kilometer. Jemand kam aus dem Fahrzeug geklettert und postierte sich neben Atlan. »Dort drinnen also sitzt der Herr in den Kuppeln«, hörte der Arkonide Bjo Breiskolls Stimme sagen. »Ja. Und irgendwann werden wir herausfinden, was er von uns will«, sagte Atlan. Er trat auf das Fahrzeug zu und beugte sich durch das offene Luk. »Was sollen wir hier?« fragte er. Der kleine, runde Translator, den er am Handgelenk trug, übersetzte seine
Worte in die Sprache, die den Robotern geläufig war. »Warten«, ertönte die Antwort des Fahrzeug‐Roboters. »Mein Freund wird sich euer annehmen, bis ihr gerufen werdet.« »Dein Freund?« »Das Haus dort. Es wird euch betreuen, bis ihr gerufen werdet.« »Wie lange dauert das?« »Ich weiß es nicht. Spielt es eine Rolle? Ihr seid gut aufgehoben.« Atlan widerstand der Versuchung, einem Roboter auseinanderzusetzen, was für Menschen eine Rolle spielte und was nicht. Er machte das Luk frei, damit die restlichen Insassen des Fahrzeugs aussteigen konnten. Als erster kam Joscan Hellmut, hager, mit wachen, dunklen Augen. Ihm folgte Gavro Yaal, mürrisch, untersetzt. Den Abschluß machte Akitar, der Chailide, der sich ihnen im Verlauf der Abenteuer in der Stadt der Vergessenen angeschlossen hatte. Akitar war ungewöhnlich groß. Der Blick der weit auseinanderstehenden Augen wirkte starr. »Da kommt wer«, sagte Bjo Breiskoll in diesem Augenblick. Drei Robotgestalten waren hinter einem Vorsprung der Felswand erschienen und hielten auf Atlan und seine Begleiter zu. Die rechteckigen Körper bewegten sich auf vier stämmigen Beinen. Vier armähnliche Extremitäten waren in halber Körperhöhe angebracht. Die Rechtecke waren mit Linsen besetzt, die der optischen Wahrnehmung dienten, und nahe der unteren Kante mit Linienmustern verziert. Phano wurde dieser Robotertyp genannt. Die drei Phanos waren von unterschiedlicher Große, der größte unter ihnen knapp zwei Meter. Die drei Markierungslinien an seinem unteren Körperrand waren, von oben nach unten: grün, rot, gelb. Der Fahrzeug‐Roboter hielt die Phanos offenbar für seine Ablösung. Das Luk klappte zu; das Fahrzeug stieg in die Höhe und glitt summend davon. Der Phano mit der grün‐rot‐gelben Markierung trat vor Atlan hin.
»Willkommen im Tal der Kuppeln«, sagte er. »Für die Dauer eures Aufenthalts sind wir und das Haus dort beauftragt, eure Freunde zu sein. Es ist unsere Pflicht, jeden eurer Wünsche zu erfüllen, solange er schicklich ist.« »Ich danke dir«, antwortete Atlan. »Und euch zu warnen«, fuhr der Robot unbeirrt fort. »Wovor?« »Vor den Harrenden.« »Wer sind die Harrenden?« »Das weiß ich nicht«, entgegnete der Robot. »Aber wenn ihr auf sie trefft, seid vorsichtig.« Atlan besaß inzwischen genug Erfahrungen mit den Robotern dieser Welt, um zu wissen, daß alles weitere Fragen nutzlos war. »Begebt euch in den Schutz eures Freundes«, forderte der Robot seine Zuhörer auf. »Ihr habt viele Anstrengungen hinter euch und seid müde. Auch wird euch ein kräftiges Mahl guttun.« »Du sprichst mir aus der Seele, mein Freund«, murmelte Bjo. »Wenn ihr uns braucht, ruft nach uns«, vollendete der Phano seine Instruktionen. »Auch wenn wir euch nicht hören können, das Haus wird uns benachrichtigen.« Als hätte er mit seinen Worten ein Signal gegeben, öffnete sich das Portal des Hauses. Atlan trat ein. Von irgendwoher ertönte eine klingende Stimme, deren Worte sein Armband‐Translator übersetzte: »Seid willkommen. Ich bin euer Freund und Helfer. Das Mahl wartet auf euch.« »Wie sollen wir dich nennen?« fragte Atlan. »Nennt mich Haus«, antwortete das Haus. Das Gebäude war tiefer, als es von außen den Anschein hatte. Vom Portal führte ein breiter, hell erleuchteter Gang in einen großen Raum, der mit verschiedenartig geformten Möbelstücken ausgestattet war. Den Mittelpunkt bildete ein niedriger ovaler Tisch, der mit einer breiten Unterkante unmittelbar auf dem Boden ruhte,
»Setzt euch und eßt!« forderte das Haus seine Gäste auf. Im Innern des Tisches begann es zu rumoren. Eine Klappe öffnete sich, und auf einem Tablett, das mit Rollen versehen war, erschienen sechs dampfende Schüsseln zusammen mit sechs becherähnlichen Behältern. Die Klappe schloß sich wieder. Das Tablett wurde herumgeschoben. Gavro Yaal beugte sich über seine Schüssel, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und brummte: »Derselbe ungenießbare Dreck wie überall. « »Dafür wenigstens in sechsfacher Ausführung«, spottete Joscan Hellmut. »Warum sechs? Wir sind nur fünf.« Atlan warf ihm einen warnenden Blick zu. Ob Hellmut ihn verstand oder nicht, er brachte das Thema jedenfalls nicht mehr zur Sprache. Die Mahlzeit wurde ohne sonderliche Begeisterung verzehrt. Das Gespräch, an dem sich Gavro Yaal und Akitar nur einsilbig beteiligten, drehte sich in der Hauptsache um den Herrn in den Kuppeln, jenes geheimnisvolle Gebilde, das auf so zwiespältige und widersprüchliche Weise über den Planeten Osath (von den Solanern Mausefalle VII genannt) herrschte und von dem Atlan sich eine Lösung des dringlichsten Problems versprach: die SOL vor der Verschrottung zu bewahren. Nach dem Essen forderte das Haus seine Gäste auf, ihre Unterkünfte in Augenschein zu nehmen. Akitar und Bjo Breiskoll erhielten Räume im Erdgeschoß. Gavro Yaal, Atlan und Joscan Hellmut stiegen über eine Treppe mit bemerkenswert flachen Stufen ins obere Stockwerk hinauf und suchten sich dort aus insgesamt fünf Zimmern diejenigen aus, die ihnen am besten zusagten. Die Einrichtung der Räume war aufschlußreich. Atlan fand in seinem Quartier eine Liege, die sich in der Höhe, in der Länge und in der Winkelposition der drei Gliederteile zueinander verstellen ließ. Ebenso verstellbar waren zwei schalenförmige Sessel und ein Tisch. Es geschah offenbar nicht selten, daß der Herr in den Kuppeln Wesen zu sich bestellte, die infolge der Wirkung des
Zugstrahls auf der Oberfläche seines Planeten gestrandet waren. Die Einrichtung des Hauses war dazu gedacht, sich jeder beliebigen Körperform anzupassen. Atlan trat an das große Fenster, das den Talkessel überblickte. Der Tag ging zur Neige. Der helle Fleck in den Wolken, der die Position der fremden Sonne anzeigte, sank der gegenüberliegenden Talwand entgegen. Die sieben Kuppeln wirkten womöglich noch düsterer als zuvor. Die Gedanken des Arkoniden wanderten hinüber zu der unbekannten Wesenheit, die sich in den Kuppeln verborgen hielt. Was war ihr Leitmotiv? Würde er sie dazu bewegen können, die SOL freizugeben, damit er den Auftrag weiterverfolgen konnte, den die Kosmokraten ihm erteilt hatten? Oder war eine solche Hoffnung weiter nichts als Illusion? Ein Pochen an der Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er ließ Joscan Hellmut ein. »Tut mir leid wegen vorhin«, sagte der Kybernetiker. »Ich hätte den Mund halten sollen. Du meinst wirklich, daß sich damit etwas anfangen läßt?« »Wenigstens will ich mir den Weg nicht von vornherein verbauen«, antwortete der Arkonide. »Wir wissen nicht, in welcher Lage wir uns befinden. Wir haben keine Ahnung, ob der Herr in den Kuppeln uns freundlich oder feindlich gesinnt ist. Wir müssen damit rechnen, daß der Augenblick kommt, in dem wir gezwungen sind, uns unserer Haut zu wehren oder unser Ziel mit Gewalt zu verfolgen. Das Robothaus hat einen Tick. Es kann nicht richtig zählen. Wir sind fünf, aber es setzt uns sechs Mahlzeiten vor. Niemand weiß, was man damit noch anfangen kann.« »Einverstanden«, entgegnete Hellmut. »Man kann nie vorsichtig genug sein. Was mir nicht aus dem Sinn geht, sind die Harrenden.« Die Unterhaltung wurde mit gedämpfter Stimme geführt. Niemand wußte, wie scharf die Ohren des Hauses waren und ob es ebenso wie die kleinen, scheibenförmigen Translatoren eine Kenntnis des Interkosmo besaß; daher bemühte sich Atlan, durch
Füßescharren und ähnliche Manöver Störgeräusche zu erzeugen, in denen die gesprochenen Worte ertranken. »Die Warnung war eigenartig«, gab er zu. »Ich habe ihr bisher keine Beachtung geschenkt. Wie soll ich mich vor etwas hüten, wovon ich nicht weiß, was es ist?« »Wir könnten das Haus fragen«, schlug Hellmut vor. Atlan sah auf. »Haus!« »Ich höre dich, mein Freund.« »Wir sind gewarnt worden«, sagte Atlan. »Vor den Harrenden?« fragte das Haus. Atlan war verblüfft. »Woher weißt du das?« »Jeder wird vor den Harrenden gewarnt. Sie sind gefährlich.« »Wer sind die Harrenden?« »Das weißt du nicht?« Überraschung und Spott schienen in der Stimme des Hauses zu schwingen. »Wie willst du dich da vor ihnen in acht nehmen?« »Wenn du weißt, wer die Harrenden sind, so sag es mir!« forderte der Arkonide. »Die Antwort wird dir nicht gefallen.« »Ich will sie trotzdem hören.« »Die Harrenden – seid ihr!« * »Wir haben eine Warnung und eine Auskunft erhalten, und beide ergeben keinen Sinn. Ich halte es für vernünftig, wenn wir uns nicht weiter damit beschäftigen.« Atlan sprach ruhig, ohne Erregung. Draußen war die Sonne längst untergegangen. Finsternis erfüllte den Talkessel. Sie hatten sich in der großen Halle zusammengefunden, in der das Mahl serviert worden war. »Statt dessen«, fuhr der Arkonide fort, »sollten wir uns auf etwas anderes konzentrieren.«
Er winkte ihnen zu, sich näher an den Tisch zu setzen. Joscan Hellmut begann, mit beiden Händen auf die Tischplatte zu trommeln. Die anderen musterten ihn verwundert, aber als Atlan mit gedämpfter Stimme zu sprechen begann, verstanden sie, worum es ging. »Ich weiß nicht, zu welchem Zweck der Herr in den Kuppeln uns hierher bestellt hat; aber es scheint mir, als hätte er es mit seinem Anliegen nicht besonders eilig. Er ist der einzige, der uns helfen kann. Auf ihn hören die Roboter, die in diesem Augenblick womöglich schon dabei sind, die SOL auseinander zu nehmen. Wenn wir unser Schiff retten wollen, müssen wir uns Gehör verschaffen, und zwar bald.« Er blickte in die Runde. Joscan Hellmut nickte zustimmend. Bjo Breiskoll hatte die Augen geschlossen und lag halb zusammengeringelt vor dem Tisch, mit seinen Gedanken beschäftigt. Gavro Yaal blickte mürrisch wie immer. Akitar starrte in unergründliche Fernen, als habe er den Arkoniden überhaupt nicht gehört. Das lange, stahlblaue Haar, im Nacken durch ein ledernes Band geschürzt, schimmerte im Glanz der Deckenbeleuchtung. Weit auseinanderstehende Augen, ein scharfkantiges, knochiges Gesicht, die kleine Nase, die wie der Schnabel eines Sittichs wirkte, und der breite, lippenlose Mund machten ihn – nach den Maßstäben der Solaner – nicht etwa zum Inbegriff männlicher Schönheit. Er wirkte im Gegenteil auf den ersten Blick häßlich. Aber die äußere Erscheinung machte nicht den Mann. Man mußte Akitars Schicksal kennen, mußte ihn in Aktion gesehen haben, um zu verstehen, daß sich hier menschliche Bezugswerte nicht anwenden ließen. »Nimmst du dir da nicht etwas zuviel vor?« fragte Gavro Yaal völlig unerwartet. »Wie meinst du das?« Atlan musterte den ehemaligen Schläfer mit zurückhaltendem Blick. »Noch habe ich nichts Bestimmtes vorgeschlagen.« »Du sagst, du willst dir Gehör verschaffen. Gegenüber einer
Macht, die einen ganzen Planeten beherrscht. Was nun, wenn sich diese Macht dagegen sträubt, daß du dir Gehör verschaffst?« »Dann habe ich versagt«, antwortete der Arkonide leichthin. »Aber wenigstens habe ich einen Versuch unternommen. Was ist dein Vorschlag?« »Wir stehen einer Übermacht gegenüber«, sagte Gavro Yaal mit schwerer Stimme. »Wir haben keine andere Wahl, als zu warten, bis es dem Herrn in den Kuppeln gefällt, zu uns zu sprechen.« Joscan Hellmuts Getrommel wurde lauter. »Unsinn«, blitzte er Gavro an. »Wir werden nicht tatenlos hier sitzen und uns in Geduld üben.« Mit einer blitzschnellen Bewegung löste sich Bjo Breiskoll aus seiner zusammengeringelten Haltung, richtete sich auf und legte Joscan die Hand auf den Arm. Überrascht begegnete Atlan dem starren Blick der hellen Augen mit den Schlitzpupillen. »Still!« zischte der Katzer. »Horcht!« * In das Schweigen klang ein merkwürdiges Knistern, als sei das Fundament des Hauses in Bewegung geraten. Der Boden zitterte, und ein weit entferntes Poltern war zu hören. Ein Bild entstand vor Atlans geistigem Auge: die Ankunft des Robotfahrzeugs; er stieg aus, blickte die Felswand hinauf und wunderte sich, wer so naiv gewesen sein mochte, ein Haus ausgerechnet an dieser Stelle zu errichten. »Steinschlag!« stieß er hervor. »Eine Lawine. Deckung!« Gavro Yaal sprang auf. Niemand hätte seiner untersetzten Gestalt soviel Behendigkeit zugetraut. »Nichts wie raus!« schrie er mit gellender Stimme. Das Poltern war zum donnernden Dröhnen geworden. Ein harter, trockener Knall erschütterte das Haus. Aus den Augenwinkeln sah
der Arkonide, wie Bjo Breiskoll mit katzengleicher Gewandtheit unter einem der Möbelstücke verschwand. Joscan Hellmut sprintete in eine Ecke des Raumes und zog einen Sessel zu sich heran, so daß er ihm Deckung bot. In Akitar war plötzlich Leben gekommen. Mit panthergleichen Bewegungen glitt er in den Korridor hinaus und verschwand in seiner Unterkunft. »Gavro, bleib hier!« schrie Atlan hinter dem Fliehenden drein. Die Worte ertranken in einer Kakophonie aus donnernden, dröhnenden Schlägen und quietschendem Knirschen wie von überbeanspruchtem Material. Der Untergrund bebte. Der Arkonide schoß in den Gang hinaus. Gavro Yaal war ein halbes Dutzend Schritte vor ihm. Er erreichte die Tür und machte sich hastig an ihr zu schaffen. Die beiden Flügel des Portals öffneten sich. Atlan schnellte sich vorwärts und bekam den Solaner zu fassen. Gavro Yaal, von Panik erfüllt, schrie und trat um sich. Atlan zog ihm den Arm auf den Rücken und zerrte ihn zu sich herab. Gavro gab den Widerstand auf. Keuchend blieb er liegen. Draußen war die Hölle los. Das Haus zitterte in den Grundfesten. Mit donnerndem Knall trafen die herabstürzenden Felsblöcke auf das schräge Dach. In jeder Sekunde rechnete der Arkonide damit, daß eines der tödlichen Geschosse den First durchbrach und wie eine Bombe durch die Zwischenböden schlug. Er lag neben Gavro Yaal auf dem Boden des Korridors. Er hatte keine Deckung. Wenn das Dach nachgab, war er verloren. Als der mörderische Lärm plötzlich aufhörte, traute er seinen Ohren nicht. Er richtete sich zu kniender Stellung auf und horchte. Tatsächlich, es war still geworden. Von der Halle her hörte er gedämpftes Gerumpel, als Joscan Hellmut sich hinter seinem umgekippten Sessel hervorarbeitete. Er stand auf und ging zur Tür. Das Licht, das durch das offene Portal fiel, zeichnete ein Halboval matter Helligkeit auf einen riesigen Haufen zertrümmerter Felsstücke, die sich auf dem ebenen Grund vor dem Haus häuften.
Hinter sich hörte er Ächzen und Schnaufen, als Gavro Yaal sich mühsam aufrichtete. Er winkte ihn zu sich und deutete hinaus. »Sieh dir das an«, sagte er, »damit du beim nächsten Mal nicht wieder auf die verrückte Idee kommst, hinaus ins Freie zu laufen.« Gavro Yaal wischte sich über die Stirn. »Panikreaktion«, murmelte er. »Ich … ich danke dir.« Von draußen näherten sich scheppernde Geräusche. Die Gestalt eines Phanos schob sich über die Zinne des Trümmerwalls empor. Das matte Licht enthüllte eine grün‐rot‐gelbe Borde an der unteren Körperkante. »Ich bedaure den Zwischenfall und hoffe, daß keiner von euch Schaden gelitten hat«, verkündete der Robot. »Soweit ich weiß, sind wir alle wohlauf«, sagte Atlan. »Aber ob wir beim nächsten Mal wieder so leichten Kaufes davonkommen, ist eine andere Frage.« »Es wird kein nächstes Mal geben«, erwiderte der Phano. »Ein Trupp Spezialisten ist bereits auf dem Weg die Steilwand hinauf, um das Felswerk abzusichern.« 2. Der Wind trieb den Regen peitschend gegen das große Fenster, als Atlan erwachte. Er stand auf und blickte hinab in den Talkessel. Die Sicht war schlecht. Büsche und Bäume duckten sich vor der Wucht des Sturmes. Hinter wehenden Regenvorhängen waren die Umrisse der sieben Kuppeln eher zu ahnen als zu sehen. Die Nacht war ruhig gewesen. Sein Blick fiel auf die freie Fläche vor dem Haus. Die Trümmer der herabgestürzten Felsen waren verschwunden, der Boden geglättet. Ein Roboter – einer von der Sorte, die den Grün‐Tick hatte – kümmerte sich liebevoll um vereinzelte Grasbüschel, die auf dem kargen Boden wuchsen. Atlan gönnte sich den Luxus eines ausgedehnten Bades und war dennoch einer der ersten, die im großen Gemeinschaftsraum
erschienen. Bjo Breiskoll war bereits zur Stelle. Er stand am Fenster und blickte in den Regen hinaus. »Ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust, Bjo«, sagte Atlan, indem er sich neben den Mutanten stellte. »Gerne. Welchen?« »Ich weiß, daß es dir widerstrebt, in den Gedanken deiner Mitwesen zu horchen. Aber wir sind in einer Lage, in der es unklug wäre, auf deine telepathische Begabung zu verzichten.« Der Katzer musterte den Arkoniden mit einem merkwürdigen Bück. »Die Harrenden?« fragte er. »Ja«, nickte Atlan. »Ich muß wissen, wo sie sind und was sie vorhaben.« »Du sagtest gestern Abend, wir sollten uns nicht um die Warnung kümmern.« »Das war vor der Lawine.« Bjo nickte. »Ich dachte es mir. Ich habe mich in der vergangenen Nacht schon damit beschäftigt.« »Und?« »Nichts!« Der Katzer machte eine enttäuschte Geste. »Ich spüre eure Gedanken, aber sonst nichts.« »Gib weiter acht«, sagte Atlan hastig, als er nahende Schritte hörte. Gavro Yaal trat ein. Er grüßte knapp und ließ sich am Tisch nieder. Auf die Ereignisse des vergangenen Abends noch einmal einzugehen, hielt er offenbar für unnötig. Kurze Zeit später erschien Akitar. Als letzter kam Joscan Hellmut. Er wirkte heiter und begrüßte die Anwesenden: »Wenn es überall auf diesem Planeten soviel Ruhe und Bequemlichkeit gäbe, könnte man es hier fast aushalten.« »Warte nur, bis sie dir den Frühstücksbrei vorsetzen«, knurrte Gavro Yaal.
* Später ließ der Regen nach. Atlan erkundigte sich bei dem Haus, ob es erlaubt sei, sich in der Gegend umzusehen, und die Robotstimme antwortete: »Meine Freunde unterliegen keinerlei Einschränkungen. Geht, wohin es euch beliebt. Wenn ihr aber hungrig sein, kehrt hierher zurück.« Atlans Ziel waren die sieben Kuppeln. Er hatte wenig Hoffnung, daß es ihm gelingen würde, in den Komplex einzudringen; aber er war der Ansicht, daß die Sache einen Versuch wert sei. Joscan Hellmut und Bjo Breiskoll hatten ähnliche Pläne. Der Kybernetiker wollte den Rand des Talkessels erforschen, und den Katzer interessierte, ob das Haus vor weiteren Lawinenstürzen wirklich so sicher war, wie es der Phano in der vergangenen Nacht behauptet hatte. Gavro Yaal empfand keinerlei vergleichbaren Ehrgeiz und zog sich in sein Zimmer zurück. Akitar, der Chailide, wollte sich der Meditation widmen. Die Luft war schwül und mit Feuchtigkeit gesättigt. Die Sohle des Talkessels hatte die Form einer flachen Schüssel. Den tiefsten Punkt bildete das Zentrum, in dem sich der Kuppelkomplex erhob. Die Abschüssigkeit des Bodens hatte dazu geführt, daß die äußeren Regionen des Kessels trockener und weniger dicht bewachsen waren als die weiter innen gelegenen. Das grasige Gelände am Rand des Tales ging allmählich in Buschland über, und noch weiter drinnen erhob sich Wald, der aus den für Osath typischen, banyanähnlichen Bäumen bestand, von denen jeder mit einer riesigen Krone und Tausenden von Luftwurzeln wiederum einen Wald in sich selbst verkörperte. Die Entfernung vom Rand des Kessels bis zu der dem Haus am nächsten gelegenen Kuppel betrug nach Atlans Schätzung zwischen sechs und sieben Kilometer. Hangabwärts würde ihm die höhere Schwerkraft des Planeten zustatten kommen; aber für den Rückweg
mußte er mindestens zweieinhalb Stunden veranschlagen. Er überquerte rasch den breiten, grasigen Streifen, der den Talkessel säumte, und drang in das mit Büschen und niedrigen Bäumen besetzte Gelände ein. Er warf einen Blick zurück und sah, daß sich seine Fährte tief in das regennasse Gras eingegraben hatte. Sobald er die ersten paar hundert Meter Buschland hinter sich hatte, war das Haus seinen Blicken entschwunden. Er begann, Zeichen zu hinterlassen, die es ihm leichter machten, den Rückweg zu finden. Das Gestrüpp wurde dichter, der Weg beschwerlicher. Der Regen hatte vollends aufgehört. Ein verwaschener, heller Fleck über den Wolken deutete an, daß die fremde Sonne ein Viertel ihres Tageslaufs zurückgelegt hatte. Es war Sommer in diesem Teil von Osath; zu Mittag würde der Leuchtfleck annähernd senkrecht über dem Talkessel stehen. Der Wald war nahe. Die breitkronigen Bäume versperrten den Ausblick auf die Kuppeln; aber der einsame Wanderer konnte den rechten Weg nicht verfehlen. Er brauchte nur der Neigung des Geländes zu folgen und gelangte automatisch zum tiefsten Punkt des Talkessels. Atlan blieb stehen, als er eine schwache, zirpende Stimme hörte. »… jetzt nicht … später … mehr Aussicht …« Verblüfft stellte er fest, daß die Laute aus dem kleinen Translator drangen, den er am Handgelenk trug. Niemand hatte ihm je erklärt, wie das Gerät funktionierte, in welchem Bereich des akustischen Spektrums es arbeitete und wie viele Sprachen es beherrschte. Zu seiner Linken erstreckte sich ein verfilztes, dorniges Gestrüpp. Er riß die Zweige auseinander, riß sich dabei die Haut auf und drang etliche Schritte weit in das Dickicht ein. Als er innehielt, hörte er kratzende und knackende Geräusche, die sich rasch von ihm entfernten. Er arbeitete sich weiter vor und gelangte schließlich auf eine kleine Lichtung inmitten des Gebüschs. Der Boden war grasbewachsen, zeigte jedoch keine Spur. Trotzdem war der Arkonide sicher, daß sich noch vor wenigen Sekunden das Wesen hier befunden hatte, dessen Worte ihm durch den Translator
übertragen worden waren. Er musterte die kleine, von einem flexiblen Band gehaltene Scheibe. Warum hatte er die Originalstimme des fremden Geschöpfes nicht gehört? Weil sie Frequenzen verwendete, für die sein Ohr nicht empfänglich war, Ultraschall zum Beispiel. Der Translator war solchen Einschränkungen nicht unterworfen. Er verarbeitete alle Arten intelligent modulierten Schalls. Was hatten die Worte zu bedeuten? Jetzt nicht – später – mehr Aussicht. Mehr Aussicht worauf? Hatten sie etwas mit ihm zu tun? Unwillkürlich griff er nach dem leichten Blaster, den er unter dem Gürtel trug. Die Warnung vor den Harrenden kam ihm wieder in den Sinn. Er würde auf der Hut sein müssen. Die Wildnis des Talkessels war nicht so harmlos, wie sie auf den Blick des Unbefangenen wirkte. * Der Weg durch den Wald erwies sich als ungemein beschwerlich. Die Banyan‐Wurzeln wuchsen in derartiger Fülle von den stämmigen Ästen herab, daß Atlan sich mitunter vorkam wie in einem vergitterten Käfig. Als er den Saum des Waldes erreichte, lag die östlichste Kuppel nur zweihundert Meter vor ihm. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die gewaltigen Dimensionen des Bauwerks überwältigend. Eine matt schimmernde, graue Masse stieg fugenlos aus dem Boden und in die Höhe, bis sie die Hälfte des Blickfelds verdeckte. Keine der anderen sechs Kuppeln war von hier aus zu sehen, nicht einmal die größte in der Mitte. Atlan schätzte den Durchmesser des Kolosses auf achthundert Meter, seine Höhe auf ein Drittel dieses Wertes. Der Wald endete wie abgeschnitten. Er bildete offenbar eine kreisförmige Lichtung mit einem
Durchmesser von mehreren Kilometern. Das Ganze war zu regelmäßig, als daß es ein Erzeugnis der Natur hätte sein können. Atlan sah vor seinem geistigen Auge Scharen von Robotern, die sich in regelmäßigen Abständen damit beschäftigten, den Wald in seine Schranken zu verweisen. Aber das war nicht das einzige Unnatürliche in dieser Gegend. Atlan kam plötzlich zu Bewußtsein, daß er auf dem Weg hierher kein einziges Tier zu Gesicht oder zu Gehör bekommen hatte. Ein breiter Streifen hoch gewachsenen, saftigen Grases trennte den Wald vom Rand der grauen Kuppel. Der Boden war sumpfig; Atlans Schritte verursachten ein schmatzendes Geräusch. Er hielt den Blick starr auf die graue Wand der Kuppel gerichtet. Sie war ohne jegliche Gliederung, ohne auch nur die Spur eines Eingangs, der dem suchenden Zutritt gestattet hätte. Als er vor der riesigen Masse stand, fuhr er sacht mit der Hand über die glatte Oberfläche. Das Material war synthetisch, eine Mischung aus Metall und Polymeren, wie sie auch von der terranischen Technologie verwendet wurde. Er schritt ein paar hundert Meter weit an der Peripherie der Kuppel entlang, ohne auch nur die geringste Unebenheit, die Andeutung des Umrisses einer Tür zu finden. Er hielt es für zwecklos, die graue Substanz mit dem Impulsstrahler zu bearbeiten. Die Wand mochte mehrere Meter dick sein, und überdies hätte der Herr in den Kuppeln ihm diese Vorgehensweise womöglich übel genommen. Er war halb und halb schon überzeugt, daß er den Gang umsonst unternommen habe, da erinnerte er sich plötzlich an die Prüfung, der sie sich unmittelbar nach der Landung auf Osath hatten unterziehen müssen, in einer Ansammlung von Kuppeln genau wie dieser, nur daß jene wesentlich kleiner gewesen waren. Ein grotesker, aberwitziger Einfall hatte damals die Lage gerettet und ihnen zum Status von »Freien« verholfen. Einer Laune folgend, sagte Atlan: »Kuppel – öffne dich!«
Er hörte ein leises Knirschen. Weniger als zwei Meter entfernt hatte sich ein Spalt in der Wand der Kuppel gebildet. Er weitete sich bis auf eine Breite von anderthalb Metern. Verblüfft über den gänzlich unerwarteten Erfolg blickte Atlan durch die Öffnung in eine weite, mäßig erleuchtete Halle, die zu einem Garten hergerichtet war. Im Schein der mattgelben Deckenbeleuchtung wuchsen dort exotische, von bunten Blüten überwucherte Bäume und Sträucher. Vom Eingang her führte ein Pfad ins dichte Gewirr der Pflanzen. Ein betäubender Duft schlug dem Arkoniden entgegen. Er war sich darüber im klaren, daß es Gefahr bedeutete, den unbekannten Raum zu betreten. Die duftgeschwängerte Luft mochte Giftstoffe enthalten, die Tür mochte sich hinter ihm schließen und ein zweites Mal nicht mehr auf seine Aufforderung reagieren. Es gab ein halbes Dutzend vorzüglicher Gründe, warum er sich mit dem bisher Erreichten zufrieden geben und kein zusätzliches Risiko eigenen solle. Aber die Neugierde war stärker. Schritt um Schritt bewegte sich Atlan den Pfad entlang. Der Duft wurde stärker, je näher er dem Meer der Blüten kam. Nach jedem zweiten Schritt drehte er sich um und sah in Richtung des Eingangs. Der Spalt stand nach wie vor offen. Plötzlich spürte er den Widerstand. Es war nichts Greifbares, kein energetisches Feld, das ihm wie eine solide Wand den Weg versperrte. Es war mehr, als zöge auf einmal die Gravitation mit vermehrter Kraft an ihm, obwohl er keine Veränderung seines Gewichts spürte – als sei die Luft plötzlich zäh und viskos geworden, wiewohl ihm das Atmen keine zusätzliche Schwierigkeit bereitete. Er stemmte sich gegen den unheimlichen Einfluß, ging noch einen, noch zwei Schritte weiter – aber die Anstrengung war mehr, als er auf dem ganzen Herweg geleistet hatte. Er spürte wie ihm die Kraft aus den Muskeln gesogen wurde. Er fühlte sich schwach, müde und zerschlagen, als hätte er einen ganztägigen Gewaltmarsch hinter sich.
Er wandte sich um und ging drei Schritte zurück. Sofort war der merkwürdige Effekt verschwunden. Er drehte sich noch einmal um und versuchte in der ursprünglichen Richtung weiterzuschreiten. Der fremde Einfluß machte sich von neuem bemerkbar. Er stemmte sich gegen ihn und kämpfte sich Schritt um Schritt vorwärts, bis die bunte Szene vor seinen Augen zu zittern und zu schwanken begann und ein dumpfes Brausen in den Ohren die nahende Ohnmacht ankündigte. »Kehr um, du Narr!« meldete sich in diesem Augenblick der Extrasinn. Atlan gehorchte. Die Erleichterung, als der fremde Zwang ruckartig von ihm abfiel, war wie ein Schock. Er taumelte und kämpfte ein paar Sekunden lang gegen ein Schwindelgefühl, das seinen Gleichgewichtssinn verwirrte. Aber schließlich hatte er die Muskeln wieder unter Kontrolle. Er hielt auf die Öffnung in der Wand der Kuppel zu und schritt hinaus ins Freie ohne sich nur ein einziges Mal umzusehen. Draußen ließ er sich erschöpft ins nasse Gras fallen und pumpte Luft in die gequälten Lungen. Als er sich ein paar Minuten später wieder aufrichtete, war von der Öffnung in der Wand der Kuppel nichts mehr zu sehen. * Auf dem Rückweg war er so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er mehrmals von dem Weg abwich, den er so sorgfältig markiert hatte. Das bedeutete, daß er umkehren und sich rückwärts bewegen mußte, bis er wieder auf eines der Zeichen stieß, die er auf dem Herweg angebracht hatte. Dadurch verlor er Zeit. Es war längst Mittag, und er hatte den Banyan‐Wald noch nicht einmal zur Hälfte durchquert. Es war leicht, sich Zutritt zu den Kuppeln zu verschaffen –
wenigstens zu der einen, die am weitesten nach Osten vorgeschoben lag. Aber drinnen wirkte ein seltsamer Bann, der den Eindringling am Vorwärtskommen hinderte. Jeden Eindringling? Vielleicht lohnte es sich, das Experiment mit mehreren Teilnehmern zu wiederholen. Er ärgerte sich jetzt darüber, daß er keinen Versuch unternommen hatte, zum Herrn in den Kuppeln zu sprechen. Wer weiß, vielleicht hätte der unsichtbare Herrscher von Osath ebenso bereitwillig auf eine direkte Aufforderung reagiert wie die Tür in der Wand der Kuppel. »… schnell … hier …« Er blieb abrupt stehen. Dasselbe zirpende Wispern, das er auf dem Herweg gehört hatte! Woher kam es? Der Wald war voller Luftwurzeln, die sich wie die Stäbe eines engmaschigen Gatters vor ihm in den Boden senkten. Er sah sich um. Unter den mächtigen, weit ausladenden Kronen der Bäume herrschte ein ungewisses Halbdunkel, das dem suchenden Auge zu schaffen machte. Halt – war dort eine Bewegung? Der Schatten, den er zu sehen geglaubt hatte, war so rasch verschwunden, wie er aufgetaucht war. Kein Geräusch ließ sich hören. Er schritt weiter. Ein mattes Glitzern erregte seine Aufmerksamkeit. Im selben Augenblick fühlte er sich an der Schulter gepackt. Er wirbelte herum, aber da war niemand. Stattdessen fühlte er einen Zug an der linken Seite. Er sah an sich hinab und entdeckte einen schimmernden Strang, nicht dicker als ein halber Finger, der sich ihm um die Hüfte wand. Ein ähnlicher Faden hing ihm von der Schulter herab. Er griff zu und versuchte, den Strang zu zerreißen; aber das klebrige Gebilde blieb ihm an den Fingern hängen, und je mehr er daran zerrte, desto bereitwilliger wickelte es sich ihm um die Hand, bis er sie kaum noch bewegen konnte. »… gut so … noch ein paar mehr …« Er sah auf. Über ihm, auf den untersten Ästen des mächtigen Baumes saß eine Horde spinnenähnlicher Wesen. Sie waren riesig,
was Spinnen anging, mit glatten, gepanzerten Körpern von einem halben Meter Länge, die im vorderen Drittel eingeschnürt waren. Der Vorderteil des Körpers schien gleichzeitig der Sitz der Sinnesorgane zu sein. Atlan sah Antennen, die mit kleinen, zerfaserten Fähnchen bewehrt waren, und starre Facettenaugen, die ihn anstarrten. Mit haarigen Beinen klammerten sich die Fremdwesen an die glatte Rinde des Astes, und aus ihren Hinterkörpern rieselten seidene, silberne Fäden auf das ahnungslose Opfer herab. Atlan erstarrte. Es war ihm klar, in welcher Gefahr er sich befand. Noch ein paar unbedachte Bewegungen, und das klebrige Gespinst hatte ihn gefangen. Die linke Hand war noch frei. Während sich die Fäden auf ihn herabsenkten, bewegte er sie unendlich vorsichtig am Gürtel entlang, bis sie den Kolben des Blasters zu fassen bekam. Behutsam holte er die Waffe hervor. Die Mündung richtete sich nach oben … Knallend und fauchend stach der grelle Energiestrahl durch die Stille des Waldes. Die silbernen Fäden des Gespinsts flammten knisternd auf und verdampften. Eine Fülle aufgeregter, wispernder Geräusche drang aus der Höhe. Eines der Spinnenwesen hatte den Halt auf dem Ast verloren, baumelte noch eine Sekunde und stürzte herab. Die anderen stoben in panikartiger Flucht davon. Springend und kletternd gewannen sie die höher gelegenen Äste des Baumes und waren Augenblicke später im Laubwerk verschwunden. Das Geschöpf, das herabgestürzt war, blieb indessen reglos auf dem Boden liegen. Mit Bedacht und Umsicht befreite sich der Arkonide aus dem klebrigen Netz. Ein paar Stränge waren so kräftig, daß er sie mit dem Nadelstrahl des Impulsstrahlers durchtrennen mußte. Er beugte sich über das reglose Spinnenwesen. Sein Schuß hatte eines der acht Beine getroffen und nur einen verbrannten Stummel übriggelassen. Es war kein Lebenszeichen zu bemerken. Atlan fühlte sich niedergeschlagen. Sie hatten ihn fangen wollen – aus welchem
Grund auch immer – aber es lag ihm nichts daran, ihnen Schaden zuzufügen. Der Schuß hatte den Gespinstfäden gegolten; er hatte auf keine der Spinnen gezielt. Er drehte das reglose Wesen so, daß es auf den Bauch zu liegen kam. Dabei stellte er fest, daß der harte, chitinartige Rückenpanzer eine Markierung trug. Sie sah aus wie eine Schneeflocke unter dem Mikroskop: ein mit zahlreichen Auswüchsen versehenes Kreuz. Müde und verdrossen machte er sich wieder auf den Weg. Er gab sich Mühe, die Wegmarkierungen nicht mehr zu versäumen und erreichte eine halbe Stunde später den östlichen Waldrand. Noch eine Stunde, schätzte er, bis zum Haus. * »Gesetzt den Fall, die Spinnenwesen sind tatsächlich intelligent«, sagte Joscan Hellmut. »Wie kommt es dann, daß Bjo keine Mentalimpulse registriert?« Atlan machte eine ungewisse Geste. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Entweder funktioniert das Bewußtsein der Spinnen in einem Spektralbereich, der Bjo nicht zugänglich ist. Oder die Spinnen verstehen es, ihre Gedanken abzuschirmen.« »Oder sie sind Roboter«, fügte Bjo Breiskoll hinzu. »Auch das ist möglich«, pflichtete der Arkonide ihm bei. »Die Lage hat sich also nicht geändert? Du empfängst noch immer nichts?« »Nichts«, bestätigte der Mutant. »Wenn ich das gewußt hätte«, sagte Joscan Hellmut, »hätte ich mich etwas aufmerksamer mit den Häusern beschäftigt.« »Häusern! Welchen Häusern?« Der Kybernetiker lächelte. »Du dachtest, unseres sei das einzige Gebäude am Talrand? Weit gefehlt! Es gibt mindestens ein Dutzend
weitere Unterkünfte. Man kann sie von hier aus nicht sehen, weil die Wand nicht eben ist, sondern Vorsprünge und Nischen bildet.« »Wer wohnt dort?« fragte Atlan verwundert. »Niemand, dachte ich. Ich verließ mich darauf, daß Bjo keine Spur mentaler Tätigkeit gefunden hatte. Also konnte gar niemand in den Häusern hier wohnen, nicht wahr?« Er klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die Fenster sind beschichtet. Man kann von außen nicht hineinsehen. Ich wollte, ich wäre hineingegangen.« »Unter Umständen war es gut, daß du dich nicht zu weit vorwagtest«, beruhigte ihn Atlan. »Die Spinnen scheinen nicht gut auf uns zu sprechen zu sein. Wenn sie eines der Häuser als Quartier benützen …« »Trotzdem sollten wir uns die Sache aus der Nähe ansehen«, beharrte Joscan. »In Ordnung, aber zuerst bin ich an der Reihe«, erklärte Bjo mit Nachdruck. Atlan sah ihn erstaunt an. »Was gibtʹs bei dir so Wichtiges?« »Ich möchte, daß du dirʹs ansiehst.« »Du warst droben in den Felsen. Heißt das, ich muß klettern?« Bjo grinste. »Ein wenig, aber es lohnt sich.« Gavro Yaal und Akitar waren der Unterhaltung schweigend gefolgt. Als Bjo und Atlan sich von dem Tisch erhoben, auf dem die sechs leeren Schüsseln des Mittagessens standen, erschien ein hämischer Ausdruck auf Yaals Gesicht. »Ihr seid Narren«, sagte er verächtlich. »Wozu soll die Betriebsamkeit gut sein? Setzt euch hierher und wartet, sage ich. Der Herr in den Kuppeln wird von sich hören lassen, sobald er es für richtig hält.« »Und wenn die SOL bis dahin auseinandergenommen ist?« fragte Bjo ärgerlich. »Dann kannst du auch nichts daran ändern«, winkte Gavro Yaal ab. In diesem Augenblick erhob sich Akitar. Die großen, grauen
Augen blickten ernst, fast düster. »Ich habe nachgedacht«, sagte er dumpf. »Ich habe versucht, mich in die Zukunft zu versenken. Uns droht Gefahr! Hört nicht auf diesen hier, er versteht die Zusammenhänge nicht.« * Einen halben Kilometer südlich des Hauses hatte Bjo einen Aufstieg gefunden, der wenig bergsteigerisches Können erforderte. Ein Felsband, dessen Breite zwischen einem und drei Metern schwankte, zog sich mäßig steil in die Wand hinein. Es gab keine nennenswerten Hindernisse. Atlan hatte Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Was hatte Akitar gemeint, als er sagte, es drohe Gefahr? Sie erreichten eine Stelle, die rund zweihundert Meter über dem Haus lag. Dort bildete der Fels zur rechten Hand des Pfades eine tiefe Bucht. Auf diese Bucht hatte es Bjo Breiskoll abgesehen. Er stieg über ein paar Trümmerstücke hinweg und führte Atlan an eine Stelle, an der der Untergrund ein Loch aufwies. Es war zu regelmäßig geformt, als daß es auf natürliche Weise hätte entstanden sein können. Der Durchmesser betrug nicht mehr als fünf Zentimeter. Man hätte es leicht übersehen können, wenn nicht die Ränder deutlich geschwärzt gewesen waren. »Es gibt vier solcher Löcher«, sagte Bjo. »Sie liegen entlang einer geraden Linie, die quer durch die Bucht führt.« Atlan untersuchte sie eines nach dem anderen. Sie waren alle von gleicher Form und besaßen ohne Ausnahme eine Tiefe von fünfzehn Zentimetern. Wie das erste, so wiesen auch die anderen drei geschwärzte Ränder auf. »Ich weiß, was du meinst«, sagte Atlan. »Aber es kommt mir ziemlich abenteuerlich vor.« »Es sind Sprenglöcher, nicht wahr?« beharrte Bjo.
»Sie sehen so aus. Es hat den Anschein, als hätte sich jemand hier mit Dynamit zu schaffen gemacht.« Er lachte ärgerlich. »Dynamit, Junge, weißt du, wie lange das schon her ist?« Bjo zuckte mit den Schultern. »Niemand weiß, wer die Harrenden sind. Niemand weiß, auf welcher Entwicklungsstufe sie stehen.« Atlan blickte an der einwärts gewölbten Felswand der Bucht in die Höhe. Es gab Stellen unterschiedlicher Färbung. Manche wirkten grau und verwittert, andere waren hell und glatt, als seien sie erst vor kurzem zutage getreten. Atlan deutete auf eine nahezu weiße Fläche von unregelmäßigem Umriß. »Von dort könnte unsere Lawine gekommen sein«, sagte er. »Ich nehme an, die Bucht war nicht halb so groß, bevor die Sprengladungen gezündet wurden.« Bjo nickte. »Also hat es tatsächlich jemand auf uns abgesehen. Warum?« »Das werden wir herausfinden müssen«, antwortete Atlan nachdenklich. Der Boden der Bucht war mit Geröll bedeckt. Zwischen den grauen Felstrümmern entdeckte er einen kleinen, schwarzen Gegenstand mit metallischem Schimmer. Er trat hinzu und zog ihn zwischen den Steinen hervor. Es war ein Stück Chitinpanzer. Die Überreste einer Markierung waren zu sehen: das hundertfach vergrößerte Abbild einer Schneeflocke, ein Kreuz mit zahlreichen Verästelungen. Bjo musterte den ungewöhnlichen Fund verständnislos. Atlan sah ihn an und sagte: »Spinnen häuten sich. Habʹ ich das nicht irgendwo gehört?« 3. In dieser Nacht losten sie Wachen aus. Gavro Yaal hielt die Idee für
lächerlich und wollte sich daran nicht beteiligen. Unter allgemeinem Druck besann er sich jedoch eines Besseren. Auch das Haus war der Ansicht, daß eine solche Vorsichtsmaßnahme überflüssig sei; aber es wollte sich nicht darüber auslassen, wer die Spinnenwesen waren, und davon, daß vergangene Nacht in der Felswand gesprengt worden war, hatte es angeblich keine Ahnung. Atlan selbst übernahm die erste Wache. Er machte es sich in der Halle bequem und überredete das Haus dazu, im Korridor, der zum Eingang führte, eine Lampe brennen zu lassen. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, aber es fiel ihm nicht schwer, die Augen offen zu halten. Gedanken mancher Art bestürmten ihn, und er ließ ihnen freien Lauf. Im Geist überflog er noch einmal die Ereignisse der vergangenen Wochen. Seine Erinnerung reichte ungestört nur bis zu jenem Zeitpunkt zurück, da er an Bord der verlassenen kosmischen Burg zu sich kam. Davor klaffte eine zweihundert Jahre weite Gedächtnislücke. An das, was ihm widerfahren war, als er sich jenseits der Materiequelle bei den Kosmokraten aufhielt, erinnerte er sich nur bruchstückweise. Er wußte, daß die Kosmokraten ihm einen Auftrag erteilt hatten. Er hatte mit der SOL einen Raumsektor Varnhagher‐Ghynnst anzufliegen und dort eine Ladung zu übernehmen. Als er in der kosmischen Burg anstatt an Bord der SOL das Bewußtsein wiedererlangte, hatte er zuerst geglaubt, den Kosmokraten sei ein Fehler unterlaufen. Aber bald war ihm klar geworden, daß die SOL sich ganz in der Nähe befand, wie die kosmische Burg im Sog eines unheimlichen Kraftfelds gefangen, dem sie nicht zu entrinnen vermochte. Das Feld ging von einem fremden Sonnensystem aus, dem sich nicht nur die SOL und die Burg, sondern eine ganze Armada von Objekten aller Art unaufhaltsam näherte. Er war schließlich an Bord der SOL gelangt und hatte dort Verhältnisse vorgefunden, die ihn zutiefst erschütterten. Man schrieb auf den Kalendern des Fernraumschiffs, das einst Perry
Rhodan befehligt hatte, das Jahr 3791. Mehr als zweihundert Jahre zuvor, zu Ende des Jahres 3586, war die SOL zuversichtlich zu der großen Fahrt auf gebrochen, die nach dem Willen ihrer Besatzung kein Ende haben sollte. Die Solgeborenen hatten sich höhere Ziele gesetzt. Ihre Gesellschaft sollte das Utopia sein, von dem die Menschheit seit Jahrtausenden träumte. Und was war daraus geworden! In nur zwei Jahrhunderten hatte sich die Gesellschaft der Solaner auf dramatische Art und Weise zurückentwickelt. Was Atlan vorfand, als er die SOL betrat, grenzte an Barbarei. Die Bevölkerung des Fernraumschiffs war inzwischen auf 90.000 bis 100.000 angeschwollen. Mutationen hatten zur Entstehung neuer Arten geführt. Bei den zahllosen Einsätzen zur Auffrischung der Vorräte waren zudem auf fremden Planeten Lebewesen aller Arten aufgegriffen worden. Die Gruppe der »Extras«, die sich aus intelligenten und nichtintelligenten Geschöpfen zusammensetzte, bildete eine eigene Abteilung am Rande der solanischen Gesellschaft. Über das Konglomerat von Normalen, Mutierten und Extras herrschte die SOLAG, eine in Kasten gegliederte Oberschicht, die insgesamt nicht einmal fünf Prozent der Besatzung ausmachte. An ihrer Spitze stand der High Sideryt, dem diktatorische Macht zur Verfügung stand. Man war bald darauf aufmerksam geworden, daß sich ein Mann namens Atlan an Bord der SOL befand. Die wenigen, die mit dem Namen überhaupt noch etwas anzufangen wußten, hielten es für unmöglich, daß es sich um denselben Atlan handele, der sich in der Frühgeschichte des Riesenraumschiffs einen Namen gemacht hatte. Immerhin schien er ein gefährlicher Eigenbrötler zu sein. Man begann, ihn zu jagen. Atlan hatte aufgehört, zu zählen, wie oft er den Häschern um Haaresbreite entkommen war. Inzwischen bewegte sich die SOL unaufhaltsam auf das fremde Sonnensystem zu, das man seiner charakteristischen Anziehungskraft wegen auf den Namen
Mausefalle getauft hatte. Ausgangsort der unheimlichen Kraft war der siebte von insgesamt 23 Planeten. Bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem High Sideryt gelang es Atlan schließlich, diesen zu überzeugen, daß die Schläfer geweckt werden müßten – jene Gruppe von Menschen aus den Anfangsjahren der solanischen Gesellschaft, die allein das nötige Wissen besaßen, das Schiff aus drohender Gefahr zu retten. Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll, Gavro Yaal und die Zwillinge Sternfeuer und Federspiel, die fast zweihundert Jahre im Tief schlaf verbracht hatten, erwachten ohne Zwischenfall; allerdings ergriffen die beiden Zwillinge bei der ersten Gelegenheit die Flucht und waren seitdem verschwunden. Für die übrigen drei und für Atlan hatte der High Sideryt jedoch sofort eine Aufgabe bei der Hand: die Gefahr zu beseitigen, die der SOL von dem Quader drohte, einem fremden Gigantraumschiff. Chart Deccon, der High Sideryt, hatte dabei etwas ganz Bestimmtes im Sinn. Der Einsatztrupp, der Atlan und die drei Schläfer begleitete, sollte die energetische Koppelung zwischen dem Quader und der SOL lösen, worauf der Quader mit einer Geschwindigkeit, die die der SOL um etliches übertraf, auf Mausefalle VII zueilen würde. Nukleare Sprengsätze waren anzubringen und ihre Zünder so einzurichten, daß die Detonation nicht nur den Quader, sondern obendrein den gefährlichen Planeten in radioaktiven Staub verwandelte. Damit nicht genug. Atlan und die drei Schläfer sollten gezwungen werden, an Bord des Quaders zu bleiben, wenn das Einsatzkommando sich absetzte. Der High Sideryt betrachtete sie als eine Gefahr für die innere Stabilität der SOL‐Gesellschaft und wollte sich ihrer auf diese Weise entledigen. Atlan und seine Gefährten hatten den Anschlag überstanden. Während der Quader sich Mausefalle VII näherte, bekamen sie ersten Kontakt mit den Robotern der eigenartigen Welt. Sie erfuhren zu ihrem Staunen, daß die Robotzivilisation von Mausefalle VII sich seit Jahrhunderten damit beschäftigte, alle möglichen Objekte aus dem
umgebenden Raum einzufangen, sie in ihre Bestandteile zerlegte und zur Energiegewinnung verwendete. Soweit es sich bei diesen Objekten um Raumschiffe handelte, wurde mit der Besatzung recht humanitär verfahren: man schaffte sie nach Osath hinab und erlaubte ihr, sich dort einzurichten. Dasselbe Schicksal war auch Atlan und seinen Begleitern widerfahren, und damit begann die Serie der alptraumhaften Abenteuer auf einer Welt, deren Alltag von soviel Widersprüchen beherrscht wurde, daß es selbst dem geschliffensten Verstand unmöglich war, die Logik zu erkennen, nach der dieses Konglomerat von Gestrandeten aus hundert verschiedenen Zivilisationen, von Robotern und Mißgebauten, von Freien und Altwesen funktionierte. Atlan und die Solaner mußten sich einer Prüfung unterziehen, bestanden sie und wurden als »Frei« mit Robotbegleitung in der Stadt einquartiert. Sie sammelten Informationen und gewannen allmählich ein Bild der Zusammenhänge, die das Leben auf Osath bestimmten. Die Roboter von Osath waren offenbar die Ureinwohner des Planeten. Ihre Erbauer waren verschwunden. Über die Roboter gebot eine Wesenheit, die sich der Herr in den Kuppeln nannte. Der Herr in den Kuppeln regierte jedoch nicht ohne Widerspruch. Schließlich war er derjenige, der verantwortlich zeichnete für das Elend der Raumschiffsbesatzungen, die auf Osath dahinvegetierten und von nichts anderem träumten, als diese Welt so rasch wie möglich wieder zu verlassen. Aber auch unter seinen Robotern fand der Herr in den Kuppeln Widerstand, namentlich unter den Fehlproduktionen, den sogenannten Mißgebauten. Deren Anführer war ein Robot von humanoidem Äußeren mit dem Namen Y ʹMan. Atlan und seine Gefährten waren aufgebrochen, um Y´Man zu suchen. Von der Stadt gelangten sie in die Stadt der Vergessenen. Dort stieß Akitar zu ihnen. Inzwischen wurde von den Robottruppen des Herrn in den Kuppeln auf sie Jagd gemacht. Sie flohen und gelangten in die Stadt Viorvarden auf der großen Insel
Gambaneg. Dort fand die erste Begegnung mit Y´Man statt, die allerdings ein unerwartetes und unerfreuliches Ende nahm. Unmittelbar nachdem Y´Man sich zurückgezogen hatte, drangen die Roboter des Herrn in den Kuppeln in Viorvarden ein und nahmen die Solaner mitsamt Atlan gefangen. Ein Fahrzeug‐ Roboter brachte sie zu den Kuppeln, in denen der Herr auf sie wartete. Das war die Geschichte. Inzwischen näherte sich im Orbit über Osath ein zweihundertjähriger Traum dem Ende. Atlan zweifelte nicht daran, daß die Roboter mittlerweile begonnen hatten, die SOL zu demontieren. Aber es war nicht der Traum, um den es ihm ging. Von seiner Warte aus gesehen hatten die Solaner ihre Chance gehabt und sie vertan. Es ging um seinen Auftrag! Nicht mit irgendeinem Raumschiff – mit der SOL sollte er den Raumsektor Varnhagher‐ Ghynnst anfliegen und eine Ladung übernehmen! Nur der Herr in den Kuppeln konnte verhindern, daß Perry Rhodans einstiges Fernraumschiff auseinander genommen wurde und das Schicksal jener Tausende von Fahrzeugen teilte, die die Roboter von Osath für die Zwecke der Energiegewinnung verschrottet hatten. Aber der Herr in den Kuppeln ließ nichts von sich hören … * War er doch eingeschlafen? Das Gesicht, das sich am Fenster die Nase plattdrückte, war wie eine Vision aus einem Alptraum: riesige, gelbe Augen, ein grinsender, dünnlippiger Mund, häßliche Zahnstummel … Atlan sprang auf. Mit wenigen Schritten war er bei der Tür. Er zwängte sich zwischen den beiden aufgleitenden Portalhälften hindurch. Draußen herrschte undurchdringliche Finsternis. Er schritt am Haus entlang, bis er das Fenster erreicht, an dem er die Erscheinung gesehen hatte. Es war niemand mehr da. Der
Unheimliche hatte Reißaus genommen. Atlan blieb stehen und lauschte. Der warme Nachtwind fuhr sanft durch das Gras und ließ es rascheln. Ein kratzendes Geräusch, ein halblautes Kollern wie von einem Stein, der ins Rollen gebracht worden war … Geduckt huschte er auf den Ort zu, von dem die Laute kamen. Da gellte ein schrilles Gelächter durch die Nacht. Ein Licht flammte auf und beleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde eine kleine, gedrungene Zwergengestalt. »Sie haben dich noch nicht? Sie werden dich bald kriegen!« Das Licht verlosch. Das Geräusch tapsender Schritte entfernte sich. Atlan machte sich nicht die Mühe, die Erscheinung zu verfolgen. Er kehrte ins Haus zurück. »Haus, bist du wach?« fragte er laut. »Ich schlafe nicht«, antwortete es ihm aus einem unsichtbaren Lautsprecher. »Wir hatten Besuch«, sagte er. »Ich habe es gehört.« »Wer war es?« »Das kann ich nicht wissen. Ich sehe nur Dinge, die in mir vorgehen.« Atlan kehrte in die Halle zurück. In einem der Sessel kauerte Joscan Hellmut und rieb sich verschlafen die Augen. Er fuhr auf, als der Arkonide eintrat. »Was war das für ein höllisches Gelächter?« fragte er. Atlan berichtete von seinem nächtlichen Abenteuer. »Es war das häßlichste Geschöpf, das ich je vor Augen bekommen habe«, schloß er. »Was hat er gemeint?« murmelte Joscan. »Es hört sich an, als wäre er gekommen, um nachzusehen, ob sie uns schon haben. Wer immer sie sein mögen, und was immer man sich unter haben vorstellen soll. Da sie uns offenbar noch nicht haben, fühlte er sich befleißigt, uns mitzuteilen, daß es nur eine
Frage der Zeit sei, bis sie uns bekommen.« »Sie – die Harrenden?« »Die wir selbst sind. Ja, ich weiß: es ist alles so ungeheuer logisch und verständlich.« Er sah auf die Uhr. »Bist du hier um deine Wache anzutreten?« Joscan nickte. »Wir können es uns nicht leisten, noch lange auf den Herrn in den Kuppeln zu warten«, sagte Atlan. »Ich kümmere mich um die Spinnen und was uns sonst noch an den Hals will. Ich möchte, daß du in Erfahrung bringst, wo die Zentraleinheit sitzt, die dieses Haus steuert, und sie dir ansiehst.« »Wahrscheinlich unterirdisch«, vermutete der Kybernetiker. »Es gibt im Hintergrund des Hauses einen Raum, in dessen Boden eine Falltür eingelassen ist. Hast du bestimmte Pläne?« »Ich will soviel Durcheinander erzeugen, daß dem Herrn in den Kuppeln nichts anderes übrigbleibt, als sich um uns zu kümmern. Wie das zu machen ist, mußt du mir sagen.« * Der Morgen stieg wolkenlos herauf – ungewöhnlich für diese Welt, die sich für immer in Wolken hüllte, und gleichzeitig ein böses Omen. Schönwetterperioden waren von kurzer Dauer und zogen Stürme hinter sich her. So wenigstens hatte Atlan es von den Robotern gehört, die bereit gewesen waren, seine Fragen zu beantworten, und wenn sie von Stürmen sprachen, dann meinten sie offenbar Orkane von der Wucht eines Hurrikans. Atlan machte sich frühzeitig auf den Weg. Bjo Breiskoll hatte ihm seine Begleitung angeboten; aber der Arkonide erkannte, daß es sich nur um eine freundliche Geste handelte. Der Katzer wirkte abgespannt und unruhig. Es war ein halbes Wunder, daß er es gestern zweimal unternommen hatte, in den Felsen
herumzuklettern. Der Aufenthalt auf der Oberfläche eines Planeten war ihm, dem Solaner, zuwider. Atlan schritt an der Wand des Talkessels entlang nach Norden. Vorab und zu seiner Linken zog sich ein breiter Ausläufer des Waldes dahin, den er gestern durchquert hatte. Er wußte von Joscan Hellmut, daß die Häuser, die dieser gesehen hatte, etwa dort standen, wo der Kessel sich allmählich nach Nordwesten und später nach Westen zu krümmen begann. Es waren nicht so sehr die Nischen und Vorsprünge, die der Beobachtung im Weg gewesen waren, als vielmehr der Wald, der aus den auf Osath üblichen, gewaltigen Gewächsen bestand. Unterwegs achtete er sorgsam auf den Himmel. Es lag ihm wenig daran, von dem Unwetter überrascht zu werden, das der wolkenlose Himmel ankündigte. Aber das Firmament strahlte in kristallener Bläue. Die Luftfeuchtigkeit war um ein Beträchtliches gesunken und machte die Hitze leichter erträglich. Nach zweistündigem Marsch tauchte das erste Haus vor ihm auf. Es war kleiner als das Gebäude, in dem er mit den Gefährten untergebracht war. Es besaß kein schräges Dach wie das Haus, in dem die Solaner wohnten, sondern ein plattes und hatte die Form eines Würfels. Außerdem sah es heruntergekommen aus. Er näherte sich ihm vorsichtig. Die Fenster waren, wie Joscan gesagt hatte, beschichtet und außerdem schmutzig. Der Eingang lag seitwärts. Er schritt rings um das Haus herum und gewann den Eindruck, es sei leer. Erst dann beschäftigte er sich mit der Tür. Sie schien einfach, aber sie widerstand seinen Bemühungen und lieferte keinen Hinweis, welchen Tricks es bedurfte, sie zu öffnen. »Was machst du da?« fragte hinter ihm eine helle Stimme. Er fuhr herum und erblickte einen Roboter, einen Phano. Es war keiner von denen, die er vorgestern bei der Ankunft kennengelernt hatte. Seine Markierung war schwarz‐weiß‐schwarz, und die Linsen waren auf dem rechteckigen Körper so angeordnet, daß sie ein Sechseck bildeten. Es war Atlan nicht ganz klar, wie er so nahe hatte
kommen können, ohne ein Geräusch zu verursachen. »Ich möchte erfahren, wer hier wohnt«, antwortete der Arkonide. »Hier wohnt niemand«, erklärte der Robot. »Siehst du das dem Haus nicht an?« Atlan gab sich so rasch nicht geschlagen. »Ich suche die Harrenden. Wohnen sie nicht hier – oder in einem der anderen Häuser dort drüben?« Er machte eine vage Geste, um anzudeuten, was er mit »dort drüben« meinte. In Wirklichkeit hatte er außer diesem bis jetzt kein einziges Haus gesehen, obwohl es nach Joscan Hellmuts Aussage ihrer mindestens ein Dutzend gab. Die Linsen des Phanos glitzerten im Sonnenlicht. »Bist du bei Verstand?« Es war erstaunlich, wie der Translator die Nuancen der Sprachfärbung übertrug. Dem Robot fiel offenbar schwer, zu glauben, daß er richtig gehört hatte. »Der Harrende bist du! Suchst du dich selbst hier?« »Rede keinen Unsinn«, wies Atlan ihn zurecht. »Es gibt andere Harrende außer mir. Ich …« »Ja, ich habe gehört, daß insgesamt fünf von ihnen vor kurzem angekommen sind«, unterbrach ihn der Phano ungerührt. »Bist du nicht einer von ihnen?« »Ich meine außer den fünf«, sagte Atlan ärgerlich. »Ich bin selbst gestern Wesen begegnet, die sich auf acht Beinen bewegen. Sie sind etwa so groß …« Er zeigte mit der Hand die Höhe eines Spinnenkörpers an … »und spinnen aus ihren Leibern silberne, klebrige Fäden.« Der Robot musterte ihn eine Zeitlang, dann sagte er: »Jetzt bin ich sicher, daß du den Verstand verloren hast. Das ist eine Angelegenheit, die man ernst nehmen muß; denn mit Verrückten weiß der Herr in den Kuppeln nichts anzufangen. Ich werde melden, daß …« »Nein, halt! Das ist nicht nötig.« Atlan war wenig damit gedient, wenn er dem Herrn in den Kuppeln als Geisteskranker avisiert wurde. »Ich sehe ein, daß du recht hast, und bin bereit zu glauben,
daß es nur die fünf Harrenden gibt, von denen du sprachst.« »Und von denen du einer bist«, fügte der Robot hinzu. »Ja, das ist richtig.« »Gut. Ich werde die Meldung unterlassen«, erklärte der Phano. »Aber du machst dich am besten auf den Heimweg. Du weißt, was der blaue Himmel bedeutet?« »Unwetter.« »Ja. Also sieh zu, daß du deine Unterkunft erreichst.« 4. Nicht etwa geknickt, aber doch in seinem Selbstbewußtsein beeinträchtigt, machte Atlan sich auf den Heimweg. Ein Roboter hatte ihn der Geistesschwäche bezichtigt, und ihm war keine andere Wahl geblieben, als die unverschämte Maschine zu beschwichtigen. Er hatte nicht beweisen dürfen, daß er in Wirklichkeit durchaus bei Sinnen war. Der grün‐rot‐gelbe Phano hatte vor den Harrenden gewarnt, jedoch nicht gewußt, wer sie waren. Das Haus hatte die Warnung bestätigt, aber spöttisch hinzugefügt, die Harrenden seien die Frager selbst. Der schwarz‐weiß‐schwarze Robot hatte kurzerhand in Abrede gestellt, daß es außer Atlan und seinen Begleitern überhaupt Harrende gebe. Atlan selbst aber war am vergangenen Tag einer Horde spinnenähnlicher Geschöpfe begegnet, die es darauf abgesehen hatten, ihn einzufangen. Da er gewarnt worden war, wer wollte ihm da übelnehmen, daß er die Spinnen mit den Harrenden gleichsetzte? Da paßte eines nicht zum anderen. Weitaus vernünftiger schien ihm die Annahme, daß die Roboter, die in diesem Talkessel hausten – das Haus eingeschlossen – eine schadhafte Zentraleinheit mit sich herumtrugen oder an fehlerhaften Paritätsprüfungen litten. Von den Informationen, die er bisher erhalten hatte, widersprach eine der
andere. Es war, als hätte es jemand darauf angelegt, ihn um den Verstand zu bringen. Halt, das war ein Gedanke! Bisher war er den Spuren gefolgt, die er auf dem Herweg hinterlassen hatte. Aber je mehr die Sonne sich dem Zenit näherte, desto einladender erschien ihm das dunkle, kühle Grün des Waldes. Die Wand des Talkessels beschrieb eine weit ausholende Rundung. Wenn er quer durch den Wald ging, konnte er den Weg abkürzen. Als der dämmrige Waldesschatten ihn umfing, kehrte er zu dem vorigen Gedanken zurück. Er befand sich in der Nähe des Herrn in den Kuppeln. Der Herr hatte mit vielen Lebewesen zu tun – mit all denen, die aufgrund des teuflischen Zugstrahls ihre Raumfahrzeuge verlassen und auf der Oberfläche von Osath Zuflucht suchen mußten. Er bemühte sich offenbar, unter den Millionen, die auf seiner Welt landeten, eine gewisse Auswahl zu treffen. Nach welchen Kriterien? Der Herr in den Kuppeln war, wenn die bisher erhaltenen Informationen nicht trogen, weiter nichts als ein besonders komplexes Robotgehirn. Woher sollte er wissen, wie die Angehörigen fremder Sternenvölker sich voneinander unterschieden, nach welchen Maßstäben sie zu messen waren? Es blieb ihm nichts anders übrig, als jeden Neuankömmling zu testen. Atlan selbst hatte den ersten Test dieser Art unmittelbar nach der Landung über sich ergehen lassen müssen – in jenem Gebäudekomplex, der genauso aussah wie die sieben Kuppeln hier, nur daß er wesentlich kleiner war. Lag der Gedanke nicht nah, daß es sich bei dem Wirrwarr von Informationen, der hier in Szene gesetzt wurde, wiederum um eine Prüfung handelte? Um einen Test, der den Herrn in den Kuppeln in die Lage versetzte, eine Gruppe von Fremdwesen, denen er seine besondere Aufmerksamkeit schenkte, genauer kennenzulernen? Hing vom Ausgang dieser Prüfung etwa ab, ob der Herr sich mit den Fremden überhaupt beschäftigen würde oder nicht? Soweit war Atlan mit seinen Überlegungen gekommen, als er das
Gekreisch hörte. * Es kam von irgendwo vor ihm, aus einem Dickicht, das er eigentlich hatte umgehen wollen. Er hielt inne. Die Laute waren fast die einer menschlichen Stimme, ein schrilles Gezeter wie von einem verängstigten Kind. Atlan begann, sich einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. Der Boden war abschüssig, und je weiter er vordrang, desto weicher und unsicherer wurde der Grund. Das Gebüsch wurde schließlich lichter. Er gelangte an den Rand einer kreisförmigen Fläche, auf der dunkles, brackiges Sumpfwasser stand. Mitten im Sumpf stak das Geschöpf, das die kreischenden Laute von sich gab. Wie es in den Morast geraten war, ließ sich nicht erkennen; offenbar war es sich der Gefahr durchaus bewußt: während es schrie und zeterte, was die Lungen hergaben, verhielt es sich ansonsten völlig reglos, um der saugenden Wirkung des Sumpfes keinen Vorschub zu leisten. Es war bis an die Schulter eingesunken. Nur noch ein seltsam geformter Kopf war zu sehen. Große, gelbe Augen starrten voller Verzweiflung über die schillernde Fläche des Sumpfwassers. Ohren so groß wie Rhabarberblätter hingen zu beiden Seiten des Schädels herab. Die Nase wurde durch zwei Nüsternöffnungen angedeutet. Der Mund war breit und schmallippig. Das Wesen hatte den Arkoniden bemerkt. »Steh nicht so ʹrum«, keifte es. »Hilf mir!« Atlan prüfte den Boden. Dann legte er sich nieder, schob sich kriechend an den Rand der übelriechenden Wasserfläche hinan und streckte den rechten Arm aus, so weit es ging. Die Feuchtigkeit des Bodens drang ihm durch die Kleidung, die modrige, faule Ausdünstung des Morasts machte ihm zu schaffen, und im übrigen
war der Hilfsbedürftige offenbar der Ansicht, er müsse sich bei dieser Rettungsaktion nach Kräften schonen. »Du mußt mir entgegenkommen«, rief Atlan ihm zu, »sonst erreiche ich dich nicht.« »Willst du, daß ich versinke?« zeterte der Großohrige. »Versinken wirst du so oder so«, knurrte der Arkonide. »Es sei denn, ich bekomme dich zu fassen.« Das eigenartige Wesen begann sich zu rühren. Es ruderte mit kurzen Stummelarmen in der sumpfigen Brühe und gab dabei keifende Laute von sich, die der Translator nicht übersetzte. Atlan bekam eine der mit drei erstaunlich langen Fingern bewehrten Hände zu fassen und zog. Der Fremde war ein Leichtgewicht. Ein kräftiger Ruck und er lag triefend und zappelnd auf dem Boden. Atlan richtete sich auf und musterte ihn. Der intime Kontakt mit der Sumpfbrühe hatte die Kleidung in unansehnliche Lappen verwandelt. Die Beine des Wesens waren ebenso verkümmert, wie die Arme – zwei kurze, fleischige Stummel, die in überdimensionalen Füßen endeten. Als das Wesen sich mühsam und immer noch schimpfend aufrichtete, wurde offenbar, daß seine Körpergröße nur wenig mehr als einen Meter betrug. * »Was hattest du gestern Nacht an meinem Fenster zu suchen?« fragte Atlan. »Ich?« begehrte der Fremde auf. »Ich weiß nicht einmal, wo dein Fenster ist! Was sollte ich dort zu suchen haben? Bist du verrückt?« »Ein so häßliches Gesicht vergißt man nicht«, sagte Atlan. »Ich sah dich. Ich hörte dich, und ich erkenne deine Stimme wieder. Haben sie dich noch nicht? Sie werden dich bald kriegen! – Erinnerst du dich?« »Nein«, behauptete der Fremde hartnäckig.
»Paß auf«, sagte Atlan. »Du sagst mir jetzt die Wahrheit, oder ich stecke dich zurück in den Sumpf.« Er streckte die Hand aus, aber der Fremde entwickelte auf einmal eine ganz erstaunliche Beweglichkeit. Er schlüpfte unter Atlans Griff hindurch, gab ein höhnisches Keckem von sich und schnellte sich mit einer Kraft, die niemand den verkümmerten Beinchen zugetraut hätte, in die Höhe. Er bekam den Ast eines Baumes am Rand der Lichtung fassen und zog sich mit der Behendigkeit eines Affen hinauf. Er hockte sich zurecht, ließ die Beine baumeln und rief spöttisch: »Jetzt versuch ruhig, mich wieder in den Sumpf zu stecken.« Atlan wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Die Situation war so unwirklich wie alles, was sich in diesem Talkessel ereignete. »Von Dankbarkeit hältst du überhaupt nichts, wie?« fragte er den Zwerg. »Dankbarkeit? Wofür? Daß du mich aus dem Sumpf gezogen hast?« der Fremde stieß ein schrilles Lachen aus – ganz wie in der vorigen Nacht. »Weißt du nicht, daß es jedes Wesens Pflicht ist, sich um Akki, den Einsamen, zu kümmern? Wo käme dieses Tal hin, wenn es Akki nicht mehr gäbe?« »Akki – das bist du?« erkundigte sich Atlan. »Ich bin Akki, der Einsame«, verkündete der Zwerg und warf sich dabei in die Brust, daß das Sumpfwasser aus seiner besudelten Kleidung spritzte. »Aber du bist auch kein unebener Kerl. Ich will deine Frage beantworten, wenn du mir einen Gefallen tust.« »Welchen?« »Meine Unterkunft liegt nur eine halbe Wegstunde von hier. Trag mich dorthin, und ich sage dir alles, was du wissen willst.« Atlan musterte das triefende Geschöpf, das über ihm auf dem Ast saß, und verzog das Gesicht. Schließlich machte er eine wegwerfende Geste. »Danke, soviel sind deine Informationen nicht wert.«
Sprachʹs und machte sich auf den Rückweg. * Als er den Rand des Gebüschs erreichte, saß Akki vor ihm auf dem Waldboden. Der breite Mund war zu einem fröhlichen Grinsen verzogen, die gelben Augen leuchteten. »Du bist ein richtiger Spaßverderber«, rief er dem Arkoniden entgegen. »Es wäre so bequem gewesen, wenn du mich getragen hättest. Aber ich habe schon so lange keine Gesellschaft mehr gehabt. Ich werde mich mit dir unterhalten, auch wenn du mich nicht trägst.« Atlan kauerte sich neben ihm auf den Boden. »Du lebst hier im Tal?« fragte er. »Länger, als die meisten sich zurückerinnern können«, antwortete Akki. »Die meisten?« »Die Harrenden, die hier wohnen«, erklärte der Zwerg. »Wer sind die Harrenden?« wollte Atlan wissen. »Das fragst du, wo du doch selbst einer bist?« keifte Akki. »Worauf harre ich?« »Daß der Herr in den Kuppeln dich ruft.« »Aha. Ich bin aber nicht der einzige?« »Auch das solltest du wissen. Schließlich hast du vier Gefährten bei dir.« »Aber darüber hinaus! Es gibt noch andere Harrende in diesem Tal außer uns fünf?« »Natürlich. Deswegen habt ihr so große Schwierigkeiten.« Atlan schüttelte den Kopf. »Höre, du mußt dich schon ein wenig deutlicher ausdrücken. Was haben die Harrenden mit unseren Schwierigkeiten zu tun?« Akki bewegte den großen Schädel hin und her, als könne er soviel
Unverstand nicht begreifen. »Sie beneiden euch, das ist doch klar. Schließlich seid ihr gleich bei eurer Ankunft im Haus der Bevorzugten untergebracht worden. Es gibt andere, die schon Monate darauf warten, daß der Herr sie zu sich ruft.« »Wer im Haus der Bevorzugten wohnt, wird als erster gerufen?« fragte Atlan. »Warum hieße es sonst so.« »Aus welchem Grund läßt der Herr in den Kuppeln die anderen so lange warten?« »Wer mag es wissen! Der Herr hat es mit vielen Wesen unterschiedlicher Herkunft zu tun. Er sucht etwas, soviel steht fest, wenn auch niemand weiß, was es ist, wonach er sucht. Offenbar muß er dabei mit großer Vorsicht zu Werke gehen. Er muß die Fremden zuerst erforschen, bevor er sie zu sich läßt.« »Hm. Und bei uns macht er eine Ausnahme? Ich frage mich, warum.« »Frag dich nicht lange; sieh dich lieber vor. Die Harrenden haben es nicht gerne, wenn ihnen ein Neuankömmling vorgezogen wird.« »Sie haben kein Recht, uns Hindernisse in den Weg zu legen. Im Himmel über uns schwebt ein Raumschiff, in dem einhunderttausend Wesen davor bangen, daß ihr Fahrzeug auseinandergenommen wird und sie den Rest ihres Lebens auf dieser unglückseligen Welt verbringen müssen.« Akki sah aus großen Augen zu ihm auf. »Na und? Glaubst du, die anderen sind besser dran? Wieviele gibt es schon, die freiwillig nach Osath gekommen sind?« Der Einwand brachte den Arkoniden vorübergehend aus dem Gleichgewicht. Hatte er jemals daran gedacht, daß die Bewohner von Osath in einer wesentlich schlimmeren Lage befanden als die Solaner? Diese hatten wenigstens noch die Hoffnung, daß ihr Schiff vor der Demontierung bewahrt werden könne; jene aber hatten ihre Fahrzeuge schon vor langem und unwiderruflich verloren. Das Dilemma des Politikers, dachte er trübe. Fairneß kontra
Eigeninteresse. Kains Frage kam ihm in den Sinn. Bin ich denn der Hüter meines Bruders? Wiederum mußte er sich erinnern: es ging nicht in erster Linie um die Solaner. Wichtig war vor allen Dingen der Auftrag, den er von den Kosmokraten erhalten hatte. Allein um dessentwillen durfte er sich nicht darum kümmern, wieviel Unglückliche es gab, die schon länger als er darauf warteten, vor dem Herrn in den Kuppeln Gehör zu finden. »Und du? Woher kommst du?« fragte er den Zwerg. Ein verklärtes Lächeln erschien auf Akkis breitem Gesicht. »Meine Heimat ist die Welt Lam. Es ist schon so lange her, seit ich sie zum letzten Mal sah, daß ich mich kaum mehr erinnere, wie es dort aussieht. Ich war der letzte meines Volkes. Es hielt mich nicht mehr in der Heimat. Ich stieg in meine Energiezelle und wollte den Rest meines Lebens damit verbringen, das Universum zu erforschen. Da geriet ich in den Sog, der von diesem Planeten ausgeht. Mit meinem Fahrzeug konnten die Roboter des Herrn in den Kuppeln nicht viel anfangen. Es verging, als sie ihm mit ihren Werkzeugen zu Leib rückten. Ich wurde nach Osath gebracht. Der Herr ließ mich rufen. Auch ich fand im Haus der Bevorzugten Quartier. Aber mir lag nicht daran, zu den Prüflingen des Herrn zu zählen. Ich nahm Reißaus und versteckte mich in der Wildnis. Hier lebe ich und warte, bis mein Leben zu Ende geht, damit ich zu meinen Brüdern und Schwestern zurückkehren kann.« Es war eine seltsame, wehmütige Geschichte, die einem ans Herz rührte. Akki sah vor sich hin zu Boden. Atlan musterte ihn und stellte überrascht fest, daß die eintönige graue Kleidung, die um den aufgeblähten Leib herum durch einen breiten Gurt zusammengehalten wurde, keine Spur von Schmutz oder Feuchtigkeit mehr aufwies. »Hat der Herr in den Kuppeln nicht nach dir gesucht?« fragte er. »Nein«, sagte Akki. »Der Herr sucht nach etwas Bestimmtem. Wesen, die vor ihm davonlaufen, gehören nicht dazu.«
»Wonach, glaubst du, sucht er?« Akki wiegte den Kopf. »Ich glaube, er sucht nach Frieden«, sagte er. * Ein heftiger Windstoß brachte das Laubdach zum Rauschen. Aus der Ferne drang grollender Donner. Akki erhob sich. »Das Unwetter kommt«, sagte er. »Ich habe eine sichere Unterkunft. Willst du mich begleiten?« Atlan verneinte. »Ich sehe zu, daß ich nach Hause komme, bevor der Sturm losbricht.« »Das wird schwierig sein.« Akki grinste. »Aber du bist ein starkes, mutiges Geschöpf. Dir wird das Wetter nichts ausmachen.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verschwand im Halbdunkel des Waldes. Ein wenig enttäuscht blieb der Arkonide noch einen Augenblick lang stehen. Dann suchte er nach der Fährte, die er beim Herweg hinterlassen hatte, und orientierte sich. Dazu brauchte er nicht mehr als eine halbe Minute; aber in dieser kurzen Zeitspanne wurde es unter den weit ausladenden Kronen des Waldes so finster, als sei die späte Dämmerung hereingebrochen. Ein Wind fuhr durch das Laub. Böen heulten aus der Höhe herab und schleuderten Blattwerk und kleine Äste zu Boden. Er war nicht sicher, ob er klug daran getan hatte, die Einladung des Zwerges auszuschlagen. Er hatte das Gebüsch kaum umrundet, in dessen Mitte die sumpfige Lache lag, als er ein dumpfes Dröhnen hörte, das ständig lauter wurde. Er beschleunigte den Schritt, aber der tropische Regen war schneller. Es platschte und prasselte hoch droben im Laub. Ein paar Sekunden lang vermochte das dichte Blattwerk, die herabstürzende Regenflut zu absorbieren; aber dann rauschte und dröhnte es herab – Wasser, so dicht, daß die Umrisse der Bäume verschwammen, daß der Waldboden sich in einen Morast verwandelte, in den der Wanderer knöcheltief einsank. So
laut und allumfassend war das dröhnende Rumoren der Wasserflut, daß der krachende Donner, der dem fahlen Leuchten der Blitze folgte, nur noch wie ein Hintergrundgeräusch erschien. Es war finster wie zur Nachtzeit. Das irrlichternde Leuchten der elektrischen Entladungen trug mehr dazu bei, den Blick zu verwirren, als ihm zu helfen. Atlan wußte, daß er den Kurs verlieren würde, wenn er weiterging. Aus dem Dunkel tauchte der Umriß eines mächtigen Stammes vor ihm auf. Er lehnte sich gegen die knorrige Rinde und wartete. Der Sturm peitschte die Wipfel der Bäume. Die Blitze folgten so dicht aufeinander, daß ein unablässiges, flackerndes Wabern die Waldesnacht erfüllte. Das Wasser stand mehrere Zoll hoch. Schlieren kennzeichneten die Strömungen, die sich dem Gefälle des Geländes anpaßten. Ein schriller, spitzer Laut drang durch das Dröhnen des Regens und das Rollen des Donners. Er sah sich um, war im ersten Augenblick überzeugt, daß das Gehör ihm einen Streich gespielt hatte. Da hörte er das Geräusch zum zweiten Mal. Es klang wie der Schrei eines Menschen, der sich in Not befand. Der Laut kam von rechts her. Der Boden war abschüssig; das Regenwasser strömte dorthin. Das fahle Flackern der Blitze enthüllte für Sekundenbruchteile die kantigen Umrisse von Felsen. Er stieß sich von dem Stamm ab und watete mit der reißenden Strömung. Je näher er den Felsen kam, desto deutlicher hörte er ein gurgelndes Geräusch, als gäbe es in der Nähe einen Abfluß, durch den das Regenwasser strömte. Ein greller Blitz schlug nicht mehr als zehn Meter entfernt durch das Blätterdach des Waldes. Krachender Donner ließ den matschigen Boden erzittern. Ein durchdringender Geruch von Ozon drang ihm in die Nase. Aber die Zehntelsekunde gleißender Helligkeit hatte ihn die Mündung der Höhle erkennen lassen, die sich im Gewirr der Felsen verbarg. Die rauschende Strömung hatte eine tiefe Furche in den
Waldboden gerissen. Schmatzend und gurgelnd schoß sie in die Höhle hinab. Zum dritten Mal hörte er den schrillen Notruf. Er überließ sich dem reißenden Gefälle des Wassers. Ein Wirbel packte ihn und schleuderte ihn gegen den Fels, der den Mund der Höhle rahmte. Vor ihm war nichts als Finsternis und das häßliche Gurgeln der Wassermassen, die sich in der Höhle sammelten, ohne einen Abfluß zu finden. Ein Schatten tauchte vor ihm auf. Er griff zu, fühlte etwas Weiches, Warmes und begann zu zerren. Er stemmte sich gegen die reißende Flut, fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, und fand mit der freien Hand einen Halt an einem Felsvorsprung. Ein wütender Schrei gellte ihm ins Ohr. Ein Schlag traf ihn gegen den Hinterkopf. Er ließ den Halt fahren, wandte sich halbwegs zur Seite und packte einen triefend nassen Haarschopf, unter dem ihm zwei Augen zornig entgegenglühten. »Keine Zeit für Förmlichkeiten«, knurrte er und zerrte an dem nassen Haar, bis der Kopf unter der Wasseroberfläche verschwand. Die krampfhaften Abwehrbewegungen des fremden Körpers erlahmten. Atlan gewann Boden unter den Füßen und stemmte sich gegen die Strömung, die inzwischen an Wucht verloren hatte, da die Höhle fast gefüllt war. Er schob die schlaffe Gestalt vor sich her und kämpfte sich die vom Wasser gerissene Furche hinauf, bis er sicheren, wenn auch matschigen Boden unter den Füßen hatte. Er schleppte den Geretteten zu einem überhängenden Felsen, der wenigstens zum Teil Schutz gegen den Regen bot, und ließ sich neben ihm zu Boden fallen. Erst jetzt hatte er Zeit, sich darum zu kümmern, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. Das fahle Licht der Blitze war trügerisch, aber er erkannte dennoch das Gesicht einer Frau – eines Wesens, das so menschlich wirkte, als sei es soeben aus einem terranischen Raumschiff gestiegen. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war bleich. Sie trug ein Gewand, das bis zu den Knöcheln hinunter reichte. Vom Wasser
durchtränkt, folgte es jeder Linie des auf herrliche Weise entwickelten Körpers. Atlan, eingedenk der wochenlangen Enthaltsamkeit, zu der ihn die Not gezwungen hatte, wandte schließlich den Blick. »Warum schaust du zur Seite? Gefalle ich dir nicht?« Eine tiefe, rauchige Stimme. Er konnte nicht sagen, ob er sie unmittelbar oder auf dem Umweg über den Translator gehört hatte. Langsam, zögernd wandte er den Kopf. Die Augen – große, dunkle Augen – waren mit durchdringendem Blick auf ihn gerichtet. Er wischte sich das nasse Haar aus der Stirn. »Mir gefällt niemand, der sich so närrisch anstellt wie du«, sagte er. »Närrisch? Wer hat dich beauftragt, mich aus der Höhle zu holen?« »Mein gesunder Verstand. Hätte ich dich nicht geholt, wärest du jetzt ertrunken.« Er mußte schreien, um sich über das Toben des Sturmes hinweg verständlich zu machen. Ihre Worte dagegen drangen ihm laut und deutlich ins Gehör, ohne daß sie sich beim Sprechen anstrengte. »Ertrunken?« spottete sie. »Und wer hat mir den Kopf unter Wasser gehalten, daß ich keine Luft mehr bekam?« »Ich«, antwortete er gelassen. »Man wendet diese Prozedur bei Personen an, die angesichts der Gefahr in Panik geraten. Wie du siehst, hat sie die erwünschte Wirkung gebracht.« Sie richtete sich auf. Ihre Augen sprühten vor Zorn. »In Panik geraten! Ammu gerät nicht in Panik! Ich wußte genau, woran; ich war. Ich wäre ohne deine Hilfe aus der Höhle entkommen.« Ihr Gesicht war ihm nahe. Ihre Züge waren auf fast unglaubliche Art humanoid: die vom Ärger gefurchte Stirn, die sanft geschwungenen Brauen, die dunklen, ovalen Augen, die Nase mit dem scharfen Rücken, der volle Mund. Alles, was Mann in ihm war, drängte ihn dazu, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu reißen.
»Vielleicht«, sagte er. »Ammu heißt du? Woher kommst du?« War es sein Blick oder die gelassene Art, hinter der er den Aufruhr in seinem Innern verbarg – irgend etwas mußte sie beeindruckt haben. »Von Temma«, antwortete sie und senkte den Blick zu Boden. »Es ist lange her.« »Bist du eine Harrende?« Da hob sie den Kopf von neuem, und in ihren Augen entstand ein gefährliches Feuer. »Eine Harrende?« wiederholte sie mit scharfer Stimme. »Ich bin die Führerin der Harrenden!« * Das Geflacker der Blitze hatte nachgelassen. Der Regen dröhnte nicht mehr so heftig wie bisher. »Dann weißt du, wer ich bin«, sagte er. »Oh ja!« Der Grimm in ihrer Stimme ließ sich nicht überhören. »Du bist Atlan, der mit seinen Begleitern ins Haus der Bevorzugten gezogen ist. Du willst uns nehmen, worauf einige von uns schon seit Jahren warten!« Er schüttelte den Kopf, ohne sich darum zu kümmern, ob sie die terranische Geste verstand oder nicht. »Irrtum«, sagte er. »Ich will euch nichts nehmen. Ich bin genauso im System gefangen wie ihr. Nichts, was hier geschieht, geschieht auf mein Dazutun.« »Das mag sein«, antwortete sie. »Aber wenn ihr nicht da wäret, gäbe es für uns mehr Hoffnung, daß der Herr in den Kuppeln uns zu sehen wünscht.« »Was versprecht ihr euch davon?« Sie sah ihn verwundert an. »Das fragst du noch? Seit wir auf dieser Welt landeten, leben wir in Ungewißheit. Der Herr in den Kuppeln will sein Reich ordnen, dem Elend und der Unsicherheit ein Ende machen. Er hat sich
vorgenommen, jedem Geschöpf, das auf diesem Planeten gestrandet ist, ein Lebensziel, einen Daseinszweck zu geben. Er braucht Helfer, Planer, Arbeiter. Nur diejenigen, die aufgrund seiner Auswahlkriterien für würdig befunden wurden, gelangen in die engere Wahl und werden ins Tal der sieben Kuppeln gerufen. Unter ihnen will der Herr sich seine Helfer und Mitarbeiter aussuchen.« »Was versprechen wir uns davon?« wiederholte sie zornig. »Weiter nichts, als daß unser Leben wieder einen Sinn erhält.« Sie hatte mit Nachdruck gesprochen. Es war ihr bitter ernst mit ihren Worten. »Jetzt, da wir euch im Weg sind – was habt ihr mit uns vor?« »Wir werden euch ausschalten.« Er lächelte. »Wird nicht gerade das den Herrn in den Kuppeln davon überzeugen, daß ihr als Mitarbeiter ungeeignet seid?« Ihre Antwort überraschte ihn. »So sei es denn«, sagte sie. »Nach so langem Warten ist es die Entscheidung selbst, an der uns liegt. Ob sie zum Guten oder zum Schlechten ausfällt – wenn nur die Ungewißheit endlich vorüber ist!« »Ich glaube nicht, daß ihr viel Aussicht habt, uns auszuschalten. Deine Spinnen sind miserable Kämpfer.« Sie verstand es, ihre Überraschung zu verbergen. »Nenn sie nicht Spinnen. Es sind Menatiden, feinfühlige, sensible Geschöpfe von der Welt Menas, mit hochentwickeltem Intellekt. Sie hassen die Gewalt und den Kampf, aber in dieser Lage haben sie sich bereit erklärt, unsere Soldaten zu sein.« Er sah sie aufmerksam an. Das Gewitter hatte sich verzogen. Es war heller geworden. Er bewunderte ihre samtene Haut, die den goldenen Teint einer tropischen Sonne trug, das lange, dunkle Haar, das einen geheimnisvollen Stich ins Rötliche besaß, die kühn geschnittene Nase, die vollen Lippen. »Haben wir keine andere Wahl als den Kampf?« fragte er.
Sie erwiderte seinen Blick und lächelte. »Vielleicht«, sagte sie mit dunkler Stimme. »Ich werde darüber nachdenken.« Sie stand auf und verschwand hinter einem der Felsen. Sie bewegte sich so beiläufig, daß er erwartete, sie werde gleich zurückkehren. Erst als er zwanzig Minuten auf dem feuchten Boden gesessen hatte, begriff er, daß Ammu von Temma sich endgültig zurückgezogen hatte. 5. »Schön ist sie, sagst du?« Gavro Yaals Augen leuchteten in unkeuschem Glanz. »Man müßte sie sich mal ansehen können.« »Die Gelegenheit ergibt sich wahrscheinlich«, sagte Atlan. »Ich glaube, daß wir mit Ammu noch des öfteren zu tun bekommen werden. Wir sind ihr im Weg.« Er hatte von seiner Begegnung mit dem seltsamen Wesen Akki erzählt; jetzt schilderte er das Zusammentreffen mit Ammu. Seine Zuhörer waren außer Gavro Yaal der Katzer und Akitar, der Chailide. Joscan Hellmut war nicht anwesend. Er beschäftigte sich mit der Zentraleinheit des Hauses. »Es gibt die Harrenden also wirklich«, murmelte Bjo Breiskoll, »und sie wollen uns aus dem Weg haben. Wie verteidigen wir uns?« »Das muß der Augenblick ergeben«, antwortete Atlan. »Ich halte die Harrenden als Streitmacht nicht für bedrohlich. Gefährlich ist allein diese Frau.« Er lächelte. »Wer weiß, hätte sie sich ein wenig mehr Mühe gegeben, dann wäre ich ihr wahrscheinlich auf den Leim gegangen.« »Wo hält sie sich auf?« wollte Gavro Yaal wissen. »Keine Ahnung.« »Ich meine, wo hast du sie getroffen?« Atlan beschrieb die Lage der Höhle, aus der er Ammu gerettet
hatte. Es entging ihm nicht, daß Yaal ihm mit großer Aufmerksamkeit zuhörte, als wolle er sich jedes seiner Worte für immer einprägen. Atlan schloß seine Beschreibung mit den Worten: »Falls du vorhast, sie aufzusuchen, laß dich nochmals warnen. Sie ist gefährlich!« Er sah auf und begegnete Akitars strahlendem Blick. Der Chailide hatte den breiten, lippenlosen Mund zu einem Lächeln verzogen, das die kräftigen, leuchtend gelben Zähne entblößte. »Was verschafft dir so großartige Laune?« fragte Atlan verwundert. »Wir brauchen die Harrenden nicht zu fürchten«, sagte Akitar. »Aha. Und warum nicht?« »Hilfe ist unterwegs.« »Hilfe? Welche Hilfe?« »Ich kann es nicht sagen. Aber ich empfinde ein Gefühl der Gewißheit, daß wir Hilfe erhalten werden.« Mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Später stellte sich heraus, was er gemeint hatte – und daß sein Gefühl der Gewißheit eine Illusion gewesen war. * Durch das Viereck der offenen Falltür fiel Licht auf den Boden des unterirdischen Raumes, der höchstens anderthalb Meter unter der Öffnung lag. Atlan sah gedrungene Aggregate, die auf Untersätzen aus Polymermetall montiert waren. Im Dämmerlicht außerhalb des hellen Vierecks bewegte sich, auf allen vieren, eine menschliche Gestalt. »Geh aus dem Weg, ich komme hinunter«, sagte er. Er hangelte sich durch die Öffnung. Die Decke war zu niedrig, als daß er hätte stehen können. Er kauerte sich auf den Boden. »Was gibtʹs?« fragte er.
Joscan Hellmut kroch zwischen zwei Aggregaten hervor. Seine Kleidung war in Unordnung. Staub und Schmutz bedeckten das Gesicht und verwandelten es in eine Maske, aus der nur die Augen weiß hervorleuchteten. »Verdammte Enge«, knurrte er. »Und nichts zu sehen.« »Gibt ʹs hier unten kein Licht?« »Oh doch. Aber ich müßte das Haus bitten, die Beleuchtung einzuschalten; und das wollen wir doch nicht, oder?« »Du meinst, das Haus weiß nicht, daß du hier unten bist?« Joscan grinste und entblößte zwei Reihen strahlend weißer Zähne. »Ich bin sicher, daß es nichts davon weiß. Mir ist auch klar, warum es nicht bis fünf zählen kann. Diese Anlage ist schon seit Jahren nicht mehr gewartet worden.« Er griff in die Nische, aus der er soeben hervorgekrochen war, und brachte ein schlaffes Bündel zum Vorschein. Es sah aus wie eine Puppe, geschaffen nach einem Vorbild, das einen halbkugelförmigen Schädel, einen dreifach gegliederten Leib und wenigstens zwei Dutzend Arme und Beine besaß. »Es lag dort hinten«, sagte Joscan, »unmittelbar neben einer Abdeckplatte, die von einem der Aggregate entfernt worden war. Nach meiner Ansicht handelt es sich um den Robot, der die Anlage zu warten hatte.« »Was geschah mit ihm?« Joscan hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat er einfach den Geist aufgegeben. Ich kann ihn gut gebrauchen. Er liefert mir alle Werkzeuge, die ich benötige, um den Maschinen hier zu Leibe zurücken.« Er sah den Arkoniden an. Seine Miene verriet wenig Zuversicht. »Die Werkzeuge habe ich wohl«, fuhr er fort. »Aber wozu sie mir nütze sind, ist eine andere Frage. Es tut mir leid, wenn ich dich enttäusche. Aber die Computertechnik dieser Welt ist so ungewöhnlich, so verfahren, daß ich mich nicht darin auskenne.« »Das war zu erwarten«, beruhigte ihn Atlan. »Immerhin haben wir keine gezielte Aktion vor. Wir wollen lediglich ein wenig Unruhe
stiften. Wird sich das erreichen lassen?« »Ich kann an dem Ding herumspielen. Aber der Himmel mag wissen, welche Resultate ich erziele. Vielleicht serviert uns das Haus vergiftete Nahrung …« »Das wäre nicht schlecht.« »Heh …« »Wie ich die Zusammenhänge verstehe, hat das Haus die Aufgabe, für unser Wohl zu sorgen. Wenn es uns vergiftetes Essen anböte, wäre das ein zwingender Grund für den Herrn in den Kuppeln, hier einzuschreiten.« »Ganz davon abgesehen, daß er uns womöglich nur noch als Leichen vorfände«, bemerkte Joscan sarkastisch. »So schlimm muß es nicht gleich sein. Ich glaube kaum, daß das Haus Zyankali auf Lager hat. Wenn die Nahrung giftig ist, dann eher aufgrund unsachgemäßer Zubereitung. Auf ein kräftiges Bauchgrimmen müßten wir uns allerdings gefaßt machen.« »Das ist nur eine der Möglichkeiten«, wandte der Kybernetiker ein. »Ebensogut kann es sein, daß das Haus in die Luft fliegt, wenn ich anfange, an dem Ding hier zu drehen.« Atlan klopfte ihm auf die Schulter. »Man wird sich jeden Knalleffekt zu schätzen wissen, den du hier erzeugen kannst«, sagte er fröhlich. * Als er in die Halle zurückkehrte, war nur noch Akitar anwesend. »Wo sind die beiden anderen?« fragte Atlan. »In ihren Zimmern«, brummte der Chailide. Eingedenk der Warnung, die er Gavro Yaal erteilt hatte, stieg der Arkonide ins Obergeschoß hinauf und klopfte an dessen Zimmertür. Er erhielt keine Antwort. Er rief Yaals Namen; aber der einzige, der sich darauf meldete, war Bjo Breiskoll, den der Lärm aufgescheucht
hatte. »Was gibtʹs?« fragte er neugierig. »Tu mir einen Gefallen«, bat Atlan. »Öffne dein Mentalvisier und sieh dich um, ob Gavro irgendwo in der Nähe ist.« Wenige Sekunden später schüttelte der Mutant den Kopf. »Nicht mehr hier«, sagte er. »Ich empfange eine Serie von Impulsen, die aus seinem Bewußtsein stammen könnten – aber aus bedeutender Entfernung.« »Der verdammte Narr«, knirschte Atlan. »Er hat keine Ahnung, worauf er sich einläßt.« Er rief den Chailiden herbei. Akitar hatte sich die ganze Zeit über drunten in der Halle aufgehalten. Er hatte Gavro Yaal nach oben gehen sehen. »Er kam nicht wieder herunter?« fragte Atlan. »Nein. Dessen bin ich sicher.« »Er hat also einen anderen Ausgang gefunden.« Sie öffneten die Tür. Gavro Yaals Quartier lag im Hintergund des Hauses. Die Wand zur Rechten war identisch mit der rückwärtigen Außenwand. Durch ein kleines Fenster in der abgeschrägten Decke ging der Blick hinaus auf die Felswand, die sich hinter dem Haus auftürmte. »He!« rief Bjo Breiskoll. »Seht die Leiter dort!« Das Fenster – wie alle Fenster in diesem Gebäude konnten nicht geöffnet werden. Der Katzer hatte seitwärts an der Wand des Hauses entlanggeblickt und dabei die schmale Metalleiter entdeckt, die von der Höhe des Obergeschosses hinunter auf den Boden führte. »Ein merkwürdig nutzloses Ding«, murmelte Atlan, nachdem er die seltsame Klettervorrichtung in Augenschein genommen hatte. »Es sei denn, es gibt hier eine verborgene Tür«, meinte der Katzer. Akitar war schon an der Arbeit. Er hatte die Entfernung der Leiter vom Fenster abgeschätzt und begann, an der entsprechenden Stelle der Innenwand zu suchen. Entweder hatte er in solchen Dingen ein
überdurchschnitliches Geschick, oder es kam ihm der Zufall zu Hilfe: mit leisem Zischen glitt plötzlich ein Stück Wand beiseite und ließ einen rechteckigen Ausgang entstehen. Das obere Ende der Leiter ließ sich von dort bequem erreichen. Atlan stieg hinaus und überzeugte sich, daß die geheime Tür auch von außen bedient werden konnte. »Er bewegt sich in nordwestlicher Richtung«, sagte Bjo Breiskoll, der sich angestrengt auf Gavro Yaals schwächer werdende Mentalimpulse konzentrierte. Atlan nickte. »Das ist die Richtung zu der Höhle, in der ich mit Ammu zusammentraf.« »Wir können ihn noch einholen«, spekulierte der Katzer. »Nein. Es hat keinen Sinn. Ich fürchte, wir müssen Gavro Yaal seinem Schicksal überlassen.« Der Nachmittag verstrich ereignislos. Joscan Hellmut hielt sich in dem engen Kellerverschlag verschanzt und versuchte, mit dem Hauscomputer vertraut zu werden. Er befinde sich jetzt in der »zweiten Lernphase«, sagte er. Es war nicht zu übersehen, daß die fremde Computertechnik ihn faszinierte. Die Einheit versah eine weitaus größere Zahl von Aufgaben, als man gemeinhin von der Zentraleinheit eines robotisierten Hauses erwartete. »Wenn wir erst einmal wissen, welche Funktionen das sind«, erklärte Joscan mit unüberhörbarer Begeisterung, »dann spielen wir dem Herrn in den Kuppeln einen Zauber vor, daß ihm die Augen übergehen!« In ähnliche euphorischer Stimmung, jedoch aus weit weniger ersichtlichen Gründen, befand sich Akitar. Er zögerte, über den Anlaß seiner Freude zu sprechen. Die Solaner waren Wesen der Tat. Die Kunst des Meditierens galt ihnen wenig. Akitar gab sich daher in letzter Zeit zurückhaltend. Insbesondere vermied er, über den Glauben und die Ideale seines Volkes zu sprechen. Aber Atlan ließ nicht locker, und schließlich gab der Chailide
nach. »Ich hatte ein Gesicht«, sagte er. »Es nähert sich eine fremde Macht, die uns zu Hilfe kommen will.« »Hast du Verbindung mit der Macht?« fragte der Arkonide, der mentalen Phänomenen gegenüber weitaus aufgeschlossener war als der typische Solaner. »Es gibt keine Verbindung«, antwortete Akitar, ohne sein Gegenüber dabei anzusehen. »Sprichst du von Y´Man?« Der Chailide besaß geheime Beziehungen zum Anführer der revoltierenden Mißgebauten. Er hatte sich mitunter als Boten, auch als Freund Y´Mans bezeichnet. »Ich kann es nicht sagen«, beendete Akitar die Unterhaltung mit denselben Worten, die er schon einmal gebraucht hatte. Es blieb offen, ob er die Antwort wirklich nicht kannte oder sich nur nicht darüber äußern wollte. Zum Abendessen servierte das Haus, wie gewohnt, sechs Gedecke. Es war nicht nur weiterhin im unklaren über die Zahl seiner Gäste, es hatte obendrein versäumt zu bemerken, daß einer seiner Schutzbefohlenen inzwischen abhanden gekommen war. Joscan Hellmut mußte aus dem Kellerverschlag geholt werden. Vor lauter wissenschaftlichem Eifer war ihm der Hunger vergangen, obwohl er seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte. »Ist das Zeug eßbar?« fragte Atlan spöttisch. Hellmut verstand ihn nicht sofort. »Wie? Warum …« Er begann zu grinsen, als er sich erinnerte, worauf der Arkonide anspielte. »Das kann man nie sagen«, erklärte er und rückte mit plötzlich erwachendem Appetit der dampfenden Schüssel zu Leibe. Das Mahl wurde schweigend verzehrt. Inzwischen ging die Sonne unter. Dunkelheit breitete sich über das Land. Atlan trank den letzten Schluck aus seinem Becher und schob seine Eßutensilien mißmutig in die Mitte des Tisches, wo sie vom Einsammelmechanismus der Servierautomatik beizeiten abgeholt
werden würden. Er fühlte sich gesättigt, sein Durst war gelöscht. Was ihm fehlte, seit vielen Tagen schon, war der Gaumenkitzel, der von fachmännisch und sorgfältig zubereiteter Nahrung ausging. Das Licht erlosch. Jemand ließ klappernd sein Besteck fallen. »Was zum Teufel …« »Es droht Gefahr«, sagte das Haus. Draußen vor dem großen Fenster war milchige Helligkeit. Der Energiestrahl eines Blasters spaltete knatternd und fauchend die Luft. Das Fenster knallte, als es von der gleißend hellen Entladung getroffen wurde. Ein glühender Ring entstand. Schwüle, feuchte Nachtluft drang herein. Eine Stimme erhob sich, schrill und durchdringend. »Wir sind gekommen, um euch zu holen und fortzuschaffen! Ergebt euch!« * Atlan reagierte mit kampferprobtem Instinkt. Der Strahler glitt ihm wie von selbst in die Hand. In Bodennähe glitt er von der Seite her auf das Fenster zu. Die transparente Masse war geschmolzen, wo der Schuß sie getroffen hatte. Atlan hatte die Stimme erkannt. Dort draußen stand sie, hoch aufgerichtet, das lange, lockige Haar rötlich schimmernd im Strahl eines Dutzends Laternen: Ammu, die Führerin der Harrenden. Ihre Streitmacht bestand aus Gruppen verschiedener Wesen. Er erkannte die Spinnen, die ihm gestern im Wald zu schaffen gemacht hatten, und eine Horde von kleinen Zentauren, die wie Miniaturausgaben jener Spezies wirkten, der Forresjor angehörte, der Lokalhäuptling von Viorvarden, dessen Bekanntschaft er unter unliebsamen Umständen gemacht hatte. Es gab Vertreter noch mindestens zweier weiterer Arten; aber Atlans Blick blieb auf einem stämmigen Wesen haften, das neben Ammu stand und sich in seiner Haut nicht wohl
zu fühlen schien. »Gavro, du Trottel!« schrie er voller Zorn. »Was hast du bei denen dort draußen zu suchen?« Gavro Yaal trat vor. Das Licht der Lampen fiel ihm ins Gesicht. Er machte den Eindruck eines verzweifelten Mannes. »Atlan, gib auf!« rief er mit gepreßter Stimme. »Ich war schon immer dagegen, daß der Herr in den Kuppeln dazu gezwungen werden soll, auf deine Wünsche einzugehen. Ich habe mit Ammu gesprochen. Er läßt sich nicht zwingen. Außerdem sind hier Dutzende von Wesen, die ein viel älteres Anrecht darauf haben, von dem Herrn gehört zu werden. Ich sage dir …« »Du sagst mir gar nichts!« donnerte der Arkonide. »Was, meinst du, wird das Weib mit dir machen, sobald es dich für seine Zwecke ausgenützt hat? Wegwerfen wird es dich wie einen alten Lumpen!« Gavro Yaal senkte den Kopf. Ammu trat an seine Stelle. Ein spöttisches Lächeln spielte um die dunkelroten Lippen. »Gleichgültig, was du von mir denkst, Atlan«, sagte sie, ohne die Stimme nennenswert zu heben, »du bist mir in die Hand gegeben, Atlan, mitsamt deinen Begleitern. Wir sind bewaffnet. Aller Widerstand ist nutzlos.« »Was hast du mit uns vor?« rief der Arkonide. »Ihr bleibt unsere Gefangenen, bis der Herr in den Kuppeln uns zu sich gerufen hat. Ihr seid als letzte gekommen, ihr werdet als letzte die Kuppeln betreten.« »Ihr fügt uns keinen Schaden zu?« »Keinen körperlichen«, antwortete sie lächelnd. »Gib mir fünfzehn Minuten Bedenkzeit!« forderte er. »Ich muß mich mit den Freunden besprechen.« »Ich weiß nicht, was fünfzehn Minuten sind«, sagte Ammu. »Frag den Laffen neben dir; der kennt sich aus!« Ohne ihre Antwort abzuwarten, wich er vom Fenster zurück. Bjo, Joscan und Akitar hatten sich bis zur Mündung des Korridors zurückgezogen, um aus der Schußlinie zu kommen.
»Hinauf ins Obergeschoß!« rief er mit unterdrückter Stimme. »Wir verschwinden durch den Hinterausgang.« »Gavro kennt ihn«, warnte Joscan. »Er wird ein paar Posten dorthin gestellt haben.« »Er weiß nicht, daß wir den Ausschlupf entdeckt haben«, antwortete Atlan. »Die Bewachung wird nicht besonders streng sein.« Geräuschlos hasteten sie die Treppe hinauf. In Gavro Yaals Zimmer drückte Bjo Breiskoll sich vorsichtig ans Fenster und spähte hinaus. Seine katzengleichen Augen waren für winzige Lichtmengen empfänglich, auf die normale menschliche Sehorgane nicht mehr ansprachen. »Zwei Geschöpfe«, flüsterte er. »Eine Spinne, ein Zentaur.« »Akitar?« »Ich komme!« Die Tür öffnete sich geräuschlos. Atlan und der Chailide kauerten in der Öffnung. Die beiden Wachposten hatten nichts bemerkt. Sie hockten auf dem kalten Boden und hatten den Blick auf die Felswand gerichtet. Atlan und Akitar verständigten sich durch ein knappes Nicken. Dann sprangen sie. Atlan landete auf der Spinne. Das entsetzte Geschöpf gab einen unterdrückten, quiekenden Laut von sich. Der Arkonide war nicht sicher, wo er zuzupacken hatte. Er riß den mit Wahrnehmungsorganen ausgestatteten Vorderkörper zu sich heran und spürte, wie das Fremdwesen schlaff wurde. Inzwischen hatte Akitar den Zentauren ausgeschaltet. Atlan winkte nach oben. Joscan und Bjo kamen die Leiter herab. »An der Talwand entlang nach Norden«, zischte Atlan. Sie eilten davon, und bald war der helle Lichtschein, der von den Lampen der Belagerer ausging, nur noch ein matter, milchiger Leuchtfleck in der Schwärze der Nacht.
* Sie waren von der Felswand in rechtem Winkel nach Westen abgebogen und hatten nach vierhundert Metern den Rand des Waldes erreicht. Falls Ammus Quartier sich wirklich in der Nähe der Höhle befand, aus der er sie vor dem Ertrinken gerettet hatte, dann mußten die Harrenden, wenn sie die Sinnlosigkeit ihres Bemühens eingesehen hatten, auf dem Rückweg hier in der Nähe vorbeikommen. Aus der Gegend des Hauses waren wirre Geräusche zu hören. »Sie haben die Bewußtlosen gefunden«, sagte Atlan. Der ferne Lichtschein geriet in Bewegung, verschwand zeitweise und tauchte wieder auf. »Ins Haus eingedrungen und nichts gefunden«, kommentierte Joscan Hellmut. »Kannst du ihre Gedanken erkennen, Bjo?« fragte der Arkonide. Der Mutant gab ein ärgerliches Fauchen von sich. »Keinen einzigen Impuls«, sagte er. »Auch vorhin nicht, als wir sie unmittelbar vor uns hatten. Das einzige, was ich empfange, sind Gavros Gedanken. Er ist verwirrt, hilflos und macht sich Vorwürfe, daß er den rückwärtigen Ausgang nicht besser hatte beobachten lassen.« Der Lichtschein wurde heller. Die Harrenden waren auf dem Rückweg und kamen näher. »Ich bleibe ihnen auf den Fersen«, sagte Atlan. »Akitar, ich möchte, daß du mit mir kommst. Du verstehst dich auf solche Dinge.« Aber der Chailide war diesmal anderer Meinung. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich muß warten. Es gibt nur einen Ort, an dem die fremde Macht mich finden kann – das Haus.« Atlan gab sich damit zufrieden. »Geht den Weg zurück, den wir gekommen sind«, riet er den Freunden. »Auf diese Weise kommt ihr Ammu nicht in die Quere.«
Bjo Breiskoll zögerte. »Kommst du allein zurecht?« fragte er. »Soll ich nicht …« »Nein, du sollst nicht«, unterbrach ihn der Arkonide. »Für einen Solaner hast du dich schon lange genug in ungewohnter Umgebung herumgetrieben.« Sie machten sich auf den Weg und waren Sekunden später in der Finsternis verschwunden. Atlan wartete. Er beobachtete den Lichtschein, der von den Lampen der Harrenden ausging. Unklug, dachte er. Sie müssen sich ausrechnen, daß wir nicht Hals über Kopf das Weite gesucht, sondern uns irgendwo versteckt haben, um sie zu beobachten. Wozu brauchen sie das Licht? Der helle Schein kam näher und passierte sein Versteck in einer Entfernung von rund anderthalb Kilometern. Er verlosch, als die Harrenden in den Wald eindrangen. Atlan hatte genug gesehen. Er zwängte sich aus der Deckung hervor und strebte am Waldrand entlang im Laufschritt auf die Stelle zu, an der er den Widerschein der Lampen hatte verschwinden sehen. 6. Der Ort lag Hunderte von Kilometern entfernt. Ein einsames Fahrzeug strebte auf ein Bauwerk zu, das aus sieben Kuppeln bestand. Sechs davon markierten die Ecken eines Hexagons, die siebte und größte stand in der Mitte. Der Durchmesser der äußeren Kuppeln betrug einhundert Meter. Zwei Roboter vom Typ Phano kauerten auf der vorderen Fahrgastbank des Gleiters. Die rückwärtige Sitzfläche war in eine Art Wanne verwandelt worden, in der ein fremdartiges Wesen ruhte. Der Fremde hatte einen mächtigen, runden Schädel. Große Augen blickten intelligent. Unter der kleinen, platten Nase verdeckte ein mächtiger Schnauzbart den Mund und verlieh dem Geschöpf das Aussehen einer terranischen Robbe. Ein silbergrauer
Flaum bedeckte die Gesichtshaut. Der gedrungene Körper endete in zwei kurzen, flossenartig entwickelten Beinen. Die Arme waren ebenfalls kurz, aber muskulös und mit zwei kräftigen Händen bewehrt. Die Haut des Fremden, soweit die Kleidung sie sehen ließ, war glatt und von bräunlicher Tönung. Um das linke Handgelenk trug des Wesen einen scheibenförmigen Translator an einem elastischen Band. »Was soll ich hier?« erkundigte sich der Fremde auf Interkosmo. Der Translator gab die Frage an die beiden Roboter weiter. »Du unterziehst dich der ersten Prüfung«, lautete die Antwort. »Hab keine Sorge. Du bist intelligent und wirst sie ohne Schwierigkeit bestehen.« »Prüfung? Wozu?« Der Fremde war verwundert. »Von Prüfung war nicht die Rede, als ich mich anbot, diese Welt zu besuchen.« »Wir haben zu dir von dem Herrn in den Kuppeln gesprochen, der über Osath herrscht«, antwortete der Phano geduldig. »Der Herr hat es mit vielen Wesen unterschiedlicher Herkunft zu tun. Er muß jede Spezies kennenlernen, die Mentalität jeder Art erfahren, damit er sie am richtigen Ort in sein Reich einordnen kann. Dazu dient die Prüfung.« »Was will er von mir?« murmelte der Fremde so leise, daß der Translator nicht ansprach. »Ich bin ein Monster von der SOL. Ich bin von friedlichem Gemüt und habe nicht die Absicht, dem, der hier regiert, Schwierigkeiten zu bereiten. Seine Roboter haben mich freundlich behandelt. Ebenso freundlich bin ich ihm gesinnt. Wozu muß er mich prüfen?« Der Gleiter flog zwischen zweien der äußeren Kuppeln hindurch. Die graue Wand der Zentralkuppel ragte vor ihm auf. Dicht über dem Boden entstand eine Öffnung. Das Fahrzeug glitt hindurch und landete auf einer spiegelglatten Fläche, die zum Zentrum des Gebäudes hin durch einen hohen Vorhang abgegrenzt war. Die beiden Phanos halfen ihrem Fahrgast beim Aussteigen. Der Fremde gönnte ihnen keinen weiteren Blick, sondern eilte auf den Vorhang
zu, wobei er sich – wie eine wirkliche Robbe! – der Beinflosse und die Arme bediente. Er war noch keine fünf Meter weit gekommen, da entstand im Vorhang ein schmaler Spalt, und ein Phano von unterdurchschnittlicher Größe kam zum Vorschein. »Wer ist der Prüfling?« fragte er mit heller Stimme. »Mein Name ist Weicos«, antwortete der Fremde. »Ich komme von der SOL.« Der Robot wies auf die Öffnung im Vorhang. »Die Prüfung ist im Gang. Bitte, nimm teil.« * Ein wenig verwundert musterte Weicos das Geschehen in der Kuppelhalle. Der weite Raum nahm, mit Ausnahme des durch den Vorhang abgetrennten Vorfelds, die gesamte Basisfläche der Kuppel ein. Tageslicht fiel durch die halbtransparente Schale des Bauwerks. Roboter, zumeist Phanos kleinerer Bauart, waren in unregelmäßigen Abständen quer durch die Halle verteilt. Außerdem gab es eine Reihe organischer Wesen unterschiedlicher Herkunft, die sich eine Aufgabe daraus zu machen schienen, auf möglichst schwierigem Weg zur gegenüberliegenden Seite der Halle zu gelangen. Sie standen sekundenlang still, dann preschten sie davon. Einige verschwanden hinter Wänden aus Dampf, die plötzlich aus dem Boden aufstiegen. Andere brachen plötzlich zusammen und bewegten sich von da an, als wirke eine mörderische Schwerkraft auf sie ein. Weicos wandte sich an den Roboter, der ihn empfangen hatte. »Was geht hier vor? Ich kann nichts sehen. Nimm mich auf!« Der Phano gehorchte. Kräftige Stahlarme hoben Weicos in die Höhe. Erst aus dieser Perspektive erkannte er, daß der Boden der Halle durch bunte Linien in zahlreiche quadratische Felder eingeteilt war. Die unglückseligen Gestalten, die wie die Wilden
darauf versessen waren, die gegenüberliegende Peripherie des Raumes zu erreichen, wirkten aus dieser Sicht wie Figuren auf einem Schachbrett, die sich unter dem Einfluß geheimnisvoller und unsichtbarer Kräfte bewegten. Er sah eines der bedauernswerten Geschöpfe in einem Wirbel giftig schillernder Dämpfe zusammenbrechen. Einer der untätig herumstehenden Roboter geriet in Bewegung, nahm den Unglücklichen auf und entfernte ihn aus dem durch Linien markierten Teil des Hallenraums. Weicos fiel auf, daß der Robot keine Schwierigkeiten hatte, Quadrate zu überqueren, die kurz zuvor einem organischen Teilnehmer des seltsamen Spiels um ein Haar zum Verhängnis geworden wären. Er blickte dem Phano mit seiner reglosen Last nach, bis er durch den Vorhang verschwunden war. »Was soll das alles?« fragte er mißtrauisch. Eine unbekannte Stimme antwortete ihm. Nein – es war nicht eine Stimme. Gedanken materialisierten unmittelbar in seinem Bewußtsein! »Prüfling! Du bist in der zentralen Kuppel. Willst du ein Freier werden, gibt es für dich nur einen Weg, diesen Raum wieder zu verlassen. Der rettende Ausgang befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite. Du brauchst nichts weiter zu tun, als die Fläche mit den Quadraten zu durchqueren. Rechne aber nicht damit, daß dies sehr einfach sein wird.« »Danke«, brummte Weicos mürrisch. »Ich habe Augen im Kopf.« Er nahm als sicher an, daß die Wesen, die sich vor ihm abmühten, dieselbe Botschaft erhalten hatten. Es sah nicht so aus, als solle es auch nur einem von ihnen gelingen, den jenseitigen Rand der Kuppel zu erreichen. Immer öfter geschah es, daß ein Roboter hinzueilen mußte, um einen, den offenbar die Kräfte verlassen hatten, aus dem Prüfungsfeld zu holen. Weicos wandte sich an den Phano, in dessen Armen er ruhte. »Los«, sagte er. »Worauf wartet du noch?« »Was wünschst du?« erkundigte sich der Robot.
»Trag mich auf die andere Seite.« Weicos klang entrüstet. »Du siehst doch, daß ich nicht gehen kann.« Gehorsam setzte sich der Phano in Bewegung. Das Unglaubliche geschah: Quadrate, die zuvor Dämpfe gespien, geglüht oder lähmende Gravitationsfelder ausgestrahlt hatten, erwiesen sich jetzt als völlig harmlos. Staunend musterte Weicos die Gestalten der Unglücklichen, die sich gegen teuflische Kräfte stemmten und so mit ihrer unlösbaren Aufgabe beschäftigt waren, daß sie den Phano mit seinem seltsamen Passagier nicht wahrnahmen. Es war ihm zumute, als bewege er sich durch einen Alptraum. Der Robot überquerte die Linie, die das Prüfungsfeld begrenzte. Er setzte Weicos ab, wandte sich wortlos um und kehrte durch das Gewirr der Markierungen auf die andere Seite der Halle zurück. Weicos sah sich um. »Ich denke, hier soll ein rettender Ausgang sein«, murmelte er. Vor ihm im Boden entstand eine Öffnung. Eine rechteckige Platte glitt daraus hervor. Auf der Platte standen zwei Roboter vom Typ Phano. An der bunten Linienmarkierung, die die Unterkante ihrer eckigen Körper zierte, erkannte er seine Begleiter, die ihn vom Raumhafen hierhergebracht hatten. Weicos war noch immer nicht sicher, welche Prüfungsnote seine unorthodoxe Taktik eingebracht hatte. Er warf einen raschen Blick zurück und sah, daß von der großen Schar der Prüflinge, die ihre Aufgabe in der konventionellen Art und Weise angingen, kaum noch eine Handvoll übrig war. Den Robot zu engagieren, war ein verzweifelter Trick gewesen. Hatte er trotzdem bestanden? »Was jetzt?« fuhr er die beiden Phanos an. »Ich heiße dich willkommen«, wurde ihm zur Antwort. »Es ist wunderbar, zu sehen, daß du diese Seite des Domes erreicht hast. Mein Willkommensgruß erfolgt im Namen aller Phanos.« Weicos war noch immer mißtrauisch. »Also schön, ich bin willkommen. Was kann ich damit anfangen?« »Du bist ein Freier«, entgegnete der Robot.
»Gut«, sagte Weicos. »Als Freiem stehen mir Rechte zu. Welche?« »Der Herr in den Kuppeln wünscht dich zu sehen.« »Das ist ein Recht?« »Mehr als das. Ein Privileg. Wenn du die Verhältnisse auf dieser Welt kenntest, wüßtest du es zu schätzen.« Weicos wiegte den umfangreichen Kopf. »Also gut – ich weiß es zu schätzen. Wo ist der Herr in den Kuppeln.« »Sorge dich nicht«, antwortete der Phano. »Wir sind deine Begleiter.« 7. Es war schwieriger, den Harrenden zu folgen, als Atlan erwartet hatte. Es gab keine erkennbare Spur, und es war kein Laut zu hören, so sehr er auch das Gehör anstrengte. Er drang schließlich aufs Geratewohl in den Wald ein und sah Minuten später gedämpften Lichtschein vor sich. Die Harrenden lagerten auf einer Lichtung. Sie kauerten am Boden, jeder in der Haltung, die für ihn am bequemsten war, und regten sich nicht. Kein Laut war zu hören, auch nicht von Gavro Yaal, der am Rand der Lichtung hockte und trübe vor sich hin starrte. Ein paar Lampen erzeugten genügend Helligkeit, so daß Atlan die Szene mühelos überblicken konnte. Das Bild hatte etwas eigenartig Unwirkliches an sich. Die Harrenden wirkten wie abgeschlachtete Roboter. Und Ammu war nirgendwo zu sehen! »Das habt ihr geschickt gemacht«, sagte hinter ihm eine dunkle Frauenstimme. Atlan erstarrte. »Dreh dich nicht um!« warnte Ammu. »Ich bin gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen.«
»Sprich!« »Ihr seid fünf. Ich habe keine Geduld, zu warten, bis der Herr in den Kuppeln fünf Fremde zu sich gerufen hat, die lange nach mir ins Tal kamen. Mit einem könnte ich mich abfinden. Willst du der eine sein?« »Und meine Freunde verraten?« sagte der Arkonide dumpf. »Was ist Verrat? Die Definition einer Moral, der nur diejenigen verpflichtet sind, die sich vorgenommen haben, an sie zu glauben. Du und ich, wir wären Verbündete. Wir brächten dem Herrn in den Kuppeln die Helfer und Mitarbeiter, die er braucht, um sein großes Ziel zu erreichen. Du und ich. Ich habe deine Blicke gesehen, als ich hilflos vor dir lag. Ich erfülle alle deine Wünsche. An meiner Seite …« »Sei still!« War es möglich, daß er auch nur eine Sekunde lang in Erwägung gezogen hatte, auf ihr Anerbieten einzugehen? Er schüttelte heftig den Kopf. »Dein Vorschlag ist beleidigend«, grollte er. »Ich kann nicht …« Auf der Lichtung erloschen mit einem Schlag sämtliche Lampen. Finsternis senkte sich über den Wald. In die unheimliche Stille gellte ein entsetzter Schrei: »Wo seid ihr? Wo … Ammu … ich bin allein!« Das war Gavros Stimme. Atlan duckte sich in sein Versteck und horchte auf Geräusche, die von den Harrenden verursacht wurden. Aus der Ferne drang ein dumpfes Grollen. Lichtschein wie von einem fernen Blitz huschte für den Bruchteil einer Sekunde durch die Nacht. Die Lichtung war leer. Nur Gavro Yaal stand noch da, die Arme zu einer bittenden Geste ausgestreckt, mit weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen und Verzweiflung. Atlan kam aus seiner Deckung hervor und trat auf ihn zu. Gavro hörte seine Schritte. »Wer kommt da? Ammu?« »Ich binʹs, du Narr«, brummte der Arkonide.
»Sie sind alle verschwunden«, plapperte Gavro. »Einfach in Nichts aufgelöst. Sie sind fort …« Er plapperte haltlos vor sich hin. Atlan packte ihn am Arm. »Komm mit!« sagte er unfreundlich. »Im Haus bist du am besten aufgehoben.« Gavro Yaal leistete keinen Widerstand. Atlan schob ihn vor sich her. Erst am Waldrand lockerte er seinen Griff. Gavro schritt willig an seiner Seite. Die Kraft, die ihn hatte aufbegehren und seinen eigenen Wege suchen lassen, war gebrochen. Schattenhafte Gestalten tauchten aus der Dunkelheit auf. Der Arkonide griff nach der Waffe. »Vorsicht!« sagte Bjo Breiskolls Stimme. * »Es war meine Schuld«, erklärte Joscan Hellmut. Der Schreck stand ihm noch im Gesicht geschrieben. »Ich glaubte, ich hätte endlich einen brauchbaren Anhaltspunkt gefunden. Ich fing an zu experimentieren. Der Computer machte mit. Ein greifbares Resultat erzielte sich zunächst nicht. Ich wurde ungeduldig. Und plötzlich fing es an zu zischen. Qualm entstand. Ich versuchte, die Schaltungen rückgängig zu machen; aber das ging nicht mehr. Ich warnte Bjo und Akitar. So schnell wir konnten, verließen wir das Haus. Keinen Augenblick zu früh, wie sich herausstellte. Wir waren noch keine dreißig Meter weit, da flog es in die Luft.« Atlan erinnerte sich an das Grollen, das er gehört hatte. »Das ganze Haus?« fragte er verwundert. »Nein.« Bjo Breiskolls Stimme war nichts von der überstandenen Aufregung anzumerken. »Ich ging zurück, nachdem das Getöse sich gelegt hatte. Beschädigt ist nur der rückwärtige Teil des Gebäudes, wo sich der Computer befand, die vorderen Räume sind noch in Ordnung.«
»Wo ist Akitar?« »Er blieb zurück. Er sagte, er müsse in der Nähe des Hauses auf jemand warten.« Atlan wandte sich an Gavro Yaal. »Du findest das Haus von hier aus alleine.« »Ich will bei euch bleiben!« jammerte Gavro. »Wir können dich nicht brauchen«, sagte der Arkonide hart. »Geh zum Haus, dort wartet Akitar.« Gavro schwankte davon. Auf ihm lastete die Schande, die Gefährten verraten zu haben. Die Schmach des Fehlschlags trug zu seiner Bürde bei. »Da geht er hin«, bemerkte der Kybernetiker mit grimmigem Spott. »Merkwürdiger Mensch. Eigenwillig bis zur Aufsässigkeit, und im Grunde doch ein Schwächling.« »Kümmert euch nicht um ihn«, sagte Atlan ernst. »Es wird ihm nichts geschehen, und sein Selbstbewußtsein heilt ohne äußeres Dazutun, wie ich ihn kenne.« »Du hörst dich an, als wüßtest du etwas.« Bjo Breiskoll sprach mit eigenartiger Betonung. »Warum hast du Gavro weggeschickt? Was hast du vor?« »Ich weiß nichts«, wehrte der Arkonide ab. »Aber ich habe ein paar Vermutungen. Zum Beispiel, daß der Herr in den Kuppeln uns noch in dieser Nacht zu sehen verlangt.« Sie sahen ihn an, der Katzer fragend, Joscan Hellmut verblüfft. »Er hat eine seltsame Art, sein Verlangen auszudrücken, nicht wahr?« sagte Bjo. »Ich wenigstens habe nichts gehört.« »Es wurde nichts gesagt«, lächelte Atlan. »Meine Vermutung beruht auf Indizien. Ich denke, wir haben in diesen drei Tagen eine Reihe von Prüfungen über uns ergehen lassen und bestanden, und jetzt ist die Zeit, da der Herr in den Kuppeln uns sehen will.« *
»Prüfungen«, echote Joscan hilflos. »Der Herr in den Kuppeln ist ein Robotgehirn«, sagte Atlan. »Wir kennen seine Erbauer nicht und wissen nicht, welcher Logik er gehorcht. Daß er Prüfungen verwendet, um unter den Bewohnern von Osath eine Auswahl zu treffen, wissen wir seit unserer Landung. Ich habe vorhin eine Begegnung gehabt, die ich nur dann als spontan betrachten könnte, wenn ich übermäßig naiv wäre.« Er schilderte sein Gespräch mit Ammu. »Die klassische Bühnenszene«, fügte er mit leisem Spott hinzu. »Schöne, aber böse Frau, versucht, den standhaften Krieger zu verführen. Jedes Schmierentheater wäre stolz auf eine solche Darbietung gewesen. Viel zu unecht, das Ganze.« »Du weißt, was du da sagst?« stieß Joscan Hellmut staunend hervor. »Daß die Harrenden nicht wirklich unser Gegner sind, sondern Helfer des Herrn, die uns auf die Probe stellen sollen«, antwortete der Arkonide ungerührt. »Was bedeuten in diesem Zusammenhang die früheren Ereignisse?« fragte Bjo Breiskoll. »Die Lawine – dein Zusammenstoß mit den Spinnen – die Belagerung des Hauses vor ein paar Stunden?« »Ich kann es nur ahnen«, sagte Atlan. »Die Lawine: ein Test unserer Fähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren. Der Zusammenstoß mit den Spinnen: eine Prüfung, ob auch im Gefahrenfall auf den Einsatz unangemessener Gewalt verzichtet werden kann. Ich bin nicht sicher, wie gut ich dabei abgeschnitten habe. Die Belagerung des Hauses? Womöglich derselbe Test, eine Wiederholung des ersten, weil ich dabei zu heftig reagierte. All das sind Vermutungen, weiter nichts. Aber sie erscheinen mir weitaus plausibler, als daß hier eine Bande von Harrenden existiert, die jedem, der sich vordrängeln will, das Leben schwer macht.« »Wie paßt Akki in dein Bild?« fragte Bjo.
»Ich bin nicht sicher. Vielleicht eine Prüfung meiner Sanftmut. Der Kerl war so unausstehlich, daß ich ihn am liebsten im Sumpf hätte stecken lassen.« Sie schwiegen eine Zeitlang. Schließlich erkundigte sich Joscan: »Was also geschieht jetzt?« »Wir versuchen, in die zentrale Kuppel einzudringen«, erklärte der Arkonide. »Wenn meine Überlegungen richtig sind, sollten wir dort auf keinen nennenswerten Widerstand mehr stoßen.« * Aber es kam anders, als er es sich vorgestellt hatte – so drastisch anders, daß er schließlich gezwungen war, die Richtigkeit seiner Schlußfolgerungen in Frage zu stellen. Sie näherten sich den Kuppeln von Nordosten her. Die Finsternis unter dem dichten Blätterdach des Banyan‐Waldes war vollkommen. Nicht einmal der Katzer konnte mehr etwas sehen. Es wäre aussichtlos gewesen, unter solchen Umständen einem geraden Kurs folgen zu wollen. Aber Atlans Extrasinn, dessen Orientierungsvermögen nicht auf optische Eindrücke angewiesen war, meldete sich jedesmal, wenn der Arkonide nennenswert von der eingeschlagenen Richtung abwich. »Horcht!« Bjo Breiskoll war plötzlich stehengeblieben. Als das Geräusch ihrer Schritte verstummte, hörten sie aus der Ferne die langgezogenen, klagenden Laute einer menschlichen Stimme. Atlan horchte auf. Ohne ein Wort zu sagen, wich er von der bisherigen Richtung ab und wandte sich dorthin, woher die Stimme erscholl. Bjo und Joscan hörten die Geräusche seiner Schritte und folgten ihm hastig. »Was ist los?« zischte der Kybernetiker. »Wir wollten zu den Kuppeln!« »Auf einem Umweg«, antwortete der Arkonide. »Ich kenne diese
Stimme. Ich muß erfahren, was hier geschieht.« Die Stimme erklang unablässig. Sie schien zu singen – ein schwermütiges, fremdartiges Lied. Sie hallte weithin durch den stummen Wald und machte es Atlan und seinen Begleitern leicht, sich zu orientieren. Ein fahler Lichtschein schimmerte durch das Gewirr der Luftwurzeln. Er schien aus der Erde zu kommen. Schließlich erreichten sie den Rand einer trichterförmigen Vertiefung. Der Hang des Trichters war mit Gras und niedrigen Sträuchern bewachsen. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es dicht über der Sohle eine Öffnung, die Mündung einer Höhle oder eines Stollens. Eine Lampe lag unten auf dem Grund des Trichters, und daneben saß eine Frau. Sie hatte ihren Gesang soeben beendet und den Blick nachdenklich zu Boden gerichtet. »Mein Gott, was für eine Frau!« stieß Joscan halblaut hervor. »Das ist Ammu«, sagte Atlan. »Woran denkt sie, Bjo?« »Ich kann ihre Gedanken nicht erkennen.« Der Arkonide nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. Er machte Anstalten, in den Trichter hinabzuklettern. Joscan faßte ihn bei der Schulter. »Was, wenn es eine Falle ist?« zischte er. »Das Risiko muß ich auf mich nehmen«, sagte Atlan gelassen. Erdreich geriet unter seinen Schritten in Bewegung, als er die steile Wand der Vertiefung hinabstieg. Bjo und Joscan folgten ihm dichtauf. Ammu hob den Blick und sah in die Höhe. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Arkoniden erkannte. »Kommst du doch?« fragte sie mit dunkler Stimme. Atlan trat vor sie hin. »Ich komme, um dir zu sagen, daß du dich nicht weiter zu mühen brauchst«, sagte er. Ihr Lächeln blieb unverändert. »Was willst du damit sagen?« »Daß ich weiß …« »Vorsicht!« schrie Bjo Breiskoll.
Atlan sah auf. Oben am Rand des Trichters war es lebendig geworden. Eine Schar von Fremdwesen war aus der Finsternis des Waldes aufgetaucht und turnte am Hang der Vertiefung herab. »Eine Falle«, knurrte Joscan. »Ich habʹs doch gesagt!« Ammu war aufgesprungen und zurückgewichen. Ein eigenartiger Ausdruck war in ihren dunklen Augen erschienen. Angst? Sorge? Wer mochte es wissen! Atlan bückte sich blitzschnell und ergriff die Lampe. »In die Öffnung dort drüben – rasch!« rief er. Er eilte quer, über den unebenen Grund des Trichters. Die Lampe erzeugte verwirrende, zuckende Helligkeit. Er sah Bjo und Joscan in der Mündung der Höhle verschwinden und folgte ihnen. Er untersuchte den Schaft des stabförmigen Leuchtgeräts, fand zwei Knöpfe und betätigte sie wahllos. Die Helligkeit erlosch. Undurchdringliche Finsternis füllte den Trichter. »Hier hinten geht es weiter«, flüsterte Bjo Breiskoll aus der Dunkelheit. »Jetzt nicht«, antwortete Atlan. »Wir bleiben vorläufig hier.« 8. Ein leises Rascheln, ein verräterisches Knistern – der Gegner rückte an! Die Lampe flammte auf. Das Licht brach sich in den schillernden Facettenaugen der Spinnenwesen. Ein wilder, zorniger Schrei gellte auf. Aus der Front der Angreifer löste sich ein Zentaur, nicht mehr als einen Meter hoch in der Kruppe, und stürmte gegen die Höhle an. Atlan ließ die Lampe fallen. Der Körper des fremden Geschöpfs prallte mit voller Wucht gegen ihn. Der Arkonide packte zu und bekam den Angreifer um den Leib zu fassen. Die Kreatur schlug mit Armen und Beinen um sich und versetzte ihm eine Reihe schmerzhafter Schläge. Er stemmte den gedrungenen Körper in die
Höhe und schleuderte ihn den Angreifern entgegen. Spitze Schreie schrillten durch die Finsternis. Verwirrung entstand. Das Geräusch Hunderter von Schritten war zu hören, dazwischen das knisternde Geraschel, das die haarigen Extremitäten der Spinnen verursachten. Er nahm die Lampe wieder auf. Sie war beim Fall erloschen. Als er den Lichtkegel hinaus in den Trichter richtete, war der Gegner verschwunden. Er ließ den scharf gebündelten Strahl kreisen, oben am Rand der Vertiefung entlang. Die Angreifer hatten keine Spur hinterlassen. Ammu war mit ihnen geflohen. Atlan horchte. Aber der Wald war still bis auf das sanfte Rauschen des Windes, der sich vor kurzem erhoben hatte. »Das hat sie beeindruckt«, sagte Joscan Hellmut mit unüberhörbarer Genugtuung. »Als Kämpfer gehören sie anscheinend nicht zum Typ der Unerschrockenen.« Er musterte den Arkoniden von der Seite her. »Schießt irgendwie ein Loch in deine Theorie, nicht wahr? Oder willst du sagen, wir hätten soeben eine weitere Prüfung bestanden?« Atlan zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht sicher«, antwortete er. »Du hast recht, irgend etwas stimmt nicht an meiner Berechnung. Kein grundlegender Fehler, nur eine Kleinigkeit …« Er unterbrach sich und blickte in den Hintergrund der Höhle. Der unterirdische Raum war mit primitiven Werkzeugen aus dem Erdreich gegraben. Er enthielt keinerlei Einrichtung. Sicherlich hatte er Ammu nicht als Quartier gedient. Weiter hinten verengte er sich und wurde zu einem Stollen mit rechteckigem Querschnitt, gerade hoch genug, daß ein Mensch von normalem Wuchs sich aufrecht darin bewegen konnte. Atlan richtete den Strahl der Lampe hinein. »Wir wollen uns ansehen, wohin dieser Gang führt«, sagte er. *
Der Stollen führte geradlinig unter dem Boden des Waldes dahin. Zuerst hatte er eine geringfügige Abwärtsneigung gezeigt; aber seit geraumer Zeit verlief er eben. Der Gang war von anderer Beschaffenheit als die Höhle. Boden, Decke und Wände bestanden aus einer Substanz, die die Härte und Widerstandskraft synthetischer Gußmasse besaß. Sie bildete gleichzeitig das Gerüst des Stollens und trug das Gewicht des Erdreichs, das von oben herabdrückte. Nach abermals zehn Minuten traten die Wände plötzlich auseinander und verschwanden in der Finsternis jenseits der Grenze, bis zu der die Handlampe wirksam war. Atlan richtete den Lichtstrahl in die Höhe und sah eine glatte, hellgraue Decke in einer Höhe von 25 bis 30 Metern. Das überraschte ihn. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß der Stollen auf der kurzen, abschüssigen Anfangsstrecke eine solche Tiefe erreicht haben sollte. Bjo Breiskoll stieß eine Reihe heller Rufe aus. Das Echo ließ lange auf sich warten und war so schwach, daß die Ohren es kaum noch registrierten. Der unterirdische Raum war offenbar von gigantischen Ausmaßen. Ein leises Zittern lief durch den Boden, erstarb und kehrte nach einer Sekunde wieder. Atlan horchte in die Finsternis; aber es war kein Laut zu hören. Das Zittern blieb, rhythmisch, in Abständen von rund einer Sekunde. »Fühlt sich an wie eine große Maschine«, sagte Joscan Hellmut. Der Katzer mit seinem überdurchschnittlich empfindsamen Wahrnehmungsvermögen bestimmte die Richtung, aus der die oszillierenden Impulse kamen, indem er einen weiten Halbkreis abschritt und feststellte, an welcher Stelle das Zittern am deutlichsten zu spüren war. Der Ausgangsort der Impulse lag auf einer Linie, die die Verlängerung des Stollens darstellte, durch den sie gekommen waren. Atlan war voller Unruhe. Er fragte sich, ob es sinnvoll war, noch
mehr Zeit mit der Erforschung der unterirdischen Anlagen zu verschwenden. Sein Ziel war ursprünglich die zentrale Kuppel gewesen, in der er den Herrn vermutete. Ammu hatte ihn abgelenkt. Er war in den Stollen eingedrungen, weil er sich ihre Abwesenheit mitten im Wald nur so erklären konnte, daß sie ihm ein Zeichen hatte geben sollen. Jetzt war er nicht mehr sicher. Er hielt es für möglich, daß er seine Chance vertan hatte, weil er sich durch Ammu von seinem ursprünglichen Plan hatte abbringen lassen. Ein dumpfes Dröhnen ließ ihn aufhorchen. Es war von geringer Lautstärke und kam von weither. Aber es wiederholte sich, und ein Laut folgte auf den anderen im selben Rhythmus wie die zitternden Erschütterungen des Bodens. »Das Ding kommt auf uns zu!« staunte der Kybernetiker. Das Dröhnen wurde lauter. Das Vibrieren des Bodens kam jetzt nicht mehr zur Ruhe. Knacksende und knirschende Laute mischten sich in den Lärm. Atlan richtete den Lichtkegel hinaus in die Finsternis der mächtigen Halle. Der Schein der Lampe spiegelte sich auf etwas Schillerndem, Metallischem, das sich in rascher Bewegung befand. Der Lichtfleck glitt zur Seite und erfaßte einen großen, aus Tausenden von Facetten bestehenden Kreis. »Um Gottes Willen – Deckung!« schrie Joscan Hellmut voller Entsetzen. * Atlan stand starr. Er hörte Bjo und Joscan davoneilen. Der Widerschein der Lampe glitt über die Umrisse des Monstrums, das mit dröhnenden Schritten auf ihn zukam. Eines der Spinnenwesen, auf das Mehrhundertfache vergrößert, ein Gebilde so groß wie ein zweistöckiges Haus! Deutlich enthüllte die Lampe die überdimensional dicke Behaarung der acht Beine, der riesigen Augen, die Einschnürung des mächtigen, schimmernden Körpers.
Er warf sich zu Boden. Jede Nervenfaser, jeder Instinkt schrie ihn an, wollte ihn zwingen, davonzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Mit letzter Kraft widersetzte er sich dem fast unwiderstehlichen Drang. Mit zitternden Händen richtete er die Lampe schräg nach oben. Eines der mächtigen, vielfach gegliederten Beine setzte mit dröhnendem Ruck unmittelbar neben ihm auf. Der riesige Spinnenkörper schob sich heran. Trommelnd rollte das Geräusch der Schritte von allen Seiten auf ihn ein. Aus schreckgeweiteten Augen starrte er zu den glitzernden Sehorganen empor, sah die Batterie scharfer Zangen, die im Kreis rings um die Mundöffnung angebracht war. In zwei Metern Höhe glitt der Leib der Spinne über ihn hinweg. Er hörte das Kratzen und Knistern, mit dem sich die Platten der Chitinpanzerung aneinander rieben. Er drückte sich gegen den glatten Boden und sah erst wieder auf, als die Erschütterungen des Bodens schwächer wurden. Er stemmte sich in die Höhe. Noch hatte er sich nicht vollends aufgerichtet, da verstummte plötzlich das unheimliche Dröhnen. Ein letztes Zittern durchlief den Boden, dann war es still. Der Lichtkegel der Lampe stach durch die Finsternis, erfaßte die rückwärtige Wand der Halle und glitt bis zur Öffnung des Stollens. In dieser Richtung hatte das Ungeheuer sich bewegt, aber jetzt war es nicht mehr zu sehen. Die Stille war unheimlich. Sooft er die Lampe kreisen ließ, die riesige Spinne war verschwunden. Sein Verstand, nicht sein Instinkt hatte Recht behalten. Es gab kein Spinnen‐Monstrum. Was er gesehen hatte, war ein Scheingebilde gewesen. Die Wirklichkeitstreue des Gebildes und aller Begleitumstände, so zum Beispiel der dröhnenden Schrittgeräusche und der Vibrationen im Boden, beeindruckte ihn. Er erkannte, daß dem Herrn in den Kuppeln die Mittel einer hoch entwickelten, ausgefeilten Technik zur Verfügung standen. Er rief nach Bjo und Joscan, erhielt jedoch keine Antwort. Das überraschte ihn nicht. Er glaubte, das Muster erkannt zu haben, dem
die Ereignisse der vergangenen Stunden folgten. Sie waren Prüflinge, das hatte er schon lange erkannt. Aber die letzte, die abschließende Prüfung sollten sie nicht gemeinsam über sich ergehen lassen. Gavro Yaal war bereits von der Gruppe getrennt worden, wahrscheinlich ausgeschaltet. Akitar hatte sich abgesetzt und wartete auf die fremde Macht, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützen sollte. Die Aufgabe der Monsterspinne war gewesen, Bjo und Joscan von ihm zu trennen. Er würde die letzte Prüfung allein bestehen müssen. * Er hielt sich in die Richtung, aus der die Phantomspinne gekommen war. Mit der Suche nach Bjo Breiskoll und Joscan Hellmut vergeudete er keine Zeit. Er war sicher, daß er die Verhaltensweise des Herrn in den Kuppeln richtig gedeutet hatte. Wenn es dem Herren gefiel, die Gefährten von ihm zu trennen, dann verlor alles Suchen seinen Sinn. Im Hintergrund der riesigen Halle stieg der Boden allmählich an. Auf einmal kamen die Seitenwände wieder in Sicht. Sie schoben sich von links und rechts heran; dabei senkte sich gleichzeitig die Decke herab, bis ein Gang von drei Metern Weite und ebensoviel Höhe entstand, der in sanfter Aufwärtsneigung in die Höhe führte. Atlan hatte den Beginn des Ganges noch nicht erreicht, als etwas Eigenartiges geschah. Vor ihm entstand ein großes, leuchtendes Feld von quadratischem Umriß. Inmitten des Feldes entstanden Konturen. Eine Grasfläche erschien, ein Abschnitt senkrecht aufragender Felswand und davor das Haus mit dem abgeschrägten Dach. Es kam näher, als wüchse die Brennweite des Kameraobjektivs mit großer Geschwindigkeit. Eine Seitenansicht des Hauses zeigte, daß der rückwärtige Teil beschädigt war. Eine Horde von Spezialrobotern war damit beschäftigt, den Schaden zu
beheben. Das Aufnahmegerät machte einen Sprung ins Innere des Hauses. Die Halle im Erdgeschoß rückte ins Blickfeld. Vor dem Tisch kauerte Gavro Yaal und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Das Bild erlosch. Was hatte es zu bedeuten? Der Herr in den Kuppeln ließ ihn wissen, was aus Gavro Yaal geworden war. Warum? Um ihn mit den Spielregeln vertraut zu machen, die den bevorstehenden Geschehnissen zugrunde lagen? Das war keine abwegige Vermutung. Atlan hatte zuvor schon geahnt, daß Gavro Yaal aufgrund seines Verhaltens gegenüber den Gefährten von der Prüfung ausgeschlossen werden würde. Das Bild, das er soeben gesehen hatte, gab ihm Recht. War seine Vermutung richtig, dann würde er weitere Bilder zu sehen bekommen. Der Herr in den Kuppeln würde ihm zeigen, wie sich die anderen Prüflinge verhielten: Akitar, mit oder ohne den erwarteten Begleiter; Joscan Hellmut und Bjo Breiskoll, entweder getrennt oder vereint. Er würde darauf achten müssen. Es war nicht unmöglich, daß die optischen Darstellungen Informationen enthielten, die er zu seinen Gunsten verwenden konnte. Er drang in den aufwärts führenden Gang ein. Ein eigenartiger Duft machte sich bemerkbar, ein Parfüm, das er zu kennen glaubte. Er schritt weiter. Der Duft wurde intensiver. Nach etwa fünfzig Schritten schaltete er die Lampe aus, und nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er weit voraus einen matten Lichtpunkt. Immer schneller wurden seine Schritte. Der Punkt wurde zum glänzenden Lichtfleck. Die rechteckigen Umrisse einer Öffnung zeichneten sich ab. Und schließlich blickte Atlan auf eine Landschaft hinaus, an die er sich von seinem ersten Ausflug her erinnerte. Vor ihm breitete sich ein riesiger, blühender Garten. Der Duft, den er wahrgenommen hatte, ging von Millionen Blüten aus, die die dicht bepflanzte Fläche in ein Paradies der Farben verwandelten. Sein Blick glitt zur Seite, eine kaum merklich gekrümmte Wand
entlang, in die der Gang mündete. Zur Höhe hin wölbte sie sich einwärts, und wenn auch sein Blick nicht so weit reichte, wußte er doch, daß sie eine mächtige Kuppel bildete. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Ammu war ein Zeichen gewesen. Er befand sich im Innern des Bereichs, in dem der Herr in den Kuppeln nur seine Prüflinge duldete. * Er sah den Pfad, an den er sich zu erinnern glaubte. Er führte quer über ein Stück üppig grüner Grasfläche und verschwand unter den Büschen, die den Rand des Parks säumten. Je länger er sich aber umsah, desto mehr Zweifel kamen ihm, daß er sich tatsächlich in derselben Kuppel befinde wie bei jenem ersten Ausflug. Er erinnerte sich künstlicher Beleuchtung mit einem angenehmen, gelblichen Ton. Hier dagegen herrschte Tageslicht, das durch die halb transparente Kuppeldecke zu strömen schien. Er korrigierte sich augenblicklich. Draußen war Nacht. Die Helligkeit, die ihn umfing, war ebenfalls künstlichen Ursprungs, nur besaß sie die Qualität natürlichen Tageslichts. Der Herr in den Kuppeln scheute keine Mühe, die Illusion vollkommen zu machen: die Temperatur betrug etwa 30 Grad, und die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Als Atlan ins Gebüsch eindrang, spürte er nach wenigen Schritten denselben Widerstand, den er bei jenem ersten Versuch schon empfunden hatte. Es war, als entwickle die Luft plötzlich eine ganz besondere Art der Zähigkeit, die ihn am Vordringen hinderte und ihm das Gehen von Meter zu Meter schwerer machte. Er erinnerte sich seiner vorherigen Erfahrung und unternahm keine Anstrengung, das Hindernis zu überkommen. Er kehrte um und ging den Weg zurück, bis er den fremdartigen Einfluß nicht mehr spürte.
Es hatte keine Eile. Es war sinnlos, die unsichtbare Barriere mit roher Gewalt anzugehen; das wußte er aus Erfahrung. Er mußte sich Zeit zum Nachdenken nehmen. Womöglich ergab sich aus einem Erlebnis, einer Beobachtung der vergangenen Tage ein Hinweis, wie mit dem Hindernis zu verfahren war. Vielleicht gab ihm sogar der Herr in den Kuppeln selbst einen Fingerzeig, wie er vorgehen sollte. Er suchte sich ein Plätzchen, das von blühenden Büschen umrahmt war, und ließ sich auf dem grasigen Boden nieder. Er blickte zu der hellen Kuppeldecke empor und sah plötzlich mitten in der Luft ein Bild entstehen. Er erblickte die hagere und zugleich muskulöse Gestalt Akitars, des Chailiden. Akitar bewegte sich durch eine hell erleuchtete Umgebung, die außer ein paar geradlinig verlaufenden Kanten keine Gliederung aufwies. Offenbar befand er sich im Innern eines Gebäudes, vielleicht eines Korridors. Allans Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die zwergenhafte Gestalt, die an Akitars Seite schritt. Er hatte Y´Man nur einmal gesehen – vor wenigen Tagen in der Inselstadt Viorvarden, aber er würde seinen Anblick nie vergessen. Y´Man, erklärter Gegner des Herrn in den Kuppeln und eine Art Anführer des Mißgebauten, wirkte in der von Robotern beherrschten Umwelt des Planeten Osath auf eigenartige Weise fehl am Platz. Seine äußere Erscheinung war einem humanoiden Wesen nachgebildet – von Stirn, Wangen, Nase, Mund und Ohren bis zu angedeuteten Brauenwülsten und einer aus einem metallenen Aufsatz gebildeten Pagenfrisur war alles vorhanden. Y´Mans Augen bestanden aus einem gelblichen, kristallinen Material. Wegen seiner Menschenähnlichkeit vermutete Atlan, daß der geheimnisvolle Robot nicht auf Osath entstanden, sondern von anderswoher auf diese Welt gebracht worden war. Eine Bestätigung dieser Hypothese hatte er allerdings bisher noch nicht erhalten. Y´Man war ein Zwerg. Mit einer Höhe von viereinhalb Fuß besaß er nur zwei Drittel der Körpergröße seines Begleiters.
Das war die fremde Macht, mit deren Unterstützung Akitar gerechnet hatte! Atlan überraschte es nicht. Er hatte diese Entwicklung erwartet. Akitar und Y´Man also, das bewies das Bild, bildeten eine der Gruppen, die der Herr in den Kuppeln zu sich gerufen hatte, damit sie sich der entscheidenden Prüfung unterzögen. * Das Bild erlosch. Was hatte es ihm mitteilen wollen? Akitar und Y´Man gehörten zu denen, die der Herr in den Kuppeln seiner besonderen Aufmerksamkeit für würdig hielt. Atlan hatte sich von vornherein keine Mühe gegeben, in den Motiven des Robotherrschers von Osath nach einem allgemein verständlichen Sinn zu suchen. Gewiß hatte Akitar, der Chailide, denselben Anspruch, von dem Herrn gehört zu werden, wie er selbst oder die Solaner. Aber Y´Man? YʹMan gehörte zu denen, die es sich zum Vorsatz gemacht hatten den Robotherrscher auszuschalten. Welchen Grund mochte der Herr in den Kuppeln haben, seinen ärgsten Gegner zu sich zu bestellen? Es raschelte und knackste hinter ihm im Gebüsch. Eine helle, scharfe Stimme sagte: »Keine falsche Bewegung! Ich habe dich genau im Visier.« Die Worte drangen aus seinem Translator. Er ließ den Muskeln, die sich in instinktiver Reaktion zu Knoten geballt hatten, Zeit sich zu entspannen. Dann fragte er leichthin: »Darf ich mich wenigstens umdrehen?« »Ja. Du sollst Ammus Rächer sehen, bevor du stirbst!« Langsam wandte Atlan sich um. Im Gebüsch hinter ihm war eine Lücke entstanden. Unter den blühenden Zweigen kauerte ein Zentaur auf den Hacken. Die Arme, die sonst die Funktion von
Vorderbeinen versahen, hatte er erhoben. Mit beiden Händen hielt er eine Waffe mit trichterförmig erweitertem Lauf, deren Mündung dem Arkoniden auf die Brust zielte. Das Wesen war im Kauern nicht viel mehr als einen Meter groß. Es wirkte zierlich, und die schwere Waffe schien in den schlanken Händen fehl am Platz. Aber die zornig glühenden Augen und das orangefarbene Flackern in der Mündung des Thermostrahlers sprachen eine andere Sprache. »Du bist Ammus Rächer?« fragte Atlan. »Wofür muß sie gerächt werden?« »Du hast sie verachtet, sie beiseite geschoben«, grollte der Zentaur. »Sie, die Königin der Harrenden, hat sich dir zu Füßen geworfen; aber du hattest nur Spott für sie übrig.« Es war Atlan unbekannt, daß er sich solches hatte zuschulden kommen lassen. Aber im Augenblick interessierte ihn ein anderer Aspekt der Lage weitaus mehr. Um die Waffe zur Hand nehmen zu können, hatte der Zentaur sich auf die Fersen niederlassen müssen und befand sich somit in einer ungewohnten Haltung. Atlan bemerkte eine Kriechpflanze, die sich am Boden entlangwand und unter dem Leib des Fremdwesens verschwand. Ein kräftiger Ruck an dem lianenartigen Gewächs, und der Zentaur verlor den Halt. War es die Sache wert? Atlan trug den Blaster schußbereit. Ein rascher Griff, und der Gegner war unschädlich. »Keiner von diesen Vorwürfen«, sagte der Arkonide ruhig, »ist gerechtfertigt. Ich habe Ammu nicht verspottet, nicht verachtet und nicht beiseite geschoben. Sie dagegen hat mich für ihre Zwecke einspannen und dazu bringen wollen, daß ich meine Gefährten verrate. Darauf bin ich nicht eingegangen. Du bist ein Harrender?« Der plötzliche Wechsel des Themas verwirrte den Zentauren. »Ich … ja …«, stammelte er. »Du wartest wie ich darauf, daß der Herr in den Kuppeln dich zu sich ruft. Weißt du, daß du auf dem besten Wege bist, dir die Gunst des Herrn zu verscherzen?« Der aufgewölbte Lauf mit dem gefährlichen, orangefarbenen
Flackern weit im Hintergrund begann zu zittern. »Verscherzen? Ich?« »Ja. Zu welchem Zweck bist du hierher gekommen?« »Ammu zu rächen.« »Und mich zu töten, nicht wahr?« »Ja«, gestand der Zentaur. »Weißt du nicht, welches das Ziel ist, auf das der Herr in den Kuppeln zustrebt?« »Ich weiß … nein … ich weiß es nicht.« »Er sucht den Frieden.« Wie von selbst waren Atlan die Worte in den Sinn gekommen, die Akki gesprochen hatte. »Er will der Not und dem Elend ein Ende machen. Er will, daß die Wesen dieser Welt friedlich miteinander leben.« Der Zentaur senkte den Blick. »Und du meinst, er wird es mir übel anrechen, wenn ich dich töte?« »Ich bin ganz sicher.« Der Lauf der Waffe senkte sich. Der Zentaur warf Atlan einen verzweifelten Blick zu. »Was soll ich tun?« fragte er. Atlan hätte am liebsten laut aufgelacht. Da kam einer, ihn umzubringen, und jetzt wollte er von ihm wissen, was er tun sollte. »Geh zu Ammu zurück«, sagte er, so ernst er konnte. »Sag ihr, sie ist eine der schönsten und begehrenswertesten Frauen, denen ich je begegnet bin. Und mach ihr klar, daß der Herr in den Kuppeln nicht die Gewalt, nicht den Mord, nicht den Krieg, sondern den Frieden sucht.« Der Zentaur antwortete mit einer Geste, die Zustimmung ausdrückte. »Ja, das werde ich tun«, sagte er. Er wandte sich um und war im nächsten Augenblick im Gestrüpp verschwunden. Atlan richtete sich auf, nicht ganz sicher, was er von der eigenartigen Begegnung halten solle. Er trat auf den Pfad, der
sich durch die parkähnliche Landschaft wand, und schlug die Richtung zum Zentrum der Kuppel ein. In Gedanken versunken, war er bereits Dutzende von Schritten gegangen, als ihm auffiel, daß in seiner Umgebung eine ganz drastische Änderung stattgefunden hatte. Die unsichtbare Barriere war verschwunden! 9. Er wußte jetzt, was die Stunde geschlagen hatte. Von jetzt an war die Bahn frei – nichts mehr konnte ihn aufhalten. Er dachte an Akitar und Y´Man, an Bjo Breiskoll und Joscan Hellmut, die sich mit ihm an dieser Prüfung beteiligten, die zum Wettbewerb geworden war. Mit ihm? Es gab kein Mit in diesem Wettstreit. Jeder bemühte sich nach seinen Kräften, und wer den Auswahlkriterien, die der Herr in den Kuppeln festgelegt hatte, am besten entsprach, wurde Sieger. Er empfand keine Gewissensbisse. Akitars und Y´Mans Belange waren ihm, wenn auch nicht fremd, so doch fern. Bjo und Joscan? Das Ziel, auf das er zueiferte, war auch das ihre. Die SOL mußte gerettet werden. Es gab nur einen Gewinner in diesem Wettkampf. Um des Auftrags der Kosmokraten willen, um der SOL und ihrer Bevölkerung willen: dieser Gewinner mußte er sein – oder er stand wieder ganz am Anfang seiner Bemühungen. Der Pfad wand sich durch die Parklandschaft. Wohin führte er? Hoch über den blütenbedeckten Zweigen der Büsche entstand ein Bild. Er sah Joscan Hellmut und den Katzer, die sich durch eine ähnliche Landschaft bewegten. Fast schien es, als müßten sie in seiner Nähe sein. Sie wirkten vorsichtig, mißtrauisch, als befänden sie sich auf einem Patrouillengang durch feindliches Gelände. Sie stellten sich geschickt an, sicherten jeden Meter. Und doch
verhielten sie sich nicht so, wie es der Herr in den Kuppeln vom Sieger dieses Wettstreits erwartete. Der Pfad wurde abschüssig. Er näherte sich dem Zentrum der Kuppel. Von neuem leuchtete eines der Fiktivbilder auf. Akitar und Y´Man waren zu sehen. Sie befanden sich auf einer ebenen Fläche, einer Horde von Spinnenwesen und Zentauren gegenüber. Sie besprachen sich miteinander, und dann gingen sie gegen die Fremdgeschöpfe vor. Sie waren ihnen in jeder Hinsicht überlegen. Wie Pflüge bahnten sie sich einen Weg durch die gegnerische Front. Körper flogen nach allen Seiten. Nein, so nicht! schrie es in ihm. Der Herr in den Kuppeln wollte keine Gewalttätigkeit. Das Bild nahm ein eigenartiges Ende. Es erlosch nicht, wie es seine Vorgänger getan hatten, sondern zersprühte, als sei es von einer lautlosen Explosion zerrissen worden. Atlan verstand das Symbol. Akitar und Y´Man waren aus dem Wettstreit ausgeschieden. Er würde von ihnen keine weiteren Bilder zu sehen bekommen. * Der Pfad beschrieb eine Krümmung. Atlan sah Mauerwerk durch das Gewirr der Büsche schimmern. Er bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und kam an ein kleines, niedriges Bauwerk, das wie ein Schuppen aussah, in dem der Gärtner, der mit der Pflege des Parks beauftragt war, seine Geräte unterbrachte. Die Wände waren fensterlos. Auf einer der beiden Schmalseiten fand Atlan eine Tür. Sie ließ sich mühelos öffnen. Er blickte in ein kahles, aber hell erleuchtetes Innere. Neugierig trat er ein. Er hatte noch keine drei Schritte getan, da gab es hinter ihm einen mächtigen Knall. Er fuhr herum und sah, daß die Tür ins Schloß gefallen war. Im selben Augenblick erlosch die Beleuchtung.
Er holte die Lampe hervor, die er von Ammu erbeutet hatte, und ließ den Lichtkegel kreisen. Er fand keine Spur der Tür. Die Wände waren glatt und fugenlos, als hätte es nie einen Eingang gegeben. Er staunte; aber da geschah etwas, wodurch seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Als hätte sich die rückwärtige Wand des Schuppens in ein Nichts aufgelöst, blickte er hinaus in die helle, bunte Parklandschaft. Über einen breiten Pfad näherte sich ein seltsames Wesen. Auf einem gedrungen Körper, der in zwei flossenähnlichen Beinen endete, saß ein mächtiger, kugelförmiger Schädel. Große, intelligente Augen befaßten sich intensiv mit jedem Detail der Umgebung. Ein buschiger Schnauzbart bedeckte die Lippen und verlieh dem Fremden das Aussehen einer Robbe. Er hatte kurze, aber kräftige Arme und bewegte sich auf allen vieren, wobei er die flossenförmigen Beine recht geschickt gebraucht. Verwundert musterte Atlan die eigenartige Erscheinung. Der Herr in den Kuppeln gebrauchte Fiktivbilder, um ihm die Gruppierung und den Fortschritt der Wettbewerber anzuzeigen, die mit ihm zur letzten Prüfung angetreten waren. Nahm dieser hier auch am Wettstreit teil? Wer war er? Inzwischen hatte die Szene sich verändert. Im Vordergrund des Bildes war eine Horde von Spinnenwesen erschienen, die es offenbar darauf abgesehen hatten, dem Robbenähnlichen den Weg zu verlegen. Es ließ sich zunächst nicht erkennen, ob er sie überhaupt wahrnahm. Er näherte sich den Spinnen mit unverminderter Geschwindigkeit. Erst als er nur noch wenige Meter von ihnen entfernt war, änderte er seine Taktik. Er kippte zur Seite und begann zu rollen. Die Flossenfüße steif von sich gestreckt, die Arme dicht an den Körper gepreßt, drehte er sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit um die Längsachse des gedrungen Körpers, der auf einmal gar nicht mehr so plump wirkte. Die Spinnen waren auf ein solches Manöver nicht vorbereitet. Sie wichen zur Seite, als das fremde Geschöpf mit hoher
Geschwindigkeit auf sie zugeschossen kam. Durch die so entstehende Gasse rollte der Fremde mit einer Geschicklichkeit, die zugleich überraschte und erheiterte. Ehe die Spinnen begriffen, wie ihnen geschah, befand er sich schon in ihrem Rücken. Er richtete sich auf und bewegte sich auf die bisherige Weise weiter: mit den Flossen schiebend, mit den Händen steuernd. Atlan lachte hell auf, als er die Verwirrung der Spinnenwesen bemerkte. Aber sogleich wurde er wieder ernst. Der Fremde mit dem Robbengesicht war ein ernstzunehmender Wettbewerber. Im Augenblick der Gefahr hatte er höchste Kaltblütigkeit gezeigt und sich der Bedrohung auf eine Weise erwehrt, durch die niemand zu Schaden gekommen war. Das fremde Wesen näherte sich dem vorderen Bildrand. Atlan hörte seine schnaufenden Atemzüge. Der Pfad schien geradeswegs in den Schuppen herein zu führen. Eine Laune der Perspektive ließ es so erscheinen, als käme der Fremde nur zwei Schritte vor dem Arkoniden zur Ruhe. »Aha – du mußt Atlan sein«, sagte er. Im selben Augenblick verschwand der von blühenden Sträuchern erfüllte Hintergrund des Parks, und die Beleuchtung des Schuppens flammte auf. * Verblüfft starrte Atlan den Fremden an. Er lag in der Tat unmittelbar vor ihm, kein Fiktivbild mehr, sondern Wirklichkeit. Er kannte seinen Namen – und er sprach Interkosmo! »Wie bist du hereingekommen?« fragte er. »Nun, das Ding war doch weit offen«, antwortete der Robbengesichtige. »Ich sah dich da stehen und …« Er wandte sich um und sah, daß die Öffnung, durch die er gekommen war, nicht mehr existierte. »Noch so ein Trick«, murmelte er. »Dem Herrn in
den Kuppeln gefällt es, seine Besucher durch Kunststückchen zu beeindrucken.« »Wer bist du, und woher kennst du meinen Namen?« wollte Atlan wissen. »Ich heiße Weicos«, antwortete der Fremde und sah sein Gegenüber aus großen, ausdrucksvollen Augen an. »Ich bin, was man an Bord der SOL ein Monster nennt. Aber es geht mir nicht schlecht. Die Menschen halten mich für weise und suchen meinen Rat. Mein Quartier liegt in der Solzelle‐2. Ich habe einen Stab von Helfern und Informanten. Es war nicht schwer, deinen Namen zu erfahren und ein Bild von dir zu erhalten.« »Wie kommst du hierher?« »Ich sprach mit den Robotern, die der Herr in den Kuppeln an Bord der SOL geschickt hat. Sie machten mich neugierig. Sie deuteten an, daß wir alle eines Tages auf diesem Planeten landen würden. Da dachte ich mir, es könne nichts schaden, wenn ich mich ein wenig umsehe.« Atlan musterte ihn aufmerksam. Er hatte es mit einem Wesen von hoher Intelligenz zu tun – einem aus der verachteten Kaste der Monster. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien wie eine Vision ein Bild vor seinem geistigen Auge: die Vernunft hielt Einzug an Bord der SOL, die Herrschaft der SOLAG war durch ein Gremium verantwortungsbewußter Männer und Frauen abgelöst worden: zu diesem Gremium gehörte Weicos, der es verstand, das gesellschaftliche Stigma von der Kaste der Mutierten zu nehmen. »Was hast du zu den Robotern gesprochen?« fragte Atlan. »Der Herr in den Kuppeln ruft niemand zu sich, der als Tourist nach Osath gekommen ist.« »Das hast du auch schon durchschaut?« Weicos lächelte. »Nun, ja – ich dachte mir, uns Monstern gehtʹs an Bord der SOL schlecht. Wir sind Freiwild, an dem jeder Solaner sein Mütchen kühlen kann. Allein in der vergangen Woche sind vier von uns von Jagdpartien der Vystiden und Pyrriden ermordet worden – erlegt nennenʹs die Jäger. Die Roboter des Herrn waren freundlich zu mir. Ich ließ
durchblicken, daß die Monster sich gerne auf dieser Welt ansiedeln würden, wenn sie die Gelegenheit dazu erhielten. Wir wollen ʹraus aus dieser künstlichen Umgebung, in der wir gequält und umgebracht werden. Wir sehnen uns nach Freiheit, einem Leben ohne Angst. Wir sind nicht, was die Solaner aus uns machen wollen. Wir haben ein Gehirn im Kopf und ein Herz in der Brust. Wer uns anständig behandelt, dem stellen wir unsere Dienste zur Verfügung. Und, glaube mir, es sind nicht die geringfügigsten Dienste, die wir anbieten.« Der Arkonide nickte. »Ich glaube dir«, sagte er. »Und doch führt dein Plan in die falsche Richtung.« »Dir fällt es leicht, das zu sagen«, seufzte Weicos. »Du weißt nicht, wie unerträglich das Dasein eines Monsters ist.« »Es soll die längste Zeit so gewesen sein«, erklärte Atlan. Und als er sah, daß Weicos fragend zu ihm aufblickte, fuhr er fort: »Laß dir meinen Plan erklären.« * Er sprach lange – davon, was die SOL einst gewesen war und was sie nach seinem Willen wieder werden sollte. Er erzählte einen Teil der Geschichte seines Lebens. Er setzte Weicos auseinander, daß er hierhergekommen war, um den Herrn in den Kuppeln zu überreden, daß er das terranische Fernraumschiff freigäbe. Er schilderte dem Mutierten, wie er gegenüber der SOLAG, insbesondere dem High Sideryt und den Magniden, auftreten werde. »Ich bin der einzige, der die Funktionen des Schiffes in vollem Umfang kennt!« erklärte er. »Mit Hilfe der ehemaligen Schläfer kann ich verhindern, daß die SOL jemals wieder in eine Gefahr wie diese gerät. Der High Sideryt wird das einsehen – und wo nicht, so gibt es Mittel, ihn zur Einsicht zu zwingen.«
Er sprach mit keinem Wort von dem Auftrag, den die Kosmokraten ihm erteilt hatten. Er schilderte die SOL als den Hort zukünftiger Freiheit, der Gleichberechtigung aller ihrer Bewohner. Er sprach eine halbe Stunde lang und wurde nur ein einziges Mal unterbrochen. Ein Fiktivbild erschien. Es zeigte Bjo Breiskoll und Joscan Hellmut, die eine Schar von Phanos vor sich hertrieben – der Himmel mochte wissen, wo sie sie ergattert hatten. Die Robotvorhut diente dem Zweck, einen Ring von Fremdwesen zu durchbrechen, die die Solaner eingeschlossen hatten. Die Phanos gingen mit Brachialgewalt zu Werke. Das Ende des Unternehmens ließ sich voraussehen. Das Bild zerplatzte. Bjo und Joscan waren ebenfalls aus dem Wettbewerb ausgeschieden. Als Atlan geendet hatte, sah Weicos ihn nachdenklich an. »Das sind freudige Tone, die du da anschlägst, mein Freund«, sagte er. »Aber es sind Töne einer zukünftigen Musik, und wer weiß, ob Monsterohren sie je zu hören bekommen werden.« Er richtete sich zu sitzender Stellung auf, wobei er sich mit den kräftigen Armen in die Höhe stemmte, und schüttelte den Kopf. »Nein, Atlan, du bringst mich nicht von meinem Vorhaben ab. Unser Kelch ist am Überlaufen. Wir brauchen Hilfe – jetzt! Wir können nicht mehr warten.« Eine Zeitlang herrschte Stille. Dann sagte Atlan: »Du weißt, was das bedeutet? Was um uns herum vor sich geht, ist ein Auswahlprozeß. Der Herr in den Kuppeln wünscht denjenigen zu sehen, der seinen Kriterien am besten entspricht. Alle anderen sind ausgefallen. Nur du und ich sind noch übrig. Welcher von uns beiden wird es sein?« Weicos sah sich um. »Macht es einen Unterschied?« fragte er. »Soweit ich sehe, können wir hier ohnehin nicht raus.« Plötzlich flog ein heller Schimmer über sein Gesicht. »Im übrigen sehe ich die Richtigkeit deiner Logik nicht ein. Warum soll nur einer von uns beiden zum Herrn in den Kuppeln sprechen? Warum tragen wir ihm nicht beide unser Anliegen vor? Mag er entscheiden, was gesehen soll!«
Atlan hatte eine rasche Entgegnung auf der Zunge; aber er sprach sie nicht aus. Weicos Vorschlag faszinierte ihn. Der Herr in den Kuppeln hatte sich aus eigener Machtvollkommenheit zum Schiedsrichter aufgeschwungen. Er rief zu sich, wen er nach Kriterien, die nur ihm selbst bekannt waren, für meistversprechend hielt. Warum sollte es nicht geschehen können, daß zwei der Gerufenen einander ebenbürtig waren und damit das Recht erwarben, gleichzeitig vor dem Robotherrscher zu erscheinen. »Ich bin einverstanden«, sagte er und reichte Weicos die Hand. »Wir wollen hören, was der Herr in den Kuppeln zu sagen hat.« Weicos griff nach der dargebotenen Hand und drückte sie. Ein seltsames Leuchten erschien in seinen großen Augen. »Ich danke dir, Atlan!« Ein knisterndes Geräusch war zu hören. Atlan wandte sich um. An der Vorderwand es Schuppens war eine rechteckige Öffnung entstanden. Sein erstaunter Blick erfaßte eine Szene, die nichts mit der früheren Umgebung des Gebäudes mehr gemein hatte. * Das Innere der mächtigen Kuppel erstrahlte in goldenem Licht. Verschwunden war der blühende Park, verschwunden die verschlungenen Pfade, die durch das farbenfrohe Dickicht zum Herrn in den Kuppeln führten. Nackt und glatt streckte sich der ebene Boden. Silberne Linien, jede so breit wie ein schmaler Fahrweg, gingen von der Peripherie der Kuppel aus und liefen zum Mittelpunkt hin, wo sie sich vereinigen. Im Mittelpunkt erhob sich ein schimmernder Monolith, ein mächtiger Klotz aus transparenter Substanz, die wie silberner Bernstein wirkte. Er war über fünf Meter hoch, und eine Kante der quadratischen Basis maß gut und gern zwei Meter. Atlan drehte sich um und sah, daß auch der Schuppen
verschwunden war. Die letzte Halluzination hatte sich aufgelöst. Was jetzt kam, war reine, unverfälschte Wirklichkeit. »Willkommen!« Die Stimme schien aus dem silbernen Monolithen zu kommen. Aber es war keine Stimme – Gedankenimpulse vielmehr, die unmittelbar im Bewußtsein des Angesprochenen materialisierten. »Ihr habt eure Prüfungen bestanden«, fuhr die Mentalstimme fort. »Der eine aufgrund der Not, die sein bisheriges Dasein beherrschte – der andere aufgrund seiner Klugheit, seiner Tatkraft und des Respekts, den er dem Wunder des Lebens entgegenbringt.« Atlan sagte: »Wer bist du, und was willst du von uns?« »Ich bin der Herr von Osath«, antwortete die Stimme. »Ich rief euch zu mir, weil ich wollte, daß ihr mir bei der Verwirklichung meiner Pläne helft. Jetzt aber sehe ich, daß ihr euer eigenes Schicksal verfolgt.« »Welches sind deine Pläne, Herr in den Kuppeln?« fragte der Arkonide. »Das fragst du, der dem Zentauren einen so vorzüglichen Vortrag gehalten hat?« Freundlicher Spott mischte sich in die Gedankenimpulse. »Meine Erbauer haben mich dazu erschaffen, den Frieden zu suchen. Ich suche ihn noch immer, obwohl meine Erbauer längst nicht mehr existieren. Den Frieden auf Osath, und darüber hinaus den Frieden im Universum.« »Was wird aus uns?« »Eure Wünsche seien euch gewährt – soweit es in meiner Macht steht, sie zu gewähren.« Eine kurze Pause trat ein. Dann sprach Atlan von neuem: »Du sagst, ich habe deine Prüfung bestanden. Ich habe Respekt vor dem Wunder des Lebens. Aber deine Prüfung hat das nicht beweisen können.« Die Stimme reagierte nicht sofort. Als die Gedankenimpulse von neuem in sein Bewußtsein zu fließen begannen, da enthielten sie einen Hauch von Verwunderung und eine Spur von Respekt. »Du hast die Spukgebilde durchschaut?«
»Nicht von Anfang an«, bekannte Atlan. »Aber ich wurde mißtrauisch. Über massive Felsblöcke, die es nicht fertigbrachten, das Dach eines Hauses zu durchschlagen. Über Harrende, deren mentale Ausstrahlung mein Gefährte nicht erkennen konnte und von denen der eine Robot etwas wußte, der andere aber nicht. Über Akki, dessen Kleidung auf einmal trocken war, obwohl sie Augenblicke zuvor noch getrieft hatte.« »Akki?« unterbrach ihn die Stimme verwundert. Atlan achtete nicht darauf und fuhr fort. »Es gab eine Menge Ungereimtheiten. Wenn ich nicht schon früher Verdacht geschöpft hätte, dann wären mir spätestens in jenem Augenblick die Augen aufgegangen, als Ammu mitsamt ihren Harrenden verschwand – gerade in derselben Sekunde, als Joscan anfing, mit dem Computer zu spielen. Es waren alles nur Projektionen, nicht wahr, die zum Teil von der Zentraleinheit des Hauses gesteuert wurden. Genau wie der Park in dieser Halle und die klebrigen Fäden, die die Spinnen auf mich herabregnen ließen?« »Illusionen, nicht Projektionen«, verbesserte ihn die Stimme. »Du hast recht, es gab sie nicht wirklich – weder Ammu, noch die Spinnen, noch die Lampe, die du im Gürtel trägst.« Atlan spürte einen Ruck an der Hüfte. Als er hinsah, war die Lampe verschwunden. »Meine Erbauer haben mir die Mittel zur Verfügung gestellt, jede beliebige Illusion zu erzeugen. Ich hätte die Harrenden dazu bewegen können, dich zu töten – und dein Tod wäre ebenso echt gewesen, wie ihre Existenz unecht war. Du meinst also, ich müßte dein Prüfungsergebnis geringer anrechnen, weil du meine Methode frühzeitig durchschautest?« »Ich habe dir nichts vorzuschreiben«, entgegnete der Arkonide. »Ich wollte nur die Wahrheit sagen.« »Es bleibt dabei«, sagte die Stimme. »Eure Wünsche seien gewährt.«
* »Was heißt das?« fragte Atlan. »Ihr sollt an Bord eures Raumschiffs zurückkehren.« »Die SOL! Was wird aus der SOL?« »Darüber entscheidet ihr. Ihr werdet das Schiff retten – so oder so. Derjenige, der an Bord der SOL siegt, soll die Zukunft bestimmen.« Das klang endgültig. Trotzdem wagte Atlan noch eine Frage. »Was wird aus meinen Gefährten?« »Sie sind in Sicherheit. Mach dir um sie keine Sorgen. Du wirst sie nicht mehr zu sehen bekommen, bevor du Osath verläßt – bis auf den Unglückseligen, den ihr Gavro Yaal nennt. Er befindet sich im Haus. Die anderen sind sicher aufgehoben. Wirst du mir vertrauen?« »Ich vertraue dir«, antwortete der Arkonide. »Aber was wird aus mir?« rief Weicos, der bisher kein Wort gesprochen hatte. »Was soll aus meinen Plänen werden?« »Sorge dich nicht, mein Freund«, sagte die Stimme freundlich. »Hast du nicht gehört, daß eure Wünsche gewährt sind und die Zukunft von dem bestimmt wird, der an Bord der SOL die Oberhand gewinnt? Soll ich noch mehr tun? Soll ich in den Zwist eingreifen, der in eurem Raumschiff herrscht?« Atlan sah sich um, als er hinter sich Geräusche hörte, und erblickte vier Roboter vom Typ Phano, die auf den Mittelpunkt der Kuppelhalle zuschritten. »Folgt denen«, sagte die Stimme. »Sie bringen euch zum Haus zurück. Haltet euch bereit! Man wird kommen, um euch zum Raumhafen zu schaffen.« * Dem Haus sah man nicht mehr an, daß es in der vergangenen Nacht
beschädigt worden war. Die Roboter hatten ganze Arbeit geleistet. Inzwischen war der Morgen heraufgezogen. Niedrig hängende Wolken trieben langsam über das Tal hinweg; die Luft war feucht und schwül. Gavro Yaal begrüßte die beiden Ankömmlinge ohne Begeisterung. Weicos schien ihm Mißtrauen einzuflößen. Atlan sprach ein paar versöhnliche Worte zu dem ehemaligen Anführer der Solaner; aber Gavro schien wenig beeindruckt. Ohne nach dem Verbleib der übrigen gefragt zu haben, zog er sich kurz darauf in seine Unterkunft zurück. Atlan und Weicos saßen in der Halle im Erdgeschoß. »Es liegt also an uns«, sagte Weicos plötzlich. »Ja, es liegt an uns«, nickte Atlan. Ein merkwürdiges Funkeln leuchtete aus seinen Augen, als er den Blick auf den Mutierten richtete. »Laß dich warnen! Ich scheue keine Mühe, dich zu meiner Ansicht zu bekehren.« Weicos lächelte. »Wir werden sehen«, sagte er. Es war etliche Minuten später, als Atlan aufstand und zum Fenster ging. Die Kuppeln waren verschwommene Umrisse im Dunst des Morgens; aber die kleine Gestalt, die auf der freien Rasenfläche vor dem Haus kauerte, war deutlich zu sehen. Vor Überraschung stand der Arkonide eine Sekunde lang starr; aber dann kam plötzlich Leben in ihn. Er rannte durch den Korridor zur Tür und hinaus ins Freie. Akki begrüßte ihn mit einem freundlichen Blick und traurig herabhängenden Schlappohren. »Mich hättest du nicht mehr zu sehen erwartet, nicht wahr?« sagte er. »Ebensowenig wie Ammu.« »Du … du bist kein Spuk?« stieß Atlan hervor. Akki wackelte mit den Ohren. »Nein, ich bin kein Spuk. Alles, was ich dir gesagt habe, ist wahr. Bis auf die paar Dinge, die ich hinzufügte, um das Spiel des Herrn in den Kuppeln ein wenig interessanter zu machen.«
Atlan ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. »Ich verdanke dir viel«, sagte er. »Mir?« fragte der Zwerg überrascht. »Ja, dir. Erinnerst du dich an deine Antwort, als ich fragte, wonach der Herr in den Kuppeln suche?« »Genau. Ich sagte: er sucht nach dem Frieden.« »Danach habe ich mich gerichtet«, erklärte Atlan. »Dasselbe habe ich dem Zentauren gesagt, der Ammu an mir rächen wollte. Und aus demselben Grund bin ich auf Weicosʹ Vorschlag eingegangen, daß wir gemeinsam vor dem Herrn in den Kuppeln erscheinen sollten.« Er schüttelte den Kopf, als die Rührung ihn zu übermannen drohte. »Akki, ich schulde dir Dank.« Der Zwerg stand auf. »Soviel mag ich nicht hören«, sagte er mit klagender Stimme. »Ich bin der älteste hier im Tal. Ich habe viele kommen und gehen sehen, und ich weiß, welche Mittel der Herr in den Kuppeln anwendet, um sich zu vergewissern, daß nur die zu ihm gelassen werden, die er für würdig hält. Ich habe dir einen Teil von meinen Erfahrungen abgegeben – das ist alles.« Er setzte sich in Bewegung. »Paß auf, daß du nicht wieder in den Sumpf fällst!« rief Atlan hinter ihm her. Akki reagierte nicht. Atlan sah ihm nach, bis die kleine Gestalt mit dem Hintergrund der Felswand verschmolz und nicht mehr zu sehen war. Dann kehrte er langsam und nachdenklich ins Haus zurück. ENDE Nach dem erfolgten Kontakt mit dem regierenden Robotgehirn von Osath kehrt Atlan zur SOL zurück – voller Hoffnung, daß das terranische Raumschiff mit
seinen Insassen bald wieder seines Weges ziehen kann. Atlans Pläne werden allerdings durch Weicos empfindlich gestört. Atlans Gegenspieler betreibt nämlich den EXODUS DER MONSTER … EXODUS DER MONSTER – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan‐Band. Autor des Romans ist Hubert Haensel.